artefrakte: Holocaust und Zweiter Weltkrieg in experimentellen Darstellungsformen in Literatur und Kunst 9783412504892, 9783412503451

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artefrakte: Holocaust und Zweiter Weltkrieg in experimentellen Darstellungsformen in Literatur und Kunst
 9783412504892, 9783412503451

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Literatur – Kultur – Geschlecht Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte

Herausgegeben von

Anne-Kathrin Reulecke und Ulrike Vedder in Verbindung mit Inge Stephan und Sigrid Weigel

Band 70

Esther Kilchmann (Hg.)

artefrakte Holocaust und Zweiter Weltkrieg in experimentellen Darstellungsformen in Literatur und Kunst

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Christian Boltanskis Installation Inventaires. © bpk | CNAC-MNAM | Philippe Migeat. © VG Bild-Kunst, 2015

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Patricia Simon, Langerwehe Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50345-1

Inhalt Esther Kilchmann

Zum Band  ................................................................................................................... 

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I. THEATER, TANZ UND MUSIK Claudia Benthien

Vergegenwärtigen. Die ‚Shoah‘ in aktuellen deutschsprachigen Theaterinszenierungen  ........................................................... 

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Michael Bachmann

Verpuppte Erinnerung. Figuration und Dinglichkeit in theatralen Darstellungen der Shoah  ................................................................. 

57

Tatjana Petzer

Tanz und Trauma. Choreografische Gedächtnisformen nach Auschwitz  ..... 

71

Anna Langenbruch

Zwischen Experiment und Erzählung, Klang und Geschichte. Musikalische Annäherungen an Auschwitz  ......................................................... 

87

II. FILM, POPKULTUR UND NEUE MEDIEN Susanne Rohr

Subversion und Sentiment. Von den Unwägbarkeiten der KZ-Komödie  ....  109 Magdalena Marszałek

Performative Wiederholung zwischen Skandal, Kitsch und Experiment. Zum ludischen und künstlerischen Reenactment in Polen  .............................  127 Marie-Christine Wehming

Entgrenzte Erinnerung – unbegrenzte Möglichkeiten? Der Holocaust auf YouTube  . . ..................................................................................  145

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Inhalt

III. LITERATUR Claudia Nickel

Über Leben schreiben. Briefe und Gedichte aus südfranzösischen Lagern  .. ...  157 Albrecht Buschmann

Ausgeschlossen schreiben. Traumatisches Exil und Neoavantgarde in Max Aubs Juego de cartas (1964)  .. ......................................................................  171 Christina Pareigis

Außerhalb von Chronos’ Familienalbum. Die Zeugnisse der Schriftstellerin und Philosophin Susan Taubes  .. ...............  183 Silke Segler-Meßner

Sar…Ko(a)f…  Wandlungen im Lebens-Werk Sarah Kofmans  ......................  195 Esther Kilchmann

Gebrochen schreiben. Die Verwendung des Deutschen bei Primo Levi, David Rousset und Jorge Semprún  .. ...............................................  217 Katrin Hoffmann

Un passé inventorié. Elliptische Strukturen bei Jean Cayrol und Christian Boltanski  ....................................................................  235 Sebastian Schirrmeister

Vom Wegweiser zur Hieroglyphe. Anna Maria Jokls Essenzen als Versuch über die Shoah und das Schreiben danach  .....................................  251 Jobst Welge

Transgenerationelle Erinnerung in der argentinischen und brasilianischen Gegenwartsliteratur (Sergio Chejfec, Michel Laub)  ..............  269 Caspar Battegay

Zeitbrüche. Kontrafaktisches Erzählen der Shoah  .............................................  283 Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger  . . ...................................................  301

Esther Kilchmann

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„Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.“ 1 So Theodor W. Adorno 1966 in Reflexion seiner kontrovers ­diskutierten Anmerkung von 1949, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ 2. Deut­lich wird dabei, dass die Auseinandersetzung mit den na­tio­ nalsozialistischen Verbrechen, dem Massenmord an den europäischen Juden, der Entrechtung, der Verfolgung und Ermordung politischer Gegner, sozialer und ethnischer Minderheiten, mit der Thematisierung konven­tionalisierter Sprachund Darstellungsnormen einhergeht. Die Auseinandersetzung mit dem „Zivili­ sa­tionsbruch“ (Dan Diner) erfordert nicht zuletzt auch die Reflexion der zur Verfügung stehenden Repräsenta­tionsmuster. Kunst und Literatur, die sich auf den Holocaust beziehen, suchen vielfach im Bruch mit überkommenen litera­ rischen und künstlerischen Gattungen und Techniken nach angemessenen Darstellungsformen.3 Dan Diner hat darauf hingewiesen, dass „[d]ie Massenvernichtung der europäischen Juden […] eine Statistik, aber kein Narrativ“ habe und der organisierte millionenfache Mord „dem Ereignis im nachlebenden Bewusstsein jeg­liche Erzählstruktur“  4 nehme. Angesichts der Schwierigkeiten, die sich mit herkömm­lichen Narra­tionen und Repräsenta­tionsformen ergeben, überlegte auch

1 Theodor W. Adorno. „Negative Dialektik“. Gesammelte Schriften. Bd. 6. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1997. S. 8 – 412, S. 355. 2 Theodor W. Adorno. „Kulturkritik und Gesellschaft“. Ebd. Bd. 10.1. S. 11 – 30, S. 30. Zur Auseinandersetzung mit dem Satz und seiner Wirkungsgeschichte vgl. Stefan Krankenhagen. Auschwitz darstellen. Ästhetische Posi­tionen ­zwischen Adorno, Spielberg und Walser. Köln 2001. S.  21 – 120; Ralph Buchenhorst. Das Element des Nachlebens: zur Frage der Darstellbarkeit der Shoah in Philosophie, Kulturtheorie und Kunst. München 2011. S. 75 – 92. 3 Vgl. dazu: Saul Friedländer. Probing the Limits of Representa­tion. Nazism and the Final Solu­ tion. Cambridge 1992; Buchenhorst 2011. 4 Dan Diner. „Gestaute Zeit – Massenvernichtung und jüdische Erzählstruktur“. Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Na­tionalsozialismus. Hg. v. Sigrid Weigel u. Birgit Erdle. Zürich 1996. S. 3 – 15, S. 4.

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Ruth Klüger, ob nicht „eine experimentelle Literatur den Anforderungen eines anonymen Leidens noch am ehesten gerecht wird.“ 5 Ausgehend von diesen Überlegungen fragt der Band über die Literatur hinaus nach der Bedeutung experimenteller Verfahren und Formen in der Auseinandersetzung mit Holocaust und Zweitem Weltkrieg. Im Zentrum steht somit ein bislang von der Forschung vernachlässigter Aspekt, der gleichwohl unmittelbar mit der Suche nach einer angemessenen Darstellung vis à vis der Vernichtung verbunden ist. Versammelt sind Untersuchungen sowohl zu verschiedenen Kunstformen, Musik, Theater, Medienkunst und Literatur als auch zu unterschied­lichen na­tionalen Kontexten. Insgesamt leistet der Band einen Beitrag zu den aktuellen Diskussionen um den Wandel in Erinnerungskultur, Repräsenta­tionsmedien und -formen. Von Bedeutung ist dafür der wachsende zeit­liche Abstand zu den Geschehnissen selbst ebenso wie der Umstand, dass auch die Repräsenta­tion ‚des‘ Holocaust längst über eine eigene Geschichte verfügt.6 Hinzu kommt, dass die literarisch und künstlerisch vermittelte Auseinandersetzung mit Holocaust und Zweitem Weltkrieg in jüngster Zeit verstärkt eine Ausdehnung auf Neue Medien und globale Kontexte erfährt.7 Die besprochenen Werke erstellen after-­images (James E. Young), Nach-­Bilder des Geschehenen, in denen häufig die Frage nach Formen der Erinnerung und der 5 Ruth Klüger. „Dichten über die Shoah. Zum Problem des literarischen Umgangs mit dem Massenmord“. Spuren der Verfolgung. See­lische Auswirkungen des Holocaust auf die Opfer und ihre Kinder. Hg. v. Gertrud Hardtmann. Gerlingen 1992. S. 203 – 221, S. 211. Ähn­lich auch: „Fic­tion thereby becomes a lens through which present and past reality can be brought into varied focus. Altering the image somewhat […] we might maintain that experimental metafic­tion is a kaleidoscope that helps configure and reconfigure the elements or ‚data‘ of the real in ever changing ways.“ Richard T. Gray. „Fabula­tion and Metahistory. W. G. Sebald and Contemporary German Holocaust Fic­tion“. Literarische Experimente. Medien, Kunst, Texte seit 1950. Hg. v. Christoph Zeller. Heidelberg 2012. S. 271 – 302, S. 272. Die Studie von Elrud Ibsch führt die Frage nach dem Experiment im Titel, mit dem Begriff wird im Weiteren aber nicht gearbeitet. Elrud Ibsch. Die Shoah erzählt. Zeugnis und Experiment in der Literatur. Tübingen 2004. 6 Für eine ausführ­liche Diskussion vgl.: Vom Zeugnis zur Fik­tion. Hg. v. Silke Segler-­Meßner. Frankfurt a. M. 2006; NachBilder des Holocaust. Hg. v. Inge Stephan und Alexandra Tacke. Köln 2007; Veronika Zangl. Poetik nach dem Holocaust. Erinnerungen – Tatsachen – Geschich­ ten. München 2009; Michael Bachmann. Der abwesende Zeuge. Autorisierungsstrategien in Darstellungen der Shoa. Tübingen 2010. 7 Daniel Levy u. Natan Sznaider. Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust. Frankfurt a. M. 2001; Der Holocaust und die Künste. Medialität und Authentizität von Holocaust-­ Darstellungen in Literatur, Film, Video, Malerei, Denkmälern, Comic und Musik (= Schrift und Bild in Bewegung 9). Hg. v. Matías Martínez. Bielefeld 2004; Mediale Transforma­tionen des Holocausts. Hg. v. Ursula von Keitz u. Thomas Weber. Berlin 2013.

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Repräsenta­tion bereits selbstreflexiv mit thematisiert wird.8 Über die primären Zeugnisse von Überlebenden hinaus haben literatur- und kulturwissenschaft­liche Studien gezeigt, dass auf den Holocaust bezogene Literatur und Kunst mit Vorliebe eine Form wählt, die jener einer traumatischen Gedächtnisstruktur angenähert ist.9 Die Vergangenheit wird darin nicht als abschließend „bewältigbar“ dargestellt, sondern vielmehr als gespenstisch präsent, Erinnerungen tauchen unkontrolliert an verschiedenen Orten verzerrt wieder auf, vermischen sich mit Gegenwärtigem, wodurch Figuren der Brechung, des Lücken- und Phantomhaften entstehen.10 Im Fokus der Artikel stehen Kunstwerke, die insofern als experimentell zu bezeichnen sind, als sie bewusst mit bestimmten Darstellungsnormen und Gattungskonven­ tionen brechen, Abweichungen inszenieren, neue Materialien und Medien erproben oder auf ungewohnte Weise miteinander kombinieren.11 Nach einem langjährigen Primat des Authentischen und der Zeugenschaft scheinen s­ olche Arbeitsweisen in den Künsten ebenso wie in Popkultur und Gedenkkultur der letzten Jahre eine zunehmende Rolle zu spielen. Im wachsenden zeit­lichen Abstand zu den Geschehnissen selbst gewinnt die Arbeit mit experimentellen Anordnungen an Bedeutung, die auf den Rezipienten ungewohnt, verstörend, zuweilen provokativ wirken sollen.12 Im Vordergrund steht dabei ein dezidiert „erkundendes, probierendes, ungewohntes

8 Grundlegend dazu: James E. Young. Nach-­Bilder des Holocaust in zeitgenös­sischer Kunst und Architektur. Hamburg 2002; Marianne Hirsch. The Genera­tion of postmemory. Writing and visual culture after the Holocaust. New York 2012. 9 Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Hg. v. Elisabeth Bronfen, Birgit R. Erdle u. Sigrid Weigel. Köln 1999; Michael Rothberg. Traumatic Realism. The Demands of Holocaust Representa­tion. Minneapolis 2000. 10 Vgl. dazu Hirsch 2012 sowie: Meike Herrmann. Vergangenwart. Erzählen vom Na­tio­nal­ sozialismus in der deutschen Literatur seit den neunziger Jahren. Würzburg 2010. 11 Experimente in den Künsten, so Stefanie Kreutzer, zeichnen sich „durch Novität, Erprobung und Überraschungsmomente sowie mitunter eine intendierte Ungewissheit in werkimmanenter, produk­tions- und rezep­tionsästhetischer Hinsicht aus. Der Akzent […] ist oftmals auf Veränderung und Abgrenzung von bestehenden Tradi­tionen gerichtet und Ergebnisoffenheit kann ein spezielles Charakteristikum sein.“ Stefanie Kreuzer. „Einleitung“. Experimente in den Künsten. Transmediale Erkundungen in Literatur, Theater, Film, Musik und bildender Kunst. Hg. v. ders. Bielefeld 2012. S. 7 – 18, S. 7/8. 12 Vgl. dazu: Ernst van Alphen. Caught by History. Holocaust Effects in Contemporary Art; Literature, and Theory. Stanford 1997; Andrew S. Gross u. Susanne Rohr. Comedy – Avant-­ Garde – Scandal: Remembering the Holocaust after the End of History. Heidelberg 2010; Nach dem Vergessen. Rekurse auf den Holocaust in Ostmitteleuropa nach 1989. Hg. v. Magdalena Marszałek u. Alina Molisak. Berlin 2010; „Holocaust“-Fik­tion. Kunst jenseits der Authenti­ zität. Hg. v. Iris Roebling-­Grau u. Dirk Rubnow. Paderborn 2014.

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Vorgehen“ 13 mit offenem Ausgang, wie es literarisch-­künstlerische Experimente charakterisiert. Darüber hinaus haben viele der diskutierten Werke die Hinter­fragung konven­tionalisierter Bilder und Erzählungen über ‚den‘ Holocaust zum Ziel. Sie sind mithin auch insofern als Experimente zu verstehen, als sie über die künstlerische Arbeit hinaus auf „Rela­tionen von Sprache, Wirk­lichkeit, Kommunika­ tion, Subjektivität und Wahrnehmung“ 14 abzielen. Indem im Medium der Kunst neue Verknüpfungen und alternative Kombina­tionen erprobt werden, interagieren die Werke mit bestehenden kulturellen Wahrnehmungsmustern und Repräsen­­ tationskonven­tionen und affirmieren oder durchkreuzen sie. Wie die Artikel d ­ ieses Bandes zeigen, leisten Kunst und Literatur so in immer neuen Versuchsanordnungen Gedächtnisarbeit, insofern sie auf die Unabschließbarkeit der Auseinandersetzung mit den Geschehnissen verweisen und erproben, ­welche Formen der Repräsenta­tion sich auch für die zukünftige Vermittlung eignen könnten. Zusammengefasst sind die einzelnen Untersuchungen unter dem Titel artefrakte. Der Neologismus soll die konkrete Beschaffenheit der untersuchten Kunstwerke, deren Form und Materialität ins Zentrum rücken und zugleich das Moment der Fraktur betonen. Ein besonderes Augenmerk gilt somit der Brechung von ästhetischen Darstellungsmustern angesichts des Zivilisa­tionsbruches und der Thematisierung von Lückenhaftigkeit, Un- und Mehrdeutigkeit als unausweich­lichem Bestandteil von Repräsenta­tion. Artefrakte stellen nicht das durch die Kunst Gemachte, sondern das von ihr gebrochen Wiedergegebene ins Zentrum. Dabei geht es nicht allein um die Darstellung historischer Geschehnisse in künstlerischer Brechung, sondern auch um die Inszenierung eines Bruches mit tradi­tionellen ästhetischen Ordnungen im Angesicht der Gewalterfahrung. Für Artefrakte sind Spuren der Zerschlagung konstitutiv. Die experimentellen Verfahren sind eine Absage an die Vorstellung einer umfassenden, authentischen, letztgültigen Repräsenta­tion der Geschehnisse. Gleichzeitig durchkreuzen sie aber auch den Topos der Undarstellbarkeit, generieren sie doch gerade ein „Mehr“ an künstlerischer Darstellung: 13 Georg Jäger. „Experimentell“. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar. Berlin 1997. S. 546 – 547. Für eine umfassende Diskussion des Experiment-­Begriffes in literaturhistorischer und -wissenschaft­licher Perspektive vgl.: Experiment und Literatur. Hg. v. Michael Gamper. 3 Bde. Göttingen 2009 – 2011; Raul Calzoni. „Das ‚Experiment‘ in der Literatur. Eine Einleitung“. „Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment“. Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert. Hg. v. dems. u. Massimo Salgaro. Göttingen 2010. S.  11 – 28. 14 Michael Bies u. Michael Gamper. „Arbeit am Sprachmaterial. Eine Einleitung“. „Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte“. Experiment und Literatur III 1890 – 2010. Hg. v. dens. Göttingen 2011. S. 9 – 31, S. 18.

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Die gewaltsame Zerschlagung von Lebens- und Sinnzusammenhängen resultiert hier nicht in der Leere der Undarstellbarkeit, sondern vielmehr in einer Vervielfältigung und Neuanordnung von Sprache, Bild, Ton und Bewegung, die frei­lich immer den Index des Katastrophischen mit sich führt. In den diskutierten Artefrakten zeigt sich ein Ringen um Darstellbarkeit „trotz allem“, wie es Georges Didi-­Huberman formuliert hat.15 Der Band ist nach Gegenstandsbereichen gegliedert. Die einzelnen Artikel diskutieren vorwiegend jüngere Werke, nehmen aktuelle Entwicklungen in Formen des Gedenkens und der Repräsenta­tion aber auch zum Anlass, ältere Zeugnisse unter der Frage nach experimentellen Verfahrensweisen und deren Wirkung erneut zu lesen. Den ersten Teil des Bandes bilden Beiträge zu Theater, Tanz und Musik. ­Claudia Benthien widmet sich unter dem Titel „Vergegenwärtigen“ der Thematisierung der Shoah in aktuellen deutschsprachigen Theaterinszenierungen. Vor der Diskussion von Mög­lichkeiten und Grenzen einer Darstellbarkeit des Genozids an den europäischen Juden, insbesondere auf der Bühne, untersucht sie Stücke und Inszenierungen von Elfriede Jelinek, Doron Rabinovici, Werner Fritsch, Yael Ronen & The Company, Nicolas Stemann und Jörg Fürst. Als verbindende Elemente der unterschied­lichen Produk­tionen werden offene und mehrdeutige Erzählstrukturen herausgearbeitet, erzeugt durch die Pluralisierung von Autor- und Regieinstanz sowie den Einsatz postdramatischer Elemente wie Multimedialität und Simultanität verschiedener synchron zu rezipierender Zeichenebenen. Hinzu kommen interaktive Überschreitungen ­zwischen Bühne und Zuschauerraum sowie zunehmend die Verknüpfungen ­zwischen Geschichte und gegenwärtigen – politischen wie sozialen – Konfliktfeldern. Auch Michael Bachmann hebt in seinem Artikel zu „Figura­tion und Ding­lichkeit in theatralen Darstellungen der Shoah“ Multimedialität und die Multiplizierung von Orts- und Zeitangaben sowie Sprecherposi­tionen hervor. Er untersucht den Einsatz von Puppen bei Peter Zadek und George Tabori sowie in einer aktuellen Performance der niederländischen Gruppe Hotel Modern, die in einem Modell von Auschwitz-­Birkenau mit Holzpüppchen Geschehnisse im Lager nachspielen, die gleichzeitig gefilmt und auf eine Leinwand übertragen werden.

15 George Didi-­Huberman. Bilder trotz allem. München 2007. Mit Bezug auf die künstlerische Arbeit heißt es hier: „Callot, Goya, Picasso – aber auch Miró, Fautrier, Strzeminski oder Gerhard Richter – haben das Undarstellbare so lange zermahlen, bis es schließ­lich etwas anderes als bloßes Schweigen zum Vorschein brachte.“ Ebd. S. 179. Zum Zusammenhang von experimentellen Darstellungsweisen und Repräsenta­tionen von Gewalterfahrung s. a.: Thomas Wild. „Unberechenbar. Gomringer – Heißenbüttel – Améry. Zu einer Konstella­ tion poetischen und politischen Schreibens“. Zeller 2012. S. 211 – 228.

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Tatjana Petzer erkundet in ihrem Beitrag zum modernen israe­lischen Tanz ein „choreografisches Archiv der Shoah“. Ausgehend vom Schaffen einer Initiatorin des modernen israe­lischen Tanztheaters, der Auschwitz-­Überlebenden Yehudit Arnon, spürt sie dem Zusammenhang von Tanz und Trauma nach und untersucht, ­welche neuen Bewegungsformen zum Ausdruck eines individuellen wie kollektiven Gedächtnisses geschaffen werden. Als Abschluss des ersten Teils befasst sich Anna Langenbruch in ihrem Aufsatz „Zwischen Experiment und Erzählung, Klang und Geschichte – Musika­lische Annäherungen an Auschwitz“ mit der Frage, wie Kunst Geschichte jenseits visueller und narrativer Schwerpunkte darstellen kann. Sie untersucht, wie musika­lische Werke die na­tionalsozialistischen Verbrechen thematisieren, und fragt gleichzeitig, w ­ elche Klangvorstellungen im kulturellen Gedächtnis von Deporta­tionen und Lagern vorhanden sind. Anhand von Luigi Nonos 1966 uraufgeführter Tonbandkomposi­tion Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz (dt.: „Erzähle, was dir in Auschwitz angetan wurde“) wird gezeigt, wie der Komponist in einer von ihm explizit als experimentell verstandenen Anordnung ästhetische Erfahrung, Klänge und Geräusche mit Geschichtserzählung verbindet. Den zweiten Teil des Bandes bilden Untersuchungen zu Film, Popkultur und Neuen Medien. Im ersten Beitrag greift Susanne Rohr die sogenannte „KZ-Komödie“ auf, die sich um 2000 als filmische Gattung innerhalb einer transna­tionalen Populärkultur zum Thema Holocaust etablierte. Rohr demonstriert an Beispielen aus den 1970er Jahren gleichwohl, dass erste Versuche einer komödiantischen Auseinandersetzung mit der na­tionalsozialistischen Judenverfolgung weiter zurückreichen. Am Beispiel von Train de Vie von Radu Mihăileanu (1998) zeigt die Autorin schließ­lich anschau­lich, dass es in „Holocaust-­Komödien“ nicht darum geht, die Enormität der Verbrechen zu schmälern, sondern dass in der ungewohnten Gattungswahl vielmehr ein Bruch mit einer inzwischen normierten Darstellungsform des Holocaust stattfindet, die den Rezipienten zwingt, sich mit ebendiesen etablierten Repräsenta­ tionsmustern auseinanderzusetzen. Die folgenden beiden Beiträge diskutieren das Experimentieren mit neuen Formen und Medien in der Gedenkkultur. Marie-­ Christine Wehming wirft die Frage nach der Bedeutung von Internetplattformen wie YouTube für die Wandlung der Gedenkkultur im ­­Zeichen der Globalisierung auf. Diskutiert wird der kontrovers rezipierte Filmclip einer austra­lischen Performerin und Tochter von Auschwitz-­Überlebenden, die ihren Vater zum Popsong I  will survive zusammen mit seinen Enkeln auf dem Gelände von Auschwitz-­Birkenau tanzen lässt. Einen ähn­lich provozierenden Bruch in der etablierten Gedenkkultur und im Umgang mit den historischen Schauplätzen des Holocaust untersucht ­Magdalena Marszałek in ihrem Beitrag „Performative Wiederholung z­ wischen Skandal, Kitsch und Experiment. Zum ludischen und künstlerischen Reenactment in Polen“. Im Fokus steht die Praktik des Reenactments, des Nachspielens histo­rischer Gegebenheiten, die sich generell anläss­lich historischer Jahrestage, aber auch in der

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Museumspädagogik zunehmender Beliebtheit erfreut. In Polen sind ­solche Nachstellungen, gerade auch von Ereignissen des Zweiten Weltkriegs, inzwischen zu einem festen Bestandteil der Erinnerungskultur geworden. Marszałek untersucht ludische Reenactments wie die Nachstellung der Ghetto-­Liquidierung im oberschle­sischen Będzin (2010) ebenso wie künstlerische Wiederholungsexperimente, die die Grenze ­zwischen Geschichte und medialer Simula­tion befragen. Beides wird als postmemoriale Erscheinung diskutiert und gleichzeitig als Versuchsanordnung begriffen, die neue Einsichten in die Produk­tion von Geschichtsbildern und die Weitergabe von Erinnerungen hervorbringt. Der letzte und umfangreichste Teil des Bandes ist der Literatur als Medium der Zeugenberichte ebenso wie der Fik­tionalisierung gewidmet. Dabei werden zum einen ältere autobiografische und erzählende Texte unter der Frage nach experimentellen Verfahren neu bewertet oder einer Relektüre unterzogen. Zum anderen wird die literarische Auseinandersetzung mit Holocaust und Zweitem Weltkrieg aus transna­tionaler und -genera­tioneller Perspektive fokussiert und die Applika­ tion von Verfahren wie Fragmentarisierung, Verfremdung und Alternativgeschichte beleuchtet. Den Anfang bilden drei Artikel zu im Umfeld des Zweiten Weltkriegs entstandenen Texten, die Leben und Überleben in Korrespondenz zu (Karten-)Spielen rücken und die Mög­lichkeit kohärenter Biografie und Autobiografie unter der Bedingung extremer Brucherfahrungen in Frage stellen. Claudia Nickel untersucht Briefe und Gedichte, die z­ wischen 1939 und 1944 von in südfranzö­sischen Lagern internierten spanischen Bürgerkriegsflüchtlingen verfasst wurden. Gezeigt wird, wie sich die Schreibsitua­tion im Lager selbst auch in der Form der Texte aufspüren lässt und das Schreiben von Briefen bzw. Karten buchstäb­lich zum ­Kartenspiel um den Überlebenswillen der Internierten wird. Anschließend beschäftigt sich Albrecht Buschmann mit einem neoavantgardistischen Kunstwerk von Max Aub, dem Juego de cartas von 1964, in dem die Erfahrung des Exils als Kartenspiel gestaltet ist. Das Set von 108 Spielkarten zeigt auf der Vorderseite die bekannten Kartensymbole (Pik, Ass, König etc.), auf der Rückseite Briefe von unterschied­lichen Absendern, die um die Frage kreisen, wer ein gewisser Máximo Ballestros war und was die Umstände seines Todes gewesen sein könnten. Je nach Mischart der Karten ergeben sich ganz unterschied­liche Text-, Spiel- und Lebensläufe um das abwesend bleibende traumatische Zentrum der Exilerfahrung. In ihrem Beitrag zur jüdisch-­amerikanischen Schriftstellerin und Philosophin Susan Taubes geht Christina Pareigis in der Folge der Frage nach, wie im Zeichen ­­ des Exils überhaupt (Auto-)Biografie dargestellt werden kann, und kommt zum Schluss, dass aus der nachträg­lichen Perspektive Ich und Leben sich buchstäb­lich nur als artefrakt präsentieren. Silke Segler-­Meßner untersucht das „Lebens-­Werk“ Sarah Kofmans und arbeitet die Spuren heraus, die hier auf das doppelte Trauma der franzö­sischen Philosophin verweisen, die Ermordung ihres Vaters in Auschwitz und das eigene Überleben als enfant cachée. Ausgehend

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Esther Kilchmann

von der Erkenntnis, dass alle Texte Kofmans vom tiefen Zweifel an der Idee eines mit sich selbst identischen Subjekts ebenso gekennzeichnet wie angetrieben sind, studiert der Artikel die literarisch-­sprach­lichen Formen und Formulierungen, die Kofman zur Unterlaufung eines linearen, kausalen und einer bestimmten Gattung zuzuordnenden Werks findet. Die Frage nach einem „gebrochenen Schreiben“ stellt auch Esther Kilchmann. In ihrem Artikel untersucht sie die Verwendung des Deutschen in den Zeugenberichten von Primo Levi, David Rousset und Jorge Semprún aus Auschwitz, Buchenwald und Neuengamme. Die Sprachmischung wird dabei als literarische Verfremdungstechnik und traumatische Symptomatik zugleich analysiert. Katrin Hoffmann zeigt im folgenden Beitrag zu Jean Cayrol und Christian Boltanski, wie hier gebrochene Darstellungsformen zur Auseinandersetzung mit traumatischer Erfahrung genutzt werden. Beide Künstler entschieden sich gegen einen dokumentarischen Ansatz und richten ihr Augenmerk auf eine Erkundung der Nachwirkungen von Holocaust und Zweitem Weltkrieg in der Gegenwart. Hoffmann bespricht in ­diesem Kontext die Entwicklung experimenteller Verfahren, mittels derer in Erzählungen und Installa­tionen chronolo­gische und kausale Ordnungen unterlaufen und Absenzen und Lücken, aber auch die ‚Kontamina­tion‘ der Gegenwart durch die Vergangenheit zur Darstellung gebracht werden. Die drei abschließenden Beiträge des Bandes wenden sich literarischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust unter der Frage der transna­tionalen und -genera­tionellen Ausweitung sowie der Fik­tionalisierbarkeit und ihrer Grenzen zu. Sebastian Schirrmeister geht dem über ein halbes Jahrhundert verfolgten Projekt der Schriftstellerin Anna Maria Jokl nach, einen „Roman dieser Zeit“, der Zeit des Faschismus, zu schreiben, das schließ­lich in der Kurzprosa-­Sammlung Essenzen (1993/1997) mündet. Statt des Romans werden hier zwei Dutzend Szenen an sechs unterschied­lichen Lebensorten Jokls versammelt, die, so die Autorin, in einer Versuchsanordnung übereinandergelegt, die „Hieroglyphe unserer Epoche“ sichtbar machen sollen. Schirrmeister liest diese Verschiebung vom Romanprojekt zum experimentellen Vorgehen als poetolo­gische Reflexion über ein notwendig verändertes Schreiben nach Auschwitz. Jobst Welge untersucht transgenera­tionelle Erinnerung in der argentinischen und brasilianischen Gegenwartsliteratur bei Sergio Chejfec und Michel Laub. Im Zentrum steht der Umgang mit der sowohl zeit­lichen als auch räum­lichen Entfernung von den Ereignissen und somit die Diskontinuität als Herausforderung für die literarische Darstellung. Im letzten Beitrag befasst sich Caspar Battegay mit der Gattung des kontrafaktischen Erzählens bzw. der Alternativgeschichte und stellt fik­tionale Texte zur Diskussion, in deren Handlung der Holocaust nicht stattgefunden hat oder in denen von den Protagonisten korrigierend in die Geschichte eingegriffen werden kann. In diesen erzählerischen Experimenten werde schließ­lich aber vor allem eins deut­lich: Geschichte bedeutet nach dem Zivilisa­tionsbruch nicht mehr dasselbe, und die Geschehnisse des Holocaust

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haben das west­liche Konzept von Zeit als einer linear fortschreitenden irreparabel verändert. Dies, so Battegay, sei auch der Grund, warum mit fortschreitendem zeit­lichem Abstand von den Geschehnissen das kontrafaktische Erzählen davon immer bedeutender werde. Insgesamt zeigen die Beiträge, wie in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust in verschiedenen Kunstrichtungen und Medien auch mittels der Form die na­tionalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit als nicht heilbarer Zivilisa­ tionsbruch dargestellt werden. Nicht zuletzt werfen die vorliegenden Untersuchungen deshalb die Frage auf, inwiefern nicht gerade dem literarisch-­künstlerischen Experiment eine besondere Bedeutung in der Auseinandersetzung mit Gewalterfahrungen und historischen Brüchen zukommt. Danken möchte ich an dieser Stelle den Herausgeberinnen der Literatur-­Kultur-­ Geschlecht Reihe für die Aufnahme des Bandes, der Hambur­gischen Wissenschaft­lichen Stiftung, die diese Publika­tion mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss ermög­licht hat, Dr. Claudia Nickel, die mit mir einen der beiden Hamburger Workshops zum Thema organisierte sowie Julia Reymers und Friederike van Stephaudt für die wertvolle Hilfe bei der Fertigstellung des Manuskriptes.

Claudia Benthien

Vergegenwärtigen Die ‚Shoah‘ in aktuellen deutschsprachigen Theaterinszenierungen I.

Die Shoah und das Theater: Verhandlungen von (Un-)Darstellbarkeit

In der kulturtheoretischen Auseinandersetzung galt lange Zeit die Grundannahme, dass Repräsenta­tionen der Shoah nur bis zu einer gewissen Grenze mög­lich sind und „that there is an Entity, an Event or Place, to which the historical, artistic, cinematic or literary reflec­tions do or do not correspond – an epicenter which is often imagined as a black hole, (re-)entered only at peril to the communicability of the act and the sanity of the actor“ 1. Die Shoah als fundamentaler Zivilisa­tionsbruch erlaubte es nicht, an bestehende künstlerische Ausdrucksformen und ästhetische Praktiken anzuknüpfen („Die Massenvernichtung der europäischen Juden hat eine Statistik, aber kein Narrativ“ 2), vielmehr musste der Aspekt der Undarstellbarkeit mittelbar immer mitverhandelt werden. Für die Auseinandersetzung mit der Shoah im Theater galten aufgrund der phy­sischen Anwesenheit der Schauspieler/innen – im Unterschied zu stärker medialen und abstrakten Repräsenta­tionsweisen des historischen Ereignisses, wie etwa literarischen Texten oder Kunstwerken, – darüber hinaus besondere Restrik­tionen: „To bear witness is one thing, but to ‚perform‘ the testimony is another. The staging of a theatrical text requires the physical presence of the actor, that ‚other‘, that ‚impostor‘ who was not in Auschwitz.“ 3 Benannt wird hier das Problem theatraler Verkörperung, das im Falle von Überlebenden der Shoah an eine Grenze gerät, insofern diese einerseits dezidiert keine Schauspieler sind, sie andererseits aufgrund ihres herausgehobenen Status per se nicht ‚spielerisch‘ durch andere zu repräsentieren sind. Ferner gilt, dass „[d]ie tradi­tionellen Kategorien theatraler Form und Wirkung als suspendiert gelten [müssen], wenn es um die Vergegenwärtigung dieser historisch singulären Menschheitskatastrophe

1 Sidra DeKoven Ezrahi. „,Representing Auschwitz‘“. The Holocaust: Theoretical Readings.­ Hg. v. Neil Levi u. Michael Rothberg. New Brunswick 2003. S. 318 – 322, S. 318. 2 Dan Diner. „Gestaute Zeit. Massenvernichtung und jüdische Erzählstruktur“. Kreisläufe. Na­tionalsozialismus und Gedächtnis. Berlin 1995, S. 126 f. 3 Claude Schumacher. „Introduc­tion“. Staging the Holocaust: The Shoah in Drama and Per­ formance. Hg. v. dems. Cambridge 1998. S. 1 – 9, S. 4.

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geht“ 4. Insbesondere die Massentötungen selbst, die Vernichtungslager und Massen­ erschießungen, entziehen sich weitgehend der Darstellbarkeit auf einer Theaterbühne, weswegen die meisten Stücke eher auf weitere Zusammenhänge der Shoah oder auf Einzelschicksale von Opfern oder Opfergruppen zurückgreifen oder sich mit Täterpersön­lichkeiten befassen.5 Dies ist eine Tendenz, die sich weitgehend bis in die Gegenwart findet. Neben diesen Einschränkungen werden dem Theater aber auch originäre Mög­ lichkeiten zur Behandlung der Shoah-­Thematik zugeschrieben, die es etwa gegenüber den anderen audiovisuellen Künsten herausstellen: „[T]heatre […] does not try to create an illusion of reality (that cheap kind of mimetism found in cinema or television), and it is precisely in the absence of mimetic trompe-­l’œil that the real strength of the theatrical performance lies.“ 6 Vielmehr weise das Theater „an immediacy and impact which surpasses all other art forms“ 7 auf. Die neuere Forschung geht davon aus, „dass das Theater eine besondere Form der Erinnerung an die Shoah ermög­liche, eine Erinnerung, die nicht im Wiedergeben eines Wissens oder im Schaffen von Bildern besteht, sondern darin, dass […] ‚etwas in Bewegung gesetzt wird‘“ 8. Die Auseinandersetzung mit dem historischen Geschehen muss dann auf eine Weise geschehen, die weder abbildend noch verkörpernd ist, sich mithin tradi­tionellen Theater- und Schauspielformen widersetzt: „As far as we are concerned, dealing with plays about the Shoah, the actor on stage clearly signi­fies the absence, from the here-­and-­now, of the character he is presenting. His being there proclaims the absence of the ‚other‘ and the spectator must, in order to make sense of what is presented, reconstruct in his mind the missing reality and lend his own being, thoughts and emo­tions, to the character evoked by the actor.“ 9

Diese allgemeinen Fragen haben schon früh zur Herausbildung von verschiedenen Theatergenres geführt, die Dramatiker haben in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mit zahlreichen Formen und Genres experimentiert wie etwa epischem 4 Jan Strümpel. Vorstellungen vom Holocaust. George Taboris Erinnerungs-­Spiele. Göttingen 2000. S. 9. Zur Problematik generell siehe auch: Markus Roth. Theater nach Auschwitz. George Taboris ‚Die Kannibalen‘ im Kontext der Holocaust-­Debatten. Frankfurt a. M. u. a. 2003. S.  20 – 34. 5 Vgl. ebd. S. 32. 6 Schumacher 1998, S. 4. 7 Robert Skloot. The Darkness We Carry: The Drama of the Holocaust. Madison 1988. S. xvi. 8 Dagmar Deuring. „…was dazu gehört, ein Mensch zu sein“. Wiederholung und Zeugenschaft. Zu einem Theater-­Denken „nach Auschwitz“. München 2006. S. 7. 9 Schumacher 1998. S. 5.

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Theater, schwarzer Komödie, Versdrama, Melodrama und Dokumentartheater.10 Als problematisch wurden insbesondere Rückgriffe auf die Gattung der Tragödie angesehen, denn „[d]er Begriff des Tra­gischen bzw. der Tragödie erweise sich nach den Erfahrungen des Holocaust für taug­lich nurmehr insofern, als man das tra­gische Moment nicht auf das Scheitern einzelner Individuen beziehe, sondern auf das Scheitern des menschlichen Zivilisa­tionsprojekts insgesamt“ 11. Als zentrale Vorbehalte wurden benannt, dass erstens die Anonymität der Opfer „sich aus den Tradi­ tionen der europäischen Theatergeschichte heraus nicht als Subjekt einer Tragödie [eigne]“, dass zweitens der Held oder die Heldin einer Tragödie „noch in seinem [oder ihrem] Tod einen Triumph empfinden und Größe beweisen [könne], dem Tod im Konzentra­tionslager fehle dagegen jede heroische Dimension“, und dass es drittens unangemessen sei, „das Schicksal eines KZ-Insassen im Drama gewissermaßen zu erhöhen und zu feiern“.12 Freddie Rokem zufolge findet sich in vielen „performances of the Holocaust“ eine Mischung aus drei verschiedenen Genres oder Repräsenta­tionsmodi: erstens „first-­person testimony of the survivor“, zweitens „documentary drama“, in welchem Ereignisse „with the more objective tools of theatrical realism“ präsentiert werden, und drittens „dramatic and theatrical devices, which […] could be termed ,fantastic‘“.13 Ein Ziel des Rückgriffs auf das Fantastische in Holocaust-­Dramen sei es, „to show that what may seem too fantastic to be true has in fact taken place“ 14. Rokem argumentiert, dass die Opfer in den Ghettos und Lagern in einer Welt leben mussten, die von Gesetzen und Regeln beherrscht wurde, ­welche ihnen 10 Vgl. Gene A. Plunka. Holocaust Drama: The Theater of Atrocity. Cambridge 2009. S. 17 f. Eine Genreübersicht über die deutschsprachige Dramatik bietet Strümpel 2000. S. 36 – 42. 11 Strümpel 2000. S. 43, der sich hier auf die Einleitung der Anthologie von Fuchs bezieht; vgl. Elinor Fuchs. „Introduc­tion“. Plays of the Holocaust. Hg. v. ders. New York 1987. S. xi–xxii, S.  xxi. Gleichwohl finden sich immer wieder problematische Versuche der Zusammenführung von Tragödientheorie und Shoah, so etwa: Paul Gordon. Tragedy after Nietzsche: Rap­ turous Superabundance. Urbana 2001. S. 110 – 113. 12 Strümpel 2000. S. 50, der hier Thesen Skloots zusammenfasst; vgl. Skloot 1988. S. 24. 13 Freddie Rokem. „On the Fantastic in Holocaust Performances“. Schumacher 1998. 40 – 52, S. 41. Rokem bemerkt dies allerdings nicht generell, sondern mit Blick auf Inszenierungen der frühen 1980er Jahre. Bezüg­lich des Fantastischen bezieht er sich auf generische und strukturelle Distink­tionen, wie sie Tzvetan Todorov vorgenommen hat: „According to Todorov, ‚the very heart of the fantastic‘ appears when ,in a world which is indeed our world, the one we know, a world without devils, sylphides, or vampires, there occurs an event which cannot be explained by the laws of this same familiar world‘.“ Ebd. S. 43; er zitiert die eng­ lische Fassung von: Tzvetan Todorov. Einführung in die fantastische Literatur. Übs. v. Karin Kersten, Senta Metz u. Caroline Neubaur. München 1972. 14 Rokem 1998. S. 43.

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undurchschaubar blieben, und korrespondierend dazu auch die Reak­tion der Zuschauer/innen ambivalent und von Tendenzen der Irrealität geprägt sein müsse.15 Speziell im israe­lischen Theater wurde das fantastische Element im Holocaust-­ Drama bereits in den 1980er Jahren auch durch „a self-­reflexive dramatic mode“ verstärkt, „creating various forms of metatheatre“.16 In jüngeren Studien wurde jedoch dargelegt, dass „metafic­tional modes of Holocaust depic­tion“ 17 in der Gegenwart, in der eine immer größere zeit­liche Distanz zum historischen Geschehen besteht und es mithin die dritte und vierte Genera­tion sei, die sich mit der Thematik auseinandersetze, generell dominieren würden: „[T]here is a growing consciousness for the Holocaust as something that is part of a semiotic universe of images circulating the globe, a kind of iconography of horror that art can avail itself of.“ 18 Der Prozess der Verfügbarkeit dieser Bilder wie auch ihre Medialität werden in künstlerischen Auseinandersetzungen, so auch in Theaterinszenierungen, reflektiert und, nicht zuletzt mittels experimenteller Verfahren, problematisiert. II. Klassische und neue deutschsprachige Dramen und Inszenierungen zur Shoah-Thematik

Zur Einordnung der nachfolgend untersuchten Gegenwartsinszenierungen und zum Überblick sollen eingangs wichtige deutschsprachige Theaterstücke, die sich mit der Shoah befassen und noch heute auf den Theaterspielplänen stehen, kurz entsprechend ihrer Entstehungschronologie skizziert werden. Als frühes Holocaust-­ Drama ist Rolf Hochhuths Der Stellvertreter (1963, Uraufführung in Berlin) zu nennen, ein von seiner Ästhetik her dem Theaterrealismus verpflichtetes politisches Theaterstück, das die Passivität der katho­lischen ­Kirche im ‚Dritten Reich‘ anprangert, gegenwärtig eher selten gespielt wird, aber durchaus eine bleibende Relevanz aufweist; eine aktuelle Inszenierung läuft am Münchner Volkstheater (Premiere 2012, Regie Christian Stückl). Einer der zentralen politischen Dramentexte der 1960er Jahre ist zweifellos Peter Weiss’ Die Ermittlung, der 1965 zeitgleich an 15 ost- und westdeutschen Theatern sowie in London uraufgeführt wurde. Weiss entwickelt mit ­diesem 15 Vgl. ebd. S. 44. 16 Freddie Rokem. Performing History: Theatrical Representa­tions of the Past in Contemporary Theatre. Iowa City 2000. S. 33. 17 Sophia Komor u. Susanne Rohr. „Introduc­tion“. The Holocaust, Art, and Taboo: Trans­atlantic Exchanges on the Ethics and Aesthetics of Representa­tion. Hg. v. dens. Heidelberg 2010. S. 9 – 17, S. 10. 18 Ebd.

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Text eine radikale Form dokumentarischen Theaters, indem er die authen­tischen Protokolle des Frankfurter Auschwitzprozesses von 1963/64 in szenischer Form kondensiert. Opfer und Täter kommen zur Sprache, die Tötungsvorgänge werden schonungslos als Fakten in Form eines Oratoriums in 11 Gesängen (so der Untertitel) reproduziert, die formal an Dantes Inferno erinnern sollen. Die Ermittlung ist aufgrund der konzentriert-­stilisierten Form ein hochgradig experimentelles Theaterstück und wird auch heute noch oft inszeniert. Bemerkenswert ist etwa eine Inszenierung des Pariser Théâtre des Bouffes du Nord, in der sämt­liche Mitwirkenden Überlebende des Völkermords in Ruanda sind, dem neben dem in Kambodscha gravierendsten Genozid seit dem Holocaust, bei dem die Shoah als „Referenzrahmen“ 19 des Massenmords an den Tutsi diente. Der ruandische Regisseur Dorcy Rugamba hat das Stück gemeinsam mit der Belgierin Isabelle Gyselinx inszeniert; die Schauspieler/innen sind Mitglieder der im Kongo ansässigen Theatergruppe Urwintore. Seit 2005 wurde diese Inszenierung in mehreren afrikanischen und europäischen Ländern sowie in den Vereinigten Staaten gezeigt. Weiterhin ist eine Inszenierung des Staatstheaters Nürnberg zu erwähnen, die provokanterweise auf dem Reichsparteitagsgelände erfolgte (Premiere 2009, Regie Kathrin Mädler). Und es sind im Kontext des 50. Jahrestages des Frankfurter Auschwitzprozesses im Herbst 2013 zwei stark textbezogene Inszenierungen entstanden, so Prozess Auschwitz Peter Weiss, eine Regiearbeit von Ulrich Meckler am Gallus Theater, Frankfurt am Main, die mittels einer szenischen Collage aus dem Werk von Peter Weiss an den Prozess erinnern möchte, an dem der Autor teilgenommen hat, ferner eine szenische Lesung von Die Ermittlung am Krefelder Theater am Marienplatz. Die großen deutschsprachigen Theater haben sich Weiss’ Dokumentarstücks hingegen, im Unterschied zur germanistischen Forschung, seit Längerem nicht mehr angenommen. Neben Peter Weiss ist der für das deutschsprachige Theater bedeutendste Dramatiker George Tabori, mit dessen Texten sich auch die Forschung intensiv befasst hat. Tabori hat vier wichtige Theaterstücke zur Shoah-­Thematik geschrieben, durchweg auf Eng­lisch, die dann übersetzt wurden. Das Erste ist Die Kanni­ balen (Uraufführung 1968 in New York, deutsche Erstaufführung 1969 in Berlin). Diese in einer Auschwitzbaracke spielende Groteske produziert ein Wechselspiel von Grauen und Komik, insofern zwölf Häftlinge gezeigt werden, die der Hunger zum Äußersten treibt: „Die Kannibalen setzen die Erinnerung an die Shoah in ungeheuer­lichen, grellen, aufdring­lichen, unmittelbar die Körper angehenden

19 Robert Stockhammer. Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben. Frankfurt a. M. 2005. S. 71.

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und obszön-­witzelnden Wortspielen in Szene.“ 20 Anknüpfend an Theatertechniken Brechts handelt es sich um eine Abkehr von Formen der Mimesis; dem Publikum wird Empathie mit den Lagerhäftlingen verunmög­licht, indem beständig verdeut­ licht wird, dass es sich ‚bloß‘ um eine Aufführung handelt.21 Die Figuren treten aus ihren Rollen heraus und adressieren das Publikum direkt. Die Kannibalen ist Cornelius Tabori gewidmet, dem Vater des Dramatikers, der in Auschwitz ums Leben kam, „ein bescheidener Esser“ 22, lautet die Zueignung. Das Stück steht immer wieder auf den Spielplänen, aktuell wird es am Berliner Ensemble (Premiere 2014, Regie Philipp Tiedemann) gezeigt. Der zweite The­atertext Taboris ist Mutters Courage, ein autobiografisches Werk, das zunächst in Form einer Erzählung publiziert, dann dramatisiert und ferner auch als Hörspiel (1979, Regie Jörg Jannings) und als Film (1995, Regie Michael Verhoeven) produziert wurde. Die Dramenfassung wurde im Jahr 1979 in den Münchner Kammerspielen vom Autor selbst uraufgeführt. Der Text greift auf die reale Geschichte von Taboris ­Mutter, Elsa Tabori, zurück, die als Jüdin in Budapest lebte und nach ihrer Verhaftung nur durch eine couragierte Notlüge vor der Deporta­tion nach Auschwitz bewahrt wurde. Tabori nutzt in dem Theaterstück Techniken der Metatheatralisierung, zum Beispiel eine Erzählung des ‚Sohnes‘, in der dieser davon spricht, dass es so war, als wären die Gefangenen auf ihrem Transport ins Lager „Darsteller, die ins falsche Theaterstück geraten waren“ 23, und greift auf Theatermetaphern wie Bühne, Auftritt, Zuschauer etc. zurück. Diese Analogien „derealisier[en] die wartende Bedrohung“ – „gerade indem die theatra­lischen Metaphern das Reale von Auschwitz verstellen, stellen sie es als das Undarstellbare aus“. 24 Taboris drittes Holocaust-­Drama mit dem sarkastischen Titel Jubiläum wurde 1983 zum 50. Jahrestag der ‚Machtergreifung‘ Hitlers von ihm selbst am Schauspielhaus Bochum uraufgeführt (und 2005 erneut von ihm inszeniert, diesmal am Berliner Ensemble). Das Stück ist in einer surrealen Szenerie angesiedelt: Es spielt auf einem Friedhof, alle Akteure sind Tote, die seinerzeit durch die Nazis ums Leben kamen und nun von einem ihre Gräber schändenden Neonazi in ihrer Ruhe gestört 20 Karin Dahlke. „‚Überrumpelte Katastrophen‘. Taboris ‚Witz‘ im Schatten der Shoah“. Theater gegen das Vergessen. Bühnenarbeit und Drama bei George Tabori. Hg. v. Hans-­Peter Bayer­dörfer u. Jörg Schönert. Tübingen 1997. S. 123 – 154, S. 133; zu Die Kannibalen siehe auch Roth 2003. S. 73 – 121. 21 Vgl. Plunka 2009. S. 245 f. 22 George Tabori. „Die Kannibalen“. Theaterstücke I. Übs. v. Peter Sandberg. Mit e. Vorw. v. Peter von Becker. Frankfurt a. M. 1994. S. 1 – 74, S. 3. 23 George Tabori. „Mutters Courage“. Theaterstücke I. Übs. v. Peter Sandberg. Mit e. Vorw. v. Peter von Becker. Frankfurt a. M. 1994. S. 285 – 317, S. 301. 24 Dahlke 1997. S. 126.

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werden und somit gezwungen sind, sich des eigenen Schicksals zu erinnern. Die Handlungsstränge um diese von den Nazis seinerzeit getöteten ‚Geister‘ sind verwickelt; es dominiert das von Rokem benannte Element des Fantastischen. Eine Neuinszenierung von Jubiläum erfolgte im Marstall des Theaters Neustrelitz (Premiere 2008, Regie Annett Wöhlert). Das vierte wichtige Theaterstück Taboris zur Shoah ist die Farce Mein Kampf (Uraufführung durch den Dramatiker selbst 1987 in Wien), die den jungen Adolf Hitler vor dem E ­ rsten Weltkrieg als Bewohner eines Männer­wohnheims zeigt. Seine Entwicklung vom erfolglosen Kunststudenten zum antisemitischen Demagogen und Diktator wird auf hochgradig groteske Weise gezeigt (aktuelle Inszenierung am Berliner Ensemble, Premiere 2009, Regie Hermann Beil). Taboris „‚Theater der Pein­lichkeit‘“ setzt den „Witz und das Theatra­lische […] gerade in den Momenten zur Distanzierung von der Macht der allzu realistischen Bilder ein[], wo das unerträg­liche Reale der Shoah zu nahe zu kommen droht. Und eben dadurch kommt es nahe – als ein unfaßbares Wirk­liches“.25 Abschließend ­seien vier weitere Werke genannt; erstens Rainer Werner Faßbinders stark umstrittenes Stück Der Müll, die Stadt und der Tod, verfasst 1975, die deutsche Erstaufführung erfolgte aber erst 2009 im Mülheimer Theater an der Ruhr durch Roberto Ciulli. Es handelt sich um ein provozierendes und skandalträchtiges Werk, in dem ein jüdischer Immobilienspekulant derart dargestellt wird, dass man starke Korrespondenzen zu jüdischen Persön­lichkeiten der Zeitgeschichte sah und überdies Faßbinder antisemitische und ‚linksfaschistische‘ Tendenzen vorwarf. Noch die Uraufführung im Jahr 2009 war von Protesten begleitet, die dann jedoch versiegten, weil Ciulli das Stück mit zwei weiteren Bühnentexten Faßbinders amalgamierte, wodurch die Thematik entschärft wurde. Ein weiteres für seine Zeit bedeutendes Theaterstück ist Heiner Kipphardts Bruder Eichmann (1982 in München uraufgeführt), das den Werdegang Adolf Eichmanns im ‚Dritten Reich‘ erzählt, der als Obersturmbannführer und Chefkoordinator der Judendeporta­tionen Karriere macht und, 1961 in Israel vor Gericht gestellt, jede Verantwortung abstreitet. Es ist ein Psychogramm Eichmanns, dessen Minderwertigkeitskomplexe sowie Eigenschaften wie Perfek­tionismus, Ehrgeiz und Verantwortungslosigkeit schonungslos offenbart werden. Das Stück ist wenig experimentell und wird selten inszeniert, 2005 gab es eine Produk­tion am Stadttheater Krefeld, davor wurde es 20 Jahre lang nicht gespielt. Thomas Bernhards Vor dem Ruhezustand (uraufgeführt 1979 in Stuttgart; aktuelle Inszenierung: Theater in der Josefstadt, Wien 2013, Regie Elmar Goerden) ist in der Bundesrepublik Deutschland situiert. Inspira­tion war die Affäre um die Vergangenheit des baden-­württember­gischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger

25 Ebd. S. 132.

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als Nazirichter. Es geht mithin um das Fortbestehen faschistischer Strukturen in der Gegenwart. Ein weiteres für die deutschsprachige Theatergeschichte wichtiges Werk ist Joshua Sobols Ghetto, 1983 auf Hebräisch in Haifa uraufgeführt und 1984 erstmalig auf Deutsch inszeniert, in der gefeierten Produk­tion Peter Zadeks an der Berliner Freien Volksbühne in Form eines Musicals. Das Stück beschäftigt sich im Modus des Spiels im Spiel – Schauplatz ist ein ‚Ghettotheater‘ – mit dem Schicksal der Juden im Ghetto Vilnius während der deutschen Besatzung; weil es aber die Konfronta­tion ­zwischen einem linken Intellektuellen und dem eher rechten Vorsitzenden des Judenrats schildert, ist es auch als Parabel auf die israe­lische Politik lesbar. An Zadeks Erfolg anzuknüpfen galt als schwer, entsprechend selten wurde und wird Ghetto im deutschsprachigen Raum inszeniert; aktuell läuft eine Inszenierung am Münchner Volkstheater (Premiere 2013, Regie Christian Stückl). Eine für die theatrale Auseinandersetzung mit der Shoah in Israel, aber auch in Deutschland wichtige und hochgradig experimentelle Inszenierung ist David ­Maayans Arbeit Macht Frei vom Toidtland Europa 26, ein 1991 von dem jüdisch-­ palästinen­sischen Akko Theater Center, einem Performancekollektiv in der bei Haifa gelegenen Kleinstadt Akko, produziertes Stück. Es wurde auf Hebräisch (mit Passagen auf Deutsch) gespielt und durch Europatourneen sowie zwei Dokumentar­ filme  – ein israe­lisch-­eng­lischer (Don’t touch my Holocaust, 1994, Regie Asher Tlalim) und ein deutscher (Balagan, 1994, Regie Andreas Veiel) – bekannt. Die Inszenierung beruht nicht auf einem vorgegebenen Theatertext, die Szenenfolge ist vielmehr im Arbeitsprozess durch die Mitwirkenden entwickelt worden.27 Der erste Hauptteil des Stücks ist eine Museumstour durch das Holocaust-­Museum des Kibbuz Lochamei Hagettaot (‚Kibbuz der Ghetto-­Kämpfer‘) mit einer (vermeint­lichen) Holocaust-­ Überlebenden namens Selma, an die sich eine zweite Führung durch den Palästinenser Khaled Abu Ali anschließt, in der dieser ein KZ-Modell des Museums erläutert – zum Teil unter Protest und Vorwürfen der Unangemessenheit seitens der jüdischen Zuschauer/innen.28 Auf Tourneen werden entsprechend andere Erinnerungsstätten 26 Der Titel Arbeit Macht Frei vom Toidtland Europa spielt auf mehrere Kontexte an: Erstens wird der auf dem Tor von Auschwitz zu lesende, zynische Satz ‚Arbeit macht frei‘ in dieser Performance appropriiert und neu gedeutet, indem der theatrale Prozess im Sinne einer kathartischen Läuterung als therapeutische ‚Arbeit‘ an der traumatischen kollektiven Vergangenheit verstanden wird. Zweitens wird mit ihm kritisch auf die zionistische Utopie angespielt, wonach nur Arbeit das jüdische Volk von seiner ‚Knechtschaft‘ befreien kann. Drittens ist ‚Toitland‘ ein jiddisches Wort; im Titel werden demnach Deutsch, die Sprache der Täter, und die durch die Nazis fast vollständig ausgelöschte Sprache der Opfer auf provokante Weise verknüpft. Vgl. Rokem 2000. S. 57. 27 Vgl. Deuring 2006. S. 157. 28 Vgl. Rokem 1998. S. 49; Rokem 2000. S. 67 f.

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aufgesucht und mithin performativ angeeignet, zum Beispiel 2003 in Hamburg die KZ-Gedenkstätte Neuengamme oder in Berlin das Haus der Wannseekonferenz.29 Das Stück arbeitet mit der Konfronta­tion von Elementen des Dokumentarischen mit solchen der Zeugenschaft und setzt – verstanden als ‚blasphemische Handlungen‘, die die Shoah als ‚neue Religion Israels‘ angreifen – kontroverse, oft Tabus bewusst provozierende und brechende Elemente ein, insbesondere was die körper­ liche Aneignung von extremen Zuständen betrifft. Beispielsweise lassen sich die Darsteller/innen nackt oder in Lumpenkleidung von den Zuschauer/innen durch Stockhiebe züchtigen oder die Protagonistin Selma versteckt Brot in ihrer Vagina und holt es vor den Augen der Zuschauer/innen heraus. Die sie verkörpernde Schauspielerin Semandar Yaron-­Maayan hat sich ferner das Todesdatum ihres Vaters (der rechtzeitig vor den Nazis fliehen konnte und eines natür­lichen Todes starb), im Stil einer KZ-Nummer auf den Arm tätowiert – wodurch die Trennung von Protagonistin und Schauspielerin transgressiv unterlaufen wird und die Darstellerin sich den Status einer Überlebenden ‚unrechtmäßig‘ aneignet. Die Inszenierung zeigt, „how the Holocaust has become inscribed not only on the body of those who survived, but also on their children“ 30. Gleichwohl geht es auch um die Spannungsverhältnisse von authentischer und appropriierter Zeugenschaft „and the produc­tion privileges the latter“ 31. Rokem zufolge, der mehrere sehr überzeugende Analysen von Arbeit Macht Frei vom Toidtland Europa vorgelegt hat, handelt es sich dabei um eines der komplexesten metatheatralen Anliegen der Inszenierung.32 Als eines der wenigen neuen deutschsprachigen Theaterstücke zur Holocaust-­ Thematik ist Silke Hasslers und Peter Turrinis Jedem das Seine zu nennen, das 2007 am Stadttheater Klagenfurt uraufgeführt und nachfolgend auch verfilmt wurde (Vielleicht in einem anderen Leben, 2011, Regie Elisabeth Scharang). Das Stück behandelt den Todesmarsch ungarischer Juden in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs 33 in Form einer „Volksoperette“ (Musik Roland Neuwirth), die ‚süße‘ Wiener Walzermusik mit Klezmerklängen verwebt. Das Anliegen der Dramatiker war es, Tragödien- und Komödienelemente zu verbinden und – anknüpfend an frühere Versuche in dieser Richtung in Theater (z. B. von George Tabori und Peter Zadek) und Film (z. B. von Roberto Benigni) – eine Gratwanderung zu wagen, in Form einer Zusammenführung von ‚Holocaust‘ und ‚Operette‘, gestaltet in Form eines ‚Spiels im Spiel‘. Das Stück handelt von zehn jüdischen Häftlingen, die sich 29 30 31 32 33

Vgl. ebd. S. 59 f.; Deuring 2006. S. 137 – 144 u. 164. Rokem 1998. S. 51. Rokem 2000. S. 61. Vgl. ebd. S. 63. Vgl. Daniel Blatman. Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des na­tionalsozialistischen Massenmords. Übs. v. Markus Lemke. Reinbek bei Hamburg 2011. S. 363 – 368.

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auf dem Todesmarsch in Richtung des Konzentra­tionslagers Mauthausen befinden und Zuflucht in einer Scheune finden. Sie lassen sich von einem ungarischen Häftling, der Sänger und Musiker ist, dazu überreden, die Operette Wiener Blut einzustudieren, um die Todesangst und den Hunger temporär zu vergessen – es geht mithin, ähn­lich wie in Ghetto, um den verzweifelten Versuch, mit der Idee der Kunst auf das Entsetz­liche zu reagieren. Ein Happy End gibt es nicht, die Scheune wird zum Schluss mitsamt den Häftlingen in Brand gesetzt.34 Seit den 1990er Jahren zeichnet sich, begründet in der wachsenden historischen Distanz zum Geschehen, dem Schwinden der Zeitzeugen und auch der Fülle bereits existierender künstlerischer Repräsenta­tionen sowie kultureller und wissenschaft­ licher Auseinandersetzungen mit der Shoah, generell ein kultureller Wandel ab, der sich auch im Theater widerspiegelt. Dieser Umbruch ist besonders durch drei Merkmale gekennzeichnet: Erstens wurden in den Künsten, speziell durch die bewusste Inszenierung von ‚Skandalen‘, zum Beispiel in radikalen Kunstausstellungen in den USA und in Polen oder in transgressiven Theaterinszenierungen in Israel, zahlreiche Darstellungstabus gebrochen. Zweitens verlor die Shoah, zumindest tendenziell, ihren Status des singulären Ereignisses („as a unique event, as a special case and kingdom of its own, above or below or apart from history“) – und die damit verbundene Rhetorik einer „Holocaust etiquette“.35 Drittens setzten sich zunehmend künstlerische Formen durch, die das Thema auf komische, groteske und nicht mehr nur ernste Weise behandelten.36 Diese Tendenzen finden sich auch in den hier zu untersuchenden Theaterinszenierungen. Im Folgenden werden fünf aktuelle deutschsprachige Inszenierungen aus München, Berlin, Hamburg, Köln und Wien chronolo­gisch vorgestellt, was aufgrund des Umfangs jeweils nur stichpunktartig geschehen kann. Der Schwerpunkt liegt jeweils auf Elementen des ‚Experimentellen‘ – ausgehend von dem programmatischen Verständnis, das dieser Band experimentellen Verfahren zugrunde legt. Weil die avancierte deutschsprachige Theaterszene im Anschluss an die Ausrufung eines ‚postdramatischen Theaters‘ gegen Ende der 1990er Jahre allerdings generell eine 34 Dass ­dieses Stück hier nur kurz erwähnt wird, ist dem Umstand geschuldet, dass die bis­ herigen Inszenierungen keine experimentellen Darstellungsformen n ­ utzen, wenngleich dies aufgrund der konzeptuellen Anlage durchaus mög­lich wäre. Bezug genommen wird auf die vom Stadttheater Klagenfurt zur Verfügung gestellte Aufzeichnung der Uraufführung (Aufzeichnung der Premiere vom 8. 3. 2007, Regie Michael Sturminger) sowie auf im Internet erhält­liche Dokumente zur deutschen Erstaufführung (2011, Theater Neustrelitz, Regie Annett Wöhlert). 35 Terrence Des Pres. „Holocaust Laughter?“. Writing and the Holocaust. Hg. v. Berel Lang. New York, London 1988. S. 216 – 233, S. 217 f. 36 Vgl. ebd. S. 217; Komor u. Rohr 2010. S. 9 f.

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offene, widersprüch­liche Dramaturgie, eine konstitutive Überforderung der Rezipient/innen und mithin einen „Entzug der Synthesis“ 37 anstrebt und das Experimentelle und Fraktale dadurch in großem Stil Einzug in das ‚deutsche Stadttheater‘ gehalten hat, können die in den nachfolgenden k­ urzen Inszenierungsanalysen dargestellten künstlerischen Mittel an sich keine Exklusivität beanspruchen. Gefragt werden muss vielmehr, ob es spezifische, von den Regisseur/innen für die Auseinandersetzung mit der Shoah gewählte Darstellungsformen gibt und wenn nein, was dies für die Fragestellung des Bandes heißen könnte. Neben der Frage des Experimentellen bildet der Aspekt des ‚Vergegenwärtigens‘ einen zweiten roten Faden des Beitrags. Untersucht wird, w ­ elche spezifisch theatralen (oder antitheatralen) Mittel die Inszenierungen einsetzen, um das historische Geschehen präsent zu machen – was auch heißt, es in seiner Abwesenheit spürbar werden zu lassen. Dabei geht es um Spannungsverhältnisse, die Präsenz und Absenz aufeinander beziehen; Meike Herrmann hat diese für den Bereich der aktuellen deutschsprachigen Erzählliteratur treffend mit dem Neologismus „Vergangenwart“ bezeichnet, das für ein Trauma steht, das beständig wiederkehrt.38 III. „Was brauchen wir da ein Zeugnis?“ – Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) in der Regie von Jossi Wieler an den Münchner ­Kammerspielen

Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) gehört zu den umfäng­lichsten The­a­ tertexten der Autorin.39 In der Uraufführung an den Münchner Kammerspielen wurde er auf etwa ein Drittel gekürzt und der Epilog, in dem Jelinek nach dem extensiven, monolithischen Botenbericht nunmehr „die eigent­lichen Akteure“ auftreten und sich „im Konversa­tionston“ über ihre krassen kanniba­lischen Gelüste

3 7 Hans-­Thies Lehmann. Postdramatisches Theater. Essay. Frankfurt a. M. 1999. S. 139. 38 Vgl. Meike Herrmann. Vergangenwart. Erzählen vom Na­tionalsozialismus in der deutschen Literatur seit den neunziger Jahren. Würzburg 2010. 39 Der Untertitel bezieht sich auf Luis Buñuels Film El ángel exterminador (Der Würgeengel, 1962), in dem eine klaustrophobische Situa­tion entsteht, nachdem sich die Bediensteten einer privaten Abendgesellschaft plötz­lich aus dem Staub gemacht haben und die Gäste feststellen müssen, dass sie trotz offen stehender Türen und Fenster das Haus aufgrund eines immateriellen Banns nicht verlassen können. Jelinek dreht die Grundkonstella­tion um, insofern bei ihr die Festgäste (und mithin, zumindest in einer ersten Lesart, die ‚Täter/innen‘) das Fest verlassen haben und nur die Dienstbot/innen noch vor Ort sind. Die intermediale Referenz zu Buñuels Film ist für die Shoah-­Thematik jedoch nicht zentral und wird hier daher nicht behandelt.

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austauschen lässt,40 wurde gestrichen. Jossi Wielers Regiearbeit stellt somit eine Form der ‚Koautorschaft‘ dar.41 Die Münchner Inszenierung spielt in einem holzvertäfelten leeren Innenraum ohne Mobiliar, nur mit einem großen Hirschgeweih über einer Tür und herausdrehbaren Klapphockern mit Kopfhörern an den Wänden – es ist ein ambivalenter, modularer Bühnenraum, „zugleich Jagdschloss, Schulungsraum, Gerichtssaal, Schießstand“ 42, der als gerahmter ‚Guckkasten‘ vom Zuschauerraum aus auch an einen monumentalen, altmodischen Fernsehbildschirm erinnert.43 Zu Beginn treten die fünf Darsteller/innen zu seichter Showmusik winkend und lächelnd auf und sprechen abwechselnd Textpassagen aus Jelineks Werk. Ihre Sprechweise weist eine demonstrative Leichtigkeit, Beschwingtheit und vermeint­liche Unbedarftheit auf, die im krassen Gegensatz zu den berichteten Inhalten steht, handelt das Stück doch von der willkür­lichen Tötung von etwa 180 bis 200 ungarischen jüdischen Zwangsarbeitern in dem österreichischen, nahe der ungarischen Grenze gelegenen Ort Rechnitz im Zuge eines Festgelages von SS-Offizieren, Gestapoführern und einheimischen Gefolgsleuten im März 1945 auf dem Schloss der Gräfin Margit von Batthyány, geborene Thyssen-­Bornemisza. Die Suche nach dem Ort des Massengrabes blieb bis heute erfolglos, auch die Täter/innen wurden nur zum Teil belangt und das Geschehen wurde in der österreichischen Gesellschaft, wie auch der Gemeinde Rechnitz, weitgehend verdrängt.44

40 Elfriede Jelinek. „Rechnitz (Der Würgeengel)“. Drei Theaterstücke. Die Kontrakte des Kauf­ manns. Rechnitz (Der Würgeengel). Über Tiere. Reinbek 2009. S. 53 – 204, S. 195. Diese Thematik wird wohl von Taboris Holocaust-­Theaterstück Die Kannibalen übernommen, wobei der Kannibalismus-­Vorwurf seinerseits – dies muss auch erwähnt werden – „das antisemitische Hetzsymbol schlechthin“ darstellt. Vgl. Dahlke 1997. S. 134. 41 Vgl. Julia Lochte. „Totschweigen oder die Kunst des Berichtens. Zu Jossi Wielers Uraufführungsinszenierung von Elfriede Jelineks ‚Rechnitz (Der Würgeengel)‘ an den Münchner Kammerspielen“. „Die endlose Unschuldigkeit“. Elfriede Jelineks ‚Rechnitz (Der Würgeengel)‘. Hg. v. Pia Janke, Teresa Kovacs u. Christian Schenkermayr. Wien 2010. S. 411 – 425, S. 412. 42 Ebd. S. 414. 43 Die Premiere der Inszenierung fand am 28. 11. 2008 statt. Dieser Analyse liegen die von den Münchner Kammerspielen zur Verfügung gestellte DVD zugrunde (Aufzeichnung der Generalprobe vom 27. 11. 2008) sowie im Internet verfügbare Besprechungen. 4 4 Neben Jelinek haben sich auch andere österreichische Dramatiker/innen der Thematik in jüngster Zeit angenommen, so Peter Wagner mit seinem Theaterstück März. Der 24. Ein fiktiver Versuch über einen real geschehenen Massenmord (Premiere 1995), ferner Hassler und Turrini mit dem erwähnten Stück Jedem das Seine (Premiere 2007), das zwar nicht den Massenmord in Rechnitz selbst, aber die damit in Zusammenhang stehenden Todesmärsche ungarischer Juden behandelt. Außerdem gibt es einen viel diskutierten Dokumentarfilm

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Im Gegensatz zur gattungstheoretischen Unterscheidung von showing und telling und der Zuschreibung des Mediums Theater zum Modus des ‚Zeigens‘ wie auch zu Kategorien wie ‚Präsenz‘ und ‚Verkörperung‘45 stellen die Dramatikerin Jelinek und der Regisseur Wieler die Mittelbarkeit des Berichts und die damit einhergehende (vermeint­liche) Distanz zum Geschehen geradezu ostentativ aus. Jelineks Text greift die Tragödieninstanz des Botenberichts auf, wonach ein andernorts geschehenes Ereignis, bei dem der Bote oder die Botin anwesend war, berichtet wird. Berichte unterbrechen die theatrale Handlung; sie werden tradi­tionell entweder eingesetzt, weil das Geschehen theatral nicht darstellbar ist – Gründe dafür sind erstens die Verletzung der für die klas­sische Dramaturgie maßgeb­lichen ‚Einheit des Ortes‘, die Schauplatzwechsel untersagt, zweitens die technische Unmög­lichkeit, bestimmte Ereignisse szenisch darzustellen (z. B. Schlachten oder Naturkatastrophen), und drittens Darstellungstabus, Dinge zu zeigen, die Ästhetik, Moral oder Anstand verletzen (etwa Gewaltverbrechen, Inzest, Hinrichtungen) – oder aber, weil davon ausgegangen wird, dass ein rein sprach­licher Bericht die Imagina­tion der Zuhörenden stärker anregt als eine szenische Gestaltung.46 Durch den exponierten Rückgriff auf Botenfiguren stellt Jelinek die Frage der (Un-)Darstellbarkeit der Shoah in den Raum. Teil der bereits in der Antike etablierten Konven­tion ist es, dass ein Botenbericht gegenüber den dramatis personae auf der Bühne erfolgt. In Jelineks Text wie auch in der Uraufführung wird diese Instanz der Berichtsempfänger/innen eliminiert, insofern sich sämt­liche auftretenden Figuren als Bot/innen bezeichnen – wodurch metatheatral ausgesagt wird, dass niemand in ‚Handlung‘ verwickelt sein möchte – und sie auch an keiner Stelle miteinander sprechen. Es wird vielmehr ausschließ­lich das Publikum als Berichtsempfänger adressiert und somit indirekt Teil des Bühnenpersonals. Drei (eigent­lich näher zu kommentierende) Textbeispiele für die auch in Wielers Inszenierung verwendete verbale Publikumsansprache sind: „Vorher haben sie sich selbst eine Grube graben müssen, die nackten Männer, […], schauen sie doch bitte noch einmal hin! noch bevor das Blut aus ihnen rinnt und sie langsam aber sicher ihre Form verlieren […].“ „Bitte hören Sie einen Augenblick damit auf, nichts zu sagen!“ „Das wird nachher schon nicht so gewesen sein, daß sie selber geschossen haben, nur keine Sorge! Wir Boten sorgen dafür, daß es nachher nicht so geschehen sein wird! Wir werden über das Massaker von Rechnitz von Eduard Erne und Margareta Heinrich mit dem Titel Totschweigen (Österreich 1994), auf den sich auch Jelinek bezieht. 45 Vgl. Erika Fischer-­Lichte. Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004. S. 129 – 175. 46 Vgl. Claudia Benthien. „Augenzeugenschaft und sprach­liche Visualisierung im Drama (A.  Gryphius: Catharina von Georgien, H. v. Kleist: Penthesilea)“. Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Hg. v. ders. u. Brigitte Weingart. Berlin, New York 2014. S. 357 – 374.

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einander widersprechen, manche werden gar nichts sagen, doch ohne uns wüßten Sie überhaupt nichts […].“ 47

Entsprechend dieser unmittelbaren Einbeziehung des – gleichwohl stumm und passiv bleibenden – Publikums bietet die Schauspielerin Hildegard Schmahl, eine der fünf Bot/innen, ihm an einer Stelle auch Gewehre an („[B]itte, nehmen Sie doch, genieren Sie sich nicht, noch eine Waffe für Sie? Aber gern!“ 48), damit ­dieses sich an der – hier noch in Vorbereitung befind­lichen – Massenerschießung der Zwangsarbeiter beteiligen kann. Darüber hinaus werden die Zuschauer/innen durch penetrierend-­provozierende Blicke und Gesten adressiert. In vielen Szenen treten die Schauspieler/innen an den vorderen Bühnenrand und fixieren einzelne Zuschauer/innen, während sie zum Beispiel von den Rechnitzer Mordhandlungen oder von Massentötungen in den na­tionalsozialistischen Konzentra­tionslagern detailliert und in süffisanter Explizitheit berichten. Als experimentell ist bereits die Anlage ­dieses Stücks zu bezeichnen, das, wie die neuere Dramatik Jelineks insgesamt, postprotagonistisch ist. Dargeboten wird eine „scharfzüngige Polyphonie“ 49 über das Massaker von Rechnitz und das bis heute nicht erfolgte angemessene Gedenken an diese Tat, zum Teil pseudo-­individualisiert, zum Teil als allgemeines ‚Gerede‘ oder ‚Gerücht‘. Eine Pseudo-­Individualisierung erfolgt hier – im Unterschied zu anderen, die Shoah-­Thematik eher durch ein raunendes kollektives ‚Wir‘ repräsentierenden Theatertexten Jelineks, wie etwa W ­ olken.Heim. (1997) – über die penetrant und uneigent­lich wirkende Rede in der ersten Person Singular, bei der der Sprecher oder die Sprecherin sich die verbal übermittelte Ansicht aneignet, sie als die eigene herausstellt. Jelineks Figuren „[stellen] die Bedingungen ihres Erscheinens aus, wenn sie im Zitat ‚von sich‘ sprechend ihre Nachträg­lichkeit und Fik­tionalität offen legen“ 50. Es handelt sich demnach um eine Behauptung von Präsenz und Identität, die als ­solche problematisiert wird. Das Sprechen der Rechnitz-­Bot/innen „oszilliert“ daher „zwischen ‚ich, der ich es jetzt berichte‘ und ‚ich, der ich es getan habe‘ oder ‚ich, der ich mich raushalten will‘“; die ambivalente Figurengestaltung dieser Inszenierung wurde zu Recht als „trans-­psycho­lo­gisch“ bezeichnet.51 Es bleibt in der Schwebe, ob die Bühnenfiguren (Mit-)Täter/innen 4 7 48 49 50 51

Jelinek 2009. S. 129, 142 u. 143. Ebd. S. 123. Lochte 2010. S. 412. Evelyn Annuß. Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens. München 2005. S. 11. „‚Rechnitz (Der Würgeengel)‘ inszenieren. Gespräch mit Julia Lochte, Ute Nyssen und Jossi Wieler, moderiert von Christian Schenkermayr“. „Die endlose Unschuldigkeit“. Elfriede Jelineks ‚Rechnitz (Der Würgeengel)‘. Hg. v. Pia Janke, Teresa Kovacs u. Christian Schenkermayr. Wien 2010. S. 426 – 439, S. 433; zitiert wird Ute Nyssen.

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sind („Die Boten […] sind über keinen Zweifel erhaben. Sind es Wiedergänger jener Abend-­Jagdgesellschaft des Gefolgschaftsfestes auf Schloß Rechnitz? Die Gräfin, ihr Liebhaber, der Ehemann und der andere Liebhaber nebst ihrer Zofe“ 52). Diese L ­ esart wird an einigen Stellen der Inszenierung überaus deut­lich impliziert – entweder, wenn die Bot/innen mit der Sugges­tion des Insiderwissens genau vom Tathergang berichten, den Ort des Massengrabs zu kennen scheinen, oder aber, wenn ihnen, wie eine bewusst plumpe Verbild­lichung ihres ‚Unbewussten‘ (das Jelinek als Instanz bekannt­lich ablehnt), etwas geschieht, was sie verdächtig macht – zum Beispiel eine Szene, in der Hans Kremer kurz hinter die Bühne geht, um sein (bloß verbal vorhandenes) „schweres historisches Gepäck hier irgendwo ab[zustellen]“ 53 und ihm beim Wiedereintreten durch die Tür ein Bündel Gewehre mit lautem Poltern ‚hinterherfällt‘, was zu einem Moment der Irrita­tion und Pein­lichkeit ­zwischen den Bot/innen führt, bis dieser durch Reden übertüncht wird. Die Figurenrede und das zum Teil geäußerte falsche Mitleid über die beständig als ‚hohle Männer‘ bezeichneten Opfer des Rechnitzer Massenmords – eine Anspielung auf T. S. Eliots Gedicht „The Hollow Men“, einem für das Werk wichtigen Intertext – erfolgt ‚mit vollem Mund‘, denn der Regisseur nötigt die Darsteller/innen in einer Tour zu essen und zu trinken, was nicht zuletzt mit Blick auf die nahezu verhungerten Häftlinge (und die Botenrede darüber) degoutant wirkt: Pizza aus Pappkartons, hartgekochte Eier, Hähnchenschenkel, Schokoladentorten, Schnaps, K ­ affee und Champagner. Der von Steven Scharf verkörperte Bote zum Beispiel reflektiert über die „scheue, zurückhaltende Frau“, als die er die Gräfin wahrgenommen habe, während er mehrere Eier in sich hineinstopft und sich vermeint­lich naiv fragt: „War das end­lich die Banalität des Bösen, von der ich schon so viel gehört hatte […]?“ 54 Durch die (wiederholte) Erwähnung des Untertitels der bedeutenden Studie Hannah Arendts über den Eichmann-­Prozess wird auch die Holocaust-­Forschung durch Jelineks Bot/innen, die sich ja als Zeitzeug/innen der Hitlerzeit ausgeben, in Form einer Prolepse banalisiert. Arendt selbst hat die These von der ‚Banalität‘ der Täter und der Bürokratie ihrer Tötungsmaschinerie bezeichnenderweise in einen Theatervergleich gekleidet, indem sie darauf hinweist, dass Eichmann weder Jago noch Macbeth gewesen sei, mithin die Kategorie des Tra­gischen mit Blick auf den Holocaust obsolet sei.55

5 2 53 54 55

Lochte 2010. S. 418. Jelinek 2009. S. 82. Ebd. S. 94. Vgl. Strümpel 2000. S. 44; Hannah Arendt. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Übs. v. Brigitte Granzow. Einl. Essay v. Hans Mommsen. München u. Zürich 1986. S. 15.

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In Rechnitz (Der Würgeengel) werden auch die Unterschiede ­zwischen der Figur des Boten und der für die Shoah-­Theorie so wichtigen Figur des Zeugen 56 in der Botenrede sowohl selbstreflexiv thematisiert („sie haben ja alle geschossen, ich habe sie gesehen“; „ich habe es ja gesehen, da lag ein Mensch, und da auch, und dort auch“) als auch nivelliert („Was brauchen wir da ein Zeugnis? Ich als Bote hätte Ihnen selbstverständ­lich gern einen Beweis in Gestalt eines Zeugnisses gegeben, aber dadurch wäre ich ja Zeuge geworden, nicht Bote“).57 Die Bot/innen diskreditieren ihre Aussagen unentwegt, indem sie betonen, dass diesen keine Wahrheit zugrunde liegen muss (oder kann), dass sie es selbst nicht so genau wissen, ihre Informa­tionen aus zweiter Hand haben, sie rekurrieren auf ihnen überlassene Schriftstücke und Zettel oder merken an, dass sie das, wovon sie sprechen, ledig­ lich gerüchteweise gehört haben. Dazu im krassen Widerspruch betonen sie an anderen Stellen ihre Augenzeugenschaft, wodurch die wichtige Unterscheidung ­zwischen einem (neutral-­distanzierten) Boten und einem (persön­lich involvierten) Zeugen unterlaufen wird. Insofern die Bot/innen oft im Präsens sprechen und explizit auf Ereignisse hinweisen, die sich (angeb­lich) im hic et nunc vollziehen, greifen sie auf eine weitere Theaterkonven­tion zurück: die der Teichoskopie, dem gleichzeitigen Berichten von Geschehnissen, die für das Publikum und die anderen Bühnenfiguren nicht sichtbar oder hörbar sind. Dabei explizieren sie zum Teil auch metatheatral ihre Kompetenzen sowie die Wahrnehmungsweisen des Publikums: „Die Gewehre schießen mit hellem Schall hinaus aus dem Schloß und machen die Pferde scheu, das ganze Gestüt. Sie hören es ja, Sie hören sie ja trampeln und brüllen. Sie sehen das Weiße in ihren Augen, nein, Sie sehen es eben nicht, dazu brauchen Sie wiederum mich.“ 58 Explizit wird das Publikum zum Hören und Sehen der Massen­tötung aufgefordert, die sich ‚jetzt‘ vollzieht, explizit weist der/die Mauerschauende auf die mediale Funk­tion der teichoskopischen Rede hin. Teichoskopie als Schilderung von Ereignissen, die sich simultan zum Bühnengeschehen neben, vor oder hinter der Bühne abspielen und von der sprechenden Person zugleich perzipiert und verbalisiert werden, unterscheidet sich vom Botenbericht, weil die temporale und damit auch reflexive Distanz fehlt. Einschlägige Beispiele aus Jelineks Text, die auch in Wielers Inszenierung gesprochen werden, sind (wobei im ersten Beispiel auf bestehende Spannungen ­zwischen Teichoskopie, Zeugenschaft und Boten­ bericht sogar angespielt wird):

56 Vgl. „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah. Hg. v. Ulrich Baer. Frankfurt a. M. 2000. 57 Jelinek 2009. S. 121, 133 u. 184 f. 58 Ebd. S. 172 f.

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„Und da gibt es lebende Tote, ich habe sie selbst gesehen, obwohl ich eigent­lich hätte von ihnen berichten sollen, die mußte man nur mit dem kleinen Finger anstoßen, und schon fielen sie um, die Menschen, ja, diese hier ganz besonders, 180 Stück, da liegen sie, und nichts mehr dran an ihnen […].“ „[D]a graben sie schon wieder, graben an der richtigen wie an der falschen Stelle […].“ „Dort, die nackten Männer, sind ja nur an die 200 oder so, die schaffen wir noch, für die brauchen wir keine lichtlosen Kammern, über die man nicht spricht, von denen es keine Fotografie gibt […].“ 59

In diesen schwer erträg­lichen Textstellen, die das Rechnitzer Massaker assoziativ mit den na­tionalsozialistischen Vernichtungslagern verknüpfen, wird mittels Deiktika (‚diese hier‘, ‚dort‘, ‚da‘) explizit auf die räum­liche Präsenz der Opfer, der Leichen und des Grabes verwiesen. Die verbale Präsenzsimula­tion kulminiert in einer Sequenz, in der plötz­lich eine Reihe lauter Gewehrschüsse im Off zu hören sind. Die Schauspieler/innen halten in ihrer Rede und ihren Bewegungen inne; sie setzen sich Kopfhörer (zum Schallschutz?) auf und warten, bis ‚es‘ vorbei ist. Sodann wendet sich der von Kremer verkörperte Bote im Stil eines Radiomoderators ans Publikum: „Sie hörten soeben unsere täg­liche Sendung von der Banalität des Bösen, Sie kennen sie eh schon, und zwar von gestern und vorgestern, und jetzt wieder Musik“ 60 (die aber nicht erfolgt). Die Schüsse sind im Theaterraum real erfahrbar, werden aber als ‚Sendung‘ bezeichnet – erzeugt wird so ein verstörender „Unwirk­lichkeitseffekt“ 61. Sie stehen für die gleichzeitige An- und Abwesenheit der grausamen Tat, was die Tonregie durch die Verwendung eines Halleffekts, der den Schüssen ‚ein Echo gibt‘, akustisch dupliziert. Im Anschluss an die den Erschießungsakt simulierenden Schüsse setzt sich der Plauderton fort. Kremer korreliert in einer tautolo­gischen Jelinek‘schen Worttirade ‚das Vergangene‘ und ‚das Begangene‘: „Was die hier begangen haben, das sollte besser verschwinden, das sollte übergangen werden, aber nicht mehr begangen, es sollte weggeräumt werden, das Begangene, damit keiner es mehr begehen kann.“ 62 Jelineks Theatertext und Wielers Inszenierung, so lässt sich schließen, verdeut­lichen mit sprach­lichen und inszenatorischen Mitteln, „dass es in einem bestimmten Sinn gar keine Vergangenheit mehr gibt, weil die Trennung z­ wischen ihr und der Gegenwart unmög­lich geworden scheint“ 63, und somit auch die ­Unmög­lichkeit 59 60 61 62 63

Ebd. S. 115, 134 u. 159. Ebd. S. 99. Annuß 2005. S. 134. Jelinek 2009. S. 99. Gerhard Scheit. „Na­tionalsozialismus“. Jelinek-­Handbuch. Hg. v. Pia Janke. Stuttgart u. Weimar 2013. 286 – 291, S. 286.

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von ­‚Vergangenheitsbewältigung‘. Anders gesagt: „Jelineks Verfahren stellt die Verbindung zur Gegenwart her und präsentiert die Erinnerung an die Shoah durch die sprach­liche Fik­tion hindurch als unabschließbar.“ 64 Ihr Stück erhielt 2009 den Mülheimer Theaterpreis und Wielers Uraufführung wurde von der Zeitschrift ­theater heute zur Inszenierung des Jahres 2009 gewählt. IV. „We did a Mahnmal for you!“ – Dritte Generation in der Regie von Yael Ronen & The Company an der Berliner Schaubühne

Dritte Genera­tion oder 3rd Genera­tion  – so der interna­tionale Titel – ist eine Koopera­ tionsproduk­tion des Habima Na­tional Theatre of Israel, Tel Aviv, der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz und der RuhrTriennale 2009 im Auftrag von „Theater der Welt“ 2008 in Halle. Die erste Arbeitsphase ­dieses work in progress (Untertitel der Inszenierung) erfolgte 2008 in Israel und Deutschland, die Ergebnisse wurden auf dem Festival „Theater der Welt“ in Halle präsentiert. Darauf folgte eine zweite Arbeitsphase, die in dem Stück resultierte, das 2009 seine Berliner Premiere erlebt hat und bis 2014 noch auf dem Spielplan stand. Diese Theaterproduk­tion ist schon insofern experimentell, als dass die israe­lische Regisseurin Yael Ronen keinen präexistenten Theatertext zugrunde legt, sondern dieser erst im Probenprozess gemeinsam mit den Schauspieler/innen entstanden ist, die somit Koautor/ innen und Koregisseur/innen sind („The Company“). Die Inszenierung geht von einer Versuchsanordnung aus: Es wirken – in leicht wechselnder Besetzung – zehn Schauspieler/innen mit, darunter vier deutsche und sechs israe­lische, von denen drei jüdischer und drei palästinen­sischer Herkunft sind. Sie suchen in mono- und dialo­gischen Annäherungen das äußerst belastete Verhältnis deutscher, israe­lischer und palästinen­sischer Geschichte zu erkunden. Dabei greift Ronens Inszenierung jene Fragen nach der Angemessenheit und Notwendigkeit von Erinnerung auf, die in radikalerer Weise bereits in der israe­lischen Inszenierung Arbeit Macht Frei vom Toitland Europa thematisiert wurden. Die Inszenierung Dritte Genera­tion hat kein Bühnenbild, sondern findet im nackten Betonrondell des kleinen Saals der Schaubühne statt.65 Die Protagonist/innen sitzen dem Publikum im Halbrund auf Stühlen gegenüber und treten wie in einer Gruppentherapie in den Kreis, um ein (traumatisches oder bloß profanes) Ereignis 6 4 Annuß 2005. S. 130. 65 Die Berliner Premiere fand am 20. 3. 2009 statt. Dieser Analyse liegen ein Besuch der Aufführung am 10. 6. 2014 und eine von der Schaubühne Berlin zur Verfügung gestellte DVD zugrunde (Aufzeichnung der Vorstellung am 25. 3. 2009) sowie im Internet verfügbare Besprechungen.

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zu berichten oder theatral darzustellen – die Inszenierung schwankt beständig ­zwischen diesen zwei Modi von Narra­tion und Verkörperung. Korrespondierend zum Titel des Stücks tragen alle Mitwirkenden rote T-Shirts mit der Aufschrift „3G“ und verstehen sich, ungeachtet ihrer unterschied­lichen Lebensalter und individuellen Biografien, einheit­lich als Mitglieder der ‚dritten Genera­tion‘ nach der Shoah. Entsprechend wird in der ‚Vorstellungsrunde‘ zu Beginn fast nicht über die Eltern der Darsteller/innen, sondern über die Großeltern berichtet. In der Holocaust-­ Theorie wird das Verhältnis von direkter Teilhabe am historischen Ereignis und dem genera­tionsbedingten Abstand als Form eines ‚Nach-­Gedächtnisses‘ (post­memory) beschrieben. Es handelt sich dabei um „a powerful and very particular form of memory precisely because its connec­tion to its object or source is mediated, not through recollec­tion but through an imaginative investment and crea­tion“ 66. Die transgenera­tionelle Vergegenwärtigung der Shoah besteht nach Marianne Hirsch in einer Form des „retrospective witnessing by adop­tion“ 67. Derartige Prozesse werden in Dritte Genera­tion dargestellt, aber mittelbar auch problematisiert. So ist fragwürdig, ob alle Mitwirkenden aufgrund ihres unterschied­lichen biografischen Hintergrundes gleichermaßen ein ‚Recht‘ haben, sich biografisch auf die Shoah zu beziehen: weil sie entweder ‚Opferenkel/in‘ oder ‚Täterenkel/in‘ oder weder das eine noch das andere sind. Die Schauspieler/innen bringen persön­liche Erzählungen und kollektive Narrative über die eigene und die fremde Geschichte ein und konfrontieren sich gegenseitig sowie natür­lich die Zuschauer/innen mit diesen auf Deutsch, Eng­lisch, Hebräisch und Arabisch vorgetragenen Versatzstücken (samt an die Wand projizierter Synchronübersetzung, die das Thema sprach­licher und kultureller ‚Übersetzung‘ einbringt). Die Reak­tionen auf diese Erzählungen und Meinungen sind ebenfalls Teil des Stückes, das sich als eine konstante Verhandlung von Geschichte und Gegenwart präsentiert. Es geht um ein Hinterfragen von Konzepten wie Erinnerung, Schuld und ‚Wiedergutmachung‘, insbesondere Rituale institu­tioneller Erinnerung werden problematisiert. Ein zentrales Motiv der Inszenierung sind die deplatziert wirkenden ‚persön­lichen Entschuldigungen‘ des sich zu Beginn als eine Art Spielleiter gerierenden Darstellers Niels Bormann, der preisgibt, sein Großvater sei ein Nazi gewesen. So entschuldigt er sich zum Beispiel gegenüber einem jüdischen Israeli, dessen Großvater durch den elektrischen Zaun in Buchenwald ums Leben kam, mit einem Schulter­klopfen. Als dieser unwirsch mit „It’s okay, forget about it!“ reagiert, ist die Sache auch für

66 Marianne Hirsch. Family Frames: Photography, Narrative and Postmemory. Cambridge 1997. S. 22; siehe auch Hirsch 2012. 67 Marianne Hirsch. „Surviving Images: Holocaust Photographs and the Work of Postmemory“. The Yale Journal of Criticism 14.1 (2001): S. 5 – 37, S. 10.

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Niels erledigt und sofort beginnt er, sich als Repräsentant der Deutschen bei einer anderen mitwirkenden Person für den Holocaust pauschal zu entschuldigen, ohne die Maßlosigkeit dieser Geste zu reflektieren. Die Entschuldigungsgebärden wirken wie eine Litanei, ein neurotisches Ritual, das bei den Zuschauer/innen Pein­lichkeit und Lachen auslöst. Ebenso ritualisiert und unangemessen aber ist die von der Israelin Orid Nahmias beständig vorgebrachte Mahnung „Don’t compare!“, die das berechtigte Herausstellen der Singularität der Shoah mit einem generellen Verbot des Vergleichs des Genozids an den europäischen Juden mit anderen Ereignissen von Massengewalt auf problematische Weise verknüpft. Das gilt besonders für die gleichfalls in der Inszenierung mitverhandelte historische Katastrophe des palästinen­sischen Volkes, die Nakba (‫)النكبة‬, die gewaltsame Vertreibung von etwa 700.000 arabischen Palästinenser/innen aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina im Jahr 1948 bei der Gründung des Staates Israel. Besonders prekär, weil mit schwarzem Humor und Tabubrüchen spielend, sind jene Szenen, in denen die drei jüdisch-­israe­lischen Darsteller/innen aktiv über ihre Auseinandersetzung mit der Shoah berichten: zum Beispiel eine Sequenz, in der sie von Schulexkursionen in die polnischen Konzentra­tionslager erzählen. Die Darstellerin Riki B­lich (bzw. Ayelet Robinson) singt das angeb­lich für den israe­ lischen Holocaust Memorial Day komponierte Lied „Before I went to Auschwitz“, in dem es heißt, dass sie erst, nachdem sie dort war, die wahre ‚Bedeutung des Lebens‘ kenne, und wisse, warum sie Jüdin sei – vorgetragen wird dieser laienhafte Song mit Gitarrenbegleitung in einer kitschigen Tonlage und im Protestsong-­Stil einer Liedermacherin wie Joan Baez. Der Song wird von der zweiten Jüdin mit den Worten „Thank you, Riki [Ayelet], that was moving!“ kommentiert (woraufhin das Berliner Publikum lacht). Den Schluss dieser musika­lischen Sequenz bildet ein im Gestus der ‚Sinnsuche‘ angelegtes Lied, in dem die Sängerin in rührselig-­pathetischer Manier nach ihrer Herkunft fragt und feststellt, dass diese wohl ‚­Auschwitz‘ sei, während sie aber nicht wisse, wohin die Zukunft sie bringen werde. Das Lied mündet in den zu dritt gesungenen Refrain „Don’t stop sending us to Auschwitz!“, in dem der Appell artikuliert wird, allein die verpflichtenden Schulexkursionen der Israelis würden dafür sorgen, dass „Auschwitz won’t happen to you“ bzw. „that there won’t be an Auschwitz No. 2“. Die Doppeldeutigkeit des Refrains besteht evidenterweise darin, dass ‚die Juden‘ hier explizit darum bitten, weiterhin ‚nach Auschwitz geschickt zu werden‘. Direkt an d ­ ieses vom Publikum mit (beschämtem) Lachen quittierte Lied – ähn­lich wie bei Tabori ist es ein Lachen, das einem „im Halse ­stecken bleib[t]“ 68 – anschließend tritt der deutsche

68 Dahlke 1997. S. 132.

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Schauspieler Matthias Matschke nach vorn und wendet sich mit einer verschwörerischen Geste und vertrau­licher Tonlage ans Publikum: Er möchte end­lich einmal Klartext reden und findet, dass die Deutschen lange genug für die Schulexkursionen gezahlt haben, und dass nun „ein Schlussstrich“ der ewigen Wiedergutmachung zugunsten der „na­tionalen Interessen“ zu ziehen sei. Dieses ins deutschsprachige Theater durch Elfriede Jelinek eingebrachte Motiv rechtsradikaler Polemik („Einmal muß Schluß sein!“, wie es gebetsmühlen­artig etwa in Stecken, Stab und Stangl heißt 69) wird auch hier nicht ausgelassen, allerdings wird es mit dem vermeint­lich natür­lichen ‚Bedürfnis‘ der dritten Genera­tion der Deutschen verbunden, end­lich wieder stolz auf ihr Land sein zu dürfen – wie dies bislang nur mit Blick auf die Fußballna­tionalmannschaft mög­lich sei, so Matthias’ Beobachtung. Seine Ausführungen münden in einen spontan wirkenden, aggressiven Disput mit dem Israeli Ishay Golan, der den deutschen Schauspieler/innen pauschal vorwirft, „You did not face your past!“ und dem wiederum von Matthias vorgehalten wird, er wisse nicht einmal, was ein Mahnmal ist, und dass dasjenige in Berlin („We did a Mahnmal for you!“) so groß wie ein Fußballstadion sei und mehr als 28 Millionen Euro gekostet habe – „Our grandparents money!“, wie von jüdisch-­israe­lischer Seite sarkastisch eingeworfen wird, worauf der Deutsche ­erschreckend naiv mit den Worten entgegnet, „We did pay you back.“ Speziell in derartigen Momenten der Eskala­tion und Grenzüberschreitung – an einer Stelle wird das Publikum von einer Jüdin pauschal als ‚Nazis‘ beschimpft, an einer anderen weist ein deutscher Darsteller seinen jüdischen Freund darauf hin, „I don’t have an Endlösung for everything!“ – kommen bestehende Vorurteile und kulturelle Stereotype zum Vorschein, bei denen oft unbestimmbar bleibt, ob die Schauspieler diese verkörpern oder bloß spielen; dies nicht zuletzt, weil sie sich in dieser Inszenierung durchgehend mit ihren realen Vornamen adressieren. Es ist die beständige Gratwanderung z­ wischen Faktualität und Fik­tionalität, die diese Inszenierung prekär und spannend macht und dazu geführt hat, dass sie mehrere Preise erhalten und außerordent­lich viele Gastspiele erlebt hat, wobei allerdings auch Kritik aufgrund der belustigten Publikumsreak­tion nicht ausgeblieben ist.

69 Elfriede Jelinek. Stecken, Stab und Stangl. Raststätte. Wolken.Heim. Neue Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg 1997.

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V. „Der Jude wird verbrannt!“ – Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise und Elfriede Jelineks Abraumhalde in der Regie von Nicolas ­Stemann am Hamburger Thalia Theater

Nicolas Stemann bemerkt in einem Interview, Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise sei nach dem Zweiten Weltkrieg so populär gewesen, weil „man es schön als ‚Wiedergutmachstück‘ spielen [konnte]“, und wirft folgende Fragen auf: „Würde ‚Nathan‘ noch diesen hohen Stellenwert besitzen, wenn es Auschwitz nicht gegeben hätte? Wäre das Stück so wichtig, wenn es nicht ‚der Jude‘, sondern vielleicht ‚ein Protestant‘ wäre?“ 70 Stemanns Nathan-­Inszenierung am Thalia Theater 2009 verknüpft Lessings Text mit dem „Sekundärdrama“ Abraumhalde von Elfriede Jelinek, einer von der Autorin erfundenen dramatischen Untergattung, deren Konzep­tion sie in einem Begleittext wie folgt erläutert: „Das Hauptdrama kann Szenen aus dem Seitendrama integrieren, der Text kann im Hintergrund als Schrift durchlaufen, man kann ihn wie ein Hörspiel hören, aus dem Off oder von Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne, neben dem Hauptstück, nur gesprochen oder auch gespielt. Das Hauptstück kann kurz zurücktreten und dem Sekundärstück Platz machen und umgekehrt.“ 71

Die Themenkomplexe, die Jelinek in Abraumhalde aufgreift, sind vielschichtig: Neben Lessings ‚dramatischem Gedicht‘ geht es auch um verschiedene antike Mythen (Antigone, Ödipus) sowie um den eklatanten Inzestfall im österreichischen Amstetten, bei dem der Täter Josef Fritzl seine Tochter jahrzehntelang in einem Keller einsperrte und vergewaltigte, woraus sieben Kinder entstanden. Jelinek greift insbesondere das Kellermotiv auf und verschränkt somit indirekt die Liebe Nathans zu seiner Adoptivtochter Recha mit der ‚Liebe‘ Fritzls zur eingesperrten Tochter Elisabeth, was einen krassen Tabubruch darstellt. Stemanns Uraufführung des Sekundärdramas bedient sich nur einzelner Passagen aus Jelineks dichtem Text. Die in Stemanns obigen Fragen angedeutete Problematisierung von Lessings 70 „‚Dem Stück den Hass zurückgeben – aber auch das Leben‘. Ein Gespräch mit Nicolas ­Stemann und Benjamin von Blomberg, moderiert von Ortrud Gutjahr“. ‚Nathan der Weise‘ von Gotthold Ephraim Lessing. Texterprobungen mit ‚Abraumhalde‘ von Elfriede Jelinek in Nico­ las Stemanns Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Hg. v. Ortrud Gutjahr. Würzburg 2010. S. 191 – 203, S. 200 f. Neben Nathan der Weise ist William Shakespeares Komödie Der Kaufmann von Venedig (1600) der zweite „Bühnenklassiker“, in dem „Jüdisches“ auf deutschsprachigen Bühnen thematisiert wird; Strümpel 2000. S. 40. 71 Elfriede Jelinek. „Anmerkungen zum Sekundärdrama“. http://www.elfriedejelinek.com/ (zum Theater/Anmerkung zum Sekundärdrama; vom 6. 10. 2015).

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‚Toleranzdrama‘ erfolgt also zum einen durch die Inserierung einer zweiten Textschicht, die ausspricht, „was nicht ausgesprochen werden darf“ 72 – „Einsprüche“ zu Sätzen und Worten Lessings: „Mittels dieser eingelagerten ‚Fremdtexte‘ wird Lessings ‚Dramatisches Gedicht‘ durch Erfahrungsgehalte und Assozia­tionen aufgestört, die an die Zeit des Na­tionalsozialismus wie auch die jüngste Zeitgeschichte anknüpfen.“ 73 Die Shoah-­Thematik ist in Abraumhalde wesent­lich latenter als in Rechnitz (Der Würgeengel), gleichwohl finden sich ähn­liche Leitmotive, etwa das des Grabens und der nicht rituell bestatteten Leichen. Neben der sprach­lichen Kontrafaktur durch den Jelinek-­Text erfolgt die Pro­ ble­matisierung des Lessing’schen Toleranzpostulats in Stemanns Inszenierung über multimediale Elemente und postdramatische Theatertechniken, die eine historische Situierung in der Nazizeit und überdies eine Pogromstimmung erzeugen.74 Dazu zählen die Kostüme und Requisiten, wie zum Beispiel altertüm­lich wirkende Rundfunkmikrofone, die an die Dreißigerjahre erinnern, aber auch der Einsatz von Videotechnik und Sound. Nachdem die Inszenierung in der ersten halben Stunde fast wie ein Hörspiel abläuft und die visuelle Ebene bewusst entzogen ist, wir die Dialoge des Nathan fast ungekürzt in schönster, tradi­tioneller Schauspielsprache hören, ohne die Sprecher/innen auch zu sehen („[Es war] mir wichtig, ‚Nathan‘ zunächst als artifizielles ‚Kunst-­Werk‘ vorzustellen, als ‚Sprachkunst-­Werk‘ – und das kann ich nur machen, wenn ich die Körper ausschließe und das Theatra­lische außen vor lasse“ 75), bricht nach und nach der vielstimmige Jelinek-­Kommentar in den Aufklärungsdialog ein. Zugleich wird im Hintergrund der Bühne eine riesige Videoprojek­tion sichtbar, auf der nichts als ein brennendes Feuer zu sehen ist, und das sphärisch wirkende, nicht konkret lokalisierte Brennen ist simultan über Lautsprecher leise zu hören. Die Schauspieler/innen stehen währenddessen fast unbeweg­ lich auf der Bühne und die Stimme des ‚alten Nathan‘ ertönt, der die Ringparabel deklamiert. Dann erfolgt für einen Moment Stille (bevor die Recha-­Emana­tion spricht) und das flackernde Licht des projizierten Feuers stellt für einige Minuten die einzige Beleuchtung des Bühnen- und Zuschauerraums dar und wird – auch 72 Stemann/Interview 2010. S. 193. 73 Ortrud Gutjahr. „Was heißt hier Aufklärung? Gotthold Ephraim Lessings ‚Nathan der Weise‘ und die Probe aufs Wort mit Elfriede Jelineks ‚Abraumhalde‘ in Nicolas Stemanns Inszenierung“. ‚Nathan der Weise‘ von Gotthold Ephraim Lessing. Texterprobungen mit ‚Abraumhalde‘ von Elfriede Jelinek in Nicolas Stemanns Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Hg. v. ders. Würzburg 2010. S. 43 – 71, S. 65 u. 68. 74 Dieser Analyse liegen ein Besuch der Aufführung am 14. 6. 2011 und eine vom Thalia Theater zur Verfügung gestellte DVD zugrunde (Aufzeichnung der Premiere am 3. 10. 2009) sowie im Internet verfügbare Besprechungen. 75 Stemann/Interview 2010. S. 193.

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durch die zwischenzeit­liche kurze Abwesenheit der Darsteller/innen – als bedroh­ liche Atmosphäre 76 wahrgenommen. Mehrfach wird in der Inszenierung folgende Textpassage aus Abraumhalde gesprochen und variiert (erst von dem Recha-­Engel, dann von der Verkörperung der ‚alten Darja‘): „Das Haus, das brannte, das brannte, da kann man nichts machen, es hat hier gebrannt, wir bauen uns ein neues, ein bequemeres, ein bequemeres. Verbrannt? Verbrannt? Verbrannt? Nicht auf immer, will ich hoffen? Wiederaufersteht aus Ruinen? Nein. Verbrannt verbrannt. Mein letztes Wort. Ich verkünde Frieden. Christus ist Frieden. Nein. Umsonst. Kein Frieden. Bitte taub sein!, der Bitte taub.“ 77

Durch das nicht verortbare, alles umfassende Brennen auf der Bühne, das Niederwerfen der Manuskripte, aus denen die Schauspieler/innen bislang den Nathan-­Text rezitiert haben, die Allusion der aus einer riesigen Papierplane bestehenden Videoleinwand, die sich wie eine überdimensionierte Thora laut knisternd entrollt, sowie durch die Textpassage über das brennende Haus wird auf die na­tionalsozialistische Bücherverbrennung im Mai 1933 angespielt, die nicht zuletzt in Hamburg unter begeisterter Mitwirkung der Bevölkerung stattfand. Das Brennen wird aber auch mit dem dreimaligen Ausruf der Lessing-­Figur des richtenden Patriarchen verbunden: „Tut nichts! Der Jude wird verbrannt!“ 78 Dieser auf die Figur Nathan gemünzte Beschluss wird aufgrund der durch die Nazis verbreiteten Verallgemeinerungen über ‚den Juden‘ ebenfalls assoziativ mit der Judenvernichtung in den Konzentra­tionslagern verbunden und erzeugt eine unbestimmte Atmosphäre der Angst.79 Die Brutalität, mit der der Patriarch in Lessings Drama den Sachverhalt, dass Nathan eine Christin als Tochter angenommen und diese nicht im christ­lichen Glauben, sondern, wie der Tempelherr versichert, „in keinem Glauben aufer­zogen“ 80 hat, bestrafen will – mit einem Tod auf dem Scheiterhaufen –, wird durch Stemanns konzentrierte Inszenierung herausgearbeitet. Auch das Faktum, dass in d­ iesem langen Dialog Lessings ohne dessen Anwesenheit über ‚den Juden‘ gesprochen und geurteilt wird, wird durch die in weiten Teilen auf die Sprachdimension reduzierte Inszenierung hervorgehoben. 76 Zur Bedeutung des der Neuen Phänomenologie entnommenen Begriffs der Atmosphäre als Kategorie von Theateraufführungen vgl. Fischer-­Lichte 2004. S. 200 – 209. 77 Elfriede Jelinek. „Abraumhalde“. Zit. nach http://www.elfriedejelinek.com/ (Theater/ Abraumhalde; vom 6. 10. 2015). Manuskript S. 1. 78 Gotthold Ephraim Lessing. „Nathan der Weise“. Werke und Briefe Bd. 9: Werke 1778 – 1780. Hg. v. Klaus Bohnen u. Arno Schilson. Frankfurt a. M. 1993. S. 483 – 627, S. 578 – 579, V. 168, 174 u. 180 f. 79 Vgl. Gutjahr 2010. S. 197. 80 Lessing 1993. S. 578, V. 178.

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Erst nach und nach wird die Traumatisierung Nathans zum Thema, die latent hinter seiner dominanten Versöhnungs-­Attitüde steht: dass seine gesamte Familie von Christen ermordet wurde, als sie sein Haus abgebrannt haben. Der Regisseur hat bezüg­lich der von Lessing und Jelinek dargestellten Glaubenskriege z­ wischen Christen, Juden und Moslems – die er in einer furiosen Szene mit Live-­Video und krasser Maskerade der übertrieben agierenden Schauspieler/innen gestaltet, die, Jelinek-­Passagen rezitierend, abwechselnd christ­liche, jüdische und islamistische Fundamentalist/innen darstellen, die mit allerlei stereotypen Requisiten (Kreuz, Maschinengewehr, Fritzl-­Maske) herumfuchteln – bemerkt: „Das Stück spielt auf einem Leichenfeld, in einer Art Bürgerkriegszustand, bei dem sich diese drei religiösen Gruppen unversöhn­lich gegenüberstehen. Ich habe versucht, dies immer im Bewusstsein zu behalten und im Text die Stellen zu suchen, an denen es böse wird und die Figuren nicht sofort die Kurve kriegen. Mich haben diese Haarrisse in der Konstruk­tion ­dieses Dramas interessiert. Ich habe die Stellen aufgespürt, an denen die Figuren nicht prompt wieder gut sind und das Richtige tun[,] und versucht, sie über die chorischen Einlagen herauszu­ stellen, um dem Stück den Hass zurück zu geben – aber auch das Leben. Letztend­lich treten ja in der Inszenierung mittels des Jelinek-­Textes die ‚wirk­lichen‘ Figuren auf und beschweren sich bei den Schauspielern darüber, dass sie als Menschen zu kurz kommen.“ 81

Hier wird auf ein für die Inszenierung ebenfalls wichtiges Strukturelement ver­wiesen, das bislang nur indirekt thematisiert wurde. Stemann setzt für Nathan, Recha und Darja jeweils eine Doppel- oder besser: Wiedergängerfigur ein, die aus einer anderen (Theater-)Zeit zu kommen scheint. Recha wird durch eine sphärische junge Engelsfigur gedoppelt, Nathan und Recha jeweils durch alte Schauspieler/innen, die auch in übertriebenen und dem ‚alten Theater‘ entstammenden Kostümen auftreten und ihre Texte entsprechend deklamieren. Im Unterschied zu den fünf post­dramatischen Performer/innen der Lessing- und Jelinek-­Texte ‚verkörpern‘ diese ihre Rollen im klas­sischen Sinne, sie „brechen [als] Figuren in die Annäherungsversuche an das Drama ein, die eine Sprech- und Spielweise einklagen, ­welche als verloren oder überholt erscheint“ 82. Der alte ‚Theater-­Nathan‘, gespielt von C ­ hristoph Bantzer mit langem jüdischem Rauschebart sowie wogendem Gewand und ebensolcher Stimmlage, klagt in Tragödienmanier über den Verlust seiner Familie. Und doch scheint in ­diesem Pathos eine verborgene Wahrheit auf, die Artikula­tion einer transhistorischen Klage, die anrührt und innerhalb des postmodernen Theaterapparats wie ein Nachleben der alten, durch den Na­tionalsozialismus zerstörten affekterregenden

81 Stemann/Interview 2010. S. 197. 82 Gutjahr 2010. S. 68.

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‚jüdisch-­deutschen‘ Theatertradi­tion wirkt. Um ­dieses Verschwinden anzudeuten, ist die Klage ‚des Juden‘ in Stemanns Inszenierung nur fraktal hörbar: gebrochen durch den redseligen Jelinek-­Text und die ostentativ übertriebene Theatralik der sie umrankenden Szenen. VI. „Und in den Ofen rein.“ – Werner Fritschs Die Sonne auf der Zunge in der Regie von Jörg Fürst am Kölner A.Tonal.Theater

„Multimediale Performance zur Utopie einer Utopie“ lautet der Untertitel der Uraufführung von Werner Fritschs Theatertext Die Sonne auf der Zunge am A.Tonal.Theater, einer Kölner Off-­Theater-­Inszenierung, die viel Beachtung fand. Der Text lässt sich grob als Abfolge dreier Frauenmonologe in unterschied­lichen historischen Konstella­tionen fassen, wenngleich die Figurenrede gebrochen und polylog ist – es handelt sich also auch hier um ein postprotagonistisches Theaterkonzept. Die Monologe werden von den Darsteller/innen in Jörg Fürsts Inszenierung auch nicht verkörpert, sondern stimm­lich realisiert, ergänzt durch choreografierte Gestik. Der erste Teil „Vor unserer Zeit“ widmet sich dem antiken Mythos der Fruchtbarkeitsgöttin Persephone, w ­ elche aus Liebe von Hades, dem Gott der Unterwelt, entführt und mithin zur Göttin der Toten wird. Auch Persephones ­Mutter, Demeter, spricht an einer Stelle in Fritschs Text, sie wendet sich an Zeus, ihren Bruder und zugleich Vater ihres Kindes und bittet um dessen Rettung. Im zweiten Teil „In unserer Zeit“ spricht laut Textbuch eine „Alte Frau“ 83; es handelt sich bei d ­ iesem laut Programm­ ankündigung des A.Tonal.Theaters um „die reale Geschichte der Roma Courash im KZ Auschwitz“ 84. Der dritte Teil „Nach unserer Zeit“ verhandelt mehrere nicht klar identifizierbare Sujets, er führt mittels historischer Längsschnitte bis in die Gegenwart, was u. a. durch Rekurse auf 9/11 deut­lich wird. Wie der Untertitel nahelegt, handelt es sich bei Fürsts Inszenierung nicht um klas­sisches Sprechtheater, sondern um ein multimediales Spektakel: eine Zusammenführung von gesprochener Literatur, Körperbewegung, Lichtinstalla­tion, elek­ tronischer und alter Musik sowie Videoprojek­tion, wobei der dreiteilige Text Fritschs den Abend gleichwohl strukturiert.85 Er wird in weiten Teilen von den Darstellerinnen Alexe Limbach, Andrea Köhler und Christine Stinemeier chorisch in am 83 Die Verfasserin dankt Werner Fritsch für die Bereitstellung des für den Aufsatz zentralen zweiten Teils des unveröffent­lichten Theatertextes Die Sonne auf der Zunge, aus dem nachfolgend zitiert wird. 84 Vgl. http://www.atonaltheater.de/programm/die-­sonne-­auf-­der-­zunge.html vom 6. 10. 2015. 85 Dieser Analyse liegen die vom A.Tonal.Theater Köln zur Verfügung gestellte DVD zugrunde (Aufzeichnung der Premiere vom 16. 11. 2011) sowie im Internet verfügbare Besprechungen.

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vorderen Bühnenrand stehende Mikrofone gesprochen, vielfach auch geschrien, und weist eine starke Poetizität auf. Der Sprachstil ist dicht, assozia­tionsreich und lyriktheoretisch formuliert ‚dunkel‘. Dies führt dazu, dass der Sinn des Gesagten in der münd­lichen Präsenta­tionsform immer nur momenthaft aufscheint und sich in weiten Teilen entzieht. Die kraftvolle Textperformance wird durch beständige Licht- und Farbwechsel ergänzt sowie durch einen Mix aus elektronisch verzerrter Avantgarde-­Musik und barocken Elementen, die auf Flöte und Cembalo von zwei Musiker/innen auf der Hinterbühne live gespielt werden. Die drei jungen Schauspielerinnen, die den Text performieren, sind in High Heels, Hotpants, Minirock und goldene Leggings gekleidet, sie tragen Perücken und sind stark geschminkt, dadurch sehen sie wie Popsängerinnen oder wie Comicfiguren aus. Ihr visuelles und habituelles Erscheinungsbild steht in provozierendem Kontrast zu den archaischen und kruden Inhalten ihrer Rede, in der es um Gewalt, Krankheit, Missbrauch, Terrorismus, Genozid, Mord und Tod geht. Die Präsenta­tionsform der drei Textteile unterscheidet sich nicht fundamental voneinander – was als Aussage der Verwobenheit der historischen Schicksale, kritisch gesprochen auch als fragwürdige Amalgamierung, zu deuten ist –; allerdings ist der zweite, im Konzentra­tionslager Auschwitz ‚situierte‘ Teil durch eine etwas stillere und weniger aggressive Sprechweise und zurückhaltendere Gebärden gekennzeichnet. Der Monolog der Roma-­Frau ist an eine junge Frau adressiert, die im Begriff ist, ein Kind zu gebären. Während bei ihr die Wehen einsetzen (zwei Schreie stellen die einzige verbale Artikula­tion dieser ‚Figur‘ in der Inszenierung dar) und die alte Frau dem Anschein nach zu ihrer Geburtshelferin wird, spricht Letztere über den gewaltsamen, traumatischen Tod ihrer eigenen Kinder: „In Auschwitz. Sind alle meine Kinder der Reihe nach umgefallen. Vor Hunger.“ Beklagt werden mit drastischen Worten zum einen der Tod einer vierjährigen Tochter, die in der Latrine ertrunken ist, ohne dass die M ­ utter eingreifen konnte („Die ist direkt ersoffen in Auschwitz, mein Mädl! Du guter Gott! In der Scheiße!“), zum anderen der Tod eines sehr kleinen Sohnes, dem sie, weil sie weder Muttermilch noch andere Nahrung für ihn hatte, eigenhändig das Leben genommen hat: „Hab ich den Buben genommen Hab ich ihn auf dem Stein kaputt geschlagen. Ich selber. Jetzt ist er kaputt. Hab ich ihn genommen. Und in den Ofen rein.“ Kontrastiert wird das Geständnis der in verding­lichender Sprache beschriebenen Kindstötung – die durch den Verweis auf den ‚Ofen‘ wie eine mimetische Aneignung der na­tionalsozialistischen Leichenvernichtungstechnik wirkt – durch die anstehende Geburt eines Kindes. Allerdings symbolisiert auch das ‚neue Leben‘ aus der Perspektive der Alten letzt­lich keine Hoffnung, sondern steht ebenfalls für Gewalt, weil sie annimmt, ­dieses Kind sei „von einem Hitlerschwanz“ gezeugt worden, mithin aus einer Vergewaltigung der jungen Frau durch einen Nazi hervorgegangen (eine Aussage, auf die wegen der monolo­gischen Struktur des Textes und der Inszenierung keine Respondenz erfolgt).

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Insofern der Monolog aus dem Konzentra­tionslager von den drei Darstellerinnen chorisch gesprochen wird, wird ihm formal jeg­liche Individualität genommen. Es handelt sich demnach um eine Gegenstrategie zu Wielers Rechnitz-­Inszenierung mit ihrer ostentativen Pseudo-­Individualisierung. Die Entindividualisierung des Lagerschicksals der Courash ist aber bereits in Fritschs Text angelegt, bleiben doch sowohl die M ­ utter als auch die toten Kinder namenlos. Auch über die ethnische Zugehörigkeit der Frau – dass sie, wie Autor und Regisseur betonen, eben keine Jüdin, sondern eine Roma ist und mithin im kategorialen Sinne kein Opfer der ‚Shoah‘ – wird weder im Text noch durch andere Inszenierungselemente (z. B. Kleidung, Requisiten) etwas ausgesagt. Der Sachverhalt, dass Fritschs Text demnach eine andere Bevölkerungsgruppe, die auch vom na­tionalsozialistischen Genozid betroffen war, thematisiert, bleibt auf der Ebene der Inszenierung durchgehend latent.86 Während der erste Teil von Die Sonne auf der Zunge, betitelt „Vor unserer Zeit“, im Perfekt gesprochen wird, ist die Tempusform des zweiten Teils das Präsens: „In unserer Zeit“ lautet die korrespondierende Überschrift für den Auschwitz-­Mittelteil. Der dritte Teil spielt laut Überschrift „Nach unserer Zeit“, wird aber nicht im Futur, sondern ebenfalls im Präsens gesprochen. Durch die Wahl der gleichen Tempusform sowohl für den zweiten als auch den dritten Teil wird die Vergangenheit des Konzentra­tionslagers als fortwährende Präsenz markiert, als ein unabschließbares Jetzt: ein Andauern ‚unserer Zeit‘. Fritschs Bühnentext greift, ähn­lich wie Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel), auf das Mittel der sprach­lichen Markierung von Gegenwart zurück: Wieder und wieder heißt es im Mittelteil des Stücks, das Berichtete geschehe ‚jetzt‘. Die drei Darstellerinnen verbalisieren d ­ ieses Temporaladverb, ohne dass die benannten Handlungen und Ereignisse auf der Bühne zu sehen sind. Sie werden ausschließ­ lich sprach­lich evoziert bzw. behauptet und somit in den Imagina­tionshorizont der Zuschauer/innen verlegt. Anders als in der Jelinek-­Inszenierung handelt es sich aber hier nicht um (Pseudo-)Teichoskopien, sondern um Selbstaussagen, die vermeint­ liche Handlungen betreffen. Die Romafrau berichtet an einer Stelle etwa von der bereits erfolgten Tötung und Verbrennung ihres Sohnes, zwei Sätze davor aber sagt sie: „Jetzt steh ich mit dem Buben vor dem Ofen.“ Das Geschehen wird sprach­lich vergegenwärtigt, aber zugleich in seiner temporalen Irrealität markiert, denn der nächste gesprochene Satz lautet: „Jetzt habe ich keine Milch mehr gehabt.“ Verallgemeinert gesprochen kann man aus d ­ iesem paradoxen Umgang mit den Tempusformen ablesen, „inwiefern […] der geschicht­liche Abgrund, für den die Synekdoche ‚Auschwitz‘

86 Es handelt sich dabei um eine Besonderheit: Unter den ca. 200 – 250 existierenden Dramentexten zur Shoah, wie sie etwa Gene Plunka benennt, finden sich „no major Holocaust plays about the persecu­tion of Gypsies, people with mental health problems, those with physical disabilities or other ‚asocials‘“; Plunka 2009. S. 18.

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steht […] nicht als Vergangenheit, die nicht vergeht“, zu begreifen ist, „sondern als eine Gegenwart, aus deren Zwie­licht wir nicht herauszutreten vermögen“.87 Die skizzierte Spaltung von Sprechen und (Nicht-)Handlung wird in der zweiten Hälfte von Fürsts Inszenierung noch verstärkt. Denn überraschenderweise wird das Stück – nach einem stillen Intermezzo, in dem die Musiker/innen ein meditatives Barockstück spielen und die plötz­liche Abwesenheit von Sprache, im Anschluss an die lärmigen Wortkaskaden davor, deut­lich spürbar ist – noch ein zweites Mal gespielt: Der komplette Text Fritschs wird nochmals gesprochen, nun sind die Schauspielerinnen jedoch hinter einer herabgelassenen Leinwand verborgen, auf die Filme und Bilder projiziert werden. Diese Duplizierung der Textperformance, bei der die Darstellerinnen diesen genauso sprechen wie im ersten Durchlauf, gehört zu den am stärksten experimentellen Elementen der Inszenierung. Durch den nachträg­lichen Entzug der Sichtbarkeit der Sprecherinnen wird auf die Uneigent­lichkeit von Darstellung und auf die vermeint­liche Wiederholbarkeit – oder Zirkularität – von Geschichte verwiesen. Auf der Leinwand werden im zweiten Durchlauf unterschied­lichste Dinge gezeigt, u. a. Filmaufnahmen aus einem fahrenden Auto auf der Bay Bridge bei San Francisco, die drei Darstellerinnen einzeln und gemeinsam in ihren girlie-­Kostümen beim erotischen oder eher albernen ‚Posing‘ (mit und ohne digitale Bildmanipula­tion), ein großer glühender Planet (vielleicht die titelgebende Sonne?), eine coole Frau beim Pizzaessen, Luftaufnahmen von Manhattan bei Nacht, Kaleidoskopbilder und eine halbnackte, hochschwangere Afrikanerin, die erschreckt in die Kamera blickt. In der Sequenz, in der die Romafrau von der eigenhändigen Tötung ihres kleinen Sohnes berichtet, wird ein merkwürdig zitterndes Papier projiziert, auf dem nacheinander einzelne, altmodisch wirkende Zeichnungen – ein Haus, ein Ofen, eine Küche, ein Baby etc. – zu sehen oder singuläre, zeitgleich von den Darstellerinnen artikulierte Worte in einer kind­lich wirkenden Handschrift zu lesen sind: ‚Vater‘, ‚Tochter‘, ‚Hunger‘, ‚Geld‘, ‚Kopf‘, ‚Kind‘ usw. Das Wort ‚Jetzt‘ wird gleich mehrfach projiziert und in schnellem Wechsel mit dem Wort ‚Tod‘ und den Zeichnungen eines Babys und eines Ofens verknüpft, was die oben beschriebene Strategie des ‚Vergegenwärtigens‘ bestätigt. In der anschließenden Passage ist als ‚realistische‘ schwarz-­weiße Filmsequenz eine alte Frau auf einem eingezäunten Acker zu sehen, die im Rollstuhl sitzt und ein Huhn erst am Hals packt und es danach, als es anscheinend tot ist, rupft. Davor brennt ein Feuer, dessen Knistern hörbar ist. Etwas ­später sieht man diese zahnlose Alte im close up, wie sie einer sich außerhalb

87 Nikolaus-­Müller-­Schöll. „Poetik der Zäsur. Zu Heiner Müllers ‚Schreiben nach Auschwitz‘“. Der Text ist der Coyote. Heiner Müller Bestandsaufnahme. Hg. v. Christian Schulte u. Brigitte Maria Mayer. Frankfurt a. M. 2004. S. 70 – 89, S. 73 f. Müller-­Schöll formuliert dies zwar mit Blick auf ein konkretes Zitat Heiner Müllers, durchaus aber mit übergreifender ­Inten­tion.

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der Kadrierung befindenden Person stark gestikulierend etwas erklärt. Aufgrund ihres Alters, der Gebärden und des Settings entsteht die Allusion, sie könnte mög­ licherweise eine Holocaust-­Überlebende sein, die über den schweren Alltag im Lager berichtet. Tatsäch­lich handelt es sich bei der Frau, wie durch den Regisseur zu erfahren ist, um die reale Roma Courash, und zwar bei genau jenem Interview, aus dem der Dramatiker Fritsch seinem Bühnentext entwickelt hat und in dem sie ihre Geschichte im Konzentra­tionslager erzählt. Das Stück endet mit Videobildern von drei überlebensgroßen, korpulenten älteren Frauen, die nebeneinanderstehend das Publikum ‚ansehen‘, während man eine auch zuvor in der Inszenierung schon verschiedent­lich auftauchende laute und klare Kinderstimme hört, die in einer fremden Sprache ein Lied singt – man denkt, es sei Romani, es handelt sich aber um ein tradi­tionelles südindisches Kinder­lied namens „Annaya“. Der eindring­liche, melancho­lische Kindergesang, der in einer sehr langen Schlusssequenz zu hören ist – die ‚Anwesenheit‘ von Zeit wird hier fast schmerz­lich spürbar –, erinnert an die Abwesenheit der toten Kinder, von denen im Stück die Rede ist. Schließ­lich treten die drei Darstellerinnen auf, nun in Privatkleidern, und stellen sich jeweils vor und unter die projizierten Frauen, die so zu anwesend-­abwesenden, übermächtigen Mutterfiguren werden (tatsäch­lich sind auch zwei der Frauen Mütter der Schauspielerinnen, die Dritte ist M ­ utter der Musikerin), wodurch das triadische Prinzip der dargebotenen Monologe und der Schauspielerinnen medial dupliziert wird. VII. „Man steht pudelnackt da.“ – Doron Rabinovicis und Matthias ­Hartmanns Die letzten Zeugen in der Regie von Matthias Hartmann am Wiener Burgtheater

Die letzten Zeugen ist ein Zeitzeugenprojekt, das auf Vorschlag des damaligen Burgtheater-­Intendanten Matthias Hartmann an den Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici herangetragen und von beiden gemeinsam 75 Jahre nach dem Novemberpogrom 1938 am Burgtheater Wien realisiert wurde. Sechs Überlebende des Holocaust, drei Frauen und drei Männer z­ wischen 82 und 100 Jahren, sitzen in dieser Inszenierung hinter zwei transparenten Gazeleinwänden in einer Reihe, frontal den Zuschauer/innen gegenüber, ihre Gesichter werden einzeln monumentalisiert auf die Leinwand projiziert, während ihre jeweiligen Lebens- und Leidensgeschichten von Schauspieler/innen vorgelesen werden.88 Diese Präsenta­tionsform erzeugt,

88 Premiere der Inszenierung war der 20. 10. 2013. Dieser Analyse liegen die vom Burgtheater Wien zur Verfügung gestellte DVD zugrunde (Aufzeichnung der Vorstellung vom 10. 11. 2013) sowie im Internet verfügbare Besprechungen.

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ganz bewusst, auch einen Gestus der Ehrung, wenn nicht gar der – durchaus problematischen – Sakralisierung der Überlebenden. Rabinovici bemerkt: „Ich habe sieben Personen ausgewählt: meine M ­ utter, Vilma Neuwirth, die in Wien als Tochter einer damals so genannten ‚Mischehe‘, aber mit Stern überlebte, Marko Feingold, Lucia Heilmann, die in Wien versteckt war, Rudi Gelbard, Überlebender aus Theresienstadt, und Ari Rath, der eine ganz andere Geschichte erzählt. Er steht für jene, die das Jahr 38 erlebt haben und es schafften wegzukommen. Außerdem Ceija Stojka, die leider nicht mehr lebt, deren Erinnerung aber sehr stark ist, denn ich wollte auch die Schicksale der Roma einbeziehen.“ 89

Der Stuhl Stojkas bleibt in der Inszenierung leer, darüber gelegt ist ein bunter Schal, der an sie erinnern soll und der immer, wenn ihre Texte gelesen werden, auf die Leinwand projiziert wird. Zu den Narra­tionen werden Fotos aus dem Wien der 1930er Jahre projiziert – man sieht zum Beispiel Massen, die den Nazis zujubeln, und Bilder aus den Konzentra­tionslagern. Oft überlagern sich die Projek­tionen der Gesichter der Überlebenden (auf der etwas kleineren Leinwand) mit denen der zeithistorischen Fotografien (auf der etwas größeren) und dahinter sieht man, aufgrund der Transparenz der Gazevorhänge, überdies klein und unbewegt in einer Reihe, die sechs Zeitzeug/innen sitzen. Es wird so, durchaus subtil, auf die Schichtung und Überlagerung von Bildern, Zeitebenen und Erinnerung angespielt und auch auf den Prozess der Transforma­tion persön­licher, autobiografisch signifikanter Ereignisse in kollektive Geschichte. Die Burgtheater-­Inszenierung setzt auf die Verschränkung von zwei diametral verschiedenen Ebenen: einerseits die phy­sische Präsenz der Überlebenden, anderer­ seits die Medialität der Schrift. Weil die Zeitzeug/innen nicht selbst sprechen, sondern die Schauspieler/innen ihre Sprachrohre sind, werden körper­liche Anwesenheit und autobiografisches Zeugnis formal getrennt, wodurch eine Form der Distanzierung erfolgt – ein „Denkraum der Besonnenheit“ 90 wird erzeugt, der sogar die Überlebenden selbst umfasst: Indem sie als ‚stumme‘ Zeug/innen während der Lesung projiziert werden, nimmt man die aufmerksame Reglosigkeit wahr, mit der sie ihre eigene Geschichte hören, fast als wäre es die einer anderen Person (wobei

89 Vgl. Doron Rabinovici. „Die Bühne als Boden über dem Abgrund“ [Interview]. Wina. Das jüdische Stadtmagazin (28. 11. 2013). http://www.wina-­magazin.at/?p=5279 vom 6. 10. 2015. 90 Aby Warburg. „Heidnisch-­antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten“. Gesam­ melte Schriften. Studienausgabe. Abt. 1. Bd. 1.2: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaft­liche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance 2. Nachdruck der Ausgabe Leipzig u. Berlin 1932. Hg. v. Horst Bredekamp u. Michael Diers. Berlin 1998. S. 487 – 558, S. 534.

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im nachfolgenden Beispiel insbesondere die zwei Sätze im Präsens aufgrund der Tempusform für die Inszenierung von Bedeutung sind): „Wir kamen weiter zu einem Duschraum. Davor war ein Raum, in dem einem ein Friseur den Kopf kahlschor. Ratzekahl. Auch unter den Achseln. Überall, wo Haare sind. Man steht pudelnackt da. Das ist so demütigend, man kann es schwer erklären. An keiner Stelle störte es mich so sehr wie am Kopf. Mein Bruder und ich schauten uns an, beide hatten wir Tränen in den Augen, als wir uns mit der Glatze sahen. Das war einer der schreck­lichsten Momente. Man hatte ein Gefühl der Nutzlosigkeit, der Wertlosigkeit, die ganze Menschlichkeit ging damit verloren.“ 91

Die Schauspieler/innen wiederum, die wie auch die Zeitzeug/innen in Alltags­ kleidung agieren, ‚verkörpern‘ diese biografischen Erzählungen nicht, sondern lesen sie bloß vor, jeweils stehend an einem Pult am rechten Bühnenrand. Die Schrift­lichkeit der Texte wird durch den Akt der Lesung betont und die Texte der Überlebenden – zum großen Teil auf bereits veröffent­lichten Büchern beruhend – werden auch in einem begleitenden Programmbuch des Burgtheaters vollständig und in der Chronologie des Abends abgedruckt. Überdies findet sich im Raum ­zwischen den beiden Gazeleinwänden ein Tisch mit einer schreibenden Frau, deren Handschrift mittels Video immer wieder kurz – im Übergang ­zwischen zwei Sprecher/innen – auf die Leinwand projiziert wird: Es ist die ‚Mitschrift‘ des zeitgleich gelesenen Textes. Diese erfolgt auf einer fast endlos wirkenden, langen Papierrolle, die am Schluss über die gesamte riesige Bühne des Burgtheaters reicht, was den Vorgang des Niederschreibens der Erinnerungen verbild­licht wie auch die Dauer des Zuhörens. Hartmanns Tätigkeit als Regisseur wird im Programmheft nicht als ‚Inszenierung‘, sondern als ‚Einrichtung‘ bezeichnet, ein Begriff, der im Theater für die wiederholbare szenische Präsenta­tion von Texten oder auch das Arrangieren von Musikstücken steht. Diese Begriffswahl betont die Räum­lichkeit der Präsenta­tion wie auch den Akt der Zusammenfügung unterschied­licher Einzelelemente. Außerdem wird so der für diese Inszenierung signifikante Verzicht auf fast alle zeitgenös­ sischen Theatermittel benannt, die bewusste Reduk­tion auf die Anwesenheit der Zeug/innen und den Akt des Hörens ihrer Geschichten. Die Texte der Zeitzeug/innen werden nicht en bloc vorgelesen, sondern jeweils in ­kurzen Abschnitten durch die vier Schauspieler/innen. Nicht zufällig gibt es keine Korrespondenz z­ wischen der Zahl der Überlebenden und der Schauspieler/innen – es

91 Die letzten Zeugen. 75 Jahre nach dem Novemberpogrom 1938. Text der Aufführung des Zeit­ zeugenprojekts von Doron Rabinovici und Matthias Hartmann. Burgtheater Wien 2013. S. 20; Auszug aus dem Bericht von Marko Feingold.

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geht nicht um die Erzeugung von ‚Sprach-­Doubles‘. Vielmehr entsteht eine Wechselrede des Leids, ein Polylog, in dem die singulären Geschichten verwoben werden. Das Schicksal von Rabinovicis ­Mutter, Suzanne Lucienne Rabinovici, wird gleichwohl herausgehoben, insofern sie zu Beginn ihrer Erzählung vor die Leinwände tritt und den Anfang selbst spricht. Ihre Erzählung wird vollständig, nicht zäsuriert durch andere Beiträge, präsentiert,92 und zwar zweistimmig durch zwei sich abwechselnde Schauspielerinnen, die Rabinovici nach kurzer Zeit als Sprecherinnen ablösen. Sie ist auch die einzige Teilnehmerin, die einen von sich selbst geschriebenen literarischen Text – ein im Lager Kaiserwald geschriebenes Gedicht – auf Jiddisch vorliest, während die deutsche Fassung projiziert wird. Die anderen Zeitzeug/innen bleiben zunächst hinter dem Gazeschleier. Ihre Erzählungen werden von den Schauspieler/innen gelesen, wobei ein wichtiges Element der Inszenierung der Umstand ist, dass manchmal kurze Passagen wört­licher Rede aus ihrem eigenen Mund erfolgen (nicht live, sondern als Aufzeichnung), was jeweils einen kleinen Schreckmoment auslöst, weil die Stimme aus dem Off ertönt, während die Person selbst stumm auf der Bühne sitzt: Einerseits sind aus dem Mund der Opfer jene diffamierenden Sätze und Beleidigungen zu hören, die sie damals als jüdische Kinder in Wien nach dem ‚Anschluss‘ erdulden mussten (z. B. „Schleicht’s eich, es Judengfraßter!“, „Jud, Jud, spuck in Hut, sag deiner Mama, das tut gut!“)93, andererseits jene Notlügen, die sie erfanden, um ihre Haut zu retten.94 Die Wortbeiträge der Zeug/innen werden, im Unterschied zur neutral sich gebenden ‚hochdeutschen‘ Lesung der Schauspieler/ innen, mit starkem Wiener Dialekt gesprochen, was eine Verortung und Identifizierung erzeugt und speziell im Burgtheater mit seiner na­tionalsozialistischen Vergangenheit noch heute provoziert und als politische Geste verstanden wird. Diese Lokalisierung wird verstärkt durch den Umstand, dass Doron Rabinovici viele Passagen zusammengestellt hat, in denen auf konkrete Plätze, Häuser und Straßen in Wien nament­lich verwiesen wird – Orte, an denen die jüdische Bevölkerung lebte, schikaniert und getötet wurde und die sich noch heute im Wiener Stadtbild finden und zumeist nicht als lieux de mémoire gekennzeichnet sind. Die sechs Zeitzeug/innen bleiben in der theatralen ‚Einrichtung‘ aber nicht die hinter zwei Gazeschleiern verborgenen Alten, deren Gesichter nur mediatisiert zu sehen sind, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt treten sie einzeln nach vorn, geführt jeweils von derjenigen Person, die ihre Geschichte vorgetragen hat, was sich als eine sehr passende, behutsam-­schützende Geste erweist. Am vorderen

9 2 Vgl. ebd. S. 36 – 41. 93 Ebd. S. 11. 94 Von den Zeitzeug/innen gesprochene wört­liche Rede findet sich des Weiteren ebd. S. 16, 27 – 29, 36 u. 51.

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Bühnenrand sprechen sie selbst den letzten Abschnitt ihrer Geschichte oder tragen etwas anderes vor. Marko Feingold etwa entschuldigt sich beim Publikum dafür, dass er seinen Text kurzfristig geändert hat – er sollte eigent­lich erzählen, was er vor 68 Jahren erlebt hat, aber er berichtet von etwas, das „gestern“ geschah, genau 75 Jahre nach der „Kristallnacht“: Die Schlösser der Wiener Synagoge wurden durch einen 20-jährigen Täter, einem bekennenden „Antisemiten und Na­tionalsozialisten – und arbeitslos“ verklebt, sodass diese nicht geöffnet werden konnte. Der 100-Jährige fragt, ob Aufklärung überhaupt etwas nütze, wenn es „noch immer solch einen Unfug“ gebe. Das Publikum klatscht betroffen und Feingold verlässt die Bühne. Der erste Teil endet mit der Geschichte der Roma Ceija Stojka: Die sie sprechende Schauspielerin geht hinter die Leinwände, holt den ihre Abwesenheit symbolisierenden floralen Schal nach vorn und legt ihn über den Textständer. Sodann liest sie den letzten Abschnitt aus Stoijkas Bericht, während ein Bild der Toten eingeblendet wird, die auch im hohen Alter noch jene blond gefärbten Haare hatte, die sie sich, wie im Programmheft zu lesen, nach dem Krieg zugelegt hatte, weil man seinerzeit ‚so große Angst vor dunklen Menschen gehabt habe‘. Im Anschluss an die Berichte sind die sieben Sessel leer – ein treffendes Bild für den Umstand, dass die letzten Zeitzeug/innen sterben. Die szenische Vergegenwärtigung d ­ ieses Schwindens – und des Angewiesenseins auf schrift­liche oder andersartige Dokumente – ist inhalt­lich einer der wichtigsten Aspekte des Projekts. Ein zweiter ist die Erfahrbarkeit jener Zeitspanne, die ­zwischen den historischen Ereignissen und der Gegenwart besteht, was durch das Alter, die faltigen Gesichter und die körper­ liche Zerbrech­lichkeit der Zeug/innen deut­lich wird, die im starken Gegensatz zu den gesprochenen Kindheitsnarra­tionen stehen. Der zweite Teil des Abends besteht dann aus jeweils zwei Überlebenden, die sich in einem der Foyers des Burgtheaters gemeinsam mit einem Moderator oder einer Moderatorin den Fragen des Publikums stellen. Das Zeitzeugenprojekt, aufgrund der Betagtheit der Zeug/innen nur wenige Male in Wien gezeigt, wurde zum Berliner Theatertreffen 2014 eingeladen und – nicht nur dort – mit standing ova­tions bedacht. VIII. Die Shoah als Universalreferenz im postdramatischen Theater?

Wie eingangs dargestellt, findet sich im aktuellen deutschsprachigen Theater eine Wiederaufnahme ‚klas­sischer‘ Shoah-­Dramen, zum Beispiel von Weiss oder Tabori, unter anderem im Zusammenhang mit Jubiläen. Diese Inszenierungen weisen aber wenig Experimentelles und Fraktales auf, sondern bedienen eher ein Publikum, das diese Stücke schon kennt, oder aber pädago­gische Bildungsinteressen im Sinne von ‚Schülerinszenierungen‘. Demgegenüber stellen die fünf hier präsentierten avancierten und anspruchsvollen Inszenierungen ‚neuer‘ Stoffe und Stücke die Brüchigkeit

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ihrer Narra­tionen, aber auch eine Verbindung der Shoah mit anderen kulturellen Kontexten heraus. Einige Gemeinsamkeiten der fünf untersuchten Theaterproduk­tionen sind: (1.) In den meisten Inszenierungen ist eine offene Textstruktur und mithin eine Pluralisierung von Autor- und Regieinstanz zu beobachten – entweder durch die Verknüpfung mehrerer Theatertexte, durch die Einbeziehung eigener Narra­tionen der Schauspieler/innen oder durch die Synthese verschiedener Berichte. (2.) Es wird in allen Inszenierungen ein starker Akzent auf Sprache und den Akt des Sprechens gesetzt; in zweien finden sich sogar lange ‚Hörspiel-­Passagen‘ und eine dritte wird ausschließ­lich als Lesung präsentiert. Dadurch wird einerseits auf die wirk­lichkeitserzeugende, aber auch ‚vernichtende‘ Macht von Sprache hingewiesen (diese Reflexionsebene ist bereits in Titeln wie Arbeit Macht Frei vom Toidtland Europa, Don’t touch my Holocaust oder Jedem das Seine angelegt, aber auch in den zitierten Formulierungen aus den Inszenierungen), andererseits wird das Paradigma ‚Sprechen‘ dem der (theatralen) ‚Handlung‘ übergeordnet – was zwar eine generelle Tendenz des Gegenwartstheaters darstellt, aber gleichwohl bemerkenswert ist. (3.) Alle Inszenierungen weisen eine Reihe postdramatischer Elemente auf, u. a. den Einsatz von Multimedialität, die Simultanität von vielen synchron zu rezipierenden Zeichenebenen und das Spiel mit der Dichte der ­­Zeichen.95 Dadurch wird eine Geschlossenheit der Narra­tion (oder Repräsenta­tion) zugunsten offener, mehrdeutiger Erzählstrukturen verabschiedet. (4.) Eine wichtige Gemeinsamkeit aller fünf Inszenierungen ist die Frontalität der szenischen Gestaltung, die u. a. darin besteht, dass sich die Darsteller/innen dem Publikum konfrontativ gegenüber situieren. Es wird kein tradi­tioneller, tiefer Bühnenraum mit vierter Wand etabliert, in dem sich ‚Handlung‘ als abgeschlossene Entität ereignet, sondern diese wird zugunsten anderer, stärker interaktiver, gebrochener und auf die Zuschauer/ innen bezogener Präsenta­tionsformen aufgelöst. In zwei der Inszenierungen sind anschließende Publikumsgespräche Teil des Regiekonzepts. Dies lässt sich als Ansatz begreifen, den Holocaust nicht als Vergangenheit zu präsentieren, sondern ihn im Sinn einer „dynamic appropria­tion“ und „ongoing renegotia­tion“ zu thematisieren.96 (5.) In den Inszenierungen findet sich entsprechend auch eine irritierende Verknüpfung von Geschichte und Gegenwart, die zum einen durch sprach­liche Mittel (­Deixis) erzeugt wird, zum anderen durch inhalt­liche Korrespondenzbildungen. Die Inszenierungen weisen eine (ironische) Distanz zur Shoah auf, die sich zum Teil im Lachen der Zuschauer/innen manifestiert, und zugleich eine im doppelten Wortsinn ‚unheim­liche‘ Nähe. (6.) Durch die Verknüpfung oder gar

95 Vgl. Lehmann 1999. S. 146 – 184. 96 DeKoven Ezrahi 2003. S. 319.

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Amalgamierung der Shoah-­Thematik mit anderen Konfliktfeldern, Katastrophen und Gräueltaten unterschied­lichsten Ausmaßes – um nur einige zu nennen: antike Mythen, die um familiäre Gewalt kreisen, die historische Katastrophe der Nakba und der bestehende Konflikt ­zwischen Juden und Palästinensern, die Terroranschläge vom 11. September, der Inzestskandal von Amstetten – wird der für die Dritte Genera­tion leitmotivische Satz, man dürfe die Shoah keinen Vergleichen unterziehen, fundamental infrage gestellt. Die zweifel­los bestehende und an sich nicht zu hinterfragende Singularität der Shoah lässt zwar Vergleiche generell zu; wenn jedoch Gleichheit ­zwischen ­diesem und anderen Ereignissen behauptet wird, ist dies höchst problematisch. Manche der diskutierten Inszenierungen stellen diesbezüg­lich durchaus eine Gratwanderung dar. Es hat überdies den Anschein, dass das deutschsprachige Gegenwartstheater nunmehr, 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung der Konzentra­tionslager, in einer historischen Phase, in der man bald von einer ‚vierten Genera­tion‘ zu sprechen hat, die Shoah als Universalreferenz und – durchaus fragwürdiges – ‚Versatzstück‘ in unterschied­lichste Inszenierungen einbaut. Zwei Beispiele aus prominenten und gefeierten deutschen Theaterinszenierungen s­ eien abschließend genannt. Karin Beier hat am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Anfang 2014 die Monumentalinszenierung Die Rasenden vorgelegt, eine aus fünf antiken bzw. antik­ isierten Dramen von Aischylos, Euripides, Hugo von Hofmannsthal und Jean-­Paul Sartre zusammengefügte umfassende Bearbeitung des Atridenmythos. Im Zweiten der Stücke, Die Troerinnen (Euripides’ Tragödie in der Bearbeitung Sartres), wird das Schicksal der den Krieg überlebenden trojanischen Frauen dargestellt, die die Rache der griechischen Sieger über sich ergehen lassen müssen, entweder z­ wischen den Männern verteilt oder getötet zu werden. Die traumatisiert wirkenden Frauen, darunter die trojanische Königin Hekabe und ihre Töchter und Schwiegertöchter, sind in schwere, düstere Gewänder gekleidet und der Bühnenraum besteht in einer trostlosen Leere aus aschfarbener Erde. Es herrscht eine Stimmung der Lethargie und Depression. In einer langen Sequenz hört man über ein Megafon Kommandos einer Männerstimme, die die Frauen auffordert, auf der Bühne befind­liche schwere Säcke ans andere Ende der Bühne zu tragen, und als sie die Arbeit geschafft haben, hören sie den Befehl, alle Säcke in eine andere Ecke (oder auch wieder zurück) zu schleppen. Gezeigt wird ein Lager- oder Appellplatz mit weib­lichen Zwangsarbeiter/innen, der nicht nur latent an Bilder aus den Konzentra­tionslagern, wie sie zum Beispiel in Kinofilmen produziert werden, erinnert. Die Troerinnen wurde von Beier vorab bereits als Einzelinszenierung 2013 am Schauspiel Köln realisiert und ist auch am Hamburger Schauspielhaus als Soloabend zu sehen. Innerhalb der ästhetisch höchst variablen, vor umfassendem Einsatz an Theatermitteln strotzenden

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fünfteiligen Inszenierung Die Rasenden jedoch wirkt diese Shoah-­Referenz durch ihre Trostlosigkeit zwar eindrück­lich, inhalt­lich aber willkür­lich. Ähn­lich ist dies auch bei der Bühnenadapta­tion des Romans Voyage au bout de la nuit (Reise ans Ende der Nacht, 1932) von Louis-­Ferdinand Céline durch Frank Castorf (Premiere Ende 2013 am Residenztheater München). Castorf hat sich bereits in früheren Inszenierungen mit der Holocaust-­Thematik befasst, so in der Bühnenadap­tion von Stanley Kubricks Film Clockwork Orange (nach Anthony Burgess, Volksbühne am Rosa-­Luxemburg-­Platz Berlin, 1993), in der an einer Stelle Filmaufnahmen aus einem Konzentra­tionslager eingespielt werden (was, unter Rekurs auf Georges Bataille, im Zusammenhang mit der These steht, das individuelle Verbrechen der Hooligans könne nur um den Preis des kollektiven, staat­lichen Verbrechens aus der Welt geschafft werden), und in der Inszenierung von Carl Zuckmayers Des Teufels General (1996, ebenfalls an der Volksbühne), die die Bedeutung, die ­dieses Stück in der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ der frühen Nachkriegsjahre in Deutschland hatte, kritisch reflektiert.97 In Castorfs monumentaler Inszenierung von Reise ans Ende der Nacht nun findet sich im Bühnenbild ein metallenes Tor mit Schriftzug, dessen Geschwungenheit deut­lich das Auschwitz-­Tor zitiert, wodurch der Bühnenraum Anklänge an ein Konzentra­tionslager erhält. Hier jedoch findet sich der Schriftzug „Liberté Egalité Fraternité“, mithin der Schlachtruf der Franzö­sischen Revolu­tion und Wahlspruch der Franzö­sischen Republik. Neben der Funk­tion als deut­liche Anspielung auf Celinés drastischen Antisemitismus etabliert Castorf auch eine ‚intertheatrale‘ Referenz zu Arbeit Macht Frei vom Toitland Europa, da Teil dieser Inszenierung eine Kopie des Auschwitz-­Tores ist,98 was dort jedoch sinntragend ist, nicht nur, weil der Spruch den Titel aufgreift, sondern auch, weil er von hinten zu sehen ist und die Zuschauer sich demnach symbo­lisch mit ‚im Lager‘ befinden. In beiden Inszenierungen wird der Schriftzug mit bunten Lämpchen illuminiert,99 bei Castorf aber erweist sich die Referenz als ein zwar provozierendes, aber auch recht beliebiges Versatzstück.100

97 Vgl. Deuring 2006. S. 10. 98 Siehe Rokem 2000, Abbildung auf der inneren Titelei. 99 Zu Arbeit Macht Frei vom Toitland Europa vgl. ebd. S. 75. 100 Die Verfasserin dankt Nikolaus Müller-­Schöll und Martin Jörg Schäfer für Hinweise auf einschlägige Inszenierungen und Theorietexte. Die inhaltliche Arbeit an diesem Aufsatz wurde im Frühjahr 2015 abgeschlossen.

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Verpuppte Erinnerung Figuration und Dinglichkeit in theatralen Darstellungen der Shoah Eines der bekanntesten israe­lischen Theaterstücke, Joshua Sobols Ghetto (1984), beginnt laut Regieanweisung in einer Wohnung in Tel Aviv zu Beginn der 1980er Jahre und spielt „in der Erinnerung des Erzählers im Ghetto Wilna 1941 – 1943“.1 Die doppelte Orts- und Zeitangabe, verklammert durch das in Szene gesetzte Erinnern, weist auf die Präsenz der traumatischen Vergangenheit in der Gegenwart hin. Zudem markiert sie das Dargestellte als eine subjektive Fassung der ohnehin nicht objektiv zu habenden Wirk­lichkeit. Handelt es sich auf der diegetischen Ebene um die individuelle Erinnerung des Erzählers Srulik, der einem unsichtbaren Gesprächspartner über die letzte Vorstellung im Ghettotheater erzählt, kommen seine Erinnerungen inklusive dieser Vorstellung als Theateraufführung vor Publikum zur Anschauung. Das Spannungsverhältnis ­zwischen der Erinnerung als „Ort des Geschehens“ und dem Ghetto als „Ort der Handlung“ 2 wird dadurch als Frage nach dem Verhältnis von (theatraler) Darstellung und historischem Ereignis relevant. Im weiteren Verlauf des Dramas drückt sich dies durch eine Reihe metatheatraler Verfahren – z. B. Spiel-­im-­Spiel-­Situa­tionen – aus, die auch inhalt­lich motiviert sind: Ghetto erzählt von einer Theatertruppe im Ghetto Wilna, deren Hauptdarstellerin – die Sängerin Chaja – flieht, um sich Partisanen anzuschließen. Daraufhin bringt der SS-Offizier Kittel alle verbleibenden Mitglieder der Truppe um. Ledig­lich der Puppen­spieler (und Erzähler) Srulik überlebt, da die ihn immer begleitende Puppe an seiner Stelle erschossen wird.3 Sobols Drama beruht u. a. auf dem Tagebuch von Herman Kruk, der die Ghetto­ bibliothek in Wilna leitete 4 und zu einer zentralen Figur des Theaterstücks wird. 1 Joshua Sobol. Ghetto: Schauspiel in 3 Akten: Mit Dokumenten und Beiträgen zur zeitgeschicht­ lichen Auseinandersetzung sowie Zeichnungen von Johannes Grützke. Hg. v. Harro Schweizer. Weinheim 1984. S. 70. 2 Die Differenzierung ­zwischen „Ort des Geschehens“ und „Ort der Handlung“ findet sich in der hebräischen Erstausgabe von Ghetto (1984), hier zitiert nach Freddie Rokem. Geschichte aufführen: Darstellungen der Vergangenheit im Gegenwartstheater. Übers. v. Matthias ­Naumann. Berlin 2012. S. 77. Sie fehlt in der deutschen Übersetzung. 3 Zur Metatheatralität in Ghetto vgl. ebd. S. 68 – 90. 4 Vgl. Herman Kruk. The Last Days of the Jerusalem of Lithuania: Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939 – 1944. Hg. v. Benjamin Harshav. New Haven 2002.

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Obwohl der historische Kruk das kulturelle Leben im Ghetto sehr unterstützte, findet sich in seinen Aufzeichnungen die Protestparole: „Auf dem Friedhof spielt man kein Theater.“ 5 In einer frühen Szene von Ghetto diktiert die Theaterfigur Kruk diesen Satz seiner „unsichtbare[n] Sekretärin“; danach findet sich die Parole, den Regieanweisungen folgend, auf Plakaten im gesamten Bühnenraum bzw. an den Wänden des Ghettos.6 Der doppelte raum-­zeit­liche Bezug des Dramas – auf die Gegenwart des Erinnerns, die auch die Gegenwart der Theateraufführung ist, und auf das Leben im Ghetto – macht den Satz doppelt lesbar: als historischen Protest gegen die Theater im Wilnaer Ghetto (auf Ebene des Dargestellten/Erinnerten) sowie als mediale Selbstreflexion über die Angemessenheit der Ghettodarstellung im Theater der Gegenwart.7 „Auf dem Friedhof spielt man kein Theater“ erweist sich nicht zuletzt dadurch als doppelt perspektivierter Satz, dass viele Kritiken der europäischen Erstaufführung, durch Peter Zadek an der Freien Volksbühne Berlin 1984, diesen Satz oder eine Varia­tion desselben im Titel tragen: „Auf dem Friedhof Theater?“ 8 Während die deutsche Theaterkritik diese Frage kontrovers diskutierte,9 beantworten Sobols Text und Zadeks Inszenierung sie uneingeschränkt positiv: Auf der diegetischen Ebene ändert Kruk seine Haltung zum Ghettotheater;10 auf Ebene der Darstellung behauptet Ghetto seine Berechtigung als Theater durch die bei Sobol angelegte und bei Zadek gesteigerte Theatralität der Inszenierung, wie sie sich z. B. in der häufigen Unterbrechung der Handlung durch Musicalnummern findet. 5 Sobol 1984. S. 86. 6 Vgl. ebd. S. 86 (7. Szene). 7 Inszenierungen setzen die Engführung von Erinnerungsprozess und theatraler Darstellung unterschied­lich um. Die Uraufführung in Haifa (Regie: Gedalia Besser) im Jahr 1984 verzichtete auf die Rahmenerzählung und minimierte damit Sruliks Rolle als Erinnernder. Dagegen stellte die europäische Erstaufführung durch Peter Zadek im gleichen Jahr Theater als Ort des Erinnerns und – wie Erika Fischer-­Lichte argumentiert – der Totenbeschwörung aus, während z. B. die Essener Inszenierung durch Sobol (mit veränderter Textfassung 1992) stärker auf Sruliks individuelle Erinnerung abzielte. Vgl. Erika Fischer-­Lichte. „Theater der Erinnerung oder Ritual der Totenbeschwörung – Anmerkungen zu Peter Zadeks Inszenierung von Sobols Ghetto an der Freien Volksbühne Berlin (1984).“ Theatralia Judaica, Bd. 2: Nach der Shoah. Hg. v. Hans-­Peter Bayerdörfer. Tübingen 1996. S. 164 – 187. 8 Marleen Stoessel. „Peter Zadek inszeniert Joshua Sobols ‚Ghetto‘ in Berlin: Auf dem Friedhof Theater?“ Theater heute 8 (1984): 4 – 13, S. 4. Vgl. auch die in Sobol 1984. S. 227 – 239 gesammelten Kritiken. 9 Vgl. Thomas Freeman. „Die Kontroverse um Sobols Musical ‚Ghetto‘.“ Auseinandersetzun­ gen um jiddische Sprache und Literatur: Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur – die Assimila­tionskontroverse. Hg. v. Walter Röll u. Hans-­Peter Bayerdörfer. Tübingen 1986. S.  81 – 93. 10 Vgl. Sobol 1984. S. 126 f. (18. Szene).

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Ohne hier eine Analyse von Ghetto anstellen zu wollen,11 dient mir Sobols Drama aus zwei Gründen zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Innerhalb eines Sammelbands zu experimentellen künstlerischen Verfahren der Auseinander­ setzung mit Holocaust und Zweitem Weltkrieg weist das Stück erstens darauf hin, dass die Grenzen des Experimentellen zumindest im Theater immer neu ausgehandelt werden müssen und sich nicht eindeutig einer avantgardistischen Praxis zuschlagen lassen. So liegt die Provoka­tion von Ghetto neben inhalt­lichen Gründen im Spiel mit der oft als trivial und kommerziell verstandener Form des Musical­theaters, die bei Sobol/Zadek nicht in der Tradi­tion epischer Umfunk­ tionierungen von Unterhaltungstheater aufgeht.12 Für Elie Wiesel z. B. wird Sobols Stück – anläss­lich der amerikanischen Erstaufführung von 1989 – ein Musterbeispiel für „kitsch […] in the land of kitsch, where, at the expense of truth, what counts is the ratings“.13 Ungeachtet der Frage nach der Richtigkeit einer solchen Einschätzung zeigt Wiesels Reak­tion, wie gerade im zu norma­ tiven Setzungen neigenden Feld der Holocaust-­Darstellung eine spezifische ästhetische Praxis zugleich als Formexperiment – der Verknüpfung von Dokumentar- und Musicaltheater – und als Paradigma kommerzorientierter Kunst verstanden werden kann. Im Folgenden beziehe ich die vom vorliegenden Sammelband gestellte Frage nach der „Materialität“ künstlerischer Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit konkret auf den Einsatz von Figuren und Objekten in theatralen Darstellungen der Shoah. Auch in dieser Hinsicht kann Ghetto als Ausgangspunkt dienen, da Sobol seinen Erzähler Srulik als Puppenspieler auftreten lässt. In den meisten Inszenierungen wird die Puppe jedoch nicht durch eine Puppe dargestellt, sondern von einem Menschen.14 Bei Zadek entsteht sie im Zusammenspiel des Schauspielers Hermann Lause mit dem Pantomimen Alexandre Guini. Wenn laut Dramentext die Puppe spricht, verändert Lause – der Darsteller des Srulik – seine Stimme, während Guini stumm „die Knochenlosigkeit und Bewegungsstarre einer 11 Zu Sobols Ghetto und den beiden anderen Stücken seiner Ghetto-­Trilogie – Adam (1989) und Underground (1991) – vgl. Matthias Morgenstern. Theater und zionistischer Mythos: Eine Studie zum zeitgenös­sischen hebräischen Drama unter besonderer Berücksichtigung des Werkes von Joshua Sobol. Tübingen 2002. S. 192 – 219. 12 Zum Verhältnis von „Experimentaldramatik“ und Unterhaltungstheater vgl. Bertolt Brecht. „Über experimentelles Theater.“ 1939. Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Frankfurt a. M. 2005. S.  403 – 421. 13 Elie Wiesel. From the Kingdom of Memory: Reminiscences. New York 1990. S. 167. 14 Eine der seltenen Ausnahmen bildet Christian Stückls Ghetto-­Inszenierung am Münchner Volkstheater (2013), in der Srulik (Robert Joseph Bartl) eine grün­lich gefärbte, abgemagert wirkende Bauchrednerpuppe mit langem Bart bewegt.

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Puppe“ mimt.15 Nimmt man den Schauspielerkörper als ­­Zeichen für die Puppe, liegt innerhalb des ästhetischen Rahmens eine konven­tionelle Bauchrednersitu­ a­tion vor, bei der die Stimme des Ventriloquisten an eine außerhalb seiner selbst liegende Instanz delegiert wird. In dieser Struktur werden – im doppelten Wortsinn – ‚durch‘ die Puppe Dinge ausgesprochen, die der, der ihr die Stimme leiht, mit seiner eigenen Stimme nicht sagen kann: Anders als den Ghettobewohnern ist es Sruliks Puppe mög­lich, gegen die na­tionalsozialistischen Täter zu sprechen; deshalb muss Srulik in Anwesenheit des SS -Offiziers Kittel auf der eigenständigen Handlungsmacht der Puppe bestehen.16 Tatsäch­lich wird die Illusion von Autonomie, die Bauchrednerei einer Puppe zugesteht, dadurch gesteigert, dass Srulik durch ihre ‚Frechheiten‘ gegen Kittel ständig in Lebensgefahr gerät. Weil es aus Sicht des Puppenspielers irra­tional wäre, sein im Ghetto ohnehin prekäres Leben noch stärker aufs Spiel zu setzen, gewinnt die Mög­lichkeit einer auto­nomen Stimme der Puppe an Wahrschein­lichkeit. Auch deshalb kann sie am Ende des Dramas, wenn alle Schauspieler von Kittel erschossen werden, anstelle Sruliks sterben: „Blut kommt aus ihrem Mund. […] Die Puppe fällt langsam zusammen.“ 17 Die Verlebendigung der Puppe, die am Ende von Ghetto in ihren Tod mündet, geht in Zadeks Inszenierung mit einer Verding­lichung des Schauspielers Alexandre Guini einher, der ihr pantomimisch seinen Körper leiht. Wo die Puppe spricht, bleibt er stumm; wo sie an Leben gewinnt, verhärten sich seine Glieder ins Puppen­ hafte. Obwohl die Interak­tion ­zwischen Lause und Guini ohne materiell anwesende Puppe auskommt, setzt sie einige der von Meike Wagner beschriebenen „Stör­ potentiale“ zeitgenös­sischen Figurentheaters in Szene: Für den vorliegenden Kontext am wichtigsten sind dabei die Puppe als „Zwischenwesen“, der durch Prozesse der Identifika­tion sowohl menschliche Nähe als auch, da sie ein „totes Objekt“ ist, radikale Fremdheit sowie „die Unabschließbarkeit des Puppenkörpers, der sich einer Festschreibung widersetzt und das immer wieder neu auszuhandelnde Körpersein ­zwischen Betrachter, Material und Diskurs demonstriert“.18 Gerade weil bei Lause/ 15 Herbert Glosner. „Die Wahrheit des Theaters auf dem Theater.“ Deutsches Allgemeines Sonn­ tagsblatt (22. 7. 1984): S. 21. 16 Vgl. z. B. Sobol 1984. S. 74 f. (2. Szene). Zur Funk­tionalisierung der Puppe als Sprachrohr vgl. Morgenstern 2002. S. 195. 17 Vgl. Sobol 1984. S. 144 (22. Szene). Frei­lich bleibt der ‚Tod‘ der Puppe bei Sobol realistisch gerahmt, da Srulik bei der Erschießung seinen Arm verliert und das Blut, das laut Regie­ anweisung aus dem Mund der Puppe kommt, das Blut des Puppenspielers sein kann. 18 Vgl. Meike Wagner. Nähte am Puppenkörper: Der mediale Blick und die Körperentwürfe des Theaters. Bielefeld 2003. S. 18 f. Als weiteren Punkt nennt Wagner die „Störung der Körpernorm“ im Wechselspiel z­ wischen Instrumentalisierung der Puppe und dem „Überschießende[n]“ ihres Körpers (ebd.).

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Guini die Puppe als Material fehlt, gerät dieser Moment der Aushandlung stärker in den Blick. An je einem Beispiel aus dem Figurentheater – Hotel Moderns Kamp (seit 2005) – und einem Theater, das Figuren einsetzt – George Taboris Shylock-­ Improvisa­tionen von 1978 –, möchte ich im Folgenden untersuchen, wie das Verhältnis von Verlebendigung und Verding­lichung bzw. Nähe und Fremdheit sowie die ‚Aushandlung‘ des Figurenkörpers z­ wischen Wahrnehmung, Ding­lichkeit und metaphorischer Figura­tion in theatralen Darstellungen der Shoah funk­tionalisiert werden kann. I.

Fraktur und Gabe: George Taboris Shylock-Improvisationen (1978)

„Ich wollte meine Tochter läge tot zu meinen Füßen und hätte die Juwelen in den Ohren.“ Mit dieser – von Schlegel übersetzten – Replik aus Shakespeares Merchant of Venice (um 1598) sind George Taboris Shylock-­Improvisa­tionen überschrieben, die der ungarisch-­jüdische Autor und Regisseur 1978 in einem Probenraum der Münchner Kammerspiele zur Aufführung brachte.19 Zuvor war ihm die Spielerlaubnis für das ehemalige Konzentra­tionslager Dachau verweigert worden, in dem Tabori die abschließende Gerichtsszene des Shakespearestücks inszenieren wollte: Die Fahrt nach Dachau, ausgehend von den Kammerspielen, in denen die ersten zwei Drittel des Merchant gespielt worden wären, war als integraler Bestandteil der Inszenierung geplant.20 Doch auch ohne ört­liche Verankerung im Sinne eines „site-­specific theatre“ 21 blieb der enge Bezug der Inszenierung zur Shoah erhalten. Der Grund hierfür ist nicht nur in der Textvorlage zu suchen, für die argumentiert werden kann, wie das z. B. der Theaterwissenschaftler Markus Moninger tut, dass „[j]ede Nachkriegsinszenierung des Kaufmann von Venedig […] Auschwitz“ erinnere.22 Bei Tabori wird dieser Erinnerungsbezug dadurch gesteigert, dass er

19 Für den von Tabori bearbeiteten Schlegel-­Text, Fotografien der Inszenierung und weitere Materialien, etwa Auszüge aus dem Probentagebuch, vgl. George Tabori. Ich wollte meine Tochter läge tot zu meinen Füßen und hätte die Juwelen in den Ohren: Improvisa­tionen über Shakespeares Shylock: Dokumenta­tion einer Theaterarbeit. Hg. v. Andrea Welker u. Tina ­Berger. München 1979. 20 Vgl. Anat Feinberg. Embodied Memory: The Theatre of George Tabori. Iowa City 1999. S. 217. 21 Zur Dramaturgie und Praxis ortspezifischen Theaters vgl. Mike Pearson. Site-­Specific Per­ formance. Basingstoke 2010. 22 Markus Moninger. „Auschwitz erinnern: Merchant-­Inszenierungen im Nachkriegsdeutschland.“ Das Theater der Anderen: Alterität und Theater z­ wischen Antike und Gegenwart. Hg. v. Christopher Balme. Tübingen 2001. S. 229 – 248, S. 229. Auch der Anglistin Sabine Schülting zufolge wird jede deutsche Merchant-­Inszenierung nach 1945 „zur mnemonischen Praxis,

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seine Fassung ganz auf die Rolle des Juden Shylock fokussiert, die er von dreizehn unterschied­lichen, mit Ausnahme des Musikers Stanley Walden, nichtjüdischen Schauspielerinnen und Schauspielern darstellen lässt. Darüber hinaus werden in das Stück Fremdtexte integriert, z. B. der Bericht eines anonymen Überlebenden über an homosexuellen Häftlingen durchgeführte Foltermethoden im Konzentra­ tionslager. Vor d ­ iesem Hintergrund assoziieren viele Interpreten den kalt beleuch­ teten Proben- und Aufführungsraum – einen karg eingerichteten Heizungskeller, der Spielfläche und Zuschauerraum verschränkt – mit den Gaskammern.23 Im Zentrum des Raums stand ein Flügel als zentraler Bezugspunkt des Spiels, der nicht nur als Musikinstrument, sondern auch als Podest diente. Kleidersäcke waren im Raum verteilt und von der Decke sowie an den Heizungsrohren hingen kleine Puppen aus Gips, „Nachbildungen der ausgemergelten Körper von KZ-Häftlingen“, wie der Kritiker von Theater heute schrieb,24 oft in schäbiger Kleidung und mit Judenstern.25 Gleich zu Beginn der Aufführung werden einige dieser Puppen zunächst wie Shylocks angezogen, dann in KZ -Häftlingsklamotten gesteckt, teilweise zerstört und zerschlagen. Manche werden in einen Wäschekorb als Massengrab geworfen; von anderen werden die abgehackten Gliedmaßen im Raum verteilt, wo sie auch für die nächsten Vorstellungen liegen bleiben, oder sie werden Zuschauerinnen und Zuschauern als „Souvenirs“ bzw. Geschenke von den Akteuren aufgedrängt.26 Auf einer Fotofolge, die im 1979 veröffent­lichten Dokumenta­tionsband zur

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die die Erinnerung an Auschwitz aktualisiert […], und zwar unabhängig davon, ob sich die Inszenierung ganz bewusst dieser Arbeit am kollektiven Gedächtnis stellt oder nicht“ (Sabine Schülting. „Shylock als Erinnerungsfigur.“ Shylock nach dem Holocaust: Zur Geschichte einer deutschen Erinnerungsfigur. Hg. v. Zeno Ackermann u. Sabine Schülting. Berlin 2011. S. 103 – 116, S. 107). Zeit­lich breiter gefasst versteht Elmar Goerden Shylock als „Lakmustest für den Status deutsch-­jüdischen Miteinanders“, weshalb die Bühnengeschichte der Figur einen „theatra­lische[n] Kommentar zur Geschichte der Juden in Deutschland“ bilde (Elmar Goerden. „Der Andere: Fragmente einer Bühnengeschichte Shylocks im deutschen und eng­ lischen Theater des 18. und 19. Jahrhunderts.“ Theatralia Judaica, Bd. 1: Emanzipa­tion und Antisemitismus als Momente der Theatergeschichte: Von der Lessing-­Zeit bis zur Shoah. Hg. v. Hans-­Peter Bayerdörfer. Tübingen 1992. S. 128 – 163, S. 130). Vgl. etwa Birgit Haas. Das Theater des George Tabori: Vom Verfremdungseffekt zur Postmoderne. Frankfurt a. M. 2000. S. 112. Peter von Becker. „Von Juden und Christen – von Vätern und Söhnen: George Taboris aufregende Shylock-­Medita­tionen in München.“ Theater heute 20.1 (1979): S. 44 – 47, S. 45. Vgl. Haas 2000. S. 112 – 115 und Feinberg 1999. S. 215 – 218. Vgl. Hans-­Peter Bayerdörfer. „Shylock auf der deutschen Bühne nach der Shoah.“ Shylock? Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und christ­licher Tradi­tion. Hg. v. Johannes Heil u. Bernd Wacker. München 1997. S. 261 – 280, S. 278.

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Inszenierung abgedruckt ist,27 lassen sich diese Geschenke klar als ‚vergiftete‘ Gaben erkennen. Auf dem ersten Bild schaut eine Zuschauerin halbwegs interessiert auf den Torso einer nackten Gipspuppe, der direkt vor ihr der letzte verbleibende Arm abgebrochen wurde. Auf dem zweiten und dritten Bild streckt der Schauspieler ihr diesen Gipsarm als Geschenk entgegen, während sich die Gesichtszüge der Zuschauerin verhärten und ihr Körper eine defensive Haltung einnimmt. Wenn die „reine Gabe“ nach Derrida das nicht erreichbare Ideal eines interessen- und selbstlosen Geschenks darstellt, kann die „Vergiftung“ als Störfaktor im Akt des Gebens verstanden werden, ohne dass er dadurch seiner positiven Dimension vollends beraubt würde.28 Die Literaturwissenschaftlerin Gisela Ecker erklärt dies am Beispiel des Tabori-­Stücks Jubiläum (1983), das mit dem Teilen und Essen von Brot endet.29 Jenes Brot wird dem Protagonisten Arnold vom Geist seines im Konzentra­tionslager ermordeten Vaters ausdrück­lich als „Geschenk“ überreicht.30 Durch das gemeinsame Essen wird zwar eine Gemeinschaft derjenigen gebildet, die auf dem Friedhof – dem sinnbild­lich für die Bundesrepublik der frühen 1980er Jahre stehenden Schauplatz des Stücks – versammelt sind. Diese Gemeinschaft ist jedoch nicht nur deshalb prekär, weil zu ihr auch der Neonazi Jürgen gehört, sondern weil sie auf einer höchst ambivalenten Gabe beruht: Unmittelbar vor der Brotüberreichung spricht Arnold über die Hoffnung, seinen Vater wiederzusehen. Unter anderem nährt sie sich daraus, dass er „[l]etzte Woche […] in der Zeitung gelesen“ habe, dass „man in Auschwitz Brot gebacken hat und keine Väter“.31 Ecker folgend wird das Brot zur „giftigen“ Gabe, da es zugleich Arnolds Wunsch nach einem Wiedersehen erfüllt und „eine Version der Auschwitzlüge transportiert, mit der einige die Fakten noch heute leugnen“.32 Auch im Falle der Shylock-­Improvisa­tionen stiftet die Gabe, wenngleich aus anderen Gründen, nur eine prekäre Gemeinschaft. Ihre „Vergiftung“ besteht zunächst darin, dass das Verteilen der zerhackten Figuren als „Schuldzuweisung“ – so der Kritiker Michael Krüger – verstanden werden konnte, „die ohne Ansehen der ­Person“ stattfand: „Der Herr neben mir, der einen Kopf in die abwehrenden Hände gedrückt bekam, kann ein Jude gewesen sein oder ein ehemaliger Nazi, mit heute 2 7 Vgl. Tabori 1979. S. 31. 28 Vgl. Gisela Ecker. ‚Giftige‘ Gaben: Über Tauschprozesse in der Literatur. München 2008. S. 9 u. 17, die sich u. a. auf Jacques Derrida. Donner le temps, t.1: La fausse monnaie. Paris 1991 bezieht. 29 Vgl. Ecker 2008. S. 62 – 65. 30 Vgl. George Tabori. „Jubiläum“ 1983. Theaterstücke II. Hg. v. dems. München 1994. S. 49 – 86, S. 86. 31 Ebd. S. 85. 32 Ecker 2008. S. 63.

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verbessertem Charakter: das Theater ist demokratisch organisiert, jeder kann eine Karte kaufen.“ 33 Weder die „abwehrenden Hände“ noch die defensive Haltung der Zuschauerin auf den oben beschriebenen Fotos können interpretatorische Auflösung in dem Sinn erfahren, dass ihr Grund von außen – aus Sicht der anderen Besucher, Kritiker oder späterer Interpreten – zu bestimmen wäre. Zugleich aber scheint es während der Shylock-­Improvisa­tionen nicht mög­lich, sich der Gabe zu entziehen. Die Auflösung der stabilen Schauanordnung im Sinne der Guckkastenbühne sorgt für ein Environment mit flexiblen Grenzen z­ wischen Akteuren und Zuschauern, die Letzteren einen relativ hohen Grad an Wahrnehmbarkeit gewährt.34 In einem solchen Raum sind weder Zuschauer noch Schauspieler „aus der Pein­lichkeit entlassen, sich sichtbar zu verhalten“.35 Publikumsreak­tionen sind deshalb „nicht beschränkt auf die Antwort den Spielern gegenüber“, sondern „den Haltungen anderer Zuschauer“ ausgesetzt: „Die Anonymität und damit die Risikolosigkeit [ihrer] emo­tionalen und ra­tionalen Verhaltensweisen gegenüber dem verhandelten Gegenstand“ wird tendenziell „aufgehoben“.36 Die hier beschriebene Raumanordnung und die Interak­tionsprozesse ­zwischen Akteuren und Zuschauern verweisen darauf, dass es sich bei Taboris Shylock-­Improvi­ sa­tionen um eine Theaterform handelt, die – anders als Zadeks Ghetto-­Inszenierung  – dezidiert im Kontext experimenteller Verfahrensweisen steht. In den 1970er Jahren versucht Tabori, das neoavantgardistische Konzept des „Theaterlaboratoriums“, wie es z. B. Jerzy Grotowski ein Jahrzehnt zuvor in Polen praktiziert hatte, mit leichter Verspätung auf Deutschland zu übertragen: 1976 gründet er das Bremer Theaterlabor, das 1978 – ein knappes Jahr vor dem Münchner Shylock – wegen Intendantenwechsels schließen musste.37 Die Arbeit an den Kammerspielen bildet jedoch

33 Michael Krüger. „Menschenspiele.“ Ich wollte meine Tochter läge tot zu meinen Füßen und hätte die Juwelen in den Ohren: Improvisa­tionen über Shakespeares Shylock: Dokumenta­tion einer Theaterarbeit. Hg. v. Andrea Welker u. Tina Berger. München 1979. S. 30. 34 Zu Begriff und Praxis des „environmental theater“ vgl. Richard Schechner. Environmental theater. New York 1973. 35 Volker Canaris. Peter Zadek, der Theatermann und Filmemacher. München 1979. S. 205. Canaris’ Reflexionen, die sich gut auf Tabori anwenden lassen, beziehen sich auf Peter Zadeks Bochumer Hamlet-­Inszenierung von 1977. 36 Ebd. S. 205. 37 Als Nachfolger des Intendanten Peter Stoltzenberg weigerte sich Arno Wüstenhofer, das Theaterlabor weiter zu finanzieren. Unterstützt wurde er vom Bremer Senator für Kunst und Wissenschaft, Horst Werner Franke (SPD), der verlautbaren ließ, dass er „diese Seelen­kotze“ nicht länger wolle. Vgl. Anat Feinberg. „Taboris Bremer Theaterlabor: Projekte-­Erfahrungen-­ Resultate“. Theater gegen das Vergessen: Bühnenarbeit und Drama bei George Tabori. Hg. v. Hans-­Peter Bayerdörfer u. Jörg Schönert. Tübingen 1997. S. 62 – 97, S. 62 – 64.

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eine direkte Fortsetzung der Bremer Experimente.38 Neben den Grenzen ­zwischen Akteuren und Zuschauern destabilisiert Tabori auch den Übergang von Probe zu Aufführung im Sinne einer für neoavantgardistische Theaterformen typischen Bewegung vom ‚Werk‘ zum ‚Prozess‘. Angezeigt wird dies bereits im Titel der „Shylock-­ Improvisa­tionen“. Damit verbunden ist gerade bei Tabori die Idee von Theater als einem Ort der sinn­lichen Erfahrung für die Zuschauer wie für die Schauspieler, die unterschied­liche Haltungen ‚probieren‘, also z. B. voneinander abweichende Shylock-­ Improvisa­tionen und -Interpreta­tionen liefern.39 Die zunächst als Übung auf den Proben eingeführte und dann in die Aufführung übernommene Puppenzerstörung ist ein gutes Beispiel hierfür. Sie folgt einer Anweisung Taboris an die Schauspieler, die das Probentagebuch festhält: „Nehmt die Puppen und zieht sie wie euren Shylock an, bemalt sie, gebt ihnen Haare. Danach quält ihr sie, foltert sie, tötet sie.“ 40 Es handelt sich um einen ambivalenten Akt der Identifika­tion – die Puppe als Spiegel des Schauspielers – und der Distanzierung, wenn jene im Moment des Folterns zum Anderen gemacht wird. Laut Probentagebuch „konzentriert sich [jeder] auf seine Puppe, macht sie zu seinem Shylock und tötet sie dann: Erschießen, verbrennen, ersticken, foltern, zerschlagen, die Teile in das Massengrab werfen. Danach will jeder allein sein.“ 41 Wie die „Schuldzuweisung“ an die Zuschauer z­ wischen ehemaligen Opfern und Tätern nicht unterscheidet, verbindet die Puppen­zerstörung Opfer- und Täterperspektive. Im Zentrum steht dabei Taboris oft zitierte Über­ zeugung aus dem Programmbuch der Shylock-­Improvisa­tionen, dass „wahre Erinnerung nur durch sinn­liches Erinnern mög­lich ist: Unmög­lich ist es, die Vergangenheit zu bewältigen, ohne daß man sie mit Haut, Nase, Zunge, Hintern, Füßen und Bauch wiedererlebt hat“.42 Aus dieser Sinn­lichkeit, die der Regisseur gegen eine in seinen Augen ra­tional-­wissenschaft­liche Historiografie ins Feld führt,43 ergibt sich für Tabori die Rolle von Theater als „politisches, deshalb mora­lisches und nicht ästhetisches Laboratorium, wo man ­solche Ideen der Freiheit­lichkeit erforschen kann, die uns in einer Landschaft geblieben sind, wo nicht Freiheit, sondern Ordnung die Haupttugend ist; eine Tugend, die meiner Erfahrung nach den Schauspieler zum Roboter degradiert, die Menschen zu Dingen, der Rest ist Geschichte“.44

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Vgl. Haas 2000. S. 95. Vgl. hierzu ebd. S. 102 u. 106. Tabori 1979. S. 27. Ebd. S. 27. Ebd. S. 11. Vgl. ebd. George Tabori. Betrachtungen über das Feigenblatt: Ein Handbuch für Verliebte und Verrückte. München 1991. S. 60.

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Vor dem Hintergrund dieser Theater- und Geschichtsauffassung wird der Einsatz von Puppen in den Shylock-­Improvisa­tionen häufig – z. B. bei Birgit Haas und Birgit Tautz – als Metapher für die Verding­lichung von Menschen, ihre Dehumanisierung und Vernichtung interpretiert.45 Das erscheint aus mehreren Gründen einleuchtend: Da ist zunächst der deut­liche Bezug der Inszenierung auf die Shoah und die Tatsache, dass die dehumanisierende na­tionalsozialistische Rhetorik die ermor­deten Opfer als „Figuren“ – nicht als „Leichen“ – bezeichnet wissen wollte.46 Zweitens werden die Puppen tatsäch­lich im Lauf jeder singulären Aufführung zerstört und vernichtet. Drittens spricht für eine s­olche Interpreta­tion die Materialität der P ­ uppen selbst, die im Vergleich zu lebenden Schauspielerkörpern die Metapher der Verding­lichung in konkrete Realität zu überführen scheinen. So richtig diese Interpreta­tion auch ist, bildet sie – so meine These – doch nur einen Teilaspekt des Gebrauchs von Puppen in theatralen Darstellungen der Shoah (im Allgemeinen) und bei Tabori (im Spezifischen) ab. Vernachlässigt wird näm­lich mitunter, bezogen zunächst auf die Shylock-­Improvisa­tionen, was man das ‚Nachleben‘ der jeweiligen Aufführung nennen könnte – zumal mit Bezug auf den Prozesscharakter des Theaterlabors: Da die Puppenzerstörung bei jeder Aufführung wiederholt wird, treten neben die zerstörten Puppen des Vorabends, deren Spuren sich im Theaterraum finden, neue Puppen, die im Spiel der Schauspieler zunächst ‚verlebendigt‘, d. h. aus ihrer ‚Ding­lichkeit‘ befreit werden. Das hängt damit zusammen, dass Materialität im Theater niemals schlichtweg gegeben ist, sondern die „spezifische Verwendung und Wahrnehmung“ von Gegenständen, Körpern und Geräuschen im Aufführungsprozess meint: Materialität, verstanden als die Wahrnehmung von Körpern, Klängen und Gegenständen in ihrem „phänomenalen, selbstreferen­ziellen So-­Sein“, gerät in ein Spannungsverhältnis zu deren Referentialität, wobei die materielle und die referenzielle Dimension einander niemals ausschließen.47

45 Vgl. Haas 2000. S. 115 – 119 und Birgit Tautz. „Bedeckt, Entblößt, Nackt: Verkörperte Geschichte in George Taboris Shylock-­Improvisa­tionen“. Verkörperte Geschichtsentwürfe: George Taboris Theaterarbeit = Embodied Projec­tions on History: George Tabori’s Theater Work. Hg. v. Peter Höyng. Tübingen 1998. S. 67 – 88, S. 75 f. 46 Vgl. die Zeugenaussagen der Holocaust-­Überlebenden Motke Zaïdl und Itzhak Dugin in Claude Lanzmann. Shoah. 1985. Paris 1998. S. 33: „Les Allemands nous imposaient de dire, concernants les corps, qu’il s’agissait de Figuren, c’est-­à-­dire de… marionnettes, de poupées, ou de Schmattes, c’est-­à-­dire de chiffons.“ Vgl. hierzu auch Judith Keilbach. Geschichtsbilder und Zeitzeugen zur Darstellung des Na­tionalsozialismus im bundesdeutschen Fernsehen. ­Münster 2008. S. 55 f. 47 Sabine Schouten. „Materialität.“ Metzler Lexikon Theatertheorie. Hg. v. Erika Fischer-­Lichte, Doris Kolesch u. Matthias Warstat. Stuttgart 2005. S. 194 – 196, S. 194 f.

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Daraus folgt einerseits, dass auch Schauspielerkörper in ihrer ‚Ding­lichkeit‘ hervortreten können, wie eingangs für Zadeks Ghetto-­Inszenierung beschrieben, oder wenn bei Tabori ein Shylock-­Darsteller einen anderen Schauspieler in der Rolle der – abweichend zu Shakespeare – toten Tochter Jessica durch den Proben- und Aufführungsraum trägt.48 Andererseits können Puppen ihre ‚Ding­lichkeit‘ im Spiel und durch Identifika­tionsprozesse tendenziell verlieren. Diese beiden Ebenen – das ‚Nachleben‘ der Aufführung und die Aushandlung des Dingcharakters – verbinden sich in der bereits zitierten Kritik Michael Krügers. Er beginnt seine Rezension mit den Worten: „Vor mir steht ein kleiner abgebrochener Puppenfuß, ein Geschenk, eine Gabe eines Schauspielers aus Taboris Shylock-­Medita­tionen. Das Gesicht des Schauspielers habe ich vergessen, das der kleinen Puppe nicht: direkt vor meinen Augen hat er sie in die Faust genommen und vor meinen Augen hat er sie zerschlagen, zerhackt, aufgehängt: er hat, gesichtslos, ein Symbol vernichtet.“ 49

Der Reflexions- und Schreibakt des Kritikers – und potenziell aller Zuschauer – hebt die Verding­lichung der Puppe nachträg­lich auf. Durch einen anhaltenden Identifika­tionsprozess wird sie verlebendigt, erhält sie ihr Gesicht zurück, während der sie zerstörende Schauspieler das seine verliert. Trotzdem gewinnen weder Schauspieler noch Puppe in d ­ iesem Vorgang eine individuelle Kontur, die über das Symbolhafte der Vernichtung hinausweisen würde. Ihr Bezug auf die realen Opfer und Täter bleibt bis zu einem gewissen Grad suspendiert. Wie Birgit Tautz argumentiert, setzt die Zerschlagung der Puppenkörper auch diesen Abstand in Szene: „den Riß ­zwischen Bühne und Leben, […] den Riß ­zwischen Sprache und Körper.“ 50 Diesbezüg­lich kann der Gebrauch von Puppen bei Tabori mit Bezug auf eine andere Sequenz der Shylock-­Improvisa­tionen interpretiert ­werden, die mit einem dokumentarischen Bericht beginnt. Der Schauspieler Siemen Rühaak berichtet in der Ich-­Form von den Folterqualen eines KZ-Häftlings, bis er von Stanley Walden, dem neben Tabori einzigen jüdischen Ensemblemitglied, unterbrochen wird: „Glauben Sie das?“, fragt Walden ins Publikum: „Es war gut gespielt, aber es ist nicht wahr – er ist ein Schauspieler. Vielleicht war es einmal wahr, aber wie kann man das wissen? Wer ist im KZ gewesen – wahrschein­lich niemand von uns hier. War jemand dabei? Ich war auch nicht dort, es sei Dank.“ 51 48 49 50 51

Vgl. Tabori 1979. S. 60. Krüger 1979. S. 30. Tautz 1998. S. 79. Tabori 1979. S. 52. Der von Rühaak gespielte Text ist in stark abgewandelter und gekürzter Form entnommen aus: Heinz Heger. Die Männer mit dem rosa Winkel: Der Bericht eines

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Waldens Replik behauptet ein prekäres Verhältnis ­zwischen Schauspiel und historischem Ereignis, bei dem Letzteres durch die ästhetische Darbietung weiter entwirk­licht werden könne, weil derjenige, der spielt, kein Zeuge, sondern Schauspieler sei. Das bedeutet keineswegs, dass das Spiel nicht affizieren und dadurch Erinnerung weitertragen könne; ethisch notwendig wird aber – folgt man dieser Logik der Unterbrechung – das Bestehen auf der Differenz z­ wischen anwesendem Schauspieler und abwesendem Zeugen.52 Eine ­solche Differenz erzeugen die Unterbrechung von Rühaaks Spiel ebenso wie der Einsatz der Puppen, deren in ihrer Materialität angelegte Oszilla­tion ­zwischen Ding­lichkeit und Verlebendigung den von Tautz beschriebenen „Riss“ der Wahrheit auch jenseits ihrer konkreten Zerschlagung bereits in sich trägt. II. Spiel und Verlust: Hotel Moderns Kamp (seit 2005)

Neben ihrem Bezug auf den Holocaust hat die Performance Kamp der niederländischen Gruppe Hotel Modern, die seit 2005 auf Festivals interna­tional gezeigt wird, mit den Shylock-­Improvisa­tionen gemeinsam, dass die Zerschlagung von kleinen Puppen in ihr eine zwar geringere, aber doch zentrale Rolle spielt. Wie bei Tabori bewegen sich diejenigen, die die Puppen manipulieren, frei und sichtbar im szenischen Raum, der jedoch den Konven­tionen der Guckkastenbühne folgt und klar von den Zuschauern getrennt ist. Auch übernehmen die drei stummen menschlichen Akteure – die gesamte Performance kommt ohne Worte aus – keine Rollen im eigent­lichen Sinne, sondern sind ledig­lich als Puppenspieler anwesend. Auf der Bühne steht ein 10 × 11 Meter großes, relativ niedriges Modell des Konzentra­tionslagers Auschwitz-­Birkenau, durch das bis zu 3000 kleine, acht Zenti­ meter hohe Figuren bewegt werden, die alle – egal ob sie Täter oder Opfer darstellen – starre Gesichtszüge im Stil von Edvard Munchs Schrei tragen.53 Die Performance folgt einer episodischen Struktur, die vom Morgenappell über die Ankunft neuer Häftlinge bis zum Einsatz der Gaskammern einen ‚typischen‘ Tagesablauf im Konzentra­tionslager zu schildern scheint. Unterbrochen werden diese Szenen durch vorbereitende Sequenzen, in denen die Puppenspieler größere Figurenmengen an bestimmten Stellen im Lagermodell aufbauen, um dann einzelne Puppen Homosexuellen über seine KZ-Haft von 1939 – 1945. Hamburg 1979. S. 113 – 118. 52 Vgl. Michael Bachmann. Der abwesende Zeuge: Autorisierungsstrategien in Darstellungen der Shoah. Tübingen 2010. S. 67 f. u. S. 154 – 158. 53 Vgl. Carol Martin. Theatre of the Real. Basingstoke 2013. S. 76 – 82 und James M. Cherry. „Kamp. Hotel Modern. 9th Interna­tional Toy Theater Festival, St. Ann’s Warehouse, Brooklyn, NY. 3 June 2010.“ Theatre Journal. 63.1 (2011): S. 109 – 111, S. 109 f.

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mit Händen, Kontrollstäben und Drähten zu bewegen. Je einer der Puppenspieler bedient eine winzige Miniaturkamera, die klein genug ist, um z. B. auch innerhalb der nachgebauten Baracken zu filmen. Hinter der Bühne ist eine große Leinwand aufgespannt, die den live produzierten Film zeigt. Auf diese Weise stoßen bei Kamp drei Größendimensionen aufeinander: die acht Zentimeter kleinen Puppen, ihre überlebensgroßen filmischen Abbilder und – ­zwischen den beiden Ebenen – die menschlichen Akteure. Hotel Moderns Kamp gehört zu einer Reihe von Inszenierungen aus dem Bereich des Figurentheaters, die seit den späten 1990er Jahren eine Reihe wissenschaft­licher Diskussionen nach sich gezogen haben, die den theatralen Gebrauch von Puppen, Figuren und Objekten mit Blick auf im weitesten Sinn ethische Fragestellungen behandeln.54 Ein anderes Beispiel wäre Ubu and the Truth Commission (1997) der südafrikanischen Handspring Puppet Company unter der Regie von William Kentridge. Gegenstand der Inszenierung, die mit Puppen, sichtbaren Puppenspielern und Schauspielern arbeitet, sind die Erfahrungen der Apartheid und eine kritische Auseinandersetzung mit der Truth and Reconcilia­tion Commission (TRC), der legalen Institu­tion, die zur Aufarbeitung jener Zeit gegründet wurde. Wie die TRC selbst kennt auch Ubu and the Truth Commission zwei Arten von Zeugen: Täter und Opfer. Erstere werden auf der Bühne von Menschen gespielt, während das Zeugnis der Opfer durch Puppen gesprochen wird. Dem Stil des japanischen Bunraku-­ Theaters ähnelnd, bewegen zwei sichtbare Puppenspieler die Figur; ein weiterer Mensch liefert – ebenfalls deut­lich wahrnehmbar – die Stimme. Diese ästhetische Entscheidung wird üb­licherweise als eine ethische Wahl interpretiert. So schreibt z. B. Stephanie Marlin-­Curiel: „[Since] the puppet does not add its own living body and memory to the [victim’s] story, it succeeds in communicating without appro­ priating. The puppet ‚contains‘ the testimonial repeti­tion by not fully appropriating the testi­mony from the memory of the ‚real‘ body.“ 55 Dieser „Wiederholung“ des Zeugnisses ohne „Aneignung“ steht laut Marlin-­ Curiel jedoch die Mög­lichkeit einer anderen Lesart entgegen, derzufolge sich die Entscheidung für Puppen als unethische Wahl verstehen ließe, „since the puppets reduce victims to ‚small‘ people with no agency and permanently pathetic expressions on their faces“.56 Eine ­solche Interpreta­tion ließe sich leicht auf Kamp beziehen, 54 Für Hotel Modern vgl. etwa Maike Bleeker. „Playing Soldiers at the Edge of Imagina­tion: Hotel Modern and the Representa­tion of the Unrepresentable“. Arcadia Interna­tional Jour­ nal for Literary Studies 45.2 (2011): S. 277 – 296. 55 Stephanie Marlin-­Curiel. „A Little Too Close to the Truth: Anxieties of Testimony and Confession in Ubu and the Truth Commission and The Story I am About to Tell“. South African Theatre Journal 15.1 (2001): S. 77 – 106, S. 84. 56 Ebd.

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wo der Größenunterschied ­zwischen Puppenspieler und Puppe sowie die relative Unbeweg­lichkeit der Letzteren die historische Verschiebung der Handlungsmacht vom Opfer zum Täter re-­inszeniert, aber auch die Rolle des Puppenspielers in der ästhetischen Wiederholung ­dieses Akts problematisiert. In einer Szene von Kamp wird die Ermordung eines erschöpften Häftlings durch einen Naziaufseher dargestellt. Eine Puppe wird durch eine andere zerschlagen, doch wie bei Tabori geht dies nur mit äußerster Gewalt: Bei Hotel Modern benutzt der Puppenspieler die Täterpuppe als Hammer. Wie die Puppenzerstörung der Shylock-­ Improvisa­tionen basiert dieser Akt auf einem ambivalenten Spiel von Identifika­tion und Distanzierung, Verlebendigung und Verding­lichung: „We identify with the puppets we play“, schreibt Pauline Kalker von Hotel Modern, „We act when we move the little characters. When you perform the SS man who beats a prisoner to death, you force yourself to identify with his total sadism and anger – he just wants to beat that out of the man and out of himself.“ 57 Anders, als d ­ ieses Zitat nahelegt, lässt sich der Moment der Puppenzerstörung jedoch auch bei Kamp nicht in einem identifikatorischen Modell bewahren. Wo die Projek­tion auf der Leinwand die Zerschlagung einer Puppe durch eine andere zeigt, sehen die Zuschauer den Spieler, der der Täterpuppe erst ihre Kraft gibt. Gerade weil es sich bei Kamp um „postillusionistisches“ Theater handelt,58 das seine eigene Herstellung ausstellt, geraten die Puppenspieler selbst – auf gänz­lich andere Weise als die Akteure bei Tabori – als Täter in den Blick. Dem entspricht eine im Vergleich zu den Shylock-­Improvisa­tionen verschobene Konstella­tion von Gabe und Fraktur, die auch auf die rund drei Jahrzehnte verweist, die z­ wischen den Inszenierungen liegen. Bei Kamp nehmen die Zuschauer keine Bruchstücke zerschlagener Figuren mit, sondern Fotos. Am Ende der sechzigminütigen Performance darf das Publikum seine Sitze verlassen und an die Bühne treten, um die kleinen Figuren ebenso wie das Modell des Konzentra­tionslagers genau zu betrachten und zu fotografieren; ein Schritt, zu dem bereits vor Beginn der Aufführung durch eine Lautsprecheransage ermutigt wird. Das Oszillieren ­zwischen Verlebendigung und Verding­lichung, das sich im Motiv des zerschlagenen Puppenkörpers materialisiert, weist auch bei Kamp auf die Traumata der Geschichte sowie auf die Differenz z­ wischen Ereignis und Darstellung hin. Die touristische Geste des Fotos, das die Zuschauer als Souvenir von der Aufführung mitnehmen, lässt jedoch die Faszina­tion an der Virtuosität dieser Darstellung in den Vordergrund treten: Das Spiel, bei Tabori noch aufgeladen mit der Hoffnung auf sinn­liche Erfahrung – und ‚Bewältigung‘ – der Vergangenheit, kann die Gefahr des Verlusts nicht bannen.

57 Arlène Hoornweg, Pauline Kalker u. Herman Helle. „Portfolio: Hotel Modern, Kamp“. Theater 37.2 (2007): S. 91 – 101, S. 92. 58 Vgl. Martin 2013. S. 79.

Tatjana Petzer

Tanz und Trauma Choreografische Gedächtnisformen nach Auschwitz Es gibt ein choreografisches Archiv der Shoah. Darunter verstehe ich weniger narra­ tive Inszenierungen der erlittenen Zeit, sondern in erster Linie die Herausbildung einer spezifischen Tanz- und Tanztheatertradi­tion als Methode, durch Bühnen­ arbeit kollektiven Traumata zu begegnen – sowohl durch die performative Partizi­ pa­tion am traumatischen Körpergedächtnis als auch durch die Entwicklung neuer Körper­konzepte.1 Mein Beitrag möchte einige Schlag­lichter auf wichtige Figuren der zeitgenös­sischen, insbesondere der israe­lischen Tanzszene und exemplarische Choreografien werfen: auf die Auschwitz-­Überlebende Yehudit Arnon und ihren Nachfolger Rami Be’er von der Kibbutz Contemporary Dance Company, auf Anna Sokolow, die als Erste die Shoah in einer namhaften Chorografie auf die Bühne brachte, und auf entsprechende Explora­tionen der dritten Tanzgenera­tion. Skizziert werden soziokulturelle Effekte und die Ästhetik des Tanzes nach Auschwitz. Tanz wird dabei mit dem Tanzpädagogen und langjährigen Mitglied des Tanz­theater Wuppertal Pina Bausch, Stephan Brinkmann, als „Gedächtnisakt“ verstanden, der auf einem komplexen Zusammenspiel von Bewegung und Erinnerung basiert.2 Performative

1 Bei posttraumatischen Belastungsstörungen kommen heute spezifische Musik-, Tanz- und Bewegungstherapien zum Einsatz; diese sind nicht Gegenstand meines Beitrags. Kollektiv erfahrene Körperversehrungen haben intensive ästhetische Kommentare hervorgebracht, die nicht selten im modernen Tanztheater ihren Höhepunkt fanden. Argentinien, wo der Ausdruckstanz an die lokale Tangotradi­tion anknüpfte, ist dafür ein prominentes Beispiel. Vgl. Victoria Fortuna. „A Dance of Many Bodies: Moving trauma in Susana Tambutti’s La puñalada“. Performance Research. A Journal of the Performing Arts 16.1 (2011): S. 43 – 51. 2 Stephan Brinkmann. Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz. Bielefeld 2012. Zum Zusammenhang von Gedächtnis und Tanz vgl. auch Gerald Siegmund. „Archive der Erfahrung, Archive des Fremden. Zum Körpergedächtnis des Tanzes“. Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung. Hg. v. Margrit Bischof u. Claudia Rosiny. Bielefeld 2010. S. 171 – 179. Anknüpfend an die Gedächtnisforschung hat das gemeinsame Interesse an Zusammenhängen von Tanz und Kogni­tion seitens der Bewegungs- und der Neuro­ wissenschaft interdisziplinäre Forschungsansätze hervorgebracht, vgl. Bettina Bläsing, Martin Puttke u. Thomas Schack. The Neurocogni­tion of Dance. Mind, Movement and Motor Skills. East Sussex 2010; Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaft­lichen Forschung im Tanz. Hg. v. Sabine Gehm, Pirkko Husemann und Katharina von Wilcke.

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Tatjana Petzer

Gedächtnisakte funk­tionieren nicht analog zur Textrezep­tion als Körper­lektüre. Eine Aufführung, bei der die Performer und das Publikum gleichzeitig präsent sind, erlebt der Zuschauer, so die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-­Lichte, als „Schwellenerfahrung“, d. h. als ganzheit­liche, transformative Selbsterfahrung.3 Darin liegt ein wesent­liches therapeutisches Potential der neuen Tanzkultur. I.

Yehudit Arnon: Tanzen ist Leben

Die Geschichte des modernen israe­lischen Tanzes beginnt vor der Staatsgründung Israels mit Tänzer-Choreografinnen aus Europa und Amerika. Den Grundstein legten die nach Palästina ausgewanderten Schwestern Yehudit und Shoshana Ornstein, die 1922 in Tel Aviv eine Schule für Tanz und rhythmische Gymnastik eröffneten. Ende der 1920er Jahre studierten sie in Wien und Berlin bei Gertrud Bodenwieser, Rosalia Chladek und Max Terpis, allesamt Wegbereiter des Ausdruckstanzes, von dem die Arbeit der Ornstein-­Schwestern nach ihrer Rückkehr in die neue Heimat auch maßgeb­lich beeinflusst war.4 Nach der Erfahrung des Holocaust mündeten die Bewegungsexperimente der Tanz-­Avantgarde in der Kunstform des Tanztheaters, das auf spezifische Weise dem kollektiven Trauma mit expressiver Ausdruckskraft und erzählenden Elementen begegnete. Die an die ästhetische Moderne anknüpfende Körper- und Bewegungspraxis wird grundlegend für den performative turn der posttraumatischen Gesellschaft. Dass die im slowakischen Komárno geborene Yehudit Arnon 5 (1926 – 2013) zu einer Initiatorin des modernen israe­lischen Tanztheaters werden sollte, ist auf eine dunkle Episode zurückzuführen. Gemeinsam mit ihren Eltern wurde Arnon am

Bielefeld 2007; Tanz im Kopf. Dance and Cogni­tion (= Jahrbuch Tanzforschung Bd. 15). Hg. v. Johannes Birringer und Josephine Fenger. Münster 2005. 3 Erika Fischer-­Lichte. Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative. Tübingen, Basel 2001; dies. „Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung“. Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Hg. v. Joachim Küpper u. Christoph Menke. Frankfurt a. M. 2003. S. 138 – 161. 4 Vgl. Gaby Aldor. Wie tanzt nun ein Kamel? Die Geschichte der Ornstein-­Familie und die Erfindung des modernen israe­lischen Tanztheaters. Aus dem Hebr. von Liliane Meilinger. Wien 2012. Weiterführend zu Genese und Spektrum der modernen Tanzszene in Israel vgl. Ruth Eshel. „Concert Dance in Israel“. Dance Research Journal 35.1 (2003): S. 61 – 80; ­Gabriel Biblio­wicz, Efrat Amit. Let’s Dance! Israel und der moderne Tanz. Dokumenta­tion. Israel 2010. Ausstrahlung auf Arte am 28. 3. 2011; Deborah Friedes Galili. Contemporary Dance in Israel. Hg. v. Sylvia Fuentes. Getxo 2012. 5 Geborene Judith Schischa-­Halevy – der Name des Vaters deutet auf sephardische Wurzeln, die ­Mutter war eine ungarische Aschkenasim.

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11. Juni 1944 nach Auschwitz deportiert, sie kam nach Birkenau. Um zu überleben, versuchten sich die Mädchen in der Baracke zu unterhalten – Arnon, die wegen ihrer Skoliose seit der Kindheit Gymnastik und Bewegungsübungen praktizierte, tanzte für ihre Mitgefangenen. Zu Weihnachten 1944 wurde sie von den Aufsehern dazu bestimmt, die SS zu unterhalten. Als sie sich weigerte und zur Bestrafung barfüßig die Nacht über im Schnee stehen musste, fasste sie den Entschluss, ihr Leben dem Tanz zu widmen, sollte sie das Lager überleben.6 Arnon überlebte Birkenau, den Todesmarsch und ein Erschießungskommando in Mähren, als die Deutschen plötz­lich vor der nahenden Roten Armee flohen. Sie ging zunächst nach Budapest, wo sie sich bei der sozialistisch-­zionistischen Jugendorganisa­tion Ha-­Shomer ha-­Za’ir (Der junge Wächter) engagierte und mit Kindern Tanzchoreografien einstudierte. Mit ihr unterrichtete ihr späterer Ehemann Yedidya Ahronfeld 7 (geb. 1922), ein Mathematiker. Tanz und Mathematik wurde die integrative Sprache für über hundert Waisenkinder z­ wischen sechs und sechzehn Jahren, die aus den verschiedensten Teilen Europas kamen und die das Ehepaar ­später nach Palästina brachte. Auf Gemeinschaftsbildung abzielende Massenchoreografien hatten sich seit den 1920er und 1930er Jahren in der Arbeiter- und Festkultur in Deutschland (Rudolf von Labans Bewegungschöre) und der Sowjetunion (Festtage des Roten Kalenders) etabliert. Die Methode erlaubte, durch Gruppenbilder und -bewegungen, chorisches Singen wie kollektive Gestik emo­tionale Wirkungen zu erzielen. Die Tanzenden waren Teil eines Ganzen, Glied eines Kollektivkörpers.8 6 Birgit Adler-­Conrad. Yudith Arnon im Gespräch. 13 Min. Erstausstrahlung ZDF Theaterkanal am 26. 5. 2008. Vgl. auch Arnons Zeugnis in Tzviya Kerens Dokumentarfilm Dance of Life (o. J.) auf: http://www.youtube.com/watch?v=EQmdiqwziXw&hd=1#, 0:25, vom 6. 10. 2015, die Arnon-­Biografie von Avshalom Ḳaṿeh. Aḥuzat maḥol: Yehudit Arnon ṿe-­lahaḳat ha-­ maḥol ha-­ḳibutsit: pirḳe ḥayim. Tel Aviv 2003; Judith Brin Ingber. „Yehudit Arnon“. Jewish Women: A Comprehensive Historical Encyclopedia, auf: http://jwa.org/encyclopedia/article/ arnon-yehudit vom 1. 7. 2014. 7 Ahronfeld hebräisierte ­später den Familiennamen. 8 Massenfeste wurden auf allen politischen Seiten zu Propagandazwecken instrumentalisiert. Das Engagement des ungarischen, in Bratislava/Pressburg geborenen Rudolf von Laban (eigent­lich Rezső Laban de Váraljas), der zeitweise im Dienst der Na­tionalsozialisten stand, bis ein von ihm monumental choreografiertes ‚Weihespiel‘ für die Olympischen Spiele 1936 auf Goebbels Ablehnung stieß, ist teilweise umstritten. Ungeachtet dessen bildet von Labans am Modell des Ikosaeders geschulte Choreutik einen wichtigen Pfeiler des modernen Ausdruckstanzes. Vgl. auch Henning Eichberg, Michael Dultz u. Glen Gadberry. Massen­ spiele: NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell. Stuttgart 1977; Rainer Stommer u. Marina Dalügge. „Masse – Kollektiv – Volksgemeinschaft. Massenästhetische Inszenierungen der zwanziger und dreißiger Jahre“. Berlin-­Moskau/Moskau-­Berlin 1900 –  1950. Hg. v. Irina Antonowna u. Jörn Merkert. Berlin 1995. S. 349 – 355.

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Auch in der zionistischen Jugendbewegung hatte der geometrisch-­rhythmische Tanz eine wichtige identitätsstiftende Funk­tion, manifestierte Zusammenhalt und Stärke. Es ging darum, einen empfind­lich versehrten (kollektiven) Körper aufzurichten und Mög­lichkeiten zu finden, sich mit den traumatischen Erfahrungen und Erinnerungen auseinanderzusetzen. Tanzen bedeutete Leben,9 die von Arnon choreografierten Forma­tionen  10 waren Ausdruck der Freiheit. Philosophisch kann dieser Gedanke mit Henri Bergson untermauert werden, der in L’évolu­tion ­créa­trice (1907) die Bewegung des Körpers als zeit­lich gerichtete Gedächtnisaktivität, als „werdendes Handeln“ beschreibt. Tanz ist demnach eine ästhetische Erfahrung, die Vergangenes in Zukünftiges transformiert.11 In Budapest traf Arnon die Tänzerin Irena Dückstein, eine Schülerin des deutschen Tanztheater-­Pioniers Kurt Jooss. Dückstein lehrte an der hiesigen Akademie für Körpererziehung und leitete ab 1946 die Fakultät für Bewegungskünste. Arnon lehnte Dücksteins Angebot ab, als ihre Assistentin zu arbeiten, der Entschluss, mit ihrem Ehemann nach Palästina auszuwandern, war bereits gefasst. Dückstein gab ihr einen dreitägigen Kompaktkurs in Tanztheorie und modernen Tanztechniken auf den Weg. Die Arnons erreichten gemeinsam mit den Waisenkindern nach einer abenteuer­lichen Reise durch Europa im Jahre 1948 Palästina. Das Ehepaar schloss sich dem von ungarischen Einwanderern begründeten Kibbuz Ga’aton in Nordisrael nahe der libane­sischen Grenze an. Neben ihrer Arbeit fuhr Arnon einmal wöchent­ lich nach Haifa, studierte bei Gertrud Kraus 12 und Yardena Cohen.13 Für Letztere wurde die Kibbuzbewegung auch zum choreografischen Experimentierfeld; Kraus 9 Arnon hat dies wiederholt betont: „Dance is life!“ (Jakov Sedlar: Yudith, Croatia film 2007, 30 min., hier: 0:35) oder auch „Dance and movement – that is life!“ (Jakov Sedlar: Mayim Mayim. Stadttheater Fürth/Croatia film. Dokumentarfilm 2008, hier: 0:28). 10 Vgl. Photoaufnahmen in Keren, Dance of Life, 8:27, 9:00 – 9:30. 11 Vgl. Brinkmann 2012. S. 298 – 299, Brinkmann referiert hier auf Henri Bergson. Schöpferische Entwicklung. Zürich 1927. S. 255. 12 Gertrud Kraus (1901 – 1977) erhielt ihre Klavier- und Tanzausbildung in Wien und war Hauptassistentin von Rudolf von Laban, bevor sie 1935 nach Tel Aviv ging und einige Jahre ­später die Modern Dance Company an der Tel Aviv Folk Opera gründete. Nach einem weiteren Ausbildungsjahr in den USA im Jahre 1949 gründete Kraus 1950 – 1951 das Israel Ballet Theatre. 13 Yardena Cohen (1910 – 2012) ging nach Europa, um 1930 – 1933 bei Gertrud Bodenwieser und Gret Palucca Tanz zu studieren. Nach ihrer Rückkehr nach Palästina lehnte sie die euro­ päischen Vorbilder ab und performte mit großem na­tionalem Erfolg orientalisierte Tänze zur sephardischen Musik. Vgl. auch Nina S. Spiegel. „Producing Theatrical Dance: The Na­tional Competi­tion, 1937“. Embodying Hebrew Culture: Aesthetics, Athletics, and Dance in the Jewish Comunity of Mandate Palastine. Hg. v. ders. Detroit, Michigan 2013. S. 97 – 132, S.  108 – 127.

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und Cohen bereisten regelmäßig die Siedlungen, arbeiteten vor Ort und trugen zur Integra­tion des expressiven Tanzes in den Lebensalltag bei.14 Arnon sammelte in ihrem Kibbuz nicht nur Tänzer um sich, sie begründete vielmehr eine Tanzgemeinschaft, heute ist Ga’aton für sein Dance Village inter­­ national bekannt. Aufgrund von Arnons Beharr­lichkeit setzte sich im Unterschied zur folklo­ristischen Tanzkultur in den meisten Kibbuzim hier der moderne Tanz durch. 1962 gründete Arnon ihr erstes Tanzensemble, bald darauf wurde das regionale Tanz­zentrum Ga’aton eröffnet, von 1970 bis 1996 leitete sie die von ihr begründete Kibbutz Dance Company. Letztere wurde ­später in Kibbutz Contemporary Dance Company unbenannt, um sich von den für Kibbuzim üb­lichen Folkloregruppen abzugrenzen. Das Ensemble profitierte von der sozialen Integrität des Kibbuz und meisterte den Wechsel von Kibbuzarbeit und Tanzausbildung. Arnon, deren Gesamtwerk von der persön­lichen Erfahrung im Lager motiviert war, hat diese meines Wissens nicht in Choreografien thematisiert. Vielmehr setzte sie den traumatischen Erlebnissen des Holocaust eine ästhetische Erfahrung entgegen: Körperbewusstsein durch Rhythmik, ein Fach, das sie auch im Kibbuz-­ Kindergarten unterrichtete, bis hin zum Ausdruckstanz als befreiendes, stärkendes und gemeinschaftsstiftendes Mittel, als Zukunftsästhetik. In d ­ iesem Sinne zeigt auch eine Aufnahme aus dem von Arnon choreografierten Porträt-­Triptychon Three Men (1979) drei Tänzer in einer kraftvollen Geste in einem Doppelreifen vereint.15 Der Partizipa­tionsakt ist entscheidend für die symbo­lischen Rituale, die aus der performativen Ästhetik hervorgehen und letzt­lich Gemeinschaft begründen. Der (kollektive) Körper ist Ausgangspunkt einer künstlerischen, ästhetischen und ethischen Praxis, die Performance ein Werkzeug zum Weltverständnis in Grenz­situa­ tionen. Entscheidend wird das nichtkompetitive Verhalten unter den Tänzern und Tänzerinnen von Ga’aton, das in der Kunstszene selten anzutreffen ist und selbst den Tanzstil der Kibbutz Contemporary Dance Company kennzeichnete. In Ga’aton wurde Tanzen, um Arnons Vermächtnis auf eine kurze Formel zu bringen, zum Inbegriff des Lebens nach dem Überleben, zum Lebenselexier. Als solches muss der Tanz sowohl nach außen als auch nach innen gerichtet sein. Die Begründerin und Leiterin des Tanzensembles hielt sich mit eigenen Inszenierungen zurück und brachte vielmehr mit ihrem Charisma interna­tional erfolgreiche Choreografen an einen Ort, der jenseits der Zentren für modernen Tanz lag. 14 Giora Manor. „The Seed and the Husk. The Kibbutz Dance Company“. Israel Dance (1987/1988): S. 46 – 49, S. 46. In dem von Arnon choreografierten Duett The Seed and the Husk (1975) gebiert – in einer Verkehrung der biolo­gischen Rollen – der Mann (die Hülle) die Frau (den Samen). 15 Vgl. Photo von Jaacov Agor, in: Giora Manor: „The Kibbutz (Contemporary) Dance Company. 25 Years of Creativity“. Israel Dance Quarterly 9 (Nov. 1996): S. 123 – 127, S. 127.

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Darunter waren die US-Amerikaner Flora Cushman und Gene Hill Sagan, Matts Ek aus Stockholm und der Tscheche Jiří Kylián vom Nederlands Dans Theater. Auch Susanne Linke gastierte hier. So kommt es in Ga’aton zur Verschmelzung verschiedener choreografischer Tradi­tionen, die unterschied­liche Körperkonzepte vertraten und vom expressionistischen Ausdruckstanz sowie Labans Funk­tionalismus bis hin zur Abstrak­tion des amerikanischen Modern Dance reichten. Mit Weitsicht und sozialem Geschick trug Arnon so zur Professionalisierung des israe­lischen Tanztheaters bei.16 Mitte der 1980er Jahre vollzog sich in dieser Hinsicht auch eine Wende in ihrer Company, als allen voran der hier ausgebildete Choreograf Rami Be’er, der auch Arnons Nachfolger werden sollte, mit einer eigenen energetischen Bewegungssprache hervortrat. Arnon selbst stand 2006 ein letztes Mal vor der Kamera, für das Stück Dahlia bleu der in Frankreich wirkenden israe­lischen Tänzerin und Choreografin Tal Beit-­Halachmi.17 Die Tänzer bewegen sich im Licht des Filmprojektors, während sich auf der Leinwand, wie aufgeschreckt aus dem Schlaf, die alte Frau in ihrem Stuhl aufrichtet, den Kopf hebt, dann die Hand. Es sind minimalistische Gesten im Halbdunkeln, die an Butoh erinnern und zeigen, dass die Vergangenheit das Gedächtnis nicht loslässt, sich im Traum wiederholt und doch Optimismus zulässt, denn das signalisiert die letzte Bewegung Arnons, die sich vom Stuhl löst, ihren Körper erhebt.18 II. Anna Sokolow: Dreams

Die US-amerikanische Tänzerin und Choreografin Anna Sokolow (1910 – 2000) war eine der Künstler-­Nomadinnen, von deren interna­tionalem Know-­how und Kreati­ vität Israels Tanzszene profitierte. Sokolows Werk ist vielfach von der jüdischen Kultur und Gesellschaft inspiriert, etwa die Stücke The Exile (1939) und Kaddish (1945), die zu den historischen Daten des Zweiten Weltkriegs entstanden. Die erste Choreografie war in zwei Szenen geteilt – „I had a garden…“ und „The beast is in the garden…“, in denen Sokolow das jüdische Leben in Europa vor und nach der 16 Für ihre Verdienste wurde Arnon 1997 mit dem Distinguished Artist Award of the Inter­ na­tional Society for the Performing Arts und 1998 mit dem Israel Prize geehrt. 2005 erhielt sie für ihre langjährigen Bemühungen um die kulturelle Zusammenarbeit israe­lischer und deutscher Künstler von Präsident Horst Köhler das Bundesverdienstkreuz, vgl. Sedlar 2008. 15:25. Thomas Hahn. „Yehudit Arnon. Die große Dame des israe­lischen Tanzes im Gespräch“. ballettanz (Aug./Sept. 2006): S. 62. 17 Vgl. Szenenbilder auf: http://www.nathaliesternalski.com/festival/halachmi_dahlia vom 6. 10. 2015. 18 Vgl. Hahn 2006.

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Machtübernahme der Na­tionalsozialisten zur Darstellung brachte. In der zweiten tanzte Sokolow Kaddisch, ihr Totengebet für die Opfer der Shoah, zur gleichnamigen Melodie von Maurice Ravel. Sie trat im schwarzen Kleid auf, um den linken Arm ein schwarzes Band gebunden – es erinnert an das Tefillin, den Gebetsriemen gläubiger Juden, den Frauen tradi­tionell nicht tragen dürfen. Sie bricht diese Tradi­ tion nicht, sondern integriert diese symbo­lisch in ihre Ästhetik des Klagegebets (sie schlägt an ihre Brust, lässt sich zu Boden fallen, hebt ihren Blick fortwährend zum Himmel etc.). Sokolow wurde für soziales Commitment auf der Tanzbühne bekannt, in ihren Stücken geht es vielfach um Humanität angesichts der Erfahrungen von Inhumanität.19 Nach Tel Aviv kam Sokolow das erste Mal 1953 und arbeitete mit Sara Levi-­ Tanai (1910 – 2005) und der von dieser begründeten und geleiteten Inbal Yemenite Dance Group (auch: Inbal Dance Theatre) zusammen. Später begründete Sokolow das Lyric Theatre (1962 – 1964), ein durch Israel tourendes Ensemble, in dessen Performances es zur Diffusion von Tanz und Theater kam. Sokolow, die mit Elementen der Stanislawski-­Methode und der Martha-­Graham-­Technik arbeitete, kreierte ­Stücke mit emo­tional-­expressiver Bewegungsdynamik und entsprechenden psycho­ phy­sischen Effekten. Später arbeitete sie als Choreografin für israe­lische Ensembles, die dem zeitgenös­sischen Tanz verpflichtet waren, darunter die von der Baroness Bethsabée (Batsheva) de Rothschild (1914 – 1999) mitbegründeten und finanzierten Batsheva Dance Company und Bat-­Dor Dance Company 20 (1968 – 2006) sowie die Kibbutz Contemporary Dance Company.

19 Als junge Tänzerin war sie Mitglied der Radical Dance Movement, deren Ziel sozial und politisch engagierte Choreografien waren. Entsprechend war Sokolows erste Choreografie eine Anti-­War Trilogy (1933), die im Rahmen des E ­ rsten Antikriegskongresses der American League Against War and Fascism aufgeführt wurde. Sie tanzte in George Taboris Vietnam-­ Stück Pinkville (1970 – 1971). 20 Baroness Bethsabée (Batsheva) de Rothschild (1914 – 1999), Tochter des Barons Edouard de Rothschild (1868 – 1949), floh mit ihrer Familie vor den Na­tionalsozialisten nach New York, wo sie die Bekanntschaft mit der Choreografin Martha Graham machte. 1962 wanderte de Rothschild nach Israel aus und erkannte dort sehr rasch das Fehlen eines Ensembles für zeitgenös­sischen Tanz. Sie holte Graham nach Israel und gründete mit ihr 1964 die Batsheva Dance Company, wobei die Baroness vor allem das finanzielle Kapital beitrug, während von Graham die künstlerischen Anregungen kamen. Die Martha-­Graham-­Schülerinnen Rina Schenfeld (* 1938) und Rena Gluck (* 1933) waren bis Ende der 1970er Jahre als führende Tänzerinnen für diese Kompanie tätig. Seit 1990 wird die Batsheva Dance Company erfolgreich von Ohad Naharin (* 1952) geleitet, der für seine Gaga-­Bewegungssprache und Tanztechnik bekannt wurde. Bat-­Dor wurde 1968 gemeinsam mit der Solistin Jeannette Ordman ins Leben gerufen.

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Mit ihrem Stück Dreams (1961/1965) setzt sich Sokolow als Erste explizit in einer tänzerischen Darbietung mit der Erfahrung im Konzentra­tionslager aus­ einander. Trotz mehrerer Aufführungen in Amerika seit dem Frühjahr 1961 blieb Dreams über Jahre work-­in-­progress. Zunächst gab es auch keine bewussten Verbindungen mit Auschwitz. Ausgangspunkt waren Sokolows Albträume, ihre Trennung vom Lebensgefährten. Immer wieder kam es zu Modifika­tionen, doch als sich für Sokolow eine Brücke z­ wischen den Bildern und ihrer Lektüre von André Schwarz-­Barts Roman Le Dernier des Justes (1953) sowie ihren Begegnungen mit Auschwitz-­Überlebenden in Israel bildete, wo sie mit deren eintäto­wierten Nummern konfrontiert wurde, gewann die Choreografie an Schärfe und die finale Form als „indictment of Nazi Germany“.21 Am Ende konnte es nicht darum gehen, die Gräueltaten der Lager auf der Bühne zu wiederholen. Der New Yorker Theaterund Tanzkritiker Clive Barnes kommentierte die Aufführung im East 74th Street Theatre folgendermaßen: „The choreographer Anna Sokolow has a very proper respect for Hell – a respect that even Dante might envy. […] This ballet is one of the most depressing, the most shattering and the most impressive of contemporary dance theatre.“ 22 Mit Dreams waren die Zuschauer – auch in Opposi­tion zu Bemühungen der 1950er Jahre, gerade jungen Menschen die Geschichte des Holocaust weniger über die jüdische Opferrolle als über Heldenfiguren zu vermitteln – mit ­Verkörperungen von körper­lichen Qualen und Schmerzen bis zur Bewegungslosigkeit konfrontiert. Die einzelnen Szenen zeigen Tänzer und Tänzerinnen, die gegen Hindernisse anrennen, sich winden, aufbegehren, stumm schreien, Gewalt erfahren, sie zeigen Liebende im letzten Pas de deux, trostsuchende Prostituierte, ein Kind, welches das Bühnengeschehen beobachtet.23 Sie variieren allesamt die phy­sische Erfahrung der Todesangst und Entfremdung, durch die der Mensch die Fähigkeit verliert, mit s­ einer Umgebung zu kommunizieren. Dreams ist eine moderne Allegorie auf Barbarei und die posttraumatische Gesellschaft. Als der Vorhang nach der Europapremiere des Stücks, getanzt vom Nederlands Dans Theater, in Amsterdam am 9. Juli 1966 fiel, reagierte das Publikum zunächst mit Schweigen, dann erst wurde applaudiert. Die Presse kommentierte dies dahingehend, dass die Tanzakte kein ‚Theater‘, sondern

21 Anna Sokolow. „The Rebel and the Bourgeois“. The Modern Dance: Seven Statements of Belief. Hg. v. Selma Jeanne Cohen. Middleton, CT 1966. S. 29 – 37, S. 36. 22 Clive Barnes. „Dance: Powerful ‚Dreams‘: Anna Sokolow Work Shows Man, Unable to Communicate, Reduced to Fear.“ New York Times (2. Nov. 1965): S. 27. 23 Vgl. Hannah Joy Kosstrin. Honest Bodies: Jewishness, Radicalism, and Modernism in Anna Sokolow’s Choreography from 1927 – 1961 (Ph. D. diss., Ohio State University), S. 329, auf: http://rave.ohiolink.edu/etdc/view?acc_num=osu1300761075 vom 1. 7. 2014.

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verkörperte Alpträume der Überlebenden ­seien, die zwar aus dem Lager, aber nicht von ihrer Erfahrung befreit werden konnten.24 Am 3. Dezember 1973 wurde in Tel Aviv Sokolows Stück In Memory of No. 543246 von der Batsheva Dance Company uraufgeführt, das Solo tanzte Rina Schenfeld (geb. 1938), die zuvor Mitglied von Sokolows Lyric Theater in Israel (1962 – 1964) und somit mit der Arbeitsweise der Choreografin vertraut war.25 Das Bühnenbild sah Schutt, Puppen und andere Halbseligkeiten der Kindheit vor, die durch den na­tionalsozialistischen Terror zu einem abrupten Ende kam. Es ist ein emo­ tionsgeladenes Stück in Erinnerung an ein Lageropfer. Als das Stück kurz nach dem Jom-­Kippur-­Krieg zur Aufführung kam, stand das Land noch unter dem Schock des jüngsten Krieges.26 Zu d ­ iesem Zeitpunkt wurde eine auf erlittene Qualen und erlebte Angst fokussierte Darbietung nicht besonders begrüßt; das Stück erfuhr auch keine Wiederaufführung. Mit explizitem Verweis auf die bürokratisierte Stigmatisierung durch die Na­tionalsozialisten 27 thematisiert In Memory of No. 543246 den Nummer-­Menschen als lebenslangen Gefangenen der eigenen Gefängnismembran, die gnadenlos das traumatische Gedächtnis umschließt und das posttraumatische Verhalten prägt. Wie zuvor in Dreams setzte sich Sokolow experimentell mit den nonverbalen Intensitäten der Körpersprache nach Auschwitz auseinander, in der das phy­sisch Erlebte, nur schwer in Worte Übersetzbare zur Darstellung kommt. III. Rami Be’er: Aide Memoire

Zwei Jahre, bevor Rami Be’er (geb. 1957) die künstlerische Leitung der Kibbutz Con­ temporary Dance Company übernahm, kreierte er das bemerkenswerte Stück Aide Memoire (1994, hebr.: Zichron Dvarim),28 das bis heute Teil des Tournee-­Programms des Ensembles ist,29 mit dem d ­ ieses nicht zuletzt der im August 2013 verstorbenen Arnon gedenkt. Dem im Kibbuz als Sohn von Überlebenden und Mitbegründern 24 Larry Warren. Anna Sokolow. The Rebellious Spirit, Amsterdam 1998, S. 145. Sokolows Chroreo­grafie „Dreams“ wurde u. a. von der Batsheva Dance Company im Jahre 1980 wieder­ aufgeführt. 25 Vgl. „In Memory of No. 52436“, auf: http://www.batsheva.co.il/en/?iid=2036 vom 6. 10. 2015. 26 Warren 1998. S. 192 – 193. 27 Vgl. Stephan Oettermann. Zeichen ­­ auf der Haut: Die Geschichte der Tätowierung in Europa. Frankfurt a. M. 1979. S. 109 – 116: „Schinden“. 28 Vgl. Kibbutz Company Repertoire 1970 – 1996. Israel Dance Quarterly 9 (Nov. 1996): S.  116 – 122. 29 Vgl. Ausschnitte aus Aide Memoire auf: http://www.youtube.com/watch?v=UCbVhGf67yE vom 6. 10. 2015.

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von Ga’aton geborenen Be’er geht es in d ­ iesem Stück um Funk­tionsweisen des kollektiven Gedächtnisses: „Aide Memoire is a work that through associative, emo­ tional and cognitive connec­tions relates to the reality of here and now, while in the background there are always a collective Aide Memoire and a personal recollec­tion of what took place.“ 30 Dass das Stück vordergründig mit der Shoah in Verbindung gebracht wird, ist nicht allein der Choreografie, sondern auch Be’ers Szenenbild und Lichtgestaltung geschuldet. Das Bühnenbild evoziert, obgleich abstrakt, Lagerarchitekturen: röt­lich braune Stahlwände, die von weiß kostümierten Tänzern erklommen werden, aber kein Entrinnen zulassen, gegen die sie anrennen und von denen sie zurückprallen und doch weitertanzen. Die entlang der Mauer und gegen diese exerzierten Bewegungsabläufe samt Bodypercussion reizen die phy­sische und psychische Belastungsgrenze aus. Der hämmernde Rhythmus und die Endlosschleifen von Figuren, die sich auf unsichtbaren Stufen z­ wischen den einzelnen Mauerblöcken bewegen, an ihnen entlanghangeln und herabgleiten – jede dieser Bewegungen stimuliert das Körpergedächtnis, macht die Flüchtigkeit und Fragilität des Körpers erfahrbar, aber neben Schmerz und Schwächen des Einzelnen auch die Stärke und Geborgenheit im Kollektiv. Der Bezug zu Arnon, Be’ers Lehrerin, die in ihrer Baracke von Birkenau ­zwischen den Schlafpritschen gegen Terror und Erschöpfung antanzte, liegt auf der Hand. Das Licht verwandelt die Bühne in verschiedene Chronotopoi: dunkel die Unterwelt, blau die Sphäre der Toten, die Alltagswelt mit weißen Schatten von unterschied­ licher Intensität. Auch wenn Bilder der Shoah (Züge, Zäune, Stiefel, Schornsteine etc.), bekräftigt durch „Raus!“-Rufe, evoziert werden, und einige sensitive, auch romantisch-­erotische Momente die gewaltsamen Szenen durchbrechen, erzählt Be’ers Tanztheater keine Geschichte. Die Bilder und Emo­tionen auf der Bühne symbolisieren vielmehr Erinnerungsmechanismen. Die Mauer hat sich ins Innere verlagert, jeder Versuch, aus der Erinnerung auszubrechen, prallt daran ab und schallt mit lautem Echo zurück. Das ist das Erbe der zweiten und dritten Genera­ tion. In der Eröffnungsszene von Aide Memoire betreten nacheinander sechs Tänzer die Bühne, über ihnen gehen Lichter an. Sechs Gedenkkerzen werden zeremo­niell für die Opfer der Shoah, die Widerstandskämpfer, die Überlebenden und den Staat Israel entzündet. Das ‚Aide-­Mémoire‘, eine Gedächtnisstütze, die aus der Sprache der Diplomatie kommt, wo münd­liche Erklärungen nachträg­lich in einer Notiz festgehalten werden,

30 Zit. nach Talia Perlshtein. „The Archives of the Dance Library of Israel. A Testimonial on the Discourse between Language, Time and Place in Movement“. Are 100 objects enough to represent the dance? Zur Archivierbarkeit von Tanz. Hg. v. Janine Schulz. München 2010. S. 42 – 59, S. 49.

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fungiert bei Be’er nicht als Brücke ­zwischen Sprache und Schrift, sondern ­zwischen Körper und Gedächtnis. Eine Funk­tion des Gedächtnisses ist es, Beziehungen zu stiften. Aber Überlieferung und Gedenken sind nicht per se enttraumatisierend. Das choreografische Aide-­Mémoire erinnert nicht nur die kollektive Erfahrung, sondern verhandelt Bewältigungsstrategien durch Körperarbeit. Diese greifen insbesondere dort, wo sich körper­licher Widerstand gegen das erinnernde Wort oder Ritual regt. Bei der Auseinandersetzung mit genera­tionsübergreifenden Traumafolgen, wie sie sich etwa in Körperbildern und Affekten manifestierten, kommt der Tanzkultur in Israel deshalb eine wichtige Rolle zu. Historisch gesehen gelten Choreografien, insbesondere Volkstänze, als kollektive Gedächtnisformen, die kulturell geformte Erinnerung innerhalb der Gemeinschaft tradieren und die kollektive Identität stärken. Die Kibbuzim halten daher mit großer Intensität an ihrem bunten folkloristischen Erbe fest, nur setzt sich ­dieses nicht allein aus historischen, sondern eben auch aus modernen Choreo­ grafien (etwa Bühnenstücke und Auftragswerke für Kibbuz-­Feste) zusammen. Auch wenn die ästhetische Moderne die Potenziale solistischer Darbietung neu auslotete, wurde gerade unter den Einwanderern und ihren Nachkommen an die synästhetischen Interak­tions- und Kommunika­tionsformen oraler Kulturen angeknüpft, um Gemeinschaft­lichkeit neu zu konstituieren.31 Im zeitgenös­sischen Tanztheater werden diese performativen Ebenen oft verschränkt. Somit interagiert die Tanzkunst auf mehreren Ebenen mit dem kollektiven Gedächtnis: in erster Linie durch die Weitergabe von choreografischem Wissen an die Tänzer,32 die ­dieses zum einen in eigenes Bewegungswissen übertragen und auf dynamische Weise untereinander austauschen, zum anderen, und das betrifft insbesondere das Tanztheater, durch die Austauschbeziehung mit dem Publikum in der öffent­lichen Performance. Kognitiv/emo­tional affizierte Zuschauer partizipieren letzt­lich durch mentale Interak­tion an den kommunikativ/münd­lich (sprich: körper­lich) weitergegebenen Erfahrungen.33 Dieses performative Körpergedächtnis mag wie in Aide Memoire assoziativ am kollektiven Trauma des Holocaust geschult sein, orientiert sich aber immer an der Gegenwart und verweist auf die Zukunft. Wie bei den Tänzern, die mit dem Einstudieren neuer Bewegungen alte Bewegungsmuster durchbrechen, zielt die Ästhetik des Tanzes auf die Arbeit an Widerständen, auf Neustrukturierung und Harmonisierung und damit auf die psychophy­sische Erneuerung und Transforma­tion des korporalen Gedächtnisses. Der allgemeine 31 Inge Baxmann. Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne. München 2000. S. 73. 32 Vgl. Brinkmann 2012. S. 301. 33 Phänomene der kinetischen und mentalen Nachahmung durch Tänzer und Zuschauer ­werden heute durch die neurowissenschaft­liche Untersuchung zu Spiegelneuronen gestützt.

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Anspruch wird auch durch ein Zitat aus dem Buch Kohelet unterstrichen, das als Tonaufnahme in verschiedenen Sprachen eingespielt wird und die Tanzperformance rahmt.34 IV. Ausblick

Stephen Mills vom Austin Ballet nahm die aufkommende Intoleranz nach 9/11 zum Anlass, sich mit menschlichen Abgründen, Hass und Gewalt zu befassen. Seine künstlerische Auseinandersetzung mit emo­tionalen Effekten knüpfte dabei an das Vermächtnis der Shoah-­Opfer und insbesondere an die Überlebende Naomi Warren (1920 in Polen geboren) an.35 Mills Light/The Holocaust & Humanity Project war nach der Uraufführung 2005 in Texas und einer Tournee durch Amerika auch 2013 im Rahmen des Acco Festival of Alternative Israeli Theatre in Tel Aviv und Jerusalem zu sehen, wo die Performance nicht-­jüdischer Künstler positiv aufgenommen wurde,36 dies nicht zuletzt, weil Totentanz und Totenklage durch Mill in eine Botschaft der Hoffnung und Lebensbejahung transformiert werden, verkörpert durch die Tanzenergie, die der dunklen Szenerie entgegenwirkt. Der deutsche Performancekünstler Jochen Roller und die israe­lische Tänzerin Saar Magal untersuchen in ihrer Performance Basically I don’t but actually I do (2009),37 wie Bild- und Körpergedächtnis zusammenspielen und das deutsch-­israe­lische Verhältnis durchdringen. Visuelles Wissen dient ihnen als ambivalente Inspira­tionsquelle.

34 Rami Be’er: „I wanted this work to have a universal core. I use a text from the Book of Ecclesiastes at the beginning and end of Aide Memoire, which says something about the here and now, about the world in which we live – against violence and racism, and about the belief in humanity and peace. I also convey a strong visual sense of a concentra­tion camp on the stage, and in the costumes. I think that is a human message that anyone can appreciate.“ Zit. nach Barry Davis. „Dancing back home“. Jerusalem Post (24. Januar 2014): S. 6 – 10, S. 10. 35 Vgl. den Dokumentarfilm von Leslie Sachnowitz Meimoun: Naomi Warren: A Story of Hope and Renewal (USA 2012), auf: http://vimeo.com/59508199 vom 1. 7. 2014. 36 Vgl. Ballet tells of Holocaust through dance, auf: http://www.ynetnews.com/ articles/0,7340,L-4435025,00.html vom 6. 10. 2015. Eine frühere US -amerikanische Tanzproduk­tion, A Selec­tion (1999), die sich mit der Shoah auseinandersetzt, entstand nach der Idee des Illustrators und Kinderbuchautors Maurice Sandak, Sohn polnischer Juden, die noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach New York immigriert waren, in Zusammenarbeit mit dem Pilobolus Dance Theater; der Entstehungsprozess wurde von Mirra Bank in Last Dance (USA 2002) dokumentiert. 37 Premiere am 4. März 2009 im Theater Kampnagel Hamburg. Vgl. Dokumenta­tion der Performance auf: https://www.youtube.com/watch?v=YQGRGBHmOOA vom 6. 10. 2015.

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Ein stereotypes Bild aus dem Holocaust-­Archiv, ein Foto eines SS -Mannes, der eine jüdische Frau erschießt, bildet für Roller und Saar die Ausgangskonstella­tion. Unwillkür­lich identifizieren sie sich als Enkelkinder von Tätern und Opfern, möchten das Geschehen psychisch wie phy­sisch nachvollziehen, etwa wie der ­Körper auf die Gewalt der Sprache reagiert oder Sprache auf einen Körper, dessen Widerstand und Willen gebrochen sind. In pantomimischen Szenen untersuchen sie die Funk­ tionsweise der gegenseitigen Wahrnehmung und die fortschreitenden Modifika­ tionen der wechselseitigen Beeinflussung – allesamt Mechanismen, die das Shoah-­ Gedenken bis heute prägen. Die multimediale Performancekünstlerin Mica Dvir aus Tel Aviv thematisierte mit Around Dark Matter (2012)38 das widerstreitende Gedächtnis der jungen Genera­tion – nicht als Spannung ­zwischen Vergessen und Erinnern, sondern vielmehr ­zwischen der staat­lich ritualisierten, d. h. obligatorischen kollektiven Gedenkpraxis und der persön­lichen Freiheit, sich (nicht) zu erinnern. Ihre Performance erreicht – ­zwischen eingespielten Videoprojek­tionen und langem Aufzählen von Namen und Ereignissen als Shortcuts des Gedenkens an die Shoah – kaum die emo­tionale Intensität des modernen Tanztheaters, am wenigsten ihre tänzerische Striptease-­Einlage, die mit gelben Sternen auf dem Bikini provozieren möchte. Erwähnenswert sind dennoch ihre Auseinandersetzung mit obsessiver, persön­lichkeitsformender Erinnerung sowie die immanente Kritik an einer Holocaust-­Industrie, an Gedächtniskitsch, der weder vor Israel noch vor den performativen Künsten haltmacht. Eine deutsche Tanztheaterproduk­tion, die auch charakteristische Aspekte des israe­lischen Tanzes spiegelt, stammt von der in Fürth lebenden Choreografin Jutta Czurda. Zum Stadtjubiläum 2007 präsentierte sie Mayim Mayim – Miniaturen des Erinnerns,39 eine Tanztheatercollage im Gedenken an die 33 Kinder, die am 22. März 1942 zusammen mit ihren Betreuern aus dem dortigen jüdischen Waisenhaus deportiert wurden.40 Dazu hatte Czurda Choreografen aus aller Welt eingeladen, ein Mitglied ihre Kompanie nach Fürth zu entsenden, das die Patenschaft für eines der ermordeten Kinder in Form eines dreiminütigen Solos übernehmen sollte; die 38 Uraufführung am Tmuna Theatre, Tel Aviv, April 2012. In eng­lischer Sprache am i-­camp/ Neues Theater München 7. Mai 2013. Vgl. Dokumenta­tion der Performance auf: https:// www.youtube.com/watch?v=dQlMxjtaCv8 vom 6. 10. 2015. 39 Zur Genese des Tanzprojekts vgl. Sedlar 2008. 40 Czurda ist dabei auch mit der eigenen Familiengeschichte konfrontiert: Ihr Großvater, der gemeinsam mit seiner Frau im Frühjahr 1945 Selbstmord beging, war während des Zweiten Weltkriegs Leiter des Sicherheitsdienstes der SS in Krakau und damit zuständig für den „Rassen­kampf“. Vgl. Evelyn Finger. „Kern der Angst. Großes Tanztheater in Fürth: 33 Choreo­ grafien für 33 im Holocaust ermordete jüdische Waisenkinder“. Die Zeit 50 (6. Dezember 2007): S. 63.

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Bürger von Fürth wiederum übernahmen Patenschaften für die entsandten Tänzer. Die Wahl Arnons, die als Erste auf Czurdas Anfrage reagierte 41 und auch persön­ lich zur Aufführung nach Deutschland reiste, fiel auf Adi Amir, eine junge, noch nicht ausgebildete Tänzerin. Diese eröffnete die solistischen Darbietungen mit einer choreografischen Studie, in der einerseits die phy­sische Instabilität des Körpers vor Augen geführt wird, andererseits dessen noch zaghaftes Bewegungspotenzial erweckt und damit jene Hoffnung andeutet, die Arnon zeitlebens mit dem Tanz verband. Aus Israel kam aber auch das militant-­expressive Solo von Doron Gueta von der Kibbutz Contemporary Dance Company, das von beklemmenden „Raus!“-Rufen getaktet ist. Im emo­tionalen Kontrast dazu steht wiederum die von Henrietta Horn ausdrucksstark choreografierte und von der Costa Ricanerin Elvira Zúñiga performte 19. Szene, eine „Tanztheaterallegorie für die Auslöschung des menschlichen Körpers“,42 die eine Frauenfigur im Halbdunkeln zeigt, die weniger tanzt als zuckt und keucht, sich mit letzter Kraft erhebt, wieder zusammensackt, krampft. Dann, als sich um sie herum weitere Tänzer posi­tionieren und wie sie keuchen und fallen, um sich wieder hochzureißen, beginnt man zu begreifen, dass hier versinnbild­licht werden soll, was unmög­lich in Wort und Bild zu fassen ist und doch erinnert werden muss. Nicht alle Szenen ergründen repetitiv die Leere, die durch Angst und Gewalt im Raum erzeugt wird. Die Tanzproduk­tion leistet nicht nur Trauerarbeit, sondern durchbricht das Vergangene mit Tänzen aus aller Welt, integriert die tradi­tionelle Kunst aus Asien und Afrika als Ausdruck von Lebensfreude und Zukunftssinn. Am Ende vereinen sich die interna­tionalen Tänzer und Tänzerinnen zum hoffnungsvollen Reigen „Mayim Mayim“, der das lebenspendende Element Wasser (hebr. mayim) feiert.43 Nach dem Tanzen decken sie gemeinsam eine Tafel, füllen die Gläser mit Wasser und treten zurück; die 33 Stühle bleiben leer. Akteure wie Zuschauer haben so teil am Gebot der Erinnerung und der Hoffnung auf gewaltloses Miteinander, die durch das Tanzprojekt vermittelt werden.

41 Unter den mitwirkenden Choreografen waren, um nur einige der namhaften zu nennen, Rami Be’er, Itzil Galili, Susanne Linke, Elisa Monte, Ohad Naharin, Tero Saarinen, Meryl Tankard und Sasha Waltz, aber auch weniger bekannte Künstler aus dem Senegal, aus Indien, von der Elfenbeinküste. 42 Vgl. Finger 2007. 43 Es handelt sich um eine 1937 von Else Dublon zur Musik von Emanuel Amiran geschaffene Bühnenchoreografie für ein Wasserfest im Kibbuz Na’an im typischen ‚Grapevine‘-Tanzschritt, die an die Wassersuche in der Wüste und die Zukunftshoffnung in Jesaja 12,3 erinnert; diese ging bald in das israe­lische Volkstanzgut über. Vgl. Tzvi Friedhaber. „Shishim Shanah le-­Hiyutzratho shel ha-­Riqud ‚u-­Shaʼavthem Mayim‘ (60 Jahre Choreografie des Tanzes ‚u-­Shaʼavthem Mayim‘)“. Daf Mida Roqdim 14 (April 1998): S. 8 – 9, zit. nach Matti Goldschmidt: Projektwoche Israel, auf: http://www.israeltanz.de/pagea76.html vom 6. 10. 2015.

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Diese skizzenhafte Auflistung zeigt, wie verschieden die Beweggründe von Akteuren des zeitgenös­sischen Tanztheaters sein können, die gerade im letzten Jahrzehnt explizit eine Auseinandersetzung mit der Shoah auf die Bühne brachten. Verbindend für sie ist nicht die kollektive Traumabewältigung, sondern allenfalls die Frage, was die Körpererinnerung Überlebender und kollektive Gedächtnispraktiken für die dritte Genera­tion nach Auschwitz bedeuten und ob ästhetische Erfahrung krea­tiv auf die Gesellschaft zurückzuwirken vermag. Mit der Tanzgemeinschaft von Ga’aton und Be’ers choreografischem Aide-­Mémoire, die in meinem Beitrag exemplarisch für das israe­lische Tanztheater stehen und dessen beispielhafte ästhetische und ethische Funk­tion in der posttraumatischen Gesellschaft verkörpern, kann diese Frage bejaht werden.

Anna Langenbruch

Zwischen Experiment und Erzählung, Klang und Geschichte Musikalische Annäherungen an Auschwitz Luigi Nono beschreibt „ein nötiges Moment der Suche, der Studien und natür­lich des Experimentierens“ 1 als wichtigen Teil der Arbeit an seiner Tonbandkomposi­ tion Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz: „In diesen Chören untersuchte ich, wie man in der Komposi­tion mit einfachen Phonemen und Klängen der menschlichen Stimme, ohne das semantische Element eines literarischen Textes, etwas expressiv Eindring­liches und nicht nur ein formales Divertimento gestalten kann […].“ 2 Das „Experiment“ ist im Künstlerischen ein äußerst vages Konzept; neben der Vorstellung von Kunst als ästhetischer Erkundung, wie sie Nono andeutet, impliziert der Begriff Neuheit, Versuch, Überraschung, Ungewissheit des Ausgangs.3 Gehört das Experimentieren im Sinne von Ausprobieren, Riskieren, Weiterdenken also nicht unmittelbar zur Kunst dazu? Präziser gefragt: Welche Musik, die sich als avant­gardistisch versteht, wäre nicht auch als „experimentell“ zu beschreiben?4 Der Begriff „Experimentelle Musik“ steht im wissenschaft­lichen Sprachgebrauch für vielfältige Arten von Grenzüberschreitungen: im Material, in der Produk­tion, der Wahr­nehmung oder sozialen Situa­tion.5 Auf der Materialebene kann es z. B. darum gehen, Geräuschklänge einzubeziehen und so den musika­lischen Klangraum

1 Luigi Nono. „‚Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz‘ – Chöre aus Die Ermittlung von Peter Weiss (1966)“ [1970]. Luigi Nono: Texte. Studien zu seiner Musik. Hg. v. Jürg Stenzl. Zürich 1975. S. 129 – 130, S. 129. 2 Ebd. 3 Vgl. Stefanie Kreuzer. „Einleitung“. Experimente in den Künsten. Transmediale Erkundungen in Literatur, Theater, Film, Musik und bildender Kunst. Hg. v. ders. Bielefeld 2012. S. 7 – 15, S. 7. 4 Vgl. Marion Saxer. „Nichts als Bluff? Das Experiment in Musik und Klangkunst des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“. Musik und Ästhetik 11.43 (2007): S. 53 – 67. Die Enzyklopädie Musik in Geschichte und Gegenwart verweist unter dem Stichwort „Experimentelle Musik“ ledig­lich auf den Eintrag „Neue Musik“, vgl. MGG. Sachteil. Bd. 3. Hg. v. Ludwig Finscher. Kassel u. a. 1995. Sp. 243. 5 Vgl. z. B. Nina Noeske. „Filmmusika­lische Experimente ­zwischen Bild und Ton oder: Der betrunkene Klavierspieler“. Kreuzer 2012. S. 287 – 304. Vgl. auch Experimentelles Musik- und

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zu erweitern; experimentelle Produk­tionsverfahren werden oft mit neuen Technologien assoziiert, wie Tonbandkomposi­tionen oder computergestütztes Komponieren. Musika­lische Wahrnehmungsexperimente spielen beispielsweise mit audiovisueller Intermedialität und durchbrochene Aufführungssitua­tionen, etwa Performances oder Happenings, die die Trennung ­zwischen Musikern und Publikum verwischen, experimentieren mit ungewohnten sozialen Situa­tionen. Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz lässt sich auf all diesen Ebenen als experimentell verstehen: Nono erweitert das musika­lische Material durch z.T. elektronisch erzeugte Geräusche und Verfremdungstechniken, er wählt zudem eine Produk­tionsform, die moderne Technik nutzt, denn es handelt sich um eine reine Tonbandkomposi­tion, die durch einen Tontechniker aufgeführt und über Laut­sprecher in den Konzertsaal übertragen wird. Dadurch entsteht eine Aufführungssitua­tion, die für das Publikum ungewöhn­lich ist: Es gibt keine sichtbaren Interpretinnen und Interpreten, sondern ledig­lich einen einhüllenden Klang, der von Lautsprechern in allen vier Ecken des oft abgedunkelten Saals übertragen wird.6 Eine besondere Art des Experiments scheint mir deshalb auf der Wahr­ nehmungsebene stattzufinden: Diese Musik kommt quasi aus dem Nichts (sie wird scheinbar nicht musiziert),7 sie ist ‚sprachlos‘ (wie von Nono eingangs beschrieben, singen die Stimmen keinen identifizierbaren Text) und sie vermeidet auch auf der Geräuschebene eine konkrete Bildhaftigkeit. Man könnte also mutmaßen, dass Nono die musika­lische Auseinandersetzung mit Auschwitz soweit wie mög­lich auf eine reine Klangebene versetzt. Auf­ führungskritiken verstehen das Stück entsprechend oft als musika­lischen Versuch über Sprachlosigkeit: „Was sich in Worten nicht sagen läßt, vermittelt diese bedroh­ liche, herzzerreißende, schier verrückt machende Musik“ 8, schreibt etwa ein Kritiker über eine Aufführung im Rahmen des Salzburger Zeitfluss-­Festivals 1993, ein Kollege äußert sich 1995 ähn­lich: „Zehn Minuten Medita­tion über das, ­worüber die ­Sprache Schwierigkeiten hat zu reden.“ 9 Diese Deutung lässt sich durch Aussagen des Komponisten stützen,10 der zudem immer wieder betont, Ricorda sei in Abgrenzung zu seiner Bühnenmusik für Peter Weiss’ Ermittlung, auf deren Material

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Tanztheater. (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert. Bd. 7.) Hg. v. Frieder Reininghaus u. Katja Schneider. Laaber 2004. Vgl. Matthias Kontarsky. Trauma Auschwitz. Zur Verarbeitung des Nichtverarbeitbaren bei Peter Weiss, Luigi Nono und Paul Dessau. Saarbrücken 2001. S. 128 u. 131 f. Scheinbar deshalb, weil der aufführende Tontechniker einen erheb­lichen Interpreta­ tionsspielraum hat, vgl. ebd. S. 148. Werner Schuster in: Kurier, 20. 8. 1993, zit. nach ebd. S. 131. Bernd Feuchtner in: Der Tagesspiegel, 4. 8. 1995, zit. nach ebd. S. 132. Vgl. Nono [1970]. S. 129.

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das Stück aufbaut, als „autonomes werk“ 11 zu verstehen. Hier treffen sich ein musik­ ästhetischer Diskurs um „Musik als autonome Kunst“,12 der Musik als von sozio­ kulturellen Kontexten unabhängige, abstrakte Größe versteht, und ein zentraler Topos der ästhetischen Auseinandersetzung mit Auschwitz: das Nichtdarstellbare (oft in einem engeren Sinne verstanden als „nicht sprach­lich darstellbar“).13 Musik erscheint in ­diesem Zusammenhang als das ideale Abstraktum, gerade wenn sie nicht erzählend oder illustrativ vorgeht.14 Obwohl durchaus konsistent an der Schnittstelle von musika­lischer Autonomieästhetik und Sprachlosigkeitstopos angesiedelt, entbehren diese Interpreta­tionen nicht einer gewissen Paradoxie, denn integraler Bestandteil von Nonos Komposi­tion sind gerade verschiedene Sprachebenen: Einerseits existiert im Hintergrund des Stücks mit Weiss’ Ermittlung ein ganz konkreter Textbezug, der implizit den Komposi­ tionsprozess prägt, der aber auch durch Hinweise (etwa auf die Ein­teilung in drei Chöre – Gesang vom Lager, Gesang vom Ende der Lili Tofler, Gesang von der Mög­ lichkeit des Überlebens – im Programmheft der Uraufführung)15 explizit gemacht und damit Teil der Hörerfahrung wird. Andererseits steckt natür­lich der Titel, wahlweise mit „Erinnere dich“ oder „Gedenke dessen, was man dir in Auschwitz angetan hat“ übersetzt, einen Deutungshorizont ab,16 der (klang)bild­lich wirkt und ästhetische wie historiografische Diskurse um Auschwitz in das musika­lische Ereignis integriert. 11 Ankündigung Nonos in der Programmeinführung zur Uraufführung von Weiss’ Ermittlung, zit. nach Kontarsky 2001. S. 126, sowie ähn­lich lautend in einem Brief an Carla Henius, vgl. Matteo Nanni. Auschwitz, Adorno und Nono. Philosophische und musikanalytische Unter­ suchungen. Freiburg im Breisgau 2004. S. 330. 12 Dies ist zugleich der Untertitel von Kontarskys Kapitel zu Ricorda, vgl. Kontarsky 2001. S. 126. 13 Vgl. z. B. Manuela Günter. „Shoah-­Geschichte(n): Die Vernichtung der europäischen Juden im Spannungsfeld von Historiographie und Literatur“. Literatur und Geschichte. Ein Kom­ pendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. v. Daniel Fulda u. Silvia Tschopp. Berlin 2002. S. 173 – 194, S. 174 ff. 14 Entsprechend betont etwa Spangemacher in seiner Analyse trotz seiner häufig eng an Weiss’ Text angelehnten Deutung Nonos rein musikimmanente, quasi a-­semantische Vorgehensweise: „Der Verzicht auf jede Art von dokumentarischen Klängen verhalf dazu, die Komposi­ tion sehr eindring­lich zu gestalten, das auszudrücken, was Worte oder Originalzitate nicht vermögen: das Leid der Getöteten und unsere Verpflichtung für die Zukunft.“ Friedrich Spangemacher. Luigi Nono, die elektronische Musik: historischer Kontext, Entwicklung, Komposi­ tionstechnik. Regensburg 1983. S. 235 – 253, S. 250. 15 Vgl. Kontarsky 2001. S. 127. 16 Konrad Boehmer kommt daher zum gegenteiligen Schluss: „Auschwitz ist, so meint Nono, nichts Unaussprechbares – im Gegenteil: Der Name müßte wie mit Hämmern ins gesellschaft­ liche Bewußtsein geschlagen werden, das in der ‚Unaussprech­lichkeit‘ sich nur einen Vorwand

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Musik über Auschwitz verortet sich offensicht­lich z­ wischen historischem ­Wissen und ästhetischer Erfahrung, Klang und Geschichtserzählung sind untrennbar verflochten. Der obigen Ausdifferenzierung des ‚Experimentellen‘ in der Musik möchte ich daher für den Fragezusammenhang d ­ ieses Bandes eine weitere Ebene hinzufügen: die der experimentellen Thematik. Inwiefern kann die musika­lische Auseinandersetzung mit Geschichte als Experiment verstanden werden? Wer sich mit Musik über den Holocaust beschäftigt – sei es komponierend, interpretierend, hörend, beschreibend oder analysierend –, ist mit einem ästhetisch-­normativen Diskurs konfrontiert, der die Existenzberechtigung dieser Kunst zum Teil radikal infrage stellt, aus dem sich aber auch erste Erkenntnisse zum generellen Spannungsverhältnis von Musik und Geschichte gewinnen lassen – daher die Rede von der experimentellen Thematik. Anschließend an diese allgemeineren Überlegungen frage ich am Beispiel von Luigi Nonos Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz danach, inwiefern wir Geschichte hören können, und nutze dazu das Konzept ‚Experiment‘ als Denkfigur. Die epistemolo­gische Kategorie ‚Experiment‘ dient im weiteren Verlauf also weniger einer werk- und autorenzentrierten Analyse der konkreten Verfahren, die Experiment und Erzählung, Klang und Geschichte musika­lisch verknüpfen, als einer wahrnehmungs- und diskursorientierten Argumenta­tion: Anschließend an grundsätz­ liche Gedanken zum Zusammenhang von musikhistorischer Wissensproduk­tion und Wahrnehmung fächere ich Elemente impliziten Hörwissens über Auschwitz auf, die in der Auseinandersetzung mit Nonos Komposi­tion aufgerufen werden. Umgekehrt untersuche ich auch, wie Geschichtswissen als Interpreta­tionsfolie für Klanggeschehen eingesetzt wird. Schließ­lich zeichne ich nach, wie mit Musik in bestimmten Wahrnehmungssitua­tionen Nähe und Distanz generiert werden. Im Mittelpunkt meiner folgenden Überlegungen steht also die Frage, wie Hörerinnen und Hörer innerhalb der durch Nonos Komposi­tion vorgegebenen ‚Versuchsanordnungen‘ Wissen produzieren und wie ästhetische Erfahrung in Auschwitz-­Diskurse eingebunden wird und umgekehrt. I.

Geschichte als Kunst?

Im Falle der Auseinandersetzung mit dem Holocaust stellt sich die Frage nach dem Wechselverhältnis von Kunst und Geschichte in besonders radikaler Form. Gründe liegen sowohl im ästhetischen als auch im wissenschaft­lichen Diskurs: Einerseits

fürs Vergessen macht, um ungestört im alten, debilen Rhythmus weitertrotten zu können.“ Konrad Boehmer. Booklet zu Luigi Nono. La fabbrica illuminata. Ha venido, Canciones para Silvia. Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz. Wergo 1968/1992. S. 17.

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wird die Mög­lichkeit von Kunst nach Auschwitz grundsätz­lich angezweifelt, v. a. infolge von Adornos oft apodiktisch-­verkürzter Stellungnahme zum Verhältnis von Kulturkritik und Gesellschaft: „Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmög­ lich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ 17 Vor allem in der Literaturwissenschaft ist der Sinn von Adornos These kontrovers diskutiert worden,18 aber auch Musikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler greifen den Satz, der sich nur scheinbar ledig­lich auf Dichtung, realiter jedoch auf die Mög­lichkeit von Kunst nach Auschwitz insgesamt bezieht, immer wieder auf.19 Adorno hat seine Stellungnahme ­später mehrfach relativiert und präzisiert, und zwar unter anderem unter Rückgriff auf die Notwendigkeit von Kunst als „bewußtlose[r] Geschichtsschreibung“: „Weil jedoch die Welt den eigenen Untergang überlebt hat, bedarf sie gleichwohl der Kunst als ihrer bewußtlosen Geschichtsschreibung. Die authentischen Künstler der Gegenwart sind die, in deren Werken das äußerste Grauen nachzittert.“ 20 Indirekt wird hier die Auseinandersetzung mit dem Holocaust zur Messlatte für den Kunstcharakter eines ‚Werkes‘. (Legitimer) Kunst nach Auschwitz, wie sie Adorno vorzuschweben scheint, wäre demnach eine kritische Beschäftigung mit Geschichte geradezu eingeschrieben, sie wäre eine ins musika­lische Material verlagerte Kunst über Auschwitz. Gleichzeitig drängt sich der Eindruck auf, dass eine explizit erzählende Kunst über Auschwitz hier gerade nicht gemeint ist. Anknüpfend an Adorno distanziert sich Hans Heinrich Eggebrecht in Auseinandersetzung mit Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz grundsätz­lich von der Mög­ lichkeit, Auschwitz musika­lisch zu verarbeiten. Er bezeichnet es als fragwürdig, dass „hier Auschwitz ‚dargeboten‘ wird in der Absonderung einer Veranstaltung, im Rahmen einer Aufführung, im Spiel der Töne, Klänge und Geräusche, in Form von Kunst, die der ästhetischen Beurteilung unterliegt. Und so kann es sein, daß diese Art der Erinnerung, das heißt der Vergegenwärtigung im Inneren, peinigt, weil sie etwas darzustellen versucht, was nicht darstellbar ist“.21

17 Theodor W. Adorno. „Kulturkritik und Gesellschaft (1951)“. Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Hg. v. Petra Kiedaisch. Stuttgart 1995. S. 27 – 49, S. 49. 18 Vgl. überblicksartig Kiedaisch 1995. 19 Vgl. z. B. Hans Heinrich Eggebrecht. „Nach Auschwitz…“. Die Musik und das Schöne. Hg. v. dems. München 1997. S. 34 – 44. Vgl. auch Nanni 2004. 20 Theodor W. Adorno. „Jene zwanziger Jahre (1962)“. Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Kiedaisch 1995. S. 49 – 53, S. 53. 21 Eggebrecht 1997. S. 40 f.

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Matthias Kontarsky hat in d ­ iesem Zusammenhang auf Eggebrechts Musikbegriff (Kunst als Spiel) hingewiesen,22 der jede musika­lische Verarbeitung historischer Zusammenhänge problematisch erscheinen lassen muss. Bezieht man Boris von Hakens Forschungen mit ein, wonach Eggebrecht im Zweiten Weltkrieg Teil einer Einheit der Feldgendarmerie war, die für Massenerschießungen von Juden auf der Krim mitverantwort­lich war,23 so bietet sich eine autobiografische Lesart des Textes an, insbesondere, wenn Eggebrecht, Adorno zitierend, dezidiert k­ ritisch auf die Mög­lichkeit hinweist, dass die „sogenannte künstlerische Gestaltung des nackten körper­lichen Schmerzes der mit Gewehrkolben Niedergeknüppelten […], sei’s noch so entfernt, das Potential [enthalte,] Genuß herauszupressen.“ 24 Adornos und Eggebrechts Posi­tionen verweisen auf potenziell unterschied­liche Kategorien­ systeme historiografischer und ästhetischer Diskurse und auf die ­Problematik ästhetischer Werturteile:25 Wie bewusst (oder bewusstlos) ist Geschichtsschreibung in der Kunst im Gegensatz zur herkömm­lichen Historiografie? Sind „Genuss“ und „Spiel“ auf der einen Seite, „Nachzittern des Grauens“ auf der anderen Seite hinreichend, um musika­lische Erfahrung zu beschreiben? Und was sagt dies über die Reichweite und den Sinn ästhetischer Urteile im Rahmen musikhistorischen Arbeitens aus? Anknüpfend an Eggebrechts „Bilderverbot“ 26 hat Matteo Nanni in jüngerer Zeit in Anlehnung an Adorno danach gefragt, 22 Vgl. Kontarsky 2001. S. 176. 23 Vgl. Boris von Haken. „‚… vom lieben Gott‘. Hans Heinrich Eggebrecht und die Debatte über seinen Einsatz bei der Feldgendarmerie“. Die Musikforschung 66.3 (2013): S. 247 – 264. Der „Fall Eggebrecht“ wird innerhalb der deutschsprachigen Musikwissenschaft und darüber hinaus kontrovers diskutiert. Für eine Übersicht der Veröffent­lichungen vgl. „Der ‚Fall‘ Eggebrecht. Verzeichnis der Veröffent­lichungen in chronolo­gischer Folge 2009 – 2013 zusammengestellt von Matthias Pasdzierny, Johann Friedrich Wendorf und Boris von Haken“. Die Musikforschung 66.3 (2013): S. 265 – 269. 24 Eggebrecht 1997. S. 42 f. Eggebrecht bezieht sich auf: Theodor W. Adorno. „Engagement“. Noten zur Literatur III. Gesammelte Schriften XI. Frankfurt a. M. 1974. S. 409 – 430, S. 423. Gestützt wird die autobiografische Interpreta­tion dieser Passage durch Eggebrechts eigene Argumenta­tion, die mit den Worten schließt: „Moralisieren bittet hier um Entschuldigung. Ich bin aufgefordert worden zu sprechen. Was soll ich anderes sagen? Ich habe zu mir selbst gesprochen.“ Eggebrecht 1997. S. 44. 25 Vgl. dazu auch Frank Hentschel. „Über Wertung, Kanon und Musikwissenschaft“. Der Kanon der Musik: Theorie und Geschichte: ein Handbuch. Hg. v. Klaus Pietschmann u. M ­ elanie Wald-­Fuhrmann. München 2013. S. 72 – 85, S. 79. 26 Eggebrecht formuliert dies explizit: „Deshalb ist der Menschen- und Völkermord, sind Krieg und Holocaust nicht nur nicht darstellbar, sondern auch nicht darstellenserlaubt“. Eggebrecht 1997. S. 43.

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„ob nicht gerade Kunstwerke das Gedächtnis von Auschwitz auf besondere Art bewahren und bezeugen können, ob im Verhältnis z­ wischen Kunst und Wirk­lichkeit von Auschwitz nicht doch auch ein Wahrheitsmoment liegt. Und wenn es so wäre, dann wären die Künstler vielleicht geradezu gezwungen, sich mit dieser Wirk­lichkeit zu konfrontieren.“ 27

Kunst oder, präziser, Musik, denn darum geht es Nanni in seiner Studie, wird hier eindeutig einem Diskursstrang zugeordnet, der auch die wissenschaft­liche Aus­ einandersetzung mit dem Holocaust prägt: dem Themenfeld Gedächtnis/Erinnerung. Im geschichtswissenschaft­lichen Diskurs steht dies in produktiver Spannung zur Frage von Dokumenta­tion/Aufarbeitung. Verbunden werden beide Begriffs­felder durch die Figur des Zeitzeugen. Wie sich bei Nanni andeutet, ist die Idee der Zeugen­ schaft, die in dieser Form eng an die wissenschaft­liche Auseinandersetzung mit dem Holocaust gekoppelt ist,28 auch für musika­lische Annäherungen an A ­ uschwitz zentral. Wenn historische Zusammenhänge musika­lisch verarbeitet werden, treffen sich ästhetischer und wissenschaft­licher Diskurs – Geschichte wird gewissermaßen ästhetisches Ereignis. Hier zeichnet sich ab, warum ich dies im Zusammenhang mit Auschwitz als experimentelle Thematik bezeichne: Es geht nicht so sehr um Kunst nach Auschwitz, sondern um Auschwitz als Anlass für Kunst und um Wege, sich jenseits ästhetisch-­normativer Posi­tionsbestimmungen  29 wissenschaft­lich produktiv mit deren Wirkung auseinanderzusetzen. Musik befasst sich mit historischen Ereignissen, Personen oder Orten, sie stellt auch Massenmorde, Kriege und Katastrophen dar. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht insofern nicht die Frage nach der ästhetischen Angemessenheit, sondern die Auseinandersetzung mit einer künstlerischen Realität und deren Bedeutung für unsere Vorstellung von historischem Wissen: Sophie Fetthauer zählt über 200 Komposi­tionen, die den Holocaust musika­lisch verarbeiten.30 Darunter finden sich neben diversen ­musiktheatralen

2 7 Nanni 2004. S. 13 f. 28 Aleida Assmann etwa bezeichnet den Holocaust als „das Paradigma von Zeugenschaft“, vgl. Aleida Assmann. „Vier Grundtypen von Zeugenschaft“. Zeugenschaft des Holocaust: Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung. Hg. v. Fritz Bauer Institut. Frankfurt a. M. u. a. 2007. S. 33 – 51, S. 34. 29 Vgl. zu ­diesem Problem z. B. Christoph Khittl. „‚Holocaustis non delectaberis‘ – ‚An Brandopfern hast Du kein Gefallen‘. Zur Problematik Kunst und Holocaust in der ästhetischen Theorie“. Wagnis der Bildung. Klänge – Texte – Bilder – Szenen 50 Jahre nach Kriegsende und Holocaust. Hg. v. Institut für Integrative Musikpädagogik und Polyästhetische Erziehung. Salzburg 1996. S. 219 – 228. 30 Vgl. Sophie Fetthauer. „Eine Liste mit Musikwerken der Holocaustrezep­tion. Zusammen­ gestellt von Sophie Fetthauer, Dezember 2004 (aktualisiert 20. Mai 2006)“. http://www. sophie.fetthauer.de/MusikundHolocaust06 – 05 – 20.pdf vom 6. 10. 2015. Fetthauers Liste

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Formen von der Oper über die musika­lische Ak­tion bis zum Tanzdrama auch rein instrumentale Komposi­tionen, sowohl kammermusika­lischen als auch sinfonischen Zuschnitts, sowie elektronische Musik. Insgesamt dominiert die Vokalmusik (Lied, Melodram, Kantate, Requiem oder Oratorium).31 Der von Fetthauer erfasste Zeitraum reicht von der unmittelbaren Kriegs- und Nachkriegszeit bis in die ­frühen 2000er Jahre. Anders als die etwa von Matthew Boswell unter dem Stichwort „Holocaust impiety“ zusammengefasste künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust, die sich v. a. der Schockwirkung des Tabubruchs verschreibt,32 verorten sich die dortigen Holocaust-­Komposi­tionen, wie auch Nonos Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz, vorwiegend im Spannungsfeld ­zwischen Gedächtnis/Erinnerung und Dokumenta­tion/Aufarbeitung. II. Klangexperiment als Zugang zu Geschichte: Luigi Nonos Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz

Bezieht sich Musik auf historische Ereignisse, zeigen Autorinnen und Autoren, Interpretinnen und Interpreten dies in der Regel durch sprach­liche, gelegent­lich auch bild­liche Verweise an, etwa über einen Text, ein Programm oder einen Titel, über eine Inszenierung, ein Musikvideo oder über Cover- und Bookletgestaltung. umfasst 233 Komposi­tionen, sie stützt sich u. a. auf Listen von Ben Arnold. Music and War. A Research and Informa­tion Guide. New York u. a. 1993; Ann Basart. „Music and the Holocaust: A Selective Bibliography“. Cum notis variorum 101 (1986): S. 19 – 30; Joshua Jacobson. „Music in the Holocaust“. The Choral Journal 36.5 (1995): S. 9 – 21, vgl. Sophie Fetthauer. „Holocaustrezep­tion in der Musik“. http://www.sophie.fetthauer.de/projekte. htm vom 6. 10. 2015. 31 Ausgespart bleibt in Fetthauers Liste die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der Popund Rockmusik. Insbesondere im Punk- und Metal-­Bereich tut sich hier jedoch etwa im Anschluss an die kulturwissenschaft­lichen und historischen Studien von Boswell, Stratton oder Mengerink ein fruchtbares musikwissenschaft­liches Forschungsfeld auf. Vgl. Matthew Boswell. Holocaust impiety in literature, popular music and film. Basingstoke u. New York 2012; Jon Stratton. Jewish identity in Western pop culture. The Holocaust and trauma through modernity. New York 2008; Mark A. Mengerink. „Hitler, the Holocaust, and heavy metal music: Holocaust memory and representa­tion in the heavy metal subculture (1980-present)“. Music sociology. Examining the role of music in social life. Hg. v. Sara Horsfall, Jan-­Martijn Meij u. Meghan D. Probstfield. Boulder, CO 2013. S. 177 – 187. 3 2 Boswell betrachtet hier etwa die Auseinandersetzung mit dem Holocaust innerhalb diverser Spielarten des Punks und Post-­Punks, die sich u. a. als Reak­tion auf normative Vorgaben des ästhetischen Diskurses und auf institu­tionalisierte Erinnerungspraktiken verstehen lässt. Vgl. Boswell 2012. S. 97 – 136.

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Sie verlagern die Geschichtsdarstellung aber gleichzeitig zumindest partiell in ein nichtsprach­liches, genauer: ein klang­liches Medium. Wie sich dies auf Geschichtserfahrung und die Produk­tion von historischem Wissen auswirkt, ist bisher noch kaum erforscht.33 Können wir Geschichte hören und wie wäre dies zu verstehen? Luigi Nonos Tonbandkomposi­tion Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz, 1966 in Mailand uraufgeführt,34 ist in d ­ iesem Zusammenhang ein in mehrfacher Hinsicht extremes – oder auch experimentelles – Beispiel, an dem sich Wahrnehmungs­ prozesse, Deutungen und deren Verknüpfung mit und zu historischen Wissens­ elementen besonders plastisch herausarbeiten lassen. Geschichte hören: Wissensproduk­tion und Wahrnehmung

Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz ist eine reine Tonbandkomposi­tion, die Stimmen, Instrumental- und elektronische Klänge vereint. Sie baut auf dem musika­ lischen Material von Nonos Bühnenmusik zu Peter Weiss’ Dokumentartheaterstück Die Ermittlung auf, verfügt aber über keinen wortsprach­lichen Text. Zu dem Stück existiert keinerlei Partitur.35 Nonos Musik wird also primär hörend erfahren, sei es im Aufführungskontext 36 oder als CD-Einspielung,37 was auch für die wissenschaft­liche 33 Zwar beschäftigt sich etwa Matteo Nanni in seiner Studie intensiv mit dem Verhältnis von Musik und (historischer) Wirk­lichkeit, sein Fokus liegt allerdings auf dem Entwurf eines grundsätz­lichen philosophisch-­theoretischen Konzeptes, das in der These von der „Musik als Ort des Bezeugens“ als Form der Vergegenwärtigung auch nach dem Ende realer Zeugen­ schaft mündet, vgl. Nanni 2004. S. 391 – 429. Im Mittelpunkt der vorliegenden Überlegungen steht dagegen die kulturgeschicht­liche Frage danach, wie Menschen Geschichte in der Auseinandersetzung mit Musik erfahren, deuten und produzieren. 34 Dorothea Redepenning verweist darauf, dass sich in den 1960er Jahren, mög­licherweise infolge von Kubakrise, Auschwitzprozess, Algerien- und Vietnamkrieg, in Europa und der Sowjetunion die Komposi­tionen zum Gedenken an die Opfer des Na­tionalsozialismus signi­fikant häufen, vgl. Dorothea Redepenning. „Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz. Musik gegen Gewalt und Krieg“. Osteuropa 55.4 – 6 (2005): S. 281 – 307, S. 295. 35 Vgl. Nanni 2004. S. 315. 36 Im Gegensatz zu anderen Komposi­tionen aus dem Bereich der elektronischen Musik wird Ricorda vergleichsweise häufig aufgeführt. So arbeitet Kerstin Sicking mit Rezensionen zu neun Aufführungen in Deutschland ­zwischen 1988 und 2004 (in Berlin, Saarbrücken, Düsseldorf, Bremen, Stuttgart, Homburg und Hannover), vgl. Kerstin Sicking. Holocaust-­ Komposi­tionen als Medien der Erinnerung: Die Entwicklung eines musikwissenschaft­lichen Gedächtniskonzeptes. Frankfurt a. M. 2010. S. 391 – 396. Kontarsky bezieht sich auf zwei Aufführungen in Österreich 1993 und 1995 (in Salzburg), vgl. Kontarsky 2001. S. 129 – 133. 37 Luigi Nono. La fabbrica illuminata. Ha venido, Canciones para Silvia. Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz. Wergo 1968/1992.

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Auseinandersetzung mit der Komposi­tion gilt. Zwangsläufig geraten dadurch das Klangprimat von Musik und damit musika­lische Wahrnehmungskontexte in den Fokus, die v. a. tradi­tionell schriftfixierte und werkzentrierte musikanalytische Ansätze vor nicht unerheb­liche methodisch-­theoretische Probleme stellen.38 Für Fragen nach dem Hören von Geschichte ist dies dagegen eine durchaus günstige ‚Laborsitua­ tion‘, die auch erlaubt, über alternative Mög­lichkeiten musikhistorischen Schreibens nachzudenken. Denn der scheinbar weniger greifbare Klang 39 fordert ein, was prinzipiell für die Auseinandersetzung mit jedem wissenschaft­lichen Gegenstand gelten sollte: eine hohe Aufmerksamkeit für die subjektive Wahrnehmung innerhalb der Wissensproduk­tion, auch der eigenen. Anknüpfend an die entsprechenden Methoden der Ethnologie sei hier also mein eigener Hörstandpunkt vorangestellt,40 vor dessen Folie die folgenden Überlegungen gelesen werden müssen. Ich höre Nonos Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz zum ersten Mal als CD-Einspielung, also nicht innerhalb einer komplex inszenierten Aufführung, sondern über Kopfhörer in einem Arbeitskontext, und ich höre das circa elfminütige Stück mehrfach hintereinander. Um meine Aufmerksamkeit mög­lichst wenig durch Hörerfahrungen anderer vorzustrukturieren, habe ich vorab nichts über das Stück gelesen, ich kenne ledig­lich Titel, Komponist und Besetzung. Mit elektronischer Musik sowie Luigi Nonos Musiksprache bin ich als Musikwissenschaftlerin einigermaßen vertraut. Mein Wissen über Auschwitz entspricht dem einer Wissen­schaftlerin, die in einem thematisch angrenzenden Gebiet arbeitet (der Exil­forschung). Zudem habe ich das Konzentra­tionslager einige Jahre zuvor besucht und die Erinnerung an den Ort, wie er heute ist, ist noch sehr präsent. Ich gehe an Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz mit der Frage heran, wie sich mithilfe von Klang Geschichte erzählen lässt.

3 8 Vgl. Nanni 2004. S. 312 – 315. 39 Bild (und Schrift) werden vielfach als objektivierbare Größen verstanden, Klang gilt dagegen in der Regel als subjektives Medium. So stellt etwa Nanni dem „subjektiven Hören“ als Grundlage jeder musika­lischen Analyse die „objektive Ebene der Notenschrift“ als Korrektiv gegenüber, vgl. Nanni 2004. S. 313. Die kulturelle Konstruiertheit dieser binären Vorstellung von Klang/Hören/Subjektivität – Bild/Sehen/Objektivität hat z. B. Jonathan Sterne herausgearbeitet. Vgl. Jonathan Sterne. The audible past: cultural origins of sound reproduc­ tion. Durham 2003. S. 14 – 19. 40 Während in ethnolo­gischen Arbeiten eine explizite Reflexion der Beobachterposi­tion zum wissenschaft­lichen Standard gehört, ist das in (musik)historischen Studien in der Regel nicht der Fall. Dadurch besteht die Gefahr einer wissenschaft­lichen Scheinobjektivität, in welcher Deutungen allzu leicht zu Fakten gerinnen. Zu einem ähn­lichen Ansatz in den Sound Studies vgl. z. B. Holger Schulze. „Bewegung Berührung Übertragung. Einführung in eine historische Anthropologie des Klangs“. Sound studies. Tradi­tionen – Methoden – Desiderate: eine Einführung. Hg. v. dems. Bielefeld 2008. S. 143 – 165.

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Was mir hörend als Erstes auffällt, sind die klagend an- und abschwellenden Klangbänder, die am Anfang sehr stark stimmendominiert sind, bis auch Instrumentalklänge, Sinustöne und verschiedene Arten von elektronisch erzeugtem Rauschen in den Vordergrund treten. Unterbrochen wird diese Konstella­tion wiederholt von Stille und von schockartigen sowohl elektronisch als auch instrumental erzeugten Knall-, Reiß- oder Bruchgeräuschen. Über weite Strecken ist das Stück sehr hoch angesetzt, der Musik fehlt sozusagen der Boden. Die Übergänge ­zwischen Stimm-, Instrumental- und Geräuschklängen scheinen mir fließend. Die Geräuschebene wirkt auf mich auffällig abstrakt: Ich höre keine konkret identifizierbaren Klangsitua­ tionen, die ich mit Auschwitz in Verbindung bringen würde, keine Schüsse, Schreie, Sirenen, Befehle, Krematoriums- oder Gasgeräusche. Meinem Eindruck nach ­öffnet Nono in dieser Hinsicht zwar vielfältige Assozia­tionsräume, komponiert die Erinnerung an Auschwitz aber trotz der Verwendung von Geräusch­material nicht dokumentarisch-­illustrativ. Offensicht­lich ist dies bereits ein dezidiert interpretierendes Hören, das sowohl eine gewisse Vertrautheit mit dem erweiterten Klanginstrumentarium der Neuen Musik voraussetzt, als auch ein hochgradig kulturell vermitteltes ‚Hörwissen‘ über Auschwitz. Woher kommt d ­ ieses Hörwissen? Aus Auschwitz und anderen Vernichtungslagern existieren Bilder, Akten und zahllose materielle Relikte: Schuhe, Haare, Brillen, Koffer, Barackenanlagen. Es gibt Filmaufnahmen der Alliierten nach der Befreiung und Zeitzeugenberichte. Tondokumente aus dem Lageralltag existieren dagegen nicht.41 Trotzdem haben wahrschein­lich die meisten von uns eine relativ präzise Klangvorstellung, wenn sie über Auschwitz nachdenken. Diese mag sich zum Teil aus dokumentarischem Material speisen, größtenteils aber vermut­lich aus literarischen, filmischen und musika­lischen Verarbeitungen. Gerade musika­lische Annäherungen an Auschwitz bieten in ­diesem Zusammenhang die Mög­lichkeit,

41 Vgl. Judenverfolgung und jüdisches Leben unter den Bedingungen der na­tionalsozialistischen Gewaltherrschaft (Audiovisuelle Quellen zur Geschichte und Kultur des europäischen Judentums und zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Bd. 1 – 2). Hg. v. Walter Roller u. Susanne Höschel. Potsdam 1996 – 1997, Bd. 1, S. 10. Der Bayrische Rundfunk entwickelt derzeit in Zusammenarbeit mit dem Edi­tionsprojekt Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das na­tionalsozialistische Deutschland 1933 – 1945 des Instituts für Zeitgeschichte eine großangelegte Höredi­tion unter dem Titel Die Quellen sprechen, deren letzter Teil sich auf Auschwitz konzentrieren wird (Das KZ Auschwitz 1942 – 1945 und die Zeit der Todes­märsche 1944/45), vgl. http://die-­quellen-­sprechen.de/dokumente.html vom 3. 10. 2015. Allerdings handelt es sich bei den bisher edierten Quellen größtenteils um schrift­liche Dokumente, die zu ­diesem Zweck von Zeitzeugen und Schauspielern eingelesen wurden, vgl. http://die-­ quellen-­sprechen.de/ vom 3. 10. 2015. Wie sich diese Vorgehensweise auf unser ‚Hörwissen‘ über den Holocaust auswirkt, wäre eine eigene Studie wert.

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historischem Hörwissen auf die Spur zu kommen, denn sie leben von der Transforma­ tion von Geschichts- in Klangvorstellungen. Weil Komponieren über Auschwitz selten unumstritten oder zumindest unkommentiert bleibt, wird die Musik Teil intensiver ästhetischer und historiografischer Diskurse, die wiederum auf unser Hörwissen zurückwirken und ­dieses präzisieren, infrage stellen, korrigieren, erweitern. Implizites Hörwissen: Klangvorstellungen von Auschwitz

In die Auseinandersetzung mit Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz gehen Wissens­ elemente ein, die wissenschaft­lichen, vor- und außerwissenschaft­lichen Kontexten entstammen.42 Dieses zumeist implizite Hörwissen wird erst in der Auseinander­ setzung mit dem konkreten musika­lischen Objekt greifbar. Kritikerinnen und Kritiker hören in Nonos Musik „schneidende Schreie aus einer von Unmenschen bereiteten Hölle“ 43 oder „Geräusche der Hölle, des Äußersten, was Menschen denken ­können. Aufschrei, Explosion, Qual und Angst werden spürbar.“ 44 Sie beschreiben eine chaotische, emo­tional und dynamisch extrem aufgeladene Klangkulisse – „Schreie und Flüstern, schmerzend und erschütternd“ 45, eine „Fülle tönender Klage­laute“  46 –, die zum Teil sehr konkrete Geräusche enthält, etwa „zuschlagende Metalltüren und ‚immer wieder Züge‘“ 47. Gleichzeitig erfahren sie hörend aber auch eine zeit­liche und räum­liche Distanz: „Wie aus einer fernen Welt, wie aus tiefen Katakomben dringen die Stimmen und Schreie zu uns vor.“ 48 Wissenschaft­liche Arbeiten zu Ricorda rufen ähn­liche Klangbilder auf. Heinz Gramann etwa beschreibt in Die Ästhetisierung des Schreckens das Stück als albtraumhaften klang­lichen Schattenriss, der den Ort Auschwitz sicht- und hörbar macht: „Der Raumcharakter der gefilterten und teilweise verhallten Stimmen, sowie nicht zuletzt jene unheim­liche Stille, ­welche die gesamte Komposi­tion umgibt, dienen zur Andeutung einer

42 Ich beziehe mich im Folgenden schwerpunktmäßig auf Aufführungskritiken bei Kontarsky und Sicking, vgl. Kontarsky 2001. S. 129 – 133; Sicking 2010. S. 391 – 396, sowie auf die Analysen und Ausführungen zu Ricorda von Spangemacher, Gramann, Kontarsky und Nanni, vgl. Spangemacher 1983; Heinz Gramann. Die Ästhetisierung des Schreckens in der euro­päischen Musik des 20. Jahrhunderts. Bonn 1984. S. 171 – 180; Kontarsky 2001; Nanni 2004. 43 Rüdiger Heinze in: Augsburger Allgemeine, 2. 8. 1995, zit. nach Kontarsky 2001. S. 132. 4 4 Günter Heiss in: Neue Presse Hannover, 6. 3. 2004, zit. nach Sicking 2010. S. 396. 45 Karl Harb in: Salzburger Nachrichten, 2. 8. 1995, zit. nach Kontarsky 2001. S. 132. 46 Martin Mezger in: Cannstatter Zeitung und Stuttgarter Echo, 22. 5. 2001, zit. nach Sicking 2010. S. 392. 47 Kontarsky 2001. S. 132. Er zitiert hier Ernst Strobl in: Salzburger Volkszeitung, 2. 8. 1995. 48 Stefan Uhrmacher in: Saarbrücker Zeitung, 30. 3. 1999, zit. nach Sicking 2010. S. 392.

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Art Traumszene: man meint die schattenhaften Umrisse der Folter- und Vernichtungsräume wahrzunehmen, aus deren Wänden das Schreien und Stöhnen der Ermordeten wie von einer gespenstischen Ferne herausklingt.“ 49

Matthias Kontarsky weist in ­diesem Zusammenhang darauf hin, dass Metaphern wie „Traum“, „Verstummen“, „Fließen“ in musika­lischen Analysen des Stücks ­häufig zu finden sind: „Sie beschreiben damit nicht nur ihren Höreindruck, sondern auch die Schwierigkeiten, das Gehörte zu fassen.“ 50 Die Traummetaphorik prägt nicht nur musikwissenschaft­liche Annäherungen an Auschwitz, sondern auch literarische und historiografische. So denkt etwa Reinhard Koselleck anknüpfend an Traum­ beschreibungen bei Jean Cayrol, Bruno Bettelheim, Viktor E. Frankl oder ­Margarete Buber-­Neumann darüber nach, inwiefern Träume Zugänge zur Wirk­lichkeit der Konzentra­tionslager öffnen können: „Traumdarstellungen aus den Konzentra­tionslagern eröffnen uns einen Bereich, wo der menschliche Verstand zu versagen scheint, wo seine Sprache verstummt. Die konzentra­ tionären Träume zeichnen sich durch einen rapiden Verlust an Wirk­lichkeit aus, während Wachträume propor­tional zunehmen. Damit werden wir in einen Bereich gestoßen, in dem offenbar die schriftsprach­liche Quellenlage unzureichend wird, um überhaupt begreifen zu lernen, was der Fall war. Wir werden auf die Metaphorik der Träume verwiesen, um sehen zu lernen, was wirk­lich geschah.“ 51

Gerade das Ungreifbare von Traumvorstellungen wird hier zum Ausdruck (sichtbarer) historischer Realität umgedeutet. Ganz Ähn­liches geschieht mit Klangvorstellungen: So betont Kontarsky die Bedeutung der Klangfarbe, insbesondere mikrotonaler Verschiebungen und Verzerrungen, für das Herstellen von Sinneinheiten in Nonos Komposi­tion und verknüpft dies unmittelbar mit der Wirk­lichkeit von Auschwitz: „Nonos Vorliebe für das Irrisierende [sic], das Schwirrende, das Ungreifbare fügt sich damit fast von selbst in die Thematik ‚Wie Auschwitz vergegenwärtigen?‘ ein. Die Menschen, die in den Gaskammern schrien, waren zu hören, aber undeut­lich. Die Stimmen entfernten sich. Sie erstarben. ‚Woran erinnern Sie sich? Was konnten Sie hören?‘“, zitiert Kontarsky aus einem Interview Gideon Greifs mit Josef Sackar: „‚Es war irgendwie ein Weinen. Es war unmög­lich, genau etwas zu 4 9 Gramann 1984. S. 175. 50 Kontarsky 2001. S. 137. Er bezieht sich hier auf die Analysen von Gramann und Spangemacher, vgl. Gramann 1984, Spangemacher 1983. 51 Reinhart Koselleck. „Terror und Traum. Methodolo­gische Anmerkungen zu Zeiterfahrungen im Dritten Reich“. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschicht­licher Zeiten. Hg. v. dems. Frankfurt a. M. 1989. S. 278 – 299, S. 288 f.

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verstehen.‘“ 52 ­Kontarsky nutzt also einen Zeitzeugenbericht als Brücke, um musika­ lische Abstrak­tion als historische Dokumenta­tion zu beschreiben. Diese Verknüpfung von Dokumentarwissen und Komposi­tionstechnik geschieht nicht nur auf einer vergleichsweise abstrakten Ebene. Nanni etwa entwirft im Zusammenhang mit einem Abschnitt aus Ricorda eine konkrete klang­liche Szene, in der schreiende Kinderstimmen von Gasgeräuschen regelrecht verschluckt werden: „Diese [Kinderstimmen, AL] und die hohen Sopran- und Chorlinien werden immer wieder durch sich wiederholende Crescendi von elektronisch erzeugtem Rauschen und Dröhnen, gekoppelt mit flüsternden Stimmen, überdeckt. Aus diesen Klangmassen, die eindeutig das Geräusch von Gas suggerieren, stechen nur hin und wieder vereinzelte Kinderstimmen mit ihren charakteristischen Wehe- und Schreigesten hervor.“ 53

Hauptsäch­lich anhand der Verarbeitung zweier musika­lischer Motive, die er „Schrei-­ Vokabel“ 54 und „Ich-­Gestalt“ 55 nennt, zeichnet Nanni in Ricorda zudem eine explizit „narrative Struktur, die musika­lisch die Zerstörung und Liquidierung eines repräsentativen Ichs hervorbringt“ 56, nach, er entdeckt den Wirk­lichkeitsbezug des Stücks also in kompositorischen Verfahrensweisen. Dokumentarisch vermitteltes Hörwissen interagiert hier mit musika­lischem und leitet auch Identifika­tionsversuche dokumentarischer Klangobjekte innerhalb Nonos Komposi­tion. So schreibt Nanni über ein von ihm als Übernahme aus La Fabbrica illuminata ausgemachtes Klangzitat, es handele sich „um ein in einer Fabrik aufgenommenes konkretes Geräusch, wahrschein­lich um eine mit Gewalt zugeschlagene Ofenklappe“, und deutet dies als „Einbruch einer konkreten Klangwelt, deren Gehalt sowohl Zerstörung als auch direkter Bezug zu den Feueröfen der nazistischen Konzentra­tionslager sein kann.“ 57 Stimme, Elektronik, Geräusch: Auschwitz als Interpreta­tionsfolie für Klangphänomene

Die meisten existierenden Analysen arbeiten als zentrale Polarität des Stücks „das gegensätz­liche Verhältnis ­zwischen Singstimme, die in ­diesem Werk emphatisch 52 Kontarsky 2001. S. 143 f. Er zitiert hier aus einem Gespräch mit Josef Sackar in: Gideon Greif. „Wir weinten tränenlos“: Augenzeugenberichte der jüdischen „Sonderkommandos“ in Auschwitz. Köln 1995. S. 35. 53 Nanni 2004. S. 343. 54 Ebd. S. 334. 55 Ebd. S. 337. 56 Ebd. S. 331. 57 Ebd. S. 363 f.

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für das menschliche und individuelle Leiden steht, und der Zerstörungskraft von Instrumentalklängen und Elektronik“ 58 heraus: „Das Leiden ­dieses Einzelnen liegt aber gerade in der Vernichtung seines individuellen Menschseins durch eine kalte technische Apparatur.“ 59 Bemerkenswert ist daran zweierlei: Einerseits übernimmt die Stimme – und zwar insbesondere die Frauen- und Kinderstimme – in den Interpreta­tionen eine zentrale semantische Funk­tion, die die der Sprache teilweise ersetzt. Andererseits zeichnen sich die Analysen durch ein für Arbeiten zur elektronischen Musik ungewöhn­lich negatives Technikbild aus.60 So spricht Gramann etwa davon, dass der Stimmklang „immer wieder von der elektronischen Verfremdung ‚angeätzt‘“ 61 werde. Geräuschklänge – zur Zeit der Komposi­tion von Ricorda bereits ein relativ gängiges musika­lisches Gestaltungsmittel – versteht er in ­diesem Zusammen­hang geradezu als Anti-­Kunst: „Der experimentelle Rückgang auf das ‚rohe‘ Klang- und Geräuschmaterial, die Psychologie seiner Wirkung, sind Hilfsmittel für die Suche nach unmittelbarem Ausdruck.“ 62 Kontarsky folgt dieser Deutung und bringt diese „‚ohrenfälligste‘ Ebene“ von Interpreta­tionsmög­lichkeiten auf den plakativen Gegensatz „vokal/menschlich/Opfer bzw. nichtvokal/unmenschlich/ Täter“ 63. Dass d ­ ieses Interpreta­tionsmodell so wirkmächtig ist, dass es trotz analytischer Widersprüche 64 und anti-­avantgardistischer Tendenzen so wenig infrage gestellt wird, scheint mir daran zu liegen, dass es sich in einen historiografischen Auschwitz-­Diskurs fügt, der der na­tionalsozialistischen Entmenschlichung der Opfer die der Täter (als Teil einer quasi-­industriellen Vernichtungsmaschinerie) entgegensetzt,65 während das individuelle Leiden der Opfer gezielt in den Mittelpunkt gestellt wird.

5 8 Ebd. S. 343. 59 Gramann 1984. S. 179. 60 Einzig Spangemacher argumentiert hier anders: Zwar unterscheidet auch er Stimmen und Elektronik als zwei verschiedene Materialschichten, für ihn repräsentieren die elektronischen Klänge jedoch ausdrück­lich „keineswegs nur die ‚Unterdrückung‘“, vgl. Spangemacher 1983. S. 239. 61 Gramann 1984. S. 174 – 175. 62 Ebd. S. 180. 63 Kontarsky 2001. S. 177. Kontarsky bezieht sich hier neben Ricorda auch auf die Bühnenmusiken Luigi Nonos und Paul Dessaus zu Peter Weiss’ Ermittlung. 6 4 In den Analysen gibt es zahlreiche Hinweise auf Kontinuitäten z­ wischen Singstimmen, Instrumental- und Geräuschklängen bzw. Elektronik, die jedoch nicht dazu führen, die dargestellte Polarität zu überdenken. Nanni stellt z. B. fest, dass die „Klangfarbe des Trompetenklanges […] hier fast identisch mit derjenigen der Gesangsstimme [ist], so daß sich der Übergang ohne Bruch vollzieht“. Nanni 2004. S. 339. 65 Vgl. zur Problematik ­dieses Gegensatzes z. B. Boswell 2012. S. 8 – 10.

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Wahrnehmungssitua­tion: Nähe und Distanz

Geschichte Hören, das wird in der Auseinandersetzung mit Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz immer wieder deut­lich, steht in enger Wechselwirkung mit bestimmten Wahrnehmungssitua­tionen. Das kann eine spezifische räum­liche Anordnung sein, etwa wenn Kritiker beschreiben, wie „diese Schreie erst einmal auf Wanderschaft gehen und wie arme Seelen kreuz und quer durch den Raum jagen – ja mitten durch den Zuschauer selbst“ 66. Im Falle von Ricorda hängt dies mit der vorge­sehenen Verteilung der vier Lautsprecher um das Publikum zusammen, während sich das Mischpult in der Mitte befinden soll.67 Solche Raumsitua­tionen sind für die Hörerfahrung des musika­lischen Ereignisses konstitutiv, geraten jedoch bei werkimmanenten Analysen, die sich auf Tonaufnahmen stützen müssen, allzu leicht aus dem Blick. Zum Teil stellen Autorinnen und Autoren zudem sehr konkrete Gegenwartsbezüge her, wie im Zusammenhang mit dem Zeitfluss-­Festival 1993: „Nous sommes à quatre heures de voiture de Sarajevo. Comment rendre sensible cette proximité dans un festival? Zeitfluss programme l’œuvre que Nono a dédiée en 1966 aux martyrs d’Auschwitz. Auschwitz, c’était il y a cinquante ans. C’est le présent.“ 68 Auschwitz wird hier sowohl zum Menetekel als auch zur Deutungsfolie der Gegenwart des Jugoslawienkriegs. Musik, so die These, macht räum­liche Nähe erfahrbar und nivelliert damit gleichzeitig auch zeit­liche Distanz. Ähn­lich geht Kerstin Sicking im Zusammenhang mit Ricorda davon aus, dass die „Assozia­tionen von Schrecken und Angst, ausgelöst durch die Musik“ vor dem Hintergrund des Wissens über Auschwitz im kollektiven Gedächtnis „umgedeutet und reaktiviert [werden] zu unmittelbarem Erleben“ 69. Diese ‚Zeitmaschinenfunk­tion‘ von Musik mag naiv erscheinen,70 ist aber offensicht­lich ein typisches Moment musika­lischer Erfahrung,

66 Bernd Feuchtner in: Der Tagesspiegel, 4. 8. 1995, zit. nach Kontarsky 2001. S. 132. 67 Vgl. Kontarsky 2001. S. 128. 68 Aus einem Interview mit Markus Hinterhäuser, wiedergegeben in Anne Rey. „La mue de Salzbourg. Le festival autrichien s’ouvre aux modernes après des années d’embourgeoisement. On y a entendu le ‚Prometeo‘ de Luigi Nono“. Le Monde, 17.8 1993), zit. nach Kontarsky 2001. S. 130: „Wir sind vier Autostunden von Sarajevo entfernt. Wie macht man diese Nähe innerhalb eines Festivals erfahrbar? Zeitfluss setzt das Werk aufs Programm, das Nono 1966 den Märtyrern von Auschwitz gewidmet hat. Auschwitz, das war vor 50 Jahren. Das ist die Gegenwart.“ (Übersetzung d. Verf.). 69 Sicking 2010. S. 203. 70 Darauf verweist z. B. Annegret Fauser im Zusammenhang mit dem Soundtrack zu Saving Private Ryan, vgl. Annegret Fauser. „Cultural Musicology: New Perspectives on World War II“. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, online edi­tion, 8.2 (2011). http://www.zeithistorische-­forschungen.de/16126041-Fauser-2 – 2011 vom 3. 10. 2015, S. 2.

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gerade im Zusammenhang mit Geschichtsdarstellung, das es als solches ernst zu nehmen und zu untersuchen gilt. Fragen von Nähe und Distanz sind aber nicht nur hinsicht­lich des historischen Bezugspunktes des musika­lischen Ereignisses wichtige Interpreta­tionsfaktoren, sondern auch hinsicht­lich des Entstehungskontextes. So schreibt etwa ein ­Kritiker über ein Stuttgarter Konzert 2001: „Heutzutage nur noch schwer zu ertragen in ihrem klassenkämpferischen Pathos sind dagegen Werke wie ‚Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz‘ nach Peter Weiss’ Ermittlung und ‚La fabbrica illuminata‘“ und bezeichnet insbesondere Ricorda als „verstiegen und auch ästhetisch belanglos“, „bessere Geisterbahnmusik“ und „Ausdruck künstlerischer Hybris“.71 Hier ist es das Wissen um die politische Einstellung des Autors, das die Wahrnehmung des Kritikers leitet und offenbar distanzierend wirkt. Nono bezeichnete Ricorda programmatisch als „Erinnerung, nicht phänomenolo­gischer Art, sondern gefordert vom politischen Bewußtsein im ständigen Kampf für die Abschaffung aller Konzentra­ tionslager und Rassengettos“.72 Dieser politische Anspruch kann um­­gekehrt auch Nähe herstellen, etwa wenn Kontarsky am Ende seines Buches darüber nachdenkt, inwieweit Geschichtserfahrung in der Kunst dazu beitragen kann, die eigene Gegenwart zu verändern: „Doch die Kunst, die sich als Stachel versteht, ist längst zu einem konsumentenfreund­lichen, extrapolierten Gewissen degeneriert. […] das Problem liegt leider nicht darin, daß Auschwitz-­ Kunst nur von Menschen aufgenommen wird, die sowieso für die Rechte des Einzelnen bzw. Andersgläubigen und/oder Minderheiten eintreten. Das Problem liegt darin, daß die meisten Interessierten derartige Haltungen bereits zu besitzen glauben, indem sie Kunstansätze rezipieren und brav positiv bewerten. Wie sonst wäre es denn mög­lich, daß eine Kunst gegen die Verfolgung Anderer in unserem Land frenetischen Beifall erntet – während es andererseits niemanden zu stören scheint, daß ‚Zigeuner‘ meist unterhalb der Armutsgrenze leben und jugend­liche ‚Homosexuelle‘ wie Verbrecher gejagt und eingesperrt werden.“ 73

71 Frank Armbruster in: Stuttgarter Zeitung, 22. 5. 2001, zit. nach Sicking 2010. S. 393. 72 Nono [1970]. S. 130. 73 Kontarsky 2001. S. 183. Kontarsky bezieht sich hier auf die Situa­tion in Österreich, ins­ besondere auf § 209 ÖStGB, der Männern über 18 Jahren eine sexuelle Beziehung mit männ­ lichen Jugend­lichen z­ wischen 14 und 18 Jahren untersagte. Dies wurde mit Gefängnisstrafen ­zwischen 6 Monaten und 5 Jahren geahndet. Der Paragraf galt ausschließ­lich für männ­liche homosexuelle Beziehungen und wurde erst 2002 aufgehoben. Vgl. Helmut Graupner. „Zur aktuellen Diskussion über den § 209 in Österreich“. Zeitschrift beziehungsweise. Hg. v. Österreichisches Institut für Familienforschung an der Universität Wien. http://www.oif.ac.at/ service/zeitschrift_beziehungsweise/detail?tx_ttnews[tt_news]=626&cHash=532138ca41b3af 481e26f3489dbdfb78 vom 3. 10. 2015.

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Das (positive) ästhetische Werturteil steht hier in negativer Spannung zu historischer Konsequenz, scheint diese geradezu zu verhindern. Die Frage, ob politisch engagierte Musik Handlung auslöst – z. B. im Sinne des ‚Nie wieder‘-Topos des soziokulturellen Auschwitz-­Diskurses – oder sie im Gegenteil ersetzt, ist ein immer wiederkehrender politisch-­ästhetischer Streitpunkt. Diese Diskrepanz erhält für Kontarsky im Zusammenhang mit Ricorda, mög­licherweise durch die direkte Ansprache im Titel, ganz persön­lichen Appellcharakter: „Entscheidend wären da wohl wir, die Rezipienten der einzelnen Kunstansätze. Wir erst konkretisierten das im Erinnerungsansatz Verarbeitete zur wirksam werdenden Verhaltensweise.“ 74 Ricorda fordert offensicht­lich ein dezidiert kontextualisierendes, subjektbezogenes Hören heraus. Räum­liche, zeit­liche, politische oder biografische Nähe und Distanz prägen die musika­lische Wahrnehmung und damit auch die Art, wie auf ­diesem Wege Geschichte erfahren und gedeutet wird. III. Geschichte, Musik und experimentelles Denken

Können wir also Geschichte hören? Nein, genauso wenig, wie wir Geschichte auf anderem Wege als gegenwärtige Realität erfahren können. Aber Geschichtsschreibung im Medium der Musik öffnet den Blick – oder vielmehr das Ohr – für andere Facetten von historischer Erfahrung, als dies rein sprach­lich verfasste Geschichts­ erzählungen in der Regel tun, und regt zum Nachdenken darüber an, wie wir histo­ riografisch damit umgehen können. In ­diesem Zusammenhang sei abschließend noch einmal die Denkfigur des Experiments bemüht: Ein naturwissenschaft­liches Experiment lässt sich, stark vereinfacht, als (wiederholbare) Versuchsanordnung beschreiben, die mithilfe einer Übersetzung in wissenschaft­lich kontrollierbare Variablen etwas über reale Zusammenhänge herausfinden will. Analog ließe sich die musika­lische Auseinandersetzung mit Auschwitz als Versuchsanordnung verstehen, die mit jeder neuen Aufführung, mit jedem neuen Hören einen sinn­lichen Erkenntnisgewinn erzielt, und zwar durch die Übersetzung in ein nichtsprach­ liches Medium (den Klang): Geschichte wird Kunst wird Geschichte. Dabei geht es natür­lich nicht um eine reale Abbildfunk­tion (oder gar deren Angemessenheit), sondern vielmehr um den Zugang zu Modellvorstellungen, die unsere Wahrnehmung von Geschichte in Musik leiten: Aus den Kritiken und Studien zu Ricorda lässt sich eine relativ präzise Klangvorstellung von Auschwitz destillieren, die in die musika­lische Wahrnehmung der Schreibenden eingeht. Musik bietet damit Zugang zum impliziten Hörwissen historischer Arbeiten, sie verknüpft nicht nur

74 Kontarsky 2001. S. 182.

Musikalische Annäherungen an Auschwitz

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(wissenschaft­liches) Schreiben, Hörerfahrung und Erinnerungspraktiken, sondern legt auch einen dokumentarischen Bedarf offen: Die an Musik explizit werdenden auditiven Wissens­elemente fordern dazu auf, Quellen neu zu lesen, um historische Hörerfahrung wissenschaft­lich transparenter zu machen. Gleichzeitig legt die Aus­ einandersetzung mit Ricorda offen, dass historiografische Diskurse untrennbarer Teil des musika­lischen Ereignisses, also Teil der Kunst sind, die Nono auslöst. Nicht zuletzt verlangt ein hörender Zugang zur Geschichte, die Parameter historischer Wissensproduk­tion – auch der eigenen – immer wieder zu hinterfragen. Mög­ licherweise lassen sich über den Begriff des Experiments also die Pole Geschichte/ Dokumenta­tion/Intersubjektivität und Hören/Erfahrung/Subjektivität zusammen denken? Im Fokus steht dann nicht die Funk­tion von Kunst als „bewusstlose Geschichtsschreibung“ im Sinne Adornos, sondern die Aufgabe, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie Kunst als Geschichtsschreibung funk­tionieren kann.

Susanne Rohr

Subversion und Sentiment Von den Unwägbarkeiten der KZ-Komödie „In den neunziger Jahren ist Auschwitz zum medialen Vollprogramm geworden. Auschwitz brachte Auflage und Quote“, so Manuel Köppens provokative Aussage zum Thema Holocaust im Fernsehen.1 Tatsäch­lich sind Holocaustnarrative spätestens seit den 1990ern fest in der transna­tionalen Populärkultur verankert und haben ihre eigenen stereotypisierten Formate und Darstellungsstrategien ausgebildet sowie, so eine der vertretenen Sichtweisen, auch zu einer gewissen Abstumpfung dem Thema gegenüber geführt.2 Parallel zu vergleichbaren Entwicklungen in der Literatur und der darstellenden Kunst und begleitet von hoch ambivalenten Reak­tionen des Publikums, etablierte sich dabei insbesondere die sogenannte ‚Holocaustkomödie‘ als wichtige Ausdrucksform der Holocaustrepräsenta­tion. Das Unbehagen, das mit ­diesem Zusammenbringen eines lange für unangemessen gehaltenen Genres, der Komödie, mit dem Thema des deutschen Massenmords an den Juden und anderen verfolgten Gruppen einherging, führte zu einem erneuten Aufkommen einer Debatte über die Angemessenheit von Darstellungsformen, eine Diskussion, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geführt wird und die in den 1970ern ihren ersten Höhepunkt erreichte. In d­ iesem Aufsatz werde ich das Format der Holocaustkomödie im Film einer genaueren Betrachtung unterziehen und auf seine spezifische Kraft der Repräsenta­tion hin befragen. Werfen wir zunächst einen ­kurzen Blick zurück in die 1970er Jahre, eine wichtige Zeit, in der das Thema des Holocaust aus dem bislang dominierenden Bereich des Dokumentarischen in den des Populärkulturellen Eingang fand, befördert vor allem durch die Ausstrahlung der TV-Serie Holocaust durch den US-Sender NBC im Jahr 1978. Die Serie stieß auf enormes Interesse beim amerikanischen – und ­später auch beim deutschen – Publikum, die Zeit schien reif für das Thema in populärkultureller Darstellung. Die Ausstrahlung der Serie wurde sogleich von der Kontroverse um die angemessene Darstellung des Holocaust flankiert, die bis heute unter immer neuen Vorzeichen geführt wird. Erschien die Serie der einen Frak­tion

1 Manuel Köppen. „Holocaust im Fernsehen: Die Konkurrenz der Medien um die Erinnerung“. Der Holocaust im Film: Mediale Inszenierung und kulturelles Gedächtnis. Hg. v. Waltraud „Wara“ Wende. Heidelberg 2007. S. 273 – 289, S. 273. 2 Vgl. Carolyn Dean. The Fragility of Empathy: After the Holocaust. Ithaca 2004.

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als unerträg­lich sentimental und als Beispiel für eine unakzeptable Trivialisierung des Holocaust in der Populärkultur, so sah die andere Seite die Popularität der Serie gerade als erfolgreiches Vermittlungsmedium, mit dem das Thema end­lich Eingang in die breite Öffent­lichkeit fand. In jedem Fall brachte die NBC-Serie Holocaust zwei wichtige Aspekte in die Diskussion ein: Erstens wurde in den Debatten um die Angemessenheit der Repräsenta­ tion des Holocaust in der Fernsehserie klar, dass von nun an die Medien einen zentralen Platz in der Vermittlung des Themas einnehmen und damit neben ethischen auch Fragen der Ästhetik den Diskurs dominieren werden. Genau diese Erkenntnis, dass der Holocaust dabei ist, auch ein ästhetisches Ereignis zu werden, löste zunächst heftige Irrita­tionen aus. Ein aussagekräftiges Beispiel ist die Reak­tion von Marion Gräfin Dönhoff in der Wochenzeitung Die Zeit, die sich nach der Ausstrahlung von Holocaust in der Bundesrepublik gegen eine Verurteilung der Serie nach ästhetischen Maßstäben wehrt: „als ob diesen ästhetischen Kategorien gegenüber der mora­lischen Dimension und Botschaft ­dieses Films auch nur die geringste Bedeutung zukäme“.3 Doch der Mediatisierungsprozess und damit der Eintritt des Themas in den Bereich der Populärkultur waren nicht mehr aufzuhalten. Die Hollywoodproduk­tionen sprechen dabei auch eine deut­liche Sprache. Gab es z­ wischen den frühen Sechzigern und den späten Siebzigern so gut wie keine Filme zum Thema Holocaust, so hat sich die Situa­tion seit der TV-Serie Holocaust grundlegend in Richtung einer stetigen Produk­tion von Filmen zum Thema geändert.4 Das bedeutet auch, dass die Geschichte des Holocaust im öffent­lichen Bewusstsein heute primär ein Produkt der Populärkultur ist oder, anders gesagt, dass die Populärkultur die tragende Rolle in der Vermittlung des historischen Ereignisses übernommen hat. Die ästhetischen Kategorien, denen Dönhoff nach „nicht die geringste Bedeutung zukommt“, sind demnach gerade die, die das heutige, mediendominierte Verständnis des Holocaust tragen und damit zentral prägen. In die 1970er Jahre fallen interna­tional die ersten Versuche, sich dem Thema des Holocaust milde komödiantisch anzunähern. In Deutschland hatte 1975 der Film Jakob der Lügner in der DDR Premiere, den die DEFA unter der Regie von Frank Beyer produzierte und der auf dem gleichnamigen Roman des Schriftstellers Jurek Becker basiert.5 Das Thema ist das Leben im jüdischen Ghetto, und sowohl das Buch als auch der Film gehen mit dem Stoff auf humorvolle Weise um – eine für 3 Marion Gräfin Dönhoff. „Eine deutsche Geschichtsstunde: ‚Holocaust‘ – Erschrecken nach dreißig Jahren“. Die Zeit 2. Feb. (1979): S. 1. 4 Vgl. David S. Wyman. „The United States“. The World Reacts to the Holocaust. Hg. v. dems. Baltimore 1996. S. 693 – 748, S. 721. 5 Neben Jurek Beckers Jakob der Lügner (1969) könnte man für diese frühe komödiantische Annäherung in der deutschen Literatur auch Edgar Hilsenraths Der Nazi und der Friseur

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die 1970er Jahre noch durchaus ungewöhn­liche Herangehensweise in West- wie in Ostdeutschland. In einem Interview anläss­lich der Premiere des Films zeigt Jurek Becker sich optimistisch, dass die Bevölkerung der DDR Mitte der 1970er genug historisches Faktenwissen über den Holocaust erworben habe, um mit dem komödiantischen Ton des Films angemessen umzugehen.6 Und es scheint, als sei die Zeit in der Tat langsam reif gewesen für die Einführung eines neuen Genres in der Holocaustrepräsenta­tion, wie die nun interna­tional erscheinenden schwarz­ humorigen Filmkomödien wie Mel Brooks’ Nazipersiflage The Producers (1969), Hal Ashbys Harold and Maude (1971) oder auch Jerry Lewis’ The Day the Clown Cried (1972), der allerdings nie aufgeführt wurde, zeigen. Nach einigen Jahrzehnten der Ausweitung und Etablierung – und auch der steti­ gen Radikalisierung – des humorvollen Formats stellt Roberto Benignis Komödie La vita è bella (Das Leben ist schön) aus dem Jahr 1997 den nächsten Schritt dar, und zwar das direkte Setting in einem Konzentra­tionslager. In Reak­tion auf diesen Film steckte der Kulturwissenschaftler Slavoj Žižek im gleichen Jahr in dem Artikel „Camp Comedy“ das Feld der Repräsenta­tionen des Holocaust im interna­tionalen Film ab. Er kommt dabei zu dem Fazit, dass mit Benignis Komödie ein neues Genre entstanden ist: die KZ-Komödie. Für den überraschenden Erfolg dieser neuen Form macht Žižek dabei zwei Faktoren geltend: erstens den Misserfolg ihres Pendants, der Holocausttragödie, und zweitens die Tendenz, den Holocaust entpolitisieren und ins Metaphy­sische überhöhen zu wollen. Ein solchermaßen enthistorisierter Holocaust wird dann, so Žižek zum „properly sublime evil […] which cannot be explained, visualized, represented or transmitted, since it marks the black hole, the implosion of the (narrative) universe. Any attempt to locate it in its context, to politicise it, equals an Anti-­Semitic nega­tion of its uniqueness“.7 Damit aber, so Žižeks Kritik, ist der Holocaust zum überhöhten Kern einer Opferkultur geworden, die ihn zur Verdrängung eigener aktueller Verantwortung – Žižek nennt die Morde in Ruanda als Beispiel – instrumentalisiert. Der Holocaust wird gewissermaßen zum blinden Spiegel. So erklärt sich dann die Attraktivität des neuen Genres mit seiner offenkundigen Bereitschaft, keinen Anspruch auf eine wie auch immer authen­tische Repräsenta­tion der Shoah erheben zu wollen.8 Žižek fasst mit der rhetorischen

(1971 in den USA, 1977 in Deutschland) und Jakov Linds Eine Seele aus Holz (1962) nennen sowie etwas ­später für den deutschen Film Herbert Achternbuschs Das letzte Loch (1981). 6 Jutta Voigt. „Lust auf Leben: Jakob der Lügner eröffnet im Monat des antiimperialistischen Films – Gespräch mit Jurek Becker“. Interview. Sonntag 20. April (1975): S. 3. 7 Slavoj Žižek. „Camp Comedy“. Sight and Sound 27.4 (2000): S. 26 – 29, S. 27. 8 Diese Bewegung fällt durchaus mit dem postmodernen Verständnis des Erhabenen als eines letzten Refugiums dessen, was sich textueller Vereinnahmung entzieht, zusammen.

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Frage zusammen: „So why not turn to comedy, which at least accepts in advance its failure to render the horror of the holocaust?“ 9 Doch wird zu diskutieren sein, ob diese Wendung zur Komödie wirk­lich als Geste der Entpolitisierung verstanden werden muss und damit zugleich als ­resignative Anerkenntnis der Unrepräsentierbarkeit des historischen Ereignisses. Für Benignis Komödie mag dies gelten, die in meinem Verständnis sehr viel gelungenere Komödie Train de Vie (Zug des Lebens, 1998) des rumänischen Regisseurs Radu ­Mihăileanu hingegen beschreitet einen anderen Weg und ist in ihren Strategien in meiner L ­ esart sehr viel effektiver. Meine These ist hier, dass sich auch diese Komödie der Einsicht in die Unrepräsentierbarkeit des Ereignisses beugt und sich vom Diktat der historischen Wahrheit abwendet, aber sie definiert das Ziel ihres humoristischen Angriffs anders als La vita è bella. Steht Benignis Film im weitesten Sinne in der Tradi­tion der seit Chaplins The Great Dictator (1940) etablierten Komödienform, die sich über die Nazis lustig macht, so wendet sich Train de Vie den in der Populärkultur etablierten Darstellungskonven­tionen der Holocaustrepräsenta­tion als dem Ziel des humoristischen Angriffs zu. Während Benignis Film mit seinem Happy End Momente sentimentalen Gedenkens hervorruft, löst Mihăileanus Komödie durch die Techniken der Transgression und des Tabubruchs (in ­diesem Fall das selbst­reflexive Zusammenbringen von Genozid und Komödie) beim Zuschauer im Akt des Lachens gleichzeitig Trauer und Schock aus, Reak­tionen, die dezidiert im Kontrast zum komödiantischen Vergnügen stehen.10 Und damit evoziert der Film trotz allem das historische Ereignis auf ebenso subtile wie machtvoll-­körper­ liche Art und Weise. Das in Train de Vie gebrochene Tabu ist das Gebot, in der Betrachtung historischen Gräuels die ästhetische Dimension außer Acht zu lassen. Komödien wie Train de Vie 11 legen den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik offen, aber nicht, um die Undarstellbarkeit des Ereignisses einmal mehr zu untermauern, sondern um die Rhetorik der Undarstellbarkeit in den Blick zu nehmen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten etabliert hat. Bevor eine genauere Analyse von Train de Vie diese Dynamik verdeut­lichen wird, soll zunächst kurz auf den Diskurs der Undarstellbarkeit in historischer Perspektive eingegangen werden.

9 Žižek 2000. S. 27. 10 Diesen Aspekt haben Andrew S. Gross und ich in folgender Publika­tion im Detail untersucht: Andrew S. Gross u. Susanne Rohr. Comedy – Avant-­Garde – Scandal: Remembering the Holocaust after the End of History. Heidelberg 2010. 11 Im literarischen Bereich wären dies z. B. die amerikanischen Romane After (1996) von ­Melvin Jules Bukiet oder Everything Is Illuminated (2002) von Jonathan Safran Foer.

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I.

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Die Ästhetik des Grauens

Die Holocaustkomödie ist sich bewusst, den Horror des Holocaust nicht repräsentieren zu können, doch ist dies nicht das stillschweigende Eingeständnis eines grundsätz­lichen Unvermögens. Ganz im Gegenteil zelebriert sie bewusst die Kraft der Repräsenta­tion – jedoch, wie oben schon dargestellt, unabhängig von Fragen der Authentizität und Wahrheit, Fragen, die die Debatten um die Darstellbarkeit oder Undarstellbarkeit des Holocaust von ihren Anfängen an begleitet haben. Von diesen Kriterien verabschiedet sich die Komödie, und sie folgt damit einem all­ gemeinen Trend, der sich aus den theoretischen Debatten der vergangenen dreißig Jahre erklärt. In diesen setzte sich die Vorstellung durch, dass Repräsenta­tion und Sprache als bar jeder direkten Mög­lichkeit der Referenz auf eine außersemio­tische Welt zu verstehen sind. Das bedeutet auch, dass körper­liche Erfahrungen von Schmerz, Demütigung, Gewalt etc. sich einer mimetischen Repräsenta­tion ent­ ziehen, dass Sprache keinen Zugriff auf einen außersemiotischen Realitätsbereich des Schmerzes hat. Der Holocaust ist in dieser Sichtweise nicht einzigartig, ­sondern nur ein Beispiel dessen, was nicht unmittelbar repräsentiert oder vermittelt werden kann. Doch ist der Holocaust trotz dieser Problematik unzählige Male in zahl­reichen Versionen dargestellt worden, und, mehr noch, diese Repräsenta­tionen haben ein ganz eigenes transna­tionales Diskursgeflecht gebildet. Die unend­liche Diskussion der Frage, ob der Holocaust repräsentiert werden kann oder nicht, läuft Gefahr, darüber die Problematik aus dem Blick zu verlieren, wie der Holocaust repräsentiert wurde und wird. Doch ist es gerade ­dieses Wie der Darstellung mit all seinen Implika­tionen, das hier wichtig ist. Die neuen Holocaustkomödien wenden sich von den Konzepten der Wahrheit und Authentizität ab und folgen anderen Wegen. In der künstlerischen Beschäftigung mit dem historischen Ereignis geht es ihnen vor allem um den Holocaust in seiner mediatisierten, immer schon vermittelten Form, und der Anspruch hier ist deshalb nicht, das historische Ereignis authentisch zu repräsentieren, sondern vielmehr der, die Rhetorik, das Diskursgeflecht der Holocaustrepräsenta­tion auszuleuchten. Daher sind jetzt auch Fragen nach der Konstruk­tion, Weitergabe und dem Erhalt von Wissen und Erinnerung zentral, die ebenso in den Holocaustkomödien verhandelt werden wie die nach den Prozessen der Amerikanisierung, Mediatisierung und Funk­tionalisierung des Holocaust. Die Texte des neuen Formats unternehmen ihre kritische Betrachtung ­dieses und anderer Aspekte in einem Genre, das bislang für die künstlerische Darstellung des Holocaust für nicht angemessen erachtet wurde, das bislang nicht Teil des Diskursgeflechts der Holocaustrepräsenta­tion war. Schließ­lich schiebt sich schon allein die Genrefolie der Komödie bewusst vor den Anspruch der Authentizität, da die darstellerischen Konven­tionen der Komödie von vornherein vermitteln, dass sie

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diesen Anspruch nicht erheben will. Dadurch wird darstellerische Freiheit gewonnen, können die Komödien sich in Bereiche vorwagen, die bislang in der Holocaust­ darstellung nicht beschritten werden konnten. Sie überschreiten G ­ renzen in ein Terrain, das bislang Tabu war und bieten damit gleichzeitig durch ihren „Holocaust humor“, wie Louis Kaplan ihn nennt, „an alternative way to memorialize the horrors of the past“. Die neuen Formen fördern dabei „more decentralized, heterogeneous, polysemic, and anarchic transmissions of the Holocaust memory“ 12. Doch deutet nun einerseits, so Yosefa Loshitzky, „die Entwicklung des Genres zu seinem selbstreflexiven Niveau […] Reife an“ 13, so verstößt die Komödie andererseits im Kontext der Holocaustdarstellung ohne Zweifel gegen die „Holocaust-­Etikette“, wie Terence Des Pres sie zusammengefasst hat. Das dritte Gebot hier lautet: „The Holocaust shall be approached as a solemn or even a sacred event, with a seriousness admitting no response that might obscure its enormity or dishonor its dead“.14 Aber bedeutet ein Verstoß gegen diese Regel zwangsläufig, die Opfer des Holocaust zu verunglimpfen oder zu entehren? Die Genreform der Komödie, so meine Posi­tion, eröffnet vielmehr neue Strategien im Umgang mit dem Holocaust, Strategien, die Bezug auf die Art und Weise nehmen, wie die Repräsenta­tion des Holocaust sich über die Jahrzehnte verändert hat. Das Thema sind nun die verschiedenen Darstel­ lungen des Holocaust selbst, und das bedeutet, dass sich damit das darstellerische Interesse auf die Rhetorik der Holocaustrepräsenta­tion verschiebt, auf die mediale Aufbereitung des Genozids. Wie ich aber gleich in meiner Analyse der verwendeten Verfahren in Train de Vie zeigen werde, bedeutet dies paradoxerweise aber auch, dass gerade damit das historische Ereignis selbst wieder in den Blick geraten kann. Die Holocaustkomödien wollen weder ein Lachen über die Opfer des Massen­ mordes erzeugen, noch schmälern oder gar leugnen sie die Enormität des Verbrechens. Sie konfrontieren die Rezipienten vielmehr mit deren eigenen imaginierten Holocaustvorstellungen, indem sie ihnen die internalisierten, stilisierten Holocaustnarrative vor Augen führen und damit in manchmal komischer, manchmal schockierender Art und Weise die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass durch die weltweite Zirkula­tion der Geschichten bestimmte ästhetische Muster in der

12 Louis Kaplan. „,It Will Get a Terrific Laugh’: On the Problematic Pleasures and Politics of Holocaust Humor“. Hop on Pop: The Politics and Pleasures of Popular Culture. Hg. v. Henry Jenkins u. a. Durham 2002. S. 343 – 356, S. 344 f. 13 Yosefa Loshitzky. „Verbotenes Lachen: Politik und Ethik der Holocaust-­Filmkomödie“. Lachen über Hitler – Auschwitz-­Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. Hg. v. Margrit Frö­lich u. a. München 2003. S. 21 – 36, S. 29. 14 Terrence Des Pres. „Holocaust Laughter?“ Writing and the Holocaust. Hg. v. Berel Lang. New York 1988. S. 216 – 233, S. 217.

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Holocaustrepräsenta­tion als Standard etabliert worden sind und diese Normen endlos reproduziert und auch vermarktet werden. Dies gilt auch und gerade für die scheinbar objektiven dokumentarischen Darstellungsweisen, die lange die Norm waren und gewisse Muster und Standards der Repräsenta­tion gesetzt haben. Der Film Die letzte Etappe von Wanda Jakubowska aus dem Jahre 1947 beispielsweise gilt als „Mutter aller Holocaust-­ Filme“.15 J­ akubowska, selbst Auschwitz-­Überlebende, hatte auf dem Originalschauplatz mit Statisten, die z. T. selbst Überlebende waren, den ersten Spielfilm über das Vernichtungslager gedreht, der die Routinen des Konzentra­tionslagers beschreibt, also die Vorgänge der Ankunft und Selek­tion und die verschiedenen Hierarchien unter den Häftlingen sowie auch den letzt­lichen mora­lischen Sieg der Inhaftierten. Wie Hanno Loewy in seiner Untersuchung zeigt, setzten die Darstellungsstrategien d ­ ieses Spielfilms nicht nur eine spezifische Repräsenta­ tionsästhetik in Gang, die, äußerst wirkungsmächtig, seitdem in zahlreichen Holocaustfilmen kopiert wurde. Darüber hinaus fanden Szenen aus Die letzte Etappe auch als scheinbar dokumentarisches zeitgenös­sisches Material Eingang in andere Filme mit dokumentarischem Anspruch, so in Alain Resnais’ Nuit et Brouillard von 1955. Was hier stattfindet, ist ein intensiver intertextueller Dialog – ein typischer Vorgang, der in seiner Dynamik natür­lich keineswegs spezifisch im Kontext des Holocaust wirksam ist. Im Rahmen d ­ ieses intertextuellen Zitatgeflechts entsteht nun also ein dominanter transna­tionaler Diskurs der Holocaustrepräsenta­tion, in dem sich die Dimensionen von Fakt und Fik­tion untrennbar vermischen und die Elemente von Fik­tionalität, die mit Faktizi­tät immer einhergehen, sich in oder als Authentizität darstellen. In ­diesem Prozess wird nun aber diese bestimmte Art der Repräsenta­tion zum Garanten des Authentischen, bilden sich dabei im Laufe der Zeit Texte heraus, die dann als allgemein geteilte historische Quelle fungieren. In den ästhetischen Mustern der Holocaustgeschichten begegnen wir demnach nicht dem Holocaust, ‚wie er wirk­lich war‘, sondern dem Holocaust, wie er narrativisiert wurde (auch und gerade durch diejenigen, die ihn selbst erlebt haben), und in den Holocaustkomödien wiederum begegnen wir einer Reflexion genau ­dieses Narrativisierungsprozesses. Mit anderen Worten: Wir werden mit dem Holocaust als ästhetischem Ereignis konfrontiert – und wir müssen realisieren, dass dies die einzige Form ist, in der er den Nachgeborenen je gegenübertreten wird, sei es in der spezifischen Rhetorik der Historiografie, der Formensprache der Dokumenta­tion, den literarischen Darstellungsmustern der Tragödie oder anderen.

15 Hanno Loewy. „Fik­tion und Mimesis: Holocaust und Genre im Film“. Frö­lich 2003. S. 37 – 64, S. 37. Ich folge hier Loewys Ausführungen zu Die letzte Etappe.

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Indem die Holocaustkomödien wie Train de Vie die Aufmerksamkeit auf genau diesen Umstand lenken, begehen sie den Tabubruch, den Holocaust als ästhetisches Ereignis zu begreifen und die Strukturen dieser Ästhetisierung zu offenbaren. Sie legen damit gleichzeitig dar, dass diese Strukturen nicht die Undarstellbarkeit des Holocaust zeigen, sondern die Rhetorik der Undarstellbarkeit, wie sie in den vergangenen 60 Jahren etabliert wurde. Und sie tun dies auf manchmal komische Art und Weise, die zugleich reflektiert, dass das Lachen über die Rhetorik der Holocaust­ darstellung auch die Posi­tion des Rezipienten in der Genera­tionenfolge und damit die Nähe oder Ferne zum historischen Ereignis offenbart. Die dritte oder vierte Genera­tion lacht anders als die zweite oder die unmittelbar Betroffenen. II. Lachen über den Holocaust

Wenn ich hier die These vertrete, dass sich in den Holocaustkomödien die Stoßrichtung des komischen Angriffs ändert, so ist dabei zunächst eine Differenzierung in Bezug auf die erwartete Reak­tion, das Lachen, wichtig. In Bezug auf die verschiedenen Formen des Lachens wird tradi­tionell das autoritäre, verächt­liche, mit dem die Herrschenden sich über die von ihnen Gequälten lustig machen, vom antiautoritären, befreiend-­erlösenden, selbstermächtigenden und lebensbejahenden Lachen unterschieden, mit dem die Beherrschten versuchen, ihre Notlage subversiv zu unterlaufen.16 Dieser Art von Lachen entspricht die Tradi­tion und Genreform der mitunter ganz bewusst geschmacklosen antiautoritären Komödie, in der die Zuschauer über die Strukturen totalitärer Herrschaft sowie über deren subversives Unterlaufen lachen. Wenn man dieser Differenzierung folgt, so lässt sich festhalten, dass es schon seit der Zeit der na­tionalsozialistischen Herrschaft den antiautoritären Impuls gab, die Nazis selbst zum Ziel des komischen Angriffs zu machen und in ihrer pompösen Lächer­lichkeit zu entlarven, wie z. B. in Charlie Chaplins oben schon angesprochener antiautoritärer Komödie The Great Dictator (1940) sowie Ernst Lubitschs klas­sischem Film To Be or Not to Be (1942), oder von innen, als Strategie der Selbstermächtigung der direkt Betroffenen, wie dies die unterschied­lichsten Formen von Witz und Humor zeigen, mit denen die Opfer der Nazis während der Zeit des Holocaust ihren Peinigern begegneten und ihrer Realität komische Aspekte abgewannen.

16 Eine ­solche Unterscheidung treffen auch Margrit Frö­lich u. a. in ihrer Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen, insgesamt sehr nütz­lichen Sammelband Frö­lich 2003. Zur Funk­ tion des Lachens während des Holocaust vgl. z. B. Steve Lipman. Laughter in Hell: The Use of Humor during the Holocaust. Northvale 1991.

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Die Komik von außen kam direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu ihrem vorläufigen Ende, nachdem die unfassbaren Gräuel der Konzentra­ tionslager sukzessive bekannt geworden waren und jeg­liche Versuche, das Böse im Sinne eines antifaschistischen Statements à la Chaplin zu verlachen, als nicht mehr angemessen erschienen.17 Signifikanterweise wurde auch diese Richtung in den für die Holocaustdarstellung so wichtigen 1970er Jahren wiederbelebt, z. B. in Mel Brooks’ schon genanntem Film The Producers (1967) oder der amerikanischen TV -Serie Hogan’s Heroes (1965 – 1971), in John Cleeses Episode „The Germans“ der britischen Serie Fawlty Towers (1975 – 1979) oder Mel Brooks’ Neuverfilmung von To Be or Not to Be (1983). ­Letztere kann dabei nicht nur als Verspottung der Nazis verstanden werden, s­ ondern auch als clevere Geißelung der Holocaustindustrie mit ihrer Vermarktung des Grauens und ihrer dubiosen Nazifaszina­tion. Ein deutsches ­Beispiel wäre Daniel Levys Komödie Mein Führer – Die wirk­lich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler von 2007, die das deutsche Feuilleton über Monate in hitzigen Debatten beschäftigt hielt. Wie ich oben schon schrieb, sehe ich auch La vita è bella in dieser Tradi­tion, wenn auch in radikalisierter Form. Die Versuche vonseiten der Opfer wiederum, gegen die na­tionalsozialistischen Angriffe mit Humor aufzubegehren, finden ihre Fortführung in der Schilderung des schwarzen Humors der Überlebenden, die, so Rüdiger Steinlein, einen e­ igenen „­Diskurs des Lächer­lichen“ entwickelt haben.18 Insgesamt muss man angesichts der ganzen zeitgenös­sischen Aufregung um die aktuellen Komödien ohnehin die ­berechtigte Frage stellen: „Wie kommt es, dass wir vergessen haben, dass (auf verschiedene Weise) immer über Hitler und den Holocaust gelacht wurde?“, wie dies Kathy ­Laster und Heinz Steinert tun.19 Worüber wird nun also in den KZ-Komödien gelacht? Sander Gilmans Essay Is Life Beautiful? Can the Shoah Be Funny? aus dem Jahr 2000 weist in der Betrachtung dieser Frage in die richtige Richtung. In seiner Darstellung der verschiedenen Defini­tionen von Humor stellt Gilman fest, dass sie alle um die Physiologie des

17 So Chaplin selbst in seiner Autobiografie: „Had I known of the actual horrors of the German concentra­tion camps, I could not have made The Great Dictator; I could not have made fun of the homicidal insanity of the Nazis“. Charles Chaplin. My Autobiography. New York 1964. S. 392. 18 Rüdiger Steinlein. „Das Furchtbarste lächer­lich? Komik und Lachen in Texten der deutschen Holocaust-­Literatur“. Kunst und Literatur nach Auschwitz. Hg. v. Manuel Köppen u. a. Berlin 1994. S. 99 – 106, S. 101. Kursivierung im Original. 19 Kathy Laster u. Heinz Steinert. „Eine neue Moral in der Darstellung der Shoah? Zur Rezep­ tion von La Vita è Bella“. Frö­lich 2003. S. 181 – 197, S. 182.

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Lachens selbst als Indikator des Komischen kreisen.20 Bezüg­lich komödiantischer Darstellungen des Holocaust ist die Situa­tion, so Gilman, allerdings eine andere: „none of the comic representa­tions of the Shoah are intended to evoke laughter. All assume that the author and the reader […] will not laugh, even at the comic turns of the fic­tion“.21 Für Texte wie Art Spiegelmans berühmtes Comicbuch Maus (1986) stelle sich die Problematik der Angemessenheit des Lachens über den Holocaust also gar nicht, da diese Texte von vornherein nicht darauf angelegt sind, Lachen hervorzurufen. Gilman erklärt diesen komplexen Umstand nicht, und insofern beantwortet er auch nicht die grundsätz­liche Frage, die er in seinem Titel aufwirft.22 In meiner Sichtweise ist Gilmans Versäumnis allerdings signifikant, zeigt sich hier doch die Notwendigkeit, die Frage von vornherein anders zu stellen, wenn es um die Holocaustkomödien der zweiten und dritten Genera­tion geht. Diese fragen nicht, ob die Shoah, sondern ob die etablierte Rhetorik der Holocaustrepräsenta­ tion komisch sein kann. Somit sind die Ziele des komischen Angriffs weder die Opfer des Holocaust noch die Nazis oder die verbrecherischen Vorgänge selbst, sondern beispielsweise die Rituale der Erinnerungskultur oder auch die Prozesse der Mediati­sierung und Amerikanisierung des historischen Ereignisses. Damit ironisieren die Texte bestimmte Effekte dieser Prozesse, und sie hinterfragen die Posi­tion des Rezipienten, aber sie machen sich nicht über die Opfer lustig, und sie fragen nicht, ob die Shoah komisch sein kann. Natür­lich stellt sich hier die Frage, ob dies nicht ein einfaches Ausweichen vor den schier unüberwind­lichen Schwierigkeiten und auch der Verantwortung ist, die sich jeder künstlerischen Annäherung an das Thema des deutschen Massenmordes stellen. Immerhin sind die historischen Ereignisse immer noch überwältigend präsent, genauer: Sie sind gegenwärtiger denn je und stimulieren die künstlerische Imagina­tion in noch nie gekanntem Ausmaß. Terrence Des Pres macht in d ­ iesem Zusammenhang die richtige Bemerkung eines quasi geteilten Bewusstseins, das sich im kreativen Prozess der Rezep­tion und Verarbeitung historischen Wissens einstelle, denn Letzteres werde „not denied but displaced, and we discover the capacity to go forward with […] a foot in both worlds“ 23. Damit meint er das parallele ­Abschreiten der mediatisierten Welt der Holocaustrepräsenta­tion einerseits und andererseits die historische Welt des Ereignisses.

20 Sander Gilman. „Is Life Beautiful? Can the Shoah Be Funny? Some Thoughts on Recent and Older Films“. Critical Inquiry 26.2 (2000): S. 279 – 308, S. 281. 21 Ebd. S. 283. 22 Die Frage ist natür­lich von vornherein rhetorisch gemeint. Aber Gilman umgeht ihre Diskussion in seinem Artikel sehr umfassend. 23 Des Pres 1988. S. 221.

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Zweifellos ist ­dieses ‚schizoide‘ Voranschreiten in zwei Welten zugleich seit jeher konstitutiver Bestandteil aller Elemente des Komischen und auch Allegorischen. Ob es der Humor, die Ironie oder Satire ist, sie alle sind zur Entfaltung ihres komischen Potenzials auf ein doppeltes Bewusstsein der Rezipienten angewiesen, die das Gesagte vom Gemeinten zu unterscheiden vermögen. Es lässt sich aber vertreten, dass im Subgenre der Holocaustkomödie die Gedoppeltheit des Gesagten und Gemeinten auf ganz eigene Weise potenziert ist und deshalb besonders effektiv wirken kann. Denn da sich hier das Objekt des komischen Angriffs vom Ereignis zum Diskurs verschiebt, gerät ein ganzes Geflecht kultureller Praktiken in das Blickfeld der kritischen Betrachtung, ein narratives Hybrid, in dem die Ereignisse des Holocaust mit der Art und Weise ihrer kulturellen Weitergabe untrennbar verwoben sind. III. Train de Vie zum Beispiel

Radu Mihăileanus Film Train de Vie soll nun auf seine Darstellungsstrategien hin untersucht werden. Der Film schildert die Geschichte eines osteuropäischen Schtetls im Jahre 1941 und wird erzählt vom Dorfnarren Schlomo. Als die Dorfbewohner von den Deporta­tionen der nahe gelegenen Orte hören, beschließen sie, einen Zug zu organisieren und sich selbst zu deportieren, bevor dies die Deutschen tun ­können. Ziel der Reise soll Palästina sein. Die eine Hälfte der Dorfbewohner soll in der Charade die Deportierten und die andere die Nazis spielen. Eine aufreibende Zeit der Vorbereitung beginnt für die Schtetlbewohner, in der ein Zug und ein jüdischer Zugführer gefunden, Naziuniformen geschneidert, die deutsche Sprache geprobt und die Habseligkeiten gepackt werden müssen. Schließ­lich macht sich das Schtetl auf die Reise zum Gelobten Land. Der Zug wird auf seiner Odyssee von einer Gruppe von Freiheitskämpfern verfolgt, die die ‚Deutschen‘ umbringen und die ‚Deportierten‘ befreien wollen, und einige Male von Nazioffizieren angehalten, die sich über den vagabundierenden Zug wundern, der auf keinem Fahrplan verzeichnet ist. Während der Reise nehmen die Passagiere noch eine Gruppe Sinti und Roma auf, die die g­ leiche Idee hatten und sich ebenfalls selbst deportieren wollen. Doch wird der Zug nicht nur von äußeren Gefahren bedroht, auch von innen droht Unruhe als eine Gruppe Dorfbewohner sich zum Kommunismus bekennt und anfängt, sich gegen die Aufteilung in Gefangene und Bewacher aufzulehnen. Durch die kluge Leitung durch Mordechai, der den Nazikommandanten spielt, gelingt dem Zug schließ­lich die Flucht in die Freiheit. Die letzte Aufnahme des Films zerstört jedoch das glück­liche Ende, denn der Erzähler Schlomo wird hier als Häftling im Konzentra­tionslager gezeigt, von wo aus er die ganze Geschichte fabuliert hat. Ich habe oben ausgeführt, dass die Holocaustkomödie die Rezipienten mit ihren internalisierten Vorstellungen über den Holocaust konfrontiert, indem sie die

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Aufmerksamkeit auf die narrativen Strategien lenkt, die sich als konven­tionalisierte Darstellungsweisen etabliert haben und als authentisch akzeptiert werden. Hier ist Train de Vie ein besonders aussagekräftiges Beispiel. Der Film macht sich gewiss nicht über den Horror der jüdischen Deporta­tion lustig, er richtet vielmehr seine komödiantische und kritische Energie gegen die Errettungs- und Überlebens-­Narrative, die einen Großteil der populärkulturellen Repräsenta­tionsstrategien dominieren – ein Phänomen, das das ‚Schindler-­Syndrom‘ genannt wird, nach Stephen Spielbergs Film Schindler’s List aus dem Jahre 1993. Wenn Claude Lanzmanns Shoah (1985) als der paradigmatische Dokumentarfilm zum Holocaust gilt und Benignis La vite è bella als die modellhafte Komödie, so nimmt Schindler’s List sicher den Rang des beispielhaften historischen Epos ein.24 Schindler’s List erzählt die Geschichte des Holocaust als eine von Mut und Überleben und nicht als eine von Verfolgung und Ermordung, eine Darstellungsstrategie, die nicht nur der Tradi­tion des Hollywood-­ Happy-­End geschuldet ist, sondern auch den damit verbundenen Marketingstrategien, und eben dieser Zusammenhang ist mit dem ‚Schindler-­Syndrom‘ gemeint. Train de Vie setzt sich nun in meiner Sichtweise ebenso mit dem ‚Schindler-­Syndrom‘ wie mit dem Holocaust als historischem Ereignis auseinander, und durch eben seine Kritik an den Repräsenta­tionsstandards des ‚Schindler-­Syndroms‘ versucht er, den Holocaust durch affektive Reak­tion zu evozieren. Die Eröffnungssequenz des Films ist besonders signifikant und soll hier im Detail untersucht werden: Die Zuschauer sind mit einer close-­up-­Einstellung von Schlomos Gesicht konfrontiert, es wird klar, dass er der Erzähler der Geschichte ist. Das close-­up ist extrem, das Gesicht füllt die Leinwand ganz aus, der obere Teil des Kopfes wird nicht gezeigt, nur ein ganz kleiner Teil des Kragens ist sichtbar. Das Gesicht zeigt einen erregten Ausdruck mit weit aufgerissenen Augen, und die direkte Ansprache der Zuschauer hat etwas durchaus Konfrontatives. Die warme Stimme und die freund­lichen Worte hingegen stehen dazu im Gegensatz. Schlomo benutzt mit „Es war einmal“ (0:00:49) die konven­tionelle Eröffnungsformel eines Märchens, als er damit beginnt, die Geschichte seines Dorfes zu erzählen. Ent­gegen der märchenhaften Eröffnung versichert Schlomo den Zuschauern die wahre Darstellung eines kollektiven Erlebnisses: „Das ist die Geschichte meines Dorfes, so wie wir alle sie erlebt haben“ (0:01:16). Durch die Überblendung in den tracking shot der nächsten Szene signalisiert der Film Analepse: Die Zuschauer erleben nun die angekündigte Geschichte. Entgegen dem märchenhaften Beginn beginnt die Geschichte aber mit verstörenden Szenen eines durch den Wald hastenden Schlomo, der sich offensicht­lich in einem Zustand von Schock und Panik befindet. Man hört laut seinen keuchenden Atem, der an das Puffen einer Lokomotive gemahnt und

24 Vgl. Loshitzky 2003. S. 28 u. S. 33.

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damit ein immer wiederkehrendes Motiv und Klangbild des Films einleitet. Die Filmmusik von Goran Bregovic ist dramatisch und drückt eine gefähr­liche Atmosphäre aus, wieder in starkem Kontrast zum märchenhaften Beginn, womit schon in den ersten Sequenzen mehrere Brüche gesetzt sind. Schlomo will sein Dorf vor dem drohenden Unheil warnen, und als er schließ­ lich sein Schtetl erreicht, werden die Zuschauer durch einen long shot auf Abstand gehalten, sie sehen ihn, wie er auf einer sandigen Straße in das Dorf hineinrennt und dabei mit lauter Stimme nach dem Rabbi schreit. Als der Rabbi alarmiert aus seinem Haus stürzt und fragt, was los sei, verschlägt es Schlomo die Sprache. Er befindet sich in einem solchen Zustand des Schreckens, dass er sich nur noch zu Boden werfen und wild um sich schlagen und mit den Beinen strampeln kann. Während Schlomo gleichsam zum Kind regrediert, springt der Rabbi mit wehendem Kaftan um ihn herum und gemahnt dabei an tradi­tionelle jüdische Tänze, was die Szene absurd komisch und bedrückend zugleich macht. Diese Eröffnungssequenz lässt schon die zentralen Repräsenta­tionsstrategien vorausahnen: Von Anbeginn werden die Zuschauer in einen ambiguen, wider­ sprüch­lichen Raum gezogen, in dem die Dinge irritierend doppeldeutig sind. Der Erzähler spricht die Zuschauer zu Beginn durchaus konfrontativ an, beruhigt aber gleichzeitig durch seine sanfte Stimme und versichert, nur ein Märchen zu erzählen. Doch wird das Märchen zugleich als wahr und authentisch gekennzeichnet durch den Bezug auf gemeinsame Erfahrung und den Verweis auf das kollektive Gedächtnis der Dorfbewohner. Im Gegensatz zu einem klas­sischen Märchen ist in dieser Geschichte jedoch nichts beruhigend vertraut, von Anbeginn wird in das pittoreske Setting des Schtetls eine Atmosphäre der Angst und Unruhe gemischt, auch befördert durch die beunruhigende Musikuntermalung. Der Holocaust als das zugrunde liegende Thema wird zu keinem Zeitpunkt im Film benannt oder in der Diegese des Films gezeigt, von Anfang an wird er als Erzählung inszeniert, als Geschichte, die von allen Unschärfen kollektiver Erinnerung durchzogen ist. Mit anderen Worten: Der Film posi­tioniert sich von Beginn an als Produkt kollektiver Erinnerung. Er verweist auf ein traumatisches Verständnis von Erinnerung, wenn er in den ersten Szenen seinen Erzähler vorführt, wie er eine ihn überwältigende Erfahrung nur noch körper­lich ausagieren kann, da es ihm die Sprache verschlägt. Schlomo kann nicht beschreiben, was er im Nachbarort gesehen hat, er kann es nur in unkontrollierten körper­lichen Spasmen ausagieren. Dieses Argument einen Schritt weitergeführt, lässt sich an ­diesem Punkt festhalten, dass die Darstellungsstrategien des Films, erzählt von einem stummen, traumatisierten Zeugen, dessen deformierte Erinnerungen reinszenieren und Spuren des Traumas ausstellen, das er anders nicht äußern kann. Train de Vie ist demnach kein Film über den Holocaust, sondern über die Strukturen von dessen Erinnerung und Narrativisierung. Insofern ist es folgerichtig, dass der Holocaust als historisches Ereignis nicht gezeigt

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wird, sondern durch die narrativen Techniken des Films eher evoziert wird, und dies trotz der – oder vielleicht sogar ganz besonders durch die – herzerwärmenden, burlesken und urkomischen Szenen, die in starkem Kontrast zu den grauenhaften Vorkommnissen des Holocaust stehen. Als Schlomo sich schließ­lich beruhigt hat, beruft der Rabbi eine Zusammenkunft aller Männer des Schtetls ein, um zu diskutieren, was zu tun sei. Die Männer wieder­ holen Schlomos verzweifeltes Hasten, sie stolpern durch die Dorfstraße, werfen die Arme in die Luft und stoßen laute Klagelaute aus, während die Zuschauer wiederum auf Distanz gehalten werden und die Szene nur über einen Zaun hinweg sehen ­können, der den unteren Bildraum einnimmt. Während der Versammlung ändert sich der Diskurs, denn obwohl Schlomo nun seine Sprache wiedergefunden hat, ist es ihm nur in einer hoch poetischen, imaginativen Art und Weise mög­lich, über das zu berichten, was er im Nachbardorf erlebt hat. Der Rabbi als die verläss­lichere, mit mehr Autorität ausgestattete Stimme übernimmt die Übersetzung des Geschehenen, obwohl er es nicht selbst erlebt hat. Dies kann als selbstreflexiver Kommentar zur Dynamik von erlebter Erinnerung und Geschichtsschreibung gelesen werden, denn die Szene illustriert, wie die geordnete Stimme der Vernunft die Vermittlung übernimmt und dabei doch auf die figurative Schilderung eines traumatisierten Zeugen angewiesen ist, die er zu einer kohärenten Geschichte umformt. Doch ist diese Geschichte durch das ihr zugrunde liegende Trauma ebenso gekennzeichnet wie durch ihre Distanz zum Geschehen. Als Schlomo, dessen Rolle als Dorfnarr nun etabliert ist, vorschlägt, das Schtetl solle sich aktiv selbst deportieren und nicht passiv sein Schicksal erwarten, stimmt die Versammlung zu. In der Inszenierung auch dieser Sequenz setzt sich das Spiel der Ambiguität fort: Obwohl die Atmosphäre im Raum äußerst optimistisch ist und das gesprochene Jiddisch eine muntere Stimmung verbreitet, sind zugleich deut­liche Z ­­ eichen gesetzt, die Unheil verkünden: der Versammlungsraum ist d­ üster, und im Moment der Entscheidung geht die Sonne unter. Mit der nächsten Szene ändert der Film sein Genre und wird zum Musical. Das Kolorit erinnert stark an die romantische Version des Schtetl-­Lebens à la Fiddler on the Roof (1971). In einer Montage aus k­ urzen Einstellungen, die von fröh­licher Klezmer-­Musik untermalt werden, wird eine fleißige Dorfgemeinschaft gezeigt, die sich in strahlendem Sonnenschein emsig mit einer Vielzahl an Aktivitäten auf die Deporta­tion vorbereitet. Hier, wie grundsätz­lich im Film, wird kein Stereotyp ausgelassen, das den Film fest in die Tradi­tion des jiddischen Theaters und der Purim-­Maskeraden einbindet. Das konkrete nächt­liche Besteigen des Zuges hingegen wird in dramatischem Kontrast dazu inszeniert. In Szenen wie diesen zeigt der Film am deut­lichsten, wie er durch Referenz auf das fest etablierte kinematografische Repertoire auf den Holocaust verweist. Die unmittelbare Vorbereitung auf das Einsteigen findet im Dunkeln statt, wobei der Schwarz-­Weiß-­Filter auf die

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tradi­tionelle Schwarz-­Weiß-­Ästhetik verweist. In verschwommenen, chaotischen Szenen drängeln sich desorientierte Männer und Frauen, weinende Kinder auf dem Arm, werden Gepäckstücke geschleppt, all dies bewacht von patrouillierenden Nazis, denn der Teil des Dorfes, der die Bewacher spielt, hat seine Uniformen schon angezogen. Die langsame und getragene Musik kreiert dabei eine tra­gische Atmosphäre. Das aktuelle Besteigen des Zuges selbst wird wiederum komisch und vergnügt-­chaotisch inszeniert, doch die ambivalente Grundstimmung setzt sich bei der Abfahrt des Zuges fort, denn obwohl dieser Moment in der Logik des Films ein Moment der Befreiung ist, wird er wieder durch tra­gische Musik untermalt. Der Zug verschwindet in einen namenlosen Wald, und der Rauch, den die Lokomotive ausstößt, ist ausgeleuchtet, als vorausahnender Verweis auf die Schornsteine in den Konzentra­tionslagern, dem wahren Fahrtziel von Zügen wie ­diesem. Die Ästhetik dieser Sequenzen ist nach der zahlloser anderer Deporta­tions­szenen modelliert, ebenso wie die Szenerie des verlassenen Schtetls, das der überraschte Postbote am nächsten Morgen vorfindet: Auf einem verlassenen Marktplatz liegen ein paar umgestürzte Möbelstücke und liegen gelassene Gepäckstücke herum, Papierfetzen wirbeln durch die Luft und bezeugen den überstürzten Aufbruch der Bewohner. Szenen wie diese finden sich in nachgerade jedem Film aus dem Themenspek­ trum des Holocaust, und die Zuschauer entschlüsseln sie mittlerweile automatisch. Doch wird der Automatismus in d­ iesem Fall durch die den Film charakterisierende Doppeldeutigkeit durchbrochen: Die narrative Logik des Films will die Zuschauer glauben machen, es sei alles nur eine Charade, obwohl die finsteren Referenzen auf filmische Konven­tionen und historische Fakten eine ganz andere Geschichte erzählen. Train de Vie ist deshalb in meiner Lesart die effektivere Holocaustkomödie als La vite è bella. Das Happy End in Benignis Film, auch wenn es durch den Tod des Vaters erkauft wird, suggeriert, dass die Familie über alles geht. Es verführt die Zuschauer dazu zu träumen, wie schön es gewesen wäre, hätten es die Juden nur geschafft, den Deutschen zu entkommen, und es besiegelt diesen Traum durch sein Happy End. Auch Train de Vie scheint ein glück­liches Ende zu versprechen, doch der schockierende final plot twist erinnert die Rezipienten daran, dass sie nur ein Märchen gesehen haben. Indem der Film das Happy End vorenthält, konfrontiert er die Zuschauer mit ihrer Bereitwilligkeit, sich dem Traum der Rettung der Juden zu ergeben. Er konfrontiert sie auch mit der Schnelligkeit, mit der sie die ­­Zeichen der Unzuverlässigkeit, die von Anfang an gegeben wurden, abgetan haben, und schließ­lich mit ihrer Sehnsucht nach einem genrekonformen Happy End. Train de Vie beschämt seine Zuschauer in der Retrospektive, indem er ihnen die Komplizenschaft vor Augen führt, mit der sie ein Happy End herbeigewünscht haben; La vita è bella erfüllt den Wunsch einfach. Der Wunsch nach einem Happy End ist so stark, dass wir daran festhalten, allen ­­Zeichen der Unzuverlässigkeit zum Trotz, die der Film uns kontinuier­lich gibt. In

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der vorletzten Szene, in der der Zug bei seiner Flucht in die Freiheit gezeigt wird, hören wir Schlomo, der uns in einem voice-­over versichert, dass danach alle glück­ lich und zufrieden weiterlebten. Schlomo beendet seine Geschichte mit: „Das ist die wahre Geschichte meines Schtetls“ (01:34:13). Und dann, nach einer Pause, „Ano, fast die wahre“ (01:34:17). Die letzte Szene des Films greift das allererste Bild wieder auf, in dem Schlomo in extremem close-­up gezeigt wurde. Doch nun zieht sich die Kamera in einen medium close shot zurück und zeigt Schlomos ganzen Oberkörper. Und da sehen wir, dass er die tradi­tionelle gestreifte Häftlingskluft trägt. Das Bild gefriert dann in die konven­tionelle Perspektive, in der der Zuschauer von außen in ein Konzentra­tionslager hineinblickt und den Häftling Schlomo sieht, wie er hinter dem Stacheldraht steht und davon träumt, dass alle Bewohner seines Schtetls gerettet und noch am Leben sind. Der Erzähler spricht nun nicht mehr, der Fluss seiner traumschönen Bilder ist für uns versiegt. Dieses Ende zwingt uns die Erkenntnis auf, dass wir nicht die Stimme eines Überlebenden gehört haben, sondern die eines zum Tode Verdammten, der zum letzten Mal das ihm Liebste, das er verloren hat, zum Leben erweckt. Erst jetzt, in der allerletzten Einstellung, wird den Zuschauern bewusst, dass sie sich allzu gutgläubig dazu haben verführen lassen, ­diesem Narren zu folgen und seinen Traum zu teilen. Am Ende wird klar, dass es Mimikry ist, die Train de Vie als narrative Strategie zugrunde liegt: Der Film ahmt die Darstellungsstrategien der realen Ereignisse nach, dies allerdings in einer lo­gischen Umkehrung, die parallel starke Realitätseffekte und intensive Momente der Irrita­tion erzeugt. Dabei wird vorübergehend der Tod zum Leben und Vernichtung zu Rettung, und je absurder die Umdeutung, desto mehr ähnelt der Zuschauer in seiner Sehnsucht nach dem Happy End dem närrischen Erzähler. Mit seiner machtvollen Strategie des final plot twist ist Train de Vie Teil einer ganzen Reihe von Filmen, die um die Jahrtausendwende produziert wurden, wie z. B. M. Night Shyamalans The Sixth Sense (USA 1999), David Finchers Fight Club (1999), Alejandro Amenábars The Others (USA/F/E 2001) oder Christopher Nolans Memento (USA 2000).25 All diese Filme zwingen die Zuschauer dazu, nach dem final plot twist neu zu überdenken, ­welche Geschichte ihnen da eigent­lich erzählt worden ist, und die Narrative neu zusammenzusetzen. Alle diese Filme spielen mit der grundsätz­lichen Unzuverlässigkeit von Wahrnehmungen und Wahrnehmungsurteilen, doch Train de Vie radikalisiert diese epistemolo­gische Grundspannung, indem es die Fantasie und Verleugnung eines traumatisierten Subjekts reinszeniert.

25 Vgl. Fabienne Liptay u. Yvonne Wolf. „Einleitung: Film und Literatur im Dialog“. Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. Hg. v. Fabienne Liptay u. Yvonne Wolf. München 2005. S. 12 – 18, S. 15.

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Schlomos Traum konzentriert sich auf das, was schon zerstört ist, und zeigt die Szenen der Vernichtung in konven­tionellen Formen der Holocaustrepräsenta­tion (wie in den Deporta­tionsszenen). In ­diesem Sinne thematisiert der Film das unzuverlässige Erzählen, indem er es gleichzeitig vorführt. In Szenen wie der Deporta­tion entstehen so beunruhigende Doppelbilder, die im Zuschauer mitten in der Belustigung über das Fabulieren des Narren den Schmerz und die Trauer über das real Geschehene hervorholen und die Erinnerung an den Holocaust so machtvoll evozieren.

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Performative Wiederholung zwischen Skandal, Kitsch und Experiment Zum ludischen und künstlerischen Reenactment in Polen I.

Reenactment als Volksspiel

Der Warschauer Stadtteil Muranów, aufgebaut im Stil der sozialistischen Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg im nörd­lichen Zentrum der Stadt, befindet sich auf dem ehemaligen, nach der Zerschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto im Jahre 1943 dem Erdboden gleichgemachten Ghettogelände. Das in der heutigen urbanen Struktur unsichtbare Vorkriegs-­Warschau, insbesondere der im Krieg als jüdisches Ghetto vom ‚arischen‘ Warschau durch die Mauer abgetrennte Bezirk, ist zum Territorium phantasmatischer Wiederkehr geworden: In literarischen Texten, im Theater, in Kunstprojekten kehren die Toten und die untergegangene Stadt als Revenants zurück.1 In Igor Ostachowicz’ Roman Noc żywych Żydów (Die Nacht der lebenden Juden) von 2012, der im Titel auf den Klassiker des Horrorfilms Night of the Living Dead anspielt, kommen die jüdischen Geister aus den Kellern der Häuser in Muranów als Untote zurück und gesellen sich zu den Lebenden auf den Straßen und in den neuen Konsumtempeln der polnischen Hauptstadt. Die fantastische Groteske Ostachowicz’ ist aber in Wirk­lichkeit wenig am Genre der Horrorliteratur interessiert. Vielmehr bieten ihre Konven­tionen dem Autor die Mittel dazu, in der fantastischen Fik­tion, mit absurdem Witz und unterschwellig ernsthaft über die Affekte der Enkelgenera­tion zu erzählen: über das Verlustempfinden, das Nicht-­ Verstehen der Geschichte, über die Scham und Wut wie auch den geheimen Wunsch, in die Geschichte nachträg­lich eingreifen zu können – bei vollem Bewusstsein dessen, dass jener ebenso naive wie paradoxe Wunsch nur in der literarischen Imagina­tion eine Erfüllung finden kann. Im Roman Ostachowicz’, der Geister als Gedächtnisfiguren in den Bereich der Unterhaltungsliteratur einführt, gibt es ein interessantes Realismusdetail: Die Untoten, die auf den Straßen Warschaus auftauchen, geben

1 Vgl. u. a. Hanna Kralls Erzählung „Anwesenheit“ (aus dem Band Da ist kein Fluss mehr. Frankfurt a. M. 1999), das Theaterstück Muranoo von Sylvia Chutnik (aufgeführt in Drama­tyczny Theater in Warschau, 2012), Kunstprojekt Dotleniacz (Oxygenator, 2007) von ­Joanna ­Rajkowska.

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sich – um ihre etwas auffällige äußere Erscheinung zu rechtfertigen – als Mitglieder einer Reenactment-­Gruppe aus. Ostachowicz’ Witz spielt auf die enorme Popularität performativer Nachstellungen im heutigen Polen an, die sich vor allem auf die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs beziehen: So gehören die verkleideten Darsteller, insbesondere im Sommer, durchaus zum Straßenbild Warschaus. Die Konjunktur der ludischen performativen Nachstellungen in Polen, die sich nicht nur auf mittelalter­liche Schlachten, sondern auch auf die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit (bis 1989) beziehen, ist bemerkenswert.2 Anders als in Deutschland, wo der Zweite Weltkrieg im Bereich populärer Reenactments weitgehend tabu ist,3 liefern die katastrophalen Ereignisse des 20. Jahrhunderts in einigen europäischen Ländern, und im besonderen Maße in Polen, zunehmend Stoff für s­ olche Inszenierungen. Nicht nur für die polnische Reenactment-­Bewegung gilt, dass die Hobbydarsteller inzwischen in halbprofessionellen, männ­lich dominierten Vereinigungen organisiert sind, die sich auf bestimmte Ereignisse bzw. militärische Forma­tionen (z. B. Wehrmacht oder Rote Armee) spezialisieren. Ihre Aktivitäten sind durch den Wunsch motiviert, das historische Wissen zu popularisieren, kommerzielle Faktoren spielen aber dabei eine wesent­liche Rolle. Inzwischen sind Reenactments zum festen Bestandteil der populären Erinnerungskultur bzw. der Erinnerungsfolklore geworden.4 Zur Professionalisierung der Gruppen trägt die Konjunktur der Nachstellungen bei, die nicht selten von den Gemeinden finanziell gefördert werden: So können allein die Inszenierungen von Ereignissen des Zweiten Weltkriegs, etwa des Angriffs auf Polen 1939, der Städte-­Bombardierungen, des Massakers in Katyń 1940 oder aber des Warschauer Aufstands 1944 den Jahreskalender einer Reenactment-­ Gruppe in Polen gänz­lich ausfüllen. Als Events der populären Erinnerungskultur haben derartige Inszenierungen – trotz der Kritik, die sie immer wieder hervorrufen – bereits eine gewisse Tradi­tion in Polen und stehen im Einklang mit dem martyrolo­gischen Bild der polnischen Geschichte. Insbesondere das jähr­liche, öffent­lich geförderte und von TV-Sendern 2 Vgl. zum populären Reenactment in Polen: Tomasz Szlendak u. a. Dziedzictwo w akcji. Rekonstrukcja historyczna jako sposób uczestnictwa w kulturze (Erbe in Ak­tion. Historische Rekonstruk­tionen als Modus kultureller Partizipa­tion). Warszawa 2012. 3 Es gibt allerdings entsprechende Unternehmungen im Bereich living history, die sich jedoch von Nachstellungen militärischer Auseinandersetzungen distanzieren, etwa Lebendige Geschichte 1939 – 1949 (http://www.return2style.de/1939 – 49/homepage.htm vom 20. 9. 2015). 4 Eine soziolo­gische Analyse der polnischen Reenactment-­Szene liefert Tomasz Szlendaks Studie „Wehrmacht nie macha. Rekonstrukcyjna codzienność jako sposób zanurzenia w kulturze“ („Die Wehrmacht winkt nicht. Der Reenactment-­Alltag als Modus kultureller Partizipa­tion“). Dziedzictwo w akcji. Rekonstrukcja historyczna jako sposób uczestnictwa w kulturze. Hg. v. Tomasz Szlendak u. a. Warszawa 2012. S. 9 – 70.

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übertragene Reenactment des Ausbruchs des (polnisch-­na­tionalen) Warschauer Aufstands 1944 geht mit der offiziellen Gedächtnispolitik einher. Dagegen sind Versuche, Holocaust-­Ereignisse nachzustellen, eine relativ neue und besonders umstrittene Erscheinung. Die Kritik an solchen Unternehmungen gilt vor allem der Trivialisierung sowie der ethisch frag­lichen Schaulust. Eine ­solche kritische Diskussion führte letzten Endes zum Scheitern einer im Jahre 2008 anläss­lich des 65. Jahres­ tages der Erhebung im Warschauer Ghetto geplanten Initiative zur Rekonstruk­tion des jüdischen Aufstands von 1943. Wie berechtigt diese Bedenken sind, zeigte das im Jahre 2010 trotz kontroverser Diskussionen durchgeführte Reenactment der Ghetto-­Liquidierung in der oberschle­sischen Stadt Będzin. Als eine edukative Maßnahme von Lehrern initiiert, um die heutigen Bewohner der Stadt, vor allem die Jugend­lichen, an die tra­gische Geschichte der ehemaligen jüdischen Stadtbewohner zu erinnern, ist das Reenactment zu einem Spektakel geworden, das noch mehr an ambivalenten – und unerwarteten – Effekten zeitigte, als im Vorfeld der Inszenierung befürchtet. Die Schüler und ihre Angehörigen sowie die semiprofessionellen Reenactors, die an der Inszenierung teilgenommen haben, verkörperten Opfer und Täter: Juden und Deutsche. Ohne Zweifel war es von den Veranstaltern nicht intendiert, dass das Publikum, das der Inszenierung beiwohnte und die Darstellung zum Schluss mit Händeklatschen belohnte, unfreiwillig in eine andere historische Rolle ­hineinrutschte, näm­lich in die – um mit Raul Hilberg zu sprechen – der polnischen bystanders. Dies ist allerdings von den Teilnehmern des Reenactments offensicht­lich unbemerkt geblieben. Da Handy- und Videokameras zu unabdingbaren Requisiten von populären Nachstellungen gehören, kursieren im Netz (YouTube) einige Amateur-­Videoaufnahmen der Inszenierung in Będzin, die – als dokumentarische oder aber als filmische Holocaust-­Darstellungen à la Spielberg stilisiert – die Nachbilder des Holocaust auf eine weitere Stufe des Simulacrum heben.5 Für die populären Reenactments ist das Nachstellen vergangener Ereignisse an authentischen Orten und mithilfe authentischer Artefakte (wie Kleidung oder Waffen) von konstitutiver Bedeutung. Die Illusion einer gegenwärtigen Partizipa­ tion an der Vergangenheit in der performativen Wiederholung ist ein begehrter Effekt dieser Praktiken. Jedem Reenactment liegt der Wunsch zugrunde, im sinn­ lich-­körper­lichen und affektiven Nacherleben der Geschichte diese ‚berührbar‘ zu machen. Die medialen Bilder – als Nachbilder der Vergangenheit – sind dabei nicht

5 Siehe u. a. http://www.youtube.com/watch?v=QjJZSD6DMco, http://www.youtube.com/ watch? v=tJliioPp6JA vom 20. 9.2015; vgl. auch die Video-­Berichterstattung Polish city s­ tages chilling holocaust re-­enactment der Nachrichtenagentur AFP: http://www.youtube.com/ watch?v=TC8pFkA8NRo vom 20. 9. 2015.

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nur die wichtigste Motiva­tion und Grundlage solcher Nachstellungen, sondern auch ihr Ziel. Jedes Reenactment geht von (medialen) Bildern aus und hinterlässt neue Bilder. Ulf Otto diskutiert das Reenactment in seiner spezifischen Rhetorik, die im Erlebnis der Darstellung eine Erfahrung lokalisiert, ­welche als ‚ma­gische‘ Teilhabe an der Vergangenheit oder deren ‚Wiederauferstehung‘ imaginiert wird. Zu Recht konstatiert Otto, dass es sich beim Reenactment um eine „spezifische zeitgenös­sische Geste“ handelt, die auf einen ebenso anachronistischen wie auch für die Gegenwart symptomatischen Umgang mit der Vergangenheit verweist.6 Die Theatralität samt der illusionistischen Mimesis der Inszenierung wird im ‚Nach­erleben‘ der Vergangenheit im Reenactment gleichsam vergessen: Die Darstellung als Nachstellung nähert sich in der Vergegenwärtigung der Vergangenheit dem Ritual. Die enorme Popularität der historischen Nachstellung als Volksspiel in Polen provoziert Fragen nach den Gründen ­dieses Phänomens. Der Unterhaltungswert rückwärtsgewandter Zeitreisen und die identitären Gemeinschaftsangebote der Reenactment-­Szene können gerade im Falle der Nachstellungen von Ereignissen des Zweiten Weltkriegs nicht alles erklären. Vielmehr lässt sich die Konjunktur solcher Reenactments vor dem Hintergrund des veränderten Zeitdenkens begreifen, das Hans Ulrich Gumbrecht für den heutigen Umgang mit der Vergangenheit, der den Effekt einer „breiten Gegenwart“ hervorbringt, als ursäch­lich beschreibt. Die „breite Gegenwart“ – von der Zukunft abgewandt – kann die Vergangenheit nicht mehr hinter sich lassen und hält sie in immer dichteren repetitiven ­Schleifen von Gedenkritualen, Jahrestag-­Zeremonien und anderen Gesten der Evoka­tion präsent.7 Gilt die Diagnose Gumbrechts im Allgemeinen dem gegenwärtigen Zeitempfinden und der Hinwendung zur Vergangenheit, so kann sie im Besonderen die sprunghafte Wiederkehr der Vergangenheit im öst­lichen Europa nach der politischen Wende von 1989 erhellen, steht diese doch für die Rede vom Ende der Geschichte (als Ende des linearen Zeit- und Fortschrittsdenkens) paradigmatisch. Die Wiederkehr der Vergangenheit geht mit Revisionen von Geschichtsbildern und historischen Narrativen sowie mit Rekonfigura­tionen kultureller Erinnerungsorte einher, d. h. mit der Aufarbeitung der im Realsozialismus lange Zeit manipulierten oder auch tabuisierten Aspekte des Zweiten Weltkriegs, des Holocaust und der frühen Nachkriegszeit. Und die wichtigste Quelle jener erinnerungskulturellen Dynamik in Polen stellen – insbesondere seit 2000 – die intensiven Auseinandersetzungen mit der polnisch-­jüdischen Geschichte im 20. Jahrhundert und mit der Rolle von

6 Ulf Otto. „Re: Enactment“. Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenact­ ments. Hg. v. dems. u. Jens Roselt. Bielefeld 2012. S. 229 – 254, S. 231. 7 Hans Ulrich Gumbrecht. Unsere breite Gegenwart. Berlin 2010; ders. „Die Gegenwart wird (immer) breiter“. Präsenz. Hg. v. Jürgen Klein. Berlin 2012. S. 66 – 87.

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polnischen Augenzeugen im Holocaust dar. Diese durchaus dramatischen Prozesse regen die historische Imagina­tion an. Vor d ­ iesem Hintergrund leuchtet es ein, dass Performances kollektiver Halluzina­tionen der Reise in die Vergangenheit mithilfe medialer (vor allem filmischer) Vorbilder zu einem populären Volksspiel werden können. II. Theater der Zuschauer

In seiner Monografie über das polnische Theater angesichts des Holocaust geht der Krakauer Theaterwissenschaftler Grzegorz Niziołek 8 von der Erfahrung der ­bystanders aus. Die polnische Bevölkerung wurde zum unmittelbaren Augenzeugen des jüdischen Leidens und Sterbens. Diese allgegenwärtige Kriegserfahrung, die einer Theatralität des Zuschauens nicht entbehrt, wurde nach dem Krieg schnell verdrängt und kehrt – so die These Niziołeks – im polnischen Nachkriegstheater, darunter auch im avantgardistischen Theater Jerzy Grotowskis und Tadeusz Kantors, als Wiederholung des Verdrängten zurück. Das Nachkriegstheater zeigt sich von jener „Erfahrung der übermäßigen Sichtbarkeit und zugleich der Tilgung jeg­licher Spuren der Ereignisse, deren Zeuge man war“ 9, tief beeinflusst, was nicht bedeutet, dass es sich dabei um ein Theater im Dienste der Erinnerung oder Trauerarbeit handelt. Ganz im Gegenteil: Niziołek spricht von der kompulsiven Wiederholung im psychoanalytischen Sinne und analysiert Aufführungen, in denen Szenen der Gewalt, Erniedrigung und Zerstörung Bilder des Holocaust evozieren, ohne auf die historischen Ereignisse zu referieren. Die nicht selten evidente Sichtbarkeit der Bezüge auf den Holocaust im Avantgarde-­Theater wurde gleichzeitig durch den universalistischen Anspruch der nichtmimetischen Kunst konterkariert, die es bevorzugte, die historische Referenz einer Metaphorisierung oder grotesken Sinn­ entleerung unterzuordnen. Besonders symptomatisch erscheinen dem Autor dabei spannungsvolle, darunter sadomasochistische Konstella­tionen z­ wischen Schauspielern und Zuschauern sowie die Situierung des Publikums in der Posi­tion von voyeuristischen oder spöttischen Gaffern, was sowohl bei Grotowski als auch bei Kantor häufig vorkam. „Wir wissen nicht, was wir sehen“ 10 – mit diesen Worten bringt Niziołek das Paradox der Wiederholung von Verdrängung der Kollektiverfahrung der bystanders im polnischen Nachkriegstheater auf den Punkt. Empathie und somit (späte) Zeugenschaft konnten sich erst nach Jahrzehnten des Schweigens einen Weg

8 Grzegorz Niziołek. Polski teatr Zagłady (Das polnische Theater der Vernichtung). Warszawa 2013. 9 Ebd. S. 37. 10 Ebd. S. 61.

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bahnen. Die postmemoriale, affektive Wiederbelebung der Vergangenheit hat es mög­lich gemacht, die Ambivalenzen der Posi­tion von Augenzeugen des Holocaust nicht nur in öffent­lichen Debatten seit den 1980er Jahren, sondern auch in der Kunst der sogenannten zweiten und dritten Genera­tion explizit zu thematisieren. Niziołeks tiefgründige Betrachtungen zu Nachwirkungen der obszönen Rolle der Zuschauer des Mordes, die den nichtjüdischen Polen „im Epizentrum des Verbrechens“ (wie Henryk Grynberg es einmal formulierte 11) zuteilwurde, fokussieren das Theater als prädestiniertes Medium zur Verhandlung jener historischen Erfahrung. Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit die frappante Konjunktur der ludischen Theatralität des Reenactments im heutigen Polen damit in Verbindung gebracht werden kann. Die Frage drängt sich geradezu dann auf, wenn die Lust an performativer Wiederholung durch Nachstellung nicht haltmacht vor Ereignissen des Holocaust. Ludische Reenactments sind aber keineswegs kompulsive Wiederholungen des Verdrängten, sondern einfache, naiv-­mimetische Inszenierungen, die die Vergangenheit im Erlebnis körper­licher Darstellung und situativer ‚Wiederholung‘ nachzuempfinden suchen und dabei vor allem mediale Bilder imitieren. Die Reenactment-­Welle als Form kitschiger Erinnerungsfolklore ist aber insofern ernst zu nehmen, als sie eine symptomatische Erscheinung der heutigen auf affektives Nacherleben, sekundäre Zeugenschaft (nach dem Ableben der Zeugen) und Affizierung durch materielle Spuren und Überreste ausgerichteten Erinnerungskultur darstellt. Ebenfalls symptomatisch ist der Drang zur Visualisierung – nicht nur in der performativen Darstellung, sondern auch in der Produk­tion von Bildern, die jedes Reenactment hinterlässt. Es bleibt spekulativ, ob sich in der auffallenden Theatralik historischer Rekurse in Form populärer Nachstellungen in Polen ein Reflex der lange Zeit verdrängten Kollektiverfahrung der obskuren Zuschauerrolle im Holocaust artikuliert. Deut­lich ist dieser Reflex im Reenactment der Deporta­ tionen im Będziner Ghetto geworden – gerade in der im Programm der Inszenierung nicht vorgesehenen bzw. nicht bedachten, unwillkür­lichen Wiederholung der bystanders-­Posi­tion.

11 Henryk Grynberg. „Holocaust w literaturze polskiej“ („Holocaust in der polnischen Literatur). Prawda nieartystyczna. Hg. von ders. Wołowiec 2002. S. 141 – 181, S. 142. Für den polnisch-­ jüdischen Autor erwächst aus der Tatsache der unmittelbaren polnischen Zeugenschaft des Holocaust eine besondere testimoniale Verpflichtung der polnischen Literatur.

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III. Künstlerische Wiederholungspraktiken zwischen Event und ­Intervention (Rafał Betlejewski)

Mit dem Begriff Reenactment werden seit etwa 15 Jahren nicht ausschließ­lich populäre Formen performativer Nachstellung von historischen Ereignissen (etwa als Freizeithobby, in TV-Dokumenta­tionen oder in der Museumspädagogik) bezeichnet, sondern auch künstlerische Wiederholungsexperimente.12 Dabei operieren künstlerische Projekte, die sich mit den Mitteln des Reenactments, d. h. in Gesten performativer Wiederholung und Nachstellung auf den Holocaust beziehen, in ­erster Linie im Bereich medialer Darstellungen und Artefakte der Erinnerungskultur. Sie beziehen sich somit weniger auf die historischen Ereignisse selbst als auf deren Nachbilder, verunsichern aber die Grenze ­zwischen Ereignis und Repräsenta­tion insofern, als es im Reenactment doch darum geht, die Darstellung der Vergangenheit performativ zum Ereignis (Erlebnis) zu machen. In d ­ iesem Aspekt unterscheiden sich die künstlerischen Reenactments nicht wesent­lich von den ludischen, auch wenn sie mit den medialen Vorlagen deut­lich anders umgehen: In den populären Nachstellungen werden diese meist kaum oder gar nicht reflektiert, dagegen sind Fragen des kulturellen Bildarchivs, der Bildmächtigkeit von Erinnerungspro­zessen, der Mög­lichkeit von Interven­tionen in das visuelle Gedächtnis ein wichtiges Movens des Reenactments in der Kunst. Die künstlerischen Praktiken gehen nicht zufällig mit der Konjunktur populärer Nachstellungen von historischen Ereignissen einher; vielmehr lassen sie sich sogar als eine Antwort auf diese verstehen und nicht zuletzt als deren kritische Reflexion. Im Unterschied zu den ludischen bedienen sich die künstlerischen Reenactments eines breiten Spektrums von Wiederholungspraktiken – mit dem Anspruch, analytisch, forschend oder aber interven­tionistisch vorzugehen. Dazu gehören einerseits mimetische Nachstellungen von vergangenen Ereignissen, die im Format den populären Reinszenierungen ähneln, meist aber von umfangreichen Recherchen, Vorbereitungen und Dokumenta­tionen begleitet werden, wie Jeremy Dellers Beatle of Orgreave (2001) oder Milo Raus Die letzten Tage der Ceausescus (2009/2010). Zum anderen greifen viele Projekte ledig­lich auf einzelne Elemente performativer Wieder­ holung zurück; befragen, modifizieren bzw. manipulieren dabei die situative oder mediale ‚Vorlage‘ im Sinne eines Experiments. Das Reenactment im künstlerischen 12 Vgl. u. a. Experience, memory, re-­enactment. Hg. v. Anke Bangma. Frankfurt a. M. 2005; Robert Blackson. „Once More… With Feeling: Reenactment in Contemporary Art and Culture“. Art Journal 66.1 (Spring 2007): S. 28 – 40; History will repeat itself: Strategien des Reenactment in der zeitgenös­sischen (Medien-)Kunst und Performance. Hg. v. Inke Arns u. Gabrielle Horn. Frankfurt a. M. 2007; Life, Once More: Forms of Reenactment in Contemporary Art. Hg. v. Sven Lütticken. Rotterdam 2005.

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Bereich ist kein klar definiertes Genre, dafür sind die künstlerischen Wiederholungspraktiken in ihren Formaten und Zielen zu heterogen. So lässt sich die Bezeichnung Reenactment vielmehr als Hinweis auf die Spezifik vieler Kunstprojekte (und nicht zuletzt auf die Rhetorik ihrer Kommentierung) verstehen, die zurückliegende Ereignisse oder mediale Artefakte aufgreifen, um diese in Gesten performativer Wiederholung bzw. Wiederherstellung – in arrangierten Ak­tionen an historischen Orten oder aber in verfremdeten Kontexten – aufs Neue zu ‚erfahren‘. Es ist gerade die Differenz, die jede Wiederholung unweiger­lich produziert, auf die das Erkenntnis­ interesse jener Experimente nicht selten abzielt. In ­diesem Sinne lässt sich auch von künstlerischen Reenactments sprechen, die auf den Holocaust und vielmehr noch auf seine medialen Repräsenta­tionen rekurrieren und dabei unterschied­liche postmemoriale ästhetisch-­politische Strategien verfolgen, die im Folgenden am Beispiel einiger polnischer bzw. in Polen realisierter Projekte diskutiert werden. Dass die Grenze z­ wischen einem ludischen Event und einer kritischen Interven­ tion im künstlerischen Reenactment durchaus fragil bleiben kann, zeigt ein Projekt des polnischen Performers Rafał Betlejewski: Sein Experiment Verbrennen einer Scheune war zugleich eine auf eine breite mediale und gesellschaft­liche Wirkung hin orientierte Ak­tion. Im Sommer 2010, in Erinnerung an das Massaker in Jedwabne,13 verbrannte Betlejewski in einer sorgfältig vorbereiteten und medial angekündigten Performance eine Scheune in einem Dorf unweit von Warschau. Die Ak­tion war äußerst spektakulär: Betlejewski zündete die mit Benzin begossene Scheune von innen an und rettete sich quasi durch Flucht in letzter Minute aus der bereits brennen­den Scheune. Der Erinnerungsakt der Performance galt den jahrzehntelang tabuisierten Ereignissen aus der Zeit der deutschen Okkupa­tion in Polen, näm­lich der aktiven Mittäterschaft am Genozid, und lässt sich nicht nur als Akt performativer Visualisierung der historischen Schuld, sondern auch als Beitrag zur Sichtbarmachung des nach 2000 in Polen aufgeflammten Schulddiskurses verstehen. Gerade Letzteres war an d ­ iesem Projekt in besonderer Weise bedeutsam: Betlejewski verbrannte in der Scheune symbo­lisch den polnischen Antisemitismus, indem er die vorher von den freiwilligen Projektteilnehmern gesammelten Kärtchen mit Schuldbekenntnissen in der Scheune mit verbrannte. Gedacht als visuell-­performative Interven­tion 13 Im Juli 1941 – nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die seit September 1939 sowjetisch besetzten polnischen Gebiete – haben die polnischen Bewohner des Städtchens Jedwabne ihre jüdischen Nachbarn in einer Scheune verbrannt. 2000 ist das Buch Sąsiedzi (dt. Die Nach­ barn. München 2001) des emigrierten polnischen Soziologen Jan Tomasz Gross erschienen, das ausgehend vom Zeugnis eines Überlebenden den Mord in Jedwabne thematisiert und eine große gesellschaft­liche Debatte in Polen ausgelöst hat. Der Debatte folgten detaillierte historische Nachforschungen sowie künstlerische und literarische Auseinandersetzungen mit der Frage der polnischen Mittäterschaft, die bis heute andauern.

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gegen die Stimmen der Zurückweisung von historischer Schuld in der kontrovers geführten polnischen Debatte, zeigte die Performance aber auch ihre (zumindest latente) exkulpatorische Inten­tion. Es ist augenfällig, dass Betlejewskis Reenactment auf ein erhabenes Register des Schulddiskurses abzielt: auf ein Ritual von Schuldbekenntnis, Reue und Katharsis. Und es ist eben das erhabene Register, das aus dem Projekt ein ‚therapeutisches‘ Spektakel macht. In einem Kommentar zu seiner Performance beschreibt Betlejewski das Ziel der Ak­tion als ein bewusstes Herbeiführen einer „emo­tionalen Katastrophe“, die er als ein Moment versteht, „in dem die Illusion der Aufführung so vollkommen wird, dass sie von der Wirk­lichkeit nicht zu unterscheiden ist. (…).“ „Es ist ein Moment einer kollektiven Hypnose, in der unsere Imagina­tion (…) die Macht über uns gewinnt. (…) Es ist ein Moment, in dem wir dem Wahnsinn unterliegen und somit – sei es nur für einen Augenblick – die Mög­lichkeit bekommen, unsere Einschränkungen zu überwinden.“ 14

Betlejewskis Selbstkommentar treibt den Effekt eines affektiv-­halluzinativen Nach­ erlebens der Vergangenheit auf die Spitze und offenbart dadurch auch den archaischen, animistischen Wunsch von Wiederholungspraktiken, auf die beunruhigende Macht der Vergangenheit über die Gegenwart mit ‚ma­gischen‘ Wiederholungsritualen zu antworten. Im Falle seiner Performance handelt es sich auch um ein postmemoriales Reinigungsritual. Bezeichnenderweise bleibt d ­ ieses dem Schulddiskurs der Täterschaft vorbehalten; die obskure Zone des Zuschauens (als historische Erfahrung) findet darin keine Erlösung. IV. Der Ort und das Gedächtnis: Explorationen filmischer Reenactments (Omer Fast, Paweł Sala)

Viele postmemoriale Kunstprojekte beziehen sich auf die polnischen Topografien des Holocaust. Immer wieder wird dabei auch auf die performative Wiederholung als Mittel des künstlerischen Forschens zurückgegriffen. Es war Claude Lanzmann, der in Shoah „den Ort und das Wort“,15 d. h. die Landschaft und die Zeugenschaft in Verbindung brachte. Lanzmann führte in seinem Film die Überlebenden – soweit sich diese Mög­lichkeit bot – zu den Orten ihrer Verfolgung, zu den ehemaligen

14 Im Interview mit Anna Szulc vom 15. 7. 2010: http://www.tesknie.com/index.php?id=674 vom 20. 9. 2014. 15 Claude Lanzmann. „Der Ort und das Wort“. „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungs­ kultur nach der Shoah. Hg. v. Ulrich Baer. Frankfurt a. M. 2000. S. 101 – 118.

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Vernichtungsstätten zurück, wie Simon Srebnik [Szymon Srebrnik] nach Chełmno (Kulmhof ), um ihnen in der Konfronta­tion mit den authentischen Topografien ihr Zeugnis abzugewinnen. Und wenn dies nicht mög­lich war, versetzte er sie in ‚ähn­liche‘ Topografien, wie Motke Zaidl in den lichten Pinienwald Ben Shemen in Israel, der den Zeugen an Ponary bei Wilna erinnerte. Um die traumatisch blockierte Erinnerung der Opfer zu aktivieren, brachte der Filmemacher seine Gesprächspartner auch dazu, kleine Szenen und Gesten nachzuspielen. Lanzmann suchte den Zugang zum traumatischen Gedächtnis der Opfer in der Verkörperung, durch das In-­Szene-­Setzen und am authentischen Ort; er entdeckte also das Reenactment als Mittel der Erinnerung und der Zeugenschaft, welches das (kontaminierte oder nicht existente) Archiv ersetzen kann.16 Der Film Shoah spielte nicht nur für die Entstehung der Kultur der Zeugenschaft einige Jahrzehnte nach dem Holocaust eine wesent­liche Rolle, er codierte auch die polnischen Topografien als eine Landschaft, die Holocaust ‚spricht‘. In den Erinnerungen Lanzmanns an seine Reisen nach Polen während der Dreharbeiten in den 1970er Jahren heißt es: „[W]ährend der ganzen Dauer der Reise (…) habe ich immer wieder entdeckt, daß die polnische Erde, die Flüsse, die polnischen Wälder, die Städte, die Dörfer, die Männer und die Frauen Polens den Holocaust sprechen, ihn wiederaufleben lassen, in einer Art von unzeit­ licher Aktualität restituieren, die häufig die Distanz ­zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit außer Kraft setzt.“ 17

Die von Lanzmann – vor etwa vier Jahrzehnten, unter ganz anderen real- und gedächtnispolitischen Bedingungen in Polen – als auratisch empfundenen polnischen Topografien der Vernichtung sind heute oft nicht nur touristische Stätten, sondern auch zunehmend Orte künstlerischer Explora­tionen: als reale Orte mit getilgten oder aber allzu sichtbaren Spuren der Geschichte, als traumatische Orte (im Sinne

16 Auf die Reenactment-­Technik von Lanzmann greifen die Filmemacher Rithy Panh in seinem Dokumentarfilm S-21: Die Todesmaschine der Roten Khmer (2003) über die Terrorherrschaft unter Pol Pot in Kambodscha sowie Joshua Oppenheimer in seinem Film The Akt of K ­ illing (2013) über den Genozid in Indonesien in den 1960er Jahren zurück. Beide Filmemacher führen allerdings nicht die Opfer, sondern die Täter an die Orte des Verbrechens und lassen sie dort ihre Taten nachspielen, um auf diese Weise ein Zeugnis der verschwiegenen Verbrechen entstehen zu lassen. 17 Claude Lanzmann. „J’ai enquêté en Pologne“. Au sujet de Shaoh. Le film de Claude ­Lanzmann. Hg. v. Bernard Cuau. Paris, Berlin 1990. S. 211 – 217. Zit. nach Barbara Breysach. Schauplatz und Gedächtnisraum Polen. Die Vernichtung der Juden in der deutschen und polnischen Litera­ tur. Göttingen 2005. S. 316.

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Aleida Assmanns 18), als Orte ritualisierter Erinnerungspraktiken wie auch medialer Transposi­tionen. Der israe­lische Videokünstler Omer Fast erkundet in seinem Projekt Spielberg’s List von 2003 einen solchen Ort und stellt dessen durch die mediale Reinszenierung veränderte Wahrnehmung in den Mittelpunkt. Bei ­diesem Projekt handelt es sich nicht so sehr um ein Wiederholungsexperiment als um eine künstlerische Untersuchung von Reenactment-­Effekten einer Hollywood-­Produk­tion, näm­lich von Steven Spielbergs Schindler’s List. Omer Fast hat seine Videoarbeit in Krakau produziert, und zwar sowohl auf dem Gelände des ehemaligen Konzentra­ tionslagers im Krakauer Stadtteil Płaszów als auch in den für Spielbergs Film detailgetreu nachgebauten und gut erhaltenen Kulissen des Konzentra­tionslagers. Die Drehorte von Schindler’s List in Krakau sind heute eine touristische Attrak­tion. Omer Fasts Spielberg’s List ist eine auf zwei Kanälen parallel laufende Videoarbeit, die den Originalschauplatz und die bis zur Unkennt­lichkeit ähn­liche Filmkulisse zeigt und in beiden Settings die Bewohner von Krakau interviewt, die in Spielbergs Film als Komparsen mitgewirkt haben. Manche von ihnen erinnern sich mög­licherweise noch an die Zeit der deutschen Okkupa­tion, manche nur an ihre Erfahrungen bei den Dreharbeiten. In Omer Fasts Film lassen sich beide Erinnerungsschichten nicht mehr auseinanderhalten und dieser Effekt wird noch zusätz­lich durch die irre­ führenden Untertitel verstärkt. In der Bearbeitung des Videomaterials verschwimmt gänz­lich die Grenze z­ wischen Geschichte und medialer Simula­tion. Omer Fasts Projekt ist aber weniger als eine spielerische Reflexion auf die Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung zu verstehen; vielmehr ist es als ein Experiment mit der Wirkungskraft medialer Reinszenierungen von Geschichte interessant. Fast untersucht ‚vor Ort‘ die Effekte filmischer Transforma­tion des Ortes und des Gedächtnisses. Sein Projekt ist auch ein indirekter Kommentar zu den touristischen Praktiken in Krakau, denn die Stadtführungen, die sich der Geschichte der Krakauer Juden und ihrem Schicksal im Holocaust widmen, folgen weitgehend Spielbergs Drehbuch. Filmische Bilder sind quasi zu Dokumenten geworden, die die ‚wahre‘ Geschichte erzählen. Für die Wirkung des filmischen Settings auf die Erinnerung der Laiendarsteller interessiert sich auch der polnische Filmemacher Paweł Sala in seinem Dokumentarfilm Statyści (Die Komparsen, 2002). Der Film zeigt polnische Komparsen während der Dreharbeiten zu Roman Polanskis Pianist. Die Älteren unter ihnen erinnern sich noch an den Krieg. Salas Film macht offenkundig, wie eine Reenactment-­Situa­tion im filmischen Setting die ehemaligen Augenzeugen des Holocaust zum Sprechen anregt. Das Gesagte trägt dabei in seiner Verworrenheit Spuren einer langen Verdrängung. Im Unterschied zu Fast, der den konfundierenden Einfluss filmischer

18 Aleida Assmann. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2003. S. 328 – 334.

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Inszenierungen auf die Wahrnehmung von Orten und die erinnernde Imagina­tion fokussiert, sucht Sala in seiner Dokumenta­tion der am Rande der Dreharbeiten zum Spielfilm Polanskis stattfindenden ‚Erinnerungsarbeit‘ die durch die filmische Nachstellung aktivierten Gedächtnisspuren der bystanders festzuhalten; sein Film korrespondiert mit der um 2000 aufkommenden Neugier am Wissen der (letzten) Augenzeugen. War Lanzmann während seiner Dreharbeiten in Polen in den 1970er Jahren von der lebendigen Präsenz der Vergangenheit im Gedächtnis der polnischen Augenzeugen des Holocaust fasziniert und gleichsam (nicht zuletzt auch durch den nicht minder lebendigen Antisemitismus) schockiert, so verweisen Fasts und Salas Erkundungen der Reenactment-­Effekte filmischer Produk­tionen in erster Linie – bei allen Unterschieden des jeweiligen Zugangs – auf die Wirkungskraft medialer Inszenierungen, die einerseits als Auslöser der Erinnerung fungieren können, andererseits aber suggestive, transformierende, täuschende Visualisierungen produzieren, die die Geschichte zum hyperrealen medialen Bild werden lassen. V. Wiederholung als Provokation und Korrektiv (Artur Żmijewski, Z ­ bigniew Libera)

Es lässt sich beobachten, dass Kunstprojekte vor allem zwei Aspekte der Nach­ stellung als Gegenstand künstlerischer Befragung fokussieren, näm­lich die Wirksamkeit des kulturellen Bildarchivs und den Akt der Wiederholung selbst als soziales Experiment. Bei Letzterem ist die Frage interessant, wie sich die Partizipa­tion am Reenactment auf seine Teilnehmer sowie seine Zuschauer – auch unwillkür­lich – auswirkt. Soziales Experiment und Arbeit am Bildarchiv stellen die Brennpunkte jenes Experimentierfelds dar, die im Falle von Projekten, die sich auf die extreme Gewaltgeschichte beziehen, besonders scharf hervortreten. Für den polnischen Künstler Artur Żmijewski sind Wiederholungen in ­erster Linie situativ-­soziale Experimente, die zum Teil auf eine sehr radikale Art und Weise soziales Verhalten und Wahrnehmungsmuster befragen. Żmijewski hat nach 2000 sowohl intensiv mit den Mitteln des Reenactments gearbeitet (u. a. 2005 im Remake von Philip Zimbardos Gefängnisexperiment aus dem Jahre 1971) als auch einige Projekte durchgeführt, die sich mit dem Gedächtnis im Kontext polnisch-­ jüdischer Geschichte und vielmehr noch mit Fragen postmemorialer Imagina­ tionen und Zugängen zur Vergangenheit beschäftigen.19 Dazu gehört auch seine

19 Vgl. zu dieser Arbeitsphase Żmijewskis den Ausstellungskatalog Artur Żmijewski. If it hapens only once it’s as if it never happend / Einmal ist keinmal. Zachęta Na­tional Gallery of Art ­Warsaw, Kunsthalle Basel. Ostfildern 2005.

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­umstrittene oder gar skandalöse Videoarbeit 80064 von 2004, in der einem ehe­ maligen Auschwitz-­Häftling seine Lagernummer auf dem Arm ‚erneuert‘, d. h. noch einmal eintätowiert wird. Der kurze Videofilm (9'20 Min.) stellt die Szene der Tätowierung in einem Tattoostudio dar. Neben Józef Tarnawa, einem (polnischen) Überlebenden des Konzentra­tionslagers, der sich auf die Presseanzeige Żmijewskis meldete, zeigt die Kameraeinstellung den Tätowierer und den Künstler. Der alte Mann erzählt von seinem Überleben in Auschwitz und versucht, offensicht­lich über die eigene Zusage verunsichert, Żmijewski von dem Vorhaben abzubringen. Der Künstler erinnert ihn aber an die Vereinbarung und der alte Mann lenkt ein. Die Kamera fokussiert dann den Akt der Tätowierung und versetzt die Zuschauer in eine unbehag­liche Posi­tion von Zeugen einer mora­lisch äußerst fragwürdigen Handlung. Der Sinn dieser grausamen Wiederholung scheint unklar; die Verletzung von ethischen Grenzen im Umgang mit dem alten Mann ist dagegen offenkundig, was wiederum die Frage nach den Grenzen künstlerischen Experimentierens provoziert. Diese Frage ist berechtigt, man sollte jedoch berücksichtigen, dass Żmijewski in seinen Kunstprojekten des Öfteren den radikalen Gestus eines avantgardistischen Künstlers wiederholt und in der Art eines ‚bösen Demiurgen‘ gezielt Situa­tionen herbeiführt, die ­soziale Konven­tionen und kulturelle Normen sprengen. Die emo­tionale Ablehnung des Experiments, die sich beim Zuschauen von 80064 unweiger­lich einstellt, gilt nicht nur dem unsensiblen Umgang mit dem Auschwitz-­Überlebenden, sondern auch dem Akt eines kulturellen Sakrilegs, das die ‚Auffrischung‘ seiner Auschwitz-­Nummer ohne Zweifel darstellt. In einem Kommentar zu seiner Arbeit verweist Żmijewski auf das brüchige, verworrene Gedächtnis der letzten, inzwischen sehr alten Zeugen und sieht das Ziel seines Wiederholungsexperiments in einer situativen Herbeiführung eines emo­tionalen Zeugnisses, dessen Wirkungskraft unvergleichbar stärker sei als die Worte der verblassten Erinnerung: „Aber ein solches Zeugnis ist unwidersteh­lich, aggressiv, es penetriert die Emo­tionen des Zuschauers „in der Weise, wie der Schmerz den Körper penetriert. Diese Art Erinnerung zu wecken war meine Absicht, und deshalb habe ich den ehemaligen Auschwitz-­Häftling darum gebeten, der erneuten Eintätowierung der Nummer zuzustimmen. Das war ein Zeitvehikel, ein Mittel der Reise zu jener Welt. (…) Es ist eine grausame Handlung – grausam wie die damalige Geschichte (…). So sollte die Erinnerung an die Angst – die Angst selbst sein, die Erinnerung an den Schmerz – der Schmerz selbst.“ 20

20 Artur Żmijewski. „Komentarz do filmu 80064“ (Kommentar zum Film 80064. Notizen zum Treffen mit dem Publikum im Centre d’Art Contemporain in Brétigny-­Sur-­Orge am 6. 1. 2005). Obieg: http://www.obieg.pl/rozmowy/5691 vom 20. 9. 2015.

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In der Pose eines Geburtshelfers des Zeugnisses überzeichnet oder karikiert Żmijewski gar den durchaus schonungslosen Umgang Lanzmanns mit den Opfern des Holocaust in Shoah.21 Lanzmann wurde mehrmals vorgeworfen, den traumatisierten Opfern durch sein aufdring­liches Ringen nach ihrem Zeugnis see­lische Verletzungen zugefügt zu haben. Żmijewskis Handlung fokussiert die körper­liche Stigmatisierung: Der Wiederholungsakt wird in einer sadistischen Geste im Dienste eines ‚emo­tionalen Zeugnisses‘ vollzogen, das sich an die Zuschauer seines Experiments richtet. So stellt das Reenactment Żmijewskis nicht zuletzt ein radikales Experiment mit der Zuschauer-­Posi­tion dar. Der Künstler versetzt die Zuschauer der Videodokumenta­tion seines Wiederholungsexperiments in eine unbehag­liche Situa­tion, die die Schaulust unterminiert. Die Zuschauer werden in ihrer Rolle als Betrachter einer künstlerischen Arbeit (spectators) verunsichert und in Zuschauer als bystanders verwandelt. Somit adressiert Żmijewskis Arbeit das Zuschauen selbst als beschämenden Akt. Die Kunstwissenschaftlerin Izabela Kowalczyk sieht in der Arbeit Żmijewskis vor allem einen Kommentar zu unserem Umgang mit den letzten Zeugen der katastrophalen Geschichte und zum ungestillten Begehren nach ihren Zeugnissen.22 Es lässt sich auch im Anschluss an ihre Interpreta­tion behaupten, dass 80064 im Skandalon der Nachtätowierung einer Auschwitz-­Nummer die Wiederholungslust selbst, die Lust am Nachspielen von Opfer- und Täterrollen, an historischen Rekonstruk­tionen, am allgegenwärtigen Präsentmachen der Vergangenheit in radikaler Weise herausstellt. In der latenten Aggressivität des Wiederholungsexperiments Żmijewskis (er spricht ja selbst vom „aggressiven“ Zeugnis) lässt sich aber auch eine Abwehrgeste gegen die Evozierung von Vergangenheit sowie gegen die Last der Geschichte entdecken, von der sich die Nachgeborenen nicht befreien können: Letzt­lich tilgt die Nachtätowierung die authentischen Spuren des Leidens des Verfolgten und beseitigt die unheim­liche Aura seines Stigmas. Auf eine ­solche ambivalente Tilgung des ‚grausamen‘ Originals zielen ebenfalls fotografische Reenactments des polnischen Künstlers Zbigniew Libera ab. Seine in den Jahren 2002 – 2003 angefertigte fotografische Serie Positive besteht aus einer Reihe nachgestellter und in der Reinszenierung entstellter Bilder-­Ikonen des

21 S. a. Ausführungen Żmijewskis zu Lanzmann in seinem Gespräch mit Agata Araszkiewicz „Porozmawiajmy o 80064“ (Lass uns über 80064 sprechen) vom 25. 8. 2005. Obieg: http:// www.obieg.pl/rozmowy/5691 vom 20. 9. 2015. 22 Izabela Kowalczyk. „Błędne koło historii (prace Artura Żmijewskiego)“. Podróż do ­przeszłości. Interpretacje najnowszej historii w polskiej sztuce krytycznej. (Reisen in der Vergangenheit. Interpreta­tionen der jüngsten Geschichte in der polnischen kritischen Kunst). Hg. von ders. Warszawa 2010. S. 253 – 307, S. 289.

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20. Jahrhunderts, darunter eine Aufnahme von Häftlingen hinter dem Stacheldraht in Auschwitz.23 Auf der nachgestellten Fotografie sind fröh­liche, gesunde ­Menschen in Pyjamas und mit Schlafdecken zu sehen. Libera kommentiert seine Arbeit ­folgendermaßen: „Ich wollte mit dem Mechanismus des Sehens und des Erinnerns und mit dem Phänomen der Nachbilder des Gedächtnisses arbeiten. Diese Fotografien [die Positive] nehmen wir im Grunde so wahr, dass die Flashbacks der grausamen Originalfotografien durch die unschuldigen Szenen durchscheinen. Jene ‚Negative‘ habe ich aus dem eigenen Gedächtnis ausgewählt, aus den Fotografien, die mir aus der Kindheit erinner­lich sind.“ 24

Liberas fotografisches Reenactment, das manipulativ in das kulturelle Bildarchiv interveniert und „‚Negative‘“ in „Positive“ verwandelt, oszilliert ­zwischen Bild-­ Revitalisierung und Bild-­Mortifizierung. Die in der medialen Transmission inzwischen leer gewordenen Aufnahmen, die sich immer mehr von ihren Referenten entfernt und zu Ikonen kultureller Traumatisierung verselbstständigt haben, werden in der Nachstellung performativ ‚belebt‘ und zugleich durch die Entstellung ikonisch verunsichert. So lässt sich zum einen im fotografischen Reenactment Liberas, das durch die Verstellung ein genaues Hinschauen erzwingt, eine aktualisierende Erinnerungsgeste entdecken. Zum anderen kann sein Experiment als eine therapeutische Geste verstanden werden, die auf eine Tilgung des Originalbilds abzielt. In dieser Perspektive erscheinen seine Positive auch als Wunschkorrektive von Nachbildern im Archiv der posttraumatischen Kultur. VI. Reenactment als post-utopisches Laboratorium (Yael Bartana)

Mit komplexen Wiederholungsgesten arbeitet die israe­lische Künstlerin Yael ­ artanain in ihrem z­ wischen 2007 und 2011 in Polen durchgeführten Projekt Polish B Trilogy, das aus drei verfilmten Performances besteht: Mary-­Koszmary (Nightmares, 2007), Mur i wieża (Wall and Tower, 2009) und Zamach (Assassina­tion, 2011). Alle drei Teilprojekte sind in enger Koopera­tion mit dem polnischen Verband Krytyka 23 Es handelt sich dabei um eine Reinszenierung eines berühmten Standfotos aus dem Filmmaterial des sowjetischen Soldaten Alexander Voroncov zur Befreiung von Auschwitz 1945. Vgl. dazu Ewa Domańska. Historie niekonwencjonalne. Refleksje o przeszłości w nowej huma­ nistyce. (Unkonven­tionelle Geschichten. Neue Reflexionen der Vergangenheit in den Geistes­ wissenschaften). Poznań 2006. S. 239. 24 Aus dem Kommentar des Künstlers auf der Website der Galerie Raster in Warschau: http:// www.raster.art.pl/galeria/artysci/libera/pozytywy/libera_pozytywy.htm vom 20. 9. 2015.

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Polityczna (Politische Kritik) in Warschau entstanden, dessen Zeitschrift und Verlag eine Plattform für die neue, junge politische Linke bieten. Zum Gesamtprojekt ­Bartanas gehört auch die Gründung der Bewegung The Jewish Renaissance Movement in Poland. Es handelt sich dabei um eine Kunstak­tion eine fiktive politische Organisa­ tion, die sich allerdings vertrauter Formen sozialer Bewegungen bedient: Der erste Kongress der Bewegung, angelehnt an das Format historischer zionistischer Kongresse, fand auf der 7. Berlin Biennale für zeitgenös­sische Kunst 2012 statt. Im ersten Teil der Trilogie ruft Sławomir Sierakowski, der Leader von Krytyka Polityczna, in einer Performance in einem bereits nicht mehr existierenden Stadion in Warschau, in dem in der Volksrepublik Polen auch politische Kundgebungen stattfanden, 3.300.000 Juden zur Rückkehr nach Polen auf. Es ist unklar, an wen sich die dramatische Rede wendet: an die Toten oder an die Lebenden. Die Zahl erinnert an die im Holocaust ermordeten polnischen Juden, das Pathos der Rede gilt aber einer Zukunftsvision: dem künftigen glück­lichen Zusammenleben. So kommen die jüdischen Siedler im zweiten Teil der Trilogie (Mauer und Turm) nach Warschau und bauen den ersten Kibbuz. Dieser Film bezieht sich auf die Kunstak­ tion im Sommer 2009, in der ein Kibbuz im Warschauer Stadtteil Muranów aufgebaut wurde – auf dem ehemaligen Gelände des Warschauer Ghettos und direkt gegenüber Nathan Rappaports Denkmal für die Ghettokämpfer. Und schließ­lich im dritten Teil des Projekts (Attentat) wird der Leader der neuen Bewegung durch ein Attentat ermordet. In den langen Reden der Kundgebung in Warschau werden dann u. a. Trauerreden zitiert, die bei der Beisetzung von Jitzchak Rabin im Jahre 1995 in Jerusalem gehalten wurden.25 Das gesamte Projekt Bartanas basiert auf einer Reenactment-­Idee, allerdings nicht im Sinne einer der historischen Vorlage getreuen Nachstellung. Jede Szene, Handlung und Rede erinnert aber an historische Ereignisse und Artefakte – als Zitat, Andeutung, Reinszenierung und nicht zuletzt als Inversion, Fik­tionalisierung und manipulative Störung des Wiederholten. Das gesamte Kunstprojekt balanciert an der Grenze z­ wischen Fik­tion und Wirk­lichkeit, ­zwischen Spiel und Politik. Dabei werden nostal­gische Wunschprojek­tionen und das Pathos des Topos der Rückkehr nach Hause sowie utopische Zukunftsvisionen permanent durch Bilder konter­ kariert, die totalitären (darunter faschistischen und kommunistischen) Ästhetiken und Propaganda-­Formaten entspringen und somit das Melancho­lisch-­Utopische in das Gegenteil, d. h. in das Bedroh­liche der realen Geschichte bzw. der Real­politik umkehren.26

25 Für den Hinweis danke ich Ilay Halpern. 26 Die ersten beiden Teile der Trilogie dokumentiert der Ausstellungskatalog Yael Bartana. And Europe will be stunned. Moderna Museet Malmö 22.05.–19. 09. 2010. Malmö, Berlin 2010

Zum ludischen und künstlerischen Reenactment in Polen

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Der Kunstak­tion im Warschauer Stadtteil Muranów lag ein zionistischer Propa­ gandafilm über den Bau eines Kibbuz in Palästina von 1939 zugrunde. Der Titel Wall and Tower zitiert zugleich die Bezeichnung der halblegalen Besiedlungsopera­tion in den späten 1930er Jahren durch schnelle Bauak­tionen in Palästina.27 In Bartanas Film werden Szenen aus d ­ iesem Film nachgestellt, u. a. der Bau eines Holzturms – mit einem wesent­lichen Unterschied zur historischen Vorlage, näm­lich dem, dass die ‚Siedler‘ diesmal nicht aus Warschau stammen, sondern nach Warschau kommen. In Bartanas Projekt überlappen sich nicht nur nostal­gische Diskurse, ver­ab­ schiedete Utopien und totalitäre Ästhetiken, sondern auch die polnisch-­jüdische Geschichte und der israe­lisch-­palästinen­sische Konflikt. Je nach Posi­tion des Betrachters werden die historischen Folien und die überladenen Symboliken der Filme Bartanas unterschied­lich gelesen: in Polen vor allem im nostal­gischen Modus, vor dem Hintergrund des polnischen Schuldkomplexes und als eine Versöhnungs­utopie; in Israel als eine künstlerische Interven­tion in das zionistische Imaginarium, die auch den Topos der Rückkehr nach Hause rekonfiguriert und ihn an die arabische Bevölkerung adressiert. Wie auch immer interpretiert und interpretierbar, unterliegt das Phantasma der Rückkehr, des Neubeginns, der Reversibilität der Geschichte in Bartanas Projekt einer permanenten Dekonstruk­tion – in ständigen Kollisionen von na­tionalen, politischen, historisch zum Teil stark kontaminierten Symboliken und im Zusammenstoß von Topografien und Zeitschichten. Die auf der zeit­lichen und räum­lichen Verschiebung und Umkehrung basierende Reenactment-­Technik produziert falsche Spiegelungen, Zerrbilder und inverse Semantiken. Das Kunstprojekt versteht sich als ein post-­utopisches Laboratorium, in dem Geschichtsbilder in paradoxen, unmög­lichen und unheim­lichen Wiederholungen neu konfiguriert werden können. VII. Schluss

Das Reenactment lebt von der Lust an performativer Wiederholung von Ereignissen der Vergangenheit, die in der zutiefst medialisierten Kultur vor allem über Bilder zugäng­lich sind. Die künstlerischen Wiederholungsexperimente partizipieren an dieser Lust und verhalten sich zu ihr gleichzeitig – im unterschied­lichen Maße – analytisch. Einige künstlerische Projekte zeigen sich gleichsam als Forschungsstätten (mit einem Essay von Joshua Simon und einem Interview mit Yael Bartana von Galit Eilat und Charles Esche). 2 7 Vgl. Yael Bartanas Kommentar zu d ­ iesem Projekt auf dem Creative Time Summit: Revolu­ tions in Public Practice, New York 2009: http://www.youtube.com/watch?v=PrhwdcMe5Bc vom 20. 9. 2015.

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Magdalena Marszałek

der Verkörperung von Bildern: Sie sind gleichermaßen an der Löschung der Distanz zu den medialen Darstellungen der Vergangenheit im performativen Nachstellen der Bilder wie auch an der Differenz der Wiederholung interessiert. Künstlerische Reenactments stellen Bilder nicht nur nach, sondern sezieren, manipulieren, beleben und mortifizieren sie auch zugleich. Und sie produzieren neue Bilder, die unseren Blick verstellen oder gar verstören. Künstlerische Experimente, die in den Wiederholungsgesten auf die extreme Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts rekurrieren, vor allem auf die Vernichtung der europäischen Juden, operieren im Kern der heutigen memorialen Kultur, die immer mehr auf emo­tionale Beteiligung und sinn­liches Nacherleben ausgerichtet ist und somit immer weniger auf die intellektuelle Zeugenschaft, vielmehr aber auf die Erinnerung durch Affizierung setzt. Die intensiven künstlerischen Explora­tionen des Gedächtnisses in Polen – wie auch die Schwemme ludischer Nachstellungen – haben sowohl mit dem polnischen Gedächtnisraum des Holocaust zu tun als auch mit den gegenwärtigen dramatischen Nachforschungen der Vergangenheit. So lässt sich beobachten, dass viele künstlerische Projekte zu einer besonderen Radikalität tendieren, was sich allerdings fast unvermeid­lich durch das Experimentieren mit der Wiederholung auf einem ethisch äußerst sensiblen Feld einstellt. Die verstörenden Effekte sind Programm und markieren nicht zuletzt auch eine Schwelle, an der sich die affektive Erinnerungskultur gegen sich selbst wendet oder sich selbst gar infrage stellt. Die Abwehrgesten, die in den postmemorialen künstlerischen Projekten sichtbar werden, erscheinen nicht nur als Ausdruck der Machtlosigkeit gegenüber dem Erbe der Geschichte, sondern auch als Versuche eines Aufbegehrens gegen ihre Hinterlassenschaft, das sich beispielsweise in exkulpatorischen, kathartischen oder reversibel-­rebel­lischen Phantasmen entlädt. In diesen Projekten wird gleicher­maßen die Macht des posttraumatischen Imaginariums wie auch der Wunsch seiner Überwindung offenkundig.

Marie-­Christine Wehming

Entgrenzte Erinnerung – unbegrenzte Möglichkeiten? Der Holocaust auf YouTube „Das ist es, was die Leute nicht verstehen, dass man die Dinge nicht voneinander trennen kann. Selbst wenn man wollte.“ 1 Diese Worte spricht der Holocaust-­Über­ lebende Adolek Kohn, der Protagonist einer sehr kontrovers diskutierten, sowohl gelobten wie auch umstrittenen Videoperformance der Künstlerin Jane Kormann mit dem so anstößig wie aufrührend wirkenden Namen „Dancing Auschwitz“ 2. In dem Clip sieht man Kohn zusammen mit seinen Enkeln unter dem Eingangstor von Auschwitz. Man sieht ihn vor einem Waggon oder an den Eisenbahnschienen des Lagers Auschwitz-­Birkenau. Man sieht ihn tanzen. All diese Szenen vereinen „die Dinge“, den Großvater und seine Enkel neben einer unfassbar grausamen Vergangenheit, die gleichermaßen Teil der Lebensgeschichte des alten Mannes und seiner Enkel geworden ist, wenn auch in unterschied­licher Weise. „Wie bewegen wir uns ­zwischen dem Vergangenen, dem Gegenwärtigen und den Zukunftsprognosen? Und wie können wir uns auf unsere Erinnerungen stützen, wenn sich uns bereits die eigene Gegenwart oftmals entzieht?“ 3 Diese Fragen stellte Anfang Dezember 2012 die „Tauschbörse der Erinnerungen“ im Rahmen eines interdisziplinären Workshops in Hamburg und forderte ihre Besucher auf, über die Strategien und Funk­tionen des Erinnerns in einer Gesellschaft zu diskutieren. Die Teilnehmer waren dazu angehalten, eine Erinnerung mitzubringen: sei es ein Foto, ein Kleidungsstück oder etwas Immaterielles, wie eine Erzählung, um zu veranschau­lichen, wie Erinnerung abgelegt wird und was von diesen Erinnerungen eigent­lich zu einer Art ‚Erbe‘ werden kann. Diese allgemeinen Fragen spielen besonders in der Erinnerung des Holocaust eine Rolle und zeigen hier eine an­dauernde Aktualität, die sich jeder abschließenden Antwort entzieht. Eben jene Fragen führen jedoch im Rahmen einer Analyse des oben beschrie­ benen Clips zu neuen Antworten. So stellt sich zunächst die Frage, w ­ elche Rolle das Medium YouTube in unserer heutigen Erinnerungskultur spielt, über das „Dancing Auschwitz“ interna­tionale Bekanntheit erlangen konnte. Es stellt sich die Frage nach der Konservierung, aber auch der Beweg­lichkeit von Erinnerung nochmals

1 Karin Steinberger. „Dancing.Auschwitz@YouTube.“ Süddeutsche Zeitung 211 (2010): S. 3. 2 http://www.youtube.com/watch?v=cFzNBzKTS4I vom 27. 9. 2015. 3 http://www.antjepfundtner.de/symposium/ vom 27. 9. 2015.

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mit einer verstärkten Dring­lichkeit. Es ist hier nicht nur das Medium Internet, das kulturelles Erbe mobil und global macht, sondern auch die immer neue Suche nach kulturellen Normen und Übereinkünften für ein Gedenken des Holocaust. Die Spannung, die jeder Erinnerung innewohnt, jene Spannung ­zwischen faktischem Zeugnischarakter und zwingend fragmentarischer Gedächtnisleistung ist die Grundlage des dem Video zugrunde liegenden Konstrukts, denn der Überlebende Kohn wirkt im Video wie ein Relikt der Vergangenheit, das sich in der Zukunft nicht recht einfinden mag, aber durch seine Enkel doch fest in dieser verankert ist. Die Konjunktur der Erinnerung in den Medien führt einige dazu, von einem „Zeitalter der Zeugenschaft“ 4 zu sprechen. Und tatsäch­lich hat die Figur des Z ­ eugen besonders bei der Erinnerung an den Holocaust großes Gewicht. Der Zeuge, der direkt bezeugen kann, fungiert als Brücke z­ wischen unfassbarer Vergangenheit, die auf vielen Originaldokumenten nachvollzogen werden könnte, aber sich in ihrer Monstrosität genau dort verschließt, und dem Einzelschicksal, dem der Rezipient, wenn nicht nachfühlen, so doch in gewisser Weise (narrativ) folgen kann. An dieser Schnittstelle setzt das Video der Künstlerin Jane Korman ein, die ihren Vater Adolek Kohn und vier seiner Enkel an den Schauplätzen der Judenverfolgung in Europa zu „I will survive“ von Gloria Gaynor tanzen lässt. Über die Videoplattform YouTube wurde dieser Sieg des Lebens über den Tod, wie Kohn selbst das Video interpretiert, interna­tional bekannt. Das Video als Teil des Projektes von Jane Korman ist eines von drei Videos und einer Fotoreihe, die zusammen ausgestellt wurden. Im zweiten Videoclip dieser Reihe zeigt Korman altes Filmmaterial, auf denen die Familie Kohn anläss­lich eines Familienfestes in Australien tanzt. Die Künstlerin wollte mit dem zweiten Video auf die besondere Bedeutung des Tanzes für ihre Familie hinweisen. Das dritte Video ist als eine Art Making-­of konzipiert und begleitet Kohn durch die Entstehung des ersten Videos. Dieses erste Video ist die Basis der vorliegenden Analyse, da es durch YouTube die größte Bekanntheit erlangt hat und kontrovers diskutiert wurde. Unterschied­ lichste Reak­tionen auf diese intergenera­tionelle Verarbeitung haben Kohn erreicht: Sie reichen von Beifall für den Mut, wieder an diese Stätten zurückgegangen zu sein, bis hin zur Anklage, auf den Gräbern der Toten zu tanzen. In den Briefen, Zeitungsberichten und Statements wird deut­lich, dass der Clip eine Gratwanderung vollzieht, denn er vermischt Kontexte in einer Weise, die man als provokant, spielerisch oder aber schamlos sehen kann. Tatsäch­lich ist die Vermischung der Kontexte wohl das Element, das die größte Spannung produziert: ein Lied aus den 70ern,

4 Shoshana Felman. „Im Zeitalter der Zeugenschaft. Claude Lanzmanns Shoah“. „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur nach der Shoah. Hg. v. Ulrich Baer. Frankfurt a. M. 2000. S. 173 – 196, S. 173.

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das vom Überwinden des Trennungsschmerzes einer gescheiterten Liebesbeziehung handelt, überbrückt die zeit­liche Distanz der Geschehnisse der 1940er Jahre, auf die rekurriert wird, zur heutigen Zeit und den Nachgeborenen, die all dies nur aus den Erzählungen des Zeitzeugen kennen. Diese Verbindung funk­tioniert nur durch die Anwesenheit des Zeugen Adolek Kohn, dem hier die Autorität verliehen wird, Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden. Er zeigt sich ganz anders als jene Agenten des „Wahrheitspathos“, das unter anderem Sybille Lewitscharoff als letzten verbliebenen Modus des Zeugen aufruft, sich der Gegenwart zu vermitteln. Wenn Sybille Lewitscharoff in ihren Poetikvorlesungen, die 2012 unter dem Titel „Vom Guten, Wahren und Schönen“ erschienen, über die Zeugenschaft spricht, so verweist sie vorrangig auf die Konzentra­tionslager der Na­tionalsozialisten und macht einen „Wahrheitspathos des Entkommenen“ 5 aus. Diesen benennt sie als Grund, dass unsere Zunge gehemmt und „keine Kritik, keine Einrede mög­lich“ sei 6. Diese Analyse widerspricht der letzten These und stellt vielmehr erneut die Frage nach neuen Formen der Verhandlung des Holocaust innerhalb der sogenannten ‚Neuen Medien‘ und – daraus folgend –, ob der Wahrheitspathos, den Sybille Lewitscharoff annimmt, dadurch gestärkt, verändert oder gar geschwächt wird. Kohn spielt im Video seiner Tochter mit jener Vorstellung, die Aleida Assmann als „Standardkulisse“ 7 ausmacht. In ihrer Ausgabe vom 30. August 2012 stellt die ZEIT auf ihrem Titel die Frage, „Wann vergeht Vergangenheit?“ 8 Im ­zugehörigen Leitartikel kommt unter anderem die Anglistin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann zu Wort, die den Holocaust zu einer „Standardkulisse“ 9 erklärt, vor der sich die Gegenwart in Deutschland abspiele. Der Artikel diskutiert das, was man Verarbeitung, Bewältigung oder einfach den Umgang mit der Vergangenheit nennt, im heutigen Europa vor dem Hintergrund des Na­tionalsozialismus‘ und der Judenverfolgung der 1930er und 1940er Jahre. „Dancing Auschwitz“ inszeniert den Holocaust nicht als Event der Geschichte, sondern reduziert ihn auf seine bekanntesten historischen Stätten, auf Denkmäler. Diese Kulisse wird wiederum mit der Familiengeschichte der Kohns gefüllt, es kommt zur Reduk­tion auf einen historischen Ausschnitt, der als solcher zwingend fragmentarisch ist. Trotzdem steht die kollektive Erinnerung des Holocaust immer in engem Zusammen­hang mit der individuellen Erinnerung. Zu dieser Thematik lief im

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Sibylle Lewitscharoff. Vom Guten, Wahren und Schönen. Berlin 2012. S. 37. Vgl. ebd. S. 37. Aleida Assmann. „Der Wille zur Erinnerung.“ DIE ZEIT 36 (2012): S. 3. Bernd Ulrich. „Wann vergeht Vergangenheit?“ Ebd.: S. 1. Assmann 2012. S. 3.

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Februar 2013 eine Reihe unter dem Titel „Grenzen der kollektiven Erinnerung“ 10 im Deutschlandfunk, die sich mit den verschiedenen Perspektiven kollektiver Erinnerung auseinandersetzte. Auch in diesen Beiträgen kam Aleida Assmann zu Wort und erklärte die Erinnerungslandschaft in Deutschland zu einem Feld, das sich fortdauernd wandle und das sich immer neu definiere, dabei jedoch auf bestimmten Pfeilern beruhe. Diese grundlegende These bleibt dabei die Annahme eines Wandels der Erinnerung, der sich jedoch weiterhin innerhalb bestimmter Grenzen bewegt. I.

Globalisierte Erinnerung als fragmentarisches Sammelsurium?

Die unbegrenzten Kommunika­tionsop­tionen der globalisierten Welt schaffen einen entgrenzten Raum, der eine globale Verhandlung von Holocaust und Na­tionalsozialismus ermög­licht. Dieser entgrenzte Raum lässt sich ob der Anonymität unterstellen, die einige Internetportale wie YouTube oder Twitter ermög­lichen. Und doch zeigt sich besonders bei YouTube und Twitter, dass diese Portale durch ihre eigenen Mitglieder kontrolliert werden. Diese Kontrolle ist mora­lischen Ansprüchen geschuldet und entzieht sich den na­tionalen Standards, auf die jene Haltungen verweisen, die ich zu Beginn meines Artikels zitiert habe. Auf diese werde ich im Folgenden am Beispiel des Videos „Dancing Auschwitz“ näher eingehen. Was meine ich aber mit einem entgrenzten Raum, wenn es um die Erinnerung an den Holocaust geht? Ist diese nicht typischerweise begrenzt durch mora­lische oder sprach­liche Ansprüche? Eine Antwort findet sich in einer Szene aus der Verfilmung von Jonathan Safran Foers Buch Alles ist erleuchtet (2002, Film 2005). Foer zeigt hier, w ­ elche Probleme es für diejenigen gibt, die Fakten sammeln wollen und dabei doch nur Fragmente finden können. Die reine Informa­tion ist keine Geschichte, keine Erinnerung. Im Film sammelt der Protagonist sämt­liche auffindbaren Spuren der Vergangenheit seiner Familie in Plastiktüten und sortiert sie nach Alter und Personenzugehörigkeit. Am Ende steht er vor einer riesigen Wand voller Plastik­ tüten, gefüllt mit Gebissen, Haaren oder Fotos, die in einer Beziehung zum Leben seiner Vorfahren stehen. Und doch kann er sich keinen Reim auf diese Informa­ tionen machen. Es zeigt sich hier implizit, dass eine Verzerrung des Geschehens, des primären Zeugnisses nicht vermieden werden kann. Der nachgeborene Enkel, hier in der Rolle eines sekundären Zeugen, ist nicht nur Konsument oder Sammler der Erinnerungen eines anderen, sondern er muss diese selbst interpretieren. Dabei ist das Fehlen oder Schweigen der Zeitzeugen der erste Schritt des Verlustes

10 http://www.deutschlandfunk.de/das-­werde-­ich-­dir-­nie-­vergessen.1184.de.html?dram:article_ id=238245 vom 27. 9. 2015.

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der Erinnerung. Erst eine Neukontextualisierung, zu ­diesem Schluss kommt Foer, kann diese Spuren retten. Unter literaturtheoretischer Perspektive entwickelt sich hier die Forderung nach einer Fik­tionalisierung der vorhandenen Fragmente, nach einer erzählenden Einbindung in bekannte Kontexte, die man als Forderung nach einer Eingliederung in ein mit Harald Welzer gedachtes „soziales Gedächtnis“ 11 ausmachen kann. Dem Konzept des sozialen Gedächtnisses liegt zugrunde, dass seine Inhalte immer neu verhandelt werden müssen, dadurch aktualisiert bleiben und ihre Relevanz beibehalten. Gleichzeitig kommt es dadurch zu einer beiläufigen Reduk­tion der Inhalte auf ihr symbo­lisches Potenzial, die in einen zeitgenös­sischen Kontext passen muss.12 Im Zuge der Globalisierung kann sich laut Jens Birkmeyer „ein kulturelles Erinnerungsreservoir der Barbareierfahrung als einem transna­tionalen und trans­ kulturellen Gedächtnis“ 13 entwickeln. Zwischen den beiden Polen na­tionaler, lokali­ sierter Erinnerung und interna­tionalem, lokal unspezifischem Gedenken ent­wickeln sich auf transna­tionaler Ebene neue Erinnerungskulturen, die zueinander in Beziehung und in Konkurrenz gesetzt werden.14 Dabei bleibt jedoch die Frage offen, ob damit auch die mora­lischen Ansichten jener Erinnerungskulturen ausgeweitet bzw. tradiert werden. Birkmeyer kommt zu dem Schluss, der Holocaust sei allgemein als Metapher des Unfassbaren anerkannt, jedoch folge daraus nicht, dass er damit zur Grundlage und zum Antrieb „eines neuen mora­lischen Weltgewissens“ 15 werde. Für ihn eignet sich der Holocaust eher nicht als Grundlage einer Moral einer globalisierten Gemeinschaft, da Erinnerung sich auf eine Gegenwart beziehe und Vergangenheit dabei nur den Rahmen bilde. Allerdings helfen die Erinnerungskulturen des Holocaust dabei, eine Moralpraxis auszuhandeln, die auf den zwingend unbeantwortbaren Fragen basiere, die dieser aufwerfe.16 Wie das Beispiel des YouTube-­Videos zeigt, bleiben die Probleme des angemessenen Umgangs und der Suche nach der richtigen Sprache weiterhin bestehen. Ohne die Autorität der Zeitzeugen verstärken sich diese noch einmal. Das Tanzen auf den Gräbern verstehe auch ihr Vater daher nicht als Verachtung oder Verharmlosung, sondern er feiere das Überleben im Kreise seiner Nachkommen. 11 Harald Welzer. „Das ­soziale Gedächtnis“. Das ­soziale Gedächtnis. Hg. v. dems. Hamburg 2001. S. 9 – 21, S. 9. 12 Vgl. ebd. S. 15. 13 Jens Birkmeyer. „Globales Gedächtnis? Universelles Erinnern in W. G. Sebalds Roman ­Austerlitz“. Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstella­tion – Konzepte – Perspektiven. Hg. v. Wilhelm Amann, Georg Mein u. Rolf Parr. Heidelberg 2010. S. 129 – 151, S. 131. 14 Vgl. ebd. 15 Ebd. S. 138. 16 Vgl. ebd. S. 149.

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„…wir kommen aus der Asche, deshalb tanzen wir.“ 17 Und doch respektiert und versteht er die Haltung seiner Frau, die sich als Überlebende des Holocaust nicht in der Lage sieht, nach Europa zu reisen. Die Untrennbarkeit der Dinge, die ich mit Kohn am Anfang benenne, zeigt sich in ihrer Haltung nicht an jene Orte gebunden, die als Mahnmale im Video inszeniert werden. Diese Untrennbarkeit zeigt die Lücke auf, die das Video zu schließen sucht und die doch das Trauma aufzeigt, somit nicht greifbar werden kann. Deut­lich wird diese Brücke ­zwischen Vergangenheit und Gegenwart auch auf einem Foto, das Teil der Ausstellung war und die Protagonisten zeigt. Sie alle tragen T-Shirts, die eine Genealogie widerspiegeln. Ist Adolek Kohn der „Survivor“, wird seine Tochter zur „2nd genera­tion“ und seine Enkel sind somit der „3rd genera­tion“ zugehörig. Diese persön­liche Verbindung über die Familiengeschichte verleiht dem Video besondere Bedeutung, die sich mithilfe der Theorien von Marianne Hirsch im Sinne einer postmemory, aber auch mithilfe der Thesen zur primären und sekundären Zeugenschaft stützen lassen und sich damit an dieser Stelle in die klas­sische Holocausterinnerung einfügen. Neu an dieser Perspektive ist die Siegerpose, die vermeint­lich pure Freude am Überleben. Diese Freude zeigt sich im Video jedoch nicht in einem klaren Tanz, einer synchronen Choreografie. Im Video will Kohn das Tanzen mit seinen Enkeln nicht so recht gelingen und er schert aus den Choreografien seiner Enkel immer wieder aus. Manchmal wirkt er wie ein Kind, das eben keine Freude am geordneten Tanz hat und ledig­lich alles über sich ergehen lässt. Auch das T-Shirt scheint ihm irgendwie nicht zu passen, ähnelt es so gar nicht der Kleidung, die er in anderen Szenen trägt. Dieser vermeint­liche Unwille, der unbewusst wirkt, verweist auf einen traumatischen Hintergrund, der dieser räum­lichen Konfronta­tion des Überlebenden mit den zu Mahnmalen gewordenen Orten innewohnt. Auf diese Weise wird er zur Figur, die zwar das Überleben feiert, gleichzeitig jedoch zum Stellvertreter der Toten, die er eben nicht feiern will. Dabei ist er sich der Tragweite seines Handelns in d ­ iesem ­kurzen Clip durchaus bewusst, wenn er am Schluss des Videos sagt: „This is really a historical moment.“ Dieser historische Moment, der erst durch die Veröffent­lichung auf der Plattform YouTube Beachtung fand, ist heute in weitere Clips und Funk­tionen ein­ gebettet. So liefert Jane Korman eine Erklärung ihrer Absichten und Erläuterungen zu ihren Videos. Unter dem Titel „And now about the work – Talking about ‚­Dancing Auschwitz‘“  18 versucht sie, ihre Sicht auf die Geschichte in die Rezep­tion des Videos „Dancing Auschwitz“ einzuschreiben. Damit entspricht sie, wie zahlreiche

17 Steinberger 2010. S. 3. 18 http://www.youtube.com/watch?v=Vf-­MxtjO7jE vom 27. 9. 2015.

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Kommentare unter dem originalen Video zeigen, den Wünschen der User. Jedoch nimmt sie gleichzeitig theoretisch die Mög­lichkeit zum Dialog, da sie die Rezipienten nun nicht mehr nach einer eigenen Deutung suchen lässt, sondern auch diese zu liefern versucht. Praktisch schlägt dieser Versuch jedoch fehl, ihre Videos erreichen kaum 100 Aufrufe.19 Gleichzeitig kommt durch die Kommentarfunk­tion auf YouTube eine weitere Ebene ins Spiel, denn die User beziehen vorhandene Kommentare in ihre Diskussion ein. Dabei interagieren sie nicht nur, sondern verhandeln das Video in einem größeren historisch-­politischen Kontext: Es ist auffällig, dass neuere Kommentare zu ­diesem YouTube-­Video überwiegend ­Themen wie die Nahostkrise, Faschismus im heutigen Europa oder na­tionale Gedenkdiskurse im Vergleich behandeln. Immer wieder findet sich in den Kommentaren die Aussage, das Video habe besonders berührt und zum Nachdenken gebracht. II. Zeugnisse zwischen Fakt und Fragment

Vor allem der mediale Inhalt 20 kollektiver Erinnerung, im Sinne einer Kollektiv­ symbolik, darf nicht unterschätzt werden. Das ‚Wie‘ unseres Erinnerns ist eng daran gebunden, w ­ elche Texte, Bilder oder Dokumente wir kennen. Im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft gibt es einen gewissen Pool an Zeugnissen, der tradiert wird, und mit genau d ­ iesem Pool spielt das YouTube-­Video von Jane Korman. Es zeigt sich, dass es zu einer Reduk­tion dieser kontextualisierten Fakten auf ihre Motive, ihre Ikonografie kommt, die dann neu mit Bedeutung aufgeladen werden. Die Symbolik des Davidsterns, die auch „Dancing Auschwitz“ nutzt, führt zu einer Vermischung von faktischer Sachlage und fragmentarischer Erinnerung: Die Enkel Kohns tragen den Stern nicht als Symbol der Ausgrenzung oder Unterdrückung, sondern hier wird er als eine Art Erkennungszeichen genutzt und steht für eine Zugehörigkeit, wenn nicht Zusammengehörigkeit der Protagonisten des Clips. Das Spiel, das Jane Korman in ihrem Video evoziert, das Spiel mit den Erinnerungen, mit den Schauplätzen und der Familiengeschichte bleibt ein tra­gisches: Auch wenn die Enkel des „Survivors“ T-Shirts mit dem Aufdruck „3rd genera­tion“ tragen und dadurch zum Ausdruck bringen, dass die Genera­tionenfolge nicht abgerissen ist, steht der Überlebende doch allein. In seiner etwas tollpatschigen 19 Stand 21. 2. 2014. 20 Medial meint hier sprach­liche oder bild­liche Motive, an die aus den Medien Text, Film oder Foto isoliert erinnert wird, wie beispielsweise der Schriftzug „Arbeit macht frei“, der ungleich seiner semantischen Bedeutung mit den Eingangstoren der Vernichtungslager in Beziehung gesetzt wird.

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Art isoliert er sich von den Enkeln, er tanzt in der eingeübten Choreografie aus der Reihe und gerät an den Rand. Erst in der direkten Konfronta­tion mit dem Symbol der Massenvernichtung in Form eines Krematoriumsofens wird er zum aktiven Part und erhebt die Hand zum Victoryzeichen. Doch auch ­dieses Bild ist gebrochen, denn offensicht­lich gehört auch ­dieses Siegessymbol nicht zu jenen Gesten, die er verwenden würde. In d ­ iesem Zusammenhang bekommt die Gedächtniskultur der Australier Bedeutung, denn in der austra­lischen Gesellschaft herrscht der Grundgedanke vor, dass die Geschichte nicht auf ihrem Boden stattgefunden habe. Die These der terra nullius negiert nicht nur die Beziehung der „indigenous people“ 21 zu ihrem Land, sondern auch deren Existenz selbst.22 Die jahrtausendealte Kultur der Aborigines wird auch deshalb nicht wahrgenommen, weil sie kaum Artefakte hinterlassen hat. Sie ist verdrängt und damit nicht auffindbar, nicht sichtbar. Die ältesten Bauwerke, die als historische Bauwerke gelten, stammen aus der Zeit der eng­lischen Koloniali­sierung und bestimmen das Geschichtsverständnis der Australier. Neben diese fehlende architektonische Historie tritt die Verdrängung der Besiedlung selbst: Laut Susan Best ist das Wissen um den Umgang mit den Aborigines während der Besiedlung innerhalb der heutigen austra­lischen Gesellschaft nur sehr begrenzt.23 Die europäischen Flüchtlinge kommen nach dem Zweiten Weltkrieg in ein Land, das sich heute als wenig geschichtsträchtig versteht und das fernab von Europa liegt. Dieses Land ermög­lichte vielen Europäern nach dem Zweiten Weltkrieg somit in doppelter Weise einen Neuanfang: Sie konnten ihre Geschichte hinter sich lassen und eine neue Geschichte formen. Dieser Umstand führt bis heute dazu, dass die Australier wenig Verständnis für Erinnerungstradi­tionen zeigen. Obwohl auch austra­lische Soldaten am Zweiten Weltkrieg beteiligt waren, hält sich die Stimmung, immer außerhalb des eigent­lichen Geschehens geblieben zu sein. Für die Erarbeitung des Videos von Jane Korman bedeutet dieser Hintergrund, dass die Stätten des Holocaust, die sie in „Dancing Auschwitz“ inszeniert, zu historischen Stätten werden. Die familiäre Anbindung an den Holocaust erfolgt nicht primär über diese Stätten oder Gegenstände, sondern über die Erzählungen des Großvaters, die sie nach eigener Aussage als besonders szenenhaft empfunden hat.24 Und doch bleibt offensicht­lich, dass die Szenen, die sie auf Film bannt, keine Erzählung ihres Vaters sind. Das Ausscheren aus dem Tanz, der Eindruck einer 21 Susan Best. „Landscape and Responsibility“. Trauma und Erinnerung, Trauma and Memory: Cross-­Cultural Perspectives. Hg. v. Franz Kaltenbeck u. Peter Weibel. Wien 2000. S. 67 – 80, S. 67. 22 Vgl. ebd. 23 Ebd. S. 69. 24 Steinberger 2010. S. 3.

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Verkleidung und ein Victory-­Zeichen, das fehl am Platz scheint, zeigen, dass Kohn der Symbolik, die seine Tochter in ihrem Video inszeniert, nicht folgen kann. Offen bleibt hier, ob er eine Symbolik entgegensetzen könnte. Auch für Kirstin Frieden zeigt sich deut­lich, dass die mediale Auseinandersetzung mit dem Holocaust durch den Tod der primären Zeugen nicht abbricht. Ebenso wie die vorliegende Analyse kommt sie zu dem Schluss, dass die Erzählungen über den Holocaust vor der Herausforderung stehen, eine Sprache zu finden, die es ermög­ licht, des Holocaust zu gedenken und gleichzeitig eine gewisse Unbefangenheit mit der Geschichte, die eben nicht mehr eine eigene ist, zu inszenieren.25 „Dancing Auschwitz“ veranschau­licht, wie meine Ausführungen gezeigt haben, eine Neucodierung oder Umcodierung der Stätten und Symbole der na­tional­ sozialistischen Judenverfolgung. Diese Veränderung ist nicht beabsichtigt, sondern sie ergibt sich aus der zeit­lichen Entfernung zum historischen Geschehen und aus einem etablierten Set an Motiven, die als Fragmente der Vergangenheit angesehen werden. Dabei rückt die Frage nach der Faktenlage in den Hintergrund. Vielmehr zwingt das Video zu einer individuellen, mora­lischen Beurteilung, die das Video über eine Gratwanderung am Rande des Tabubruchs erreicht.

25 Kirstin Frieden. „Nach den Familiengeschichten. Wie die Postmemory-­Genera­tion den Holocaust neu verhandelt“. Mediale Transforma­tion des Holocausts. Hg. v. Ursula Keitz u. Thomas Weber. Berlin 2013. S. 275 – 298, S. 282.

Claudia Nickel

Über Leben schreiben Briefe und Gedichte aus südfranzösischen Lagern I.

Einleitung: Lager in Südfrankreich

„[J]’ai senti de s’effacer / la macabre vision“, schreibt Manuel García Sesma in einem Gedicht innerhalb eines Briefes an die Französin Suzanne Valats aus dem Lager Gurs, in dem er als Flüchtling des Spanischen Bürgerkriegs interniert ist. Seine Erfahrungen im Lager beschreibt er als eine „makabre Vision“, die sich zunehmend aufzulösen beginnt. Der Grund dafür wird wenig ­später im Gedicht genannt. Es ist der Briefwechsel mit der jungen Französin, der ihm neuen Lebensmut schenkt und ihn kurzzeitig die Lagerwelt vergessen lässt. Es handelt sich beim Verfassen sowohl des Briefes als auch des Gedichtes um ein Schreiben vor dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse im Lager, einem Schreiben in situ. Diese Schreibsitua­tion bewirkt eine signifikante Rela­tion z­ wischen dem Produk­tionsort des Lagers und dem Text, die sich sowohl auf der inhalt­lichen Ebene als auch in der materiellen Beschaffenheit, der Struktur und der Form des Textes aufspüren lässt.1 Die spezi­fische Kommunika­tion des Briefeschreibens wird im Folgenden am Beispiel der Korrespondenz von Manuel García Sesma aus Internierungslagern in Südfrankreich, die ­zwischen Februar 1939 und Ende 1944 existierten, untersucht. Die Briefe gehen in ­diesem Fall über einen bloßen Informa­tionsaustausch zur Lebenssitua­tion ­hinaus und bieten vielmehr einen besonderen Raum der Kreativität und der Reflexion. Die südfranzö­sischen Lager wiesen bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine relativ homogene Struktur der Internierten auf, da die Mehrheit Bürgerkriegsflüchtlinge aus Spanien war. In einem Zeitraum von wenigen Tagen waren Ende Januar und Anfang Februar 1939 ca. 470.000 Spanier nach Frankreich geflüchtet. Überwältigt von der großen Anzahl der Flüchtlinge, die man als Bedrohung für die eigene Sicherheit empfand, errichtete die Regierung der III. Franzö­sischen Republik 1 Unentbehr­lich ist die Unterscheidung von Werken, die im Lager (in situ) geschrieben wurden, und von jenen, die außerhalb des Lagers (ex situ) verfasst wurden, weil dies für die Betroffenen zugleich ein Schreiben nach der Internierung ist, welches beispielsweise andere Schreibformen und Reflexionen ermög­licht. Vgl. dazu ausführ­lich Claudia Nickel. Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge in südfranzö­sischen Lagern. Räume – Texte – Perspektiven. Darmstadt 2012.

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Claudia Nickel

hastig Lager – die im zeitgenös­sischen Diskurs als camp de concentra­tion bezeichnet wurden 2 – in der Pyrenäenregion und an den Stränden des Mittelmeers, wo das Meer als vierte natür­liche Begrenzung eines mit Stacheldraht umzäunten Terrains diente. In diesen Lagern fehlte es wochen- und zum Teil monatelang an Unterkünften, sanitären Anlagen und ausreichender Versorgung. Angesichts dieser Situa­tion bauten die Flüchtlinge selbst notdürftige Unterschlüpfe aus Decken, Tannen­zweigen und anderen auffindbaren Materialien. Spanische Ärzte versorgten Kranke und Verletzte. Gleichzeitig bemühten sich Gewerkschaften, Lehrer- und studentische Verbände, den monotonen Alltag sinnvoll zu gestalten.3 Diese Vorbemerkungen ­seien erlaubt, um zu betonen, dass die Existenzbedingungen in diesen Lagern aufgrund der hygienischen Situa­tion, der mangelnden Versorgung, der Überwachung und drohender Strafen sehr schwierig waren, aber es im Unterschied zu den na­tionalsozialistischen Lagern keine systematische Tötungs- und Vernichtungspolitik gab. Die Rahmensitua­tion der südfranzö­sischen Lager bedingte zudem gewisse Freiräume und ermög­lichte z. B. durch die Internierten organisierte kulturelle und edukative Aktivitäten. Vor allem in der Anfangszeit der Existenz dieser Lager im Jahre 1939 oblag die Organisa­tion des Tagesablaufs in den Lagern Argelès-­sur-­Mer, Saint-­Cyprien oder Gurs, um nur einige zu nennen, in weiten Teilen den Internierten selbst. II. Briefe als besondere Textsorte innerhalb der Lagerliteratur

Betrachtet man die Zeugnisse und die literarischen Texte zu den südfranzö­sischen Lagern in ihrer Gesamtheit 4, so lässt sich feststellen, dass Briefe jene Textsorte

2 Auch in den Texten, die z. T. Jahre ­später nach den Ereignissen und im Wissen um die na­tio­ nalsozialistischen Konzentra­tions- und Vernichtungslager verfasst wurden, verwenden die Betroffenen spanischer Herkunft die Bezeichnung campo de concentración, in Frankreich spricht man inzwischen eher von camp d’internement. 3 Vgl. zu den südfranzö­sischen Lagern exemplarisch Barbara Vormeier. „Dokumenta­tion zur franzö­sischen Emigrantenpolitik (1933 – 1944) – Ein Beitrag“. In: Hannah Schramm. ­Menschen in Gurs. Erinnerungen an ein franzö­sisches Internierungslager (1940 – 1941). Worms 1977. S.  155 – 245; Les barbelés de l’exil. Études sur l’émigra­tion allemande et autrichienne (1938 – 1940). Hg. v. Gilbert Badia. Grenoble 1979; Christian Eggers. Unerwünschte Ausländer. Juden aus Deutschland und Mitteleuropa in franzö­sischen Internierungslagern 1940 – 1942. Berlin 2002. Ausschließ­lich die Internierung der spanischen Bürgerkriegsflüchtlinge behandeln Geneviève Dreyfus-­Armand u. Emile Temime. Les camps sur la plage, un exil espagnol. Paris 1995. 4 Siehe zur Literaturproduk­tion über die südfranzö­sischen Lager Gabriele Mittag. „Es gibt Verdammte nur in Gurs“. Literatur, Kultur und Alltag in einem südfranzö­sischen Internierungs­ lager 1940 – 1942. Tübingen 1996; Francie Cate-­Arries. Spanish Culture behind Barbed Wire.

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­ ilden, die am häufigsten im Lager und von der Mehrzahl der Internierten b geschrieben wurden. Die Post war der wichtigste Kommunika­tionskanal zur Welt außerhalb des Lagers. Untersuchungen zufolge verließen Mitte März 1939 täg­lich 20.000 Briefe die drei Mittelmeerlager Argelès-­sur-­Mer, Saint-­Cyprien und Le Barcarès; ebenso viele trafen dort ein.5 Nur ein Bruchteil dieser Schriftstücke ist erhalten und zugäng­lich; auch wenn davon auszugehen ist, dass sich im Privatbesitz oder Nachlässen noch weitere Korrespondenzen befinden. Briefe wurden in erster Linie an Freunde und Familienangehörige geschrieben, aber überliefert sind auch Briefe administrativer Art wie Gesuche um Freilassung oder Anträge auf Visa. Gabriele Mittag bemerkt über die Briefe aus und nach Gurs richtig, dass ihre Spezifik in der Unklarheit besteht, ob die Nachricht den jeweiligen Empfänger überhaupt erreichte 6 und somit eine Kommunika­tion überhaupt stattfinden konnte. Im Kontext der Internierung übernehmen Briefe verschiedene Funk­tionen: Ankommende Briefe liefern beispielsweise Informa­tionen über das Verbleiben von Familie und Freunden, über die Mög­lichkeit der Weitermigra­tion oder über die angespannte politische Lage in Europa. Briefe, die das Lager verlassen, ­können Informa­tionen über den Zustand im Lager – soweit das trotz Zensur mög­lich war – an Familie, Freunde oder auch an Hilfsorganisa­tionen und andere Institu­tionen übermitteln. Mit dem Schreiben von Briefen verknüpft sich für viele Internierte das Moment des Lebens, indem sie sich an vergangene glück­liche Zeiten erinnern oder sich hoffnungsvoll eine Zukunft ausmalen. Der erste Eintrag vom 14. April 1939 im Tagebuch Eulalio Ferrers 7 hebt die Bedeutung der Briefe hervor: „Nos hemos ido adaptando a la vida del campo de concentración, pero en las primeras ­semanas, tendidos al sol o acurrucados en la noche, sólo hemos pensado en escribir cartas. Toda clase de cartas. Cartas en busca de familia; cartas pidiendo auxilio a los comités del mundo; cartas

Memory and Representa­tion of the French Concentra­tion Camps, 1939 – 1945. Lewisburg 2004; Bernard Sicot. „Literatura española y campos franceses de internamiento. Corpus razonado (e inconcluso) III“. In: Cahiers de civilisa­tion espagnole contemporaine, Nr. 6, 2010, http:// ccec.revues.org/index3171.html (4. 6. 2014); Nickel 2012. 5 Eggers 2002. S. 213. 6 Mittag 1996. S. 47. 7 Eulalio Ferrer Rodríguez (1921 – 2009) veröffent­lichte sein Tagebuch, das er während seiner Internierung in den Lagern Argelès-­sur-­Mer, Le Barcarès und Saint-­Cyprien führte, erst 1987 in Mexiko unter dem Titel Entre alambradas. Diario de los campos de concentración. Dem Prolog zufolge wurde das Tagebuch für die Publika­tion bearbeitet. Eine umfangreichere Ausgabe erschien 1988 in Barcelona, aus der im Folgenden zitiert wird.

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siguiendo la pista de algún pariente rico en América… Cartas, como si jugáramos con ellas el nuevo destino. Recibir respuesta ha sido una señal, sobre todo, de que existimos, de que nuestro nombre y apellidos no han sido cancelados en el registro de la vida.“ 8

Das unerläss­liche Briefeschreiben erscheint hier als ein Kartenspiel – ein Wortspiel mit dem spanischen Wort „carta“, das sowohl „Brief“ als auch „Spielkarte“ b­ edeutet –, dessen Einsatz das zukünftige Leben ist, welches wie ein Spiel von Zufällen geprägt ist. Hervorgehoben wird zudem die Bedeutung von Antworten, die bezeugen, dass die Namen und Identitäten der im Lager Internierten nicht aus dem „Register des Lebens“ gelöscht wurden. An anderer Stelle bezeichnet der Autor die Briefe als „elemento vital“, als ein lebenswichtiges Element. Dabei wird ihnen ein beinahe höherer Stellenwert als Lebensmitteln während der Internierung im Lager zugesprochen, weil durch sie der Bezug zur Außenwelt bestehen bleibt: „Pero la correspondencia es un elemento vital de nuestro presente destino. Saber de la familia y de los amigos, tener simplemente noticias, significa tanto o más que la comida. Es el lazo que nos une con el mundo, contribuyendo a acentuar o disminuir nuestras incertidumbres. Por eso, la barraca del correo es la más visitada del campo.“ 9

Die Postbaracke, ein begehbarer Ort innerhalb des Lagers, wird somit zur Scharnierstelle ­zwischen der Welt des Lagers und der äußeren Welt, denn in ihr werden die (über)lebenswichtigen Briefe, die das Lager verlassen, abgegeben und die ankommenden verteilt. Ähn­lich wie Eulalio Ferrer betont auch Antoine Miro, interniert in Le Vernet, in seinen auf Franzö­sisch, der Sprache seines Exils, verfassten Memoiren die Bedeutung der Briefe:

8 Eulalio Ferrer. Entre alambradas. Barcelona 1988. S. 24: „Wir gewöhnten uns allmäh­lich an das Leben im Konzentra­tionslager, aber in den ersten Wochen, in der Sonne liegend oder nachts vor Kälte zusammengekauert, haben wir nur daran gedacht, Briefe zu schreiben. Alle mög­lichen Arten von Briefen. Briefe auf der Suche nach Familienangehörigen; Hilfs­gesuche an alle möglichen Organisa­tionen in der Welt; Briefe, die die Spur irgendeines reichen Verwandten in Amerika verfolgten… Briefe, als ob wir mit ihnen um unser neues Schicksal spielten. Eine Antwort zu erhalten ist vor allem ein ­­Zeichen gewesen, dass wir noch existieren, dass unsere Vor- und Familiennamen nicht aus dem Register des Lebens gelöscht sind.“ (Übers. d. Verfasserin). 9 Ebd. S. 97, Eintrag vom 5. Juli 1939: „Aber die Post ist das Lebenselement für unser aktuelles Schicksal. Etwas von der Familie oder den Freunden zu wissen, einfach etwas zu erfahren, bedeutet so viel oder sogar mehr als zu essen. Sie ist das Band, das uns mit der Welt verbindet, das dazu beiträgt, unsere Unsicherheit zu vergrößern oder zu verringern. Deshalb ist die Postbaracke die am häufigsten aufgesuchte des Lagers.“ (Übers. d. Verfasserin).

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„Des scènes émouvantes se produisaient lors de chaque distribu­tion du courrier. Les lettres étaient notre dernier bien, le dernier fil qui nous reliait encore à la vie. On voyait des hommes qui avaient défié mille fois la mort, qui avaient vu mourir centaines de camarades, éclater en sanglots dès qu’ils recevaient une lettre.“ 10

Die Briefe gelten als letztes Gut der Internierten und auch als ihre letzte Verbindung zum Leben. Der Empfang eines Briefes ruft bei einigen stärkere Emo­tionen wach als die Konfronta­tion mit dem Tod während des Krieges. Die Erleichterung ist unend­lich, weil über den erhaltenen Brief die Beziehung zur Welt außerhalb des Lagers und damit zum Leben weiterhin existiert. Solange diese Verbindungen bestehen und funk­tionieren, fühlen sich die Internierten nicht vom Leben und der Welt ausgeschlossen. Aufgrund dieser Bedeutung für das Leben und Überleben ist es verständ­lich, ­welchen großen Raum das Schreiben von Briefen im Lageralltag eingenommen haben muss. Über die brief­liche Kommunika­tion entsteht ein Wechselspiel ­zwischen einem Schreiben im Lager und einem Schreiben außerhalb des Lagers. Die einzelnen Momente d ­ ieses kommunikativen Aktes (Schreiben, Absenden, Empfangen, Lesen und die eventuelle Beantwortung) finden phasenversetzt statt, vollziehen sich zeit­lich und räum­lich voneinander getrennt, was zu einer besonderen Raum-­Zeit-­Deixis führt. Das Verfassen sowie die Lektüre von Briefen sind in der Regel solitäre Handlungen, die unabdingbare Voraussetzung und Bestandteil einer gemeinsamen Tätigkeit sind, da ansonsten keine funk­tionierende Briefkommunika­tion entstehen könnte.11 Die Kommunika­tionspartner, die sie umgebenden unterschied­lichen Kontexte werden aber mittels der Briefe miteinander konfrontiert und verbunden. Der Austausch der Briefe lässt einen Raum entstehen, in dem die Briefpartner aufeinandertreffen, miteinander ins Gespräch kommen und aufeinander reagieren können. Die raum-­ zeit­liche Trennung wird somit aufgehoben und überwunden. Durch den Austausch und das Zusammenspiel von Schreiben und Antworten gestaltet sich gerade im Kontext der Lagerliteratur die besondere Wirkmacht der Briefe, wie das folgende Beispiel einer Briefkorrespondenz aufzeigt.

10 Antoine Miro. L’exilé. Souvenirs d’un républicain espagnol. Paris 1976. S. 147: „Bei jeder Verteilung der Post gab es bewegende Momente. Die Briefe waren unser letztes Gut, der letzte Faden, welcher uns noch mit dem Leben verband. Man sah Männer, die tausendfach dem Tod getrotzt hatten, die Hunderte von Kameraden sterben gesehen hatten, in Tränen ausbrechen, sobald sie einen Brief erhielten.“ (Übers. d. Verfasserin). 11 Vgl. Reinhard M. G. Nickisch. Brief. Stuttgart 1991. S. 4 – 13.

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III. Die Briefe und Gedichte von Manuel García Sesma

Der in Madrid tätige Journalist und Lehrer Manuel García Sesma (1902 – 1991) trat während des Bürgerkriegs in die republikanische Armee ein und floh schließ­lich am 9. Februar 1939 mit seiner Einheit nach Frankreich. Nach der ersten Internierung im Lager Saint-­Cyprien musste er in den Folgejahren noch die Lager Gurs und Argelès-­sur-­Mer sowie das na­tionalsozialistische Kriegsgefangenenlager ­Hennebont im Norden Frankreichs kennenlernen. Zudem gehörte er verschiedenen Arbeits­ trupps für ausländische Arbeiter an. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs arbeitete er zunächst als Lehrer in Frankreich, ging dann aber nach Mexiko und kehrte erst 1973 in seinen Heimatort Fitero in Navarra zurück. Aufgrund seiner bisherigen Tätigkeiten ist García Sesma als ein Autor mit Schreib­ erfahrung zu betrachten, was sein Schreiben während der Internierung und auch im Anschluss beeinflusst. García Sesma äußert in einem retrospektiv verfassten autobiografischen Text 12, dass er im Lager Saint-­Cyprien im Mai 1939 zu einem „Schriftsteller auf Franzö­sisch“ 13 wurde, als der Briefwechsel mit der 19-jährigen Französin Suzanne Valats, zu ­diesem Zeitpunkt Studentin der École Normale d’Albi, begann. Dieser dauerte bis März 1942 an; mehr als einhundert Briefe sind aus dieser Zeit erhalten. Diese Briefe waren für García Sesma kein bloßer „Zeitvertreib“, sondern vor allem ein „Heilmittel gegen den Kummer in der härtesten Zeit [s]eines Exils“.14 Eine genaue Aussage darüber, wie dieser Briefwechsel entstanden ist, kann nicht getroffen werden. García Sesma erhielt wohl durch einen Kameraden, der ebenfalls im Briefwechsel mit Studenten der École Normale stand, Kontakt zu Suzanne Valats. In anderen Texten aus den südfranzö­sischen Lagern gibt es Hinweise darauf, dass Hilfsorganisa­tionen und studentische Vereinigungen darum bemüht waren, Kontakte ­zwischen den Internierten und der lokalen Bevölkerung herzustellen, um auf diese Weise individuelle Unterstützung und die Beschäftigung der I­ nternierten in einer trostlosen Situa­tion zu fördern. Auch der bereits erläuterte besondere Stellenwert von Post in der Welt des Lagers mag ein Grund gewesen sein, dass die Internierten ­solche Briefkorrespondenzen dankbar aufnahmen.

12 Dieser Text findet sich auf der Webseite des Projekts e-­xiliad@s, welches seit 2009 zum Ziel hat, das republikanische Exil zu dokumentieren und Quellen bereitzustellen. Vgl. den Eintrag zu Manuel García Sesma http://www.exiliadosrepublicanos.info/fr/content/manuel-­ garc%C3%AD-sesma vom 23. 6. 2015. Die biografischen Informa­tionen und folgenden Zitate sind dort entnommen. 13 „[…] escritor en francés“. 14 „[…] sus cartas me proporcionaron una distracción y, sobre todo, un lenitivo a las amarguras de los tiempos más duros de mi exilio.“

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Manuel García Sesma zweifelte zunächst, ob er Suzanne Valats schreiben sollte. Er verfügte zwar über gute Lateinkenntnisse, aber sein Franzö­sisch war rudimentär. Dennoch begann er, ihr Briefe auf Franzö­sisch zu schreiben, und verfasste für Suzanne Valats ­zwischen Mai 1939 und September 1940 während seiner Internierung in Saint-­Cyprien, Gurs und Argelès den Gedichtzyklus À l’ombre d’un ange (Im Schatten eines Engels), der aus 26 Gedichten besteht, aber bis heute nur in Auszügen veröffent­licht ist.15 Diese Gedichte schickte García Sesma in seinen Briefen der jungen Französin. Suzanne Valats nahm an den Texten grammatika­lische, syntaktische und stilistische Korrekturen vor. Sie schickte die Dichtungen in ihren Briefen zurück, weshalb alle Gedichte erhalten sind.16 Die Mehrheit der Gedichte nimmt keinen direkten Bezug auf Situa­tionen in den Lagern, d. h. konkrete Orte oder Ereignisse werden nicht benannt, allerdings sind immer Produk­tionsort und -zeit angeben. Der Entstehungskontext im Lager liefert die Folie für das Verständnis dieser Dichtungen. Die Stimmung ist geprägt von Einsamkeit, Melancholie, Verzweiflung sowie dem Schmerz des Verlusts der Heimat. Gleichzeitig wird wiederholt die Dankbarkeit gegenüber der B ­ rieffreundin für das Leben und die Hoffnung, die sie schenkt, ausgedrückt, wie z. B. im Gedicht „Rêverie“ („Träumerei“), das auf den 25. Mai 1939 datiert ist und welches García Sesma der Französin schickt, nachdem er ihr Foto erhalten hatte. Er ist wie verzaubert von ihrer Erscheinung, die er als „zärt­liche Jungfrau“ 17 beschreibt, die ihn für wenige Augenblicke „le drame noir et trop tragique / de ces trois ans de vie horrible…“ 18 vergessen lässt, womit eindeutig auf die drei Jahre des Spanischen Bürgerkriegs verwiesen wird. Die Texte sind sehr persön­lich gestaltet, da sie sich vorerst nur an eine L ­ eserin richteten, die auch immer wieder direkt angesprochen wird. Der spezifische Produk­tions­kontext, d. h. das Schreiben von Gedichten in situ, während der Internierung, die in Briefen an eine Person geschickt werden, und deren direkte Ansprache erlauben somit eine autobiografische Lesart dieser Gedichte. Die lyrische Sprecherinstanz kann als Stimme des Autors betrachtet werden. Gleichzeitig sind diese Briefe und Gedichte mehr als biografische Dokumente über Manuel García Sesma, seine Gedanken, Wahrnehmungen, Gefühle und die Motiva­tion 15 Einige Gedichte finden sich in den Arbeiten von Jesús Bozal Alfaro. „Alas de Ángel: ‚À ­l’ombre d’un ange‘ (A la sombra de un ángel). Poemario inédito del escritor navarro, Manuel García Sesma (1902 – 1991)“. Río Arga. Revista de Poesía 106 (2003a): S. 13 – 23; Jesús Bozal Alfaro. „Alas de Ángel (y II)“. Río Arga. Revista de Poesía 107 (2003b): S. 7 – 15. 16 Vgl. Bozal Alfaro 2003a: S. 15 f. 17 „tendre vierge“, zitiert nach ebd. S. 19, Fußnote 18. 18 „das schwarze und sehr tra­gische Drama / dieser drei Jahre eines schreck­lichen Lebens …“ (Übers. d. Verfasserin). Zitiert nach ebd.

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seines Schreibens. Der Raum der Briefe eröffnet einen literarischen Raum mit seinen unend­lichen Mög­lich­keiten. Die Gedichte liefern Entwürfe der Lagerwelt, des Lebens und Überlebens, einer menschlichen Beziehung und ihres besonderen Werts für das eigene (Über-)Leben. Sie verdeut­lichen die Schaffenskraft eines Einzelnen, aber gleichzeitig all jener, für die der Einzelfall exemplarisch steht. Eindrück­lich verdeut­licht das Gedicht „Solitude“ („Einsamkeit“), verfasst in Gurs am 5. November 1939, das lebenswichtige wie auch ästhetische Potenzial ­dieses Schreibens. Solitude […] Solitude d’effroi du glacial Océan et calvaire sanglant d’exilé… ! Solitude d’effroi du Cœur, de ma Conscience et de ma triste Existence de damné… ! Solitude de tombe et souffrance d’Enfer… ! Enfer… ! Fer… ! Ombre qui suit ma Vie : Désillusion ! Ombre de ma Conscience : Scepticisme ! Ombre qui prend mon Cœur : Incompréhension ! Solitude d’abîme, de désert et de cime ! Solitude infinie… ! ……………………… Et au loin…, quelques larmes d’un cœur romantique albigeois…19

Das Gefühl der Einsamkeit, der „Solitude“, ist allgegenwärtig, ergreift „Cœur“ (Herz) und „Conscience“ (Bewusstsein). Die Schreibung mit Majuskeln hebt diese

19 Das Gedicht wird hier auszugsweise nach der Transkrip­tion von Jesús Bozal Alfaro zitiert, die dieser mir dankenswerterweise zur Verfügung stellte. Es handelt sich nur um die letzten drei Strophen des sechsstrophigen Gedichts. Vgl. auch den Auszug in Bozal Alfaro 2003b. S. 7 f., Fußnote 30.

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Begriffe besonders hervor. Die Einsamkeit bezieht sich sowohl auf die emo­tionale und geistig-­intellektuelle Ebene, sie bedroht somit die Existenz des Exilanten, des Verdammten. Sein Leben, „ma Vie“ ebenfalls mit Großbuchstabe, wird durch einen Schatten begleitet, wobei die dreifache Wiederholung des ­Wortes „ombre“ die negativen Aspekte des Lebens eindring­lich hervorhebt. Enttäuschung, Unverständnis und Skepsis kennzeichnen die aktuelle Lebenssitua­tion. Die Einsamkeit ist unend­lich, es ist jene Einsamkeit, die man in einem tiefen Abgrund, der Wüste oder auf einem Berggipfel verspürt, wie ausgeführt wird. Die im Gedicht gehäufte Großschreibung unterstreicht die Bedeutung der Aussagen für das Leben und Überleben im Lager. Die Bezeichnungen „exilé“ und „damné“ bilden je einen Vers ebenso wie der Ort des großgeschriebenen „Enfer“, das im folgenden Vers noch als „Fer“ wie ein Echo widerhallt. Die Kürze dieser vier Verse ist auffällig und liest sich wie eine Zusammenfassung der gegenwärtigen Lage der spanischen Internierten: Als E ­ xilant fühlt sich der Autor wie ein Ausgestoßener und Verdammter, der sich nun in einer Situa­tion befindet, die der Hölle gleicht und aus der es kein Entrinnen gibt, denn sie ist von Eisen umgeben. Diese Lesart gewinnt unter Berücksichtigung des Produk­tionskontextes, dem Lager Gurs, an Deut­lichkeit, denn die Höllenmetapher wird häufig zur Beschreibung eines Lagers 20 ­verwendet. Hinzu tritt hier das Wort „Fer“, das Bestandteil des Wortes „Enfer“ ist und ­dieses aber durch seine Posi­tion im Gedicht abschließt, so wie der Stacheldraht das Lager umschließt. Die letzte Strophe beschreibt die Tränen eines „romantischen Herzens aus Albi“ – ein direkter Verweis auf seine einzige Leserin –, das weit entfernt ist und somit außerhalb der Lagerwelt. Diese thematisierte räum­liche Trennung spiegelt sich auch in der Struktur des Gedichts, da „Enfer“ und „au loin“ in zwei unterschied­lichen Strophen auftreten. Diese Trennung ­zwischen Lager und der Welt außerhalb des Lagers wird zudem typografisch durch die Einfügung einer gepunkteten Linie vor der letzten Strophe, in der erst der Verweis auf Suzanne Valats steht, hervorgehoben. Damit sind diese beiden Räume – Lager und Außenwelt – auch im Textraum deut­ lich sichtbar voneinander abgesetzt und getrennt. Das Beispiel „Solitude“ verdeut­ licht hier, dass Schrift ein Hybrid ­zwischen Sprache und Bild ist, das ein zusätz­liches Potenzial birgt. Schrift macht das Gesagte sichtbar, reduziert sich aber nicht auf die Buchstabenfolgen. Ebenso von Bedeutung sind die Leerräume ­zwischen den Wörtern, Einrückungen, diakritische Markierungen, Überschriften, Kapitelanordnungen und Ähn­liches. Es werden also Aspekte sichtbar gemacht, die keine laut­ liche Entsprechung haben. „Das Schriftbild verräum­licht Sprache, es macht aus der

20 Vgl. dazu exemplarisch Thomas Taterka. Dante Deutsch. Studien zur Lagerliteratur. B ­ erlin 1999.

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Sprache eine Anordnung von Elementen.“ 21 Innerhalb d ­ ieses konfigurierten Raums könnten die Sätze und Wörter je nach Inten­tion auch andere Plätze einnehmen. Ihre Posi­tion ist bedeutungstragend und spiegelt die gedank­liche Ordnung des Inhalts wider. Mittels dieser Visualisierung von Sprache wird sie „als eine Form vor Augen gestellt und beobachtbar gemacht“ 22 und zeigt in dem betrachteten Beispiel eindrück­lich die Trennung der Welt des Internierungslagers und der Außenwelt auf. Aufgrund seiner phonetischen Ähn­lichkeit lässt sich „Fer“ auch mit dem franzö­ sischen Verb „faire“ (machen, schaffen) assoziieren. Das Eingeschlossensein im Lager und die Präsenz von Stacheldraht können nicht die Schaffenskraft als eine der wesent­lichen menschlichen Eigenschaften zerstören. Aus sich selbst heraus ist es mög­lich, etwas zu erschaffen und zu kreieren. Diese Gedichte entstehen aufgrund und aus der Internierung. Die Produk­tionsbedingungen sind bei der Lektüre mitzudenken, denn sie fließen in den Text ein, der d ­ ieses spezifische Wissen des Lagers in sich trägt und zutage fördert. In den Dichtungen García Sesmas zeigt sich also ein explorativer und innovativer Umgang mit einer Fremdsprache, deren Kenntnis ihn dazu befähigte, in Kommunika­tion über die Lagergrenzen hinaus mit einer Französin zu treten. Das Schreiben in einer Fremdsprache ist hier kein „rein ästhetisches Verfahren[,] wie es auch in Texten außerhalb der Exilliteratur auftritt“ 23, sondern deutet auf einen Problemzusammenhang, der über den Text hinausgeht. Die Gründe für die Sprachwahl sind vielfältig; Kremnitz spricht von einem „Bündel von Motiva­tionselementen […], bei denen sich subjektive, vom Individuum ausgehende, mit gesellschaft­lichen Gegebenheiten verbinden“.24 Im Fall von Manuel García Sesma ist es vorstellbar, dass zum einen die Chance ausschlaggebend war, mit einer Französin in Kontakt zu treten und damit Kontakte in das mutmaß­liche Exilland aufzubauen. Suzanne Valats wurde aber nicht nur zur Adressatin seiner Briefe, sondern zum Publikum seiner literarischen ‚Experimente‘ in der Fremdsprache, deren ästhetisches Potenzial García Sesma auslotete. Zum anderen wird Franzö­sisch somit zur Literatursprache und blieb es auch einige Jahre lang. Es kennzeichnet den Bruch mit dem bisherigen 21 Sybille Krämer. „‚Opera­tionsraum Schrift‘: Über den Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift“. Schrift. Kulturtechnik z­ wischen Auge, Hand und Maschine. Hg. v. Gernot Grube, Werner Kogge u. ders. München 2005. S. 23 – 57, S. 34, Hervorhebung im Original. 22 Ebd., Hervorhebung im Original. 23 Robert Leucht. Experiment und Erinnerung. Der Schriftsteller Walter Abish. Wien, Köln, Weimar 2006. S. 17. 24 Georg Kremnitz. „Mehrsprachiges Schreiben: Versuch einer vorläufigen Bilanz“. Literari­ sche Mehrsprachigkeit/Multilinguisme littéraire. Zur Sprachwahl bei mehrsprachigen Autoren. Soziale, psychische und sprach­liche Aspekte. Hg. v. Robert Tanzmeister u. dems. Wien 1995. S. 198 – 202, S. 198.

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Leben und markiert den Beginn des Exils, der einhergeht mit dem Verlust der Heimat und der Muttersprache.25 In seinen Überlegungen zu „literarischen Experimenten“ weist Christoph Zeller 26 darauf hin, dass der Begriff des Experiments entsprechend seiner lateinischen Herkunft bis in die Renaissance hinein meist „gleichbedeutend mit ‚Erfahrung‘“ 27 gebraucht wurde. Diese enge Verbindung von Experiment und Erfahrung besteht in den romanischen Sprachen weiterhin, z. B. franz. expérience, und eröffnet gerade im Kontext der Lagerliteraturen eine weitere Bedeutungskomponente. Die literarischen Formen, deren ästhetisches Potenzial experimentell genutzt wird, sind somit Ausdruck und Speicher individueller Lagererfahrungen, die nun für ein Publikum sichtbar werden können. IV. Ausblick: Überleben – Briefe

Der besondere Stellenwert der Gedichte und der Briefwechsel innerhalb der Lagerwelt zeigt zusammenfassend das folgende Gedicht García Sesmas: Vision (Gurs, 26-XI-1939) Aujourd’hui s’est pendu un camarade. Il n’est pas le premier… ! Son corps tombait du haut d’une baraque comme un spectre d’enfer. Le courrier du matin vient d’arriver. Des lignes de Suzon. Et ensuite j’ai senti s’effacer la macabre vision.28

25 Vgl. zu Mehrsprachigkeit und politischem Exil Georg Kremnitz. Wie Autoren ihre Sprache wählen. Aus der Sicht der Soziologie der Kommunika­tion. Wien 2004. S. 189 – 202. 26 Vgl. Christoph Zeller. „Literarische Experimente. Theorie und Geschichte – eine Ein­ leitung“. Literarische Experimente: Medien, Kunst, Texte seit 1950. Hg. v. dems. Heidelberg 2012. S. 11 – 54, S. 20. 27 Gerhard Frey. „Experiment“. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2: D–F. Hg. v. Joachim Ritter. Darmstadt 1972. Sp. 868 – 870, Sp. 868. 28 Zitiert nach Bozal Alfaro 2003b. S. 9, Fußnote 35.

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Zunächst wird der Freitod eines Kameraden beschrieben, der sich in einer Baracke erhängt hat. Der Tod scheint schon fast Normalität im Lager geworden zu sein,29 denn im zweiten Vers heißt es schlicht „Er ist nicht der Erste…!“ Die Auslassungspunkte deuten an, dass es wohl auch weiterhin Freitode geben wird, aber das Ausrufungszeichen verweist auf die Besonderheit der Situa­tion, wenn ein Kamerad verstirbt. Es muss davon berichtet, es darf nicht als normal betrachtet werden. Wie bereits in dem Gedicht „Solitude“ ist auch hier das Lager durch die Höllen­ metapher evoziert. Der Hölle wird diesmal nicht der Stacheldraht zugeordnet, ­sondern eine Baracke, die aber als ebenso prototypisch für das Lager angesehen werden kann. Das Wort „enfer“ steht am Ende der ersten Strophe. Die zweite Strophe beschreibt die Bedeutung der Briefe von Suzanne, die hier vertrauensvoll Suzon genannt wird, für die Sprechinstanz bzw. den Autor. Aufgrund der Korrespondenz und der Lektüre der Briefe vermag er für eine Weile der „makabren Vision“ zu entfliehen, d. h. der Lagerwelt zu entkommen. Mög­licher­weise sind es die Briefe, die in den oben angeführten Worten Eulalio Ferrers und Antoine Miros die letzte Verbindung zum Leben darstellen, die den Sprecher vor dem Tod bewahren. Die Realität des Lagers wird den Momenten des individuellen Glücks, ausgelöst durch die Briefe, in zwei Strophen gegenübergestellt, die wiederum eine Trennung dieser beiden Welten andeuten. Das Verfassen und die Lektüre von Briefen bilden somit eine Rückzugsmög­ lichkeit aus der Welt des Lagers, die mit Schrecken, Tod, Einsamkeit, Verzweiflung assoziiert ist. Dieser steht die Welt der Briefe gegenüber, die einen materiell begrenzten Raum bildet, in dem aber alles mög­lich ist. Es ist ein Raum erfüllt von Freundschaft, Liebe, Gemeinsamkeit, Zärt­lichkeit, Trost und Hoffnung auf eine glück­liche Zukunft. Diese Momente sind für García Sesma äußerst wertvoll, kraftund lebensspendend. Der Wunsch, diese Momente immer wieder zu erleben, muss ihn animiert haben, weiterzuschreiben, denn dann war mit einer Antwort zu rechnen, deren Lektüre wieder Hoffnung schenken würde. Die angeführten Beispiele von Eulalio Ferrer und Antoine Miro unterstreichen die Signifikanz von Briefen im Lageralltag. Der regelmäßige Briefwechsel und der Austausch über die Gedichte, die Korrekturen eingeschlossen, verweisen auf ein dialo­gisches Schreiben, das für beide einen intimen Raum des Austausches über Poesie, ihre Gedanken, Ängste und Gefühle bietet. Zusätz­lich bedeutet es für García Sesma Unterstützung und (Über-)Leben. Suzanne Valats ist für ihn ein „Engel“, in dessen Schatten er sich geborgen und sicher fühlt, daher vermut­lich auch die Wahl des Titels für den Gedichtzyklus À l’ombre d’un ange. Pragmatisch gesehen konnte García Sesma mit der Hilfe von

29 Vgl. ähn­lich ebd. S. 8.

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Suzanne Valats kontinuier­lich sein Franzö­sisch verbessern. Er verfasste zahlreiche weitere Texte auf Franzö­sisch und nach eigener Aussage erhielt er dank einer seiner franzö­sischen Erzählungen nach dem Zweiten Weltkrieg eine Anstellung als Lehrer.30 Die Korrespondenz bestand über fast drei Jahre und endete im März 1942, als Suzanne Valats ihr Studium abschloss und heiratete. Die Begegnung mit ihr inspirierte García Sesma immer wieder, wie er selbst sagt: „Luego, en todos los sitios en los que estuve, escribí sobre ellos y sus gentes relatos y versos. Conservo 162 escritos: unos publicados y otros inéditos […].“ 31 Briefe aus Lagern wirken über ihre eigent­liche Kommunika­tionsfunk­tion ­hinaus, wie die verschiedenen Beispiele gezeigt haben. Auch in den letzten Jahren sind Briefe im Zusammenhang mit der Geschichte und der medialen Repräsentation der Lager als Motiv mehrfach verarbeitet worden. So nimmt 2009 der Franzose David Yon die ab März 1941 bestehende Briefkorrespondenz ­zwischen der jüdisch-­franzö­sischen Philosophin Simone Weil und Antonio Atarès, als spanischer Bürger­kriegsflüchtling in den Lagern Le Vernet und Djelfa interniert, zum Anlass für seinen Dokumentarfilm Les oiseaux d’Arabie über den Ort Djelfa im heutigen Algerien, in dem immer wieder Briefausschnitte verlesen werden. Postkarten aus südfranzö­sischen Lagern nutzt Jean-­François Imbert bereits 2003 in seinem Dokumentarfilm No pasarán, Album souvenir. Die Entstehung der Lager wird hier anhand einer Postkartenserie rekonstruiert, die Motive der Flucht und Lager zeigt. Giselde Matamala-­Verschelde findet die Briefe ihrer Eltern aus Argelès-­sur-­Mer und schreibt auf deren Grundlage den Roman Cette lettre oubliée (2003). Die Materialität und der Inhalt der Briefe werden bei all diesen künstlerischen Verarbeitungen inszeniert, um die historische und die gegenwärtige Situa­tion miteinander zu verknüpfen. Es wirkt, als ob die Briefe als Kommentare erneut verschickt werden – an uns heutige Leser und Leserinnen.

30 Vgl. http://www.exiliadosrepublicanos.info/fr/content/manuel-­garc%C3%AD-sesma vom 23. 6. 2015. 31 Ebd. „Später schrieb ich an allen Orten, wo ich war, über sie und ihre Familie Erzählungen und Verse. Ich bewahre 162 Schriftstücke auf: einige publiziert und andere unveröffent­ licht […].“ (Übers. d. Verfasserin).

Albrecht Buschmann

Ausgeschlossen schreiben Traumatisches Exil und Neoavantgarde in Max Aubs Juego de cartas (1964) Unter den spanischsprachigen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts ist Max Aub (1903 – 1972) sicher­lich derjenige, der die traumatischen Erfahrungen von Bürgerkrieg, Lagerhaft, Verfolgung als Jude durch die Na­tionalsozialisten sowie schließ­lich das Leben im langjährigen Exil kreativer und vielfältiger literarisch bearbeitet hat als andere Autoren seiner Genera­tion. Dass er diese existenziellen Lebenserfahrungen nicht nur mimetisch-­realistisch dokumentierte – etwa in seinen Romanen über den Spanischen Bürgerkrieg, seinen Erzählungen über das mexikanische Exil oder in seinem frühen Theaterstück über den Weg in den Holocaust De algún tiempo a esta parte (geschrieben 1939 – 1942, publiziert 1949) –, sondern auch in avantgardistischer Tradi­tion zu gestalten wusste, zeigt sein originelles Text-­Kartenspiel Juego de cartas (1964): Es handelt sich um ein Set von 108 Spielkarten, die auf der einen Seite Kartensymbole zeigen (Pik, Ass, König, Dame etc.), auf der anderen kurze Briefe ­zwischen mehreren Dutzend Personen, in der Mehrzahl Frauen. All diese Kurztexte kreisen um die Frage, was für ein Mensch ein Verstorbener namens Máximo ­Ballesteros gewesen sei („¿Quién fue Máximo Ballesteros?“), was die Hinter­gründe seines Todes waren, w ­ elche Geheimnisse er mit ins Grab nahm. Eine Spielan­leitung auf der Schachtel fordert dazu auf, zunächst die Karten reihum unter den Mit­spielern zu verteilen und sie anschließend vorzulesen. „Es juego de entretenimiento; las apuestas no son de rigor“: Man könne vor allem zum Vergnügen spielen, ein Spiel­ einsatz sei nicht zwingend; man könne mit vier Spielern spielen oder auch alleine, heißt es in der Spielanleitung, die Regeln zwar vorschlägt, aber nicht verbind­lich vorgibt. Halb Kartenspiel, halb neoavantgardistische Textcollage, ist Juego de cartas tatsäch­lich ein artefrakt; inwieweit es ein traumatisches Erfahrungswissen, inwieweit es Aubs existenzielle Ausschlusserfahrungen verarbeitet, ist in der Forschung bisher nicht bedacht worden und wäre nun zu zeigen.1 1 Seit seinem Erscheinen 1964 war Juego de cartas lange ein unbekannter und für die Forschung nur eingeschränkt zugäng­licher Text: Er erschien in einer kleinen Auflage (300 Expl.), von der heute nur noch wenige Exemplare existieren, bei Alejandro Finisterre, einem mexikanischen Verlag für Spielkarten, weshalb wegen urheberrecht­licher Probleme erst 2010 eine Neuauflage mög­lich wurde (Max Aub. Juego de cartas. Granada 2010). – Alle ­Übersetzungen stammen vom Autor, weitere übersetzte Textbeispiele aus Juego finden sich in der Max Aub

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Es mag erstaunen, dass Aub hier als experimenteller Autor vorgestellt werden muss, schließ­lich kennt das deutschsprachige Publikum ihn vor allem durch seine Werke über den Spanischen Bürgerkrieg (Das ma­gische Labyrinth, 6 Bde., Frankfurt a. M. 1999 – 2003). Hingegen sind seine literarischen Anfänge als Avantgardist, sein mehrfaches Exil sowie seine beharr­lichen Versuche, neoavantgardistische Ästhetik mit dokumentarischem Schreiben zu verschränken, ebenso wenig bekannt wie sein Lebensweg ­zwischen der spanischen, franzö­sischen und deutschen Kultur; von ­seinen experimentellen Texten ist allein Jusep Torres Campalans übersetzt (Frankfurt a. M. 1997), jene perfekt dokumentierte und reich illustrierte fiktive Biografie des fingierten katalanischen Malers und Picasso-­Freundes Campalans, der dem staunenden Leser als Erfinder des Kubismus vorgestellt wird. Immerhin liegen seit Aubs 100. Geburtstag auch auf Deutsch einige biografische Einführungen sowie Übersichten über sein Werk vor.2 Juego de cartas nun ist mindestens zweierlei: ein Spiel und ein Text, je nachdem, ­welche Seite der 108 Spielkarten man bevorzugt betrachtet und benutzt. Doch ist es noch etwas Drittes, ein Textspiel oder Spieltext, und zwar ab dem Augenblick, in dem man die Grenze ­zwischen Vorder- und Rückseite der Spielkarten aus­blendet zugunsten einer integrierenden Wahrnehmung von Text und Bild, zugunsten eines mög­lichen dritten Weges spielerischer Lektüren. Und im Mittelpunkt ­dieses Textspiels steht die Frage nach der Identität eines Abwesenden, eines Toten. Juego de cartas ist ein Text, der den Leser zum Mit-­Spieler einer Identitätssuche macht.

gewidmeten Ausgabe von die horen 210 (2003): S. 45 – 48. Seitenzahlen können für die Zitate aus Juego de cartas nicht angegeben werden, da die Spielkarten nicht nummeriert sind. Die folgende Argumenta­tion entwickelt die Analyse weiter, die im Kapitel IV. „Textspiel, Spieltext und das Schreiben vom Verschwinden“ (in: Albrecht Buschmann. Max Aub und die spanische Literatur z­ wischen Avantgarde und Exil. Berlin, Boston 2012. S. 151 – 181) ausführ­ lich entwickelt wurde. 2 Aub wurde als Sohn einer aus Deutschland stammenden Französin und einem Deutschen in Paris geboren, wuchs dort mit einem deutschen und einem franzö­sischen Kindermädchen auf und musste 1914, mit Beginn des 1. Weltkriegs, Frankreich verlassen und emigrierte nach Valencia. Dort wuchs er zum spanischen Schriftsteller heran, als der er sich auch nach 1939, während 40 Jahren im mexikanischen Exil, immer bezeichnete. Zu seinem Leben ­zwischen den Kulturen vgl. Albrecht Buschmann. „‚Was bin ich? Deutscher? Franzose? Spanier? Mexikaner‘ – Lebensbilder einer Vita ­zwischen den Kulturen.“ Cervantes 17 (2004): S. 14 – 17; sehr gut erforscht sind Aubs Beziehungen zur franzö­sischen Kultur (vgl. Gérard Malgat. Max Aub y Francia o la esperanza traicionada. Sevilla 2007). Die Zeitschrift die horen 210 (2003) widmete Aub eine Schwerpunktnummer, in der sich Auszüge und Einführungen in die verschiedensten Aspekte seines Werkes finden; für eine erste akademische Annäherung vgl. Aub in Aub. Hg. v. Albrecht Buschmann u. Ottmar Ette. Berlin 2007.

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Inhalt­lich und stilistisch ist die Varia­tionsbreite der Textfragmente sehr groß – schließ­lich haben wir es mit 98 verschiedenen Absendern zu tun –, mal bestehen die Texte aus einem ­kurzen Satz, mal aus zwei Absätzen mit bis zu 700 ­­Zeichen; alle Fragmente zusammen ergeben nicht mehr als 30 Seiten Buchtext. Die Sprache ist mal formal, mal orthografisch fehlerhaft, mal vulgär, mal voller Mexikanismen, mal schulspanisch korrekt, sodass in der Summe eine große ­soziale und geografische Bandbreite eingefangen wird 3. Dieser stilistischen Variabilität entspricht die inhalt­liche Multiperspektivik. Zahlreiche Frauen erinnern sich an die amourösen Beziehungen zu ihm, wobei die einen ihn über den grünen Klee loben („Er war großartig“, Amada an Dominga), andere ihn verabscheuen („Er war eine absolut unverschämte Person“, Luisa an Rosario). Die Absender betonen, häufig in Fragesätzen, nichts Genaues über ihn sagen zu können: „Máximo war nicht leicht zu entschlüsseln“, Luis an Enrique; „Obwohl gesprächig, blieb er doch immer ein Geheimnis. Wer wusste schon, wie er war? “, Miguel an Hugo; „Wie er war? Weiß das jemand? Du? Na dann, jedem seine Wahrheit“, Ruth an Alexandra.4 Für die Gründe seines Todes werden im Wesent­ lichen zwei Hypothesen angeboten, näm­lich Selbstmord oder Mord, was von den Absendern jeweils triftig begründet wird. Juego de cartas ist offenbar ein in radikalisierter Form offener Text im Sinne Umberto Ecos.5 Er verzichtet auf die tradierte Form der Buchbindung, verabschiedet das Prinzip der Linearität und legt die Autorität über die jeweilige Abfolge der Sequenzen in die Hand des Rezipienten, weshalb er in der Forschung auch als früher Hypertext gelesen wurde.6 Um die Frage nach der Offenheit sowie nach den Bezügen zu avantgardistischen Verfahren genauer betrachten zu können, muss man Juego de cartas in zwei getrennten Opera­tionen analysieren, die ich die mög­lichen Lesarten und die wahrschein­lichen Lesarten nenne.

3 Valcárcel spricht von einer „variedad social, espacial e incluso sexual“ (Carmen Valcárcel. „Los juegos y las cartas. Aspectos lúdicos en la composición e interpretación de Juego de cartas de Max Aub.“ Actas del X Simposio de la Sociedad Española de Literatura General y Comparada. Hg. v. N. N. Santiago de Compostela 1996. S. 269 – 288, S. 276 f.). 4 „Era buenísimo“, Amada an Dominga / „Era un perfecto sinvergüenza“, Luisa an Rosario / „Máximo no era hombre fácil de descifrar“, Luis an Enrique / „Hablando tanto era un ser secreto. ¿Quién supo como fue?“, Miguel an Hugo / „¿Cómo era él? ¿Quién lo sabe? ¿Tu? Pues atente a ello, cada quien con su verdad“, Ruth an Alexandra. 5 Vgl. Umberto Eco. Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M. 21977. 6 Vgl. Rolf Eberenz. „Género y ficción en Jusep Torres Campalans.“ Mestizaje y disolución de géneros en la literatura hispánica contemporánea. Hg. v. Irene Andrés Suárez, Madrid 1988. S. 67 – 84, S. 76; Juan Rodríguez. „Juego de cartas como hipertexto.“ Ínsula 678 (2003): S. 27 – 30, S. 28 f.

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I.

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Lektüre für ein Leben: die möglichen Lesarten

Es liegt auf der Hand, dass das theoretisch vorhandene Potenzial, auf der phy­ sischen Textoberfläche 7 verschiedene Abfolgen der Sequenzen zu generieren, enorm groß ist, so groß, dass es mathematisch kaum noch darstellbar ist. Überprüft man die verschiedenen Spielvarianten rein mathematisch, ergeben sich bei vier Spielern, wenn immer alle Karten verteilt werden, Kartenstapel à 27 Karten, wobei 27 Fakultät verschiedene Kombina­tionen und Anordnungen der Stapel mög­lich sind; in Worten sind das 10 hoch 28 Varianten, über eine Million Trilliarden, und eine Trilliarde ist eine Eins mit 21 Nullen. Bei drei Spielern und ebenfalls komplett ausgespieltem Kartensatz ergeben sich 36 Fakultät verschiedene Kartenstapel, also drei mal zehn hoch einundvierzig oder eine Trilliarde Trilliarden Varia­tionen. Darüber hinaus besteht auch die in der Spielanleitung vorgeschlagene Op­tion, ­zwischen drei oder vier Spielern nicht die maximal mög­liche Zahl von Karten, sondern nur einige auszuteilen – was die Anzahl der mög­lichen unterschied­lichen Textoberflächen noch weiter erhöht. Die ebenfalls explizit vorgeschlagene Variante, dass nur ein Spieler mit allen 108 Karten spielt, ergibt 108 Fakultät verschiedene Anordnungen der Textfragmente. Die Zahl der mög­lichen linear sortierten Textoberflächen ist also unerschöpflich groß. Selbst wenn man pro Minute eine neue Anordnung vollständig lesen würde, bräuchte man mehrere Leben, um alle Varianten zu erfassen. Allerdings bedeuten diese Textkombina­tionen keineswegs ebenso viele histoires. Der Einfachheit halber soll dies anhand von vier ­kurzen Briefen auf der Rückseite der Joker erläutert ­werden. Der Text auf der ersten Jokerkarte lautet: „Clo: Er war so viel wert wie wir alle. Rita.“ Karte 2: „Justinita: Es war niemand da.“ Catalina. Karte 3: „Querida Marcela: Es war Zufall. Jacinta.“ Karte 4: „Cuca: Wir hatten nichts anderes zu tun. Beatriz.“ 8 Mathematisch ergeben sich daraus 4 Fakultät = 24 Kombina­tionsmög­ lichkeiten, die 24 discours bilden, aber mitnichten 24 histoires generieren. Denn die Reihenfolge der Sequenzen ist für den Fortgang oder die Lösung der ersten Leitfrage des Textes (wer ist Máximo Ballesteros?) ohne Bedeutung. Die für die weitere Analyse grundlegende Feststellung, dass die Reihenfolge der Textfragmente für die Semiose wenig relevant ist, gilt nun nicht nur im Fall dieser vier Jokerbriefe, sondern auch für viele andere. Das hängt damit zusammen, dass die Sequenzen als in sich semantisch geschlossene Textblöcke konzipiert sind, deren Ränder formal zu

7 Vgl. Manfred Hinz. „Das nicht-­lineare Buch. Zwei Überlegungen anhand von Marc Saporta.“ lendemains 122/123 (2006): S. 119 – 137, S. 123 ff. 8 „Clo: Valía por todos. Rita / Justinita: No había nadie. Catalina / Querida Marcela: Fue por casualidad. Jacinta / Cuca: No teníamos otra cosa que hacer. Beatriz.“ (Aub 2010. o. S.).

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mög­lichst vielen anderen Briefen anschlussfähig sein sollen. Deshalb sind die Kurztexte vor allem am Anfang und am Ende homolog konstruiert: Alle beginnen und enden gleicher­maßen mit Eigennamen, mit der Anrede an den Adressaten und der Unterschrift des Absenders. Weil nun die Sequenzen formal auf Gleichwertigkeit für die jeweilige Gesamtnarra­tion angelegt und nicht hierarchisiert sind, ist ihre Reihenfolge für die jeweilige histoire von nachgeordneter Bedeutung. Nicht nur phy­sisch auf der Ebene der Textoberfläche hebt Juego das Prinzip der Linearität auf, auch semantisch wird es ausgehebelt. Denn ungeachtet der vielen Milliarden Kombina­tionen, die der Text annehmen kann – keine favorisiert eine bestimmte Lösung der Spielfrage, wer denn jener Máximo gewesen sei. Folgt man dem in den „Reglas del juego“ festgehaltenen Programm, gibt es keine übergeordnete semantische ­Hierarchie der Textabfolge und der sich aus ihnen ergebenden Lesarten, sondern nur die der zu­fälligen Kartenmischung. Es gibt auch keine Spielstrategie, die einen Spieler gegenüber einem anderen dem Ziel der lo­gisch schlüssigen Vollendung der Semiose näher brächte. Die Logik des Zufalls verhindert die pragmatische Anwendung ra­tionaler Logik, d. h. einer lo­gisch-­argumentativ abgesicherten Semiose, weshalb der Leser allein auf seine Ahnung und aufs Raten zurückverwiesen wird. Denn der ­Gewinner, so die Spielanleitung, soll auf Grundlage der Lektüre der Kurztexte ja nicht argumentieren, sondern raten („adivinar“). Grundsätz­lich bestehen ja zwei Mög­lichkeiten, mit den Spielkarten umzugehen: einmal entsprechend der Textlogik und ihren explizit formulierten Spielregeln oder entsprechend der Bildlogik der Spielkarten. Im ersten Fall regelt allein das Mischen und Verteilen die Anordnung der Karten, während der die Spielkartensymbole (verstanden als Ikonotext) ausgeblendet bleiben und der Spieler/Leser anschließend für seine zufallsgenerierte Lektüre alle Karten in der Hand hat. Im zweiten Fall ist es mög­lich, sich von Aubs Textlogik zu lösen und Poker, Mau-­Mau, Kanaster oder ein beliebiges anderes Kartenspiel zu beginnen, wobei sich entsprechend den Regeln des jeweiligen Kartenspiels und des Symbolwerts der Spielkarten am Ende hierarchisierte Kombina­tionen bestimmter Karten ergeben. Beim Kartenspiel entsprechend der Textlogik ergab sich eine Abfolge der Karten, die zu einer unüberschaubar ­großen Zahl von Textoberflächen führte. Nach der Logik des Ikonotextes (nach den Regeln eines beliebigen Kartenspiels) hingegen gewinnt, wer beispielsweise die je nach Spielregel höchsten Kartenwerte akkumuliert. Die so kombinierten Karten sind folg­lich auch das Resultat einer pikturalen Logik und nicht allein des Zufalls. In ­diesem Fall steuert der Ikonotext den Text, die Kartenwerte die jeweils mög­liche Semiose des Spielers. Doch die Hoffnung, nun dem Spiel Max Aubs mit seinem Leser auf die Spur gekommen zu sein und eine versteckte zweite Logik entdeckt zu haben, wird im gleichen Atemzug befriedigt und enttäuscht. Das ergibt sich aus dem Blick auf die vier Joker, die nach pikturalen Logik an der Spitze in der Hierarchie der Kartenwerte stehen: Es sind eben jene vier Jokerkarten von Rita, Catalina,

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Jacinta, und Beatriz, deren arg eingeschränkter semantischer Gehalt zuvor bereits vorgeführt wurde. Aber gerade dadurch unterstreichen sie das Rätselhafte, wenn nicht Unauflösbare an der Suche nach Máximos Identität. Die Joker mit ihren vier knappen, alles oder nichts sagenden Sätzen sind nur insofern eine Lösung, als sie in kürzester Form das formulieren und betonen, was sich als Resultat der hypothetischen Lektüre der anderen 104 Karten ergeben hatte: dass es keine explizite Antwort auf die Ausgangsfrage nach Máximos Identität gibt. Juego de cartas ermög­licht also zwei literarische Spiele in einem: eines nach dem Zufallsprinzip, je nach dem, in welcher Reihenfolge die Karte zum (Vor-)Lesen ausgegeben werden, ein anderes nach der Bildlogik eines frei wählbaren Kartenspiels. Beide Varianten führen jedoch zum gleichen Ergebnis, näm­lich dass wir nicht verstehen, wer Máximo Ballesteros war. Eine ra­tional begründbare Antwort auf die Leitfrage ergibt sich aus den Spielanordnungen jedoch nicht: Vielmehr werden wir darauf gestoßen, dass wir über Máximo nicht wissen können. Die Form des Textes, egal wie man sie handhabt, unterstreicht immer wieder die Erkenntnis, zu der auch Gerarda in ihrem Brief an Lea gekommen war: „Die Menschen sind ein Puzzle. Eine Anordnung, die schwierig zusammenzusetzen oder überhaupt zusammen zu bekommen ist – denn wir bekommen sie immer zerschlagen vorgesetzt.“ 9 Das bis hierher beschriebene PostKartenspiel wäre nun nichts weiter als ein literarisches Kuriosum, wenn nicht der Nachweis gelänge, dass diese Form signifikant für seine Semantik wäre. Konzentrieren wir uns hierfür auf die wahrschein­lichen Les­ arten, also die empirisch naheliegenden Varianten des Umgangs mit d­ iesem Textspiel. II. Erkenntnis über ein Leben: wahrscheinliche Lesarten von Juego de cartas

Juego de cartas ist, solange der Kartenstapel auf dem Tisch liegt und noch nicht an die Spieler/Leser verteilt ist, ein Text, dessen discours nicht gegeben ist, sondern durch die Anordnung der Spielkarten, also auf der Ebene der Textoberfläche, erst hergestellt werden muss. Unabhängig von den kaum zählbaren mög­lichen Anordnungen der Karten (unabhängig von den kaum zählbaren, aber semantisch sehr ähn­lichen mög­lichen discours) kann man nun mit etwas hermeneutischer Anstrengung recht schnell nacherzählbare histoires entwerfen. Vergleichbar dem phy­sischen Akt des Mausklicks in einem Hypertext, der potenzielle Textverknüpfungen konkretisiert (und schnell wieder rückgängig macht), lassen sich die Karten nach eigenen Vorgaben arrangieren, zum Beispiel sortiert nach dem Adressaten (oder nach dem Geschlecht

9 „Los hombres son un puzzle. Un juego difícil de componer – y más de recomponer – porque siempre nos los entregan hechos polvo.“

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des Adressaten), nach dem Absender oder nach der Haltung des Absenders gegenüber Máximo Ballesteros (Hass, Abneigung, Indifferenz, Zuneigung, Liebe…). Allerdings stellt sich schnell folgendes semantisches Problem: Je weniger K ­ arten man gemäß einer Leitidee zusammengesucht hat, desto höher die Wahrschein­ lichkeit, eine halbwegs kohärente Antwort auf die Frage nach der Identität Máximos erschließen zu können. Anders gesagt: Je weniger man weiß, desto besser kann man „raten“ („adivinar“, laut Spielregel), wer er war. Je mehr man weiß, desto schwieriger. Dafür verantwort­lich sind zunächst einmal die Widersprüche z­ wischen den Aussagen einzelner Karten: Da zahlreiche Karten gleichsam antonymisch aufeinander bezogen sind, wird ein kohärentes Bild unmög­lich, sobald einem der Zufall solch ein Kartenpärchen zuspielt: Entweder war er homosexuell oder Frauenheld, entweder geborener Beamter oder geschickter Geschäftsmann, entweder schön oder häss­lich. Und schließ­lich gibt es auch Karten, die gleichsam metatextuell genau diese Widersprüche thematisieren: „Manuela, Liebste: Máximo war intelligent und dumm, sensibel und unsensibel, angenehm und unangenehm, verschwiegen und gesprächig, süß und bitter, sanft und hart, ruhig und ruhelos, leutselig, lustig und übellaunig, unterhaltsam und nervig, vertrauensvoll und misstrauisch, leidenschaft­lich und desinteressiert, bescheiden und stolz, mitfühlsam und grausam, respektvoll und herablassend, elegant und lächer­lich, je nach Stunde, Minute oder Sekunde und je nach Laune, mit der man die anderen gerade erträgt. (…) 10 Felisa“ 

Das Prinzip der antonymischen Beschreibung Máximo Ballesteros kommt in dieser Liste sich ausschließender Eigenschaften besonders gut zum Ausdruck. Zugleich springt hier die Subjektivität der Briefautorinnen besonders ins Auge. Wären Felisa und die anderen Zeitgenossen des Verstorbenen objektiv (könnten sie objektiv sein), müsste sich ja im Verlauf der Lektüre eine halbwegs kohärente Schnittmenge von Charakter­eigenschaften der Figur Máximos herauskristallisieren. Doch so wenig Máximo als charakter­lich eindeutig definierbares Individuum existiert, so wenig 10 „Manuela, encanto: / Máximo fue inteligente y tonto, sensible e insensible, agradable y desagradable, silencioso y parlanchín, dulce y agrio, tibio y duro, tranquilo y desasosegado, apacible, alegre y de mala luna, divertido y fastidioso, confiado y desconfiado, ardiente e indiferente, humilde y orgulloso, compasivo y cruel, respetuoso y despreciativo, elegante y ridículo según las horas, los minutos o los segundos y el humor con que se soporta a los demás. / Servida por tu segura servidora / Felisa“ (Aub 2010. o. S.).

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scheint in seinem Umfeld Konsens darüber zu bestehen, was das überhaupt ist, ein charakter­lich definierbares Individuum? Und was eine ‚objektive‘ Beschreibung eines solchen wäre? Stattdessen fächert sich ein Panorama von gut 100 Stellung­nahmen auf, und so vielfältig die Herangehensweise derer ist, die über ihn sprechen, so vielfältig sind die Bilder Máximos.11 Zwei Faktoren sind es, die die Referenzialisierbarkeit und damit die Konstruk­ tion einer kohärenten histoire behindern: das Fehlen kohärenter Maßstäbe für die Beurteilung eines Menschen und die große Zahl der Absender und Adressaten. 98 Namen sind es, die als Absender auftauchen, 104 als Adressaten, und diese Figuren haben kaum Bezüge untereinander. Durch diese Art der Anordnung entsteht also kein Netz von Bezügen z­ wischen den Briefschreibern, sondern gewissermaßen eine sternförmige Figur, in deren Mitte der (unerklär­liche) Máximo Ballesteros steht, gewissermaßen als das schwarze Loch der Semiose. Er ist das Zentrum aller Texte, der Zielpunkt aller Fragen, aber zugleich abwesend, retrospektiv nicht greifbar, als Charakter so widersprüch­lich, dass dessen lo­gische Nachbildung kaum mög­lich ist. Die einzige histoire zu Juego, zu der man nach einer Weile gelangt, sähe ungefähr so aus: Máximo Ballesteros kannte viele Menschen, und jeder nahm ihn anders wahr. Nun ist er tot, und wer er wirk­lich war und woran er starb, entzieht sich einer lo­gisch fundierten Erklärung. Seine Identität wie die Hintergründe seines Verschwindens können nicht gewusst, sondern nur erraten werden. Zu dieser Synthetisierung kommt man, das darf nicht vergessen werden, durch inten­tional gesteuerte Lektüre und regelwidrigen Gebrauch des Textes. Andererseits: Zu ­diesem (Spiel-)Ergebnis kommt man nach wenigen Stunden, wohingegen die aleatorische Variante entsprechend den Regeln weitaus mehr Zeit erfordert (einige 100 Jahre) und zum gleichen Fazit führt. III. Ein Spiel um Ausschluss und Tod

Betrachten wir genauer die thematischen Schwerpunkte in Aubs PostKartenspiel. Die Leitfrage, die unbeantwortet bleibt, ist die nach der Identität des Abwesenden, Máximo Ballesteros, und immer wieder fragen die Fragmente nach dem Tod dieser allen bekannten und doch sich entziehenden Figur. Dabei generiert Juego de cartas in zweifacher Weise s­ oziale Zusammenhänge, deren Subjekte über ein abwesendes, 11 In gleicher Weise, in der die Textoberfläche von den Entscheidungen der Kartenspieler abhängt (dem längeren oder kürzeren Mischen und Aufdecken der Karten, der Entscheidung ­zwischen Text- oder Bildlogik etc.), also von einer Serie individueller Entscheidungen, betont die zitierte Textstelle, wie abhängig das Bild Máximo Ballesteros’ von der Wahr­nehmung der jeweiligen Subjekte ist.

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ein flüchtiges Objekt verbunden sind: einmal auf der Ebene der in den Textkarten erzählten Mikrogeschichten, in der all die Freunde, Geliebten und Kollegen sich über Máximo äußern, der dennoch nie greifbar wird; zum anderen auf der Ebene des gespielten Spiels, in dem die Spieler/Leser um einen Tisch sitzen, den Akt des Lesens als Spiel inszenieren und ihn damit vom einsamen zum gemeinsamen Erlebnis machen, wobei sie nie auch nur annähernd die Mög­lichkeiten des Textes ausschöpfen können, egal wie lange sie spielen. Wie Máximo auf der Figurenebene für seine Freunde nicht greifbar wird, so entzieht sich die histoire von Juego de cartas jeg­licher Festlegung durch die Leser. Was bedeutet die Fokussierung auf die Th ­ emen ‚Tod‘ und ‚abwesende Identität‘? Zwar werden die ­Themen Tod und Ausschluss in Aubs Werk oft und in vielfacher Weise behandelt, aber nirgendwo sonst in einer Form, die das Prinzip der Regelhaftigkeit so eng mit dem Zufallsprinzip kombinieren würde und folg­lich höchst spannungsgeladen ist. Der Schnittpunkt, an dem die bis hierher skizzierten Hypothesen zusammenlaufen, wäre in der symbo­lischen Verdichtung der Existenz im Exil zu sehen. Demnach wäre der Anwesende und doch Abwesende, derjenige, um den sich all das Reden seines sozialen Umfeldes dreht, ohne genaues Wissen über ihn zu erlangen,12 nicht nur das einzelne Subjekt Máximo Ballesteros, sondern auch der Exilant als emblematische Figur. Außerhalb seines ihm angestammten Kontextes stehend wird an ihn allein retrospektiv erinnert, denn – egal ob er definitiv tot ist oder nicht – indem er außerhalb der Sozialgemeinschaft steht, ist er als Ausgeschlossener sozial tot. Die Erklärungen, die für seinen Tod genannt werden, sind so vielfältig, dass sie sich in der Summe neutralisieren. Letzt­lich gibt es keine Erklärung für den Ausschluss außer dem Zufall, denn je nachdem, ­welche Karte ein Spieler bekommt, kann er in einem Spieldurchlauf nur auf die dort gegebenen Argumente zurückgreifen.13

12 „Máximo es la columna vertebral de la narración; es el que, estando ausente, sirve de referencia a todos los personajes que gravitan en torno suyo.“ (Valcárcel 1996. S. 278). 13 Die Rolle des Zufalls, der über das Schicksal des Einzelnen entscheidet, beim Überleben inmitten von Bürgerkrieg, Lager, Flucht, spielt Aub in vielen seiner Romane, Erzählungen und Theaterstücke durch; exemplarisch sei das 1. Kapitel „Gabriel Rojas“ des Bürgerkriegsromans Theater der Hoffnung (Frankfurt a. M. 1999. S. 9 – 14); span. Campo abierto, Mexiko 1951) genannt, der zweite Band des Zyklus’ Das ma­gische Labyrinth. Vgl. hierzu Manuel Aznar Soler. Los Laberintos del Exilio. Diecisiete estudios sobre la obra literaria de Max Aub. Sevilla 2003. Die biografischen Details der teils abenteuer­lichen – also von Glück und Zufall abhängigen – Flucht aus südfranzösichen Lagern referiert Eloísa Nos Aldás. El testimonio literario de Max Aub sobre los campos de concentración en Francia (1940 – 1942). Castellón 2001; die literarischen Hinterggründe seines Schreibens aus dem Lager bzw. über das Lager analysiert

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Die Hypothese, dass der fragmentarische Text von Juego de cartas formal aleatorische Prinzipien inhalt­lich mit dem für Aub existenziellen Thema Verfolgung und Exil verknüpft, lässt sich intratextuell dank eines Palindroms unterfüttern, das aus der Entstehungszeit von Juego stammt und von Aub als Motto seiner Zeitschrift Los Sesenta (Ausgabe 3 von 1965) veröffent­licht wurde: „Sabido es que AMOR , invertido, da ROMA ; no se ha señalado que AZAR , al revés, se lee RAZA .“ 14 Indem Aub selbst neben das harmlose Palindrom aus „Liebe“ und „Rom“ das Palindrom aus den Begriffen „Zufall“ und „Rasse“ stellt, gibt er sprachspielend den Schlüssel zu seinem Kartenspiel, in dem das Zufallsprinzip und der Lebensweg des wegen seiner „Rasse“ verfolgten und dem Holocaust knapp entkommenen Exilanten miteinander verschränkt sind. Damit unterscheidet sich Juego de cartas fundamental von vielen anderen Sprachund Textspielen, die gerade im Umfeld der Neoavantgarden die Materialität des Zeichens oder die Konstruktivität des Erzählens nachvollziehbar machen wollten. Einer dieser Texte, Marc Saportas Composi­tion Nr. 115 scheint Aubs Kartenspiel sehr ähn­lich zu sein. Diese ‚Komposi­tion‘ von Textfragmenten ist kein gebundenes Buch, sondern ein Karton mit 150 losen Blättern: einem Titelblatt, einem Hinweisblatt, auf dessen Rückseite sich ein Verzeichnis der 17 handelnden Personen befindet, sowie 148 Blättern mit Text. Ein Hinweisblatt fordert zunächst dazu auf, durch Mischung der Blätter eine lineare Abfolge der Sequenzen aus den mehreren 1000 Milliarden mög­lichen zu erstellen. Wie bei Aubs Juego de cartas sind die einzelnen Textoberflächen in Form von DIN-A4-Blättern haptisch greifbar, frei kombinierbar, und allein der Zufall entscheidet, welcher discours sich nach der Mischung der Textoberflächen ergibt. Der Leser kann sich aber auch über diese explizite Leseanweisung hinwegsetzen, die auf dem Hinweisblatt formuliert ist, und versuchen, die Textfragmente mit einigen ordnenden Opera­tionen in eine referenziell lo­gische Linearität zu bringen. Reinhold Grimm hat seinerzeit in seiner ausführ­lichen Rezension des Buches beschrieben, wie sich um die drei Frauengestalten, die in Beziehung standen zu einem Mann namens „X“, recht zügig die Stapel nach Situa­tionen und

Claudia Nickel. Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge in südfranzö­sischen Lagern. Räume – Texte – Perspektiven. Darmstadt 2012. 14 „Wie man weiß, lässt sich roma rückwärts als liebe/amor lesen; noch nicht gesagt wurde, dass zufall/azar rückwärts gelesen raza/rasse ergibt.“ (Max Aub. Obras Completas de Max Aub. Vol. IV-A: Relatos I. Fábulas de vanguardia y ciertos cuentos mexicanos. Hg. v. Franklin García Sánchez. Valencia 2006. S. 401). 15 Marc Saporta. Composi­tion Nr. 1. Paris 1964.

Traumatisches Exil und Neoavantgarde in Max Aubs Juego de cartas (1964)

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Motiven sortieren.16 Zum gleichen Schluss kommt Manfred Hinz, der die histoire von Composi­tion Nr. 1 wie folgt rekonstruiert: „[…] ein zentraler Plot ergibt sich mühelos. Es genügt, die Blätter nach Eigennamen zu sortieren, die fast immer in der ersten oder zweiten Zeile angegeben sind, um zu bemerken, daß die Einzelschicksale kausal und chronolo­gisch erzählt sind. […] Der Protagonist, schon auf dem Waschzettel ‚X‘ genannt, kämpft im Krieg in der Résistance, heiratet danach seine Studienfreundin ‚Marianne‘, verliebt sich in ‚Dagmar‘, hat eine (Vergewaltigungs-?)Affäre mit dem Au-­Pair-­Mädchen ‚Helga‘ aus Köln und stirbt end­lich an einem Autounfall. Zwischendurch begeht ‚X‘ zwei Diebstähle […] Der erste Teil des Romans spielt noch an der Universität […] Der zweite Teil erzählt vom Krieg, abgegrenzt auch stilistisch durch militärisches Vokabular. Der dritte führt dann die Frauenfiguren ein. […]“ 17

Die formale Nähe z­ wischen Composi­tion Nr. 1 und Juego de cartas ist augenfällig: Beide verzichten auf die Buchbindung, beide bieten ein großes Set an frei beweg­lichen Textoberflächen, die über ein vorgeschaltetes Programm kombiniert werden sollen, wobei das Mischen der Blätter bzw. der Spielkarten vor der Lektüre die zufällige Abfolge und damit die Varia­tion der Linearität garantiert. Die formale Besonderheit bei Aub liegt in der ikonotextuellen Doppelung des Textes, wodurch zusätz­lich die Mög­lichkeit entsteht, die Karten nicht nur nach einer Textlogik, s­ ondern auch nach einer Bildlogik zu benutzen und erst danach zu lesen. Ein Blick auf die Kritik zu Composi­tion Nr.  1 ist zum weiteren Verständnis des Aub’schen Textes durchaus hilfreich. Reinhold Grimm stachen auf der einen Seite die „Elemente des gehobenen Unterhaltungsromans“ ins Auge, auf der anderen die formale Raffinesse der Aleatorik. Saportas Buch ist für ihn ein beeindruckendes „offenes Kunstwerk“, aber am Ende befremdet ihn die „ungelöste Diskrepanz ­zwischen Formalismus und Banalität“.18 So viel Mühe macht sich Umberto Eco nicht. Composi­tion Nr.  1 war 1989 in eng­lischer Übersetzung erschienen, weshalb Eco den Text in der eng­lischen Ausgabe von Opera Aperta (Harvard 1989) kurz behandelt. Seine Beurteilung kann zugleich als Legitima­tion für die gesonderte Betrachtung der zweiten, der wahrschein­lichen Lesart von Juego de cartas herangezogen werden, denn Eco liest nur den Programmtext und beschränkt sich anschließend auf das Durchblättern der Textfragmente. Danach glaubt er genug verstanden zu haben, um Composi­tion Nr. 1 in Bausch und Bogen als leeren Formalismus abzuurteilen:

16 Reinhold Grimm. „Marc Saporta und der Roman als Kartenspiel.“ Sprache im Technischen Zeitalter 13 (1965): S. 1172 – 1184, S. 1174). 17 Hinz 2006. S. 121. 18 Grimm 1965. S. 1184.

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Albrecht Buschmann

„A brief look at the book was enough to tell me what its mechanism was, and what vision of life […] it proposed, after which I did not feel the slightest desire to read even one of its loose pages, despite the promise to yield a different story every time it was shuffled. To me, the book has exhausted all its possible meanings in the very enuncia­tion of its constructive idea. […] Its only validity as an artistic event lays in its construc­tion.“ 19

Die gebrochene Form, die in den Augen Umberto Ecos für sich genommen ästhetisch reizlos ist, korreliert bei Saporta nicht mit einer Inhaltsebene, die etwas Gebrochenes hätte, eine Reibung, einen schmerzenden oder traumtischen Gegenstand. Der Blick auf ein anderes franzö­sisches Buch jedoch macht den Horizont deut­lich, vor dem Aubs Postkartenspiel mit Gewinn gelesen werden kann. Georges Perec hatte in seinem Roman La dispari­tion die Abwesenheit des Buchstaben „e“ als Symbol für die gewaltsame Auslöschung der europäischen Juden in der Shoah gestaltet.20 In ganz ähn­licher Weise geht Aub vor: Sein Juego de cartas ist, mehr als ein Spiel mit Texten und Karten, eine Spielanordnung über den Tod des Exilanten.21 Denn er macht den Leser zum körper­lich notwendigen Mitspieler und Komplizen der Textgenese, in der erst das Bild vom Exilanten als abwesendes Zentrum entsteht. Über ihn kann sein (ehemaliges) Umfeld nicht wissen, nur vermuten. So wird der Exilant erkennbar als Figur, deren Identität oszilliert ­zwischen offensiv vorgeführter Unkennt­lichkeit und individuell mög­licher Ahnung („adivinar“). Und wir werden Zeuge, wie Juego de cartas in einem neoavantgardistischen Spiel Kernfragen einer traumatischen Exilerfahrung zur Sprache bringt.

19 Umberto Eco. The Open Work. Harvard 1989. S. 170. 20 Vgl. Andreas Gelz. Postavantgardistische Ästhetik. Posi­tionen der franzö­sischen und italienischen Gegenwartsliteratur. Tübingen 1996. S. 147 ff. 21 Versteht man das Exil als Ausschluss des Individuums aus seinem sozialen und kulturellen Kontext, also als Dynamik der Vereinsamung im Gegensatz zu der der sozialen Integra­tion, ließe sich auch die Spielanweisung, wonach „toda clase de solitarios“ („jede Art von Einzelspiel/Einzeldasein“) mög­lich ist, als Hinweis auf den Fokus Exil lesen: Die Vereinzelung des Spielers wäre dann homolog zur Einsamkeit des Exilanten zu betrachten. – Die hier vorgeschlagene Analyse geht jedoch von der produktiveren Annahme aus, dass Juego zu mehreren gespielt wird. Damit öffnet sich die (einsame) Lektüre hin zum kollektiven Spiel.

Christina Pareigis

Außerhalb von Chronos’ Familienalbum Die Zeugnisse der Schriftstellerin und Philosophin Susan Taubes Die Hinterlassenschaften der Philosophin und Schriftstellerin Susan Taubes (1928 – 1969) zeugen von einem Leben, das von sprunghaften Veränderungen geprägt war: ­zwischen Geografien und Sprachen, ­zwischen den unter­schied­lichsten ­Verortungen als Künstlerin und Philosophin. Es sind Aufbruch-­Bewegungen, die konstitutiv für Taubes’ Schreiben sind. Erst die Lektüre ihrer hinterlassenen intellek­ tuellen und künstlerischen Zeugnisse macht sichtbar, in welch vielfältiger Weise sich an Taubes’ wendungsreicher Biografie ein für das 20. Jahrhundert symptomatisches Aufbrechen der „Kontinuität ­zwischen Mensch und Bürger, ­zwischen Nativi­tät und Na­tionalität, Geburt und Volk“ 1 zeigt. Sowohl Taubes’ autobiografische Aufzeichnungen wie Tagebücher und Briefe aus dem Nachlass als auch die zu ihren Lebzeiten publizierten philosophischen und literarischen Schriften verarbeiten auf je unterschied­liche Weise Erfahrungen von Heimatlosigkeit und Exil, von Verlust und Fremdsein: sei es mit der theoretischen Infragestellung überlieferter begriff­ licher Ordnungen, sei es in der literarischen Inszenierung von Lebensgeschichte und Identität, die nicht in Eindeutigkeit und Kontinuität gründen, sondern im Ungewissen und Gebrochenen. Insbesondere Taubes’ Kurzgeschichten und Romane, entstanden in den 1960er Jahren, thematisieren weniger die historischen Ereignisse in ‚künstlerischer Brechung‘, vielmehr reagieren sie auf die individuell erfahrene Unmög­lichkeit einer sicheren Beziehung zu kategorischen, vermeint­lich identitätsstiftenden Zuschreibungen, wie etwa ‚Na­tion‘, ‚Kultur‘ oder ‚(Mutter-)Sprache‘, mit der radikalen Zurückweisung jeder Vorstellung einer geschlossenen Identität. In einer Szene von Taubes’ Roman Divorcing (1969)2 nimmt die Ich-­Erzählerin Sophie Blind Abschied von ihrem Geliebten: 1 Giorgio Agamben. Homo Sacer. Die Souveränität und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002. S. 140. Agamben bezieht sich an dieser Stelle auf Hannah Arendt. 2 Susan Taubes. Divorcing. New York 1969. Die deutsche Übersetzung erschien 26 Jahre s­ päter unter dem irreführenden Titel: Scheiden tut weh. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nadine Miller. München 1995. Taubes wollte ihrem Roman To America and Back in a Coffin nennen. Bei Random House fand man den Titel jedoch nicht eingängig genug und änderte ihn; Taubes war damit nicht glück­lich. Die Informa­tion über diese Begebenheit verdanke ich Tanaquil Taubes, die davon kurz nach dem Tod ihrer ­Mutter erfuhr.

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„‚Ich wünsche dir alles Glück.‘ Plötz­lich ist alles ganz klar. Du stehst in deinem Mantel vor mir; ihr alle zehn, flach wie Pappdeckel, jeder auf seine Art faszinierend. Mein Lieber, ich kann euch nicht wieder zusammensetzen. Ihr werdet zu den Glück­lichen in Chronos’ Familien­ album gehören./ Du musst jetzt gehen, natür­lich. Ich sehe dir zu, wie ernst du deinen Mantel zuknöpfst. Ein liebenswürdiger Fremder, erkundigst du dich nach meiner Arbeit. Jetzt, da ich tot bin, kann ich end­lich meine Autobiographie schreiben.“ 3

Die Erzählperspektive ist die einer Toten; dies allein ist ein Bruch mit den üb­lichen Erwartungen an die Gattung der Autobiografie.4 Brüche sind jedoch bezeichnend für sämt­liche Facetten der Schreibweise im Roman, die geprägt ist von krassen ­Wechseln ­zwischen alltäg­licher und surrealistischer Szenerie. Erzählt wird die Geschichte der jüdischen Intellektuellen Sophie Blind. Ihre Erinnerungen an eine Kindheit im Budapest der 1930er Jahre werden erst im letzten der drei ­großen Kapitel entfaltet, und zwar nachdem der Leser bereits von ihrem Unfalltod erfahren hat und nachdem er an ihrer Beerdigung und an einem Gespräch des hinterbliebenen Ehemanns, Gelehrten und Rabbiners Ezra mit seinen ­Schülern an ihrem Totenbett teilgenommen hat. Mit dem Wechsel der mal fantastisch, mal grotesk inszenierten Schauplätze ereignen sich Entstellungen wie die Verwandlung einer Hochzeit in eine Beerdigung oder eines wissenschaft­lichen Kongresses in ein Verhör und eine Gerichtsverhandlung. Verschachtelt werden dabei die Handlungs- und Sprachregister verschiedener Rituale, dazu kommt ein ständiges Ineinanderschieben und Übereinanderblenden der unterschied­lichen Orte, an denen Sophie sich aufgehalten hat – darunter Paris, New York, Budapest und Jerusalem – und zahlreicher persön­licher Begegnungen aus ihrer Lebensgeschichte. Was mit diesen sprunghaften Bewegungen im Text erzählt wird, ist das Gegenteil von Chronos’ Familienalbum, in dem die Person, von der die Ich-­Erzählerin Abschied nimmt, als abgezählte, zweidimensionale Vielgestalt künftig erinnert wird. Stattdessen wird im Roman eine Geschichte erzählt, deren Verlauf und Dimensionen keiner unwiderruf­lichen Kausallogik folgen und deren Ereignisse sich aus der Perspektive der bereits Gestorbenen nicht in ein linear geordnetes Narrativ überführen lassen. Dabei weisen Protagonistin und Romangeschehen zahlreiche Ähn­lichkeiten zur Autorin und ihrer Biografie auf:

3 Taubes 1995. S. 201. 4 Die Darstellung der Art und Weise, wie Taubes’ Roman die Konven­tionen und Rezep­ tionserwartungen der Gattung Biografie reflektiert und unterläuft, folgt in weiten Zügen Sigrid Weigel. „Hinterlassenschaften, Archiv, Biographie. Am Beispiel von Susan Taubes“. Spiegel und Maske. Konstruk­tionen biographischer Wahrheit. Hg. v. Bernhard Fetz u. Hannes Schweiger. Wien 2006. S. 33 – 48.

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Aufgewachsen in Budapest, in einem assimilierten, großbürger­lichen Milieu, emigrierte Taubes 1939 als Judit Zsuzsánna Feldmann mit ihrem Vater, einem Psycho­analytiker, in die Vereinigten Staaten. Seither lebte sie vor allem in den USA und Paris und hatte dort an der intellektuellen und künstlerischen Avantgarde teil. Im November 1969 nahm Taubes sich auf Long Island das Leben, nur wenige Tage nach Erscheinen ihres Romans. Die deutsche Übersetzung fand 26 Jahre s­ päter im Feuilleton große Beachtung, dies allerdings durchgehend unter der problematischen Identifizierung der Romanhandlung und ihrer Protagonistin mit der Autorin und ihrer Lebens­geschichte. Befördert wurde dies durch die vom Verlag lancierte Bezeichnung auf dem Klappen­ text als „autobiografischer Roman“ und „Susan Taubes’ Testament“. Dabei ist es der Roman selbst, der aufgrund seiner diskontinuier­lichen Erzählweise aus der Perspektive einer Toten eine Dekonstruk­tion des tradierten Gattungsmusters einer Autobiografie als Entwicklungsroman des Erzählers vornimmt und damit den „Referenzpakt“ (Lejeune) der Autobiografie aufkündigt: Die Autobiografie wird hier nicht verstanden als Vermächtnis des Autors, stattdessen ist der Tod des Autors die Voraussetzung für die Entstehung des Romans. Auf diese Weise weist das Erzählte den Weg zu den Hinterlassenschaften der Autorin: An anderer Stelle soll die Erzähle­rin, deren Körper gerade auf einem Seziertisch in Einzelteile zerlegt ist („die vier Gliedmaßen zusammen, die säuber­lich gefaltete Haut, in einer Extraschüssel die Organe“ 5), Zeugnis von sich ablegen. Daraufhin verweist sie zunächst auf die amt­lichen Dokumente und Röntgenbilder, die Auskunft über ihren juristischen Status und ihren körper­lichen Zustand geben, dann aber auf vergessene Veröffent­lichungen und Aufzeichnungen, die in einem verlorenen Koffer zu suchen ­seien: „[…] fast hätte ich meine Veröffent­lichungen vergessen, die Seminararbeiten, Disserta­tion usw., in der Kartei. Lassen Sie Ihren Sekretär nach dem Koffer suchen, in dem sich all meine Aufzeichnungen befinden und der – bei wem? – hinterlegt ist… Sie können von mir nicht erwarten, daß ich mich an alles erinnere. Ich muß wiederholen, ich habe nichts Persön­liches anzugeben, alles über mich ist öffent­lich, es liegt Ihnen vor.“ 6

Das Private öffent­lich, das Veröffent­lichte versteckt, jede Unterscheidung ­zwischen innen und außen aufgehoben. Damit gibt der Roman den Umgang mit den ­Schriften der Autorin vor: Anstatt aus dem, was man scheinbar weiß, etwa im Sinne Diltheys posthum die bruchlose Chronik der ‚geistig-­see­lischen‘ Entwicklung einer

5 Taubes 1995. S. 110. 6 Ebd.

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­ erson in ihren lebensgeschicht­lichen Zusammenhängen zu gewinnen, gilt es, die P Hinterlassenschaften aufzusuchen und an diese die Frage nach einem Schreiben zu richten, das von Sprüngen, Lücken und Uneindeutigkeiten gekennzeichnet ist und das auch den Körper betrifft. Ein solches Schreiben präsentiert sich nicht allein im Roman. Dem Hinweis im Roman folgend, gelangen wir zu anderen Texten, ­welche die Autorin Susan Taubes überlebt haben: Das sind vor allem Briefe, Tagebücher, wissenschaft­liche und literarische Manuskripte, manches veröffent­licht, vieles bislang unpubliziert.7 So unterschied­lich diese Dokumente auch sind, so können sie alle als Zeugnisse einer Arbeit an den Problemen und Fragen gelesen werden, die Taubes beschäftigten. Dazu gehört die fortwährende Reflexion einer Situa­tion der Entfremdung und der mehrfachen Ortlosigkeit. Gerade in Taubes’ literarischen Texten wird diese Reflexion als Bruch mit herkömm­lichen und zum Teil immer noch gängigen Identitäts- und Biografiekonzepten lesbar, die etwa lebensgeschicht­liches Kohärenzbewusstsein als Bedingung von Identität begreifen oder gar von einem Common Sense über das Grundgefühl, dass jeder Mensch Akteur seiner eigenen Biografie ist, ausgehen. Nicht nur in Divorcing zeigt sich die Infragestellung genau solcher Vorstellungen von Einheit und Kontinuität als wiederkehrende Motive der gewaltsamen Fremdzuschreibung und dem Verlust oder der Abwesenheit von Identität, sondern auch in zahlreichen Erzählungen, wie z. B. The Patient (1966/67). Diese beginnt mit Worten des Text-­Ich, das aus der Perspektive eines Psychiatriepatienten spricht: „I have no past. I was born an ageless, sexless, invalid, months or years ago, possibly in this bed. Or, if in another bed, another room, it was in no significant detail different from where I am now. Whatever I know about myself begins here, with things I’ve been told by the psychiatrists […].“ 8

7 Zu Taubes’ Lebzeiten erschienen einige philosophische Essays, zwei Erzählungen und der Roman Divorcing. Seit Kurzem erscheinen die kommentierten Bände der Edi­tion der Schrif­ ten von Susan Taubes, hg. v. Sigrid Weigel im Wilhelm Fink Verlag Paderborn/München. Bislang liegen vor: Die Korres­pondenz mit Jacob Taubes 1950 – 1951 u. Die Korrespondenz mit Jacob Taubes 1952. Bde. 1,1 u. 1,2 der Schriften von Susan Taubes. Hg. v. Christina Pareigis (2011 u. 2014). Sowie Bd. 3: Prosaschriften. Aus dem Amer. v. Werner Richter. Hg. v. ­Christina Pareigis (2015). In Vorbereitung befindet sich Bd. 2: Philosophische Schriften [Essays und Disserta­tion]. Aus dem Amer. v. Richard Hentschel u. Konrad Honsel. Hg. v. Thomas Macho u. Johannes Steizinger (erscheint 2016). In Planung ist außerdem die Neupublika­ tion von Divorcing. 8 Susan Taubes. „The Patient“. Transatlantic Review 23 (1966/67): S. 101 – 108, S. 101.

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Tatsäch­lich bleiben die ganze Erzählung hindurch für das Ich alle Hinweise auf eine persön­liche Vergangenheit, Namen, Alter und sexuelle Identität nur wechselnde Vermutungen. Das Problem von Fremdheit und Mangel an Zugehörigkeit wird in Taubes’ Schriften auch theoretisch verhandelt, etwa in ihrem Aufsatz „The Riddle of Simone Weil“ 9, veröffent­licht 1959 in der Zeitschrift Exodus, einem Magazin, das im Umfeld der Beatnik-­Bewegung entstanden war und das Beiträge zur zeitge­nös­ sischen Kunst und Literatur der Avantgarde versammelte. Taubes beschreibt darin eine jüdische Existenz in der Moderne u. a. am Beispiel Kafkas und der Philo­sophin Weil als „configura­tion of a double estrangement to which the Jew may be predis­ posed in contemporary civiliza­tion. For she [Simone Weil] was born outside the Church as a Jew, and at the same time stood outside of Judaism and this not by an act of revolt, but simply by circumstance.“ 10 Diese Posi­tion der Angehörigen einer Minderheit abseits der vertrauten Mehrheitskultur und zugleich außerhalb der fremd gewordenen eigenen Tradi­tion ­skizziert Taubes bereits im Jahr 1952 als 24-jährige Philosophiestudentin in einem Brief an ihren damaligen Ehemann Jacob Taubes zur Beschreibung ihrer eigenen Situa­tion, und zwar im Zuge ihrer Auseinandersetzungen um ihr je unterschied­liches Verhältnis zum Judentum: „I was born outside of the law; I grew up in opposi­tion to the law, with no roots in family, a people or a state, standing outside of my fate as a Hungarian jewish immigrant etc.“ 11 Außerhalb des Gesetzes, ohne Zugehörigkeit zu einer Familie, einer Na­tion oder einem Staat und außerhalb des eigenen Schicksals als ungarische jüdische Immigrantin: Die Briefpassage artikuliert den persön­lich erfahrenen Mangel an Zuge­hörigkeit, der den Horizont von Taubes’ theoretischem und literarischem Schreiben bildet. Neben der Erfahrung des mehrfachen, teilweise erzwungenen Wechsels ihrer geografischen Aufenthalte, umfasst diese Erfahrung ihren schwierigen Ort als weib­liche Intellektuelle in den 1950er und 1960er Jahren, ihr konfliktreiches Verhältnis zum Judentum und ein lebenslanges Oszillieren ­zwischen Kunst und Philosophie. Die Bedeutung dieser Erfahrungsgeschichte erschöpft sich in keinem der genannten Horizonte, wie die Koordinaten ihres Lebenslaufes zeigen. Nach der Emigra­tion 1939 reiste Taubes 1947 zum ersten Mal wieder nach Europa, wo es ihr auch gelang, die M ­ utter in Budapest zu besuchen, die dort als eine von wenigen aus der Familie die Vernichtung der europäischen Juden überlebt hatte. Wieder in den USA lernte sie den Religionsphilosophen Jacob Taubes in New York 9 Susan Taubes. „The Riddle of Simone Weil“. Exodus 1 (Spring 1959): S. 55 – 71. [„Das Rätsel um Simone Weil“. Der Pfahl. Jahrbuch aus dem Niemandsland ­zwischen Kunst und Wissen­ schaft 9 (1995): S. 205 – 220]. Der Aufsatz erscheint in Bd. 2 der Schriften (2016). 10 Taubes 1959. S. 70. 11 Taubes 1952. S. 229.

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kennen und heiratete ihn 1949. Die ersten drei Ehejahre verlebte das Paar räum­lich weitgehend voneinander getrennt: Nach einem gemeinsamen Jahr in Israel blieb Jacob dort, um an der Jerusalemer Hebrew University zu lehren, während Susan in den USA und Paris Philosophie studierte und 1956 in Harvard ihre Disserta­tion über Simone Weil 12 schrieb. In jenen Jahren entstanden zudem ihre philosophischen Schriften zur Tragödie, zu Heidegger und zur Gnosis, und – noch vor Adorno – zu einer negativen Dialektik in Auseinandersetzung mit den Schriften Weils.13 Mitte der 60er Jahre folgte die Scheidung, Taubes wohnte abwechselnd in Paris und New York. Zudem begann ein allmäh­licher Rückzug von der akademischen Bühne. Zugleich entwickelte sie eine immense literarische Produktivität, publizierte zu Lebzeiten außer The Patient jedoch nur noch eine Erzählung The Sharks (1965)14. Diese erzählt den wiederkehrenden Albtraum eines kleinen Jungen, an dessen Ende die Schwelle zum Erwachen nicht mehr erkennbar ist. Ob publiziert oder unveröffent­licht: Bei diesen Texten handelt es sich wieder und wieder um surreal und traumhaft absurd anmutende Inszenierungen von Fremdheit und Ortlosigkeit, des Unheim­lichen und der Verknüpfung von Wissen und Sexualität; sie alle kennzeichnen die Verflüssigung und das Unkennt­lichwerden der Grenzen ­zwischen Traum und Wachen, z­ wischen den Geschlechtern, z­ wischen Erinnerung und Gegenwärtigem, ­zwischen An- und Abwesenheit, ­zwischen Leben und Tod.

12 Susan Taubes. The Absent God. A Study of Simone Weil. On the Religious Use of Tyranny. Radcliffe College, Harvard 1956. Der Untertitel erscheint auf dem Manuskript, nicht aber in den offiziellen Universitätsakten. Der Text wird in Bd. 2 der Schriften von Susan Taubes (2016) erstmals und in deutscher Übersetzung veröffent­licht. 13 Vgl. u. a.: „The Nature of Tragedy“. The Review of Metaphysics 26 (1953): S. 193 – 206, „The Gnostic Founda­tion of Heideggers’s Nihilism“. The Journal of Religion 34 (1954): S. 155 – 172, „The Absent God“. The Journal of Religion 35 (1955): S. 6 – 16 [Nachdruck in: Toward a New Christianity. Readings in the Death of God Theology. Hg. v. Thomas J. J. Altizer. New York 1967. S. 107 – 119]. – Zur Aktualität von Taubes’ philosophischen Schriften vgl. Sigrid Weigel. „Die Religionsphilosophin Susan Taubes. ‚Negative Theologie‘ und Kulturtheorie der Moderne“. Arche Noah. Die Idee der ‚Kultur‘ im deutsch-­jüdischen Diskurs. Hg. v. Bernhard Greiner u. Christoph Schmidt. Freiburg i. Br. 2002. S. 383 – 401 [rev. Fassung in: dies. Lite­ ratur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München 2004. S. 127 – 145.] u. .„Susan Taubes und Hannah Arendt. Zwei jüdische Intellektuelle ­zwischen Literatur und Philosophie, ­zwischen Europa und den USA.“ Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert. Literatur- und kulturgeschicht­liche Studien. Hg. v. Ariane Huml u. Monika Rappenecker. Würzburg 2003. S. 133 – 149. 14 Susan Taubes. „The Sharks“. The Virginia Quarterly Review 41 (1965): S. 102 – 107. Neben den beiden veröffent­lichten Erzählungen wird Bd. 3 der Schriften von Susan Taubes (2015) eine Auswahl an Prosaschriften aus dem Nachlass in deutscher Übersetzung enthalten.

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Diese Texte können im Lichte privater Aufzeichnungen aus Taubes’ Nachlass gelesen werden, die womög­lich die Voraussetzungen für ein solches Schreiben dokumentieren; eine besondere Rolle spielen dafür das Budapest Journal 15, ein Tagebuch, das Taubes 1969 wenige Wochen vor ihrem Tod auf einer Erinnerungsreise an den Ort ihrer Kindheit geführt hat, und die Briefe, die sie in den Jahren 1950 bis 1952 aus New York und Paris an ihren damaligen Ehemann in Jerusalem geschrieben hat. Ein wiederkehrendes Thema in dieser frühen Korrespondenz ist die Frage nach dem Fortbestehen jüdischer Tradi­tion im Angesicht der Vernichtung. So stellt ­Taubes aus der skizzierten Posi­tion einer doppelten Entfremdung heraus immer wieder die Aktualität religiöser Topoi und absoluter philosophischer Begriffe wie ‚Gesetz‘, ,Gerechtigkeit‘ oder ‚Schuld‘ infrage, dies verbunden mit der Suche nach Formen von Zugehörigkeit abseits von Herkunft und Tradi­tion. Ausgangspunkt für diese Auseinandersetzungen ist die Situa­tion des Exils. Deren Konnota­tionen verändern sich allerdings in den Jahren z­ wischen dem Verfassen der Briefe und des Tagebuchs. So sprechen Taubes’ Briefe, die sie im Herbst 1950 kurz nach der Ankunft in New York nach dem gemeinsamen Jahr in Jerusalem schrieb, von einem Gefühl der Nicht-­Zugehörigkeit als Einzigem, was Bestand hat in einer lebensgeschicht­lichen Verkettung von Diskontinuitäten. Sie schreibt aber auch, dass sich langsam eine Vertrautheit mit dem Exil einstellt, w ­ elche Erlösung verspricht: „One grows into a familiarity with all the strange faces of Fate – slowly a pattern lights through the daily toil and redeems the sweat, backache and anxiety. The moment comes when the exile also celebrates his fate.“ 16 Und ein paar Zeilen davor heißt es im selben Brief: „I am walking ‚the ways of the world‘ walking through the connecting paths of nomads, wanderers, exiles.“ 17 Einer dieser Wege führte Taubes 19 Jahre ­später zu einer Wiederbegegnung mit dem Haus in der Pasaréti út 35 – einer Straße in einem Villenviertel im nörd­lichen Buda, in dem sie bis zum zwölften Lebensjahr den größten Teil ihrer Kindheit verbracht hatte. Am 8. September 1969 beschreibt Taubes im Budapest Journal eine bizarr anmutende Szene, in deren Verlauf das Haus, in dem einst der Beginn ihrer Lebensgeschichte verortet war, von einem Sehnsuchtsort zu einem Nicht-­Ort (Augé) wird, der für diese Lebensgeschichte keinen Haltepunkt mehr bietet. Die jetzigen Bewohner, es sind Ungarn, an die ihr Vater 1939 das Haus verkaufen musste, ­wollen die Besucherin vor ihrer Haustür vertreiben:

15 Das Manuskript befindet sich im Susan Taubes-­Archiv, Zentrum für Literatur- und Kultur­ forschung Berlin. 16 Taubes 1950 – 1951. S. 42. 17 Ebd. S. 41.

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„I remembered I walked up there home from school, and the bushes at the side leading to the garden in the back; now I remembered the green shutters; my dog wasn’t on the flat stone balustrade, and I couldn’t run up the steps to my home. The house more beautiful now that it had aged, grown rank. Kept trying to reason against sudden outrage and bitterness: But your father sold the house, they didn’t take it from you. He sold the house. In vain, when the heart cried out against a pain deeper than political injustice, against time and change itself; intolerable that I should stand here as another, denied access to the house; intolerable to stand here after thirty years of disembodied rootless wandering. Intolerable, this other person I became through years, was now and would continue to be, intolerable to be the person who ceased to live in this house.“ 18

Als Taubes ein paar Wochen ­später aus einem fahrenden Bus einen flüchtigen Blick auf das Haus wirft, beginnen seine Umrisse sich schon aufzulösen, unwirk­ lich zu werden: „Yesterday (Sunday) took the no. 5 to Buda till end sta­tion; fleeting glimpse of no 35 Pasareti ut from the bus, and walking back the image of the house seemed as fleeting, blurred unreal, a cursed house and finally unreal: too small and plain a house to contain so much dissension in it we must have lived as cramped as in my mind, more cramped, because that physical space cannot like my inner space be stretched and strewn apart.“ 19

Welcher Prozess der Verwandlung hat sich ­zwischen derjenigen vollzogen, die damals als Elfjährige aufgehört hatte, jenes Haus zu bewohnen, und jener „Anderen“, der jetzt, als einundvierzigjähriger Frau, nach jahrzehntelanger Abwesenheit der Einlass verweigert wird und deren „innere Behausung“ sich stattdessen in unbegrenzter Ausdehnung aufsplittert? Über fünfzehn Jahre vor dieser Szene auf der Schwelle zum Haus ihrer Kindheit ist eine weitere Sta­tion ­dieses von allem abgetrennten Umherziehens abermals die Reflexion zu Heimatlosigkeit und Gewalt, allerdings auf einem anderen Schauplatz: Taubes’ Beziehung zum Judentum. Diese beschreibt sie als zwangsläufig empfundene Verbundenheit mit der Tradi­tion und einer unaufhör­lich erfahrenen Desintegra­ tion. So berichtet sie in einem Brief an ihren damaligen Ehemann von ihrer Lektüre eines Verses im 3. Buch Mose, in dem es heißt: „Und wer etwas Unreines berührt,

18 Taubes, Budapest Journal, keine genaue Datierung, z­ wischen jeweils einem Eintrag vom 8. und 12. September 1969. 19 Ebd. 13. Oktober 1969.

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dessen Seele soll aus seinen Volksgenossen ausgerottet werden.“ 20 Taubes trägt der bib­lischen Passage die aktuelle Situa­tion einer jüdischen Existenz nach 1945 an: „as I read, the soul that shall touch any unclean thing … that soul shall be cut off from his people … I am in terror for a moment, but only for a moment, because for one who is already cut off from his people this can be no threat, the dead cannot be threatened or terri­fied by anything. Only the living are at stake, and the ques­tion is how much life we have yet in us […]“ 21

Inwieweit sind die Überlebenden am Leben? Wie kann man weiterleben und sich gleichzeitig einer Tradi­tion verbunden wissen, die dem Druck der Gegenwart nicht standhält? Die Überlieferung wird genau an der Schwelle brüchig, an der die Lebenden sich fragen müssen, ob sie tot sind, die Toten aber lebendig bleiben. Und: Wenn die Seele des Menschen ebenso zerstörbar ist wie sein Leib, dann muss die Frage nach ‚tot oder lebendig‘ in diejenige nach dem Grad der Zerstörung des Menschen verschoben werden. So schreibt Taubes im selben Brief: „We know well enough the vulnerability of the body but are we willing to face that there is no point of invulnerability anywhere in our existence, least of all in the soul, that we are totally exposed.“ 22 Für Taubes gibt es im Menschen keinen Ort, der von den Folgen der Gewalt nicht berührt werden könnte. Anstatt dass der Mensch ohne Grenze in der Lage ist, über Tradi­tion zu verfügen, kann seine zerbrech­liche „Seele“ dem Zerbrechen der Tradi­tion grenzenlos erliegen. Die Verschiebung der Grenzen ­zwischen Stabilität und Erschütterung, das Inein­ andergleiten von tot und lebendig sind Bewegungen, für die die Erfahrung der am eigenen Leib erlittenen politischen Gewalt der Anlass war; diese Erfahrung bildet auch den Ausgangspunkt für ein von Brüchen und Einschnitten gezeichnetes literarisches Schreiben. Und ­diesem wiederum geht ein Sprechen von einem Misstrauen gegenüber der herkömm­lichen Sprache und von der Notwendigkeit, neue begriff­ liche Unterscheidungen zu finden, die einer in ihre Einzelteile zerfallenen Welt standhalten könnten, voraus. Die Kritik an den alten begriff­lichen Verhältnissen, wie sie Taubes in ihrer privaten Korrespondenz äußert, berührt zugleich die intellektuellen Debatten der Nachkriegskultur in den USA und in Europa. Die Frage nach der Gültigkeit etablierter Philosophien und religiöser Sinnsicherheiten wie auch diejenige nach Zugehörigkeit und Entfremdung drängte sich vor allem jüdischen Intellektuellen, die die na­tionalsozialistische Vernichtung überlebt hatten, auf.

20 Zit. nach Neue Jerusalemer Bibel. Neu bearb. u. erw. Ausg., 1. Aufl. der Sonderausg. (16. Aufl. der Gesamtaufl., unveränd. Nachdr. d. Erstaufl. 1985). Freiburg 2007. 21 Taubes 1950 – 1951. S. 145 f. 22 Ebd. S. 145.

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Als Taubes in den 1960er Jahren den Umschwung zu Literatur und Theater vollzog,23 sind die „connecting paths of nomads, wanderers, exiles“ und das Konzept der „doppelten Entfremdung“ schon lange keine Aufenthaltsorte mehr für das wachsende Gefühl der Fremdheit in der Welt. Stattdessen ist jetzt die Literatur ein Ort für die Erkundung einer mög­lichen Zugehörigkeit. Am 18. Oktober 1969 schreibt Taubes von dem Gefühl, nach langem, unruhigem Schlaf am falschen Ort und in der falschen Zeit erwacht zu sein, einem Gefühl, dem sie nur im Schreiben begegnen kann, im Wissen, dass „[s]omething of a more or less inadequate life is necessary to give the impetus to create a more adequate counter world in art. And somewhere in all that disordered web, there must be one thread connecting with life, which makes me an extension of something else, like a leaf like a cat.“ 24 Es ist der Entwurf für ein Schreiben, das ohne eine immer schon zerbrech­liche Verbindung zum Leben nicht praktiziert werden kann. Die Vorstellung, die Verlängerung von etwas zu sein, was man selbst nicht ist, ist hier Voraussetzung für eine Gegenwelt in der Literatur. Eine andere Notiz im Budapest Journal, geschrieben weniger als einen Monat vor ihrem Tod, zeugt davon, dass diese zerbrech­liche Verbindung am Zerreißen ist, dann, wenn das Ineinandergleiten von Literatur und Leben unterbrochen wird: „somewhere in reality I feel so sick and the knowledge that this is not a book I’m writing or a dream.“ 25 Der Augenblick, in dem das Gefühl, in der verkehrten Zeit zu leben, in Erkenntnis umschlägt, lässt alle Fragen, die die junge Philosophin einst stellte, obsolet erscheinen und gleichzeitig auch die Literatur keinen Ort mehr für das Leben sein. Motor für diese Erkenntnis ist die Wucht einer plötz­lichen Erinnerung. Noch immer vor der Tür zum Haus ihrer Kindheit notiert Susan Taubes: „Wanting this irrelevant episode to be over; to be on the train to Geneva; wanting to read my philosophy book; and afraid to open it in Budapest. Afraid (to find out that) the philosopher was put out of circula­tion; that very delicate artificial, invented self. The house seen twenty years ago with strange, numb detachment, a frozen memory now thaws suddenly into live, raging, devouring monster of time.“ 26

23 Taubes schrieb in den 1960ern Texte für das Open Theater; sie selbst hatte in den späten 1940er Jahren an der Columbia University für kurze Zeit Kurse zum praktischen Schauspielunterricht und Playwriting belegt, zudem spielte sie im Laientheater. 24 Taubes, Budapest Journal, 18. Oktober 1969. 25 Ebd. 16. Oktober 1969. 26 Ebd., keine genaue Datierung, z­ wischen jeweils einem Eintrag vom 8. und 12. September 1969.

Die Zeugnisse der Schriftstellerin und Philosophin Susan Taubes

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Die junge Philosophin von einst ist aus der Perspektive der Nachträg­lichkeit zu einem nunmehr „erfundenen“ Ich geworden, „künst­lich“, „zerbrech­lich“ – selbst ein artefrakt. Früher hatte diese dem Misstrauen in die Begriffsgewalt von Philosophie und Religion die Erwartung entgegengesetzt, die Erlösung von Angst und Schmerz der Exilierten würde sich in Gestalt des Exils selbst ereignen. Jetzt richtet sich die Angst darauf, dass nun weder eine Rückkehr in d ­ ieses von der Erlösungshoffnung stabil gehaltene Ich noch in jene „Gegenwelt“ in der Literatur noch mög­lich ist. Der jähe Einbruch der Erinnerung ist begleitet von einem unumkehrbar wachsenden Bewusstsein der persön­lichen Verstrickung in die Geschichte und einem gleich­ zeitigen Total-­Werden der Entfremdung. Davon zeugt eine Antwort auf die Frage, warum Taubes im Exil nicht heimisch werden konnte: Denn sie hatte das Haus nie verlassen, zu dem jener „Anderen“ der Zutritt jetzt verweigert wird: „[…] my emo­tions are more conflictual, than that of most exiles toward their country of o­ rigin, because of my feeling of not having left. I did not myself chose the decision was made for me, and this has left me in a sense open to the country in a dangerous and completely irra­ tional way […] It’s as if part of me simply hasn’t accepted the fact of my having left, refuses to accept my American (really not white American [/] complex post Hungarian) self and longs for some kind of impossible restitu­tion and reintegra­tion.“ 27

Was sie beschreibt, ist ein Ort außerhalb des Teils von ihr selbst, der im Haus ihrer Kindheit zurückgeblieben ist. Und gleichzeitig außerhalb des Exils als Exilierung vom Exil. Diese extreme Form des Verlustes, die Unmög­lichkeit jeder Reintegra­ tion, wird absolut, wenn Taubes die früher gestellte Frage nach der Lebendigkeit der Toten mit der eigenen Nichtzugehörigkeit zu den Lebenden beantwortet. Als sie schildert, wie der Anblick jenes Autobusses Nr. 5, der die Straße ihrer Kindheit passiert, immer wieder die Stimme ihres Vaters beschwört, wie er einen Kinderreim rezitiert, schreibt sie im Anschluss: „if I were truly alive now, I keep thinking, the child would also be present and alive.“ 28 Susan Taubes war Jüdin, der die Tradi­tion ein Leben lang fremd blieb, US-amerikanische Staatsbürgerin, die sich in den USA niemals heimisch fühlte, ungarische Muttersprachlerin, die auf Eng­lisch schrieb und Emigrantin, der der Zugang zum Ort ihrer Kindheit verweigert wurde. Es ist der Mangel an ‚festem Wohnsitz‘ (Ette), der im Falle von Taubes als erstrangiger Referenzpunkt für ihr Leben und ­Schreiben erscheint. Noch mehr: Die Pole der Welten, ­zwischen denen sie sich

2 7 Ebd. 16. Oktober 1969. 28 Ebd. 15. September 1969.

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bewegt, geraten dabei selbst in Bewegung. Für Taubes führte dies zu einer radikalen und gleichzeitig zerbrech­lichen Synthese von Leben und Kunst und zuletzt zu der Vorstellung, in Wahrheit den Lebenden nicht mehr anzugehören. In einer Welt, in der die Zerstörung des Menschen sich unend­lich vollziehen kann, ist allerdings auch der Tod kein sicherer Aufenthaltsort. Dies begründet das Schreiben eines Lebens aus der Perspektive einer Verstorbenen, eines Lebens, das in Einzelteile zerlegt und jeder Zugehörigkeit abhandengekommen ist und das sich vielleicht deshalb nur als artefrakt präsentieren kann.

Silke Segler-­Meßner

Sar…Ko(a)f… Wandlungen im Lebens-Werk Sarah Kofmans I.

Lebens-Werk

1994 veröffent­licht Sarah Kofman ihren einzigen zusammenhängenden autobiografischen Text Rue Ordener, rue Labat und setzt gleichzeitig mit der Publika­tion von Le mépris des Juifs. Nietzsche, les Juifs, l’antisémitisme (Paris 1994) ihre wenige Jahre zuvor in den Paroles suffoquées (Paris 1987) begonnene Auseinandersetzung mit dem Judentum und Auschwitz fort. 1994 nimmt sie sich im Alter von 60 Jahren am 150. Geburtstag Nietzsches das Leben, nachdem es ihr nicht mehr mög­lich war, den Tätigkeiten nachzugehen, die sie bis zu ­diesem Zeitpunkt in einem Dialog mit der Welt und sich selbst gehalten haben: Lesen und Schreiben. Die Koinzidenz ­zwischen dem Zeugnis von der Zeit als enfant cachée im besetzten Frankreich und dem anschließenden Versiegen der kreativen Kräfte hat dazu geführt, dass das Erzählen als Rückkehr des Verdrängten und traumatische Inbesitznahme der Philosophin gedeutet wurde, die selbst in verschiedenen Äußerungen nahelegte, dass das Verfassen ihrer Autobiografie der Ankündigung ihres Todes gleichkäme.1 Die Stilisierung Sarah Kofmans zu einer tra­gischen Frauenfigur verstellt den Blick auf die Komplexität eines Œuvres, das sich im ursprüng­lichen Sinne des lateinischen opera als Arbeit mit bzw. Bearbeitung von abendländischer Meta­physik und Ästhetik versteht.2 Darüber hinaus wird auch die Beschreibung der autobiografischen Erzählung als „Kladde eines müden, altgewordenen Kindes“ 3 nur bedingt der verschachtelten Erzählstruktur d ­ ieses Lebensberichts gerecht, in dem Sarah Kofman nicht allein ihre Kindheit und das Trauma des Verlusts ihres Vaters evoziert, sondern auch an die Ambivalenz von Mémé (= franzö­sischer Kosename für Großmutter) 1 Vgl. E. Ann Kaplan. Trauma Culture. The Politics of Terror and Loss in Media and Literature. New Brunswick, New Jersey u. London 2005. S. 59; Verena Andermatt Conley. „For Sarah Kofman, on Rue Ordener, rue Labat“. SubStance 25/3 (1996): S. 153 – 159, S. 153. 2 Zu Sarah Kofman als „unbequemer“ Philosophin, die nicht gemäß konven­tioneller Vorstellungen einzuordnen ist, vgl. Paola di Cori. „Sarah Kofman. Filosofa impertinente, scrittrice senza potere“. Lo Sguardo: Rivista di Filosofia 11/I (2013): S. 351 – 368. 3 Iris Radisch. „Der Tod ist schlimmer als der Tod“. DIE ZEIT 08/1995, http://www.zeit. de/1995/08/Der_Tod_ist_schlimmer_als_der_Tod vom 25. 8. 2015.

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erinnert, jener Französin, die sie und ihre leib­liche ­Mutter in der Rue Labat versteckt und ihr die Welt der Philosophie geöffnet hat.4 So endet d ­ ieses Selbstzeugnis mit dem Tod Mémés und dem Beginn des Studiums, das Sarah Kofman zu jener Philosophin hat werden lassen, die sich eindeutigen Qualifizierungen entzieht. Sie setzt sich mit den Werken der klas­sischen Philosophie ebenso intensiv auseinander wie mit den Posi­tionen der Aufklärer, Derridas oder Blanchots. ­Häufig verweben sich ihre philosophischen Kommentare mit Relektüren klas­sischer Werke der Literaturgeschichte, ob es sich um Shakespeare, E. T. A. Hoffmann oder Jean Genet handelt. Obwohl sie sich als Freud-­Spezialistin einen Namen gemacht hat, erfolgt ihre Rezep­tion innerhalb des psychoanalytischen Forschungsfeldes nur zurück­ haltend, was zum einen an ihrem Interesse für kulturphilosophisch-­ästhetische Frage­stellungen innerhalb des Freud’schen Werkes liegen mag und zum anderen an ihrem konsequenten Ausblenden der Werke Lacans.5 Ausgehend von der These, dass sich Sarah Kofmans Lebens-­Werk durch eine Dynamik permanenter Wandlungen auszeichnet, die konsequent jede Form der Grenzziehung unterläuft, möchte ich im Folgenden danach fragen, inwiefern die konsequente Dekonstruk­tion einer Logik der Identität in Sarah Kofmans Texten am Werke ist und zu einer ebenso produktiven wie traumatischen Zersetzung des schreibenden weib­lichen Subjekts führt, das sich schließ­lich selbst zur Falle und zum „sacrophage“ 6 wird. Von zwei Seiten werde ich Kofmans écriture der Selbstauslöschung beleuchten: zum einen im Hinblick auf die Polyvalenz des unbestimmten franzö­ sischen Demonstrativpronomens „ça“ als Kurzform von „cela“, das in unterschied­ lichen Zusammenhängen in den Texten Kofmans auftaucht. Zum anderen werde ich in einer Relektüre des Bandes Comment s’en sortir?, der sich aus zwei Texten zusammensetzt, die von Zeichnungen Goyas gerahmt sind, die Unmög­lichkeit einer Trennung von Theorie und (Lebens-)Praxis herausarbeiten. Abschließend werden die Wandlungen von „ça“ und der philosophisch-­lebensgeschicht­lichen Schreibweise in Beziehung zu Kofmans Stellungnahme zu Auschwitz gesetzt, die sie in einem Dialog mit dem Werk Blanchots und dem Zeugnis Robert Antelmes entwickelt.

4 Vgl. Christie McDonald. „Sarah Kofman: Effecting Self Transla­tion“. Psychanalyse et traduc­ tion: voies de traverse/ Psychoanalysis and Transla­tion: Passages Between and Beyond 11/2 (1998): S. 185 – 197, S. 191 f. 5 Vgl. Penelope Deutscher. „Complicated Fidelity: Kofman’s Freud (Reading The Childhood of Art with The Enigma of Woman)“. Engimas. Essays on Sarah Kofman. Hg. v. ders. u. Kelly Oliver. Ithaca u. London 1999. S. 159 – 173. 6 Sarah Kofman. „Tombeau pour un nom propre (1976)“. Les Cahiers du GRIF 3 (1997): S. 169 – 170, S. 170.

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II. Die Produktivität des „ça“

Sarah Kofmans autobiografische Erzählung Rue Ordener, rue Labat ist ihrem Arzt Philippe Cros gewidmet und setzt sich aus 23 durchnummerierten Kapiteln zusammen, die nur im Inhaltsverzeichnis, jedoch nicht im Fließtext mit Überschriften versehen sind.7 Auf den ersten Blick lassen die gewählten Titel eine lose, assoziative Struktur erkennen, die Orte wie „Merville“, „L’Haÿ-­les-­Roses“ oder „L’hôpital“, Gegenstände wie „Stylo“ oder „Paravent“, Bewegungen wie „Zigzag“ oder „Errances“, Abstrakta wie „Sépara­tions“, „Educa­tion“ oder „Libéra­tions“ oder auch Personen wie „Madame Fragonard“ oder Kunstwerke wie „Les deux mères de Léonardo“ anführt. Die numerische Folge steht jedoch zugleich für eine chronolo­gische Anordnung des Erzählten, das wesent­liche Etappen der Kindheit und Jugend Sarah Kofmans bis hin zum Beginn des Erwachsenseins rekonstruiert. Die typografische Präsenta­tion des Titels lässt ebenfalls eine doppelte Gestaltung erkennen. Auf dem Einband erscheinen die Straßennamen mit jeweils großgeschriebenem Anfangsbuchstaben und sind in gleicher Schriftgröße untereinander gesetzt, wobei der zweite Straßenname, die Rue Labat, circa einen halben Zentimeter nach rechts verschoben bzw. eingerückt ist. Auf der dritten Seite des Buches erscheint der Titel erneut, nun sind die beiden Straßennamen aber in einer Zeile und nur durch ein Komma voneinander getrennt, nach dem die zweite Straße mit kleingeschriebenem Anfangsbuchstaben angeführt ist: „Rue Ordener, rue Labat“. Auf der fünften Seite wiederholt sich der Bucheinband in identischer Weise. Die unterschied­liche typografische Form des Titels, der die beiden Straßennamen entweder als opposi­tionelle Räume (Rue Ordener = oben, Rue Labat = unten) oder als unverbundene Reihung bzw. Asyndeton präsentiert, legt nahe, dass die beiden Orte durch ein inneres Spannungsverhältnis miteinander verbunden sind. Sie sind getrennt und gehören doch zusammen. Sie sind gleichwertig und zugleich in ihrer Posi­tion ver-­rückt. Das erste Kapitel von Rue Ordener, rue Labat übernimmt die Funk­tion eines Vorwortes im Sinne Gérard Genettes: „Je nommerai ici préface, par généralisa­tion du terme le plus fréquemment employé en français, toute espèce de texte liminaire (préliminaire ou postliminaire), auctorial ou allographe, consistant en un discours produit à propos du texte qui suit ou qui précède.“ 8 Auch wenn der Beginn des Textes nicht explizit als Prolog ausgewiesen ist, erfüllt er dennoch alle dafür notwendigen Bedingungen, insofern der Gegenstand des Erzählens benannt und in seiner Bedeutung für die Erzählinstanz beschrieben wird. „De lui, il me reste seulement le

7 Vgl. Sarah Kofman. Rue Ordener, rue Labat. Paris 1994. S. 101. 8 Gérard Genette. Seuils. Paris 1987. S. 164.

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stylo.“ 9, lautet der erste Satz, der die Erzählung durch den Gebrauch des Indikativ Präsens in einem nicht näher bestimmbaren gegenwärtigen Geschehen verankert. Zugleich wird bereits auf eine Trennung, Teilung und Ersetzung angespielt. Durch die Voranstellung des männ­lichen Objekts und die unpersön­liche Formulierung erscheinen die Rollen z­ wischen aussagendem Subjekt und dem Gegenstand seiner Rede vertauscht. Der Bruch ­zwischen dem Personalpronomen der dritten Person Singular „lui“ und dem Objektpronomen der ersten Person Singular „me“ als Bezugspunkt des folgenden Geschehens wird durch das Komma markiert. Gleichzeitig erscheint die aussagende Instanz in d ­ iesem ersten Satz auf den Status eines indirekten Objekts reduziert, das sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu dem einzigen Gegenstand befindet, der als metonymische Spur auf die nicht mehr präsente männ­liche Person referiert: den Stift, dessen Herkunft und Funk­tion in den folgenden Sätzen konkretisiert wird. Im zweiten Satz berichtet die Erzählerin im passe composé, dass sie den Stift ihrer ­Mutter entwendet hat, die bis zu d ­ iesem Zeitpunkt die verbliebenen Erinnerungsstücke an den Vater in ihrer Tasche verwahrt hat. „Je l’ai pris un jour dans le sac de ma mère où elle le gardait avec d’autres souvenirs de mon père.“ 10 Hier deutet sich bereits eine Verschiebung innerhalb der familiären Konstella­tion an, deren Symbolik an den weib­lichen Ödipuskomplex gemahnt: Die Tochter ersetzt die ­Mutter als erstes Liebesobjekt durch den Vater, der zwar nicht mehr präsent ist, aber durch den Stift substituiert wird. Der Stift als Phallusersatz erhält in d ­ iesem Zusammenhang Fetischcharakter, insofern er auf den weib­lichen Wunsch nach Aneignung des männ­lichen Penis und damit auf den weib­lichen Kastra­tionskomplex verweist, den das pubertierende Mädchen nur überwinden kann, indem es sich an das männ­liche Liebesobjekt dauerhaft bindet und unterwirft. Dieser Rollentausch ist keine in sich abgeschlossene Handlung, sondern befindet sich „in Kontakt mit der Gegenwart“ 11, wie der Gebrauch des passé composé anzeigt, d. h. die Auswirkungen der Aneignung des Stifts ragen in die Erzählgegenwart hinein. Der zunächst generisch als Stift bezeichnete Gegenstand der Erinnerung erweist sich bei näherer Betrachtung als ausrangiertes Modell eines Füllfederhalters, der zum Zeitpunkt des Erzählens bereits nicht mehr existiert. Als „stylo comme l’on n’en fait plus, et qu’il fallait remplir avec de l’encre“ 12 ist er mit einem geschicht­ lichen Zeitraum verknüpft, der abgeschlossen und präsent zugleich ist. Avanciert er ­während der Schulzeit und damit in der Phase des Heranwachsens der Erzählerin 9 Kofman 1994. S. 9. 10 Ebd. 11 Marie-­Hélène Viguier. Tempus-­Semantik. Das franzö­sische Tempussystem. Eine integrative Analyse. Berlin, Boston 2013. S. 123. 12 Kofman 1994. S. 9.

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zum Liebesobjekt par excellence, dessen Versagen sie als Liebesverlust empfindet – „Il m’a ‚lâchée‘ avant que je puisse me décider à l’abandonner.“ 13 –, löst der beständige Anblick des geflickten Füllfederhalters auf dem Schreibtisch einen nicht zu bändigenden Schreibzwang aus. Das Schreiben bzw. die Schrift erscheint hier als Aufschub eines unerfüllten Begehrens, das zu einer unaufhör­lichen Produktivität führt, denn bereits im nächsten Abschnitt verbinden sich die letzten Worte des ersten Absatzes „[…] et il me contraint á écrire, écrire“ trotz Zeilensprungs mit dem Subjekt des ­folgenden Satzes: „Mes nombreux livres ont peut-­être été des voies de traverse obligées pour parvenir à raconter ‚ça‘.“ 14 In beiden Aussagen fällt auf, dass die Erzählerin den Schreibakt als unfreiwillige Inbesitznahme durch einen traumatischen Verlust des Liebesobjekts präsentiert und damit die Vorstellung des Schreibens als Ergebnis eines selbstbestimmten, selbstgewissen Schöpfungsaktes zurückweist. So, wie der Stift an die Stelle ihres verschwundenen Vaters tritt, sprechen die Bücher für sie. Getilgt in ­diesem Schreibprozess sind alle direkten Spuren der Aussageinstanz, die reduziert auf indirekte pronominale Markierungen gleichsam zum Schauplatz einer écriture wird, die sich in den Dienst des „ça“ stellt. „Ça“ als Kurzform von „cela“ ist ein unbestimmtes Demonstrativum, das auf eine nähesprach­liche Verwendung beschränkt ist. Es verweist in der Regel auf etwas, was zuvor erwähnt wurde, bleibt allerdings in der konkreten Referenz offen. Ebenso wie „ceci“ und „cela“ lässt sich „ça“ jedoch nicht in seiner Verweisrichtung festlegen, sondern kann ebenso ana- wie katadeiktisch referieren.15 Als letztes Wort des ersten Kapitels von Rue Ordener, rue Labat ergeben sich insofern unterschied­liche Mög­ lich­keiten der Bezugnahme für „ça“: Es kann in seiner anadeiktischen Verwendung auf das Sujetfeld anspielen, das sich aus Vater-­Füllfederhalter-­Erinnerung versus Entdeckung der sexuellen Differenz-­Kastra­tionskomplex-­Penisneid konstituiert. In seiner kataphorischen Verweisung stellt „ça“ den formalen Zusammenhalt zu dem folgenden Text her, der in Rückbindung an den Titel von einem doppelten Trauma berichtet: von der Deporta­tion und dem Verlust des Vaters in der Rue Ordener und von dem Überleben Sarah Kofmans als enfant cachée in der Rue Labat. Darüber hinaus erscheint das diskursdeiktische Pronomen in Anführungszeichen und ist damit syntaktisch hervorgehoben. Diese Herausstellung zeigt die zentrale Posi­tion von „ça“ als polyvalenten Bezugspunkt des Erzählens, das nicht nur die bislang nicht erzählte Kindheit Sarah Kofmans, sondern zugleich das unhintergehbare

13 Ebd. 14 Ebd., Herv. d. Verf. 15 Vgl. Christiane Maaß. Diskursdeixis im Franzö­sischen. Eine korpusbasierte Studie zu Semantik und Pragmatik diskursdeiktischer Verweise. Berlin, New York 2010. S. 147 – 149.

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Wirken des Freud’schen „Es“ aktualisiert.16 Im „ça“ verbergen sich demnach die unterdrückten und verdrängten Wünsche und Impulse des erzählenden Ich, das das eigent­liche Zentrum des Geschehens konstituiert. Bereits in der Einleitung zu L’enfance de l’art. Une interpéta­tion de l’esthétique freudienne stellt Sarah Kofman den subversiven Charakter der Psychoanalyse Freuds heraus, die mit der metaphy­ sisch verankerten Vorstellung eines autonomen Subjekts bricht und den Künstler ebenso als „grand homme et héros“ als auch als „substitut et meurtier du père“ 17 ausweist. Sie unterscheidet ­zwischen dem, was Freud sagt, und dem, was er macht, und akzentuiert die Unmög­lichkeit, z­ wischen der Psychologie des Ich und des Es zu trennen. „Si on lit les textes de Freud selon une méthode de déchiffrage qu’il nous a lui-­même enseignée, en distinguant ce qu’il dit et ce qu’il fait réellement dans son discours, on s’aperçoit que, malgré un langage appartenant encore à la clôture de la métaphysique, Freud n’est pas prisonnier de son idéologie.“ 18 Dieses Oszillieren ­zwischen Enthüllen und Verbergen, z­ wischen Schreiben und Leben lässt sich ebenso auf Rue Ordener, rue Labat übertragen. Indem sich die Erzählerin als aussagende Instanz zurücknimmt und das „ça“ in den Vordergrund rückt, verweigert sie sich einer eindeutigen Zuordnung und Identifika­tion. Sie tritt in ­diesem ersten Kapitel als Instanz in Erscheinung, die die einzelnen biografischen Fragmente in einem Text anordnet und zugleich in größtmög­liche Distanz zu sich selbst tritt. Der Schmerz und die verdrängten Gefühle werden ausgespart und verwandeln sich in den Katalysator einer écriture, die jede Ordnungsstruktur unterläuft. III. Duplizität(en)

Die doppelte räum­liche Rahmung, die zugleich a-­chronolo­gische und chronolo­gische Ordnung der Erzählung und die Mehrdeutigkeit des „ça“ als ana- bzw. katadeiktischer Referenzmarker und als Freud’sches Es sind Bestandteile einer „technique de 16 Es gibt noch einen weiteren Text Sarah Kofmans, der „ça“ prominent im Titel führt, der jedoch aufgrund der gebotenen Länge der Beiträge nicht mehr in die Argumenta­tion aufgenommen werden konnte. „Ça cloche“ lautet der franzö­sische Titel des Artikels (dt. = das/ Es hinkt/hapert, in der offiziellen deutschen Übersetzung allerdings „Auf wackligen Füßen“, was ich persön­lich nicht gelungen finde) und es handelt sich um eine kommentierende Lektüre insbesondere von Derridas Glas. Hier zeigen sich auffällige Ähn­lichkeiten zu der von Kofman in Glas analysierten écriture du m’ec und ihrer eigenen Schreibweise. Vgl. Sarah Kofman. „Ça cloche“ Sarah Kofman. Lectures de Derrida. Paris 1984. S. 115 – 151, S. 145. 17 Sarah Kofman. L’enfance de l’art. Une interpréta­tion de l’esthétique freudienne. Paris 1985 (1979). S. 28. 18 Ebd. S.  40 – 41.

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désorienta­tion“  19, einer Technik der Verwirrung, die Sarah Kofman bereits in Com­ ment s’en sortir? mit der Aporie verbindet. In seiner etymolo­gischen Wortbedeutung steht der Begriff Aporie, griechisch aporía, für Ausweglosigkeit, für Kofman sind die mög­lichen Übersetzungen jedoch unzuläng­lich, da sie das Bedeutungsfeld einschränken und verwandte semantische Felder wie euporía unberücksichtigt lassen. So wird im Franzö­sischen poros mit „expédient (= Ausweg)“ und aporía mit „­embarras (= Ratlosigkeit)“ wiedergegeben. Die beiden Begriffen eigene Wurzel „perao (= überqueren)“ 20 bleibt in ­diesem Zusammenhang meist unberücksichtigt, was insofern problematisch ist, als das Moment des Überquerens auch als mög­licher Weg gedeutet werden kann, der den Menschen aus einem Denken in Selbstwidersprüch­lichkeiten herauszuführen in der Lage ist. In ihrem Essay zur Aporie, der den ersten und umfassenden Teil des Bandes Comment s’en sortir? bildet, zeigt Sarah Kofman die mannigfaltigen Wechselwirkungen ­zwischen dem Vorgehen der Sophisten und den platonischen Dialogen auf, die allesamt aporetisch enden. Die Sophisten gelten in der Philosophiegeschichte als „Wortverdreher, Schwätzer, Betrüger“ und repräsentieren den negativ konnotierten Prototypen eines Gelehrten, der seine rhetorischen Fähigkeiten einsetzt, um den anderen zu seinen Gunsten zu manipulieren. „Sophistik ist nach Aristoteles die Philosophie des Scheinens, d. h. die Kunst, durch falsche Dialektik das Wahre mit dem Falschen zu verwirren und durch Disputieren, Widerspruch und Schön­ schwatzen Beifall und Reichtum zu erwerben; sophistisch heißt demnach s. a. trüge­ risch, Sophisterei ein verfäng­liches Räsonnement.“ 21 Sarah Kofman sieht jedoch gerade in der Neigung der Sophisten, den Diskurs permanent durch das Aufdecken von Widersprüch­lichkeiten zu vereiteln, paradigmatisch jene aporetischen Verfahren präfiguriert, die in den platonischen Dialogen am Werke sind.22 Jenseits der Vorstellung einer Überwindung der sophistischen „Technik der Verwirrung“ akzentuiert sie die Rezep­tion bzw. Einverleibung ­dieses Denkens sich permanent vervielfachender Differenzen durch die sich konstituierende platonische Philosophie. Der Sophist avanciert in Kofmans Lesart zur Verkörperung der Aporie, er, der seine Gesprächspartner stets durch seine Rhetorik zu paralysieren sucht, ist selbst nicht zu fassen, 19 Sarah Kofman. Comment s’en sortir? Paris 1983. S. 33. 20 Ebd. S. 17. 21 Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe. Hg. v. Friedrich Kirchner u Carl Michaëlis. Leipzig 51907. S. 585. 22 Für Derrida lässt sich Sarah Kofmans Denken, Schreiben und Sprechen durch den permanenten Protest bzw. die Proteste gegen jede tradi­tionelle Setzung, gegen jedes übernommene Urteil kennzeichnen, vgl. Jacques Derrida. „Sarah Kofman (1934 – 1994) …“. The Work of Mourning. Hg. v. Pascale-­Anne Brault u. Michael Naas. C ­ hicago u. London 2001. S. 165 – 188, S. 168.

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bleibt ein permanent sich wandelndes Wesen, das sich jedem Zugriff entzieht. In dem Maße, in dem er sich nicht klassifizieren lässt, werden die Vielgestaltigkeit, die Duplizität, die Wendigkeit, die Zweideutigkeit und die quälerische Ambiguität zu den Charakteristika seiner Erscheinung. Auch wenn Platon die Sophisten verurteilt und symbo­lisch zu töten sucht, ermög­lichen sie in ihrer Funk­tion als Doppelgänger die Begründung der platonischen Philosophie. „Comme dans toutes les histoires de double la mort de l’un signe l’arrêt de mort de l’autre. Piéger le sophiste, c’est se piéger ‚soi-­même‘. Car renoncer à la logique de l’identité, c’est aussi perdre son identité comme assurée, son authenticité, c’est en quelque sorte se suicider. C’est renoncer à la pureté philosophique et reconnaître que le mimétique entache et entame toujours déjà le philosophique.“ 23

Das, was Sophisten und Platoniker eint, sind die Aufgabe einer Logik der Ununter­ scheidbarkeit und das unaufhebbare Ineinander von Theorie und Praxis. Gemäß dem aporetischen Prinzip, dass das Eine ebenso das Vielgestaltige und Unbestimmte ist wie das Vielgestaltige und Unbestimmte das Eine, setzt sich grundsätz­lich jeder philosophische Diskurs dem Verlust einer als gesichert angenommenen Identität aus, was auch als Form einer ungeschützten Selbstpreisgabe und damit als Selbstmord gedeutet werden kann. Das unend­liche Spiel mit Differenzen, der permanente Aufschub eines Zentrums, das sich in Paradoxa auflöst, und der damit verbundene Prozess einer konsequenten Desubjektivierung sind in der Perspektive Kofmans Kennzeichen eines modernen Denkens, das bereits in der Antike seinen Anfang nimmt und nicht, wie Heidegger darlegt, mit dem Discours de la méthode ­Descartes. So wird erst am Ende des Essays zur Aporie deut­lich, dass Kofmans Erörterung der Aporie als Verfahren der platonischen Dialoge auch als Relektüre Heideggers zu verstehen ist. Gleichzeitig nimmt sie sich selbst auch hier – parallel zum Beginn von Rue Ordener, rue Labat – wieder zurück und gewährt die Schlussworte Maurice Blanchot, der es aus ihrer Sicht wie kein anderer verstanden hat, das aporetische Prinzip in die Gegenwart der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu übertragen, indem er seine Erzählung La Folie du Jour mit den Worten beginnen lässt: „Je ne suis ni savant ni ignorant.“ 24 Doch noch viel wichtiger als diese unmittelbare intertextuelle Bezugnahme auf die Worte Eros’ im Symposion ist Kofman die radikale Absage Blanchots an die Mög­lichkeit der Erzählung einer Geschichte, die sie in den letzten Zeilen des Essays zur Aporie und s­ päter auch in den Paroles suffoquées aufnehmen wird. „Un récit? Non, pas de récit, plus jamais“, lässt Blanchot den

2 3 Kofman 1983. S. 38 f. 24 Ebd. S. 98.

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Erzähler in La Folie du jour von 1947 sagen und fortan wird er darauf verzichten, seine Texte als récit zu bezeichnen.25 Die Unmög­lichkeit einer Erzählung und die gleichzeitige Notwendigkeit, einen récit zu verfassen, der genau von dieser Zerrüttung Zeugnis ablegt, markiert auch für Kofman die unabdingbare Prämisse ihres eigenen Schreibens. Deut­lich wird hier jedoch, dass sie ihre Präsenz als diskursive Aussageinstanz auf ein Minimum reduziert und es vorzieht, sich hinter Zitaten zu verbergen, als selbst das Wort zu ergreifen und deut­lich Stellung zu beziehen, ein kommentierendes, mäanderndes Verfahren, das sie in den Paroles suffoquées so exzessiv verwendet, dass in vielen Passagen unklar ist, wer spricht. Die diskursive Produk­tion von unaufhebbaren Widersprüch­lichkeiten, die Kofman unter der „technique de la désorienta­tion“ subsumiert, unterläuft nicht nur die Grenzen z­ wischen Philosophie und Lebenspraxis, sondern auch z­ wischen ihren philosophisch-­kulturgeschicht­lichen Lektüren Freuds oder Nietzsches und ihrer Lebensgeschichte. Bereits in L’enfance de l’art spricht sie von einer „double lecture (= doppelte Lektüre)“ 26 als Methode ihrer Auseinandersetzung mit der Posi­tion Freuds zu den Künstlern und den Künsten. In dem Essay zur Aporie präsentiert sie die permanenten Dopplungen des Sophisten als Überlebensstrategie, die es ihm ermög­lichen, sich aus jeder vermeint­lich ausweglosen Situa­tion zu befreien. Die Verdopplung ist für Kofman jedoch nicht allein dem Diskurs selbst als produk­tives Prinzip inhärent, sondern auch an ihre Selbsterfahrung gebunden, an das Erleben der Alterität des eigenen Ich, die sie in dem frühen autobiografischen Prätext, „‚Ma vie‘ et la psychoanalyse“ von 1976, beschreibt. Hier blickt sie gleichsam von außen zurück auf die Wandlung ihres Ich in und während der Psychoanalyse und stellt zwei mög­liche Varianten des Selbstzeugnisses heraus: zum einen den linearen, kontinuier­ lichen Lebensbericht, der keine Lücken und Leerstellen aufweist, den Zuhörer jedoch unberührt lässt, zum anderen eine Form des Körper-­Sprechens, das jenseits eines ra­tional fassbaren Diskurses der Artikula­tion der Erinnerungen, Träume, Fehlleistungen und Wiederholungen Raum gibt.27 Beide Sprechweisen bedingen einander, insofern erst das lineare, ungebrochene Abspulen des Erlebten zu Beginn der Analyse Kofmans die Abwendung von einem sinn- und zielorientierten ­Erzählen und die Rückkehr der damit verbundenen Emo­tionen und Affekte ermög­licht. „Tout a ‚commencé‘ quand j(e n’)eus plus rien à dire, quand je ne sus plus par quoi 2 5 Vgl. Sarah Kofman. Paroles suffoquées. Paris 1987. S. 21. 26 Kofman 1985. S. 9. 27 Vgl. Sarah Kofman. „‚Ma vie‘ et la psychoanalyse“. Les Cahiers du GRIF 3 (1997): S.  171 – 172, S. 171. Zu dem Aspekt der körper­lichen Einschreibung eines Kindheitstraumas, der hier im Rahmen des Artikels nicht vertiefend erörtert werden kann, vgl. Roberta Culbertson. „Embodied Memory, Transcendence, and Telling: Recounting Trauma, Re-­establishing the Self“. New Literary History: A Journal of Theory and Interpreta­tion 26 (1995): S. 169 – 195.

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commencer ni par où finir.“ 28 Erst der komplette Orientierungsverlust führt zu einer Verschiebung der Fokalisierung und lässt hinter der Fassade des Erzählten das zum Vorschein kommen, was in dem klar strukturierten Lebensbericht ausgespart blieb, in dem weib­lichen Körper jedoch gespeichert war. Fortan brechen Schreie, kaum artikulierte Wörter und Töne aus ihr hervor, die sie als Selbstentfremdung erfährt. „Je ne m’étais jamais entendue parler de la sorte et ‚je‘ ne ‚me‘ reconnaissais plus.“ 29 Ihr Mund wird zum symbo­lischen Schauplatz der Reartikula­tion der unterdrückten sexuellen Triebe, sodass Sprache und Leib sich in einem unmittelbaren Wechselverhältnis befinden. Erlebt sich Kofman als „verstopft“, so versagen auch die Worte. An solchen Tagen liegt sie auf dem Diwan und nichts kommt aus ihr raus, was zur Folge hat, dass „‚ça‘ ne pourrait rien donner, que rien ne passerait.“ 30 Auffallend an d­ iesem ersten autobiografischen Fragment sind die Verwendung der Anführungszeichen als Hinweis auf ein uneigent­liches, doppeltes Sprechen und das Auftauchen des „ça“, das in ­diesem Fall auf das Aussprechen des Unsagbaren referiert, das im Inneren verborgen ist, und damit zugleich eine (geheime) Verbindungslinie zu der späteren Erzählung Rue Ordener, rue Labat herstellt. Denn auch hier bezieht sich das Demonstrativpronomen auf das zu erzählende Leben der Erzählerin, das bereits im Titel des 1976 veröffent­lichten Bruchstücks in Anführungszeichen gesetzt ist und damit in einer ebenso herausgehobenen wie ironisch distanzierten Posi­tion erscheint. Damit evoziert die Sprecherin den Eindruck, niemals Teil der eigenen Geschichte zu sein und sich immer außerhalb des Geschehens zu befinden. Sie wird in Besitz genommen von der beinah ma­gisch anmutenden Anziehungskraft aporetischer Schlüsse oder von den Ereignissen in ihrem Leben und droht dabei sich selbst aufzulösen oder gar zu verschwinden. Gleichzeitig insistiert sie in dem ­kurzen Text „‚Ma vie‘ et la psychoanalyse“ darauf, dass nur die Worte die Kraft besitzen, sie ihrer Existenz zu versichern, ja dass das ständige Hervorkehren ihres Inneren nach außen im Rahmen der Psychoanalyse nur den Sinn hat, dass sich ein Austausch mit dem anderen etabliert, der ihre „Kacke“ bzw. ihren „Dreck“ in Gold verwandelt und sie weiterleben lässt. „D’où la nécessité impérieuse d’entendre mes paroles reprises et prises. Non pour qu’elles soient affectées de sens, interprétées. Mais pour qu’un échange s’établisse, qui transmue le ‚caca‘ en or. Qui me permette de me redresser, tenir debout, et repartir.“ 31 Die enge Verzahnung von Leben und Werk, das Ineinander von close reading antiker Philosophen oder zeitgenös­sischer wissenschaft­licher Abhandlungen und

28 Ebd. 29 Ebd. S. 172. 30 Ebd. 31 Ebd.

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Aktualisierung kind­licher Traumata ist in keinem Band so offensicht­lich wie in Com­ ment s’en sortir?, der sich aus dem Essay zur Aporie und einem autobiografischen Text mit dem Titel „Cauchemar. En marge des études médiévales“ zusammensetzt. Diese beiden Schriften sind nicht nur durch den Titel verbunden, der als rhetorische Frage auf keine eindeutige Antwort zielt, sondern auch durch zwei Radierungen Goyas: Auf dem Bucheinband ist ein an die Mauer gelehnter Gefangener zu sehen, dessen Arme hinter dem Rücken gefesselt sind und dessen Füße von einer Metallschnalle gewaltsam zusammengehalten werden. Sein Kopf ist gesenkt und seine Haare fallen ins Gesicht, das nicht zu erkennen ist. Das, was ­dieses Bild nur andeuten kann bzw. als vorgängig oder gegeben voraussetzt, nimmt in der zweiten Zeichnung Gestalt an, die z­ wischen den beiden Texten eingefügt ist: der Wahnsinn der Angst, der als übergroße komplett verhüllte Figur die auf dem Boden liegenden Männer bedroht, deren Gesichter vor Panik verzerrt sind. Die dunkle, bedroh­liche Atmosphäre der beiden Radierungen evoziert ein Eingeschlossensein des Menschen und zugleich seine schutzlose Exposi­tion angesichts einer bedroh­lichen Übermacht, zwei Aspekte, die sich in einem Spannungsverhältnis zur grundsätz­lich positiv konnotierten Produktivität eines fließenden, apo­retischen Denkens in Differenzen befinden. So versinnbild­licht die Darstellung des Gefangenen auf dem Titelbild die Mög­lichkeit der negativen Aporie, die Kofman im Unterpunkt „La double aporie“ des ersten Teils erörtert und am Höhlengleichnis exemplifiziert.32 In ihrer Interpreta­tion ­dieses Ursprungssettings philosophischer Erkenntnis weist sie darauf hin, dass sich die Gefangenen in der Höhle zu Beginn in keiner aporetischen Situa­tion befinden, da sie sich weder der Stricke, die sie fesseln, noch des Ursprungs der Schattenbilder bewusst sind. Sie sind unwissend und halten ihr Nichtwissen für Gewissheit. Erst in dem Augenblick, in dem der Philosoph in die Höhle hinabsteigt, mit ihnen zu sprechen beginnt und sie gewaltsam ins Licht zu führen sucht, zerfällt ihre Seinsgewissheit. „Pas d’aporie, à proprement parler, sans passage d’un état habituel qui offre toute sécurité, à un nouvel état, angoissante comme tel. Passage plein de troubles et de souffrances, d’apories, quand on s’élève par exemple de l’obscurité à la lumière.“ 33 Die Aporie, so wird in dieser symbo­lischen Inszenierung des Aufstieges aus der dunklen Welt der irdischen Dinge in das lichte Reich metaphy­sischer Transparenz deut­lich, konstituiert nur ein Durchgangsstadium, einen dunklen Übergang, der erst das Begehren nach Befreiung weckt, das sich in Form der Entbindung von Ideen oder in der Hinwendung zum anderen in der Liebe realisieren kann.

3 2 Vgl. Kofman 1983. S. 41 – 57. 33 Ebd. S. 49.

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Es ist jedoch weniger das Helle, Lichte oder anders gesagt die Gewissheit philosophischer Erkenntnis, die Sarah Kofman affiziert, als das Dunkle, Unheim­liche und damit die Mög­lichkeit des Verharrens in einer aporetischen Situa­tion. So beginnt der knappe zweite Text in Comment s’en sortir?, „Cauchemar“, mit einer Hommage an Bernard Cerquiglini, der sich in dem zweiten Teil seiner Monografie La parole médiévale mit der Vieldeutigkeit des Adverbs „mar“ in der mittelalter­lichen Literatur beschäftigt, indem er unabhängig von dem etymolo­gischen Ursprung die unterschied­lichen diskursiven Kontexte analysiert, in denen diese Formel für die „proféra­tion médiévale du malheur“ 34 (= mittelalter­liche Lautwerdung des Unglücks, Unheils) auftaucht.35 Für Sarah Kofman steht die Wiederentdeckung d ­ ieses im modernen Franzö­sisch verschwundenen Restes des mittelalter­lichen Diskurses in unmittelbarem Zusammenhang zu einem „cauche-­mar“, in dem sie vom Unheil „getreten“ wird (franz. „cauche“ kommt von lat. „calcare“ = treten). In ­diesem Albtraum befindet sie sich gemeinsam mit ihrer M ­ utter, ihren Brüdern und Schwestern in einem Zimmer ihrer Kindheit. Es ist Nacht, ein Vogel, eine Art Fledermaus mit menschlichem Kopf, kommt herein und stößt folgende Schreie aus: „Malheur à vous! Malheur à vous!“ 36 Sarah und ihre ­Mutter fliehen und finden sich in Tränen aufgelöst in der Rue Marcadet wieder, der Verbindungsstraße z­ wischen der Rue Ordener, in der sich der Wohnsitz der Kofmans befindet, und der Rue Labat, in der sich Sarah und ihre M ­ utter in der Wohnung Mémés bis zum Ende des Krieges verstecken. Sie wissen, dass sie sich in Lebensgefahr befinden. Mit ­diesem Gefühl der (Todes-)Angst erwacht Sarah Kofman. Das Kindheitstrauma der Flucht vor der Verfolgung durch die Gestapo wird durch eine andere für Kofman angstbesetzte Situa­tion aktualisiert. Sie soll „mar-­di“, Dienstag, einen Flug nehmen, dessen Start aufgrund eines Streiks auf die Nacht verschoben wurde, was sie sehr beunruhigt. Für sie besteht eine Verbindung ­zwischen dem „cauche-­mar“, dem „mar-­di“, an dem sie fliegen soll und an dem sich vielleicht dieser abrupte Abschied von der Rue Ordener ereignet hat, der „mala hora“, die sie mit der Nacht gleichsetzt, und der Rue „Mar-­cadet“, die sie zu ihrem Versteck in der Rue Labat führen wird. „Come mar fui!“, lautet der eingeschobene Kommentar Kofmans im Anschluss an die Kontextualisierung des Alptraums als Reenactement eines kind­lichen Schreckens. In ihrer Todesangst kommt demnach ein Unheil zum Ausdruck, das zum einen ebenso wie das Adverb „mar“ lange Zeit verborgen war und das zum anderen als zeitloses, universales Leiden ausgewiesen wird. Die Dopplung der aktuellen Flugangst in der extrem angstbesetzten Vergegenwärtigung früherer

34 Ebd. S. 106. 35 Vgl. Bernard Cerquiglini. La parole médiévale. Paris 1981. S. 125 – 245. 36 Kofman 1983. S. 109.

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Traumata macht es ihr jedoch mög­lich, sich aus der Situa­tion der Bedrohung zu befreien. „Seul le spectacle d’une angoisse ancienne – malgré l’énorme affect d’angoisse qui l’accompagnait – pouvait me permettre de dominer l’angoisse actuelle.“ 37 In einem sich an die Schilderung ­dieses „cauche-­mar“ anschließenden Postskriptum entdeckt Kofman, dass sich in der im Traum auftauchenden Fledermaus, die sie zunächst als jenen Mann der Kommandantur gedeutet hat, der ihre M ­ utter vor der bevorstehenden Deporta­tion warnte, eine zweite traumatische Kindheits­erinnerung verbirgt, die erneut durch die Lektüre einer wissenschaft­lichen Abhandlung ausgelöst wird. In Lilith ou la mère obscure von Jacques Brill erfährt Kofman, dass die Fledermaus die privilegierte Erscheinung Liliths ist, jener Eva vorangehenden ersten Verführerin und Zerstörerin der jüdischen Kultur. Darüber hinaus ist in der jüdischen Tradi­tion Marewip eine weitere phy­sische Manifesta­tion Liliths, die Kofman zu einem weiteren Phantom führt, der Maredewitch, das sie ihre ganze Kindheit lang verfolgt hat: Immer, wenn sie nicht brav war, schloss ihre ­Mutter sie zur Bestrafung in eine dunkle Kammer ein und drohte ihr damit, dass die Maredewitch sie holen kommen würde, die sich das Kind nicht als Fledermaus, sondern als sehr alte Frau vorstellte. Insofern haben sich im Traum in dem Bild des nächt­lichen Vogels zwei Schreckensgestalten der Kindheit Kofmans verdichtet, der Unglücksbote der Kommandantur und die Hexe, die Maredewitch, zwei Figuren, die trotz der mit ihnen verbundenen Todesangst das Überleben Kofmans sichern. Ohne die abend­ liche Warnung des Mannes der Kommandantur wäre Sarah Kofman gemeinsam mit ihrer M ­ utter deportiert worden. Und die Gestalt der Hexe als Inkarna­tion des Bösen verweist auf die kind­liche Ambivalenz gegenüber der ­Mutter, die mal als gut und mal als böse erlebt wird. Gleichzeitig deutet sich auch hier die Dopplung der Mutterfigur an, die Kofman in der Rue Labat als enfant cachée erfährt. IV. Wandlung(en)

Das Lebens-­Werk Kofmans ist von einem tief gehenden Zweifel an dem Diskurs eines mit sich selbst identischen Subjekts gekennzeichnet. All ihre Texte lassen eine Aussageinstanz erkennen, die sich im Prozess des Lesens und Schreibens entweder mit den Gegenständen, von denen sie spricht, oder mit den Ereignissen, von denen sie erzählt, vermischt. Weder in ihren Kommentaren philosophischer oder literarischer Texte noch in ihren Versuchen, von sich selbst zu erzählen, lässt sich die Posi­tion des schreibenden Ich genauer bestimmen, da Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen. Der Eindruck, in einer zerfließenden Zeit­lichkeit

37 Ebd. S. 110.

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zu leben bzw. gefangen zu sein, zeigte sich exemplarisch in dem Band Comment s’en sortir?, in dem sich die Diskurse der Antike und der Gegenwart ebenso unaufhebbar miteinander verschränken wie mittelalter­liche Ausdrucksformen des Unheils und Kindheitstraumata. Auch in Rue Ordener, rue Labat ist die Struktur der autobio­ grafischen Erzählung durch eine komplexe Verschachtelung der zeit­lichen Ebenen und damit verbundenen Perspektiven geprägt. Die Anordnung der einzelnen Sequenzen orientiert sich dabei nicht an den biografischen Eckdaten der Verfasserin, sondern an dem traumatischen Verlust des Vaters, den die Erzählerin im e­ rsten Kapitel für ihren Schreibzwang verantwort­lich macht. Insofern referiert jenes „ça“, von dem im letzten Satz des Prologs die Rede ist – „Mes nombreux livres ont peut-­ être été des voies de traverse obligées pour parvenir à raconter ‚ça‘.“ 38 –, auf d ­ ieses psychische Trauma, das nicht auf eine konkrete körper­liche Verwundung zurückzuführen ist, sondern auf eine Reizüberflutung bzw. Überforderung des Ich, die durch ein Ereignis verursacht wird, das die psychische Organisa­tion dauerhaft verändert.39 Die Unbestimmtheit des „ça“ korrespondiert in ­diesem Zusammenhang mit der nur schwer erfassbaren metaphorischen Verwundung der Seele, die in unterschied­ lichen Symptomen zum Ausdruck kommt. Das sinnfälligste Phänomen zeigt sich in der Zerrüttung der zeit­lichen Ordnung. „Das Trauma bedeutet für die Zeitstrukturierung eine Zäsur“, schreibt Gertrud Koch, „die sich als black box ­zwischen die Zeit vor und nach dem traumatischen Ereignis schiebt und als diskontinuier­lich erleben lässt. Die black box gewinnt die Gestalt eines zeitvernichtenden Raumes.“ 40 So beginnt das zweite Kapitel von Rue Ordener, rue Labat mit der Schilderung der Verhaftung Berek Kofmans am 16. Juli 1942, dem einzigen Datum, das im Inhaltsverzeichnis genannt wird und das mehrfach als zeit­licher Referenzpunkt auftaucht. Der 16. Juli 1942 markiert für die Erzählerin einen individuellen und zugleich kollektiven Wendepunkt in der Geschichte der Verfolgung der franzö­ sischen Juden. Die Verhaftung und Deporta­tion ihres Vaters nach Drancy impliziert das Ende ihrer bis dahin behüteten Kindheit in der Rue Ordener und zerstört das familiäre Zusammenleben der aus Polen eingewanderten Familie Kofman. Fortan muss sich die M ­ utter allein um die sechs Kinder kümmern und für ihr Überleben in einer Umwelt sorgen, die zunehmend feind­lich auf die jüdische Bevölkerung reagiert. Denn nach dem 16. Juli 1942 bleibt die Verfolgung der franzö­sischen Juden nicht auf die Männer beschränkt, sondern weitet sich auf die Frauen, Kinder und Alten aus. „Après le 16 juillet 42 les rafles s’amplifièrent: les femmes, les vieillards, les enfants, les Juifs naturalisés français comme les autres, personne ne fut plus

3 8 Kofman 1994. S. 9. 39 Vgl. Angela Kühner. Trauma und kollektives Gedächtnis. Gießen 2008. S. 45 f. 40 Gertrud Koch. Die Einstellung ist die Einstellung. Frankfurt a. M. 1992. S. 167.

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épargné.“ 41 Schon hier zeigt sich, dass das psychische Trauma Kofmans nicht allein an das Verschwinden des Vaters, sondern an eine Serie von Ereignissen gebunden ist, die das achtjährige Kind mit der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen, der Kollabora­tion des Vichy-­Regimes und der direkten Verfolgung durch die deutschen Na­tionalsozialisten konfrontiert.42 „Le 16 juillet 1942“ sind die ersten Worte des zweiten Kapitels, die das Leben Kofmans in eine Zeit vor und eine Zeit nach der Inhaftierung des Vaters teilen. Auf der Makroebene von Rue Ordener, rue Labat bilden der Verlust des Vaters und der Tod Mémés, der Frau aus der Rue Labat, mit dem der Text schließt, den Rahmen der Erzählung. Zwischen ­diesem Anfangs- und Endpunkt lassen sich sechs Sequenzen unterscheiden: 1. Verhaftung, Deporta­tion und Ermordung des Vaters in Auschwitz (Kapitel II–III); 2. Analepse: Vorgeschichte des familiären Zusammenlebens im Rhythmus der jüdischen Feste und Gebote (Kapitel IV –V); 3. Unmittelbare Bedrohung der Verfolgung für die ­Mutter und Geschwister (Kapitel VI –X); 4. Leben im Versteck in der Rue Labat gemeinsam mit der ­Mutter (Kapitel XI–XVII); 5. Prolepse: Kommentare der (späteren) Philosophin und Kulturwissenschaftlerin (Kapitel XVIII–XIX); 6. Die Nachkriegszeit: Trennungen und schu­lischer Erfolg (Kapitel XX –XXIII ). Die Wiedergabe von Kindheit und Adoleszenz bis hin zur Schwelle des Erwachsenseins realisiert sich als Erzählung eines doppelten Über­ lebens als Tochter ohne Vater und als enfant cachée.43 Der 16. Juli 1942 erlangt dabei erst nachträg­lich die Bedeutung einer traumatischen Zäsur, als die ­Mutter und die Geschwister von einem Überlebenden nach Kriegsende erfahren, dass der Vater in Auschwitz ermordet worden ist, weil er sich weigerte, am Sabbat zu arbeiten.44 Die Schilderung des Todes Berek Kofmans in Auschwitz taucht nicht erst in Rue Ordener, rue Labat auf, sondern findet bereits in abgewandelter Form Eingang in die Paroles suffoquées (1987),45 die gemeinsam mit der Veröffent­lichung des Artikels „Sacrée nourriture“ im gleichen Jahr auf eine Verschiebung der Perspektive

41 Kofman 1994. S. 23. 42 Vgl. Kühner 2007. S. 42 f. 43 Zu dem Trauma der „versteckten jüdischen Kinder“ vgl. Yoram Mouchenik. „Ce n’est qu’un nom sur une liste, mais c’est mon cimetière“ Traumas, deuils et transmission chez les enfants juifs cachés en France pendant l’Occupa­tion. Paris 2006. Es existiert ein franzö­sischer Textkorpus von Zeugnissen der ehemaligen enfants juifs cachés, den erstmalig Isabella von Treskow im Hinblick auf seine konstitutiven literarischen Verfahren untersucht hat, vgl. Isabella von Treskow. „Ne te retourne pas – Récits d’enfants juifs persécutés en France“. Génocide, enfance et adolescence dans la littérature, le dessin et au cinéma. Hg. v. Silke Segler-­Meßner u. Isabella von Treskow. Frankfurt a. M. 2014. S. 183 – 208. 4 4 Vgl. Kofman 1994. S. 16. 45 Vgl. Kofman 1987. S. 41 f.

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im Lebens-­Werk Kofmans verweisen. Bereits 1983 hatte sie erstmals in dem Text „Cauchemar“ explizit auf das Trauma der Verfolgung Bezug genommen, das sie im Postskriptum in Rela­tion zu ihren frühkind­lichen Ängsten vor dem Erscheinen der Maredewitch setzt. Insofern kann keine Rede davon sein, dass Kofman die glück­lichsten Erinnerungen an die Zeit vor dem 16. Juli 1942 hat, wie in manchen kritischen Artikeln behauptet wird.46 Auch in Rue Ordener, rue Labat erwähnt die Erzählerin, dass ihre Trennungs- und Verlustängste schon als kleines Kind so groß waren, dass sie ihre Umgebung mit ihrem Geschrei tyrannisierte. Die Phantome und Traumata der f­ rühen Kindheit drängen sich in den 80er Jahren mehr und mehr in den Vordergrund der philosophisch-­kulturwissenschaft­lichen Auseinandersetzung Kofmans, waren jedoch von Anfang an in ihrem Werk präsent. Im XVII. Kapitel der Rue Ordener, rue Labat „Libéra­tions“ schildert die Erzählerin, dass sie als mittler­ weile 11-jähriges Mädchen zum Zeitpunkt der Befreiung von Paris so fixiert auf Mémé war, dass sie das Ende des Krieges und damit die Trennung von ihrer zweiten ­Mutter fürchtete. Obwohl es sogar zu einem Prozess kommt, in dem Mémé das alleinige Sorgerecht für ihre Adoptivtochter fordert und erhält, gelingt es schließ­ lich der ­Mutter Sarah Kofmans, ihre Tochter aus den Händen der Dame de la Rue Labat zu entreißen. Sarah selbst schreit und schlägt um sich, ist jedoch schließ­lich erleichtert. „Je me débattais, criais, sanglotais. Au fond, je me sentais soulagée.“ 47 Die Trennung von Mémé impliziert für die Erzählerin die zweite Zäsur in ihrem Leben, steht sie doch gleichzeitig für ihren Kampf um intellektuelle Freiheit und damit für den Bruch mit ihrer Herkunftsfamilie, die im Einklang mit der jüdischen Tradi­tion lebt und in der keine höhere Bildung für die Töchter vorgesehen ist. Diese innere Zerrissenheit ­zwischen zwei Müttern und damit gleichzeitig ­zwischen zwei Welten, einer laizistisch-­bürger­lichen und einer jüdisch-­orthodoxen, spiegelt sich in symbo­lischer Form auf dem Titelbild der ersten wissenschaft­lichen Veröffent­ lichung Sarah Kofmans, auf dem Leonardo da Vincis berühmter Londoner ­Karton abgebildet ist, der die Jungfrau Maria, ihre ­Mutter Anna und das Jesuskind im Spiel mit Johannes dem Täufer zeigt. Die beiden Frauen bilden eine Einheit und wirken in ihrer jugend­lich anmutenden Frische eher gleichaltrig denn als M ­ utter und Tochter. In dem XVII. Kapitel ihrer autobiografischen Erzählung, das auf die Schilderung der Trennung von Mémé folgt, verweist die Erzählerin auf L’enfance de l’art mit dem Gemälde Leonardo da Vincis auf dem Cover und zitiert eine lange Passage aus Freuds Deutung ­dieses Bildes. Damit assoziiert sie ihr Kindheitstrauma des enfant cachée mit dem des Renaissancemalers und verweist zugleich auf die

46 Vgl. Radisch 1995. 47 Kofman 1994. S. 71.

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künstlerische Produktivität als Mög­lichkeit, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten und zu bewältigen, wie es Freud in dem Zitat erläutert. Das künstlerische Artefakt, das die menschlichen Grundkonflikte in symbo­ lischer Weise verdichtet und transformiert, besitzt für Kofman das Potenzial, Ver­ gessenes oder Verdrängtes zu aktualisieren. So löst der Film von Alfred Hitchcock The Lady Vanishes in ihr stets die ­gleiche Angst und Panik aus, als die Hauptdarstellerin im Zug einschläft und beim Erwachen feststellen muss, dass sich auf dem Platz ihr gegenüber nicht mehr die nette alte mütter­lich wirkende Dame, sondern eine andere Frau befindet, die sich als Erstere ausgibt, jedoch kalt und hart ist. Kofmans Deutung dieser Schlüsselszene im XIX. Kapitel von Rue Ordener, rue Labat fungiert als Kommentar zu ihrer Ambivalenz sowohl gegenüber Mémé als auch gegenüber ihrer leib­lichen ­Mutter. Mémé, die aufgrund ihrer unverhohlenen antisemitischen Ressenti­ments Sarah in Suzanne umtauft, sie zugleich aber mit den jüdischen Philo­ sophen bekannt macht und sich auch nach Kriegsende um die schu­lische Ausbildung Sarahs kümmert. Ihre ­Mutter, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzt, um das ihrer Kinder zu retten, die aber wenig fürsorg­lich und warmherzig ist und keinen Blick für die intellektuelle Begabung ihrer Tochter hat. Im Rückgriff auf die Theorie Melanie Kleins bleibt für Sarah Kofman jedoch unentscheidbar, wie sie abschließend zum Hitchcockfilm schreibt, wer die gute und wer die böse ­Mutter ist, da beide Seiten untrennbar zusammengehören. „Le mauvais sein à la place du bon sein, l’un parfaitement clivé de l’autre, l’un se transformant en l’autre.“ 48 Die Unmög­lichkeit klarer Grenzziehungen und eindeutiger Zuordnungen steht in engem Zusammenhang mit der Auflösung der Chronologie als Effekt der Trauma­ tisierung und zeigt sich nicht nur auf der Makro-, sondern auch auf der Mikroebene von Rue Ordener, rue Labat. So beginnt das zweite Kapitel im Imperfekt und verweist damit auf die Vorgängigkeit des Erzählten, um dann in die Gegenwart zu s­ pringen und dadurch Gleichzeitigkeit zu signalisieren. In den ersten drei Abschnitten des Kapitels dominiert eine als vergangen ausgewiesene Innenperspektive, die die als traumatisch erlebte Situa­tion am 16. Juli 1942 reinszeniert. Als verantwort­licher Rabbiner hat der Vater seine Gemeindemitglieder vor der bevorstehenden Razzia an d ­ iesem Tag gewarnt, ist heimgekehrt und wartet nun darauf, selbst verhaftet zu werden, damit wenigstens seine Frau und Kinder verschont bleiben. „Il attendait et priait Dieu qu’on vienne le prendre pourvu que sa femme et ses enfants soient sauvés. Dans un coin de la pièce (la chambre de mon père, la plus grande et la plus belle de l’appartement, lambrissée et tapissée, la mieux meublée, mystérieuse et revêtue d’un caractère sacré car mon père y accomplissait des cérémonies religieuses diverses, mariages, divorces,

48 Kofman 1994. S. 77.

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circoncisions), j’observais ses moindres gestes, fascinée. Le souvenir du sacrifice d’Isaac (dont une reproduc­tion dans une bible illustrée où j’avais appris à lire très jeune l’hébreu m’avait souvent inquiétée) effleura mon esprit.“ 49

Im Rückblick evoziert die Erzählerin eine besondere Intimität ­zwischen Vater und Tochter, die sich in einem unmittelbaren Resonanzverhältnis zu befinden scheinen. Nimmt der erste Satz des dritten Abschnitts Bezug auf die Situa­tion des Vaters, der bereit ist, sein Leben zur Rettung der Seinen zu opfern, so macht der zweite Satz deut­lich, dass diese Situa­tion aus der Perspektive der Tochter dargestellt wird, die sich im gleichen Raum befindet und ihren Vater beobachtet. Die in Klammern folgende Beschreibung des väter­lichen Arbeitszimmers öffnet den Raum der Kindheit, der von dem Leben vor dem 16. Juli 1942 berichtet. Erzählendes und erzähltes Ich sind in ­diesem Abschnitt weder räum­lich noch zeit­lich strikt voneinander zu ­trennen, sondern durchdringen sich. Die flüchtige Manifesta­tion der Opferung Isaacs im Gedächtnis der Erzählerin kommt in d ­ iesem Zusammenhang einer unbewussten Übertragung und Aktualisierung der väter­lichen Ängste gleich. Zwei Verschiebungen finden hier statt: Zum einen markiert der Tempuswechsel vom imparfait ins passé simple einen vorläufigen Abschluss des erzählten Geschehens, zum anderen wird ein Geschlechterrollenwechsel evoziert, durch den die Tochter an die Stelle des letztgeborenen Sohnes tritt, der auch den Namen Isaac trägt, und sich damit indirekt mit dem Vater identifiziert. Die folgende Sequenz beginnt mit einer genauen Zeitangabe und situiert die Handlung in der Gegenwart: „Quatre heures de l’après-­midi. L’on frappe.“ 50 Damit verändert sich auch die Posi­tion der Erzählerin und sie vergegenwärtigt das vergangene Geschehen im Modus der Gleichzeitigkeit, als ob es sich im Augenblick des Erzählens ereignet. In ihrer Rolle als Augenzeugin gibt sie in externer Fokalisierung den folgenden Dialog ­zwischen der ­Mutter, dem Polizisten und ihrem Vater wieder, der sich zunächst in einem Zimmer versteckt und dann doch zur Tür kommt aus Angst, dass sonst seine Frau und Kinder verhaftet werden. Als die M ­ utter erst behauptet, dass Sarahs Bruder Isaac noch keine zwei Jahre alt sei, und dann auch noch hinzufügt, dass sie erneut schwanger sei, wechselt die Perspektive und der Leser bzw. die Leserin taucht unmittelbar in die Gedanken der achtjährigen Sarah ein, die sich sehr unwohl fühlt in ­diesem Augenblick, jedoch nicht, weil der Vater verhaftet wird, sondern weil sie weiß, dass ihre M ­ utter lügt, erst im Hinblick auf das Alter des Bruders, der vor zwei Tagen Geburtstag hatte, dann in Bezug auf die vermeint­liche Schwangerschaft. Ein Klammereinschub verdeut­licht hier die

4 9 Kofmann 1994. S. 11 f. 50 Ebd. S. 12.

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Diskrepanz ­zwischen dem Wissen der Erzählerin und der mora­lischen Entrüstung des Kindes angesichts des mütter­lichen Verstoßes gegen das Wahrheitsgebot. Das erzählende Ich erinnert daran, dass zu dem damaligen Zeitpunkt jüdische M ­ änner mit Kindern unter zwei Jahren von der Verhaftung und Deporta­tion verschont geblieben sind. Das Herausstellen des kind­lichen Unwissens durch die in Klammern gesetzte Erläuterung verleiht der geschilderten Situa­tion eine besondere Tragik, insofern das Mädchen Sarah nicht ermessen kann, was gerade passiert, die sich erinnernde Erzählerin jedoch schon. Für sie hat der 16. Juli 1942 einen Sonderstatus in ihrem Leben und ihrer Erinnerung, da sie und ihre Geschwister an ­diesem Tag zum ­letzten Mal ihren Vater gesehen haben, was ihnen zu dem damaligen Zeitpunkt nicht bewusst war. Alle Reak­tionen, Gesten und Worte werden vor d ­ iesem Hintergrund zu Präfigura­tionen eines endgültigen Abschieds, der für Berek Kofman, wie die Erzählerin weiß, in Auschwitz enden wird. Nachdem der Polizist gemeinsam mit den Eltern zur Wache gegangen ist, um die Situa­tion zu klären, bleiben die Geschwister allein schluchzend auf der Straße zurück. Diese Szene des Verlassenseins ist der einzige Moment in Rue Ordener, rue Labat, in der die Erzählerin das Leiden und den phy­sischen Schmerz der Geschwister offen hervorbrechen lässt. „Nous nous retrouvons tous les six dans la rue, serrés les uns contre les autres, sanglotant très fort et hurlant.“ 51 An dieser Stelle verzahnt sich das Trauma des erlebenden Ich mit der nach­­ träglichen Aktualisierung des Erlebten, ausgelöst durch die Lektüre einer griechischen Tragödie, auf die das erzählende Ich im letzten Abschnitt des zweiten Kapitels Bezug nimmt. Die griechischen Klagerufe rufen unmittelbar das Wehklagen der sechs ­Kinder auf, die nach ihrem Vater rufen, den sie niemals wiedersehen w ­ erden. „En lisant la première fois dans une tragédie grecque les lamenta­tions bien connues ‚ô popoï, popoï, popoï‘ je ne puis m’empêcher de penser à cette scène de mon enfance où six enfants, abandonnés de leur père, purent seulement crier en suffoquant, et avec la certitude qu’ils ne le reverraient jamais plus: ‚ô papa, papa, papa.‘“ 52 Das „jamais“ im letzten Abschnitt des zweiten Kapitels erscheint in Verbindung mit dem Kondi­tional und ist damit als Mög­lichkeit in die Zukunft projiziert. Zwischen diesen Schluss der Schilderung des 16. Juli 1942 und dem f­ olgenden dritten K ­ apitel schiebt sich nicht nur das Wissen um den Tod des Vaters, sondern A ­ uschwitz als Chiffre für die Unmög­lichkeit eines Erzählens, für jedwedes Scheitern eines „récit“, der vorgibt, dem Unvorstellbaren einen Sinn oder gar eine Erklärung zu geben. So konstituiert der erste Satz des dritten Kapitels „Mourir à Auschwitz“ die Endgültigkeit des

51 Kofman 1994. S. 13. 52 Ebd. S. 14.

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Verlasssenwerdens als unabänder­liches Faktum im Passé ­simple: „Nous ne revîmes, en effet, jamais mon père.“ 53 Das kollektive Wir der Geschwister und das erzählende Ich teilen nicht die ­gleiche Sicht auf den Vater, wie das Possessivpronomen verdeut­licht. Auch wenn sie gemeinsam ­dieses Trauma erlebt haben, so spricht die Erzählerin nur für sich und beschreibt im Folgenden die letzte Lebensspur des Vaters, der seiner Familie eine Postkarte aus Drancy schickt, in der er seine Deporta­tion ankündigt, um Zigaretten bittet und der ­Mutter aufträgt, sich um den Jüngsten besonders zu sorgen. Diese Karte zeigte auf der Briefmarke den Maréchal Pétain und war in Franzö­ sisch geschrieben, einer Sprache, die der Vater im Gegensatz zu seinen Kindern nie beherrschte. Mit dieser Karte verbindet sich das individuelle Schicksal der Familie Kofman mit dem kollektiven der franzö­sischen Juden, die zur Zielscheibe von Verfolgung und offenem Hass wurden. Nach dem Tod der M ­ utter sucht die Erzählerin vergeb­lich nach ­diesem Erinnerungsstück, das für sie Fetischcharakter hatte, und erlebt den Verlust desselben als erneute Traumatisierung. „C’était comme si j’avais perdu mon père une seconde fois.“ 54 Mit dem dritten Kapitel endet die Erzählung vom 16. Juli 1942 und der Ermordung Berek Kofmans in Auschwitz. Die Konfronta­tion mit dem Antisemitismus lässt Sarah Kofman die Sprache ver­ lieren, bringt sie an den Rand des Erstickens, wie sie bereits in den Paroles suffoquées schreibt, die mit der Widmung an den verstorbenen Vater eröffnen.55 Gleichzeitig bleibt die Ankündi­gung des Todes ihres Vaters in Auschwitz von unvergäng­licher Gegenwärtigkeit, wie der Gebrauch des présent signalisiert: „Après la guerre, arrive l’acte de décès d’Auschwitz.“ 56 In d ­ iesem vorletzten Abschnitt blickt die Erzählerin nicht in die Vergangenheit zurück, sondern erlebt sie als Teil ihrer Gegenwart, in der sie sich wieder und wieder mit der Frage konfrontiert sieht, wie ein Sprechen über ­Auschwitz überhaupt mög­lich ist. „Parce qu’il était juif, mon père est mort à Auschwitz: comment ne pas le dire? Et comment le dire?“ 57

53 Ebd. S. 15. 54 Ebd. S. 16. 55 Vgl. Madeleine Dobie. „Sarah Kofman’s Paroles suffoquées: autobiography, history, and w ­ riting ‚after Auschwitz‘“. French Forum 22/3 (1997): S. 319 – 341. 56 Ebd. 57 Kofman 1987. S. 15 f.

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V. Der Tod des Eigennamens

Sarah Kofmans Rue Ordener, rue Labat gehört zweifelsohne zu jenem Textkorpus, der sich mit den Folgen einer transgenera­tionellen Traumatisierung auseinandersetzt.58 Gleichzeitig ist er in seiner Widerständigkeit sowohl gegenüber allen literarischen Konven­tionen als auch in Bezug auf die gängige Vorstellung einer erfolgreichen Bearbeitung und Bewältigung von Traumata, als Gegendiskurs zur erstarrten Symbol­sprache eines Erinnerungsdiskurses zu lesen, der stets die gleichen Topoi und Gemeinplätze wiederholt. In seiner Funk­tion als doppelte Überlebensgeschichte wirft er nicht nur die Frage nach den Grenzen und Mög­lichkeiten eines Erzählens nach Auschwitz auf, sondern auch nach der kreativen Produktivität der Traumatisierung, die Kofman zeit ihres Lebens mit ihrer weib­lich-­jüdischen Identität hadern und experimentieren lässt. Bereits am 16. Juli 1942 wähnte sie sich an der Stelle des Vaters und imaginierte sich als das Gott darzubringende Opfer, obwohl es stets der männ­liche Nachkomme sein müsste. In der Rue Labat wird Sarah schließ­lich zu Suzanne, die sich – anders als ihre Familie – so vollständig an das Lebensmodell Mémés assimiliert, dass sie ihre Herkunft vergisst. In einem 1976 veröffent­lichten Text schildert sie einen Traum, in dem sie sich in die Übersetzerin Kafkas wandelt und der zugleich von jener autodestruktiven Struktur ihrer écriture zeugt, in dem sie sich gefangen sieht. Rêve: sur une couverture de livre, ‚je‘ lis : KAFKA Traduit par Sar…Ko(a)f…59

Kofman fragt sich nach den Gründen für die Entstellung ihres Eigennamens und stellt die These auf, dass erst diese modifizierte Variante ihres Vor- und Nachnamens ihren wahren Eigennamen konstituiert. Dieser ist jedoch durch eine doppelte Kastra­ tion verstümmelt, durch den Wegfall des „ah“ ihres Vornamens und damit der im Hebräischen weib­lichen Markierung und durch das Abschneiden von „man“, der Verbindung zum Männ­lichen. Solcherart ihrer Herkunft und ihrer Geschlecht­lichkeit beraubt, verzehrt sie sich selbst und wird in ihrer écriture zum „sacrophage“, zur 58 Zur Frage einer mög­lichen Ethik der Zeugenschaft in Kofmans autobiografischen Texten vgl. Ari Hirvonen. „The Ethics of Testimony: Trauma, Body and Justice in Sarah Kofman’s Autobiography“. No Founda­tions. An Interdisciplinary Journal of Law and Justice 9 (2012): S.  144 – 172. 59 Sarah Kofman. „Tombeau pour un nom propre (1976)“. Les Cahiers du GRIF 3 (1997): S. 169 – 170, S. 169.

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Totenstätte ihrer selbst.60 Die Auflösung einer geschlecht­lich bestimmbaren Identi­ tät als Traum und bedroh­liche Wirk­lichkeit kommt jenem aporetischen Schluss gleich, in dem sich Sarah Kofman seit ihrer Kindheit gefangen sieht: mit dem Vater zu sterben und gleichzeitig zu überleben.

60 Vgl. Kathryn Robson. „Bodily Detours: Sarah Kofman’s Narratives of Childhood Trauma“. Modern Language Review 99/3 (2004): S. 608 – 621, S. 617 f.

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Gebrochen schreiben Die Verwendung des Deutschen bei Primo Levi, David Rousset und Jorge Semprún Worte bewahren alte Verbrechen wie Essig das Fleisch getöteter Tiere. Ruth Klüger

Die Auseinandersetzung mit den na­tionalsozialistischen Gewaltverbrechen, die Verfassung von Zeugenberichten und deren Rezep­tion wird von Beginn an von fundamentalen Sprachreflexionen begleitet. Dazu gehört die Suche nach angemessenen und wirkungsvollen Ausdrucksweisen ebenso wie die Frage nach einer Übersetzbarkeit der extremen Gewalterfahrung in Sprache und Text mit ihren konven­tionalisierten Ordnungen. Erinnerungsarbeit wird dabei nicht zuletzt zur literarisch-­künstlerischen Beschäftigung mit dem zur Verfügung stehenden Sprachsystem. Mit experimentellen Verfahren korrespondiert dies überall dort, wo Techniken der Verfremdung und Abweichung von den bestehenden Normen entwickelt werden, wo „explorativ und innovativ auf […] die Strukturen der Sprache zugegriffen“ 1 wird, um das Geschehene und seine traumatischen Auswirkungen angemessen darstellen zu können. Neben der Auslotung narrativer Mög­lichkeiten, die in der literaturwissenschaft­lichen Erforschung von Lagerliteratur seit Langem untersucht wird, bedeutet dies auch eine Auseinandersetzung mit lexika­lischen und orthografischen Normen, was bislang zumindest für die erzählende Literatur weit weniger beachtet wurde. Sie spielt aber überall dort eine Rolle, wo die Frage aufgegriffen wird, inwiefern ein Zeugenbericht überhaupt mit konven­tionellen Wörtern und ihren Bedeutungen arbeiten kann. Primo Levi hat diesen Komplex in seinem 1947 erschienenen Buch Se questo è un uomo (dt. Ist das ein Mensch? 1961) wie folgt umrissen: „Ebenso wie unser Hunger nicht mit der Empfindung dessen zu vergleichen ist, der eine Mahlzeit ausgelassen hat, verlangt auch unsere Art zu frieren nach einem eigenen Namen. Wir

1 Michael Bies u. Michael Gamper. „Arbeit am Sprachmaterial – eine Einleitung“. „Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte“. Experiment und Literatur III 1890 – 2010. Hg. v. dens. Göttingen 2011. S. 9 – 30, S. 9.

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sagen ‚Hunger‘, wir sagen ‚Müdigkeit‘, ‚Angst‘ und ‚Schmerz‘, wir sagen ‚Winter‘, und das sind andere Dinge. Denn es sind freie Worte, geschaffen und benutzt von freien M ­ enschen, 2 die Freud und Leid in ihrem Zuhause erleben.“ 

Deut­lich wird hier ein fundamentales Problem in der Schilderung der Lager­erfahrung: Die zur Verfügung stehende Sprache ist an eine bestimmte Vorstellung von Menschsein geknüpft, an ein Leben in Freiheit und Behaustheit, an den Komplex der Kultur und Zivilisa­tion, der seine Konturen nicht zuletzt in der Abgrenzung zum „Barbarischen“ gewinnt.3 Die „freien Worte“ aber, die Sprache der Zivilisa­tion und die Mög­lichkeit der Kommunika­tion wurden in den deutschen Lagern systematisch gebrochen. An ihre Stelle tritt eine Sprache der Gewalt, in der es Primo Levi zufolge „keinen grundlegenden Unterschied ­zwischen Gebrüll und Faustschlag“ 4 gab. Er wertet diese „Kommunika­tion“ in den Lagern als „Hinweis: Menschen waren wir für die andern keine mehr“ 5. Georges Didi-­Huberman zufolge ist der Bruch mit zivilen Sprach- und Kommunika­tionsformen ein unmittelbarer Teil der umfassenden Auslöschung der Opfer: „Die Lager waren Laboratorien, Experimentier­ maschinen einer umfassenden Auslöschung. Auslöschung der Psyche und Auflösung der sozialen Bindungen […] Diese von Menschen geschaffene Hölle sollte auch die Sprache ihrer Opfer auslöschen.“ 6 Die Opfer erlitten eine „Barbarisierung“, insofern in der pervertierten Kulturvorstellung der Na­tionalsozialisten der Täter zum Kulturmenschen avanciert: „Den jungen Nazis war eingehämmert worden, daß es in der Welt nur eine einzige Kultur gab, näm­lich die deutsche. […] Deshalb war jemand, der Deutsch weder sprach noch verstand, per defini­tionem ein Barbar.“ 7 Levi und andere Autoren kommen immer wieder auf ein bestimmtes Symptom der Sprachversehrung zurück: auf das in den Lagern herrschende Gewirr verschiedener Na­tionalsprachen, daraus notgedrungen entstehende Hybridbildungen, depravierte Formen und Lagerjargon. So wird die Außensicht der „Zivilisten“ – etwa der britischen Kriegsgefangenen – auf die aufs Äußerste erniedrigten Juden in Auschwitz wie folgt umrissen: 2 Primo Levi. Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht. Aus dem Italienischen von Heinz Riedt. Frankfurt a. M. 2012. S. 119. 3 Zur kulturellen Konstruk­tion des Barbaren: Manfred Schneider. Der Barbar. Endzeitstim­ mung und Kulturrecycling. München 1997; Tzvetan Todorov. Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen. Hamburg 2010. 4 Primo Levi. Die Untergegangenen und die Geretteten. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Wien 1990. S. 91. 5 Ebd. 6 Georges Didi-­Huberman. Bilder trotz allem. München 2007. S. 37. 7 Levi 1990. S. 92.

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„Für die Zivilisten sind wir in der Tat Unberührbare. […] Sie hören uns in den verschiedensten Sprachen sprechen, die sie nicht verstehen und die in ihren Ohren grotesk, wie tierische Laute klingen; sie sehen uns auf das niedrigste versklavt, ohne Haar, ohne Ehre, ohne Namen, täg­lich geschlagen, täg­lich verworfner.“ 8

Die erlittene Gewalt richtet sich demzufolge auch auf die Sprachfähigkeit als Ausdruck des Menschseins. Die Verständigungsweise der Opfer zeigt aus Sicht derer, die sich noch ziviler Sprachformen bedienen zu können meinen, alle Merkmale des Barbarischen, das durch eine „rohe“, fremde und „stammelnde“ Sprache charakteri­ siert wird.9 Die Erfahrung der Erniedrigung und Entmenschlichung kann Levi zufolge von den – mit der Idee der Zivilisa­tion unmittelbar verbundenen – „freien ­Worten“ nicht unmittelbar erfasst werden. Vielmehr bringt sie ein im Wortsinne selbst barbarisches Sprechen hervor. „Hätten die Lager länger bestanden“, so der Autor, „wäre eine neue, harte Sprache geboren worden; man braucht sie einfach, um erklären zu können, was das ist, sich den ganzen Tag abzuschinden in Wind und Frost, nur mit Hemd, Unterhose, leinerner Jacke und Hose am Leib, und in sich Schwäche und Hunger und das Bewußtsein des nahenden Endes.“ 10

Mein Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wie dieser Bruch mit der (Sprache der) Zivilisa­tion in Zeugenberichten auf Ebene der Literatursprache gestaltet wird. Dabei möchte ich mich einem Aspekt widmen, der bislang kaum Beachtung fand, der aber in der Beschäftigung mit der nicht deutschsprachigen Erinnerungsliteratur an den Holocaust augenfällig ist: die systematische Durchsetzung des Erzähltextes mit deutschem Vokabular. David Gramling hat jüngst vorgeschlagen, das mehrsprachige Schreibverfahren bei Primo Levi als „an other unspeakability“ zu begreifen, als spezifische Form, in der sich die Schwierigkeit der Entzifferung der Geschehnisse im Lager ebenso wie die spätere Erzählung darüber niederschlägt.11 In der Fortführung ­dieses Ansatzes geht es im Folgenden um die Entwicklung einer literaturwissenschaft­lichen Lesart von Sprachmischung in Zeugentexten und mithin um einen Aspekt, der bislang ausführ­lich nur im Rahmen soziolinguistischer

8 Levi 2012. S. 116/7. 9 „Barbar“. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854 – 1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Onlineversion http://dwb.uni-­trier.de/ de/vom 1. 10. 2015. 10 Levi 2012. S. 119. 11 David Gramling. „An Other Unspeakability. Levi and Lagerszpracha“. New German Critique 117 (2012): S. 165 – 188.

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Untersuchungen zur Lagersprache interessierte.12 Letztere sehen auch in der literarischen Gestaltung primär einen Lagerjargon dokumentiert, wie er für viele Lager belegbar ist. Dieser Jargon ist von „Sprachterror“, so Heidi Aschenberg, geprägt: von verbaler Gewalt, Beschimpfungen und Befehlen, die das na­tionalsozialistische System der Verschleppung, Ausbeutung und Ermordung begleiten.13 Hauptsprache ist Deutsch, das wiederum zu einem guten Teil aus Schimpf- und Befehlswörtern besteht und zusätz­lich aus Neologismen, zynischen Pseudo-­termini-­technici des Lagersystems wie Effektenkammer, Schonungsblock, Sonderkommando. Sie erweisen sich nicht zuletzt deshalb als unübersetzbar, weil die mit ihnen bezeichneten Orte und Vorgänge kein Äquivalent in einer zivilen Welt kennen.14 Auf der Grundlage des Deutschen bildet sich unter den aus vielen Na­tionen Verschleppten so etwas wie ein interna­tionaler Jargon heraus. Tadeusz Borowski hat von einem „Crematorium Esperanto“ 15 gesprochen und so den Zynismus herausgestrichen, den die Lager gegenüber der Utopie einer völkerübergreifenden Sprach- und Kommunika­tionsform darstellen, die dort in ein „global idiom of mass murder“ 16 verwandelt wird. Primo Levi und andere haben das Babel’sche Moment dieser Sprache herausgestellt, sie also als Signum der Zerschlagung und Katastrophe begriffen. Eben hier hat auch die literaturwissenschaft­liche Untersuchung der Sprachmischung einzusetzen. Meine These ist, dass damit eine buchstäb­lich ‚gebrochene‘ Sprache erzeugt wird, in der die umfassende Frage nach einer adäquaten Sprache für 12 Wolf Oschlies. ‚Lagerszpracha‘. Soziolinguistische Bemerkungen zu KZ-Sprachkonven­ tionen. Muttersprache XCVI (1986): S. 98 – 109; Zenon Jagoda, Stanislaw Klodzinski u. Jan Maslowski. „‚bauernfuss, goldzupa, himmelautostrada‘. Zum ‚Krematoriumsesperanto‘, der Sprache polnischer KZ-Häftlinge“. Die Auschwitz-­Hefte. Bd. 2. Hg. v. Hamburger Institut für Sozial­forschung. Weinheim 1987. S. 241 – 260; Heidi Aschenberg. „Sprachterror. Kommunika­ tion im na­tionalsozialistischen Konzentra­tionslager“. Zeitschrift für romanische Philologie 118 (2002): S. 529 – 571; dies. „Polyglossie im Konzentra­tionslager: Literarische Reflexe in Texten zur Shoah“. Vom Zeugnis zur Fik­tion. Repräsenta­tion von Lagerwirk­lichkeit und Shoah in der franzö­sischen Literatur nach 1945. Hg. v. Silke Segler-­Messner, Monika Neuhofer u. Peter Kuon. Frankfurt a. M. 2006. S. 205 – 218; Imke Hansen u. Katarzyna Nowak. „Über Leben und Sprechen in Auschwitz. Probleme der Forschung über die Lagersprache der polnischen politischen Häftlinge von Auschwitz“. Kontinuitäten und Brüche. Neue Perspektiven auf die Geschichte der NS-Konzentra­tionslager. Hg. v. Christiane Heß, Julia Hörath, Dominique Schröder u. Kim Wünschmann. Berlin 2011. S. 115 – 141. 13 Aschenberg 2002. 14 Jagoda 1987. S. 242. S. a. Peter Arnds. „Translating Survival, Transla­tion as Survival in Primo Levi’s Se questo è un uomo“. Transla­tion and Literature 21 (2012): S. 162 – 174, S. 170/71. 15 Tadeusz Borowski. This Way for the Gas, Ladies and Gentlemen. Harmondsworth 1976. S. 30. 16 Lawrence L. Langer. „The Literature of Auschwitz“. Literature of the Holocaust. Bloom’s Period Studies (2004): S. 171 – 193, S. 183.

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die traumatischen Erinnerungen ebenso wie die Situa­tion eines notwendig gebrochenen Erzählens zur Darstellung kommt. Sprachmischung und insbesondere der Einsatz des Deutschen in literarischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust muss daher als eine literarische Form zur Repräsenta­tion von Gewalt untersucht werden. Die in den Text montierten Fremdwörter können als buchstäb­liche Fremdkörper im Narrativ aufgefasst werden, wie es Stefanie Leuenberger in anderem Kontext vorgeschlagen hat.17 Mithin können die fremden Wörter als traumatische Spur gelesen werden. Im Folgenden gilt es zunächst, den Einsatz des Deutschen bei drei Autoren zu untersuchen. Anschließend werden die Ergebnisse systematisiert, um auf dieser Basis einen Vorschlag zur generellen Interpretierbarkeit der Verwendung des Deutschen in Zeugenberichten über die na­tionalsozialistischen Konzentra­tionsund Vernichtungslager zu präsentieren. I.

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Der Turmbau zu Babel ist eine der am häufigsten zitierten bib­lischen Referenzen in den Erinnerungen von Überlebenden des Holocaust, so Deborah Lee Prescott in ihrer entsprechenden Untersuchung.18 Ihr zufolge wird auf diesen Topos in ­erster Linie zurückgegriffen, um den bei der Ankunft in den Lagern erlebten Lärm und das bedroh­liche Chaos zu schildern: Schreie in allen europäischen Sprachen, dazu das von Schlägen begleitete deutsche Gebrüll der Wachmannschaften und der SS. Darüber hinaus dürfte die Referenz auf die bib­lische Urszene der katastrophischen Sprachzerschlagung aber auch damit zu erklären sein, dass damit die traumatische Zerstörung der für die Idee der Humanität zentralen Kommunika­tions- und Verständigungsmög­lichkeiten ebenso ins Bild gefasst werden kann wie die Schwierig­ keit, eine kohärente Sprache für den Bericht über das Geschehene zu finden. Auch in Primo Levis Ist das ein Mensch? erscheint der Verweis auf Babel zunächst in der Schilderung der Ankunft in Auschwitz: „Allzu vieles habe ich zu fragen. […] Aber von oben und von unten, aus der Nähe und aus der Ferne, aus allen Ecken der jetzt dunklen Baracke rufen mir verschlafene und ärger­liche Stimmen zu: Ruhe! Ruhe!

17 Stefanie Leuenberger. „Fremdkörper. Fremdwörter und Unübersetzbarkeit in der Literatur der Postmoderne“. transversal. Zeitschrift des Centrums für Jüdische Studien 10 (2009): S. 59 – 78. 18 Deborah Lee Prescott. Imagery from Genesis in Holocaust memoirs: a critical study. ­Jefferson 2010. S. 81.

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Ich verstehe, dass ich schweigen soll, aber ­dieses deutsche Wort ist mir neu, und da ich ­ essen Sinn und Bedeutung nicht kenne, wird meine Unruhe nur um so größer. Die Sprachd verwirrung gehört zu den Hauptbestandteilen der Lebensweise hier unten; man ist von einem fortwährenden Babel umgeben, wo alle in niemals zuvor gehörten Sprachen Befehle und Drohungen schreien, und wehe dem, der nicht im Flug begreift!“ 19

Während in der deutschen Übersetzung der Verweis auf Babel ein metaphorischer bleibt, die Babel‘scheErfahrung also ledig­lich beschrieben wird, montiert das italienische Original deutsche Wörter in den Fließtext,20 um die Erfahrung der Unverständ­ lichkeit und der Unentzifferbarkeit des Geschehens zu evozieren: „Ma da sopra, da sotto, da vicino […] voci assonate e iraconde mi gridano: – Ruhe, Ruhe! Capisco che mi si impone il silenzio, ma questa parola è per me nouva […] La confusion delle lingue è una companente fondamentale del modo di vivere di quaggiú; si è circondati da una perpetua Babele, in cui tutti urlano ordini e minacce in lingue mai prima udite, e guai a chi non afferra a volo.“ 21

Das in Auschwitz geschriene „Ruhe“ erweist sich nicht deshalb als unübersetzbar, weil der Erzähler dessen Bedeutung nicht verstehen würde („Capisco che mi si impone il silenzio“), sondern weil die Umstände und die Art d ­ ieses Sprechens schon Teil der oben erläuterten neuen harten Sprache sind, die aus der Brechung der Zivilisa­tionsnormen entsteht: „questa parola è per me nouva“ (Hervorhebung E. K.). Anders als in der deutschen Übersetzung verweist das Original auch d­ arauf, dass diese Sprache nicht zuletzt auf der Ebene der phonetischen Realisierung gewalttätig ist,22 sie wird gekeift und geheult (gridano/urlano). Nicht zuletzt über die Montage des Deutschen in den italienischen Fließtext wird dabei eine Textur hergestellt, die die Brechung von Sprache in Auschwitz und das Unverständ­ liche dieser Erfahrung konkret vor Augen führt und diese als eine traumatische erinnert, von der auch das Schreiben nach dem Überleben heimgesucht bleibt. In ­diesem Sinne wird in Ist das ein Mensch? der Turm von Babel zum Zentrum von Auschwitz:

19 Levi 2012. S. 36. 20 Dies ist bei Levi durchgängig der Fall. Für eine Übersicht über den Gebrauch des Deutschen bei Levi vgl.: Clà Riatsch. „Viva il Wille!“. Deutsch in Texten von Malaparte, Spinella, Revelli, Levi, Eco, Camilleri, Orelli. Aachen 2007. S. 71 – 116. Für eine Interpreta­tion von Levis mehrsprachigem Schreiben vgl. Gramling 2012. 21 Primo Levi. Se questo è un uomo. Torino 1984. S. 44. 22 Vgl. Aschenberg 2002.

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„Den Karbidturm, der sich mitten in Buna erhebt und dessen Spitze im Nebel nur selten sichtbar wird, haben wir errichtet. Seine Bausteine werden Ziegel, mattoni, briques, tegula, cegli, kamenny, bricks, téglak genannt, Haß hat sie gefügt, Haß und Zwietracht, wie den Turm zu Babel; und so nennen wir ihn auch: Babelturm, Bobelturm. Und hassen in ihm unserer Herren wahnwitzigen Traum von Größe, ihre Verachtung gegenüber Gott und den Menschen, uns Menschen. Heute noch, wie in der alten Geschichte, fühlen wir alle, sogar die Deutschen, daß ein Fluch, kein transzendentaler und gött­licher, sondern ein immanenter und historischer Fluch auf dem vermessenen Bauwerk liegt, gegründet auf der Sprachverwirrung und aufgeführt zur Herausforderung des Himmels.“ 23

Der Karbidturm fungiert als Sinnbild der deutschen Herrschaft, errichtet auf der Ausbeutung und Vernichtung verschiedener ethnischer Gruppen, an die über die Aufrufung der unterschied­lichen na­tionalsprach­lichen Bezeichnungen für die Bausteine erinnert wird. Gleichzeitig kann die Sprachvervielfältigung hier – wie in der bib­lischen Erzählung selbst – im Sinne einer Zerschlagung gelesen w ­ erden, als Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass es kein eindeutiges universal gültiges Wort zur Beschreibung des Erlebten gibt, sondern viele verschiedene, und dass der Erzähler angesichts Auschwitz’ mit Formulierungsschwierigkeiten Babel’schen Ausmaßes zu kämpfen hat. Indem ein Wort mehrsprachig vervielfältigt wird, wie es Levi auch an anderer Stelle 24 tut, ergibt sich zudem ein Effekt der Verfremdung und Entautomatisierung. Die Brechung des monolingualen Textes und die so erzeugte Sperrigkeit zielen auf eine Unterbrechung der automatisierten Lesewahrnehmung und geben das Geschilderte mit neuer Intensität zu lesen, betonen aber auch das uneinholbar Fremde daran. Eine abschließende Übersetzung kann nicht erreicht werden. Evoziert wird stattdessen ein unabschließbarer Prozess der Sprachfindung, des Sprechens und Schreibens, in dem immer wieder aufs Neue um ein Verständnis des Geschehenen angegangen werden muss. Bezugspunkt des Schreibprozesses bleibt dabei der Name der gewalttätigen Zerschlagung und des Sinnverlustes selbst: „Babelturm, Bobelturm“, wie es auch im italienischen Original auf Deutsch steht: „e cosí noi la chiamiamo: Babelturm, Bobelturm.“ 25 Im bib­lischen Text ist „Babel“ ein Wort, dessen Etymologie und Bedeutung nicht genau geklärt sind und das so selbstreferenziell auf die

23 Levi 2012. S. 70. Zu Levis Rückgriff auf den Mythos Babel s. a. Batnadiv HaKarmi. „Hubris, Language, and Oppression. Recreating Babel in Primo Levi’s If This Is a Man and the ­Midrasch“. Partial Answers. Journal of Literature and the History of Ideas 7.1 (2009): S. 31 – 43. 24 „denn in fünf Minuten wird Brot ausgegeben, Brot-­Broit-­chleb-­pane-­pain-­lechem-­kenyér“. Levi 2012. S. 36. 25 Levi 1984. S. 90.

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Sprachverwirrung verweist.26 „Babel“ ist deshalb auch nicht übersetzbar und lautet in den Bibelversionen aller Sprachen ähn­lich, bleibt ein Fremdwort, das an das Moment der Opazität und Selbstreferenzialität in jeder Sprache und in Sprache überhaupt erinnert. Dieses „Urfremdwort“ wird bei Levi mit dem Deutschen amalgamiert. Im Kompositum Babelturm/Bobelturm 27 wird im italienischen Text das Deutsche als Sprache Babels und nie ganz übersetz- bzw. verstehbarer Fremdkörper gestaltet. Der Name der Verwirrung, Sprachzerschlagung und des Sinnverlustes bleibt im Bericht als buchstäb­liches Fremdwort erhalten, das zu verstehen immer wieder erneut versucht werden muss. II. David Rousset

Ein „unglaub­liches“, „unfassbares“ Babel („inconcevable Babel“) ­seien die Lager gewesen.28 Auf diesen Vergleich greift David Rousset in seinem 1946 erschienenen autobiografischen Buch L’univers concentra­tionnaire zurück, um die Verworfenheit dieser Orte zu verdeut­lichen. Der Autor wurde 1943 als Résistance-­Kämpfer gefangen genommen und zunächst nach Buchenwald, dann nach Neuengamme deportiert. L’univers concentra­tionnaire ist ein im Stil einer Reportage gehaltener Zeugenbericht mit stark dokumentarischem Anspruch. Die Geschehnisse in den Lagern werden darin aus der Sicht des politisch Gefangenen nahezu unkommentiert aufgezeichnet, ein besonderes Augenmerk gilt den verschiedenen na­tionalen Gruppen der Inhaftierten und den Lagerhierarchien. Im Rahmen ­dieses Artikels ist der Text deshalb von Interesse, weil darin extensiv mit Sprachmischung, mit der Verwendung sowohl von deutschen Bezeichnungen als auch von Lagerjargon, gearbeitet wird. Die erlittene Gewalt, der Zivilisa­tionsbruch, schlägt sich bei Rousset im erzählenden Medium durchgängig in einer permanent gebrochenen Sprache nieder. Die Durchsetzung des franzö­sischen Textes mit fremden Wörtern lässt sich wie folgt systematisieren: Erstens werden die Lager dadurch sowohl in ihrem topografischen als auch sprach­lichen Kontext genau lokalisiert: „Neuengamme dans la perspective démantelée de Hambourg, chantiers dressés qui se multiplient et s’espacent autour du chenal et son port (Klinker, Metallwerk, Industrie, Messap [sic!])“ 29. 26 Vgl.: Norbert Clemens Baumgart. „Turmbauerzählung“. Bibellexikon http://www. bibelwissenschaft.de/stichwort/36310/ vom 6. 10. 2015. 27 Evtl. könnte es sich bei „Bobelturm“ auch um eine jiddisch verschliffene Aussprache des deutschen „Babelturm“ (von jidd. bovl [Babel] und turem [Turm]) handeln. Für den Hinweis danke ich Christina Pareigis. 28 David Rousset. L’univers concentra­tionnaire. Paris 1965. S. 117. 29 Ebd. S. 11.

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Unübersetzt bleiben zweitens die NS -Bezeichnungen für Hierarchien und Orte im Lager wie unter anderem „Revier“ 30, „Kommando“ 31, „Schreibstube“ 32, „Lager­ æltester“ 33 sowie deutsche Wörter, die im Kontext des Lagers kaum in ihre zivile Bedeutung rückübertragbare Vorgänge bezeichnen wie „Krematorium“ 34, „Vorarbeiter“ 35, „Hæftling“ 36, „Stube“ 37, „Arbeitsstatistik“ 38, der „Gummi“ 39 genannte Schlagstock oder die sonntags vom „Kapo“ gesungenen „Lieder“: „Le dimanche, il [= Alfred, le Kapo du Rollwagen, Anm. E. K.] aime chanter longtemps, avec ­quelques autres, de vieux Lieder sentimentaux.“ 40 Deutsch erscheint drittens in der Wiedergabe von Befehlen, Schikanen und verbalen Erniedrigungen durch Kapos und SS: „Maintenant, sur cinq, zu fünf [sic!].“ 41; „très vite (toujours vite, vite, schnell, los Mensch), à plat ventre dans la boue et se relever“ 42; „Achtung! le S. S. passe, les corps s’immobilisent, le silence se fait. Scheiss-­stück! dit le S. S.“ 43 Viertens nimmt Rousset explizit Bezug auf den aus verschiedenen Sprachen zusammengesetzten Lagerjargon. Er trägt auch in l’univers concentra­tionnaire insofern die Zeichen ­­ jener „neuen, harten Sprache“, die die Lager nach Primo Levi hervorzubringen im Begriff waren, als auch hier neben der Übernahme des Lagerdeutschs und Prägungen wie „Kapo“ Schimpfwörter und Flüche breiten Raum einnehmen: „Les insultes ­installent la journée dans les cerveaux, en français, en russe, en polonaise, en allemande, en grec.“ 44 Eine Besonderheit von Roussets Schreibstil ist es, diese Brechungen der zivilen Sprachnorm durchgängig nachzubilden, wie es in der folgenden Stelle aus der Beschreibung eines Streites deut­lich wird: „Les appels montent du réfectoire. Kamou ! Kamou ! Kamou cigarettes ? Delaunay, passe-­ moi ta miska, bon Dieu ! Scheisse Mensch ! Khouï ! Pisda ! Quelqu’un dans la foule imite le

30 Ebd. u. a. S. 24. 31 Ebd. u. a. S. 27. 32 Ebd. u. a. S. 32. 33 Ebd. 34 Ebd. u. a. S. 25. 35 Ebd. u. a. S. 27. 36 Ebd. u. a. S. 29. 37 Ebd. u. a. S. 35. 38 Ebd. u. a. S. 130. 39 Ebd. u. a. S. 27. 40 Ebd. S. 34. 41 Ebd. S. 28. 42 Ebd. S. 49. 43 Ebd. S. 98. 4 4 Ebd. S. 28.

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grand Toni : Iopa twoyou mate pisda Khoueva. […] Le sifflet du Blockæltester vrille le tumult. Dans la Schreibstube, le silence s’est fait un moment. La voix ensuite est reconnaissable entre toutes. Le Kammerkapo, dit le Judas, escroc de profession et Schläger n°1.“ 45

Die franzö­sische Wiedergabe des „tumults“ arbeitet mit der Montage von polnischen und rus­sischen Versatzstücken, insbesondere Flüchen und Obszönitäten.46 Ebenso wie in den bereits zitierten Stellen gibt es dabei keinen einheit­lichen Umgang mit dem anderssprachigen Vokabular. Zuweilen werden die Ausdrücke durch Anführungszeichen und Kursivierung vom franzö­sischen Text unterschieden, häufiger aber unmarkiert in diesen eingefügt. Zudem sind die fremdsprachigen Wörter oft in franzö­sischer Umschrift oder orthografisch unkorrekt widergegeben. Insbesondere im letzten Zitat wird deut­lich, dass die slawischen Ausdrücke offensicht­lich nach Gehör verschrift­licht wurden und so nur bedingt erkennbar sind. Sie bleiben mithin auch für den der zitierten Sprachen mächtigen Leser gebrochen und in der Fremdheit erhalten, in der sie dem Erzähler im Kontext des Lagers entgegentraten. Insgesamt kann Roussets extensive Arbeit mit Sprachmischung zunächst mit dem bezeugenden Anliegen des Buches erklärt werden. Nicht zuletzt wird darin auch die Existenz eines bestimmten Lagerjargons dokumentiert. Auf literarischer Ebene wird durch ­dieses spezifische Verfahren insbesondere dort, wo es Teil einer fingierten Münd­lichkeit ist, der Eindruck einer kaum bearbeitet niedergeschriebenen Erfahrung erzielt und damit auch der Effekt einer erhöhten Authentizität des Geschilderten. Gerade die Sprachmischung lenkt allerdings auch den Blick darauf, dass der vorliegende Text Ergebnis einer sprach­lichen Bearbeitung und Über­tragung ist, insofern deut­lich wird, dass sich die Sprache der Erzählung, Franzö­sisch, offensicht­lich von jener unterscheidet, in der das Erzählte stattfand. Gerade in der Durchsetzung mit fremden Wörtern gibt der Text zu bedenken, dass er notgedrungen das Produkt einer nachträg­lichen Übersetzung des Geschehenen im weiteren Sinne ist und nicht dessen unmittelbare Aufzeichnung. Ebendeshalb ist die Sprachmischung bei Rousset mehr als sprachhistorisch auswertbares Material. Indem der Versuch eines sinngebenden Narrativs immer wieder von Fremdkörpern in der Gestalt fremder Wörter gestört wird, wird das fremde Wort auch hier zum Signum einer traumatischen Struktur. Es unterbricht den Erzählfluss, schafft Verständnislücken und fordert eine Dechiffrierung und Übersetzung ein, der es sich durch die zusätz­liche Verfremdung der franzö­ sischen Umschrift oder fehlerhaften Orthografie wieder entzieht. Deut­lich wird so, dass hier immer schon in einer sekundären Sprache erzählt wird, die buchstäb­lich vom Unverstandenen – vom Barbarischen – durchlöchert bleibt.

45 Ebd. S. 34/35. 46 Für die Übersetzung danke ich Tatjana Petzer.

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III. Jorge Semprún

Als letztes Beispiel für den Zusammenhang von mehrsprachiger Textgestaltung und Trauma möchte ich Jorge Semprún und insbesondere den Text L’écriture ou la vie von 1994 herbeiziehen. Semprúns Erinnerungen an Deporta­tion und Internierung als politischer Gefangener in Buchenwald erscheinen ab 1963 (Le grand voyage), also im Unterschied zu Levi und Rousset mit erheb­lich zeit­lichem Abstand zu den Ereignissen selbst. Auch hier finden sich unübersetztes Lagerdeutsch und -jargon („le sabir de Buchenwald“ 47) sowie die Wiedergabe von Deutsch in der direkten Rede. Hinzu kommt das originalsprach­liche Zitieren aus insbesondere spanischen und deutschen literarischen und philosophischen Texten sowie Reflexionen über Übersetzungsvorgänge. Wiederholt referiert Semprún dabei auf die bereits bei Levi dargelegte Problematik, dass der „zivile“ Wortsinn nur bedingt die Geschehnisse im Lager übermitteln kann: „Mais ils ne peuvent pas vraiment comprendre. Ils ont saisi le sens des mots, probablement. Fumée : on sait ce que c’est, on croit savoir. […] Cette fumée-­ci, pourtant, ils ne savent pas. Et ils ne sauront jamais vraiment.“ 48 Die Einfügung von – in der Regel kursivierten – deutschen Wörtern des Lagerkontextes in die franzö­sische Erzählung erinnert an diese Brechung mit dem zivilen Wortsinn und an die Schwierigkeit der Übersetzung. Darüber hinaus bleibt auch bei Semprún die traumatische Erfahrung unmittelbar mit dem deutschen Wortlaut verknüpft. Dies zeigt sich daran, dass die den Eigennamen ersetzende Nummer auf Deutsch im Gedächtnis bleibt: „le détenu 44904 – Häftling vierundvierzigtausendneunhun­ dertvier“,49 oder an der wiederkehrenden Schilderung, wie gegen Ende des Krieges nachts befohlen wurde, das Krematorium auszuschalten, um den alliierten Fliegern keinen Orientierungspunkt zu bieten: „Krematorium, ausmachen ! criait alors une voix brève.“ 50 Dieser Ruf drang in die Träume der Gefangenen ein, weckte sie auf und brachte sie in die töd­liche Realität von Buchenwald zurück. Die zwei Wörter, „ces deux mots allemands“ 51, suchen den Erzähler lange nach der Befreiung in seinen Träumen heim und lassen ihn glauben, dem Lager nie entkommen zu sein.52 In Semprúns Erinnerungen an Buchenwald bilden die wiederkehrenden fremden Wörter den Ansatz, die Lagererfahrung immer aufs Neue wieder in ein Narrativ zu 4 7 Jorge Semprun. L’écriture ou la vie. Paris 1994. S. 24. 48 Ebd. S. 22. 49 Ebd. S. 84. 50 Ebd. S. 23. 51 Ebd. 52 „Krematorium, ausmachen ! disait la voix allemande […] au lieu de me fair comprendre que je rêvais, […] me faisait croire que j’étais enfin réveillé, de nouveau – ou encore, ou pour toujours – dans la réalité de Buchenwald.“ Ebd. S. 202.

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übersetzen und gleichzeitig den Punkt, an dem dies immer wieder vom Fremdbleiben der Erfahrung unterbrochen bleibt. Dieses montageartige Verfahren kann als Teil von Semprúns Erzählen über seine Gefangen­schaft in Buchenwald gelesen werden, das insgesamt dadurch charakterisiert ist, dass der Autor über Jahrzehnte in immer neuen Textanordnungen auf das Erlebte zurückkommt und dabei auch explizit bereits Berichtetes noch einmal erzählt, anders erzählt, korrigiert. Komplementär dazu ist die narrative Form sprunghaft und reflexiv, was die Uneinholbarkeit des Erlebten und die Unmög­lichkeit einer endgültigen Durcharbeitung zusätz­lich hervorhebt.53 Auch die Durchsetzung mit anderen Sprachen trägt zur Sperrigkeit der Schilderung bei, betont die Unmög­lichkeit, das Erlebte endgültig in ein kohärentes Narrativ zu überführen und die Notwendigkeit, in immer neuen Übersetzungen davon zu berichten. Deshalb gilt: „the linguistic heterogeneity of the Semprúnian discourse must also be viewed as part of a wider and profound metadiegetic and metaphysical ques­tioning on the possibilities of representa­tion tout court in the aftermath of the Holocaust.“ 54 Die Sensibilität für Fragen der Übersetzung führt Semprún nicht zuletzt darauf zurück, dass er seine Texte – abgesehen von wenigen Ausnahmen – nicht in seiner Mutter­sprache Spanisch, sondern auf Franzö­sisch verfasst.55 Dieses versteht der Autor explizit als eine „langue de l’exil“ 56. Die Sprache seiner Literatur resultiert somit bereits aus einer ersten Zäsurerfahrung, näm­lich jener der Exilierung aus Franco-­Spanien. Die Reflexion über den Einfluss erlebter Gewalt auf die Sprache bzw. die konkrete Sprachwahl ist eine Konstante von Semprúns Schreiben.57 Ursula Tidd geht davon aus, dass Semprúns Mehrsprachigkeit sein Überleben in Buchenwald erleichtert hat. Nicht nur, weil ihn seine in der Kindheit erworbenen Deutschkenntnisse zur Arbeit in der Administra­tion befähigten, sondern auch, weil er durch sein Exil und den damit verbundenen Wechsel ins Franzö­sische bereits eine nomadische Sprachform als Lebens- und Überlebensmög­lichkeit etabliert

53 Zu Semprúns Schreiben über die Lagererfahrung vgl.: María Angélica Semilla Durán. Le masque et le masqué. Jorge Semprún et les abîmes de la mémoire. Toulouse 2005; Monika Neuhofer. „Écrire un seul livre, sans cesse renouvelé“. Jorge Sempruns literarische Auseinandersetzung mit Buchenwald. Frankfurt a. M. 2006; Ulrike Vordermark. Das Gedächtnis des Todes. Die Erfahrung des Konzentra­tionslagers Buchenwald im Werk Jorge Semprúns. Köln 2008; Ursula Tidd. Jorge Semprún. Writing the European Other. London 2014. 54 Tidd 2014. S. 21. 55 Für eine umfassende Untersuchung von Sempruns Bilingualismus vgl.: Myriam Schleiss. Le bilinguisme comme atout de l’écrivain: Représenta­tions du bilinguisme et fonc­tions stylistiques des marques transcodiques dans l’oeuvre de Jorge Semprun. Sarrebruck 2011. 56 Semprun 1994. S. 353. 57 Vgl. Schleiss 2011.

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hatte.58 Ähn­lich, jedoch ohne über die (Un-)Wichtigkeit von Sprachbiografie im Lager selbst spekulieren zu wollen, vertrete auch ich die These, dass die Arbeit mit Sprachmischung die Erfahrung des sich permanent entziehenden Sinns übermittelt. Die Schlüsselpassage zu ­diesem Komplex findet sich in L’écriture ou la vie, Semprúns Zeugenbericht über die Gefangenschaft in Buchenwald und der unüberwind­lichen Traumatisierung durch das dort Erlebte. Der Autor schildert hier, wie ihm 1964 in Salzburg bei der Verleihung des Prix Formentor die verschiedenen Übersetzungen seines Erstlings Le grand voyage übergeben werden. Seine Unberührtheit von der Prozedur habe sich erst geändert, als die Reihe an den spanischen Verleger kam, der ihm die Übersetzung des franzö­sischen Werkes in Semprúns Muttersprache übergeben sollte. Wie aber der Verleger erklärt, hat die francistische Zensur die Publika­tion einer Übersetzung von Le grand voyage in Spanien verboten. Das Buch müsse nun in Mexiko gedruckt werden, die Ausgabe sei aber nicht mehr rechtzeitig fertig geworden. Überreicht wird dem Autor deshalb ein Exemplar seines Romans, in dem die Seiten weiß geblieben sind.59 Der Anblick der weißen Seiten ruft nun zunächst ein in dem Buch durchgängig zitiertes traumatisches Moment hervor: die Erinnerung an den Schnee, der am 1. Mai 1945, am Tag der Rückkehr S­ empruns nach Paris, auf die roten Fahnen des Défilés fiel und so den Tag der vermeint­lichen Wiederkehr ins Leben mit der andauernden Präsenz des Todes verbindet. Der Anblick der weißen Seiten evoziert eine Retraumatisierung, bei dem das mit Mühe niedergeschriebene Leben erneut gelöscht wird: „la neige d’antan recouvrait les pages de mon livre […] Le signe était aisé à interpréter […] rien ne m’était encore acquis. Ce livre que j’avais mis près de vingt ans à pouvoir écrire, ­s’évanouissait de nouveau, à peine terminé. Il me faudrait le recommencer : tâche ­interminable, sans doute, que la transcrip­tion de l’expérience de la mort.“ 60

Betroffen ist von der Löschung nicht irgendeine Übersetzung, sondern „la langue originaire“ 61, die spanische Muttersprache des Erzählers. Die francistische Zensur bestätigt und dupliziert die bereits erfolgte Ausstoßung aus dieser Sprache. Gleichzeitig wird in der gleichnishaften Episode das Erzählen in einer Originalsprache zur Leerstelle, 58 Ursula Tidd. „Exile, Language, and Trauma in Recent Autobiographical Writing by Jorge Semprun“. The Modern Language Review 103.3 (2008): S. 697 – 714, S. 711. 59 „un exemplaire unique de mon roman. Le format, le cartonnage, le nombre de pages, la jaquette illustrée : tout est conforme au modèle de la future edi­tion mexicaine. Á un detail près : les pages de mon exemplaire d’aujourd’hui sont blanches, vierges de tout signe ­d’imprimerie.“ Semprun 1994. S. 350. 60 Ebd. S. 350/351. 61 Ebd. S. 351.

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beim vorliegenden Text haben wir es schon immer mit einer Transkrip­tion zu tun. Eine ‚heile‘, von den Geschehnissen unversehrt gebliebene Originalsprache ist unerreichbar, Sprach- und Erzählfähigkeiten wurden durch die erlebte Gewalt grundlegend beschädigt. Daran erinnern die Reflexionen über Sprachwahl und Übersetzung ebenso wie die durch den Einschub anderer Sprachen erzeugten Brüche in Semprúns Texten. Neben diesen Reflexionen über die Ähn­lichkeiten von Sprachwechsel und Er­innerungsvorgängen und den bereits erwähnten Formen der Sprachmischung, die ähn­ lich wie bei Levi und Rousset funk­tionieren, sind für Semprún ausführ­liche Zitate aus literarischen und philosophischen Texten in der Originalsprache prägend. Hier wird im Angesicht der Sprachzerschlagung Babel’schen Ausmaßes an eine Vielsprachigkeit erinnert, die Teil des mit Zweitem Weltkrieg und Holocaust ausgelöschten alteuropäischen humanistisch-­kosmopolitischen Bildungsideals ist. Ursula Tidd hat daraus gefolgert, dass die Mehrsprachigkeit in Semprúns Texten dazu diene, gegen die Katastrophe anzuschreiben und das Potenzial für eine Re­­eta­blierung einer mulitkulturellen Zivilisa­tion zu markieren.62 Im Gegensatz dazu möchte ich mit Blick auf die deutschen Zitate unter anderem aus den Werken Kants, Goethes oder Brechts behaupten, dass in ihrer Montage in den Zeugenbericht das Trauma des Zivilisa­tionsbruches, der Gleichzeitigkeit von humanistischer Bildung und na­tio­ nalsozialistischer Vernichtungspolitik zu lesen gegeben wird. Veranschau­licht wird dies nicht zuletzt dadurch, dass im Text Wörter der na­tionalsozialis­tischen Vernichtungspolitik (wie Sonderkommando) auf g­ leiche Weise herausstechen wie Verweise auf Goethe (Das Gartenhaus 63). Ebenso wie der Ettersberg bei Weimar Schauplatz von Goethes Spaziergängen und Standort des Konzentra­tionslagers Buchenwald ist, ist das Deutsche Sprache der Kultur und der Barbarei zugleich: „je pense au destin de la langue allemande : langue de commandement et d’aboiement S. S. – ‚ der Tod ist ein Meister aus Deutschland ‘, a pu écrire Celan : ‚la mort est un maître d’Allemagne ‘ – et langue de Kafka, Husserl, de Freud […] de tant d’autres intellectuels juifs […] langue de subversion, donc, d’affirma­tion universelle de la raison critique.“ 64

In einem vielsprachigen europäischen Gedächtnis, wie es Semprúns Werk aufruft, wird das Deutsche sowohl in seiner Erscheinungsform als Lagerdeutsch als auch in den ausführ­lichen literarischen Zitaten zur traumatischen Signatur, insofern daran der letzt­lich unverstandene Moment des Umschlagens von Kultur und Barbarei zur Darstellung kommt.

62 Tidd 2014. S. 705. 63 Semprun 1994. S. 107. 6 4 Ebd. S. 372.

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IV. Zusammenfassende Analyse

Im vorliegenden Artikel wurde eine literaturwissenschaft­liche Lesart von Sprachmischung, insbesondere der Verwendung von Deutsch, in Zeugenberichten aus na­tionalsozialistischen Lagern erarbeitet. Ziel war, zu zeigen, dass diese linguistische Auffälligkeit in nicht deutschsprachigen Texten über die Fragen nach mimetischer Abbildung und Schaffung von Authentizität hinaus Beachtung verdient. Sprachmischung wurde dabei insofern als experimentelles Verfahren begriffen, als dadurch an der Grenze einer literarischen Darstellungskonven­tion, der monolingualen Normierung in der Prosa, die Erfahrung fundamentaler Sprachbrechung zur Darstellung gebracht werden soll. Die Texte berichten, wie auch in der Referenz auf Babel deut­ lich wird, von den Schwierigkeiten, eine angemessene Sprache für das Erlebte zu finden. Gleichzeitig stellen sie über ihr mehrsprachiges Erscheinungsbild geradezu selbst eine Babel’sche Textur her. Die Opera­tion mit Sprachmischung lässt sich so als eine dezidierte Form des Schreibens nach dem Zivilisa­tionsbruch verstehen, in dem auch das Erzählen über das Geschehene immer ein gebrochenes bleiben muss. Diese Literatursprache stieß bei Kritikern und Verlegern immer wieder auf Ablehnung. Lawrence Langer kommentiert Primo Levis multilinguales Schreiben wie folgt: „Readers may wish that they had brought to the encounter an armful of dic­tionaries. The polyglot vocabulary is exasperating.“ 65 Polnische Lektoren strichen Wolf Oschlies zufolge unmittelbar nach 1945 aus den Manuskripten Überlebender, „was ihnen unter normativem Sprachaspekt als unangemessen erschien.“ 66 Bei ­dieser Irrita­tion gegenüber der Inszenierung gebrochener Sprache in Zeugenberichten mögen verschiedene Faktoren ineinandergreifen: Nach der deutschen Besatzung müssen die betroffenen europäischen Na­tionalstaaten ihre zerstörte Einheit rekonstruieren, wozu auch die Na­tionalsprache eine wichtige Stütze ist. Dann erscheinen die natür­lichen Sprachen in ihren grammatika­lisch-­syntaktischen Ordnungen als kultivierte Sprachformen, die es wieder aufzurichten gilt. Die Erinnerung an die systematische Sprachbrechung, die Ankündigung einer „neuen, harten Sprache“ (Levi) ist dabei unerträg­lich und muss gelöscht werden.67 Anders formuliert: Es gilt, die betroffenen europäischen Na­tionen von der Versehrung durch die deutsche Invasion auch auf linguistischer Ebene zu heilen. Wenn in literarischen Texten dennoch mehr­sprachig operiert wird, so wird darin in der Abweichung von Darstellungsnormen an ebendiese Versehrung erinnert. Die Arbeit mit gebrochener Sprache, wie sie hier dargelegt wurde, steht also im Dienst der Vermittlung der erfahrenen Gewalt

65 Zit. nach Prescott 2010. S. 86. 66 Oschlies 1986. S. 99. 67 S. a. Gramling 2012. S. 169.

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und der daraus resultierenden Traumatisierung. Mit Durchkreuzung von Sprachnormen wird so versucht, eine angemessene und wirkungsvollere Sprache zu finden, und gleichzeitig die Frage aufgeworfen, inwiefern über die Erfahrung der na­tional­ sozialistischen Konzentra­tionslager Darstellungsnormen und Sprachmodi hinterfragt und erweitert werden müssen. Schließ­lich dient das Verfahren der Sprachbrechung zur Herstellung einer traumatischen Textur und muss in den Kontext literarischer Trauma-­Darstellungen gestellt werden. Drei Lektürezugänge sind hier vorhanden: ein historischer, ein psychoanalytischer und ein literaturtheoretischer. Für eine historische Lesart ist bei Ulrich Baer anzusetzen, demzufolge ein Trauma eine ungeklärte Erfahrung darstellt, deren Auflösung und Deutung auch daran scheitern, dass sie nicht in die zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung stehen­ den symbo­lischen Formen überführt werden kann.68 Eben davon ist auch die in den Lagern erlittene Barbarisierung betroffen, die nicht restlos in die monolinguale Norm einer Kultursprache übertragen werden kann und deshalb durch den Topos Babel und im literarischen Verfahren eines Bruchs mit ebendieser Sprachnorm, mit der Gestaltung eines ‚rohen‘ und ‚fremden‘ Sprechens, aufgerufen wird. Einer psychoanalytischen Deutung der besprochenen Texte können als Grundlage die Analysen bi- und multilingualer Patienten dienen, bei denen sich zeigte, dass Spaltungs- und Verdrängungsvorgänge mithilfe zur Verfügung stehender Sprach­register vorgenommen werden können. So wird die Verdrängung traumatischer Erlebnisse dadurch unterstützt, dass die damit verbundene Sprache aufgegeben wird.69 Ebenso aber wie „sprach­liche Codes in den Dienst der Verdrängung [treten können], [­können sie] aber auch in den einer Wiederkehr des Verdrängten treten.“ 70 So ver­raten etwa Erscheinungen wie code-­switching und -mixing, ­welche Sprache zugunsten einer anderen verdrängt wurde und können dabei den Weg zur Rekonstruk­tion einer unterdrückten Erinnerung weisen. Mit anderen Worten handelt es sich hier bei Sprachmischung um ein traumatisches Symptom. Diese Interpreta­tion baut auf der Erkenntnis auf, dass Wortlaut und Ding im Gedächtnis so eng mitein­ander verknüpft sein können, dass die Verdrängung – bzw. die Rekonstruk­tion des Verdrängten – geradezu am Wortlaut haftet.71 Auch das in den analysierten Texten aufgerufene Deutsch ist aufs Engste mit der erfahrenen Gewalt verbunden. Traumatisierung wird dabei literarisch gestaltet, indem die

68 Ulrich Baer. Remnants of Song. Trauma and the Experience of Modernity in Charles Baudelaire and Paul Celan. Stanford 2000. 69 Vgl.: Jacqueline Amati Mehler, Simona Argentieri u. Jorge Canestri. Das Babel des Un­be­ wussten. Muttersprache und Fremdsprachen in der Psychoanalyse. Gießen 2010. S. 187 – 228. 70 Ebd. S. 202. 71 Ebd.

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fremden Wörter die kohärente Erzähl- und Muttersprache in der Logik von flash-­ backs durchbrechen.72 Schließ­lich lässt sich ein literaturtheoretisch fundierter Zugang zur Verwendung der fremden Wörter in den besprochenen Texten formulieren. In seiner Schrift figura cryptica schreibt Anselm Haverkamp mit Bezug auf Primo Levi: „Geschichte als Geschichte der in ihr erlittenen Traumata zu lesen heißt, diese aufzusuchen in der Unlesbarkeit dessen, was geschehen ist.“ 73 Im Anschluss daran entwickelt er seine Theorie zu „Anagramm und Trauma. Die vergessene Markierung“, in der traumatische Symptome an der Textoberfläche in Gestalt von „unlesbaren Markierungen“ (bei Haverkamp insbesondere Anagramme), die auf ein nicht Aus­erzählbares ver­ weisen, geortet werden. Referenz dieser nicht dechiffrierbaren, aber doch rein sprach­ lich gestalteten Stellen ist „ein Ereignis unterhalb der literalen Bearbeitung und Bezeichnung, das aber im Text eingeschlossen ist und fortbesteht, sei es auch […] als ein bloßes Mal.“ 74 Dieses Mal benennt das Vergessene, ohne es aber in Erinnerung zurückverwandeln zu können. Die „literarische Pointe“ dabei besteht darin, dass ebendies nur über die Markierung einer Unlesbarkeit erfolgt, in der letzt­lich auch die Autoreferenzialität von Sprache zur Schau gestellt wird. Im Anschluss daran lässt sich die These formulieren, dass eine s­olche Markierung des Traumas in seiner Unlesbarkeit auch mittels der fremden Wörter erfolgt. Ebenso wie die bei Haverkamp genannten Anagramme vermitteln sie die Erkenntnis: „Geschichte im Klartext gibt es nicht.“ 75 Lesbar wird sie stattdessen in der „Latenz der Traumata“, die wiederum in der oben beschriebenen Weise im Text markiert sind, und zwar, wie Haverkamp weiter schreibt, „in den Fugen, dem ‚Unfug‘ des Codes“.76 In ebendiesen Fugen der Textordnung als einer einsprachigen operieren die fremden Wörter als ‚Un-­fug‘. Das dergestalt von den Texten erzeugte Ungefügte ist dabei auch genau das, was sie mit experimentellen Gattungen der Avantgarden ver­bindet, die ebenfalls die Brüchigkeit und den ‚Un-­fug‘ in sprach­lichen (und damit auch immer zivilisatorischen) Codes beleuchten. Die Anklänge einzelner Stellen der vorgestellten Literatur an diese experimentellen Literaturformen – etwa Levis Ziegel oder 72 Vgl. dazu auch die Beobachtung Primo Levis: „Noch nach vierzig Jahren erinnern wir uns akustisch an Wörter und Sätze, die in unserer Umgebung in Sprachen gesagt worden sind, die wir nicht kannten und auch s­päter nicht gelernt haben […]. Diese fremdsprachigen Töne haben sich in unser Gedächtnis eingeprägt wie auf ein unbespieltes Tonband“. Levi 1986. S. 94. 73 Anselm Haverkamp. Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz. Frankfurt a. M. 2002. S. 162. 74 Ebd. S. 163. 75 Ebd. S. 166. 76 Ebd.

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Roussets polnisch-­rus­sisch-­deutscher Streit – sind deshalb nicht zu­fällig. Vielmehr erscheint Sprachmischung darin als eine gestalterische Mög­lichkeit, auf Traumata in ihrer Nichtauserzählbarkeit zu verweisen und die Zerschlagung von auf Sinnherstellung ausgerichteten Codes in der Gestaltung einer gebrochenen Textur zur Darstellung zu bringen. Die Gestaltung einer ‚unkultivierten‘, ‚rohen‘ und ‚stammelnden‘ Literatursprache trägt der irreparablen Zäsur Rechnung, die die na­tionalsozialistische Vernichtungspolitik für das humanistische Ideal menschlicher Verständigung und Kultur­ sprache bedeutet. Indem die Erzählung von der fremden Sprache durchlöchert bleibt, verweist sie auf das erlittene Trauma der Barbarisierung und reinszeniert ­dieses zugleich für den Leser. Das Erlebte entzieht sich in den besprochenen Texten der Überführung in ein einheit­liches, heiles Idiom. Die Stimme des Überlebenden wird als eine buchstäb­lich gebrochene übermittelt.

Katrin Hoffmann

Un passé inventorié Elliptische Strukturen bei Jean Cayrol und Christian Boltanski „Ce n’est pas de fuir qu’il s’agit, mais de trouver ‚le lieu et la formule‘“ 1. Mit ­diesen Worten umreißen Jean Cayrol und Claude Durand in ihrem filmtheoretischen Gemeinschaftswerk Le Droit de regard (1963) die neuen Anforderungen, vor ­welche die Autoren die – nicht nur kinematografische – Kunst nach 1945 gestellt sehen. Lässt sich der Ausspruch leicht als Ruf nach einer formalisierten Darstellung der Shoah missverstehen, so enthält er doch zunächst den deut­lichen Verweis auf die heuristische Funk­tion der Kunst, die damit einmal mehr in ein konkurrierendes Verhältnis zur Wissenschaft tritt:2 „[L’]art est un moyen de prospec­tion aussi important que la science; il n’est pas utile, il est indispensable.“ 3 Während die Autoren hier einerseits die Kunst in ihrer Eigenschaft als Wissen generierendes Erkundungsmittel den Wissenschaften gleichstellen, wenn nicht sogar höher als diese ansiedeln, so scheint in der Folge auch die Grenzziehung bezüg­lich der Vorgehensweise obsolet, da sich künstlerische wie wissenschaft­liche Findungsprozesse in ihren Augen stets als Werke der Imagina­tion darstellen,4 die wider die Vernunft 5 vonstattengehen und jenseits jeder Vorhersehbarkeit liegen. Eine erkundende Kunst aber, die nach Manifesta­tionsorten und -forme(l)n einer vergangenen Erfahrung sucht, trägt zwangsläufig Momente des Experimentellen in sich. Denn beachtet man im Franzö­sischen die innige begriff­liche Verbindung von Experiment und Erfahrung,6 so wird deut­lich, dass das Moment der Fik­tion

1 Jean Cayrol u. Claude Durand. Le Droit de regard. Paris 1963. S. 13. – „Es geht nicht darum, zu flüchten, sondern ‚den Ort und die Formel‘ zu finden.“ (Übers. d. Verfasserin). 2 Vgl. Ronald Shusterman. „Fic­tion et re-­connaissance: les limites du savoir littéraire“. Fic­tion et connaissance. Essais sur le savoir à l’œuvre et l’œuvre de fic­tion. Hg. v. Catherine Coquio u. Régis Salado. Paris 1998. S. 145 – 158, S. 145. 3 Cayrol u. Durand 1963. S. 134 – „Die Kunst ein Erkundungsmittel, das ebenso wichtig ist wie die Wissenschaft; sie ist nicht nütz­lich, sie ist unentbehr­lich.“ (Übers. d. Verfasserin). 4 Ebd. S. 25. – „On s’aperçoit aussi bien en science qu’en art qu’il faut faire oeuvre d’imagina­ tion rigoureuse et non plus de raison, pour faire oeuvre de crea­tion“. 5 Ebd. S. 134. 6 Zur Etymologie des Begriffpaares vgl. Jacques Derrida. „Denken, nicht zu sehen“. Bild­ theorien aus Frankreich. Eine Anthologie. Hg. v. Emmanuel Alloa. München 2011. S. 323 – 344, S. 335 f. Vgl. auch Eva Koethen. „Das Experiment des Findens als Verfahrensweise der Kunst“.

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insofern als konstitutiv für eine experimentelle, Erkenntnis stiftende Kunst gelten kann,7 als diese immer schon „die Perspektive des Unmög­lichen“ 8 enthält, wenn sie „Ausblick auf das [gibt], was aus dem Blick fällt“ 9. Inwiefern aber birgt nun ausgerechnet eine s­ olche experimentelle Kunst eine besondere Mög­lichkeit in der Auseinandersetzung mit der Shoah? Und lassen sich darüber hinaus medienübergreifend strukturelle Ähn­lichkeiten fassen? Welche spezifische Bedeutung kommt der Figur der Ellipse innerhalb des Erinnerungsprozesses zu und inwieweit kann sie mit einer Kunst, die nach „Ort und Formel“ des vergangenen Ereignisses fragt, in Zusammenhang gebracht werden? Um diese Fragen zu beantworten, möchte der vorliegende Beitrag die theoretischen und literarischen Werke des Schriftstellers Jean Cayrol und die installativen Arbeiten des Künstlers Christian Boltanski einem Vergleich unterziehen. Dazu sollen zunächst wichtige Grundzüge der von Jean Cayrol entworfenen Poetik vorgestellt werden, um dann anhand ausgewählter Romane Cayrols sowie einiger Arbeiten Boltanskis das darin enthaltene Potenzial für eine fragende Auseinandersetzung nachfolgender Genera­tionen aufzuzeigen und im weiteren Verlauf schließ­lich nach der aktualisierenden Kraft einer elliptischen, imaginativen Kunst im Allgemeinen zu fragen. I.

Bereits unmittelbar nach Kriegsende gab der franzö­sische Dichter und ehemalige Deportierte Jean Cayrol der Diskussion über den künstlerischen Umgang mit der Shoah eine Richtung, indem er in seinem 1949 erschienenen Essay D’un romanesque lazaréen 10 von der Darstellbarkeit des traumatischen Ereignisses ausschließ­lich in seinen Nachwirkungen ausging. Auf der Suche nach einer literarischen Darstellungsform skizziert er dort in Auseinandersetzung mit der zeitgenös­sischen franzö­ sischen Kunst und Literatur Züge einer neuen Schreibweise, die auf der Lagererfahrung (expérience concentra­tionnaire) gründet, ohne diese jedoch explizit zu benennen. Im Gegensatz zu anderen Überlebenden, wie Primo Levi oder Robert Antelme,

7 8 9 10

Experimente in den Künsten. Transmediale Erkundungen in Literatur, Theater, Film, Musik und bildender Kunst. Hg. v. Stefanie Kreutzer. Bielefeld 2012. S. 337 – 366, S. 345. Zum Erkenntnis stiftenden Vermögen der Fik­tion vgl. Coquio u. Salado 1998. Derrida 2011. S. 336. Ebd. Im darauffolgenden Jahr mit einem zweiten Essay („Rêve concentra­tionnaires“) veröffent­ licht unter dem Titel Lazare parmi nous (Les Cahiers du Rhône). Paris, Neuchâtel 1950; hier in ders.: Œuvre lazaréenne. Paris 2007. S. 757 – 823.

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äußerte Cayrol von Beginn an seine Vorbehalte gegenüber der tradi­tionellen Form des Zeugenberichts im Sinne einer Nacherzählung des Erlebten mit der Begründung, dass jene Berichte nur eine, näm­lich die offensicht­lichste Erscheinungsart der Lager wiedergäben, ohne aber weitere Auswüchse des concentra­tionnat zu thematisieren: „Nous n’avons connu et lu jusqu’ici sur les camps que des témoignages pathétiques, certes, mais qui ne montraient qu’un visage des camps, le plus specta­ culaire [..], mais ce visage ne valait que jusqu’à la Libéra­tion; on ne savait plus après quel masque il porterait.“ 11 Ebenso wenig scheint sich das kulturelle Schockerlebnis für Cayrol im Modus des Dokumentarischen fassen zu lassen, da eine archivierende Bestandsaufnahme und wissenschaft­lich-­objektivierende Wiedergabe des Geschehenen in Form gesammelter Dokumente, Beweise und Akten – ein passé inventorié also – ein vergangenes Ereignis trotz der vorgeb­lichen Informa­tionsfülle kaum oder eben nur scheinbar wiedergeben und der Erinnerung somit nicht gerecht werden könne.12 Denn die Wahrheit eines historischen Ereignisses lässt sich nicht allein in den Akten eines Archivs festhalten: „La vérité d’un épisode de notre monde n’est pas fixée une fois pour toutes dans les archives, les fiches.“ 13 Deut­lich rücken jene Zeilen die grundsätz­ liche Unmög­lichkeit, aber eben auch die Gefahr einer endgültigen Fixierung ins Licht, zugleich scheint jedoch auch hier der Verdacht mitzuschwingen, dass ein Ereignis wie die Shoah nicht einfach wegschließbar und abschließbar sei. In der Folge sieht es der Schriftsteller als Aufgabe der Kunst an, sich den gegenwärtigen Nachbeben der Katastrophe zu widmen, w ­ elche sich wie ein Ölfleck langsam ausbreite und die Gegenwart kontaminiere: „[L]e climat concentra­tionnaire s’est infiltré dans la vie quotidienne […], s’y est répandu comme une tache d’huile, et y laisse un arrière-­goût que nous reconnaissons et que nous ne pouvons oublier.“ 14 Der mit der Metapher des sich unmerk­lich aber unaufhaltsam ausbreitenden Ölflecks umschriebene Prozess unterstreicht dabei nicht nur das latente Fortdauern der Katastrophe, vielmehr verweist er zugleich darauf, dass die Katastrophe, die alle Lebensbereiche und somit alle Kunstformen gleichermaßen affiziert, auch transmedial

11 Cayrol 2007. S. 803. – „Bisher haben wir nur etwas über die Lager erfahren und gelesen in Zeugnissen, die zwar voller Pathos waren, die aber nur ein Gesicht der Lager, näm­lich das spektakulärste, zeigten […], doch ­dieses Gesicht galt nur bis zur Libera­tion; danach wusste man nicht mehr, hinter welcher Maske es sich verbarg.“ (Übers. d. Verfasserin). 12 Vgl. Cayrol u. Durand 1963. S. 19. 13 Ebd. S. 19. 14 Cayrol 2007. S. 795. – „Die Atmosphäre der Lager ist in den Alltag […] eingedrungen, hat sich wie ein Ölfleck ausgebreitet und hinterlässt einen Nachgeschmack, den wir wieder­ erkennen und den wir nicht vergessen können“ (Übers. d. Verfasserin).

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ihren Niederschlag finden müsse.15 Das Trauma schreibt sich laut Cayrol nicht nur in alle Kunstformen ein, sondern es schreibt sich in Form von stetig neu emergierenden Symptomen in der Gegenwart fort, sodass selbst jene, die das Grauen nicht am eigenen Leib erfahren haben, demnach die Eigenheiten und Ticks derer übernehmen, die in den Konzentra­tionslagern interniert waren.16 Das von Cayrol entworfene Denkmodell der Kontamina­tion, das jeder Mög­lichkeit einer Aussöhnung mit der Vergangenheit, aber auch dem Diktum einer generellen Undarstellbarkeit diametral entgegensteht, eröffnet dabei ungeahnte Mög­lichkeiten für eine Erneuerung literarischer und künstlerischer Praxis, vervielfacht die dadurch implizierte Multiplika­tion der Manifesta­tionsorte doch die Mög­lichkeiten einer Darstellung insofern, als fortan das kulturelle Schockerlebnis in seinen vielfältigen nachträg­ lichen Erschütterungen und wild weiterwuchernden Ausformungen reflektiert und somit aktualisiert werden kann. In ­diesem Sinne ist auch die eingangs zitierte Aufforderung an die Kunst zu verstehen, ­welche es sich fortan zur Aufgabe machen soll, gegenwärtige Manifesta­ tionsorte und -forme(l)n des Ereignisses aufzuspüren. Vor dem Hintergrund der Cayrol’schen Reflexionen wird deut­lich, dass der Begriff der Formel dabei nicht eine formalisierende Darstellung meinen kann, die formelhaft wiederholend der Vergangenheit verhaftet ist, sondern dass er vielmehr für eine künstlerische Art und Weise der Auseinandersetzung steht, die, ähn­lich einer variablen Gleichung, stets neue Manifesta­tionsorte hervorbringt und die Mög­lichkeit der Erinnerung somit potenziert. „Il faut découvrir comment [le fait passé désormais historique] a vieilli, comment il se révèle encore dans d’autres mémoires, quelles traces il a laissées, quelles plaies mal guéries […] Il faut faire entrer l’actualité dans le temps, c’est-­à-­dire en chercher les suites, les remords, les prolongements, l’existence persistante en marge d’une actualité renouvelée: non pas les séquelles

15 Um der Mehrdimensionalität des Cayrol’schen Ansatzes gerecht zu werden und die Tragweite seiner bemerkenswert frühen Ausführungen nachvollziehen zu können, finden sich im vorliegenden Beitrag zwei Posi­tionen verg­lichen, die sich nicht nur hinsicht­lich ihrer medialen Verfahren, sondern auch in ihrer Beziehung zur Shoah unterscheiden: Cayrol (1910 – 2005), Schriftsteller und Zeitzeuge, wurde 1942 aufgrund seiner Verbindungen zur Résistance verhaftet und im darauffolgenden Jahr in das Konzentra­tionslager Mauthausen-­Gusen deportiert, wo er bis Kriegsende interniert war. Christian Boltanski hingegen, franzö­sischer Installa­tionskünstler jüdischer Herkunft (* 1944), steht für eine Genera­tion, deren Erfahrung und Wissen über die Shoah größtenteils aus zweiter Hand stammt. 16 Vgl. ebd. S. 801.

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mourantes de ce fait historique […] mais les manifesta­tions que cet événement continue malgré le mot fin apporté par les traités de paix, les jugements, les épilogues.“ 17

Äußerst anschau­lich illustriert die zitierte Passage die Vervielfachung katastrophischer Auswüchse, indem dem singulären Ereignis plurale Manifesta­tionen in Form von Erinnerungen, Spuren, nicht verheilenden Wunden und Vorwürfen zugeordnet werden. Jene Folgen und Verlängerungen also, die schließ­lich zu einer persistierenden Existenz des Ereignisses in der Gegenwart führen. In der Aufforderung, die Variable der Aktualität in die Zeit einzubringen, deutet sich dabei insofern eine Neuperspektivierung an, als sie umgekehrt auch immer die Retransposi­tion der ehemaligen Aktualität in die Gegenwart 18 bedeutet, die ausschließ­lich über den Weg der Fik­tion erfolgen kann. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die Frühzeitigkeit des Cayrol’schen Entwurfs – in seinem ersten Roman On vous parle, den Cayrol 1947 veröffent­lichte, zeigt sich die Poetik des aus diesen Überlegungen heraus entwickelten art lazaréen bereits vollständig ausgeformt –, sondern ebenso die Tatsache, dass die hier entworfene Poetik, die eine Poetik des Indirekten ist, darüber hinaus Lösungsansätze für eine Problematik liefert, die vor allem für die nachfolgenden Genera­tionen Jahrzehnte s­ päter, mit dem Tod der letzten Zeitzeugen, von akuter Bedeutung werden sollte. Sieht sich das von Cayrol entworfene Konzept des art lazaréen aufgrund seiner vordergründig christ­lichen Prägung in seiner Übertragbarkeit auf Künstler anderer Genera­tionen oder mit anderem religiösen Hintergrund oftmals infrage gestellt, so lässt sich auch dieser Vorbehalt entkräften: Denn mag der Rückgriff Cayrols auf die bib­lische Figur des Lazarus zunächst vor einem christ­lichen Hintergrund erfolgen, ist sich die Forschung doch darin einig, dass der Begriff bei Cayrol eine metapho­rische Öffnung erfährt 19 und das damit verbundene Konzept

17 Cayrol u. Durand 1963. S. 19. – „Man muss entdecken, wie [das nunmehr historische Ereignis] gealtert ist, wie es sich darüber hinaus in weiteren Erinnerungen offenbart, w ­ elche Spuren es hinterlassen hat, w ­ elche schlecht heilenden Wunden […]. Man muss die Gegenwart in die Zeit hineinbringen, das heißt nach den Folgen, Vorwürfen, Verlängerungen der fortdauernden Existenz am Rande einer sich ständig erneuernden Gegenwart suchen: nicht die abklingenden Folgeerscheinungen ­dieses historischen Ereignisses […], sondern die Anzeichen, dass sich ­dieses Ereignis fortsetzt trotz des Wortes ‚Ende‘, das die Friedensverträge, die Urteile, die Nachworte darunter gesetzt haben.“ (Übers. d. Verfasserin). 18 Vgl. ebd. S. 20. 19 Vgl. Maia Beyler-­Noily. „Après le désastre: le héros lazaréen chez Jean Cayrol et Patrick Modiano“. Tiresias 4 (Oktober 2010): S. 38 – 64, S. 44; vgl. Jean-­François Louette. „De l’art lazaréen“. Ecrire après Auschwitz. Mémoires croisées France – Allemagne. Hg. v. Karsten Garscha, Bruno Gelas u. Jean-­Pierre Martin. Lyon 2006. S. 27 – 56, S. 43. – Infolge dieser

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somit unabhängig von der religiösen oder politischen Orientierung des Produzenten als ein universelles zu begreifen ist. Diesen Schluss lässt das Konzept der ‚lazarenischen Kunst‘ auch insofern zu, als es sich hier um einen explizit mehr­ dimensionalen Ansatz handelt, der sowohl genera­tions- als auch gattungsübergreifend konzipiert ist und somit die Vermutung nahelegt, dass Cayrol ebenso einen religions- und konfessionsindifferenten Gebrauch des Attributs lazaréen vorsah. In dieser Hinsicht scheint es mehr als gerechtfertigt, einen Künstler wie Christian Boltanski als „artiste lazaréen“ zu bezeichnen.20 Auch wenn sich Boltanski, der in jene Atmosphäre des retour hineingeboren wurde,21 von der bei Cayrol die Rede ist, nie selbst explizit als ein artiste lazaréen im Sinne Cayrols situiert hat, scheint er sich anhand zahlreicher Äußerungen über die eigene Arbeit dennoch eindeutig in diese Linie einreihen zu lassen. II.

In Hinblick auf die Frage nach etwaigen strukturellen Merkmalen einer experimentellen Kunst, wie sie Cayrol mit dem Konzept des art lazaréen beschreibt, und entsprechend nach strukturellen Übereinstimmungen z­ wischen Cayrol und Boltanski, metaphorischen Öffnung muss der héros lazaréen, und entsprechend der artiste lazaréen, auch nicht notwendigerweise Überlebender eines Konzentra­tionslagers sein, vielmehr wird der Lazaréen zum Emblem eines jeden direkt oder indirekt Traumatisierten, der ‚nicht in der Welt zuhause ist‘. Vgl. Cayrol 2007. S. 801; sowie Beyler-­Noily 2010. S. 46 f. 20 So z. B. Jean-­Pierre Salgas. „Reconstituer le crime“. Point Ligne Plan. Cinéma et art con­ temporain. Hg. v. Eric Bullot. Paris 2002. S. 71 – 79, S. 78. – Im Falle Boltanskis scheint die Frage nach der Angemessenheit des Titels „artiste lazaréen“ auch insofern obsolet, als sich der Künstler, dessen Vater jüdisch und dessen M ­ utter katho­lisch war, selbst als z­ wischen beiden Religionen stehend bezeichnet: „Ma vie a été marquée par le fait d’être à cheval entre les deux religions, juive et chrétienne […] Pour ma part, je me suis toujours senti entre deux mondes“ (Christian Boltanski u. Catherine Grenier. La vie possible de Christian Boltanski. Paris 2010. S. 164). – In Anbetracht der Tatsache, dass Cayrols Essay „Pour un romanesque lazaréen“ einige Jahre nach seiner Erstveröffent­lichung unter dem Titel „De la mort à la vie“ erneut abgedruckt wurde und die Figur des Lazaréen somit bereits im Titel klar als eine Figur des ‚Dazwischen‘ situiert ist, scheint Boltanski vielmehr die Verkörperung par excellence des ‚artiste lazaréen‘. 21 Boltanski u. Grenier 2010. S. 16: „J’ai vécu toute mon enfance avec des histoires de sur­ vivants, tous les amis de mes parents s’étaient cachés, revenaient des camps, on vivait dans cette ambiance.“ – „Je suis un enfant de la Shoah“ (Ebd. S. 21) – „D’une certaine façon, je ne me suis jamais remis de la Shoah“ (Ebd. S. 22) – Bezüg­lich der Shoah heißt es: „C’était présent. […] moi, ma vie a été marquée par ça [i. e. la Shoah; Anm. d. Verfasserin].“ (Ebd.).

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liefert eine Notiz im Roman Je l’entends encore, dem letzten der sogenannten récits lazaréens 22 von Jean Cayrol, einen wichtigen Hinweis. Mit einer dem ersten ­Kapitel vorangestellten und in Kursivschrift abgedruckten Projektskizze präsentiert sich besagter Roman zunächst als Umsetzung des eingangs umrissenen schriftstellerischen Vorhabens, das Leben des Schriftstellers Julien Reize beginnend auf dem Sterbebett in einem retour en arrière noch einmal rückwärts zu erzählen. In der Manier eines hingekritzelten brouillon, in dem erste Einfälle zum ausstehenden Schreibprojekt ungeordnet und in aller Eile festgehalten werden, finden sich dort Gedankenfetzen zur Figurenkonzep­tion und kryptische Halbsätze, Fragen und Schreibanweisungen („Ajouter un accident“, „Penser aux voyages“ 23, „Reprendre l’idée du cosmos…“ 24) aneinandergereiht. Eine besondere Bedeutung für das eigene Schaffen scheint der Verfasser des Entwurfs dabei jedoch dem aus zwei Worten bestehenden (und selbst elliptischen) Satz „vie elliptique“ 25 beizumessen, der, als einziger in Majuskeln geschrieben, aus dem Fließtext hervorbricht. Gibt die typografische Hervorhebung zunächst Anlass, nach dem spezifischen Stellenwert dieser Worte für die Lektüre des Romans Je l’entends encore zu fragen, lässt die Wahl des im Franzö­sischen mehrdeutigen Adjektivs elliptique (unvollständig, unklar, rätselhaft; ellipsoid, in der Form einer Ellipse) bereits weiterreichende Vermutungen über einen Zusammenhang zum Konzept des art lazaréen zu: So fällt beispielsweise auf, dass Momente des Elliptischen bereits im bib­lischen Ursprungstext hervortreten, wo sowohl Lazarus selbst als auch der Lazarustext elliptischen Charakter aufweisen. Handelt es sich bei Lazarus einerseits um einen Schweigenden, um ein „être de silence“ 26, so scheint darüber hinaus sein weiteres Schicksal nach der Auferstehung ungewiss, gibt der Bibeltext doch keinen Aufschluss über den weiteren Verbleib des Tot-­Lebendigen, nachdem dieser sein Grab auf Jesu Geheiß hin verlassen hat. Lazarus scheint in der Folge „à jamais égaré“ 27, für immer dazu verbannt, ­zwischen Tod und Leben, Vergangenheit und Gegenwart umherzuirren. Da in der Figur des Lazarus‘ die Ellipse bereits in doppelter Hinsicht angelegt ist, als rhetorische Figur der Auslassung und als bipolare geometrische Figur, liegt die Vermutung nahe, dass die doppeldeutige Notiz mit ihrem Verweis auf das Elliptische tatsäch­lich in höchst kondensierter Form die Eigenschaften der von Cayrol 22 Das mit récits lazaréens umschriebene Textkorpus umfasst zwölf Romane, die Cayrol ­zwischen 1947 und 1968 publiziert hat. Zur Eingrenzung des Korpus vgl. Marie-­Laure Basuyaux. Témoigner clandestinement. Les récits lazaréens de Jean Cayrol. Paris 2009. S. 33 – 38. 23 Jean Cayrol. Je l’entends encore. Paris 1968. S. 8. 24 Ebd. S. 9. 25 Ebd. 26 Louette 2006. S. 29. 27 Ebd.

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entworfenen experimentellen Kunstform des art lazaréen enthält. Doch wie verhält es sich mit dem Moment des Elliptischen bei Cayrol und Boltanski im Einzelnen? Wie die übrigen récits lazaréens ist der Roman Je l’entends encore auf verschiedenen Ebenen von Ellipsen geprägt: Auf der Ebene der histoire ist die Ellipse im herkömm­lichen Sinne eines Mangels als strukturgebendes Element deut­lich an­­ gelegt – in Form eines gesichts- und identitätslosen Protagonisten mit lückenhafter Erinnerung, dessen Erzählung „par bonds“ 28, also schubweise, voranschreitet und somit dem Leser bis zu einem gewissen Grad rätselhaft erscheinen muss. Bezüg­ lich der formalen Anordnung handelt es sich sicher­lich um das experimentellste Werk unter den récits lazaréens, da es nicht nur mehrere fik­tionale Ebenen – die von Jean-­Pierre erdachte Geschichte seines Vaters Julien und die Geschichte Jean-­ Pierres selbst – enthält, sondern da das typografische Erscheinungsbild des gesamten Romans zusätz­lich von überdurchschnitt­lich vielen Leerstellen, sogenannten blancs, durchbrochen ist, sodass er wie aus Fragmenten zusammengesetzt wirkt. Dabei erstrecken sich einige Passagen über mehrere Seiten, andere füllen nicht einmal eine halbe Seite. Darüber hinaus finden sich Sätze, die, nach oben und unten durch mehrere Leerzeilen vom übrigen Text abgehoben, nicht nur die offensicht­ liche Lückenhaftigkeit der Darstellung bzw. des Gedächtnisses, sondern auch die Bedeutung der Leerstellen für den Schreibprozess explizit thematisieren: „Du blanc, une façon de croire au miracle“ 29. Im abrupten Sprung des Erzählers vom Weiß des unbeschriebenen Blattes zu Schnee im darauffolgenden Abschnitt klingt dabei das Potenzial der Ellipse als imaginativer Denkraum bereits an. Die Ellipse als Auslassung, Aussparung findet sich aber auch weniger offensicht­ lich in den Roman eingearbeitet, und zwar, wenn der schreibende Sohn seinen fingierten Vater berichten lässt, wie er seine ­Mutter Thérèse entführt habe, um mit ihr gemeinsam leben zu können. Die entführte ­Mutter (la mère enlevée) wird zur Figur einer Abwesenden, die entfernt oder auch gestrichen, schlicht weggenommen (enlevée) wurde. Ausdruck für die klaffende Lücke in der Erinnerung des Sohnes einerseits, Anspielung auf die na­tionalsozialistische Vernichtungsmaschinerie andererseits, bei der es nicht nur galt, die Menschen, sondern jeg­liche Spur des Verbrechens verschwinden zu lassen.30 Während Cayrol die Inkohärenz der Erzählung durch unmarkierte Perspektivwechsel verstärkt, wobei autodiegetischer Erzähler und heterodiegetischer Erzähler von Fragment zu Fragment, aber auch innerhalb einer Passage wechseln, verweigert

28 Cayrol 1950 (2007). S. 815. 29 Cayrol 1968. S. 29. 30 Vgl. Jean-­Pierre Salgas. „Shoah, ou la dispari­tion“. De la littérature française. Hg. v. Denis Hollier. Paris 1993. S. 1005 – 1013, S. 1005.

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Boltanski dem Betrachter die kausalen Zusammenhänge auf andere Weise. In s­ einen verschiedenen, oft um das Thema des Verschwindens kreisenden Installa­tionen inszeniert der Künstler immer wieder das paradoxe Verhältnis des passé inventorié und des passé inventé und spielt beide Dimensionen bewusst gegeneinander aus. In seinen Werken thematisiert er nicht nur die grundsätz­liche Verwobenheit von historischem Ereignis und dessen medialer Vermittlung, sondern bringt darüber hinaus Fiktives und Dokumentarisches in ein dialektisches Spannungsverhältnis, dem mit einer kontemplativen Rezep­tionshaltung nicht beizukommen ist. Lassen sich Ellipsen im Sinne von Aussparungen in vielen Installa­tionen recht leicht identifizieren – wenn etwa nicht alle in einer Installa­tion enthaltenen Elemente vom Betrachter einsehbar oder diese nur unvollständig wahrnehmbar sind –, so tritt das Lückenhafte auch in solchen Werken hervor, die in ihrem Rückbezug auf den Modus des Dokumentierens und Archivierens auf den ersten Blick einer solchen Zuordnung entgegengesetzt scheinen. Doch Arbeiten wie Inventaires 31, deren Titel bereits einen gewissen Anspruch auf Vollständigkeit transportiert und die auf der Idee basieren, „de réunir tout ce qui reste de quelqu’un et de constituer une sorte de portrait en creux“ 32, rücken Anwesendes und Abwesendes, Inventarisieren und Imaginieren in Beziehung zueinander. Denn obgleich der Betrachter eine Vitrine oder einen Raum voller beschrifteter Gegenstände vor sich hat, deren Etikettierung scheinbar genauestens erklärt, worum es sich bei dem betreffenden Objekt handelt, so ist er zugleich gezwungen, die Zusammenhänge, die er z­ wischen den einzelnen Objekten oder auch Objekt und ehemaligem Besitzer herstellt, zu imaginieren. Denn tatsäch­lich ergeben die versammelten Objekte kein Bild vom Leben der abwesenden Person, der sie gehörten, sie verlieren in der Ausstellung und im Heraustrennen aus dem eigent­lichen Kontext ihre Aussagekraft, sodass in der vordergründigen materiellen Fülle der Dokumentsammlung eine Leerstelle hervortritt. In der Tat zeigen beide Künstler eine fast leidenschaft­liche Verweigerung jeder chronolo­gischen oder kausalen Ordnung.33 In dieser Hinsicht erstaunt es wenig, dass der Kunstwissenschaftler Georges Didi-­Huberman Boltanskis Inventaires in Verbindung mit Aby Warburgs Mnemosyne-­Atlas bringt, der über das anachronistische Nebeneinander jene geheimen Beziehungen und Korrespondenzen z­ wischen den Dingen hervorlockt, wie sie einst Baudelaire schilderte.34 Ist es Zufall, dass es ebenfalls Aby Warburg war, der auf die grundlegende Bedeutung der elliptischen Form 31 Boltanski hat ca. 15 solcher Inventaires angefertigt. 32 Boltanski u. Grenier 2010. S. 85. 33 Vgl. Cayrol u. Durand 1963. S. 134. – „L’art ne démontre pas, il supprime le ,donc‘ et le ,car‘: il montre“. 34 Georges Didi-­Huberman. Atlas ou le gai savoir inquiet (L’oeil de l’histoire 3). Paris 2011. S.  17 ff.

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in der Entwicklung des Denkens verwiesen hat und deshalb sogar eine Bibliothek in Ellipsenform erbauen ließ?35 Cayrol scheint darüber hinaus auch die ‚formalen‘ oder geometrischen Eigenschaften, und genauer: die Exzentrizität der Ellipse für die Darstellung der Verfasstheit seiner lazarenischen Helden fruchtbar zu machen. Führt die „Bipolarität [der Ellipse] dazu, dass sie kein eigent­liches Zentrum mehr hat – und in ­diesem Sinne als exzentrische Figur verstanden werden kann“ 36, ist sie deshalb in mehrfacher Hinsicht genuines Sinnbild der von Cayrol entworfenen, aus einem historischen Trauma heraus entstandenen littérature lazaréenne. Exzentrizität beschreibt zunächst das Abweichen vom Mittelpunkt/Zentrum, eine Eigenschaft, die allen Protagonisten der récits lazaréens zu eigen ist. Denn der héros lazaréen ist niemals eins mit sich, „il ne fait pas corps avec lui-­même, on l’a expulsé de soi“ 37. Cayrols Protagonisten sind folg­lich selbst elliptische Wesen, die geistig abwesend sind, sich buchstäb­lich nicht konzentrieren können: „le héros n’est jamais là où il se trouve“ 38. Nicht nur das dédoublement, die doppelte Existenz der Protagonisten auf verschiedenen Reali­ tätsebenen wird in der Figur der Ellipse greifbar. Die geistige Abwesenheit scheint in direkter Verbindung mit einem gegenwärtigen und buchstäb­lichen Deportiert-­ Sein zu stehen, da der Status des Deportiert-­Seins, sofern überhaupt erwähnt, nicht, wie es von einer Literatur, ­welche ausdrück­lich die Zeit nach der Rückkehr aus dem Konzentra­tionslager thematisiert, vielleicht zu erwarten wäre, einen ehemaligen, sondern einen gegenwärtigen Zustand beschreibt. So gibt der Protagonist in On vous parle lakonisch zu: „Mais oui, je suis déporté“ 39, um kurz darauf noch einmal zu unterstreichen: „Déporté, déporté, je le suis à toutes les sauces.“ 40 Beide Male wählt der Erzähler die präsentische Form, wobei die letzte, sehr umgangssprach­liche Formulierung ganz im Sinne der Cayrol’schen Auffassung impliziert, dass es mannigfaltige Manifesta­tionen eines gegenwärtigen Deportiert-­Seins geben muss. Und

35 Vgl. Aby Warburg. „Die Einwirkung der Sphaera barbarica auf die kosmischen Orientierungsversuche des Abendlandes. Vortrag in Gedenken an Franz Boll (25. April 1925).“ Aby M. Warburg: Per monstra ad sphaeram. Sternglaube und Bilddeutung. Hg. v. Davide Stimilli. München u. a. 2008. S. 63 – 127, S. 124 f. 36 Manfred Weinberg. „Ein Seismograph für geistigen Erbgutsverkehr. Sieben Bemerkungen zur Kulturwissenschaft­lichen Bibliothek Aby Warburg sowie zu Sammeln, Bibliophilie und Exzentrik“. Sammler – Bibliophile – Exzentriker (Literatur und Anthropologie Bd. 1). Hg. v. Aleida Assmann, Monika Gomille u. Gabriele Rippl. Tübingen 1998. S. 117 – 137, S. 132. 37 Michel Plateau. Jean Cayrol. Une vie en poesie, Vorwort von Claude Durand. Paris 2012. S. 16. Vgl. dazu auch Beyler-­Noily 2010. S. 39 u. S. 47. 38 Cayrol 2007. S. 817. 39 Jean Cayrol. On vous parle. In ders. 2007. S. 86. – „Aber ja, ich bin déportiert“. 40 Ebd. S. 101. – „Deportiert, deportiert, ich bin es in jederlei Hinsicht.“

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tatsäch­lich präsentieren sich Cayrols Protagonisten allesamt auch im übertragenen Sinne als êtres déportés, die durch die Lagererfahrung buchstäb­lich abgedrängt, an den Rand gedrängt, aus der Spur gebracht, neben sich stehend, nicht bei sich sind. Die Erfahrung der Deporta­tion klingt also in einer gegenwärtigen ‚Dezentriertheit‘ der Cayrol’schen Figuren immer an, die, am Rande der Gesellschaft auf der Suche nach ihrer Identität, aus dem Gleichgewicht gebracht und von Schwindelanfällen geplagt durch ihr Leben stolpern. Speziell der Roman Je l’entends encore, in welchem der Sohn die Stimme des Vaters fingiert, scheint darüber hinaus elliptisch organisiert, sofern sich die Erzählung zeitweise um zwei Sprechzentren sowie um die zwei Brennpunkte einer Ellipse anordnet. Einerseits hat es der Leser mit Schilderungen in der ersten Person aus der Sicht des Vaters zu tun, andererseits wird diese Eindeutigkeit des Erzählerstandpunktes an einigen Stellen durch einen – zu d ­ iesem Zeitpunkt noch nicht einzuordnenden – Wechsel in die dritte Person durchbrochen. Plötz­lich gibt es scheinbar zwei Sprecher, zwei Punkte, von denen die Erzählung ausgeht. Erst spät erhellt sich die Sprechsitua­tion und der Leser erfährt, dass es sich bei der Stimme des Vaters um die vom Sohn fabrizierte, erfundene Stimme handelt und die zwei Stimmen also tatsäch­lich eine sind: „Ce père égaré qui […] se servait de mes mots“ 41 heißt es dort, oder auch: „Tout se brouillait, je me confondais avec ce personnage si peu sûr.“ 42 Als Pole eines elliptischen Kunstwerks kristallisieren sich somit auch Realität und Fik­tion heraus, und wenn bei Cayrol diesbezüg­lich von einer „corrup­tion de la réalité“ 43 die Rede ist, einer korrumpierten Realität, so kann dies in doppeltem Sinne verstanden werden: Im Falle der Cayrol’schen Fik­tionen bietet sich Protagonisten und Leser gleichermaßen eine gebrochene Wirk­lichkeit dar. Nicht nur dem Protagonisten bleibt die Realität fremd und ist buchstäb­lich korrumpiert, also schwer leser­lich. Auch seine von Lücken und Löchern geprägte Erzählung bleibt dem Leser bis zu einem gewissen Grade verschlossen, erweckt sie doch den Eindruck, dass das Geschehen seltsam ungreifbar bleibt und schlecht zu entziffern ist – „On n’y déchiffre encore rien“ 44. Dies scheint der Tatsache geschuldet, dass sich Cayrols Protagonisten allesamt durch einen ausgeprägten Hang zum Fabulieren auszeichnen und somit in den Fik­tionen selbst die Grenzen z­ wischen Realem und Fiktivem, ganz im Sinne des dédoublement, oftmals verschwimmen. Auch Boltanski inszenierte mehrere Projekte, die Reales und Fingiertes in Beziehung zueinander setzen. Dies geschieht im Werk in erster Linie über die

41 Cayrol 1968. S. 110. 42 Ebd. 43 Cayrol 2007. S. 815. 4 4 Ebd. S. 818.

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Manipula­tion der Materialien, findet sich mitunter jedoch auch in Bezug auf die eigene Biografie.45 Als ein Beispiel kann die Arbeit Les Archives (1987) gelten, ein fingiertes Archiv, bei dem an etwa 2 m x 3 m messenden metallenen Gitterwänden aus dem Museumsdepot, die in ihrer Anordnung eine kleine Kammer ergeben, Unmengen von unscharfen Porträtfotografien angebracht sind. Bei den Porträts, die durch die starke Vergrößerung und die daraus resultierende Unschärfe wie Totenköpfe wirken, handelt es sich teils um Fotografien aus dem Leben Boltanskis, teils um Bilderelemente früherer Installa­tionen, wobei der Künstler jedoch deren ‚historische Neutralität‘ betont: „Mes sources […] sont des images complètement neutres, parfaitement anodines, que chacun peut avoir chez soi. C’est le traitement de l’image – l’agrandissement, par exemple, qui rend les têtes semblables à des têtes de mort […] Mais la photographie de base est totalement indifférent.“ 46 Erst die Manipula­tion der Bilder – die Verfremdung durch das Herauslösen aus dem ursprüng­lichen Kontext – ermög­licht es dem Betrachter, das Kunstwerk als eine Anspielung auf die Gaskammern zu lesen, obwohl die Elemente selbst in keinem direkten Zusammenhang zur Shoah stehen.47 Erst die Imagina­tion des Betrachters stellt Verbindung zur Shoah, und genauer zu den Gaskammern her – nicht zuletzt als Folge der Erwartungshaltung, in die der Titel Archives den Betrachter versetzt. Auch Vergangenheit und Gegenwart können also als zwei Brennpunkte identi­ fiziert werden, um die sich elliptische Werke organisieren. Dies wird in späteren Arbeiten wie Canada, einer aus Kleidungsstücken bestehenden Arbeit deut­lich, deren doppeldeutiger Titel sowohl Gegenwarts- als auch Vergangenheitsbezüge aufweist, indem er einerseits auf den aktuellen Erschaffungsort Kanada, zugleich aber auch auf das vergangene Ereignis der Shoah verweist.48 Während über die Verbindung von Titel, Materialwahl und Arrangement desselben das vergangene Ereignis anklingt – als „Canada“ wurden im Häftlingsjargon die Magazine bezeichnet, in denen die Habseligkeiten aufbewahrt wurden, die man den Deportierten

45 Das Spiel mit der Fik­tion setzt sich bei Boltanski über die Grenzen der Kunstwerke hinaus in der eigenen Person fort. In Bezug auf die eigene Biografie behauptet der Künstler: „[J]’ai toujours tout inventé, il n’y avait jamais rien de vrai“, um dies dann jedoch an anderer Stelle wieder zu relativieren: „Elle [i. e. la biographie] est en même temps vrai, et en même temps j’ai caché des choses“ (Boltanski u. Grenier 2010. S. 92 u. S. 183). 46 Ebd. S. 269. 47 Boltanski über die Transforma­tion des ursprüng­lich harmlosen Inhalts der verwendeten Fotografien: „Ce qui a été un choc, c’est que c’était une photographie relativement joyeuse, une photographie de fin d’études de jeunes qui ont seize ou dix-­sept ans, et que, en photographiant et en agrandissant leurs visages, ils ressemblaient tous à des têtes de mort.“ (Ebd. S. 171). 48 Vgl. ebd. S. 177 f.

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abgenommen hatte –, erhält die Gegenwart Eintritt, indem der Künstler den aktuellen Erschaffungsort nennt und darüber hinaus keine historischen Kleider verwendet, sondern Kleidungsstücke wählt, die eindeutig als ‚modern‘, zeitgenös­sisch identifiziert werden können (z. B. durch einen Mickymaus-­Aufdruck).49 Ebenso wie die Cayrol’schen Fik­tionen in der Gegenwart spielen, entstammen also die verwendeten ­Materialien – Fotografien oder Kleider – immer der Aktualität, „pour qu’il n’y ait pas de lien trop direct avec la Shoah“ 50. III.

So tritt in Boltanskis Installa­tionen und Cayrols Erzählungen jeweils ein kom­plexes Zusammenspiel heterogener Zeiten an die Oberfläche. Erst in der Gegenwart wird die Vergangenheit wahrnehm- und die Katastrophe erneut vorstellbar. Welch hoher Stellenwert der Imagina­tion in ­diesem ganzen Prozess folg­lich zukommen muss, ­lassen die Ausführungen in Le Droit de regard erahnen. „Il faut redonner au texte son premier rôle qui n’est pas d’expliquer ou de répéter“, heißt es dort, „mais celui d’une parole libre, libératrice d’images en déten­tion.“ 51 Ursprüng­liche Aufgabe des Textes – und als Text darf hier sicher­lich jedes Zeichendispositiv ver­standen werden – ist es demnach nicht, zu explizieren oder wiederholend abzubilden, sondern Sichtbares erst hervorzubringen.52 Von der Schilderung des Gesehenen müsse man deshalb zur Schilderung des Mög­lichen, zu einer Vision dessen gelangen, was (noch) nicht ist („passer de la vue à la vision“ 53), denn die Imagina­tion müsse die Mög­lichkeit bekommen, ihre eigenen Bilder zu produzieren („secréter ses propres images“ 54). Es erstaunt somit auch nicht, dass Cayrol zur Begründung seiner Wahl einer auf Fik­tion beruhenden Repräsenta­tion zur Vermittlung einer vergangenen Erfahrung

4 9 Vgl. ebd. S. 176. 50 Ebd. S. 84. – Als Vertreter einer Poetik des Indirekten situiert sich Boltanski nicht zuletzt dadurch, dass er eine Teilnahme an Ausstellungen über die Shoah grundsätz­lich ablehnt, da eine auf diese Weise kondi­tionierte präskriptive Rezep­tionshaltung einer auf Assozia­tionen beruhenden Wirkung der Kunstwerke entgegenwirkt. 51 Cayrol u. Durand 1963. S. 20 – „Man muss dem Text seine ursprüng­liche Rolle zurückgeben, die nicht darin besteht, zu erklären oder zu wiederholen, sondern die ein freies Sprechen ist, das gefangene Bilder freisetzt.“ 52 Sofern das Experiment als Prozess der Sichtbarmachung verstanden werden kann, zeigt sich hier erneut die enge Beziehung von elliptischer Kunst und Experiment. 53 Plateau 2012. S. 16; vgl. dazu Cayrol u. Durand 1963. S. 38. 54 Ebd. S. 23.

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Katrin Hoffmann

die einzigartige Realität der Erfindung („l’unique réalité de l’inven­tion“ 55) hervorhebt und das Erfinden in der Gegenwart zur conditio sine qua non der Vermittlung einer nicht wiederholbaren Erfahrung macht: „un fait vécu ne peut […] être restitué, rendu actuel que si on donne aux autres, aux spectateurs la possibilité de l’inventer.“ 56 Erst, indem der Rezipient (erfindender) Teil wird, lässt sich die Distanz überbrücken bzw. kann die bis dahin isolierte Erfahrung eines anderen vermittelt werden. Maßgeb­lich für die Aktualisierung ist demnach die „créa­tion actuelle d’un événement passé“ 57, die gegenwärtige Schöpfung eines vergangenen Ereignisses. Sofern aber ein allusives Sprechen, welches stets „proposi­tion, non une certitude“ 58 ist, der Imagina­tion des Betrachters Raum gibt, wird die von der Vorstellungskraft des Betrachters zu füllende Leerstelle die Variable in jener eingangs zitierten ­Formel der Darstellung; sie ist der lebendige Teil eines jeden Werkes und Träger des aktualisierenden Potenzials.59 Der imaginative Spielraum macht aus dem Kunstwerk „un de ces miroirs merveilleux où l’on voit, se réfléchit et peut entrer“ 60 – einen Wunderspiegel, durch den man sieht, in dem man sich spiegelt und in den man hineintreten kann. Und auch Boltanski nutzt das Bild des Hohlspiegels („miroir en creux“ 61), um seine Installa­tionen bzw. deren Funk­tionsweise zu beschreiben. Denn die Imagina­tion, und damit die Fik­tion, sei der einzige Weg, die Grenzen des Mög­lichen zu dehnen und das Unmög­liche zu beschreiben.62 Sollte sich hier bereits die elliptische Hohlform des Kunstwerks ankündigen, welches, einem überdimensionalen elliptischen Spiegel gleich, den Betrachter umfängt und an dem sich der Blick des Betrachters bricht und umgelenkt wird? Wie sich gezeigt hat, dürfen zumindest nicht nur jene Werke als elliptisch gelten, die das Moment des Fragmentarischen, Lückenhaften beinhalten. Zugleich sind darunter die Werke zu begreifen, die als miroirs en creux, als elliptische Hohlspiegel den Rezipienten aus der Gegenwart heraus auf die vergangene Katastrophe zurückwerfen. „Il s’apercevra que tout est contemporain“ 63 heißt es bezeichnenderweise in der Projektskizze von Je l’entends encore – er wird merken, dass alles gegenwärtig und – in Anlehnung an ein konstellatives Denken nach Warburg – tatsäch­lich gleichzeitig ist. Historisches 5 5 Ebd. S. 18. 56 Ebd. S. 22. 57 Ebd. S. 23 f. 58 Ebd. S. 95. 59 Vgl. ebd. 60 Ebd. 61 Boltanski u. Grenier 2010. S. 184. 62 Cayrol u. Durand 1963. S. 135: „L’imagina­tion est la seule manière de décrire l’impossible qu’on n’a pas atteint malgré tant d’effort pour reculer les limites du possible […]“. 63 Cayrol 1968. S. 9.

Elliptische Strukturen bei Jean Cayrol und Christian Boltanski

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Ereignis und Betrachtergegenwart werden zu zwei Punkten, die erst in ihrer Einordnung in ein elliptisches Ganzes zueinander in Beziehung gesetzt werden und in Kontakt treten können. Berechtigt scheint die Rede von einer ‚elliptischen Kunst‘ bei Cayrol und ­Boltanski also in doppelter Hinsicht, da die Bezeichnung nicht nur die spezifische Faktur, sondern ebenso die Funk­tionsweise jener literarischen wie bildnerischen Kunstwerke berücksichtigt. Elliptische Kunst erscheint dabei als aufs Engste verbunden mit einer imaginativen Poetik des Indirekten, denn sowohl die C ­ ayrol’schen Erzählungen als auch die Werke Boltanskis verweisen auf etwas Vorausgegangenes, ohne es explizit zu benennen. So steht der Titel des Romans Je l’entends encore mit der darin enthaltenen diskursiven Ellipse emblematisch für eine Literatur, die sich als ein Schreiben nach der Shoah begreift, und auch der Künstler Boltanski betonte wiederholt, dass er nicht über die Shoah, sondern nach der Shoah arbeite. Beachtet man zudem, dass im franzö­sischen Adjektiv ‚elliptique‘ zudem die Bedeutung des Rätselhaften mitschwingt, das sowohl auf die Lückenhaftigkeit des Gesagten als auch auf dessen allusiven, andeutenden Charakter verweisen kann, lässt sich elliptische Kunst als eine insinuierende Kunst begreifen, die nicht direkt ausspricht, sondern ledig­lich Anspielungen macht, denen zu folgen dem Betrachter mehr oder weniger freisteht. Boltanski macht diesbezüg­lich auf die frühen Inszenierungen der Tänzerin und Begründerin des Deutschen Tanztheaters Pina Bausch aufmerksam, die in ­seinen Augen die Manipula­tion von Körpern thematisieren und somit als indirekte Werke über die Shoah gelesen werden können.64 Angesichts der Tatsache, dass dem Rezipienten, und insbesondere dessen Vorstellungskraft, in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts eine immer größere Bedeutung bei der endgültigen Werkgenese zufällt, scheint auch die Frage, ob das jeweilige Kunstwerk per se elliptisch ist und die beschriebene Umlenkung des Blickes von der Gegenwart auf die Vergangenheit bewusst provoziert oder ob es sich dabei ledig­lich um eine rezep­tionsästhetische Perspektivierung handelt und es erst der Blick des Betrachters ist, der jenes Werk, jene Inszenierung zu einer elliptischen, i. e. verweisenden Konstella­tion macht, von geringer Bedeutung. So enthüllen also die Werke Cayrols und Boltanskis das aktualisierende Potenzial einer Kunst, in der „la transmission par l’idée non par l’objet“ 65 erfolgt. In seiner Betonung der Vorstellungskraft des Rezipienten aber ist das elliptisch organisierte Kunstwerk als Erfahrungsraum zu deuten und führt somit stets Momente des Experimentellen mit sich. Als bipolare geometrische Figur wird die Ellipse zum Sinnbild

6 4 Vgl. Boltanski u. Grenier 2010. S. 203 f. 65 Ebd. S. 179.

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einer Kunst, die sich dem Betrachter als Reflexionsfläche darbietet und dessen Blick auf die Vergangenheit zurücklenkt, wobei die jeweilige Betrachtergegenwart und die Shoah als ein auf alle Zeit nachwirkendes Ereignis die Brennpunkte jener Konstella­ tion bilden. „Insofern die Ellipse, was im Zentrum des Kreises zusammenfällt, in eine exzentrische Polarität bringt, öffnet sie ­zwischen den Polen notwendig einen ‚Zwischenraum‘ […].“ 66 Doch auch als rhetorische Figur wiederum ist sie Figur der Auslöschung und Inschutznahme zugleich,67 erschafft sie doch durch Auslassung erst jenen imaginativen Raum, in dem Erinnerung stattfinden kann. Die Ellipse wird somit zum Sinnbild einer aktualisierenden Kunst, zum Denkraum schaffenden Erinnerungszeichen 68 schlechthin. Als bipolare Erinnerungsfigur ist sie auch Bild für ein Erinnern, welches nie fixiertes Faktenwissen sein kann („une mémoire […] à jamais disjointe du savoir“ 69), und steht darüber hinaus emblematisch für eine Potenzierung des Zeugendiskurses, in dem es fortan nicht mehr um die Shoah selbst, sondern um ihren die Gegenwart überragenden Schatten gehen muss.

66 Weinberg 1998. S. 132. 67 Zum paradoxen Bedeutungsgehalt des Wortes ‚Aussparung‘ siehe Paul Ricoeur. Temps et Récit II. La configura­tion dans le récit de fic­tion. Paris 1984. S. 145. – „L’expression Aussparung met aussi bien l’accent sur ce qui est omis – la vie même […] – que sur ce qui est retenu, choisi, élu. Le mot français ‚épargne‘, a quelquefois ces deux sens: ce qu’on épargne, c’est ce dont on dispose; c’est aussi ce qu’on ne touche pas, comme on dit d’un village qu’il a été épargné par les bombardements. L’épargne, précisément, départage ce que l’on met de côté pour s’en servir et ce qu’on laisse de côté pour le mettre à l’abri.“ 68 Weinberg 1998. S. 132. 69 Louette 2006. S. 35.

Sebastian Schirrmeister

Vom Wegweiser zur Hieroglyphe Anna Maria Jokls Essenzen als Versuch über die Shoah und das Schreiben danach I.

(K)ein Roman dieser Zeit „Es muß ein Roman dieser Zeit geschrieben werden. Dieser Zeit, in der der Teppich der Menschheitsgeschichte sich im Weben verstrickt, da die vordem immer wieder künst­lich angeknüpften Fäden zerreißen, aus den mehr oder minder sinnvollen Mustern Disharmonien sich bilden, und nun schließ­lich die Webfäden in rasch sich häufenden Verstrickungen die ganze Maschine zu zerstören drohen. Es muß diese Zeit geschildert werden, da die Hoffnungen über alle Grenzen hinausgehen, da sich, schon deut­lich sichtbar, die Umrisse des Kommenden abzeichnen, machtvoll durchschimmern durch das Chaos von Blut und Tränen, – da sich aus dem Un-­Sinn der Sinn ergibt.“ 1

In ihrem k­ urzen Essay Essay Die Wegweiser unserer Zeit formuliert Anna Maria Jokl 1942 im Londoner Exil einen überaus deut­lichen, geradezu programmatischen Auftrag an die Literatur. Gegenstand (diese Zeit) und Form (Roman) der geforderten literarischen Arbeit scheinen ebenso festzustehen wie die historische Entwicklung, der Jokl einen zukünftigen Sinn zuschreibt. Zuversicht­lich, dass nicht nur Verfolgte, Vertriebene und Exilanten wie Jokl selbst, sondern mit ihnen auch die Hoffnungen „über alle Grenzen hinausgehen“, gipfelt der Text in einer politischen Prophezeiung: Der Verlauf der Geschichte sei durch die jüngsten Ereignisse an einem Scheideweg angelangt, an dem es nur noch die beiden bereits von Rosa Luxemburg benannten mög­lichen Richtungen gebe: „Zur Barbarei oder zum Sozialismus“.2 Alle zuvor noch denkbaren Alternativen s­eien den Ereignissen zum Opfer gefallen: „Alle anderen kleineren Arme des Wegweisers sind abgebrochen, oder ihre Aufschriften sind verwaschen und vergilbt von den Stürmen der Zeit.“ 3 Trotz aller Verstrickungen der 1 Anna Maria Jokl. „Die Wegweiser unserer Zeit.“ Aus sechs Leben. Hg. v. Jennifer Tharr. ­Berlin 2011. S. 164 – 170, S. 164. Der Text erschien zuerst in Verbannte und Verbrannte. Hg. v. Freien Deutschen Kulturbund in Großbritannien (Free German League of Culture in Great Britain). London 1942. 2 Ebd. S. 170. 3 Ebd.

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geschicht­lichen ‚Maschine‘ und ihrer drohenden Zerstörung bleibt die Mög­lichkeit, den historischen Prozess mit Bedeutung zu versehen, jedoch vorerst unangetastet. Signifikant und Signifikat sind vorhanden und verbunden: Der Wegweiser bezeichnet einen Sinn – und dies sogar in nie da gewesener Eindeutigkeit. Der Historiker Richard Koebner hat diese optimistische, fortschrittsgläubige Auffassung, Geschichte würde ihre Erfüllung in der Gegenwart finden und diese sei mithin „als ein Zeitalter [aufzufassen], das bestimmt war, für alle Zukunft richtungsgebend zu werden“, in einer ebenfalls Anfang der 1940er Jahr im Exil in Palästina verfassten historischen Studie über die „Idee der Zeitwende“ untersucht.4 Koebner zufolge besteht diese genuin moderne, gleichermaßen revolu­tionäre wie eschatolo­gische Idee nicht nur aus dem Erkennen und Bedeuten der Geschichte als Ganzes aus der privilegierten Posi­tion der Gegenwart heraus, sondern ebenso aus einer „‚Aufgabe der Gegenwart‘, de[m] Gedanke[n], daß es Dinge zu leisten gibt, jetzt und gerade jetzt“.5 Jokls literarisch-­politisches Romanprojekt ist ein solches zu leistendes ‚Ding‘, in dem sich die Richtung der Geschichte auf dem Weg zu einer besseren Zukunft niederschreiben soll. Jokl hatte wenige Jahre zuvor im Prager Exil selbst bereits zwei Romane geschrieben, die einen deut­lichen Zeitbezug aufweisen. Die wirk­lichen Wunder des Basilius Knox, 1937 zunächst auf Tschechisch erschienen, befasst sich mit grundlegenden Erkenntnissen der Physik und der Figur eines gesellschaft­lich isolierten (exilierten) Wissenschaftlers, der längst etabliertes Wissen noch einmal „entdeckt“. Ihr zweiter Roman Die Perlmutterfarbe ist eine auf die Rivalität zweier Schulklassen übertragene Parabel der Mechanismen faschistischer Machtergreifung und -festigung. Beide Romane, die die Grenzen z­ wischen Erwachsenen- und Kinderliteratur bewusst verwischen, konnten erst 1948 auf Deutsch erscheinen und erhielten durch Wiederauflagen in den 1990er Jahren und die Verfilmung von Die Perlmutter­farbe  6 erneute, auch literaturwissenschaft­liche Aufmerksamkeit. Ein dritter Roman Die unwidersteh­liche Feindschaft über die problematische Liebesbeziehung ­zwischen einem Deutschen und einer Jüdin, den Jokl noch in Prag begann, blieb unvollendet.7 Den in ihrem Londoner Wegweiser-­Essay geforderten Roman hat Anna Maria Jokl in dieser Form nie geschrieben und damit die Ausgangssitua­tion geschaffen für die folgende Lektüre ihrer mehr als 50 Jahre ­später veröffent­lichten Kurzprosa-­Sammlung 4 Richard Koebner. „Die Idee der Zeitenwende (1941 – 1943)“. Geschichte, Geschichtsbewußt­ sein und Zeitwende. Vorträge und Schriften aus dem Nachlaß. Hg. v. Institut für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv. Gerlingen 1990. S. 147 – 193, S. 147. 5 Ebd. S. 180. 6 Die Perlmutterfarbe (D 2008, R: Marcus Rosenmüller). 7 Vgl. Anna Maria Jokl. Aus sechs Leben. Hg. v. Jennifer Tharr. Berlin 2011. S. 73. U. Anm. auf S. 321.

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Essenzen,8 die als poetolo­gischer Gegenentwurf zu dem nicht realisierten „Roman dieser Zeit“ aufgefasst werden soll. Dass ­zwischen der Forderung von 1942 und den Texten der in zwei Fassungen 1993 und 1997 erschienenen Sammlung ein Zusammenhang besteht, wird bereits in der Vorbemerkung zu Essenzen unmittelbar evident. Auch hier besteht das Anliegen darin, dem 20. Jahrhundert eine literarische Form zu geben. Nur unterscheidet sich diese Form radikal von der des Romans. „Es sind, chronolo­gisch registriert, Essenzen aus sechs Brennpunkten unsrer Zeit: Wien, Berlin, Prag, London, wieder Berlin, Jerusalem. Wäre jede Phase eine Glasplatte, auf jeder ihr spezielles Z ­­ eichen eingeritzt, alle übereinandergelegt und mit einem Blick von oben durchschaut – somit der Zeitablauf aufgehoben –, mag eine Hieroglyphe unsrer Epoche sichtbar werden.“ 9

Wie Nikola Herweg detailliert nachgewiesen hat, steht die Metapher der in die Glasplatten eingeritzten ­­Zeichen, die zum Ende von Essenzen in modifizierter Form noch einmal aufgegriffen wird,10 in einer langen Tradi­tion von Gedächtnismetaphern von Plato bis Freud und legt einen Lektürefokus von Fragen nach Gedächtnis und Erinnern nahe.11 Für die vorliegende Beschäftigung mit Essenzen soll die rahmende Metapher jedoch eher als literarische ‚Gebrauchsanweisung‘ verstanden werden. Schließ­lich wird hier das Komposi­tionsprinzip der Textsammlung explizit benannt, der Blick des Lesers/der Leserin geleitet und die Absicht erklärt, etwas von „unsrer Epoche“ sichtbar zu machen. Mit dem unverbundenen Nebenbzw. Übereinander einzelner Elemente, dem Aufheben der Chronologie und dem Begriff der „Hieroglyphe“ sind zugleich zentrale poetolo­gische Verfahren des Textes benannt. Zu untersuchen, inwiefern diese Verfahren im Sinne der übergeordneten Fragestellung ­dieses Bandes als ‚experimentell‘ zu verstehen sind, mit w ­ elchen narrativen Konven­tionen hier gebrochen wird und wie sich dies als literarische Auseinandersetzung mit der Shoah gestaltet, sind die zentralen Anliegen der Lektüre. Dementsprechend besteht die Herangehensweise weniger aus einem umfassenden close reading – welches angesichts der dichten, anspielungsreichen und teilweise regelrecht hermetischen Texte sicher ergiebig wäre – als vielmehr aus dem Versuch, 8 Anna Maria Jokl. Essenzen. Frankfurt a. M. 1993/1997. Im Folgenden wird aus der erweiterten Auflage von 1997 zitiert. 9 Ebd. S. 7. 10 Vgl. ebd. S. 110. 11 Vgl. Nikola Herweg. „Hieroglyph of an Epoch: A Metaphor of Memory in the Works of the Austrian-­Jewish Writer and Psychoanalyst Anna Maria Jokl“. Witness: Memory, Representa­ tion, and the Media in Ques­tion. Hg. v. Ulrik Ekman u. Frederik Tygstrup. Copenhagen 2008. S.  89 – 96.

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die einzelnen Teile und ihre Konstella­tion hinsicht­lich der impliziten Poetologie von Essenzen genauer in den Blick zu nehmen. Nach einer einleitenden Betrachtung zum Inhalt und zur besonderen Komposi­ tion von Essenzen werden die Texte in drei Abschnitten aus einem jeweils anderen Blickwinkel betrachtet: Shoah und Zeitenwende, Begegnung und Gleichzeitigkeit und Sinn und Ereignis. Den verbindenden Bogen bildet dabei die Verschiebung des Denkens von der Metapher des „Wegweisers“ zu jener der „Hieroglyphe“, die mit einem veränderten Geschichts-, Zeit- und Zeichenverständnis einhergeht. Auf diese Weise will die Lektüre der These nachgehen, dass Jokls späte, fragmentarische und unabgeschlossene Prosasammlung sich vor dem Hintergrund des ungeschriebenen Romans als Plädoyer für ein notwendig verändertes Schreiben nach A ­ uschwitz lesen lässt, und so den bisherigen Untersuchungen zu Essenzen eine ergänzende Perspektive hinzufügen.12 II. Übereinandergelegt: zum Kompositionsprinzip von Essenzen

Essenzen besteht aus einer Reihe von k­ urzen, unverbundenen Erzählungen, die ­zwischen ein und zehn Seiten umfassen und wichtige Orte, Ereignisse und Persön­ lichkeiten des 20. Jahrhunderts aufrufen, die, jeweils subjektiv und individuell wahrgenommen, von einer Ich-­Erzählerin aus der Erinnerung wiedergegeben werden. Neben politischen Ereignissen wie dem Münchner Abkommen, dem Attentat auf John F. Kennedy oder dem Besuch des ägyptischen Präsidenten Anwar as-­Saddat in Israel 13 tauchen mit C. G. Jung, Alfred Döblin oder Franz Kafka auch einige intellektuelle Repräsentanten des 20. Jahrhunderts auf. Andere Texte beschränken sich zunächst auf rein private Erlebnisse, die jedoch über einen Verweis oder einen Vergleich wiederum an geschicht­liche Ereignisse oder an Grundfragen menschlichen Daseins angebunden werden. Die datierten oder indirekt datierbaren Ereignisse decken den größten Teil des 20. Jahrhunderts ab und folgen einer ungefähren, aber keinesfalls in letzter Konsequenz durchgeführten chronolo­gischen und geografischen Ordnung. Die meisten Texte spielen zudem – trotz ihrer Kürze – auf mehreren 12 Vgl. Nikola Herweg. nur ein land / mein sprachland. Heimat erschreiben bei Elisabeth Augus­ tin, Hilde Domin und Anna Maria Jokl. Würzburg 2011. Hier insbesondere S. 127 – 130 u. S. 165 – 172 sowie Herweg 2008. Zu Jokls Erzählung „Begegnung am Toten Meer“ siehe auch Chaim Vogt-­Moykopf. Buchstabenglut. Jüdisches Denken als universelles Konzept in der deutschen Literatur. Frankfurt a. M. u. a. 2009. S. 81 – 97. 13 Sowohl das Attentat auf Kennedy als auch der Besuch von Saddat ‚erlebt‘ die Erzählerin als Fernsehereignis, sodass hier bereits im Moment der Wahrnehmung eine erste Glasscheibe ­zwischen dem Ereignis und dem schauenden Subjekt liegt.

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zeit­lichen Ebenen und an mehreren Orten und bilden das Modell der übereinanderliegenden Glasplatten bzw. Zeitschichten auch in der jeweiligen Mikrostruktur ab. Die Parallelen der Handlungsorte in den einzelnen Essenzen zu den Lebens­­­ stationen von Jokl, die 1911 in Wien geboren wurde, 1927 nach Berlin zog, 1933 nach Prag flüchtete, 1939 über Polen nach London emigrierte, kurze Zeit in Zürich studierte, 1950 aus Ostberlin ausgewiesen wurde und nach mehreren Jahren in Westberlin schließ­lich 1965 nach Jerusalem einwanderte, sind nicht von der Hand zu weisen.14 Angesichts der vollständigen Abwesenheit narrativer Kontinuität, des Fehlens von Wegen oder ‚Wegweisern‘ ­zwischen den einzelnen Erzählungen, ­bietet die Annahme, die Ich-­Erzählerin der einzelnen Texte sei identisch, einen mög­ lichen Zusammenhang. Unter dieser Voraussetzung ließen sich die Texte entlang des Verlaufs eines durch äußere (historische) Umstände immer wieder aufs Neue abgebrochenen, geografisch entwurzelten Lebens ordnen. Der mit dem Namen „Anna Maria Jokl“ unterzeichnete Text Briefwechsel zum Ende von Essenzen 15 erweitert diese Lesart auf das Angebot einer Identität von Erzählerin und Autorin im Sinne von Philippe Lejeunes autobiografischem Pakt.16 Allerdings stellt bereits der irritierende Plural im Titel jede essenzialistische Vorstellung von Identität und den ­Gedanken, es handele sich um ein Subjekt, das sich erinnernd zur Epoche ins Verhältnis setzt, infrage. Essenzen erweist sich formal wie inhalt­lich als plural, fragmentarisch, gebrochen. In einer modifizierten Variante der Vorbemerkung heißt es zum Ende von Essenzen: „Geographisch registriert waren es sechs Leben, immer an jeweiligen Brennpunkten unsrer Epoche […]“ 17. Insofern ist Herwegs Beobachtung, dass Jokl „in Essenzen den autobiographischen Standort nutzt, um ein Bild des 20. Jahrhunderts zu entwerfen“ 18, zu modifizieren und ebenfalls in der Mehrzahl zu denken. Es handelt sich vielmehr um ein kunstvolles Mosaik denn um ein einheit­liches Bild des Jahrhunderts, in dem sich zugleich die Fragmentierung oder Vervielfachung des erzählenden Subjekts widerspiegelt. Neben der inhärenten Unverbundenheit der einzelnen Teile gehören die programmatische Offenheit und potenzielle Erweiterbarkeit der Textsammlung zu den Herausforderungen einer Lektüre von Essenzen. Die offensicht­lichen Abweichungen von der Form des Romans zeigen – mit Roland Barthes gesprochen – eine Abkehr 14 Zur Biografie von Anna Maria Jokl siehe u. a. den Eintrag im Metzler Lexikon der deutsch-­ jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. v. Andreas B. Kilcher. Stuttgart 2012. S. 251 – 253. 15 Vgl. Jokl 1997. S. 107. 16 Vgl. Philippe Lejeune. Der autobiographische Pakt. Frankfurt a. M. 1994. S. 15. Auch Herweg weist auf diesen Zusammenhang hin. Siehe Herweg 2011. S. 96. 17 Jokl 1997. S. 110. Hevorhebung S. Sch. 18 Herweg 2011. S. 96.

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von der Idee des ‚Werkes‘ hin zu einer Vorstellung von ‚Text‘. Essenzen ist kein abgeschlossenes, literarisches ‚Werk‘, das organisch „in einen Abstammungsprozeß eingespannt“ 19 wäre, sondern lässt gleich an mehreren Punkten seine Vernetzung und diverse ‚lose Enden‘ erkennen. Zum einen ist knapp ein Drittel der enthaltenen Texte seit Ende der 1960er Jahre bereits in Zeitschriften und Anthologien veröffent­licht worden, also aus früheren Kontexten entnommen und in eine neue Konstella­tion überführt worden. Zudem existieren zwei Fassungen von Essenzen, die im Abstand von wenigen Jahren in derselben Verlagsgruppe (Jüdischer Verlag/ Suhrkamp Bibliothek) erschienen: eine erste Fassung von 1993 mit 20 Erzählungen und eine erweiterte Auflage von 1997, die vier zusätz­liche Erzählungen enthält. Diese ungewöhn­liche Entscheidung für eine nur geringfügig veränderte Neuauflage binnen kurzer Zeit ist mit den Gepflogenheiten des literarischen Betriebs anscheinend inkompatibel. Die erweiterte Auflage ist im Buchhandel nicht lieferbar und nur ein Bruchteil der Bibliotheken in Deutschland besitzt beide Ausgaben.20 Zusätz­lich zu dieser auch in der Publika­tion umgesetzten Veränder­lichkeit der Textkonstella­tion enthält Jokls Nachlass noch weitere, sehr ähn­liche Prosa-­Skizzen, die keinen Eingang in die Sammlung gefunden haben und in dem posthum veröffent­lichten Band Aus sechs Leben enthalten sind. Sie stellen eine weitere potenzielle Verlängerung des Textes jenseits der ursprüng­lichen Publika­tion dar, ein Reservoir weiterer ‚­Glasplatten‘, die jeweils die Gestalt der letzt­lich sichtbaren Hieroglyphe verändern können. Die radikale Offenheit der Form, die Unverbundenheit, Austauschbarkeit und scheinbar willkür­liche Anordnung der einzelnen Elemente entspricht der von Jokl an anderer Stelle formulierten Skepsis gegenüber der seit Aristoteles als verbind­lich akzeptierten Zusammensetzung von Handlung aus Anfang, Mitte und Ende. So greift Jokl in ihrer Autobiografie Die Reise nach London auf das bereits im Wegweiser-­ Essay verwendete und eng mit einem modernen Textbegriff verbundene Bild vom ‚Gewebe‘ zurück und schreibt: „Es gibt keine Ereignisse mit Anfang und Ende. Es ist wie ein Gewebe, wo die Anzahl und Farben der Fäden von Anfang an gegeben sind, nicht aber, wann sie ins Muster treten.“ 21 Anstelle der Kontinuität von Ereignissen und ihrer Erzählung lässt sich das in Essenzen zugrunde liegende Prinzip am besten mit einem anderen, ebenfalls bei 19 Roland Barthes. „Vom Werk zum Text“. Das Rauschen der Sprache. Hg. v. dems. Frankfurt a. M. 2005. S. 64 – 72, S. 69. 20 Dies ergab eine Suche im Verzeichnis lieferbarer Bücher bei http://www.buchhandel.de sowie die Recherche im Karlsruher Virtuellen Katalog http://www.ubka.uni-­karlsruhe.de/kvk.html [jeweils vom 15. 5. 2015]. Ledig­lich die Deutsche Na­tionalbibliothek, das Deutsche Literatur­ archiv, die Universitätsbibliothek Frankfurt am Main und die Staatsbibliothek München besitzen beide Ausgaben, Dutzende weiterer Bibliotheken jeweils nur eine von beiden. 21 Anna Maria Jokl. Die Reise nach London. Wiederbegegnungen. Frankfurt a. M. 1999. S. 38.

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Aristoteles diskutierten Begriff beschreiben: Kontiguität. Mit ‚Kontiguität‘ bezeichnet Aristoteles das Beisammensein zweier benachbarter Körper, deren Grenzen sich berühren, ohne eins zu werden. Im Gegensatz zu Kontinuität fehlt in d­ iesem Fall ein „einheitsbildendes Prinzip“, die Körper verschmelzen nicht zu einem neuen Ganzen, sondern bleiben – wenn auch ohne Zwischenraum – als einzelne Teile erhalten.22 Dieselbe Vorstellung eines räum­lichen Zusammenhangs liegt Jokls Metapher der aufeinanderliegenden Glasplatten und dem unverbundenen Nebeneinander der Texte in Essenzen zugrunde.23 Im bewussten Verzicht auf jede Art eines verbindenden, Kausalität, Kontinuität oder auch nur chronolo­gische Abfolge erzeugenden Meta-­Narratives, mithin also in der Abkehr von der Romanform unternimmt Essenzen ganz im Sinne Lyotards den Schritt von den „großen Erzählungen“ zu den kleinen Geschichten, die dem auf sich selbst zurückgeworfenen Individuum noch zur Verfügung stehen, nachdem Erstere ihre Legitima­tion verloren haben. Die Form der literarischen Versuchs­anordnung mit dem Ziel der Sichtbarmachung ist jedoch nicht nur Ausdruck einer allgemeinen condi­tion postmoderne, sondern zugleich eine konkrete Reak­tion und experimentelle Auseinandersetzungen mit dem zentralen historischen Ereignis des 20. Jahrhunderts, das – wenn auch nicht in jedem einzelnen Text von Essenzen unmittelbar präsent – doch als Voraussetzung, Hintergrund oder „spürbare Leerstelle“ 24 zu erkennen ist. III. Shoah und Zeitenwende

Der Begriff Holocaust taucht im Ganzen nur an drei Stellen in Essenzen auf und nur ein kleiner Teil der Erzählungen stellt direkt Bezüge zum historischen Ereignis her. Dennoch ist Jokls Text vom Wissen um die Shoah bestimmt. Herweg hat bereits darauf hingewiesen, dass die Metapher der „Hieroglyphe unsrer Epoche“ unübersehbare Parallelen zu Jürgen Habermas‘ Formulierung aufweist, Auschwitz sei „zur Signatur eines ganzen Zeitalters geworden“, und dass Essenzen sich auf diese Weise indirekt an den Debatten um die historische Erklärbarkeit der Shoah beteiligt.25 Als literarischer Text ist er zudem der viel diskutierten Frage nach der Darstellbarkeit

22 Vgl. das Lemma „Kontiguität“ in Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4. Stuttgart 1976. Sp. 1026. 23 Bei den ‚Glasplatten‘ und dem ‚Gewebe‘ handelt es sich gewissermaßen um konkurrierende Metaphern, die nicht zusammen funk­tionieren, aber dennoch jede auf ihre Weise den Versuch dokumentieren, eine lineare, chronolo­gische oder gerichtete Struktur zu umgehen. 24 Herweg 2011. S. 126. 25 Vgl. ebd. S. 127 f.

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und nach einer der Ungeheuer­lichkeit der repräsentierten Realität adäquaten ästhetischen Form beim Schreiben über die Shoah ausgesetzt.26 Der bereits zitierte Text Briefwechsel, in dem ‚Anna Maria Jokl‘ einem interessierten Leser in komprimierter Form Auskunft über ihren Lebensweg und ihre literarische Arbeit gibt, bestimmt das Verhältnis der Erzählerin zur Shoah in einigen wenigen, aufschlussreichen Zeilen. „Wie Sie sehen, habe ich den Holocaust nicht am eigenen Leibe erfahren, er ist aber als ständige Situa­tion nie mehr aus dem Bewußtsein geschwunden, als Zeitenwende, die die Welt irreversibel veränderte, nicht nur die jüdische. Sie machte die unausdenkbare Mög­lichkeit im Zentrum des Bewußtseins zur Realität, die seither wiederholbar ist, schwellenlos.“ 27

Obwohl die Shoah ausdrück­lich keine unmittelbar autobiografische Erfahrung ist, hat sie doch als Ereignis immensen Einfluss auf das Denken (und Schreiben). Mit der hier getroffenen Unterscheidung z­ wischen Erfahrung und Ereignis wird deut­ lich, dass nicht das glaubhafte Bezeugen der Shoah, sondern die umfassende Wirkung des Wissens um die Realität gewordene Mög­lichkeit der totalen Vernichtung im Vordergrund steht. Prägnant ist hierbei insbesondere die zeit­liche Dimension ­dieses Bewusstseins, wie es in den Begriffen „Zeitenwende“ und „wiederholbar“ und vor allem in der paradoxen Formulierung „ständige Situa­tion“ zum Ausdruck kommt, und deren Auswirkung auf die Zeitvorstellung in den übrigen Texten und auf einen experimentellen literarischen Umgang mit der „irreversiblen“ Veränderung zu untersuchen ist. Entsprechend dem oben zitierten Eingeständnis der Unfähigkeit zur Zeugenschaft hebt sich der einzige Text in Essenzen, der explizit das Leben im Konzentra­ tionslager thematisiert, nicht nur durch seinen besonders geringen Umfang von ledig­lich einer Seite,28 sondern vor allem durch den Wechsel der Erzählperspektive von allen übrigen Texten ab. Die Erzählung Würde besteht aus zwei Zitaten, zwei gleich langen Passagen direkter Rede, eingeleitet durch „Wulf erzählte“ bzw. „Tich erzählte“. Die erste Passage postuliert: „Würde konnte es nicht geben im KZ“, und führt als Beleg dafür die Annahme an, dass selbst Ghandi im Konzentra­tionslager von der SS gedemütigt und mit einer Schale Suppe auf dem Kopf zu einer „komischen Figur“ gemacht worden wäre. Die zweite Passage berichtet dagegen von einer Begebenheit, bei der eine Gruppe von dänischen Polizisten, die gerade inhaftiert

26 Vgl. Sidra DeKoven-­Ezrahi. By Words Alone. The Holocaust in Literature. Chicago 1980. S. 217. 27 Jokl 1997. S. 105. 28 Vgl. ebd. S. 29.

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worden waren, beim Anblick der Leichen voller Ehrfurcht ihre Mützen abgenommen haben. Durch diese unerwartete Geste werden diejenigen, die die Leichen transportieren, daran erinnert, „daß wir Menschen waren.“ Primo Levis Frage „Ist das ein Mensch?“ scheint kurz auf, aber die beiden lo­gisch unvereinbaren Zeugenaus­sagen zur Frage von Würde im Konzentra­tionslager erfahren weder eine Erläuterung noch eine Auflösung des Widerspruchs. Die sonst omnipräsente Ich-­Erzählerin ist in ­diesem Text abwesend bzw. höchstens als schweigendes Gegenüber, als A ­ dressatin der beiden Erzählungen von Wulf und Tich denkbar.29 Es bleibt offen, wie die ­beiden Aussagen ins Verhältnis zu setzen sind. Sie lassen sich als Gegenüberstellung von Regel und Ausnahme lesen oder aber entsprechend der Glasplatten-­Metapher als zwei ­­Zeichen verstehen, die erst übereinandergelegt und somit ihre Widersprüch­ lichkeit bewahrend etwas über den paradoxen Charakter des Lagers und den dortigen ‚Ausnahmezustand‘ aussagen: ein würdeloser, menschenunwürdiger Ort, der trotz allem die Mög­lichkeit würdevollen Handelns nicht vollständig unterbinden kann.30 Während in Würde die unmittelbaren Ansichten bzw. Erfahrungen von Shoah-­ Überlebenden wiedergegeben werden, aber kein Versuch unternommen wird, einen zeit­lichen oder historischen Bezug herzustellen, verfährt die Erzählung Babel genau umgekehrt. Die ‚Begegnung‘ mit der Shoah ist mittelbar, dafür wird die Frage nach den historischen Zusammenhängen gestellt. Die Erzählerin, eine deutschsprachige Emigrantin, trifft nach dem Krieg in den Kensington Gardens in London einen Inder in britischer Uniform, der kaum Eng­lisch spricht, aber die Worte „Fräulein“ auf Deutsch und „Bocher“ auf Jiddisch kennt. Die Sprachverwirrung führt zu einer Frage an die Verfasstheit unserer Zeit: „Was hatte in unserer Welt geschehen müssen, damit ein indischer Bauer in britischer Uniform im Londoner Kensington Gardens sich auf jiddisch verständigte.“ 31 Wie sich herausstellt, war der Inder als Kriegsgefangener in einem deutschen Lager, wo „auf der anderen Seite des Stacheldrahts Gefangene in gestreiften Pyjamas waren, von denen er ein paar Wörter lernte, auch ‚Bocher‘, denn in dem Lager auf der anderen Seite waren auch Kinder.“ 32 Innerhalb weniger Sätze wird anhand des ahnungslosen Soldaten ein Zusammenhang ­zwischen der britischen Kolonialgeschichte, dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah hergestellt 29 Ein Zusammenhang mit Jokls Arbeit als Psychoanalytikerin lässt sich vermuten, trägt aber wenig zum Verständnis des ­kurzen Textes bei. 30 Diesem unauflösbaren Widerspruch des Lagers widmen sich auch andere Texte, wie z. B. George Taboris Drama Die Kannibalen, in dem sich Tabori mit der ebenfalls „nicht am eigenen Leib“ erfahrenen Shoah auseinandersetzt und u. a. die Geschichte, sein eigener Vater habe in Auschwitz bis zu seiner Ermordung an seinen mora­lischen Werten und den Regeln der Höf­lichkeit festgehalten, in Szene setzt. 31 Jokl 1997. S. 23. 32 Ebd.

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und die absurde, ebenso mehrsprachige wie sprachlose Kommunika­tionssitua­tion abschließend in eine bib­lisch-­mytholo­gische Dimension überführt und so wiederum aus einer chronolo­gischen Abfolge entfernt: „Zwischen zwei Wörtern, z­ wischen ‚Fraulein‘ und ‚Bocher‘ war grell Babel sichtbar geworden.“ 33 Auch in Stein auf ein unbekanntes Grab ist die Begegnung mit der Shoah mehrfach vermittelt. Die Erzählung über die Bekanntschaft mit Kafkas Schwester Otla, die Jokl bereits 1969 in der FAZ veröffent­licht hatte, enthält eine längere Passage über Otlas Deporta­tion nach Theresienstadt und ihren Tod in Auschwitz. Hier gibt die Erzählerin allerdings nur wieder, was ihr die Hinterbliebenen bei einem Besuch in Prag nach dem Krieg mitgeteilt haben: „So erfuhr ich die Geschichte.“ 34 Zwischen dem Ereignis und seinem Auftauchen in Essenzen steht also bereits eine Reihe von Erzählinstanzen und lässt das Weitertragen und aktive Erinnern des Ereignisses wichtiger erscheinen als ein unmittelbares Zeugnis. Abgesehen von den besprochenen Erzählungen und einer weiteren Erwähnung im Zusammenhang mit Papst Johannes XXIII., der „den Krebs in seinen Ein­geweiden als Sühne für den Holocaust ohne Linderungsmittel ertrug“ 35, ist die Spur, die die Shoah in der Geschichte des 20. Jahrhunderts und in den Geschichten in Essenzen hinterlassen hat, in Form eines sehr starken Todesmotivs sichtbar. Komplementär zum Bild der „sechs Leben“ handeln zahlreiche Erzählungen auf ganz unterschied­ liche Weise vom Tod. So beginnt die Sammlung u. a. mit den Erzählungen Toten­ tanz und Tod aus heiterem Himmel und zwei der 1997 hinzugefügten Erzählungen tragen den Titel Tode I bzw. Tode II. Auch die meisten Erzählungen, die den Tod nicht derart explizit im Titel tragen, handeln von oder enden mit dem Tod der Menschen, an die sich die Erzählerin erinnert. Im übertragenen Sinne wird der Verlust von Freunden und Bekannten beim Umzug nach Ostberlin sogar als „ein Mini-­Holocaust“  36 bezeichnet. Vor dem Hintergrund dieser starken thematisch-­motivischen Durchdringung der Erzählungen stellt sich die Frage, wie in ­diesem Zusammenhang die Rede von der Shoah als „Zeitenwende“ zu verstehen ist. Im Gegensatz zu der von Richard Köbner beschriebenen „Idee der Zeitwende“, die stets aus dem Verstehen der Vergangenheit und der Aussicht auf ein neues, besseres Zeitalter besteht, ist Essenzen ausschließ­lich Erinnerung und Rückblick. Es gibt keinerlei Hoffnungen, keine „Wegweiser“ oder auch nur die Erwähnung eines Kommenden. Und selbst der Rückblick aus der Gegenwart bringt keine Erkenntnis hervor, kein Verstehen der

33 34 35 36

Ebd. S. 24. Ebd. S. 33. Ebd. S. 59. Ebd. S. 104.

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Geschichte als Ganzes, sondern ledig­lich – und auch das nur mög­licherweise – eine Hieroglyphe. Was unterscheidet also die Shoah von den vorherigen, bei Köbner bis in die frühe Neuzeit zurückverfolgten Metamorphosen des Zeitwende-­Gedankens? Während in verschiedenen historischen Situa­tionen immer wieder auf dieselbe ermuti­gende und mobilisierende Idee zurückgegriffen wurde, scheint diese Tradi­tion nach der Shoah nicht länger verfügbar. Damit erweist sich Essenzen als literarische ­Reak­tion auf die von Dan Diner als „Zivilisa­tionsbruch“ bezeichnete Besonderheit der Shoah als „Widerlegung einer Zivilisa­tion“ 37. Wie der Wegweiser-­Essay erkennen lässt, gehörte auch Jokl zu denen, „die als ausgesprochen säkulare Menschen und Menschen­freunde eine bei aller Skepsis optimistische und zukunftsfrohe histo­ rische Perspektive eingenommen haben, und auf die das Ereignis Auschwitz eine um so niederschmetterndere Wirkung hatte.“ 38 Wenn in Essenzen daher von der Shoah als „Zeitenwende“ die Rede ist, steckt dahinter nicht die Vorstellung eines weiteren Epochenwechsels oder historischen Umbruchs, sondern einer Wende im Zeitverständnis, die jede Form historischer Entwicklung als ra­tionale Erklärung des Ereignisses bezweifelt und selbst die Relevanz der Chronologie in Zweifel zieht. Die unmittelbaren Konsequenzen ­dieses Zweifels an der Zeit für das literarische Schreiben lassen sich in Essenzen an dem zweiten wichtigen Motiv verdeut­lichen, dem Motiv der Begegnung. IV. Begegnung und Gleichzeitigkeit

Diejenigen Texte aus Jokls Nachlass, die den Eindruck einer potenziellen Ergänzung oder Erweiterung von Essenzen erwecken, erscheinen in dem posthum erschienenen Sammelband Aus sechs Leben treffenderweise unter dem Titel Begegnungen. In dem ersten dort abgedruckten Text Names dropping? reflektiert Jokl über den verlegerischen und literarischen Wert der Begegnung mit Berühmtheiten, von denen sie einige vorzuweisen hat.39 In der Tat lassen sich auch die meisten Texte in Essenzen als eine Reihe von ‚Begegnungen im 20. Jahrhundert‘ beschreiben, etwa mit einem tschechischen Soldaten, mit einem karpato-­ukrainischen Bauernmädchen, mit Alfred Döblin, mit einem ungarischen Kommunisten, mit dem ehemaligen Adjutanten von Józef Pilsudski, mit Kafkas Schwester Otla, mit C. G. Jung, mit einem alten

37 Dan Diner. „Vorwort des Herausgebers“. Zivilisa­tionsbruch. Denken nach Auschwitz. Hg. v. dems. Frankfurt a. M. 1988. S. 7. 38 Ebd. S. 9. 39 Jokl 2011. S. 219 – 221.

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Paar, mit einem israe­lischen Gelehrten, mit einem mysteriös-­vertrauten Fremden oder mit einem afrikanischen Musiker. Michail Bachtin geht davon aus, dass innerhalb des Raum-­Zeit-­Gefüges (Chronotopos) des Romans das Motiv der Begegnung „wohl […] das wichtigste sein dürfte“.40 Grundsätz­lich sei die Begegnung „eines der universellsten Motive, und das gilt nicht nur für die Literatur […] sondern auch für die anderen Bereiche der Kultur wie auch für die verschiedenen Sphären des gesellschaft­lichen und des alltäg­lichen Lebens“.41 In der Begegnung fallen die beiden Parameter ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ notwendigerweise in eins: „In allen Begegnungen ist […] die zeit­liche Bestimmung (‚zu ein und derselben Zeit‘) nicht zu trennen von der räum­lichen Bestimmung (‚an ein und demselben Ort‘). […] Die untrennbare Einheit (jedoch nicht Verschmelzung) der Zeit- und Raumbestimmungen hat im Chronotopos der Begegnung einen äußerst exakten, formalen, nahezu mathematischen Charakter.“

Als „der Punkt, von dem aus die Ereignisse ihren Anfang nehmen, und der Ort, an dem sie vonstatten gehen“ 42 kommt der Begegnung laut Bachtin eine entscheidende Funk­tion für Aufbau und Handlungsverlauf von Romanen zu, sie dient „zur Schürzung des Knotens, bildet zuweilen den Kulmina­tionspunkt oder sogar die Lösung (das Finale) des Sujets“.43 Aus dieser kompositorischen Bedeutsamkeit des Motivs der Begegnung schlussfolgert Bachtin: „Indessen ist das Motiv der Begegnung isoliert nicht denkbar: Es geht stets als konstituierendes Element in das Gefüge des Sujets und in die konkrete Einheit des ganzen Werkes ein und wird folg­lich in dessen umgreifenden konkreten Chronotopos […] integriert.“ 44

Es ist eben jener „umgreifende Chronotopos“, der die einzelnen Begegnungen in einen räum­lichen und zeit­lichen Zusammenhang setzen und so eine Handlung hervorbringen würde, der in Jokls Essenzen fehlt und sich selbst unter der Annahme eines biografischen Zusammenhangs der Texte nicht vollständig herstellen lässt. Die einzelnen Begegnungen folgen aufeinander, aber nicht auseinander. Bachtins These, 40 Michail M. Bachtin. Chronotopos. Frankfurt a. M. 2008. S. 20. Die Trennung ­zwischen Chrono­topos und chronotopischen Motiv, die eine gewisse strukturelle Hierarchie nahelegt, ist in Bachtins Essay nicht immer eindeutig. Das hier thematisierte Moment der ‚Begegnung‘ wird wiederholt sowohl als Chronotopos wie auch als Motiv bezeichnet. 41 Ebd. S. 22. 42 Ebd. 43 Ebd. S. 21. 4 4 Ebd.

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das Motiv der Begegnung sei isoliert nicht denkbar, wird bei Jokl gewissermaßen mit jeder Erzählung widerlegt. Die Begegnung wird immer wieder aufs Neue isoliert gedacht, sodass kein konkreter Chronotopos und somit auch kein Roman entsteht. Herweg weist darauf hin, dass das Motiv der Gleichzeitigkeit – bei Bachtin ledig­lich eine von zwei notwendigen Bedingungen für eine ‚erfolgreiche‘ Begegnung – bei Jokl eine konzep­tionelle Bedeutung hat. Jokl habe sich schon seit den 1960er Jahren mit unterschied­lichen Zeitmodellen beschäftigt und dabei Abstand genommen von der neuzeit­lichen Vorstellung des linearen, chronolo­gischen Verlaufs, der „homogenen und leeren Zeit“, wie es bei Benjamin heißt. Stattdessen rekurriere sie wiederholt auf das zyk­lische, synchrone Zeitmodell der jüdischen Tradi­tion, das die Ko-­Präsenz und wechselseitige Durchdringung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft denken kann und sich etwa im jähr­lich wiederkehrenden Feiertagszyklus widerspiegelt und in der Vorstellung, alle späteren Auslegungen der Torah ­seien bereits von Moses am Berg Sinai empfangen worden.45 Die Aufhebung der Chronologie als sinnstiftende Ordnung, die Hinwendung zum Moment und zur Gleichzeitigkeit, die auch der bereits mehrfach zitierte, als eine Art Lektüreschlüssel dienende Text Briefwechsel in der Formulierung „Aber man vergißt nichts, nichts. Man ist alles Gewesene; die Verschmelzung aller Abläufe in Gleichzeitigkeit, ein neues chemisches Element.“ 46 aufgreift, findet ihren stärksten Ausdruck in der Erzählung Begegnung am Toten Meer. Ausgerechnet unweit der Stelle, an der wenige Jahre zuvor die Schriftrollen von Qumran entdeckt worden waren, stößt die Erzählerin am Ufer des Toten ­Meeres gewaltsam mit einem Mann zusammen, der ihr zugleich vertraut und fremd erscheint und mit dem sie, ohne es vorher gelernt zu haben, plötz­lich Hebräisch spricht. In dieser mit 10 Seiten längsten Erzählung werden an ein und demselben Ort die unterschied­lichsten Zeiten wie Glasplatten aufeinandergeschichtet: die Entstehungszeit der Schriftrollen vor der Zeitrechnung, ihre Entdeckung Ende der 1940er Jahre, die vergangenen Beziehungen der Erzählerin, die Gegenwart der Begegnung kurz nach der Einwanderung nach Israel und in einem letzten Absatz ein Wiederbesuch am selben Ort Jahre s­ päter. Auf dem Höhepunkt der Erzählung kommt die Zeit schließ­lich komplett zum Stillstand und der Text unternimmt den Versuch, die Abwesenheit meßbarer Zeit zu ‚erzählen‘. „Plötz­lich endete der wirbelnde Spuk. Es war reglose Stille, und ich sah ihn in überdeut­lichen Umrissen herausgehoben aus den umgebenden Dimensionen und wußte, er sah mich, unauswechselbar mich, als er wie erlöst sagte: ‚Sofsof‘, was heißt ‚End­lich‘, und ich fast gleichzeitig

45 Vgl. Herweg 2011. S. 170 f. 46 Jokl 1997. S. 106.

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gesagt hatte ‚Ejnsof‘, was heißt ‚Unend­lich‘; und es war – wie kann ich es ausdrücken –, es war dasselbe. End­lich und unend­lich in eins, in jener Sprache [Hebräisch, S. Sch.] von selbst verständ­lich, aber sonst unmög­lich, weil Ereignisse in nicht aufeinander bezogenen S­ ystemen keine Gleichzeitigkeit haben können und keinen gemeinsamen Ort. Hier aber war das Monströse geschehen: als Essenz und Essenz einander erkannten, war die Zeit außer Kraft gesetzt – für einen Moment ohne meßbare Dauer waren alle Zeiten in einem Punkt, einem zeitlosen und raumlosen Punkt; sozusagen einer Ewigkeit en miniature.“ 47

Benedict Anderson, der seine These sowohl auf Benjamin als auch auf Erich A ­ uerbach stützt, argumentiert, dass eben der Wechsel z­ wischen dem jüdisch-­christ­lichen zyk­lischen Denken und dem neuzeit­lichen linearen Denken gleichermaßen die Geburtsstunde des modernen Romans wie die der Na­tion als „imagined community“ markiert. Beide gründeten auf der Mög­lichkeit, parallel ablaufende, einander nicht notwendig berührende und dennoch als zusammenhängend vorstellbare Ereignisketten zu denken.48 Versteht man nun die Shoah als den Punkt, an dem die Zivilisa­tion widerlegt wurde und insbesondere der moderne Na­tionalstaat versagt hat, so lässt sich die „Zeitenwende“ bei Jokl als radikale Infragestellung der modernen Wahrnehmungsform von Zeit (und der damit verbundenen literarischen Gattung des Romans) lesen. Obwohl die wiederholte Bezugnahme auf ein vormodernes, zyk­lisches Zeitmodell in Essenzen evident ist, kann von einer Rückkehr zu ­diesem Modell keine Rede sein. Insofern die Shoah als Zeitenwende die Welt „irreversibel veränderte“, ist eine ­solche Rückkehr undenkbar. Nachdem die Geschichte also bereits ihrer linearen Entwicklung, ihrer Richtung beraubt worden ist, stellt sich daran anschließend die Frage, wie es sich in Essenzen mit der Zuschreibung von Sinn und Bedeutung verhält. V. Sinn und Ereignis

Interessanterweise und durchaus etwas unerwartet treffen sich Bachtin und Jokl ausgerechnet im Begriff der Hieroglyphe. Zum Ende seines Chronotopos-­Essays thematisiert Bachtin anhand der semantischen Dimensionen literarischer Texte die Grenzen seiner raum-­zeit­lichen Analysen. Um für den Lesenden erfahrbar zu ­werden, müssten die Sinnbildungen des Textes „eine zeit­lich-­räum­liche Ausdrucksform annehmen, d. h.

4 7 Ebd. S. 80 f. 48 Vgl. Benedict Anderson. Kulturelle Wurzeln. Hybride Kulturen: Beiträge zur anglo-­ amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Hg. v. Elisabeth Bronfen, u. Benjamin Marius u. Therese Steffen. Tübingen 1997. S. 31 – 58, S. 44 – 48.

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eine Zeichenform, die wir hören und sehen können“.49 Sein e­ rstes Beispiel hierfür ist „eine Hieroglyphe“.50 Bachtin bezieht sich hier zunächst auf die ‚Sichtbarkeit‘ der Hieroglyphe, ihre Wahrnehmbarkeit als ­­Zeichen, die erst die Voraussetzung für eine Lesbarkeit und damit für Bedeutung schafft. Ganz ähn­lich benennt Jokls Metapher zu Beginn von Essenzen etwas vage die Mög­lichkeit eines Zeichens, das in ­diesem Fall nicht an sich, sondern nur mittelbar und in der Kombina­tion ­seiner Bestandteile – näm­lich im Blick durch die Glasscheiben – sichtbar (und damit noch nicht notwendig lesbar) wird. Innerhalb von Essenzen greift die Erzählung Lauf die Metapher aus der Vorbemerkung auf und führt vor, wie sich der Sinn auf geradezu messianische Weise immer wieder entzieht. Die Erzählerin erinnert sich an einen israe­lischen Gelehrten und Sprachforscher, der nach einem Traum, der ihm „Hieroglyphen-­Sinn“ macht, plötz­lich das ganze Universum versteht und seine Erkenntnisse in einer Art Universalwerk festhalten will. Als er kurz vor Vollendung seines Opus stirbt, wird klar, dass er nichts davon fertig aufgeschrieben, sondern nur Notizen hinterlassen hat, deren Sinn sich nicht mehr erschließen lässt: „Und so zerstob der Schatz, der zu einem vieldimensionalen Rosettastein der Bedeutungen hätte werden können, und wurde wieder Ungewußtes, als hätte es sich nie in d ­ iesem Geist konzentriert.“ 51 Als „Symbol des Geheimnisvollen und des nur Initiierten zugängl. Wissens“ 52, das insbesondere in der Literatur der Romantik „in Verbindung mit dem Unend­lichen und Unfassbaren“ 53 erscheint, bietet sich die Hieroglyphe als Metapher an, um die Unterscheidung ­zwischen einem ledig­lich sichtbaren und einem lesbaren, d. h. verständ­lichen ­­Zeichen zu verdeut­lichen. Ausgehend von der historischen Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen im 19. Jahrhundert steht der Rosettastein für eben jenen Übergang, für die Lesbarmachung der rätselhaften Zeichen ­­ und den Zugang zu einem anderen, verloren gegangenen Wissenssystem. Dazu musste sich „das Denken der Wissenschaftler freimachen […] von unserer modernen Kausal­ logik, um sich in die symbo­lische Logik der alten Ägypter einzufühlen“ 54, wie Jokl andernorts über den historischen Rosettastein schreibt. Auch Essenzen lässt deut­ lich den Versuch erkennen, sich von der modernen Logik freizumachen und andere Wege zu suchen, um sich der „Hieroglyphe unsrer Zeit“ zu nähern. Einer dieser Wege führt vom Toten Meer direkt in den Kaninchenbau von Alice im Wunderland.

4 9 Ebd. S. 196. 50 Ebd. 51 Jokl 1997. S. 56. 52 Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart 2012. S. 181. 53 Ebd. S. 182. 54 Anna Maria Jokl. Der Rosetta-­Stein. In: Jokl 2011. S. 160 – 163, S. 161 f.

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In der bereits anhand der Darstellung von Gleichzeitigkeit kurz diskutierten Erzählung Begegnung am Toten Meer gibt es neben den hebräischen Worten drei zusätz­liche fremdsprach­liche Einschaltungen, die kursiv hervorgehoben sind: „jeune fille“ 55, „Cheshire-­cat“  56 und „en miniature“ 57. Zusammengenommen verweisen das junge Mädchen, die schwer ins Deutsche zu übersetzende ‚Grinsekatze‘ und die Verkleinerung auf Lewis Carolls Kinderbuchklassiker Alice’s Adventures in Wonder­ land, jenen Text, den Gille Deleuze „die erste große Inszenierung der Sinnparadoxa“ 58 genannt und zum Ausgangspunkt von Logik des Sinns gemacht hat. Mit ­diesem Verweis rückt Jokls Erzählung nicht nur der Zeit zu Leibe, sondern beteiligt sich zudem an Carolls „Wechselspiel von Sinn und Unsinn“ 59. An die Stelle des in Jokls Wegweiser-­Essay noch vorherrschenden „gesunden Menschenverstand[s]“, der in der Behauptung besteht, „daß es in allem eine genau bestimmbare Richtung, einen genau bestimmbaren Sinn gibt“ 60, tritt in Essenzen nunmehr die Dimension „eines reinen, maßlosen Werdens […], das in beide Richtungen gleichzeitig verläuft, sich stets dem Gegenwärtigen entzieht und Künftiges und Vergangenes […] in der Gleichzeitigkeit einer unlenksamen Materie zusammenfallen läßt“.61 Der Caroll-­ Bezug wird bei Jokl nicht weiter vertieft, der intertextuelle ‚Wegweiser‘ zeigt ledig­ lich auf den Kaninchenbau, in dem die moderne Kausallogik aufgehoben wird. Innerhalb d ­ ieses veränderten Denkens figuriert die „ständige Situa­tion“ der Shoah, wie sie Jokl in Briefwechsel auf paradoxe Weise beschreibt, als das D ­ eleuze’sche eventum tantum, das Ereignis an sich, das „keine andere Gegenwart als die des beweg­lichen Augenblicks kennt“ 62. Genau wie Jokls zugleich autobiografischen und exemplarischen Erzählungen ist das Ereignis bei Deleuze „gleichzeitig kollektiv und privat, in eins besonders und allgemein, weder individuell noch universell“.63 Unabhängig davon, ob Jokl tatsäch­lich mit Deleuze’ Schriften vertraut war, zeigt sich Essenzen als Ausdruck eines poststrukturalistischen Denkens und als Versuch, ­diesem Denken auch in der literarischen Form gerecht zu werden.

5 5 Jokl 1997. S. 79. 56 Ebd. 57 Ebd. S. 81. 58 Gilles Deleuze. Logik des Sinns. Frankfurt a. M. 1993. S. 13. 59 Ebd. 60 Ebd. S. 15. 61 Ebd. 62 Ebd. S. 189. 63 Ebd. S. 190.

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VI. Fazit: vom Wegweiser zur Hieroglyphe

Nach Jahrzehnten des ‚Schweigens‘ lotet Anna Maria Jokl mit Essenzen die literarischen Mög­lichkeiten aus, jenseits von Chronologie und „moderner Kausallogik“ über die Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu schreiben, ohne ihnen dadurch einen endgültigen Sinn zuzuschreiben. Insofern unterscheiden sich Geschichtsverständnis und Zeitbegriff in Essenzen grundlegend von Jokls früherem Essay Die Wegweiser unserer Zeit, in dem Geschichte sowohl Richtung als auch Sinn besitzt und die Aufgabe der Literatur darin besteht, beides in einem „Roman dieser Zeit“ festzuhalten. Das Bewusstsein um die Shoah markiert den grundlegenden Bruch z­ wischen diesen beiden Auffassungen und bedingt die fragmentarische Form von Essenzen ebenso wie die Abkehr von einem linearen Zeitmodell. Die offensicht­lichen biografischen Anhaltspunkte bieten zwar eine Mög­lichkeit, die unverbunden nebeneinander­ stehenden Texte in einen vorläufigen Zusammenhang zu bringen, jedoch verweigert sich auch diese Lesart einer vollständigen Integra­tion in ein narratives Kontinuum. Vielmehr werden die zahlreichen Brüche des erzählenden Subjekts und seine „sechs Leben“ ausgestellt und zum poetolo­gischen Prinzip des Schreibens erhoben, das eingedenk der „ständigen Situa­tion“ der Shoah immer auch eine Reflexion über die Mög­lichkeiten des Schreibens nach Auschwitz ist. Das angestrebte Ergebnis d­ ieses literarischen Experiments wird in der rahmenden Metapher nur vorsichtig im Irrealis formuliert: „Wäre jede Phase eine Glasplatte […], mag eine Hieroglyphe unsrer / der Epoche sichtbar werden.“ 64 Die Verschiebung der Metapher vom „Wegweiser“ im Essay von 1942 zur „Hieroglyphe“ in Essenzen ersetzt ein lesbares, bedeutendes Zeichen ­­ durch ein ledig­lich sichtbares, dessen Bedeutung nur vermutet werden kann. Dies kann als Aufforderung verstanden werden, durch eine veränderte Perspektive (den Blick durch die Glasplatten) und ein verändertes Denken (etwa mit Caroll und/oder Deleuze) die erforder­liche Arbeit an der Entzifferung der Hieroglyphe aufzunehmen.

6 4 Jokl 1997. S. 7 u. S. 110. Hervorhebungen S. Sch.

Jobst Welge

Transgenerationelle Erinnerung in der argentinischen und brasilianischen Gegenwartsliteratur (Sergio ­Chejfec, Michel Laub) I.

Transatlantische Erinnerung, Post-Memory

Was bedeutet es, nach der Funk­tion der Holocaust-­Erinnerung in der gegenwärtigen lateinamerikanischen Literatur zu fragen? Es bedeutet zunächst, dass neben die transgenera­tionelle Perspektive auch das Problem der transatlantischen Diskontinuität tritt, also eine sowohl zeit­liche als auch räum­liche Entfernung. Es geht bei dieser Form von Erinnerungsliteratur also nicht mehr um die Frage der literarischen Darstellung von Zeugenschaft, oder um das Problem der Nicht-­Darstellbarkeit des Unfassbaren. Es geht stattdessen um das Phänomen der Diskontinuität an sich und damit auch um die Verlagerung des Akzents auf den Akt des Erzählens an sich. Dabei spielt eine besondere Rolle die Frage, wie unterschied­liche Genera­tionen nicht nur durch die Diskontinuität unterschied­licher Erfahrungswelten voneinander ­geschieden sind, sowie auch die Frage nach einer mög­lichen Kontinuität beziehungsweise nach der Bedeutung eines (jüdischen) Erbes für eine jüngere Genera­tion – etwas, was jedoch nur noch in extrem vermittelter und indirekter Weise der Fall ist. Es ließe sich also sagen, dass diese neuere Art der transatlantischen Erinnerungsliteratur letzt­lich ein generelles Merkmal der Literatur über den Holocaust radikalisiert, näm­lich die literarische Explora­tion des Problems, wie gerade die Distanz zu und die Differenz von dem ‚ursprüng­lichen‘ Ereignis repräsentiert werden können.1 Ich will diese Fragen hier anhand von zwei im weiteren Sinne autofik­tionalen Romanen der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur diskutieren und dabei auch – zumindest ansatzweise – auf die Frage eingehen, inwieweit sich diese Texte jeweils auch im Kontext der lateinamerikanischen beziehungsweise der globalen Erinnerungsliteratur verorten lassen. Ich werde mich zunächst mit dem Roman Lenta biografía („Langsame Biografie“, 1999) des argentinischen Autors Sergio Chejfec (geb. 1956) befassen, sodann mit dem Werk Diário da queda (2011) des brasilianischen

1 Vgl. z. B. Andreas Huyssen. Twilight Memories: Marking Time in a Culture of Amnesia. New York 1995; Emmanuel Bouju. La Transcrip­tion de l’histoire. Essai sur le roman européen de la fin du Xxe siècle. Rennes 2006.

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Jobst Welge

Autors Michel Laub (geb. 1973), das nun auch in einer guten deutschen Übersetzung vorliegt, mit dem Titel Tagebuch eines Sturzes (2013). Im ­Folgenden möchte ich vor allem die spezifischen literarischen Darstellungsverfahren dieser Romane hervorheben, und wie sich diese wiederum zu anderen postmodernen, ‚meta-­ historiografischen‘ und transgenera­tionellen Repräsenta­tionen des Holocaust in der Literatur verhalten. Das Konzept der transgenera­tionellen Erinnerung bezieht sich dabei auf die Idee der post-­memory, wie sie von Marianne Hirsch entwickelt worden ist: „Postmemory describes the rela­tionship that the genera­tion after those who witnessed cultural or collective trauma bears to the experiences of those who came before, experiences that they ‚remember‘ only by means of the stories, images, and behaviors among which they grew up.“ 2 In dieser Perspektive ist die Familie die zentrale Institu­tion für die intergenera­tionelle Transmission der Shoah als einer spezifisch jüdischen Erfahrung. Obwohl Hirsch ihr Konzept nicht nur mit vertikal-­ genera­tioneller Vermittlung verbindet, sondern auch mit horizontalen, „affiliativen“ Strukturen, steht bei ihr die vermittelte Erinnerung doch klar im Horizont eines kollektiven Gedächtnisses, das, gemäß des Verständnisses von Maurice Halbwachs und Jan Assmann, im Kontext des Kommunika­tionssystems einer bestimmten sozialen Gruppe verstanden wird.3 Wie wir sehen werden, zeichnen sich die hier zu betrachtenden Texte vor allem auch dadurch aus, dass die Grundannahme einer Gruppenidentität und ihre Transmission von Erinnerungen nicht mehr ohne ­Weiteres vorauszusetzen sind und gerade in ihren Aporien und Widersprüchen vorgeführt werden – weswegen der Aspekt der Erinnerung hier nur noch im Verbund mit Schweigen beziehungsweise Imagina­tionen und Virtualität vorstellbar wird. II. Zirkuläres und gestaffeltes Erzählen (S. Chejfec)

Das Buch von Sergio Chejfec, zugleich der erste Roman eines der wichtigsten argentinischen Gegenwartsautoren, die „langsame Biografie“, ist zu verstehen als Statthalter für die nicht realisierte Autobiografie des Vaters des jüdisch-­argentinischen Erzählers beziehungsweise des nicht wirk­lich realisierten Gesprächs z­ wischen Sohn und Vater über des Letzteren Erfahrung im ‚Dritten Reich‘ und Flucht nach Argentinien. Der Erzähler statuiert, dass er nicht über sein eigenes Leben schreiben könne, ohne zugleich die Biografie seines Vaters aufzuschreiben („Wie ich es zuvor

2 Marianne Hirsch. Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory. Cambridge, ­Massachusetts 1997. S. 106. 3 Jan Assmann. Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und kulturelle Identität in frühen Hochkulturen. München 2007.

Transgenerationelle Erinnerung in der argent. u. brasilian. Gegenwartsliteratur

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ausdrückte, meine Vergangenheit war die seine“ 4), des Vaters, der selber sich eines solchen Vorhabens als unfähig erweist, obwohl er zunächst eine dann vom Sohn zu übersetzende Autobiografie anvisiert hatte: „An jenem Tag […], als ob er Worte kauen würde, sagte mir mein Vater, dass er die Geschichte seines Lebens schreiben wolle; und auch noch: dass er sie selbstverständ­lich in Jiddisch ­schreiben wolle, und ich sie anschließend übersetze, oder dafür Sorge trage, dass ­dieses geschehe. Er sagte mir, dass er im Spanischen nicht die Worte besäße um alles auszudrücken, was er zu sagen hatte.“ 5

Dieses Projekt erweist sich aber als unmög­lich, da der Vater die Ereignisse seiner Vergangenheit sowie das Schicksal seiner Familienangehörigen und Freunde in ein bezeichnendes Schweigen hüllt.6 Die kulturelle und auch sprach­liche Differenz ­zwischen Sohn und Vater – Letzterer ist Abkömmling des osteuropäischen Judentums – ­zwischen der Sprache des Spanischen und des Jiddischen, führt dazu, dass Erinnerungskontinuität jedenfalls kaum auf der Ebene der verbalen Transmission hergestellt werden kann. Trotzdem ist Lenta biografía der Versuch, das Nicht-­Kommunizierte und Nicht-­ Kommunizierbare zum Thema der Schreibbewegung und damit einer Erzählung zu machen. In der Abwesenheit der Kommunika­tion über das Vergangene werden Lücken und Leerstellen als ­solche konstitutiv für die Präsenz einer nicht kommunizierbaren Vergangenheit,7 und insbesondere die Gestik, der sprach­liche Rhythmus und der körper­liche Habitus des Vaters bieten dem Sohn zahlreiche Anlässe, die Vergangenheit des Vaters zu imaginieren. Die Abwesenheit oder das Nicht-­zustande-­ Kommen einer biografischen Erzählung in einem handlungslosen Roman wird

4 Sergio Chejfec. Lenta biografía. Buenos Aires 1990. S. 145: „Como antes puse, mi pasado era el suyo“. Alle Übersetzungen aus dem Spanischen vom Verfasser. 5 Chejfec 1990. S. 16: „Aquel día […] como si masticara palabras mi padre me dijo que él quería escribir la historia de su vida; e incluso: que él querría escribirla, por supuesto, en idisch y yo después traducirla u ocuparme de que lo hicieran. Me dijo que no tendría ­palabras en castellano para ‚poner‘ todo lo que tenía que contar.“ 6 Vgl. dazu Kirsten Mahlke. „Wortlose Kommunika­tion in Chejfec Lenta biografía“. Schwei­ gen. Archäologie der literarischen Kommunika­tion XI. Hg. v. Jan u. Aleida Assmann. München 2013. S. 193 – 210, S. 194: „Das Schweigen bestimmt die intergenera­tionelle Kommunika­ tion, als Sprache der Toten, als ­­Zeichen der Trauer, als Mög­lichkeit, die eigene Geschichte zu bewahren.“ 7 Ein wichtiger literarischer Vorläufer (und womög­lich Vorbild) für die bewusste Setzung von Leerstellen im Kontext der Holocaust-­Erinnerung sind die Werke von Georges Perec, insbesondere der autofik­tionale Roman W ou le souvenir d’enfance (1975).

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ersetzt durch die Mimesis einer münd­lichen Erzählsitua­tion, bei der mehrere Gäste, allesamt Immigranten und Holocaust-­Überlebende im Haus des Vater-­Sohn-­Paares (die ­Mutter wird nur beiläufig erwähnt) bei steten sonntäg­lichen Zusammenkünften die letzten Tage und Stunden eines namenlosen „Verfolgten“ („el perseguido“) zu rekonstruieren versuchen. Die jeweiligen Anstrengungen, in die Vorstellungswelt ­dieses Verfolgten einzudringen beziehungsweise die sich teilweise widersprechenden und zueinander in Konkurrenz um Wahrheitsdarstellung tretenden Erzählungen teilen uns also wenig Konkretes über den Verfolgten als solchen mit, sondern führen einerseits die absolute Unzuverlässigkeit dieser Erinnerungssimula­tionen vor, andererseits wird dadurch das Gewicht klar auf die kommunikative Situa­tion gelegt, auf das Problem einer (jüdischen) Gruppenidentität und Erzählgemeinschaft mit einem spezifischen „Genera­tionengedächtnis“ (J. Assmann),8 deren Mitglieder immer wieder während der Erzählung zu einem Gläschen Anisschnaps, Wodka sowie zu dem typisch argentinischen Mategetränk greifen. Insofern die Erzählsitua­ tion vom allgemeinen, ‚autobiografischen‘ Meta-­Erzähler auf interne Erzähler (die regelmäßig sich sonntags treffenden Hausgäste) und diese wiederum auf den inneren Monolog des Verfolgten teleskopiert werden, tritt das vermittelte, gestaffelte Erzählen als spezifische Praxis in den Vordergrund und es entsteht somit der Eindruck einer paradoxalen, bewegungslosen Zirkularität. Gerade weil die Erzählung aus dem historischen und temporalen Kontext herausgelöst wird und trotz ihrer implizit und explizit angezweifelten Zuverlässigkeit, dient sie letzt­lich der Herstellung einer Verbindungslinie ­zwischen Vergangenheit und Gegenwart, ­zwischen Subjekt und Gemeinschaft, z­ wischen den verschiedenen Genera­tionen.9 Insofern wird hier die Hervorhebung des münd­lichen Erzählprozesses selbst zu einer Form der performativen Erinnerung, wie sie Walter Benjamin in seinem berühmten Essay „Der Erzähler“ mit der Grundsitua­tion der vor-­modernen, epischen, kollektiven Erzählpraxis in Verbindung gebracht hat: „Die Erinnerung stiftet die Kette der Tradi­tion, ­welche das Geschehene von Geschlecht zu Geschlecht weiterleitet. Sie ist das Mu­sische der Epik im weiteren Sinne. Sie umgreift die

8 Vgl. Florencia Martín. In der Erzählkolonie. Über die Gewalt des Erzählens bei Thomas ­Bernhard und Sergio Chejfec. Frankfurt a. M. 2009. S. 165. 9 Vgl. Chejfec 1990. S. 119: „[…] percibimos la violencia y el vertigo mental de imaginar un tiempo ya inexistente y una cronología cristalizada, y pretendemos alivianar esos sentimientos y sensaciones cruentos contemporizando desapercibidamente el presente y el pasado.“ [„…Wir nahmen die Gewalt und den mentalen Schwindel wahr, den es bedeutete, sich eine nicht länger existierende Zeit und eine kristallisierte Chronologie vorzustellen, und wir strebten danach, diese grausamen Gefühle und Empfindungen zu lindern, indem wir unbemerkt Gegenwart und Vergangenheit zeit­lich einander ang­lichen.“].

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mu­sischen Sonderarten des Epischen. Unter diesen ist an erster Stelle diejenige, ­welche der Erzähler verkörpert. Sie stiftet das Netz, welches alle Geschichten miteinander am Ende bilden.“ 10

Allerdings sind bei Chejfec sowohl die Repräsenta­tion der Vergangenheit als auch die der Gruppenidentität von Unsicherheit und Zweifel befallen. Die Ambivalenz des Bedürfnisses nach Kontinuität wird vor allem auch stilistisch-­rhetorisch durch die charakteristische von Parenthesen durchzogene Syntax eindring­lich – und die Aufmerksamkeit des Lesers extrem beanspruchend – vorgeführt: „In diesen Momenten, als wir damit konfrontiert wurden, dass die gesagten Dinge – die als wahrhaftig erzählten Geschichten in jenen Zusammenkünften – nicht ganz und gar wahr sein könnten, wie ein jeder der mög­lichen Erzähler versicherte, realisierten wir, dass uns diese Widersprüche nicht nur nicht beunruhigen oder unser Interesse dafür entziehen würden, sondern dass sie unseren Geisteszustand bestätigten – der geheim, verschwiegen und nicht bedeutsam für die Gruppe der dort vereinigten Personen war – zu glauben – nicht ledig­lich zu glauben, sondern vollständig davon überzeugt zu sein – dass sie alle mit ihrer Andersheit, mit ihren Differenzen und Varia­tionen bekräftigten, dass eine Reihe von grundlegenden Situa­tionen existiert hatte, die in einer großen Anzahl von Personen ein gewisses, einhelliges Gefühl des absoluten Unwohlseins innerhalb der europäischen Geografie erzeugten, insofern ihre innersten Grundelemente aus – um es mit wenigen Worten zu sagen – Schmerz und Furcht bestanden.“ 11

Daneben ist es vor allem auch die Wiederholung bestimmter Formeln und Phrasen sowie von Anekdoten oder Situa­tionen, w ­ elche den Eindruck von statischer Bewegungslosigkeit und Zirkularität unterstreichen. All dies sind Merkmale, die

10 Walter Benjamin. „Der Erzähler“. Illumina­tionen. Ausgewählte Schriften I. Hg. v. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977. S. 385 – 410, S. 399. 11 „En esos momentos, cuando nos encontrábamos con que las cosas dichas —las historias referidas como verdaderas en aquellas reuniones —podían no ser del todo verídicas como aseguraba cada uno de los eventuales narradores, percibíamos que no solamente estas contradicciones no nos incomodaban ni nos vaciaban de interés por ellas, sino que afirmaban nuestra disposición de ánimo—secreta, silenciosa e insignificante para el conjunto de personas allí convocadas — a creer —no únicamente a creer, sino a estar plenamente convencidos —que todas ellas confirmaban con su diversidad, diferencias y variaciones que había existido una serie de situaciones básicas que generaron en un alto número de personas cierto sentimiento unánime de absoluta incomodidad dentro de la geografía europea a partir de que sus íntimos elementos estaban hechos de para decirlo con pocas palabras —dolor y miedo.“ (Chejfec 1990. S. 79).

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den Text daher von der (‚tradi­tionellen‘) Gattung des Romans entfernen und ihn – gerade auch wegen der prononcierten ‚Münd­lichkeit‘ – in gewissen Aspekten der (morpholo­gisch durch den Roman abgelösten) ‚älteren‘ Form des Epos annähern.12 Dieser quasi-­epische Charakter unterstreicht den auf münd­licher Überlieferung bestehenden Aspekt einer transgenera­tionellen Erzähl- und Rezep­tionsgemeinschaft, wobei – im Sinne einer autofik­tionalen Lektüre des Romans – mit zu bedenken wäre, dass der Autor sich selbst in einem Interview als Teil einer „sehr früh politisierten Genera­tion“ („una generación de politizados precozmente“) bezeichnet hat, dass er jedoch die Aufgabe der Literatur in einer vor allem metaphorischen An­­ näherung an die Kategorie des Sozialen sieht: „Ich glaube, dass die Literatur darauf zielen müsste, im ideolo­gischen oder linguistischen Bewusstsein der Gemeinschaft zu intervenieren, weniger im politischen Bewusstsein.“ 13 Jedoch nehmen die Merkmale des auf gemeinschaft­liche Rezep­tion hin erzählten Epos hier eine geradezu anachronistische Qualität an. Die Formeln und wiederkehrenden Phrasen sind von ihrem Inhalt her kaum dazu geeignet, eine kollektive Identität zu stiften – wie beispielsweise der rituell, unzählige Male wiederholte Hinweis, dass sich die in der Sprache des Jiddischen geäußerten Erzähler-­Reden in der Wahrnehmung des Meta-­ Erzählers wie eine Kaubewegung („masticación“) ausnehmen, wodurch die fremde Sprache gewissermaßen noch zusätz­lich de-­semantisiert wird. Ein anderes quasi-­episches ­­Zeichen für eine anvisierte Gruppenidentität ist der explizite, wiederholte Vergleich ­zwischen des Vaters Flucht und Überquerung des Atlantiks mit dem Überqueren des Roten Meeres seitens der Juden bei ihrer Flucht aus Ägypten.14 Die Reise-­Passage der Flucht wird dabei zugleich zu einer Metapher für die Aporien der erinnernden Rekonstruk­tion, die sowohl eine Überbrückung ­zwischen Vergangenheit und Gegenwart darstellt als auch durch den Bruch der Passage gekennzeichnet ist: „Das Überwinden des Ozeans durch meinen Vater war eine Antizipa­tion – geheim und verzweifelt – der ständigen Sprünge, die wir im Inneren unseres Bewusstseins zu bewerkstelligen haben würden, bei dem Versuch, die leeren Punkte seiner fragmentarischen Geschichte zu

12 Vgl. Jonathan Dettmann. „Epic, Novel, and Subjectivity in Sergio Chejfec’s Lenta biografía.“ A Contracorriente. A Journal on Social History and Literature in Latin America 6.2 (Winter 2009): S. 46 – 63, S. 57: „The insistence on these terms and their redundancy make Lenta biografía repetitive, almost formulaic. The use of formulas is a well-­known feature of epic.“ 13 Mario Siskind. „Sergio Chejfec.“ Hispamérica 100 (April 2005): S. 35 – 46, S. 40: „Creo que la literatura debería apuntar a intervenir en la conciencia ideológica o linguística de la comunidad más que en su conciencia política.“ 14 Chejfec 1990. S. 74.

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vervollständigen – und noch mehr – der nicht artikulierten Geschichte, die sich täg­lich in seiner strengen Figur verkörperte.“ 15

Chejfecs handlungsloser Roman erzählt keine Geschichte, repräsentiert keine Erfahrung, sondern nur die Abwesenheit davon beziehungsweise die Unmög­lichkeit, diese Erfahrung weiterzuvermitteln, es sei denn durch die virtuelle Imagina­tion als Vergegenwärtigungsform der Vergangenheit, wie es durch den folgenden, rituell wiederholten Satz artikuliert wird: „Es ist, als ob die Toten die Lebenden besuchen würden, jedoch von uns selber ausstaffiert.“ 16 Die Abwesenheit von tatsäch­licher Zeugenschaft wird somit durch eine fast schon parodistische Übergenauigkeit in der Schilderung der noch belanglosesten Umstände des bei seinen Verwandten untergeschlüpften Verfolgten kompensiert.17 Innerhalb der gestaffelten Erzählebenen des Textes wird der Leser auch immer wieder mit einem inneren Monolog des Verfolgten konfrontiert, der in schicksalsschwangerer Rede über die Zustände in seinem Elternhaus nicht nur die fatalistischen Tendenzen der Religiosität kritisiert, sondern auch eine Ergebenheit in die Macht der Gewalt anprangert, die auf der Seite von Tätern wie Opfern zu finden wäre: „[…] zerbrochene Fensterscheiben, abgenutzte Decken, Schweigen, eine Faulheit, die zu großen Teilen von der Religion herrührt, ganze Leben dazu bestimmt, sich in Apathie und Verlassenheit zu ergehen, aufgrund eines anhaltenden Aberglaubens. Sie verfolgen mich, nichts geschieht, und ich denke: diese triviale Verlassenheit, die sie an die Barbarei durch Unwissenheit und Unvoreingenommenheit ausliefert.“ 18

In formaler Hinsicht treibt der Roman die Thematik der Negativität und der Absenz in eine radikale Weiterentwicklung typisch modernistischer Erzähltechniken, mal

15 „El vadeo del océano que realizó mi padre fue una anticipación — oculta y desesperada — de los permanentes saltos que habríamos de realizar nosotros intentando en el seno de nuestra conciencia completar los puntos vacíos de su história fragmentaria — y más aún — desarticulada — que cotidianamente se encarnaba en su figura austera.“ (Chejfec 1990. S. 74). 16 „Es como si los muertos nos visitaron a los vivos, pero ataviados por nosotros.“ (Chejfec 1990. S. 13; vgl. ebd. S. 26). 17 Vgl. Martín 2009. S. 168: „Dieser Hinweis auf die Abwesenheit der Quellen und die konsequente Wiedergabekette, die wiederum in irritierendem Gegensatz zu der Genauigkeit des Wiedergegebenen steht, verfremden den Charakter einer Zeugenerzählung.“ 18 „[…] vidrios rotos, mantas raídas, silencio, desidias que derivan en mucho de la religión, vidas enteras dedicadas a tornarse apáticas y abandonadas a base de superstición recurrente. Me persiguen, y nada pasa y pienso: ese abandono trivial que los entrega a la barbarie con ignorancia y desaprensión.“ (Chejfec 1990. S. 196).

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an Samuel Beckett, mal an Georges Perec, mal an W. G. Sebald erinnernd, mit einer für Chejfec typischen Unbestimmtheit von Ort, Zeit und Personen, wodurch die Form des Romans in einer zirkulären, hochgradig abstrakten Gedankenbewegung aufgehoben wird. Dabei ist die unbekannte Vergangenheit des Vaters ebenso opak wie letzt­lich zentrales Erzählmotiv. III. Transgenerationelle Verschriftlichung (M. Laub)

Während Chejfecs Text also in der Mimesis einer münd­lichen Erzählsitua­tion zentriert ist, steht bei Michel Laub – wie schon der Titel seines Romans, Tagebuch eines Sturzes, offensicht­lich macht – der Aspekt der Verschrift­lichung im Vordergrund. Beim jüngeren Autor Laub (geb. 1973) geht es zudem um die Situa­tion einer ­jüngeren Genera­tion und deren nochmaligen zeit­lichen Abstand vom Ereignis des Holocaust, was hier in der Triade Großvater/Vater/Sohn-­Erzähler (also wiederum in einer ausschließ­lich männ­lich zentrierten Erbfolge) aufgenommen wird. Der Großvater des Ich-­Erzählers ist ein nach Brasilien immigrierter Auschwitz-­Überlebender, der Selbstmord begangen hat, als sein Sohn vierzehn Jahre alt war, und dessen Traumatisierung nur indirekt lesbar wird, näm­lich anhand eines umfangreichen nachgelassenen Konvoluts von Aufzeichnungen, in dem er die Erscheinungen der Neuen Welt, insbesondere ihre „hygienischen“ Vorzüge, in einer Art Tagebuch aus enzyklopädischen Einträgen übertrieben enthusiastisch bespricht, wodurch, wie gesagt, nur höchst indirekt ein Licht auf die vergangene Erfahrung der gewalt­vollen Geschichte geworfen wird. Hier nur ein kurzes Beispiel zur Illustra­tion: „16.   Ehefrau – Person, die sich häus­lichen Pflichten widmet und über die Einhaltung strengster Hygiene im Haushalt wacht und darüber, im Tagesablauf ihres Ehemanns keine Störung auftreten zu lassen, wenn er alleine zu sein wünscht.“ 19 Wie der Erzähler kommentiert, ist der Blick des Großvaters auf Brasilien ein kontrafaktischer, geboren aus der Sehnsucht nach einer besseren Welt, in der zum Beispiel ein Glas Milch wie ein Symbol der Neuen Welt und eines „neuen Lebens“ erscheint.20 Diese Wahrnehmung von Brasilien als einem gelobten Land wird vom Neffen dezent hinterfragt: „In den Heften meines Großvaters war das Brasilien von 1945 ein Land, in dem nie Sklaverei geherrscht hatte. Kein Regierungsbeamter 19 Michel Laub. Tagebuch eines Sturzes. Übers. Michael Kegler. Stuttgart 2013a. S. 34. Im Original: „16. Esposa — pessoa que se encarrega das prendas domésticas, cuidando para que se sejam empregados procedimentos os mais rigorosos da higiene na casa e também para que no dia do marido não existam perturbações quando ele deseja ficar sozinho.“ (Michel Laub. Diário da queda. Lisboa 2013b. S. 41). 20 Laub 2013b. S. 34.

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versuchte zu verhindern, dass Kriegsflüchtlinge ins Land kamen.“ 21 Dies ist in der Tat verklärendes Wunschdenken vor dem Hintergrund der tatsäch­lichen historischen Situa­tion: das heißt, wenn man bedenkt, dass sich das brasilianische Vargas-­ Regime im Zweiten Weltkrieg erst sehr spät den Alliierten angeschlossen hatte und dass Holocaust-­Flüchtlinge nur zögernd und spät aufgenommen worden sind.22 Bezeichnenderweise bezieht sich das Wort „Sturz“ des Titels aber vor allem auf eine traumatische Erfahrung des autofik­tionalen Erzählers. Noch Jahre s­ päter muss er an einen Vorfall an seiner jüdischen Schule zurückdenken, bei dem ein nichtjüdischer Mitschüler, João (die einzige Figur des Romans, der ein Eigenname zugebilligt wird), bei seinem dreizehnten Geburtstag nach (Bar-­Mitzwah-)Brauch von den Mitschülern wiederholt in die Luft geworfen wird, beim dreizehnten Mal aber absicht­lich auf den Boden fallen gelassen wird, sodass er sich schwere Verletzungen zuzieht. Sowohl João als auch der sich inzwischen seiner (Mit-)Tat schämende Ich-­Erzähler wechseln ­später auf eine nichtjüdische Schule, wo nun die einstige Ausgrenzung von João auf den Erzähler zurückschlägt, der nun seinerseits zum Opfer antisemitischer Nachrede wird, an der wohl auch João maßgeb­lich mit­ beteiligt ist. Erst nach diesen Erfahrungen beschäftigt sich der Ich-­Erzähler mit den Aufzeichnungen des Großvaters sowie des eigenen Vaters, der – im Gegensatz zu seinem Vater und Sohn – ganz von einem jüdischen Identitätsdiskurs geprägt ist. Der von uns gelesene Romantext von Tagebuch eines Sturzes ist textintern konzipiert als eine Art Vermächtnis für den Sohn des Erzählers (also der Vertreter der vierten Genera­tion in der patrilinearen Genealogie), den er einerseits von der Herrschaft der Vergangenheit und ihren Imperativen verschonen will, wobei andererseits die gesamte transgenera­tionelle Erzählsitua­tion ja gerade eine patrilineare Kontinuität voraussetzt und erzeugt. Auf der Ebene der literarischen Form schlagen sich die enzyklopädischen Einträge des Großvaters auch in der Prosa des Erzählers selbst durch, denn der ganze Roman ist in verschiedene „Hefte“ gegliedert („Einige Dinge, die ich über meinen Großvater weiß“; „Einige Dinge, die ich über meinen Vater weiß“; „Einige Dinge, die ich über mich weiß“), die wiederum in zahlreiche, durchnummerierte, meist kürzere „Einträge“ münden, manchmal nur einen einzigen Satz lang, und kaum je länger als eine einzige Buchseite. Dadurch wird insgesamt eine die triadische Familiengenealogie abbildende Struktur erreicht, die gedank­liche Reflexion in den Vordergrund stellt, aber, anders als bei Chejfec, entstehen dadurch auch eindring­liche, 21 Ders. 2013a. S. 30. Im Original: „Nos cadernos do meu avô, o Brasil de 1945 era um país que não tinha passado pela escravidão. Onde nenhum agente do governo fez restricões à vinda de imigrantes fugidos da guerra.“ (ders. 2013b. S. 36). 22 Vgl. dazu Ursula Prutsch u. Enrique Rodrigues-­Moura. Brasilien. Eine Kulturgeschichte. Bielefeld 2013. S. 148 – 151.

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bildhafte Szenen und narrative Sequenzen, die in nichtlinearer Weise und von verschiedenen Richtungen her vom Erzähler umkreist werden, einander variieren oder ergänzen – und somit die Struktur eines ‚fortlaufenden‘ Tagebuchs sowohl ab­­ bilden als auch konterkarieren. Die allein schon vom typografischen Schriftbild her deut­liche Fragmentierung des Textes und der verselbstständigten Erzähleinheiten betont – im deut­lichen Gegensatz zu den mäandernden, atemlosen Endlossätzen von Chejfecs Roman – nicht so sehr eine Infragestellung des Wahrheitsgehaltes als vielmehr die Notwendigkeit eines iterativen Erzählens, das scheinbar immer wieder von vorne beginnt und so zu diskreten Mikro-­Erzählungen führt,23 die den Leser zur separaten Betrachtung und zum Unterbrechen des Leseflusses anregen. Dies hat auch den Effekt, die chronolo­gische, von der Vergangenheit in die Zukunft reichende Genera­tionenfolge so zu arrangieren, dass sich fast ein Eindruck der Kopräsenz und damit eine Identität über alle Brüche, Leerstellen und Diskontinuitäten hinweg einstellt, zumal jede Genera­tion die Spuren der vorangegangen in sich trägt. Auch hier „imaginiert“ der Erzähler explizit, wie der Vater nach dem Tod des Großvaters auf dessen hinterlassenes Manuskript und dessen augenschein­ liche „Lücke“ („lacuna“), das heißt, die auffällige Nichterwähnung von Auschwitz, reagiert haben mag oder wie des Vaters Alltag unter dem Eindruck des (groß)väter­ lichen Selbstmords ausgesehen haben mag.24 Trotz der also auch hier zirkulären Bewegung entsteht in ­diesem Fall mehr der Eindruck einer gerichteten Erzählung, da innerhalb der einzelnen Abschnitte konsekutive Zeitabschnitte deut­lich werden, sowie insbesondere ein Reifeprozess des Erzählers, der ihn zum einen dazu bringt, den Sturz als ein Trauma der Schuld zu begreifen, sodann die mora­lischen Hinweise seines Vaters auf Auschwitz nicht mehr mit ordinären Flüchen zu belegen (der Vater sieht im Gegenzug ein, dass er mit dem Verweis auf Auschwitz nicht den gewünschten Schulwechsel seines ­Sohnes kritisieren kann), ­später dann seine eigene Loslösung vom Alkoholismus im Angesicht des Beginns seines eigenen Daseins als Vater.25 Der Alkoholismus wird vom Erzähler selbst als eine Reak­tion seiner Auslieferung an eine Vergangenheit gedeutet, die noch sein gestörtes Verhältnis zu João überdeterminiert. Das Wort 23 Fast jeder Abschnitt ‚beginnt‘ rhetorisch von Neuem: „Für mich begann alles, als ich dreizehn war.“ (Chejfec 1990. S. 44); „In jener Zeit sprach ich sehr wenig.“ (ebd. S. 47); „Als ich Kind war, träumte ich…“ (ebd. S. 48) etc. Zur Fragmentierung und Reduzierung des Narrativs vgl. a. Michael Azevedo Kuhn. „Em busca de elementos para uma história da literatura contemporânea: um olhar sobre a escrita de sim em Diário da Queda, de Michel Laub“. Anuário de Literatura, Florianopolis 18.1 (2013): S. 113 – 127, S. 122 ff. 24 Laub 2013b. S. 40; S. 153: „[…] então imagino o peso para o meu pai de coisas simples como a escola e a loja, os jantares em silêncio com a minha avó, […].“ 25 Ders. 2013b. S. 116.

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Auschwitz selbst wird dabei zu einem Signifikanten, der die eigene, konkret erlebte Wirk­lichkeit der Gegenwart – des Schuldbewusstseins, der Demütigung – mit der traumatischen Vergangenheit des Großvaters in Beziehung setzt, wobei „Auschwitz“ aber auch de-­realisiert und als Terminus menschlicher Abgründigkeit universalisiert wird. Dadurch erkennt der Ich-­Erzähler seine Posi­tion als zugleich Opfer und Täter in einem Zusammenhang, der vor der Folie des historischen Auschwitz erst entstehen kann und ihn zugleich transzendiert: „25. Mit vierzehn trank ich alleine in meinem Zimmer Whiskey, weil ich mich ebenfalls mit diesen Erinnerungen konfrontiert sah. Sie steckten in den Zeichnungen von Hitler, den ­Zetteln über Joãos ­Mutter, der Gewissheit, dass ich wegen ihnen nie wieder mit João befreundet sein könnte und auf eine andere Schule gehen und andere Leute kennenlernen und mein Leben weiterleben würde, ohne je zu erfahren, was aus João geworden ist, ob er noch lebt (Auschwitz), Kinder bekommen hat (Auschwitz), Arzt wurde oder Anwalt oder Kassierer im Omnibus (Auschwitz), ob ihm jemals in diesen mehr als zwanzig Jahren klar wurde, dass Auschwitz zu zeichnen das Gleiche ist, wie die Krankheit seiner ­Mutter zu zeichnen, denn Auschwitz war für meinen Großvater, was die Krankheit für seine ­Mutter war, und dass die Geschichte meines Großvaters die ­gleiche Geschichte war wie die seiner ­Mutter.“ 26

Während in den Aufzeichnungen des Großvaters das Wort Auschwitz naturgemäß gar nicht vorkommt, kehrt es in den Genera­tionen der Nachgeborenen als em­blematischer Signifikant eines nicht nur vergangenen Leids wieder, wobei der Vater das Schicksal des Großvaters aufzeichnet, der Sohn wiederum die Befind­lichkeit des Vaters, der aufgrund einer Alzheimer-­Erkrankung seine eigenen Aufzeichnungen nicht zu Ende führen kann. Laub nutzt diese triadische Staffelung, um ein aus der europäischen Erinnerungsliteratur bekanntes Phänomen weiterzuentwickeln, das Emmanuel Bouju auf den Begriff der „Migra­tion von Stimmen“ beziehungsweise der „Emigra­tion des Zeugen“ gebracht hat.27 Wie gesagt, die Erfahrung und die Stimme des Holocaust-­Überlebenden soll hier nun aber gar nicht mehr als ­solche 26 Ders. 2013a. S. 120. Im Original: „25. Aos catorze anos eu bebí uísque sozinho no quarto porque também comecei a me ver diante dessas lembranças. Elas estavam nos desenhos de Hitler, nos bilhetes sobre a mãe de João, na certeza de que por causa deles eu nunca mais poderia ser amigo de João, e eu mudaría de escola e eu conhecería outras pessoas e seguiria a vida sem nunca mais saber o que foi feito de João, se ele está vivo (Auschwitz), se con­ tinua em Porto Alegre (Auschwitz), se virou médico ou advogado ou cobrador de ônibus (Auschwitz), se alguma vez nesses mais de vinte anos percebeu que desenhar Auschwitz era o mesmo que desenhar a doença da mãe dele, porque Auschwitz era para o meu avô o que a doença foi para a mãe dele, …“ (ders. 2013b. S. 135). 27 Bouju 2006. S. 48 – 49.

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rekonstituiert werden, sondern es geht mehr um die verzögerte Nachwirkung des Traumas als transgenera­tionelles Phänomen. Gerade durch diese Transmission und damit auch die zeit­liche Differenz wird die Struktur des Traumas selbst (im Freud’schen Verständnis) offenbart.28 Im Gegensatz zu Chejfec geht es hier also nicht primär um die inhärente Unmög­lichkeit der Annäherung an die Erfahrung sowie die unvermeid­lichen Unwahrheiten, die bei ihrer Nacherzählung auftreten, sondern gerade um die Frage, wie „Auschwitz“ – auch wenn man von der nicht darstell- und kommunizierbaren Erfahrung absieht – in der Lebenswelt der Nach­ geborenen nachwirkt und zur Sprache gebracht wird. Die zitierte Passage verdeut­licht zugleich die syntaktische Besonderheit des Stils, der, wie bereits erwähnt, ‚faktische‘ Erzählung mit hypothetischen Reflexionsbewegungen paart, die, gemäß der Idee des Tagebuchs, natür­lich auch Ausdruck eines Selbstgesprächs sind. IV. Schluss: Reduktion der Erzählung

Gleich auf der zweiten Seite von Tagebuch eines Sturzes konstatiert der Erzähler, dass es ihm unmög­lich sei, der uferlosen und multimedialen Literatur über Auschwitz ein weiteres Werk hinzuzufügen, wobei ­später dann vor allem Primo Levis Roman Se questo é un uomo (1947) als das gewissermaßen ultimative Buch über die Erfahrung von Auschwitz eingeschätzt wird: „Auch ich würde lieber nicht davon reden. Wenn die Welt etwas nicht braucht, so ist es, sich meine Ansichten zu d ­ iesem Thema anhören zu müssen. Das Kino hat sich schon damit beschäftigt. Bücher haben sich dessen angenommen. Zeitzeugen haben bereits Detail für Detail alles erzählt, und es gibt sechzig Jahre voller Reportagen und Abhandlungen.“ 29

Der Akzent verlagert sich hier also von der einst maßgeb­lichen literarischen Problemlage – wie ist es mög­lich, über Auschwitz zu schreiben? – zu der Frage, wie 28 Lindsey Stonebridge. „Theories of Trauma“. The Cambridge Companion to the Literature of World War II. Hg. v. Marina Mackay. Cambridge 2009. S. 194 – 206, S. 196. 29 Laub 2013a. S. 8. Im Original: „Eu também não gostaria de falar desse tema. Se há uma coisa que o mundo não precisa é ouvir minhas considerações a respeito. O cinema já se ­encarregou disso. Os livros já se encarregaram disso. As testemunhas já narraram isso detalhe por detalhe, e há sessenta anos de reportagens e ensaios e análises…“ (Laub 2013b. S. 14). Die rhetorische Frage „Warum noch ein Buch über Auschwitz?“, verbunden mit dem Hinweis auf Primo Levi, ist geradezu ein Topos der jüngeren, transgenera­tionellen Erinnerungsliteratur. Vgl. die bewegenden Erinnerungen des schwedischen Journalisten Göran Rosenberg an seinen Vater. Ein kurzer Aufenthalt. Berlin 2013.

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man (überhaupt) immer noch über das dem Erzähler „überholt“ („ultrapassado“) erscheinende Thema Auschwitz schreiben kann – wofür sich der Erzähler dann auch explizit beim Leser ‚entschuldigt‘. Wir haben gesehen, dass sowohl das Werk von Chejfec als auch dasjenige von Laub in der Tat in nur sehr vermittelter Weise von Auschwitz handeln. Zum einen sind beide Werke mit dem Paradox der genera­tionellen Diskontinuität befasst, mit einer inkommensurablen, aber nicht vergehen wollenden Vergangenheit. Trotz der jeweils unterschied­lichen Erzählsitua­tion haben wir es beide Male mit nicht allwissenden Erzählern zu tun, die in ihrer Syntax häufig alternative oder additive Konjunk­tionen sowie unterbrechende Einschübe oder Erklärungen einfügen, die den Text stark gedank­lich und selbstreflexiv verdichten, während die eigent­liche Narra­tion von Ereignissen (besonders bei Chejfec) auf ein Minimum reduziert ist. Während bei Chejfec das autofik­tionale Subjekt im sich überlagernden Gewirr der Erzählstimmen und irr­lichternden Reflexionsbewegungen in der Gruppe der Zuhörer fast ganz verschwindet, bewirkt die verschrift­lichte Erinnerungskette bei Laub eine weitaus stärker prononcierte Subjektivität, gerade durch ihre paradoxale Verbundenheit mit den anderen Genera­tionen. Dem entspricht auch, dass wir bei Chejfec einen zwar formal zusammenhängenden, durch lange Satzperioden gekennzeichneten, aber inhalt­lich stark fragmentierten Fließtext haben, während bei Laub die vielen k­ urzen, jeweils abgesetzten Notate letzt­lich einen emo­tional bewegenden und dramatisch überzeugenden Subjektivitätseffekt ergeben. Schließ­lich bleibt noch hinzuzufügen, dass bei Chejfec die große Abstraktheit der ihrer konkreten geschicht­lichen Verortung entkleideten Dik­tion, gepaart mit Schlüsselworten wie „perseguido“ („Verfolgter“) oder „desaparecido“ („Verschwundener“) eine deut­liche Resonanz auch mit dem zeitgenös­sischen Kontext, das heißt, der damals gerade jüngst vergangenen argentinischen Militärdiktatur (1976 – 1983) und ihren Mechanismen staat­licher Gewalt und Verfolgung nahelegt, wodurch die Hoffnung der nach Argentinien ausgewanderten Holocaust-­Flüchtlinge (ca. 150.000 während des Zweiten Weltkriegs) in der nächsten Genera­tion Lügen gestraft wird.30 Laubs jüngerer Roman wäre wiederum im Kontext der brasilianischen Gegen­ wartsliteratur zu verorten, die sich vor allem im letzten Jahrzehnt von dem lange vorherrschenden Konzept von Familiengenealogie als Allegorie na­tionaler Geschichte verabschiedet hat, wohl aber die transkontinentale Immigra­tions­geschichte als wesent­liches Element subjektiver und eher lokal fokussierter Selbstverständigung 30 Siehe dazu vor allem Mahlke 2013: „Die fehlende zeitgeschicht­liche Dimension erweist sich allerdings als virulente Leerstelle, die retrospektiv historische Semantiken überschreibt, wird doch auf die Ermordeten und Unbeerdigten des Naziregimes als ‚Desaparecidos‘ referiert“ (S. 194). Diese ‚Überschreibung‘ wird explizit thematisch in Chejfecs Roman Los Planetas (1999).

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Jobst Welge

begreift.31 Beiden Romanen wäre somit gemeinsam, dass sie den Holocaust weder als Erfahrung noch als geschicht­liche Katastrophe thematisieren, sondern als ein Paradox transgenera­tioneller Traumatisierung, das hinter der Prämisse der Diskontinuität das Verbindende und vice versa aufzeigt. Die narrative Auszehrung führt jeweils zu einer hochgradig selbstreflexiven Literatur. Chejfec verbindet das letzt­lich nicht Repräsentierbare mit den Mechanismen der Imagina­tionen darüber, inklusive der teilweise schockierenden Stumpfheit der Opfer. Laubs Roman dagegen, der auch auf der Handlungsebene die Dichotomie von Opfern und Tätern konter­ kariert– in einem Szenario, das die gegenwärtige, dritte Genera­tion betrifft – nimmt die eigene Erfahrung des erzählenden Subjektes als Maßstab für die Bedeutung der Vergangenheit, wobei der Holocaust nun ausdrück­lich auch eine postna­tionale und metaphorisch-­übertragbare Bedeutung gewinnt.32

31 Mit Bezug auf die italienische Einwanderung in der Region Minas Gerais, vgl. Luiz Ruffato. Mama, es geht mir gut. Übers. von Michael Kegler. Berlin 2013. 32 Andrew S. Gross u. Susanne Rohr. Comedy —Avantgarde —Scandal. Remembering the Holocaust after the End of History. Heidelberg 2010. S. 98.

Caspar Battegay

Zeitbrüche Kontrafaktisches Erzählen der Shoah I.

Wie würde die Welt aussehen, wenn es den Holocaust nicht gegeben hätte? Kann oder darf man sich eine ­solche Welt überhaupt vorstellen? Diese Fragen sind eng verwandt mit der seit den frühen 1950er Jahren diskutierten Problematik literarischer oder fik­tionaler Zugänge zum Holocaust. Irving Howe hat die mora­lischen und ästhetischen Fragen, die sich an diese Problematik knüpfen und die auch die Bedingungen von Moral und Ästhetik überhaupt fragwürdig erscheinen lassen, einmal pointiert formuliert: „What can the literary imagina­tion, tradi­tionally so proud of its self generating capacities, add to – how can it go beyond – the intolerable matter cast up by memory? What could be the organizing categories, the implicit premises of percep­tion and comprehension, through which the literary imagina­tion might be able to render intelligible the gassing of 12‘000 ­people a day in Auschwitz?“ 1

Wenn die literarische Imagina­tion sich in die Perspektive von Opfern oder Tätern begibt, werden die Ereignisse der Shoah auch bei noch so genauer Berücksichtigung historischer Fakten wenigstens partiell umgeschrieben und in ein ästhetisches Narrativ überführt, was als eine Art Revisionismus gedeutet werden kann.2 Diese Problematik verdichtet sich noch beträcht­lich, wenn die Shoah sogar ganz anders, gegen die offensicht­lichen Fakten erzählt wird, wenn, kurz gesagt, die Welt­geschichte umgeschrieben wird, die jedoch „nach Auschwitz“ als von ­diesem traumatischen Datum unumkehrbar geprägt ist.3 Dring­licher wird in einem solchen Fall also auch 1 Irving Howe. „Writing and the Holocaust“. Writing and the Holocaust. Hg. v. Berel Lang. New York, London 1988. S. 175 – 199, S. 187. 2 Vgl. auch Omer Bartov. „‚Sitrah Akhrah‘ (The Other Side): What is the Purpose of Holocaust Fic­tion? Reflec­tions in the Wake of Two Historical Novels by Jonathan Litell and Steve Sem-­ Sanderg“. Yad Vashem Studies 40.1 (2012): S. 233 – 246. 3 Vgl. Geoffrey Hartman. „Holocaust-­Zeugnis, Kunst und Trauma“. Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust. Hg. von dems. Aus dem Eng­lischen von Axel

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das Nachdenken über den Status der Shoah im gegenwärtigen historischen Ordnungsnarrativ, in dem jedes historische oder literarische Bewusstsein sich immer schon vorfindet. Um die singuläre Posi­tion der Shoah und vor allem ihre Auswirkungen auf die sinnstiftenden Narrative der Geschichtsschreibung zu bestimmen, hat Dan Diner mit einem in den akademischen Sprachgebrauch übergegangenen Konzept vom „Zivilisa­tionsbruch“  4 gesprochen. Was passiert, wenn jener ‚Bruch‘ auch zur Bruchstelle von historisch verbürgten Fakten und literarischer Imagina­tion wird, zur Bruchstelle gar eines kausalen Verständnisses der historischen Zeit? Mit einem solchen Bruch spielt das Genre des kontrafaktischen Erzählens,5 das je nach Kontext und Hintergrund auch nach dem franzö­sischen Philosophen Charles Bernard Renouvier seit 1857 als Uchronie 6, s­päter als „parahistorische“ Literatur, als „Allohistorie“ 7 oder als alternate history (Alternativgeschichte) bezeichnet wird. Das Genre erfreut sich spätestens seit den 1960er Jahren unverminderter Populari­ tät 8 und hat auch in der jüngeren deutschen Literatur einige b ­ emerkenswerte

Henrici. Berlin 1999 [1996]. S. 216 – 238. 4 Dan Diner. „Vorwort des Herausgebers“. Zivilisa­tionsbruch. Denken nach Auschwitz. Hg. v. dems. Frankfurt a. M. 1989. S. 7 – 14, S. 7. 5 Im vorliegenden Beitrag benutze ich den Begriff des kontrafaktischen Erzählens, der am prägnantesten die komplexe Anlage des Phänomens und seine interdisziplinäre Dimension zum Ausdruck bringt, vgl. Counterfactual Thinking  – Counterfactual Writing. Hg. v. ­Dorothee Birke, Michael Butter u. Tilmann Köppe. Berlin, Boston 2011. 6 Charles Renouvier. „Uchronie, tableau historique apocryphe des révolu­tions de l’empire Romain et de la forma­tion d’une fédéra­tion européenne“. Revue Philosophique et Religieuse 8 (1857), S. 187 – 208; sowie ders. Uchronie. L’Utopie dans l’histoire. Histoire de la Civilisa­tion Européenne telle qu’elle n’a pas été telle, telle qu’elle aurait pu être. Paris 1876. Renouvier schildert eine komplizierte europäische kontrafaktische Geschichte, in der das Christentum nicht zur römischen Staatsreligion wird und sich stattdessen in einer anderen und fried­licheren Form entwickelt. Das Genre existiert jedoch seit 1836 mit der Publika­tion von Louis Geoffroys’ Napoléon et la conquête du monde: 1812 à 1832, ein Buch, das davon ausgeht, dass Napoleon die Schlacht von Waterloo gewinnt und darauf die Welt erobert, was zu einer idealen Weltgesellschaft führt. 7 Vgl. Jörg Helbig. Der parahistorische Roman. Ein literaturhistorischer und gattungstypolo­gischer Beitrag zur Allotopieforschung. Frankfurt a. M. 1987. Diese Begriffe haben sich für das Genre jedoch nicht durchgesetzt. Mit dem Begriff Uchronie werden teilweise auch Zukunftsutopien bezeichnet, die Begriffe „parahistorisch“ oder „Allohistorie“ sind auch im spezialisierten literaturwissenschaft­lichen Diskurs nicht auf Anhieb verständ­lich. 8 Gavriel D. Rosenfeld macht einen Trend zum kontrafaktischen Erzählen seit den 1960er Jahren aus. Die im Einzelnen sehr komplexen Gründe dieser Konjunktur lägen allgemein vor allem 1. an der zunehmenden Delegitima­tion deterministischer politischer Ideologien; 2. an

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Texte hervorgebracht.9 Das wichtigste Merkmal ­dieses Genres ist die narrative Aus­gestaltung von Folgen einer Veränderung einer oder mehrerer einschneidender real­historischer Tatsachen und Ereignissen – der so genannten kontrafak­tischen Bedingung.10 Was wäre passiert, wenn das Christentum nie zur Staatsreligion geworden wäre? Was, wenn Napoleon bei Waterloo gesiegt hätte oder Lenin 1917 nicht nach Russland zurückgekehrt wäre? Diese Reflexionen sind trotz ihrer I­rrealität politisch, gesellschaft­lich, historisch und poetolo­gisch relevant. Denn wie der Historiker Alexander Demandt schreibt: „Die nicht eingetretenen Mög­lichkeiten haben selbst keinen Belang, liefern uns aber die notwendige Folie, vor der wir die Bedeutung des wirk­lich Geschehenen erst erkennen. Irrealität ist ebensowenig ein Argument für Irrelevanz wie Realität kein Argument für Relevanz ist.“ 11 In einer Studie mit dem Titel The World Hitler Never Made hat Gavriel Rosenfeld 2005 untersucht, ­welche Konsequenzen man aus kontrafaktischen literarischen Werken über den Zweiten Weltkrieg für die Erinnerung an den Na­tionalsozialismus und die öffent­liche Repräsenta­tion der Geschichte ziehen kann. Während gerade der Zweite Weltkrieg und vor allem die Annahme, dass die Nazis den Krieg gewonnen hätten, zu einem der beliebtesten alternativgeschicht­lichen ­Themen vor allem in der einem seit dem Ende des Kalten Krieges im Westen erneuerten Bewusstsein für die völlige Offenheit der Geschichte; 3. an der postmodernen Vorliebe für ein ironisches Verhältnis zur Historie und deren Sensibilität für das „Andere“, Verdrängte; 4. an einem aus der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik gespeisten Bewusstsein für unsichere Kausalitäten; 5. an der Digitalisierung der Kultur und der Verlagerung sehr vieler täg­licher menschlicher Aktivitäten ins Internet; 6. an einer „Entertainment Revolu­tion“, die das Paradigma der Unterhaltung enorm ausgedehnt hat; vgl. Gavriel D. Rosenfeld. The World Hitler Never Made. Alternate History and the Memory of Nazism. Cambridge u. a. 2005. S. 7 – 11. 9 Beispielsweise: Christoph Ransmayr. Morbus Kitahara. Frankfurt a. M. 1995; Dietmar Dath. Phonon oder Staat ohne Namen. Berlin 2004 [2001]; Christian Kracht. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln 2008; Simon Urban. Plan D. Frankfurt a. M. 2011. 10 In ihrer konzisen Einführung in ­dieses Genre unterscheidet Karen Hellekson drei verschiedene Muster von Alternativgeschichten: Die „nexus story“, die sich unmittelbar mit dem Moment des kontrafaktischen Bruchs beschäftigt und oft das Motiv der Zeitreise enthält; die „true alternate history“, die eine Welt lange nach dem Bruchmoment schildert und die „parallel worlds story“, die impliziert, dass es gar keinen Bruch gegeben habe, sondern dass alle Mög­lichkeiten zugleich in Paralleluniversen existieren. Allgemein stellt sie fest, dass Alternativgeschichten eine Kritik eines deterministischen Geschichtsdenkens darstellen und die Metaphern hinterfragen, mit denen über Geschichte und die Konstruk­tion von Geschichte diskutiert wird, vgl. Karen Hellekson. The Alternate History. Refiguring Historical Time. Kent u. a. 2001. S. 1 – 12. 11 Alexander Demandt. Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: was wäre geschehen, wenn…?, 3. erweiterte Auflage. Göttingen 2001 [1984], S. 51 – 52.

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eng­lischen und nordamerikanischen Literatur zählen,12 sind bis heute alternative Erzählungen des Holocaust eher selten, wenn sie auch vermehrt auftauchen. Einzelne seit den 1980er Jahren erschienene Werke sind für Rosenfeld ein Indiz dafür, dass sich das globale Gedächtnis an die Shoah vom ritualisierten und mora­lisch verbind­lichen Gedenken weg bewegt hin zu offenen und experimentellen Formen der Repräsenta­tion.13 Im vorliegenden Beitrag möchte ich ebenfalls einige Beispiele literarischer Shoah-­Alternativgeschichten skizzenhaft diskutieren, sie aber nicht als Flucht aus der Geschichte lesen, sondern im Gegenteil als historische Interpreta­ tionen oder besser gesagt als historiografische Reflexionen solcher Deutungen. Es mag zunächst paradox anmuten, gerade im kontrafaktischen Umgang mit der Shoah einen Beleg ihrer Unhintergehbarkeit finden zu wollen. Doch: „Counterfactual historical novels do not really – even if they occasionally pretend to do so – deny real dates and events. Instead, by employing specific narrative devices, they introduce new interpreta­tions by making up alternative facts.“ 14 Das kontrafaktische Erzählen der Shoah ist durch Quentin Tarantinos Film Inglorious Basterds 2009 in den Fokus einer globalen Medienöffent­lichkeit gerückt. Dieser Film hat in verschiedener Hinsicht die sich transformierende Repräsenta­ tion – und vor allem die sich transformierende Repräsenta­tion dieser Repräsenta­ tion – gleichermaßen thematisiert und selbst verändert. Um zu verstehen, warum Tarantino mit dem Ausspielen des Rachephantasmas eine oder sogar die kulturhistorisch zentrale Dimension des west­lichen Ordnungsnarrativs freilegt, ist es hilfreich, auch verschiedene literarische Beispiele kontrafaktischen Erzählens der Shoah heranzuziehen. Als erstes Beispiel möchte ich im vorliegenden Beitrag einen klas­sischen Typus des alternativgeschicht­lichen Romans, Stephen Frys satirischen Roman Making History (1996), sowie als zweites Beispiel Martin Amis „post­modernen Unbildungsroman“ 15 Time’s Arrow, Or the Nature of the Offence (1991) unter dem Aspekt des Kontrafaktischen vergleichend analysieren. Abschließend soll das Motiv des ermordeten ­Messias in Michael Chabons alternativgeschicht­lichem hard-­boiled-­Roman The Yiddish Policemen’s Union (2006) und im Roman des österreichisch-­israe­lischen Historikers und Autors Doron Rabinovici Andernorts (2010) kurz diskutiert werden. Systematisch geht der vorliegende Aufsatz von einer doppelten Fragestellung aus. Erstens: Welche Implika­tionen für das öffent­liche Gedächtnis oder das allgemeine 12 Die beiden klas­sischen Texte sind: Philip K. Dick. The Man in the High Castle. New York 1962; sowie Robert Harris. Fatherland. London 1992. 13 Rosenfeld 2005. S. 333 – 373. 14 Andreas Martin Widmann. „Plot vs. Story: Towards a Typology of Counterfactual Historical Novels“. Birke, Butter u. Köppe 2011. S. 170 – 189, S. 188. 15 Richard Menke. „Narratives Reversals and the Thermodynamics of History in Martin Amis’s Time’s Arrow“. Modern Fic­tion Studies 44.4 (1998): S. 959 – 980, S. 959.

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Verständnis der Ereignisse der Shoah hat das kontrafaktische Erzählen in den jeweiligen Texten? Zweitens: Was ist die spezifische Bedeutung der Shoah in den zur Diskussion gestellten Narrativen bzw. warum wird gerade von der Shoah erzählt und warum wird gerade die Shoah um-­erzählt? Zur Beantwortung dieser Fragen werde ich auf das Konzept des ‚Zivilisa­tionsbruchs‘ zurückkommen und das kontrafak­ tische Erzählen als experimentelle Anordnung verstehen, in der das Verhältnis von historischen, politischen und symbo­lischen Ordnungen, die Zivilisa­tion aus­machen, zum Moment der Kontingenz und des Potenziellen gefasst wird. Zumindest p­ artiell soll also über das historische oder historiografische Interesse hinausgegangen und das kontrafaktische Erzählen als Reflexion über die Mög­lichkeiten zeitgenös­sischen Erzählens von der Shoah verstanden werden. Denn im Grunde kann man ja jedes Erzählen als irgendwie kontrafaktisch verstehen, auch das noch so sehr den Fakten verpflichtete weist Elemente einer Alternativgeschichte auf. Die bewusste Veränderung des historischen Narrativs macht bloß eine grundlegende Eigenheit der Literarizität im Verhältnis zur historischen Wirk­lichkeit explizit. II.

Um diese Ausgangslage besser zu verstehen, möchte ich zunächst auf einen Text verweisen, der abgelegen erscheinen mag, der aber die Frage nach ­diesem Verhältnis von Ordnung und Kontingenz exemplarisch stellt und der in einer unheim­ lichen Pointe auf die Shoah hinzielt. In Das Hirn, einem seiner späten, ­zwischen Autobiografie, philosophischer Essayistik und grotesken Fik­tionen changierendem Text, erzählt der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt die Geschichte eines einzelnen menschlichen Hirns. Dieses Organ, das sich völlig isoliert und einsam im Universum befindet, ist sozusagen ein ‚reines Hirn‘, das nur als einzelner Punkt, vergleichbar zum Primärpunkt des Urknalls, existiert und das unend­lich viel Zeit zur Verfügung hat. Weil das Hirn ein menschliches Hirn ist, fängt es aus Angst vor dem Nichts an zu fühlen und zu denken. Es erfindet neben allen Emo­tionen auch die Naturgesetze und die Grundlagen der Wissenschaften, die Musik, die Kunst und die Literatur samt allen mög­lichen Werken der Menschheit. Das Hirn denkt die Entstehung des Universums, das Sonnensystem, die geolo­gischen Prozesse auf der Erde, die Naturgeschichte, die Evolu­tion, das Auftauchen des Menschen und die Weltgeschichte durch. Dürrenmatts Text kann als Parodie von Leibniz’ berühmtem Konzept der besten aller mög­lichen Welten verstanden werden, die Gott aus seinem unbeschränkten Fundus in die Wirk­lichkeit überführt. Das fiktive Hirn aber hat die Fähigkeit zur Verwirk­lichung nicht und ist schon gar nicht am besten interessiert. Vielmehr permutiert es in den Jahrmillionen seiner unbeschränkten Existenz alle denkbaren Mög­lichkeiten, die Wirk­lichkeit hätten werden können.

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Ein Sklavenaufstand verhindert etwa den Bau der Pyramiden, Luther gründet den Wotankult und die Weltkriege werden ­zwischen China und dem amerikanischen Inkareich geführt. Doch weil auch die wirk­lich gewordenen Mög­lichkeiten mög­lich sind, werden auch sie vom Hirn erdacht. Das Hirn in Dürrenmatts Text muss auch die reale Welt- und Geistesgeschichte denken, es muss irgendwann sogar Friedrich Dürrenmatt und als eine seiner Mög­lichkeiten dessen Text Das Hirn selbst denken. Damit ist die Fik­tion bei ihrem paradoxen Scheitelpunkt angelangt und der Erzähler gerät in eine fragwürdige Posi­tion. Es ist nicht mehr entscheidbar, wer wen erfunden hat, was fiktiv und was wirk­lich ist. Die Welt und ihre Tatsachen sind entweder „mög­lich“ oder „wirk­lich“.16 Aber da die Menschen, die die Welt wahrnehmen und denken, ebenfalls zu dieser Welt gehören, bleibt die Frage, w ­ elche der beiden Modi auf die Welt und w ­ elche auf den diese Welt Wahrnehmenden zutreffen, eine Aporie. Mit dieser etwas kind­lichen philosophischen Pointe endet der Text allerdings nicht. Plötz­lich, mitten im Abschnitt und zuerst kaum merk­lich, ändert Dürrenmatt Genre und Erzählhaltung. Der Erzähler beginnt, von einer Reise in Polen zu erzählen, die biografisch verbürgt ist und im Frühsommer 1990 tatsäch­lich stattgefunden hat. Der Text schildert einen Besuch auf dem Gelände der ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz und Auschwitz-­Birkenau. Es folgt eine genaue Beschreibung der Anlage und der Gefühle, die der Ort im Erzähler auslösen. Das Hirn endet mit folgenden Sätzen: „Der Ort wurde weder von meinem fingierten Hirn ausgedacht oder geträumt […] und auch ich habe ihn nicht erdacht oder geträumt. Er ist undenkbar, und was undenkbar ist, kann auch nicht mög­lich sein, weil es keinen Sinn hat. Es ist, als ob der Ort sich selbst erdacht hätte. Er ist nur, sinnlos wie die Wirk­lichkeit und unbegreif­lich wie sie und ohne Grund.“ 17

Das Vernichtungslager führt die ganze über Dutzende von Seiten laufende Über­ legung, ob die Welt mög­lich oder wirk­lich und ob die Menschheit von einem Gott erdacht wurde oder ob nicht vielmehr die Menschen Gott erfunden haben, ad absurdum. Das Lager ist dort, wo die Realität sich auf das bloße Dasein zusammenzieht und somit keinen Mög­lichkeitshorizont mehr aufweist. Das Lager ist der Moment, der sich der kontrafaktischen Spekula­tion entzieht, weil er gar nicht als Mög­lichkeit des menschlichen Hirns in Betracht gezogen wird, weil er tatsäch­lich sinnlos ist. Dürrenmatts Bestimmung des Lagers als Ort jenseits des Denkbaren, der ohne Mög­lichkeit sein zu können nur ist, „sinnlos wie die Wirk­lichkeit“, erinnert stark an Giorgio Agambens wirkungsmächtige Formulierungen zum sogenannten

16 Friedrich Dürrenmatt. Gesammelte Werke in sieben Bänden. Bd. IV. Zürich 19962. S. 129. 17 Ebd. S. 568.

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„nackten Leben“, das in den Lagern als „das reine Leben ohne jeg­liche Vermittlung“ 18 durch den dort eingerichteten Ausnahmezustand quasi produziert worden sei. Dies bedeutet konkret, dass die Menschen in Auschwitz vollständig ihres politischen und sinnhaften Status, ihres Status als Menschen unter Menschen, beraubt waren. Das Überleben war „dem bloßen Zufall geschuldet“,19 wie Dan Diner mit Bezug auf Notizen Max Horkheimers festgestellt hat. Es ist diese totale Inkommensurabilität, das ra­tional nicht Antizipierbare und per se Grundlose, das nach Dürrenmatt überhaupt den inneren Kern der Realität ausmacht und sie von der bloßen Möglich­­­keit scheidet. Die Rede vom ‚Zivilisa­tionsbruch‘ meint denn auch nicht einfach ein g­ roßes Verbrechen, sondern diese Erfahrung der völligen Entleerung jeder Sinngebung, die man nicht mehr einfach in eine große Erzählung integrieren kann. III.

Das Nicht-­Integrierbare der Shoah muss auch das kontrafaktische Erzählen affizieren, das ja hypothetisch eine Welt zeigt, in der es den Holocaust nicht gegeben hätte. Dass es eine ­solche Welt ohne die Shoah jedoch auch im kontrafaktischen ­Erzählen nicht geben kann, zeigt als erstes Beispiel Stephen Frys Roman Making History (1996). Das im sarkastischen Ton gehaltene Buch spielt mit verschiedenen Genres, dem College-­Roman, Coming-­of-­Age-­Erzählungen und Zeitreisefilmen (teilweise ist es als Ich-­Erzählung, teilweise auch als Filmdrehbuch verfasst). Die Haupt­person ist der 24-jährige Doktorand Michael Young, der in Cambridge soeben seine historische Disserta­tion über das frühe Leben Adolf Hitlers beendet hat. Obwohl Michael selbst seine Arbeit als „the Meisterwerk“ bezeichnet, ist sie nach akademischen Standards vollkommen misslungen und wird vom Betreuer abgelehnt. Die Disserta­tion enthält fik­tionale, romanhafte Teile über Hitlers Eltern, die in ihrem absurden Kitsch komisch wirken. Diese Verfehlung des historischen Schreibens spiegelt sich in der Anlage von Making History als komischer Roman, die den gravitätischen Gestus des Nachdenkens über die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts – wie ich meine: absicht­lich – verfehlt. Die Diskrepanz ­zwischen der ungeheuren historischen Tatsache des Genozids und der popkulturellen Wirk­lichkeit der 1990er Jahre manifestiert sich in einer Situa­tion zu Beginn des Romans besonders augenfällig: Michael und seine jüdische Freundin Jane unterhalten sich in ihrem Renault Clio (!) über Janes Familie und das

18 Giorgio Agamben. Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt a. M. 2002. S. 180. 19 Diner 1989. S. 7.

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Gedächtnis an den Holocaust. Michael schaltet dabei vom Klassiksender, auf dem gerade Richard Wagner läuft, auf den Popsender um, „[…] where Oasis are having a seriously good time, telling the world not to look back in anger.“ 20 Wenn es wirk­ lich mög­lich wäre, in der Zeit zurückzureisen – so meint Jane, die Oasis übrigens gar nicht mag – dann würde man natür­lich versuchen, die historischen Untaten zu verhindern. Doch: „‚Above all‘, she says switching off the radio with a crisp snap, ‚above all, they would have gone back to Manchester in the seventies, separated the Gallagher brothers at birth and made sure that Oasis was never formed.‘“ 21 Die Was-­wäre-­wenn-­Frage bestimmt die abstruse und mehrfach paradoxe Handlung des Romans. Michael lernt näm­lich per Zufall in Cambridge den älteren Physik­professor Leo Zuckermann kennen, der vom Holocaust und der Geschichte des Zweiten Weltkriegs besessen ist und der eine Maschine erfunden hat, mit der man Materie in der Zeit zurückschicken kann. Zunächst nimmt Michael (und mit ihm auch der Leser) an, dass Zuckermann Jude ist. Später stellt sich jedoch heraus, dass er eigent­lich unter dem Namen Alex Bauer als Sohn des sadistischen SS-Arztes ­Dietrich Gloder geboren wurde und unter der Schuld seines Vaters leidet. Gemeinsam beschließen Michael und Leo Zuckermann, eine soeben erfundene Unfruchtbarkeitssubstanz in das Grundwasser des österreichischen Ortes Braunau am Inn des Jahres 1888 zu s­ chicken, sodass Hitler nie gezeugt wird. Das Experiment gelingt und Michael wacht in einer ganz anderen Welt in den USA auf (wohin M ­ ichaels Eltern aus politischen Gründen in der alternativen Parallelwelt flüchten). Bald realisiert der junge Historiker – teils durch Erzählungen seines Zimmernachbarn Steve, teils durch Lektüre einer historischen Enzyklopädie –, dass in dieser neuen, durch sein Eingreifen erst entstandenen Welt Hitler zwar nie existiert hat, dass stattdessen aber ein anderer Naziführer namens Rudolph Gloder in den 1930er Jahren an die Macht gelangt. Gloder teilt den Antisemitismus der historischen Nazis, ist jedoch intelligenter als Hitler und täuscht die Welt und die Juden über seine wahren Absichten hinweg. Gloder gelingt es, deutsch-­jüdische Wissenschaftler wie Albert Einstein zu instrumentalisieren, sodass diese schließ­lich für die Nazis arbeiten und Deutschland bereits 1938 im Besitz der Atombombe ist. Die deutsche Armee vernichtet in der Folge die Sowjetunion und unterwirft ganz Europa. Es stehen sich die USA und Nazi-­Europa als zwei verfeindete Blöcke gegenüber. Auch die USA haben allerdings in dieser Situa­tion eine alternative Entwicklung durchgemacht und sind zu einer politisch unkorrekten, sozialkonservativen und von Rassismus geprägten Gesellschaft geworden: Afroamerikaner haben kaum Rechte und Homosexualität ist offiziell ein Verbrechen. In Europa gibt es zwar den Holocaust in der historischen

2 0 Stephen Fry. Making History. London 1996. S. 92. 21 Ebd. S. 93.

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Form nicht, aber die Nazis zwingen alle Juden dazu, ein geheimnisvolles Wasser zu trinken, das unfruchtbar macht und zum Aussterben der Juden innerhalb einer Genera­tion führt. Dieses Wasser wird zufällig in der Nähe von Braunau gefunden, und zwar vom SS-Mann Dietrich Bauer, dem Vater des genia­lisch-­verrückten Professors, der die Zeitmaschine erfindet. Da Michael auf einmal herausfindet, dass er eigent­lich schwul ist und sich in seinen neuen amerikanischen Bekannten Steve verliebt, beschließen die beiden, Zuckermann zu finden und das folgenschwere Experiment rückgängig zu machen. Der alternative Leo Zuckermann/Axel Bauer ist genauso von Schuldgefühlen überwältigt wie der faktische und hat auch in seiner alternativen Version die Zeit­maschine erfunden. Er willigt ein, das Grundwasser von Braunau des Jahres 1888 mit toten Ratten zu verseuchen, sodass niemand davon trinkt. Die Welt nimmt daraufhin wieder die alte Gestalt an. Als skandalös könnte man zunächst empfinden, dass die kontrafaktische Geschichte, in der die Vernichtung der Juden definitiv stattgefunden hat, zugunsten eines privaten Glücks wieder aufgehoben und offensicht­lich als noch schlimmer als der historische Holocaust eingeschätzt wird. Jedoch kann diese Rücktransforma­ tion der Geschichte auch so gedeutet werden, dass eine Alternative zu der vom Holocaust geprägten Geschichte für Michael gar nicht mög­lich ist und er umkehren muss, so als würde er unter einem traumatischen Zwang leiden. Zudem wird der Protagonist in Frys Roman als narzisstischer Student geschildert, der die Bedeutung seines vermeint­lich willkür­lich und ohne nachzudenken ausgewählten historischen Gegenstandes nicht einzuschätzen vermag und z­ wischen popkulturellen Aneignungen und katastrophaler historischer Realität nicht unterscheiden kann. Michael macht Geschichte, ohne ein Bewusstsein davon zu haben. In einem Interview hat Stephen Fry zu Protokoll gegeben, dass sein Roman der monokausalen Erklärung des Holocaust aus der Person Adolf Hitlers entgegenwirken soll.22 Dem Autor geht es also gerade um die Verstärkung des historischen Bewusstseins jedes Einzelnen im Prozess, den man im Nachhinein als Machen von Geschichte beschreiben kann. Obwohl der Roman ironisch und sarkastisch mit Tabubrüchen und popkulturellen Verweisen spielt, kann ihm eine ernsthafte historiografische Inten­tion nicht abgesprochen werden. In der Nachbemerkung erwähnt Fry unter anderem auch Daniel Goldhagens historischen Bestseller Hitler’s Willing Execu­tioners (1996), der trotz offensicht­licher wissenschaft­licher Schwächen die Frage nach der Verantwortung unzähliger anonymer Individuen aus der deutschen Mehrheitsbevölkerung sehr wirksam aufgeworfen hat. Die Story von Making History weist jedoch über die historische Suche nach den Ursachen und nach der direkten

22 https://www.youtube.com/watch?v=1Uom7-WKeZA vom 6. 10. 2015.

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Schuld hinaus: Denn auch in der alternativen Welt findet die Shoah – wenn auch anders – statt. Zugespitzt heißt das, dass eine Welt ohne Shoah nach Auschwitz nicht mehr denkbar und auch nicht mehr erlebbar ist. Weil das Bewusstsein der menschlichen Wirk­lichkeit im Negativen fundamental erweitert wurde, gibt es die Shoah nach dieser Verschiebung in gewisser Weise auch in allen mög­lichen Welten. Das Trauma der nackten Faktizität hat auch das kontrafaktische Denken infiziert. IV.

Diese Konsequenz wird anhand eines zweiten Beispiels noch deut­licher, das ebenfalls der britischen Literatur entstammt. In Martin Amis Roman Time’s Arrow, Or the Nature of the Offence wird das Leben eines Mannes mit dem merkwürdig sprechenden Namen Tod Friedly rückwärts erzählt. Als Ich-­Erzähler fungiert dessen rätselhaft abgespaltenes Bewusstsein, das dem Leben seines Protagonisten keinen Sinn abgewinnen kann. Die Erzählung beginnt mit Tods Tod als Geburt seines Bewusstseins. Tod wird immer gesünder und jünger, wird zum Kind und schlüpft am Ende des Buches in seine M ­ utter hinein. Die Dialoge des Textes sind zunächst sinnlos und werden vom Erzähler denn auch nicht verstanden. Nur der Leser begreift schnell, dass man sie, um zu verstehen, einfach rückwärts lesen muss. Auch die geschilderten Handlungen und Szenen sind auf diese Weise zu lesen: Die Leute sitzen am Tisch und füllen die schmutzigen Teller mit Essen, das aus ihrem Mund kommt. Männer bekommen Geld von Prostituierten. Patienten kommen aus dem Krankenhaus, werden schnell auf die Straße gefahren, um in einem kaputten Auto zu sitzen, wo ein Unfall passiert und man mit einem funk­tionstüchtigen Auto rückwärts davon fährt. Am Morgen legt man sich ins Bett, um die Nacht durch bis am Abend zu schlafen. Inmitten dieser verkehrten Welt merkt der Leser bald, dass Tod seinem Bewusstsein etwas verheim­licht, näm­lich den Grund seiner Albträume und seiner Einsamkeit. Schließ­lich reist Tod, nun schon zu einem jungen Mann geworden, nach New York, überquert in den 1940er Jahren den Atlantik, ändert seinen Namen zu Odilo Unverdorben und kommt bald darauf in Auschwitz an, wo er auf einmal deutsch spricht. Odilo Unverdorben ist dort SS -Mann und direkt dafür verantwort­lich, die Zyklon-­B-Kapseln zu entnehmen, nachdem er durch einen Schlitz dabei zugesehen hat, wie aus toten Kindern, Männern und Frauen unter Qualen lebendige Menschen werden. Der Skandal dieser Handlung ist nicht bloß ein manieristischer Versuch. Im Auschwitz-­Kapitel des Romans wird näm­lich deut­lich, dass Amis nicht bloß den Ablauf der Zeit umkehrt und das Leben eines Naziverbrechers rückwärts erzählt. Auschwitz selbst stellt das Ereignis der Verkehrung der Zeit dar, ja die Verkehrung

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ist die innere Natur des Verbrechens, von dem der Titel von Amis’ Roman spricht. Dieses Kapitel trägt den Titel „Here there is no Why“, ein Zitat aus Primo Levis weltberühmtem Überlebensbericht Se questo è un uomo, das die vollständige Kontingenz des Todeslagers fasst.23 Zum ersten Mal und völlig ohne Zynismus stellt der Erzähler von Time’s Arrow im Auschwitz-­Kapitel fest, dass das von ihm Erzählte sinnvoll erscheint. Haben bis dahin die Ärzte die Patienten verwundet, bis sie von Krankheiten oder Unfällen geheilt werden, nehmen Ärzte nun end­lich verwundete und tote Menschen auf und wenden Gewalt an, um sie zu heilen. Die chronolo­gisch umgekehrte Erzähllogik stimmt mit der perversen Nazilogik überein: Tod bedeutet Leben; der Massenmord erscheint als notwendigerweise unappetit­licher Vorgang der Krea­tion einer neuen ‚Rasse‘: „The overhelming majority of the women, the children and the elderly we process with gas and fire. The men, of course, as is right, walk a different path to recovery. Arbeit Macht Frei says the sign on the gate, with typically gruff and undesigning eloquence. The men work for their freedom.“ 24 Der Erzähler befindet sich jenseits der alltäg­lichen und geschicht­lichen menschlichen Wahrnehmung, die normalerweise dem „Pfeil der Zeit“ 25 in die Zukunft folgen muss. Das narrative Experiment der Umkehrung dieser Wahrnehmung legt den 23 Die Episode spielt sich am Anfang von Levis Aufenthalt in Auschwitz ab: „Durstig wie ich bin, sehe ich vor dem Fenster in Reichweite einen schönen Eiszapfen hängen. Ich öffne das Fenster und mache den Eiszapfen ab, doch gleich kommt ein großer und kräftiger Kerl, der draußen herumging, und reißt ihn mir mit Gewalt aus der Hand. ‚Warum?‘ frage ich in meinem beschränkten Deutsch. ‚Hier ist kein Warum‘, gibt er mir zur Antwort und treibt mich mit einem Stoß zurück. / Die Erklärung hierfür ist grauenhaft und doch so einfach: An d ­ iesem Ort ist alles verboten; nicht aus irgendwelchen unerfind­lichen Gründen, ­sondern weil das Lager zu ­diesem Zweck geschaffen wurde.“ Primo Levi. Ist das ein Mensch? Ein auto­ biographischer Bericht. Deutsch von Heinz Riedt. München 200110 [italienisches Original 1958, deutsche Erstausgabe 1961]. S. 31. 24 Martin Amis. Time’s Arrow, Or the Nature of the Offence. London 1991. S. 131. 25 Richard Menke weist darauf hin, dass der Terminus „Time’s Arrow“ aus der Physik stammt. Der britische Astrophysiker Arthur Stanley Eddington hat damit als Erster die Eigenschaft der Zeit bezeichnet, eine unumkehrbare Richtung zu haben, die keine Entsprechung im Raum besitzt. Die Richtung der Zeit wird durch die Zunahme der Entropie in einem geschlossenen System bestimmt. Dieses Gesetz ist als das zweite Gesetz der Thermodynamik bekannt, das der deutsche Physiker Rudolf Clausius 1865 formuliert hat. Der Begriff Entropie ist dabei ein Neologismus, den Clausius in Anlehnung an das Wort Energie und den Begriff des Tropus gebildet hatte, und meint nicht nur die Unordnung oder das Chaos, sondern die Transforma­tion von Energie. Das menschliche Bewusstsein für sich selbst und für die Realität ist stark mit dem Bewusstsein für die Thermodynamik verbunden. Es scheint daher stringent, wenn gerade die absolute Umkehrung der normalen menschlichen Ordnung bei Amis auch mit einer Umkehrung der Erzählordnung verbunden wird. Vgl. Menke 1998.

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Zynismus der verkehrten und sinnlosen Welt offen, die die Täter des Holocaust eingerichtet haben, um den Massenmord einerseits zu bewerkstelligen, andererseits auch, um ihn ideolo­gisch zu rechtfertigen. Odilo Unverdorben macht – in der Weltgeschichte vor, in der Erzählrichtung aber nach Auschwitz – Visite in verschiedenen Ghettos und im Vernichtungslager Treblinka. Dort beschreibt der Erzähler den vorgetäuschten Bahnhof. Besonders ein Detail der Staffage für den Massenmord muss Amis interessieren, näm­lich die aufgemalte Uhr, auf der es dem Erzähler zufolge immer zwölf Uhr ist 26: „and would never move to an earlier time. Beneath the clock was an enormous arrow, on which was printed: Change here for Eastern Trains. But time had no arrow, not here.“ 27 Das Vernichtungslager ist ein Ort ohne Zeit, zumindest ohne die sinnhafte, lo­gische und gerichtete Zeit menschlichen Erlebens und Verstehens. Dieses schwarze Loch infiziert nicht nur das Nachher, das für den Erzähler von Time’s Arrow das Vorher darstellt, sondern auch das Vorher, das nun aus Sicht des Erzählers aus A ­ uschwitz kommt. Dies bedeutet aus der Perspektive des Lesers aber, dass Geschichte, und auch die Geschichte vor Auschwitz, unabänder­lich nur noch mit der Shoah als Horizont gedeutet werden kann. Ein Umerzählen eines historischen Faktums, das zeit­liches und damit geschicht­liches Erleben im nicht fassbaren Ausmaß der Shoah durchbrochen hat, ist schlechterdings unmög­lich. V.

Stellt die Zeitmaschine in Amis’ Time’s Arrow die merkwürdige Erzählstimme dar, die Auschwitz umkehrt, indem sie die Zeit selbst als durch Auschwitz verkehrte

26 Die gemalte Uhr am Bahnhof im Vernichtungslager Treblinka ist aus verschiedenen Quellen verbürgt, dass sie jedoch immer zwölf Uhr gezeigt haben soll, scheint eine Erfindung Amis’ zu sein. In ihrem Buch mit Gesprächen mit dem ehemaligen Lagerkommandanten Franz Stangl sowie mit Überlebenden schreibt Gitta Sereny: „At Christmas 1942 Stangl ordered the construc­tion of the false railway sta­tion. A clock (with painted numerals and hands which never moved, but no one was thought likely to notice this), ticket windows, various time tables and arrows indica­tion train connec­tions ‚To Warsaw‘; ‚To Wolwonece‘ and ‚To Byalystock‘ were painted on the façade of the ‚sorting barracks‘; all for the purpose of lulling the arriving transports – an increasing number of whom were to be from the West – into the belief that they had arrived in a genuine transit camp.“ Gitta Sereny. Into that Darkness. From Mercy Killing To Mass Murder. London 1974. S. 200. Andere Quellen sprechen davon, dass die Uhr immer sechs Uhr gezeigt haben soll, vgl. http://www.holocaustresearchproject. org/ar/treblinka.html vom 15. 9. 2015. 27 Amis 1991. S. 151.

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zeigt, so ist diese Zeitmaschine bei Tarantino das Kino (und das Kino im Kino). Inglorious Basterds zeigt ein alternatives Universum, in dem amerikanisch-­jüdische Soldaten Hitler erschießen und eine jüdische Kinobesitzerin und ihr schwarzer Freund den Nazis in Paris den Garaus machen. Diese Handlungen werden aus­ geschmückt mit grotesken und mehr oder weniger absurden Details, die dem Film jeg­lichen Anschein von historischer Dokumenta­tion nehmen und ihn viel mehr als Projek­tion eines dürrenmattgleichen Hirns sehen lassen, das gespeist aus dem Zitatenschatz des Weltkriegskinos eine verschobene Version der Geschichte nachspielt. Das öffent­liche Gedächtnis an die Shoah, so zeigt Tarantinos Film, ist längst ein medial vermitteltes, eines, das durch die Instanzen der Popkultur gegangen ist. Die Shoah selbst ist ein Teil der Popkultur geworden, was spätestens seit der Oscarverleihung 1993 an Steven Spielberg für Schindler’s List klar geworden sein dürfte, eine Tatsache, die Tarantino mit seinem kontrafaktischen Narrativ mehr als zwanzig Jahre ­später regelrecht inszeniert und ausstellt.28 Dabei bringt ­dieses Narrativ ein Moment an die Oberfläche, das in der Erinnerung an die Shoah nicht oft explizit thematisiert wird, näm­lich das Motiv der Rache, das in Inglorious Basterds die verschiedenen Handlungsstränge bestimmt. Das Motiv der Rache beschäftigt Tarantino spätestens seit Kill Bill (2003/2004)29 – ein Film, der nur aus einem ausgedehnten Rachefeldzug besteht und dabei die globale Kinokultur durchmisst. 2012 schließ­lich hat Tarantino mit Django Unchained auch einen kontrafaktischen Sklavereifilm vorgelegt, der den amerikanischen Diskurs über Sklaverei ebenso stark bestimmt wie Steve McQueens Twelve Years a Slave (2013). Der Rache ist immer ein hochgradig phantasmatischer und auch kontrafaktischer Charakter eigen. Es geht der Rache darum, ein Unrecht scheinbar zurechtzurücken, ­dieses zu vergelten und damit noch einmal, aber anders zu erleben. Ein Trauma soll aufgehoben werden, indem die Situa­tion z­ wischen Täter und Opfer umgekehrt noch einmal erlebt wird. Tarantinos ironischer Umgang mit den herumgeisternden jüdischen Rachefantasien und der radikal anti-­pädago­gische Gestus des Films legen nahe, dass die Shoah kein Lehrstück ist, das es besonders gut zu studieren und mora­lisch verbind­lich nachzuerzählen gilt, damit sich so etwas ‚nie mehr‘ ereignen könne. Vielmehr zeigt Tarantino, wie das Trauma der Shoah die west­liche (und vielleicht auch die globale) Kultur unumkehrbar mit einer Bruchstelle versehen hat. So wie auch die Romane von Amis und Fry zeigt Inglorious Basterds die Shoah als Zeitbruch – und die historische Zeit als von ­diesem Ereignis gebrochen: Das

28 Für eine breitere Diskussion des Films vgl. Caspar Battegay. Judentum und Popkultur. Ein Essay. Bielefeld 2012. S. 91 – 116. 29 Vgl. Unfinished Business. Quentin Tarantinos „Kill Bill“ und die offenen Rechnungen der Kultur­ wissenschaften. Hg. v. Achim Geisenhanslüke. Bielefeld 2006.

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kontrafaktische Erzählen erweist sich also als Verdeut­lichung, dass poetisches und politisches, literarisches und historisches Denken nicht mehr hinter den Horizont der Shoah zurückfallen kann. VI.

Im jüdischen Kontext geht das kontrafaktische Erzählen oft von der Fik­tion einer Welt ohne den Staat Israel aus, in der es alternative jüdische Städte und Staaten gibt. Dabei beziehen sich die Autoren häufig auf Theodor Herzls utopischen Roman Altneuland, der 1902 eine fik­tionale jüdische „neue Gemeinschaft“ im damaligen Palästina schildert, und entwerfen ex post verschiedene Gegenfik­tionen.30 Damit unterlaufen diese Romane das fundamentale zionistische Metanarrativ von Exil und notwendiger Rückkehr und betonen die Kontingenz auch der jüdischen G ­ eschichte.31 Im Zusammenhang mit einer Diskussion kontrafaktischen Erzählens der Shoah als Zeitbruch stellt sich dabei die Frage, inwiefern das kontrafaktische Erzählen der jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts auch die Shoah (um)erzählen muss. Die Gebrochenheit der Zeiterfahrung ist das Leitmotiv von Michael Chabons von der Literaturkritik gefeiertem Roman The Yiddish Policemen’s Union (2007). „Strange times to be a Jew!“ lautet der wohl am meisten wiederholte Satz des R ­ omans.32 Bei der Lektüre wird bald deut­lich, dass im Grunde für das Judentum jede Zeit eine seltsame oder fremde Zeit ist. Diasporische Existenz über Epochen hinweg ist ein Basismotiv des Romans, und zwar erstens seiner kontrafaktischen Anlage wie auch zweitens seines nur oberfläch­lich als Krimihandlung einzustufenden Plots. Während in Israel 1948 alle Juden von den triumphierenden arabischen Armeen massakriert werden und es zur Zeit der Handlung ein zerstörter Landstrich ist, der in einem jahrzehntelangen Krieg ­zwischen Ägyptern und Persern, arabischen Na­tio­nalisten und Sozialisten, Monarchisten und Islamisten aufgerieben wird, leben 3,2 Millionen Juden in der Großstadt Sitka auf verschiedenen Inseln vor der Westküste Alaskas. Dorthin wurden die vor den Na­tionalsozialisten evakuierten Juden 1942 von den US -Amerikanern transferiert, was auf einer tatsäch­lichen Idee des 30 Michael Chabon. The Yiddish Policemen’s Union. New York 2007; Leon de Winter. Das Recht auf Rückkehr. Zürich 2009 [niederländisches Original Amsterdam 2008]; sowie Nava Semel. IsraIsland. Tel Aviv 2006 [Hebräisch] oder Eshkol Nevo. Neuland. München 2013 [hebräisches Original 2011]. 31 Vgl. Adam Rovner. „Alternate History: The Case of Nava Semel’s IsraIslands and Michael Chabon’s The Yiddish Policemen’s Union“. Partial Answers 9.1 (2011): S. 131 – 152, S. 139. 32 Vgl. die Buchbesprechung Mark Oppenheimer. „Jewish Noir“. The Jewish Daily Forward, 20. April 2007, http://forward.com/articles/10541/jewish-­noir/ vom 15. 9. 2015.

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amerikanischen Innenministers Harold Ickes beruht. Später kommen die Flüchtlinge aus dem zerstörten Israel hinzu. Im semi-­autonomen Distrikt Sitka gibt es säkulare und orthodoxe Juden verschiedenster Ausrichtung, die nicht einmal die Angst vor der bevorstehenden ‚Reversion‘ Sitkas an die USA vereint. In dieser prekären Situa­tion erstaunt es nicht, dass einige Ungeduldige die Ankunft des Messias in Bälde erwarten und sogar schon ein Huhn im Schlachthof mit menschlicher Stimme ­dessen Kommen vermeldet. Ein solcher Messias könnte zum Beispiel der ermordete J­ unkie gewesen sein, der verlorene Sohn des mächtigen „Verbover Rebbe“, den Krimi­ naldetektiv Meyer Landsman im selben vergammelten Hotel auffindet, das er sich selbst zur temporären Bleibe nach seiner unglück­lichen Scheidung auserkoren hat. Sitka ist ein ironisches Bild für den (Un-)Ort des Exils an sich. Die fiktive Stadt liegt auf der Israel entgegengesetzten Seite des Globus, geografisch, aber auch lingu­istisch. Denn in Sitka wird Jiddisch gesprochen. Modernes Hebräisch dagegen beherrscht außer einigen alten „hard desert Jews“ niemand mehr, zu schmerz­lich erinnert die Sprache an Verlust und Desaster. Hebräisch hat also in dieser alterna­tiven Welt einen zum Jiddischen im heutigen Staat Israel vergleichbaren Status. Die im insularen Setting angedeutete utopische Anlage des Romans liegt denn auch hauptsäch­lich in einer nostal­gischen Hinwendung zum Jiddischen als Sprache ohne Territorium. Der Name des Protagonisten, Landsman, ist in d ­ iesem Zusammenhang ironisch zu verstehen. Denn er steht für die Figur, die eben gerade keinen Landsmann hat, die kein Land, kein Territorium als Heimat hat. Innerhalb der j­ iddischen Alternativwelt ist Landsman wiederum ein Fremder, ein Bewohner einer (Gegen-)Gegenwelt, die mit einer (Gegen-)Gegensprache konnotiert ist: Landsman wohnt im „Hotel Zamenhof“, benannt nach Ludwik Leyzer Zamenhof, dem polnisch-­jüdischen Erfinder des Esperanto. Auch Zamenhofs Hoffnung (und das heißt ja „Esperanto“ wört­lich) auf eine universelle Sprache hat sich offensicht­lich nicht erfüllt, sondern bildet einen Teil des „alphabet of Atlantis“,33 des untergegangenen jüdischen Kontinents, in dem die Zukunft eine doppelt andere gewesen ist, als sie Chabons Roman zeigt. Dass gerade der vermeint­liche Messias von Sitka in ­diesem Hotel getötet wird, illustriert die Endlosigkeit des Exils und das unauflösbar Diasporische der jüdischen Existenz, als dessen Metapher sich die Gewerkschaft der jiddischen Polizisten am Schluss des Romans entpuppt.34 Die Tragik dieser utopischen Bestimmung jüdischer Existenz 33 Chabon 2007. S. 45; vgl. zu dieser Beobachtung auch Daniela Mantovan. „The Language of the Future. Yiddish and the American-­Jewish Writer“. transversal. Zeitschrift für Jüdische Studien 1.10 (2009): S. 79 – 88. 34 Liest man den Roman als Paradigma des kontrafaktischen Erzählens, so steht das Mordopfer gewisserweise für die aktuelle Gegenwart, und die Aufklärung des Verbrechens gleicht einer historischen Suche nach deren Wurzeln: „The formal para-­detectice structure of Semel’s and Chabon’s novels demonstrates how allohistories serve as counter-­memories

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zeigt sich auch daran, dass Chabon beim Schreiben seines Romans von einem jiddischen phrasebook aus dem Jahr 1958 inspiriert wurde,35 zu dem es schon damals offensicht­lich kein Land mehr gab, das man damit hätte bereisen können. Auch wenn auf den ersten Blick die Shoah in der Romanhandlung keine große Wichtigkeit zu haben scheint, ist also doch jeder Satz d ­ ieses mit jiddischen Versatzstücken aufgeladenen Textes auf die Vernichtung des europäischen Judentums zu beziehen. Detective Landsman klärt nicht nur einen Mord auf. Er stößt auf eine Verschwörung, die ganz Sitka betrifft, und wenn am Schluss des Romans messia­ nisch inspirierte, evangelikale US-Amerikaner zusammen mit jüdischen Extremisten die Al-­Aksa-­Moschee auf dem Tempelberg s­ prengen – und das als Umkehr von 9/11 der Handlung ein zusätz­liches kontrafaktisches Spiegelelement verleiht –, dann wird deut­lich, dass der Mord, der im Zentrum der Handlung steht, auch die gewaltsame Negierung der Mög­lichkeit eines alternativen, nicht auf das Terri­torium ausgerichteten Judentums meint. Auch bei Chabon wird im kontrafak­tischen Erzählen die Shoah also nicht einfach sarkastisch umerzählt, sondern eine gespenstische Gegenwelt geschildert, die auf die verlorene Zukunft des europä­ischen Judentums zurückverweist. Wenn der Messias eine ganz andere, alternative Welt herausgebrochen aus der historischen Zeit ermög­lichen würde, dann bedeutet die Ermordung des Messias, dass die reale Geschichte nur eine negative Mög­lichkeit eines vergangenen Augenblicks unend­licher Mög­lichkeitsfülle darstellt, deren messianische Überschreitung durch das Absolute menschlicher Grausamkeit für immer verunmög­licht wurde. Positiv formuliert ermöglicht es der Messias wie die Utopie, aber mit religiösen Vorzeichen, eine alternative Welt gegen die reine Faktizität zumindest zu denken. Deshalb ist dieser zentrale Topos der jüdischen Tradi­tion zuinnerst verbunden mit dem Genre des kontrafaktischen Erzählens. Noch deut­licher als bei Chabon wird die Figur des ermordeten Messias in Doron Rabinovicis auf Deutsch verfasstem Roman Andernort (2010) mit der Shoah in Verbindung gebracht. Anhand der Hauptfigur, dem ­zwischen Tel Aviv und Wien pendelnden Soziologieprofessor Ethan Rosen, spielt Rabinovici die Konflikte jüdischer Identität zu Beginn des 21. Jahrhunderts satirisch durch. Als Ethan zu Besuch bei seinem todkranken Vater, einem Holocaust-­Überlebenden, in Israel ist, lernt er im Krankenhaus einen orthodoxen Rabbiner kennen. Dieser ist davon überzeugt, that raise fundamental ques­tions about the historiographic impulse. Like the detective form they make use of, alternate histories investigate the corpse of the past that we find when we arrive on the scene of the crime: our present. And like detective fic­tion, these novels work by superimposing two temporal narratives: the past that could have been but was not, and the present that we factually know is.“ Rovner 2011. S. 149. 3 5 Vgl. Michael Chabon. „Imaginary Homelands“. Maps and Legends: Reading and Writing Along the Borderlands. San Francisco 2008. S. 169 – 191.

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dass Ethan ein naher Verwandter des Messias sei, der als ungeborenes Kind im Holocaust mit seiner ­Mutter ermordet wurde. Dieser halb verrückte Rabbiner hat den Plan, aus dem genetischen Material Ethans diesen messianischen Embryo wiedererstehen zu lassen. Der messianisch-­biolo­gische Plan soll das Judentum noch einmal grundsätz­lich im ­­Zeichen der Utopie transformieren: „Weshalb seine Idee denn soviel abwegiger sei als jene Theodor Herzls, der vor mehr als hundert Jahren in Basel die Gründung des jüdischen Staates prophezeite?“ 36 Der Erlösungsplan wird im Roman nicht in die Tat umgesetzt, er ist jedoch ein grundlegender Versuch, die Shoah nicht nur umzuerzählen, sondern sie auch real umzukehren und die Geschichte zu verändern, und zwar nicht wie bei Inglorious Basterds im Phantasma der Rache, sondern im Medium einer religiös motivierten Erlösungsvorstellung, die auch die bereits Gestorbenen retten würde. „‚Der Meschiach‘, wisperte er und sah sich um, ‚es ist bezeugt, er war bereits gezeugt. Noch wußte niemand von ihm. Noch hatte niemand ihn gesehen. Aber unter der Brust einer Frau wuchs ein Embryo heran. Ich kann die Z ­­ eichen entschlüsseln, kann jeden Buchstaben zur Zahl entziffern, kann die Methoden unserer Gerechten anwenden und damit sogar den Geburtstermin festlegen, an dem das Kind das Licht der Welt hätte erblicken sollen. Jener Nachkomme Davids und Salomons aus dem Haus Juda, der uns end­lich den Sinn allen Seins eröffnet hätte. Aber es kam nicht dazu. Da ist kein Sinn mehr, sondern bloß noch Unsinn, nein, Widersinn geblieben. Dieses Wesen wurde nicht. Seine ­Mutter konnte ihm kein Leben schenken […] weil sie erschossen worden war. Der Vater sollte sein Kind nie in die Arme nehmen, weil ihn die Mörder vergast hatten. Im Winter des Jahres 1942 war das Schtetl zusammengetrieben worden, und alle wurden innerhalb weniger Tage ermordet. Was soll ich sagen? Wozu erzählen, was sich an abertausenden Plätzen genauso zugetragen hat. […]. Wir sind alle Überlebende, Herr Professor. Keiner hätte übrigbleiben sollen. Kann vorherbestimmt sein, was geschah?‘“ 37

Wenn der ungeborene Messias die Weite aller zukünftigen Mög­lichkeiten in sich vereint, ein Ausbruchsversprechen aus der widersinnigen Faktizität, dann bedeutet dessen Tötung, dass die Shoah diese Erlösung für immer verhindert hat. Der exzentrische Rabbiner in Rabinovicis Roman möchte die Erlösung jedoch künst­lich mit biopolitischen Mitteln herbeiführen und damit ein kontrafaktisches Unter­nehmen einleiten, das alle literarischen Versuche bei Weitem übersteigt.38 Der Rabbiner 36 Doron Rabinovici. Andernorts. Roman. Berlin 2010. S. 176. 37 Ebd. S. 169 f. 38 Damit stellt die Gestalt eine satirische Extremfigur jenes umstrittenen wie tradi­tionellen, immer wieder auftauchenden messianischen Ak­tionismus dar, der das Kommen des ­Messias mit menschlichen Handlungen herbeizuführen glaubt, vgl. Gershom Scholem. „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. Mit einer Nachbemerkung: Aus einem Brief

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will die kausalen Zeitabläufe real unterbrechen und aus den Nachgeborenen einen bereits Gestorbenen – oder besser einen gar nie Geborenen – gebären, der wiederum die Späteren erlösen soll. Dieser Bruch der linearen Zeit wird im Roman nur als Fantasie des Rabbiners erzählt. Der Text versagt sich das Experiment des kontrafaktischen Erzählens und weist mit dem Bild vom Embryo, das im Mutterleib getötet wird, auf die Unmög­lichkeit hin, die Welt so zu zeigen, wie sie ohne Holocaust ausgesehen hätte. Bei dem Roman handelt es sich denn auch nicht um kontrafaktische Literatur im strengen Sinn. Doch der Text kreist ständig um Alternativen – so verweist schon der Titel Andernorts auf eine Topografie des Weggehens, der Diaspora oder der Sehnsucht nach einem Woanders – und um das Motiv des Doppelgängers; die Hauptfigur entdeckt einen bis dahin unbekannten Bruder, der ihm den festen Platz in der Familie und wohl auch in der Welt streitig zu machen scheint, und stößt damit auf ganz andere Mög­lichkeiten seines eigenen Lebens. In Andernorts werden ständig verschiedene politisch-­historische oder psycholo­gische Was-­wäre-­wenn-­Fragen durchgespielt, wobei vor allem anhand der Hauptfigur Ethan Rosen eine grundlegende Ambivalenz sichtbar wird: Jede Handlung und jeder Ort beinhalten immer auch ihre nicht realisierten Mög­lichkeiten. VII.

Der einzige Ort ohne Alternative, so die These von Dürrenmatts zu Beginn d ­ ieses Aufsatzes referierten Textes Das Hirn, ist das Todeslager. Das kontrafaktische Er­ zählen der Shoah kann daher nicht zeigen, wie es ohne die Shoah gewesen wäre oder sein würde. Das paradoxe Experiment der kontrafaktischen Literatur muss vielmehr sein, in der fik­tionalen oder umgekehrten Welt den Punkt der Nicht-­ Fik­tionalisierbarkeit und Unumkehrbarkeit gerade durch das kontrafaktische Er­­ zählen deut­lich zu machen. Ihre wichtigste Implika­tion für ein öffent­lich wirk­ sames Gedächtnis an die Shoah ist die Erkenntnis, dass Geschichte und Ordnung seit dem ‚Zivilisa­tionsbruch‘ nicht mehr dasselbe bedeuteten können. Die Shoah hat die west­liche Zeiterfahrung, das historische Bewusstsein und letzt­lich das Konzept der Zeit selbst – wie es sich etwa in den Gedanken des Fortschritts und der Zivilisa­tion konkretisiert – für immer verändert. Dies ist auch der Grund, warum mit fortschreitendem zeit­lichem Abstand von der Shoah das kontrafaktische Erzählen von ihr immer bedeutender wird.

an einen protestantischen Theologen“. Über einige Grundbegriffe des Judentums. Hg. v. dems. Frankfurt a. M. 1996. S. 121 – 170.

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger Michael Bachmann, Dr.; geb. 1977; Lecturer in Theatre Studies an der Universität Glasgow; Forschungsschwerpunkte: Theater im Medienvergleich, Geschichte und Theorie des Hörspiels, Theater und Erinnerungspolitik; Wichtigste Publika­tionen: Der abwesende Zeuge, Tübingen 2010; Politik mit dem Körper, Bielefeld 2009 (gem. mit Friedemann Kreuder); Theater und Subjektkonstitu­tion, Bielefeld 2012 (gem. mit Friedemann Kreuder u. a.). Caspar Battegay, Dr.; geb. 1978; „Ambizione“-Research Fellow des Schweizerischen Na­tionalfonds an der Sec­tion d’allemand der Université de Lausanne; Forschungsschwerpunkte: Deutsch-­jüdische Literatur- und Kultur, Literaturtheorie, Utopieforschung, Theorie und Geschichte der Popkultur; Wichtigste Publika­tionen: Das andere Blut. Sprache und Gemeinschaft in der deutsch-­jüdischen Literatur 1830 – 1930, Köln u. a.  2011; Judentum und Popkultur. Ein Essay, Bielefeld 2012; Europäisch-­jüdische Utopien (Hg.), Berlin 2016. Claudia Benthien, Prof. Dr., geb. 1965; Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg; Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Literarizität in der Medienkunst, Audioliteratur, Repräsenta­tionen der Shoah; Jüngste Publika­tion: Handbuch Literatur & Visuelle Kultur, Boston/Berlin 2014 (gem. mit ­Brigitte Weingart). Albrecht Buschmann, Prof. Dr.; geb. 1964; Professor für spanische und franzö­sische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Rostock; Forschungsschwerpunkte: Hispanoamerikanische Literatur ­zwischen Avantgarde und Exil, Theorie und Praxis der literarischen Übersetzung, Literatur und Bürgerkrieg, Formen und Ideologien des detektorischen Erzählens; Jüngste Publika­tionen: Gutes Übersetzen. Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Literaturübersetzens (Hg.), Berlin 2015; „Exil. Kulturkontakt und Transkulturalität in Max Aubs Einakter De algún tiempo a esta parte (1939)“, in: Kreuzwege, Neuwege. Literatur und Begegnung im deutschen und spanischen Exil, hg. v. Marisa Siguan u. a., Würzburg 2015, S. 47 – 60. Katrin Hoffmann; geb. 1982; wissenschaft­liche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Universität Hamburg; davor Stipendiatin des G ­ raduiertenkollegs Interkonfessionalität in der Frühen Neuzeit an der Universität Hamburg; Forschungsschwerpunkte: Literatur und Zeugenschaft in der Frühen Neuzeit, Erinnerungskultur nach der Shoah.

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Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

Esther Kilchmann, Dr.; geb. 1976; Juniorprofessorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg; Forschungsschwerpunkte: Literarische Mehrsprachigkeit, Familien- und Na­tionsnarrative, Literatur und Gedächtnis; Jüngste Publika­tionen: Sprache(n) im Exil, München 2014 (gem. mit Doerte Bischoff und ­Christoph Gabriel); Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur. Themenheft der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3/2012. Anna Langenbruch, Dr.; geb. 1979; Wissenschaft­liche Mitarbeiterin im Forschungsbereich Kulturgeschichte der Musik der Universität Oldenburg; Forschungsschwerpunkte: Intermediale Musikhistoriographie, Kulturgeschichte des Exils, (populäres) Musiktheater; Jüngste Publika­tionen: Topographien musika­lischen Handelns im Pariser Exil, Hildesheim 2014; „Wie ich Welt wurde? Wahre Fantasien und andere Musikgeschichten auf der Bühne“, in: Wagner – Gender – Mythen, hg. v. M. Unseld und Chr. Fornoff, Würzburg 2015, S. 257 – 269. Magdalena Marszałek, Prof. Dr.; geb. 1964; Professorin für slavische Literatur- und Kulturwissenschaft (Schwerpunkt Polonistik) am Institut für Slavistik der Universität Potsdam; Forschungsschwerpunkte: polnische Literatur und Kultur (19.– 21. Jahrhundert), kulturelle Transforma­tionsprozesse nach 1989, polnisch-­jüdische Kulturgeschichte, Schreibweisen im Bereich von factual fic­tion (autobiographisches Schreiben, Zeugnisliteratur, Essayistik), memoriale und postmemoriale Ästhetiken in der Literatur, bildenden und performativen Kunst. Jüngste Publika­tionen: Maria Janion: Die Polen und ihre Vampire. Studien zur Kritik kultureller Phantasmen, Berlin 2014 (Edi­tion); Nach dem Vergessen. Rekurse auf den Holocaust in Ostmitteleuropa nach 1989, Berlin 2010. Claudia Nickel, Dr.; geb. 1978; Ko-­Leiterin der interdisziplinären Nachwuchsgruppe „Wissen“ an der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen; Habilita­ tionsprojekt zur Rezep­tion der franzö­sischen Religionskriege; Promo­tion 2010 mit einer Arbeit zur literarischen Verarbeitung der Internierungserfahrungen spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge in Südfrankreich; Jüngste Publika­tionen: Zeugenschaft. Per­ spektiven auf ein kulturelles Phänomen, Heidelberg 2014 (gem. mit Alexandra Ortiz Wallner) sowie Aufsätze zum spanischen Exil von 1939 und zur Lagerliteratur. Christina Pareigis, Dr.; geb. 1970; Wissenschaft­liche Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin; Forschungsschwerpunkte: Archiv­theorie, Biografieforschung, Jiddische Literatur des Holocaust; Jüngste Publika­tionen: Susan Taubes: Prosaschriften, Bd. 3 der Schriften von Susan Taubes, hg. v. Sigrid Weigel, München/Paderborn 2015; „Hinterlassenschaften/Remnants“, in: Schlüsselbegriffe der Kulturwissenschaft/Key Concepts of Cultural Science. Trajekte 30 2015, S. 40 – 51;

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

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„Purim-­Spiele und die Masken der Marx Brothers. Auf der Schwelle von Identität und Nicht-­Identität“, in: Der jüdische Witz. Zur unabgegoltenen Problematik einer alten Kategorie, hg. v. Burkhard Meyer-­Sickendiek u. Gunnar Och, München/ Paderborn 2015, S. 257 – 268. Tatjana Petzer, Dr.; geb. 1971; Dilthey-­Fellow am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin; Forschungsschwerpunkte: Transforma­tionsästhetik der Moderne, Slavische Literaturen und (Wissens-)Kulturen, Wissensgeschichte der Synergie; Jüngste Publika­tionen: Ordnung pluraler Kulturen. Figura­tionen europäischer Kulturgeschichte, vom Osten her gesehen, Berlin 2013 (gem. mit Zaal Andronikashvili u. a.); »Isochimenen«. Raum und Kultur im Werk von Isidora Sekulić, München 2012 (gem. mit Angela Richter). Susanne Rohr, Prof. Dr.; geb. 1958; Professorin für Literatur und Kultur Nordamerikas an der Universität Hamburg; Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Kulturtheorie, Semiotik, Pragmatismus, Lyrik der amerikanischen Avantgarde, Holocaust-­Darstellungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Repräsenta­tionen des Wahnsinns in der amerikanischen Kultur; Jüngste Publika­tion: „Screening Madness in American Culture“, in: Journal of Medical Humanities 36.3 (2015): 231 – 240. Sebastian Schirrmeister, M. A.; geb. 1984; wissenschaft­licher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Hamburg; Forschungsschwerpunkte: Deutsch­ sprachige Literatur in Palästina, German-­Hebrew Studies; Jüngste Publika­tion: „On Not Writing Hebrew. Max Brod and the ‚Jewish Poet of the German Tongue‘ between Prague and Tel Aviv“. In: Leo Baeck Institute Yearbook 2015 [Im Druck]. Silke Segler-­Meßner, Prof. Dr.; geb. 1965; Professorin für franzö­sische und italieni­ sche Literatur an der Universität Hamburg; Forschungsschwerpunkte: Romanische Erinnerungskulturen, Zeugenschaft nach der Shoah, postkoloniale franzö­ sischsprachige Literaturen; Jüngste Publika­tionen: Génocide, enfance et adolescence dans la littérature, le dessin et au cinéma, Frankfurt a. M. 2014 (gem. mit Isabella von Treskow); Von Tätern und Opfern. Zur medialen Darstellung politisch und eth­ nisch motivierter Gewalt im 20./21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2013 (gem. mit Claudia Nickel). Marie-­Christine Wehming, Dr.; geb. 1984; Promo­tion in Germanistik an der Université du Luxembourg 2013; arbeitet derzeit als Unternehmensberaterin in der IT-Strategie; Forschungsschwerpunkte: Literarische Zeugenschaft, Erinnerung in der Literatur, Literaturtheorie; Jüngste Publika­tionen: „Zeugnisse des Holocaust – Zwischen Autobiographie und Autofik­tion“, in: Faktizität und Fik­tionalität, hg. v.

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Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

Joanna Flinik u. Barbara Widawska, Slupsk 2012, S. 72 – 80; „Memory 2.0 – Testimony as the Representa­tion of an Inconceivable Reality?“, in: SJML – Shippensburg Journal of Modern Languages, No.  4/2013: S.  7 – 13; Was bleibt … Literarische Zeu­ genschaft im Kontext des Holocaust, Luxemburg 2013 (unveröffent­lichte Disserta­tion, Veröffent­lichung in Vorbereitung). Jobst Welge, Prof. Dr.; geb. 1969; Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Katho­lischen Universität Eichstätt-­Ingolstadt; Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte des (lateinamerikanischen) Romans; Referentialität und (Meta-) Fik­tionalität in der Gegenwartsliteratur; Literatur und Bürokratie im 20. Jahrhundert; Jüngste Publika­tionen: Genealogical Fic­tions: Cultural Periphery and Histori­ cal Change in the Modern Novel, Baltimore 2015; „Mimetic Desire in the Work of Roberto Arlt“, in: Mimesis, Desire, and the Novel. René Girard and Literary Criticism, hg. v. Pierpaolo Antonello und Heather Webb, East Lansing, MI 2015, S.  219 – 232.