Armutsorientierte Entwicklungspolitik: Ansatzpunkte zur Verbindung von Wachstum und Armutsreduzierung durch Förderung kleinbäuerlicher Zielgruppen [1 ed.] 9783428454167, 9783428054169

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Armutsorientierte Entwicklungspolitik: Ansatzpunkte zur Verbindung von Wachstum und Armutsreduzierung durch Förderung kleinbäuerlicher Zielgruppen [1 ed.]
 9783428454167, 9783428054169

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Volkswirtschaftliche Schriften Heft 335

Armutsorientierte Entwicklungspolitik Ansatzpunkte zur Verbindung von Wachstum und Armutsreduzierung durch Förderung kleinbäuerlicher Zielgruppen

Von

Siegfried Schönherr

Duncker & Humblot · Berlin

SIEGFRIED SCHÖNHERR

Armuteorientierte Entwicklungspolitik

Volkswirtschaftliche

Schriften

Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. h. c. J. B r o e r m a n n , Berlin

Heft 335

Armutsorientierte Entwicklungspolitik Ansatzpunkte zur Verbindung von Wachstum und Armutsreduzierung durch Förderung kleinbäuerlicher Zielgruppen

Von D r . D r . habil. Siegfried Schönherr

DUNCKER

&

HUMBLOT/BERLIN

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schönherr, Siegfried:

Armutsorientierte Entwicklungspolitik : Ansatzpunkte zur Verbindung von Wachstum u. Armutsreduzierung durch Förderung kleinbäuerl. Zielgruppen / von Siegfried Schönherr. — Berlin : Duncker und Humblot, 1983. (Volkswirtschaftliche Schriften ; H. 335) ISBN 3-428-05416-4 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bei Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 05416 4

Vorwort Es ist oft schwierig, Denkanstöße und innovative Sichtweisen, die einem Autor im Prozeß wissenschaftlicher Problemverarbeitung durch andere vermittelt werden, noch nach Jahren auf individuelle Personen beziehen zu können. Dennoch ist eine Reihe von Persönlichkeiten im Gedächtnis gegenwärtig, die für die Auseinandersetzung mit dem entwicklungspolitischen Problemverhältnis zwischen Wirtschaftswachstum und Armut in der vorliegenden Studie Bedeutung hatte. Wichtig für die Beschäftigung mit der Problemstellung war die Zusammenarbeit mit Niels Röling aus den Niederlanden und Joe Ascroft aus Malawi, deren Projektexperiment der Autor ab 1973 im Auftrag des Institute for Development Studies (I.D.S.) der Universität Nairobi (Kenia) weiterführte. Beide Forscher betreuten ihn umsichtig und kompetent bei der Einarbeitung in die theoretischen, praktischen und politischen Probleme von landwirtschaftlichen Entwicklungsprojekten, die auf die Förderung sogenannter „wenig progressiver" Kleinbauern ausgerichtet waren. Erastus Mbugua aus Kenia, ein Agrarbeamter im Ruhestand, der fast 40 Jahre lang Projekterfahrung in der Arbeit mit kenianischen Bauern gesammelt hatte, begleitete den Autor in allen seinen späteren Projektarbeiten in Kenia bis 1976. Ohne seinen Erfahrungsschatz, seine intime Kenntnis der Probleme der ländlichen Bevölkerung und ohne seine enthusiastische Mitarbeit wäre wahrscheinlich keines der Feldexperimente in Kenia durchführbar gewesen. Mit Bruce Johnston vom Food Research Institute (Stanford), der ein „sabbatical" Jahr 1974/5 am I.D.S. verbrachte, hatte der Autor das Privileg, eine Arbeitsgruppe zu koordinieren, welche im Auftrag des kenianischen Planungsministeriums einen Entwurf zur Ernährungsplanung für Kenia erstellte. Weiter hatte er Gelegenheit, mit ihm in einem Komitee zur Untersuchung der Eignung von „low cost farm equipment" für Kleinbauern in Kenia zu arbeiten. Johnston hat die theoretische Reflexion für die vorliegende Arbeit über die Technologieproblematik und ihre Bedeutung für Wachstum, Armut und Sozialstruktur in besonderem Maße angeregt. Finanziert wurde die wissenschaftliche Kooperation mit dem I.D.S. überwiegend durch die Friedrich-Ebert-Stiftung. In Deutschland hat sich der Autor zwischen 1976 und 1978 an Untersuchungen unter der Fragestellung beteiligt, wie im Rahmen der bilateralen Entwicklungshilfe das Problem des häufigen Auseinanderfallens von Wachstum und

6

Vorwort

Armutsreduzierung auf der Ebene ländlicher Entwicklungsprojekte stärker kontrollierbar gemacht werden kann. Diese Untersuchungen wurden von einem Arbeitskreis im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit getragen. Initiatoren dieser Aktivitäten, welche schließlich wichtige Grundlagen für die Fragestellungen der Studie legten, waren die Herren Simson (Referat Planung und Evaluierung), Schmidt-Burr (Landwirtschaft) und Popp (Selbsthilfe). Wichtige Anregungen für die wissenschaftliche Verarbeitung gingen von folgenden, am Arbeitskreis beteiligten Wissenschaftlern aus: Knut Fischer, Friedrich Mühlenberg, Manfred Werth, Rama Krishnan und Wulf Britsch. 1979/80 gab die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) dem Autor Gelegenheit, Aspekte der Verbindung von Wirtschaftswachstum und Armutsreduzierung für die Planung eines integrierten ländlichen Regionalprojektes in Sambia umzusetzen. Der Zwang, theoretische Konzeptionen für die Planungspraxis anwendbar zu machen, führte zu weiterer Überprüfung und praxisbezogener Ergänzung der theoretischen Konzepte. Die Aufgeschlossenheit der Herren Weyl (Projektkoordinator) und Bühner (Projektsprecher) gegenüber neuen Ansatzpunkten in der Regionalplanung, ihre Bereitschaft zum kontrollierten Experiment und nicht zuletzt ihr Rat waren Voraussetzung, um diese Chance wahrnehmen zu können. Zahlreiche theoretische und methodologische Fragen bei der Anfertigung der Studie wurden mit den Professoren Gerhard Wurzbacher (Soziologie, Nürnberg), als dessen Mitarbeiter der Autor über viele Jahre ein außerordentlich angenehmes und wissenschaftlich anregendes Arbeitsverhältnis erfahren hatte, Ernst Dürr (Wirtschaftspolitik, Nürnberg), Winfried von Urff (Agrarpolitik, Weihenstephan), sowie mit meinem Kollegen Dieter Blaschke (Nürnberg) besprochen. Vielfältige, korrigierende und die Arbeit befruchtende Anregungen konnten aufgegriffen werden. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Drucklegung bezuschußt. Der Autor möchte sich herzlich bei allen bedanken.

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung

19

1.

Zum Phänomen der „Armut" in Entwicklungsländern

23

1.1.

Zur Definition von Armut - Begriffs- und Verwendungsproblem in den international vergleichenden Statistiken ....

23

1.2.

Das Ausmaß „absoluter" Armut in Entwicklungsländern

28

1.3.

Das Ausmaß „relativer" Armut in Entwicklungsländern . . . . .

30

1.4.

Statistische Beziehung zwischen dem Auftreten absoluter und relativer Armut sowie dem BSP-Niveau

34

1.5.

Trends in der zeitlichen Veränderung des Auftretens von Armut, statistischer Zusammenhang mit dem BSP-Niveau

34

1.5.1

Trends der Gesamtzahl der von absoluter Armut betroffenen Personen

36

1.5.2.

Trends des Anteils der von absoluter Armut betroffenen Personen an der Gesamtbevölkerung im Vergleich zu Veränderungen im Wirtschaftswachstum

38

1.5.3.

Trends in der Einkommensverteilung (relative Armut) und Vergleich mit Veränderungen des BSP-Niveaus

40

1.6.

Zusammenfassung

44

2.

Einflüsse der Entwicklungspolitik auf das Verhältnis von Armut und Wirtschaftswachstum

46

2.1.

Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

47

2.1.1.

Das investitionsquotenbezogene Wachstumsmodell und seine typischen Maßnahmen

48

Wirkungen auf die volkswirtschaftlichen Faktorintensitäten und die Kapitalproduktivität

55

2.1.2.1.

Produktionstheoretische Analysemodelle (Einführung)

56

2.1.2.2.

Substitutionale Produktionsfunktionen in Entwicklungsländern

58

2.1.2.2.1. Beschränkte Substitutionsbereiche in generell limitationalen Produktionsfunktionen

59

2.1.2.

Inhaltsverzeichnis

8

2.1.2.2.2. Alternative Technologiesysteme mit für sich nur jeweils limitationalen Produktionsfunktionen

60

2.1.2.2.3. Branchenmäßige und sektorale Technologieoptionen

61

2.1.2.3.

Wirkungen auf die verschiedenen Optionen für Faktorsubstitution

63

2.1.2.4.

Wirkungen auf die Kapitalproduktivität

65

2.1.3.

Wirkungen auf die Einkommensverteilung und Wirkungen der Einkommensverteilung auf das Wachstum

68

2.1.3.1.

Einkommensverteilung bedingt durch die Faktorproportionen

68

2.1.3.2.

Einkommenskonzentrierung durch Spar-/Investitionspolitik . .

69

2.1.3.3.

Sektorale Einkommensverteilung

71

2.1.4.

Wirkungen auf die ausländischen Investitionen

74

2.1.5.

Wirkungen auf dualistische Wirtschaftsstrukturen

75

2.1.5.1.

Die Kontroverse um die Bedeutung des Systems internationaler Beziehungen als Dualismusfaktor

78

2.1.5.1.1. Zur Klassifikation der Schulen

78

2.1.5.1.2. Kritik arbeitswertaxiomatischer Imperialismus- und Abhängigkeitsansätze

79

2.1.5.2.

Agrarsektorale Technologiepolitik als Faktor des strukturellen Dualismus (Johnston-Theorem)

2.1.5.2.1. Kritik am Lewis-Fei-Ranis-Zwei-Sektorenmodell 2.1.5.2.2. „Bimodale" agrarsektorale Technologiestrategie als Faktor des gesamtwirtschaftlichen und sozialen Strukturdualismus

89 90 91

2.1.6.

Zusammenfassung

100

2.2.

Entwicklungspolitische Folgerungen

102

2.2.1.

Folgerung: Verteilungsorientierte Wachstumspolitik

103

2.2.2.

Folgerung: Unimodale Technologiepolitik für den Agrarsektor

108

2.2.2.1.

Allgemeine Begründung

108

2.2.2.2.

Eigenschaften unimodaler Technologie

110

2.2.2.3.

Unimodale Technologie und zielgruppenbezogene Differenzierung

113

2.2.3.

Folgerung: „Direkte" Armutsbekämpfung als zielgruppenbezogene Entwicklungspolitik

114

2.2.3.1.

„Indirekte" und „direkte" Armutsorientierung

114

2.2.3.2.

Zielbevölkerung und Verfahren der Zielgruppenbildung

120

2.2.4.

Kritik an den konzeptionellen Folgerungen der institutionellen Entwicklungspolitik

124

2.2.4.1.

„Integrierte ländliche Entwicklung"

125

2.2.4.2.

„Grundbedürfnisorientierte ländliche Entwicklung"

128

2.2.5.

Zusammenfassung

134

Inhaltsverzeichnis

3.

Die mikrosoziologische Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

136

3.1.

Das besondere Kommunikationsproblem kleinbauernorientierter Innovationsförderung in ländlichen Entwicklungsgesellschaften

137

3.2.

Kritik am herkömmlichen Konzept der Innovationsförderung

139

3.2.1.

Grundannahmen der innovationstheoretischen Schulen um Rogers

139

Die begrenzte Relevanz innovationstheoretischer Fragestellungen der Schulen um Rogers für die Innovationsförderung bei Kleinbauern

142

Soziale Wirkungen typischer Innovationsförderungspolitik in ländlichen Entwicklungsgesellschaften

144

Ansatzpunkte für verbesserte Instrumente kleinbäuerlicher Innovationsförderung

150

Entwicklungsspezifische Rahmenbedingungen als zentrale Faktoren des Verbreitungsablaufs von Innovationen

150

3.2.2.

3.2.3. 3.3. 3.3.1. 3.3.1.1.

Makroökonomische Rahmenbedingungen

152

3.3.1.2.

Infrastrukturelle Rahmenbedingungen

154

3.3.2.

Interventionen des „natürlichen" Verbreitungsablaufs als Förderungsansatz

158

3.3.2.1.

Instrument: Manipulation der Innovations-Charakteristiken und ihre Anpassung an Zielgruppen

159

3.3.2.2.

Instrument: Schaffung neuer Meinungsführerschaft .

163

3.3.2.3.

Instrument: Veränderung der Kommunikationsrichtung bei der Innovationsgestaltung zur Lösung von Problemen

167

3.4.

Zusammenfassung

169

4.

Zielgruppenspezifische Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung landwirtschaftlicher Kleinproduzenten (ausgewählte Förderungsbereiche der Projektebene)

172

Aspekte unimodaler Technologiegestaltung und ihrer Zielgruppenspezifik

175

Einige technologierelevante kleinbauernspezifische Problemfaktoren

175

4.1.2.

Forschung und Entwicklung für zielgruppenspezifische Technologieinnovationen

177

4.1.2.1.

Problemlösungs-versus Innovationspaketforschung

179

4.1.2.2.

Verfahren zielgruppenspezifischer Technologieentwicklung. . .

180

4.1.3.

Aspekte kleinbauernspezifischer Gerätetechnologie, dargestellt am Beispiel der Traktormechanisierung

185

4.1. 4.1.1.

10

4.1.3.1.

Inhaltsverzeichnis

Finanzielle Eignung

186

4.1.3.2.

Volkswirtschaftliche Eignung

187

4.1.3.3.

Unimodale Eignung

188

4.1.3.4.

Zielgruppeneignung

191

4.1.4.

Aspekte kleinbauernspezifischer Technologie zur Kontrolle der Fruchtbarkeit des Bodens

194

Technologische Innovationen zur Kontrolle der Bodenfruchtbarkeit

195

4.1.4.1. 4.1.4.2.

Vermerke zur Ökologiekontrolle

199

4.1.5.

Aspekte der Saatgut-Düngemitteltechnologie

200

4.1.5.1.

Unimodale Eignung

»

201

4.1.5.2.

Zielgruppenspezifische Eignung

206

4.2.

Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen zur Einführung und Nutzung unimodaler Technologieinnovationen (Agrardienste)

207

4.2.1.

Ansatzpunkte für die Agrarberatung (Extension)

207

4.2.1.1.

Probleme der Kleinbauernberatung

208

4.2.1.2.

Beratung als Problemlösungseinstieg

212

4.2.1.3.

Beratung als organisiertes Programm

213

4.2.1.4.

Beratung als Gruppenmethode

214

4.2.1.5.

Exkurs: Ausbildungskurse für Kleinbauern

219

4.2.2.

Ansatzpunkte für die Vorfinanzierung agrarischer Innovationen (institutioneller Kleinkredit)

220

4.2.2.1.

Probleme des institutionellen Kleinbauernkredites

221

4.2.2.2.

Gruppenansatz

223

4.2.2.3.

Kreditsicherung

224

4.2.2.4.

Kreditzinsen

226

4.2.2.5.

Exkurs: Kredit und integrierter Maßnahmenbedarf

228

4.2.3.

Ansatzpunkte für Vermarktung und Versorgung mit Inputs. . . 229

4.2.3.1.

Kleinbauerntypische Marktprobleme

4.2.3.2.

Physische Marktintegration

231

4.2.3.3.

Effizienz-, Struktur- und Preisgestaltung

233

4.2.3.4.

Anmerkungen zur Kontrolle der Nebenwirkungen von Marktintegration 235

4.3.

Ansatzpunkte für eine massenorientierte Förderung menschlicher Ressourcenentfaltung (Bereich „Gesundheit, Ernährung, Bevölkerung") 237

4.3.1.

Probleme

238

4.3.2.

Ansatzpunkte für die Massenorientierung

242

229

Inhaltsverzeichnis

4.3.3.

Folgerungen für die Administrierung von Planung und Implementierung massenorientierter Gesundheits-, Ernährungs- und Bevölkerungsprogramme 245

4.4.

Folgerungen aus den zielgruppenspezifischen Maßnahmenansätzen für die Planung, Ablaufsteuerung und Bewertung von Projekten 246

4.4.1.

Zielgruppenansatz und Planungsverfahren für ländliche Entwicklungsprojekte

248

Ansatzpunkte für die Planung zielgruppenorientierter Projekte der Regionalentwicklung

248

Ansatzpunkte für die Planung zielgruppenorientierter Projekte „raumneutraler" Strukturförderung

253

4.4.1.3.

Ansatzpunkte für die Planung zielgruppenorientierter Projekte der „raumdifferenzierenden" landwirtschaftlichen Produktionsförderung

254

4.4.1.4.

Sequentielle Planungsschritte und Beteiligung an der Planung 255

4.4.2.

Zielgruppenansatz und Verfahren der Ablaufsteuerung und Evaluierung für ländliche Entwicklungsprojekte 257

4.4.2.1.

Zielformulierung

258

4.4.2.2.

Verlaufskontrolle und Evaluierung

263

4.4.2.3.

Vermerke zu Konzepten der Kosten-Nutzen-Feststellung . . . .

266

4.5.

Zusammenfassung

270

4.4.1.1. 4.4.1.2.

Literaturverzeichnis

274

Verzeichnis der 1:

abe

Anteil und Gesamtzahl der 1969 von absoluter Armut betroffenen Bevölkerung in 40 Entwicklungsländern nach Kontinent und in Rangordnung (nach Größe des Anteils); (A) Afrika, (B) Asien, (C) Lateinamerika

29

Anteil der 40 % mit den niedrigsten Einkommen am BSP nach Kontinent und Rangordnung (nach dem Ausmaß absoluter Armut); (A) Afrika, (B) Asien, (C) Lateinamerika

31

Vergleich des Anteils am BSP der 40 % mit den niedrigsten Einkommen zwischen Entwicklungsländern (aggregiert nach Kontinenten), marktwirtschaftlichen Industrieländern und europäischen kommunistischen Ländern (arithmetische Mittelwerte)

33

Ausmaß absoluter Armut in Ländern mit (a) starker relativer und Ländern mit (b) geringer relativer Armut und pro-Kopf-BSP

35

Trends für die Anzahl der von Armut Betroffenen in ländlichen Regionen ausgewählter Länder Asiens

37

Durchschnittliche jährliche Real-Zuwachsraten des BSP 1961-1974 (pro Kopf) aller Entwicklungsländer im Vergleich zur Region Südasien

39

Einkommensanteil am BSP der 20 % mit den niedrigsten Einkommen im Zeitvergleich 1960 und 1970 in ausgewählten Entwicklungsländern (in v.H.)

41

8:

Trends der Anteile der unteren am BSP beteiligten 40 % in ausgewählten Ländern Asiens

42

9:

Investitionen und marginaler Kapitalkoeffizient im Agrarbereich ausgewählter Entwicklungsländer

62

Industrielles Outputwachstum und Wachstum der Industriebeschäftigten in Entwicklungsländern zwischen 1963 und 1969 (durchschnittl. jährl. Wachstumsraten)

65

Untersuchungsergebnisse über den Einfluß des marginalen Kapitalkoeffizienten und der Höhe der Investitionsquote auf die Wachstumsrate des BSP

66

Länderbeispiele für reales Wirtschaftswachstum bei gleichbleibender oder verminderter Einkommenskonzentration

71

2:

3:

4: 5: 6:

7:

10:

11 :

12:

14

Verzeichnis der Tabellen

13:

BSP-Entwicklung, Einkommensanteils- und absolute Einkommensentwicklung der unteren 40 % der nach Einkommen gegliederten Bevölkerung (Querschnittsvergleich)

86

Typenbildung hinsichtlich der wirtschaftlichen Außenabhängigkeit von Entwicklungsländern mit hohem Wirtschaftswachstum

87

Output, Erlös, Landverwendung und Beschäftigung nach Betriebsgröße in ausgewählten Regionen Kenias

106

Die Entwicklung des Brutto wertes des vermarkteten Outputs im Großfarmen- und Kleinbauernsubsektor Kenias zwischen 1954 und 1974 (in Mio. K.Pfunden)

160

Die Entwicklung der Pyrethrumproduktion im Großfarmen- und Kleinbauernsubsektor Kenias zwischen 1959 und 1967 (in 1.000 Tonnen vermarkteter Mengen)

161

Die Entwicklung der Kaffeeproduktion im Plantagen- und Kleinbauernsubsektor Kenias zwischen 1964 und 1974 (in 1.000 Tonnen vermarkteter Mengen)

161

Die Entwicklung der Teeproduktion im Großfarmen- und Kleinbauernsubsektor Kenias zwischen 1959 und 1976 (in 1.000 Tonnen vermarkteter Mengen)

162

Die Adopterstruktur der Auswahl (2. Anbaufolge) im Vergleich zur Grundgesamtheit in der Region des „Tetu-Experiments"

165

14: 15: 16:

17:

18:

19:

20: 21 :

Reis- und Weizenhektarerträge vor und nach der Einführung von HYVs in ausgewählten Ländern Asiens 201

22:

Arbeitskräftebedarf für HYVs im Vergleich zu traditionellen Sorten (ausgewählte Fallstudien)

202

Alternative Inputgestaltung für Hybrid-Mais in Kenia für 1 acre (0,4 ha)

204

Beispiel des Rückzahlverhaltens in einem Kleinbauernkreditprojekt für Hybrid-Mais in Kenia (SRDP Vihiga/Hamisi)

222

23: 24:

Verzeichnis der Sche 1:

Das investit ionsbezogene und urbanindustrielle Wachstums- und Entwicklungsparadigma

54

2:

Die zentrale Bedeutung der Technologie für die Agrarstruktur . . . .

93

3:

Sektorale Wirkungen des Technologietransfers auf die Beschäftigung bei bimodaler Technologiestrategie im Agrarsektor

95

Allgemeine zwischensektorale wachstumsrelevante Strukturinterdependenz (ohne Export)

96

Zwischensektorale Wachstumsbeziehungen (ohne Export) bei bimodaler Technologiestrategie

98

4: 5: 6:

Logik der Auswahl von Maßnahmen und Partizipanten nach der indirekten Methode

117

7:

Logischer Bezugsrahmen für die indirekte Armutsbekämpfung. . . .

118

8:

Logischer Bezugsrahmen für die direkte Armutsbekämpfung

119

9:

Logik der Auswahl von Maßnahmen und Partizipanten nach der direkten Methode Systemsicht für das Zusammenwirken produktions- und konsumbezogener Faktoren

120 133

Die herkömmliche Forschungs- und Entwicklungskonzeption für Innovationen im Agrarbereich

178

12:

Strukturelle internationale und nationale Faktoren der Technologieentwicklung für Entwicklungsländer

181

13:

Die negativen Komplementaritäten zwischen Einkommen, Ernährung, Gesundheit und Schwangerschaft

241

14:

Die „reduzierte" Regionalplanung

250

15:

Die „problemorientierte" Regionalplanung

251

16:

Die Verbindung „problemorientierter" und „reduzierter" Regionalplanung 252

10: 11:

16

Verzeichnis der Schemata

17:

Das „Logical Framework" (Elemente, Zielhierarchie und wichtige Annahmen) 259

18:

Das standardisierte Ziel-Mittel-Definitionsformular (Logical Framework)

260

Beispiel für den „Matrix Approach"

269

19:

Verzeichnis der 1: 2:

a i e

Einkommensverteilung in bezug zum BSP

43

Isoquanten für ein substitutionales und limitationales Faktorverhältnis

56

Preis-Mengengerade für Ausgangssituation ( Α ι - K i ) und für die Verteuerung von Arbeitskraft (A2 - K i )

57

4:

Faktorproportionen bei unterschiedlichem Preisniveau für Arbeit

57

5:

Die Expansionspfade für die Ausgangssituation ai und bei Preiserhöhung für Arbeit a 2

58

6:

Begrenzt substitutional Faktorbeziehungen

60

7:

Expansionspfade für begrenzt substitutionale Produktionsfunktionen verschiedener Technologiesysteme

61

3:

8:

Wachstumsraten des BSP und der Anteil der Einkommen der 40 % unterer Einkommensbezieher am BSP in ausgewählten Ländern . . .

104

Die Beziehung unabhängiger Variablen zur Innovationsbereitschaft

141

10:

Die „homophüe" Interaktion mit Meinungsführern

146

11 :

Die einkommenskumulierende Wirkung des Zeitfaktors im Verbreitungsprozeß einer einzelnen Innovation 147 Die einkommenskumulierende Wirkung des Zeitfaktors bei sukzes-

9:

12 :

siv adoptierten verschiedenen Innovationen

148

13:

Diffusionsverläufe von Weizen- und Maisinnovationen in Mexiko

153

14:

Diffusionsverlauf von 6 Innovationen im Kisii-Distrik (Kenia) . . . .

155

Verzeichnis der Schaubilder Der räumliche Diffusionsverlauf von Kaffee, Pyrethrum und Passionsfrüchten im Hochland des Kisii-Distriktes (Kenia)

Vorbemerkung

Wirtschaftliche Entwicklung und Armutsreduzierung sind nicht notwendigerweise verbündete Prozesse, obwohl Entwicklung, gemessen als aggregierter volkswirtschaftlicher Datenkomplex, ihre Gleichläufigkeit suggerieren mag 1 . Die Unterschiedlichkeit beider Prozesse wird dann besonders deutlich, wenn Entwicklungsländer trotz Wirtschaftswachstum eine Zunahme an Armutsbevölkerung aufweisen. Tatsächlich zeigt die Statistik für viele Entwicklungsländer in auffälliger Weise das Fehlen eines Automatismus von wirtschaftlicher Entwicklung und Abbau der Armut. Die Divergenz zwischen Wirtschaftsentwicklung und Armutsreduzierung in Entwicklungsländern ist besonders durch die Pearson Kommission, die im Auftrag der Weltbank die Erfolge und Mißerfolge der „ersten Entwicklungsdekade" untersuchte und ihre Ergebnisse 1969 veröffentlichte, aufgegriffen und für eine weltweite Öffentlichkeit als Problem artikuliert worden. Die Frage nach der Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und Armut wird seither von Wissenschaftlern 2 und entwicklungspolitischen Entscheidungsträgern sowie Politikern mit zunehmender Schärfe gestellt. Dabei wird das Defizit an entwicklungspolitischen Konzeptionen und Instrumenten zur Koppelung von Wachstum und Armutsreduzierung immer deutlicher. Neue Konzeptionen entstehen in kurzer Folge. Beispiele dafür geben Bezeichnungen wie „integrierte ländliche Entwicklung", „Grundbedürfnisstrategie", „Zielgruppenansatz" oder „distributive production"-Strategie und andere mehr. Oft bewegen sich diese Konzeptionen nur im politisch-normativen Zielsetzungsbereich. Es wird gesagt, welche Ziele die Entwicklungspolitik verfolgen sollte. Die wissenschaftliche Eignungsprüfung von Instrumenten hat dagegen gerade erst begonnen. Hier zeigen sich die Wissensdefizite besonders deutlich. 1 Zur Definition des Entwicklungsbegriffes gibt es eine umfangreiche Literatur. Jüngere Zusammenfassungen der Begriffsproblematik finden sich für den entwicklungspolitischen Verwendungsbereich ζ. B. bei Hemmer (1978), S. 3-45 oder Todaro (1977), S. 50-69 oder für eine soziologisch-sozialanthropologische Definition bei Elias (1978), S. 159-174. 2 In der wachstumstheoretischen Diskussion bilden sich neue Ansätze heraus. Beispiele dafür sind Studien wie die von Adelman und Morris (1973) „Economic Growth and Social Equity in Developing Countries", von Chenery et al. (1976, erste Aufl. 1974) „Redistribution with Growth" oder von Johnston and Kilby (1975) „Agriculture and Structural Transformation".

20

Vorbemerkung

Auch findet sich noch kaum Literatur, welche die verschiedenen armutsorientierten Konzepte systematisiert und auf Kompatibilitäten, Widersprüche und auf ihre theoretischen Grundlagen hin untersucht. Schließlich stehen deshalb viele Praktiker der Entwicklungsförderung vor einem Dilemma: Sie werden dem zweifachen Ziel Armutsreduzierung und Wirtschaftlichkeit verpflichtet, ohne ein dafür benötigtes fundiertes Projektinstrumentarium zu besitzen. Ein Beitrag zur Lösung dieser Probleme hängt zuerst von der Beantwortung der Frage nach den Beziehungen zwischen Armut und Wirtschaftswachstum unter dem Einfluß entwicklungspolitischer Maßnahmen in den Entwicklungsländern ab. Obwohl es sich hierbei sicherlich um ein außerordentlich komplexes Theorieproblem handelt, das in verschiedene wissenschaftliche Disziplinen hineinreicht, lassen sich, so sei vorweggenommen, freilich ohne Anspruch auf theoretische Vollständigkeit, zumindest einige besonders wichtige Faktoren der Beziehung von Armut und Wachstum isolieren und daraus Schlüsse für die Gestaltung entwicklungspolitischer Maßnahmen ziehen. Die vorliegende Studie setzt an dieser Fragestellung an. Um Mißverständnissen vorzubeugen, soll die Fragestellung auch negativ abgegrenzt werden. Weder die Faktoren der Armut generell, noch die des Wirtschaftswachstums sollen per se untersucht werden. Die Studie ist deshalb auch kein Versuch zum Entwurf einer alternativen Entwicklungstheorie. Ihr geht es vielmehr um einen viel engeren Aspekt — nämlich um die Frage, ob und wie auf der Makro- wie Mikroebene entwicklungspolitischer Steuerung Wachstum und Armutsreduzierung gekoppelt werden können. Darauf beschränkt sie sich. Der Einwand, dies reiche für die Entwicklungspolitik nicht aus, ist richtig. Da andererseits ohne die Klärung des spezifischen „Armut- trotz - WachstumProblems" die Wirkungen auch von globalen und nationalen ordnungspolitischen Optionen auf den Entwicklungsprozeß nur ungenügend beurteilt werden können, ist diese eingeschränkte Fragestellung jedoch sehr bedeutsam. Leupolt (1977) weist beispielsweise sehr richtig darauf hin, daß Verbesserungen in den internationalen Handelsbeziehungen zugunsten der Entwicklungsländer dort selbst zu verschärften wirtschaftlichen und sozialen Strukturkonflikten führen müssen, solange Wachstum nicht mit entsprechender Armutsreduzierung verbunden werden kann. Schließlich wird immer wieder kritisch gefragt, ob Armut unter den gegenwärtig „herrschenden Verhältnissen" überhaupt nachhaltig vermindert werden könne, ob der Entwicklungspolitik, wie auch immer angelegt, unter diesen Bedingungen nicht nur eine Palliativfunktion zukomme, sie nur Symptome behandeln könne und die „wahren" Ursachen von Unterentwicklung dadurch sogar verdecke. Auch ideologisch weniger festgelegte Politiker und Wissenschaftler melden mitunter Bedenken einem Konzept gegenüber an, welches Armut durch „technische" Maßnahmen glaubt, reduzieren zu können. Sie wei-

Vorbemerkung

sen darauf hin, daß jeder Ansatz, Armut zu reduzieren, wenn schon nicht direkt, so doch zumindest indirekt wirkende Umverteilungsmaßnahmen zugunsten der Armutsbevölkerung erfordere. Was könne diejenigen bewegen, die über Umverteilung entscheiden, so fragen sie, die eigenen oder die Privilegien mächtiger Eliten abzubauen oder die eigene Machtposition durch diesbezügliche Entscheidungen zu gefährden? Im Prinzip liefen gegenwärtig doch wohl die „Selbststeuerungskräfte" — zwischen den Nationen und innerhalb dieser — darauf hinaus, Interessen der „Mächtigen" zu berücksichtigen und die „Armen" unberücksichtigt zu lassen. Solchen skeptischen Fragen sollen zwei Überlegungen gegenübergestellt werden: 1. Auch falls keine wirtschaftlichen Elitenprivilegien und keine anderen der Armutsreduzierung entgegengerichteten Interessen existieren, sind die Reduzierung der Armut und die Gleichläufigkeit von Armutsverminderung und Wirtschaftswachstum *noch nicht gewährleistet, was auch die Beispiele einiger sozialistisch orientierter Länder belegen. Dieses Problem bedarf deshalb schon vor der Analyse der Machtstrukturen und Verteilungsinteressen einer theoretischen Klärung. 2. Die Verteilungsinteressen und ihre ungleichen Durchsetzungsbedingungen müssen nicht notwendigerweise gegen die Armutsreduzierung gerichtet sein. Einmal sind die wirtschaftlichen und politischen Kosten der Massenarmut Faktoren, die im Kalkül von Eliten und Regierungen auch Interessenrelevanz besitzen. Zum andern — und dies ist ein die gesamte Studie mittragender Gesichtspunkt - hat ein Teil der politischen, wirtschaftlichen und Bildungseliten in den Entwicklungsländern, wie auch in Industrieländern, ein existentielles Interesse an einer Wirtschaftsentwicklung, die mehr Beschäftigung, mehr Führungspositionen, mehr Steuereinnahmen und vor allem eine Erhöhung der Kaufkraft der Massen schafft. Eine ganze Reihe Länderbeispiele unterstützt die Hypothese, daß für viele Entwicklungsländer erhebliche Spielräume bestehen, nicht nur ohne grundlegende Interessenkollision, sondern auch im Interesse der entscheidungsrelevanten Eliten, Wachstum mit Armutsreduzierung zu verbinden. Das Ziel der Studie besteht also nicht darin zu zeigen, wie unter grundlegenden Veränderungen der gegenwärtigen Verhältnisse die Probleme der Armut in Entwicklungsländern gelöst werden könnten, sondern zu untersuchen, wo gerade im Rahmen der existierenden Bedingungen Ansatzpunkte für die Armutsbeseitigung gegeben sind. Solche Ansatzpunkte existieren, dies sei als Ergebnis vorweggenommen, in viel größerem Umfang als oft vermutet wird. Die Arbeit ist in vier Teile gegliedert. Der erste Teil befaßt sich mit dem Armutsbegriff und gibt einen statistisch beschreibenden Überblick über die Armuts- und Wachstumsproblematik.

22

Vorbemerkung

Im zweiten Teil wird anhand makrotheoretischer Analysen das Konfliktverhältnis von Wachstum und Armutsreduzierung unter dem Einfluß des Steuerungsinstrumentariums der Wachstums- und Entwicklungspolitik, im besonderen der damit verbundenen Technologiestrategien, bestimmt. Sodann werden Folgerungen für die verschiedenen Ebenen entwicklungspolitischer Entscheidungsbereiche gezogen, und die Bedeutung des Agrarsektors und besonders der kleinbäuerlichen Bevölkerungsgruppe analysiert. Der dritte Teil befaßt sich mit theoretischen Lösungsansätzen auf der Mikroebene für das überragend wichtige Innovationsproblem, das sich aus der makrotheoretisch begründeten zentralen Folgerung für die Förderung landwirtschaftlicher Kleinproduzenten ergibt, nämlich der massenweisen Verwendung „unimodaler" Technologieinnovationen. Auf theoretischer Ebene wird hier die Frage behandelt, ob einkommenssteigernde Innovationsprozesse mit Hüfe entwicklungspolitischer Instrumente auf die Masse der Kleinbauern gelenkt werden können. Ansatzpunkte für die praktische Maßnahmengestaltung auf der Projektebene und Folgerungen für das Projektmanagement (insbesondere die Projektplanung, Ablaufsteuerung und Bewertung) werden im vierten Teil diskutiert. In diesem Kapitel geht es vor allem um den Nachweis, daß der Entwicklungspolitik, empirisch belegbar und analytisch begründbar, Maßnahmen zur Verfügung stehen, über welche die theoretisch entwickelten Strategien auch auf die Ebene der Projektpraxis umgesetzt und dem Ziel der Verbindung von Wachstum und Armutsreduzierung dienlich gemacht werden können.

1. Zum Phänomen der „Armut" jn Entwicklungsländern Mit diesem Kapitel soll in das statistisch erfaßte Ausmaß der Armut in Entwicklungsländern eingeführt werden. Nach der Definition des Armutsbegriffs werden Statistiken über Armutsstrukturen in etwa 40 Entwicklungsländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas sowie über die Niveaus ihrer Bruttosozialprodukte (BSP) präsentiert. Anhaltspunkte über die zeitlichen Veränderungen in den Strukturen der Armut werden gesucht und statistisch in Beziehung zu den Wirtschaftswachstumsraten und BSP-Niveaus gebracht.

1.1. Zur Definition von Armut — Begriffs- und Verwendungsproblem in den international vergleichenden Statistiken Im Bereich der Entwicklungspolitik gibt es, wie auch generell in der Wirtschafte- und Sozialpolitik, keine allgemein anerkannte Definition der Armut. Zwar besteht Konsens darüber, daß sich dieser Begriff auf eine Mangelerscheinung in verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens - wie ζ. B. Nahrung, Kleidung, Wohnung, Gesundheit usw. — bezieht und diese Mangelerscheinung negativ, ζ. B. als „Elend und Hoffnungslosigkeit" (McNamara, 1973), oder menschenunwürdig zu bewerten 1 ist. Als das am weitestgehend akzeptierte Verständnis von „Armut" bezeichnet Drewnowski es, „when people have their needs satisfied to a lesser degree than is considered sufficient" (1977, S. 183). Schon diese beiden Verständnisse der Armut beinhalten zwei sehr verschiedenartige Armutskriterien. Einmal wird Armut als Defizit betrachtet, welches sich am physischen Existenzminimum mißt, zum andern wird Armut auch dann für gegeben erachtet, wenn sich der Betroffene im Hinblick auf sein 1 Armut als Mangelerscheinung war historisch weder in den heutigen Industrieländern noch in den Kulturen der heute als Entwicklungsländer bezeichneten Teile der Welt als ein zu beseitigender Zustand bewertet. In den Institutionen der Vereinten Nationen hat sich die Armutsbekämpfung als normative Verpflichtung für die Regierungen und die Entwicklungspolitik im allgemeinen erst in jüngster Zeit durchgesetzt (vgl. Khan und Hexner, 1976, und die Dokumente der „UN-ACC Task Force on Rural Development", ζ. Β. 1978; vgl. auch die historischen Analysen der sozialen Bewertung von Armut durch Strang, 1970).

1. Zum Phänomen der „Armut" in Entwicklungsländern

24

kulturelles Bezugssystem hinsichtlich seiner Bedürfnisbefriedigung in einer besonders nachteiligen Situation befindet. Diese zwei verschiedenartigen Armutsaspekte wurden in der Literatur unter den Begriffen „absolute" und „relative" Armut gefaßt 2 - Begriffe, die auch in die neuere international vergleichende Armutsstatistik eingegangen sind. Ein dritter Aspekt der Armut, der nur unzureichend über dieses Begriffspaar erfaßt werden kann, ist ein Armutsververständnis, welches nicht im physischen, sondern im kulturellen und sozialpsychologischen Bedürfnisbereich ansetzt. Strang (1970) verwendet zur Einbeziehung dieses Verständnisses das Begriffspaar „primäre" und „sekundäre" Armut. Obwohl gerade für Entwicklungsgesellschaften „sekundäre" Armut außerordentliche Bedeutung erhalten kann 3 (sie wird beispielsweise in der entwicklungspolitischen „Grundbedürfnisstrategie" berücksichtigt), gibt es, vermutlich schon aufgrund methodologischer Schwierigkeiten der Datenerhebung", keine international vergleichenden Statistiken darüber. Diese noch sehr allgemeinen Armutsdefinitionen sind jedoch noch wenig hilfreich, wenn Unterscheidungskriterien etwa zur Einteilung einer Bevölkerung in „Arme" und „übrige Bevölkerung" gesucht werden oder wenn man Armut empirisch feststellen möchte und dazu Indikatoren benötigt. Jede operationale Armutsdefinition erfordert zumindest eine Entscheidung darüber, welcher einzelne Indikator (ζ. B. Einkommen oder Nahrungsaufnahme oder Konsum) oder welche multiplen Indikatoren (Einkommen plus Nahrungsaufnahme plus . . ., usw.) gewählt werden sollen und an welchem Punkt (Linie, Ebene) Armut gegenüber dem Nichtvorhandensein von Armut abzugrenzen ist. In der Entwicklungspraxis und der international vergleichenden Statistik ist die Wahl des Einzelindikators Einkommen vorherrschend. Multiple Indikatoren erhalten in jüngster Zeit zwar vermehrte Aufmerksamkeit - besonders im Zusammenhang mit einer auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen ausgerichteten entwicklungspolitischen Konzeption (vgl. ζ. B. Lisk, 1977 b), ihre Verwendung statt des Einkommensindikators wird jedoch durch Probleme der Datenbeschaffung oder auch der Bewertung (Gewichtung von Einzelindikatoren) erschwert. Für die Abgrenzung der Armut gegenüber Nicht-Armut (Armutslinie) werden gegenwärtig besonders häufig die Weltbankkriterien verwendet. Arm sind 2

Die sozial wissenschaftliche Diskussion des Armutsbegriffs wird beispielsweise in Strang (1970) oder Townsend, Ed. (1971) ausführlich dargestellt. 3 Todaro (1977) sieht eine Grundkomponente seines Begriffes von „Unterentwicklung" in der verbreiteten Existenz geringer „SelbstWertschätzung" großer Bevölkerungsteile von Entwicklungsgesellschaften. Auch im Begriff der „Seifreliance" (in der Bedeutung etwa des „Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten") zeigt sich in seiner entwicklungspolitischen Zielverwendung der Aspekt der Bekämpfung sozialpsychologischer oder „sekundärer" Armut.

1.1 Zur Definition von Armut

25

danach alle Personen, deren durchschnittliches jährliches Pro-Kopf-Einkommen unter 75 US-Dollar (mitunter auch 50 Dollar) zu Preisen von 1971 oder deren Einkommen unter einem Drittel des durchschnittlichen nationalen proKopf-Einkommens liegen. Das erste Kriterium stellt ein absolutes, das zweite ein relatives Armutsmaß dar. Das absolute Maß für Armut der Weltbank wurde in der international vergleichenden Statistik und bekannten Untersuchungen (z. B. Chenery et al., 1976) verwendet. Für die Anwendung des obigen relativen Armutsmaßstabes finden sich in der Literatur und Statistik kaum Anhaltspunkte. Hierfür wird häufig ein einfaches Ersatzverfahren verwendet: Relativ „arm" ist, wer zu den 40% mit dem niedrigsten Einkommen in einem Lande gehört und wenn diese Einkommensgruppe dabei einen besonders geringen Anteil am BSP einnimmt. Die so definierte relative Armut unterscheidet sich im Vergleich zwischen Ländern graduell durch den Anteü am nationalen Gesamteinkommen, den die 40%-Gruppe mit den niedrigsten Einkommen einnimmt, was zugleich ein Maß für den Grad der Ungleichheit der Einkommensverteilung darstellt („size distribution"). Relative Armut erhöht sich danach definitorisch mit zunehmend ungleicher EinkommensverteÜung4. Ahluwalia klassifiziert Länder als „hoch ungleich" (d. h. hohe relative Armut), wenn der Anteil am BSP der 40 % Bevölkerung mit den niedrigsten Einkommen weniger als 12% ausmacht, als „gemäßigt ungleich", wenn dieser zwischen 12 und 17% und als „wenig ungleich", wenn er bei 17% und darüber liegt (Ahluwalia, in: Chenery et al», S. 8 f.). Vergleicht man beide Armutsbegriffe - die absolute und relative — so wenden erhebliche Unterschiede im Anwendungsbereich deutlich. Absolute Armut ist nach obiger Definition praktisch nur für Entwicklungsländer verwendbar. Obwohl es in Industrieländern auch physisch definierbare Armut gibt, liegt das hier verwendete Kriterium für Armut viel zu niedrig, um Armut in Industriegesellschaften erfassen zu können. Da die Fragestellungen der Arbeit bezüglich der absoluten Armut jedoch ausschließlich Entwicklungsländer betreffen, ist die Einschränkung der Verwendbarkeit dieses Begriffes auf diese Ländergruppe wenig problematisch. Anders verhält es sich mit der relativen Armut. Sie ist uneingeschränkt auf alle Länder anwendbar und wird auch im Schrifttum zu globalen Vergleichen herangezogen. Ihre Relativität macht jedoch internationale Vergleiche zugleich auch problematisch. So hat beispielsweise dieselbe Einkommensverteilung auf hohem BSP-Niveau ganz andere Qualitäten (und wird im Wertesystem vieler Menschen eher toleriert) als auf sehr niedrigem Niveau, wo sich 4 Ahluwalia sieht den Vorteil der „size distribution" zur Messung relativer Armut gegenüber klassischen Verteilungsmaßen in der Sichtbarmachung der Situation ganz bestimmter Einkommensgruppen. „Klassische" Konzentrationsmaße - „Gini", „Kuznets", „Enthropie" - für 50 Entwicklungsländer hat z. B. Bohnet berechnet; Bohnet, in: von Urff, Hrsg., 1978, S. 25-28.

26

1. Zum Phänomen der „Armut" in Entwicklungsländern

diese Einkommensunterschiede als Nebeneinander von krassem „Elend" und „Luxus" zeigen. Da aber die hier interessierende Fragestellung in erster Linie auf die Wirkungen der Wirtschaftsprozesse hinsichtlich der Einkommensverteilung ausgerichtet ist, erscheint die Vergleichsproblematik von Verteilungsstrukturen auf extrem unterschiedlichem BSP-Niveau (und ihre sehr verschiedenartigen sozialen Qualitäten) weniger relevant. Beide Armutsbegriffe sind deshalb im Hinblick auf die gewählte Thematik ausreichend adäquat. Mit ihnen soll gearbeitet werden. Absolute und relative Armut sind nach obiger Definition Begriffe, welche Armut eindimensional auf Einkommensdefizite beziehen. Diese Verkürzung des Armutsbegriffes auf in Geld ausgedrückte Einkommensaspekte ist nicht nur im vorhandenen Datenbestand, in dem Armut einkommensbezogen bewertet wird, begründet. Sie hängt auch mit der Fragestellung der Untersuchung selbst zusammen. Das BSP und damit auch das Wirtschaftswachstum ist eine in Geld (Preisen) definierte Größe. Die Frage nach der Beziehung zwischen Armut und Wirtschaftswachstum stellt sich deshalb zuerst auf der monetären Ebene. Wie verteilt sich das BSP? Besteht ein Konflikt zwischen BSP-Wachstum und breiterer Einkommensverteilung? Bedeutet verbreitete Armut eine Wachstumsbarriere für die Volkswirtschaft? Obwohl eingewendet werden könnte, daß solche Problemstellungen auch nicht monetäre Aspekte, beispielsweise Fragen der „Lebensqualität", berühren könnten, liegen sie doch primär auf der in Geldwerten ausgedrückten Dimension der Entstehung und Verteilung des BSP. Die dieser Arbeit zugrunde liegenden Fragestellungen beziehen sich also auf einen Ausschnitt des Armutsphänomens. Es handelt sich um denjenigen Ausschnitt, der unmittelbar mit den Einkommensprozessen im Wirtschaften der Menschen verbunden ist. Zur Beschreibung des Ausmaßes an Armut, so müßte hier ergänzt sein, wäre auch die Charakterisierung der „Tiefe" der Armut oder der Struktur der Armut innerhalb der Armutsbevölkerung notwendig. Die Frage, „wie arm sind die Armen" (Drewnowski, 1977) oder, wie verteilt sich Armut innerhalb der Armutsgruppen, hat Bedeutung für die Beurteilung des Ausmaßes an Armut. Mit zunehmender Schwere der Armut kann eine abnehmende Zahl von Betroffenen einhergehen, wie dies ζ. B. in Ländern mit ausgebauter sozialer Sicherung typisch ist, oder umgekehrt, es kann in extremen Fällen mit steigender Armutsschwere eine Zunahme der von ihr betroffenen Bevölkerung einhergehen. In Bangladesh teilen sich die 40 % der Landbevölkerung mit den niedrigsten Enkommen noch 18 % der Gesamteinkommen, während die untersten 10 % nur noch einen Anteil von 1 % besitzen (Ahamad, 1975, S. 125). Eine Entwicklungspolitik, welche die Tiefe der Armut zu reduzieren trachtet, kann im Falle ihres Erfolges Armut in beträchtlichem Maße vermindern,

1.1 Zur Definition von Armut

27

ohne daß dies statistisch im Anteil der Armutsbevölkerung, die unter einer gesetzten Armutslinie liegt, zum Ausdruck kommen muß. Von wenigen Einzelfällen abgesehen, ist jedoch kein statistisches Material zur Tiefe der Armut innerhalb der Armutsbevölkerung verfügbar. Die Beschreibung muß deshalb auf die Einbeziehung dieses Aspektes ebenfalls verzichten. Abschließend sei auf die Erfassungs- und Meßproblematik der international vergleichenden Statistik verwiesen. Generell, so muß man konstatieren, sind erhebliche Vorbehalte gegenüber Sozialprodukts- und Einkommensverteilungsstatistiken in Entwicklungsländern und besonders gegenüber Ländervergleichen angebracht. Diese Vorbehalte ergeben sich aus verschiedenen Gründen. Die vorhandene Statistik kann beispielsweise den in Entwicklungsländern sehr bedeutenden Subsistenzsektor nur sehr ungenau erfassen. Die Bewertung landwirtschaftlicher Erträge ist, selbst wenn deren physisches Volumen bekannt ist, problematisch. Der informale Wirtschaftssektor kann oft wenig berücksichtigt werden. In vielen Ländern gibt es staatlich festgelegte Preise für zahlreiche landwirtschaftliche Produkte. Dieselben Produkte können jedoch oft auch auf den lokalen Märkten unter freier Preisbildung verkauft werden. Die Preise können erhebliche regionale Unterschiede aufweisen 5. Welche Preise werden der Statistik zugrunde gelegt? Außerdem sind viele Währungen auf einem „künstlichen" Niveau gehalten, das keineswegs dem tatsächlichen Wert entspricht. Ein ganz besonders gravierendes Problem besteht in der Statistik zur absoluten Armut darin, daß keine Kaufkraftvergleiche angestellt werden. Zwar unterscheiden sich international die Preise des Warenkorbs der Armutsbevölkerung (wie ζ. B. für Getreide) vermutlich weniger stark als die des Warenkorbs für die höheren Einkommensgruppen. Dennoch sind beträchtliche, in der Statistik nicht berücksichtigte Kaufkraftunterschiede zwischen den Ländern anzunehmen. Schließlich gibt es zur Armutsstatistik keine weltweite Erfassung. Für das bevölkerungsreichste Land, die Volksrepublik China, sind besonders wenige Erhebungsdaten zugänglich. In den die Entwicklungsländer betreffenden Schätzwerten wird deshalb die VR China meist (und so auch in der folgenden Datenpräsentation) ausgeklammert. Ahluwalia selbst, der wesentlich zur Verwendung der international vergleichenden Armutsstatistik beigetragen hat, deutet seine eigenen Vorbehalte gegenüber dieser Situation so an: „ I am grateful to Robert Cassen and Dudley 5 Ein Beispiel aus Kenia für das wichtige Produkt Bohnen soll die möglichen Preisdifferenzen zeigen: Staatlicher Preis für wichtigste Bohnensorten (Erzeugerpreis je 90 kg Sack) im April - Juli 1975: 90,- K.Shs. Zur selben Zeit: Marktpreis im Kitui Distrikt durchschnittlich 185,- K.Shs.; Marktpreis im Nyeri Distrikt durchschnittlich 370,- K.Shs (vgl. Schönherr und Mbugua, 1976 a, S. 30).

1. Zum Phänomen der „Armut" in Entwicklungsländern

28

Seers for their vigilant concern about the dangers of using 'garbage data' which served to strengthen my own considerable reservations on this subject" {Ahluwalia, in: Chenery et al., 1976, S. 3). Solange jedoch keine besseren Informationen zugänglich sind, erscheint die vorsichtige Verwendung des existierenden Datenmaterials als die einzige Alternative zur Problemanalyse auf der Makroebene wirtschafts- und verteilungsstruktureller Prozesse. Freilich gilt dies unter dem Vorbehalt, daß auch die Theoriebildung entsprechend der Datensituation vorsichtig und verbesserungsfähig angelegt sein muß. Letztendlich, so sei hier noch angeführt, beruhen die Analysen der vorliegenden Untersuchung nur teilweise auf der international vergleichenden Statistik. Zahlreiche, sehr sorgfältig angelegte empirische Studien konnten zur Analyse von Zusammenhängen besonders der Mikroebene entwicklungsrelevanten Handelns verwertet werden.

1.2. Das Ausmaß „absoluter" Armut in Entwicklungsländern McNamara bezifferte in seiner Funktion als Weltbankpräsident das Ausmaß an absoluter Armut (jährliches pro-Kopf-Einkommen unter 75 US-Dollar) in den Entwicklungsländern mit 900 Millionen Menschen. Davon entfielen etwa 700 Mülionen auf ländliche Regionen, die restlichen 200 Mülionen auf Städte (McNamara,, 1975, S. 13). Ahluwalia hat versucht, die in absoluter Armut lebende Bevölkerung für eine Anzahl von Entwicklungsländern genauer zu ermitteln. Die folgende Tabelle gibt Aufschluß über das länderbezogene Ausmaß an absoluter Armut. Interpretiert man das Tabellenmaterial, so fällt die große Streubreite des Ausmaßes an absoluter Armut auf. Sie variiert bei den angegebenen Ländern 6 Afrikas Asiens Lateinamerikas

zwischen 7,5 und 90,1 % (geometrisches Mittel: 6 57 %) zwischen 5,0 und 71,1% (geometrisches Mittel: 62 %) zwischen 5,5 und 58,5 % (geometrisches Mittel: 24 %)

Weiter ist eine Häufung von Fällen mit hoher absoluter Armutsbevölkerung in Afrika gegenüber nur einem Fall in Lateinamerika augenfällig. Jedoch wird das numerische Ausmaß absoluter Armut durch die Zahl der präsentierten Län6

Gewichtet mit der Gesamtzahl der unter der Armutsgrenze lebenden Bevölkerung.

1.2 Das Ausmaß „absoluter" Armut in Entwicklungsländern

29

Tabelle 1: Anteil und Gesamtzahl der 1969 von absoluter Armut betroffenen Bevölkerung^ in 40 Entwicklungsländern^) nach Kontinent und in Rangordnung (nach Größe des Anteils); (A) Afrika, (B) Asien, (C) Lateinamerika (A) AFRIKA Land

Sambia Südafrika Gabun Elfenbeinküste Tunesien Senegal Rhodesien Uganda Niger Sierra Leone Madagaskar Tanzania Chad Dahomey

Anteil der Bevölkerung in absoluter Armut (in v.H.) 7,5 15,5 23,0 28,5 32,1 35,3 37,4 49,8 59,9 61,5 69,6 72,9 77,5 90,1

Gesamtzahl der Armutsbevölkerung (in Mio.) 0,3 3,1 0,1 1,4 1,6 1,3 1,9 4,1 2,3 1,5 4,7 9,3 2,7 2,3

(Β) ASIEN Land

Libanon Taiwan Iran Malaysia Korea (Rep.) Türkei Philippinen Irak Thailand Pakistan (0. u. W.) Sri Lanka Indien Burma

Anteil der Bevölkerung in absoluter Armut (in v.H.) 5,0 14,3 15,0 15,5 17,0 23,7 30,0 33,3 44,3 57,9 63,5 66,9 71,0

Gesamtzahl der Armutsbevölkerung (in Mio.)

0,1 2,0 4,2 1,6 2,3 8,2 11,2 3,1 15,4 64,7 7,8 359,3 19,2

1. Zum Phänomen der „Armut" in Entwicklungsländern

30

(C) LA ΤΕΙΝΑΜΕ RIKA Land

Anteil der Bevölkerung in absoluter Armut (in v. H.)

Uruguay Costa Rica Panama Guyana Jamaika Dominikan. Republik Mexiko El Salvador Brasilien Peru Kolumbien Honduras Ekuador a

5,5 8,5

11,0 15,1 15,4 15,9 17,8 18.4

20,0

25.5 27,0 38,0 58,5

Gesamtzahl der Armutsbevölkerung (in Mio.)

0,2 0,1

0,2

0,1

0,3 0,7 8,7

0,6

18,2 3,3 5,6

1,0

3,5

) 1969 jährliches pro-Kopf-Einkommen unter 75 US-Dollar.

b) Nur für 40 Entwicklungsländer sind Daten sowohl für die absolute als auch für die relative Armutsverbreitung vorhanden. Quelle: Ahluwalia, in: Chenery et al. (1976), S. 12 (ausgewählt).

der noch nicht genügend verdeutlicht, da es sich um Länder höchst unterschiedlichen Bevölkerungsumfanges handelt. So leben z. B. in Indien erheblich mehr Menschen in absoluter Armut als die gesamte Armutsbevölkerung im afrikanischen und lateinamerikanischen Kontinent ausmacht. Über die Hälfte der von absoluter Armut betroffenen Weltbevölkerung lebt, so läßt sich an der Bevölkerungsstatistik ablesen, in den dicht besiedelten Regionen Südasiens (insbesondere den Ländern Bangladesh, Burma, Indien und Pakistan). Die mit der Bevölkerung gewichteten Mittelwerte zeigen das besonders stark verbreitete Auftreten absoluter Armut in Asien und Afrika.

1.3. Das Ausmaß „relativer" Armut in Entwicklungsländern Während das Ausmaß der absoluten Armut ein Indikator für die Verbreitung von Not, Hunger und Elend ist, geben Maße zur relativen Armutssituation Auskunft über die Konzentration von Mangelerscheinungen im Verhältnis zu den

1.3 Das Ausmaß „relativer4* Armut in Entwicklungsländern

31

Bessergestellten. Diese relative Mangelerscheinung, hier bezogen auf Einkommen, kann sowohl auf hohem als auch auf niedrigem allgemeinem Einkommensniveau in ihrer Verteilungsrelation ähnlich ausgeprägt sein. Es besteht kein notwendiger Zusammenhang dergestalt, daß bei großem Ausmaß absoluter Armut auch die relative Armut stark ausgeprägt ist, und umgekehrt, geringe absolute Armut in einem Land gibt keinen Hinweis über die relative Armutsstruktur. Die folgende Statistik zeigt, welchen Anteil die 40 % der unteren Einkommen am nationalen Gesamteinkommen besitzen. Die Zeitpunkte für die Anteilsmessung variieren für einzelne Länder bis zu maximal 15 Jahren (zwischen 1956 und 1971), wobei sich die Mehrzahl der Meßwerte auf den Zeitraum zwischen 1968 und 1971 bezieht. Für erheblich früherliegende Meßzeitpunkte ergeben sich deshalb Vergleichseinschränkungen, obwohl sich die relative Armutsausprägung vermutlich nur sehr langsam verändert.

Tabelle 2: Anteil der 40 % mit den niedrigsten Einkommen am BSP nach Kontinent und Rangordnung (nach dem Ausmaß absoluter Armut); (A) Afrika, (B) Asien, (C) Lateinamerika (A) AFRIKA Land (Meßzeitpunkt) Sambia (1959) Südafrika (1965) Gabun (1968) Elfenbeinküste (1970) Tunesien (1970) Senegal (1960) Rhodesien (1968) Uganda(1970) Niger (1960) Sierra Leone (1968) Madagaskar (1960) Tanzania (1967) Chad(1958) Dahomey (1959)

relative Armut (in v.H.) 14,5

6,2

8,8

10,8 11.4

10,0

8,2

17,1

18,0

9,6 13.5 13,0

18,0

15,5

1. Zum Phänomen der „Armut" in Entwicklungsländern

32

(B) ASIEN Land Libanon (1960) Taiwan (1964) Iran (1968) Malaysia (1970) Korea (Rep.) (1970) Türkei (1968) Philippinen (1971) Irak (1956) Thailand (1970) Pakistan (O. u. W.) (1964) Sri Lanka (1969) Indien (1964) Burma (1958)

relative Armut (in v.H.) 13,0 20,4 12,5 11,6 18,0 9,3 11,6 6,8 17,0 17,5 17,0 16,0 16,5

(C) LA TEINAMERIKA Uruguay (1968) Costa Rica (1971) Panama (1969) Guyana (1956) Jamaika (1958) Dominikan. Republik ( 1969) Mexiko (1969) El Salvador (1969) Brasilien (1970) Peru (1971) Kolumbien (1970) Honduras (1968) Ekuador (1970)

16,5 11,5 9,4 14,0 8,2 12,2 10,5 11,2 10,0 6,5 9,0 6,5 6,5

Quelle: Ahluwalia, in: Chenery et al. (1976) S. 8-9 (ausgewählt).

Das hier verwendete Maß für relative Armut kann logisch nur zwischen 0 und 40 % variieren (zwischen überhaupt keinem Anteü und genau gleichem Anteil im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung am Gesamteinkommen). Unterschiede zwischen den Ländern erscheinen deshalb im Zahlenbild weniger augenfällig. Ein Vergleich mit den westlichen Industriestaaten und mit kommunistischen Staaten soll die globale Variationsstruktur der relativen Armut zeigen.

1.3 Das Ausmaß „relativer" Armut in Entwicklungsländern

33

Tabelle J.Vergleich des Anteils am BSP der 40 % mit den niedrigsten Einkommen zwischen Entwicklungsländern3) (aggregiert nach Kontinenten), marktwirtschaftlichen Industrieländern^)

und europäischen kommunistischen Ländernc)

(arithmetische Mittelwerte) Länder

relative Armut (in v.H.)

Entwicklungsländer insgesamt Afrika Asien Lateinamerika

12,4 12,5 14,4 10,2

Marktwirtschaftliche Industriestaaten

16,5

Kommunistische Staaten

24,1

a) 40 Entwicklungsländer (vgl. Tabelle 2). b) 11 Länder: Australien (1968), Bundesrepublik (1964), Dänemark (1968), Frankreich (1962), Großbritannien (1968), Japan (1963), Kanada (1965), Niederlande (1967), Norwegen (1968), Schweden (1963), USA (1970). c) 5 Länder: Bulgarien (1962), CSSR (1964), Jugoslawien (1962), Polen (1964), Ungarn (1969). Quelle: Ahluwalia, in: Chenery et al. (1976), S. 8-9; ausgewählt und Mittel werte berechnet.

In der Realität liegt die Variationsbreite dieses relativen Armutsmaßes also noch viel enger. In keinem von Ahluwalia erfaßten Fall liegt der Wert unter 6 oder über 28. Untersucht man die 40 Entwicklungsländer und vergleicht die Kontinente, so fällt eine stärkere Ausprägung relativer Armut für die Länder Lateinamerikas auf. Auch unterscheidet sich Lateinamerika darin, daß absolute und relative Armut positiv korrelieren, während in Afrika mit steigender absoluter Armut geringere relative Armut einhergeht und in Asien kein diesbezüglicher Zusammenhang ersichtlich ist.

34

1. Zum Phänomen der „Armut" in Entwicklungsländern

1.4. Statistische Beziehung zwischen dem Auftreten absoluter und relativer Armut sowie dem BSP-Niveau Der generelle Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an absoluter Armut und der Stärke relativer Armut wird noch deutlicher, wenn man die 11 Länder mit besonders ausgeprägter relativer Armut mit den 11 Ländern geringer relativer Armut vergleicht. Zur Hypothesenbildung wird das pro-Kopf-Bruttosozialproduktniveau (BSP) mit herangezogen. Aus dem Vergleich geht sehr deutlich hervor, daß starke relative Armut mit weniger stark ausgeprägter absoluter Armut einhergeht (Ausnahme in Klammern). In den Ländern der Auswahl mit geringer relativer Armut ist jedoch, von drei auffälligen Ausnahmen abgesehen (Werte in Klammern), absolute Armut stark verbreitet. Anhaltspunkte für Hypothesen zur Erklärung dieser Trends ergeben sich, wenn man das pro-Kopf-BSP berücksichtigt. Die Länder in der Statistik mit einem großen Anteil absoluter Armutsbevölkerung haben zugleich ein sehr niedriges pro-Kopf-BSP. Ein niedriges BSP kann sich, so darf man annehmen, auf einen großen Bevölkerungsteil in einer Höhe, die gerade ausreicht, um die physische Existenz zu erhalten, nur relativ gleichmäßig verteilen. Für eine statistisch ins Gewicht fallende starke Verteüungsungleichheit ist das BSP-Volumen zu niedrig. Umgekehrt setzt eine statistisch sichtbare starke Einkommensungleichheit ein höheres Volumen des BSP voraus. Die empirische Evidenz unterstützt diese Vermutung. Die drei Ausnahmen Korea (Rep.), Taiwan und Uruguay in obiger Statistik geben jedoch Anhaltspunkte dafür, daß mittleres und höheres pro-Kopf-BSPNiveau nicht notwendigerweise mit verstärkter Einkommensungleichheit einhergehen muß. Dieser Umstand wird später genauer analysiert werden. Schließlich lassen die Daten die Vermutung zu, daß in vielen Fällen (besonders der Länder in Asien) Massenarmut in ihrer absoluten Form nur durch Wirtschaftswachstum als eine conditio sine qua non reduziert werden kann.

1.5. Trends in der zeitlichen Veränderung des Auftretens von Armut, statistischer Zusammenhang mit dem BSP-Niveau Für die Untersuchung der Entwicklungstrends des Ausmaßes an Armut ist es sinnvoll, absolute Armut sowohl in absoluten Zahlen als auch in Anteüen zur Gesamtbevölkerung zu untersuchen, denn es ist denkbar, daß in einem einzelnen Land die Zahl der von Armut Betroffenen steigt, während ihr Anteü an der Gesamtbevölkerung gleich bleibt oder sogar zurückgeht. Es stellen sich deshalb drei Fragen im Hinblick auf die Armutsentwicklung:

1.5 Trends in der zeitlichen Veränderung des Auftretens von Armut

35

Tabelle 4: Ausmaß absoluter Armut in Ländern mit (a) starker relativer und Ländern mit (b) geringer relativer Armut und pro-Kopf-B SPa) (a) in Ländern starker relativer Armut (9,4 % und weniger) relative Armut (Anteil der 40 % u.E. am BSP) (in v. H.)

Land

Südafrika Ekuador Honduras Peru Irak Jamaika Rhodesien Gabun Kolumbien Türkei Panama

/

Land

6,2 6,5 6,5 6,5 6,8 8,2 8,2 8,8 9,0 9,3 9,4

Anteil der absolut Armen an der Gesamtbevölkerung (in v. H.) 15,5 (58,5) 38,0 25,5 33,0 15,4 37,4 23,0 27,0 23,7 11,0

pro-KopfBSP (in US-Dollar) 669 277 265 480 200 510 252 497 358 282 692

(b) in Ländern geringer relativer Armut (16 % und mehr) Anteil der absolut relative Armut pro-KopfArmen an der Ge(Anteil der 40 % samtbevölkerung BSP u.E. am BSP) (in US-Dollar) (in v. H.) (in v. H.)

Indien Burma Uruguay Sri Lanka Thailand Uganda Pakistan (O. u. W.) Chad Korea (Rep.) Niger Taiwan

16,0 16,5 16,5 17,0 17,0 17,1 17,5 18,0 18,0 18,0 20,4

66,9 71,0 ( 5,5) 63,5 44,3 49,8 57,9 77,5 (17,0) 59,9 (14,3)

99 82 618 95 180 126 100 78 235 97' 241

a) Der Meßzeitpunkt ist identisch mit dem Zeitpunkt für die Ermittlung der relativen Armut. Werte in Klammern zeigen auffällige Abweichung vom Durchschnitt. Quelle: Ahluwalia, in: Chenery et al. (1976), S. 8-9 (ausgewählt).

36

1. Zum Phänomen der „Armut" in Entwicklungsländern

1. ob im Entwicklungsprozeß der Entwicklungsländer die absolute Zahl der in Armut lebenden Menschen zu- oder abgenommen hat; 2. ob sich der Anteil der von absoluter Armut Betroffenen an der Gesamtbevölkerung verändert hat, und 3. wie sich die relative Armut entwickelt hat. Die Datenbasis zur Untersuchung der Entwicklungstrends für das Armutsausmaß ist im Gegensatz zur Wirtschaftswachstumsstatistik unzureichend. Dies gilt für Zeitreihenuntersuchungen im internationalen Vergleich in besonderem Maße. Als ersatzweises Vorgehen für Zeitreihenanalysen bietet sich das Verfahren der Querschnittsanalyse an, bei welchem hypothetisch unterstellt wird, daß ζ. B. unterschiedliche Bruttosozialproduktniveaus auch unterschiedliche Zeitpunkte des Entwicklungsverlaufes repräsentieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Ausgangspunkte der Entwicklungsabläufe und damit die absolute Zeitspanne für die Entwicklung eines bestimmten Niveaus unterschiedlich waren, oder ob die Entwicklungsprozesse sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vollzogen haben. Dies ist methodologisch freilich ein sehr problematisches Vorgehen, da man von der nicht belegten Annahme ausgeht, daß Länder mit höherem BSP-Niveau Vorwegnahmen zukünftiger Entwicklung der Länder mit niedrigerem BSP-Niveau darstellen. Man formuliert dabei ζ. B.: Bei steigendem BSP nimmt Armut zu oder ab und bezieht diesen aus dem statischen Ländervergleich gewonnenen Zusammenhang auf den zeitlichen Entwicklungsprozeß in einem einzelnen Lande. Ein weiteres Ersatzverfahren zur sehr groben Feststellung von Trends sind indirekte Schlußfolgerungen aus dem Vergleich der Armutssituation zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem anderen zur Armut in Relation stehenden Datum, für welches Zeitreihendaten zur Verfugung stehen — wie ζ. B. der Bevölkerungsentwicklung. Mit diesem Verfahren kann man ζ. B. für die Länder Südasiens eine numerische Zunahme absoluter Armut nachweisen.

1.5.1. Trends der Gesamtzahl der von absoluter Armut betroffenen Personen Ahluwalia kommt aufgrund einer Auswertung von 44 Entwicklungsländern, die etwa 60 % der Bevölkerung aller Entwicklungsländer (ohne VR China) umfassen, für 1969 (zu Preisen von 1971) auf eine absolute Armutsbevölkerung (jährliches pro-Kopf-Einkommen unter 75 US-Dollar) von 578,2 Millionen {Ahluwalia, in: Chenery et al., 1976, S. 12). Auf 100% hochgerechnet beliefe sich die Zahl auf etwas über 800 Millionen. Der Präsident der Weltbank schätzte 1975, wie schon ausgeführt, die absolute Armutsbevölkerung auf etwa 900 Millionen (McN amara , 1975). Geht man davon aus, daß sich die Bevölkerung der Entwicklungsländer (ohne China) 1969 auf 1,9 Milliarden bezifferte und

1.5 Trends in der zeitlichen Veränderung des Auftretens von Armut

37

sich während der 30 davor liegenden Jahre verdoppelt hat, also etwa um 1940 bei einer Milliarde lag, so ist deutlich, daß innerhalb der letzten 30 Jahre die absolute Größe der Armutsbevölkerung erheblich gestiegen sein muß. Am Beispiel Indiens läßt sich dies genauer zeigen. Indien ist mit Abstand dasjenige Land mit den meisten in absoluter Armut lebenden Menschen und hat an der Gesamtheit der Armutsbevölkerung aller Entwicklungsländer (ohne China) einen Anteil von etwa 2 Fünftel, 1969 nämlich 359,3 Millionen Menschen (vgl. Ahluwalia, in: Chenery et al., 1976, S. 12). Die Bevölkerung Indiens

Tabelle 5: Trends für die Anzahl der von Armut Betroffenen in ländlichen Regionen ausgewählter Länder Asiens Land

Armutskriterium

Zeitpunkt

ländliche Armutsbevölkerung (in Mio.)

Bangladesh

Nahrungsaufnahme von 2.100 Kalorien und 45 g Eiweiß

1963/64

49,9

1973/74

64,0

1960/61 „ pro-Kopf_ Einkommen 1970/71 360,- Rs

214,2

1963/64

23,5

1969/70

26,5

Indien 3 ^

Pakistan

Philippinen

Thailand

240,- Rs

300,- Rs (zu konstanten Preisen v. 1959/60)

207,3

Minimum für Ernährungskosten für eine 6-Personen-Familie

1961

12,1

1971

17,1

Index aus verschiedenen Komponenten

1962/63 1968/69

11,0 8,2

a) Der leicht abnehmende Trend während dieser Periode in Indien hängt von der Festsetzung des jeweiligen nominalen pro-Kopf-Einkommens ab, welches vermutlich die gleiche Kaufkraft zu beiden Zeitpunkten repräsentieren soll. Diese Festsetzung erscheint problematisch. Andere Untersuchungen für Indien bestätigen diesen Trend nicht (vgl. Dandekar and Rath, 1971). Quelle: Asian Development Bank (1978), S. 62.

38

1. Zum Phänomen der „Armut" in Entwicklungsländern

betrug 1951 jedoch nur 361 Millionen (Government of India, 1969, S. 6) - also gerade soviel insgesamt, wie 1969 als absolute Armutsbevölkerung ausgewiesen ist. Zwar kann man nach obigen Schlüssen davon ausgehen, daß sich während der letzten Generation in einer Reihe von Entwicklungsländern die Gesamtzahl der von Armut betroffenen Menschen erhöht hat. Ob dieser Trend gegenwärtig jedoch abnehmend oder zunehmend ist, kann freüich auf der Basis des vorliegenden Datenmaterials nur unzureichend beurteüt werden. Die Asian Development Bank (1978) gibt Trends für ländliche Armut einiger weniger Länder anhand unterschiedlicher Armutskriterien. In diesen 5 Ländern zeigen sich unterschiedliche Trends: In 3 von ihnen hat die Zahl der von Armut betroffenen Landbevölkerung während der Meßperiode zu-, in 2 (darunter Indien) abgenommen. Diese Daten sind jedoch nicht nur dadurch beschränkt aussagekräftig, daß sie sich auf die ländliche Bevölkerung beziehen, sondern auch, weü die Armutsentwicklung auf dem Lande von den Migrationsströmen der Armutsbevölkerung in die Städte abhängt.

1.5.2. Trends des Anteils der von absoluter Armut betroffenen Personen an der Gesamtbevölkerung im Vergleich zu Veränderungen im Wirtschaftswachstum Noch ungenauer läßt sich die Frage nach dem Trend des Anteils der von absoluter Armut Betroffenen an der Gesamtbevölkerung beantworten. Für die Entwicklungsländer insgesamt sprechen Indizien eher für einen Trend zu abnehmenden Anteüen der Armutsbevölkerung im Zeitraum von 1961 bis 1974. Diese Vermutung läßt sich ζ. B. durch folgenden Tatbestand unterstützen. Die realen jährlichen pro-Kopf-Zuwachsraten der Einkommen liegen in den Entwicklungsländern durchschnittlich zwischen über 3 und unter 5 Prozent. Der Analyse von Ahluwalia und Chenery (1976) von 13 Entwicklungsländern zufolge haben die 40 % mit den unteren Einkommen (während unterschiedlicher Zeiträume) ebenfalls Einkommenszuwächse (nicht zu verwechseln mit Anteüszuwächsen am BSP) zu verzeichnen (vgl. ebenda, S. 3843). Dies hätte zur Folge, daß sich der unter der absoluten Armutsgrenze befindliche Anteil der Gesamtbevölkerung reduziert, weü die steigenden Einkommen die dicht unter der absoluten Armutsgrenze liegende Bevölkerung in zunehmendem Maße über die Grenzlinie hebt. Diese Folgerung beruht jedoch auf der Annahme, daß die 40 % der unteren Einkommensschicht in etwa für die Weltbevölkerung in absoluter Armut repräsentativ ist. Dies entspricht in etwa dem weltweiten Durchschnitt aller Entwicklungsländer. In den einzelnen Ländern variiert jedoch der Anteü der Armutsbevölkerung zwischen 5 und 90 %, was

1.5 Trends in der zeitlichen Veränderung des Auftretens von Armut

39

die Annahme für Fälle, die vom Durchschnitt stark nach oben oder unten abweichen, unzulässig macht. Schließlich unterstützt der schon oben im komparativ-statischen Vergleich nachgewiesene gegenläufige Trend des BSP-Niveaus und der Höhe des Anteils der absoluten Armutsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung die Vermutung, daß im Durchschnitt der Länder die Bevölkerungsanteile der von absoluter Armut Betroffenen zurückgegangen sind. Die Asian Development Bank gibt für die 5 ausgewählten Länder der oben gezeigten Tabelle Nr. 5 die Anteilsverschiebungen in der ländlichen Armutsbevölkerung wieder. Danach ist während des untersuchten Zeitraums in Bangladesh der Anteil der ländlichen Armutsbevölkerung an der ländlichen Gesamtbevölkerung von 88 auf 94 % (1963/4-73/4) gestiegen, in Indien von 60 auf 48 % (1960/1—70/1), in Pakistan von 61 auf 60 % (1963/4-69/70), in Thailand von 47 auf 26 % (1962/3-68/9) gefallen und auf den Philippen von 61 auf 64 % (1961-71) wiederum gestiegen (Asian Development Bank, 1978, S. 62). Untersucht man einzelne Entwicklungsregionen, so fällt auf, daß der Zuwachs der pro-Kopf-Einkommen in Südasien stark von allen übrigen Regionen nach unten abweicht. Tabelle 6: Durchschnittliche jährliche Real-Zuwachsraten des BSP 1961—1974 (pro Kopf) aller Entwicklungsländer 8) im Vergleich zur Region Südasien b) Zuwachs des BSP pro Kopf (in v. H.) 1961-65 1966-71 1972 1973 Entwicklungsländer insgesamt Südasien

3,3 1,3

3,6 1,8

4,1 -3,7

4,9 1,5

1974

3,8 -0,9

a) Einige Entwicklungsländer sind in dieser Statistik nicht enthalten: z. B. kommunistische Staaten und einige Staaten des südlichen Afrika. b) Bangladesh, Burma, Indien, Nepal, Pakistan, Sri Lanka. Quelle: Handbuch für internationale Zusammenarbeit, I - O , A - F ; I 00 02, S. 1. Der jährliche reale pro-Kopf-Einkommenszuwachs für Südasien liegt für 1961-71 unter 1,6 %. Im Durchschnitt der nachfolgenden drei Jahre (197274) ist er negativ. Obwohl die Verteilung des Einkommenszuwachses auf die von absoluter Armut Betroffenen im Zeitvergleich unbekannt ist, kann man

1. Zum Phänomen der „Armut" in Entwicklungsländern

40

mit Einschränkung die Vermutung anstellen, daß in Südasien über die Wachstumsprozesse mangels Volumen längerfristig kaum Anteüserhöhungen ausgelöst werden konnten. Dort, wo sich Armut bevölkerungsmäßig am stärksten konzentriert, nämlich in Südasien, sind auch die Indizien für den Entwicklungstrend am wenigsten günstig: hohes Ausmaß absoluter Armut, in der Gesamtzahl der Betroffenen zunehmend, anteüsmäßig keine Anzeichen längerfristiger Abnahmetrends, geringes Wachstum des pro-Kopf-BSP auf niedrigem Niveau - und dies trotz einer vergleichsweisen guten Einkommensverteilung.

1.5.3. Trends in der Einkommensverteilung (relative Armut) und Vergleich mit Veränderungen des BSP-Niveaus Auch zur Bestimmung des Trends der relativen Armut fehlen Daten. Verwendet man die Querschnittsanalyse wiederum als Hilfskonstruktion zur Trendermittlung, ergeben sich folgende Zusammenhänge: Bei der Korrelierung der durchschnittlichen pro-Kopf-Einkommen der 40 ausgewählten Entwicklungsländer mit dem jeweüigen Anteü der 40 % der Bevölkerung mit dem niedrigsten Einkommen am Gesamteinkommen ergibt sich ein Korrelationskoeffizient 7 von r = 0,47. Das Korrelationsergebnis bedeutet, daß im Trend Entwicklungsländer mit höherem Sozialprodukt auch mehr relative Armut (ungleiche Einkommensverteilung) aufweisen. Die schon geäußerte Vermutung, in den Entwicklungsländern würde oft mit wirtschaftlichen Wachstumsprozessen zunehmende relative Armut einhergehen, wird bestärkt. Die Hypothese ist jedoch auch problematisch, da sie nur einen kleinen Teil des gefundenen Zusammenhangs erklärt (r^ = 22). Es gibt Länder mit umgekehrtem Trend (wie schon erwähnt) ζ. B. Taiwan, 1953-61, Sri Lanka 1963-70, Iran 1960-68, Kolumbien 1964-70 (vgl. Ahluwalia, in: Chenery et al., 1976, S. 14). Neuere Weltbankstatistiken geben für insgesamt 19 Entwicklungsländer die Einkommensanteile der 20 % Bevölkerung mit den niedrigsten Einkommen an. Diese Einkommensgruppe unterscheidet sich in ihrer Einkommenssituation vermutlich oft von den darüber liegenden 20 % der Armutsbevölkerung erheblich und kann deshalb nicht mit Trends für die bisher verwendete 40 %-Bevölkerung gleichgesetzt werden 8. 7

Produkt-Moment-Korrelation. Zudem ist methodologisch zu bedenken, daß mit der Größe der Anteüe am BSP die Spanne für Schätz-, Zuordnungs- und Erhebungsfehler variiert. Auf die sehr niedrigen Anteüe der 20 %-Gruppe am BSP, die sich zwischen 2 und 10 % bewegen, und die noch niedrigeren Unterschiedswerte im Zeitvergleich wirken sich Schätzfehler stärker aus als auf größere Aggregationseinheiten. Die Daten müssen deshalb mit besonderer Vorsicht interpretiert werden. 8

1.5 Trends in der zeitlichen Veränderung des Auftretens von Armut

41

Tabelle 7: Einkommensanteil am BSP der 20 % mit den niedrigsten Einkommen im Zeitvergleich 1960 und 1970 in ausgewählten Entwicklungsländern (inv. H.)

Afrika Gabun Elfenbeinküste Asien Indien Türkei Philippinen Malaysia Bangladesh (O.-Pakistan) Korea (Rep.) Libanon Pakistan (W.) Lateinamerika Kolumbien Peru Venezuela Ekuador Mexiko Brasilien Panama Costa Rica El Salvador

1960

1970

Trend +, - , g (gleich)

2,0 7,0

3,0 4,0

+

4,0 4,0 5,0 6,5 7,0 7,0 7,0 7,0

5,0 3,0 4,0 3,4 9,0 10,0 4,0 8,0

+

3,0 3,0 3,0 4,0 4,0 5,0 5,0 6,0 6,0

4,0 2,0 2,0 3,0 4,0 5,0 3,0 5,0 4,0

+ + + +

g g

Quelle: Weltbank, World Tables (1976 c), S. 515, 517.

Interpretiert man die Weltbank-Statistik, so fallen zwei Besonderheiten auf: 1. In den Ländern mit besonders hohem Ausmaß an absoluter Armut (Bangladesh, Indien, Pakistan) hat sich auf durchschnittlichem und höherem Anteilsniveau zwischen 1960 und 1970 der Einkommensanteil der unteren 20 % der Bevölkerung verbessert. 2. In den lateinamerikanischen Ländern (der allerdings kleinen Auswahl) hat sich der Einkommensanteil überwiegend auf niedrigem Anteilsniveau der 20 % relativ Ärmsten noch verschlechtert.

42

1. Zum Phänomen der „Armut" in Entwicklungsländern

Die Asian Development Bank gibt für 8 asiatische Länder die Anteilstrends für die unteren 40 % der Einkommensbezieher während verschiedener Perioden unterteilt nach ländlicher und städtischer Bevölkerung wie folgt an:

Tabelle S.Trends der Anteile der unteren am BSP beteiligten 40 % in ausgewählten Ländern Asiens

Land

Zeitpunkt

Anteil der unteren 40 % am BSP (in v. H.) und Trend: +, - , g (gleich) ländlicher Sektor

städtischer Sektor 13.1 19.2

Bangladeseh

1963/4 1968/9

19,2 23,6

+

Indien

1964/5 1967/8 1970/1

19,3 13.0 17.1

+

14,6 14,4 •

g

1966 1971

20,1 20,6

g

19,8 20,4

g

1957/8 1970

19,1 13,5

-

18,6 12,6

-

1963/4 1970/1

18,0 21,9

+

15,8 19,3

+

1961 1971

15,9 13,1

-

11,0 13,4

+

1961 1973

12,5 17,1

+

10,7 16,2

+

1962/3 1970

14,9 14,3

g

13,0 16,8

+

Korea (Süd) Malaysia Pakistan Philippinen Sri Lanka Thailand

+

Quelle: Asian Development Äwfc (1978), S. 64.

Auch hier wird kein eindeutiger Trend sichtbar. Im städtischen Sektor scheinen - mit Ausnahme von Malaysia - die Anteile der unteren 40 % der Bevölkerung am BSP eher zuzunehmen als im ländlichen Bereich.

1.5 Trends in der zeitlichen Veränderung des Auftretens von Armut

43

Für Indien werden die Anteüe im ländlichen Sektor für drei Zeitpunkte angegeben. Sie zeigen erhebliche Schwankungen der Einkommensverteüung innerhalb kurzer Perioden. Die Hypothese über das Zusammenfallen von verstärkter relativer Armut und wirtschaftlichem Wachstumsprozeß scheint jedoch nur durch Entwicklungsländerbeispiele Unterstützung zu finden. Ahluwalia (in: Chenery et al., 1976) hat den beobachtbaren Zusammenhang zwischen BSP-Niveau und Einkommensverteüung global untersucht. Er stellte den jeweüigen Anteü der Bevölkerung der oberen 20 % (Si Equation) und der unteren 40 % (S3 Equation) in der Einkommensskala in bezug zur Höhe des jeweüigen Bruttosozialproduktes in allen Ländergruppen der Welt fest und kam zu Ergebnissen, die er wie folgt präsentiert:

Graphik 1: Einkommensverteilung in bezug zum BSP S1 = Anteil der oberen 20 % am Gesamteinkommen S3 = Anteil der unteren 40 % am Gesamteinkommen

Quelle: Ahluwalia, in: Chenery et al. (1976), S. 15. Die Querschnittsanalyse von Ahluwalia zeigt folgenden Entwicklungstrend zwischen relativer Armut und dem BSP-Niveau: Steigendes BSP verstärkt zunächst relative Armut. Etwa von einem durchschnittlichen pro-Kopf-Niveau

44

1. Zum Phänomen der „Armut" in Entwicklungsländern

des BSP um 600 - 700 US-Dollar (zu Preisen von 1971) nimmt die Stärke relativer Armut langsam wieder ab. Der von Ahluwalia dargestellte statistische Zusammenhang von relativer Armuts- und Wirtschaftsentwicklung suggeriert plausible Begründungen: In der Anfangsphase wirtschaftlicher Entwicklung führen Differenzierungsprozesse im Wirtschaften der Menschen zunächst zu verstärkten Einkommensdisparitäten. Schon aus organisatorischen, technischen und infrastrukturellen Gründen müssen sich wirtschaftliche Entwicklungen im Anfangsstadium auf bestimmte Punkte konzentrieren, und nur eine begrenzte Anzahl von Menschen kann zunächst von ihnen erfaßt werden. Dies produziert plausiblerweise verstärkte relative Armut. Aber auch vermehrte absolute Armut ist bei dem vom wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß noch nicht erfaßten Teil der Bevölkerung zu erwarten, weil sich das Wachstum der Bevölkerung fortsetzt, ohne von entsprechenden Einkommenszuwächsen begleitet zu sein. Erst in einem späteren Stadium, wenn die Entwicklungsprozesse ein großes Volumen erreicht haben, beginnt sich das Ausmaß an Armut absolut und schließlich auch relativ zu reduzieren, weil die einkommenssteigernden Prozesse immer größere Teile der Armutsbevölkerung erfassen 9. Die Uminterpretation der Querschnittsanalyse zu einem Entwicklungstrend ist jedoch, wie schon erwähnt, nur möglich, wenn man davon ausgehen kann, daß die Länder mit hohem Sozialprodukt (pro Kopf) den Entwicklungsverlauf der Länder mit niedrigerem Sozialprodukt vorweggenommen haben. Die Implikation eines prinzipiell gleichartigen Entwicklungsverlaufes für heute entwickelte und für Entwicklungsländer ist aber wissenschaftlich kontrovers. Die Kausalitätsbeziehungen zwischen Wirtschaftswachstum und Armut bedürfen deshalb einer gründlicheren Analyse.

1.6. Zusammenfassung Die noch relativ junge Umorientierung in der wissenschaftlichen und entwicklungspolitischen Bewertung der Armut als einem nur zeitweiligen Problem (verbunden mit der Erwartung, daß dieses im Wachstumsprozeß stetig an Bedeutung verliert) zur Anerkennung der Armut als Zentralproblem der Entwicklungsländer, das sich im Prozeß wirtschaftlicher Entwicklung häufig sogar verschärft, hat Auswirkungen auf den Operationalisierungs- und Datenstand der Armut. Die diesbezügliche Operationalisierung und internationale Statistik sind einerseits im Vergleich ζ. B. zur Wirtschafts-, Bevölkerungs- und Bildungsstatistik noch wenig entwickelt, was sich in unbefriedigenden Operationalisierungsverfahren, uneinheitlichen Definitionsverwendungen und einem gravierenden 9

Diese Interpretation geht vor allem auf Kuznets (1955) zurück, auf den sich Ahluwalia zumindest teilweise bezieht.

1.6 Zusammenfassung

45

Datenmangel ausdrückt. Andererseits beginnen sich erste praktikable Operationalisierungsansätze einzubürgern, und es werden zunehmend Anstrengungen für eine international vergleichende Armutsstatistik unternommen. So hat sich die für die Struktur der Armut wichtige Unterscheidung von absoluter und relativer Armut in der Statistik durchgesetzt. Absolute Armut soll eine allgemein als Elend anerkannte Situation kennzeichnen, relative Armut die geringe Beteüigung der Ärmsten am volkswirtschaftlichen Gesamteinkommen. Die vielleicht größte Schwäche der Statistik besteht (neben den noch groben Erhebungsverfahren) in der nur eingeschränkten internationalen Vergleichbarkeit. Die Meßwerte beziehen sich auf in US-Dollar bewertete Bar- und Sacheinkommen, bezogen auf ein bestimmtes Jahr, berücksichtigen jedoch nicht die länderspezifische Kaufkraft der Einkommen und basieren auf oft künstlich festgesetzten Wechselkursen. Das Ausmaß absoluter Armut ist numerisch sehr groß und Indizien sprechen für eine weitere zumindest numerische Zunahme. Absolute Armut konzentriert sich numerisch am stärksten im südasiatischen Raum. Der Anteü der Bevölkerung in absoluter Armut variiert jedoch zwischen einzelnen Entwicklungsländern extrem. Für eine größere Anzahl von Ländern sprechen Indizien für einen langfristigen Trend zur Abnahme des Anteüs der absoluten Armutsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung. Für den südasiatischen Raum gibt es jedoch kaum Hinweise für einen solchen Trend. Die Stärke der relativen Armut steht in keinem Zusammenhang mit dem Ausmaß der absoluten Armut. Die landläufige Meinung, Elend konzentriere sich am stärksten da, wo die Verteüungsverhältnisse besonders „ungerecht" sind, wird von der Statistik nicht bestätigt. Dagegen tritt starke relative Armut besonders häufig in Entwicklungsländern mit höherem BSP auf. Eine Korrelationsanalyse weist für 40 Entwicklungsländer einen leichten Trend zu verstärkter relativer Armut bei zunehmendem BSP-Niveau nach. Da sich die Länder (in der Auswahl der Statistik) mit höherem BSP-Niveau jedoch besonders häufig auf dem lateinamerikanischen Kontinent finden, ist unklar, ob es sich um spezifisch lateinamerikanische Phänomene oder allgemeine Wachstumserscheinungen handelt. Diese Frage wird noch durch einzelne auffällige Gegenbeispiele - nämlich abnehmende relative Armut bei erhöhtem BSP - aktualisiert. Ahluwalia glaubt nachweisen zu können, daß sich relative Armut bis zu einer bestimmten Sozialproduktschwelle verstärkt und sich dann langsam mit steigendem Sozialproduktniveau wieder abschwächt. Ein Automatismus für diesen Entwicklungstrend wird jedoch bestritten und dieser, als Hypothese, von der Art der Entwicklungspolitik abhängig gesehen.

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik auf das Verhältnis von Armut und Wirtschaftswachstum Die vorliegende Fragestellung bezieht sich nicht generell auf die Faktoren der Armut oder des Wirtschaftswachstums. Sowohl hinter dem Phänomen der Armut als auch des Wirtschaftswachstums stehen sehr vielfältige und verschiedenartige Ursachen, die zudem höchst unterschiedlich für einzelne Länder oder Bevölkerungsgruppen ausgeprägt sind. Immer wieder wird ζ. B. auf Sozialstrukturen verwiesen, welche die Entwicklungsmöglichkeiten besonders der Armutsgruppen, aber auch der Volkswirtschaft insgesamt, behindern oder fördern. Kaum eine entwicklungspolitische Abhandlung ist zu finden, in der nicht die Wirkungen des enormen Bevölkerungswachstums ζ. B. auf die landwirtschaftlichen Betriebsgrößen, auf die Migration und auf die Beschäftigungslage behandelt werden. Auch die Bedeutung ökologischer, geographischer und klimatischer Faktoren wird in der Literatur anerkannt. Die internationalen wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen werden als Faktoren der Armut wie des Wachstums gegenwärtig besonders intensiv diskutiert. Eine Analyse der Armut und des Wirtschaftswachstums in Entwicklungsländern müßte darüber hinaus zahlreiche weitere Faktoren berücksichtigen. Im Rahmen des Themas interessiert hier jedoch nur ein bestimmter Ausschnitt der Armut- und Wachstumsproblematik: Es wird nach dem Verhältnis von Armut und Wirtschaftswachstum unter der Einwirkung entwicklungspolitischer Instrumente gefragt. Zwischen Armut und Wirtschaftswachstum scheinen problematische Beziehungen zu existieren, die bisher unzureichend berücksichtigt wurden. Entwicklungspolitische Maßnahmen haben dieses Verhältnis, so die Hypothese, mit beeinflußt. Bestimmte gängige Entwicklungsstrategien, so lassen sich die Ergebnisse der folgenden Analysen vorwegnehmen, können dafür verantwortlich gemacht werden, daß sich die Problematik dieses Verhältnisses verschärft und nicht reduziert hat. Die Fragestellung beinhaltet also ein Variablensystem, in welchem als unabhängige Variable das entwicklungspolitische Instrumentarium und als abhängige Variable die Beziehung von Wachstum und Armut gesetzt werden. Als entwicklungspolitisches Instrumentarium (unabhängige Variable) sollen alle Strategien und Maßnahmen verstanden werden, welche die Steuerung von wie auch immer definierten Entwicklungsprozessen beabsichtigen. Das Instrumentarium umfaßt Steuerungsmaßnahmen im Makrobereich (ζ. B. die nationa-

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

47

le Wirtschaftsplanung) wie im Mikrobereich (ζ. B. regional abgegrenzte Entwicklungsprojekte). Für „Wachstum" (abhängige Variable) wird die übliche Definition verwendet — die Zunahme (als Rate) des Bruttosozialprodukts. Armut (abhängige Variable) soll, wie oben diskutiert, in der Regel als „absolute" und „relative" Armut auf der Dimension des in Geld bewerteten Einkommens definiert werden. Das Verhältnis von Armut und Wachstum (Beziehung der beiden abhängigen Variablen) wird als problematisch angesehen, wenn längerfristig Wachstum nicht zu entsprechend signifikanter Reduzierung der Armut führt - wenn die Beschäftigung allgemein und die Einkommen der Masse von selbständigen Bauern, Pächtern, Kleingewerbetreibenden und abhängig Beschäftigten im besonderen nicht entsprechend wachsen. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, mit Hüfe theoretischer Analysen die Grundlage der Hypothese zu verdeutlichen, daß das überwiegend in den Entwicklungsländern eingesetzte entwicklungspolitische Instrumentarium mitverursachend für das problematische Verhältnis von Wachstum und Armut ist

2.1. Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik In der jüngeren entwicklungspolitischen Diskussion stößt man sehr häufig auf den pauschalierenden Vorwurf, die vornehmlich wirtschaftliche Wachstumsorientierung der Entwicklungspolitik sei die Ursache dafür, daß das Ausmaß der Armut in Entwicklungsländern so wenig unter Kontrolle gebracht worden sei. Dieser Vorwurf erscheint, so formuliert, zu wenig differenziert. Die Wirtschaftswachstumspolitik ist ein potentiell hochgradig variables Instrumentarium, das einmal zahlreiche alternative Instrumente für ein und dieselbe Zielsetzung und zum anderen unterschiedliche Maßnahmen für verschiedenartige Zielprioritäten kennt. Die Vorwürfe sind gegenüber einer ganz bestimmten Wachstumspolitik gerechtfertigt, nämlich einer Politik, deren prioritäres Ziel eine möglichst hohe Wachstumsrate des BSP ist, ohne soziale Kriterien zu berücksichtigen und deren zentraler Mitteleinsatz sich auf die Erhöhung der Investitionsquote richtet. Die Erhöhung der Investitionsquote als zentrale Maßnahme zur Erzielung von Wachstum ist dabei ein besonders bedeutsamer Aspekt für die Problematik.

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

48

2.1.1. Das investitionsquotenbezogene Wachstumsmodell und seine typischen Maßnahmen Die auf die Investitionsquote fixierte Wachstumspolitik erfuhr ihre theoretische Ausformulierung in den 50er Jahren. Das generelle Wachstumsmodell wird mit den Namen Harrod (1949) und Domar (1957) verbunden. Auch die Entwicklungspläne sehr vieler Länder der Dritten Welt basierten, soweit ihnen theoretisches Modelldenken zugrunde lag, auf dem Ansatz von Harrod und Domar {Eisenmann, 1977; Todaro, 1977, S. 87-90; von Urff, 1973, S. 105107) oder Varianten dieses Modellansatzes1. Der Wachstumstheorie von Harrod - Domar liegt folgende Logik zugrunde: 1. Die Wachstumsrate des BSP läßt sich aufspalten einmal in die Investitionsquote, d. h. den Anteü des BSP, der wieder investiert wird, und zum andern in den reziproken marginalen Kapitalkoeffizienten, ein Maß, in welchem die Kapitalproduktivität zum Ausdruck kommt 2 . 2. Die Wachstumsrate des BSP kann nach dieser Definitionsgleichung auf zweifache Weise erhöht werden; einmal durch Erhöhung der Investitionsquote, zum anderen durch Verminderung des marginalen Kapital-Koeffizienten (bzw. einer Kombination beider Maßnahmen). 1

Eine solche Variante stellt beispielsweise das Modell von Mahalanobis (1955/6, 1961) dar (vgl. dazu von Urff, 1973, S. 276-291), das entscheidend die indische Entwicklungsplanung beeinflußt hat. Weitere Differenzierungen der „postkeynesianischen Wachstumstheorie", wie die Harrod-Domar-„Schule" auch bezeichnet wird, werden mit Autoren wie Leibenstein (1957) oder Rosenstein-Rodan (1961) verbunden. Auch die Sektorenmodelle von Fei und Ranis (1961) sowie Lewis (1954; 56), auf die später ausführlich eingegangen wird, sowie die bekannte Stadientheorie von Rostow (1960) sind mit diesem Wachstumsmodell kompatibel. 2 Üblicherweise wird dies in der sogenannten „Harro d-D ornar "-Gleichung ausgedrückt: A y = l_ J_ y y C wobei y = BSP I = Investition und C' = = Marginaler Kapitalkoeffizient Ay bedeuten. Die Gleichung hat in dieser Form nur tautologische Bedeutung. Zur empirisch gehaltvollen Theorie läßt sie sich umwandeln, indem einmal die Investitionsquote und zum andern der marginale Kapitalkoeffizient je als unabhängige Variable der Wachstumsrate gesetzt werden (vgl. dazu Dürr, 1977, S. 42-66). Harrod-Domar haben in der Gleichung, so muß korrekterweise vermerkt werden, statt der Investitionsquote die Sparquote verwendet. Die Identität (ex post) beider Größen läßt jedoch die übliche Ausdrucksweise durch die Investitionsquote zu.

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

49

Für die Beeinflussung der beiden Wachstumsdeterminanten ergeben sich in der Planungspraxis jedoch recht unterschiedliche Ansatzpunkte (vgl. ζ. B. Dürr, 1977, S. 42 iUEisenmann, 1977; von Urff 1973, S. 106). Nach dem Modell ist eine Erhöhung der Investitionsquote nur möglich, wenn entweder die Sparquote erhöht wird, oder aber zusätzlich Kapital importiert wird (und gleichzeitig eine ausreichende Investitionsbereitschaft besteht). In der Regel wirkt sich die Aufbringungsseite des Kapitals stärker beschränkend aus, zumal eine eventuell zu geringe private Investitionsbereitschaft durch öffentliche Investitionen kompensiert werden kann. Von Urff (1973) weist in diesem Zusammenhang auf die große Bedeutung der Wirtschaftsordnung hin. Klammert man den Subsistenz- und den „informalen" Bereich aus, gilt für Entwicklungsländer generell, daß der Anteil des öffentlichen Sektors erheblich größer als in den westlichen Industrieländern ist und sich dieser Sektor dort fast überall ständig noch vergrößert (ebenda, S. 97). Der Staat hat also durch seine eigene Investitionstätigkeit einen viel breiteren Spielraum, Einfluß auf die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote auszuüben. Als zweite ordnungspolitische Besonderheit der Entwicklungsländer gegenüber den westlichen Industrieländern sieht von Urff eine Tendenz, den privaten Sektor vornehmlich durch direkte Eingriffe, wie Devisenkontrolle, Zuteilung von Rohstoffen oder Investitionsmitteln, Preisfixierungen, Investitionskontrollen durch Lizenzzwang usw. zu plankonformen Reaktionen zu veranlassen (ebenda, S. 98). Dies bedeutet, daß sich die staatliche Planung auch in „marktwirtschaftlich" orientierten Entwicklungsländern viel stärker auf den privaten Sektor auswirken kann als dies üblicherweise in den marktwirtschaftlich orientierten Industrieländern der Fall ist. Unabhängig von der Wirtschaftsordnung gilt generell, daß sich die Investitionsquote durch das staatlich verfügbare Instrumentarium viel leichter und relativ kurzfristig beeinflussen läßt als der marginale Kapitalkoeffizient. Für die Entwicklungsplanung lassen sich ex post die jeweilige Investitionsquote und der marginale Kapitalkoeffizient der vorhergehenden Periode relativ leicht ermitteln und in Beziehung zum angestrebten Wachstumsziel bringen. Liegt das tatsächliche Wachstum unter dem erstrebten, kann man den zusätzlichen Bedarf an Investitionsmitteln quantifizieren, indem man die Differenz zwischen der gegenwärtigen und der rechnerisch benötigten Investitionsquote (unter der Annahme der Konstanz des Kapitalkoeffizienten) ermittelt 3 . Auch das Entwicklungsmodell von Rostow illustriert die Fixierung auf die Investitionsquote: Länder, welche die „take off'-Phase im Entwicklungsprozeß erreichen wollen, müssen danach 15 - 20 % ihres BSP investieren (Rostow, 1960). 3

Vgl. z.B. Dürr{ 1967).

50

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

Die Kapitalproduktivität (reziprok als „marginaler Kapitalkoeffizient" ausgedrückt) ist dagegen einer Steuerung viel weniger leicht zugänglich. Der marginale Kapitalkoeffizient ist von einem außerordentlich komplexen Faktorenbündel abhängig. So führt die bloße Verwendung produktiverer Technologien noch nicht notwendigerweise zu höherer Gesamtproduktivität im nationalen Rahmen, dann nämlich, wenn beispielsweise die Erhöhung der Arbeitsproduktivität durch die Erhöhung der Kapitalintensität kompensiert wird, so daß der Kapitalkoeffizient gleich bleibt. Dies ist ζ. B. beim Übergang von einer arbeitsintensiven zu einer kapitalintensiven Technologie durchaus möglich. Andererseits können auch Instrumente, die keinen Bezug zur Technologie haben, die volkswirtschaftliche Kapitalproduktivität verändern. So wirken sich ζ. B. Maßnahmen, die einen Einfluß auf die Wettbewerbsintensität ausüben, oder Maßnahmen der Betriebsverfassung, des Arbeitsrechtes oder Agrarreformen (ζ. B. des Bodenrechts) oder noch allgemeiner, Maßnahmen des institutionellen und administrativen „Überbaus" einer Volkswirtschaft auf den Kapitalkoeffizienten aus — häufig in schwer prognostizierbarer Weise (vgl. ζ. B. die empirischen Analysen von Dürr, 1977, S. 46-66). Die Schwierigkeiten für die Steuerung der volkswirtschaftlichen Kapitalproduktivität haben in den wachstumstheoretischen und -politischen Überlegungen zu einer primären Befassung mit der Investitionsquote geführt. Das Problem der volkswirtschaftlichen Kapitalproduktivität hat man dadurch zu umgehen versucht, daß man sie für die in der Regel kurzfristigen Investitionsplanungen als konstant annahm. Die investitionsbezogene Wachstumspolitik impliziert eine ganze Reihe von Maßnahmen, welche das Verhältnis von Wachstum und Armut tangiert. Die allgemeinste Folgerung ist die Sichtweise des Wachstumsproblems als allein von der Verfügbarkeit (und effizienten Nutzung) von Kapital abhängig, was dann zu einer entsprechend einseitigen Maßnahmenkonzipierung führen muß. Für die Maßnahmenwahl zur Erhöhung der Investitionsquote lagen den Entwicklungsplanern im Prinzip einfache Kriterien vor. Sie bekamen von den jeweiligen Regierungen die zu erzielende Wachstumsrate vorgegeben. Die internationalen Entwicklungsbehörden empfahlen ζ. B. Raten um 6 %. Die Planer hatten nun die Aufgabe, Maßnahmen zu entwerfen, welche die Investitionsquote auf ihren rechnerischen Sollwert bringen sollten, um das vorgegebene Wachstumsziel erreichen zu können. Für die meisten Entwicklungsländer waren die vorgegebenen Wachstumsziele ambitiös und es war in der Praxis schwierig, die Investitionsquoten dementsprechend zu erhöhen. Vielfältige Maßnahmen zur Investitionsaufbringung waren deshalb von den Planern zu entwerfen. Zur Erhöhung der vom Inland aufgebrachten Investitionsquote ist es generell notwendig, die inländische Sparquote entsprechend zu erhöhen. Hier

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

51

kommen direkte und indirekte Maßnahmen zum Einsatz, wobei die starken direkten Eingriffsmöglichkeiten des Staates typisch für Entwicklungsländer sind. Der in der Volkswirtschaftstheorie allgemein akzeptierte Verhaltenszusammenhang von Sparen und Einkommenshöhe (er ist ζ. B. ein wichtiger Bestandteü der keynesschen Theorie) geht davon aus, daß mit höherem Einkommen überproportional gespart wird. Dieser Tatbestand ließ sich auch in einer Reihe von Industrieländern empirisch nachweisen. Unter der Prämisse dieses Verhaltenszusammenhangs führt eine zunehmende Einkommenskonzentration zu einer Erhöhung der Sparquote. Umgekehrt läßt unter dieser Prämisse eine auf breite Einkommensstreuung orientierte Politik eine sinkende Sparquote erwarten. Der Slogan „erst Wachstum, dann Verteüung" war theoretisch abgestützt4. Der Widerstand der Wirtschaftsplaner gegenüber auch schon früher erhobenen und politisch begründeten Forderungen nach gleichmäßigerer Einkommensverteüung war durch das gängige wachstumspolitische Paradigma begründet. Einkommenskonzentration mag zwar in einigen Entwicklungsländern sozialpolitisch unerwünscht gewesen sein, unter dem investitionsbezogenen Wachstumsparadigma war sie ein notwendiges „Opfer". Die private Investitionsneigung wurde durch bekannte Maßnahmen, wie Steuererleichterung, Subventionierung, Kreditprivüegierung, Zollprivüegien oder öffentliche Infrastrukturförderung, angeregt. Sehr viele Entwicklungsländer schufen ein ausgesprochen wirksames Anreizsystem, im Inland fehlende Investitionsgüter im Ausland einzukaufen. Der Anreiz dazu ergab sich aus den überbewerteten Wechselkursen. Unternehmer, die Maschinen im Ausland kaufen wollten, beantragten erne Lizenz und Devisen dafür bei ihrer Behörde. Wurde dem Antrag entsprochen, erhielten sie die Devisen zum künstlich günstig gehaltenen Wechselkurs. Über den Wechselkurs lassen sich in vielen Entwicklungsländern reale Rabatte von 50 % und mehr auf importierte Investitionsgüter erzielen. Nicht nur für die „Flucht in Sachwerte" bot der Kauf importierter Investitionsgüter eine sehr günstige Gelegenheit, sondern die Investitionsentscheidungen wurden dadurch generell auch zugunsten der Kapitalintensität beeinflußt. Schließlich bedeuteten und bedeuten die in den meisten Entwicklungsländern hohen Inflationsraten eine indirekte Subventionierung von Investitionen. 4 Leibenstein (1957) kann als besonders extremer Vertreter von Theoretikern angesehen werden, welche die Notwendigkeit der Einkommenskonzentration zur Wachstumsinduzierung zu begründen versuchten. Leibenstein hat auch für Entwicklungsländer eine kapitalintensive Technologie empfohlen. Er meinte, die Arbeitsproduktivität steige dadurch schneller, und dies ermögliche bei sehr niedrigen Löhnen hohe Gewinne, die dann investiert und so zu schneller Ausweitung der Zahl der Arbeitsplätze führen würden.

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

Es läßt sich zwar schwerlich nachweisen, daß die Wachstumsplaner die Inflationspolitik instrumenteil zur Investitionsförderung eingesetzt haben. Die Duldung hoher Inflationsraten macht aber de facto das Investieren für den Investor billiger und dies ganz besonders, wenn er Zugang zu Finanzierungsmitteln mit real niedrigem Zins hat. Auf die Erhöhung der Investitionsquote (genauer die Füllung der Lücke zwischen tatsächlicher inländischer Investitionsquote und dem „Soll") durch Mittel von außen bezieht sich ein zweiter großer Maßnahmekomplex. Ausländische Kapitalgeber (private, öffentliche, bilaterale, multilaterale) sollen die „Investitionslücke" füllen. Unter dem Wachstumsparadigma sind dabei solche Investitionen besonders günstig, die schnell getätigt werden können und ein hohes Volumen aufweisen. Unter der wirtschaftspolitischen Förderung (Privilegierung) dieser Investitionen wurden große Menschen von Kapital und Technologie von den Industrieländern in die Entwicklungsländer transferiert ausgewählt und für geeignet befunden nach dem Kriterium der Investitionslückenfüllung. Das investitionsbezogene Wachstumsparadigma hatte auch Konsequenzen für die sektorale Entwicklungstheorie. Die sektorale Entwicklungstheorie untersucht das Verhältnis von industrieller und agrarischer Entwicklung, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Beziehung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsentwicklung. Sie geht also weiter als die wachstumstheoretischen Überlegungen und fragt, wie unter den spezifischen Bedingungen der Entwicklungsländer langfristig Armut durch Wirtschaftswachstum und damit verbundene Beschäftigungsentwicklung beseitigt werden kann. Als der für die diesbezüglichen entwicklungspolitischen Entscheidungen wohl bedeutendste Denkansatz gilt das „Zweisektorenmodell" von Lewis (1954), Fei und Ranis (1961), das in der Literatur auch als „Lewis-Fei-RanisEntwicklungsmodell" bezeichnet wird. Dieses Modell unterteilt die Wirtschaft der Entwicklungsländer in zwei Sektoren: a) den Agrarsektor mit den Merkmalen traditionell, subsistenzorientiert und mit überschüssiger unproduktiver Arbeitskraft versehen und b) den städtisch-industriellen Sektor — modern, wachstumsorientiert und graduell Arbeitskräfte vom Agrarsektor absorbierend. Nach diesem Modell vollzieht sich der Entwicklungsprozeß aufgrund folgender Zusammenhänge: 1. Durch Beschäftigungsangebote im städtisch-industriellen Bereichen werden unproduktive Arbeitskräfte aus dem Agrarsektor zur Migration in die Städte veranlaßt. 2. Die Migrationsrate hängt von der Zahl der angebotenen Arbeitsplätze ab und diese von der Wachstumsrate des modernen Sektors (welcher das BSP-

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

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Wachstum repräsentiert). Die Wachstumsrate ist wieder abhängig vom Wachstum der Investitionen. 3. Solange im Agrarsektor überschüssige Arbeitskräfte vorhanden sind, steigt das urban-industrielle Lohnniveau nicht; es pendelt sich auf einem Niveau ein, welches die Subsistenzeinkommen plus die Migrationskosten abdeckt. 4. Die konstanten Lohnkosten je Beschäftigtem führen bei wirtschaftlicher Expansion zu höheren Gewinnen, die reinvestiert werden und so wachstumsbeschleunigend wirken. 5. Ist schließlich die gesamte überschüssige Arbeitskraft aus dem Agrarsektor absorbiert, wird Arbeitskraft generell knapp und das Lohnniveau steigt. Die „strukturelle Transformation" von Unterentwicklung zu Entwicklung hat stattgefunden. Vollbeschäftigung bei steigenden Löhnen und eine modernisierte industrieabhängige Volkswirtschaft mit produktivem Agrarsektor sind Ergebnis dieser Transformation. Folgt man den Implikationen des Lewis-Fei-Ranis-Modells, so müssen sich die Entwicklungsmaßnahmen prioritär der urban-industriellen Entwicklung widmen, auch wenn die Lösung der ländlichen Armutsproblematik angestrebt wird. Faßt man zusammen, lassen sich die entwicklungspolitischen Konzeptionen, wie sie nach der Unabhängigkeit der Entwicklungsländer formuliert wurden, durch zwei typische Ziel Vorstellungen charakterisieren: Erstens durch eine Politik, die einseitig auf die Erhöhung der Investitionsquote zur Wachstumsbeschleunigung ausgerichtet war und deren theoretische Grundlage besonders auf die Modelle von Harrod-Domar zurückgreift und zweitens auf eine sektorale Politik, welche Wachstum primär im städtisch-industriellen Sektor ansetzt. Der letztere Aspekt wird im Lewis-Fei-Ranis-Modell artikuliert. Eine schematische Übersicht soll die Wachstums- und entwicklungsparadigmatischen Vorstellungen, die entscheidend die Entwicklungspolitik der 50er und 60er und weitgehend noch der 70er Jahre geprägt haben, zusammenfassen. Bei der Analyse der Wirkungen der typischen von den Planungsinstanzen gesetzten Parameter zur Erhöhung der Investitionsquote wird deutlich, daß nicht Wachstum an sich, sondern eine spezifische Förderungspolitik das Verhältnis von Armut und Wachstum negativ beeinflußt. Der Einfluß läßt sich in wenigen Punkten, die ausführliche Diskussion der folgenden Abschnitte vorwegnehmend, zusammenfassen: - Trotz des Vorhandenseins augenscheinlich „billiger" Arbeitskräfte im Überfluß führt die einseitig investitionsquotenorientierte Politik zu einem kapitalintensiven, relativ wenige Arbeitskräfte bindenden Wachstumspfad. - Die Wachstumsraten haben eine Tendenz, unter der Prognose zu liegen, weü der marginale Kapitalkoeffizient keiner entsprechenden Kontrolle und Förderung unterliegt, was die Armutsproblematik zusätzlich verschärft.

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

54

Schema 1: Das investitionsbezogene und urban-industrielle Wachstumsund Entwicklungsparadigma

" S t r u k t u r e l l e Transformation" der Volkswirtschaft (Vollbeschäftigung; Deminanz des u r b a n - i n d u s t r i e l l e n Sektors; "kleiner" modernisierter Agrarsektor)

Û

Transfer unproduktiver A r b e i t s k r a f t aus dem Agrarsektor i n den Industriesektor

Korrespondierendes Wachstum der Beschäftigung im Industriesektor

ü

HARROD-DOMAR-MODELL

LEWIS-FEI-RANIS-MODELL

Wachstum durch Steigerung der Investitionsquote

I Moderner u r b a n - i n d u s t r i e l l e r Sektor ! i s t Träger des Wachstums ( P r i o r i t ä t f ü r Entwicklungsförderung)

/V

Steigerung der inländischen I n v e s t i t i o n e n (Erhöhung der inländ. Sparquote)

- Subventions- und Steuerprivilegien - Kreditprivilegien - Iirport-/Zollprivilegien - Wechselkursrabatte - Inflationsrabatte - d i r e k t e E i n g r i f f e Im p r i v a t e n und I n v e s t i tionsplanung im ö f f e n t l i c h e n Sektor

Auslandsbeitrag (Schließung der I n v e s t i t i o n s - bzw. Sparlücke)

- Einkcnmenskonzent r a t i o n (Duldung und durch e n t sprechende Steuerund D i s t r i b u t i o n s p o l i t i k ; direkte staatliche Eingriffe)

- Gewährung von Begünstigungen bes, f ü r schnelle und umfangreiche K a p i t a l - und Investitionsgütertransfers (z.B. Monop o l s t e l l u n g und Schutz vor Auslandskonkurrenz) - d i r e k t e r Zugang f ü r ö f f e n t l i c h e n Sektor

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

55

- Die Einkommensverteilung zwischen Arbeit und Kapital verschiebt sich zugunsten der Kapitalgeber, der höheren Einkommensgruppen generell und zugunsten des „modernen" Industriesektors. -

Schließlich führt eine Verstärkung ungleicher Einkommensverteüung auch zu erhöhter Nachfrage nach „Luxusgütern", zu deren Herstellung kapitalintensive Verfahren notwendig sind, die ihrerseits wieder zu höheren Kapitalkoeffizienten führen. Dieser Zusammenhang wirkt sich nicht nur bremsend auf die Beschäftigungsexpansion, sondern auch wachstumshemmend aus.

- Auslandsinvestitionen haben entsprechend der investitionspolitischen Vorgaben einen verstärkenden Einfluß auf die Kapitalintensität und die daraus resultierende Einkommenskonzentration. Sie sind besonders bedeutsame Faktoren für den Transfer kapitalintensiver Technologien. -

Die Konzentration der Investitionen auf den urban-industriellen Sektor und die industrielle Integrationspolitik für den Agrarsektor führen zu einem Strukturphänomen, welches oft mit „Dualismus" oder „Enklavenbildung" bezeichnet wird. „Moderne" Industriestrukturen in Urbanen Zentren und ein „moderner" Plantagen- und Großfarmensektor werden die wichtigsten Träger von Wachstumsprozessen. Nur ein geringer Bevölkerungsteü kann aufgrund der Faktorproportionen und daraus resultierender Wirtschaftsund Sozialstrukturen an der Einkommensschaffung partizipieren. Massenarmut auf dem Lande wird nicht oder kaum reduziert; durch Migration wird Armut in die Städte transferiert und auch zu einem Merkmal des urban-industriellen Sektors.

2.1.2. Wirkungen auf die volkswirtschaftlichen Faktorintensitäten und die Kapitalproduktivität Um die Wirkungen der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik auf die volkswirtschaftlichen Faktorintensitäten - hier interessiert in erster Linie die anteüige Verwendung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital abschätzen zu können, sollen zunächst einige produktionstheoretische und technologische Zusammenhänge angeführt werden. Die Entscheidung darüber, zu welchen Anteüen Arbeitskräfte und Kapitalgüter in einem Produktionsprozeß eingesetzt werden, hängt vor allem von zwei Gesichtspunkten ab: 1. von den dem Entscheidungsträger bekannten, zugänglichen technologischen Alternativen und 2. von den relativen Preisen der jeweüigen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital.

56

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

2.1.2.1. Produktionstheoretische

Analysemodelle (Einfiihrung)

5

In der volkswirtschaftlichen Produktionstheorie werden diese beiden Gesichtspunkte üblicherweise graphisch durch sogenannte „Isoquantenkurven" und „Preis-Mengengeraden" dargestellt. Isoquantenkurven geben an, welche technischen Möglichkeiten bestehen, denselben physischen Output durch unterschiedliche Faktorkombination zu erzielen. Die beiden Extrem- oder Grenzfälle sind dabei einmal die technisch mögliche, kontinuierliche Substituierbarkeit von Kapital und Arbeit - der Bau eines kleineren Staudammes, der fast ganz mit Arbeitskraft oder fast ganz mit Maschinen und fast unbegrenzt variierbaren Kombinationen, die dazwischen liegen, errichtet werden kann, könnte als Beispiel dienen — und zum anderen der technisch bedingte Fall eines völlig fixen, „limitationalen" Kombinationsverhältnisses der Faktoren. Limitationale Faktorproportionen sind für den Mikroproduktionsbereich und unter kurzfristiger Betrachtungsweise typisch. Ein Traktor benötigt immer genau 1 Fahrer und 10 Traktoren 10 Fahrer. Arbeit und Kapital stehen in einem technisch bedingten, nicht variierbaren Verhältnis zueinander. Graphik 2: Isoquanten für ein substitutionales und limitationales Faktorverhältnis

In welchem Verhältnis Kapital und Arbeit eingesetzt werden, stellt sich nur bei substitutionaler Beziehung als Frage. Dies läßt sich ökonomisch rational erst beantworten, wenn die Preise für Arbeit und Kapitalgüter bekannt sind. In der Graphik läßt sich jede beliebige Preissituation für Arbeit und Kapital in einer Preis-Mengengeraden ausdrücken. Wenn man von einer bestimmten Investitionssumme ausgeht, kann man diese einmal ganz für Arbeit ausgeben 5 Die einführenden Erläuterungen, besonders auch die graphischen Darstellungen 2 - 5 , gehören zum produktionstheoretischen Lehrbuchwissen. Sie werden hier eingefügt, um für den Leser nicht-volkswirtschaftlicher Disziplinen die Präsentation der sich anschließenden Überlegungen zu vereinfachen.

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

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und die dafür erhältliche Menge auf der Achse A eintragen. Dasselbe kann man für Kapital durchspielen. Verbindet man die so erhaltenen Punkte auf den beiden Achsen, gibt die Gerade an, welche Faktormengen man jeweils für ein bestimmtes Gesamtbudget erhält. In der Graphik soll je eine solche Gerade für zwei Situationen dargestellt werden.

Graphik J.Preis-Mengengerade für Ausgangssituation ( A j — Κχ) und für die Verteuerung von Arbeitskraft (A2 — K^)

Ökonomisch rational handelt nur derjenige, der seine Investitionsmittel so für jeden Faktor verwendet, daß er — entsprechend der technischen Möglichkeiten (Isoquanten) - den höchstmöglichen Output erzielt. Graphisch ist dies die Tangente von Isoquantenkurve und Preis-Mengengerade. Für die beiden Fälle würden sich dabei folgende Faktorproportionen ergeben: Graphik 4: Faktorproportionen bei unterschiedlichem Preisniveau für Arbeit

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

Die Graphik macht deutlich, daß sich bei einer Preiserhöhung für Arbeit das Substitutionsverhältnis der beiden Faktoren zugunsten von Kapital verschiebt. Würde man in der Graphik die Produktionsniveaus verschieben, würden sich zwei unterschiedliche „Expansionspfade" ergeben. Graphik 5: Die Expansionspfade für die Ausgangssituation aj und bei Preiserhöhung für Arbeit ^

Der Expansionspfad zeigt mikro- wie makroökonomisch, zu welchen Proportionen Arbeitskräfte und Kapitalgüter ökonomisch rational eingesetzt werden. Es gilt: bei substitutionalem Faktorverhältnis steigt die Faktorintensität zugunsten des Kapitalgütereinsatzes, wenn Kapital im Verhältnis zu Arbeit billiger wird. Diese einfache Betrachtungsweise läßt sich so jedoch nur unzureichend entwicklungstheoretisch und -politisch verwerten, denn es stellt sich zunächst die Frage, wie weit für Entwicklungsländer überhaupt substitutionale Faktorbeziehungen bestehen.

2.1.2.2. Substitutionale Produktionsfunktionen

in Entwicklungsländern

Typisch für Entwicklungsländer ist die Situation, daß eine auf Abruf zum Transfer bereite Technologie existiert, die über viele Jahrzehnte hinweg mit insgesamt ungeheuren Forschungs- und Entwicklungskosten vor allem durch die Industrieländer entwickelt wurde, diese aber wenig technische Spielräume für die Substitution von Kapital durch Arbeit zuläßt. Es handelt sich bei dieser Situation um ein Düemma: Die große Chance für Entwicklungsländer, wirtschaftlich schneller erfolgreich zu sein, weil der weltweite technische Fort-

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

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schritt nicht erst entwickelt, sondern sofort eingesetzt werden kann, steht im Konflikt mit der Faktorausstattung der Entwicklungsländer: Viele hundert Millionen Unterbeschäftigte (die produktive Beschäftigung suchen) und knappe Kapitalressourcen. Die These von der generellen Limitationalität der Technologie, global gesehen, wurde besonders von Higgins (1956) vertreten. Der Umstand, daß im modernen Wirtschaftssektor der Entwicklungsländer oft teures Kapital nicht durch billige Arbeitskraft substituiert wird, begründet Higgins mit dem seiner Ansicht nach sehr beschränkten technologischen Spielraum industrieller Großanlagen für die Faktorsubstitution. Technologien für die großindustrielle Fertigung werden in den Ländern mit hohem Lohnniveau entwickelt. Ihre unveränderte Übertragung auf Entwicklungsländer ist für Investoren meist kostengünstiger als die bessere Nutzung billiger Arbeitskraft, die nur durch einen hohen Entwicklungsaufwand für neue Technologien möglich wäre. Industrielle Entwicklung führe deshalb im Rahmen der internationalen Transferprozesse notwendig zu technologischem Dualismus in Entwicklungsländern und binde die knappen Entwicklungsressourcen in hohem Maße, ohne daß dadurch ein größerer Beschäftigungseffekt erzielt würde. Gegenüber dieser Auffassung ist jedoch Skepsis angebracht, da sie nicht die Breite der technologiepolitischen Optionen erkennt, die für Entwicklungsländer bestehen. Es können nämlich zumindest 3 kurz- oder mittelfristige Technologieoptionen auch für Entwicklungsländer angenommen werden: 1. beschränkte Substitutionsbereiche in generell limitationalen Produktionsfunktionen, 2. alternative Technologiesysteme mit für sich nur jeweüs limitationalen Produktionsfunktionen sowie 3. branchenmäßige und sektorale Technologieoptionen.

2.1.2.2.1. Beschränkte Substitutionsbereiche in generell limitationalen Produktionsfunktionen Für einen landwirtschaftlichen Großbetrieb oder eine Genossenschaft stellt sich die Faktorrelation am Beispiel Traktor und Fahrer nicht so rigide wie oben erwähnt. Traktoren können verschiedene Stärken haben, mit verschiedenartigen Geräten ausgestattet sein und für verschiedenartige produktive Funktionen eingesetzt werden. Sie können z. B. vornehmlich zum Pflügen verwendet werden, während die Erntetätigkeit vorwiegend durch Handarbeit bewerkstelligt wird. Mit Traktoren können auch beide Funktionen — pflügen und ernten — durchgeführt werden. Auch jede industrielle Großanlage hat im konkreten Fall Substitutionsbereiche. Diese mögen im innerbetrieblichen Transportwesen, in der Verwaltung,

60

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

der Instandhaltung, im Bauwesen, in der Montage usw. liegen - Bereiche, in denen wenigstens begrenzte substitionelle Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit bestehen. Die modelltypische limitationale Produktionsfunktion ist deshalb realtypisch zu modifizieren.

Graphik 6: Begrenzt substitutionale Faktorbeziehung A

2.1.2.2.2. Alternative Technologiesysteme mit für sich nur jeweils limitationalen Produktionsfunktionen In der Landwirtschaft der Entwicklungsländer wird häufig (und oft simultan in einer Region) mit drei verschiedenen Technologiesystemen gearbeitet: (a) mit handbetriebener Technologie, (b) mit tierischer Anspanntechnologie und (c) mit mechanisch getriebenen Geräten und Traktoren. Auch im gewerblich-industriellen Bereich findet man vergleichbar unterschiedliche Technologiesysteme. So werden, um das Beispiel der Holzverarbeitung zu nennen, Möbel (a) handwerklich erstellt oder (b) in teilmechanisierten Schreinereien oder (c) in hoch mechanisierter Serienfertigung von Möbelfabriken produziert. Den Technologiesystemen (a), (b) und (c) ist gemein, daß sie je für sich keine sehr großen Faktorsubstitutionen zulassen, daß sie aber im Vergleich zueinander sehr große Unterschiede in den Faktorproportionen aufweisen. Wenn man den für das jeweilige Technologiesystem charakteristischen Expansionspfad in der Graphik noch mit den jeweiligen begrenzten Substitutionsbereichen innerhalb des Technologiesystems darstellt, ergibt sich folgendes Modell:

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

61

Graphik 7: Expansionspfade für begrenzt substitutional Produktionsfunktionen verschiedener Technologiesysteme Expansionspfadbereiche für; a-

-

a2

z.B. handgetriebenes A g r a r t e c h nologiesystem

b.

- b j t i e r i s c h e s Anspanntechnologiesystem

οΛ

-

Cp z . B . t r a k t o r m e chanisches Technologiesystem

In der Landwirtschaft haben die arbeitsintensiven Technologiesysteme der handbetriebenen und tierischen Anspanngeräte durch die Entwicklung der skalenneutralen Saatgut-Düngemittelinnovationen eine besonders große Bedeutung erhalten. Die Hektarerträge ζ. B. von Reis, Weizen und Mais können über die arbeitsintensiven Technologiesysteme im Prinzip genauso gesteigert werden wie bei Verwendung kapitalintensiver Gerätetechnologien. Im gewerblich-industriellen Sektor wurde erst anfangs der 70er Jahre die relativ große wirtschaftliche Bedeutung der Betriebe „entdeckt", die Einfachtechnologien verwenden und sehr arbeitsintensiv produzieren (vgl. ζ. B. ILO, 1972). Diese Betriebe werden häufig unter der Bezeichnung „informeller Sektor"gefuhrt, weil sie nicht Bestandteil der formal kontrollierten und in die Steuer-, Subventions-, Kredit- und Betriebsverfassungssysteme integrierten Industrieproduktion sind.

2.1.2.2.3. Branchenmäßige und sektorale Technologieoptionen Analog zum obigen Modell lassen sich für unterschiedliche Branchen und zwischen den Sektoren sehr verschiedene Faktorintensitäten feststellen. Der branchenmäßige Unterschied ist ein weltweites Phänomen: so sind ζ. B. Stahlwerke kapitalintensiv, die Textilbranche ist diesen gegenüber arbeitsintensiv. Mit der Wahl der Branchen wird deshalb auch eine Entscheidung zugunsten oder zu Lasten der Arbeitsintensität einer Volkswirtschaft getroffen.

62

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

Dasselbe gilt für die Sektoren. Für die meisten Entwicklungsländer sind Investitionen im Agrarsektor durchschnittlich arbeitsintensiver als im Industriesektor, was folgende Tabelle verdeutlichen soll. Tabelle P.Investitionen und marginaler Kapitalkoeffizient im Agrarbereich ausgewählter Entwicklungsländer Weighted averages of 18 countries 1960-5 12 countries 1950-60 Agricultural investment as a per cent of total fixed investment Agricultural investment as a per cent of agricultural output Agricultural output as a per cent of GDP Gross marginal capital-output ratio (a) in agriculture (b) in the entire economy

12,3

11,5

7,4

6,9

29,5 1,73 3,20

29,3 1,78 2,70

Quelle: Szczepanik (1970), S. 2. Die Behauptung, die Entwicklungsländer hätten aufgrund der globalen Technologievorgaben zumindest kurz- und mittelfristig keine Entscheidungsspielräume für die Kombination der Produktionsfaktoren (vgl. Higgins, 1956), ist also falsch. Zwar sind die weltweit transferbereiten Technologien (jede für sich) oft stark limitational, was die Substituierbarkeit der Faktoren angeht, doch bieten auch sie begrenzte alternative Faktorkombinationsmöglichkeiten. Einen sehr breiten Spielraum im Rahmen der internationalen Technologietransfers bieten aber die branchenmäßige und sektorale Auswahl der produktiven Aktivitäten eines Landes. Weiter besteht für die Entwicklungsländer ein ebenfalls breiter Spielraum für alternative Faktorkombinationen, der weitgehend unabhängig von internationalen Technologietransferprozessen entwicklungspolitisch zugänglich ist, nämlich die Option für Einfachtechnologien, über die im Agrarbereich besonders in Verbindung mit biologisch-chemischen Innovationen potentiell schnelles und umfangreiches wirtschaftliches Wachstum bewerkstelligt werden kann. Dieser Option wird später noch besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Aber auch im gewerblich-industriellen Bereich können über den sogenannten „informellen Sektor" — Kleinbetriebe, die Einfachtechnologie verwenden Wachstumsimpulse (über die Senkung des Kapitalkoeffizienten) ausgehen.

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

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2.1.2.3. Wirkungen auf die verschiedenen Optionen für Faktorsubstitution Die Wirkungen der typischen investitionsquotenorientierten Förderungsmaßnahmen auf die Faktorintensitäten bestehen darin, daß erstens die Kapitalgüter und besonders Kapitalgüterimporte künstlich verbilligt wurden. Diese Verbilligung - in der wirtschaftstheoretischen Literatur als „Faktorpreisverzerrung" bezeichnet — verändert die optimale Faktorkombination erheblich zugunsten des Kapitalgütereinsatzes. Zweitens hat jedoch die Reduzierung der Wachstumspolitik auf Investitionssteigerungspolitik vermutlich eine besonders bedeutungsschwere Wirkung auf die Art des Investierens gehabt. Die Aufforderung an das Investitionsverhalten war einfach: möglichst schnell und möglichst viel sollte in produktiver Weise investiert werden. Der Staat hatte die Aufgabe übernommen, die so zustande kommenden Investitionen, so weit er sie nicht selbst tätigt, zu schützen vor allem auch vor Konkurrenz auf den Welt- und Binnenmärkten. Die kostengünstigste Investition für den privaten Investor (aber auch für Manager im öffentlichen Sektor) war unter diesen Bedingungen der Transfer der für Industrieländer standardisierten Technologiesysteme, so wie sie in den Industrieländern eingesetzt wurden und abrufbereit vorhanden waren. Für Investoren bestand unter diesen Bedingungen deshalb auch keine Notwendigkeit, die vorhandenen, begrenzten Substitutionsspielräume auszuschöpfen. Aber sehr wahrscheinlich war noch viel folgenreicher für die Entwicklung der Faktorproportionen der Umstand, daß die größten Chancen der Entwicklungsländer zu arbeitsintensiveren Expansionspfaden — nämlich die Entwicklungsförderung über die agrarischen, arbeitsintensiven Technologiesysteme und auch des informellen Sektors sowie über eine entsprechende Branchenund Sektorenförderung - unberücksichtigt blieben. Abgesehen vom Großfarmer und Hantagensektor war es relativ kompliziert, im ländlichen Raum zu investieren. Es fehlten dazu die Institutionen und günstige physische Infrastrukturbedingungen. Aber auch Regierungen selbst sahen es als schwierig an, ländliche Menschenmassen für produktive Tätigkeiten zu mobilisieren und dafür notwendige Investitionen zu sichern 6. Im informellen Sektor wurden Investitionen nicht nur nicht gefördert, sondern in den meisten Entwicklungsländern sogar schwer behindert. Der informelle Sektor wurde häufig als lästige und illegale Konkurrenz für die kapi6

Ein bezeichnendes Beispiel für diese Situation stellt folgende Feststellung im Entwicklungsplan Kenias (1974-78) dar: „Manufacturing will overtake agriculture as the leading sector, ... It would be desirable for agriculture to be the fastest growing sector, for capital invested in agriculture generally yields a higher rate of return, a greater rate of output and more employment than in any other sector. But organizational, institutional and marketing problems in agriculture will prevent production from increasing faster . . . " (Republic of Kenya, 1974, S. 148 f.).

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

talintensiven Investitionen im „formalen" Industriesektor betrachtet. Entwicklungstheoretisch ließ sich aus dem gängigen Wachtumsparadigma kein Ansatzpunkt zur Überwindung dieser Problematik ableiten. Im Gegenteil, das Paradigma ging davon aus, daß die „Einfachtechnologien" und die informellen Technologiesysteme über den Prozeß der Industrialisierung aufgelöst und durch „moderne" Technologie ersetzt würden (vgl. ζ. B. Leibenstein, 1957). Die adäquate Folgerung war, daß alle Entwicklungsanstrengungen auf moderne industrielle Entwicklung gerichtet und die so verstandene strukturelle Transformation nicht durch Förderung „absterbender" Wirtschaftssysteme behindert werden sollte. Eine branchenbezogene und sektorale Entwicklungspolitik zugunsten arbeitsintensiver Wirtschaftsentwicklung war drittens mit der investitionsbezogenen Wachstumspolitik inkompatibel. Die Suche nach schnellen produktiven Investitionen führte zu einer Politik der Importsubstitution, denn hier existierten abschätzbare Märkte, für die mit wenig Risiko produziert werden konnte. Zudem konnte durch Importsubstitution der investitionsbedingt zunehmende Devisenbedarf reduziert werden, was viele Regierungen zu einer ausgeprägten Importsubstitutionspolitik veranlaßte. Die Importe der wenigen benötigten, relativ einfach herstellbaren Massenartikel ließen sich in vielen Entwicklungsländern verhältnismäßig schnell substituieren. Die engen Märkte für kompliziert und aufwendig herzustellende Güter — ζ. B. Fahrzeuge oder Schwermaschinen — ließen sich jedoch nur durch hoch subventionierte Investitionen, unverhältnismäßig hohe Preise und völligen Konkurrenzschutz im Inland produzieren. Die investitionsquotenorientierte Wachstumspolitik war fast überall in Entwicklungsländern mit einer Importsubstitutionspolitik verbunden, die, wollte sie expandieren, gezwungen war, in immer kapitalintensivere Bereiche vorzudringen - branchenmäßig diktiert vom Importsubstitutionsbedarf (und nicht von der Faktorausstattung des Entwicklungslandes) sowie von Monopolisierungsprozessen. Sofern Daten vorhanden sind, zeigen die wirtschaftlichen Entwicklungsprozesse auch ein dementsprechendes Ergebnis. In den 60er Jahren behalten die Volkswirtschaften nicht nur ihre bereits bestehende kapitalintensive Faktorproportion bei, sie verschlechtert sich noch ganz beträchtlich zulasten des Faktors Arbeit. Obwohl zur genauen Interpretation der Tabelle Daten über die Entwicklung der Faktorproduktivitäten fehlen, deuten die teüweise auffallend hohen Divergenzen zwischen Output- und Beschäftigtenwachstum auf eine erhebliche Verschiebung des Expansionspfades zugunsten von Kapitalinvestitionen hin.

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

65

Tabelle 10: Industrielles Outputwachstum und Wachstum der Industriebeschäftigten in Entwicklungsländern zwischen 1963 und 1969 (durchschnittl. jährl. Wachstumsraten) Manufacturing annual output growth (1963-69)

Region/ Countries Africa Ethiopia Kenya Nigeria Egypt (UAR) Asia India Pakistan Philippines Thailand Latin America Brazil Columbia Costa Rica Dominican Republic Ecuador Panama

Manufacturing employment growth (1963-69)

12,8 6,4 14,1 11,2

6,4 4,3 5,3 0,7

5,9 12,3 6,1 10,7

5,3 2,6 4,8 - 12,0

6,5 5,9 8,9 1,7 11,4 12,9

1,1 2,8 2,8 - 3,3 6,0 7,4

Quelle: Todaro (1977), S. 206.

2.1.2.4. Wirkungen auf die Kapitalproduktivität Nun könnte freilich argumentiert werden, daß, obwohl im Prozeß der Industrialisierung zunehmend kapitalintensiv investiert werde und, obwohl arbeitsintensive Möglichkeiten produktiver Investitionen vernachlässigt blieben, die investitionsquotenbezogene Wachstumspolitik trotzdem aufgrund eben der modernen Technologie so hohe Wachstumschancen biete, daß per saldo langfristig der Beschäftigungseffekt größer ist als bei allen anderen Alternativen (vgl. z. B. Leibenstein, 1957, oder auch das Lewis-Fei-Ranis-Modell). Dieser Einwand läßt sich schon ohne differenzierende Untersuchungen der Wachstumspotentiale anderer Optionen beantworten. Die bloße Erhöhung der Investitionsquote kann nicht als der „Schlüssel" zum Wirtschaftswachstum angesehen werden, was die folgenden Untersuchungen zeigen.

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

66

Dürr, ein früher Kritiker der investitionsquotenbezogenen Wachstumstheorie, hat versucht, das empirisch vorhandene Material auf die Frage hin zu untersuchen, ob bisher die Investitionsquote oder der marginale Kapitalkoeffizient einen stärkeren Einfluß auf Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern ausgeübt hat. Er zitiert dabei drei Untersuchungen, die in der folgenden Tabelle wiedergegeben werden.

Tabelle 11: Untersuchungsergebnisse über den Einfluß des marginalen Kapital* koeffizienten und der Höhe der Investitionsquote auf die Wachstumsrate des BSP

Untersuchung (Autoren) UNO Chenery und Strout Zimmermann

Zahl der Entwicklungsländer (Fälle)

Bestimmtheitsmaß für marg. KapitalInvestitionskoeff. und quote und WachstumsWachstumsrate rate

24

r 2 = 0,35

t 2 = 0,05

50 26

r 2 = 0,67 r 2 = 0,41

r 2 = 0,15

Quelle: Zusammengestellt nach Dürr (1977), S. 49.

Die Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, daß nicht die Höhe der Investitionsquote, sondern der marginale Kapitalkoeffizient - also die effektivere Nutzung von Investitionen - die stärkeren Auswirkungen auf das Wachstum des BSP hatte. Dürr kommt im übrigen zu ähnlichen Ergebnissen für die Industrieländer (vgl. Dürr t 1977, S. 45 ff.). Empirisch ist also der Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und der Effizienz der Nutzung von Investitionen erheblich wachstumsrelevanter als die bloße Erhöhung der Investitionsquote. Die postulierte Notwendigkeit für eine Erhöhung der Investitionsquote ist also weniger bedeutsam als von den postkeynesianischen Wachstumstheoretikern zunächst angenommen worden ist. Dafür gibt es eine Reihe von Erklärungen. So sind ζ. B. zur Einführung des technischen Fortschritts nicht notwendigerweise höhere Investitionsquoten erforderlich, sondern vor allem Veränderungen in den Ersatz- und Neuinvestitionen und eventuell in der Struktur der Investitionen. Das rein technologische Potential für Effizienzverbesserungen der Volkswirtschaften

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

67

in Entwicklungsländern ist im übrigen enorm, da diese auf das international bereits entwickelte Wissen und die Technik zurückgreifen können. Ihrer schnelleren Nutzung stehen weniger finanzielle Schranken entgegen, sondern Hemmnisse, die oft als mangelnde „absorbative Kapazität" umschrieben werden. Darunter ist ζ. B. das nationale Institutionengefuge mit seinen begrenzten Organisations· und Managementkapazitäten zu verstehen. Dürr (1977) verweist auf die besondere Bedeutung der Wettbewerbsintensität für Wirtschaftswachstum bei gleichbleibender Investitionsquote. So können Veränderungen in der Ordnungspolitik, die ζ. B. eine Intensivierung des Wettbewerbs bewirken, bedeutsame Wachstumsprozesse auslösen. Dagegen bedeuten staatliche Förderungsmaßnahmen zur Investitionsanregung häufig auch eine Lockerung des Wettbewerbs, was dann zu einer weniger sparsamen Verwendung von Investitionsmitteln führt. Wenn sich also zwischen der Höhe der Investitionsquote und der Wachstumsrate des BSP kein oder nur ein sehr geringer Zusammenhang empirisch nachweisen läßt, ist es verständlich, daß mit den in den Entwicklungsländern getätigten umfangreichen Investitionen eine volkswirtschaftliche Nutzung eben dieser Investitionen mit abnehmender Effizienz einhergegangen ist. Die investitionsquotenfixierte Wachstumspolitik bietet empirisch keine gesicherte Grundlage für Wachstum, geschweige denn für schnelles und anhaltendes Wachstum. Hohe Investitionen gingen, faßt man zusammen, in vielen Entwicklungsländern also mit nicht entsprechend hohen Wachstumsraten einher, und mit den unbefriedigenden Wachstumsraten war eine dazu noch unterproportionale Beschäftigungsentwicklung verbunden. Diese Problematik wird noch deutlicher, wenn man das sektorale Entwicklungsmodell (Lewis-Fei-Ranis) mit in die Analyse einbezieht. In sehr vielen Entwicklungsländern liegt gegenwärtig der im industriellen Sektor beschäftigte Anteil der Bevölkerung weit unter 20 %. Geht man von diesem Anteü und davon aus, daß die Gesamtzahl der Erwerbsfähigen gegenwärtig jährlich um 3 % steigt, müßte der Industriesektor ein Beschäftigungswachstum von 15 % aufweisen, um dieses Wachstum auffangen zu können. Da das Beschäftigungswachstum, wie gezeigt, erheblich niedriger als das Outputwachstum ist, müßte man industrielle Wachstumsraten sogar etwa zwischen 20 % und 50 % annehmen, um auch nur zu gewährleisten, daß die neu ins erwerbsfähige Alter eintretende Bevölkerung Beschäftigung finden kann. Johnston, Kilby und Clark haben differenzierte Berechnungen angestellt, um die „strukturelle Transformation" der Beschäftigung vom Agrar- in die außeragrarischen Sektoren in Entwicklungsländern zu prognostizieren {Johnston und Kilby, 1975, S. 78-87; Johnston und Clark, 1979, S. 10-21). Nach diesen Berechnungen ergibt sich folgende Situation:

68

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

In 34 Entwicklungsländern der Kategorie „low-income" (pro-Kopf-BSP von 150 US-Dollar, 1976) hat sich zwischen 1960 und 1970 der Anteil der Beschäftigung im Agrarsektor von 88 auf 85 % reduziert. In 58 „middleincome" Ländern (pro-Kopf-BSP von 750 US-Dollar, 1976) sank der Anteil von 60 auf 51 % im selben Zeitraum (Weltbank, 1978, zitiert bei Johnston und Clark, 1979, S. 12). Die Rechnungen der Autoren führen zu dem generellen Ergebnis, daß es in Ländern mit einem gegenwärtigen Anteü der Beschäftigten 7 in der Landwirtschaft von 70 % und einem gesamten Arbeitskräftewachstum von 2,5 % noch 52 Jahre dauert, bis auch nur die absolute Zahl der ländlichen Arbeitskräfte abnimmt (der „turning point" erreicht ist), sofern die außerlandwirtschaftliche Beschäftigungszunahme 4 % beträgt. Liegt das gesamte Arbeitskräftewachstum bei 3 % (ceteris paribus), dauert die Zeitspanne 96 Jahre (Johnston und Clark, 1979, S. 14 f.). Die Autoren folgern daraus: „ I t is inescapable that under even the most optimistic of assumptions, most of the present low-income developing countries will remain predominantly rural societies into the 21 st century. Their rural populations are likely to increase more than threefold before they begin to decline ... " (Johnston und Clark, 1979, S. 15). In Anbetracht dieser Situation, so die generelle Folgerung, ist die einseitig investitionsquoten und urban-industriell orientierte Wachstumspolitik für Entwicklungsländer kein geeignetes Instrument, Armut durch Beschäftigungsinduzierung abzubauen. Der Agrarsektor selbst bleibt noch für Generationen die entscheidende Beschäftigungs- und Einkommensressource für die Mehrheit der Bevölkerung der Entwicklungsländer mit niedrigem pro-Kopf-BSP.

2.1.3. Wirkungen auf die Einkommensverteilung und Wirkungen der Einkommensverteüung auf das Wachstum Die investitionsquotenorientierte Wachstumspolitik wird auf verschiedene Weise für die Einkommensverteüung relevant —, besonders über ihren Einfluß auf die Faktorproportionen, das Sparen und Investieren und die sektoralen Wirtschaftsstrukturen. Die Einkommensverteilung selbst stellt wiederum einen Faktor des Wirtschaftswachstums dar.

2.1.3.1. Einkommensverteilung

bedingt durch die Faktorproportionen

Die funktionale Einkommensverteüung unterscheidet die Einkommensbezieher nach der Bereitstellung von Produktionsfaktoren — hier von Arbeit und Kapital. Steigt ζ. B. der Anteil von Kapitalgütern in einer Volkswirtschaft, 7

Personen im erwerbsfähigen Alter.

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

69

erhöhen sich bei gleichbleibenden Renditen der Produktionsfaktoren dementsprechend die Einkommensanteile der Eigentümer von Kapitalgütern im Verhältnis zu den Einkommensanteilen der Arbeitskräfte. Die investitionsquotenorientierte Wachstumspolitik hat, wie schon dargestellt, die volkswirtschaftlichen Faktorproportionen zugunsten des Kapitaleinsatzes verschoben und dadurch die Aufteilung des BSP zwischen Kapitaleignern und Arbeitskräften entsprechend zugunsten der Kapitaleigner verändert (sofern durch diese Veränderung die Kapitalrendite nicht gesunken und die Löhne nicht gestiegen sind, was für viele Entwicklungsländer angenommen werden kann). Ein weiterer für Entwicklungsländer typischer und mit der funktionalen Einkommensverteilung auch zusammenhängender Aspekt ist die Entstehung kapitalintensiv operierender wirtschaftlicher Subsektoren („Enklaven"; vgl. besonders Kapitel 2.1.5.2.2.), innerhalb derer zunehmend Einkommen geschaffen und verteilt wird, ohne die große Masse der Bevölkerung, die außerhalb dieser Enklave tätig ist, zu erreichen. 2.1.3.2. Einkommenskonzentrierung

durch Spar-/Investitionspolitik

Die Duldung von Einkommenskonzentration zur Erhöhung der Spar-/Investitionsquote hat zwar Konzentrationsprozesse begünstigt, die Wirkung dieser Konzentrationsprozesse auf die Spar-/Investitionsquote ist jedoch weniger eindeutig. In vielen Entwicklungsländern bestehen Anhaltspunkte für die Hypothese, daß verstärkte Einkommenskonzentration nicht auch zu einer entsprechenden Erhöhung der Spar-/Investitionsquote führt. Dürr kommt anhand einer direkten Korrelationsanalyse von Wirtschaftswachstum und Einkommensverteilung (gemessen am Gini-Koeffizienten in 13 Entwicklungsländer) 8 zu dem Schluß: Bei einem Bestimmtheitsmaß von r2 = 0,001 läßt sich kein statistischer Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Einkommenskonzentration nachweisen {Dürr, 1977, S. 326). Todaro geht noch weiter. Er begründet mit folgenden vier Argumenten, daß eine Reduzierung der Einkommenskonzentration sogar eine Voraussetzung für Wachstumsbeschleunigung in vielen Entwicklungsländern ist (Todaro, 1977, S. 156 f.). Erstens scheinen empirische Studien einen Trend zu belegen {Todaro verweist zuvorderst auf Untersuchungen von Griffin, 1974), daß im Gegensatz zur geschichtlichen Situation in den Industrieländern 9 die Einkom8 Länder: Brasilien, Ceylon, El Salvador, Indien, Jugoslawien, Kolumbien, Korea (Rep.), Mexiko, Panama, Peru, Philippinen, Taiwan, Venezuela. 9 In der ökonomischen Theorie gilt weitgehend die Kombination von Leistungsmotivation und Askese als Geisteshaltung, wie sie in der Max Weberschen Religionssoziologie (1947) untersucht wurde, als ein entscheidender Auslösefaktor für die industrielle Revolution..

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

70

menseliten in den Entwicklungsländern häufig wenig Sparneigung zeigen und ihre Einkommen oft nur in geringem Umfang in die lokale Wirtschaft investieren. Hauptsächliche Verwendungsbereiche dieser Einkommen sind für das lokale Wirtschaftsgeschehen wenig relevant, da sie allzuoft zum Erwerb importierter Konsumgüter, aufwendiger Häuser, zur Finanzierung von Auslandsreisen und Anlage in Gold und Juwelen verwendet und teilweise zur Sicherheit ins Ausland transferiert werden. Einkommenskonzentration führt also häufig nicht zu einer Erhöhung der Investitionsquote (im Gegensatz zur Position Leibensteins, 1957). Zweitens, so argumentiert Todaro weiter, reduzieren die Auswirkungen der Armut, ζ. B. durch vermehrte Morbidität, niedrige physische Leistungsfähigkeit bis hin zu Beeinträchtigungen der psychologischen Entwicklung, die Produktivität des Faktors Arbeit. Drittens führen Einkommenszuwächse wahrscheinlich gerade bei den unteren Einkommensgruppen zu einer gewünschten Umstrukturierung der Nachfrage nach lokal produzierbaren Gütern und erbringbaren Leistungen, was eine zentrale Voraussetzung für eine breit angelegte Wirtschaftsentwicklung darstellt. Einkommenskonzentration führt zu vermehrter Nachfrage nach „Luxusgütern". Diese müssen, wie früher erwähnt, in der Regel kapitalintensiver produziert werden. Eine gleichmäßigere Einkommensverteilung begünstigt dagegen eine verstärkte Nachfrage nach weniger kapitalintensiv herstellbaren Gütern und führt damit auch zu einer Senkung des Kapitalkoeffizienten. Bei gleichbleibender Spar- bzw. Investitionsquote würde sich so allein schon durch die Umstrukturierung der Nachfrage die Wachstumsrate erhöhen lassen. Zwischen Wachstum und Verteüung bestehen also auch positive Komplementaritäten, wenn man die Faktoren des Kapitalkoeffizienten berücksichtigt. Schließlich führt Todaro als vierten Gesichtspunkt an, daß eine gleichmäßigere Verteüung der Einkommen Grundlage für wichtige materielle und psychologische Anreize zu einer breiten Beteüigung im Entwicklungsprozeß darstellt und daß umgekehrt hohe Einkommenskonzentration Frustrationen gerade bei den nicht oder wenig am volkswirtschaftlichen Einkommen partizipierenden Büdungseliten bewirkt - mit entsprechenden Auswirkungen auf die politische Stabilität, die bis zur Zurückweisung des ganzen Systems führen können. Die hier genannten Argumente unterstützen zunächst eine These von größter Bedeutung, nämlich, daß Arbut keine notwendige Begleiterscheinung der Wachstumsprozesse in Entwicklungsländern i s t 1 0 . Diese Argumente sprechen gegen die schon erwähnte Meinung, eine Wachstumsbeschleunigung bedürfe zugleich einer Konzentration der Einkommen. Im Gegenteü, für die Hypo10

Die Untersuchungen von Adelman and Morris (1973) sowie Chenery et al. (1976) belegen diese These mit umfangreichen empirischen Daten (vgl. auch Abschnitt 2.2.1.).

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

71

these, daß eine breitere Einkommensverteilung sich positiv auf Wirtschaftswachstums auswirken kann, sprechen wichtige Argumente. Schließlich belegen vorliegende Daten zu einigen Ländern, daß bei abnehmender Einkommenskonzentration relativ hohe reale Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts erzielt werden können.

Tabelle 12: Länderbeispiele für reales Wirtschaftswachstum bei gleichbleibender oder verminderter Einkommenskonzentration Land

Zeitraum

Bulgarien Iran Kolumbien Korea (Süd) Sri Lanka Taiwan

1957-62 1960-68 1964-70 1964-70 1963-70 1953-61

jährliche reale Wachstumsrate des BruttoSozialprodukts (in v. H.) 8,0 8,1 6,2 9,3 5,0 6,8

jährlicher realer Einkommenszuwachs der unteren 40 % (in v. H.) 9,5 9,2 7,0 9,3 8,3 12,1

Quelle: Ahluwalia and Chenery, in: Chenery et al. (1976), S. 42 (ausgewählt); für Bulgarien und Iran aus Ahluwalia, in: Chenery et al. (1976), Graphik (ebenda) S. 14, abgeleitet.

2.1.3.3. Sektorale Einkommensverteilung Da die investitionsquotenorientierte Wachstumspolitik Investionen generell da begünstigt, wo schnell investiert werden kann, wurden die hinsichtlich der physischen und institutionellen Infrastruktur besonders fortgeschrittenen Gebiete - insbesondere die großen Städte - bevorzugt. In Verbindung mit der Sektorpolitik, die auf dem Lewis-Fei-Ranis-Modell beruht, wurde, wie früher dargestellt, dem Industriesektor gegenüber der Landwirtschaft auch theoretisch Priorität eingeräumt. Jedoch lassen sich aus der Orientierung auf die urban-industrielle Entwicklung allein noch keine genügend differenzierenden Schlüsse hinsichtlich der sektoralen Einkommensverteilung ziehen. Dem Lewis-Fei-Ranis-Modell liegt die Vorstellung zugrunde, daß durch" Industrieentwicklung überschüssige Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft abgezogen werden, bis diese im ländlichen Sektor

72

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

knapp werden und sich deren Einkommensniveau dem urban-industriellen anpaßt. Das Modell impliziert wohl eine zunächst sektoral ungleiche Entwicklung der Wirtschaft (bzw. der Anteile am BSP), aber nicht notwendigerweise eine lang anhaltende, ungleiche Entwicklung der sektoralen pro-Kopf-Einkommen. Der Abzug nicht-produktiver Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft bedeutet, daß die pro-Kopf-Einkommen der im Agrarsektor verbleibenden Selbständigen durchschnittlich auch steigen, weil durch den Abzug das Ertragsvolumen in der Landwirtschaft nicht reduziert wird, sich die Erträge aber auf weniger Menschen verteilen. Wie schon erläutert, hat die Realität der meisten Entwicklungsländer dieser Vorstellung widersprochen. Die urban-industriellen Beschäftigungseffekte waren völlig unzureichend, um auch nur einen größeren Anteil des natürlichen Wachstums der Erwerbsfähigen zu absorbieren, geschweige denn „überschüssige" Arbeitskraft in den ländlichen Regionen abzubauen. Zwar hat die investitionsbezogene Wachstumspolitik auch Wirkungen im Agrarsektor gezeigt. Besonders im Großfarmen- und Plantagenbereich wurde zunehmend kapitalintensiv investiert, was aber die Beschäftigungslage der ländlichen Bevölkerung meist wenig berührte. Ergebnis der urban-industriell orientierten Wachstumsförderung war einerseits die Entwicklung moderner kapitalintensiver Industrien und moderner ebenfalls kapitalintensiv operierender Großfarmen, andererseits eine folgenschwere Vernachlässigung der Kleinbauern, Pächter, Landarbeiter, des ländlichen Kleingewerbes, Kleinhandels usw. — großer Bevölkerungsteile, deren Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten sich kaum veränderten, deren natürliches Wachstum jedoch ständig fortschreitet und nicht vom „modernen" Sektor absorbiert werden kann. Unter diesen Bedingungen können sich also die pro-Kopf-Arbeitseinkommen im ländlichen Sektor kaum erhöht haben. Dies gilt für den industriellen Sektor jedoch nicht. Trotz permanenter Arbeitslosigkeit haben sich dort die Arbeitseinkommen absolut und, gegenüber dem ländlichen Sektor, ganz erheblich verbessert (ζ. B. Todaro, 1977, S. 217 oder My int, 1971). Dieses Phänomen läßt sich freilich nicht direkt mit der zur Diskussion stehenden Wachstumspolitik erklären. Myint (1971) weist ζ. B. auf die Sozialpolitik hin, die nur im großbetrieblichen Bereich kontrolliert werden kann (ζ. B. Einhaltung von Mindestlöhnen). Ganz besondere Bedeutung kommt der gewerkschaftlichen Organisierbarkeit der im Industriesektor tätigen Arbeitskräfte zu. Die bereits angedeutete, investitionsförderungsbedingte Monopolstellung vieler Betriebe erleichtert Kostenüberwälzungen, die durch Löhnerhöhungen bedingt werden, auf die Konsumenten, wobei häufig die Regierungen die „terms of trade" so beeinflussen, daß die städtischen Bevölkerungsgruppen

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

73

bevorzugt 11 werden (vgl. z. B. Lipton, 1977). Dem industriellen Sektor kommt dabei eine Lohnleitfunktion für den ganzen Rest des modernen Sektors einschließlich der staatlichen Bediensteten zu. Die viel höheren pro-Kopf-Einkommen im „modernen" Urbanen Sektor haben zu einem weiteren Phänomen geführt — nämlich der Land-Stadt-Migration trotz Arbeitslosigkeit in den Städten. Todaro hat einen Erklärungsversuch für dieses Phänomen gemacht (Todaro, 1969), der unter der Bezeichnung „Todaro-Migrations-Modell" in die Literatur eingegangen ist. Todaro geht davon aus, daß die Migrationsentscheidung für die Land-Stadt-Migranten primär rational und aufgrund ökonomischer Kriterien gefällt wird. Das bedeutendste Kriterium für die Migrationsentscheidung sind die unterschiedlichen Einkommensniveaus zwischen ländlicher und städtischer Arbeit. Dieses Kriterium reicht jedoch nicht zur Erklärung des Entscheidungsprozesses aus, denn in den meisten Städten, in die migriert wird, herrscht große Arbeitslosigkeit. Die Frage, weshalb in die Stadt migriert wird, obwohl der Migrant dort wahrscheinlich arbeitslos wird, untersucht Todaro mit besonderem Interesse. Er beantwortet diese Frage mit dem Argument, daß eine Person für die Migrationsentscheidung die Wahrscheinlichkeit, eine Beschäftigung innerhalb einer bestimmten „Wartezeit" zu erhalten, mitberücksichtigt. Vom Land-Stadt-Einkommensdifferential zieht der potentielle Migrant den Einkommensausfall der (erwarteten) Arbeitslosigkeit bzw. Unterbeschäftigung ab. Beträgt das Einkommensdifferential ζ. B. 400 % zwischen ländlichem und erwartetem städtischem Einkommen und plant der Migrant seine Beschäftigung auf 10 Jahre, so wäre bei einer 2 1/2jährigen Arbeitslosigkeit sein tatsächliches städtisches Einkommen im Durchschnitt während der 10 Jahre noch über 300 % über dem ländlichen. Arbeitslosigkeit wird also bewußt in Kauf genommen — sozusagen als Wartezeit. Todaro folgert aufgrund dieser Überlegung, daß die städtische Arbeitslosenquote als Gleichgewichtsfaktor zwischen Einkommensdifferential und Migration wirkt. Steigen die städtischen Einkommen gegenüber den ländlichen, nimmt die Migration so lange zu, bis im Kalkül potentieller Migranten die Nachteile der zunehmenden Wartezeiten (in Arbeitslosigkeit) die Vorteile der höheren Einkommen ausgleichen. Analog läßt sich dieser Zusammenhang auch auf die Zahl der städtischen Arbeitsplätze anwenden. Steigt das städtische Arbeitsplatzangebot, nehmen die Arbeitslosenwartezeiten ab und dem entsprechend die Migration zu, bis wieder die Gleichgewichtssituation eintritt. Wirtschaftlich besonders stark expandierende Städte mit besonders hohem Lohnniveau im modernen Sektor lassen deshalb nicht 11

Hoffmann und von Rabenau haben einen relativen Preisverfall für landwirtschaftliche Erzeugnisse gegenüber Industrieerzeugnissen in Entwicklungsländern im Zeitraum von 1951-53 bis 1971-73 von 28 % errechnet (in: von Urff, Hrsg., 1978, S. 79).

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

nur die höchsten Zuwanderungsraten, sondern auch die höchsten Arbeitslosenquoten und die damit verbundenen Probleme wie Slumbildung usw. erwarten. Die Todaro-Hypothese bietet Erklärungen für das Phänomen städtischer Armut. Diese ist primär Ergebnis verstärkter sektoraler Einkommensdisparitäten und dadurch induzierter Migrationsbewegungen, durch welche ländliche Armut in die Städte transferiert wird. Neben dem hohen Einkommensgefälle zwischen Stadt und Land ist auch generell eine entwicklungspolitische Bevorzugung städtischer Regionen zu beobachten. Lipton belegt und analysiert umfassend den fast weltweit zu beobachtenden „urban bias" nationaler und internationaler Entwicklungsförderung, der gegenwärtig in Entwicklungsländern viel ausgeprägter als in der Geschichte der Industrieländer ist. In den meisten Entwicklungsländern gingen weniger als 20 % der Entwicklungsinvestitionen in den Agrarsektor (obwohl 65 % der Entwicklungsländerbevölkerung und über 80 % der Armutsbevölkerung vom Agrarsektor ihren Lebensunterhalt bestreiten). Lipton weist nach, daß die meisten Regierungen in Entwicklungsländern Maßnahmen erlassen haben, welche die Preise von Industriegütern erhöhten - mit dem Effekt des Abflusses ländlicher Ersparnisse in die Industrie (vgl. Lipton, 1977). Die entwicklungspolitische Bevorzugung der Städte ist mit dem Lewis-Fei-Ranis-Modell kompatibel und hängt, was die theoretische Grundlage betrifft, zumindest zum Teü von dem aus diesem Modell abgeleiteten Gebot der prioritären Industrieförderung ab.

2.1.4. Wirkungen auf die ausländischen Investitionen Die investitionsquotenbezogene Wachstumspolitik hat, wie bereits angeführt, ausländische Investitionen unter dem Gesichtspunkt gefördert, das inländische Investitionsaufkommen durch Außenbeiträge zu erhöhen, damit entsprechend der Harrod-Domar-Gleichung eine bestimmte Wachstumsrate erzielt werden kann. Der so abgeleitete Investitionsbedarf war hoch, und offensichtlich glaubten die Planer vieler Entwicklungsländer, nur durch besondere Anreizsysteme genügend ausländisches Kapital zum Investieren anlocken zu können. Sieht man von den Investitionsförderungsprogrammen büateraler und multüateraler Geber ab, konnte der Investitionsauslandsbeitrag überwiegend nur über die kapitalstarken multinationalen Unternehmungen aufgebracht werden. Solche Unternehmungen waren in der Lage, kurzfristig den Kapitalbedarf, die Technologie, das Management und das Know-how für große Industrieanlagen zu liefern, sofern sie Interesse an der Investition hatten. Offensichtlich bestand mit der wichtigste Anreiz zur Anlockung ausländischer Investitionen in der Monopolstellung, die ein Unternehmen dadurch erhielt, daß seine Investitionen vom Ausland her durch Importrestriktionen und

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

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vom Binnenmarkt her durch behördliche Lizenzverweigerung für etwaige Konkurrenzgründungen geschützt wurden. Dieses Privileg bestand zwar meist für den gesamten formalen Industriesektor — also auch für inländische Investoren — begünstigte aber im Falle der multinationalen Unternehmungen den umfangreichen Transfer von für die Bedingungen der Industrieländer entwickelten technologischen Betriebssystemen in besonderem Maße. Der unbesehene Transfer war der einfachste Weg, um die vom Staat weitgehend abgesicherten Gewinnchancen schnell realiseren zu können12. Neben den Wirkungen auf die Faktorproportionen werden gerade den von den multinationalen Unternehmungen forcierten Transferprozessen andere negative Auswirkungen auf die Beschäftigung zugeschrieben. Die besonderen staatlichen Schutzmaßnahmen sichern nicht nur die Rentabilität des hohen Kapitalanteils in der Produktion und des teuren Managements - eben diese Sicherung verhindert die Entstehung und/oder Expansion einheimischer, arbeitsintensiverer Industrien. Die Behinderung einheimischer, mehr auf den Ressourcen des Landes basierender Industrieentwicklung, so Todaro (1977, S. 344), hängt auch damit zusammen, daß ein wichtiger Teil von Know-how und Managementkapazität, die im wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß aufgebaut werden, in ausländischen Händen verbleiben.

2.1.5. Wirkungen auf dualistische Wirtschaftsstrukturen Das Nebeneinander von lang anhaltenden modernen Wachstumsprozessen einerseits sowie Stagnation und Armut andererseits ist eines der hervorstechendsten Merkmale der meisten Entwicklungsländer. Diese Erscheinung fand in der Literatur auch dementsprechendes Interesse. Seit etwa 10 Jahren steht es im Zentrum kontroverser entwicklungspolitischer Diskussion. Der vorliegenden Arbeit liegt die Hypothese zugrunde, daß dualistische Wirtschafts- und damit verbundene Sozialstrukturen entscheidend durch die investitionsquotenorientierte Wachstumspolitik verursacht werden Zur Begründung dieser Hypothese ist eine Diskussion über das Dualismusphänomen und über die Bedeutung der internationalen Beziehungen notwen12 In der Literatur ist der Gesichtspunkt des begünstigten Transfers von kapitalintensiven Technologiesystemen aus den Industrie- in die Entwicklungsländer häufig angeführt. Genauere betriebswirtschaftliche Untersuchungen fehlen jedoch weitgehend. Kaplinsky hat 1975 sieben Firmen britischer multinationaler Unternehmungen in Kenia untersucht. Er stellte fest, daß auch längerfristig diese Unternehmungen kaum neue Technologien in Kenia entwickeln, sondern primär von ihren europäischen Zentralen mit in Europa und für die europäischen Bedingungen entwickelter Technologie versorgt werden.

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

dig. Diese Dualismus-Theorien gehen zunächst davon aus, daß Entwicklungsprozesse wirtschaftlicher, aber auch sozialer und kultureller Art, im Gegensatz zur historischen Erfahrung der Industrieländer, in den Entwicklungsländern häufig innerhalb eines in sich geschlossenen Teilsystems verlaufen (vgl. ζ. B. Boeke, 1953 ; Higgins, 1956\ My int, 1971). Solche in sich geschlossenen Teilsysteme waren in der geschichtlichen Entwicklung der Industrieländer viel weniger typisch. So bestand und besteht in den Industrieländern ζ. B. ein enger, positiver Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsentwicklung sowie dem Einkommensniveau der Beschäftigten. Für die Beschäftigungspolitik der meisten Regierungen der Industriestaaten konnte vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg der von Keynes (1936) erklärte Zusammenhang von Investieren, Sparen, Einkommen (sowie den „Multiplikatorwirkungen" von deren Veränderungen) und Beschäftigung auch wachstumspolitisch mit eindrucksvollem Erfolg genutzt werden. Armutsreduzierung und Wirtschaftswachstum erwiesen sich weitgehend als komplementär. Wachstumsprozesse „strahlten aus" und Armut wurde kontinuierlich reduziert. Verbleibende Armutsreste konnten durch sozialpolitische Intervention weitgehend kontrolliert werden. In den Ländern mit hohen proKopf-Einkommen führt — nach der bereits genannten Querschnittsanalyse von Chenery et al. (1976, S. 15) — Wachstum auch zu einer Reduzierung der relativen Einkommensunterschiede. In Entwicklungsländern existieren dagegen häufig Bedingungen, welche vom in den heutigen Industrieländern erfahrenen Entwicklungsweg abweichen. Das bereits früher zitierte Beispiel des kenianischen Entwicklungsplanes dokumentiert ein Phänomen, das in Ausmaß und Stärke für die heute entwickelten Länder unbekannt war. Der kenianische Entwicklungsplan stellt fest, daß der landwirtschaftliche Sektor langsamer wächst als der industrielle, obwohl dieselbe Investitionseinheit in der Landwirtschaft allgemein (bei gegebener Preisstruktur und den bestehenden physischen input-output-Bedingungen) eine höhere Rendite abwirft, einen in Preisen bewertet höheren Output erzielt als im Industriesektor und dazu noch — was das besondere Förderungsinteresse des Staates unterstreichen könnte — viel beschäftigungswirksamer ist als in jedem anderen Sektor (vgl. dazu auch Szczepanik, 1970\ Lipton, 1977, S. 16). Dieses Beispiel steht für die in Entwicklungsländern häufig zu beobachtende Situation, daß es nicht zum sogenannten „Grenzausgleich" in den Wirtschaftsprozessen, auf dem die klassische Volkswirtschaftstheorie aufbaut, kommt. Im obigen Beispiel würde man erwarten, daß Investitionen primär im landwirtschaftlichen Sektor getätigt würden — so lange bis die Rendite dort wieder auf das Niveau der anderen Sektoren gesunken wäre. Grenzausgleichsprozesse finden in Entwicklungsländern oft auch in vielen anderen Bereichen nicht statt. Schon erwähnt wurde das Beispiel des im Ver-

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gleich zu den landesüblichen Löhnen viel höheren Lohnniveaus im formalen Wirtschaftssektor. Auch zahlreiche Innovationsuntersuchungen zeigen immer wieder charakteristische Ergebnisse für Entwicklungsländer: Auf Einkommenssteigerung und Verbesserung der Lebensverhältnisse gerichtete Innovationen verbreiten sich nur begrenzt innerhalb bestimmter Bevölkerungsgruppen, nach deren Saturierung der Verbreitungsprozeß abbricht oder abflacht, ohne die Massen zu erreichen (vgl. auch Kapitel 3). In der entwicklungstheoretischen Literatur wurde die Erscheinung der ungleichen Entwicklungsprozesse schon vor einiger Zeit aufgegriffen. Der Begriff „Dualismus" setzte sich, unabhängig von den kontroversen Erklärungsansätzen, zur Charakterisierung nicht nur dessen durch, was hier mit dem Nichtstattfinden des Grenzausgleichs - dem Nebeneinander verschiedenartiger Wirtschaftsstrukturen — beispielhaft beschrieben wurde, sondern auch zur Bezeichnung der gleichzeitigen Existenz verschiedenartiger technologischer Systeme und ganz allgemein für nebeneinander bestehende verschiedenartige oder „gespaltene" (traditionale - moderne, Stadt - Land usw.) soziokulturelle Systeme. Boeke (1953), der als Begründer der Dualismusschule gilt, hat besonders auf die kultursoziologischen Aspekte des Dualismus in Entwicklungsländern hingewiesen. Er sieht die dualistische Wirtschaft als Ergebnis einer dualistischen Kultur, die wiederum Ergebnis soziokultureller und ökonomischer Transferprozesse war, die sich besonders über die kolonialen Beziehungen abgespielt hatten. Im Rahmen des Kolonialismus haben, so Boeke, die westlichen („modernen") soziokulturellen und ökonomischen Strukturen zwar das bestehende („traditionelle") System der Kolonialländer bis zu einem bestimmten Ausmaß penetrieren, es jedoch auch langfristig nicht umwandeln können, so daß es zum Nebeneinander unterschiedlicher Sozial- und Wirtschaftsstrukturen kam. Dualismus in Entwicklungsländern wurde also zunächst als eine Strukturerscheinung interpretiert, die durch den Kolonialismus verursacht wurde. Da nach der Unabhängigkeit und im Zuge forcierter Entwicklungsanstrengungen solche Strukturen nicht nur fortbestanden, sondern sich verstärkten, lag die Vermutung nahe, daß Dualismus in Entwicklungsländern ein generelles Ergebnis des internationalen Beziehungssystems zwischen Industrie- und Entwicklungsländern darstellt. Hierüber besteht in der Literatur auch weitgehend Konsens. Die Kontroverse ergibt sich erst in der Interpretation der Wirkungen der internationalen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern im besonderen auf die Bildung dualistischer Strukturen und den Konsequenzen für die Entwicklungspolitik.

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

2.1.5.1. Die Kontroverse um die Bedeutung des Systems internationaler Beziehungen als Dualismusfaktor Im letzten Jahrzehnt hat das System internationaler Beziehungen bekanntermaßen großes wissenschaftliches wie politisches Interesse erfahren. Die internationalen Auseinandersetzungen um eine neue Weltwirtschaftsordnung, wie sie ζ. B. in den Vereinten Nationen und besonders in ihrer Sonderorganisation UNCTAD (United Nations' Conference on Trade and Development) stattfinden, sind ζ. B. Ausdruck dieses politischen Interesses. Nicht nur politisch, sondern auch wissenschaftlich ist die Beurteilung der Wirkungen internationaler Beziehungen auf Entwicklung und Armut außerordentlich kontrovers. Wirkungsinterpretationen zentrieren besonders um zwei Auffassungen: Die eine Position geht davon aus, daß vermehrte Armut in Entwicklungsländern notwendig ein komplementärer Teil von weltwirtschaftlichen Entwicklungsprozessen darstellt, Entwicklung also „gesetzmäßig" Unterentwicklung produziert. Die andere Position vertritt die Ansicht, daß das System internationaler Beziehungen für Entwicklungsländer instrumenteil handhabbar ist und je nach der Anwendung des Instrumentariums negativ oder positiv auf das Ausmaß von Armut wirkt — das existierende internationale Beziehungssystem also nicht notwendigerweise negativ als Dualismusfaktor ex ante zu bewerten ist, da es nicht nur armutsreduzierende Entwicklungsprozesse zuläßt, sondern sogar fördern kann.

2.1.5.1.1. Zur Klassifikation der Schulen Todaro (1977) unterteilt die an internationalen Beziehungsstrukturen ansetzenden Theorien in eine Schule des (häufig marxistisch orientierten) „neokolonialen" Abhängigkeitsmodells und eine Schule des „false paradigma"Modells (ebenda, 1977, S. 90 f.). Letzteres sieht Unterentwicklung u.a. als Ergebnis „falscher" Entwicklungsstrategien (meist durch das internationale Beziehungssystem vermittelt), welche vor allem die Kapitalbildung überbetonen und den sozialen und institutionalen Bedingungen für den Entwicklungsprozeß nicht genügend Rechnung tragen 13 . 13 Von Autoren, die sich der Schule des Abhängigkeitsmodells zuordnen, werden die entwicklungstheoretischen Positionen oft in Abhängigkeits- („Dependenz"-) bzw. strukturelle und „Modernisierungs"-Ansätze eingeteilt (vgl. ζ. B. Portes, 1974, oder Wöhlcke, et al., 1977). Diese Zweiteilung entspricht jedoch nicht der Kategorisierung von Todaro, der von einem zu einseitig auf Wachstumsorientierung beschränkten Modelldenken spricht und von neueren internationalen Strukturbedingungen einbeziehenden Schulen, die sich nach dem Grade bzw. Fehlen „extremer" und „doktrinärer" Positionen einteilen lassen (ders., 1977, S. 91).

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Der Begriff des „falschen Paradigmas" zur Kennzeichnung eines entwicklungspolitischen Theorieansatzes ist weniger gebräuchlich und es stellt sich die Frage, ob er nicht durch eine gängigere Bezeichnung ersetzt werden sollte. Hinter der von Todaro gewählten Einteilung der beiden Schulen stehen sehr unterschiedliche wissenschaftstheoretische und methodologische Konzeptionen und ordnungspolitische Folgerungen. Nicht der Abhängigkeitsansatz als solcher, sondern seine marxistische Variante nimmt beispielsweise aufgrund des M ö s c h e n Arbeitswertaxioms an, daß privatkapitalistische Produktion immer ein Ausbeutungsverhältnis darstellt, in welchem sich der Besitzer von Kapital Mehrwert aneignet. Diese a priori Negativbewertung läßt logisch keine positive Beurteilung von wie auch immer gearteten privatkapitalistischen Aktivitäten mehr zu. Empirische Untersuchungen können hier nur mehr die Funktion der Illustration haben oder den Grad der so definierten Ausbeutung oder die Mechanismen dieser „Ausbeutung" feststellen. Ordnungspolitische Konsequenz dieses Ansatzes kann, nach welchen Strategien auch immer, letztlich nur in der Aufhebung der so definierten Ausbeutungsverhältnisse liegen - also in der Beseitigung privatkapitalistischen Wirtschaftens im internationalen und schließlich auch nationalen Rahmen. Das „falsche-Paradigma"-Modell läßt dagegen die ex post Bewertungen von Faktoren im Hinblick auf operationalisierte Ziele zu. Es ist a priori ordnungspolitisch neutral und ordnungspolitische Konsequenzen können sich nur durch ex-post-Untersuchungen ergeben. Da der Hauptunterschied der beiden Schulen weniger im Interessengegenstand als in den wissenschaftstheoretisch-methodologischen Voraussetzungen liegt, könnte man Begriffe wählen, welche stärker diesen Gesichtspunkt kennzeichnen - ζ. B. „arbeitswertaxiomatische" und „kritisch-rationale" oder „empirisch-orientierte" Strukturmodelle internationaler Beziehungen 14 .

2.1.5.1.2. Kritik arbeitswertaxiomatischer Imperialismusund Abhängigkeitsansätze Neo-marxistische und kritisch-rationale Strukturansätze unterscheiden sich nicht nur in ihren Prämissen und ordnungspolitischen Konsequenzen fundamental, sondern sie führen in sehr vielen Teübereichen entwicklungspolitischer 14

Freüich lassen sich viele Autoren nicht strikt der einen oder anderen Schule zuordnen. So bezieht sich ein Teü der Autoren ζ. B. auf die Marx sehe Arbeitswertlehre bzw. die Leninsche Imperialismustheorie, wenn sie ökonomische Strukturen analysieren, dagegen lassen sich mitunter die Analysen der soziokulturellen internationalen Beziehungen derselben Autoren der kritischrationalen Methodologie zuordnen. Die sogenannte „Dependenzschule" gehört also nicht der einen oder anderen Richtung an, obgleich sehr viele der Dependenztheoretiker mehrwertaxiomatisch argumentieren.

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Entscheidungen zu unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Schlußfolgerungen. Dies läßt sich beispielhaft illustrieren. Geht man bei der Beurteilung von Wirtschaftsbeziehungen marxistisch orientierte Autoren 1 5 durch, so wird die Frage der Faktorintensitäten (Marx und marxistisch orientierte Autoren verwenden den Begriff „organische Zusammensetzung des Kapitals") vornehmlich in einen Diskussionszusammenhang mit dem Gesichtspunkt des „tendenziellen Falls der Profitrate" gebracht. Die Theorie 16 vom „tendenziellen Fall der Profitrate" läßt sich nur auf der Basis der Afone sehen Arbeitswertlehre begründen. Nach ihr kann Mehrwert ausschließlich über den Faktor Arbeitskraft erzeugt werden. Die materiellen Produktionsmittel gehen zwar als Wertbestandteil in die produzierten Waren ein, schaffen jedoch keine neuen Werte, sondern transferieren nur unverändert ihren Eigenwert (die zu ihrer Erstellung „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit"). Mehrwert entsteht nur dadurch, daß der „Kapitalist" aufgrund des Privatbesitzes an Produktionsmitteln die Besonderheit der „Ware Arbeitskraft" für sich nutzt — nämlich, daß sie mehr an Wert produzieren kann als sie selbst wert ist (der Lohn entspricht dem Wert der „Ware Arbeitskraft", nicht aber dem Wert, den die Arbeitskraft selbst schafft). Nun zwingt jedoch die Konkurrenz den „Kapitalisten" zu technischem Fortschritt, der sich in einem immer höheren Verhältnis von Kapitalaufwendungen für Produktionsanlagen zu den Löhnen niederschlägt. Die Rendite des für das im Produktionsprozeß eingesetzte Kapital muß — nach den Mehrwertprämissen — sinken, weil der Anteil der Lohnarbeiter im Verhältnis zu den materiellen Produktionsmitteln sinkt und damit auch der Mehrwertanteil im Verhältnis zum eingesetzten Gesamtkapital kleiner wird. Nach der Marx sehen Arbeitswertlehre führt also steigende Kapitalintensität logisch zu sinkenden Renditen. Marx hat noch zu seinen Lebzeiten erkennen müssen, daß diese „Theorie" empirisch nicht der Realität entsprach, weil trotz höchst unterschiedlicher Kapitalintensitäten in verschiedenen Industriebranchen sich keine davon abhängigen unterschiedlichen Renditen ergaben. Er hat dann dieses „Gesetz" revidiert und auf die branchenmäßig unabhängige Durchschnittssituation einer kapitalistischen Volkswirtschaft bezogen, weil, wie er später begründet, Kapital so lange zu denjenigen Branchen fließt, in denen höhere „Profitraten" zu erzielen sind, bis es zu einer Angleichung der Profitraten kommt (Marx, 196264). Diese Uminterpretation des „Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate" besagt in dieser späten Formulierung, daß in kapitalistischen Volkswirt15

Z. B. lateinamerikanische Autoren wie Cardoso (1974), Cordova (1973), Fernandes (1971), Quijano (1974), Dos Santos (1972) (Einteilung als „marxistisch ausgerichtet" von Wöhlcke et al., 1977, S. 14) oder Autoren in westlichen Industrieländern, wie z. B. Baran (1966), Baran und Sweezy (1971), Magdoff (1970), Mandel (1968), O'Connor (1970), Schuhler (1968). 16 Methodologisch handelt es sich nicht um eine empirisch falsifizierbare Theorie, sondern um eine logische Schlußfolgerung.

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Schäften aufgrund des technischen Fortschritts generell die Profitraten fallen, wenn die „Kapitalisten" nicht neue Ausbeutungsmöglichkeiten finden. Lenin (1971) hat 1916 den „Imperialismus" ökonomisch, letztlich auf der Basis der Marx sehen Arbeitswertlehre begründet. Die „sinkende Tendenz der Profitrate" war nach Lenin mit Ursache für die Herausbildung von Monopolen als einem Ausweg aus der immer schwieriger werdenden Kapitalverwertung einmal durch Marktbeherrschung (Konkurrenzaufhebung) und damit Preissetzung für Waren über ihrem „Wert" im Binnenmarkt, zum andern durch Kapitalexport in Länder mit niedrigerem Lohnniveau (höhere Mehrwertraten kompensieren den „tendenziellen Fall der Profitrate") und Profittransfer zurück ins Mutterland. Die neo-marxistische Diskussion über die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen marktwirtschaftlichen Industriestaaten und Entwicklungsländern wird von diesem Thema beherrscht. Zwar ist zwischen den Autoren durchaus kontrovers, ob ζ. B. die international unterschiedliche „organische Zusammensetzung des Kapitals" hinreichend die Investitionstätigkeit der „imperialistischen Zentren" in der unterentwickelten „Peripherie" begründet oder welchen Einfluß ζ. B. die Wechselkurse auf länderspezifische Verwertungsunterschiede des Kapitals haben. Jedoch stellt die Diskussion prinzipiell nicht die axiomatischen Mehrwertprämissen in Frage. Dies ist mit ein Grund für die geringe Erklärungs- und Entscheidungsrelevanz dieser Beiträge in der Praxis entwicklungspolitischer Entscheidungsbereiche und dies weitgehend unabhängig davon, ob es sich um markt- oder staatswirtschaftlich orientierte Entwicklungsländer handelt. Bei den täglich anstehenden Entscheidungen der Entwicklungsplaner zu Fragen der Beschäftigungs-, der Import- und Exportpolitik, der Technologieentwicklung, der sektoralen Prioritätensetzung, der Kapitalbeschaffung für Entwicklungsvorhaben, der nationalen Ressourcennutzung usw. geben die axiomatischen Ausbeutungstheorien kaum Entscheidungshilfen. Im Gegenteü: Die Autoren sind sich weitgehend einig, daß Maßnahmen, die sich nicht gegen das globale System der „Ausbeutung" richten, im Prinzip keine Verbesserungen für die Entwicklungsländer bringen können. Maßnahmen, die sich in die bestehenden Strukturen einordnen, sind palliativ, schieben die wirkliche Lösung der Grundprobleme nur vor sich her und die Unterstützung von Palliativmaßnahmen läßt sich wissenschaftsethisch nicht verantworten. So erfährt ζ. B. die für die Arbeitsplatzbeschaffung und Einkommensverteüung in den Entwicklungsländern entscheidende Problematik der technologisch bedingten Faktorintensitäten unter dem Gesichtspunkt der Förderung kaum Aufmerksamkeit. Der Aspekt, daß technischer Fortschritt nicht notwendigerweise höhere Kapitalintensität, sondern für Entwicklungsländer gerade verstärkt Arbeitsintensität bedeutet und daß zwischen Kapital und Arbeit

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substitutional Beziehungen bestehen, die mit dem Gewinnstreben privater Kapitaleigner (ζ. B. dem Streben nach einer höchstmöglichen Kapitalrendite) nicht nur kompatibel sein können, sondern als wichtigstes Instrument der Renditenerhöhung benutzt werden, wird von den marxistisch beeinflußten Autoren nicht nur kaum berücksichtigt, sondern mit diesen Aspekten steht die Arbeitswerttheorie in logischem sowie in normativem Konflikt. Nach dieser Vorstellung lassen sich die Faktorintensitäten nicht entwicklungspolitisch manipulieren, weü mit der Senkung des Anteüs an Kapitalgütern - der als gesellschaftliches Faktum vorgegeben ist - weniger technischer Fortschritt und damit eingeschränkte Profitrealisierungsmöglichkeiten einhergehen. Andererseits beinhaltet schon die gedankliche Manipulation des Faktoranteüs Arbeit einen normativen Konflikt - nicht der Aspekt steht im Vordergrund, daß mehr Menschen Einkommen beziehen könnten, sondern daß von der „Mehrwertaneignungsmaschinerie" eine noch größere Zahl von Menschen erreicht wird. Eine ähnliche Schwierigkeit besteht für Entscheidungsprozesse im Bereich der Importsubstitution und der Exportförderung. Die wichtige Frage ζ. B., ob eine Importsubstitutionspolitik unter dem Gesichtspunkt der Beschäftigung mit möglichst breiter Einkommenswirkung dann zugunsten der Exportförderungspolitik aufgegeben werden soll, wenn sie in den kapitalintensiven Branchen getätigt werden müßte, jedoch Alternativen zur Exportförderung an arbeitsintensiven Branchen bestehen, ist für Positionen, die auf der marxschen Arbeitswertlehre beruhen, kaum relevant. Für diese stellt sich bei Import- und Exportüberlegungen die Frage nach den Mehrwertaneignungs- und internationalen Mehrwerttransferprozessen, wobei auch hier die wichtige Frage nach den Nettoeffekten für die Einkommensentwicklung in den Entwicklungsländern auf den Gesichtspunkte mehr oder weniger starker Integration in das „kapitalistische Weltwirtschaftssystem" (d. h. Ausbeutung), allenfalls auf den Aspekt von Palliativmaßnahmen, reduziert wird. Die Vielzahl der in den Marx sehen Axiomen begründeten Schwierigkeiten, Entscheidungshilfen für die konkrete Entwicklungsplanung zu geben, läßt sich in allen Bereichen der Beziehung von Ökonomie und Armut finden. So, um ein letztes Beispiel zu nennen, beurteüen die auf der Arbeitswertlehre von Marx basierenden Theorien die „Aufblähung" des tertiären Wirtschaftssektors in Entwicklungsländern negativ, weü Mehrwert (und damit Wirtschaftswachstum) nur in der materiellen Warenproduktion entstehen kann. Die Arbeitswertlehre gibt keinen Raum für den Gesichtspunkt, daß gerade die sogenannte „Aufblähung" des tertiären Sektors in vielen Entwicklungsländern eine positive Wirkung für die Beschäftigung und Einkommensverteüung hat. Solange keine Knappheit an Arbeitskräften besteht, bedeutet es nicht nur volkswirtschaftlich eine sparsamere Ressourcenverwendung, wenn ζ. B. der Warenhandel arbeitsintensiv („aufgebläht") und nicht arbeitssparend und kapitalintensiv

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(ζ. B. über Kaufhäuser) abgewickelt wird, sondern auch, daß sich das Einkommenspotential für den tertiären Sektor - d. h. das in einem Land gegebene monetäre Nachfragevolumen nach Dienstleistungen - auf mehr Personen verteilt. Diese Beispiele zeigen, daß die Arbeitswertprämissen der neo-marxistischen Ansätze kaum zur Klärung der Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und dem Ausmaß an Armut in Entwicklungsländern beitragen. Auch Uminterpretationen der Marx sehen Mehrwertlehre und dem tendenziellen Fall der Profitrate, wie sie ζ. B. von Baran und Sweezy (1966) oder O'Connor (1970) vorgetragen werden, sind prinzipiell durch Elemente der Mehrwertprämissen gekennzeichnet. Zwar wird hier die Mehrwerterzeugung und -aneignung nicht mehr einzelnen kapitalistischen Unternehmen zugeordnet. Der Mehrwert wird als „ökonomischer Surplus" — als Differenz zwischen dem „totalen Nationalprodukt" und den „gesellschaftlich notwendigen Kosten ihrer Erzeugung" aufgefaßt. Hier gehen auch die wirtschaftlich relevanten Aktivitäten des Staates mit ein, und Steuern sind Bestandteil des Surplus. Der theoretische Ansatz besteht darin, daß sich mit der Oligopolisierung der kapitalistischen Volkswirtschaften eine Strukturveränderung des technologischen Fortschritts vollzieht. Die Innovationen werden zunehmend inputsparend und dabei weniger outputerhöhend. Dadurch nimmt der Investitionsbedarf ab, und der ökonomische Surplus sucht nach neuer profitabler Verwertung in den Entwicklungsländern. Dies ist nach diesen Autoren die Triebfeder des Imperialismus. Auch diese Interpretation bleibt jedoch auf der mehrwertaxiomatischen Grundlage. Daß Entwicklungsprozesse auch Stagnations- oder Unterentwicklungsprozesse auslösen können, ist eine weltweit bekannte Erscheinung und betrifft nicht nur die Entwicklungsländer. Man denke an gegensätzliche Entwicklungsprozesse beispielsweise der Technologie im Bereich der Verwaltung und der „Entwicklung" der Arbeitslosigkeit bei Büroangestellten oder die Substitution der Kohle durch Mineralöl und die daraus resultierende Krise im Kohlenbergbau oder an regionale Prozesse, die einerseits rapide Regionalentwicklung, andererseits wirtschaftliche Kontraktion und Abwanderung verursachen. In Entwicklungsländern kommen zu solchen strukturellen Konflikt- und Krisenbeziehungen spezifische Faktoren hinzu. Entwicklungsländer sind im Gegensatz zu den relativ homogenen wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Industrieländer viel heterogener strukturiert. Wirtschaftliche Entwicklung impliziert in Entwicklungsländern die Einpflanzung eines neuen Wirtschaftssystems und eines damit verbundenen neuen Werte- und Sozialsystems, was extreme Heterogenitäten zwischen alten und neuen Strukturen schafft. Da sich diese Einpflanzung neuer wirtschaftlicher und sozio-kultureller Strukturen weitgehend über von Entwicklungsländern wenig kontrollierte und

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kaum systematisch gestaltete und verarbeitete, weltweite Transferprozesse von den Industrie- zu den Entwicklungsländern vollzieht, ist die „strukturelle Heterogenisierung" 17 (ζ. B. Cordova , 1973) oder das „Dualismusphänomen" (z. B. Boeke, 1953) mit als Ergebnis des internationalen Beziehungssystems zu sehen 18 . Die These, daß weltmarktintegrierte, kapitalistische Entwicklung in Entwicklungsländern nicht nur in einzelnen Bereichen Strukturprobleme erzeugt, sondern per saldo das Ausmaß an Armut generell vergrößert, also Entwicklung Unterentwicklung (etwa als Nullsummenspiel) verursacht, hält jedoch der zugänglichen Realität nicht stand. Die früher schon genannte Statistik zu 40 Entwicklungsländern zeigt zwar eine Verstärkung der relativen Armut bei Wirtschaftswachstum im komparativstatischen Vergleich, nicht jedoch eine Erhöhung der Bevölkerung unter absoluten Armutsbedingungen. Diese nimmt in der Mehrzahl der Länderfälle bei steigendem BSP-Niveau ab. Die These, Entwicklung produziere Unterentwicklung, läßt sich genauer überprüfen, wenn man sie zu folgender Hypothese umformuliert. Je höher die Einkommen der nicht von Armut Betroffenen sind, desto größer ist der Anteil der Armutsbevölkerung in einem Land. Hinter dieser Hypothese steht die Vorstellung von dem kapitalistisch sich entwickelnden Zentrum der Peripherie, welches die Peripherie der peripheren Länder ausbeutet und dort Verarmung schafft, selbst davon profitiert und einen Teü des Profits den imperialen Weltzentren zuleitet (vgl. z. B. Galtung, 1972). Der Anteil am BSP der nicht von absoluter Armut Betroffenen in den einzelnen Ländern ist in der Statistik nicht ausgewiesen, kann aber näherungsweise berechnet werden. Er ergibt sich für jedes Land durch Subtraktion des Anteüs 17

Obwohl der Begriff häufig von arbeitswertaxiomatisch orientierten Autoren verwendet wird, kann er prinzipiell ohne a-priori-Axiome etwa synonym zum Begriff des „strukturellen Dualismus" verwendet werden. Er ist operationalisierbar und deshalb empirischen Analysen zugänglich. Die Verwendung des Begriffes im Sinne einer kritisch-rationalen Methodologie mag zwar der gegenwärtig in der Literatur oft üblichen Verwendungsweise nicht entsprechen, ist im Prinzip jedoch möglich. 18 In diesem Zusammenhang sind im letzten Jahrzehnt eine fast unüberschaubare Anzahl von wissenschaftlichen und politischen Publikationen erschienen. Was die Anzahl von Publikationen betrifft, so ist die Dependenzliteratur besonders augenfällig (vgl. z. B. die Bibliographie in Wöhlcke et al., 1977, S. 43-76), die unter dem Aspekt der Kapitalismuskritik die Wirkungen der „asymmetrischen" Transferprozesse untersucht. Andere wissenschaftlich bedeutsame Untersuchungen werden oft der „Dualismus"-Schule zugerechnet. Diese Schulunterteüung erscheint jedoch weniger sinnvoll, da ihre praktische Relevanz nicht vom Vorhandensein einer kapitalismuskritischen Grunddisposition abhängt, sondern davon, ob Analyseergebnisse auf nicht überprüfbaren Axiomen (Arbeitswertaxiom) oder auf der Überprüfung durch die Realität beruhen.

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am BSP der Armutsbevölkerung vom gesamten BSP. Der Anteil der Armutsbevölkerung am BSP liegt ex definitione bei 75 US-Dollar und weniger pro Kopf. Da einerseits jedoch nichts dafür spricht, daß die durchschnittlichen pro-Kopf-Einkommen an der Obergrenze (von 75 US-Dollar) kumulieren, andererseits sich nicht in der Nähe von Nulleinkommen konzentrieren können (physisches Existenzminimum; es setzt eine gewisse Einkommenshöhe in bar oder in Subsistenzgütern voraus), erscheint die Setzung eines durchschnittlichen pro-Kopf-Wertes von 50 US-Dollar realitätsbezogen. Der Anteil der Armutsbevölkerung am BSP läßt sich dann durch Multiplikation dieses pro-KopfWertes mit der Anzahl der Personen in absoluter Armut schätzen. Korreliert man nun das so gewonnene pro-Kopf-Einkommensniveau der „reicheren" Bevölkerung in den einzelnen Ländern mit dem Anteil der Bevölkerung, der unter absoluten Armutsbedingungen in diesen Ländern lebt, erhält man folgendes Ergebnis: 19 Korrelationskoeffizient: Zusammenhang von pro-Kopf-Einkommensniveau der „reicheren" Bevölkerung mit dem Anteil der in absoluter Armut lebenden Personen in 40 Entwicklungsländern:

r = — 0,68. Ergebnis: Der komparativ-statische Vergleich zeigt einen eindeutig negativen Zusammenhang. In vielen Entwicklungsländern besteht also kein Trend dergestalt, daß bei steigenden Einkommen der „reicheren" Bevölkerung der Anteil der Bevölkerung in absoluter Armut zunimmt. Auch die Auswertung des von Ahluwalia and Duloy (1977) gesammelten Materials durch Morawetz (1977) zeigt in einer Querschnittsanalyse einen eindeutigen positiven Zusammenhang zwischen den durchschnittlichen pro-KopfEinkommen und den pro-Kopf-Einkommen der unteren 40% - allerdings bei stetig fallendem Anteil am Sozialprodukt 20 . Chenery (1971) hat anhand von empirischen Analysen versucht festzustellen, ob ein Zusammenhang zwischen der Struktur der wirtschaftlichen Außenbeziehungen von Entwicklungsländern und den BSP-Wachstumsraten besteht. Wenn man davon ausgeht, daß pro-Kopf-Werte des BSP zwar nichts über die Verteilung der Einkommen aussagen, jedoch den Saldo von wirtschaftlichen Entwicklung- und etwaigen Verarmungsprozessen berücksichtigen (einschließlich der Wirkung von Gewinnrepatriierung ausländischer Investitionen), können sie als grober Indikator 2 1 für die Untersuchung des Einflusses internationaler 19

Produkt-Moment-Korrelation. Datenbasis: Ahluwalia, in: Chenery et al. (1976), S. 12. 20 Die Anteilswerte weichen von der Analyse durch Chenery et al. (1976) ab. Zur Begründung vgl. Morawetz (1977), S. 40. 21 Ein positiver pro-Kopf-Zuwachs bedeutet, daß bei möglichen „Unterentwicklungsprozessen" die Summe der Einkommensreduzierungen geringer ist

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Tabelle 13: BSP-Entwicklung, Einkommensanteils- und absolute Einkommensentwicklung der unteren 40 % der nach Einkommen gegliederten Bevölkerung (Querschnittsvergleich) pro-Kopf-Einkommen (US-Dollar, 1971)

75 100 200 300 400 500 600 700 800 900 1.000 1.500 3.000

A

Untere 40 % der Bevölkerung Absolutes Einkommen n t e i l a m B S P (in v. H.) (US-Dollar, 1971) pro Kopf 22,42 20,07 15,47 13,49 12,40 11,73 11,31 11,03 10,85 10,74 10,68 10,76 15,00

42,04 50,16 77,34 101,15 123,97 146,65 169,59 193,00 216,98 241,59 266,87 403,62 909,14

Quelle: Morawetz (1977) S. 40.

Wirtschaftsbeziehungen auf die generellen Wachstumschancen eines Landes verwendet werden. Chenery wählte aus 75 Entwicklungsländern diejenigen 29 aus, die über 20 Jahre hinweg (1950 — 1969) anhaltend relativ hohe Wachstumsraten aufwiesen 22 . Hinsichtlich der wirtschaftlichen Außenbeziehungen kam er dabei zu folgender Typenbildung:

als die Summe der Einkommenszuwächse. Freüich sind auch hier Situationen denkbar, in denen viele Personen geringe Einkommenseinbußen erleiden, und relativ wenige Menschen hohe Einkommenszuwächse verzeichnen, was sich dann in einem positiven pro-Kopf-Wert niederschlägt. 22 „From 75 Countries with per capita incomes of less than 600 Dollar (in 1964 prices) for which the World Bank has compüed fairly complete statistics for most of 1950-69, I have chosen 29 that have sustained relatively high growth rates throughout, making some allowance for countries starting with a very large agricultural sector. The average growth rates of 26 of them were at least 5.5 per cent for the period covered; Pakistan, Malaysia and Peru were added as borderline cases" (Chenery , 1971, S. 21).

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Tabelle 14: Typenbildung hinsichtlich der wirtschaftlichen Außenabhängigkeit von Entwicklungsländern mit hohem Wirtschaftswachstum Typ A:

Typ B:

Typ C: Typ D:

Hoher externer Kapitalzufluß (über 30 % der Investitionen sind durch „Entwicklungshilfe" oder andere externe Quellen, zumindest während der ersten Dekade — 1950 bis 59 - , finanziert). Hohe Primärexporte (Mineralien und unverarbeitete Agrarprodukte; Primärexporte liegen mindestens 50 % und normalerweise 100 % über normal). Gemäßigter externer Kapitalzufluß (10 — 30 % der Investitionen sind extern finanziert). Geringe wirtschaftliche Außenabhängigkeit (Länder, die keine dieser Finanzierungsquellen A bis C besitzen).

Typ A: hoher externer Kapitalzufluß

Typ B: hohe Primärexporte

Typ C: gemäßigter externer Kapitalzufluß

Typ D: geringe wirtschaftliche Außenabhängigkeit

Griechenland Israel Jordanien Korea (Rep.) Panama Puerto Rico Taiwan

Elfenbeinküste Irak Iran Jamaika Malaysia Nikaragua Thailand Trinidad u. Tobago Venezuela Sambia

Costa Rica Mexiko Pakistan Peru Philippinen Singapur Türkei

Brasilien Bulgarien Japan Jugoslawien Spanien

Quelle: Chenery (1971), S. 21-25. Diese Tabelle läßt folgende Interpretation 23 zu: 23 Allerdings erscheint der Wert dieser Interpretation begrenzt. Einmal ist die Typenbildung problematisch, wenn nur wenige und darüber hinaus sehr heterogene Länder unter einen Typus fallen (vgl. Typ D). Zum andern dürfte die fehlende Unterscheidung zwischen Agrarprodukten und Mineralstoffen bei den Primärexporten (Typ B), wie auch zwischen privatem und öffentlichem (bzw. dem aus dem UN-System) externem Kapitalzufluß (Typen A, C) den Aussagewert verringern.

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

1. Hohes Wirtschaftswachstum ist nicht generell einer bestimmten Struktur wirtschaftlicher Außenbeziehung zuzuordnen. Die Struktur wirtschaftlicher Außenbeziehungen wirkt vielmehr unterschiedlich auf Wachstumsprozesse, abhängig von den spezifischen Bedingungen der inländischen Wirtschaftsstrukturen. 2. Die Länder mit langandauerndem, relativ hohem Wachstum lassen sich in vier Typen bezüglich ihrer wirtschaftlichen Außenstruktur einteüen. 3. Länder mit hohem externem Kapitalzufluß sind, abgesehen von Korea (Rep.), sehr klein. Hohe externe Investitionsfinanzierung scheint während der Untersuchungsperiode keine allgemeine Option für Entwicklungsländer zu sein, da offensichtlich nur Länder, die klein sind und besondere politische Faktoren aufweisen, ein so hohes externes Interesse von Investitionsfinanzierung auf sich ziehen können. Als besonders interessante Wirkungen eines hohen externen Finanzierungsanteüs hält Chenery fest: a) Durch die externe Finanzierung konnten die Länder den normalen Weg von Entwicklungsländern — nämlich Investitionsfinanzierung des Industriesektors über Primärexporte — einsparen und beschleunigt die notwendigen internen ökonomischen Strukturtransformationen durchführen (industrielle und agrarindustrielle Diversifizierung). b) Durch externe Finanzierung bewirktes, relativ hohes Wirtschaftswachstum steigerte die private inländische Investitionsbereitschaft. In der zweiten Dekade haben in diesen Ländern die intern finanzierten Investitionen zugenommen, und die externe Finanzierung sank anteümäßig erheblich ab. 4. Entwicklungsfinanzierung durch hohe Primärgüterexporte stellt die typische, herkömmliche koloniale und nachkoloniale Strategie dar. Sie hat nach Chenery den Vorteil, daß — ohne den Umweg der Industrialisierung — schnell Finanzierungsmittel beschafft und sofort ausländische Investitionen im Primärsektor angezogen werden können. Diese Strategie hat jedoch den sehr bedeutenden Nachteü, daß, mangels einer diversifizierten, verarbeitenden Industrie, hohe Importbedürfnisse bestehen, die in Verbindung mit der Amortisation und Gewinnrepatriierung der ausländischen Investitionen im Primärsektor nach wenigen Dekaden zu einer negativen Kapitalbilanz (per saldo Mittelabfluß) führt. Viele Länder, so Chenery, unternehmen zu wenig oder zu spät Anstrengungen in Richtung auf eine strukturelle Transformation vom Primär zum Sekundärsektor. Nachfragerückgang nach Primärerzeugnissen auf den Weltmärkten zwingen dann zu plötzlichen Strukturumwälzungen, die oft mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Krisen verbunden sind. Als typisches Beispiel für zu langes Warten nennt Chenery das Vorkriegs-Argentinien, Brasüien und Chile und das Nachkriegs-Kolumbien, Uruguay und Ghana. Länderbeispiele erfolgreicher frühzeitiger Struk-

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

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turtransformationen sind nach Chenery Thailand, Trinidad und Tobago sowie der Iran. 5. Bei Ländern mit gemäßigtem externen Kapitalzufluß während der Periode von 1950 — 1969 handelt es sich vorwiegend um mittlere und größere Länder, von denen die meisten die hohe Primärexportphase erfolgreich durch Entwicklung des sekundären Wirtschaftssektors überwunden hatten. Jedoch, so unterstreicht Chenery, bestehen für diese Strategie um so größere Schwierigkeiten, je kleiner die Bevölkerung eines Landes ist, denn je kleiner die Märkte sind, desto teurer wird eine importsubstituierende Industrialisierung. 6. Nur wenige Länder mit niedriger wirtschaftlicher Außenabhängigkeit, für die Daten vorliegen, waren in der schnellen Entwicklung ihrer Volkswirtschaft während der Untersuchungsperiode erfolgreich. Als bedeutendste Fälle nennt Chenery die Länder Japan und Jugoslawien, die durch sehr hohe interne Sparraten die notwendigen Finanzierungsressourcen erschlossen hatten. Wenig erfolgreich war Indien (oder auch Argentinien und Burma), das ebenfalls diesem Typ wirtschaftlicher Außenbeziehungen angehört. Zieht man allgemeine Folgerungen aus der Analyse von Chenery im Hinblick auf die Hypothese, daß weltmarktintegrierte kapitalistische Entwicklung das Ausmaß an Armut in Entwicklungsländern generell vergrößert, ergeben sich keine empirischen Anhaltspunkte, welche diese Hypothese unterstützen könnten. Die Daten belegen vielmehr, daß kein einheitlicher Trend zwischen den wirtschaftlichen Entwicklungschancen und dem Grade der Außenabhängigkeit besteht und daß die Varianz der Wirkungen wirtschaftlicher Außenbeziehungen auf langfristiges Wachstum entscheidend von der nationalen Wirtschaftspolitik beeinflußt wird.

2.1.5.2. Agrarsektorale Technologiepolitik als Faktor des strukturellen Dualismus (Johnston-Theorem) Im Sinne einer kritisch-rationalen Methodologie wurden die Dualismusstrukturen in Entwicklungsländern etwa seit 1975 in besonderem Maße von einem Team um den amerikanischen Agrarökonomen und Ernährungspolitikwissenschaftler Bruce F. Johnston einer theoretischen Erklärung näher gebracht (vgl. Johnston and Kilby, 1975; Johnston, in: Meier, 1976; Johnston, in: Hunter, 1976; Anthony, Johnston, Jones and Uchendu, 1979; Johnston and Clark, 1979; auch FAO/WHO, 1976, und teilweise Asian Development Bank, 1978).

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

2.1.5.2.1. Kritik am Lewis-Fei-Ranis-Zwei-Sektorenmodell Die Autoren um Johnston gehen wie die Theoretiker der „strukturellen Heterogenität" oder des „strukturellen Dualismus" von dem für Entwicklungsländer typischen Phänomen des gleichzeitigen Nebeneinander wirtschaftlich dynamischer und stagnierender Strukturen aus. Im Zentrum der Analysen stehen bei ihnen die strukturellen Beziehungen zwischen Agrar- und Industriesektor, in denen die Autoren einen Hauptfaktor langanhaltender und verbreiteter Armut sehen. Die Autoren untersuchen zunächst die internationalen Transferprozesse von Technologie im weiteren Sinne. Der Umstand, daß die Entwicklungsländer gegenüber den Industriestaaten im Hinblick auf die Technologieentwicklung „Nachzügler" sind, beinhaltet sowohl besondere Entwicklungschancen für diese als auch schwerwiegende Probleme. Die Chancen bestehen darin, daß die Entwicklungsländer das bereits vorhandene technologische Wissen nutzen können, ohne dies erst durch Zeit- und Ressourceninvestitionen entwickeln zu müssen. Aber die Existenz der akkumulierten wissenschaftlichen Kenntnis über fortgeschrittene Technologien ist ein „zweischneidiges Schwert". Besonders dramatisch wird dies durch die „halbvollendete demographische Revolution" in den heutigen Entwicklungsländern deutlich. Der weitverbreitete Einfluß moderner öffentlicher Gesundheitsmaßnahmen — ζ. B. Malariakampagnen, Massenimpfungsprogramme, lokale Gesundheitszentren oder Kliniken, die Antibiotika und andere Arzneien verteüen können, verbesserte Transportmöglichkeiten, Nahrungsmittelhüfsprogramme - hat zu einem beispiellosen Rückgang der Sterberate geführt. Johnston sieht zunächst den entscheidenden Unterschied zu den heutigen Industriestaaten nicht darin, daß der Fall der Sterberate nicht von einer entsprechenden Senkung der Geburtenrate begleitet wird, sondern im Fehlen gleichzeitig verlaufender Umwälzungen in der Struktur der produktiven Kapazitäten der Volkswirtschaft, die, so läßt sich ergänzen, in den Industriestaaten Hand in Hand mit dem Wandel im generativen Verhalten einhergingen. Durch die Beschleunigung der Wachstumsrate der Gesamtbevölkerung und - zeitverschoben - der noch stärkeren Wachstumsrate der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wird eine hohe Beschäftigungsexpansion der Volkswirtschaft notwendig, um diesen Arbeitskräftezuwachs absorbieren zu können. In den dicht besiedelten Ländern, deren Bevölkerung überwiegend von der Landwirtschaft abhängt, wird Boden zu einem immer stärker limitationalen Produktionsfaktor, der auch bei schnellem technischem Fortschritt der produktiven Beschäftigung einer wachsenden ländlichen Bevölkerung Grenzen setzt. In der strukturellen Transformation von „on-farm" zu „non-farm"-Beschäftigung liegt daher langfristig der Schlüssel zur Lösung des Armutsproblems, oder anders ausgedrückt: unzureichende strukturelle Transformation der Beschäfti-

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

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gung vom Primär- zu den Sekundär- und Tertiärsektoren verschärft langfristig das Armutsproblem. Hier gehen die Autoren prinzipiell mit dem Lewis-Fei-Ranis-Modell konform. Nach Johnston et al. läßt sich jedoch die „strukturelle. Transformation" der Beschäftigung nicht, wie im Lewis-Fei-Ranis-Modell, durch primäre Förderung des modernen Industriesektors erzielen. Hierfür begründen Johnston et al. fast entgegengesetzte Ansatzpunkte. Die Erfahrung der letzten 25 Jahre mit dem Beschäftigungseffekt forcierter Industrialisierung war, wie schon berichtet, für viele Entwicklungsländer negativ. Wie bereits angeführt, hat sich der Anteil der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft in 34 Niedrigeinkommensländern zwischen 1960 und 1970 von 88 auf nur 85 % verringert. Nach den Berechnungen von Johnston und Kilby bzw. Clark wird sich, wie schon erwähnt, die ländliche Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter dieser Ländergruppe noch mehr als verdreifachen, bevor der Wendepunkt (Beginn der absoluten Abnahme) erreicht werden kann. Der mch Johnston et al. zentrale Faktor dieser Problematik ist der kapitalintensive Charakter der Investitionen (Technologie) und der „urban bias" - beides, wie analysiert, mit ein Ergebnis der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik. Die kapitalintensive Technologie führt im Prozeß wirtschaftlicher Entwicklung zu nicht antizipierten Strukturphänomenen. Der im Hinblick auf sein Beschäftigungsvolumen kleinbleibende moderne „formale" Wirtschaftssektor bindet als Träger der kapitalintensiven Technologie einen Großteil der vorhandenen Entwicklungsressourcen. Dadurch wird ein strukturtransformierender Wachstumsprozeß entlang eines „agriculture-industry -Kontinuums", so wie dies im Lewis-Fei-Ranis-Modell vorgesehen war, blockiert. Eine enorme Kluft trennt einen Teil des agrarischen Sektors vom industriellen, und es kommt zur Ausbildung eines Wirtschaftsdualismus. Johnston et al. weisen darauf hin, daß es eine übermäßige Vereinfachung wäre, einen solchen Dualismus nur zwischen Landwirtschaft und moderner Industrie zu sehen. Er besteht innerhalb der Landwirtschaft selbst, wo sich ein moderner, kapitalintensiver Subsektor als Ergebnis ähnlicher Faktoren, wie für den Industriesektor beschrieben, herausbildet.

2.1.5.2.2. „Bimodale" agrarsektorale Technologiestrategie als Faktor des gesamtwirtschaftlichen und sozialen Strukturdualismus Das Johnston-Theorem setzt am Begriff der „bimodalen" Technologiestrategie für den Agrarsektor an. Die gesonderte Förderung des zu Kapitalintensität neigenden Großfarmen- und Plantagensubsektors durch eine spezifische, auf

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

diesen Subsektor bezogene Technologiestrategie (die sich fundamental von einer kleinbauernorientierten Technologiestrategie unterscheidet) nennt Johnston „bimodal". Bimodal ist eine Technologiestrategie, die zwischen Groß- und Kleinbetrieben differenziert. Im Gegensatz dazu steht die unimodale Strategie, die sich am häufigsten oder durchschnittlichen Betriebstyp ausrichtet 24 . Von der bimodalen Technologie ist der Begriff der „bimodalen Agrarstruktur" zu unterscheiden. Eine bimodale Agrarstruktur liegt vor, wenn sich in einem Land die landwirtschaftlichen Betriebsgrößen sowohl um Kleinbetriebe als auch um Großbetriebe verteilungsmäßig konzentrieren (polarisieren). Die Asian Development Bank (1978) hat die Agrarstrukturen asiatischer Entwicklungsländer durch 3 Typen charakterisiert. Für Typ A (unimodal) ist ein Land wie Bangladesh repräsentativ, wo es fast nur „kleine" landwirtschaftliche Betriebe gibt; für Typ Β (unimodal) Länder wie Thailand, Teüe Indiens und der Philippinen, wo die Mehrzahl der Betriebe kleiner sind, aber doch auch einige größere und große Betriebe mit einem kleineren Flächenanteü existieren; für Typ C (bimodal) Teü der Phüippinen und Pakistans (Asian Development Bank, 1978, S. 217). In diesen Ländern beanspruchen Großfarmen wie Kleinbauernbetriebe je einen erheblichen Anteü an der Gesamtfläche des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens. Andere von Johnston et al. untersuchte Länder in Asien mit typisch unimodaler Agrarstruktur sind die Länder Taiwan und Japan. Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen den beiden Bereichen der Begriffsverwendung „bimodal" liegt darin, daß die überwiegende Zahl der Entwicklungsländer eine bimodale agrarsektorale Technologiestrategie unabhängig von ihrer Agrarstruktur betrieben haben und betreiben. Johnston et al. vermuten sogar, daß die Agrarstruktur langfristig mit ein Ergebnis unimodaler bzw. bimodaler Technologiestrategie i s t 2 5 . Taiwan und Japan haben (abweichend von den meisten Entwicklungsländern) eine unimodale Technologiestrategie verfolgt und ihre unimodale Agrarstruktur erhalten. In zahlreichen anderen Ländern ging mit einer bimodalen Technologiestrategie ein agrarstruktureller Umformungsprozeß in Richtung bipolarer Betriebsgrößenverteilung einher. Plausibüitäten unterstützen diesen Gesichtspunkt: Eine Politik, welche ζ. B. tierische Anspanngeräte subventioniert und Traktorgeräte besteuert, macht nicht 24 Diese Begriffsverwendung von „bimodal" wurde von Schultz (1964) eingeführt, um damit die Agrarstruktur der Sowejtunion zu kennzeichnen, die sich durch kapitaüntensiv operierende Kolchosen und arbeitsintensive Kleinstbetriebe (meist der Kolchosenmitglieder) charakterisieren läßt. 25

Diese Auffassung gilt vermutlich für eine gaQze Reihe von Ländern mit stark ausgeprägter polarer Landbesitzstruktur (bes. Lateinamerika) nur sehr begrenzt.

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspoliti

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nur kapitalintensive Operationen in der Landwirtschaft weniger lukrativ, sondern auch Großflächenbetriebe weniger attraktiv. Zunehmende Verpachtung oder Verkauf von Land ist zu erwarten. Umgekehrt führt die Begünstigung kapitalintensiver Investitionen im Agrarbereich häufig zu Kündigung von Pachten, Zukauf von Land, höheren Gewinnen bei großen Betriebseinheiten und damit verringerter Konkurrenzfähigkeit kleiner Betriebe - alles Faktoren, welche die Entstehung oder Verstärkung einer bipolaren Agrarstruktur fördern. Gotsch (1974), den Johnston et al. mit zur Stützung ihrer Argumentation verwenden, schreibt der Wahl der Technologie überhaupt den zentralen Ansatzpunkt fur die Agrarpolitik zu. So haben Landreformprogramme nach Gotsch langfristig wenig Sinn, wenn aufgrund der Agrarforschung, der Preispolitik, des Kreditwesens usw. die Technologiestrategie weiterhin den Großfarmensektor begünstigt. Gotsch fordert daher von ländlichen Entwicklungsprogrammen, daß sie die Wahl der Technologie so beeinflussen sollten, daß diese sich zielentsprechend auf die Verteilung der ländlichen Einkommen auswirkt und daraus resultierende Spar- und Investitionsentscheidungen fördert, die langfristig die Betriebsgrößenentwicklung mit bedingen.

Schema 2: Die zentrale Bedeutung der Technologie für die Agrarstruktur

Quelle: Gotsch (1974) zitiert bei Johnston and Clark (1979), S. 99.

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

Johnston et al. messen der Unterscheidung von Landeigentum und operation a l Landeinheit 26 (tatsächliche Betriebseinheiten) erhebliche Bedeutung zu. In wenigen Fällen nicht-bimodaler Technologiestrategien - die Autoren haben Taiwan und Japan als solche Fälle untersucht (vgl. z. B. Johnston and Kilby, 1975) - haben Besitzer großer Ländereien verstärkt deshalb Land an Kleinpächter vergeben (oder verkauft), weü zu große Betriebseinheiten zu hohe Opportunitätskosten hatten. Die nicht-bimodale Technologiestrategie bewirkte in beiden Ländern eine Tendenz zu relativ homogener kleinbetrieblicher Farmstruktur. Berücksichtigt man die investitionsquotenorientierte Wachstumsförderung als Rahmenbedingung, zeigt - nach Johnston et al. - die bimodale Technologiestrategie im Agrarsektor komplexe Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaftsstruktur. Anhand der Schemata Nr. 3 , 4 und 5 soll dies erläutert werden. Der Transfer von Technologie führt einerseits über die Medizintechnologie zu sich beschleunigenden Zuwächsen an erwerbsfähiger Bevölkerung, andererseits durch den kapitalintensiven Wachstumspfad zu nur geringen Beschäftigungseffekten. Durch die bimodale Technologieförderung im Agrarsektor werden zwar die agrarischen Outputs erhöht, der überwiegende Teü der Bevölkerung bleibt jedoch außerhalb der dadurch initiierten Einkommenseffekte (vgl. Schema 3). Zwischen Agrar- und Industriesektor besteht ein Strukturzusammenhang, auf den sich die bimodale Technologiestrategie im Agrarsektor in entscheidender Weise auswirkt. Umfang und Zusammensetzung intersektoraler Güterflüsse bestimmen weitgehend das Nachfragepotential des Agrarsektors nach nichtlandwirtschaftlichen Produkten. Die Nachfragestruktur des Agrarsektors wiederum hat einen starken Einfluß auf die Art des industriellen Produktionswachstums. Die Nachfrage des Agrarsektors nach nicht-landwirtschaftlichen Produkten ist aufgrund seiner Kaufkraftschwäche niedrig und begrenzt das Volumen des intersektoralen Güterflusses. Andererseits ist die städtische Bevölkerung, die Nahrungsmittel kauft, sehr klein im Verhältnis zur Landbevölkerung. Verkäufe des Agrarsektors an die städtischen Nachfrager haben deshalb — sieht man vom Export ab — notwendigerweise nur ein relativ geringes Volumen. Dies bedeutet, daß die ländliche Bevölkerung nicht genügend Geldmittel besitzen kann, um Industriegüter und landwirtschaftliche Inputs, wie z. B. Mineraldünger und Gerät kaufen zu können. Der entwicklungsländertypische kleine Einkommensanteü des nicht-landwirtschaftlichen Sektors, der zum Kauf von Agrarprodukten verwendet wird, ist also struktureller Faktor für die insgesamt niedrige Kaufkraft im Agrarsektor und damit für die fehlenden Finanzierungsressourcen zur Agrarentwicklung (vgl. Schema 4). 26

„Operational units, that is, units managed by an individual farm operator irrespective of whether the land is owned or rented" (Johnston and Kilby, 1975, S. 17).

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

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Schema 3: Sektorale Wirkungen des Technologietransfers auf die Beschäftigung bei bimodaler Technologiestrategie im Agrarsektor

r a p i d e Senkung der Sterberate bes.der Kindersterblichkeit; j e d o c h k e i n Wand e l des g e n e r a tiven Verhaltens

bimodale Technologieförderung

kapitalintensiver Expansionspfad

Präferenzen für kap i t a l i n t e n s i v e n Subsektor durch i n v e stitionsbezogene Wachstums f ö r d e r u n g

Verstärkung durch investitionsbezogene W a c h s t u m s f ö r derung

.1

kapitalintensiver E x p a n s i o n s p f a d des Subsektors

sich beschleunigende Zuwächse an e r w e r b s f ä h i ger Bevölkerung

l.

g e r i n g e , k e i n e oder n e g a t i v e Wachstumsr a t e n der Beschäftigung

g e r i n g e Wachstumsr a t e n der Beschäftigung

Aufgrund der bimodalen Technologiestrategie werden die Großfarmen befähigt, in der Belieferung des Industriesektors mit Agrarprodukten zu dominieren und die Entwicklung der Geld-Güter-Interaktion zwischen Stadt und Land innerhalb des Agrarsektors auf sich zu konzentrieren. Damit ist die Einbeziehung der kleinbäuerlichen Bevölkerung in den wirtschaftlichen Entwicklungs-

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

Schema 4: Allgemeine zwischensektorale wachstumsrelevante Strukturinterdependenz (ohne Export)

Agrarsektor

Industriesektor

(überwiegender Bevölkerungsanteil)

(sehr k l e i n e r Bevölkerungsanteil)

a u f den Gesamtagr a r s e k t o r bezogene g e r i n g e m o n e t ä r e Nachfrage nach Agrarprodukten

geringe Gelds t r ö m e i n den Agrarsektor

( g e r i n g e r Wachstumsimpuls f ü r Agrarsektor)

^

g e r i n g e monetäre Nachf r a g e k a p a z i t ä t nach Industrieprodukten (Konsum- w i e I n v e s t i tionsgüter für Agrarproduktion) >

geringer I n v e s t i t i o n s g ü t e r f l u ß i n den A g r a r sektor ( g e r i n g e r Wachstumsimpuls f ü r Agrarsektor)

usw.

prozeß noch schwieriger, denn der kapitalintensiv operierende agrarische Subsektor bindet die knappen, sektoral vorhandenen Ressourcen (sowohl der städtischen Nachfrage als auch andere Entwicklungsmittel) an sich. Zwischen ihm und dem Industriesektor vollziehen sich die Wirtschaftskreisläufe vornehm-

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

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lieh, und die Wachstumsprozesse finden innerhalb dieser Kreisläufe statt. Es entsteht einerseits, so läßt sich die Analyse weiterfuhren, eine integrierte „Enklave", bestehend aus dem formalen oder organisierten Industrie- und Agrarsektor, der die nationalen Entwicklungsressourcen weitgehend bindet und dessen Wirtschaftsprozesse dem kleinbäuerlichen Sektor gegenüber überwiegend exklusiv bleiben. Andererseits verhindert die fehlende Kaufkraft der Masse der ländlichen Bevölkerung für agrarische Inputs wie für Konsumgüter eine breite und lang anhaltende, dezentrale industrielle Expansion, basierend auf der Binnennachfrage (vgl. Schema 5). Johnston und die Mitautoren sehen die Nachteile der beschäftigungsmäßig kleinen modernen Wachstumsenklaven auch darin, daß mit ihrer fortschreitenden Entwicklung es immer schwieriger wird, eine dezentrale und arbeitsintensive Klein- und Mittelindustrie aufzubauen. Die Nachfrage nach hochkomplizierten Maschinen aus dem kapitalintensiven agrarischen Subsektor kann nur durch ebenfalls hoch komplizierte Industrieanlagen befriedigt werden, die hohen Kapital- und Know-how-Bedarf erfordern und deshalb oft gerade kleinere und finanzschwache Entwicklungsländer überfordern. Deshalb fließt die Nachfrage nach solchen Maschinen häufig ins Ausland ab, und der potentielle Wachstumsimpuls für die eigene Volkswirtschaft geht verloren, oder jdie Kapitalintensität und -konzentration der eigenen Industrieentwicklung müß weiter forciert werden, wobei einem damit verbundenen weiteren Effekt große Bedeutung zukommt: Die so benötigten Industrieanlagen können nur von höchst qualifizierten Managern und Technikern betrieben werden, die im Ausland eingekauft bzw. geliehen werden oder die im Ausland für diese Aufgaben vorbereitet werden müssen. Für Management- und technische Aufgaben besonders geeignete Menschen, die nicht diese besondere Förderung erhalten, besteht kein Bedarf, und es reduzieren sich dadurch die Übungs- und Entfaltungsmöglichkeiten für viele potentielle Initiatoren und Träger von Wirtschaftsprozessen. Die unternehmerischen Initiativen, Managementfähigkeiten und technisches Geschick — außerordentlich wichtige menschliche Ressourcenvoraussetzungen zu einer breit angelegten Wirtschaftsentwicklung — liegen brach und „verkommen". Werden diese Qualifikationen dann tatsächlich benötigt, sind sie nicht vorhanden. Der strukturelle Wirtschaftsdualismus übt einen hemmenden Einfluß auf die im Sinne McClellands (1961) für die Entwicklung sehr bedeutsame Herausbildung von wirtschaftlicher Leistungsorientierung bei möglichst vielen Personen der Bevölkerung aus. Schließlich lassen sich empirisch begründete und plausible andere Zusammenhänge von Wirtschaftsdualismus und Armut ableiten. Im hoch technisierten modernen Wirtschaftssektor werden zunehmend hohen Ansprüchen genügende Büdungseinrichtungen, medizinische Versorgungs- und soziale Institutionen sowie Konsummuster geschaffen, welche in den Transferursprungsländern selbstverständlich sind, in den Entwicklungsländern aber aufgrund des niedri-

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

Schema 5: Zwischensektorale Wachstumsbeziehungen (ohne Export) bei bimodaler Technologiestrategie

verbleibt abseits vonden Wachstumsprozessen; w i r t schaftliche Stagn a t i o n und v e r m e h r t e Armut durch Bevölkerungswachstum

Enklavenbildung: i n t e g r i e r t e r Wachstumsprozeß i n n e r h a l b des s e k t o r ü b e r schneidenden k a p i t a l i n t e n siven Wirtschaftsbereichs ; Bindung der Wachstumsress o u r c e n an d i e a g r a r - / i n d u s t r i e l l e Wachstumsenklave technologisch bedingter, s t r u k t u r e l l e r Dualismus der V o l k s w i r t s c h a f t

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

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gen pro-Kopf-Einkommensniveaus zu einer entsprechenden Unterversorgung der nicht in den Wachstumssektor „integrierten" Bevölkerungsteile führen muß. Aus den Analysen von Johnston et al. ergeben sich für die Beziehung von Wirtschaftswachstum und Armut in Entwicklungsländern also folgende Schlüsse: 1. Das Problem mangelnder Armutsreduzierung trotz Wirtschaftswachstum ist entwicklungsländertypisch und hängt historisch mit dem internationalen Beziehungssystem zusammen, weil den Entwicklungsländern als technologischen „Nachzüglern" von (marktwirtschaftlichen wie sozialistischen) Industriestaaten technologische Innovationen angeboten werden, die dort zu spezifischen, für die Industrienationen im wesentlichen atypischen Strukturproblemen führen, insbesondere a) zu hohem Bevölkerungswachstum im ländlichen Raum ohne simultane beschäftigungsstrukturelle Transformation dieses dominant agrarischen Wirtschaftssektors in Sekundär- und Tertiärsektoren, die Voraussetzung für eine langfristige Beschäftigungsexpansion wären, und b) zu generell geringer Beschäftigungszunahme in den Wachstumsbereichen, weil die transferierte Technologie kapitalintensiv entwickelt worden ist. 2. Diesen entwicklungspolitischen Strukturproblemen wird meist durch eine „falsche" Entwicklungsstrategie (gleichermaßen von den Industrienationen verschiedener wirtschafts- und ordnungspolitischer Verfassung, privaten Unternehmen und den Entwicklungsländerregierungen selbst wie auch von dortigen Arbeitnehmerorganisationen) nicht nur nicht gegengesteuert, sondern sie werden verschärft durch a) die investitionsquotenorientierte und prioritär-industriesektorale Förderungspolitik, b) die damit einhergehende Vernachlässigung der Entwicklung „geeigneter" Technologien und, c) was sich am folgenschwersten auswirkt, die Vernachlässigung der Entwicklungsförderung des Kleinbauernsubsektors, dem potentiell die Schlüsselrolle (als Kaufkraftpotential des Binnemarktes für arbeitsintensiv herstellbare Produkte) für die strukturelle Transformation in den meisten Entwicklungsländern zukommen würde. Der aus dieser Situation resultierende agrarsektorale Technologiedualismus bildet die Grundlage für das strukturell bedingte Nebeneinander von Wirtschaftswachstum und Armut oder von dynamischen und stagnierenden Bereichen in der Volkswirtschaft.

100

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

2.1.6. Zusammenfassung Der bedeutsamste (freüich nicht alleinige) entwicklungspolitische Ansatzpunkt zur Reduzierung von Armut in Entwicklungsländern bestand und besteht in der Einkommenserhöhung durch Wirtschaftswachstum. Die Einkommensschaffung bei Individuen und beim Staat ist weitgehend Voraussetzung zur Lösung der zentralen Entwicklungsprobleme wie Massenarmut, extreme Ungleichheit und fehlende Grundbedürfnisbefriedigung für große Bevölkerungsteüe. Bei Anerkennung der überragenden Bedeutung von Wirtschaftswachstum für die Entwicklung hat aber die tatsächliche Struktur wirtschaftlicher Wachstumsprozesse in der Mehrzahl der Entwicklungsländer wenig zur Lösung dieser grundlegenden Probleme beigetragen. Häufig wurden die Probleme im Wachstumsprozeß sogar verstärkt. Als ein entscheidender Faktor der Negativwirkungen von Wachstumsprozessen konnte die einseitig investitionsquotenbezogene Wachstumspolitik (Harrod-DomarModell) und ihre Prioritätsetzung des Industriesektors (Lewis-Fei-Ranis-Modell) ausgemacht werden. Sie ist verantwortlich für die Entstehung der Verstärkung wirtschaftlicher Strukturen, die sich negativ auf die soziale Problematik der Entwicklung auswirken. So hat die Wachstumspolitik, welche die Eignung von Entwicklungsmaßnahmen prioritär am Kriterium des Investitionsbeitrages (und dies vornehmlich im Industriesektor) mißt, zu den folgenden vier wirtschaftlichen und davon abhängigen sozialen Strukturproblemen geführt: 1. zu einem kapitalintensiven, relativ wenig Arbeit bindenden wirtschaftlichen Wachstumspfad mit seinen entsprechenden Wirkungen auf die Beschäftigungslage; 2. damit verbunden zu einer zunehmend ungleichen funktionalen Einkommensverteüung zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital zugunsten der Bereitsteller von Kapital und zugunsten des „modernen" Industriesektors; zunehmende soziale Ungleichheit zwischen Individuen und zwischen Sektoren (Industrie - Landwirtschaft, oder Stadt - Land, aber auch „moderner" gegenüber traditionellem informalem Wirtschaftssektor) sind Folgen dieser Entwicklung. 3. zu erheblichen Auslandsinvestitionen, welche die negativen Strukturwirkungen verstärken und oft erst die technischen und organisatorischen Voraussetzungen kapitalintensiver Technologieinvestitionen schaffen. Als außenbezogene „Fremdkörper" fungieren die Auslandsinvestitionen tragenden Unternehmungen als Medien für einen Gutteü des internationalen Technologietransfers; 4. und schließlich, in enger Verbindung mit obigen Wirkungen, zu dualisti-

2.1 Wirkungen und Kritik der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik

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sehen Wirtschaftsstrukturen - einem bevölkerungsmäßig kleinen dynamischen Wachstumspol, der sich aufgrund struktureller Faktoren, deren Ursachen in der Art der Wachstsumsförderung liegt, nur unzureichend verbreitern kann — die sich dann auch als Dualismus im sozialen, politischen und kulturellen Bereich auswirken. Dieses Ergebnis der wirtschaftstheoretischen Analyse ist im breiteren Spektrum von Entwicklungserklärungen jedoch kontrovers. Besonders in der Begründung des Dualismus werden die unterschiedlichen theoretischen und wissenschaftsmethodischen Positionen deutlich. So bestreiten die Vertreter der Abhängigkeitstheorien die Relevanz dieses Erklärungsansatzes. Die Mehrzahl der Vertreter der Abhängigkeitsansätze erklären Armut als Ergebnis des Zusammenwirkens internationaler und nationaler Ausbeutungsstrukturen. Die Schwäche dieses Ansatzes liegt dabei keineswegs in der Bewertung der internationalen Strukturen, sondern in seinen „arbeitswertaxiomatischen" Prämissen. Diese reduzieren einmal die Armut auf ein nur „kapitalistisches" Strukturphänomen, zum anderen auf die Marx sehe arbeitswertbegründende Ausbeutungslehre. Der Ansatz ist inkompatibel mit Erklärungen zur Verbindung von Wachstums und Armutsreduzierung unter „kapitalistischen" Bedingungen, weil nach ihm letztlich jede abhängige Beschäftigung im privaten Unternehmungsbereich ein Ausbeutungsverhältnis darstellt. Auch die von den Abhängigkeitstheoretikern einhellig explizit oder implizit gezogene Folgerung, daß sich die „Abkoppelung" von den Industrienationen positiv im Hinblick auf die Lösung der entwicklungsinternen Strukturprobleme auswirke, läßt sich empirisch nicht belegen. Eine kleine Anzahl von Entwicklungsländern hat sogar bei zunehmender Weltmarktintegration Wachstum beschleunigen und Armut dazu überproportional reduzieren können. Kritisch-rational orientierte Schulen sehen zwar auch einen Zusammenhang zwischen dem System der internationalen Beziehungen und dem „Armuttrotz-Wachstum-Problem", interpretieren dieses Problem aber nicht als dem Kapitalismus inhärent. Auch sozialistische Industrieländer haben im Prinzip denselben dualismusfördernden Technologietransferprozeß aufgrund desselben „falschen" Wachstumsparadigmas unterstützt. Autoren wie Todaro und besonders die Autoren um Bruce Johnston sehen die Wurzel des häufigen Auseinanderfallens von Wachstum und Armutsreduzierung einmal in der investitionsquotenfixierten Wachstumspolitik und zum anderen in der Existenz transferbereiten Technologiewissens und transferbereiter Technologiegüter, die, obwohl für die spezifischen Bedingungen der Industrieländer (besonders hohe Löhne und Arbeitskräfteknappheit) entwickelt, dem herrschenden Wachstumsparadigma entsprechend in großem Umfang transferiert wurden. In den meisten Entwicklungsländern führte dies zu einem „bimodalen" Technologisierungsweg: zu einem in Industrie und Landwirtschaft kapitalintensiv operierenden Wachstumssubsektor, der beschäftigungs-

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

mäßig relativ langsam expandiert (dessen Nachfrageströme nur innerhalb der „modernen" Enklave zirkulieren, sowie mit den Industrieländern interagieren) und den Hauptteü der Entwicklungsressourcen an sich bindet. Die Induzierung produktiver Beschäftigung außerhalb des „modernen" Sektors gelingt unter diesen Voraussetzungen nicht in dem Umfang, wie dies zur „strukturellen Transformation" der Beschäftigung notwendig wäre. Dies erscheint deshalb als aussichtslos, weil die benötigten Impulse für arbeitsintensiv operierende Kleinindustrien und Dienstleistungen eine bestimmte Massennachfrage nach zunächst einfach herstellbaren Gütern (und Diensten) verlangt. Eine wesentliche Nachfrageerhöhung ist jedoch ausgeschlossen, solange im besonderen der Kleinbauernsektor, in dem sich die Masse der Bevölkerung konzentriert, auf niedrigster Produktivität wirtschaftet und damit nur einen unbedeutenden Kaufkraftfaktor darstellt. Wenige Länderbeispiele sind bekannt, die diesem Paradigma nicht folgten und über alternative Ansätze, die besonders in ihrer agrarsektoralen Technologiepolitik verankert waren, langfristig sowohl Wachstum als auch Armutsreduzierung erzielten. Genannt werden häufig die Länder Japan und Taiwan, teüweise Südkorea, sowie die Volksrepublik China.

2.2. Entwicklungspolitische Folgerungen Etwa um 1970 begann man besonders in den zuständigen internationalen Organisationen im UN-Behördensystem die investitionsquotenbezogene Wachstums· und Entwicklungspolitik in ihrer Eignung zur Lösung der Armutsproblematik in Frage zu stellen. Die Veröffentlichung der Pearson Commission (1969), die im Auftrag der Weltbank die Ergebnisse bisheriger Entwicklungspolitik einer kritischen Analyse unterzogen hatte, kann als formeller Auslöser der Auseinandersetzung mit diesem Problem im UN-Bereich betrachtet werden einer Auseinandersetzung, die dann in der 2. Hälfte der 70er Jahre zu einem Prozeß weltweiter Revisionen entwicklungspolitischer Konzeptionen führte, und dessen Abschluß noch nicht abzusehen ist. Der Prozeß der Formulierung neuer Konzeptionen verläuft nicht einheitlich. Verschiedene Modelle, die oft wenig Bezug zueinander haben, und einzelne Modelle, die in sich unfertig erscheinen, werden im internationalen entwicklungspolitischen Raum angeboten. Die theoretischen Begründungen von Strategien zur Überwindung des Wachstum-Armut-Problems konvergieren in zwei Erkenntnisbereichen, nämlich, 1. daß Wirtschaftswachstum ex ante verteüungsorientiert gestaltet werden kann — mittelfristig ohne notwendige Wachstumsverluste und langfristig mit zusätzlichen Wachstumsimpulsen und

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

103

2. daß im Entwicklungsprozeß der meisten Entwicklungsländer dem Agrarsektor, und in diesem der Masse der kleinbäuerlichen Produzenten eine entscheidend wichtige Funktion zvkommt. Obwohl für die Umsetzung dieser theoretischen Positionen, die auf der Makroebene ansetzen, in konkrete Projektmaßnahmen im Mikrobereich noch erhebliche Theoriedefizite sichtbar werden, scheint sich auch hier eine begründete Konzeptrevision anzubahnen. Diese wird unter Begriffen wie „direkte" Armutsbekämpfung und/oder „zielgruppenbezogener" Projektansatz diskutiert.

2.2.1. Folgerung: Verteüungsorientierte Wachstumspolitik Daß zwischen Wachstum und Verteüung kein Konfliktverhältnis bestehen muß und Verteüungsmaßnahmen sogar unter bestimmten Voraussetzungen Wachstum induzieren können, wurde besonders durch zwei sehr bekannt gewordene Studien belegt - der Untersuchung von Adelman and Morris (1973) „Economic Growth and Social Equity in Developing Countries" und einer gemeinsamen Arbeit der Weltbank und des Institute of Development Studies (Sussex): Chenery, Ahluwalia, Bell Duloy and Jolly (1976, Erstausgabe 1974): „Redistribution with Growth". Beide Studien 27 versuchen anhand von Varianzanalysen die Faktoren zu bestimmen, welche hinter den in den Entwicklungsländern beobachtbaren, sehr unterschiedlichen Ausprägungen der Beziehung von Wachstum und Verteüung stehen. Die folgende Graphik von Ahluwalia zeigt diese Unterschiedlichkeit des Zusammenhangs von Wachstum und Verteüung. Besonders deutlich wird, daß hohe Wachstumsraten keineswegs mit verschärfter Einkommensungleichheit einhergehen müssen (vgl. auch Tabelle 12). Adelman (in: Meier, 1976) faßt die Ergebnisse der außerordentlich differenziert angelegten Studien von Adelman und Morris (1973) wie folgt zusammen: 1. Mit zu niedrigem (unter 3,5 %) Wachstum der pro-Kopf-Einkommen ging in den 43 untersuchten Ländern eine Abnahme des Anteüs einher, den die Armutsbevölkerung am BSP hatte. 2. Höhere Wachstumsraten sind also eine notwendige, aber keinesfalls eine ausreichende Bedingung für eine zunehmende Beteüigung der Armutsbevölkerung am BSP. 3. Zwei entscheidende Bedingungen müssen dafür geschaffen werden: a) Mit dem Wachstum muß eine intensive Entwicklung der menschlichen Ressourcen einhergehen und 27 Beide Studien werden in übersichtlicher Weise auch von Bohnet und Betz (1975) beschrieben und beurteüt.

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

Graphik 8: Wachstumsraten des BSP und der Anteil der Einkommen der 40 % unterer Einkommensbezieher am BSP in ausgewählten Ländern

Growth Rate of Income of Lowest 40 percent

Quelle : Ahluwalia , in: Chenery et al. (1976), S. 14.

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

105

b) es darf keine ausgeprägte dualistische Wachstumsstruktur vorliegen. Das Team um Chenery kommt aufgrund seiner Analyse zu hiermit kompatiblen Folgerungen. Vier effekte Politikansätze zur Anhebung der Wohlfahrt unterer Einkommensgruppen konnten identifiziert werden: 1. die Erzielung eines möglichst hohen Wirtschaftswachstums, verbunden mit einer gezielten Beteiligung der Armutsgruppen — insbesondere durch schnelle Beschäftigungsexpansion, die zur Verknappung von Arbeitskräften führt; 2. die Umleitung („redirection") von Investitionen zu Armutsgruppen in Form von Bildung, Zugang zu Krediten und anderen öffentlichen, investitionsrelevanten Einrichtungen; 3. die Umverteilung von Einkommen (oder Konsumption) zugunsten der Armutsgruppen durch das Fiskalsystem oder direkte Zuteilung von Konsumgutem; 4. der Transfer von existierendem (produktivem) Vermögen (ζ. B. Landreform) zu Personengruppen, die bisher keinen Zugang zu solchem Vermögen hatten. Das Team räumt mit Hilfe von Simulationsmodellen der Umleitung von Investionen auf Armutsgruppen (Punkt 2.) langfristig eine besonders hohe Eignung zur Verbindung von Wachstum und Armutsreduzierung ein. Die Effektivität dieses Ansatzes ist nicht nur ökonomisch (gegenüber der Option der konsumptiven Umverteilung; vgl. Punkt 3.) begründbar, er hat auch gegenüber der Vermögensumverteilung (vgl. Punkt 4.) Vorteile für die politische Durchsetzbarkeit. Die Effekte massenhafter Produktivitätssteigerung und vermehrter Kaufkraft der Armutsbevölkerung kommen danach langfristig auch den Wirtschaftseliten zugute und lassen deshalb weniger politische Widerstände von den Eliten erwarten. Freilich, so konstatieren die Autoren, sind die 4 Politikoptionen nach den spezifischen Bedingungen jeweiliger Entwicklungsländer unterschiedlich relevant, was den Schluß zuläßt, daß in bestimmten Ländern auch die Umverteilung von Produktiwermögen ein überragend wichtiges Politikerfordernis darstellen kann. Ein Beispiel dazu liefert eine Untersuchung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Kenia, auf die im folgenden kurz eingegangen werden soll. Die Umverteilung von Land wurde in den älteren wirtschaftstheoretischen Ansätzen im Hinblick auf Wachstumseffekte meist skeptisch beurteilt. Dies wurde ζ. B. mit niedriger, betriebsgrößenabhängiger Wirtschaftlichkeit und geringer Investitionsfähigkeit kleiner Betriebe begründet. 1972 ging ein Wissenschaftlerteam, das im Auftrag der ILO Fragen des Zusammenhangs von Beschäftigung, Einkommen und Verteilung in Kenia untersuchte, dieser Ansicht

106

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

kritisch nach. Das Team stellte fest, daß viele Großfarmen erheblich weniger intensiv bewirtschaftet wurden als Kleinfarmen und folgert, daß sich unter diesen Bedingungen eine Landumverteilung zugunsten kleiner Betriebe wachstumsstimulierend auswirken würde (vgl. die folgende Tabelle). Tabelle 15: Output, Erlös, Landverwendung und Beschäftigung nach Betriebsgröße in ausgewählten*) Regionen Kenias durchschnittl. Betriebsgröße (in acres)

bruttoOutput (KSh je nutzbarem acre)

Großfarmen (insgesamt)

890

117

Kleinfarmen unter 10 10 - 19,9 20 - 29,9

7,3 13,8 23,5

635 250 156

Betriebsgröße (in acres)

brutto- Landverteüung Anbau GrasErlös v. Zins (i.v.H.) land (KSh (in acres je nutzje Viehbarem einheit) acre)

29 (netto-) 424 139 86

Beschäftigung b ) (Mannjahre, 1.000 acres Nutzland)

16

4,8

36

45 30 24

0,9 2,6 3,0

808 399 234

a) Die Auswahl der Regionen wurde nicht nach repräsentativen Gesichtspunkten, sondern nach der Verfügbarkeit von Daten getätigt. b) Großfarmen nur Lohnarbeiter, Kleinfarmen einschließlich Familienarbeit. Quelle: ILO (1972), S. 166, 167 (ausgewählt).

Die brutto-Outputs von Großfarmen liegen im untersuchten Fall also etwa sechsmal niedriger je Flächeneinheit als bei den Kleinstfarmen. Dabei sind die Kleinstfarmen weit über 20mal beschäftigungsintensiver als die Großfarmen. Diese Ergebnisse zeigen deutlich, daß es durchaus Fälle gibt, in denen eine Dezentralisierung von Landbesitz sowohl günstige Effekte für das Wirtschaftswachstum als auch für die Beschäftigung bzw. Einkommensverteüung hat. Was die Option 1 der Studie von Chenery et al. betrifft, sehen die Autoren für die Wachstumsmaximierung, verbunden mit Beschäftigungspolitik, das Problem der schwachen Einkommensverbindungen („linkage") zwischen den Armutsgruppen und dem Rest der Wirtschaft - ein Phänomen, welches andere Autoren anhand der Dualismusstrukturen analysiert haben.

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

107

Ihre Option 3, die Konsumgüterredistribution, wirkt sich kurzfristig zwar stark wohlfahrtserhöhend aus, nach dem Simulationsmodell ist sie jedoch langfristig erheblich weniger günstig als die Lenkung von Investitionsmitteln auf die Armutsgruppen (Option 2). Die Frage der Bevölkerungsplanung wird von dem Team um Chenery anhand der Simulationsmodelle dahingehend beantwortet, daß ein über 2,5 % liegendes Bevölkerungswachstum generell zu verschlechterter Einkommensverteilung tendiert. Die Autoren glauben, mit genügend demographischer Evidenz belegen zu können, daß Investitionen in Gesundheit, Bildung und Wirtschaftswachstum bei den Armutsgruppen die Fertilität reduziert und so indirekt zu verbesserter Einkommensverteilung beitragen. Faßt man die Ergebnisse der Studien von Adelman, Monis und Chenery zusammen, so konzedieren sie, daß der von Kuznets (1955) behauptete Trend eines U-förmigen Kurvenverlaufes der Einkommensverteilung bei wachsender Wirtschaft sich im Querschnittsvergleich der Länder nachweisen lasse. Nach Kuznets führt Wirtschaftswachstum zunächst zu Einkommensdifferenzierung, also vermehrter Einkommensungleichheit, die sich zu einem späten Stadium der Wirtschaftsentwicklung wieder reduzieren würde. Jedoch, so die Erkenntnisse der beiden neueren Untersuchungen, besteht für die einzelnen Länder erstens keine „Gesetzmäßigkeit" für Trendwenden — einzelne Fälle belegen eine Trendwende in einem früheren, andere keine Trendwende in einem schon weit fortgeschrittenen Wachstumsstadium. Zweitens läßt sich kein notwendiger Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und der Tiefe der U-Kurve (die Stärke der Einkommensungleichheit) erkennen. Beide Prozesse, Trendwende und Stärke der ungleichen Verteilung lassen sich entwicklungspolitisch steuern und dies, wie die Länderbeispiele zeigen, innerhalb weiter Variationsspielräume unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Ordnungssystemen. Die Steuerungselemente ergeben sich aus einem aufeinander abgestimmten Bündel von Strategien: Die Armutsbevölkerung muß als produktives „Humankapital" gesehen werden, welches sich durch Bildungs-, Gesundheits-, Ernährungs- und Bevölkerungsplanungsmaßnahmen u.a. in seiner produktiven Kapazität entfalten kann. Die Förderung des Humankapitals reicht als Strategie freilich nicht aus. Das Humankapital muß auch zum produktiven Einsatz kommen, was eine Vielzahl von Maßnahmen impliziert. Generell müssen ausgeprägte dualistische Sozial- und Wirtschaftsstrukturen abgebaut werden. Eine Technologiestrategie muß verfolgt werden, die stärker auf den Einsatz von Humankapital basiert. Investitionsmittel müssen auf Armutsgruppen umgeleitet werden, die aufgrund solcher Mittel neue produktive Tätigkeiten beginnen oder bestehende erweitern können. Die vielleicht allgemeinste Folgerung, die sich aus den beiden Studien ergibt, ist, daß die investitionsquotenbezogene Wachstumspolitik als ein wenig

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2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

geeignetes Instrument zur Reduzierung von Armut in Entwicklungsländern anzusehen ist, weil sie nicht berücksichtigt, daß Wachstumsprozesse, die immer von bestimmten Bevölkerungsgruppen getragen werden, auch in ihrer Trägerschaft steuerbar sind. Wachstum kann „zielgruppenspezifisch" gesteuert werden, und gerade hierin besteht die Chance, Wachstum mit Armutsreduzierung zu verbinden.

2.2.2. Folgerung: Unimodale Technologiepolitik für den Agrarsektor Noch spezifischer sind die Folgerungen für eine massenwirksame Wachstumspolitik, die sich aus den Analysen des Teams um Bruce F. Johnston ableiten läßt. Diese Folgerungen ergeben sich aus den oben bereits analysierten Wirkungen der bimodalen, agrarsektoralen Technologiestrategie. 2.2.2.1. Allgemeine Begründung Die bimodale Technologiepolitik ist, wie erläutert, ein Zentralfaktor im Konfliktverhältnis von Wachstum- und Armutsreduzierung. Eine Entwicklungspolitik, welche danach strebt, Wirtschaftswachstum mit Armutsreduzierung möglichst effektiv zu verbinden, muß nach den theoretischen Schlüssen des Teams um Johnston deshalb eine „unimodale" Technologiestrategie für den Agrarsektor verfolgen. „Unimodal" ist eine Technologiestrategie dann, wenn sie nicht mit der Betriebsgröße variiert, also beispielsweise nicht Traktoren für größere Betriebe und tierisches Anspanngerät für kleinere Betriebe fördert. Im besonderen, so Johnston, soll sie nicht den Großfarmen- und Plantagensubsektor durch Förderung der Verwendung kapitalintensiver „moderner" Produktionsmittel gegenüber dem Kleinbauern- (Subsistenz-) Sektor begünstigen, sondern nur einen, vom Niveau her einheitlich auf die häufigste Betriebsgröße abstellenden und dabei so wenig wie möglich skalenabhängigen technologischen Innovierungsprozeß (ζ. B. die Saatgut-Düngemittelinnovationen) fördern 2 8 . Dieser Forderung nach unimodaler Technologiepolitik für den Agrarsektor liegen folgende Überlegungen zugrunde: Langfristiges Ziel ökonomischer Entwicklung für Entwicklungsländer ist ein wirtschaftlicher und struktureller Wandel, bei welchem die Gesamtbevölkerung von einer überwiegend agrarischen zu einer produktiven und wirtschaftlich diversifizierten Gesellschaft überführt werden soll. 28 Der Begriff „Unimodalität" führt zu Mißverständnissen, wenn er etwa als „Uniformität" interpretiert wird. Unimodale Technologie ist im Hinbück auf bestimmte Kriterien eine differenzierte Technologie (vgl. Abschnitt 2.2.2.3.).

2.2 Entwicklungspolitische Folgengen

109

Dies ist (wie früher bereits analysiert) nicht durch kapitalintensive Industrialisierungsanstrengungen im städtischen Sektor und bimodale Agrartechnologieförderung möglich. Dadurch wird allenfalls eine Wachstumsenklave geschaffen, deren jährliche Beschäftigungswachstumskapazitäten auch bei optimistischen Annahmen noch für mehrere Generationen unter den jährlichen Zuwächsen an arbeitsfähiger Bevölkerung liegen. Die Basis für eine alternative, arbeitsintensive (regional dezentralisierte) Industrieentwicklung fehlt in den meisten Entwicklungsländern, weil, wie gesagt, die Nachfrage der Masse der Bevölkerung nach einfach herstellbaren Konsumgütern und Produktionsmitteln zu niedrig ist. Arbeitsintensivere Industrieentwicklung setzt Kaufkraftzunahme von Massen voraus. Für die Gründung möglichst vieler und kleiner Produktionsstätten und unter Berücksichtigung relativ niedriger Management- und technischer Ausbildungserfordernisse ist dabei die Nachfrage nach solchen Produkten besonders bedeutsam, die einfach und ohne hohen technischen Aufwand hergestellt werden können. Eine so geartete Nachfrage kann in erster Linie durch die produktive Entwicklung der Kleinbauern (und Kleinpächter) bewirkt werden. Dabei ist sowohl die Nachfrage nach Produktionsmitteln als auch nach Konsumgütern wichtig. Schließlich bildet die Outputerhöhung von Verkaufsfrüchten, die von Kleinbauern erzeugt werden, eine dritte Grundlage für die Entwicklung arbeitsintensiver Kleinindustrien durch das dadurch neu geschaffene Potential zur Vorverarbeitung und Veredelung von Agrarprodukten. Langfristig, so Johnston et al., bietet dieser dezentralisierte Industrialisierungsprozeß die Chance zum Aufbau qualifizierten technischen und industriellen Führungspersonals, das später sukzessive das menschliche Ressourcenpotential bildet, um den weiteren Industrialisierungsprozeß durch Nutzung der Weltmarktnachfrage zu verbreitern. Über diesen Ansatz, so weisen Johnston et al. nach, haben die Länder Japan, Taiwan, aber auch China und teilweise Südkorea, ihre lang anhaltenden Industrialisierungs- und Beschäftigungserfolge erzielt. Der Hebel für die Ingangsetzung dieses „strukturellen Transformationsprozesses" besteht in der produktiven Mobilisierung der Masse der ländlichen Bevölkerung, die durch technischen Fortschritt ihr Einkommen erhöhen kann. Dies sind konkret zunächst die Bewirtschafter von Land: Kleinbauern, aber auch Pächter. Zusammenfassend formuliert Johnston: „The basic proposition . . . is that an agricultural strategy that leads to the progressive modernization of a large and increasing fraction of a country's small farms is of central importance to achieving rapid economic and structural change which involves the whole population in the transition from a predominantly agrarian society to a productive and diversified industrial economy" (Johnston, in: Hunter et al., 1976, S. 314).

110

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

„The most fundamental issue of agricultural strategy faced by the late developing countries is to choose between a bimodal strategy whereby resources are concentrated within a subsector of large, capital-intensive units or a unimodal strategy which seeks to encourage a more progressive and wider diffusion of technical innovations adapted to the factor proportions of the sector as a whole" CJohnston , in: Meier , 1976, S. 594).

2.2.2.2. Eigenschaften unimodaler Technologie Die von Johnston et al. geforderte Technologiestrategie beinhaltet nicht etwa die bloße Umverteilung von Entwicklungsressourcen, wie z. B. der Zugang zu Produktionsmittelkrediten für Kleinbauern, sondern vor allem die Förderung und Verbreitung einer Technologie mit bestimmten Eigenschaften - Eigenschaften, die spezifischen Bedingungen genügen müssen. Die wichtigsten Eigenschaften unimodaler Technologie lassen sich nach Johnston et al. wie folgt zusammenfassen: Eigenschaft a): Die zu fördernde Technologie muß primär outputerhöhend und darf nicht arbeitssparend sein. Zur Analyse der Wirkungen technologischer Innovationen im Agrarbereich ist es sinnvoll, zwischen biologisch-chemischen und mechanischen Technologieinnovationen zu unterscheiden. Die bedeutsamen biologisch-chemischen Innovationen — besonders die Saatgut-Düngemittel-Technologie der sogenannten „Grünen Revolution" — entsprechen z. B. dieser geforderten Eigenschaft. Die wichtigsten Arten, für die Hochertragssorten existieren - Weizen, Reis, Mais - erfordern je Flächeneinheit arbeitsintensivere Anbaumethoden als die herkömmlichen Sorten (vgl. auch Kapitel 4.1.5.). Nicht so klar sind die Verhältnisse bei der Gerätetechnologie. Geräte werden im Agrarbereich grundsätzlich dazu verwendet, Arbeit zu sparen, zu erleichtern, oder die Qualität von Arbeitsgängen zu verbessern. Trotzdem kann auch die Gerätetechnologie so angelegt sein, daß sie outputerhöhend und dabei nicht arbeitssparend wirkt. Typisch fur Entwicklungsländer ist eine Situation hoher Unterbeschäftigung im Agrarbereich im Jahresdurchschnitt bei akutem saisonalem Arbeitskräftemangel. So konzentriert sich z. B. der Hauptarbeitsbedarf im Weizen-, Reis- und Maisanbau auf wenige Wochen (zur Feldvorbereitung, zum Pflanzen und zur Kontrolle des Unkrautwuchses) - oft noch zusätzlich verengt durch klimatische Bedingungen. Sehr oft verhindern solche saisonalen Arbeitsspitzen eine intensivere (und da, wo es möglich wäre, auch extensivere) Landwirtschaft. Mit Hüfe von Geräteinnovationen kann der jahresdurchschnittliche Arbeitskräftebedarf erheblich erhöht werden, wenn durch den Abbau solcher Arbeitsengpässe die Anbauaktivitäten per saldo insgesamt erweitert werden. Besonders groß kann die per-saldo-Zunahme des Arbeitskräftebedarfs sein, wenn durch Gerätetechnologie die Einfuhrung einer zweiten Fruchtfolge möglich wird.

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

111

Eigenschaft b): Die zu fördernde Technologie muß möglichst betriebsgrößenneutral und teilbar sein. Im biologisch-chemischen Bereich entspricht ζ. B. wieder die Hochertragssaatgut-Düngemitteltechnologie der schon erwähnten Arten diesem Erfordernis. Die Hektarerträge, der Saatgut- und Düngemittelbedarf stehen in linearem Verhältnis zur Anbaufläche. Prinzipiell ist dieses Innovationspaket auch unbegrenzt teilbar. Viel schwieriger erscheint es, solche Eigenschaften für die Gerätetechnologie zu finden. Um die Überlegungen zu vereinfachen, soll davon ausgegangen werden, daß die Gerätetechnologie im Fall eins nur einer Betriebseinheit, im Fall zwei einer Genossenschaft (oder einem Maschinenring oder einer Anzahl von Mietern usw.) zugeordnet ist. Im Fall eins besteht eine außerordentlich hohe Bindung zwischen Gerätetechnologie und Betriebsgröße — also prinzipiell keine Betriebsgrößenneutralität. Generell kann davon ausgegangen werden, daß kapitalintensives Gerät — wie Traktoren, Dieselpumpen oder Erntemaschinen große Mindestbetriebsgrößen erfordern, um betriebswirtschaftlich effizient genutzt werden zu können. Sie können ferner nicht „stückweise" (ζ. B. zum Testen in kleinen Einheiten) angeschafft werden. Unter den derzeitigen typischen Bedingungen der Entwicklungsländer ist für die Masse der Kleinbauern und Kleinpächter schon aus betriebsgrößenbedingten Gründen die einzelbetriebliche Anschaffung und Verwendung „moderner" kapitalintensiver Technologie ohne Relevanz. Die genossenschaftliche Nutzung (oder private Anschaffung und Verleih) moderner kapitalintensiver Gerätetechnologie löst das Problem von betrieblichen Mindestgrößen jedoch nur teilweise. Kleinbauern und -pächter haben sehr kleine Betriebseinheiten, die in noch kleinere Flächeneinheiten parzelliert sind. Je kleiner die operationalen Einheiten sind, desto kostenintensiver wird meist der Einsatz „moderner" kapitalintensiver Gerätetechnologie (ζ. B. durch vermehrte Wege, niedrigeres Arbeitstempo der Maschinen, häufigeres Wenden usw.). Kleinbauern bleiben deshalb kostenmäßig im Vergleich zu den großen operationalen Betriebsflächen benachteiligt. Die notwendige Eigenschaft: „outputerhöhend und per saldo nicht arbeitssparend" schließt bereits bestimmte „moderne" Gerätetechnologien aus, wenn sie unter dem Kriterium der Betriebsgrößeneignung sinnvoll eingesetzt werden könnten. Da die Gerätetechnologie nicht betriebsgrößenneutral ist, muß nun entschieden werden, welche Technologie - und damit, welche Betriebsgrößentypen - gefördert werden sollen. Johnston empfiehlt, bei der Technologieförderung vom durchschnittlichen Betriebstyp auszugehen. Freilich soll der Betriebstyp so breit wie technisch möglich definiert sein. Er muß einen Hauptteil der Anzahl der Betriebe repräsentieren. Diese Empfehlung hat einen entscheidenden Stellenwert im Entwicklungsmodell. Ausschlaggebend hierfür ist die bereits genannte gesamtwirtschaftliche Überlegung: Wenn es gelingt, die Produktivität und die Einkommen einer möglichst großen Zahl von Menschen zu steigern, werden nicht nur Armut auf direkte Weise reduziert und zusätzliche

112

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

Arbeitskräfte in der Landwirtschaft benötigt, sondern je mehr Bauern Inputs (Geräte) und andere Güter nachfragen, desto stärker ist der Impuls auf die Entwicklung lokaler Industrien und damit auf die Einleitung des „strukturellen Transformationsprozesses". Eigenschaft stellbar sein.

c): Die zu fördernde Technologie muß billig und einfach her-

Die Forderung nach „billiger" Technologie leitet sich aus dem Zielgruppenbezug - geeignet für den häufigsten bäuerlichen Betriebstyp — ab. Die häufigsten Betriebstypen sind in der Regel als „kleinbäuerlich" zu klassifizieren. Die Kaufkraft der kleinen Bauern ist in den meisten Entwicklungsländern auch dann noch niedrig, wenn sie Zugang zu den nationalen Produktionsmittelkreditinstitutionen bekommen. Teure Inputs können von ihnen nicht finanziert werden. Andere Gründe, wie die möglichst hohe Bindung von Arbeitskräften im Agrarbereich oder das Ziel der möglichst schnellen Verbreitung produktiver Innovationen bei möglichst vielen, unterstützen die Forderung nach billiger Technologie. Die Eigenschaft „einfache Herstellbarkeit" zielt auf den strukturellen Transformationsprozeß ab. Die lokale Industrie soll auch bei noch wenig entwickeltem Management- und Technologieniveau in der Lage sein, der zunehmenden Nachfrage nach Inputs entsprechen zu können. Prinzipiell gilt die Forderung „billig und einfach herstellbar" für biologischchemische wie Geräteinnovationen. Für die Koppelung von Agrar- und lokaler Industrieentwicklung hat freüich der Gerätetechnologiebereich eine überragend wichtige Bedeutung. Eigenschaft d): Die zu fördernde Technologie muß in der zeitlichen Abfolge als sequentielle Niveauerhöhung angelegt sein. Die Produktivitätserhöhung in der Landwirtschaft ist ein kontinuierlicher Prozeß ohne bestimmbaren Endpunkt. Langfristig müssen, streng gekoppelt mit dem strukturellen Transformationsprozeß der Beschäftigung, auch Technologieinnovationen eingeführt werden, welche der erwarteten Arbeitskräfteverknappung Rechnung tragen. Aber auch kurzfristig erfordert eine kontinuierliche Produktivitätserhöhung in der Landwirtschaft die Einführung zunehmend komplizierter (auch teurer) Technologie. Ein heterogener Technologiefortschritt soll jedoch nicht gefördert werden, da sich sonst früher oder später wiederum eine bimodale Situation herausbüden würde. Die Förderung soll vielmehr auf sukzessive Niveauverschiebung der Technologie für die Masse (der häufigsten Betriebe) angelegt sein. In eigenen Worten formuliert Johnston die intendierten Wirkungen homogen-sukzessiver Technologieförderung: „Under the unimodal strategy . . . the best firms in the agrarian sector display essentially the same factor intensities as average firms. Interfarm differences in performance wül be large, especially during transitional periods

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

113

as farmers are learning how to use new inputs efficiently, but this will reflect mainly differences in output per unit of input rather than major differences in factor proportions" {Johnston, in: Meier, 1976, S. 595). Als Quintessenz der Analysen des Teams um Johnston ergibt sich fur den untersuchten entwicklungspolitischen Zusammenhang ein spezifischer Zielgruppenaspekt: Wenn die Ziele Armutsreduzierung und Wirtschaftswachstum effektiver als herkömmlich verbunden werden sollen, dann muß unter den typischen Bedingungen der Entwicklungsländer Wirtschaftswachstum zunächst selektiv und prioritär über die Masse der kleinen Landwirte induziert werden. Für die Entwicklungsförderung wird diese Bevölkerungsgruppe zur bedeutendsten Zielgruppe.

2.2.2.3. Unimodale Technologie und zielgruppenbezogeneDifferenzierung Die Frage, ob die unimodale Technologiestrategie auch eine zielgruppenbezogene Differenzierung zuläßt, bedarf einer Klärung. Es wurde bereits angemerkt, daß der Begriff der „Unimodalität" nicht im Sinne von „Uniformität" interpretiert werden darf. Die Forderung nach unimodaler Technologie impliziert keineswegs ζ. B. einheitliche Maschinentypen. Dies würde einerseits deren dezentrale Herstellbarkeit eventuell erschweren und andererseits der Unterschiedlichkeit ökologischer Bedingungen, spezifischer betrieblicher und sozialorganisatorischer sowie wichtiger anderer Faktoren, unter denen bäuerliche Armutsgruppen wirtschaften, nicht berücksichtigen. Die unimodale Technologiestrategie soll nicht grundsätzlich die Vielfalt technologischer Bedürfnisse übergehen (weil vielleicht Einheitstypen noch billiger hergestellt werden könnten). Dies ist keineswegs ein Erfordernis zur Erreichung des hinter dem Konzept der Unimodalität stehenden Zieles, dualistischen Strukturentwicklungen vorzubeugen oder diese abzubauen. Die Unimodalität setzt nur einige wenige, sehr allgemeine strategische Parameter für die Technologiegestaltung bzw. die Technologieförderungspolitik, die weiterhin große Spielräume für technische Differenzierungen zulassen. Solche Parameter sollen ausschließen, daß der agrarsektorale Expansionspfad vorzeitig zu Beschäftigungsfreisetzungen führt oder daß Landkonzentration betriebswirtschaftlich immer lukrativer wird. Sie soll weiter auch gewährleisten, daß von den landwirtschaftlichen Entwicklungsprozessen Impulse auf eine möglichst breite Beschäftigungsentwicklung in den außerlandwirtschaftlichen Sektoren ausgehen und nicht zuletzt, daß dort breitere unternehmerische und fachliche Kapazitätsentwicklungen stattfinden. Die unimodale Technologiestrategie soll also makroökonomisch begründete Rahmenbedingungen setzen, in die sich die notwendigen zielgruppenspezifischen Differenzierungen einfügen müssen.

114

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, daß das Team um Johnston den Begriff der „angepaßten" Technologie meidet. Ζ. B. ist eine Technologie sozial und/oder ökologisch angepaßt, wenn sie den spezifischen sozioökonomischen und ökologischen Bedingungen entspricht, unter denen eine Bevölkerungsgruppe wirtschaftet. Diese Anpassung, die hier als „zielgruppenspezifische Differenzierung" begriffen wird, reicht für das Kriterium der Unimodalität aber nicht aus. Dieses setzt zusätzliche Bedingungen, die von ihren Zielsetzungen her im allgemeinsten Sinne als „antidualistisch" definiert werden können. Auf Fragen der zielgruppenspezifischen Maßnahmegestaltung im Rahmen der „Unimodalität" wird im weiteren noch ausfuhrlich eingegangen.

2.2.3. Folgerung: „Direkte" Armutsbekämpfung als zielgruppenbezogene Entwicklungspolitik Auch der investitionsquotenbezogenen Wachstumspolitik kann als übergeordnete Zielvorstellung die Reduzierung von Armut unterstellt werden. Die armutsorientierten entwicklungspolitischen Folgerungen obiger Analysen lassen sich deshalb nicht notwendigerweise als grundsätzliche Alternativen der Entwicklungsziele einordnen. Sie implizieren jedoch prinzipielle Unterschiede in der Methodik der Konzipierung von Förderungsmaßnahmen und, damit verbunden, auch in der inhaltlichen Bestimmung der Maßnahmen. Anhand der Begriffe „indirekte" und „direkte" Armutsorientierung lassen sich die alternativen Methoden besonders gut verdeutlichen.

2.2.3.1. „Indirekte"

und „direkte" Armutsorientierung

Das Ziel der Beseitigung von Armut im Rahmen der herkömmlichen Entwicklungspolitik wurde vor allem über indirekte Ansätze verfolgt. Implizit wie explizit gingen die relevanten entwicklungspolitischen Theorien und Instrumente davon aus, Entwicklung werde beispielsweise räumlich über zunächst kleine modernisierte Zentren - Wachstumskerne- und sozial über wirtschaftlich besonders aktive Personen induziert und verbreitet. Büder wie etwa Ölflecken, die sich auf ihr Umfeld ausbreiten, oder Begriffe wie „Sickereffekt", „Ausstrahlung", „trickle down" kennzeichnen die Sichtweise vieler herkömmlicher Strategien zur Armutsbekämpfung. Erfahrungen in den Industriegesellschaften unterstützen diese Vorstellungen von der starken Ausstrahlungsfähigkeit wirtschaftlicher Wachstumsprozesse auf große Teüe der Gesellschaft, gleichgültig in welchem Sektor, welcher Region oder bei welchen Personen sie zunächst entstanden waren 2 9 . 29 Die Sicht weise über die Ausstrahlungsfähigkeit von zunächst punktuellen und/oder partiellen Entwicklungen läßt sich nicht auf eine einzelne Theorie

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

115

Aufgrund der Übertragung solcher Annahmen auf die Entwicklungsländer war es sinnvoll, knappe finanzielle Mittel vornehmlich in den wenigen Sektoren, Regionen und bei den Menschen einzusetzen, wo sie besonders günstige Voraussetzungen zur effizienten Nutzung fanden. Die Vorstellung, erst einmal Wachstum zu forcieren und später dann Verteilungsprobleme anzugehen, entstand aus Erfahrungen mit den Entwicklungsprozessen der Industriegesellschaften, wo diese Vorgehensweise auch Prozesse der Armutsreduzierung in bis dahin nicht bekanntem Ausmaß bewirkt hatte. Die Übertragung dieser Vorstellung auf die Entwicklungsstrategien für die Entwicklungsländer führte jedoch in vielen Ländern, wie gezeigt, zum Phänomen der langanhaltenden Koexistenz von Wachstum und Armut. Auch die wirtschaftliche Entwicklung ländlicher Regionen nach herkömmlichem Konzept führte zwar vermehrt Ressourcen in die Landwirtschaft, übertrug aber zugleich die Ausstrahlungsvorstellung auf die ländlichen Gebiete: Besonders begünstigte Regionen und besonders neuerungsfreudige Personengruppen sollten die knappen Entwicklungsressourcen zuerst nutzen und dann als „Entwicklungspole", „Modernisierungskerne", „Modelle", „Vorbilder" oder „Multiplikatoren" ausstrahlen. In der Folge dieser Strategie verstärkten sich, wie besonders die Verbreitungsanalysen von Innovationen zeigen (vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel 3), meist die regionalen und sozialen Disparitäten auf dem Lande, auch hier mit einer Tendenz zu wirtschaftlicher Enklavenbildung 30 . Selbst wohlfahrtsorientierte und partizipatorische Entwicklungsmaßnahmen, wie ζ. B. öffentliche Angebote an Wasserversorgung, Gesundheitseinrichtungen, Bildung oder die dezentralisierte Beteiligung an Planungsentscheidungen, werden bei Anwendung der herkömmlichen, indirekten Strategien in der Regel von denen aufgegriffen, die zur schnellen Nutzung befähigt sind, während die von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen abseits bleiben 3 1 . oder einzelnen Autor beziehen. Sie ist Bestandteil verschiedener Theorien und verschiedener Disziplinen. Nicht nur die augenfälligeren Ansätze, wie beispielsweise die Multiplikatortheorie von Keynes (1936), sondern das wirtschaftspolitisch relevante Theoriegebäude entwickelter Marktwirtschaften impliziert diesen Aspekt in kaum aufzählbarer Vielfalt, soweit als idealtypische Ausgangsbasis der Analysen vollkommene Konkurrenz, vollständige Mobilität der Produktionsfaktoren und entsprechend funktionierende Märkte angenommen werden. Explizit und systematisch hat die Innovationstheorie (vgl. Kapitel 3) Ausstrahlungsprozesse untersucht und ebenfalls, wie später genauer gezeigt werden soll, die in entwickelten Marktwirtschaften festgestellten Zusammenhänge auf die Entwicklungspolitik übertragen. 30

von Boguslawski (1980) zeigt die Übertragung der Ausstrahlungserwartung auf die Raumplanung in Entwicklungsländern beispielsweise anhand der funktionalen räumlichen Integrationstheorie von Friedeman (1966) oder der Theorie der Wachstumspole (Buttler, 1973). 31 Zugang und Nutzung öffentlicher Versorgungseinrichtungen werden in

116

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

Die geringe Ausstrahlung herkömmlicher Maßnahmen ist in soziologischer Sicht aus den unterschiedlich ausgeprägten entwicklungsrelevanten Handlungsmöglichkeiten für die einzelnen Bevölkerungsgruppen der Entwicklungsgesellschaften erklärbar (vgl. hierzu besonders die Ausführungen in Kapitel 3.2.). Die von Armut betroffenen Menschen in Entwicklungsländern sind physischen, wirtschaftlichen, sozialen, politischen und anderen Zwängen ausgesetzt, wie sie an Ausmaß und Intensität in den europäischen und amerikanischen Industriestaaten in keiner Phase ihrer jüngsten Geschichte bekannt waren. Solche Zwänge schließen die Nutzung auch zugänglicher Ressourcen oft weitgehend aus. Andererseits bestehen für diejenigen Personengruppen, die bereits ein bestimmtes Niveau an wirtschaftlich und politisch relevantem Wissen und Können sowie an finanzieller Ausstattung besitzen, besonders günstige Bedingungen des Zugangs und der Nutzung von Entwicklungsressourcen. Diese Personen sicherten sich nicht nur aus eigener Initiative den Zugang zu Entwicklungsressourcen, sondern sie wurden oft auch bewußt von den Entwicklungsinstitutionen vorrangig mit Ressourcen beliefert, weü sie als primäre Träger investitionsinduzierter Wachstumsprozsse betrachtet wurden. Die der herkömmlichen Entwicklungsförderung zugrunde liegende Methodik der Maßnahmefindung und Durchführung geht im Prinzip von einer Denkweise aus, nach der sich die Menschen im wirtschaftlich relevanten Bereich prinzipiell ähnlich verhalten können. Dieser Denkansatz führt in der Hanungspraxis der Entwicklungsförderung zu folgender Ableitungslogik für entwicklungspolitische Maßnahmen: Aus prinzipiell zielgruppenunspezifischen, entwicklungspolitischen Zielen leitet man Entwicklungsmaßnahmen ab. Die Maßnahmen sind dabei teüs aufgrund von Erfahrungen in den Industrieländern vorgeformt, teüs durch den institutionellen Rahmen der Entwicklungsförderung von Geber- und Nehmerländern geprägt. Von den Maßnahmen her werden dann geeignete Trägergruppen ausgemacht, bei denen die Maßnahmen greifen können, oder diejenigen Personen passen sich an die Maßnahmen an, die aufgrund ihrer Fähigkeiten dazu in der Lage sind. Unter dem herkömmlichen Entwicklungskonzept determinieren vornehmlich diese Maßnahmen die Partizipanten. sehr vielen Studien untersucht. Der Zugang zu ihnen ist häufig extrem ungleich. Der Weltbankpräsident resümiert in einer Rede: „Reiche Famüien in Stadt und Land, die oft eine zwar kleine, aber politisch einflußreiche Elitengruppe bilden, haben es oft fertiggebracht, einen unangemessen hohen Anteü an knappen öffentlichen Dienstleistungen für sich zu beanspruchen" (McNamara, 1977, S. 29). Daß partizipatorische Einrichtungen, wie ζ. B. der Ausbau von Selbstverwaltungsinstitutionen, ebenfalls vornehmüch von lokalen Eliten für deren Eigeninteresse genutzt werden können, belegen ζ. B. die zahlreichen Studien zum indischen Panchayti Raj (vgl. ζ. B. Haldipur und Paramashamsa, 1970; Kantowsky, 1970; Maddick, 1910; Sirsikar, 1970; Schönherr, 1975 a; Azad, 1978).

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

117

Diese Ableitungspolitik für entwicklungspolitische Maßnahmen und Partizipanten nach der indirekten Methode läßt sich wie folgt schematisieren:

Schema 6: Logik der Auswahl von Maßnahmen und Partizipanten nach der indirekten Methode

Ziele (zielgruppenneutral)

Maßnahmen (

>

R i c h t u n g des

Ρ

Partizipanten Selektionsprozesses)

Zur Illustration dieses Tatbestandes soll ein willkürlich gewähltes Beispiel dienen: Aus dem Ziel, die Bodenbearbeitungskapazität in einer Region zu erhöhen, wird häufig als Maßnahme die Förderung einer auf Traktoren basierenden Mechanisierung abgeleitet. Diese Maßnahme determiniert dann weitgehend die Partizipanten nach Kriterien der Betriebsgröße und der betrieblichen inputoutput-Relation, nach der Beschaffenheit der Anbauflächen, nach Infrastrukturgegebenheiten usw. Die Erhöhung der Bodenbearbeitungskapazität ist ein Beispiel für ein wachstumsbezogenes Ziel. Die Maßnahme der Traktormechanisierung ist zur Erreichung dieses Zieles sinnvoll. Sie könnte sogar unter bestimmten Voraussetzungen eine sehr effiziente Maßnahme für die Zielsetzung schnellen Wachstums (in kurzer Frist) darstellen. Daß aber die Traktormechanisierung wahrscheinlich für große Teile der Kleinbauern aus verschiedenen Gründen irrelevant bleibt oder daß hier ein arbeitskräfteeinsparender Expansionspfad induziert wird, hat unter dieser Zielsetzung keine Relevanz (genausowenig die längerfristigen Aspekte intersektoraler Wachstumsimpulse). Die Logik der Maßnahmenkonzipierung bei der investitionsquotenorientierten Wachstumspolitik läßt keinen Spielraum für eine direkte Armutsbekämpfung, denn sie ist auf Bevölkerungsgruppen angewiesen, die den vorgegebenen Investitionserfordernissen nachkommen können. Nicht die produktive Einbeziehung bestimmter Bevölkerungsteile in den Wirtschaftswachstumsprozeß, sondern die Durchsetzung von Investitionsvorhaben, die ex ante prinzipiell zielgruppenunspezifisch gestaltet sind, steht im Vordergrund dieses Planungsansatzes. Armutsreduzierung als indirektes Ziel und die Determinierung der Partizipanten durch die Förderungsmaßnahmen sind deshalb komplementäre Aspekte. In dem folgenden Schema soll dies veranschaulicht werden.

118

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

Schema 7: Logischer Bezugsrahmen für die indirekte Armutsbekämpfung

andere Ziele

indirekte Zielebene

direkte Zielebene (übergeordnet)

direkte Zielebene (unmittelbar)

Maßnahmeebene

(Anm. :

>

log.

Beziehungssetzung)

Ein wichtiger Vertreter der Entwicklungspolitik resümiert: „Aus der Rückschau wird klar, daß zu sehr darauf vertraut wurde, daß schnelles wirtschaftliches Wachstum entsprechend der 'Sicker'-Theorie automatisch zu einer Reduzierung der Armut führen mußte. Seit einigen Jahren sind Länder, denen wir helfen, dabei, Strategien zu entwickeln, die direkt auf die Lage der ärmsten Schichten der Gesellschaft einwirken" (.McNamara, 1977, S. 10). Direkte Armutsbekämpfung bedeutet dagegen, daß die Armutsreduzierung zum unmittelbaren Ziel der Förderungspolitik wird. Wirtschaftswachstum ist dann ein Mittel, welches direkt zur Verfolgung des Ziels eingesetzt werden soll. Jedoch können unter diesem Ansatz Wachstumsmaßnahmen schlechthin noch nicht als adäquat zur direkten Verfolgung dieses Zieles Armutsreduzierung betrachtet werden. Nur solche Wachstumsmaßnahmen sind nämlich

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

119

zielrelevant, die sich auch unmittelbar auf die Einkommen der von Armut betroffenen Bevölkerung auswirken. Der direkte Ansatz führt also zu neuen Kriterien dafür, welche Wachstumsstrukturen angestrebt werden sollen. Im wesentlichen muß es sich dabei, wie bereits ausgeführt, um eine ex ante distributiv angelegte Wachstumsstrategie handeln mit ihren verschiedenen Komponenten, im besonderen der Technologiestrategie, der Verbreitungspolitik für produktive Innovationen, der Politik menschlicher Ressourcenentwicklung und der Zugangsverbreiterung für produktive Ressourcen und Investitionsmittel. Das folgende Schema verdeutlicht die logischen Bezüge für den direkten Ansatz. Schema 8: Logischer Bezugsrahmen für die direkte Armutsbekämpfung

(Anm.:

> logische

Beziehungssetzung)

Der entscheidende Unterschied zwischen indirekter und direkter Armutsbekämpfung liegt in der Verschiedenheit der Selektionskriterien für Förderungsmaßnahmen. Indirekte Ansätze lassen prinzipiell alle Maßnahmen zu, welche das übergeordnete Ziel - hier das Wachstum - fördern, direkte nur

120

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

solche Wachstumsmaßnahmen, deren Wirkungen unmittelbar zur Verbesserung der Lage der Armutsbevölkerung führen. Die Ableitungspolitik fur Maßnahmen wird im Hinblick auf die Partizipanten sozusagen auf den Kopf gestellt - nicht die Maßnahmen bestimmen Träger und Partizipanten, sondern umgekehrt, die Partizipanten und Träger werden zuerst gewählt und auf deren spezifische Situation und Bedürfnisse bezogene Maßnahmen gesucht 32 . Nach der direkten Methodik gilt deshalb die folgende Ableitungsbeziehung. Schema 9: Logik der Auswahl von Maßnahmen und Partizipanten nach der direkten Methode Ziele ( d i r e k t e Armutsorientierung)

(Anm.:

^

Partizipanten

R i c h t u n g des

Maßnahmen

Selektionsprozesses)

Eine direkte Armutsorientierung der Entwicklungspolitik macht den Bezug der Förderungsmaßnahmen auf die von Armut betroffene Bevölkerung notwendig. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um Zielgruppen von überragend wichtiger Bedeutung im wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß (wie landwirtschaftliche Kleinproduzenten) oder auch andere Zielgruppen (beispielsweise Handwerker) handelt.

2.2.3.2. Zielbevölkerung

und Verfahren

der Zielgruppenbildung

In oben zitierter Rede führt der damalige Weltbankpräsident weiter aus: „Die Strategien, die sich jetzt herauszubilden beginnen, müssen natürlich auf die verschiedenen Segmente der armen Bevölkerungsschichten genau abge32 Michailof hat diese Sichtweise schon 1974 für die Projektidentifizierung im Agrarbereich gefordert: „. . . the classic mistake, made during the identification phase of rural development projects, consists in confusing rural development with 'exploitation of a given area'. This type of attitude is based on a concept which can be described as 'landscape gardening' since the projekt is first of all defined in relation to an area rather than in relation to men . . . The primary object of the identification phase should not be to concern itself only with determining what is technically possible in a given region . . . The primary objective should be to identify the whole problem complex . . . as it applies to the population concerned" (Michailof 1974, S. 6).

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

121

stimmt werden. Was dem Kleinbauern auf dem Lande mit einem halben Hektar hilft, mag völlig unnütz für den Arbeitslosen im Großstadt-Slum sein" (McNamara, 1977, S. 10 f.). Eine kleinbauernfreundliche Preispolitik für Grundnahrungsmittel wird ihm sogar schaden, könnte man als Beispiel für negative Komplementaritäten zwischen verschiedenen Bevölkerungsteilen hinzufügen. Die Armutsbevölkerung eines Landes oder einer Region ist keine homogene soziale Schicht. Sie ist oft nicht nur von den wirtschaftlichen Tätigkeiten her, sondern auch kulturell in ihren sozialen Organisationsformen und den sozialen und ökonomischen Strukturen, in denen sie ganz unterschiedliche Positionen einnehmen, und nach anderen Kriterien heterogen. Die einzelnen Untergruppen der Armutsbevölkerung haben oft unterschiedliche Beziehungen sowohl untereinander als auch zu Gruppen außerhalb der Armutsbevölkerung. Auch einzelne große Untergruppen der Armutsbevölkerung — wie ζ. B. Kleinbauern, Pächter, Landlose, Landarbeiter, Handwerker usw. — können in sich sehr heterogen sein. Dies bedeutet für die armutsorientierte Förderungspolitik, daß Maßnahmen nicht auf die Armutsbevölkerung und ihre großen Untergruppen schlechthin bezogen werden können. Es stellt sich deshalb die Frage, wie die Armutsbevölkerung im Hinblick auf die Maßnahmekonzipierung gegliedert werden soll. Kann die Armutsbevölkerung als aggregierte Zielbevölkerung für Förderungsmaßnahmen sektoral oder nach Einkommensgruppen und/oder nach kulturellen Merkmalen gegliedert werden? Sollen Kleinbauern nach Betriebsgrößen und Ökologiezonen und/oder nach Marktorientierung klassifiziert werden? Oder sind sprachliche, Büdungs-, ethnische und religiöse Merkmale entscheidende Kriterien der Unterteüung? Man könnte die Zielbevölkerung auch nach Defiziten im Bereich der Grundbedürfnisbefriedigung oder nach ihrer Stellung im sozialen System gliedern. Viele andere Merkmale können noch gewählt werden. Es sind prinzipiell keine Grenzen sichtbar, eine Bevölkerung zu gliedern. Dies bedeutet, daß Kriterien notwendig sind, nach denen sich die Relevanz von Gliederungsmerkmalen reduzieren läßt. Da für die Ableitung von Kriterien der Zielgruppenbüdung verschiedenartige Bezugssysteme existieren, empfiehlt es sich, diese zunächst explizit zu machen und auf ihre Relevanz für die verschiedenen Entscheidungsebenen zu prüfen. Auf der Makroebene der Entscheidungen lassen sich zwei grundlegend verschiedene Kriterien der Zielgruppenbüdung begründen, die sich zum einen aus dem „normativen", zum anderen aus einem „wirtschaftlichen" Bezugssystem herleiten lassen. Im „normativen" Entscheidungsbereich liegen nicht nur die generelle Armutsorientierung, sondern auch eine Vielzahl anderer zielgruppen-relevanter Entscheidungen begründet. Politische Interessenkonstellationen sowie subjektive Problemartikulierungen haben häufig Einfluß darauf, welche Gruppierun-

122

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

gen der Armutsbevölkerung prioritäre Förderung erhalten sollen. Die Entscheidung einer Regierung, ζ. B. ethnische Minoritäten durch Wirtschaftsförderung stärker national zu integrieren, ist eine solche normative Kriterienvorgabe der Zielgruppenbildung. Das „wirtschaftliche" Bezugssystem für Kriterien leitet die Auswahl von Zielgruppen — freilich auf der Basis der normativen Vorgabe direkter Armutsbekämpfung - nach dem Potential einzelner Bevölkerungsteile, massenwirksame Beschäftigung und Einkommen zu induzieren. Die Zielgruppenbestimmung des Wachstums- und Entwicklungsmodells der Autoren um B. Johnston, welche die Forderung nach landwirtschaftlicher Kleinproduzentenförderung vom Kriterium zusätzlicher intersektoraler Wachstumsimpulse ableiten, entspricht der Zielgruppenbestimmung aus dem wirtschaftlichen Bezugssystem. Auf der Mikroebene der Projektentscheidungen bestehen einmal Zielgruppenvorgaben aus dem Entscheidungsbereich der Makroebene. Aber auch hier sind begrenzte normative Entscheidungsspielräume vorhanden. Nimmt man das Beispiel der Zielgruppenvorgabe, ethnische Minoritäten durch wirtschaftliche Förderung stärker national zu integrieren, so ist durchaus denkbar, daß ein landwirtschaftliches Entwicklungsprojekt im einen Falle weibliche Betriebsleiter bestimmter ethnischer Gruppen aufgrund ihrer besonders niedrigen Einkommen als Zielgruppe wählt, im anderen Falle junge Männer, weil man glaubt, sie dadurch von der Migration und deren „Negativwirkungen" abhalten und schützen zu können. Auch Spielräume für wirtschaftlich begründete Auswahlkriterien ergeben sich im Rahmen der Vorgaben für die Projektebene. Wenn ζ. B. besonders günstige Ansatzpunkte für die Förderung von Kleintierhaltern ausgemacht werden können, planen vermutlich die Entscheidungsträger von Landwirtschaftsprojekten zumindest für eine bestimmte Zeitspanne die prioritäre Förderung der Zielgruppe: Kleintierhalter. Da Projekte meist institutionelle Vorgaben für Zielgruppen haben — sie sind bestimmten Ministerien zugeordnet, oder bei privater Trägerschaft bestimmt oft die Satzung die potentiellen Nutzergruppen - , ist der Entscheidungsspielraum für die Auswahl relativ eng. Auf der Projektebene spielen deshalb die groben Auswahlgesichtspunkte für Zielgruppen meist eine weniger wichtige Rolle. Große Bedeutung kommt dagegen der maßnahmerelevanten „Feingliederung" von Zielgruppen zu. An diesem Problem knüpft die projektrelevante Zielgruppenmethode an. Diese ist ein Verfahren für Projektplaner, welches gewährleisten soll, daß die Auswahl der Zielgruppen und die Maßnahmen eines Projektes aufeinander bezogen werden 33 . Das Verfahren besteht aus drei Planungsschritten. 33

Das Verfahren wurde anhand von Projektberichten, Projektanalysen, Evaluierungsstudien und Experimenten von einer Autorengruppe, welcher der Verf. selbst angehörte, abgeleitet (vgl. Fischer et al., 1980).

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

123

Erster Schritt: Ressourcenanalyse für das in Frage kommende Zielgruppenspektrum. Dieser Schritt besteht in der Prüfung der Frage, welche Entwicklungsressourcen, für die ein Projekt überhaupt Relevanz besitzt, potentiellen Zielgruppen zur Verfügung stehen. Im Agrarbereich können dies technische oder andere Innovationen, Bodennutzungssysteme, Märkte, freie Arbeitskraftkapazitäten und sehr viele andere Chancen im weitesten Sinne zur Verbesserung der Einkommen sein. Prinzipiell läßt sich die Ressourcenanalyse auf andere Projektbereiche — ζ. B. Versorgungsprojekte im Grundbedürfnisbereich — übertragen. Zweiter Schritt: Analyse der Nutzungshemmnisse für die Ressourcen. Dieser zweite Schritt ist von entscheidender Bedeutung. Hier wird geprüft, weshalb bestimmte Personengruppen die an sich zugänglichen (oder oft sogar angebotenen) Ressourcen nicht nutzen. In der jüngeren Projektliteratur besteht weitgehend Konsens, daß prinzipiell für wohl alle Armutsgruppen - in freüich unterschiedlichem Maße — Ressourcen zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen existieren, diese aber häufig aufgrund vielfältigster Faktoren, die sich für bestimmte Armutsgruppen ganz unterschiedlich stellen können, nicht genutzt werden. Fehlendes Wissen, unzureichende Finanzierungsmittel, fehlende Motivation, soziale Diskriminierung, Ökologieprobleme, Preisrisiken, saisonale Arbeitsengpässe, Transportprobleme, mangelnde Selbsthilfefähigkeit, Tabus sind nur wenige Beispiele für solche Hemmfaktoren. Als Zielgruppen können aufgrund der Hemmfaktoren-Analyse nun solche Armutsgruppen definiert werden, die im Hinblick auf eine für sie relevante Ressource gleichen oder ähnlichen Hemmfaktoren zur Nutzung dieser Ressourcen ausgesetzt sind. Unter Anwendung dieser Kriterien handelt es sich hierbei um diesbezüglich homogene Gruppen, für die jetzt eine einzelne Maßnahme (oder eine Kombination von Maßnahmen) geplant werden kann. Dritter Schritt: Zielgruppenspezifische Maßnahmenplanung Maßnahmen werden für den Abbau der zielgruppenspezifischen Nutzungshemmnisse für Ressourcen geplant. Diese Methodik soll gewährleisten, daß die Maßnahmeplanung zielgruppenbezogen durchgeführt wird. Bei Verzicht auf den zweiten Schritt - die Analyse der Hemmnisfaktoren - hat die Maßnahmeplanung erfahrungsmäßig die Tendenz zur Folge, geeignete Personen für bestimmte Maßnahmen zu suchen und nicht umgekehrt, für bestimmte Personengruppen geeignete Maßnahmen zu explorieren. Ein sehr vereinfachendes Beispiel soll die über drei Schritte sich vollziehende, zielgruppenspezifische Methode der Maßnahmenplanung ülustrieren: Für Kleinbauern bestehen in einer bestimmten Region sehr gute natürliche Bedingungen für den Anbau bestimmter Kartoffelsorten. Die städtischen Märkte sind im Jahresdurchschnitt für große, zusätzliche Kartoffelmengen

124

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

auch aufnahmefähig. Der landwirtschaftliche Beratungsdienst propagiert den Anbau seit Jahren, aber er hat neben einigen Großfarmern nur wenige Kleinbauern zum regelmäßigen Kartoffelanbau bewegen können. Bei Gesprächen mit Kleinbauern wird deutlich, weshalb diese keine Kartoffeln anbauen. Sie können Kartoffeln nicht lagern und müssen sofort nach der Ernte verkaufen, was in der Vergangenheit regelmäßig zu einem kurzfristig andauernden Preisverfall geführt hatte. Projektplaner schlagen deshalb für den kleinbäuerlichen Kartoffelanbau eine genossenschaftlich geführte Lager- und Vermarktungseinrichtung für Kartoffeln vor. Diese einfache Ableitungslogik für die Planung von Maßnahmen entspricht dem Zielgruppenansatz (im Gegensatz zur Vorgehensweise der Agrarberater). Erstens wurde eine Untergruppe der Armutsbevölkerung herausgegriffen, für welche eine bestimmte Chance zu Einkommenserhöhungen bestand (Ressource: günstige Anbaubedingungen für Kartoffeln und jahresdurchschnittlich ausreichende Nachfrage). Zweitens wurde gefragt, weshalb diese Ressourcen von dieser Gruppe nicht genutzt wurden, und es konnten ganz spezifische Hemmnisse für diese Gruppe ausgemacht werden. Die Zielgruppe war damit genau definiert: Kleinbauern, die Kartoffeln anbauen könnten, aber durch das saisonbedingte Preisrisiko davon abgehalten werden. Die auf den Abbau dieses Hemmnisses auszurichtenden Projektmaßnahmen sind damit drittens zielgruppenspezifisch gestaltet.

2.2.4. Kritik an den konzeptionellen Folgerungen der institutionellen Entwicklungspolitik Im internationalen Entwicklungsbehördenapparat wurde das „Armuttrotz-Wachstum-Problem" nach dem Abschluß des Berichtes der Pearson-Kommission (1969), wie schon erwähnt, zunehmend diskutiert. Einen förmlichen Wendepunkt der Entwicklungspolitik hatte der Präsident der Weltbank für seine Institution schon anfangs der 70er Jahre proklamiert (vgl. ζ. B. die bekannte Rede McNamaras auf der Jahresversammlung des Gouverneursrates der Bank 1973 in Nairobi, und die Analyse dieser Rede durch von Urff, 1974). Unter der Bezeichnung „Armutsorientierung" begann die Weltbank alsbald, Projekte im ländlichen Raum und in den Städten zu implementieren. 1975 wurde auf Initiative der Weltbank eine „ACC Task Force (Administrative Committee for Coordination) on Rural Development" konstitutiert - eine „Interagency"-Einrichtung zur „Harmonisierung" der auf Armutsreduzierung ausgerichteten ländlichen Entwicklungsaktivitäten der UN-Behörden. Ihre Aufgabenstellung geht auf ein durch Initiativen der Weltbank angeregtes Gutachten zurück, das im Januar 1976 unter dem Titel „Poverty-Oriented Rural Development and the UN-System: A Turning Point" von Obaidullah Khan und Thomas Hexner vorgelegt wurde. In den dem Gutachten zugrunde liegenden Erhebun-

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

125

gen wurden alle UN-Behörden um eine förmliche Stellungnahme zur Frage der Armutsorientierung gebeten. Im Bericht wird festgestellt, daß folgende Behörden mit der Implementierung armutsorientierter Programme bereits begonnen haben: ILO, UNICEF, Weltbank, WHO und WFP. Ansatzpunkte, so der Bericht, gibt es auch bei der „Integrated-RuralDevelopmenf'-Konzeption der FAO. Die „übrigen" Behörden - UN, UNDP, UNESCO und UNIDO - waren 1975, so urteüen Khan und Hexner, im Prozeß „ o f framing policies consistent with a poverty approach" (ebenda, S. III). Die frühen, armutsorientierten Weltbankprojekte richteten sich vornehmlich auf die „produktive Mobüisierung" von Kleinbauern im wesentlichen durch Umlenkung von Entwicklungsressourcen (ζ. B. Kredite für Saatgut und Düngemittel) auf diese Zielgruppe. Im internationalen Apparat begannen sich komplexere Konzepte der Armutsorientierung herauszubüden, von denen sich, was die Ebene der Entwicklungsprojekte betrifft, zwei Ansätze in besonderem Maße etablierten: „die integrierte ländliche Entwicklung" (IRD oder ILE) und die „Grundbedürfnisorientierung". Beide Ansätze berühren das Problemverhältnis von Wirtschaftswachstum und Armutsreduzierung. Ihre Eignung zur Lösung dieses Problemverhältnisses soll im folgenden diskutiert werden.

2.2.4.1. „Integrierte

ländliche Entwicklung"

Der Begriff „integriert" wird im Kontext ländlicher Entwicklung schon recht lange zur Bezeichnung verschiedenartiger Dinge verwendet. Dieser unterschiedliche Verwendungszusammenhang hat auch oft zu Verständnis- und Kommunikationsschwierigkeiten in Diskussionen wie in der Literatur geführt. Möglicherweise erleichtert eine Zweiteüung der Begriffsverwendung in Zusammenhänge mit sozial neutraler und mit sozial gerichteter Zielvorstellung das Verständnis. Sozial neutral wird integrierte ländliche Entwicklung (ILE) vor allem für volkswirtschaftliche, regionalplanerische und administrativ-institutionelle Zusammenhänge verwendet. Dagegen bezieht sich die sozial gerichtete Version auf die Stellung bestimmter Bevölkerungsgruppen im sozialen System oder, eine einfache Variante, auf die Einbeziehung bestimmter Bevölkerungsteüe in wohlfahrtserhöhende, sektorenübergreifende Förderungsziele. Im volkswirtschaftlichen und regionalen Zusammenhang wird auf das Phänomen abgestellt, daß es Komplementaritäten zwischen verschiedenen Wirtschaftssektoren und regional gebundenen Funktionen gibt, die, wenn sie koordiniert zusammenwirken, gewünschte Zusatzeffekte („trade off') erzeugen. Die bekannte Tatsache, daß unter bestimmten Aufgabenbedingungen eine Gruppe von Personen mehr zu leisten vermag als die Summe der Einzelleistungen dieser Personen ausmachen würde, ist ein analoges Büd für dieses Integra-

126

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

tionsverständnis. Weitz (1976) hat ζ. B. im Rahmen umfangreicher Studien in Bewässerungssiedlungen belegt, daß der Beschäftigungs- und Einkommenseffekt erheblich höher ist, wenn bei einem gegebenen Inputvolumen die Investitionen nicht regional isoliert oder sukzessive im Agrarbereich, im außerlandwirtschaftlichen Produktionsbereich und im Dienstleistungs- und Sozialbereich getätigt werden, sondern dann, wenn diese simultan - „integriert" — in derselben Region zum Einsatz kommen. Auch Vertreter „monosektoraler" Entwicklungsansätze, wie ζ. B. Schaefer-Kehnert (1975), sehen keinen Widerspruch zwischen der Konzentrierung auf ein einzelnes sektorales Ziel (ζ. B. den Anbau von Tee) und eines so verstandenen Integrationsansatzes. Im Gegenteil, ein monosektorales Entwicklungsziel, wie die Verbesserung des Teeanbaues, erfordert nach SchaeferKehnert den integrierten Einsatz komplementärer Maßnahmen, wie ζ. B. Beratung, Kredit, Märkte, Infrastruktur, Verwaltungsinstitutionen usw. Dieses Integrationsverständnis liegt auch den „Verbund"- und „Regionalprojekten" der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, wie sie besonders anfangs der 70er Jahre entstanden sind, zugrunde (vgl. ζ. B. Sohn, 1972). Die administrativ-institutionellen Konsequenzen der Maßnahmeintegration sind koordinierte, abteilungsübergreifende Verwaltungserfordernisse. In der Entwicklungsadministration wird integrierte ländliche Entwicklung deshalb ott als „concept of administration: the planned supply of simultaneous services . . . " verstanden (vgl. ζ. B. Ahamad, 1975; auch de Haen et al., 1973). Unter der besonderen Initiative der Food and Agriculture-Organization (FAO) hat der Begriff während der ersten Hälfte der 70er Jahre jedoch eine bedeutsame soziologische Inhaltsveränderung erfahren. Besonders der Agrarsoziologe Kotier, damals Leiter der „Human Resources, Institutions and Agrarian Reform Division" der FAO (vgl. Kötter, 1974) sowie Leupolt (1976, 1977) gaben dem neuen ILE-Konzept theoretische Grundlagen, die dann weit über die FAO hinaus aufgegriffen wurden (vgl. z. B. Thimm, 1976; Wulf \911\Zaman t 1977). Das „soziologisierte" ILE-Konzept spiegelt die anfangs der 70er Jahre entbrannte theoretische Auseinandersetzung über die Systemzusammenhänge der Unterentwicklung, wie sie z. B. von Galtung ( 1972) und Myrdal (1968) formuliert worden waren, wider. Besonders zwei Aspekte spielten damals in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eine besondere Rolle, nämlich der Aspekt der „Marginalität" und des „Systems". Armut wurde als strukturell zusammenhängend mit Wirtschaftswachstumsprozessen gesehen, bei welchen große Bevölkerungsteile „am Rande" belassen oder „an den Rand" gedrängt - „marginalisiert" — wurden. Dieser strukturelle Aspekt der Armut wurde als systemverankert interpretiert und daraus gefolgert, daß Subsysteme eines sozialen Makrosystems nicht verän-

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

127

dert werden können, ohne auch das Makrosystem zu ändern. Das bedeutet, daß ein einzelner Sektor, ζ. B. der Agrarsektor, in seiner sozialen Struktur nicht ohne entsprechende Änderung der politischen und institionellen Struktur des Gesamtsystems verändert werden kann. Integration wurde als Gegenteil von Marginalisierung verstanden und integrierte ländliche Entwicklung bedeutete demnach Einbeziehung der Armutsbevölkerung (i. S. des Abbaus von Marginalität) in den Entwicklungsprozeß, was nur bei simultaner Integration in das Gesellschaftssystem bewerkstelligt werden kann. Beim Versuch, dieses Begriffsverständnis zu würdigen, stößt man auf erhebliche Probleme. Gewichtiger als Schwierigkeiten der praktischen Realisierung von auf Makrosysteme ausgerichteten Reformen erscheint das Wissensdefizit über soziale Systemzusammenhänge und der augenfällige Dissens bei Wissenschaftlern und Politikern darüber. Es ist theoretisch weithin kontrovers, welche Veränderungen der Subsysteme ein Makrosystem zuläßt und welche Veränderungen der Subsysteme das Makrosystem zum „Zurückschlagen" oder aber auch zum sich „Anpassen" an die veränderten Subsysteme herausfordert. Von orthodoxen Basis-Überbau-Interpretationen über Ogburns Schule der Begründung sozialen Systemwandels gerade durch Veränderungen in den Subsystemen (Ogburn, 1964; vgl. auch Wurzbacher et al., 1972, oder Epstein, 1962) bis hin zu den unterschiedlichen Erklärungen über die Wirkungen des Weltwirtschaftssystems auf die Entwicklungsländer (z. B. Fröbel et al., 1977; Giersch, 1978) oder die Faktoren der Marginalität (y^.Meinardus, 1982) gibt es einen breiten Fächer unterschiedlicher Schlußfolgerungen darüber, welche das System betreffenden Maßnahmen für die Integration der Armutsbevölkerung notwendig sind. Die integrierte ländliche Entwicklung als Systemansatz stellt deshalb praktische und theoretische Forderungen, die gegenwärtig schwer einlösbar sind. Kritik am „soziologisierten" ILE-Konzept ist im Hinblick auf das Problemverhältnis von Wachstum und Armut vor allem an der Operationalisierbarkeit und unzureichenden Berücksichtigung der Strukturwirkung technologischer Faktoren angebracht. Die Einbeziehung der „marginalen" Gruppen in den Entwicklungsprozeß ist, wie die bisherigen Analysen zeigen, keineswegs durch institutionelle oder das gesamte soziale System betreffende Reformen schon gewährleistet. Die Analysen über das Auseinanderfallen von Wirtschaftswachstum und Armutsreduzierung zeigen, daß der politische Wüle und politisch-institutionelle Maßnahmen zur Armutsreduzierung keineswegs ausreichen, „Marginalisierungsprozesse" zu „Integrationsentwicklungen" umzukehren, wenn dies z. B. unter Beibehaltung einer bimodalen Technologiestrategie angestrebt wird. Andererseits zeigen auch einzelne politische Systeme, deren politischer Wille zur Armutsreduzierung nicht als besonders ausgeprägt gelten kann und deren primäres Entwicklungsziel Wirtschaftswachstum ist, daß bei einer entsprechenden Technologie- und Sektorpolitik beide Entwicklungsaspekte, Wachstum und Armutsreduzierung, in erstaunlichem Maße synchron verlaufen können.

128

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

In der Zielsetzung ist die ILE fraglos kompatibel mit einer Politik der Verbindung von Wachstum und Armutsreduzierung. Auch der Aspekt, daß die Beseitigung von „Marginalisierungsprozessen" mehr als bloße wirtschaftspolitische Maßnahmen erfordert, ist ein wichtiger ILE-spezifischer Beitrag zur politischen Lösung des „Armut-trotz-Wachstum-Problems". Diese Ansatzpunkte reichen jedoch nicht nur nicht aus, sie können auch zu Fehlentscheidungen fuhren. So hat z. B. Tanzania eine sehr konsequente integrierte ländliche Entwicklungspolitik betrieben, ohne dabei Wirtschaftswachstum signifikant beschleunigen oder Armut signifikant reduzieren zu können (vgl. z. B. ILO, 1978, S. 77-79; Johnston and Clark, 1979; auch Anthony et al., 1979). Johnston und Clark argumentieren, daß eine Fehlentscheidung von großer Tragweite darin bestand, den genossenschaftlich und/oder staatlichen Subsektor im Agrarbereich Tanzanias kapitalintensiv zu entwickeln und damit einen bimodalen Entwicklungsweg unter sozialistisch orientierter Ordnungspolitik einzuschlagen, der die typischen Konfliktverhältnisse von Wachstum und Armutsreduzierung verstärkt. Das ILE-Konzept ist deshalb unzureichend für eine armutsreduzierende Wachstumspolitik, und seine Defizite zeigen sich bei der Frage nach den konkreten Maßnahmen zur Integration der Armutsbevölkerung.

2.2.4.2. „Grundbedürfnisorientierte

ländliche Entwicklung"

Während der Begriff der „integrierten ländlichen Entwicklung" noch nicht ausdiskutiert erscheint, hat sich eine neue Konzeption, bezeichnet als „Grundbedürfnisstrategie", rapide bei Geberländerinstitutionen und einem Teil der internationalen Behörden verbreitet. Grundbedürfnisorientierte ländliche Entwicklung war zunächst aktiv von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) propagiert worden (vgl. z. B. Ghai et al., 1977; ILO, \911\Lisk, 1977 b). Inhaltlich verwandte Ansätze, die stärker auf die Instrumente abzielten, hier ist die Konzeption der „Basisdienste" gemeint, wurden in der Weltgesundheitsbehörde und dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) konzipiert. 1977 haben sich die Mitgliedsstaaten der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) einschließlich der Bundesrepublik im Development Assistance Committee (DAC) auf die Grundbedürfnisstrategie formell verpflichtet (OECD/D AC, 1977 a). Spezifisch für die Grundbedürfniskonzeption ist die Messung von Entwicklung am Versorgungsgrad mit grundbedürfnisbefriedigenden materiellen und nicht-materiellen Gütern und Leistungen (vgl. z. B. Lisk, 1977 a; Sen Gupta , 1978). Solche Güter und Leistungen beziehen sich sowohl auf den persönlichen Konsumbereich, wie ζ. B. die Ernährung, Wohnung, Kleidung, als auch auf

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

129

öffentliche Dienste, ζ. B. für Gesundheit, Hygiene, Trinkwasser, Bildung, Transport und kulturelle Einrichtungen. Da die Grundbedürfnisse vor allem bei der Armutsbevölkerung nicht befriedigt sind, impliziert auch dieser Ansatz eine armutsorientierte Entwicklungspolitik. Nach Lisk kommt er in die Nähe einer Strategie zur Beseitigung der absoluten Armut. Die Grundbedürfnisorientierung knüpft jedoch nicht nur am bekannten Verteüungsaspekt an, sondern fordert für Güter und Leistungen bestimmte ten Verteüungsaspekt an, sondern fordert für Güter und Leistungen bestimmte Qualitäten, nämlich, daß sie auf Grundbedürfnisse einschließlich solcher abstellen, für deren Befriedigung monetäre Mittel irrelevant sind. Die Grundbedürfnisorientierung erscheint für öffentliche Versorgungseinrichtungen sehr praktikabel. So bestehen, um ein Beispiel herauszugreifen, fur den öffentlichen Gesundheitsbereich grundbedürfnisrelevante Alternativen - etwa die Mittelverwendung für einige wenige, technisch sehr gut ausgestattete Krankenhäuser mit höchsten Ansprüchen genügenden Behandlungsmöglichkeiten, jedoch geringer Kapazität gegenüber der Alternative einfach eingerichteter, aber zahlreicher und dezentralisierter Gesundheitszentren für Vorbeugung und Behandlung der schwersten und häufigsten Krankheiten. Komplizierter verhält es sich jedoch im persönlichen Konsumbereich. Da der Konsum auch einkommensabhängig ist, läßt sich die Versorgungssituation mit Grundbedürfnisgütern und -leistungen nicht notwendigerweise nur durch eine Orientierung der produktiven Tätigkeiten auf grundbedürfnisbezogene Güter und Leistungen verbessern. Die einseitige Orientierung auf den „Gebrauchswert", wie sie teflweise bei deutschen Autoren anklingt (vgl. ζ. B. Neuhoff, 1978; Schwefel, 1978; Wohlmuth, 1978), würde nicht berücksichtigen, daß bei der Herstellung von Gütern und Leistungen Beschäftigung und damit Einkommen geschaffen und verteüt werden und daß dieser zweite Gesichtspunkt mit der Gebrauchswertorientierung in Konflikt geraten kann. So hat, um ein illustrierendes Beispiel zu nennen, der Anbau von Exportfrüchten, wie Tee, Kaffee und Pyrethrum, für große Teüe der Kleinbauernbevölkerung im Hochland Kenias eine bessere Versorgung auch mit Nahrungsmitteln (mehr Kalorienaufnahme) gebracht, weü durch den Exportfrüchteanbau die Masseneinkommen erheblich stiegen und zu verbesserter Ernährung mitverwendet wurden (vgl. ζ. B. Lijoodi and Ruthenberg, 1978). Im Gegensatz zur einseitig gesehenen Gebrauchswertorientierung, deren Durchsetzung erhebliche staatliche Eingriffe in Marktprozesse notwendig machen würde, hat die Grundbedürfnisstrategie, so wie sie in den Dokumenten der ILO und OECD interpretiert wird, wohl keine Konnotation mit Marktfeindlichkeit und Planungswirtschaft. Auch der Markt und die Marktbedingungen können nach diesen Dokumenten instrumenteil zur besseren Grundbedürfnisbefriedigung im persönlichen Konsumbereich in die Strategie einbezogen werden. Die Strategie wurde von den Initiatoren explizit ordnungspolitisch neutral formuliert und soll, was den

130

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

privaten Konsumbereich angeht, auf die produktive Mobilisierung zur einkommenserzeugenden Beschäftigung bei der besonders bedürftigen Bevölkerung abzielen. Dabei wird auch der Technologiestrategie als Faktor der Einkommensschaffung und -Verteilung Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. ζ. B. Singer, 1977). „ I n a way, the range of objectives of needs-oriented development constitutes a synthesis of the growth, employment and poverty-eradication goals" (Lisky 1977 b). Paul Streeten begründet die Bedeutung des Grundbedürfniskonzeptes mit Argumenten wie folgt: a) „Ernährung, Gesundheit und Bildung - Komponenten des Lebensstandards - sind wichtig für eine volle Ausnutzung des Arbeitskräftepotentials. Sie wurden jedoch bisher vernachlässigt, weil sie in den reichen Gesellschaften als Konsum zählen, der auf die Produktivität des Menschen keinen (oder gar einen negativen) Einfluß hat. In den armen Ländern können Verbesserungen im Ernährungs-, Gesundheits- und Bildungswesen aber zu Produktionssteigerungen fuhren. Damit stellen sie Investitionen in menschliche Ressourcen dar" (Streeten, 1979, S. 29). b) In Entwicklungsländern können etwa 20 % der Menschen selbst weder arbeiten, noch gehören sie einem Haushalt mit einem erwerbsfähigen Haushaltsvorstand an. Es handelt sich dabei um Alte, Schwache, Krüppel und Waisen. Diese große Personengruppe kann auch über sozial orientierte Wirtschaftswachstumsförderung nicht erreicht werden. Sie sind als Zielgruppe in die Grundbedürfnisstrategie miteinbezogen. c) Auch bei steigenden Einkommen können die Ernährungs- und Gesundheitsstandards sinken. So ist ζ. B. häufig zu beobachten, daß die Ausgabenstruktur von Subsistenzbauern, die von der Selbstversorgung zum Anbau für den Markt übergehen, sich von den gröberen und naturhafteren Nahrungsmitteln auf feinere oder weniger nahrhafte Nahrungsmittel oder auf andere Dinge verschiebt. Der Grundbedürfnisansatz trägt solchen Problemen Rechnung. d) „Das Hauptargument für das Grundbedürfniskonzept besteht darin, daß es uns in die Lage versetzt, ein weithin akzeptiertes Ziel mit hoher Priorität in kürzerer Zeit und mit weniger Ressourcen zu erreichen, als auf dem Umweg über eine bloße Beschäftigungs- und Einkommenserhöhung. Dies zeigen deutlich die Erfahrungen, die man in Sri Lanka und im Staate Kerala in Indien gemacht hat, wo Lebenserwartung, Alphabetisierungsgrad und Kindersterblichkeit bei extrem niedrigen Einkommen ähnliche Werte erreicht haben wie in den fortgeschrittensten Ländern" (Streeten, 1979, S. 31). e) Die notwendigen Ressourcen zur verbesserten Grundbedürfnisbefriedigung können deshalb verfügbar gemacht werden, weil an Ressourcen für Nicht-

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

131

Grundbedürfnisse gespart werden kann. Als Beispiel nennt Streeten teure therapeutische Gesundheitsdienste, die sich auf Städte konzentrieren und durch billige, überall kopierbare, vorbeugende ländliche Gesundheitsdienste ersetzt werden können. Dies stellt im wesentlichen eine Umverteüungspolitik öffentlicher Leistungen zugunsten der Grundbedürfnisbefriedigung dar. Vergleicht man die Grundbedürfnisdiskussion mit anderen Konzepten, bleibt für sie spezifisch, daß Armut nicht allein ein monetär ausdrückbarer, menschlicher Zustand ist und sich Entwicklungsziele auch nach Indikatoren, wie ζ. B. Gesundheit, Büdung und Kultur, richten sollen. Weiter lassen sich aus ihr sehr konkrete Konsequenzen für die öffentlichen Dienste ableiten: Bei gegebenem Mittelvolumen sollen sie Versorgungsplateaus im Grundbedürfnisbereich für die Masse der Armutsbevölkerung anstreben und nicht die Mittel auf wenige, hohen Ansprüchen genügende Einrichtungen konzentrieren — etwa nach dem Prinzip „besser barfüßige Doktoren als keine". Auch solche Bevölkerungsgruppen sollen entwicklungspolitisch berücksichtigt werden, die über den Wirtschaftsprozeß überhaupt nicht erreichbar sind. Und schließlich, so ein Teü der Autoren, soll der Grundbedürfnisansatz weniger als Konsum- sondern mehr als Investitionspolitik zur Entwicklung des menschlichen Ressourcenpotentials verstanden werden. Sieht man von der einseitig gebrauchswertorientierten Variante in der Interpretation des Konzeptes ab, erscheint die Grundbedürfnisorientierung mit einer Politik, die Wachstum mit Armutsreduzierung verbindet, kompatibel. Die Schwäche des Grundbedürfnisansatzes im Hinblick auf die Problematik dieser Verbindung liegt wiederum in mangelnden Ableitungskriterien für die operationale Maßnahmenebene. Zwar wird auch hier eine armutsorientierte Wachstumspolitik gefordert, es gibt aber keinen spezifischen Hinweis, wie dies bewerkstelligt werden kann. Im besonderen güt dies für den Entscheidungsbereich der Verwendung von Entwicklungsressourcen für Investitionen im direkten Produktionsbereich anstatt im Konsumbereich (bzw. im Bereich der Entwicklung des menschlichen Ressourcenpotentials). Qualitative Forderungen für beide Bereiche lösen nicht das Problem, daß zwischen beiden Verwendungsalternativen ein Konfliktverhältnis besteht, welches sich langfristig positiv oder negativ auf das vorhandene Potential zur Grundbedürfnisbefriedigung auswirken kann. Dieses Konfliktverhältnis ist um so schärfer ausgeprägt, je weiter die Grundbedürfnisse gefaßt werden. Streeten scheint dieses Konfliktverhältnis stärker als andere Vertreter des Konzeptes zu sehen und versucht es zu entschärfen, indem er drei Grundbedürfnisse, deren Befriedigung zugleich Investitionscharakter hat, besonders hervorhebt — nämlich Ernährung, Gesundheit und Büdung. Ansonsten sieht Streeten die Verbesserung der Verdienstmöglichkeiten der von Armut Betroffenen als erstrangig an. Damit wird auch indirekt von Streeten anerkannt, daß die Verfügbarkeit über Barmittel ein überragend wichtiges Instrument zur individuellen Grundbedürfnisbefriedigung dar-

132

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

stellt. Wie eine Politik zur Erhöhung der Einkommen der von Armut Betroffenen gestaltet werden soll, läßt sich vom Grundbedürfniskonzept her jedoch noch nicht beantworten. Johnston und Clark (1979) üben deshalb begründet Kritik an einer Entwicklungspolitik, die sich überwiegend auf den Grundbedürfnisaspekt richtet, obgleich diesem Aspekt auch nach diesen Autoren große Bedeutung im Rahmen einer übergreifenden Politik beizumessen ist. Johnston und Clark fordern eine Entwicklungspolitik, die sich durch ein Zusammenspiel produktionsorientierter und konsumbezogener Maßnahmen auszeichnet. Die Autoren wenden sich gegen die Trennung von einerseits einkommensorientierter, andererseits konsumorientierter Entwicklungspolitik. Auch die Grundbedürfnisbefriedigung ist, was die materielle Seite (die oft auch Voraussetzung der Befriedigung nicht-materieller Bedürfnisse ist) angeht, nicht trennbar von den produktionsorientierten Aktivitäten. Der komplexe Zusammenhang des Einflusses von produktions- und konsumorientierten Maßnahmen auf den Lebensstandard unter Einbeziehung der interagierenden Faktoren: Bevölkerungswachstum, Migration und Humankapitalbildung wird von den Autoren in der folgenden Übersicht systematisiert (Schema Nr. 10). Das im Schema dargestellte System geht davon aus, daß der Lebensstandard als Funktion von Wachstum, Verteilung und Zusammensetzung der pro-KopfKonsumtion von Gütern und Leistungen durch zwei Politikansätze in direkter Weise beeinflußbar ist - durch produktionsorientierte und durch konsumorientierte Politik. Beide Politikorientierungen haben Wirkungen auf die Rate des natürlichen Wachstums der ländlichen Bevölkerung, die Migrationsströme und auf die Formation von Humankapital. Der obere Teil des Schemas zeigt den Systemzusammenhang produktionsorientierter Politik. Sie beeinflußt die Rate und die Struktur („pattern") der ländlichen Entwicklung, was wiederum Beschäftigung, Einkommen durch Lohnarbeit, Nettoeinkommen durch den Verkauf von Farmprodukten und die Subsistenzeinkommen determiniert. Die monetären Komponenten dieser Einkommensströme lassen sich wieder teilen in Ausgaben für Konsum und Investitionen. Bareinkommen im Agrarbereich sind auch wesentliche Ressourcen für das Steueraufkommen in den überwiegend agrarischen Volkswirtschaften. Die „Feedback"-Schleifen (1) und (2) verdeutlichen, wie die Höhe der Investitionen und Steuereinnahmen die zukünftige Produktion und ebenfalls das zukünftige Niveau der konsumorientierten Programme beeinflussen. Der untere Teil des Schemas geht von einer groben Kategorisierung von Konsumaktivitäten aus: einmal von der Bereitstellung von Bildung und sozialen Diensten vor allem im Bereich Gesundheit, Ernährung und Familienplanung, zum anderen von redistributiven Maßnahmen für die laufenden Ein-

(2)

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Quelle:

Rückkoppelung

JOHNSTON and CLARK

wichtige (1979),

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1

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Kausalbeziehung

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Family Planning Activities

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»wichtige

11

- Employment Farm production - Income Flow for Sale and / Home Consumption

ι—V

Rate and Pattern of Development 1

Π

Social Services: Education ^ ^ / é Nutrition, Health &

\ CONSUMPTION-ORIENTED /

I I \

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PRODUCTION-ORIENTED

^ POLICIES A PROGRAMS

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Wellbeing as a function of ^

Systemsicht für das Zusammenwirken produktionsund konsumbezogener Faktoren

Schema 10:

Growth

.

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen 133

134

2. Einflüsse der Entwicklungspolitik

kommensströme. Das Potential für konsumorientierte Aktivitäten hängt, wie oben schon gezeigt, von dem Ergebnis der produktionsorientierten Aktivitäten ab. Die Bereitstellung öffentlicher Dienste wirkt sich einmal direkt auf die Verteilung und Zusammensetzung des Konsums aus, zum anderen auf das natürliche Bevölkerungswachstum, die Migration und die Humankapitalentwicklung und diese wiederum auf die Rate und Struktur der produktiven Entwicklung sowie auf die pro-Kopf-Anteile am Output und an den Sozialdiensten („Feedback"-Schleifen (3) und (4) ). Der Grundbedürfnisansatz allein zeigt als entwicklungspolitisches Konzept also nur die eine Hälfte zur Lösung des „Armut-trotz Wachstum-Problems". Nach obigen Überlegungen ist die Lösung der Probleme im Bereich der Einkommenserwirtschaftung die entscheidende andere Voraussetzung langfristig anhaltender und zunehmender Grundbedürfnisbefriedigung.

2.2.5. Zusammenfassung Die entwicklungspolitischen Folgerungen aus den Ergebnissen der theoretischen Analyse des Verhältnisses von Wachstum und Armut sind mehrschichtig. Auf einer sehr allgemeinen Ebene ergibt sich als Konsequenz die Forderung nach einer Wachstumspolitik, die nicht primär investitionsquotenorientiert, sondern ex ante verteilungsorientiert ist. Studien wie die von Chenery et al. oder Adelman and Morris weisen empirisch nach, daß dies auch schon in der Vergangenheit möglich war — z. B. durch eine Politik breit angelegter, menschlicher Ressourcenförderung in Verbindung mit einer redistributiven Investitionspolitik (z. B. durch Zugang zu Krediten für Kleinproduzenten) und einer allgemeinen Wirtschaftspolitik, welche zumindest kapitalintensive Investitionen nicht in hohem Maße direkt oder indirekt subventioniert oder anders belohnt. Die Autoren um Johnston zeigten die überragend wichtige (und von Entwicklungspolitikern meist unterschätzte) Bedeutung der Technologiestrategie, die sich idealtypisch in bimodale und unimodale Ausrichtung einteilen läßt. In der sektoralen und auf bestimmte sozioökonomische Gruppen ausgerichteten Technologiepolitik wiesen diese Autoren einen entscheidenden Ansatzpunkt zur Verbindung von Wachstum und Armutsreduzierung nach. Johnston et al. konkretisierten die allgemeine Forderung nach verteilungsorientierter Wachstumspolitik auf der sektoralen Ebene und zeigten die Bedeutung zielgruppenorientierter Maßnahmen für den Wachstums- und Verteilungsprozeß. Sie folgerten, daß die Lösung des „Armut- trotz Wachstum-Problems" die produktive Mobilisierung der Masse der landwirtschaftlichen Kleinproduzenten (Bauern, Pächter) zur Voraussetzung hat, weil erst über deren Nachfrage nach im Lande (und dezentralisiert) herstellbaren Gütern eine Grundlage zur strukturellen Transformation der Beschäftigung geschaffen werden kann.

2.2 Entwicklungspolitische Folgerungen

135

Auf der Ebene der Maßnahmenmethodik impliziert die verteüungsorientierte - gegenüber der rein investitionsquotenbezogenen - Entwicklungspolitik einen Wechsel vom indirekten zum direkten Ansatz in der Armutsbekämpfung. „Direkte" Armutsbekämpfung wird verstanden als zielgruppenbezogen. Maßnahmen, so die Folgerung, müssen auf bestimmte Zielgruppen ausgerichtet sein, um einmal gezielt über sie Wachstum und bei ihnen Einkommen induzieren zu können, und, allgemeiner, sie müssen auf die spezifischen sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen und anderen Bedingungen der Zielgruppen abgestimmt sein, damit sie bei diesen Gruppen auch „greifen". Die Folgerungen, welche bei den multilateralen und büateralen Entwicklungsbehörden gezogen wurden, entsprechen nur teüweise diesen analytisch begründeten Forderungen. Die „integrierte ländliche Entwicklung", ihrer Intention nach eine die ländlichen Armutsgruppen in den Entwicklungsprozeß integrierende Politik, büdet keine Basis dafür, wie nun konkret Wachstum und Armutsreduzierung (der sicherlich bedeutsamste Integrationsaspekt) auf der Maßnahmenebene verbunden werden sollen. Die „Grundbedürfnispolitik" — so wichtig ihre Konsequenzen für den öffentlichen Versorgungsbereich und die Einbeziehung nicht monetärer Armutsbereiche als Bestandteü der Entwicklungspolitik sind - gibt ebenfalls nur unzureichend Auskunft über die Einkommensseite einer auf Armutsreduzierung abstellenden Entwicklungspolitik. Sie berücksichtigt vor allem zu wenig den Zusammenhang von produktionsorientierten, einkommensschaffenden und konsumorientierten Programmen.

3. Die mikrosoziologische Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern Die Analyse der Makrostrukturfaktoren der Problematik von Armut und Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern zeigt die überragend wichtige Bedeutung der massenorientierten Kleinbauernförderung. Einkommenerhöhende Produktivitätssteigerungen, induziert durch Technologieinnovationen, die den spezifischen und typischen Kleinbauernbedingungen angepaßt sind, bilden dabei die entscheidende Grundlage des Förderungskonzeptes. Die Einführung technologischer Neuerungen für Kleinbauernwirtschaften in Entwicklungsländern stellen in der Praxis von Entwicklungsprojekten ein schwieriges Problem dar. Theoretisch erscheint die Innovationsproblematik nur unbefriedigend gelöst. Allerdings geben jüngere empirische Einzelstudien differenziertere Einsichten und Lösungsansätze für die Probleme vor allem der Steuerung von Innovationsprozessen in ländlichen Entwicklungsgesellschaften, als dies in den Innovationstheorien der einflußreichen Schulen um Rogers möglich war (vgl. z.B. Rogers, 1962; Rogers with Schoemaker , 1971) 1 . Diese Schulen hatten für die Entwicklungspraxis Ende der 60iger Jahre und in den 70iger Jahren teilweise paradigmatische Bedeutung erlangt. In den folgenden Ausführungen werden Innovationsstudien ausgewertet und im Lichte der Ergebnisse dieser Studien die Innovationstheorien der Schulen um Rogers kritisch analysiert und wo nötig ergänzt oder modifiziert. Ziel des Kapitels ist es, Förderungsansätze zur beschleunigten Verbreitung von Technologieinnovationen unter der Masse der Kleinbauern und Kleinpächter theoretisch zu begründen.

1

Obwohl Rogers und seine Mitarbeiter sich besonders intensiv um eine konsistente Systematik der verschiedenen innovationstheoretischen Elemente bemüht haben — so werten Rogers und Shoemaker (1971) weit über eintausend Innovationsstudien zur Formulierung einer allgemeinen Innovationstheorie aus — und als Bezugsautoren für entwicklungspolitische Innovationsangelegenheiten besonders häufig Verwendung finden, wird die klassische Innovationstheorie auch von vielen anderen Autoren repräsentiert — so ζ. B. von Ryan and Gross (1943); Barnet (1953); Marsh and Coleman (1954); Coleman , Katz and Menzel (1959); Lionberger ( 1962); Mason ( 1964); Albrecht ( 1969).

3.1 Kommunikationsproblem kleinbauernorientierter Innovationsförderung

137

3.1. Das besondere Kommunikationsproblem kleinbauernorientierter Innovationsförderung in ländlichen Entwicklungsgesellschaften Eine auf die große Zahl der Kleinbauern und Kleinpächter gerichtete Entwicklungspolitik ist mit einem Kommunikationsproblem besonderer Art konfrontiert. Dadurch, daß ein großer Teil der Bevölkerung aus selbständigen Landwirten besteht - oft konzentrieren sich diese auf extrem kleine Betriebsgrößenklassen - , gestaltet sich die Kommunikation mit ihnen auch bei personell gut ausgestatteten und stark dezentralisierten Entwicklungsverwaltungen bzw. -projekten schwierig. Die in der Verwaltungshierarchie für die Förderung der Innovationsverbreitung zuständigen Entwicklungsbehörden (in vielen Ländern ζ. B. auf der Distriktsebene, in Indien auf der ,,Block"-Ebene) haben es meist mit zehntausenden von landwirtschaftlichen Betrieben zu tun und dies bei wenig entwickelter kommunikationsrelevanter Infrastruktur und weit verbreitetem Analphabetismus. Dies bedeutet, daß der übergroße Teü der landwirtschaftlichen Kleinproduzenten in Entwicklungsländern aus Kosten- und Organisationsgründen keine Chance hat, direkt oder indirekt vom Entwicklungspersonal gefördert bzw. betreut zu werden oder umgekehrt , - aus der Sicht der Entwicklungsbehörden —, daß diese überfordert wären, einen größeren Teü der Kleinbauern direkt, selbst mit gelegentlichen, individuell abgestellten Empfehlungen zu erreichen. In der ländlichen Entwicklungspolitik wurde diesem Problem schon lange mehr oder weniger systematisch Rechnung getragen. Generell lassen sich zwei Strategien zur Problemlösung beobachten: - einmal die Abwicklung der innovationsrelevanten Kommunikation über Repräsentationseinrichtungen von Bauernzusammenschlüssen (ζ. B. Genossenschaften) und zum andern die Förderung „autonomer" Kommunikationsprozesse zwischen den einzelnen Bauern. Die Kommunikation über Repräsentanten von Bauernzusammenschlüssen kennt vielfältige, institutionelle Formen, die sich wiederum in zwei Haupttypen gliedern lassen: in Zusammenschlüsse mit für das Kollektiv verbindlichen innovationsrelevanten Entscheidungsprozessen und in Zusammenschlüsse unter Beibehaltung individueller Entscheidungsfreiheit. Der Typ der kollektiv verbindlichen Entscheidung ist zwar besonders charakteristisch für sozialistische Wirtschaftsordnungen, jedoch auch partiell in generell marktwirtschaftlich orientierten Systemen beobachtbar. So findet man ζ. B. bei Verkaufskulturen häufig repräsentativ gefaßte oder vermittelte Auflagen für die einzelnen Mitglieder, die von Anbauquoten bis zur Verwendungsvorschrift ganz bestimmter Kultivationstechniken reichen. Bei den meisten Bauernzusammenschlüssen in den nichtsozialistischen Wirtschaftsordnungen handelt es sich jedoch um „Genossenschaften", nach deren Verfassung die betriebliche Entscheidungskompetenz meist den individuellen Mitgliedern überlassen bleibt.

138

3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

Die Förderung der autonomen Kommunikation zwischen den einzelnen Bauern beruht auf dem Faktum, daß Personen von anderen Personen durch Kömmunikation Neuerungen kennenlernen und unter bestimmten Voraussetzungen übernehmen. Diese auf der interpersonellen „freien" Kommunikation beruhende Neuerungsverbreitung (in der Literatur auch als „autonomer Diffusionsprozeß" bezeichnet) ist für den kleinbäuerlichen Innovierungsprozeß faktisch von sehr großer Bedeutung, da in den meisten Entwicklungsländern der Hauptteil der ländlichen Bevölkerung überhaupt nur so in Kontakt mit Neuerungen gebracht werden kann. Häufig sind die autonomen Verbreitungsprozesse selbst da bedeutsam, wo genossenschaftliche Bauernzusammenschlüsse existieren. Oft konzentrieren sich solche Zusammenschlüsse auf innovationsrelevante Aspekte nur einer einzelnen Verkaufskultur, oder sie beschränken sich auf einzelne Dienste, wie ζ. B. die Vermarktung, Kreditbeschaffung und Inputbesorgung. Auch allgemeine (Mehrzweck-) Genossenschaften sind in ihrer Betreuungskapazität und Entscheidungskompetenz nicht allumfassend. Damit bleibt auch die genossenschaftlich organisierte Bauernbevölkerung auf zusätzliche autonome Neuerungsprozesse angewiesen. Für den geplanten kleinbäuerlichen Entwicklungsprozeß hat die autonome Verbreitung von Innovationen noch einen zusätzlichen, wichtigen Vorteil. Die Kosten für die Induzierung autonomer Verbreitungsprozesse sind prinzipiell unabhängig von der Reichweite des Prozesses. Gelingt es, einen autonomen Verbreitungsprozeß zu induzieren, bedarf es prinzipiell keiner zusätzlichen organisatorischen oder finanziellen Aufwendungen mehr zu seiner Fortführung. Der Verbreitungsprozeß trägt sich selbst. Diesen Vorteilen der autonomen Neuerungsverbreitung stehen jedoch schwerwiegende Nachteile gegenüber, deren Bedeutung erst in jüngerer Zeit gewürdigt und wissenschaftlich untersucht wurde. Die These, daß einkommensrelevante Innovationen bestimmte Personen begünstigen und andere diskriminieren, ist eine Erkenntnis gerade der neueren entwicklungsländerbezogenen Innovationsliteratur 2 . Der Begriff des „trickle down" war der Ausdruck der Erwartungen der wachstumstheoretisch orientierten, indirekten Entwicklungskonzepte an die „Ausstrahlungsfähigkeit" von Innovationszentren und innovativen Personengruppen besonders im ländlichen Raum. Innovationstheoretisch wurde dieser Aspekt als autonomer Verbreitungsprozeß reflektiert und untersucht. Die 2

Aus einer Vielzahl der Studien und Abhandlungen seien folgende Autoren beispielhaft ausgewählt: Ascroft et al. (1973), Azam (1973), von Blankenburg (1974), Chambers (1974), Griffin (1973), Hunter (1974), Khan, A. H. (1977), Leonard et al. (1971, 1972, 1974), Morss et al. (1976), Röling et al. (1976), Todaro (1977), Urna Lele (1975), Waterston (1976), Weltbank (1975 a, c), Yudelman (1976), Zaman (1977).

3.2 Kritik am herkömmlichen Konzept der Innovationsförderung

139

häufige Nichterfüllung dieser Erwartungen im Kontext der Entwicklungsländer hat sich jedoch kaum in innovationstheoretischen Erklärungsversuchen niedergeschlagen, obwohl gerade die Innovationstheoretiker ein hoch differenziertes Theoriensystem besonders in den 60er Jahren zur Erklärung von Innovationsverbreitungsprozessen entwickelt hatten. Vermutlich hat eine monodisziplinär verengte Sichtweise wichtiger Innovationstheoretiker die Nutzung der Innovationstheorie zur Klärung und Lösung der Verbreitungsprobleme unter kleinbäuerlichen Entwicklungsbedingungen behindert. Solche verengte Sichtweisen kommen besonders in den instrumentellen Konstant- und Variablensetzungen für die Förderungsansatzpunkte der Innovationsverbreitung bedeutender Autoren zum Ausdruck. Nur wenige „Außenseiter" der innovationstheoretischen Schule (wie z. B. Ascroft et al., 1973) haben versucht, mit Hüfe der Innovationstheorie gerade die entwicklungsländertypischen Verbreitungsprobleme in ihrer disziplinären Komplexität systematisch zu berücksichtigen und darauf das Innovationsförderungsinstrumentarium abzustellen. Wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen, besitzt der innovationstheoretische Ansatz tatsächlich ein hohes Erklärungspotential für die technologische Innovierungsproblematik bei Kleinbauern in Entwicklungsländern.

3.2. Kritik am herkömmlichen Konzept der Innovationsförderung Die Innovationsförderung bei Kleinbauern ist, wie schon angedeutet, ein besonders komplexes Unterfangen, welches nicht durch innovationstheoretische Gesichtspunkte allein, so sei hier ergänzt, begründet werden kann. So kommt z. B. der Verwaltungsstruktur, welche als Träger der Förderung fungiert, oder der Planung und dem Management eines Verbreitungsförderungsprojektes große Bedeutung im Hinblick auf Erfolg und Mißerfolg der Innovationsverbreitung zu. Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf den innovationstheoretischen Problemausschnitt. Es interessiert die Frage, welche praktischen Folgerungen sich für die kleinbauernorientierte Förderung der Verbreitung technologischer Neuerungen innovationstheoretisch ableiten lassen.

3.2.1. Grundannahmen der innovationstheoretischen Schulen um Rogers Die Innovationstheorie der Schulen um Rogers formuliert für den hier interessierenden Zusammenhang kleinbäuerlicher, technologischer Innovationsprozesse folgende Aussagen: 1. Die Verbreitung einer Innovation innerhalb einer potentiellen Adopterpopulation vollzieht sich vor allem durch Kommunikation und andere soziale Interaktionen zwischen den Mitgliedern dieser Population.

140

3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

2. Beim Prozeß der Verbreitung wird eine Innovation zuerst von einigen wenigen adoptiert. Diesen folgen zunehmend andere, und wie beim „Schneeballsystem" werden immer mehr von ihm erfaßt. Die Verbreitungsgeschwindigkeit nimmt damit zu. Sie erreicht ihren Höhepunkt und fallt dann wieder, bis schließlich die letzten der Population erreicht werden. 3. Im Prozeß der Innovationsverbreitung werden die Mitglieder der potentiellen Adopterpopulation nicht zufällig schnell zu Übernehmern. Bestimmte Typen von Personen, die man durch psychische (ζ. B. Grad der Weltoffenheit), soziale (ζ. B. Position im sozialen System), ökonomische (ζ. B. Einkommen) und kommunikationssoziologische (ζ. B. Außenkontakte) Merkmale kategorisieren kann, übernehmen zuerst, folgen später oder büden den Schluß. Rogers (1962) klassifizierte diese Personentypen als „Innovatoren", „frühe Adopter", „frühe Mehrheit", „späte Mehrheit" und „Nachzügler". (Für den vorliegenden Zusammenhang mag auch eine Dichotomisierung in die Minorität der frühen Übernehmer - „Innovatoren" und „frühe Adopter" - und die „übrigen" der späteren oder Nichtübernehmer, genügen). 4. Hat ein bestimmter Teü einer potentiellen Adopterpopulation eine Innovation übernommen, pflanzt sich die weitere Übernahme selbständig (autonom) und definitiv in der beschriebenen Weise fort, sofern keine externen, den Prozeß intervenierenden Faktoren eintreten. Entwicklungspolitisch ist dieser Gesichtspunkt, wie schon ausgeführt, oft als „trickle down"-Vorstellung artikuliert worden. Rogers und Shoemaker (1971) haben auf der Basis von etwa 1.300 empirischen Diffusionsstudien, die in entwickelten wie Entwicklungsländern durchgeführt worden waren (ebenda, S. 388442), versucht, zu einer Generalisierung der Charakterristiken der einzelnen Adopterkategorien zu kommen. Im folgenden Schaubüd fassen die Autoren ihre Ergebnisse zusammen: Rogers with Shoemaker (1971) fassen zusammen: „Most variables, such as social status, cosmopoliteness, and the like, are positively related with innovativeness. However, a few variables, such as dogmatism and fatalism, are negatively related, and opinion leadership seems greatest for early adopters, at least in most systems" (S. 190). Nach einem für die sozialwissenschaftliche Theorienbüdung fast beispiellosen Anschwellen empirischer Innovationsuntersuchungen in den 60er Jahren und anfangs der 70er Jahre hat in der entwicklungspolitischen wie in der wissenschaftlichen Literatur zunehmend Skepsis gegenüber dem entwicklungspolitisch nutzbaren Erklärungswert dieses Theorieansatzes eingesetzt. Die jüngeren Dokumente relevanter internationaler Entwicklungsbehörden 3, aber 3 Vgl. ζ. B. den Bericht von Khan und Hexner (1976) über die Armutsorientierung im UN-System.

3.2 Kritik am herkömmlichen Konzept der Innovationsförderung

141

Graphik 9: Die Beziehung unabhängiger Variablen zur Innovationsbereitschaft

ators

Adopters

Majority

Majority

Adopter Categories

Quelle : Rogers with Shoemaker (1971), S. 190. auch die bilateralen Institutionen von Geberländern 4 stellen implizit den „trickle down"- oder Ausstrahleffekt von „oben nach unten" in Frage. Das offensichtliche Ausmaß und das langfristige Anhalten dualistischer Innovationsstrukturen - Innovationsenklaven ohne „Ausstrahlung" in ländlichen Regionen von Entwicklungsländern - legt die Vermutung nahe, die Verbreitung von Innovationen erreiche die von Armut Betroffenen nicht oder nur marginal. Die Innovationstheorie wird deshalb zunehmend pauschal auch als „Ideologie" verworfen. Ihr wird vorgeworfen, sie suggeriere, daß der Zugang zu Ressourcen den Eliten vorbehalten bleiben müsse, weil sich nur über sie in ihrer Funktion als „Entwicklungspioniere", „Vorbilder" und „Multiplikatoren" Entwicklung als Diffusionsprozeß von Innovationen verbreiten und massenwirksam werden könne. Der Ideologievorwurf mag für viele praktische Anwendungsfälle, bei denen Bezug zur Innovationstheorie genommen wurde, begründet sein. Da es sich aber um eine empirisch gehaltvolle Theorie handelt, die ungewöhnlich häufig und unter verschiedenartigen Bedingungen geprüft und bestätigt wurde, besteht kein Anlaß, die von ihr belegten Zusammenhänge in Frage zu stellen. Das Problem der von der Entwicklungspolitik aufgegriffenen Innovationstheorie 4

Z. B. International Agriculture Centre Wageningen (IAC) (1976/7), Ministry of Overseas Development (1975), OECD/DAC (1977 b), USAID (1977).

142

3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

und ihre Relevanz für die entwicklungstypischen Bedingungen beruht vielmehr, so sei zunächst vermutet, in der Art der Fragestellungen der für die Entwicklungspolitik einflußreichen Vertreter dieser Theorie und den davon abhängenden Folgerungen. Entscheidende Fragen der entwicklungspolitischen Steuerung des Innovationsprozesses, so die zu prüfende Vermutung, werden überhaupt nicht gestellt, obwohl die Innovationstheorie prinzipiell dafür offen wäre.

3.2.2. Die begrenzte Relevanz innovationstheoretischer Fragestellungen der Schulen um Rogers fur die Innovationsförderung bei Kleinbauern Die Beurteilung der entwicklungspolitischen Relevanz innovationstheoretischer Fragestellungen läßt sich anhand einer Prüfung der in der Theorie verankerten, instrumentell manipulierbaren Variablen bewerkstelligen. Instrumenten manipulierbare Variablen sind hier entwicklungspolitisch-planerisch einsetzbare Maßnahmen, die in kontrollierter Weise variiert werden können, um daraus resultierende, ganz bestimmte Ergebnisse bewirken zu können. Allgemein handelt es sich um die Frage, wo sich entwicklungspolitische Ansatzpunkte zur Beeinflussung der Innovationsverbreitung ergeben. Für die Frage nach den instrumenteilen Variablen der von Rogers geprägten Innovationstheorie mag die Kenntnis des Entwicklungszusammenhangs dieser Theorie aufschlußreich sein. Die Theorie ist in den Vereinigten Staaten unter der Fragestellung entstanden, weshalb sich die Annahme bestimmter neuer Produkte, wie ζ. B. neue landwirtschaftliche Anbausorten und ihre Komplementärinnovationen (Mineraldüngemittel, Insektizide usw.) bei Farmern, oder neue Arzneimittel bei Ärzten, unterschiedlich schnell vollzieht. Aus der Beantwortung dieser Frage wurden instrumenteile Ansatzpunkte gesucht, die von einer Firma (Verkäufer) oder einer untergeordneten staatlichen Behörde systematisch zur Beschleunigung des Innovationsprozesses eingesetzt werden konnten. Unter diesem Interessenaspekt wurden drei Variablen von zentraler Bedeutung als gegeben und nicht instrumentell manipulierbar betrachtet: 1. die Innovation selbst, 2. die soziale Meinungsführerschaft im autonomen Verbreitungsprozeß und 3. die Kommunikationsrichtung für die Innovationsgestaltung. Die Innovation selbst war in der Regel ein Produkt langer und kostenintensiver Vorarbeiten, das jetzt möglichst schnell die getätigten Entwicklungskosten durch den Verkauf decken und Gewinne einbringen oder unter dem Interesse einer Behörde ζ. B. möglichst bald eine bessere Versorgungssituation schaffen sollte. Die Innovation selbst war gegeben, und nicht ihre Verbesserung oder Umgestaltung stand unter diesem Interessenaspekt zur Disposition.

3.2 Kritik am herkömmlichen Konzept der Innovationsförderung

143

Die Manipulation der Meinungsführerschaft im autonomen „natürlichen" Verbreitungsprozeß stand außerhalb der Interessenlage der Innovationspromotoren. Im Gegenteü, je geschickter die Innovation in die „natürliche", durch die bestehende Meinungsführerschaft bedingte Ablaufstruktur eingebracht werden konnte, desto geringer war der Werbeaufwand, weü der Verbreitungsprozeß sich autonom fortpflanzte und keine weiteren externen Maßnahmen zur Verbreitungsförderung notwendig wurden. Schließlich macht das Verbreitungsinteresse der Innovationspromotoren die Kommunikationsrichtung vom Promotor zum Adressaten zu einer „Selbstverständlichkeit". Im durch Rogers et al. repräsentierten innovationstheoretischen Ansatz verbleiben als instrumentell manipulierbare Variablen: 1. Der Einstiegspersonenkreis, über den am schnellsten der „natürliche" autonome Verbreitungsprozeß aktiviert werden kann, 2. die Kommunikationstechniken, mit deren Hüfe der Innovationspromotor den Einstiegspersonenkreis am effektivsten erreichen kann. Die Art der Fragestellung in ihrer Innovationstheorie verdeutlichen Rogers und Shoemaker (1971) anhand eines ihr Buch einleitenden einfachen ülustrationsbeispiels. Unter der Überschrift „Understanding Why Water-Boüing Failed" führen die Autoren an: Im Rahmen eines 2jährigen Programms sollten in einem peruanischen Dorf (Los Molinos) durch Angestellte des öffentlichen Gesundheitsdienstes die Hausfrauen zum Abkochen von Trinkwasser gebracht werden. Nelida, die Beauftragte des Gesundheitsdienstes, hat nach 2 Jahren nur 5 % ihrer Population vom Wasserkochen überzeugen können — ein Fehlschlag im Vergleich zu den Ergebnissen anderer Berater in anderen Dörfern, in denen die Adoptionsrate bei 15 — 20 % lag. Als Gründe führen die Autoren an: „Nelida worked with the wrong houswives if she wanted to launch a self-generating diffusion process in Los Molinos. She concentrated her efforts on vülage women like Mrs. A. and Mrs. B. . . Unfortunately, they were perceived as a sickly one and social outsider and were not respected as models of water-boiling behavior by the other women. The vülage opinion leaders, who could have been a handle to prime the pump of change, were ignored by Nelida" (S. 5 f.). In diesem Beispiel bezeichnen die Autoren als instrumentellen Ansatzpunkt zur Beschleunigung der Verbreitung der Innovation den Einstiegspersonenkreis. Auf die Kommunikationstechniken wird in dem kurzen Beispiel nicht eingegangen. Aus den Ausführungen kann man schließen, daß die Beraterin (Nelida) den individuellen und persönlichen Kontakt gewählt hatte. Als nicht instrumentell variierbar behandeln die Autoren in diesem Beispiel die Innovation selbst - das Wasser-Abkochen. Um das Ziel zu verfolgen, weniger Krankheitserreger durch Trinkwasser zu übertragen, sind auch andere Alternativen möglich - z. B. Schutz des Brunnenwassers, chemische Behandlung des Trinkwassers oder Abkochen von Wasser nur im Falle akuter Seuchengefahr

1 4 4 3 .

Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

usw. Die instrumentelle Manipulation der Innovation ist besonders in den Rahmenbedingungen für eine Innovation begründet. Im angeführten Beispiel bestehen die Rahmenbedingungen der Innovation des Wasser-Abkochens in der Notwendigkeit zusätzlichen Aufwands einmal an Arbeit für das Kochen und in der Besorgung zusätzlichen Brennmaterials und zum anderen im Aufbringen der Finanzierungsmittel für das Brennmaterial. Brennmaterialknappheit ist typisch für dicht besiedelte Regionen in Entwicklungsländern und kann für eine große Zahl von Haushalten ein Grund zur Ablehnung sein. Die Nichteinbeziehung oder Vernachlässigung von an sich instrumentell durchaus nutzbaren Rahmenbedingungen, wie hier der Arbeits- und Kostenaufwand, bei der Innovationsgestaltung ist charakteristisch für die herkömmliche Innovationspolitik. Dies erklärt sich allenfalls dadurch, daß solche Rahmenbedingungen in den Entstehungsländern der Innovationstheorie im Gegensatz zu Entwicklungsländern wenig bedeutsam waren. Weiter bietet den Autoren die „natürliche", sozial vorgegebene Ablaufstruktur der Innovationsübernahme keinen instrumentell variablen Ansatzpunkt, die sich aus der im Dorf vorhandenen Meinungsführerinnenstruktur ergibt. Diese ist aber ebenfalls instrumenteller Variation zugänglich. Viele andere entwicklungspolitische Maßnahmen werden ζ. B. mit Begleitmaßnahmen versehen, welche in die bestehende Sozialstruktur intervenieren. So könnte die Gesundheitsbehörde beispielsweise dörfliche Frauenkomitees einsetzen, die in Selbstverwaltung »die Verbreitungsförderung übernehmen. Auch Dorfversammlungen sind denkbar, auf denen die Innovation diskutiert wird, und kollektiv getragene Empfehlungen gemacht werden, usw.. Damit wird in beiden Beispielen die „natürliche" Struktur der Meinungsführerschaft gezielt verändert. Die Autoren stellen schließlich auch nicht die Frage nach der Kommunikationsrichtung. Nelida soll etwas „an den Mann" bringen. Die Bedürfnismitteilungen der Zielbevölkerung an die innovationsgestaltende Behörde — eine notwendige Grundlage für die Gestaltung möglichst adäquater Innovationen — interessiert nicht. Die Autoren fragen einseitig unter dem Interessenstandpunkt der Innovationspromotoren und schließen damit ein wichtiges entwicklungspolitisches Instrumentarium aus - nämlich die systematische Nutzung der Motive, Interessen und Kompetenzen der Zielbevölkerung für die Gestaltung einer Problemlösungsinnovation.

3.2.3. Soziale Wirkungen typischer Innovationsförderungspolitik in ländlichen Entwicklungsgesellschaften Es ist nicht genau bestimmbar, wie konkret die Innovationstheorie der Schulen um Rogers die Förderungspolitik für Innovationen in den ländlichen Regionen der Entwicklungsländer beeinflußt hat. Es steht jedoch außer Frage, daß in den meisten Entwicklungsländern — zumindest bis in die jüngste Zeit

3.2 Kritik am herkömmlichen Konzept der Innovationsförderung

145

hinein - vornehmlich der instrumentelle Ansatz des Innovationsmodells von Rogers verwendet wurde: Einsatz von Beratern, die im Auftrag einer Institution vorgegebene Innovationen über individuelle Vorbüdpersonen (Meinungsführer) mit Hüfe verschiedener Kommunikationstechniken „an den Mann" bringen sollen. Diese Strategie läßt sich mit als ursächlich für eine rapide Verstärkung von Einkommensunterschieden in den ländlichen Gesellschaften und für die Entstehung von ländlichen Innovationsenklaven bei simultaner Nichtbeteüigung großer Bevölkerungsteüe nachweisen. Die soziale Eigendynamik der „natürlichen" Verbreitungsabläufe von Innovationen wurde theoretisch erst in jüngerer Zeit aufgegriffen. Relativ spät ist die sehr bedeutsame Berücksichtigung der Homogenität von Bezugspersonen für den Diffusionsverlauf in die Innovationstheorie eingegangen. Rogers with Shoemaker (1971) wählten das Begriffspaar „Homophily" und „Heterophüy", - von Lazarsfeld und Merton (1964) schon zur Kennzeichnung sozialer Homo- bzw. Heterogenität im Kommunikationsprozeß gebraucht. „Homophüy is the degree to which pairs of individuals who interact are simflar in certain attributes, such as beliefs, values, education, social status, and the like" (Rogers with Shoemaker , S. 210). Die darauf bezogene Theorie bedeutet: ,More effective communication occurs when source and receiver are homophilous" (ebenda, S. 14). Das heißt, daß potentielle Adopter in der Regel Innovationen von solchen Personen übernehmen, die sich im sozialen Status nicht sehr stark von ihnen selbst unterscheiden. Ein zweiter theoretischer Aspekt ist die Tatsache, daß bis zu einem bestimmten Ausmaß Kommunikationsprozesse selbst die Homogenität verstärken. „Homophüy and effective communication breed each other" (ebenda, S. 211). Die Relevanz von Vorbüdern (Meinungsführern) im Diffusionsprozeß hängt entscheidend von der sozialen Statusdistanz (als besonders wichtigem Homo- bzw. Heterogenitätskriterium) zwischen Vorbüd und potentiellem Adopter ab. Rogers and Shoemaker veranschaulichen dies mit der folgenden Graphik Nr. 10. Die Begünstigung der innovationsrelevanten Kommunikation bei homogenen Partnern läßt in Verbindung mit der Wechselwirkung von Homogenität und häufiger Kommunikation Diffusionsstörungen erwarten. Führt man diese Erkenntnis von Rogers und Shoemaker weiter, läßt sich folgende Hypothese formulieren: "Die häufige Abfolge von Diffusionsprozessen fuhrt nicht nur zu zeitlich bedingter Einkommensdifferenzierung, sondern zu einer Eigendynamik, welche die „ trickle down "-Prozesse einengt und einerseits einen relativ homogenen Adopterpol, andererseits einen dazu heterogenen Non- oder Spät-Adopterpol schafft. Man muß sich vergegenwärtigen, daß Innovationen, wie z. B. neue Pflanzensorten oder Viehrassen nicht notwendigerweise nur die Übernahme einer je-

146

3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

Graphik 10: Die „homophile" Interaktion mit Meinungsführern

This diagram shows that mcst interaction between opinion leaders and their followers occurs between homophilous dyads, but that often opinion leadèrs are of slightly higher social status or more technically competent than their followers.

Quelle: Rogers with Shoemaker (1971), S. 211.

weils einzelnen, einkommensrelevanten Neuerung beinhalten, sondern in der Regel ganze Pakete von einkommensrelevanten Komplementärneuerungen. Die erfolgreiche Übernahme von Hybrid-Mais beispielsweise impliziert mindestens folgende Neuerungskette: neues Saatgut, Integration in die Inputversorgungsinfrastruktur, Schutz des Saatgutes, verbesserte Pflanzungstechniken (ζ. B. in Reihen, optimaler Zeitpunkt, Bodenerosionsschutz), bessere Bodennutzung (optimale Pflanzenpopulation), Mineral- und organische Düngung, Insekten- und Krankheitsbefallschutzmaßnahmen, verbesserte Kontrollverfahren des Unkrautwuchses, besseren Zugang zur Marktinfrastruktur und damit häufig verbunden - das Wissen um Qualitätskriterien (ζ. B. Feuchtigkeitsgehalt, Kornbeschaffenheit usw.) und der damit einhergehenden Preisdifferenzen. Bei der Übernahme mehrerer solcher Innovationsaspekte ergeben sich zusätzlich einkommensrelevante, betriebliche Diversifizierungseffekte, wie ζ. B. Möglichkeiten zu gleichmäßigerem Arbeitskräfteeinsatz, mehr Dispositionen, die Wirkungen limitierender Produktionsfaktoren (ζ. B. Ausstattung mit Arbeitskräften, Bodenfläche, bar-Inputs) zu reduzieren oder verbesserte Bodennutzung durch neue Fruchtfolgen. Zudem muß berücksichtigt wer-

3.2 Kritik am herkömmlichen Konzept der Innovationsförderung

147

den, daß der Einkommenseffekt einer agrarischen Innovation für jede Anbauperiode gilt. Setzt man ζ. B. für den Verbreitungsprozeß einer neuen Sorte 10 Anbauperioden an, so haben eventuell in der zehnten Saison die letzten Adopter zum erstenmal Einkommenssteigerungen, während die ersten Adopter diese bereits zehnmal realisiert haben. Die bloße kumulative Wirkung scimeli aufeinander folgender Innovationen erhöht die Einkommenszuwächse der frühen Übernehmer im Vergleich zu den späten erheblich. Röling, Ascroft und Chege (1976) haben 1973 für eine Bauernauswahl in einer Kleinbauerregion Kenias festgestellt, daß die 26 % der „most progressive farmers" durchschnittlich 3,7 Innovationen (komplexer Art, wie z. B. Hybrid Mais, Tee oderMüchkühe) adoptiert hatten, während die 18 % der „least progressive farmers" durchschnittlich nur 0,1 Innovationen übernommen hatten. Diese Überlegungen führen in idealtypischer Darstellung zu folgenden Schlüssen, die zur Verdeutlichung graphisch dargestellt werden sollen. Als Ausgangslage werden für die gesamte Adopterpopulation gleiche Betriebsgrößen und gleiche Betriebsbedingungen zugrunde gelegt.

Graphik 11 : Die einkommenskumulierende Wirkung des Zeitfaktors im Verbreitungsprozeß einer einzelnen Innovation

innovationsinduz i e r t e , s a i s o n a l e Einkommen (kumuliert)

Adopter in v.H.

Ο

100

Ergebnis: Der Zeitfaktor verursacht in Abhängigkeit von der Diffusionsgeschwindigkeit zunächst lineare Einkommensdifferenzierungen zugunsten früher Übernehmer.

148

3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

Graphik 12: Die einkommenskumulierende Wirkung des Zeitfaktors bei sukzessiv adoptierten verschiedenen Innovationen

Innovationen i n d u z i e r t e Einkommen (kumuliert) /

3.

Beispiel:

Innovation (3. Saison)

2.

Innovation (2. Saison)

1.

Innovation (1. Saison) 100

1.

Saison:

Tee

2.

Saison:

Tee, Hybrid-Mais

3.

Saison:

Tee, Hybrid-Mais, neues G e r ä t

Adopter in v.H.

Ergebnis: Der Zeitfaktor verursacht in Abhängigkeit von der Diffusionsgeschwindigkeit und dem zeitlichen Abstand sukzessiver Innovationen zunächst überproportionale Einkommensdifferenzierungen zugunsten der frühen Übernehmer. Die Einkommensdifferenzierungsprozesse sind nach Rogers und Shoemakers Analysen von Statusdifferenzierungsprozessen zwischen den frühen und späten Übernehmern begleitet sowie von Homogenisierungsprozessen innerhalb der frühen Übernehmer, die untereinander oder mit gemeinsamen Dritten (Change Agents) in zunehmender Kommunikationsintensität stehen. Der soziale Abstand zu den späten Übernehmern vergrößert sich, und die „Heterophily" nimmt zu. Die der Innovationstheorie zugrunde liegende Ablauffolge beginnt abzureißen, da die Kommunikation zwischen immer stärker heterogen werdenden Adopterkategorien auch immer stärker eingeschränkt wird. Die Realität macht gegenüber dieser idealtypisierenden Darstellung die Homo- und Heterogenisierungsprozesse noch drastischer deutlich. Greift man nur zwei wichtige Merkmale der frühen Adopter - höhere formale Bildung und mehr Außenkontakte - heraus, so fallen Unterschiede für die typische Situation in Entwicklungsländern im Vergleich zu den Industrieländern auf. Typisch für die Situation in Entwicklungsländern ist hohes Analphabetentum bei gleichzeitigem Bestehen eines mit den Industriestaaten ver-

3.2 Kritik am herkömmlichen Konzept der Innovationsförderung

149

gleichbaren Bildungssystems. Die Bildungsspanne, die in den Industrieländern normalerweise zwischen Hauptschulabschluß und Universitätsausbildung liegt, ist in den Entwicklungsländern aufgrund des Analphabetentums nicht nur erheblich weiter, sondern gibt den nicht Lesekundigen einen qualitativ anderen Status im Diffusionsproz Neß. Sie sind von den schriftlichen Kommunikationskanälen ganz ausgeschlossen und erhalten in der Regel nur über die persönlichen Kommunikationsstrukturen Informationen. Ähnliches gilt für die Außenkontakte. Innovationsrelevante Außenkontakte entwickeln und etablieren sich vor allem durch die Innovationsprozesse selbst. Mehr Weltoffenheit - oft auch Ergebnis formaler Bildungs- und politischer Partizipation - beides typische Eigenschaften der frühen Adopter - induzieren und vermitteln innovationsrelevante Außenkontakte. Für die noch nicht oder kaum von Innovationsprozessen erreichten, vornehmlich subsistenzorientierten Teüe der potentiellen Adopterpopulation, die zudem typischerweise keine oder nur geringe formale Büdung genossen haben und kaum oder überhaupt nicht in politische Partizipationsprozesse einbezogen sind, besteht dagegen kein plausibler Anlaß zu erweiterten Außenkontakten. Schließlich führen die kumulativen Wirkungen der Übernahme einkommenserhöhender Innovation in einer vorwiegend subsistenzorientierten betrieblichen Ausgangssituation zu einer überproportionalen Differenzierung in der Verfügung über Barmittel. Ein Betrieb, der ζ. B. 100 Ertragseinheiten erwirtschaftet und davon 80 für die Subsistenz verwendet und 20 vermarktet, erhöht sein Vermarktungseinkommen bei Verdoppelung des Ertrags nicht nur auf das Doppelte, sondern auf das Sechsfache (von 20 auf 120 Einheiten), sofern er den Subsistenzanteü (von 80) nicht verändert. Die Verfügung über die Barmittel ist wiederum eine wichtige Voraussetzung zur Finanzierung weiterer, einkommenswirksamer Innovationen. Es läßt sich deshalb die These formulieren: Kumulative Innovationsprozesse, die dem „natürlichen" Diffusionsverlauf folgen, fihren unter den typischen Bedingungen der Entwicklungsgesellschaften zu besonders starker Statusdifferenzierung mit hoher Statuskristallisation bei den frühen Übernehmern. Mit der starken Streckung der Statusskala nimmt die „Heterophily" zu, d. h. der Grad der Unterschiedlichkeit von im Diffusionsprozeß beteüigten Personen hinsichtlich ihrer kommunikationsrelevanten Merkmale vergrößert sich. Die Merkmalsabstände strecken sich jedoch nicht gleichzeitig über die gesamte Population, weü im Kommunikationsprozeß eine Eigendynamik entsteht, welche zur Homogenisierung der frühen Übernehmer führt. Die frühen Übernehmer büden homogenisierende Kommunikationsringe mit Beratern und staatlichen Behörden, Banken oder anderen Finanzierungseinrichtungen, Vermarktungs- und Inputbereitstellungsinstitutionen, Verbänden, Politikern usw. Die soziale Eigendynamik des Innovationsprozesses führt also zu kommunikatorischen Absonderungstendenzen der frühen Adopter von der übrigen,

150

3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

potentiellen Adopterpopulation. Die Wechselwirkung von „Homophily" und Kommunikation produziert einen „Flaschenhals" für den Diffusionsprozeß von Innovationen zwischen den frühen Adoptern und den übrigen. Übernahmerelevante Interaktionen „verdünnen" sich nach unten und intensivieren sich innerhalb der frühen Adopter und ihrer innovationsrelevanten Referenzgruppen nach außen hin. Die Wirkungen des „natürlichen" Zeitfaktors im Diffusionsprozeß, so läßt sich zusammenfassen, werden überlagert durch einen sozial bedingten Diffusionsverzögerungsprozeß — beides Faktoren für die Entwicklung dualismusähnlicher Strukturen.

3.3. Ansatzpunkte für verbesserte Instrumente kleinbäuerlicher Innovationsförderung Wenn gerade die Masse der Kleinbauern Zielgruppe für die Innovationsförderung ist, muß ein Förderungskonzept, welches dualistische Strukturen begünstigt, als ungeeignet bewertet werden. Es soll nun danach gefragt werden, welche innovationstheoretischen Erklärungen Ansatzpunkte für eine Innovationsförderungspolitik liefern können, die für das Ziel der Massenwirksamkeit adäquater sind. Die folgenden Ausführungen sind solchen Ansatzpunkten gewidmet.

3.3.1. Entwicklungsspezifische Rahmenbedingungen als zentrale Faktoren des Verbreitungsablaufs von Innovationen Die Innovationstheorie von Rogers et al. differenziert zwar bei der Kategorisierung einer potentiellen Adopterpopulation in frühere und spätere Übernehmertypen in persönliche und soziale Faktoren, die sich aus den Rahmenbedingungen für eine bestimmte Innovation ergeben. Nach der Innovationstheorie beruht späte Übernehmerschaft z. B. auf einer traditionalen Wertorientierung, auf mangelnder Bildung, auf niedriger sozialer Integration, geringen „Außenkontakten", oder - als allgemeine Variable - auf niedrigem sozialen Status. Wichtige andere Rahmenbedingungen einer Innovation können aber „stillschweigend" in das Modell der Adoptertypen miteingehen, obwohl sie keinen notwendigen Bezug zu den persönlichen oder sozialen Faktoren haben. Solche Modelle können dann zu falschen Folgerungen fuhren. Die Verbreitung jeder Innovation setzt voraus, daß auch die innovationsspezifischen mehr oder weniger komplexen Rahmenbedingungen für jeden Adoptertyp erfüllt sind. Solche Rahmenbedingungen - dies ist im Gegensatz zur Denkweise des obigen Modells von entscheidender Bedeutung - sind jedoch für die verschiedenen sozial klassifizierten Adoptereinheiten unterschiedlich.

3.3 Instrumente kleinbäuerlicher Innovationsförderung

151

So macht ζ. B. die Einführung einer Hochertragssorte die Erfüllung entsprechender Vermarktungsbedingungen notwendig. Diese mögen in einer bestimmten Region für solche Bauern erfüllt sein, die einen Transport zu einem entfernten Markt rentabel organisieren können, nicht aber für Kleinproduzenten. Rahmenbedingungen einer Innovation können sehr komplex sein. Für die Übernahme der Hochertragssorte wird ζ. B. ein neues Inputpaket notwendig. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob 150 kg Düngemittel in der 30 km entfernten Stadt von den einen ohne Transportmittel zu besorgen sind oder aber von den anderen mit einem Fahrzeug beschafft werden können. Für die erforderliche Verwendung von Insektiziden für die Innovation mag ein Spfaygerät notwendig sein. Auf größeren Anbauflächen mag sich das Gerät schon während der ersten Anbausaison amortisieren, auf kleinen Betriebseinheiten erst in der fünften Anbausaison. Mit der unterschiedlichen Amortisationszeit variiert gleichermaßen der relative Vortefl einer Innovation. Die Finanzierungsmittel für die Inputs können von bereits marktintegrierten Betrieben erspart werden. Subsistenzorientierte Betriebe müssen zuerst für den Markt produzieren, um sparen zu können usw.. Die Kaufkraft, bzw. die „strukturell bedingte Kaufkraftschwäche" des Kleinbauernsektors ist eine weitere entscheidende Rahmenbedingung für den Diffusionsverlauf von Innovationen. Nach der Innovationstheorie der Schulen um Rogers ist ein früher Übernehmer im Ablaufsmodell eben auch derjenige, den ζ. B. die für die Innovation unbedingt erforderliche Infrastruktur zufällig zuerst erreicht hat. Seine persönlichen oder sozialen adoptionsrelevanten Eigenschaften mögen angesichts der Bedeutung der Rahmenbedingung für die Innovationsübernahme keine entscheidende Rolle spielen. Es lassen sich deshalb folgende Hypothesen formulieren: 1. Die innovationsspezifischen Rahmenbedingungen intervenieren in den von der herkömmlichen Innovationstheorie konstatierten Verbreitungsablauf auf je spezifische Weise. 2. Mit zunehmender Unterschiedlichkeit des Erfüllungsniveaus der Rahmenbedingungen für die einzelnen Personen einer potentiellen Adopterpopulation nimmt die Bedeutung der Rahmenbedingungen als Faktor des Verbreitungsablaufs zu. 3. Für die ländlichen Regionen der Entwicklungsländer sind extreme Unterschiede im Erfüllungsniveau der Rahmenbedingungen typisch Es muß dort deshalb von einer Dominanz des Faktors „Rahmenbedingungen" fir den Verbreitungsablauf ausgegangen werden. Im folgenden sollen zwei für bedeutsam gehaltene, typische Rahmenbedingungen für die Verbreitung von Innovationen im Agrarbereich untersucht werden: Bedingungen makroökonomischer Art und Bedingungen der Infrastruktur.

152

3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

3.3.1.1. Makroökonomische Rahmenbedingungen Diffusionsprozesse von outputerhöhenden, agrarischen Innovationen können nicht losgelöst von der volkswirtschaftlichen Situation betrachtet werden. Solche Diffusionsprozesse sind, wirtschaftlich betrachtet, Prozesse zunehmenden Angebots für Agrarprodukte und zunehmender Nachfrage nach Inputs, die für die Anwendung der Innovation benötigt werden. Ohne komplementäre Nachfrageausweitung nach den Agrarprodukten und Angebotsvermehrung für die Inputs reduzieren sich mit zunehmender Diffusion die innovationsinduzierten Erträge durch fallende Preise für die Erzeugnisse und steigende Preise für die Inputs. Im volkswirtschaftlichen Normalfall nehmen also die Vorteile einer ertragssteigernden Innovation mit dem Grade ihrer Verbreitung ab. Weniger kostengünstig produzierende Betriebe (die ζ. B. ökologisch weniger begünstigt, noch ohne Erfahrung bezüglich der Innovation, infrastrukturell weniger bevorzugt sind) fallen dann mit der Diffusion in zunehmendem Umfang als potentielle Adopter aus, da für sie die Innovation keine Vorteile mehr bringt. Die von Johnston und Kilby (1975) analysierte, strukturell bedingte Kaufkraftschwäche des Kleinbauernsektors bei dualistischen Wirtschaftsstrukturen wirkt sich für den Verlauf des Diffusionsprozesses dann entscheidend aus, wenn aufgrund der volkswirtschaftlichen Allokationsbedingungen nur unzureichende Finanzierungsmittel für den Erwerb der Inputs verfügbar sind — ζ. B. die Kreditversorgung von Kleinbauern unzureichend ist. Der Diffusionsprozeß ist dann durch die verfügbaren Finanzierungsmittel determiniert, auch wenn es sich um eine zur Übernahme an sich bereiten Population handelt. Ergebnis der Kaufkraftschwäche sind deformierte Diffusionsverläufe. Griffin (1973) zitiert eine empirische Vergleichsuntersuchung zum Diffusionsverlauf einer Innovation je unter günstigen und ungünstigen Finanzierungsbedingungen: In Mexiko führte die gleichzeitige Einführung von Weizen- und Mais-Hochertragssorten zu sehr verschiedenartigen Diffusionsverläufen. Die neuen Weizensorten wurden innerhalb von etwa 10 Jahren von fast allen Weizenbauern in Mexiko verwendet. Die neuen Maissorten nach 10 Jahren jedoch noch von kaum 10 % der Maisbauern. Griffin schreibt den unterschiedlichen Verlauf der Diffusionskurven dem unterschiedlichen Ressourcenzugang für Weizen- und Maisbauern zu. Die mexikanischen Weizenbauern haben vornehmlich größere Betriebe und sie können die für die Hochertragssorten notwendigen Investitionen selbst finanzieren. Die auf den Anbau von Mais orientierten Betriebe sind jedoch weder groß genug, um die Mittel für die notwendigen Investitionen selbst aufbringen zu können, noch sind sie politisch stark genug, so argumentiert Griffin, um die Regierung zur Bereitstellung notwendiger Mittel und Dienste (Kredite) bewegen zu können.

3.3 Instrumente kleinbäuerlicher Innovationsförderung

153

Graphik 13: Diffusionsverläufe von Weizen- und Maisinnovationen in Mexiko

Quelle: Dana Dairy mple (1969), S. 9, Table 2, Figure S. 10 (zit. bei Griffin, 1973, S. 7).

Er formuliert als Hypothese: Die Höhe der S-Kurve ist im vorliegenden Fall ein Indikator für die Leichtigkeit oder Schwierigkeit des Zugangs zu den Finanzierungsressourcen, die zur Adoption der Innovationen benötigt werden. Die Folgerung aus obiger Analyse kann nur sein, daß der allgemeinste Ansatzpunkt einer kleinbauernorientierten technologischen Innovationspolitik in einer kleinbauernfreundlichen Wirtschaftspolitik liegt, welche die Innovationshemmnisse aus den allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen — hier die Kaufkraftschwäche der Kleinbauern — reduziert.

154

3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

3.3.1.2. Infrastrukturelle

Rahmenbedingungen

Verkehrswege für den Transport, Verteilerstellen für Inputs, Kreditversorgungsstellen, Lagerstätten für vermarktete Produkte, Anschluß lokaler Märkte an überregionale, staatliche Kontrollinstitutionen zur Einhaltung der Regeln der Wirtschaftsordnung usw. stellen verbreitungsrelevante Faktoren für agrarische Innovationen dar. Die Ausprägung dieser variablen Faktoren ist in Entwicklungsländern typischerweise viel ungleichmäßiger als in den Industrieländern. Es ist plausibel, daß bei sehr ausgeprägten Infrastrukturmängeln Diffusionsprozesse aus physischen oder institutionellen Gründen nicht mehr stattfinden können. — Wenn ζ. B. die Gewährleistung eines schnellen Transports von verderblichen Erzeugnissen zum Käufer sehr unsicher ist, wird mit der Produktion dieser Erzeugnisse nicht begonnen werden, oder, wenn die Kapazität eines Bewässerungssystems häufig nicht für eine zweite Ernte im gesamten Bewässerungsgebiet ausreicht, werden sich die betreffenden Betriebsinhaber weigern, die Innovation der zweiten Ernte zu übernehmen. Zur Innovationsübernahme ist mehr als eine „allgemeine" Infrastruktur notwendig. Spezifische innovationsrelevante Infrastrukturbedingungen üben einen erheblichen Einfluß auf den Diffusionsverlauf aus. Garst (1974) hat ζ. B. in Kenia in einer relativ homogenen ökologischen Zone (Hochland des KisiiDistriktes) bei einer Bevölkerung mit hoher kultureller Homogenität (Gusii) und ähnlichen Betriebsbedingungen (fast ausschließlich Kleinbauern) 5 eine Repräsentativuntersuchung (Sample von 1.935 aus vierzigtausend Betrieben) über die Faktoren des Diffusionsprozesses der dort mit großen staatlichen und privaten Förderungsanstrengungen eingeführten Innovationen des Anbaus von Kaffee, Pyrethrum, Tee, Passionsfrucht, Hybrid Mais und der Haltung verbesserter Rinderrassen durchgeführt. Die Diffusion hat für die einzelnen Innovationen folgenden Verlauf: Untersucht man die Kurven, lassen sich mit ihren jeweiligen Steigungen und Verlaufsänderungen, innovationsspezifische infrastrukturelle Faktoren in Verbindung bringen. Mit der 10jährigen Stagnation (1940-1950) des Kaffeeanbaus gehen die Anbaurestriktionen für Afrikaner durch die Kolonialverwaltung einher 6 , die anfangs der 50er Jahre aufgehoben wurden. Die Einführung von Marktfrüchten bei afrikanischen Kleinbauern wurde während der Zeit des Notstands („MauMau"-Bewegung) nicht nur toleriert, sondern umfassend infrastrukturell gefördert (vgl. „Swynnerton Plan" von 1954, ζ. B. in Heyer et al., 1976, S. 125 5

Für Diffusionsprozesse sehr günstige Bçdingungen, die jedoch weniger typisch für Entwicklungsländer sind. 6 Einen guten Überblick über die Geschichte und die Problematik der .Agrarentwicklung in Kenia geben Hey er, Maitha, Senga (Eds., 1976).

3.3 Instrumente kleinbäuerlicher Innovationsförderung

155

Graphik 14: Diffusionsverlauf von 6 Innovationen im Kisii-Distrikt (Kenia)

ADOPTO I N PERCENTAGES

PMCENT

Quelle: Garst (1974), S. 303. ff.), was zu einer „Agrarian Revolution" (ebenda, S. 125) im Kleinbauernsektor bestimmter Regionen Kenias führte. Die Kaffeeadoption expandierte dann bis 1964 weitgehend parallel mit der Einrichtung kleiner und dezentraler, genossenschaftlich betriebener Kaffeeaufbereitungsanlagen, die, was die überregionale Vermarktung und Preisgestaltung betrifft, von einem Coffee Board koordiniert wurden. 1964 wurden staatliche Höchstquoten für den Kaffeeanbau festgesetzt, was die Diffusion verlangsamte und schließlich abbrach. Die Diffusion des Pyrethrumanbaus stagnierte zunächst von 1950-52 trotz Förderung aufgrund eines wenig Pyrethrin enthaltenden Sortenmaterials, das den Anbau wenig rentabel machte. Erst mit der Einführung pyrethrinreicherer Sorten verbreitete sich die neue Exportfrucht sehr schnell. Der Verbreitungsprozeß wurde um 1958 durch vorübergehende, staatlich verordnete Preisreduzierungen nur kurzfristig gebremst und hatte 1970 fast 80 % aller Bauernbetriebe des Untersuchungsgebietes erreicht.

1 5 6 3 . Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

Die Verbreitung des Teeanbaus bei Kleinbauern in Kenia wurde weitestgehend von einer Institution, der Kenya Tea Development Authority, gelenkt und kontrolliert. Da das gepflückte Blattmaterial binnen weniger Stunden in Teefabriken behandelt werden muß, konnte sich der Teeanbau nur parallel zu einer entsprechend hoch entwickelten Vermarktungs- und Transportinfrastruktur verbreiten. Die Hybrid-Mais-Adoption begann um 1960. 1965 startete das Landwirtschaftsministerium großangelegte „Mais-Kampagnen", kombiniert mit einer damals außerordentlich stark dezentralisierten Inputbereitstellung (Saatgutund Komplementärinputbereitstellung in jedem Marktflecken durch lizenzierte Händler) und garantierten Gewinnspannen fur den privaten Inputhandel. Zusätzlich begünstigt hat der Subsistenzbedarf die Übernahme des Hochertragsmaises, denn durch den Exportfrüchteanbau hatten sich die Flächen für Subsistenzfrüchte ständig reduziert. In der Erhebungsregion hatte dies zu einer hohen Nachfrage nach Mais und damit zu besonders günstigen Preisen für die Produzenten auf den Lokalmärkten geführt. In nur 4 Jahren stieg die Adoptionsrate von unter 10 % auf fast 80 %. Der Passionsfrüchteanbau hat nach Garst aufgrund unsicherer Märkte etwa 10 Jahre lang stagniert und durch verbesserte Marktbedingungen danach etwas Auftrieb erhalten. Die Verbreitung verbesserter Rinderrassen schließlich nimmt einen langsamen, wenngleich stetigen Verlauf (in 9 Jahren wurden etwa 11 % der Betriebe erreicht). Dies liegt entscheidend an den hohen Anschaffungskosten und den hohen Risiken unzureichender Gesundheitskontrollmaßnahmen sowie an Problemen der Müch- und Fleischvermarktung. Garst hat neben dem populationsbezogenen Diffusionsverlauf auch den räumlichen Verbreitungsverlauf dieser 6 Innovationen untersucht. Er kann dabei eine starke räumliche Bindung der Innovationsverbreitung nachweisen. Drei Innovationen, Kaffee, Pyrethrum und Passionsfrüchte, sollen als Beispiele ausgewählt werden. Kaffee verbreitete sich von West nach Ost mit zunehmender Adoptionsintensität in den innovationsspezifisch infrastrukturell konsolidierten Ausgangsregionen. Bei Pyrethrum und Passionsfrüchten verlief die Verbreitung umgekehrt, nämlich von Ost nach West, entsprechend der hier anderen innovationsspezifischen Infrastrukturentwicklung. Während für Passionsfrüchte keine ökologischen Standortpräferenzen in der Untersuchungsregion bestehen, wurde Pyrethrum zunächst in den höheren, östlichen Gebieten und Kaffee in den etwas niedrigeren, westlichen Gebieten aufgrund ökologischer Überlegungen eingeführt. Für die enge räumliche Bindung des Verbreitungsprozesses macht Garst vor allem die innovationsspezifische Infrastruktur, die sukzessive Markterschließung einer Region, die oft bestimmten Wegenetzen folgt, und die Einrichtung anderer infrastruktureller Bedürfnisse, wie ζ. B. dezentralisierte Kaffeeaufbereitungsanlagen, verantwortlich.

3.3 Instrumente kleinbäuerlicher Innovationsförderung Schaubilder Der räumliche Diffusionsverlauf von Kaffee, Pyrethrum und Pàssion sfriich te η im Hochland des Kisii-Distriktes (Kenia) COFFEE

NO ADOPTION KISII Ol % to 16 0 * 16 I * to 50 Ο * I :. ·"" 501* to 840* rHü 84 1 * to 99.0 % jjjjjjjjj 991 * to 100 *

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3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

Passionsfrüchte

Quelle: Garst (1974, Kaffee S. 302, Pyrethrum S. 306, Abbildungen in Originalgröße).

S. 304, Passionsfrüchte

Die Untersuchungsergebnisse von Garst unterstützen die Hypothese von der besonderen Bedeutung der innovationsspezifischen Rahmenerfordernisse als zentrale Faktoren des Innovationsverbreitungsprozesses. Die Folgerungen aus den Untersuchungsergebnissen von Garst fur Ansatzpunkte einer kleinbauerrnorientierten Innovationsförderung liegen im Nachweis der außerordentlichen Bedeutung infrastruktureller Rahmenbedingungen für den Verbreitungsprozeß: Innovationsförderung für Kleinbauern bedarf simultan der jeweils innovationsspezifischen Infrastrukturförderung, die auf die spezifischen kleinbäuerlichen Bedingungen ausgerichtet ist.

3.3.2. Interventionen des „natürlichen" Verbreitungsablaufs als Föderungsansatz Es wurden bislang vermutlich zahlreiche Einzelversuche in der Projektpraxis durchgeführt, den „natürlichen" Verbreitungsablauf zu intervenieren mit dem Ziel, die Masse der Kleinbauern effektiver in den Innovationsverbreitungsprozeß einzubeziehen oder ganz bestimmte Spät- oder Nichtadopterpopulationen mit Innovationen zu erreichen, die im Prozeß der „natürlichen" Verbreitung nicht oder unzureichend erfaßt wurden. Die Zahl solcher Versuche,

3.3 Instrumente kleinbäuerlicher Innovationsförderung

159

die genauer ausgewertet werden könnten, ist jedoch niedrig, da nur wenige, systematische Untersuchungen und Auswertungen veröffentlicht sind. Das vorliegende Material genügt jedoch, um bedeutsame Hypothesen und Einsichten zu den 3 hier interessierenden instrumentellen Manipulationsbereichen entwickeln bzw. gewinnen zu können.

3.3.2.1. Instrument: Manipulation der Innovations-Charakteristiken und ihre Anpassung an Zielgruppen Die besonders erfolgreiche Verbreitung der Innovationen Pyrethrum und Hybrid Mais, aber auch des Kaffees (bis 1964) und des Tees, der nach dem Erhebungszeitraum (1971) in Kenia insgesamt noch eine erhebliche Diffusionsbeschleunigung gerade bei Kleinbauern erfahren hat (vgl. Hey er et al., 1976, S. 82), liegt jedoch ganz wesentlich an einem Faktor, der von Garst nicht angesprochen wurde. Kenia hatte während der Kolonialzeit eine in hohem Maße dualistische Agrarwirtschaft entwickelt. Einerseits wurden Großplantagen durch europäische Siedler und Firmen betrieben, andererseits wirtschaftete die afrikanische Bauernbevölkerung (regional vom Großfarmensubsektor abgetrennt) in gesonderten Gebieten zunächst vornehmlich subsistenzorientiert und unter kommunaler Landverfassung. Die in den 50er Jahren einsetzende Aufteilung und Individualisierung des Landes in den Kleinbauernregionen führte zu einer besonders homogenen Größenstruktur von Kleinbauernbetrieben. Der agrarwirtschaftliche Dualismus ist deshalb auch räumlich gegliedert in die Großfarmenregionen und die Kleinbauerngebiete und deshalb besonders augenfällig. Das fiir die meisten Entwicklungsländer typische gleichzeitige Vorhandensein eines Kontinuums von den größten zu den kleinsten Betrieben innerhalb derselben Region ist für weite Teile Kenias atypisch. Jede Entwicklungsplanung für den gesamten Agrarsektor war deshalb zu einer Differenzierung der Entwicklungsaktivitäten für den Plantagensektor einerseits und den Kleinbauernsektor andererseits gezwungen. Kaffee-, Pyrethrum und Teeanbau waren zunächst typische Aktivitäten der kenianischen Großplantagenwirtschaft. Sie galten lange Zeit als ungeeignet für Kleinbauernbetriebe. An die bestehende, auf Plantagen ausgerichtete Infrastruktur konnten Kleinbauernbetriebe kaum angeschlossen werden. Z. B. waren das Transportsystem, die Lagerhaltung, die Inputlieferungen auf Mindestmengen eingerichtet, die von einzelnen Kleinbauern nicht erreicht werden konnten. Die Produktionstechnologie war auf große Flächen und relativ kapitalintensiv ausgelegt. Als 1935 in der von Garst untersuchten Kleinbauernregion zwei Versuche des Kaffeeanbaus bei Afrikanern gestartet worden waren, schlugen diese fehl.

160

3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

Garst gibt als Grund des Fehlschlags die Zusammenlegung von Feldern verschiedener Bauern zu einer „ökonomischen" Mindestgröße entsprechenden Fläche an, was zu Managementschwierigkeiten und schließlich zur Aufgabe des Versuches führte. Eine für den späteren Innovationserfolg bei Kleinbauern mit entscheidende Leistung des „Swynnerton-Plans" (von 1954) bestand in der Erkenntnis, daß für die Kleinbauernentwicklung eine kleinbauernorientierte, physische und institutionelle neue Infrastruktur sowie eine eigene, kleinbauernbezogene Anbautechnologie notwendig war, die der kleinbetrieblichen Ausstattung mit Arbeitskraft und Kapital Rechnung trug. Die Grundbestandteile dieses neuen Entwicklungsansatzes bezogen sich auf folgende Bereiche: Landreform (Individualisierung des kommunalen Landes und Flurbereinigung), Kleinbauernberatung, Kredite, Einrichtung kooperativer Vermarktung und zentraler Vermarktungsboards sowie die Umorientierung der Agrarforschung auf den Anbau von Exportkulturen unter Kleinbauernbedingungen. Obwohl sich die entwicklungspolitische Umorientierung nur auf die sogenannten „high potential" Kleinbauernregionen bezog, in der nur ein Teil der kenianischen Kleinbauernbevölkerung lebt, hatte sie erstaunliche, gesamtwirtschaftlich ins Gewicht fallende Erfolge. 1954 vermarkteten Kleinbauern in Kenia weniger als ein Viertel des Volumens der Großfarmer. 1974 bereits überstieg der Kleinbauern- den Großfarmeranteil der vermarkteten Agrarproduktion, obwohl der Großfarmensektor während dieser Zeit ebenfalls hohe Erlössteigerungen erzielt hatte. Tabelle 16: Die Entwicklung des Bruttowertes des vermarkteten Outputs im Großfarmen- und Kleinbauernsubsektor Kenias zwischen 1954 und 1974 (in Mio. K. Pfunden) Großfarmen 1954 1964 1974

27,3 35,8 72,0

Kleinbauern

6,0

24,6 76,6

Quelle: Senga, in: Hey er et al. (1976), S. 89. Kenias wichtigste Exportfrüchte werden heute vornehmlich von Kleinbauern produziert. In der Pyrethrumproduktion konnten die Großfarmen sehr bald nicht mehr mit den Kleinbauern konkurrieren, und in nur 8 Jahren hat die Kleinbauernproduktion von Pyrethrum die Produktion im Großfarmersektor praktisch von einer Monopolstellung zur Bedeutungslosigkeit reduziert.

161

3.3 Instrumente kleinbäuerlicher Innovationsförderung

Tabelle 17: Die Entwicklung der Pyrethrumproduktion im Großfarmenund Kleinbauernsubsektor Kenias zwischen 1959 und 1967 (in 1.000 Tonnen vermarkteter Mengen) Großfarmen 1959 1967

4,2 1,5

Kleinbauern 0,6 9,6

Quelle: Senga, in: Heyer et al. (1976), S. 90. Auch in der Kaffeeproduktion hat der Kleinbauern- den Plantagensubsektor überholt.

Tabelle 18: Die Entwicklung der Kaffeeproduktion im Plantagen- und Kleinbauernsubsektor Kenias zwischen 1964 und 1974 (in 1.000 Tonnen vermarkteter Mengen) Plantagen 1964 1974

24,8 30,8

Kleinbauern 16,6 39,3

Quelle: Senga, in: Heyer et al. (1976), S. 81.

Weit über Kenia hinaus ist die Entwicklung der Teeproduktion durch Kleinbauern bekannt geworden und wird mitunter als Modellfall kleinbäuerlicher Entwicklungsansätze betrachtet (vgl. z. B. Schaefer-Kehnert, 1975). Für die als sehr schwierig erachtete Anpassung der Tee-Anbautechnologie, der Forschung, der Beratung und Vermarktung, des Transportes und der Transportwege, des Kredits und der industriellen Verarbeitung an die Kleinbauernbedingungen wurde in Kenia eine eigene Institution - die bereits erwähnte „Kenya Tea Development Authority" geschaffen und mit weiten Kompetenzen zur Gestaltung von Rahmenbedingungen für die Erhöhung der Teeproduktion ausgestattet. In Anbetracht der Komplexität des Teeanbaus einerseits und seiner hohen Einkommens- und Beschäftigungswirkungen andererseits wird sein Diffusionsprozeß unter Kleinbauern als eines der erfolgreichsten Einzelunterfangen kenianischer Kleinbauernentwicklung beurteilt (z. B. Heyer J. and Wawern, J.K., in: Heyer et al., 1976, S. 193 f.).

162

3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

Tabelle 19: Die Entwicklung der Teeproduktion im Großfarmen· und Kleinbauernsubsektor Kenias zwischen 19S9 und 1976 (in 1.000 Tonnen vermarkteter Mengen) Großfarmen 1959 1967 1971 1976 geschätzt: fast gleiche Anteile

12,3 19,7 28,5

Kleinbauern 0,1 2,8 7,8

Quelle: 1959, 1967, 1971 Senga, in: Heyer et al. (1976), S. 90, 93; 1976 Heyer et al. (1976), S. 9. Daß im Fall der Kleinbauern in den kenianischen Hochländern der Innovationsprozeß nach den Maßnahmen des „Swynnerton-Plans" von 1954 breit verlaufen ist und sehr viele Kleinbauern relativ schnell an den so induzierten Einkommensverbesserungen partizipierten, lag am Zwang für Staat und private Firmen, von vornherein die Innovationen auf Kleinbauernbedingungen auszurichten - z. B. für Kaffee, Tee und Pyrethrum eine Produktionstechnologie zu entwickeln, die fast ohne Geräteeinsatz, vor allem auf Handarbeit basierend, auf Flächen von einem halben, einem viertel und einem achtel Hektar höhere Erlöse für die Adopter ermöglichte als bei bisheriger Bewirtschaftung. Vermarktung und Inputverteilung hatten den kleinen Mengeneinheiten der individuellen Betriebe Rechnung zu tragen, den kleinbauerntypischen Transportund Lagerschwierigkeiten zu begegnen, und die koordinierenden Institutionen hatten die kleinbauernspezifischen Kommunikations- und Managementprobleme zu lösen. Es bestand für die die Neuerungsverbreitung fördernden Institutionen in diesen kenianischen Hochlandregionen nicht die Alternative, den zunächst kostengünstigeren und organisatorisch viel einfacher erscheinenden Ansatz herkömmlicher Politik der Innovationsverbreitung einzuschlagen. Nach dieser werden Förderungsaktivitäten zur Neuerungsübernahme gewöhnlich mit bereits neuerungsoffenen, großen, marktintegrierten Betrieben begonnen. Diese Betriebe können oft z. B. ihre Inputs aus zentralen Institutionen der Inputbereitstellung beschaffen und die Vermarktung ihrer Produkte durch eigene Transportmittel (Traktor, Lastwagen) oder durch Auftrag an ein Transportunternehmen bewerkstelligen. Sie besitzen häufig Zwischenlagerungsmöglichkeiten und bereits etablierten Zugang zu den Finanzierungsinstitutionen, nutzen die Informationswege von Post und Telefon oder setzen angestellte Boten ein. Sie können die international vorhandene und transferbereite Produktionstechnologie mehr oder weniger komplikationslos übernehmen und adaptieren.

3.3 Instrumente kleinbäuerlicher Innovationsförderung

163

Für einige wenige Länder, in denen die Verbindung von Wirtschaftswachstum und Armutsreduzierung für bestimmte Perioden als erfolgreich nachgewiesen werden kann, läßt sich ebenfalls eine kleinbauernorientierte Innovationsverbreitungspolitik feststellen. Johnston (in: Meier, 1976; ders., in: Hunter, 1976), Johnston and Kilby (1975), Ranis (in: Chenery et al., 1976) sahen in Japan und Taiwan Paradebeispiele einer konsequent kleinbauernangepaßten Politik der Technologieverbreitung. Nach den Untersuchungen von Lai Jayawardena (1976) gilt dies auch für Sri Lanka während der Zeit von 1963 bis 1970 und teilweise nach Adelman (1976) auch für Südkorea. Schließlich beruhen die Verbreitungserfolge der Innovationen der „Grünen Revolution" auf betriebsgrößenneutralen Neuerungen (Saatgut, Düngemittel) und die Mißerfolge zumindest mit darauf, daß Innovationen an betriebsgrößenabhängige Rahmenbedingungen, wie z. B. kapitalintensive Bearbeitungstechniken (Pumpenbewässerung, Traktormechanisierung), gekoppelt wurden (vgl. z. B. Anthony et al., 1979; von Blankenburg, 1974; Griffin, 1976; Johnston md Clark, 1979). Der empirische Beleg dafür, daß die persönliche Bereitschaft zur Annahme einer Neuerung durch die Art der Gestaltung der Neuerung und/oder ihrer Rahmenbedingungen beeinflußbar ist, läßt die Klassifizierung von Personen im Hinblick auf ihre Annahmebereitschaft schon vor der Existenz der Neuerung als fragwürdig erscheinen. Wenn die gruppenspezifische Annahmebereitschaft von der Gestaltung einer Neuerung abhängt, determiniert auch die Neuerung selbst, welche Personengruppen zum potentiell frühen Adopterkreis gehören. Hier wird die Neuerungsbereitschaft zu einer abhängigen Variablen der Innovationsgestaltung. Die Erkenntnis, daß die Art der Innovation selbst mit festlegt, wer zum geeigneten und für eine frühe Übernahme begünstigten Personenkreis gehört, und daß die Innovationscharakteristika manipulativ den spezifischen Adoptionsbedingungen jedes in Frage kommenden Personenkreises gezielt angepaßt und damit die Übernahmebereitschaft beeinflußt und gesteuert werden kann, ist entwicklungspolitisch von außerordentlicher Bedeutung. Diese Erkenntnis bildet mit eine theoretische Begründung für den „Zielgruppenansatz" entwicklungspolitischer Maßnahmekonzipierung.

3.3.2.2. Instrument: Schaffung neuer Meinungsführerschaft Zwei kleinere Experimente, die in Kenia im Rahmen des „Special Rural Development Programme" der Regierung, betreut durch das Institute for Development Studies der Universität Nairobi, durchgeführt wurden, gingen der Frage nach, ob innovationsrelevante Meinungsführerschaft auch bei bisher de facto späteren Übernehmern kreiert, und dann über die interventionistisch

164

3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

geschaffene Meinungsführerschaft ein autonomer Verbreitungsprozeß induziert werden kann. Beide Experimente wurden in Kleinbauernregionen durchgeführt, deren Bauernbevölkerung jeweils in frühe und spätere Adoptergruppen strukturiert war 7 . Das „Tetu-Experiment" 8 Das in der Tetu-Region des Nyeri-Distriktes (Kenia) durchgeführte Experiment arbeitete mit der Innovation Hybrid-Mais. Diese Innovation war in der Region bereits seit längerer Zeit eingeführt und bekannt, jedoch von einem Großteil der Kleinbauern noch nicht übernommen. Als wichtigste Faktoren der Nicht-Übernahme wurden vom Untersuchungsteam angesehen: 1. unzureichende Kenntnisse über die Kosten und Mengen der Inputs, die Input-Output-Relation, die Bezugsquellen für die Inputs und die Anbautechnologie; 2. Schwierigkeiten bei der Inputbeschaffung (besonders bezüglich der Wege und des Transports) und 3. Bargeldknappheit für die Finanzierung der Inputs. Darauf basierte die zentrale Hypothese: Wenn den „Spät-Übernehmern" 9 die Kenntnisse vermittelt und die Rahmenbedingungen für Input - und Bargeldbeschaffung erfällt sind, dann a) adoptieren die de-facto-Spät-Übernehmer und b) werden die „Spät-Übernehmer" aufgrund ihrer technischen Innovationskompetenz zu Meinungsfährern. Das Interventionspaket bestand in einem Wochenkurs mit einem genau auf die Kenntnislage und die Wissensbedürfnisse der „Spät-Übernehmer" abgestimmten Curriculum (vgl. Ascroft et al., 1973, S. 97-103), einer dezentralisierten Inputpackage-Bereitstellung und einer Kreditierung der Inputs. Das Experiment wurde dreimal über drei Anbauperioden mit insgesamt 798 Bauern durchgeführt. Detaillierte Untersuchungsergebnisse (besonders der 2. Anbausaison) wurden in den angeführten Quellen veröffentlicht. Die „Spät-Übernehmer" wurden nach folgenden Rekrutierungsverfahren ausgewählt: Berater des Landwirtschaftsministeriums und die lokalen Administratoren (Chiefs, Subchiefs) hatten nach genauen Vorgaben (Fehlen einer 7 Vgl. Röling, Ascroft, Chege (1976), S. 161 und Heyer and Wawern, in: Heyerex al. (1976), S. 195-217. 8 Das Tetu-Projekt wurde in einer Reihe von Veröffentlichungen detailliert beschrieben; vgl. dazu z. B.: Ascroft, Röling, Karijuki, Chege (1973); Röling, Chege, Ascroft (1973); Mbugua, Schönherr, Wyeth (1975); Morss et al. (1976), S. D 11 - D \9\ Röling, Ascroft, Chege (1976). 9 Das Experiment war darauf ausgelegt, solche Adoptertypen auszuwählen, die nicht nur Hybrid-Mais nicht adoptiert hatten, sondern generell wenig neuerungsoffen waren (vgl. Ascroft et al., 1973, S. 63-68; Röling et al., 1976, S. 166 f.).

165

3.3 Instrumente kleinbäuerlicher Innovationsförderung

Anzahl bestimmter Innovationen in den Betrieben der Bauern) Spät-Übernehmer auszuwählen und für die Teilnahme am Projekt zu nominieren, wobei die Teilnahme selbstverständlich auf Freiwilligkeit beruhte. Die tatsächliche Auswahl hatte hinsichtlich ihres de-facto-Adoptionsstatus im Vergleich zur Situation in der Region folgende Struktur: Tabelle 20: Die Adopterstruktur der Auswahl (2. Anbaufolge) im Vergleich zur Grundgesamtheit in der Region des „Tetu-Experiments" Projektauswahl (η = 308) (i.v.H.) Kategorie 1. 2. 3. 4.

Most progressive Upper middle Lower middle Least progressive Totals

Random Sample aus der Grundgesamtheit der Region (η = 253) (in ν. Η.)

5 15 38 42

26 25 25 24

100

100

Quelle: Nach Äo/i/i* et al. (1976), S. 167. Die Interventionsmaßnahmen hatten folgende Ergebnisse: a) Fast alle 798 Teilnehmer (aller drei Experimente; genau 97 % der 2. Anbausaison) adoptierten die Innovation — ein Erfolg, der in der bisherigen Verbreitungspolitik in dieser Region keine Parallele fand. b) Die Follow-up-Untersuchung eines Samples von 60 Teilnehmern zeigte, daß durchschnittlich 2 bis 3 andere Personen (meist Nachbarn oder Verwandte) noch während derselben Saison sich die Innovation von den Teilnehmern des Experimentes erklären ließen und diese Innovationen auch übernahmen ^ ohne in den Genuß der Vorteile der besonderen Packagebereitstellung und Inputkreditierung zu kommen 1 0 . Die Teilnehmer am Experiment galten aufgrund der Interventionsmaßnahmen als technisch besonders kompetent. 10

Der Verfasser hatte Gelegenheit, einen Teil der Untersuchung zu begleiten. Die Untersuchungspersonen wurden gefragt, ob bei ihnen jemand Rat bezüglich des Hybrid-Mais-Anbaus gesucht habe. Wurde dies bejaht, wurde der Name und der Betrieb sowie der Beratungsinhalt festgehalten und nach dem Anlaß der Ratsuche gefragt. Ein Teil der benannten Nachbarn wurde dann

166

3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

Das Kisii-Experiment 11 Das in den Lowlands des Kisii-Distriktes (Kenia), mit einem kleinen Ableger im South Nyanza-Distrikt, durchgeführte, sehr kleine Experiment arbeitete mit der Innovation Sojabohne. Diese Innovation wurde bis dahin in Kenia noch nirgendwo (soweit bekannt) kommerziell oder für Subsistenzzwecke von Bauern angebaut. Die Rahmenbedingungen für die Innovation mußten - freilich für die Zwekke des Experimentes begrenzt - von der Entwicklung einer kleinbauernangepaßten Anbautechnologie (vgl. ζ. B. Schönherr und Mbugua, 1976 c) bis zur Vermarktung so weit erfüllt werden, daß sie den Kleinbauernbedürfnissen entsprachen. Die Interventionskonzipierung ging zunächst von der Erfahrung des Tetu-Experimentes aus. Im Tetu-Experiment hatten sich in der Praxis Schwächen des Rekrutierungsverfahrens gezeigt: a) Einmal hatte sich die Identifikation von „Spät-Übernehmern" als schwierig erwiesen; b) Die Diskriminierung in frühe und späte Übernehmer für die Teilnahme an staatlich getragenen Projekten wurde als politisch problematisch angesehen; c) Schließlich war die relativ niedrige Reichweite zur Schaffung von Meinungsführerschaft, welche durch die Beteiligung von individuellen Bauern (und nicht Gruppeneinheiten) am Projekt bedingt war, unbefriedigend. Für das Kisii-Experiment wurde deshalb ein Interventionsverfahren entwickelt, das diesen drei Problemen Rechnung trug. Darüber hinaus wurde eine zusätzliche instrumenteile Variable zur Stärkung der Meinungsführerschaft eingesetzt: kommunale Entscheidungen zur Anerkennung der Meinungsführerschaft. Das Interventionspaket hatte also folgende neue Komponenten: 1. Rekrutierung von Gruppen (keine einzelnen Bauern; Betreuung der Gruppenmitglieder über Gruppenführung); dadurch konnte die Reichweite um ein Vielfaches vergrößert werden; 2. Gruppenkonstituierung auf dem Nachbarschaftsprinzip; dadurch war geebenfalls aufgesucht, die Angaben überprüft und teilweise das benannte Feld besichtigt. Diese gründliche Gegenprüfung ließ sich zwar nicht für alle Befragten anwenden. Sie gab dennoch wichtige Hinweise für die gute Validität der Befragungsergebnisse. Im übrigen gaben die zuständigen Distriktbehörden zwei Jahre später im Zuge der allgemeinen SRDP-Evaluierungen (vgl. Institute for Development Studies, 1975) eine fast 100%ige Adoptionsrate für die Region an mit dem Hinweis auf die außerordentlich starke Verbreitungswirkung dieser Experimente. 11

Zur detaillierten Beschreibung des Experimentes vgl. Schönherr, Mbugua (1974); Mbugua, Schönherr, Wyeth (1975); Schönherr (1975 b); Schönherr, Mbugua (1976 b), (1976 c); Schönherr (1978).

3.3 Instrumente kleinbäuerlicher Innovationsförderung

167

währleistet, daß ein repräsentativer Adopterquerschnitt - in der Mehrzahl Angehörige durchschnittlicher Adopterkategorien (was ein sehr einfaches, praktikables und politisch unproblematisches Auswahlverfahren darstellt) rekrutiert wurde; 3. Die Gruppen waren im Rahmen von Dorfversammlungen von der Bevölkerung selbst zu bestimmen (was die kollektive Anerkennung der Meinungsflxherschaft konstituieren sollte). Die Ergebnisse waren, ähnlich dem Tetu-Experiment, auffallend interessant: Eine praktisch 100%ige Adoption (wenige, krankheitsbedingte personelle Ausfälle wurden in Eigenverwaltung der Gruppe durch Ersatzpersonen kompensiert) durch die 94 Teilnehmer (72 in Kisii, 22 in South Nyanza) 12 und einen Diffusionseffekt von 1.900 Antragstellern (schriftlich und verbindlich) für Saatgut in der 2. Anbausaison 13 . Beide Experimente zeigen, daß die verbreitungsrelevante Meinungsführerschaft für Innovationen als Variable instrumenteil beeinflußbar ist. Innovationsverbreitungsprozesse müssen also nicht über die sozial vorgegebenen Meinungsfuhrungsstrukturen ablaufen. Meinungsfuhrung kann zur Steuerung des Diffusionsprozesses auf Zielgruppen hin kreiert werden.

3.3.2.3. Instrument: Veränderung der Kommunikationsrichtung Innovationsgestaltung zur Lösung von Problemen

bei der

In der Projektliteratur finden sich einige recht bekannte Projekte, in denen zur Auswahl und Gestaltung von Innovationen auch Kommunikationsprozesse 12

Die relativ niedrige Anzahl der Teilnehmer während der ersten Anbausaison war durch die geringen, in Kenia verfügbaren Saatgut mengen bestimmt. Dasselbe Problem ergab sich für die zweite Anbausaison, so daß die weitere Antragsannahme von den Behörden eingestellt wurde. Der Adoptionserfolg des Experimentes veranlaßte das Agrarministerium, die Sojabohne als neue Anbaufrucht in Kenia zu fördern. In Kisii ließ sich ein Kleinunternehmen zur Weiterverarbeitung der Sojabohne nieder. Zunehmende infrastrukturelle Probleme - insbesondere der Saatgutbereitstellung, der rechtzeitigen Vermarktung und Bezahlung - störten jedoch im Anschluß an die Experimente den Verbreitungsprozeß ganz erheblich. Im Nachbardistrikt (South Nyanza) wurde in der SRDP-Region, mitangeregt durch die Gruppenexperimente, ein groß angelegter neuer Beratungsansatz einer weiterführenden Gruppenrekrutierungsmethode für alle Innovationen mit großem Erfolg eingeführt (vgl. Mbugua, Schönherr, Wyeth, 1975). 13

Im Kisii-Distrikt wurde die Antragsannahme nach etwa 700 Antragstellungen ausgesetzt. In South Nyganza - dort war den Behörden die Saatgutknappheit nicht bekannt — wurden 1.200 Antragsteller registriert.

168

3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

von der potentiellen Adopterbevölkerung in Richtung auf technische und entwicklungspolitische Instanzen zum Zweck der Konzipierung von Innovationen eingeleitet wurden. Allerdings ließen sich in den zugänglichen Projektbeschreibungen nur wenig detaillierte und explizite Ausführungen zur Kommunikationsrichtung als einem instrumenteilen Ansatz der Beschleunigung der Verbreitung von Neuerungen ausfindig machen (vgl. auch Abschnitt 4.1.2.). Mehr implizit ist dieser Aspekt in Beratungsansätzen enthalten, die begrifflich ζ. B. als „problem solving extension" (Waterston , 1976), als „local action" (Morss et al., 1976), als „partizipatorisch" (ζ. B. UmaLele, 1975) geführt werden. Mit den sehr bekannt gewordenen, auch in der Literatur als außerordentlich erfolgreich bewerteten Projekten der Comilla Academy im damaligen Ostpakistan 1 4 wurden eine ganze Reihe alternativer Methoden gegenüber herkömmlichen ländlichen Entwicklungsansätzen entwickelt und getestet, wobei der hier interessierende Kommunikationsaspekt eine bedeutende Rolle gespielt hat. Generell ging man bei den Experimenten davon aus, daß Innovationen technischer wie institutioneller Art von den potentiell Betroffenen mitgestaltet werden müssen. Innovationen, so die Projektkonzeption, müssen dazu beitragen, konkrete Probleme, die immer auch einen regional- und sozialspezifischen Bezug haben, einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu lösen. Der erste Schritt für die Innovationsgestaltung war bei diesen Experimenten deshalb die Problemfeststellung. Probleme wurden einerseits durch systematische Untersuchungen, andererseits durch Diskussionsveranstaltungen mit Führern, Bauerngruppen und Bauernkomitees festgestellt und den Entscheidungs-, Koordinations- und Planungsinstanzen vermittelt, die dann ihrerseits - entsprechend ihrer Kompetenz - problemlösende Innovationen suchten, entwickelten und dann - wiederum unter wechselseitiger Kommunikation - den potentiellen Übernehmern anboten. Dieser Ansatz war, so berichtet Waterston (S. XIII-XV), bemerkenswert erfolgreich. Er führte zu signifikant hohen Reiserträgen, zu von Bauern selbst initiierten Markt- und Kreditorganisationen und dazu, daß über 100.000 Bauern Abendschulkurse besuchten und schließlich zu zahlreichen Projekten ländlicher Arbeitsprogramme (Rural Public Works Programme). Die als erfolgreich angesehenen Versuchskomponenten wurden zur staatlich offiziellen Förderungspolitik erhoben und landesweit eingeführt. Die mit der Lösung Ostpakistans aus dem pakistanischen Staat verbundenen Unruhen unterbrachen diesen Prozeß. Morss et al. (1976) haben 36 kleinbauernorientierte Entwicklungsprojekte in Afrika und Lateinamerika hinsichtlich ihrer Erfolgsfaktoren empirisch und 14 Zu den Comilla-Experimenten existiert eine Fülle von Literatur; vgl. ζ. B. Choldin (1969), (1972); Dequin (1975); Fairchild et al. (1962); Khan, Akhter H. (1974 a), (1974 b), (1977); Kirsch (1966); Kuhnen (1972); Raper et al. ( 1970); Stevens (1974).

3.4 Zusammenfassung

169

varianzanalytisch untersucht und festgestellt, daß der stärkste Erfolgsfaktor die „local action" (erklärt 49 % der Varianz des Gesamterfolgs) ist und daß dieser Faktor selbst zuerst von einem effektiven Zweiwege-Informationssystem zwischen Kleinbauern und Projektbeauftragten abhängt (Morss et al., 1976, S. 45,203). Unter Berücksichtigung weiterer erfolgreicher Projekte 15 , denen der „Problemlösungsansatz" zugrunde lag, kommt Waterston zu dem Ergebnis, daß der Kommunikationsprozeß, so unterschiedlich er auch im Einzelfall gestaltet war, drei gemeinsame Strukturmerkmale in der zeitlichen Abfolge hatte: 1. Kommunikation mit den lokalen Führern zum Erwerb ihrer generellen Kooperationsbereitschaft ; 2. ein Datenbeschaffungsprozeß, der von den Betroffenen als geeignet zur Problemidentifikation angesehen wurde, und 3. eine Diskussion mit den Betroffenen und den Führern über Problemlösungsprioritäten und deren Maßnahmeerfordernisse mit dem Ziel der Konsensfindung (Waterston, 1976, S. X I I I - 20-27). Die Erfolge der angeführten Projekte beruhen zwar nicht allein auf der Manipulation der Kommunikationsrichtung, sie zeigen jedoch, daß es empirisch belegte Alternativen zur herkömmlichen, auf einseitiger Kommunikationsrichtung ausgelegten Verbreitungsförderung von Innovationen gibt, die sich als wichtige Bedingungen erfolgreicher Neuerungsverbreitung erwiesen haben. Die Innovationsbestimmung durch Kommunikation mit den potentiellen Adoptern ist ein wichtiger Ansatz zur zielgruppenspezifischen Anpassung der Innovationen.

3.4. Zusammenfassung Die im zweiten Kapitel theoretisch abgeleitete Folgerung für die Entwicklungspolitik, nämlich im Rahmen einer agrarsektoralen, unimodalen Technologiestrategie den landwirtschaftlichen Kleinproduzenten die Priorität in der Entwicklungsförderung zu geben, stößt auf ein großes praxisrelevantes Problem. Es handelt sich um das Problem der Diffusion technologischer Innovationen bei Bevölkerungsgruppen, die als Zielgruppen der Verbreitungsförderung im „natürlichen" Diffusionsablauf nach der klassischen Innovationstheorie als die „Langsamen" oder „Zurückgebliebenen" kategorisiert werden. is „Akoliufu Püot Projekt" (Ostnigeria), vgl. Agwu (1976); „Leribe Pilot Agricultural Scheme" (Lesotho), vgl. Morss et al. (1976), S. E 12-E 24; Projekt der Shell Oil Company (Portugal, Venezuela, Nigeria, Italien und Thailand) vgl. Virone (1969),Morss et al. (1976), S. F 42-F 56; Marketing-KooperationsProjekt (Niger), vgl. Gentil (1974).

170

3. Problematik technologischer Innovierungsprozesse bei Kleinbauern

Die auf der Theorie der Schule um Rogers aufbauende Verbreitungsförderung ist ein wenig geeignetes Instrument, den Verbreitungsprozeß auf diese Zielgruppen zu steuern, denn dieser Ansatz hat in Entwicklungsgesellschaften eine inhärente Tendenz, soziale Neuerungsenklaven vom Rest potentieller Adopter abzutrennen. Die Ergebnisse und Folgerungen obiger Analysen zur Findung geeigneter Ansatzpunkte lassen sich thesenhaft wie folgt zusammenfassen: 1. Die Eigendynamik der „natürlichen" Prozesse der Innovationsverbreitung hat eine in Entwicklungsgesellschaften besonders stark ausgeprägte Tendenz, Verbreitungsprozesse in den oberen Statusgruppen der ländlichen Sozialhierarchie horizontal zu intensivieren und nach unten zu verengen (Faktor: „Homophily" und „Heterophily"). 2. Die herkömmliche Politik zur Verbreitungsförderung von Neuerungen im Agrarbereich basiert auf den „natürlichen" Verbreitungsprozessen. Ihre Eingriffe sind nicht auf die Intervention in die „natürlichen" Ablaufprozesse und die Eigendynamik von Neuerungsverbreitungen, sondern im Gegenteil, auf Verstärkung „natürlicher" Verbreitungsprozesse angelegt. Sie trägt so mit zur Bildung dualistischer Innovationsstrukturen bei. 3. Die dieser Verbreitungspolitik zugrunde liegende innovationstheoretische Sichtweise beruht auf einem Paradigma, das Faktoren von entscheidender Bedeutung für die Steuerung der Neuerungsverbreitung unberücksichtigt läßt. Sie stellt ein Beispiel eines weit verbreiteten und folgenschweren „falschen Paradigmas" der Entwicklungspolitik dar. 4. Entgegen dem herkömmlichen Ansatz haben sich folgende Faktoren als instrumentell einsetzbar und zur Steuerung des Verbreitungsablaufs von Innovationen sehr bedeutsam erwiesen: a) Zielgruppenspezifische Gestaltung der Innovation und der Rahmenbedingung: Die auf dem herkömmlichen Paradigma beruhende Förderungerungspolitik geht vom Bestehen einer Innovation (ex ante der Förderungsmaßnahme) aus, auf die sich potentielle Übernehmer ausrichten müssen, sofern sie dazu in der Lage sind. Der alternative Ansatz leitet die Innovationen selbst, deren Rahmenbedingungen und deren Charakteristiken von den spezifischen Bedingungen und Bedürfnissen bestimmter, entwicklungspolitisch definierter Zielgruppen ab. Insbesondere die technologische und infrastrukturelle Anpassung (ζ. B. an die typischen Bedingungen, unter denen Kleinbauern in einer Region wirtschaften) von Innovationen sind instrumentelle Ansatzpunkte der Verbreitungsförderung im Agrarbereich. b) Schaffung neuer Meinungsführerschaft: Das herkömmliche Paradigma geht von der bestehenden („natürlichen")

3.4 Zusammenfassung

171

Meinungsfìihrerschaft aus, über die Innovationen induziert werden sollen. Unter einem zielgruppenorientierten Ansatz kann neue Meinungsführerschaft — entsprechend den Bedürfnissen der Steuerungsziele für den Verbreitungsprozeß - geschaffen und als Instrument der Neuerungsverbreitungspolitik genutzt werden. c) Einrichtung von wechselseitig initiierter Kommunikation zur Problemlösung beim Innovierungsprozeß: Das herkömmliche Konzept sieht die Kommunikationsstruktur zwischen Förderungsinstitutionen und Adressaten einseitig als von der Institution auf den Adressaten (unter Einschaltung des „Change-Agent"/Berater) gerichtet. Die Adressaten sollen von außen mit vorgefertigten Innovationen in Kontakt gebracht werden, um diese dann zu übernehmen. Der zielgruppenorientierte Ansatz wählt und konzipiert Innovationen auf der Grundlage einer zweiseitigen Kommunikationsstruktur zwischen Förderungsinstitutionen und Zielgruppen, um über die Zweiseitigkeit des Kommunikationsprozesses bessere Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Innovationen in adäquater Weise den Problemlösungsbedürfnissen der Zielgruppen entgegenkommen. Innovationsinteressen der Zielgruppen werden so als Stimulans für den Innovierungsprozeß genutzt. Empirisch und innovationstheoretisch lassen sich also Ansatzpunkte einer Innovationsförderungspolitik für Kleinbauern nachweisen, über die auf geeignetere Weise Diffusionsprozesse gesteuert und beschleunigt werden können als dies bei herkömmlichen Konzepten möglich ist.

4. Zielgruppenspezifische Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung landwirtschaftlicher Kleinproduzenten (ausgewählte Förderungsbereiche der Projektebene) In der makrotheoretischen Analyse konnten Ansatzpunkte zur verteilungsorientierten Wachstumsförderung gezeigt werden. Von entscheidender Bedeutung war diesen Analysen zufolge die unimodale Technologiestrategie für die produzierende Mehrheitsbevölkerung im Agrarsektor, d. h. eine Entwicklungspolitik, die im Brennpunkt ihrer ökonomischen Maßnahmen die Förderung der Masse der landwirtschaftlichen Kleinproduzenten, insbesondere Kleinbauern, hat. Auf der mikrotheoretischen Ebene konnte das Problem der Erreichung und Mobilisierbarkeit für produktive Neuerungen von großen, bisher „zurückgebliebenen" Bevölkerungsgruppen (besonders Kleinbauern) einer Lösung nähergebracht werden. Das Argument, es sei zu schwierig oder zu teuer, breiten technologischen Fortschritt auch im kleinbäuerlichen Agrarbereich durchzusetzen, läßt sich empirisch falsifizieren und prinzipiell theoretisch entkräften. Es stellt sich jetzt als dritter Analyseschritt die Frage, wie denn Maßnahmen des entwicklungspolitischen Standardrepertoires auf Projektebene aussehen müssen, damit sie den unimodalen und zielgruppenspezifischen Kriterienanforderungen bzw. den makrotheoretischen Erfordernissen genügen und so dem Ziel der Verbindung von Wachstum und Armutsreduzierung entsprechen können. Die Maßnahmen müssen, um nochmals zusammenzufassen, folgenden Kriterien gerecht werden: 1. Sie müssen Wirtschaftswachstum induzieren — also im Sinne der KostenErtragsrechnung einen Beitrag zur Erhöhung des Volkseinkommens erbringen. 2. Sie müssen primär bei der Armutsbevölkerung durch direkte Beteiligung am volkswirtschaftlichen Wertschöpfungsprozeß eine breitgestreute Einkommenserhöhung bewirken. Um diese gewährleisten zu können, müssen die Maßnahmen vor allem dualistischen Wirtschafts- und Sozialstrukturen entgegenwirken und deshalb für den Agrarsektor, was die Technologieförderung betrifft, unimodal konzipiert werden. Unimodale Technologie muß folgende Eigenschaften besitzen:

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

— sie muß primär outputerhöhend und darf zunächst nicht arbeitssparend sein - sie muß auf den häufigsten Betriebstyp ausgelegt und davon ausgehend über eine möglichst große Streubreite betriebsgrößenneutral und teilbar sein — sie muß billig und einfach herstellbar, und - sie muß in der zeitlichen Dimension als sequentielle Niveauverschiebung (bezogen auf den Gesamtsektor) angelegt sein. 3. Die Methodik der Maßnahmengestaltung muß nicht nur bestimmten technologischen Kriterien genügen, sondern die Maßnahmen müssen durch die (neuen) Zielgruppen adoptierbar sein, was das Kriterium der Zielgruppenspezifik begründet. Um technologische Angebote durch die Masse der bisher weniger „progressiven" landwirtschaftlichen Kleinproduzenten übernahmefähig zu machen, ist neben einer zielgruppenbezogenen Gestaltung der Technologiepakete eine zusätzliche Abstützung erforderlich: Die administrativen und institutionellen Bedingungen, die Infrastruktur, die Vermarktung, Beratung und Ausbildung, das Kreditwesen und andere Dienste und Zugangsvoraussetzungen müssen entsprechend der zielgruppenspezifischen Bedingungen gestaltet werden. Für die zielgruppenspezifìsche Gestaltung von Maßnahmen, welche direkt oder indirekt auf die produktive Mobilisierung von Bevölkerungsgruppen abstellen, wurde ein zweistufiges Verfahren zur Untergliederung der Armutsbevölkerung in Zielgruppen entwickelt. Dieses erlaubt eine Gliederung in Zielgruppen nach den Kriterien „Ressourcenzugang" und „Grad oder Art der Hemmnisse", die einer Bevölkerungsgruppe die Nutzung der Ressourcen erschweren. Maßnahmen, die auf den Abbau der Nutzungshemmnisse für die Ressourcen der so gegliederten Bevölkerungsgruppen gerichtet sind, genügen dem Kriterium des Zielgruppenbezugs. 4. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, daß die Verbindung von Wachstum und Verteilung nicht nur durch die individuelle produktive Beteiligung am volkswirtschaftlichen Wertschöpfungsprozeß, sondern auch über die Konsumption besonders der öffentlichen Dienstleistungen stattfindet. Da das öffentliche Dienstleistungsvolumen vom Niveau des BSP abhängt und deshalb in Entwicklungsländern typischerweise klein ist, sind solche Dienstleistungen besonders geeignet, die zum einen möglichst viele Personen aufgrund niedriger pro-Kopf-Kosten erreichen und zum anderen beim erreichten Personenkreis die Selbsthüfefähigkeit besonders unter der Zielsetzung wirtschaftlicher Produktivitätserhöhung verbessern - sich also zugleich intensiv, zur Förderung des menschlichen Ressourcenpotentials, und damit wachstumsrelevant auswirken. Als wichtigste Dienstleistungen werden dabei zwei Maßnahmenbereiche anerkannt: einmal der inter dependente Bereich Gesundheit, Ernährung und Bevölkerungsentwicklung und weiter der Bereich der Bildung. Auch für diese konsumptiv/investiven Maßnahmen gilt

174

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

das Kriterium der Zielgruppenbezogenheit, wobei sich freilich die Zielgruppen hier erheblich von den Zielgruppen der technologischen Agrarsektorstrategie unterscheiden 1. Im vorliegenden Kapitel wird der Versuch unternommen, anhand empirischer Erfahrungen auf Projektebene sowie von theoretischen Überlegungen und Folgerungen her dem Projektplaner Ansatzpunkte zur Maßnahmengestaltung nach obigen Kriterien aufzuzeigen. Die Auswahl der Maßnahmenbereiche ist einmal durch die zugängliche Datenbasis begrenzt, zum anderen konzentriert sich die Auswahl auf solche Bereiche, die als wichtige Beispiele für die Projektarbeit dienen können. Schließlich kann entweder nur im Einzelfall von konkreten Zielgrupp*n oder nur allgemein von einigen typischen zielgruppenspezifischen Bedingungen bzw. Hemmnisfaktoren ausgegangen werden. Der Versuch, zu zielgruppenspezifischer Maßnahmenbildung zu gelangen, muß deshalb beispielhaft bleiben. Für die inhaltliche Bestimmung der Maßnahmen werden die Ausführungen dieses Kapitels nach folgenden Gesichtspunkten gegliedert: a) Aspekte unimodaler Technologiegestaltung und ihre Zielgruppenspezifik: Da mit der unimodalen Technologiegestaltung für die Verbindung von Wachstum und massenwirksamen Einkommenseffekten eine strukturwirksame Vorentscheidung großer Tragweite getroffen wird, soll von diesem Maßnahmengesichtspunkt ausgegangen werden. b) Zielgruppenspezifìsche Förderungsmaßnahmen zur Einführung und Nutzung unimodaler Technologieinnovationen: Hier stehen die institutionellen Agrardienste wie Beratung und Ausbüdung, Kredit- und Inputversorgung sowie Förderungsaspekte der Vermarktung zur Diskussion; c) Massenorientierte Förderung menschlicher Ressourcenentfaltung: Ausgewählt wird der Bereich „Gesundheit, Ernährung, Bevölkerung"; d) Folgerungen aus den zielgruppenspezifischen Maßnahmenansätzen für die Planung und Ablaufsteuerung von Projekten: In diesem letzten Abschnitt werden die Konsequenzen armutsorientierter, zielgruppenspezifischer Maßnahmengestaltung für die Projektorganisation behandelt.

1 Obwohl diese beiden Maßnahmenbereiche „Gesundheit, Ernährung, Bevölkerung" und „Bildung" nicht auf die Zielgruppen der agrarsektoralen Wirtschaftsmaßnahmen eingeschränkt werden können, haben sie Komplementärfunktionen für die produktive Mobilisierung der landwirtschaftlichen Kleinproduzenten und werden deshalb hier als integraler Teil der Kleinbauernförderung behandelt, wobei sich die Ausführungen auf den Bereich „Gesundheit, Ernährung, Bevölkerung" beschränken.

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

175

4.1. Aspekte unimodaler Technologiegestaltung und ihrer Zielgruppenspezifik Fragen der Gestaltung von Technologie im Agrarsektor beziehen sich auf verschiedenartige Projektbereiche. Hier soll auf folgende Aspekte eingegangen werden: auf die Forschung für und Entwicklung von Technologie, auf die Verwendung von Gerätetechnologie, von Technologie des Bodenmanagements und auf einige Aspekte der Verwendung von Saatgut-Düngemitteltechnologien. Zielgruppe ist die Masse der Landwirte - präzise, die um den häufigsten landwirtschaftlichen Betriebstypus streuenden Betriebe. De facto handelt es sich dabei um Kleinbauern und Kleinpächter (auch Viehhalter) mit unscharfen Abgrenzungen nach „oben" gegenüber Großbauern und auch nach „unten" hin gegenüber Kleinst- bzw. Nebenerwerbslandwirten. Da es sich bei der unimodalen Technologiestrategie vor allem um eine Politik zum Abbau dualistischer Strukturprozesse handelt, hat unter diesem makropolitischen Ansatz die Feingliederung von Zielgruppen kaum Bedeutung. Anders verhält sich dies auf der Ebene technologierelevanter Projektentscheidungen, wo die Planung als Teil der allgemeineren Strategie ihre Technologieförderung entsprechend der spezifischen Zielgruppenbedingungen sorgfältig abstimmen muß.

4.1.1. Einige technologierelevante, kleinbauernspezifische Problemfaktoren Auch das noch sehr umfassende Zielgruppenaggregat „Kleinbauern" weist einige zielgruppentypische Bedingungen auf, deren Berücksichtigung wichtige Kriterien zur Eignungsbestimmung technologierelevanter Förderungsmaßnahmen für die Projektebene darstellen. Sichtet man neuere kleinbauernrelevante Untersuchungen (FAO, 1975; I.A.C., 1976/7; Morss et al., 1976; Oxfam, 1976; Urna Lele y 1975; Waterston, 1976), läßt sich feststellen, daß übereinstimmend eine Anzahl von Faktoren genannt werden, die für Kleinbauern typisch sind und sie an der Übernahme existierender Technologieinnovationen hindern. Weü die Betriebsgröße fraglos das wichtigste Datum für das wirtschaftliche Handeln dieser Zielgruppe darstellt, wird sie im Kontext der Technologie nicht als Hemmfaktor, sondern (auch unter Einbeziehung kooperativer Zusammenschlüsse) als vorgegebene Konstante behandelt. Folgende Hemmfaktoren (i. S. der Methode zur Zielgruppengliederung) werden in der Literatur auf noch hoher Generalisierungsebene (Kleinbauern ohne weitere Differenzierung) als bedeutsam angesehen.

176

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

a) Der Vorrang der Ernährungssicherung Unter den entwicklungstypischen Umständen, so wird argumentiert, ist die Subsistenzsicherung Überlebenssicherung. Die Förderung der Marktorientierung — nur damit sind technologische Zusatzinvestitionen vom Nutzer finanzierbar — darf deshalb nicht mit einer Erhöhung des Subsistenzrisikos einhergehen. Es ist dann durchaus verständlich, wenn sich Kleinbauern solchen Förderungsmaßnahmen widersetzen. b) Die Schwere des Investitionsrisikos Neben der Subsistenzsicherung, so wird angeführt, verfolgen Kleinbauern unter den typischen Entwicklungsbedingungen in der Regel eine Strategie der Risikovermeidung. Dies liegt daran, daß schon relativ geringe Barinvestitionen den Kleinbauernbetrieb schwer treffen, wenn sie sich aufgrund des Eintritts eines Risikofalles als Fehlinvestitionen erweisen. Dekapitalisierung (z. B. Verkauf von Kleinvieh) und oft weniger Nahrung für die Familie sind Wirkungen auch kleiner, verlorener Barinvestitionen. c) Außenabhängigkeit als Risikofaktor Kleinbauern sehen in der Außenabhängigkeit meist einen großen Risikofaktor, den sie möglichst gering halten wollen. „Außenabhängigkeit" besteht dann, wenn die Betroffenen wahrnehmen, daß der Erfolg oder Mißerfolg eines bestimmten Handelns von Entscheidungen außerhalb ihrer Einwirkungs- und Informationssphäre abhängt. Ablehnung von Technologien, welche die Außenabhängigkeit in der Wahrnehmung potentieller Adopter erhöhen, ist deshalb kleinbauern typisch. d) Niedrige Kapitalausstattung Dieser Faktor ist technologierelevant, weil oft übersehen wird, daß auch bei verstärktem Zugang zu Krediten mittel- und längerfristige Investitionen nur beschränkt und sukzessive finanzierbar sind. Kleinbauerntypisch ist aber die Kaufkraftschwäche. e) Saisonal bedingte Arbeitsengpässe Kurzfristig durchzuführende Arbeitsgänge mit hohem Arbeitsaufwand z. B. für Bodenbearbeitung oder Kontrolle des Unkrautwuchses — typisch für Kleinbauernbetriebe - limitieren die Produktionsausweitung und verschärfen die jahresdurchschnittliche Unterbeschäftigung. Dieser Faktor spielt für die Begründung der Notwendigkeit von Technologieinnovationen eine häufig genannte Rolle.

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

177

f) Mangelndes Wissen sowie Inkompetenz zur Lösung innovationsinduzierter Probleme Im Gegensatz zum Problemlösungswissen für traditionell bekannte Produktionsprobleme fehlt Kleinbauern unter den typischen Entwicklungsbedingungen normalerweise das entsprechende Wissen zur Lösung von neuen Problemen, die durch die Verwendung neuer Technologie entstehen. Solche Probleme beziehen sich ζ. B. auf die familiale Arbeitsteüung und Einkommensverwendung, auf andere soziokulturelle und -ökonomische Wandlungsprozesse - wie technologieinduzierte Arbeitslosigkeit und Migration, Auflösung von traditionellen Kooperations- und Sicherungssystemen usw. - oder auf tiefgreifende Veränderungen der Ökologie. Die Kontrolle dieser besonders komplexen und langfristig schwerwiegenden Problemfaktoren liegt weitgehend außerhalb der Einflußsphäre der Zielgruppe. Hierbei handelt es sich um Strukturprozesse, die zwar ihren Ausgang in den technologischen Innovationsprozessen bei Kleinbauern nehmen, aber nur aufgrund von Entscheidungsprozessen kontrolliert werden können, welche zielgruppenübergreifend sind. Die negativen Auswirkungen solcher Wissensdefizite können längerfristig die relativ kurzfristigen Vorteile neuer Technologien kompensieren und überkompensieren.

4.1.2. Forschung und Entwicklung für zielgruppenspezifìsche Technologieinnovationen Untersucht man relevante Studien 2 zu dieser Fragestellung, fällt eine Zweiteilung der Problematik auf. Die meisten der Autoren gehen prinzipiell von einem großen Bedarf an Forschung und Entwicklung für zielgruppenspezifìsche Technologieinnovationen aus und konzentrieren ihre Untersuchungen auf die Frage, wie dieses generelle Ziel von den Verfahren des Forschungsprozesses her erreicht werden kann. Einige wenige Autoren sehen ein Zentralproblem in der Definition der Ziele von Forschung und Entwicklung und behandeln Forschungsverfahren als abhängig von der Definition spezifischer Ziele. In Vorwegnahme der Analyseergebnisse scheinen beide Ansatzpunkte nützliche Erkenntnisse zu liefern. Bestimmte Verfahrensfragen hängen von der Beantwortung bestimmter Fragen nach den Forschungszielen ab, und andere haben nur Bezug zum allgemeineren Zielgruppenproblem.

2 Ausgewertet wurden: Anthony et al. (1979), Asian Development Bank (191 S)9IRRI/Barker(\9n), Barker et al. (1975), Barker et al. (1976), Binswanger/ICRISA Γ ( 1977), Chambers (1974), Goldschmidt (Hrsg.) (1977), Herdt and Bernsten (1975), Morss et al. (1976), Nicolas et al. (1976), Reddy (1977), Röling (1975), Schönherr and Mbugua (1976 a + b), Singer (1977), Uma Lele (1975), Waterston 1976).

178

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Konsens besteht darüber, daß das herkömmliche Verfahren technologischer Innovationsentwicklung sich wenig bewährt hat, geeignete Technologien für Zielgruppen aus der Armutsbevölkerung hervorzubringen. Das herkömmliche Verfahren wird von Röling (1975) am Beispiel der Agrarforschung wie folgt schematisiert:

Schema 11: Die herkömmliche Forschungs- und Entwicklungskonzeption für Innovationen im Agrarbereich

Quelle: Röling (1975), S. 115.

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

179

4.1.2.1. Problemlösung^- versus Innovationspaketforschung Waterston (1976) 3 sieht die Zielgruppenspezifik von Technologieforschung und -entwicklung unter dem Gesichtspunkt der in der vorliegenden Studie innovationstheoretisch behandelten „instrumentellen Manipulation der Kommunikationsrichtung bei der Innovationsgestaltung" (vgl. Abschnitt 3.3.2.3.). Er glaubt, anhand zahlreicher Projektfälle nachweisen zu können, daß diejenigen Technologien, die unter dem Ziel der Lösung von spezifischen Kleinbauernproblemen entwickelt worden waren, sich als geeigneter erwiesen hatten als Technologien, die als gut gemeinte Vorgaben (meist Pakete, bestehend aus verschiedenen Komponenten) Entwicklung induzieren sollten. Agrarforschung soll nach Waterston Lösungsangebote für die konkreten, kleinbauerntypischen Produktions- und damit verbundenen Probleme entwickeln. Die „Innovationspaketforschung" gibt demgegenüber Innovationen vor. Der agrarische Entwicklungsprozeß wird dabei als Prozeß der Adoption von Innovationsvorgaben gesehen. Die Problemlösungsforschung soll dagegen gewährleisten, daß Agrarforschung zu zielgruppenspezifischen Empfehlungen führt. Die üblichen Innovationsvorgaben schließen, so die Argumentation, oft das Weiterwirken grundlegender Probleme nicht aus. Häufig schaffen darüber hinaus die Innovationsvorgaben selbst neue, nicht antizipierte Probleme. Bei den Untersuchungen des Teams um Morss (1976) wurden 51 Innovationspakete, die im Rahmen von Kleinbauernprojekten in Afrika und Lateinamerika zur Adoption angeboten wurden, auf zielgruppenspezifìsche Eignung geprüft. Obwohl es sich um vermeintlich geeignete Vorgaben handelte, erwiesen sich 61 % als mangelhaft („were found to have weaknesses and inadequacies", Morss et al., 1976, S. 110) und dies, obwohl die Forscher zugaben, nicht sehr umfassend geprüft zu haben, welche Eigenschaften technologischer Innovationspakete inadäquat oder unannehmbar für Kleinbauern sind 4 . Morss et al. resümieren: „For the projects we studied, most technological recommendations were developed in distant research stations under conditions which did not reflect an awareness of the small farmers resource commitments, risk perceptions or production preference" (Morss et al., 1976, S. 144). Die Diskussion um Problem- bzw. Vorgabeorientierung sollte nicht mit der Frage nach Anwendungs- bzw. Grundlagenforschung gleichgesetzt werden. Obwohl sicherlich Verbindungen zwischen Grundlagen- und Anwendungsfor3

Waterston hat im Auftrag der Agency for International Development (U. S. A. I. D.) eine umfangreiche Studie über kleinbauernorientierte Entwicklungspolitik angefertigt. Die Studie ist empirisch ausgerichtet und basiert auf der belegten Auswertung von über 1.700 „articles, books, reports, and other documents". 4 Geprüft wurden: der Betriebsgrößenbezug, physische Eignung, Kosten, Zugang, Komplexität, Arbeitsbedarf, Vermarktung und „andere".

180

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

schung bestehen, bezieht sich die . von Waterston anwendungsbezogene Agrarforschung 5.

4.1.2.2. Verfahren

zielgruppenspezifischer

definierte Alternative auf die

Technologieentwicklung

A. K. N. Reddy 6 sieht ein Hauptproblem zielgruppenbezogener Technologieentwicklung in den Einflüssen internationaler und nationaler Wirtschaftsund Sozialstrukturen, welche gegenwärtig den Prozeß der Technologieentwicklung bestimmen und unter denen bestimmte Technologiebedürfnisse bestimmter Bevölkerungsgruppen keine Berücksichtigung finden. Anhand eines Schemas verdeutlicht er diese Problematik (siehe Schema Nr. 12). Das Schema ist in vier Ebenen unterteüt. Auf der Ebene 1, die Reddy mit „Gesellschaft" bezeichnet, fixiert er in aggregierter Form die westliche Gesellschaft sowie die der Entwicklungsländer — letztere disaggregiert in die Elite und die ländliche Armutsbevölkerung (die städtische Armutsbevölkerung bleibt ausdrücklich im Schema unberücksichtigt). Die Größe der Kreise soll die relative Größe der Bevölkerung andeuten. Diese drei sozialen Einheiten haben unterschiedlich technologierelevante Bedürfnisse, die als Kreise der Ebene 2 im Schema eingetragen sind. Die Kreise überschneiden sich, um anzuzeigen, daß zwischen den sozialen Einheiten ähnliche Bedürfnisse bestehen können. Zwischen der westlichen Gesellschaft und den Eliten der Entwicklungsländer besteht danach eine sehr weitgehende, technologierelevante Bedürfnisparallelität. Sie fehlt zwischen der Ärmutsbevölkerung der Entwicklungsländer und der westlichen Gesellschaft und ist nur in sehr geringem Ausmaß zwischen Armutsbevölkerung und Elite in Entwicklungsländern vorhanden. Auf der Ebene 3 sind die in technologischer Hinsicht entwicklungsrelevanten Büdungs- und Forschungsinstitutionen eingezeichnet. In der Größe der beiden Kreise soll der enorme Unterschied der Ausgaben für Forschung und Entwicklung zum Ausdruck kommen. Der Hauptteil der Nachfrage nach Technolo5

In den letzten Jahren ist im international geförderten Agrarforschungsbereich ein Trend zu verstärkter Problemlösungsorientierung zu beobachten. So belegt die Gründung des International Crops Research Institute for the^ Semi-Arid Tropics (ICRISAT) in Hyderabad, Indien, verstärkte Aufmerksamkeit im Hinblick auf ökologische Problemregionen, in denen ein großer Teil der Armutsbevölkerung siedelt. Auch das International Rice Research Institute (IRRI) in Los Banos auf den Philippinen hat in jüngerer Zeit problemorientierte Forschungsprojekte durchgeführt (vgl. z. B. Barker, 1977; Barker et al, \91S\ Barker et al., 1976 ; Herdt and Berns ten, 1915\ Nicolas et al., 1976). 6 Die Informationen zu den von Reddy vorgeschlagenen Forschungs- und Entwicklungsverfahren konnten durch persönliche, ins Detail gehende Befragungen über die angeführte Literatur hinaus erweitert werden.

Schema 12:

Strukturelle internationale und nationale Faktoren der Technologieentwicklung für Entwicklungsländer

DEVELOPING COUNTRIES

Quelle: Reddy (1977), S. 20.

182

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

gieentwicklung richtet sich auf die westlichen Institutionen - meist auch die der Eliten, soweit sie den formalen Industriesektor (privat oder staatlich) repräsentieren. Nur ein kleiner Teil der Eliten ist an nationalen (mehr „angepaßte" Forschung treibenden) Institutionen interessiert, wobei letztere in der Regel auch nach westlichen Vorbildern und Bedürfnisartikulierungen Technologieentwicklung betreiben. Technologiebedürfnisse der Armutsbevölkerung werden meist nicht artikuliert, weil die Bevölkerung keine ausreichende Kenntnis von Technologieoptionen besitzt oder, bei Kenntnis, die Rahmenbedingungen zur Übernahme fehlen. Deshalb scheidet z. B. auch der Marktmechanismus weitgehend zur Bedürfnisübermittlung aus. Den Institutionen der Technologieentwicklung wird deshalb auch kein Bedarf für armutsorientierte Technologieentwicklung angezeigt. Den Armutsgruppen steht nur die traditionelle Technologie (vgl. Ebene 4) zur Verfügung. Westliche Technologieentwicklungen werden direkt von den Eliten der Entwicklungsländer sowie den nationalen Bildungs- und Forschungsinstitutionen nachgefragt. Wenige adaptierte („naturalized") Technologien entstehen nach einem Prozeß von Imitation, Adaptation und (selten) Innovation 7 . Dieses Faktorenmodell der Technologieentwicklung von Reddy beruht jedoch nicht auf unveränderbaren Strukturen. Es reflektiert vielmehr Strukturen als Ergebnis von laissez-faire-Prozessen, die sich außerhalb entwicklungspolitischer Steuerung vollzogen haben und vollziehen. Ansatzpunkte für die Entwicklung, die Produktion und den Vertrieb armutsorientierter Technologien bestehen grundsätzlich in der Möglichkeit der Einkommenserhöhung durch Technologieverwendung bei großen Teüen der Armutsbevölkerung und der damit verbundenen Chance, monetäre Nachfrage nach zielgruppenspezifischer Technologie zu induzieren. Da auch zumindest Teile der Eliten sowohl an der Produktion von Massentechnologieprodukten als auch an generell steigender Nachfrage nach anderen Produkten und Diensten Interesse haben, ist kein prinzipieller, elitenbedingter Hinderungsgrund für Interventionen zur Induzierung von z. B. auf Kleinbauern ausgerichteter Technologie belegbar. Das Problem zielgruppenspezifischer Technologieentwicklung scheint sieht man von der oft noch fehlenden Problemwahrnehmung in den förderungsrelevanten Institutionen ab - entscheidend durch das Fehlen bewährter

7

Nach Ruttan and Hayami (1973) lassen sich 3 unterschiedliche, forschungsrelevante Transferprozeßtypen bzw. -stufen unterscheiden: der einfache Transfer neu entwickelter Materialien („material transfer stage"), der Transfer neuer Blaupausen, Formeln, Bücher („design transfer stage">und der Wissensund Managementtransfer zum Aufbau eigener technologischer Adaptionsfähigkeit der international vorhandenen Forschungs- und Entwicklungsergebnisse („capacity transfer stage") (vgl. auch Hayami and Ruttan, 1971).

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

183

Steuerungsverfahren bedingt zu sein, welche zunächst auch nicht auf der Grundlage von Marktmechanismen Zustandekommen können. Reddy hat im Rahmen seiner eigenen zielgruppenspezifischen Arbeiten zur Technologieentwicklung ein Verfahren entwickelt, welches er auf der Grundlage seiner Testergebnisse für generell anwendbar hält. Das Verfahren besteht aus einer óstufìgen Sequenz: 1. Identifikation der technologischen Bedürfnisse der Zielgruppe (aus der Armutsbevölkerung) Dieser erste Interventionsschritt setzt Kommunikationsaufnahme mit der Zielgruppe voraus. Dabei kann in der Regel nicht direkt nach der Gestaltung der Technologie gefragt werden, sondern es muß von den Problemen der Zielgruppen ausgegangen werden, die eventuell mit Hüfe technologischer Innovationen behoben oder reduziert werden können. 2. Feststellung der vorhandenen technologischen Optionen zur Befriedigung der identifizierten Bedürfnisse Hierbei soll die Frage beantwortet werden, ob vielleicht bereits geeignete Technologien existieren, die nur der Zielgruppe unbekannt sind. In der Regel ist dies jedoch nicht zu erwarten. Häufiger lassen sich Technologien ausmachen, die eventuell nach Adaptation an zielgruppenspezifìsche Bedingungen geeignet sein könnten. 3. Feststellung der spezifischen soziokulturellen und ökonomischen Hemmnisse, die der Nutzung bereits existierender (adaptierter) technologischer Optionen entgegenstehen Dieser Schritt setzt erneut Kommunikation mit der Zielgruppe voraus. In dieser Prozeßphase soll präzisiert werden, welche spezifischen Eigenschaften die Technologie haben muß, um als Problemlösungsinstrumerit für die Zielgruppe in Frage zu kommen. 4. Entwicklung von Optionen, die den Hemmnissen Rechnung tragen Dieser technische Prozeßschritt vollzieht sich in der relevanten Forschungsinstitution. Reddy betont die Bedeutung, alternative technologische Optionen zu entwickeln, denn die Praxis im Test habe immer wieder gezeigt, daß es verschiedene technologische Antworten auf bestimmte Probleme gäbe, deren Eignungsunterschiede nicht vom Forschungs- und Entwicklungspersonal aufgrund rein technischer Überlegungen ausgemacht werden könnten. 5. Eignungsprüfung und Auswahl der Optionen durch die Zielgruppe selbst Die Optionen werden kleinen Auswahlgruppen der Zielgruppe zum Versuch angeboten. Die dabei von der Zielgruppe als bestgeeignet angesehene Option wird ausgewählt. (Freüich kann sich bei diesem Prozeßschritt auch die Notwendigkeit weiterer Forschung und Entwicklung herausstellen.)

184

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

6. Einbringen der so gestalteten technischen Innovationen in die institutionelle Beratung (sowie Produktion und Vertrieb) Erst jetzt, nachdem die zielgruppenspezifìsche Eignung feststeht, soll die Innovation für die massenorientierte Verbreitungsförderung freigegeben werden. Dem Marktmechanismus kommt dabei nicht mehr die Funktion der Technologieauslese zu — wofür die notwendigen Strukturbedingungen fehlen —, sondern zunächst der Regulierung des Angebots auf institutionell induzierte Nachfrage, die sich danach zunehmend autonom entwickeln dürfte. Reddy empfiehlt also ein Verfahren für die Technologieforschung und -entwicklung, welches auf direkte Weise die Zielgruppe an der Gestaltung beteüigt und so in die „natürlichen" Technologieausleseprozesse interveniert. Dies begründet er damit, daß nur im modernen Industrie- und Großfarmensektor Marktkräfte die Innovationsentwicklung steuern. Geeignete Technologien würden schnell übernommen, weniger geeignete nicht nachgefragt und damit ausgeschieden. Technologieentwicklung unterliegt dort einer indirekten, aber rigorosen Kontrolle. Für den Kleinbauernsektor jedoch gibt es unter den entwicklungsländertypischen Bedingungen keine solche Forschungs- und Entwicklungssteuerung. Kleinbauern fragen nicht nach neuen technologischen Optionen, weü sie, wie schon erwähnt, einmal meist dazu wissensmäßig nicht befähigt sind und zum anderen, weü es normalerweise keine vergleichbaren Kommunikationssysteme — schon wegen des verbreiteten Analphabetentums - zur Mitteüung des Interesses an neuen Optionen gibt (vgl. dazu auch Hayami and Ruttan, 1971). Die Kontrolle der Adäquanz von Forschung und Entwicklung muß unter diesen Bedingungen, so Jie Folgerung, über die direkte Beteiligung der Zielgruppe am Ausleseprozeß bewerkstelligt werden. Eine weitere Folgerung aus den Verfahrensanforderungen zur Technologieentwicklung bezieht sich auf die Disziplinarität der Forschung. Zielgruppenspezifìsche Technologieentwicklung kann sich nicht allein auf technisches oder biologisch-chemisches Wissen stützen. Sie basiert in gleicher Weise, so die explizite Position von Reddy - der selbst den Ingenieurswissenschaften angehört - , auf wirtschafts- und sozial wissenschaftlichen Disziplinen. Vergleicht man das Verfahren Reddys mit dem Problemlösungsansatz von Waterston, so ergibt sich eine völlige Kompatibüität. Das Verfahren von Reddy entspricht genau dem von Waterston geforderten Problemlösungsansatz. Wohlgemeinte Innovationsvorgaben haben keinen Platz in Reddys Verfahren. Die Unterschiede beider Autoren liegen im operationalen Bereich. Waterston begründet das Ziel der Problemlösung als notwendig für die zielgruppenspezifìsche Innovationsforschung. Wie später noch zu zeigen ist, beschäftigt sich Waterston jedoch weniger mit Verfahren der Forschungsinstitutionen selbst, sondern vor allem mit der Agrarberatung, von der er erwartet, daß sie die Nachfrage nach geeigneten Problemlösungstechnologien artikuliert und an die Forschungsinstitutionen mitteüt.

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

185

4.1.3. Aspekte kleinbauernspezifischer Gerätetechnologie, dargestellt am Beispiel der Traktormechanisierung Die Gerätetechnologie ist, wie früher schon erläutert, im Gegensatz zur Saatgut-Düngemitteltechnologie, nicht betriebsgrößenneutral. Sie ist ein die Agrarstruktur in besonderem Maße differenzierender Faktor (vgl. Gotsch, 1974, oder auch Ohkawa, 1976, der ihn als „the most distinct differentiating factor" bezeichnet, vgl. S. 606). Die Analysen des Teams um Johnston zeigen nicht nur, daß insbesondere die Art der Gerätetechnologieförderung für die Ausprägung dualistischer Strukturen im ländlichen Bereich entscheidend verantwortlich ist, sondern daß auch die Struktur des sekundären und tertiären Wirtschaftssektors maßgeblich von der verwendeten Gerätetechnologie im Agrarbereich beeinflußt wird. Generell kann man zwar einen Trend zum Konsens bei Theoretikern und Politikern dahingehend beobachten, daß es „feasible" und wünschenswert ist, die Agrarentwicklung breit und massenorientiert zu gestalten8. Johnston und Clark resümieren jedoch 1979: „ . . . there is stül insufficient recognition of the extent to which 'unimodaT and 'bimodal' (or dualistic) strategies represent mutually exclusive alternatives . . ." (S. 94). Man kann davon ausgehen, daß das Problem der Gerätetechnologieförderung in der Entwicklungspolitik nicht zureichend reflektiert, geschweige denn gelöst wird. In den folgenden Ausführungen wird versucht, anhand des Beispiels der Traktormechanisierung die unimodale und zielgruppenspezifìsche Strategieproblematik zu verdeutlichen. Unter welchen Bedingungen der Einsatz von Traktoren als Teil einer armutsorientierten Entwicklungspolitik gefördert werden kann, ist schon ohne die Einbeziehung dualistischer und intersektoraler Strukturprobleme kontrovers. Generell bestand (und häufig besteht) die Tendenz bei den agrarpolitischen Entscheidungsträgern in den Entwicklungsländern, aber auch bei den Geberländern, im Einsatz von Traktoren einen wichtigen Ansatzpunkt des Fortschritts im Agrarbereich zu sehen9. Dieser Symbolwert für „Fortschritt" hat häufig dazu beigetragen, daß Traktormechanisierungsprogramme ohne zureichende Eignungsprüfung durchgeführt wurden. Für die Eignungsprüfung investiver Vorhaben wurden üblicherweise zwei Verfahren - nämlich die „finanzielle" und die „volkswirtschaftliche" Costbenefit-Analyse durchgeführt. Direkte soziale Wirkungen und Beschäftigungs8 Neben den bereits genannten Autoren und Dokumenten lassen sich z. B. die Weltbankdokumente, 1975 a + c, 1978, oder der Indische Entwicklungsplan, Government of India (1978) beispielhaft hinzufügen. 9 Für Afrika bestätigen dies z / B . Urna Lele, 1975, S. 33; Eichler et al., 1976, S. 622 ff.; Johnston and Clark , 1979, S. 107; für Asien ζ. Β. Asian Development Bank , 1978, S. 81 ; für Asien und Lateinamerika z. B. Waterston, 1976, S. IX 26 ff.

186

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

effekte werden zunehmend auch mit in Betracht gezogen 10 . Beim vorliegenden Zusammenhang werden jedoch zwei weitere Prüfkriterien notwendig - nämlich die „Unimodalität" und der „zielgruppenspezifìsche Charakter". Die beiden letzten Kriterien beinhalten soziale und Beschäftigungseffekte in einem viel weiteren Zusammenhang, als dies bei der Analyse direkter Wirkungen möglich ist. Um unter dem Ziel der Verbindung von Wachstum und Armutsreduzierung die Eignung von Traktormechanisierungsprojekten beurteüen zu können, müssen alle vier Kriterien ein positives Prüfergebnis zeigen. Zur Begründung von traktorbezogenen Förderungsmaßnahmen wird in der Projektpraxis nach weitgehender Übereinstimmung der oben genannten Autoren 1 1 aus verschiedenen Gründen häufig aber nur eine „finanzielle" Analyse herangezogen.

4.1.3.1. Finanzielle Eignung Finanziell geeignet wäre der Einsatz eines Traktors für den Einzelbetrieb, wenn dadurch im Vergleich zur bisherigen Situation und zu den für den Einzelbetrieb gegebenen Preisen die Kosten-Erlös-Bilanz verbessert wird. Die Verbesserung der Büanz kann beim Einsatz von Traktoren durch verschiedenartige Wirkungen erzielt werden: (a) durch Kostensenkung bei Substitution von relativ teurer Arbeitskraft durch relativ büliges Kapital (in der Literatur hat sich hierfür der Terminus „arbeitssparende" Technologie eingebürgert); (b) durch Steigerung der Hektarerträge aufgrund besserer Bearbeitungsmethoden und (c) durch besseres Farmmanagement und Intensivierung oder Expansion landwirtschaftlicher Aktivitäten durch Abbau von Arbeitsengpässen. Der Gesichtspunkt (a) erscheint für die meisten Entwicklungsländer irrelevant, da dort Arbeitskräfte einen relativ niedrigen Kostenfaktor darstellen. Jedoch führen die früher bereits angesprochenen, oft sehr kräftigen, direkten und indirekten Subventionen in Verbindung mit künstlichen Wechselkursen und hoher Inflation zu Faktorpreisverzerrungen, welche solche Substitutionsprozesse finanziell für den Einzelbetrieb interessant machen können. Bins10

Vgl. die Diskussion um die „social-cost-benefit"-Analyseverfahren im Abschnitt 4.4.2.3. 11 Vgl. dazu auch z. B. Adelhelm and Schmidt (1975); Adelhelm und Steck (1974); Binswanger/ICRISA Τ (1977). Auch bei Feasibility-Studien international renommierter Beratungsfirmen werden ζ. B. bei Agrarprojekten die ökonomischen Analysen für den Output und bestimmte Inputs (wie Düngemittel) anhand von Schattenpreisen berechnet. Die Traktorenkomponente bleibt jedoch von der ökonomischen Analyse ausgespart - so z.B. SATEC/ Republic of Zambia ( 1979).

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

187

wanger/Icrisat (1977) weist eine solche offensichtliche Situation ζ. B. für den pakistanischen Teü des Punjab nach. Die Asian Development Bank (1978) beziffert die übliche, durch Traktormechanisierung induzierte Arbeitskräftefreisetzung auf 10 - 30 %, die sich allerdings beim Einsatz schwerer Traktoren noch verschärfen kann (ebenda, S. 59). Eine Politik, welche die Traktormechanisierung dergestalt fördert, daß vornehmlich ihre arbeitssparende Wirkung finanziell für den Einzelbetrieb interessant wird, steht der Armutsorientierung diametral gegenüber. Der Gesichtspunkt (b), nämlich die Steigerung der Hektarerträge aufgrund traktorbedingt besserer Bearbeitungsmethoden, geht davon aus, daß ζ. B. besonders schwere oder harte Böden nur mit Traktoren bearbeitet werden können. Die Notwendigkeit der Traktormechanisierung wird für bestimmte Regionen auch damit begründet, daß Zugtierhaltung fehlt (weü ζ. B. Rinderhaltung aufgrund der Trypanosomiasis nicht möglich ist) und deshalb keine technologischen Alternativen bestehen. Solche Argumente können jedoch nur dann als stichhaltig angesehen werden, wenn geprüft wurde, ob es nicht finanziell geeignetere Alternativen zum Feldbau gibt, die ohne den Einsatz von Traktoren möglich sind. Der Gesichtspunkt (c), nämlich die Möglichkeit, durch Traktormechanisierung Arbeitsspitzen abzubauen oder sogar Mehrfachernten möglich zu machen, um so die Gesamtnachfrage nach Arbeit zu erhöhen, ist die häufigste Begründung für Traktorprojekte. Die Ergebnisse des Surveys der Asian Development Bank (1978) zeigen jedoch nur beschränkte Möglichkeiten für solche Ziele. Im Prinzip, so die Bank, ist dies nur in Bewässerungsregionen möglich, in denen auch nur ein kleiner Teü der Bauernbevölkerung lebt. Und dies, so wird weiter eingeschränkt, nur dort, wo das Bewässerungsmanagement reibungslos funktioniert. Häufig, so die Untersuchungsergebnisse, ist dieses Management jedoch schlecht (ebenda, S. 81). Sollte sich nach Prüfung der Gesichtspunkte (a) bis (c) eine finanzielle Eignung für den Einzelbetrieb ergeben, muß auch die volkswirtschaftliche Eignung geprüft werden. 4.1.3.2. Volkswirtschaftliche

Eignung

Bei der volkswirtschaftlichen Eignungsprüfung wird nach den Kosten und den Erträgen (bzw. dem Nutzen) gefragt, die für die Gesamtwirtschaft entstehen. Die volkswirtschaftliche kann sich von der finanziellen Eignung ganz erheblich unterscheiden, da die Produktionsfaktoren und die Produkte bei der volkswirtschaftlichen Bewertung um die Transferzahlungen (Zinsen, Steuern, Subventionen) bereinigt werden und je nach Verfahren 12 bestimmte Güter zu 12

Ein Überblick über gängige Verfahren findet sich ζ. B. in Ruthenberg

(1977).

188

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Weltmarktpreisen bewertet, eventuelle Überbewertung von Wechselkursrelationen sowie Inflationsraten berücksichtigt werden (vgl. auch Abschnitt 4.4.2.). Würde die volkswirtschaftliche Eignungsprüfung konsequent berücksichtigt, wären unabhängig vom jeweüigen Bewertungsverfahren die großen Faktorpreisverzerrungen (besonders zugunsten der Verwendung kapitalintensiver Technologie) offensichtlich und Entscheidungen der öffentlichen Entwicklungsplanung, die die Faktorallokation betreffen, auf eine Grundlage gebracht, welche in viel stärkerem Umfang arbeitsintensive Optionen berücksichtigen müßte. Im Falle der Traktormechanisierung müßten beispielsweise direkte und indirekte Subventionen für die Traktoren selbst, für Ersatzteübeschaffung und für den Treibstoff sowie die öffentlichen Kosten für die Ausbildung von Fahrern und Mechanikern, für den Aufbau einer verkehrsmäßigen Infrastruktur usw. als Kosten bilanziert werden. Berücksichtigt werden müssen auch die oft künstlich hoch gehaltenen Wechselkurse, wenn die Traktoren importiert werden, und die volkswirtschaftlichen Kosten, die bei öffentlicher Vorfinanzierung entstehen, falls inflationäre Tendenzen nicht berücksichtigt werden. Wenn die so berechneten Kosten unter den in Geld gemessenen Erträgen liegen, kann von einer volkswirtschaftlichen Eignung ausgegangen werden. Häufig werden Zielvorgaben für Außenhandelseffekte und die DevisenbÜanz noch mit berücksichtigt. Der Import von Traktoren wirkt sich dann in der Büanz kostenerhöhend, etwaige durch den Traktoreinsatz bewirkte Ertragssteigerungen von Exportkulturen ertragserhöhend aus. Beschäftigungswirkungen werden hier ebenfalls — meist unter weiteren, volkswirtschaftlich relevanten Zielen - behandelt 13 . Es ist jedoch nicht üblich, die volkswirtschaftlichen Folgekosten, die durch Arbeitskräftefreisetzungen, Migration zu neuen Arbeitsplätzen, neuen Bevölkerungsagglomerationen usw. entstehen, in die Büanz einzubeziehen. Auch werden üblicherweise keine Verfahren angewandt, welche die strukturellen Wirkungen im Hinblick auf Wachstum (Dualismus) oder intersektorale Interdependenzen und des damit verbundenen Expansionspfades berücksichtigen. Nach Ruthenberg werden in der Entwicklungspraxis in der Regel nur die direkten Wirkungen berücksichtigt, obwohl Verfahren zur Berechnung wichtiger indirekter Wirkungen existieren (Ruthenberg, 1977, S. 173). 4.1.3.3. Unimodale Eignung Das Kriterium der „Unimodalität" umfaßt die volkswirtschaftliche wie beschäftigungsmäßige Eignung auch unter dem Gesichtspunkt längerfristiger Strukturwirkungen, Da die unimodale Eignungsprüfung technologierelevanter 13 Neuere Verfahren (vgl. Abschnitt 4.4.2.).

berücksichtigen

Beschäftigungseffekte

als

Erträge

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

189

Investitionen im Agrarsektor in der üblichen Kosten-Nutzen-Prüfung keine Anwendung findet, wird sie hier als gesonderter Prüfungspunkt behandelt. Die Unimodalität der Traktormechanisierung ist dann gegeben, wenn sie 1. primär outputerhöhend und nicht vorwiegend arbeitssparend eingesetzt wird, solange der Agrarsektor durch Unterbeschäftigung gekennzeichnet ist; 2. auf den häufigsten Betriebstyp ausgerichtet und noch eine möglichst große Streubreite um den häufigsten Betriebstyp abdecken kann; 3. bülig und einfach herstellbar ist - d. h. dezentralisiert und relativ arbeitsintensiv (mit möglichst geringer Auslandsabhängigkeit im Management, in der Technologie und den Produktionsfaktoren); 4. gleichmäßig von möglichst vielen Landwirtschaftsbetrieben innerhalb einer bestimmten Zeitperiode übernommen wird und schrittweise als Niveauverschiebung angelegt ist — zeitlich abhängig von der Adoptionsgeschwindigkeit der Masse der Bauernbetriebe und im technologischen Niveau abgestimmt auf die Beschäftigungslage einerseits und die Produktionskapazitäten im dezentralen sekundären Sektor andererseits. Prinzipiell kann, wie schon erläutert, die Traktormechanisierung für solche Projekte eingesetzt werden, bei denen primär Outputerhöhungen (eventuell verbunden mit zusätzlicher Beschäftigung) zu erwarten sind. Der 1. Gesichtspunkt erscheint deshalb weniger problematisch. Die Erfüllung des 2. Gesichtspunktes ist schwieriger. Ob Traktoren für den häufigsten Betriebstyp verwendungsfähig sind, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Ein entscheidender Faktor ergibt sich aus dem „break even point", dem betriebsflächenabhängigen Punkt, an welchem die Zusatzkosten für den Einsatz von Traktoren durch die Zusatzerlöse gedeckt werden. Dieser Punkt hängt, geht man von gegebenen Preisen aus, was die Erlösseite betrifft, vom generellen landwirtschaftlichen Produktionsniveau, von der Zugänglichkeit der Märkte, von der Fähigkeit zur Kontrolle von Risikofaktoren usw. ab. Was die Kostenseite angeht, so spielen ζ. B. die verkehrsmäßige Erschließung, die Dezentralisierung von Traktorservicestationen und die Ersatzteilbelieferung, die Entfernung der einzelnen Felder voneinander und das Managementniveau für den Traktoreinsatz eine Rolle. Beide — Kosten und Erlöse - hängen weiter von institutionellen Faktoren, ζ. B. der Qualität von Genossenschaften, Kreditinstitutionen, Beratungs- und Ausbüdungsdiensten, der übrigen Inputversorgung und nicht zuletzt der Agrarverfassung (ζ. B. die Art der Pachtverhältnisse) ab. Diese Auflistung von Faktoren zeigt einen deutlichen Zusammenhang: Je weniger eine Region entwickelt ist, desto schwieriger läßt sich der Einsatz von Traktoren auf den häufigsten Betriebstypus ausrichten 14 . 14

Obwohl keine systematischen empirischen Untersuchungen zu dieser

190

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Der 3. Aspekt — die billige und einfache Herstellbarkeit — scheint für vierradgetriebene Traktoren zumindest unter den Bedingungen der zahlreichen, kleineren Entwicklungsländer nur ein schwer zu realisierendes Erfordernis zu sein. Versuche in Uganda, Botswana, Lesotho und Szwazüand (vgl. z. B. Tschiersch, 1978, S. 100 ff.) mit Einfachkonstruktionen und auf kleine Betriebsgrößen ausgerichteten Traktoren waren bisher wenig ermutigend. Ein hoher Importanteil und relativ niedrige Stückzahlen ließen weder einen „Billigtraktor" noch eine vorwiegend lokale Ressourcen nutzende Industrieproduktion zu. Viel bessere Erfahrungen wurden mit einachsigen Traktoren, z. B. auf Taiwan, den PhÜippinen und in anderen südostasiatischen Ländern gemacht, die dort weitgehend unabhängig von Importen und erheblich billiger als vergleichbare Importgeräte hergestellt werden (vgl. z.B. Khan/IRRI, 1974) 1 S . Problematik ausfindig gemacht werden konnten, stößt man in der Literatur auf Fallbeispiele, welche Einblick in die qualitativen Aspekte einer „vorzeitigen" Traktoreinführung bei Kleinbauern geben. So berichtet Urna Leie (1975) über einen typischen Fall in Tanzania (Sukumaland), wo 1964/5 Kleinbauern Baumwolle anbauten und ihre Felder zu „Blöcken" zusammenlegten, um so größere Flächen für den Einsatz von Traktoren zu haben. Jeder Traktor sollte 121,5 Hektar bearbeiten. Tatsächlich konnten nur 27,1 Hektar je Traktor bearbeitet werden, was hohe Verluste für das Projekt bedeutete (vgl. Urna Lele, 1975, S. 35). Noch drastischere Beispiele, die nach Meinung konsultierender Experten typisch sind, hat der Verfasser selbst kennengelernt: 1975 wurden z. B. in der besonders unterentwickelten Nord-West-Provinz Sambias im Rahmen des „State Mechanization Scheme" des Kabompo Distriktes 14 Traktoren zum Pflügen von Kleinbauernfeldern gegen entsprechendes Entgelt neu angeschafft. Bereits im dritten Jahr war kein einziger Traktor mehr einsatzfähig und nach Auskunft des zuständigen Beamten auch nicht mehr reparaturfähig. In dieser Region wurden auch die Opportunitätskosten der Traktormechanisierung sehr deutlich. Nach der Unabhängigkeit wurden große Anstrengungen unternommen, mit Hilfe von Traktoren die äußerst niedrigen Bodenbearbeitungskapazitäten in dieser Region zu verbessern. Traktorflotte um Traktorflotte wurde über mehr als 10 Jahre hinweg in die Distrikte Kabompo und Zambezi geschickt, um Rodungs- und Pflügearbeiten durchzuführen. 1978 und 1979 wurde im Rahmen eines sambisch-deutschen Kooperationsprojektes der gesamte Agrarbereich dieser Region untersucht (vgl. GTZ/IRDP/Schönherr, 1979; ders. mit Weyl, 1980) und festgestellt, daß keinerlei positive Effekte aus den Traktormechanisierungsprojekten weit er wirkten. Nachdem die hoch subventionierten Projekte aufgrund akuter Devisen- und Haushaltsprobleme völlig zusammengebrochen waren, fiel die landwirtschaftliche Produktion wieder unter den Stand von vor 10 Jahren zurück. Mehr als 99 % aller Bauern mußten ausschließlich mit der Hacke den Boden bearbeiten. Dabei ist der Zambezi-Distrikt (wie auch Teile des Kabompo-Distriktes) bekanntermaßen auch hervorragend zur Rinderhaltung geeignet. Es wurden bis zur jüngsten Zeit keine nennenswerten Anstrengungen unternommen, die bestehende Rinderhaltung für tiergezogenes Bodenbearbeitungsgerät zu nutzen und dies, weil Regierung und Bauern ausschließlich auf Traktoren gesetzt hatten.

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

191

In der Regel hat die Traktormechanisierung - und dies bleibt meist bei Förderungsprojekten unberücksichtigt — entweder höchst bescheidene Wachstumsimpulse in den wenigen großen Entwicklungsländern bewirkt, die selbst Traktoren produzieren (und dort nur im formalen und kapitalintensiv ausgestatteten Industriesektor), oder die Impulse schlugen sich in den exportierenden Industrieländern nieder. Damit geht den Entwicklungsländern aber ein erheblicher Teü der Investitionsgüternachfrage und damit Beschäftigungs- und Wachstumseffekte verloren. Für das Erfordernis büliger und einfacher Herstellbarkeit von Traktoren zum Zwecke der Stimulierung intersektoraler Wachstumsimpulse fehlen in der Mehrzahl der Entwicklungsländer heute offensichtlich noch die Voraussetzungen. Auch dem 4. Gesichtspunkt - der mit dem strukturellen Transformationsprozeß der Beschäftigung abgestimmten technologischen Niveauverschiebung entspricht die Traktormechanisierung wohl kaum. Vielmehr impliziert die allgemeinë Verwendung von Traktoren bereits ein hohes technologisches Niveau in der Agrar- und Industrieproduktion und setzt ein hoch entwickeltes institutionelles System für agrarische Transformation der Beschäftigung vom Agrarzum industriellen und Dienstleistungsbereich voraus. Nur wenige Länder ζ. B. in Südostasien: Taiwan, Südkorea und teilweise Malaysia (Japan schon viel früher) - erfüllen solche Bedingungen.

4.1.3.4. Zielgruppeneignung Die Zielgruppenkonzeption liegt, wie ausführlich erläutert, darin begründet, daß Wirtschaftswachstumsprozesse und die damit verbundenen Investitionstätigkeiten und technologischen Innovationsaktivitäten über bestimmte Bevölkerungsgruppen gesteuert werden sollen. Ausgangspunkt können deshalb nicht Maßnahmen der Wachstumspolitik, sondern müssen die Bedingungen der spezifischen Zielgruppen sein, aus denen sich bestimmte Maßnahmenerfordernisse ergeben. Ein Traktormechanisierungsprogramm, bei welchem geeignete Zielgruppen zum rentablen Traktoreinsatz gesucht werden, läuft diesem konzeptionellen Gesichtspunkt (wie früher schon erwähnt) zuwider. Stehen bei der Projektanbahnung Kleinbauernförderungsmaßnahmen zur Diskussion, muß - so sei hier wiederholt - die Kleinbauernbevölkerung der in Frage kommenden Region auf ihre Ressourcensituation untersucht und nach 15

Die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) entwickelt zur Zeit einen kleinen Schlepper („Multitrac"), der dem Erfordeinis nach einfacher und billiger Herstellbarkeit auf sehr innovative Weise nachzukommen sucht. Seine wichtigsten Teile (ζ. B. Motor und Getriebe) sollen nicht importiert oder in Großfirmen hergestellt, sondern durch Überholung schrottreifer Teile von Altautomobilen gewonnen werden.

192

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

den jeweiligen Hemmfaktoren für die Ressourcennutzung in Zielgruppen feingegliedert werden. In vielen Fällen - z. B. bei sehr kleinen Betriebsgrößen mag die Bodenbearbeitung kein vorrangiges Problem sein, und die Frage der Traktormechanisierung würde sich deshalb überhaupt nicht stellen. In anderen Fällen mag die Bodenbearbeitung ein Engpaß für eine Anbauintensivierung darstellen. Häufig könnte dabei tiergezogenes Gerät eine ausreichende Kapazitätserweiterung bringen. Tierische Anspanngeräte können z. B. viel geeignetere Innovationen sein, weü sie etwa typische Hemmfaktoren berücksichtigen: So können Tiere z. B. auch (ohne Opportunitätskosten) zur Subsistenzsicherung mitverwendet werden. Sie können die Außenabhängigkeit reduzieren und als Lieferanten von organischem Dung ökologisch nützlich zur Bodenstrukturerhaltung beitragen. Es müßte dann festgestellt werden, weshalb z. B. nicht genügend Zugtiere gehalten oder die vorhandenen Tiere nicht genügend eingesetzt werden, oder weshalb bestimmte tierische Anspanngeräte fehlen usw. Über entsprechende Förderungsmaßnahmen könnten dann eine verbesserte Tierhaltung, verbesserte Dressurmethoden, bessere Geräte, effektivere Verleihsysteme usw. erzielt und dadurch die Bodenbearbeitungskapazitäten für die Zielgruppe erhöht werden. In wieder anders gelagerten Fällen mag die Einführung des „mixed farming" und der damit verbundenen Reservierung von Grasland als Weide die Erfordernisse der Bodenbearbeitung reduzieren. In den noch verbleibenden Fällen zu niedriger Bodenbearbeitungskapazitäten müßte die Einfuhrung von Traktoren zuerst nach der finanziellen, ökonomischen und unimodalen Eignung geprüft werden. In den meisten Entwicklungsländern (sieht man von einigen „Schwellenländern" ab) werden sich gegenwärtig vermutlich nur ausnahmsweise Situationen ausmachen lassen, in denen die Traktormechanisierung einer solchen Eignungsprüfung standhält. Erweisen sich Traktoren als geeignet, muß auch ihre Typenauswahl, das Management, das Verleih- bzw. Kooperationssystem usw. noch zielgruppenspezifisch gestaltet werden, so daß Traktoren von der Zielgruppe ohne neue schwerwiegende Probleme effizient genutzt werden können. Faßt man obige Überlegungen zusammen, kann man rückblickend folgern, daß in der Entwicklungsförderung die Eignung der Traktormechanisierung auch in den Fällen unzureichend geprüft wurde, wo Kleinbauern die Zielgruppe eines Projektes waren. Die Folgen ungeeigneter Traktorprojekte sind dabei nicht nur in den volkswirtschaftlichen Verlusten (Fehlinvestitionen) zu suchen, sondern ganz besonders in den entgangenen Impulsen für die sekundären und tertiären Sektoren und in der Vernachlässigung der Einführung geeigneter alternativer Entwicklungsinstrumente (Opportunitätskosten) für die Zielgruppe selbst.

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

193

Für die Zukunft ergibt sich aus den Analysen die Aufforderung an die relevanten Entscheidungsträger, Traktorförderungsprogrammen gegenüber viel kritischer eingestellt zu sein und die Eignung nach volkswirtschaftlichen, unimodalen und zielgruppenspezifischen - und nicht nur finanziellen (einzelbetrieblichen) — Kriterien zu prüfen. Da bei solcher Prüfung gegenwärtig eine Eignung nur in sehr seltenen Fällen zu erwarten ist, müssen erheblich größere Anstrengungen unternommen werden, geeignete Instrumente zu entwickeln, mit Hilfe derer die Bodenbearbeitungsprobleme reduziert werden können. Die Folgerungen aus den Analysen zur Traktormechanisierung lassen sich weitgehend auf andere relevante Gerätetechnologien übertragen. Für kleinbäuerliche Betriebe hat der Einsatz von Geräten in verschiedenen Arbeitsbereichen Relevanz. Für den Landbau sind es besonders die Bodenbearbeitung, das Säen und Pflanzen, die Kontrolle des Unkrautwuches, die Schädlingsbekämpfung, das Ernten und Dreschen, die Lagerhaltung und Weiterverarbeitung von Agrarprodukten. Auch für die Tierhaltung ist die Gerätetechnologie von Bedeutung. Weiter werden für diverse Transporte Geräte benötigt. Ein anderer Bereich des Geräteeinsatzes ist die Bewässerung. Für spezielle Farmaktivitäten bzw. spezifische Anbaufrüchte werden weitere, spezielle Geräte relevant. Auch hier müssen unter der Zielsetzung von Wachstum und Armutsreduzierung dieselben Eignungskriterien angewendet werden. Diese Ausführung abschließend soll noch auf die Bedeutung integrierender Maßnahmen verwiesen werden. Die Notwendigkeit unimodaler Technologie im Agrarbereich ist, wie beschrieben, Teü einer strukturellen Transformationsstrategie für die Beschäftigung. Sie ist deshalb nicht ausschließlich auf die Zielgruppe Kleinbauern bezogen. Vielmehr soll mit Hüfe dieser Strategie zugleich lokales oder zumindest dezentral produzierendes Industriegewerbe Impulse erhalten. Solche Impulse verlaufen aber unter den Entwicklungsbedingungen nicht notwendigerweise „automatisch" ab. Die Koppelung von technologischer Innovationsförderung bei Kleinbauern mit der Förderung der Herstellung eben dieser Technologie im gewerblichen Sektor ist notwendig. Unter dieser Strategie ist es also wichtig, Agrar- und Gewerbeentwicklung zu integrieren und von der Projektplanung und institutionellen Trägerschaft her integriert zu behandeln 1 6 .

16

Eine weitere Koppelung beider Sektoren mit erheblichen „trade offs" (kostenlose, zusätzliche Vorteile) ergibt sich durch die förderungspolitisch oft vernachlässigte Möglichkeit, Agrarprodukte lokal und arbeitsintensiv zu veredeln oder weiterzuverarbeiten. Die Möglichkeiten dazu sind vielfältig (vgl.

z.B. GTZ/IRDP/Schönherr,

1979, S. 68-74.

194

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

4.1.4. Aspekte kleinbauernspezifischer Technologie zur Kontrolle der Fruchtbarkeit des Bodens Im Gegensatz zur Förderung der Gerätetechnologie ergeben sich bei der Technologie des Bodenmanagements kaum unimodale Gesichtspunkte. Hier steht die Zielgruppenspezifik im Vordergrund der Probleme. Das bereits erwähnte Forscherteam des International Agricultural Center in Wageningen (I.A.C. Main Report, 1976/7; vgl. auch Sachs, 1978) sieht in den Problemen des Bodenmanagements und damit verbundener Probleme im Ökosystem einen in seiner Bedeutung oft unterschätzten Faktor für die Armut kleinbäuerlicher Produzenten und für die Schwierigkeiten, langanhaltende Prodüktivitätsverbesserungen gerade bei Kleinbauern bewirken zu können. Bodendegradierung und sich verschlechternde ökologische Bedingungen sind zugleich typische Prozesse gerade dort, wo Kleinbauern zunehmend neue Technologien übernehmen und die Produktion für den Markt intensivieren — also gerade in denjenigen Regionen, wo viele Kleinbauern versuchen, durch „verbesserte" Methoden ihre Einkommen zu erhöhen. Hinzu kommt der Bevölkerungsdruck, der solche Prozesse verstärkt. Dieser Prozeß hin zu einer Verschlechterung einer der wichtigsten kleinbäuerlichen Ressourcen, nämlich des Bodens, ist durch Faktoren bedingt, die kleinbauernspezifisch sind: a) Die Möglichkeit zur Nutzung traditioneller Techniken zur Kontrolle der Bodenfruchtbarkeit, wie z. B. Brache, Wanderfeldbau, Diversifikation des Subsistenzanbaus und traditioneller Fruchtwechsel, wird durch die Zunahme der Bevölkerung immer stärker eingeschränkt. Komplizierter wird dieses Problem dadurch, daß die Verwendung von Mineraldünger als technologische Ersatzlösung für traditionelle Methoden nicht zum Management der Bodenfruchtbarkeit ausreicht. b) Die Produktion für den Markt reduziert die natürlichen Möglichkeiten des „Recycling" von Nährstoffen (über Pflanzenreste, Abfall, Asche, menschlichen und tierischen Dung) innerhalb des Betriebes. Auch dieser organische Nährwertabfluß kann durch Mineraldüngung allein nicht kompensiert werden. c) Häufig müssen Kleinbauern auf verringerte Bodenfruchtbarkeit mit einer Intensitätssteigerung des Anbaus und monokultureller Nutzung für die primäre Subsistenzfrucht reagieren, um ein bestimmtes Subsistenzniveau aufrechterhalten zu können. Dies kompensiert mitunter kurzfristig die Ertragsverluste durch abnehmende Bodenfruchtbarkeit, verschärft jedoch längerfristig die Problemlage, weü dadurch der Boden einer noch größeren, nicht kontrollierten Belastung ausgesetzt wird. d) Die Verschlechterung des betrieblichen Ökosystems veranlaßt die Betroffenen üblicherweise zu alternativer Einkommenssicherung — häufig durch

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

195

Ausbeutung wichtiger Bestandteile der regionalen Ökosysteme, wie ζ. B. durch Abholzung von Wäldern und Flußufern, Überweidung, Bebauung steiler Hanglagen ohne Erosionsschutzmaßnahmen usw. Das holländische Team des International Agricultural Centre weist darauf hin, daß die Entwicklungsförderung sehr häufig die Bedeutung solcher Nutzungsschranken für die Ressource Boden übersehen oder unterbewertet hat. Oft trugen die Empfehlungen für das Bodenmanagement nicht den kleinbäuerlichen Bedingungen Rechnung. Konsultiert man die Maßnahmenempfehlungen wie die des genannten holländischen Teams oder von Oxfam (1976) und von Waterston (1976), werden zwei Ebenen für die Empfehlungen deutlich: einmal betriebsbezogene technologische Innovationen und zum anderen auf Regionen abstellende Kontrollmaßnahmen. 4.1.4.1. Technologische Innovationen zur Kontrolle der Bodenfruchtbarkeit Für die Düngung des Bodens, die Erosionskontrolle und den Erhalt bzw. die Verbesserung der Wasserretention bestehen zielgruppenspezifìsche Maßnahmenbedingungen, die im folgenden beispielhaft erläutert werden. Die Mineraldüngung ist die am stärksten propagierte allgemeine Technologie zur Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit. Die Anwendungsmöglichkeit dieser Maßnahme reduziert sich aber - obwohl sie (als Bestandteü komplementärer Maßnahmen) eine große Bedeutung für die Kontrolle der Bodenfruchtbarkeit hat — aus kleinbauernspezifischen Gründen beträchtlich. Mineraldüngemittel sind teuer. Die finanziellen Ressourcen von Kleinbauern sind gering, und ihre Kreditversorgung ist oft unzureichend. Die Bereitstellung von Mineraldünger ist zudem kurzfristig oft nur schlecht organisierbar, und seine Beschaffung wird dadurch für Kleinbauern unverhältnismäßig teuer und zeitaufwendig. In Regionen mit erhöhtem Risiko für Mißernten (oder für die Vermarktung) bedeuten hohe Investitionen in Düngemittel für Kleinbauern auch hohes Verschuldungsrisiko oder Dekapitalisierungsrisiko, was die Bereitschaft zur Adoption dieser Technologie vermutlich reduziert. Hinzu kommt ein weiterer Problemkomplex: Mineraldünger kann nur dann ökonomisch effizient eingesetzt werden, wenn bestimmte andere Kultivationsstandards eingehalten werden (z. B. solche der Pflanzenpopulation, Pflanzzeiten, Pflanzabstände, der Unkraut-, Seuchen-, Ungeziefer· und Erosionskontrolle usw.). Da die übrigen Kultivationstechniken bei Kleinbauern herkömmlicherweise nicht ertragsrorientiert, sondern risikominimierend sind, ist die Einführung von Mineraldünger als isolierte oder Einstiegsmaßnahme nur selten geeignet. Darüber hinaus leistet die Mineraldüngung zwei wichtige Erfordernisse für die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit nicht: Erstens die Erhaltung der organi-

196

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

sehen Stoffe (Humus) im Boden, die mit verhindern, daß Nährstoffe aus dem Boden gewaschen werden und beitragen, daß die Nährstoffe effizienter von der Pflanze genutzt werden können, und zweitens die Erhaltung der Bodenstruktur, die ebenfalls vom Aufbau organischer Substanzen im Boden abhängt und der Wurzelversorgung mit Luft und Feuchtigkeit, sowie der Eindringfähigkeit des Wurzelwerkes und verminderter Erosionsanfälligkeit dient. Vielen Projekten, vor allem im Bereich der Saatgut-Düngemittel-Innovationen, kann vorgeworfen werden, Kleinbauern von Mineraldüngemitteln überabhängig gemacht und deshalb erhöhten Gefahren der Bodenverschlechterung ausgesetzt zu haben. Das Potential für die wirtschaftliche Verwendung von organischem Dünger sollte deshalb von Kleinbauern zuerst ausgeschöpft werden, bevor mit Mineraldüngung begonnen wird. Organische Düngemittel sind notwendig und bedürfen keiner oder nur geringer Baraufwendungen und können vom Bauer selbst hergestellt werden (ohne Außenabhängigkeit). Zudem ist die Zufuhr organischer Stoffe tür tropische Böden besonders wichtig. In vielen Regionen wird dieses Düngepotential nicht oder nur wenig genutzt. Jedoch kann die Verwendung organischer Düngung durch folgende Probleme beschränkt sein: durch die Arbeitsintensität: z.B. Anlage eines Kompost oder dessen Transport. Der Arbeitsanfall kann darüber hinaus mit den bestehenden saisonalen Arbeitsspitzen kollidieren; durch Transportprobleme: Organischer Dung ist schwer und/oder voluminös. Um größere und vom Standort des Dungs entferntere Flächen düngen zu können, sind technische Hüfsmittel (z. B. Schubkarre, tiergezogener Wagen) notwendig, die in vielen Regionen fehlen; durch ungenügende Dungressourcen: Besonders in Gebieten mit permanenter Anbaufolge und ohne integrierte Viehhaltung sind organische Düngemittel nur sehr begrenzt vorhanden; durch kulturelle Vorbehalte: Exkremente werden mitunter aufgrund ritueller Vorstellungen (Verunreinigung) nicht für die Nahrungsmittelproduktion verwendet; durch Konkurrenz mit anderweitiger Nutzung: Organische Düngung kann mit der Brennmaterialversorgung 17 konkurrieren. 17 Das Problem dieser Konkurrenz läßt sich jedoch reduzieren: a) I n Indien wird der jährliche organische Düngeentzug für die Felder durch Verwendung des Dungs als Brennmaterial auf 300 Millionen Tonnen geschätzt. Nicht zuletzt wurden deshalb gerade in Indien m i t der Methangasverwertung (Gobar-Gas) erhebliche Forschungsfortschritte erzielt (Vorteil: Tierische Exkrete werden zur Heizenergiegewinnung verwendet, wobei der größte Teü des Dünge wertes des entgasten Materials erhalten bleibt). b) Einfache Kochöfen erhöhen die Heizeffizienz gegenüber offenem Feuer u m

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

197

Der Anbau von speziellen Pflanzen, die nicht geerntet, sondern ohne auszureifen zur Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit ins Erdreich gepflügt werden (Gründung), ist nur ein sehr begrenzt geeignetes Mittel, weü Kleinbauern die Anbauflächen dafür kaum reservieren können. Eignung könnte ζ. B. dann vorliegen, wenn vom Betriebssystem her keine alternative Nutzung des Bodens möglich ist (ζ. B. frühe Ernte bei noch anhaltender Bodenfeuchtigkeit, die jedoch nicht zur Ausreifung einer zweiten Erntefrucht ausreicht). Dagegen läßt sich der Unkrautwuchs im Sinne der Gründüngung nutzen. Dies sollte bei der Entscheidung über die Anwendung von chemischen Herbiziden berücksichtigt werden. Der Anbau leguminöser Früchte mit hohem Nährwert (ζ. B. Bohnen und Linsen) — sie führen dem Boden Stickstoff aus der Luft in für die pflanzliche Nutzung geeigneter Form (Stickstoff-Fixierung) zu — bietet ein kleinbauernadäquates Potential für fruchtbarkeitserhöhende Anbaufolgen ebenso wie Mischkultur-Systeme, die zugleich die Ernährungsgrundlage verbessern können (ζ. B. als bülige Lieferanten hochwertiger pflanzlicher Eiweiße). Für die Kontrolle der Bodenerosion und Bodendegradierung ergeben sich ζ. B. folgende Probleme: Die beschleunigte Bodenerosion und Degradierung ist fast vollständig ein Ergebnis inadäquaten Verhaltens des Menschen und hat bereits riesige Landflächen zumindest mittelfristig irreparabel zerstört — überwiegend Land, welches als Ressourcengrundlage für die Zielbevölkerung der ländlichen Entwicklung dient. Böden in den Tropen sind erheblich erosions- und degradierungsanfälliger als in den gemäßigten Zonen. Die Beseitigung bzw. Reduzierung permanenter und bodenabdeckender Vegetation — bedingt durch neue Anbautechnologie und intensivere Viehhaltung - beschleunigt Erosion und Degradierung dadurch, daß der Boden direkt dem Regen und der Sonneneinstrahlung ausgesetzt wird. Neben der Zerstörung des Bodens durch Rinnenbüdung und Abtragung der humusreichen Oberschicht wird dem Boden bei hohen Niederschlagsmengen Stickstoff und Kalium durch Auswaschung entzogen. Durch starke direkte Sonneneinstrahlung werden organische Stoffe abgebaut (Oxydation). Kleinbauern stehen diesen Problemen oft hüflos gegenüber. Langfristig finden sie sich — wie häufig zu beobachten ist, wenn sie kein adäquates Problemlösungswissen haben - mit einer schlechten Bodennutzungstechnologie und niedrigem Ertragsniveau ab. das 3 bis 4fache. Ihre Verwendung würde entsprechend den Brennmaterialbedarf reduzieren. c) Alternative Brennmittelressourcen, wie ζ. B. der Brennholzanbau, ist in vielen Regionen kaum entwickelt, obwohl die Bedingungen dazu gegeben wären.

198

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Die Kontrolle der Erosion und Degradierung des Bodens kann durch vielfältige und wenig aufwendige Maßnahmen verbessert werden: Die vegetative Abdeckung des Bodens sollte so weit wie möglich erhalten bleiben. Solche Maßnahmen schließen den kontrollierten Unkrautwuchs mit ein. In vielen Regionen hat sich das Mulching - die künstliche Abdeckung des Bodens mit Pflanzenresten (Gras, Blattwerk) - bewährt. Weiter zählen dazu z. B. spezifische Maßnahmen der Bodenbearbeitung, der Pflanzenpopulationsbestimmung und Pflanzungsmethoden, der Fruchtfolge und des Intercropping. Für den Erosionsschutz an steüeren Hanglagen gibt es auch fur Kleinbauern weitere Möglichkeiten, beispielsweise das Anlegen von Grasstreifen, Buschreihen, Baumbepflanzungen. Wird das Anlegen von Terrassen notwendig, handelt es sich um sehr aufwendige Investitionen, die kurzfristig von Kleinbauern kaum geleistet werden können. Man muß jedoch berücksichtigen, daß viele Schutzmaßnahmen gegen Erosion außerhalb der Kontrolle einzelner Bauern (z. B. der Schutz vor Überflutung oder die Ableitung des Wassers bei hohen Niederschlagsmengen) stehen. Sie können nur kollektiv in Angriff genommen werden. Dazu werden, so sei nur am Rande vermerkt, Maßnahmen zu kollektiver Entscheidungsfindung, Aktion und Kontrolle notwendig. In bestimmten tropischen Regionen scheint es möglich zu sein, nur durch biologische Maßnahmen unter Einschluß organischer Düngung die Bodenfruchtbarkeit trotz hoher Bevölkerungsdichte zu kontrollieren und dabei die Erträge zu erhöhen 18 . Die Konservierung der Feuchtigkeit und Wasserretentionsfähigkeit des Bodens sind entscheidende Fruchtbarkeitsfaktoren in niederschlagsarmen Gebieten. Sie können von Kleinbauern z. B. durch folgende Maßnahmenrichtungen verbessert werden: a) durch Erhöhung der Regenmenge, die in die Erde sickern kann (Aufbrechen von Krustenbüdung, Mulching zur Vermeidung von Krustenbüdung und zur Feuchtigkeitserhaltung, Rotation mit leguminösen Früchten zur Bodenstrukturverbesserung, Verhinderung von Überbeweidung, Anlegen tiefer querliegender Gräben bei Hangkultivierung) sowie der Verlangsamung des Wasserabflusses (Konturpflügen und häufeln usw.); b) durch Reduzierung der Feuchtigkeitsverluste durch Verdunstung (Mulchen, Unkrautkontrolle und Vermeidung des europäischen „mould-board"-Pfluges, der den Boden wendet und feuchten Boden schneller Austrocknung aussetzt. Dagegen reduzieren sogenannte „minimum tülage"-Methoden, wie z. B. das kombinierte Pflügen und Säen in einer Operation oder das 18 Als Beispiel dafür sei das GTZ-Projekt in Nyabisindu, Ruanda, zitiert (vgl. z. B. GTZ, 1978, S. 423-427.

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

199

Nicht-Pflügen der Räume zwischen den Pflanzenreihen nicht nur Feuchtigkeitsverluste, sondern auch Erosionsanfälligkeit und sind büliger.) Weitere detaülierte Ausführungen zu technischen Aspekten der Maßnahmen finden sich ζ. B. in Oxfam (1976). Die Auswahl obiger Innovationen zeigt, wie notwendig es ist, die Maßnahmen zielgruppenspezifisch zu gestalten.

4.1.4.2. Vermerke zur Ökologiekontrolle Einseitige, auf Kurzfristigkeit geplante Anbau- und Viehhaltungsförderung in Verbindung mit forcierter Marktintegration, so wurde festgestellt, kann zu schwerer Gefährdung der Bodenfruchtbarkeit und zu einer Verschlechterung der ökologischen Bedingungen einer Region führen. Aber auch andere dem Armutsproblem zugeordnete Prozesse tragen in vielen Regionen der Entwicklungsländer zur Ökologieverschlechterung bei. Rodung von Wäldern zur Besiedelung oder Ackerbau an steüen Hanglagen ohne entsprechenden Erosionsschutz werden sowohl für sich häufende Flutkatastrophen als auch fur schwindende Wasserressourcen während der regenarmen Jahreszeit verantwortlich gemacht. Maßnahmen staatlicher Raumplanung sind zur Bewältigung solcher Ökologiefaktoren unabdingbar. Aber auch ganz andere Faktoren können kleinbauernrelevante Ökologiesysteme beeinträchtigen. Bekannt ist der Holzraubbau, der durch den kommerziellen Handel von Holzkohle zur Brennenergieversorgung von Städten und für den Export verursacht werden kann. Maßnahmen zur Kontrolle dieses Faktors liegen zunächst in der Verabschiedung entsprechender Gesetze und Verordnungen und dann in der Kontrolle der Einhaltung solcher Gebote und Verbote. Die Kontrolle des kleinbauernrelevanten Ökosystems stellt sich als Problem hoher Komplexität dar. Es ist teüweise ein Armutsproblem, teüweise stehen Faktoren der Bevölkerungsentwicklung dahinter. Die Marktorientierung in Verbindung mit der Einführung isolierter, kurzfristig angelegter Innovationen zur Ertragssteigerung hat großen Anteü am Problem. Fehlende Raumentwicklungsplanung und die Duldung kommerziellen Raubbaus sind wichtige, zielgruppenexterne Faktoren. Die Kontrolle des Ökologieproblems muß deshalb auf verschiedenen Ebenen ansetzen: - auf der Ebene der Planung kleinbauernspezifischer Innovationen, auf der Ebene der Regionalplanung und auf der nationalstaatlichen Ebene. Die größten Ökologiekatastrophen - die Dürren in der Sahelzone oder die Fluten in Bangladesh - haben sogar übernationalen Bezug, und ihren Faktoren kann auf nationaler Ebene allein nicht oder nur unzureichend begegnet werden.

200

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung;

4.1.5. Aspekte der Saatgut-Düngemitteltechnologie Aspekte der Saatgut-Düngemitteltechnologie (oft auch als biologisch-chemische Technologie bezeichnet) werden hier stellvertretend für Innovationen im Feldfrüchteanbau ausgewählt. Wie in den vorhergehenden Abschnitten soll auch hier nicht etwa die generelle Bedeutung dieser Technologie für die Agrarentwicklung behandelt, sondern nur der Gesichtspunkt unimodaler und zielgruppenspezifischer Gestaltung angesprochen werden. Mitte der 60er Jahre wurden in großem Umfang in vielen Entwicklungsländern sogenannte „High Yielding Varieties" (HYVs) für den Reis-, Weizen- und Maisanbau eingeführt. Diese Innovationen waren vor allem in den beiden international finanzierten Agrarforschungszentren, dem CIMMYT (Centro Internacional de Mejoramiento de Maiz y Trigo) in Mexiko und dem IRRI (International Rice Research Institute) auf den Philippinen, mit dem Ziel der Verbesserung der Nahrungsmittelproduktion entwickelt worden. Hauptmerkmal dieser Innovationen ist das außerordentlich hohe Ertragspotential je Flächeneinheit gegenüber den herkömmlich verwendeten Sorten. Dieses Ertragspotential ist jedoch nur aufgrund wissenschaftlich abgeleiteter und relativ hoher Kultivierungsstandards erzielbar. Die Hektarerträge reagieren meist sehr sensitiv z. B. auf den Zeitpunkt der Aussaat, auf die Pflanzenpopulation und die Pflanzabstände, auf die Unkrautkontrolle und ganz besonders auf die Dosierung und Anwendung von Mineraldüngemittel und schließlich auf die Seuchen- und Ungezieferkontrolle. Die eingeführten Hochertragssorten für Weizen und Reis waren ferner für die Bewässerungslandwirtschaft gezüchtet, die Maishybride für regenreiche Gebiete mit guten Böden. Besonders die in einigen Ländern Asiens zunächst erzielten Ertragssteigerungen im Reis- und Weizenanbau führten in der entwicklungspolitischen Diskussion zu einem übergroßen Optimismus und zu der „grandiose description" (Asian Development Bank, 1978, S. 65) der „Grünen Revolution". Die Untersuchungen der Asian Development Bank weisen für eine ganze Reihe von Ländern erhebliche Ertragssteigerungen durch die Einführung der HYVs nach. Da die Anwendung dieser HYVs entweder auf ökologisch begünstigte Regionen oder Bewässerungslandwirtschaft beschränkt war 1 9 und auch weitgehend noch ist, weshalb sie nur einen kleineren Teü der ländlichen Bevölkerung betreffen kann, war schon von daher die Erwartung einer landwirtschaftlichen Ertrags- und Einkommensrevolution in den Entwicklungsländern wenig realità tsbezogen. Dennoch besteht in den biologisch-chemischen Innovationen ein sehr bedeutsames Potential zur Verbindung von Wachstum und Armutsreduzie19 Reis nur bei „shallow water"-Bewässerung, nicht unter „rainfed, upland and deep water"-Bedingungen (vgl. Asian Development Bank, 1978, S. 246).

201

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

Tabelle 21: Reis- und Weizenhektarerträge vor und nach der Einführung von HYVs in ausgewählten Ländern Asiens Land

Anteil der Fläche unter HYVs 1963/4 (i.v.H.)

jährliche Wachstumsrate der Erträge (in v. H.) 1955-1965 1965-1973

A. Reis Sri Lanka Philippinen Pakistan Indonesien Indien

64,5 63,4 42,1 36,6 25,6

2,10 1,10 1,21 0,51 1,30

2,37 2,52 6,44 2,76 1,86

59,0 57,4 16,1

1,67 2,67 0,88

4,76 4,91 2,08

B. W e i z e n Pakistan Indien Afghanistan

-

Quelle: Asian Development Bank (1978), S. 66-69, ausgewählt und zusammengestellt.

rung, zumal die Agrarforschung zunehmend solche Innovationen auch für die nicht als „hoch potentiell" eingestuften Anbaugebiete und die Regenlandwirtschaft entwickelt. Die unimodale und zielgruppenspezifìsche Eignungsprüfung soll diese Bedeutung belegen.

4.1.5.1. Unimodale Eignung Die Saatgut-Düngemitteltechnologie entspricht bei erster Betrachtung fast dem Idealtypus unimodaler Technologie. Sie ist skalenneutral, ertragssteigernd und nicht arbeitssparend. Im Gegenteü, für den Anbau der HYVs wird zusätzlich Arbeit je Flächeneinheit benötigt. Freüich sind von den biologisch-chemischen Innovationen kaum direkte, intersektorale Impulse zu erwarten, da das Saatgut im Agrarsektor selbst erzeugt und die mineralischen Düngemittel aus technischen Gründen gegenwärtig kaum dezentral und arbeitsintensiv hergestellt werden können. Intersektorale Impulse können sich vielmehr indirekt ergeben, nämlich über die Gerätetechnologie, die zur Verwendung der biologisch-chemischen „Kerntechnologie" eingesetzt wird. Man muß berücksichtigen, daß über die biologisch-chemischen Innovationen hohe Ertragssteigerungen mit entsprechenden Einkommenseffek-

202

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Tabelle 22: Arbeitskräftebedarf für HYVs im Vergleich zu traditionellen Sorten (ausgewählte Fallstudien) Country and Location

Bangladesh India: Rajasthan Orissâ Indonesia: Central Java East Java Korea: Hwasunggung Philippines: Laguna Thailand: Suphanburi

Traditional variety (mandays/ha.) 137 57 145 234 253

126 86 86

HYV (mandays/ha.) 194 75 169 197 287 139

110 120

Change due to H Y V (%) + +

41,6 31,6

+ + + +

15,8 13,4 10,3 27,9 39,5

+ 16,6

Quelle: Asian Development Bank (1978), S. 60.

ten aufgrund relativ niedriger Investitionen erzielt werden können. Diese Einkommenssteigerungen büden die Grundlage für eine potentiell schnelle Kaufkraftstärkung großer Teile der landwirtschaftlichen Produzenten, die zur Anschaffung verbesserter Inputs genutzt werden kann. Leider wurden in vielen Ländern die Chancen aus den biologisch-chemischen Innovationen für eine unimodale Gerätetechnologie entwicklungspolitisch nicht wahrgenommen. Im Gegenteil, die Fehlschläge der „Grünen Revolution" lassen sich in ihrem Kern auf eine bimodale Technologieförderung reduzieren, die aufgrund des hohen Einkommensschubes sehr schnell zu kapitalintensiven Expansionspfaden mit den entsprechenden Einkommensverteilungswirkungen über starke Konzentrations- und geringe oder negative Beschäftigungseffekte führt. Obwohl also die biologisch-chemischen Innovationen im Prinzip wichtige unimodale Eigenschaften besitzen, entscheidet die Begleittechnologie, d. h. der Einsatz von Geräten zur Anwendung der HYVs-Innovationen über ihre tatsächlichen Wirkungen im Hinblick auf Uni- oder Bimodalität. Jedoch auch im unmittelbaren Bereich der HYVs ergibt sich ein oft wenig beachteter Aspekt modalitätsrelevanter Politik. Dieser besteht darin, daß Chemikalien - vor allem Mineraldünger, aber auch Insektizide und Herbizide - , die den Hauptteü der Barinputs ausmachen, in unterschiedlicher Menge eingesetzt werden können, ohne daß notwendigerweise die Outputs damit linear variieren. Dafür gibt es drei Erklärungen: Erstens können bestimmte Chemikalien durch Arbeit substituiert werden — so Herbizide. Aber auch die Menge

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

203

der Mineraldüngemittel kann durch bestimmte Arbeitsverfahren (ζ. B. Dosierung pro Pflanze und nicht pro Fläche) reduziert werden. Die Asian Development Bank (1978) beziffert die dadurch möglichen Einsparungen (ohne Auswirkung auf das Ertragsniveau) mit einem Drittel der gegenwärtig üblichen Mengen (vgl. ebenda, S. 246). Zweitens können Mineraldüngemittel zumindest teüweise durch organische (barkostenlose) Dünger substituiert werden. Dieser Aspekt wurde für die biologisch-chemische Innovationsförderung fast völlig vernachlässigt. Und schließlich ergeben sich drittens für die Berechnung des günstigsten Verhältnisses von Investitionen und Erträgen (Erlösmaximum) sehr unterschiedliche Bedingungen je nachdem, ob es sich um Kleinbauern oder kommerzielle Farmunternehmungen handelt. Kleinbauern haben für die Famüienarbeitskraft nur geringe oder keine Opportunitätskosten. Für sie besteht in der Regel nicht die Wahl zwischen Beschäftigung im Eigenbetrieb und anderen Einkommensalternativen. Dies ist ganz anders in der kommerziell betriebenen Farmunternehmung, wo jeder Manntag an Arbeitseinsatz Barkosten verursacht, deren Grenzproduktivität Entscheidungsgrundlage für alternative Mittelverwendung büdet. Weiter hat der Boden in der Farmunternehmung Opportunitätskosten — er bindet Barinvestitionen — die auch anderswo zinsbringend angelegt werden könnten. Unter kleinbäuerlichen Bedingungen ist Boden meist indisponible Existenzgrundlage, der ζ. B. nicht deshalb verkauft wird, weü der Verkaufserlös zinsgünstiger in einem andèren Wirtschaftssektor angelegt werden könnte. Diese beiden Unterschiede führen dazu, daß für die kommerzielle Farmunternehmung ein relativ hohes Ertragsniveau erreicht werden muß, um farmbezogene Investitionstätigkeiten überhaupt rentabel zu machen. Bei Kleinbauern dagegen bedeuten schon kleine Ertrags- und Erlössteigerungen meist eine alternativlose Verbesserung der Nutzung ihrer so oder so vorhandenen und indisponiblen Ressourcenausstattung - Famüienarbeitskraft und Boden. Für Farmunternehmungen ist die Rendite des gesamten eingesetzten Kapitals Entscheidungsgrundlage für die Adoption eines bestimmten biologisch-chemischen Innovationspaketes. Unter typisch kleinbäuerlichen Bedingungen sind es in erster Linie die variablen Barkosten und damit die chemischen Inputs, die Entscheidungsrelevanz besitzen. Überprüft man unter diesen Gesichtspunkten z. B. die von Agrarforschungsinstituten empfohlene und in die staatliche Agrarberatung eingegangene Inputpaketgestaltung für Hybrid-Mais in Kenia mit dem tatsächlichen Input-Adoptionsverhalten von Kleinbauern, zeigen sich aufschlußreiche Ergebnisse. Unter Berücksichtigung der Herbizidverwendung entsprechen die empfohlenen und von kommerziellen Farmunternehmungen adoptierten Saatgut-Chemikalien-Inputs, gemessen in Baraufwendungen, etwa dem 5fachen dessen, was viele Kleinbauern (entgegen den Empfehlungen) tatsächlich verwenden. Die Outputs sind in der Alternative 1 zwar doppelt so hoch wie im Falle 2, die

204

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Tabelle 23: Alternative Inputgestaltung für Hybrid-Mais in Kenia für 1 acre (0,4 ha)

Posten

Alternative 1 Alternative 2 (empfehlungsentsprechende (tatsächliches KleinbauernAdoption) verhalten) Gerät/ Mann- BarGerät/ Mann- BarMaterial tage kosten a ) Material tage kosten

Pflügen

Hackeb)

20

Hacke



Saatgut

15

24,-

24,-

Pflanzen

3

-



3

-

SSP, 50 kgc)

1

50,-

1

10,-

Mineraldünger

DSP, 50 kg ASN, 60 kg

1 1

300,-

Insektenkontrolle

Insektizid

1

20,-

Insektizid

Unkrautkontrolle

Herbizid

1

70,-

Hacke, Machete

14

-

Ernten, Entkernen

(Hand)

(Hand)

12

-

46

84,-

Insgesamt OUTPUT Erlös (60,-je 90 kg-Sack) Erlös abzüglich Barkosten

18

-

45

414,-

1.800 kg

900 kg

1.200,-

600,-

786,-

516,-

Quelle: Crop-Production-Tabellen (Guidelines) des kenianischen Agrarministeriums für verschiedene Produktionsniveaus (auf der Basis empirischer Daten geschätzte Durchschnittswerte). Chemische Unkrautkontrolle nach Empfehlung für versuchsweisen Einsatz in „Special Rural Development" Projekten, an deren Evaluierung der Verf. beteiligt war (vgl. z. B. IDS, 1975 a; Ministry of Agriculture, ο J.). a) Alle Preise von 1975 und in Κ. Sh.; 1 DM = etwa 3 K. Shs. b) Empfehlung und übliche Adoption im kommerziellen Farmbereich ist der Einsatz von Traktoren (keine Manntage, Barkosten 100,— plus Verwendung von 5 Manntagen für Hacken). Um die Gerätetechnologie hier nicht mitberücksichtigen zu müssen, wurde die Hacke (wie Alternative 2) zugrunde ge-

4.1 Aspekte unimodaler Technologiegestaltung

205

legt. Die Erhöhung u m 5 Manntage (gegenüber Alternative 2) soll die höheren Qualitätsanforderungen für das Pflügen reflektieren, c) Aus den Unterlagen geht nicht hervor, ob zusätzliche organische (bargeldlose) Düngemittel m i t verwendet werden.

Unterschiede reduzieren sich jedoch nach Abzug der Barkosten (ohne Lohnarbeit) auf 50 % höhere Erlöse (Deckungsbeiträge). Würde man Lohnarbeit sowie den Faktor Boden bewerten, würde die Bedeutung eines möglichst hohen Ertragsniveaus ersichtlich. Kommerzielle Farmunternehmungen könnten auf der Basis des niedrigen Erlösniveaus kaum mehr Renditen erzielen, welche die Investitionen attraktiv machen würden (die Lohnkosten im formalen Landwirtschaftssektor würden bei 250,- K.Shs liegen, und für die Verzinsung des in Boden angelegten Kapitals wäre die Zugrundelegung von 200,- K.Shs/ acre sicherlich eine sehr niedrig liegende Annahme). Sieht man von Detailangaben der beiden empirisch abgeleiteten Alternativen (ihren vermutlichen Ungenauigkeiten, nicht berücksichtigten Kostenfaktoren usw.) ab, läßt sich generell doch sehr deutlich nachweisen, daß auch unter dem Gesichtspunkt der Chemikalien-Inputgestaltung für HYVs bimodale wie unimodale Strategien möglich sind. Die Vorteüe einer an der Alternative 2 orientierten unimodalen Strategie sind im obigen Beispiel außerordentlich und können sicherlich nur eingeschränkt auf andere Feldfrüchte und andere Länder/Regionen übertragen werden. Ein Kreditmittelprojekt zur Vorfinanzierung von HYVs bei Kleinbauern, welches 1 Mülion K. Shs zur Verfügung hätte, würde unter der Alternative 1 Saatgut und Chemiaklien für eine Anbaufläche von 2.415 acres vorfinanzieren können, unter der 2. Alternative jedoch für 11.005. Der Gesamtoutput im ersten Fall beliefe sich auf 4.347 t, im zweiten auf 10.715 t und der Arbeitsbedarf auf 109.675 bzw. 547.630 Manntage. Unter Alternative 1 würden Einkommen (Erlöse) abzüglich Barkosten von 1,9 Millionen K. Shs geschaffen und 6,1 Mülionen unter der Alternative 2. Auf welches Inputniveau eine unimodale Förderungsstrategie ausgerichtet werden soll, hängt freüich von vielen Faktoren ab — länder- und ökologiespezifischen, biologisch-genetischen des Sortenmaterials und schließlich von den Preisstrukturen, der Verfügbarkeit von Produktionsfaktoren sowie den KostenErlösvorteilen gegenüber anderen agrarischen Produktionsmöglichkeiten. Im vorliegenden Fallbeispiel wäre es volkswirtschaftlich viel günstiger, die chemischen Inputempfehlungen kleinbauernorientiert zu gestalten. Großbetriebe könnten hier dann zwar nicht mehr konkurrieren; sie wären dann gezwungen, sich auf solche landwirtschaftlichen Aktivitäten zu konzentrieren, in denen sie vorteühaftere Bedingungen haben, was ebenfalls positiv im Hinblick auf die volkswirtschaftliche Ressourcenallokation zu bewerten ist.

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4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

4.1.5.2. Zielgruppenspezifìsche

Eignung

Obwohl unimodale Eignung bestimmte Zielgruppenelemente schon beinhaltet, erfordert die zielgruppenspezifìsche Eignung zusätzliche Kriterien. Die aus der unimodalen Eignungsprüfung abgeleitete Forderung nach möglichst niedrigen Barinputs für die chemischen Komponenten der HYVs - nur so kann ein möglichst großer Teü der kaufkraftschwachen Kleinbauern erreicht werden - kommt auch dem zielgruppentypischen Risikosicherungsbedürfnis von Kleinbauern entgegen. Bülige Inputpakete für die HYVs sind deshalb sowohl aus Gründen der Unimodalität als auch kleinbauerntypischer Bedürfnisse notwendig. Weniger zielgruppenspezifìsche Eignung hat jedoch die hohe Ertragssensibüität, die von den allgemeinen Kultivationsstandards, den Bodenqualitäten und Wassermengen abhängt, sowie die niedrige Krankheits- und Ungezieferresistenz. Die Asian Development Bank (1978) fordert deshalb zu Recht als eine der besonders wichtigen Aufgaben der Agrarforschung für die Zukunft die Entwicklung von Sorten mit besseren Erträgen, die den ökologisch nicht so günstigen Regionen, den kleinbauerntypischen Kultivationsstandards und den Resistenzbedürfnissen gerecht werden. Besonders kritisch betrachten eine Reihe von Autoren darüber hinaus die Verwendung von Hybriden im Rahmen der biologisch-chemischen Innovationen (vgl. z. B. Morss et al., 1976, S. 103-110). Hybrid-Saatgut kann nicht aus der eigenen Ernte gewonnen werden und macht deshalb Kleinbauern in ganz besonderem Maße außenabhängig. Die Einfuhrung von Hybriden wurde nach Morss et al. unter der Zielsetzung der Ertragsmaximierung (vgl. Alternative 1 der Inputgestaltung) besonders zur Sicherung der nationalen Nahrungsmittelproduktion eingeführt und entspricht meist nicht kleinbäuerlichen Zielen. Kleinbauern streben zwar auch Einkommenssteigerungen an, - dies jedoch einmal, ohne Boden und Famüienarbeit bewerten zu können (da kaum'Verwendungsalternativen bestehen), weshalb für sie auch schon geringe Einkommenssteigerungen ohne entsprechende Barinvestitionen interessant sind, und zum anderen, ohne vermehrt Risiken (besonders für den Subsistenzbereich) eingehen zu müssen. Morss et al. (1976) beschreiben sehr anschaulich die Risikosituation, in welche Kleinbauern durch die „moderne" Technologie im Umfeld der Hybrid Saatgutinnovationen geraten: „ T h e modern technology creates a dependency of the farmer on outside institutions, resources and services - agrochemical suppüers, banks, marketing institutions, extension agencies - all staffed by 'aliens' whose interests are very different from his own. These new relationships impose obligations which, i f the farmer fails to meet them, expose h i m to fines, confiscation of his assets and other penalties. However, i f the outsiders fail to meet their obligations to

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen

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the farmer - as happens often and repeatedly - they are in no way penalized or accountable to their clients. Such dependency represents yet another form of risk to the small farmer, particulary if the government's agricultural service delivery mechanisms are not well developed" (ebenda, S. 104).

4.2. Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen zur Einführung und Nutzung unimodaler Technologieinnovationen (Agrardienste) An viel früherer Stelle wurde gezeigt, daß Kleinbauern häufig deshalb technologische Innovationen nicht oder nur zögernd übernehmen, weü bestimmte „Begleitumstände" - ζ. B. Schwierigkeiten in der Inputversorgung, fehlender Zugang zu Krediten, Vermarktungsprobleme usw. — als Hemmfaktoren wirken. Auch Innovationen, welche finanzielle, volkswirtschaftliche, unimodale und zielgruppenspezifìsche Eignung haben, werden von Kleinbauern nicht „automatisch" adoptiert, solange die Begleitumstände im Verwendungszusammenhang nicht ebenfalls kleinbauernfreundliche Strukturen aufweisen. Die Schaffung kleinbauernfreundlicher Bedingungen zur Einführung und Nutzung solcher Innovationen ist in diesem Zusammenhang Aufgabe der Agrardienste. In den folgenden Ausführungen sollen Ansatzpunkte für die Agrardienste diskutiert werden, über die solche kleinbauernfreundlichen Bedingungen geschaffen werden können. Kleinbauernorientierte Agrardienste bedürfen der zielgruppenspezifischen Gestaltung, die dann gewährleistet ist, wenn die Dienste auf den Abbau der kleinbauerntypischen Hemmfaktoren ausgerichtet sind, die der Nutzung an sich zugänglicher Ressourcen entgegenstehen. Wie auch schon im Falle der Technologiegestaltung kann dabei hier nicht die Vielfalt aller möglichen Hemmfaktoren, die mit der Zahl kleinbäuerlicher Untergruppen variiert, berücksichtigt werden. Dies kann nur im Rahmen konkreter Projekte bewerkstelligt werden. In einer allgemeinen Analyse kann man nur von kleinbauerntypischen Merkmalen ausgehen, die weltweit als charakteristisch für Entwicklungsländer gelten - wie z. B. die schon durch den Eintritt kleiner Risikofälle verursachte Gefahr der Existenzbedrohung oder die niedrige Selbsthüfefähigkeit beim Auftreten lokaler Vermarktungsschwierigkeiten.

4.2.1. Ansatzpunkte für die Agrarberatung (Extension) Personalintensive Agrarberatungsdienste des Staates - normalerweise Unterabteüungen der Agrarministerien - wurden in fast allen Entwicklungsländern zur Förderung landwirtschaftlicher Innovierungsprozesse eingerichtet. Ihre her-

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4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

kömmliche Aufgabe besteht in der meist non-formalen Übermittlung von Wissen und Fertigkeiten, die für die effiziente Nutzung von Innovationen benötigt werden (vgl. z. B. Coombs with Ahmed, 1974). Freüich wurden die Beratungsdienste sehr häufig für weitere Aufgaben eingesetzt - so z. B. zur Inputverteilung, zur Kreditvergabe oder zur Vermarktung und dies oft informal, weü das Agrarministerium über keine andere Institution zur Regelung kurzfristig anfallender Angelegenheiten im Umfeld agrarischer Innovationsprozesse verfügt. Schließlich kommen den Beratungsdiensten in der Regel noch Funktionen der Datenbeschaffung zu. Sie sollen z. B. Auskunft über die mit neuem Saatgut bestellte Anbaufläche in einem Gebiet geben oder das Auftreten von Pflanzenund Tierseuchen melden. De facto haben in vielen Ländern deshalb die Beratungsdienste einen besonders weiten Kompetenzbereich, freüich oftmals nicht formalisiert und nicht systematisch in der Entwicklungsplanung berücksichtigt. Waterston (1976), dessen Untersuchungen über die Eignung der Agrardienste zur Förderung von Kleinbauern auf einer sehr breiten Analyse von Projekten beruhen, sieht in der Beratung, wie unten detaillierter behandelt, die geeignetste Institution zur Identifizierung kleinbauernorientierten Entwicklungsprojektbedarfs. Ihm zufolge haben die Beratungsdienste eine zentrale Mittlerfunktion zwischen Zielgruppen und Projektplanungsinstitution. Über die Beratungsdienste soll systematisch der Einsatz anderer Agrardienste vermittelt werden. Kleinbauernorientierte Beratung hat nach dieser Funktionsinterpretation nicht nur die Aufgabe, kleinbauernspezifische Wissensdefizite und mangelnde Fertigkeiten zu beseitigen, sondern auch den zielgruppenspezifischen Bedarf für andere Förderungsmaßnahmen anzuzeigen.

4.2.1.1. Probleme der Kleinbauernberatung Die Agrarberatung — herkömmlicherweise auf größere und marktorientierte Farmbetriebe ausgerichtet — wird mit zwei grundlegenden Problemen konfrontiert, wenn sie sich auf die Masse von Kleinbauern orientieren soll. Diese Probleme lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen: 1. Die individuelle Beratung von Kleinbauern ist zu kostenaufwendig. 2. Der durch Beratung eingeleitete Verbreitungsprozeß agrarischer Neuerungen verläuft bei Kleinbauern unbefriedigend. Bei gleichbleibendem Beratungsaufwand (Personal, Anzahl der Beratungsempfänger, Besuchsfrequenz, Beratungsintensität usw.) nimmt die Wirtschaftlichkeit mit kleineren Betriebsgrößen ab, denn die Betriebsgröße bestimmt entscheidend das zusätzlich erwirtschaftbare Ertragsvolumen.

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen

209

Die Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten kann - abgesehen von regional begrenzten Sonderprojekten (ζ. B. Bewässerungs- und Neusiedlungsprojekte oder „outgrower schemes" von Agroindustrien) oder Projekten für hochwertige Anbaufrüchte - nicht über den direkten Kontakt von Berater zu Bauer vollzogen werden. Dazu ist die Kleinbauernbevölkerung viel zu groß. Nicht viele Entwicklungsländer können sich einen Personalapparat von mindestens durchschnittlich 1 Berater auf unter 500 Bauern leisten. Eine eigene Befragung (des Verf., 1974) von hauptamtlichen Agrarberatern in Kenia hat ζ. B. ergeben, daß diese nach ihrer eigenen Einschätzung maximal etwa ein Dutzend Kleinbauern einigermaßen gründlich, individuell und über eine Anbausaison hinweg zum Zwecke der Einfuhrung einer neuen Anbaufrucht beraten können 2 0 , sofern diese nicht sehr verstreut oder schlecht zugänglich siedeln (vgl. ζ. B. Mbugua et al., 1975, Chapter 8). Der Transfer von Wissen und Fertigkeiten muß deshalb hauptsächlich als autonomer Verbreitungsprozeß von Bauer zu Bauer stattfinden. Weitere spezifische Probleme werden in der Literatur häufig genannt, die sich um diese beiden grundlegenden Schwierigkeiten reihen. Sie beziehen sich durchweg auf die konventionellen allgemeinen Beratungsdienste: - Allgemeine Beratungsdienste sind höchst ineffizient in der Kleinbauernberatung, weü sie darauf die fur die größeren kommerziell betriebenen Farmen entwickelten Ansätze übertragen (vgl. z. B. Morss et al., 1976). -

Sie haben eine hartnäckige Tendenz, ihre Aktivitäten auf die sogenannten progressiven und die größeren Bauern zu konzentrieren - auch wenn sie zur Kleinbauernförderung beauftragt werden (vgl. z. B. Ascroft et al., 1973, oder Benor und Harrison , 1977, oder Bergmann und Eifel, 1976, oder Schulz, 1976, oder Waterston, 1976).

- Vom Beratungsdienst nominierte und aufgebaute „Modellbauern" haben sich als Promotoren autonomer Diffusionsprozesse bei Kleinbauern in der Regel nicht bewährt. Dennoch wird dieser Ansatz als Standarddemonstrationsverfahren weiterbetrieben (vgl. z. B. Morss et al., 1976; Waterston, 1976). - Berater haben zu wenig Transportmöglichkeiten, um ihren Mobüitätserfordernissen nachkommen zu können. Dieses Argument dient mit am häufigsten zur Entschuldigung ausbleibender Diffusionsprozesse (vgl. z. B. Mbugua et al., 1975, Chapter 8). -

Berater seien meist unqualifiziert, wissen zu wenig und haben darüber hinaus eine schlechte Arbeitsmotivation, klagen häufig Projektplaner und Vorge2 0

Freilich unter Weiterführung anderer Routinearbeiten. Die genannte Reichweite erscheint extrem niedrig und mag eine besonders schlechte Arbeitsorganisation reflektieren. Aber auch eine Reichweite für 50 Klienten würde bedeuten, daß nur einer von zehn Betrieben vom Berater erreicht werden kann.

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4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

setzte der Berater, wenn sie die Faktoren geringen Beratungserfolges erklären (vgl. z.B. Chambers, 191 Mbugua et al., 1975, Chapter 8; ODI 1977). -

Die Ziele der allgemeinen Beratungsdienste sind meist wenig konkret und operationalisiert. Deshalb können Maßnahmen nicht sinnvoll konzipiert werden (vgl. z. B. Chambers, 1974; Waterston, 1976).

-

Das Management der Berater ist häufig schlecht. Meist fehlen eine systematische Einsatzpalnung, adäquate Betreuung und Kontrolle (vgl. z. B. Chambers, 1974;Mbugua et al., 1975; Waterston, 1976).

-

Beratung ist oft unzureichend mit den anderen Agrardiensten - Inputversorgung, Kredit, Vermarktung - integriert. Beratung und Agrarforschung sind voneinander isoliert (vgl. z. B. Röling, 1975; Schaefer-Xehnert, 1975; Schönherr and Mbugua, \91S\UmaLele, 1975 ; Waterston, 1976).

-

Beratungsmethoden (Kommunikationstechniken) entsprechen häufig nicht dem spezifischen Denken und Fühlen von Kiembauern (vgl. z. B. Ascroft, et al., 1973).

-

Beratungsinhalte berücksichtigen zu wenig die spezifischen Bedürfnisse der Beratungsadressaten (vgl. z. B. Albrecht, 1978\Jedlicka, \911\Khan, 1977; UmaLele, 1975; Waterston, 1976).

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Beratungsschwierigkeiten bei Kleinbauernorientierung im wesentlichen drei zentrale Aspekte betreffen: 1. das Beraterverhalten, 2. die Beratungsorganisation und das Management von Beratern sowie 3. die Förderungskonzeptionen für die autonome Neuerungsverbreitung. 1. Beraterverhalten: Der Berater hat als Generalist mit dem Auftrag, in allen Bereichen agrarischer Aktivität Verbesserungen zu induzieren, keinen konkreten Auftrag, keine konkreten Ziele und deshalb auch kein konkretes Maßnahmenprogramm. Als „Change Agent" soll er von außen Neuerungsvorschläge an seine Zielgruppen heranbringen. Dies führt regelmäßig zu schlechter Beratung, denn die spezifischen Probleme der Kleinbauern können nicht gebührend berücksichtigt werden. Schlechte Beratung schadet dem Ansehen des Beraters bei der Zielbevölkerung. Aber auch besondere Anstrengungen werden nicht aktenkundig, da es keine systematische Erfolgskontrolle gibt. Berater reagieren auf diese Situation häufig mit Inaktivität gegenüber Kleinbauern und betreiben dann oft genug Pseudoberatung: z. B. das Verteüen von als Demonstrationsmittel deklarierten, subventionierten Inputs an Bauern, die diese bereits kennen und der Subvention wegen bereitwülig verwenden. Letzteres erfüllt auch Pseudoerfolgsnachweise der Beratung: Adoption gemessen nach dem Gewicht (Volumen) verteüter Inputs und/oder nach Fläche unter neuer Anbaumethode.

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen

211

2. Beratungsorganisation und das Management von Beratern: Herkömmliche Beratung ist nach dem funktionalen Prinzip (Schaefer-Kehnert, 1975) organisiert, das ihr administrative Eigenständigkeit zuerkennt. Das funktionale Organisationsprinzip geht davon aus, daß die anderen Agrarfunktionen (Input, Kredit, Vermarktung) bereits bestehen und funktionieren. Dieses Prinzip hat sich, wie an früherer Stelle analysiert, negativ auf die Kleinbauern ausgewirkt. Kleinbauern sind im Gegensatz zu den größeren Marktbauern kaum in der Lage, die Koordinationsmängel der verschiedenen Agrardienste durch eigene Anstrengungen zu kompensieren. Es fehlen ihnen die notwendigen Informationen und die Mittel dazu. Der Verzicht auf Managementsysteme für die Beratung bzw. der lediglich generelle Auftrag für die Berater, Fortschritte in der Agrarproduktion zu induzieren, macht den systematisch geplanten und kontrollierten Einsatz von Personen zur Erreichung eines Zieles kaum möglich. Unbrauchbare Berichte der Berater, inadäquate Anweisungen der Vorgesetzten, administrative Überforderung wie auch Leerlauf, Kompetenzüberschneidungen und Unsicherheit sind Ergebnisse fehlenden Managements (vgl. ζ. B. Chambers, 1974; Waterston, 1976). 3. Förderungskonzeptionen ßr die autonome Neuerungsverbreitung: Konventionelle Beratung basiert die Förderung autonomer Neuerungsverbreitung hauptsächlich auf die Demonstrationswirkung technologisch besonders fortgeschrittener Bauern, die als Vorbildmodelle fungieren sollen und/oder auf die Vorbüdwirkung eigener Demonstrationen (ζ. B. auf gepachtetem oder öffentlichem Land). Die Wirkungen dieser Verbreitungsstrategie sind seit einigen Jahren nicht mehr umstritten. Es gilt: (1) Eine Vorbüdwirkung fur Kleinbauern ist nur dann gegeben, wenn die Modelle zeigen, wie ein kiembäuerliches Problem unter den spezifisch kleinbäuerlichen Bedingungen gelöst werden kann (ζ. B. Morss et al., 1976). (2) Da die Problemlösungsmodelle häufig auf die mittel- und großbäuerlichen Probleme (oft bereits marktorientierter Unternehmen) abstellen und ihnen zudem oft die untypischen Bedingungen von agrarischen Forschungsstationen und/oder staatlich geführten Farmen zugrunde liegen, lösen sie nur selten (zufällig) die spezifisch kleinbäuerliche Problemsituation. Der so induzierte Verbreitungsprozeß kann bei Kleinbauern keine guten Ergebnisse zeigen, weü die angebotenen Modelle für sie keine Problemlösung gewährleisten (z. B. Morss et al., 1976; Röling et al., 1976). Für kleinbauernadäquate Beratung ergeben sich deshalb einschneidende Konsequenzen. Die folgenden Empfehlungen wurden in ihrer theoretischen Begründung bereits im Rahmen der „mikrosoziologischen Problematik technologischer

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4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Innovierungsprozesse bei Kleinbauern" (vgl. Kapitel 3) diskutiert und können deshalb in komprimierter Weise nochmals dargestellt werden.

4.2.1.2. Beratung ah Problemlösungseinstieg Maßnahmen der Kleinbauernberatung sollen, wie schon angesprochen, auf dem Problemlösungsansatz basieren: Nicht irgendwelche Neuerungen sollen von außen an die Kleinbauern herangetragen werden, sondern umgekehrt müssen Innovationen von den konkreten Problemen, welche Kleinbauern haben, als spezifische Lösungsvorschläge abgeleitet werden. Aus der konkreten Problemsituation lassen sich solche Neuerungsempfehlungen bestimmen, die zur Lösung eben dieses Problems eingesetzt werden können. Dieses Vorgehen entspricht der bereits formulierten Zielgruppenmethodik (vgl. z. B. auch Albrecht, 1978; oder Khan, 1977). Waterston (1976) bezeichnet den Problemlösungsansatz überhaupt als das wichtigste alternative Prinzip gegenüber dem konventionellen Beratungsansatz. Dieses Prinzip hat nach Waterston folgende Grundelemente: -

Beratung strebt die Lösung konkreter Probleme der Zielgruppe (Kleinbauern an).

-

Die Entscheidung darüber, was ein konkretes Problem ist und wie wichtig das Problem ist, hängt mit von der Bewertung durch die Betroffenen ab und kann deshalb nur unter Mitwirkung der Zielgruppe getroffen werden.

-

Die Bestimmung der Maßnahmen zur Lösung des einmal identifizierten Problems bedarf ebenfalls der Vorschläge und Zustimmung der Zielgruppe, denn liegt deren Zustimmung vor, kann von einer großen Bereitschaft der Zielgruppe zur Mitwirkung bei der Problemlösung ausgegangen werden. (Dies ist eine Bedingung eines schnellen, autonomen Verbreitungsprozesses).

- Da die Zielgruppe ein Bestandteü eines größeren (z. B. dörflichen) sozialen, politischen und ökonomischen Systems ist, müssen bei der Problemidentifikation und der Maßnahmenbestimmung die Exponenten (Führer) des übergreifenden Systems mit einbezogen werden. Diese Einbeziehung reduziert mögliche Opposition lokaler Führer. Darüber hinaus produziert längerfristig die mit den Problemlösungsaktivitäten verbundene Gruppenformierung, Komiteebildung usw. neue Führung (Funktionseliten), die als Gegengewicht zur möglichen Vetomacht traditioneller Führung fungieren kann. -

Problemlösungsberatung muß die Einbeziehung und Koordination aller notwendigen Maßnahmenbereiche (z. B. Inputbereitstellung, Kredit, Vermarktung, Infrastruktur usw.) induzieren. Ihr kommt deshalb eine Art Einstiegsund Integrationsfunktion für ein „program buildung" zu, über die sich kom-

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen

213

plementäre Maßnahmenbedürfnisse auch aus anderen Bereichen bestimmen lassen.

4.2.1.3. Beratung ah organisiertes Programm Maßnahmen der Beratung, so die Forderung, sollen programmiert sein, d. h., daß jede Beratungsaktivität Bestandteil eines Projektes ist mit genau definierten Zielen, darauf abgestimmten Maßnahmen, die einem Zeitplan unterliegen und als Planungs-, Monitoring- und Evaluierungssystem im Projektmanagement eingebettet sind. Die Programmierung der Beratung soll zugleich Bestandteü eines alle Agrardienste integrierenden, umfassenderen Projektes sein (vgl. ζ. B. Benor and Harrison, 1977; Chambers, \91A\Kulp, 1970; Schönherr, 1975 b, Weltbank, 1977; Waterston, 1976). Die Programmierung der Beratung bedeutet nicht, daß Beratung nur noch fur eine spezifische Einzelaktivität oder Einzelfruchtförderung eingesetzt werden soll. Auch darf sie nicht mit dem Extension-Konzept des „closed supervision" verwechselt werden. Prinzipiell bleibt die Beratung für alle Problembereiche zuständig, für die sie Beiträge zur Problemlösung leisten kann. Jedoch wird sie nicht viele Probleme zugleich behandeln können, sondern versuchen müssen, sukzessive Lösungen für konkrete Einzelprobleme zu entwickeln und Anstöße zur Verbreitung des vorgeschlagenen Problemlösungsverhaltens zu geben. Das heißt aber auch, daß die Beratung sich nicht mit einem Einzelproblem solange zu befassen hat, bis es bei den meisten der in Frage kommenden Kleinbauern gelöst ist, sondern nur bis Kleinbauern beginnen, das empfohlene Problemlösungsverhalten erfolgreich zu übernehmen, oder anders ausgedrückt, bis der autonome Verbreitungsprozeß der Neuerung bei der kleinbäuerlichen Zielgruppe einsetzt. Durch Programmierung wird jede Beratungsaktion zu einem „Projekt". Da jedoch die Abwicklung von Projekten Alltagsgeschäfte für jede Entwicklungsadministration darstellt, handelt es sich dabei im Prinzip um keine neuen Verwaltungsanforderungen. Typisch ist jedoch, daß es sich häufig um kleine, relativ schnell wechselnde Projekte handelt, die in der Verwaltungshierarchie relativ weit unten angelagert sind. Spezifisch sind deshalb auch die Anforderungen an das Management des Beraterpersonals, das in der Regel ohne den täglichen Kontakt mit seinen Vorgesetzten und in räumlicher Distanz zur relevanten Verwaltungsinstitution in den Dörfern tätig ist. Für diese spezifischen Verwaltungserfordernisse wurde eine Reihe von Managementsystemen entwickelt und getestet. Sie beziehen sich besonders auf zwei Bereiche: 1. den Kommunikationsfluß zwischen Beratern und Vorgesetzten, 2. den Entscheidungspozeß (decision making) für die Beratungsziele und die Planung der Maßnahmen.

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4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

1. Kommunikationsfluß: Vorgeschlagen wird die Einführung bestimmter einfach zu handhabender Formblätter oder Bücher („paper work"), die in regelmäßigen Abständen auf Sitzungen mit den Vorgesetzten ausgewertet werden. Es handelt sich hierbei praktisch um ein Monitoring- und Evaluierungssystem, das die Informationsbasis für die Zielfestsetzung und Maßnahmenplanung büdet (vgl. z. B. Benor and Harrison , 1977; Chambers, 1974; Kulp, 1970). 2. Entscheidungsprozeß: Der Entscheidungsprozeß über die Zielfestsetzung und Maßnahmenplanung hat — was das Beratermanagement betrifft — einmal Routineaspekte, die beispielsweise auf den regelmäßigen Monitoring- und Evaluierungssitzungen behandelt werden sollen (vgl. Chambers, 1974). Zum anderen können jedoch neue und komplexe Bereiche für die Entscheidungsfindung (z. B. die Planung neuer Beratungsaktivitäten) kaum auf solchen Sitzungen gebührend berücksichtigt werden. Dafür werden „Workshops" oder „Inservice-training" (z. B. 1 Woche) empfohlen, an denen Berater und Vorgesetzte teünehmen. Diese haben den besonderen Vorteü, daß sich über sie nicht nur komplexere Entscheidungsprobleme lösen lassen, sondern, daß zugleich den mit den neuen Maßnahmenerfordernissen notwendig werdenden, spezifischen Ausbüdungsbedürfnissen für die Berater nachgekommen werden kann (vgl. z. B. Experimente mit „Workshops" in: Schönherr, 1978; Schönherr and Mbugua, 1974). Da die Adäquanz des Entscheidungsprozesses auf dem Zusammenwirken der Kenntnis von lokalen Bedingungen der Berater und der Entscheidungskompetenz der Vorgesetzten beruht, ist die (herkömmlich meist nicht vorgesehene) Beteüigung der Berater am Entscheidungsprozeß sehr wichtig. Die oben erwähnten „Workshops" oder „Inservice-training"-Veranstaltungen geben dieser Beteüigung breiten Spielraum. Als weiterer Effekt partizipativer Entscheidungsfindung wirkt sich die dadurch zu erwartende höhere Identifikation der Berater mit den Zielen und Maßnahmen positiv auf ihre Motivation und ihr Beratungsverhalten aus.

4.2.1.4. Beratung als Gruppenmethode Der Wechsel von der Individual- zur Gruppenberatung ist ein typisches, zielgruppenspezifisches Erfordernis der Kleinbauernförderung, dessen Bedeutung in der neueren projektrelevanten Literatur eingehend behandelt wird (vgl. z. B. Benor and Harrison, \911\Jedlicka, \911\Morss et al., 1976; Waterston, 1976; Weltbank, 1977). Die Gruppenmethode ist nicht nur ein Erfordernis für die Kleinbauernberatung. Sie hat auch Bedeutung für andere Agrardienste. Das Grundproblem kleinbauernorientierter Agrardienste - die zu kleinen Wirtschaftseinheiten

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen

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im Verhältnis zu den Kosten der Dienste - steht und fällt mit dem Gruppenansatz. Im Prinzip ändert sich der kostenmäßige und personelle Aufwand der Dienste nicht, gleichgültig, ob individuelle Personen oder Gruppen von Personen betreut werden. Dagegen hängt die Reichweite der Dienste entscheidend von diesen beiden Alternativen ab. Zusätzlich zum Kostengesichtspunkt hat der Gruppenansatz bei der Beratung weitere wichtige und plausible Vorteüe: -

Bei der Problemlösungsberatung ist kollektiver Konsens für die Problemidentifikation und die Maßnahmenbestimmung notwendig. Dieser Konsens kann praktischerweise in Gruppendiskussionen erzielt werden.

-

Die Büdung von Gruppenorganisationen (auch für kurzfristige Ziele) schafft zahlreiche neue Führungsfunktionen innerhalb der Gruppen. Die Betreuung und das Sich-Üben vieler Personen in Führungsfunktionen hat einen wichtigen Mobüisierungseffekt für die Zielgruppe. Ihre Selbsthüfefähigkeit wird dadurch erhöht; Funktionseliten können sich entwickeln.

-

Der autonome Verbreitungsprozeß (außerhalb der Gruppen) erhält viel stärkere Impulse als bei der indivieullen Beratung. Der Demonstrationseffekt einer ganzen Gruppe, die geschlossen eine Innovation übernimmt und gutheißt, ist allgemein überzeugend und wird auch schnell bei sehr vielen in der Region bekannt. Vor allem dann, wenn die Gruppenmitglieder einen in etwa repräsentativen Querschnitt der Kleinbauernbevölkerung darstellen, findet sich für jede Statusgruppe eine Bezugsperson in der Gruppe, die sich statusmäßig nicht stark abhebt. Dadurch haben die Gruppen für einen viel breiteren Kreis eine hohe Innovationsrelevanz (vgl. das Prinzip der „Homophüy", Kapitel 3.2.3.) als dies beispielsweise beim Demonstrationseffekt sogenannter „progressiver" Bauern der Fall ist.

-

Das Adoptionsverhalten der Gruppenmitglieder findet in ständiger Kommunikation und unter der gegenseitigen Kontrolle statt. Dies führt zu einer zusätzlichen gruppeninternen Mobüisierung mit dem Ergebnis allgemein qualitativ besseren Adoptionsverhaltens als beim individuellen Ansatz.

-

Auch hat sich erwiesen, daß in Gruppen organisierte Kleinbauern auch das Verhalten der Berater effektiv kontrollieren können. Morss et al. (1976) haben in ihren Projektanalysen festgestellt, daß dieser Aspekt ein entscheidender Faktor erfolgreicher Beratungsprojekte war.

-

Die vom Potential her vielleicht größte Chance zur Steigerung der Beratungseffizienz liegt in der Möglichkeit, daß über die Gruppenorganisation Beratungsfunktionen von den Kleinbauern selbst übernommen werden können. Dies wurde in den vorausgegangenen Punkten teilweise schon angedeutet. Darüber hinausgehende, weitere Funktionen können von ihnen ausgeübt werden. (So können z. B. Repräsentanten vieler Gruppen an einem zentralen Ort von einem einzigen Berater betreut werden. Die Gruppen-

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4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

repräsentanten betreuen dann ihre eigenen Gruppenmitglieder selbständig ohne Beanspruchung des Beraterapparates.) Die Übernahme von solchen Funktionen bedeutet nicht nur eine kostenmäßige Effizienzerhöhung, sondern reduziert auch die Außenabhängigkeit und stärkt die Selbsthilfefähigkeit der Kleinbauern. Schaefer-Kehnert (1977) und Waterston (1976) haben versucht, anhand von Projektanalysen Kriterien für die Gruppenbildung von Kleinbauern zu finden. Obwohl Schaefer-Kehnert die Gruppenbildung im Zusammenhang mit den Agrarkreditdiensten behandelt, lassen sich bestimmte Empfehlungen beider Autoren auf andere Dienste - hier die Agrarberatung - übertragen, zumal die verschiedenen Agrardienste nicht jeweüs ihre eigenen Adressaten haben, sondern umgekehrt für bestimmte Problemsituationen die Hüfe verschiedener Agrardienste für ein und dieselbe Zielgruppe benötigt wird. Kriterien für die Büdung von Kleinbauerngruppen können deshalb fur alle relevanten Agrardienste standardisiert werden. Kleinbauerngruppen sollen im Hinblick auf Agrardienste also folgende allgemeine Merkmale aufweisen: -

Gruppen sollen nur so viele Mitglieder umfassen, daß persönlicher Kontakt zwischen den Mitgliedern noch möglich ist (Schaefer-Kehnert: 10-30 Mitglieder). Anonyme Körperschaften (große Genossenschaften) eignen sich weniger zur Ausnutzung typischer Kleingruppeneffekte, solange sie sich nicht selbst z. B. in kleine Gruppen unterteüen. Der Formalisierungsgrad ist dabei wenig relevant. Nachbarschaftsgruppen haben sich z. B. als geeignet erwiesen.

-

Gruppen sollen in etwa homogen im Hinblick auf die Einkommen der Mitglieder sein (nicht sehr reiche und sehr arme Bauern oder sehr große und sehr kleine Betriebe zusammen).

-

Die Mitgliedschaft in einer Gruppe soll kulturelle Gemeinsamkeit berücksichtigen. Es muß ein Grundverständnis der Zusammengehörigkeit (soziale Kohäsion) bei den Mitgliedern vorhanden sein.

-

Die Gruppe muß als Ganzes für einzelne Mitglieder Verantwortung übernehmen (kollektive Sicherung: Solidarprinzip).

-

Andererseits muß die Gruppe wülig sein, ihre Regeln sorgfältig gegenüber den Mitgliedern durchzusetzen („screening") und Verstöße sanktionieren.

-

Funktionsfähige Gruppen können nicht von oben oder außen zusammengestellt werden. Die Gruppenmitgliedschaft muß auf Freiwilligkeit beruhen. Dasselbe Prinzip güt für die Gruppenführung, die nicht von oben oder außen ernannt werden darf.

-

Um Gruppenbüdung anzuregen, bedarf es Anreize. Solche Anreize können in Mengenrabatten (Inputs), Vermarktungserleichterungen usw. oder ver-

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen

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bessertem Zugang zu den Agrardiensten bestehen. Wenn Gruppen existieren, müssen sie deshalb Präferenz in der Betreuung gegenüber Individuen erhalten. - Alle Gruppenfuhrungsfunktionen prinzip). -

sollen ehrenamtlich sein (Selbsthilfe-

Die Einführung und Ausweitung kleinbäuerlicher Gruppenorganisationen für die Programme der Agrardienste bedürfen der Unterstützung („Absegnung") lokaler und nationaler Führung, die deshalb in den Planungs- und Vorbereitungsprozeß in geeigneter Weise einbezogen werden sollen.

Nur in wenigen Entwicklungsländern kann vom Bestehen einer für die Beratung sofort nutzbaren kleinbäuerlichen Gruppeninfrastruktur ausgegangen werden. Dies ist auch keine Vorbedingung. Wie zahlreiche Projektanalysen in Ländern mit sehr unterschiedlichen politischen und sozialen Strukturen zeigen, lassen sich solche Gruppen offensichtlich einfach und schnell formieren. Zwei einfache und empirisch getestete Methoden der Gruppenformierung wurden im kenianischen „Special Rural Development Programme" entwickelt (vgl. Mbugua et al., in: I.D.S., 1975, Chapter 8), die im folgenden kurz charakterisiert werden sollen. Methode a: Gruppenformierung zum Zwecke einer zeitlich begrenzten Beratungsaktion (z. B. Demonstration einer Innovation) 1. Die bäuerliche Dorfbevölkerung wird auf einer (üblichen) Dorfversammlung gründlich über den Zweck der Gruppenformierung für das Beratungsprojekt vom zuständigen Dorfführer und dem Berater informiert. 2. Danach wird von der Versammlung selbst eine kleinere Anbauregion ausgewählt. Bauern, die dort Felder haben, sind Anwärter für die Gruppenmitgliedschaft. 3. Die Versammlung schlägt Gruppenmitglieder aus dem Kreise der Anwärter vor. Priorität für die Mitgliedschaft haben diejenigen Bauern, deren Felder sich zu einem „Cluster" (Block, möglichst enge regionale Konzentration der Felder) zusammenfugen lassen. Keine Ausnahmen sollen von diesem „Nachbarschaftsprinzip" gemacht werden, da hierdurch gewährleistet werden soll, daß die Gruppenmitgliedschaft einen repräsentativen Querschnitt (was praktisch Kleinbauerndominanz bedeutet) der Bauernbevölkerung darstellt. 4. Die so ausgewählten Gruppenmitglieder wählen später, nach ausreichender Zeit zur gruppeninternen Diskussion (nicht schon auf der Dorfversammlung) ihren Gruppenrepräsentanten und ihren Buchführer („Secretary"). Nur solche Gruppenmitglieder können zu Führern gewählt werden, die permanent als Bauern im Einzugsgebiet der Gruppe arbeiten (z. B. nicht Pastoren, Lehrer oder Geschäftsleute).

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4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Methode b: Gruppenformierung zum Zwecke zeitlich nicht begrenzter Beratung und zur direkten Erreichung eines möglichst großen Teils der Kleinbauern in einer Region 1. Vorgang zunächst wie Methode a l . , jedoch werden hier keine Gruppen gebildet, sondern nur ein bis zwei Dutzend zukünftige Gruppenführer gewählt, die alle bestehenden sozialen (verwandtschaftlichen) Kleingruppierungen unter der Bauernbevölkerung repräsentieren sollen. 2. Die Führer büden danach mit ihren Bezugspersonen Gruppen, die vom Beraterpersonal registriert werden. 3. Die Gruppenrepräsentanten eines ganzen Dorfes büden ein Komitee. Beratung findet prinzipiell nur noch über die Komitees statt. Jedes Dorfkomitee entsendet weiter einen Vertreter auf eine regelmäßig stattfindende Versammlung aller Komiteevertreter der übergeordneten regionalen Verwaltungseinheit. Wichtige Beratungsentscheidungen werden dort mit den Vorgesetzten der Berater beschlossen. Nach der Methode b wurden von einem einzigen Beratervorgesetzten (Divisional AAO) in 23 Dörfern über 200 Gruppen innerhalb einer Zeitspanne von nur etwa 6 Wochen formiert und auf dieser Gruppenbasis die besten Beratungserfolge im gesamten „Special Rural Development Programme" in Kenia erzielt (Mbugua et al., in: I.D.S., 1975 a, Chapter 8). Die Formierung von Gruppen kann organisatorisch also relativ schnell und einfach bewerkstelligt werden. In einem sambisch-deutschen Regionalprojekt wurden auf der Basis der kenianischen SRDP-Erfahrungen mit kleinbäuerlichen Gruppenansätzen für Agrardienste experimentiert und ein standardisiertes Verfahren zur Gruppenbüdung entwickelt und getestet (vgl. GTZ/IRDP/Schönherr and Weyl, 1980). Dieses sambische Verfahren berücksichtigt noch stärker als die kenianischen Experimente die systematische Einbeziehung lokaler Führungsinstitutionen und der Administration. Die einzelnen Schritte dieses Verfahrens gestalten sich wie folgt: „1st step: Full briefing of the District Agricultural Officers and their Assistants (Seminar on provincial level chaired by the Provincial Agricultural Officer). 2nd step: Preparing plan of action proposal (on project level) by relevant project /department staff (workshop chaired by DAO/Project coordinator). 3rd step:

Full briefing of field staff (workshop organized by relevant staff supervisors).

4th step:

Involvement of management).

5th step:

Meetings w i t h village leaders in the respective areas by field staff, providing full information and seeking approval.

local leaders (Seminar

organized by project

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen 6th step:

219

7th step:

Meetings w i t h village population, providing full information, explaining how the farmer groups have to be formed and the groups should select their chairmen and secretaries. Formation of groups by the villagers themselves and registration

8th step:

Training of group chairmen and secretaries.

of the group by the field staff. 9th step:

Farmer groups start to act (construct input shed, make decisions on crops, input and credit demand, extension requirement etc.)"

(Schönherr,

1980).

Abschließend soll auf die Gefahr einer Fehlreaktion bei Beratungsproblemen hingewiesen werden. Auf die Schwierigkeiten allgemeiner Beratungsdienste bei der Kleinbauernbetreuung reagieren Politiker und Praktiker oft mit folgenden Maßnahmenforderungen: - mehr formale Ausbildung der Berater, - mehr Geld für Beratungsdienste, - mehr Gerät (Fahrzeuge usw.) für die Berater. Diese Maßnahmen sind jedoch nicht geeignet, die grundlegenden Probleme der Kleinbauernberatung zu lösen. Häufig wird durch solche Maßnahmen sogar das Gegenteü erreicht: noch weniger effiziente Beratung, da sie erheblich teurer wird, aber kaum die Neuerungsverbreitung verbessert. Empirische Untersuchungen in Kenia (Leonard, 1974) weisen beispielsweise nach, daß beim dortigen, konventionellen Beratungsdienst die Effizienz der Berater mit der Höhe der formalen Büdung signifikant abnimmt (ohne Berücksichtigung der Büdungskosten). Dieses Phänomen wird von Leonard mit der abnehmenden Praxisnähe (und -Orientierung), die oft mit formaler Büdung einhergeht, erklärt. Die grundlegenden Methoden zur Effizienzerhöhung liegen in der gleichzeitigen Implementierung des Problemlösungs-, Programmierungs- und Gruppenansatzes, die bei gegebenem formalem Ausbüdungsstand der Berater, sowie gegebener Finanz- und Geräteausstattung der Dienste bewerkstelligt werden kann. Erst auf dieser Grundlage mag es sinnvoll sein, die Ausbüdungs- und andere Aufwendungen für die Beratung zu erhöhen.

4.2.1.5. Exkurs: Ausbildungskurse für Kleinbauern Ausbüdungskurse für Bauern (Farmers training) kann man als formalisierte oder schulmäßige Beratung verstehen. Es soll deshalb im Rahmen zielgruppenorientierter Agrarberatung kurz auf kleinbauernspezifische Aspekte der Schulung verwiesen werden.

220

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Konventionelle Schulung von Bauern (Kurse in Ausbildungszentren) hat ähnliche Schwächen wie konventionelle Beratung: Wenige werden erreicht, hohe Kosten fallen je Schulungsteilnehmer an. Der Lernerfolg bei Kleinbauern ist gering, weil ihrem Bildungsstand wenig Rechnung getragen wird und weil die Unterrichtung allgemeiner landwirtschaftlicher Themenstellung wenig Bezug zu den Tagesproblemen von Kleinbauern hat. Zudem bringt der bloße Besuch eines Schulungszentrums für viele Kleinbauern Probleme: Transport und Abwesenheit von Hof und Familie. Einige Projektversuche (z. B. Khan,, 1977; Mbugua et al., in: I.D.S., 1975 a, Chapter 8; Waterston, 1976) geben Hinweise fur kleinbauernorientierte Ausbildungsansätze folgender Art: — Billiger, massenwirksamer und für Kleinbauern problemloser ist die Abhaltung von kurzen Kursen (z. B. 2 Tage) in den Dörfern selbst. Für spezielle Ausbildungsaufgaben, z. B. das Trainieren von Ochsen als Zugtiere, sind auch längere Kurse sinnvoll. — Die Ausbildung muß dabei immer konkrete Probleme der Teilnehmer behandeln. Dies ist z. B. eher gewährleistet, wenn die Ausbildung integrierter Bestandteil eines konkreten Projektes ist, an dem die Kursbesucher beteiligt sind. (Zur Identifizierung der Probleme vgl. die Maßnahmen der problemorientierten Beratung.) — Die Ausbildung in den Dörfern kann sehr kostensparend gestaltet werden, wenn sie z. B. von kleinbäuerlichen Gruppeneinrichtungen vorbereitet und besucht wird (Nutzung bestehender Gruppeninstitutionen). — Bestehende Schulungszentren sollten sich verstärkt auf die Ausbildung von Delegierten von Kleinbauerngruppen konzentrieren, die dann gruppeninterne Beratungsaufgaben (Weitervermittlung der Schulung innerhalb der Gruppeninstitutionen) leisten. Weitere kleinbauernorientierte Funktionen der Schulungszentren sind z. B. die Organisation und Vorbereitung von Kursen in den Dörfern, sowie das Inservice-training (Workshops) für die Berater (vgl. die Empfehlungen zum Beratungsmanagement, Abschnitt 4.2.1.3.).

4.2.2. Ansatzpunkte für die Vorfinanzierung agrarischer Innovationen (institutioneller Kleinkredit) Die strukturell bedingte Kaufkraftschwäche (Johnston and Kilby, 1975) des kleinbäuerlichen agrarischen Subsektors begründet die Kreditierung von Inputs als ein wichtiges Instrument der Kleinbauernförderung. Zwar wird in der empirisch orientierten Literatur wiederholt auf die Sparwilligkeit und -fähigkeit von Kleinbauern für sich lohnende Investitionen verwiesen (z. B. von Pischke, 1973, 1975). Dies ist zumal für bereits marktintegrierte Betrie-

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen

221

be möglich, zum anderen dann auch für Subsistenzbauern, wenn diese sich ζ. B. durch den Verkauf von Kleinvieh die notwendigen Barmittel beschaffen können. Da letzteres bei subsistenzorientierter Kleintierhaltung jedoch meist mit vermehrtem Subsistenzrisiko verbunden ist, und der Verkauf von Vieh zur Finanzierung anderer Investitionen nicht notwendigerweise das betriebliche Gesamtergebnis verbessert, spricht wenig für die generelle Eignung dieser Finanzierungsressource. Weil der kleinbäuerliche Subsektor gerade in den ärmsten Entwicklungsländern durch fehlende oder sehr geringe Marktintegration gekennzeichnet ist, bleibt die Kaufkraftschwäche zumindest dort ein Hemmfaktor von entscheidender Bedeutung für die Übernahme produktiver Innovationen. Dementsprechend ist die Vorfinanzierung prinzipiell eine wichtige kleinbauerngeeignete Maßnahmen.

4.2.2.1. Probleme des institutionellen

Kleinbauernkredites

Der institutionelle Agrarkredit für Kleinbauern gehört mit zum problemreichsten Maßnahmenbereich der auf Armutsreduzierung orientierten, ländlichen Entwicklungspolitik. Es läßt sich leicht belegen, daß bisher erheblich mehr Kreditprojekte für Kleinbauern Fehlschläge brachten als Erfolge. Dennoch gibt es mittlerweüe auch genügend untersuchte, erfolgreiche Kreditprojekte, so daß eine Anzahl von Erfolgsfaktoren bestimmt werden kann. Zwei Problembereiche spielen eine zentrale Rolle. Vielfältige andere Probleme reihen sich weitgehend um die beiden Zentralprobleme: 1. Die Ausdehnung des institutionellen Agrarkredits auf die Masse der Kleinbauern ist zu verwaltungsaufwendig und zu teuer. So würde, um ein Illustrationsbeispiel zu nennen, allein die Fahrt mit einem allradgetriebenen Fahrzeug mit Fahrer und Beamten zu einem Klienten zur Eintreibung eines Kredites, den dieser für den Anbau z.B. eines halben Hektars Hochertragsmais bezogen hat, häufig mehr kosten als die gesamte Kreditsumme ausmacht. 2. Das Rückzahlverhalten ist bei vielen Kleinbauern-Kreditprojekten schlecht. Folgende Situation ist für viele Projekte typisch: Weitere Problembereiche, die in der Literatur 2 1 häufig genannt werden, sind folgende: 2 1

Empirisch auf besonders breiter Basis angelegt sind folgende Quellen: — F AO: World Conference on Credit for Farmers in Developing Countries: Agricultural Credit for Development, Rome 14-21 October 1975; - US AID: Guidelines on Project and Program Planning for Small Farmer Credit (ohne bibl. Angaben, vermutlich 1976 oder 1977 erstellt). Beide Quellen basieren auf internationalen Expertenworkshops. Der FAO-

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Tabelle 24: Beispiel des Rückzahlverhaltens in einem Kleinbauernkreditprojekt für Hybrid-Mais in Kenia (SRDP Vihiga/Hamisi) Jahr

Anzahl der Kreditnehmer

Rückzahlrate (in v. H.)

1971 1972 1973

63 323 920

82% 66% 28%

(Quelle: Zusammengestellt aus Wyeth et al., in: I.D.S. (1975 a), Chapter 7, P. 9.

-

In den Entwicklungsstrategien für Kleinbauern hat der Kredit oft einen ungeeigneten Stellenwert. Dem Kredit wird - ähnlich den Erfahrungen im Großfarmensektor — primär eine Mobüisierungsfunktion zugeschrieben. Kapitalmangel wird als vorrangiges Problem kleinbäuerlicher Entwicklung gesehen. Kredit wird an den Anfang einer Sequenz von notwendigen Betriebsveränderungen gestellt. Die nur komplementäre Funktion des Kredits im Rahmen eines Maßnahmenbündels wird dabei oft zu wenig berücksichtigt (z. B. Bottrall, 1976; FAO, 1975; Morss et al., 1976; Pattrick, 1966; von Pischke, 1978; US AID, o.J.; Waterston, 1976; Weltbank, 1975 d).

-

Kredit wird häufig an ein Innovationspaket gebunden, das von Kleinbauern in der gegebenen Zusammensetzung nicht gewünscht wird und oft nicht auf die typische Kleinbauernbetriebssituation abstellt (z. B. Morss et al., 1976; Urna Lele, 1975).

- Der institutionelle Kredit erhöht die Außenabhängigkeit und damit das Betriebsrisiko für den Kreditnehmer. So stellen z. B. die Koordinationserfordernisse von Kreditbereitstellung und Beschaffung der physischen Inputs sowie die zügige Vermarktung der Agrarprodukte neue zusätzliche Risiken dar (z. B. Morss et al., 1976). -

Die Kreditverwaltung ist nicht kleinbauernnah und viel zu wenig dezentralisiert (z.B. FAO, 1975; Waterston, 1976; Weltbank, 1975 d).

-

Die Kreditsicherung ist bei Kleinbauern besonders schwierig, da Land meist aus politischen und sozialen Erwägungen nicht versteigert werden kann (z. B. FAO, 1975; Schaefer-Kehnert, 1977).

Titel stellt das Workshop-Dokument selbst dar; die £/&47Z)-Guidelines beziehen sich wesentlich auf den „ A . I . D . Spring Review of Small Farmer Credit", 197273, i n welchem die A.I.D. Kreditprojekte von 1950-72 ausgewertet wurden

(vgl. z. B.Rice, 1973).

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen

223

-

Eigene Erfahrungen d. Verf. zeigen, daß das Wissen um den Kredit bei Kleinbauern oft sehr vage ist. Sie haben nicht selten eine „cargo"-Einstellung (Staat ist zur Schenkung verpflichtet oder muß die Schuld später erlassen) gegenüber staatlichen Kreditprojekten entwickelt.

-

Für günstige (subventionierte) Kredite gibt es mehr Nachfrage als angeboten werden kann. Die ökonomischen und politischen Strukturen bewirken eine Verteüung zum Nachteü der Kiembauern (ζ. B. Bot trail \916\FAO, 1975; i/&4/£>-Guidelines, o.J.).

-

In der Praxis wird die Masse der Bauern in den Entwicklungsländern, so läßt sich zusammenfassend urteüen, überhaupt nicht mit institutionellem Kredit erreichbar, solange dabei mit konventionellen Kreditsystemen gearbeitet wird.

Zur zielgruppenspezifischen Maßnahmendifferenzierung des kiembäuerlichen, institutionellen Kleinkredits lassen sich wiederum bedeutsame Ansatzpunkte ausmachen. In der empirisch orientierten Literatur konzentrieren sich solche Ansatzpunkte um den Gruppenaspekt, die Kreditsicherung, die Zinshöhe für Kredite und institutionelle Bedingungen der Kreditfinanzierung.

4.2.2.2. Gruppenansatz Noch stärker als bei den Beratungsdiensten wird in der ausgewerteten Literatur die Ausdehnung des Agrarkredites auf Kleinbauern mit der Forderung nach dem Gruppenansatz verbunden. Dieser Ansatz geht davon aus, daß Gruppen als Mittler zwischen Kreditgeber und individuellem Kreditnehmer und/ oder als kollektive Bürgen zur Kreditsicherung fungieren können. Als Gründe lassen sich anhand der Auswertung der obengenannten Autoren folgende Punkte zusammenfassen: -

Die Kreditverwaltungskosten werden dadurch gesenkt, daß ein Teü der Verwaltungsarbeiten in Selbsthüfe durch die Gruppen übernommen und der Verwaltungskontakt zwischen Gruppenführung und Mitgliedern ohne nennenswerten Aufwand hergestellt werden kann. Die Gruppe als Ganzes tritt ferner dem Kreditgeber als ökonomisch interessante Größeneinheit gegenüber.

- Gruppen kontrollieren das Rückzahlverhalten ihrer Mitglieder sorgfältiger als ferne Bankangestellte oder andere externe Beauftragte und können sozialen Druck zu positivem Rückzahlverhalten einsetzen. Durch die Einrichtung der Gruppenverantwortung (Bürgschaft) für das individuelle Rückzahlverhalten kann die Gruppenwirkung verstärkt werden. - Die Organisierung der Kleinbauern in Gruppen begünstigt den für die Kreditverwendung notwendigen Wissenstransfer durch erhöhte Kommunikation zwischen den Gruppenmitgliedern.

224

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

-

Die Mittlergruppen können die Zinshöhe für Kredite gegenüber ihren Mitgliedern (in den Fällen weitgehender Selbstverwaltung) leichter als anonyme Institutionen so ansetzen, daß damit die Kosten für die Verwaltung, Vergabe, Eintreibung und die notwendige Beratung abgedeckt werden.

-

Bei Verwaltung durch eine kleine Gruppe bleibt der Zusammenhang von Zinshöhe für Kredite und Verzinsung der Spareinlagen sichtbar und steigert damit die für eine Expansion der Kreditaktivitäten notwendige Sparwilligkeit (Mobüisierung von Sparen).

-

Die Kanalisierung von Krediten über Gruppen hat gegenüber der direkten Abwicklung zwischen Kreditgeber und -nehmer egalisierende Wirkung für den Kreditzugang, weü die individuelle Kreditwürdigkeit weitgehend durch die kollektive Kreditwürdigkeit ersetzt wird. Letztere zeichnet sich weniger durch persönliche Merkmale der Mitglieder als vielmehr durch kollektive Managementfähigkeiten aus.

-

Die Übernahme von Kreditverwaltungsfunktionen durch Gruppen involviert vermehrt die Partizipanten in Entwicklungsaktivitäten. Dies schafft Interesse (committment) am Gelingen eines Kreditprojektes, was als positiver Faktor für den Projekterfolg zu bewerten ist.

Für die Büdung kiembäuerlicher Kreditnehmer bzw. -mittlergruppen sind, so sei hier nochmals vermerkt, bestimmte Kriterien zu beachten, die im Abschnitt 4.2.1. bereits behandelt wurden. Wichtig ist auch hier der Gesichtspunkt, daß es sich bei den Gruppen nicht um stark formalisierte Einrichtungen (wie z. B. Genossenschaften) handeln muß, sondern auch informelle Gruppierungen, die sich zu einfachen Regeln der Kooperation verpflichten, adäquate Institutionen darstellen können.

4.2.23. Kreditsicherung Kredite im Agrarbereich wurden üblicherweise unter der Bedingung der Realabsicherung - meist durch Grund und Boden - vergeben. Hypothekarkredite sind jedoch normalerweise für Kleinbauern in Entwicklungsländern ein wenig geeignetes Förderungsinstrument, weü sie große Teüe der Kleinbauern disqualifizieren. In vielen Regionen (besonders Afrikas) ist Land entweder nicht staatlich registriert oder es bestehen kommunale Rechte, welche den Transfer von Land ausschließen. Noch wichtiger ist jedoch der Umstand, daß Zwangsversteigerungen von Land zum Zwecke der Kreditsicherung kleinbäuerlichen Famüien die Existenzgrundlage entziehen würden. Man muß dabei berücksichtigen, daß kreditierte Fehlinvestitionen oft durch vom Betroffenen nicht kontrollierbare Faktoren, wie z. B. Verspätungen in der Inputversorgung oder Probleme der Vermarktung, verursacht werden. Ein weiterer Gesichts-

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen

225

punkt wäre, daß der Hypothekarkredit die kleinen Pächter oder die Besitzer von kommunalem Land von vornherein vom Zugang zur Inputvorfinanzierung ausschließt, da nur der Eigentümer von Land dieses als Sicherheit bieten kann. Freüich erlaubt diese zielgruppentypische Risikolage nicht den Schluß, Kleinbauern sollten ohne Sicherung Zugang zu Kreditmitteln erhalten. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob es nicht andere geeignete Kreditsicherungsmöglichkeiten für Kleinbauern (einschließlich kleiner Pächter) gibt. Als Alternative zum Hypothekarkredit bieten sich die durch die Inputvorfinanzierung bewirkten, höheren Erlöse zur Sicherung an. Die Kreditsicherung über die Erlöse hätte nicht nur den Vorteü, daß Zugang zum Kredit nicht mehr von Landbesitzverhältnissen, formaler Registrierung und Betriebsgröße abhängt, sie würde auch das Risiko des Verlustes von Land, das für Kleinbauern Existenzrisiko bedeutet, beseitigen. Ein zusätzlicher Gesichtspunkt erscheint beim Wechsel vom Hypothekarkredit zum Kredit, der über die Erlöse abgesichert wird, von erheblicher Bedeutung. Vom Kreditgeber ist dann auch ein Interesse an der Erlössicherung zu erwarten. Private, genossenschaftliche oder staatliche Kreditgeber konzentrieren unter solchen Voraussetzungen ihre Kreditsicherungsmaßnahmen nicht mehr nur auf restriktive Vergabedingungen und Androhung von Landenteignung bei Rückzahlungssäumigkeit, sondern sie müssen vielmehr Interesse daran haben, daß alle Bedingungen, die zu Erlössteigerungen notwendig sind - besonders die Förderung geeigneter Technologie, Wissensvermittlung, Inputbereitstellung und Vermarktung - möglichst reibungslos funktionieren. Die Kreditsicherung über die Erlöse bedeutet also auch einen Stimulus für die Förderungsinstitutionen zu koordinierter Maßnahmenplanung. Die Kreditsicherung über Erlöse hat jedoch praktische Probleme. Sie setzt voraus, daß die Vermarktung der Produkte der Kreditnehmer kontrollierbar ist. Bei einer Reihe von Export- oder Industriekulturen, vor allem solchen, für die es keine nennenswerten alternativen (lokalen) Märkte gibt, läßt sich die Vermarktung über die Ankaufsstellen kontrollieren. Die Rückzahlung von Krediten kann hier zwangsweise durch Verrechnung gesichert werden. Eine Variante dieses Sicherungssystems wäre die Kreditierung des Anbaus von Kulturen, deren Vermarktung selbst zwar nicht kontrollierbar ist, für deren Kreditsicherung jedoch der Kreditnehmer mit einer kontrollierten anderen Frucht bürgen kann. So können ζ. B. in Kenia Kaffeebauern auch Kredite für den Anbau von Mais beziehen, dessen Vermarktung nicht kontrollierbar ist, indem sie diese mit den Erlösen für den Kaffee, dessen Vermarktung kontrolliert wird, absichern. Die Kontrollierbarkeit der Vermarktung ist jedoch, abgesehen von einigen Marktkulturen (vgl. auch Abschnitt 4.2.3.) nicht typisch für die Erzeugnisse der Masse der Kleinbauern in Entwicklungsländern. Kredite für Hauptanbau-

226

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

früchte wie Reis, Weizen, Mais, Hirse, Hülsenfrüchte, Knollengewächse usw. lassen sich in der Praxis nicht oder nur unzureichend über die Vermarktung sichern, und meistens besteht keine Möglichkeit der ersatzweisen Sicherung über eine Kultur, deren Vermarktung kontrollierbar ist. Für diese typische Situation hat sich nach den Analysen von z. B. Bottrall (1976), FAO (1975), Kreditanstalt . . . (1974), Morss et al., (\916\SchaeferKehnert (1977), Worldbank (1975 d) die Bürgschaft bäuerlicher Kleingruppen bewährt. Die kollektive Bürgschaft besteht darin, daß bei Säumigkeit eines einzelnen Gruppenmitgliedes die ganze Gruppe solange von der Aufnahme neuer Kredite ausgeschlossen bleibt, bis das „Schuldenkonto" der Gruppe ausgeglichen ist. Dieser Ansatz nutzt zur Kreditsicherung den Umstand, daß kleine Gruppen mit „face to face"-Beziehungen das Verhalten ihrer Mitglieder stärker beeinflussen und kontrollieren können, als dies über die sehr partiellen und weitgehend unpersönlichen Beziehungen zwischen Kreditgeber und -nehmer möglich i s t 2 2 .

4.2.2.4. Kreditzinsen Wohl selten klaffen Praxis und Theorie so weit auseinander, wie in der Frage der Zinshöhe für kurzfristige Kleinbauernkredite. Die meisten kleinbauernorientierten Kreditprojekte arbeiten mit nicht-kostendeckenden (subventionierten) Krediten, obwohl Theorie und Empirie belegen: Der kurzfristige Agrarkredit mit hohem (kostendeckendem) Zins ist kleinbauernfreundlich, der subventionierte kleinbauernfeindlich (Bottrall, 1976; FAO, 1975; Kreditanstalt, 1974; Morss et al., 1976; (7SATO-Guidelines, o.J.; Waterston, 1976). Faßt man die Begründungen der verschiedenen Quellen zusammen, so läßt sich das scheinbare „Paradox" der Eignung hoher Zinsen für Kleinbauernkredite schnell erklären. 2 2 Für ein schon weiter fortgeschrittenes, kleinbäuerliches Kreditwesen lassen sich selbsttragende Sicherungsinstrumente einrichten. Schaefer-Kehnert (1977) schlägt ein Verfahren vor, das sich bereits i n einigen Projekten bewährt hat und folgende Komponenten auf weist: - Anstatt Anzahlungen auf die Betriebsmittel zu leisten, zahlen die Bauern einen bestimmten Prozentsatz (z. B. 10 %) des Kreditwertes i n einen Kreditsicherungsfond ein, welcher der Gruppe gemeinschaftlich gehört und vom Kreditinstitut verzinst wird. - Ausfälle bei der Kreditrückzahlung werden automatisch aus dem Sicherungsfond ausgeglichen, und es steht den Mitgliedern frei, säumige Zahler zu entfernen (Selbstreinigungsprozeß). - Bevor neuer Kredit vergeben wird, muß der Fond von den Mitgliedern wieder aufgefüllt werden. - Anzustreben wäre eine allmähliche Erhöhung des Fonds, so daß er schließlich eine A r t Versicherungsfunktion (z. B. für den Fall notwendiger Wiederholung der Bestellung) ausüben kann.

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen

227

Projektplaner verlangen entweder aus gutgemeinten Wohlfahrtsüberlegungen niedrige Kreditzinssätze, oder sie begründen diese damit, daß bestimmte Innovationen schneller übernommen werden, wenn die Kreditbedingungen besonders attraktiv sind. Das Wohlfahrtsargument läßt sich als falsch nachweisen. Folgende Faktoren verhindern, daß niedrige Kreditzinsen sich in Wohlfahrtseffekten niederschlagen: -

Subventionierte Kredite erreichen aus zwei Gründen die Zielgruppe nur unzureichend. Erstens muß das Kreditvolumen klein bleiben - aufgrund der Knappheit an Subventionsmitteln. Zweitens bestimmen häufig Macht- und Einflußstrukturen auf allen Entscheidungsebenen die Allokation der Mittel. Politisch weniger einflußreiche Gruppen — wie Kleinbauern — werden in der Regel dann auch weniger berücksichtigt.

- Ein hoher Zins kann die privaten Kreditinstitutionen zur Bereitstellung zusätzlicher eigener Mittel veranlassen und dadurch das Kreditmittelvolumen ausweiten. -

Bei für die Mitglieder transparenten (nicht anonymen) Bauerngruppeneinrichtungen, die Kreditprogramme mit Sparprogrammen koppeln, hat die Zinshöhe eine positive Wirkung auf das Sparaufkommen der Gruppenmitglieder und damit auf die Büdung zusätzlicher Kreditmittel.

Die beiden letzten Faktoren sind auch Argumente, welche darauf verweisen, daß zwischen der Zinshöhe und der Selbsthüfebereitschaft im Kreditwesen ein Zusammenhang besteht. Das Argument der schnelleren Innovationsannahme durch Subventionierung ist kurzsichtig. Subventionsmittel werden nicht nur bald erschöpft sein, wenn sich der Diffusionsprozeß verbreitert, sondern durch Subventionierung können auch Innovationen „an den Mann" gebracht werden, die volkswirtschaftlich ungeeignet sind. Subventionierte Inputkredite führen generell zu der Tendenz, den Kapitalfaktor im Verhältnis zum Faktor Arbeit weniger sparsam zu verwenden. Morss et al. (1976) wie auch andere Autoren weisen darauf hin, daß die Zinskomponente beim kurzfristigen Kleinkredit nur ein untergeordneter Kostenfaktor für den Kreditnehmer darstellt. Im konventionellen Kreditsystem sind die effektiven Kreditkosten für den kleinbäuerlichen Kreditnehmer oft unverhältnismäßig hoch. Die hohen Kosten werden im besonderen durch die zeitraubenden Antragsprozeduren, sich wiederholende Reisen zu den Kreditinstituten und Risiken der rechtzeitigen Bereitstellung verursacht. Diese Kosten des Kleinbauernkredits müssen in erster Linie gesenkt werden 23 . 2 3

Die auf der Auswertung zahlreicher Kleinbauernkreditprojekte beruhen-

228

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

4.2.2.5. Exkurs: Kredit und integrierter

Maßnahmenbedarf

Obwohl der Zielgruppenansatz nach der Ableitungsmethodik für Maßnahmen (wie auch der Problemlösungsansatz der Beratung) notwendigerweise zu integrierten Maßnahmenansätzen führt (sofern für die Beseitigung konkreter Hemmfaktoren ernes angestrebten Entwicklungsprozesses verschiedenartige Ansatzpunkte als notwendig wahrgenommen werden) sei nochmals auf den Zusammenhang von Kredit und anderen Maßnahmenerfordernissen hingewiesen. Offenbar besteht bei Projektplanern die Neigung, die Kreditierung von Inputs als eigenständig und unabhängig von anderen Maßnahmen zu planen und zu implementieren (vgl. z. B. FAO, 1975; Waterston, 1976). Dabei werden typischerweise folgende Integrationsaspekte übersehen: -

Die vorzufinanzierende Innovation muß auch unter den typisch kleinbäuerlichen Betriebs- und Produktionsbedingungen profitabel und dem bisherigen Zustand gegenüber überlegen sein. Kleinbauern müssen von den objektiv feststellbaren Vorteüen auch subjektiv überzeugt sein. Entsprechende Maßnahmen der Agrarforschung und der Beratung sind also Voraussetzung für die Maßnahme Kredit.

-

Durch Kredit begünstigte, massenweise Produktionssteigerungen dürfen keinen Preisverfall verursachen, der die Erlöse reduziert. Bestimmte Marktbedingungen müssen deshalb gegeben sein oder geschaffen werden.

-

Andererseits darf eine durch Kredit begünstigte Nachfragezunahme für Inputs nicht zu solchen Preissteigerungen für die Inputs führen, daß diese im Hinblick auf die Erlössituation von den Kleinbauern als „unfair" betrachtet werden. Dies mag erne staatliche Preispolitik für die terms zugunsten der Bauern erforderlich machen.

- Pacht- und Eigentumsverhältnisse müssen so gestaltet sein, daß dem Kreditnehmer nicht nur die Kosten, sondern auch der Nutzen des Kredits zukommen. So ist z. B. die Einrichtung des „share cropping" als ein Hemmfaktor für kreditfinanzierte Erlössteigerung anzusehen, weü hierbei die zusätzlichen Kosten ganz, die zusätzlichen Erlöse jedoch nur teüweise dem Pächter zufallen. Hier wäre eine Pachtreform Vorbedingung für Kreditmaßnahmen. Werden solche Maßnahmenerfordernisse nicht berücksichtigt, führt dies zu Fehlschlägen in der Kreditkomponente (Rückzahlunwilligkeit), obwohl die Ursachen dafür in der Technologie, in der Wissensvermittlung, in den MarktStrukturen oder im Pachtsystem - um nur einige wichtige Problembereiche zu nennen - zu suchen sind. den Empfehlungen der £/&4/£>-Guidelines nennen als üblicherweise kostendeckende Zinssätze für den kurzfristigen Kleinkredit 12 — 15 %, erhöht u m die Inflationsrate.

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen

229

4.2.3. Ansatzpunkte für Vermarktung und Versorgung mit Inputs Obwohl Vermarktung und Versorgung mit Inputs oft als verschiedenartige Förderungsbereiche behandelt werden, bestehen weitgehende Gemeinsamkeiten in den zielgruppenspezifischen Problemen. In diesem Abschnitt werden Ansatzpunkte zur Gestaltung kleinbauernorientierter Marktbedingungen einmal für den Absatz der Agrarprodukte und zum anderen für die Versorgung mit Inputs untersucht.

4.2.3.1. Kleinbauerntypische

Marktprobleme

Für Kleinbauern sind dann adäquate Märkte gegeben, wenn sie einmal ohne Schwierigkeiten und bei Bedarf Inputs einkaufen und ihre Produkte zum gewünschten Zeitpunkt verkaufen können. Häufig bestehen einerseits funktionierende Marktkanäle für große Farmen in derselben Region, in welcher andererseits Kleinbauern keinen Zugang zu Märkten haben (also keine Käufer für ihre Produkte und keine Inputs für ihre Betriebe finden). Ein besonders wichtiger Hemmfaktor für den Zugang sind die geringen Vermarktungs- und Nachfragemengen („Partiegrößen") sehr kleiner individueller Farmbetriebe. Individuelle Kleinbauern können im Gegensatz zu größeren Bauern mangels Volumen in der Regel kein Fuhrunternehmen für zur Vermarktung oder Inputbeschaffung notwendige Transportleistungen beauftragen. Fehlende Nachfrage nach Transportdiensten andererseits ist ein Hemmfaktor für die Entwicklung einer kleinbauernorientierten Verkehrsinfrastruktur, welche die physische Voraussetzung für die Integration lokaler und überregionaler Märkte darstellt. Neben diesen mehr physischen Faktoren des Marktzugangs bestehen Adäquanzbedingungen für die Preise. Märkte können in der Regel als kleinbauernadäquat betrachtet werden, wenn Kleinbauern im Vergleich zu anderen Bauerngruppen und zu den Endverbraucherpreisen für ihre Produkte „gute" Preise erzielen und Inputs zu „günstigen" Preisen beziehen können. Kleinbauern sind unter den typischen Entwicklungsbedingungen hinsichtlich der Preise benachteüigt. Die Benachteüigungen werden im besonderen durch zwei Faktoren verursacht: Erstens durch die mangelnde Integration lokaler in überregionale Märkte und zweitens durch ihre Marktstellung, die üblicherweise von ungleicher Marktmacht zuungunsten von Kleinbauern gekennzeichnet ist. Die mangelnde Integration der Märkte ist nicht nur ein Problem des physischen Zugangs und der damit verbundenen hohen Kosten, sondern ist auch durch Faktoren bedingt, die mit inadäquatem Wissensstand von Kleinbauern über Marktzusammenhänge, Qualitätsvorschriften, mit geringer Markttranspa-

230

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

renz oder mit fehlenden Organisationsfähigkeiten zu gemeinsamem Einkauf und Verkauf (zur Erhöhung der Partiegrößen) zu tun haben. Das Vermarktungsproblem stellt sich durch die mangelnde Integration der Märkte für Kleinbauern als ein besonders sensitives Preisproblem dar (vgl. Waterston, 1976, S. IX/19). Kleinbauerntypisch ist, daß bei Outputsteigerungen zum Zwecke der Vermarktung die am Markt angebotenen Mengen viel schneller steigen als die Outputzuwächse auf den Farmen der Kleinbauern. Dies hängt mit dem hohen Subsistenzanteil in Kleinbauernwirtschaften zusammen: So erhöht z. B. eine gesamtbetriebliche Outputsteigerung von 20 % bei einem bisherigen Subsistenzanteil am betrieblichen Output von 80 % den Vermarktungsanteil um 100 % (bisher wurden 20 % vermarktet und jetzt kommen weitere 20 % dazu). Schon geringe Ertragssteigerungen bei vielen Kleinbauern können deshalb zu sehr hohen Zuwächsen der Vermarktungsmenge in einer Region und damit zu einem besonders hohen Preisrisiko führen, sofern die lokalen Märkte unzureichend mit den absorptionsfähigeren überregionalen verbunden sind. Ungleiche Marktmacht ergibt sich aus vielerlei Faktoren. Das Fehlen von Interessenorganisationen macht Kleinbauern zu Konkurrenten. Der Konkurrenzdruck wird häufig durch unaufschiebbare Bargeldbedürfnisse der Bauern verschärft. Fehlende Lagermöglichkeiten zwingen zu schnellem Verkauf und zu einem saisonalen Überangebot auf den lokalen Märkten. Unzureichende Marktintegration erleichtert generell den Aufkäufern kleinbäuerlicher Produkte und Anbietern von Inputs für Kleinbauern, Monopolstellungen einzunehmen. So können sich potentielle Konkurrenten unter den Handeltreibenden hier, z. B. durch wenige Absprachen, die lokalen Märkte aufteilen. Unzureichende Marktintegration zeigt sich auch in fehlenden alternativen Verkaufs- und Einkaufsmöglichkeiten und erleichtert damit Monopolstellungen für diejenigen Einrichtungen, die sich überhaüpt anbieten. Schließlich hängen die Preise der von Kleinbauern angebotenen Produkte und nachgefragten Inputs von der staatlichen Preispolitik ab. Die Mehrzahl der Regierungen in Entwicklungsländern hat eine Politik verfolgt, die Preise für Nahrungsmittel zugunsten der städtischen Bevölkerung niedrig zu halten und die Industrie- und Exportagrarerzeugnisse als wichtige staatliche Einnahmequellen zu benutzen (vgl. z. B. Lip ton, 1977; Urna Lele, 1976; Waterston, 1976) 2 4 . 2 4

Ergänzend sei auf das sehr systematische Verfahren von Lorenzi (1979) verwiesen, Prpblemstellen in der Vermarktung und Inputversorgung festzustellen. Er arbeitet mit marktfunktionalen Gruppen: Erstanbieter (bzw. Endnachfrager für Inputs), Handeltreibende, Handelunterstützende (z. B. administrative Instanzen) und Handellenkende (Träger staatlicher Marktpolitik). Klassifiziert man die Erstanbieter (bzw. Endnachfrager für Inputs) zielgruppenspezifisch, lassen sich entsprechende Problemketten auch für die funktio-

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen

231

Ein ganz anders gearteter, viel allgemeinerer Problembereich liegt in sozialen und anderen Wirkungen von Marktprozessen. Sehr deutlich machen dies ζ. B. die Kleinbauernstudienprojekte des International Agricultural Center in Wageningen (I.A.C., 1976/77, Annex Marketing). Die fortschreitende Integration von herkömmlich subsistenzorientierten Kleinbauern in die Marktwirtschaft kann — so notwendig sie zur Einkommenserhöhung auch sein mag - zu radikalen Veränderungen für die individuellen Betriebe, die Persönlichkeitsstruktur der Menschen wie auch für die übergreifenden sozio-kulturellen und - wie schon bei der Behandlung produktionstechnologischer Innovationen angesprochen - ökologischen Strukturen führen. Diese Veränderungsprozesse haben fur die Betroffenen unter Umständen sehr negativ zu bewertende Auswirkungen - genannt werden beispielsweise kulturelle IdentititäsVerluste, Desintegration von Solidar- und Sicherungsgemeinschaften, Zerstörung sozialer Wert- und Kontrollsysteme mit darauf beruhenden Folgeerscheinungen wie Alkoholismus und Kriminalität oder auf psychischer Ebene Verlust der Selbstwertschätzung. Marktinduzierter Abbau der monetären Armut kann zu soziokultureller Verarmung führen. Besonders die anthropologische und ethnologische Literatur weist zahlreiche Fälle solcher Prozesse für Entwicklungsgesellschaften aller Kontinente nach. Kleinbauern sind in der Regel passive Objekte marktinduzierter Veränderungen. Sie stehen ihnen ohne relevantes herkömmliches Erfahrungswissen meist hüflos gegenüber. Die Befähigung zur Kontrolle soziologischer, psychologischer und ökologischer Auswirkungen zunehmender Marktintegration wird deshalb in den angesprochenen Studien als eine überragend wichtige Aufgabe der Vermarktungsförderung speziell und der Entwicklungspolitik ganz allgemein gehalten.

4.2.3.2. Physische Marktintegration Für die Schaffung oder Verbesserung des physischen Zugangs für Kleinbauern zu Märkten bestehen Ansatzpunkte in verschiedenen Maßnahmenbereichen. Verkehrsmäßige Eröffnung von Märkten durch Maßnahmen des Wegebaus, der Transporttechnologie und Dezentralisierung von Marktinstitutionen - im besonderen im Bereich der Inputversorgung - einerseits und Nutzung von nalen Gruppen bilden, deren Lösung Zielgruppenbezug hat. Weiter sei Gsänger (1975) angesprochen, der versucht hat, die hoch differenzierte Effizienzproblematik der Märkte unter ökonomischen wie sozialen Zielen zu systematisieren. Auch seine Systematik für Effizienzkriterien läßt sich zielgruppenbezogen ausrichten.

232

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Kleinbauerngruppen zur Erhöhung der Partiegrößen andererseits bieten Ansatzpunkte für die Öffnung von Märkten oder den verbesserten Zugang. Beim Wegebau kommt es dabei auf ein relativ dichtes Netz von Wegen an, welches es Kleinbauern ermöglicht, ihre Produkte auch ohne oder mit nur sehr einfachen Transporthilfen dahinzubringen, wo dann Tieranspann- oder motorgetriebene Mittel zum Weitertransport eingesetzt werden können. Für den Wegebau ist entscheidend, daß eine Technologie zum Einsatz kommt, welche aus Kostengründen den Standards für eine sogenannte „minimale Infrastruktur" genügt. Über angepaßte „Rural Roads" liegen bereits umfangreiche Erfahrungen vor, und es bestehen keine prinzipiellen Probleme für die Implementierung entsprechender Wegeprogramme (vgl. z. B. ILO/Allal et al., 1977; ILO 1976; OECD/DAC, 1977 b; USAID/Department of . . ., 1977 a; US AID/ Department o f . . ., 1977 b; Weltbank , 1976 a). Maßnahmen zur Förderung einer, kleinbauernorientierten Transporttechnologie müßten sich vor allem auf die verbesserte Nutzung tiergezogener Mittel beziehen. In vielen Ländern bestehen auch Ansatzpunkte beim formalen, lokalen Transportgewerbe - z.B. Frauen, die mit Hilfe von Eseln Transportdienste leisten - , dessen Transportkapazitäten ausgeweitet werden könnten. Die Einfachtechnologie im Transportwesen müßte komplementär zum Einsatz leistungsfähiger Technologie für die größeren Transportstrecken gestaltet werden. Über ein System zentraler Lager (ζ. B. bei Handeltreibenden in „zentralen Orten" oder Genossenschaften) könnte die kleinbauernadäquate Einfachtransporttechnologie mit der notwendigerweise leistungsstärkeren, überregionalen Transporttechnologie (motorgetriebene Lastwagen) verbunden werden. Auch über die Nutzung von Kleinbauerngruppen zur gemeinsamen Vermarktung läßt sich eine solche Verknüpfung erleichtern. Für die Versorgung mit Inputs stellen sich spezifische Probleme. Kleinbäuerliche Nachfrage nach Inputs kann deren Bereitstellung während der Anfangsphase der Einführung neuer Inputs nur selten durch den Marktmechanismus bewirken. Die Nachfrage nach neuen Inputs wird nämlich erst dann lieferwirksam, wenn viele Kleinbauern nachfragen. Der lokale Handel ist in der Regel kaum bereit, Inputs zu lagern, solange keine Absatzmöglichkeit für größere Mengen besteht. Andererseits werden Kleinbauern kaum in größerem Umfang nachfragen, solange sie die Inputs nicht erfolgreich ausprobiert haben. Die herkömmliche Agrarberatungspraxis ist wenig geeignet, dieses Problem zu lösen. Die individuelle Betriebsberatung splittert die Nachfrage nach Inputs der wenigen erreichten Personen auf verschiedene lokale Märkte auf. Das Nachfragevolumen bleibt meist unter der Schwelle, zu welcher der lokale Handel bereit ist, Inputs zu beschaffen und zu lagern. Oft wird deshalb versucht, das Problem dadurch zu lösen, daß staatliche Institutionen oder Projekte mit der Inputbereitstellung betraut werden. Dies bewährt sich mitunter, solange die Zahl der Nachfrager klein und übersichtlich

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen

233

ist, erhöht jedoch bei Ausdehnung der Nachfrage häufig auch die Störanfälligkeit und schränkt die Selbsttragefähigkeit eines Inputbereitstellungssystems ein. Da der lokale Handel nur dann bereit ist, dezentrale Verteilerstellen einzurichten und Inputs zu beschaffen, wenn eine Mindestmenge je Verteilereinheit abgesetzt werden kann, muß bei der Einfuhrung neuer Inputs die Beratung mit der Inputversorgung so koordiniert werden, daß der private Handel von dieser Nachfrageschwelle ausgehen kann. Auch hierfür bietet der Gruppenansatz in der Beratung ein geeignetes Instrument. Als institutionelle Voraussetzungen für die Marktintegration gelten allgemein Genossenschaften. Uma Lele (1976) zeigt anhand der Auswertung empirischer Studien aber auch die Problematik von Genossenschaften. Sie haben relativ häufig zu verbesserter Integration geführt, wenn sie sich auf nicht lokal absetzbare, einzelne Vermarktungsfrüchte spezialisiert haben. Hier sind die Managementanforderungen weniger komplex, die möglichen Gewinnmargen für Genossenschaften meist höher und die Risiken für Fehlverhalten der Mitglieder niedriger (die Kreditrückzahlung kann ζ. B. über die Vermarktung zwangsweise abgewickelt werden, der Marktumsatz nicht durch Verkäufe auf den lokalen Märkten reduziert werden). Bei der Vermarktung und Inputversorgung im Nahrungsmittelanbau haben Genossenschaften in Entwicklungsländern sehr häufig versagt — fast immer dann, wenn sie schnell eingerichtet wurden. Nach Uma Lele ist der Aufbau eines genossenschaftlichen Sektors eine langfristige Angelegenheit, die eine sorgfältige Heranbüdung von Managementfähigkeiten und Mitgliederqualifizierung voraussetzt, und deshalb nur langfristig große Teüe des Kleinbauernsektors umfassen kann. Sie plädiert deshalb dafür, auch den traditionellen Handel in besonderem Maße zur verbesserten Marktintegration zu nutzen.

4.2.3.3. Effizienz-,

Struktur- und Preisgestaltung

Verbesserte physische Integration der Märkte eröffnet nicht nur Zugang zu Märkten, sondern schafft auch Voraussetzungen zur Senkung der Kosten sowie der Risiken der Vermarktung. Sie schafft auch Bedingungen für die verbesserte Marktstellung von Kleinbauern, die dadurch weniger abhängig von einzelnen (de facto konkurrenzlosen) Aufkäufern und Anbietern werden, den. Morss et al. (1976) untersuchten 16 Vermarktungsprojekte (vgl. ebenda, S. 194-201) und stellten fest, daß sich die höchsten, marktbedingten Erlösgewinne für Kleinbauern durch die Schaffung des Zugangs vom Farmbetrieb zur nächsten Hauptstraße ergaben.

234

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Andere Ansatzpunkte zur Effizienzsteigerung der Märkte für Kleinbauern bieten Maßnahmen der Beratung und Ausbildung. Die Vermittlung von Wissen über Marktzusammenhänge (z. B. durch Einbeziehung entsprechender Inhalte in Erwachsenenbüdungsprogramme, in die Beratung, in Kursprogramme) ist eine Voraussetzung für adäquate, marktbezogene Entscheidungsfähigkeit der Kleinbauern. Ein damit verbundener Aspekt ist die gezielte Bereitstellung von Marktinformationen zur Verbesserung der Markttransparenz. Weitere Ansatzpunkte ergeben sich in der Gestaltung von Marktmachtstrukturen. In zahlreichen Regionen sind Kleinbauern durch die Knappheit an Barmitteln gezwungen, ihre Ernten im vöraus zu verkaufen. Dies ist (auch unter Berücksichtigung des Risikofaktors für den Käufer) nachweislich25 sehr nachteüig für den Verkäufer. Unter solchen Bedingungen kommt dem institutionellen Kleinkredit als Marktmaßnahme eine noch nicht angesprochene Bedeutung zu: Die Vorfinanzierung von Inputs erlaubt es den betroffenen Bauern, ihre Stellung im Markt zu verbessern und ihre Ernten zu besseren Preisen abzusetzen. Das durch eine schwache Marktstellung bedingte Preisrisiko wird durch die Fähigkeit der Kleinbauern, ihre Erzeugnisse zu lagern und dann zu vermarkten, wenn die Preisbedingungen zumindest nicht besonders ungünstig sind, verringert. Die Fähigkeit zur Lagerung hängt von der Lagertechnologie und dem Erzeugnis selbst ab. Für viele Erzeugnisse besteht ein wenig genutztes Potential, mit Hüfe büliger (auf lokalen Mitteln basierender) und zweckmäßiger Technologie die Lagerkapazität von Kleinbauern zu erhöhen. Zusammenschlüsse von Kleinbauern dienen nicht nur der Nutzung von „economies of scale" (Kostenreduzierung durch größere Erzeugniseinheiten), sondern auch der Steigerung der Marktmacht. Vermarktungsgenossenschaften sind hierfür bekannte Einrichtungen. Aber auch wenig formalisierte Zusammenschlüsse, wie z. B. die (im Maßnahmenbereich Beratung und Kredit ausführlich beschriebenen) kleinen Gruppen eignen sich zur kollektiven Vermarktung sowie zum Einkauf und haben eine zumindest volumenbedingt bessere Marktstellung. Die Förderung informaler und traditionaler Markteinrichtungen (z. B. durch darauf ausgerichtete Infrastrukturmaßnahmen, Trainingsprogramme, Kleinhändlerkredite) führt nicht nur zu verbesserter Marktintegration, zu Reduzierung der Außenabhängigkeit und zu erhöhter Reaktionsfähigkeit auf Marktveränderungen, sondern auch zu einem beschäftigungsintensiven Ausbau des damit befaßten Dienstleistungssektors. Die Abschaffung des Zwischenhändler25

Vgl. z. B. Morss et al., 1976, S. 195 ff.

4.2 Kleinbauernorientierte Förderungsmaßnahmen

235

systems hat sich allgemein nicht bewährt, solange dieses unter Konkurrenzbedingungen operiert. Seine Spezialisierung führt eher zu Kostenvorteüen und geringer Außenabhängigkeit für die Marktproduzenten (vgl. ζ. B. Uma Lele, 1976; Waterston, 1976). Morss et al. (1976) bedauern, daß die meisten Projekte darauf verzichten, die Selbstorganisierung von Inputs durch die Kleinbauern zu fördern, obwohl einige Projekte sehr erfolgreich nachgewiesen haben, daß dies kein besonders schwieriges Unterfangen zur Reduzierung risikoreicher und von der Marktstellung her nachteüiger Außenabhängigkeit ist (vgl. ebenda, S. 158-160). Schließlich bestehen in der staatlichen Preispolitik Ansatzpunkte zur Dämpfung hoher Preisschwankungen oder zur Verbesserung der terms of trade zwischen Stadt und Land (bzw. den Produkten, die von Kleinbauern besonders häufig verkauft bzw. gekauft werden). Da diese Maßnahmen in der Regel nicht auf der Projektebene angelagert sind, sollen sie hier nicht weiter erörtert werden (vgl. dazu z. B. Uma Lele, 1976). Unmittelbare Projektrelevanz hat jedoch das Instrumentarium der Inputsubventionierung. Dieses scheint aber, wie schon bei den Kreditsubventionen, ein wenig geeignetes Instrumentarium zu sein. Die dadurch bewirkte Verbilligung der Inputs erhöht die allgemeine Nachfrage und führt meist dazu, daß interessenpolitische Verteüungsmechanismen die institutionellen zum NachteU der schwächeren Gruppen verändern. Zudem bilden sie Anreize zu kapitalintensiver Faktorkombination bzw. zu im Jahresdurchschnitt arbeitssparenden Investitionen (vgl. dazu z. B. FAO, 1975; Waterston, 1976). 4.2.3.4. Anmerkungen zur Kontrolle der Nebenwirkungen von Marktintegration Für die Kontrolle und Steuerung soziokultureller und psychosozialer Nebenwirkungen der Marktintegration gab es in der zugänglichen projektplanungsrelevanten Literatur so gut wie keine Hinweise. Diese Problematik wurde zumindest, was den öffentlichen entwicklungspolitischen Bereich angeht, als außerhalb der Kompetenz ausländischer aber auch inländischer, staatlicher Planungsinstanzen liegend erachtet. Private Träger von Entwicklungsprojekten — besonders solche, deren Motivation auf ethisch-ideologischen Grundlagen beruhen, wie z. B. die Kirchen - haben häufiger versucht, den soziokulturellen und psycho-sozialen Wirkungen von entwicklungsbedingten Prozessen planerisch Rechnung zu tragen. Solche Ansätze werden jedoch - auch unter der Voraussetzung säkularer und altruistischer Ziele - als Transfer eines fremden (europäischen) kulturellen Systems von den Trägern politischer Entscheidungen in den Entwicklungsgesellschaften meist nicht akzeptiert und in der Regel als unzulässige Einmischung von Angehörigen fremder Kulturen bis hin zum Vorwurf des Kulturimperialismus bewertet.

236

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Neben diesem kulturpolitischen Gesichtspunkt lassen sich leicht Argumente sammeln, welche die Kompetenz von öffentlich geförderten Entwicklungsprojekten zur geplanten und direkten soziokulturellen und psycho-sozialen Maßnahmenintervention bestreiten. Die übliche kulturelle Distanz der Projektplaner bedeutet nicht nur fachliche Inkompetenz aus der Sicht des Projektes, sondern auch Inkompetenz der Instanz aus der Sicht der Projektzielgruppen. Projektmaßnahmen zur direkten Kontrolle und Steuerung soziokultureller und psycho-sozialer Langzeitwirkungen von Marktintegrationsprozessen stehen deshalb normalerweise für ländliche Entwicklungsprojekte nicht zur Disposition. Ganz anders stellt sich die Frage für Maßnahmen, welche die Kontrolle negativ bewerteter Wirkungen indirekt anstreben. Eine Reihe entwicklungspolitischer Überlegungen bietet dafür plausible Ansatzpunkte. Solche Ansatzpunkte bestehen sowohl in der Planungsmethodik - z. B. in der Zielgruppen-, Partizipations- und Integrationsmethode — wie auch in bestimmten Zielinhalten — z. B. der Grundbedürfnisorientierung, der Stärkung der Selbsthüfefähigkeit, der „Self-Reliance" und der Förderung nicht-staatlicher Organisationen (NGOs) als Träger von Maßnahmen. Diese Planungsmethoden und Zielinhalte haben einen gemeinsamen strategischen Ansatz - nämlich den, daß die Menschen als Betroffene befähigt werden sollen, Wirkungen von Entwicklungsprozessen bewußter zu reflektieren und mitgestalten zu können. Auf vielleicht allgemeinster Ebene läßt sich von der Zielgruppenmethode dies sagen: Die spezifischen Probleme bzw. Entwicklungshemmnisse einer Zielgruppe stellen die Auslesekriterien für Projektmaßnahmen dar. Obwohl der Zielgruppenansatz vornehmlich unter dem Gesichtspunkt des armutsreduzierenden Wirtschaftswachstums diskutiert wurde, ist er auf andere Zielbereiche übertragbar und schließt die soziokulturellen und psycho-sozialen Entwicklungsprobleme - auch in ihrer subjektiven Bedeutung für die Zielgruppen — prinzipiell mit ein. In der Partizipationsmethode, so läßt sich unterstellen, besteht eine institutionalisierte Chance zu bewußter und eigenverantwortlicher Auseinandersetzung und zu aktiver Mitgestaltung von Maßnahmen, Kontrolle der Wirkungen und Korrekturen durch die Zielgruppen selbst. Die Integrationsmethode schließlich stellt eine Aufforderung an die Planungsinstanzen dar, den Entwicklungsprozeß nicht eindimensional zu behandeln, sondern auch von der Planung her zu integrieren und bezogen auf die Komplexität der Probleme zu gestalten. Der Zielinhalt „Grundbedürfnisbefriedigung" fordert explizit die Berücksichtigung soziokultureller und psychosozialer Bedürfnisse, wobei diese, so läßt sich ergänzen, immer zielgruppenspezifisch ausgeprägt sind, zu ihrer Berücksichtigung partizipatorische Planungselemente notwendig machen und auf-

4.3 Ansatzpunkte für eine Förderung menschlicher Ressourcenentfaltung

237

grund ihrer Komplexität sicherlich integrierter Maßnahmenkomponenten bedürfen. Der vermutlich bedeutsamste Ansatz zur Kontrolle negativer Nebenwirkungen von Marktintegrationsprozessen kann in der Stärkung zielgruppenspezifischer Selbsthüfefähigkeit, „Self-Reliance", und Organisationsfähigkeit gesehen werden. Diese Zielsetzungen stellen in direkter Weise auf soziokulturelle Identitätsfindung, auf das Vertrauen in eigene Fähigkeiten zur Problembewältigung und den Aufbau zielgruppeneigener Organisationen ab - letztere zur soziokulturell und politisch ausgerichteten Infrastrukturstärkung als einer wichtigen Voraussetzung bewußter, eigenverantwortlicher und gestalterischer Auseinandersetzung mit Entwicklungsprozessen 26.

4.3. Ansatzpunkte für eine massenorientierte Förderung menschlicher Ressourcenentfaltung (Bereich „Gesundheit, Ernährung, Bevölkerung") Maßnahmen im Bereich von „Gesundheit, Ernährung, Bevölkerung" haben im Rahmen armutsorientierter Förderung einen anderen Zielgruppenbezug als im Falle der produktiven Technologie oder der Agrardienste. Einmal würden es schon ethische und politische, oft auch rechtliche Gesichtspunkte verbieten, ζ. B. Gesundheitsdienste zunächst nur für Kleinbauern einzurichten und andere Berufsgruppen zu diskriminieren, zum anderen sind auf einzelne soziale Gruppierungen bezogene Gesundheitsmaßnahmen oft wenig zweckmäßig, denn beispielsweise die Verbreitung von Seuchen läßt sich nur durch Einbeziehung aller Bevölkerungsgruppen innerhalb einer gefährdeten Region in Vorbeugungsmaßnahmen eindämmen. Von einer Unterversorgung, wie auch immer operationalisiert, mit Diensten in den Bereichen „Gesundheit, Ernährung, Bevölkerung" sind in den ländlichen Regionen alle Armutsgruppen in ähnlicher Weise betroffen. Unterschiede innerhalb der Armutsgruppen ergeben sich meist weniger aus sozialen oder beruflichen Merkmalen (Ausnahmen wären ζ. B. Nomaden), sondern aus regionalspezifischen Bedingungen wie ζ. B. der unterschiedlichen Dichte der Versorgungseinrichtungen. 2 6

Die Bedeutung von zielgruppeneigenen Selbsthilfeorganisationen wird in der Entwicklungspolitik ζ. B. der Bundesrepublik theoretisch anerkannt (vgl. Dams, 1979) und auch praktisch berücksichtigt (vgl. BMZ, 1977). Die Bedeutung wird jedoch in erster Linie i m Instrument zur Stärkung der Selbsthilfefähigkeit, in den unmittelbar projektbezogenen, nicht soziokulturellen und psycho-sozialen Aktivitätsbereichen gesehen. Daß NGOs auch sehr bedeutsame Funktionen ζ. B. für die Erhaltung positiv erlebter, soziokultureller Elemente haben und soziokultureller wie psycho-sozialer Verarmung entgegenwirken können, ist ein kaum berücksichtigter Aspekt.

238

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Ein kleinbauernorientiertes Förderungsprojekt kann sich deshalb auch unter der Zielsetzung der menschlichen Ressourcenentwicklung im Maßnahmenbereich nicht auf Kleinbauern beschränken. Im Bereich der Gesundheit und der damit verbundenen Ernährungs- und Bevölkerungsmaßnahmen sind zunächst Zielbevölkerung und Zielgruppen weitgehend identisch. Als vorrangige Frage stellt sich deshalb das Problem, wie die Maßnahmen auf die Masse der Armutsbevölkerung ausgerichtet werden können. Es handelt sich also zunächst um die Aufgabe, diese Dienste massenwirksam zu machen. Zielgruppen innerhalb der Armutsbevölkerung müssen für einzelne Versorgungsmaßnahmen zwar auch gebildet werden; diese unterscheiden sich aber nach den Kriterien der Zielgruppenbüdung - Ressourcenzugang und Nutzungsschranken (im Hinblick auf einen bestimmten Maßnahmenbereich) — von den Zielgruppen aus dem produktiven Bereich. So sieht beispielsweise die gesundheitsbezogene Ernährungsversorgung in den „vulnerable groups" — stillende und schwangere Frauen sowie Säuglinge und Kleinkinder - primäre Zielgruppen innerhalb der Armutsbevölkerung, oder die Bevölkerungsplanung gliedert Zielgruppen z. B. nach dem Famüienstatus oder der Religionszugehörigkeit von Personen. Die gemeinsame Behandlung von Maßnahmen aus dem Bereich von Gesundheit, Ernähung und Bevölkerung ist in den hohen Komplementaritäten für die Dienste begründet. Auf diesen Aspekt wird unten genauer eingegangen. Obwohl also kleinbauernorientierte Förderungsprojekte in den technologierelevanten Maßnahmenbereichen ihre Zielgruppenfeingliederung ausschließlich auf die Kleinbauernbevölkerung beziehen, verbietet sich dies also für gesundheits-, ernährungs- und bevölkerungsrelevante Maßnahmen. Die beabsichtigte menschliche Ressourcenentfaltung soll deshalb auch für kleinbäuerliche Zielgruppen nur über die Förderung der Armutsbevölkerung als Ganzes innerhalb einer Region bewerkstelligt werden. Eine wichtige Folgerung für das Auseinanderfallen der Zielgruppen je nach Maßnahmenbereich besteht darin, daß Entwicklungsplanung nicht punktuell auf Projekte beschränkt bleiben darf, sondern sich auf die Bevölkerung von Regionen und die Komplementaritäten der Maßnahmenansätze beziehen muß (vgl. die Diskussion um das „Integrierte ländliche Entwicklungskonzept" in Abschnitt 2.2.4.1. sowie die Raumplanungsverfahren, Abschnitt 4.4.1.).

4.3.1. Probleme Im Prozeß der weltweiten Verbreitung neüer Medizintechnologien ist es gelungen, durch die Kontrolle oder Ausmerzung bestimmter Seuchen die Sterberaten der Weltbevölkerung drastisch zu senken, was das bekannte Phänomen

4.3 Ansatzpunkte für eine Förderung menschlicher Ressourcenentfaltung

239

der „Bevölkerungsexplosion" und ihre Begleitprobleme in den Entwicklungsländern bewirkte. Die mit dem Wachstum der Bevölkerung zunehmende Bevölkerungsdichte hat, wie in früheren Ausführungen bereits gezeigt, zu Ökologie· und betriebsgrößenbedingten Problemen der Ernährungssicherung geführt. Weiter zwingt die Zunahme der bäuerlichen Bevölkerung zu verstärkter Marktund Konsumorientierung und damit immer größere Bevölkerungsteüe zu Veränderungen ihres Subsistenzwirtschaftens, was nicht selten und aus unterschiedlichen Gründen in einer Verschlechterung der Ernährungslage resultiert. Für die in vielen Ländern schnell zunehmende Zahl von Landlosen gibt es keine Eigenproduktion von Nahrungsmitteln mehr und für diese Gruppe damit neue, meist vermehrte Ernährungsrisiken. Zunehmende Bevölkerungsdichte, damit einhergehende Hygieneprobleme (ζ. B. Trinkwasserverunreinigung) verbunden mit zunehmender Kontaktintensität und Mobüität bilden neue Seuchen- und Krankheitsfaktoren. Da sich das generative Verhalten in den meisten Entwicklungsländern einerseits wenig verändert hat und andererseits in vielen Ländern nur sehr geringe oder wenig effektive entwicklungspolitische Problemlösungsanstrengungen zur produktiven Mobüisierung der Masse der von Armut Betroffenen unternommen werden, verschärft sich die angesprochene Situation unter dem Bevölkerungsdruck und dem Fehlen geeigneter entwicklungspolitischer Maßnahmen stetig. Die vielerorts mangelnde Effektivität herkömmlicher Ernährungs-, Gesundheits- und Famüienplanungsmaßnahmen hat eine ganze Reihe von Gründen: Massenorientierte Ernährungs-, Gesundheits- und Bevölkerungsplanungsmaßnahmen wurden bisher kaum integriert konzipiert und implementiert, obwohl zwischen allen drei Bereichen starke Komplementaritäten bestehen (FAO /WHO 1976; Johnston and Clark, 1979; Weltbank, 1975 b\MOD 1974). Als besonders wichtig werden folgende Komplementaritäten genannt: - Häufigkeit des Krankheitsbefalls (und damit auch die schnelle Verbreitung) und Schwere des Verlaufs (ζ. B. „Killerkrankheit" Masern) hängen für zahlreiche Krankheiten vom Ernährungsstatus des Befallenen ab. Gesundheitsvorsorge bedeutet in diesen Fällen ganz wesentlich eine Verbesserung der Ernährung. -

Krankheitsbefall (besonders Infektionen) und Schwangerschafts-/Stillperioden erfordern vermehrte Nahrungsaufnahme. Eine unveränderte, normalerweise ausreichende Aufnahmemenge kann hier zu Unterernährung führen.

- Verbesserte Ernährung und Gesundheit bei großen Teilen der Bevölkerung verstärkt bei unverändertem generativem Verhalten das Bevölkerungswachstum, was, ceteris paribus, langfristig wieder negativ auf die Ernährungsund Gesundheitssituation zurückwirkt.

240 -

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Demgegenüber ist die Erhöhung der Lebenserwartung für Kinder eine Voraussetzung fur die Bereitschaft, die Schwangerschaftshäufigkeit zu reduzieren.

Neben diesen Komplementaritäten ist die massenorientierte Ernährungsförderung mit Problemen konfrontiert, die weitgehend parallel zu den Problemen der Einkommensförderung liegen. Das Grundproblem der Ernährung ist nämlich nicht, wie früher vielfach angenommen wurde, die einseitige Ernährung (z. B. Proteinmangel), sondern armutsbedingt zu niedrige Nahrungsaufnahme insgesamt (vgl. FÄO/WHO, 1976; MOD, 1974; Wollmann, 1981). Eine zu geringe Kalorienaufnahme führt dazu, daß auch Aufbaustoffe (Proteine) zur Energiegewinnung verbraucht werden („protein-energy-malnutrition"), die bei schweren Auswirkungen zu Marasmus und Kwashiorkor führt. Bevor der notwendige Kalorienbedarf nicht gedeckt werden kann, ist die Nahrungszusammensetzung diesem Problem gegenüber von untergeordneter Bedeutung. Vermehrte Kalorienaufnahme hängt primär von den Bar- und Subsistenzeinkommen ab. In Kalorienbedarf nicht gedeckt werden kann, ist die Nahrungszusammensetzung diesem Problem gegenüber von untergeordneter Bedeutung. Vermehrte Kalorienaufnahme hängt primär von den Bar- und Subsistenzeinkommen ab. In ländlichen Regionen muß deshalb die Ernährungspolitik zugleich massenorientierte Agrar- und Beschäftigungspolitik sein. Die Bekämpfung der Unterernährung ist dann armutsorientierte Entwicklungspolitik (FA Ο/WHO 1976; Johnston and Clark , 1979; Wollmann, 1981). Ein britisches Expertenteam hat die negativen Komplementaritäten zwischen Ernährung, Gesundheit und Geburtenhäufigkeit mit dem Einkommensfaktor verbunden und drei Wirkungskreise konstatiert: Typisch für die Entwicklungsförderung ist die meist unzureichende Berücksichtigung dieser Komplementaritäten in der Planung und ganz besonders in den institutionellen Vorkehrungen für die Förderung. Ein typisches und gegenwärtig besonders häufig diskutiertes Problem ist die Tatsache, daß die Gesundheitsförderung der meisten Entwicklungsländer schwerpunktmäßig kurativ orientiert ist. Kurative, moderne Gesundheitstechnologie bindet einen Großteü der finanziellen Mittel mit dem Effekt, daß nur ein kleiner Anteü der Bevölkerung Gesundheitsdienste mit hohem Standard nutzen kann, während die Masse der Bevölkerung extrem schlecht versorgt ist (ζ. B. I.D.S., 1975 b,OECD/DAC, 1978; Weltbank, 1975 b). Maßnahmen zur Bevölkerungsplanung sind nicht nur der Komplementaritäten mit Gesundheit und Ernährung wegen schwierig, sondern berühren kulturell und politisch sensitive Bereiche. Oft wird auch übersehen, welche ökonomisch rationale Bedeutung Kinder gerade für die individuellen ländlichen Haushalte haben. Die Bedeutung von Kindern zur Alterssicherung und als Einkommensrisikoausgleich für die Famüie (je mehr Kinder, desto höher die Chance, daß

4.3 Ansatzpunkte für eine Förderung menschlicher Ressourcenentfaltung

241

zumindest immer eines der Familie mit Einkommen versorgen kann) sind Faktoren erhöhter Geburtenhäufigkeit, die darüber hinaus zeigen, daß auch Bevölkerungsplanung als eng verbunden mit Maßnahmen zur Armutsbekämpfung gesehen werden muß.

Schema 13: Die negativen Komplementaritäten zwischen Einkommen, Ernährung, Gesundheit und Schwangerschaft

Reduzierte Einkommens-, erwerbsfühigkeit Quelle: MOD (1974), S. 4 (in Anlehnung).

"weniger adäquate" Erwachsene

242

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

4.3.2. Ansatzpunkte für die Massenorientierung In der institutionellen Gesundheitsförderung sind bereits differenzierte und empirisch getestete Modelle massenorientierter Dienste bekannt, die den Bedingungen von Entwicklungsländern entsprechen. Die zentrale Bedingung — nämlich große Reichweite innerhalb der Armutsbevölkerung - schließt zumindest folgende Aspekte ein: -

Finanzielle und administrative Aufwendungen pro Kopf der zu erreichenden Bevölkerung müssen sehr niedrig liegen. Dies kann nur dann gewährleistet werden, wenn

-

die Maßnahmen auf wenige zentrale Probleme konzentriert werden (z. B. Abbau des Kalorien-/Proteindefizits bei Säuglingen und Kleinkindern; Vorbeugung gegen Malaria, Bilharziose und Trinkwasserseuchenübertragung in besonders gefährdeten Regionen; längere Abstände zwischen den Schwangerschaftsperioden) und stärker auf die Vorbeugung als auf die Heilung bzw. Behebung von Schädigungen abgestellt wird;

- wenn Betreuung und Wissensvermittlung, Identifizierung, Diagnose und Überwachung aktiv („aggressiv") und dezentral und unter Nutzung von Gruppenmethoden betrieben wird und nicht passiv in Zentren auf das eigeninitiative Eintreffen von Unterernährten, Kranken, Informationssuchenden gewartet wird. Dies erfordert vermehrten Personalaufwand. Dafür muß aber gelten: Besser sind viele Helfer mit geringer formaler, aber für die spezielle Aufgabe ausreichend vorbereitender Ausbüdung, als wenige formal hoch qualifizierte Kräfte. -

Die Kontrolle dieser Dienste, aber auch die Funktionsübernahme für solche Dienste muß über kommunale Mitarbeit bewerkstelligt werden. Rechenschaftspflicht gegenüber den Betroffenen selbst hat sich als ein effektives Kontrollinstrument für das Verhalten von Angehörigen solcher Dienste erwiesen. Darüber hinaus können nur mit Hflfe der dörflichen Sozialeinheiten selbst die für die Dienste nötigen Informationen beschafft und dezentralisierte Maßnahmen implementiert werden.

Unter diesen Bedingungen ist der gesundheitspolitische Stellenwert von Krankenhäusern begrenzt. Sie haben in der massenorientierten Gesundheitspolitik nur dann überhaupt einen Sinn, wenn sie durch ein Netz vorgelagerter, einfacher Gesundheitseinrichtungen als Referenz-Institutionen zur Behandlung komplizierter Fälle benutzt werden und als Ausbüdungsstätten und Koordinierungszentren für das medizinische (Hüfs-)Personal der vorgelagerten Gesundheitsdienste fungieren. Das bekannteste Modell eines so gearteten Gesundheitsdienstes (welches im übrigen Aspekte der Ernährungs- und Bevölkerungsdienste miteinbezieht) sind die sogenannten „Basisgesundheitsdienste" (Primary Health Care, PHC).

4.3 Ansatzpunkte für eine Förderung menschlicher Ressourcenentfaltung

243

Die Weltgesundheitsbehörde hat sie zum offiziellen Förderungsprogramm erhoben, und ein größerer Teil der Entwicklungsländer hat sich daraufhin verpflichtet, dieses Programm zu implementieren (WHO, 1978) 2 7 . Nach dem Oxfam-Handbuch (1976) für Projektleiter läßt sich der Aufgabenbereich des PHC in 6 Schwerpunkte unterteilen: 1. „Maternal and child health" (wichtigste Einzelmaßnahme) a) ante-natale und post-natale Mutterschaftsbetreuung, b) Familienplanung, c) Vorbeugung gegen Unterernährung bei Kindern; 2. Kontrolle übertragbarer Seuchen (Immunisierung von Kindern etc.); 3. Gesundheits- und Ernährungserziehung; 4. kurative Aufgaben, durchgeführt von angeierten Helfern (für 80 - 90% der Krankheitsfälle); 5. umweltbezogene, öffentliche Gesundheitsvorsorge (Hygiene); 6. PHC-relevante Datenbeschaffung. Für die Durchführung dieser Aufgaben ist die Funktionsübertragung auf Hüfspersonal, welches auch dörflichen Gremien rechenschaftspflichtig ist, von entscheidender Bedeutung (WHO, 1979). Dies senkt nicht nur die proKopf-Kosten des Programms, sondern bedeutet auch einen wichtigen Mobilisierungsfaktor für die Bevölkerung. Was den spezifischen Aspekt der Ernährung betrifft, so empfiehlt das schon zitierte FAO/WHO Expertenkomitee (1976) als Ansatzpunkte zur Massenorientierung: 1. Zuerst und als fundamentaler Maßnahmenansatz ist die ländliche Entwicklungsstrategie zu betrachten. Sie muß zu breitenwirksamen Verbesserungen in der Produktivität und dem Output führen und so angelegt sein, daß sie die Einkommensverteüung verbessert und zugleich die erforderliche Ausweitung der Nahrungsmittelproduktion erreicht. Dies bedeutet, daß die effektive Nachfrage nach Nahrungsmitteln bei denen zu steigern ist, deren Nahrungsaufnahme zu niedrig ist, wobei das zusätzlich nachgefragte Nahrungsmittelvolumen eventuell verfügbar (pro Kopf und regional) gemacht werden muß. 2. Ein zweiter Maßnahmenansatz bezieht sich auf die Zusammensetzung der produzierten Nahrungsmittel, auf die Nahrungsmittelverarbeitung und die Verteüung der Nahrungsmittel: Es geht um die Nährwertverbesserung mit

2 7

Die Weltbank hatte das PHC schon i n ihrem Sektorpapier von 1975 (Weltbank, 1975 b) als beabsichtigte Politik der Bank dargestellt. Den Industriestaaten war die Förderung dieses Konzeptes i m Rahmen der Entwicklungskooperation von der OECD 1978 nahegelegt worden (OECD/DAC, 1978).

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4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Hilfe billiger Mittel und den Zugang zu qualitativ guten Nahrungsmitteln für alle Einkommensgruppen. 3. Die dritte Maßnahmenrichtung zielt auf Ernährungsinterventionsprogramme ab (z. B. Speisungsprogramme für besonders gefährdete Gruppen vulnerable groups - , „Food fortification", Ernährungsrehabüitationsprogramme, Ernährungsprogramme durch Mutter-Kind-Gesundheitsdienste, „Under-five clinics", sowie Ernährungserziehung). Die drei Maßnahmenrichtungen sind zwar komplementär, konkurrieren jedoch teüweise sehr stark miteinander. So sind Interventionsprogramme z. B. Speisungen - oft sehr teuer und binden Mittel, die prinzipiell massenwirksamer in der Ernährungsvorsorge eingesetzt werden könnten. Vorsorgemaßnahmen werden von den Experten prinzipiell als effektiver gesehen und sollen deshalb schwerpunktmäßig als langfristige Politik verfolgt werden. Massenwirksame Ernährungspolitik soll sich weiter prioritär auf die Zielgruppe „vulnerable groups" (besonders gefährdete Gruppen - Säuglinge, Kleinkinder, stülende und schwangere Mütter) orientieren, weü diese Gruppen besonders empfindlich für Ernährungsschäden sind und die Schäden bei den unter 5jährigen bleibende (irreversible) Auswirkungen haben (vgl. WHO , 1976). Dies hat z. B. folgende Konsequenzen: Konkurrieren die Ressourcen für Speisungsprogramme, sind Speisungsprogramme für akut bedrohte Angehörige der „vulnerable groups" wichtiger als die Schulkinderspeisung. Da die „vulnerable groups" organisatorisch besonders schwer zu erreichen sind (sie gehören häufig keinen formalen Organisationen an), ist die Einbeziehung von „community based" Organisationen (Dorfinstitutionen, Frauengruppen) in die Programmarbeit (vgl. PHC) besonders notwendig. Empfehlungen für massenorientierte Maßnahmen der Bevölkerungsplanung akzentuieren die Einbettung dieses Bereiches in Maßnahmen zur Gesundheitsund Ernähungssicherung besonders im Rahmen der Basisdienst (z. B. FAO/ WHO, 1976; Johnston and Clark, 1979; WHO , 1978). Isolierte Projekte der Famüienplanung werden weitgehend als ineffektiv abgelehnt. Durch die Maßnahmenintegration wird nicht nur die Reichweite bevölkerungsplanerischer Ansatzpunkte erhöht, sondern ganz besonders kann über die Integration dieser drei Dienste der Zusammenhang von Kindersterblichkeit und der Bereitschaft zur Geburtenreduzierung (Mouldin und Berelson, 1978) genutzt werden (z. B. Johnston and Clark, 1979).

4.3 Ansatzpunkte für eine Förderung menschlicher Ressourcenentfaltung

245

4.3.3. Folgerungen für die Administrierung von Planung und Implementierung massenorientierter Gesundheits-, Ernährungs- und Bevölkerungsprogramme Folgerungen für die Administrierung von Planung und Implementierung von Gesundheits-, Ernährungs- und Bevölkerungsmaßnahmen ergeben sich sowohl auf der Planungs- und Koordinierungs-, als auch auf der lokalen Implementationsebene. Das FAO/WHO-Expertenteam (1976) weist besonders auf die Bedeutung einer diesbezüglichen, ressortübergreifenden Planung hin, die in den meisten Entwicklungsländern nicht oder unzureichend verfolgt wird. Die engen positiven und negativen Komplementaritäten von Ernährung, Krankheit und Bevölkerungswachstum, sowie der Einkommenshöhe und der Markt- und Wirtschaftsstrukturen zwingen zu einer Einbeziehung gesundheits-, ernährungs- und famflienplanungspolitischer Maßnahmen in die nationale und regionale Entwicklungsplanung. Isolierte Maßnahmen sind weitgehend sinnlos oder verschärfen sogar längerfristig die Problemsituation (Wirkungskette ζ. B.: Speisungsprogramme — forciertes Bevölkerungswachstum — noch mehr Menschen durch natürliches Wachstum und Immigration, die nicht selbst ihre Ernährung sichern können). Häufig wird die Planung für den Agrarbereich getrennt von Planungen im Gesundheits-, Ernährungs-, Bevölkerungsbereich betrieben. Dadurch können typische Problemsituationen nicht nur nicht reduziert werden (ζ. B. Prozesse rapiden Abbaus der Subsistenzlandwirtschaft werden in ihren Auswirkungen auf das Ernährungsverhalten nicht kontrolliert), sondern die Planungsziele bleiben eng ressortbezogen und einseitig, was einen Faktor neuer Probleme darstellt. Die Verbindung von wirtschaftlichen Wachstumszielen mit zielgruppenbezogener menschlicher Ressourcenentwicklung kann so vom Planungsprozeß her nicht gewährleistet werden. Zwar, so konstatiert das FAO/WHO-Expertenteam, stehen typischerweise die einzelnen Ministerien mit einer zentralen Planungsinstanz im Dialog, welche die Budgets der Einzelministerien bestimmt, aber diese Koordination bezieht sich im wesentlichen auf die Mittelallokation und nicht auf die inhaltliche Integration der Maßnahmen oder gar auf eine analysierende und kontrollierende Einflußnahme zur Steuerung von Entwicklungsprozessen. Das Team schlägt deshalb spezielle Planungseinheiten vor, die der zentralen Planungsinstanz (ζ. B. Planungsministerium) angegliedert werden und deren Funktion in einer ressortübergreifenden Planabstimmung, Analyse und Kontrolle der Wirkungen des Implementierungsprozesses besteht 28 . 2 8 „ I n practice, such a planning body . . . should be in a position to require the various ministries to j o i n a dialogue and provide information on the . . .

246

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Auf der lokalen Ebene ergeben sich organisatorische Konsequenzen, die den üblichen Ansätzen der administrativen Aufteüung von Einzeldiensten widersprechen. Institutionell müssen der Komplementaritäten von Gesundheit, Ernährung und Bevölkerung wegen die Maßnahmen von einem einzigen Organisationsgebüde aus der Zielbevölkerung angeboten werden („Integrated Delivery Systems" fur Ernährung, Gesundheit und Famüienplanung). Als Trägerinstitutionen bieten sich im Rahmen des PHC-Programms z. B. „Rural Clinics", „Maternal and Chüd Care Centres", mobüe Kliniken und andere Einrichtungen an. Hierbei ist gewöhnlich die ressortübergreifende Koordination weniger problematisch, da die administrativen Kompetenzen fur das PHC-Programm dem Gesundheitsministerium zugeordnet werden können. Johnston and Gark (1979) weisen jedoch darauf hin, daß gerade von der medizinischen Profession her (sowohl in den Entwicklungsländern als auch bei Geberinstitutionen) Widerstände gegenüber einer Integration der Dienste kommen. Deren Argumente beziehen sich auf eine höhere administrative Effizienz und Kompetenz von getrennten, spezialisierten Diensten. Dem läßt sich allerdings entgegnen, daß die administrative Effizienz nicht als eigenständiges Ziel gesehen werden kann. Wenn geplantes generatives Verhalten vom Ernährungs- und Gesundheitsstatus (und auch umgekehrt) abhängen und beide gerade durch die übergreifende Kompetenz einer Einzelinstitution verbessert werden können (was die zitierten Autoren glauben, nachweisen zu können), ist das Effizienzargument der Gegner integrierter Dienste wenig relevant.

4.4. Folgerungen aus den zielgruppenspezifischen Maßnahmenansätzen für die Planung, Ablaufsteuerung und Bewertung von Projekten In den vorangegangenen Ausführungen zur Maßnahmengestaltung konnten zahlreiche und wichtige Ansatzpunkte gezeigt werden, wie auch auf der Ebene von Entwicklungsprojekten (die hier „zielgruppenorientiert" genannt werden) konsistent mit den Strukturen makro-ökonomischer und -sozialer Zusammenimpact and costs of their activities. It needs a capacity for independent analysis and it is further desirable that it should have the capacity to assist the ministries - singly or together - to identify, design, and appraise programmes. One of its major roles, too, w i l l be to assist the ministries to build their own planning capacities and effective decision-making machinery by, for example, developing appraisal and design criteria for programmes and objects. I n practice, this also means that the unit should be financially independent of the operating ministries and act on sufficiently high authority for it to be taken seriously, both w i t h i n the ministries and at higher policy-making levels''

FAO/WHO,

1976, p. 45-46).

4.4 Folgerungen aus den zielgruppenspezifischen Maßnahmenansätzen

247

hänge Wachstumsziele mit Zielen der Armutsreduzierung verbunden werden können. Es stellt sich nun die weitere Frage im Zusammenhang der Maßnahmengestaltung, welche Konsequenzen die so definierten, zielgruppenorientierten Projekte für die Planungsverfahren, die Bewertung und Ablaufsteuerung (oder allgemeiner das Management) von Projekten haben. Gegenüber herkömmlicher Planung, Bewertung und Ablaufsteuerung von Entwicklungsprojekten benötigen zielgruppenspezifìsche Projekte Ergänzungen und Modifikationen. Zur Klärung dessen erscheint es notwendig, zunächst die typischen Ansätze nicht-zielgruppenorientierter Projekte zu erläutern. Nicht-zielgruppenorientierte Entwicklungsprojekte können bezüglich der Planung keinem Einheitstypus zugeordnet werden. Sie sind hinsichtlich ihrer Planungsstruktur verschiedenartig. Drei Grundtypen mit je unterschiedlicher Zielgruppenrelevanz lassen sich für die produktionsorientierten ländlichen Projekte ausmachen: Einmal ein Planungsansatz, der von abgegrenzten, regionalen Einheiten, zum zweiten ein Ansatz, der von raumunspezifischen, raumneutralen Zielsetzungen und zum dritten, einer der von nationalen Produktionszielen ausgeht und dafür geeignete Räume sucht. Pläne, die von Regionen ausgehen - „Regionalpläne" - nehmen das spezifische Entwicklungspotential einer Region zur Grundlage und trachten, dieses Potential durch den Einsatz von entsprechenden Maßnahmen zu entwickeln 29 . Pläne, die von raumneutralen Zielsetzungen ausgehen, haben ihre Grundlage meist in Interessen, welche auf die Verbesserung von raumunspezifischen Strukturelementen gerichtet sind. Die Verbesserung des landwirtschaftlichen Beratungswesens durch die Einführung eines neuen Ausbüdungssystems für Berater, die Dezentralisierung von Kreditinstitutionen oder der Ansatz der Agrarforschung sind Beispiele dafür. Ein weiterer, planungsrelevanter Projekttyp ohne aktive raumgestalterische Zielsetzung, jedoch erheblichen Auswirkungen auf die räumliche Differenzierung, besteht in der Förderung von Einzelprodukten. Beispielsweise die Förderung des Teeanbaus zur Verbesserung der Außenhandelsbüanz durch Sonder29 Unter überregionalen Gesichtspunkten führt dieser Ansatz zu den bekannten räumlichen Spezialisierungs- und Differenzierungsprozessen mit entsprechenden Entwicklungsdisparitäten. Mitunter wird solchen Prozessen mit Ausgleichsmaßnahmen durch zentrale Planungsinstanzen gegengesteuert, indem z. B. unter dem räumlichen Ausgleichsziel vermehrt Projekte in „strukturschwache" Regionen geleitet werden. Ob Ausgleichsziel oder möglichst effiziente Nutzung regional unterschiedlich verteilter Ressourcen - in beiden Fällen bleibt der Planungsansatz für das Regionalprojekt prinzipiell identisch, da sich die Zielunterschiede in erster Linie überregional in der Planung der Ressourcenallokation auswirken oder weü Projekte nach regional unterschiedüchen Cost-benefit-Kriterien als förderungswürdig eingestuft werden.

248

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

kredite oder des Reisanbaus zur Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion durch Einführung besserer Sorten sind Projekte, welche prinzipiell nicht zur regionalen Entwicklung konzipiert sind. Kennzeichnend für diese Art von Projekten ist, daß nicht die Region zum Ausgangspunkt planerischer Entwicklung gemacht wird, sondern umgekehrt, daß Entwicklungsprozesse dort induziert werden, wo die Produktionsziele am besten erreicht werden können. Räumliche Entwicklungen sind hierbei Resultanten von zunächst nicht raumplanerischen Entscheidungen. In diese drei planungskonzeptionell unterschiedlichen Projekttypen, für welche hier die Begriffe der „Regionalentwicklung", der „raumneutralen Strukturförderung" und der „raumdifferenzierenden 'Produktionsforderung" gewählt werden, lassen sich die meisten öffentlich getragenen, herkömmlichen ländlichen Entwicklungsprojekte klassifizieren. Es fragt sich nun, inwieweit zielgruppenspezifìsche Projekte mit den herkömmlichen Projektplanungstypen kompatibel gemacht werden können und wo sie alternativer Verfahren der Planung und Ablaufsteuerung bedürfen.

4.4.1. Zielgruppenansatz und Planungsverfahren für ländliche Entwicklungsprojekte Wenn Wirtschaftswachstum ein vorrangiges Ziel herkömmlicher Entwicklungsplanung ist und dieses Ziel mehr oder weniger effizient tatsächlich auch erreicht wurde, besteht die Vermutung, daß für den Zielgruppenansatz — verstanden als über bestimmte soziale Einheiten gesteuertes Wachstum - das herkömmliche Planungsinstrumentarium relevant bleiben muß. Wachstumsförderung muß regionale komparative Kosten- bzw. Produktivitätsvorteüe nutzen können, bedarf raumübergreifender Strukturförderungsmaßnahmen sowie produktionsspezifischer Wachstumsentwicklungen, z. B. zur Nutzung von Weltmarktchancen oder zur Sicherung der pro-Kopf-Versorgung. Es kann also im Prinzip nicht um den Ersatz wachstumsbewährter Projektplanungsverfahren, sondern nur um die Einbeziehung der Zielgruppenkomponente in das Planungsinstrumentarium gehen. 4.4.1.1. Ansatzpunkte fur die Planung zielgruppenorientierter der Regionalentwicklung

Projekte

Für die Regionalplanung existieren weder im Kontext der Raumentwicklung in der Bundesrepublik 30 noch für die Regionalprojekte im Bereich der Entwicklungshüfe 31 einheitliche Verfahren. 3 0

Über die wissenschaftliche Kontroverse zur Raumplanung und ihren Konzepten gibt z. B. Klaus einen systematischen Überblick (vgl. Klaus, 1977, S. 15-33).

4.4 Folgerungen aus den zielgruppenspezifischen Maßnahmenansätzen

249

Im Bereich der Entwicklungshilfe finden mindestens drei unterschiedliche Konzepte Verwendung. Das erste Verfahren versucht, aufgrund einer möglichst umfassenden Analyse „aller" planungsrelevanten Gegebenheiten einer Region zu einem Regionalplan zu gelangen, in dem möglichst alle räumlichen Entwicklungsaspekte berücksichtigt werden sollen. Dieses holistische Konzept hat sich jedoch für die Projektpraxis wenig bewährt. Die Vorarbeiten für Projekte sind nicht nur außerordentlich teuer und zeitaufwendig, sondern die Projektplaner stehen in der Regel vor der Entscheidung, sich mit sehr begrenzten Mitteln auf wenige Aspekte der Regionalentwicklung zu beschränken, für welche ein holistischer Planungsansatz nicht notwendigerweise Entscheidungshüfe leistet. Noch schwerwiegender ist der Einwand, daß im Prinzip schon ein alle Aspekte umfassendes Planungskonzept unmöglich ist, weü das, was als entwicklungsrelevant anzusehen ist, bereits Entscheidungen voraussetzt. Geht man bei der Planung systematisch von solchen Entscheidungen aus, erübrigt sich ein „universelles" Vorgehen - man beschränkt sich auf diejenigen Aspekte, die im Hinblick auf die getroffenen Entscheidungen Relevanz haben. Überläßt man dagegen solche Entscheidungen dem Zufall (unter vermeintlich holistischer Planung) oder ζ. B. dem Regionalanalytiker, ist auch bei sehr großem Analyseaufwand nicht gewährleistet, daß das holistische Planungskonzept sich in der konkreten Projektpraxis nicht doch als lückenhaft erweist. Die öffentlichen Entwicklungshüfeinstitutionen der Bundesrepublik haben deshalb seit den 70er Jahren Regionalplanungskonzepte aufgegriffen, die vom Ansatz her die Planung systematisch auf bestimmte Entwicklungsaspekte reduzieren. Im besonderen güt dies für die sogenannte „reduzierte" Regionalplanung — ein Konzept, welches vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik und dem BMZ ausgearbeitet wurde ( Waller et al., 1973) und der jüngst von der GZT vorgestellten „problemorientierten" Regionalplanung (Heidemann und Ries, 1979). Die reduzierte Regionalplanung geht von den Sektoren oder Bereichen aus, welche in einer Region vorhanden sind und wählt einige wenige „Einstiegssektoren", innerhalb derer mit „Kernprojekten" begonnen wird. In der Folge der Entwicklung der Kernprojekte werden neue, weitergehende Projektbedürfnisse manifest, die durch „Folgeprojekte" in Einstiegs- wie anderen Sektoren befriedigt werden sollen. Die „problemorientierte" Regionalplanung sieht die Selektionskriterien für planungsrelevante Aspekte im Beitrag zur Lösung von raumbezogenen Problemen: „Ein Sachverhalt ist dann als Problem anzusprechen, wenn er für bestimmbare Bevölkerungskreise im Hinblick auf deren Erwartungen, Absichten ο -ι

Die neuere Diskussion u m die Raumplanung in Entwicklungsländern wird ζ. B. von Rondinelli and Ruddle (1976) reflektiert. Verschiedene Raumplanungskonzeptionen werden auch durch von Boguslawski (1980) beschrieben.

250

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Schema 14: Die „reduzierte" Regionalplanung

I Φ I Λ «Η rA , Φ I ω> M Η I «Ü . H ι Q> Φ c 1 > ιW1 « ι

s!

-Ρ Λυ 3 Ν Λ Φ >

D> C Sφ

«I

f

m

I n der Region v o r handene Sektoren

1

ZI

Reduzierung auf Einstiegssektoren

III

Identifizierung Kemprojekten

von

in

Einstiegssektoren

IV

I d e n t i f i z i e r u n g von Polgeprojekten

in

E i n s t i e g s - und anderen Sektoren

Quelle: Waller et al. (1973), Punkt 036.

und Interessen Abweichungen aufweist, die als Folgen bestimmter Ursachen einerseits und als Ursachen weiterer Auswirkungen andererseits aufzufassen sind" (Heidemann und Ries, 1979, S. 35). Die auf bestimmte Bevölkerungsgruppen bezogenen Probleme 32 bilden hier die Selektionskriterien für planungsrelevante Aspekte. 32

Die Schwierigkeit der Problem definition, welche nur auf subjektiven Faktoren - Abweichungen in den „Erwartungen", „Absichten" und „Interessen" - beruht, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Sie muß auch Probleme einschließen, auf welche die Bevölkerungskreise nicht oder noch nicht subjektiv reagieren können. Weiter müssen subjektive Problemartikulationen nicht das tatsächliche Problem reflektieren. Beispielsweise kann nicht erwartet werden, daß die lokale Bevölkerung adäquat über das Problem des Zusammenhangs von agrarsektoraler Technologiestrategie und der Arbeitsintensität der Gewerbeentwicklung reflektiert. Das Korrektiv einer „objektiven" Problemfaktorenbestimmung ist deshalb ein ergänzendes Kriterium für die prinzipiell freilich sehr wichtige subjektive Problemwahrnehmung.

4.4 Folgerungen aus den zielgruppenspezifischen Maßnahmenansätzen

251

Schema 15: Die „problemorientierte" Regionalplanung

Prüfung der Planungsvorau*Mtzung«n

Quelle: Heidemann und Ries (1979), S. 38. Da jedoch Probleme auch sektorale oder bereichsweise Relevanz haben und aus Gründen der Ressourcenknappheit nie alle Problemaspekte zugleich über Entwicklungsprojekte angegangen werden können, bedarf auch die „problemorientierte" Regionalplanung einer Reduzierung im Hinblick auf die in Frage kommenden „Bevölkerungskreise", der anzugehenden Probleme sowie einer sektoralen bzw. bereichsweisen Reduktion und ist deshalb prinzipiell mit der „reduzierten" Regionalplanung kompatibel.

252

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Beide Konzepte ließen sich dadurch verbinden, daß sowohl von den Problemen der in der Region vorhandenen „Bevölkerungskreise" als auch „Sektoren" ausgegangen würde. Allerdings würde sich dann die Wahl der „Einstiegssektoren" aus den „Einstiegsproblemlösungsbedürfnissen" der „Einstiegsbevölkerungskreise" ergeben. Schema 16: Die Verbindung „problemorientierter" und „reduzierter" Regionalplanung

I

In der Region vorhandene (a) Bevölkerungskreise (b) Sektoren

II

1. Reduktionsschritt Reduzierung auf „Einstiegsbevölkerungskreise" und auf sie bezogene „Einstiegsprobleme" 2. Reduktionsschritt Bestimmung dafür relevanter „Einstiegssektoren"

III

Identifizierung der „Kernprojekte"

IV

Identifizierung von „Folgeprojekten" bei „Einstiegs- und anderen Bevölkerungskreisen" in „Einstiegs- und anderen Sektoren"

Wenn man „Bevölkerungskreise" durch armutsbestimmte „Zielgruppen" ersetzt, ist dieses Regionalplanungskonzept zielgruppenbezogen im Sinne der vorliegenden Arbeit. Dabei bleiben beide Aspekte, der regionale Bezug (Stellung der Zielgruppen innerhalb der ökonomischen, sektoralen und sozialen regionalen Strukturbeziehungen) und das praxisbezogene Reduktionsverfahren, erhalten 33 . Auch die Gefahr des Mißverständnisses, die zielgruppenorientierte Regionalplanung schließe die planerische Einbeziehung von Bevölkerungstei33

Werth und Krishnan (1980) haben versucht, die „reduzierte" Regionalplanung durch das Zielgruppenkonzept zu begründen. Ihr Konzept zeigt, wie die Regionalanalyse zielgruppenbezogen durchgeführt werden kann und zum geforderten Ergebnis nach homogenen Zielgruppen führt, die sich durch gemeinsame Merkmale des Ressourcenzugangs und der Nutzungshemmfaktoren auszeichnen. Jedoch begnügt sich das Konzept von Werth und Krishnan mit dem zielgruppenbezogenen Reduktionsschritt. Die sektorale/bereichsweise Reduktion sehen sie als Konsequenz der Zielgruppensituation. Dagegen hat der eigenständige, sektorale Reduktionsschritt (i. S. Wallers) in der Planung den Vorteil, die zielgruppenunabhängigen Beziehungen zwischen Sektoren sowie die regionalen und die zwischenräumlichen Bezüge von vornherein und explizit zu berücksichtigen. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmenplanung kann so besser mit den Aspekten der Raumplanung verbunden werden.

4.4 Folgerungen aus den zielgruppenspezifischen Maßnahmenansätzen

253

len, die nicht den Zielgruppen angehören, oder nicht unmittelbar zielgruppenrelevante andere wichtige Bereiche der Regionalentwicklung aus, wird durch dieses Planungskonzept eingeschränkt. Zwar sind Zielgruppen Ausgangspunkt der Planung und kleinbäuerliche Zielgruppen werden als „Einstiegszielgruppen" empfohlen, aber die Folgeprojekte können sich nicht darauf beschränken. Sie können Gruppen im Handel oder produzierenden Gewerbe oder Bereiche der Infrastruktur, der Wasserwirtschaft oder der Ökologiekontrolle betreffen. Sogar bestimmte Ansatzpunkte der Förderung des Großfarmensektors können unter dem Aspekt der „strukturellen Transformation" oder ζ. B. der Schaffung von zusätzlichen Beschäftigungsmöglichkeiten für kiembäuerliche Haushaltsangehörige unter bestimmten Bedingungen ein Folgeprojekt darstellen.

4.4.1.2. Ansatzpunkte für die Planung zielgruppenorientierter „raumneutraler" Strukturförderung

Projekte

Für den Aufbau eines ländlichen Kreditwesens oder einer nationalen Vermarktungsinstitution (für bestimmte Agrarprodukte beispielsweise) stellt sich für die Planung die Frage nach den Zielgruppen fast zwangsweise (z.B. über die Zugangsvoraussetzungen für Kredite oder die Mindestmarktmengen oder den Grad an regionaler Dezentralisierung der administrativen Einrichtungen). Für andere Projekte, beispielsweise den Aufbau einer nationalen Agrarforschung oder des landwirtschaftlichen Ausbildungswesens, stellt sich diese Frage nicht so unmittelbar. Die potentielle Zielgruppenrelevanz solcher Projekte kann, wie früher diskutiert, jedoch sehr groß sein. Schließlich gibt es strukturfördernde Projekte, fur welche nur geringe Zielgruppenrelevanz angenommen werden kann. So ist beispielsweise die Verbesserung des Post- und Telefonnetzes planerisch kaum zielgruppenrelevant — allenfalls über eine dadurch möglich werdende Erhöhung der Verwaltungseffizienz zielgruppenbezogener Institutionen (ζ. B. kleinbäuerlicher Vermarktungsgenossenschaften). Für Projekte raumneutraler Strukturförderung bestehen also unterschiedlich relevante Ansatzpunkte der Zielgruppenorientierung. Die große Heterogenität solcher Projekte läßt deshalb auch kein einheitliches Planungsverfahren im Hinblick auf die Zielgruppenorientierung zu. Die Planung raumneutraler Strukturförderung muß einmal auf die überregionalen Strukturbedürfnisse zielgruppenspezifischer Regionalprojekte eingehen, zum anderen zielgruppenorientierte Strukturen schaffen oder absichern, welche ohne konkreten regionalen Projektanlaß geplant und sogar Ausgangspunkt für regionale Zielgruppenprojekte werden können (Beispiel: ländliches Bankenwesen). Schließlich muß auch bei der Planung zielgruppenneutraler Strukturplanungen im Rahmen einer armutsorientierten Entwicklungspolitik geprüft werden,

254

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

ob indirekte Wirkungen für bestimmte Armutsgruppen zu erwarten sind. Dementsprechend variieren die Plankonzepte. „Reine" Zielgruppenprojekte der raumneutralen Strukturförderung folgen im Prinzip der zielgruppenspezifischen Maßnahmenableitung. In der Praxis wird meistens das Ableitungsverfahren durch regionale Projekte vorweggenommen, die den raumneutralen, strukturrelevanten Maßnahmenbedarf den zuständigen Planungsinstanzen signalisieren können. Für Strukturprojekte mit sowohl zielgruppenneutralen Zielen als auch Zielgruppenrelevanz empfiehlt sich eine entsprechende Aufspaltung des Plankonzeptes. Dabei kommt es darauf an, festzustellen, welche Komponenten eines solchen Projekts Zielgruppenrelevanz besitzen und welche nicht. Beispielsweise ist ein Agrarforschungsprojekt zielgruppenneutral, solange es die Tageslicht(Photoperioden-)Sensitivität verschiedener Pflanzensorten untersucht. Es wird zielgruppenrelevant, wenn „geeignete" Kultivationstechniken für dieselben Sorten entwickelt werden sollen. Auch für die zielgruppenrelevanten Komponenten solcher Projekte güt das zielgruppenspezifìsche Planungsverfahren, wobei dies in der Praxis wiederum teüweise in regionale Projekte „vorgelagert" werden kann, über welche dann der zielgruppenspezifìsche Bedarf angezeigt wird.

4.4.1.3. Ansatzpunkte für die Planung zielgruppenorientierter Projekte der „raumdifferenzierenden" landwirtschaftlichen Produktionsförderung Dieser Projekttyp zeichnet sich, wie erwähnt, für die Planung dadurch aus, daß Produktionsziele vorgegeben werden, zu deren Erreichung geeignete Regionen gesucht werden. Beispielsweise soll die Teeproduktion erhöht werden. Dafür werden zusätzliche Projektmittel bereitgestellt, die dann häufig nach einem Schlüssel auf verschiedene, in Frage kommende Regionen aufgeteüt werden. Aufgabe der regionalen Planungsinstanzen ist es dann, entsprechende Projekte zu identifizieren, die den Ziel- und Mittelvolumenvorgaben entsprechen. Dieser Projekttyp erscheint zunächst mit dem Zielgruppenansatz, in welchem gefordert wird, von den zielgruppenspezifischen Bedingungen ausgehend Projektmaßnahmen zu begründen, unvereinbar. Ausgangspunkt sind hier Ziele und Maßnahmen, die prinzipiell unabhängig von Zielgruppen festgelegt werden. Dieser Widerspruch läßt sich beseitigen, indem solche Vorgaben für eine Region als potentielle Ressourcen zur Einkommenserhöhung relevanter Zielgruppen behandelt werden. Obwohl bestimmte Ziele und Maßnahmen vorgegeben sind, kann zielgruppenspezifisch untersucht werden, ob diese Vorgaben eine potentiell geeignete Ressource darstellen und durch welche zielgruppenspezifischen Maßnahmen diese Ressource erschlossen werden kann. Mit einem zielgruppenspezifischen Teeprojekt (vgl. den untersuchten Fall in Kenia) kann

4.4 Folgerungen aus den zielgruppenspezifischen Maßnahmenansätzen

255

das produktionsspezifische Ziel verbunden werden. Allerdings besteht ein Problem, welches mit dem Zusammenhang von räumlicher Differenzierung und Zielgruppenentwicklung zu tun hat. Wären alle Projekte in ihren Produktionszielen vorgegeben, könnten nur jene Zielgruppen erreicht werden, für welche sich die Vorgaben aufgrund räumlicher Bedingungen als hüfreiche Ressource darstellen. Beispielsweise hätten dann solche Kleinbauern oder kleine Viehhalter keine Chancen zu Einkommenserhöhungen, für die aus räumlich ungünstigen Gegebenheiten die Vorgaben keine Relevanz besitzen. Auch bestünden darüber hinaus keine Möglichkeiten, verschiedenartige Projektbedürfnisse aufeinander abzustimmen - hier im Beispiel der Teeproduktion wären Maßnahmenbedürfnisse zur Erhöhung der Hektarerträge im Subsistenzbereich denkbar —, um die gesamtbetrieblichen Subsistenzertragsrückgänge, bedingt durch um den Teeanbau reduzierte Anbauflächen, abzugleichen. Vorgabeprojekte wirken auch bei Zielgruppeneignung immer selektiv, wobei im Falle der landwirtschaftlichen Produktionsvorgaben primär räumliche Bedingungen die Zielgruppenerreichung bestimmen. Für die Planung läßt sich deshalb folgern, daß auch die Projekte mit Produktionsvorgaben in die zielgruppenorientierte Regionalplanung integriert werden müssen, wobei der Regionalplanung in diesem Zusammenhang die Aufgabe obliegt, die Maßnahmenbedürfnisse, die sich von den Zielgruppenbedingungen ableiten, sowohl unter Nutzung von Vorgabeprojekten als auch unabhängig davon zu verfolgen.

4.4.1.4. Sequentielle Planungsschritte und Beteiligung an der Planung „Es ist deutlich geworden, daß ein Projekt der technischen oder finanziellen Zusammenarbeit nie nach einem ein für alle Male festgelegten Zeit- und Arbeitsplan ablaufen kann. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, auf die sich das Projekt auswirkt und die auf das Projekt zurückwirken, sind in ständiger Bewegung und verursachen damit eine stetige Veränderung der ursprünglichen Planungsvoraussetzungen" (Schweizerischer Bundesrat, 1977, S. 35). Diese regierungsamtliche Geltendmachung flexibler Planungsbedürfnisse bezieht sich auf schweizerische Projekterfahrung. Die schweizerische Entwicklungshüfe war herkömmlicherweise sehr stark auf ländliche Regionen und dort auf Gruppen der Armutsbevölkerung ausgerichtet. Die Forderung nach flexibler Planung reflektiert ein spezielles Bedürfnis, das sich aus der Arbeit mit Zielgruppen erklären läßt. Hunter empfiehlt, bei der Planung von Entwicklungsprojekten 2 Typen von Planung zu unterscheiden - das „executive planning" und das „enabling planning" CHunter , 1977, S. 42). Beim „executive planning" liegen Planung und Durchführung in einer Hand. Projekte der Infrastrukturförderung, ζ. B. die

256

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

Errichtung eines Staudamms, sind typische Beispiele dafür. Beim „enabling planning" ist Planung und Durchführung von der Trägerschaft her getrennt. Bei einem kleinbäuerlichen Kreditprojekt wird beispielsweise die Bereitstellung der Kreditmittel und der Inputs vom Projektmanagement, die Verwendung und damit verbunden die Rückzahlung jedoch von den Kreditnehmern geplant. Der Projekterfolg hängt davon ab, inwieweit es gelingt, Verhaltensänderungen bei der Zielgruppe zu bewirken. Beim „executive planning" ist das Endprodukt und der dazu benötigte Aufwand relativ präzise kalkulierbar und deshalb auch eine durchgängige Planung möglich. Wenn der Projekterfolg jedoch vom Verhalten der Nutzer bzw. vom Lernerfolg bei den Nutzern abhängt - „enabling planning" - ist weder eine präzise Kalkulation des Projektaufwands noch die Festlegung detaillierter Ziele möglich 3 4 . Noch stärker wird dies deutlich, wenn die Planung zur Steuerung von Problemlösungsprozessen dient und die Projektnutzer selbst an der Findung von Problemlösungsmaßnahmen beteüigt sind. Hier bestimmt der nicht genau vorhersagbare Problemlösungserfolg in einer ersten Phase die Art der Problemlösungsmaßnahmen späterer Phasen. So würde im Beispiel des erwähnten Kreditprojektes der Grad des Erfolgs bei der Lösung des Problems aufwendiger proKopf-Verwaltungskosten durch den Aufbau von Kreditgruppen die Expansionsgeschwindigkeit des Projektes bestimmen. Davon abhängig wäre dann die Lösung räumlich bedingter Vermarktungsschwierigkeiten. Die Ableitung von Maßnahmen aus zielgruppenspezifischen Bedingungen schließt weiter, wie früher schon erläutert, den Aspekt subjektiver (kulturell unterschiedlich ausgeprägter) Bedürfnisse mit ein. Solche Bedürfnisse planerisch zu berücksichtigen bedeutet, daß sich Zielgruppen an der Planung beteüigen müssen. Ein zweiter Aspekt der Beteüigung besteht darin, daß die Mitglieder der bisher besonders schwer zugänglichen Armutsgruppen dann eher zu aktivem Verhalten motiviert werden, wenn sie bestimmte Ziele und darauf bezogene Maßnahmen als „ihre eigenen" anerkennen 35 . Die Beteüigung am Planungsprozeß ist dafür Voraussetzung 36. 34

Fischer und Mühlenberg (1980) diskutieren eingehend die diesbezüglich besonderen Erfordernisse zielgruppenorientierter Projekte (vgl. ebenda, S. 7887). 35 Die Übernahme von Funktionen durch die Zielgruppe selbst als ein Faktor verbesserter Selbsthilfefähigkeit ist, wie früher gezeigt, eine besonders wichtige Komponente der Armutsorientierung. Sie soll nicht nur motivieren, sondern ganz besonders unter Kosten-Nutzen-Überlegungen den Kreis der erreichbaren Personen erweitern helfen (vgl. zu Verfahren der Beteiligung auch Chambers 1974, Fischer und Mühlenberg, 1980). 36 Im Rahmen sehr umfangreicher und hoch differenzierter Untersuchungen haben Morss et al. (1976) die Beteiligung von Kleinbauern (definiert als „local action") als wichtigsten Faktor des Projekterfolgs identifizieren können.

4.4 Folgerungen aus den zielgruppenspezifischen Maßnahmenansätzen

257

Wenn nun der Zielgruppenbezug Beteiligung erforderlich macht und Beteiligung als Prozeß angestrebt wird, durch den einmal auch sich wandelnde Bedürfnisse berücksichtigt und zum anderen anhaltende Identifikation mit dem Projekt erzielt werden soll, dann kann die Planung eines Projektes nicht als einmaliger Akt verstanden werden, der den weiteren Ablauf eines Projektes determiniert 3 7 . Der Gesichtspunkt, ein Projekt nicht „durchzuplanen", sondern in Plansequenzen schrittweise auszubauen, ist ansatzweise schon im Konzept der „reduzierten" Regionalplanung enthalten und wird dort im Kontext der Kern- und Folgeprojekte sichtbar. Es ist jedoch keine Begründung ersichtlich, weshalb nicht auch „Kernprojekte" und „Folgeprojekte" je für sich Schritt für Schritt entwickelt werden könnten, um der planerischen Verarbeitung der Beteüigung gerecht werden zu können. Eine Projektrahmenplanung mit Sequenzen von Detaüplanungsschritten würde den zielgruppenkonzeptbedingten Planungsbedürfnissen entsprechen können.

4.4.2. Zielgruppenansatz und Verfahren der Ablaufsteuerung und Evaluierung für ländliche Entwicklungsprojekte Da Zielgruppenprojekte sequentielle Planungsansätze erfordern, kommt der Ablaufsteuerung solcher Projekte vermehrte Bedeutung zu. Die Bedeutung sequentieller Planung beruht gerade auf der systematischen Berücksichtigung gemachter Projekterfahrung. Der sequentiell angelegte Projektablauf kann als „Regelsystem" gesehen werden, bei welchem sich verändernde Zielgruppenbedingungen ablaufsteuernd auswirken sollen. Die Ablaufsteuerung muß periodisch (oder permanent) die Zielerreichung bzw. -abweichung messen und zu korrigierenden Eingriffen — wenn erforderlich — fuhren. Teüziele müssen regelmäßig überprüft und, wenn notwendig, modifiziert oder ergänzt werden. Verfahren der Beteüigung müssen zur Schließung des „Regelkreises" gewährleistet sern. Für die Zielfestlegung, Verlaufskontrolle und Evaluierung ländlicher Entwicklungsprojekte wurden in jüngerer Zeit neue Verfahrensansätze entwickelt, deren Eignung für Zielgruppenprojekte geprüft werden soll. 37 Sequentielle Planung ist nicht identisch mit einer fortschreitenden „Planungstiefe", die von von Boguslawski (1980, S. 172 ff.) in Anlehnung an Heimpel (1973) als stufenweise zunehmende Konkretisierung der Maßnahmenbestimmung verstanden wird. Zwar beinhaltet die sequentielle Planung auch den stufenweisen Konkretisierungsaspekt, zugleich bietet sie aber institutionelle Voraussetzung der Maßnahmeveränderung. Die Maßnahmenbestimmung soll weniger als geradliniger Prozeß vom Allgemeinen zum Konkreten, sondern mehr als Anpassung der Maßnahmen an sich verändernde Zielgruppenbedingungen aufgefaßt werden.

258

4. Zielgruppenspezifìsche Maßnahmen zur produktiven Mobilisierung

4.4.2.1. Zielformulierung Ziele von Projekten, die auf Menschen - deren Verhalten oder Status - gerichtet werden, sind in der Projektpraxis ungleich schwieriger zu formulieren als solche, die sich auf Sachen beziehen. Ein Infrastrukturprojekt kann sein Ziel durch Längen- und Qualitätsangaben fur Straßen abstecken. Für ein kleinbäuerliches Kreditprojekt stellt sich die Zielfestlegung komplizierter. Geht es darum, für eine bestimmte Anzahl von Kleinbauern Kredite anzubieten, oder besteht das Projektziel darin, Kleinbauern mit Hüfe des Kredites zur Übernahme produktivitätssteigernder Innovationen! zu befähigen? Auch diese Zielalternative mag unzureichend sein. Den Entscheidungsträgern mag es eigentlich darum gehen, die Einnahmen von Kleinbauern zu steigern oder vielleicht in erster Linie den landwirtschaftlichen Output zu erhöhen. Das Ziel, Einkommensdisparitäten zu reduzieren, könnte im Vordergrund stehen, oder die Schaffung von Voraussetzungen für eine beschleunigte strukturelle Transformation der Beschäftigung durch Verwendung unimodaler Technologie im Kleinbauernsektor. Bei dieser Zielliste wird deutlich, daß im Fallbeispiel mit dem Projekt sowohl verschiedenartige Ziele — mehr landwirtschaftliche Produkte, verbesserte Einkommen für Kleinbauern - als auch Ziele, die miteinander „hierarchisch" zusammenhängen - vermehrte Kreditbereitstellung, vermehrte Innovationsverwendung, höhere Erträge, verbesserte Einkommen — verfolgt werden können. Für die Projektpraxis hat sich bei einem Teü der multilateralen Behörden und einigen büateralen Institutionen ein standardisiertes Verfahren zur Zielsystematisierung eingebürgert, das als „Logical Framework" 38 (Kürzel „Log. Frame") bezeichnet w i r d 3 9 . Dieses System stellt eine Zielmatrix dar, in welcher vertikal 3 Zielhierarchien („purpose", „goal", „outputs") und eine Maßnahmeebene („inputs") und horizontal die Operationalisierung der Ziele und Maßnahmen („objectively verifiable indicators", „means of verification") und wichtige Annahmen („important assumptions") eingetragen werden. Zwischen den einzelnen Ebenen bestehen theoretisch oder hypothetisch begründete Wirkungszusammenhänge, gerichtet von der Maßnahme hin zur übergeordneten Zielebene. Die Wirkungskette ist von der Maßnahmeebene her als Zielhierarchie und umgekehrt von der übergeordneten Zielebene her als Maßnahmekette zu sehen.

38

Vgl. ζ. B. BMZ (1976); ILO/Schwab (1979); USAID (1975); Worldbank (Deboeck) (1976). 39 Der Entwurf des Logical Framework geht auf Rosenberg und Hagenboeck (1973) zurück.

4.4 Folgerungen aus den zielgruppenspezifischen Maßnahmenansätzen

259

Schema 1 7: Das „Logical Framework" (Elemente, Zielhierarchie und wichtige Annahmen)

NARRATIVE GOAL Description of Intended Stote of Welfare (in Target Population or extending beyond it)

ASSUMPTIONS

Uncontrolloblk conditions in the distant environment which must be satisfied for the Purpose to contribute to Goal achievement

Hypothesized Link

PURPOSE Intended Behovior Change (Investment) in the Target Group

Hypothesized Link

Criticol conditions in project environment which must be satisfied to lower risk ond facilitate behovioral chonge