Artifizielle menschliche Embryonen: Zur Bedeutung von Potentialität und Totipotenz als normative Bewertungskriterien [1 ed.] 9783737013611, 9783847113614

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Artifizielle menschliche Embryonen: Zur Bedeutung von Potentialität und Totipotenz als normative Bewertungskriterien [1 ed.]
 9783737013611, 9783847113614

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Thomas Heinemann / Hans-Georg Dederer / Tobias Cantz (Hg.)

Artifizielle menschliche Embryonen Zur Bedeutung von Potentialität und Totipotenz als normative Bewertungskriterien

Mit 4 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Dustin Gooßens Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1361-1

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

I. Natürlichkeit und Artifizialität Susan Sgodda Erstellung einer »Scoring«-Matrix zur biologischen Verortung von natürlichen und artifiziellen Entitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Michael Ott Kommentar: Ähnlichkeit als Grundlage für die normative Bewertung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Thomas Heinemann Bedeutung und Grenzen einer Matrix biologischer Kriterien als Orientierungshilfe für die ethische Beurteilung embryonaler Artefakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Tobias Cantz Daten-getriebene Wissenschaft in der Stammzellbiologie: Ein Modell zur Charakterisierung totipotenter Entitäten oder Herausforderung für die Hypothesen-geleitete Forschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

II. Totipotenz und Potentialität Barbara Advena-Regnery Potentialität und Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen – Zur Aktualität des Potentialitätsarguments . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Markus Rothhaar Kommentar zu Barbara Advena-Regnery: Potentialität und Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

6

Inhalt

Franziska Enghofer / Katharina Haider Rechtliche Kriterien für die Bewertung von »nicht-totipotenten Embryonen« und »totipotenten Nicht-Embryonen« . . . . . . . . . . . . 115 Hans-Georg Dederer Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen. Zur Suche nach Alternativen zum Totipotenzkriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Jens Kersten Die Koevolution von Biowissenschaften und Recht. Über die dynamische Differenz von Verfassung und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Vorwort

Die Schutzwürdigkeit des menschlichen Embryos wird in philosophischen und von dort in das Recht übernommenen Begründungsansätzen unter anderem mit dem Potentialitätsargument untermauert. Dieses besagt, dass bereits der menschliche Embryo in seinem frühesten Stadium als befruchtete Eizelle sämtliche Informationen und die molekulare Ausstattung für deren Entfaltung besitze, um sich aus sich selbst heraus zu einem geborenen Menschen zu entwickeln. Diese Potentialität der befruchteten Eizelle realisiere sich in einem identischen Lebewesen und vollziehe sich in ungebrochener Kontinuität zum geborenen Menschen. Wenn dem geborenen Menschen wesenhaft Schutzwürdigkeit zukomme, müsse dieser Schutz – so das Argument – daher auch seine Anfänge umfassen. Mit den enormen Wissensfortschritten in der Embryologie und Entwicklungsbiologie der vergangenen zwei Jahrzehnte sind verschiedene Methoden erarbeitet worden, totipotente embryonale Entitäten bei Säugetieren künstlich zu erzeugen. Hierzu zählen etwa der Transfer von adulten Zellkernen in entkernte Eizellen, das Verfahren der Zellaggregationen verschiedener embryonaler Zellen (sog. tetraploide Komplementierung), aber auch Erkenntnisse in der Stammzellbiologie, die auf eine temporär auftretende vollumfängliche, d. h. totipotente Entwicklungsfähigkeit von frühembryonalen Stammzellen in der Zellkultur hinzuweisen scheinen. Inwieweit sich diese Methoden und Ergebnisse auch auf den Menschen übertragen lassen, ist gegenwärtig ungewiss, allerdings nicht unwahrscheinlich. Insofern ist es eine gut begründete Aufgabe von Ethik und Recht, sich mit einer normativen Bewertung der Anwendung solcher Techniken beim Menschen zu beschäftigen. Mit diesen Erkenntnissen werden nicht zuletzt Fragen aufgeworfen, inwieweit künstlich erzeugte Entitäten unseren normativen Auffassungen von menschlichen Embryonen entsprechen, welcher Stellenwert der Potentialität einer solchen Entität zukommt und wie ggf. totipotente NichtEmbryonen und nicht-totipotente Embryonen normativ zu bewerten und gegebenenfalls zu schützen sind.

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Thomas Heinemann / Hans-Georg Dederer / Tobias Cantz

Das deutsche Recht folgt im Embryonenschutzgesetz (ESchG) einer Argumentation, die dem Potentialitätsargument ähnelt. Ein menschlicher Embryo in vitro wird durch das Gesetz im Grundsatz umfassend geschützt. Als ein zentrales Kriterium für einen menschlichen Embryo wird seine totipotente Entwicklungsfähigkeit herangezogen. Allerdings existieren im deutschen Recht zwei unterschiedliche Legaldefinition des menschlichen Embryos. Nach § 8 Abs. 1 ESchG gilt als Embryo bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle, ferner jede einem Embryo entnommenen totipotente Zelle. Hingegen definiert § 3 Nr. 4 Stammzellgesetz (StZG) den Embryo alleine anhand des Kriteriums der Totipotenz. Im Hinblick auf künstlich erzeugte totipotente Entitäten, die nicht durch Befruchtung entstehen, stellt sich damit die Frage, inwieweit diese unter den Begriff des Embryos des ESchG fallen. Da Totipotenz offenbar nicht den normativen Grund für die Schutzwürdigkeit von Embryonen darstellt, sondern als biologisches Kriterium für die Zuschreibung von Schutzwürdigkeit dient, bedarf es für die Definition eines menschlichen Embryos weiterer normativer, ontologischer und lebensweltlicher Annahmen. Diesbezüglich lassen sich Unterschiede zwischen natürlichen Embryonen und artifiziell erzeugten totipotenten Entitäten erkennen, die die Frage aufwerfen, welchen Argumenten und Kriterien bei der ethischen und rechtlichen Beurteilung von artifiziellen Entitäten und natürlichen menschlichen Embryonen Bedeutung zukommt. So ist etwa zu prüfen, inwieweit bei artifiziellen Entitäten Argumente, die für die Begründung des rechtlichen und moralischen Status beim natürlich gezeugten menschlichen Embryo herangezogen werden, sinnvoll anzuwenden sind, und ferner, ob spezifische Handlungskontexte, in denen totipotente Entitäten erzeugt werden, bei der normativen Bewertung Berücksichtigung finden können. Sofern der Gesetzgeber am Kriterium der Totipotenz für die Schutzwürdigkeit entwicklungsfähiger Entitäten festhalten möchte, ist daher zu fragen, ob zwischen einer natürlichen und einer artifiziell erzeugten Totipotenz differenziert werden muss. Damit geraten Aspekte wie die Entstehung bzw. Erzeugung, die Finalität und die Eingriffstiefe der Manipulation in das Blickfeld und werfen die Frage auf, inwieweit sich diese als Kriterien einer konstitutiven Abweichung vom natürlichen Embryo qualifizieren lassen. Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Arbeit des Forschungsverbundprojekts »Entwicklungsbiologische Totipotenz: Bestimmung als normatives Kriterium in Ethik und Recht unter Berücksichtigung neuer entwicklungsbiologischer Erkenntnisse«, die in den Jahren 2014–2016 unter Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) durchgeführt wurde. Das interdisziplinäre Verbundprojekt bestand aus einem philosophischen Teilprojekt, das an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar unter der Leitung von Thomas Heinemann durchgeführt wurde, einem rechtswissen-

Vorwort

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schaftlichen Teilprojekt, das unter der Leitung von Hans-Georg Dederer an der Universität Passau stand, sowie einem naturwissenschaftlichen Teilprojekt, das an der Medizinischen Hochschule Hannover von Tobias Cantz geleitet wurde. Am 12. und 13. September 2016 fand in der Medizinischen Hochschule Hannover ein interdisziplinäres Symposium dieses Verbundprojekts statt, in dem die Ergebnisse der drei Teilprojekte von Barbara Advena-Regnery, Katharina Haider, Franziska Enghofer, Kathrin Rottländer und Susan Sgodda vorgestellt und von Jens Kersten, Michael Ott und Markus Rothaar aus den jeweiligen fachwissenschaftlichen Perspektiven kommentiert wurden. Das vorliegende Buch fasst Ergebnisse der Projektarbeit und Beiträge des Symposiums der drei beteiligten Disziplinen zusammen. Die Herausgeber danken dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für die Förderung des Verbundprojekts sowie dem Projektträger im DLR, insbesondere Frau Dr. Anna Gossen und Frau Dr. Marina Schindel, für die ausgezeichnete Begleitung und Beratung des Forschungsprojekts. Der Dank der Herausgeber geht überdies an den Verlag V&R unipress, insbesondere an Herrn Oliver Kätsch, Frau Madlen Engelke und Frau Marie-Carolin Vondracek, für die hervorragende Zusammenarbeit bei der Verlegung des Buches. Thomas Heinemann, Hans-Georg Dederer, Tobias Cantz

I. Natürlichkeit und Artifizialität

Susan Sgodda

Erstellung einer »Scoring«-Matrix zur biologischen Verortung von natürlichen und artifiziellen Entitäten

1.

Biologische Graduierung zwischen natürlicher und artifizieller Totipotenz

Durch das zunehmende Maß an technischen und experimentellen Möglichkeiten innerhalb der Lebenswissenschaften konnte in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von artifiziellen Entitäten beschrieben werden, deren Eigenschaften je nach Betrachtungsweise aus einem naturwissenschaftlichen, ethischen oder juristischen Blickwinkel eine unterschiedliche Interpretationsweise und damit eine unterschiedliche Konsequenz ihrer Bewertung zulassen. Zu diesen artifiziellen Entitäten gehören die ES-Zellen mit einem erweitertem Potential (Maus)1, die in vivo-iPS-Zellen (Maus) und 2-Zell-ähnlichen Zellen (Maus), die im naturwissenschaftlichen Sinne gegenüber den klassischen pluripotenten Stammzellen nach Thomson ein erweitertes Entwicklungspotential in der Morula-Aggregation aufweisen und aufgrund dieser Eigenschaften zum Teil als totipotent klassifiziert wurden.2 Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist jedoch zu fragen, ob sie wirklich als totipotent oder totipotenzähnlich eingeordnet werden können, da dies unterschiedliche normative Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Im Recht wird das biologische Kriterium der Totipotenz zur Definition des Embryos u. a. im Embryonenschutz- und im Stammzellgesetz herangezogen.3 Das Kriterium der Totipotenz wurde dort eingeführt, um zur Eizelle in ihrer Funktion äquivalente

1 Chung et al. 2006, 216–219; Die embryonalen Stammzellen besitzen die Fähigkeit, sich sowohl zu embryonalem als auch extraembryonalem Gewebe differenzieren zu lassen. 2 Yu et al. 2007, 1917–1920; Chung et al. 2006, 216–219; Abad et al. 2013, 340–345; Macfarlan et al. 2012, 57–63, Thomson et al. 1998, 1145–1147. 3 § 8 Abs. 1 Alt. 2 ESchG: Gesetz zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz – ESchG) vom 13. 12. 1990 (BGBl. I S. 2746), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. 11. 2011 (BGBl. I S. 2228); § 3 Nr. 4 StZG: Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz – StZG) vom 28. 6. 2002 (BGBl. I S. 2277), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18. 07. 2016 (BGBl. I S. 1666).

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Susan Sgodda

Zellen, wie z. B. von der Zygote abgespaltene Blastomeren, erfassen zu können. Für den Kontext der natürlichen Entstehung sind diese Regelungen ausreichend. Jedoch erscheint für den Kontext einer artifiziellen Herstellung die Anwendung der funktionalen Äquivalenz auf solche Entitäten, die nicht dem Verlauf einer normalen Embryonalentwicklung folgen und möglicherweise totipotent sind, für die Zuteilung von embryonalen Schutzrechten fragwürdig zu sein. Für den Status dieser möglicherweise totipotenten, artifiziellen, nichtembryonalen Entitäten bleibt sowohl aus naturwissenschaftlicher, ethischer als auch juristischer Sicht Klärungsbedarf. Es ist aus naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise zunächst zu untersuchen, ob Entitäten durch die Eigenschaft der biologischen Totipotenz ausreichend unterschieden werden können. Weiterführend ist nach weiteren Kriterien und Attributen zu suchen, mit denen der Begriff der Totipotenz sinnvoll ergänzt werden kann. Dies wiederum kann als Grundlage für die normative Diskussion über relevante Kriterien hinsichtlich der Einordnung artifizieller Entitäten dienen. Um den Begriff Totipotenz für die Zuordnung von artifiziellen Entitäten weiter zu differenzieren, kann gefragt werden, ob eine Unterscheidung zwischen Natürlichkeit und Artifizialität in einer übergeordneten Betrachtungsweise und zwischen natürlicher und artifizieller Totipotenz in einer speziellen Art und Weise sinnvoll ist. Dafür ist zu untersuchen, welche unterschiedlichen Eigenschaften natürliche und artifizielle Entitäten auszeichnen und wie diese Eigenschaften auf der Grundlage geschaffener Kategorien zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Eine Differenzierung zwischen natürlicher und artifizieller Totipotenz in einer linearen Form wurde bereits durchgeführt.4 Für diese Skalierung wurden 9 artifizielle Entitäten unter Einbezug von verschiedenen Merkmalen wie Art der Herstellung, Entwicklungspotential, Entstehungsart und Ausgangsmaterial unterschieden. Jedoch erfolgte die Platzierung der 9 Entitäten auf eine Art und Weise, dass keine Zurückverfolgung auf definierte Merkmalseigenschaften anhand der gesetzten Skalierung möglich ist. Für die Verortung einer größeren Anzahl von Entitäten sind die genauen Facetten von Artifizialität zu bestimmen, um darauf basierend, eine auf Basisdaten Bezug nehmende Verortung zu erhalten. Denn nicht immer muss, wenn von Artifizialität die Rede ist, die Artifizialität der Entstehung gemeint sein. Artifiziell kann darüber hinaus auch die Konstitution oder auch das Ausmaß an technischer Manipulation sein. Für eine weitergehende Betrachtung des Begriffes »Artifizialität« und der Einordnung von Entitäten nach den entsprechenden Merkmalen soll daher eine mehrdimensionale Betrachtungsweise herangezogen werden. Eine Betrachtungsweise in mehreren Dimensionen würde auch die Untersuchung natürlich entstandener und natürlich vorkommender Entitäten einschließen, denn diese 4 Advena-Regnery et al. 2012, 217–236.

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

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können Merkmale aufweisen, die artifiziell erzeugten Entitäten durchaus ähnlich sind. Diese Merkmale können die Grundlage für eine vergleichende Einordnung und normative Bewertung bilden, dies soll jedoch nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein. Zudem soll hier keine darauf basierende, normative Unterscheidung von Natürlichkeit und Artifizialität vorgenommen werden, es soll lediglich untersucht werden, ob eine multidimensional erfasste Skalierung von Merkmalen natürlicher und artifizieller Entitäten biologisch plausibel sein kann. Eine mögliche Umsetzung dieser mehrdimensionalen Betrachtungsweise ist die Erfassung, Darstellung und Auswertung von verschiedenen Entitäteneigenschaften in einer sogenannten »Scoring«-Matrix. Mit dieser Matrix soll u. a. eine Übersicht über verschiedene phänotypische, genotypische und die Generierung betreffende Eigenschaften gegeben werden. Durch die Zuordnung der Eigenschaften können die jeweiligen Entitäten zueinander und anhand der Vergleichsgröße natürlich befruchteter Embryo (Mensch) innerhalb der Skalierung von Natürlichkeit und Artifizialität in Beziehung gesetzt werden. Die Vorteile dieser Methodik sind, dass nicht eine Vielzahl von Eigenschaften auf einmal berücksichtigt werden müssen, sondern dass die Erfassung in biologisch basierten Teilparametern und einzelnen Teileigenschaften möglich ist. Zudem kann die Summation der betrachtenden Eigenschaften als verortende Gesamtähnlichkeitsanalyse auf biologische Plausibilität überprüft werden. In diesem Artikel soll die Herangehensweise an die Problematik und die Erstellung und Auswertung einer »Scoring«-Matrix an ausgewählten Eigenschaften und Entitäten erläutert werden. Die Ergebnisse der Auswertung durch spezifische Methoden werden nur exemplarisch dargestellt.

2.

Begriffsbestimmung im lebenswissenschaftlichen Kontext

Zunächst sind die Begriffe Totipotenz und Embryo in einem naturwissenschaftlichen Rahmen zu erfassen.

2.1

Totipotenz

Der Begriff »Totitpotenz« geht auf den Naturwissenschaftler und Philosophen Hans Driesch aus dem Jahr 1912 zurück.5 Er beschreibt Totipotenz als die Eigenschaft einer Zelle, ein ganzes Lebewesen zu bilden. Der Nachweis von Totipotenz ist also nur retrospektiv möglich. Totipotenz in entwicklungsbiologischer Betrachtungsweise entsteht mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle und 5 Roux et al. 1912, 409–410.

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endet je nach Spezies in einem graduellen Übergang zu Pluripotenz mit dem Auftreten von innerer Zellmasse und Trophektoderm. Das ist die erste Zellseparierung, die der neu entstandene Embryo vollbringen kann. Damit kann er sich selbst und das für ihn wichtige Versorgungsgewebe generieren. Die Totipotenzdefinition wurde an Ascidienblastomeren6 etabliert.7 Dabei kann als ein ganzes Lebewesen nach der Definition von Driesch ein Lebewesen zu verstehen sein, welches orts- und nahrungsunabhängig leben kann, da die Experimente an den Ascidien bis zum Erreichen eines Larvenstadiums durchgeführt wurden.8 Bei höheren Säugetieren wird das Erreichen von »Beweglichkeit« und »Nahrungsautonomie« im engeren Sinne erst mit dem »zur Geburt kommen« beendet, daher kann die Geburt bei Säugetieren als ein zwingender Teil der Totipotenzdefinition verstanden werden und hat sich im experimentellen Bereich der Entwicklungsbiologie auch als gängige Definitionsgrundlage durchgesetzt.9 Totipotenz kann nicht nur auf natürliche Art und Weise entstehen, sondern auch artifiziell induziert werden, so zum Beispiel bei den gängigen Fertilisationstechniken IVF und ICSI.10 Aber auch bei der Methode des somatischen Zellkerntransfers11 folgt der entstandene Embryo trotz artifiziellem Start dem Verlauf der normalen Embryonalentwicklung und ist in der Lage, die Geburt zu erreichen.12 Inwieweit dieser »normale« Entwicklungsweg umkehrbar ist oder ob Totipotenz direkt durch einen Faktor, eine Substanz oder ein Genprodukt induziert werden kann, ist nach dem derzeitigen Wissensstand nicht geklärt. Diese Problematik wird in Publikationen aus jüngerer Zeit adressiert. Abad & Kollegen beschreiben im Jahr 2013 die sogenannten in vivo-iPS-Zellen (Maus) und Macfarlan im Jahr 2012 die 2-Zell-ähnlichen Zellen (Maus).13 Auch schon aus dem Jahr 2006 gibt es eine Publikation, die embryonale Stammzellen mit einem gegenüber den klassischen pluripotenten Stammzellen nach Thomson erweitertem Potential beschreibt.14 Die Autoren um Abad & Kollegen entwerfen daher den Begriff »totipotency associated features« und stellen in Frage, ob diese Zellen aufgrund ihres erweiterten Potentials totipotent sind. Alle die genannten Zellen haben die Fähigkeit, in einer Morula-Aggregation sowohl zu embryonalem als auch zu extraembryonalem Gewebe beizutragen. Während das einer Zygote im Verlauf einer normalen Embryonalentwicklung inhärente Potential, aus innerer 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Bei Ascidien handelt es sich um Seescheiden. Sie gehören zur Gruppe der sessilen Manteltiere. Driesch 1895, 398–413. Roux et al. 1912, 311–312. Tarkowski 1959, 1286–1287. IVF: In vitro Fertilisation; ICSI: intrazytoplasmatische Spermieninjektion. SCNT: somatic nuclear transfer steht für somatischer Zellkerntransfer. Wilmut et al. 1997, 810–813. Abad et al. 2013, 340–345; Macfarlan et al. 2012, 57–63. Chung et al. 2006, 216–219.

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

17

Zellmasse und Trophektoderm ein ganzes Individuum zu bilden durchaus als Eigenschaft einer totipotenten Zelle interpretiert werden kann, ist dies losgelöst aus diesem natürlichen Kontext nicht unbedingt der Fall und in den Fällen der vorgenannten Entitäten eher als begriffliche Unschärfe von Totipotenz zu bezeichnen.

2.2

Embryo

Da im juristischen Sinne, z. B. nach dem Stammzellgesetz, Totipotenz mit dem Begriff Embryo in Äquivalenz gesetzt wird, ist zu fragen, ob dies auch in biologischer Betrachtungsweise ein haltbares Argument ist.15 In der Medizin und in der Entwicklungsbiologie werden zum Teil unterschiedliche Definitionen darüber geführt, welche Teilschritte den Vorgang der Embryogenese umfassen. Im weiteren Sinne ist in der Entwicklungsbiologie unter Embryonalentwicklung die Entwicklung eines vielzelligen Tieres von der aktivierten Eizelle bis zur selbständigen Nahrungsaufnahme zu verstehen. Bei höheren Wirbeltieren wird im engeren Sinne noch nach Embryonalentwicklung und Fetalentwicklung unterteilt.16 Der Begriff Embryonalentwicklung umfasst eine Reihe von begrifflich trennbaren Vorgängen wie Zell- und Blastomerenteilung (Furchung), Musterbildung, Gestaltungsbewegungen (Morphogenese) und Zelldifferenzierung (Differenzierung), welche auf unterschiedlichen Ebenen untersucht und beschrieben werden können. Auch entsteht bei der Embryonalentwicklung häufig nicht nur der definierte Körper, sondern auch extraembryonale Organe mit vorübergehender Funktion (z. B. Allantois, Embryonalhüllen, Plazenta usw.). In der Medizin werden unter Embryogenese die ersten 8 Wochen der menschlichen Entwicklung verstanden. Da verschiedene Strukturen des Embryos in gleicher Reihenfolge auftreten, werden menschliche Embryonen nach den so definierten Carnegie-Stadien unterteilt.17 Basierend darauf kann gesagt werden, dass in der Biologie der Embryobegriff eine rein beschreibende Klassifikation für das Durchlaufen der Embryonalphase ist. Der Begriff kann als eine Zustandsbeschreibung verstanden werden, vergleichbar mit: »ein Fetus ist eine Entität, die sich in der Fetalphase befindet und ein Kind, was zur Schule geht, ist ein Schulkind«. Der in den Lebenswissenschaften gebrauchte Begriff des Embryos erhebt keinen Anspruch auf Finalität

15 § 3 Nr. 4 StZG. 16 Anhäuser et al. 1999, Abs. 2. 17 ORahilly & Muller 2010, 73–84; Die Carnegie-Stadien beschreiben die ersten 8 Wochen der menschlichen Embryonalentwicklung. Die insgesamt 23 Stadien werden bestimmt durch den Zusammenhang von Alter, Größe und Morphologie eines Embryos.

18

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im Sinne von zur Geburt kommen,18 auch wenn es sich bei der Embryonalphase im strengen Sinne um eine Phase handelt, bei der das Voranschreiten in eine weitere Phase, genauer gesagt die Fetalphase erwartet werden würde. Denn es gibt es auch beim Menschen »Embryonen« mit einer Reihe von Fehlbildungen an lebenswichtigen Organen, die nicht oder nur sehr selten zur Geburt kommen19 und dennoch als Embryo und nicht andersartig bezeichnet werden. Eine unbedingte Abhängigkeit von der Finalität ist in den Lebenswissenschaften mit einer rein deskriptiv ausgelegten Deutung des Begriffes Embryo nicht zu erkennen. Demnach kann das, was einen Embryo im naturwissenschaftlichen Sinne ausmacht, aus den Fähigkeiten und Attributen erschlossen werden, die es ihm ermöglichen, die Embryonalphase zu durchlaufen. Ein Embryo kann sich eigenständig entwickeln, sich implantieren, sich zu verschiedenen Zelltypen differenzieren und eine konkrete Musterbildung vollziehen, also seine Zellen in einer nicht-zufallsmäßigen Art und Weise anlegen. Außerdem kann er eine Morphogenese durchlaufen, d. h. er ist in der Lage, durch eine exakte Kontrolle von Zellteilung und Zellwachstum eine spezifische äußere Form anzulegen.

2.3

Entität

Der Begriff Entität20 wird in der Philosophie unter anderem für einen existierenden Gegenstand als auch für eine Eigenschaft verwendet. Hier soll er aus biologischer Sicht für lebende Einheiten oder dessen abgeleitete Teile verwendet werden. Es sollen damit ganze Organismen, Zellaggregate, Zellkulturen oder einzelne Zellen mit unterschiedlichem Entwicklungsvermögen und unterschiedlichen Eigenschaften gemeint sein.

3.

Auswahl von biologischen Entitäten für eine merkmalsbasierte Verortung

Wie bereits einleitend dargestellt, gibt es aus normativer Betrachtungsweise unterschiedliche Gründe, eine bestimmte Entität in einer »Scoring«- Matrix zu verorten. Obgleich in normativer Hinsicht Gedankenexperimente eine sinnvolle Methode darstellen, um bestimmte Sachverhalte zu deklinieren, sollen in der Matrix nur real existierende Entitäten verortet werden, die auf einer peerreviewed publizierten, lebenswissenschaftlichen Referenz mit nachgewiesenen 18 Sparman et al. 2010, 1671–1678. 19 Witters et al. 2011, 15–21. 20 Entität: abgeleitet aus dem spätlateinischen für »ens«, seiend, Ding.

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

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Merkmalseigenschaften basieren. Die Matrix umfasst humane, animale und hybride21 Entitäten. Sind bei humanen Entitäten bestimmte experimentelle Verfahren nicht durchführbar, so wurde die nächst relevante tierische Referenz rekurriert. Aus naturwissenschaftlicher Sicht kann den Referenzen unterschiedliche Relevanz zugeordnet werden, was jedoch nicht zwangsläufig eine entsprechende normative Bewertung begründen soll. Hoch zitierte Publikationen mit hoher Relevanz können eine große Bedeutung auf die natur- und lebenswissenschaftliche Welt besitzen, da sie neue Methoden etablieren oder erstmals grundlegende biologische Sachverhalte erklären wie z. B. die ES- oder iPS-Herstellung.22 Jedoch sind zur Einordnung und Abgrenzung in der Matrix auch Einzelfallstudien aus dem medizinischen Bereich von Wichtigkeit, die, wenngleich sie auch eine geringe Zitationsrate aufweisen, deswegen von Bedeutung sind, da sie zeigen, dass bestimmte Methoden oder Entwicklungsformen überhaupt oder generell möglich sind, so z. B. eine lebensfähige Entität aus Abdominalgravidität (Mensch).23

3.1

Der natürliche Embryo als Vergleichsgröße

Für die Untersuchung der Frage, wie ein imaginärer Raum zwischen Natürlichkeit und Artifizialität in ein mehrdimensionales, auf Eigenschaften basierendes System einer »Scoring«-Matrix erfasst werden kann, ist es unumgänglich eine Vergleichsgröße einzufügen. Nur so lassen sich die Entitäten zu dieser Vergleichsgröße und über diese zueinander in Beziehung setzen und innerhalb dieses geschaffenen Raumes verorten. Der Rückgriff auf den auf natürliche Art und Weise entstandenen humanen Embryo erscheint sinnvoll. Dieser ist in normativer Hinsicht eine grundlegende Referenz und ein Exempel von Natürlichkeit, Unberührtheit und Schutzbedürftigkeit. In vielen wissenschaftlichen Experimenten dient der natürliche Embryo in allen Entwicklungsstufen und Ableitungen wie z. B. Zellen oder Zellextrakten ebenfalls als wesentliche Referenz. Den Lebens- und Normwissenschaften obliegt das Ziel, den Umgang mit dem natürlichen Embryo zu regeln und seinen Status zu begründen. Unter der Bezeichnung natürlich befruchteter Embryo (Mensch) soll in der Matrix der natürlich befruchtete humane Embryo sowohl als Einzellstadium als auch in allen anderen möglichen Entwicklungsphasen verstanden werden. Im Sinne einer sprachlichen Verlängerung sollen auch die Phasen bis zur Geburt 21 Hybrid: Individuum, entstanden durch Kreuzung verschiedener Arten oder Rassen. 22 ES-Zelle: embryonale Stammzelle; iPS-Zelle: induzierte pluripotente Stammzelle; Takahashi & Yamanaka 2006a, 663–676; Thomson et al. 1998, 1145–1147. 23 Hohlweg-Majert et al. 1981, 297–298.

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Susan Sgodda

inkludiert werden, die im eigentlichen Sinne der Embryodefinition dann keine Embryonal-, sondern schon Fetalphasen wären.

3.2

Entität aus SCNT (Schaf)

Der SCNT24 ist eine experimentelle Methode des Klonens, bei der somatische Zellkerne in entkernte Eizellen übertragen werden. Durch eine technische Aktivierung dieser assemblierten Eizelle kann eine Embryonalentwicklung gestartet werden, die abhängig von der Spezies bis zum geborenen Individuum führen kann. Grundlegende Arbeiten starteten bereits in den 1950er Jahren im Amphibiensystem. John Gurdon konnte 1958 erstmals mit Hilfe somatischer Zellkerne aus differenzierten Darmzellen die Entwicklung bis zu adulten Fröschen etablieren.25 Im Säugetiersystem wurde diese Methode 1997 erstmals von Wilmut & Kollegen mit adulten Zellkernen aus dem Brustdrüsengewebe etabliert und das Schaf »Dolly« wurde geboren.26 Der SCNT ist in vielen Säugetierarten etabliert worden, es kann jedoch nicht in jeder Säugetierspezies uneingeschränktes Entwicklungsvermögen der entstandenen Blastozysten beobachtet werden. Beim Rhesusaffen konnte bislang nur eine Spätschwangerschaft, jedoch keine Geburt erreicht werden.27 Der SCNT beim Menschen wurde erstmals im Jahr 2013 durchgeführt.28 Es konnten aus den sich entwickelnden Blastozysten mehrere ESZelllinien etabliert werden.29 Die Untersuchung des Entwicklungsvermögens über das Blastozystenstadium hinaus ist aus ethisch-rechtlichen Gründen nicht möglich. Eine Publikation aus dem Jahr 2014 konnte zeigen, dass sogar Zellkerne eines 75 Jahre alten Mannes in der Lage waren, eine Entwicklung bis zum Blastozystenstadium zu starten.30 Ebenfalls konnten aus den Blastozysten ES-Zelllinien gewonnen werden.31

24 25 26 27 28 29 30 31

Vgl. auch Fußnote 11. Fischberg et al. 1958, 424; Gurdon 1962, 622–640. Wilmut et al. 1997, 810–813. Sparman et al. 2010, 1671–1678. Tachibana et al. 2013, 1228–1238. Tachibana et al. 2013, 1228–1238. Chung et al. 2014, 777–780. Chung et al. 2014, 777–780.

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

3.3

21

Parthenot (Schwein)

Während die Parthenogenese unter niederen Tieren eine durchaus effektive Fortpflanzungsstrategie darstellt, kommt sie bei Säugetieren auf natürliche Art und Weise nicht vor. Eine artifiziell induzierte Parthenogenese bei Säugetieren kann durch physikalische oder chemische Stimuli der Eizellen gestartet werden. Die in vivo Entwicklung des entstandenen Parthenoten ist je nach Spezies und Ploidiegrad von unterschiedlicher Dauer. Die häufig als Entwicklungskontrolle bei IVF- oder SCNT-Studien eingesetzten parthenogenetisch aktivierten Eizellen werden zusätzlich mit einem Agenz behandelt, welches den Ausstoß des Metaphase II-Polkörperchens verhindert und so die Eizelle pseudodiploidisiert.32 Während beim Menschen das Entwicklungsvermögen parthenogenetisch aktivierter Eizellen auf das Blastozystenstadium und die Herstellung von embryonalen Stammzelllinien aus ethischen und juristischen Gründen limitiert ist, konnte die post-implantive33 Entwicklung bei Säugetieren eingehender untersucht werden.34 Bei den meisten Säugetieren wird ein Stadium erreicht, welches bezogen auf den natürlichen Embryo zu morphologischen Ähnlichkeiten und zu einer bis zur Mitte oder Ende der Embryogenese vollzogenen Organanlage führt. Eine der längsten Embryonalentwicklungen konnten Zhu & Kollegen im Jahr 2003 nachweisen. Von 115 Tagen Gesamtträchtigkeitsdauer wird die Fetalphase bei der Spezies Schwein um den 35./36. Tag gestartet.35 Lebende, einen Herzschlag aufweisende, parthenogenetische Schweineembryonen konnten noch am Tag 31 im Uterus gefunden werden. Eine weitere Kontrolle der Embryonen am Tag 35 zeigte keine Lebenszeichen mehr. Damit zeigt der parthenogenetische Schweineembryo die Fähigkeit, die Embryonalphase fast zu beenden. Als morphologische Auffälligkeit werden die oftmals kleinere Größe der Embryonen und ein Entwicklungsverzug im Vergleich zu normal befruchteten Embryonen beschrieben.36 Auch wurde von einigen Arbeitsgruppen abnormale Entwicklungen in einigen Organen berichtet.37 Es wird angenommen, dass ein dann dort einsetzender Entwicklungsstillstand seine Ursache in einer Dysregulation der inneren Konstitution des Parthenoten hat.

32 33 34 35 36 37

Paffoni et al. 2008, 121–125. post-implantiv: bezeichnet die Entwicklung eines Embryos nach der Implantation. Revazova et al. 2007, 432–449. Schnorr & Kressin 2011, 82. Barton et al. 1985, 267–285; Ozil 1990, 117–127. Zhu et al. 2003, 355–365; Kure-bayashi et al. 2000, 1105–1119.

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3.4

Fetiformes Teratom (Mensch)

Als Teratom wird ein Tumor bezeichnet, der Gewebe oder Organteile enthält, die sich aus einem oder mehreren Keimblättern ableiten. Die Gruppe der benignen Ovarialteratome enthalten für gewöhnlich nicht organisiertes, aber hoch differenziertes Gewebe aller drei Keimblätter, eingebettet in einer zystischen Struktur.38 Es können Zähne, Knochen, Haare oder Drüsen gefunden werden. Ein fetiformes Teratom ist eine seltene Untergruppe eines benignen Ovarialteratoms, welches einen missgestalteten Fetus oder Teile davon abbildet.39 Der Ursprung der Bildung eines benignen Ovarialteratoms ist noch nicht komplett verstanden. Es wird vermutet, dass diese Tumore sich aus einer parthenogenetisch aktivierten Eizelle nach der ersten Meiose entwickeln.40 Dieser Tumor kann von einem »fetus in fetu«41 durch die Anwendung eines Zygositätstests42 unterschieden werden. Die meisten Ovarialteratome sind homozygot an den Loci43, an denen normales Gewebe Heterozygotie aufweist. Ein »fetus in fetu« wäre an diesen Loci identisch mit seinem »Zwilling«.44 Es gibt eine Reihe von Publikationen, die ein fetiformes Teratom beschreiben45, wobei ein sehr ausgeprägtes Beispiel von Kuno & Kollegen aus dem Jahr 2004 beschrieben wurde.46 Berichtet wurde von einer Tumormasse, die einen Kopf, Rumpf und Extremitäten zu haben schien. Durch eine mikroskopische Analyse konnten Gehirn-, Augen-, Nerven-, Ohrengewebe, Zähne und andere Gewebetypen festgestellt werden. Das Besondere an dieser Fallstudie war die klare Achsenbildung in anterior-posteriorer und ventraldorsaler Richtung. Ein Zygositätsnachweis wurde jedoch nicht erbracht.

3.5

Entität aus tetraploider Embryoaggregation (Maus)

Als tetraploide Embryoaggregation wird die Assemblierung von pluripotenten murinen Stammzellen mit tetraploidisierten Zellen in einem frühen Blastomerenstadium der Entwicklung bezeichnet. Beide Komponenten sind an sich ent38 39 40 41 42 43 44 45 46

Kuno et al. 2004, 40–46. Weiss et al. 2006, 1552–1556. Oliveira et al. 2004, 1867–1870. Fetus in fetu: lat., bezeichnet das medizinische Phänomen, dass ein Fetus von seinem genetischen Zwilling einverleibt wird. Zygositätstest: ein Test zur Bestimmung der Zygosität. Zygosität spezifiziert den Genotyp an einem bestimmten Genort der DNA. Ist der Genotyp homozygot, dann sind beide Allele identisch, ist der Genotyp heterozygot, dann sind sie verschieden. Loci: Genort. Greenberg & Clancy 2008, 95–96. Greenberg & Clancy 2008, 95–96; Abbott et al. 1984, 392–402; Weiss et al. 2006, 1552–1556. Kuno et al. 2004, 40–46.

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

23

wicklungseingeschränkt. Während ES-Zellen zum Embryo und Fetus und dem extraembryonischem Mesoderm beitragen können, sind sie nicht oder nur in einem sehr geringen Maße in der Lage, primitives Endoderm und Trophektoderm zu bilden.47 Währenddessen können tetraploidisierte Zellen sehr gut zu trophektodermalem Gewebe beitragen, jedoch nur sehr schlecht innere Zellmasse bilden, was zu einem Entwicklungsarrest führt.48 Zusammen aggregiert, können die beiden Komponenten ihre Entwicklungsdefizite ausgleichen und einen lebensfähigen Embryo bilden. Die tetraploiden Zellen werden während dieser vorgeburtlichen Entwicklung im embryonalen Teil von den diploiden Zellen weitestgehend überwachsen, im trophektodermalen bleiben sie bestehen. Die entstandene Maus ist am Ende ihrer vorgeburtlichen Entwicklung ein Chimär mit nahezu, jedoch nicht vollständigem, diploidem Chromosomensatz. Die tetraploide Embryoaggregation hat sich als methodisches Werkzeug zur Qualitätsüberprüfung von pluripotenten Stammzellen entwickelt. Normativ strittig bleibt die Frage, ob es sich bei dem Aggregat um ein totipotentes Konstrukt handelt.

3.6

in vivo-iPS-Zellen

Die in vivo-iPS-Zellen aus der Publikation von Abad & Kollegen aus dem Jahr 2013 sind Zellen, die in einer transgenen Maus mit Hilfe eines anschaltbaren Promotors durch die vier Reprogrammierungsfaktoren Oct4, Sox2, Klf 4 und c-Myc in somatischen Zellen induziert wurden. Die Autoren beschreiben, dass diese in vivo-iPS-Zellen in ihren Eigenschaften den embryonalen Stammzellen ähnlicher sind als konventionell in vitro generierte iPS-Zellen. Die in vivo-iPSZellen sind außerdem in einem Aggregationsassay in der Lage zu trophektodermalen Zellen zu differenzieren, was ein größeres Entwicklungspotential vermuten lässt. Auch wenn die Autoren von »totipotency features« sprechen, können diese Zellen nicht dem eigentlichen Sinne der Totipotenzdefinition entsprechen, da ein experimenteller Nachweis dieser Eigenschaft in der Publikation fehlt.

47 Nagy et al. 1990, 815–821; Beddington & Robertson 1989, 733–737. 48 Snow 1976, 81–86.

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3.7

Entität aus einer lebensfähigen Abdominalgravidität (Mensch)

Unter einer Extrauteringravidität ist eine außerhalb der Gebärmutter etablierte Schwangerschaft zu verstehen, die sich entweder im Eileiter, Eierstock oder sehr selten in der Bauchhöhle entwickeln kann und in letzterem Fall als Abdominalgravidität bezeichnet wird. Diese sind selten entwicklungsfähig und können zur Mortalität der Mutter oder zum Absterben des Kindes führen. Jedoch wird in Einzelfällen von einer erfolgreich ausgetragenen Schwangerschaft berichtet.49 Auch eine parallel intrauterine und extrauterine Zwillingsschwangerschaft wurde schon erfolgreich ausgetragen.50 Diese Einzelfälle zeigen, dass ein natürlicher Embryo die Gestaltbildungsfähigkeit in sich selbst trägt, da er nicht zwingend den Uterus benötigt, um sich selbst zu erschaffen, sondern dies in seltenen Fällen auch mit Hilfe des Peritoneums tun kann.

3.8

Entität aus artifiziellen Gameten (Maus)

Die Generierung von artifiziellen Gameten aus verschiedenen Ursprungszellen wie primordialen Keimzellen, ES- oder iPS-Zellen hat in den letzten Jahren eine produktive Entwicklung erfahren, da auch die bis vor kurzem als schwierig geglaubte komplette in vitro Differenzierung von funktionsfähigen Keimzellen sowohl für männliche als auch für weibliche Gameten gelungen ist. Hayashi & Kollegen konnten 2013 die Generierung einer lebensfähigen Maus aus einer aus iPS-Vorläuferzellen hergestellten Eizelle mittels einer kombinierten in vivo/in vitro Differenzierung zeigen.51 Hikabe & Kollegen konnten 2016 zeigen, dass der gesamte Prozess der Oogenese bestehend aus Differenzierung, Wachstum und Reifung der Eizellen aus ES-Zellen komplett in vitro möglich ist und diese reifen artifiziellen Eizellen, vereint mit einem natürlichen Spermium zur Geburt von Nachkommen führt.52 Zhou & Kollegen konnten 2016 zeigen, dass sich aus ESZellen schrittweise durch Differenzierung und eine komplette in vitro Meiose haploide, spermatidähnliche Zellen abgeleitet werden können. Mit Hilfe dieser Zellen konnten durch eine ICSI euploide, fertile Nachkommen erzeugt werden.53

49 50 51 52 53

Dahab et al. 2011, 531; Mothes & Schleußner 2007, 211. Hohlweg-Majert et al. 1981, 297–298. Hayashi & Saitou 2013a, 1513–1524. Hikabe et al. 2016, 299–303. Zhou et al. 2016, 330–340

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

4.

25

Erstellung einer biologischen »Scoring«-Matrix

Für die Erstellung der biologischen »Scoring«-Matrix wurden 32 Entitäten ausgewählt. Auf der Grundlage der nachfolgenden Exemplifizierung soll die Erstellung der Matrix erläutert werden.

4.1

Ausgangspunkt: Die Verortung der Eigenschaft Totipotenz und die Klassifikation als Embryo

In der Debatte um tragfähige Konzepte für die Statusbestimmung embryonaler Entitäten ist die Eigenschaft der Totipotenz ein elementares, wenn auch in Frage zu stellendes Kriterium.54 Daher wurde zunächst den in der Tabelle 1 gezeigten Beispielentitäten die biologische Eigenschaft der »Totipotenz« zugeordnet und es wurde klassifiziert, ob es sich bei der Entität um einen Embryo im Sinne der biologischen Definition55 handelt. Für eine weiterführende Untersuchung der Anwendbarkeit dieser Klassifikationskombination auf verschiedene Entitäten wird auf den Beitrag Enghofer/Haider in diesem Band verwiesen. Der natürlich befruchtete Embryo (Mensch), die Entität aus SCNT (Schaf), die Entität aus tetraploider Embryoaggregation (Maus), die Entität aus einer lebensfähigen Abdominalgravidität (Mensch) und die Entität aus artifiziellen Gameten (Maus) sind unstrittig als Embryonen zu klassifizieren, da sie eine Embryonalentwicklung auf dem Weg zum geborenen Tier bzw. Menschen durchlaufen. Die Einordnung des Parthenoten als Embryo ist ein strittiger Fall, da er generell nicht in der Lage ist, die Embryonalentwicklung zu beenden und somit in normativer Hinsicht nicht als Embryo zu klassifizieren wäre.56 In rein biologischer Hinsicht ist das Voraussetzen von Finalität der Entwicklung für die Klassifizierung als Embryo nicht zwingend, da auch generell nicht lebensfähige, menschliche, aneuploide Embryonen als Embryonen in der gängigen Praxis bezeichnet werden und die Biologie den Terminus des Embryos nur für deskriptive, jedoch nicht für statusbestimmende Zwecke nutzt.57 Weder das fetiforme Teratom (Mensch) noch die in vivo-iPS-Zellen (Maus) zeigen die organisierten Gestaltbildungsfähigkeiten eines Embryos und sind daher nicht als Embryo im biologischen Sinne zu klassifizieren. Bei Totipotenz handelt es sich um eine Eigenschaft, die nur einem bestimmten Zellstadium, nämlich dem Einzellstadium, zugeordnet werden kann. Als un54 55 56 57

Enghofer/Haider, in diesem Band, 116ff. Vgl. hierzu Kapitel 2.2, 17f. Enghofer/Haider Tabelle 2, in diesem Band, 135. Siehe weiterführend Kapitel 2.2, 17f; vgl. Advena-Regnery et al. 2015, 151–167.

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strittig totipotent sind alle Entitäten, die aus einer Zelle zur Geburt kommen können, einzuordnen und im Gegenzug alle Entitäten als nicht totipotent, die die Phase der Geburt nicht erreichen können. Auf die Entität aus tetraploider Embryoaggregation (Maus) ist die Eigenschaft der Totipotenz nicht anwendbar, da die erste Phase der Entität bereits ein mehrzelliges Stadium ist. Dahingehende Unsicherheiten über die Anwendung der Totipotenzdefinition existieren auch in der biologischen Fachwelt.58 Bei der Klassifizierung von artifiziell generierten Entitäten, die zwar als totipotent, aber als nichtembryonal einzuordnen wären, wird das normative Spannungsverhältnis zwischen beiden Begriffen besonders deutlich.59 Die Einordnung in der Tabelle zeigt die Limitationen dieser einfachen Einordnung. Die Entität in vivo-iPS-Zellen (Maus) ist nicht-embryonal und nicht-totipotent, genauso wie das fetiforme Teratom (Mensch). Dennoch besitzen sie erhebliche Unterschiede in ihren weiteren Eigenschaften, die durch die beiden Begriffe nicht ausreichend abgebildet werden können. Diese differenzierte Betrachtungsweise soll in einer »Scoring«-Matrix aufgegriffen werden. Entität natürlich befruchteter Embryo (Mensch) SCNT (Schaf)

Embryo ja ja

totipotent ja ja

Parthenot (Schwein) Fetiformes Teratom (Mensch)

ja nein

nein nein

tetrapl. Embryoaggregation (Maus) in vivo-iPS (Maus)

ja nein

nicht anwendbar nein

lebensfähige Abdominalgravidität (Mensch) Zygote aus artifiziellen Gameten (Maus)

ja ja

ja ja

Tabelle 1: Zuordnung der Eigenschaften Embryo und Totipotenz zu den in der »Scoring«Matrix verorteten Entitäten

4.2

Auswahl und Adaption des Nutzwertmodells auf einen wissenschaftlichen Sachverhalt

Für die Einordnung der biologischen Entitäten mit Hilfe einer mehrdimensionalen Kriteriologie wurde als Grundlage die Methodik des Nutzwertmodells aus dem Bereich der Systemtechnik und der Projektanalyse herangezogen. Die sogenannte Nutzwertanalyse, begründet durch C. Zangemeister, wird definiert als die »Analyse einer Menge komplexer Handlungsalternativen mit dem Zweck, die 58 Schickl et al. 2014, 857–862. 59 Enghofer/Haider, in diesem Band, 122f.

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

27

Elemente dieser Menge entsprechend den Präferenzen des Entscheidungsträgers bezüglich eines multidimensionalen Zielsystems zu ordnen.«60 Diese Methodik wurde ausgewählt, da sie einen direkten Rückschluss der verorteten Entitäten auf die für die Verortung herangezogenen Entitäteneigenschaften zulässt und somit mit wenigen durch den Bearbeiter verursachten Variablen auskommt. Die Nutzwertanalyse wird im Sprachgebrauch auch als »Scoring«-Verfahren bezeichnet und zieht mehrere Kriterien für die Bewertung verschiedener Alternativen heran, wodurch ein systematischer Abbau der Entscheidungsproblematik erreicht werden kann.61 Dabei werden den einzelnen Kriterien anhand von vordefinierten Skalen Nutzenbeiträge (Bewertungen) zugeordnet. Die unterschiedliche Bedeutung der Kriterien kann durch die Verteilung von Gewichtungsfaktoren dargestellt werden. Durch die Summation oder Multiplikation der Einzelbewertungen kann ein Gesamtprojektwert erstellt werden, der im systemtechnischen Bereich maßgeblich die Entscheidungsfindung vorbereitet. Die hier erfolgte biologische Auslegung einer »Scoring«-Matrix kann an den Verfahrensschritten der klassischen Nutzwertanalyse nur angelehnt werden wie in Tabelle 2 dargestellt ist. Denn die Zielvorgabe der hier vorgestellten »Scoring«Matrix ist keine erschöpfende normative Entscheidungsfindung oder sogar Bewertung, sondern eine grundlegende, nach wissenschaftlich fundierten Merkmalen ausgerichtete Einordnung von Entitäten bezogen auf eine Vergleichsgröße. Die »Scoring«-Matrix soll in erster Linie eine Übersicht biologischer Merkmale verschiedener Entitäten bieten, diese jedoch zugleich in bestimmten Kriteriengruppen sammeln und ordnen. Darauf basierend kann eine Verortung zwischen Natürlichkeit und Artifizialität in mehreren Dimensionen erreicht werden. Durch den Einbezug einer Vergleichsgröße können die Kriteriengruppen der Matrix zueinander in Beziehung gesetzt und in eine Rangfolge nach dem Grad der Kriterienerfüllung gebracht werden. Der Vergleich aller Ordnungsbzw. Kriteriengruppen schafft den Überblick über die Teil- und Gesamtähnlichkeit der einzelnen Entitäten bezogen auf die Vergleichsgröße. Diese beiden Größen lehnen sich an die Teil- und Gesamtnutzwerte aus der klassischen Analyse an. Durch den Einsatz von Kriterienfiltern können verschiedene Entitäten nach ausgewählten Merkmalen sortiert werden. Auf diese Art und Weise kann die »Scoring«-Matrix als systemisch angelegtes Übersichtswerk im normativen Bereich Diskussionsanreize schaffen.

60 Zangemeister 1976, 45. 61 Zangemeister 2014, 7.

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Nutzwertanalyse

Prozessdarstellung ↓

Ziele formulieren Alternativen auswählen

Konzeption

Biologische »Scoring«-Matrix Entitäten auswählen Merkmale und Kategorien auswählen Fragenkatalog erstellen

↓ Gewichtungsfaktoren ermitteln Zielerfüllungsfaktoren ermitteln

Bewertung

-

↓ Teilähnlichkeit der Kriteriengruppen ermitteln Ergebnis Gesamtähnlichkeit ermitteln visuelle Ergebnisdarstellung Auswahl von Filtern Tabelle 2: Vergleichende Darstellung der durchführenden Schritte der klassischen Nutzwertanalyse nach C. Zangemeister und der für die biologische »Scoring«-Matrix adaptierten Schritte Teilnutzenwerte ermitteln Nutzwerte ermitteln Rangfolge der Alternativen

4.3

Auswahl der Kriterien

Zur Verortung der Entitäten müssen in der »Scoring«-Matrix die größtmögliche Anzahl an Merkmalsunterschieden erfasst werden, um jede einzelne Entität in ihren Eigenschaften von der jeweils anderen ausreichend abgrenzen zu können. Zur Auswertung der Unterschiede wurden diese, sofern möglich, in jeweils inhaltlich zusammenhängenden Kriteriengruppen erfasst. Es wurde versucht, Mehrfacherfassungen von Entitäteneigenschaften in verschiedenen Kriteriengruppen möglichst zu vermeiden, um so die Nutzenunabhängigkeit aller Kriterien zu gewährleisten.62 Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich vollkommene Nutzenunabhängigkeit bei diesem Sachverhalt nicht erzielen lässt und eine »bedingte« Nutzenunabhängigkeit für eine Verortung ausreichend ist.63 Die Entitätenliste umfasst ein breites Spektrum von auf natürliche Art und Weise entstandenen Organismen bis hin zu auf artifizielle Weise generierten Zellprodukten. Die Erfassung der Merkmale erfolgte mittels eines Fragenkatalogs. Es wurde beabsichtigt, die Merkmale so zu erfassen, dass es für die Beantwortung der jeweiligen Fragen unerheblich ist, ob eine Entität natürlichen oder artifiziellen Ursprungs ist und die Fragen somit für alle Entitäten anwendbar sind. Zum Beispiel wurde in der Kategorie »Entwicklungsvermögen« 62 Götze 2008, 180–188. 63 Götze 2008, 180–188.

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

29

nicht nur auf bestimmte dem natürlichen Entwicklungsverlauf entsprechende Entwicklungsstadien Wert gelegt (z. B. Blastozystenstadium), sondern auch darauf, was diese Entwicklungsstadien auszeichnet (z. B. Separierung in innere Zellmasse und Trophektoderm). Auf diese Art und Weise kann für alle Entitäten ein Unterscheidungsmerkmal gefunden werden, obgleich sie womöglich ein reales Blastozystenstadium nicht durchlaufen, jedoch wohl in der Lage sind, auf artifizielle Art und Weise diese Zelltypen zu bilden. Der Begriff Artifizialität64 lässt sich sprachlich in mehrere Unterpunkte aufgliedern: Genese, Konstitution, Entwicklungsvermögen, Ausmaß an artifiziellen Handlungen, innere Konstitution, Zweck der Herstellung, Spezies. Die fachübergreifende Relevanz dieser Kategorien für die Verortung in einer Matrix wurde geprüft. Sowohl aus naturwissenschaftlicher als auch normativer Sicht relevante Kriterienpunkte stellen die Genese65 und das Entwicklungsvermögen66 einer Entität67 dar sowie die Frage, ob die Entität aus einer totipotenten Zelle68 heraus entstanden ist, denn alle diese Punkte berühren die Embryonendefinitionen des deutschen Rechts. Aber auch Fragen zur Konstitution69 einer Entität, der inneren genetischen Ausstattung und dem Ausmaß der Handlungen70, die an der Entität vorgenommen wurden, sowie Fragen zum Zweck der Herstellung und der Spezies der Entität könnten für eine normative Einschätzung eine Rolle

64 Hier gemeint in einem lebenswissenschaftlich-normativen Kontext. 65 Die Genese einer Entität umfasst alle natürlich oder artifiziell eingeleiteten oder durchgeführten Entwicklungsschritte, die zum Entstehen der Entität nötig sind. Sie beschreibt, auf welche Art und Weise und aus welchem Zellmaterial die Entität entstanden ist. Die Genese endet mit dem Entstehen des ersten Zellstadiums der neuen Entität. Zum Beispiel gilt der Begriff Embryo ab dem Stadium der befruchteten Eizelle, die Entität aus tetraploider Embryoaggregation ab dem Zeitpunkt der Aggregation der einzelnen Zellkomponenten.; z. B. in ESchG § 8 Abs. 1 in der engen Auslegung. 66 Das Entwicklungsvermögen beschreibt die Entwicklungsetappen der Gestaltbildung bis hin zum geborenen Menschen respektive geborenes Tier (z. B. Blastozystenstadium, Embryonalphase, Geburt). 67 § 3 Nr. 4 StZG: Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz – StZG) vom 28. 6. 2002 (BGBl. I S. 2277), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18. 07. 2016 (BGBl. I S. 1666). 68 Roux et al. 1912, 311–312; Totipotenz nach Driesch: »[…] ist das dem einer ganzen Eizelle gleichende Gestaltungsvermögen eines noch nicht oder erst sehr wenig spezifizierten Keimteiles, z. B. einer Furchungszelle, also das Vermögen ein ganzes Lebewesen zu entwickeln.« 69 Die Konstitution einer Entität beschreibt deren innere genetische, epigenetische und zelluläre Ausstattung und in welchen Zellkomponenten sie auf welche Art und Weise von der Vergleichsgröße abweicht. 70 Das Ausmaß an technischer Manipulation beschreibt die Anzahl und den Umfang der experimentellen Arbeitsschritte, die an der Entität durchgeführt worden sind.

30

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spielen. Naturwissenschaftlich gesehen ein nicht relevantes und daher nur nominal erfasstes Kriterium stellt die Entstehungswahrscheinlichkeit71 dar.

4.4

Erstellung eines Fragenkatalogs

Die Erstellung eines Fragenkatalogs dient dazu, die jeweiligen Entitätenmerkmale zu konkretisieren und für die Teil- und Gesamtähnlichkeitsbestimmung zu organisieren. Als Modell wurde ein Fragenkatalog gewählt, weil dadurch eine Vereinheitlichung von Antworten, die bestimmten Merkmale zugeordnet werden, erreicht und somit ein vergleichbares und auswertbares System erschaffen werden kann. Um das Maß an subjektiver Einschätzung zu minimieren, erfolgte die Beantwortung der jeweiligen Fragen in einem System mit minimal nötigen Auswahlvarianten. Ein gewähltes Bepunktungssystem mit nur drei möglichen Antworten/Werten minimiert den subjektiven Einfluss bei der Bestimmung der Antworten im Vergleich zu einem Mehrfachbepunktungssystem (z. B. 5 Punkte: ja, eher ja, nicht eindeutig, eher nein, nein). Eine parallelisierte, unmittelbare Auswertung der Antworten erfolgte in einem Farb-Bepunktungsschema, dargestellt in Tabelle 3. Beantwortung der Frage mit ja nein

Farbskala hellgrau dunkelgrau

Bepunktung 2 0

nicht eindeutig weiß 1 Tabelle 3: Farbbepunktungsschema für die Auswertung des Fragenkatalogs der »Scoring«Matrix

Da die »Scoring«-Matrix in erster Linie eine rein biologische Verortung ist, ist es nicht ihre Aufgabe, bestimmten Merkmalen oder Entitäten eine Gewichtung zuzusprechen. Es wurde sich daher darauf beschränkt, die einzelnen Kriteriengruppen ausschließlich über das angewandte Bepunktungssystem »zueinander in Beziehung zu setzen«72, wenngleich natürlich allein eine Bepunktung mit nur drei Möglichkeiten auch schon eine Form der Bewertung darstellt. Über den Fragenkatalog werden die einzelnen Merkmale der Entitäten so abgebildet, dass sich für die Vergleichsgröße immer ein »ja« bzw. ein nummerischer Datenpunkt mit dem Wert »3« ergibt. Alle auf diese Weise zueinander in Beziehung gesetzten 71 Die Entstehungswahrscheinlichkeit beschreibt für natürliche Entitäten die Wahrscheinlichkeit ihrer natürlichen Entstehung und für artifizielle Entitäten die Effizienz, mit der diese in einer bestimmten wissenschaftlichen Methode generiert werden können. 72 Vgl. auch Kapitel 5, 31ff.

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

31

Merkmale können dann innerhalb der Kriteriengruppen auf additive Weise zu einem rechnerischen Wert zusammengefasst werden. Dieser Wert beschreibt, prozentual genormt, die Teilähnlichkeit der jeweiligen Entitäten im Bezugssystem natürlich befruchteter Embryo (Mensch). Alle Teilähnlichkeitswerte summiert, ergeben die Gesamtähnlichkeit. Bei humanen Entitäten ist aufgrund der Tatsache, dass aus ethisch-rechtlichen Gründen einige Experimente nicht durchgeführt werden können, nicht immer eine Beantwortung der Fragen möglich, daher erfolgt für diese unbeantworteten Fragen keine Bepunktung. Alle weiteren Auswertungen sind ebenfalls nicht möglich und es muss ein Rekurs auf eine naheliegende tierische Referenz genommen werden.

5.

Die Teilähnlichkeitsbestimmung– beispielhafte Verortung von Entitäten anhand der Kategorie »Genese«

Der Begriff Teilähnlichkeitsbestimmung lehnt sich an den Begriff der Teilnutzenbestimmung aus dem klassischen Nutzwertmodell an. Dieser soll die Ähnlichkeit der Entitäten untereinander im Bezugssystem natürlich befruchteter Embryo (Mensch) innerhalb einer Kategorie des Matrixsystems beschreiben. Die Kategorie Genese umfasst alle natürlich oder artifiziell eingeleiteten oder durchgeführten Entwicklungsschritte, die zum Entstehen der frühesten Phase der Entität notwendig sind oder geführt haben. Die früheste Phase entspricht der oder den ersten Zellen der Entität. Nicht unterschieden wird hier nach genetischer oder epigenetischer Modifizierung. Nicht integriert ist ebenfalls das Ausmaß an Manipulation, welches gegebenenfalls an den Zellen vorgenommen wurde. Es wird unterschieden nach mittelbaren oder nach unmittelbaren Schritten. So wäre zu sagen, dass ES-Zellen mittelbar aus Eizellen hervorgegangen sind, während eine Zygote unmittelbar aus einer Eizelle entstanden ist. Die Kategorie berücksichtigt die Art und den Status der Vorläuferzellen, beschreibt den Status der ersten Zelle der Entität sowie die Frage, ob das erste Stadium der Entität einoder mehrzellig war. Auch eher praktische Fragestellungen, wie z. B. ob die Eltern direkt über einen Sexualakt oder indirekt über eine Zellspende an der Zeugung der »Nachkommen« beteiligt waren, wurden integriert. Die »Scoring«-Matrix nutzt den natürlich befruchteten Embryo als Bezugssystem. In der Realisierung bedeutet dies, dass alle Fragen so gestellt wurden, dass sie für den natürlichen Embryo mit »ja« beantwortet werden können. Fragen, die nicht eindeutig beantwortet werden können, werden mit gelb markiert. So kann zum Beispiel die Frage, ob die Entität aus SCNT (Schaf) unmittelbar aus einer weiblichen Eizelle entstanden ist, nicht eindeutig mit »ja« beantwortet

32

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Legende

tetraploide Embryoaggregation (Maus)

in vivo-iPS-Zellen (Maus)

artifizielle Gameten (Maus)

Score

fetiformes Teratom (Mensch)

Ist die Entität unmittelbar in einer Mutter entstanden? Hat zur Entstehung der Entität unmittelbar ein Sexualakt stattgefunden?

Parthenot (Schwein)

Ist das erste Stadium der Entität ein Einzellstadium? Ist das erste Stadium der Entität unmittelbar aus einer weiblichen Keimzelle entstanden?

SCNT (Schaf)

Fragenkatalog

natürlich befruchteter Embryo (Mensch)

werden, da er zwar aus einer Eizelle hervorgeht, diese jedoch entkernt worden ist, also im strengen Sinne keine vollständige Eizelle mehr darstellt. Die Tabelle 4 zeigt beispielhaft ausgewählte Entitäten und Fragen des Fragenkatalogs. Die zugeordneten Antworten werden mit den entsprechenden Bepunktungswerten versehen, in einem Score aufsummiert und prozentualisiert. Um die graphische Darstellung vergleichbar zu gestalten, wurde zum einen für die Visualisierung der Daten ein Spinnennetzdiagramm gewählt und zum anderen wurden die Daten in der Reihenfolge ihrer Merkmalserfüllung von Natürlichkeit (natürlich befruchteter Embryo) bis Artifizialität sortiert.

3

3

3

3

1

3

3

3

2

3

3

1

1

3

3

1

1

3

1

3

1

3

1

1

1

1

1

1

12

7

8

10

4

8

8

ja nein

3 1

nicht eindeutig 2 Tabelle 4: Darstellung der Bepunktung ausgewählter Entitäten der »Scoring«-Matrix und zugeordneter Beispielfragen aus der Kategorie Genese

Die visuelle Verortung der Kategorie Genese in der Abbildung 1 zeigt, dass Entitäten, die sich in räumlicher Nähe lokalisieren, sich bezogen auf die jeweilige Kategorie in ihren Eigenschaften ähneln. So weisen in der Kategorie Genese die Entität aus artifiziellen Gameten (Maus) und das fetiforme Teratom (Mensch) in ihren Eigenschaften viele ähnliche, jedoch nicht identische Punkte auf. In welchen Punkten sie sich genau unterscheiden, kann direkt aus der »Scoring«Matrix abgelesen werden. Während sie beide aus Keimzellen hervorgehen, fehlt

33

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

beim fetiformen Teratom (Mensch) u. a. der männliche Chromosomensatz. Beide haben u. a. keine vollständige Keimzellentwicklung in einer Mutter durchlaufen und während bei dem fetiformen Teratom (Mensch) gesagt werden kann, dass es ohne äußeren Einfluss in einer Mutter entstanden ist, wurde die Entität aus artifiziellen Gameten in vitro gereift und mittels einer IVF befruchtet. Der Parthenot (Schwein) und die Entität aus SCNT (Schaf) gruppieren sich im Mittelfeld, an ihrer Entstehung war bei beiden nicht unmittelbar eine männliche Keimzelle beteiligt. Die Entität aus tetraploider Embryoaggregation (Maus) und die in vivo-iPS-Zellen (Maus) sind dem natürlichen Embryo in den GeneseEigenschaften von allen untersuchten Entitäten am unähnlichsten, weil die Vorläuferzellen u. a. weder vollständige Keimzellen noch keimzellähnliche Zellen sind, die eine Meiose durchlaufen haben. Zwischen diesen Entitäten lokalisieren sich weitere in der »Scoring«-Matrix abgebildete Entitäten. Im ersten Drittel befinden sich Entitäten, die auf natürliche Art und Weise entstanden sind oder dem Verlauf einer natürlichen Entwicklung folgen, im mittleren Drittel sind Entitäten, die artifiziell entstanden sind, jedoch in Teilen der natürlichen Entwicklung noch ähnlich sind und im letzten Drittel lokalisieren sich Entitäten, die hoch artifiziell generiert wurden.

natürlich befruchteter Embryo (Mensch) iPS-Zellen (Feederzellkultur, Maus) Entität aus Abdominalgravidität (Mensch) 100 in vivo-iPS-Zellen (Maus) Entität aus tetraploider Embryoaggregation (Maus)

90 80 70

partielle Blasenmole (Mensch) Entität aus tetragametischem Chimärismus (Mensch)

60 Entität aus cybridem SCNT (LeopardKatze)

50

eineiige Zwillingsentität (Mensch)

40 30

Entität aus SCNT (Rhesus)

20

Entität aus IVF (Mensch)

10 Entität aus Embryosplitting (Rhesusaffe)

bimaternale Entität (Maus)

Parthenot (Schwein) Entität aus SCNT (Schaf) Entität aus Embryosplitting (Maus) 2-Zell-ähnliche Zellen (Maus)

0

Entität aus artifiziellen Gameten (Maus)

Entität aus ICSI (Mensch)

fetiformes Teratom (Mensch) Cdx2-defiziente Entität (Maus) ES-Zellen aus parthenogenetischer Blastozyste (Maus) ES-Zellen mit erweitertem Potential (Maus)

Abbildung 1: Darstellung der Verortung der Entitäten innerhalb der Kategorie Genese der »Scoring«-Matrix nach dem Grad der Ähnlichkeit zum natürlich befruchteten Embryo (Mensch) in einem Spinnennetzdiagramm

34

6.

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Gesamtähnlichkeitsanalyse

Die Bestimmung der Gesamtähnlichkeitsanalyse erfolgt, indem die Teilwerte der Teilähnlichkeitsanalysen summiert und prozentualisiert werden. Die Prozentualisierung bezieht sich auf die maximal erreichbare Summe der Teilwerte aller einbezogenen Fragen und wird auf 100 % gesetzt. Beispielsweise würde sich die Prozentualisierung in Tabelle 4 auf die maximale Bepunktung von 12 beziehen. Hierzu gibt es zwei alternative visuelle Darstellungsmöglichkeiten. Abbildung 2 zeigt die Darstellung der Entitäten aus Tabelle 4. Diese Form des Spinnenetzdiagrammes ist besonders geeignet, den Score der einzelnen Entitäten in den jeweiligen Kategorien zu erfassen und vergleichbar zu machen. Das Diagramm verdeutlicht wie nah jede einzelne Entität in den verschiedenen Kategorien dem natürlich befruchteten Embryo (Mensch) ist.

natürlich befruchteter Embryo (Mensch)

En"tät aus ar"fiziellen Gameten (Maus)

Parthenot (Schwein)

tetraploide Embryoaggrega"on (Maus)

SCNT (Schaf)

fe"formes Teratom (Mensch)

in vivo-iPS Zellen (Maus) Summa"on 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 Kons"tu"on

0

Genese

Entwicklungsvermögen

Abbildung 2: Vergleichende Darstellung ausgewählter Entitäten in Bezug zum natürlich befruchteten Embryo unter Berücksichtigung der Kategorien Genese, Entwicklungsvermögen, Konstitution und Gesamtähnlickeit (Summation)

In der Visualisierung der Werte im Diagramm der Abbildung 3 wurde der Score der Wertsummation gegenüber den Einzelwerten aufgetragen. Die Darstellung in diesem Diagramm ist daher besonders geeignet, nach den jeweiligen Entitäten zu sortieren. Eine Auswertung der Verortung soll im Folgenden daher auf Grundlage dieser Diagrammdarstellung erfolgen.

35

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

Summa"on

in vivo-iPS Zellen (Maus)

Genese

Entwicklungsvermögen

natürliche befruchteter Embryo (Mensch) 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

fe"formes Teratom (Mensch)

Kons"tu"on

En"tät aus ar"fiziellen Gamten (Maus)

Parthenot (Schwein)

SCNT (Schaf)

tetraploide Embryoaggrega"on (Maus)

Abbildung 3: Vergleichende Darstellung der Gesamtähnlichkeit ausgewählter Entitäten in Bezug zu den Kategorien Genese, Entwicklungsvermögen und Konstitution

Zur Positionierung der einzelnen Entitäten innerhalb der graphischen Darstellung von Abbildung 4 tragen eine Vielzahl von Eigenschaften bei. Die Summationswerte der Entität aus artifiziellen Gameten (Maus) pendeln ähnlich denen der Entität aus ICSI (Mensch) um einen Mittelwert mit einer Abweichung vom Durchschnittswert von 10 Skalenpunkten. Wie auch die Entität aus ICSI (Mensch) können Entitäten, die aus artifiziellen Gameten (Maus) entstehen, sich bis zur Geburt entwickeln, sind also u. a. in ihrem Entwicklungsvermögen dem natürlich befruchteten Embryo (Mensch) gleichzustellen. Ein konstitutioneller Eingriff erfolgte bei der Entität aus ICSI (Mensch) lediglich beim Einbringen des Spermas in die Eizelle durch eine Kanüle. Kritiker der Methode begründen darin mögliche Spätfolgen auf den entstehenden Embryo. Bei der Entität aus artifiziellen Gameten (Maus) wird meist neben einer intrazytoplasmatischen Spermieninjektion die innere Konstitution dadurch geändert wird, dass nicht Keimbahnzellen, sondern primär keimbahnfremde Zellen die Vorläuferzellen bilden. Der Parthenot (Schwein) ist in seiner Gesamtähnlichkeit gegenüber der Entität aus artifiziellen Gameten (Maus) als artifizieller einzustufen. Zu dieser Position führen geringe Werte im Entwicklungsvermögen, u. a. weil der Parthenot (Schwein) nicht zur Geburt kommt. Auch im Punkt Genese ist er als artifizieller

36

Susan Sgodda

einzustufen, da er u. a. durch das Fehlen einer männlichen Keimzelle nicht auf natürliche oder nicht durch eine auf natürliche Art und Weise technisch durchgeführte Befruchtung entstanden ist. In dem Punkt Änderung der inneren Konstitution ist der Parthenot (Schwein) dem natürlich befruchteten Embryo (Mensch) gegenüber als artifizieller einzustufen, da ihm u. a. der komplette männliche Chromosomensatz fehlt. Im Vergleich zu der Entität aus artifiziellen Gameten (Maus) sind jedoch diese als artifizieller einzustufen, da zu deren Generierung u. a. umfangreiche genetische bzw. epigenetische Manipulationen nötig waren. Entitäten aus tetraploider Embryoaggregation (Maus) entstehen gegenüber dem Parthenoten (Schwein) mittelbar gesehen nur zum Teil aus Keimzellen, zum anderen Teil jedoch aus pluripotenten Zellen. Daher sind sie u. a. in ihrer Genese artifizieller als Parthenoten (Schwein) einzuordnen. In ihrem Entwicklungsvermögen folgen sie dem natürlich befruchteten Embryo (Mensch) und sind daher natürlicher als der Parthenot (Schwein) einzuordnen, der in keiner Säugetierspezies zur Geburt gelangt. In der Kategorie Konstitution ist die Entität aus tetraploider Embryoaggregation (Maus) gegenüber dem Parthenoten (Schwein) als artifizieller einzuordnen. Die Entität aus SCNT (Schaf) und das fetiforme Teratom (Mensch) liegen im Mittelfeld aller aufgeführten Entitäten. In den jeweiligen Kategorien weisen sie große Schwankungen in der Abweichung der Teilkategorien zu den Durchschnittswerten der Gesamtähnlichkeit auf. So ist die Entität aus SCNT (Schaf) in seinem Entwicklungsvermögen als sehr natürlich einzustufen, da er zur Geburt kommt, während er in seiner Genese und Konstitution u. a. so umfangreich verändert wurde, dass er gegenüber dem natürliche befruchteten Embryo (Mensch) als hochgradig artifiziell zu bewerten ist. Zur Positionierung des fetiformen Teratoms (Mensch) haben z. T. gegenteilige Effekte geführt. Ein Teratom zeigt zwar eine Entwicklung, jedoch keine embryoähnliche und kann daher in dem Punkt Entwicklungsvermögen verglichen mit dem natürlich befruchteten Embryo (Mensch), der in der Regel zur Geburt kommt, als artifizieller bezeichnet werden. Jedoch ist das fetiforme Teratom (Mensch) ohne äußeren Einfluss, also auf sehr natürliche Art und Weise entstanden. Die Position der in vivo-iPS-Zellen (Maus) ist hinsichtlich der einzelnen Kategorien und der Summation als statisch anzusehen. Dies bedeutet, dass sie in allen Kategorien gleiche Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit gegenüber dem natürlich befruchteten Embryo (Mensch)aufweisen. Eine unerwartete Nähe sowohl in der Gesamtähnlichkeit als auch in den einzelnen Kategorien zeigt die »Scoring«-Matrix bei der Entität aus artifiziellen Gameten (Maus), die sich in der Nachbarschaft zu der auf Fertilisationstechniken beruhenden Entität aus IVF (Mensch) und Entität aus ICSI (Mensch) lokalisiert.

37

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

Summa"on

Genese

Entwicklungsvermögen

Kons"tu"on

natürlich befruchteter Embryo (Mensch) En"tät aus Abdominalgravidität (Mensch) 100 En"ät aus tetragame"schem 90 Chimärismus (Mensch) 80 eineiige Zwillingsen"tät (Mensch) 70 60 50 par"elle Blasenmole (Mensch) 40 30 En"tät aus IVF (Mensch) 20

iPS-Zellen (Maus) in vivo iPS-Zellen (Maus) Cdx2-defiziente En"tät (Maus) ES-Zellen aus parthenogene"scher Blastozyste (Maus) ES-Zellen mit erweitertem Poten"al (Maus) 2-Zell-ähnliche Zellen (Maus)

10 0

En"tät aus cybridem SCNT(Leopard-Katze) En"tät aus SCNT (Rhesus) bimaternale En"tät (Maus) fe"formes Teratom (Mensch) En"tät aus SCNT (Schaf)

En"tät aus ICSI (Mensch) En"tät aus ar"fiziellen Gameten (Maus) En"tät aus Embryospli!ng (Maus) Parthenot (Schwein) En"tät aus tetraploider Embryoaggrega"on (Maus) En"tät aus Embryospli!ng (Rhesus)

Abbildung 4: Darstellung der Gesamtähnlickeit ausgewählter Entitäten in Bezug zum natürlich befruchteten Embryo unter Berücksichtigung der Kategorien Genese, Entwicklungsvermögen und Konstitution

7.

Ausmaß an Manipulation

Die Kategorie Ausmaß an Manipulation soll die Frage beantworten, ob eine bestimmte experimentelle Methode gegenüber einer anderen zu einem artifizielleren Produkt führt, weil sie technisch oder zeitlich aufwändiger ist oder weil sie mehr Expertise benötigt. Eine direkte Integration dieser Kategorie über den Fragenkatalog gestaltet sich aufgrund der Komplexität und Vielschichtigkeit der Kategorie jedoch als sehr schwierig. Das liegt in erster Linie an der Auswertbarkeit der Basisdaten.73 Ein Aspekt in der Kategorie Ausmaß an Manipulation ist die Anzahl bzw. der Umfang der Arbeitsschritte, die zum Entstehen der jeweiligen Entität nötig sind. Es ist zu prüfen, ob der Einsatz vieler Arbeitsschritte 73 Vgl. auch Kapitel Diskussion, 40ff.

38

Susan Sgodda

zu einem höheren Maß an Artifizialität der entstehenden Entität durch die jeweilige experimentelle Methode führt. Verglichen werden können hier nur artifiziell hergestellte Entitäten, da das Ausmaß an Manipulation an einer auf natürliche Art und Weise entstandenen Entität gleich Null sein muss. Für die Bestimmung der Anzahl bzw. des Umfanges der Arbeitsschritte, die zum Entstehen der jeweiligen Entität geführt haben, wurde aufgrund der schwierigen Auswertbarkeit der Basisdaten die Methode des paarweisen Vergleichs gewählt.74 Dies ist eine Methode, die einzelne Objekte oder Varianten aus einer Menge systematisch nach ihren Eigenschaften oder Variablen immer paarweise miteinander vergleicht und so in eine Rangfolge der Merkmalserfüllung bringt. Damit ist auch die Rangfolgenerstellung von Objekten möglich, die mit Hilfe vorab definierter Kriterien nur schwer oder gar nicht zu bewerten wären. Die Erstellung des paarweisen Vergleichs für ausgewählte Entitäten sowie die Erstellung der Rangfolge der Entitäten ist in der Tabelle 5 dargestellt. Um die Entitäten in eine Rangfolge nach der Anzahl bzw. dem Umfang der experimentellen Schritte zu bringen, werden die einzelnen Entitäten jeweils gegeneinander verglichen und festgelegt, an welchen der Entitäten im paarweisen Vergleich jeweils mehr Arbeitsschritte durchgeführt wurden.75 Im Ergebnis entsteht eine Summation von Bewertungspunkten, die in eine Rangskala der bewerteten Entitäten gebracht werden kann.76 Entitäten, die im Vergleich zum natürlich befruchteten Embryo (Mensch) durch sehr wenige Arbeitsschritte entstanden sind, sind Entität aus IVF (Mensch, Entität aus ICSI(Mensch), der Parthenot (Schwein) und die 2-Zell-ähnlichen Zellen (Maus). ES-Zellen aus IVF-Embryonen (Mensch), Entitäten aus Embryosplitting (Maus) hergestellt wurden, Entitäten aus SCNT (Schaf), iPS-Zellen (Feederzellkultur, Maus)sowie in vivo-iPS-Zellen (Maus) lokalisieren sich im Mittelfeld. Entitäten, die über sehr viele Arbeitsschritte hergestellt wurden, sind die Cdx2-defiziente Entität (Maus), die Entität aus artifiziellen Gameten (Maus) und die bimaternalen Entität (Maus).

74 Drews & Hillebrand 2010. 75 Siehe Legende in Tabelle 5, 39. 76 Siehe Tabelle 5, Summe, 39.

2 2 0 2 2 2 2 2 0 2 2 0

Entität aus Embryonensplitting (Maus)

Entität aus SCNT (Schaf)

Parthenot (Schwein)

bimaternale Entität (Maus)

iPS-Zellen (Feederzellkultur, Maus)

in vivo-iPS-Zellen (Maus)

ES-Zellen aus IVF-Embryonen (Mensch)

Entität aus tetraploider Embryoaggregation (Maus)

2 Zell-ähnliche Zellen (Maus)

Cdx2-defiziente Entität (Maus)

Entität aus artifiziellen Gameten (Maus)

natürlich befruchteter Embryo (Mensch)

0

2

2

0

2

2

2

2

2

0

2

2

0

Entität aus ICSI (Mensch) 0

2

2

0

2

1

2

2

2

0

2

0

Entität aus Embryonensplitting (Maus)

0

0

Entität aus SCNT (Schaf) 0

2

2

0

0

0

2

2

2

0

0

0

2

Parthenot (Schwein) 0

2

2

0

2

2

2

2

2

2

2

2

0

bimaternale Entität (Maus) 0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

iPS-Zellen (Feederzellkultur, Maus) 0

2

2

0

2

0

2

2

0

0

0

0

0

in vivo-iPS-Zellen (Maus) 0

0

0

0

2

2

0

2

0

0

0

0

0

ES-Zellen aus IVF-Embryonen (Mensch) 0

2

2

0

2

2

2

2

0

2

1

0

0

Entität aus tetraploider Embryoaggregation (Maus) 0

2

1

0

0

0

0

2

0

2

0

0

0

0

2

2

2

2

2

2

2

2

2

2

2

2

2 Zell-ähnliche Zellen (Maus)

Tabelle 5: Darstellung des paarweisen Vergleichs der Anzahl bzw. des Umfanges der Arbeitsschritte zur Generierung der jeweiligen Entität Legende der Bepunktung Zur Herstellung der Entität aus IVF werden mehr Arbeitsschritte als zur Herstellung der Entiät aus ICSI benötigt: 2 Punkte Zur Herstellung der Entität aus IVF werden gleich viele Arbeitsschritte wie zur Herstellung der Entiät aus ICSI benötigt: 1 Punkt Zur Herstellung der Entität aus IVF werden weniger Arbeitsschritte als zur Herstellung der Entiät aus ICSI benötigt: 0 Punkte

2

Entiät aus IVF (Mensch)

Entität aus ICSI (Mensch)

Entitäten Entität aus IVF (Mensch)

Cdx2-defiziente Entität (Maus) 0

2

0

1

0

2

0

2

0

0

0

0

0

Entität aus artifiziellen Gameten (Maus) 0

0

0

0

0

2

0

2

0

0

0

0

0

natürlich befruchteter Embryo (Mensch) 2

2

2

2

2

2

2

2

2

2

2

2

2

Summe

0 100

184

12

10

1

10

7

12

9

14

2

9

6

4

3

Prozent 0

22

19

2

19

13

22

16

26

4

16

11

8

6

Rangfolge 0

9

8

1

8

6

9

7

10

2

7

5

4

3

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

39

40

8.

Susan Sgodda

Anwendung der »Scoring«-Matrix durch den Einsatz von Filtern

Die »Scoring«-Matrix bildet ein komplexes Übersichtswerk, welches durch den Einsatz von Filtern Ähnlichkeiten verschiedener Entitäten visualisieren bzw. hinterfragen kann. Durch den Einsatz eines solchen Filters können entweder Eigenschaften oder Entitäten direkt ausgewählt werden. Somit kann die »Scoring«-Matrix als Instrument für die normativen Wissenschaften fungieren. Die folgende Beispielfilterung kann die Auswahl nach Eigenschaften verdeutlichen. Die Eigenschaften: »Potential zu geordneter dreidimensionaler organismischer Entwicklung«, »diploider Chromosomensatz« und die Merkmale »kein Klon« und »kein Hybrid« führen zur Auswahl folgender Entitäten: natürlich befruchteter Embryo (Mensch), der Parthenot (Schwein) und die Entität aus artifiziellen Gameten (Maus). Die Gruppe der Entitäten, die nur einen Teil der Merkmale erfüllen, enthält die Entität aus SCNT (Schaf), die Entität aus tetraploider Embryoaggregation (Maus), das fetiforme Teratom (Mensch) und die in vivo-iPS-Zellen (Maus). Eine Beispielfilterung nach der Auswahl von Entitäten, die alle eine Eigenschaft teilen, wäre wie folgt: der natürlich befruchtete Embryo (Mensch), die Entität aus artifiziellen Gameten (Maus), der Parthenot (Schwein), die Entität aus tetraploider Embryoaggregation (Maus), die Entität aus SCNT (Schaf), das fetiforme Teratom (Mensch) und die in vivo-iPS-Zellen (Maus) teilen alle nur die Eigenschaft, dass die Entität fähig ist, alle drei Keimblätter zu bilden. Die konstitutionelle Eigenschaft, dass sie genetisch betrachtet eine Mutter und einen Vater besitzen, trifft nur für den natürlich befruchteten Embryo (Mensch) und die Entität aus artifiziellen Gameten (Maus) zu.

9.

Diskussion

Aufgrund der Verortung in der biologischen »Scoring«-Matrix wurden viele Entitäten innerhalb der Skalierung zwischen Natürlichkeit und Artifizialität so lokalisiert wie es mit einer lebensweltlich-intuitiven Betrachtung erwartet werden könnte. Jedoch hat die Verortung in der »Scoring«-Matrix auch ein unerwartetes Ergebnis offengelegt. Die Entität aus artifiziellen Gameten (Maus) lokalisiert sich in der Nähe zu den IVF- und ICSI-Techniken, obwohl sie lebensweltlich-intuitiv von den meisten als höchst artifiziell und weit entfernt von dem Einsatz in einer gängigen Fertilisationspraxis wahrgenommen werden würde. Diese Verortung ist insofern ein interessantes Ergebnis, da es sich bei IVF und ICSI um Fertilisationstechniken handelt, bei welchen perspektivisch gesehen durchaus artifizielle

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

41

Gameten zum Einsatz kommen könnten, da diese Technik bei höheren Säugetieren bereits etabliert ist.77 Es bleibt zu fragen, aufgrund welcher Eigenschaften es zu dieser Verortung gekommen ist und welchen Wert diese Verortung nach sich zieht. Mit der vorliegenden »Scoring«-Matrix wurde eine Methode entwickelt, die sich primär zum Ziel gesetzt hat, ein auf naturwissenschaftlich fundierten Merkmalen verschiedener Entitäten ausgerichtetes Übersichtswerk für deren biologische Einordnung zwischen Natürlichkeit und Artifizialität zu schaffen. Als sekundäres Ziel sollte die »Scoring«-Matrix als Diskussionsanreiz für den normativen Forschungsbereich fungieren, jedoch nicht das Ziel verfolgen, eine direkt daraus ableitbare normative Entscheidungsfindung in der Bewertung artifizieller Entitäten anzustreben. Letzteres könnte direkt die womöglich größte Kritik an der »Scoring«-Matrix entkräften – die Subjektivität in der Auswahl und Relevanz der einzelnen Eigenschaften und Kategorien und die auf dem Score beruhende mögliche Potenzierung im Endprodukt. Da eine normative Bewertung nicht Gegenstand der vorliegenden Methodik und Arbeit sein sollte, ist die Subjektivität des Bearbeiters jedoch ein zu vernachlässigender Faktor, der zudem gänzlich nur durch Wiederholung der Methodik durch mehrere Bearbeiter zu beheben ist. Zu ergänzen ist, dass die »Scoring«-Matrix ein offenes System ist und mit der Aufnahme jeder neuen Eigenschaft oder Entität angepasst werden muss. Mit der Erhebung der Daten der »Scoring«-Matrix zeigte sich, dass die einzelnen Eigenschaften und daraus abgeleiteten Kategorien unterschiedlichen Nutzen für die Erhebung selbst und auch unterschiedliche Relevanz zeigen. Als biologische Relevanz kann die biologische Bedeutsamkeit eines Faktors X für einen Prozess Y ausgelegt werden. Dem voraus gehen empirische Daten, die statistische Relevanz aufzeigen müssen. Aus einer biologischen Relevanz kann, muss jedoch nicht, eine normative Relevanz folgen. Unbedingt biologische Relevanz für das Entwicklungsvermögen einer Entität hat die Eigenschaft der Totipotenz. Dies ist bedingt durch die Definition von Totipotenz – ist eine Zelle totipotent, erreicht der sich daraus entwickelnde Embryo die Geburt. Bedingt biologisch relevant für das Entwicklungsvermögen sind Aspekte zur Genese. Die Art und Weise wie eine Entität generiert wurde, kann, jedoch muss nicht zwangsläufig Auswirkungen auf sein Entwicklungsvermögen haben. Dies zeigt das Beispiel der Entität aus artifiziellen Gameten (Maus), welche trotz einer artifiziellen Keimbahngenerierung in der Lage ist, lebensfähige Individuen hervorzubringen.78 Auch die innere Konstitution einer Entität kann, jedoch muss nicht direkt eine Auswirkung auf das Entwicklungsvermögen haben. Parthenoten (Schwein) 77 Hikabe et al. 2016, 299–303. 78 Hikabe et al. 2016, 299–303.

42

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können sich durch eine artifizielle Aktivierung der Eizelle nur bis zu einem späten Embryonalstadium entwickeln. Eine Reihe von Experimenten hat gezeigt, dass in der Spezies Maus durch umfangreiche genetische und epigenetische Manipulationen die vorgeburtliche Entwicklungsspanne immer weiter bis zur Geburt ausgedehnt werden kann.79 Dem gegenüber zu halten ist, dass bei weitem nicht jede menschliche befruchtete Eizelle einen lebensfähigen Menschen hervorbringen kann, d. h. der Aspekt der Natürlichkeit ist nicht zwangsläufig mit unbedingter Entwicklungsfähigkeit gleichzusetzen. Jedoch bedeuten auch umfangreiche methodische Manipulationen, wie oben in der Spezies Maus dargestellt, nicht zwangsläufig ein hohes Maß an Entwicklungsvermögen. Es gibt durchaus auch Methoden, die trotzdem sie in vielen Spezies etabliert sind, in einigen Spezies nicht zu vergleichbaren experimentellen Erfolgen führen. Während der somatische Zellkerntransfer in vielen Säugetierspezies erfolgreich etabliert ist und sogar mittlerweile zur Klonierung von Haustieren kommerzialisiert wurde80, zeigen Experimente zum somatischen Zellkerntransfer beim Rhesusaffen, dass durch verstärkte Manipulation ein bis zur Geburt ausgedehntes Entwicklungsvermögen bislang nicht bei jeder Spezies erreicht werden kann.81 Aspekte zur Genese, Totipotenz, Entwicklungsvermögen und Konstitution stellen unbedingt oder bedingte biologisch relevante Punkte dar. Bei dem untersuchten Aspekt der Kategorie Ausmaß an technischer Manipulation, konkreter Weise bei der Anzahl bzw. der Umfang der durchführten Arbeitsschritte, die zum Entstehen einer Entität führen, scheint es sich biologisch gesehen nicht um einen relevanten Punkt zu handeln. Werden Methoden wie IVF oder ICSI betrachtet, so werden zu deren Durchführung vergleichsweise wenige Schritte benötigt. Vergleichsweise viele Schritte werden benötigt, um die oben erwähnte bimaternale Entität (Maus) oder eine Cdx2-defiziente Entität (Maus) herzustellen. Dies würde mit einer lebensweltlich-intuitiven Einordnung einhergehen, denn diese Entitäten müssten von der Konstitution als gering artifiziell [(Entität aus IVF (Mensch), Entität aus ICSI (Mensch)] oder als sehr artifiziell [(bimaternale Entität (Maus), Cdx2-defiziente Entität (Maus)] bezeichnet werden. Die Herstellung einer Entität aus artifiziellen Gameten (Maus) bedarf allerdings auch vieler experimenteller Arbeitsschritte, wohingegen diese konstitutionell gesehen als eher artifiziell eingeordnet werden müsste. So scheint es naturwissenschaftlich gesehen kaum stringent zu sein, ob der Aspekt einer kurzen oder langen Einflussnahme auf die Entität in einem Zusammenhang mit der inneren Konstitution und dem Entwicklungsvermögen steht und somit Grundlage für eine darauf basierende Bewertung des Artifizialitätsausmaßes sein kann. Dafür 79 Kawahara & Kono 2010, 457–461. 80 Stremmel 2016, Wissen / Tiere. 81 Sparman et al. 2010, 1671–1678.

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

43

scheint primär verantwortlich zu sein, dass die Auswertbarkeit der Daten aufgrund der Vielschichtigkeit einer speziellen Methodik an sich als auch im Vergleich unterschiedlicher experimenteller Methoden als sehr schwierig einzustufen ist. Der Zeitaufwand eines Experimentes ist nicht standardmäßiger Bestandteil gängiger Publikationen und lässt sich daher erst einschätzen, wenn das Experiment einmal selbst durchgeführt wurde. Das Knowhow des Experimentators ist dabei ein variabler Faktor. Wesentlich weniger Zeit für ein bestimmtes Experiment benötigt möglicherweise ein erfahrener Experimentator als ein experimenteller Anfänger, auch könnte das von ihm produzierte Ergebnis qualitativ besser ausfallen. Außerdem stellt sich die Frage, was überhaupt als einzelner Arbeitsschritt zu werten ist. Allenfalls vergleichbar wären inhaltlich stark ähnelnde Experimente (z. B. IVF und parthenogenetische Aktivierung). Es stellt sich weiterhin die Frage, ob z. B. jeder Mediumwechsel bei der Kultivierung der parthenogenetischen Embryonen als eigenständiger Arbeitsschritt zu werten ist oder nur ein Mediumwechsel, bei dem eine aktivierende Substanz ins Medium gegeben wird. Noch schwieriger lassen sich völlig unähnliche Experimente miteinander vergleichen. Wenngleich die Methodik des paarweisen Vergleichs an sich funktioniert, muss doch das Ergebnis aufgrund der Problematik der schwierigen Auswertbarkeit der Daten und der damit immer einhergehenden subjektiven Herangehensweise in Frage gestellt werden. Daher bleibt in diesem Punkt das Ergebnis hinter den Erwartungen, dass mit dieser Methode eine sichere Ergebnisfindung erreicht werden kann, zurück. Neben naturwissenschaftlicher Relevanz kommt normative Relevanz vor allen anderen der Kategorie »Totipotenz« zu. Mit dem Rückgriff auf das Totipotenzkriterium wird in Kombination mit der Eigenschaft »Embryo« auf juristische Betrachtungsweise die Zuteilung von Schutzrechten erreicht.82 Auch dem Ausgangsmaterial, dem Belegenheitsort der Entität, dem Entwicklungsvermögen (Entwicklungsfähigkeit) und dem Zweck der Herstellung lässt sich normative Bedeutung zuschreiben.83 Wie im juristischen Beitrag argumentiert, kann auch bei biologischer Betrachtungsweise der Relevanz der biologischen Aspekte Genese, Totipotenz, Entwicklungsvermögen und Konstitution kein eindeutiger Vorteil von Natürlichkeit erkannt werden.84 Es bietet sich daher an, diese multiplen biologischen Aspekte in einer gesamtheitlichen Betrachtungsweise im Rahmen der »Scoring«-Matrix in Parallelität zu betrachten. Die vorliegende »Scoring«-Matrix kann im Vergleich zu der in der Publikation Advena-Regnery et al. 2012 durchgeführten linearen Skalierung 82 Enghofer/Haider, in diesem Band, 116ff. 83 Enghofer/Haider, in diesem Band, 175ff. 84 Enghofer/Haider, in diesem Band, 139.

44

Susan Sgodda

der Entitäten zwischen Natürlichkeit und Artifizialität sehr viel differenzierter unterscheiden, da sie neben der Darstellung in der Gesamtähnlichkeitsanalyse in Parallelität die Teilähnlichkeiten betrachten kann. Sie beruht insgesamt auf sehr viel mehr zusammengestellten Einzelmerkmalen und kann in diesen begründbar zurückverfolgt werden. Die Verortung der Entitäten nach ihren Teilähnlichkeiten wird erwartungsgemäß erreicht. Den Erwartungen würde entsprechen, dass mit jeglicher Veränderung in den Aspekten Genese, Entwicklungsvermögen oder Konstitution im Vergleich zum natürlich befruchteten Embryo (Mensch) ein höherer Grad an Artifizialität erreicht wird. Daher finden sich z. B. konstitutionell stark manipulierte artifizielle Entitäten mit geringem Entwicklungsvermögen im hinteren Bereich des Spinnennetzdiagrammes, da ihre Ähnlichkeit zum natürlich befruchteten Embryo (Mensch) bezogen auf die Gesamtgruppe am geringsten ausfällt. Die Verortung der Entitäten in der Kategorie Gesamtähnlichkeit entspricht insofern den Erwartungen, dass dieses Endprodukt die Summe aller Eigenschaften mittels des Gesamt-Scores abbildet. Das Endprodukt zeigt die relative Abweichung einer bestimmten Entität vom natürlich befruchteten Embryo (Mensch) unter Berücksichtigung der Summe aller Eigenschaften. Da viele unterschiedliche Entitäten mit vielen unterschiedlichen Eigenschaften verglichen werden, war es auch zu erwarten, dass sich bei der Durchschnittsbildung auch rein rechnerisch eine breite Abweichung der einzelnen Teilkategorien im Vergleich zur Gesamtähnlichkeit ergibt. Da aus diesem Summationswert nicht automatisch auf den jeweiligen Einzelwert geschlossen werden kann, ist die Angabe der Gesamtähnlichkeit nur im parallelen Vergleich mit den Teilähnlichkeitswerten sinnvoll. Andernfalls würde in den Summationswerten z. B. untergehen, in welcher Kategorie die jeweilige Entität in welchem Grad vom natürlichen Embryo abweicht. Zudem ist in kritischer Weise zu sagen, dass eine alleinige Betrachtung der Gesamtähnlichkeit biologisch nicht plausibel sein kann, da selbst in einer lebenswissenschaftlichen Anschauung Lebewesen als stets mehr als die Summe ihrer Teile zu verstehen sind. Unerwartet war die Verortung der Entität aus artifiziellen Gameten (Maus). Aufgrund der konstitutionellen Manipulation der Ursprungszellen würde die Platzierung dieser Entität lebensweltlich-intuitiv weiter im Mittelfeld erwartet werden. Der Grund dafür kann primär eine Frage der Methodik und sekundär eine Frage des Sachverhaltes an sich sein. Eventuell existieren zu wenig spezifische Fragen zu präkonzeptioneller Manipulation in einem Keimbahnkontext. Ein weiterer Grund kann aber auch sein, dass keine andere Entität in diesem Entwicklungsstadium und in diesem Ausmaß reguliert wird. ES-Zellen und iPSZellen konnten sich bislang mittels der tetraploiden Embryoaggregation auch in einem vorgeburtlichen Kontext befinden, jedoch nicht in einen Keimbahnkon-

Erstellung einer »Scoring«-Matrix

45

text, der bisher nur natürlichen Embryonen und Entitäten vorbehalten war. Die derzeitige Sachlage zu »artifiziellen Gameten« spiegelt dieses Ergebnis wider. Findet die Differenzierung von iPS-Zellen zu Keimzellen ohne Änderung des genetischen Hintergrundes statt, ist deren Herstellung derzeit rechtlich nicht verboten. Es bleibt zu fragen, ob aufgrund einer ethischen Bewertung der Differenzierungsprozesse von iPS-Zellen zu keimzellähnlichen Zellen ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht.

10.

Zusammenfassung

Das Ziel der Erstellung einer biologischen »Scoring«-Matrix sollte eine biologische, auf wissenschaftlich fundierten Merkmalen basierende Einordnung und Verortung von verschiedenen Entitäten in mehrdimensionaler Weise sein. Diese »Scoring«-Matrix sollte damit eine Wissensgrundlage und ein Diskussionsanreiz für die normativen Wissenschaften darstellen. Für die Verortung in mehreren Dimensionen wurde das Modell der Nutzwertanalyse aus dem Bereich des Projektmanagements und der Systemtechnik adaptiert. Durch die Anwendung von Kriterienfiltern ist eine direkte Auswahl nach Eigenschaften und Entitäten und somit ein direkter Vergleich möglich. Das Ergebnis der Verortung in den Teilkategorien erfolgt erwartungsgemäß. Mit zunehmender Artifizialität der einzelnen Eigenschaften in den einzelnen Kategorien entfernt sich eine beliebige Entität immer weiter vom natürlich befruchteten Embryo (Mensch) auf einer durch die Gesamtheit aller Entitäten definierten Skala. Die Betrachtung aller Eigenschaften kann auf mehrdimensionale Art und Weise erfolgen, kann aber auch mittels des Gesamt-Scores in einem Diagramm dargestellt werden. Da die unterschiedlichen Eigenschaften der Entitäten stark differieren, ist eine gesamtheitliche Betrachtung nur im Zusammenhang mit der Betrachtung der einzelnen Teilähnlichkeiten biologisch plausibel. Eine Bewertung der jeweiligen Eigenschaften und Kategorien erfolgte nicht in der Erstellung der biologischen »Scoring«-Matrix, jedoch aber auszugsweise in den normativen Teilprojekten.85 Die Kategorien und Eigenschaften Totipotenz, Genese, Entwicklungsvermögen und innere Konstitution stellten sich als naturwissenschaftlich relevant heraus. Die Entität aus artifiziellen Gameten (Maus) zeigte eine unerwartete Verortung in der »Scoring«-Matrix in der Nähe der Fertilisationstechniken IVF und ICSI, deren normative Konsequenz noch zu diskutieren sein wird.

85 Enghofer/Haider, in diesem Band, 138ff.

46

11.

Susan Sgodda

Referenztabelle der Entitäten

eineiige Zwillingsentität (Mensch)

Bulmer 1970,

Entität aus IVF (Mensch) Entität aus ICSI (Mensch) Entität aus tetragametischem Chimärismus (Mensch) Entität aus Abdominalgravidität (Mensch)

Steptoe & Edwards 1978, 366 Palermo et al. 1992, 17–18 Strain et al. 1998, 166–169 Hohlweg-Majert et al. 1981, 297–298

Entität aus Embryosplitting nach IVF (Mensch) Entität aus Embryosplitting nach ICSI (Mensch)

Illmensee & Levanduski 2010, 57–63

Entität aus Embryosplitting (Rhesusaffe) Entität aus Embryosplitting (Maus)

Mitalipov et al. 2002, 1449–1455

Entität aus SCNT (Mensch) Entität aus SCNT (Rhesusaffe)

Tachibana et al. 2013, 1228–1238

Entität aus SCNT (Schaf) Entität aus cybridem SCNT (Mensch-Kaninchen)

Wilmut et al. 1997, 810–813

Entität aus cybridem SCNT (Leopard-Katze) Parthenot (Mensch)

Van de Velde et al. 2008, 1742–1747

Papaioannou et al. 1989, 817–827

Sparman et al. 2010, 1671–1678

Chen et al. 2003, 251–263 Xiijin et al. 2006 Revazova et al. 2007, 432–449

Parthenot (Schwein) bimaternale Entität (Maus)

Zhu et al. 2003, 355–365

fetiformes Teratom (Mensch) partielle Blasenmole (Mensch)

Kuno et al. 2004, 40–46

iPS-Zellen (Feederzellkultur, Mensch) iPS-Zellen (Feederzellkultur, Maus)

Takahashi et al. 2007, 861–872

Kono et al. 2004, 860–864

Joergensen et al. 2014, 370 e371–319

Takahashi & Yamanaka 2006b, 663–676

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Erstellung einer »Scoring«-Matrix

in vivo-iPS-Zellen (Maus) ES-Zellen aus IVF-Embryonen (Mensch)

Abad et al. 2013, 340–345 Thomson et al. 1998, 1145–1147

ES-Zellen aus parthenogenetischer Blastozyste Revazova et al. 2007, 432–449 (Mensch) ES-Zellen aus parthenogenetischer Blastozyste Leeb et al. 2012, 3301–3305 (Maus) ES-Zellen aus cybrider SCNT-Blastozyste (Mensch-Kaninchen) ES-Zellen mit erweitertem Potential (Maus)

Chen et al. 2003, 251–263 Chung et al. 2006, 216–219

Entität aus tetraploider Embryoaggregation (Maus) 2-Zell-ähnliche Zellen (Maus)

Nagy et al. 1993, 8424–8428

Cdx2-defiziente Entität (Maus) Entität aus artifiziellen Gameten (Maus)

Meissner & Jaenisch 2006, 212–215

12.

Macfarlan et al. 2012, 57–63

Hayashi & Saitou 2013b, 1513–1524

Referenzliste

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Susan Sgodda

Herbstritt, L./Hobom, B./Hoffrichter, O./Hohl, M./Hoos, K./Horn, D./Horn, E./Huber, C./Huber, G./Huber, R./ Hug, A. M./Illerhaus, J./Illes, P./Illing, R.-B./Irmer, J./Jaekel, K./ Jäger, R./Jahn, I./Jahn, T./Jendritzky, G./Jendrsczok, C./Jerecic, R./Jordan, E./Just, L./ Just, M./Kary, M./Kaspar, R./Kattmann, U./Kindt, S./Kirchner, W./Kirkilionis, E./Kislinger, C./Klein-Hollerbach, R./Klonk, S./Kluge, F./König, S./Körner, H./Kössel, H./ Kühnle, R./Kuss, S./Kyrieleis, A./Lahrtz, S./Lamparski, F./Landgraf, U./Lange, H./Lange, J./Langer, B./Larbolette, O./Laurien-Kehnen, C./Lay, M./Lechner-Ssymank, B./Leinberger, A./Leven, F.-J./Liedvogel, B./Littke, W./Loher, W./Lützenkirchen, G./Mack, F./ Mahner, M./Maier, R./Maier, U./Marksitzer, R./Markus, M./Martin, S./Medicus, G./ Mehler, L./Mehraein, S./Meier, K./Meineke, S./Mohr, H./Mosbrugger, V./Mühlhäusler, A./Müller, R./Müller, U./Müller, W. H./Murmann-Kristen, L./Mutke, J./Narberhaus, I./ Neub, M./Neumann, H./Neumann, H./Nick, P./Nörenberg, W./Nübler-Jung, K./Oehler, J./Oelze, J./Olenik, C./Osche, G./Panesar, A. R./Panholzer, B./Paul, A./Paulus, H./Pfaff, W./Pickenhain, L./Probst, O./Ramstetter, E./Ravati, A./Rehfeld, K./Reiner, S. A./Riede, K./Riegraf, W./Riemann, D./Roth, G./Rübsamen-Waigmann, H./Sachße, H./Sander, K./ Sauer, P./Sauermost, E./Sauermost, R./Schaller, F./Schaub, G. A./Schickinger, J./ Schindler, F./Schindler, T./Schley, Y./Schling-Brodersen, U./Schmeller, D./Schmitt, M./ Schmuck, T./Scholtyssek, C./Schön, G./Schönwiese, C.-D./Schwarz, E./Seibt, U./Sendtko, A./Sitte, P./Spatz, H.-C./Speck, T./Ssymank, A./Starck, M./Steffny, H./Sternberg, K./ Stöckli, E./Streit, B./Strittmatter, G./Stürzel, F./Sudhaus, W./Tewes, U./Theopold, U./ Uhl, G./Unsicker, K./Vaas, R./Vogt, J./Vollmer, G./Wagner, E./Wagner, E.-M./Wagner, T./Wandtner, R./Warnke-Grüttner, R./Weber, M./Wegener, D./Weth, R./Weyand, A./ Weygoldt, P./Wicht, H./Wickler, W./Wild, R./Wilker, L./Wilmanns, O./Wilps, H./ Winkler-Oswatitsch, R./Wirth, U./Wirth, V./Wolf, M./Wuketits, F. M./Wülker, W./ Zähringer, H./Zeltz, P./Ziegler, H./Ziegler, R./Zimmermann, M./Zissler, D./Zöller, T./ Zompro, O.: Lexikon der Biologie, Spektrum Akademischer Verlag online, Heidelberg 1999, http://www.spektrum.de/lexikon/biologie/embryo/20980, eingesehen am 14. 01. 2017. Barton, S. C./Adams, C. A./Norris, M. L./Surani, M. A.:. Development of gynogenetic and parthenogenetic inner cell mass and trophectoderm tissues in reconstituted blastocysts in the mouse. In: J Embryol Exp Morphol. Bd. 90, 1985, 267–285. Beddington, R. S./Robertson, E. J.: An assessment of the developmental potential of embryonic stem cells in the midgestation mouse embryo. In: Development. Bd. 105,1989, 733–737. Bulmer, M. G.: The biology of twinning in man. New York 1970. Chen, Y./He, Z. X./Liu, A./Wang, K./Mao, W.W./Chu, J. X./Lu, Y./Fang, Z. F./Shi, Y. T./ Yang, Q. Z./Chen, D. Y./Wang, M. K./Li, J. S./Huang, S. L./Kong, X. Y./Shi, Y. Z./Wang, Z. Q./Xia, J. H./Long, Z. G./Xue, Z. G./Ding, W. X./Sheng, H. Z.: Embryonic stem cells generated by nuclear transfer of human somatic nuclei into rabbit oocytes. In: Cell Res. Bd. 13, 2003, 251–263. Chung, Y. G./Eum, J. H./Lee, J. E./Shim, S. H./Sepilian, V./Hong, S. W./Lee, Y./Treff, N. R./ Choi, Y. H./Kimbrel, E. A./Dittman, R. E./Lanza, R./Lee, D.R.:Human somatic cell nuclear transfer using adult cells. In: Cell Stem Cell. Bd. 14, 2014, 777–780. Chung, Y./Klimanskaya, I./Becker, S./Marh, J./Lu, S. J./Johnson, J./Meisner, L./Lanza, R.: Embryonic and extraembryonic stem cell lines derived from single mouse blastomeres. In: Nature. Bd. 439, 2006, 216–219.

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Susan Sgodda

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Tabelle der Basisdaten als online-download

http://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/sgodda_tabelle (unter Downloads) Passwort: SA2c2kpWfQ

Michael Ott

Kommentar: Ähnlichkeit als Grundlage für die normative Bewertung?

Neue Verfahren wurden in der zurückliegenden Dekade vorgestellt und publiziert, um Zellen mit totipotenten und totipotenzähnlichen Eigenschaften zu entwickeln. Diese Techniken sind für das Klonen von Tieren, für die Herstellung chimärer Organe und andere Bereiche der biologischen Grundlagenforschung sowie für die medizinische Forschung von großer Bedeutung und werfen speziell bei einer Anwendung an menschlichen Zellen zahlreiche ethische und juristische Fragen auf. Manche Forschungsdaten zu diesem Thema lassen eine Totipotenz der generierten zellulären Entitäten, d. h. die Fähigkeit, sich unter geeigneten Bedingungen zu einem vollständigen Organismus zu entwickeln, allerdings nur vermuten, und nur bei wenigen Ansätzen wurde Totipotenz im Tierexperiment nachgewiesen. Dem Beitrag von Susan Sgodda kommt zunächst das Verdienst zu, die Fülle an neuen Techniken aus der Fortpflanzungsmedizin, Stammzellforschung und biologischen Grundlagenforschung sowie Beispiele aberranter natürlicher Embryonalentwicklungen zusammenzustellen, zu systematisieren und zu veranschaulichen. Diese wissenschaftlich fundierte Zusammenstellung soll dem Ziel dienen, eine Grundlage für normative Bewertungen einzelner Techniken und Erkenntnisse bereitzustellen unter Bezug auf das derzeit gültige Embryonenschutzgesetz und den in diesem Gesetz verwendeten Begriff der Totipotenz. Sgodda systematisiert die gesammelten Techniken und Verfahren bzw. die daraus resultierenden Entitäten anhand eines umfangreichen Fragenkatalogs und gelangt durch Anwendung eines Punkteschemas zu einer Bewertung der funktionellen Ähnlichkeit oder generativen Artifizialität einer neuen zellulären Entität oder einer aberranten natürlichen Embyronalentwicklung in Bezug auf den natürlich entstandenen Embryo, der als Referenzorganismus herangezogen wird. Die Punktwerte für die einzelnen Fragen werden summiert und als prozentuale Abweichung zur Norm (natürliche Embryonalentwicklung) in einem Spinnennetzdiagramm dargestellt. Bevor ich zu Inhalt und Methodik des Beitrags Stellung nehme, muss zunächst die Frage gestellt werden, ob der Einschluss nicht normgerechter, aber natürlicher Abläufe in der Embryonalentwicklung in dieser Übersicht dem überge-

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Michael Ott

ordneten Ziel einer normativen Bewertung totipotenter Entitäten dienlich ist. Nicht normgerechte, aber natürlich ablaufende embryonale Entwicklungen, wie sie beispielsweise bei der extrauterinen Schwangerschaft auftreten, können zwar durch eine Ähnlichkeitsbewertung bezugnehmend auf die normale embryonale Entwicklung kategorisiert werden, würden aber bei weiterer Betrachtung schwerlich einer normativen Bewertung unterliegen, da sie zwar »natürlich«, jedoch schicksalhaft verlaufen. Natürlich ablaufende embryologische Vorgänge können also weder verboten noch erlaubt werden und entziehen sich in ihrer Unabänderlichkeit daher einer ethischen Bewertung. Die Kategorisierung und Bewertung der Ähnlichkeiten von willentlich und manipulativ herbeigeführten zellulären und geweblichen embryonalen Entitäten mit der natürlichen Embryonalentwicklung lässt sich im Rahmen des interdisziplinären Projekts »Entwicklungsbiologische Totipotenz« kaum von dem Kontext einer ethischen und gesetzlichen Bewertung derselben trennen. Ob in diesem Zusammenhang die Verwendung einer Scoringmatrix geeignet ist, muss hinterfragt werden. Die Angabe eines summierten Prozentwertes für die Ähnlichkeit beziehungsweise Abweichung von dem Referenzorganismus des natürlichen Embryos suggeriert, dass auch eine normative Bewertung einzelner Entitäten, die willentlich und durch manipulative Techniken hergestellt werden, bereits durch Erreichen eines Schwellenwertes für die Ähnlichkeit abgeleitet werden kann. Auch wenn die Kategorisierungen und Fragen gewichtet sind, entbindet die Scoringmatrix nicht von einer detaillierten Bewertung einzelner Kriterien und Eigenschaften im Hinblick auf ihre normative Bedeutung. Ob oder in welchem Ausmaß die Ähnlichkeit eines Verfahrens mit der natürlichen Norm oder der Grad der Artifizialität ein entscheidendes Kriterium für normative Bewertungen darstellen kann, soll im Folgenden an einzelnen Beispielen diskutiert werden. Das Embryonenschutzgesetz verbietet die Zerstörung von Zygoten und sich hieraus entwickelnder Embryonen für reproduktionsmedizinische oder wissenschaftliche Zwecke. Eine solche Zerstörung kann beispielsweise notwendig werden, wenn humane embryonale Stammzellen generiert werden sollen. Um der Wissenschaft einen Zugang zu humanen Stammzelllinien zu ermöglichen, wurde mit dem Stammzellgesetz eine Stichtagsregelung eingeführt und die Einfuhr von Stammzellen, die vor dem Stichtag im Ausland aus menschlichen Embryonen generiert wurden, unter bestimmten Bedingungen gesetzlich erlaubt. Argumentativ wurde für das Verbot der Verwendung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken unter anderem die totipotente Entwicklungsfähigkeit einer Zygote herangezogen, die als ein Kriterium für die Bestimmung des Embryos herangezogen wird. Totipotenz beschreibt in diesem Zusammenhang die Eigenschaft einer Zelle, aus sich heraus geordnet embryonales und unterstützendes Gewebe ausbilden und zu einem vollständigen Organismus reifen zu können. Die Herstellung einer totipotenten Zygote durch in vitro-

Kommentar: Ähnlichkeit als Grundlage für die normative Bewertung?

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Fertilisation (IVF) oder intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) wurde als ethisch akzeptabel und erlaubt eingestuft, da hier eine natürliche Befruchtung unterstützt bzw. nachgeahmt wird. Auch das von Sgodda in der Scoring-Matrix aufgeführte Klonierungsverfahren des Transfers von somatischen Zellkernen in eine entkernte Eizelle (SCNT) ermöglicht potentiell die Herstellung von humanen totipotenten Zygoten. Jedoch begründet sich das in Deutschland und anderen Ländern statuierte Verbot des reproduktiven Klonens nicht mit der fehlenden Natürlichkeit des Verfahrens. Auch in der Bioethik-Konvention des Europarates von 1997 wurden unter anderem die Menschenwürde, die Instrumentalisierung eines geklonten Menschen zum Beispiel für medizinische Zwecke (z. B. Organ- und Gewebeentnahme) und gesellschaftliche Auswirkungen als Argumente für ein Verbot des Klonens durch SCNT angeführt. Die Verbotsnorm basiert daher offenbar primär auf der Betrachtung der zu erwartenden Eigenschaften der durch SCNT geschaffenen Entität und ihrer Wahrnehmung und Akzeptanz in der Gesellschaft sowie auf der Gefahr der Instrumentalisierung eines geklonten Menschen und lässt die Eigenschaft der Totipotenz dieser Zellen und die Artifizialität des Verfahrens als solche unbeachtet. Der Grad der Artifizialität des SNCT-Verfahrens und der Aufwand der Durchführung sind denen der IVF oder ICSI vergleichbar, führen aber zu gänzlich unterschiedlichen normativen Bewertungen. Im Jahr 2006 haben Yamanaka und Mitarbeiter ein Verfahren zur Induktion von Stammzellen aus somatischen Zellen durch Transduktion von Transkriptionsfaktoren, sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) vorgestellt. Die mit diesem Verfahren hergestellten Stammzellen sind vergleichbar mit embryonalen Stammzellen und werden als pluripotent qualifiziert. Kürzlich wurde eine genetisch veränderte Maus vorgestellt, die eine induzierbare Expression der stammzellinduzierenden Transkriptionsfaktoren in vivo ermöglicht1. Nach Expression der Transkriptionsfaktoren entstanden iPS-Zellen aus somatischen Zellen, die nach Einschätzung der Autoren totipotenten Zellen ähnlicher waren als solche, die in der Zellkulturschale reprogrammiert wurden. Ein derartiges Verfahren wäre auch in humanisierten Mäusen mit Herstellung totipotenzähnlicher humaner Zellen vorstellbar. Weitere Untersuchungen anderer Arbeitsgruppen zielen auf die Entwicklung von Zellkulturbedingungen für humane iPS- und ES-Zellen, um Totipotenz zu induzieren2. Mit diesen Verfahren könnten also totipotente Zellen entstehen, deren Eigenschaften den durch SNCT hergestellten ähnlich sind und damit dem Verbot des reproduktiven Klonens unterliegen würden. Weitaus schwieriger ist die normative Bewertung eines Verfahrens zu beurteilen, bei dem durch induzierte Reprogrammierung Gameten (Eizellen, Spermien) hergestellt werden, die als Ausgangszellen für eine in vitro-Fertilisation oder intrazytoplasmatische Spermieninjektion dienen können. Für dieses Ver-

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Michael Ott

fahren, obwohl hoch artifiziell, ließe sich für ein Verbot weder problemlos die Schutzbegründungen des Embryonenschutzgesetzes noch die Argumente anführen, die zu einem Verbot des reproduktiven Klonens geführt haben. Für artifiziell erzeugte Eizellen, die mit natürlichen Spermien fertilisiert wurden, konnte in der Maus bereits der Nachweis erbracht werden, dass gesunde, vollständig entwickelte Nachkommen entstehen3. Sollte dieses Verfahren auch für humane Anwendungen geeignet sein, stellt sich darüber hinaus die Frage, wie eine gezielte genetische Veränderung der reprogrammierten Eizelle normativ zu bewerten ist. Grundsätzlich wäre es möglich, genetische Veränderungen in den Ausgangszellen der reprogrammierten Eizelle vorzunehmen und damit in einer Zelle, die – jedenfalls nach herkömmlicher Auffassung – nicht der Keimbahn zugehörig ist. Neben der Frage zur gezielten genetischen Manipulation einer Ausgangszelle von reprogrammierten Gameten könnte auch die Fehleranfälligkeit der Technik zur Reprogrammierung zu Gameten und damit ungewollte genetische und epigenetische Veränderungen eine Rolle bei der normativen Beurteilung eines solchen Verfahrens spielen. Die vielfältigen Verfahren aus der Grundlagenwissenschaft und der Reproduktionsmedizin mit Relevanz für den Totipotenzbegriff, die Sgodda in ihrem Beitrag zusammengestellt hat, bieten einen sehr guten Überblick über den Stand der Wissenschaft sowie einen Ausblick auf künftige Entwicklungen in der Wissenschaft und Medizin. Im Kontext des BMBF-Forschungsprojekts »Entwicklungsbiologische Totipotenz« kann diese Übersicht auch wertvolle Informationen liefern für eine normative Bewertung einzelner Techniken und wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die systematische Beurteilung der Ähnlichkeit einer entwicklungsfähigen Entität bzw. der Artifizialität eines Verfahrens im Vergleich mit dem natürlichen Embryo kann meines Erachtens allerdings nur wenig zur normativen Bewertung einzelner Techniken und Verfahren beitragen und birgt die Gefahr einer vereinfachten Betrachtung und eines Fehlschlusses. Anhand einzelner Beispiele habe ich versucht, aufzuzeigen, dass der Grad der Ähnlichkeit mit einer als schutzwürdig erachteten Norm als Kriterium zu problematischen Ergebnissen führt und die Einbeziehung anderer Argumente für eine Bewertung aus ethischer und juristischer Sicht notwendig ist.

Literatur Abad M, Mosteiro L, Pantoja C, Cañamero M, Rayon T, Ors I, Graña O, Megías D, Domín guez O, Martínez D, Manzanares M, Ortega S, Serrano M. Reprogramming in vivo produces teratomas and iPS cells with totipotency features. Nature. 2013 Oct 17;502 (7471):340–5. doi: 10.1038/nature12586.

Kommentar: Ähnlichkeit als Grundlage für die normative Bewertung?

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Rodriguez-Terrones D, Gaume X, Ishiuchi T, Weiss A, Kopp A, Kruse K, Penning A, Vaqu erizas JM, Brino L, Torres-Padilla ME, Rodriguez-Terrones D, Gaume X, Ishiuchi T, Weiss A, Kopp A, Kruse K, Penning A, Vaquerizas JM, Brino L, Torres-Padilla ME. A molecular roadmap for the emergence of early-embryonic-like cells in culture. Nat Genet. 2018 Jan;50(1):106–119. doi: 10.1038/s41588-017-0016-5. Hikabe O, Hamazaki N, Nagamatsu G, Obata Y, Hirao Y, Hamada N, Shimamoto S, Imam ura T, Nakashima K, Saitou M, Hayashi K. Reconstitution in vitro of the entire cycle of the mouse female germ line. Nature. 2016 Nov 10;539(7628):299–303. doi: 10.1038/ nature20104.

Thomas Heinemann

Bedeutung und Grenzen einer Matrix biologischer Kriterien als Orientierungshilfe für die ethische Beurteilung embryonaler Artefakte

Seit dem vergangenen Jahrhundert hat die Biologie systematisch versucht, die Entwicklung embryonaler Lebensformen künstlich in Gang zu setzen. Das Ziel solcher Experimente bestand nicht primär in der Erzeugung neuartiger Entitäten, sondern stand vor allem im Zusammenhang mit der Aufklärung des Phänomens der Zelldifferenzierung während der Embryonalentwicklung und ihrer molekularen Mechanismen. Lange Zeit war z. B. die Frage ungeklärt, ob die Differenzierung der verschiedenen Zelltypen eines Organismus aus einer Ursprungszelle, der totipotenten Stammzelle, durch einen irreversiblen physischen Verlust bestimmter Gene verursacht wurde oder ob Gene bei der Zelldifferenzierung während der Embryonalentwicklung inaktiviert und in einer geeigneten Umgebung, etwa dem Zytoplasma der Eizelle mit seiner spezifischen molekularen Ausstattung, wieder reaktiviert werden konnten. Diese Frage untersuchten z. B. Robert Briggs und Thomas King im Jahr 1952 an den Eiern des Leopardenfroschs Rana pipiens durch den Transfer von Zellkernen aus den Zellen des Blastulastadiums des Embryos in eine entkernte Eizelle. Sie zeigten erstmals, dass auf diese Weise ein Embryo erzeugt werden konnte, der sich bis ins Stadium von Larven (Kaulquappen) und juvenilen Fröschen normal entwickelte.1 Ähnliche Ergebnisse berichtete John Gurdon im Jahr 1958 von der Froschart Xenopis laevis mit Zellkernen adulter Zellen,2 woraus sich folgern ließ, dass die Zelldifferenzierung nicht mit irreversiblen Veränderungen im Genom verbunden ist, sondern dass während der Embryonalentwicklung inaktivierte Gene reaktiviert werden, die für eine regelrechte Embryonalentwicklung notwendig sind. Im Jahre 1997 berichteten I. Wilmut und Mitarbeiter von dem ersten Säugetier, dem Schaf Dolly, das durch den Transfer des Zellkerns aus einer adulten Zelle erzeugt wurde.3 Mit dem gleichen Verfahren wurden im Jahr 2018 nicht-humane Primaten erzeugt.4 1 2 3 4

Briggs, R., King, T. J., 1952. Gurdon, J. B., Elasdale, T. R., Fischberg, M., 1958. Wilmut, I., et al., 1997. Liu, Z., et al., 2018.

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Thomas Heinemann

Unterdessen hat die moderne Biologie eine Vielzahl unterschiedlicher Techniken entwickelt, Embryonen herzustellen. So kommen etwa bei der In vitroFertilisation (IVF) und der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) natürliche Keimzellen zur Anwendung, die außerhalb des Organismus unter Laborbedingungen zusammengebracht werden. Funktionsfähige Keimzellen wurden im Tierreich allerdings auch bereits künstlich aus pluripotenten Stammzellen erzeugt und hiermit gezeugte Tiere zur Geburt gebracht, die gesund und selbst fortpflanzungsfähig sind.5 Klonierungstechniken wie die Embryonenteilung (embryo splitting) oder der oben erwähnte Zellkerntransfer werden im Bereich der Nutztierhaltung längst kommerziell angewendet. Aggregationen von pluripotenten Stammzellen mit tetraploiden Embryonen (sog. tetraploide Komplementierung)6 führten in verschiedenen Spezies zu geborenen Tieren, und frühembryonale Stammzellen in Kultur weisen möglicherweise unter bestimmten Bedingungen selbst ein für Embryonen typisches totipotentes Entwicklungspotential auf.7 Aber auch Methoden, die die Entwicklungsfähigkeit von Embryonen (z. B. durch die Inaktivierung des für die Trophoblast-Bildung notwendigen Gens Cdx-2) gezielt verhindern, wurden erarbeitet und zudem zahlreiche natürlich vorkommende Anomalien bei der menschlichen Embryonalentwicklung beschrieben, die vom Teratom über einen Fetus-in-Fetu bis zur Bauchhöhlenschwangerschaft reichen. Für eine ethische und rechtliche normative Beurteilung, wie künstlich erzeugte oder modifizierte oder sich untypisch entwickelnde embryonale Lebensformen zu bewerten sind und wie mit ihnen angemessen umzugehen ist, stellen sich angesichts der Fülle der verschiedenartigen anzuwendenden Techniken, der unterschiedlichen möglichen Handlungsziele und der großen Unterschiedlichkeit solcher Lebensformen große Herausforderungen. Denn zum einen lassen solche Unterschiede einen Rückgriff auf eine einfache Kriteriologie als kaum möglich erscheinen, sondern erfordern vielmehr jeweils fallbezogen eine differenzierte Argumentation. Zum anderen besteht aber bereits hinsichtlich der jeweiligen Relevanz ethischer Beurteilungskriterien kein Konsens. Wie die anhaltende kontroverse Debatte um den moralischen Status des menschlichen Embryos zeigt, trifft dies bereits auf den natürlich gezeugten Embryo zu. Susan Sgodda unternimmt in diesem Buch den Versuch, mittels einer »Scoring«-Matrix eine Art Rangordnung solcher embryonaler Entitäten in Bezug auf den natürlich gezeugten menschlichen Embryo, der als Referenz herangezogen wird, zu entwickeln.8 Die »Scoring«-Matrix soll in erster Linie eine Übersicht über 5 6 7 8

Hayashi, K., et al., 2011; Hayashi, K., et al., 2021; Hayashi, K. & Saitou, M., 2013; Zhou, Q., 2016. Nagy, A., et al., 1993. Macfarlan, T. S., et al., 2012; Abad, M., et al., 2013. Siehe in diesem Buch, Sgodda, S., S. 13–51.

Bedeutung biologischer Kriterien für die ethische Beurteilung embryonaler Artefakte

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die biologischen Merkmale und Eigenschaften verschiedener embryonaler Entitäten vermitteln, diese Eigenschaften jedoch zugleich in bestimmten Kriteriengruppen sammeln und ordnen. Ein Ziel ist es, durch dieses Vorgehen eine Verortung der verschiedenen Entitäten zwischen Natürlichkeit und Artifizialität in mehreren Dimensionen zu erreichen. Ein weiteres Ziel besteht darin, durch die Erarbeitung der »Scoring«-Matrix eine Orientierung auch für die normative ethische und rechtliche Beurteilung zur Verfügung zu stellen.9 Angesichts der mittlerweile zahlreichen unterschiedlichen Möglichkeiten, embryonale Entitäten zu erzeugen, kommt dem Versuch einer Systematisierung dieses Feldes der Entwicklungsbiologie eine große Bedeutung zu. Eine systematische Darstellung vermittelt nicht nur eine Übersicht über solche Entitäten, sondern stellt gegenseitige Bezüge und Zusammenhänge vor, die es erlauben, einzelne Entitäten in diesem System zu verorten. Mit einer solchen Verortung sind in der Regel relationale Bewertungen verbunden. Solche Bewertungen hängen dann allerdings von den Kriterien ab, die für die Erstellung der Systematik und mithin für die Einordnung der verschiedenen Entitäten in dem System herangezogen werden. Die »Scoring«-Matrix basiert auf empirischen naturwissenschaftlichen bzw. biologischen Kriterien, anhand derer die einzelnen embryonalen Entitäten mittels der Methode einer Nutzwertanalyse geordnet werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit diese Herangehensweise tatsächlich eine Orientierung für eine ethische Beurteilung liefern kann. Im Folgenden soll diese komplexe Fragestellung skizzenhaft anhand von drei Prämissen beleuchtet werden, die der »Scoring«-Matrix zugrunde liegen. (1) Zunächst soll die Frage behandelt werden, welche Voraussetzungen mit der Wahl des natürlich gezeugten menschlichen Embryos als Referenzmaßstab für eine ethische Beurteilung verbunden sind. (2) Sodann wird am Beispiel des generativen Kontexts, in dem jeder natürlich gezeugte menschliche Embryo steht, verdeutlicht, dass eine Fokussierung der ethischen Beurteilung auf biologische Kriterien deren Verknüpfung mit allgemein akzeptierten normativen Argumenten zur Voraussetzung hat. (3) Überdies wird am Beispiel des Klonens von menschlichen Embryonen untersucht, inwieweit das Argument der Natürlichkeit bzw. der Artifizialität menschlicher embryonaler Entitäten, deren Abstufung die »Scoring«-Matrix zum Ziel hat, als solches normative Relevanz beanspruchen kann. (4) Auf dieser Grundlage wird schließlich die Frage aufgegriffen, inwieweit die »Scoring«-Matrix bei der ethischen Beurteilung unterschiedlicher menschlicher embryonaler Entitäten als Orientierungshilfe dienen kann.

9 Ebd., S. 27, S. 41.

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1.

Der natürlich gezeugte Embryo als ethischer Referenzmaßstab

Die »Scoring«-Matrix basiert auf einer Relation unterschiedlicher embryonaler Entitäten anhand verschiedener Kriterien in Bezug auf einen Referenzmaßstab, als der der natürlich gezeugte menschliche Embryo herangezogen wird. Im Blick auf die durch die Nutzwertanalyse ermittelten sechs Kriteriengruppen »Genese«, »Entwicklungsvermögen«, »Natürlichkeit«, »Intensität der technischen Manipulation«, »Entstehungswahrscheinlichkeit« und »Zweck der Herstellung«, aufgrund derer die embryonalen Entitäten systematisiert werden, ist zunächst festzustellen, dass diesen Kriterien in der ethischen und rechtlichen Diskussion um die Beurteilung des Status und des Schutzes des menschlichen Embryos und menschlicher embryonaler Entitäten eine zentrale Bedeutung zukommt. Insofern ist zu konstatieren, dass die der »Scoring«-Matrix zu Grunde liegende Methode offenbar geeignet ist, neben den biologischen zugleich die für die ethische Beurteilung relevanten Kriterien zu identifizieren. Allerdings stellen sich Fragen in Bezug auf den Referenzmaßstab der »Scoring«-Matrix, den natürlich gezeugten menschlichen Embryo. Auch in ethischer Perspektive würde, dem Konzept der »Scoring«-Matrix entsprechend, der menschliche Embryo und der ihm zukommende Schutzstatus die Referenz für die ethische Beurteilung der in der Matrix aufgeführten embryonalen Artefakte darstellen. Tatsächlich bilden die sechs Kriteriengruppen der »Scoring«-Matrix die wesentlichen Argumente der Befürworter, allerdings auch der Kritiker einer Zuweisung eines hohen Schutzniveaus des menschlichen Embryos ab, die je nach eigener Auffassung diesen Kriterien eine starke, geringe oder keine statusrelevante Bedeutung zumessen. Damit wird ein erstes Problem offensichtlich: Die Frage nach der Schutzwürdigkeit des menschlichen Embryos ist bekanntlich umstritten, was für einen ethischen Referenzmaßstab eine ungünstige Ausgangssituation darstellt. Die »Scoring«-Matrix müsste für eine differenzierte Beurteilung des Schutzstatus der verschiedenartigen embryonalen Lebensformen von der Prämisse ausgehen, dass dem natürlich gezeugten menschlichen Embryo ein hohes Schutzniveau zukommt. Wird diese Prämisse nicht akzeptiert, verliert die »Scoring«-Matrix für eine ethische Beurteilung an praktischer Bedeutung, da nicht davon auszugehen ist, dass embryonalen Artefakten ein höherer Schutzstatus als dem natürlich gezeugten Embryo zuzuweisen ist bzw. dass hierüber Konsens zu erreichen wäre. Aber auch unter der Annahme, dass dem menschlichen Embryo, wie im deutschen Recht durch das Embryonenschutzgesetz statuiert, eine hohe Schutzwürdigkeit zukommt, stellt sich die Frage, inwieweit der natürlich gezeugte menschliche Embryo tatsächlich als Referenz für eine ethische Beurteilung von verschiedenartigen embryonalen Artefakten geeignet ist und als solche für die »Scoring«-Matrix herangezogen werden kann. In entwicklungsbiologischer

Bedeutung biologischer Kriterien für die ethische Beurteilung embryonaler Artefakte

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Perspektive erscheint dies als plausible Möglichkeit, insofern empirisch wahrnehmbare Eigenschaften der jeweiligen Entitäten vergleichend miteinander bewertet und in einer Systematik dargestellt werden. Hingegen geht die ethische Perspektive über den Vergleich von empirischen Eigenschaften hinaus und verweist damit auf ein mögliches zweites Problem: Der Embryo wird nicht ausschließlich als ein durch die Summe seiner Merkmale und Eigenschaften definierter Gegenstand betrachtet und als solcher beurteilt, sondern andere Aspekte können sich in der Beurteilung als relevant erweisen, wie etwa die Aussicht auf seine Entwicklung zum vernunftbegabten Subjekt oder der Kontext seines Entstehens und seiner Herkunft. Empirische Eigenschaften können demnach möglicherweise als Kriterium, nicht hingegen als Grund für eine ethische Beurteilung herangezogen werden. Ein ethisch relevanter Grund für eine hohe Schutzwürdigkeit kann durch das Vorliegen bestimmter empirischer Eigenschaften allenfalls angezeigt werden, die dann dementsprechend als Indizien zu werten wären. Eine Verwendung der »Scoring«-Matrix für eine ethische Orientierung wäre daher mit der Prämisse verbunden, die ethische Beurteilung anhand einer solcherart ausgestalteten Kriteriologie vorzunehmen. Diese Prämisse wirft allerdings die grundsätzliche Frage auf, wie eine Ethik zu begründen und zu gestalten wäre, die sich durchgängig am Nachweis empirischer Kriterien orientieren würde. Ein mögliches drittes Problem könnte darin erkannt werden, dass den verschiedenen embryonalen Entitäten, allerdings auch dem natürlich gezeugten menschlichen Embryo als Referenzmaßstab, bestimmte für die ethische Beurteilung als relevant erachtete empirische Eigenschaften nicht individuell nachgewiesen, sondern nur typischerweise unterstellt werden können. Ein Beispiel hierfür ist das Kriterium der Entwicklungsfähigkeit, das beim individuellen Embryo eigentlich erst ex post beurteilt werden kann. Dieses Problem betrifft allerdings alle unterschiedlichen embryonalen Entitäten, denen das Kriterium der Entwicklungsfähigkeit zugesprochen wird, wobei überdies zu differenzieren wäre, ob sich Entwicklungsfähigkeit genau so oder ähnlich oder anders als beim natürlich gezeugten Embryo vollzieht. Als weitere Prämisse wäre daher zu akzeptieren, dass bestimmte empirische Eigenschaften typischerweise als »normal« für bestimmte Entitäten vorausgesetzt werden und nicht ex ante empirisch geprüft werden können. Die Verwendung des natürlich gezeugten menschlichen Embryos als Referenzmaßstab für eine ethische Beurteilung embryonaler Artefakte anhand der Kriterien der »Scoring«-Matrix ist daher mit mehreren Voraussetzungen verbunden, die eine ethische Analyse methodisch und inhaltlich beeinflussen können und offenzulegen sind.

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2.

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Der generative Kontext als ethisches Argument

Die Fokussierung der »Scoring«-Matrix auf empirische Eigenschaften embryonaler Entitäten entspricht der Betrachtungsweise der Biologie, die die lebendige Natur zum Gegenstand der Beschreibung und Analyse nimmt. Mit dieser Herangehensweise zentriert die Fragestellung der Biologie auf den zu untersuchenden embryonalen Organismus und seine Funktionen. Mit dieser Fokussierung ist indes eine Abwendung von der Frage nach dem Entstehen und Werden des menschlichen Lebens verbunden, die viele Jahrhunderte lang im Vordergrund des philosophischen Interesses stand, und der Frage, welche Bewertungen sich mit dem Entstehen jedes individuellen Menschen verbinden. Diese Verschiebung der Aufmerksamkeit auf die Beschreibung des embryonalen Organismus soll nachfolgend kurz skizziert werden. Bereits die Erklärungskonzeptionen der vorsokratischen Naturphilosophie über die Entstehung des Makrokosmos einschließlich der Lebewesen versuchten, vier durch die Naturbeobachtung gewonnene Fragestellungen systematisch zu erklären: Die Fragen nach der Herkunft des Samens, seiner Beschaffenheit und seinem Wirkprinzip, der Entstehung der verschiedenen Geschlechter sowie der Vererbung körperlicher Merkmale. Auf dieser Grundlage identifiziert Erna Lesky verschiedene antike Theorien über die Zeugung, Vererbung und Entwicklung des Menschen, die bis weit ins 18. Jahrhundert hinein die Grundlage für die Vererbungs- und Entwicklungslehre darstellten und sich in fünf Erklärungskonzepte einteilen lassen.10 Die im Umkreis der pythagoreischen Schule Ende des 6. Jhd. v. Chr. u. a. von Alkmaion von Kroton entwickelte enkephalo-myelogene Samenlehre ging von der Vorstellung aus, dass das Gehirn das Zentralorgan sowohl für die Sinneswahrnehmung wie auch für die Bildung des Samens darstellt, wobei auch dem Rückenmark samenbildende Fähigkeiten zuerkannt wurde und vermutlich die vom Kopf über die Wirbelsäule zu den Genitalien ziehenden Blutgefäße als Samenleiter angesehen wurden.11 Die pythagoreischen Ärzte gingen dabei von der Existenz eines männlichen und eines weiblichen Samens aus, und die Entstehung verschiedener Geschlechter wurde mit dem Überwiegen der Samenmasse des einen Partners über die des anderen erklärt. Die Wärmetheorie (Empedokles, ca. 495 – ca. 435 v. Chr.) erklärte die Geschlechtsbestimmung nicht durch das Überwiegen einer der elterlichen Samenmengen, sondern durch die Temperatur, die in der Gebärmutter herrscht: Demnach ist der Samen geschlechtsindifferent und entwickelt sich männlich, wenn er in einen warmen Uterus gelangt, während er sich in einem kälteren Uterus weiblich entwickelt; diese Theorie reflektiert 10 Vgl. im Folgenden: Lesky, E., 1950. 11 Ebd. S. 1233ff.

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offenbar die Vorstellung, dass dem Mann ein größerer Anteil an dem Urstoff des Feuers zuerkannt wurde.12 Demgegenüber verband die Rechts-Links-Theorie (Anaxagoras, ca. 499–428 v. Chr.) die Entstehung des männlichen Geschlechts mit der rechten Körperseite und die des weiblichen mit der linken. Das anatomische Korrelat dieser Lehre bestand in der aus Beobachtungen an Tieren abgeleiteten – fälschlichen – Annahme, dass auch beim Menschen ein zweigeteilter Uterus (Uterus bicornis) vorliegt, in dessen beiden Hälften jeweils die verschiedenen Geschlechter entstehen; offenbar liegt dieser Theorie eine archetypische Wertunterscheidung zugrunde, nach der die rechte Körperseite als tauglicher als die linke angesehen wurde.13 Das heute als Pangenesis-Lehre bezeichnete Konzept (Demokrit, ca. 460–371 v. Chr.; Leukipp, 5. Jhd. v. Chr.) wurde im 5. Jhd. v. Chr. entwickelt. Es stellte nicht die Frage nach der Geschlechtsbestimmung, sondern nach der Beschaffenheit des Samens in den Vordergrund. Namensgeber ist Charles Darwin, dessen Bezeichnung seiner neuzeitlichen Theoriefassung später auf die antike Form übertragen wurde. Der antiken wie auch der neuzeitlichen Theorie liegt die Auffassung zugrunde, dass das Keimgut (nach Darwin gemmules, nach Demokrit Atome) aus allen Teilen des Körpers stammt, so dass jeweils ein winzig kleines Korrelat aus allen Körpergeweben im Samen präsent ist und als Vererbungsstoff auf die nachkommenden Generationen weitergegeben wird.14 Mit dieser Konzeption erhielt der Gedanke der Präformation, nämlich der bereits im Samen im Miniaturformat vorhandenen Gestalt des künftigen Lebewesens, eine theoretische Grundlage, die sich auf alle somatischen Eigenschaften, nicht jedoch auf die Geschlechtsbestimmung bezog; in Bezug auf letztere geht die antike Theoriefassung weiterhin von einem männlichen und einem weiblichen Samen aus, die beide im Prinzip einen gleichwertigen Anteil am Zeugungsgeschehen haben.15 Daher besteht dieser Theorie zufolge hinsichtlich der Vererbung somatischer Eigenschaften von Vater und Mutter ein gewisser Zufall, durch den die Beobachtung erklärlich wurde, dass der Vater seine körperlichen Merkmale auch auf seine Tochter und die Mutter auch auf ihren Sohn vererben kann. Die hippokratische Lehre entwickelte auf dieser Grundlage schließlich die Annahme einer bisexuellen Potenz der weiblichen und männlichen Zeugungsstoffe, darüber hinaus aber auch die Vorstellung von einer Kraft (pneuma), die die Entwicklung des Keimes bewirkt.16 Diese Erklärungsansätze haben zunächst nicht die Beschreibung der Frucht oder des Neugeborenen anhand seiner Eigenschaften zum Gegenstand, sondern die Fragen, wie ein Lebewesen aus Nicht-Lebendigem entstehen kann und wie 12 13 14 15 16

Ebd. S. 1255ff. Ebd. S. 1263ff. Ebd. S. 1294ff. Ebd. S. 1276ff. Ebd. S. 1299ff.

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sich Eigenschaften und Merkmale von der Generation der (Er-)Zeuger auf die nächste Generation übertragen. Diese Theorien stellten die ersten Formen einer Deutung dar, wie sie im 4. Jhd. mit der hämatogenen Samenlehre in den Vordergrund trat und u. a. Aristoteles (384–322 v. Chr.) sowie noch fünf Jahrhunderte später dem griechischen Arzt und Naturforscher Galen (Galenos von Pergamon, 129–ca. 200 n. Chr.) als Grundlage für ihre Vererbungstheorien dienten und bis weit in die Neuzeit hinein im Prinzip das führende Paradigma darstellten. Nach Aristoteles trifft beim Zeugungsakt der Samen des Mannes als aktives Prinzip auf die Katamenien, das Menstrualblut der Frau, als passiv aufnehmendes Prinzip, wodurch letzteres geformt wird. Samen und Blut entstehen ihrerseits durch »Verkochung« der Nahrungsstoffe, wobei nur beim Mann aufgrund seiner größeren Wärme der Prozess der Nahrungsumwandlung zum Samen möglich ist, während er bei der Frau wegen ihrer geringeren Wärme nur bis zum Blut reicht. Aristoteles fasst die Umwandlung des Blutes beim Mann zu Samen jedoch nicht als Stoffübertragung oder -umwandlung, sondern als Übertragung von rein dynamisch-kinetischer Bewegung auf, deren Ursprung im männlichen Erzeuger liegt und sich durch den Samen als eine formende Kraft (eidos) auf das weibliche Menstrualblut überträgt, das seinerseits als Stoff (hyle) passiv die Fähigkeit für die Bildung des Organismus besitzt.17 Der Samen als der männliche Anteil wirkt also nicht durch seine körperliche Substanz, sondern lediglich als immaterielle Form bzw. Kraft, während das Weibliche nur die Materie bzw. den Stoff beisteuert.18 Vom männlichen Prinzip rührt nach Aristoteles das Lebendigsein des neuen Lebewesens, seine Seele, her, während der Körper des Keimes vom weiblichen Prinzip abstammt.19 Die Seele bewirkt vom Herzen ausgehend die Gliederung des Keimes zu einem geordneten ganzheitlichen Wesen, und im Herzen erkennt Aristoteles somit das Impulszentrum des Keimes.20 Die Erzeugung von Lebewesen gründet nach Aristoteles demnach in der Weitergabe von Bewegungskomponenten des Mannes, die den Stoff des Menstrualblutes artgleich und individualgleich formt. Vor diesem Hintergrund geht Aristoteles von dem Idealtyp einer Wiederholung aller körperlichen Eigenschaften des Erzeugers in dem neuen Individuum aus und betrachtet diesbezügliche Abweichungen, etwa die Unähnlichkeit des Kindes mit dem Vater und somit auch ein weibliches Lebewesen, als Schwächung und Missbildung.21 Die Scholastik griff die Lehren des Aristoteles wieder auf und übernahm im Prinzip auch die hämatogene Samenlehre, fügte sie nun jedoch in den Kontext

17 18 19 20 21

Ebd. S. 1344ff, S. 1360f. Vgl. Höffe, O., 1999, S. 139. Ebd., S. 142; vgl. Lesky, E., 1950, S. 1367. Ebd., S. 1366. Ebd., S. 1374.

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der christlichen Schöpfungslehre ein.22 Diese Umdeutung beruhte nicht auf wesentlichen neuen anatomischen oder physiologischen Erkenntnissen, sondern erfolgte in theologischer bzw. philosophischer Absicht. Abweichend von der dreistufigen aristotelischen Seelenlehre können nach Thomas von Aquin (1225– 1274) zwar die vegetative und die sensitive Seele des Embryos, nicht jedoch die Geistseele durch die Bildungskraft des Samens geleistet werden; letztere wird dem Menschen durch Gott verliehen, wodurch sich der ontologische Status der Leibesfrucht von dem eines vormenschlichen zu einem menschlichen Lebewesen wandelt. Damit ändert sich auch der moralische Status des Embryos, denn von diesem Zeitpunkt an (bei Jungen am 40. Tag, bei Mädchen etwa am 80. Tag) ist das Kind eine menschliche Leibesfrucht, und seine Abtreibung stellt nicht mehr das gewöhnliche Verbrechen des Abortus dar, sondern eine Handlung, die ähnlich wie der Mord an einem Geborenen bewertet wird.23 Erst die Entdeckung der Eizelle des Säugetiers im Jahre 1827 durch Karl Ernst von Baer (1792–1876) und die von Theodor Schwann (1810–1882) und Albert Kölliker (1817–1905) erkannte Zellnatur von Eizelle und Spermatozoen ermöglichten es, den jeweiligen weiblichen und männlichen Beitrag an der Embryonalentwicklung nun den Keimzellen zuzuordnen. Die Postulierung von vererbbaren Determinanten im Zytoplasma der Zellen und schließlich der Nachweis von Chromosomen und der DNA als Grundlage der Gene sowie die Beobachtung mosaikartiger (präformierter) und regulativer (epigenetischer) Entwicklungsprinzipien in der Embryonalentwicklung und ihrer Mischformen bei verschiedenen Spezies verlagerten den Fokus der Aufmerksamkeit zunehmend auf den Embryo als Organismus und die Fragen nach den Mechanismen der Entwicklung des Keimes.24 Mit dem naturwissenschaftlichen Paradigma einschließlich der Möglichkeit, embryonales Leben experimentell zu erzeugen, geriet die Frage nach der Bedeutung des generativen Kontexts, in den der Embryo eingebettet ist, in den Hintergrund. Auch wenn die antiken und mittelalterlichen Vererbungslehren in anatomischen und physiologischen Vorstellungen gründen, die nach heutigem Wissen gänzlich obsolet sind, vermitteln sie doch als ein wesentliches Grundprinzip die Erkenntnis, dass neues menschliches Leben in Form eines Embryos in einem definierten generativen und geschichtlichen Kontext von Erzeugern und Erzeugtem steht, und dass mit diesem Kontext Wertungen verbunden sind. Menschliches Leben wird an immer neue Individuen weitergegeben, und in diesen Kontext ist jeder Mensch unabhängig von seinen individuellen Merkmalen und Eigenschaften eingebettet. Es gehört zum konstitutiven Selbstver22 Vgl. Mitterer, A., 1947, S. 31. 23 Ebd., S. 169f. 24 Baumgartner, H. M., et al., 2009, S. 403ff.

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ständnis jedes Menschen, einen bestimmten Vater und eine bestimmte Mutter als seine Erzeuger zu haben. Sofern dieses Selbstverständnis notwendiger Bestandteil eines guten Lebens ist, besitzt dieser Kontext ethische Relevanz. Eine bewusste Vorenthaltung dieses Kontexts, etwa durch die Erzeugung eines totipotenten menschlichen Artefakts, ist demnach rechtfertigungsbedürftig. Vor diesem Hintergrund wäre die ethische Beurteilung eines menschlichen Embryos bloß unter Berücksichtigung seiner Eigenschaften und Merkmale und unter Nichtbeachtung seines generativen Kontexts nicht hinreichend. Umgekehrt würde einem menschlichen embryonalen totipotenten Artefakt dieser generative Kontext bewusst vorenthalten, was gegebenenfalls nicht zu rechtfertigen wäre. Die in der »Scoring«-Matrix aufgeführte Kriteriengruppe der »Genese« und die hierunter aufgeführten Kriterien der Erzeugung einer embryonalen Entität aus männlichen und weiblichen Keimzellen können in der Weise interpretiert werden, dass diese Kriterien den genannten generativen Kontext repräsentieren. Ihre ethische Bedeutung ist allerdings, wie dargelegt, interpretationsbedürftig. Sofern dem generativen Kontext eine hohe ethische Relevanz zukommt und sein Fehlen nicht im Sinne einer grundsätzlich veränderten Bewertung einer entwicklungsfähigen menschlichen embryonalen Entität im Hinblick auf ihren moralischen Status aufgefasst wird, können diese Kriterien zudem für eine ethische Beurteilung insofern gravierende Bedeutung erlangen, als die Erzeugung embryonaler Entitäten, die diese Kriterien nicht aufweisen, als ethisch problematisch anzusehen wäre. Eine Differenzierung embryonaler Entitäten anhand weiterer in der »Scoring«-Matrix berücksichtigten Kriterien könnte sich folglich für die Frage nach einer Rechtfertigung für ihre Erzeugung erübrigen. Damit kommt zudem die Frage nach einer Gewichtung der normativen Bedeutung der einzelnen Kriterien in den Blick. In der »Scoring«-Matrix werden den einzelnen Kriterien und Kriteriengruppen für das »Scoring« offenbar eine gleiche Bedeutung zugemessen, was für eine ethische Beurteilung allerdings zu prüfen wäre. Es ist erwähnenswert, dass sich die dargestellte zunehmende Fokussierung auf die Eigenschaften menschlicher Embryonen bzw. embryonaler Entitäten auch in der Entwicklung der einschlägigen deutschen Gesetzgebung andeutet. Als Embryo im Sinne des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) aus dem Jahr 1990 »… gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag.«25 Der explizite Hinweis auf die Befruchtung in der Definition des Embryos im ESchG weist darauf hin, dass der Gesetzgeber mit dem Begriff des Embryos auch seinen 25 § 8 Abs. 1 Gesetz zum Schutz von Embryonen (ESchG).

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typischen generativen Kontext verbindet. Dieser Kontext besteht unabhängig von der aktuellen Umgebung des Embryos im Mutterleib (in situ) oder dem Reagenzglas (in vitro). Bereits bei der Formierung der ersten Stammzelle der neuen Entität, der durch »Verschmelzung« des Kerngenoms der mütterlichen und väterlichen Keimzellen entstandenen Zygote, handelt es sich um einen Embryo, nicht erst, wenn ein mehrzelliges Teilungsprodukt entstanden ist. Diese Bestimmungen lassen erkennen, dass der Embryo im ESchG offenbar nicht ausschließlich durch Eigenschaften wie etwa sein totipotentes Entwicklungspotential definiert wird, sondern für das Verständnis von einem menschlichen Embryo auch der weitere Kontext seines In-die-Existenz-Kommens und seiner Herkunft Bedeutung besitzt. Die einzelnen Bestimmungen des ESchG können zudem in der Weise interpretiert werden, dass der Erhalt dieses Kontexts geschützt werden soll. Denn die Herstellung oder Verwendung solcher Zellen bzw. Embryonen, die ein totipotentes Entwicklungspotential aufweisen, jedoch z. B. in alternativen Kontexten wie etwa einer Leihmutterschaft oder durch das Umgehen des generativen Kontexts durch das Klonen von Embryonen (z. B. durch embryo splitting) oder durch eingreifend veränderte Kontexte wie die Erzeugung von genetischen (Hybride) oder zellulären (Chimäre) Mischwesen erzeugt oder entwickelt wurden, werden durch das ESchG verboten. Zu solchen Zellen zählt der Gesetzgeber »bereits« auch solche totipotente Zellen, die einem existierenden menschlichen Embryo entnommen wurden, womit sich der generative Kontext des letzteren nicht einfach auf die entnommenen totipotenten Zellen übertragen lässt, sondern mit der Embryonenteilung ein neuer Handlungskontext hinzutritt, der als ursächlich für die Existenz des neuen Embryos angesehen und abgelehnt wird. Sinn und Zweck des Gesetzes, so lässt sich feststellen, ist der Schutz des natürlichen menschlichen Embryos, mithin auch der Schutz seines generativen Kontexts. Embryonen, die außerhalb dieses Kontexts stehen, sollen nicht erzeugt und verwendet werden dürfen. Hingegen scheint sich im deutschen Stammzellgesetz (StZG) aus dem Jahr 2001 die Perspektive auf den Embryo ausweislich der Legaldefinition des menschlichen Embryos verändert zu haben. Im Sinne dieses Gesetztes »… ist Embryo bereits jede menschliche totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag.«26 Hier ist für die Definition des Embryos die Art und Weise seiner Erzeugung offenbar nicht mehr relevant, sondern nur noch seine Eigenschaft eines totipotenten Entwicklungspotentials. Damit berücksichtigt die Legaldefinition den natürlichen generativen Kontext des Embryos

26 §3 Nr. 4 Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz – StZG).

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offenbar nicht mehr und nimmt ihn auch nicht mehr als konstitutiv für den Begriff des menschlichen Embryos in den Blick.

3.

Artifizialität und Natürlichkeit als ethisches Argument

Mit den Kriteriengruppen der »Genese«, »Natürlichkeit der Konstitution«, »Ausmaß der technischen Manipulation« sowie »Zweck der Herstellung« greift die »Scoring«-Matrix Aspekte auf, die in je eigener Perspektive direkt die »Natürlichkeit« der Erzeugung des Embryos behandeln. Diese Kriterien stehen im Zusammenhang mit dem Ziel der »Scoring«-Matrix, eine Verortung der verschiedenen Entitäten zwischen Natürlichkeit und Artifizialität in mehreren Dimensionen zu erreichen.27 Im Hinblick auf eine ethische Bewertung ist das Argument der Natürlichkeit allerdings notorisch problematisch. Dies soll in der Folge am Beispiel des Klonierens von menschlichen Embryonen verdeutlicht werden. In diesem Zusammenhang wird als Argument angeführt, dass die Erzeugung eines menschlichen Lebewesens aus einem bereits vorbestehenden und vorgegebenen Genom über die Grenzen hinausgeht, die die Natur der menschlichen Spezies setzt. In dieser natürlichen Grenze wird demnach eine normative Grenzziehung erblickt und etwa die Erzeugung eines Menschen durch Klonieren aufgrund der Unnatürlichkeit dieser Handlung als nicht zu rechtfertigen beurteilt.28 In dieser Formulierung setzt sich das Argument vielen Fragen aus. Als nahe liegender Einwand erhebt sich der Verdacht auf einen Sein-Sollens-Fehlschluss, der aus dem in der Natur Vorgefundenen unmittelbar eine normative Bedeutung folgert und eine Handlung, die sich an dem in der Natur Vorgefundenen orientiert, moralisch anders bewertet als eine Handlung, die nicht natürlichen Vorgaben folgt. Eine solche Auffassung ist ohne weiteres nicht zu begründen, und ihre Generalisierung hätte zudem erhebliche Konsequenzen für die Beurteilung der vielfachen verschiedenen Handlungskontexte, in denen sich menschliches Leben vollzieht. Jenseits eines Sein-Sollens-Fehlschlusses verweist aber Bert Gordijn zudem auf die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten des Begriffs der »natürlichen Handlung«.29 Der Begriff kann erstens verstanden werden als Handlung, die nicht in der Natur zu finden ist; in dieser Bedeutung wäre das Argument der Natürlichkeit in Bezug auf das Klonieren nicht zutreffend, da die asexuelle Reproduktion in der Tier- und Pflanzenwelt weit verbreitet ist. Zweitens kann sich der Begriff auf Handlungen beziehen, die nicht in der menschlichen 27 Sgodda, S., in diesem Buch, S. 27. 28 Vgl. im Folgenden Heinemann, T., 2005, S. 533ff. 29 Vgl. Gordijn, B., 1999, S. 21ff.

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Natur zu finden sind; in Bezug auf Klonieren würde das Argument in dieser Bedeutung allenfalls auf die Handlung des Zellkerntransfers zutreffen, da sich das Verfahren des embryo splitting als eine künstliche Zwillingsbildung durchaus nach dem Vorbild der Natur richtet, und zudem könnte – so Gordijn – argumentiert werden, dass bereits die Einführung der Methode des Zellkerntransfers dieses Verfahren zu einem Teil der Natur macht. Drittens kann sich der Begriff der unnatürlichen Handlung auf die Beschreibung beziehen, dass Klonieren bisher in der menschlichen Natur nicht zu finden ist; in diesem Falle käme dem Argument bloß deskriptive Bedeutung zu, und eine moralische Folgerung würde mit dem oben genannten Sein-Sollens-Fehlschluss zusammenfallen. Eine vierte Bedeutung von Natürlichkeit kann in einer Behinderung der natürlichen Funktionen des Menschen bestehen, etwa wenn durch das Klonieren die sexuelle Reproduktion des Menschen verhindert würde; dieses Szenario lässt sich in Bezug auf das Klonieren allerdings nicht erkennen. Schließlich kann sich – fünftens – die Unnatürlichkeit der Handlung auf die Zuhilfenahme künstlicher Mittel beziehen; zwar wäre Klonieren dann als unnatürlich zu bezeichnen, jedoch gleichermaßen alle anderen Mittel, die natürlicherweise nicht vorkommen, wie etwa die apparative oder medikamentöse Unterstützung der Kreislauffunktionen zum Lebenserhalt bei einem intensivmedizinisch behandelten Patienten. Gordijn folgert daher, dass das Argument anders formuliert werden muss, wenn es ethische Relevanz haben soll. In der Bedeutung eines ethischen Arguments muss das Argument der fehlenden Natürlichkeit auf einen ethisch nicht zu rechtfertigenden Schaden für den klonierten Menschen abstellen, der aufgrund eines durch die Klonierung bedingten tiefen Eingriffs in die naturalen Grundlagen des klonierten Menschen entsteht. Die Handlung, die zu diesem Schaden führt, ist daher gleichermaßen als unnatürlich – im Sinne einer nicht den Vorgaben der Natur entsprechenden Handlung – und als unmoralisch zu beurteilen, wobei die Unnatürlichkeit und die fehlende moralische Rechtfertigung nur koinzident auftreten und nicht in einer kausalen Beziehung stehen können, wenn sich das Argument nicht dem Problem eines Kategorienfehlers aussetzen will. Aus dieser Perspektive lassen sich drei Aspekte erkennen, die sich auf Eingriffe in die naturale Konstitution des Menschen beziehen und im Hinblick auf den klonierten Menschen mit einer Verletzung seiner Autonomie in Verbindung gebracht werden. Hierbei handelt es sich (1) und das Argument des Zufalls der genetischen Ausstattung, der durch Klonierung ausgelöscht wird, (2) um die mit dem Klonieren verbundene Artifizialität, durch die der natürliche Prozess der Zeugung eines Menschen durch einen unnatürlichen Prozess ersetzt wird, (3) und um ein Eindringen in die naturgegebene Kategorie von Generationenfolge und Elternschaft, deren der klonierte Mensch beraubt wird. Diesen drei Argumenten wird eine wichtige Bedeutung zugemessen.

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Der erste Aspekt des Natürlichkeitsarguments, das Argument des Zufalls der genetischen Ausstattung, beinhaltet die beiden Kriterien der Unverfügbarkeit und Einzigartigkeit. Das Kriterium der Unverfügbarkeit hebt darauf ab, dass innerhalb des Zeugungsvorgangs insbesondere der Zufall, der durch den Vorgang der Reifeteilung (Meiose) zu der individualspezifischen Ausstattung des neuen Genoms führt, jede verfügende Bestimmung über die psychophysische Konstitution eines Menschen durch andere Menschen einschließlich der leiblichen Eltern verhindert. Die individualspezifische Konstitution des Genoms, die wir als Zufall beschreiben und mit der Natur identifizieren, ist daher Indiz für eine fehlende Willensverfügung durch andere Menschen. Dieser Zufall – so das Argument – stellt eine wesentliche naturale Bedingung für das Selbstverständnis und Selbstverhältnis jedes Menschen als autonomes Wesen dar. Als Lebewesen verdankt sich jeder Mensch seinen Eltern; als Freiheitswesen verdankt er sich jedoch gerade nicht, und dies beruht – so das Argument – nicht zuletzt darauf, dass die verfügende Bestimmung über seine Konstitution den Eltern entzogen ist. Das Argument verbindet somit die durch den Akt der Zeugung natürlicherweise sichergestellte Unabhängigkeit der genetischen Konstitution des Menschen von einer Verfügung durch andere Menschen mit dem Status des Menschen als Freiheitswesen. Das Kriterium der Einzigartigkeit hebt darauf ab, dass der Zufall, der zu der Erzeugung eines neuen Genoms durch die Befruchtung einer bestimmten Eizelle mit einer bestimmten Samenzelle führt, selbst einzigartig ist. Einzigartigkeit in diesem Sinne ist als das Charakteristikum zu verstehen, dass sich der Zufall des Entstehens eines spezifischen Genoms bei jeder Zeugung immer nur einmal und in einziger Weise ereignet. Selbst im Falle der nur theoretisch denkbaren Möglichkeit, dass bei unterschiedlichen Zeugungsakten Individuen mit vollständig identischen Genomen entstehen würden, wäre doch das Entstehen beider Genome einzigartig in dem Sinne, dass der dem Entstehen zu Grunde liegende Zufall jeweils genuin und einmalig ist und beide zufälligen Prozesse nicht miteinander im Zusammenhang oder in Abhängigkeit voneinander stehen. Der Zufall und seine Einzigartigkeit sind in diesem Sinne Freiheit von Abhängigkeit. Jeder gezeugte Mensch kann sich demnach als ein unmittelbares und neuartiges Ergebnis dieses Zufalls verstehen, und dies trifft uneingeschränkt auch auf eineiige Mehrlinge zu, nicht jedoch auf einen klonierten Menschen. Zwar könnte der Klon darauf verweisen, dass sein Genom irgendwann einmal auf die Weise der Zeugung entstanden und er daher mittelbar ebenfalls ein Ergebnis des mit der Zeugung verbundenen Zufalls ist, jedoch kann er seine spezifische Existenz nicht unmittelbar diesem Zufall, sondern muss sie gezwungenermaßen dem planenden Eingriff eines anderen Menschen verdanken. Diesem ersten Aspekt des Arguments der Natürlichkeit zufolge gehört es daher zur Natur des Menschen als autonomes Wesen, das Ergebnis eines mit der Erzeugung eines neuen Genoms

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verbundenen einzigartigen Zufalls zu sein, der natürlicherweise durch den Modus der Zeugung gewährleistet ist. Dieses Kriterium schließt keineswegs die Möglichkeit einer Mehrzahl von Individuen mit identischen Genomen aus, bindet jedoch die Möglichkeit der uneingeschränkten Autonomie jedes Menschen unmittelbar an den mit der natürlichen Zeugung »seines« neuen Genoms verbundenen einzigartigen Zufall, durch den die Unverfügbarkeit durch andere Menschen sichergestellt ist. Der zweite Aspekt des Natürlichkeitsarguments bezieht sich auf die Artifizialität der Klonierungshandlung. Die asexuelle Reproduktion – so das Argument – stellt ein Abweichen von dem naturgegebenen und naturgemäßen Maßstab der Zeugung durch Befruchtung bei der Spezies Mensch dar, und dem hohen Grad an Artifizialität bei der Klonierungshandlung kommt eine normative Bedeutung zu. In dieser Formulierung des Arguments stellt sich allerdings die Frage, inwieweit der Artifizialität einer Handlung überhaupt normative Bedeutung zukommen kann und nach welchen Kriterien sich Artifizialität in Bezug auf das Klonieren graduieren lässt. Vergleicht man etwa die Handlungen der In vitroFertilisation mit dem Klonieren durch Zellkerntransfer, sind erhebliche Unterschiede sowohl im Hinblick auf die Artifizialität als auch auf den Hintergrund des natürlicherweise Vorgegebenen zu konstatieren. Hingegen stellen etwa die Handlungen der In vitro-Fertilisation und die Klonierungshandlung des embryo splitting, der mechanischen Teilung von Embryonen, in Bezug auf die Artifizialität gut vergleichbare Eingriffe dar, die sich zudem beide an natürlichen Vorgaben orientieren. Gleichwohl wird embryo splitting beim Menschen aus weithin akzeptierten ethischen Gründen abgelehnt, während dies bei der In vitroFertilisation nicht in gleichem Maße der Fall ist. Offenbar ist bei der Klonierungshandlung des embryo splitting daher nicht der Grad der Artifizialität normativ ausschlaggebend. Überdies ist aber generell anzumerken, dass die Herstellung von Artefakten das Ergebnis unzähliger anderer – vor allem auch moralisch hochrangiger – Handlungen des Menschen ist, in denen sein Wesen als handelndes Subjekt zum Ausdruck kommt. Entscheidende normative Bedeutung scheint in Bezug auf das Klonieren daher vielmehr dem Argument zuzukommen, dass der Mensch durch die Klonierungshandlung einen anderen Menschen als Artefakt schafft und der klonierte Mensch selbst zum Artefakt wird. Die Unnatürlichkeit liegt dann nicht in der Artifizialität der Handlung, sondern im Artefaktsein des klonierten Menschen, dessen Konstitution als genetischer Artefakt in dem Willen eines anderen gründet, der zugleich der mit diesem Willen verbundenen Zielsetzungen unterworfen ist und der sich mit dieser Situation nur noch hadernd auseinandersetzen kann.30 Es besteht offenbar 30 Vgl. Habermas, J., 2001, S. 108.

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ein weit reichender Konsens, dass eine solche Handlung den klonierten Menschen in seiner Natur als autonomes Wesen verletzt, und erst in diesem Sinne lässt sich ein moralisches Verbot begründen, einen Menschen zu klonieren. Zudem kommt aber auch die Gattung des Menschen in den Blick; denn wenn es die Natur des Menschen als Gattungswesen ist, ein autonom handelndes Subjekt zu sein, und das Klonieren eines Menschen sich gegen seine Autonomie richtet, kann auch im Hinblick auf die Gattung von einer Unnatürlichkeit des Klonierens gesprochen werden. Schließlich ist als dritter Aspekt des Arguments der Natürlichkeit die natürlicherweise zum Menschsein gehörende Bedingung zu identifizieren, einen Vater und eine Mutter zu haben, die für den klonierten Menschen indes nicht zutrifft und diesem vorenthalten wird. Da mit diesem Argument nicht in erster Linie der soziale Aspekt von Elternschaft in den Blick genommen wird, greift auch der Einwand zu kurz, dass auch gezeugte Kinder ihrer Eltern durch Verwaisung verlustig gehen können. Entscheidend ist hier die Bedeutung der Tatsache für das Selbstverständnis eines jeden Menschen, einen Vater und eine Mutter zu haben bzw. gehabt zu haben. In dieser Hinsicht kann sich jeder gezeugte Mensch als Gleicher unter Gleichen verstehen. Allen drei Aspekten des Natürlichkeitsarguments liegt der Gedanke zu Grunde, dass der Autonomie des Subjekts eine naturale Grundlage korreliert, deren Unverfügbarkeit die Autonomie des Subjekts ermöglicht bzw. in entscheidendem Maße erleichtert. Da dem Genom eine wichtige, wenngleich im Einzelnen kaum abzugrenzende Rolle bei dieser naturalen Grundlage zukommt, ist die Unverfügbarkeit des Genoms zum Schutz der Autonomie des Subjekts selbst zu schützen. Nur in Bezug auf das autonome Subjekt kann das Natürlichkeitsargument Plausibilität besitzen. Denn nicht das individualspezifische Genom an sich ist moralisch berücksichtigenswert, sondern die verfügende Bestimmung der genetischen und phänotypischen Konstitution eines Menschen durch einen anderen Menschen ist moralisch nicht zu rechtfertigen, da sich ersterer hierzu nicht verhalten kann. Hierauf beziehen sich die dargestellten drei Aspekte des Natürlichkeitsarguments in unterschiedlicher Weise: Ein Eingriff in die Einzigartigkeit des Zufalls der Zeugung und die Erzeugung eines anderen Menschen als Artefakt stellen nicht zu rechtfertigende verfügende Eingriffe dar. Und das Vorenthalten der Tatsache, Eltern zu haben und in einer Generationenfolge zu stehen, legt Zeugnis davon ab, dass die Konstitution des betreffenden Individuums nicht frei von der verfügenden Einwirkung anderer Menschen ist. Anzufügen ist, dass auf der Grundlage des Arguments der Natürlichkeit mit einem ethisch begründeten Verbot der Klonierung von Menschen keineswegs jeder Eingriff in das Genom eines Individuums verboten ist. Denn die spezifische Zwecksetzung etwa eines therapeutischen Eingriffs in das Genom eines Embryos, möglicherweise auch in das Genom von Gameten, verletzt nicht unbedingt die

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Selbstzwecklichkeit des bestehenden bzw. künftigen Individuums, sofern bei einem solchen Eingriff der Konsens des Individuums unterstellt werden kann. Die Zielsetzung der Therapie unterscheidet sich durch den Adressaten der Zwecksetzung fundamental von der Zwecksetzung der Klonierung, die niemals therapeutisch sein kann und für die nicht der Konsens des klonierten Individuums unterstellt werden kann. Klonieren kann bestimmte konstitutionelle Vorteile in den Blick nehmen, die allerdings immer der Wahl und der Beurteilung desjenigen unterliegen, der das Genom auswählt. Vor diesem Hintergrund ist es offensichtlich, dass die in der »Scoring«-Matrix aufgeführten Kriterien in ethischer Perspektive Argumente repräsentieren, die dargelegt werden müssen und gegebenenfalls eine unterschiedliche Gewichtung erfahren.

4.

Bedeutung der »Scoring«-Matrix als ethische Orientierungshilfe

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stellt sich die Frage, inwieweit die »Scoring«-Matrix eine Orientierungshilfe für eine ethische Beurteilung des normativen Status von artifiziellen embryonalen Entitäten darstellen kann. Das der Matrix zugrundeliegende Ordnungsprinzip besteht darin, anhand ausgewählter, an entwicklungsfähigen embryonalen Entitäten empirisch wahrnehmbarer biologischer Eigenschaften eine Rangfolge der Ähnlichkeit zu einer Referenzgröße zu erstellen, als die der natürliche menschliche Embryo gewählt wurde. Die Matrix gründet damit in der Methodik einer Nutzwertanalyse, mit der Handlungsalternativen (im vorliegenden Zusammenhang unterschiedliche embryonale Entitäten) entsprechend den Präferenzen der Entscheidungsträger (im vorliegenden Zusammenhang repräsentiert durch die gewählte Kriteriologie) bezüglich eines multidimensionalen Zielsystems (im vorliegenden Zusammenhang die Referenzgröße des natürlichen menschlichen Embryos) geordnet werden. Ziel dieses Unterfangens ist eine systematische Reduktion der Entscheidungsproblematik bei komplexen Handlungssituationen. Mit dem expliziten Abstellen auf empirisch erfassbare biologische Eigenschaften kann die »Scoring«-Matrix eine umfassende Kriteriologie berücksichtigen, anhand derer embryonale Entitäten beschreibbar sind. Die hierdurch ermöglichte Multidimensionalität der Beschreibung erlaubt im Prinzip eine umfassende Bewertung einer Entität relativ zur Referenzgröße. Vor diesem Hintergrund ergeben sich im Hinblick auf eine Verwendung der »Scoring«-Matrix als Grundlage für eine ethische Beurteilung mehrere Fragen und Voraussetzungen:

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Zunächst ist der Status der Referenzgröße selbst zu klären. Sofern eine hohe Schutzwürdigkeit des natürlich gezeugten menschlichen Embryos nicht anerkannt wird und die Kriterien für eine solche Anerkennung nicht einvernehmlich akzeptiert werden, bleibt der natürliche Embryo als Referenz und entsprechend der Status von embryonalen Artefakten relativ zu dieser Referenz unsicher. Als Referenz müsste zur Statusbestimmung des natürlich gezeugten Embryos gehören, dass bei dem Embryo als potentiellem Subjekt ein hoher Schutzstatus anerkannt und sein Status nicht abhängig vom aktuellen Kontext seines Daseins, etwa von Zwecksetzungen Dritter oder von seiner Entwicklungsfähigkeit in der aktuellen Umgebung, zu bewerten ist. Der generative Kontext kann als konstitutiv für den natürlich gezeugten Embryo angesehen werden. Der Embryo ist daher nicht nur aufgrund seiner Eigenschaften, etwa seines totipotenten Entwicklungspotentials, zu beschreiben und zu beurteilen, sondern er ist eingebettet in diesen Kontext, der ihm wie jedem anderen Menschen zusteht und das Selbstverständnis des geborenen Menschen bestimmt. Sofern der generative Kontext als statusrelevant anzuerkennen ist, ist zu klären, welche Konsequenzen dies für die Beurteilung zahlreicher in der Matrix aufgeführter embryonaler Artefakte besitzt, die diesen generativen Kontext nicht aufweisen. Zudem muss die argumentative Bedeutung der in der »Scoring«-Matrix verwendeten Kriteriengruppen, etwa der »Genese«, des »Entwicklungsvermögens«, der »Natürlichkeit der Konstitution« oder des »Ausmaßes an technischer Manipulation«, sowie der einzelnen aufgeführten Kriterien für eine ethische Beurteilung geklärt werden. Wie oben am Beispiel des Kriteriums der Natürlichkeit ausgeführt wurde, bedürfen diese Kriterien einer Interpretation im Hinblick auf ihre Funktion für eine ethische Beurteilung. Innerhalb der »Scoring«-Matrix besteht im Hinblick auf eine ethische Orientierungshilfe überdies die Notwendigkeit, die aufgeführten Kriterien ihrerseits nach ihrer jeweiligen Funktion zu bewerten und zu gewichten. Wie sich etwa in ethischer Perspektive die in der »Scoring«-Matrix verwendeten sechs Kriteriengruppen in ihrer normativen Bedeutung zueinander verhalten und wie und in welchem Maßstab sie zu gewichten sind, bedarf zweifelsohne einer tiefgehenden philosophischen und ethischen Analyse. Zumindest kann nicht einfach davon ausgegangen werden, dass diese Kriteriengruppen in einer ethischen Beurteilung gleichwertig zu verwenden sind, wie dies die »Scoring«-Matrix für die empirischen Kriterien offenbar voraussetzt. Diesbezüglich würde sich die Aufgabe der Erstellung einer ethischen »Matrix in der Matrix« ergeben. Vor diesem Hintergrund ist zudem dem Missverständnis vorzubeugen, dass die »Scoring«-Matrix selbst als Instrument für eine normative Beurteilung verwendet werden könnte; einen solchen Anspruch erhebt die »Scoring«-Matrix nicht.

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Als Schwierigkeit ist überdies zu nennen, dass das in der »Scoring«-Matrix gewählte dreistufige Scoring ( ja – nicht eindeutig – nein) für bestimmte Kriterien keine hinreichende Differenzierung bietet. Zudem kann insbesondere durch die Addition der jeweils erzielten Teilähnlichkeits-Punktwerte zu einer Gesamtähnlichkeit die Relation zwischen den Kriteriengruppen verzerrt werden. Susan Sgodda macht selbst auf diese Probleme aufmerksam mit dem Hinweis, dass allein eine Bepunktung mit nur drei Möglichkeiten auch bereits eine Form der Bewertung darstellt.31 Vor dem Hintergrund dieser Einwände wird deutlich, dass die »Scoring«Matrix nicht mehr, allerdings auch nicht weniger leisten kann, als Susan Sgodda selbst artikuliert: Die »Scoring«-Matrix kann als systematisch angelegtes Übersichtswerk im normativen Bereich Diskussionsanreize schaffen.32 In diesem Sinne kann die »Scoring«-Matrix keine unmittelbar anwendbare Hilfe für die ethische Entscheidungsfindung darstellen, da diese, wie dargelegt, ihre Kriterien selbst erst auf ihre Prämissen, Bedingungen und Inhalte hin analysieren und bewerten muss. Gleichwohl stellt die Matrix umfassend den zu beurteilenden Sachstand der Entwicklungsbiologie in Form unterschiedlicher embryonaler Entitäten dar und verbindet diesen mit biologischen Kriterien. Eine solche biologische Systematik kann das zu beurteilende Feld für die normative Analyse definieren und zudem dem Erkenntnisfortschritt in der Biologie entsprechend fortgeschrieben werden. Zudem fordert sie zu einer Prüfung der grundsätzlichen Frage heraus, ob bzw. inwieweit der biologische und/oder der ontologische Status einer embryonalen Entität, d. h. auch seine erfahrbaren Eigenschaften als relevant für ihre ethische Bewertung angesehen werden können und welche Bedingungen und Prämissen eine Ethik prägen würden, die vornehmlich auf eine naturwissenschaftliche Kriteriologie zurückgreift. In diesem Sinne kann die »Scoring«-Matrix eine Hilfe für die normative Beurteilung darstellen und hierzu Anregungen geben.

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31 Sgodda, S., in diesem Buch, S. 30. 32 Ebd., S. 27, S. 41.

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Tobias Cantz

Daten-getriebene Wissenschaft in der Stammzellbiologie: Ein Modell zur Charakterisierung totipotenter Entitäten oder Herausforderung für die Hypothesen-geleitete Forschung?

In der naturwissenschaftlichen Forschung hat sich die Methodik von der empirischen Beschreibung und Ableitung von experimentell überprüfbaren Theorien in den letzten Jahren über komplexe, Computer-basierte Simulationen zur Daten-getriebenen Analytik enorm erweitert. Wie in vielen anderen Feldern findet eine solche Daten-getriebene Wissenschaft auch in der Stammzell- und Entwicklungsbiologie immer weitere Anwendung. Bei Daten-getriebenen (data driven) Analysen wird nicht mehr nur eine zugrunde gelegte Hypothese durch geeignete Experimente oder Simulationen überprüft, sondern es werden komplexe Datensätze aus Experimenten oder Simulationen so ausgewertet, dass quasi iterativ induktive Erkenntnisse gewonnen werden, die zu einer Korrelation von vielfachen Datensätzen führen mit denen sich Kausalzusammenhänge postulieren lassen. Als weit verbreitetes Beispiel sei die Chip-Technologie zur Analyse genomweiter mRNA1-Expression-Profile genannt: Durch technische Entwicklungen im Bereich der Miniaturisierung von molekularbiologischen Analysen und der automatisierten, parallelisierten Prozessierung von Einzelreaktionen konnten vor mehr als 20 Jahren erste Hochdurchsatz-Analyseverfahren zur Charakterisierung von Zellen eingeführt werden. Damit hat ein methodisch bis daher nicht übliches Wissenschaftsparadigma in den Lebenswissenschaften Einzug gehalten, nämlich, dass bereits durch Korrelation verschiedener Datenmengen eine Beschreibung zellbiologischer Charakteristika bzw. molekulare Mechanismen erfolgen kann, ohne dass diese im Sinne einer klassischen Hypothese entwickelt und in spezifischen Experimenten verifiziert oder falsifiziert wurden. Mit solchen Forschungsansätzen wurden beispielsweise entwicklungsbiologische Differenzierungsvorgänge charakterisiert, in dem organspezifische Zellpopulationen aus unterschiedlichen Entwicklungsstadien gewonnen wurden und in diesen die relative Häufigkeit aller mRNA-Transkripte zueinander in Beziehung gesetzt und damit das so genannte Transkriptom der jeweiligen Zellpopulationen be1 Boten-RNA: messenger RNA.

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Tobias Cantz

schrieben. Dafür werden alle in einer Zelle exprimierten mRNAs in cDNAs2 umgeschrieben und nachfolgend mit einem Satz von mehr als 10.000 komplementären Sonden für alle im humanen Genom kodierten Gene auf einem Chip hybridisiert. Die Häufigkeit jeder spezifischen cDNA-Sonden-Bindung lässt sich durch eine Fluoreszenzkopplung gut korrelativ quantifizieren. Für Gene, die in allen Proben ähnlich stark exprimiert werden, zeigt sich eine ähnliche Fluoreszenzintensität, während diese bei Genen, die in bestimmten Proben unterschiedlich stark exprimiert werden, entweder stark gesteigert oder vermindert ist. Durch Analyse der jeweiligen Fluoreszenzintensitäten kann somit das Transkriptom einer Zelle dargestellt werden, so dass sich damit in verschiedenen fötaler Entwicklungsstadien differentiell regulierte Gene identifizieren lassen3, die bisher nicht unbedingt im jeweils untersuchten Kontext beschriebenen wurden. Eine andere häufige Anwendung besteht darin, verschiedene, aber zueinander in Beziehung stehende Zellpopulationen miteinander zu vergleichen. Zuerst wird das Transkriptom der einzelnen Proben erstellt, bevor diese Datensätze in Bioinformatik-Algorithmen miteinander in Bezug gesetzt werden. So kann mittels komplexer mathematischer Verfahren, beispielsweise der HauptkomponentenAnalyse4, die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit von Zellen auf transkriptioneller Ebene charakterisiert werden. Beispielhaft hierfür kann die PluriTest-Analyse genannt werden5, die mittlerweile als Ersatz für die tierexperimentelle Analyse (reprogrammierter) pluripotenter Stammzellen im Teratom-Test verbreitet Anerkennung genießt. Hierbei wird aus dem Transkriptom-Profil der untersuchten Stammzellen ein Score für zwei Dimensionen (Differentiation / Novelty) ermittelt, mit dem sich dann bona fide Pluripotenz vom Profil partiell-differenzierter Stammzellen oder anderer somatischer Zellpopulationen abgrenzen lässt. Auch zur Untersuchung, ob spezifische Marker oder »Gen-Signaturen« für totipotente Zellen beschrieben werden können, finden Daten-getriebene Analysen Anwendung. So wurden beispielsweise Zellen mit erweiterter Pluripotenz in Zellkulturen von murinen embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) oder induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) identifiziert.6 In einem ersten Schritt wurde das Genexpressionsprofil von totipotenten Blastomeren von 2Zell-Embryonen mit dem Genexpressionsprofil von Oozyten verglichen, um mRNA-Transkripte zu identifizieren, die nach der zygotischen Genaktivierung neu in 2-Zellembryonen gebildet werden. Auffallend war, dass eine große Zahl von Transskripten spezifische Sequenzen von murinen endogenen retroviralen 2 3 4 5 6

copyDNA. Jochheim et al. 2003. principal component analysis (PCA). Muller et al. 2008. Macfarlan et al. 2012.

Daten-getriebene Wissenschaft in der Stammzellbiologie

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Elementen (MuERV-L) und ihrem Long-Terminal-Repeat-(LTR)-Promotormotiv enthielten. Anscheinend werden diese fremden DNA-Sequenzen in diesem Entwicklungsstadium vielfach reaktiviert und regulieren über ihr LTR-Motiv wiederum die Genaktivierung entscheidener Faktoren, die für die weitere embryonale Entwicklungssteuerung wichtig sind. Auf diesem Ergebnis aufbauend wurde ein Fluoreszenzreporter-Gen an die Expression der MuERV-LTR-Sequenz gekoppelt (2C::tdTomato), wodurch Blastomere im Zwei-Zellstadium durch Fluoreszenzaktivierung identifiziert werden konnten. In der überwiegenden Mehrzahl der Zellen nahm die Fluoreszenz während der weiteren Embryonalentwicklung ab und war im Stadium der Blastozyste nicht mehr zu erkennen. Interessanterweise konnte aber eine kleine Population fluoreszierender Zellen auch in ES-Zell- oder iPS-Zellkolonien identifiziert und isoliert werden, die weiterhin, oder neuerlich, eine 2C::tdTomato-vermittelte Floreszenz aufwiesen. Diese »2C-ähnlichen«-Zellen zeigen erweiterte Pluripotenz-Charakteristika, weil sie in Embryoaggregation-Experimenten nicht nur zu Derivaten der inneren Zellmasse, sondern auch des Trophektoderms führen. Die Autoren folgern aus diesen Ergebnissen, dass möglicherweise alle Zellen einer ES-Zell- oder iPSZellkultur transient die 2C::tdTomato-Fluoreszenz aktivieren und somit ein »2Zell-Blastomere-ähnliches« Potenzial durchlaufen. Auch wenn man freilich diskutieren kann, ob lediglich durch Korrelation der Aktivität eines FluoreszenzReporters mit dem Expressionsprofil früher Embryonalstadien das entwicklungsbiologische Potenzial von Zellen umfassend beschrieben werden kann, zeigen die Folgeexperimente durchaus klar unterscheidbare Charakteristika der 2C::tdTomato-positiven und –negativen Stammzellen. Auf dieser Basis könnten sich in weiteren Experimenten kausale Zusammenhänge zur Regulation von Totipotenz und Pluripotenz ableiten lassen. Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass die korrelative Analyse solcher Datensätze alleine schon neue Erkenntnisse liefern kann, auch wenn diese Erkenntnisse nicht das direkte Ergebnis einer experimentellen Verifizierung oder Falsifizierung einer bestimmten Hypothese sind. Methodisch ist die Validität eines solchen Erkenntnisgewinns auch in den Naturwissenschaften nicht unumstritten, weil letztlich aus der reinen Korrelation quantitativer Analysen neue Annahmen formuliert bzw. Aussagen getroffen werden, die zumindest qualitativer Art, wenn nicht auch substantieller Art sind. Die Daten-getriebenen Forschungsergebnisse können aber auch dazu führen, dass neue Hypothesen abgeleitet werden, die nachfolgend in einzelnen Experimenten validiert werden können. Beispielsweise könnte die Relevanz eines bei der vergleichenden Analyse verschiedener Entwicklungsstadien neu identifizierten Faktors überprüft werden, indem dieser in weiteren Experimenten gezielt während der Embryonalentwicklung blockiert oder aktiviert wird. Oder die oben skizzierten PluriTestAnalysen könnte genutzt werden, um die Auswirkung von Modifikationen wäh-

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rend der Generierung pluripotenter Stammzellen im Hinblick auf eine erfolgreiche Etablierung eines Pluripotenz-assoziierten Transkriptoms zu überprüfen. Die im Titel dieses Beitrags aufgeworfene Frage, ob die Daten-getriebene Wissenschaft ein geeignetes Modell zur Charakterisierung totipotenter Entitäten oder eine Herausforderung für die Hypothesen-geleitete Forschung sei, lässt sich im Rahmen des lebenswissenschaftlichen Kontexts der Stammzellbiologie so beantworten, dass die Eignung als charakterisierende Methodik überwiegt und dass aus den so gewonnenen Erkenntnissen letztlich wieder neue Hypothesen aufgestellt werden können, die in nachfolgenden Experimenten verifiziert oder falsifiziert werden können. Kann aber ein ähnliches Vorgehen auch eingesetzt werden, um normative Aspekte der Stammzellforschung zu beleuchten, und um verschiedene embryonale oder nicht-embryonale Entitäten zueinander in Bezug zu setzen? Eine mehrdimensionale Betrachtungsweise solcher Entitäten erscheint zunehmend relevantweil neuere Forschungsergebnisse zu komplexen Erweiterungen der klassischen Entwicklungsbiologie geführt haben und das Kriterium der Totipotenz nicht mehr nur spezifisch für Zellen früher Embryonalstadien angewendet wird, sondern auch zur Beschreibung artifizieller Entitäten herangezogen wird. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass sich neben totipotenten Embryonen auch nicht-totipotente Embryonen oder auch artifizielle totipotente Nicht-Embryonen beschreiben lassen. Eine einfache Analyse solchermaßen verschiedener Entitäten erscheint kaum möglich, nicht zuletzt, weil Totipotenz nicht nur auf natürliche Art und Weise entstehen, sondern auch artifiziell induziert werden kann, wie zum Beispiel beim somatischen Kerntransfer. Trotz eines artifiziellen Starts folgt danach der entstandene Embryo allerdings dem natürlichen Verlauf der normalen Embryonalentwicklung. Andere artifiziell generierte Embryonen weisen wiederum kein totipotentes Entwicklungspotenzial auf: Mittels Parthenogenese lassen sich aus Eizellen Embryonen entwickeln, aus denen sich aber kein vollständig lebensfähiger Organismus entwickeln kann.7 Oder: Mittels Interferenz mit dem Cdx2-Gen lassen sich Embryonen erzeugen, die kein funktionales Trophektoderm bilden und sich damit nicht über das Präimplantationsstadium hinaus entwickeln können.8 Eine andere Schwierigkeit besteht bei der Charakterisierung nicht-embryonaler Entitäten, denen ein über die Pluripotenz hinausgehendes Entwicklungspotential zugeschrieben wird. Wie oben dargestellt durchlaufen möglicherweise alle ES-Zellen und iPS-Zellen fluktuierend ein Stadium, in dem sie ein für totipotente 2-Zellblastomere typisches Genexpressionsprofil aufweisen.9 Darüber 7 Advena-Regnery et al. 2015. 8 Wu et al. 2011; Meissner and Jaenisch 2006. 9 Macfarlan et al. 2012.

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hinaus haben Abad und Kollegen im Jahr 2013 sogenannte in vivo iPS-Zellen mit »totipotency associated features« beschrieben und diskutieren die Frage, inwieweit diese Zellen aufgrund ihres erweiterten Potentials totipotent sind. Wie häufig in der Debatte wird auch hier von den Autoren im Wesentlichen auf die Befähigung zur Bildung von Trophektoderm rekurriert, wenn zwischen toti- und pluripotenten Zellen unterschieden werden soll. Diese rein deskriptive Unterscheidung hat aber nur in Bezug auf die natürliche Embryogenese Gültigkeit, weil sich artifiziell kultivierte pluripotente Stammzellen unter bestimmten Kulturbedingungen durchaus in trophektodermale Zellen differenzieren lassen, ohne das entscheidende Kriterium der Totipotenz zu erfüllen, nämlich aus sich selbst heraus einen ganzen, lebendigen Organismus zu bilden. Es scheint also möglich, eine Teilmenge der pluripotenten Stammzellen in Trophektoderm sowie primitives Endoderm zu differenzieren, diese Zellen dann mit den übrigen pluripotenten Stammzellen zu aggregieren und somit eine embryo-ähnliche Entität zu generieren.10 Solche synthetischen Embryonen oder Gastruloide wären aber nur mit einem erheblichen Maß an externer Manipulation generierbar, was dem biologischen Verständnis eines Potentials »aus sich selbst heraus« deutlich entgegensteht. Ähnlich gelagert ist das komplexe Verfahren der tetraploiden Embryoaggregation, welches nur auf den ersten Blick suggeriert, dass lebensfähige Mäuse direkt aus pluripotenten Stammzellen generiert werden können. In vielen, meist sehr verkürzten Darstellungen wird nicht dem Umstand Rechnung getragen wird, dass der sich-entwickelnde Embryo eine Chimäre ist, die aus den vorbestehenden embryo-eigenen tetraploiden Zellen und den dazu gegebenen diploiden pluripotenten Stammzellen besteht. Tetraploide Embryonen können nämlich durchaus die frühen Embryonalstadien durchlaufen und formen eine innere Zellmasse, die sich zum Epiblast und weiteren Stadien des Postimplantationsembryos entwickeln kann, nicht aber darüber hinaus zu fötalen Stadien reifen. Die komplementierenden pluripotenten Stammzellen können dabei in die Embryonalentwicklung eingebunden werden, so dass sich ein Chimerismus bildet, der sich immer weiter zugunsten der diploiden Stammzellen verschiebt. Im geborenen Tier sind die Zellen des Ursprungsembryo dann kaum noch oder gar nicht mehr nachweisbar. Ohne die organisierende Embryonalentwicklung der tetraploiden embryoeigenen Zellen könnten sich die scheinbar alleinig aus den dazugegebenen pluripotenten Stammzellen generierten Mäuse jedoch nicht entwickeln. Im Lichte der hier beschriebenen, zum Teil höchst artifiziellen Entitäten bleibt unklar, ob ihre Totipotenz von derjenigen natürlicher Entitäten zu unterscheiden ist und in welcher Weise gegebenenfalls eine Unterscheidung zwischen artifizieller und natürlicher Totipotenz in ausreichender Differenzierung vorgenommen 10 Shahbazi and Zernicka-Goetz 2018.

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werden kann. Diese Überlegung führt einerseits zur Kritik am biologisch-geprägten Begriff der Totipotenz als normatives Kriterium zur Verortung von embryonalen und nicht-embryonalen Entitäten, andererseits eröffnet diese Überlegung aber auch die Frage, mit welchen anderen Kriterien und Betrachtungsweisen eine Verortung solcher Entitäten ermöglicht werden kann. Im Rahmen unserer Projektarbeit zur Entwicklungsbiologischen Totipotenz als normatives Kriterium in Ethik und Recht haben wir im Rahmen eines Gedankenexperiments exploriert, inwieweit das Totipotenzkriterium auf eine modifizierte Version des Zellkerntransfers anwendbar wäre, bei der ein somatischer Zellkern anstatt in eine aktivierte Eizelle in ein ku¨ nstlich hergestelltes Biovesikel mit definierten Totipotenz-induzierenden Faktoren transferiert werden wu¨ rde.11 Dabei wurde deutlich, dass die Zuschreibung von »Totipotenz« für verschiedene Entitäten häufig mit deren Natürlichkeit bzw. Artifizialität in Zusammenhang gebracht wird bzw. dass die Schutzwürdigkeit möglicherweise anhand ihrer Natürlichkeit oder Artifizialität abgestuft werden könnte. Eine einfache Darstellung auf einer Achse natürlich–artifiziell, wie es von unserer Projektgruppe in einer früheren Publikation vorgeschlagen wurde12, kann die verschiedenen Dimensionen der Künstlichkeit unter Berücksichtigung neuer biomedizinischer Erkenntnisse wahrscheinlich nicht mehr adäquat abbilden. Bei näherer Betrachtung ergibt sich aber, dass im Hinblick auf Totipotenz das Maß an Artifizialität bzw. an »Nicht-Natürlichkeit« einer Entität in mehrdimensionaler Weise abzubilden ist. In Analogie zur Analyse komplexer biologischer Datensätze könnte nun der Versuch unternommen werden, eine mehrdimensionale Verortung des Maßes an Natürlichkeit bzw. Artifizialität für embryonale Entitäten quasi als Daten-getriebenes Gedankenexperiment zur normativen Charakterisierung neuartiger embryonaler oder embryo-ähnlicher Entitäten zu explorieren. Denn für verschiedene Entitäten lässt sich das Maß an Artifizialität nicht nur in einer, sondern in einer Vielzahl unterschiedlichen Kategorien festmachen. Aus der Zusammenschau aller (oder zumindest einer großen Anzahl von) Zuschreibungen aus diesen unterschiedlichen Kategorien lässt sich dann eine bestimmte Entität zu anderen Entitäten in Bezug setzen. Eine solche Verortung könnte möglicherweise helfen, die Ähnlichkeit aber auch Verschiedenheit unterschiedlicher Entitäten für eine normative Verortung zu erfassen. Für ein solches Vorgehen kämen unter anderem verschiedene Varianten von Bewertungsmatrizes oder Scoring-Modellen in Frage, die eine Entscheidungsfindung auf Basis einer systematischen Alternativenauswahl ermöglichen sollen. In Hinblick auf das Totipotenzkriterium embryonaler und nicht-embryonaler Entitäten könnten unterscheidbare Parameter der Artifizialität unter anderem 11 Advena-Regnery et al. 2012, Seite 220. 12 Advena-Regnery et al. 2012, Seite 229f.

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sein: i.) die Genese, beispielsweise ob ein Embryo aus natürlichen oder künstlichen Gameten hervorgegangen ist. ii.) die Konstitution, beispielsweise ob es zu einer meiotischen Teilung mit Vermischung mütterlicher und väterlicher Chromosomen gekommen ist. iii.) das Ausmaß der technischen Manipulation, die zur Etablierung der jeweiligen Entität notwendig wäre. In der volkswirtschaftlichen Entscheidungstheorie sind verschiedene Varianten von Bewertungsmatrizes oder Scoring-Modellen etabliert, die eine Entscheidungsfindung auf Basis mehrerer quantitativer und qualitativer Kriterien oder Bedingungen unterstützen sollen. Susan Sgodda beschreibt im Kapitel »Erstellung einer ›Scoring‹-Matrix zur biologischen Verortung von natürlichen und artifiziellen Entitäten« ihren Ansatz, die mehrdimensionale Verortung totipotenter und nicht-totipotenter embryonaler bzw. nicht-embryonaler Entitäten darzustellen. Die von ihr entwickelte »Scoring«-Matrix stellt zu allererst eine umfassende Datensammlung dar, die mit gewissen Einschränkungen Ähnlichkeitsanalysen verschiedener Entitäten erlaubt. Basierend auf deren Korrelationen lassen sich möglicherweise neue Hypothesen aufstellen, die dann mit konventionellen Methoden weiter zu untersuchen sind. Die im Titel aufgeworfene Frage, ob sich die Daten-getriebene Wissenschaft als Modell zur Charakterisierung totipotenter Entitäten eignet oder eine Herausforderung für die Hypothesen-geleitete Forschung darstellt, konnte für die Stammzellbiologie noch so beantwortet werden, dass ihre Eignung als charakterisierende Methodik überwiegt und dass die Daten-getriebene Forschung, wenn auch nicht unumstritten, letztlich als eine Weiterentwicklung der lebenswissenschaftlichen Arbeitsweise aufgefasst werden kann. Die Frage kann aber auch außerhalb dieses Kontextes aufgeworfen werden und es wäre zu überprüfen, ob ein ähnlicher Ansatz auch zu Erkenntnissen im Hinblick auf normative Bewertungen aktueller Entwicklungen der Stammzellforschung beitragen kann. Weiterführende Untersuchungen müssten sich anschließen um zu erörtern, ob mit einem solchen Vorgehen auch neue Erkenntnisse beispielsweise zur Verortung verschiedener embryonaler oder nicht-embryonaler Entitäten für die aktuelle bioethische Debatte gefunden werden können.

Referenzliste Advena-Regnery, B., K. Böhm, B. Jung, K. Rottländer, and S. Sgodda. 2015. ›Sind Parthenoten Embryonen? Zur biologischen und normativen Einordnung von menschlichen Parthenoten‹, Zeitschrift für medizinische Ethik, 61: 63–79.

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Advena-Regnery, B., L. Laimböck, K. Rottländer, and S. Sgodda. 2012. ›Totipotenz im Spannungsfeld von Biologie, Ethik und Recht‹, Zeitschrift für medizinische Ethik, 58: 217–36. Jochheim, A., A. Cieslak, T. Hillemann, T. Cantz, J. Scharf, M. P. Manns, and M. Ott. 2003. ›Multi-stage analysis of differential gene expression in BALB/C mouse liver development by high-density microarrays‹, Differentiation, 71: 62–72. Macfarlan, T. S., W. D. Gifford, S. Driscoll, K. Lettieri, H. M. Rowe, D. Bonanomi, A. Firth, O. Singer, D. Trono, and S. L. Pfaff. 2012. ›Embryonic stem cell potency fluctuates with endogenous retrovirus activity‹, Nature, 487: 57–63. Meissner, A., and R. Jaenisch. 2006. ›Generation of nuclear transfer-derived pluripotent ES cells from cloned Cdx2-deficient blastocysts‹, Nature, 439: 212–5. Muller, F. J., L. C. Laurent, D. Kostka, I. Ulitsky, R. Williams, C. Lu, I. H. Park, M. S. Rao, R. Shamir, P. H. Schwartz, N. O. Schmidt, and J. F. Loring. 2008. ›Regulatory networks define phenotypic classes of human stem cell lines‹, Nature, 455: 401–5. Shahbazi, M. N., and M. Zernicka-Goetz. 2018. ›Deconstructing and reconstructing the mouse and human early embryo‹, Nat Cell Biol, 20: 878–87. Wu, G., L. Gentile, J. T. Do, T. Cantz, J. Sutter, K. Psathaki, X. fa Zo-Bravo M. J. Ara, C. Ortmeier, and H.R. Schöler. 2011. ›Efficient Derivation of Pluripotent Stem Cells from siRNA-Mediated Cdx2-Deficient Mouse Embryos‹, Stem Cells Dev, 20: 809–18.

II. Totipotenz und Potentialität

Barbara Advena-Regnery

Potentialität und Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen – Zur Aktualität des Potentialitätsarguments*

1.

Einleitung

In jüngster Zeit greifen vermehrt Veröffentlichungen im Bereich der bioethischen Embryonenschutzdebatte wieder auf das sog. Potentialitätsargument zurück.1 Bekannt geworden ist dieses Argument im Zusammenhang der SKIP-Argumente, die lange Zeit die Debatte um den moralischen Status des Embryos mitbestimmt haben.2 Zusammen mit dem Spezies-, dem Kontinuums- und dem Identitätsargument ist das Potentialitätsargument ursprünglich als Grund betrachtet worden, um einen uneingeschränkten Embryonenschutz für geboten zu halten.3 Stellt ein Embryo, so die zusammengefasste Version des Potentialitätsarguments, ein menschliches Lebewesen dar, das sich potentiell zu einem vollständigen Individuum entwickeln kann, ist es schutzwürdig. Der eigentliche Ausgangspunkt der bis heute anhaltenden Debatte um den moralischen Status des Embryos und der damit verbundenen Schutzrechte war die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs, d. h. also die Frage, ob und gegebenenfalls wie der moralische Status des geborenen Menschen auch dem Ungeborenen eigen ist.4 * Der Beitrag ist im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojekts »Entwicklungsbiologische Totipotenz, Bestimmung als normatives Kriterium in Ethik und Recht unter Berücksichtigung neuer entwicklungsbiologischer Erkenntnisse (Verlängerungsphase)« (Förderkennzeichen: 01GP1410A – 01GP1410C) der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar, der Universität Passau und der Medizinischen Hochschule Hannover entstanden. Barbara Advena-Regnery ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Ethik, Theorie und Geschichte der Medizin (Prof. Dr. Dr. Thomas Heinemann) an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Die Autorin dankt Herrn Professor Dr. Tobias Cantz (Department of Gastroenterology, Hepatology and Endocrinology, RG Translational Hepatology and Stem Cell Biology [OE 6817], Cluster-of-Excellence REBIRTH) von der Medizinischen Hochschule Hannover, dessen naturwissenschaftlichmedizinische Expertise für den Beitrag unabdingbar war. 1 Vgl. Schöne-Seifert/Stier 2013; Stier 2014; Schickl et al. 2014. 2 Vgl. Damschen et al. 2002. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. ebd.

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Die anfängliche Statusdebatte war daher zunächst nur hinsichtlich natürlich befruchteter und sich im Mutterleib entwickelnder Embryonen geführt worden und ihr Entwicklungspotential wurde als Grund für einen umfassenden Schutz des Embryos ab dem Zeitpunkt der Befruchtung betrachtet. Innerhalb der derzeitigen Beschäftigung mit dem Potentialitätsargument ist eine starke Tendenz erkennbar, den aristotelisch geprägten Begriff des Potentials durch den entwicklungsbiologischen Begriff der Totipotenz zu ersetzt. Dies führt zu weitreichenden Konsequenzen. Die Begründungslast, die das Potentialitätsargument bisher, wie der Namen schon sagt, durch den Bezug auf das Potential einer Zelle zu tragen vermochte, müsste demnach nun durch einen Totipotenznachweis getragen werden. Aus dem ontologisch-naturphilosophischen Potentialitätsargument wird somit ein entwicklungsbiologisches »Totipotenzargument«. Dieses »neue« Totipotenzargument wird dann, als wäre es weiterhin das Potentialitätsargument, auf artifizielle Kontexte angewandt, wie z. B. auf iPSZellen. Jede totipotente Zelle, auch eine artifiziell reprogrammierte Zelle, würde demnach, wenn sie totipotent ist, als Würdeträger gelten. Diese Konsequenz bezeichnen Schöne-Seifert und Stier, wie auch Schickl, Braun, Ried und Dabrock, zu Recht als absurd und folgern daraus, dass das Potentialitätsargument wegen den aus seiner Anwendung entstehenden absurden Konsequenzen den Schutz von Embryonen nicht mehr begründen kann.5 Die »normative Begründungstrias Totipotenz bzw. Entwicklungspotential – Embryo – Schutz«, so die Autoren, »nach der sich der Schutzstatus des menschlichen Embryos unmittelbar aus dessen intrinsischen Eigenschaften ableitet, (ist) so nicht mehr haltbar«.6 Somit schließen die Autoren aus den absurden Konsequenzen einiger Anwendungsfälle auf die Fehlerhaftigkeit des Prinzips als solchem. Als Ursache der gegenwärtigen Debatte um den Status des Embryos sind insbesondere zwei Umstände zu nennen: einerseits die vielfältigen neuen technischen Möglichkeiten im Bereich der Embryonenforschung wie z. B. die iPSZelltechnologie und das Verfahren der tetraploiden Embryo-Komplementierung, und andererseits eine zunehmende Distanzierung von den ontologischen Implikationen des Begriffs der Potentialität. Der in der Debatte als empirisch inadäquat empfundene Begriff der Potentialität wird vielfach durch den aus der Entwicklungsbiologie stammenden Begriff der Totipotenz verdrängt. Dadurch liegt der Fokus der Embryonendebatte nicht mehr so sehr auf der Frage, ob eine Entität ihrem Vermögen nach über würdeverleihende Eigenschaften verfügt, sondern ob sie totipotent ist. Unter Berücksichtigung dieser veränderten Debatte ist in Hinblick auf gegenwärtige Klonierungs- und Reprogrammierungstechniken sowie der tetraploiden Embryokomplementierung erneut zu untersuchen, 5 Schöne-Seifert/Stier 2013; Stier 2014; Schickl et. al. 2014. 6 Schickl et al. 2014, 857.

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wie eine Übertragung des moralischen Status vom geborenen auf den ungeborenen Menschen begründbar ist, die in der ursprünglichen Debatte am Leitfaden der SKIP-Argumenten erfolgte, nun aber auf das Kriterium der Totipotenz, nicht auf das des Potentials abzielt. Was bedeutet, so lässt sich fragen, unter diesen neuen Bedingungen die Rede von der Totipotenz einer Zelle, wenn auch humane differenzierte Körperzellen reprogrammiert werden können? Lässt sich das Potentialitätsargument bzw. das Totipotenzargument analog zu natürlich entstandenen Zellen mit intrinsischem Entwicklungspotential auch auf jede Zelle übertragen, deren Totipotenz künstlich erzeugt worden ist?

2.

Naturwissenschaftliche Grundlagen zum Totipotenzbegriff

Zur Annäherung an die oben aufgeworfenen Fragen ist in Erinnerung zu rufen, dass die klassische Entwicklungsbiologie und moderne Stammzellbiologie die Totipotenz als die Fähigkeit einer Zelle definiert, sich aus sich selbst heraus zu einem ganzen lebendigen Organismus zu entwickeln.7 Pluripotenz bedeutet, dass sich eine Zelle in jegliche Zellen des geborenen Organismus entwickeln kann. Häufig wird auf die Befähigung zur zusätzlichen Bildung von Trophektoderm rekurriert, wenn zwischen toti- und pluripotenten Zellen unterschieden werden soll. Diese deskriptive Unterscheidung hat aber nur in Bezug auf die natürliche Embryogenese Gültigkeit, weil sich artifiziell kultivierte pluripotente Stammzellen unter modifizierten Bedingungen durchaus in trophektodermale Zellen differenzieren lassen,8 ohne das entscheidende Kriterium der Totipotenz zu erfüllen, nämlich aus sich selbst heraus einen ganzen, lebendigen Organismus zu bilden. Das aufwändige Verfahren der tetraploiden Embryoaggregation bekam in den letzten Jahren bei der Charakterisierung pluripotenter Stammzellen von Mäusen eine besondere Bedeutung. Das Verfahren ist nämlich weitaus sensitiver als der klassische Teratom-Versuch,9 gering ausgeprägte (epigenetische) Fehlregulationen in murinen pluripotenten Stammzellen aufzudecken.10 Durch die tetraploide Embryoaggregation lassen sich z. B. vollständig normal entwickelte Mäuse generieren, die scheinbar direkt aus den verwendeten pluripotenten Stammzellen abstammen. Allerdings wird in den meist sehr verkürzten Darstellungen nicht dem Umstand Rechnung getragen, dass es sich bei dem sich entwickelnden 7 Vgl. Roux et al. 1912, 409–410. 8 Chen et al. 2013, 677–684. 9 Subcutane Injektion von pluripotenten Stammzellen in Mäusen und nachfolgende Analyse der Entsehung eines Teratom-artigen Tumors mit Zellderivaten aller drei Keimblätter (Ektoderm, Mesoderm, Entoderm). 10 Carey et al. 2011, 588–598.

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Embryo um eine Chimäre aus embryoeigenen tetraploiden Zellen und komplementierenden diploiden pluripotenten Stammzellen handelt. Tetraploide Embryonen können nämlich durchaus die frühen Embryonalstadien durchlaufen und formen eine innere Zellmasse, die sich zum Epiblast und weiteren Stadien des Postimplantationsembryos entwickeln kann, nicht aber darüber hinaus zu reiferen fötalen Stadien. Die komplementierenden pluripotenten Stammzellen können dabei in die Embryonalentwicklung eingebunden werden, so dass sich eine Chimäre bildet, in der sich in der Folge das Verhältnis der Zellen immer weiter zugunsten der diploiden Stammzellen verschiebt.11 Im geborenen Tier sind die Zellen des Ursprungsembryos dann kaum noch nachweisbar.12 Ohne die organisierende Embryonalentwicklung der tetraploiden embryoeigenen Zellen könnten sich die scheinbar aus den dazugegebenen pluripotenten Stammzellen generierten Mäuse jedoch nicht entwickeln.

3.

Potentialitätsargument in neuem Kontext

In Bezug auf diese neueren Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften ist zu fragen, ob das Potentialitätsargument aus seinem ursprünglichen Kontext herausgelöst überhaupt sinnvoll auf artifizielle Entitäten angewendet werden kann und ob eine etwaige Nichtanwendbarkeit seine prinzipielle Eignung als Begründung eines umfassenden Embryonenschutzes, wie er im deutschen Embryonenschutzgesetz (ESchG) zum Ausdruck kommt, zwingend in Zweifel ziehen muss. Bedingt durch die verschiedenen Möglichkeiten, somatische Zellen zu reprogrammieren, wie z. B. durch die Entwicklung der iPS-Technologie, hat sich im Rahmen der Debatte um den moralischen und rechtlichen Status von Embryonen daher die Frage verfestigt, ob ESchG und Stammzellgesetz (StZG) diese neuen Techniken adäquat erfassen können. Dabei wurde jedoch darauf verzichtet, die Verlagerung des Potentialitätsarguments in einen gänzlich anderen Kontext sowie die Ersetzung des Begriffs des Potentials durch den Begriff der Totipotenz eigens zu thematisieren. Sicherlich ist es richtig und notwendig, durch das Aufkommen neuer Technologien im Bereich der Stammzellforschung die geltenden Gesetzestexte auf ihre Adäquatheit hin zu überprüfen. Fraglich ist in dieser Argumentation aber, ob sie die bisherige, dem Embryonenschutzgesetz und dem Stammzellgesetz zugrundeliegende Begründung für einen Schutz von natürlichen Embryonen angemessen wiedergibt.

11 Wang/Jaenisch 2004, 192–201; Eakin et al. 2005, 150–159; Mackay/West 2005, 1266–1281. 12 Wu et al. 2011.

Potentialität und Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen

4.

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Ethisches Prinzip versus Anwendung

Ausgangspunkt der zitierten Kritik am Potentialitätsargument bildet die Tatsache, dass entsprechend den technischen Möglichkeiten Totipotenz artifiziell hergestellt werden kann. Diese neue praktische Option nehmen die Autoren zum Anlass, Totipotenz, nicht jedoch das Potential, »als geeignetes Kriterium für die normative Statusbestimmung des menschlichen Embryos grundsätzlich in Frage« zu stellen.13 Führen aber absurde Konsequenzen aus einer neuen technischen Anwendungsmöglichkeit zu einer grundsätzlichen Infragestellung des normativen Status des menschlichen Embryos, bleibt eine notwendige Unterscheidung zwischen der Triftigkeit eines ethischen Prinzips auf der einen Seite und den Fragen der Anwendung dieses Prinzips auf der anderen Seite aus. Diese mangelnde Differenzierung hat weitreichende Konsequenzen und wird auch dadurch offensichtlich, dass weder der eigentliche Gegenstand der Kritik klar offengelegt wird, noch die mit der Kritik verbundenen Prämissen deutlich werden. Folgt man argumentativ der zitierten Kritik, müsste man davon ausgehen, dass die Autoren die Prämissen der bisherigen Argumentation für einen umfassenden Embryonenschutz teilen und nur in Hinblick auf die technischen Neuerungen einen Reformbedarf sehen. Unverständlich bleibt dann aber der Hinweis auf die »grundsätzliche« Infragestellung der »normativen Begründungstrias Totipotenz bzw. Entwicklungspotenzial – Embryo – Schutz«14. Damit bleibt unklar, ob die Autoren einen Bezug auf die intrinsischen Eigenschaften des Embryos zu seiner Statusbestimmung prinzipiell für möglich und vertretbar halten und damit bestimmte ontologische Prämissen eingehen und nur in Hinblick auf die technische Reprogrammierung somatischer Zellen Zweifel an der Begründung haben, oder ob sie vielmehr die Argumentation mittels intrinsischer Eigenschaften prinzipiell ablehnen, wobei dann natürlich nicht die artifizielle Reprogrammierung Anlass ihrer Kritik sein dürfte. Scheinbar zu Recht zeigen die Autoren, dass eine Anwendung der bisherigen Legaldefinition des menschlichen Embryos, wie sie im StZG vorliegt, auf möglicherweise totipotente iPS-Zellen zu einem absoluten und strafrechtlich abgesicherten Schutz von pluripotenten Zellen führen könnte, was – wie die Autoren betonen – jeder moralischen Intuition widersprechen würde. Sie schließen in ihrer Argumentation von den kontraintuitiven Anwendungen des Potentialitätsarguments auf die Fehlerhaftigkeit des Prinzips selbst. Schließt man aber von den Fällen kontraintuitiver Anwendung nicht auf die Fehlerhaftigkeit des Prinzips, sondern hält vielmehr an der ursprünglichen Begründung des Potentialitätsarguments fest und akzeptiert die mit diesem Argument einhergehenden und 13 Schickl et. al. 2014, 857. 14 Ebd.

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noch darzulegenden ontologischen Prämissen, so wird man einen absoluten Schutz von pluripotenten Zellen nicht minder irritierend empfinden, ohne jedoch das Potentialitätsargument als solches aufgeben zu müssen. Blickt man auf die ursprüngliche Begründung eines umfassenden Embryonenschutzes und auf die Einbettung des Potentialitätsarguments innerhalb der SKIP-Argumente, wird dies verständlich. Grundprämisse dieser Debatte ist die unbedingte Schutzwürdigkeit des geborenen Menschen. Die Würde und der damit verbundene Lebensschutz des geborenen Menschen, wie sie im Grundgesetz verankert ist, bilden die allen gemeinsame Wertbasis.15 Von dieser ausgehend war anlässlich der IVF-Techniken und der Debatte um den Schwangerschaftsabbruch zu fragen, ob – und wenn ja, wie – der Schutz des Geborenen auch auf den Ungeborenen übertragen werden kann. Mit den SKIP-Argumenten konnte eine Übertragung des Schutzes auf den Ungeborenen begründet werden, die auch unserer lebensweltlichen Intuition einer kontinuierlichen Entwicklung Rechnung trägt. Diese Argumentation ist in die Legaldefinition des Embryos im Rahmen des ESchG eingegangen. Die Legaldefinition des menschlichen Embryos geht von einer sich durch die Entwicklung zum vollständigen Individuum durchhaltenden Entität aus, die es wegen dieser Identität in all ihren Entwicklungsstufen, also auch schon vor der Geburt, zu schützen gilt. Entsprechend dieser Definition kommt dem Embryo selbst das Vermögen, d. h. die Potentialität, verstanden als eine intrinsische Eigenschaft, zu, sich zu einem vollständigen Individuum zu entwickeln.

5.

Natürlichkeit versus Künstlichkeit

Stellt man die Frage, ob sich der normative Status des menschlichen Embryos dadurch verändert, dass dank neuer Techniken Totipotenz artifiziell hergestellt werden kann, gibt man der Differenz von Natürlichkeit und Artifizialität, gleich wie man sie inhaltlich begreift, eine wesentliche Bedeutung für die Statusbestimmung des menschlichen Embryos. Andernfalls würde sich die Frage nach der Adäquatheit der derzeit geltenden Legaldefinitionen hinsichtlich artifiziell erzeugter Totipotenz gar nicht stellen. Verstünde man natürlich entstandene und artifiziell erzeugte totipotente embryonale Entitäten konsequent im Sinne von funktionalen Äquivalenten, wäre die Art der Entstehung, d. h. natürliche versus artifizielle Totipotenz, unwesentlich, da für die Statusbestimmung lediglich die Funktion, nicht die Genese ausschlaggebend wäre. Geht man aber davon aus, dass die Möglichkeit, Totipotenz artifiziell erzeugen zu können, Einfluss auf die Legaldefinition des menschlichen Embryos hat, unterstellt man schon dadurch 15 Vgl. Honnefelder 2002, 65.

Potentialität und Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen

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die Bedeutung dieser Differenz, mit welchen argumentativen Konsequenzen auch immer. Häufig ist zu lesen, dass das Kriterium der »Natürlichkeit« – wegen der Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses16 – eigentlich keine Rolle spielen solle, stellt aber gleichzeitig in Frage, ob unter den artifiziellen Möglichkeiten der Reprogrammierung die bisherigen Legaldefinitionen noch angemessen sind. Man scheint sich ontologisch nicht darauf festlegen zu wollen, dass sich natürliche und artifizielle Entitäten durch unterschiedliche Persistenzbedingungen auszeichnen, da man jedoch meint, schon durch diese Differenz dem »Natürlichen« einen unangemessenen und nicht begründeten Vorrang zu geben. Gleichzeitig bilden aber die artifiziellen Entitäten den Grund für die geforderte Neufassung des Embryonenschutzes. Eine Differenz ist damit aber unterstellt, die sowohl ontologisch als auch lebensweltlich durchaus plausibel ist.

6.

Implizite ontologische Prämissen

Ziel der Kritik am Potentialitätsargument ist die Abkehr von der Statusdebatte hin zu einer Definition des menschlichen Embryos über Kontextbestimmungen.17 Schickl u. a. unterstellen, in der »klassischen« Embryonenschutzdebatte haben man den Schutzstatus des menschlichen Embryos aus dessen intrinsischer Eigenschaft »abgeleitet«. Demnach scheint man klar zwischen intrinsischen und extrinsischen Faktoren unterschieden zu haben, worüber aber auch in der »klassischen« Debatte keineswegs Einigkeit herrschte.18 Der Streit um die normative Geltung intrinsischer und extrinsischer Faktoren begleitet die Embryonendebatte von Beginn an und bringt damit die Bedeutung ontologischer Differenzen zum Ausdruck, die man aber scheinbar durch eine Distanzierung von der eigentlichen Statusbestimmung vermeiden will. Im Vorherigen hat sich aber gezeigt, dass die Argumentation von impliziten ontologischen Prämissen ausgeht. Soll die Begründung des Embryonenschutzes durch das Potentialitätsargument wegen möglicher kontraintuitiver Anwendung durch artifizielle Techniken der Reprogrammierung ad absurdum geführt werden, bleiben damit die Anerkennung des Potentialitätsarguments in seinem herkömmlichen Kontext sowie die damit verbundenen ontologischen Prämissen unberührt. Die prinzipielle Möglichkeit, einer Entität ein Vermögen zuschreiben zu können, scheint hier, obwohl dies ontologisch betrachtet keineswegs unproblematisch ist, nicht 16 Vgl. Stier 2014, 191. 17 Bei Schickl et. al. 2014 heißt es »Die vorrangige Aufgabe eines ethischen Monitorings in diesem Bereich bestünde dann folglich auch nicht darin, sich an der prekär identifizierten Statusfrage aufzuhalten, sondern vielmehr darauf zu reflektieren, dass die abgesteckten Grenzen des jeweiligen Handlungskontextes eingehalten werden«, 861. 18 Vgl. Ach/Schöne-Seifert/Siep 2006, 261–321.

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kritisiert zu werden. Erst die Möglichkeit artifizieller Reprogrammierung ist Anlass für die Kritik und konzentriert sich damit auf eine wesentliche Differenz von natürlichen und artifiziellen Entwicklungen. In einer konsequent ereignisontologischen Sichtweise z. B. müsste die Kritik am Potentialitätsargument jedenfalls anders lauten. Wenn man aus ontologischer Sicht den Standpunkt vertritt, dass man einen umfassenden Embryonenschutz nicht durch ein dem Embryo intrinsisches Vermögen begründen kann, sondern nur durch Handlungskontexte, kann das Argument nicht durch den Verweis auf kontraintuitive Anwendungen gelingen, sondern müsste z. B. grundsätzlich an dem fragwürdigen Status von Potentialen bzw. Vermögen oder Dispositionen und der Möglichkeit ihrer Zuschreibung ansetzten. Dies wäre plausibel, insbesondere da der ontologische Status von Potentialen ein kontroverses Thema der Philosophie darstellt. Argumentativ ist es, wie schon beschrieben, fehlerhaft, von der kontraintuitiven Anwendung des Potentialitätsarguments auf die dieser Anwendung zugrundeliegenden ethischen Prinzipien zu schließen. Denn das ethische Prinzip, den ungeborenen Menschen aufgrund seines Entwicklungspotentials uneingeschränkt zu schützen, das den SKIP-Argumenten zugrunde liegt, wird nicht dadurch obsolet, dass sich neue technische Möglichkeiten ergeben. Sehr wohl ist es angemessen, anlässlich der Möglichkeit von artifiziell herstellbarer Totipotenz der Frage nachzugehen, ob die Begründung der SKIP-Argumente auch innerhalb dieser neuen artifiziellen Kontexte plausibel ist oder aber z. B. durch eine Bestimmung von Handlungskontexten ergänzt oder ersetzt werden müsste. Diese Abwägung ist notwendig, trifft aber nicht die grundsätzliche Aussagekraft des Potentialitätsarguments in seinen ursprünglichen Kontexten. Im Folgenden wird daher dafür argumentiert, dass, bezogen auf herkömmlich entstandene Embryonen mit intrinsischem Entwicklungspotential, ein umfassender Embryonenschutz weiterhin mit dem Potentialitätsargument begründet werden kann, insofern man es im Zusammenhang der SKIP-Argumente versteht und die diesen Argumenten zugrundeliegenden ontologischen Annahmen akzeptiert. Auf den ursprünglichen Zusammenhang bezogen ist das Potentialitätsargument in diesem Verständnis weiterhin konsistent. Eine Übertragung auf artifiziell hergestellte totipotente Entitäten scheint für den Schutz dieser artifiziellen Entitäten nicht analog möglich. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass diese Entitäten auf Grund ihrer Artifizialität keinen Schutz genießen können, sondern nur, dass ein Schutz nicht mit dem herkömmlichen Potentialitätsargument, das sich auf das intrinsische Potential einer Zelle gründet, möglich ist.

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7.

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Potentialität und Totipotenz

In den vergangenen Jahren hat sich die Debatte um den moralischen und auch rechtlichen Status des Embryos vielfach auf das entwicklungsbiologische Kriterium der Totipotenz reduziert. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass das ESchG (§ 8 Abs. 1 ESchG) eine enge Legaldefinition des Embryos vornimmt, die sich nicht nur auf die Entwicklungsfähigkeit einer Zelle konzentriert, sondern auch die Art ihrer Genese berücksichtigt und damit den menschlichen Embryo als ein Wesen versteht, das unter ganz bestimmten Bedingungen entsteht und sich entwickelt. Das jüngere StZG (§ 3 Nr. 4 StZG) gibt dagegen lediglich das Kriterium der Totipotenz an, ohne weitere Kriterien wie z. B. die Entstehungsart in die Legaldefinition mit einzubeziehen. Totipotenz scheint in der Legaldefinition des StZG nicht nur, wie im ESchG, notwendiges, sondern zugleich auch hinreichendes Kriterium eines menschlichen Embryos zu sein. Jede menschliche Zelle, die die Fähigkeit der Totipotenz aufweist, wäre in diesem Verständnis als menschlicher Embryo zu verstehen und somit wie dieser zu schützen.19 Gemäß dieser Legaldefinition könnten dann z. B. auch somatische Zellen, die während ihrer Reprogrammierung möglicherweise eine transiente Phase der Totipotenz durchlaufen, unter den Rechtsbegriff des Embryos fallen und damit seinen Anwendungsbereich erweitern.20 Definiert man den menschlichen Embryo ausschließlich über das Kriterium der Totipotenz, verändert sich die Extension, d. h. der Umfang des Embryobegriffs. Insgesamt fallen damit mehr Entitäten unter den Begriff des Embryos als unter den Bedingungen des ESchG. Wie das Beispiel der möglicherweise transient totipotenten iPS-Zellen zeigt, würden Zellen, die gemäß der Legaldefinition des ESchG bisher nicht unter den Begriff des Embryos fielen, da sie z. B. nicht aus einer Befruchtung hervorgegangen sind, in einer auf Totipotenz beschränkten Lesart als Embryonen aufgefasst. Es scheint aber fraglich, ob dieser erweiterte Anwendungsbereich mit unserem lebensweltlichen Verständnis dessen, was wir bisher unter Embryonen verstanden haben, kompatibel ist. Vermutlich wollte der Gesetzgeber mit dem aus der Entwicklungsbiologie entstammenden Kriterium der Totipotenz für mehr wissenschaftliche Genauigkeit in der Embryodefinition sorgen und hat sich daher auf das entwicklungsbiologische Kriterium beschränkt.21 Diese Bemühungen sind aber nur dann 19 Diese Auslegung wird freilich auch für § 8 Abs. 1 ESchG vertreten. Siehe etwa BT-Drs. 13/ 11263, 14; in diese Richtung auch (mit dem Argument funktionaler Äquivalenz) z. B. Taupitz 2014, § 8, Rdnr. 55. Hiergegen aber mit guten Gründen, vor allem mit Blick auf das Analogieverbot im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG) z. B. Kersten 2004, 38; Kersten 2015, 150f.; Laimböck 2015, 180. 20 Vgl. Advena-Regnery 2014, 226–227. 21 Vgl. Laimböck 2014, 83.

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hilfreich, wenn man sich gleichzeitig auch über die Leistungen und Grenzen einer derartigen naturwissenschaftlichen Definition Klarheit verschafft. Obwohl die Begriffe der entwicklungsbiologischen Totipotenz und der philosophischen Potentialität in gewisser Hinsicht Ähnlichkeiten aufweisen, da sie beide als Disposition oder Möglichkeit begreifbar sind, kann Totipotenz nicht als Synonym von Potentialität verstanden werden.22 Die Begriffe entstammen unterschiedlichen Kontexten und übernehmen in diesen jeweils verschiedene Bedeutungen. Auch wenn beide Begriffe eine Aussage über das mögliche »Anderssein-Können« einer Entität, über Veränderung und Entwicklung machen, tun sie dies in differenzierter Weise. In der Philosophie und insbesondere in der Ontologie gilt Potentialität neben Notwendigkeit und Wirklichkeit als sog. Modalbegriff, mit dem es möglich ist, Aussagen wie »Für a ist es möglich, x zu werden« zu formulieren. Diese Beschreibung könnte jedoch auch für den Begriff der Totipotenz geltend gemacht werden, denn schließlich ist es möglich und auch wahrscheinlich, dass sich eine totipotente menschliche Zelle zu einem menschlichen Individuum entwickelt. In dieser Hinsicht wären sich die beiden Begriffe sehr ähnlich. Die Differenz der beiden Begriffe scheint vielmehr in den verschiedenen Verwendungsweisen innerhalb der unterschiedlichen Kontexte zu liegen. Hier lassen sich mindestens ein lebensweltlicher, ein philosophischer und ein biologischer Gebrauch unterscheiden. Lebensweltlich betrachtet bilden Potentiale keine Schwierigkeiten. Natürliche Entitäten wie auch Artefakte besitzen unterschiedlichste Potentiale, die wir normalerweise kennen und deren Manifestationen für uns in der Regel prognostizierbar sind und daher in unserem Handeln und Urteilen berücksichtigt werden. In diesem lebensweltlichen Sinne betrachten wir Potentiale als etwas Reales und beziehen sie in unsere Bewertungen mit ein, z. B. wenn jemand mit einer bestimmten Leistung hinter dem zurückbleibt, was er eigentlich könnte. Wir unterstellen den Potentialen, wie das Beispiel zeigt, eine gewisse teleologische Ausrichtung, d. h. eine gewisse Ausrichtung auf ihre Manifestation. Entwickelt sich oder reagiert etwas nicht entsprechend seiner ihm eigenen Potentiale, irritiert uns das. Wir erwarten, dass sich Zucker in Wasser auflöst, dass ein Ton ertönt, wenn ich die Taste eines Klaviers drücke, dass Säuglinge wachsen und gedeihen und vieles mehr. Wir verbinden mit Potentialen daher gewisse Erwartungen und sind in gewisser Hinsicht enttäuscht oder beunruhigt, wenn die üblichen Manifestationen nicht eintreten. Der philosophische Begriff der Potentialität entstammt ursprünglich der aristotelischen Naturphilosophie und diente in diesem Zusammenhang der Untersuchung von stetiger Veränderung von Dingen. Er steht in diesem Kontext im Sinne einer potentia subiectiva für das aktive und intrinsische Vermögen einer 22 Vgl. Baranzke 2014, 172.

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Entität, sich gemäß ihrer Artnatur zu verändern, also nicht nur um eine reine Möglichkeit. Wie in der lebensweltlichen Betrachtung handelt es sich nicht um beliebige oder zufällige Veränderungen oder Entwicklungen, sondern um solche, die an ihren jeweiligen Artbegriff gebunden sind. Ein menschlicher Embryo entwickelt sich, empirisch beobachtbar, anders als eine Kaulquappe, eine Maikäferlarve oder ein Hühnerei. Für diesen aristotelisch geprägten Begriff der Potentialität ist das der Entität eignende, also intrinsische, nicht zugefügte Potential, das sich unter geeigneten Umständen artgemäß entwickelt, wesentlich. In der gegenwärtigen Philosophie ist aber das aristotelische Verständnis von Potentialen als reale Vermögen von Entitäten, die auch unabhängig von ihrer Manifestation diesen zukommen, problematisch geworden. Ihr modaler und in gewisser Weise teleologischer Charakter gilt in der Gegenwart verbreitet als unwissenschaftlich. Lebensweltlich betrachtet ist diese Skepsis gegenüber dem aristotelischen Verständnis jedoch unbegründet. Verfügt eine Entität über ein bestimmtes Potential, gehen wir aufgrund unserer Erfahrungen ex post davon aus, dass sich dieses unter den geeigneten Bedingungen manifestieren wird. Unsere Erfahrungen erlauben uns bestimmte Erwartungen und Prognosen bzgl. der Manifestationsbedingungen uns bekannter Entitäten. Da in einer physikalistischen Perspektive ein Verweis auf Erfahrungen ex post unzulässig ist, ist eine Zuschreibung von Potentialen lebendiger Entitäten, die sich noch nicht manifestiert haben, problematisch. Ohne einen Bezug auf unsere Erfahrungen, wie sich bestimmte Entitäten in der Regel artentsprechend entwickeln, ist es kaum möglich, Potentiale als Teil unserer Wirklichkeit zu betrachten. So heißt es bei Kunzmann: »Der fundamentale Unterschied zwischen den Befürwortern des Potentialitätsarguments und seinen Gegnern scheint darin zu bestehen, dass die Befürworter »Potenzen« als Teil der Wirklichkeit betrachten, die Gegner aber gerade deren Irrealität, die »reine Möglichkeit« hervorheben.«23 Offenbar motiviert durch ein solch physikalistisches Verständnis hat sich daher der Gesetzgeber in seinen Legaldefinitionen des menschlichen Embryos für den entwicklungsbiologischen Begriff der Totipotenz entschieden. Die Tatsache, dass es sich bei diesem Begriff um einen Begriff aus der Entwicklungsbiologie handelt, die entsprechend den Vorgaben eines neuzeitlich angemessenen Wissenschaftsverständnisses arbeitet, führte in der Debatte zu der Annahme, man habe mit dem nicht ontologischen, sondern naturwissenschaftlichen Begriff der Totipotenz für hinlängliche Klarheit gesorgt. Dabei ist jedoch das wissenschaftstheoretische Problem übergangen worden, dass die Rolle der Biologie innerhalb der Naturwissenschaften keinesfalls geklärt ist und man insbesondere nicht zeigen kann, dass die Biologie vollständig auf Erfahrungen ex post verzichten kann und ausschließlich mit kausalen und nicht mit teleologischen Er23 Kunzmann 2006, 24–25.

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klärungen, wie es das Verständnis einer neuzeitlichen Naturwissenschaft fordert, arbeitet. Der Begriff der Totipotenz, der schwerlich in einem rein kausalen Verständnis begreifbar ist, da er ohne Bezug auf unsere Erfahrungen unverständlich bleibt, sollte dies hinlänglich klargemacht haben. Auch deuten die aus juristischer Sicht häufig thematisierten Beweisschwierigkeiten24, die mit dem Totipotenzkriterium einhergehen, darauf hin, dass es sich bei der Totipotenz eben nicht um eine klar bestimmbare empirische Größe handelt, die nur mit den Mitteln eines physikalistischen Verständnisses erklärbar ist. Begreift man Potentiale, wie oben beschrieben, in einem aristotelischen Verständnis einer potentia subiectiva, ist es wichtig, dass in diesem ontologischen Rahmen zwischen dem a und dem x eine gewisse teleologische Bindung besteht, dass also nicht ganz beliebig aus jedem a ein x werden kann. D. h., es besteht eine notwendige Beziehung zwischen einer Entität bzw. einer Substanz und ihrer Eigenschaft. Liest man das Potentialitätsargument im Rahmen der SKIP-Argumente, werden diese Bezüge deutlich, da man mit diesen davon ausgeht, dass sich menschliche Embryonen durch typische artgemäße Persistenzbedingungen auszeichnen, die eine Identifizierung des je spezifischen Seins ermöglichen.

8.

Totipotenz als Funktion versus lebensweltliche Potentialität

In einer physikalistischen Lesart scheint diese Bindung an den Artbegriff unberücksichtigt zu bleiben. Anders als die Potentialität ist die Totipotenz kein Begriff der Philosophie, sondern der Entwicklungsbiologie. Als solche macht sie keine Aussage über den Zusammenhang einer Substanz und ihrer Eigenschaften, vielmehr beschreibt sie, unabhängig von der Substanz, lediglich eine bestimmte Funktion. Sicherlich kann auch aus biologischer Sicht argumentiert werden, dass sich z. B. Keimzellen spezifisch entwickeln und dass diese spezifische Entwicklung an die jeweilige Spezies gebunden ist. Nur durch diese Bindung sind Entwicklungsschritte prognostizierbar. Gerade im Begriff der Totipotenz zeigt sich die Möglichkeit der Prognostizierbarkeit in besonders eindrücklicher Weise. Die Biologie ist in ihrer Sichtweise allerdings nicht auf die Bindung von Funktionen und Substanzen festgelegt, sondern kann sich nur auf die jeweilige Funktion richten. Dieser physikalistische, auf die Funktion konzentrierte Blick erlaubt auch die Annahme von funktionalen Äquivalenten,25 die lediglich über die Funktion, unabhängig von ihrer Genese und ihrer Substanz, bestimmbar sind. Ob man den Embryo mittels des Begriffs der Potentialität oder der Totipotenz bestimmt, ist daher von wesentlicher Bedeutung, da nur in einer physikalisti24 Vgl. Laimböck 2015, 83–84. 25 Vgl. Advena-Regnery et al. 2015, 217–236; Advena-Regnery 2015, 159–160.

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schen Lesart die Reduktion auf eine bestimmte Funktion, wie die der Totipotenz, möglich ist. Betrachtet man die enorme Veränderung der Extension des Embryobegriffs, wie er durch die eben beschriebene Fokussierung auf den Totipotenzbegriff bedingt ist, als eine absurde Konsequenz des Potentialitätsarguments, ist dies ein Beispiel für die Missverständnisse, die mit einer undifferenzierten Verwendung der beiden Begriffe Totipotenz und Potentialität einhergehen. Sicherlich ist die Annahme, man müsse prinzipiell jede adulte Zelle als solche, die erst mit Hilfe bestimmter Reprogrammierungstechniken über das Entwicklungspotenzial embryonaler totipotenter Zellen verfügt, als Embryo ansehen, absurd und widerspricht unserer moralischen Intuition, doch ist es äußerst zweifelhaft, ob dies auf die Fehlerhaftigkeit des Potentialitätsarguments selbst zurückzuführen ist oder vielmehr ganz andere Ursachen hat. Die Autoren, die diese Konsequenzen dem Potentialitätsargument anhaften, halten es dann in einem weiteren argumentativen Schritt nicht mehr für ein angemessenes Argument für das Lebensrecht von natürlichen Embryonen.26 Die Frage, ob es in Hinblick auf diese Konsequenzen überhaupt sinnvoll ist, die ursprünglich aus einer anderen Debatte stammenden SKIP-Argumente in einem artifiziellen Kontext anzuwenden, wird nicht gestellt. Vielmehr werden die SKIP-Argumente selbst und allen voran das Potentialitätsargument nun auch in ihrem ursprünglichen Kontext als unzureichend angesehen. Wird aber, so folgern die Autoren, der Embryonenschutz, wie er sich im ESchG und StZG widerspiegelt, mittels eines nicht mehr als plausibel erachteten Arguments begründet, muss die Debatte erneut geführt werden.27 Konkrete Vorschläge, wie ohne die SKIP-Argumente ein angemessener und umfassender Embryonenschutz begründbar sei, werden nicht gemacht. Vielmehr wird in diesem Zusammenhang u. a. die Aufgabe oder aber Reformulierung des Potentialitätsarguments gefordert28 und die Ersetzung der Statusfrage durch eine Regulierung von Handlungskontexten vorgeschlagen29, die sich auf eine einheitliche, aber metaphysik- und wertfreie Legaldefinition des menschlichen Embryos abstützt.30 Eine Voraussetzung für eine schlüssige Lesart der SKIP-Argumente als Leitfaden für den Schutz von Embryonen ist aber die in unserer Lebenswelt verankerte Substanzontologie aristotelischer Provenienz, die offensichtlich auch in die Legaldefinitionen von ESchG und StZG eingegangen ist. Wenn es in § 8 Abs. 1 ESchG heißt, als Embryo gelte »bereits die befruchtete, entwicklungsfähige 26 Vgl. im Folgenden: Stier/Schöne-Seifert 2013, 19–27; Stier 2014, 181–194; Schickl et al. 2014, 857–862. 27 Vgl. Schickl et al. 2014, 859, 860, 862. 28 Vgl. ebd. 29 Vgl. ebd., 861. 30 Vgl. ebd., 862.

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menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag«, wird deutlich, dass der Embryo dort eben nicht nur als eine bestimmte Eigenschaft oder Funktion verstanden wird, sondern vielmehr als eine sich entwickelnde Entität, die als Entität über bestimmte spezifische Eigenschaften verfügt und hierüber definierbar und identifizierbar ist. Dies zeigt sich insbesondere auch in der Legaldefinition des ESchG, die neben der Entwicklungsfähigkeit weitere Charakteristika des Embryos benennt, die ihn in typischer Weise kennzeichnen. Diese nehmen den zeitlichen Horizont eines Embryos in den Blick, d. h. seine Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen, und verstehen ihn daher als eine persistierende Entität, die sich durch ganz bestimmte, keineswegs beliebige Persistenzbedingungen auszeichnet. Ohne diese ontologische Prämisse, die in der physikalistisch und empiristisch geprägten Debatte meist übergangen wird, lassen sich die SKIP-Argumente auch in ihrem ursprünglichen Kontext nicht begründen. Die Frage nach dem Embryo zielt nicht nur auf seine Funktionsweise ab, sondern auch auf seine typischen Persistenzbedingungen. Fragt man ernsthaft nach der Definition des menschlichen Embryos, möchte man nicht nur wissen, wie sich ein Embryo entwickelt oder wie er funktioniert, sondern auch, was er eigentlich ist, d. h. was er wesentlich ist. Damit befindet man sich unvermeidlich im Kernbereich der Metaphysik, die nicht auf kategoriale Aussagen abzielt, sondern auf das, was eine Sache in der »Hauptsache« ist, wie es bei Krings treffend heißt.31 Die gegenwärtig wegen ihrer metaphysischen Prägung viel kritisierte Statusdebatte bildet damit das ab, was lebensweltlich elementar ist, nämlich das menschliche Interesse, zu wissen, was das ist, mit dem man handelnd umgeht. Es ist ein lebensweltliches Faktum, dass Menschen mit Dingen natürlichen Ursprungs anders umgehen als mit künstlichen Entitäten. Es scheint dem Menschen nicht gleichgültig zu sein, was etwas ist und wie es entstanden ist. Das lebensweltliche Bedürfnis nach Metaphysik sollte daher nicht leichtfertig übergangen werden und das Sein von Entitäten nicht auf ihre bloßen Funktionsweisen reduziert werden. Schon unser natürliches Sprechen von der Welt impliziert Ontologie, und da diese Sprache auch die Einführungssprache der Biologie darstellt, scheint es kaum plausibel, den menschlichen Embryo jenseits ontologischer Bestimmungen definieren zu wollen. Betrachtet man den Wortlaut des ESchG, hat sich oben gezeigt, dass die dort geltende Legaldefinition des menschlichen Embryos diesen selbst und nicht nur seine Eigenschaften in den Blick nimmt. Definiert werden soll schließlich der Embryo selbst, nicht nur eine spezifische Fähigkeit oder Funktionen. Die Le31 Vgl. Krings 1987, 140–141.

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galdefinition steht somit zunächst nicht im Gegensatz zu der SKIP-Argumentation und den hier beschriebenen impliziten ontologischen Prämissen. Die in der Literatur aber zu beobachtende zunehmende Konzentration auf das Kriterium der Totipotenz scheint dagegen in physikalistischer Manier ohne dieses, die SKIP-Argumente prägende, genuin substanzontologische Denken auskommen zu wollen. Die Konsequenz dieser einseitigen Lesart wäre demnach aber, dass der Gesetzgeber Eigenschaften oder Funktionen, nicht Entitäten, d. h. Substanzen schützen möchte. Es scheint daher problematisch, den Schutz von Embryonen begründen zu können, ohne ihren Status zu bestimmen und ohne auf unsere lebensweltlich verankerte Metaphysik und unsere Werturteile zu rekurrieren. Gewiss spielt die »Regulierung von Handlungskontexten«32 eine gewisse Rolle, aber es ist nicht möglich, die Statusfrage dadurch gänzlich zu ersetzen.

9.

Fazit

Wenn wir lebensweltlich von einem menschlichen »Embryo« sprechen, gehen wir von einer Entität aus, die sich im Sinne einer potentia subiectiva aus sich selbst heraus entsprechend ihrer Art kontinuierlich entwickelt und daher identisch ist mit dem geborenen Menschen. In dieser lebensweltlichen Perspektive ist ein »Embryo« für uns in der Regel, also im Normalfall, nicht eine beliebig hergestellte Zelle, die sich durch vielfältige Manipulationen zu einem Individuum entwickeln könnte, sondern eine Entität, die sich aus sich selbst heraus in kontinuierlicher Identität zu dem geborenen Menschen entwickelt. Dieses Verständnis von einer aktiven Potentialität beansprucht keineswegs absolute Unabhängigkeit von externen Faktoren, was gerade auch im Bereich der organischen Natur unmöglich wäre. So steht jede Zelle von Beginn ihrer Entwicklung an immer schon in vielfältigem Austausch mit ihrer externen Umgebung. Sehr wohl, und das ist entscheidend, verbinden wir damit aber eine Selbständigkeit gegenüber intentionalen manipulativen Eingriffen Dritter. Gerade weil wir lebensweltlich betrachtet den natürlichen menschlichen Embryo als einen Gewordenen und nicht Gemachten verstehen, empfinden wir die oben geschilderten Konsequenzen als absurd. Auch wenn sich unser Verständnis von Natur, Kultur und Technik immer weiter verändert, begreifen wir Lebewesen (noch) nicht als Produkt eines Herstellungsprozesses, über das der Hersteller beliebig verfügen kann, sondern als Substanzen, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Blickt man nochmals zurück auf die anfängliche Debatte um den Schwangerschaftsabbruch und die in diesem Kontext entwickelten SKIP-Argumente, 32 Vgl. Schickl et al. 2014, 857–862.

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zeigt sich, dass ein Embryonenschutz nur durch eine Übertragung des moralischen Status des geborenen Menschen auf den Ungeborenen sinnvoll ist. Um diese Übertragung leisten zu können, sind die SKIP-Argumente als Leitfaden entwickelt worden, die von dem geborenen schützenswerten Menschen ihren Ausgang nehmen. Sie orientieren sich an natürlichen, die Spezies charakterisierenden Kriterien, also an typischen Kriterien, die wir immer schon mitdenken, sobald wir den Begriff des Menschen erlernt haben. Die SKIP-Argumente unterliegen mit ihrer Orientierung an natürlichen, die Spezies charakterisierenden Merkmalen aber keineswegs einem Sein-Sollens-Fehlschluss, sondern bringen vielmehr das zum Ausdruck, was wir mit dem Sortalausdruck »Mensch« bezeichnen. Mit dem Sortalausdruck »Mensch« verbinden wir keine rein biologische Bestimmung, sondern immer auch ein ganz bestimmtes Werturteil.33 Ohne dieses Werturteil wäre die Frage, warum Menschen uneingeschränkten Schutz genießen, nicht zu beantworten und folglich eine Übertragung auf den Ungeborenen unmöglich. Wenn man aber, wie dies in der gegenwärtigen Debatte derzeit geschieht, den notwendigen metaphysischen Rahmen und den beschriebenen Wertaspekt, der den SKIP-Argumenten eigen ist und als unabdingbare Bedingung des Embryonenschutzes verstanden werden muss, verneint und dies zunächst mit einer Reduzierung auf entwicklungsbiologische Totipotenz zu leisten versucht, treten die Konsequenzen, die dieses reduzierte Verständnis zur Folge hat, offen zu Tage.34 Absurd sind die Konsequenzen aber nicht, weil das Potentialitätsargument in seiner ursprünglichen Logik versagt, sondern weil man den ontologischen Begriff der Potentialität durch den entwicklungsbiologischen Begriff der Totipotenz ersetzt und mit diesem biologischen Kriterium einen normativen Schutzanspruch verbindet, der diesem biologischen Begriff jedoch fremd ist. Dies führt weg von einem substanzontologischen Verständnis aristotelischer Prägung hin zu einem biologistisch verkürzten funktionalen Verständnis eines Embryos, welches wesentliche Kriterien, wie z. B. das der Genese, unberücksichtigt lässt. Unberücksichtigt bleibt, dass das Potentialitätsargument nur mittels des Bezugs auf den Begriff des Potentials, nicht der Totipotenz, einen angemessenen Embryonenschutz ermöglicht, der seinen Schutz eben nicht aus einer biologischen Funktion ableitet und damit einen Seins-Sollens-Fehlschluss begeht, sondern ihn aufgrund des intrinsischen Entwicklungspotentials dem Embryo zuspricht. Der Embryo wird als eine Einheit verstanden, die sich aus sich selbst heraus entsprechend ihrer Art kontinuierlich entwickelt. Dieses Verständnis eines Embryos ist eingebettet in einen lebensweltlichen naturphilosophisch-ontologischen Rahmen, der selbst immer schon normativ aufgeladen ist. 33 Vgl. Honnefelder 2002, 65. 34 Vgl. Advena-Regnery 2014, 229.

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An Stelle dessen tritt der reduzierte Blick auf die Funktion der Totipotenz, der von den spezifischen und arttypischen Genese- und Persistenzbedingungen abstrahiert, damit die Zuschreibung einer Funktion, wie die der Totipotenz zu leisten vermag, aber nicht den Blick auf den Embryo als schützenswerte Ganzheit erlaubt. Mittels eines so verstandenen Totipotenzarguments lässt sich kein angemessener Embryonenschutz begründen, weder für natürliche noch für artifizielle Embryonen. Will man angesichts der sich rasch entwickelnden Techniken auch einen Schutz von »artifiziellen Embryonen« erreichen, ist das traditionelle Potentialitätsargument keine Option. Ein Schutz dieser Entitäten müsste in anderer Weise begründet werden.

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Markus Rothhaar

Kommentar zu Barbara Advena-Regnery: Potentialität und Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen

In der Debatte um den ontologischen, moralischen und rechtlichen Status menschlicher Embryonen spielt das Potentialitätsargument eine herausgehobene Rolle. Im Rahmen der so genannten SKIP – Argumente wird ihm häufig die stärkste argumentative Kraft zugesprochen. Auch jenseits philosophischer Fachdiskurse entfaltet es oft eine große Überzeugungskraft, die darauf hindeutet, dass es einen starken lebensweltlichen Anhalt besitzt oder jedenfalls an tief verankerte kulturelle Überzeugungsmuster anknüpfen kann. Die diskursprägende Kraft des Arguments zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass die immanente Entwicklungspotentialität von Embryonen, neben der Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies, die definitorische Grundlage bildet, anhand derer der Schutzbereich des Embryonenschutzgesetzes (EschG) und Stammzellgesetzes (StZG) bestimmt wird. Vor dem Hintergrund der philosophischen, medizinethischen und nicht zuletzt juristisch herausgehobenen Bedeutung der Potentialität werden dann allerdings solche biotechnische Entwicklungen zu einer besonderen Herausforderung, die das Entwicklungspotential von Embryonen beeinflussbar und manipulierbar machen, sei es, indem Körperzellen künstlich bestimmte Entwicklungspotentiale induziert werden, sei es, indem das Entwicklungspotential von Embryonen mittels gentechnischer Manipulationen gestört bzw. ganz zunichte gemacht wird. Vor dem Hintergrund dieser Manipulationsmöglichkeiten wird nun vielfach die These vertreten, die Validität des Potentialitätsarguments selbst werde durch diese Manipulationsmöglichkeiten fraglich. Im Mittelpunkt steht dabei der »absurd extension«-Einwand, der sowohl von Stier und Schöne-Seiffert1, als auch von Schickl, Braun, Ried und Dabrock2 formuliert wurde: Dieser Einwand bezieht sich einmal auf die eventuelle »transiente Totipotenz« von ipS-Zellen, insbesondere aber auf die Möglichkeit der Erzeugung tetraploid komplementierter 1 Schöne-Seifert/Stier 2013, 19–27. 2 Schickl et al. 2014, 857–862.

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Markus Rothhaar

Embryonen mithilfe von iPS-Zellen. Nach dem »absurd extension«- Einwand bedeute das, dass jede beliebige menschliche Zelle das Potential habe, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln und daher, wenn man das Potentialitätsargument ernst nehme, Träger von Menschenrechten und Menschenwürde sei. Das sei aber offenbar absurd und daher müsse es auch das Argument sein, auf dem diese Folgerung beruhe, nämlich das Potentialitätsargument. Der Text von Barbara Advena-Regnery will diese Art von Einwänden gegen die Validität des Potentialitätsarguments dadurch entkräften, dass der Gültigkeitsbereich des Potentialitätsarguments von vorneherein auf nicht-artifizielle, »natürliche« Embryonen eingeschränkt wird, bei denen die Probleme einer »absurden Ausweitung« nicht auftauchten. Advena-Regnery versucht mithin, gewissermaßen einen »cordon sanitaire« der Natürlichkeit um das Potentialitätsargument zu legen, der dieses vor Angriffen schützen soll, die durch die biotechnische Manipulierbarkeit von Embryonen und Zellen möglich werden. Während bei natürlich gewordenen Embryonen dann nach wie vor eine intuitive, lebensweltliche Plausibilität des Potentialitätsarguments geltend gemacht wird, wird diese im Hinblick auf artifizielle Embryonen bzw. embryoide Entitäten verneint. Obgleich Advena-Regnery diese Konsequenz in ihrem Artikel nirgends deutlich ausspricht, impliziert diese Unterscheidung dann allerdings auch, dass artifiziellen Embryonen nicht derselbe bzw. eventuell gar kein Schutzstatus zugesprochen wird wie »natürlichen« Embryonen. Mir scheint diese Argumentationsstrategie Advena-Regnerys nicht überzeugend. Sie führt eine neue Unterscheidung ein, die dem Potentialitätsargument eigentlich fremd ist. Das Potentialitätsargument stützt sich für sich genommen auf das Potential eines lebendigen Organismus, sich aus sich selbst heraus als das zu entwickeln, was er ist. Eine solche Fähigkeit wird in der aristotelischen Tradition als Entelechie bezeichnet und auch der vermeintlich rein »naturwissenschaftliche« Totipotenz-Begriff meint letztlich nichts anderes als diese Entelechie. Wenn sie es ist, die bei menschlichen Embryonen den Status der moralischen und rechtlichen Schutzwürdigkeit begründet, so muss einem künstlich geschaffenen Embryo bzw. einer künstlich geschaffenen embryoiden Entität, die über jenes Potential verfügt, logisch zwingend derselbe Schutzstatus zugesprochen werden. Advena-Regnerys Argumentation kann das nur bestreiten, indem sie einer natürlicherweise gegebenen Potentialität eine normative Signifikanz zuweist, die sie einer künstlich induzierten Potentialität abspricht. Damit verwandelt sich das Potentialitätsargument bei ihr aber unter der Hand in ein Natürlichkeitsargument, das als solches einer gesonderten Begründung bedürfte. Aus dem Potentialitätsargument selbst ergibt sich jedenfalls nicht, dass eine natürlich gegebene Potentialität im Vergleich zu künstlich induzierter Potentialität normativ signifikanter – oder überhaupt normativ signifikant – ist. Um ihre Position zu begründen müsste Advena-Regnery dementsprechend eine ex-

Kommentar zu Potentialität und Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen

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plizite normative Theorie der Natürlichkeit entwickeln, die in ihrem Text aber nicht zu finden ist. Der bloße Verweis darauf, dass viele Menschen das Potentialitätsargument intuitiv plausibel fänden, solange es auf natürlich gezeugte Embryonen bezogen werde, aber nicht mehr, sobald es auf artifizielle Embryonen bzw. embryoide Entitäten angewandt werde, ersetzt eine entsprechende Begründung nicht, sondern kann allenfalls eine Anregung sein, eine solche Theorie in Erwägung zu ziehen. Vielversprechender scheint mir allerdings eine ganz andere Argumentationsstrategie. Diese bestünde darin, die systematische Rolle und die innere Logik des Potentialitätsarguments angesichts der heutigen Möglichkeit der Manipulation von Entwicklungspotentialen neu zu überdenken und sich vor diesem Hintergrund zu fragen, ob der Vorwurf einer kontraintuitiven, das Argument selbst infrage stellenden »absurden Erweiterung« überhaupt zutrifft. Ausgangspunkt des »absurd extension«-Einwands ist der Umstand, dass sich beliebige Körperzellen durch die verschiedensten Methoden in ipS-Zellen transformieren lassen. ipS-Zellen lassen sich wiederum durch die Methode der sogenannten tetraploiden Embrykomplementation zu Gebilden aggregieren, die das Potential haben, sich zu einem geborenen Lebewesen zu entwickeln. Theoretisch ist diese Vorgehensweise auch beim Menschen möglich. Vertreter des Einwands schlussfolgern daraus dann, dass man, wenn man das Potentialitätsargument ernst nehme, jeder menschlichen Körperzelle den Status eines Trägers von Menschenwürde und Menschenrechten zusprechen müsse. Diese Folgerung sei aber so offenkundig absurd, dass die Grundlage der gesamten Argumentation, das Potentialitätsargument selbst, falsch sein müsse. Gegen diese Überlegung lässt sich nun wiederum die aristotelische Unterscheidung zwischen »aktivem« und »passivem« Potential anführen. Eine dynamis wäre demnach dann »aktiv«, wenn sie in dem Sinn intrinsisch ist, dass sie durch die Entität, deren Potentialität sie ist, selbst verwirklicht werden kann. »Passiv« ist ein Potential demgegenüber dann, wenn es der Handlungen eines von einer Entität unterschiedenen Akteurs bedarf, um sie zu verwirklichen. Diese Unterscheidung scheint nun auf die vorliegende Problematik präzise zu passen: bei einer Körperzelle liege danach lediglich ein »passives« Potential vor, das nur durch einen Eingriff von außen verwirklicht werden könne; ein Embryo besitze dagegen von vorneherein ein intrinsisches »aktives Potential«. An dieser Stelle haken Verfechter des »absurd-extension«-Einwandes nun in der Regel mit der These ein, auch natürliche Embryonen wiesen kein »aktives« Potential im aristotelischen Sinn auf, sondern lediglich ein »passives« Potential, das erst durch den mütterlichen Organismus nach bzw. bei der Nidation verwirklicht werde – gewissermaßen so, wie der Schreiner durch einen Eingriff von außen erst das passive Potential des Baumes zum Tischsein verwirklicht. So berufen sich etwa Stier und Schöne-Seiffert auf die mutmaßliche Rolle von

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»maternal triggers« für die Embryonalentwicklung: »Hence, in normal reproduction a viable human being will develop in the usual way if and only if the embryonic potential (P1) meets its corresponding external biochemical triggers (E1).«3 Abgesehen davon, dass die Rolle solcher »externer Trigger« naturwissenschaftlich durchaus noch umstritten ist, lassen sich gegen die Art und Weise, wie die Verfechter des »absurd extension«-Vorwurfs den Unterschied zwischen »aktivem« und »passivem« Potential auf die Embryonalentwicklung anwenden, wiederum erhebliche Einwände formulieren. Deren zentrale Prämisse besteht offensichtlich darin, dass äußere Einflüsse, die Eingebundenheit in einen Kontext und eine Umwelt, sowie der Austausch zwischen dem betreffenden Wesen und seinem Kontext bzw. seiner Umwelt, der Annahme eines »aktiven Potentials« widersprechen würden. Das ist aber nicht der Fall: Während bestimmter Lebensphasen in eine Umwelt eingebunden und auf diese verwiesen zu sein, ist vielmehr Bestandteil eben der speziestypischen Lebensform des Menschen und insofern ein Moment der Substantialität des Menschseins selbst. Die Zygote, ebenso wie der tetraploid aggregierte Embryo, weisen nun offenbar die innere Struktur auf, sich im Austausch mit dem mütterlichen Organismus, in seinem Kontext und mit ihm als seiner Umwelt zu entwickeln. Diese innere Struktur ist es, die wir Entelechie nennen und auf die das Potentialitätsargument in der hier entwickelten Form eigentlich abzielt. Eben eine solche Struktur weisen weder eine unmanipulierte Körperzelle, noch eine humane ipS-Zelle auf, denn verpflanzt man sie in einen Uterus, so geschieht, anders als bei Embryonen, gar nichts. Das zeigt, dass es sich bei der Entwicklungsfähigkeit eines Embryos, anders als von Schöne-Seiffert/Stier und Schickl/Braun/Ried/Dabrock behauptet, keineswegs um ein »passives Potential« wie dasjenige von Holz handelt, durch einen Schreiner in einen Tisch verwandelt zu werden. Ein Stück Holz baut sich üblicherweise nicht unter der Anleitung eines Schreiners selbst zu einem Tisch zusammen. Nur dann, wenn man einen Begriff von Entelechie zugrunde legen würde, nach dem diese lediglich da gegeben sei, wo ein Lebewesen seine Entwicklung vollständig autonom, gänzlich abgetrennt und unabhängig von allen Kontexten und Umweltfaktoren steuert, könnte man überhaupt zu dem Schluss kommen, ein für die Entwicklung notwendiger Austausch mit der Umwelt sei ein Argument gegen das Vorhandensein einer solchen Entelechie bzw. eines »aktiven Potentials«. Eine solche übersteigerte Auffassung von Entelechie widerspräche aber allem, was Leben ontologisch gesehen ausmacht und findet sich darum auch bei keinem Autor, der ernsthaft auf das Konzept rekurriert. Dementsprechend lässt sich festhalten, dass ein Embryo, ganz gleich ob er natürlich oder künstlich 3 Schöne-Seiffert/Stier 2013, 24.

Kommentar zu Potentialität und Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen

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erzeugt wurde, die intrinsische Fähigkeit aufweist, sich im Austausch mit seiner Umwelt zu einem geborenen Menschen zu entwickeln. Bei einer Körperzelle oder einer ipS-Zelle ist eine intrinsische Fähigkeit dagegen schlicht nicht gegeben. Hält man diesen grundlegenden ontologischen Unterschied fest, so bricht der »absurd-extension«-Einwand gegen das Potentialitätsargument sofort in sich zusammen, da die Möglichkeiten der biotechnischen Manipulation des Entwicklungspotentials von Zellen dann gar keine »absurde Ausweitung« des Potentialitätsarguments mit sich führen. Folglich besteht aber auch keine Notwendigkeit mehr, das Potentialitätsargument durch einen »cordon sanitaire« der Natürlichkeit vor einer »absurden Ausweitung« zu schützen, die es bei Lichte besehen gar nicht gibt.

Literaturverzeichnis Schöne-Seifert, B./ Stier, M.: The Argument from Potentiality in the Embryo Protection Debate: Finally »Depotentialized«? In: AJOB Bd.13:1, 2013, 19–27. Schickl, H./Braun, M./Ried, J./Dabrock, P.: Abweg Totipotenz. Rechtsethische und rechtspolitische Herausforderungen im Umgang mit induzierten pluripotenten Stammzellen, MedR. Bd. 32, 2014, 857–862.

Franziska Enghofer / Katharina Haider

Rechtliche Kriterien für die Bewertung von »nicht-totipotenten Embryonen« und »totipotenten Nicht-Embryonen«

1.

Problemaufriss

Kaum ein anderes Thema hat in den letzten drei Jahrzehnten die ethisch-rechtliche Debatte in den Bereichen der Fortpflanzungsmedizin sowie der Embryonen- und Stammzellforschung stärker geprägt als die Frage nach tragfähigen Konzepten für die Statusbestimmung embryonaler Entitäten. Dabei geriet in jüngerer Zeit insbesondere das de lege lata im deutschen Recht zur Definition des Embryos herangezogene Kriterium der Totipotenz in die Kritik.1 Der vorliegende Beitrag schließt sich dieser Kritik an und nimmt sie zum Anlass, verfassungsrechtlich begründbare und belastbare Kriterien für die Statusbestimmung embryonaler Entitäten zu identifizieren und zu untersuchen. Welche Kriterien sind also verfassungsrechtlich unverzichtbar, welche Kriterien sind verfassungsrechtlich zulässig oder zumindest vertretbar, um die Schutzwürdigkeit menschlicher embryonaler Entitäten, insbesondere in vitro, zu begründen? Ausgangspunkt der hier anzustellenden Überlegungen sind vier Einordnungsvarianten für embryonale Entitäten: Danach gibt es »totipotente Embryonen«, »nicht-totipotente Embryonen«, »totipotente Nicht-Embryonen« und »nicht-totipotente Nicht-Embryonen«. Mithilfe dieser Kategorisierung wird die Diskrepanz zwischen dem naturwissenschaftlichen Kriterium der Totipotenz und der Statuszuschreibung besonders deutlich. Um das Spannungsverhältnis nachvollziehen zu können, das sich aus der Kombination der Begriffe »totipotent« und »Embryo« ergibt, muss zunächst das für diese Kategorienbildung und

1 S. beispielhaft für die Kritik am Totipotenz-Kriterium Laimböck 2015, 40; Schickl et al. 2014, 857–862; Vgl. auch Deutscher Ethikrat 2014, 5: »Auch der Begriff der Totipotenz sollte präzisiert und seine normative Bedeutung in den neuen Zusammenhängen geklärt werden.«; Schmidt-Jortzig 2001, 929: »Die Tatsache der Totipotenz einer Zelle oder eines Zellverbandes kann eben für die Würdehaftigkeit einfach nicht das Entscheidende sein […]. Sonst müssten wir […] vor jeder Hautzelle den Hut abnehmen«. Kritisch hinsichtlich der fehlenden Beweisbarkeit der Totipotenz im Strafrecht Böhm/Jung 2016, 266–273.

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Franziska Enghofer / Katharina Haider

damit das für diese Untersuchung geltende Verständnis von »Totipotenz« und »Embryo« offengelegt werden.

1.1

Begriffsbestimmungen

1.1.1 Entwicklungsbiologische Totipotenz In der Entwicklungsbiologie wird der Begriff »Totipotenz« zur Beschreibung der Fähigkeit einer einzelnen Zelle verwendet, aus sich selbst heraus durch Zellteilung und Spezifizierung alle differenzierten Zellen des Körpers und der extraembryonalen Gewebe hervorzubringen und sich in einer geeigneten Umgebung zu einem speziestypisch harmonisch geformten Organismus entwickeln zu können.2 Dabei ist entscheidend, dass aus naturwissenschaftlicher Sicht stets das Potential einzelner Zellen als totipotent umschrieben wird und somit eine Einordnung von Zellverbänden als totipotent ausgeschlossen ist. Die Fähigkeit zur Ganzheitsbildung wird in der Biologie mit der Fähigkeit zur Geburt zu gelangen gleichgesetzt.3 Ob die Zelle auf natürlichem oder künstlichem Wege entstanden ist, spielt dagegen für eine Qualifikation gemäß dem Totipotenz-Kriterium keine Rolle.4 Diese scheinbare naturwissenschaftliche Klarheit darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst in naturwissenschaftlichen Publikationen keine einheitliche Anwendung des Totipotenz-Begriffes zu beobachten ist.5 So wird von einigen Autoren der Totipotenz-Begriff weiter verstanden als in der obigen Definition.6 Auch in die rechtlichen Embryodefinitionen in § 8 Abs. 1 Embryonenschutzgesetz (ESchG) 7 und insbesondere in § 3 Nr. 4 Stammzellgesetz (StZG)8 hat das 2 Advena-Regnery et al. 2012, 219; Laimböck 2015, 13; Schickl et al. 2014, 857–862; Sgodda 2015, 13. Ursprünglich wurde der Totipotenz-Begriff zur Beschreibung separierter Blastomeren verwendet, die bis zu einem gewissen Zellstadium das gleiche Potential wie eine befruchtete Eizelle besitzen, vgl. Driesch 1895, 398–413. 3 Tarkowski/Ozdzenski/Czolowska 2005, 825; vgl. Darstellung bei Advena-Regnery et al. 2012, 219; Schickl et al. 2014, 858; Sgodda 2015, 20. 4 Laimböck 2015, 13. 5 Sgodda 2015, 15. 6 Hierzu ausführlich Denker 2003, 2728–2730; Verwässert wird die Bezeichnung »totipotent« beispielsweise dadurch, dass in vivo-iPS-Zellen in der Veröffentlichung von Abad et al. 2013 totipotenz-ähnliche Eigenschaften, sog. »totipotency features«, attestiert wurden, Abad et al. 2013, 340–345. 7 Gesetz zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz – ESchG) vom 13. 12. 1990 (BGBl. I, 2746), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. 11. 2011 (BGBl. I, 2228). 8 Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz – StZG) vom 28. 06. 2002 (BGBl. I, 2277), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18. 07. 2016 (BGBl. I, 1666).

Rechtliche Kriterien

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Totipotenz-Kriterium Eingang gefunden. So gilt nicht nur »bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an« als Embryo im Sinne des ESchG, sondern nach § 8 Abs. 1 Alt. 2 ESchG auch »jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag.«9 Damit folgte der Gesetzgeber der naturwissenschaftlichen Definition von Totipotenz als Fähigkeit zur Ganzheitsbildung.10 In der zeitlich dem ESchG nachfolgenden Definition in § 3 Nr. 4 StZG wird »bereits jede menschliche totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag«11 als Embryo im Sinne des Gesetzes definiert. Es wird also allein auf das Kriterium der Totipotenz im naturwissenschaftlichen Verständnis abgestellt, das sich ebenfalls auf die Fähigkeit einer einzelnen Zelle zur Ganzheitsbildung bezieht.12 Für die folgende Bearbeitung bleibt festzuhalten, dass als »Totipotenz« stets die Fähigkeit einer einzelnen Zelle zu verstehen ist, sich in einer geeigneten Umgebung aus sich heraus zu einem vollständigen Organismus entwickeln zu können. Ist nachfolgend von einer »totipotenten Entität« die Rede, bedeutet dies, dass sie sich aus einer totipotenten Zelle entwickelt hat. 1.1.2 Embryo In der Biologie wird der Embryo rein deskriptiv als der sich entwickelnde Mensch während der Embryonalphase definiert.13 Die Embryonalphase reicht von der Befruchtung bis etwa zum Ende der achten Schwangerschaftswoche, wenn alle wesentlichen Strukturen und Organe angelegt sind. Auf das Vorliegen von Totipotenz wird in der Biologie damit nicht abgestellt.14 Weder im alltäglichen noch im juristischen Sprachgebrauch lässt sich dagegen ein einheitliches Verständnis vom Begriff des »Embryos« erkennen.15 Gerade bei einem rein intuitiven Zugriff werden viele Betrachter mit dem Embryo-Begriff einen wie auch immer gearteten Grad an Schutzwürdigkeit verbinden.16 Eine solche Konnotation fußt auf Assoziationen und intuitiven Bewertungen, die sich uns gewissermaßen aufdrängen, wenn wir den Begriff »Embryo« 9 10 11 12 13 14 15 16

Hervorhebung nicht im Original. S. eben bei Fußn. 2. Hervorhebung nicht im Original. S. eben bei und nach Fußn. 2. Moore/Persaud Torchia 2013, 7. Sgodda 2015, 13. Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 8, Rn. 50. Hauskeller 2004, 145–172; Spieß 2011, 287.

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hören. Dahinter dürften nicht in erster Linie rechtliche, ethische oder philosophische Maßstäbe, sondern schlichtweg »Bilder« stehen, welche wir üblicherweise vor Augen haben, wenn wir an »Embryo« denken oder von »Embryo« hören. In der umgangssprachlichen Verwendung17 des Embryo-Begriffes schwingt – geprägt von der Bildsprache in den Medien oder von Ultraschallaufnahmen während der Schwangerschaft – häufig eine gewisse »Menschenähnlichkeit« und damit einhergehend wohl immer auch die Vorstellung von einem gewissen normativen Status des Embryos mit. Im normativen Bereich sind zum einen ethische und zum anderen juristische Betrachtungsweisen von Relevanz. So wird beispielsweise für das deutsche Recht angenommen, dass als »Embryonen« im Rechtssinne nur solche Entitäten verstanden werden, denen ein gewisser Schutzstatus zuzuerkennen ist.18 Auch im vorliegenden Beitrag soll ein normatives Verständnis des Embryos Anwendung finden. Dies bedeutet, dass als Embryonen nur Entitäten bezeichnet werden, denen ein bestimmter Status zugeschrieben wird. Woraus sich diese Schutzwürdigkeit ergibt, ist dabei variabel: Es kann auf die ethische oder rechtliche Einordnung der Entitäten abgestellt werden.

1.2

Bedeutung der Einordnung von Entitäten in die Kategorien »nicht-totipotenter Embryo« und »totipotenter Nicht-Embryo«

Kombiniert man nun den naturwissenschaftlichen Totipotenzbegriff mit der normativ verstandenen Embryoeigenschaft, so lassen sich zunächst zwei Kategorien bilden: schutzwürdige embryonale Entitäten, die »Embryonen« sind, und nicht schutzwürdige embryonale Entitäten, die »Nicht-Embryonen« sind. Je nachdem, ob die embryonalen Entitäten totipotent oder nicht-totipotent sind, ergeben sich die bereits eingangs genannten vier Kategorien: schutzwürdige totipotente Embryonen und nicht-totipotente Embryonen auf der einen Seite und nicht schutzwürdige totipotente Nicht-Embryonen und nicht-totipotente Nicht-Embryonen auf der anderen Seite. Die Einordnung einzelner Entitäten in eine der vier Kategorien – wie sie Tabelle 1 zeigt – beruht damit einerseits auf der naturwissenschaftlich-faktischen

17 Das Duden Universalwörterbuch beschreibt den Embryo als »im Anfangsstadium der Entwicklung befindlicher Organismus«, Dudenredaktion 2013, 508. 18 Mit Blick auf die Legaldefinitionen des Embryos im deutschen Recht Koch 2005b, 194: »Für das deutsche Recht ist davon auszugehen, dass mit dem Begriff ›Embryo‹ Entitäten bezeichnet werden sollen, die prinzipiell in ihrem Entwicklungspotenzial schützenswertes menschliches Leben darstellen (und nicht nur rechtstechnisch der Anwendungsbereich eines Gesetzes bestimmt werden soll, wie etwa in England).«, vgl. auch Koch 2005a, 1114.

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Rechtliche Kriterien

SCHUTZWÜRDIG

totipotente Embryonen

nicht-totipotente Embryonen

NICHT SCHUTZWÜRDIG

nicht-totipotente Nicht-Embryonen

totipotente Nicht-Embryonen

Tabelle 1: Darstellung der Kategorien »nicht-totipotenter Embryo« und »totipotenter Nicht-Embryo«

Totipotenz-Eigenschaft und andererseits auf der normativen Bewertung der Entität als schutzwürdig oder nicht schutzwürdig. Anhand von zwei Entitäten sollen die Bedeutung der vier Kategorien und einige der sich daraus ergebenden Reibungspunkte exemplifiziert werden.

1.3

Problemdarstellung am Beispiel der tetraploiden Embryoaggregation

1.3.1 Ablauf der tetraploiden Embryoaggregation Das Verfahren der tetraploiden Embryoaggregation19 dient eigentlich dem Nachweis der Pluripotenz von Stammzellen.20 Dabei entstehen zunächst aus diploiden Zellen eines frühen Embryos mittels technischer Verfahren Zellen mit einem tetraploiden Chromosomensatz. Diese Zellen sind aufgrund ihres nicht – wie normal – doppelten, sondern nunmehr vierfachen Chromosomensatzes nicht mehr in der Lage, einen vollständigen Organismus auszubilden. Sie können sich lediglich zu Zellen des Trophoblasten21 ausdifferenzieren.22 Im Anschluss werden diese tetraploiden Trophoblastzellen durch pluripotente Stammzellen, also beispielsweise induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) oder embryonale Stammzellen (ES-Zellen) komplementiert, wodurch sich die Entität im Uterus weiterentwickeln kann. Die mittels tetraploider Embryoaggregation

19 Es wird auch von tetraploider Embryo-Komplementierung gesprochen. Vgl. instruktiv zum Verfahren der tetraploiden Embryoaggregation Sgodda 2015, 26. 20 Kang et al. 2009, 135–138; Kang/Gao 2012, 5. 21 Der Trophoblast (auch als Trophektoderm bezeichnet) bildet die äußere Zellmasse der Blastozyste, aus der sich in der weiteren Embryonalentwicklung das extraembryonale Gewebe bildet, vgl. Müller/Hassel 2012, 155. 22 Tarkowski/Ozdzenski/Czolowska 2005, 825–832; s. auch Sgodda 2015, 27.

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entstehenden Chimären bestehen fast ausschließlich aus den injizierten Stammzellen, aus denen sich die innere Zellmasse (das Embryoblast) entwickelt.23 Im Mausmodell wurden durch tetraploide Embryoaggregation entstandene Entitäten sogar zur Geburt gebracht.24 Beim Menschen wurde dieses Verfahren aufgrund ethischer und rechtlicher Bedenken bislang nicht durchgeführt,25 es ist aber grundsätzlich auf den Menschen übertragbar.26 Als Hypothese soll zum Zwecke der vorliegenden Untersuchung davon ausgegangen werden, dass auch beim Menschen eine Entwicklung von Entitäten aus tetraploider Embryoaggregation bis zur Geburt möglich ist. 1.3.2 Einordnung von Entitäten aus tetraploider Embryoaggregation als »nicht-totipotente Embryonen« Will man eine Entität, die mittels des Verfahrens der tetraploiden Embryoaggregation entstanden ist, den oben eingeführten Begriffspaaren zuordnen, so ist zunächst nach der rein naturwissenschaftlichen Totipotenz-Eigenschaft zu fragen. Da sich die naturwissenschaftliche Definition von Totipotenz ausschließlich auf die Eigenschaft von Einzelzellen und nicht von Zellaggregaten bezieht, scheidet eine Qualifikation als totipotent aus.27 Weder die tetraploiden Zellen noch die hinzugegebenen Stammzellen sind nämlich totipotent:28 Die tetraploiden Zellen können sich lediglich zu Zellen des Trophoblasten entwickeln, und sowohl iPS-Zellen als auch ES-Zellen verfügen nur über (naive) Pluripotenz.29 Dass daraus ein Zellverband entstehen kann, der sich bei Vorliegen geeigneter Umgebungsbedingungen bis zur Geburt weiterentwickeln kann, ändert an der naturwissenschaftlichen Einordnung der Entität als »nicht totipotent« 23 Sgodda 2015, 27; Stier 2014, 187. 24 Boland et al. 2009, 91–94; s. auch Darstellung bei Stier 2014, 184. 25 Die tetraploide Embryoaggregation ist nämlich als nach § 6 Abs. 1 ESchG verbotenes reproduktives Klonen zu werten, Stier 2014, 184. Die Chimäre ist ein Klon dessen, von dem die injizierten Stammzellen stammen. Unschädlich ist, dass bei der durch tetraploide Embryoaggregation entstandenen Entität, wie bei Fußn. 19 ausgeführt, nur von einer zu 99,9 % mit der Erbinformation der Stammzellen identischen Erbinformation ausgegangen werden kann. Auch beim Zellkerntransfer wird ein (verschwindend geringer) Anteil von MitochondrienDNA der entkernten Eizelle weitergegeben, wobei dennoch die »gleiche Erbinformation« gemäß § 6 Abs. 1 ESchG angenommen und ein Verstoß gegen das Klonverbot bejaht wird, s. nur Jungfleisch 2005, 92–93; Rosenau 2003, 764. Kritisch Günther, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 6, Rn. 15–16. 26 Denker/Denker 2005, A-892; Heinemann 2005, 561. 27 Schickl et al. 2014, 858, die zunächst aber missverständlich bzw. ungenau von der Entstehung einer »offensichtlich totipotente[n] Blastozyste« sprechen. 28 Sgodda 2015, 27–28. 29 Unter naiver Pluripotenz wird die Pluripotenz der inneren Zellmasse verstanden, die im Gegensatz zur geprägten Pluripotenz der Epiblastzellen steht, Sgodda 2015, 27, Fußn. 120.

Rechtliche Kriterien

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nichts. Zwar ist in der Publikation von Nagy et al.30 1993 von »Totipotenz« und bei Tarkowski et al.31 2005 von einer »Totipotenz im eingeschränkten Sinne« die Rede, doch ist dies nur Ausdruck einer in den letzten Jahren vermehrt zu beobachtenden »Erschaffung« erweiterter Totipotenz-Begriffe, die sich aber bislang in der Entwicklungsbiologie nicht allgemein durchgesetzt haben.32 Auch wenn die Ausgangszellen beim Verfahren der tetraploiden Embryoaggregation jeweils nicht totipotent waren, konnte durch die »Gemeinschaftsleistung« von tetraploiden Zellen und Stammzellen im Mausmodell eine Entwicklung bis zur Geburt gezeigt werden. Diese »gemeinschaftlichen Regulationskapazitäten des chimären Zellaggregats«,33 die eine Entwicklungsfähigkeit der Entität bis zum geborenen Organismus ermöglichen, werden bei vielen Betrachtern auf Basis einer rein intuitiv-bildlichen Herangehensweise voraussichtlich die Assoziation eines – in der hier etablierten Terminologie – schutzwürdigen »Embryos« hervorrufen. Entitäten, die mittels des Verfahrens der tetraploiden Embryoaggregation entstanden sind, könnte man auf Grundlage dieses rein intuitiven Zugriffs als »nicht-totipotente Embryonen« qualifizieren.34

1.4

Problemdarstellung am Beispiel der transienten Totipotenz

1.4.1 Auftreten transienter Totipotenz Transient totipotente Zellen können möglicherweise im Zuge der Reprogrammierung von Körperzellen zu iPS-Zellen auftreten.35 Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass die Zellen bei der Reprogrammierung nicht nur ein pluripo30 Nagy et al. 1993, 8424–8428. 31 Tarkowski/Ozdzenski/Czolowska 2005, 829: »Although the classic definition of ›totipotency‹ does not fully apply in this situation, the extraordinary ability of these isolated blastomeres to give rise to a complete fertile animal, justifies the usage of the word ›totipotency‹, though in the restricted meaning of this term.« 32 Sgodda 2015, 15–16. 33 Sgodda 2015, 29. 34 Bei rein intuitiver Betrachtung kommt demnach der Fähigkeit der Entität zur Geburt zu gelangen, eine weitreichende Bedeutung zu. Man würde daher neben der in vivo befruchteten Eizelle tendenziell auch z. B. den IVF- bzw. ICSI-Embryo, die Zellkerntransferentität, die partielle Blasenmole sowie einen Embryo aus künstlichen Keimzellen als schutzwürdige »Embryonen« klassifizieren. Diese Entitäten sind allesamt aus totipotenten Zellen entstanden und wären daher »totipotente Embryonen« im Sinne der hiesigen Einordnung. Als »nicht-totipotente Embryonen« würde man wohl rein assoziativ neben der aus tetraploider Embryoaggregation entstandenen Entität beispielsweise den Parthenoten qualifizieren. 35 Zum Phänomen der »transient totipotenten Zellen« Kersten 2015, 147–150, wobei hier die von Jens Kersten als »totipotente Transienz« bezeichnete Kategorie angesprochen ist; vgl. auch Ott 2015, 71.

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tentes, sondern vielleicht sogar ein totipotentes Stadium durchlaufen. Da derzeit das Vorliegen von Totipotenz nur retrospektiv bewiesen werden kann und ein solcher Beweis aus ethischen und rechtlichen Gründen beim Menschen nicht möglich ist,36 muss es bei der Hypothese von der transienten Totipotenz bleiben. Für die Zwecke der Einordnung transient totipotenter Zellen wird angenommen, dass es tatsächlich eine transiente Totipotenz beim Menschen geben kann. 1.4.2 Einordnung von transient totipotenten Entitäten als »totipotente Nicht-Embryonen« Auf Grundlage dieser Annahmen lässt sich aus naturwissenschaftlicher Perspektive eindeutig von einer »totipotenten Zelle« sprechen. Dass sich die Zelle lediglich in einem vorübergehenden Stadium der Totipotenz befindet, ändert an dieser Einordnung nichts. Erstens liegt auch die natürlicherweise während der Embryonalentwicklung auftretende Totipotenz nur während der ersten Zellteilungen vor, sodass dabei strenggenommen ebenfalls von »transienter Totipotenz«37 die Rede sein muss. Zweitens ist in der Definition von Totipotenz kein zeitlicher Faktor enthalten, und drittens vermag die transient totipotente Zelle, sollte ihr vorübergehend totipotenter Zustand stabilisierbar und die Zelle in diesem Zustand isolierbar sein, bei Vorliegen geeigneter Umgebungsbedingungen eine Entwicklung bis zur Geburt zu absolvieren. Einem laienhaften Betrachter dürfte es dagegen wohl schwer fallen, dieser Entität, weil und soweit sie sich nur in einem kurzen, nicht stabilisierten Durchgangsstadium auf dem Weg zur iPS-Zelle befindet, einen Status als Embryo zuzuweisen.38 Die Entität befindet sich schließlich in einer Entwicklung hin zu einer lediglich pluripotenten Zelle, der nach einhelliger Meinung in keinem Fall eine Schutzwürdigkeit zuerkannt werden könnte. Das bloße Vorliegen der für Totipotenz charakteristischen Genexpressionsmuster dürfte in diesem Zusammenhang nicht ausschlaggebend für die normative Bewertung sein.39 Bei einem intuitiven Zugriff auf die Bewertung transient totipotenter Entitäten spielt also scheinbar auch der soziale Handlungskontext eine Rolle: Während ein Schutz 36 Böhm/Jung 2016, 267; Ott 2015, 72; Schulz 2003, 363–364. 37 So auch Kersten 2015, 147–148. 38 Anders ist bereits rein assoziativ die innerhalb der Embryonalentwicklung auftretende Totipotenz der Befruchtungsentität zu beurteilen, die Kersten als »transiente Totipotenz« bezeichnet, vgl. Kersten 2015, 147. Die Zellen des frühen Embryos sind zunächst totipotent, verlieren diese Totipotenz durch ihre weitergehende Differenzierung spätestens nach dem 8-Zell-Stadium jedoch wieder, sodass man auch hier von einer lediglich transienten Form der Totipotenz sprechen kann. 39 Ott 2015, 74. Diese intuitive Einordnung stellt also – ähnlich wie bei lebensweltlicher Betrachtung der Zellkonglomerate aus tetraploider Embryoaggregation – besonders auf das Kriterium der Entwicklungsfähigkeit der Entität ab.

Rechtliche Kriterien

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im Rahmen der Reprogrammierung zur iPS-Zelle nach dem Handlungszusammenhang als nicht notwendig erscheinen dürfte, wird die totipotente Entität im Kontext der Fortpflanzung rein assoziativ wohl als schutzwürdig eingestuft werden. Daher müsste eine transient totipotente Entität bei den meisten Betrachtern im Kontext einer bloßen Zellreprogrammierung intuitiv als »totipotenter NichtEmbryo« im Sinne der hier vorgeschlagenen Klassifizierung angesehen werden und ihr damit trotz Vorliegens der Totipotenz-Eigenschaft eine Schutzwürdigkeit abgesprochen werden.

1.5

Zwischenfazit und Problemexposition

Bereits aus dieser umgangssprachlich und intuitiv orientierten Qualifikation von Entitäten aus tetraploider Embryoaggregation und von transient totipotenten Entitäten wird ersichtlich, dass das naturwissenschaftliche Kriterium der Totipotenz nicht deckungsgleich ist mit der (hier lediglich auf intuitiven Wertungen beruhenden) Zuschreibung eines Status. Schon auf Grundlage dieser Beobachtung und der oben dargelegten Kritik am Totipotenz-Kriterium kann als Ausgangspunkt für die weitere Untersuchung konstatiert werden, dass die naturwissenschaftliche Totipotenz kein hinreichendes Kriterium für die Statusbestimmung embryonaler Entitäten darstellt.

2.

Rechtliche Einordnung von Entitäten anhand der gängigsten Embryodefinitionen

Nach der intuitiven Qualifikation ausgewählter Entitäten als Embryo bzw. NichtEmbryo wird in einem nächsten Schritt die These von der Untauglichkeit des Totipotenz-Kriteriums durch die rechtliche Einordnung anhand ausgewählter Embryodefinitionen40 weiter erhärtet. Für die Einordnung werden die Embryodefinitionen des ESchG und des StZG sowie die vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) für das Patentrecht verwendete Definition und ein kürzlich in der Literatur vorgeschlagenes Konzept herangezogen. Diese Definitionen werden kurz

40 Die Auswahl der vier Definitionen erfolgte dabei insbesondere danach, welche Begriffsbestimmungen für die deutsche Rechtsordnung am relevantesten sind, und bezieht auch einen Vorschlag de lege ferenda mit ein, um eine mögliche Gesetzesreform in der Untersuchung berücksichtigen zu können.

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vorgestellt. Im Anschluss werden bestimmte embryonale Entitäten41 darunter subsumiert. Die Subsumtion unter eine Embryodefinition führt dann dazu, dass die Entität als »Embryo« im Sinne der hier verfolgten Kategorisierung42 zu bezeichnen ist. Dass von der Definition einer Entität als Embryo im Sinne des jeweiligen Gesetzes auf die Zuweisung eines normativen Status geschlossen werden kann, bedarf einer kurzen Begründung. Die für ein Gesetz gültige Legaldefinition des Embryos kommt bei allen Vorschriften des Gesetzes zum Tragen, in denen von einem »Embryo« die Rede ist. Alle hier untersuchten Gesetze haben zumindest auch den Schutz von Embryonen zum Zweck und enthalten Vorschriften zum Schutz von Embryonen.43 Daraus folgt, dass dem Embryobegriff in den einzelnen Gesetzen eine Statuszuschreibung immanent ist und die Subsumtion einer Entität unter die für das Gesetz gültige Embryodefinition zugleich eine Qualifikation als schutzwürdiger »Embryo« im Sinne der hiesigen Terminologie bedeuten muss.

41 Vorrangig erfolgt eine Subsumtion der bereits im Problemaufriss vorgestellten Zellkonglomerate aus tetraploider Embryoaggregation sowie der transient totipotenten Zellen. Ergänzend werden embryonale Entitäten behandelt, deren Status in besonderer Weise unklar ist. 42 S. dazu oben bei 1.1.2. 43 Neben einigen anderen Zwecksetzungen, wie z. B. der Verhinderung einer gespaltenen Mutterschaft, der Vermeidung fremdnütziger Experimente mit menschlichem Leben oder der Gewährleistung der Selbstbestimmung über die eigene Fortpflanzung (Günther, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, Vor § 1, Rn. 4), verfolgt das ESchG auch das Ziel des Schutzes von Embryonen (Günther, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, Vor § 1, Rn. 2– 3). Dies kommt u. a. in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck, die als einen Schwerpunkt des Gesetzes das Verbot der »Verwendung menschlicher Embryonen zu nicht ihrer Erhaltung dienenden Zwecken« nennt, BT-Drs. 11/5460, 1. Außerdem wird der Schutz von Embryonen zumindest auch als ratio legis von § 1 Abs. 1 Nr. 3, Nr. 4, Nr. 6 Alt. 2, § 2 Abs. 1 ESchG genannt. Intention des Gesetzgebers bei der Schaffung des StZG war es, »jede Veranlassung eines weiteren Verbrauchs von Embryonen zur Gewinnung embryonaler Stammzellen für Forschungszwecke« zu vermeiden (BT-Drs. 14/8394, 8). Darin kommt die staatliche Pflicht zur Achtung und zum Schutz von Menschenwürde und Lebensrecht auch in Bezug auf den Embryo zum Ausdruck, Dederer, StZG 2012, § 1, Rn. 2. Die europäische Biopatentrichtlinie (BioPatRL; Europäisches Parlament und Rat, Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, BioPatRL vom 06. 07. 1998, L 213/13) und das deutsche Patentgesetz (Patentgesetz (PatG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Dezember 1980 (BGBl. 1981 I, 1), das durch Artikel 2 des Gesetzes vom 4. April 2016 (BGBl. I, 558) geändert worden ist) schließen die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen und kommerziellen Zwecken von der Patentierbarkeit aus und schützen damit die Würde und das Lebensrecht menschlicher Embryonen, BPatG, Urt. v. 05. 12. 2006–3 Ni 42/04, GRUR 2007, 1049, 758. Schließlich soll der Definitionsentwurf von Lena Laimböck (Laimböck 2015, 40), der sich auf die »Qualifizierte Entwicklungsfähigkeit« bezieht, in ein umfassendes Regelwerk aufgenommen werden, welches zumindest auch dem Embryonenschutz dienen soll, Laimböck 2015, 230– 231.

Rechtliche Kriterien

2.1

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§ 8 Abs. 1 ESchG

2.1.1 Embryodefinition Gemäß § 8 Abs. 1 ESchG gilt als Embryo »bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an [Alt. 1], ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag [Alt. 2].«

Für die Subsumtion der Entitäten unter die Embryodefinition des ESchG ist dabei nur die erste Alternative des § 8 Abs. 1 ESchG relevant, da in der zweiten Alternative bereits ein Embryo im Sinne der ersten Alternative vorausgesetzt wird, dem eine totipotente Zelle entnommen wird. Will man entscheiden, welche Entitäten als Embryonen im Sinne des ESchG gelten, ist im vorliegenden Zusammenhang nicht relevant, wie es sich mit den diesen Entitäten entnommenen totipotenten Zellen verhält. Doch auch bei der Auslegung nur der ersten Alternative von § 8 Abs. 1 ESchG ergibt sich eine Reihe von Unklarheiten, die vor der Einordnung der Entitäten zu erläutern sind: 2.1.1.1 Weite oder enge Lesart? So ist bekanntermaßen hoch umstritten, ob die Embryodefinition des § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG eine Befruchtung zwingend voraussetzt (enge Auslegung), oder ob das Wort »bereits« im Sinne von »auch« zu verstehen ist und damit die Befruchtung nur als eine exemplarische Entstehungsweise genannt wird (weite Auslegung).44 Die weite Auslegung ermöglicht eine Subsumtion von auf andere Weise als durch Befruchtung, also z. B. durch Zellkerntransfer oder tetraploide Embryoaggregation, entstandenen Entitäten unter die Embryodefinition. Einschränkend wird bei der weiten Auslegung dann aber eine funktionale Äquivalenz der Entität mit dem Befruchtungsembryo, also eine ihm vergleichbare Entwicklungsfähigkeit verlangt.45 Die Darstellung des Streits um die enge oder weite Auslegung von § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG sowie eine Festlegung auf eine der beiden Möglichkeiten kann an dieser Stelle unterbleiben, da bei der Subsumtion beide Auslegungsvarianten Berücksichtigung finden werden.

44 Zur ausführlichen Darstellung des Meinungsstreits Laimböck 2015, 175–183; Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 8, Rn. 50; vgl. auch BT-Drs. 13/11263, 14; BT-Drs. 14/ 7546, 24; Hartleb 2006b, 99; Deutscher Ethikrat 2014, 4; Eser et al. 1997, 370. 45 Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 8, Rn. 55.

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2.1.1.2 Notwendigkeit einer Eizelle? Eine in der Literatur häufig übergangene Frage bei der Definition des Embryos in § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG ist die nach der Notwendigkeit der Beteiligung einer Eizelle an der Entstehung des Embryos. Während die Erforderlichkeit einer Eizelle nach der engen, also eine Befruchtung voraussetzenden Ansicht auf der Hand liegt, muss im Rahmen der weiten Auslegung eine nochmalige Differenzierung erfolgen. Verlangt man trotz des Verzichts auf den Vorgang der Befruchtung mit Blick auf das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot doch zumindest eine Eizelle als Ausgangsmaterial der Entität, so kann von der weiten Auslegung in ihrer engen Form gesprochen werden.46 Wird dagegen konsequent ausschließlich auf das Vorliegen einer entwicklungsfähigen Entität abgestellt, so ist auch die Beteiligung einer Eizelle für die Embryoeigenschaft irrelevant (weite Auslegung in ihrer weiten Form).47 Die Subsumtion der Entitäten wird sowohl unter die enge als auch unter die weitest mögliche Auslegung von § 8 Abs.1 Alt. 1 ESchG erfolgen. 2.1.1.3 Endpunkt der Entwicklungsfähigkeit Nachdem also auch bei der weiten Auslegung eine funktionale Äquivalenz der Entität zum Befruchtungsembryo und damit eine ihm vergleichbare Entwicklungsfähigkeit verlangt wird, muss für eine Subsumtion embryonaler Entitäten unter die Embryodefinition des ESchG geklärt werden, welcher Endpunkt der Entwicklungsfähigkeit erforderlich sein soll. Bis zu welchem Entwicklungszeitpunkt muss sich eine Entität also grundsätzlich entwickeln können?

46 So Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 8, Rn. 59: »Zudem muss auch die vorstehend dargelegte Auslegung im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG berücksichtigen, dass § 8 Abs. 1 offenkundig in beiden Varianten eine menschliche Eizelle als ›Ausgangspunkt‹ eines (menschlichen) Embryos zugrunde legt; weder das Gesetz noch die Materialien enthalten Anhaltspunkte dafür, dass (auch) diese ›Zutat‹ zum Entstehungsvorgangs (sic) verzichtbar wäre.« (Hervorhebung im Original). Taupitz bezieht sich bei dieser Aussage allerdings auf eine tierische Eizellhülle beim heterologen Zellkerntransfer, sodass er eigentlich nur eine Aussage über die Voraussetzung der »Menschlichkeit« trifft. Allerdings wird auf die zitierte Passage im Zusammenhang mit der Festlegung auf die weite Auslegung von § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG verwiesen und mit dem Hinweis versehen, dass zwar die Methode (also die Befruchtung), nicht aber das Ausgangsmaterial und das Ergebnis des Vorganges für eine Qualifikation als Embryo irrelevant seien. Außerdem rekurriert Taupitz im Kontext der direkten Reprogrammierung von somatischen Zellen zur Totipotenz auf das obige Zitat: »Da hier [gemeint ist bei der direkten Reprogrammierung] keine menschliche Eizelle bei der Entstehung beteiligt ist, handelt es sich nicht um einen Embryo im Sinne des ESchG.«, Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 8, Rn. 62. Ebenfalls eine Eizelle als Ausgangsmaterial verlangend Eser/Koch 2003, 11, 20. 47 Deutscher Ethikrat 2014, 4, der unter der Annahme, dass man eine weite Auslegung befürworten würde, auch das Vorhandensein einer Eizelle nicht voraussetzen würde; in Bezug auf § 6 ESchG Eser et al. 1997, 370; Schütze 2007, 303.

Rechtliche Kriterien

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Für die befruchtete Eizelle bedeutet im Rahmen von § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG entwicklungsfähig schlichtweg teilungsfähig.48 Für nicht durch Befruchtung entstandene Entitäten kommt es allerdings auf die funktionale Äquivalenz zum Befruchtungsembryo an, sodass für diese Entitäten die dem Befruchtungsembryo typischerweise eigene Entwicklungsfähigkeit bestimmt werden muss. Dabei wird neben einer Fülle weiterer Zeitpunkte49 recht häufig auf die prinzipielle Fähigkeit der Entität, sich bis zur Geburt zu entwickeln, abgestellt.50 Prototyp des im ESchG schutzwürdigen Embryos ist die befruchtete Eizelle, sodass sie auch als Referenzentität für die Frage nach dem für das Vorliegen von Entwicklungsfähigkeit zu verlangenden Endpunkt der Entwicklungsfähigkeit dienen muss. Da sich eine befruchtete Eizelle aber typischerweise bis zur Geburt entwickelt (also nicht nur bis zur Nidation oder Neuralrohrbildung), muss dies auch im Sinne einer funktionalen Äquivalenz von einer nicht aus Befruchtung hervorgegangenen Entität verlangt werden.51 Für ein Abstellen auf die Geburt als relevanten Endpunkt spricht zudem, dass dann ein einheitliches Verständnis mit Blick auf die Embryodefinition in § 3 Nr. 4 StZG herrscht.52 Schließlich wurde die Definition im StZG gerade angesichts der neuen Verfahren des Zellkerntransfers und auf Grundlage der Definition des ESchG geschaffen.53 Daher stellt die Geburt zumindest einen vertretbaren Entwicklungsendpunkt für den Bereich des ESchG dar. Um eine Einordnung der Entitäten zu ermöglichen, soll auch für diese Untersuchung die Fähigkeit, zur Geburt zu gelangen, die entscheidende Eigenschaft für das Vorliegen der nötigen Entwicklungsfähigkeit sein. 2.1.2 Subsumtion Subsumiert man humane Zellkonglomerate aus tetraploider Embryoaggregation unter die Definition des § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG in ihrer weitest möglichen Auslegung, so sind diese als Embryonen im Sinne der Vorschrift zu qualifizieren. Denn nach der bereits erläuterten, im Rahmen der Untersuchung geltenden 48 BT-Drs. 11/5460, 12; Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 8, Rn. 21. 49 Zu nennen sind hier beispielhaft das Blastozystenstadium (so z. B. Trips-Hebert 2009, 81) das Nidationsstadium (so u. a. Koch 2005b, 1102–1103; Neidert 2007, 284–285; Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 8, Rn. 55), der Ausschluss der Zwillingsbildung (so beispielsweise Dreier, in: Dreier, Grundgesetz 2013, Art. 1, Rn. 84; Middel 2006, 106–112), die Gehirn- bzw. Neuralrohrbildung (so z. B. Laimböck 2015, 202) oder die extrauterine Lebensfähigkeit (so u. a. Ipsen 2011, Rn. 228, 250). 50 Dederer 2006, 70–71; Kreß 2007, 23–25, 41–42; in Bezug auf das StZG, aber mit Hinweis auf die inhaltliche Parallelität zum ESchG Brewe 2006, 134; Taupitz 2007, 121. 51 In diesem Sinne auch Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 8, Rn. 23. 52 Siehe hierzu unten in und bei Fußn. 64. 53 BT-Drs. 14/8394, 9.

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Hypothese haben diese Entitäten – wie von der weiten Auslegung gefordert – die Fähigkeit, sich bis zur Geburt zu entwickeln und sind daher funktional äquivalent zu Befruchtungsembryonen.54 Angesichts ihrer fehlenden Totipotenz im hier verstandenen naturwissenschaftlichen Sinne sind Entitäten aus tetraploider Embryoaggregation also nicht-totipotente Embryonen im Sinne von § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG in seiner weiten Auslegung. Anders dagegen stellt sich eine Einordnung unter die enge Auslegung des § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG dar: Nach diesem temporalen Verständnis des Wörtchens »bereits« sind Entitäten aus tetraploider Embryoaggregation schon aufgrund des Fehlens eines Befruchtungsvorgangs keine Embryonen im Sinne des ESchG, sondern vielmehr nicht-totipotente Nicht-Embryonen. Ähnlich kontroverse Ergebnisse liefert die Subsumtion humaner transient totipotenter Zellen unter § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG in seinen verschiedenen Lesarten: Während diese Zellen, denen infolge der hier geltenden Hypothese die Eigenschaft der Totipotenz zukommt, gemäß § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG in seiner weitesten Auslegung aufgrund ihrer Entwicklungsfähigkeit als totipotente Embryonen zu qualifizieren sind,55 stellen sie nach engem Verständnis der Embryodefinition mangels Befruchtung totipotente Nicht-Embryonen dar. Ebenso gegensätzlich ist die Einordnung anderer, zum Teil höchst artifizieller human-embryonaler Entitäten unter die Embryodefinition des § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG in ihren unterschiedlichen Deutungen. So gelten etwa ZellkerntransferEntitäten56 und sowohl in vitro- als auch in vivo-»iTS-Zellen«57 nach weiter Lesart 54 Folgt man dagegen der weiten Auslegung in ihrer engen Form, so stellen Entitäten aus tetraploider Embryoaggregation mangels des erforderlichen Vorliegens einer Eizelle keine Embryonen im Sinne von § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG dar. 55 Im Rahmen der weiten Auslegung in ihrer engen Form hingegen sind transient totipotente Zellen aufgrund fehlender (aber notwendiger) Eizelle als totipotente Nicht-Embryonen einzuordnen. 56 Entitäten aus somatischem Zellkerntransfer entstehen durch die sog. »Dolly-Methode«: Hierbei wird das Kerngenom einer Körperzelle in eine zuvor enukleierte Eizelle übertragen. Diese kann sich dann unter geeigneten Bedingungen zu einer embryonalen Entität entwickeln, die genetisch mit dem Körperzellen-Spender bis auf das mitochondriale Genom identisch ist, vgl. Wilmut et al. 1997, 810–813. Bislang ist zwar noch keine durch somatischen Zellkerntransfer erzeugte menschliche Entität geboren worden, Tierversuche legen aber die Möglichkeit nahe, dass auch auf diese Weise humane Entitäten zur Geburt gebracht werden könnten, vgl. zur Historie des reproduktiven Klonens Bühl 2009, 285–289. Im Rahmen dieser Bearbeitung wird daher die Hypothese aufgestellt, dass aus somatischem Zellkerntransfer erzeugte human-embryonale Artefakte geboren werden können. 57 Die Untersuchung der vorliegend als in vivo-»iTS-Zellen« (induziert totipotente Stammzellen) bezeichneten Zellen basiert auf einer Hypothese in Zusammenhang mit der 2013 von Abad et al. 2013, 340–345 veröffentlichten Studie. Hierbei traten bei der in vivo-Erzeugung von iPS-Zellen plötzlich Zellen auf, die eine höhere Plastizität bzw. einen »primitiveren« Zustand als »normale« iPS-Zellen sowie auch ES-Zellen aufwiesen. Die Autoren sprachen daher von »Totipotency-associated features«. Mit den hier als in vivo-»iTS-Zellen« bezeich-

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des § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG als totipotente Embryonen, wohingegen sie nach einem engen Verständnis totipotente Nicht-Embryonen darstellen.58 Lediglich wenige Entitäten, wie etwa befruchtete artifizielle Keimzellen59 oder partielle Blasenmolen,60 fallen auch nach den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten durchwegs unter die Embryodefinition des ESchG.61 Dagegen können nur einige

58

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61

neten Entitäten soll noch ein Schritt weiter gegangen werden: Es wird die Hypothese aufgestellt, dass adulte Stammzellen in vivo direkt in ein totipotentes Stadium reprogrammiert und nach Bereitstellung der entsprechenden Umweltbedingungen (Uterus) gesund zur Geburt gebracht werden können. Nahezu dieselbe Hypothese liegt den in vitro-»iTS-Zellen« zugrunde – nämlich diejenige, dass eine direkte Reprogrammierung von Körperzellen zur Totipotenz in vitro möglich ist. Diese Möglichkeit wurde bislang bereits in vielen Publikationen diskutiert, sodass auch im Rahmen dieses Beitrags eine Auseinandersetzung mit der Problematik geboten erscheint, vgl. etwa Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 8, Rn. 62; Kersten 2004, 40; Eser/Koch 2003, 11, 23; Ach/Schöne-Seifert/Siep 2006, 278. Diese Entitäten stellen in Übereinstimmung mit den aufgestellten Hypothesen gemäß der weiten Auslegung der Embryodefinition des ESchG aufgrund ihrer Entwicklungsfähigkeit bis zur Geburt totipotente Embryonen dar, wohingegen sie nach der engen Lesart mangels Befruchtung nicht unter § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG subsumiert werden können. Als artifizielle Keimzellen werden aus Stammzellen differenzierte Gameten-ähnliche Zellen bezeichnet, die (teilweise) die funktionalen Eigenschaften von natürlichen Eizellen bzw. Spermien besitzen. Seit 2003 erstmals die Differenzierung artifizieller Gameten aus ES-Zellen durch Hübner et al. 2003, 1251–1256 beschrieben worden ist, hat sich in diesem Forschungsfeld viel getan. So ist es mittlerweile im Mausmodel sowohl in einem kombinierten in vitro-/in vivo-Verfahren als auch mittels einer reinen in vitro-Technik gelungen, funktionale artifizielle Gameten herzustellen, die sich nach Befruchtung zu gesunden und fertilen Mäusen entwickeln konnten, Hayashi et al. 2011, 519–532; Hayashi et al. 2012, 971–975; Zhou et al. 2016, 330–340; Hikabe et al. 2016, 303. Zwar sind aus menschlichen Stammzellen (noch) keine funktionalen Eizellen oder Spermien differenziert worden, jedoch wurden auch im Humansystem bereits fortgeschrittene haploide Keimzellen differenziert, Eguizabal et al. 2011, 1186–1195; Panula et al. 2011, 752–762; Medrano et al. 2012, 441–445. Aus dem Mausmodell und den bisherigen Erfolgen im Humansystem lässt sich daher mit guten Gründen die Hypothese extrapolieren, dass menschliche artifizielle Keimzellen mit der Fähigkeit hergestellt werden können, sich nach Befruchtung bis zur Geburt zu entwickeln. Bei der partiellen Blasenmole handelt es sich um eine haploide Eizelle, die von zwei oder (selten) mehr Spermien oder von einem Spermium mit diploidem Chromosomensatz befruchtet wird. Falls es überhaupt zur Ausbildung eines Fetus kommt und die Mole nicht schon in der Embryonalphase abstirbt, ist dies zumeist mit deutlichen Wachstumsretardierungen und multiplen fetalen Fehlbildungen verbunden. Eine partielle Blasenmole kann nicht geboren werden und ist somit auch nicht totipotent, Tariverdian/Paul 1999, 196; Strauss, 2004, 69; http://www.embryology.ch/allemand/fplacenta/patholpl04.html, zuletzt geprüft am 05. 09. 2017; http://schwangerschaftszeit.de/blasenmole/, zuletzt geprüft am 05. 09. 2017. Grund hierfür ist, dass befruchtete artifizielle Keimzellen und partielle Blasenmolen Befruchtungsentitäten darstellen (besondere Voraussetzung der engen Auslegung) und teilungsfähig und daher auch entwicklungsfähig sind (erforderlich für beide Lesarten des § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG; s. für das Ausreichen der Teilungsfähigkeit im Fall von Befruchtungsembryonen bereits 2.1.1.3). Befruchtete artifizielle Gameten können sich zudem bis zur Geburt entwickeln, sodass sie als totipotente Embryonen zu kategorisieren sind. Partielle Blasenmolen hingegen besitzen diese Fähigkeit nicht, sie stellen mithin nicht-totipotente Embryonen dar.

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bestimmte andere Entitäten, wie beispielsweise Parthenoten62 oder Cdx2-defiziente Entitäten,63 nach keiner Lesart unter § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG subsumiert werden.64

2.2

§ 3 Nr. 4 StZG

2.2.1 Embryodefinition Im Sinne von § 3 Nr. 4 StZG gilt als »Embryo bereits jede menschliche totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag«. Die Definition des StZG stellt also einzig und allein auf die Entwicklungsfähigkeit, genauer auf die Totipotenz der Entität ab. Dabei spielen sowohl die Art der Entstehung, also z. B. das Erfordernis einer Befruchtung, als auch die Verwendung von Keimzellen keine Rolle.65 Allerdings ist in § 3 Nr. 4 StZG aus62 Parthenoten (von griech. parthenos für Jungfrau und genesis für Geburt) sind unbefruchtete Eizellen, die aufgrund einer chemischen bzw. elektrischen Aktivierung (ohne paternalen Beitrag) einen der Embryonalentwicklung ähnelnden Vorgang durchlaufen. Bei niederen Tieren und Vertebraten stellt die Parthenogenese eine natürlich vorkommende Form der eingeschlechtlichen Reproduktion dar, bei Säugetieren wie beim Menschen können die Eizellen jedoch nur artifiziell aktiviert werden. Das Entwicklungspotential artifiziell aktivierter parthenogenetischer Entitäten differiert je nach Spezies in erheblichem Maße, jedoch durchlaufen alle bisher untersuchten parthenogenetischen Eizellen von Säugetieren einen großen Teil der Embryonalphase (auch wenn sie diese nicht beenden können). Zwar kann über eine in vivo-Entwicklungsfähigkeit humaner parthenogenetisch aktivierter Eizellen nur hypothetisch nachgedacht werden, jedoch ist immerhin festzustellen, dass sich deren in vitroEntwicklung im Vergleich zu befruchteten Eizellen innerhalb der ersten 70 Stunden nach Befruchtung nicht wesentlich unterscheidet. Vgl. hierzu ausführlich Advena-Regnery et al. 2015, 152. Aus diesen Gründen wird in der vorliegenden Bearbeitung von der Möglichkeit der Erzeugung humaner Parthenoten ausgegangen, die das Embryonalstadium erreichen und ein Neuralrohr ausbilden können, aber nicht totipotent sind. 63 Als Cdx2-defiziente Entitäten gelten im Rahmen dieser Bearbeitung human-embryonale Artefakte, die durch die Methode des somatischen Zellkerntransfers erzeugt worden sind, bei denen aber der für die Bildung des Trophektoderms verantwortliche Transkriptionsfaktor Cdx2 vor der Reprogrammierung deaktiviert wurde. Daher ist es zwar möglich, ES-Zellen aus ihnen zu gewinnen, sie können sich aber nicht in einen mütterlichen Uterus einnisten. Das geschilderte Verfahren wurde bei Mäusen bereits erfolgreich durchgeführt, sodass im Rahmen dieser Untersuchung die Hypothese aufgestellt wird, dass es auch beim Menschen Anwendung finden kann, Meissner/Jaenisch 2006, 212–215; Hurlbut 2005, 224; Heinemann 2007, 64. 64 Der Grund dafür, dass parthenogenetische Eizellen und Cdx2-defiziente Entitäten nach beiden Auslegungsweisen als nicht-totipotente Nicht-Embryonen zu qualifizieren sind, liegt darin, dass sie sich nicht bis zur Geburt entwickeln können (Voraussetzung für Totipotenz und § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG nach beiden Lesarten im Fall von Nicht-Befruchtungsentitäten). 65 BT-Drs. 14/8394, 9; Eser/Koch 2003, 18–19; Häberle, in: Erbs/ Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze 2016, § 3 StZG, Rn. 5.

Rechtliche Kriterien

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drücklich von einer totipotenten »Zelle« die Rede, sodass Zellverbände aus der Embryodefinition des StZG – genauso wie nach dem naturwissenschaftlichen Totipotenz-Verständnis – ausgenommen sind. Aufgrund dieses Umstands, dass das StZG für seine Embryodefinition allein auf die Totipotenz einer einzelnen Zelle (und somit auf den unter 1.1.1 bereits erörterten naturwissenschaftlichen Totipotenzbegriff) abstellt, gibt es nach § 3 Nr. 4 StZG nur noch zwei Einordnungsmöglichkeiten: Entweder eine Entität ist totipotent und damit zugleich ein Embryo oder aber eine Entität ist nicht totipotent und somit gleichzeitig ein Nicht-Embryo. Der Endpunkt der Entwicklungsfähigkeit wird im StZG durch den Begriff »Individuum« konkretisiert, wobei die überwiegend in der Literatur vertretene und daher auch hier für das StZG zugrunde gelegte Ansicht eine Entwicklungsfähigkeit bis zur Geburt verlangt.66 2.2.2 Subsumtion Zellkonglomerate aus tetraploider Embryoaggregation stellen gemäß dieser Definition nicht-totipotente Nicht-Embryonen67 dar, da es sich bei ihnen um totipotente Zellkonglomerate, nicht aber um eine einzelne totipotente Zelle handelt. Transient totipotente Zellen dagegen sind nach § 3 Nr. 4 StZG aufgrund ihrer Eigenschaft der Totipotenz im naturwissenschaftlichen Sinne als totipotente Embryonen68 zu qualifizieren.

2.3

Patentrechtliche Embryodefinition

2.3.1 Embryodefinition Für das Patentrecht wird die Definition des Embryos aufgrund der unionsrechtlichen Regelung in der Biopatentrichtlinie und mangels darin normierter »Legaldefinition« wesentlich durch die Rechtsprechung des EuGH geprägt.

66 Brewe 2006, 134; Dederer 2006, 70–71; Kreß 2007, 41–44; Taupitz 2007, 121–122. Vgl. mit Hinweis auf die dahingehende herrschende Meinung Dederer, StZG 2012, § 3, Rn. 8, der selbst als mögliche Entwicklungsendpunkte für das StZG die Festlegung der Körperachsen oder den Abschluss der »epigenetischen Reprogrammierung« nennt. Zu anderen möglichen Endpunkten s. bereits oben Fußn. 49 in Bezug auf § 8 ESchG. 67 Als nicht-totipotente Nicht-Embryonen im Sinne des StZG lassen sich aufgrund der ihnen fehlenden Fähigkeit, sich bis zur Geburt zu entwickeln, zudem Parthenoten, partielle Blasenmolen und Cdx2-defiziente Entitäten einordnen. 68 Wie etwa auch Zellkerntransfer-Entitäten, befruchtete artifizielle Gameten und in vivo- sowie in vitro-»iTS-Zellen«.

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Art. 6 Abs. 2 lit. c) der BioPatRL und in dessen Umsetzung auch § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 PatG schließen die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken von der Patentierbarkeit aus. In der Rechtssache »Brüstle v. Greenpeace e.V.« aus dem Jahr 201169 hat der EuGH das Vorliegen eines Embryos an die Fähigkeit geknüpft, »wie der durch Befruchtung einer Eizelle entstandene Embryo den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Gang zu setzen.« Verschiedentlich wurde angenommen, dass der EuGH hiermit ausschließlich die Parallelität erster Entwicklungsschritte zum Befruchtungsembryo für das Vorhandensein eines Embryos genügen lassen wollte.70 Dass der EuGH damit nicht, wie gelegentlich behauptet,71 auf die Voraussetzung der Entwicklungsfähigkeit bzw. Finalität verzichten wollte, stellte er im Fall »ISCO v. Comptroller General of Patents« aus dem Jahr 201472 klar.73 Darin erkennt der EuGH nämlich Entitäten nur dann als Embryonen an, wenn diese die »inhärente Fähigkeit [besitzen], sich zu einem Menschen zu entwickeln«.74 Man kann davon ausgehen, dass der EuGH damit die Entwicklungsfähigkeit bis zur Geburt gemeint haben muss.75 2.3.2 Subsumtion Indem die patentrechtliche Embryodefinition des EuGH im ISCO-Urteil allein auf die Entwicklungsfähigkeit bis hin zur Geburt abhebt, sind alle totipotenten Entitäten, also auch transient totipotente Zellen, aufgrund dieses ihnen inhärenten Potentials als totipotente Embryonen zu klassifizieren.76 Im Gegensatz zur Embryodefinition des StZG kommt es aber nicht auf die Totipotenz einer einzelnen Zelle an – vielmehr werden auch Zellverbände erfasst, die sich bis zur Geburt entwickeln können. Daher können auch Zellkonglomerate aus tetraploider Embryoaggregation unter die Embryodefinition des EuGH

69 EuGH, Urt. v. 18. 10. 2011 – C-34/10, Oliver Brüstle v. Greenpeace e.V., GRUR 2011, 1104– 1109. 70 Dederer 2013, 355: »Entscheidend dürfte danach sein, inwiefern die fragliche Zelle im Zuge ihrer weiteren Teilungen (erste) Entwicklungsschritte vollzieht, die mit den (ersten) Entwicklungsschritten einer befruchteten Eizelle prinzipiell identisch sind.« 71 Dederer 2013, 355, der zumindest »die Fähigkeit, das Endstadium eines vollständigen, funktionsfähigen Organismus erreichen zu können« als unmaßgeblich ansieht. 72 EuGH, Urt. v. 18. 12. 2014 – C-364/13, ISCO v. Comptroller General of Patents, GRUR Int. 2015, 138–142. 73 Hierzu ausführlich Böhm/Jung 2015, 138–142; Dederer 2015, 156–159. 74 EuGH, Urt. v. 18. 12. 2014 – C-364/13, ISCO v. Comptroller General of Patents, GRUR Int. 2015, 140 (Rn. 28 des Urteils). 75 Vgl. unter Rekurs auf die Aussagen des Generalanwaltes Böhm/Jung 2015, 141–142. 76 So auch Entitäten aus somatischem Zellkerntransfer, befruchtete künstliche Keimzellen und in vivo- sowie in vitro-»iTS-Zellen«.

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133

subsumiert werden. Sie stellen somit nach dieser Definition nicht-totipotente Embryonen dar. Entitäten, die sich nicht bis zur Geburt entwickeln können, sind jedoch gemäß dem EuGH nicht als Embryonen zu qualifizieren und daher als nicht-totipotente Nicht-Embryonen einzuordnen.77

2.4

Qualifizierte Entwicklungsfähigkeit

2.4.1 Embryodefinition Nach dem Ansatz von Lena Laimböck ist »Embryo im Sinne dieses Gesetzes [also eines möglichen Embryonenschutz- und Stammzell- oder Fortpflanzungsmedizingesetzes] […] jede humane qualifiziert entwicklungsfähige Entität. Ausgeschlossen sind Vorkernstadien sowie Stadien, in denen die qualifizierte Entwicklungsfähigkeit noch nicht stabilisiert wurde. [Abs. 1]«

Dabei wird unter qualifizierter Entwicklungsfähigkeit das Potential verstanden, »sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen unterstützenden Voraussetzungen mindestens bis zum Beginn der Neuralrohrbildung zu entwickeln. [Abs. 2]«78 Ziel dieses Alternativkonzeptes ist es, bei der Definition des Embryos auf das naturwissenschaftlich wie normativ unklar gewordene Totipotenz-Kriterium zu verzichten. Die Definition nach Laimböck bezieht sich aufgrund des Abstellens auf eine qualifiziert entwicklungsfähige Entität nicht nur auf einzelne Zellen, sondern auch auf Zellverbände. Transient totipotente Stadien werden durch den expliziten Ausschluss in Abs. 1 S. 2 von der Definition ausgenommen. Als Endpunkt der Entwicklungsfähigkeit wird hier der Beginn der Neuralrohrbildung festgelegt. 2.4.2 Subsumtion Ist das Vorliegen der »qualifizierten Entwicklungsfähigkeit« Voraussetzung für die Embryoeigenschaft, so ist diese den Zellverbänden aus tetraploider Embryoaggregation aufgrund ihrer stabilen Fähigkeit, sich mindestens bis zum Beginn der Neuralrohrbildung zu entwickeln, zuzugestehen.

77 Etwa Parthenoten, partielle Blasenmolen und Cdx2-defiziente Entitäten. 78 Laimböck 2015, 237 (Hervorhebungen nicht im Original).

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Im Gegensatz zu diesen nicht-totipotenten Embryonen79 sind transient totipotente Zellen im Sinne der Definition nach Laimböck jedoch als totipotente Nicht-Embryonen80 zu qualifizieren. Ursächlich hierfür ist, dass die Entwicklungsfähigkeit transient totipotenter Zellen nicht stabilisiert ist. Diese Zellen sind vielmehr stets nur vorübergehend totipotent.

2.5

Zwischenergebnis

Zusammenfassend wird an dieser Stelle eine Übersicht der verschiedenen Einordnungen der untersuchten Entitäten je nach rechtlicher Embryodefinition in tabellarischer Form dargestellt (Tabelle 2).

79 Auch Parthenoten und partielle Blasenmolen stellen infolge ihrer stabilen Entwicklungsfähigkeit bis zur Neuralrohrbildung nicht-totipotente Embryonen gemäß der Definition von Laimböck dar. Als Embryonen im Sinne dieser Definition können zudem ZellkerntransferEntitäten, befruchtete artifizielle Gameten und in vivo- sowie in vitro-»iTS-Zellen« qualifiziert werden; bei ihnen handelt es sich um totipotente Embryonen. 80 Die nicht-totipotenten Cdx2-defizienten Entitäten sind nach der Definition von Laimböck ebenfalls als Nicht-Embryonen einzuordnen, da sie sich nicht bis zum Beginn der Neuralrohrbildung entwickeln können.

135

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Entität

§ 8 Abs. 1 ESchG (weit)

§ 8 Abs. 1 ESchG (eng)

§ 3 Nr. 4 StZG

EuGH (ISCOUrteil)

Laimböck

befruchtete artifizielle Gameten ZellkerntransferEntität Parthenot tetraploide Embryoaggregation partielle Blasenmole in vivo-»iTS-Zellen« in vitro-»iTS-Zellen« transient totipotente Zellen Cdx2-defiziente Entität

Totipotenter Embryo

Nicht-totipotenter Embryo

Totipotenter Nicht-Embryo

Nicht-totipotenter Nicht-Embryo

Tabelle 2: Einordnung der untersuchten Entitäten unter die verschiedenen rechtlichen Embryodefinitionen

3.

Auswertung der rechtlichen Einordnung

Doch was folgt aus diesen verschiedenen Definitionen des menschlichen Embryos und den unmittelbar aus ihnen resultierenden unterschiedlichen rechtlichen Bewertungen ein und derselben Entitäten? Es könnte möglicherweise der Schluss gezogen werden, dass diejenigen Entitäten, die wohl von vielen Betrachtern – u. a. aufgrund ihrer optischen »Menschenbildähnlichkeit« – vielleicht intuitiv als schützenswert und somit als Embryonen erachtet werden würden, gemäß den unterschiedlichen Embryodefinitionen oftmals nicht erfasst werden und ihnen somit überhaupt kein entsprechender rechtlicher Schutzstatus zugesprochen wird. Umgekehrt werden aber bestimmte auf höchst artifizielle Weise erzeugte Zellen, wie etwa transient

136

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totipotente Zellen oder in vivo- sowie in vitro-»iTS-Zellen«, von den meisten Embryodefinitionen erfasst, wohingegen viele Betrachter diesen Zellen intuitiv wahrscheinlich kaum einen Schutzstatus attestieren würden. Intuition und lebensweltliche Erfahrungen korrelieren also wahrscheinlich nicht mit rechtlich festgesetzten Bewertungen. Zudem und vor allem zeigt sich die Uneinheitlichkeit des Rechts hinsichtlich der zentralen Frage, wer oder was überhaupt ein schützenswerter menschlicher Embryo ist. Eine klare Antwort sucht man in den verschiedenen Regelungen vergeblich. Denn obwohl die jeweiligen Gesetze, die die Embryodefinitionen enthalten, alle (zumindest auch) dem Embryonenschutz dienen sollen,81 werden bestimmte Entitäten von manchen Embryodefinitionen erfasst und erfahren dadurch den in dem jeweiligen Gesetz statuierten Embryonenschutz, denselben Entitäten wird jedoch zugleich der Schutz durch ein anderes Gesetz versagt, da sie nicht von dessen Legaldefinition erfasst werden. Auf diese Uneinheitlichkeit und die daraus folgende Rechtsunsicherheit sollte mittels einer einheitlichen Embryodefinition reagiert werden. Diese könnte Rechtsklarheit dahingehend schaffen, welche Entitäten als menschliche Embryonen zu qualifizieren und daher als im Prinzip schutzwürdig anzusehen sind. Insofern stellt sich vordringlich die Frage, wie eine einheitliche Embryodefinition aussehen könnte und ob neben Totipotenz bzw. (qualifizierter) Entwicklungsfähigkeit ergänzende Kriterien für einen (Schutz-)Status erforderlich sind. Durch die unterschiedlichen Statuszuschreibungen in Abhängigkeit von der jeweiligen Regelung hat sich jedenfalls gezeigt, dass Totipotenz im Recht nicht immer als allein entscheidendes Kriterium verwendet wird. Vielmehr ist gerade Totipotenz als Kriterium zur Statuszuweisung embryonaler Entitäten in letzter Zeit erheblich unter Druck geraten.82 Aus diesen Gründen müssen andere bzw. zusätzliche Kriterien gesucht werden, die in eine einheitliche Embryodefinition einbezogen werden können. Nachfolgend werden daher geeignete ergänzende Kriterien identifiziert und hinsichtlich ihrer Tauglichkeit zur Statusbestimmung vorgeburtlichen Lebens überprüft.

81 S. bereits oben bei 2., insb. Fußn. 43. 82 S. bereits oben Fußn. 1.

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4.

137

Untersuchung ergänzender Kriterien für die rechtliche Statusbestimmung

Welche Kriterien in eine »verbesserte« Embryodefinition Eingang finden können oder sogar müssen, wird daher den Schwerpunkt der folgenden Überlegungen bilden. Es geht also (zunächst) nicht darum, den rechtlichen Status einzelner embryonaler Entitäten zu bestimmen, sondern um eine abstrakte Untersuchung von möglicherweise für einen verfassungsrechtlichen Status relevanten Kriterien.83 Angesichts der rasanten Entwicklung in den Bereichen der Fortpflanzungsmedizin und der Embryonen- und Stammzellforschung erscheint es auch ratsam, unabhängig von einzelnen Entitäten gewissermaßen die Metaebene zu betrachten und übergeordnete Überlegungen zu den Voraussetzungen für das Vorhandensein eines schutzwürdigen Embryos anzustellen. Dann kann nämlich im Fall einer neuartigen Methode zur Erzeugung embryonaler Entitäten ein normatives Urteil durch bloße Anwendung der gefundenen Kriterien gefällt werden, und es muss nicht von Fall zu Fall neu entschieden werden, ob man es mit einem schutzwürdigen Embryo zu tun hat oder nicht. Ausgangspunkt der Überlegungen sind dabei die Kriterien, die in den bereits dargestellten, im Recht de lege lata wie de lege ferenda bestehenden Embryodefinitionen Verwendung finden (4.1). Auf Basis dieser Bestandsaufnahme wird zu erwägen sein, welche Herangehensweise für die Identifikation sowie die rechtliche Bewertung möglicher ergänzender statusbestimmender Kriterien idealerweise zu wählen ist (4.2). Dabei werden zunächst die für die hiesige Untersuchung relevanten Kriterien identifiziert (4.2.1), bevor die methodische (4.2.2) sowie verfassungsdogmatische Herangehensweise (4.2.3) offengelegt werden. Sind diese Grundlagen geschaffen, so kann in die umfassende Analyse der Kriterien eingestiegen werden (4.3 bis 4.7).

4.1

Bisher im Recht verwendete Kriterien

Allen vorgestellten Embryodefinitionen des deutschen und europäischen Rechts ist gemein, dass sie das Kriterium der Entwicklungsfähigkeit enthalten. Dabei wird entweder auf die Entwicklungsfähigkeit bis zu einem bestimmten Zeitpunkt oder auf die Entwicklungsfähigkeit in der speziellen Ausprägung der Totipotenz im entwicklungsbiologischen Sinne abgestellt. Ferner wird in den meisten Begriffsbestimmungen auf das Ausgangsmaterial des zu definierenden Embryos Bezug genommen: So wird in jeder der heran83 Vgl. zu einem ähnlichen Vorgehen innerhalb eines interdisziplinären Forschungsprojektes Hartleb 2007, 191–239.

138

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gezogenen Definitionen die Zugehörigkeit des Ausgangsmaterials zur Spezies Mensch verlangt.84 Im ESchG wird ferner eine Eizelle, im StZG dagegen eine einzelne Zelle als Ausgangsmaterial genannt. Die Genese, also die Entstehungsart der embryonalen Entität, taucht dagegen allein in der Definition im ESchG auf, und zwar auch nur dann, wenn man der engen Auslegung des § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG folgt, die eine Befruchtung als zwingende Voraussetzung für das Vorliegen der Embryoeigenschaft erfordert. Von besonderer Bedeutung sind bislang bei der Festlegung des Embryobegriffes also offenbar die Kriterien Entwicklungsfähigkeit und Menschlichkeit des Ausgangsmaterials. Auf die Art und Weise der Entstehung der Entität scheint es in den rechtlichen Definitionen dagegen – meist – nicht anzukommen.

4.2

Ausgangspunkt und Vorgehensweise der Untersuchung

Ausgehend von dieser Beobachtung – denn mehr als eine bloße Beobachtung kann die Bestandsaufnahme innerhalb der einfachgesetzlichen bzw. richterlichen Embryodefinitionen nicht sein – soll untersucht werden, ob diese bereits verwendeten Kriterien einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten und ob sich ergänzende statusbegründende Kriterien finden lassen. 4.2.1 Zu untersuchende Kriterien Die eben identifizierten, in den Embryodefinitionen verwendeten Kriterien wurden neben anderen Kriterien auch in der biologischen »Scoring-Matrix« untersucht.85 Den der Matrix zugrunde gelegten Kriterien kommt zunächst nur Bedeutung für die biologische Beschreibung embryonaler Entitäten zu. Sie bieten sich aber an, daraufhin untersucht zu werden, ob sie auch als normative (speziell rechtliche) Kriterien verwendet werden können. Dabei stellt die »Scoring-Matrix« sozusagen eine Erkenntnisquelle für Kriterien dar, die – nach eingehender rechtlicher Prüfung – eventuell auch im Recht Anwendung finden könnten. Neben den bereits im Recht etablierten Kriterien können der »Scoring-Matrix« daher noch weitere denkbare Kriterien für die Schutzwürdigkeit embryo84 Genau genommen verlangt die Definition des EuGH im ISCO-Urteil kein menschliches Ausgangsmaterial, sondern lediglich die Entwicklung zu einem Menschen. Es stand aber schon aufgrund der Formulierung in der BioPatRL (es geht um die Verwendung »menschlicher Embryonen«) zu keiner Zeit zur Debatte, dass das Ausgangsmaterial eines Embryos eventuell nicht humanen Ursprungs sein könnte. Daher lässt sich aus dem Gesamtkontext darauf schließen, dass der EuGH auch die Zugehörigkeit des Ausgangsmaterials zur Spezies Mensch in seiner Begriffsbestimmung voraussetzt. 85 S. zur »Scoring-Matrix« oben Sgodda, in diesem Band, 13–51.

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139

naler Entitäten entnommen werden. Im Einzelnen lassen sich aus der Matrix die Genese, das Ausgangsmaterial, der Belegenheitsort der Entität (also das Vorliegen in vitro oder in vivo) und die Entwicklungsfähigkeit als möglicherweise auch normativ relevante Kriterien entlehnen. Zusammen mit der Intention bzw. Zwecksetzung als in der Diskussion immer wieder thematisiertes rein normatives Kriterium bilden diese Kriterien den Schwerpunkt der nachfolgenden verfassungsrechtlichen Untersuchung. Die Natürlichkeit bzw. Artifizialität der Entität kann dagegen kein eigenes rechtliches Kriterium darstellen. Eine generelle Privilegierung der Natürlichkeit lässt sich im Recht nicht begründen.86 Jedoch fließen Natürlichkeitsgesichtspunkte als auf lebensweltlicher Anschauung beruhende Argumentationsmuster bei der Untersuchung und Bewertung der Kriterien immer wieder mit ein, wie z. B. bei der »Natürlichkeit« der Keimzellen oder der Befruchtung als »natürlicher« Entstehungsweise einer embryonalen Entität. 4.2.2 Methodische Herangehensweise Warum sind die hiermit identifizierten Kriterien aber anhand der Verfassung zu überprüfen? Würde nicht irgendeine rechtliche Werthaftigkeit eines Kriteriums genügen, um dem Gesetzgeber eine Berufung auf das Kriterium zu ermöglichen? Die Bedeutung eines verfassungsrechtlich fundierten Status embryonaler Entitäten für die Regulierung durch den Gesetzgeber bedarf einer kurzen Erörterung. 4.2.2.1 Bedeutung eines verfassungsrechtlich fundierten Status Der Gesetzgeber ist im Rahmen der Normsetzung an die Verfassung gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Will er Regelungen zum Schutz embryonaler Entitäten treffen, so greifen diese zugleich in vielen Fällen in andere geschützte Rechtspositionen Dritter ein. Ein Eingriff in verfassungsrechtlich gesicherte Grundrechte kann gerechtfertigt werden, wenn im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung das Vorliegen eines legitimen Zwecks, die Geeignetheit und Erforderlichkeit sowie die Angemessenheit der Maßnahme dargelegt werden können.87 Ein legitimer Zweck muss sich dabei nicht unbedingt aus der Verfassung ergeben, es genügt jeder verfassungsrechtlich nicht unzulässige Zweck.88 Daher könnte der Gesetzgeber letztlich auch eine Regelung zum Schutz solcher embryonaler Entitäten normieren, denen kein verfassungsrechtlicher Status zukommt. Die Rechtfertigung der gesetzlichen Regelung gelingt mit Blick auf beeinträchtigte 86 Dederer et al. 2015, 109–136. 87 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz 2016, Art. 20, Rn. 107. 88 Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz 2016, Art. 20, Rn. 193.1.

140

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Grundrechte allerdings umso eher, als der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck auf die Wahrung von Rechtspositionen mit Verfassungsrang gerichtet ist, die in die Abwägung im Rahmen der Angemessenheitsprüfung eingestellt werden müssen und dort den Ausschlag zugunsten des Embryonenschutzes geben können. Regelungen, die z. B. die Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG), das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Mutter (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), die Reproduktionsfreiheit89 oder die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) zugunsten der embryonalen Entität beschränken, können mithilfe eines verfassungsrechtlichen Status, insbesondere mithilfe der Trägerschaft der Menschenwürde, eher gerechtfertigt werden. Genau darin liegt nämlich die rechtliche Dimension der Statuszuschreibung an embryonale Entitäten: Sollen Embryonen im Recht schutzwürdig sein, liegt dem vorzugsweise ein verfassungsrechtlicher Status zugrunde, der bei der Kollision mit anderen (ggf. ebenfalls verfassungsrechtlich) geschützten Rechtspositionen in die Interessenabwägung eingestellt werden muss.90 Die Abwägung mit anderen geschützten Rechtsgütern fällt dann eher zugunsten des Schutzes embryonaler Entitäten aus, wenn diesen im besten Fall die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG oder aber auch das Lebensrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zuzusprechen ist. Wenn im Laufe der Untersuchung vom verfassungsrechtlichen »Status« embryonaler Entitäten die Rede ist, bezieht sich dies im Grundsatz nur auf die Trägerschaft der Menschenwürde als »höchst möglichem« verfassungsrechtlichen Status. Da aber auch ein Status in Bezug auf andere verfassungsrechtlich verbürgte Rechtspositionen z. B. aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG oder Art. 6 Abs. 1 GG möglich ist und für eine Eingriffsrechtfertigung durchaus von Relevanz sein kann, wird bei einigen Kriterien, namentlich bei der Menschlichkeit des Ausgangsmaterials (4.4.1), bei der Verschiedengeschlechtlichkeit und Natürlichkeit der Keimzellen (4.4.3 und 4.4.4), beim Belegenheitsort der Entität (4.5) und bei der Intention (4.7) auch der Status im Hinblick auf andere Grundrechtsgarantien eine Rolle spielen. 4.2.2.2 Einteilung in zwingende, zulässige und unzulässige Kriterien Die verfassungsrechtliche Untersuchung soll – mit Blick auf einen Status unter Art. 1 Abs. 1 GG – zu einer Einordnung der Kriterien in jeweils eine von drei Kategorien führen: verfassungsrechtlich notwendige bzw. zwingende Kriterien,

89 Die verfassungsrechtliche Verankerung des Rechts auf Fortpflanzung ist nicht unumstritten. In der Diskussion stehen eine Ableitung aus dem Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG, aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs.1 GG oder aus der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG, Schlüter 2008, 171–172; zum Recht auf Fortpflanzung s. auch Müller-Terpitz 2010, 9–27. 90 Dederer et al. 2015, 113.

Rechtliche Kriterien

141

verfassungsrechtlich zulässige Kriterien und verfassungsrechtlich unzulässige Kriterien. Dem Gesetzgeber soll durch die verfassungsrechtliche Untersuchung der Kriterien eine Hilfestellung für den Umgang mit embryonalen Entitäten an die Hand gegeben werden. Dabei ist zu betonen, dass der Gesetzgeber nicht unmittelbar selbst einen verfassungsrechtlichen Status zusprechen kann. Es geht vielmehr um die Rechtfertigung bzw. Begründung von Regelungen mittels der Menschenwürdeträgerschaft. Denn der Gesetzgeber muss Entitäten schützen, die als »Menschen« im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG aufzufassen sind.91 Die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 GG ist jedoch mit Blick auf vorgeburtliches menschliches Leben ebenso schwierig wie hoffnungslos verfahren. Auch vom BVerfG liegt gegenwärtig keine eindeutige Direktive vor. Daher sollen dem Gesetzgeber zunächst Kriterien aufgezeigt werden, die für einen Status der Entität unter Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar sind. Im hier verstandenen Sinne sind verfassungsrechtlich zwingende Kriterien daher solche, die gewissermaßen als Mindestvoraussetzungen eines Status unter Art. 1 Abs. 1 GG anzusehen sind. Will der Gesetzgeber eine Regelung zum Schutz embryonaler Entitäten mit deren Status unter Art. 1 Abs. 1 GG begründen, so muss er dabei mindestens diese zwingend aus der Verfassung ableitbaren Kriterien beachten. Wenn jene zwingenden Kriterien nicht vorliegen, so kann die Menschenwürdegarantie nicht verfangen, es kann also nicht mit einem Status unter Art. 1 Abs. 1 GG argumentiert werden. Darüber, ob die zwingenden Kriterien auch hinreichend sind, um einen Status unter der Menschenwürdegarantie zu begründen, ist damit noch nichts gesagt. Weitergehend sollen dem Gesetzgeber über diese zwingenden Kriterien hinaus Kriterien empfohlen werden, die zwar nicht eindeutig aus Art. 1 Abs. 1 GG folgen, die aber eine gewisse verfassungsrechtliche Wertigkeit besitzen. Diese Kriterien werden hier als verfassungsrechtlich zulässige Kriterien bezeichnet. Es lässt sich aus der Verfassung ableiten, dass diesen zulässigen Kriterien eine Bedeutung für den Status embryonaler Entitäten unter Art. 1 Abs. 1 GG zukommen kann. Daher kann davon ausgegangen werden, dass eine Regelung, die nur solche Entitäten aufgrund ihres Status unter Art. 1 Abs. 1 GG schützt, die zusätzlich zu den zwingenden auch die zulässigen Kriterien erfüllen, vor dem BVerfG Bestand haben würde. Der Schutz aus Art. 1 Abs. 1 GG wäre bei Anwendung dieser zulässigen Kriterien – nachdem ihnen eine Bedeutung für den Status unter Art. 1 Abs. 1 GG zugesprochen werden kann – nämlich nicht unzulässig verkürzt. Unzulässige Kriterien sind nicht in der Menschenwürdegarantie angelegt und daher für eine Statusbestimmung im Rahmen von Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich nicht relevant. In diesem Sinne verfassungsrechtlich unzulässige 91 Wie diese Schutzpflicht genau auszugestalten ist, ist dabei eine andere Frage.

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Kriterien darf der Gesetzgeber daher bei seinen, mit dem Schutz der Menschenwürdegarantie begründeten Regelungen zum Schutz embryonaler Entitäten nicht heranziehen. Würde er einen Statusunterschied hinsichtlich Art. 1 Abs. 1 GG mit einem unzulässigen Kriterium begründen, so wäre diese Regelung verfassungswidrig. Der Gesetzgeber darf eine Entität nicht gegenüber einer anderen Entität (durch Verweigerung eines Schutzes unter Art. 1 Abs. 1 GG) diskriminieren, nur weil letztere Entität ein unzulässiges Kriterium erfüllt (und deshalb vom Gesetzgeber verfassungswidrig als unter dem Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG stehend aufgefasst wird). 4.2.2.3 Inkonsistenzen zum Status geborener Artefakte? Dieser Kategorisierung entsprechend kann der Gesetzgeber auch in einer mit Art. 1 Abs. 1 GG vereinbaren Weise Entitäten als nicht von der Menschenwürdegarantie erfasst ansehen, wenn diese bestimmte zulässige Kriterien nicht erfüllen. Setzt der Gesetzgeber beispielsweise bei einer Regelung zum Schutz von Embryonen die Befruchtung – ein im weiteren Verlauf der Untersuchung als für einen Status unter Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich zulässig identifiziertes Kriterium – voraus, so würden beispielsweise Zellkerntransferentitäten vom Schutz durch die entsprechende gesetzliche Regelung nicht umfasst werden. Da in dieser Regelung keine unzulässige Verkürzung von Art. 1 Abs. 1 GG liegt, hätte sie vor dem BVerfG Bestand. Wie aber kann auf Grundlage der obigen Kriteriologie einer menschlichen Entität, die im Falle ihrer Geburt zweifellos als Menschenwürdeträger anzuerkennen wäre, ein Status unter Art.1 Abs. 1 GG vor der Geburt versagt werden? Denn es wird keineswegs in Abrede gestellt, dass beispielsweise ein geborener menschlicher Klon als Menschenwürdeträger zu gelten hat.92 Dass es sich bei der unterschiedlichen Behandlung menschlicher Entitäten vor und nach Geburt nicht um ein unzulässigerweise inkonsistentes Vorgehen handelt, soll kurz begründet werden: Erstens wäre eine differenzierende Behandlung von menschlichen Entitäten vor und nach der Geburt nicht zwingend unzulässig. Vielmehr behandelt das Recht in einigen Fällen ähnliche Sachverhalte bewusst unterschiedlich, ohne dass die entsprechende Regelung dadurch unzulässig ist. So ist beispielsweise im StZG der Import von embryonalen Stammzellen unter den in § 4 Abs. 2 92 In der Literatur wird dies einhellig anerkannt, s. etwa Dreier 2002, 41: »Dass geborenen Menschen ausnahmslos und ohne Einschränkung Menschenwürde zukommt, ist in der verfassungsrechtlichen Literatur im Grunde unbestritten.« Bei geborenen Menschen dürfen keine weitergehenden Differenzierungen vorgenommen werden, so BVerfG, Urt. v. 20. 10. 1992 – Az. 1 BvR 698/89, BVerfGE 87, 209 (228); Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz 2016, Art. 1, Rn. 3; Laimböck 2015, 170; Sodan, in: Sodan, Grundgesetz 2011, Art. 1, Rn. 23.

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StZG genannten Voraussetzungen zulässig, während deren Gewinnung nach § 2 Abs. 1 ESchG in Deutschland unter Strafe gestellt wird. Des Weiteren ist an die weitgehende Nichtanwendung der US-amerikanischen »fruit-of-the-poisonoustree«-Doktrin im deutschen Strafprozessrecht zu denken.93 Dabei geht es um die Verwertung von Beweisen im Prozess, die infolge von Verfahrensverstößen erlangt wurden. Auch wenn die Erhebung der Beweise unzulässig war, dürfen sie dennoch – unter bestimmten Voraussetzungen – im Strafprozess angeführt werden. Diese beiden Beispiele zeigen, dass das geltende Recht bewusst aufgrund differenzierender Abwägung nur scheinbare Widersprüchlichkeiten in Kauf nimmt und daher eine auf den ersten Blick inkonsistent erscheinende Regelung nicht zwingend unzulässig sein muss.94 Zweitens handelt es sich bei der Betrachtung der vorgeburtlichen (artifiziellen) Entität und des geborenen Menschen ohnehin um zwei unterschiedliche Kontexte, die einer unterschiedlichen Behandlung bedürfen. Für den geborenen Menschen, den wir als solchen wahrnehmen und erkennen, haben sich bereits hinreichende Werterfahrungen hinsichtlich dessen Menschenwürdeträgerschaft herausgebildet. Niemand würde heute einem geborenen Menschen die Menschenwürde absprechen. Insofern ist die Menschenwürde auch anthropologisch zu bestimmen. Wen wir als Menschen wahrnehmen, dem erkennen wir Menschenwürde zu. Im vorgeburtlichen Bereich stellt sich die Entwicklung einer Werterfahrung dagegen als weniger eindeutig dar, weswegen sich die Etablierung der hiesigen Kriteriologie zur Bestimmung der Menschenwürdeträgerschaft anbietet. Dass sich für den vorgeburtlichen Bereich dabei unter Umständen andere Bewertungen und Einteilungen ergeben als für den Zeitraum ab Geburt, stellt daher keinen Widerspruch dar. Dies wird auch daran deutlich, dass unter dem Grundgesetz in jedem Fall alle geborenen Menschen in vollem Umfang den Schutz der Menschenwürde genießen, gleichgültig welche Eigenschaften sie besitzen, ob ihre Entstehung gewollt oder ungewollt war, ob sie Verbrecher sind oder ob sie nur noch kurze Zeit zu leben haben. Auch in Art. 1 S. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 heißt es: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.«95 Damit wird bereits hier unmissverständlich klargestellt, 93 Ausnahmen werden beispielsweise im Bereich der Post- und Telekommunikationsüberwachung, also bei Eingriffen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung anerkannt. 94 S. auch Günther, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2008, § 6, Rn. 4, der im Rahmen des Klonens von Menschen von einer Menschenwürdeverletzung spricht, diese aber nicht auf den durch Klonverfahrenen geborenen Menschen bezieht: »Der Vorwurf ›menschenunwürdig‹ bezieht sich dabei nicht auf die Existenz des später geborenen Menschen, sondern auf das zu seiner Erzeugung führende Verfahren, ebenso wie zwischen einer Vergewaltigung und dem aus ihr hervorgegangenen Kind zu unterscheiden ist.« 95 Vereinte Nationen, A/RES/217, UN-Doc. 217/A-(III) vom 10. 12. 1948 (Hervorhebung nicht im Original).

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dass ab Geburt die Würdeträgerschaft des Menschen unzweifelhaft und bedingungslos anzuerkennen ist. Da sowohl das Grundgesetz als auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte für den vorgeburtlichen Bereich keine unmittelbaren Aussagen treffen,96 muss von unterschiedlichen Kontexten ausgegangen werden, deren Bewertung auch unterschiedlich ausfallen kann. Dem Vorwurf einer inkonsistenten Bewertung von menschlichen Entitäten vor und nach der Geburt ist daher insbesondere damit entgegenzutreten, dass es sich bei den zu betrachtenden Sachverhalten um unterschiedliche Kontexte handelt, für die unterschiedliche Werterfahrungen bestehen und die eine unterschiedliche Bewertung erlauben. 4.2.3 Zwischenergebnis In der verfassungsrechtlichen Untersuchung möglicher statusrelevanter Kriterien für embryonale Entitäten werden die Genese, das Ausgangsmaterial, der Belegenheitsort der Entität, die Entwicklungsfähigkeit und die Intention der Handelnden daraufhin überprüft, ob es sich dabei bzw. bei den jeweiligen Ausprägungen der Kriterien um verfassungsrechtlich zwingende, zulässige oder unzulässige Kriterien handelt. Diese Unterscheidung steckt den Rahmen für die einfachgesetzliche Normierung von Regelungen zum Schutz embryonaler Entitäten ab. Dem Gesetzgeber wären für eine mit der Menschenwürde begründete Regelung dann die zwingend zu berücksichtigenden Kriterien vorgegeben, während ihm im Rahmen der verfassungsrechtlich zulässigen Kriterien lediglich Empfehlungen an die Hand gegeben werden können. Würde der Gesetzgeber dagegen einen Statusunterschied mit einem unzulässigen Kriterium begründen, so wäre diese Regelung in jedem Fall verfassungswidrig.

4.3

Genese

Das erste Kriterium, das überprüft werden soll, ist das Kriterium der Genese. Dahinter steht die Frage, ob für die Statusbestimmung embryonaler Entitäten auch auf das »Verfahren« oder nur auf das »Produkt« (d. h. Totipotenz) abgestellt werden sollte.97 96 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war Ausgangspunkt der Grundrechtsberatungen, Orientierungsmaßstab und wesentliche Inspirationsquelle des Grundgesetzes. Daher gehen auch beide von demselben Menschenrechtsverständnis aus, vgl. hierzu und ausführlicher zum Verhältnis der beiden Fundamental-Kodifikationen Eberhardt 2009, 162–172. 97 S. auch Faltus 2011, Rn. 68. Das im Vergleich zum ESchG »neuere« StZG stellt in seiner Embryodefinition nur noch auf die Totipotenz einer Zelle, d. h. auf das Produkt, ab. Der Gesetzgeber könnte also zur Auffassung gekommen sein, dass das Verfahren der Erzeugung

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Rein intuitiv betrachtet erscheint es wohl jedenfalls schwierig, höchst künstlich erzeugten human-embryonalen Artefakten (wie transient totipotenten Zellen) trotz deren Totipotenz einen Status der Schutzwürdigkeit zu attestieren. Daher könnte zumindest ein gewisses Maß an »Natürlichkeit« der Genese auch zur Zuerkennung eines normativen Status notwendig sein.98 Fraglich ist insofern, ob die Verfassung das Kriterium der »natürlichen Genese« für einen Status unter Art. 1 Abs. 1 GG gebietet, ob sie dem Gesetzgeber ein Abstellen darauf verbietet oder ob sie dieses Kriterium zumindest für zulässig erachtet, d. h. dass der Gesetzgeber Entitäten im Fall ihrer natürlichen Genese privilegieren dürfte. Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. 4.3.1 Befruchtung im Sinne einer zufälligen Neukombination haploider Chromosomen Vor allem könnte die Befruchtung im Sinne einer zufälligen Neukombination haploider Chromosomensätze als natürliche Form der Genese durch die Verfassung als zwingend vorausgesetzt werden. 4.3.1.1 Anhaltspunkte in der Rechtsprechung des BVerfG Bereits in der Rechtsprechung des BVerfG könnten sich Anhaltspunkte finden, die darauf hindeuten, dass das Kriterium der Befruchtung mit Blick auf einen Status unter Art. 1 Abs. 1 GG zwingend sein könnte. Ab Nidation handelt es sich gemäß dem BVerfG in seinem zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch »um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit nicht mehr teilbares Leben, das sich […] nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt.«99

Die hier zur Charakterisierung von Leben bzw. eines Menschen verwendeten Begriffe der »Individualität«, »Einmaligkeit« und »Unverwechselbarkeit« könn-

ohne jede Bedeutung für die Statusbestimmung ist. Dennoch könnten bestimmte Arten der Genese verfassungsrechtlich fundiert sein – § 3 Nr. 4 StZG wäre dann aber ggf. verfassungswidrig. 98 Für eine allgemeine Berücksichtigung der »Natürlichkeit« der Genese im Rahmen des verfassungsrechtlichen Status embryonaler Entitäten (zumindest vor Nidation) Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz 2016, Art. 1 Abs. 1, Rn. 64; Herdegen 2001, 774–775; Faltus 2011, Rn. 97, Rn. 435; Benda 1985b, 1732; Flämig 1985, 58: »Die Würde des Menschen hängt an der Naturwüchsigkeit seines Ursprungs«; Bernat 1989, 93: »Das, was es zu schützen gilt, sind einzig und allein die ›natürlichen Entwicklungsbedingungen‹.« Dagegen aber Laimböck 2015, 169–170; Lorenz 2001, 43; Müller-Terpitz 2007, 263–269, 290; Middel 2006, 216–217. 99 BVerfG, Urt. v. 28. 05. 1993 – Az. 2 BvF 2/90; 2 BvF 4/90; 2 BvF 5/92, BVerfGE 88, 203 (251–252) (Hervorhebung nicht im Original).

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ten zumindest andeuten, dass das BVerfG der im Rahmen der Befruchtung erfolgenden zufallsgesteuerten Vermischung haploider Chromosomen, die zur Entstehung individueller, einmaliger und unverwechselbarer Genome führt,100 einen gewissen Wert zuspricht. Andererseits könnte das BVerfG mit dieser Aussage auch lediglich intendiert haben, die Bedeutung der »Festlegung des identätsbildenden, die Entwicklung zum Individuum nicht allein determinierenden, aber mitprägenden genetischen Programmes« hervorzuheben.101 Daher kann allein aus dieser Feststellung keine Privilegierung der Befruchtung durch das BVerfG deduziert werden. Jedoch gibt es möglicherweise auch unabhängig von dieser Rechtsprechung rein verfassungsrechtliche Gründe für die Privilegierung der zufallsgesteuerten Neuverschmelzung haploider Chromosomensätze. 4.3.1.2 Verfassungsdogmatische Ansätze Verschiedene verfassungsdogmatische Ansätze können ggf. begründen, warum nur für solche Entitäten, die aus einer Befruchtung hervorgegangen sind, ein Status unter Art. 1 Abs. 1 GG besteht. Sofern Befruchtungsentitäten in dieser Weise verfassungsrechtlich privilegiert werden, sollte diese Entstehungsweise in jedem Fall Teil einer einheitlichen Embryonenschutzdefinition sein. 4.3.1.2.1 Menschenbild des GG Eine rechtsdogmatische Begründung könnte die Idee eines »Menschenbilds des GG« geben. 4.3.1.2.1.1 Wirkungsweise und Inhalt Ausgehend von dem in der gegenwärtigen Gesellschaft vorherrschenden Menschenbild wird in der Literatur vielfach auf ein Menschenbild des GG geschlossen, welches sodann zur Bestimmung der Würdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG herangezogen wird.102 Denn Art. 1 Abs. 1 GG schütze nicht nur die Würde einzelner Menschen, sondern in objektiv-rechtlicher Dimension auch das »Menschenbild im Ganzen«.103 Gemäß einem solchen Verständnis ist die Menschenwürdegarantie also nicht nur individual-, sondern auch gemeinschaftsbezogen, d. h. nicht nur subjektives Grundrecht, sondern auch objektive Wertentscheidung, die über die Grundrechtsgarantie hinaus nach einer bestmöglichen, dem herrschenden Menschenbild entsprechenden Verwirklichung verlangt.104 100 101 102 103 104

Einen Ausnahmefall stellen jedoch eineiige Zwillinge dar. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz 2016, Art. 1 Abs. 1, Rn. 64. Vgl. Hufen 2016, 138–139; Schächinger 2014, 233; Eser/Koch 2003, 25–26; Teifke 2011, 62–66. Benda 1985a, 224; Merkel 2002, 39–40, 113. Vgl. Zippelius, in: Kahl et al., Bonner Kommentar zum Grundgesetz 2016, Art. 1 Abs. 1 u. 2, Rn. 32; Benda 1985b, 1732.

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Die Erzeugung human-embryonaler Entitäten ohne einen Befruchtungsvorgang könnte einem derartigen Menschenbild des GG widersprechen, sodass solchen Artefakten ein grundrechtlicher Schutz abzusprechen wäre. 4.3.1.2.1.2 Befruchtung als Bestandteil des Menschenbilds des GG Damit dieser Ansatz jedoch ein verfassungsrechtliches Fundament für die Geneseform der Befruchtung legen kann, müsste diese überhaupt unbedingter Bestandteil des grundgesetzlichen Menschenbilds sein. Dies wird ganz überwiegend bejaht. Das zufällige Erhalten neukombinierter Gene durch Befruchtung stelle Kern und Grundlage unserer Vorstellung vom Menschsein dar – denn nur ein neu und zufällig zusammengesetztes Genom sei individualisiert, humanspezifisch und entspreche dem »spezifische[n] Wesen des Menschen«.105 Im Gegensatz dazu würde eine vorab determinierte und gezielt gewählte Genomzusammensetzung nicht unseren Vorstellungen vom Menschsein und damit auch nicht dem Menschenbild des GG gerecht werden.106 Dies liege auch daran, dass es für uns als Menschen wesentlich sei, »Chancen und Risiken einer zufälligen genetischen Grundausstattung mit auf den Weg zu geben«107, da »[z]um Wesen des Menschen […] seine Unvollkommenheiten ebenso [gehören] wie seine wenigstens potentielle Fähigkeit, über diese hinauszuwachsen«.108 Geht man von einem der Verfassung innewohnenden, für die Bestimmung des Art. 1 Abs. 1 GG relevanten Menschenbild der Verfassung aus, ist die Befruchtung daher als »wesensmäßige Voraussetzung des Würdekonzeptes selbst [anzusehen], sozusagen [als] Grundlage[n], an die ein individualer Ansatz überhaupt erst anknüpfen kann.«109 Da ein Status unter Art. 1 Abs. 1 GG in der Konsequenz nur für embryonale Entitäten besteht, die aus der Verschmelzung haploider Zellkerne entstanden sind, wäre die Befruchtung als Teil des Menschenbilds des GG als verfassungsrechtlich zwingendes Kriterium einzustufen. 4.3.1.2.1.3 Bestehen eines grundgesetzlichen Menschenbilds Damit diese Folge eintreten kann, müsste der Verfassung jedoch überhaupt ein bzw. das Menschenbild inhärent sein.

105 106 107 108 109

Hetz 2005, 176. Hetz 2005, 176–180. Eser/Koch 2003, 26. Benda 1985a, 231; vgl. auch Benda 1985b, 1732. Hetz 2005, 178–179; a. A. aber Laimböck 2015, 168, der zufolge »sogar die These aufgestellt werden [könnte], dass sich das unserer Verfassung immanente Menschenbild […] durch das größere Wissen um Klonverfahren etc. dahingehend gewandelt hat, künstlich und natürlich gezeugte Entitäten gleichzustellen.«

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Betrachtet man die Garantie der Menschenwürde aus dem Sinnhorizont der europäischen Rechtstradition, also insbesondere aus dem hier lebendigen Menschenbildgedanken (etwa die Gottesebenbildlichkeit im Alten Testament, das Bild des Menschen in der Renaissance oder Rousseaus Vorstellung des staatsbürgerlich mündigen Menschen), so kann die Annahme eines Menschenbilds des GG hieran anknüpfen.110 Zudem könnte die Abstrahierung der Menschenwürde vom konkreten Rechtsträger der besonderen Stellung der Menschenwürde gerecht werden, die auch ihrem absoluten Begriff entspricht.111 Auch hat das BVerfG schon häufig mit dem Menschenbild des GG argumentiert.112 Allerdings wird der Terminus »Menschenbild« weder im GG noch in den Landesverfassungen verwendet. Zudem stellen objektive Gehalte nur sehr selten verlässliche Konkretisierungskriterien mit fassbaren Konturen dar; hierdurch werden oftmals vielmehr ubiquitäre und beliebige Bezugnahmen möglich.113 Dass ebendiese negative Konsequenz auch aus der Annahme eines Menschenbilds des GG folgt, zeigt die Rechtsprechung des BVerwG: Hier wird das Menschenbild des GG u. a. sowohl zur Verstärkung von Grundrechten,114 als Grundrechtsschranke115 als auch zur Begründung der Unschuldsvermutung verwendet.116 Im Grunde wird also der unscharfe Begriff des Menschenbilds des GG lediglich bemüht, um gewünschte Ergebnisse zu erhalten.117 Die Rede von dem Menschenbild suggeriert zwar Einheitlichkeit und Einheit, in Wirklichkeit gibt es aber sehr vielfältige Selbstverständnisse und Lebensentwürfe.118 Dieser Vielfältigkeit will das GG durch seine normative Offenheit und Wandelbarkeit auch 110 Huber 1998, 505, 511; Zippelius, in: Kahl et al., Bonner Kommentar zum Grundgesetz 2016, Art. 1 Abs. 1 u. 2, Rn. 3. 111 Vgl. Enders 1997, 497. 112 So folge das Menschenbild des GG gemäß BVerfG, Urt. v. 20. 07. 1954 – Az. 1 BvR 459/52; 1 BvR 484/52; 1 BvR 548/52; 1 BvR 555/52; 1 BvR 623/52; 1 BvR 651/52; 1 BvR 748/52; 1 BvR 783/ 52; 1 BvR 801/52; 1 BvR 5/53; 1 BvR 9/53; 1 BvR 96/53; 1 BvR 114/54, BVerfGE 4, 7 (15–16) aus der Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG, wobei es »nicht das eines isolierten souveränen Individuums [sei]; das Grundgesetz ha[be] vielmehr die Spannung IndividuumGemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten«; vgl. auch BVerfG, Urt. v. 27. 11. 1990 – Az. 1 BvR 402/87, BVerfGE 83, 130 (143): »Außerdem ist zu beachten, daß die Kunstfreiheit das Menschenbild des Grundgesetzes ebenso mitprägt, wie sie selbst von den Wertvorstellungen des Art. 1 I GG beeinflußt wird«. 113 Seith 2007, 80; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz 2013, Art. 1, Rn. 167; Enders 1997, 497–498. 114 BVerwG, Urt. v. 05. 05. 1998–2 WD 25.97, BVerwGE 113, 217 (218–219). 115 BVerwG, Urt. v. 11. 10. 1956 – I C 84/55, BVerwGE 4, 95. 116 BVerwG, Urt. v. 09. 02. 1967 – I C 57.66, BVerwGE 26, 169 (170–171); vgl. hierzu auch Schächinger 2014, 233–236; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz 2013, Art. 1, Rn. 167. 117 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz 2013, Art. 1, Rn. 167–168; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz 2016, Art. 1 Abs. 1, Rn. 32; Hieb 2005, 99; Geddert-Steinacher 2013, 71; Schlüter 2008, 115; Hartleb 2006a, 231; Schächinger 2014, 233–236. 118 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz 2013, Art. 1, Rn. 167.

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gerade gerecht werden, indem jeder das Recht auf das eigene Menschbild haben und nicht in ein vorbestimmtes Bild gezwungen werden soll.119 Aus diesen Gründen ist dem GG kein spezielles Menschenbild inhärent, das zur Auslegung von Art. 1 Abs. 1 GG herangezogen werden könnte. 4.3.1.2.1.4 Zwischenergebnis Der Verfassung ist kein bestimmtes grundgesetzliches Menschenbild zu entnehmen, das zur Bestimmung der Menschenwürdegarantie herangezogen werden kann. Daher kann auch nicht gefolgert werden, die Befruchtung gehöre zu diesem Menschenbild und sei deshalb als zwingendes Kriterium für einen Status unter Art. 1 Abs. 1 GG vorgegeben. Es fehlt dem Grundgesetz schon am Menschenbild als solchem. 4.3.1.2.2 Gattungswürde Möglicherweise kann aber die Rechtsfigur der Gattungswürde als Grundlage der verfassungsrechtlichen Verankerung des Kriteriums der Befruchtung dienen. 4.3.1.2.2.1 Inhalt und Konsequenzen für die Befruchtung Die Annahme einer Gattungswürde bzw. Menschheitswürde ist eng verzahnt mit der eines Menschenbilds der Verfassung.120 Hier wird die Würdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG neben jedem Menschen als Individuum in ihrem objektivrechtlichen Gehalt auch auf die Menschheit als Ganzes, auf das »Menschengeschlecht« als Gattung bezogen; die Gattung Mensch wird also zum Schutzgut der Menschenwürde.121 Das »Wesen des Menschen« muss nach diesem Verständnis aufgrund unserer Selbstachtung und Verantwortung für zukünftige Generationen geschützt werden.122 Würde wird hier also nicht nur als Recht, sondern auch als Pflicht jedes Menschen verstanden, die Würde seines Geschlechts nicht zu missachten – sozusagen »als Kehrseite des Würdeanspruchs, der jedem Menschen schon kraft seiner Existenz zukommt.«123 Menschenwürde als Gattungswürde müsse demnach für jeden die Möglichkeit enthalten, als körperlich zufälliges Individuum der biologischen Gattung 119 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz 2013, Art. 1, Rn. 167; Huber 1998, 511; Schächinger 2014, 234– 236. 120 So sind Aspekte des Menschenbilds der Verfassung gemäß Dreier, in: Dreier, Grundgesetz 2013, Art. 1, Rn. 115 »in Funktion und Sache gleichgerichtet« mit der Gattungswürdefrage; vgl. auch Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz 2016, Art. 1 Abs. 1, Rn. 32: »Schutz der menschlichen Gattung und […] Bewahrung eines bestimmten Menschenbildes«. 121 Vgl. Witteck/Erich 2003, 262; Isensee 2001, 253; Frankenberg 2000, 331; Merkel 2002, 39–40, 113; Böckenförde 2003, 811. 122 Benda 1985b, 1732. 123 Witteck/Erich 2003, 262; vgl. auch Isensee 2001, 261; Frankenberg 2000, 331.

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Mensch selbstverantwortlich Persönlichkeit zu entwickeln.124 Eine Manipulation des genetischen Zufallsprinzips und somit die Nichtanerkennung der menschlichen Unvollkommenheit stelle dagegen die Missachtung der Menschheitswürde dar.125 Da also nur die aufgrund eines zufälligen Schöpfungsaktes existierende Menschheit »der Achtung, welche die Menschen einander und sich selbst schulden«,126 und somit dem Würdegebot gerecht werde, werden gemäß den Vertretern der Gattungswürdethese nur durch Befruchtung entstandene Entitäten aufgrund des in der Verschmelzung haploider Chromosomensätze enthaltenen Zufallsprinzips von der Gattungswürde und somit auch von Art. 1 Abs. 1 GG erfasst.127 4.3.1.2.2.2 Existenz einer Gattungswürde Ist in Art. 1 Abs. 1 GG also auch eine Gattungswürde enthalten, so müssen durch Verschmelzung haploider Zellkerne entstandene Entitäten verfassungsrechtlich privilegiert werden. In diesem Fall sollte dieses Kriterium Teil jeder Embryodefinition sein, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, vorgeburtlichem Leben einen Schutzstatus unter Art. 1 Abs. 1 GG zuzusprechen. Für einen derartigen Inhalt von Art. 1 Abs. 1 GG spricht erneut (und hier wird die enge Verzahnung mit dem Menschenbild des GG deutlich) der auch objektivrechtliche Gehalt und der Absolutheitsanspruch der Menschenwürde. Zudem hat auch das BVerfG in seinen Entscheidungen bereits auf die Gattungswürde abgestellt.128 Allerdings ist die Beweiskraft dieser Referenz auf das BVerfG fraglich, da das Gericht in der betreffenden Entscheidung lediglich den Schutz des Individuums verstärken wollte bzw. sich von der v. a. in der Philosophie vertretenen Auffassung der Trennung von Mensch und Person129 distanzieren wollte; nicht die Würde der entpersonalisierten Gattung Mensch war gemeint, sondern die Würde des Einzelnen als Gattungswesen, d. h. als Wesen der Gattung »Mensch«. Dies 124 125 126 127

Höfling 2003, 114. Witteck/Erich 2003, 262. Isensee 2001, 261–262. Benda 1985b, 1732; Isensee 2001, 261–262; vgl. auch Sodan, in: Sodan, Grundgesetz 2011, Art. 1, Rn. 21. 128 BVerfG, Urt. v. 20. 10. 1992 – Az. 1 BvR 698/89, BVerfGE 87, 209 (228): »Menschenwürde in diesem Sinne ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen« (Hervorhebung nicht im Original), aufgegriffen durch BVerwG, Urt. v. 24. 10. 2001–6 C 3.01, BVerwGE 115, 189 (199); vgl. insoweit auch BayVerfGH, Entsch. v. 22. 3. 1948, VerwRspr Bd. 1, 1949, 1–3: »Es muß eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitswertes derart vorliegen, daß über die Auswirkung für den Betroffenen selbst hinaus die menschliche Würde als solche ohne Berücksichtigung der Einzelperson getroffen erscheint.«; vgl. zu kollektivistischen Tendenzen in der Judikatur auch Schächinger 2014, 221–229. 129 Sog. Nichtäquivalenztheorie; vgl. hierzu ausführlich Middel 2006, 109–110.

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zeigt sich im weiteren Kontext des Zitats, in dem das Gericht folgert, dass Würde »[ j]eder besitzt […], ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status«, wobei sie »keinem Menschen genommen werden [kann].«130 Auch der Wortlaut zeigt, dass für ein Verständnis, das die gattungswürde als von Art. 1 Abs. 1 GG geschützt ansieht, kein Raum ist: Art. 1 Abs. 1 GG spricht eben nicht von der »Würde der Menschheit«, der »Gattung Mensch« oder der »menschlichen Würde«, sondern von der »Würde des Menschen« – also des Menschen als Individuum, das seine Würde allein durch Menschsein, allein durch Mitgliedschaft in der Gattung »Mensch«, ohne Erfordernis zusätzlicher, Würde verleihender Eigenschaften besitzt.131 Die im Rahmen des grundgesetzlichen Menschenbilds bereits erwähnten Konsequenzen der beliebigen und ergebnisorientierten Verwendung gelten hier in gleichem Maße.132 Daher kann auch die Gattungswürde nicht als Begründung dafür herangezogen werden, dass das Kriterium der Befruchtung für einen Status embryonaler Entitäten unter Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich zulässig oder gar zwingend erforderlich ist. 4.3.1.2.2.3 Zwischenergebnis Da Art. 1 Abs. 1 GG nicht auch die Würde der Gattung »Mensch« schützt, kann eine »Menschheitswürde« nicht dazu führen, dass die Befruchtung als verfassungsrechtlich zwingendes Kriterium für einen Status unter Art. 1 Abs. 1 GG anzusehen ist. 4.3.1.2.3 Art. 1 Abs. 1 GG als Prämisse von Freiheit und Gleichheit Die beiden dargestellten Ansätze konnten verfassungsrechtlich nicht begründen, dass die Entstehungsweise der Befruchtung ein zwingendes oder zulässiges Kriterium für einen verfassungsrechtlichen Status embryonaler Entitäten darstellt. Indes könnte ein anderer, dritter Ansatz erwogen werden: Ein Verständnis der Würdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG als Ursprung der Prinzipien der Freiheit und Gleichheit.

130 BVerfG, Urt. v. 20. 10. 1992 – Az. 1 BvR 698/89, BVerfGE 87, 209 (228); s. hierzu auch Dreier, in: Dreier, Grundgesetz 2013, Art. 1, Rn. 116; Sodan, in: Sodan, Grundgesetz 2011, Art. 1, Rn. 21; Schlüter 2008, 114; Schächinger 2014, 229–230. 131 So auch Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz 2016, Art. 1 Abs. 1, Rn. 32; Schlüter 2008, 114; Hartleb 2006a, 231–232; Schächinger 2014, 229. 132 Vgl. Dreier, in: Dreier, Grundgesetz 2013, Art. 1, Rn. 116–118; Sodan, in: Sodan, Grundgesetz 2011, Art. 1, Rn. 21; Kunig, in: Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar 2012, Art. 1, Rn. 17; Zippelius, in: Kahl et al., Bonner Kommentar zum Grundgesetz 2016, Art. 1 Abs. 1 u. 2, Rn. 55; Middel 2006, 229; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz 2016, Art. 1 Abs. 1, Rn. 32; Frankenberg 2000, 331; Hieb 2005, 99; Schlüter 2008, 115; Hartleb 2006a, 231.

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4.3.1.2.3.1 Ideengehalt Aufgrund der historischen Erfahrungen mit dem Kampf um die Anerkennung von Freiheit und Gleichheit und der Durchsetzung dieser Prinzipien bis hin zur Verkündung der Verfassung 1949 steht das GG mit seinen vielfältigen Freiheitsund Gleichheitsgrundrechten ganz in der Tradition der Anerkennung dieser Grundprinzipien.133 Dies wird auch deutlich, wenn man die Literatur studiert, die sich mit Statusfragen im Rahmen von Art. 1 GG beschäftigt. Denn ein tragender Gedanke durchdringt fast sämtliche Argumentationsstrukturen: der Gedanke von Freiheit und Gleichheit. Dies zeigt sich etwa im Rahmen der Begründung zu Hasso Hofmanns Anerkennungstheorie für Art. 1 Abs. 1 GG: »Jener Staatsgründungsakt gegenseitiger Anerkennung unserer menschlichen Achtungsansprüche vereint die beiden Legitimationsstränge des Grundgesetzes, nämlich den individuell-freiheitlichen und den egalitär-demokratischen. In ihm gründet die normative Einheit des Staatsvolks sowohl einer Werte- wie als einer Willensgemeinschaft.«134

Jürgen Habermas spricht insofern von der »Gemeinschaft der freien und gleichen Menschenrechtssubjekte«135 und von »Subjekten […], die sich in ihren reziprok aufeinander bezogenen Rechten und Pflichten als freie und gleiche Rechtsgenossen anerkennen.«136 Dass Hofmann und Habermas auf den Freiheits- und Gleichheitsgedanken rekurrieren, liegt wohl auch daran, dass ihre Anerkennungslehre in der Tradition des Gesellschaftsvertrags137 steht, der bestimmte Grundprinzipien festsetzt, zu denen u. a. auch Freiheit und Gleichheit gehören. Ähnlich will Wolfram Höfling den von ihm im Rahmen des Art. 1 Abs. 1 GG proklamierten Schutz des gattungsethischen Selbstverständnisses durch die

133 S. zum grundrechtlichen Anliegen des Freiheitsschutzes und der Gleichheitssicherung auch Münch/Kunig, in: Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar 2012, Vorb. Art. 1–19, Rn. 7–14. Spätestens seit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 durch die UN-Generalversammlung am 10. 12. 1948 und ihres Art. 1 S. 1, der besagt, dass »[a]lle Menschen […] frei und gleich an Würde und Rechten geboren [sind]« wurden die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit auch ausdrücklich, universell und weltweit anerkannt, s. Vereinte Nationen, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, A/RES/217, UN-Doc. 217/ A-(III) vom 10. 12. 1948. 134 Hofmann 1993, 370 (Hervorhebung nicht im Original). 135 Habermas 2001, 69 (Hervorhebung nicht im Original), s. auch 112. 136 Habermas 1992, 117 (Hervorhebung nicht im Original). 137 S. zur Verbindung von Hofmanns Anerkennungstheorie zu den Theorien des Gesellschaftsvertrags Hofmann 1993, 371–372; vgl. zum Gesellschaftsvertrag allgemein: Rousseau 2011; Röhrich 2013, 20–23; Salzborn 2010, 51–83; Homann 1985, 48–72; Kühnelt 2010.

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Generalisierung der »zentralen Elemente von Würde, Freiheit und Vernünftigkeit« erreichen.138 Ebenso ist für die Autoren, die auf ein Menschenbild des GG oder eine Gattungswürde rekurrieren, der zentral dahinter stehende Gedanke zumeist die Bewahrung von Freiheit und Gleichheit: So geht etwa Peter M. Huber nicht von einem Menschenbild des GG aus, das Individuen in ein bestimmtes Bild pressen will – vielmehr wolle es nur einen »Wechselrahmen« vorgeben, »in den im Grunde alle Menschenbilder passen, solange nur seine Mindestvoraussetzungen Freiheit, Gleichheit und (staatsbürgerliche) Mündigkeit beachte[t]« werden.139 Auch Silke Hetz, für die die Befruchtung Grundvoraussetzung der Menschenwürdegarantie ist, da andere Entstehungsweisen nicht mit dem Menschenbild des GG zu vereinbaren seien, begründet dies letztlich damit, dass eine Entstehung ohne Befruchtung »[d]ie verbindliche Letztbegründung menschlicher Gleichheit und Freiheit« betreffe.140 Für Tatjana Geddert-Steinacher kann die Würdegarantie »ihre dogmatische Funktion als Absolutheit beanspruchende Grundnorm des Rechts« gar nur erfüllen, wenn sie »als Grundnorm des Rechts« nicht beliebig interpretiert werden kann, sondern eine »verbindliche Letztbegründung menschlicher Gleichheit und Freiheit enthält«.141 Und auch für Carola Seith, die sich zwar eigentlich gegen eine Statusrelevanz der Natürlichkeit der Genese wendet, liefert eine von Freiheit und Gleichheit getragene Begründung dennoch »einen plausiblen Erklärungsansatz für das in nicht wenigen Ländern festgestellte Phänomen der Ungleichbehandlung von Befruchtungs- und Klonembryonen«.142 Es zeigt sich also, dass die Frage, wem Menschenwürde zuzusprechen ist, im Rahmen der verschiedensten Begründungsmodelle nicht losgelöst von der Frage beantwortet werden kann, wer die von Freiheit und Gleichheit gesetzten Anforderungen erfüllt. Denn »[g]emeinsam haben Freiheit und Gleichheit als grundrechtliche Anliegen, dass sie beide einen Bezug zu dem in Art. 1 Abs. 1 niedergelegten Menschenwürdeschutz aufweisen. Die Verwirklichung von Freiheit und die Beachtung von Gleichheit dienen würdevoller Existenz, ja setzen sie voraus.«143

Damit Freiheit und Gleichheit bewahrt werden, müssen aber nicht sogleich Menschenbilder oder Menschheitswürden konstruiert werden. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde verlangt vielmehr als Quelle von Frei138 139 140 141 142 143

Höfling, in: Sachs, Grundgesetz 2014, Art. 1, Rn. 52, 57 (Hervorhebung nicht im Original). Vgl. Huber 1998, 511 (Hervorhebung nicht im Original). Hetz 2005, 177 (Hervorhebung nicht im Original). Geddert-Steinacher 2013, 39 (Hervorhebung nicht im Original). Seith 2007, 277–278. Münch/Kunig, in: Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar 2012, Vorb. Art. 1–19, Rn. 8.

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heit und Gleichheit, dass objektive Bedingungen geschaffen werden, die diese Grundprinzipien ermöglichen. Daher sind alle Kriterien, die der Realisierung dieses Grundanliegens dienen, als verfassungsrechtlich zwingend oder zumindest zulässig für einen Status vorgeburtlichen Lebens unter Art. 1 Abs. 1 GG anzusehen. Deshalb muss bzw. darf auch der Gesetzgeber der Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit dienende Kriterien in einer Regelung verwenden, deren Zweck es ist, die Menschenwürde embryonaler Entitäten zu schützen.144 4.3.1.2.3.2 Befruchtung als Freiheit und Gleichheit realisierendes Kriterium Die Befruchtung könnte ein der Sicherstellung von Freiheit und Gleichheit dienendes Kriterium darstellen und daher für einen Status embryonaler Entitäten nach Art. 1 Abs. 1 GG zwingend oder zumindest zulässig sein. Zur Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit ist es essentiell, dass niemand in seiner Entstehung durch einen anderen determiniert wird. Damit ist nun keine genetische Einmaligkeit gemeint,145 sondern vielmehr das zufällige Entstehen, das eine »objektisierende« Fremdbestimmung durch andere ausschließt.146 Denn das Zufallsprinzip ist Voraussetzung von Freiheit und Gleichheit.147 So stellt auch Habermas fest: 144 S. auch Hesse 1995, Rn. 282: »In der Wirklichkeit geschichtlichen menschlichen Lebens sind Freiheit und Gleichheit des Einzelnen niemals ›von Natur aus‹ vorgegeben, sondern sie bestehen nur insoweit, als sie in menschlichem Wirken aktualisiert werden […], wo sie zur positiven staatlichen Rechtsordnung gehören.« 145 Schließlich fehlt diese auch bei eineiigen Mehrlingen, deren genomische Übereinstimmung weit höher ist als es bei einem Klon und seinem Spender je der Fall sein könnte, vgl. hierzu auch Dietlein 2002, 458, der sich ebenfalls gegen einen »genetischen Determinismus« wendet; für ein »Recht auf eigene, unwiederholbare Identität« als »Grundelement[en] der Menschenwürde« aber Benda 1985b, 1733; auch Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, Grundgesetz 2014, Art. 1, Rn. 27 plädiert insoweit für das Erfordernis der »personalen Einzigartigkeit«. 146 Nunner-Winkler 2012, 271–272; vgl. auch ethischer Perspektive auch Woopen 2002, 239: »ethisch relevante Prinzipien wie Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung im Sinne eines Rechts auf offene Zukunft [sind] unter der Bedingung von Natürlichkeit gewährleistet […]. Die Unverfügbarkeit individueller Anfangs- und Entfaltungsbedingungen sichert einen Kernbereich des Entzogenen, der den einen Menschen nicht zum Produkt der Herstellung durch einen anderen Menschen macht […]. Der Anspruch auf Unverfügbarkeit biologischer Anfangsbedingungen hat seine Pointe nicht in einer Stilisierung von Natürlichkeit als einem ethischen Kriterium. Es geht vielmehr darum, dass die ethisch relevanten Aspekte, nämlich Freiheit und Gleichheit als wesentliche Konstituentien [sic!] späterer Selbstbestimmung, bei Art und Weise jeglicher Zeugung berücksichtigt werden.« (Hervorhebungen nicht im Original). 147 Auch für Silke Hetz ist nur im Fall der Befruchtung »[d]ie verbindliche Letztbegründung menschlicher Gleichheit und Freiheit« gewahrt. Denn »[h]ierfür komm[e] es entscheidend auf die Entstehung mittels zufallsbedingter Neukombination von Genen gemischt-geschlechtlicher Herkunft an. Demgegenüber entsteh[e] der Klon durch Zuweisung eines Genoms durch andere Menschen«, Hetz 2005, 177 (Hervorhebung nicht im Original).

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»Die Kontinuierung des Selbstseins ist uns im Wandel der Lebensgeschichte nur deshalb möglich, weil wir die Differenz zwischen dem, was wir sind, und dem, was mit uns geschieht, an einer leiblichen Existenz festmachen können, die ein hinter den Sozialisationsprozess zurückreichendes Naturschicksal fortsetzt. Die Unverfügbarkeit des gleichsam vorvergangenen Naturschicksals scheint für das Freiheitsbewusstsein wesentlich zu sein«.148

Habermas spricht insoweit weiter von einer Beeinträchtigung der Freiheit, wenn der betroffenen Person verwehrt werde, »sich unbefangen als der ungeteilte Autor des eigenen Lebens zu verstehen«,149 was so sei im Fall des »Klons, der durch den modellierenden Blick auf Person und Lebensgeschichte eines zeitverschobenen ›Zwillings‹ seiner unverstellten eigenen Zukunft beraubt« werde.150 Habermas betont insofern: »Auch der Klon trifft sich gewissermaßen in seinen Selbstverständigungsprozessen als eine bestimmte Person an; aber hinter dem Kernbestand dieser Anlagen und Eigenschaften steht die Absicht einer fremden Person. Das unterscheidet den Fall des geklonten Menschen von dem der eineiigen Zwillinge. Nicht die Ebenbildlichkeit der aus einer Zelle hervorgehenden Teile ist das Problem, sondern Anmaßung und Knechtung […]. [D]as Kopieren der Erbsubstanz eines Menschen […] zerstört eine Voraussetzung für verantwortliches Handeln. Gewiß, auch bisher sind wir von genetischen Programmen abhängig. Aber für das Programm selbst können wir keine rechenschaftspflichtige Person haftbar machen. Der Klon hingegen ähnelt dem Sklaven insofern, als er einen Teil der Verantwortung, die er sonst selbst tragen müßte, auf andere Personen abschieben kann. Für den Klon verstetigt sich nämlich in der Definition eines unwiderruflichen Kodes ein Urteil, das eine andere Person vor seiner Geburt über ihn verhängt hat.«151

148 Habermas 2001, 103–104 (Hervorhebung nicht im Original). 149 Habermas 2001, 109 (Hervorhebung nicht im Original); auch für Hufen ist Selbstbestimmung »Wurzel der Menschenwürde«. Denn »insbesondere kraft freier Selbstfindung und Identitätsbildung ist der Mensch auch in der Lage, sich zur staatlichen Gemeinschaft zusammenzuschließen« (Hufen 2016, 132), und auch nach Ostendorf leben wir »[i]n einem Staat, der den Menschen und seine Selbstbestimmung an die Spitze der Wertordnung stellt«, Ostendorf 1984, 599. 150 Habermas 2001, 108; gegen diese Argumentation Habermas’ und eine Beeinträchtigung der Freiheit im Fall des Klonens aber Birnbacher 2006, 158–159. 151 Habermas 1998, 13; s. auch Karnein 2009, 68; »Das grundsätzliche Problem, das Habermas identifiziert, ist der problematische Perspektivenwechsel, der eintritt, wenn der Zufall der natürlichen Lotterie mit einem absichtlichen Eingriff ersetzt wird. Dies verwandelt solche, die sich heute noch als frei und gleich verstehen, zu solchen, die sich entweder als Macher oder als Gemachte begreifen. Die Macher könnten durch den verdinglichenden Umgang mit menschlichem Leben ihre moralische Sensibilität verlieren. Die Gemachten wiederum, die um die instrumentelle Einstellung, die zu ihrer Manipulation geführt hat, wissen, könnten um ihr Selbstverständnis als freie und gleiche Mitglieder der moralischen Gemeinschaft gebracht werden.«

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Durch die Verschmelzung haploider Vorkerne im Vorgang der Befruchtung wird das Genom in nicht steuerbarer und zufälliger Weise neu zusammengesetzt. Der für die Realisierung von Freiheit und Gleichheit erforderliche Ausschluss von Fremddetermination wird daher durch dieses zufällige Entstehen gefördert. Es geht hierbei nicht – wie bereits erwähnt – um den Schutz der Einmaligkeit des menschlichen Genoms, des »Fortbestand[s] des Wesentlich-Menschlichen«152 oder eines natürlichen »Kerns« spezifisch menschlicher Fortpflanzung,153 sondern darum, bestimmte Mindestvoraussetzungen an die intrinsische Freiheit und Gleichheit aller Lebenden sicherzustellen, die auf der zufälligen Verteilung von Chancen und Risiken und der fehlenden Determination durch andere gründen.154 Zwar können auch durch natürliche Befruchtung entstandene Embryonen in erheblichem Maße durch die Absichten der Eltern155 oder auch anderer Personen156 determiniert werden – jedoch bleibt hier durch die zufallsgesteuerte Neuverschmelzung der Keimzellen stets ein hohes Maß an Unbestimmtheit und Unwägbarkeit, der von niemandem beseitigt werden kann.157 Die dargelegten Argumente zeigen, dass es viele Aspekte gibt, die für eine Relevanz des Zufallsprinzips und daher für die zufallsgesteuerte Neuverschmelzung der haploiden Keimzellen im Rahmen der Befruchtung in Hinblick auf einen Status unter Art. 1 Abs. 1 GG sprechen. Entscheidend ist dabei, dass die zufällige Neukombination der Chromosomensätze das Entstehen bzw. die genaue Entstehungsweise der Entität weitgehend der Bestimmung eines anderen entzieht. Jedoch ist auch hier nicht ausgeschlossen, dass ein Dritter mitbestimmend eingreift, etwa im Fall der Erzeugung von pränatalen Entitäten zu genau vorherbestimmten Drittzwecken oder durch die Möglichkeit von Keimbahnmanipulationen an Befruchtungsentitäten. Zudem kann zumindest nicht sicher beurteilt werden, ob es für einen Klon unmöglich wäre, »sich unbefangen als der ungeteilte Autor des eigenen Lebens zu verstehen«, wie es Habermas behauptet. Wir wissen schließlich erwiesenermaßen nichts über die Gedankenwelt eines geborenen Klons – auch wenn es »intuitiv nachvollziehbar« ist, dass ein Klon Schwierigkeiten damit haben kann, eine genaue genetische Kopie eines anderen zu sein, der seine Lebensgeschichte schon teilweise hinter sich hat.158

152 Vgl. auch Enders 1986, 241. 153 So aber Eser/Koch 2003, 25–26; vgl. für einen »Mindestindividualitätsschutz« durch Art. 1 Abs. 1 GG auch Sternberg-Lieben 1986, 677–678. 154 Seith 2007, 277–278. 155 Etwa wenn ein Kind zur »Rettung« eines älteren, kranken Geschwisters gezeugt wird, damit es diesem passende Zellen oder Organe spenden soll. 156 Beispielsweise die Zeugung eines Kindes zur Ermöglichung der »Großelternschaft« der eigenen Eltern. 157 Rosenau 2004, 141; Clausen/Schmitt 2007, 80. 158 Karnein 2009, 68.

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Die zufallsgesteuerte Neuverschmelzung der haploiden Keimzellen ist daher in jedem Fall förderlich dafür, dass der Menschenwürdegarantie als Grundlage von Freiheit und Gleichheit genüge getan wird. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass nur Befruchtungsentitäten durch die Menschenwürdegarantie geschützt werden, sondern dass jedenfalls alle Befruchtungsentitäten (die auch die verfassungsrechtlich zwingenden Kriterien erfüllen) davon erfasst sind. Diese durch Befruchtung entstandenen embryonalen Entitäten müssen daher auf jeden Fall von einer Embryonenschutzdefinition des Gesetzgebers erfasst sein, die er mit der Menschenwürde dieser Entitäten begründet. Dies entspräche einem verfassungsrechtlichen Mindestschutz. Aus verfassungsrechtlicher Sicht wäre es jedoch nach der hier zugrunde gelegten Methodik zumindest auch nicht unzulässig, wenn der Gesetzgeber in eine derartige Definition auch Nicht-Befruchtungsentitäten einbezieht. Daher ist die Befruchtung – wenn auch nicht als verfassungsrechtlich zwingendes – zumindest als verfassungsrechtlich zulässiges Kriterium im Sinne der bereits vorgestellten Methodik einzustufen. 4.3.1.2.3.3 Zwischenergebnis Das in den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit verankerte Gebot des Ausschlusses jeglicher Fremddetermination wird durch die Entstehung einer Entität im Wege der Befruchtung gefördert. Daher ist die Befruchtung als verfassungsrechtlich in jedem Fall zulässiges Kriterium für einen Status embryonaler Entitäten unter Art. 1 Abs. 1 GG anzusehen. 4.3.1.3 Ergebnis zum Befruchtungskriterium Mithilfe von Konstruktionen eines Menschenbilds des GG oder einer Gattungswürde konnte keine belastbare Begründung der verfassungsrechtlichen Verankerung des Kriteriums der Befruchtung festgestellt werden. Jedoch ist die Befruchtung im Rahmen eines Ansatzes, dem die Menschenwürdegarantie als Ursprung der Prinzipien der Freiheit und Gleichheit zugrunde liegt, als verfassungsrechtlich zulässiges Kriterium mit Blick auf einen Status unter Art. 1 Abs. 1 GG einzustufen. 4.3.2 Sexualakt Zudem könnte das Erfolgen eines Sexualakts aus verfassungsrechtlicher Sicht für einen Status nach Art. 1 Abs. 1 GG zwingend sein. Als Ausgangspunkt hierfür könnte Günter Dürigs inzwischen historische Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG aus dem Jahr 1958 dienen:

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»Wer von Menschen gezeugt wurde […], nimmt an der Würde ›des Menschen‹ teil.«159

Was aber bedeutet von Menschen gezeugt? Meinte Dürig damit nur die Zeugung im Sinne eines Sexualakts oder auch Zeugungen bzw. Erzeugungen im Reagenzglas? Festzustellen ist, dass ein Sexualakt nicht allein zwingend der Realisierung von Freiheit und Gleichheit dient. Die Erzeugung von embryonalen Entitäten ohne Sexualakt, etwa mittels IVF oder ICSI, ist vielmehr mittlerweile in Deutschland und auch weltweit etabliert – so gibt es gegenwärtig mehr als fünf Millionen mittels IVF oder ICSI erzeugte geborene Menschen,160 ohne dass dabei behauptet werden würde, dass den so erzeugten Entitäten keine Menschenwürde zustünde. Im Gegenteil, öffentlich getätigte Aussagen, dass IVF-Kinder »auf abartigen Wegen entstanden« seien und nur »Halbwesen« bzw. »zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas« darstellten,161 werden sogar deutlich und übereinstimmend von Gesellschaft, Politik und Medien zurückgewiesen.162 Folglich stellt ein Sexualakt kein Kriterium von verfassungsrechtlicher Wertigkeit für die Zuschreibung eines Status unter Art. 1 Abs. 1 GG an embryonale Entitäten dar.163 Hierfür gibt es keinen Grund. Dieses Kriterium ist daher verfassungsrechtlich unzulässig. 4.3.3 Ergebnis zur Genese Als Ergebnis zur Genese lässt sich festhalten, dass die Befruchtung im Sinne einer zufälligen Vereinigung von haploiden Chromosomensätzen ein verfassungsrechtlich zulässiges Kriterium für einen Status embryonaler Entitäten unter Art. 1 Abs. 1 GG ist. Darüber hinaus gibt es keine Anhaltspunkte in der Verfassung hinsichtlich anderer, für einen verfassungsrechtlichen Status zulässiger oder zwingender Entstehungsweisen. Das Kriterium des Sexualakts wäre insoweit vielmehr unzulässig.

159 Dürig, in: Maunz et al., Grundgesetz 1958, Art. 1 Abs. 1, Rn. 23. 160 Deutsches IVF Register, 2015, 10; in Deutschland wurden bis 2014 mittels IVF oder ICSI 225.625 Kinder geboren. 161 Lewitscharoff 2014, 12–13. 162 Vgl. u. a. Kegel 2014, 13; Bernard 2014, 11. 163 In diesem Sinne auch Starck, in: Starck, Kommentar zum Grundgesetz 2010, Art. 1 Abs. 1, Rn. 21: Zwar ist es zutreffend, dass dann »die Zeugungszutaten getrennt von den zeugenden Personen sind. Dies verändert aber den Vorgang nicht qualitativ.« Hierfür auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 2014, Art. 1, Rn. 21; Höfling, in: Sachs, Grundgesetz 2014, Art. 1, Rn. 24.

Rechtliche Kriterien

4.4

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Ausgangsmaterial

Möglicherweise können auch gewisse Ausgangsmaterialien bzw. deren Eigenschaften mit Blick auf einen verfassungsrechtlichen Status zwingend oder zumindest zulässig sein. 4.4.1 Menschlichkeit des Ausgangsmaterials Dass das zur Erzeugung von menschlichen Entitäten verwendete Ausgangsmaterial menschlich sein muss, damit der jeweiligen Entität ein Status unter Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG attestiert werden kann, ist offensichtlich. So spricht Art. 1 Abs. 1 GG von der Würde »des Menschen« und auch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG meint mit »jeder« »jeder Mensch«.164 Pflanzen und Tiere hingegen können keine subjektiven Grundrechtsträger sein. Zudem verstößt die Erzeugung von Mensch-Tier-Mischwesen gegen Art. 1 Abs. 1 GG.165 Dass das Ausgangsmaterial menschlich ist, wird für einen Status nach der Verfassung (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) also vorausgesetzt. Die Menschlichkeit des Ausgangsmaterials ist daher insoweit ein zwingendes Kriterium. 4.4.2 Keimzellen Auch die Verwendung von Keimzellen zur Erzeugung einer Entität könnte für einen Status unter Art. 1 Abs. 1 GG entscheidend sein. Der Nationale Ethikrat stellt insofern fest, »dass Eizellen (wie Samenzellen) als reproduktive Körpersubstanzen nicht nur biologische Besonderheiten, sondern auch eine spezifische symbolische Bedeutung haben.« Sie seien »die Basis der Arterhaltung«, würden »Fruchtbarkeit und Zeugungskraft« repräsentieren und »für die notwendige Komplementarität des männlichen und weiblichen Prinzips im Rahmen der geschlechtlichen Fortpflanzung« stehen.166 Explizit findet sich in der Verfassung jedoch nichts zu Keimzellen. Allerdings sind Keimbahnzellen (zu denen auch die Keimzellen gehören) die einzigen Zellen des Menschen, die eine Meiose durchlaufen und somit haploidisiert

164 Deutscher Ethikrat 2011, 34; Kunig, in: Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar 2012, Art. 1, Rn. 16. 165 So jedenfalls BT-Drs. 11/5460, 12; Günther, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 7, Rn. 6; Bernat 1989, 265; daran ändert auch die Tatsache nichts, dass derartige Mischwesen im Fall ihrer Geburt (wie auch geborene Klone) Träger der Menschenwürdegarantie wären, Hufen 2016, 140; vgl. hierzu auch Beck, 2009. 166 Nationaler Ethikrat 2004, 100.

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werden können.167 Zur Befruchtung im Sinne der Verschmelzung von haploiden Chromosomensätzen sind daher die aus Keimbahnzellen differenzierten Keimzellen zwingend erforderlich. Da eine Befruchtung, wie bereits dargelegt wurde, für die Zuschreibung eines Status nach Art. 1 Abs. 1 GG zulässig ist,168 kann nichts anderes für die hierzu erforderlichen Keimzellen gelten. Daher ist das Ausgangsmaterial »Keimzellen« als zulässiges Kriterium für einen Status embryonaler Entitäten unter Art. 1 Abs. 1 GG einzustufen. 4.4.3 Verschiedengeschlechtlichkeit der Keimzellen Auch die Verschiedengeschlechtlichkeit der verwendeten Keimzellen könnte für einen verfassungsrechtlichen Status vorgeburtlicher Entwicklungsstadien von Bedeutung sein. 4.4.3.1 Status unter Art. 1 Abs. 1 GG So könnten durch die Verschiedengeschlechtlichkeit der zur Befruchtung zu verwendenden Keimzellen die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit realisiert werden und dieses Kriterium somit für einen Status nach Art. 1 Abs. 1 GG zwingend sein. Gemäß Hetz kommt es jedenfalls »auch entscheidend auf die gemischt-geschlechtliche Herkunft an.« Sonst werde die »Generationenkette unterbrochen« und »nicht nur die Voraussetzung der Gleichheit, sondern auch die menschliche Freiheit berührt.«169 Dem ist jedoch zu widersprechen. Erstens würde die Erzeugung eines Menschen durch die Befruchtung der Eizelle einer Frau mit der aus einer iPS-Zelle einer anderen Frau differenzierten artifiziellen Keimzelle, die die funktionalen Eigenschaften eines Spermiums aufweist, keineswegs die Generationenkette durchbrechen.170 Das so erzeugte Kind hätte zwei Eltern, vier Großeltern usw. Und zweitens wäre auch ausgeschlossen, dass die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit betroffen wäre. Die beiden gleichgeschlechtlichen Keimzellkerne können nur vom Zufall gesteuert verschmelzen, sodass keine die Freiheit und Gleichheit beschränkende Determination durch einen Dritten vorläge. Prinzipien der Freiheit und Gleichheit sind daher durch die Gleichgeschlechtlichkeit der Keimzellen jedenfalls nicht tangiert. Deshalb stellt die Ver-

167 168 169 170

Werny/Schlatt 2011, 463. S. oben 4.3.1.2.3. Hetz 2005, 178. Gleiches gilt natürlich für den Fall der Befruchtung der aus einer iPS-Zelle differenzierten artifiziellen Keimzelle eines Mannes, welche die funktionalen Eigenschaften einer Eizelle aufweist, mit dem Spermium eines anderen Mannes.

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schiedengeschlechtlichkeit der Keimzellen mit Blick auf einen Status embryonaler Entitäten unter Art. 1 Abs. 1 GG ein unzulässiges Kriterium dar. 4.4.3.2 Status unter Art. 6 Abs. 1 GG Der Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG könnte jedoch verschiedengeschlechtliche Eltern voraussetzen. So können gleichgeschlechtliche Paare auch nicht gemäß §§ 1591f. BGB eine gemeinsame Elternschaft auf Basis der Abstammung erhalten, was dafür sprechen könnte, dass sie auch keine Familie mit Kind bilden können. In der Folge könnten auch Keimzellen, sozusagen als spätere »Eltern« der nach Befruchtung entstehenden Entität, verschiedengeschlechtlich sein müssen, damit der embryonalen Entität ein Status unter Art. 6 Abs. 1 GG zugesprochen werden kann. Zu denken wäre insofern wohl v. a. an das Kindeswohl. Für diese Konsequenz müsste der grundgesetzliche Familienbegriff aber überhaupt die Verschiedengeschlechtlichkeit der Eltern bedingen. §§ 1591f. BGB können hierüber jedoch als einfaches Recht zur Regelung der Abstammung keinen Aufschluss geben, vielmehr muss allein Art. 6 Abs. 1 GG untersucht werden. Eine einheitliche Definition des Terminus »Familie« existiert nicht; realiter gibt es weder in den Wissenschaften noch in der Alltagssprache ein einheitliches Verständnis von Familie.171 Rein aus dem Wort »Familie« lassen sich daher keine Erkenntnisse hinsichtlich des Geschlechts derer gewinnen, die die Familie darstellen sollen. Der Begriff der Familie ist zudem ein offener, gesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklungen zugänglicher Verfassungsbegriff.172 So beabsichtigte auch der historische Verfassungsgeber »weder eine Ausschließlichkeit noch eine Konservierung des Bildes einer auf Ehe gegründeten Familie in der Verfassung.«173 Art. 6 Abs. 1 GG legt daher keinen festen Familienbegriff fest und verbietet daher auch nicht zwingend Formen von Lebensgemeinschaften, die nicht dem Prototyp der Familie mit Vater, Mutter und Kind entsprechen.174 Häufig vorgebrachte Bedenken, insbesondere hinsichtlich des Kindeswohls, lassen sich nicht mehr aufrechterhalten.175 Auch die Auffassung, dass es »[w]esentlicher und grundsätzlicher Sinn des Art. 6 I [sei], das Weiterleben der Gesellschaft zu sichern«, wozu eine Partnerschaft zwischen Gleichgeschlechtlichen nicht fähig sei,176 erscheint angesichts neuer entwicklungsbiologischer Er171 Sickert 2005, 121–122 m.w.Nachw. 172 Sickert 2005, 119–120. 173 So ist Art. 6 Abs. 1 GG auch wesentlich offener formuliert worden als noch Art. 119 Abs. 1 WRV, Sickert 2005, 147. 174 Joerden/Winter 2007, 133; Sickert 2005, 147. 175 Kreß 2012, 242; vgl. hierfür auch OLG Hamburg, Beschl. v. 22. 12. 2010–2 Wx 23/09, NJW 2011, 1104 (Leitsatz). 176 Umbach, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz 2002, Art. 6, Rn. 59.

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kenntnisse kaum haltbar.177 So erfüllt auch eine Familie im Rahmen einer gleichgeschlechtlichen Elternschaft den wahren Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 1 GG: den Schutz der tatsächlichen, dauerhaft gesicherten Sozialisationsbedingungen und eine Lebensbegleitungsfunktion um des Kindes willen.178 Mittlerweile hat auch das BVerfG entschieden, dass Eingetragene Lebenspartner zusammen mit dem leiblichen oder angenommenen Kind eines Lebenspartners – bzw. Ehepartners179 – eine durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familie bilden180 und dass zwei Personen gleichen Geschlechts, die gesetzlich als Elternteile eines Kindes anerkannt sind, auch im verfassungsrechtlichen Sinne Eltern (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) darstellen.181 Gleichgeschlechtliche Partner können aus den genannten Gründen also sowohl Eltern als auch Familie im Sinne von Art. 6 GG sein. Daher kann aus diesem Artikel unter keinen Umständen die erwähnte Konsequenz gezogen werden, dass nur für embryonale Entitäten, die aus verschiedengeschlechtlichen Keimzellen entstanden sind, ein Status unter Art. 6 Abs. 1 GG angenommen werden kann. 4.4.3.3 Ergebnis zum Kriterium der Verschiedengeschlechtlichkeit Das Kriterium der Verschiedengeschlechtlichkeit ist somit als unzulässiges Kriterium sowohl für einen Status unter Art. 1 Abs. 1 GG als auch unter Art. 6 Abs. 1 GG zu qualifizieren.

177 Zu denken ist insoweit an die potentielle Möglichkeit des reproduktiven Klonens oder insbesondere an neue Erkenntnisse aus dem Bereich der Erzeugung artifizieller Keimzellen, die nahelegen, dass aus pluripotenten männlichen Stammzelllinien Keimzellen mit weiblichem Karyotyp differenziert werden können und vice versa, vgl. hierzu Aflatoonian et al. 2009, 3150–3159; Eguizabal et al. 2011; Panula et al. 2011; Medrano et al. 2012. 178 Sickert 2005, 200, 214. 179 Gleichgeschlechtlichen Paaren ist es in Deutschland seit dem 01. 10. 2017 erlaubt, eine durch Art. 6 Abs. 1 Alt 1 GG geschützte Ehe einzugehen. In der Konsequenz ist nun auch die gleichzeitige Adoption eines Kindes durch beide gleichgeschlechtlichen Ehepartner möglich. 180 BVerfG, Urt. v. 19. 02. 2013 – Az. 1 BvL 1/11; 1 BvR 3247/09, BVerfGE 133, 59, 3. Leitsatz; vgl. auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 2014, Art. 6, Rn. 8. 181 BVerfG, Urt. v. 19. 02. 2013 – Az. 1 BvL 1/11; 1 BvR 3247/09, BVerfGE 133, 59, 2. Leitsatz. Dieses Urteil steht auch in Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR, vgl. EGMR, Urt. v. 24. 06. 2010, Nr. 30141/04: Schalk und Kopf v. Österreich, NJW 2011, 1421–1426.

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4.4.4 Natürlichkeit der Keimzellen Jedoch könnte die Natürlichkeit182 der Entstehungsweise der Keimzelle in vivo für einen verfassungsrechtlichen Status der daraus entstehenden Entitäten erforderlich sein. 4.4.4.1 Status unter Art. 1 Abs. 1 GG So könnten bei der Verwendung von artifiziellen Keimzellen die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit betroffen sein. Dies ist jedoch zu verneinen. Denn auch bei der Befruchtung künstlicher Keimzellen wird das Zufallsprinzip gewahrt und somit Freiheit und Gleichheit gefördert. Auch das Prinzip der Gleichheit ist insbesondere hierdurch nicht betroffen, da damit keine vollständige Identität mit aus natürlichem Ausgangsmaterial auf natürliche Weise erzeugten Entitäten gemeint ist. Dabei geht es vielmehr nur um Umstände, die die Entstehung einer Entität vollkommen dem planvollen Willen eines anderen unterordnen und es dem entstehenden Wesen und geborenen Menschen erschweren, sich als Gleiche zu begreifen. Das wäre bei einem aus artifiziellen Keimzellen erzeugten Menschen jedoch nicht der Fall, da hierbei die rein zufallsgesteuerte Verschmelzung der haploiden Zellkerne eine vollkommene Fremddetermination unmöglich macht. Daher ist die Natürlichkeit der Keimzellen als verfassungsrechtlich unzulässiges Kriterium für einen Status unter Art. 1 Abs. 1 GG zu qualifizieren. 4.4.4.2 Status unter Art. 6 Abs. 1 GG Die Natürlichkeit der Keimzellen könnte aber für einen Status unter Art. 6 Abs. 1 GG erforderlich sein. Denn der durch Art. 6 Abs. 1 GG gebotene verfassungsrechtliche Schutz der Familie könnte voraussetzen, dass die Keimzellen, aus denen das spätere Kind entsteht, natürlich entstanden sind. Dies ist aber im Ergebnis abzulehnen. Denn in bestimmten Fällen könnte es gerade und nur durch den Einsatz von Techniken der assistierten Reproduktion unter der Verwendung künstlicher Keimzellen zur Entstehung einer gemäß Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Familie kommen. Die Norm will jedoch auf keinen Fall die Entstehung seines eigenen Schutzobjekts verhindern.183 Assistierte Reproduktionsmethoden – gleich unter welchen Umständen – fördern vielmehr »nachhaltig und positiv die individuelle Familie und ebenso die Institution als solche.« In ihrer Funktion als individuelles Grundrecht sowie Institutsgarantie »steht Art. 6

182 Generell wird Natürlichkeit im Recht – wie bereits erörtert – jedoch nicht privilegiert, s. schon 4.2.1. 183 Vgl. Heun 2008, 59; Hieb 2005, 171, 173–177.

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Abs. 1 GG der assistierten Reproduktion damit nicht entgegen, sondern rechtfertigt ihre Unterstützung vielmehr positiv.«184 Daher ist Art. 6 Abs. 1 GG auch generell nicht geeignet, Entitäten aus bestimmten artifiziellen Ausgangsmaterialen oder Verfahren einen Status abzusprechen. 4.4.4.3 Ergebnis zum Kriterium der Natürlichkeit der Keimzellen Die Natürlichkeit der Keimzellen ist daher ein verfassungsrechtlich unzulässiges Kriterium mit Blick auf einen verfassungsrechtlichen Status embryonaler Entitäten.185 4.4.5 Anzahl und Herkunft der Keimzellen Vielleicht gibt aber die Verfassung den Grundsatz auf, dass bei der Erzeugung einer Entität mindestens zwei menschliche Keimzellen von mindestens zwei verschiedenen Personen beteiligt sein müssen, damit die entstehende Entität einen verfassungsrechtlichen Status besitzt. Das Zufallsprinzip erscheint jedoch auch bei der Verwendung von nur einer Keimzelle186 auf den ersten Blick nicht betroffen, denn auch bei der Meiose von nur einer Keimzelle entstünde eine genomisch neu und zufällig zusammengesetzte menschliche Entität. Ebenso ist der Fall zu beurteilen, dass aus den Stammzellen von nur einer Person zwei verschiedengeschlechtliche Keimzellen erzeugt und befruchtet werden. Hier fänden sowohl Meiosen als auch die zufallsgesteuerte Zellkernverschmelzung statt. Gleichwohl aber wird auch hier das Zufallsprinzip eingeschränkt, denn es kommt zu keinem Austausch von genetischem Material zwischen verschiedenen Personen. Es würden lediglich genetisch zwar verschieden zusammengesetzte Entitäten entstehen, die jedoch nur auf den vorhandenen Genpool einer einzigen Person zugreifen können. Diese würden also sehr stark durch diesen einmal vorhandenen und von Anfang an unumstößlich durch eine Person feststehenden Genpool determiniert werden. Durch diese Einschränkung des Zufallsprinzips und die daraus resultierende Beeinträchtigung der Voraussetzungen für Freiheit und Gleichheit ist das Vorhandensein von (mindestens) zwei Keimzellen von (mindestens) zwei verschiedenen Personen bei der Erzeugung, wenn auch nicht als verfassungsrechtlich

184 Heun 2008, 59. 185 Dafür auch Koch 2005b, 204–205; Hetz 2005, 178; Laimböck 2015, 167–168. 186 Hierbei wäre insbesondere an den Fall der Parthenogenese mit vorausgehender meiotischer Eizellbildung zu denken.

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zwingendes, zumindest aber als verfassungsrechtlich zulässiges Kriterium für einen Status embryonaler Entitäten unter Art. 1 Abs. 1 GG zu werten. Hinsichtlich der Verwendung von drei oder mehr Keimzellen als »Ausgangsmaterial« spricht jedoch zumindest aus verfassungsrechtlicher Perspektive nichts. Freiheit und Gleichheit werden auch bei Verwendung von mehr als zwei Keimzellen nicht eingeschränkt. Eine Differenzierung nach der Anzahl der Keimzellen ist also als unzulässig zu bewerten. 4.4.6 Ergebnis Als Ergebnis der Untersuchung verschiedenen Ausgangsmaterials ist festzuhalten, dass die Menschlichkeit des Ausgangsmaterials als verfassungsrechtlich zwingendes Kriterium für einen Status unter Art. 1 Abs. 1 GG einzustufen ist. Darüber hinaus sind die Verwendung von mindestens zwei Keimzellen von mindestens zwei verschiedenen Personen insoweit als zulässige, die Verschiedengeschlechtlich- und Natürlichkeit der Keimzellen hingegen als unzulässige Kriterien anzusehen.

4.5

Belegenheitsort (Extrakorporalität)

Mit den Kriterien der Genese und des Ausgangsmaterials ebenso eng verknüpft wie mit der Rolle von »Natürlichkeit« ist das mögliche Kriterium des Belegenheitsortes der embryonalen Entität. Als Belegenheitsort einer Entität wird dabei deren Vorliegen in vivo bzw. intrakorporal oder in vitro bzw. extrakorporal verstanden.187 Bei der oben erfolgten Subsumtion der Entitäten unter die juristischen Embryodefinitionen und bei der lebensweltlichen Einordnung fällt auf, dass insbesondere der Status von Entitäten in vitro, die auf artifizielle Weise erzeugt worden sind, unklar ist.188 Es ist also jedenfalls eine Unsicherheit im Umgang mit extrakorporalen vorgeburtlichen Entitäten festzustellen, die möglicherweise ihre Ursache in unserer bisher nur begrenzten Erfahrung mit nicht durch Befruchtung entstandenem vorgeburtlichem Leben hat. Ob diese Unsi-

187 Vgl. auch Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz 2016, Art. 1 Abs. 1, Rn. 64. Irrelevant für die folgenden Überlegungen ist die Frage nach dem Vorliegen der Entität innerhalb oder außerhalb der genetischen Mutter. Außerhalb der genetischen Mutter würde sich eine embryonale Entität beispielsweise bei Übertragung in eine »Leihmutter« oder bei Austragung in einem Tier befinden. Zu bedenken gilt außerdem, dass die Extrakorporalität stets auf einer intentionalen Handlung von außen beruht (Oh 2013, 64), sodass eine Verknüpfung zum möglichen Kriterium der Intention bzw. Zwecksetzung besteht. 188 S. dazu nur Tabelle 2 unter 2.5.

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cherheit auch zu einem verfassungsrechtlich fundierten Statusunterschied führen kann, ist Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen. Genau genommen verbergen sich hinter dem Kriterium des Belegenheitsortes zwei unterschiedliche Fragen: 1. Befindet sich die Entität aktuell in vivo oder in vitro? 2. Ist es für den Status der Entität entscheidend, ob sie ihren gesamten Entwicklungsprozess intrakorporal bzw. sogar in utero durchlaufen hat? Da sich in der verfassungsrechtlichen Bewertung der beiden Fragen aber keine grundsätzlichen Unterschiede ergeben, können sie gemeinsam erörtert werden. Kann es also einen – verfassungsrechtlich fundierten – Statusunterschied machen, ob eine Entität intra- oder extrakorporal vorliegt? Ausgehend von einer rein lebensweltlich-intuitiven Betrachtung (4.5.1) und einem kurzen Blick in das einfache Recht de lege lata (4.5.2) soll eine verfassungsdogmatische Untersuchung der Statusrelevanz des Belegenheitsortes (4.5.3) erfolgen. 4.5.1 Lebensweltlich-intuitiver Ansatz Für einen ersten Zugriff auf das mögliche Kriterium des Belegenheitsortes sollen aus lebensweltlich-ethischer Sicht Argumente in Bezug auf die Auswirkung des Belegenheitsortes auf den Status human-embryonaler Entitäten zusammengetragen werden. 4.5.1.1 Erhöhter Schutz von in vitro-Entitäten im Vergleich zu in vivo-Entitäten Die in vitro-Entität befindet sich außerhalb der natürlicherweise für sie üblichen Umgebung des Mutterleibs in einem Reagenzglas. In dieser exponierten Lage ist sie Zugriffen von außen viel unmittelbarer ausgesetzt als in vivo. Es werden weiteren Akteuren neue Handlungsoptionen ermöglicht, die bei »natürlichem« Verlauf nicht denkbar sind.189 Die aus der Verfügbarkeit folgende erhöhte Verletzlichkeit der in vitro-Entitäten legt auch eine erhöhte Schutzbedürftigkeit nahe.190 Neben diese eventuell gesteigerte Schutzbedürftigkeit könnte eine erhöhte Schutzwürdigkeit der extrakorporal vorliegenden embryonalen Entität treten. Schließlich muss bei einem Vorliegen außerhalb des Mutterleibes keine Abwägung mit den Interessen der austragenden Frau vorgenommen werden.

189 Reich 2004, 120. 190 Clausen/Schmitt 2007, 69; Koch 2007, 53.

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4.5.1.2 Verringerter Schutz von in vitro-Entitäten im Vergleich zu in vivo-Entitäten Auf der anderen Seite könnte aus der Abhängigkeit der in vitro-Entität von einer weiteren menschlichen Handlung, nämlich dem Transfer in den Mutterleib, eine im Vergleich zur in vivo-Entität reduzierte Entwicklungsfähigkeit folgen.191 Die Potentialität des Embryos bleibt eine rein fiktive, »wenn nicht gewichtige Umstände hinzutreten.« Ein in vitro vorliegender Embryo besitzt »keinerlei reelle Chance auf Einlösung der ihm zugeschriebenen Potentialität des Menschseins, sofern er nicht mit dem Mutterleib eine Verbindung eingeht.«192 Würde man die in vitro-Entität sich selbst überlassen und ihr nicht die Symbiose mit dem Mutterkörper ermöglichen, könnte sie sich nicht weiterentwickeln, sie würde sich »buchstäblich ins Nichts« entwickeln.193 Wegen des damit verringerten Potentials der in vitro-Entität wäre dann auch von einer verringerten Schutzwürdigkeit auszugehen.194 Bei der extrakorporal vorliegenden Entität könnte zudem von einer Kontinuität der Entwicklung nicht ausgegangen werden, da im Laborkühlschrank keine Entwicklung erfolgen kann. »Eine solche Entwicklung müsste erst in Gang gesetzt werden, indem der Embryo einer Frau, die sich dafür zunächst bereit finden müsste, erfolgreich eingepflanzt wird.«195 Vertritt man mit Hans-Georg Dederer eine »Brückenthese« zur Rückerstreckung der Menschenwürdegarantie auf embryonale Entitäten, so stellt die Nidation die Voraussetzung für das Bestehen einer »Brücke« zur Rückerstreckung der Menschenwürde auf die vorgeburtliche Entität dar. Denn der Embryo in vitro befinde sich, so Dederer, erst in der Entwicklung »zum Menschen«, nicht aber in der für die Rückerstreckung notwendigen Entwicklung »als Mensch«.196 In vitro sei die »Entwicklung als Mensch« aufgrund des Fehlens der Einnistung in die Gebärmutter als notwendige biologische Voraussetzung noch nicht objektiv gewährleistet, mag sie auch subjektiv intendiert sein.197 Damit stellt nach dieser Theorie die Nidation einen entscheidenden Einschnitt für die Statuszuschreibung dar, sodass danach die Belegenheit der Entität in vitro zu einer verminderten Zuerkennung verfassungsrechtlichen Schutzes führt. Der oben198 angeführten eventuell verringerte Schutzwürdigkeit der in vivo Entität im Vergleich zur in vitro Entität aufgrund der Abwägung mit den Interessen der Mutter kann entgegnet werden, dass auch in vitro sehr wohl Ab191 Clausen/Schmitt 2007, 69; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz 2016, Art. 1 Abs. 1, Rn. 66; Koch 2007, 53; a. A. in Bezug auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Brewe 2006, 79–80; Graumann 2001, 94. Zum Hinzukommen einer Handlungsoption vgl. auch Reich 2004, 120–121. 192 Rosenau 2003, 768; so auch Reich 2004, 121. 193 Rosenau 2003, 773. 194 Hartleb 2007, 219. 195 Rothärmel 2007, 168. 196 Ausführlich zur »Brückenkonstruktion« Dederer 2002, 1–26 (v. a. 14–17). 197 Dederer 2002, 14–15. 198 Vgl. oben 4.5.1.1.

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wägungen mit (sogar verfassungsrechtlich geschützten) Rechtspositionen getroffen werden müssen. Neben der Berufs- und Forschungsfreiheit von Ärzten und Wissenschaftlern ist hier in bestimmten Fällen in besonderer Weise das Lebensrecht unheilbar oder schwer Kranker, die z. B. durch Gewebegewinnung mittels therapeutischen Klonens eine Chance auf Heilung erhalten würden, in eine Abwägung einzustellen. Freilich besteht keine so unmittelbare Konfliktsituation wie zwischen der embryonalen Entität und der schwangeren Frau, doch kann auch nicht behauptet werden, dass keine Interessen Dritter bei der in vitroEntität Berücksichtigung finden müssten. 4.5.1.3 Argumente gegen einen Statusunterschied Schon aus lebensweltlich-ethischer Sicht muss eine Statusrelevanz des Belegenheitsortes allerdings in Zweifel gezogen werden. So handelt es sich bei der Belegenheit der Entität in vivo oder in vitro um ein extrinsisches Kriterium, d. h. um eine Eigenschaft, die der Entität nicht immanent ist, sondern die ihr aufgrund äußerer Umstände zugesprochen werden muss.199 Hinzu kommt, dass ein »Ortswechsel« der Entität in beide Richtungen (also vom Vorliegen in vivo in den Zustand in vitro und vice versa) relativ einfach möglich ist.200 4.5.1.4 Zwischenergebnis zur lebensweltlich-intuitiven Betrachtung Das Kriterium des Belegenheitsortes scheint somit sowohl die erhöhte als auch die verringerte Schutzwürdigkeit von in vitro- wie von in vivo-Entitäten zu stützen. Während nämlich die Transferabhängigkeit in einem niedrigeren Schutz resultieren könnte, spricht die Verfügbarkeit für einen höheren Schutz.201 Diese Janusköpfigkeit erschwert ein argumentativ fundiertes Abstellen auf den Belegenheitsort als statusbestimmendes oder -prägendes Kriterium. 4.5.2 Betrachtung der einfachrechtlichen Rechtslage de lege lata Scheinbar zeigt sich im geltenden einfachen Recht ein Widerspruch in Bezug auf den Belegenheitsort der embryonalen Entität, an dem sich die Janusköpfigkeit des Kriteriums des Belegenheitsortes gut nachvollziehen lässt. Während nämlich die extrakorporale Entität durch die Regelungen des Embryonenschutzgesetzes (welches bis zur Nidation anwendbar ist) einen relativ hohen Schutz genießt, wird der in vivo-Entität in den Vorschriften zum 199 Clausen/Schmitt 2007, 70; Graumann 2001, 94. 200 Bayertz 2003, 180. 201 Hartleb 2007, 219.

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Schwangerschaftsabbruch in den §§ 218ff. StGB vor Nidation gar kein strafrechtlicher Schutz202 und nach Nidation ein zwar bis zur Geburt ansteigender, aber doch vergleichsweise geringer Schutz zuteil.203 Der Grund für diese Regelungsweise liegt darin, dass im Kontext der Schwangerschaft eine besondere Verbindung zwischen embryonaler Entität und austragender Frau besteht. Damit müssen auch die Rechtspositionen der austragenden Frau Berücksichtigung finden, und zwischen dem Lebensrecht des Embryos und dem Lebens- und Persönlichkeitsrecht der Schwangeren ist ein Ausgleich im Sinne praktischer Konkordanz zu erzielen.204 Der hohe Schutz der in vitro-Entität in den Regelungen des ESchG bereits ab Kernverschmelzung beruht zum einen darauf, dass hier anders als beim Schwangerschaftsabbruch gerade nicht die Rechte der Schwangeren Berücksichtigung finden müssen.205 Zum anderen kann die bereits erörterte Verfügbarkeit und Verletzlichkeit der in vitro-Entität für deren besonderen Schutz im ESchG ins Feld geführt werden. Man könnte nun behaupten, dieser unbestritten inkongruenten Behandlung von in vitro- und in vivo-Entitäten im ESchG und in den §§ 218ff. StGB müsse eine statusrelevante Unterschiedlichkeit der beiden Entitäten zugrunde liegen. Es müsste demnach also der Entität in vitro eine höhere Schutzwürdigkeit zukommen als dem Embryo in vivo. Ist es aber nicht vielmehr so, dass die Regelungen im ESchG und die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch Folge einer unterschiedlichen Schutzbedürftigkeit und nicht einer unterschiedlichen Schutzwürdigkeit der jeweiligen Entitäten sind? Behandeln sie nicht eigentlich völlig verschiedene Kontexte, nämlich die Situation der vorgeburtlichen in vitro-Entität vor Nidation sowie die Situation der vorgeburtlichen in vivo-Entität nach Nidation? Nach Nidation wären Regelungen für in vitro-Entitäten schlicht absurd und vor Nidation beruht die Schutzlosstellung der in vivo-Entität im StGB auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers zugunsten des Rechts auf Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) der Frau. Vor Nidation wird daher nicht von einem Schwangerschaftsabbruch gesprochen, vgl. § 218 Abs. 1 S. 2 StGB. Dies bedeutet aber nicht automatisch, dass dem Embryo in vivo vor Nidation keinerlei Grundrechtsschutz (zumindest aus Art. 2 Abs. 2 GG) zukommen würde, dieser tritt

202 Vielmehr ist der Einsatz von Nidationshemmern, also von Empfängnisverhütungsmitteln, die die Einnistung der befruchteten Eizelle in die Uterusschleimhaut verhindern, wie z. B. der »Pille danach« oder des Intrauterinpessars (umgangssprachlich »Spirale«), zulässig. 203 Hartleb 2007, 212. 204 Brohm 1998, 203; Frommel 2002, 413; Graumann 2001, 90. 205 Nichtsdestotrotz sind im in vitro-Bereich als Rechte Dritter die Rechte von Forschern, Ärzten und Patienten in Rechnung zu stellen.

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lediglich hinter den kollidierenden Rechtsgütern der Frau zurück.206 Während die in vitro-Entität aufgrund des vereinfachten Zugriffs Dritter in erhöhtem Maße schutzbedürftig ist, befindet sich die in vivo-Entität nach Nidation in einer Konfliktsituation mit den Interessen der schwangeren Frau. Wird eine in vitroEntität eingepflanzt und nistet sie sich in die Gebärmutter ein, so gelten für sie genau dieselben Vorschriften wie für eine von Beginn an in vivo befindliche Entität. Sie ist ab Nidation nicht mehr dem vereinfachten Zugriff Dritter ausgesetzt und damit hinsichtlich ihrer Schutzbedürftigkeit einer Entität ohne extrakorporale »Vergangenheit« gleich. Damit bleibt festzuhalten, dass sich die Regelungen im ESchG und die Vorschriften zum Schwangerschaftsabbruch eigentlich eher ergänzen als widersprechen. Sie behandeln eine unterschiedliche Schutzbedürftigkeit von Entitäten je nach ihren Umgebungsbedingungen, nicht dagegen eine unterschiedliche Schutzwürdigkeit. Dass die Schutzbedürftigkeit der in vitro-Entität auf einer ihr zugrundeliegenden Schutzwürdigkeit beruhen muss, steht außer Zweifel. Dies ändert aber nichts an der Argumentation: Der in vitro-Entität mag ein Status, in concreto das Lebensrecht, zuzuschreiben sein, und dass die Entität im Mutterleib weniger Schutz genießt, bedeutet nicht, dass sie nicht auch Träger des Lebensrechtes sein kann. Es kann also trotz der unterschiedlichen Regelungen beiden Entitäten ein Status zukommen. Die verschiedenen Schutzzuschreibungen müssen also nicht zwingend auf einer Statusrelevanz des Belegenheitsortes beruhen, sondern können andere Gründe haben. 4.5.3 Verfassungsdogmatischer Ansatz Die Antwort auf die Frage nach der Statusrelevanz des Belegenheitsortes embryonaler Entitäten ist ungeachtet der intuitiven und einfachgesetzlichen Betrachtung wiederum in der Verfassung zu suchen. Möglicherweise ergeben sich aus den Gewährleistungen in Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Rückschlüsse auf eine wie auch immer geartete statusbestimmende Unterscheidung zwischen der Befindlichkeit der Entität im Reagenzglas und im Körper der Mutter. 4.5.3.1 Anhaltspunkte in der Rechtsprechung des BVerfG Die Entscheidungen des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch lassen keinen Schluss auf eine Privilegierung von in vivo-Entitäten zu, da das BVerfG über in vitro-Entitäten nicht zu entscheiden hatte und sich auch bewusst jeglicher

206 Mildenberger 2002, 299.

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Aussagen für den Zeitraum vor Nidation enthalten hat.207 Ein Schluss auf eine Gleichstellung von in vivo- und in vitro-Entitäten kann aus den Ausführungen des BVerfG aber ebenfalls nicht gezogen werden: Dass dem menschlichen Embryo unabhängig von seiner Belegenheit ein Grundrechtsschutz zukommen muss,208 kann gerade mit Blick auf das vom BVerfG häufig aufgegriffene Kontinuitätsargument nicht aus der Judikatur des BVerfG gefolgert werden. Die Rechtsprechung des BVerfG vermag weder in die eine noch in die andere Richtung Rückschlüsse auf die Statusrelevanz des Belegenheitsortes einer embryonalen Entität zu ermöglichen. 4.5.3.2 Anhaltspunkte aus der Werterfahrung der Rechtsgemeinschaft Nachdem weder ein Menschenbild der Verfassung noch das Konzept der Gattungswürde zu überzeugen vermögen,209 könnte man in der Frage nach der Relevanz des Belegenheitsortes einer vorgeburtlichen Entität auf einen anerkennungstheoretischen Ansatz zurückgreifen. Lässt sich vielleicht eine in der Rechtsgemeinschaft verankerte Werterfahrung ermitteln, die eine Statusrelevanz im Kriterium des Belegenheitsortes beinhaltet? Gesicherte Erfahrungen besitzen wir in jedem Fall mit der in vivo befruchteten Eizelle, die sich in die Gebärmutter einnistet und geboren wird. Diese nehmen wir als eine Entität, die sich zumindest zu Unseresgleichen entwickelt, wahr und erkennen sie damit als schutzwürdige Embryonen an. Damit könnte die Anerkennung als Mensch im Sinne des Grundgesetzes von der Belegenheit in vivo abhängen. Andererseits haben wir eventuell auch schon hinreichend Erfahrung mit den Methoden der künstlichen Befruchtung (IVF, ICSI) gesammelt, um auch für diese Verfahren von einer Anerkennung der daraus hervorgegangenen Entitäten sprechen zu können. Die bereits oben genannten Zahlen zur weltweiten Verbreitung der künstlichen Befruchtung zeigen die weite gesellschaftliche Akzeptanz der beiden Verfahren sowie die gesellschaftliche Anerkennung der mittels IVF oder ICSI ge-

207 »Jedenfalls in der so bestimmten Zeit der Schwangerschaft […]«, BVerfG, Urt. v. 28. 05. 1993 – Az. 2 BvF 2/90; 2 BvF 4/90; 2 BvF 5/92, BVerfGE 88, 203 (251) (Hervorhebung nicht im Original); Hartleb 2007, 217. Anders dagegen Merkel, der aus der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs und damit der faktischen Schutzlosigkeit des Embryos dessen Exklusion aus dem Bereich der Grundrechte folgert, wobei er »nirgendwo« von einer Inhaberschaft der Grundrechte auf Leben und Achtung der Menschenwürde ausgeht. Damit macht er keinen Unterschied zwischen der Entität in vivo und in vitro, Merkel 2002, 110. 208 So beispielsweise Beckmann 2003, 182; Faßbender 2001, 2748; Höfling 2001; vgl. zum Ganzen ausführlicher Hartleb 2007, 214–215. 209 Vgl. 4.3.1.2.1.4 und 4.3.1.2.2.3.

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borenen Kinder.210 Ob sich aus der Erfahrung, die wir in der Zwischenzeit mit diesen Verfahren der künstlichen Befruchtung haben, abstrakt auf eine Anerkennung von sämtlichen in vitro-Entitäten als schutzwürdig schließen lässt, erscheint dagegen fragwürdig. Denn die – hier unterstellte – hohe Akzeptanz der IVF bzw. der ICSI beruht wohl eher darauf, dass die Entstehungsweise der Entität dabei weitgehend mit der »natürlichen« Befruchtung identisch ist. Beide Verfahren werden trotz des extrakorporalen Umfeldes als »normal« anerkannt und nicht aufgrund dessen. Bei anderen in vitro-Verfahren, wie z. B. dem Zellkerntransfer oder der tetraploiden Embryoaggregation, kann sich mangels Durchführung beim Menschen gar keine gesellschaftliche Erfahrung entwickelt haben. Dass beispielsweise die Technik des reproduktiven Klonens, die im Tierexperiment geglückt ist und vielfach wiederholt wurde, mit Blick auf eine Anwendung beim Menschen eher auf gesellschaftliche Ablehnung stoßen würde,211 liegt aber wohl weniger an der Durchführung des Verfahrens in vitro als vielmehr an der Entstehungsweise der Entität, die mit der »natürlichen« Befruchtung nur noch wenig gemein hat und keine zufallsgesteuerte Neukombination beinhaltet. Die breite gesellschaftliche Akzeptanz, die die Methoden der IVF und ICSI erfahren, kann aber zumindest als Indiz dafür gewertet werden, dass auch die Anerkennung von Entitäten in vitro als schutzwürdig möglich ist. 4.5.3.3 Diskriminierung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG? Eine unterschiedliche Bewertung von embryonalen Entitäten in vivo und in vitro wird bisweilen als Verstoß gegen das Gleichheitsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG verstanden.212 Geht man von der Grundrechtsträgerschaft der zu vergleichenden Entitäten aus – denn Art. 3 Abs. 1 GG verlangt als Berechtigten des Gleichheitssatzes einen »Menschen« –, so ist aber zu fragen, ob eine extrakorporal 210 Schon 2010 erklärten in einer repräsentativen Umfrage in Deutschland mehr als 80 % der Befragten, dass eine künstliche Befruchtung für sie nichts Außergewöhnliches sei und mehr als 50 % der Befragten gaben an, im Falle einer eigenen Unfruchtbarkeit auf eine künstliche Befruchtung zurückzugreifen, vgl. dazu Künstliche Befruchtung auf dem Weg zur breiten Akzeptanz, 20. 09. 2010 (abrufbar unter http://www.t-online.de/eltern/schwangerschaft/kin derwunsch/id_42894944/kinderwunsch-kuenstliche-befruchtung-auf-dem-weg-zur-breite n-akzeptanz-.html; zuletzt aufgerufen am 05. 09. 2017). 211 Günther, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 6, Rn. 4 m.w.Nachw.; UNESCO, Allgemeine Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte vom 11. 11. 1997. Nach hiesiger Argumentation würde dem Klon allerdings ab Geburt, nach anderen Ansätzen bereits ab Nidation, Würde- und Lebensschutz zukommen, vgl. auch Herdegen, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz 2016, Art. 1 Abs. 1, Rn. 67; Hufen 2016, 139; Neumann 1998, 161; Seith 2007, 83. Insofern könnte man argumentieren, dass bei höchst artifiziellen Erzeugungsverfahren wie beim reproduktiven Klonen dem Uterustransfer eine statusbegründende Wirkung zukomme, Hetz 2005, 180. 212 Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Grundgesetz 2014, Art. 1, Rn. 11; Ipsen 2001, 994.

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vorliegende Entität mit einer im Mutterleib befindlichen Entität überhaupt hinreichend vergleichbar ist, um eine Gleichbehandlung zu rechtfertigen. Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt nämlich auch, dass unterschiedliche Sachverhalte einer unterschiedlichen Behandlung bedürfen. Aus dem unterschiedlichen Belegenheitsort und den damit verbundenen unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten auf die embryonale Entität kann man aber folgern, dass es sich um ungleichartige Regelungsbereiche handelt und eine unterschiedliche Behandlung von Entitäten in vivo und in vitro durchaus gerechtfertigt sein kann.213 Aus Art. 3 Abs. 1 GG kann für die Frage der Statusrelevanz des Belegenheitsortes damit keinerlei Schlussfolgerung gezogen werden. 4.5.3.4 Ergebnis der verfassungsdogmatischen Untersuchung Weder aus der Judikatur des BVerfG noch aus dem Verfassungswortlaut lassen sich Hinweise für oder gegen die Relevanz des Belegenheitsortes der embryonalen Entität für ihren verfassungsrechtlichen Status identifizieren. Folgt man einem anerkennungstheoretischen Ansatz, so kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass in Anbetracht der gesellschaftlichen Erfahrungen mit der künstlichen Befruchtung in vitro-Entitäten genauso wie in vivo-Entitäten als Grundrechtsträger akzeptiert werden können. 4.5.4 Ergebnis zum Kriterium des Belegenheitsortes Ob sich eine embryonale Entität in vivo oder in vitro befindet, hat keine Relevanz für den Status der Entität mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG. Extrakorporale Entitäten verfügen also gegenüber intrakorporalen Entitäten weder über eine geringere noch über eine höhere Schutzwürdigkeit. Der Belegenheitsort der Entität kann nicht zu einem Statusunterschied führen, vielmehr muss der Status unabhängig vom Belegenheitsort festgelegt werden.214 Ausgehend vom ermittelten Status können dann je nach Belegenheit der Entität und damit zusammenhängender Gefährdungs- und Interessenlage unterschiedliche Schutzkonzepte Anwendung finden.215 Beim Belegenheitsort handelt es sich im Hinblick auf einen die Menschenwürde beinhaltenden verfassungsrechtlichen Status embryonaler Entitäten um ein verfassungsrechtlich unzulässiges Kriterium. Das bedeutet, dass der Gesetzgeber eine Regelung zum Schutz einer embryonalen Entität basierend auf dem 213 Mildenberger 2002, 297. 214 Ohne weitere Begründung gehen von einer Unabhängigkeit des Status vom Belegenheitsort ebenfalls aus Hartleb 2007, 220; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Grundgesetz 2014, Art. 1, Rn. 11–12; i.E. auch Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz 2016, Art. 1 Abs. 1, Rn. 66. 215 Graumann 2001, 89.

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Argument, dass die Entität in vivo oder in vivo vorliegt, nicht auf Art. 1 Abs. 1 GG stützen dürfte. Er dürfte zwar sehr wohl eine Regelung schaffen, die in vivoEntitäten gegenüber in vitro-Entitäten privilegiert oder umgekehrt, doch könnte er diesen Statusunterschied nicht mithilfe des besonderen, aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Status von in vivo- oder in vitro-Entitäten begründen.

4.6

Entwicklungsfähigkeit

Es wurde bereits erwähnt, dass die Entwicklungsfähigkeit de lege lata in allen untersuchten einfachrechtlichen Embryodefinitionen als Kriterium zur Bestimmung der Schutzwürdigkeit embryonaler Entitäten herangezogen wird.216 Unstrittig kann Art. 1 Abs. 1 GG wie übrigens auch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG entnommen werden, dass die geschützte Entität entwicklungsfähig im Sinne von teilungsfähig und damit von »nicht tot« bzw. nicht arretiert sein muss. Als Entwicklungsfähigkeit wird hier aber weitergehend die Fähigkeit einer embryonalen Entität verstanden, sich – bei Vorliegen der erforderlichen Voraussetzungen – bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu entwickeln. Es wird also eine Finalität der Entwicklung verlangt. Ob sich eine Verbindung zwischen der Entwicklungsfähigkeit embryonaler Entitäten und deren verfassungsrechtlichem Status herstellen lässt, wird seit geraumer Zeit intensiv diskutiert. Rekurriert man auch hier zunächst auf die Rechtsprechung des BVerfG, so kommt bereits dort der Entwicklungsfähigkeit eine besondere Bedeutung zu. Ab Nidation sei dem ungeborenen menschlichen Leben Menschenwürde zuzuerkennen, da dann »nicht mehr teilbares Leben [vorliege], das im Prozeß des Wachsens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt.«217 Es soll an dieser Stelle nicht die Debatte um die Statusrelevanz der Entwicklungsfähigkeit neu entfacht oder gar entschieden werden. Die Relevanz einer gewissen Entwicklungsfähigkeit für die Festlegung von Schutzwürdigkeit lässt sich nicht leugnen.218 Dass diese Entwicklungsfähigkeit auch auf einen bestimmten Endpunkt hin final ausgerichtet ist und nicht nur als Synonym für Teilungsfähigkeit stehen sollte, zeigt sich schon daran, dass Art. 1 Abs. 1 GG jedenfalls die Würde des »Menschen« im Sinne des Grundgesetzes schützt und dass ein Status embryonaler Entitäten unter Art. 1 Abs. 1 GG nur dann sinnvoll 216 Vgl. oben 4.1. 217 BVerfG, Urt. v. 28. 05. 1993 – Az. 2 BvF 2/90; 2 BvF 4/90; 2 BvF 5/92, BVerfGE 88, 203 (252) (Hervorhebung nicht im Original). 218 So auch Hartleb 2007, 221.

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anzunehmen ist, wenn die embryonale Entität sich auch zu einem Menschenwürdeträger entwickeln kann. Dagegen soll es angesichts der bereits dargestellten Schwächen und Unklarheiten nicht speziell auf das Kriterium der Totipotenz als Ausprägung der Entwicklungsfähigkeit ankommen. Daher wird das Kriterium der Entwicklungsfähigkeit inklusive einer gewissen Finalität der Entwicklung als verfassungsrechtlich zwingendes Kriterium aufgenommen. Der Endpunkt der Entwicklungsfähigkeit, also der Zeitpunkt in der Entwicklung, den die Entität für ein Bejahen der Entwicklungsfähigkeit erreichen können muss, ist dagegen verfassungsrechtlich nicht prädisponiert. Von der Nidation bis zur Geburt sind daher alle Entwicklungsendpunkte zumindest verfassungsrechtlich zulässig. Bei der Einbeziehung des Kriteriums der Entwicklungsfähigkeit gilt aber zu beachten, dass nicht stabilisierte Formen der Entwicklungsfähigkeit, in concreto also Stadien transienter Totipotenz im Zuge der Reprogrammierung oder Stadien fluktuierender Totipotenz, ausgenommen werden müssen.219

4.7

Intention bzw. Zwecksetzung

Bei der Einordnung transient totipotenter Entitäten ist bereits angeklungen, dass es zumindest auf Basis einer intuitiven Betrachtung einen Unterschied macht, ob ein totipotentes Stadium auf dem Weg zu einer iPS-Zelle oder im Rahmen des Fortpflanzungskontextes durchlaufen wird.220 Offensichtlich ist es zumindest bei einem rein assoziativen Zugriff für die Zuerkennung verfassungsrechtlichen Schutzes relevant, in welchem Kontext sich eine Entität befindet bzw. welcher Zwecksetzung sie unterfällt. Die Argumentation Jens Kerstens geht genau in diese Richtung: Die im Fortpflanzungskontext vorzufindende »totipotente Transienz« sei für verfassungsrechtlich schutzwürdig zu erachten, während an die »transiente Totipotenz« im Forschungskontext kein Status anknüpfen könne.221 Von einem Fortpflanzungskontext geht Kersten auch bei der Anwendung von Klontechniken wie dem Embryo-Splitting oder dem Zellkerntransfer aus, die der »natürlichen« Befruchtung gleichzusetzen seien.222 Auch für Matthias Herdegen spielt der Kontext, in dem eine embryonale Entität entsteht, eine Rolle für deren statusrechtliche Einordnung: Er sieht nämlich bei der durch künstliche Befruchtung entstandenen in vitro-Entität zwar 219 220 221 222

So auch Laimböck 2015, 141–142. Vgl. oben 1.4.2. Kersten 2015, 147–148. Kersten 2015, 147.

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eigentlich das Kontinuitätsargument geschwächt – schließlich bedarf die Entität noch des Transfers in den Uterus –, lässt dann aber die »typische (d. h. vom Kinderwunsch geprägte) ›Bestimmung‹ einer durch Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entstandenen Zygote zur Entwicklung im Mutterleib«223 genügen, um dieser in vitro-Entität dennoch eine Schutzwürdigkeit zu attestieren. Wäre die in vitro-Entität also nicht mit der Intention der Herbeiführung einer Schwangerschaft erzeugt worden, so könnte sie nach dieser Argumentation schutzlos gestellt werden. Damit macht für Herdegen die Bestimmung, also die Intention der Handelnden, aus einer schutzlosen eine schutzwürdige in vitro-Entität.224 Es könnte also einen relevanten Statusunterschied machen, ob eine embryonale Entität zum Zwecke der Fortpflanzung oder für Forschungszwecke entstanden ist, wobei man rein intuitiv der Entität im Fortpflanzungszusammenhang wohl einen im Vergleich zum Forschungszusammenhang intensiveren Schutz angedeihen lassen würde. In eine neu zu entwickelnde Kriteriologie für den Status embryonaler Entitäten wäre bei Bejahung einer derartigen Differenzierung die Erzeugung der Entität zu Fortpflanzungszwecken als notwendiges Kriterium mit aufzunehmen. 4.7.1 Konkretisierung des Kriteriums der Intention bzw. Zwecksetzung Ist hier von »Intention« die Rede, so ist in diesem Kontext nicht die willentliche, d. h. absichtliche Entstehung einer embryonalen Entität im Gegensatz zur zufälligen oder unbeabsichtigten Entstehung gemeint. Es geht auch nicht um die Frage der »Planbarkeit«, wie sie insbesondere im Vergleich von künstlicher, also in vitro-Befruchtung, und natürlicher, also in vivo-Befruchtung, deutlich wird. Während nämlich die künstliche Befruchtung einen »völlig geplanten rationalen Vorgang«225 darstellt, entbehrt die natürliche Befruchtung – mag auch die Zeugung intendiert gewesen sein – doch der »rationalen Planbarkeit« wie bei einer IVF oder ICSI.226 Vielmehr zentriert sich das Kriterium der Zwecksetzung bzw. Intention auf die Differenzierung zwischen dem Fortpflanzungs- und dem Forschungskontext: Muss eine embryonale Entität, die zum Zwecke der Fortpflanzung entstanden ist, von Verfassung wegen höheren Schutz genießen als eine embryonale Entität, die »lediglich« zu Forschungszwecken erzeugt wurde? Folge eines solchen Statusunterschiedes wäre, dass mit Forschungsentitäten viel liberaler verfahren werden dürfte, dass sie also beispielsweise zu Forschungs223 224 225 226

Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz 2016, Art. 1 Abs. 1, Rn. 66. Ebenso Mildenberger 2002, 298. Brohm 1998, 203. Brohm 1998, 203.

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oder Therapiezwecken auch negativ beeinflusst oder sogar zerstört werden dürften. Ebenso wie das Kriterium des Belegenheitsortes stellt die Intention bzw. Zwecksetzung ein extrinsisches Kriterium dar.227 Die von Dritten intendierte Zwecksetzung oder Verwendung der embryonalen Entität ist dieser in keinem Fall immanent. Zudem wäre das Intentions-Kriterium ein rein subjektives und folglich auch schwierig nachweisbares Kriterium.228 4.7.2 Lebensweltlich-ethischer Ansatz Nähert man sich auch diesem Kriterium wiederum zunächst aus lebensweltlichintuitiver Perspektive, so scheint der Erzeugung embryonaler Entitäten zum Zwecke der Fortpflanzung der Vorzug vor einer Erzeugung zu Forschungszwecken einzuräumen zu sein. Würde eine Privilegierung des Fortpflanzungszusammenhangs gegenüber dem Forschungskontext dann aber zugleich bedeuten, dass Forschungsentitäten schutzlos gestellt sind? Hätte also der intentionale Hintergrund der Entstehung einer Entität und dessen Bewertung eine direkte Auswirkung auf den normativen Status der entstandenen Entität? Zum Teil wird ein solcher Zusammenhang als selbstverständlich angenommen: Laut Herdegen hat die »›Herstellung‹ eines Embryos in vitro zur Gewinnung von Stammzellenmaterial […] eine andere Qualität als die Befruchtung zum Zweck späterer Implantation.«229 Er stellt darauf ab, dass auch in späteren Entwicklungsstadien die rein gegenständliche Sichtweise in Bezug auf verbotene Verletzungen nicht geboten erscheine. So sei insbesondere das Berühren des »Menschenwürdekerns« im Falle staatlicher Forschungsmaßnahmen davon abhängig, »zu welchem Zweck (im Interesse welcher Rechtsgüter) ein derartiger Eingriff vorgenommen wird.«230 Nach Ansicht von Anabel Hieb, die eine Vorwirkung des subjektiven Würdeschutzes vertritt, kann diese nur dann angenommen werden, wenn biomedizinische Maßnahmen auf die Erzeugung menschlichen Lebens, also zumindest auf das Stadium der Nidation als Beginn individuellen menschlichen Lebens ausgerichtet sind.231 Im Fall der Herstellung embryonaler Entitäten zur Gewinnung von Stammzellen zu Forschungs- oder Therapiezwecken fehle, so Hieb,

227 Hartleb 2007, 196. 228 Hartleb 2007, 194. 229 Herdegen 2001, 775. In diesem Sinne auch Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, Grundgesetz 2014, Art. 1, Rn. 30. 230 Herdegen 2001, 775. 231 Hieb 2005, 101.

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»von vornherein jede Perspektive einer individuellen menschlichen Entwicklung und somit der auch innerhalb des objektiven Gehalts der Menschenwürdegarantie erforderliche – Menschenwürdeschutz auslösende – Bezug zu einem konkreten Individuum.«232

Folgt man dem Ansatz Dederers, so kann sich eine embryonale Entität in vitro nur dann zumindest »zum Menschen« (freilich nicht »als Mensch«) entwickeln, wenn die Intention der Handelnden besteht, eine Schwangerschaft herbeizuführen.233 Dann nämlich ist eine Entwicklung »als Mensch« subjektiv zielgerichtet gewollt, hängt aber davon ab, ob die Frau sich für eine Übertragung in ihre Gebärmutter entscheidet.234 Während die in vitro-Entität also im Kontext der Herbeiführung einer Schwangerschaft sich zwar nicht »als Mensch«, aber immerhin »zum Menschen« entwickelt, findet bei der in vitro-Entität, die zu Forschungs- oder Therapiezwecken hergestellt wurde, nicht einmal eine Entwicklung »zum Menschen« statt.235 Die in vitro-Entität im Fortpflanzungs- wie im Forschungskontext wird nach Dederer durch das Lebensrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützt, welches im Gegensatz zur Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG mit anderen Rechten abzuwägen ist.236 Jedoch muss im Rahmen der Güterabwägung der Lebensschutz einer Entität, die sich nicht einmal »zum Menschen« entwickelt, schwächer sein als bei einer Fortpflanzungsentität in vitro. Bei Vorliegen einer »Forschungsentität« überwiege, so Dederer, »die auf die Behandlung schwerster, bislang unheilbarer Krankheiten gerichtete, […] von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG grundrechtlich geschützte Forschung […] das durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützte Leben der Embryonen in vitro.«237

Diese Ausführungen zur Abwägung zwischen Forschungsfreiheit und Lebensrecht offenbaren eine weitere Dimension des möglichen Kriteriums der Intention: Gerade mit Blick auf das therapeutische Klonen könnte die Intention »Forschung« nun doch eine gewisse Privilegierung erfahren. Schließlich kommen dem Staat ein Forschungsauftrag sowie eine staatliche Pflicht zum Gesundheitsschutz aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu. Ist das therapeutische Klonen oder ein anderes Verfahren zur Erzeugung embryonaler Entitäten letztlich darauf gerichtet, schwere Krankheiten »mittels Erlangung wissenschaftlicher Grundlagenkennnisse und deren langfristige Umsetzung in konkrete medizinische Therapien«238 zu heilen, so ist diese Intention zumindest nicht zu verurteilen bzw. 232 233 234 235 236 237 238

Hieb 2005, 102. Dederer 2002, 15. Dederer 2002, 15. Dederer 2002, 16. Dederer 2002, 18–19. Dederer 2002, 23; a. A. Herdegen 2001, 776. Dreier, in: Dreier, Grundgesetz 2013, Art. 1, Rn. 91.

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sogar aus ethischer Sicht zu unterstützen.239 Da die »im Wege des Zellkerntransfers erzeugten Zellverbände […] von vornherein nicht zur Weiterentwicklung über das Blastocystenstadium hinaus bestimmt« sind, würde durch das therapeutische Klonen »nicht die Einzigartigkeit menschlicher Individualität geleugnet, sondern Gewebezüchtung zur Heilung schwerer degenerativer Leiden betrieben.«240 Folgt man dieser Argumentation, so wäre der Staat zur Zulassung des therapeutischen Klonens sogar verpflichtet, wenn auch damit nicht prokreative Zwecke verbunden sind.241 4.7.3 Betrachtung der einfachrechtlichen Rechtslage de lege lata Auch beim denkbaren Kriterium der Intention lohnt zunächst ein Blick in die Regelungen des einfachen Rechts. Das ESchG dient nach der Gesetzesbegründung u. a. – aber doch in erster Linie – dazu, die gezielte Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken sowie die Verwendung menschlicher Embryonen zu nicht ihrer Erhaltung dienenden Zwecken zu verhindern.242 Diese Zielsetzung spiegelt sich in den Vorschriften des ESchG dahingehend wider, als die Erzeugung bzw. Verwendung embryonaler humaner Entitäten zu Forschungszwecken durchweg unter Strafe gestellt wird,243 während ihre Erzeugung zu Fortpflanzungszwecken – freilich unter Beachtung bestimmter Voraussetzungen – erlaubt ist. So sind beispielsweise die Verfahren der künstlichen Befruchtung (IVF bzw. ICSI) dann erlaubt, wenn damit eine Schwangerschaft herbeigeführt werden soll, vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG e contrario. Dagegen ist z. B. das therapeutische Klonen untersagt, das ausschließlich dem Zweck der Forschung dient, vgl. § 6 Abs. 1 ESchG. Damit lassen sich im ESchG sehr viele Regelungen finden, die für die Begründung der Strafbarkeit in besonderer Weise auf den mit der Tathandlung durch den Täter verfolgten Zweck abstellen. Man spricht dabei auch von sog. Tendenzdelikten, also von Delikten, bei denen erst die Täterintention der Tat besondere Strafwürdigkeit und Gefährlichkeit verleiht.244 Die Strafbarkeit des Täters hängt danach von dessen Absicht, also von seiner Intention ab, sodass 239 In der verfassungsrechtlichen Werthierarchie dürfte die Therapie schwerwiegender Krankheiten mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sogar höher zu gewichten sein als die allgemeine Forschungsfreiheit, Herdegen 2001, 776. 240 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz 2013, Art. 1, Rn. 113. 241 Insofern könnte eine weitere Differenzierung der Zwecksetzungen angebracht sein: Es müsste dann nicht mehr nur zwischen Fortpflanzung und Forschung unterschieden werden, sondern genauer zwischen Fortpflanzung, nicht-therapeutischer Forschung und therapeutischer Nutzung. 242 BT-Drs. 11/5460, 1. 243 Z. B. in § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG, § 2 Abs. 1 ESchG oder in § 6 Abs. 1 ESchG. 244 Günther, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, Vor § 1, Rn. 38–39; Hartleb 2007, 193.

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dem Kriterium der Intention im einfachen Recht, konkret im ESchG, eine hohe Regelungsrelevanz zu attestieren ist. Ob ein Anknüpfen an Intentionen bei der Statusbestimmung allerdings auch aus verfassungsrechtlicher Sicht begründbar ist, bleibt weiterhin zu untersuchen. Ein direkter Schluss von der einfachgesetzlichen Regelung auf eine (dieser zugrundeliegenden) verfassungsrechtlichen Beurteilung ist freilich aus rechtsdogmatischen Gründen nicht zulässig. Schließlich sei noch auf folgende Beobachtung hingewiesen: Das Verbot, eine embryonale Entität zu Forschungszwecken zu erzeugen oder zu verwenden, mag zwar eine tendenzielle Abneigung gegenüber dem Forschungskontext zum Ausdruck zu bringen. Eine statusrelevante Differenzierung zwischen »Forschungs-« und »Fortpflanzungsentitäten« lässt sich aber aus den Erzeugungsund Verwendungsverboten nicht ableiten: Sie stellen vielmehr lediglich klar, dass eine aufgrund anderweitiger Zuschreibungen schutzwürdige embryonale Entität nicht zu Forschungszwecken »missbraucht« werden darf. Eine andere Frage ist es, ob auch ein geringerer Status von (durch Nicht-Einhaltung dieser Verbote entstandenen) »Forschungsentitäten« aus dem ESchG herausgelesen werden kann. Insofern könnte man dem Transferverbot in § 6 Abs. 2 ESchG, der die Übertragung von durch Klonierung entgegen dem Verbot aus § 6 Abs. 1 ESchG entstandenen Entitäten auf eine Frau verbietet, eine Diskriminierung von »Forschungsentitäten« entnehmen. Diese »strafbewehrte indirekte Tötungspflicht«245 könnte als Indiz für eine Aberkennung eines grundrechtlichen Status von »Forschungsentitäten« betrachtet werden. Die Vorschrift wird allerdings gerade mit Blick auf dieses staatliche Tötungsrecht heftig kritisiert, welches nicht dadurch gerechtfertigt werden könne, »dass man dem Embryo wegen der missbräuchlichen Art seiner Erzeugung ein Lebensrecht abspricht und ihn als menschenunwürdiges, lebensunwertes Leben abqualifiziert.«246 Allerdings muss das Transferverbot in § 6 Abs. 2 ESchG nicht auf der Intention der Handelnden bei der Erzeugung des Klons fußen, sondern hat vielmehr seinen Ursprung in der ratio legis des Erzeugungsverbotes aus § 6 Abs. 1 ESchG. Das Transferverbot dient der Umsetzung der im Erzeugungsverbot enthaltenen Zwecke, also insbesondere dem Schutz der Menschenwürde des kopierten wie des geklonten Menschen sowie der austragenden Frau.247 Gerade weil es beim Verfahren des Klonens – anders als bei der künstlichen Befruchtung – keine erlaubte »Fortpflanzungsvariante«, sondern eben nur die eine verbotene Klonierung gibt (§ 6 Abs. 1 ESchG), kann man nicht zwingend einen Gegensatz zwischen dem erlaubten Übertragen der Fortpflanzungsentität und dem verbotenen Übertra245 Günther, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 6, Rn. 22. 246 Günther, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 6, Rn. 22. 247 Günther, in: Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2014, § 6, Rn. 4.

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gen der Forschungsentität herausstellen, der dann seinen Ursprung höchstwahrscheinlich in einem Statusunterschied der beiden Entitäten haben würde. So aber beruht das Transferverbot auf den spezifischen Beweggründen, die bereits das Erzeugen eines Klons allgemein verbieten, und nicht unbedingt auf der zugrundeliegenden Intention. Dem ESchG lässt sich zwar entnehmen, dass im einfachen Recht im Bereich des Embryonenschutzes die Strafbarkeit in besonderem Maße an das Vorliegen von Zwecksetzungen bzw. Intentionen geknüpft ist. Weder aus dieser Beobachtung noch aus dem Transferverbot des § 6 Abs. 2 ESchG lässt sich aber ein Schluss auf eine statusrelevante Differenzierung anhand des der Erzeugung zugrunde liegenden intendierten Kontextes ziehen. 4.7.4 Verfassungsdogmatischer Ansatz 4.7.4.1 Relevanz von Intentionen in Art. 1 Abs.1 GG? Der Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG könnte auch die Unabhängigkeit von Zwecksetzungen Dritter entnommen werden, sodass sich daraus die bereits im einfachen Recht beobachtete Ablehnung der Erzeugung embryonaler Entitäten zu fremdnützigen Zwecken ergeben könnte. Einen geringeren Status solcher »Forschungsentitäten« würde man aus der Unabhängigkeit von externen Zwecksetzungen aber nicht schlussfolgern können, eventuell aber eine grundsätzliche Ablehnung gegenüber Einwirkungen Dritter. Die Grundrechte waren ursprünglich als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat gedacht und schützten damit die Unabhängigkeit von staatlichen Zwecksetzungen. Mit der Figur der Drittwirkung der Grundrechte wurde der Grundrechtsschutz auf den Schutz vor privaten Zwecksetzungen ausgeweitet. Dieser Gedanke von der Unabhängigkeit von Zwecken Dritter kommt in der von Günter Dürig begründeten sog. »Objektformel« zum Tragen, die zur (negativen) Bestimmung des Begriffs der »Menschenwürde« herangezogen wird: »Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.« Es muss also stets der Eigenwert menschlichen Lebens respektiert werden, sodass eine Erzeugung embryonaler Entitäten zu fremdnützigen Zwecken, z. B. also zu Forschungszwecken, einen Eingriff in die Menschenwürde durch private Dritte darstellen würde. 4.7.4.2 Relevanz von Intentionen in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG? Im Gegensatz zu Art. 1 Abs.1 GG ist das Lebensrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht »unantastbar«, sodass Eingriffe in dieses Grundrecht gerechtfertigt werden können. Vor diesem Hintergrund wird z. B. bisweilen argumentiert, dass das thera-

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peutische Klonen als bloße Variante der »Gewebezüchtung« zu Therapiezwecken gerechtfertigt sein sollte.248 Die Forschung an diesen sog. »Forschungsklonen« sei zum einen von der Forschungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gedeckt und zum anderen sogar nach dem staatlichen Schutzauftrag zur Gesundheitsförderung aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geboten.249 Insofern könnten zumindest im Rahmen der Abwägung in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Intentionen mit einfließen. 4.7.4.3 Relevanz von Intentionen durch Etablierung des Rechts auf reproduktive Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG? Schließlich könnte man in der Etablierung des Rechts auf Fortpflanzung bzw. auf reproduktive Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG eine gewisse Privilegierung der Zwecksetzung »Fortpflanzung« erkennen. Das Recht auf Fortpflanzung umfasst auch gerade die medizinisch assistierte Reproduktion, insbesondere also die künstliche Befruchtung. Dieser Aussage kann allerdings entgegengehalten werden, dass daraus nicht zwingend ein geringerer Status im Forschungskontext folgen muss. Auch die Forschung wird schließlich im Grundgesetz geschützt, vgl. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. 4.7.4.4 Ableitung einer verfassungsrechtlich fundierten Statusrelevanz von Intentionen? Kann nun aber insbesondere aus der Objektformel und der daraus resultierenden Unabhängigkeit des Menschen von Zwecksetzungen Dritter auf einen Statusunterschied zwischen »Forschungs-« und »Fortpflanzungsentitäten« geschlossen werden? Gerade der Wortlaut der Objektformel zeigt bereits deutlich, dass ein solcher Schluss nicht möglich ist: Sie spricht von dem »konkreten Menschen«, der nicht objektiviert werden dürfe. Damit wird in der Objektformel vorausgesetzt, dass wir es mit einem »Menschen« im Sinne des Grundgesetzes zu tun haben.250 Die Formel versucht lediglich, den Inhalt der Menschenwürdegarantie zu konkretisieren, nicht dagegen, das Subjekt der Menschenwürde festzulegen. Es wäre daher zunächst zu fragen, ob die jeweilige Entität ein »Mensch« im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG und damit ein Träger der Menschenwürde ist, bevor nach der Objektformel festgesetzt wird, dass dieser nicht zu einem bloßen Objekt herabgewürdigt werden darf. Die Freiheit vor fremder Willkür setzt die Stellung als Verfassungssubjekt und Träger der Menschenwürde voraus.

248 De lege lata sind sowohl das reproduktive als auch das therapeutische Klonen gemäß § 6 Abs. 1 ESchG strafbar. 249 Vgl. Nationaler Ethikrat 2004, 59, 78; Schulz 2003, 362. 250 Hartleb 2007, 195; Lorenz 2001, 43; in Bezug auf therapeutisches und reproduktives Klonen ebenso Höffe 2003, 30.

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Die Abwägung im Rahmen von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG findet erst auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung statt, sodass die Eröffnung des subjektiven Schutzbereiches vorausgehen muss. Schließlich liegt auch den Regelungen im ESchG zum Forschungs- und Fortpflanzungskontext die Statuszuschreibung voraus.251 Nachdem einem Embryo im Sinne von § 8 Abs. 1 ESchG offenbar Schutzwürdigkeit zugebilligt wird, ist er auch zur Geburt zu bringen und darf nicht für Forschungszwecke missbraucht bzw. zerstört werden. 4.7.5 Ergebnis zum Kriterium der Intention Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Intention kein Kriterium bei der Bestimmung der Schutzwürdigkeit darstellen kann, es handelt sich somit ebenfalls um ein verfassungsrechtlich unzulässiges Kriterium. Dies trifft auf einen Status sowohl unter Art. 1 Abs. 1 GG als auch unter Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu. Der Status einer Entität liegt der Bewertung der jeweiligen Intentionen voraus bzw. zugrunde.252 Es ist also notwendig zu wissen, worauf sich unser Handeln richtet und mit welchem Status uns das »Objekt« unseres Handelns begegnet, bevor wir die jeweiligen Intentionen bewerten können. Die Absicht des »Herstellers« einer embryonalen Entität kann nicht ausschlaggebend für deren Schutzwürdigkeit sein. Handelt es sich bei der Entität um einen schutzwürdigen Embryo, so steht dieser verfassungsrechtliche Status »dem Embryo als solchem zu, unabhängig davon, ob die Forscher eine Entwicklung des Embryos zum ganzen Menschen beabsichtigen oder nicht.«253

4.8

Ergebnis der Untersuchung der Kriterien

Als Ergebnis der Untersuchung der Kriterien lässt sich festhalten, dass verschiedene Kriterien auch direkt in der Verfassung eine Grundlage finden: Die Menschlichkeit des Ausgangsmaterials und eine finale Entwicklungsfähigkeit sind als verfassungsrechtlich zwingende Kriterien zu qualifizieren. Nur Entitäten, die diese Kriterien auch erfüllen, können einen Status unter Art. 1 Abs. 1 GG besitzen. Lediglich die Reichweite der Entwicklungsfähigkeit ist verfassungsrechtlich nicht zwingend festgelegt. Die Verfassung steckt insofern nur einen Rahmen ab – ausgehend von der Nidation und endend mit der Geburt. Insoweit ist dem Gesetzgeber die Nidation jedenfalls als verfassungsrechtlich zulässiger Endpunkt der Entwicklungsfähigkeit zu empfehlen. Auch die Be251 Clausen/Schmitt 2007, 70–71; Oh 2013, 63. 252 Oh 2013, 63. 253 Sacksofsky 2001, 77.

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fruchtung und die Beteiligung von mindestens zwei Keimzellen von mindestens zwei Personen hieran sind als verfassungsrechtlich zulässige, wenn auch nicht zwingende Kriterien einzuordnen. Die übrigen geprüften Kriterien sind mit Blick auf einen Status unter Art. 1 Abs. 1 GG als unzulässig zu qualifizieren. Will der Gesetzgeber also Regelungen zum Schutz von embryonalen Entitäten mit einem Status dieser Entitäten unter Art. 1 Abs. 1 GG begründen, so darf er von diesen Regelungen nur Entitäten erfassen, welche die gefundenen zwingenden Kriterien erfüllen. Darüber hinaus ist ihm anzuraten, mit solchen Regelungen lediglich Entitäten zu schützen, die zudem den verfassungsrechtlich zulässigen Kriterien als Kriterien von verfassungsrechtlich anerkannter Wertigkeit gerecht werden.254 Eine solche Regelung würde keine unzulässige Verkürzung von Art. 1 Abs. 1 GG darstellen und hätte voraussichtlich auch vor dem BVerfG Bestand. Keinesfalls aber darf er einen Schutz embryonaler Entitäten durch Regelungen, die er mit der Menschenwürdegarantie begründet, davon abhängig machen, ob diese verfassungsrechtlich unzulässige Kriterien erfüllen. Sollte sich der Gesetzgeber dazu entschließen, ein Gesetz zum Umgang mit embryonalen Entitäten zu erlassen, und sollte er darin die Schutzwürdigkeit der betroffenen Entitäten mit der Menschenwürde begründen und eine für den Regelungsbereich dieses Gesetzes gültige Embryodefinition implementieren, könnte eine solche Definition auf Basis der gefundenen Kriterien beispielsweise wie folgt lauten: »Als schutzwürdiger Embryo gilt jede humane Entität, die durch zufallsgesteuerte Verschmelzung von mindestens zwei natürlichen oder künstlichen haploiden Keimzellen, die von mindestens zwei Personen herrühren, entstanden ist und sich bei Vorliegen der erforderlichen Voraussetzungen bis zur Nidation entwickeln kann.«

Diese Definition wäre auf Basis der hier entwickelten Kriteriologie verfassungskonform. Die hier hervorgehobenen Passagen müssten als zwingende Kriterien einer schutzwürdigen embryonalen Entität in eine Embryodefinition in jedem Fall aufgenommen werden. Die in der folgenden Version hervorgehobenen Kriterien sind dem Gesetzgeber jedoch auf Grundlage der in der Untersuchung des GG gewonnenen Erkenntnisse als Kriterien von verfassungsrechtlicher Wertigkeit mit Blick auf Art. 1 Abs. 1GG zu empfehlen. »Als schutzwürdiger Embryo gilt jede humane Entität, die durch zufallsgesteuerte Verschmelzung von mindestens zwei natürlichen oder künstlichen haploiden Keimzellen, die von mindestens zwei Personen herrühren, entstanden ist und sich bei Vorliegen der erforderlichen Voraussetzungen bis zur Nidation entwickeln kann.« 254 Auch Seith 2007, 81 ist der Auffassung, dass »sich aus der Verfassung keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Status des Embryos findet, dass vielmehr dem Gesetzgeber lediglich ein Rahmen vorgegeben wird, innerhalb dessen Grenzen er sich bewegen kann.«

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5.

Anwendung der de lege ferenda denkbaren Kriterien auf die untersuchten Entitäten

Auf Grundlage dieser Definition, die auf den als verfassungsrechtlich zwingend und zulässig identifizierten Kriterien beruht, wären die oben genannten Entitäten folgendermaßen (Tabelle 3) in die der Untersuchung zugrunde gelegte Kriteriologie einzuordnen. Entität

Kriterien- § 8 Abs. 1 § 8 Abs. 1 basierte ESchG ESchG Definition (weit) (eng)

§ 3 Nr. 4 StZG

EuGH (ISCOUrteil)

Laimböck

befruchtete artifizielle Gameten ZellkerntransferEntität Parthenot Tetraploide Embryoaggregation partielle Blasenmole in vivo-»iTS-Zellen« in vitro-»iTS-Zellen« transient totipotente Zellen Cdx2-defiziente Entität

Totipotenter Embryo

Nicht-totipotenter Embryo

Totipotenter Nicht-Embryo

Nicht-totipotenter Nicht-Embryo

Tabelle 3: Einordnung der untersuchten Entitäten anhand der auf den verfassungsrechtlich zwingenden und zulässigen Kriterien basierenden Definition und Vergleich mit der Einordnung anhand anderer rechtlicher Embryodefinitionen

Wie sich zeigt, werden dann nur noch sehr wenige Entitäten als Embryonen geschützt. Vergleicht man diese gefundene Definition mit den anderen bereits geprüften Definitionen, so stellt sich heraus, dass sie eine erhebliche Ähnlichkeit zur De-

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finition des § 8 Abs. 1 ESchG in ihrer engen Auslegung aufweist. Sämtliche der im Rahmen dieser Untersuchung geprüften Entitäten sind nach beiden Definitionen sogar exakt gleich einzuordnen. Abschließend soll nun noch ein Vergleich zu der von Susan Sgodda in diesem Sammelband vorgenommenen biologischen Einordnung verschiedener embryonaler Entitäten gezogen werden (Tabelle 4).255 Im Rahmen der biologischen Einordnung ist das Durchlaufen einer Embryonalphase erforderlich dafür, dass eine Entität als Embryo bezeichnet werden kann.256 Entität

kriterienbasierte Definition

Biologie

in vivo befruchtete Eizelle IVF-/ICSI-Embryo befruchtete artifizielle Gameten Zellkerntransfer-Entität Parthenot tetraploide Embryoaggregation

Tabelle 4: Vergleich der biologischen Einordnung der Entitäten mit der Einordnung anhand der kriterienbasierten Definition

Hier zeigen sich nun doch deutliche Unterschiede zu der in diesem Beitrag auf Basis der Verfassung entwickelten kriterienbasierten Definition. Dies liegt daran, dass die kriterienbasierte Definition sich eben nicht nur auf die Entwicklungsfähigkeit bis hin zu einem gewissen Stadium begrenzt, sondern die Embryoeigenschaft zusätzlich von verfassungsrechtlich zwingenden bzw. zulässigen Kriterien abhängig macht, die die Genese und die Ausgangsmaterialien der Entität betreffen. Denn ein verfassungsrechtlicher Würdeschutz sollte nicht allein an biologische Kriterien anknüpfen, vielmehr müssen auch die vom Grundgesetz konkret gesetzten Anforderungen erfüllt sein. Diese von der Verfassung explizit geforderten Umstände wurden im Rahmen dieser Untersuchung identifiziert, verfassungsrechtlich geprüft und in einer Embryodefinition umgesetzt.

255 Sgodda, in diesem Band, 26. 256 Sgodda, in diesem Band, 17.

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Hans-Georg Dederer

Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen. Zur Suche nach Alternativen zum Totipotenzkriterium

I.

Abschied vom Totipotenzkriterium?

1.

Problemaufriss

Im Recht dient das Kriterium der Totipotenz zur Definition des »Embryos«, explizit freilich nur an genau zwei Stellen: zum einen im ESchG von 19901, zum anderen im StZG von 20022. So heißt es in § 8 Abs. 1 ESchG: »Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag.«3

Davon abweichend hat der Gesetzgeber zwölf Jahre später den Embryo in § 3 Nr. 4 StZG wie folgt definiert:

1 Gesetz zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz – ESchG) vom 13. 12. 1990 (BGBl. I, 2746–2748), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. 11. 2011 (BGBl. I, 2228–2229). 2 Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz – StZG) vom 28. 6. 2002 (BGBl. I, 2277–2280), zuletzt geändert durch Gesetz vom 7. 8. 2013 (BGBl. I, 3166, 3201). 3 Auf diese Definition wird hinsichtlich des patentrechtlichen Embryobegriffs in § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PatG gemäß § 2 Abs. 2 Satz 2 PatG verwiesen. Allerdings ist der Begriff des »Embryos« in § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PatG unionsrechtskonform im Einklang mit dem Embryobegriff des Art. 6 Abs. 2 lit. c Richtlinie 98/44/EG (Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen [ABl. EU L 213, 30. 07. 1998, 13–21]; sog. Biopatentrichtlinie) zu interpretieren. Den Begriff des Embryos i. S. von Art. 6 Abs. 2 lit. c Richtlinie 98/44/EG hat der EuGH als autonomen Rechtsbegriff des Unionsrechts für den Bereich der Biopatentierung anhand des Merkmals der »inhärenten Fähigkeit, sich zu einem Menschen zu entwickeln«, definiert (EuGH, Urt. v. 18. 12. 2014 – Rs. C-364/13, International Stem Cell Corporation v. Comptroller General of Patents, Rn. 23, 28).

198

Hans-Georg Dederer

»Embryo [ist] bereits jede menschliche totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag.«

Offenbar hat der Gesetzgeber das Kriterium der Totipotenz als normativ leitend, in der jüngeren Definition des § 3 Nr. 4 StZG sogar als allein leitend,4 für die rechtliche Bewertung des Status menschlicher embryonaler Entitäten aufgefasst. Das Kriterium der Totipotenz ist indes in letzter Zeit in Ethik und Recht erheblich unter Druck geraten. So hat der Deutsche Ethikrat in seiner Ad-hocStellungnahme vom September 2014 gefordert, »der Begriff der Totipotenz sollte präzisiert und seine normative Bedeutung in den neuen Zusammenhängen geklärt werden.«5 In einer anderen Publikation aus dem Jahr 2014 verfolgen deren Autoren schon im Titel die These, die Totipotenz sei ein »Abweg«.6 Schließlich erschien im Jahr 2015 eine juristische Dissertationsschrift, die sich umfassend mit dem Kriterium der Totipotenz kritisch auseinandersetzt und am Ende dieses Kriterium im Recht, insbesondere auf der Ebene des einfachen Gesetzes, durch ein neues Kriterium, nämlich das der »qualifizierten Entwicklungsfähigkeit« ersetzen will.7

2.

Kriterium der Totipotenz unter Druck

Tatsächlich verbindet sich mit dem Kriterium der Totipotenz eine Reihe von Problemen. Ein erstes Problem besteht darin, dass mit dem Begriff der Totipotenz ein naturwissenschaftlicher Terminus8 in das Recht übernommen wird9. Nur scheinbar verbindet sich damit terminologische Präzision. Denn der Begriff der Totipotenz ist in den Naturwissenschaften zwischenzeitlich selbst unklar geworden.10 Außerdem wird der Begriff der Totipotenz in der Entwicklungs4 D. h. ohne Rücksicht auf Entstehungsbedingungen, an die § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG anknüpft: »Befruchtung«, »menschliche Eizelle«, »Kernverschmelzung«. Auch § 8 Abs. 1 Alt. 2 ESchG liegen diese Entstehungsbedingungen zugrunde, weil und soweit sich die Legaldefinition so verstehen lässt, dass die »totipotente Zelle« einem Embryo i. S. von § 8 Abs. 1 Alt. 1 ESchG entnommen worden sein muss. Vgl. hierzu BT-Dr. 14/8394, 9; Kersten 2004, 36–38; Kersten 2015a, 152–154; Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser: ESchG 2014, § 8, Rn. 23, 40. 5 Deutscher Ethikrat 2014, 5. 6 Schickl et al. 2014, 857. 7 Laimböck 2015. 8 Zum experimentalbiologischen Ursprung des Totipotenzbegriffs vor über hundert Jahren: Sgodda 2015, 16–31; ferner Barantzke 2015, 167–178. 9 In diesem Sinne etwa auch Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser: ESchG 2014, § 8, Rn. 41–43a. 10 Eingehend hierzu Sgodda 2015, 16–24, 31–39; Ott 2015, 71–72; ferner Laimböck 2015, 27, 40, 62. Zum sich hieraus ergebenden Problem »veralteten Rechts« und den dadurch entstehenden Herausforderungen für das Demokratieprinzip Kersten 2015b, 113–114, 116–120. Darüber hinaus verbindet sich mit der Inkorporation naturwissenschaftlicher Termini in das

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199

biologie auf einzelne Zellen bezogen.11 Demgegenüber besteht im Recht das Bedürfnis, die Schutzwürdigkeit auch von Zellkonglomeraten anhand eines normativen Kriteriums bestimmen zu können.12 Ein zweites Problem besteht darin, dass das Kriterium der Totipotenz im ESchG und im StZG eine gesetzliche Ausformung des Potentialitätsarguments bildet. Das Potentialitätsargument wiederum stammt aus dem bioethischen Diskurs in der Philosophie. Dort bildet es einen Begründungsansatz für die Bestimmung des moralischen Status des Embryos. Allerdings lässt sich argumentieren, dass das Potentialitätsargument ursprünglich in einem bestimmten Kontext entwickelt wurde13 und daher nur in jenem, »alten« Kontext weiterhin anwendbar, auf andere, »neue« Kontexte dagegen nicht übertragbar ist.14 Ein drittes Problem besteht darin, dass die alleinige Anwendung nur des Kriteriums der Totipotenz in Ethik und Recht zu normativen Konsequenzen führen kann, die uns lebensweltlich nicht plausibel erscheinen15. Dieses Problem stellt sich beispielsweise bei der Einordnung zwar totipotenter, aber in hohem Maße artifizieller Entitäten unter den Embryobegriff 16. Derartige artifizielle, d. h. nicht-natürliche Entitäten können uns lebensweltlich – ungeachtet ihrer biologischen Totipotenz – als nicht schutzwürdige »totipotente Nicht-Embryonen«17 erscheinen18. Ist also das Kriterium der Totipotenz im Recht

11 12

13 14 15 16 17

Recht generell das Problem, dass der jeweilige Begriff in den Naturwissenschaften regelmäßig anderen, disziplinspezifischen Erkenntniszwecken dient als im Recht. Vgl. hierzu auch Advena-Regnery 2015, 228. Sgodda 2015, 13; vgl. Roux et al. 1912, 409–410. Auch der Gesetzgeber bezieht das Merkmal der Totipotenz nur auf die einzelne Zelle (davon gleichfalls ausgehend Taupitz, in: Günther/ Taupitz/Kaiser: ESchG 2014, § 8, Rn. 39). Das zeigt sich im Fall der tetraploiden Embryoaggregation. Daraus können jedenfalls im Tiermodell lebende, chimäre Organismen entstehen. Am Beginn ihrer Entwicklung steht aber nicht genau eine einzige totipotente Zelle, aus welcher die betreffenden tetraploiden »Embryoaggregate« allein hervorgegangen wären. Gleichwohl könnten aus tetraploider Embryoaggregation normativ schutzwürdige »Embryonen« hervorgehen. Sie lassen sich, weil und soweit das Merkmal der Totipotenz stets nur auf einzelne Zellen zu beziehen ist, als »nicht-totipotente Embryonen« bezeichnen. Vgl. hierzu Sgodda 2015, 27–28. Siehe zur Problematik, dass sich auch das gesetzliche Merkmal der Totipotenz nur auf einzelne Zellen, nicht aber auf spätere Entwicklungsstadien bezieht, Laimböck 2015, 187–188, 207–208; Schickl et al. 2014, 858; Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser: ESchG 2014, § 8, Rn. 39. Hierzu Barantzke 2015, 200–201. Eingehend hierzu Advena-Regnery, in diesem Band, 91–108. In diesem Sinne auch Schickl et al. 2014, 860. Siehe auch Ott 2015, 75, wonach der Totipotenzbegriff des ESchG ursprünglich nur auf »natürliche totipotente Zellen« bezogen war. Zum Komplementärbegriff der »nicht-totipotenten Embryonen« oben in Fn. 12. Der Begriff des »Embryos« wird in diesen Bezeichnungen (»totipotenter Nicht-Embryo«, »nicht-totipotenter Embryo«) nicht im rechtlichen Sinne von § 8 Abs. 1 ESchG oder § 3 Nr. 4 StZG verwendet. Mit »Embryonen« sind an dieser Stelle vielmehr diejenigen embryonalen Entitäten gemeint, die lebensweltlich als »Embryonen« und insofern als prinzipiell schutzwürdig erscheinen.

200

Hans-Georg Dederer

in mehrerlei Hinsicht zweifelhaft geworden19, so stellt sich die Frage, welche alternativen Lösungsansätze verfolgt werden könnten20.

II.

Ersetzung des Totipotenzkriteriums?

Ein Lösungsansatz will das Kriterium der Totipotenz durch das Kriterium der »qualifizierten Entwicklungsfähigkeit« ersetzen.21 Qualifizierte Entwicklungsfähigkeit wird dabei als »Fähigkeit, sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen unterstützenden Voraussetzungen mindestens bis zum Beginn der Neuralrohrbildung zu entwickeln«, definiert.22 Mit dem Kriterium der qualifizierten Entwicklungsfähigkeit bleibt dieser Ansatz dem Potentialitätsargument verhaftet.23 Entscheidend ist das der embryonalen Entität eigene Potential, sich zumindest bis zu einem ganz bestimmten biologischen Stadium entwickeln zu können. Gleichwie Totipotenz bildet daher das Kriterium der qualifizierten Entwicklungsfähigkeit eine einfachgesetzliche Ausformung des philosophisch-ethischen Potentialitätsarguments. Das Potentialitätsargument ist aber seinerseits umstritten geworden.24 Jedenfalls setzt es in seinem Ursprung einen bestimmten Anwendungsbereich (nämlich den des ungeborenen menschlichen Lebens ab Nidation) voraus25 und verbindet sich mit Annahmen der aristotelischen Metaphysik, die unsere lebensweltlich gebildeten (Wert-)Vorstellungen weiterhin, aber freilich nicht alleine, prägen.26 18 Näher etwa Dederer et al. 2015, 114. Insbesondere dazu, dass der Embryo lebensweltlich als »natürliche« Entität aufgefasst wird (oder jedenfalls werden kann) Advena-Regnery 2015, 245–248. 19 Hierzu vertiefend Laimböck 2015a, 183–195; zusammenfassend Laimböck 2015b, 83–88; ferner Keil 2015, 278, 282; Schickl et al. 2014, 857–860; speziell zur strafrechtlichen Beweisproblematik und sich daraus ergebenden Folgerungen für eine etwaige bloße Versuchsstrafbarkeit eingehend Böhm/Jung 2016, 266–273. 20 Zu weiteren, nachfolgend nicht näher dargestellten, sich vom Kriterium der Totipotenz abwendenden Lösungsansätzen Laimböck 2015a, 61–66. 21 Laimböck 2015a, 67–139, 201–207; Laimböck 2015b, 92–101. 22 Laimböck 2015a, 201; Laimböck 2015b, 98. 23 Dabei ist das Potentialitätsargument innerhalb dieses Lösungsansatzes auch nicht verzichtbar. Denn jener Lösungsansatz baut darauf auf, dass der verfassungsrechtliche Status embryonaler Entitäten auf der Rückerstreckung von Würde und Lebensrecht des geborenen Menschen auf embryonale Entitäten beruht. Diese Rückerstreckung bedarf aber einer genuinen Verbindung zwischen geborenen Menschen und embryonalen Entitäten. Gebildet wird diese normative »Brücke« von der Entwicklungsfähigkeit, also einem bestimmten Potential, der embryonalen Entität in Richtung auf den geborenen Menschen. Eingehende Darstellung bei Laimböck 2015a, 67, 123–138. 24 Näher Advena-Regnery, in diesem Band, 95–96, 97–98. 25 Ausführlich Advena-Regnery, in diesem Band, 102–105. 26 Eingehend Advena-Regnery, in diesem Band, 99–102.

Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen

201

Andererseits erscheint das Kriterium der (qualifizierten) Entwicklungsfähigkeit weiterhin unentbehrlich27, nämlich als zwar notwendiges, aber eben noch nicht hinreichendes Merkmal einer Legaldefinition für die als schutzwürdig erachteten embryonalen Entitäten, d. h. »Embryonen« im rechtlichen Sinne28. Um die mit der alleinigen Verwendung des Kriteriums der (qualifizierten) Entwicklungsfähigkeit verbundenen lebensweltlich-kontraintuitiven Konsequenzen zu vermeiden29, bedarf das Kriterium der qualifizierten Entwicklungsfähigkeit der Ergänzung durch weitere statusbestimmende Kriterien30. Immerhin aber ist der Begriff der qualifizierten Entwicklungsfähigkeit prinzipiell geeignet, die zu Tage getretenen Defizite des Totipotenzbegriffs zu beheben.31

III.

Einfachgesetzliche Normierung von Handlungskontexten?

1.

Grundidee

Ein anderer Lösungsansatz könnte darin bestehen, die Schutzwürdigkeit embryonaler Entitäten nicht a priori abstrakt an einem (unter Umständen einzigen) Kriterium wie dem der Totipotenz oder (qualifizierten) Entwicklungsfähigkeit festzumachen, sondern die rechtliche Schutzwürdigkeit embryonaler Entitäten konkret im Rahmen des jeweiligen Handlungskontextes zu bestimmen. So soll (nach diesem Lösungsansatz) »die Beurteilung über den Schutzstatus abhängig [sein] von der Frage, als was diese Entitäten in welchen Handlungskontexten verstanden werden.«32 Handlungskontexte in diesem Sinne könnten etwa Schwangerschaftsabbruch, human-embryonale Stammzelltherapie oder Präimplantationsdiagnostik (PID) sein. Dieser Ansatz lässt sich nun in der Weise fortdenken, dass es überhaupt dem Gesetzgeber überlassen bleiben sollte, den Umgang mit embryonalen Entitäten in bestimmten Handlungskontexten auf der Ebene des einfachen Gesetzes zu 27 In diesem Sinne zum Totipotenzkriterium auch Schickl et al. 2014, 861; ebenso Kersten 2015a, 158. 28 Dederer et al. 2015, 113–115. Dabei wäre freilich noch danach zu unterscheiden, ob Totipotenz bzw. (qualifizierte) Entwicklungsfähigkeit und die anderen Kriterien allein Definitionsmerkmale für Embryonen im Rechtssinne und insoweit zugleich ein Kriterium für den Grund prinzipieller Schutzwürdigkeit sein oder ob Totipotenz bzw. (qualifizierte) Entwicklungsfähigkeit und die weiteren Kriterien weitergehend auch den Umfang der Schutzwürdigkeit (z. B. Schutzwürdigkeit menschlicher Embryonen in vitro als potentielle Menschen gleich wie geborene Menschen) bestimmen sollen. 29 Oben in und bei Fn. 15–18. 30 So stellt beispielsweise Kersten 2015a, 147–149, 158, auf den »Fortpflanzungskontext« ab, in welchen das Totipotenzkriterium eingebettet sei. 31 Hierzu Laimböck 2015a, 172–173; Laimböck 2015b, 92–96, 98–101; vgl. auch Keil 2015, 282. 32 Schickl et al. 2014, 861.

202

Hans-Georg Dederer

normieren. Als praktisches Beispiel für die Normierung eines Handlungskontextes mag die einfachgesetzliche Regelung der PID in § 3a ESchG dienen33. Die Zulassung der PID beruht auf einem im Parlament intensiv geführten, mit einer Abstimmung förmlich abgeschlossenen Diskurs, ohne dass sich der Bundestag dabei des genauen verfassungsrechtlichen Status des Embryos vergewissert hätte oder sich in dieser Hinsicht einig gewesen wäre.34

2.

Insbesondere: Ablösung von der Statusfrage als verfassungsrechtlicher Vorfrage

Eine Lösung, welche sich auf die einfachgesetzliche Normierung von Handlungskontexten beschränken wollte, hätte unbestreitbar einen gewissen Charme. Er bestünde darin, die eigentlich alles entscheidende Vorfrage nach dem verfassungsrechtlichen Status embryonaler Entitäten offen zu lassen.35 Der Gesetzgeber wäre nicht auf einen ihm von der Verfassung vorgegebenen Rechtsstatus embryonaler Entitäten festgelegt. Vielmehr entginge der Gesetzgeber der verfassungsrechtlichen Statusdebatte und könnte direkt den Umgang mit embryonalen Entitäten in bestimmten Handlungskontexten auf der Ebene des einfachen Gesetzes normieren. Insbesondere wäre der Gesetzgeber nicht auf eine Embryodefinition festgelegt, welche sich aus der Anknüpfung an bestimmte, allein für verfassungskonform erachtete, statusbegründende Kriterien ergibt. Auch die Legaldefinition des Embryos könnte spezifisch für Zwecke des jeweils einfachgesetzlich normierten Kontextes gefasst werden.

33 Allgemeiner lässt sich überhaupt die gesamte Entwicklung des einfachgesetzlichen Embryonenschutzes in Deutschland als handlungskontextbezogene Normierung begreifen (siehe Dederer et al. 2015, 109–110). 34 Näher zur Entstehungsgeschichte des § 3a ESchG Frommel 2013, 488–495; siehe ferner etwa Torbohm 2015, 209; Zimmermann 2011, 83; Kersten 2012, 97–111 mit Verweis auf die drei diskutierten Gesetzesentwürfe. 35 In diesem Sinne (»Kompromisskonzept«) verfährt der Augsburg-Münchner-Entwurf für ein Fortpflanzungsmedizingesetz von 2013. Näher Gassner et al. 2013, 40–41. In diesem Sinne auch Bayertz 2001, 83; Reich 2003, 500.

Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen

3.

Probleme

a)

Notwendigkeit impliziter Abwägung

203

Indes beruht jede Normierung von Handlungskontexten notwendig auf einer Abwägung.36 Das zeigt beispielhaft die Normierung des Handlungskontextes der PID im ESchG. Warum beispielsweise nach § 3a Abs. 2 ESchG das »hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit« – und nicht irgendein Risiko irgendeiner Krankheit – Voraussetzung einer zulässigen PID sein soll, lässt sich nur mit einer Abwägung erklären. Offenbar wurden dem Interesse an der Durchführung einer PID gegenläufige Interessen gegenüber gestellt37, die im Wege einer bestimmten, letztlich äußerst restriktiven gesetzlichen Normierung ausbalanciert wurden. Bei solchen gegenläufigen Interessen geht es um den Schutz von Rechtsgütern, welche durch einen bestimmten Umgang mit embryonalen Entitäten in einem konkreten Handlungskontext betroffen sind. Das sind solche Rechtsgüter, die gerade den embryonalen Entitäten zustehen (könnten) oder jedenfalls in Bezug auf embryonale Entitäten als betroffen angesehen werden (könnten). Dabei handelt es sich zuvörderst38 um die »Würde des Menschen« (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG).39 b)

Notwendigkeit impliziter Statusannahmen

Um also den Umgang mit embryonalen Entitäten in konkreten Handlungskontexten einfachgesetzlich normieren zu können, werden notwendig (Rechts-) Güter in eine Abwägung eingestellt. Die im Gesetzgebungsprozess gefundene Abwägung liegt dann der Gesetz gewordenen Normierung des jeweiligen Handlungskontextes zugrunde. Implizit nimmt damit jede einfachgesetzliche Normierung eines Handlungskontextes zugleich eine (handlungskontextbezogene) Statusbestimmung embryonaler Entitäten vor. Auf einer impliziten Statusannahme gründet z. B. auch die bereits erwähnte PID-Regelung in § 3a ESchG40. Die PID wird nämlich nur ausnahmsweise41 unter

36 Hierzu schon Dederer et. al. 2015, 112. 37 Hierzu Kersten 2012, 111–125; BT-Dr. 17/5451, 7; ferner Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser: ESchG 2014, § 3a, Rn. 24. Vgl. auch Gassner et al. 2013, 51–55. 38 Aber nicht nur, denn auch das Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG könnte berührt sein. 39 Zur Problematik der (Un-)Abwägbarkeit der Menschenwürde allgemein wie insbesondere in Bezug auf den Embryonenschutz etwa Dreier 2013, Art. 1, Rn. 46, 71–72; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG 2016, Art. 1 Abs. 1, Rn. 46–51, 60; Höfling, in: Sachs: GG 2014, Art. 1, Rn. 10– 12. 40 Siehe oben in und bei Fn. 36 und 37. 41 Siehe das grundsätzliche PID-Verbot in § 3a Abs. 1 ESchG.

204

Hans-Georg Dederer

bewusst sehr restriktiv gefassten Voraussetzungen42 zugelassen. Der Embryo wird also zwar als prinzipiell, aber eben nicht als absolut schutzbedürftig aufgefasst. Nach zulässiger PID darf ein verworfener Embryo dem Tod preisgegeben werden.43 c)

Aufdeckung und Kontrolle von Abwägungen und Statusannahmen durch das BVerfG

Die Problematik dieses Lösungsansatzes zeigt sich bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Das Bundesverfassungsgericht würde beim gegenwärtigen Stand der Verfassungsdogmatik die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegende Abwägung aufdecken und deren Verfassungsmäßigkeit kontrollieren. Wie exemplarisch die beiden Urteile zum Schwangerschaftsabbruch zeigen, würde es dabei zunächst prüfen, ob und inwieweit der betroffenen embryonalen Entität ein bestimmter, verfassungsrechtlicher Status zukommt.44 Das Gericht stünde damit vor der Aufgabe, Art und Umfang der Geltung von Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für die betreffenden embryonalen Entitäten zu klären, um im Anschluss daran die Reichweite des sich daraus ergebenden, verfassungsrechtlichen Schutzes auch mit Blick auf widerstreitende Verfassungsbelange zu bestimmen. Dem Bundesverfassungsgericht wäre also beim gegenwärtigen Stand der Verfassungsrechtsdogmatik in jedem Fall die Klärung der Statusfrage aufgegeben. Hierzu hätte das Gericht statusbildende Kriterien zu entwickeln und anzuwenden45. Es könnte hierzu auf das bekannte Kriterium der Totipotenz oder z. B. das der (qualifizierten) Entwicklungsfähigkeit zurückgreifen, sähe sich damit aber den bereits oben46 aufgeführten Einwänden ausgesetzt. Zwar würde das Gericht sehr wahrscheinlich auch auf den jeweiligen Handlungskontext abstellen. Das zeigen wiederum die beiden Urteile zum Schwangerschaftsabbruch. Darin hat sich das Gericht explizit auf den Handlungskontext Schwangerschaft bzw. Schwangerschaftsabbruch bezogen (und beschränkt) und dementsprechend die Statusbestimmung menschlicher Embryonen »jedenfalls«, 42 Siehe § 3a Abs. 2 und Abs. 3 S. 1 ESchG. 43 Darin liegt keine strafbare missbräuchliche Embryonenverwendung i. S. von § 2 Abs. 1 ESchG. Siehe BGH, Urt. v. 06. 07. 2010 – Az. 5 StR 386/09, BGHSt 55, 206, Rn. 31–38; Günther, in: Günther/Taupitz/Kaiser: ESchG 2014, § 2, Rn. 36–37; Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser: ESchG 2014, § 3a, Rn. 9; ferner z. B. Böckenförde-Wunderlich 2002, 122–123; Roxin/Schroth 2010, 530, 553. 44 Siehe BVerfG, Urt. v. 25. 02. 1976 – Az. 1 BvF 1/74; 1 BvF 2/74; 1 BvF 3/74; 1 BvF 4/74; 1 BvF 5/ 74; 1 BvF 6/74, BVerfGE 39, 1 (36–42); BVerfG Urt. v. 28. 05. 1993 – Az. 2 BvF 2/90; 2 BvF 4/92; 2 BvF 5/92, BVerfGE 88, 203 (251–252). 45 BVerfG Urt. v. 28. 05. 1993 – Az. 2 BvF 2/90; 2 BvF 4/92; 2 BvF 5/92, BVerfGE 88, 203 (251–252) und hierzu Kersten 2015a, 141. 46 Oben Fn. 8 bis 30.

Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen

205

aber eben letztlich auch nur,47 für den Zeitpunkt ab Nidation verbindlich vorgenommen.48 Indes würde der verfassungsrechtliche Status, und sei es nur für jeweils definierte Handlungskontexte49, notwendig stets vor jeder Abwägung bestimmt, d. h. noch bevor die gesetzgeberische Abwägung mit gegenläufigen Belangen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin geprüft wird. Dabei dürfte aus einer auf den Handlungskontext bezogenen verfassungsrechtlichen Statusbestimmung regelmäßig zugleich das (wiederum weitgehend verfassungsrechtlich determinierte, insoweit dem Gesetzgeber als Regelungskorsett vorgegebene, kontextspezifische) Schutzkonzept für die betreffenden embryonalen Entitäten folgen50. Im Ergebnis wird der Lösungsansatz einer »einfachgesetzlichen Normierung von Handlungskontexten« spätestens bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf die Statusfrage als verfassungsrechtlich alles entscheidender Vorfrage zurückgeworfen, von welcher er sich gerade lösen wollte. Überwinden ließe sich dieses Problem nur mit einer grundlegenden Weiterentwicklung der Verfassungsrechtsdogmatik.

4.

Weiterentwicklung der Verfassungsrechtsdogmatik

Dem Gesetzgeber müsste – spezifisch und allein auf dem Gebiet des Embryonenschutzes in vitro – die grundsätzlich autoritative Konkretisierung der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) zugebilligt werden. Der Gesetzgeber hätte damit die Befugnis, das Grundrecht auf Schutz der Menschenwürde (nur) für den Bereich des ungeborenen Lebens in vitro im Rahmen der Normierung von Handlungskontexten ohne vorgängige Klärung des verfassungsrechtlichen Status von Embryonen bzw. embryonaler Entitäten auszugestalten. Zugleich wäre das Bundesverfassungsgericht in der Konsequenz auf eine stark zurückgenommene Kontrolle beschränkt.

47 Wie hier z. B. Kersten 2015a, 140–142; Gassner et al. 2013, 40; Schuler-Harms 2015, 149. 48 BVerfG Urt. v. 28. 05. 1993 – Az. 2 BvF 2/90; 2 BvF 4/92; 2 BvF 5/92, BVerfGE 88, 203 (251–252); siehe auch BVerfG, Urt. v. 25. 02. 1976 – Az. 1 BvF 1/74; 1 BvF 2/74; 1 BvF 3/74; 1 BvF 4/74; 1 BvF 5/74; 1 BvF 6/74, BVerfGE 39, 1 (37). 49 Siehe generell zum grundrechtsdogmatischen Ansatz einer »kontextsensiblen Bereichsdogmatik« Höfling 2015, 165. 50 Vgl. auch Schickl et al. 2014, 861.

206 a)

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Menschenwürdegarantie als »normgeprägtes Grundrecht«?

Verfassungsrechtsdogmatischer Ansatz für eine solche autoritative Konkretisierungsbefugnis des Gesetzgebers könnte sein, Art. 1 Abs. 1 GG als sog. »normgeprägtes Grundrecht« zu verstehen.51 Tatsächlich sind die Tatbestände »Mensch« und »Würde« in erster Linie normative bzw. normativ geprägte Tatbestände, anders als z. B. »Leben« im Sinne von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, das sich auch als allein biologischer Sachverhalt verstehen lässt.52 Art. 1 Abs. 1 GG ist bislang aber, soweit ersichtlich, noch nicht als normgeprägtes Grundrecht aufgefasst worden, soweit es um den Bereich des ungeborenen Lebens bzw. den Embryonenschutz geht. Das erscheint nach der verfassungsrechtlichen Dogmatik zu den normgeprägten Grundrechten auch zutreffend. Charakteristisch für die Normprägung bestimmter Grundrechte ist, dass ihr Schutzgut überhaupt erst durch das einfache Gesetzesrecht erzeugt werden muss, weil es nicht von Natur aus vorgefunden werden kann. Zu den normgeprägten Grundrechten gehören demgemäß z. B. die Garantie des »Eigentums« (Art. 14 Abs. 1 GG), der Schutz der »Ehe« (Art. 6 Abs. 1 GG) oder die »Rechtsweg«Garantie (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG). Dass die »Würde des Menschen« in ähnlicher Weise wie »Eigentum«, »Ehe« oder »Rechtsweg« erst durch das einfache Gesetzesrecht überhaupt in Erscheinung zu treten vermag, hat indes und zu Recht noch niemand behauptet. b)

Anerkennungstheoretische Rekonstruktion der Menschenwürdegarantie53

Um dem Gesetzgeber die grundsätzlich autoritative Konkretisierung der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) – jedenfalls spezifisch für den Bereich des Embryonenschutzes in vitro – zu ermöglichen, wäre letztlich ein grundlegender verfassungsrechtsdogmatischer Wandel notwendig. Dieser könnte sich wie folgt thesenhaft begründen lassen:

51 Zu diesem Ansatz siehe auch Schuler-Harms 2015, 141–142, die konkret das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hinsichtlich des darin verankerten Rechts auf Selbstbestimmung über Leben und Gesundheit als normgeprägt in einem weiteren Sinne (d. h. in dem Sinne, dass das Grundrecht einer gesetzgeberischen Ausgestaltung zugänglich und bedürftig ist) auffasst. Speziell für das Rechtsgut »Leben« und insoweit vor allem mit Blick auf den Tod als Lebensende plädiert Schuler-Harms aber für eine »verfassungsautonome Schutzbereichsbestimmung« (Schuler-Harms 2015, 148), schließt also eine Normprägung im vorgenannten Sinne offenbar aus. 52 Siehe Dederer 2002, 13–14; Lerche 1986, 108. 53 Die nachfolgende Darstellung unter III.4.b) ist praktisch (wort-)identisch mit meinen Ausführungen unter III.2.b) aa) in meinem Beitrag Dederer 2020, 64–72.

Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen

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These 1: Bei der Statusdebatte um embryonale Entitäten in vitro geht es um eine Anerkennungsdebatte.54 Gestritten wird um die Anerkennung embryonaler Entitäten in vitro als unseresgleichen, d. h. als »Menschen« im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG.55 An das Tatbestandsmerkmal »Mensch« knüpft die Garantie der »Würde des Menschen« an. Wer »Mensch« in diesem Sinne des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG ist, ist Träger von »Würde«, nämlich Träger der »Würde des Menschen«, also der spezifisch dem »Menschen« eigenen »Würde«. Aus Art. 1 Abs. 1 GG hat, wer »Mensch« ist, wem »Menschsein« eigen ist,56 einen Achtungsanspruch,57 zuvörderst den fundamentalen Achtungsanspruch, als Rechtssubjekt, mithin als Träger von Rechten und Pflichten angesehen und behandelt zu werden.58 Dieser elementare Achtungsanspruch lässt sich auch als »Statusanspruch«, d. h. als Anspruch jedes Menschen auf Achtung (Nichtantastung) seines Status uneingeschränkter Rechtsfähigkeit begreifen. Der Streit um den verfassungsrechtlichen Status embryonaler Entitäten in vitro ist – mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG – insofern nichts anderes als der Streit um deren Anerkennung als »Menschen«, d. h. als Rechtssubjekte mit dem Status uneingeschränkter Rechtsfähigkeit.59 These 2: Tatsächlich lässt sich die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG auf der Grundlage der »Anerkennungstheorie« rekonstruieren.60

54 55 56 57

Siehe bereits Dederer 2013, 831. Siehe schon Dederer et al. 2015, 129–130. Zur Anknüpfung des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG an das »Menschsein« Dederer 2002, 13–14. Gemeint ist der Anspruch jedes Menschen auf Nichtantastung (»ist unantastbar«) seiner Würde. Dazu, dass durch bestimmtes Verhalten nicht eigentlich die Würde eines Menschen als solche, sondern der aus Art. 1 Abs. 1 GG folgende Achtungsanspruch des betroffenen Menschen verletzt wird, BVerfG Urt. v. 05. 02. 2004 – Az. 2 BvR 2029/01, BVerfGE 109, 133 (150) (st.Rspr.) und hierzu etwa Dederer 2009, 109–110; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG 2016, Art. 1 Abs. 1, Rn. 46–51 (»Würdeanspruch«); ähnlich, aber den Achtungsanspruch dabei nicht als subjektives Recht des Einzelnen deutend, Isensee, in: Merten/Papier, Hdb. d. GR IV 2011, § 87, Rn. 160. 58 Zu diesem fundamentalen Achtungsanspruch siehe Enders, in: Friauf/Höfling GG 2016, Art. 1, Rn. 15, 68–70: Art. 1 Abs. 1 GG als »Recht auf Rechte«; hierzu ferner Isensee, in: Merten/ Papier, Hdb. d. GR IV 2011, § 87, Rn. 115. 59 Vgl. insoweit auch Isensee, in: Merten/Papier, Hdb. d. GR IV 2011, § 87, Rn. 204: »Wenn dem in vitro erzeugten Embryo Würde zuerkannt wird, erhält er den grundrechtlichen Status des Rechtssubjekts«. 60 Freilich nicht nach der »Anerkennungstheorie« von Hofmann 1993, 364–373; zur Kritik an dessen Konzeption Isensee, in: Merten/Papier, Hdb. d. GR IV 2011, § 87, Rn. 31–32; ferner etwa Dederer 2009, 111–112. Zur »[w]echselseitigen Anerkennung als normative[m] Fundament der Menschenwürde« Neumann 2017, 299, 302, in diesem Sinne aus diskursethischer Sicht Werner 2013, 126–128; zur Konstituierung der Menschenwürde durch »ethische Praxis« im Rahmen eines »askriptivistischen« Begründungsansatzes Gutmann/Quante 2017, 329– 333.

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Art. 1 Abs. 1 GG normiert als Grundrecht einen Achtungsanspruch.61 Fundamentale Ausprägung dieses Achtungsanspruchs ist der Anspruch auf Achtung uneingeschränkter Rechtsfähigkeit, d. h. darauf, uneingeschränkt als Rechtssubjekt geachtet zu werden.62 Dieser grundlegende Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Rechtsfähigkeit lässt sich anerkennungstheoretisch – und insofern überpositiv, letztlich auf der Grundlage der Rechtsphilosophie Johann Gottlieb Fichtes – begründen. Danach beruht die wechselseitige, zunächst noch vorrechtliche Anerkennung der Einzelnen als Subjekte auf dem Bewusstsein jedes Subjekts von der eigenen Subjekthaftigkeit wie der Subjekthaftigkeit aller anderen Subjekte. Die wechselseitige, vorrechtliche Anerkennung aller Subjekte als Subjekte untereinander übersetzt sich in die Anerkennung als Rechtssubjekte, d. h. in die Anerkennung, dass alle Subjekte auch Träger von Rechten und Pflichten gegeneinander sind. Elementarer Anspruch im Sinne eines subjektiven Rechts des einen gegen das andere Subjekt ist dabei die Achtung eines unverfügbaren Freiheitsbereichs jedes Subjekts.63 These 3: Die wechselseitige Anerkennung als (Rechts-)Subjekte liegt der Norm des Art. 1 Abs. 1 GG voraus. Art. 1 Abs. 1 GG knüpft an dieses soeben in These 2 beschriebene Anerkennungsverhältnis an. Nur und erst wer durch wechselseitige Anerkennung als Rechtssubjekt und in diesem Sinne als »Mensch« im Rechtssinne des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG anerkannt und so in die (Rechts-)Gemeinschaft der Rechtssubjekte aufgenommen worden ist, kann Träger des sich aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden grundrechtlichen Achtungsanspruchs sein, insbesondere des fundamentalen Achtungsanspruchs, als uneingeschränkt rechtsfähig geachtet zu werden. These 4: Die von jedem Subjekt ausgehende Anerkennung der anderen Subjekte als (Rechts-)Subjekte hat auch eine anthropologische Prämisse. Jeder Mensch erkennt den anderen Menschen unbewusst-intuitiv allein aufgrund äußerlicher Ebenbildlichkeit, d. h. aufgrund dessen »Menschengestalt«, als seinesgleichen, d. h. jeder Mensch erkennt im anderen Menschen den Menschen.64 61 Oben in Fn. 57. 62 Siehe oben in Fn. 57 sowie etwa Dreier 2013, Art. 1, Rn. 66–67; Höfling, in: Sachs: GG 2014, Art. 1, Rn. 35. 63 Ausführlich und sehr instruktiv hierzu jüngst Rothhaar 2015, 208–211, 213–221, 235–239, 267–271; Rothhaar 2013, 92–95. Siehe auch Tiedemann 2017, 345–369. 64 Siehe zu dieser Prämisse (gerade auch bei Fichte) Rothhaar 2013, 94. Deshalb dürfte die Begründung eines Anerkennungsverhältnisses zu geborenen, aber höchst artifiziell erzeugten Menschen keine Probleme aufwerfen. Siehe hierzu auch Isensee, in: Merten/Papier, Hdb. d. GR IV 2011, § 87, Rn. 199; Keil 2015, 256–257. Die an das Bild anknüpfende (Status-)Erkenntnis dürfte auch bei »Embryonen« eine entscheidende Rolle spielen, weil und soweit unsere lebensweltliche Vorstellung von und moralische Bewertung von »Embryonen« wesentlich vom Bild vergleichsweise weit in utero entwickelter Embryonen geprägt sein dürfte. Vgl. Keil 2015, 281–282.

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These 5: Darüber hinaus war und ist die wechselseitige Anerkennung der Menschen untereinander nicht nur als Menschen, sondern auch als (Rechts-) Subjekte, d. h. die konsequente Anerkennung der eigenen (Rechts-)Subjekthaftigkeit wie der (Rechts-)Subjekthaftigkeit aller anderen Menschen, bis heute aber auch ein historisch greifbarer, sozialer und rechtlich-politischer Prozess.65 Menschen haben sich untereinander nicht schon allein wegen ihres Menschseins als uneingeschränkt und gleichermaßen wertvoll erfahren. Heute erscheint uns freilich selbstverständlich, dass jedenfalls eindeutig alle geborenen Menschen – ungeachtet ihrer Fähigkeiten, Lebenslagen und Verdienste, ungeachtet ihres Geschlechts, ihres Alters oder ihrer ethnischen Herkunft66 – als (Rechts-)Subjekte und damit als Subjekte der (Rechts-)Gemeinschaft aufgefasst werden. Das war historisch aber gerade keine Selbstverständlichkeit.67 Der letzte, große und systematische Angriff auf diese scheinbare »Selbstverständlichkeit« fand Mitte des 20. Jahrhunderts in Deutschland unter dem Nationalsozialismus statt.68 Auf wen sich die Anerkennung erstreckt, bildet einen letztlich außerrechtlichen Prozess, der nach 1945 seinen Abschluss fand: Die wechselseitige Anerkennung als (Rechts-)Subjekte erfasst alle geborenen Menschen ohne jeden Unterschied. Dieser Prozess hat sich kurz nach 1945 mit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die UN-Generalversammlung 194869 auf der internationalen Ebene und daher mit globalem Geltungsanspruch vollzogen.70 Von dieser völkerrechtlichen Entwicklung, der Veranke-

65 Siehe auch Rixen 2015, 15 (dort Fn. 69), der die »Grund- und Menschenrechtsgeschichte« als ein »Ringen um die Reichweite der Inklusion« deutet. Vgl. hierzu auch Gutmann/Quante 2017, 33–336. 66 Siehe insoweit zu Art. 1 Abs. 1 GG nur BVerfG, Beschl. V. 20. 10. 1992 – Az. 1 BvR 698/89, BVerfGE 87, 209 (228); BVerfG Beschl. V. 12. 11. 1997 – Az. 1 BvR 479/92; 1 BvR 307/94, BVerfGE 96, 375 (399); BVerfG Urt. v. 15. 02. 2006 – Az. 1 BvR 357/05, BVerfGE 115, 118 (152); st.Rspr. 67 Zur Überwindung der Sklaverei umfassend Flaig 2009, 199–218; siehe ferner etwa Bajohr 2014, 211–212, 225–226; zum Kampf um die Gleichberechtigung von Mann und Frau: Gerhard 1997. 68 Dieser Angriff setzte rechtlich unter anderem bei § 1 BGB an, wonach die Rechtsfähigkeit des Menschen, d. h. jedes Menschen, mit der Geburt beginnt. Diese Fundamentalnorm sollte so umformuliert werden, dass »Rechtsperson ist, wer deutschen Blutes ist« (siehe den Entwurf von Larenz 1935, 241). 69 Resolution 217 A (III). Siehe deren Präambel (Abs. 1: »Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen«; Abs. 5: »Glauben … an die Würde und den Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau«) und Art. 1 (S. 1:« Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.«). 70 Zu dieser Bedeutung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Fassbender 2009, 1–2; Fritzsche 2016, 58–63; Hobe 2014, 408–409; Kälin/Künzli 2013, 14–15.

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rung der Idee der Menschenrechte im Völkerrecht, kann sich kein Staat mehr nach seinem Willen frei oder beliebig lösen.71 These 6: In Bezug auf embryonale Entitäten in vitro erscheint, anders als bei geborenen Menschen, der Anerkennungsprozess als noch nicht abgeschlossen.72 Dafür spricht die unauflösbare, keinen Konsens stiftende Bioethikdebatte.73 Die Unabgeschlossenheit des Anerkennungsprozesses beruht dabei auch auf einem nicht abgeschlossenen Prozess der Werterfahrung. So dürfte sich philosophischethisch argumentieren lassen, dass wir zwar in Bezug auf natürliche, d. h. durch natürliche Befruchtung entstandene Embryonen einen Prozess der Werterfahrung durchlaufen haben.74 »Aber all diese Erfahrungen, die für eine Wertzuschreibung wesentlich sind, haben wir mit künstlich generierten Embryonen noch nicht gemacht. Wir können ihnen daher noch gar keinen Wert zusprechen, da uns schlichtweg die Erfahrungen fehlen.«75 Ferner ließe sich argumentieren, dass schon die Verwendung und Definition des Begriffs des Embryos in ESchG und StZG zeigt, dass auch der Gesetzgeber nicht von einer Anerkennung embryonaler Entitäten in vitro als »Menschen«, mithin nicht vom vollen (Rechts-) Subjektstatus geborener Menschen ausgegangen ist.76 These 7: In dieser Situation eines nicht abgeschlossenen Werterfahrungs- und Anerkennungsprozesses könnte es richtig erscheinen, dasjenige Organ mit diesem Prozess und seiner weiteren Konkretisierung zu betrauen, das hierfür aufgrund seiner Organstruktur funktionsgerecht ist.77 Dieses Organ wäre nicht das

71 Vgl. für Deutschland auch Art. 1 Abs. 2 GG. Danach »bekennt es [sc. das GG] sich in Art. 1 Abs. 2 GG zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Diese unveräußerlichen Rechte liegen ihm voraus und sind selbst der Disposition des Verfassungsgebers entzogen« (BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015 – Az. 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1 (Rn. 34)). 72 Siehe etwa Dreier 2013, 27, der von seinem Ansatz aus noch kein »Anerkennungsverhältnis« gegenüber Embryonen zu erkennen vermag. 73 Hierzu Dreier 2013, 2; Gassner et al. 2013, 40 (»gordische[r] Knoten«); siehe auch Keil 2015, 282–283. 74 Dabei erscheint die Annahme eines abgeschlossenen Werterfahrungsprozesses in Bezug auf natürliche Embryonen allerdings insoweit zweifelhaft, als sich die Anerkennung als »Menschen« ausweislich der Gesetzgebung (ESchG, StZG, §§ 218, 218a StGB) noch nicht durchgesetzt hat. Vgl. hierzu Keil 2015, 263, 279. 75 Advena-Regnery 2015, 249. Im Ergebnis insoweit ähnlich Keil 2015, 281: »Pränidative totipotente Zellen und Zellverbände sind […] keine unkontroversen Embryonen«, und zwar deshalb, »weil unklar ist, wann genau ein Mensch zu existieren beginnt«. 76 Siehe Keil 2015, 263. 77 Zum Topos der »funktionsgerechten Organstruktur« BVerfG Urt. v. 18. 12. 1984 – Az. 2 BvE 13/83, BVerfGE 68, 1 (86); BVerfG Urt. v. 14. 07. 1998 – Az. 1 BvR 1640/97, BVerfGE 98, 218 (252).

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Bundesverfassungsgericht,78 sondern (in einer repräsentativen Demokratie) die Vertretung des Volkes, also das Parlament, der Gesetzgeber.79 These 8: Allerdings wäre das Bundesverfassungsgericht damit nicht seiner Prüfungs- und Verwerfungskompetenz gänzlich enthoben. Im Gegenteil müsste weiterhin, um dem Gedanken der Grundrechts- und Verfassungsbindung des Gesetzgebers (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) gerecht zu werden, eine verfassungsgerichtliche Prüfung stattfinden. Überprüfbar wäre aber nur die Einhaltung bestimmter äußerster Grenzen. Denkbar wäre, dass das Gericht den partiellen »Rückzug« antritt, ähnlich wie es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) getan hat. Angesichts eines fehlenden bioethischen Konsenses in Europa hat es der EGMR unterlassen, den personellen Schutzbereich des Lebensrechts aus Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK mit Blick auf das ungeborene Leben (in vivo wie in vitro) festzulegen.80 Der Gerichtshof sah sich außer Stande, die Konkretisierung des personellen Schutzbereichs des Menschenrechts auf Leben – angesichts des fehlenden bioethischen Konsenses in Europa – selbst richterlich vorzunehmen. Das Bundesverfassungsgericht könnte diesen Ansatz gleichsam analog verfolgen, indem es der Menschenwürdegarantie die hier vorgestellte anerkennungstheoretische Rekonstruktion der Menschenwürdegarantie zugrunde legt. Das Gericht könnte Art. 1 Abs. 1 GG insoweit wie bisher auslegen und anwenden, als der Werterfahrungs- und Anerkennungsprozess abgeschlossen ist. Das wäre jedenfalls für den geborenen Menschen anzunehmen.81 Wo der Werterfahrungsund Anerkennungsprozess dagegen nicht abgeschlossen ist, also Ungewissheit, gerade auch mit Blick auf unsere lebensweltlich geprägten (Wert-)Erfahrungen, herrscht, wer »Mensch« im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG, also kraft Anerkennung (Rechts-)Subjekt ist, würde das Gericht sich zurückhalten und den Werterfahrungs- und Anerkennungsprozess nicht etwa durch ein alle Staatsgewalt bindendes Urteil82 präjudizieren. Das wäre jedenfalls für menschliche embryonale

78 Bezeichnend ist, dass sich auch der »politische […] Betrieb« seit mehr als zwei Jahrzehnten zurückhält, »biopolitische Themen nach Karlsruhe zu tragen« (Rixen 2015, 4). 79 Siehe auch Schuler-Harms 2015, 151–153, 155. Dazu, dass »staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen«, sowie dazu, dass insofern das Parlament am besten zu gewährleisten vermag, dass Entscheidungen von fundamentaler Tragweite »aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und die Volksvertretung dazu anhält, [solche Entscheidungen] in öffentlicher Debatte zu klären«, BVerfG Beschl. v. 21. 04. 2015 – Az. 2 BvR 132212; 2 BvR 1989/12, BVerfGE 139, 19 (46). 80 EGMR Urt. v. 08. 07. 2004 – Nr. 53924/00, Vo v. France, Rn. 81–95; EGMR, Urt. v. 10. 04. 2007 – Nr. 6339/05, Evans v. UK, Rn. 54, 56. 81 Siehe soeben in und bei Fn. 66 bis 71. 82 Siehe § 31 Abs. 1 BVerfGG.

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Entitäten in vitro anzunehmen.83 Vielmehr wäre der Gesetzgeber berufen, Bedeutung und Tragweite des Art. 1 Abs. 1 GG mit Blick auf embryonale Entitäten in vitro, ggf. handlungskontextspezifisch, zu konkretisieren.84 These 9: Zentrale, der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegende äußerste Grenze der gesetzgeberischen Konkretisierung der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) wäre, dass ihr der Bereich des geborenen Menschen – wegen des insoweit abgeschlossenen Anerkennungsprozesses85 – entzogen ist. Der Status des geborenen Menschen wäre damit dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich abschließend und gemäß der bisherigen verfassungsgerichtlichen Judikatur vorgegeben. Für den Status embryonaler Entitäten jedenfalls in vitro86 gälte dies dagegen nicht. These 10: Für diesen Bereich des ungeborenen Lebens in vitro dürfte als äußerste Grenze das allgemeine rechtsstaatliche Willkürverbot87 gelten. Solange die einfachgesetzliche Normierung von Handlungskontexten angesichts des laufenden Anerkennungsprozesses z. B. mit Blick auf den Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis, die hierzu geführte Bioethikdebatte und die dort in Ethik und Recht vertretenen Positionen sowie im Lichte der Rechtsvergleichung irgendwie sachlich einleuchtend ist, wäre das Willkürverbot nicht verletzt.88 Weitere Kriterien für die Prüfung gesetzgeberischer Willkür könnten etwa Widerspruchsfreiheit oder Folgerichtigkeit sein.89 These 11: Äußerste Grenzen könnten sich ferner aus Regeln ergeben, welche Deutschland, und selbst dem deutschen Volk als Verfassungsgeber,90 vorausliegen. Dazu würden heute etwa die Regeln des zwingenden Völkerrechts (ius cogens), also z. B. das Verbot rassischer Diskriminierung zählen.91

83 84 85 86 87 88 89 90 91

Siehe soeben in und bei Fn. 72 bis 76. Insoweit wohl a. A. (mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) Schuler-Harms 2015, 149. Siehe soeben in und bei Fn. 66 bis 71. Zum In–vivo-Status von Embryonen bzw. Föten siehe BVerfG, Urt. v. 25. 02. 1976 – Az. 1 BvF 1/74; 1 BvF 2/74; 1 BvF 3/74; 1 BvF 4/74; 1 BvF 5/74; 1 BvF 6/74, BVerfGE 39, 1; BVerfG Urt. v. 28. 05. 1993 – Az. 2 BvF 2/90; 2 BvF 4/92; 2 BvF 5/92, BVerfGE 88, 203. Zum allgemeinen, im Rechtsstaatsprinzip verankerten Willkürverbot BVerfG, Beschl. v. 02. 05. 1967 – Az. 1 BvR 578/63, BVerfGE 21, 362 (372); st.Rspr. Siehe auch Schuler-Harms 2015, 155. Kritisch insoweit allerdings Dreier 2013, 71–77; weniger kritisch dagegen Schuler-Harms 2015, 156. Vgl. Art. 1 Abs. 2 GG. Zur Erstreckung des Art. 1 Abs. 2 GG speziell auf das völkerrechtliche ius cogens Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG 2015, Art. 1 Abs. 2, Rn. 30–34. Zu den als ius cogens geltenden Normen des Völkerrechts etwa Herdegen 2016, § 15, Rn. 14– 15.

Totipotenz im Kontext artifizieller Embryonen

5.

213

Fazit

Der hier vorgestellte Ansatz einer verfassungsrechtsdogmatischen Neuorientierung hat den Vorzug, dass er offen legt, worum es eigentlich beim Streit um den verfassungsrechtlichen Status embryonaler Entitäten in vitro mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG geht, nämlich um einen noch nicht abgeschlossenen Prozess der Anerkennung solcher Entitäten als (Rechts-)Subjekte.92 Zugleich gibt dieser Ansatz der – z. B. mit der PID-Regelung in § 3a ESchG eigentlich schon praktizierten – einfachgesetzlichen Normierung von Handlungskontexten eine verfassungsrechtliche Grundlegung. Ferner trägt dieser Ansatz dem Umstand Rechnung, dass uns, d. h. Staat und Gesellschaft, gerade für den Bereich artifizieller embryonaler Entitäten in vitro die lebensweltlich vermittelte, insofern gleichsam intuitive Werterfahrung fehlt,93 die wir für den geborenen Menschen (freilich auch nur historisch allmählich) entwickelt haben.

IV.

Zusammenfassung

1. Im Recht dient das Kriterium der Totipotenz dazu, den menschlichen »Embryo« zu definieren. Das Kriterium der Totipotenz ist indes in letzter Zeit erheblich unter Druck geraten. 2. Ein Lösungsansatz könnte darin bestehen, die Schutzwürdigkeit embryonaler Entitäten nicht a priori abstrakt an einem (u. U. einzigen) Kriterium wie dem der Totipotenz festzumachen, sondern die rechtliche Schutzwürdigkeit embryonaler Entitäten konkret im Zuge und im Rahmen der einfachgesetzlichen Normierung konkreter Handlungskontexte (z. B. PID) gleichsam ad hoc zu bestimmen. 3. Dem Gesetzgeber müsste hierzu allerdings die grundsätzlich autoritative Konkretisierung der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) jedenfalls für den Bereich des ungeborenen Lebens in vitro zugebilligt werden. Das Bundesverfassungsgericht wäre auf eine stark zurückgenommene Kontrolle beschränkt. 92 Diese Sichtweise spiegelt außerdem die in der Philosophie vertretene Sichtweise wider, wonach uns jedenfalls in Bezug auf hochartifizielle embryonale Entitäten in vitro die lebensweltlich vermittelte Werterfahrung fehlt, was einstweilen gerade eine gesicherte Statusannahme ausschließt. Eingehend dazu Advena-Regnery et al. 2012, 228 und Advena-Regnery 2015, 249. 93 Siehe auch zum Erfordernis einer gewissen »anthropologischen Plausibilität« bzw. »Lebensweltkompatibilität« in dem Sinne, dass es auf die »Erfahrungswelt der Menschen« ankommt, Höfling 2015, 166 (konkret zum Todesbegriff mit Blick auf die Bestimmung des Normbereichs des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).

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4. Eine derartige Konkretisierungsbefugnis des Gesetzgebers könnte sich dogmatisch auf der Grundlage einer (rechts-)philosophisch-anerkennungstheoretischen Rekonstruktion der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG entwickeln lassen. 5. Damit könnte die Statusdebatte um embryonale Entitäten in ihrem eigentlichen Kern verfassungsrechtlich adäquat erfasst werden. Denn es handelt sich um eine Anerkennungsdebatte, also einen Streit um die Anerkennung embryonaler Entitäten als unseresgleichen, d. h. als »Menschen« im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG. 6. Der jedenfalls in Bezug auf embryonale Entitäten in vitro nicht abgeschlossene, vor allem auch auf lebensweltlich geprägten (Wert-)Vorstellungen beruhende Anerkennungsprozess würde dem Gesetzgeber als funktionsgerechtestem Staatsorgan anvertraut. Das Bundesverfassungsgericht wäre auf die Überprüfung der Einhaltung bestimmter äußerster Grenzen (z. B. das Willkürverbot) verwiesen.

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Die Koevolution von Biowissenschaften und Recht. Über die dynamische Differenz von Verfassung und Gesetz

I. Biomedizin und Biotechnologie haben sich in den letzten dreißig Jahren äußerst dynamisch und sprunghaft entwickelt. Der Zellkerntransfer – das »Dolly«-Verfahren – hat 1996 mit dem bis dahin geltenden Dogma der Unumkehrbarkeit der Zelldifferenzierung gebrochen.1 In der Entschlüsselung des menschlichen Genoms sind sich die bio- und informationstechnologische Revolution begegnet.2 Die Stammzellforschung und insbesondere die Entwicklung von induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) entwickeln eine ungeheure Schubkraft von der Grundlagen- bis in die angewandte Forschung.3 Derzeit verheißt CRISPR/Cas neue Perspektiven für die in den 1990er Jahren steckengebliebene Genund insbesondere Keimbahntherapie.4 Diese biomedizinische und biotechnologische Revolution trifft – jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland – auf eine statische, ja versteinerte Rechtsordnung und einen vollkommen festgefahrenen Rechtsdiskurs. Der sinnbildliche Ausdruck für diese »Strategie veralteten Rechts«5 ist das Embryonenschutzgesetz von 1990, dessen Verbote die an sich geregelten Lebenssachverhalte teilweise kaum noch erfassen. So sind beispielsweise die Verbote der Keimbahnintervention (§ 5 Abs. 1 ESchG), des Klonens (§ 6 Abs. 1 ESchG) sowie der Chimären- und Hybridbildung (§ 7 Abs. 1 ESchG) spätestens mit dem Zellkerntransfer überholt.6 Seitdem haben sich die Regelungsdefizite des Embryonenschutzgesetzes noch weiter verschärft. Aufgrund der Diffusion des Totipotenzkriteriums in der Entwicklungsbiologie und daran anschließend in der Bioethik ist die Legaldefinition des Embryos (§ 8 Abs. 1 ESchG) als zentralem Schutzgut des Embryonenschutzgesetzes noch unsicherer 1 2 3 4 5 6

Vgl. Wilmut et al. 1997, 810–813. Vgl. Nowotny/Testa 2009, 54–60. Vgl. Takahashi/Yamanaka 2006, 663–676. Vgl. Fateh-Moghadam 2017, 146–156. Vgl. Kersten 2015b, 111–135. Vgl. Kersten 2004, 30–48.

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geworden:7 »transiente Totipotenz« vs. »totipotente Transienz« sind hier entscheidende Stichworte.8 Diese Unsicherheiten werden noch dadurch gesteigert, dass die deutsche Rechtsordnung eine ganze Reihe von Embryonenbegriffen kennt, die keineswegs übereinstimmen.9 So weicht die vollkommen umstrittene Definition des Embryos in § 8 Abs. 1 ESchG10 von der entsprechenden Begriffsbestimmung in § 3 Nr. 4 StZG ab. Das Bundesverfassungsgericht11 und der Europäische Gerichtshof 12 haben zum einen mit Blick auf das Recht des Schwangerschaftsabbruchs, zum anderen mit Blick auf die biomedizinische Forschung zum Schutz pränatalen Lebens Stellung genommen und damit Entscheidungen in unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlicher Reichweite getroffen. Das europäische und das deutsche Patentrecht verfolgen in § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PatG und Art. 6 Abs. 1 lit. c Biopatentrichtlinie nur vordergründig miteinander kompatible Konzepte zum Schutz des Embryos. Doch hinsichtlich der Konkretisierung dieses Schutzkonzepts sind die deutsche Regelung des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PatG mit ihrer Bindung an das von der biotechnologischen Revolution überholte Embryonenschutzgesetz (§ 2 Abs. 2 S. 2 PatG) und die Konkretisierung des Art. 6 Abs. 1 lit. c Biopatentrichtlinie durch die überschießende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs13 keineswegs aufeinander abgestimmt. Auch die Regelung des Imports von embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) durch das Stammzellgesetz ist letztlich durch die biotechnologische Revolution überrollt worden. Nichts zeigt dies deutlicher als die Verschiebung der Stichtagsregelung des § 4 Abs. 2 Nr. 1 lit. a StZG vom dem 1. 1. 2002 auf den 1. 5. 2007.14 Das Konzept des Stammzellengesetzes zum Schutz von Embryonen ist mit der Verschiebung der Stichtagsregelung letztlich in sich zusammengebrochen. Darüber hinaus könnte sich angesichts der Dynamik der Forschung an iPS-Zellen das mühsame Konstrukt des Stammzellengesetzes faktisch schneller überleben als gedacht. Der Grund für die Statik des Embryonenschutzgesetzes und die brüchige Konzeption des Stammzellengesetzes ist schnell benannt: der verfassungsrecht7 8 9 10 11

Vgl. Laimböck 2015, 19–28, 175–190, 201–207. Vgl. Kersten 2015a, 147–149. Vgl. hierzu und zum Folgenden Kersten 2015a, 149–158. Vgl. zum Streit Taupitz, in: Günther/Taupitz/Kaiser: ESchG 2014, § 8, Rn. 11–26 m.w.N. Vgl. BVerfG, Urt. v. 25. 02. 1976 – Az. 1 BvF 1/74; 1 BvF 2/74; 1 BvF 3/74; 1 BvF 4/74; 1 BvF 5/74; 1 BvF 6/74, BVerfGE 39, 1 (37–42); BVerfG Urt. v. 28. 05. 1993 – Az. 2 BvF 2/90; 2 BvF 4/92; 2 BvF 5/92, BVerfGE 88, 203 (251–263). 12 Vgl. EuGH, Urt. v. 18. 10. 2011 – Rs. C-34/10, Brüstle v Greenpeace, Rn. 33; EuGH, Urt. v. 18. 12. 2014 – Rs. C-364/13, International Stem Cell Corporation v. Comptroller General of Patents, Rn. 24, 28, 30, 38; hierzu kritisch Dederer 2012, 336–344; Dederer 2015, 156–159. 13 Vgl. EuGH, Urt. v. 18. 10. 2011 – Rs. C-34/10, Brüstle v Greenpeace, Rn. 33; EuGH, Urt. v. 18. 12. 2014 – Rs. C-364/13, International Stem Cell Corporation v. Comptroller General of Patents, Rn. 24, 28, 30, 38. 14 Vgl. Dederer 2012, Einl., Rn. 18–23, § 4, Rn. 4–6.

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liche Status des Embryos, auf den sich die gesamte bioethische und biopolitische Diskussion in der Regel schnell fokussiert, wenn es um die gesetzliche Regelung von Biomedizin und Biotechnologie geht.15 Aufgrund der weltanschaulichen und religiösen Dimensionen des Status des Embryos weicht die Politik den äußerst dynamischen Fragen der biomedizinischen und biotechnologischen Revolution lieber aus und verlegt sich auf »Strategien veralteten Rechts«, deren Folge das Foreign Shopping ist: Bürgerinnen und Bürgern, die für die Verwirklichung ihres Kinderwunsches auf die in Deutschland nahezu vollständig verbotenen Techniken der assistierten Reproduktion angewiesen sind, gehen ins Ausland. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte empfiehlt den Bürgerinnen und Bürgern ganz offen das Foreign Shopping, wenn ihnen ihr Heimatland die Verwirklichung des eigenen Kinderwunsches durch das Verbot von Techniken der assistierten Reproduktion verwehrt.16 So erfüllen sich auch Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik ihren Kinderwunsch mittels Eizellspende, Embryonentransfer und Leihmutterschaft17 längst in der Fremde, wenn sie es sich finanziell leisten können. Die übrigen Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik bleiben auf die im internationalen Vergleich äußerst restriktiven Verbote des Embryonenschutzgesetzes und die überkommenen Familienbilder und altersdiskriminierenden Beschränkungen des § 27a SGB V festgelegt.18 Aber auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Biotechnologieunternehmen wählen ausländische Forschungs- und Produktionsstandorte, um nicht mit der veralteten Rechtslage in Deutschland konfrontiert zu sein. Längst ist ein internationaler Standortwettbewerb für die Nachfrage von Fortpflanzungstechniken und Forschungsbedingungen entstanden, da die kulturellen Differenzen zwischen den Rechtsordnungen zu sehr differierenden biomedizinischen Regelungen geführt haben.19

II. Grundsätzlich verstößt diese aktive wie defensive Ignoranz des deutschen Gesetzgebers gegenüber der dynamischen Entwicklung von Biomedizin und Biotechnologie gegen das Grundgesetz: Mit ihrem Recht auf reproduktive Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) verfügen die Bürgerinnen und 15 16 17 18

Vgl. hierzu und zum Folgenden Kersten 2015b, 120–123. EGMR, Urt. v. 03. 11. 2011 – Az. 57813/00, Rn. 114. Vgl. BGH, Beschluss v. 10. 12. 2014 – Az. XII ZB 463/13, NJW 2015, 479–484. Vgl. Kersten 2015b, 123–130; anderer Ansicht BVerfG, Urt. v. 28. 02. 2007 – Az. 1 BvL 5/03, BVerfGE 117, 316 (325–330). 19 Vgl. Giegerich 2010, 77; Michael 2009, 1065, zum wissenschaftlichen »Wettbewerb um den geringsten Embryonenschutz«; Kersten 2013, § 233, Rn. 1.

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Bürger über einen grundrechtlichen Anspruch darauf, dass ihr Freiheitsrecht nur dann beschränkt wird, wenn dies zum Schutz anderer Rechtsgüter – wie beispielsweise dem Schutz der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) und der Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) des Kindes – geeignet, erforderlich und angemessen ist.20 Analoges gilt für die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) von Forscherinnen und Forschern und von Biotechnologieunternehmen. Eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit kommt nur auf der Grundlage von verfassungsimmanenten Schranken – also zum Schutz konkurrierender Grundrechte und Verfassungsgüter – in Betracht.21 Der Schutz pränatalen Lebens und damit des Embryos ist durch die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie durch das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) als kollidierendes Verfassungsrecht in der Lage, der Wissenschaftsfreiheit verfassungsimmanente Grenzen zu setzen. Auf der verfassungsrechtlichen Ebene genügt es insofern, ein Mensch zu sein, um durch die Menschenwürdegarantie und das Recht auf Leben geschützt zu werden. Doch angesichts der äußerst dynamischen Entwicklung von Biomedizin und Biotechnologie fällt es zunehmend schwer, im biowissenschaftlichen Drift pränataler Entitäten die »Menschen« zu entdecken. Die Rechtsordnung steuert das dafür notwendige Verfahren über die Differenz von Gesetz und Verfassung und ermöglicht auf diese Weise die Koevolution von Biowissenschaften und Recht. Den verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt für die Entfaltung dieses Modells der Rechtsentwicklung bildet die Menschenwürdegarantie. Die Würde des Menschen ist unantastbar (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG). Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG). Über den grundsätzlich offenen Begriff des Menschen in Art. 1 Abs. 1 GG heißt die Verfassung jeden Menschen willkommen und vermittelt ihm mit dem Würdeanspruch zugleich ein Recht auf Rechte,22 also ein Recht auf die weiteren Grundrechtsgewährleistungen, wie beispielsweise das Recht auf Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) oder den Gleichheitssatz (Art. 3 GG). Mit diesem Würde- und Rechtsversprechen begegnet das Grundgesetz auch jeder pränatalen humanen Entität, die sich als Mensch identifiziert. Von dieser verfassungsrechtlichen Ebene ist die einfachgesetzliche Ebene zu unterscheiden. Zwar ist der Gesetzgeber bei der Rechtssetzung an die verfassungsrechtlichen Vorgaben gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG), und dies gilt insbesondere auch für seine verfassungsrechtliche Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG). Doch Gesetzgebung ist kein schlichter Verfassungsvollzug. Gerade im Bereich der Biowissenschaften kommt dem Gesetzgeber bei der Konkretisierung offener Verfassungsbegriffe und vor allem bei der Abwägung 20 Vgl. Gassner et al. 2013, 29–41. 21 Vgl. BVerfG, Urt. v. 24. 11. 2010 – Az. 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1 (41 m.w.N.). 22 Vgl. Arendt 1949, 760.

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kollidierender Verfassungsgüter ein weiter demokratisch legitimierter Gestaltungsspielraum zu. Wenn der Gesetzgeber sich dazu entschließt bzw. angesichts grundrechtlicher Schutzpflichten gezwungen ist, der Biomedizin und der Biotechnologie gesetzliche Grenzen zu setzen, verbinden sich also grundrechtliche Verfassungsbindung und demokratische Gestaltungsfreiheit. Angesichts dieser verfassungsrechtlichen Bindung und Freiheit muss der Gesetzgeber auf der Höhe der jeweiligen Zeit und damit der jeweiligen biomedizinischen und biotechnologischen Entwicklung die Kriterien konkretisieren, die einen Menschen ausweisen, wenn ein Gesetz der Wissenschaftsfreiheit verfassungskonforme Grenzen setzen will. Wenn aber nach dem Erlass eines entsprechenden Gesetzes aufgrund der weiteren biomedizinischen und biotechnologischen Entwicklung neue humane Entitäten entstehen, die sich aufgrund des offenen Verfassungsbegriffs des Menschen als Menschen identifizieren, stellt sich die Frage, ob die entsprechende einfachgesetzliche Regelung anzupassen ist. So ist die Rechtsordnung in der Lage, die biomedizinische und biotechnologische Dynamik in der Differenz von Verfassung und Gesetz zu reflektieren. Die Gesetzgebung muss sich in dynamischen Lebensbereichen wie den Biowissenschaften selbst als dynamisch erweisen, ohne dabei ihren gegebenenfalls kontrafaktischen Steuerungsanspruch aufzugeben. Der Gesetzgeber kann sich nicht schlicht ausruhen, wenn er eine neue biowissenschaftliche Regelung getroffen hat. Er ist vielmehr vor dem Hintergrund der liberalen Freiheitsvermutung des Grundgesetzes verpflichtet, die weitere Entwicklung der Biowissenschaften zu beobachten und stets zu überprüfen, ob die von ihm getroffene Regelung geeignet, erforderlich und angemessen ist, um Biomedizin und Biotechnologie verfassungskonforme Grenzen zu setzen. So erfüllt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch bei der Bestimmung der Schranken der Wissenschaftsfreiheit seine rationalisierende Funktion, um Freiheit angemessen zu sichern und konfligierende Rechtsgüter angemessen zu schützen. Auf diese Weise wird die gleichzeitige Differenz und Kopplung von Verfassung und Gesetz zum normativen Scharnier, mit dem das Recht die Koevolution von Biowissenschaften und Rechtsordnung begleitet. In diesem verfassungsrechtlichen Evolutionskonzept sind die Freiheit der Biowissenschaften und der Schutz pränatalen Lebens aufgehoben. Damit ist aber zugleich auch gesagt, dass auf der gesetzlichen Ebene die Behauptung eines »zeitlosen« Begriffs des Embryos zu kurz greift. Gerade die »Strategien veralteten Rechts« in der Bundesrepublik zeigen sehr deutlich, wie statisch sich ein solches rechtliches Statusdenken gestaltet, dem jeder Kontakt zur biowissenschaftlichen Entwicklung abhanden gekommen ist. So sind einerseits Rechtsschutzlücken für pränatales Leben, andererseits überschießende Schutzgewährleistungen für humane Entitäten ohne biologische Entwicklungspotenziale entstanden. Während also ein Rechtsdenken, das auf einen zeitlosen Status des Embryos fixiert ist, vor allem auf eine Komplexitätsreduzierung setzt, geht es der interdisziplinär informierten Be-

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gleitung der Koevolution von Biowissenschaften und Rechtsordnung um eine Steigerung der Komplexität und damit eine dynamische Ausdifferenzierung der Rechtsbeziehungen humaner Entitäten im dynamischen Spannungsverhältnis von Verfassung und Gesetz.

III. Franziska Enghofer und Katharina Haider sind in ihrer Studie »Rechtliche Kriterien für die Bewertung von ›nicht-totipotenten Embryonen‹ und ›totipotenten Nicht-Embryonen‹«23 diesen interdisziplinären Weg einer biowissenschaftlich hervorragend informierten Ausdifferenzierung des rechtlichen Umgangs mit embryonalen Entitäten gegangen. In diesem Zusammenhang zeigen sie zunächst, wie die dynamische Entwicklung von Fortpflanzungsmedizin sowie Embryonenund Stammzellforschung24 ein eindimensionales Verständnis des Status des Embryos herausgefordert und insbesondere das Kriterium der Totipotenz unter normativen Rechtfertigungsdruck gesetzt haben.25 Enghofer und Haider führen ihren Leserinnen und Lesern die biologische und rechtliche Unsicherheit und Verunsicherung hinsichtlich der Bestimmung der Begriffe des Embryos und der Totipotenz vor Augen. Und damit nicht genug: Da die Begriffe des Embryos und der Totipotenz biologisch26 und juristisch27 nicht deckungsgleich sind, ergeben sich vier Kategorisierungsmöglichkeiten: »totipotente Embryonen«, »nicht-totipotente Embryonen«, »nicht-totipotente Nicht-Embryonen« und »totipotente Nicht-Embryonen«.28 Diesen stehen eine ganze Reihe von humanen Entitäten gegenüber, deren rechtlicher Status bisher keineswegs geklärt ist: Befruchtete artifizielle Gameten, Zellkerntransfer-Entitäten, Parthenoten, tetraploide Embryoaggregationen, partielle Blasenmolen, iPS-Zellen, transient totipotente Zellen, Cdx2-defiziente Entitäten.29 Die Einordnung der vorgenannten humanen Entitäten in die vier Kategorien der »totipotenten Embryonen«, »nicht-totipotenten Embryonen«, »nicht-totipotenten Nicht-Embryonen« und »totipotenten Nicht-Embryonen« vermag nur eine erste Orientierung in der neuen biowissenschaftlichen Unübersichtlichkeit pränatalen menschlichen Lebens zu vermitteln. Mit dieser Typisierungen ist zwar eine Grundlage für den interdisziplinären Austausch gelegt. Doch Enghofer und Haider verdeutlichen in ihrer prägnanten 23 24 25 26 27 28 29

Vgl. Enghofer/Haider, in diesem Band, 115–196. Vgl. Enghofer/Haider, 1. Vgl. Enghofer/Haider, 1. Vgl. Enghofer/Haider, 1.1. Vgl. Enghofer/Haider, 2. Vgl. Enghofer/Haider, 1.2. Vgl. Enghofer/Haider, 2.5.

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Kritik, wie schwer sich die Rechtswissenschaft gegenwärtig tut, dieses interdisziplinäre Gesprächsangebot konstruktiv anzunehmen: Die gesetzliche Ebene erweist sich hinsichtlich der unterschiedlichen Embryonen- und Totipotenzbegriffe – metaphorisch gesprochen – als »pluripotent«. In ihrer äußerst differenzierten Analyse des Embryonenschutzgesetzes, des Stammzellgesetzes und des Patentrechts sezieren Enghofer und Haider das einfachgesetzliche Biomedizin- und Biotechnologierecht.30 Sie legen nicht nur die Überschneidungen und Widersprüche in der Begriffsbestimmung des Embryos und der Totipotenz offen, sondern weisen auch die Wertungswidersprüche nach, zu der die verschiedenen Kombinationen dieser widersprüchlichen Begriffsbestimmungen im Fortpflanzungs-, Forschungs- und Patentrecht auf nationaler wie europäischer Ebene führen. Als Zwischenergebnis können die Autorinnen festhalten, dass die biowissenschaftliche Entwicklung ihre rechtliche Regulierung in der Bundesrepublik weit hinter sich gelassen hat – eine rechtliche Regulierung, die aufgrund ihrer widersprüchlichen Zersplitterung gegenwärtig keinen normativ konsistenten Steuerungsanspruch (mehr) zu entwickeln vermag.31 Vor dem Hintergrund dieser luziden Kritik der gesetzlichen Regulierung von Biomedizin und Biotechnologie führen Enghofer und Haider die Unterscheidung zwischen »einfachem« Gesetz und Verfassungsrecht in ihrer Argumentation ein, um auf der Höhe der aktuellen biowissenschaftlichen Entwicklung verfassungsrechtliche Kriterien für die einfachgesetzliche Bestimmung des Status des Embryos herauszuarbeiten. Den innovativen Kern ihres Arguments bildet die Unterscheidung zwischen verfassungsrechtlich zwingenden, verfassungsrechtlich zulässigen und verfassungsrechtlich unzulässigen Kriterien, die der Gesetzgeber heranziehen kann, um den Status des Embryos einfachgesetzlich auszugestalten. Für die Umsetzung dieses Konzepts tragen die Autorinnen in ihrer Analyse der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) zunächst mit sehr guten Argumenten die dogmatischen Schichten ab, die ein verfassungsrechtliches Verständnis dieses Grundrechts eher verstellen, denn erhellen. An erster Stelle sind hier die so genannten »Menschenbilder« des Grundgesetzes32 sowie die Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG im Sinn einer »Gattungswürde« zu nennen.33 Demgegenüber verstehen Enghofer und Haider die Menschenwürdegarantie als die Prämisse von Freiheit und Gleichheit und finden damit die durchgreifenden Kriterien, mittels derer sich die Entscheidung über die Reichweite des Schutzes pränataler humaner Entitäten treffen lässt.34 Auf dieser Grundlage erweisen sich nach Auffassung der Autorinnen die Komponenten der Entwicklungsfähigkeit 30 31 32 33 34

Vgl. hierzu und zum Folgenden Enghofer/Haider, 2. Vgl. Enghofer/Haider, 3. Vgl. Enghofer/Haider, 4.3.1.2.1. Vgl. Enghofer/Haider, 4.3.1.2.2. Vgl. Enghofer/Haider, 4.3.1.2.3.

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einer aus humanem »Ausgangsmaterial« erzeugten Entität mit einer »gewissen Finalität der Entwicklung«35 als verfassungsrechtlich zwingende Minimalkriterien für den verfassungsrechtlichen Schutz pränatalen Lebens bzw. für die Konturierung des Status eines Embryos, den der »einfache« Gesetzgeber anerkennen, aber zugleich auch weiter ausgestalten muss.36 Dabei zeigen sich die Ausgestaltungspflichten des einfachen Gesetzgebers am Kriterium der »gewissen Finalität der Entwicklung« der schützenswerten humanen Entität. Diese offene Formulierung ist keineswegs Ausdruck verfassungsdogmatischer Unsicherheit, sondern verfassungsrechtlicher Offenheit: »Der Endpunkt der Entwicklungsfähigkeit, also der Zeitpunkt in der Entwicklung, die die Entität für ein Bejahen der Entwicklungsfähigkeit erreichen können muss, ist dagegen verfassungsrechtlich nicht prädisponiert. Von der Nidation bis zur Geburt sind daher alle Entwicklungsendpunkte zumindest verfassungsrechtlich zulässig.«37 Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber die Finalität der Entwicklungsfähigkeit im »einfachen« Gesetz konkretisieren muss. Rechtspolitisch empfehlen Enghofer und Haider dem Gesetzgeber insofern, auf den Zeitpunkt der Nidation abzustellen.38 Als verfassungsrechtlich zulässige Kriterien, die der Gesetzgeber für die weitere Ausgestaltung eines schützenswerten Status des Embryos aufgreifen kann, aber nicht muss, werden die Befruchtung und – daran anschließend – die Verwendung von Keimzellen von mindestens zwei verschiedenen Personen eingeordnet.39 In diesem Zusammenhang gelingt den Autorinnen eine wiederum innovative Fortschreibung des genetischen Zufalls als Bedingung der freien und gleichen Entwicklung von Menschen. Demgegenüber ordnen Enghofer und Haider etwa die Erforderlichkeit eines Sexualakts,40 die Verschiedengeschlechtlichkeit41 oder Natürlichkeit42 der verwendeten Keimzellen, die Belegenheit der humanen Entität in vivo bzw. in vitro43 sowie Zweckbestimmungen bei ihrer Erzeugung44 als verfassungsrechtlich unzulässige Kriterien ein, um die Schutzwürdigkeit humaner Entitäten hinsichtlich der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) zu bestimmen. Die von Enghofer und Haider vorgestellte Argumentation gewinnt vor allem auch deshalb an juristischer Überzeugungskraft, weil die Autorinnen immer wieder rechtliche Argumente mit Alltagsintuitionen abgleichen, wobei letztere keineswegs zum juristischen Argument werden. Sie dienen vielmehr der 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44

Enghofer/Haider, 4.6. Vgl. Enghofer/Haider, 4.4., 4.6. Enghofer/Haider, 4.6. (Hervorhebung im Original). Enghofer/Haider, 4.8. Vgl. hierzu und zum Folgenden Enghofer/Haider, 4.3.1., 4.4.1. Vgl. Enghofer/Haider, 4.3.2. Vgl. Enghofer/Haider, 4.4.3. Vgl. Enghofer/Haider, 4.4.4. Vgl. Enghofer/Haider, 4.5. Vgl. Enghofer/Haider, 4.7.

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Verdeutlichung rechtsdogmatischer Überlegungen: Wo stimmen diese mit Alltagsintuitionen überein? Wo weichen juristische Wertungen von Alltagsintuitionen ab? Für Juristinnen und Juristen, aber auch für Entscheidungsträgerrinnen und Entscheidungsträger wird dadurch deutlich, an welchen Stellen normative und politische Überzeugungsarbeit mit Blick auf die Akzeptanz der verfassungsrechtlichen Auslegung des Grundgesetzes und der einfachgesetzlichen Regulierung der Biowissenschaften geleistet werden muss. Doch nicht nur dieses Vorgehen ist Ausweis der bioethisch und -rechtlich äußerst reflektierten Argumentation von Enghofer und Haider, sondern auch die von ihnen abschließend konturierte Definition schützenswerter humane Entitäten, die sich aus verfassungsrechtlich zwingenden Kriterien (unterstrichen) und verfassungsrechtlich zulässigen Kriterien (kursiv) zusammensetzt: »Als schutzwürdiger Embryo gilt jede humane Entität, die durch zufallsgesteuerte Verschmelzung von mindestens zwei natürlichen oder künstlichen haploiden Keimzellen, die von mindestens zwei Personen herrühren, entstanden ist und sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen Voraussetzungen bis zur Nidation entwickeln kann.«45

IV. Die von Enghofer und Haider vorgestellten Kriterien für und Definition von schützenswerten humanen Entitäten bzw. des Embryos werden sich aufgrund der äußerst dynamischen und disruptiven Entwicklung der Biowissenschaften ebenfalls weiterentwickeln. Bereits vor dem aktuellen Entwicklungsstand von Biomedizin und Biotechnologie lässt sich die Frage stellen, ob sich nicht auch Zellkerntransfer-Entitäten, die nicht unter die von Enghofer und Haider vorgestellte Embryonendefinition fallen,46 verfassungsrechtlich nicht doch als Mensch identifizieren und deshalb auch einfachgesetzlich geschützt sein müssten. Analoges könnte in der (näheren) Zukunft für die Frage der Anerkennung von Mensch-Tier-Chimären bzw. -Hybriden gelten.47 Das Kriterium des humanen »Ausgangsmaterials« in der von Enghofer und Haider vorgestellten Argumentation würde dann im Spannungsverhältnis von Verfassungsrecht und einfachem Gesetz zum Thema, um den fortpflanzungstechnischen und biowissenschaftlichen Umgang mit diesen transhumanen Entitäten zu bestimmen. Dies sind jedoch keine Einwände gegen die Argumentation von Enghofer und Haider. Vielmehr haben die Autorinnen mit ihrem Konzept der verfassungsrechtlich zwingenden, zulässigen und unzulässigen Kriterien ein Modell entworfen, das 45 Enghofer/Haider, 4.8. 46 Vgl. Enghofer/Haider, 5. 47 Vgl. umfassend Lackermair 2017.

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über die Differenz von Verfassung und Gesetz in der Lage ist, die Koevolution von Biowissenschaften und Rechtsordnungen konstruktiv zu begleiten. Weder Verfassungsinterpreten noch der Gesetzgeber können sich auf Dauer der Erkenntnis verschließen, dass das biotechnische Zeitalter unausweichlich auch ein biopolitisches Zeitalter ist, in dem es zu unserem ambivalenten Selbstverständnis gehört, ständig neu über unser menschliches Selbstverständnis rechtlich entscheiden zu müssen.48

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48 Kersten 2010, 2; Kersten 2007, 673.

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