Aristoteles: Poetik 9783050050119, 9783050044521

Aristoteles‘ Schrift "Über die Dichtkunst" ("Peri poiêtikês") ist trotz ihrer Kürze einer der wirkun

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Aristoteles: Poetik
 9783050050119, 9783050044521

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Aristoteles

Poetik

Klassiker Auslegen Herausgegeben von Otfried Höffe Band 38

Otfried Höffe ist o. Professor für Philosophie an der Universität Tübingen

Aristoteles

Poetik Herausgegeben von Otfried Höffe

Akademie Verlag

Abbildung auf dem Einband: Porträt des Aristoteles, Skulptur aus Penteli-Marmor, römische Kopie aus der Kaiserzeit (1. o. 2. Jh. v. u. Z.) einer verlorengegangenen Bronzeskulptur von Lysippos. Louvre, Paris. Fotografie: Eric Gaba, Wikimedia Commons.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-05-004452-1 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2009 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Gesamtgestaltung: K. Groß, J. Metze, Chamäleon Design Agentur Berlin Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: MB Medienhaus, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt Hinweise zur Benutzung und Siglen . . . . . . . . . . . . . . VII Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX 1. Einführung in Aristoteles’ Poetik Otfried Höffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Erster Teil: Allgemeine Poetik 2. Dichtung als Mimesis (Kap. 1–3) Joachim Küpper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Zweiter Teil: Spezielle Poetik A) Einleitung 3. Zur Genealogie der Poesie (Kap. 4) Oliver Primavesi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4. Die Komödie (Kap. 5) Pierre Destrée . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 B) Theorie der Tragödie 5. Aristoteles über das Wesen und die Wirkung der Tragödie (Kap. 6) Christof Rapp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 6. Die Einheit der Handlung (Kap. 7–9) Dorothea Frede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 7. Psychagogie und Erkenntnis (Kap. 10–12) Michael Erler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

VI

Inhalt

8. Tragischer Fehler, Menschlichkeit, tragische Lust (Kap. 13–14) Otfried Höffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 9. Über die Charaktere und die dichterische Begabung (Kap. 15–18) Roman Dilcher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 10. Gedanke, Sprache und Stil (Kap. 19–22) Michael Schramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 C) Theorie des Epos und Vergleich mit der Tragödie 11. Epostheorie, Maßstäbe der Literaturkritik, zum Verhältnis von Epos und Tragödie (Kap. 23–26) Arbogast Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Ausblick 12. Mimesis versus Repräsentation. Die Aristotelische Poetik in ihrer neuzeitlichen Rezeption Andreas Kablitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Personenregister antiker Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Personenregister neuerer Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Hinweise zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Hinweise zur Benutzung Griechische Begriffe und Zitate werden in lateinischer Umschrift wiedergegeben; dabei bezeichnet ê den griechischen Buchstaben Eta, ô den griechischen Buchstaben Omega. Aristoteles’ Schriften werden nach der Standardedition des griechischen Textes, der Bekker-Ausgabe, zitiert. In der Regel folgt auf den abgekürzten Titel eine römische Zahl zur Angabe des Buches und eine arabische Ziffer zur Angabe des Kapitels: EN I 1, 1095a5–9 ist zu lesen als: Nikomachische Ethik, erstes Buch, erstes Kapitel; in der Bekker-Ausgabe Seite 1095, Spalte a, Zeilen 5–9. Wenn ohne Abkürzung des Werkes zitiert wird, bezieht sich die Angabe auf die Poetik. Stellenangaben zu den Werken Platons nehmen auf die übliche Stephanus-Paginierung sowie deren Abschnitts- und Zeileneinteilung Bezug. Auf Sekundärliteratur wird durch Autorenname, Erscheinungsjahr und gegebenenfalls Seitenzahl hingewiesen: (Halliwell 1984, 210). Am Ende jedes Beitrags wird die jeweilige Literatur aufgeschlüsselt; häufiger genannte und besonders wichtige Werke finden sich in der Bibliographie am Schluß des Bandes.

Siglenverzeichnis Werke des Aristoteles: An. De anima (Peri psychês): Über die Seele An. post. Analytica posteriora (Analytika hystera): Zweite Analytiken An. pr. Analytica priora (Analytika protera): Erste Analytiken EE Ethica Eudemia (Ethika Eudêmeia): Eudemische Ethik EN bzw. Ethik Ethica Nicomachea (Ethika Nikomacheia): Nikoma­ chische Ethik Hist. an. Historia animalium (Peri ta zôa historiai): Tierkunde Int. De interpretatione (Peri hermêneias): Hermeneutik Met. Metaphysica (Ta meta ta physika): Metaphysik Meteor. Meteorologica (Meteôrologika): Meteorologie Mot. an. De motu animalium (Peri zôôn kinêseôs): Über die Bewegung der Tiere

VIII

Zitierweise und Siglen

Part. an. De partibus animalium (Peri zôôn moriôn): Über die Teile der Tiere Phys. Physica (Physikê akroasis): Physik Poet. Poetica (Peri poiêtikês): Poetik Pol. Politica (Politika): Politik Rhet. Ars rhetorica (Technê Rhetorikê): Rhetorik Top. Topica (Topika): Topik

Werke Platons: Apol. Apologia Nom. Nomoi Phd. Phaidon Phdr. Phaidros Phil. Philebos Polit. Politikos Rep. Respublica, Politeia, Staat Soph. Sophistês Symp. Symposion Tht. Theaitetos

Vorwort Platon hat die Dichtung aus moralischen und politischen, überdies onto­ logischen Gründen scharf kritisiert. Für Aristoteles ist sie dagegen ein posi­ tiver Bestandteil des menschlichen Lebens. Sie besitzt sogar eine eigene Form von Rationalität, die er in seiner Abhandlung über die Dichtkunst, die Poetik, zu ergründen sucht: ihr Wesen und dessen anthropologischen Hintergrund, den Ursprung, die Gattungen und deren Bestandteile. Aristoteles’ scharfsinnige Analysen, beispielsweise zur mimêsis oder zu den tragischen Affekten, prägen die Debatten der Philosophen, Philologen und Literaturwissenschaftler bis heute. Die Poetik gehört allerdings zu den schwierigeren Texten des Aristoteles, dies schon deshalb, weil viele ihrer Begriffe und Argumente ohne den Hintergrund anderer Schriften, insbesondere der Nikomachischen Ethik, der Politik und der Rhetorik, sowohl in ihren Aussagen als auch in deren Tragweite schwerlich zu verstehen sind. Der hier vorgelegte kooperative Kommentar sucht die Abhandlung in ihren eigenständigen Aussagen, darüber hinaus aber auch ihre Querverbindungen zu erhellen. Die Beiträge, von Philosophen, Altphilologen und Literaturwissenschaft­ lern verfaßt und im Rahmen eines Symposions in Tübingen vorbereitet, untersuchen Aristoteles’ Poetik in ihrer gesamten thematischen Breite. Sie sind, wie in der Reihe „Klassiker Auslegen“ üblich, ausschließlich Origi­ nalbeiträge. Als erstes ist allen Autoren zu danken. Sodann danke ich Karoline Rein­ hardt, die den einzigen fremdsprachigen Text ins Deutsche übersetzt hat, ferner meinem Assistenten, Dr. Rolf Geiger, der mich bei der Planung des Bandes unterstützt hat. Für die Vorbereitung und Durchführung des Symposions sowie für die Redaktion des Bandes danke ich meinen enga­ gierten Mitarbeitern Moritz Hildt und Tankred Freiberger. Nicht zuletzt gebührt Dank der Fritz-Thyssen-Stiftung für die erneut großzügige Finan­ zierung des Symposions. Tübingen im Mai 2009

Otfried Höffe

1 Otfried Höffe

Einführung in Aristoteles’ Poetik

1.1 Archivarisch oder aktuell? Aristoteles’ Schrift Über die Dichtkunst (Peri poiêtikês) ist trotz ihrer Kürze einer der wirkungsmächtigsten Texte ihrer Art und fraglos das erste Werk, das seinem Gegenstand eine eigene Abhandlung widmet. Sie untersucht auf systematische Weise das Wesen der Dichtung und ihre Gattungen, vor allem die Tragödie, aber auch das Epos und nur ziemlich knapp die Komödie; denn ihr war, wie seit Umberto Ecos Roman Im Namen der Rose jedermann weiß, ein zweites, verlorengegangenes Buch gewidmet. Allein die Lyrik ist ausgespart. Der aus einer Fülle von Erfahrung gespeiste, an prägnanten Analysen reiche Text beeinflußt über Jahrhunderte philosophische und literaturwissenschaftliche Debatten. Ihm gelingt sogar, was der dem Wort „Poetik“ zugrundeliegende Ausdruck poiêsis (Herstellen) beinhaltet: Sehr wenige, überdies mehr deskriptiv als normativ zu verstehende Bemerkungen zum Hauptgegenstand, der Tragödie, bringen jene berühmte Lehre der drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung hervor, die die klassische europäische Dramenkunst, namentlich die von Frankreich, nachdrücklich prägt. Bald danach stößt allerdings die dem Geist der Poetik ohnehin fremde „Regelpoesie“ auf vehementen Widerspruch. (Aristoteles plädiert aus gutem Grund nur für die Einheit der Handlung.) Dem Grundgedanken der Schrift, der Nachahmung (mimêsis), ergeht es ähnlich: Lange Zeit hochgeschätzt, wird er von dem angeblich alternativen Gedanken, dem des schöpferischen Genies, zunächst verdrängt, dann leidenschaftlich verworfen. Bleibt also für die Poetik, da sie noch in weiterer Hinsicht an Aktualität verloren hat, bloß ein archivarisches Interesse übrig?



Otfried Höffe

Der hier vorgelegte kooperative Kommentar, verfaßt von Philosophen, Altphilologen und Literaturwissenschaftlern, wendet sich an einen unbefangenen, von der verschlungenen Rezeptionsgeschichte unverdorbenen Leser. Für ihn soll der Text mit seinen Begriffen, Behauptungen und deren Begründung entschlüsselt werden. Erst das Schlußkapitel wirft einen exemplarischen Blick in die Wirkungsgeschichte. Beim Versuch, den Text auch zum Sprechen zu bringen, drängt sich gelegentlich die Frage auf, ob einige der Aristotelischen Überlegungen nicht über ihre Zeit hinaus von Bedeutung, ob sie nicht vielleicht sogar bis heute aktuell sind. Einleitend seien dazu einige Vermutungen geäußert: Aktuell ist schon der Grundbegriff im Titel der Schrift, die poiêsis, der bei Aristoteles im Gegensatz zur praxis steht. Nach dem Muster von Sehen, Spazierengehen, Flötespielen oder Denken, auch Sein-Leben-Führen, liegt bei der Praxis das Ziel im gelungenen Vollzug. Dagegen kommt es bei der Poiesis nach dem Vorbild des Handwerkers auf das Werk an, das die Tätigkeit bezweckt und das am Ende als selbständiges Produkt dasteht. Nach der wörtlichen Bedeutung des Titels sucht Aristoteles also einen Beitrag zur herstellenden Kunst (poiêtikê). Darin steckt eine poetologische These, die bis heute aktuell sein dürfte: Die Dichtung hat insofern einen poieti­schen, sogar handwerklichen Charakter, als es nicht auf den Vollzug dichterischer Tätigkeit ankommt, wohl aber auf ihr Resultat. Zu Recht spielt deshalb die Frage einer etwaigen Inspiration keine zentrale Rolle. Statt eine unverfügbare Erleuchtung anzunehmen, zählt das eigene Können. Ob Genie oder gewöhnlicher Sterblicher: wie auch immer der schöpferische Prozeß abläuft oder der Lebenswandel sich gestaltet – die Qualität eines Dichters entscheidet sich am Ergebnis, folglich an der Frage: Ist das Werk, das der Autor verfaßt, gelungen oder aber nicht? Gemäß dem Grundbegriff der Poiesis will Aristoteles seinen Zeitgenossen und späteren Lesern zeigen, wie man schöne Literatur „verfertigt“, aber ohne Rezepte dafür anzubieten. Er skizziert kein Seminar für angehende Dichter, keinen Meisterkurs für „creative writing“. Er sucht vielmehr das Wesen der Dichtung und ihrer Gattungen zu bestimmen, dabei auch Maßstäbe, aber ziemlich formale aufzustellen, mit deren Hilfe sich gute von schlechter Dichtung unterscheiden läßt (vgl. 1, 1447a8 ff. mit 5, 1449b17–20). Nicht in erster Linie, aber doch mehr als nur mitlaufend interessiert sich Aristoteles für Beurteilungskriterien literarischer Kunstwerke. Mit ihnen bietet er wichtige, durchaus noch aktuelle Bausteine für eine allgemeine Literaturtheorie an. Zugleich leistet er einen Beitrag zu einer wissenschaftlichen, auch einer feuilletonistischen Literaturkritik. Die dafür unverzicht-

Einführung in Aristoteles’ P OETIK



bare Urteilskraft wird allerdings nicht zum eigenen Thema. Der Sache nach ist sie vor allem bei der Erörterung der (Homer-)Probleme gefragt und kommt dort, im Kapitel 25, andeutungsweise zur Sprache. Beispielsweise verlangt Aristoteles von einem seriösen Kritiker, anscheinend widersprüchliche Aussagen so genau zu prüfen, wie man bei wissenschaftlichen Disputen die Argumente seines Gegners prüft. Als Kriterium führt er den phronimos, die klug urteilende Person, ein (25, 1461b15–18), also jenen lebendigen Maßstab, den wir für ihren anderen Gegenstand, das Gute und Gerechte, aus der Ethik kennen (z. B. II 6, 1106b36 ff.). Auch der Grund- und Wesensbegriff der Poetik, die Mimesis, die Nachahmung, entbehrt trotz vielfacher Kritik keineswegs aller Aktualität. Der ästhetische Grundbegriff klingt zwar für viele nach einer vormodernen Literaturtheorie, sie setzen dabei allerdings einen zu engen Begriff voraus. Für die Malerei mag es möglich sein, Weintrauben so täuschend echt zu malen, daß selbst Vögel an ihnen herumpicken, oder was Orhan Pamuk von den legendenumwobenen Meistern der Buchmalerei behauptet, daß ihre „Pinsel Pferde galoppieren und Schmetterlinge über die Buchseiten flattern ließen“ (Rot ist mein Name, 80). Die Dichtung, für die die Mimesis-Forderung ebenfalls erhoben wird (1, 1447a13–16; vgl. Pol. VIII 5, 1340a39), kann eine derart täuschende Echtheit nicht einmal versuchen. Die großen Texte der Weltliteratur, ob sie nun von antik-griechischen, von modernen oder von außereuropäischen Autoren verfaßt sind, haben fraglos einen fiktionalen Charakter. Aristoteles leugnet ihn nicht, denn im Unterschied zur Geschichtsschreibung soll die Dichtung nicht das wirkliche Geschehen darstellen (s. u. Abschn. 1.7). Ebenso fraglos dürfen ihre großen Schöpfer literarische Genies sein. Trotzdem trifft auf sie zu, was Aristoteles’ Mimesis primär bedeutet: weder ein naturalistisches Nachahmen noch in planer Entgegensetzung pure Fiktion, sondern daß ihre Werke kein bloß innersprachliches Phänomen sind; sie beziehen sich vielmehr auf eine davon unabhängige, vorgängig existierende Wirklichkeit. Als „Nachahmung von“ an etwas, das nachgeahmt wird, gebunden, fordert die Dichtung auch das künstlerische Genie zu Bescheidenheit auf. Selbst überragende Schriftsteller führen bestenfalls im metaphorisch abgeschwächten Sinn eine „göttliche Feder“. Außerstande zu der allein Gott vorbehaltenen Schöpfung aus dem Nichts, der creatio ex nihilo, gelingt ihnen, ob realistisch, idealisierend oder karikierend – Aristoteles erkennt selbstverständlich diese drei Grundtypen an – nie mehr als eine sekundäre Schöpfung. Dichter erschaffen zwar eine neue, aber keine schlechthin neue Welt. Sie bleiben zurückgebunden an die inneren Gründe einer schon



Otfried Höffe

vorgegebenen, nämlich in der menschlichen (psychologischen, sozialen und politischen) Natur und Kultur existierenden Welt. Manche moderne Schriftsteller bekennen sich zu dieser Bescheidenheit mit Nachdruck. Der tschechische Romancier Bohumil Hrabal (2008, 1457) schreibt in seinem autobiographischen Essay Wer ich bin: „Niemals habe ich mir gewünscht, die Sprache oder die Welt zu verändern … Ich war von Kindheit an voller Bewunderung für die Wirklichkeit, die ich nicht erschaffen habe, die bereits da war, bevor ich es war“. Der Mimesis-Charakter hat eine weitere, zweifellos ebenso aktuelle Tragweite: Wer eine Dichtung (eventuell mit Ausnahme bestimmter, von Aristoteles auch nicht thematisierter Lyrik) rein strukturalistisch auffaßt, wer sie lediglich als Inbegriff von Wörtern und deren Kombination, den Sätzen, versteht, übersieht deren Referenz, den Bezug auf eine zum dichterischen Text äußere Wirklichkeit. Eine sachgerechte Interpretation von Dichtung hat sich deswegen auf deren Wirklichkeitsbezug einzulassen. Unter den zahlreichen philosophischen Wahrheitstheorien ragen zwei als besonders wichtig hervor, die Korrespondenztheorie der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und die Kohärenztheorie der inneren Stimmigkeit. Nach Aristoteles’ Poetik sind beide wesentlich: Wegen der Mimesis nimmt Dichtung auf Wirklichkeit Bezug, wegen der noch zu erläuternden inneren Einheit des Mythos ist die interne Stimmigkeit unverzichtbar. Für das Verständnis des Hauptgegenstandes, einer Glanzleistung der Weltliteratur, die attische Tragödie, dürften Aristoteles’ Theorieangebote ebenfalls bis heute erwägenswert sein. Die beiden Hauptelemente der Tragödie, die Komposition der Handlung und die Charaktere, spielen dabei die entscheidende Rolle: Einerseits ist eine Tragödie (aber auch jedes andere Drama) als eine in sich geschlossene Handlung zu komponieren, womit der Gegenstand ein höheres Maß an Ordnung und Rationalität erhält. Dabei heißt „tragisch“ kein trauriger Unglücksfall, sondern ein Verhängnis, das aufgrund einer hamartia, eines Fehlers, seinen erbarmungslosen Lauf nimmt: Zum Beispiel erschlägt der Bruder den Bruder (Eteokles den Polyneikes) oder der Sohn (Ödipus) den Vater oder die Mutter (Medea) die Söhne oder der Sohn (Orest) die Mutter. Die Person, die so handelt, der tragische Held, ist ein spoudaios, das heißt jemand, der durch seine aristokratische Herkunft aus der Menge herausragt. Weit wichtiger ist aber der Charakter. Wie wir es aus Sophokles’ Tragödie Antigone vom Gegenspieler der Titelheldin, König Kreon, und in anderer Weise von der Titelheldin selbst kennen, führt der Charakter dazu, daß man den einmal eingeschlagenen Weg in rücksichtsloser Unerbittlichkeit, geradezu „verbohrt und vernagelt“, verfolgt.

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Auch ein drittes Element der Tragödientheorie, das Dreigestirn von Furcht und Mitleid (eleos kai phobos) sowie entweder Katharsis (Reinigung, Erleichterung) oder aber Lust, dürfte seine Gültigkeit bis heute nicht verloren haben. Ob Bühnenwerk oder Film – in ihren großen Beispielen bringen sie exemplarische Lebensmöglichkeiten zur Darstellung. Mit simpler Unterhaltung nicht zufrieden, führen sie große Leidenschaften vor: Liebe und Haß, Neid und Eifersucht, Habgier, Ehrgeiz und Machtgier. Sie zwingen uns, mit den Protagonisten mitzufühlen, bei unverhältnismäßigem Unglück Mitleid zu empfinden, auch, sofern ein ähnliches Schicksal eintreten könnte, sich zu fürchten; und nach intensivem Mit-Leiden gewähren sie am Ende eine Erleichterung. Vielleicht dient die Tragödie sogar als Vorbild für eine wichtige Aufgabe dynamischer Gesellschaften, für eine „Kultur der Rechtzeitigkeit“ angesichts neuer Problemlagen (vgl. Höffe 1993, Kap. 16). Sophokles’ Antigone zeigt e contrario, worauf es bei neuartigen Aufgaben als erstes ankommt: Nur wer der Gefahr entgeht, der beide, Kreon und Antigone, erliegen, nämlich einer aus Selbstgerechtigkeit folgenden Verblendung, kann sich der Komplexität der neuen Situation öffnen. Und kommt das Sich-Öffnen zustande, so braucht man „nur noch“ gründliche Überlegungen anzustellen und sein Handeln danach auszurichten. Aristoteles’ Poetik enthält Beispiele in Hülle und Fülle. Wie die Hinweise auf die Epen Homers, wie die auf zahlreiche uns bekannte, aber auch viele verschollene Tragödien und verschiedene Komödien, nicht zuletzt ein Hinweis auf Pindar zeigen, hat der Philosoph den außergewöhnlichen Reichtum griechischer Dichtung vor Augen. Wie bei den anderen Gegenständen, so liegt auch seiner Theorie der Dichtung ein hohes Maß von Erfahrung zugrunde. Wer seine Poetik und ihre bleibende Aktualität verstehen will, sollte daher Dichtungen kennen, zumindest je ein Werk von den drei großen griechischen Tragikern, von Aischylos etwa die Orestie, von Sophokles König Ödipus und von Euripides die Medea. Er sollte die zwei Homerischen Epen, die Ilias und die Odyssee, vor Augen haben und eine Komödie von Aristophanes, nicht zuletzt einige Dramen der europäischen Klassik und Nachklassik gelesen oder auf der Bühne gesehen haben.



Otfried Höffe

1.2 Eine alternative Rationalität Von einem Logiker erwartet man nicht, daß er die Dichtkunst einer philosophischen Erörterung für würdig hält. Sollte er sich trotzdem mit ihr befassen, so rechnet man mit Kritik, beispielsweise mit dem Vorwurf, der Dichtung fehle es an begrifflicher Klarheit und argumentativer Strenge. Ein Philosoph, der das Grundelement einer argumentativen Debatte, den formalen Schluß (syllogismos), im entsprechenden Text, den Ersten Analy­ tiken (Analytica priora), in all seinen Facetten auf den Begriff bringt, wird einer derart syllogismusfernen Redeweise wie der Dichtung doch kaum Verständnis und Sympathie entgegenbringen. Aristoteles enttäuscht all diese Erwartungen und beweist damit erneut seine Aktualität: Der Verfasser der ersten formalen Logik des Abendlandes ist erstaunlicherweise auch der Autor der ersten selbstständigen Schrift über die Dichtkunst, der Poetik. Dafür könnte ein äußerliches, enzyklopädisches Interesse verantwortlich sein: eine umfassende Neugier, die sich auf alle Gegenstandsbereiche richtet. Ohne Zweifel besitzt unser Autor diese Neugier, sie ist bei ihm aber philosophisch unterfüttert. Er entdeckt nämlich in dem, was auf den ersten Blick als unvereinbar erscheint, eine Gemeinsamkeit: Beide, formale Logik und Dichtung, sind Formen menschlicher Rationalität. Nun könnte man die Logik für eine gelungene, die Dichtung für eine mißlungene Form halten. Dank seiner Verbindung von weltoffener Neugier mit einer wissenstheoretischen und zugleich gegenstandstheoretischen Toleranz nimmt aber Aristoteles eine grundlegend andere Einschätzung vor. Keineswegs sieht er in der Logik die legitime, in der Dichtung dagegen eine illegitime Rationalitätsform. Er hält vielmehr beide für legitim, jedoch auf verschiedene, allerdings nicht grundverschiedene Weise. Die in der Geistesgeschichte oft vertretene Ansicht, es gebe ein einziges, in sich homogenes Kriterium für Rationalität, ist Aristoteles fremd. Der Philosoph, der die gesamte Welt, sowohl die natürliche als auch die soziale Welt, nicht zuletzt die reiche Welt von Denken und Sprache, „rational“ erschließen will, lehnt jedes dogmatische Rationalitätsverständnis ab. Um allen Gegenstandsarten ihr Eigenrecht zu erlauben, statt eine einzige Gegenstandsart zu privilegieren, darf man nicht bloß, sondern muß sogar unterschiedliche Rationalitätsarten zulassen. Aristoteles’ Aussage zur Redekunst (EN I 1, 1094b25–27) gilt sinngemäß auch für die Dichtung: Wer hier mathematische Beweise erwartet, verkennt das Wesen seines Gegenstandes, die ihm eigentümliche Rationalität.

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Wie schon die intellektuelle Debatte und die öffentliche Rede, so wird auch die Dichtung nicht an einem eindimensionalen Rationalitätsverständnis, sondern an den ihr eigenen Kriterien gemessen. Auch durch Dichtung gelangt man zu einem Wissen. Ohne den besonderen Rang von Philosophie und Wissenschaft zu relativieren, stimmt Aristoteles in der Sache dem Aischylos-Vers pathei mathos, „Lernen aus Leiden“, zu (Agamemnon, Vers 177): Aus der Erfahrung der in Tragödien dargestellten Konflikte läßt sich lernen, hier freilich weniger in einem intellektuellen als in einem affektiven Sinn (vgl. Höffe 2001). Der Philosoph hält die Dichtung sogar für philosophischer, überdies für bedeutsamer, wertvoller (spoudaioteron) als die Geschichtsschreibung. Darin darf man weder eine Historikerkritik noch eine Mißachtung der Historie sehen. Aristoteles hat selber Material für eine Geschichtsschreibung gesammelt. Von ihm stammen sowohl sorgfältig geprüfte Siegerlisten der Olympischen und der Pythischen Spiele als auch, für die Geschichte der attischen Dramenkunst wichtig, Tabellen der Dionysischen Siege und der Didaskalien (wörtlich: Unterweisungen), der Einstudierungen der für die dramatischen Wettkämpfe vorgesehenen Tragödien und Komödien. Als Beispiel eines Historikers führt Aristoteles zwar nur Herodot (490– 425/20) an, weshalb man ihm gerne vorwirft, er habe desssen Antipoden in methodischer Hinsicht, Thukydides (um 460–400), vergessen. Für das angebliche Vergessen hat Aristoteles aber einen guten Grund: Thukydides nennt sein Werk über den Peloponnesischen Krieg zwar historia. Der Ausdruck hat im Griechischen aber die allgemeine Bedeutung von Forschung, Kunde und Wissenschaft. In diesem Sinn ist Aristoteles’ Schrift Peri ta zôa historiai (Historia animalium) keine (Evolutions-)Geschichte der Tiere, sondern eine Zoologie, eine Tierkunde. Thukydides selbst versteht sich zwar durchaus als Historiker, insofern er den Krieg zwischen Sparta und Athen aufzeichnen (I 1), dafür in mühsamer Untersuchung Zeugnisse sammeln und kritisch prüfen (I 20) und mit aller erreichbaren Genauigkeit das Gewesene erkennen will (I 22). Zugleich will er aber in die menschliche Natur eindringen, um auf diese Weise einen Besitz für die Ewigkeit (ktêma eis aei) zu schaffen (ebd.). Diese Absicht, darf man sagen, teilt er mit der Dichtung. Sieht man aber von Thukydides’ „anthropologischem“ Anspruch einmal ab und verkürzt seine Schrift auf bloße Geschichtsschreibung, so trifft Aristoteles’ Abgrenzung der Dichtung von der Geschichtsschreibung auch auf ihn zu: Obwohl die Dichtung den Personen Eigennamen gibt, hat sie im Unterschied zur (bloßen) Geschichtsschreibung mit dem Allgemeinen zu tun: „daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach Wahrschein-



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lichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut“ (9, 1451b8 f.). Das Kriterium für Rationalität, die Notwendigkeit (anankaion oder anankê), zumindest aber dessen abgeschwächte Form, das meistens Zutreffende (hôs epi to poly: 7, 1450b30) oder das Wahrscheinliche im Sinne des Plausiblen (eikos), gilt auch für die Dichtung (z. B. 8, 1451a13 und a27; 9, 1451a38 und b9; 10, 1452a20; 11, 1452a24; 15, 1454a34 f.). Denn in einer individuellen dichterischen Gestalt und ihrem Schicksal, beispielsweise im Ödipus der gleichnamigen Tragödie, kommt Allgemeinmenschliches exemplarisch zur Darstellung.

1.3 Weder praktische noch theoretische Philosophie Nach einer verbreiteten Ansicht gliedert sich Aristoteles’ Denken in zwei Hemisphären: in eine theoretische und eine praktische Philosophie. In dieser Zweiteilung findet die Poetik keinen rechten Ort (der Rhetorik ergeht es ähnlich). Weil so wichtige Begriffe wie poiêsis, êthos und dianoia sowie aretê, auch hêdonê und philanthrôpia in der Ethik erläutert werden, könnte man zwar die Poetik der praktischen Philosophie zuordnen und die Zuordnung noch mit dem Argument bekräftigen, ein weiterer poetologischer Begriff, die katharsis, tauche in der zweiten praktischen Disziplin, der Poli­ tik, auf. Aber die poetologischen Hauptbegriffe mimêsis, mythos, eleos und phobos spielen dort keine Rolle. Vor allem übernimmt die Poetik nicht den für die praktische Philosophie, der Ethik und Politik, gleichermaßen zuständigen normativen Leitbegriff. Der Hauptgegenstand, die Tragödie, handelt zwar von Glück und Unglück. Trotz der (philologisch ohnehin strittigen Passage) in Kapitel sechs (1450a17) versteht die Poetik diese Begriffe aber als etwas, das dem Menschen zustößt. Es geht um Glück und Unglück im Sinne von euty­ chia und dystychia (7, 1451a13; 11, 1452a31 f., b35; 13, 1453a2, a10, a14), nicht um jenes schlechthin höchste Ziel, die eudaimonia, auf die es der praktischen Philosophie ankommt (vgl. EN I 1, 1094a26 ff.). Ebensowenig gehört die Poetik in die andere, theoretische Hemisphäre. Versteht man den Ausdruck „theoretisch“ nicht im Aristotelischen Sinn, hat die Dichtung durchaus einen theoretischen Charakter, der freilich auf die Ethik und die Politik genauso zutrifft. Für Aristoteles besteht die theôria aber in einem Wissen, dem man die Dichtung schwerlich zuordnen kann: im aktualen und sich selbst genügenden Wissen von Ursachen und Prinzipien. Insofern die Tragödie zunächst Mitleid und Furcht, sodann eine lustvolle Erleichterung von diesen Affekten hervorrufen soll, hat sie, wie

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schon der Buchtitel sagt, wesentlich einen hervorbringenden, also poietischen Charakter. Und Aristoteles’ „Theorie“ der Dichtung, die Poetik, untersucht zwar Ursachen (aitia) und Prinzipien (archai). Deren Untersuchung stellt aber keinen Selbstzweck dar, sondern dient unter anderem der Aufgabe, gute Dichtung als solche zu identifizieren. Somit ist die Poetik bestenfalls als Quasi-Theorie zu bezeichnen. Aristoteles folgt den vier methodischen Maximen, nach denen er generell seine Untersuchungen führt. Die Poetik hat Phänomene zu sichern, Schwierigkeiten durchzuarbeiten und glaubhafte Ansichten (endoxa) auszusieben sowie, wo erforderlich, die Mehrdeutigkeit von Begriffen zu klären. Zur Vorbereitung der Aufgabe, Phänomene zu sichern, hat Aristoteles umfangreiche Sammlungen von Forschungsmaterial angelegt: zu den Lehrmeinungen früherer Philosophen, zur Naturforschung, insbesondere der Zoologie, und zur Verfassungslehre, auch über Sprichwörter. Für den Themenbereich der Poetik sind die zwei schon genannten Sammlungen einschlägig: die Tabellen der Dionysischen Siege und die Didaskalien, zusätzlich die Sammlung der Homerischen Streitfragen, durch die zusammen mit Kapitel 25 der Poetik Aristoteles zum Begründer einer wissenschaftlichen Homer-Philologie wird.

1.4 Entmoralisierung, Entpolitisierung, Säkularisierung: poetologische Autonomie Um die Poetik zu verstehen, darf man sich nicht mit den Gegenständen begnügen, die in ihr verhandelt werden. Man hat auch zu überlegen, welche Themen beiseite bleiben. Zwei sind schon genannt. Thukydides fehlt, weil man ihn nicht nur als einen Historiker verstehen darf. Hinzukommt, daß Aristoteles die Dichtung nicht auf den normativen Leitbegriff der Ethik und Politik, das Glück im Sinne von Eudaimonie bezieht. Damit widerspricht er seinem „Lehrer“ Platon (s. u. Abschn. 1.6). Indem Aristoteles für die Poetik die Eudaimonie ausblendet, nimmt er stillschweigend eine Entmoralisierung vor: Für eine Theorie der Dichtung ist der angebliche moralische Wert oder Unwert dichterischer Aussagen belanglos. Dem Wesen der Dichtung fern, ist die Moral kein Kriterium für die Qualität von Dichtung, kein poetologischer Grundbegriff, nicht einmal ein poetologischer Begriff unter anderen. Noch ein weiteres Thema fehlt. Obwohl Aristoteles’ Poetik „ein Stück der politisch-kulturellen Wirklichkeit ihrer Zeit theoretisch zu durchdringen“ sucht (Fuhrmann 2003, 10), drängt ihr Autor diese Wirklichkeit nicht nur

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in den Hintergrund, er blendet sie sogar ostentativ aus. Die dramatischen Gattungen, also Tragödie, Komödie und Satyrspiel, ebenso das Kultlied, der Dithyrambos, hatten zwar in der griechischen Polis ihren festen Ort. Die Aufführungen der Dramen, bis zum Jahr 386 v. Chr. stets Uraufführungen, gehörten vornehmlich in Athen zum Programm bestimmter Götterfeste. Die Dramen waren also politisch und religiös zugleich verankert. Trotzdem behandelt Aristoteles die Dramenkunst als ein von der Polis und ihren Götterfesten vollständig losgelöstes Phänomen. Auch der nach der Dramenkunst nächst wichtige Gegenstand der Poetik, das Epos, hat einen deutlich politischen Charakter, gehörte er doch zum Kernbestand der griechischen Erziehung. Erneut blendet die Poetik die politische Bedeutung aus. Setzt man die Komödie beiseite, da der zuständige Teil der Poetik verlorengegangen ist, so gilt, daß Aristoteles für die hauptsächlich verhandelten Gegenstände, für die Tragödie und das Epos, eine Entpolitisierung vornimmt. Sie fällt sogar so radikal aus, daß man von einer Apolitisierung sprechen muß. Die Poetik nimmt gelegentlich auf die Rhetorik Bezug. Trotz mancher thematischen Überschneidung steht aber ihr Gegenstand, die Dichtung, ihrem Rationalitätsverständnis nach keineswegs in zu großer Nähe zur Redekunst. Ferner unterscheidet sich die Poetik auch darin von der Rheto­ rik: In der Form des Verschweigens leugnet sie für ihren Gegenstand die politische Dimension, die in der Rhetorik dagegen vielfältig zur Sprache kommt. Bei einem so reflektierten Philosophen wie Aristoteles kann man das Ausblenden des Politischen nicht für ein Versehen halten; darin steckt vielmehr eine These. Das entscheidende Kriterium kata technên (gemäß der betreffenden Kunstfertigkeit) verlangt für die öffentliche Rede, daß deren politische Dimension ausgebreitet, für die Dichtung dagegen, daß sie beiseite gesetzt wird. In der Rhetorik gehört sie nämlich zum Gegenstand, in der Poetik aber, so die e silentio vorgetragene These, nicht. Offensichtlich ist diese These provokativ: Obwohl die Tragödie in einem politisch-religiösen beziehungsweise religiös-politischen Kontext steht, ist dieser Kontext für das Wesen der Tragödie unerheblich; mangels einer innerästhetischen Bedeutung ist die politische Dimension dichtungsfern, streng genommen sogar dichtungsfremd. Wie die politische Dimension so wird auch der religiöse Kontext vollständig ausgeblendet, was sich, erneut stillschweigend, auf eine Säkularisierung beläuft (s. u., S. 18 f.). Alle drei Phänomene, die Entmoralisierung, die Entpolitisierung und die Säkularisierung, dürften denselben Grund haben: Aristoteles interessiert sich

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für eine innerästhetische Theorie der Ästhetik, des näheren für eine dichtungsinterne Theorie der Dichtung. Damit folgt er seinem generellen Philosophie-Programm, der Auflösung einer Einheitsphilosophie: Ohne auf die Aufgabe einer Fundamentalphilosophie, auch ohne auf die Pflege von zahlreichen Querverbindungen zu verzichten, untersucht er die verschiedenen Gegenstandsbereiche von innen, vom Wesen der Sache aus und vermag so ihre jeweilige Eigenart, folglich Besonderheit herauszupräparieren. Auf diese Weise tritt die der Sache eigentümliche Rationalität, ihre Eigengesetzlichkeit, zutage. Indem Aristoteles beispielsweise in den Ersten Analytiken das Logische der (formalen) Logik, in der Poetik aber das Dichterische der Dichtung herauspräpariert, zeigt er, ohne jede selbstgefällige Pathetik, in der Nüchternheit der Themenbehandlung, was Autonomie im wörtlichen, nicht Kantischen Sinn bedeutet und Aristoteles’ Poetik einmal mehr Aktualität verleiht: Er arbeitet die von Moral, von Politik und von Religion unabhängige, statt dessen im Wesen der eigenen Sache gründende Gesetzlichkeit heraus, womit er sie zugleich kräftigt. Darin dürfte sogar der wichtigste Schritt zur poetologischen Autonomie bestehen. Selbst wenn für sie die Genieästhetik einen Fortschritt bringen sollte, ist er vergleichsweise gering. Der in seiner Tragweite revolutionäre Schritt zur poetologischen Autonomie erfolgt lange vorher: Wir verdanken ihn Aristoteles.

1.5 Zum Inhalt und Aufbau In einer Hinsicht weicht Aristoteles’ Text zur Dichtkunst von dem zur formalen Logik ab. Innerhalb des überlieferten Werkes stellen die Ersten Analytiken mit ihrer straffen Disposition und souveränen Konzentration auf das Wesentliche einen der besten Texte dar. Andere Texte zeichnen sich durch darstellerische Schwierigkeiten und kompositorische Schwächen aus. In der Poetik tauchen sie anscheinend gehäuft auf. Wahr ist, daß der Text ein Vorlesungsmanuskript ist, das in der vorliegenden Form nur fragmentarisch überliefert ist: Nach dem antiken Schriftenverzeichnis von Diogenes Laërtios (Leben und Meinungen berühmter Philosophen, V 1, 21–24) hat Aristoteles eine Poetik in zwei Büchern hinterlassen. Auch zwei Stellen seiner Rhetorik legen das nahe (I 11, 1371b33; III 18, 1419b2), selbst die Poetik deutet dies an (6, 1449b21 f.). Überliefert ist aber nur das erste Buch; das zweite Buch, das vermutlich die Komödie und die (volkstümliche) Jambendichtung behandelt, ist wie gesagt verschollen. (Nach Janko 1984 läßt sich aus einem Kodex des 10. Jahrhunderts, dem Tractatus Coislinianus, Aristoteles’ Komödientheorie rekonstruieren,

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wo­gegen aber die meisten Poetik-Forscher Bedenken äußern; vgl. in diesem Band Kapitel 4: Die Komödie.) Es trifft ebenfalls zu, daß der überlieferte Poetik-Text, das Buch I, mancherlei Eigenarten enthält, die gerne als Sprünge und Brüche intepretiert werden. Beispielsweise steht gegen Anfang des sechsten Kapitels eine Definition der Tragödie (1449b24–28), deren Elemente, die sogenannten qualitativen Teile, aus den vorangehenden Kapiteln bekannt sind, dort aber in anderer Reihenfolge behandelt werden. Und ein so wichtiges Element wie die Verbindung der Affekte Mitleid und Furcht mit einer Katharsis, der Reinigung, Läuterung oder Erleichterung, wird weder hier noch an anderer Stelle erläutert. Statt dessen werden die beiden Affekte später in eine enge Beziehung zur Lust gesetzt, ohne diese Beziehung oder das Verhältnis von Katharsis und Lust näher zu bestimmen. Im selben Kapitel sechs werden die qualitativen Teile in zwei Durchgängen erörtert und in zwei Bilanzen aufgezählt, jede der vier Passagen bringt aber eine andere Abfolge. Kapitel zwölf wiederum scheint mit den sogenannten quantitativen Teilen den Argumentationsgang der Tragödie zu unterbrechen. Andernorts kommen unerwartete Seitenwege und überraschende Rückblenden hinzu. Und während einige Themen ausführlich erörtert werden, finden sich zu anderen nur knappe Skizzen. Ob in diesen und anderen Auffälligkeiten tatsächlich Ungereimtheiten und kompositorische Mängel liegen, kann nur eine genaue Lektüre entscheiden. Und diese zeigt, daß die Poetik nicht nur im Kern, sondern überwiegend sowohl klar gegliedert als auch in systematischer Hinsicht überzeugend komponiert ist. Der Text folgt dem Aufbau der zuständigen Gattung, einer wissenschaftlichen Lehrschrift. Dabei darf er zu Recht jenen Gegenständen einen geringen Raum einräumen, die vermutlich in den drei Büchern des allerdings nicht erhaltenen Dialogs Über die Dichter behandelt werden. Die Gliederung dieses Kommentarbandes reflektiert Aristoteles’ Aufbau der Poetik. Die Schrift, zu der selbst die ungefähre Entstehungszeit schwer zu bestimmen ist (vgl. Halliwell 1986, 324 ff.; etwas optimistischer Fuhrmann 2003, 14 f.), beginnt mit einer „Allgemeinen Poetik“ als ihrem Teil I. Auf die Zielbestimmung der gesamten Poetik folgt eine relativ ausführliche Bestimmung jener Grundleistung aller Dichtung, der Mimesis, die sie mit der nichtreinen, also mit der textbegleitenden Instrumentalmusik und vor allem mit der Malerei teilt (Kap. 1–3). Der zweite, naturgemäß weit umfangreichere Teil widmet sich der Speziellen Poetik. Deren Einleitung (Teil II A) beginnt mit einer unter zwei Aspekten vorgenommen Genealogie der Dichtung (Kap. 4). An die systematischen Überlegungen zu den

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anthropologischen Wurzeln für die Dichtung qua Mimesis schließt sich eine zweigeteilte literaturhistorische Entwicklungsgeschichte an: Durchaus anthropologisch bedingt, spaltet sich in der Zeit nach Homer die Dichtung in zwei Stränge, in eine hohe und in eine niedrige Dichtung (4, 1448b24– 1449a6). Danach skizziert Aristoteles die historische Entwicklung der drei Dichtungsgattungen, der Tragödie (4, 1449a7–31), der Komödie (5, 1449a32–b9) und des Epos (5, 1449b9–20). Der zweite und weit ausführlichste Abschnitt der Speziellen Poetik ist der Theorie der Tragödie gewidmet (II B: Kap. 6–22). Dabei üben die Überlegungen zur Sprachform (Kap. 19–22) eine Doppelfunktion aus. Da sie für die drei Dichtungsgattungen Tragödie, Epos und Komödie gleichermaßen gelten, runden sie einerseits die Tragödientheorie ab, andererseits bilden sie den integralen Teil einer Allgemeinen Poetik. Die letzten Kapitel am Ende der Poetik sind einer normativen Differentialanalyse von Epos und Tragödie gewidmet (II C). Ein weiterer Teil von Aristoteles’ Gattungspoetik dagegen, die Theorie der Komödie, ist wie erwähnt verlorengegangen. Der zweite Abschnitt der Speziellen Poetik, die Tragödientheorie, beginnt nun mit einer Grundlegung (Kap. 6), die die sechs konstitutiven Funktionselemente, die sogenannten „qualitativen Teile“, vorstellt. Als Ursprung und „gewissermaßen die Seele der Tragödie“ (6, 1450a38) gilt der Mythos, der hier aber nicht als der Gegenbegriff zum säkularen Logos zu verstehen ist. Seiner religiösen Macht entkleidet, bedeutet Mythos hier also die Geschichte oder Fabel, nämlich den gesamten Handlungsverlauf, worin also mehr steckt als in der beliebten Übersetzung mit „Plot“. Den entsprechenden Stoff gewinnt der Dichter nach Aristoteles aus drei Quellen: aus dem wirklichen Geschehen (wobei er wegen der Mimesis um nichts weniger ein Dichter ist: 9, 1451b29 f.), aus der Überzeugung, wie die Dinge sein sollten, und aus der mündlichen oder schriftlichen Überlieferung (14, 1453b22 f.). Herauskommen soll eine in sich so geschlossene und im Unterschied zum Epos von ablenkenden Episoden so freie Handlung, daß das Ganze einen systematischen oder organischen Charakter erhält (s. u. 1.7). Die nächstwichtigen Funktionselemente bilden die Charaktere (êthê), die Sprachform (lexis) und das Denken oder die Gedankenführung (dianoia). Die zwei dann noch fehlenden Elemente gelten dagegen als weniger bedeutungsvoll, werden daher nur gestreift: die Inszenierung (opsis) und die Melodik (melopoiia). Auf die Definition der Tragödie im Kapitel sechs folgen nähere Bestimmungen zu den ersten drei Funktionselementen. Für das vierte Element

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dagegen, die dianoia, verweist Aristoteles auf die Rhetorik (19, 1456a34 f.). Er läßt dabei offen, ob er die Disziplin oder seine Schrift gleichen Namens meint. Der ebenfalls naheliegende Hinweis auf die Ethik, etwa auf deren Unterscheidungen von ethischen und dianoetischen Tugenden (EN I 13, 1103a4 ff.) und auf deren Überlegungen zur dianoia (VI 2, 1139a21 ff.), fehlen. Was die dianoia in der Poetik bedeutet, bleibt schwierig zu bestimmen. Versteht man sie als Inbegriff der argumentativen Mittel, so bleibt immer noch offen, ob die von den Personen verwendeten Mittel und dann nur ihre Reden oder auch die ihrem Handeln zugrundeliegenden argumentativen Mittel gemeint sind, vielleicht noch zusätzlich die der Komposition der Handlung zugrundeliegenden Mittel. Gemäß der überragenden Bedeutung des ersten qualitativen Teiles, des Mythos, wird dieser am ausführlichsten erörtert. Aristoteles untersucht die Kompositionsprinzipien der tragischen Geschichte, einschließlich der dafür entscheidenden Begriffe von Mitleid und Furcht, von Umschlag (peripeteia), Wiedererkennung (anagnôrisis) und schwerem Leid (pathos). Nicht zuletzt kommt es ihm auf die Eigenart des tragischen Helden in Blick auf die tragische Lust an (Kap. 7–18). Die Katharsis taucht dagegen nicht mehr auf. Nach einer vergleichsweise knappen Behandlung des doch zweitwichtigsten Elements, der Charaktere (Kap. 15), beschließt Aristoteles seine Tragödientheorie mit Überlegungen zu den beiden noch wichtigen, aber fehlenden Elementen, zur Sprachform (lexis) und der Denkweise beziehungsweise Gedankenführung (dianoia: Kap. 19–22): Der Text unterscheidet die Dichtung von der Rhetorik und verweist auf unterschiedliche Sprachformen wie Befehl, Bitte und Bericht (Kap. 19). Er stellt die Gliederungselemente der Sprache vor: von Buchstaben und Silben über Verbindungs- und Gliederungspartikel, über die Wörter (Nomina), Verben und Kasus bis zum Satz (logos) (Kap. 20). Er befaßt sich mit Glossen, Metaphern, Analogien und Neubildungen (Kap. 21) und geht der Frage nach der besten Sprachform (aretê lexeôs) nach (Kap. 22). Die Forderung, die Aristoteles im Verlauf dieser poetologischen Stilkunde erhebt, nämlich klar, aber nicht banal zu sprechen, dürfte die mittlerweile schon zahlreichen Elemente seiner Poetik noch bereichern, die ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren haben. Im letzten der vier Kapitel zur Sprachform taucht zum ersten Mal in literaturtheoretischem Zusammenhang ein Begriff auf (22, 1458a22; vgl. u. a. Rhet. III 2, 1404b36), den man gern für typisch modern hält, der der Verfremdung (xenikon). Aristoteles bezieht ihn allerdings auf die sprach-

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lichen Mittel: Statt gewöhnlicher Ausdrücke verwende man etwa Glossen (ungewöhnliche, dunkle oder veraltete Wörter) und Metaphern (uneigentliche oder übertragene Redeweisen und Erweiterungen usw.), um mit deren Verwendung zu einem nachdenklichen Staunen, also einem Sich-Wundern, nicht Etwas-Bewundern, anzuregen. Aristoteles nimmt nicht etwa den Aufbau eines Dramas in den Blick. Dieser ist aber der Sache nach, unter dem Stichwort para tên doxan („wider die Erwartung“: 9, 1452a4), ebenfalls gegenwärtig: Mit unerwarteten, erstaunlichen Ereignissen gewinne man schöne Geschichten (mythoi). Schon die Allgemeine Poetik (z. B. 1, 1447b18; 2, 1448a11) bezieht sich aufs Epos und dessen herausragenden Vertreter, den in einem späteren Kapitel (23, 1459a30 f.) „göttlich“ genannten Homer. Auch erste Vergleiche von Epos und Tragödie fließen schon in die Tragödientheorie ein (z. B. 5, 1449b3–20; auch 13, 1453a30 ff.; 17, 1455b15 ff.; 18, 1456a10 ff.). Aus diesen Gründen darf der dritte Abschnitt der Speziellen Poetik und zugleich zweite Abschnitt von deren Gattungspoetik, die Theorie des Epos, kürzer ausfallen (Kap. 23–26). Aristoteles kann sich auch deshalb kürzer fassen, weil die Geschichte der Dichtkunst nach Kapitel vier der Poetik in der Tragödie gipfelt, ferner, weil sich im Epos dieselben Arten wie in der Tragödie finden und sich das Epos schließlich durch dieselben konstitutiven Teile wie die Tragödie auszeichnet – bis auf zwei Teile, die aber auch dort nicht so wichtig sind (24, 1459b8 ff.). Im Rahmen seiner Epostheorie geht Aristoteles auf Fragen einer innerästhetischen Dichter-, vor allem Homerkritik ein (Kap. 25; hierzu ausführlicher das nur fragmentarisch überlieferte Werk in sechs Büchern: Homer­ probleme). Der Text schließt mit einem Kapitel, das die enge Verbindung von Epos- und Tragödientheorie bekräftigt, mit dem genannten Vergleich von Epos und Tragödie, durchgeführt als eine Art Wettstreit. In Übereinstimmung mit der Teleologie der Dichtungsgeschichte aus Kapitel vier erringt dabei die Tragödie die Siegespalme (Kap. 26). Homer ist zwar in seiner Gattung unübertrefflich, diese Gattung, das Epos, ist aber der Gattung der Tragödie ein wenig unterlegen.

1.6 Kritik an Platon Aristoteles’ Poetik ist zwar die erste Schrift dieser Art, aber keine Schöpfung aus dem Nichts. Sie hat die reiche griechische Dichtung, insbesondere deren Epos und noch mehr die Tragödie, vor Augen. Der Autor kennt zweifellos auch deren herausragende soziale und politische Bedeutung,

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geht allerdings, wie gesagt aus poetologischen Gründen, auf sie nicht ein. Da er sich zudem mit keinem Theoretiker der Dichtung ausdrücklich auseinandersetzt, scheint er die dritte der in Abschnitt 1.3 genannten vier methodischen Maximen zu mißachten. Denn er unterläßt es, als erstes konkurrierende Ansichten vorzustellen, um sodann mit guten Gründen die glaubhaften auszufiltern und die unplausiblen beiseitezusetzen. Nur an wenigen Stellen klingen zeitgenössische Debatten an, beispielsweise wenn Aristoteles einen (anonym bleibenden) „Tadler des Euripides“ erwähnt und dessen Kritik entgegentritt (13, 1453a24 ff.). Obwohl Aristoteles also keinen seiner philosophischen Vorgänger nennt, ist in der Poetik wie zu vielen anderen Themen Platon eine wichtige Inspirationsquelle. Indem er von ihr übernimmt, was ihn überzeugt, und das Nichtüberzeugende verwirft, folgt er denn doch, freilich unausdrücklich, der endoxon-Methode. Überraschenderweise lehnt jener Philosoph, der als Dichter unter den großen Denkern gilt, da er seine Philosophie nicht bloß kunstvoll, sondern künstlerisch darbietet, Platon, die Dichtung kompromißlos ab. Trotz seiner Liebe zur Poesie und seiner Verehrung Homers (Politeia X 595b–c) sieht er sich gezwungen, die Dichtung wegen ihres ontologischen Status, der Nachahmung von Nachahmung, gering zu schätzen und sie wegen ihrer Inhalte sogar rundum zu verwerfen (freilich ist er in Politeia X 607d etwas kompromißbereit). Aristoteles setzt sich gegen beides nachdrücklich ab: Den für seine Poetik zentralen Begriff der Mimesis, die Nachahmung, findet er zwar bei Platon, der sich in der Politeia mit ihm zweimal befaßt: Im Rahmen der zweiten Polisstufe, der „üppigen“ beziehungsweise „zivilisierten Polis“, wendet sich Platon der Erziehung der Wächter zu und setzt sich in diesem pädagogischen Zusammenhang mit der Dichtung unter zwei Gesichtspunkten, ihrem Inhalt und ihrer Vortragsweise, auseinander. Bei der Vortragsweise unterscheidet er die einfache Erzählung von jener Nachahmung, bei der man sich, wie es in der Tragödie und der Komödie geschehe, in Stimme oder Gestalt einem anderen angleiche (III 393b). Im zehnten Buch denkt Platon erneut über das Wesen der Dichtung nach, jetzt im Zusammenhang der Ideenlehre. Ihr zufolge gibt es hinter der sinnlich wahrnehmbaren Welt als deren Ur- und Vorbilder die Ideen. Zwischen beiden, der unvollkommenen und der vollkommenen Welt, bestehe ein Verhältnis der Teilhabe (methexis) oder der Nachahmung. Als Beispiele für die wahrnehmbaren Dinge nennt Platon zunächst nicht, was man erwarten könnte, Naturgegenstände wie Flüsse, Pflanzen oder Tiere, auch nicht Handlungen oder normative Begriffe wie Gerechtigkeit und Schönheit. Er führt statt dessen Handwerksprodukte wie Betten und

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Tische an. Nur für derartige Artefakte, behauptet er zu Beginn, gebe es Ideen, die das Vorbild für die wahrnehmbaren Gegenstände abgäben, die ihrerseits die Ideen nachahmten. Schon Platon hält also die Dichter für Handwerker, die allerdings nicht auf bestimmte Gegenstände spezialisiert sind wie etwa die Tischler auf Tische und die Schuster auf Schuhe. Dichter vermögen vielmehr in gewisser Weise, alles „herzustellen“. Weil beispielsweise ein Maler, an den wahrnehmbaren Dingen orientiert, eine Nachahmung zweiter Stufe, das Bild eines Bettes, fabriziert, stellt er Trugbilder von Abbildern der Idee dar: Er hat „von der wirklichen Lehre keine Kenntnis, sondern nur von der Art, wie sie erscheint“ (Rep. X 601b10; vgl. 602b7). Offensichtlich schwieriger wird dieser Gedanke, wenn man vom Malen zur Dichtung übergeht. Denn diese bezieht sich in der Tragödie und der Komödie nicht auf Artefakte, sondern auf Menschen, deren Schicksale und Charaktere. Soll die Dichtung eine Nachahmung zweiter Stufe sein, so müßte man die Menschen als Nachahmung der Idee vom Menschsein und die Personen der Dramen als Nachahmung dieser Nachahmung ansprechen. Dafür bietet das zehnte Buch der Politeia bestenfalls einen kleinen Anhalt, da Platon im Vorübergehen auch von Lebewesen (zôon) und von Handlung (praxis) spricht (Rep. X 601d5). Ob Aristoteles, wenn er den Ausdruck der Mimesis aufgreift, dabei die Platonische Bedeutung beibehält, wird der Kommentar an entsprechender Stelle prüfen (Kapitel 2: Dichtung als Mimesis). Schon jetzt ist jedoch die grundlegende Neubewertung zu erwähnen: Aristoteles verwirft den aus der Ideenlehre folgenden normativen „Beigeschmack“; er lehnt jede „gnoseologische“ (wissenstheoretische) und „ontologische Ächtung“ der dichterischen Mimesis ab. Ein Grund liegt in seiner generellen Ideenkritik (z. B. Met. I 9 und EN I 4). Weil ihr zufolge das Allgemeine in den Dingen und nicht in einem erkenntnis- und gegenstandstheoretischen Jenseits zu suchen ist, weil überdies die Ideen zu einer Verdoppelung der Dinge führen, zur Erklärung sinnlicher Dinge aber nichts beitragen, verlieren für Aristoteles die Gegenstände den Charakter einer nur sekundären, überdies unvollkommenen Wirklichkeit. Weil zudem die Dichtung nicht die Welt der Artefakte, sondern die Wirklichkeit selbst nachahmt, ist der Dichter dem Handwerker weder nach- noch beigeordnet. Folgerichtig spielt die Analogie zum Handwerker trotz der vom Ausdruck poiêsis her gemeinsamen Tätigkeit nur eine sekundäre Rolle. Primär übt der Dichter eine Tätigkeit eigener Art und Dignität aus, was ihm die skizzierte Autonomie verleiht. Und soweit man den Dichter mit dem Handwerker vergleicht, ist er ihm, weil mit dem Allgemeinen befaßt, im Rang weit überlegen.

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Aristoteles’ Neubewertung geht noch weiter. Der Ausdruck der Nachahmung wird nicht lediglich normativ und ontologisch neutralisiert, er wird vielmehr ins Positive gewendet. Nur wenig zugespitzt übernimmt Aristoteles Platons Begriff der Mimesis, kehrt aber das Vorzeichen um: Im Wesen der Dichtung, der Mimesis, besteht zugleich ihre positive, konstitutive Leistung. Diese grundlegende Neubewertung der Mimesis wird freilich nur unter einer weiteren Abweichung möglich: Auch in bezug auf den zweiten Gesichtspunkt der Platonischen Dichterkritik, den Inhalt, setzt sich Aristoteles gegen seinen „Lehrer“ schroff ab. Platon hält die Philosophie nicht für ein Glasperlenspiel, bei dem es lediglich auf Kreativität und Scharfsinn ankommt. Für ihn zählt letztlich nur die Wahrheit, und zwar nicht irgendeine Wahrheit, sondern die für den einzelnen Menschen und für das Gemeinwesen entscheidende, die große, existentielle Wahrheit. Weil dabei die dargestellten Inhalte wesentlich sind, sieht er sich außerstande, die Dichtung für eine harmlose Rivalin zu halten, die er als Philosoph großmütig neben sich dulden könne. Platons Dichterkritik speist sich nicht aus persönlichen Gründen, etwa aus dem Neid auf eine erfolgreiche Konkurrenz. In der „nachahmenden“ Dichtung sieht er vielmehr sein philosophisches Lebensprogramm untergraben. Daher verwirft er die Dichtkunst gründlich und umfassend: mit insgesamt vier Argumenten beziehungsweise Argumentationsarten. Zusätzlich zu dem schon genannten fundamentalontologischen Argument führt er ein einfaches ontologisches, ferner ein moralisches und ein politisches Argument an (Rep. II–III und X; Soph. 235e ff.; Nom. VII 816d–817e). Beim schlichten ontologischen Argument hat Platon vermutlich Homer, aber auch Hesiod vor Augen: Die Dichtung enthalte falsche Vorstellungen sowohl über die Götter, die sie als Urheber von Schlechtem, nämlich als Lügner, Betrüger und Ehebrecher, als auch über die Heroen, die sie um nichts besser als gewöhnliche Menschen darstelle. Damit widerspreche sie der Wahrheit, und zusätzlich, hier beginnt die dritte moralische und zugleich die vierte, politische Kritik, untergrabe sie die Gottesfurcht (Rep. III 391d–e). In Fortsetzung seiner moralischen Kritik moniert Platon, Dichter behaupteten, viele Menschen seien zwar ungerecht, aber glücklich, dagegen viele Gerechte unglücklich. Außerdem erklärten sie, daß die Gerechtigkeit den anderen nütze, dem Gerechten selbst aber Schaden einbringe (392a–b). Nicht zuletzt verdunkle die Dichtung, da sie Begierden und Leidenschaften steigere, den klaren Verstand. Aristoteles setzt sich in all diesen Punkten von Platon ab, ohne ihn, der allbekannt war, zu erwähnen. In Übereinstimmung mit der griechischen Tradition zählt er die Dichter zu den besten Lehrern des Volkes. Da aber

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Platons Kritik an falschen Vorstellungen über die Götter zutrifft – wer lügt, betrügt und die Ehe bricht, kann keine echte Gottheit sein –, setzt Aristoteles sein unausgesprochenes Programm einer poetologischen Autonomie fort: Er nimmt stillschweigend eine Entdivinisierung der Götter, ihre poetische Vermenschlichung, vor. Noch wichtiger ist, daß die Götter keine besondere Rolle mehr spielen: Der Göttervater Zeus oder Götter wie Apollon, Aphrodite und Athene kommen in der Poetik gar nicht vor. Ist trotzdem von Göttern die Rede, so wird ihnen, ohne sie mit Eigennamen zu belegen, die Fähigkeit, alles zu überblicken (15, 1454b5 f.), zugeschrieben, was auch Platon nicht beanstanden würde. Während Platon die Dichtung wörtlich, zu wörtlich nimmt, erwartet Aristoteles weder von Homer noch von den Tragödiendichtern, daß sie über echte Gottheiten handeln. In dieser Hinsicht übernimmt er stillschweigend Platons Dichterkritik. Dank einer alternativen, „klügeren“ Einschätzung kann er aber der Dichtung einen hohen Wert abgewinnen: Die Göttermythen, noch mehr die Erzählungen über die Heroen hält er für ein Gewand, in dem in gesteigerter Form Allgemeinmenschliches zutage tritt. Was Platon für Lüge hält, wird bei Aristoteles zur Wahrheit: Menschen sind Wesen, die sich moralisch verfehlen können. Heroen haben für ihn ohnehin keine religiöse Bedeutung; es sind schlicht Menschen, wenn auch in gehobener Stellung: sie sind weithin rechtschaffen, aber nicht frei von Charakterschwächen wie Jähzorn oder Leichtsinn (vgl. 15, 1454b8 ff.). Das angebliche oder tatsächliche Glück ungerechter Personen verliert ebenfalls seine moralische Diskreditierung. Aristoteles bestreitet nicht, daß Rechtschaffene ins Unglück stürzen können oder daß es Bösewichten gut ergehen kann. Genausowenig hält er entsprechende Handlungsverläufe für moralisch richtig oder für zumindest moralisch vertretbar. Im Sinne der genannten Autonomie schiebt er jedoch die Frage nach Moral oder Unmoral, weil der Dichtung extern, beiseite. Er interessiert sich ausschließlich für die dichtungsinterne Frage, welcher Handlungsverlauf sich für eine Tragödie am besten eigne. Allenfalls indirekt, über die Wirkung auf den Zuschauer, spielt die Moral eine Rolle: Wenn Schufte vom Unglück ins Glück geraten, so ist dies schlechthin untragisch: „weder menschenfreundlich noch mitleid- oder furchterregend“ (13, 1454b36 ff.). Untragisch ist es auch, wenn „rechtschaffene Männer einen Umschlag von Glück ins Unglück erleben“, denn das ist „abscheulich“ (b34–36). Gemeint ist also eine „schreiende Ungerechtigkeit“, die das sittliche Bewußtsein des Zuschauers so tief verletzt, daß er Abscheu empfindet. Als tragischer Held bleibt deshalb nur eine

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Person übrig, die, zwischen den Extremen stehend, weder durch seine Rechtschaffenheit noch durch Gemeinheit, sondern wegen eines eigenen Fehlers ins Unglück gerät. Auch Platons weiterer Vorwurf gegen die Dichtung, ihre emotional angeblich schädliche Wirkung, hält vor Aristoteles’ nüchternem Blick nicht stand. Erneut zeichnet sich der Philosoph durch die Fähigkeit zum gegenstandsgerechten Denken aus. Was er in einer Ethik, einer Theorie des gelungenen, glücklichen Lebens, für geboten hält, braucht in einer Poetik nicht zu gelten: Wer aus eigener Anstrengung glücklich werden will, der, zeigt die Nikomachische Ethik, darf sich seinen Leidenschaften beziehungsweise Affekten nicht hingeben, sondern hat in zweierlei Hinsicht, im Charakter und im (handlungsbezogenen) Denken, der Vernunft zu folgen (kata logon zên). Während die Ethik zwar nicht die Leidenschaften selbst, wohl aber ihre Dominanz, ein Leben gemäß der Leidenschaft (kata pathos zên), diskreditiert, gibt die Poetik zwei Affekten, Furcht (phobos) und Mitleid (eleos), nicht bloß einen positiven Wert, sondern sogar einen privilegierten Status. Es sind nicht beliebige Affekte, insbesondere nicht jene Leidenschaften, die wie Liebe und Haß, wie Zorn, Eifersucht und Empörung zwar den Handlungsverlauf bestimmen und zu den Gründen gehören, die den Protagonisten ins Unglück stürzen. Bei den für die Tragödie entscheidenden Affekten geht es nicht um die affektiven Gründe des Unglücks, sondern um dessen affektive Folgen auf den Zuschauer, und diese bestehen in Mitleid und Furcht. Nicht in der Lebensführung also, weder in der eigenen noch in der der Protagonisten, vielmehr im Zuschauer sollen diese Leidenschaften dominieren. Sie sind nicht wie in der Ethik zwar unverzichtbar, aber für sich genommen moralisch minderwertig. Im Gegenteil können sie nach der Poetik im Seelenhaushalt der Menschen eine heilsame Wirkung entfalten. Unter der Voraussetzung, der Tragödie gelingt am Ende die ihr aufgegebene Leistung, die lustvolle Erleichterung, liegt sogar im Hervorrufen starker Affekte, allerdings nur der beiden genannten, ihre Hauptaufgabe. Gegen Ende der Poetik, beim Homerlob innerhalb des Kapitels 24 und noch deutlicher im nächsten Kapitel zu Problemen der Dichtung, führt Aristoteles aus, was er für eine sachgerechte Dichterkritik hält. Sie nimmt im Vergleich zu Platon eine in zweierlei Hinsicht alternative Gestalt an. Als erstes bleibt die Poetik ihrer wissens- und zugleich gegenstandstheoretischen Toleranz treu. Statt die Dichtung von außen, von ihr sachfremden ontologischen und gnoseologischen, moralischen und politischen Gesichtspunkten zu kritisieren (vgl. 25, 1460b13–15), konzentriert sie sich

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auf innerästhetische Fragen. Dabei legt sie auf beide Gesichtspunkte, auf den Handlungsverlauf, also Inhalt, und auf die sprachliche Form wert: Zum einen fragt sie, ob die Dichtung ihrer Darstellungsabsicht gerecht wird, zum anderen, wie es sich mit der sprachlichen Form verhält. Zusätzlich praktiziert Aristoteles eine zu Platon alternative innerästhetische Kritik: Wo man einem Dichter, vor allem dem Meister des Epos, Homer, Fehler vorwirft, versucht Aristoteles, sie als nur vermeintliche Fehler zu entlarven: Statt Homer zu kritisieren, rechtfertigt er ihn. Dazu gehört, daß, erneut ohne Platon zu erwähnen, dessen Vorwurf, Dichter lügen (Politeia III 377d), ins Positive gewendet wird. Vielleicht wird zusätzlich Xenophanes’ Homer-Kritik ironisierend unterlaufen. Der Vorsokratiker Xenophanes (ca. 570–500 v. Chr.) hatte Homer und Hesiod vorgeworfen, daß sie all das den Göttern anhängen, „was bei den Menschen Schimpf und Tadel verdient: Stehlen und Ehebrechen und gegenseitiges Betrügen“ (Die Fragmente der Vorsokratiker, 21 B 11). Ohne sich auf diese gewissermaßen geschenkte Kritik einzulassen, führt Aristoteles ein erlaubtes Betrügen, genauer: ein Quasi-Betrügen, ein, und in dieser innerästhetischen Hinsicht erklärt er Homer zu einem Meister. Er praktiziere es hôs dei, so, wie es sich gehöre, wie man es solle. Im vorletzten Kapitel der Poetik bedeutet pseudê legein (24, 1460a19) nicht wie bei Platon ein moralisches Fehlverhalten, sondern einen ästhetischen Kunstgriff: Jemand wird nicht belogen, sondern auf eine falsche Fährte geführt.

1.7 Mimesis und Mythos Mit dem angeblich überholten Wesen von Dichtung, der Mimesis, wendet sich Aristoteles als erstes gegen die Definition der Dichtung vom Vers her: Obwohl der Vorsokratiker Empedokles (um 500– um 430 v. Chr.) sein Lehrgedicht Über die Natur (Peri physeôs) wie damals üblich in Hexametern verfaßt, ist er für Aristoteles kein Dichter, sondern ein Naturforscher (physio­ logos: 1, 1447b13–20). Und weil es nicht die Aufgabe des Dichters ist, mitzuteilen, was geschehen ist, sondern was geschehen könnte (8, 1451b36 f.), weil sie insofern fiktionalen Charakter hat, setzt sich die Dichtung, ohne daß es Aristoteles ausdrücklich sagen müßte, wegen der Mimesis auch gegen die Geschichtsschreibung ab. Noch wichtiger als die Abgrenzung gegen andere Phänomene dürfte aber die erwähnte (Abschn. 1.1) Mahnung zur Bescheidenheit sein: Dichter schaffen nur eine zweite, nicht die erste Welt. Mimesis bedeutet bei Aristoteles jede Form von Nachahmung beziehungsweise Nachbildung oder Herstellung von Ähnlichem, wobei er drei

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Arten hervorhebt (2, 1448a1–5; 25, 1460b10 f. und b33 f.): eine Nachbildung der Wirklichkeit, wie sie war oder ist (für die Tragödie gilt hier als Vorbild: Euripides); eine Darstellung der Wirklichkeit, wie man sagt oder glaubt, daß sie sei; schließlich die Darstellung der Wirklichkeit, wie sie sein soll (als Muster gilt Sophokles). In allen drei Fällen soll die Dichtung nicht Oberflächenmerkmale der Wirklichkeit nachbilden, sondern in sich stimmige Handlungsabläufe und ebenso in sich stimmige Charaktere darstellen. Die dichterische Freiheit wird damit kaum eingeschränkt. Selbst extrem außergewöhnliche Handlungsverläufe sind ausgeschlossen. Man braucht auch nicht zu glauben, so außergewöhnliche Geschehnisse wie die von Kafkas Erzählung Die Verwandlung oder vorher von Gogol in Die Nase tauchten erst, lange nach Aristoteles, in der Moderne auf. Erschlägt jemand wie nach König Ödipus unwissentlich seinen Vater und heiratet seine Mutter, so sind das zweifellos keine alltäglichen Ereignisse. Eher verhält es sich so, daß moderne Dichter erst erfinden müssen, was griechische Tragiker schon aus dem Mythenschatz ihrer Kultur kennen. Die Ursache der für die Dichtung charakteristischen Mimesis sieht Aristoteles in der gewöhnlichen Mimesis: einer dem Menschen seit der Kindheit angeborenen, insofern anthropologischen Neigung zur Nachahmung, verbunden mit einem Sinn für Harmonie und Rhythmus (4, 1448b5 ff. mit b20 f.). Gegründet in jener Lust am Lernen (b12 f. und b16), die an die natürliche Wißbegierde der Menschen erinnert (Met. I 1, 980a21 ff.), hat eine auf Mimesis verpflichtete Dichtung teil an der Bestimmung des Menschen zur Erkenntnis. Und weil die Dichtung durch die modellhafte Darstellung menschlicher Möglichkeiten Allgemeingültiges sichtbar macht, hält sie Aristoteles wie gesagt für philosophischer als die der Sphäre des Besonderen verhaftete Geschichtsschreibung (9, 1451b1 ff.). Für die Poetik ist der Handlungsablauf, die Geschichte oder Fabel (mythos), sowohl das Ziel (telos: 6, 1450a23) als auch Ursprung (archê) und gewissermaßen „Seele der Tragödie“ (a38), also wie die Ursache und der Ursprung eines lebendigen Körpers (An. II 4, 415b8). Wegen dieser überragenden Bedeutung wird von den sechs funktionalen und zugleich konstitutiven Elementen einer Tragödie dieses erste Element am ausführlichsten behandelt: die Geschichte, die als einheitliche und in sich geschlossene Zusammensetzung der Teile (tôn metrôn synthesis) und Zusammenfügung der Geschehnisse (tôn pragmatôn systasis: 1450a15), also Komposition oder Arrangement einer sich organisch entfaltenden Gesamthandlung, erläutert wird. Die Geschichte (mythos), annähernd synonym mit pragmata (Geschehnisse), besteht in einer in sich geschlossenen Handlung (praxis … teleia: 6, 1449b24 vgl. 9, 1452a2), die jenes wahrhaft Ganze (holon) bildet, bei dem

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man an beliebiger Stelle weder einsetzen noch enden (7, 1450b32 f.) und bei dem man ohne Schaden weder etwas herausnehmen noch etwas ergänzen kann (8, 1451a32 ff.). In dieser anspruchsvollen Art von Einheit und Ganzheit ist die wohlkomponierte Tragödie „einem Lebewesen vergleichbar“ (23, 1459a20).

1.8 Katharsis und tragische Lust Kaum etwas, das Aristoteles in all seinen Schriften sonst sagt, hat seit der Renaissance eine so gewaltige Literatur hervorgerufen wie der Begriff der tragischen Lust (tragôdias hêdonê: 13, 1453a35 f., vgl. 14, 1453b12): Im Rahmen der Gattungspoetik interessiert sich der Philosoph für eine Rezeptionsästhetik, also für die Frage, was die Tragödie beim Zuschauer bewirkt. Zieht man die später auftauchende Alternative „Lehr- oder Vergnügungstheater“ heran (vgl. Horaz, Ars poetica, Vers 333: „aut prodesse volunt aut delectare poetae“), so plädiert Aristoteles für die zweite Option. Unmittelbar soll der Zuschauer weder einen moralischen noch einen intellektuellen Gewinn davontragen, vielmehr einen ästhetischen Genuß (hêdonê): Durch Furcht und Mitleid und eine Katharsis definiert, ist der ästhetische Genuß affektiver Natur. Der Vorrang des ästhetischen qua affektiven Genusses beläuft sich allerdings nicht auf ein Exklusivrecht. Denn Aristoteles verbindet das Nachahmen mit Lernen, des näheren mit Denken und Erkennen womit er auf einen intellektuellen Gewinn anspielt. Allerdings bewahrt er den Vorrang des Vergnügungstheaters, da das Lernen vergnüglich sei (4, 1448b12 ff.). Vielleicht ist es treffender zu sagen, daß Aristoteles die Alternative „Lern- oder Vergnügungstheater“ schon unterläuft, bevor Horaz sie aufstellt. Vermutlich spielte sie aber schon in der von Aristoteles vorgefundenen Debatte eine Rolle: Weil das bei der Mimesis auftauchende Lernen vergnüglich ist, besteht der ästhetische Genuß zwar vorrangig in einer affektiven, häufig aber mitlaufend, also komplementär, nicht alternativ, in einer kognitiven Lust. Selbst ein moralischer Gewinn ist nicht auszuschließen. In der Tragödie erlebt nämlich der Zuschauer, was dem Menschen zustoßen kann: ein Verhängnis, das man durch einen Fehler zwar mitverursacht, aber nicht in seiner Maßlosigkeit verschuldet. Somit erfährt der Zuschauer, was auch er zu fürchten hat: ein mächtiges Schicksal, das seiner Macht entzogen ist und in einer Wucht zuschlägt, die sein Mitleid verdient. Dieser moralische Gewinn steht allerdings in Spannung zur moralischen Botschaft der Nikomachischen Ethik. Denn nach ihr liegt das menschliche

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Wohl, die Eudaimonie, nicht vollständig, aber weitgehend in der Hand des Menschen. Aristoteles erwähnt zwar das Beispiel des Priamos, der im Alter in großes Unglück stürzt (I 10, 1100a5 ff.). Er räumt auch ein, ein solcher Mensch sei nicht glückselig (makarios), behauptet aber, er könnte niemals unglücklich (athlios) werden (I 11, 1101a6–8). Bezeichnenderweise führt er aber dort kein Beispiel aus einer Tragödie an. Wer Ödipus’ Schicksal erleidet, also seinen Vater umbringt und seine Mutter heiratet, wenn auch beides unwissentlich, dem dürfte auch Aristoteles ein „tief unglücklich“ zuschreiben. Zu der für die Geschichte des europäischen Dramas so einflußreichen Tragödientheorie gehört noch dieses Element: Aristoteles erhebt eine bestimmte Phase der griechischen Tragödie, Sophokles und vor allem dessen Werk König Ödipus, zum Ideal (z. B. 14, 1453b4 ff. und 16, 1455a18 f.). Ihr Autor wird zwar nicht so uneingeschränkt geschätzt wie Homer im Bereich des Epos. Denn Aristoteles hält Euripides für „tragischer denn die übrigen Dichter“ (13, 1453a29 f.). Gleichwohl: Daß Ödipus, „der Sterblichen Trefflichster“ (König Ödipus, Vers 46), am Ende „zum schlechtesten Manne“ (Vers 1433) wird, zeigt die für die Tragödie charakteristische Hinfälligkeit von Ansehen und Glück in nicht zu überbietender Schärfe. Urplötzlich, von einem Augenblick zum anderen, wird der Titelheld vom Gipfel des Ruhms in den Abgrund tiefster Schmach gestürzt. Genau daran entzünden sich die Affekte von Furcht und Mitleid und dürfte sich die therapeutische Funktion anschließen, die Aristoteles die Reinigung dieser Affekte oder Erleichterung von ihnen (pathêmatôn kathar­ sis) nennt. Trotz ihrer großen Bedeutung wird die Katharsis in der Poetik aber nur erwähnt, zudem bloß ein einziges Mal (6, 1449b28). Die in der Politik (VIII 7, 1341b39 f.) angekündigte Erläuterung fehlt. Vor Aristoteles hat der Ausdruck der Katharsis vor allem zwei Bedeutungen. In der Medizin bezeichnet er die Wirkung von Brech- und Abführmitteln, im religiösen Leben die rituelle Reinigung von „verunreinigten“ Personen. In Analogie zur Medizin verstanden, bedeutet die Katharsis, daß die Tragödie ihre Affekte, sowohl das Mit-Leiden mit einem nur in Grenzen verdienten Leid als auch die Furcht, ein ähnliches Schicksal zu erleiden, derart erregt – und zwar durch den Aufbau der Handlung, nicht erst durch die Inszenierung oder das Bühnenbild (14, 1453b3 ff.) –, daß die Affekte wie eine physische Krankheit erst zum Ausbruch und dann zum Abklingen gelangen. Daß das schließlich wiedergewonnene innere Gleichgewicht als lustvolle Erleichterung wahrgenommen wird, dürfte die tragische Lust ausmachen.

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Man kann zwar einwenden, weder das medizinische noch das rituelle Verständnis von Katharsis lasse sich problemlos auf die Tragödie übertragen. Denn nach Aristoteles’ Tugendbegriff hat der Tugendhafte angemessene Affekte, nämlich genau jene Art und jenes Maß, die ihm in der jeweiligen Situation geboten sind. Wie soll ein derartiger Mensch sich durch Affekte zunächst verunreinigen und sodann von der Unreinheit befreien können? Dieser Einwand ordnet aber die Poetik unter der Hand der praktischen Philosophie zu. In die Aufführung einer Tragödie gehen jedoch nicht nur tugendhafte, schon gar nicht bloß jene rundum rechtschaffenen Menschen, für die die Ethik plädiert. Als Zuschauer stellt sich Aristoteles vermutlich Menschen vor, die nicht nur jene kleineren Charakterschwächen wie Jähzorn und Leichtsinn haben, die er den Hauptfiguren einer Tragödie zubilligt. Sie sind nicht einmal wie diese im großen und ganzen rechtschaffen. Im übrigen haben selbst rundum Rechtschaffene das Recht, in gewisser Weise sogar die Pflicht, in der Rolle des Zuschauers sich ganz dem Bühnenstück hinzugeben und dann den Prozeß von affektiver Überwältigung und schließlicher Befreiung zu durchlaufen. Nach einer anderen Deutung soll die Tragödie durch ihre abschreckenden Beispiele den Zuschauer anleiten, im Gegensatz zu den tragischen Helden die eigenen Affekte zu zügeln und auf diese Weise die Fehler der tragischen Helden zu vermeiden. Diese in der italienischen Renaissance und der französischen Klassik (vgl. Corneille 1660a und 1660b) vorherrschende moralisch-didaktische Interpretation verkehrt aber den Hauptzweck der Tragödie, das Vergnügungstheater, in ein Lehrtheater. Nach Lessings ebenfalls moralisch-didaktischem Vorschlag sollen durch die Katharsis die Affekte in tugendhafte Fertigkeiten verwandelt werden (Hamburgische Dramatur­ gie, 78. Stück): Der Zuschauer erwerbe eine Art von emotionaler affektiver Widerstandskraft, mit der er für die Wechselfälle des wirklichen Lebens gut gerüstet sei: „Sie bereitet die Menschen, die allerwidrigsten Zufälle zu ertragen, und macht die Allerelendsten geneigt, sich für glücklich zu halten, indem sie ihre Unglücksfälle mit weit größeren vergleichen, die ihnen die Tragödie vorstellte.“ Eher ist Goethes Gedanke erwägenswert, die Katharsis sei keine mögliche Wirkung, sondern ein Strukturmerkmal der Tragödie (Nachlese zu Aristoteles’ Poetik). Man könnte gegen Aristoteles’ Tragödientheorie einwenden, die beim Hörer hervorgerufenen Affekte ließen sich vom Tragödiendichter nicht vorab bestimmen. Der entsprechende Versuch wird aber vom Dichter unternommen; und das weitgehende Gelingen gilt als Qualitätszeichen. Ebensowenig kritikwürdig ist der Umstand, die Poetik gehe nicht auf jene zwar unspektakulären, dafür „vernünftigen“ Teile der Tragödie ein, die

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Aristoteles’ eigener Ethik folgen. Es ist zwar richtig, daß die Poetik weder die Besonnenheit von Nebenfiguren wie Ismene in der Antigone noch den Schluß der Orestie in Betracht zieht: daß Athene die rachefordernden Erinnyen durch vernünftigen Zuspruch zu besänftigen vermag. Derartige Elemente gehören aber kaum zum unverzichtbaren Kern der Tragödie, auf den es Aristoteles ankommt. Erstaunlich bleibt aber zweierlei: Das Tragische der Tragödie spielt in der Ethik keine Rolle. In den Lustabhandlungen beispielsweise kommt die tragische Lust nicht vor; in der Erörterung der Freiwilligkeit ist von der Tragödie nur in einer – gemäß Aristoteles – nicht nachvollziehbaren Form die Rede: Der Grund, aus dem sich Euripides’ Alkmeon zum Muttermord anstiften lasse, sei „lächerlich“ (EN III 1, 1110a27–29). Vor allem fehlt ein Hinweis, der den letztlich optimistischen Grundzug der Ethik infrage stellen könnte: Wenn aus einem doch relativ kleinen Fehler ein maßloses Unglück folgen kann, ist die Fähigkeit des Menschen, sein glücklich-gelingendes Leben (eu zên) selber in die Hand zu nehmen, stets bedroht. Mindestens ebenso erstaunlich ist, daß sich Aristoteles in der Poetik keine Gedanken über das Menschenbild und Weltbild macht, das einer Tragödie zugrunde liegt. Die attischen Tragödien müssen zwar nicht unglücklich enden: In Aischylos’ Orestie wird der Protagonist schließlich freigesprochen, und mit der Gründung des Gerichtshofes, des Areopag, kehrt Friede ein. Und in Euripides’ Iphigenie bei den Taurern tötet die Titelheldin den Fremden, der sich als ihr Bruder entpuppt, gerade nicht. In Aristoteles’ Vorbild für eine gelungene Tragödie, in Sophokles’ König Ödipus, rückt aber die menschliche Existenz in der Nähe des Absurden. Denn trotz begrenzter Schuld – das Töten des Vaters und die Heirat der Mutter erfolgen in Unwissenheit –, endet die Titelfigur in äußerstem Leid. Ob religiös oder nicht religiös begründet: dort, wo die Tragödien, von Nietzsche als Kunstwerk des Pessimismus verstanden (Die Geburt der Tragödie, 1872), unglücklich ausgehen, zeigen sie, daß von einem erfreulichen oder tröstlichen Sinn des Ganzen keine Rede sein kann. Im Bewußtsein, die Weltläufe nicht wirklich zu verstehen – außer in der Hinsicht, daß man einem (unerforschlichen) Willen Gottes unterworfen ist –, entwickelt die Tragödie, worauf Aristoteles’ Tragödientheorie überraschenderweise nicht aufmerksam macht, eine Sprache des Nichtverstehens, bestehend aus Klage und Gebet, aus Trauer, Jammern und Erschrecken.

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Literatur Corneille, P. 1660a: Discours des trois unités, d’action, de jour, et de lieu, in: Œvres complètes, ed. G. Couton, Bd. 3, Paris 1987, 174–190. – 1660b: Discours de la tragédie, et de moyens de la traiter, selon le vraisemblable ou le nécessaire, in: Œvres completes, ed. G. Couton, Bd. 3, Paris 1987, 142–173. Diels, H., Kranz, W. (Hrsg.) 61985: Die Fragmente der Vorsokratiker, 3 Bde., Zürich/ Hildesheim. Fuhrmann, M. 2003: Die Dichtungstheorie der Antike: Aristoteles, Horaz, „Longin“. Eine Einführung, überarb. Neuaufl., Düsseldorf. Goethe, J. W. v. 1827: Nachlese zu Aristoteles’ Poetik, in: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. v. E. Beutler, Bd. 14, Zürich/Stuttgart 21964, 709–712. Horaz: Ars poetica – Die Dichtkunst, lat. u. dt., übers. u. hrsg. v. E. Schäfer, Stuttgart 1972. Höffe, O. 1993/42000: Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt, Frankfurt/M. – 2001: Durch Leiden lernen. Ein philosophischer Blick auf die antike Tragödie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3, 331–351. Hrabal, B. 2008: Wer ich bin (1985) in: Die Romane, Frankfurt/M., 1447–1482. Lessing, G. E. 1767–9: Hamburgische Dramaturgie, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, Berlin 1954, 7–533. Nietzsche, F. 1872: Die Geburt der Tragödie, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 1, München 1980, 9–156. Pamuk, O. 122007: Rot ist mein Name (orig.: Benim Adım Kırmızı), Frankfurt/M. Schadewaldt, W. 1955: Furcht und Mitleid?, in: Die Aristotelische Katharsis. Dokumente ihrer Deutung im 19. und 20 Jahrhundert, hrsg. v. M. Luserke, Hildesheim u. a. 1991, 246–288.

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Dichtung als Mimesis (Kap. 1–3)

Die ersten drei Kapitel der Poetik unternehmen den Versuch zu definieren, was Dichtung und Dichtkunst (poiêsis, poiêtike) sind. Angekündigt wird, daß sich die Schrift in ihrem weiteren Verlauf zur Frage der Gattungen, ihren jeweiligen Möglichkeiten (dynamis, 1, 1447a9), zu den Elementen, aus denen dichterische Texte bestehen, zur Frage des Handlungsverlaufs (mythos, ebd.) sowie zu anderen, nur summarisch benannten Aspekten einlassen wird. Zu beachten ist, daß Aristoteles einen dieser Erörterungsgesichtspunkte auszeichnet: Der Aspekt des Handlungsverlaufs soll nicht nur deskriptiv, sondern im Hinblick darauf diskutiert werden, wie dieser beschaffen sein muß, wenn die Dichtung „schön“ (kalôs, 1447a10) sein soll.

2.1 Definition der Dichtung (Kap. 1) Die Argumentation des ersten Kapitels beginnt mit der Bestimmung, daß die Genera, die Aristoteles aus Sicht seiner Zeit im Blick hatte – Epos, Tragödie, Komödie und Dithyrambos – allesamt Nachahmungen (mimêseis) seien. Es gibt weiterhin Nachahmungen, die aus heutiger Sicht nicht unter Dichtung fallen würden, die Aristoteles indes nicht explizit von dem absetzt, was er unter poiêsis faßt. Gleich zu Beginn werden das Flöten- und Zitherspiel, im Verlauf des Kapitels wird der Tanz erwähnt. Die genannten musikalischen Hervorbringungen seien allerdings nur „größtenteils“ mimêsis; es scheint aus Sicht des Aristoteles auch Varianten oder Elemente von Instrumentalmusik gegeben zu haben, die er als a-mimetisch klassifiziert hätte. Mit der Bemerkung, die betreffenden Nachahmungen unterschieden sich voneinander nach den Mitteln, den Gegenständen und schließlich

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den Modi wendet sich Aristoteles zunächst dem zu, was man heute die äußerlichen, die medialen bzw. formalen Merkmale der unterschiedlichen mimêseis nennen würde. Als mediale Vehikel, als Register, auf die die apostrophierten Nachahmungen rekurrieren, führt er Rhythmus, Sprache und Harmonie beziehungsweise Melodie an. In das weite Feld der mimêseis lasse sich eine erste Ordnung bringen, wenn man sich bewußt mache, daß diese Register in unterschiedlichen Konstellationen zum Einsatz kommen: Flöten- und Zitherspiel verwenden nur Melodie und Rhythmus, der Tanz nur den Rhythmus. Dithyrambos, Tragödie und Komödie verwenden im Prinzip alle drei Register, allerdings sind diese nicht in jedem Moment der Aufführung in gleichem Maße präsent. Im Hinblick auf das mimêsis-Konzept bleibt aus diesen Einlassungen ein Moment festzuhalten, das am Paradigma des Tanzes am deutlichsten wird: Die Tänzer, so ist dort formuliert, ahmen mit Hilfe der Rhythmen Charaktere (êthê), Leid/Leiden (pathê) und Handlungen (praxeis; 1447a27) nach. Nicht nur Sprache, sondern auch Tanz (und Musik; s. dazu auch Pol. VIII 5, 1340a38 ff.) werden demnach als Medien verstanden. Bedenkt man die vergleichsweise begrenzte Exaktheit, die allen nicht-sprachlichen Phänomenen innewohnt, wenn man diese als Zeichen ansieht, wird bereits hier deutlich, daß sich das Aristotelische Konzept der mimêsis zur Frage der zutreffenden Nachahmung des je Nachgeahmten sehr elastisch verhält. Darüber hinaus ist ein zweiter Punkt festzuhalten: Tänzerische Hervorbringungen sind aufgrund ihrer konsequenten Rhythmisierung in hohem Maße stilisiert, sie sind „unnatürlich“. Man könnte in Ansehung der besonderen Wertschätzung, die der Text gegenüber der Tragödie im Vergleich zum Epos artikuliert, die Formel von der Dichtung als mimêsis tôn prag­ matôn auf den ersten Blick in Richtung eines Illusionskonzepts verstehen. Die im ersten Kapitel zu findenden Bemerkungen zum (Kunst-) Tanz als einem geeigneten Mittel der Nachahmung von Charakteren und Handlungen machen dies aber letztlich unmöglich. Die markantesten Aussagen zur Frage von Form und Dichtung finden sich im ausführlichen mittleren Teil des ersten Kapitels (1447a28 ff.). Dort diskutiert Aristoteles diejenige Kunst, die sich „allein“ des Mittels der Sprache bedient, sei es in Prosa oder in Versen. Es geht dabei um die bis auf den heutigen Tag zentrale Frage, ob besondere formale Merkmale, hier: der Vers, einen Text zu einem dichterischen Text machen. Aristoteles bezeichnet die entsprechende Auffassung als verbreitet, weist sie allerdings mit der Bemerkung ab, Homer und Empedokles hätten außer dem Vers nichts gemein (1447b18): Medizinische oder naturphilosophische Texte werden nicht dadurch zu dichterischen Texten, daß man sie in Verse setzt.

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Den umgekehrten Schluß, daß von Dichtung im Aristotelischen Sinne auch dann die Rede sein kann, wenn die sprachliche Verfaßtheit keiner unmittelbar ersichtlichen Regularität folgt, die Möglichkeit also des ProsaEpos, des Romans, hat Aristoteles aus Sicht seiner Zeit noch nicht ziehen können, aber er ist der Sache nach in dieser Passage angelegt. Man muß dieser Argumentation die korrespondierende Einlassung aus dem neunten Kapitel (1451a38 ff.) an die Seite stellen, um zu erfassen, in welcher Grundsätzlichkeit Aristoteles – gegen den Sophisten Gorgias, gegen den Großteil der späteren hellenistischen und der neuzeitlichen Literaturtheorie – unter Dichtung etwas anderes versteht als eine nach bestimmten äußeren bzw. formalen Kriterien gestaltete Art und Weise von Sprachverwendung. Am Ende des Traktats kommt er auf das Problem der sprachlichen Form des literarischen Texts nochmals zurück, widmet sich dann aber Fragen des Stils (Kap. 21 und 22). Das Resultat ist dort das gleiche wie hier im ersten Kapitel beim Problem der (äußeren) Form: Stilistisch weicht der dichterische Text vom alltagsweltlichen Sprachgebrauch ab. Er ist maßvoll „verfremdend“, und die Art des Ausdrucks ist wesentlich für das Erreichen des Wirkziels. Die Verfahren sind indes nicht spezifisch. Es sind die regulären Figuren der Rhetorik. In jenen Kapiteln hat es zuweilen den Anschein, Aristoteles unterscheide den Stil des Dichters von dem des Redners nach dem Kriterium eines erhöhten Einsatzes rhetorischer Figuren. Aber auch hier werden alle klaren Grenzziehungen durch die Zurückweisung von manieristischen Tendenzen und die Verpflichtung nicht nur der Sprache des Redners, sondern auch der des Dichters auf den Maßstab der Angemessenheit unterlaufen (s. 24, 1460b4 f.). Die Bemerkungen zur Form, die den Beginn der Poetik bestimmen, sind gültig bis auf den heutigen Tag: In einer jeweiligen Kultur gibt es im Rahmen überschaubarer Zeiträume gewisse formale Konventionen, denen dichterische Texte zu folgen pflegen. Diese je beobachtbaren formalen Merkmale sind nichts Distinktives und damit nicht essentiell. Sie lassen sich als einzelne Merkmale auch außerhalb des Bereichs künstlerischer Hervorbringungen finden, oder sie lassen sich in diesen Bereich transponieren, ohne daß allein damit schon Dichtung entstünde. Soweit dichterische Hervorbringungen die Möglichkeit ergreifen, auf Authentisches zu rekurrieren, modellieren sie die Wirklichkeit nach anderen Gesichtspunkten und mit anderer Intention als nicht-dichterische Texte. Diese spezifische Modellierung ist aber nicht eindeutig mit einer Konstellation formaler Merkmale verknüpft.

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2.2 Schwierigkeiten (Kap. 1–2) Die vom Verständnis her schwierigeren Passagen der ersten Kapitel des Texts beziehen sich auf das einleitend bereits apostrophierte Konzept der mimêsis. Es wird in den Kapiteln zwei und drei sowie im ersten Teil des Kapitels vier erörtert. Unter dem Gesichtspunkt der verschiedenen Gegenstände und Modi von Nachahmungen bringt Aristoteles dort einiges an Festlegungen, die um das intrikate Konzept selbst kreisen. Alle Aussagen zu Aristoteles’ Verständnis des Begriffs stehen im Zeichen eines mehrfachen Dilemmas: Die Poetik gehört zu den esoterischen Schriften. Die Definition vieler Begriffe bleibt zum Teil rhapsodisch. Eines der Konzepte, deren genaue konzeptuelle Abgrenzung eher vorausgesetzt als explizit gemacht wird, ist das der mimêsis. Die zweite Grenze, mit der sich ein modernes Bemühen um das Verstehen des Aristotelischen Begriffsgebrauchs konfrontiert sieht, folgt aus den spärlichen Möglichkeiten, das in der Poetik Gemeinte durch das Konsultieren anderweitiger Belege zu erschließen. Bei Aristoteles selbst taucht das Wort im Kontext der Kosmologie auf, als mimêsis des Vollkommenen durch das weniger Vollkommene (Meteor. I 9, 346b35 ff.). Aber es ist fraglich, ob sich von diesem letztlich platonisch inspirierten Begriffsverständnis ein Weg zu der Verwendung in dem Traktat über die Dichtung finden läßt, welch letzterer die Nachrangigkeit und insofern Unvollkommenheit aller mimêsis gerade nicht zu einem Argument gegen die Dichtung macht. Eventuell besteht eine solche Möglichkeit der Nutzung eines anderen Kontexts mit Hinblick auf die Definition von technê in Phys. II 8, 199a. Dort wird postuliert, das „Herstellen bringe Gebilde der Natur teils zum Abschluß, nämlich dort, wo sie die Natur nicht zu einem Abschluß zu bringen vermag; teils bildet es Gebilde der Natur nach“ (mimeisthai). Obwohl hier von Dichtung nicht die Rede ist, könnte man in Ansehung des technischen Verständnisses vom Dichten der Tragödie, so, wie es in der Poetik ausgebreitet wird, erwägen, in der Passage aus der Physik die Kunst als mitgemeint zu sehen. Aber auch hier sind die Probleme größer als der Gewinn. Denn die Definition der technê schließt jenes idealisierende Verständnis von mimêsis aus, das zwar nicht die Dichtung generell, wohl aber die „schönste“ Variante der Tragödie charakterisiert: Diese präsentiert Menschen, die besser sind als sie in der Realität gemeinhin vorkommen (2, 1448a16 ff.), welche dies aber nicht deshalb sind, weil die Natur es nicht fertig brächte, derartige Menschen hervorzubringen. Die Tragödienhelden stehen höher als der Durchschnitt; als fallweise Fehlhandelnde sind sie indes nicht auf einem Niveau angesiedelt, das nur ein vorstellbares, nicht aber ein in der Wirklichkeit

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mögliches wäre. Die Äußerungen zur Musik im achten Buch der Politik (VIII 5, 1340a10 ff.) schließlich können möglicherweise zur Erhellung des Konzepts der Katharsis von Nutzen sein, bleiben im Hinblick auf das Konzept Mimesis aber im wesentlichen im Rahmen dessen, was man auch in der Poetik liest. Die dritte Grenze, die einem Bemühen um ein adäquates Verständnis des Begriffs gesetzt ist, wird durch das Faktum begründet, daß auch die anderweitigen Belege des Worts und des Wortfelds (mimeis­ thai, mimos) nicht sehr zahlreich, vor allem aber aus moderner Perspektive semantisch ähnlich unscharf sind wie das Mimesis-Konzept bei Aristoteles selbst. Als viertes erschwerendes Moment kommt hinzu, daß von zahlreichen Autoren, die Aristoteles beispielhaft anführt, wenig, zuweilen gar nichts tradiert ist (Kleophon, Hegemon, Nikochares, Thimotheos, Philoxenos). Das Material, mit dem ein moderner Deutungsversuch arbeiten kann, reduziert sich also letztlich auf die ersten drei bzw. vier Kapitel des Aristotelischen Texts und die daran anknüpfenden Formulierungen in den weiteren Kapiteln, einschließlich der heute noch bekannten Beispiel-Autoren (vor allem Aischylos, Euripides, Sophokles und Homer). Sodann ist der unmittelbare Horizont zu berücksichtigen, auf den sich der gesamte Traktat bezieht, Platons Einlassungen zu Mimesis und Dichtkunst in der Politeia. Die Verbindung Mimesis und Dichtung begegnet dort in zwei nach Sache und Wertung verschiedenen Varianten. Im zehnten Buch der Politeia (595a ff.) findet der Mimesis-Begriff für das Verhältnis von phänomenaler Welt und Kunst – Malerei sowie Dichtung – Verwendung. Die Argumentation ist ontologisch. Es geht um den wahrheitsfernen Charakter sowohl der phänomenalen Welt, einschließlich ihres von Menschen geschaffenen Teils, als auch der Künste, die diese Welt, welche ihrerseits nur Abbild der wahren Welt der Ideen ist, nachahmen. Künstlerische Mimesis ist in dieser Perspektive als solche verwerflich. Die Dichter als Nachahmende in zweiter Instanz wissen nicht bzw. können gar nicht wissen, „wie sich die Dinge in Wirklichkeit verhalten“, und bewirken auf diese Weise mit ihrem Schaffen nur „Verderb für die Seelen der Zuhörer“. Sie gehören dementsprechend aus dem Staat verbannt. Die in anderen Teilen des Werks zu findenden partiellen Legitimierungen einer bestimmten, eben „enthusiastischen“ Art von Dichtkunst basieren darauf, daß eine solche Rede ontologisch gesehen nicht Mimesis des Phänomenalen ist, sondern sich aus dem Reich der Ideen speist (vgl. u. a. Ion 532e–535a). Im dritten Buch der Politeia wird ein zunächst rein textbezogenes Mimesis-Verständnis entwickelt (392a ff.). Mimêsis ist dort begriffen in Opposition zu dihêgêsis; ersteres bedeutet die nachahmende Wiedergabe

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in wörtlicher Rede, letzteres den resümierenden Bericht. In Reinform tritt der mimetische Modus im Drama auf, das Epos kann sich des einfachen Berichts oder – wie bei Homer – einer Mischform bedienen. Zu beachten ist der Zusammenhang der Erörterung: die Erziehung des Wächter-/Krieger­ stands. Geht es um weniger löbliche Taten, ist der mimetische Modus strikt zu meiden, die distanzierende Dihegesis ist in diesem Fall die problematische, aber in Relation unverfänglichere Lösung. Zugelassen ist der mimetische Modus, wenn das Verfahren darauf hinausläuft, heroisch Handelnde aus vergangenen Zeiten in weitestgehend unverstellten Worten die je aktuell zu Erziehenden gewissermaßen direkt ansprechen zu lassen. Festzuhalten bleibt, daß im dritten Buch der Politeia die Platonische Erörterung des Konzepts der Mimesis im Zeichen der Identifikationsproblematik steht. Platon fürchtet vor allem, daß die zu Erziehenden schlechte Handlungsmuster adaptieren könnten, wenn diese unvermittelt, mimetisch präsentiert werden. Das täuschende Potential aller Mimesis ist also auch hier sehr stark veranschlagt. Die Mimesis des dritten Buchs gewinnt ihre (relative) Legitimität einzig daraus, daß die moralische Mitteilungswürdigkeit des Re-Präsentierten außer Frage steht. Im Grundsätzlichen bleibt sie ein problematisches Phänomen. Das zweite Kapitel der Aristotelischen Poetik, das den Beginn der substantiellen Erörterung des Mimesis-Begriffs markiert, beginnt mit dem lapidaren Satz, daß die Nachahmenden handelnde Menschen (prattontes) nachahmen. In der Mitte des Kapitels sind im Zuge der näheren Ausführungen dieses Satzes zunächst drei Maler erwähnt (Polygnot, Pauson, Dionysios – von ihren Werken ist nichts erhalten). Unmittelbar danach wird auf die im ersten Kapitel differenzierten weiteren nachahmenden Praktiken zurückverwiesen: Dichtung, Tanz, Flöten- und Zitherspiel. Bemerkenswert ist, daß Aristoteles die Darstellung des Nicht-Menschlichen in den nachahmenden Künsten in dem gesamten Traktat nicht in Betracht zieht. Für den Fall des Bilds wird in anderem Kontext gelegentlich erwähnt, daß dort auch Tiere bzw. nicht-menschliche Lebewesen zur Darstellung kommen können (1448b11 f.), zur bildlichen Repräsentation unbelebter Dinge findet sich nichts. Da zumindest das Epos, zumal die immer wieder lobend erwähnte Ilias, Objektbeschreibungen in Fülle enthält, wird der Schluß erlaubt sein, daß Aristoteles mit dem Einleitungssatz des zweiten Kapitels keineswegs die Deskription aus den nachahmenden Künsten verbannen wollte. Allerdings scheint sie einer rigorosen Ein- und Unterordnung im Hinblick auf den eigentlichen Nachahmungsgegenstand, das menschliche Handeln, zu unterliegen. Obwohl der Text auf diesen Punkt nicht zurückkommt, sollte man im Hinblick auf die Einordnung des Epos als einer Art Tragödie mit

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schwächerer Wirkkraft diesen Aspekt im Blick behalten: Die im Vergleich zum Drama unvermeidliche Präsenz von Passagen, die nicht als Nachahmungen handelnder Menschen eingeordnet werden können, mag eines der Momente sein, welche die relative Wirkkraft des Epos reduzieren. Auffällig ist an dem Passus aber vor allem die Einbeziehung der Raumkunst Malerei in die Erörterung künstlerischer Hervorbringungen, die wesentlich Abläufe in der Zeit, Handlungen, nachahmen. Die Malerei ist nicht Gegenstand des Traktats. Man wird über das mit der betreffenden Einordnung Gemeinte nur spekulieren können. Aristoteles könnte zum Ausdruck bringen wollen, daß in der Form, wie sie die berühmte LaokoonStatue repräsentiert, ein gelungenes Werk der bildenden Kunst mit dem dargestellten Moment immer eine Geschichte suggeriert und sein „Freude bereitendes“ Potential wesentlich daran hängt, in welchem Maße ihm dies gelingt. Abwegig ist diese Position für die gesamte Epoche der gegenständlichen Malerei nicht. Andererseits zeigt sich hier wie auch an anderen Stellen – der Nicht-Berücksichtigung der Lyrik, der Ausblendung der descriptio als nicht unwesentlichem Element des Epos, der Deutung von Flöten- und Zitherspiel als „Nachahmung von Handlungen“ – ein verdeckter normativer Zug der Erörterung: Aristoteles geht es (nur) um Dinge, die sich auf das Handeln von Menschen beziehen lassen. Dies verweist auf ein Konzept von Kunst, welches auf Distanz bleibt zu Abstraktion und Symbol. Die von Aristoteles gemeinte Dichtkunst ist nicht intellektualistisch, sie ist, bei aller Tendenz zu Verdichtung und Verallgemeinerung, keine primär zerebrale Kunst, vielmehr eine solche, die es dem Rezipienten gestattet, das von einem jeweiligen Werk Dargestellte rasch zu erfassen und auf den Bereich des eigenen Handelns zu beziehen. Der bemerkenswerteste Passus des zweiten Kapitels aber besteht in der Aussage, daß die genannten nachahmenden Praktiken Handelnde nachahmen, die „entweder besser oder schlechter sind als Menschen zu sein pflegen, oder auch gleich wie diese“ (1448a4 f.). Die genannten drei Register, so Aristoteles unter Anführung vieler Beispiele, die aber nicht überliefert sind, finden sich in allen zuvor thematisierten medialen Varianten künstlerischer Nachahmungen. Am Ende des Kapitels kommt es auf dieser Grundlage zu einer ersten, innerliterarischen Gattungsbestimmung: Die Komödie versucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie gemeinhin in der Wirklichkeit vorkommen (1448a16–18). Das Gewicht dieses Arguments erhöht sich dadurch, daß es am Ende des Texts bekräftigt und ergänzt, vor allem aber über die Instanz des Charakters hinaus generalisiert wird. Dort führt Aristoteles aus, der (Tragödien-)Dich­ ter – die Komödie wird hier nicht noch einmal aufgegriffen – wie auch der

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Maler oder ein bildender Künstler anderer Art seien frei, als Nachahmende zwischen drei Möglichkeiten zu wählen: Sie könnten etwas so darstellen, wie es war oder ist, wie man meint beziehungsweise sagt, daß es war oder sei, und so, wie es sein sollte beziehungsweise sein müßte (25, 1460b10 f.). Wirklichkeitsdarstellung, Bindung an die doxa und idealisierende Überhöhung sind bei Aristoteles drei legitime Varianten der Mimesis, deren gleicher Wert im weiteren Verlauf durch den Verweis auf zwei berühmte Tragödiendichter bekräftigt wird: Sophokles folge dem dritten, Euripides dem erstgenannten Verständnis von Mimesis (1460b33–35). Aristoteles bindet also die künstlerische Mimesis argumentativ strikt an den Maßstab der Wirklichkeit („in der Wirklichkeit vorkommend“, „besser“ oder „schlechter“ als in der Wirklichkeit beziehungsweise im Durchschnitt). Aber der Grad und das Profil der Konformität (homoiôsis) sind für ihn kein Maßstab der Beurteilung künstlerischer Werke. Es gibt unterschiedliche Optionen, diese bedingen zum Teil Gattungsgrenzen (Tragödie, Komödie), zum Teil charakterisieren sie die Spezifik unterschiedlicher Dichter. Die Qualität der jeweiligen Hervorbringungen indes bemißt sich nicht daran, in welchem Maße es dieses oder jenes Werk vermag, einen „adäquaten“ Eindruck von der Wirklichkeit zu geben. Nicht anders als im ersten Kapitel im Hinblick auf die medialen Varianten der Mimesis gilt auch in diesem zweiten Kapitel im Hinblick auf die Optionen hinsichtlich Wirklichkeitsadäquanz, daß für Aristoteles diese Varianten existieren, insofern der Erwähnung bedürfen, aber nicht als Kriterien genommen werden können, zu entscheiden, was poiêsis sei und was nicht, bzw. wie poiêsis beschaffen sein sollte und wie nicht.

2.3 Art und Weise der Nachahmung (Kap. 3) Die Formulierungen des dritten Kapitels sind einigermaßen verschlungen. Der gesamte zweite Teil gilt einem kurzen Abriß der Ursprungsgeschichte des Dramas, einschließlich seiner beiden Sub-Gattungen. Aristoteles referiert mit nüchterner Distanz die sich teils auf die Etymologie, teils auf sozialhistorische Kontextbedingungen berufenden Reklamate der verschiedenen griechischen Stämme: Die Dorer beanspruchen die Gattung Drama als ganze, weil sich deren Name von drôntes/Handelnde (Inf.: dran) ableite, dem Wort für das in Athen übliche prattontes/prattein. Die Megarer beanspruchen die Komödie, weil ein solches Genre nur unter „demokratischen“ Bedingungen habe entstehen können.

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Der erste Teil des Kapitels läßt sich ein zur „Art und Weise, in der man einzelne Gegenstände nachahmen kann“ (1448a19 f.). Die dort erwähnten Nachahmungen und Nachahmer sind – zum ersten Mal im bisherigen Text – nur Dichtungen und Dichter. Die Differenzierung, die hier eingeführt wird, entspricht dem Platonischen Redekriterium (Rep. III, 392d ff.): Es geht um Nachahmung im Modus des Berichts (apangellein) oder im Modus der Figurenrede (1448a21 ff.). Das eine sei die Art des Epos, das andere die des Dramas. Nur eine beiläufige Erwähnung findet in dieser ersten Abgrenzung von epischem und dramatischem Genre der im späteren Verlauf aufgegriffene Aspekt, daß das Epos potentiell eine Mischform ist, die sich passagenweise das Verfahren der „szenischen“ Darstellung zu eigen machen kann: Der narrative Dichter könne „unwandelbar als derselbe sprechen“, oder aber „so wie Homer“, der (oftmals) „als ein anderer spreche“. Beide Möglichkeiten sind hier als Varianten von apangellein qualifiziert, ähnlich wie bei Platon, der die mimetische Darstellungstechnik im Kontext einer Narration unter dihêgêsis subsumiert (393b). Im 24. Kapitel wird nochmals das Beispiel Homer aufgegriffen, dort allerdings im Unterschied zum dritten Kapitel mit deutlich normativem Akzent: Der Ependichter möge es so halten wie Homer, nämlich die Figuren durch ihr Reden und Handeln sich selbst charakterisieren lassen (1460a5–11). Insofern Homer dies tue, sei er ein mimêtês und verdiene Lob. Im Vergleich mit der korrespondierenden Passage bei Platon fallen hier der rein dichtungsimmanente, technische Gestus der Erörterung und der Verzicht auf eine Bindung der Darstellungsverfahren an die Inhalte und deren moralische Implikate auf.

2.4 Die Lust an der Mimesis (Kap. 4) Das vierte Kapitel greift noch einmal die Frage der Entstehung der dichterischen Nachahmungen auf, bringt aber statt eines Referats mehr oder weniger strittiger Reklamate eine Fülle exakter Details zum ersten dokumentierten Ursprung dieses oder jenes Verfahrens (s. in diesem Band Kapitel 3: Zur Genealogie der Dichtung). Von hohem analytischem Belang ist vor allem der erste Teil des Kapitels (1448b4 ff.), in dem Aristoteles den dokumentarisch nicht erschließbaren Ursprung von Dichtung durch eine anthropologische Spekulation zur Natur von Mimesis substituiert, ohne deren Einbeziehung eine Diskussion des Gehalts der ersten drei Kapitel nicht möglich ist. Aristoteles trifft dort einige grundlegende Festlegungen: Dichtung hat „zwei naturgegebene Ursachen“, sie hat also einen anthropologischen

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Status: 1. Dem Menschen ist die Fähigkeit zum Nachahmen angeboren. Er erwirbt seine ersten Kenntnisse durch Nachahmen – das Konzept des Lernens ist hier vor allem im Sinne frühkindlicher Prozesse verstanden. Es ist Distinktivum des Menschen als Gattungswesen, daß er diese Fähigkeit in höherem Maße besitzt als andere Lebewesen. 2. Das aktive Nachahmen (hier: im Sinne des Lernens) wie auch das passive Betrachten von Nachahmungen bereiten dem Menschen Freude (chairein: 1448b9) bzw. Vergnügen (hêdiston: 1448b13). Bei der Ausführung dieses Gedankens beschränkt sich Aristoteles auf die Rezipientenperspektive: Es sei eine Erfahrungstatsache, daß wir Abbildungen von Dingen gerne anschauen, selbst Abbildungen solcher Dinge, die wir in der Wirklichkeit nur ungern anschauen, etwa Darstellungen von gräßlichen Lebewesen oder von Leichen (1448b9–12; ein wenig anders die entsprechende Gedankenführung in Pol. VIII 5, 1340a23 ff.). Jene Freude bzw. jenes Vergnügen resultieren im Fall von Bildern aus der Befriedigung über den gelungenen Akt der Identifikation des je Nachgeahmten („daß diese Gestalt den und den darstelle“; 1448b15 ff.), das heißt des Erschließens der Zeichen. Hinzugefügt wird, daß allerdings auch, wenn mangels Kontextwissens das Erschließen des Dargestellten nicht möglich sei („man den dargestellten Gegenstand noch nie erblickt hat“), man Vergnügen an einer solchen Nachahmung nehmen könne, welches sich dann aber an der Faktur entzünde („Ausführung“, „Farbe“ oder „eine andere derartige Eigenschaft“). Im Unterschied zu dem, was in der neueren Kunsttheorie spätestens seit Kants dritter Kritik als fast unverrückbare Position gilt, ist für Aristoteles offensichtlich nicht das Formale Gegenstand des primären Interesses, das Rezipienten an Kunstwerken nehmen. Bedenkt man, daß der überwiegende Teil des folgenden Texts aus Aussagen zur Form und Struktur der kunstgerechten Tragödie besteht, wird man die Möglichkeit im Auge behalten müssen, daß alle diese formalen Momente an erster Stelle „dienende“ Funktion haben und dementsprechend der Frage gebührende Aufmerksamkeit widmen, welchem spezifischen Zweck sie dienen. Es ist ein bleibendes Problem bei allen Erörterungen des Konzepts derjenigen Variante von Mimesis, die Dichtung heißt, daß Aristoteles dort, wo er sich auf Spekulation einläßt, das heißt in hohem Maße thetisch wird, das im weiteren Verlauf zentrale Konzept des Vergnügens, das die Rezipienten von mimêseis empfinden, nur anhand der bildenden Kunst ausführt. Er läßt sich nicht ausdrücklich zu der Frage ein, ob das Vergnügen, das die dichterischen mimêseis auslösen, das gleiche ist, ein anderes, oder ein teilidentisches. Festzuhalten bleibt einstweilen nur das Faktum dieser Leerstelle.

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Zu bedenken ist eben, daß nicht jede Nachahmung Dichtung ist; Dichtung ist eine Variante von Nachahmung. Es ist problematisch, ohne weiteres anzusetzen, daß für Aristoteles die spezifische Lust, die die Literatur bereitet, mit der Lust an der bildkünstlerischen Nachahmung identisch ist. Und man sollte beachten, daß, wenn er später über die Lust des Rezipienten an der Literatur redet, er (nur) über eine spezifische Variante der Literatur, nämlich die Tragödie einschließlich des Epos, handelt. Daß es hier zu differenzieren gilt, macht Aristoteles nochmals am Ende seines Texts deutlich, wenn er dort von dem ergon der Tragödie und des Epos spricht und betont, diese beiden Gattungen (die letztere in geringerem Maße) sollten nicht „eine beliebige Lust hervorrufen, sondern die zuvor beschriebene“ (26, 1462b12–15). Die einzige spezifische Lust, die in dem Text explizit für die Tragödie postuliert wird, ist, die tragischen Affekte zu erregen. Daß außer diesem spezifischen Wirkziel die Tragödie auch noch andere Arten von Vergnügen auslösen kann (erwähnt wird einige Abschnitte zuvor das von der begleitenden Musik ausgelöste Vergnügen; 1462a14–17), sei unbestritten, und dazu mag man auch das Vergnügen am Identifizieren rechnen. Dieses letztere allerdings wird für die Rezipienten von Kunstwerken im vierten Kapitel ausdrücklich als ein Erkennen qualifiziert, das beschränkter sei als das des Philosophen (1448b12–15).

2.5 Die Aristotelische Mimesis Welche vorläufigen Schlüsse lassen sich aus den in den ersten dreieinhalb Kapiteln zu findenden Einlassungen zur Mimesis ziehen? Es gilt zunächst, einige in der Forschungsliteratur verbreitete Auffassungen zu markieren, die vom Wortlaut des Aristotelischen Texts schwerlich gedeckt sind. Dabei ist zu beachten, daß die im Folgenden knapp kritisierten Deutungen Teil­ aspekte des Aristotelischen Konzepts durchaus adäquat fassen. Gesagt wurde bereits, daß die Subsumption der mimetischen Instrumentalmusik, vor allem aber des Tanzes unter mimêsis es ausschließt, den Begriff im Verständnis des Illusionskonzepts zu verstehen. Die mehrfache Erwähnung der (traditionellen, figürlichen, artefakt-haften) bildenden Kunst schließt es ferner aus, die mimêsis im Aristotelischen Verständnis mit dem Performanz-Konzept zu identifizieren. Schließlich hat die Einbeziehung nicht-künstlerischer Praktiken oftmals vernachlässigte Konsequenzen. Aristoteles nennt explizit das Lernen. Es ist einerlei, ob er damit genau dieser nachahmenden Praxis argumentativ besondere Relevanz verleihen wollte oder die Heraushebung des Lernens sich der Ursprungs-Spekulation

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verdankt, die er im Kontext des literarhistorisch angelegten vierten Kapitels bringt. Die pure Erwähnung dieser Praxis als mimêsis macht es schwer, an zwei verbreiteten Versuchen festzuhalten, das Aristotelische Konzept in eine der Moderne geläufige Metasprache zu übersetzen: Weder Fiktion noch Repräsentation (Darstellung) können geeignete Synonyma sein. Die Subsumption des Lernens unter Mimesis konterkariert schließlich auch die in der neueren Forschungsliteratur erwogene Möglichkeit, im Begriff der Medialität eine Entsprechung zu sehen. Haltbar ist damit am ehesten eine negative Definition: Offensichtlich ist Mimesis etwas, das – soweit auf Menschen bezogen – Handeln impliziert, ohne aber damit Wirklichkeit auf derjenigen Ebene zu setzen, auf der die betreffenden Handlungen gemeinhin angesiedelt sind. Handlungen im Modus der Mimesis sind nicht Praxis, ohne notwendigerweise deshalb schon Fiktion oder Repräsentation zu sein, sie sind, genauer gesagt, Praxis, aber auf einem anderen als demjenigen Niveau, von dem sie ihre Muster beziehen. Von Mimesis redet Aristoteles immer dann, wenn er auf etwas referieren möchte, welches nicht „die Sache selbst“ ist, etwas, das auf etwas von der Konfiguration her Analoges verwiesen ist, das es nachahmt. Das Verwiesen-Sein ist nicht notwendigerweise verweisend im zeichenhaften Sinn. Da auch das Lernen in dem Katalog mimetischen Handelns bzw. mimetischer Hervorbringungen figuriert, ist selbst eine unspezifische oder abstrakte Verweisrelation nicht unbedingt impliziert. Es ist nicht Intention des lernenden Nachahmens, auf das Vorbild zu verweisen. Positiv könnte man vielleicht wie folgt formulieren: Mimetische Hervorbringungen und Handlungen sind solche menschlich produzierten Phänomene, denen spürbar das Merkmal anhaftet, ein Hypo-Phänomen zu sein. Die adverbiale Klausel soll verdeutlichen, daß bei der Beurteilung eines Phänomens als Mimesis oder als Nicht-Mimesis unvermeidlich eine hermeneutische Komponente eingeht. Am deutlichsten wird diese Beurteilungsmarge, die regulär eher an der schlichten Kenntnis kultureller Praktiken hängt (weiß man, was eine Theateraufführung „ontologisch“ ist oder nicht?), in Ansehung des Phänomens des Lernens. Wo und wie ist die Grenze zu ziehen, an der die Fokussierung auf die Nachahmung des Vorbilds in originäre, wirkmächtige Praxis übergeht? In der anderen Richtung gefragt, etwa aus Sicht der soziologischen Rollentheorie: Was an unserem sozialen Handeln wäre nicht ein Nachahmen vorgegebener Muster? Auf alle diese Fragen gibt es, so scheint es, nur eine Antwort: Mimeseis als Hypo-Phänomene haben diesen Status, insofern konventionell feststeht, sie nicht als originäre, sondern als bezogene Phänomene anzusehen. Sie sind von Menschen hergestellte Sekundär-Phänomene, deren Sekundarität

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jedem, der sie wahrnimmt, spontan und instantan bewußt ist; ansonsten sind sie, obwohl phänomenal identisch, keine Mimeseis. Für die MimesisVariante, die Aristoteles und wir unter „Literatur“ fassen, gibt es hier keine Abgrenzungsprobleme außer in solchen Fällen, wo etwa in der postmodernen Kunst bewußt mit dem konventionellen Charakter dieser Abgrenzung gespielt wird. Aber von Relevanz ist die hier vor allem vom Hinweis auf das Lernen ausgehende Beobachtung gleichwohl für das Aristotelische Verständnis auch des literarischen Texts: Mimesis ist bei Aristoteles ein Konzept ohne definite ontologische Implikate. Es stellt sich augenblicklich die Frage, was die Beschäftigung mit Phänomenen motivieren könnte, deren Definiens es ist, daß der Rezipient weiß: es ist nicht „die Sache selbst“, die dort zur Anschauung gebracht wird. Die Praxis des Lernens fällt aufgrund ihres Status als Aktivität und nicht Rezeptivität aus einer solchen Frage genau so grundsätzlich heraus, wie sie sich für alle anderen bei Aristoteles genannten Varianten stellt. Warum beschäftigen wir uns mit Literatur im speziellen, um nun die im weiteren Verlauf des Traktats im Mittelpunkt stehende mimetische Praxis ins Auge zu fassen? Wir wissen doch, so das Argument, mit dem der Text der Poetik einsetzt, Hervorbringungen dieser Art sind mimêseis, nicht Reales oder Bericht über Reales, sondern Phänomene zweiter Instanz, deren primäre Dimension, im Unterschied zur Geschichtsschreibung, nicht die Mitteilung dessen, was wirklich geschehen ist, und, im Unterschied zur Philosophie, auch nicht die Mitteilung des Allgemeinen, der Essenz des Wirklichen ist. Denn nur komparativ zur Geschichtsschreibung ist die Dichtung „etwas Philosophischeres“ (9, 1451b5), sie ist nicht mit der Philosophie identisch oder eine modale Variante von Philosophie. Die von Aristoteles formulierte Antwort darauf lautet: Das Nachahmen und die Beschäftigung mit Nachahmungen bereiten den Menschen Freude bzw. Vergnügen. Ist dies aber das Motiv der Befassung (auch) mit Literatur, muß konsequenterweise das, was Literatur ist bzw. sein soll, daran gemessen werden, in welchem Maß es gelingt oder nicht gelingt, jenes Vergnügen zu erregen. Alle Bestimmungen im einzelnen, die getroffen werden, sind dann subsidiäre Bestimmungen. Sie werden getroffen, insoweit sie geeignet sind, die Erreichung jenes Ziels zu befördern. Der überlieferte Teil des Texts verengt den Fokus von der Literatur als einziger hier detailliert erörterter mimetischer Praxis dann noch einmal auf die Tragödie, einschließlich des Epos als einer Art narrativierten Variante. Was die Tragödie anlangt, sind die Einlassungen zu dem Vergnügen, das sie bereitet, markant und insistent. Immer wieder wird betont, daß die „Aufgabe“/der „Zweck“/die „Funktion“ (ergon) der Tragödie eben dies und

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nichts anderes sei: „Durch Furcht und Mitleid [Jammer und Schaudern] (phobos, eleos) bewirkt sie eine Reinigung eben dieser Gefühle [von diesen Gefühlen]“ (6, 1449b24–28; s. auch 13, 1452b28–33, 14, 1453b11–13 und 26, 1462b12–15). Es ist ein unverrückbares Faktum, daß Aristoteles nur für die Gattung der Tragödie sagt, was ihr Wirkziel ist, für die anderen Gattungen bleibt dies offen. Abwegige Ergebnisse freilich würde die Extrapolation der Bestimmungen zur Tragödienpoetik nicht produzieren: Das Epos generierte eine Art tragischer Lust weniger intensiver Qualität, soweit es, wie die Ilias, ein guter, und nicht, wie die Odyssee, ein den Wünschen des Publikums angepasster literarischer Text ist (vgl. 13, 1453a30–35). Die Komödie wäre ein Affekterregungs- und Abfuhr-Dispositiv, das in einem anderen Bereich des affektischen Spektrums wirkte (s. in diesem Band Kapitel 4: Die Komödie). Die Bestimmung des Wirkziels der Tragödie ist zentral für ein adäquates Verständnis des Mimesis-Begriffs. Denn wie schon oben betont fällt für den gesamten Traktat auf, daß er zum einen die Nachahmung immer wieder auf das „Reale“, die tatsächliche Handlungswelt, verpflichtet (das Durchschnittliche; das, was ist oder von dem gesagt wird, daß es sei; das Wahrscheinliche; das Mögliche; das Ähnliche). Zum anderen wird aber nicht nur das „Abweichen“ einer Nachahmung vom Realen – gegen Platon – gar nicht als Problem begriffen; desgleichen werden die verschiedenen, konventionalisierten Varianten des Abweichens („besser/schlechter/gleich als wir bzw. als der Durchschnitt“) nicht mit einer Wertung verbunden. Darüber hinaus enthält die Argumentation an vielen Stellen Festlegungen, die den (Tragödien-) Text geradezu auf eine Gegenposition zu einem Verständnis des literarischen Texts als etwas, das sekundär auf potentiell Reales bezogen sei, verpflichten (das Unwahrscheinliche, das Wunderbare/Wundersame, das Unmögliche). Damit scheint sich der Aristotelische Mimesis-Begriff selbst der hier versuchten vorsichtigen Eingrenzung als eines bezogenen Phänomens zu entwinden. Man kann bei einem Versuch der Ableitung der gedanklichen Architektur, die den auf den ersten Blick verwirrenden „mimetischen“ Postulaten zugrunde liegt, vielleicht an einem Passus aus dem 13. Kapitel ansetzen, der bereits angeführt wurde: Gut gemachte (kallistai) Tragödien sollen in ihrer komplexen Sujetfügung phobera und eleeina nachahmen (1452b28–33). Es folgt die Beschreibung des moralisch-charakterlichen Profils des für diesen Zweck geeigneten Tragödienhelden, und in diesem Zusammenhang wird die Grundbedingung der affektischen Erregung explizit gemacht: Phobos und eleos stellen sich (nur) bei einem Helden ein, „der uns [dem Zuschauer] ähnlich ist“ (homoion, 1453a4–6; s. nochmals 15, 1454a24).

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Da aber sich das „Eigentümliche dieser Art von Nachahmung“ (der Tragödie) letztlich nur entfalten kann, wenn der Held ein bestimmtes charakterliches Profil hat, muß er zunächst überhaupt ein charakterliches Profil haben, welches zum ersten identifizierbar (prägnant), und zum zweiten immanent plausibel ist. Denn eine literarische Figur ist keine natürliche Person. Sie ist gegeben einzig durch das, was sie im Text sagt und tut, und was ggf. andere im Text über sie sagen. Identifizierbarkeit und Plausibilität kann sich im Fall einer Figur nur ergeben, wenn die Summe ihrer Handlungen ein kohärentes Bild ergibt, d. h., wenn sie nach dem Muster einer semantischen Isotopie gestaltet ist. Das im neunten Kapitel definierte „Allgemeine“ des literarischen Texts beschreibt nichts anderes als ein solches Konzept von Figur. Der funktionale Kontext dieses Postulats ist evident: Ergibt sich in dieser Hinsicht keine Stimmigkeit, nehmen wir als Rezipienten kein Interesse an der Figur, eben weil sie uns als etwas, das Eines und etwas Bestimmtes ist, gar nicht gegenwärtig werden kann. Für den Effekt, den die Tragödie erzielen soll, ist darüber hinaus eine globale Akzeptabilität der gesamten Handlung bzw. Handlungsverläufe, und eben nicht nur der Ökonomie von Charakter und Handlungen, erforderlich. Dies wird deutlich, wenn Aristoteles im neunten Kapitel ausführt, daß zwar Tragödien im Prinzip auf authentischen Stoffen der Vergangenheit wie auch auf erfundenen Stoffen basieren könnten, sich die meisten Dichter aber an die authentischen Stoffe halten, weil sich auf diese Weise die Frage nicht stellt, ob das Gezeigte möglich ist (9, 1451b11–32). Aber die Bindung der Tragödienhandlung an ein umfassend verstandenes, das Kontingente inkorporierendes Wahrscheinliches (dazu: 18, 1456a25 und 25, 1461b15) scheint bei Aristoteles kein eigenständiges Moment zu sein. So pointiert die Einlassungen zur immanenten Wahrscheinlichkeit des Helden-Charakters sind, so vorsichtig bleiben die Aussagen zur Wahrscheinlichkeit der Handlung. Aristoteles sagt an keiner Stelle, daß es Aufgabe der Tragödie wäre, ein adäquates Bild des Wirklichen zu geben, oder auch nur ein Bild, das den allgemeinen Ansichten einer Zeit entspricht. Die Tragödie kann dies, muß es aber nicht tun. Literarische Mimesis im Aristotelischen Verständnis ist entgegen der späteren Rezeption nicht imitatio naturae. Aufgabe der Tragödie ist es, die tragischen Affekte zu mobilisieren und die Lust zu bereiten, die sich daraus beziehungsweise aus der Reinigung dieser Affekte (beziehungsweise: von diesen Affekten) ergibt. Die Erregung dieser Affekte in einem Raum indes, der Mimesis und damit eben nicht Wirklichkeit ist, kann nur gelingen, wenn die mimetische Welt als eine solche modelliert ist, die dem Zuschauer als eine mögliche Welt vorstellbar ist, in der er selbst angesiedelt sein könnte.

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Einzig unter dieser letzteren Prämisse kann sich die wirkästhetisch primäre emotionale Affizierung ergeben: Der Schauder (eleos) befällt den Zuschauer nur, wenn der leidende Held ihm, dem Zuschauer ähnelt (13, 1453a4–6). Mitleid basiert auf der latenten Furcht, man könne sich selbst möglicherweise irgendwann ähnlichen Verwicklungen ausgesetzt sehen (s. auch Rhet. II 5, 1382b26 f. und II 8, 1385b12 ff.). Aus einem derartigen Fundus: einer immanent plausiblen Heldenfigur, die der Rezipient als ihm selbst ähnlich akzeptieren, aus einer Handlung, die er in ihrem Gesamt-Verlauf als möglich beurteilen kann, läßt sich indes – dies hat Aristoteles scharfsinnig erfaßt – kein Text konstruieren, der den Rezipienten zu emotionalisieren vermöchte. Die Möglichkeit der phantasmatischen „Übertragung“ ist (nur) die Voraussetzung der prinzipiellen Möglichkeit der Emotionalisierung. Die Mittel, mit denen die Tragödie auf die Psyche der Zuschauer einwirkt (psychagôgein), sind nicht die kohärenzverbürgenden (oder -herstellenden) Momente der Handlung, sondern die Peripetien und die Wiedererkennungen (anagnôriseis), das heißt diejenigen Momente, die die Wahrscheinlichkeit verletzen (6, 1450a33–35) und die damit weder in einem in modernem Sinne mimetischen, noch in einem auf Erkenntnis der Handlungswelt abhebenden Verständnis von Dichtung ihren Platz hätten. Die tragischen Affekte ergeben sich „im höchsten Maße“ dann, „wenn sich die Ereignisse wider Erwarten auseinander entwickeln“ (9, 1452a1–11; hier: 3). Impliziert ist in der auf den ersten Blick paradoxen Formulierung die Abgrenzung gegenüber einer Handlungsführung im Zeichen des Einbruchs der puren Kontingenz, in der Art, wie dies aus dem späteren hellenistischen Abenteuerroman bekannt ist: Es ist traurig oder betrüblich, aber nicht tragisch, wenn eine Figur in einem sich plötzlich erhebenden Sturm umkommt. Tragisch ist es, wenn das in sich konsistente Handeln einer Figur in einer bestimmten Situation zu einer punktuellen Fehlhandlung wird, die sich in Konjunktion mit einer kontingent einschießenden anderweitigen Kausalkette zu einem Syndrom verschlingt, welches das Leben des Helden vernichtet. Es ist das plausible Zusammenwirken der immanenten Kohärenz des Charakters und des völlig unwahrscheinlichen Ereignishaften, was jene systasis tôn pragmatôn ausmacht, die, wenn sie eine gelungene ist, den mythos als das konstituiert, was dem literarischen Text Einheit verleiht (ihn zu etwas „Ganzem“ macht) und dann auch seine Wirkkraft begründet. Nur spekulieren läßt sich über den Sinn eines solchen Affekterregungsund Entladungsdispositivs, das in einem Raum seinen Ort hat, der als mimetischer kein realer, lebenspraktischer ist, in dem aber die gemeinten Affekte für die Dauer der Rezeptionshandlung subjektiv als reale gespürt

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werden. Phobos und eleos – diese Affekte sind in einer prä-christlichen Polis, in der das Ausüben von (kriegerischer) Gewalt für den erwachsenen, männlichen Vollbürger eine Selbstverständlichkeit war, tendenziell etwas Problematisches, wenn sie denn in der Heftigkeit auftreten, mit der sie hier bei Aristoteles gemeint sind. Platon plädiert dafür, alles zu tun, um zu verhindern, daß sie überhaupt an die Oberfläche kommen; die betreffenden Affekte müssen konsequent unterdrückt werden. Aristoteles neigt der Auffassung zu, daß ein Unterdrücken der Affekte der Natur des Menschen als eines auch affektisch bestimmten Lebewesens nicht Rechnung trägt (vgl. auch EN II 2, 1104b). Ungeachtet dessen scheint aber auch Aristoteles die Affekte der Furchtsamkeit für etwas zu erachten, das man in geeigneter Weise kanalisieren sollte, mit dem Ziel, die pragmatischen Konsequenzen des Vorhandenseins dieser Affekte zu begrenzen, vor allem für die, denen im Unterschied zu den Alten und Gebildeten (s. Rhet. II 8, 1385b16 ff.) das Empfinden solcher Affekte (noch) nicht zukommt. Für diese Zwecke eignet sich das Affekttheater namens Tragödie optimal: Es stimuliert die betreffenden Affekte – die sich auf diese Weise lustvoll regen können und nicht permanent niedergehalten werden müssen –, aber es führt sie auch wieder ab. Die Tragödie ist der Raum des unschädlichen, ja, lustbringenden Umgehens mit einem problematischen, indes realen und nicht zu eskamotierenden Teilbereich menschlicher Emotionalität. Ergänzt man diese mögliche Bestimmung um die korrespondierenden Einlassungen zum Epos und um die eventuell aus dem Text zu gewinnenden Beschreibungen der Komödie, wären Cervantes – in den theoretischen Passagen des Quijote – und Freud (Der Dichter und das Phantasieren) die modernen Vertreter der Aristotelischen Konzepte von Dichtung im Allgemeinen und Mimesis im Speziellen.

Literatur Büttner, S. 2000: Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen/Basel. Flashar, H. 1979: Die klassizistische Theorie der Mimesis, in: Le classicisme à Rome aux premiers siècles avant et après J.-C., Vandœuvres, 79–97. Halliwell, S. 2002: The Aesthetics of Mimesis. Ancient Texts and Modern Problems, Princeton/Oxford. Petersen, J. H. 2000: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München. Zanker, G. 2000: Aristotle’s Poetics and the Painters, American Journal of Philology 121, 225–235.

3 Oliver Primavesi

Zur Genealogie der Poesie (Kap. 4)

Die Kapitel vier und fünf der Poetik bilden einen gedanklichen Zusammenhang, dessen übergreifendes Thema die Genealogie der Poesie ist. Der gesamte Gedankengang gliedert sich in drei Schritte: 1.) die anthropologischen Wurzeln, die die historische Entwicklung der Dichtung in Gang gesetzt haben: einerseits die Freude am Wahrnehmen von Nachahmungen, die der Dichtung Hörer und Zuschauer verschafft, andererseits die Freude am und die Begabung zum Nachahmen in den drei Medien Logos, Rhythmus und Melodie, die bestimmte Menschen zu Dichtern werden lassen (Kapitel 4, 1448b4–24); 2.) die in nachhomerischer Zeit zu beobachtende, ebenfalls anthropologisch bedingte Aufspaltung der Entwicklung in zwei Stränge (einerseits hohe, andererseits niedrige Dichtung), deren jeder eine Sukzession verschiedener Dichtungsgattungen darstellt (Kapitel 4, 1448b24– 1449a6); 3.) die daraus resultierende systematische Stellung der drei Gattungen Tragödie (Kapitel 4, 1449a7–31), Komödie (Kapitel 5, 1449a32–b9), und Epos (Kapitel 5, 1449b9–20). In den Kapiteln 4–5 sind anthropologische Grundannahmen, die zeitlose Geltung beanspruchen, mit der Beschreibung bestimmter kulturgeschichtlicher Befunde verbunden. Die Anthropologie stellt Beobachtungen über den Menschen bereit, nämlich zum einen seine Neigung zur Mimesis und ihren Medien, zum andern die binäre Opposition eines hochstehenden und eines niedrigen Charaktertypus; diese Beobachtungen dienen dann als Deutungsrahmen für einzelne, von Aristoteles angeführte Tatsachen aus der Dichtungsgeschichte.

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Oliver Primavesi

Der folgende Beitrag beschränkt sich auf das vierte Kapitel: Eine Darstellung der von Aristoteles gemachten anthropologischen Voraussetzungen soll die Grundlage dafür bieten, seine umstrittene Darstellung der Tragödienursprünge neu zu deuten.

3.1 Die anthropologischen Wurzeln 1448b4–9 Die beiden Entstehungsgründe: Freude am Produzieren und Rezipieren von Nachahmung „Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen ist den Menschen von Kindesbeinen an eingewurzelt (und dadurch unterscheiden sie sich von den übrigen Lebewesen, daß es [d. h. dieses Lebewesen] im höchsten Grade zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Lernerfahrungen durch Nachahmung macht), als auch die Freude, mit der jedermann Nachahmungen wahrnimmt.“ Die beiden mit der Natur des Menschen gegebenen Entstehungsgründe der Dichtkunst sind die Freude am Nachahmen und die Freude am Rezipieren von Nachahmungen. Die Freude am Nachahmen ist schon bei Kindern zu beobachten; hieran wird besonders deutlich, daß das Nachahmen Lernleistungen ermöglicht; so daß die Freude am Nachahmen auf den für den Menschen grundlegenden Lerntrieb (Met. I 1, 980a21) zurückgeführt werden kann. 1448b9–17 Auch die Freude am Rezipieren von Nachahmung beruht auf dem Lerntrieb „Als Indiz hierfür kann eine Erfahrungstatsache dienen. Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, zum Beispiel Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen. Die Ursache auch hiervon liegt darin, daß Lernen nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen bereitet, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei, zum Beispiel daß es jener ist, den diese Gestalt darstellen soll.“ Ebenso allgemein menschlich wie die Freude am Lernen durch Nachahmen ist die Freude am Lernen durch die Rezeption von Nachahmungen.

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Der Grund hierfür liegt in einem spezifischen Vorzug der Bildbetrachtung vor der Betrachtung des abgebildeten Gegenstandes. Diesen Vorzug bestimmt Aristoteles als den Lerneffekt des Wiedererkennens: Beim Betrachten von Bildern zum Beispiel kann man Neues – nämlich diese Bilder – mit Bekanntem verknüpfen, in dem man jenes diesem zuordnet, jenes mit diesem identifiziert. Indessen ändert die allgemeine Verbreitung des Vergnügens am bildgestützten Wiedererkennen nichts daran, daß die gewöhnlichen Menschen im Gegensatz zu den Philosophen nur äußerst geringfügige Lernleistungen erbringen. 1448b17–19 Die Freude über die lernfreie Rezeption einer Nachahmung ist bloß akzidentiell „(Wenn man nämlich den dargestellten Gegenstand noch nie erblickt hat, dann bereitet das Werk nicht qua Nachahmung Vergnügen, sondern wegen der Ausführung oder der Farbe oder einer anderen derartigen Eigenschaft.)“ Ein Einwand gegen die vorgetragene Zurückführung der Freude am Rezipieren von Nachahmungen auf die Freude am Lerneffekt des Wiedererkennens könnte darin liegen, daß man sich mitunter auch am Betrachten von Abbildungen freut, die kein Wiedererkennen auslösen, weil einem der dargestellte Gegenstand unbekannt ist. Diesen Einwand sucht Aristoteles mit den Hinweis zu entkräften, daß die Freude sich in solchen Fällen auf formale Vorzüge der Abbildung bezieht: Vortrefflichkeit der Ausführung, Farbe, etc. 1448b20–24 Die Improvisationen der mimetisch und musikalisch Begabten als Keimzelle der Dichtung „Da nun das Nachahmen unserer Natur gemäß ist, und ebenso die Melodie und der Rhythmus (denn daß die Verse Einheiten der Rhythmen sind, ist offenkundig), haben die hierfür besonders Begabten dabei von Anfang an allmählich Fortschritte gemacht und so aus den Improvisationen die Dichtung hervorgebracht.“ Erfolgte die Nachahmung durch Sprache, waren drei mögliche Medien der Nachahmung gegeben: Logos (als das syntaktisch-semantische Potential der Sprache), Melodie (dies meint Aristoteles, wenn er in Bezug auf die einstimmige Musik der Griechen von harmonia spricht) und Rhythmus (als Abfolge kurzer und langer Silben, die durch Anordnung der Worte zu bestimmten Versmaßen stilisiert werden kann). Die Improvisationen speziell derjenigen Sprach-Mimetiker, die für alle drei Medien Logos, Melodie und Rhythmus Neigung und Begabung mitbrachten, betrachtet Aristoteles als die Keimzelle der Dichtung.

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3.2 Die beiden Gattungs-Sukzessionen 1448b24–27 Spaltung der Dichtung in hohe und niedrige Gattungen „Die Dichtung hat sich hierbei nach den Charakteren aufgeteilt, die den Autoren eigentümlich waren. Denn die Edleren ahmten gute Handlungen und die von Guten nach, die Gewöhnlicheren jedoch die von Schlechten, wobei sie zuerst Invektiven dichteten, so wie die Anderen Hymnen und Preislieder.“ Die Entwicklung der Dichtung verlief in zwei Strängen: Unter den Objekten der Mimesis hatte Aristoteles in 1448a1–2 zwischen hochstehender Handlung einerseits und niedriger Handlung andererseits unterschieden. Daß diese beiden Richtungen der Dichtung sich ausprägten, führt Aristoteles auf die Einteilung der Menschen in gute und schlechte zurück. Die zur dichterischen Mimesis begabten Menschen wendeten sich nämlich je nach ihrem eigenen Charakter der Nachahmung hochstehender oder aber niedriger Handlungen zu. Die – keineswegs selbstverständliche – Grundannahme einer solchen Korrespondenz findet sich schon bei Platon, Politeia III, 396a–c; anders bekanntlich Platons Symposion 223d, wo Sokrates die Meinung vertritt, daß Ein und derselbe zugleich tragischer und komischer Dichter sein kann. Deshalb verlief die Entwicklung der Dichtkunst in zwei Strängen, sozusagen zwei Familien von Dichtungsgattungen: Zur einen Familie gehören alle Dichtungsgattungen, in denen hochstehende Handlungen edler Menschen nachgeahmt werden, zu der anderen Familie die Gattungen, die niedrige Handlungen entsprechender Menschen nachahmen. Indessen stand am Anfang der Geschichte der griechischen Dichtung, soweit sie überhaupt durch schriftliche Überlieferung dokumentiert ist, gleich eine bemerkenswerte Ausnahme: Homer. Dieser Dichter schuf sowohl „hohe“ als auch „niedrige“ Werke, und antizipierte mit beiden Werkgruppen die von den beiden Sukzessionen erst Jahrhunderte später erreichten Vollendungsformen Tragödie und Komödie. 1448b28–30 Homers Margites als frühestes erhaltenes Beispiel „niedriger“ Dichtung „Aus vorhomerischer Zeit können wir von niemandem ein derartiges [niedriges] Gedicht nennen, doch hat es wahrscheinlich viele [solche Dichter] gegeben. Von Homer an hingegen ist uns das möglich, wie es zum Beispiel von ihm selbst den Margites und Ähnliches gibt.“ Das von Aristoteles als frühestes Beispiel „niedriger“ Dichtung eingeführte Scherzgedicht Margites („Der Verrückte“) ist zwar nicht im ganzen über-

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liefert, jedoch gestatten Zitatfragmente und Testimonien, sich davon ein Bild zu machen (Texte bei West 1992, 69–76). „Das Gedicht handelt von einem sorglosen und unerfahrenen Antihelden (Gegenbild zum leidgeprüften und lebenserfahrenen Odysseus), der keinerlei Handwerk versteht und als Prototyp des gutmütigen Dummkopfs gelten kann. … Höhepunkt der Handlung ist die Beschreibung der Hochzeitsnacht, in der Margites von der Braut handgreiflich belehrt werden muß, was zu tun sei“ (Glei 1999, 885). Die Zuschreibung dieses Gedichts an Homer als den Autor von Ilias und Odyssee liegt nach heutiger Auffassung fern; denn an die Stelle der fest ausgeprägten Form beider Großepen setzt der Margites ihre Parodie. Die von Glei (a. a. O.) geäußerte Vermutung, daß erst Aristoteles selbst den Margites „aus Gründen literarhistorischer Konstruktion“ dem Homer zugeschrieben hätte, ist nicht überzeugend: Die Zuschreibung des Margites an Homer impliziert nämlich, daß dieser Dichter, wie Aristoteles weiter unten (1448b34–1449a2) noch einmal hervorheben wird, sowohl „für das Edle der vorzüglichste Dichter war“ als auch „als erster die Form der Komödie angedeutet“ hat. Und für die Konstruktion einer solchen Doppelrolle Homers hatte Aristoteles kein Motiv, da er die Koexistenz zweier Dichtungs-Sukzessionen („hoch“ und „niedrig“) auf die Koexistenz zweier einander entgegengesetzter Menschentypen zurückführt (1448b24–27). Man hat also davon auszugehen, daß Aristoteles in der ihm vorliegenden Tradition die Zuschreibung des Margites und anderer Scherzgedichte an Homer vorfand und sie akzeptierte. 1448b30–34 Die Einführung des iambischen Versmaßes durch Homer „In diesen Gedichten kam angemessenerweise auch der iambische Vers (iambeion metron) auf; weswegen er heutzutage auch iambeion genannt wird, weil sich die Leute in diesem Versmaß zu verspotten (iambizein) pflegten. Und von den alten Dichtern wurden die einen zu Dichtern von Iamben, die anderen zu Dichtern im heroischen Versmaß [des Hexameters].“ Die Gedichte, in denen der iambische Vers nach Aristoteles aufgekommen ist, können nur die soeben 1448b29–30 genannten Scherzgedichte im Œuvre Homers sein. Denn einerseits hat Aristoteles in 1448b28–29 ausdrücklich festgestellt, daß vorhomerische „niedrige“ Dichtung nicht erhalten sei, andererseits kommen in dem Scherzgedicht Margites, wie wir gleich zeigen werden, bereits iambische Verse vor: Wenn also der Margites Homerisch ist – und davon geht Aristoteles aus – dann ist er das älteste Beispiel für die Verwendung des iambischen Verses, und, aufgrund seines Inhalts, zugleich für das spaßhaft-spöttische Ethos dieses Verses.

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Ein iambisches Metron im technischen Sinn ist aus einer Folge von vier Silben-Positionen aufgebaut: Die zweite und die vierte Position wird jeweils von einer langen Silbe eingenommen; die auftaktige erste Position kann wahlweise von einer langen oder einer kurzen Silbe eingenommen werden; die dritte Position muß von einer kurzen Silbe eingenommen werden: x

– ∪



Der iambische Trimeter – an ihn denkt Aristoteles an unserer Stelle – besteht aus einer Folge dreier iambischer Metren: x–∪–x–∪–x–∪– Das „niedrige“ Ethos dieses iambischen Verses steht im Gegensatz zu dem des heroischen Versmaßes, das heißt des Hexameters, in dem die „hohe“ Homerische Dichtung, das heißt die Heroenepen wie Ilias und Odyssee, durchweg verfaßt ist, und der aus einer Folge von sechs Daktylen (eine lange und zwei kurze Silben) beziehungsweise Spondeen besteht (zwei lange Silben), also zum Beispiel: –∪∪–∪∪–––∪∪–∪∪–x Die für den Aristotelischen Gedankengang entscheidende Eigentümlichkeit des Margites besteht nun darin, daß er weder, wie Ilias und Odyssee, Zeile für Zeile aus Hexametern besteht, noch, wie zahlreiche Gedichte des (von Aristoteles zwangsläufig erst nach dem „Homerischen“ Margites datierten) Iambikers Archilochos, durchweg aus iambischen Trimetern oder verwandten Versmaßen. Vielmehr wird im Margites die Folge der Hexameter in unregelmäßigen Abständen durch die Einschaltung einzelner iambischer Trimeter unterbrochen. So beginnt das Gedicht mit einer Folge von zwei Hexametern und einem iambischen Trimeter (West 1992, 72; „Homer“ Fr. 1): „Kam einst nach Kolophon ein greiser und göttlicher Sänger, Diener der Musen und auch des treffenden Schützen Apollon: die Leier schönen Klanges er in Händen hielt.“ So ist Homer laut Aristoteles nicht nur das „hohe“ Heroenepos zu verdanken; vielmehr läßt sich in seinem Margites auch die Einführung des „niedrigen“ iambischen Verses beobachten, und zwar sogar in statu nascendi, nämlich noch im Verbund mit dem heroischen Hexameter. Damit habe Homer die Voraussetzungen geschaffen, derer sich die auf ihn folgenden, „hohen“ wie „niedrigen“ Dichter bedienen konnten (1448b32–34): Die

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„hohen“ spezialisierten sich auf hexametrische Heroenepen – hier denkt Aristoteles an die nachhomerischen Epen Kyprien und Kleine Ilias, die er nach 1459a37–b7 ebenso für unhomerisch hält wie es, im Fall der Kyprien, schon Herodot (Historien 2, 117) getan hatte. Die „niedrigen“ Dichter schufen Spottgedichte in iambischen Maßen; hier dürfte Aristoteles vor allem an Archilochos denken, der das (nach Meinung des Aristoteles) von Homer eingeführte iambische Metron in den Dienst der bereits für vorhomerische Zeiten zu vermutenden Invektiven (psogoi) stellte. 1448b34–1449a2 Homers epische Antizipationen von Tragödie und Komödie „Wie nun aber Homer für das Edle der vorzüglichste Dichter war – denn er hat als einziger nicht nur gut gedichtet, sondern auch dramatische Nachahmungen hervorgebracht –, so hat er auch als erster die Form der Komödie umrißhaft angedeutet, indem er nicht die Invektive, sondern das Lächerliche dramatisierte. Denn der Margites steht in einem Analogie-Verhältnis: so wie sich die Ilias und die Odyssee zu den Tragödien verhalten, – so verhält sich der Margites zu den Komödien.“ Mit beiden von ihm gepflegten Gattungen, dem „hohen“ Heroenepos wie der „niedrigen“ Epenparodie des Margites, hat Homer, soweit im Epos überhaupt möglich, diejenigen beiden Gattungen antizipiert, die Abschluß und Höhepunkt der beiden Sukzessionen bilden, das heißt Tragödie und Komödie. Das Homerische Heroenepos ist abgesehen von seinen sonstigen Qualitäten nach Kapitel 3 (1448a21–22) auch durch den großen Raum ausgezeichnet, den die wörtliche Rede im Erzählen einnimmt, sowie nach Kapitel 23–24 durch die Konzentration auf eine einzige, überschaubare Handlung mit Anfang, Mitte, und Ende: Beides nähert die Homerischen HeroenEpen, mutatis mutandis, der späteren Tragödie an. Der Margites kann in dem Sinne als Vorwegnahme der Komödie des vierten Jahrhunderts v. Chr. gelten, daß Homer hier eine unaggressivfiktionale Darstellung lächerlicher Typen gegeben habe, nicht aber eine verletzende Invektive gegen real existierende Individuen, wie sie von Aristoteles für die vorhomerische Zeit vermutet wird und sich in nachhomerischer Zeit von Archilochos bis zur altattischen Komödie des fünften Jahrhunderts v. Chr. gehalten hat. Insofern nach Kapitel neun (1451b4–7) der gegenüber der Geschichtsschreibung philosophischere Charakter der Dichtung auf ihrer Fiktionalität beruht, ist der homerische Margites bereits philosophischer als die nachhomerische iambische Invektive.

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1449a2–6 Abschluß der beiden Sukzessionen durch Komödie und Tragödie „Nachdem die Tragödie und die Komödie zu Tage getreten waren, und die Dichter sich je nach ihrer Eigenart einer der beiden Gattungen zuwandten, wurden die einen statt Iambikern Komödiendichter, die anderen statt Epikern Tragiker, weil diese Formen großartiger und angesehener waren als jene.“ Aristoteles läßt die „niedrigen“ Iambographen zur Komödie und die „hohen“ Ependichter zur Tragödie übergehen, nachdem Komödie und Tragödie bereits zum Vorschein gekommen waren. Das bedeutet, daß die individuelle Vorgeschichte von Komödie und Tragödie bereits weit fortgeschritten war, als die beiden Gattungen in die Stellung der für die „niedrige“ beziehungsweise für die „hohe“ Sukzession maßgeblichen Gattung eintraten. Daran wird deutlich, daß Aristoteles die Entwicklung der Dichtkunst auf zwei streng voneinander getrennten Ebenen betrachtet: Auf der einen Ebene verfolgt er die Entwicklung einzelner Gattungen von rudimentären Vorstufen bis zu ihrer vollen Ausbildung. Auf der anderen Ebene läßt er diese einmal ausgebildeten Gattungen der Reihe nach in die Funktion der Leit-Gattung der „hohen“ beziehungsweise der „niedrigen“ Dichtung eintreten, das heißt er interpretiert verschiedene, historisch nacheinander ausgebildete Gattungen als Stufen von zwei übergeordneten Sukzessionen, ohne daß die späteren Gattungen einer Sukzession aus ihren jeweiligen Vorgängern hervorgegangen wären. Überdies versteht Aristoteles diese beiden Sukzessionen als gerichtete, auf einen Höhepunkt zusteuernde Prozesse, und er sieht diesen Höhepunkt beider Sukzessionen mit den ausgebildeten dramatischen Formen Tragödie und Komödie erreicht: „Hoch“ „Niedrig“ Hymnen/Enkomia Vorhomerische Invektiven Ilias/Odyssee

← HOMER → Margites

Nachhomerische Heroenepik Iambische Invektivendichtung Tragödie Komödie

3.3 Die Entwicklung der Tragödie Der dritte und letzte Abschnitt des vierten Kapitels verspricht Aufschluß über die vieldiskutierte Frage nach den Ursprüngen der Tragödie. Diese sind vor allem deshalb erklärungsbedürftig, weil es sich bei der griechischen Tragödie um eine chorlyrisch-dramatische Doppelgattung handelt. Wie Aristoteles bereits in Poetik 1 (1447b24–28) festgestellt hat, alternieren

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in der Tragödie (wie auch in der Komödie) zwei verschiedene Kombinationen der drei Dichtungsmedien: In den Sprechversen der Einzelschauspieler sind nur Logoi und Rhythmus kombiniert, in den Liedern des tanzenden Chores hingegen Logoi, Rhythmus und Melodie. So drängt sich die Frage auf, wie diese beiden heterogenen Komponenten, Sprechverse und Chorlieder, zusammengekommen sind. Die Suche nach einer Antwort wird von vornherein den institutionellen Kontext einzubeziehen haben, in dem die Tragödienaufführungen in Athen stehen, das heißt den Kult des Gottes Dionysos. Neben der Tragödie gehörten auch noch andere Dichtungsgattungen zum Dionysoskult: einerseits das eng mit der Tragödie verbundene Satyrspiel, andererseits die Komödie, schließlich rein chorlyrische Gattungen wie der Dithyrambos und – außerhalb der Dionysischen Festspiele im engeren Sinne – das Begleitlied zur Phallus-Prozession. Auf all diese Schwestergattungen nimmt Aristoteles bei seiner Darstellung der Tragödienursprünge Bezug. Für die Beurteilung der Historizität des Aristotelischen Berichts ist die im fünften Kapitel (1449a37–b1) getroffene Feststellung entscheidend, daß die verschiedenen Entwicklungsstufen der Tragödie offen zu Tage liegen (û lelêthasin), während diejenigen der Komödie im Dunkel geblieben seien. Allerdings setzt Aristoteles in der knappen Skizze des vierten Kapitels sein Belegmaterial für die Entwicklung der Tragödie stillschweigend voraus; die Dokumentation der Belege war offenbar anderen, heute nur fragmentarisch erhaltenen Werken vorbehalten, wie den „Didaskalien“ oder dem Dialog „Über die Dichter“, (dessen Fragmente bei Heitz 1869: Fr. 9–20 vollständiger gesammelt sind als bei Rose 1886: Fr. 70–77). Ungeachtet der klaren Worte des Aristoteles über die im Fall der Tragödie günstige Quellenlage hat sich die Forschung des 20. Jahrhunderts über die Aristotelische Darstellung der Tragödienursprünge vielfach hinweggesetzt. Der Grund dafür liegt darin, daß wir von einer Rekonstruktion der Tragödienentstehung seit Friedrich Nietzsches Buch „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ vor allem anderen eine Bezugnahme auf das Phänomen des Tragischen erwarten. Nietzsche selbst hat den Ursprung der Tragödie auf den Zusammenprall archaischer Vitalität mit pessimistischer Weltverneinung zurückgeführt. Des näheren unterscheidet er zwei Linderungsmittel gegen das Schreckliche und Entsetzliche des Daseins: den dionysischen Rausch, der im Chorgesang Ausdruck findet, und das apollinische Traumbild, das in den Sprechversen Gestalt gewinnt. Aus der Verbindung beider ist nach Nietzsche die Tragödie hervorgegangen (Nietzsche 1872).

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Auch Aristoteles gibt eine Erklärung für das Zustandekommen der Verbindung von Sprechverspartien und Chorliedern; doch bei ihm ist diese Erklärung mit der Feststellung verknüpft, daß die Tragödie sich erst spät aus einer satyrspielhaft-spaßigen Darbietung zu einer erhabenen Form gewandelt habe. War aber die unmittelbare Vorstufe der Tragödie noch derart untragisch, dann scheint jeder Zusammenhang zwischen dem Ursprung der Tragödie und dem Phänomen des Tragischen ausgeschlossen. An diesem Punkt verweigert die neuere Forschung dem Aristoteles die Gefolgschaft: Stellvertretend für die Gelehrten, die gegen Aristoteles den Ernst der Tragödie auch schon in ihren Ursprüngen suchen, sei nur Walter Burkert genannt, der diese Ursprünge mit dem Opferkult in Verbindung bringt. Der Schauder der Opfergemeinde über die Tötung des Opfertiers antizipiert nach Burkert die Wirkung, die die klassische Tragödie durch die „Opferung“ des tragischen Helden im Zuschauer auslösen wird. Die Basis für diese These ist die Bezeichnung der Tragödie, griechisch Trag-ôdia. Darin steckt tragos „der Bock“ und ôdê „der Gesang“; demgemäß deuten einige antike Quellen, denen Burkert folgt, das Wort trag-ôdia etymologisch als „Gesang beim Bocksopfer“ (Burkert 1966). Zu dem Unbehagen an der von Aristoteles genannten unmittelbaren Vorstufe der Tragödie kommt als weiteres Problem hinzu, daß der Ausgangspunkt der Tragödienentwicklung im Aristotelischen Text schon sprachlich unklar bleibt: Umstritten ist, ob Aristoteles als Ausgangspunkt der Tragödienentwicklung den Dithyrambos nennt, das heißt ein Chorlied zu Ehren des Dionysos, oder aber das Phallus-Prozessionslied. Angesichts dieser Lage sollen im Folgenden zwei Fragen geklärt werden: 1.) Wie weit läßt sich der Bericht des Aristoteles auch heute noch durch externe Zeugnisse stützen? 2.) Welche Deutung des Berichts wird durch diese Zeugnisse gegebenenfalls gestützt: die Dithyrambos-Version oder die Phalluslied-Version? 1449a7–15 Ursprung der Polarität Chor : Schauspieler im Verhältnis Chor: Vorsänger „Zu untersuchen, ob die Tragödie hinsichtlich ihrer Elemente bereits einen hinlänglichen Entwicklungsstand erreicht hat oder nicht, und hierüber sowohl an und für sich als auch im Hinblick auf die Aufführungen zu befinden, ist ein anderes Problem. Doch nachdem sie, wie gesagt, aus einem Stegreifursprung entstanden war, (dies gilt sowohl für sie selbst als auch für die Komödie – wobei die eine von den

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Vorsängern des Dithyrambos stammt, die andere von denen der PhallusLieder, wie sie heute noch in vielen Städten gebräuchlich geblieben sind –), dehnte sie sich allmählich dadurch aus, daß man das jeweils an ihr zutage tretende Merkmal weiterentwickelte, und nachdem sie viele Verwandlungsstufen durchlaufen hatte, hörte die Tragödie damit auf, als sie ihre eigentliche Form erreicht hatte.“ So wie nach 1448b20–24 die Dichtung allgemein aus den Improvisationen (autoschediasmata) der mimetisch, rhythmisch und melodisch besonders Begabten hervorgegangen ist, so führt Aristoteles jetzt sowohl die Tragödie als auch die Komödie auf die improvisierten Einlagen der Vorsänger in Chorliedern des archaischen Dionysoskultes zurück. Demnach sieht er in der relativen Selbständigkeit, mit der in solchen Liedern der improvisierende Vorsänger mit dem Gesamtchor interagierte, die Keimzelle für die charakteristische Polarität, die im entwickelten attischen Drama zwischen den Sprechverspartien der Einzelschauspieler und den Chorliedern besteht. Hierbei erwähnt Aristoteles nun aber zwei Typen des dionysischen Chorliedes, nämlich Dithyrambos und Phallus-Prozessionslied: „Die eine“ der beiden Gattungen Tragödie und Komödie gehe auf den Dithyrambos zurück, „die andere“ auf die Phallus-Prozessionslieder (1449a10–12). Gerade dieser entscheidend wichtige Satz ist nun formal doppeldeutig: Der Ausdruck „die eine … die andere“ kann hier nämlich sowohl für „Tragödie/Komödie“ stehen – in diesem Fall würde Aristoteles die Reihenfolge der unmittelbar vorangehenden Aufzählung von Tragödie und Komödie (1449a10) hier beibehalten – , als auch für „Komödie/Tragödie“ – in diesem Fall würde er die beiden zuvor aufgezählten Gattungen hier in umgekehrter, „chiastischer“ Reihenfolge wieder aufnehmen. Deshalb versteht es sich, entgegen der traditionellen Auffassung, keineswegs von selbst, daß Aristoteles die Tragödie auf den Dithyrambos zurückführt und die Komödie auf die Phallus-Prozessionslieder; vielmehr ist rein syntaktisch gesehen das Umgekehrte genauso möglich. Leonhardt 1991 hat denn auch die These vertreten, daß Aristoteles an unserer Stelle die Sprechverse der Tragödie auf die Improvisationen des Phallus-Vorsängers zurückführt, und die Sprechverse der Komödie auf die Improvisationen des Dithyrambos-Vorsängers. Da er damit bei hervorragenden Kennern der griechischen Tragödie teils Ablehnung (Patzer 1995), teils Zustimmung (Lloyd-Jones 1998, 274–275 mit Anm. 15) gefunden hat, und da auch Arbogast Schmitt in seinem neuen Poetik-Kommentar die Frage offen läßt (Schmitt 2008, 300), muß es bis heute als ungeklärt gelten, ob Aristoteles die Entwicklung der Tragödie mit dem Dithyrambos oder mit den Phallus-Liedern begin-

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nen läßt. Hingegen steht fest, daß Aristoteles in 1449a19–21 als unmittelbare Vorstufe der Tragödie eine satyrspielhafte, durch spaßige Redeweise charakterisierte Form angibt. Daraus ergibt sich für den von Aristoteles angenommenen Dreischritt der Tragödienentwicklung insgesamt folgende Alternative: Entweder „Dithyrambos – Satyrikon – Tragödie“ oder „Phalluslieder – Satyrikon – Tragödie“. Angesichts der Tatsache, daß Aristoteles die Tragödienentwicklung in jedem Fall über eine satyrspielhaft-spaßige Zwischenstufe laufen läßt, spielt es für die Entscheidung der Alternative keine Rolle, daß die entwickelte Tragödie zur „hohen“ und die entwickelte Komödie zur „niedrigen“ Sukzession gehört: Die Ursprünge einer „hohen“ Gattung müssen nach Aristoteles keineswegs auch selbst schon „hoch“ gewesen sein. Aus diesem Grund läßt sich Leonhardts These nicht einfach durch den Hinweis aus der Welt schaffen (so Patzer 1995, 290–291), daß Aristoteles die hohe Tragödie nur auf den vermeintlich „hohen“ Dithyrambos, und die notorisch obszöne (Alte) Komödie nur auf die „niedrigen“ Phallus-Lieder zurückgeführt haben könne. Wohl aber kann gezeigt werden, daß sich die Hauptpunkte des Aristotelischen Berichts zur Tragödienentwicklung dann und nur dann durch externe Belege stützen lassen, wenn man den Aristotelischen Bericht vom Dithyrambos ausgehen läßt. Sofern dieser Nachweis gelingt, darf als erwiesen gelten, daß Aristoteles durch die ihm zugänglichen Quellen auf die Annahme der dreistufigen Entwicklung Dithyrambos – Satyrikon – Tragödie geführt wurde. Auf einen ersten Beleg führt schon die Tatsache, daß Aristoteles das Verhältnis zwischen Einzelschauspielern und Chor auf die Interaktion zwischen Vorsänger und Chor im alten Dionysos-Kult zurückführt. Ein ausdrückliches Zeugnis für eine solche Interaktion gibt es nämlich aus archaischer Zeit nur für den Dithyrambos. Archilochos von Paros beschreibt sein Wirken als berauscht improvisierender Vorsänger im dionysischen Dithyrambos mit folgenden Worten (West 1989b, 47; Archilochos Fr. 120): „… denn ein schönes Lied auf den Herrn Dionysos anzuleiten weiß ich, einen Dithyrambos, wenn mir vom Wein die Sinne wie vom Donner gerührt sind“ Archilochos verwendet für die Tätigkeit des Vorsängers im Dithyrambos genau dieselbe Junktur exarchein dithyrambon, wie Aristoteles an unserer Stelle (1449a10–11: apo tôn exarchontôn ton dithyrambon). Demnach liegt hier ein Zeugnis für den von Aristoteles ins Feld geführten Vorsänger des hoch-

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archaischen Dithyrambenchores vor. Ein solches Zeugnis kann es aber angesichts der von Aristoteles bezeugten Quellenlage nur für den Tragödienursprung geben, nicht für den ganz im Dunkeln liegenden Komödienursprung: Wenn Aristoteles die Komödie auf die Dithyrambenvorsänger zurückgeführt hätte, dann hätte er angesichts der Selbstbeschreibung des Archilochos als Dithyrambenvorsänger nicht behaupten können, daß es für den Komödienursprung kein Zeugnis gibt. Also muß sich Aristoteles mit seinen Bemerkungen zum Dithyrambenvorsänger auf die Tragödie beziehen. Hingegen kann es sich bei der Zurückführung der Komödie auf die Phalluslieder, mangels früher Zeugnisse, nur um einen Rückschluß aus der entwickelten Komödie handeln. Einen Anhaltspunkt bot womöglich die Phallus-Prozession mit Liedbegleitung, die Aristophanes in den Acharnern (Vers 263–283) auf die Bühne bringt. Das bisher Gesagte wird sich im Folgenden bestätigen: Textimmanent läßt sich der verbleibende Teil des vierten Poetik-Kapitels als Rückweg von der Tragödie der Gegenwart bis zum altertümlichen Dithyrambos verstehen; erst bei dieser Perspektivierung auf einen dithyrambischen Ursprung hin läßt sich jeder Entwicklungsschritt auch durch externe Zeugnisse stützen. Als virtueller Fluchtpunkt des Zurückschreitens ist dabei die ganz schlichte Interaktion zwischen Vorsänger und Chor im frühen DionysosKult ins Auge zu fassen, wie sie Patzer 1962, 91 mit einem von Plutarch zitierten Kultlied elischer Frauen veranschaulicht hat (Campbell 1993, 154; Carmina popularia 871): Vorsängerin: Chor:

Komm, Herr Dionysos, in den Tempel der Elier samt den heiligen Grazien mit dem Rindsfuß rasend! hochedler Stier! hochedler Stier!

Drei besonders elementare formale Differenzen zur entwickelten Tragödie fallen ins Auge: a) Während es sich beim Vorsänger beziehungsweise der Vorsängerin um eine Person handelt, sind in der klassischen Tragödie bis zu drei Einzelschauspieler gleichzeitig auf der Bühne. b) Zudem singen Vorsängerin wie Chor als sie selbst; es fehlt das darstellende Rollenspiel.

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c) Schließlich ist im Lied der elischen Frauen der Part der Vorsängerin, wie man am Versmaß sieht, noch ebenso liedhaft wie der Refrain des Chores: Von der für die Tragödie charakteristischen Alternation gesprochener Verse mit einem lyrischen Chor kann noch keine Rede sein. Wenn die formale Zurückführung der Tragödie auf die vorsängergeleiteten Chöre des archaischen Dionysos-Kultes gleichwohl plausibel sein soll, dann müssen, in historisch zurückschreitender Folge, zunächst a) die Vermehrung der Einzelschauspieler von einem auf drei, sodann b) die vorhergehende Übernahme von Rollen durch Sprecher und Chor, und schließlich c) die frühe Verwendung von Sprechversen für den Part des Vorsängers nachgewiesen werden. Damit ist das Programm für den verbleibenden Teil des vierten Kapitels vorgegeben. 1449a15–19 Allmähliche Vermehrung der Einzelschauspieler und des Anteils der Sprechverse „Die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei gebracht hat als erster Aischylos, und den Anteil des Chors verringert und die gesprochene Rede zur Hauptsache gemacht. Drei Schauspieler und Bühnenmalerei verwendete Sophokles.“ Im Laufe der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr. hat sich nach Aristoteles das Gewicht, das in der Tragödie den Sprechverspartien der Einzelschauspieler zukommt, zulasten des Choranteils kontinuierlich vermehrt, was auch an der Erhöhung der Schauspielerzahl durch Aischylos und Sophokles ablesbar sei. Auffälligerweise geht Aristoteles von der Erwähnung der Vorsänger des Dionysos-Chores in 1449a9–15 gleich zur Einführung des zweiten Einzelschauspielers durch Aischylos und des dritten durch Sophokles über: Der hierbei stillschweigend vorausgesetzte erste Einzelschauspieler war für Aristoteles offensichtlich schon im Vorsänger des alten Dionysos-Chores angelegt. Andererseits steht in einem Fragment aus dem Aristotelischen Dialog „Über die Dichter“ (Heitz 1869, 28–29, Aristoteles Fr. 19 = Snell/Kannicht 1986, 62, TrGF 1 Thespis T 6; von Rose 1863, 78–79 ohne zureichenden Grund verworfen), daß der berühmte Thespis, der um 533 v.Chr. in Athen erstmals eine Tragödie aufgeführt haben soll (Snell/Kannicht 1986: 61, TrGF 1 Thespis T 1–2; skeptisch zur Chronologie West 1989a), dabei den Prolog und die Langrede des Schauspielers eingeführt hat. Bei flüchtiger Lektüre kann man dieses Aristoteles-Fragment dahingehend mißverstehen, als habe erst Thespis den ersten Einzelschauspieler erfunden. Dies würde dann im Widerspruch zu der an unserer Poetik-Stelle implizierten Annahme stehen, daß der erste Einzelschauspieler bereits im Vorsänger des

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dionysischen Chores angelegt war. Sieht man aber genauer zu, sind beide Aussagen miteinander problemlos vereinbar: Aristoteles hat die Leistung des Thespis dahin bestimmt, daß dieser den dionysischen Vorsänger, den er bereits vorfand, vom Chor emanzipierte: Thespis ließ den Vorsänger bereits vor Einzug des Chores einen Prolog sprechen, und ohne kontinuierliche Interaktion mit dem Chor eine Langrede halten. 1449a19–21 Die satyrspielhafte Vorstufe der Tragödie „Ferner aber kam ihre Größe aus kleinen Handlungen und aus spaßhafter Redeweise – sie war ja aus etwas Satyrspielhaftem hervorgegangen – erst spät zur Erhabenheit.“ Der Satz über das späte Erhaben-Werden der Tragödie und ihre satyrspielhaft-spaßige Vorstufe ist der eigentliche Stein des Anstoßes im Ursprungsbericht; demgemäß haben einige Forscher vorgeschlagen, den Satz durch Konjektur zu ändern (Patzer 1962, 67–69) oder gar gänzlich zu streichen (Else 1957, 166–179). Andere suchten die Aristotelische Behauptung zu stützen, indem sie die Bezeichnung „Tragödie“ heranzogen: Trag-ôdia = „Bocksgesang“. Dies deuteten sie nicht, wie Burkert, als „Gesang beim Bocksopfer“, sondern als „Gesang der Böcke“. Wenn man die Böcke, auf die dieser Name zu verweisen scheint, mit Satyrn gleichsetzen dürfte, so würde der Name Trag-ôdia besagen, daß die Tragödie ursprünglich von einem Chor bocksgestaltiger Satyrn aufgeführt wurde. Doch stellen die Vasenbilder außer Zweifel, daß Satyrn und Böcke streng zu scheiden sind: Jedenfalls in vorhellenistischer Zeit weisen Satyrn die Spitzohren und Schwänze von Maultieren auf; diese haben in der Dionysos-Ikonographie auch sonst einen festen Platz. Wenn aber Satyrn keine Böcke sind, dann kann die satyrspielhafte Vorform, von der Aristoteles spricht, nichts mit singenden Böcken zu tun haben. Die wahre Bedeutung der satyrspielhaften Vorform liegt in ihrer Stellung als historische Zwischenstufe zwischen dem vorsängergeleiteten Chor und der Tragödie. Von Hause aus ist die Interaktion von Vorsänger und Chor nämlich kein Rollenspiel; vielmehr agieren Vorsänger und Chor als sie selbst. Will man gleichwohl den lyrisch-dramatischen Doppelcharakter des tragischen Schauspiels auf die Interaktion von Vorsänger und Chor zurückführen, dann muß diese Interaktion zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Entwicklung zum Rollenspiel umgestaltet worden sein. Eine solche Umgestaltung ist nun für den Dithyrambos bezeugt, und bei dieser Umgestaltung übernahmen die Sänger des Dithyrambenchors die Rolle von Satyrn. Die Einführung der rollenspielhaften Form des Dithyrambos wird dem Musiker Arion v. Methymna zugeschrieben (Testimonien bei Campbell

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1991, 16–25), den Aristoteles offenbar in dem Dialog „Über die Dichter“ behandelt hat (Heitz 1869, 28, Aristoteles Fr. 17; auch dies von Rose 1863, 620 dem Aristoteles abgesprochen; diesmal durch unbegründete Konjektur; vgl. Campbell 1991, 22; Test. 5). Über Arion wird berichtet, daß er um 600 v. Chr. in Korinth einen Dithyrambos zur Aufführung brachte; daß er Satyrn einführte, die eine Verspartie übernahmen, daß er den Chor erstmals nicht mehr in der Prozession schreiten sondern im Kreisrund tanzen ließ, und daß er der Erfinder der „tragischen Darstellungsart“ war (Campbell 1991, 16; Test. 1: tragikû tropû heuretês). Wenn man all diese Nachrichten mit Albin Lesky (1972, 39) auf ein und dieselbe Leistung bezieht, dann handelte es sich dabei um einen Dithyrambos in Form eines Satyr-Rollenspiels. Nimmt man nun an, daß Arion dabei am alten Vorsänger festhielt, so erscheint der von Arion eingeführte Satyr-Dithyrambos als Zwischenstufe auf dem Weg vom alten, vorsängergeleiteten Dithyrambos zur Tragödie: Offenbar war es Arion, der die Interaktion von Vorsänger und Chor zum Rollenspiel umgestaltet hat. Eben dies dürfte auch gemeint sein, wenn man dem Arion die „Erfindung der tragischen Darstellungsart“ zuschreibt. Die beschriebene Integration einer satyrspielhaft-spaßigen Vorstufe in das Aristotelische Bild der Tragödienentwicklung setzt aber zwingend voraus, daß Aristoteles diese Entwicklung mit dem Dithyrambos beginnen ließ; denn davon, daß auch die Chorsänger der Phallus-Prozession zu irgendeinem Zeitpunkt als Satyrn aufgetreten wären, verlautet in der Überlieferung nichts. 1449a21–28 Das ursprüngliche Versmaß der Sprechverse „Und das Metrum entwickelte sich aus dem tetrametrischen zum iambischen. Denn man bediente sich zunächst des Tetrameters, weil die Dichtung satyrspielhaft und mehr vom Tanz bestimmt war. Als aber der gesprochene Dialog aufkam, identifizierte die Natur selbst das ihm angemessene Metrum. Denn das der gesprochenen Rede am nächsten kommende Maß ist das iambische; ein Indiz dafür liegt darin, daß wir im alltäglichen Sprechen am häufigsten Iamben bilden, Hexameter dagegen selten und nur, wenn wir aus dem Tonfall des Gesprächs herausgehen.“ In der entwickelten Tragödie des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr. ist das vorherrschende Versmaß des Sprechverses der bereits erwähnte iambische Trimeter: x–∪–x–∪–x–∪–

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Daneben findet sich auch eine leicht erweiterte Form dieses Versmaßes, der sogenannte „trochäische Tetrameter“. Er kommt zustande, indem man einem iambischen Trimeter noch einen „Creticus“ voranstellt, das heißt die Folge „lang-kurz-lang“:



– ∪ – x – ∪ – x – ∪ – x – ∪ –

Creticus + Iambischer Trimeter

Obwohl nun in den uns ganz oder fragmentarisch erhaltenen Dramen von Anfang an der iambische Trimeter überwiegt, behauptet Aristoteles, daß als Metrum der tragischen Sprechverse ursprünglich der trochäische Tetrameter diente. Belege, auf die sich Aristoteles hierfür möglicherweise stützen könnte, scheinen zunächst nicht vorhanden zu sein. So konnte man den behaupteten Primat des trochäischen Tetrameters als rein hypothetische Konstruktion abtun (Patzer 1962, 78–80). Doch ist es auch in diesem Fall förderlicher, die Feststellung des Aristoteles konsequent auf seine Hauptthese zu beziehen, derzufolge die Sprechverse der Tragödie auf alte VorsängerImprovisationen zurückgehen. Für diese Hauptthese kommt dem Versmaß eine Schlüsselrolle zu. Der alte Vorsänger muß nämlich irgendwann einmal vom Singen zum Sprechen, vom lyrischen Versmaß zum Sprechvers übergegangen sein, sonst führt von seiner Partie kein Weg zu den Sprechversen der Tragödie. Also hängt die Plausibilität der Aristotelischen Ursprungsthese entscheidend davon ab, ob eines der üblichen Sprechversmaße der Tragödie nachweislich auch schon von archaischen Vorsängern verwendet wurde. Diese Bedingung erfüllt nun, soweit die uns vorliegende Überlieferung reicht, allein der von Aristoteles ins Feld geführte trochäische Tetrameter – auch er freilich nur dann, wenn man die Entwicklung der Tragödie nicht auf die Phalluslieder zurückführt, sondern auf den Dithyrambos. Dann aber werden die bereits zitierten Verse des Archilochos, in denen er sich als berauscht-improvisierenden Dithyrambenvorsänger charakterisiert, auch metrisch zum entscheidenden Indiz; denn bei diesen Versen handelt es sich um trochäische Tetrameter (West 1989b, 47; Archilochos Fr. 120): – ∪ –x –∪– x | hôs Di-ô-ny-sû a-nak-tos

– ∪ – x – ∪ – kâ-lo-nex-ar-xai me-los

„… denn ein schönes Lied auf den Herrn Dionysos anzuleiten



– ∪ – x



oi-da dî-thy-ram-bo-noi-nôi

– ∪ –

x| – ∪ – x







syn-ke-rau-nô-theis phre-nas

weiß ich, einen Dithyrambos, wenn mir vom Wein die Sinne wie vom Donner gerührt sind“

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Daß Aristoteles diese Verse kannte, wird, wie wir sahen, dadurch wahrscheinlich gemacht, daß er für die Funktion des Vorsängers dieselbe Junktur (exarchein dithyrambon) verwendet wie Archilochos. Dann aber kann es schwerlich ein Zufall sein, daß Aristoteles das in diesen Versen vorliegende trochäische Versmaß auch den Sprechversen der frühesten Tragödie zuschreibt (Else 1957: 158). Zwar handelt es sich bei den Versen des Archilochos nicht um die trunkene Vorsänger-Improvisation selbst – eine solche Improvisation wurde naturgemäß nicht aufgezeichnet –, sondern lediglich um ihre Beschreibung. Doch im Rahmen des binären Aristotelischen Sukzessionsschemas ist Archilochos, als der Invektivendichter par excellence, eindeutig auf das niedrige Dichtungsniveau und auf die zugehörigen iambischen Versmaße festgelegt. Wenn sich dieser Archilochos nun als Dithyrambenvorsänger zu erkennen gibt, dann folgt daraus aus Aristotelischer Sicht, daß die Improvisationen dieser Vorsänger der niedrigen Dichtungsart zugehörten, was sich dann auch im Versmaß der Improvisationen spiegeln muß. So konnte Aristoteles schließen, daß Archilochos in den zitierten Versen sein Wirken als Vorsänger nicht nur beschreibt, sondern zugleich, durch die Wahl des Versmaßes, auch illustriert. Mithin liefert das Zeugnis des Archilochos den sonst fehlenden externen Anhaltsund Ausgangspunkt für das Bild, das Aristoteles von der Entwicklung des tragischen Sprechverses zeichnet: Er hält den trochäischen Tetrameter deshalb für den ursprünglichen Sprechvers der Tragödie, weil er in ihm den Sprechvers des alten Dithyrambenvorsängers zu erkennen glaubt. Damit hat die von Leonhardt 1991 aufgeworfene Frage nach dem von Aristoteles angenommenen Ausgangspunkt eine Antwort gefunden, die der von Leonhardt selbst präferierten These gerade zuwiderläuft: Erst in der ausdrücklichen Perspektivierung auf den dithyrambischen Ausgangspunkt hin schließen sich alle Elemente der Aristotelischen Darstellung des Tragödienursprungs zu einem kohärenten Ganzen zusammen, das sich in den Hauptpunkten noch heute durch externe Belege stützen läßt, auch wenn das Material, auf das Aristoteles selbst zurückgreifen konnte, ungleich reicher gewesen sein dürfte. Der von Aristoteles angenommene Entwicklungsgang läßt sich wie folgt resumieren: Der erste Ansatz zur Tragödie lag um die Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. in einem volkstümlichen Dithyrambos, in dem, wie Aristoteles aus Archilochos erschloß, ein einzelner Sprecher im Medium des trochäischen Tetrameters mit einem lyrischen Chor interagierte. Von hier aus führte der Weg über eine erstmals rollenspielhafte Zwischenstufe, nämlich den Satyr-Dithyrambos des Arion (um 600 v. Chr.), in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. zur attischen Tragödie des

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Thespis, der den alten Vorsänger zum ersten Einzelschauspieler verselbständigte. Doch welchen Platz findet hier das Phänomen des Tragischen? Um dies zu sehen, wollen wir den von Aristoteles beschriebenen Hergang nun noch in den größeren Zusammenhang der allgemeinen Dichtungsentwicklung einordnen, den Aristoteles einleitend skizziert hat. Aristoteles unterscheidet, wie wir sahen, zwei Ebenen dichtungsgeschichtlicher Betrachtung: einerseits die individuelle Vorgeschichte jeder einzelnen Dichtungsgattung, andererseits die Geschichte der beiden Sukzessionen – hoch und niedrig –, in denen die Dichtungsgattungen, wenn sie herangewachsen sind, ihren Platz finden. Diese Ebenenunterscheidung ist nun für das Verständnis der Tragödienentstehung besonders hilfreich. Es sind nur formale Eigenschaften der Tragödie, nämlich die Interaktion zwischen Chor und Einzelsprechern ebenso wie der Rollenspiel-Charakter, die Aristoteles auf „untragische“, niedrige Formen zurückführt. Doch der tragische Gehalt der Tragödie stammt nach Aristoteles aus dem homerischen Epos, dessen Nachfolge als dominierende Gattung der hohen Sukzession zur Zeit des Thespis die Tragödie antrat. Damals wurde die einmal ausgebildete Form des chorlyrisch-dramatischen Rollenspiels – so Aristoteles 1449a2–6 – von Dichtern der hohen Sukzession aufgegriffen und ins Tragische umfunktioniert, denen das Theater eine größere Wirkungsintensität bot als das bisher von ihnen gepflegte Epos. Erst sie stellten das musiktheatralische Potential des Satyr-Dithyrambos in den Dienst des Handlungstypus, den Homer vor allem in der Ilias beispielhaft verwirklicht hatte; erst sie verbanden beides zu der vollendeten Form der attischen Tragödie. Dem entspricht auch die Behandlung der Tragödie in der Poetik; die durch fortwährende Verweise auf die Übereinstimmungen zwischen Tragödie und Epos gekennzeichnet ist; das gilt sowohl für den Handlungsaufbau wie für das Charakterniveau der handelnden Personen. So ist aus aristotelischer Sicht folgendes Fazit zu ziehen. Es war ein Irrweg, die Frage nach den Ursprüngen der Tragödie mit dem Problem des Tragischen zu verbinden. Die Einwände der neueren Forschung gegen die satyrspielhafte Zwischenstufe schlagen gegen die Zeugnisse zum SatyrDithyrambos des Arion deshalb nicht durch, weil auch schon der dithyrambische Ausgangspunkt der Tragödienentwicklung (Archilochos) in den Bereich der niedrigen Dichtung gehört. Nietzsches Rekonstruktion wird der in der Tragödie vorliegenden coincidentia oppositorum zwar besser gerecht; sie deckt sich mit dem Aristotelischen Bericht insbesondere darin, daß Nietzsche den Gegensatz von Apollinischem Traum und Dionysischem Rausch mit den Namen Homer und Archilochos verbindet. Doch ist diese Einsicht

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bei Nietzsche dadurch überlagert, daß er den musikalisch-dionysischen Pol der Tragödie mit Schopenhauers Theorie von der Musik als unmittelbarer Manifestation des Willens kurzschließt und mit dem Orchesterpart von Wagners Tristan illustriert: Diese Sphären sind von den groben Späßen des Dionysischen Trunkenbolds Archilochos allzu weit entfernt. In Wahrheit wurde die Tragödie erst dann tragisch, als bestimmte Dichter der hohen Sukzession das Satyr-Musical des Arion zur Nachfolgegattung des homerischen Epos umgestalteten: Die Urbilder der tragischen Helden sind nicht in einem proto-tragischen Niemandsland zu finden, sondern in iliadischen Gestalten wie Patroklos, Hektor und Achill. In diesem Sinne darf den neueren Kritikern des Aristoteles abschließend das apokryphe AischylosWort entgegengehalten werden (Radt 1985: 69; TrGF 3 Test. 112): „Meine Tragödien sind nichts als einzelne Tranchen vom großen Braten Homers“.

Literatur Burkert, W. 1966: Greek Tragedy and Sacrificial Ritual, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 7 (1966) 87–121, deutsche Fassung in: Walter Burkert, Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, (= Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek Bd. 22), Berlin 1990, 13–39. Campbell, D. A. 1991: Greek Lyric III: Stesichorus, Ibycus, Simonides, and Others, Edited and Translated by David A. Campbell, Cambridge/London 1991. – 1993: Greek Lyric V: The New School of Poetry and Anonymous Songs and Hymns, Edited and Translated by David A. Campbell, Cambridge/London 1993. Else, G. F. 1957: Aristotle’s Poetics: The Argument. By Gerald F. Else, Leiden 1957. Glei, R. F. 1999: Margites, in: Der Neue Pauly 7, Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 885–886. Heitz, E. 1869: Fragmenta Aristotelis collegit, disposuit, illustravit Æmilius Heitz, Parisiis 1869 (ND in: Aristoteles: Opera omnia, Graece et Latine, Vol. IV, Hildesheim/Zürich/ New York 2007). Leonhardt, J. 1991: Phalloslied und Dithyrambos. Aristoteles über den Ursprung des griechischen Dramas, (= Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse; Jg. 1991, Abh. 4), Heidelberg 1991. Lesky, A. 1972: Die Tragische Dichtung der Hellenen. Dritte, völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage, (= Studienhefte zur Altertumswissenschaft Heft 2), Göttingen 1972. Lloyd-Jones, H. 1998: Ritual and Tragedy, in: Ansichten griechischer Rituale: GeburtstagsSymposium für Walter Burkert. Herausgegeben von Fritz Graf, Stuttgart und Leipzig 1998, 271–295. Nietzsche, F. 1872: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Von Friedrich Nietzsche. Leipzig 1872, (zitiert nach: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Dritte Abteilung. Erster Band, Berlin/New York 1972, 17–152). Patzer, H. 1962: Die Anfänge der griechischen Tragödie. Von Harald Patzer, (= Schriften der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/ Main, Geisteswissenschaftliche Reihe Nr. 3), Wiesbaden 1962.

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Die Komödie (Kap. 5)

Die Komödie war das Thema von Aristoteles’ zweitem Buch der Poetik. Dieses zweite Buch muß irgendwann in der Antike oder zu Beginn des Mittelalters verloren gegangen sein. Wir haben keinen Anhaltspunkt, der es uns erlauben würde, diese Zeitspanne einzuschränken. Das einzige, was wir genau wissen ist, daß zum Ende des neunten Jahrhunderts eine syrische Übersetzung nur des ersten Buches angefertigt wurde, was nahezu sicher darauf hindeutet, daß es vorher zu dem Verlust gekommen ist. Unglück­ licherweise ging dieser Verlust ohne größeres Aufhebens vonstatten und ohne viele Spuren zu hinterlassen. Die einzigen verläßlichen Spuren, die wir haben, sind hauptsächlich die Erwähnungen der Existenz des zwei­ ten Buches durch Aristoteles selbst, der zweimal in seiner Rhetorik (und vermutlich auch in Pol. VIII 7) darauf verweist, und die Erwähnung in den Listen der Werke von Aristoteles bei Diogenes Laërtios und Hesychios. Zu seinem Inhalt haben wir nicht mehr als zwei kurze Verweise auf eine „komische Katharsis“ von Jamblichos und Proclos. (Es wird zwar allge­ mein angenommen, daß die beiden sich auf die „exoterische“ Arbeit Über die Dichter beziehen, aber Aristoteles hat dort womöglich einem größerem Publikum vorgestellt, was er im zweiten Buch der Poetik behandelt hat.) Zusätzlich zu diesen wenigen Spuren gibt es einen sehr bekannten Text, den Tractatus Coislinianus, welcher eine Zusammenfassung dieses zweiten Buches über die Komödie anzubieten scheint. Unglücklicherweise bringt dieser Text aber eine Vielzahl – vermutlich unlösbarer – Interpretations­ probleme mit sich, da die hauptsächlich relevanten Passagen offensichtlich dem widersprechen, was wir in der Poetik vorfinden. Aus diesem Grund wird für gewöhnlich angenommen (im Gegensatz zu Janko 1984, der argu­ mentiert, daß es sich um eine authentische und verläßliche Zusammen­

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fassung des zweiten Buches der Poetik handelt), daß dieser Text entweder eine Fälschung ist, erstellt von irgendeinem byzantinischen Gelehrten, der unsere Poetik vollenden wollte (Bernays 1853), oder bestenfalls eine verzerrte und deswegen unverläßliche Abschrift einer antiken Zusammen­ fassung des zweiten Buches (Heath 1989). Infolgedessen ist der einzige zuverläßige Weg, wenn wir rekonstruieren wollen, was Aristoteles in seinem zweiten Buch über die Poetik zur Komödie gesagt haben könnte, dies mit Hilfe der vielen, wenn auch vagen Passagen über die Komödie im ersten Buch der Poetik zu tun. In diesem Beitrag möchte ich eine grobe (mögliche) Rekonstruktion einiger zentraler Punkte von Aristoteles’ Theorie der Komödie anbieten, ausgehend von den expliziten Behauptungen, die Aristoteles in der Poetik macht, unter Hinzunahme einiger wichtiger Passagen aus seiner Rhetorik und der Politik. Ich werde versuchen, einige Hauptkonzepte in bezug auf die Komödie, die Aristoteles kurz in seinem fünften Kapitel erwähnt, zu klären, wie etwa „das Lächerliche“ (geloion) und „Fehler“ oder „Verfeh­ lung“ (hamartêma). Zudem werde ich versuchen zu rekonstruieren, was Aristoteles über andere Hauptkonzepte gesagt haben könnte, die wir nicht in der Poetik finden, die aber gleichwohl eine bedeutende Rolle im zweiten Buch gespielt haben müssen, wie etwa die der Komödie eigenen Emoti­ onen und deren Katharsis. Aber bevor ich das tue, möchte ich die Bedeu­ tung der Komödie in Aristoteles’ Dichtungstheorie verdeutlichen.

4.1 Die Bedeutung der Komödie Selbst ein kurzer Blick auf die Fülle der wissenschaftlichen Literatur zur Poetik seit den berühmten Studien von Jacob Bernays in der Mitte des 19. Jahr­ hunderts reicht aus, um zu sehen, daß das Thema Komödie an Vernachläs­ sigung und Desinteresse seitens vieler Interpreten leidet. Man kann sehr gut verstehen, warum Interpreten der Komödie nicht soviel Aufmerksam­ keit gewidmet haben: Der Mangel an Informationen ist mit Sicherheit ein Haupthindernis. Aber wie kann man erklären, daß viele Einführungen zur Poetik die Komödie entweder gar nicht erwähnen oder ihr nicht mehr als ein paar Zeilen widmen? Oder daß die meisten Übersetzungen die letzten Worte, die aus einem unserer beiden wichtigsten Manuskipte stammen und den Anfang des zweiten Buches ankündigen („Bezüglich Spottversen und der Komödie …“), einfach nicht wiedergeben oder auch nur erwähnen? Oder daß einige entgegen allen Anhaltspunkten versucht haben zu zeigen, daß Aristoteles das zweite Buch überhaupt nicht geschrieben habe, als sei

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die Komödie ein zu unbedeutendes Thema, um eine eigene vollständige philosophische Untersuchung wert zu sein? Nichts anderes, denke ich, ist die Antwort, als daß eine bestimmte Wertung, wenn auch nicht immer explizit ausgesprochen, doch unter den Gelehrten sehr weit verbreitet ist: Die Tragödie ist nach Aristoteles die beste Form der Dichtung, daher nimmt die Komödie lediglich einen zweiten Rang ein. Ich möchte diese weitverbreitete Annahme kritisch hinterfragen, welche ich für ein bloßes Vorurteil ohne jeden Beleg im Text der Poetik halte. Die wichtigste Behauptung, die zu diesem Vorurteil geführt haben mag, ist folgende: Die Tragödie wird als eine mimêsis einer „gehobenen“, „edlen“, „bewundernswerten“ oder „wichtigen“ Handlung (spoudaia praxis) (6, 1449b24) definiert, die Komödie hingegen ist die mimêsis „schlechterer Menschen“ (5, 1448b31–32). Aus diesem Grund müßten wir annehmen, daß eine „schlechte“ Handlung entweder eine nicht bewunderungswür­ dige oder zumindest eine unwichtige Handlung ist. Wenn jemand dazu neigt, die Poetik mit Hilfe der Ethik zu interpretieren (wie es heutzutage viele Interpreten tun), scheint es sehr schwierig, die Komödie nicht als eine Art Nebenprodukt der Kunst oder als eine Kunst für den Pöbel zu sehen. Oder aus einer anderen Perspektive: Wenn man annimmt, was wohl durchaus gerechtfertigt wäre, daß Aristoteles ein Aristokrat war, der den Pöbel verachtete, sollte man dann nicht annehmen, daß er auch jene nicht „gehobene“ und unwichtige Kunstform verachtet haben muß? Aber diese Schlußfolgerung ist nicht gerechtfertigt. Nichts in unserem Text der Poetik gibt den geringsten Hinweis auf einen höheren Status der Tragödie, auch nicht auf irgendeine Verachtung der Komödie. Ganz im Gegenteil: Zwei Hauptpassagen zeigen sehr deutlich, daß Aristoteles die Komödie als genauso hochwertig ansah wie die Tragödie. Schauen wir uns diese Stellen genauer an. In Kapitel fünf (1449a37–49b1) sagt Aristoteles, daß der Grund, warum die frühen Entwicklungsstadien der Komödie nicht bekannt sind, darin liegt, daß sie zu Anfang nicht ernst (spoudazesthai) genommen wurde, weil die Menschen sie nicht für hochwertiges, „edles“ oder „bewundernswertes“ Theater hielten. Er erwähnt dies im Gegensatz zur Tragödie, von der wir die Entwicklungsstadien kennen, da sie, wie wir schlußfolgern müssen, von Anfang an Gegenstand eines ernsthaften Interesses war. Es bedeutet, daß nun, da der archôn den Komödiendichtern einen Chor gewährt (das heißt, der archôn bestimmt einen reichen Bürger, der die Produktion des Stückes finanzieren muß), die Komödie als ebenso hochwertig angesehen wird wie die Tragödie. Genau dagegen hat Aristoteles nichts einzuwenden.

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In Kapitel neun findet sich sogar eine ausdrücklich positive Beurteilung der Komödie. Aristoteles verwendet dort denselben Begriff der spoudê, um mit ihm auf etwas Hochwertiges Bezug zu nehmen, was ernsthaft in Erwä­ gung gezogen werden muß. Denn da die Rolle oder Funktion des Dich­ ters darin besteht „diejenigen Dinge, die geschehen können und möglich sind hinsichtlich Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit“ mitzuteilen, erklärt Aristoteles hier bekanntermaßen, die Dichtung sei „philosophischer und hochwertiger“ (philosophôteron kai spoudaioteron) als die Geschichts­ schreibung, die diejenigen Dinge behandelt, die tatsächlich passiert sind (1451a36 ff.). Was auch immer „philosophischer“ hier genau meint (und nicht zu vergessen die schwierige Frage nach der Verbindung zwischen diesem und dem „Allgemeinen“), setzt Aristoteles hier doch deutlich genug voraus, daß die Dichtung mehr Wert, mehr Bedeutung als die Geschichts­ schreibung hat. Der Zusammenhang deutet darauf hin, daß Aristoteles den Tragödiendichter und die Tragödie im Kopf hat und auch Homer, der nur wenige Zeilen zuvor, im Kapitel acht, genannt wird. Aber das bedeutet nicht, daß Epik und Tragödie die einzigen Arten von Dichtung sind, um die es hier geht. Denn unmittelbar nach unserer hier zitierten Passage wird die Komödie als eine weitere Art von Dichtung, die „auf das Allgemeine zielt“, angeführt. Es ist klar, daß die Komödie sich mit dem „Allgemei­ nen“ beschäftigt im Gegensatz zur jambischen Dichtung, die sich auf das „Einzelne“ richtet („jambische Dichtung“ ist ein anderer Begriff für „Spott­ vers“, „Satire“ oder „Invektive“ (psogos), welche darauf abzielt, jemanden zu verspotten. Archilochos, der in der Poetik nicht erwähnt wird, war einer der bekanntesten Autoren derartiger Dichtung). Der Logik des Textes zufolge müssen wir annehmen, daß es sich mit der jambischen Dichtung wie mit der Geschichte verhält: Sie macht Späße darüber, was ein bestimmtes Individuum getan hat oder was ihm zuge­ stoßen ist. Was weniger klar ist, ist die Begründung, die Aristoteles gibt, da der in 1451b11–12 verwendete Ausdruck auf zwei Weisen verstanden werden kann: Er kann einerseits bedeuten, daß „dieses nun deutlich gewor­ den ist“, nämlich in Bezugnahme auf jene Zeit, in der sich die Komödie von der jambischen Dichtung losgelöst hat. Oder es kann bedeuten, daß „dies unmittelbar deutlich ist“, was heißen würde, daß die Komödie das „Allge­ meine“ in einer deutlicheren Art und Weise als die Tragödie vor Augen führt. Mir scheint die erste Bedeutung naheliegender, da die jambische Dichtung erwähnt wird. Aber wenn jemand die zweite Lesart bevorzugt, wäre dies nur ein weiterer Hinweis dafür, warum Aristoteles gute Gründe hatte, die Komödie hochzuschätzen. Denn das Resultat dieser Passage, auf welche Weise auch immer man sie lesen möchte, ist, daß die Komödie in

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einer Weise „philosophischer und hochwertiger“ ist als die Geschichts­ schreibung, die äquivalent zur Tragödie ist. Aristoteles sagt immer wieder, daß die Komödie eine Nachahmung „schlechterer Menschen“ ist: Muß dies nicht unweigerlich heißen, daß erstens die Komödiendichter auch eine Art „schlechterer Menschen“ sind, und zweitens, daß genauso auch die Zuschauer (oder Leser) von Komödien ebensolche sind? Diese zwei Folgerungen sind besondere Herausforde­ rungen für meine These, da sie genau das wiederzugeben scheinen, was Aristoteles sagt. Nach der berühmten Beschreibung der zwei „naturgegebenen Ursa­ chen“ (s. in diesem Band Kapitel 3: Zur Genealogie der Poesie) der Dich­ tung, beginnt Aristoteles seine Geschichte der Arten von Dichtung, in dem er erklärt: „die Dichtung hat sich nach den entsprechenden Charakteren aufgeteilt: ernsthaftere Menschen ahmten edle Handlungen, das heißt Handlungen edler Personen nach; gewöhnlichere Menschen ahmten Hand­ lungen niederer Personen nach (die letzteren begannen mit der Dichtung von Spottreden, während die anderen Hymnen und Lobpreisungen dich­ teten)“ (1448b24–27). Etwas später fügt er hinzu: „Als die Tragödie und die Komödie aufkamen, wurden diejenigen, die zu einer Art der Dichtung neigten, entsprechend ihrer Natur, Dichter von Komödien (anstatt von Spottversen) oder von Tragödien (statt von Epen)“ (1448b24–27). Aristo­ teles folgt Platon, wenn er diese Dichotomie zwischen den zwei Gattungen einführt und erklärt, daß ein Dichter nur in einer Gattung dichten kann. Aber im Gegensatz zu Platon, der im Ion sagt, der Grund für diese Diffe­ renzierung sei die „Eingebung der Musen“ (534c), „naturalisiert“ Aristo­ teles diese Vorstellung, und besteht auf der natürlichen Verursachung sowohl des Ursprungs der Dichtung (da die Gründe der mimêsis natürlich sind), als auch auf dieser Differenzierung: Es ist die eigentliche Natur des Charakters eines Dichters, welche ihn entweder Tragödien oder Komö­ dien schreiben läßt. Verhält es sich also nicht so, daß Komödiendichter einfach „gewöhn­ liche“ oder „schlechte“ Menschen sind, deren literarische Produkte nicht viel Aufmerksamkeit verdienen, zumindest wenn man, wie es das Publi­ kum von Aristoteles offensichtlich ist, selbst eine edle Person ist? Wenn man diese Folgerung zieht, ergibt sich unmittelbar ein Paradox: Denn Aristoteles sagt genau zwischen diesen zwei Passagen, daß Homer auch der Vorfahr der Komödie ist. Sollten wir daraus die absurde Schlußfolgerung ziehen, daß Homer zugleich eine „gute“ und eine „schlechte“ Person war? Tatsächlich ist man nicht gezwungen, diese Passage auf eine derart einfache „naturalistische“ Weise zu interpretieren. In Kapitel 17 gibt

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Aristoteles für die Konstruktion einer überzeugenden Handlung folgenden Hinweis: „Man sollte außerdem, so weit dies möglich ist, die Handlung ausarbeiten, indem man Gesten verwendet. Denn eine natür­ liche Neigung macht diejenigen am überzeugendsten, die eine Emotion haben: Jemand, der tatsächlich Leid oder Zorn empfindet, stellt Leid oder Zorn am wahrheitsgetreuesten dar. Daher ist die Dichtkunst Sache von Menschen, die von Natur aus begabt oder verrückt sind; erstere sind anpas­ sungsfähig (euplastos), letztere können aus sich heraustreten“ (1455a29 ff.). Was auch immer die Einzelheiten dieser Passage betrifft (insbesondere die Konstruktion des Satzes wird diskutiert, einige Interpreten schlagen „eher begabt als verrückt“ vor), scheint mir doch, daß die „Natur“, welche hier zweimal angesprochen wird, nicht diese naturalistische Bedeutung haben kann, die wir vermeintlich in Kapitel vier vorgefunden haben: Hier beschreibt die „Natur“ des Dichters nicht die Art der Person, edel oder schlecht, die notwendigerweise edle oder schlechte Menschen nachahmen muß, sondern bezieht sich auf die natürliche Gabe, „anpassungsfähig“ zu sein, das heißt in der Lage zu sein, verschiedene und auch gegensätzliche Affekte und Handlungsweisen „nachahmen“ oder „darstellen“ zu können. Ein guter „Nachahmer“ wütender Menschen ist nicht derjenige, der für gewöhnlich wütend ist, sondern derjenige, der solche Emotionen leicht, „natürlich“, darstellen kann. (In Aristophanes’ Thesmophoriazusen stellt der Tragödiendichter Agathon eine ähnliche Behauptung auf, vgl. Vers 149 ff.). Dies liefert uns die Erklärung, warum Homer sowohl als der Vorfahr der Tragödie als auch der Komödie dargestellt werden kann: Er hatte genau diese natürliche Begabung, verschiedene Emotionen darzustellen und allgemeiner verschiedene Menschen oder Charaktere nachzuahmen. Das triff in der Tat zu, wenn wir uns beispielsweise die Ilias anschauen: Wenn wir die mimêsis sowohl von Achilles oder Priamos und Thersites als so kraftvoll empfinden, dann tun wir dies in Aristoteles’ Augen, weil Homer es auf hervorragende Weise versteht, sowohl tapfere als auch schlechtere Menschen darzustellen. Das setzt nicht voraus, daß Homer selbst beiden Personentypen zugleich angehörte. Nun könnte Homer eine Ausnahme gewesen sein, da kein anderer Dichter in der Poetik erwähnt wird, der sowohl Komödien als auch Tragödien geschrieben hat. Aber auch das würde nicht heißen, daß komische Autoren schlechtere Menschen waren: Sie waren einfach nur besser in der Lage, schlechtere Menschen darzustel­ len als edle. Schließlich haben wir noch den Status der Zuschauer (oder Leser). Der Logik der Standardinterpretation zufolge, die ich zurückgewiesen habe, müßten die Zuschauer von Komödien „schlechtere“ Menschen sein. Aber

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Aristoteles sagt das genaue Gegenteil in einer sehr wichtigen Passage der Politik (ich werde auf sie zurückkommen): „Das Gesetz sollte es jüngeren Menschen verbieten, Aufführungen von jambischen Spottversen und Komödien beizuwohnen, bis sie das Alter erreicht haben, in dem es ange­ messen ist, daß sie an Festmahlen teilnehmen und Wein trinken, und in welchem ihre Erziehung sie gegen den Schaden, den sie an solchen Auffüh­ rungen nehmen könnten, immun gemacht hat“ (Pol. VII 17, 1336b20–24). Dies impliziert, daß es „älteren Menschen“, das heißt allen männlichen Bürgern, ohne jede Einschränkung gestattet ist, derartigen Schauspielen beizuwohnen. Aber hier handelt es sich nicht einfach nur um eine deskrip­ tive Aussage über irgendwelche in Athen oder andernorts existierenden Bräuche: Da das Buch VII (zusammen mit VIII) uns eine normative Vision davon anbietet, wie die Jugend in einer idealen Stadt zu erziehen sei, bedeutet dies, daß Aristoteles jambische Spottverse und die Komödie für ein absolut passendes Schauspiel für moralisch gute, erwachsene männliche Bürger in einer perfekten Stadt hält.

4.2 Die Definition von Komödie im Kapitel fünf Es ist nun an der Zeit zu versuchen, die in Kapitel fünf gegebene Definition der Komödie zu erläutern: „Die Komödie ist, wie wir sagten, eine Nach­ ahmung (Darstellung) schlechterer Menschen, – nicht jedoch im Hinblick auf jede Art Makel: Das Lächerliche (to geloion) ist eine Art Häßlichkeit (to aischron). Denn das Lächerliche ist ein bestimmter Fehler (hamartêma) oder ein Anzeichen des Häßlichen (aischos), der keinen Schmerz oder Tod einschließt, wie es im Fall der komischen Maske unmittelbar deutlich ist: Sie ist häßlich (aischron) und verzerrt, aber ohne Schmerz mit einzuschlie­ ßen“ (1449a32–37). Die Hauptschwierigkeit dieser Definition und womöglich auch des allge­ meineren Problems, wie Aristoteles die Komödie gesehen hat, ist es, heraus­ zufinden, was genau Aristoteles mit dem „Lächerlichen“ meint: Müssen wir es auf eine sehr allgemeine Weise verstehen, als eine Gattung, unter die wir verschiedene Arten subsumieren können, oder hat das „Lächer­ liche“ eine wesentlich präzisere Bedeutung? Parallel zu dieser Frage gibt es noch das Problem der besten Komödie: So wie Aristoteles wiederholt von der „besten“ oder „schönsten“ Tragödie spricht (kallistê tragôdia), welche am besten die der Tragödie eigene Funktion erfüllt (das heißt, die Emoti­ onen „Furcht“ und „Mitleid“ hervorzurufen, sowie die spezifische Lust, die paradoxerweise daraus resultiert), stellt sich die Frage: Gibt es eine derart

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„beste Komödie“, welche die der Komödie eigene Lust am besten hervor­ ruft? Auf den ersten Blick sieht es so aus, daß Aristophanes von Aristoteles in hohem Maße geschätzt wurde, der dessen Namen in Analogie zu Sopho­ kles erwähnt, welcher Aristoteles’ liebster Tragödiendichter zu sein scheint (oder zumindest einer seiner liebsten, da er auch von Euripides sehr viel zu halten scheint, wie es insbesondere im Kapitel 14 deutlich wird): „In der einen Hinsicht ist Sophokles die gleiche Art Nachahmer wie Homer, da beide bewundernswerte Menschen nachahmen, in einer anderen Hinsicht aber wie Aristophanes, da beide Handelnde und sich Betätigende nachah­ men“ (3, 1448a25–28). Aber viele Interpreten haben es abgelehnt, dieser Passage ein besonderes Gewicht zu geben, da Aristoteles Aristophanes aus dem einfachen Grund erwähnt haben könnte, daß sein Name sehr bekannt war. Denn in einer Passage der Nikomachischen Ethik bezieht er sich ausdrücklich auf die sogenannte „neue Komödie“ und scheint sie offensichtlich der „alten Komödie“ vorzuziehen, zu welcher Aristophanes gehört. In dieser Passage stellt Aristoteles die Gewandtheit (eutrapelia) als eine Tugend dar, die eine Mitte zwischen dem Possenreißen (bômolochia) und Ungehobeltsein bildet; und verbindet das „Taktgefühl“ (epidexitôtês) mit ihr, in dem er eine Parallele zwischen „alter“ und „neuer“ Komödie zieht: „Taktgefühl gehört zu dieser Verfassung: Es ist charakteristisch für eine taktvolle Person, über solche Dinge zu reden und sie zu hören, die für einen guten und freien Mann passend sind. Denn es gibt einige Dinge, die ein solcher Mensch, auf angemessene Weise, um des Scherzes willen sagen oder hören kann; und der Scherz eines freien Mannes unterscheidet sich von dem eines Sklaven und der einer gebildeten Person von dem eines Ungebildeten. Das kann man auch an den alten und neuen Komödien sehen: Für die früheren Autoren waren häßliche Reden (aischrologia) das Lustige, während es für die späteren eher Anspielungen (hyponoia) waren, was keinen geringen Unterschied in bezug auf den Anstand (euschêmosynê) macht.“ (EN IV 14, 1128a16–25). Da Aristoteles hier anscheinend eine Analogie zwischen der Tugend der „Gewandtheit“ und der „Anspielung“ der „neuen“ (was dem entspricht, was wir die mittlere nennen) Komödie zieht, scheint es evident zu sein, daß er diese Art von Komödie gegenüber der „alten“ bevorzugt hat. Folglich sollte man das, was Aristoteles über die Komödie in seiner Poetik sagt, in Übereinstimmung mit dem verste­ hen, was er über die Tugend der „Gewandtheit“ sagt, und daher versu­ chen, seine Definition der Komödie in Kapitel fünf der Poetik irgendwie mit seiner Bevorzugung der „neuen“ Komödie in Einklang zu bringen. Aber ich denke, diese weitverbreitete Lesart (verteidigt von Bywater und

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Else, unlängst, mit anderen Argumenten von Halliwell 1986, 266–276, und 2008, 307–331, sowie Schmitt 2008, 304–321) ist eine Verführung, der wir widerstehen müssen. Auf einer allgemeinen Ebene gibt es zwei sehr starke Argumente gegen diese Perspektive (welche bereits von Cooper 1924 vorgestellt wurden; vgl. auch Heath 1989). Erstens stellt Aristoteles in seiner Poetik fest, daß „Rich­ tigkeit in der Ethik und der Dichtung nicht dieselbe ist“ (25, 1460b13–14). Es gibt deswegen keinen Grund anzunehmen, daß das, von dem Aristoteles annimmt, es sei in der Ethik oder der realen Welt richtig oder passend, auch im Bereich der Dichtung der Fall sein müßte. Tatsache ist, daß im Gegensatz zu den Annahmen dieser Interpreten Aristoteles in der Nikomachischen Ethik keine Analogie zwischen Ethik und Komödie zieht, sondern seinen Lesern einfach ein klares Beispiel für den Unterschied zwischen „häßlichen Reden“ und „Gewandtheit“ gibt, indem er sich auf diese beiden Arten der Komödie bezieht. Es wird nichts über den Wert gesagt, den Aristoteles diesen zumessen würde, oder über die Präferenz, die er haben könnte. Das zweite Argument entstammt einer bereits erwähnten Passage der Politik (VII 17). Dort akzeptiert Aristoteles ohne Kritik, daß es erwach­ senen männlichen Bürgern gestattet ist, der Aufführung von jambischen Spottreden und Komödien beizuwohnen. Aber das würde sehr eigenar­ tig anmuten, wenn wir die Lesart akzeptieren würden, die zwischen der Gewandtheit und den Anspielungen, dem Humor der „neuen“ Komödie, eine strenge Parallele zieht. Denn wie sollen wir verstehen, daß es den „Freien“ und „Edlen“, wie sie in der Nikomachischen Ethik beschrieben werden, in der Politik, wo sie als gute Bürger einer idealen Stadt dargestellt werden, erlaubt wird, Aufführungen von jambischen Spottreden beizu­ wohnen, die doch voll „häßlicher Reden“ sind? Hieran anschließend möchte ich gegen die Vorstellung argumentieren, daß es im Fall der Komödie verschiedene Arten des Lächerlichen gebe. Denn ich denke, daß die in Kapitel fünf gegebene Definition klar impli­ ziert, daß das Lächerliche im Theater von einer einzigen Gattung ist und alle seine „Arten“ lediglich graduelle Unterschiede sind. Ausgehend von der Standardinterpretation könnte man die gerade zitierte Passage aus der Politik auch so lesen, daß sie bedeutet, daß es Bürgern gestat­ tet ist, Aufführungen jambischer Spottreden, welche gewiß Quellen exzes­ siven Lachens sind, beizuwohnen und ebenso Komödien, welche von einer völlig anderen Gattung sein können. Tatsächlich erlaubt der Text dieses Verständnis nicht. Gewiß macht Aristoteles einen Unterschied zwischen zwei Gattungen von Dichtung, aber, wie ich noch erläutern werde, sind diese zwei Gattungen keine Gegensätze. Wie Aristoteles in genau diesem

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Satz sagt, ist es den Bürgern gestattet, diesen Aufführungen beizuwoh­ nen, vorausgesetzt, „ihre Erziehung [hat] sie gegen den Schaden, den an solchen Aufführungen nehmen könnten, immun gemacht“. Das impliziert, daß diese zwei Gattungen beide schädlich für die Jugend sind, weil sie, wie wir annehmen müssen, die gleiche gefährliche Eigenschaft teilen. Dies ist eine logische Annahme, die sich als wahr erweist, wenn man den Rest der Passage liest, wo Aristoteles erläutert, daß das, was junge Leute zum ersten Mal sehen, sie für den Rest ihres Lebens prägt, und wo er die Schlußfol­ gerung zieht, daß „alles Schlechte (phaulos), besonders wenn es Verdorben­ heit (mochtêria) oder Böswilligkeit (dysmeneia) enthält, der Jugend fremd gemacht werden muß“ (Pol. VII 17, 1336b33–35). Das heißt, sowohl jambische Spottreden als auch Komödien beinhalten Verdorbenheit oder Böswilligkeit, was der Grund dafür ist, daß beide für die Jugend verboten sein müssen. Mit anderen Worten, von der Komödie wird an dieser Stelle nicht angenommen, daß sie die gleiche Art von gewandten Späßen liefert, die Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik befürwortet. Dennoch scheint die Passage in Kapitel vier über den Margites ein sehr zwingendes Argument für die Standardinterpretation zu liefern, die ich infrage stelle. In dieser Genealogie der Komödie, in der der Margites in bezug auf die Komödie die gleiche Rolle spielt, wie die Ilias und die Odyssee in bezug auf die Tragödie, sagt Aristoteles bekanntermaßen, daß Homer „als erster die groben Züge der Komödie entwickelt hat, in dem er nicht das Schändliche, sondern das Lächerliche dramatisierte“ (4,1448b36–37). Nach der Standardinterpretation bedeutet dies eindeutig, daß die durch den Margites „vorgezeichnete“ Komödie ein anderes Konzept des Lachens aufweist als das, was wir in der Spott-Dichtung vorfinden, nämlich das Schändliche. Das der Komödie gemäße Lachen war eine nicht-agressive Art, eben die „Anspielung“, die in der Nikomachischen Ethik befürwortet wird. Aber wie Aristoteles ein wenig später klarstellen wird, ist die Komö­ die (oder der Margites) nicht deswegen dem Schändlichen entgegengesetzt, weil sie ein anderes Konzept des Lachens aufweisen würde, sondern weil sie das „Allgemeine“ und nicht das „Einzelne“ darstellt: „der Gedanke, Handlungen (mythos) zu entwerfen kam ursprünglich aus Sizilien; in Athen begann Krates als erster, allgemeine (katholou) Handlungen zu entwerfen, indem er die Form (idea) jambischer Spottreden aufgab“ (5, 1449b6–9). Hier ist kein Unterschied zwischen zwei verschiedenen Arten des Lachens oder zwei verschiedenen Sinnen von Dichtungsgattungen impliziert. Ganz im Gegenteil: Liest man die gesamten Passage auf natürliche Weise, deutet alles darauf hin, daß der Margites von Aristoteles als in diesem Sinne dem Schändlichen sehr ähnlich gefaßt wird. Denn im Margites wird ebenso

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(zumindest teilweise) das jambische Metrum verwendet, welches so genannt wird, weil „Menschen sich gegenseitig verspotteten (iambizein)“. Und während Aristoteles diese Genealogie des Schändlichen über den Margites hin zur Komödie zusammenfaßt, sagt er: „Als die Tragödie und die Komö­ die aufkamen, wurden diejenigen, die zu einer Art der Dichtung neigten, entsprechend ihrer Natur, Dichter von Komödien (anstatt von Spottversen) oder von Tragödien (statt von Epen)“ (1448b24–27). Wenn man annehmen würde, daß der Margites von völlig anderer Natur sei als die Spottrede, wäre diese Schlußfolgerung sehr seltsam: Denn die komische Dichtung, die dem Epos entspricht (oder genauer: sich aus ihm entwickelt), ist nicht die Spottrede, sondern genau von solcher Art wie der Margites! Aber diese Schlußfolgerung klingt sehr gut, wenn man einmal verstanden hat, daß der Margites genau dieselbe Art jambischer Dichtung ist, oder zumindest, daß beide die Eigenschaft teilen, Spottreden-Charakter zu haben, welcher eine aggressive Art des Lachens hervorruft: Was Aristoteles hier also sagt, ist, daß „teleologisch vollendete“ Dichter nun Komödien und Tragödien anstatt von Epik und Spottgedichten schreiben (sowohl jambische Spottre­ den als auch Gedichte wie den Margites), da diese „großartigere und höher geschätzte Arten der Dichtung“ sind. Und sie sind derartig beschaffen, da sie, wie uns Aristoteles sagen wird, mehr aufs Allgemeine zielen und dank anderer Ausdrucksmöglichkeiten, wie Schauspiel, Tanz und Musik (vgl. Kapitel 26) in der Lage sind, einen sehr viel lustvolleren Effekt auf ihr Publikum zu haben. Wenn wir der Logik unseres Textes folgen, deutet nichts darauf hin, daß die Komödie nun „höher geschätzt“ würde als Spott­ reden, weil sie eine andere Art des Lachens hervorrufen würde. Das zweite Hauptmerkmal der Komödie ist die Ursache des „Lächer­ lichen“: der „Fehler oder das Anzeichen des Häßlichen“. Es ist, wie gesagt, weithin anerkannt, daß diese Ursache des Lächerlichen das Gegenstück zu der berühmten Passage in Kapitel 13 ist, wo Aristoteles wiederholt, daß ein „Fehler“ (hamartia, oder hamartêma) die Ursache der Tragödie ist, das bedeutet die Ursache dafür, daß der „Held“ der Tragödie einen Nieder­ gang vom Glück (eutychia) hin zum Unglück (dystychia) erlebt (s. in diesem Band Kapitel 8: Tragischer Fehler, Menschlichkeit, tragische Lust). Das Problem ist allerdings, daß Aristoteles nie erläutert, worin dieser Fehler genau besteht: Ist es eine moralische Verfehlung? Oder eine falsche Hand­ lung oder Entscheidung? Oder ein intellektueller Fehler? Die meisten Interpreten scheinen heutzutage akzeptiert zu haben, daß hamartia weder als ein feststehendes Konzept verstanden werden kann noch daß es eine ausschließliche Bedeutung hat: Die hamartia ist einfach der Irrtum oder Fehler, welcher Ursache für den tragischen Niedergang des Helden ist.

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Da es keinen Grund gibt, an diesem Punkt keine strikte Parallele zwischen Tragödie und Komödie zu ziehen, schlage ich vor, daß wir die Definition des Lächerlichen (als „ein bestimmter Fehler (hamartêma) oder ein Anzei­ chen des Häßlichen (aischos) der keinen Schmerz oder Tod einschließt“) auf die gleiche Weise verstehen sollten, daß sich hamartêma also wohl eher auf Fehler, im Sinne von falschen Handlungen oder Entscheidungen bezieht, und aischos allgemeiner auf „Makel“ und „Verfehlungen“. Aber was auch immer die genaue Bedeutung des ersten Begriffes ist, so bietet der zweite doch einen weiteren Beleg für meine Interpretation des Lächerlichen. Das Wort aischos, das Häßliche, ist ein sehr seltenes Wort, dem Platon und Aristoteles für gewöhnlich kallos, das Schöne, entgegensetzen. Das Schöne kann, wie es bei Platon explizit der Fall ist, sowohl körperliche als auch „moralische“ Schönheit meinen. Im Fall der Komödie ist es nun eine Tatsache, daß wir in den griechischen Komödien, die wir kennen, beide Bedeutungen finden. Aber die Art des Häßlichen, auf die sich Aristoteles in dem Maskenbeispiel bezieht, ist eindeutig eine körperliche Häßlichkeit: Die Maske ist gewissermaßen die mimêsis eines häßlichen und verzerrten Gesichtes (im Griechischen bezeichnet prosôpon sowohl Gesicht als auch Maske). Dies deutet darauf hin, welche Art des Lächerlichen hier gemeint ist: Sich über ein häßliches Gesicht lustig zu machen, erzeugt ein verächt­ liches Lachen. Wenn wir also die Maske als ein klares Beispiel dafür nehmen, wie das Lächerliche im allgemeinen zu verstehen ist, dann gibt es keinen Zweifel, daß Aggressivität, Verachtung und Geringschätzung hier eine zentrale Rolle spielen. Wie müssen wir nun die Rolle von Aristophanes in diesem Zusammen­ hang verstehen? Die Standardinterpretation hat hier eine Antwort, die sehr einleuchtend zu sein scheint: Wie es in der Passage aus der Nikomachischen Ethik unzweifelhaft der Fall ist, habe Aristoteles die „neue“ Komödie, welche auf eine Art von Anspielung abzielt, der „alten“ Komödie mit ihren häßlichen Reden (aischrologia) vorgezogen. Ich denke, daß Aristoteles genauso wenig eine scharfe Unterscheidung zwischen den beiden Arten der Komödie zieht, wie er zwei Arten des Lächerlichen unterscheidet. Folglich gibt es keinen Grund, Aristophanes von seiner mutmaßlichen Liste der besten Verfasser von Komödien (auf der womöglich auch einige andere standen) zu streichen. Vor allem müssen wir uns klar machen, daß Aristoteles in der Passage der Nikomachischen Ethik, in der er jene Unterscheidung trifft, eigentlich sagt, daß im Fall der „alten“ Komödie „häßliche Reden“ (aischrologia) das Lustige ausmachten, wohinge­ gen es im Fall der „neuen“ Komödie „eher Anspielungen“ (mallon hê hyponoia) waren (1128a23–24). Wenn man den Text so liest, wie er dasteht (im

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Gegensatz zu dem, was die meisten Übersetzungen vorschlagen), dann sagt Aristoteles nicht, daß das, was im Fall der „neuen“ Komödie zum Lachen bringt, allein die Anspielungen anstatt der häßlichen Reden sind – was impli­ zieren würde, daß er zwei Arten des Lächerlichen unterscheidet – sondern, daß sie „eher Anspielungen“ enthält, was bedeutet, daß sie ebenfalls einige „häßliche Reden“ enthält. Womöglich können wir ebenso umgekehrt daraus schließen, daß die „alte“ Komödie auch Anspielungen enthalten hat. Aber das sind in der Tat keine großen Neuigkeiten: Aristophanes selbst beschul­ digt andere Komödiendichter zuviel „Schlechtes (kaka), Vulgäres (phorton) und Possenreißereien (bômologeumata)“ (Der Frieden, Vers 748) in Szene zu setzen. Das soll jedoch nicht heißen, daß einige Stücke von Aristophanes als der „neuen“ Komödie zugehörig angesehen werden sollten (wie es von Schmitt 2008, 308–313 vorgeschlagen wird). Es ist einfach der Fall, daß Aristoteles keine so deutliche Unterscheidung zwischen diesen zwei Perio­ den der Komödie macht. Aber nicht nur das: Tatsächlich stellt Aristoteles hier auch nicht zwei Arten des Lächerlichen einander streng gegenüber. Es ist wahr, daß Aristoteles sagt, daß die „Gewandtheit“ eigentlich die Person, über die sich lustig gemacht wird, nicht verletzen soll, was bei „häßlichen Reden“ augenscheinlich nicht der Fall ist. Aber im Gegensatz zu dem, was überlicherweise gesagt wird, bedeutet dies nicht, daß diese Anspielung vollkommen harmlos wäre, zumindest nach unserem heutigen Empfin­ den. Leider erklärt Aristoteles nicht, worauf genau sich diese Anspielung beziehen soll. In der Rhetorik unterscheidet er aber zwischen „häßlichen Reden“ und Ironie (eirônia), indem er sagt: „Es wurde in den Büchern über die Dichtkunst gesagt, wieviele Arten des Scherzes es gibt. Einige sind der freien Person von Nutzen, andere nicht. Man muß zusehen, daß man solche wählt, die einem von Nutzen sind. Ironie nützt einer freien Person mehr als Possenreißerei“ (III 19, 1419b6–8). Man muß anmerken, daß die Unterscheidung von Sklaven und freien Bürgern auch Teil des Argumentes in unserer Passage aus der Nikomachischen Ethik ist: Auch wenn Ironie nicht synonym mit „Gewandtheit“ ist, ist es doch ziemlich offensichtlich, daß sie ihr sehr nah ist, oder vielleicht ein Teil von ihr. Der Standardlesart folgend, würde dies also bedeuten, daß die Ironie nicht als eine Art von Spottrede oder alberner Kritik gegen Leute verstanden werden sollte. Aber das ist nicht, was Aristoteles sagt; was er explizit und klar in einer anderen Passage der Rhetorik sagt, ist: „Ironie ist etwas Verachtendes (kataphronêtikon)“ (II 2, 1379b31). Es stimmt, daß Aristoteles in dieser Passage der Rhetorik sagt, daß er die verschiedenen Arten des Witzes (griechisch: ta geloia) in seiner Poetik behandelt hätte (das heißt, wie wir annehmen müssen, im zweiten Buch).

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Aber das muß nicht notwendigerweise bedeuten, daß dies verschiedene und entgegengesetze Arten des Lachens oder des Lächerlichen impliziert. Wenn das, was ich bisher gesagt habe, stimmt, dann müssen die verschie­ denen Arten des Witzes unter die Gattung Lachen subsumiert werden, die wesentlich Aggressivität und Verachtung enthält. Die verschiedenen Arten des Witzes entsprechen dann verschiedenen Graden der Aggressivität. Es gibt also keinen Grund anzunehmen, daß Aristophanes, der beide Arten der Verhöhnung verwendet hat, von Aristoteles nicht hoch angesehen wurde.

4.3 Emotionen und Katharsis Es könnte nun so scheinen, als hätte ich bisher eine paradoxe These vertei­ digt: Auf der einen Seite ist das der Komödie eigene Lachen aggressiv und schließt Geringschätzung und Verachtung ein, welche kaum als Tugenden angesehen werden können, die ein moralisch guter Mensch haben sollte. Auf der anderen Seite denkt Aristoteles, daß es lohnenswert ist, Komödien beizuwohnen und dies womöglich moralisch guten Personen empfohlen werden sollte. Wie kann man dieses Paradoxon lösen? Ich möchte vorschla­ gen, daß die katharsis eine Antwort darauf bietet. Die Komödie hat mit der Tragödie sowohl alle sechs „konstitutiven Teile“ gemein, welche in Kapitel sechs (Handlung, Sprache, etc.) aufgezählt werden, als auch die drei „Anforderungen“ (auch „Teile“ im Vokabular von Aristoteles) an eine Handlung (Allgemeinheit, Einheit und Ganzheit). Und sie hat ebenfalls den wesentlichen Zweck eines Theaterstückes mit der Tragödie gemein: die Katharsis bestimmter Emotionen. Aristoteles sagt das in der Definition der Komödie in Kapitel fünf nicht ausdrücklich. Aber er verspricht bekanntlich in der Politik, eine vollständigere Erklärung der künstlerischen Katharsis in seinen „Büchern über Dichtung“ zu geben, was für gewöhnlich als ein Verweis auf unser verlorenes zweites Buch verstan­ den wird. Und abgesehen davon beziehen sich verschiedene antike Quellen ausdrücklich auf eine tragische und eine komische Katharsis (Jamblichos: De Mysteriis, I 11; Proclos: In Platonis Rep. 360; und der Tractatus Coislinianus, siehe unten). Wenn man demzufolge fast sicher sein kann, daß eine Katharsis der Emotionen für Aristoteles der wesentliche Zweck der Komödie sein sollte, ist es doch viel schwieriger herauszufinden, um welche Emotion es dabei gehen sollte, das heißt, welche Emotion genau mit der tragischen Furcht und Mitleid korrespondieren soll. Tatsächlich ist dies das Entmutigendste an jedem Rekonstruktionsversuch von Aristoteles’ Theorie der Komödie:

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Nicht nur, daß Aristoteles im Kapitel fünf nichts über der Komödie eigene Emotionen sagt, sondern wir haben hierfür auch keinen zuverlässigen Hinweis. Es ist wahr, daß der Tractatus Coislinianus eine Möglichkeit anbie­ tet, wenn er die Komödie folgendermaßen definiert: „Eine mimêsis …, die durch Lust (hêdonê) und Lachen (gelôs) die Katharsis solcher Emotionen bewirkt“. Lust und Lachen werden hier also als diese komischen Emoti­ onen präsentiert. Aber wie die meisten Gelehrten behauptet haben (gegen Janko 1984, der dies verteidigt; vgl. auch Fortenbaugh 2003), ist das eine der merkwürdigsten Behauptungen, die wir in diesem Text finden, da wir keinen Text von Platon oder Aristoteles kennen, in dem Lust und Lachen als Emotionen angesehen werden wie Mitleid, Furcht und dergleichen. Da Tränen als ein körperlicher Ausdruck des Mitleides beschrieben werden (besonders von Platon), muß gewiß auch das Lachen der körperliche Ausdruck irgendeiner Emotion sein und nicht selbst eine Emotion. Dennoch scheint mir, wenn meine Interpretation bislang grundsätzlich richtig ist, daß wir bereits das Gerüst entdeckt haben, mit welchem wir, ohne zu unvorsichtig zu sein, rekonstruieren können, was Aristoteles gesagt haben könnte. Denn wenn Aggressivität eine oder sogar die grundlegende und wesentliche Eigenschaft des Lachens in der Komödie ist, kommt man kaum um die Schlußfolgerung herum, daß irgendeine aggressive Emotion, oder Emotionen, die der Komödie eigene(n) Emotion(en) sein muß oder müssen. Und wenn es sich so verhält, wären die naheliegendsten Kandi­ daten entweder (wie von Cooper 1924, 67 vorgeschlagen) Zorn (orgê) und Neid (phtonos), welche in der Rhetorik gemeinsam mit Mitleid und Furcht analysiert werden, oder (wie von Lucas 1968, 288 vorgeschlagen) Hohn und Verachtung. Da wir von Aristoteles selbst keinen Text über diese mutmaßlichen komischen Emotionen haben, wäre es riskant, Genaueres über sie sagen zu wollen. Aber es gibt, möchte ich behaupten, mindestens zwei weitere Argumente, die diese Vorstellung stützen und einige allge­ meine Schlußfolgerungen über Aristoteles’ philosophisches Verständnis von Komödie und ihrer Bedeutung in ethischen Fragen zu ziehen erlau­ ben. Das erste Argument entstammt Platons Philebos, in welchem Sokrates die Mischung von Lust und Schmerz zu erklären versucht (47d–50e). Etwas präziser gesagt, versucht er zu klären, wie und warum wir im selben Moment Lust und Schmerz empfinden können, in dem er auf das komische Lachen als einen Fall verweist, in welchem wir solch eine Mischung erfah­ ren, wie es auch der Fall sei bei „tragischen Aufführungen, wo Menschen zur selben Zeit Lust empfinden und weinen“. Phtonos, Niedertracht oder „Neid“ (die genaue Bedeutung ist umstritten) in der Komödie ist

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hier das Äquivalent zum Mitleid in der Tragödie (Platon sagt hier nicht „Mitleid“, sondern „Bedauern“ (pothos) und „Jammer“ (thrênos), was sich aber auf dasselbe Phänomen bezieht): Dies sind die schmerzhaften Emoti­ onen, deren Erfahrung wir paradoxerweise genießen, wenn wir ins Thea­ ter gehen (oder ein Stück lesen). Die Feinheiten dieses Textes sind sehr schwer zu interpretieren, und leider scheint sich Aristoteles nirgendwo darauf zu beziehen, auch nicht implizit. Aber ich denke dennoch, daß dies keine zwingenden Gründe sind, warum wir zögern sollten, diesen Text zu verwenden, um besser zu verstehen, was Aristoteles über die Emotion(en) gesagt haben könnte, die von einer komischen Handlung hervorgeru­ fen werden. Wir haben schließlich auch keine Hinweise von Aristoteles gegen eine solche Perspektive. Und wenn wir die Tatsache hinzuziehen, daß Aristoteles Platons Beschreibung des Phänomens der Tragödie selbst nie kritisiert (das heißt, die Emotionen und die paradoxe Lust etc.), dann gibt es keinen Grund anzunehmen, daß er dies im Fall der Komödie getan haben sollte. Zudem scheint Sokrates diese der Komödie eigene Emotion darzustellen, als wäre dies selbstverständlich: Protarchos sagt zwar wieder­ holt, daß er nicht verstünde, wie diese Mischung stattfinden könnte, sagt dies aber nie über diese Emotion. Und hierfür gibt es einen sehr guten Grund: Lachen ist bei Homer oder Aristophanes (meistens) ein verächt­ liches und niederträchtiges Lachen über andere Menschen. Da Aristoteles Platons grundlegende Beschreibung der tragischen Emotionen als selbst­ verständlich hinnimmt, ist es nur naheliegend anzunehmen, daß er im Fall der komischen Emotion(en) sehr wahrscheinlich das Gleiche getan hat. Mein zweites Argument bezieht sich auf ein Fragment, das kürzlich auf einem Herculaneum-Papyrus entdeckt wurde, welches den Text von Philodemos’ Über Dichtung enthält: „Dichtung ist etwas Nützliches mit Hinblick auf [Tugend?], in dem sie, [wie] wir sagen, den [zugehörigen?] Teil [der Seele?] reinigt (kathairousa). Es gibt Torheit in den Seelen der Weisesten, Unmäßigkeit in den Maßvollsten. Gleichermaßen gibt es Furcht in den Tapferen und niederträchtige Emotionen (phthonoi) in den Großherzigen …“ (Text von Nardelli 1978 rekonstruiert). Auch wenn kein Autor genannt ist, kann sich dieser Text kaum auf jemand anderen bezie­ hen als auf Aristoteles. Und trotz seiner Schwierigkeiten (im Besonderen die Erwähnung von Torheit und Unmäßigkeit), ist es äußerst bedeutsam, daß phthonos zusammen mit Furcht erwähnt wird. Wenn wir diesen Satz naheliegenderweise auf Tragödie und Komödie beziehen, dann scheint Niedertracht (oder Neid) eine (oder die?) der Komödie eigene Emotion zu sein, ebenso wie Furcht eine der der Tragödie eigenen Emotionen ist. Man könnte der Versuchung widerstehen, diesen Text als ein direktes Zitat des

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Aristoteles zu lesen, da diese Passage auch nur Philodemos’ Interpretation eines eventuell Aristotelischen Textes widerspiegeln könnte. Aber wie auch immer man sich entscheiden wird, scheint es doch sehr deutlich darauf hinauszulaufen, daß wir hier eine Emotion haben, die Aristoteles als eine der Komödie eigene Emotion gesehen haben könnte oder sollte. Ich denke, daß es in unserer Poetik eine Passage gibt, die schwer zu interpretieren ist, wenn wir dieses Gerüst nicht gegenwärtig haben. Am Ende unseres 13. Kapitels sagt Aristoteles: „Dies ist nicht die Lust, die aus der Tragödie resultiert; sie ist mehr derjenigen der Komödie ähnlich. In der Komödie gehen selbst die erbittersten Feinde in einer Handlung, wie Orestes und Aigisthos, am Ende versöhnt von der Bühne, und niemand wird von irgendwem umgebracht“ (1453a35–39). Wie auch immer man den gesamten Kontext hier verstehen möchte, scheint doch die nahelie­ gende Erklärung dieses Beispiels folgende zu sein: Solch eine Komödie (hier vermutlich, wie wir annehmen können, eine Burleske der Tragödie des Orestes) ist unterhaltsam, weil die Zuschauer eine solch schmähliche Tat verachten und darüber lachen können, wie sie von einem „niedereren“ Orestes begangen wird, der sich am Ende mit dem Mörder seines Vaters aussöhnt, anstatt ihn aus Rache zu töten. Da die der Dichtung eigene Lust von den den jeweiligen Dichtungsgenres eigenen Emotionen herrührt, paßt dieses Beispiel sehr gut zu dem, was meine bisherige Analyse uns erwarten ließ: Die der Komödie eigene Lust kommt paradoxerweise durch mimêsis (wie Aristoteles in 8, 1453b12 sagt) von „komischen“ Emotionen, etwa Niedertracht oder (und?) Verachtung oder Hohn zu Stande. Auch wenn sich in der Poetik keine explizite Erwähnung Platons findet, scheint es zweifelsfrei so zu sein, daß Aristoteles die Tragödie gegenüber Platon rehabilitiert hat. Und da Platon die Tragödie aus moralischen Grün­ den verdammt hat, ist es sinnvoll anzunehmen (auch wenn Aristoteles es nicht explizit sagt), daß ihre Rehabilitierung aus genau denselben Gründen stattfindet. Und wie viele Gelehrte seit der Renaissance behauptet haben, ist es auch sinnvoll anzunehmen, daß die Katharsis hier eine zentrale Rolle gespielt hat. Ob in der „Reinigung“ von Mitleid und Furcht, das heißt, sehr verkürzt, als eine Umwandlung dieser Emotionen durch ihre Abmilderung in Tugenden, oder ob als „Befreiung“ von diesen Emotionen, das heißt, als Befreiung von emotionaler Aufgewühltheit – wir können annehmen, daß in Aristoteles’ Augen die Tragödie zwar in der Erziehung der Jugend keine wichtige Rolle spielte, wohl aber in der „andauernden“ moralischen Erziehung der erwachsenen Bürger. Entsprechend der von mir angebote­ nen Lesart schlage ich vor, Aristoteles’ Rehabilitierung der Komödie gegen Platon auf gleiche Weise zu verstehen.

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Platon sagt im dritten Buch der Politeia (388e–389a), daß Homers Werke verbannt werden müßten oder zumindest verbessert, da sie jungen Lesern das Schauspiel von Göttern böten, die bösartig über Menschen lachen und sie auf herbe Art verhöhnen (wie der behinderte Herakles). Weil die Götter (ebenso wie die Homerischen Helden) unsere Vorbilder sein sollten, muß der Jugend verboten werden, solche Geschichten zu lesen. Im zehnten Buch der Politeia (606c) verurteilt Platon die komische Dichtung, weil sie ihre erwachsenen Zuschauer, sogar die moralisch guten, wohl oder übel dazu bringen würde, Possenreißer darzustellen und ebensolche im wirk­ lichen Leben zu werden. In beiden Fällen wird aggressives und verächt­ liches Lachen verurteilt, da die Darstellung solch komischer Charaktere vermieden werden muß, wenn man „gerecht“ oder, allgemeiner, „mora­ lisch gut“ sein möchte. In gleicher Weise wie im Fall der Tragödie könnte Aristoteles’ Antwort folgendermaßen gelautet haben: Komischen Aufführungen beizuwohnen oder komische Stücke zu lesen, ist für (erwachsene) Menschen eine gute Hilfe, entweder ihre eigene Aggressivität zu mäßigen, welche Zorn und Verachtung einschließen kann, oder von ihr befreit zu werden. Übersetzt von Karoline Reinhardt

Literatur Cooper, L. 1924: An Aristotelian Theory of Comedy, Oxford. Fortenbaugh, W. 2003: An Aristotelian and Theophrastean Analysis of Laughter, in: Ders., Theophrastean Studies, Stuttgart, 91–106. Golden, L. 1984 : Aristotle on comedy, in : Journal of Aesthetics and Art Criticism 42, 283–90. – 1992: Aristotle on the Pleasure of Comedy, in: Rorty, A. O. (Hrsg.) Essays on Aristotle’s Poetics, Princeton, 379–386. Halliwell, S. 2008: Greek Laughter, Cambridge. Heath, M. 1989: Aristotelian Comedy, in: Classical Quaterly 39, 244–354. Janko, R. 2002: Aristotle on Comedy, Aristophanes and Some New Evidence from Herculaneum, in : Andersen, O. (Hrsg.), Making Sense of Aristotle’s Poetics, London, 51–72. Nardelli, M. L. 1978: La catarsi poetica nel PHerc. 1581, in: Cronache Ercolanesi 8, 96–103.

5 Christof Rapp

Aristoteles über das Wesen und die Wirkung der Tragödie (Kap. 6)

Kapitel sechs stellt eine wichtige Schnittstelle im Aufbau der Poetik dar: Auf der einen Seite faßt es die bisherigen Ausführungen zum Begriff der mimêsis, zu deren Arten, Mitteln und Gegenständen in eine Definition der Tragödie zusammen (1449b24–28) – diese Definition enthält auch die berühmt gewordene Formel, daß die tragische mimêsis durch die Affekte Mitleid und Furcht eine Reinigung, katharsis, bewirke –, auf der anderen Seite leitet das Kapitel aus dieser Definition der Tragödie die sechs so genannten „Teile“ bzw. Aspekte der Tragödie ab (1449b31–1450a14), die die wesentliche Strukturierung der nachfolgenden Behandlung der Tragödie liefern; diese Aspekte werden im letzten und längsten Teil des Kapitels (1450a15–1450b20) einzeln vorgestellt und hinsichtlich ihres Beitrags zur Gestaltung der Tragödie gewichtet.

5.1 Die Definition der Tragödie Gleich zu Beginn von Kapitel sechs kündigt Aristoteles eine Wesensbestimmung der Tragödie an (horos tês ousias), die sich aus dem bisher Gesagten ergebe (1449b23): „Die Tragödie ist also (i) die mimêsis einer Handlung, (ii) die gut/ ernsthaft/bedeutend (praxeôs spoudaias) und (iii) abgeschlossen (teleias) ist und eine bestimmte Größe aufweist, (iv) in anziehender Sprache – wobei die einzelnen Formen in den verschiedenen Teilen gesondert angewandt werden – (v) und zwar eine mimêsis von Handelnden und nicht eine durch Bericht, (vi) wobei sie durch Mitleid (eleos)

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Christof Rapp und Furcht (phobos) die Reinigung (katharsis) von solchen Affekten bewirkt (perainousa).“ (6, 1449b24–28)

Merkmal (i) führt mit der mimêsis das Gattungsmerkmal aller nachahmenden Künste ein, zu denen auch die Dichtkunst insgesamt gehört. Über die verschiedenen Mittel, Weisen und Gegenstände der Nachahmung, wurde bereits in den Kapiteln 1–3 der Poetik gesprochen. Mit Merkmal (ii) zielt die Definition auf einen spezifischen Unterschied zwischen Tragödie und Komödie: Obwohl der Ausdruck spoudaios verschiedene Bedeutungen haben kann, scheint klar, daß Aristoteles damit den Unterschied zum Gegenstand der Komödie hervorheben will, deren Protagonisten als schlecht (phaulos) beziehungsweise schlechter als der Durchschnitt bezeichnet werden (5, 1449a32–34), während die Protagonisten der Tragödie gerade als spoudaios, das heißt als gut beziehungsweise besser als der Durchschnitt charakterisiert werden. Die Attribute „gut“ und „schlecht“ beziehen sich deutlich auf die Qualität des Charakters; fraglich ist allerdings, ob der Ausdruck spoudaios dieselbe Bedeutung behält, wenn er von der Person auf die Handlung übertragen wird. Da nun die Schlechtigkeit in der Komödie mit dem Lächerlichen in Verbindung gebracht wird, könnte der für die Definition der Tragödie erforderliche Gegenbegriff auch die Ernsthaftigkeit oder Bedeutsamkeit der tragischen Handlung hervorheben wollen. Merkmal (iii) hebt auf die Abgeschlossenheit und die zeitliche Begrenztheit der tragischen Handlung ab, womit ein Unterschied zum Epos benannt werden soll (vgl. 5, 1449b13–14); beide hier benutzten Begriffe, „abgeschlossen (teleios)“ und „eine Größe aufweisend (megethos echôn)“ werden zu Beginn des siebten Kapitels wörtlich aufgegriffen (7, 1450b23–25) und durch die Ausführungen zur Ausdehnung und Einheit der tragischen Handlung in den Kapiteln sieben und acht der Poetik eingehend erläutert. Der im Griechischen sehr knapp formulierte Hinweis auf Merkmal (iv) ist der einzige, der gleich im Anschluß an die Definition von Aristoteles selbst explizit erläutert wird (6, 1449b28–31): In der Tragödie werde rhythmisch und melodisch gesprochen und einige Teile seien nur in Sprechversen, andere dagegen melodisch gestaltet. Somit versteht sich Merkmal (iv) als eine Aussage über die Mittel, durch die die Nachahmung erfolgt, nämlich durch Sprache (hier: logos; ein Aspekt davon ist die Sprachform: lexis), die sich durch Rhythmus, das heißt Versmaß, und Melodie auszeichnet. Außerdem gehört die Tragödie zu den Dichtungsformen, die nicht durchgehend ein einziges Mittel verwenden, sondern abschnittsweise zwischen melodischer und nicht-melodischer Gestaltung wechselt (vgl. auch 1, 1447b27– 28). Merkmal (v) bezieht sich deutlich auf eine zu Beginn von Kapitel drei

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gemachte Unterscheidung zwischen zwei Weisen der mimêsis zurück (3, 1448a20–24): In der einen Weise komme die mimêsis durch einen Bericht zustande, in der anderen Weise hingegen lasse man die handelnden Figuren selbst in dramatischer Darstellung der betreffenden Handlung auftreten. In der Tragödie nun sei Letzteres der Fall; die Genitiv-Formulierung der Tragödiendefinition „(eine mimêsis) von Handelnden (drôntôn)“ wird gleich im Anschluß erläuternd aufgegriffen mit der Formulierung „Weil aber die Handelnden die Nachahmung bewirken …“ (6, 1449b31). Die katharsis-Formel: Bis zu diesem Punkt lassen sich alle genannten definitorischen Merkmale der Tragödie tatsächlich als Anknüpfungen an die Diskussion der ersten Kapitel der Poetik verstehen, allerdings fügt Aristoteles nun mit Merkmal (vi) eine weitere Qualifikation der Tragödie hinzu, die über die bisherige Diskussion hinaus geht und durch diese auch nicht eingeführt oder angebahnt wurde: Die relevante Form von Nachahmung sei eine, die durch Mitleid und Furcht (di’ eleou kai phobou) die katharsis von solchen Affekten (tên tôn toioutôn pathêmatôn) bewirke (perainousa) (6, 1449b27–28). Der Wortlaut der katharsis-Formel „durch Mitleid und Furcht die katharsis von solchen Affekten bewirken“ ist in verschiedenen Hinsichten mehrdeutig und erläuterungsbedürftig: Zunächst ist die Übersetzung des Ausdrucks katharsis selbst Gegenstand von Kontroversen, neben der Grundbedeutung „Reinigung“ wurden auch Übersetzungen wie „Befreiung“, „Entladung“, „Erleichterung“ ins Spiel gebracht. Bei einer „Reinigung“ gibt es in der Regel einen zu reinigenden Gegenstand und eine Form von Verunreinigung; außerdem gibt es in vielen Fällen ein reinigendes Mittel, so wie zum Beispiel die Hände durch Seife vom Schmutz befreit werden, der vergiftete Körper durch Medikamente von Giftstoffen oder der Frevler durch bestimmte Sühnungsrituale von der Schuld oder dem Makel, etc. Was wird nun im Fall der Tragödie wovon und mit welchen Mitteln gereinigt? Die griechische Präposition dia in der Formel di’ eleou kai phobou meint „durch“ und „durch etwas hindurch“, so daß die Affekte Mitleid und Furcht am ehesten die Rolle des reinigenden Mittels spielen. Um diese Rolle spielen zu können, müssen Mitleid und Furcht zunächst einmal durch die Tragödie erregt werden; da die Definition dies stillschweigend voraussetzt, empfinden viele Übersetzer und Kommentatoren die Formel in dieser Hinsicht als elliptisch und ergänzen, daß die Tragödie durch die Erregung von Mitleid und Furcht die Reinigung bewirke oder daß sie Mitleid und Furcht hervorrufe und dadurch die Reinigung bewirke, etc. Schwieriger ist die Frage, was wovon gereinigt werden soll. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, wie wir die Formulierung „die Reinigung von solchen Affekten (tên tôn toioutôn pathêmatôn katharsin)“ verstehen.

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In erster Linie ist es kontrovers, wie der Genitiv „Reinigung solcher Affekte“ beziehungsweise „Reinigung von solchen Affekten“ (griechisch: tôn toioutôn pathêmatôn) zu verstehen ist. Im Griechischen kann hiermit sowohl ein Genitivus objectivus gemeint sein, nach welchem die Affekte das Objekt der Reinigung, also die zu reinigenden Gegenstände, wären, als auch ein Genitivus separativus (im Deutschen eher als „Reinigung von solchen Emotionen“ zu übersetzen), nach welchem die Affekte nicht das Objekt der Reinigung, sondern sozusagen die „Verunreinigung“ wären, von der es einen anderen Gegenstand zu befreien gilt. Beide Auffassungen hatten und haben in der Poetik-Forschung ihre Fürsprecher. Schließlich gibt es Interpreten, die bezweifeln, daß die Formulierung „von solchen Affekten (tôn toioutôn pathêmatôn)“ genau auf Mitleid und Furcht zurückverweisen soll. Hierzu wurde zum Beispiel angeführt, daß ein zielgenauer Verweis auf diese beiden Affekte das Pronomen „diese“ und nicht „solche“ verwenden würde. Dabei wurde die unbestimmtere Referenz in „solche“ entweder so verstanden, daß damit auf „Mitleid, Furcht und andere, ähnliche Affekte“ verwiesen werden soll, oder so, daß damit auf die Reinigung von jedweder Art von Affekten hingewiesen werde. Dieser Einwand ist jedoch nicht wirklich zwingend, weil das griechische „tôn toioutôn“ mit Artikel nicht nur ein unbestimmtes „solcherlei“ ausdrückt, sondern einen durchaus eindeutigen Bezug auf Gleichartiges, hier: die Affekte derselben Art, herstellen kann. Insgesamt geht Aristoteles’ Definition der Tragödie also vom Begriff der mimêsis aus und bestimmt das Spezifische der Tragödie durch den Gegenstand, die Mittel und die Weise der Nachahmung. Außerdem ist die Tragödie dadurch definiert, daß die spezifisch tragische Form der mimêsis eine bestimmte psychologische Wirkung beim Zuschauer auslöst, die Aristoteles zum einen durch die Affekte Mitleid und Furcht, zum anderen als die durch diese Affekte bewirkte katharsis charakterisiert. Mögliche Deutungen der katharsis-Formel, mit der Aristoteles diese Wirkung beschreibt, werden in Abschnitt 5.2 diskutiert.

5.2 Katharsis und die emotionale Wirkung der Tragödie Der „Tragödiensatz“, die Definition der Tragödie in Kapitel sechs der Poetik, schließt eine bestimmte psychologische Wirkung als definitorisches Merkmal mit ein, und diese Wirkung ist in der vieldiskutierten katharsis-Formel ausgedrückt, wonach die tragische Nachahmung durch Mitleid und Furcht die katharsis von solchen Affekten bewirke (6, 1449b27–28). Da

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der Ausdruck katharsis in der Poetik nur ein einziges Mal in dieser Bedeutung verwendet wird und Aristoteles keine weitere Erläuterung dafür gibt, ist es nicht verwunderlich, daß der Begriff der katharsis zum Gegenstand zahlreicher Kontroversen wurde. Der historische Wandel bei der Interpretation des katharsis-Begriffs ist gut dokumentiert (vgl. Halliwell 1986, Appendix 5; Luserke 1991) und kann nicht Gegenstand des vorliegenden Überblicks sein. Methodische Vorbemerkungen: Viele Interpreten glauben die katharsis-Formel dadurch entschlüsseln zu können, daß sie den Gebrauch des katharsis-Begriffs in anderen Bereichen untersuchen, zum Beispiel im Kontext ritueller Sühnung oder Lustration, in der antiken Medizin, wo der Ausdruck besonders die Wirkung von Brech- und Abführmitteln beschreibt, oder im Kontext der Musiktheorie, in welcher, wie Aristoteles in Politik VIII 7 bezeugt, die Wirkung bestimmter Tonarten auf bestimmte Zuhörer als katharsis charakterisiert wird. Die Frage ist allerdings, welche Beweiskraft die Verwendung des Begriffs in Medizin, ritueller Reinigung oder Musik für die Bedeutung bei Aristoteles haben könnte. Aristoteles hat diese Verwendungen gekannt, aber stellt das schon sicher, daß er den Begriff in genau einer dieser Prägungen verwenden will? Und wie weit möchte er dem medizinischen, rituellen oder musikalischen Vorbild folgen? Möchte er sagen, daß die Reinigung genauso funktioniert wie in der Medizin oder Musik? Oder will er sagen, daß die Reinigung dasselbe Ziel verfolgt wie in den genannten Bereichen? Mit alledem begibt sich der Interpret offenbar auf dünnes Eis. Methodisch zuverlässiger ist die Annahme, daß die katharsis nicht den Schlüsselbegriff darstellen kann, aus dem heraus die Tragödientheorie zu entwickeln ist (vgl. Flashar 2007, 178: „In der Rezeption von Lessing bis Schadewaldt ist der Begriff Katharsis mit einem Gewicht belastet worden, das er nicht tragen kann.“), sondern daß umgekehrt die Verwendung des katharsis-Begriffs eine besondere Pointe des Aristoteles darstellt, die aus der Tragödientheorie und anderen verfügbaren Paralleltexten des Corpus Aristotelicum heraus erläutert werden muß. Außerdem beinhaltet die katharsis-Formel („durch Mitleid und Furcht die katharsis von solchen Affekten bewirken“) mehr als nur den katharsis-Begriff. Es geht vielmehr auch darum, daß bestimmte Affekte zunächst einmal durch die Tragödie im Zuschauer stimuliert werden. Und wie dies möglich ist, erhellt nicht oder nicht allein aus dem Begriff der katharsis. Im Gegenteil: Aristoteles verweist mehrmals zurück auf den Gedanken, daß die spezifisch tragische Form der Nachahmung Mitleid und Furcht hervorzubringen bzw. Mitleid- und Furchterregendes nachzuahmen habe (vgl. 11, 1452a38–1452b1; 13, 1452b33), während er den Begriff der katharsis in

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diesem Zusammenhang nicht einmal mehr erwähnt. Im Folgenden versuchen wir daher zuerst festzustellen, was wir über die emotionale Wirkung der Tragödie zuverlässig aussagen können, und wenden uns erst dann der katharsis zu, die offenbar nur einen Teilaspekt innerhalb dieser emotionalen Wirkung beschreibt. Mitleid und Furcht: Mitleid und Furcht gehören für Aristoteles zu der relativ offenen Klasse der Affekte oder Emotionen (griechisch: pathê – für den Kontext der Dichtungstheorie hat sich die Übersetzung „Affekte“ eingebürgert, „Emotion“ und „Affekt“ übersetzen aber denselben griechischen Ausdruck), wozu auch Begierde, Zorn, Mut, Neid, Freude, Wohlwollen, Haß, Sehnsucht, Eifer zu rechnen sind und die stets mit (seelischer) Lustoder Schmerzempfindung verbunden sind (EN II 4, 1105b21–23). Die verschiedenen Arten von Affekten stellen Reaktionen auf unterschiedliche Anlässe und Personen dar und variieren je nach Verfassung der betroffenen Person. Aristoteles individuiert und definiert die verschiedenen Affekte daher nicht (oder nicht primär) unter Bezugnahme auf eine gefühlte Qualität oder eine körperliche Veränderung, sondern unter Bezugnahme auf die Art von Anlaß und Gegenstand, die einen Affekt auslöst. Über den Affekt des Zorns zum Beispiel sagt er, er sei ein mit Schmerz verbundenes Streben nach einer Vergeltung für eine erlittene Herabsetzung durch eine Person, der ein solches herabsetzendes Verhalten nicht zusteht (vgl. Rhet. II 2, 1378a31–33). Da auch andersartige Affekte mit einem Gefühl des Schmerzes verbunden sind, stellt der spezifische Anlaß des Zorns bzw. der Gegenstand, auf den sich der Zorn richtet (nämlich der besondere Akt der Herabsetzung durch jemandem, dem dies nicht zustand), den definierenden Unterschied des Zorns zu anderen Emotionen dar. Ähnlich verhält es sich nun auch bei Mitleid und Furcht. Mitleid definiert Aristoteles in der Rhetorik als „eine Art von Schmerz aufgrund eines vermeintlichen Übels, das verderblich oder schmerzlich ist, bei jemandem, der es nicht verdient hat, daß ihm derartiges widerfährt, und von dem man erwarten kann, daß man es selbst oder einer der Seinigen erleidet, und dies ist der Fall, wenn es nahe scheint“ (Rhet. II 8, 1385b13–16). In der Poetik findet sich zwar keine ähnlich ausführliche Definition, grundsätzlich bestätigt Aristoteles aber auch hier, daß sich Mitleid im Hinblick auf solche Personen einstellt, die unverdientermaßen Unglück erleiden (13, 1453a3–4). Furcht wird in der Rhetorik als „eine Art von Schmerz oder Beunruhigung“ definiert, die „aus der Vorstellung eines bevorstehenden verderblichen oder schmerzlichen Übels“ (Rhet. II 5, 1382a21–22) herrührt. Im selben Zusammenhang führt Aristoteles aus, daß wir uns dann fürchten, wenn wir sehen, daß uns ähnliche Personen ein entsprechendes Übel erlitten haben, weil wir

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dann bemerken, daß wir auch selbst von einem solchen Übel betroffen sein könnten (Rhet. II 5, 1383a10–12). In der Poetik hebt Aristoteles entsprechend hervor, daß sich Furcht im Hinblick auf solche Figuren der Tragödie einstellt, die dem Zuschauer ähnlich sind (13, 1453a5–6). So wie wir also Zorn empfinden, wenn wir der Meinung sind, daß uns eine bestimmte Art von Herabsetzung widerfahren ist, so empfinden wir Mitleid in Anbetracht eines unverdienten Unglücks und Furcht in Anbetracht von Leid, das einer uns ähnlichen Person widerfährt. Diese Art, die Affekte zu individuieren, hebt also auf die enge Verbindung zwischen unseren Meinungen, Urteilen, Überzeugungen auf der einen und unseren Affekten auf der anderen Seite ab. Welche Formen diese Verbindung bei Aristoteles annimmt, ist nicht leicht zu sagen, in jedem Fall muß Aristoteles eine gewisse „Kovarianz“ von Meinungen und Affekten annehmen: Wenn wir der Meinung oder der Auffassung sind, daß uns ein bestimmtes Übel betreffen könnte, dann fürchten wir uns, wenn wir zu der Auffassung kommen, daß diese Bedrohung nicht mehr besteht, dann läßt unter normalen Umständen auch die Furcht nach, usw. Affekte in öffentlicher Rede und im Theater: Aristoteles’ Ausführungen zur Natur der Emotionen oder Affekte machen nun auch unmittelbar deutlich, wie es gelingen kann, solche bei anderen Menschen, zum Beispiel bei den Zuhörern öffentlicher Reden oder den Zuschauer einer Theater­ aufführung gezielt zu beeinflussen. Wenn wir wissen, durch welche Art von Anlaß oder Situation ein bestimmter Affekt zustande kommt, dann müssen wir den Zuhörer oder Zuschauer dazu bringen zu glauben oder zu meinen, daß ein solcher – furchteinflößender oder mitleidserweckender – Anlaß besteht, um einen entsprechenden Affekt auszulösen. Der Zugriff, sozusagen, auf die Affekte anderer erfolgt in diesem Fall vermittels des Einflusses auf deren Meinungen, Überzeugungen, Wahrnehmungen, etc. Am ausführlichsten äußert sich Aristoteles zu diesem Verfahren in der Rhetorik, weswegen wir zuerst mit der Affekterregung in der öffentlichen Rede beginnen, um dann auf die spezifische Situation in der Tragödie überzugehen: Um einen bestimmten Affekt wie zum Beispiel den Zorn zu erzeugen, so führt Aristoteles dort aus (Rhet. II 1, 1378a24–28), müsse man wissen, in welchem Zustand sich die Zürnenden befinden, wem sie zürnen und aufgrund welcher Dinge. Der Rhetor, der den Zorn des Publikums auf den Gegner lenken will, muß daher ausführen, daß das Publikum einen guten Grund oder Anlaß hat, dieser Person zu zürnen (zum Beispiel weil er herablassend gehandelt hat), daß der Gegner den Zorn verdient (zum Beispiel weil er sich eine solche Handlungsweise eigentlich nicht erlauben dürfte) und daß das Publikum sich eine solche Handlungsweise nicht

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bieten lassen muß. Entsprechend verhält es sich bei anderen Affekten: Um dem Publikum Furcht einzuflößen, muß man zeigen, daß ein bedrohliches Unheil nahe bevorsteht, daß schon andere ähnliche (oder sogar stärkere) von diesem Unheil betroffen waren und daß keine Hilfsmittel gegen dieses Unheil zur Verfügung stehen. Die Situation im Theater verhält sich zum Teil ähnlich, zum Teil unähnlich. Die Unähnlichkeit besteht darin, daß die Tragödie anders als die öffentliche Rede die für sie typischen Affekte Mitleid und Furcht nicht dadurch erregt, daß jemand etwas sagt bzw. mit Worten und Argumenten aufzeigt (obschon natürlich auch die tragischen Protagonisten in einem bestimmten Sinne Reden halten). Die entscheidende emotionale Wirkung der Tragödie muß sich aus der Handlung und dem Handlungsablauf (mythos), bzw. aus der Nachahmung der betreffenden Handlung allein ergeben (vgl. 19, 1456b4–8). Das ist ein entscheidender Grundsatz der Aristotelischen Tragödientheorie (14, 1453b3–6). Die der Tragödie eigentümliche emotionale Wirkung müsste sich sogar dann einstellen, wenn man ganz ohne Aufführung und Chor die Handlung einfach vorträgt. Dennoch besteht eine wichtige Ähnlichkeit zur Situation in der Rhetorik bzw. in der öffentlichen Rede: Wer nämlich die Natur von Mitleid und Furcht kennt und daher weiß, was man sagen muß, um Mitleid und Furcht zu erregen, der weiß auch, wie ein Handlungsablauf konstruiert sein muß, damit er eben diese Affekte beim Zuschauer auslöst. Diese Analogie hebt Aristoteles hervor, wenn er sagt: „Offensichtlich muß man auch bei den Geschehnissen (en tois pragmasin) von denselben Verfahren Gebrauch machen (apo tôn autôn ideôn), wenn man sie als mitleiderregend oder furchterregend usw. hinstellen will.“ (19, 1456b2 f.) „Dieselben Verfahren“ sind dieselben wie die, die Aristoteles in der Rhetorik zum Thema der Emotionserregung angeführt hat (vgl. Rapp 2007, 160–163). Das heißt, man muß auch für die Komposition einer tragischen Handlung gleichfalls wissen, gegenüber welchen Personen man Mitleid und Furcht empfindet, aufgrund welcher Anlässe man es tut und in welchem Zustand man sich dafür befinden muß. Der Unterschied besteht lediglich darin, wie Aristoteles selbst hinzufügt (19, 1456b5), daß man bei der tragischen Handlung, den „Geschehnissen“, dieselbe Wirkung ohne didaskalia erzielen muß, das heißt, ohne daß man sagt oder zeigt, daß zum Beispiel eine Person unser Mitleid verdient. Wie genau der Tragödiendichter dies zu bewerkstelligen hat, zeigt Aristoteles in seinen Ausführungen zur tragischen Handlung (mythos) und zu den Charakteren, hierzu besonders einschlägig sind die Kapitel 13 bis 14.

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Zwischenresümee: Die Handlung einer Tragödie muß daher so komponiert sein, daß der Zuschauer allein aufgrund der Darstellung der Handlung das Dargestellte als mitleid- oder furchterregend einschätzt und so zu den entsprechenden Affekten gelangt. Den zugrunde gelegten Definitionen von Mitleid und Furcht entsprechend gehen in die Einschätzung des Zuschauers zum Beispiel Auffassungen darüber ein, ob das dargestellte Unglück den Protagonisten verdientermaßen oder unverdientermaßen trifft oder ob der Protagonist grundsätzlich dem Zuschauer ähnlich ist oder nicht, und hierfür wiederum kommt es auf eine Beurteilung des Charakters der dargestellten Personen an. Zur Erklärung der tragischen Affekte Mitleid und Furcht braucht man deshalb weder auf medizinisch-somatische Aspekte dieser Affekte noch auf die Wirkung von Musik (s. u.: Katharsis in Politik VIII 7) und ähnlichem zurückgreifen. Damit ist die Wirkung der Tragödie jedoch erst zur Hälfte beschrieben, nämlich soweit es die Erregung oder Stimulierung von Mitleid und Furcht betrifft; Aristoteles bestimmt die eigentümliche Wirkung der Tragödie aber außerdem durch die katharsis von diesen Affekten, welche – prosaisch gesprochen – entweder auf eine reinigende Umformung dieser Affekte oder eine Auflösung oder Überwindung derselben Affekte hinauslaufen muß (zu der Frage, ob der Begriff der katharsis neben dieser prosaischen Bedeutung noch weitere Anspielungen enthält, vgl. Rapp 2007, 169–172). Die folgenden Absätze erklären die katharsis unter Rückgriff auf das Theorem der tragischen Lust. Katharsis und tragische Lust: In Kapitel 14 der Poetik führt Aristoteles den Begriff eines für die Tragödie spezifischen Wohlgefallens beziehungsweise einer spezifisch tragischen Lust ein: „Man darf nämlich nicht jede Art von Lust (hêdonê) durch die Tragödie herbeizuführen suchen, sondern nur die ihr eigentüm­ liche. Weil aber der Dichter diejenige Lust hervorbringen soll, die von Mitleid und Furcht herrührt und durch Nachahmung bewirkt wird, ist offensichtlich, daß dies in den Geschehnissen selbst angelegt sein muß.“ (14, 1453b10–14) Daß die Tragödie irgendeine Art von Lust, Vergnügen oder Wohlgefallen auslöst, wird hier als selbstverständlich vorausgesetzt – offenbar soll es sich um ein Phänomen handeln, das dem Leser der Poetik beziehungsweise dem Zuschauer der Tragödie wohlbekannt ist. Die Frage ist nur, welche Art von Lust der Tragödie gemäß ist. Die Antwort, die das obige Zitat gibt, ist die, daß es sich um eine Art von Lust handeln muß, die erstens vermittels einer Nachahmung (mimêsis) zustande kommt und die zweitens irgendwie von

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genau den beiden Affekten herrührt, die in der Tragödiendefinition genannt wurden und auch zwischen der Tragödiendefinition in Kapitel sechs und der Einführung der tragischen Lust in Kapitel 14 immer wieder als spezifische Wirkung der Tragödie hervorgehoben wurden (11, 1452b1; 13, 1452b32–33), nämlich von Mitleid und Furcht. Grundsätzlich kann sich die tragische Lust entweder gleichzeitig mit den tragischen Affekten Mitleid und Furcht einstellen, oder erst nachträglich. Im ersteren Fall müßte erklärt werden, wie die Affekte Mitleid und Furcht, welche Aristoteles zufolge explizit mit Schmerz verbunden sind, zur selben Zeit lustvoll sein können. Aristoteles kennt durchaus das Phänomen „gemischter Gefühle“: Obwohl der Zorn mit Schmerz über die erlittene Herabsetzung verbunden ist, empfindet man Lust beim Gedanken an die bevorstehende Vergeltung (Rhet. II 2, 1378b1–2). Bei Mitleid und Furcht ist eine solche Mischung aber nicht vorgesehen. Vor diesem Hintergrund ergeben sich verschiedene Möglichkeiten: Im richtigen Leben sind Mitleid und Furcht schmerzlich, Aristoteles könnte nun aber meinen, daß sich Theater-Mitleid und Theater-Furcht anders verhalten, weil man weiß, daß es sich um keine wirklichen Unglücksfälle handelt. Andererseits soll die mimêsis sowie die wahrscheinliche Verknüpfung von Handlungssträngen gerade durch eine glaubhafte Darstellung von Lebenswirklichkeit die tragischen Affekte bewirken. Man müßte daher gewissermaßen zwei Ebenen der Zuschauerreaktion unterscheiden: eine Ebene, auf der er tatsächlich Schmerz empfindet, und eine andere Ebene, auf der er sich sagt, daß dies alles nur dargestellt ist, und dadurch Lust empfinden kann. Mit Bezug auf Letzteres ist in der Tat bemerkenswert, daß in Kapitel vier der Poetik auch die mimêsis von häßlichen Tieren oder sogar von Leichen als angenehm bezeichnet wurde, weil wir uns allgemein an Produkten der Nachahmung erfreuen. Dies scheint nun einerseits auch eine attraktive Erklärung für die tragische Lust, besonders weil sie auch den Hinweis, daß die tragische Lust vermittels einer mimêsis zustande kommt, gut integrieren kann. Andererseits wäre diese Art von Lust genau genommen aus allgemeinen Effekten der mimêsis und nicht aus den Affekten Mitleid und Furcht heraus zu erklären, während die Formulierung „aus Mitleid und Furcht herrührend (apo eleou kai phobou)“ verlangt, daß Mitleid und Furcht in einem kausalen Verhältnis zu der tragischen Lust stehen und das Spezifikum dieser Lust ausmachen sollen. Die allgemein mit der mimêsis verbundene Lust allein kann daher das Phänomen der tragischen Lust nicht oder nicht vollständig erklären. Die Formulierung „aus Mitleid und Furcht herrührend“ gibt außerdem einen gewissen Anhaltspunkt für die Auffassung, daß die tragische Lust erst

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nachträglich auf die Empfindung von Mitleid und Furcht folgt. In diesem Fall böte sich folgende Erklärung an: Daß die Auflösung eines schmerzlichen Zustandes als lustvoll empfunden wird, ist ein Theorem, das tief in den antiken Lusttheorien verwurzelt ist und für das nicht ausdrücklich argumentiert werden muß: Wenn Durst ein schmerzlicher Zustand ist, ist das Trinken, das diesem Zustand ein Ende bereitet, an sich lustvoll. Ein solcher Zusammenhang ist vor allem in Platons Philebos präsent, findet sich aber auch in Teilen der Aristotelischen Lusttheorie (z. B. Rhet. I 10). Wenn die Auflösung eines schmerzlichen Zustands lustvoll ist, und Mitleid und Furcht schmerzlich sind, dann wäre deren Auflösung eine gute Erklärung für das Zustandekommen der spezifisch tragischen Lust und es wäre zugleich erklärt, inwiefern diese Lust durch Mitleid und Furcht (genau genommen: durch die durch mimêsis erzeugten Episoden von Mitleid und Furcht) spezifiziert werden kann. In der Tragödiendefinition hieß es, daß die tragische mimêsis durch Mitleid und Furcht eine katharsis bewirke; wenn nun die tragische Lust aus den durch mimêsis erzeugten Episoden von Mitleid und Furcht resultiert und ebenso wie die katharsis den für die Tragödie typischen Effekt beschreiben soll, dann scheint klar, daß katharsis und tragische Lust aufs Engste miteinander verknüpft sein müssen. Nimmt man an, daß die tragische Lust ein Phänomen ist, das – im weitesten Sinn gesprochen – eine Umformung oder Auflösung der tragischen Affekte Mitleid und Furcht voraussetzt, dann läuft es darauf hinaus, daß die in der Tragödiendefinition erwähnte katharsis, die ja denselben, für die Tragödie typischen Effekt beschreiben soll, entweder diesen Umformungs- oder Auflösungsprozeß selbst oder das Resultat aus diesem Prozeß, das heißt die resultierende Lust, bezeichnen muß. Zugunsten der zweiten, resultativen Lesart spricht der Wortlaut der katharsis-Formel „eine katharsis bewirken (perainousa)“ (s. o., 5.1), in welcher das Partizip perainousa wörtlich das „Zum-Ziel-Bringen“ einer Sache meint. Demnach wäre die katharsis das Resultat einer Umformung oder Auflösung der tragischen Affekte Mitleid und Furcht, ein Resultat, von dem wir durch die Hinweise zur tragischen Lust wissen, daß es auf eine typische Weise als angenehm empfunden wird. Eine ähnliche Verbindung von katharsis, Lust und der Umformung oder Überwindung emotionaler Zustände findet sich auch in einem Kapitel der Aristotelischen Politik, für das sich die Interpreten der Poetik schon immer interessiert haben, jedoch mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen: Katharsis in Politik VIII 7: In diesem Kapitel befaßt sich Aristoteles im Rahmen seiner Überlegungen zur Erziehung mit der Wirkung der Musik. Er referiert überwiegend zustimmend die Auffassungen bestimmter Musik­

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theoretiker, die die Melodien in ethische, praktische und ekstatische eingeteilt haben sollen. Wert legt Aristoteles auf die Feststellung, daß die Musik für unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden kann, zum Beispiel für die Erziehung, für die Entspannung und für die Reinigung (katharsis). Im Hinblick auf die unterschiedlichen Zwecke seien die Melodien und Tonarten unterschiedlich einzusetzen. Bei der Behandlung bestimmter Melodien spricht Aristoteles von solchen Menschen, die leicht in starke Erregungszustände geraten, zum Beispiel unter dem Einfluß von Mitleid, Furcht oder Ekstase. Wir könnten nun beobachten, sagt Aristoteles, wie solche Menschen unter dem Einfluß bestimmter „heiliger Melodien“ zur Ruhe kommen „als ob sie eine medizinische Behandlung (iatreia) und eine katharsis empfangen hätten“ (Pol. VIII 7, 1341b10–11). Die katharsis ist hier mit der Beendigung des Erregungszustandes verknüpft und wird durch eine bestimmte Art von Melodie bewirkt. Aristoteles schließt dann einen Exkurs über eine allgemeine Erfahrung an, die wir machen, wenn eine emotionale Erregung zur Beruhigung kommt und lenkt am Ende dieses Exkurses zur Musik zurück: „Das Gleiche muß auch denen widerfahren, die für Mitleid, Furcht und überhaupt für Affekte empfänglich sind, und allen anderen in dem Maße, in dem jeder dafür empfänglich ist: Sie alle müssen eine Art von Reinigung (tina katharsin) und eine mit Lust/Freude verbundene Erleichterung (kai kouphizesthai meth’ charan) erfahren. In gleicher Weise bringen auch die kathartischen Melodien eine unschädliche Lust/Freude.“ (Pol. VIII 7, 1342a11–16) Wieder wird die Befreiung von bestimmten emotionalen Zuständen thematisiert, wieder stehen die Affekte Mitleid und Furcht an vorderster Stelle und wieder wird der Effekt als eine katharsis beschrieben. Die Formulierung „eine Art von Reinigung und eine mit Lust verbundene Erleichterung“ (kouphizesthai meth’ charan) ist interessant, weil hier der Begriff der katharsis in nächster Nähe zum Phänomen einer lustvollen Erleichterung steht. Da das griechische Wort für „und“ (kai) auch erläuternd verwendet werden kann, ist sogar denkbar, daß der zweite Begriff, der der lustvollen Erleichterung, den ersten, den der katharsis, nur näher erläutern soll. Wäre das der Fall, dann würde Aristoteles das Zur-Ruhe-Kommen nach einer Phase der emotionalen Erregung als eine katharsis beschreiben und dieser einen lustvollen Charakter zuschreiben, wobei die lustvolle Qualität durch das Phänomen der Erleichterung erläutert würde. Lassen sich daraus irgendwelche Rückschlüsse auf die tragische katharsis ziehen? Zunächst gilt es, eine wichtige Disanalogie festzuhalten: Der

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Effekt der Tragödie soll primär durch die Handlung und nicht durch die musikalischen Elemente zustande kommen; insofern läßt sich die Wirkweise der Musik nicht direkt auf die Situation in der Tragödie übertragen. In Anbetracht der wenigen aussagekräftigen Belegstellen für katharsis bei Aristoteles ist es aber aufschlußreich zu beobachten, daß Aristoteles in Politik VIII in einem ähnlich psychologischen Kontext den Ausdruck katharsis ganz unbefangen für die Beschreibung der lustvollen Erleichterung benutzt, die aus der Überwindung eines emotionalen Zustandes folgt. Daß dabei als Beispiele auch noch die aus der Tragödie bekannten Affekte angeführt werden, bestätigt außerdem, daß es sich hierbei um ein zumindest ähnliches Assoziationsfeld handelt. Ob man aus alledem schon schließen kann, daß es sich auch bei der tragischen katharsis um die Erleichterung handelt, die aus der Auflösung der tragischen Affekte resultiert, ist fraglich, da natürlich auch die bloße Umformung eines heftigen, übertriebenen oder schmerzlichen Erregungszustandes in eine Art von Erleichterung münden könnte (und da die Situation in Politik VIII 7 ohnehin keine zwingenden Schlüsse auf die Poetik zuläßt). Immerhin aber geht aus Politik VIII 7 klar hervor, daß Aristoteles den Begriff katharsis ganz voraussetzungslos und wie selbstverständlich für die Beschreibung einer Erleichterungs­erfahrung einsetzen kann, daß diese Erleichterung aus einem emotionalen Erregungszustand resultiert und daß sie außerdem lustvoll ist. Alles dies würde die Situation in der Tragödie genau treffen; schenkt man diesen Parallelen Gewicht, dann wäre die tragische katharsis im Wesentlichen eine solche lustvolle, aus den Episoden von Mitleid und Furcht hervorgehende Erleichterung. Umwandlung oder Auflösung – Reinigung oder Befreiung? Die katharsisFormel „Reinigung von solchen Affekten (tôn toioutôn pathêmatôn)“ kann entweder (s. o., 5.1) die Auflösung bzw. die Befreiung von solchen Affekten (im Sinne eines Genitivus separativus) oder eine Form der Umwandlung bzw. Reinigung solcher, nach der Reinigung weiter bestehender Affekte (Genitivus objectivus) bedeuten. Bislang wurde keine Entscheidung zwischen diesen beiden Lesarten getroffen, obschon die Erörterung der tragischen Lust und die in Politik VIII beschriebene Erleichterung eher auf die Auflösung und damit auf die separative Lesart einer Befreiung von einem emotionalen Zustand hindeuteten. Diese Hinweise zugunsten einer separativen Deutung werden unterstützt durch verschiedene Schwierigkeiten, die sich für die alternative Auffassung ergeben, die Affekte seien das Objekt einer Reinigung: Vor allem fragt sich bei der Annahme eines Genitivus objectivus, warum die Affekte oder Emotionen aus Aristotelischer Sicht überhaupt einer

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Reinigung bedürfen bzw. wovon sie überhaupt gereinigt werden sollen, da Aristoteles in seiner Ethik – anders als zum Beispiel die Stoiker – die Affekte als solche nicht als etwas Schlechtes oder Schädliches ansah und daher auch nicht als „verunreinigt“ angesehen haben dürfte. Die fast einhellige Antwort, die die Anhänger der Genitivus objectivus-Lesart darauf geben, ist die, daß für Aristoteles nicht der Affekt als solcher, jedoch der überzogene oder schädliche Affekt gemäß seiner Lehre von der richtigen Mitte als eine solche „Verunreinigung“ gelte, die im Zuge der katharsis behoben werde: Nach vollzogener katharsis sei der Zuschauer zwar nicht von den Affekten, aber von deren schädlichem Übermaß befreit. Da die Lehre von der richtigen Mitte und der Falschheit der exzessiven Affekte für Aristoteles zur Frage nach den Tugenden und damit zum Bereich der Moralphilosophie gehört, legen sich die entsprechenden Deutungen darauf fest, daß die Einführung des katharsis-Begriffs einen unmittelbar moralpädagogischen Hintergrund haben muß, insofern die katharsis die Reinigung von dem aus moralischer Sicht problematischen Übermaß an Affekten darstellen und den betroffenen Zuschauer dadurch zu einem besseren oder tugendhafteren Menschen machen soll. Auf der Grundlage dieses allgemeinen Deutungsmusters haben sich teils simplere, teils komplexere Varianten der katharsis-Deutung ausgebildet. Eine sehr geradlinige und einflußreiche Deutung dieses Typs gab Gotthold Ephraim Lessing: Die Reinigung von den Extremen verwandle die Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten. Hierzu ließe sich einiges sagen: So läßt sich zum Beispiel deutlich besser von einer Reinigung des schädlichen Zuviel als von einer Reinigung des Zuwenig sprechen; Letzteres gehört aber nicht weniger zu Aristoteles’ Lehre von der rechten Mitte als das Zuviel. Sodann stellt für Aristoteles die richtige oder mittlere Affektlage als solche noch nicht den tugendhaften Zustand dar, die affektiven Reaktionen sind für Aristoteles vielmehr deshalb von Bedeutung, weil sie die richtigen Einstellungen zu einer Handlungsweise anzeigen, und die richtige Einstellung gewinnt man durch längerfristige Erziehung und Ausübung der richtigen Handlungsweisen und nicht dadurch, daß wir einmalig oder gelegentlich in den angemessenen affektiven Zustand versetzt werden. Einwände wie diese treffen vor allem die einfacher gestrickten Deutungen, aber auch subtilere Varianten der These von der Reinigung der übermäßigen bzw. unangemessenen Affekte bringen Probleme mit sich, wie etwa die folgenden: Was genau ist es eigentlich, das im Zuge der katharsis gereinigt wird: die episodischen Affekte, die nur durch die tragische Handlung stimuliert werden, oder die längerfristigen affektiven Einstellungen und Disposi­ tionen? Im ersteren Fall wäre durch eine solche Reinigung nicht viel gewon-

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nen, denn diese Affekte enden spätestens mit dem Schluß der Aufführung sowieso, die letzteren können aber nicht gemeint sein, denn die Tragödien­ definition bezieht die katharsis genau auf die durch die Tragödie stimulierten Affekte, die affektiven Dispositionen können aber nicht durch die Tragödie hervorgebracht werden. Außerdem weisen gerade die anspruchsvolleren Deutungen dieses Typs darauf hin, daß die Aristotelische Lehre von der richtigen Mitte nicht in einem simplen quantitativen Sinn, sondern aufgrund der Angemessenheit der Affekte für den individuellen Handelnden in einer bestimmten Situation zu verstehen ist. Dieser Sinn von Richtigkeit der affektiven Reaktion läßt sich bei der recht verstandenen Lehre von der Mitte deshalb nur relativ zu der handelnden Person bestimmen. Im Theater ist der Zuschauer jedoch überhaupt kein Handelnder, für ihn stellen sich keine praktischen Entscheidungen, und weil er nicht in die Handlung mit einbezogen ist, gibt es für ihn auch keinen Maßstab des Richtigen. Daher bleibt es unbestimmt, welches für ihn – im Sinne der Tugendlehre – das richtige Maß an Affekten wäre. Eine Erklärung, die davon ausgeht, daß es sich bei der tragischen katharsis um eine Reinigung von Affekten derart handelt, daß dabei ein im Sinne der Aristotelischen Tugendlehre schlechterer affektiver Zustand in einen besseren bzw. guten Zustand umgewandelt wird, muß daher von einigen recht problematischen Annahmen Gebrauch machen; bestünde ein solcher enger und direkter Zusammenhang zwischen der Wirkung der Tragödie und dem Prozeß, der zu den tugendhaften Affekten führt, dann müßte man außerdem erwarten, daß Aristoteles auch den letzteren Prozeß in moralphilosophischen Zusammenhängen mit einer Reinigung in Verbindung bringen würde, was er aber nirgendwo tut. Insofern kann man sagen, daß die konkurrierende, separative Lesart, die die katharsis als einen mit der Auflösung oder Überwindung eines affektiven Zustandes verbundenen Effekt versteht, zumindest wenigerer Zusatzannahmen bedarf und in diesem Sinn exegetisch plausibler ist. Die separative Lesart und die moralpädagogische Relevanz der Tragödie: Gegen die separative Lesart wurde nun wiederum eingewandt, sie unterschätze die Nähe der Aristotelischen Tragödientheorie zur Aristotelischen Ethik, wie beispielsweise zum Begriff der Handlung (praxis), der Vorstellung von guten und schlechten Charakteren, von verdientem und unverdientem Glück, usw., insofern sie lediglich auf den Effekt einer Erleichterung hinauslaufe (was teils als zu banal, teils als „bloß somatisch“ eingeschätzt wurde). Hier gilt es nun aber, verschiedene Dinge auseinanderzuhalten: Daß die Tragödientheorie mit bestimmten Grundbegriffen der Aristotelischen Ethik operiert, ist sicherlich wahr. Daß der Nachvollzug der tragischen Hand-

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lung und das Wechselbad der Gefühle, das der Zuschauer dabei erlebt, irgendeinen Einfluß auf die Weise hat, wie er im richtigen Leben Handlungsoptionen beurteilt und wie er auf diese affektiv bezogen ist, ist gut möglich. Grundsätzlich sind vielerlei Wechselwirkungen zwischen der Wirkung der Tragödie und dem tugendethisch relevanten Gefühlsleben der Zuschauer denkbar – dies gilt für die separative Lesart nicht weniger als für die Lesart, die die Affekte als das zu reinigende Objekt versteht. Die obigen Einwände gegen die moralpädagogische Lesart zielten nicht darauf ab, dies zu leugnen, sondern darauf, daß die tragische katharsis nicht unmittelbar in einer moralischen Verbesserung des affektiven Gesamtzustands der Zuschauer (von schlechten zu guten Affekten, oder von schädlichen zu unschädlichen, oder von exzessiven zu tugendhaften) bestehen kann und daß die Wirkung der Tragödie nicht um dieser moralischen Verbesserung willen eine katharsis genannt wird. Der Begriff der katharsis ebenso wie der Begriff der tragischen Lust dienen in der Tragödientheorie des Aristoteles dazu, die spezifische Wirkung der Tragödie (ihr ergon) zu charakterisieren, sie sagen aber an sich noch nichts darüber aus, wozu diese Wirkung, wenn überhaupt, gut oder nützlich ist. Daher ist auch die in der Interpretation der Aristotelischen Tragödientheorie verbreitete Auffassung, derzufolge die separative Lesart einen lediglich somatisch-medizinischen Effekt beschreibe und daher alle moralisch relevanten Effekte ausschließe, irreführend. In der modernen Forschung geht diese Opposition von moralisierenden und separativen Lesarten auf Jacob Bernays’ Kritik an Lessings moralpädagogischer Deutung zurück. Bernays hatte in expliziter Kritik an Lessing eine separative Deutung der katharsis verteidigt, diese als erleichternde Entladung (vgl. Bernays 1857, 148) charakterisiert und letztere wiederum als die einer medizinischen Heilung vergleichbare Überwindung eines wesentlich pathologischen Phänomens erklärt (a. a. O. 141–144). Im Anschluß an Bernays entwickelte sich die Exploration der medizinischen Implikationen Aristotelischer katharsis zu einem festen Bestandteil der Poetik-Forschung, und von der „medizinischen“ Zugangsweise wurde – wiederum im Anschluß an Bernays’ Lessing-Kritik oft angenommen, sie schließe eine moralpädagogische Zielsetzung aus. Hier wäre aber zumindest zwischen zwei Fragen zu unterscheiden, nämlich zwischen der Frage, wie die Erzeugung und die Befreiung oder Reinigung von Mitleid und Furcht vonstatten geht, und der Frage, welchem Zweck dieser Vorgang dient: Selbst wenn wir zu der Auffassung kämen, daß die Wirkung der Tragödie nur durch medizinische Mechanismen erklärt werden kann, hieße das noch nicht, daß der Zweck oder die Absicht dahinter ein medizinischer wäre. Umgekehrt können wir zur Erklärung der Aristotelischen

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Tragödientheorie die in Aristoteles’ Ethik geprägten Begriffe heranziehen, ohne daß wir uns damit schon zu der Annahme einer moralpädagogischen Absicht der Tragödie verpflichten würden. Die in den vorigen Abschnitten entwickelte Interpretation unterlief diese verbreitete Gegenüberstellung in verschiedener Hinsicht: Sie sammelte Anhaltspunkte zugunsten einer separativen Lesart der katharsis-Formel, ohne sich dabei aber auf eine somatisch-medizinische Wirkweise der katharsis zu berufen und ohne die Affekte selbst primär von ihrer somatischen Seite her zu verstehen (im Gegenteil erwiesen sich bestimmte „kognitive“ Eigenschaften der Affekte, durch welche sie auf unsere Urteile und Einschätzungen bezogen sind, als für die Tragödie wesentlich). Kritisiert wurde dagegen die Auffassung, die katharsis bezeichne die Umwandlung eines durch schädliche oder moralisch tadelnswerte Affekte gekennzeichneten Zustands in eine durch tugendhafte Affekte bestimmte Verfassung des Zuschauers. Damit sollte jedoch nicht ausgeschlossen werden, daß die Wirkung der Tragödie in irgendeiner Verbindung mit der Entwicklung und Ausübung derjenigen affektiven Reaktionen stehen kann, die für unsere Tugenden konstitutiv sind. Nur ist die Frage nach dem moralischen Nutzen der Tragödie nach der hier vertretenen Auffassung keine, die bei der Formulierung der spezifischen Wirkung der Tragödie irgendwie zur Sprache käme – weder wenn Aristoteles diese Wirkung als tragische Lust noch wenn er sie als katharsis beschreibt. Worum es Aristoteles bei diesen Formulierungen geht, ist die begriffliche Bestimmung eines emotionalen Effekts, der den Tragödienbetrachtern seiner Zeit offenbar wohlbekannt ist, und nicht so sehr um die Frage, ob er selbst diesen Effekt für wünschenswert hält oder nicht. Dennoch ist die Wahl des Wortes katharsis sicherlich gut bedacht, und egal, welchen Herkunftsbereich man mit diesem Ausdruck assoziiert (die medizinische katharsis, die rituelle, die musikalische oder die platonisch-philosophische), in keinem Fall wird man dabei an eine explizit schädliche Wirkung denken, sondern im Gegenteil vielleicht sogar an eine – wie Aristoteles in Politik VIII 7 formuliert – „unschädliche Freude“; und schon dies wäre vor dem Hintergrund der Kritik, die zum Beispiel Platon an der Wirkung der Tragödie übte, alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

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Literatur Belfiore, E. 1992: Tragic Pleasures, Princeton. Bernays, J. 1857: Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über die Wirkung der Tragödie, Breslau 1857, Nachdruck: Hildesheim/New York 1970. Flashar, H. 2007: Die musikalische und die poetische Katharsis, in: B. Seidensticker, M. Vöhler (Hrsg.), Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles. Zum kulturellen Hintergrund des Tragödiensatzes, Berlin/New York, 173–179. Halliwell, S. 2003: La psychologie morale de la catharsis: un essai de reconstruction, in: Les Etudes philosophique 67, 499–517. Lessing, G. E. 1954: Die Hamburgische Dramaturgie (1767–1769), Gesammelte Werke Bd. 6, Berlin. Luserke, M. 1991: Die Aristotelische Katharsis. Dokumente ihrer Deutung im 19. und 20. Jahr­ hundert, Hildesheim/Zürich/New York. Rapp, Ch. 2007: Katharsis der Emotionen, in: B. Seidensticker, M. Vöhler (Hrsg.), Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles. Zum kulturellen Hintergrund des Tragödiensatzes, Berlin/New York, 149–172. Sifakis, G. M. 2001: Aristotle on the Function of Tragic Poetry, Herakleion.

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Die Einheit der Handlung (Kap. 7–9)

Die Tradition unterstellt Aristoteles bekanntlich das Postulat von drei Einheiten für die Tragödie: die Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung. Von diesen Einheiten kann jedoch nur letztere die Autorität des Meisters für sich in Anspruch nehmen. Zwar erwähnt Aristoteles einmal nebenbei, daß eine Tragödie nach Möglichkeit einen Sonnenumlauf nicht überschreiten sollte (5, 1449b13), woraus sich auf die Einheit der Zeit schließen läßt. Ferner läßt sich aus der Bemerkung, daß die Tragödie im Unterschied zum Epos verschiedene Handlungsstränge nicht zugleich darstellen kann, da sie an die Szenerie und an die Schauspieler gebunden ist (24, 1450b24–26), mit einiger Großzügigkeit die Einheit des Ortes ableiten. Ein „Postulat von drei Einheiten“ sollte man Aristoteles jedoch nicht unterstellen. Die Einheit der Handlung steht dagegen tatsächlich im Mittelpunkt seiner Theorie der Tragödie. So sind Vollständigkeit und Ganzheit der Handlung zentrale Elemente ihrer Definition (6, 1449b24–28: praxeôs … teleias). Aus diesem Grund läßt sich auch eine strikte Trennung zwischen dem Handlungsverlauf (mythos) der Tragödie als ganzer und der Handlung (praxis) der Protagonisten nicht immer durchhalten, da diese zumeist den entscheidenden Bestandteil des Handlungsablaufs darstellt, der „Zusammenfügung der Ereignisse“, wie Aristoteles den mythos definiert (6, 1450a4–5: synthesis tôn pragmatôn). Wenn Aristoteles mythos und praxis hier wie auch sonst manchmal wie Synonyme behandelt (vgl. 8, 1451a18–19; a30–2; b33 u. ö.), so ist dies kein Zeichen von Nachlässigkeit. Vielmehr kulminiert der Handlungsablauf einer Tragödie zumeist in einer oder auch mehreren Handlungen der Protagonisten, die damit ihrem Schicksal eine Wendung zum Guten oder zum Schlechten hin geben. Daher stehen

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Handlung und Handelnde im Zentrum der Nachahmung (6, 1450b3–4), denn die Einheit bzw. die Ganzheit der Handlung ist nichts anderes als die gelungene Zusammenfügung der Ereignisse, deren Urheber sie sind (dazu Kannicht 1976). Dieses Gelingen setzt auch eine gewisse Größe der Tragödie voraus, eine Voraussetzung, die Aristoteles unmittelbar nach der näheren Spezifizierung des Begriffes der Ganzheit in Kapitel sieben aufnimmt und erläutert, bevor er in den beiden folgenden Kapiteln näher auf die Bedingungen der Einheit im Sinne der Ganzheit des Handlungsablaufs eingeht und diese mit der Notwendigkeit in der Abfolge von Anfang, Mitte und Ende des Handlungsverlaufs verknüpft. Somit stellt Aristoteles drei zentrale Begriffe an den Anfang seiner Analyse des Aufbaus der Tragödie, die ganz allgemein für den Handlungsverlauf charakteristisch sind und zugleich entscheidende Kriterien zu ihrer Beurteilung liefern: Größe, Ganzheit und Notwendigkeit. Es empfiehlt sich nun, die Bedeutung dieser drei Gesichtspunkte für Anlage und Beurteilung des Handlungsablaufs zunächst einzeln zu untersuchen, da Aristoteles später wiederholt auf sie rekurriert. Wie sich zeigen wird, stehen diese drei Momente in einem engen Zusammenhang miteinander und sind daher nur in ihrem wechselseitigen Bezug richtig zu verstehen.

6.1 Größe (megethos) Die Forderung nach einer bestimmten Größe ist bereits Teil der ursprünglichen Definition, mit der Aristoteles in Kapitel sechs die Diskussion der Tragödie einleitet: „Die Tragödie ist die Nachahmung einer ernsthaften Handlung von einer gewissen Größe (megethos)“ (1449b24–28). Nun ist dem Wort „Größe“ allein nicht zu entnehmen, welchen Sinn Aristoteles ihm unterstellt, daher liefert er in Kapitel sieben die entsprechende Erklärung nach. Die einführende Bemerkung, es bestehe auch die Möglichkeit einer Ganzheit ohne Größe, erweckt zunächst die Erwartung, daß Aristoteles unter Größe die Bedeutsamkeit der Ereignisse versteht. Da er mit der Größe jedoch auch die Schönheit verknüpft und dieses Verhältnis mit dem der Teile von Lebewesen zu einander vergleicht, unterstellt er „Größe“ hier offensichtlich nicht den metaphorischen Sinn von Bedeutsamkeit, wenngleich dieser vermutlich auch mitschwingt. (onkos = Gewicht und megaloprepeia = Erhabenheit werden als besondere Merkmale der Epik hervorgehoben: 24 1459b22–31; dies schließt aber nicht aus, daß sie auch die Tragödie kennzeichnen.)

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Die eigentliche Grundlage von Aristoteles’ Vergleich zwischen der Größe der Tragödie mit der von verschiedenen Lebewesen stellt vielmehr die Tatsache dar, daß deren Größe und Anordnung (taxis) nicht „beliebig“ sind, da weder ein allzu kleines noch ein allzu großes Lebewesen als schön gelten kann. Das Ungenügen des Anblicks eines allzu kleinen Lebewesens begründet Aristoteles damit, daß der Anblick konfus wirkt, da er sich auf einen kaum wahrnehmbaren Augenblick beschränkt, während sich bei einem allzu großen Lebewesen kein Eindruck von der Einheit und Ganzheit des Organismus ergibt, da ein Lebewesen von 10 000 Stadien Länge (1 stadion = ca. 180 m) schlechtweg unüberschaubar wäre. Wie das Stichwort von der „Anordnung“ erkennen läßt, geht es nicht allein darum, daß ein allzu kleines Lebewesen dem Anblick zu wenig, ein allzu großes zu viel bietet. Vielmehr geht es um die Erkennbarkeit der Teile des Organismus und ihres funktionellen Beitrags zu seiner Gesamtheit, also um dessen teleologisch bestimmtes Zusammenwirken. Eben diese Organisation ist, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, bei einem allzu kleinen wie bei einem allzu großen Lebewesen nicht erkennbar bzw. überschaubar, weil das Zusammenwirken des Ganzen nicht in den Blick kommt. Wie dieser Vergleich zeigt, ist mit „Größe“ also nicht allein die Länge der Tragödie gemeint, obwohl Aristoteles auch den in dieser Hinsicht eindeutigen Ausdruck mêkos verwendet (1451a6) und später auf einen Zusammenhang zwischen „Länge“ und „Größe“ von Dichtungen verweist. Er macht dabei aber deutlich, daß die angemessene Länge nur eine der Bedingungen von Größe darstellt (vgl. 18, 1456a13–15 zur Länge des Epos im Vergleich zur Länge der Tragödie, dazu ausführlich Belfiore 2001). Entscheidend für die richtige Größe, das heißt für den Umfang einer Tragödie, ist vielmehr, daß es den Zuschauern möglich sein muß, den Handlungsverlauf zu erfassen und im Gedächtnis zu behalten. Auf diese Bedingung verweist Aristoteles nochmals in seinem abschließenden Vergleich von Tragödie und Epos mit der Bemerkung, daß in beiden Fällen Anfang und Ende überschaubar bleiben müssen (24, 1459b17–20). Daß der Vergleich mit einem Lebewesen den Gesichtspunkt des organischen Zusammenspiels der Teile zum Ausdruck bringen soll (auf den Aristoteles auch später zurückverweisen wird, vgl. 23, 1459a17–21), faßt die abschließende Betrachtung zusammen, daß nicht kunstfremde Begrenzungen wie etwa zeitliche Vorgaben bei Dramenwettbewerben als Kriterium für die Angemessenheit der Größe gelten können, sondern die der Tragödie eigentümliche Funktion: Der Umfang muß groß genug sein, um den für die Tragödie charakteristischen Umschlag (peripeteia) vom Glück zum Unglück oder vom Unglück zum Glück „mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit“

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herbeizuführen (7, 1451a11–15). Die folgerichtige und nachvollziehbare Darstellung der Umstände, die zum tragischen Umschlag führen, ist also das eigentliche Kriterium für die einer Tragödie angemessene Größe. Der Hinweis, der größere Umfang sei zudem immer der schönere, solange der Zusammenhang offensichtlich bleibt (1451a10 f.), erinnert daran, daß Aristoteles auch sonst äußerliche Schönheit mit Größe assoziiert. So nennt er etwa in EN IV unter den Vorbedingungen der „Großherzigkeit“ (megalopsychia) auch die für die Schönheit erforderliche Körpergröße (7, 1123b6–8: „so wie zur Schönheit auch der große Körper gehört; kleine Menschen mögen zwar hübsch und wohlproportioniert sein, schön aber sind sie nicht.“). Zwar kann von „Ansehnlichkeit“ bei der Tragödie nur in einem metaphorischen Sinn die Rede sein; der Verbindung von Größe und Schönheit liegt jedoch die Vorstellung zugrunde, daß zur aretê jedes Gegenstandes auch diejenige Größe gehört, in der sich seine Natur am besten manifestiert.

6.2 Vollständigkeit und Ganzheit (teleion, holon) Bei der Erklärung der Einheit des Handlungsablaufs als Vollständigkeit und Ganzheit beschränkt sich Aristoteles nicht auf den Vergleich mit einem lebenden Organismus, sondern entwickelt dazu zusätzliche Kriterien. Was sich zunächst wie eine Trivialität ausnimmt, daß ein Ganzes einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben muß, erweist sich im Fall der Tragödie als alles andere als trivial, denn damit verbindet Aristoteles genaue Vorstellungen zur Struktur des Handlungsablaufes. So darf der Anfang nicht auf für das Verständnis des Stückes notwendigen Voraussetzungen beruhen, die nicht Teil des Stückes sind. Das Ende hat sich mit Notwendigkeit oder „meistens“ aus dem Vorangegangenen zu ergeben, darf aber seinerseits nichts für das Verständnis des ganzen Stückes Wesentliches nach sich ziehen, ohne in ihm enthalten zu sein. Für den Mittelteil gilt hingegen, daß er sich sowohl mit Notwendigkeit aus dem Anfang ergeben wie auch das Ende mit Notwendigkeit nach sich ziehen muß. Ein konziser Handlungsablauf schließt folglich jede Beliebigkeit von Anfang, Mitte und Ende aus, sondern stellt vielmehr die innere Geschlossenheit des Werkes sicher. Der weitere Zusammenhang, in dem jede Tragödie steht, das heißt ihr Hintergrund, sowie parallel zur Handlung laufende oder zukünftige Ereignisse, werden als „außer der Tragödie Liegendes“ (14, 1453b32 u. ö.: to exô tou dramatos oder exô tês tragôdias) etwa in Form von Botenberichten, Erinnerungen oder Voraussagen mit einbezogen. Ein besonders prägnantes

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Beispiel ist die Schilderung der tatsächlichen Umstände des Todes von Laios in Sophokles’ König Ödipus. In welcher Weise die Einheit des Handlungsverlaufes sicherzustellen ist, erklärt Aristoteles zunächst ex negativo, indem er in Kapitel acht auf die Fehlgriffe eingeht, welche Dichter in dieser Hinsicht oft unterlaufen. Dazu gehört in erster Linie die Annahme, daß der Handlungsverlauf schon dann eine Einheit bildet, wenn er sich um eine Person dreht. So lassen sich die vielen Taten und Widerfahrnisse, welche die Sage Heroen wie Herakles, Theseus oder Odysseus zuschreibt, nicht notwendig zu einer Einheit zusammen fügen. Dies kann etwa die Besinnung auf die Vielfalt der zwölf „herkulischen Arbeiten“ deutlich machen, die der König Eurystheus Herakles auferlegt hatte, von der Erlegung des Nemeischen Löwen bis zur Entführung des Höllenhundes Cerberus. Wie dem Verweis des Aristoteles auf eine „Herakleis“, eine „Theseis“ und andere Dichtungen dieser Art zu entnehmen ist, muß es solche Werke durchaus gegeben haben. Erhalten ist keines davon, und leider nennt Aristoteles auch nicht die Namen ihrer Autoren, so daß unklar ist, welcher Periode diese Werke zuzuweisen sind. Das Perfekt (1451a21: pepoiêkasin) legt jedoch nahe, daß damit frühe Dichtungen gemeint sind. Auch ist unklar, ob es sich bei den genannten „Heroiken“ überhaupt um Dramen handelte und nicht vielmehr um Epen. Für letzteres spricht das Homer gezollte Lob, er habe dank seiner Kunst und seines natürlichen Talentes auch in dieser Hinsicht das Richtige getroffen. Falls Aristoteles mit „Kunst“ auf bereits bestehende Regeln der Dichtkunst rekurriert, so ist daran zu erinnern, daß er annimmt, es müsse schon vor Homer viele Dichter gegeben haben, von denen freilich weder Namen noch Werke erhalten sind (4, 1448a28 f.). Homer ist jedenfalls insofern ein Vorbild, als er die Ilias auf einen ganz bestimmten Abschnitt des Kampfes um Troja begrenzt und in die Odyssee keineswegs sämtliche Erzählungen, die sich um Odysseus ranken, aufgenommen hat. Vielmehr fügen sich in beiden Fällen die Geschehnisse zu einem einheitlichen Handlungsablauf zusammen. Dieses Verdikt dürfte für die allgemeine Struktur der Ilias ohne weiteres nachzuvollziehen sein, da sie sich auf die Erzählung vom „Zorn des Achilleus“ beschränkt, der durch Agamemnons Übergriff ausgelöst wird und mit Hektors Begräbnis sein Ende findet. Der Handlungsverlauf nimmt insgesamt, einschließlich aller Nebenereignisse, nur wenige Wochen der zehnjährigen Belagerung Trojas in Anspruch. Bei der Odyssee könnte man angesichts der Vielzahl der Abenteuer des Helden zunächst Zweifel hegen, ob Homer dort eine ähnliche Ökonomie walten läßt, bis man sich darauf besinnt, daß der Eindruck einer langen Kette von nur lose aneinander gereihten Ereignissen trügt: Das

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Epos schildert die Heimkehr des Odysseus, die mit seiner durch Athene bewirkten Freilassung von der Insel der Kalypso beginnt und mit seiner Rückkehr nach Ithaka und der Bestrafung der Freier endet. Die Information über die sonstigen Abenteuer des Helden und seiner Gefährten ist nur den Rückblicken zu verdanken, wie etwa den Erzählungen, mit denen Odysseus seine freundlichen Gastgeber, die Phäaken, erfreut. Solche „Episoden“ werden von Aristoteles für die Epik ausdrücklich als Bereicherung einer an sich kurzen und überschaubaren Handlung gebilligt (vgl. 23, 1459a29–37). Auch die Odyssee nimmt an sich also nur einen kurzen Zeitraum ein und steht unter einer einheitlichen Thematik. Wie Aristoteles in Kapitel 23 noch näher ausführen wird, gilt auch für das Epos das Prinzip der Einheit und Ganzheit. Dem Epos billigt er insofern die Möglichkeit größerer Ausführlichkeit als der Tragödie zu, als es sich durch „Episoden“ anreichern läßt, das heißt durch Nebengeschehnisse, an deren epischer Breite Aristoteles offensichtlich nichts auszusetzen hat. Vielmehr deutet er an, daß er in der notwendigen Beschränkung der Tragödie auf die Szenerie der Bühne und auf die Schauspieler nicht nur einen Vorteil, sondern auch einen gewissen Nachteil sieht (24, 1459b26–30). Gleichwohl liegt in eben dieser Beschränkung die Tugend der Konzentration, durch welche sich die Tragödie vor dem Epos auszeichnet. Letztlich gilt sie ihm als Kriterium für die größere Kunstfertigkeit (26, 1462a18–b15). Als Test für die Einheitlichkeit des Struktur der Tragödie schlägt Aristoteles ein Gedankenexperiment vor: Die Teilstücke des Handlungsablaufes müssen so ineinander gefügt sein, daß sich aus der Umstellung oder Entfernung eines Teils des Dramas eine wesentliche Veränderung seiner Verlaufs ergeben würde (8, 1451a30–34). Eine derartige Umstellung oder Entfernung eines Teils kann jeder Kritiker leicht in Gedanken nachvollziehen. Ein weiteres Gedankenexperiment vervollständigt den Test der Einheit und Ganzheit der Tragödie: Ein Teilstück, das weder durch seine Anwesenheit noch durch seine Abwesenheit irgendetwas zur Klärung der Geschehnisse beiträgt, kann nicht als Teil des Ganzen gelten (1451a34–35). Obwohl Aristoteles selten direkte Ratschläge zur Verfassung von Tragödien erteilt, können diese Gedankenexperimente durchaus als praktische Anweisungen gelten: für die Dichter wie auch für ihre Kritiker.

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6.3 Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit (anankê, eikos) Auch die Bedingung, daß sich die Ereignisse eines Handlungsablaufs mit Notwendigkeit auseinander ergeben, ist eine Konsequenz aus dem für die Tragödie charakteristischen Aufbau, die jede Beliebigkeit ausschließen soll (7, 1451a27–30): Der Anfang der Tragödie darf sich nicht mit Notwendigkeit aus etwas anderem ergeben; nach diesem tritt als Mitte aber „etwas anderes naturgemäß ein oder entsteht (pephyke einai ê genesthai)“; das Ende ergibt sich dagegen „naturgemäß entweder notwendigerweise oder meistens“ aus dem Vorangegangenen (ex anankês ê hôs epi to poly), während nach ihm nichts weiter folgt. Wenig später findet sich die Variante, der Handlungsverlauf müsse sich „mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit“ ergeben (7, 1451a: kata to eikos ê to anankaion). Unter diesen Bestimmungen ist vor allem das Begriffspaar „notwendig oder meistens“ allen Kennern der Aristotelischen Philosophie wohl vertraut. So sind etwa Verhältnisse und Ereignisse Gegenstände des Studiums der Natur, die entweder notwendig oder zumeist der Fall sind oder geschehen. Die Einschränkung der Naturnotwendigkeit durch den Zusatz „oder zumeist“ beruht darauf, daß in der Natur der sublunaren Sphäre stets Zwischenfälle eintreten können, etwa durch Einwirken von zufälligen, das heißt nicht zur Natur der Sache gehörigen äußeren Faktoren, die zu einem anderen als dem regulären Ergebnis führen. Da sich in Naturereignissen solche Zwischenfälle nie ganz ausschließen lassen, erfüllt die Klausel „oder doch zumeist“ (ê hôs epi to poly) den Zweck, den Zufall als das Komplement des Regelfalles mit einzubeziehen (vgl. Striker 1985, 149). Innerhalb natürlicher, regelhafter Abläufe läßt sich nun Notwendiges oder beinah-Notwendiges mit einiger Sicherheit schon allein durch Beobachtung bestimmen. Denn Aristoteles versteht unter Notwendigkeit im nicht-logischen Sinn all das, was allen Dingen einer Art zukommt oder was immer in einer bestimmten Situation eintritt (zur Spezifikation der Notwendigkeit vgl. Met. V 5 und An. post. I 2). Ein solcher Notwendigkeitsbegriff, der vor allem in der Wissenschaft Anwendung findet, läßt sich jedoch auf menschliches Handeln nur bedingt übertragen. Das beruht nicht etwa auf der Annahme, daß Menschen notorisch unzuverlässig sind und Unvorhersehbares tun, sondern auf der Komplexität der Umstände menschlicher Handlungen. Auf diese Komplexität bezieht sich auch die Erklärung in der Nikomachischen Ethik, in der Ethik sei nicht die gleiche Präzision angebracht wie in der Mathematik (I 1, 1094b11–27). Denn im Bereich moralisch richtigen Handelns gibt es insofern einen breiten Spielraum, als jeweils die relevanten Unterschiede zu berücksichtigen sind. So

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hängt die Richtigkeit einer Handlung davon ab, wer der Handelnde ist, wem gegenüber und unter welchen Umständen er handelt und welche Mittel ihm zur Verfügung stehen. All diese Faktoren können von Person zu Person und von Situation zu Situation unterschiedlich sein, so daß auch verläßliche Charaktere nicht immer dasselbe tun. Was nun für das Handeln im Bereich der Ethik gilt, sollte ebenso oder sogar noch verstärkt für das Handeln in der Tragödie gelten. Denn die Handlungskonstellationen, die in der Peripetie, dem jähen Umschwung von Glück ins Unglück (oder umgekehrt), und in der Wiedererkennung ihren Kulminationspunkt finden sollen (6, 1450a33–38 u. ö.), sind auch der Intention nach so außergewöhnlich, daß sie nicht auf allgemein geltende menschliche Verhaltensweisen zurückzuführen sind. In welchem Sinn ist hier also von Notwendigkeit oder Regelmäßigkeit die Rede, die allein den Zufall (tychê) ausschließen? Nun fällt auf, daß Aristoteles der Notwendigkeit die Alternative „oder doch zumeist“ (hôs epi to poly) nur einmal, nämlich ganz zu Anfang (7, 1450b30), zur Seite stellt. Anschließend ersetzt er das „Zumeist“ durch „das Wahrscheinliche“ (to eikos). Dazu sei angemerkt, daß eikos im Sinne von „wahrscheinlich“ nicht mit dem modernen statistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff zu assoziieren ist, der dem „Zumeist“ bei Aristoteles nahekommt. Vielmehr bedeutet „eikos“ seiner Etymologie nach das, was „einleuchtend“ oder „plausibel“ ist (vgl. Frede 1992). Daß Aristoteles hôs epi to poly und eikos auch sonst nicht einfach als Synonyme behandelt, läßt sich leicht zeigen. So findet sich eikos nur selten in seinen naturwissenschaftlichen Schriften oder in denen zur Logik. Stattdessen häuft sich sein Gebrauch in der Rhetorik. Dort sind Annahmen über die Plausibilität von Argumenten angebracht, die nicht immer auf Notwendigkeit oder auch nur auf Regelmäßigkeit rekurrieren, sondern Einzelfälle betreffen. In der Ethik wird der Bereich menschlichen Handelns zwar gelegentlich als das bezeichnet, was meistens geschieht (EN I 1, 1094b21; III 9, 1112b8: „Beratungen beziehen sich auf Dinge, die zwar meistens geschehen, bei denen es aber unklar ist, wie sie ausgehen, und die vorweg unbestimmt sind.“). Als ein Kriterium für die Notwendigkeit oder Richtigkeit einer Handlung dient das „Zumeist“ jedoch nicht. Während rhetorische Argumente durch die Berufung auf das Übliche an Plausibilität gewinnen (vgl. Rhet. I 2, 1357a34–b1 u. ö.; vgl. Rapp 2002, 191–199), kann auch dies in der Tragödie nicht gemeint sein, wenn von Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit die Rede ist. Denn wie könnte Aristoteles sonst Handlungsverläufe als besonders furcht- und mitleiderregend bezeichnen, die sich „wider die Erwartung“ auseinander ergeben

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(para tên doxan; 9, 1452a4)? Wie könnte er dem Dichter Agathon beipflichten, es gebe Dinge, die wahrscheinlich sind, obwohl sie der Wahrscheinlichkeit widersprechen (18, 1456a23–25)? Und wie könnte er für die Handlungsstruktur den Ratschlag erteilen, das Unmögliche, aber Glaubhafte (pithanon) dem Unglaubhaften, aber Möglichen vorzuziehen, weil es wahrscheinlich ist, daß etwas auch gegen die Wahrscheinlichkeit eintritt (25, 1461b9–15)? Angesichts der Tatsache, daß in der Tragödie der Handlungsablauf weder zu den Dingen gehört, die immer geschehen, noch auch zu denjenigen, die das meistens tun, stellt sich die Frage, warum Aristoteles solchen Wert auf der Notwendigkeit des Handlungsablaufes legt. Ferner fragt sich, in welchem Sinn dieser Begriff überhaupt im Bereich menschlichen Handelns zur Anwendung kommen kann (vgl. Lucas 1968, App. III; Halliwell 1987, 99 f., bes. Anm. 7). Der Frage nach den Bedingungen, welche die Geschehnisse in einer Tragödie als notwendig erweisen, geht Aristoteles im Kapitel neun weiter nach. Er tut dies freilich auf indirekte Weise durch einen Vergleich zwischen der Tragödie und der Geschichtsschreibung. Da dieser Vergleich sehr viel weiter ausgreift als die Erörterungen der Bedingungen von Größe und Einheit, ist auch auf seine Interpretation ausführlicher einzugehen (vgl. dazu v. Fritz 1962). Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit schreibt Aristoteles in diesem Zusammenhang ausdrücklich nicht tatsächlich Geschehenem zu, sondern vielmehr demjenigen, was geschehen könnte (9, 1451a36–38). Nun fragt sich zunächst, in welcher Weise hier Notwendigkeit und Möglichkeit miteinander verbunden werden sollen, zumal Aristoteles sie sonst als Gegensätze behandelt (vgl. etwa Int. 12 und 13; An. pr. I 3 und 8). Zudem erscheint problematisch, daß Aristoteles in dieser Verquickung von Notwendigkeit und Möglichkeit den entscheidenden Unterschied zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung sieht. Denn wenn die Geschichte sich mit Geschehnissen befaßt, die tatsächlich eingetreten sind, sollte man ihr doch einen höheren Grad von Notwendigkeit und Plausibilität zubilligen als der Tragödie, die Ereignisse präsentiert, welche lediglich geschehen könnten. Aristoteles sieht dieses Verhältnis jedoch grundsätzlich anders, und daher rührt auch sein – von Historikern oft mißbilligtes – Urteil, die Dichtung sei „philosophischer und gewichtiger“ (9, 1451b5 f.: philosophôteron kai spoudaioteron) als die Geschichte. So werfen manche ihm vor, er habe keinen Sinn für Historisches und verkenne vor allem das Genie eines Thukydides, zumal er diesen nicht einmal erwähnt (Fuhrmann 2003, 31), sondern lediglich auf Herodot verweist (9, 1451b2). Andere versuchen zu retten, was zu retten ist, indem sie auf den einschränkenden Komparativ verweisen:

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die Geschichte sei für ihn lediglich „weniger philosophisch“ und „weniger gewichtig“ als die Tragödie, was aber nicht heiße, daß er ihr jeden philosophischen und sonstigen Wert abspreche (vgl. etwa De Ste. Croix 1992).

6.4 Notwendigkeit und Möglichkeit in Tragödie und Geschichtsschreibung Bei näherem Hinsehen erweisen sich jedoch die Vorwürfe wie auch die Abwiegelungsversuche als unbegründet. Dies zeigt eine Überprüfung dessen, was Aristoteles mit seiner Behauptung sagen will, daß es der Tragödie um das Allgemeine, der Geschichte um das Einzelne zu tun ist, und in welchem Sinn er hier überhaupt an eine Notwendigkeit denkt. Denn in der Dichtung kommt es darauf an, daß „es zu bestimmten Arten von Menschen mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit paßt, bestimmte Arten von Dingen zu tun“ (9, 1451b8 f.). Aufgabe des Dichters ist es also, die Handlungskonstellation und die Charaktere in einer Tragödie so zu konstruieren, daß nicht nur der Protagonist selbst, sondern auch das Publikum die betreffende Entscheidung insofern für notwenig hält, als sie aufgrund des Handlungsverlaufs als die einzig mögliche oder plausible erscheint (dazu Halliwell 1986, Kap. 5, Schmitt 2008, 380–384). Dies gilt natürlich in erster Linie für den tragischen Umschlag, welchen Aristoteles nicht höheren, unerforschlichen Schicksalsmächten, sondern den Entscheidungen der betroffenen Person zuschreibt. Eben deswegen dürfte er dem Eingreifen der Götter so wenig Aufmerksamkeit schenken, wie ihm oft vorgeworfen wird. Denn deren Entscheidungen unterliegen schwerlich einer einsehbaren Unausweichlichkeit, wie dies für menschliche Entscheidungen gilt, und dies gerade dann, wenn der oder die Betreffende damit einen entscheidenden Fehler begeht. Selbst wenn es sich um ganz ungewöhnliche Situationen handelt, muß nachvollziehbar sein, daß ein Mensch des betreffenden Typus notwendig – oder wenigstens plausiblerweise – sich für die betreffende Möglichkeit entscheidet (zur Möglichkeit als Kriterium menschlicher Entscheidungen vgl. EN III 4–6). Historiker dagegen finden ihr Material vor und können es nicht konstruieren, sondern nur rekonstruieren, wie es zu den betreffenden Ereignissen kam. Daher behauptet Aristoteles von der Historie, sie handele vom Einzelnen, wie etwa davon, was Alkibiades getan oder erfahren habe (1451b10 f.). Nun stellen natürlich auch Historiker bei der Rekonstruktion und Deutung von Geschehnissen Überlegungen darüber an, welche Art von Handlung zu Menschen einer bestimmten Art oder auch zur Menschheit als solcher

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paßt. Aus solchen Gründen bezeichnet etwa Thukydides seine Schilderung des Peloponnesischen Kriegs als ein Geschenk an die Menschheit für alle Ewigkeit, ein ktêma eis aei (Historia I 22.4). Dies gilt natürlich auch für das Beispiel des Alkibiades, dessen Persönlichkeit und Verhaltensweise Thukydides besondere Aufmerksamkeit widmet (vgl. bes. Historia VI und VIII). Aristoteles präsentiert übrigens Alkibiades in den Zweiten Analytiken als einen Menschen, der aus Stolz Kränkungen nicht hinnehmen konnte und daher einen Krieg anzettelte (II 13, 97b17–20). Damit dürfte dessen Entscheidung gemeint sein, die Spartaner zum Krieg gegen Athen anzustacheln, nachdem er sich durch die gegen ihn vielleicht zu Unrecht erhobene Anklage des Hermokopidenfrevels wegen zur Flucht nach Sparta gezwungen sah. Denn bei Thukydides gibt er in seiner Ansprache an die Spartaner eben diese Begründung für seine Handlungsweise (Historia VI 91). Was Menschen eines bestimmten Schlags zu tun geneigt sind, beziehen also auch Historiker in ihre Überlegungen mit ein, wie insbesondere die Reden zeigen, die Thukydides jeweils den Akteuren in den Mund legt. Dieses Vorgehen dient jedoch dem Zweck, die tatsächlichen Geschehnisse im Einzelnen zu erklären, nicht dem Nachweis, daß eine bestimmte Person nur so und nicht anders hätte handeln können. Erklärungen dieser Art sind daher nicht das Ziel der Geschichtsschreibung, obgleich sie ihnen als heuristische Mittel dienen dürften. Hingegen zeichnet die geglückte Konstruktion von Notwendigkeit und Möglichkeit des Handlungsverlaufes den hervorragenden Tragödiendichter aus. Wie Aristoteles betont, widerspricht die Verwendung von Eigennamen in den Tragödien (so wie noch offensichtlicher in den Komödien, in denen Typen, nicht Individuen auftreten) der Annahme nicht, daß sie keine bestimmten Individuen und deren Handeln bezeichnen. Die betreffenden Personen sind auch dann nicht als Individuen anzusehen, wenn sie, wie manchmal in der Tragödie, tatsächlich gelebt haben. Wie Aristoteles später ausführen wird, kommt noch hinzu, daß geschichtliche Ereignisse oft zufällig zur gleichen Zeit eintreten, wie etwa die Seeschlacht bei Salamis und die Schlacht der Syrakuser gegen die Karthager, oder daß Ereignisse zwar zeitlich aufeinander folgen, ohne daß ein innerer Zusammenhang zwischen ihnen besteht (23, 1459a21–29). Solche Eventualitäten kann ein Historiker nie von vornherein ausschließen, er muß aber gegebenenfalls in seinen Erklärungen darauf eingehen, ob ein Zusammenhang vorlag oder nicht. Erfolg und Mißerfolg in der Geschichte können daher auch vom Zufall abhängen. Selbst ein Thukydides ist folglich von einer mimêsis dessen, was geschehen könnte oder geschehen sein könnte, weit entfernt. Auch wenn die Forderung Rankes sich bei heutigen

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Historikern keiner guten Presse erfreut, es gelte zu ermitteln, „wie es wirklich gewesen ist“, so kann sie doch zur Erläuterung von Aristoteles’ Geschichtsauffassung wesentlich beitragen. Zwar geht er auf Tragödien, die historische Ereignisse schildern, wie etwa auf Die Perser des Aischylos, nicht ein. Er dürfte jedoch die Handlungsweisen der dort auftretenden Personen im gleichen Sinn als Beispiele allgemein menschlicher Möglichkeiten und Notwendigkeiten ansehen wie in Tragödien mit mythischen Stoffen. Die Tragödie des Aischylos stellt eine großartige Fiktion über historische Persönlichkeiten und ihre Handlungen, aber keine Erklärung der tatsächlichen Geschehnisse in Versform dar. Historiker mögen sich fragen, ob und inwiefern Die Perser auch eine historische Quelle darstellt. Sie tun das jedoch unter Absehung von den dichterischen Elementen, denn um diese ist es ihnen nur insofern zu tun, als sie die Auswertung des Werkes als historisches Dokument erschweren. Man tut also großen Historikern kein Unrecht, wenn man mit Aristoteles annimmt, daß es ihnen nicht um die Konstruktion von menschlichen Handlungsmöglichkeiten als solchen geht, sondern um die Rekonstruktion des tatsächlich Vorgefallenen und damit „Besonderen“. Nun mag sich Thukydides als Historiker in dem Sinn verstanden haben, daß er seine Aufgabe nicht in der Rekonstruktion einzelner Ereignisse, sondern in der Erkenntnis menschlicher Angelegenheiten und Verhältnisse überhaupt sah. Seine „Historie“ ist gleichwohl keine Konstruktion, sondern eine Beschreibung und Erklärung der tatsächlichen Geschehnisse und ihrer Ursachen. Sollte ihn Aristoteles also mit in sein Urteil über die Geschichtsschreibung einbezogen haben, so tut er ihm damit kein Unrecht. Denn wenn das Universale als von Hause aus philosophischer gewertet wird als das Einzelne, so muß sich die Kritik an der Bewertung der Geschichte gegen den aristotelischen Wissenschaftsbegriff als solchen wenden, nicht gegen die Feststellung, das Ziel der Historie sei weniger philosophisch und bedeutsam als das der Tragödie. Wie Halliwell zu diesem Unterschied anmerkt (1987, 103): „Poetry must somehow make more sense than much of the raw material of life does, and this higher intelligibility is part and parcel of what Aristotle understands by unity.“ Zu seinem Werturteil dürfte Aristoteles gekommen sein, weil und nicht obwohl er der erste Wissenschaftler war, der in großem Umfang auch historische Studien und archivarische Arbeiten betrieben hat. Wenn Aristoteles einen Vergleich zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung anstellt, so liegt das weder daran, daß für ihn die Tragödie in dem Sinn „Nachahmung“ ist, daß sie allgemeine Geschichten liefert, „wie das Leben selbst sie schreibt“, noch auch an einer Freude an der

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Geschichtskrittelei. Der konkrete Anlaß dürfte vielmehr sein, daß sich die Tragödie manchmal auch selbst dessen als Stoff bedient, was tatsächlich geschehen ist. Aus eben diesem Grund sieht Aristoteles sich veranlaßt, auf den Unterschied im Umgang mit diesem Stoff einzugehen. Nun fragt sich, warum er auf diesen Gesichtspunkt eigens hinweist. Denn die Tatsache, daß manche Tragödien auf wahren Begebenheiten beruhen und historische Personen zum Gegenstand haben, scheint seiner sorgfältigen Unterscheidung zwischen Geschichte und Tragödie zuwiderzulaufen, wonach erstere es mit tatsächlich Geschehenem, letztere es mit Möglichem, das geschehen könnte, zu tun hat. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn man berücksichtigt, warum sich manche Tragödien auf tatsächlich Geschehenes beziehen. Denn dafür macht Aristoteles die Bemühung um die Glaubwürdigkeit (pithanon) des Ungewöhnlichen verantwortlich: „Was nicht geschehen ist, von dem glauben wir nicht, daß es möglich ist, während was tatsächlich geschehen ist, offensichtlich möglich ist. Es wäre ja nicht eingetreten, wäre es unmöglich gewesen“ (1451b16–19). Diese zunächst unmotiviert erscheinende Hinwendung zum „Realismus“ hat den einfachen Grund, daß viele der Begebenheiten in der Tragödie so außergewöhnlich sind, daß man sie für unglaubwürdig halten könnte, wenn sie nicht durch die Tradition als tatsächliche Geschehnisse verbürgt wären. Die Glaubwürdigkeit ist auch der Grund für die Konzentration der Tragödiendichter auf wenige Familien, für welche derart außergewöhnliche Ereignisse und Konstellationen bezeugt sind, wie etwa für die Familie des Ödipus und die der Tantaliden (14, 1454a10–13). Gleichwohl hält Aristoteles die Wirklichkeit als Bürgen des Möglichen nicht für wesentlich, wie sein Plädoyer zeigt, daß auch Tragödien mit erfundenem Stoff und erfundenen Namen durchaus und zu Recht erfolgreich sein können. Aus diesem Grund hält er es auch nicht für nötig, sich an die traditionellen Mythen zu halten, wie die meisten Dichter das tun (9, 1451b19–26). Ferner zweifelt er, wohl gegen seine eigene Überzeugung, den Bekanntheitsgrad der traditionellen Geschichten an: Auch dabei handelt es sich angeblich nur um das einer Minderheit Bekannte, an dem gleichwohl alle Zuschauer ihre Freude haben (1451b25 f.). Wie der nachfolgende Abschnitt nahelegt, liegt für Aristoteles der eigentliche Punkt im Umgang mit historisch vorgegebenen Stoffen darin, daß das Dichterische auch hier in der Gestaltung besteht: Der Dichter liefert keine Nacherzählung von tatsächlichen Ereignissen, sondern präsentiert die Geschehnisse als allgemein menschliche Möglichkeiten. Daraus erklärt sich Aristoteles’ prima facie paradox anmutende Erklärung, ein Dichter müsse tatsächliche Ereignisse so darstellen, als träten sie mit Wahrschein-

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lichkeit ein, und eben darin bestehe sein dichterisches Talent (1451b30–31: tôn genomenôn … hoia an eikos genesthai). Enthalten die Darstellungen keine derartigen Motivationen, so fehlt ihnen das entscheidende dichterische Element. Dies schließt nicht nur unbegreifliches menschliches Fehlverhalten, sondern auch zufällige Begebenheiten aus. Aufgabe des Dichters ist es daher, tatsächliche Vorkommnisse so zu verarbeiten, daß sie trotz ihres ungewöhnlichen Charakters als plausible Handlungen begreiflich werden. Wenn Aristoteles also für das Handeln in der Tragödie Notwendigkeit und Möglichkeit als wichtigste Kriterien ansetzt, so sind diese in dem Sinn zu verstehen, den er in der Nikomachischen Ethik mit Beratung und Entscheidung verbindet (III 4–7). Die Beratung über eine Handlung hat sich innerhalb des für den Betreffenden Möglichen zu halten und analytisch den jeweils für das Ziel notwendigen Handlungsablauf zu analysieren, indem er vom Ziel ausgehend die Reihe der Faktoren rückwärts bis zur gegenwärtigen Situation des Handelnden durchgeht und dabei das Mögliche vom Unmöglichen unterscheidet. Daß es solche Überlegungen sind, die Aristoteles’ Urteil über Notwendigkeit und Möglichkeit des Handlungsverlaufes bestimmen, lassen die beiden Punkte erkennen, mit denen er seine Ausführungen zur Einheit und Folgerichtigkeit der Handlungen abschließt, die zunächst wie unverbundene Nachträge wirken könnten. Sie betreffen zum einen seine Kritik an „episodischen“ Handlungsverläufen, zum anderen seine positive Bewertung von Unerwartetem und Zufälligem (9, 1451b32–1452a11). Als „episodisch“ kritisiert er diejenigen Handlungsverläufe, die weder einen notwendigen noch einen wahrscheinlichen Zusammenhang erkennen lassen (zur Wortbedeutung Schmitt 2008, 375). Daß es der Abfolge der Handlungen an innerer Schlüssigkeit fehlt, führt Aristoteles auf zwei Gründe zurück. Zum einen liegt es an mangelndem Talent, zum anderen an der Absicht eines Dichters, einem Schauspieler zu einem längeren Auftritt zu verhelfen, als von der Sache her erforderlich ist. Leider gibt Aristoteles keine Beispiele für solche Verstöße. Er dürfte sich damit jedoch auf bekannte Fälle beziehen, denn er bedient sich dieser Kritik auch an ganz anderer Stelle, an denen er seine eigene Tragödientheorie wohl kaum im Blick hat, sondern sich auf den allgemeinen Sprachgebrauch bezieht. So weist er in Met. XII 10 (1075b37–1076a4) die Annahme von Zahlen als kosmologische Prinzipien mit dem Argument zurück, sie mache „das Wesen des Alls episodisch“. Ähnlich kritisiert er in Met. XIV 3 (1090b19 f.) den Versuch, die Natur als „episodisch wie eine schlechte Tragödie“ zu behandeln. Im Unterschied zum „Episodischen“ soll es gerade ein Zeichen für dichterisches Können sein, auch Ereignisse als innerlich notwendig oder

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wahrscheinlich darzustellen, die wider Erwarten eintreten (1452a4: para tên doxan). Daß Dichter auch scheinbar Paradoxes zu präsentieren haben, beruht darauf, daß sie nicht allein folgerichtige Handlungen zu motivieren haben, sondern solche, die Furcht und Mitleid erregen. Solche Effekte werden vor allem durch unerwartete, aber gleichwohl verständliche Ereignisse hervorgerufen, die „auseinander hervorgehen“ (genêtai di’ allêla). Da es sich bei Furchtbarem, wie Aristoteles in der Rhetorik erklärt, um Dinge handelt, die eine „große Macht zu haben scheinen, einen zu vernichten oder Schäden zuzufügen, die mit großem Schmerz verbunden sind“ (Rhet. II 5, 1382a29–31), erhöht sich dieser Effekt noch, wenn die Bedrohung plötzlich eintritt, und Entsprechendes gilt für das Mitleid mit jemandem, dem etwas Furchtbares droht oder geschieht, was er nicht verdient hat (Rhet. II 8 1385b13–19). Der Anlaß zu solchen Affekten sollte nicht dem Zufall (apo tychês) zu verdanken sein, sondern sich aus der Handlung der betroffenen Personen ergeben. Falls mit di’ allêla gemeint ist, daß furchterregende Ereignisse auch Mitleiderregendes nach sich ziehen (und umgekehrt), so ist eine solche Ereignisfolge dann plausibel, wenn das wider Erwarten Eintretende nicht nur ein großes Übel ist, sondern dazu noch eines, das der Betreffende nicht verdient hat. Des Überraschungs-Effektes wegen räumt Aristoteles schließlich auch die Legitimität sinnvoller Zufälle ein, sofern sie dem Anlaß angemessen erscheinen, wie das Beispiel von der Statue des Mitys zeigt, die auf seinen Mörder herabgestürzt sein soll.

6.5 Epilog Mit seinen Erklärungen zur Größe, Einheit und Notwendigkeit des Handlungsablaufes hat Aristoteles die formalen Bedingungen festgelegt, in deren Beachtung für ihn die Aufgabe des guten Tragödiendichters besteht. Wenn sie hier als „formale“ Bedingungen bezeichnet werden, so ist damit lediglich angezeigt, daß sie noch nichts über den Inhalt von Tragödien besagen. Die folgenden Kapitel liefern die fraglichen inhaltlichen Gesichtspunkte zur genaueren Strukturierung; eine Trennbarkeit von Form und Inhalt ist damit aber nicht gemeint. Daß jedoch bereits die formalen Bedingungen eine Art Kanon für die Verfassung guter Tragödien liefern sollen, scheint unbestreitbar zu sein. Unbestreitbar ist auch, daß die Identifizierung des mythos mit dem Handlungsablauf diesem Begriff eine ungewöhnliche Bedeutung gegeben hat. Zwar tut diese Bedeutung dem Wort angesichts der Vielzahl seiner Verwendungen, die vom traditionellen Mythos bis zum Ammenmärchen

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reicht, keine Gewalt an. Sie ist aber doch insofern bemerkenswert, als die Tragödie, wie Aristoteles selbst anmerkt, stark an den Mythos der Tradition anknüpft und ihm mit wenigen Ausnahmen ihre Stoffe verdankt. In dieser Hinsicht stellt die Erklärung der Konzentration der Tragödie auf die herkömmlichen Mythen mit der Glaubwürdigkeit ungewöhnlicher Ereignisse also eine „Entmythisierung“ dar, da damit die enge Verbindung des Mythischen mit dem Walten göttlicher Mächte ausblendet wird. Wenn Aristoteles aus der Tragödie eine rein menschliche Angelegenheit macht und das Eingreifen der Götter übergeht, so scheint dies mit der Umdeutung des Wortes mythos in engem Zusammenhang zu stehen. Denn die Festlegung seiner Verwendung auf den von Menschen allein bestimmten Handlungsablauf kommt einer Entgötterung der Tragödie gleich. In der Tat scheint es kein Zufall zu sein, daß Handlungsablauf, Charakter und Denkweise die drei wesentlichen Konstituenten der Tragödie darstellen, während göttliche Mächte nur ganz am Rande erwähnt werden. Dazu paßt auch die Ablehnung jeder deus ex machina-Intervention für die Dramen selbst und die Klassifizierung von Voraussagen dessen, was sich als Konsequenz des Endes einer Tragödie ergibt, durch die alles sehenden Götter als „außerhalb der Tragödie Liegendes“ (15, 1454b5 f.). Noch abwertender klingt die Bemerkung, bestimmte unwahre Behauptungen über die Götter seien gegebenenfalls als „der allgemeinen Meinung entsprechend“ hinzunehmen (25, 1460b35 f.). Es fragt sich freilich, ob die Einbeziehung göttlicher Interventionen in die Bestimmung von Größe, Einheit und Notwendigkeit der Handlung wesentliche Veränderungen an den drei formalen Bedingungen für den Aufbau der Tragödie nach sich gezogen hätte. Dies kann man mit guten Gründen bezweifeln. An der Forderung nach einer gewissen Größe würde sich bei Berücksichtigung von Eingriffen höherer Mächte eo ipso nichts ändern. Auch an der Forderung nach Ganzheit und Vollständigkeit des Handlungsablaufes würde sich nichts ändern, denn die Gestaltung des Handlungsablaufes durch den Dichter müßte gleichwohl auf Folgerichtigkeit und Kohärenz der Entscheidungen der betroffenen Menschen aus sein. Auch in einer Tragödie, in welche höhere Mächte auf unvorhersehbare Weise eingreifen, handeln die Protagonisten nach bestem Wissen und Gewissen. Entsprechendes gilt für die Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit der Abfolge von Handlungen. Zwar hätten viele der uns bekannten Tragödien ohne göttliche Eingriffe einen anderen Charakter. Auch dort versuchen die Protagonisten jedoch, den Gegebenheiten in der ihnen möglichen Weise Rechnung zu tragen. Um nur Aristoteles’ „Lieblings-Tragödie“, den König Ödipus, anzuführen: Nachdem Ödipus sich in der Lage befindet, in die er

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durch das Walten bestimmter göttlicher Mächte geraten ist, handelt er so folgerichtig, wie ein Mensch seines Charakters dies tut. Ferner könnten die Menschen auch ohne göttliches Einwirken in die gleichen prekären Situationen geraten. Eben dies läßt sich für Homer behaupten: Achilleus’ Zorn ist nur indirekt durch göttliches Wirken entfacht und beigelegt worden. Odysseus hätte auch ohne Poseidons Rachsucht eine lange Irrfahrt durchmachen und ohne Athenes Zutun den Heimweg finden können. An den Persönlichkeiten und ihren Handlungsweisen hätte sich dadurch nichts Wesentliches ändern müssen. Aufgabe des Dichters bleibt es in jedem Fall, menschliches Handeln als folgerichtig darzustellen, selbst wenn es durch göttliches Einwirken provoziert wird. Kritikern, die in der Vernachlässigung des Wirkens der Götter eine wesentliche Schwäche der Tragödientheorie des Aristoteles sehen, ist daher entgegenzuhalten, daß darin kein Einwand gegen seine Analyse ihrer wesentlichen Strukturmerkmale liegt. Problematisch dürfte hingegen, was die Rolle der Götter in vielen bedeutenden Tragödien angeht, die Bewertung des ‚tragischen Fehlers‘ und dessen Verknüpfung mit der peripeteia sein. Diese Frage führt aber über die Beurteilung der Einheit der Handlung und ihrer Bedingungen hinaus.

Literatur Belfiore, E. 2001: Dramatic and Epic Time: „Magnitude“ and „Length“ in Aristotle’s Poetics, in: O. Andersen, J. Haarberg (Hrsg.): Making Sense of Aristotle. Essays in Poetics, London, 25–49. De Ste. Croix, G. E. M. 1992: Aristotle on History and Poetry, in: Rorty (Hrsg.) 1992, 23–32. Frede, D. 1992: Necessity, Chance, and „What Happens for the Most Part“, in: Rorty (Hrsg.) 1992, 176–196. Fritz, K. v. 1962: Antike und moderne Tragödie, Berlin, 439–457. Kannicht, R. 1976: Handlung als Grundbegriff der aristotelischen Theorie des Dramas, in: Poetica 8, 326–336. Rorty, A. O. (Hrsg.) 1992: Essays on Aristotle’s Poetics, Princeton. Striker, G. 1985: Notwendigkeit mit Lücken, in: Kontingenz. Neue Hefte für Philosophie 24/25, 146–164.

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Psychagogie und Erkenntnis (Kap. 10–12)

7.1 Mythos, die Seele der Tragödie In den Kapiteln zehn bis zwölf bietet Aristoteles eine Analyse dessen, was er „Wendepunkte“ oder Umschwünge (peripeteia) innerhalb der Handlung einer Tragödie nennt, und diskutiert ihre generelle Bedeutung für die Wirkung der Tragödie. Dabei baut er auf Überlegungen zu Definition und wesentlichen Bausteinen der Tragödienhandlung auf, die er zuvor behandelt hat. „Außerdem sind jene Elemente, mit denen die Tragödie vorzugsweise die Seele anregt (psychagôgei) Teile des Mythos, nämlich die Wendepunkte und die Wiedererkennung“ (6, 1450a33 f.). Dem Mythos einer Tragödie kommt nach Aristoteles also deshalb große Bedeutung zu, weil zu ihm zwei Elemente gehören, die auf besondere Weise für die psychagogische Wirkung der Tragödie verantwortlich sind – „Wendepunkt“ (peripeteia) und „Wiedererkennung“ (anagnôrisis) – und die wichtige Gegenstände von Aristoteles’ Ausführungen in den Kapiteln zehn bis zwölf der Poetik sind. Für deren Verständnis ist es hilfreich, daran zu erinnern, daß Aristoteles unter „Mythos“ nicht eine überlieferte, sagenhafte Geschichte, sondern die Handlung oder Fabel der Tragödie im Sinne eines funktionalen Zusammenhanges von Handlungsabschnitten (systastis tôn pragmatôn) versteht, die sich durch Ganzheit, Ausdehnung und Einheit auszeichnen soll (7, 1450b22 ff.; vgl. Kannicht 1976). Die „Fabel“ eines Stückes gehört zu jenen qualitativen Bausteinen der Tragödie wie Charakter der Handelnden, Gedankenführung (dianoia), sprachlicher Ausdruck (lexis), musikalische Komposition, Inszenierung eines Stückes, die Aristoteles in den Kapiteln sechs bis neun analysiert und in ihrer Bedeutung gewürdigt hat

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(6, 1450a8 ff.). Es zeigt sich, daß der Handlungszusammenhang (mythos) für Aristoteles kein Element wie die anderen ist, sondern daß er ihm einen besonders ausgezeichneten Status zubilligt. In der Fabel eines Stückes sieht er das Fundament der Tragödie noch vor den Charakteren der handelnden Personen (6, 1450a5–20), deren Bedeutung als motivierende Kraft für ihr Handeln er indes keineswegs leugnet (1450a21 f.). Doch da sich Glück und Unglück nach Aristoteles in Handlung bewährt, und sich der Charakter einer Person in Aktion geradezu erst konstituiert (EN III 4, 1111b4–6), sieht er in der Fabel eines Stückes gleichsam die Seele der Tragödie (6, 1450a38 ff.). Um den Vorrang des Mythos zu erläutern, führt Aristoteles mehrere Gründe an. Unter diesen ist der vielleicht wichtigste der, daß zwei Elemente der Tragödie Teile der Handlungsstruktur sind, die Aristoteles in ganz besonderer Weise für die Wirkung der Tragödie verantwortlich macht. Mit diesen Elementen meint er jene „Brennpunkte“ (Fuhrmann) der Handlung, die sich in „Umschlägen“ (metabolai) des Handlungsprozesses manifestieren, die den Handlungsablauf selbst, aber auch Erkenntnisprozesse innerhalb der Wiedererkennung (der Handlung) betreffen und die Aristoteles als Wendepunkt (peripeteia) und Wiedererkennung (anagnôrisis) bezeichnet. Derartige Umschwünge tragen nach Aristoteles’ Überzeugung wesentlich zu jenen Emotionen wie „Mitleid und Furcht“ bei, welche von Aristoteles als wünschenswerte Wirkung und Ursache für die Lust am Tragischen verantwortlich gemacht werden (Kap. 13–14). Dabei bilden rationale Erkenntnis und Gefühl in bezug auf die tragische Dichtung für Aristoteles also keinen Gegensatz. Platon jedoch sieht in Affekten wie Furcht und Mitleid und deren Appell an den emotiven Teil der menschlichen Seele ein Negativum und einen Grund für die Ablehnung der Tragödie (Rep. 603b ff.). Im Phaidon zum Beispiel gestaltet er seinen Protophilosophen Sokrates ausdrücklich als antitragischen Helden, der nicht durch Schicksalsschläge verwundbar ist (Apol. 30c–d; 41d), der selbst keine Gefühle zeigt und solche auch nicht erregen will. Aristoteles hingegen erlaubt Emotionen sowohl bei den Akteuren im Stück als auch bei den Rezipienten. Dies ist von Bedeutung für Aristoteles’ Einschätzung von Peripetie und Anagnorisis. Denn diesen Elementen schreibt er nicht nur einen generell emotionalisierenden Effekt für das Publikum zu. Er macht sie insbesondere für jenes Staunen (thaumazein) der Zuschauer verantwortlich, das bei ihnen vor allem einen intellektuellen Prozeß in Gang setzt und auf diese Weise zum Genuß der Tragödie beiträgt.

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Tragödien stellen gewöhnlich ein Scheitern ihrer Hauptakteure aufgrund einer Verfehlung dar (hamartia; Kap. 13). Wenn sich dieses Scheitern aus Handlungsphasen ergibt, die sich „wider Erwarten auseinander entwickeln“ (10, 1452a1–11), dann – so Aristoteles – empfindet man dies als Paradox und wird in Staunen (thaumazein) und damit in eine Haltung versetzt (Kap. 9), in der ein Mensch etwas um der Sache selbst willen zu erkennen sucht (Rhet. I 11, 1371a31–b25; Schmitt 2008, 405). Unter „Staunen“ versteht Aristoteles also keine passiv admirative Haltung, sondern einen aktiven Impuls, der nach den Gründen für dieses unerwartete Geschehen fragt und deshalb nach Wissen strebt (Met. I 2, 982b11; 983a12 ff.). Wer staunt, bemerkt nämlich – so Aristoteles –, daß er etwas nicht weiß; er fühlt sich ratlos und versucht diese Ratlosigkeit zu überwinden. Ein solcher durch das Staunen angeregte Lerneffekt beim Betrachten einer Tragödie ist nach Aristoteles nun sowohl beim Zuschauer als auch bei den Akteuren im Stück selbst zu beobachten (z. B. Ödipus) und mit Lust verbunden (Rhet. I 11, 1371a31–34): „Auch zu lernen und zu staunen ist in der Regel angenehm, denn in dem Staunen liegt die Begierde zu lernen, weshalb das Staunenswerte begehrenswert ist.“ Das gilt auch, wenn wir anschauen, was wir eigentlich nicht betrachten möchten (Poet. 4, 1448b10–12), das heißt beim Anschauen von „Unglück und Scheitern“. Es wird deutlich, daß Aristoteles von der Tragödie keine Wirkung erwartet, welche die Zuschauer in admirative Stimmung versetzen, sondern die neugierig auf Belehrung machen und nach den Gründen des Geschehens fragen lassen soll. Mit dieser Auffassung von „Staunen“ knüpft Aristoteles an ein Verständnis von „Staunen“ an, das sich bei Platon findet. Dieser ersetzt nämlich die eher traditionell admirative Auffassung des Staunens durch eine aktiv dynamische Haltung, die man einnimmt, wenn einem Besonderes und Bemerkenswertes widerfährt (vgl. z. B. den Weltaltermythos im Dialog Politikos 268d ff.). Ein solches Staunen erklärt Platon zum Anfang der Philosophie (Tht. 155d). Aristoteles greift dies auf und sieht die Ursachen für ein derartiges Staunen in Ereignissen, die gegen die Erwartung eintreten und die als paradox oder als erstaunlich angesehen werden. Wenn sich derartige Ereignisse trotz ihres paradoxen Charakters gleichwohl aber durch Kohärenz auszeichnen und sich „auseinander ergeben“ (9, 1452a3 f.), dann lösen sie Staunen, Furcht und Mitleid, aber auch intellektuelle Lust aus. Denn auch beim Paradoxen und dem, was dem Anschein nach aus Zufall geschieht, vermutet der Zuschauer Absicht und fragt nach Gründen. Als Beispiel erinnert Aristoteles an die Geschichte von der Statue eines gewissen Mitys, die denjenigen erschlug, der am Tod des Mitys schuld sei; denn sie fiel auf ihn, als er sie betrachtete (9, 1452a8 ff.).

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Aristoteles geht also davon aus, daß die Tragödie Elemente enthalten soll, die wider Erwarten geschehen und deshalb beim Zuschauer Staunen erregen. Natürlich stellt sich hier die Frage, wie dies zu Aristoteles’ anderen Forderungen paßt (Kap. 7–9), wonach eine Tragödienhandlung sich durch Einheitlichkeit und Kohärenz auszeichnen soll. Freilich ist zu bedenken, daß die Forderung nach Einheit (Kap. 7–8) Ereignisse, die spontan zu sein scheinen, nicht ausschließen, wenn diese einer dramatischen Logik folgen und innerlich kohärent sind (Halliwell 1987, 111). Wie alles andere, muß sich auch das Staunenswerte als folgerichtig und erklärbar erweisen. Denn auch Zufälliges ist nach Aristoteles (Phys. II 4–6, 195b30–198a13) keineswegs ohne Ursache. Es ergibt sich zwar aus anderen Gründen als denjenigen, die für den jeweiligen Sachverhalt vermutet werden, geschieht aber eben doch aus Gründen, die einsichtig gemacht werden können und die man ergründen kann. Wenn Paradoxes und Zufälliges aber begründbar ist, dann wird gerade auch Paradoxes und Unerwartetes Staunen wecken, zum Lernen anregen und zur Lust am Tragischen beitragen (9, 1452a3 ff.). Wenn sich die Handlung eines Stückes hingegen völlig erwartungsgemäß entwickelt, oder reiner Zufall die Handlung zu bestimmen scheint, ergibt sich kein Lernanreiz. Eben deshalb erwartet Aristoteles gerade aufgrund von paradoxen, staunenswerten, sich aber gleichwohl kohärent auseinander entwickelnden Ereignissen auf der Bühne besondere Gefühlsregungen beim Zuschauer. Aristoteles bemüht sich also darum, tragische Handlungen generell als rational erklärbar und analysierbar zu erweisen. Freilich bleibt zu fragen, ob und inwieweit Aristoteles’ Analyse den Gegebenheiten der Tragödie im fünften Jahrhundert in jeder Hinsicht gerecht zu werden vermag. Immerhin konfrontiert die Tragödie des fünften Jahrhunderts besonders mit Blick auf die religiös-theologische Ebene den Zuschauer bisweilen mit Geschehnissen, die gewöhnlichem, menschlichen Verständnis kaum zugänglich zu sein scheinen, die als übernatürlich empfunden und die als solche bisweilen auch angesprochen werden. In Euripides’ Iphigenie bei den Taurern zum Beispiel kommentiert Iphigenie die Wiedererkennung und Wiederbegegnung mit ihrem Bruder mit den Worten: „Was sag ich? Mehr als wundersam / Und unberechenbar ward dies mir zuteil“ (Vers 839 f., Übers. Donner, vgl. Halliwell 1986, 112 Anm. 3). Man fragt sich auch, wie sich „Deus-ex-machina-Szenen“ in den Tragödien des Euripides zu Aristoteles’ Versuch fügen, die Handlungsfolge zu rationalisieren. Aristoteles’ Kritik an derartigen göttlichen Interventionen ist deshalb zwar konsequent (15, 1454a37 ff.), doch zeigt sie auch, daß seine Analyse nicht jeder Gegebenheit des klassischen Dramas gerecht zu werden vermag.

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7.2 Einfacher und komplexer Mythos (Kap. 10) Wunderbares und Paradoxes gilt Aristoteles als Mittel der Psychagogie, als Ursache für Furcht und Mitleid und als Beginn eines Erkenntnisprozesses, der mit Lust verbunden ist, wenn derartiges als plausibler Teil der Handlungsstruktur gelten kann. Vor diesem Hintergrund analysiert er in den Kapiteln zehn und elf zu­nächst zwei Arten tragischer Handlungsstrukturen und dann zwei Bau­elemente der Tragödienhandlung, in denen er ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal sieht und die er in besonderem Maße für die psychagogische Wirkung der Tragödie verantwortlich macht (Kap. 11): wenn sich auseinander etwas Unerwartetes entwickelt und Staunen erregt (1452a4 ff.). In Kapitel zehn unterscheidet Aristoteles zwei Arten von tragischer Handlung: Eine einfache (haplê) und eine – wie er sie nennt – „verflochtene“ oder komplexe (peplegmenê) Handlung. Für beide gelten die ab Kapitel sieben entfalteten Postulate wie Einheit, geschlossene Form, Überschaubarkeit, angemessene Länge, logische Kohärenz und Ganzheit. Für beide setzt Aristoteles einen Wechsel (metabasis) ins Glück oder Unglück voraus. Denn „daß die mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit aufeinander folgenden Handlungsschritte zu einem Umschlag vom Glück ins Unglück oder vom Unglück ins Glück führen“ (7, 1451a12 ff., Übers. Schmitt), gilt ihm als Merkmal jeder tragischen Handlung (Halliwell 1986, 113). Jedoch erkennt Aristoteles gerade mit Blick auf diesen Wechsel als Merkmal jeder Tragödie die Notwendigkeit einer Differenzierung. Blickt man zum Beispiel auf Euripides’ Medea, so ist zu beobachten, wie Medea ihr Handlungsziel, die Rache für ihre Demütigung durch Iason, stetig verfolgt und schließlich auch erreicht, so daß sie Konsequenz dieser Absicht für ihren eigenen Sturz ins Unglück selbst verantwortlich wird. Sophokles’ Antigone beginnt mit Antigones Wunsch, die Demütigung durch das Bestattungsverbot Kreons nicht zu akzeptieren, und führt in einer Reihe notwendiger Handlungsphasen vor, wie Antigones Intention ins Gegenteil verkehrt wird und sie nun sich selbst gedemütigt fühlen muß (Vers 891– 896). In beiden Fällen entfaltet sich der tragische Handlungsverlauf kontinuierlich und einheitlich. Eine solche Handlungsstruktur nennt Aristoteles „einfach“ (haplê) oder einsträngig (10, 1452a14 ff.). Andere Tragödien bieten jedoch ein komplexeres Bild. In Sophokles’ Tragödie Trachinierinnen zum Beispiel muß Deianeira erfahren, daß ihr nach langer Zeit heimkehrender Ehemann Herakles eine Nebenfrau, Iole, mitbringt. Aus Furcht um Herakles’ Liebe schickt sie ihm ein Gewand, das sie mit einem Liebesmittel präpariert hat, in der Absicht, Herakles in

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Liebe an sich zu binden (Vers 531–632). Zu spät wird ihr klar, daß es sich bei diesem Mittel um ein tödliches Gift handelt, so daß Herakles aufgrund ihres Geschenkes ein furchtbares Ende nimmt. Deianeira erkennt, daß sie das Gegenteil von dem bewirkte, was sie beabsichtigt hatte (Vers 706–730), und zieht daraus die Konsequenz, ihrem Leben ein Ende zu bereiten (Vers 721 f.). Auch hier findet also eine Wende statt. Diese jedoch unterscheidet sich fundamental von derjenigen in Euripides’ Medea, insofern sie von einer Erkenntnis begleitet ist und dadurch die Handlung des Stückes eine neue Richtung nimmt. Die Wende (peripeteia) in den Trachinierinnen ist nämlich verbunden mit einer Änderung von Handlungsintention und Handlungsverlauf, so daß man geradezu von einer neuen Handlung sprechen kann. Während also beim „einfachen“ Handlungsverlauf ein Wendepunkt allmählich gleichsam als Übergang (metabasis) erreicht wird (Euripides, Medea), tritt er im anderen Fall unversehens und verbunden mit einem Richtungswechsel der Handlung auf, so daß man von einer neuen Handlung und deshalb insgesamt von einer komplexen Handlungsstruktur sprechen kann. Denn ein Fehlgriff infolge einer Fehleinschätzung führt zu einem Umschlag der Handlung und – im Idealfall gleichzeitig mit einer Wiedererkennung wie in Sophokles’ König Ödipus (11, 1452a32 f.) – zu einer Erkenntnis. Aus Unwissen wird ein Wissen, das Grundlage einer neuen Handlungsorientierung wird. Deshalb nennt Aristoteles eine Handlungsstruktur, in der der Umschlag „mit Wiedererkennung oder mit Wendepunkt oder mit beiden erfolgt“, „verflochten“ (peplegmenê; 10, 1452a17). Es ergibt sich, daß sich die einfache Handlung von der komplexen dadurch unterscheidet, daß erstere sich kontinuierlich und als Einheit entwickelt, und „der Umschlag (ins Unglück oder Glück) ohne Wendepunkt (Peripetie) und ohne Wiedererkennung“ (Anagnorisis) stattfindet (10, 1452a15 ff., Üb. Schmitt), wohingegen letztere sich durch Peripetie und Anagnorisis ausweist, die – wie Aristoteles betont – nicht beliebig sein dürfen. Vielmehr müssen sie sich „aus der Zusammenfügung des Handlungsverlaufs selbst heraus ergeben“, so daß „aus dem zuvor Geschehenen notwendig oder wahrscheinlich folgt, daß genau dies geschieht“ (10, 1452a19 ff., Übers. Schmitt), genau jene Bedingungen also, die Aristoteles – wie wir sahen – dafür verantwortlich machte, daß Paradoxes beim Zuschauer allgemein Staunen und Begierde nach Wissen hervorruft. Der Unterschied liegt also in der Art des Umschlages, der einmal Teil einer linearen Handlung ist oder aber Höhe- und Wendepunkt einer Handlung markiert.

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7.3 Wendepunkt (Peripetie), Wiedererkenntnis (Anagnorisis) und Leid (Pathos) (Kap. 11) Die Untersuchung einfacher und komplexer Handlungsstrukturen in Kapitel zehn bereitet den Boden für eine genauere Analyse jener beiden Bausteine der Tragödienhandlung, die sich als Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden Handlungsstrukturen erwiesen haben: Wendepunkt und Wiedererkennung. Beide Konzepte haben es mit einem Übergang von Unwissen zu Wissen zu tun, insofern Peripetie Handeln ohne Wissen, wie die Handlung ausgeht, und Anagnorisis ein Unwissen darüber betrifft, wer jemand ist (10, 1452a14 ff.). In beiden Fällen spielen also Erkennen und Verkennen, Illusion und Wissen eine zentrale Rolle, sowohl was die Handlung selbst und ihren Ausgang, aber auch was die Handlungspersonen und deren Identität und Motivation angeht.

a) Peripetie (11, 1452a22–29) Nachdem Aristoteles im sechsten Kapitel bereits angedeutet hatte (1450a33 ff.), welche Bedeutung Wendepunkt und Wiedererkennen innerhalb der dramatischen Fabel haben, beginnt er im elften Kapitel mit einer Einzelanalyse und grenzt beide Elemente voneinander ab (1452a14–18). Aristoteles beginnt mit einer Definition dessen, was er unter Peripetie versteht. Demnach ist die Peripetie „der Umschlag von Handlungen (tôn prattomenôn) in ihr Gegenteil, und zwar wenn dies, wie gesagt, gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen geschieht“ (1452a22–24, Übers. Schmitt). Die Bedeutung dieser Definition ist in wichtigen Punkten unklar. Eindeutig ist nur die Vorgabe, daß die Handlungen sich „mit Wahrscheinlichkeit (eikos) und Notwendigkeit (anangkaion)“ entfalten soll. Eine solche Vorgabe paßt zu früheren Aussagen (vgl. zum Beispiel 1452a3 ff.), wonach Stringenz und Plausibilität Grundlage für die emotionale Wirkung der Tragödie ist. Es ist deshalb wahrscheinlich, wenn auch nicht unumstritten, daß sich der Rückverweis „wie gesagt wurde“ (1452a23) auf das Ende des neunten Kapitels (1452a4) bezieht. Dort spricht Aristoteles der Tragödie die größte emotionale Wirkung für den Fall zu, daß Handlungen, die Mitleid und Furcht erregen, überraschend, unerwartet (para doxan), aber miteinander stringent verbunden sind. Vahlen (1866, 7) denkt hingegen an das Ende des siebten Kapitels, wo der Umschlag von Glück zu Unglück oder umgekehrt behandelt wird.

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Umstritten an der Definition ist vor allem, was Aristoteles mit jenen Handlungen meint, die in ihr Gegenteil umschlagen sollen. Denn der Ausdruck für „Handlungen“ (ta prattomena) kann unterschiedlich interpretiert werden. Lange Zeit verstand man ihn im Sinne einer allgemeinen Situation, als Ereigniskette oder den Handlungsverlauf (Else 1957, 344) des Stückes und sprach bei Peripetie allgemein von einem Umschlag des Handlungsverlaufs oder der Ereignisse. Doch ist diese Auffassung nicht ohne Probleme. Bedenklich ist zum Beispiel, daß in diesem Fall der „Umschlag ins Gegenteil“, von dem Aristoteles spricht, im generellen Sinne als Umschlag von Glück in Unglück oder Unglück in Glück verstanden werden muß. Denn in diesem Fall geht es um einen Gegensatz zu einem Glückszustand, von dem aber an der Stelle eigentlich nicht die Rede ist. Vielmehr ist an Handlungen (prattomena) gedacht. Logik und sprachlicher Ausdruck sprechen also eher für ein Verständnis im Sinne eines „Umschlagens einer Handlung in ihr jeweiliges Gegenteil“ (Seidensticker 1992, 247). In der Tat hat Vahlen (1866, 6) mit guten Gründen vorgeschlagen, konkret an bestimmte Handlungen und an eine völlige Wende von deren Handlungsrichtung und Handlungsabsicht zu denken und nicht an eine Wende aller dramatischen Ereignisse, die dem Umschlag vorausgehen. Für die Auffassung sprechen auch die Beispiele, mit denen Aristoteles seine Definition illustriert (1452a24–29). Denn sie zeigen, daß jemand mit einer bestimmten Handlung genau das Gegenteil dessen erreicht, was er intendiert hat. Aristoteles erinnert an das vierte Epeisodion von Sophokles’ König Ödipus, in dem der Bote aus Korinth auftritt und hofft, Ödipus mit der Nachricht zu erfreuen und von Sorge zu befreien, die Königin von Korinth sei seine Mutter, ihn aber mit der Nachricht, wer er wirklich ist, in größte Bedrängnis stürzt. Gewiß, Aristoteles ist bei seinem Hinweis auf Sophokles’ Tragödie ungenau. In Wirklichkeit kommt der Bote nicht, um Ödipus von Befürchtungen hinsichtlich seiner Mutter zu befreien. Denn davon erfährt er erst beim Treffen mit Ödipus. Er hoffte vielmehr, ihn mit der Nachricht zu erfreuen, er sei als Nachfolger des Polybos zum König in Korinth berufen (Vers 923 ff. und 989 ff.). Offenbar hat Aristoteles hier verkürzend referiert und die Intention, Freude zu machen, mit der sich situativ ergebenden Gelegenheit, ihn von Sorgen um seine Mutter zu befreien, verbunden. Jedenfalls läßt sich Aristoteles’ Hinweis dahingehend verstehen, daß mit „Wendepunkt“ (peripeteia) nicht allgemein die Handlung des Stückes, sondern eine bestimmte Handlung und eine mit dieser Handlung verbundene Absicht gemeint ist, die sich beide genau ins Gegenteil verkehren.

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Diese Auffassung läßt sich durch weitere Beispiele von Peripetie im König Ödipus illustrieren, wenn zum Beispiel Ödipus nach Teiresias (Vers 316 ff.) und nach dem Thebanischen Hirten (Vers 1110 ff.) schicken läßt. Auch hier ergeben sich Umkehrungen in Handlungen und ihren Intentionen. Aristoteles’ zweites Beispiel aus dem Stück Lynkeus des Theodektes bestätigt diese Auffassung. Obgleich wir den Inhalt nicht kennen und man zugeben muß, daß in diesem Fall eine Absicht kaum eine Rolle spielen dürfte, illustriert Aristoteles’ Hinweis auf die dramatische Situation, daß es auch hier um den Umschlag einer einzelnen, konkreten Handlung geht. Denn Lynkeus wird von Danaos in den Tod geführt, dann aber gerettet, wohingegen der Täter Opfer seiner Tat wird. Es ergibt sich, daß Aristoteles unter Peripetie offenbar die Umkehrung einer mit einer Handlung verbundenen Erwartung und der Absicht eines Akteurs gleichermaßen versteht, wobei ein gewisses Maß an Unkenntnis der dramatischen Situation durch den Akteur impliziert ist. Als Folge eines solchen „Umschlagens“ ändert sich die Richtung der Handlung grundsätzlich und ergibt sich ein neuer Handlungsverlauf, so daß in der Tat zwei Handlungen verbunden werden und Aristoteles von einer „verknüpften“ Handlung sprechen kann. Wie der König Ödipus zeigt, kann Auslöser einer solchen Peripetie eine untergeordnete Figur sein (Teiresias: Vers 316 ff.; Hirte: Vers 1110 ff.), doch müssen die Folgen der Verkehrung eine zentrale Figur betreffen (z. B. Ödipus, vgl. Vers 316 ff.). Später in der Poetik (Kap. 18) greift Aristoteles im Kontext seiner Diskussion zweier anderer Handlungstypen, der Verknüpfung (desis) und Lösung (lysis), die Frage nach der Peripetie erneut auf. Demnach bildet sie (wie auch die Wiedererkennung) den Punkt, von dem aus sich nach der „Verwicklung“ die „Lösung“ entfaltet (1456a20 ff.).

b) Anagnorisis (11, 1452a29–b8) Neben dem „Umschwung“ der Handlung hat sich die „Wiedererkennung“ als ein wichtiges Merkmal erwiesen, durch welches sich komplexe Tragödienhandlungen von einfachen unterscheiden und mit dessen Hilfe die Tragödie nach Überzeugung des Aristoteles die höchstmögliche emotionale Wirkung ausübt. Steht die Peripetie für einen überraschenden Umschwung von Wissen in Unwissen über den Ausgang einer Handlung, so das zweite Merkmal einer verflochtenen Handlungsstruktur, die Anagnorisis, für einen Umschwung von Unwissen in Wissen darüber, wer der Mitakteur der Handlung und was von ihm zu halten ist. Mit „Wiedererkennung“ (anagnôrisis) greift Aristo-

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teles ein in der Tat beliebtes Element der dramaturgischen Kunst der klassischen Tragiker und überhaupt der Literatur auf. Wiederkennungsszenen finden sich schon bei Homer, werden im Drama des Sophokles und dann besonders des Euripides zu einem wichtigen Baustein der Handlungen und sind Gestaltungselement in der neuen Komödie (Menander). Sie spielen sogar in den literarischen Kunstdialogen Platons eine Rolle, in denen die Suche nach und das Erkennen von geeigneten Gesprächspartnern literarisch ein Leitmotiv (Phdr. 276d) und philosophisch eine lebendig diskutierte Frage ist. Die von Aristoteles aufgegriffene Frage nach der Wiedererkennung (anagnôrisis) und ihrer Bedeutung innerhalb der Dramenhandlung läßt erkennen, daß er in einer Tradition steht: „Warum verliehst du, großer Zeus, uns sichere / Merkmale, daß uns falsches Gold nicht täuschen kann / doch drücktest kein Kennzeichen auf der Menschen Leib, / an dem man unterscheiden kann den schlechten Mann?“ (Euripides, Medea, Vers 516 ff., Üb. Donner): Medeas Klage in der gleichnamigen Tragödie des Euripides über die Schwierigkeit, andere Menschen als das zu erkennen, was sie sind, ist in der Tat nicht nur ein wichtiges Handlungselement, sondern auch Gegenstand impliziter Reflexionen, insbesondere der späteren euripideischen Tragödie. Bei Euripides lassen sich darüber hinaus erste, gleichsam implizite Reflexionen über die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der­artiger Wiedererkennungsprozesse beobachten. Man kann geradezu sagen, „Aristoteles (habe) poetologisch vollendet, was Euripides eingeleitet habe“ (Kannicht 1994, 327 Anm. 5). Freilich sollte hierbei als „Durchgangsstation“ Platon nicht übersehen werden, der in seinen Dialogen das dramatische Mittel der Anagnorisis rezipiert und integriert und dabei Vorgaben macht (wie zum Beispiel die Notwendigkeit, sich auf den Logos zu konzentrieren, wenn man Menschen erkennen will), die für Aristoteles wegweisend sind, wenn Platon dabei auch weniger auf äußere Merkmale als auf den Logos zählt (Erler 1992). Bei Euripides und Platon wird die Frage der Wiedererkennung zum Gegenstand erkenntnistheoretischer Überlegungen, die Aristoteles’ Ausführungen in der Poetik Profil geben. Denn offenbar war das Publikum mit Anagnorisis als strukturellem Element der Tragödie dieser Zeit so vertraut, daß Euripides in den Bakchen mit dem Motiv sogar eine Art metatheatralisches Spiel treiben kann. Die Tragödie ist zu einer Kunst geworden, die über sich selbst und ihre Grundelemente reflektiert, und dies betrifft auch die Wiederkennungsszenen:

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Bei Euripides kommt es zu einem Erkennen durch unanfechtbare Beweise – man denkt etwa an die Iphigenie bei den Taurern – oder durch wissende Boten, wie den Pädagogen in der Elektra, den Boten im Kresphontes oder im Alexandros oder den Diener in der Helena. Diese Hilfe tritt immer zur rechten Zeit durch göttliche Fügung ein, wie den Personen im Stück meist auch bewußt ist. Euripides ist überzeugt, daß aus bloßen Anzeichen Wahrheit nicht erraten werden kann, wie das Elektra in den Choephoren und Chrysothemis in Sophokles’ Elektra gelingen soll. Daran hindert die Vieldeutigkeit derartiger Belege. Die Helena, in der Helena sozusagen nur als „Windei“ in Troja, in Wirklichkeit aber in Ägypten treu auf ihren Ehemann gewartet hat, spielt die Möglichkeiten einer Wiedererkennung durch Helena und Menelaos in zahlreichen Facetten durch. Dabei werden Namensgleichheit oder körperliche Ähnlichkeit als Kriterium für die Erkenntnis von Identität diskutiert und ein Spiel von Sein und Schein vorgeführt – als Agon zwischen doxa und alêtheia hat man die Anagnorisis bezeichnet –, welches in der Aporie endet. Überblickt man die Anagnorisis-Szenen bei Euripides, so fällt der hohe theoretische Reflexionsgrad auf, mit dem über die Möglichkeiten, die Identität einer anderen Person zu erkennen, reflektiert wird. Ein Echo finden wir dann auch in Platons Dialogen. Dies kann nicht überraschen. Denn die Frage, wie Wesen und potentielle philosophische Kompetenz der jeweiligen Partner des Sokrates zu erkennen sind, zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Dialoge; von der Beantwortung dieser Frage gemäß den Regeln adressatenorientierter philosophischer Rhetorik (Phdr. 276e ff.) hängt das Niveau des jeweiligen Gespräches ab. Zu Beginn des Politikos werden dann unter Verwendung des nur hier in diesem Kontext bei Platon verwendeten Anagnorisisbegriffes verschiedene Optionen von Erkenntnismöglichkeiten menschlicher Identität durchgespielt (Polit. 257c ff.; Erler 1992, 151 ff.), wobei die im Politikos diskutierten und verworfenen Ansätze – äußerliche Ähnlichkeit oder Namensgleichheit, Ähnlichkeit ist nur durch Denken erkennbar – und die Verwendung einschlägiger Terminologie wie „wiedererkennen“ (anagnôrizein; 258a) nahelegen, daß Platon auf entsprechende Reflektionen in der Tragödie vornehmlich des Euripides (z. B. Helena) rekurriert und seinerseits vorwegnimmt, was wir in Aristoteles’ Poetik finden. In der Tat ist wohl kaum Zufall, daß gleiche Fragen und methodische Vorgehensweisen auch bei Aristoteles von Bedeutung sind, wenn er das „Wiedererkennen“ analysiert. Anders als bei der Peripetie ist Aristoteles’ Definition eindeutig: „Wiedererkennung ist, wie schon der bloße Wortlaut sagt, ein Übergang aus dem Zustand der Unwissenheit in den des Wissens, der zu Freundschaft oder

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Feindschaft führt, bei Handelnden, die zu Glück oder Unglück bestimmt sind“ (11, 1452a29–32; Übers. Schmitt). Wie bei der Peripetie handelt es sich auch bei der Anagnorisis um einen Umschlag (metabolê) von Unwissen in Wissen, wobei die Anagnorisis gleichsam das subjektive Pendant zum Handlungsumschlag ist und infolge der neu gewonnen Erkenntnis zu einer Änderung der Handlung führt, aus der subjektiven Erkenntnismetabole also eine objektive Handlungsmetabole wird. Wiedererkennungs­szenen haben eine entscheidende Bedeutung für die Handlung und sind Anlaß für Staunen und auslösendes Moment für die kathartischen Affekte Furcht und Mitleid. Deren Wirkung ist dann am größten, wenn das Wiedererkennen gemeinsam mit dem Wendepunkt auftritt (1452a32; Söffing 1981, 133 f.). In der Tat ist nach Aristoteles die Anagnorisis dann am wirkungsvollsten, wenn sie zugleich mit der Peripetie eintritt, wie dies im König Ödipus (1452a32 f.) der Fall ist. Denn in diesem Stück erkennt Ödipus durch das Zeugnis des Hirten, daß er zugleich Sohn und Mörder des Laios ist (Vers 1155–1185). Zunächst untersucht Aristoteles das Objekt der Anagnorisis. Denn Wiedererkennen kann leblose Objekte – zum Beispiel ein Körbchen im Ion des Euripides – oder beiläufige Ereignisse betreffen. Es kann um die Frage gehen, ob man etwas getan hat oder nicht (1452a35 ff.). So erkennt zum Beispiel Ödipus, daß er seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet hat, oder Hekabe bemerkt in Euripides’ Hecabe, daß Polymestor ihren Sohn Polydoros ermordet hat, oder Aias muß in Sophokles’ gleichnamiger Tragödie feststellen, daß er nur Vieh, nicht aber Griechen getötet hat, wie er geplant hatte. Alles dies kann zur Erkenntnis beitragen, daß eigenes Tun ins Glück oder Unglück führt (1452a34). Insgesamt gibt Aristoteles dem Wiedererkennen von Personen den Vorzug (1452a38 ff.). Es kann beim Erkennen von Personen darum gehen, zu erkennen, ob jemand Freund oder Feind ist (1452a31: metabolê eis filian, vgl. Kap. 14). Dabei sind verschiedene Konstellationen möglich, wenn zum Beispiel nur eine Person eine andere wiedererkennt, da eine schon bekannt ist (1452b4 f.), oder wenn beide sich einander wiedererkennen (1452b5). Als Beispiel nennt Aristoteles Euripides’ Iphigenie bei den Taurern, in der Iphigenie von Orest durch Absenden eines Briefes erkannt wird, während eine weitere Anagnorisis nötig war, damit Orest von Iphigenie erkannt wurde (1452b5 ff., vgl. Iphigenie bei den Taurern, Vers 723–795 und 795–826). Genauer geht Aristoteles auf diese Fragen in Kapitel 16 ein. Dort diskutiert er nicht nur, was eine Anagnorisis ist, sondern auch ihr „Wie“ genauer und bietet eine Hierarchie von fünf Arten (1454b19 f.). Bei seiner wertenden Einteilung gibt er derjenigen Anagnorisis die schlechteste Note,

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die auf Zeichen, also äußeren Merkmalen beruht (dia tôn sêmeiôn; 1454b20). Zum Beispiel wird Odysseus an seiner Narbe erkannt. Negativ bewertet er auch Wiedererkennungen, die vom Dichter erfunden sind, indem er Personen sich selbst vorstellen läßt (54a34), zum Beispiel wenn Iphigenie in Euripides’ Iphigenie bei den Taurern durch einen Brief erkannt wird, Orest sich aber selbst zu erkennen gibt. Hierzu äußert sich Aristoteles, dies entspreche dem Willen des Dichters, nicht aber dem Mythos (16, 1454b35) – wobei er Mythos offensichtlich im traditionellen Sinne verwendet. Aristoteles sieht dieses Vorgehen ähnlich problematisch wie das Wiedererkennen durch Zeichen. Auch eine Wiedererkennung, die mit Hilfe der Erinnerung geschieht, bewertet er nicht positiv (1455b39 ff.), wenn zum Beispiel jemand auf etwas, das er sieht oder hört, mit einer Gefühlsregung reagiert wie etwa in der Demodokosszene in der Odyssee, wo Odysseus durch die Erzählungen von seinen eigenen Leiden hört und zu Tränen gerührt wird (Buch 8, Vers 521 ff.). Etwas besser (als die zweitbeste) bewertet Aristoteles eine Wiedererinnerung, die sich aufgrund einer Schlußfolgerung ergibt, wie zum Beispiel in den Choephoren des Aischylos, wo es heißt, jemand wie Elektra sei gekommen, und der Schluß gezogen wird, es müsse sich um Orest handeln (Vers 168 ff., vgl. Poet. 17, 1455a4 ff.). Als die beste Art der Wiedererkennung aber erachtet er jene, die sich aus der Handlung heraus (selbst) ergibt: „wenn es gemäß dem Wahrscheinlichen zu einer Affekthandlung kommt“ (1455a17 ff.), weil sie ohne Zeichen auskommt (1455a17). Der König Ödipus und die Iphigenie bei den Taurern dienen ihm als Beispiel. Dieser beste Typ verzeichnet als Wirkung ein Erschrecken, das auf der Wahrscheinlichkeit beruht (tês ekplêxeôs gignomenês dia eikotôn; 1455a17) und damit erfüllt, was für die Wirkung einer Tragödie in Kapitel neun verlangt wurde. Diese Einteilung von Wierdererkennungsweisen ist von den Interpreten oft als unglücklich bezeichnet worden. Man nahm vor allem Anstoß daran, daß Aristoteles solche Arten von Wiedererkennung positiv hervorhebe, die nach ihrer Ansicht der visuellen Dimension der Theaterpraxis nicht besonders gerecht würden. Doch paßt Aristoteles’ Auffassung von dem, was er für die beste Anagnorisis hält, zu seiner generellen Zurückhaltung gegenüber den visuellen Aspekten des Dramas. Vielleicht darf man darin eine Reaktion auf das zeitgenössische Theater gesehen. Offenbar war man im vierten Jahrhundert in der Tat der Meinung, daß die Tragödie auch als Text, nicht nur als Libretto für eine Aufführung zu werten sei. Man darf auch daran erinnern, daß der visuelle Aspekt des Dramas ein Anlaß zu Platons Befürchtung war, daß es zu einer zu großen Emotionalisierung des Publikums kommen könne. Wenn Aristoteles die visuelle Dimension der

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Tragödie weniger berücksichtigt, so geschieht dies freilich nicht, um sich dieser Kritik zu beugen, sondern im Gegenteil, um das Theaterspiel und die für das Theaterspiel typischen Affekte zu rehabilitieren. Aristoteles war sich der psychagogischen Wirkung der visuellen Effekte durchaus bewußt.

c) „Leid“ (pathos), Handlung und Wirkung (11, 1452b10–13) Gegen Ende des elften Kapitels läßt Aristoteles (1452b9–13) eine kurze Behandlung des „Leidenden Tuns“ (pathos) folgen. Er versteht darunter ein vornehmlich physisches Leiden (1452b11–13), also ein drittes Element der Handlungsstruktur oder des „Mythos“. Aristoteles’ vergleichsweise knappen Ausführungen – in Kapitel 14 (s. in diesem Band Kapitel 8: Tragischer Fehler, Menschlichkeit, tragische Lust) finden sich weitere Bemerkungen zum Thema – wirken wie eine Art Appendix zu dem, was er über die Umschwünge und die Wiederkennungen zu sagen hat. Doch da ab Kapitel 13 der Held in den Fokus der Betrachtung tritt, leuchtet ein, daß Aristoteles hier den angemessenen Ort sah, auch das „Leid“ als Merkmal der Tragödienhandlung zu thematisieren, auch wenn er ihm – anders als etwa Platon (Rep. 605a ff.) – eine vergleichsweise nur untergeordnete Bedeutung zuspricht. In der Tat ist in zahlreichen Tragödien wie zum Beispiel in Euripides’ Iphigenie bei den Taurern weniger das Leid der agierenden Personen als Handlungsumschwung und Wiederkennung für die Wirkung der Tragödienhandlung auf das Publikum verantwortlich (18, 1455b33 f.). Gleichwohl räumt Aristoteles auch dem „Leid“ eine Bedeutung in der Tragödienstruktur ein. Wie spätere Kapitel zeigen, denkt er dabei an Tragödien wie den Aias (18, 1455b34 f.) des Sophokles, in dem Eid und Selbstmord des Helden wenigstens teilweise sichtbar vorgeführt wurden. Aristoteles erwähnt auch eine Tragödie über den thessalischen König Ixion, der zur Strafe für unsittliche Annäherung an Hera in der Unterwelt an ein Rad gebunden war (18, 1456b37 f.) – wir wissen von einer solchen Tragödie des Aischylos und des Euripides – deren Handlung sich in der Tat ganz auf das Unrecht und das Leid konzentriert. Als ein bedeutendes Beispiel für eine solche „Tragödie des Leidens“ mag auf die Niobe des Aischlyos verwiesen sein, deren Protagonistin bis zum dritten Akt schweigend am Grab der Kinder sitzt. Freilich haben derartige „Tragödien des Leidens“ einen zumeist einsträngigen Handlungsverlauf (10, 1452a14 ff.) ohne Umschwünge und Wiedererkennungen, der deshalb von ihm als weniger wirkungsvoll angesehen wird. Aristoteles’ Ausführungen zeigen, daß er unter „Leid“ auch und vor allem direktes, oftmals physisches Leid wie zum Beispiel Todesfälle

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versteht (12, 1452b14). Wenn er zudem in Kapitel 23 auch Homers Ilias als Beispiel einer solchen Pathostragödie anführt, bestätigt dies, daß es ihm vornehmlich um die Darstellung von physischem Leid geht. Bemerkenswert ist, daß er in diesem Zusammenhang von Todesfällen und Schmerz „im Offenen“ (en tôi phanerôi) spricht, was man wohl im Sinne von „vor aller Augen“ verstehen muß. Denn in der Antike galt es als unpassend, Tötungen und Todesfälle auf der Bühne darzustellen, wie wir aus vielen Zeugnissen (Gudeman 1934, 227 f.) erfahren und noch Horaz als Regel formuliert (Ars poetica 179–188). Auch Aias stürzt sich im gleichnamigen Stück des Sophokles zwar ins Schwert, doch geschieht dies im Verborgenen (Vers 815–65). Man hat deshalb vorgeschlagen, „Leid“ hier generell im Gegensatz zu Anagnorisis und Peripetie einfach als „sichtbares Element“ zu verstehen (Else 1987, 356 f.) oder an Geschehnisse hinter der Bühne zu denken wie Ödipus’ Vatermord, die schon vor der eigentlichen Handlung eingetreten sind (EN I 11, 1101a33–34) und die durch Bericht gleichsam in die Handlung eingebracht werden. Freilich gibt es – wenn auch selten – Sterbeszenen auf der Bühne wie in Euripdes’ Alkestis und im Hippolytos. Was Aristoteles im Sinn gehabt haben mag, kann man vielleicht aus Kapitel 14 ersehen, wo er von Furchtbarem und Mitleiderweckendem spricht, „das durch sichtbare Darstellung (von Leid) erzeugt“ wird (14, 1453b1 ff., vgl. Söffing 1981, 79). Man mag an Ödipus denken, wenn er nach der Selbstblendung blutüberströmt auf die Bühne zurückkommt. Aristoteles bestreitet also nicht, daß Leid (pathos) in der Tragödie eine wichtige Rolle zukommt und zu ihrer Wirkung wesentlich beitragen kann. In der Tat spricht Aristoteles dem Visuellen psychagogische Wirkung nicht ab (6, 1450b16–20). Auch belegt die Rezeption der antiken Tragödie zum Beispiel in der bildenden Kunst, daß gerade derartiges Leiden Eindruck gemacht hat. Dennoch ist festzuhalten, daß Aristoteles mit Blick auf die Wirkung „Mitleid und Furcht“ den beiden Bauelementen der Tragödienhandlung: „Umschwung der Handlung“ und „Wiedererkennung“ größere Wirkung zubilligt und im Leid (pathos) keinen eigentlich konstitutiven Teil der Handlung sieht (Schmitt 2008, 559 f.).

7.4 Die „quantitativen“ Teile der Tragödie (Kap. 12) Behandeln die Kapitel zehn bis elf vornehmlich Fragen der Handlungsstruktur und untersuchen Aspekte wie Einheitlichkeit und die Motivation des Handelns, so wendet sich Aristoteles im zwölften Kapitel der histo-

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rischen Tragödientradition zu und behandelt jene formalen Bauelemente, die er zuvor schon (1, 1447a10) als „quantitativ“ bezeichnet hatte, und die er in der Tragödie gleichsam aneinandergereiht sieht. Dabei geht er recht schematisch von einem Wechsel von Schauspielersprechpartien und Chorpartien aus und bemüht sich um Definitionen, die möglichst allgemein sind, um den Facettenreichtum der Erscheinungsformen der jeweiligen Bauelemente zu umfassen. Die Frage nach den jeweiligen Funktionen dieser Tragödienteile tritt dabei in den Hintergrund. Zur Sprache kommen dabei Partien wie Prolog, Episode, Exodos und Chorteile, zu denen das Einzugslied (parodos) und Chorlieder in der Orchestra (stasimon) gehören (Jens 1971). Prolog und Parodos werden heute gerne unter „Eingang“ zusammengefaßt. Zu diesen Elementen, die es in jeder Tragödie gebe, kommen in manchen Tragödien noch Soloarien von Schauspielern und Wechselgesänge zwischen Schauspieler und Chor (kommos) hinzu. Die Bestimmungen, die Aristoteles anbietet, sind recht formal. Er bedient sich einer Terminologie, die bisweilen bei ihm zuerst zu finden ist (prologos, stasimon, vgl. Taplin 1977, 470 ff.), doch großenteils wohl zu Aristoteles’ Zeit bekannt gewesen sein dürften. Der Prolog wird als „gesamter Abschnitt der Tragödie vor dem Einzug des Chores“ (12, 1452b19 f.) bestimmt, also als jener Teil, der der Parodos vorausgeht. Prolog bezeichnet somit den Auftritt der Schauspieler mit iambischen Sprechversen auf der Szene, während mit Parodos gewöhnlich den Einzug des Chores mit rezitierten Anapästen des Chorführers oder mit Gesang des Chores in die Orchestra gemeint ist. Gemeinsam mit der Parodos dient der Prolog der Exposition des „Mythos“ des Dramas; es werden Personen, Ort und Zeit der Handlung fixiert. Mit Blick auf ihre Funktion bilden sie beide eine Einheit, hinsichtlich ihrer jeweiligen Form sind sie zu trennen. Das Epeisodion, unter dem man ursprünglich das Hinzutreten eines Schauspielers zu einem Chor verstehen darf, wird allgemein als der „gesamte Abschnitt der Tragödie zwischen zwei Chorliedern“ (12, 1452b20) verstanden, so daß nicht nur Wechselrede, sondern auch mögliche Arien oder Wechselgesänge umfaßt werden. Damit wird jener Teil der Tragödie beschrieben, den man heute als Akt bezeichnet. Die Exodos definiert Aristoteles als jenen Teil der Tragödie, der dem letzten Chorlied folgt, wobei zu bedenken ist, daß das letzte Chorlied bisweilen weit vom eigentlichen Ende des Stückes entfernt sein kann wie zum Beispiel im Herakles des Euripides (Vers 1038–1428). Der Chor der Tragödie hat sowohl zusammenhängende chorlyrische Partien zu singen, als auch sich in lyrischer Form oder durch Sprechverse an der Handlung zu beteiligen. Aristoteles unterscheidet bei den Chorpartien die Parodos als den gesamten ersten Vortrag des Chores (12,

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1452b22 f.) vom Stasimon als einem „Standlied des Chores ohne Anapäst und Trochäus“ (1452b23 f.). Er macht also in dem einen Fall den Ort innerhalb der Tragödie (erste Äußerung) und im anderen die durch das Metrum bestimmte Gattung (stasimon) zum Kriterium der Unterscheidung. Schließlich werden als Spezialfälle beim Chorlied der Kommos und Lieder, die von einem Schauspieler von der Bühne gesungen wurden (ta apo skênês), womit Soloarien gemeint sind, genannt (der Chor gehörte ja in die Orchestra). Beim Kommos handelt es sich um einen lyrischen Dialog zwischen Chor und einem oder zwei Schauspielern, der von Aristoteles näher als „Klagelied“ (thrênos) bestimmt wird. In der Tat hängt das Worte „Kommos“ mit dem griechischen Wort für „schlagen“ (koptein) zusammen, was einen üblichen Trauergestus beschreibt. Freilich handelt es sich bei kommoi keineswegs ausschließlich um Klagelieder, was Aristoteles nicht berücksichtigt, zum Beispiel findet sich ein nicht klagender Kommos in Aristoteles’ Mustertragödie, Sophokles’ König Ödipus (Vers 1313–1368; weiteres bei Gudeman 1934, 236). Bei seiner Analyse geht Aristoteles offenbar von einer Grundstruktur der Tragödie als einer Reihe von gesprochenen Szenen aus, die von Chorteilen unterbrochen werden. Diese einfache Abfolge ist für eine erste Analyse der Tragödienstruktur hilfreich, wird freilich nicht immer den oft komplexeren Strukturen der überlieferten Stücke im fünften Jahrhundert gerecht. Man hat deshalb in der neueren Forschung mit interessanten Ergebnissen nach anderen Ansätzen (Auf- und Abtritte) gesucht (Taplin 1977, 470 ff.). Bemerkungen wie gegen Ende des 18. Kapitels (1456a27 ff.), wo Aristoteles von einer einlagenartigen Funktion der Chorlieder spricht, legen die Vermutung nahe, daß er vor allem zeitgenössische Theaterpraxis vor Augen hatte (Flashar 1984). Freilich sind wir über derartige zeitgenössische Tragödien nur schlecht unterrichtet, so daß eine Überprüfung eines solchen Bezuges schwierig ist. Anstöße an sprachlichen Besonderheiten oder an der Einbettung des Kapitels in die Gedankenführung der Poetik an der überlieferten Stelle haben Interpreten veranlaßt, das Kapitel für unecht oder falsch eingeordnet zu erklären; wegen seines rein auf Realia bezogenen Inhaltes ist es zudem nicht selten von Interpreten vernachlässigt worden. Freilich sind Hinweise auf angebliche Störungen des Gedankenganges nicht schlagend (Söffing 1981, 79 f.) und ergänzt die Analyse der Bauformen oder quantitativen Teile diejenige der qualitativen Teile auf plausible Weise. Mag die deskriptive Darstellung der Bauelemente der Tragödie also für Fragen der antiken Theaterpraxis relevant sein, so richtet sich philosophisches Interesse auf die eher normativen Vorgaben der Kapitel zehn und elf.

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Tragischer Fehler, Menschlichkeit, tragische Lust (Kap. 13–14)

8.1 Überblick Die Kapitel 13 und 14 der Poetik setzen die Erörterung der konstitutiven Teile beziehungsweise Funktionselemente der Tragödie fort. Schon in den Kapiteln sechs bis zwölf lag der Schwerpunkt auf dem wichtigsten konstitutiven Teil, der Geschichte (mythos). Jetzt, in zwei ergänzenden Kapiteln, bringt Aristoteles deren Untersuchung zu Ende (14, 1454a13–15). Das Einführungskapitel der Tragödientheorie hatte als die von der Tragödie angestrebte Wirkung (ergon tês tragôdias: 6, 1450a30 f.) das Hervorrufen von Mitleid und Furcht sowie deren Reinigung genannt (1449b27 f.). In den Kapiteln 13 und 14 wird diese Wirkung zum Leitthema (13, 1452b29 f.). Der Text spricht viel von dei (soll: 13, 1452b28, b31, b34, b38 usw.), von kalon (schön: 1453a12; 1453b26) oder sogar vom Superlativ kallistê (am schönsten: 1453a23). Er verwendet also normative Begriffe, aber nicht im absoluten, sondern relationalen und funktionalen Sinn: Aristoteles fragt, wie die Tragödie die gesuchte Wirkung optimal erreicht. In Kapitel 14 überlegt er, durch welche Konfliktkonstellationen eine Geschichte besonders pathosträchtig ist, nämlich in hohem Maß die Affekte Furcht und Mitleid und damit eng verbunden Lust hervorruft: Mitleid (eleos), weil der Protagonist eine weithin rechtschaffene Person ist, die zwar einen Fehler (hamartia) begeht, aber kein so maßlos großes Unglück verdient; Furcht (phobos), weil der Zuschauer dem Protagonisten ähnelt, daher ein ähnliches Unglück befürchtet; und Lust (hêdonê), weil er am Ende von den beiden schmerzlichen Affekten frei wird.

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Zuvor, in Kapitel 13, untersucht Aristoteles vier Arten des Umschlagens (metabolê) im Handlungsverlauf und zeigt, daß drei von ihnen die gesuchte Wirkung verfehlen, allein die vierte Art ist sachgerecht. In der Erläuterung spielt das zweitwichtigste Funktionselement der Tragödie, der Charakter (êthos), eine bedeutende Rolle, obwohl er erst in Kapitel 15 zum ausdrücklichen Gegenstand wird. Dabei geht die Geschichte mit dem Charakter, der mythos im Sinne von Komposition oder Arrangement mit dem êthos, eine so gut wie untrennbare Verbindung ein. Durch sie wird der Charakter, obwohl ihn Aristoteles rangmäßig hinter dem Handlungsverlauf plaziert (6, 1450a24 ff., 8, 1451a15 ff.), deutlich aufgewertet. Für die Beurteilung der optimalen Wirkung stellt Aristoteles zu Recht Gesichtspunkte zurück, die wie die opsis: das Vor-Augen-Führen auf der Bühne, die Inszenierung, (14, 1453b1–7) der Eigenleistung des Dichters äußerlich sind. Der Poetik kommt es auf die dichtungsintern (kata technên) beste Tragödie an. Technê heißt bei Aristoteles die intellektuelle Fertigkeit, die zum Herstellen (poiêsis) befähigt (vgl. EN VI 4). Mit ihr, einer anwendungsbezogenen Fachkompetenz, einem Expertenwissen, spricht der Philosoph die Tragödie als ein Produkt aus der Hand des Dichters an und fragt, welches vom Dichter selbst verantwortete Produkt, also welcher Tragödientext, des näheren: welcher Handlungsverlauf, welche Geschichte (mythos), die angestrebte Wirkung am besten erreicht (1453a22 f.). Zwei Begriffe erhalten ein besonderes Gewicht: die hamartia, der Fehler, den man gelegentlich als die tragische Schuld bezeichnet, und die aus den Affekten von Mitleid und Furcht resultierende hêdonê, die sogenannte tragische Lust. Der erste Begriff, der die Tragödie auslösende Fehler, gehört zu beiden Funktionselementen. Er folgt nämlich aus dem Charakter der Person, wird aber nicht direkt, als Charaktermerkmal, sondern indirekt, durch den Verlauf der Geschichte, dargestellt. Und genau deshalb, wegen des im Handlungsverlauf zutage tretenden Charakters, sind Handlungsverlauf und Charakter untrennbar verknüpft. Bei der gesuchten Wirkung taucht der zweite Begriff, der der tragischen Lust, auf. Der nach Kapitel sechs dazugehörende Begriff der Katharsis: daß die Tragödie die Affekte Mitleid und Furcht und eine Reinigung eben dieser Affekte oder eine Erleichterung von ihnen (pathêmatôn katharsis) bewirkt, erscheint dagegen nicht. Im merkwürdigen Kontrast zur fast uferlosen Debatte über die tragödienspezifische Katharsis führt die Poetik den Begriff lediglich an einer einzigen Stelle (6, 1449b28) an. An einer zweiten Stelle, in Kapitel 17 (1455b15), bezeichnet er nämlich keinen affektiven, sondern den rituellen Vorgang, durch den Orest entsühnt wird.

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8.2 Der tragische Held als „spoudaios“ Aristoteles erläutert in Kapitel zehn für die Zusammensetzung des Tragödienverlaufs zwei Optionen: Beim einfachen Arrangement genügt ein innerer Zusammenhang, eine organische Einheit. Bei der verschlungenen (peplegmenos, wörtlich: verflochtenen) Komposition braucht es dagegen eine Wende (metabasis), die sich mit einem Wiedererkennen (anagnôrismos bzw. anagnôrisis: 11, 1452a29–31) oder einem Umschlag (Peripetie) oder beidem verbindet (10, 1452a17 f.). Am besten sei allerdings ein Wiedererkennen, das zugleich mit der Peripetie eintrete (11, 1452a32 f.). Im Kapitel zehn zieht Aristoteles keine von beiden Optionen vor. Es könnte daher überraschen, daß er jetzt, in Kapitel 13, die erste Option als geringer, die zweite dagegen als höher einschätzt. Schon Kapitel sechs erklärt jedoch von den zwei Elementen der verschlungenen Komposition, den Peripetien und dem Wiedererkennen, daß sie bei den Zuschauern am stärksten die gesuchte Wirkung (1450a30 ff.) erreichten, die, wie Kapitel elf präzisiert, in Furcht und Mitleid besteht (1452a37 f.). Das eine Element, die Peripetie, bezeichnet einen jähen Umschwung, der in „Szenen von konzentrierter Wucht“ (Fuhrmann 1994, 115) stattfindet. Als Beispiel führt Aristoteles Sophokles’ Ödipus (Vers 924 ff.) an, wo der Bote aus Korinth eine freudige Botschaft übermitteln will, die aber das Gegenteil erreicht (10, 1452a25 f.). Denn die Entdeckung von Ödipus’ wahrer Herkunft läßt ahnen, daß der Titelheld blutschänderisch mit seiner eigenen Mutter vermählt ist. Sophokles’ Ödipus zeigt auch exemplarisch die beste, nämlich mit der Peripetie zusammenfallende Art des Wiedererkennens: In Vers 1050 erkennt Jokaste, daß ihr Mann zugleich ihr Sohn ist; Ödipus selbst durchschaut diese Identität aber erst später, in Vers 1167 ff. Für die einfach komponierte Tragödie bringt die Poetik kein Beispiel. Man kann hier an Euripides’ Medea denken. Denn trotz der Raffinesse, mit der sich das Drama entfaltet, verfolgt die Titelheldin, die Tochter des Königs von Kolchis, ihr Ziel, eine Genugtuung, sogar Rache für tief verletzten Stolz, von Anfang an. Im Kapitel 13 vertritt die Poetik zwei auf den ersten Blick sich widerstreitende Thesen. Zu Beginn schätzt Aristoteles den einfachen Handlungsverlauf als unterlegen (1452b31 f.), in der Mitte dagegen als überlegen ein (1453a12 f.). Die Einschätzung erfolgt aber in unterschiedlicher Hinsicht. Zu Beginn heißt der Gegenbegriff zu „einfach“ „verschlungen“, später aber „zweifach“: Im Rahmen der verschlungenen Komposition, so legt der Zusammenhang nahe, soll der jähe Umschwung nur einmal stattfinden. Außerdem darf er nicht vom Unglück ins Glück (schon 1452b37),

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sondern muß, wie es mehrfach heißt, vom Glück ins Unglück erfolgen (1453b15; vgl. 1452b35, 1453a2, a9). Und dafür muß ein Fehler des Protagonisten mitverantwortlich sein, wodurch Geschichte und Charakter untrennbar verwoben sind. Aristoteles führt drei Argumente, sowohl einen systematischen Grund als auch zwei historische Belege an. (Zu den zwei „empirischen Bestätigungen“ s. u. Abschnitt 8.5.) Er beginnt mit dem systematischen, nämlich innerästhetischen (kunstinternen) Grund, der gewünschten Wirkung: Um im Zuschauer Mitleid und Furcht hervorzurufen, braucht es eine bestimmte Art von Hauptfigur. Nach dem zweiten Kapitel richtet sich die Dichtung mit ihrer Nachahmung generell auf zwei Arten von Charakteren. Unter der einen Art, dem spoudaios, versteht Aristoteles, weil er sie mit dem Ausdruck aretê (Tugend, Vortrefflichkeit) erläutert, den vortrefflichen Menschen, aber auch, wegen des Kernausdrucks spoudê (Eifer, Ernst, Unbeirrbarkeit), diejenige Person, die wie Medea geradezu rücksichtslos unbeirrt agiert. Zusätzlich klingt die soziale Herkunft an, der hohe Rang; die Protagonisten stammen in der Regel aus der (Hoch-)Aristokratie. Der Gegensatz zum spoudaios, der phaulos, zeichnet sich durch kakia (moralische Schlechtigkeit) aus, ist also ein schlechter oder gemeiner Mensch. Von diesen beiden Charakteren sollen sich Epos und Tragödie auf den vortrefflichen (2, 1448a11 ff. und a16–18), die Komödie dagegen auf den schlechten und zugleich lächerlichen Menschen richten (5, 1449a33 f.). Ein Beispiel dafür gibt Dionysos aus Aristophanes’ Fröschen ab. Dort verkleidet sich der Zeussohn als Herakles; dieser Betrug geht aber nicht auf, weil in der Unterwelt, wohin Dionysos geht, Herakles einen schlechten Ruf hat, weshalb man Dionysos verjagt. Als spoudaios bezeichnet, ragt der Protagonist der Tragödie dagegen, der tragische Held, aus der Menge in dreierlei Hinsicht heraus: Er ist in der Regel eine hochgestellte Person, die moralisch besser und in ihrem Handeln unbeirrt ist. (Auf Medea dürfte zwar das Bessersein schwerlich zutreffen; sie bleibt aber in dem Sinn eine spoudaia, daß sie, eine Königstochter, ihre Rachepläne unbeirrt verfolgt.) Kapitel 15 (1454b8 ff.) wird die moralische Überlegenheit bekräftigen. Der Held darf nämlich Charakterfehler wie Jähzorn oder Leichtsinn haben, soll aber rechtschaffen (epieikês) sein. Diese Auskunft widerspricht freilich Kapitel 13. Denn dort führt Aristoteles bei der ersten Art von Umschlag (metabolê) eine mit der Opposition spoudaios-phaulos verwandte Alternative ein, die des epieikês, des Rechtschaffenen, im Gegensatz zum mochthêros, des schlechten oder verderbten Menschen. Sodann erklärt er, die Hauptfigur der Tragödie dürfe keine dieser Personen sein. Man muß sich daher fragen, welche Art von Person die Hauptfigur denn sein soll. Eine gemeine Person

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ist sie zweifellos nicht, eine vortreffliche aber auch nicht, da der Protagonist als nicht rundum rechtschaffen gilt. Wer Aristoteles keinen Widerspruch unterstellen will, muß die neue Opposition, die von Kapitel 13, als zu der von Kapitel zwei windschief stehend interpretieren. Der Text erleichtert diese Interpretation aber nicht. Denn die tragende Figur darf nicht, obwohl sie es nach Kapitel 15 doch soll, rechtschaffen (epieikês: 1452b34) sein; sie darf sich weder durch Tugend auszeichnen, die aber nach Kapitel zwei zum spoudaios gehört, noch durch Gerechtigkeit (1453a8). Denn stürzt ein derartiger Mensch ins Unglück, so sei dies nicht furcht- und mitleiderregend, sondern abscheulich. Auflösen läßt sich der offensichtliche Widerspruch zwischen Aristoteles’ Aussagen nur durch die Unterscheidung zweier Begriffe von „rechtschaffen“. Nach dem schwächeren Begriff ist man nur weithin, nicht vollständig rechtschaffen; man bleibt gewissermaßen menschlich. Nach dem stärkeren Begriff ist man uneingeschränkt, also ausnahmslos und rundum makellos: Über allen Tadel erhaben, wäre der Held zugleich ein Heiliger.

8.3 Menschlichkeit als zweites Kriterium Obwohl der bloß weithin Rechtschaffene die gewöhnlichen Sterblichen überragt, darf er nach Kapitel 15 Charakterschwächen haben. Er muß es sogar, denn ohne sie beginge er nicht den für die Tragödie konstitutiven Fehler. Den von Aristoteles angeführten Jähzorn (1454b12) kann man etwa Ödipus zusprechen, der in der Vorgeschichte einen seinen Weg behindernden älteren Menschen hochfahrend erschlägt und innerhalb der Tragödie gegen den Seher Teiresias zornig wird. Vielleicht macht sich Ödipus auch des zweiten Fehlers, des Leichtsinns (ebd.), schuldig, da er sich in der Vorgeschichte über die Warnungen des Sehers Teiresias hinwegsetzt. Der in Kapitel 13 verwendete stärkere Begriff des Rechtschaffenen schließt selbst derlei kleinere Charakterfehler aus. Wenn selbst eine so geartete Person, ein „Heiliger“, ins Unglück stürze, so sei das, erklärt Aris­ toteles, abscheulich (miaron: 1452b36). Der Ausdruck miaron stammt aus dem kultischen Bereich. Er bedeutet „blutbefleckt“, „verunreinigt“ und von dort her „verbrecherisch“ im gesteigerten Sinn von „verrucht“. Aristoteles’ Urteil ist also hart: Wenn die Tragödie einen nicht bloß weithin, sondern rundum rechtschaffenen Menschen ins Unglück stürzen läßt, so „beschmutzt“ diese „schreiende Ungerechtigkeit“ das sittliche Bewußtsein. Infolgedessen ruft sie beim Zuschauer eine Steigerung von Widerwillen, eben Abscheu, hervor.

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Man braucht hier nicht wie Fuhrmann (1994, 117) von einer Tabuverletzung, einem Verstoß gegen eine sinnvolle Weltordnung, zu sprechen. Denn das charakteristische Verhängnis, das die Titelfigur einer guten Tragödie erleidet, läßt sich schwerlich als Teil einer sinnvollen Weltordnung verstehen. Lediglich der pure Gegensatz erscheint als unerträglich. Daß man auf der Bühne vorführt, in gewisser Weise feiert, wie ein rundum rechtschaffener und bislang glücklicher Mensch ins Unglück stürzt, erscheint zunächst dem Theoretiker der griechischen Tragödie, Aristoteles, sodann der griechischen Weltsicht und wohl auch uns Heutigen als unerträglich. Selbst dem biblischen Buch Hiob liegt kein grundsätzlich anderes Weltbild zugrunde. Denn dort stürzt der Rechtschaffene nur vorübergehend ins Unglück, am Ende ergeht es ihm noch besser als zuvor. Von einer Entsprechung der moralischen Glückswürdigkeit mit dem tatsächlich erfahrenen Glück, von jenem zum Wohlhandeln proportionalen Wohlergehen, das man „poetische Gerechtigkeit“ nennen mag, kann bei der Tragödie keine Rede sein. Daß es den Guten gut, den Schlechten schlecht ergehe und die gewöhnlichen Menschen, die dazwischen, sich auch eines mittleren Maßes an Lebensglück erfreuen, diese im Fortgang des Kapitels als naiv entlarvte Weltsicht eines gerechten Weltgerichts widerspricht dem Geist der Tragödie zutiefst. Denn bei ihr folgt aus einem relativ kleinen Fehler ein maßlos großes Unglück. Die Tragödie schließt laut Aristoteles beim Umschlag der Handlung nur die extreme Ungerechtigkeit aus: daß der schlechthin Rechtschaffene ins Unglück und der Bösewicht ins Glück stürzt. Bei der zweiten der erörterten vier Möglichkeiten des Umschlagens stürzt ein Bösewicht oder Schuft vom Unglück ins Glück. Diese nach Aristoteles im höchsten Maß untragische Möglichkeit, wird nicht deshalb abgelehnt, weil sie abscheulich, mithin extrem negativ sei. Erneut spricht der Philosoph nicht vom Verstoß gegen eine sinnvolle Lebensordnung, vielmehr vermißt er die für eine Tragödie erforderlichen Qualitäten. Das diagnostizierte Defizit hat den Charakter eines zweifachen Mangels. Zusätzlich zur bekannten Hauptaufgabe, Furcht und Mitleid zu erregen, kommt über das entsprechende Adjektiv philanthrôpon (menschenfreundlich, human) ein weiteres Kriterium, die Phil-anthropie, wörtlich: Menschenliebe, Menschenfreundlichkeit, ins Spiel. Daß dieses Kriterium in einer Tragödientheorie auftaucht, ist nicht bloß überraschend; es irritiert. Denn ein Wesenselement der Tragödie, der Umschlag von Glück in ein unsägliches Unglück, verbunden mit dem Mißverhältnis von eigenem Fehler und weithin unverschuldetem Verhängnis, erscheint als alles andere denn human: Es widerspricht selbst einem

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Minimalanspruch von Menschenliebe. Der Ausdruck ist bisher in der Poetik noch nicht aufgetaucht, spielt auch in vielen Interpretationen der Aristotelischen Tragödientheorie eine stiefmütterliche Rolle (bei Halliwell 1986, 174, gilt die Philanthropie sogar als eine der Tragödie inadäquate Emotion). Im Kapitel 13 kommt aber der Ausdruck kurz hintereinander zweimal vor (1452b38 und 1453a2 f.), im Kapitel 18, bei der Erläuterung der Peripetie, erscheint er noch ein drittes und zugleich letztes Mal (1456a21). Er ist also dreimal so häufig wie die weit stärker diskutierte Katharsis präsent. In der Sache erhält der Ausdruck ebenfalls ein erhebliches Gewicht. Dies ist umso erstaunlicher, als der Ausdruck in Aristoteles’ anderen einschlägigen Texten gar keine oder keine prominente Rolle spielt: Er fehlt in der Rhetorik, taucht in der Politik nur einmal, mehr beiläufig, als angeblicher Vorzug der Platonischen Gütergemeinschaft auf (Pol. II 5, 1263b15). Auch in der Nikomachischen Ethik, in den Freundschaftsbüchern, erhält der Ausdruck bei seinem einzigen Auftritt kein überragendes Gewicht (und wird vermutlich deshalb in der Freundschaftsabhandlung der Eudemischen Ethik nicht verwendet): Die Philanthropie ist eine Art von Freundschaft, die sich sinngemäß auch unter Tieren, hier zwischen Erzeugern und Erzeugten, also Eltern und Kindern, findet. Bei den Menschen werden nun laut Aristoteles diejenigen als menschenfreundlich gelobt, die wegen ihrer Gattungszugehörigkeit Freundschaft füreinander empfinden, sichtbar beispielsweise bei Reisegenossen (EN VIII 1, 1155a19–22). Heute versteht man unter Philanthropie eine Humanität und Menschlichkeit im Sinne einer universalen Menschenliebe, die sich in Sympathie und Empathie, in Nachsicht und Milde, vor allem in Hilfsbereitschaft und Wohltätigkeit niederschlägt. Nur wenig bescheidener bedeutet für Lessing der Poetik-Ausdruck eine allgemeine Menschenliebe, die wie ein „Funke“ die Grundlage für „die Flamme“ des Mitleids bilde (Hamburgische Dramaturgie, 76. Stück). Dieses anspruchsvolle Verständnis schwingt aber weder in der Politik noch in der Ethik und auch nicht in der Poetik mit. Zwei andere Bedeutungselemente der Ethik-Passage klingen dagegen in der Poetik an. Zum einen dürfte die quantitative Seite des modernen Verständnisses, die Offenheit der Philanthropie für jedes Gattungsmitglied, also für alle Mitmenschen, in der Poetik eine Rolle spielen. Zum anderen dürfte Philanthropie primär eine Verhaltensweise von Menschen zu Menschen und nur abgeleiteterweise eine Qualifikation von Schicksalsschlägen sein, die ein Mensch erleidet. Die Interpretation könnte lieber der lateinisch-italienischen Tradition folgen wollen, in der philanthrôpon nicht aktiv, sondern passiv verstanden und zu einem bloß „angenehm“ abgeschwächt wird (vgl. z. B. Rehn

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1989, 548–553). Aristoteles’ Erläuterungen in der Ethik sprechen dagegen. Sowohl die Beziehung von Erzeugern zu Erzeugten als auch die von Reisebekannten untereinander haben einen aktiven Charakter. An der ersten Poetik-Stelle (1452b38) fungiert die Menschlichkeit als Ausschlußkriterium mithin als im negativen Sinn notwendige Bedingung. Aristoteles erklärt nicht, der Umschlag im Handlungsablauf müsse menschenfreundlich sein. Das (nach dem Hervorrufen von Furcht und Mitleid) zweite Kriterium für eine gute Tragödie hat nur ein Veto-Recht: Gegen die Menschlichkeit zu verstoßen, ist nicht erlaubt. Die Menschlichkeit beziehungsweise Menschenfreundlichkeit beläuft sich hier auf eine Empathie, auf ein Mitfühlen-Können. Weil man sich mit einem Bösewicht, der vom Unglück ins Glück stürzt, nicht mitfreuen kann, kann dieser Umschlag keinerlei Mitgefühl hervorrufen, ohnehin wegen ihrer Wendung ins Positive weder Furcht noch Mitleid. An der zweiten Stelle (1453a2 f.) erscheint das Kriterium als „nicht zureichend“; die Menschlichkeit zu erfüllen, reicht bei weitem nicht aus: Eine Geschichte, in der ein Verbrecher ins Unglück stürzt, kann man zwar als Sieg der Menschlichkeit empfinden. Denn Bosheit, selbst wenn sie nicht bestraft wird, darf zumindest nicht belohnt werden. Die Geschichte erregt aber weder Furcht noch Mitleid, da deren begriffliche Bedingungen (1453a5 f.; s. Abschn. 8.5) nicht erfüllt werden: Weil das Unglück eines Bösewichts nicht unverdient ist, erregt es kein Mitleid. Und weil der gewöhnliche Zuschauer einem Bösewicht nicht annähernd gleicht, besteht kein Anlaß, ein ähnliches Schicksal zu befürchten.

8.4 Charakter oder Verstand? Da pure Rechtschaffenheit und reine Bosheit als Charaktermerkmale ausfallen, bleibt nur das Dazwischen übrig. Damit die Hauptfiguren nicht aus Zufall, folglich purer Willkür ins Unglück stürzen, müssen sie wegen eines Fehlers mitverantwortlich sein (1453a10). Worin der die Tragödie mitauslösende Fehler besteht, wird nun erstaunlicherweise nicht erläutert. Trotz ihrer großen Tragweite wird die Bedingung lediglich bekräftigt und bei der wenige Zeilen späteren erneuten Erwähnung zu einem nicht beliebigen, sondern „großen“ Fehler präzisiert (a16). Auch andernorts erläutert die Poetik den Begriff nicht. Ausdrücke des Wortfeldes hamart- tauchen zwar öfters auf. Die Poetik verwendet aber das Verb hamartanein: einen Fehler begehen, nur bei Fehlern von Dichtern (8, 1451a20; 15, 1454b17; 25, 1460b238) oder deren Kritikern (13, 1453a 24; 19, 1456b15).

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Aristoteles läßt die Frage offen, ob die Protagonisten nur objektiv gesehen etwas falsch machen oder auch deshalb in subjektiver Verantwortung „schuld“ sind, weil sie freiwillig und wider besseres Wissen den Fehler begehen. In den genannten Passagen taucht das Verfehlen zwar in der objektiven Bedeutung auf; dasselbe trifft auf weitere Verwendungen von hamartia (16, 1454b35; 25, 1460b15 und b17) und auf hamartêma zu (25, 1460b19 und b30; 1461b8). Bei den entsprechenden Fehlern stellt sich aber nicht die Frage, ob man auch wider besseres Wissen gehandelt hat, so daß man nicht von einem nur objektiven Fehler sprechen kann. Ebensowenig erläutert Aristoteles den Ursprung des tragischen Fehlers: Gründet er im Charakter (êthos) oder in der Denkweise (dianoia) des Protagonisten? Aus der Nikomachischen Ethik läßt sich allerdings einiges erschließen: In der Gerechtigkeitsabhandlung (EN V 10, 1135b12 ff.) unterscheidet der Philosoph den unglücklichen Zufall von einem nach Mittel oder Ziel unbeabsichtigten Fehler, also den Unglücksfall (atychêma) von einem Irrtum beziehungsweise Versehen (hamartêma). Dort liegt die Ursache außerhalb des Handelnden, hier im Handelnden selbst. Ohne daß Aristoteles es aussprechen müßte, trifft dasselbe auf den Fehler (hamartia) zu: Er wird nicht von außerhalb, sondern vom Handelnden selbst verursacht. In einem zweiten Erläuterungstext der Ethik, in deren Abhandlung über die Unbeherrschtheit, nimmt Aristoteles eine Präzisierung vor: Der Fehler ist nicht, was man der Unbeherrschtheit vorwerfen muß: eine Art von Laster; es liegt also kein schlechter Charakter vor (VII 6, 1148a2–4), was die Unterscheidung von bescheidenem und anspruchsvollem Begriff der Rechtschaffenheit bekräftigt: Weil der tragische Held einen Fehler begeht, ist er nicht makellos gut. Er kommt aber diesem Vortrefflichen ziemlich nahe, was es dem Zuschauer erleichtert, sich als mit ihm ähnlich zu empfinden. Denn der Held ist etwas, das so gut wie jeder Mensch sich gern zubilligt oder mindestens zu erreichen versucht; er ist keine schlechte, viel eher eine gute, aber nicht fehlerfreie Person. Weil der Begriff die (sittliche) Schlechtigkeit ausschließt, könnte man meinen, der Fehler gründe gar nicht im Charakter. Nach der Nikomachischen Ethik entspringt das gute Handeln dem Zusammenspiel von zwei Faktoren, den charakterlichen und den intellektuellen beziehungsweise Verstandestugenden, die Aristoteles dort ethische und dianoetische Tugenden nennt (z. B. I 13, 1103a4–7). In diesem Sinn kann man das dritte Funktionselement der Tragödie, die dianoia, den Verstand, als Inbegriff des Kognitiven, der Gründe beziehungsweise Argumente, verstehen, aus denen eine Figur der Tragödie Tun oder Lassen erklärt oder in denen sie Zusammenhänge darstellt (vgl. 6, 1150b11 f. und 19, 1156a36–b2).

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Wenn nun der Fehler nicht im Charakter gründet, so bleibt dieses dritte Element, das Denken, übrig. Auch hier wäre eventuell kein habituell schlechtes Denken, eine verfehlte Denkweise, gemeint, da der Fehler seinem Begriff nach eine Einzelverfehlung meint. Diese kann aber im Charakter liegen, der als nicht fehlerfrei angesetzt ist. Nun sind die beiden Extreme, zwischen denen Aristoteles den tragischen Held plaziert, die reine Rechtschaffenheit und die moralische Schlechtigkeit, Charaktereigenschaften, weshalb das für den Protagonisten charakteristische Dazwischen dem Charakter zuzuordnen ist. Weder einem falschen Denken – der Ausdruck dianoia kommt in den Kapiteln 13 und 14 gar nicht vor – noch einem schweren Charakterfehler entspringt der das Verhängnis mitauslösende Fehler, wohl aber einem nicht fehlerfreien Charakter: Ein Mensch, der meistens, aber nicht immer gut handelt, erliegt unter besonderen Umständen einer Charakterschwäche wie dem Jähzorn und dem Leichtsinn und gerät durch diese Schwächen, die ihn „vom guten Weg abbringen“, in ein Unglück, dessen Maßlosigkeit er nicht verdient hat. Daß eine derartige Person, also der typisch menschliche, weder sittlich vollkommene noch sittlich verderbte Mensch, in ein großes Unglück stürzt, weckt fast notwendig beide Affekte: Man hat Mitleid mit dem Unglücklichen, da er, wie man Aristoteles’ Erläuterung der nächsten, dritten Option des Umschlagens entnehmen kann, keine negative Folge von der Schwere eines Verhängnisses verdient. Der Held wird also für seinen Fehler übermäßig „bestraft“. Da auch der Zuschauer sich nicht für fehlerfrei hält, fürchtet er, selber in ein derartiges Unglück stürzen zu können: Das in seiner Größe unverdiente Leid erweckt Mitleid, die eigene Ähnlichkeit mit dem Helden Furcht.

8.5 Kritik an Kritikern Die Poetik begründet die Mitverantwortung des tragischen Helden wie gesagt mit drei Argumenten. Auf die systematischen, weil innerästhetischen Überlegung des ersten Teils von Kapitel 13 folgen im zweiten Teil ab Zeile 1453a17 die zwei empirischen Bestätigungen, die eine seitens der Tragödie, die andere seitens ihrer Wirkung auf die Zuschauer. Den ersten Beleg (sêmeion: Zeichen) findet Aristoteles im Thema: Während frühere Dichter beliebige Stoffe bearbeiteten, handeln mittlerweile die besten Stücke von jenen wenigen Geschlechtern, den großen Adelshäusern, die Schreckliches (deina), also ein außergewöhnliches Maß an Furchtbarkeit, entweder erleiden oder verüben. (Im Beispiel von Euri-

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pides’ Medea bringt die Titelheldin ihre Kinder und die Königstochter um, was die Kinder, die Königstochter und in anderer Weise König Kreon und Jason erleiden.) Als nächstes (1453a23 ff.) erörtert Aristoteles den an Euripides gerichteten Vorwurf, dessen Tragödien endeten meist unglücklich. Aus dem nächsten Abschnitt läßt sich entnehmen, daß der Philosoph in diesem Vorwurf jene moralisch naive Weltsicht von einem fairen Lauf der Welt am Werk sieht, die er für eine Schwäche des Publikums hält: daß es, wie er an der Odyssee moniert, den Guten gut und den Bösen, aber auch nur den Bösen schlecht ergehe (1453a32 ff.). Die Erwartung eines schlechthin gerechten Weltgerichts, das die Hauptfiguren, die Guten, stets im Glück, auf jeden Fall aber nicht im Unglück enden läßt, würde das Tragische, den Umschlag vom Glück der Guten in ihr Unglück, zunichte machen. Wie verhält es sich aber dann mit den vielen Tragödien – von Aischylos’ Orestie bis zu Euripides’ Orestes, Medea und Iphigenie bei den Taurern, die nicht unglücklich enden? Die Antwort kann nur lauten: Der von Aristoteles geforderte Umschlag vom Glück in (maßloses) Unglück (13,1453a14 f.) muß vorkommen, er verdient aber nicht notwendig das letzte Wort. Es genügt, daß das Unglück nur droht, im letzten Moment jedoch abgewendet wird. Dem Wesen der Tragödie widerspricht, daß der rundum Gute im Unglück, der Bösewicht dagegen im Glück endet, nicht aber daß die katastrophalen Folgen, die ein relativ geringer Fehler hat, das letzte Wort erhalten. Deswegen erweist sich Euripides’ angebliche Schwäche in Wahrheit als eine Stärke, denn sie stellt das Tragische in seiner Vollendung dar, ohne die (häufig durch göttlichen Eingriff bewirkte) Wende ins Gute. Aristoteles ergänzt diese erste Bestätigung um eine zweite, empirische, um den Erfolg bei den dramatischen Wettkämpfen: Vorausgesetzt, daß Euripides’ Tragödien gut gespielt werden, erweisen sie sich als die tragischsten und erlangen deshalb, so kann man ergänzen, den Sieg. (In Wirklichkeit tritt Euripides freilich zweiundzwanzig mal zum Wettbewerb an, erlangt aber nur viermal die Siegerehre.) In den folgenden Kapiteln übt Aristoteles durchaus Kritik an Euripides. Im Vorübergehen belegt er eine umfassende Kenntnis der griechischen Tragiker. So moniert er das Ende der Medea (15, 1454a37 ff.); er richtet Vorwürfe an Iphigenie bei den Taurern (16, 1454b31 ff.), an Orestes (1454a29 f.) und an Iphigenie in Aulis (a32 f.). In mancher Hinsicht hält er Sophokles’ König Ödipus für die gelungenste Tragödie (z. B. 14, 1453b4 ff. und 16, 1455a18 f.). Im Blick auf die Fähigkeit, Mitleid und Furcht hervorzurufen, hält er aber Euripides für den tragischsten Dichter (13, 1453a29 f.).

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Gegen Ende des Kapitels (ab 1453a30) spricht Aristoteles noch über das zweitbeste Arrangement (systasis): daß die Komposition in dramatischer Hinsicht einen zweifachen Verlauf nimmt: Zunächst steuert die Dichtung auf ein Unglück, dann aber auf ein glückliches Ende zu. Als Beispiel dafür erwartet man eine Tragödie, tatsächlich erscheint ein Epos, Homers Odyssee. Sie vermag beim Zuhörer oder Leser durchaus die für die Tragödie charakteristischen Affekte hervorzurufen, Mitleid mit Odysseus’ von den Freiern bedrängten Frau und Mitleid mit dem um sein Erbe gebrachten Sohn. Vielleicht versetzt man sich auch in Odysseus’ Lage, zusätzlich in die seiner Frau oder die seines Sohnes und fürchtet, daß es einem ähnlich ergehen könnte. Weil alles gut ausgeht, da die Guten, vor allem Odysseus, aber auch seine Frau und sein Sohn, siegen und die Bösen, die aufdringlichen und rücksichtslosen Freier, umkommen, kann man schließlich eine Erleichterung verspüren, die der als tragische Lust bezeichneten Erleichterung entspricht. Von der Wirkung bestimmter Teile der Geschichte betrachtet, liegt also eine Quasi-Tragödie vor. Auch trifft die charakterliche Bedingung zu: Odysseus ist eine weithin rechtschaffene, aber nicht von Charakterfehlern freie Persönlichkeit, die Fehler begeht, die ihm Unglück bringen. Der Grundtenor der Odyssee „Ende gut, alles gut“ ist aber vom tragischen Ideal der Tragödie, dem unglücklichen Ausgang, weit entfernt, da der Titelheld in Aristoteles’ eigener Zusammenfassung nach schweren Bedrängnissen in die Heimat zurückkehrt, dort über seine Feinde herfällt, selber unversehrt bleibt und seine Feinde vernichtet (17, 1455b22 f.). Damit kommt sie, wie gesagt, „der Schwäche des Publikums“, ihrer naiven Weltsicht, entgegen.

8.6 Mitleid und Furcht: Tragische Lust Eine Beobachtung vorab: In Kapitel sechs taucht das Begriffspaar Mitleid und Furcht zusammen mit dem Begriff der Katharsis, der Reinigung, Läuterung oder Erleichterung, auf (1449b27 f.). Die an Mitleid und Furcht gebundene tragische Lust wird daher meist in unmittelbarer Verbindung mit der Katharsis interpretiert. Mit Ausnahme dieser einen Stelle tauchen aber die beiden Affekte ohne die Katharsis auf. Auch im Kapitel 14 fehlt dieser Begriff, statt dessen erscheint nur der der Lust. Wie sich die Begriffe von Katharsis und Lust zueinander verhalten, erörtert die Poetik nirgendwo. Da sie aber Furcht und Mitleid nur entweder mit dem einen oder mit dem anderen Begriff zusammenbringt, liegt es nahe, beide, Katharsis und tragische Lust, in bezug auf die tragische Wirkung für funktional äquivalent zu halten: Die Affekte Furcht und Mitleid sollen

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sich mit einer Katharsis und in ihr oder wegen ihr mit Lust verbinden. Dabei könnte eine Gattungs-Art-Beziehung vorliegen mit der Lust als dem generischen und der Katharsis als dem spezifizierenden Begriff: Die Lust findet auf die Art der Katharsis statt, so daß die kathartische Wirkung als lustvoll und die tragische Lust als kathartische Lust zu verstehen ist. Da aber die Katharsis im Kapitel 14 nicht auftaucht, hat man die tragische Lust zunächst ohne Bezug auf die Katharsis zu deuten. Aristoteles erörtert in Kapitel 14 die am stärksten pathosträchtigen Konfliktsituationen in drei Schritten. Als erstes nennt er zwei Optionen und erklärt erneut (schon in 6, 1450b16; später noch in 26, 1462a4 ff.), die tragische Wirkung, die durch Furcht und Mitleid hervorzurufende Lust, solle weit mehr aus dem inneren Zusammenhang der Geschehnisse als aus der Inszenierung (opsis) zustande kommen (1453b1–14). Zweitens trete die tragische Wirkung bei schwerem Leid, vornehmlich bei Sich-Nahestehenden, auf (b14–26). Es geht also nicht mehr um den jeweiligen Protagonisten für sich, sondern um dessen Beziehung zu anderen. Schließlich wird die tragische Wirkung epistemisch, nach dem Einfluß des Wissens auf den Handlungsverlauf, klassifiziert (1453b26–1454a15): Wie viel wissen die Protagonisten von den Umständen, unter denen sie handeln, und wie weit schätzen sie diese richtig ein? Für den ersten Gedankenschritt ist das Verständnis der beiden tragischen Affekte eleos und phobos wichtig. Seit Lessings wirkungsmächtiger Schrift Die Hamburgische Dramaturgie (1767–69) wird das Begriffspaar als „Mitleid und Furcht“ wiedergegeben. Andere europäische Sprachen übersetzen entsprechend („pity and fear“, „la pitié et la crainte“, „la pietà ed il terrore“). Beim griechischen Ausdruck für Mitleid mag man zwar an sympatheia, Sympathie, denken. In Aristoteles’ Hauptschriften, namentlich den für dieses Thema einschlägigen Texten, den Ethiken und der Rhetorik, kommt der Ausdruck aber nicht vor. Nach dem Index Aristotelicus taucht er lediglich in den Problemata auf (in der Überschrift des 7. Buches). Da Liddell/Scott (1680) diese Stellen als älteste Belege anführt, stand vermutlich sympatheia für Aristoteles als Alternativausdruck nicht zur Verfügung. Eleos bedeutet wörtlich das Zerschneiden (des Herzens), also einen heftigen Erregungszustand, was für Phobos (von phebomai: gescheucht werden, flüchten) ebenfalls zutrifft: Man bemitleidet den Helden wegen seines übergroßen Unglücks; und da man fürchtet, Ähnliches könnte einem selbst geschehen, empfindet man angesichts des Unglücks Furcht. In scharfer Kritik an der vertrauten Übersetzung hat Schadewaldt 1955/1991 für „Jammer und Schaudern“ plädiert, dem sich Fuhrmann anschließt, während Gigon und Schmitt, auch Potts und Halliwell („pity

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and fear“) zu den älteren Übersetzungen zurückkehren. In ihnen klingt laut Schadewaldt aber eine christliche Mitleidsethik an, die von der griechischen Tragödie vollständig fernzuhalten sei. Außerdem zähle Eleos und Phobos zu Elementaraffekten, die als aufbrausend irrational zu verstehen seien, körperlich sichtbar würden und wegen ihrer gesteigerten Affektivität mit stärkeren Ausdrücken, eben „Jammer“ und „Schaudern“, zu übersetzen seien. Christliche Mitleidsvorstellungen abzuwehren, ist fraglos richtig und die Suche nach stärkeren Ausdrücken nicht falsch, obwohl die Übersetzung mit „Mitleid und Furcht“ die Steigerung der Affekte nicht ausschließt. (Zu Aristoteles’ Verständnis der beiden Affekte s. Rhet. II 5 und II 8). Der vermeintliche Gewinn wird aber mit einem zu großen Verlust bezahlt, denn bei den Alternativen fehlt jeweils das für Aristoteles entscheidende Moment: für den Eleos, daß sich der Affekt auf andere richtet, und für den Phobos, daß man für sich ein ähnliches Schicksal befürchtet. Dies ist richtig: Aristoteles kommt es nicht auf oberflächliche, sondern bis zum Kern menschlicher Existenz reichende, gewissermaßen substantielle Affekte an. Am Beispiel von herausragenden, sowohl hochberühmten als auch mit Glück gesegneten und gerade deshalb besonders gefährdeten Personen zeigt die Tragödie, was jedem gewöhnlichen Menschen widerfahren kann: eine Katastrophe, in die man nicht etwa durch die Natur oder durch fremde Willkür, sondern mindestens teilweise durch sich selbst stürzt. Im Verhältnis zum eigenen Fehler erscheint das Unglück aber als unverhältnismäßig groß, es ist ein in dieser Dimension unverdientes, gnadenloses Verhängnis. Nach diesem Exkurs zu den Begriffen Phobos und Eleos kann die These des ersten Gedankenschritts aufgenommen werden, daß die tragische Wirkung mehr aus dem inneren Zusammenhang als aus der Inszenierung erfolgen soll: Erkennt man Aristoteles’ Qualitätskriterium für eine Tragödie, die ihr eigentümliche Kunstfertigkeit (technê), also keinen äußeren, sondern allein inneren Maßstab an (vgl. 7, 1451a7; 8, 1451a24; 13, 1453a22 u. a.), so liegt der Vorrang des inneren Zusammenhangs auf der Hand: Da der Dichter nicht für die Inszenierung, sondern nur für seinen eigenen Text zuständig ist, hat dessen Komposition die tragische Wirkung hervorzurufen. Die Dichtung, deren Wesen in der Nachahmung liegt, soll selber die aus Mitleid und Furcht entstehende Lust bewirken. Ein Dichter, der sich dagegen auf die Inszenierung verläßt, überantwortet die Wirkung einem anderen, was „kunstloser“ beziehungsweise „kunstferner“ (atechnoteron: 1453b8) ist. Und jene Inszenierung entfernt sich vollends von der Tragödie, die nicht Furcht, sondern nur Wundersames (teratôdes: b9) herbeiführen will. (Bei Fuhrmanns Übersetzung von teratôdes mit „Grauenvolles“

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klingt eine Steigerung des Furchterregenden an, die Aristoteles’ Pointe, eine Entfernung vom Tragischen, verfehlt.) Aristoteles’ zweiter Gedankenschritt beginnt wieder mit einer klaren, recht schematischen Aufzählung aller einschlägigen Möglichkeiten; hier sind es drei: Das tragische Geschehen ereignet sich entweder unter befreundeten oder unter verfeindeten oder unter den in dieser Hinsicht indifferenten Personen. Die zweite und die dritte Option scheiden aus, da in beiden Fällen ein Leid, das man sich antut oder es zu tun beabsichtigt, kein Mitleid hervorruft. So bleibt die erste Option übrig, die auch unmittelbar, nicht nur durch Aristoteles’ Exklusionsverfahren überzeugt. In Übereinstimmung mit den griechischen Tragödien führt die Poetik als Beispiele ausschließlich engste Familienbande an und zugleich schwerstes Leid, das man einem antut, nämlich ihn zu töten oder die Absicht zu töten. Das Leid, das man sich gewissermaßen selbst antut, jene Verletzung eines so schwerwiegenden Tabus, wie sie in der unwissentlich eingegangenen Inzestbeziehung von Ödipus und Jokaste besteht, fällt zwar unter die Rubrik „einander nahestehend“, aber kaum unter deren exemplarische Erläuterung „jemandem etwas Schweres antun“. Die Inzestbeziehung (Ödipus und Jokaste) bleibt daher unausgesprochen. Während Aristoteles andernorts geradezu pedantisch alle Möglichkeiten aufzählt, führt er von den denkbaren „Familienkriegen“ hier nur vier Konstellationen an und läßt acht beiseite. Als Konstellationen werden genannt (1) Bruder gegen Bruder, (2) Sohn gegen Vater, (3) Mutter gegen Sohn und (4) Sohn gegen Mutter. Es fehlen dagegen die anderen acht „Familienkriege“: (5) Bruder gegen Schwester, (6) Schwester gegen Bruder, (7) Schwester gegen Schwester, (8) Vater gegen Sohn, (9) Vater gegen Tochter, (10) Mutter gegen Tochter, (11) Ehemann gegen Ehefrau und (12) Ehefrau gegen Ehemann. Für die ausdrücklich genannten Arten von „Familienkriegen“ lassen sich zahlreiche Tragödien als Beispiele anführen. Wie es mit den anderen Arten aussieht, sei nur als Frage genannt: Kommen viele von ihnen in den überlieferten Tragödien gar nicht oder wie der Gattenmord (an Agamemnon) nur selten vor? Der zweite Gedankenschritt endet mit einem Hinweis zur dichterischen Freiheit: Wie weit darf der Dichter bei der Suche nach tragischen Konstellationen die überlieferten Mythen antasten? Aristoteles’ überknappe Antwort versteht man am besten als zweiteilig. Einerseits darf man allbekannte Grundelemente nicht verändern: Wer den Muttermord an Klytaimnestra auf die Bühne bringt, muß ihn durch Orest, wer ihn an Eriphyle darstellt, muß ihn durch Alkmeon verüben lassen. (Selbstverständlich haben sich die großen Tragiker daran gehalten.)

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Die unantastbaren Grundvorgaben sollen den Dichter aber nicht hindern, selber schöpferisch zu werden; Aristoteles führt zwei Möglichkeiten an: Entweder erfinde man selber tragische Konstellationen (was von den großen Tragikern aber kaum bekannt ist), oder man gehe mit den überlieferten Stoffen schöpferisch um. (Vergleicht man beispielsweise die unterschiedliche Art und Weise, wie Aischylos, Sophokles und Euripides den Orest-Stoff verarbeiten, so ist die schöpferische Freiheit schwerlich zu übersehen.) Im dritten, in sich zweigeteilten Gedankenschritt will Aristoteles erneut alle denkbaren Möglichkeiten untersuchen. Zunächst stellt er die Optionen systematisch, aber unvollständig vor und führt jeweils Beispiele an. Sodann stellt er eine Rangfolge auf, bei der er von unten nach oben, von der (vorher fehlenden) schlechtesten zur besten Möglichkeit, voranschreitet. Der erste Teilschritt nennt drei Möglichkeiten, behauptet, die Optionen seien damit vollständig erfaßt (1453b27–36). Er bringt zur Begründung aber zwei Alternativen (b3 f.) – die Tat wird ausgeführt oder nicht ausgeführt, und zwar wissentlich oder unwissentlich – deren Kombination vier Möglichkeiten ergibt: Die schreckliche Tat wird (1) wissentlich oder (2) unwissentlich ausgeführt, ferner (3) unwissentlich oder (4) wissentlich nicht ausgeführt. (Die Option 3, zeigt sich noch, lautet genauer: Kurz vor der Tat erkennt man deren Ausmaß und unterläßt sie daher.) Von diesen vier Optionen stellt Aristoteles zunächst, im ersten Halbschritt, nur die ersten drei vor und bringt erst im zweiten Teilschritt, bei der anschließenden RangEinschätzung, stillschweigend die noch fehlende, rangmäßig schlechteste Möglichkeit, die Option 4, ein. Diese Unstimmigkeit kann man mit einem an dieser Stelle verderbten Text erklären. In souveräner Kenntnis der attischen Tragödien führt Aristoteles insgesamt, bald im ersten, bald im zweiten Teilschritt, zu jeder der vier Optionen mindestens ein Beispiel, meist aber mehrere an. Die schlechteste Option (Nr. 4) taucht laut Aristoteles nur in Ausnahmen auf; beispielsweise sucht in Sophokles’ Antigone (Vers 1231 ff.) Haimon seinen Vater Kreon zu töten, verfehlt ihn jedoch. Die erste und zugleich zweitschlechteste Möglichkeit, die mit Wissen und Kenntnis des Handelnden, ordnet er den „alten Dichtern“ zu und nennt als Beispiel Euripides’ Medea, die ihre Kinder tötet. Für die zweite Möglichkeit führt er Ödipus an, der die Tragweite und mit ihr das Fürchterliche seines Handelns, also daß der Erschlagene sein Vater und die Ehefrau seine Mutter ist, erst lange nach der Tat erkennt. Nach der besten Option schließlich (Nr. 3) erkennt man kurz vor der Tat deren Tragweite, unterläßt sie daher.

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Hier könnte man eine weitere, zugleich größere Unstimmigkeit sehen: Aristoteles verlangte im Kapitel 13 einen Umschlag vom Glück ins Unglück. Bei der für eine Tragödie besten Option wird aber die zu schwerem Leid führende schreckliche Tat nur beabsichtigt, nicht auch ausgeführt: In Euripides’ Iphigenie bei den Taurern beispielsweise erkennt die Titelheldin, daß der Fremde, den sie opfern soll, ihr Bruder Orest ist, den sie deshalb schont und mit dem sie flieht. Damit, daß Aristoteles die Nichtausführung der schrecklichen Tat für besser als die Ausführung hält, scheint er seiner Kritik an den EuripidesKritikern zu widersprechen: Obwohl ein unglückliches Ende als im höchsten Maß tragisch gilt, soll in der glücklich endenden Tragödie deren Optimum liegen, denn die Tragödie geht nicht unglücklich, sondern glücklich aus. Der Umschlag vom Glück ins Unglück zeichnet sich zwar ab, jedoch lediglich als eine Drohung, die denn doch nicht wahr wird. Statt sich in ein Verhängnis zu verstricken, ergeht es den Protagonisten schließlich gut: Das Verhängnis hat nicht stattgefunden. Will man Aristoteles nicht zu rasch einen Widerspruch unterstellen, ist ein verbreitetes Verständnis zu korrigieren; zusätzlich erweist sich die Interpretation von Kapitel 13 als nur vorläufig richtig. Die Eckpunkte bleiben: der Fehler des Helden, der Umschlag vom Glück in ein Unglück von katastrophalem Ausmaß, also der Widersinn von kleineren Fehlern und großem Verhängnis, und das Hervorrufen von Mitleid und Furcht. Zum Wesen der Tragödie gehört es aber wie gesagt nicht, daß das Verhängnis das letzte Wort hat. Die Katastrophe kann abgewendet werden, womit Hoffnung bleibt, wenn auch nicht bei jeder Tragödie. Diese Neueinschätzung hat für das Verständnis der tragischen Lust und der Katharsis die Folge, daß es für beide zwei Arten gibt. Bei der einen Art, die zur glücklich endenden Tragödie gehört, empfindet der Zuschauer, ohne daß Aristoteles es so ausspricht, Mitleid und Furcht, solange das Verhängnis droht. Sobald das Verhängnis abgewendet wird, empfindet er dagegen eine lustvolle Erleichterung, die ihn von den doch schmerzlichen Affekten Furcht und Mitleid befreit. Die beiden schmerzhaften Affekte werden hier nicht kontinuierlich schwächer, um schließlich im affektiven Nullpunkt der Schmerzlosigkeit zu enden. Die Aufhebung erfolgt vielmehr in affektiver Positivität: Daß das Mitleid mit dem Protagonisten, infolgedessen auch die Furcht vor einem ähnlichen Schicksal gegenstandslos geworden sind, empfindet man als lustvolle Erleichterung. Bei der zweiten Art, der unglücklich endenden Tragödie, bleiben Mitleid und Furcht bis zum Ende der dargestellten Geschichte präsent. Sofern auch hier eine lustvolle Erleichterung stattfinden soll, muß man über anderes

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und in anderer Weise erleichtert sein. Dazu bloß eine Vermutung: Ist man darüber erleichtert, daß das ähnliche Schicksal einem nur droht, man es glücklicherweise aber nicht tatsächlich erleidet? Beiden Arten ist eines gemeinsam: die lustvolle Erleichterung über ein glückliches Ende. Im einen Fall findet das glückliche Ende schon auf der Bühne, im anderen Fall nur auf seiten des Zuschauers statt: glücklicherweise hat das grausame Schicksal nicht ihn getroffen.

Literatur Fuhrmann, M. 1994: Aristoteles. Poetik, griechisch-deutsch, übersetzt und herausgegeben, Stuttgart. Lessing, G. E. 1767–69: Hamburgische Dramaturgie, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, Berlin 1954, 7–533. Rehn, R. 1989: Art. „Philanthropie. 2. Geschichte des Begriffs: Antike und Patristik“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Darmstadt, 548–553.

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Über die Charaktere und die dichterische Begabung (Kap. 15–18)

Im Kapitel 15 setzt Aristoteles die Analyse der Tragödie mit dem zweiten konsti­ tutiven Bestandteil, dem „Charakter“ (êthos), fort. Es folgen Ausführungen zur Anagnorisis (Kap. 16), Anmerkungen zur Ausarbeitung des Dicht­werkes (Kap. 17) sowie weitere Nachträge (Kap. 18). Von der eher knappen Behand­ lung der Charaktere abgesehen, ist die Themenabfolge wenig einleuchtend, zumal die Themen der Kapitel 16 und 18 der Sache nach zur Diskussion des Mythos gehören. Auch sonst finden sich in dem Textabschnitt einige Exkurse und Gedankensprünge (so etwa ein Passus zur Lösung des „Hand­ lungsknotens“ inmitten des Kapitels über die Charaktere, 15, 1454a37–b8). All dies sind Anzeichen für den unausgearbeiteten, teils wohl verderbten Zustand des Poetiktextes. Allerdings ist es auch in anderen aristotelischen Pragmatien keineswegs ungewöhnlich, daß auf den Durchgang durch die Hauptpunkte weitere Anmerkungen in eher locker zu nennender Reihung nachgereicht werden. Im Blick auf die Gesamtanlage der Poetik erscheint die Entscheidung, diese verschiedenartigen Nachträge nach der Diskus­ sion der Charaktere zu plazieren, jedoch durchaus vertretbar zu sein.

9.1 Die Charaktere (Kap. 15) Nach der ausführlichen Abhandlung über die dramatische Handlung (mythos) (Kap. 7–14) kommt Aristoteles im Kapitel 15 auf das zweite Wesensmoment, den „Charakter“ (êthos), zu sprechen. Offenbar die grund­ legende Bestimmung im Kapitel sechs voraussetzend, werden ohne expli­ zite Herleitung vier Forderungen benannt, die es bei der Darstellung der Charaktere zu beachten gilt:

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Die Charaktere müssen, erstens, „rechtschaffen, tüchtig“ (chrêsta) sein. Diese Forderung ergibt sich aus der Grundbestimmung der Tragödie, die Darstellung einer „ernsthaften Handlung“ (praxeôs spoudaias, 1449b24) zu sein, sowie aus den näheren Angaben zum Personentypus der Tragödie (Kap. 13). Zweitens müssen die Charaktere „passend“ (harmottonta) dargestellt werden. Zur Erläuterung verweist Aristoteles darauf, daß etwa Tapfer­ keit bei einer Frau in anderer Weise auftritt als bei einem Mann. Es geht beim Passenden mithin um die grundsätzliche Stimmigkeit der dargestell­ ten Person mit dem Typus, dem sie zugehört. Neben Eigentümlichkeiten der Geschlechter ist hier etwa an die Typik nach Alter, Geburt und sozi­ aler Stellung zu denken, die Aristoteles in der Charakterlehre der Rhetorik (II 12–17) abhandelt: „Die Charaktere sind qualitativ bestimmt nach Leidenschaften und Haltungen und Alter und Glücksumständen“ (II 12, 1388b31–32). Daneben wird in der Rhetorik (III 7) auch die „charakter­ lich passende Sprechweise“ (lexis êthikê, 1408a25 ff.) behandelt: die Rede soll zum gesamten Charakterbild des Redners passen (neben den genann­ ten Unterschieden werden noch regionale Herkunft und Lebensweise erwähnt). Auch diese Bestimmung ist ohne weiteres auf die Charakterdar­ stellung in der Poetik übertragbar. Deutlich wird hieraus, daß der Begriff des êthos in beiden Techniken wesentlich weiter reicht als der an die Tugenden gekoppelte Kernbegriff der Ethik. Während mit dem Merkmal der Recht­ schaffenheit ein Spezifikum der Tragödie benannt ist, läuft die Forderung des Passenden auf die Glaubhaftigkeit der Charakterdarstellung insgesamt hinaus: der Charakter soll auch in allen Einzelheiten dem entsprechen, was er darzustellen intendiert. Nicht ein starres Befolgen von vorgegebenen Charaktermustern ist gemeint, sondern die Orientierung an der Forde­ rung, daß „jemand von solcher Charakterart solches sagt oder tut, nach Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit“ (1454a35 f.). Der Eindruck, die Charaktere „passen“, wirken „echt“, ist geradezu Merkmal gelungener Mimesis. Als dritte Forderung nennt Aristoteles, ohne jegliche Erläuterung, die „Ähnlichkeit“ (to homoion). Ein Deutungsvorschlag geht dahin, dies (nach den Forderungen späterer Dichtungstheorie, etwa Horaz, Ars Poetica 123 ff.) als Ähnlichkeit mit dem im Mythos vorgegebenen Charaktertypus zu verstehen. Doch wäre dies hier als eine allgemeine die Charakterdar­ stellung betreffende Forderung wenig einleuchtend. Hingegen benutzt Aristoteles bereits im 13. Kapitel diesen Begriff im Sinne der Ähnlichkeit der tragischen Charaktere mit den Zuschauern (1453a5 f.; ebenso schon 1448a6), insofern nur hinreichend „ähnliche“ Charaktere das sympathe­

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tische Miterleben ermöglichen. Im dritten Merkmal wird man also diese für die Wirkung der Mimesis notwendige Bedingung erkennen, zumal der nachfolgende Passus 1454b8–15 sicherlich als Erläuterung gemeint ist: wie ein guter Porträtmaler soll der Dichter bei der Darstellung des „eigentüm­ lichen Aussehens“ den Dargestellten sowohl „ähnlich“ als auch „schöner“ zeichnen. Als Beispiel verweist Aristoteles auf Achill, der von Homer als Musterfall von „schroffer Härte“, aber dennoch als guter Charakter darge­ stellt sei. Die „Ähnlichkeit“ steht somit als ein notwendiges Gegengewicht zu der ersten Forderung, die Charaktere als „sittlich gut“, also mit einem Zug zur Idealisierung (nicht „wie sie waren oder sind“, sondern „wie sie sein sollten“, gemäß Kap. 25, 1460b10 f.), zu zeichnen. Mit der vierten Forderung, der „Gleichmäßigkeit“ (to homalon), ist die Konstanz der Charakterdarstellung gemeint, also die Einheitlichkeit des Charakters während der ganzen Handlung. Auch diese Bestimmung ist als Darstellungsprinzip zu verstehen: es geht nicht um eine inhaltliche Vorgabe von ausgeglichenen Charakteren (oder gar die Abweisung einer Charakter­ entwicklung). Wie Aristoteles treffend hinzufügt, müsse bei der Präsen­ tation eines uneinheitlichen Charakters selbiger „auf gleichmäßige Weise ungleichmäßig“ dargestellt werden. Es handelt sich bei dieser Forderung abermals um eine Anwendung der Grundmaxime „nach Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit“, hier auf die innere Stimmigkeit der verschie­ denen Auftritte oder Gemütszustände eines Charakters untereinander zielend. Gleichmäßigkeit besagt also: die Charakterdarstellung muß nach­ vollziehbar, einleuchtend sein. Aus diesen vier Bestimmungen der Darstellung von êthos ergibt sich ein überaus weites Verständnis dieses Grundbegriffes, der die Übersetzung durch „Charakter“ nicht nur nahelegt, sondern auch rechtfertigt: gemeint sind insgesamt die „charakteristischen“ Eigenschaften eines Menschen, seine besondere Eigenart, deren Kern die „ethische“ Haltung ausmacht. Es wird oft betont, daß hierbei von naheliegenden Assoziationen zu modernen Vorstellungen von Charakterzeichnung, etwa die Betonung des Innenle­ bens sowie der Individualität, abzusehen sei. Dies mag richtig sein, inso­ fern die Bestimmungen der Poetik auf die attische Tragödie abheben. Inso­ fern sie Wesensmomente von dichterischer Mimesis überhaupt angeben, ist jedoch nicht einzusehen, warum spezifisch moderne Entwicklungen des Charakterbegriffes nicht ebenso unter den aristotelischen Begriff des Ethos fallen sollten. Die Unterscheidung in Handlung und Charakter als Grundmomenten der Dichtung droht nun allerdings, gerade insofern sie ohne weiteres einzuleuchten vermag, zu einem folgenreichen Mißverständnis zu führen:

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in Abgrenzung zur Handlung seien die „Charaktere“ als die dramatis personae selbst (griech. prosôpon) zu verstehen. Diese Deutung wird jedoch dadurch hinfällig, daß Aristoteles auf die Möglichkeit von „charakterlosen“ Tragödien (aêtheis tragôdiai) verweist, die gerade bei den neueren Tragö­ diendichtern im Schwange seien (Kap. 6, 1450a23–26). Dies sei ein Indiz, daß eine Tragödie „auch ohne Charaktere zustande kommen könnte“ (1450a24), nämlich allein durch die Handlungsführung. Der Umstand, daß Aristoteles in dem definierenden Kapitel sechs die Unterscheidung von Handlung und Charakter sowie den Vorrang der ersteren mit mehreren Argumenten (1450a15–b4) begründet, zeigt an, daß diese Unterscheidung nicht auf der Hand liegt und allein aus einer Diffe­ renzialbetrachtung gewonnen werden kann. Ausgang ist die Bestimmung, die Tragödie sei Mimesis von „Praxis“ und darum von „Handelnden“ (prattontes), welche notwendigerweise eine bestimmte Beschaffenheit haben und also qualitativ bestimmt sind (poious tinas einai, 1450a5 f., 1450a19), und zwar in sittlicher Hinsicht, nach Tugend und Schlechtigkeit (so bereits im Kap. 2, 1448a1 ff.). Der Vorrang des Mythos ergibt sich daraus, daß Glück und Unglück – deren Umschwung das Zentrum der tragischen Handlung darstellt – „in der Handlung“ (1450a17 f.) liegen, während êthos eben eine qualitative Beschaffenheit ist. Andererseits gewinnt auch die Handlung ihre Qualität, zumal ihren „ernsthaften“ Charakter (1449b38–50a1), aus dem Ethos der Handelnden, und gerade die sittliche Bestimmtheit der Handelnden nach Kapitel 13 macht naturgemäß die Kernbestimmung des Ethosbegriffes aus. Hierauf zielt auch die abschließende Bestimmung des Begriffs im sechsten Kapitel: Ethos ist „dasjenige, welches offenbart, von welcher Art die (sittliche) Entscheidung (prohairesis) ist“ (1450b8–9). „Charakter“ in diesem Sinne fehle, wenn gar nicht deutlich werde, was die Person anstrebt oder flieht (1450b10 f.). Das übersetzende Wort „Entschei­ dung“ ist hier in weitestem Sinn zu verstehen, nicht nur als situative Wahl einer Handlung, sondern als gesamte Willensrichtung oder Strebensten­ denz eines Menschen. In der Rhetorik (III 16, 1417a16 ff.) verdeutlicht Aristoteles einen ähnlichen Punkt, indem die „ethische“ Färbung einer Rede mathematischen Diskursen entgegengesetzt wird, in denen keine Absichten oder Zwecke zum Ausdruck gebracht werden. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß mit dem Begriff des êthos als Wesens­ moment die ethisch-charakterliche Dimension der Dichtung insgesamt gemeint ist. Es wäre verfehlt, aus dem Hinweis auf die Tragödien „ohne Ethos“ zu schließen, die Charakterbestimmung sei entgegen der Grund­ bestimmung kein notwendiges Moment. Gemeint ist damit eher, daß die Eigenart der Personen hier in der dramatischen Darstellung nicht recht

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ausgearbeitet wird, daß also die Charaktere abgeflacht, ohne Tiefendi­ mension, ohne „Sichtbarkeit“ ihres Ethos auftreten. Ebensowenig sollte das Moment des Ethos mit bestimmten Partien innerhalb einer Tragödie gleichgesetzt werden, etwa den „charakterausdrückenden“ Reden (êthikoi logoi), in denen eine „Entscheidung“ mitgeteilt oder begründet wird. Zwar mögen derartige Reden ein hervorragendes Mittel der Charakterdarstel­ lung sein, jedoch keineswegs das einzige: auch durch die Art der dialo­ gischen Interaktion kann Charakter dargestellt werden, ebenso mittels der Reaktionen oder Beschreibungen anderer Personen, und selbst Schweigen kann beträchtlich zur Darstellung eines Charakterbildes beitragen. Wie aus einer Bemerkung erst im Kapitel 17 hervorgeht, kann „Entscheidung“ (und damit „Ethos“) auch durch die Handlung selbst sichtbar werden (1454a17 f.). „Charakter“ wird also dadurch zu einer eigenen ästhetischen Katego­ rie, daß es bei der Darstellung von Personen hervor- oder zurücktreten kann: es ist, um die Grundbestimmung noch einmal zu zitieren, dasjenige, welches offenbart, von welcher Art die Entscheidung ist (1450b8–9). Diese Offenbarungsdimension ist es, die zur Aussonderung des Ethos als eigen­ ständigen Momentes der Dichtung führt; es liegt hierin die Umsetzung des „ethischen“ Grundbegriffes in die ästhetische Darstellung. Diese Möglich­ keiten der Charakterdarstellung verdeutlicht Aristoteles wiederholt anhand der Malerei: einige Maler (wie etwa Polygnot) seien gute „Charakterzeich­ ner“ (êthographos), während andere (hierfür wird Zeuxis als Beispiel genannt) kein Ethos darstellen (1450a26–29). Wie dies gemeint ist, verdeutlicht eine Überlegung innerhalb der Mimesislehre der Politik (VIII 5, 1340a28 ff.): im Bereich des Sehbaren seien es vor allem Gesten und Mimik (schêmata), wodurch êthos zum Ausdruck gebracht wird, diese zu verstehen als (körper­ liche) Anzeichen von Charakter, besonders bei Affektzuständen. In einem anderen Vergleich verdeutlicht Aristoteles das Verhältnis von Handlung und Charakter an dem Unterschied einer Umrißzeichnung zum Farbauf­ trag (1450a39–b3). Wichtiger noch, jedoch ungleich schwieriger ist die Abgrenzung gegen­ über dem dritten zum „Was“ der Mimesis gehörigen Moment, dem „Gedanken“ (dianoia), dessen nähere Bestimmung im Kapitel 19 dürftig ausfällt. Die Unterscheidung zwischen „charakterlichen“ (ethischen) und „gedanklichen“ (dianoetischen) Eigenschaften ist eine Grundunterschei­ dung der aristotelischen Ethik (EN I 13; VI 2). In Bezug auf die daraus erwachsenden Tugenden ist der Sinn dieser Unterscheidung einleuchtend: Tapferkeit, Besonnenheit, Großzügigkeit sind ethische Bestformen; Klug­ heit (phronesis), Weisheit, Verständigkeit sind dianoetische Bestformen. Zu

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beachten ist allerdings, daß Aristoteles dies als eine analytische Unterschei­ dung ansieht: niemanden wird man etwa tapfer nennen können, der nicht zumindest im Bereich des Tapferseins, nämlich wo es um das Verhalten zu Bedrohlichem geht, situativ angemessene Einschätzungen vornimmt, die ihrerseits die Leistung der praktischen Urteilskraft, der Klugheit, sind. Zur Frage steht damit, inwiefern die in der Ethik zugrundegelegte Unterscheidung zwischen êthos und dianoia für das Verständnis der analo­ gen Unterscheidung in der Poetik fruchtbar zu machen ist. Betrachtet man etwa die in einer Szene ausgearbeitete Darstellung eines tapferen Ethos, so läßt sich im konkreten Verhalten eine Unterscheidung zwischen ethischem und dianoetischem Anteil kaum ausmachen. Andererseits wäre es wenig einleuchtend, unter der dianoia ihrerseits die spezifisch dianoetischen Tugenden aus der Ethik – oder ihnen gemäße Verhaltensweisen – zu verstehen. Denn es gehört keineswegs zum Begriff der Tragödie, daß die Handelnden in einem ausnehmenden Sinne Kluge oder gar „Weise“ (im Besitz theoretischer Kenntnisse) seien. Tritt hinwiederum ein Handelnder mit einer derartigen „dianoetischen“ Begabung auf, wie etwa der listige Odysseus, so würde man dies sicherlich als Merkmal eben seines Charakters ansehen. In diesem Sinne wird etwa die zu „intellektuelle“ Rede der Mela­ nippe als Beispiel einer unangemessenen Charakterdarstellung getadelt (15, 1454a30). Insofern die dianoia also auf die gedanklichen Fähigkeiten der Bühnencharaktere zielt, sind diese in einem weiten Charakterbegriff durchaus bereits enthalten. Außerhalb der Ethik verwendet Aristoteles in der Tat einen solchen weiten Begriff, bei dem Ethos in keinerlei Absetzung gegen dianoetische Charaktereigenschaften steht. So wird etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, in der Rhetorik (II 1) nicht nur die „Tugend“ des Redners, sondern auch seine Klugheit und sein Wohlwollen zum Ethos gerechnet. Es scheint also, daß die aus der Ethik bekannte und dort sinnvolle Unter­ scheidung zwischen êthos und dianoia in der Poetik nicht trägt. Würde man sie analog im Sinne einer doppelten Bestimmtheit der Personen nach „ethischer“ und „dianoetischer“ Hinsicht erklären wollen, so ergäbe sich eine Doppelung, die das Wesenselement der dianoia eigentümlich funkti­ onslos werden läßt. Es erbrächte keinen eigenen Beitrag zur Bestimmung der Dichtkunst, der nicht schon auf passendere Weise im Charakterbegriff steckte: es wäre schlichtweg überflüssig. Die Unterscheidung zwischen êthos und dianoia in der Poetik muß also in einer anderen, und zwar in einer der ästhetischen Aufgabe entspre­ chenden Hinsicht gesucht werden. Definiert wird das Moment der dianoia in der Poetik denn auch nicht als „Erkenntnisfähigkeit“ (wie oft übersetzt

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wird), sondern als das „Vermögen, das Darinnenliegende (ta enonta) und das Passende zu sagen (legein)“ (6, 1450b5). Unter seinen Begriff fällt nach Kapitel 19 „das, was durch die Rede (logos) zubereitet werden muß“, und ist darum Sache der Rhetorik (1456a35 f.). Die Fähigkeit, die „Gedanken“ in Rede zu formulieren, ist mithin das Entscheidende. Die dianoia in der Poetik ist also in keiner Weise mit den dianoetischen Tugenden gleichzuset­ zen. Diese zielen zwar ebenfalls auf das „Darinnenliegende und Passende“ einer Handlungslage im Sinne praktischer Erkenntnis, werden jedoch unabhängig von der Fähigkeit, diese sprachlich zu äußern, vollzogen. Ein wortkarger Handelnder kann gleichwohl in höchster Weise „phronetisch“ handeln, während einer, der die Handlungssituation mit intellektueller Brillanz zu erläutern, der auch über seine eigenen Absichten verständig Auskunft zu geben versteht, dennoch in eben dem phronetischen Hand­ lungsvollzug selbst zurückbleiben mag. Über sich selbst, ihr Handeln, dessen Gründe sowie allgemein die Handlungslage Auskunft geben zu können ist jedoch ein notwendiges Merkmal der im Drama dargestellten Figuren. Von ihrem Bereden der Handlungssituation im weitesten Sinn lebt ja das Drama, da der Zuschauer diese nicht über einen auktorialen Erzähler, sondern nur vermittels ihrer Reden mitvollziehen kann. Dies muß sich keineswegs in rhetorisch aufbe­ reiteten Formen und ausdrücklichen Erklärungen vollziehen; passender ist oft eine situative oder indirekte Art der Mitteilung. Auf diesen Unterschied scheint eine Bemerkung in Betreff der dianoia im Kapitel sechs zu zielen: in der älteren Tragödie würden die Personen eher „staatsmännisch“ (politikôs) reden, in der neueren hingegen eher rhetorisch (1450b7–8), – dies ein deutlicher Hinweis, daß trotz dem Verweis auf die Rhetorik die dianoia keineswegs in einer unmittelbaren Applikation rhetorischer Redengestal­ tung zu suchen ist, ja daß diese im Drama sogar zu unpassender Geschwät­ zigkeit führen mag. Jedoch sich mitteilen können müssen die dramatischen Charaktere, und zwar in einem Ausmaß, das das sprachliche Vermögen eines entsprechenden Charakters „in der Wirklichkeit“ gewöhnlich bei weitem übersteigt. Eine jener Ausnahmen, die die Regel nicht nur bestätigen, sondern sogar erhel­ len, ist für diesen Punkt wohl die (nicht erhaltene) Niobe des Aischylos, die bis zur Hälfte des Dramas stumm am Grab ihrer Kinder sitzend gezeigt wird: ein vollständiger Ausfall jeglicher dianoia, wodurch sprachloses Leid in Form einer eigentümlichen „Handlung“, Schweigen nämlich, präsent gemacht wird. Auf diese Weise kann der dianoia als eigenständigem Moment der Mime­ sis besser Rechnung getragen werden: nicht Erkenntnisfähigkeit als solche,

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sondern die ihr entspringenden „sittlichen“, handlungsleitenden, -beglei­ tenden und -reflektierenden Gedanken, die dann in sprachlicher Form geäußert werden. Ein Drama ohne dianoia wäre mithin ein Stück, in dem „Handlung“ und Ethos bloß durch die Bewegungen, Gesten und Mimik der Schauspieler aufgeführt würde. Mit dieser Interpretation ist auch der Bezug zur Rhetorik hergestellt: entgegen der in Kapitel 19 geschürten Erwartung ist dianoia kein Grundbegriff der Rhetorik; er begegnet dort am Ende des zweiten Buches (II 26, 1403a34 ff.), eher unerwartet, als Zusammenfas­ sung der drei sachbezogenen Momente des Glaubhaften, die – analog zur Unterscheidung der Poetik – als das „Was“ des Redens von seinem „Wie“, nämlich der sprachlichen Gestaltung (lexis), abgegrenzt wird. In beiden Techniken steht dianoia mithin für die gedankliche Seite der Produktion von „Rede“ (logos), die zugleich verbunden wie auch zu unterscheiden ist von den Möglichkeiten, diese dann sprachlich zu formulieren.

9.2 Anagnorisis und das „Technische“ (Kap. 16) Das Kapitel 16 stellt einen Nachtrag über die Anagnorisis dar, gehört also der Sache nach zu Kapitel elf. Aufgeführt und durchgegangen werden fünf typische Arten der Wiedererkennung. Wie die illustrierenden Hinweise auf verschiedene Tragödien zeigen, ergibt sich die Zusammenstellung der Arten nicht aus einer systematischen Unterteilung nach allgemeinen Möglichkeiten der „Wiedererkennung“, sondern aus dem Material der Dichtwerke selbst, ihrer literaturwissenschaftlichen Sichtung. Aristotelisch hieran ist nicht nur die klar gliedernde Aufzählung dieser Arten, sondern in einem damit ihre Bewertung im Sinn einer Rangfolge, die unabhängig von der Bewertung ihres Einsatzes in einzelnen Dramen erfolgt. Der Maßstab dieser Rangfolge ist das, was Aristoteles „das Technische“ (to technikon) nennt: je technischer, das heißt je mehr der Kunst (technê) der Dichtung entsprechend, umso „besser“. Der „normative“ Zug der aristotelischen Poetik, der hier ebenso wie bei den „Anweisungen“ im folgenden Kapitel 17 besonders ausdrücklich zutage tritt, ist, gegenüber einem eher „deskriptiven“ Vorgehen, oft notiert worden. Es wäre allerdings ein Mißverständnis, würde man derartige Bestimmungen als Einfließen persönlicher Wertungen oder ästhetischer Vorlieben in die wissenschaftliche Arbeit ansehen. Um ihren Sinn zu verstehen, gilt es, sich dessen zu vergewissern, was Aristoteles unter dem „Kunstvollen“ (technikon) versteht. In der Poetik bezeichnet er das Moment des „Anblicks“ (opsis), also der Inszenierung, als den „kunstlosesten“ Teil

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(1450b17, 1453b8), und dies obgleich die Inszenierung als eines der sechs wesensnotwendigen Momente der Tragödie, als das „Wie“ der Mimesis (1450a11 f.), eigens ausgezeichnet wurde. Der Grund ist folgender: „die Wirkung der Tragödie kommt auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande“, und dies sei Sache der Inszenierungskunst, also von Regie und Bühnenbildnerei (1450b18–20). Kunstlosigkeit bedeutet hier mithin nicht, dieser Teil sei überflüssig, wertlos, keiner Anstrengung oder keines beson­ deren „Könnens“ bedürftig. Vielmehr ist mit dieser Abstufung offenbar gemeint, daß die Inszenierung am wenigsten einen eigenständigen Anteil am Erreichen des „Zieles“ einer Tragödie hat. Sie sollte gegenüber den ande­ ren, wichtigeren Funktionselementen eine rein dienende Stellung haben: nämlich die sprachlich-musikalisch vorliegende Mimesis nun auch optisch möglichst angemessen „auf die Bühne“ zu bringen. Auch in der anderen Techne, die Aristoteles verfaßt hat, der Rhetorik, trifft man auf vergleichbare Abstufungen im Sinne des Technischen. So unterscheidet Aristoteles drei „technische“ Formen der Glaubhaftma­ chung von den „untechnischen“, denen das Glaubhafte bereits von sich aus innewohnt, wie etwa Verträge und Zeugen. Unsinnig wäre es, hierin eine Abwertung in dem Sinne zu sehen, daß auf sie wo möglich verzichtet werden solle, oder daß ihr Gebrauch nicht ausschlaggebend für den Erfolg etwa einer Gerichtsrede sein könnte. Vielmehr ist deutlich, daß sie allein deswegen untechnisch sind, weil das Glaubhafte bei ihnen nicht erst „durch uns“, und das heißt mittels der Kunst der Rede, hergestellt werden muß. Ähnlich sind Aristoteles’ Bemerkungen über den mündlichen Vortrag der Rede einzuschätzen: dies sei „Sache der natürlichen Begabung und eher kunstfremd“ (1404a15). So unverzichtbar für eine Rede der Vortrag ist, er fällt doch außerhalb dessen, was als die Grundbestimmungen der Kunst zu erheben ist; er hat allein die Aufgabe, die Rede selbst auf angemessene, die Sache verdeutlichende Weise zu präsentieren. Das „Technische“ fungiert mithin für Aristoteles als Maßstab, um den Beitrag eines „Teiles“ zu dem Ganzen der jeweiligen Kunst zu bestimmen. In diesem Sinne läßt sich auch die Rangfolge der Arten der Anagnorisis gemäß ihrer „Technizität“ verstehen: unverkennbar stellt die letztgenannte Wiedererkennung, die „aus dem Geschehen selbst“ resultiert, nicht nur „die beste“ Art (1455a16) dar, sondern ist zugleich Maßstab für alle ande­ ren. Die beste ist sie, insofern hier die Wiedererkennung aus dem Kern­ bereich des poetischen Tuns, der Komposition der Handlung, entspringt. Unschwer läßt sich also der Durchgang durch die Formen der Anagnorisis als aufsteigende Reihe erkennen: die Wiedererkennung der erstgenannten Art, „durch Zeichen“ (eine Person wird beispielsweise an einer Narbe oder

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an einem Halsband erkannt), beruht auf einem zufällig vorkommenden Umstand, der von der Handlungsentfaltung unabhängig ist; sie wird „aus Verlegenheit“ (1454b21) verwendet, wenn der Dichter nicht recht weiß, wie er die Erkennung motivieren soll. Ähnlich die zweite Art, wenn eine Person sich von sich aus zu erkennen gibt. Zwar mag dies aus der Situa­ tion motiviert sein, jedoch wird hier der Vorgang der Wiedererkennung nicht eigens vorgeführt, er wird der erkennenden Person sozusagen durch die erkannte Person geschenkt. Anders bei der dritten Art: die Wieder­ erkennung ergibt sich „durch Erinnerung“, an der erinnernden Reaktion auf ein Ereignis wird die Person also durch andere erkannt. Damit ist die Wiedererkennung hier bereits in den Handlungsstrang eingebettet. Bei der vierten Art „aus einer Schlußfolgerung“ wird in den Überlegungen der erkennenden Person der Vorgang der Wiedererkennung den Zuschauern vorgeführt, sie ist also selbst Teil der Handlung. Bei der fünften und besten Art schließlich ergibt sich die Wiedererkennung „aus Wahrscheinlichem“: wie beim König Ödipus nimmt die Handlung gleichsam von selbst, Schritt für Schritt, die Form eines Erkenntnisganges an. Die Wiedererkennung geschieht also nicht nur als mehr oder weniger motivierter Abschnitt innerhalb der Handlung, sie ist vielmehr das, was den Handlungsverlauf vorantreibt und im Akt der Erkenntnis den Wendepunkt herbeiführt. Indem die Anagnorisis zur Handlungslogik wird, ist ein Höchstmaß an innerer, „logischer“ Verkettung der Handlungsschritte erreicht, die Hand­ lungsabfolge wird durchsichtig und somit den Zuschauern in höchstem Maße nachvollziehbar und miterlebbar. Nicht ohne Grund sieht Aristo­ teles hierin einen Gipfel poetischer Kunstfertigkeit.

9.3 Anweisungen zur Ausarbeitung (Kap. 17) Das 17. Kapitel ist eines der sonderbarsten der Poetik: von seiner Form her als Sammlung von Anweisungen zur Ausarbeitung einer Tragödie gehal­ ten, enthält es so scheinbar unterschiedliche Themen wie den Ratschlag an den Dichter, das dramatische Geschehen bis hin zu den Bedingungen der Bühnenaufführung sich bildlich vorzustellen; Bemerkungen zur besonde­ ren Begabung des Künstlers; dann über die Reihenfolge der Schritte bei der Ausarbeitung eines Dramas; schließlich Unterschiede zwischen Drama und Epos. Auch in anderen Kapiteln ist diese Form der direkten Anweisung anzutref­ fen: „man muß …“, „man soll …“. Neben der bereits diskutierten „Norma­ tivität des Technischen“ ist dies der Hauptgrund dafür, daß die aristote­

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lische Poetik das Ansehen einer „Regelpoetik“ und „Produktionsästhetik“ gewonnen hat: als die Regeln der künstlerischen Produktion definierend und in Form einer präskriptiven Lehre vortragend. Jedoch die Frage ist, ob mit diesen Klassifizierungen tatsächlich die Eigenart der Poetik angemessen erfaßt wird. „Über die Dichtkunst selbst und ihre Arten, welche Wirkkraft jegliche Art hat, und wie man die Mythen komponieren muß, wenn die Dichtung gut sein soll“, darüber, so der Auftakt der Poetik, soll diese Schrift handeln. Es geht also um das Wesen der Dichtung überhaupt, und erst aus der Entwicklung eines solchen Grundbegriffes ergibt sich die spezifische Qualität gelungener Dichtung, damit auch der Hinblick, wie man sie „gut“ herstellen kann. Was Aristoteles in Form einer „Anweisung“ formuliert, ist mithin das Ergebnis einer „theoretischen“ Untersuchung, nicht aber ein Einblick in die Werkstatt poetischer Produktion. Handgreiflich wird dieser Unterschied bei der im Kapitel 17 darge­ legten Vorschrift, der Dichter solle zuerst „das Allgemeine betrachten“ (theôrei­sthai to katholou, 1455b2 f.), womit Aristoteles, ausweislich des angeführten Beispiels der Iphigenie bei den Taurern, die bloßen Fixpunkte des Geschehens meint. Erst nachdem die Rohskizze des Plots steht, soll der Dichter die Namen einsetzen und die „szenische Ausarbeitung und Gestal­tung“ (epeisodioûn) beginnen. Unter der Annahme einer „Regelpoe­ tik“ fragt es sich, welchen praktischen Wert eine solche Anweisung haben sollte? Warum sollte ein Dichter nicht von einem künstlerischen Einfall einer bestimmten Schlüsselszene oder eines bestimmten Charakterbildes ausgehen und von dorther den dazu passenden Handlungsverlauf konzipie­ ren? Oder für die Antike näherliegend: warum nicht von einem bestimmten Mythos, der mit der Handlung zugleich auch namentlich bekannte Charak­ tere vorgibt? – Was Aristoteles hier in Form einer Anweisung zu erklären versucht, ist offenbar nicht die zeitliche Reihenfolge der einzelnen Schritte beim Verfassen einer Dichtung, sondern die sachliche Priorität einer in sich schlüssigen Handlung: dies als das „Allgemeine“, das durch die Reduk­ tion auf den nackten Handlungsrahmen zutage tritt, derart daß die Einzel­ heiten als aus dieser zugrundeliegenden künstlerischen „Idee“ abgeleitet und damit aufeinander abgestimmt einsichtig werden. Aus diesen Gründen wäre es durchaus untunlich, derartige Anweisungen, wie man dichten „soll“, als Ratschläge für den Dichter, als erste Lektionen einer Ausbildung in der Dichtkunst zu lesen. Die Form der Unterweisung gehört vielmehr zur Gattung jener Schriften, die eine „Techne“ behandeln. Aristoteles verwendet sie in der Poetik ebenso wie in der Rhetorik, um auf anschauliche und nachvollziehbare Weise sein aus theoretischer Analyse gewonnenes Konzept einer Techne vorzutragen.

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9.4 Das Vor-Augen-stellen und die dichterische Begabung (Kap. 17) Diesen literarischen Charakter der aristotelischen Schrift zu beachten, erweist sich auch bei der ersten hier gegebenen „Anweisung“ als wich­ tig: der Dichter solle sich das Geschehen „so weit als möglich vor Augen stellen“ (pro ommatôn tithesthai); denn so finde er das „Angemessene“ (to prepon) und vermeide dadurch Fehler in der Stimmigkeit der Darstellung. Aristoteles erläutert diese Anweisung nur durch das Beispiel eines nicht erhaltenen Dramas des Tragödiendichters Karkinos, das offenbar eine Ungeschicklichkeit enthielt, die erst bei der Aufführung, also der optischen Darbietung, nicht schon beim Lesen auffallen konnte, die der Dichter aber bei vollständiger geistiger Visualisierung hätte vermeiden können. Es ist viel darüber gerätselt worden, welches der für das Publikum schwerwie­ gende Fehler des Karkinos war (bezüglich des Epos diskutiert Aristoteles einen wohl vergleichbaren, dort aber mangels Aufführung folgenlosen Fall: 24, 1460a13 ff.). Allerdings führt das Abheben auf Fehlervermeidung hier in die Irre; man muß dies als einen jener nicht seltenen Fälle ansehen, wo Aristoteles vor seiner eigenen ungenügenden Erklärung in Schutz genom­ men werden muß. Denn nicht nur negativ um das Vermeiden von (dann bei der Aufführung offensichtlichen) Fehlern geht es bei dem Vor-Augen-stel­ len, sondern positiv und grundsätzlich um das „Verfahren“ beim Verfassen einer Dichtung. Verständnisfördernd ist die erwähnte Kategorie des „Angemessenen“. Auch in der Rhetorik (III 7) ist sie einschlägig, dort definiert als Stimmig­ keit des sprachlichen Ausdrucks (lexis) bezüglich des in der Rede jeweilig auszudrückenden Ethos und Pathos: die Sprechweise muß angemessen sein im Blick auf die verhandelte Angelegenheit. Dieser Sinn ist auch in der Poetik anzunehmen, allerdings keineswegs nur auf die sprachliche Form beschränkt. Das Angemessene stellt ein wichtiges Glied des Wechselbe­ zugs zwischen Rhetorik und Poetik dar. Jedoch ist bei der Vergleichung derartiger Schlüsselbegriffe, die für beide Techniken Geltung haben, stets das unterschiedliche Ziel im Auge zu behalten: in der Rhetorik geht es darum, den Hörern die Richtigkeit der dargelegten Ansicht glaubhaft zu machen; in der Poetik um die mimetische „Glaubhaftigkeit“ der darzustel­ lenden Handlung mittels einer glaubhaften Präsentation der handelnden Charaktere. Hier regiert das Angemessene in dem Sinne, daß ein mime­ tischer Charakter allein dadurch glaubhaft dargestellt werden kann, daß er das für sich im Blick auf die Handlungssituation Angemessene sagt und tut (gemäß der Maxime: „welchem Menschen es zukommt, welche Dinge

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zu sagen oder zu tun nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit“: 9, 1451b8–9). Um eben diese zentrale poetische Leistung zu erbringen, bedarf es des Vor-Augen-stellens. In der Rhetorik begegnet der verwandte Ausdruck „Vor-Augen-führen“ (pro ommatôn poiein, III 11) als Terminus, er bezeichnet dort die Quali­ tät gelungener Metaphern, etwas als „in Tätigkeit“, „belebt“, „bewegt“ darzustellen (diese Eigenschaft wird im Abschnitt über die Metapher im Kap. 21 der Poetik nicht erwähnt). Diese Erläuterung der Metaphernthe­ orie läßt sich zwanglos übertragen, jedoch ist sie in der Poetik wiederum nicht nur auf eine besondere Sprachform oder Darstellungsweise zu bezie­ hen, sondern auf die Ausarbeitung der gesamten Dichtung: der Dichter muß sich das Geschehen bei der Komposition ebenfalls „in Tätigkeit“ und „lebhaft“ vorstellen, sich die Charaktere und ihre Handlungsverwicklungen in allen Einzelheiten vor sein geistiges Auge bringen. Die Wendung „hier­ bei zugleich sprachlich ausarbeiten“ (tê lexei synapergazesthai: 1455a22 f.) verdeutlicht, daß die visuelle Vorstellung des Ganzen die Voraussetzung gerade für die erfolgreiche Versprachlichung des Dramas, also die eigent­ liche Niederschrift des Textes bildet. Die Imagination trägt mithin das Geschäft des Dichtens in der ganzen Spannbreite, vom Entwurf des Hand­ lungsverlaufs über die Gestaltung der Charaktere und der „Gedanken“ bis hin zur sprachlichen Formulierung. Das Vor-Augen-stellen erweist sich damit, so knapp seine Behandlung ausfällt, als die Vollzugsweise des Dich­ tens selbst. Damit fällt auch ein deutlicheres Licht auf die Erläuterung, der Dichter müsse das zu Dichtende „mit größter Deutlichkeit sehen, so als ob er bei den Geschehnissen selbst zugegen wäre“ (1455a23–25). Mit ähnlichen Worten hatte Platon die Wirkung von Dichtung gekennzeichnet (Ion 535b–c), und bereits der Homerische Sänger beschrieb sein Tun ähnlich (Od. 8, 491). Aristoteles formuliert also mit der Wendung „mit größter Deutlichkeit sehen“ nicht eine Trivialität, sondern bezieht sich auf einen wohlbekannten Topos der antiken Ästhetik: die lebendige Präsenz des Kunstwerks. Als ob man selbst zugegen wäre – dies ist es, wozu das Vor-Augen-stellen führen soll. Indem der Dichter sich das dramatische Geschehen bei der Ausarbei­ tung in visueller Prägnanz vorstellt, bringt er es zur Präsenz, derart daß es auch für die Betrachter gegenwärtig und „mit größter Deutlichkeit“ erleb­ bar werden kann. In diesen Gedankenkreis gehören auch die weiteren Anmerkungen, so der wiederum als Anweisung formulierte Hinweis, der Dichter solle mit Gebärden und Mimik (schêmasin) arbeiten (1455a29 f.). Es können hier kaum Regieanweisungen für die Schauspieler gemeint sein. Die Gestik soll

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eher dazu dienen, sich so weit wie möglich in die Rolle der dargestellten Personen hineinzuversetzen, dem Dichter wird also geraten, geradezu leib­ haftig den darzustellenden Charakter zu spielen. In diese Richtung geht auch die hierfür angeführte Begründung (gar 1455a30), daß die Darstellung von leidenschaftlicher Ergriffenheit „am überzeugendsten“ (pithanôtatoi) gelingt, wenn der Darstellende selbst in diesem Affekt steht: „es wütet der Zürnende am wahrhaftigsten (alêthinôtata)“ (1455a32; mit Parallele Rhet. III 7, 1408a16 ff.). Mit der Präsentation pathetischer Zustände spricht Aristoteles die Wahrhaftigkeit mimetischer Darstellung am schwierigsten, aber auch wirkungsvollsten Fall an, und gerade hierin wird man die Bestim­ mung des Begriffes des Vor-Augen-stellens terminieren lassen wollen: die Charaktere mimetisch darstellend erzeugt der Dichter eine glaubhafte, poetisch „wahrhaftige“ Darstellung. Liest man diese äußerst kondensierten Erwägungen als zusammen­ hängenden Gedanken, so zeigt sich, wovon hier die Rede ist: von nichts weniger als der Grundbedingung des Geschäftes des Dichtens. Sich imaginativ in einen Charakter hineinversetzen – aus diesem Gedanken entwickelt Platon Mimesis als Grundbegriff der Ästhetik (Rep. 393 ff.). Mit den „Anweisungen“ im Kap. 17 zielt Aristoteles auf diese Wurzel mimetischer Tätigkeit: aus der Befähigung des Künstlers zu geistigimaginativer Vergegenwärtigung quillt sein Können, das Darzustellende von allen Seiten „angemessen“ und damit rundum „überzeugend“ darzu­ stellen. Damit gelangt die Überlegung auf natürliche Weise zu den Voraus­ setzungen des Dichtberufes. Aus dem Umstand, daß der Dichter sich in Zustände der Leidenschaft versetzen muß, folgert Aristoteles, daß die Dichtkunst Sache von begabten oder leidenschaftlichen Naturen sei. Dieser eine kurze Satz hat zu Recht die Aufmerksamkeit der Interpreten auf sich gezogen. Denn dies ist wohl die einzige Stelle, an welcher Aristoteles eine besondere Begabung des Dichters derart ausdrücklich anerkennt. Zuweilen will man in diesem Verweis auf die dichterische Begabung und den zum Topos gewordenen „furor poeticus“ nur einen matten Nachklang der platonischen Lehre vom dichterischen „Wahnsinn“ (mania) im Phaidros sehen. Oft wird sogar ein Bruch mit dem nüchternen und rationalistischen Zug der Poetik konstatiert, auch wenn diese Einschränkung von Aristo­ teles’ Ausrichtung auf „Techne“ und Regelbeherrschung mit Wohlwollen begrüßt wird. Doch liest man die Passage im Zusammenhang, so zeigt sich, daß hier kein Widerspruch, ja nicht einmal eine Spannung vorliegt. Bereits der Umstand, daß diese Aussage inmitten der scheinbar trockensten und allgemeinsten „Anweisungen“ zur Produktion des Dichtwerks steht, sollte

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nachdenklich machen. Der Gegensatz zwischen „Naturbegabung“ und „Kunst“ ist zwar in der antiken Diskussion bereits angelegt, jedoch wird er keineswegs zu jener harschen Ausschließlichkeit gesteigert, die die neuzeit­ liche Ästhetik mit ihrer Betonung der schöpferischen Einbildungskraft prägt und unter anderem zur Verwerfung der aristotelischen Poetik zugun­ sten einer „Genieästhetik“ geführt hat. Gerade von Aristoteles wäre jedoch zu lernen, inwiefern die spezifischen Anforderungen der poetischen Kunst eine besondere geistige Begabung zur Voraussetzung haben. Erkennt man, daß mit dem imaginativen Sich-in-einen-anderen-Versetzen der Grund­ zug aller Mimesis angesprochen ist, so schwindet der scheinbare Wider­ spruch. Gerade die kunstgerechte Ausarbeitung vom Rohentwurf bis zur szenischen Gestaltung, die im nachfolgenden Abschnitt behandelt wird, ist der Ort für das mimetische Vor-Augen-stellen. Insofern die mime­ tische Kunst es erfordert, sich in die Charaktere und ihre Gemütszustände hineinzuversetzen, beruht sie auf einer besonderen, hierzu disponierenden Naturveranlagung: Von Interesse ist, daß Aristoteles zwei Möglichkeiten der poetischen Begabung unterscheidet und nebeneinander stellt: den „Wohlgeratenen“ (euphyês, wörtlich: der von guter Natur ist) und den „Maniker“ (manikos). Beiden ist die Gabe zueigen, sich in andere hineinversetzen zu können, dieser, weil er „leicht formbar“, „bildbar“ (euplastos) ist; jener, weil er „ekstatisch“ (ekstatikos) ist. Diese zwei Begabungen werden von Aristoteles unmittelbar aus der angeführten Einsicht abgeleitet, daß derjenige am wahrhaftigsten und überzeugendsten eine Leidenschaft darstellt, der sich tatsächlich in diesem Affekt befindet. Es erfordert interpretatorische Beach­ tung, daß Aristoteles hier eine äußerst verknappte Begründung intendiert (gar: 1455a30, dio: a32, gar: a33). Folgenderweise wird man sich den impli­ ziten Gedankengang verdeutlichen müssen: Ein Künstler wird nicht nur Charaktere „von der gleichen Natur“ (1455a30) wie er selbst darstellen, es ist vielmehr die Auszeichnung des Mimetikers, daß er durchaus Verschie­ denes darstellen, sich ihm anverwandeln kann (so schon Platon, vgl. Rep. 394d ff.; Nom. 719c). Daher, so schließt Aristoteles offenbar, bedarf es zur erfolgreichen Ausübung der mimetischen Kunst einer besonderen Fähig­ keit, sich in verschiedene Charaktere, verschiedene Handlungssituationen und Lebenslagen hineinzudenken. Eine genauere Schilderung der zwei hierfür in Frage kommenden Typen bietet Aristoteles nicht, jedoch lassen sich ihre Umrisse erahnen. Eine „wohlgeratene Natur“ sieht Aristoteles auch als Voraussetzung der Fähigkeit, Metaphern zu bilden, ein Talent, das man nicht von anderen erlernen könne (22, 1459a6 ff.). Ähnliches wird in der Rhetorik (III 10,

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1410b7 f.) über das „Geistreiche“ (ta asteia) gesagt. In der Ethik verwendet Aristoteles den gleichen Ausdruck euphyia, um eine angeborene Fähigkeit, das (wahre) Gute zu sehen, zu bezeichnen (EN III 8, 1114b6 ff., EE VIII 2, 1247b22 ff.). Der „Wohlgeratene“ zeichnet sich also vor allem durch geistige Treffsicherheit aus. Während es für die Konzeption dieses ersten Typus keine klaren literarischen Vorlagen gibt, nimmt Aristoteles mit dem zweiten Typus, dem „Maniker“, den stehenden Topos vom „rasenden“, „trunkenen“, „ekstatischen“ Dichter auf. Der Unterschied der beiden Naturanlagen scheint zu sein, daß der Begabte für Fremdes empfänglich ist, Eindrücke in sich aufnehmen kann, also bewußt und mit Kontrolle der Mimesis walten kann, wohingegen der andere durch seine erregbare Natur dazu neigt, aus sich selbst „herauszutreten“, also eher unwillkürlich in leidenschaftliche Zustände gerät. Das „ek-statische“ Außer-sich-sein ist hier wohl nach Maßgabe der aristotelischen Überlegung wörtlich zu verste­ hen: dieser Typ tritt aus seinem eigenen Charakterbild heraus in dasjenige der darzustellenden Charaktere. Im Hintergrund steht hierbei die Vorstel­ lung eines „melancholischen“ Gemüts, das aus einem Ungleichgewicht der körperlichen Konstitution resultiert. Neben anderen, eher unerwünschten Eigenschaften bringt diese Naturanlage eine leicht erregbare Einbildungs­ kraft mit sich, die der Grund für die mimetischen Fähigkeiten ist. Diese Bemerkung in Kapitel 17 scheint im übrigen die einzige positive Wertung dieser Konstitution bei Aristoteles zu sein, womit dem wirkungsgeschicht­ lich folgenreichen Bild der „außerordentlichen“ Begabung des Melancho­ likers der Weg geebnet ist, welches im peripatetischen Traktat Problemata 30 entfaltet wird.

9.5 Nachträge (Kap. 18) Das achtzehnte Kapitel enthält Nachträge verschiedener Art. Eine nachgetragene Verdeutlichung über den Handlungsverlauf ist die Unterscheidung zwischen „Knüpfung“ (desis: Verwicklung, complicatio) und „Lösung“ (lysis: solutio): erstere reicht von der nicht dargestellten, aber vorausgesetzten bzw. gegebenenfalls berichteten Vorgeschichte des tragischen Geschehens bis unmittelbar vor den „Wendepunkt“; letztere umfaßt das, was danach „bis zum Schluß“ geschieht. Dunkel ist der Sinn der Unterscheidung zwischen vier Arten (eidê) der Tragödie: verflochtene, pathetische, ethische und eine vierte, deren Benen­ nung durch Textverderbnis unkenntlich ist. Diese sollen sich aus den vier „Teilen“ der Tragödie ergeben, jedoch bleibt die Unterscheidung, auf

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die Aristoteles sich hier zurückbezieht, unauffindbar: sechs Teile werden im Kapitel sechs als konstitutive Momente unterschieden; Kapitel zehn erbringt die Unterscheidung in einfache und verflochtene Mythen; wieder anders die Aufzählung von vier Arten im Kapitel 24, wo neben einfache und verflochtene die „ethische“ und die „pathetische“ Form gestellt werden. Klar ist, welcher Typ mit der „verflochtenen“ gemeint ist, deren Hand­ lungsverlauf nach Kapitel zehn durch Peripetie oder Anagnorisis bestimmt ist. Auch der Charakter der „pathetischen“ Tragödie ist evident; genannt werden etwa die Ajastragödien, von denen die erhaltene des Sophokles das Gemeinte eindrücklich illustriert: sie konzentriert sich auf die Darstellung von „schwerem Leid“ (pathos, als wiederum „dritter Teil“ des Mythos im Kap. 11 von Peripetie und Anagnorisis unterschieden, 1452b10 ff.). Sie wäre nach dieser Gliederung zugleich ein Beispiel der „einfachen“ Form der Handlung. Erahnen kann man die Eigenart der „ethischen“ Tragö­ die; sie wird sich an der Darstellung eines „Charakters“ orientieren. Ob sie allerdings einen Verstoß gegen die aristotelische Forderung des Vorrangs der Handlung vor dem Ethos darstellt oder eher die Handlung selbst auf einen Charakter konzentriert ist, bleibt ungewiß; ebenso, in welcher Weise sie sich zur Unterscheidung von einfacher und verflochtener Handlung verhält. Nur spekulieren kann man über die vierte Art, die allein durch ihr typisches Sujet (Prometheus, Unterweltstragödien) angezeigt wird. Mögli­ cherweise ist hier eine (gegenüber der ersten Art, der verflochtenen) „einfache“ Handlungsführung gemeint. Von den möglichen Unterschei­ dungsgründen her plausibler erscheint es jedoch, nach dem ethischen einen „dianoetischen“ Typ der Tragödie anzusetzen. Hierzu würde das erhaltene Beispiel, der Gefesselte Prometheus des Aischylos, passen, welches von längeren rednerischen Darlegungen geprägt ist. Nach dieser Deutung würden also die vier Typen aus den drei Wesens­ momenten des „Was“ der Mimesis, Mythos, Ethos und Dianoia, abgeleitet, dergestalt daß der Mythos selbst noch einmal in zwei typischerweise unter­ schiedene Verlaufsformen, verflochtene und (einfache) pathetische, aufge­ teilt würde. Die nachfolgende Bemerkung „man soll versuchen, möglichst alles zu erreichen, oder doch wenigstens das Wichtigste“ (1456a3–4) zeigt jedenfalls, daß Aristoteles die Ableitung der vier Typen als Überwiegen eines Momentes ansieht, den schwierig zu erreichenden Idealfall jedoch (wie den König Ödipus des Sophokles) in deren gleichmäßiger Mischung.

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Literatur Allan, D. J. 1972: ΕΙΔΗ ΤΡΑΓΩΙΔΙΑΣ in Aristotle’s Poetics, Classical Quarterly 22, 81–88. Büttner, S. 2000: Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen. Held, G. 1995: The Meaning of Ἦθος in the Poetics, in: Aristotle’s Teleological Theory of Tragedy and Epic, Heidelberg, 24–46. Horn, H.-J. 1975: Zur Begründung des Vorrangs der πρᾱξις vor dem ἦθος in der aristotelischen Tragödientheorie, Hermes 103, 292–99. Moraitou, D. 1994: Aristoteles über Dichter und Dichtung, Stuttgart/Leipzig. Schütrumpf, E. 1970: Die Bedeutung des Wortes êthos in der Poetik des Aristoteles (Zetemata 49), München. Stohn, G. 1998: Zu Kapitel 17 der „Poetik“ des Aristoteles (1455 a22–32), Hermes 126, 269–75. Zanker, G. 2000: Aristotle’s Poetics and the Painters, American Journal of Philology 121, 225–235.

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Gedanke, Sprache und Stil (Kap. 19–22)

Die Kapitel 19–22 beschäftigen sich mit den beiden qualitativen „Bestandteilen der Tragödie“, die in Kapitel sechs angekündigt, aber bisher noch nicht hinreichend bzw. noch gar nicht untersucht worden sind: dem Gedanken (dianoia) und der sprachlichen Form (lexis). Während Handlung, Charakter und Gedankenführung die drei Gegenstände, das „Was“ der Tragödienmimesis sind, ist die sprachliche Form deren wichtigstes Mittel beziehungsweise ihr „Womit“ (6, 1450a9–12). Kapitel 19 verweist im ersten Teil zur Erklärung des Gedankens auf die Rhetorik (19, 1456a34– 36), womit die Bücher I und II der Aristotelischen Rhetorik gemeint sein könnten; der zweite Teil erklärt die Formen der Sprache (schêmata tês lexeôs) und wehrt die sophistische Sprachkritik ab. Damit begrenzt Aristoteles seine in den Kapiteln 20–22 folgende Untersuchung von Sprache und Stil auf die linguistischen Elemente der Sprache (merê tês lexeôs: Kap. 20), die verschiedenen Arten von Wörtern (Kap. 21) und schließlich den besten poetischen Stil (Kap. 22). Wider Erwarten werden dabei nicht Sprache und Stil der Tragödie, die in den vorangegangenen Kapiteln als Paradigma der Dichtung im Vordergrund gestanden hatte, sondern der Dichtung im allgemeinen besprochen.

10.1 Gedanke (dianoia) Der Gedanke meint zunächst die glaubwürdige Argumentation in den Reden der Bühnenfiguren. In Kapitel sechs ist die dianoia einerseits argumentationslogisch bestimmt als „das, womit sie [sc. die Handelnden] in ihren Reden etwas beweisend darlegen (apodeiknyasin) oder auch eine

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allgemeine Ansicht (gnômên) äußern“ (6, 1450a6 f., b11 f.), andererseits im Hinblick auf das rhetorische Ziel als „die Fähigkeit, das Mögliche und das Angemessene (ta enonta kai ta harmottonta) zu sagen“ (6, 1450b4–7). Das bedeutet nicht nur das einem bestimmten Charakter und seiner Sprechweise Angemessene (15, 1454a22–24), sondern vor allem das Sachangemessene (Bywater 1909, 172). In Kapitel 19 nennt Aristoteles von den drei „Überredungsmitteln“ (pi­steis), die er zu Anfang seiner Rhetorik aufführt (vgl. Rhet. I 2), nur die Argumentation (logos) und die Einwirkung auf die Affekte (pathê) der Zuhörer, nicht die Lehre vom Charakter (êthos) des Redners, weil die ethischcharakterliche Verankerung der Rede bereits in Kap. 15 bei der Gestaltung der Bühnenfigur implizit mitbehandelt worden war. Die dianoia ist das, „was durch die Rede hervorgebracht werden soll“, nämlich Beweis und Widerlegung – also rhetorische Schlüsse (Enthymeme), die aus plausiblen, allgemein anerkannten Prämissen beweisen, daß etwas der Fall ist oder nicht –, Affekterregung sowie Techniken der Steigerung und Abschwächung (Poet. 19, 1456a36–b2). Durch diese Techniken kann einem Gegenstand argumentativ größere oder geringere Bedeutung verliehen werden (vgl. Rhet. II 19, 1393a9–19; II 26, 1403a16–23). Die auf der Bühne gehaltenen Reden verfolgen ein Beweisziel und wollen die emotionale und praktische Reaktion der anderen Bühnenfiguren motivieren. Zugleich sind sie Ausdruck des Charakters und der Erkenntnisfähigkeit der sprechenden Figuren, durch die auch ihre Handlungen qualitativ bestimmt sind (6, 1449b36–1450a3). Der ursprünglich erkenntnistheoretische Begriff der Erkenntnisfähigkeit einer Person ist für die Dichtung also nur insoweit von Belang, als sich diese in ihren Reden und Handlungen manifestiert. Bei der Gestaltung der Handlung, der „Geschehnisse“ (pragmata), geht der Autor dann von „denselben Prinzipien (eidê)“ wie bei der Gestaltung der Reden aus: Die Handlung soll „mitleid- oder furchterregend oder groß oder wahrscheinlich“ gestaltet sein (19, 1456b2–4); das heißt, auch die Handlungen folgen implizit den Techniken der Affekterregung, der Steigerung und der Plausibilisierung der Geschehnisse. Zwar gibt es bei der Handlung kein „Beweisen und Widerlegen“ wie bei den Reden, da das Drama als Ganzes keine beweisende oder widerlegende Absicht hat; das „Überredungsmittel“ des logos fehlt. Das wichtigste Gestaltungskriterium der Dichtung ist aber das Telos der rhetorischen Rede (Rhet. I 2, 1355b25 f.), die subjektive Wahrscheinlichkeit (eikos) bzw. Glaubwürdigkeit (pithanon): „Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist“ (24, 1460a26 f.; 25, 1461b11 f.). Die Glaubwürdigkeit und die emotionale Wirkung der Hand-

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lungsführung beruhen nun nicht auf expliziter Darlegung wie in den Reden, sondern auf mimetischer Darstellung und zwar „ohne Belehrung“ (aneu didaskalias) seitens des Autors mit Hilfe von erklärenden oder wertenden Kommentaren (19, 1456b4 f.), was eine didaktische Dichtungsgattung von vornherein ausschließt. Eine gute Darstellung muß für sich selbst sprechen. Hierin ähnelt die Bühnen-Mimesis wiederum der rhetorischen Rede, denn wie deren Wirkung nur aus sich selbst und durch den Redenden hervorgerufen werden soll (vgl. 19, 1456b5–8), muß auch die Handlung nur durch sich selbst wirken. Dianoia bezeichnet also einerseits die explizite Logik der Reden im Drama, zum Beispiel Anklage-, Verteidigungs- oder Beratungsreden, andererseits die implizite Logik des Handlungsaufbaus. Sie beschränkt sich damit nicht auf bestimmte Passagen eines Dramas. Zwar rät Aristoteles, man müsse sich in den beschreibenden Partien des Stücks, die ohne Handlung, Charakter oder Gedankenführung sind, vornehmlich um den sprachlichen Ausdruck kümmern (24, 1460b2–4). Er stellt außerdem fest, daß es gerade bei den neueren Tragödiendichtern auch Handlungen ohne (ausgeprägte) Charaktere gibt (6, 1450a23–26). Halliwell 1987, 157 hat daraus geschlossen, daß die poetologisch relevanten konstitutiven Teile der Tragödie (mythos, êthos, dianoia, lexis) nicht alle zusammen und zur selben Zeit in einem Stück vorkommen müssen. Dagegen kann man einwenden, daß die dianoia immer zusammen mit der Handlung und dem Charakter gegeben ist, einmal als Aufbau der Handlung, zum andern als intellektuelle Beschaffenheit eines Charakters und seiner Reden, und daß eine Tragödie immer Handlung und meistens auch Charaktere besitzt. Daher ist die Gedankenführung als Logik von Handlung und handelnden Personen in der gesamten Dichtung anzutreffen.

10.2 Sprache und Stil (lexis) Lexis, eine Ableitung vom Verb legein, umfaßt nach der Definition der Poetik das Gesamtphänomen Sprache überhaupt, indem sie die genetische, semantische und pragmatische Komponente der Sprache berücksichtigt und Sprache als Ausdruck von Gedanken über die Welt mittels tradierter Ausdrücke einer Kommunikationsgemeinschaft begreift. Die Definition der lexis lautet: „Ich verstehe unter ‚sprachlicher Ausdruck’ die Verständigung durch Worte (tên dia tês onomasias hermêneian), die sowohl bei Versen als auch in Prosareden dieselbe Wirkung hat“ (6, 1450b13–15). Hermêneia heißt so viel wie „mitteilen“ oder „sich verständigen“ und meint auch die

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Verständigung von Tieren, sofern sie eine Zunge haben (Hist. an. IV 9, 536a20–22), zum Beispiel Vögel (Part. an. II 17, 660a35). Im engeren Sinne ist hermêneia gleichgesetzt mit Sprache (dialektos: An. II 8, 420b18– 20), der „Artikulation (diarthrôsis) der Stimme durch die Zunge“ (Hist. an. IV 9, 535a30 f.). Mensch und Tier haben den Laut (psophos) und sogar die Stimme (phônê) gemeinsam, aber nur die menschlichen Laute haben Bedeutung: Sie sind mit einer gewissen Vorstellung (phantasia) verbunden (An. II 8, 420b29–33, vgl. Hist. an. IV 9, 535a27–b11) und besitzen den logos, das heißt die Möglichkeit zu einer argumentativen Verständigung in einer Gemeinschaft über deren moralische und normative Grundlagen (Pol. I 2, 1253a14–18). Daher ist die differentia specifica der menschlichen hermêneia die onomasia. Diese verweist auf onoma, welches als „nach Übereinkunft bedeutungshafter Laut“ (phônê sêmantikê kata synthêkên, Int. 2, 16a19) definiert ist und daher nicht nur das Nomen, sondern auch „Benennung“ oder „Wort“ überhaupt meinen kann. Die menschliche Kommunikation ist nicht wie bei Tieren nur eine spontane Lautäußerung, die einen momentanen Eindruck, zum Beispiel Schmerz oder Freude, „kundtut“ (dêlousin) und so möglicherweise eine gemeinsame Reaktion auslöst, etwa die Flucht der Herde vor einer Gefahr, ohne aber ein Wort mit Bedeutung zu sein (Int. 2, 16a28 f.; Pol. I 2, 1253a10–14). Vielmehr benutzt die menschliche Sprache bedeutungshafte Wörter, wobei ihre Bedeutung durch den unmittelbaren Bezug auf „Ereignisse der Seele“ (pathêmata tôn psychôn) und den mittelbaren Bezug auf Gegenstände der Welt (pragmata) konstituiert (vgl. Int. 1, 16a3–8) und durch eine Übereinkunft (synthêkê) festgelegt ist. Die „Ereignisse der Seele“ meinen zumindest eine gewisse Vorstellung (phantasia), die es auch von nichtexistenten Gegenständen gibt, z. B. Fabelwesen oder Traumvorstellungen, vornehmlich aber die Gedanken, die die Grundlage für das wahrheitsfähige, diskursive Sprechen der Wissenschaften sind. Die „Übereinkunft“ ist ein historisches Übereingekommensein in der Verwendung von sprachlichen Ausdrücken (Weidemann 2002, 166 f.). In diesem Sinne von „sprachlichem Ausdruck“ ist lexis ein weiterer Begriff, als ihn die Auffassung als „Stil“ in der traditionellen Rhetorik und Poetik nahelegt. Allerdings ist „Stil“ eine Facette des lexis-Begriffs, gleichsam das Telos der Sprache. Nach einer Dreiteilung des Begriffs nach Halliwell (1993, 53 f.) meint lexis im Sinne von dialektos Sprache überhaupt, dann die in linguistischen Kategorien beschreibbare sprachliche Form eines Wortes oder einer Wortgruppe, schließlich im Sinne von „Stil“ das Ergebnis einer bewußten Entscheidung zwischen mehreren sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Da Aristoteles keinen einzigen, eigenen

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Begriff hat, der dem deutschen Ausdruck „Sprache“ äquivalent wäre, und er mehrere Ausdrücke benutzt, die jeweils im physiologisch-physikalischen oder logisch-semantischen Kontext das Phänomen „Sprache“ bezeichnen (z. B. phônê, dialektos; logos, hermêneia) (vgl. Ax 1986, 119–138), steht der Terminus lexis in der Rhetorik bzw. Poetik für alle Aspekte der Sprachbetrachtung: Der artikulierte, semantische Laut der menschlichen Stimme, die „Materie“ des sprachlichen Ausdrucks, und die daraus entstehenden grammatikalisch geformten Worte und Sätze, seine „Form“, werden vom Sprecher intentional zum Stil, seinem „Telos“, gestaltet. Entsprechend sind die Kapitel 20–22 so aufgebaut, daß in Kapitel 20 zunächst die Laute und die sprachlichen Formen (Worte und Wortgruppen) und in Kapitel 21 die verschiedenen Arten der Wörter bestimmt werden, deren Verwendung als Stilmittel nach Kapitel 22 den besten poetischen Stil ausmachen.

10.3 Linguistik (Phonetik und Grammatik) (Kap. 20) Vor der eigentlichen Erörterung der Kunst (technê) von Sprache und Stil schließt Aristoteles die sophistische Sprachkritik als nichttechnisch von seiner Untersuchung aus. Diese beruht auf der sophistischen Satzunterscheidung nach der Form ihrer lautlichen Äußerung, die Aristoteles terminologisch als schêmata tês lexeôs faßt (dieser Ausdruck wurde in der späteren antiken Stillehre als „Satzfiguren“ der Gegenbegriff zu den Gedankenfiguren, schêmata tês dianoias). Protagoras, der Begründer der Satzunterscheidung, nennt vier Satztypen (Quintilian, Institutio oratoria III 4, 10; Diogenes Laertios, Vitae Philosophorum IX, 53); Aristoteles rekurriert auf eine daraus hervorgegangene siebenfache Unterscheidung, wenn er von Befehl (entolê bzw. epitaxis), Bitte (euchê), Erzählung (dihêgêsis), Drohung (apeilê), Frage (erôtêsis), Antwort (apokrisis) und „was es sonst noch an derartigem gibt“ spricht (19, 1456b11–13, 17 f.). An den Beispielen sieht man, daß die Sätze syntaktisch und semantisch identisch und nur durch die verschiedene Betonung unterschieden sind, zum Beispiel kann ebadisen je nach Betonung als Aussage („er ging“) oder als Frage („ging er?“) gedeutet werden (vgl. 20, 1457a21–23). Die Kenntnis des Satztypenunterschieds ist daher Gegenstand der Vortragskunst (hypokritikê) der Schauspieler (19, 1456b8–11), die die Möglichkeiten der Stimmgebung und ihrer emotionalen Färbung durch Einsatz von Lautstärke, Tonfall und Rhythmus kennt (Rhet. III 1, 1403b26–30). Sie ist allerdings keine Kunst (technê) (1404a15 f.) im Sinne eines lehrbaren, durch Überlegung praktizierbaren Ursachenwissens (Rapp 2002, II 812 f., 950 f.). Auch die auf seiner Satztypenunterscheidung

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beruhende Dichterkritik des Protagoras (der Anfangssatz der Ilias „Singe, Göttin, den Zorn“ sei keine Bitte, sondern ein Befehl) gehört nicht zur Poetik, sondern zu einer „anderen Disziplin“ (19, 1456b13–19), vermutlich der Grammatik. Das Kapitel 20 über die Teile der sprachlichen Form (merê tês lexeôs) ist gelegentlich als störend für den Gedankengang der Poetik und folglich als Interpolation eines Kapitels aus einer anderen Schrift des Aristoteles angesehen worden, weil es hier nur um Grammatik geht und nur Definitionen ohne oder mit nur knappen Erklärungen aufgeführt werden. Dennoch ist das Kapitel am richtigen Platz, denn es ist für die Behandlung der lexis nötig, auch ihre phonetischen und syntaktisch-semantischen Bestandteile zu kennen. Die allen Redeteilen zugrunde liegende Gattung ist die „Stimme“ bzw. der „Laut“ (phônê). In einer Dihairesis werden die verschiedenen Redeteile systematisch entwickelt und zwar nach den in Gegenteilpaaren angeordneten Differenzen „zusammengesetzt“ (synthetê) – „unteilbar“ (adihairetos) und „bedeutungshaft“ (sêmantikê) – „bedeutungslos“ (asêmos). Die Definition der einzelnen Redeteile besteht aus einer Kombination dieser und gegebenenfalls weiterer Differenzen. Die Reihe der Redeteile beginnt mit dem unbestimmtesten Laut, dem bedeutungslosen, unteilbaren Buchstaben, und endet bei dem komplexesten Laut, dem bedeutungshaften, zusammengesetzten logos qua Satz oder Satzverbindung, deren jeweilige Teile wiederum bedeutungshafte, zusammengesetzte Laute sind. Daß der logos das Ziel der Dihairesis ist, ist daran sichtbar, daß schon der Buchstabe (stoicheion) nicht jeden unteilbaren Laut meint – auch Tierlaute sind unteilbare Laute –, sondern nur den, aus dem sich ein zusammengesetzter Laut bilden läßt (Poet. 20, 1456b22–25), also letztlich der logos. Obwohl sie für sich keine Bedeutung haben, beruhen die Buchstaben einerseits auf der Natur des Stimmapparats, andererseits auf derselben Übereinkunft (synthêkê), die auch die Bedeutung der Wörter trägt. Daher werden Laut- (phônai) und Schriftbuchstaben (grammata) von Aristoteles häufig synonym gebraucht, und die Laute der Tiere werden auch als „nicht-buchstabierbare Laute“ (agrammatoi psophoi) bezeichnet, weil sie keine Bedeutung haben (Int. 2, 16a26–29). Die Zeichenhaftigkeit menschlicher Laute manifestiert sich damit insbesondere durch ihre schriftliche Fixierbarkeit. Nach einer Dreiteilung der Buchstaben in Vokal (phônêen), Halbvokal (hêmiphônon) und Konsonant (aphônon), die Aristoteles nach ihrer stimmphysiologischen Entstehung unterscheidet (20, 1456b26–34), und der Erklärung der Silbe (1456b34–37) scheint eine Klassifikation von grammatikalischen Wortklassen zu folgen. Zumindest ist sie von späteren Grammatikern und Rhetorikern (zum Beispiel Dionysios v. Halikarnaß und

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Quintilian, vgl. Arist. Fragment 127 in der Ausgabe von Rose) so verstanden worden: Diese schrieben dem Aristoteles drei „Wortklassen“ (merê tou logou) zu, nämlich Nomen (onoma), Verbum (rhêma) und Konjunktion (syndesmos); erst die Stoiker hätten den Artikel (arthron) als vierten Redeteil hinzugefügt. Allerdings kann eine Klassifikation von Wortklassen schlechterdings nicht den Oberbegriff logos als eine der Arten unter sich fassen (Ammonios, In de Interpretatione 12,30–13,2), so daß man wohl einen Unterschied zwischen den späteren grammatikalischen Wortklassen und den merê tês lexeôs des Aristoteles machen muß. Zwar kann man die Unterscheidung nach Wortklassen auch auf die merê tês lexeôs anwenden, da die lexis auch die Sprache selbst meint und die grammatikalischen Bestandteile umfaßt. Aber im Hinblick auf das ‚Telos‘ der Sprache, den Stil, sind die merê tês lexeôs eher vor dem Hintergrund ihres Beitrags zu einem guten sprachlichen Ausdruck zu fassen. Damit gibt es Überschneidungen zur logischen Grammatik von De interpretatione, die ebenfalls nur onoma, rhêma und syndesmos als Bestandteil des logos kennt, ohne sie allerdings unter einen gemeinsamen Oberbegriff zu bringen. Doch auch wenn ihre Definition nahezu wortgleich zur Poetik ist, in der zusätzlich nur noch die Differenz „zusammengesetzt“, nämlich aus Buchstaben und Silben, genannt wird, ist die syntaktisch-semantische Analyse aus De interpretatione nur die formale Ausgangsbasis für die in der Poetik anvisierte stilistische Gestaltung der Sprache. Im Zentrum von De interpretatione steht der Satz (logos) und in der Poetik der Stil (lexis), so daß in Kapitel 21 nicht verschiedene Arten von Sätzen oder Satzfiguren untersucht werden, wie sie die spätere Stilkunde kennt, sondern bestimmte Arten von Wörtern. Dies folgt logisch aus der Definition der lexis, daß sich der Stil einer Rede durch die Wahl der verwendeten Wörter (onomata) bestimmt. Nomen und Verbum unterscheiden sich lediglich durch den Zeitbezug: Das Verbum hat einen, das Nomen nicht; so bezeichnen „Mensch“ oder „weiß“ keine Zeit, aber „geht“ oder „ist gegangen“ eine Gegenwart oder Vergangenheit zusätzlich zur eigentlichen Wortbedeutung (20, 1457a16– 18, vgl. Int. 3, 16b8–10). Die Verben, außerhalb des Satzzusammenhangs allein für sich gesprochen, sind onomata, Wörter, das heißt, sie bedeuten selbständig für sich etwas – „denn der Sprecher bringt seinen Verstand zum Anhalten und der Hörer läßt ihn zum Anhalten bringen“ –, auch wenn sie in der konjugierten Form immer auch auf die ausstehende Verbindung mit einem Nomen zu einem Satz hinweisen (Int. 3, 16b19–25). Denn das rhêma ist gekennzeichnet durch den Ausdruck der Zeit und durch den Bezug auf ein Subjekt (Int. 3, 16b6 f.), das durch das onoma ausgedrückt wird; es

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erfüllt also die Prädikatfunktion (Steinthal 1890, 239). Damit können nicht nur Verben, sondern auch Adjektive und Substantive, die klassischerweise Beispiele für onomata sind, rhêmata sein, denn jeder Aussagesatz kann nach Aristoteles reformuliert werden als Zusammensetzung aus onoma, Kopulaestin und Prädikatsnomen, also einem Partizip, Adjektiv oder Substantiv (Steinthal 1890, 239–241). Man sieht an diesen wenigen Beobachtungen paradigmatisch die für uns ungewohnte Überschneidung von logischer und grammatikalischer Sichtweise (Steinthal 1890, 191 f.). Zu den Nomina zählen für Aristoteles letztlich alle Ausdrücke, die die Subjektfunktion im Satz übernehmen können: Eigennamen (Int. 2, 16a21, 32; Poet. 20, 1457a13), Demonstrativpronomina (1457a19), demonstrativisch gebrauchte Artikel, Substantiva (1457a15 f.; Int. 2, 16a14; 3, 16b8), substantivierte neutrale Adjektive (Poet. 20, 1457a15 f.; Int. 1, 16a14; Top. V 4, 133b36 f.), substantivierte Quantitätsadjektive (Poet. 20, 1457a20), substantivierte Adverbien (Top. I 1, 106b29 ff.; auch V 7, 136b15 ff.), substantivierte Steigerungsformen (ebd. 136b30 ff.) und substantivierte Verben (Int. 3, 16b19 f.). Man kann daher schlußfolgern, daß für Aristoteles unter onoma alle Wortklassen fallen, sofern sie substantiviert werden können. Die Beugungsform (ptôsis), die in De interpretatione nur nebenbei bei der Behandlung von Nomen und Verb genannt wird (2, 16a32–b5; 3, 16b16– 18), wird in der Poetik als eigener Redeteil aufgeführt. Gemeint ist damit die Abwandlung einer „Normalform“, nach den Beispielen bei Nomina der Nominativ Singular (16a32–b1), bei Verben die dritte Person Singular Präsens bzw. präsentisches Perfekt (Poet. 20, 1457a17 f.). Die Beugung geschieht für das Nomen nach Kasus und Numerus, für das Verb nach Numerus, Tempus (Vergangenheit und Zukunft) und – für uns erstaunlich – nach Satztyp, also danach, ob ein Verb eine Frage oder eine Aussage ausdrückt (Int. 3, 16b16–18; Poet. 20, 1457a18–23). Logos ist definiert als „zusammengesetzter, bedeutungshafter Laut, von dem einige Teile etwas an sich bedeuten“, gemeint sind Nomina bzw. Nomen und Verb (Poet. 20, 1457a23 f., vgl. Int. 4, 16b26 f.). Er umfaßt Wortverbindungen wie „schönes Pferd“ (Int. 2, 16a22), die Definition (Poet. 20, 1457a24–27), den Aussagesatz (und die davon abgeleiteten Satztypen wie Bitte, Befehl o. ä., Int. 4, 17a1–9), schließlich ein Gesamtwerk wie die Ilias (Poet. 20, 1457a28–30, vgl. Int. 5, 17a15 f.). Abgesehen von Nominalsätzen und der Definition, sind alle logoi aus Nomina und Verben zusammengesetzt, die allein für sich schon etwas bedeuten: als vorprädikatives „Sagen“ (phasis) oder Benennen des von ihnen bedeuteten Gegenstands oder der Handlung (Int. 5, 17a17–20).

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Die Definition ist der einfachste, ursprünglichste logos, der aus mehreren Nomina besteht und dessen Einheit durch die Einheit des definierten Gegenstands gegeben ist (Poet. 20, 1457a28–30). Auch der Aussagesatz bezeichnet eine Einheit (Int. 5, 17a15 f.) bzw. ein „Eines von Einem“ (hen kath’ henos: Int. 8, 18a12 f.), nämlich die Bejahung oder die Verneinung eines Prädikats von einem Subjekt (Int. 5, 17a20–26). Die Ilias ist durch Verbindungsworte (syndesmoi) eine Einheit (Poet. 20, 1457a29 f.), das heißt, von der Sache her drückt ihr logos eine Vielheit von einzelnen Handlungen aus (18, 1456a12) und besteht aus einer Vielheit von Aussagesätzen, die sich jedoch durch die logisch-syntaktische Verbindung auch zu einer sachlich-semantischen Einheit zusammenfügen. Das bedeutet, daß der einzelne Aussagesatz als Prädikation eines Prädikats von einem Subjekt das logische Äquivalent für die Handlung eines Handelnden ist. Der Handlungsverlauf (mythos) hat also seinen vollen sprachlichen Ausdruck im logos. Die semantische Verbindung wird bewirkt durch an sich bedeutungslose Verbindungsworte wie „zwar – aber“, „und“, „sowohl – als auch“, „weil“, „denn“, die aus mindestens zwei bedeutungshaften Lauten einen einzigen bedeutungshaften Laut herstellen (20, 1457a4–6, vgl. Rhet. III 5, 1407a26– 28; 6, 1407b38 ff.), wie es für den parataktischen Stil der älteren Dichtung der Fall ist (vgl. Rhet. III 9, 1409a24–31). Im Periodenstil der neueren Dichtung und Rhetorik, der schon von der Sache her Anfang, Ende und eine gewisse Gliederung in sich selbst hat (Rhet. III 9, 1409a35–b1), werden dieselben Konjunktionen gebraucht, ohne etwas zur semantischen Einheit der bezeichneten Sache beizutragen (Poet. 20, 1456b38–1457a3). Ähnlich dürfte es sich auch mit dem arthron verhalten, das nach der späteren Grammatik den Artikel bezeichnet, nach Aristoteles’ Beispiel („über“) in der Poetik jedoch die Präposition meint. Anders als das syndesmos ist es ein nur auf einen Satz bezogener bedeutungsloser Laut, der dessen Anfang, Ende oder innere Gliederung bezeichnet, ohne hierbei von seiner Stellung fix gebunden zu sein (20, 1457a6–10). Artikel wie Präposition leisten dies, indem sie die Gliederung eines Satzes und das Verhältnis der verwendeten Ausdrücke zueinander klarer machen (Schramm 2005).

10.4 Stilistik (Kap. 21) Für die Darlegung seiner Stilistik als Lehre von den Stilmitteln in Kapitel 21 greift Aristoteles nur auf die Arten der Nomina (onomatos eidê) zurück. Zwar sind einige Beispiele Verben (1457b10 f., 13–16) und deuten damit auf die umfassende Bedeutung von onoma als „Wort“. Gleichzeitig endet

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das Kapitel aber mit einer Unterscheidung der verschiedenen Genera der onomata, die nur für die Nomina im engeren Sinne angemessen ist (1458a8–17). Offenbar hat Aristoteles mit seiner Klassifikation von onomata vornehmlich die Nomina im Blick, weil sie die Hauptbedeutungsträger der lexis sind, insofern als jedem Nomen semantisch ein Gedankeninhalt bzw. ein Gegenstand zugeordnet ist. Damit umfaßt diese Klassifikation auch die Verben, die für sich genommen ja onomata sind und Handlungen bezeichnen, aber keine bedeutungslosen Funktionswörter wie Artikel, Konjunktionen oder Präpositionen. Ähnlich wie in Kapitel 20, wo die Klassifikation der Bestandteile der Sprache unter phonetischem und unter semantischem Gesichtspunkt geschieht, unterliegt die Klassifikation der Nomina in Kapitel 21 ebenfalls einer doppelten Hinsicht: Zunächst werden die Wörter nach ihrer semantischen Struktur, dann nach ihrer stilistischen Funktion unterschieden. Jedes Nomen ist entweder einfach wie „Erde“, bei dem die einzelnen Komponenten nicht für sich genommen als eigenes Wort vorkommen und selbständig eine Bedeutung haben, oder doppelt, das heißt zusammengesetzt, wobei entweder nur eine Komponente Bedeutung hat, die andere nicht (wie bei der Zusammensetzung aus einem Substantiv und einer Präposition, zum Beispiel „Nach-denken“) oder beide Ausdrücke für sich bedeutungstragend sind (zum Beispiel in dem Eigennamen „Schönpferd“, Int. 2, 16a21 f.). Das zusammengesetzte Wort ist nicht die Zusammensetzung ihrer ursprünglichen Bedeutungen, sondern durch die Einheit des Gegenstands oder der Handlung bestimmt, die es bezeichnet (Poet. 21, 1457a31–34). Auf diese Weise sind auch mehrfache Zusammensetzungen möglich, verdeutlicht am Beispiel eines Ausdrucks der Bewohner von Marseille für Zeus, nämlich „Hermo-Kaiko-Xanthos“, eine Zusammensetzung aus drei Flußnamen (1457a34–b1). Weitere Beispiele aus Dichtung und Rhetorik wären „vielgesichtig“, „vielgipflig“, „engwegig“ oder „Bettlermusikerschmeichler“ – Ausdrücke, die einen besonders dichterischen Eindruck machen und in einer Prosarede als Stilfehler empfunden werden (Rhet. III 3, 1405b35–1406a6). In Übereinstimmung mit der ganzen späteren antiken Stillehre (zum Beispiel Quintilian, Institutio oratoria VIII 6, 1; IX 1, 2–4) ist nach Aristoteles jedes Stilmittel bestimmt als Abweichung von der normalen Alltagssprache. Allerdings beschränkt Aristoteles sich nur auf die Abweichung im Wortgebrauch, die seit Quintilian sogenannten Tropen (und von diesen eigentlich nur die Metapher), nicht auf solche in der Syntax, also Satz- oder Gedankenfiguren. Das hindert nicht, daß er auch einige grundlegende Figuren wie Parallelismus, Antithese, gleichlautende Wortenden oder

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poetische Wortumstellungen kennt (vgl. Rhet. III 9, 1409b33–1410b5, Poet. 22, 1458b33 f.). Unter den Arten von Nomina (üblicher Ausdruck, Glosse, Metapher, Schmuckwort, Neubildung, Erweiterung, Verkürzung, Abwandlung) gibt es eine fundamentale Dichotomie zwischen dem üblichen Ausdruck (onoma kyrion) und allen anderen Nomina: Der übliche Ausdruck ist das Wort, „das ein jeder gebraucht“, und zwar bezogen auf eine bestimmte Sprechergemeinschaft bzw. konkreter: auf einen bestimmten griechischen Dialekt, denn dasselbe Wort, das in einer Dialektgruppe von allen gebraucht wird, kann in einer anderen ein fremdartiger Ausdruck, eine Glosse (glôtta), sein (21, 1457b3–6). Die üblichen Ausdrücke sorgen für Deutlichkeit (saphê), während alle anderen Worte den Ausdruck schmuckreich (kekosmêmenê) und fremd (xenê) gestalten und dadurch beim Rezipienten Vergnügen hervorrufen (Rhet. III 2, 1404b5–12). Das spezifische Vergnügen an ungebräuchlichen Ausdrücken und Wendungen ist einerseits der sinnliche Reiz am Neuen und Ungewohnten, durch den die Aufmerksamkeit des Hörers angeregt wird, andererseits ein Erkenntnisprozeß, der durch den neuartigen Ausdruck in Gang gesetzt wird. Das beste Beispiel für den ersten Effekt sind die Erweiterung (onoma epektetamenon), Verkürzung (onoma aphêrêmenon) oder Abwandlung (onoma exêllagmenon) gebräuchlicher Ausdrücke, für den zweiten Effekt die Metapher. Denn jene sind nur Veränderung des Lautbestands, das heißt des sinnlichen Klangs von Worten, indem sie in einem gebräuchlichen Wort einen längeren Vokal oder eine Silbe einfügen oder weglassen oder beides kombinieren (Poet. 21, 1457b35–1458a7) und so bestimmte Worte einerseits variabler für bestimmte Metren machen, andererseits das Gehör stimulieren. Die Metapher bewirkt dadurch ein gewisses kognitives Vergnügen, daß sie etwas bislang Unbekanntes überhaupt oder etwas Bekanntes auf neuartige Weise zum Ausdruck bringt und so auf einen mit dem üblichen Wortgebrauch nicht ausgedrückten Begriffszusammenhang aufmerksam macht. Zum kognitiven Vergnügen durch den sprachlichen Ausdruck bemerkt Aristoteles: „Das leichte Lernen (manthanein) ist allen von Natur aus lustvoll (hêdy); die Worte aber bezeichnen etwas, so daß von den Wörtern diejenigen, die uns zum Lernen (mathêsis) bringen, am meisten lustvoll sind. Während die Glossen für uns unbekannt sind, kennen wir die üblichen Wörter. Die Metapher bewirkt dies [sc. das leichte Lernen] in besonderer Weise. Wenn man nämlich das Alter eine Stoppel (Homer, Odyssee 14, 214) nennt, vermittelt man Lernen und Erkenntnis durch die Gattung, denn beide sind etwas Verblühtes“ (Rhet. III 10, 1410b10–15).

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Die Metapher ist nun definiert als „Übertragung eines fremden Worts (onomatos allotriou epiphora)“ und hat vier Arten, nämlich die Übertragung „von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung oder von der Art auf die Art oder gemäß der Analogie“ (Poet. 21, 1457b6–9). Das meint die Substituierung eines üblichen Wortes durch ein „fremdes“ Wort, das aus seinem üblichen Gebrauchskontext in einen anderen Zusammenhang übertragen wird und erst durch den neuen, übertragenen Gebrauch fremd wird (zur Diskussion Rapp 2002, II 885–890, Schmitt 2008, 630–638). Damit drückt die Metapher dreierlei aus: die Sache, die das Wort nach seinem ursprünglichen, allgemeinem Gebrauch bezeichnet; die Sache, die das Wort metaphorisch oder übertragen bezeichnet, und die Gemeinsamkeit, aufgrund derer die Metapher gebildet werden konnte, sei es der Art-Gattungs-Zusammenhang oder die Analogie. Das Substitut und das substituierte Wort sind in den ersten drei Arten der Metapher derselben Dihärese von Art- und Gattungsbegriffen entnommen – und daher mitein­ ander wesensverwandt –, durch die gewöhnlich auch die Definition des Wesens einer Sache bestimmt wird. Die moderne Metaphorologie, die die Metapher nicht so eng versteht wie Aristoteles, kritisiert häufig an Aristoteles’ Metaphernbegriff, daß zumindest seine ersten beiden Arten, teilweise auch die dritte eher Metonymie oder Synekdoche darstellen (vgl. vor allem die Beispiele 1457b9–16) und er eigentlich gar keinen Begriff des Metaphorischen habe. Diese Kritik ist insofern richtig, als Aristoteles die kognitive Leistung der Metapher nur dadurch gewährleistet sieht, daß er den Bereich der Substituierung auf die auch für die Definition verwendeten Art- und Gattungsbegriffe beschränkt. Allein die Metapher „gemäß Analogie“ überschreitet in ähnlicher Weise wie die moderne Metapher die Grenzen der Art-Gattungs-Dihärese und nimmt eine – definitions- und beweislogisch unmögliche – Übertragung von Gattung zu Gattung vor (Rapp 2002, II 924; vgl. auch Schmitt 2008, 639 f.). Sie ist die Art Metapher, die am meisten Beifall findet (Rhet. III 10, 1411a1 f.) und am meisten zu Erkenntniszuwachs führt. Statt einer Wesensverwandtschaft tritt bei der Analogie eine Ähnlichkeit zutage, nämlich in einer Reihe von je zwei Begriffspaaren: „Analogie nenne ich, sobald sich das Zweite zum Ersten und das Vierte zum Dritten ähnlich (homoiôs) verhält“ (Poet. 21, 1457b16–18). Die danach gebildete Metapher besteht in der Substitution: „statt des Zweiten das Vierte oder statt des Vierten das Zweite“ (1457b18 f.): Da sich Dionysos zu Becher wie Ares zu Schild verhält, weil beide Gegenstände das jeweilige Insignium der Gottheit sind, kann metaphorisch vom Becher als „Schild des Dionysos“ oder vom Schild als „Becher des Ares“ gesprochen werden (1457b20–22).

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Die Analogie greift eine von vielen möglichen Ähnlichkeiten heraus, ohne sie genau auf den Begriff zu bringen, sondern sie allein in einer Verhältnisgleichung auszudrücken. Die Metaphern sind daher besonders dazu geeignet, das noch Unbenannte metaphorisch zu bezeichnen; allerdings dürfen sie nicht „von weither“, sondern müssen „vom Verwandten (syngenôn) und Gleichartigen (homoeidôn)“ gebildet werden (Rhet. III 2, 1405a34–37); das meint vornehmlich Gattung und Art, aber auch die Ähnlichkeit. Das Metaphernbilden ist selbst eine gleichsam philosophische Leistung, denn „gut Metaphern zu bilden, heißt, das Ähnliche zu sehen“ (Poet. 22, 1459a7 f.), und auch Aufgabe der Philosophie ist es, „in weit auseinander liegenden Dingen das Ähnliche zu sehen“ (Rhet. III 11, 1412a11–13). Das Schmuckwort (kosmos) schließlich ist nur genannt, wird aber nicht erklärt. In der Rhetorik scheinen alle fremdartigen Ausdrücke zum Redeschmuck zu zählen (Rhet. III 2, 1404b5–8), insbesondere dann, wenn sie das jeweils bessere, stilistische höhere Wort bis hin zum Euphemismus für dieselbe Sache verwenden (vgl. Rhet. III 2, 1405a14–16). In einem engeren, terminologischen Sinn könnten in der Rhetorik, wie manche Interpreten meinen, nur die Epitheta, besonders das epitheton ornans, gemeint sein (Rhet. III 7, 1408a13–16). Dieses kann ein Adjektivattribut sein wie „der listenreiche Odysseus“, das im Epos durch eine Metapher oder einen anderen poetischen Ausdruck ein Bezugswort näher bestimmt. Es kann aber auch ein gewöhnlicher Ausdruck sein wie in „weiße Milch“ (Rhet. III 3, 1406a12). Anscheinend meint Epitheton aber auch jedes dem eigentlichen Bedeutungsträger hinzugefügte Wort in – freilich für die rhetorische Rede als unangemessen und abschreckend beurteilten – Umschreibungen wie „Festversammlung der Isthmischen Spiele“ statt „Isthmien“, „königliche Gesetze der Städte“ für „Gesetze“ oder „im stürmenden Drang der Seele“ statt „im Sturmschritt“ (Rhet. III 3, 1406a18–32). Allerdings werden die Epitheta, obwohl ihnen in der Rhetorik eine besondere Eignung für die Dichtung nachgesagt wird (Rhet. III 3, 1406b1; 7, 1408b11 f., 18 f.), in der Poetik nicht erwähnt, so daß eine Identifikation mit dem Schmuckwort nicht so ohne weiteres möglich ist. Von den meisten Interpreten wird daher eine Lücke im Text (nach 1457b33) vermutet.

10.5 Vollkommenheit des Stils (aretê tês lexeôs) (Kap. 22) Die Vollkommenheit oder „Tugend“ des Stils ist gemäß Aristoteles’ Definition der Tugend als „Mitte“ (mesotês) zwischen zwei Übeln, Übermaß und Mangel (EN II 6, 1106b36–1107a6), bestimmt, nämlich als Mitte zwischen

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allzu großer Klarheit und allzu großer Fremdheit des Ausdrucks. Ein nur aus üblichen Wörtern bestehender Stil ist am klarsten, aber banal (tapeinê) (Poet. 22, 1458a18–20). Erhaben (semnê), d. h. nichtbanal und ungewöhnlich (mê idiôtikon), wird der Ausdruck durch fremdartige Wörter, wobei die ausschließliche Verwendung von Glossen ein Barbarismus ist, die von Metaphern ein Rätsel (ainigma), durch das unmöglich miteinander vereinbare Wörter zusammengefügt werden, um etwas tatsächlich Vorhandenes auszudrücken (1458a21–27, 31 f.; vgl. Rhet. III 2, 1404b5–8, 1405a37–b5). Schon in der Alltagssprache wird neben den üblichen Ausdrücken auch die Metapher benutzt (Rhet. III 2, 1404b31–36), so daß offenbar schon hier auf ein gewisses Mischungsverhältnis aus gewohnten und ungewohnten Ausdrücken geachtet wird. Auch der vollkommene rhetorische Stil ist klar und nicht banal, im Unterschied zum Stil der Dichtung aber nicht zu gehoben, sondern „angemessen“ (prepon: Rhet. III 2, 1404b1–5). Der rhetorische Stil steht offenbar in der Mitte zwischen der Alltagssprache und dem dichterischen Stil, wobei jeweils eine spezifische Mitte zwischen üblichen und ungewohnten Ausdrücken eingehalten werden muß, die sich von der Alltagssprache bis zur Dichtung zu einem zunehmend höheren Anteil an poetischen Ausdrücken verschiebt. Typische Stilmittel der Dichtung wie die verschiedenen Formen lautlicher Veränderung bekannter Formen werden daher in der Rhetorik gar nicht erwähnt. Andere, die die Rhetorik mit der Dichtung gemeinsam hat (zum Beispiel Wortverdoppelungen, Glossen, Metaphern), müssen dem rhetorischen Stil angemessen verwendet werden (Rhet. III 3). Im Unterschied zur späteren Rhetorik (z. B. Quintilian, Institutio oratoria VIII 1, 1) kennt Aristoteles nicht mehrere „Stiltugenden“ (virtutes dicendi), nämlich Sprachrichtigkeit, Klarheit, Schmuck, Angemessenheit, sondern sieht die Vollkommenheit des Ausdrucks im richtigen Maß zwischen Klarheit und Schmuck, wobei die Sprachrichtigkeit das Fundament (archê) jeder sprachlichen Form überhaupt darstellt (Rhet. III 5, 1407a19 f.) und die Angemessenheit lediglich das richtige Mischungsverhältnis der klaren und der verfremdenden Ausdrücke bezeichnet (Rapp 2002, II 821–828). In der Definition des poetischen Stils fehlt anscheinend die für den rhetorischen Stil charakteristische Forderung nach Angemessenheit. Jedoch kommt auch hier die Angemessenheit zu ihrem Recht, denn gegen Kritiker, die behaupten, daß der poetische Stil leicht herzustellen sei, wenn man alle Wörter beliebig lautlich erweitern dürfe, weist Aristoteles darauf hin, daß bei der Verwendung aller Stilmittel das „Maß“ (metron) zu achten sei, denn wenn man sie „unpassend“ verwendete, würde man nur Gelächter erzielen (Poet. 22, 1458b12–15). „Es ist wichtig, jedes der genannten [Stilmittel]

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angemessen (prepontôs) zu verwenden, und zwar die doppelten Wörter und die Glossen, bei weitem am wichtigsten ist es aber, metaphorisch zu sein“, was impliziert, eine Ähnlichkeit zu erkennen und angemessen auszudrücken (1459a4–6, 7 f.). Die Angemessenheit des poetischen Stils meint also wie beim rhetorischen Stil das rechte Verhältnis zwischen gebräuchlichen und ungebräuchlichen Ausdrücken. Zwar stellt die Poetik im Vergleich zur Rhetorik weniger die kognitive Leistung der Stilmittel, insbesondere der Metapher, als vielmehr den von ihnen bewirkten Verfremdungseffekt und poetischen Abstand von der Alltagssprache heraus. Das kann man etwa daran sehen, daß Aristoteles in der Poetik unterschiedslos Glosse, Metapher, Schmuckwort und „alle anderen genannten Arten“ zu den ungewöhnlichen Ausdrücken zählt (1458a32–34), obwohl er in der Rhetorik zumindest der Metapher sowohl Klarheit als auch Ungewöhnlichkeit zuspricht (III 2, 1405a8 f.). Dennoch steht der poetische Stil genauso wie alle anderen Elemente der Dichtung im Dienst der Mimesis bzw. Darstellung und ihrer kognitiven Funktion, in der Darstellung die intendierte Sache zu erkennen (Poet. 4, 1448b12–17). Daher darf auch der poetische Stil die Verfremdung nicht übertreiben. Sehr schön sieht man das an den erweiterten, verkürzten oder abgewandelten Wörtern, denn diese weichen durch Lautveränderungen vom üblichen Wort ab und bewirken das Ungewöhnliche (mê idiôtikon) und sind zugleich durch die Nähe zum Gewohnten (eiôthos) deutlich (22, 1458a34– b5). Sie tragen also das richtige Maß schon in sich selbst. Dennoch darf nicht die gesamte Dichtung aus solchen Lautveränderungen bestehen, ohne zu einer unfreiwilligen Parodie zu werden (1458a5–12), denn damit tritt die bewußte Gestaltung durch die übermäßige Verwendung ein und desselben Stilmittels ostentativ zu Tage und verletzt die Angemessenheit (prepon) und das rechte Maß (metron) (1458a12–15; vgl. Rhet. III 2, 1404b18 f.; 3, 1406a13–17). Das bedeutet, daß die Vollkommenheit des Stils als Mitte zwischen Klarheit und Verfremdung sich in zwei Weisen austrägt: zuerst in den jeweiligen Arten der Wörter selbst, dann in der Zusammensetzung der Wörter. Maß und Mitte des vollkommenen Stils lassen sich offenbar sowohl quantitativ durch die Zahl der jeweils verwendeten Ausdrücke als auch qualitativ mit Blick auf das Vergnügen und Verständnis der Zuschauer verstehen. Nur am Rande thematisiert Aristoteles das Problem, wie das Verständnis bei fremdartigen Ausdrücken sichergestellt werden kann. Während die Metaphern nur dann gut gewählt sind, wenn sie auch innerhalb kurzer Zeit aufgelöst und verstanden werden können (vgl. Rhet. III 10, 1410b13–19), dürfte Ähnliches auch für die dichterischen Neubildungen gelten, denn

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diese operieren auch mit einer semantischen Übertragung und setzen ein Wissen der ursprünglichen Wortbedeutung und des neuen Bedeutungskontextes, in den das neugeprägte Wort gestellt wird, voraus (so zu sehen an Aristoteles’ Beispielen „Beter“ für „Priester“ oder „Geäst“ für „Geweih“, Poet. 21, 1457b33–35). Bei den phonetischen Verkürzungen, Erweiterungen oder Abwandlungen bekannter Ausdrücke stellt sich das Problem nicht als semantische Transferleistung, sondern lediglich als phonetisches Wiedererkennen bekannter Laute. Von unserem Begriff der Fremdsprache oder der Fremdwörter erscheint deren Verständnis, sofern ihre Bedeutung unbekannt ist, unmöglich. Doch da die griechischen Dialekte untereinander genügend Verwandtschaft besaßen, stellen die Glossen kein vergleichbares Problem dar. Dennoch nennt Aristoteles ein Verfahren, wie man die „Wahrheit“, das heißt das richtige Verständnis, fremdartiger Ausdrücke überprüfen kann, nämlich indem man diese einfach durch übliche Ausdrücke ersetzt (22, 1458b17–19). Gleichzeitig erkennt man dadurch die ästhetische Valenz der Dichtung und die quantitative und qualitative Angemessenheit in der Wahl der dichterischen Ausdrücke (vgl. 22, 1458b15–31 mit entsprechenden Beispielen). An einem der Beispiele, die Aristoteles für diese Ersetzung anführt, sieht man auch, daß der Unterschied von üblichen (kyrion, eiôthos, idiôtikon als Synonym) und fremdartigen (xenikon) Wörtern nur von einem synchronen Standpunkt im Blick auf eine bestimmte sprachlich homogene Sprechergemeinschaft sinnvoll ist. In einem Trimeter aus dem Philoktet des Aischylos („das Geschwür, das mir das Fleisch am Fuß aufißt“) ersetzt Euripides ein übliches Wort („aufißt“, esthiei) durch eine Glosse („verschmaust“, thoinatai) und macht damit laut Aristoteles den gewöhnlichen Vers erst schön (1458b19–24). Das übliche Wort „aufißt“ ist hier im Zusammenhang mit der Personifikation „Geschwür“ eigentlich eine Metapher, die aber im Laufe der Zeit durch Gewohnheit zu einem üblichen Ausdruck geworden ist. Im Unterschied hierzu wird die Ersetzung durch einen poetisch gefärbten Begriff als Verfremdung wahrgenommen. Also auch im Hinblick auf Klarheit und Fremdheit des Stils gilt dieselbe Konvention (synthêkê) oder Gewohnheit (synêtheia), die auch für die Bedeutung der Wörter entscheidend ist. Zum Abschluß seiner Stilistik bestimmt Aristoteles die Angemessenheit der verschiedenen Stilmittel im Hinblick auf die verschiedenen literarischen Gattungen, die er zuvorderst, wie in der antiken Literaturtheorie üblich, durch das Versmaß bestimmt. Die doppelten Ausdrücke werden vor allem im Dithyrambos benutzt, die Glossen im Hexameter des Epos und Metaphern im jambischen Versmaß der Sprechpartien der Tragödie. Dabei sind

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für den Hexameter alle Arten von Ausdrücken nützlich und für den Jambus besonders die angemessen, die die gewöhnliche Sprechweise nachahmen und daher in den Prosareden verwendet werden, nämlich die üblichen Ausdrücke, die Metapher und das Schmuckwort (1459a8–14, vgl. Rhet. III 3, 1406b1–5). Die Wortverdoppelungen passen genauso wie Epitheta und fremdartige Ausdrücke am besten zu einer emotionalen, enthusiastischen Sprechweise (vgl. Rhet. III 7, 1408b10–20), deren Paradigma der Dithyrambos ist. Das Homerische Epos mit seiner aus mehreren Dialekten gemischten Kunstsprache ist das Paradigma für die epische Sprache überhaupt, so daß hier klarerweise Glossen das vorherrschende Stilmittel sind; aber auch alle anderen Arten der Ausdrücke können vorkommen. Schließlich benutzen die Sprechpartien der Tragödie besonders die Metapher, die auch in der Alltagssprache vorkommt, aber in der Dichtung besonders gewählt sein muß. Die Ausführungen zum Stil sind in der Rhetorik ausführlicher als in der Poetik (etwa zur Verwendung der doppelten Ausdrücke oder zur Bildung der Metapher; umgekehrt greift die Rhetorik explizit auf die Klassifikation der Nomina und der Metapher in der Poetik zurück, Rhet. III 2, 1404b7 f., 27 f., 1405a5 f.). Zudem fehlen in der Poetik für die Dichtung typische Stilmittel, die noch in der Rhetorik genannt werden, wie das Synonym (Rhet. III 2, 1404b39–1405a2) oder der Vergleich (eikôn), der von der Metapher nur durch das Vergleichswort „wie“ unterschieden ist (Rhet. III 4, 1406b20–25). Dieses Fehlen kann so begründet werden, daß beide in den in der Poetik klassifizierten Arten der Wörter enthalten sind, da jeder Vergleich leicht in eine Metapher umgewandelt werden kann (Rhet. III 4, 1407a11–15) und jedes fremdartige Wort ein Synonym zu einem üblichen Ausdruck ist. Es fehlt in der Poetik außerdem (anders als in der Rhetorik) eine auf die ästhetische Auswahl der Stilmittel und die entsprechende, insbesondere musikalische Gestaltung des Stils bezogene Betrachtung, etwa über Wohlklang, Rhythmus oder Satzbau. Der Grund für dieses Defizit dürfte darin liegen, daß die Betrachtung der Poetik hierfür auf die Musik (vor allem Metrik, Rhythmik) als eigener Disziplin verweisen kann, während die Reden der Rhetorik nicht musikalisch komponiert sind, aber auch nicht ohne eine musikalische Komponente auskommen. Stattdessen zielt die Poetik mit der Konzentration auf die Lexik der Sprache eher auf eine rationale Fundierung der emotionalen Wirkung der Dichtung und nähert die Dichtung mit der Betonung der Klarheit dem philosophischen Stil- und Erkenntnisideal, ohne freilich wie die Philosophie gänzlich auf dichterischen Schmuck und Ausdrucksverfremdung zu verzichten.

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Literatur Ax, W. 1986: Laut, Stimme und Sprache. Studien zu drei Grundbegriffen der antiken Sprachtheorie, Göttingen. Halliwell, S. 1993: Style and Sense in Aristotle’s Rhetoric Book 3, Revue Internationale de Philosophie 47, 50–69. Schramm, M. 2005: Syndesmos und arthron in Aristoteles’ Poetik, Glotta 81, 187–213. Steinthal, H. 21890: Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern, 2 Bände, Berlin.

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Epostheorie, Maßstäbe der Literaturkritik, zum Verhältnis von Epos und Tragödie (Kap. 23–26)

11.1 Epostheorie I (Kap. 23) In den Kapiteln 23 und 24 entwickelt Aristoteles eine Theorie des Epos. Zur Bestimmung der Merkmale der Gattung greift er auf seine Analysen in den ersten drei Kapiteln zurück. Bei der Ermittlung der Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Dichtung müsse man (1) beachten, welches Medium benutzt wird (Kap. 1), (2) welcher Gegenstand dargestellt ist. Da für Aristoteles Dichtung grundsätzlich Darstellung handelnder Menschen ist, konzentriert sich diese Frage auf die Art von Charakter, von dem die Handlungen ausgehen (Kap. 2). (3) Das dritte für eine Bestimmung der Gattung nötige Merkmal ergibt sich aus der Antwort auf die Frage, in welcher Art und Weise ein bestimmter Gegenstand in einem bestimmten Medium dargestellt ist (Kap. 3). Alle drei Gattungsmerkmale hat Aristoteles schon vor der eigentlichen Behandlung des Epos benannt: Das Epos bedient sich als Medium einer metrisch gebundenen Sprache, bevorzugt des Hexameters (Kap. 6); sein Gegenstand sind Charaktere mit einer guten Bildung, die ernsthafte Ziele verfolgen (Kap. 3); die Darstellungsweise ist grundsätzlich narrativ, aber mit einer Mischung aus Partien, in denen der Dichter über das berichtet, was die Handelnden tun und reden, und Partien, in denen er (im Rahmen seiner Erzählung) die Handelnden selbst reden und entscheiden lässt (Kap. 3).

 Das Folgende entspricht den Erklärungen in meinem Kommentar: Aristoteles. Poetik, übers. u. erl. von A. S., Berlin 2008, 672–742, zitiert als „Schmitt“ mit Seitenangabe.

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Erst aus der Kombination aller drei Merkmale ergibt sich eine zureichende Gattungsbestimmung (Schmitt 267 f.). Denn den Gegenstand für sich hat das Epos mit der Tragödie gemeinsam. Homer wie Sophokles stellen ernsthafte, entwickelte Charaktere dar. Das unterscheidet Tragödie und Epos zum Beispiel von der Komödie, deren Charaktere „schlechter“, d. h. weniger gut entwickelt und geformt sind. Tragödie und Komödie aber haben gemeinsam die dramatische Form der Darstellung, das Epos unterscheidet sich von beiden durch die narrative Darstellung. Als Medium benutzt das Epos wie alle Dichtung die Sprache, im besonderen eine metrisch gebundene Sprache, noch spezifischer: ein Metrum, das der Bedeutung des Gegenstands angemessen ist. Das ist für das (griechische) Epos nach Aristoteles der Hexameter, seine Form vermittle den Eindruck von Stabilität und Gewicht (1459b31–1460a1). Als eine erste Definition des Epos ergibt sich daraus: Das Epos ist diejenige Dichtungsgattung, die die Handlung eines Charakters darstellt, der ernsthafte und gute Ziele verfolgt, im Medium einer Sprache, deren Form der Bedeutung der dargestellten Handlung gerecht wird, und in einem narrativen Modus der Darstellung, bei dem Partien des reinen Berichts mit Partien der Selbstdarstellung der handelnden Personen gemischt werden können. Da Aristoteles von den drei Bestimmungsmomenten (einer Dichtungsgattung) der Gegenstand, der handelnde Mensch, am wichtigsten ist, konzentriert er sich zunächst auf die Art der Handlung. Das Epos hat sie mit der Tragödie gemeinsam, deshalb erinnert er nur an die wichtigsten Aspekte, die er vor allem in den Kapiteln sieben bis neun entwickelt hatte (Schmitt 361–426; in diesem Band Kapitel 6: Die Einheit der Handlung). Die Handlung muß, so hatte er im siebten Kapitel erläutert, ganz und vollständig sein, das heißt Anfang, Mitte und Ende haben. Das richtige Verständnis dieser Forderung setzt voraus, daß der strenge Aristotelische Handlungsbegriff mitbedacht wird (Schmitt 105–116). Handeln gibt es nur dort, wo, und in dem Ausmaß, wie jemand selbst Ursache für sein Reden und Tun ist. Die Handlung eines Epos ist nicht das, was im Laufe der Erzählung an Ereignissen und Begebenheiten berichtet wird, sondern die Folge der Schritte, in denen jemand in einer bestimmten konkreten Situation auf Grund seiner allgemeinen Charaktertendenzen die Entscheidung fällt, ein bestimmtes Ziel erreichen zu wollen, in denen er dann dieses Ziel im einzelnen verfolgt und schließlich erreicht oder verfehlt. Der Anfang einer Handlung ist also die Darstellung einer Entscheidung und der Gründe ihres Entstehens, in der Ilias zum Beispiel die Darstellung der Entwicklung des Streits Achills mit Agamemnon und sein Entschluß, Agamemnon für seine Ungerechtig-

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keit büßen zu lassen, um so zu erreichen, daß er als der wahre Zerstörer Trojas wieder gebraucht und geehrt wird. Die Mitte der Handlung sind alle Teilhandlungen und Reden, durch die Achill dieses Ziel verfolgt. Der Schluß ist die Erfüllung des Willens, der Zerstörer Trojas zu sein, durch die Tötung Hektors, des eigentlichen Verteidigers Trojas, und die Versöhnung mit Priamos, dem Vater des überwundenen Gegners. Eine solche Handlungsdarstellung ist nicht nur ganz, sie hat auch Einheit, das heißt alle ihre einzelnen Teile sind funktional auf ein Ziel hingeordnet, sie gehören zusammen wie die Glieder eines Lebewesens. Diese Form der Handlungskomposition, die Homer gewählt hat, grenzt Aristoteles wie in den Kapiteln acht und neun zuerst gegen die Darstellungsweise der Geschichtsschreibung ab. Das Ordnungsprinzip der Geschichtsschreibung ist vor allem die Zeit. Dabei kommt es Aristoteles weniger auf die Darstellung der Zeitfolge an. Auch ein Historiker kann eine geschichtliche Analyse vom Ende oder von der Mitte aus unternehmen und sie mit Vor- und Rückgriffen unterbrechen. Das Ziel seiner Analyse aber ist die Aufarbeitung eines bestimmten Zeitraums. Das, was in diesem Zeitraum geschehen ist, gibt die Einheit vor, nach der sich der Historiker richten muß. Für alles geschichtlich Bedeutende, das in diesem Zeitraum geschehen ist, muß er nach Gründen und Motiven suchen, ob es sachlich zusammengehört oder nicht. Die auf der Kontinuität der Zeit beruhende Ereignisfolge kann deshalb auch vieles Nichtzusammengehörendes vereinen; sie kann die Einheit einer Handlung sein, muß es aber nicht. Am Beispiel der Lebensläufe vom Menschen demonstriert Aristoteles, daß dies in der Regel nicht der Fall ist. Vieles und Beliebiges, das nicht zu einer Handlung zusammengehört, geschieht ja im Leben eines Menschen, so wie etwa die Verwundung durch einen Eber, die der junge Odysseus sich bei einem Besuch bei seinem Großvater zugezogen hatte, nichts mit dem Handeln zu tun hat, mit dem er den Versuch gemacht hatte, sich der Teilnahme am Heereszug gegen Troja zu entziehen (Kap. 8). Hier im 23. Kapitel demonstriert Aristoteles die Irrelevanz der Zeit für die Einheit einer Handlung daran, daß selbst die Koinzidenz, der exakte Zusammenfall mehrerer Ereignisse in einer Zeit, überhaupt keine Aussage darüber erlaubt, ob diese Ereignisse – er nennt als Beispiele die Schlachten bei Salamis und bei Himera in Sizilien, die beide an ein und demselben Tag stattgefunden haben sollen – in irgendeinem inneren Zusammenhang miteinander stehen oder nicht. Genau diesen inneren Handlungszusammenhang findet Aristoteles aber bei Homer: Obwohl der trojanische Krieg eine Geschehensfolge mit Anfang, Mitte und Ende gewesen sei, habe er doch nicht den ganzen Krieg dargestellt, sondern habe einen „Teil“ herausgegriffen (der tatsächlich eine

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Handlungseinheit war) und ihn zum Gestaltungsprinzip seiner Darstellung gemacht. Vieles andere, was noch zur Ganzheit des geschichtlichen Geschehens dazugehörte, habe er „episodisch“ behandelt, das heißt dort, wo es zur Handlung dazugehörte, eingefügt, zum Beispiel den „Schiffskatalog“ an der Stelle, an der Agamemnon, nachdem Achill sich im Groll zurückgezogen hat, sein Heer neu formiert, um – in verblendeter Hoffnung – gegen Troja auszurücken (Ilias II, Vers 441–785). Bei einer linearen Geschichtsdarstellung hätte das Ganze „unüberschaubar“ (ouk eusynoptos) werden müssen (7, 1451a4), nicht einfach wegen der inhaltlichen Fülle – die gibt es auch bei Homer –, sondern weil man den Zusammenhang der Teile miteinander und ihre Stellung im Ganzen nicht mehr hätte überblicken können. Den Grundfehler eines „historischen“ Dichtens benennt Aristoteles abschließend noch einmal: Es „kreist“ um eine Person bzw. um einen Zeitraum, um von ihnen die Ordnung der Darstellung zu gewinnen. Das ist der sachliche Grund, weshalb eine solche Dichtung „zyklisch“ ist. (Der Begriff „epischer Kyklos“ meint in der Literaturgeschichte die Erzählungen, die um das Geschehen vor und nach der Ilias bzw. der Odyssee „kreisen“; auch andere Sagenkreise, zum Beispiel das Geschehen um Theben, heißen kykloi, Zyklen.) Ähnlich wie im achten Kapitel (1451a17 f.) verweist Aristoteles auch hier noch einmal darauf, daß es nicht genügt, sich auf solche Geschehensfolgen, die tatsächlich Handlungen sind, zu konzentrieren. Es können ja auch die Handlungen eines Menschen oder innerhalb eines Zeitraums keinen Zusammenhang miteinander haben, wie etwa das Handeln der liebenden Medea in Kolchis mit dem Handeln der zürnenden Medea in Korinth. Auf solche Weise entstehe eine „vielteilige“, keine einheitliche Handlung, das heißt kein mythos. Als Beispiele für solche vielteiligen Handlungen verweist Aristoteles auf die Kyprien (mit dem Geschehen vor dem trojanischen Krieg), aus der man viele Tragödienhandlungen machen könne, und auf die Kleine Ilias, bei der er im einzelnen ausführt, daß man sie in acht verschiedene Tragödien teilen könne. Aus der Ilias dagegen lasse sich nur eine tragische Handlung gewinnen, aus der Odyssee könnten bestenfalls zwei Handlungen (eine Telemach- und eine Odysseus-Handlung) gewonnen werden. Der Hinweis auf die unterschiedliche Art der Handlungsdarstellung in den epischen Zyklen und bei Homer ist wichtig. Denn im 18. Kapitel hatte Aristoteles auch von der Ilias gesagt, sie sei „vielmythisch“, „polymythos“ (1456a12 f.). So enthält das 16. Buch der Ilias zum Beispiel eine eigenständige Darstellung des tragischen Untergangs des Patroklos. Anders als bei

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den von Aristoteles aufgezählten acht Einzelhandlungen der Kleinen Ilias steht die Patrokloshandlung aber nicht für sich, sondern bildet einen funktionalen Teil der Achilleshandlung. Achill schickt Patroklos stellvertretend für sich in den Kampf und unterstützt erst, als dieser gefallen ist, selbst wieder die anderen Griechen. Die Kleine Ilias dagegen beginnt mit der sogenannten „Entscheidung über die Waffen“ (Hoplôn krisis); sie berichtet, wie es Odysseus gelungen ist, die Waffen des Achill für sich zu gewinnen und Aias, den tapfersten Kämpfer nach Achill, um seinen verdienten Lohn zu bringen. Die nächste Geschichte handelt von Philoktet, der von den Griechen wegen einer schlimmen Krankheit allein auf einer Insel ausgesetzt worden war und nun zurückgeholt werden muß, da nur mit seinem Bogen, dem Bogen des Herakles, Troja erobert werden kann. Beide Geschichten gehören zur Trojageschichte, denn sie berichten von Ereignissen, die der endgültigen Eroberung vorausgegangen sind. Aber selbst wenn sie Handlungsdarstellungen im Aristotelischen Sinn wären, würden diese beiden Handlungen nicht gemeinsam eine Handlung bilden, wie dies bei der Achill- und Patrokloshandlung in der Ilias der Fall ist. Die Tatsache, daß die in der Kleinen Ilias erzählte Geschichte eine Handlung hat in dem Sinn, wie wir das Wort „Handlung“ gewöhnlich gebrauchen – sie reicht vom Tod Achills bis zum Bau des trojanischen Pferdes – liefert einen wichtigen Beleg dafür, daß das, was Aristoteles eine praxis nennt, korrekterweise nicht mit „Handlung“ oder „plot“ bzw. „storyline“ übersetzt werden darf. Mit diesen Begriffen bezeichnen wir den Handlungsverlauf, die Abfolge der Ereignisse, wie sie in einem dichterischen Werk der Reihe nach aufeinanderfolgen. Für Aristoteles stellt die Handlung, wie er sie versteht, das Hauptkriterium der Qualität einer Dichtung dar, weil sie nicht die bloße Folge der Ereignisse meint, sondern die Art und Weise und die Folge der Schritte, durch die ein Charakter seine Tendenzen, etwas vorzuziehen oder zu meiden, in einem Einzelfall verwirklicht.

11.2 Epostheorie II (Kap. 24) Nachdem Aristoteles im 23. Kapitel auch im Blick auf das Epos die für jede Dichtungsart wichtigste Frage, die Frage, wie in ihr eine einheitliche Handlungskomposition möglich ist, geklärt hat – es muß wie in der Tragödie eine aus Teilhandlungen bestehende, nicht additive, sondern funktionale Einheit sein –, verweist er im 24. Kapitel darauf, (1) daß das Epos auch in der Behandlung der konstitutiven Teile die gleiche Aufgabenstellung hat wie die Tragödie (1459b7–16), und prüft im Anschluß, wie das Epos

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die Besonderheiten, die für es als Epos charakteristisch sind und es von der Tragödie unterscheiden, in optimaler Weise realisieren kann: (2) im Umfang (1459b17–31), (3) im Versmaß (1459b31–1460a5), (4) in der Form der Darstellung (1460a5–11), (5) in der Behandlung des Wunderbaren und Unlogischen (1460a11–1460b2) und (6) in der Ausarbeitung des sprachlichen Ausdrucks (1460b2–5): 1) Von den konstitutiven Teilen der Tragödie, die Aristoteles im sechsten Kapitel unterschieden hatte, fallen auf Grund der Erzählform des Epos die lyrisch-musikalischen Teile und alles, was mit der Aufführung zu tun hat, weg. Alle anderen Bauformen aber teilt das Epos mit der Tragödie. Der wichtigste konstitutive Teil, der mythos, ist, wie Aristoteles im elften Kapitel gezeigt hat, entweder einsträngig oder komplex. Wenn er komplex ist, hat er Wendepunkte (peripeteiai) und Wiedererkennungen (anagnoriseis). In jedem Fall gehört zu einem tragischen Mythos die Darstellung von Leid (ebd.). Auch im Epos muß der Mythos aus den charakterlichen Tendenzen eines Menschen hergeleitet sein. Da Aristoteles das, was wir Charakter nennen, in êthos und dianoia (6, 1449b36–1450a3 und 449b50a19 f.) teilt, muß es in seinem Sinn auch im Epos die Darstellung, wie jemand dazu tendiert, in einzelnen Handlungsentscheidungen Bestimmtes vorzuziehen und zu meiden (êthos), geben und die Darstellung, wie er seine Denkweise in Rede und Argumentation äußert (dianoia, s. dazu auch 19, 1456a33–b2). Beides, êthos und dianoia, müssen in der ihnen gemäßen Weise im sprachlichen Ausdruck bezeichnet werden (zur lexis s. Kap. 22). Alle diese funktionalen Bauelemente hat nach Aristoteles bereits Homer beachtet und vollendet beherrscht. Die Ilias sei einsträngig und konzentrie­re die Aufmerksamkeit vor allem auf das mit der Handlung verbundene Leid, die Odyssee sei komplex und betone mehr das Charakteristische am Handeln seiner (Haupt-)Personen. Außerdem sei Homer auch in der Wahl des richtigen Ausdrucks und darin, wie er seine Personen in der ihnen gemäßen Weise argumentieren lasse, unübertroffen. 2) Die Frage, innerhalb welcher Grenzen sich der Umfang eines Epos bewegen sollte, entscheidet Aristoteles grundsätzlich genauso wie bei der Tragödie (7, 1450b32–1451a15): Es muß möglich sein, Anfang und Ende (sc. der Handlung, nicht aller Ereignisse) „zusammenzusehen“ (1459b19). Als eine Durchschnittsregel (und hier handelt es sich wirklich einmal um eine Regel bei Aristoteles) gibt er an, die Länge eines Epos solle etwa der von drei Tragödien entsprechen. Wenn man nachrechnet, wären das ca. 4000 Verse, das heißt etwa ein Drittel der Odyssee und ein Viertel der Ilias.

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Die eben ausgesprochene (Durchschnitts-)Regel durchbricht Aristoteles gleich im nächsten Satz, in dem er es für die Eigentümlichkeit des Epos erklärt, daß es die Möglichkeit zu einer erheblichen Ausdehnung des Umfangs hat und daß diese Ausdehnung bedeutende Vorzüge mit sich bringen kann. Man erkennt an diesem scheinbar nachlässigen Umgang mit den selbst aufgestellten Regeln, daß derartige Regeln für Aristoteles keinen verbindlichen Charakter haben. Man kann so verfahren und man verfährt oft so, weil es sich bewährt hat. Aber man muß nicht so verfahren, denn entscheidend ist für ihn immer, wie eine Dichtungsart die ihr gemäßen „mimetischen“ Möglichkeiten ausnützt. Das kann man auf bewährte Weisen machen – wie man dazu verfährt, lernt man aus den „Regeln“ – man kann es aber auch auf innovative Weise anders machen. Beim Epos zum Beispiel kommt eine Möglichkeit der Ausdehnung aus der Darstellungsweise. Im Erzählbericht nämlich könne man anders als in der Tragödie mehrere Teilhandlungen, die gleichzeitig ablaufen, darstellen. Das kann die Tragödie nicht, weil sie die Handlung direkt ausführen läßt und deshalb an das auf der Bühne jeweils gerade Sichtbare gebunden ist und zudem an das, was sie einem der Akteure selbst in den Mund legen kann. Homer dagegen kann zum Beispiel berichten, wie sich Odysseus und Eumaios eine ganze Nacht lang unterhalten (XV, Vers 301–495), während Telemach die gefahrvolle Reise von Sparta nach Hause unternimmt (XV, Vers 1–300). Nutzt eine Dichtung diese Möglichkeit, die auch in einer linear additiven Erzählung nicht möglich ist – in der Neuzeit gilt sie weithin als unepisch – in der richtigen Weise, das heißt so, daß die parallelen Teilhandlungen funktional zu einer Einheit zusammenwirken, dann gewinnt sie große Vorzüge: Ihre Inhalte wirken bedeutender, „erhabener“ (1459b28 f.), sie kann gleichzeitig unterschiedliche Gefühle erwecken, ihre Darstellung auf abwechslungsreiche Weise gliedern und den Überdruß an einer zu eintönigen Darstellung vermeiden. So wird dem Leser zum Beispiel deutlich, daß es nicht irgendeine Nacht ist, in der Telemach unterwegs ist, es ist die Nacht, in der sein Vater bereits bei seinem alten Diener angekommen ist; diese, nicht eine bloß zeitliche, Koinzidenz macht die Bedeutung dieser Nacht sichtbar. 3) Die meisten griechischen und lateinischen Epen sind in Hexametern verfaßt. Aristoteles hält dieses historische Faktum nicht für beliebig, sondern für das Ergebnis eines sinnvollen „Anpassungsprozesses“. Natürlich kennt auch er die Vorgeschichte des Homerischen Epos nicht. Er beruft sich zur Unterstützung seiner These auch nicht auf die Entstehungsgeschichte des Epos, sondern darauf, daß Versuche in der für ihn geschichtlich überschaubaren Zeit, epische Erzählberichte in anderen Metren oder in einer

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Mischung von Versmaßen (wie in der Tragödie oder der Lyrik) zu schreiben, nicht gelungen seien. Jamben und Tetrameter seien zu dynamisch, zu sehr auf die Darstellung von Bewegung hin angelegt, der Tetrameter für die Bewegung des Tanzes, der Jambus für das dialogische Hin und Her beim Sprechen. Der Hexameter, der in gleichmäßiger Folge immer ein (musikalisch) betontes Element aus mehreren unbetonten heraushebt, habe diese Aufgeregtheit nicht an sich, sondern bietet ein stabil ruhiges Fortschreiten, das dadurch den Eindruck, Gewichtiges, Bedeutendes zu sagen, unterstütze. Deshalb sei der Hexameter für Glossen und Metaphern, das heißt für eine vom gewöhnlichen Sprachgebrauch abweichende Ausdrucksweise, besonders geeignet. Da es für das Epos charakteristisch ist, daß es von Berichtenswertem, das heißt von Außergewöhnlichem, Staunenerregendem usw. erzählt, ist also der Hexameter mit seiner Eignung für eine vom Üblichen abweichende Redeweise das „passende“ Versmaß. Dieses „passende“ Versmaß wurde, wie Aristoteles selbst sagt, durch „Erfahrung“ (peira) gefunden, es gehört in diesem Sinn zur „Natur“ des Epos, das heißt zu dem, was für ein Epos wesentlich ist, es hat sich nicht in einem natürlichen, „naturwüchsigen“ Prozeß entwickelt. 4) Schon im vierten Kapitel hat Aristoteles nach dem Hinweis, das Epos habe im „heroischen“ Versmaß, dem Hexameter, die passende Versform gefunden, darauf verwiesen, daß Homer darüber hinaus auch dadurch paradigmatisch geworden sei, daß er gezeigt habe, wie auch die epische Mimesis eine „dramatische Mimesis“ sein könne (1448b34–36). Daß „dramatisch“ „auf eine funktionale Handlungseinheit bezogen“ meint, erläutert der Anfang des 23. Kapitels (s. o. Kap. 23). Im 24. Kapitel ergänzt Aristoteles diesen Aspekt um eine Erklärung, was im Epos Mimesis bedeutet. Es heißt: Ein Epiker soll sich nicht selbst in langen „Vorreden“ über seine Personen und deren jeweiligen Zustand darstellen, sondern er soll einen Mann oder eine Frau so vorführen, daß alles, was sie sagen oder tun, für sie charakteristisch ist. Dann sei er mimêtês, wie es ein Dichter sein soll (siehe dazu genauer Schmitt 694–697). 5) Das Staunen ist für Aristoteles nicht nur der Anfang von Philosophie und Wissenschaft, sondern auch der Kunst. Diese Überzeugung vertritt er auch in der Poetik immer wieder. Eine Handlungsdarstellung muß folgerichtig sein, nicht im Sinn einer postulierten Folgerichtigkeit des Weltlaufs, sondern der aus den Motiven der Handelnden sich ergebenden Schritte auf ein – subjektives – Ziel hin. Diese innere Folgerichtigkeit tritt aber dann deutlicher in Erscheinung und erregt eine stärkere Gefühlswirkung, wenn man sie nicht schon ständig vor Augen hat, weil man leicht den Fortgang der Handlung vervollständigen kann, sondern wenn sie unerwartet eintritt,

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aber so, daß einem dann mit einem Mal die ganze auf diese Folge hinsteuernde Logik vor Augen steht (9, 1452a1–10). Dies gilt in analoger Weise für die Leser/Zuschauer wie für die Personen einer Dichtung. Das Epos hat eine seiner Besonderheiten darin, daß es diese Steigerung der Aufmerksamkeit durch etwas, was Staunen und Verwunderung erregt, leichter und besser erzeugen kann als eine dramatische Dichtung, weil man die Handlung nicht direkt vor Augen hat. Dafür, daß dieses Staunenerregende gefällt, beruft sich Aristoteles auf eine allgemeine Erfahrung: Jeder übertreibe beim Erzählen aus eben diesem Grund. Deshalb bespricht er noch einige Verfahrensmöglichkeiten, wie man solche Täuschungen in eine Darstellung so einfügen kann, daß sie nicht stören: Man kann Beglaubigungen auf falsche, aber scheinbar überzeugende Schlüsse stützen (1460a18–26); man kann, wenn etwas zwar möglich ist, aber die Wahrscheinlichkeit gegen sich hat, auf etwas Wahrscheinliches ausweichen, auch wenn es unmöglich ist (1460a26 f.); man kann das Unglaubwürdige und Unpassende in die Vorgeschichte der Handlung, die man darstellt, verlegen (1460a27–34); oder man kann dem Unglaubwürdigen den Charakter des Außergewöhnlichen, Märchenhaften geben (1460a34–60b2). 6) In einer erzählenden Dichtung gibt es, ihrem narrativen Charakter entsprechend, immer wieder Partien, in denen nur vom Geschehensfortgang berichtet wird, ohne daß die Handelnden in Entscheidungssituationen gezeigt werden, in denen sie etwas vorziehen oder meiden oder etwas in Rede und Argumentation darlegen oder verteidigen. Bei solchen Partien, in denen die Handlung ruht, rät Aristoteles, sie sprachlich besonders gut auszuarbeiten. Dieses Ausarbeiten, Ausfeilen dürfe aber nicht dazu führen, daß charakteristische Verhaltens- und Ausdrucksweisen der Handelnden überdeckt werden. Eine gleichmäßige, die gesamte Sprechweise durchorganisierende Rhetorisierung der Sprache zum Beispiel hätte genau die Wirkung, die Aristoteles vermieden sehen möchte. Den möglichen formalstilistischen Vorzügen einer solchen Sprache steht ihr Mangel an charakteristischer Differenzierung entgegen.

11.3. Maßstäbe der Literaturkritik (Kap. 25) Dieses in der Forschung eher vernachlässigte Kapitel der Poetik gibt einen aufschlussreichen Einblick in die Literaturkritik der Zeit und vor allem in die Maßstäbe und Verfahren der Bewertung von Literatur, wie sie Aristoteles selbst für richtig hielt.

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1) Das Wichtigste, das man bei der Beurteilung von Dichtung beachten müsse, ist die Frage, ob das, worüber man urteilt, zur Dichtung als Dichtung gehört, oder ob es andere Aspekte betrifft, die für die Qualität des Poetischen in einem Text nicht relevant sind. Wenn eine Dichtung eine falsche Darstellung eines historischen, juristischen, medizinischen Vorgangs bringt oder eine falsche Beschreibung von Gegenständen, etwa wenn ein Dichter oder Maler einer Hirschkuh ein Geweih aufsetzt, dann sind das Fehler, und Fehler solle man grundsätzlich vermeiden. Aber solche Fehler haben nach Aristoteles keine poetische Relevanz, sie können in manchen Fällen sogar zur Steigerung des Dichterischen beitragen (etwa wenn ein Dichter zwei Personen zusammentreffen läßt, die sich in der tatsächlichen Geschichte nicht getroffen haben). Nur Fehler, die dichtungs­immanent sind, das heißt die etwas betreffen, wovon der Kunstcharakter einer Dichtung abhängt, bilden im strengen Sinn den Gegenstand der Literaturkritik. 2) In einer methodischen Vorbemerkung erinnert Aristoteles daher an die spezifischen Merkmale, die im Sinn seiner bisherigen Ausführungen in der Poetik etwas zur Dichtung machen, und beginnt wie im ersten Kapitel mit der formal-allgemeinsten Bestimmung: Dichtung ist wie alle Künste eine Form der Nachahmung, weil sie in einem bestimmten Medium etwas von diesem Medium Verschiedenes auf eine bestimmte Weise darstellt (1, 1447a16–18: en heterô heteron heterôs). Diese zunächst rein formale Bestimmung der Kunst, die nur analytisch auseinanderlegt, was sich aus dem medialen Charakter der Kunst ergibt, führt Aristoteles zu einer erheblich weiteren Beschreibung möglicher Gegenstände der Dichtung, als es die verbreitete Vorstellung, Aufgabe der Dichtung sei eine Nachahmung der Wirklichkeit in ihren allgemeinen Strukturen, nahelegt. Aristoteles erklärt nämlich zum Erstaunen vieler Interpreten an dieser Stelle, Dichtung könne etwas darstellen, „wie es war oder ist“, man müsse sich aber nicht an die objektive Wirklichkeit halten, man könne sich auch darauf beschränken, etwas so darzustellen, „wie man sagt und meint“, das heißt, wie es der Auffassung einer Gruppe von Menschen oder auch nur einem einzelnen Menschen zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Verfassung entspricht. Eine dritte Möglichkeit sei, daß man darstelle, wie etwas sein müßte. Die Differenzierung dieser drei möglichen Gegenstände einer Nachahmung soll an dieser Stelle nicht herausheben, was eine spezifisch dichterische Nachahmung ist, sondern lediglich darauf aufmerksam machen, daß man bei dem Urteil, ob eine dichterische Darstellung wahr ist, auf die je unterschiedliche Wahrheit dieser drei unterschiedlichen Gegenstände achten muß.

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Ein Dichter, der etwa die Erinyen (Furien) dargestellt hat, kann sie dargestellt haben, wie sie (im Sinn des Volksglaubens) waren, etwa als schreckliche Rachegeister, oder so wie sie (seinem Urteil nach) wirklich sind, z. B. als Eumeniden (Wohlgesonnene, Helfer). Der Gott Zeus kann in seiner Darstellung auch nur so sein, wie er einer seiner Personen zu sein scheint, etwa ein ungerechter Gott, der selbst die Frommen im Stich läßt (wie etwa Hekabe in den Troerinnen des Euripides denkt). Man kann in einer Dichtung aber auch eine kluge Frau wie etwa Lysistrate handeln lassen, wie man in einer bestimmten Situation hätte handeln müssen, auch wenn niemand tatsächlich so gehandelt hat. Dieser Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Dichtung entspricht eine große Freiheit im Gebrauch des Mediums. Die poetische Sprache kann sich Abweichungen in vieler Hinsicht und aus vielen Intentionen heraus erlauben. Neben diesen größeren Freiheiten, die das Feld möglicher Gegenstände und ihrer medialen Darstellung in der Dichtung erweitern, verweist Aristoteles aber auch auf den spezifischen Gegenstandsbereich der Dichtung, auf den die Aufmerksamkeit beim Verfassen oder Verstehen von Literatur konzentriert sein solle: Das, was in einer Dichtung auf jeden Fall und zuerst beachtet werden muß, ist, ob sie eine mögliche Handlung darstellt (1460b16 f.). Das sagt Aristoteles hier sehr knapp, denn es ist aus der gesamten Konzeption der Poetik klar, daß Dichtung für ihn Ergebnis einer bestimmten Erkenntnishaltung ist. Dichtung befaßt sich nicht mit epistemischen Abstraktionen, nicht mit technischer Produktion, sondern mit den konkreten einzelnen Handlungen, in denen sich allgemeine Tendenzen eines Charakters, bestimmtes vorzuziehen oder zu meiden, verwirklichen. Das ist der Gegenstand, auf den sich das dichterische Erkenntnis- und Darstellungsinteresse konzentriert: eine Handlung zu finden oder zu erfinden, wie sie für einen bestimmten Charakter möglich ist, die daher eine notwendige oder wahrscheinliche Äußerungsweise dieses Charakters ist. Mit diesen Vorbemerkungen hat Aristoteles die Kriterien benannt, an denen man sich orientieren soll, wenn man ein Urteil über die künstlerische Qualität einer Dichtung fällt. Wie das Folgende zeigt, geht es ihm vor allem um die Abwehr einer in seinen Augen (seit der Sophistik verbreiteten) sachfremden Kritik an der Dichtung, vor allem an Homer. 3) Grundsätzlich berechtigt ist eine Kritik, wenn sie zeigen kann, daß das Dargestellte keine mögliche Handlung eines bestimmten Charakters ist. Aber selbst in diesem Fall gibt es nach Aristoteles Ausnahmen. So paßt es seiner Meinung nach gar nicht zu Achill, daß er bei der Verfolgung Hektors ständig mit Kopfschütteln seine Kameraden abzuhalten versucht,

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auf Hektor zu schießen, damit er nicht der zweite sei, der ihn trifft (Ilias 22, V. 205–207). Im 24. Kapitel hatte er diese Schilderung als etwas, was im Epos, nicht aber im Drama erlaubt ist, verteidigt. Hätte man die Szene vor Augen, würde Achill lächerlich wirken, im Epos falle dies nicht auf. Hier ergänzt er seine Verteidigung um einen substantielleren Aspekt. Achills ganzer Ehrgeiz ist darauf gerichtet, der Zerstörer Trojas zu sein. Die Unbedingtheit dieses Willens kommt durch den Hinweis des Erzählers Homers, daß er auf keinen Fall der zweite sein wollte, stark zum Ausdruck. So dient diese für einen Achill eigentlich nicht mögliche Verhaltensweise dazu, das, was für Achill das einzig mögliche Handeln ist, deutlich und mit bewegender Wirkung zum Ausdruck zu bringen. 4) Den größten Teil des Kapitels verwendet Aristoteles darauf, eine kunstfremde Beurteilung der Dichtung abzuwehren und zu zeigen, wie man ihr begegnen muß. Besonders häufig gab es offenbar den Vorwurf, ein Dichter habe etwas falsch dargestellt, weil er sich nicht an die (zum Beispiel historische) Wirklichkeit gehalten habe. Solchen Vorwürfen begegnet man mit den Differenzierungen, die Aristoteles bereits unter dem allgemeinen Ausgangspunkt der Bewertung von Dichtung angegeben hat: (a) Es kann sein, daß das Bild der Menschen, das in einer Dichtung gezeichnet wird, nicht zeigen wollte, wie die Menschen wirklich sind, sondern wie sie sein müssten. (b) Es kann sein, daß eine Dichtung darstellt, was die Leute gewöhnlich denken, oder wie es jemandem subjektiv zu sein scheint. (c) Es kann sein, daß sich eine Dichtung auf einen fremden, etwa geschichtlich früheren Zustand bezieht. Verbreitet war offenbar auch eine moralisierende Dichterkritik. Aristoteles’ Antwort ist nicht, daß man gar keine moralischen Maßstäbe an eine Dichtung anlegen dürfe, er tadelt aber eine undifferenzierte, nur auf die bloßen, „objektiven“ Fakten gestützte Kritik. Man dürfe nicht einfach „Er hat dies getan, gesagt“ usw. zur Grundlage seines Urteils machen. Man müsse vielmehr sowohl die individuellen Unterschiede unter den handelnden Personen bedenken als auch den ganzen Komplex der möglichen Relationen bei einem Handeln: An wen ist das Wort oder die Tat gerichtet? Welche Bedeutung hat der Zeitpunkt, die Zielsetzung des Handelns? Ist es zum Wohl oder zum Schaden für jemanden oder etwas? Besonders sei die Frage wichtig, ob ein bestimmtes „Fehlhandeln“ dem Erreichen eines höheren Gutes oder der Abwendung eines größeren Übels dient. Wie man sieht, ist Aristoteles weit davon entfernt, einer bloßen „Erfolgshaftung“, wie sie für sogenannte Schamkulturen charakteristisch sein soll, das Wort zu reden. Für sogenannte Schamkulturen zählt nur das nach außen tretende Tun, für das man sich vor den anderen schämen muß. Aristoteles genügt

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aber auch nicht nur die bloße gute oder schlechte Absicht, auf die die sogenannten Schuldkulturen (wie etwa das Christentum) das moralische Urteil stützen. Für ihn ist erst die Berücksichtigung der konkreten, besser oder schlechter begründeten Motivation eines Handelns auch in Moralfragen der richtige Maßstab. Wie Aristoteles in der Vorbemerkung schon festgestellt hat, geht es bei einer Dichtung nicht nur um die Beurteilung ihres Inhalts, sondern auch um die Art und Weise der Benutzung und Formung des Mediums. Viele Kritiker beachten nach Aristoteles nicht, daß eine poetische Sprache ihre eigene Richtigkeit hat. Sie beurteilen deshalb die Dichtung vom üblichen Sprachgebrauch her oder messen sie an einer pedantischen Wörtlichkeit. Diese von außen kommende, die Dichtung gar nicht als Dichtung treffende Kritik muß durch eine Beachtung der Eigenheiten der poetischen Sprache aufgelöst werden. Aristoteles geht die Anlässe zu Mißverständnissen systematisch durch: (1461a9–21): In der Dichtung gibt es häufig einen vom Üblichen abweichenden Sprachgebrauch, vor allem Glossen, das heißt Ausdrücke, wie sie zu einer anderen Zeit oder in einer anderen Sprechergemeinschaft üblich sind, oder Metaphern, bei denen etwas nur richtig verstanden wird, wenn es nicht wörtlich, sondern in einem übertragenen Sinn genommen wird. (1461a21–23): Im Griechischen bekommen oft Wörter durch eine andere Betonung oder durch Dehnung oder Kürzung der Quantität einen anderen Sinn. Da solche Änderungen der „Prosodie“ in der Dichtung, besonders im Epos, häufig vorkommen, müssen sie als Quellen möglicher Mißverständnisse überprüft werden. (1461a23–25): Eine dichterische Sprache hat oft einen vom Üblichen abweichenden Satzbau. Eine Kritik, die die Sinneinheiten im Satz nicht richtig ermittelt, muß also durch den Aufweis der richtigen Satzgliederung entkräftet werden. (1461a25 f.): Eine dichterische Sprache ist oft mehrdeutig. Eine Kritik, die dies nicht bedenkt, ist illegitim. (1461a26–31): Auch der übliche Sprachgebrauch enthält vieles, das nicht mehr wörtlich genommen werden darf, vor allem bei verblaßten Metaphern, oder wenn sich die Sache, nicht aber die Bezeichnung geändert hat (z. B. „Kupferschmiede“ für Leute, die Eisen bearbeiten). Wie in der heutigen Philologie war es offenbar auch in der Antike ein beliebtes Verfahren, Widersprüche aufzudecken. Eine solche Kritik entkräftet man, so sagt Aristoteles, grundsätzlich genauso wie bei wissenschaftlichen Beweisen durch Beachtung der verschiedenen Bedeutungen eines Ausdrucks oder einer Aussage oder dadurch, daß man prüft, ob die

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Prämissen, aus denen eine widersprüchliche Schlußfolgerung abgeleitet wurde, gültig waren. Eine eigene Bemerkung ist ihm ein bestimmtes, auch heute noch antreffbares Vorgehen bei der Interpretation wert: Man geht mit einer bestimmten Vorerwartung an den Text und behandelt sie so, als ob das, was dieses Vorurteil will, auch im Text stehe. Widerspricht das, „was der Dichter gesagt hat“, diesem Vorurteil, wird er kritisiert, als ob er sich selbst widersprochen habe (1461a35–b8). Am Schluß des Kapitels faßt Aristoteles noch einmal die für ihn wichtigsten Gesichtspunkte für die Bewertung von Literatur zusammen und erläutert, bei welchen Formen der Kritik man mit Hilfe der besprochenen Verteidigungsverfahren die „Richtigkeit“ einer dichterischen Darstellung aufweisen kann, und wann die „Richtigkeit“ vielmehr auf Seiten der Kritik liegt. Die Darstellung von etwas „Unmöglichem“ kann man rechtfertigen, wenn es einem wesentlich poetischen Ziel dient, etwa, wenn man zeigen kann, daß das Unmögliche das (für die Verdeutlichung des Handlungsziels) Bessere ist (wie im Beispiel Achills), oder das, was leichter Glauben findet (wie Odysseus Penelope leichter überzeugen kann, er kenne Odysseus, als er sei Odysseus). Man könne sich auch wie der Maler Zeuxis an die Wirklichkeit halten, aber diese (durch die Auswahl aus vielem Wirklichen) so verschönern, daß sie besser erscheint (als sie sein kann). Das, was vernünftigerweise (das heißt den „Gesetzen der Wahrscheinlichkeit gemäß“) nicht wahr sein kann, läßt sich legitimieren, wenn man zeigen kann, daß es der Denkweise oder den Bräuchen einer anderen Zeit, anderer Menschen oder Menschen in einem bestimmten (Gefühls-)Zustand entspricht. So kann man auch zeigen, daß etwas an sich Unwahrscheinliches in einem bestimmten Augenblick nicht unwahrscheinlich war. Es sei ja wahrscheinlich, daß immer wieder gegen die Wahrscheinlichkeit gehandelt wird. Scheinbar widersprüchliche Aussagen könne man dann auflösen, wenn man es wie in der Wissenschaft machen kann: Ist dabei von demselben, in Bezug auf denselben Aspekt, in derselben Weise die Rede? Bezieht sich der angebliche Widerspruch gar nicht auf die Aussage selbst oder auf das, was ein Mensch bei Verstand (darüber) meint, ist der Vorwurf des alogon, des Vernunftwidrigen, unberechtigt. Die Berechtigung der Kritik aber muß anerkannt werden, wenn es keine der Handlungslogik folgende Notwendigkeit für etwas Unwahrscheinliches gibt. So kommt etwa mitten in der Dramenhandlung der Medea Aigeus, der König von Athen, zu Medea und bietet ihr Asyl an. Das erst ermöglicht Medea, die Rachehandlung durchzuführen. Einen wahrscheinlichen

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oder gar notwendigen Grund, der sich aus den Handlungsvoraussetzungen dieses Stückes ergibt, weshalb Aigeus in diesem Augenblick kommt, kann man dem Drama nicht entnehmen. Er kommt einfach. Auch die Verteidigung moralischer Anstöße findet für Aristoteles ihre Grenze daran, daß es für sie keinen Grund in der Handlungsmotivation gibt. Im Orest des Euripides läßt Menelaos den von einem aufgehetzten Mob bedrohten Orest schmählich im Stich, ohne irgendeinen plausiblen Grund für diese Niedertracht zu haben.

11.4 Zum Verhältnis von Epos und Tragödie (Kap. 26) Wie viele antike und moderne ästhetische Theoretiker versucht auch Aristoteles, in diesem (allein erhaltenen) ersten Buch der Poetik unter den beiden Dichtungsarten Epos und Tragödie eine Rangfolge zu bestimmen. Er diskutiert zuerst (1461b26–1462a4) eine Kritik, die den höheren Rang der Tragödie bestreitet, und entkräftet (1462a5–14) diese Kritik. Dann entwickelt er eine Reihe von Gründen, die in positivem Sinn die Überlegenheit der Tragödie gegenüber dem Epos erweisen. Mit einem zusammenfassenden Urteil und einer Schlußbemerkung zum ganzen ersten Buch der Poetik endet das Kapitel. (1461b26–1462a4): Die Tragödie teilt mit dem Epos die Gegenstände und die Medien. Das, was sie unterscheidet, ist der Modus der Darstellung, das heißt, daß in ihr nicht von Handlungen berichtet wird, sondern daß diese von den Handelnden direkt ausgeführt werden (s. Kap. 3). Daraus könnte man die Folgerung ableiten, daß das Performative wesentlich für die Tragödie sei und auch für ihre – dramatische – Qualität verantwortlich sei. Dieses Urteil ist im Sinn der Poetik unzutreffend. Wenn man es aber zur Prämisse der Bewertung der Tragödie macht, dann ergibt sich, daß die Tragödie im Rang unter dem Epos stehen müsste. Denn eine (im Sinn eines „performative turn“) auf „Aktion und Ereignis“ konzentrierte Darstellung ist nach Aristoteles ein Bedürfnis nicht eines kultivierten Publikums, sondern der breiten Masse. Alles, was geschieht, mit viel Aktionismus zu verdeutlichen, heißt, einen begriffsstutzigen Zuschauer vorauszusetzen, dem alles gezeigt werden muß. Aristoteles sieht in dieser performativen Tendenz eine Mode seiner Zeit. Selbst die Musiker versuchten, alles in „action“ umzusetzen, zum Beispiel die Flötenspieler, die im Kreis herumwirbeln, wenn die Musik einen Diskuswurf darstellt. Diese Überdeutlichkeit der sinnlichen Gebärde werde von den älteren Schauspielern scharf kritisiert, sie verglichen solche Schauspieler mit Affen. Tatsächlich hat

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deren Art, genau das, was sie sehen, nachzuahmen, den Effekt einer lächerlichen Überdeutlichkeit, weil sie das Überflüssige miteinschließt, das gar nicht zum Sachvorgang gehört. Diese Deutlichkeit hat der Gebildete nicht nötig, also ist die Tragödie, wenn die „performance“ ihr Wesen ausmacht, dem Epos unterlegen. (1462a5–14): Mit drei Argumenten tritt Aristoteles der Kritik entgegen, Tragödie und übertriebener Aktionismus auf der Bühne gehörten zusammen: (1) Diese Kritik beziehe sich gar nicht auf die Tragödie als Dichtung, sondern auf die Art, wie sie von Schauspielern aufgeführt werde. Die Kritik betrifft die Regie und die Schauspielkunst, nicht den Autor. Sie ist außerdem gar nicht an den dramatischen Aspekt der Tragödie gebunden, sondern kann genauso bei einem epischen Vortrag angebracht sein, wenn der (Vor-)Lesende alles und jedes mit Gesten zu veranschaulichen sucht. (2) Außerdem sei diese Kritik nicht gegenüber dem Performativen überhaupt berechtigt, sondern nur, wenn es (hyperdidaktisch oder symbolistisch) übertrieben werde, und wenn seine Gegenstände minderwertig seien. So kritisiere man „moderne“ Dichter, weil sie keine Frauen mit vornehmer Gesinnung (der Aristotelische Begriff ist eleutheros, „frei“) mehr auf die Bühne bringen. (3) Ein letztes Argument zieht Aristoteles aus der Leseerfahrung, die zeigt, daß man bei der Tragödie genauso wie beim Epos ihre volle Wirkung erfahren könne – allein in der (begreifenden) Vorstellung, ohne daß man die Handlung in konkreter „performance“ vor sich haben muß. Man braucht nicht die jeweilige, „singuläre Phänomenalität“ auf der Bühne, um in die Dramatik der Ödipus-Handlung hineingezogen zu werden (14, 1453b3–8), auch wenn es, wie er gleich hinzufügen wird, das ästhetische Vergnügen steigern kann, wenn diese performativen Aufführungselemente funktional gut gemacht sind. (1462a14–b15): Wie Aristoteles mehrfach in der Poetik ausgeführt hat (s. z. B. 24, 1459b7–16), sind die sogenannten konstitutiven Teile, die für die Funktion, die Erfüllung des Werks verantwortlich sind, bei Tragödie und Epos dieselben, bei der Tragödie kommen lediglich noch weitere „Teile“ dazu, die lyrisch musikalischen Partien und alles, was mit dem audio-visuell Performativen zu tun hat. Unter diesem Aspekt unterliegen Epos und Tragödie also weitgehend gleichen Beurteilungskriterien. Daß aber die hinzukommenden Elemente einen eigenen ästhetischen Reiz haben und also einen zusätzlichen Gewinn bedeuten, wiederholt Aristoteles auch an dieser Stelle (s. a. 24, 1459b22–31). Eine Grundbedingung der ästhetischen Qualität jedes Kunstwerks ist im Sinn des siebten Kapitels „Größe und Ordnung“ (1451a1). Dabei bildet die Größe eine Vorbedingung, da man etwas in der ihm gemäßen Geordnetheit

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nicht erfassen kann, wenn es übergroß oder überklein ist. Die ideale Größe ist, wenn die Teile in ihrem Verhältnis zueinander und zum Ganzen so weit ausgeführt sind, daß sie für sich deutlich unterschieden werden können und zugleich ihr Verhältnis zum Ganzen jederzeit im Blick bleiben kann. Diese klare Überschaubarkeit der Teile und des Ganzen biete ein (richtig gebauter) tragischer mythos sowohl bei der Lektüre als auch während der Aufführung. In Bezug auf den möglichen idealen Umfang eines künstlerischen Ganzen sind die Bedingungen bei der Tragödie also ideal. Aus der Möglichkeit, eine Tragödie so zu komponieren, daß man die Teile für sich und in ihrem Handlungszusammenhang immer deutlich vor Augen hat („vor Augen haben“ im aristotelischen Sinn, s. Rhet. III 11, 1411b22 ff.), ergibt sich, daß in der Tragödie ein vollendeter mythos den Umfang hat, der nötig ist, damit man alles und nur das, was zum Begreifen der Handlung als solcher gehört, vorgestellt bekommt. Sie hat also eine konzentrierte Darstellung ohne handlungsfremde Zusätze. Dieses Konzentriertere (to hathroôteron) ist, so meint Aristoteles, mit mehr ästhetischem Genuß verbunden, als wenn man – wie bei einem Wein, in den man zuviel Wasser mischt – eine in der Länge der Erzählung mit Ergänzungen, Erklärungen, Zusätzen „vermischte“ Handlung vorgesetzt bekommt. Daß die Lust an den tragischen Gefühlen stärker empfunden wird, wenn man die Handlung des Ödipus gewissermaßen Schlag auf Schlag miterlebt und das, was Ödipus ins Unglück stürzt, ohne Zwischenschritte, die Ausblicke auf anderes geben, verfolgt, werde bewußt, wenn man sich hypothetisch die Ödipus-Handlung auf die Länge der Ilias ausgedehnt vorstelle. Dann müßte notwendigerweise vieles dazukommen, das von Furcht und Mitleid um Ödipus ablenken würde. Die Grundfrage, die Aristoteles vom ersten Satz der Poetik an verfolgt, ist die Frage, wodurch eine inhaltlich wie formal einheitliche Durchgestaltung einer Dichtung möglich wird. Er findet die Antwort in der Komposition eines mythos, die zwei ineinandergreifende Bedingungen erfüllen muß: Die Handlung muß unmittelbarer, wahrscheinlicher oder notwendiger Ausdruck eines Charakters sein, und es darf nur eine Handlung sein, ohne Zumischung von vielem anderen, was einem bestimmten Charakter in anderen Umständen auch noch möglich wäre. Daß diese Bedingungen in einer Tragödie besser erfüllt werden können als im Epos, ist der wichtigste Grund, der Aristoteles dazu führt, einer guten Tragödie einen (geringfügig) höheren Rang einzuräumen als selbst dem besten Epos. Daß ein Epos diese gedrängte Einheitlichkeit nicht zustande bringen kann, macht Aristoteles durch die Überlegung wahrscheinlich, daß ein Epos, das sich auf eine knappe Handlungsdarstellung beschränkt, wörtlich:

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mäuseschwänzig, das heißt bei einer breit angelegten Berichtsform als zu spitz zulaufend, ohne Abrundung erscheinen müsse, während eine dieser Darstellungsweise angemessene Länge die Handlung wieder mit zu vielem vermischt und verwässert erscheinen lassen müsse. Er belegt dies gerade an Ilias und Odyssee, bei denen auch in seiner Interpretation kein Zweifel ist, daß sie eine bestmöglich durchgeführte einheitliche Handlung haben. Selbst sie aber bestehen aus mehreren Handlungen, die jeweils wieder einen ihnen angemessenen Umfang haben. Dem tragischen Scheitern des Patroklos etwa räumt Homer ein ganzes Buch (Ilias, Buch XVI) ein und lenkt in dieser Erzählzeit auch die ganze Aufmerksamkeit des Lesers auf Patroklos. Natürlich haben diese Einschübe ihren eigenen Reiz, den Aristoteles schätzt (24, 1459b22–31). Sie ordnen der einen Handlung andere Handlungen zu, erklären sie so genauer, machen ihre Bedeutung klarer, sorgen für Abwechslung usw. Aber selbst dann, wenn alle diese weiteren Handlungen funktionale Teile einer Handlung sind, wie in Ilias und Odyssee, unterbrechen sie das miterlebende Verfolgen der Handlungsschritte, die in genau dieser einen Handlung auf genau dieses, ihr gemäße Ziel hinführen. In dieser geringeren Konzentration auf Eines hat das Epos eine in ihrer Darstellungsweise gründende Schwäche, die die Tragödie nicht hat. (Während die Verfallsform der Tragödie in einer exzessiven mimicry liegt, kann diese konstitutive Schwäche des Epos die Tendenz zu einem bloß additiven Geschichtenerzählen fördern.) (1462b11–15) Abschließendes Urteil: In einem kurzen Resümee betont Aristoteles noch einmal, daß die Tragödie in allen angeführten Punkten einen Vorzug vor dem Epos hat, und ergänzt, daß diese Einzelvorzüge alle dazu beitragen, daß die Tragödie ihr Werk optimal erfüllt. An demjenigen ästhetischen Vergnügen, das zu diesem Werk gehört (d. h. aus der Empfindung von Mitleid und Furcht beim Verfolgen einer tragischen Handlung), müsse auch das Urteil über den Rang einer Dichtung ausgerichtet werden. Denn natürlich gibt es viele Formen der Lust, die Literatur bereiten kann: Unterhaltung, Abwechslung, Veranschaulichung, Gefälligkeit in Sprache und Melodie usw., all dies kann mit ästhetischem Vergnügen verbunden sein. Dem Miterleben einer ernstzunehmenden Handlung mit bedeutenden Folgen sind nach Aristoteles aber Mitleid und Furcht angemessen. Im Blick auf die Erregung dieser Gefühle habe die Tragödie die besten Möglichkeiten und verwirkliche so mehr als das Epos eine eigentlich poetische Zielsetzung. (1462b16–19) Schlußbemerkung: Der letzte Abschnitt des letzten Kapitels erinnert an die im ersten Abschnitt des ersten Kapitels formulierte Aufgabenstellung und beansprucht, das dort Geforderte erfüllt zu haben:

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Es ist geklärt, was Dichtung und vor allem, was Epos und Tragödie sind, welche Arten sie haben, was ihre Teile sind und wie sie sich unterscheiden, was die Bedingungen der Qualität von Dichtung sind, und – das fügt Aristoteles hinzu – welche Arten der Kritik und der Kritik der Kritik es gibt.

Literatur Auerbach, E. 1946: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern. Carroll, M. 1895: Aristotle’s Poetics, c. XXV in the Light of the Homeric Scholia, Diss. Baltimore. Fritz, K. v. 1976: Ein kleiner Beitrag zur Interpretation des 25. Kapitels von Aristoteles’ Poetik, Wiener Studien N. F. 10, 160–164. Gallavotti, C. 1968: Paralogismi di Ulisse nella Poetica di Aristotele, Parola del Passato 23, 241–261. Hogan, J. C. 1973: Aristotle’s Criticism of Homer in the Poetics, Classical Philology 68, 95–108. Huxley, G. L. 1979: Historical Criticism in Aristotle’s Homeric Questions, Proceedings of the Royal Irish Academy 79, 73–81. Köhnken, A. 1990: Terminologische Probleme in der ‚Poetik‘ des Aristoteles, Hermes 118, 129–149. Koster, S. 1970: Antike Epostheorien, Wiesbaden (Palingenesia 5). Schwinge, E.-R. 1990: Aristoteles und die Gattungsdifferenz von Epos und Drama, Poetica 22, 1–20. Siegmann, E. 1987: Homer. Vorlesungen über die Odyssee, bearbeitet v. J. Latacz, hrsg. v. J. Latacz, A. Schmitt u. E. Simon, Würzburg, 124–143.

12 Andreas Kablitz

Mimesis versus Repräsentation: Die Aristotelische Poetik in ihrer neuzeitlichen Rezeption

12.1 Einleitung Zu den Selbstverständlichkeiten der Wissenschaft von der Literatur gehört es seit mehreren Jahrzehnten, die im Laufe der Geschichte entstandenen Konzeptionen der Literatur am Leitfaden eines semiotischen Dreiecks zu sichten. Da gibt es zum einen jene Poetiken, die sich am Sender der Botschaft, also dem Autor orientieren und die Dichtung vor allem als ein Ausdrucksmedium begreifen. Als Prototyp einer solchen Konzeption läßt sich die romantische Ästhetik begreifen. Dem stehen Konzepte des Literarischen gegenüber, die vor allem den Rezipienten im Blick haben. Dabei läßt sich ein Bogen von der auf die Wirkung der Literatur ausgerichteten Ars poetica des Horaz bis zur Konstanzer Rezeptionsästhetik schlagen, die dem Leser oder Zuschauer keine geringere Aufgabe als diejenige der Bedeutungskonstitution des literarischen Textes zuweist. Und schließlich gibt es die verschiedenen Varianten einer Darstellungsästhetik, deren Urbild man eben in der Aristotelischen Poetik gefunden hat; und dieser Tradition schlägt man, allen Unterschieden zum Trotz, etwa die marxistische Widerspiegelungstheorie Georg Lukács’ ebenso wie die strukturalistische Poetik Jurij M. Lotmans zu. Doch was sich aus Sicht einer modernen, literatursemiotischen Position wie selbstverständlich ausnimmt, steht meines Erachtens für den Text der Poetik des Aristoteles durchaus in Frage. Ja, es scheint mir alles andere als gewiß zu sein, daß sich die Poetik und ihr zentraler Begriff der Mimesis einem semiotischen Konzept von Literatur überhaupt subsumieren lassen, womit wir beim zentralen Punkt dieses Beitrags angekommen wären. Es wird mir wesentlich auf eine Unterscheidung zwischen einer als Nachahmung und einer als Darstellung verstandenen Mimesis ankommen.

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Die im folgenden unternommene Konfrontation der Aristotelischen Poetik mit ihrer neuzeitlichen Rezeption seit dem 16. Jahrhundert begreift sich deshalb als die Rekonstruktion eines, wenn auch durchaus produktiven, Mißverständnisses, das unsere Wahrnehmung dieses Textes seit ihrer Wiederentdeckung in der Renaissance bis auf den heutigen Tag bestimmt. Wie ich zu zeigen versuchen möchte, besteht der betreffende Irrtum (denn um einen solchen handelt es sich ungeachtet seiner Produktivität) in einer Umdeutung des Begriffs der Mimesis in ein zeichenhaftes Phänomen. Folglich wird sich unsere Darstellung auch auf diesen Gesichtspunkt, den Umgang mit dem für das Aristotelische Verständnis des Poetischen zentralen Konzept der Mimesis konzentrieren. Die Reinterpretation dieses Begriffs sowie ihre Konsequenzen zu verfolgen, ist das Anliegen der folgenden Überlegungen. Zu diesem Zweck aber ist es erforderlich, zunächst einen Blick auf die Aristotelische Poetik selbst zu werfen, um die mangelnde Eignung semiotischer Begriffe zur Beschreibung der in diesem Text entwickelten Konzeption der Dichtung zu demonstrieren. Ich beschränke die Skizze der Rezeption der Poetik auf die Neuzeit, weil sich erst seit dem 16. Jahrhundert von einer Rezeption im eigentlichen Sinne sprechen läßt. Nicht daß der Text nicht schon zuvor bekannt gewesen wäre. Im Mittel­alter ist er spätestens seit der präzisen lateinischen Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke aus dem späten 13. Jahrhundert präsent; und kein Geringerer als Thomas von Aquin zitiert die Poetik in seiner Summa theologiae (vgl. etwa in I–II, q. 32, a. 8c die Analyse des Vergnügens an einer Darstellung). Doch erst seit der italienischen Renaissance wird Aristoteles’ Text poetologisch wirksam; erst von nun an gewinnt er eine beständig zunehmende Bedeutung für das Verständnis dessen, was die Natur der Dichtung ausmacht, bis er in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zur maßgeblichen poetologischen Autorität aufsteigt und diesen Rang für mehrere Jahrhunderte behalten wird. Wenn ich die Geschichte der neuzeitlichen Rezeption der Poetik als diejenige eines äußerst fruchtbaren Mißverständnisses skizzieren möchte, dann erweist sich diese Geschichte zugleich in mehrfacher Hinsicht als paradox. Dies gilt zunächst insofern, als Aristoteles’ Poetik als Dichtungstheorie erst Einfluß gewinnt, als seine anderweitigen Schriften an Autorität einbüßen. Denn im 16. Jahrhundert gilt Aristoteles kaum mehr, wie noch Dante sagen konnte, als lo Filosofo (vgl. etwa Dante Alighieri, Vita nova, XXV oder Convivio I,i,1). Seit Mitte des 15. Jahrhunderts erwächst ihm in Gestalt seines Lehrers Platon, als dessen Schriften wieder zunehmend im Original zugänglich werden, ein ernst zu nehmender Konkurrent. Aristoteles’ Œuvre fällt also jenem Prozeß anheim, den man als die für die Renaissance

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typische Pluralisierung der Autoritäten bezeichnet hat (Hempfer 1987). Erst unter diesen Voraussetzungen gewinnt die Poetik eine Geltung, die sie trotz des einst immensen Stellenwertes der Aristotelischen Philosophie bis dahin nicht im entferntesten besaß. Mit diesen Umständen ihrer Rezeption hängt auch das zweite Paradoxon ihrer neuzeitlichen Wiederentdeckung zusammen. Die Poetik wird seit dem 16. Jahrhundert zunächst vor allem in Gestalt eines humanistischen Kommentars angeeignet. Sie gewinnt deshalb mit dem Wortlaut ihres Textes an Bedeutung, sehr viel weniger spielt hingegen der Kontext der weiteren philosophischen Prämissen des Aristotelischen Denkens eine Rolle (die im Text der Poetik nicht ausdrücklich genannt werden, indessen das dort formulierte Konzept des Poetischen nicht unerheblich bestimmen). Es ist diese Herauslösung der Poetik aus ihren anderweitigen im Aristotelischen Denken angelegten Voraussetzungen ihres Verständnisses, welche schließlich zu ihrem Geltungsverlust beitragen wird, der sich am Ausgang des 18. Jahrhunderts abzeichnet. Als ein Symptom der Distanz, die wir – weitgehend unbemerkt – zu einem Aristotelischen Verständnis der Mimesis gewonnen haben, läßt sich ein terminologisches Ärgernis deuten, das uns Philologen schon in unserem akademischen Alltag beschäftigt. Die antike Poetologie hat uns zwei unterschiedliche For­men der Nachahmung hin­terlassen. Zum einen gibt es die Aristotelische Definition der Dichtung als einer mimêsis, gedeutet als die Bestimmung eines spezifischen Ver­hältnisses zwischen Dichtung und Wirklichkeit. Daneben gibt es die rhetorische Nacha­hmung, also die Befolgung und möglichst auch Überbietung des Modells vorbildlicher Rede und Texte. (Während die Aristotelische Nachahmung eine Beziehung zwischen Text und Welt bezeichnet, stellt die rhetorische Nachahmung eine Beziehung zwischen verschiedenen Texten her.) Begrifflich helfen wir uns zur Unterscheidung beider Formen der Nachahmung bisweilen mit einer Beschränkung des griechischen Terminus mimêsis auf das Aristotelische Konzept, während wir für die rhetorische Nachahmung die lateinische Bezeichnung imitatio reservieren. Augenscheinlich aber bereitet es uns Schwierigkeiten, daß zwei offensichtlich unterschiedliche Dinge denselben Namen tragen. Wo zwei Dinge terminologisch nicht recht zu unterscheiden sind, da ist die Versuchung groß, sie als letztlich identisch auszuweisen und ihre vermeintlichen Unterschiede als bloße Oberflächenphänomene zu entlarven. In der Tat hat man diesen Versuch unternommen. Ganz im Sinne jenes linguistic turn, an dessen Konsequenzen die Literaturwissenschaft bis auf den heutigen Tag – und nicht immer zu ihrer Bereicherung – arbei-

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tet, hat man die poetische Mimesis der Welt auf eine ihr stets vorgängige Intertextualität zurückgeführt, aus deren Warte alle Repräsentation der Wirklichkeit nur als bloße Illusion erscheinen kann (vgl. Warning 1983). Die mimetische Repräsentation von Welt und die Nachahmung anderer Texte unterscheiden sich nicht zuletzt dadurch, daß man erstere als eine semiotische Beziehung deuten kann, diese Möglichkeit indessen im zweiten Fall ausscheidet. Dantes Göttliche Komödie ist selbstredend keine Repräsentation der Vergilschen Aeneis, auch wenn sie dieses kanonische Epos in vielfältiger Weise, ja nachgerade ostentativ nachahmt. Indessen, so wird zu demonstrieren sein, lassen sich die Mimesis im Aristotelischen Sinne und die Nachahmung von Autoren in der Tat auf dasselbe Prinzip zurückführen, wenn auch nicht im Sinne einer Determination der Repräsentation von Wirklichkeit durch die Modalitäten ihrer sprachlichen Verfahren. Denn die kategoriale Unterscheidung zwischen einer, um es in der Sprache der französischen Klassik zu formulieren, imitation de la nature (Nachahmung der Natur) und einer imitation des anciens (Nachahmung der Alten) ist ein Ergebnis jener neuzeitlichen Reinterpretation des Aristotelischen Mimesis-Begriffs zu einem Zeichenkonzept, welche die entsprechenden Schwierigkeiten erst schafft.

12.2 Aristoteles’ Mimesis-Verständnis Wie anders als im Sinne einer semiotischen Relation schon bei Aristoteles’ Lehrer Platon die Mimesis konzipiert ist, geht aus einer höchst aufschlußreichen Bemerkung im zehnten Buch der Politeia hervor, in dem alle künstlerische Nachahmung bekanntlich einer ziemlich harschen Kritik anheimfällt. Nicht zuletzt diese Kritik bildet ja dann so etwas wie die hidden agenda von Aristoteles’ Poetik, gegen die der Stagirite unausdrücklich seine eigene Aufwertung der mimêsis richtet. Bekannt sind auch die Gründe für die ontologische Skepsis Platons gegenüber der Kunst, der er einen doppelten Seinsverlust vorwirft. Während schon ein Werkmeister wie ein Tischler Abbilder von Urbildern herstelle, bringen die Künstler nichts als Abbilder von Abbildern zustande; ihren Produkten eignet also ein doppelter Seinsverlust; und dies ist auch dort nicht anders, wo die Kunst unmittelbar Gegenstände der Natur nachahmt, die nicht als Produkte menschlichen Handelns hergestellt worden sind. An einer berühmt gewordenen Stelle im zehnten Buch der Politeia (an der Platons Kritik der Kunst in besonders signifikanter Weise zum Vorschein kommt) greift Platon auf den Spiegel zurück, um an ihm die Minderwertigkeit jeg­licher Kunst vor Augen zu

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führen. Just dieser Spiegel sollte ja dann eine der Leitmetaphern frühneuzeitlicher Ästhetik werden, um damit freilich insgeheim auch schon die Entfernung von einem Aristotelischen Konzept der Mimesis zu erkennen zu geben. Doch seine poetologische Karriere beginnt als ein Mittel zum Nachweis der Substanzlosigkeit aller Kunst: „Am schnellsten aber wirst du wohl, wenn du nur einen Spiegel nehmen und den überall herumtragen willst, bald die Sonne machen und was am Himmel ist, bald die Erde, bald auch dich selbst und die übrigen lebendigen Wesen und Geräte und Gewächse und alles, wovon nur so eben die Rede war“ (Rep. X 596 d–e). Der Spiegel erscheint hier als die Vollendung jener Täuschung, die nach Platon schon jeder Maler in Gang setzt. (Dieser Spiegel aber macht nur plastischer, im wahrsten Sinne des Wortes anschaulich, was auch für die Malerei gilt.) Was aber begründet die Minderwertigkeit aller Spiegelbilder für Platon eigentlich? Es liegt nahe (ja es erscheint aus unserer Sicht selbstverständlich), ihren Abbildcharakter dafür verantwortlich zu machen. Indessen sollten wir nicht übersehen, daß der Spiegel bei Platon an dieser Stelle nicht abbildet, sondern bildet, und eben dies macht ihn in Platons Augen verdächtig. Denn, rufen wir uns seinen Wortlaut in Erinnerung, so hieß es, daß der Spiegel etwas macht, das heißt etwas produziert. Hier steht das griechische Verbum poiein und damit genau dasjenige Wort, das auch der Überschrift der Aristotelischen Poetik zugrundeliegt. Doch kommen wir fürs erste zu Platons Spiegel zurück. Er bringt die Sonne und die Erde und die lebenden Wesen und Geräte etc. hervor. Zur Vortäuschung von anderem wird der Spiegel also gerade, weil er nicht abbildet, sondern nach-bildet, das heißt einen ähnlichen Gegenstand produziert (und nicht ein bloßes Bild). Im Unterschied zwischen diesen beiden Präpositionen, so scheint mir, sind im Grunde die Platonischen Vorbehalte gegenüber aller Kunst angelegt. Wären die Spiegelbilder nämlich bloße Abbilder, so wären sie vermutlich weniger gefährlich. Denn sie würden sich als bloße Substitute von etwas, das sie selbst erkennbar nicht sind und auf das sie eben deshalb hindeuten, präsentieren. Nachbilder aber versuchen eben diesen Unterschied zum Verschwinden zu bringen. Sie versuchen sich an die Stelle dessen zu setzen, was sie nicht sind und was sie zu sein doch vorgeben. Ihre irritierende Ähnlichkeit, und dies scheint mir den entscheidenden Unterschied zu begründen, ist darum gerade nicht zeichenhaft. Es ist der Unterschied zwischen ähnlichen Nachbildungen und Repräsentationen, der hier zur Debatte steht. Vielleicht wird dieser Unterschied zwischen Ähnlichkeit und Repräsentation nirgends deutlicher als anhand von Fälschungen. Je ähnlicher sie sind, je mehr lassen sie vergessen, was sie nur nachbilden oder nachzubilden vorgeben. (Je vollkommener

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die Ähnlichkeit, so gelungener die Täuschung.) Hier ist für Strukturen der Repräsentation kein Platz. Kunstwerke aber sind für Platon letztlich allesamt Fälschungen. Auch wenn Aristoteles gerade um die Rehabilitierung der bei Platon im Namen der Mimesis betriebenen Verwerfung der Kunst bemüht ist, hält er an einigen Prämissen Platons gleichwohl fest. Auch für ihn, so möchte ich demonstrieren, bilden Kunst im Allgemeinen und Dichtung im Besonderen keine Figuren der Repräsentation aus. De­finiert hat Aristoteles die Dichtung bekanntlich als Nachahmung von Handelnden (2, 1448a1). Aus der Rückschau der klassizistischen Definition der Dichtung als einer Nachahmung der Natur, einer imitatio naturae, betrachtet, nimmt sich die Beschränkung auf eine Nachahmung der Handelnden nur wie eine zu vernachlässigende, also letztlich überflüssige Begrenzung des Gegenstandsbereichs aller künst­lerischen Mimesis aus. Doch diese Sicht der Dinge nimmt (genau besehen) Aristoteles’ Aufwertung der Nachahmung letztlich ihre Grundlage, wie nun im Einzelnen zu begründen ist. Dies wird schon ersichtlich, wenn man sich vor Augen führt, wie ihm diese Aufwertung gelingt. Wesentlich dafür ist, daß Aristoteles nicht mehr wie Platon die Nachbildung einzelner Gegenstände im Blick hat, sondern sein Augenmerk auf den mythos richtet. Dieser mythos aber wird als eine Verknüpfung von einzelnen Elementen verstanden, näherhin von Handlungselementen. Aristoteles hat also nicht mehr die Beziehung zwischen dem einzelnen Gegenstand und seiner Kopie im Blick. Was nämlich den Rang der Dichtung in der Poetik ausmacht, ist die Tatsache, daß die von den Dichtern nachgeahmte Handlung, wie Aristoteles sagt, philosophischer ist als die von den Historikern erzählte, weil sie etwas Allgemeines (und nichts Partikuläres, und deshalb Minderwertiges) zum Inhalt hat (9, 1491b5 f.). Dieses für die Dichtung in Aristoteles’ Auffassung charakteristische Allgemeine aber ergibt sich aus der Logik einer Verknüpfung von Teilen zu einem Ganzen und eben nicht mehr aus der Beziehung zwischen einem einzelnen Gegenstand zu seiner Nachbildung. Die Mimesis wird also an eine logische Ordnung der poetischen Handlung gebunden. Einer Metaphorik des Spiegels, wie sie die klassizistische Poetik zur Veranschaulichung poetischer Nachahmung so schätzen sollte (Abrams 1953), ist damit letztlich jede Grundlage genommen. In der Verschiebung des Interesses von dem einzelnen Gegenstand auf die Logik einer Kombination, in der Vorordnung der Frage nach der Schlüssigkeit vor die Frage nach der Nachbildung von Gegenständen oder Personen aber gewinnt Aristoteles für die Dichtung eine Dimension, die ihr eine philosophische Qualität (philosophôteron) erschließt, welche eine

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bloße Repräsentation von Wirklichkeit ausschließen würde. Denn dann wäre Dichtung eben auf die Rolle der Geschichtsschreibung festgelegt. Es ist also der Unterschied gegenüber einem semiotischen Konzept, welcher die generischen Prinzipien der Aristotelischen Dichtungskonzeption allererst ermöglicht. Denn poetische Handlungen repräsentieren nichts, das außerhalb von ihnen selbst liegt, sie realisieren viel­mehr in sich selbst ein Prinzip, das andernorts, und das heißt in dem, was den Gegenstand ihrer Nachahmung bildet, vermißt wird. Zumal dieses Postulat der Aristotelischen Poetik, demzufolge in der Dichtung ein Einzelnes zugleich ein Allgemeines ist, hat der frühneuzeitlichen Rezeption des Textes der Poetik und dessen Verständnis die größten Schwierigkeiten bereitet. Schon der erste, 1548 erschienene AristotelesKommentar des Literaturtheoretikers und Professors für Philosophie Francesco Robortello gibt dies zu erkennen, weiß er doch die Vermittlung zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen nicht anders zu bewerkstelligen als vermittels einer charakterologischen statt einer handlungslogischen Deutung jenes Universellen, das die Dichtung zur Darstellung bringen soll: Weil ein Dichter ebenso die Handlung einer einzelnen Person darstellt, wie er dabei etwas Allgemeines im Sinn hat (poëtam versari circa vniversale), führt er etwa Odysseus nicht als individuellen Charakter ein, sondern wie den Typus eines klug Handelnden; er stellt ihn vor, wie die Philosophen ihn beschreiben würden (vgl. Robortello 1548/1968, 91). Daß die Handlung eines Einzelnen zugleich etwas Allgemeines bedeutet, gilt für Robortello also dann, wenn ein Charakter als solcher dargestellt wird. Damit ist eine für die Rezeption der Poetik äußerst folgenreiche Veränderung verbunden. Denn im Grunde rücken der Charakter und dessen Konsistenz zum entscheidenden Kriterium der Konstitution poetischer Handlungen auf. Doch dies kehrt genau die Hierarchie der verschiedenen Teile der Dichtung um, wie sie Aristoteles selbst im sechsten Kapitel der Poetik dargelegt hat. Für ihn bedeutet die Handlung, der mythos, den er näher als die die Zusammensetzung der einzelnen Teilhandlungen (systasis tôn pragmatôn) definiert, die oberste Ebene der Strukturierung einer Dichtung. Erst danach folgt der Charakter (ta êthê) als die Bestimmung der näheren Beschaffenheit eines Charakters, welche insofern Bedingungen für die Schlüssigkeit seines Handelns definiert. Eben diese Schlüssigkeit als solche, das heißt die logische Verfaßtheit des Handlungsverlaufs, bildet die differentia specifica der Dichtung aus. Genau diese Definition der Eigenheiten der poiêsis aber ist preisgegeben, wo die exemplarische Darstellung eines Charakters den Fluchtpunkt der Dichtung bildet, weil nun nicht mehr die Schlüssigkeit des Handlungsgerüstes, sondern eine Charaktertypologie

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den Leitfaden für die poiêsis bildet. Deutlicher noch als Robortello hat diese Konsequenz Viperano in seinen De Poetica libri Tres formuliert, wenn er feststellt, daß der Geschichtsschreiber sich um einzelne Dinge kümmert, der Dichter aber um die rerum naturam, das Wesen der Dinge (vgl. Viperano 1579, 29). Dichtung gerät gewissermaßen zu einer Ontologie des Charakters. Doch eben dies steht im Widerspruch zum Konzept einer poiêsis, die in der logischen Struktur ihrer Handlung das – im doppelten Sinne des Wortes – sie auszeichnende Merkmal besitzt. Gleichwohl sollte diese Umdeutung der Poetik für ihre neuzeitliche Rezeption große Bedeutung gewinnen. Auch die hier sichtbar werdenden Probleme bei der von Aristoteles als konstitutiv für die Dichtung beschriebene Vermittlung zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen scheinen mir an dem oben erwähnten Tatbestand zu liegen, daß im Text der Poetik selbst einige im Denken des Stagiriten angelegte Voraussetzungen einer Aufwertung der Mimesis ungenannt bleiben. Nun steht außer Frage, daß Aristoteles in seiner Metaphysik die Geltung ontologischer Kategorien weitgehend auf den Bereich der theôria beschränkt hat und für die menschliche Praxis, der die Dichtung unweigerlich zugehört, ausdrücklich nicht in Anspruch nimmt (vgl. Höffe 2007). Gleichwohl fallen seine Aussagen in dieser Hinsicht nicht ganz eindeutig aus. Während Aristoteles etwa am Ende des siebten Buchs der Metaphysik ausdrücklich nur den Naturdingen ein Wesen (ousia) zuspricht, stellt sich dies an anderen Stellen anders dar. So heißt es etwa in demselben siebenten Buch von der Baukunst, daß sie die Form (eidos) des Hauses sei, dem darum auch ein Wesen, ein ti ên einai, wie Aristoteles das Wesen auch nennt, zukommt (1032b14). Doch auch wenn diese Unentschiedenheit in Aristoteles’ Bemerkungen zur Substanz der Dinge kaum ausreichen dürfte, um auf dieser Grundlage den Produkten der Kunst eine ontologische Qualität zuzusprechen, bleibt eine Analogie zu beobachten zwischen dem, was den Dingen der Aristotelischen Metaphysik zufolge Wesenhaftigkeit verleiht, und den Eigenheiten der Dichtung. Denn so wie ein eidos, ein rationales Prinzip – Aristoteles spricht auch von einer archê – in den stofflichen Dingen steckt, das ihre Substanz ausmacht, so eignet auch poetischen Handlungen, die nach Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit ablaufen, ein logisches Ordnungsprinzip, das die einzelnen Teile zu einem schlüssigen Ganzen fügt und das diese Handlungsstruktur gegenüber den – kontingenten – Handlungen auszeichnet, von denen die Historiker zu berichten haben. Denn sie haben es nur mit dem Einzelnen zu tun. Einzelnes kommt ja auch in Tragödien und Komödien vor, weshalb ihre Protagonisten Eigenna-

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men tragen. Doch in dieser Symbiose des Einzelnen als des Allgemeinen, die das Spezifische der Dichtung ausmacht, steckt die skizzierte Analogie zur ontologischen Bestimmtheit der Naturdinge. Im Komparativ „philosophischer“, philosophôteron, der die Dichtung kennzeichnet, bescheinigt ihr Aristoteles deshalb eine rationale Qualität, die sei den Handlungsabläufen des Alltags beziehungsweise der Geschichtsschreibung überlegen macht; und folgerichtig attestiert ihr das zweite der beiden Adjektive, das die poiêsis näher bestimmt, spoudaioteron (9, 1451b6) „ernsthafter“ oder „bedeutender“ eine Perfektionierung, eine Optimierungsleistung. Hieraus erklärt sich jene Verknüpfung des Einzelnen und des Allgemeinen, die den Kommentatoren seit der Renaissance soviel Kopfzerbrechen bereitet hat. So scheint es, als böte das ontologische Denken des Aristoteles auch eine Voraussetzung für seine Aufwertung von Mimesis und Dichtung. Die äußerlich harmlos wirkende, in der Frühneuzeit unternommene Umdeutung der Nachahmung von Handlungsverläufen in die Nachahmung der Natur, und das heißt der ganzen Natur, bringt das Aristotelische Konzept also in letzter Konsequenz um seine Grundlage, indem jede Beschränkung der Objekte der Mimesis aufgegeben wird. Diese Preisgabe jeglicher Spezifikation bedeutet vor allem den Verzicht auf eine logische Strukturierung der Mimesis. Denn mit der Universalisierung ihrer Gegenstände zur imitatio naturae im Verbund mit der Umdeutung von Nachahmung in Repräsentation rückt wiederum die Abbildungsrelation als solche in den Blick, während die Aristotelische Bindung der Mimesis an die Logik von Ereignisketten gerade Nachahmung als Binnenstrukturierung und damit als Ordnungsgewinn definiert. Um der Herstellung dieser logischen Ordnung willen ist die Bindung der Mimesis an den mythos, die systasis tôn pragmatôn, alles andere als eine entbehrliche Einschränkung, sie ist vielmehr für sie konstitutiv. Der Verzicht auf diese Eingrenzung erweist sich insoweit selbst schon als ein Symptom der Veränderung, im Grunde der Verfälschung der Aristotelischen Konzeption der poiêsis. Um zum Ausgangspunkt unseres Blicks auf die antike NachahmungsÄsthetik, dem Verhältnis von Aristotelischer und rhetorischer imitatio, zurückzukehren: Die Aristotelische Nachahmung von Handelnden meint ebenso die Produktion von ähnlichen Gegenständen, wie dies für Texte gilt, die anderen, vorbildlichen Texten nacheifern und sich deshalb als deren Nachahmungen präsentieren. Hier wie dort waltet das gleiche Prinzip: Das Ziel besteht jeweils in der Herstellung von ähnlichen Gegenständen, von Texten, die anderen Texten ähneln und von Handlungen, die anderen Handlungen ähneln. Was diese beiden Praktiken miteinander verbindet, aber ist die Leistung einer Optimierung. Hier wie dort, in der Mimesis der

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Handelnden wie in der imitatio von Modellautoren, gehören eine Perfektionierungsidee und das Prinzip der Nachahmung zusammen. Genauso wie die Aristotelische Nachahmung auf eine philosophische Überbietung lebensweltlicher Ereignisabfolgen zielt, genauso setzt die Nachahmung vorbildhafter Rede und Texte auf deren Überbietung, wie die Begriffe aemulatio und superatio zu erkennen geben. Beides hängt schließlich miteinander zusammen. Denn wenn jede poetische Mimesis von Handlungen mit der Steigerung logischer Ordnung auf eine Perfektionierung setzt, rückt jeder neue Text unvermeidlich in die Beziehung zu vorgängigen Versuchen einer solchen Optimierung, mit denen er vergleichbar wird. Erst die Identifikation Aristotelischer Mimesis mit einer Struktur der Repräsentation schafft jenen Unterschied, welcher es uns unmöglich macht, beide Formen der Nachahmung, die der Wirklichkeit und die der Autoren, als strukturell identisch zu denken. Die vielleicht singuläre Leistung des Aristotelischen Mimesis-Konzepts aber besteht in einer Verknüpfung von Verfahrensweise und Funktionsbestimmung der Dichtung. Das technische Verfahren der Mimesis, das als solches bereits eine Differenz gegenüber dem Nachgeahmten impliziert, eröffnet in diesem Unterschied zugleich den Spielraum für eine Optimierung, die damit auch schon die Begründung für die Existenz einer Praxis der Nachahmung bietet und so deren Funktion bestimmt. Es ist dieser unmittelbare Zusammenhang zwischen dem Verfahren der Mimesis und ihrer Zweckbestimmung als einer Perfektionierung, den die neuzeitliche Rezeption der Poetik auflösen wird.

12.3 Die neuzeitliche Auflösung des Aristotelischen Mimesis-Begriffes Setzen wir unseren Blick auf das 16. Jahrhundert in Italien fort, das mit seiner Aneignung der Aristotelischen Poetik und deren Beförderung zur maßgeblichen poetologischen Autorität eben nicht nur der Poetologie der Neuzeit den Weg weisen, sondern zugleich die Verwandlung der Mimesis in ein zeichenhaftes Konzept betreiben wird. Der Prozeß dieser Rezeption selbst ist verschiedentlich dargestellt worden (vgl. besonders Weinberg 1961). Ich kann an dieser Stelle deshalb darauf verzichten, seine verschiedenen Stationen noch einmal nachzuzeichnen. Interessant und noch nicht hinreichend untersucht scheint mir demgegenüber die Statusänderung des Textes der Poetik zu sein, die sich im Laufe dieses Prozesses vollzieht. Die Rezeption der Poetik in der Renaissance gründet anfangs zweifelsohne auf einem für den Renaissancehumanismus typischen Interesse: der Aneignung

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der Schrift eines kanonischen Autors mittels eines Kommentars. Bemerkenswert aber ist, daß sich der Text zumal in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einer neuen Systematik wandelt. Das Dichtungskonzept der Poetik erscheint nun als eine weitgehend verbindliche Ordnung des Poetischen, deren Geltung nicht mehr zuvörderst an die Autorität eines Textes gebunden ist, sondern auf der Schlüssigkeit der aus diesem Text entwickelten Systematik beruht, die als solche ein regulatives Potential gewinnt. Signifikant scheint mir in dieser Hinsicht der am Ende des 16. Jahrhunderts ausbrechende Streit über die Legitimität von Giovan Battista Guarinis Schäferspiel Il Pastor Fido (Der treue Hirte) zu sein. Die Kontroverse, die das Stück auslöst, dreht sich vor allem um die Frage der Zulässigkeit einer Gattung der Tragikomödie, welche der Wortlaut der Poetik nicht kennt. Was hier zur Debatte steht, ist folglich die Legitimität der Ablösung einer aus den Versatzstücken der Aristotelischen Poetik gebauten systematischen Poetologie von ihrem Wortlaut; und wie die Zukunft weisen wird, hat sich diese Position durchgesetzt. Ihr Erfolg geht etwa aus der im 17. Jahrhundert in Frankreich formulierten doctrine classique, dem Regelkanon der klassischen Literatur, hervor, für den die Lehre von den drei Einheiten, die ein jeder Dichter zu wahren habe, eine kapitale Rolle spielt (vgl. Bray 1961, 240–288). Lassen sich die Einheit der Handlung wie diejenige der Zeit noch unmittelbar aus der Poetik des Aristoteles ableiten, gilt dies für die gleichermaßen verlangte Einheit des Ortes nicht; allenfalls bietet die Anwesenheit des Chores ein Argument für dieses Postulat. Was sich in dieser Abweichung gegenüber der Poetik indessen manifestiert, ist ein Systematisierungswille, der den Wortlaut dieses Textes in ein schlüssiges System fortentwickeln möchte, dessen Geltung sich dann seiner eigenen rationalen Ordnung verdankt. Die aus humanistischen Beweggründen entdeckte und propagierte Poetik des Aristoteles löst sich solchermaßen im Prozeß ihrer Rezeption von den ursprünglichen Prinzipien ihrer In-Geltung-Setzung, um rationale Konsistenz des poetologischen Systems als Geltungskriterium an die Stelle von Autorität zu setzen. Auch die Rezeption der Poetik vollzieht insoweit einen Wandel der Wahrheitsbegründung mit, der für die frühe Neuzeit insgesamt kennzeichnend ist. Indessen sei hier nicht dieser historische Vorgang des näheren untersucht, sondern eben die Transformation des Konzepts Aristotelischer Mimesis in eine Poetik der Repräsentation samt ihren daraus folgenden Konsequenzen. Als prominentes Belegstück für eine solche Reinterpretation sei eine Definition poetischer Nachahmung zitiert, welche die auch terminologische Umbesetzung von einer Nachahmung zu einer Repräsenta-

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tion anzeigt. Diese Definition stammt noch einmal aus dem uns schon bekannten ersten großen Poetik-Kommentar, aus der Feder von Francesco Robortellos, näherhin aus seinen einleitenden In librum Aristotelis de arte poetica explicationes (Erläuterungen zu Aristoteles’ Buch über die Dichtkunst): „Was hat die Dichtung für einen anderen Zweck, als Darstellung, Beschreibung und Nachahmung aller menschlichen Handlungen, aller Bewegungen und aller belebten wie unbelebten Dinge zu sein?“ (Robortello 1548/1968, 2). Gewissermaßen paradigmatisch werden damit schon zu Beginn der Rezeption der Poetik im 16. Jahrhundert in diesen wenigen Worten die entscheidenden Veränderungen ersichtlich, welche das Konzept Aristotelischer Mimesis in der Renaissance erfährt. Der Begriff „Nachahmung“, imitatio, wird einer Abfolge von Substantiven subsumiert, die allesamt zeichenhafte Darstellungen als Bedeutungsinhalt kennen: repraesentatio, descriptio, imitatio (Darstellung, Beschreibung, Nachahmung) lautet diese Serie. Es ist ausgesprochen signifikant, daß mit dieser terminologischen Umbesetzung des Nachahmungskonzepts zu einer Poetik der Repräsentation zugleich eine wesentliche Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Mimesis einhergeht; denn zum möglichen Objekt der Nachahmung wird hier mehr oder minder alles erklärt. Die Aristotelische Bindung poetischer Mimesis an die Nachahmung von Handlungen hängt, wie gesehen, mit dem systematischen Konzept seines Dichtungsmodells und dessen Kernanliegen einer Produktion von Schlüssigkeit zusammen; die umstandslose Erweiterung des Gegenstandsbereichs deutet deshalb selbst schon auf die letztendliche Preisgabe, zumindest aber Marginalisierung der systematischen Prinzipien Aristotelischer Nachahmungslehre zugunsten eines Nachahmungskonzepts, das als Figur der Repräsentation begriffen ist. Denn der in der Poetik angelegte unmittelbare Zusammenhang zwischen der Eigenschaft des Gegenstands der Nachahmung und einer Logik der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit zerbricht mit der Universalisierung der Gegenstände der Mimesis. Hier zeichnet sich bereits die später selbstverständliche Definition der Dichtung als einer Nachahmung der Natur ab, welche im Grunde das Paradigma der Repräsentation den Prinzipien poetischer Binnenstrukturierung, wie sie die Aristotelische Poetik akzentuiert, vorordnet. Eine der auffälligsten Konsequenzen der semiotischen Umdeutung der Aristotelischen Mimesis-Lehre bietet eine nicht enden wollende Diskussion um den fiktionalen Status der Dichtung im 16. Jahrhundert. In kategorialer Hinsicht bedeutet dies, daß das Wahrscheinliche nicht nur, ja nicht mehr vorrangig in Relation zur Notwendigkeit – wie in der Poetik selbst – betrachtet wird, sondern in Bezug zur Wahrheit gerückt wird. Auch dies

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ist eine unmittelbare Konsequenz eines Verständnisses von Dichtung als einer repräsentierenden Rede; denn eben unter dieser Voraussetzung wird das Wahrscheinliche der Rede als ein vom Wahren verschiedenes, auf seinen fiktiven Gehalt hin befragbar. Bei Aristoteles selbst blieb dieser Gesichtspunkt letztlich belanglos. Die Differenz der Dichtung gegenüber der Geschichtsschreibung war ge­rade nicht als die Unterscheidung von wahrer und fiktionaler Rede konzipiert, sondern wurde aus einer Logik der Abfolge heraus bestimmt. Für die Schlüssigkeit der Handlung bleibt der Wahrheitswert poetische Rede nachrangig. Denn Aristoteles’ Konzept der Dichtung konstituiert sich nicht im Hinblick auf diskursive Wahrheit, sondern in Relation zu logischer Ordnung. Entgegen manchen modernen Deutungen dieses Textes sei hier denn auch festgehalten, daß die Aristotelische Poetik keine Theorie der Fiktion bildet oder auch nur anbietet. Das Wahrscheinliche der Poetik als eine Kategorie der Fiktion zu deuten, führt an diesem Text vorbei. Gerade aufgrund ihrer abweichenden Prämissen in der Deutung poetischer Nachahmung aber wird die Fiktion zu einem intrikaten Problem rinascimentaler Poetologie. Dies sei etwa anhand einer sinnfälligen Aussage eines der orthodoxesten Aristoteliker im 16. Jahrhundert, anhand einer zutiefst ambivalenten Argumentation Torquato Tassos demonstriert, der unverkennbar die Schwierigkeit anzusehen ist, das Verhältnis von Fiktion und Wahrheit in der angemessenen Weise zu bestimmen. In seinen Discorsi del poema eroico (Abhandlung über das Heldenepos) heißt es: „Aber der Dichter soll sich auf eine wahre Handlung stützen, und er behandelt sie als eine wahrscheinliche. Deshalb ist seine Domäne das Wahrscheinliche, das wahr oder unwahr sein kann. Es sollte aber besser wahr sein, denn es ist in keinster Weise vernünftig, daß das Wahr­scheinliche unwahr ist, wovon es sich erheblich unterscheidet“ (Tasso 1964, 86). Für einen Augenblick scheint gewissermaßen Aristoteles’ Agnostizismus gegenüber dem Wahrheitswert poetischer Rede auch hier übernommen zu sein: Das Wahrscheinliche kann eine wahre wie eine unwahre Rede zum Inhalt haben. Doch im nächsten Augenblick wird diese Konzession der Fiktion schon wieder zurückgenommen, wird das Wahrscheinliche als eine handlungslogische Kategorie sogleich rückgebunden an das Prinzip diskursiver Wahrheit. Gleichermaßen aber läßt sich im 16. Jahrhundert auch die umgekehrte Konsequenz finden, die aus einer solchen Umdeutung der Kategorie der Wahrscheinlichkeit gezogen wird. Denn sie kann gleichermaßen zum Postulat der Fiktion als der differentia specifica poetischer Rede führen. In diesem Sinne heißt es etwa in Matteo San Martinis Osservationi grammaticali e poetiche della lingua italiana (Grammatische und poetische Bemer-

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kungen zur italienischen Sprache): „die Dichtung ist nichts anderes als eine Nachahmung von menschlichen Handlungen, die bei dem, der sie hört, Erstaunen auslöst … Ein wenig zögere ich zu sagen, daß die Dichtung eine schöne Fiktion ist, die in harmonischen Versen mit der Nachahmung von menschlichen Handlungen auf erfreuliche Weise denen nutzt, die sie hören“ (zitiert nach Weinberg 1961, I, 139).

12.4 Die Ablösung der Mimesis-Poetik seit dem 18. Jahrhundert Die hier zunächst für die italienische Renaissance verfolgte semiotische Umdeutung der Aristotelischen Mimesis blieb kein episodisches Mißverständnis des italienischen 16. Jahrhunderts, sie sollte vielmehr für die neuzeitliche Wahrnehmung der Poetik, die mehr und mehr zum maßgeblichen Referenztext aller Poetologie aufstieg, insgesamt konstitutiv bleiben. Paradigmatisch deutlich wird dies etwa anhand eines der gewichtigsten Texte zur Dichtungstheorie im französischen 18. Jahrhundert, bei der Definition der Nachahmung in Charles Batteux’ umfänglicher Abhandlung Les beaux arts réduits à un même principe (Die schönen Künste, auf ein gemeinsames Prinzip zurückgeführt) – und das in diesem Titel gemeinte Prinzip ist eben die imitation. Dazu heißt es schon zu Beginn seiner Schrift: „Nachahmen bedeutet, ein Modell zu kopieren. Dieser Begriff umfaßt zwei Komponenten. 1. das Original oder den Prototypen, der die Züge trägt, die man nachahmen möchte. 2. die Kopie, die sie darstellt. Die Natur, das heißt alles, was ist oder was wir uns unschwer vorstellen können, ist der Prototyp oder das Modell der Kunst“ (Batteux 1773/1969, 33 f.). Eine Definition der Nachahmung als einer zeichenhaften Repräsentation läßt sich kaum deutlicher formulieren. Gewiß bleibt es auch hier nicht bei einer bloßen Reproduktion des Modells der Natur, gilt es doch, die belle nature (die schöne Natur) nachzuahmen, wie Batteux in ausdrücklicher Bezugnahme auf Aristoteles verlangt. Das Wahrscheinliche, das die Poetik als das Kennzeichnende der Dichtung ausweist, begreift Batteux als eine Verpflichtung, die Natur in aller nur erdenklichen Vollkommenheit darzustellen. Nicht wie sie ist, sondern wie sie sein kann, soll sie nachgeahmt werden (Batteux 1773/1969, 44 f.). Vordergründig betrachtet, scheint hier das Postulat der Optimierung, das wir als einen wesentlichen Bestandteil Aristoteles’ Konzeption poetischer Mimesis bestimmt haben, fortgeschrieben zu sein. Bei näherem Zusehen zeigen sich indessen erhebliche Veränderungen gegenüber der Poetik. Sie ergeben sich letztlich daraus, daß das

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Erfordernis der Perfektionierung des Nachgeahmten aus dem Prinzip der Nachahmung selbst herausgenommen ist, und so gerät das Postulat einer imitation de la belle nature, einer Nachahmung der schönen Natur, zu einer Forderung, die nicht mehr der Mimesis als solcher zugehört. Dies zeigt sich schon daran, daß bereits Batteux die Vermittlung zwischen ihren beiden Erscheinungsformen, der imitation de la nature und der imitation des anciens, erkennbar schwerfällt. Für Horaz war sie in seiner Ars poetica noch ganz selbstverständlich: aut famam sequere, aut sibi convenientia finge (De arte poetica, V. 119): Man solle der Tradition folgen oder etwas Stimmiges selbst erfinden. Batteux weiß sich indes nicht mehr anders zu helfen, als mit dem folgenden Rat: Wer als Künstler überragendes Talent hat, soll das Buch der Natur selbst studieren. Wer über weniger Begabung verfügt und dennoch nach Künstlerruhm strebt, soll sich an die großen Vorbilder halten. Allenfalls als ein Notbehelf scheint sich hier noch die Legitimität einer Nachahmung von Musterautoren begründen zu lassen, auf die freilich nur diejenigen angewiesen sind, die sich aus eigener Kraft zur Nachahmung, und das heißt nun: zur Repräsentation der Natur, nicht in der Lage finden. Die Ablösung der Mimesis von ihren Aristotelischen Prämissen, die im übrigen auch dem rigiden Regelwerk der doctrine classique ihren irritierend formalen, einem octroi geschuldeten und gewissermaßen nominalistisch entleerten Charakter verleiht, steigert unvermeidlich für eine imitation de la belle nature den Anteil des ingenium dessen, der die Natur zu einer Vollkommenheit zu bringen hat, derer sie selbst nicht fähig ist: telle qu’on peut la concevoir par l’esprit. Hier ist das Verständnis dafür verloren, daß die Nachahmung in beiderlei Gestalt sich letztlich einem gleichen Prinzip zuordnen läßt: einer Mimesis, welche das Gegebene verbessern möchte und sich dabei auch auf eine der Natur selbst inhärente Entelechie berufen kann. Unter diesen Voraussetzungen machte es ja durchaus Sinn, eine Nachahmung der Natur zugleich mit der Nachahmung – und dies bedeutet auch in diesem Fall: Überbietung – der Werke derer zu verknüpfen, die damit selbst schon am Geschäft der Optimierung der Natur beteiligt waren. Übrigens zeigt im Grunde bereits das Konzept einer Repräsentation der belle nature in sich selbst die Widersprüche an, welche die Fortschreibung des Aristotelischen Prinzips mimetischer Perfektionierung der Natur unter den Bedingungen einer zeichenhaften Umdeutung der Nachahmung erzeugt: „Nicht das Wahre, das ist, sondern ein Wahres, das sein kann, das schöne Wahre, wird dargestellt, als existierte es mit aller Vollkommenheit, derer es fähig ist“ (Batteux 1773/1969, 47 f.). Insoweit die perfections der belle nature nicht der nachgeahmten Natur selbst angehören, gerät die imitation unvermeid-

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lich zu einer Fiktion, die im Prinzip der Repräsentation letztlich nicht aufgeht. Die Ablösung der Mimesis von ihren Aristotelischen Prämissen läßt also für die imitation des anciens nur die undankbare Aufgabe einer Notlösung für diejenigen übrig, die nicht aus eigenem Vermögen, mithin aufgrund ihres génie imstande sind, die Repräsentation einer belle nature zu leisten. Noch bleibt der Begriff des esclave, des Sklaven, bei Batteux für die Nachahmung von Modellautoren reserviert. Doch in der Bestimmung der imitation de la nature als Repräsentation einer belle nature, die ihre Vollkommenheit nur gewinnen kann, wenn das Genie des Künstlers hinzufügt, was die Natur selbst nicht hergibt, steckt letztlich bereits der Keim der Zersetzung für das Prinzip der Nach­ahmung selbst. In Hegels Vorlesungen zur Ästhetik läßt sich paradigmatisch verfolgen, wie der betreffende Schritt vollzogen wird und das Prinzip der Nachahmung als begründendes Prinzip der Kunst grundsätzlich seinen Kredit verliert. Bedenkt man die Grundzüge von Hegels Konzept der Kunst, so muß die Vorstellung von der Mimesis als ihrem tragenden Prinzip in der Tat wie ein Gegenentwurf erscheinen. Bekanntlich versteht Hegel die Kunst als eine Selbstentäußerung des Geistes an die ihm äußerliche, fremde materielle Welt. Freilich ermöglicht sie auch nur einen ersten Schritt zur Versöhnung beider, die erst im Medium des Begriffs zu ihrer Vollendung kommen wird, weshalb die Kunst denn auch dem Untergang geweiht ist. Hegels Konzeption der Selbstentäußerung des Subjekts an die materielle Welt nimmt sich insofern wie das Gegenbild aller Nachahmung aus, welche gerade umgekehrt den Künstler in den Dienst der Natur stellt. So kann es nicht ausbleiben, daß die Mimesispoetik, als deren Exponent auch ihm Aristoteles gilt, einer harschen Kritik anheimfällt. Zumal im Abschnitt III.3 der Einleitung zu Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, Zweck der Kunst überschrieben, findet sich eine ganze Kaskade von Kritikpunkten an der Nachahmungsästhetik, welche durchaus schlüs­sig die Konsequenzen jener Verwandlung und Verfremdung zum Tragen bringt, denen die Aristotelische Poetik im Prozess ihrer neuzeitlichen Rezeption anheimgefallen ist. Wenigstens einer dieser Kritikpunkte sei hier im Wortlaut angeführt: In dieser Bestimmung [sc. der Nachahmung] liegt zunächst nur der ganz formelle Zweck, daß, was sonst schon in der Außenwelt und wie es da ist, nun auch vom Menschen […] zum zweiten Male gemacht werde. Dies Wiederholen kann aber sogleich als eine überflüssige Bemühung angesehen werden (Hegel 1986, 65). Der Nachahmung überflüssige Wiederholung vorzuwerfen, ist eine schlüssige Folge der Ablösung der Mimesis aus ihren Aristotelischen Prämissen, welche die Nachahmung stets mit der Zweckbestimmung einer Perfek­

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tionierung verbanden. Fällt sie aus, bleibt in der Tat kaum mehr übrig als eine bloße Repetition, deren Zweck dahinsteht. Man sieht hier im Grunde auch, welch schwache Grundlage das bei Batteux propagierte Programm einer Optimierung der Natur mittels einer Repräsentation der belle nature für eine Funktionsbestimmung der Dichtung zu bieten vermag. Weil es dem semiotischen Konzept einer Nachahmung nicht selbst schon inhärent ist, vermag es auch deren Legitimität nicht zu begründen. Angesichts von Hegels radikaler Abkehr von aller mimetischen Grundlegung der Kunst, verwundert es zunächst umso mehr, wenn er gleichwohl an der Bindung der Kunst an die Natur festhält: Freilich ist es ein dem Kunstwerke wesentliches Moment, daß es die Naturgestaltung zur Grundlage habe, weil es in Form äußerer und somit auch zugleich natürlicher Erscheinung darstellt. […] und in dieser Beziehung hat sich denn hauptsächlich in neuerer Zeit das Prinzip von der Nachahmung der Natur und Natürlichkeit überhaupt wieder aufgetan, […]um auf der anderen Seite gegen das bloß willkürlich Gemachte und Konventionelle, eigentlich sowohl Kunst- als Naturlose, wozu sich die Kunst verirrt hatte, die gesetzmäßige, unmittelbare und für sich feste Konsequenz der Natur in Anspruch zu nehmen (Hegel 1986, 69 f.). Was ist es, das die verfemte Nachahmung der Kunst schließlich ganz unerwartet wieder attraktiv macht? Denn dies scheint auf den ersten Blick in diametralem Widerspruch zu Hegels anderweitiger Charakteristik einer Kunst zu stehen, in der sich die Freiheit des sich selbst entäußernden Geistes eben darin bekundet, daß sie sich von der bloßen Nachahmung der Natur löst. Käme in der Konsequenz dieser Position nicht gerade eine von aller Ähnlichkeit mit der Natur entbundene Kunst einer solchen Zweckbestimmung am nächsten? Konzedierte man ihr freilich eine solche radikale Emanzipation von der Natur, dann könnte jener Brückenschlag nicht mehr gelingen, welchen die Kunst als Versöhnung von Geist und Natur zu leisten hat – dann würde sie ihre Rolle in jenem erkennt­nistheoretischen Prozeß gerade verspielen, durch den der Geist zu sich selbst zu kommt und um dessentwillen er sich darum zunächst an das ihm Äußerliche und darum Fremde zu entäußern hat. So wird in dieser Zweckbestimmung der Kunst paradoxerweise noch einmal ihre etablierte Ordnung der Mimesis zum Maßstab für eine Kunst, um den Geist vor seinem Selbstverlust in bloßer Willkür zu bewahren. Es ist, als hätte die Abkehr von der Mimesis-Poetik der Kunst(theorie) der Moderne die unbeantwortete Frage hinterlassen, wie sie es denn mit der Natur halten wolle (oder solle).

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Auswahlbibliographie Der Asterisk * hebt wichtige Titel hervor.

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Zur Ethik Alberti, A. (Hrsg.) 1990: Studi sull’ etica di Aristotele, Neapel. Annas, J. 1993: The Morality of Happiness, Oxford. Aubenque, P. 1962: La prudence chez Aristote, Paris. Baracchi, C. 2008: Aristotle’s Ethics as First Philosophy, Cambridge. Bostock, D. 2000: Aristotle’s Ethics, Oxford. Dirlmeier, F. 91991: siehe 1.2. Höffe, O. (Hrsg.) 1995: Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, Berlin (Klassiker Auslegen, Band 2). – 32008: Praktische Philosophie – Das Modell des Aristoteles, Berlin. Joachim, H. H. 21962: Aristotle. The Nicomachean Ethics. Kenny, A. 1992: Aristotle on the Perfect Life, Oxford. Kraut, R. (Hrsg.) 2005: The Blackwell guide to Aristotle’s Nicomachean Ethics, Oxford. Wolf, U. 22007: Aristoteles’ Nikomachische Ethik, Darmstadt.

Zur Politik Accattino, P. 1986: L’anatomia della città nella Politica di Aristotele, Turin. Bien, G. 31985: Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles, Freiburg i. Br. Bodeüs, R. 1996: Aristote. La justice et la cité. Höffe, O. (Hrsg.) 2001: Aristoteles. Politik, Berlin (Klassiker Auslegen, Band 23). Keyt, D./Miller, E. D. (Hrsg.) 1991: A Companion to Aristotle’s Politics, Cambridge. Kraut, R. (Hrsg.) 2005: Aristotle’s Politics. Critical Essays, Lanham. Schütrumpf 1991–2005: siehe 1.2. Simpson, P. 1998: A Philosophical Commentary on the Politics of Aristotle, Chapel Hill. Stark, R. u. a. (Hrsg.) 1965: La „Politique“ d’Aristote, Vandœuvres.

Zur Rhetorik Cole, T. 1991: The Origins of Rhetoric in Ancient Greece, in: J. Cocoran (Hrsg.): Ancient Logic and Its Modern Interpretations, Dordrecht. Furley, D. J./Nehamas, A. (Hrsg.) 1994: Aristotle’s Rhetoric. Philosophical Essays. Proceedings of the l2th Symposium Aristotelicum, Princeton. Grimaldi, W. M. A. 1980/88: Aristotle. Rhetoric. A commentary, 2 Bände, New York. Hellwig, A. 1973: Untersuchungen zur Theorie der Rhetorik bei Platon und Aristoteles, Göttingen. Russo, A. 1962: La filosofia della retorica in Aristotele, Neapel. Spengel, L. 1851: Über die Rhetorik des Aristoteles, in: Abhandlungen der philo­sophischphilologischen Classe der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften 6/2, München, 457–513. Sprute, J. 1982: Die Entwicklung der aristotelischen Logik und Rhetorik, Göttingen.

Glossar Es sind lediglich für die Poetik relevante Wortbedeutungen angegeben. aischos, aischron aitia anagnôrisis, anagnôrismos anankaion, anankê archê aretê chairein desis dianoia dystychia eikos eleos epieikês epopoiia, epos ergon êthos eutychia geloion hamartêma, hamartia haplos harmonia hêdonê historia holon homalon homoion hôs epi to poly kallos kalon katharsis katholou kômôdia lexis logos lysis manthanein metaphora megethos melopoiia metabasis metabolê metron mimeisthai mimêsis mimêtês mythos opsis

Häßliches Ursache Wiedererkennung Notwendigkeit Anfang, Ursprung Tugend, Vortrefflichkeit Vergnügen Verwicklung, Verknüpfung Gedankenführung, Gedanke, Denken Unglück Wahrscheinlichkeit, das Wahrscheinliche Mitleid Rechtschaffener Epos Wirkung, Werk Charakter Glück Lächerliches (tragischer) Fehler einfach Melodie Lust Geschichtsschreibung, Forschung Ganzes, Ganzheit gleichmäßig Ähnliches das meistens Zutreffende das Schöne schön, das Schöne Reinigung Allgemeines Komödie Sprachform, Stil Sprache, Rede Lösung Lernen Metapher Größe Melodik Wende Umschlag (der Handlung) Vers, Versmaß Nachahmen Nachahmung Nachahmender Handlungsverlauf, Fabel, Geschichte, Plot Inszenierung

Glossar pathê, pathêmata pathos peplegmenos peripeteia phaulos philanthrôpia phobos physis poiêsis poiêtikê (technê) pragmata praxis prepon psogos rhythmos spoudaios synthesis, systasis technê teleion telos thaumazein tragôdia tragôdias hêdonê xenikon zôon

Affekte (schweres) Leid, Pathos verschlungen, verflochten Wendepunkt, Peripetie schlechter (Charakter) Menschlichkeit Furcht Natur Dichtung Dichtkunst Geschehnisse Handlung Angemessenes Spottvers, Invektive Rhythmus vortrefflicher (Charakter) Zusammensetzung, Zusammenfügung, Arrangement Kunst, Kunstfertigkeit abgeschlossen, vollendet Ziel Staunen Tragödie tragische Lust Verfremdung Lebewesen

241

Personenregister Antike Autoren und Werke Agathon 113 Aischylos 33, 60, 66, 156 Gefesselter Prometheus 175 Ixion 136 Niobe 136, 165 Orestie (Agamemnon, Choephoren, Eumeniden) 5, 7, 26, 135, 151 Perser 116 Philoktet 192 Ammonios In de Interpretatione 183 Anonymus Kleine Ilias 53, 198–199 Kyprien 53, 198 Tractatus Coislinianus 11, 69, 82–83 Archilochos von Paros 53, 63–66 Fragment 120 58, 63 Arion 62, 64–66 Aristophanes 5, 76, 80, 82, 84 Acharner 59 Frieden 81 Frösche 144 Thesmophoriazusen 74 Aristoteles Analytiken Erste 6, 11, 113 Zweite 111, 115 De Interpretatione 113, 180, 182–186 Didaskalien 7, 9, 55 Dionysische Siege 7, 9 Eudemische Ethik 147, 174 Homerische Streitfragen 9, 15 Metaphysik 22, 111, 118, 125, 222 Meteorologie 32 Nikomachische Ethik 3, 6, 8, 14, 20, 23, 25–26, 45, 71, 76–78, 80–81, 92, 108, 111–112, 114, 118, 137, 142, 147, 149, 163, 174, 189 Physik 32, 126 Politik 8, 24, 38, 69–70, 75, 77–78, 82, 91, 97–99, 103, 147, 163, 180 Rhetorik 8, 10–11, 14, 30, 33, 44–45, 69–70, 81, 92–94, 97, 112, 119, 125, 147, 153–154, 160, 162, 164,



166–167, 169–173, 177–178, 181, 185–193 Tierkunde 7, 180 Topik 184 Über die Dichter 12, 55, 60, 62, 69 Über die Seele 180 Über die Teile der Tiere 180

Diogenes Laërtios Leben und Meinungen berühmter Philosophen 11, 69, 181 Empedokles 30 Über die Natur 21 Euripides 22, 24, 33, 36, 76, 151, 156 Alexandros 133 Alkestis 137 Bakchen 132 Choephoren 133 Elektra 133 Hekabe 134 Helena 133 Herakles 138 Hippolytos 137 Iphigenie bei den Taurern 26, 126, 133– 136, 151, 169 Iphigenie in Aulis 151 Ixion 136 Kresphontes 133 Medea 5, 127–128, 132, 143, 151, 156, 208–209 Orestes 151, 209 Troerinnen 205 Herodot 7, 113 Historien 53 Hesiod 18, 21 Hesychios 69 Homer 5, 15–16, 18, 20–21, 24, 30, 33, 37, 50, 72–74, 78, 84, 109, 121, 151, 197, 202, 205 Ilias 5, 34, 42, 51–54, 65, 74, 78, 109, 137, 161, 182, 184–185, 196, 198, 200, 206, 212

Personenregister Odyssee 5, 42, 51–54, 78, 109–110, 135, 152, 171, 187, 198, 200–201, 208, 212 Margites (von Ar. Homer zugeschrieben) 50–54, 78–79 Horaz Ars poetica 23, 137, 160, 215, 229 Jamblichos De Mysteriis

243

Theaitetos 125 Plutarch 59 Proklos In Platonis Rep. 69, 82 Protagoras 181 Quintilian Institutio oratoria

181, 183, 186, 190

69, 82

Philodemos Über Dichtung 84–85 Pindar 5 Platon 9, 15–21, 33, 42, 45, 73, 80, 83, 85, 103, 132, 135, 216 Apologie 124 Ion 33, 73, 171 Nomoi 18, 173 Phaidon 124 Phaidros 132–133, 172 Philebos 83–84, 97 Politeia 16–18, 21, 33–34, 37, 50, 86, 124, 136, 172–173, 218–220 Politikos 125, 133 Sophistes 18 Symposion 50

Sophokles 22, 33, 36, 60, 76, 156 Aias 136 Antigone 4–5, 26, 127, 156 Elektra 133 König Ödipus 5, 8, 22, 24, 26, 109, 120, 128, 130–131, 134–135, 139, 143, 145, 151, 168, 175 Trachinierinnen 127–128 Theodektes Lynkeus 131 Thespis 60–61, 65 Thukydides 9, 113, 115–116 Historia 7, 115 Xenophanes Fragment B 11

21

244

Personenregister Neuere Autoren

Alighieri, Dante 216, 218 Aquin, Thomas v. 216 Ax, Wolfram 181

Kafka, Franz 22 Kannicht, Richard 106, 123, 132 Kant, Immanuel 38

Batteux, Charles 228–231 Belfiore, Elizabeth S. 107 Bernays, Jacob 70, 102 Bray, René 225 Burkert, Walter 56, 61 Bywater, Ingram 76, 178

Leonhardt, Jürgen 57–58, 64 Lessing, Gotthold E. 25, 100, 102, 147, 153 Lloyd-Jones, Hugh 57 Lotman, Jurij M. 215 Lucas, Donald W. 83, 113 Lukács, Georg 215 Luserke, Matthias 91

Cervantes, Miguel de 45 Cooper, Lane 77, 83 Corneille, Pierre 25

Moerbeke, Wilhelm v. Nietzsche, Friedrich

De Ste. Croix, Geoffrey E. M.

26, 55, 65–66

114

Eco, Umberto 1 Else, Gerold F. 61, 64, 77, 130, 137 Erler, Michael 132–133 Flashar, Hellmut 91, 139 Fortenbaugh, William W. 83 Frede, Dorothea 112 Freud, Sigmund 45 Fuhrmann, Manfred 9, 12, 113, 124, 143, 146, 153–154 Gigon, Olof 153 Glei, Reinhold F. 51 Goethe, Wolfgang v. 25 Gogol, Nikolai 22 Guarini, Giovan B. 225 Gudeman, Alfred 137, 139 Halliwell, Stephen 12, 77, 91, 113–114, 116, 126–127, 147, 153, 179, 180 Heath, Malcolm 77 Hegel, Georg W. F. 230–231 Hempfer, Klaus W. 217 Höffe, Otfried 5, 7, 222 Hrabal, Bohumil 4 Janko, Richard 11, 69, 83 Jens, Walter 138

216

Pamuk, Orhan 3 Patzer, Harald 57–59, 63 Potts, Leonard J. 153 Ranke, Leopold v. 115 Rapp, Ch. 94–95, 112, 181, 188, 190 Rehn, Rudolf 147 Robortello, Francesco 221–222, 226 Rose, Valentin 60 San Martini, Matteo 227 Schadewaldt, Wolfgang 91, 153–154 Schmitt, Arbogast 57, 77, 81, 114, 118, 125, 137, 153, 188, 195–196, 202 Schopenhauer, Arthur 66 Schramm, Michael 185 Seidensticker, Bernd 130 Söffing, Werner 137, 139 Steinthal, Heymann 184 Striker, Gisela 111 Taplin, Oliver 138–139 Tasso, Torquato 227 Vahlen, Johannes 129–130 Viperano, Giovanni A. 222 Warning, Rainer 218 Weidemann, Hermann 180 Weinberg, Bernard 224, 228

Sachregister Zentrale Abschnitte sind fett hervorgehoben. Affekte s. Mitleid und Furcht Ähnliches (homoion) 42 Allgemeines (katholou) 72, 79, 82, 114, 116, 169, 220–223 Anagnorisis s. Wiedererkennung Anfang, Ursprung (archê) 9, 22, 37, 54–55, 58, 61, 63–65, 73, 190, 222 Angemessenes (prepon) 170, 190–193 Charakter (êthos) 4, 8, 13, 43, 47, 74, 114, 142, 149–150, 159–166, 171, 175, 178–179, 200, 205–206, 221 vortrefflicher ~ (spoudaios) 4, 88, 143– 145, 160, 162, 196 schlechter ~ (phaulos) 73, 88, 144 Dichtkunst (poiêtikê) 2, 29, 88, 168–174, 204, 206 Dichtung (poiêsis) 1–4, 6–9, 11–13, 16–22, 29–32, 35–39, 47–50, 54, 65, 142, 215–231 Dithyrambos 10, 55–59, 62–64, 193 Epos 10, 13, 24, 30, 34–35, 37, 42, 88, 110, 193, 195–213 Fabel s. Handlungsverlauf Fehler s. tragischer Fehler Freude s. Vergnügen Furcht s. Mitleid und Furcht Ganzes, Ganzheit (holon) 22, 82, 106, 108–110 Gedankenführung, Gedanke, Denken (dianoia) 8, 13–14, 149–150, 163–166, 177–179, 200 Geschichtsschreibung (historia) 3, 7, 21, 41, 72, 113, 114–119, 197–198 Größe (megethos) 106–108, 119–120 Handlung (praxis) 2, 17, 30, 40, 50, 111, 199 Handlungsverlauf, Fabel, Geschichte, Plot (mythos) 4, 13–14, 21–23, 29, 43–44, 53, 74, 94–95, 105–121, 123–128, 136–137, 142–143, 161–162, 168, 174, 179, 185, 196–201, 212, 220–221, 223 Inszenierung (opsis)

13, 153–154, 166

Invektive s. Spottvers Katharsis s. Reinigung Komödie (kômôdia) 10, 13, 42, 50, 53–54, 58–59, 69–86, 88 Kunst, Kunstfertigkeit (technê) 10, 32, 110, 142, 154, 166–168, 172, 181 Lächerliches (geloion) 70, 75, 79–81, 88 Leid s. Pathos Lernen (manthanein) 22–23, 38, 40–41, 48–49, 187 Literaturkritik 203–209 Lust (hêdonê) 26, 76, 83, 85, 95–97, 126, s. auch Vergnügen tragische ~ (tragôdias hêdonê) 5, 8, 23–26, 95–97, 102, 141–142, 152–158 Melodie (harmonia) 55, 88, 98, 193 Melodik (melopoiia) 13 Menschlichkeit (philanthrôpia) 8, 145–148 Metapher (metaphora) 187–189, 191–193, 207 Mimesis s. Nachahmung Mitleid und Furcht, tragische Affekte (eleos kai phobos) 5, 14, 20, 42, 44–45, 84, 89–99, 119, 141, 152–158, 212 Mythos s. Handlungsverlauf Nachahmung (mimêsis) 1, 3–4, 12–13, 16–18, 21–23, 29–45, 47–49, 71, 74, 80, 85, 88–89, 95–97, 115–116, 172–173, 202, 204–205, 216–231 Natur (physis) 37, 62, 73–74, 108, 111, 173 Notwendigkeit (anankê) 8, 72, 108, 111– 120, 128, 161, 226 Pathos, (schweres) Leid (pathos) 137, 153, 155, 175 Peripetie s. Wendepunkt

14, 136–

Rechtschaffener (epieikês) 144–145 Rede s. Sprache Reinigung (katharsis) 5, 8, 23–26, 33, 69–70, 82–86, 89–104, 142, 152–153 Rhythmus (rhythmos) 55, 88, 193

246

Sachregister

schön (kalon, kallos) 29, 75, 80, 108, 141 Sprache, Rede (logos) 55, 88, 166, 181–185 Sprachform, Stil (lexis) 13–14, 88, 170, 179–193, 200, 207–208 Spottvers, Invektive (psogos) 53, 64, 72, 75, 77–79 Staunen (thaumazein) 124–127, 202–203 tragische Affekte s. Mitleid und Furcht tragischer Fehler (hamartia; hamartêma) 4, 70, 75, 79–80, 141–142, 148–150 Tragödie (tragôdia) 1, 4–5, 10, 12–13, 20, 22, 25–26, 30, 41–45, 50, 53–66, 71, 73, 87–103, 152, 174–175, 193, 209–213 Umschlag der Handlung (metabolê) 19, 107–108, 114, 124, 127–134, 144, 146, 148, 151 Ursache (aitia) 9, 37, 48, 73, 79 Ursprung s. Anfang

Vergnügen (chairein) 22, 37–39, 41, 47–49, 96, s. auch Lust Vers, Versmaß (metron) 30, 51–52, 60, 62–64, 201–202 Wahrscheinlichkeit, das Wahrscheinliche (eikos) 8, 72, 111–120, 128, 135, 161, 168, 203, 208, 226–228 Wendepunkt (peripeteia) 14, 44, 123–124, 128, 129–131, 134, 200 Werk s. Wirkung Wiedererkennung (anagnôrisis, anagnôrismos) 14, 44, 123–124, 128, 131–136, 166–168, 200 Wirkung (ergon) 39, 41–42, 44, 85–86, 90–104, 137, 141, 153–154, 210–213 Ziel (telos) 22 Zutreffende, das meistens ~ (hôs epi to poly) 8, 111–112

Hinweise zu den Autoren Pierre Destrée, PD, 1962, PhD Louvain 1994. Zahlreiche Aufsätze über Sokrates, Platon und Aristoteles. Veröffentlichungen u. a.: Aristote. Bonheur et vertu (2003), La Poétique d’Aristote. Lectures éthiques et politiques (2003), Socrates’ Divine Sign: Religion, Practice, and Value in Socratic Philosophy (Mit N. Smith 2005), Akrasia in Greek Philosophy. From Socrates to Plotinus, (mit Ch. Bobonich 2007). Plato and the Poets (mit F. G. Herrmann voraussichtlich 2009), Aristoteles’ Poetik: Kommentierte Übersetzung ins Französische (vrsl. 2009). Roman Dilcher, Studium der Klassischen Philologie und Philosophie in Tübingen und Oxford; D. Phil. Oxon. 1993; wiss. Angestellter in Tübingen und Heidelberg. Schwerpunkte: Metaphysik, Transzendentalphilosophie, Phänomenologie, Ethik, Ästhetik, Hermeneutik. Veröffentlichungen: Studies in Heraclitus (1995, Spudasmata 56), mehrere Aufsätze zu verschiedenen Themen bei Aristoteles und zu den Vorsokratikern, u. a. „Zu Problem und Begriff der Katharsis bei Aristoteles“, in: Katharsis vor Aristoteles, hrsg. von M. Vöhler u. B. Seidensticker (2007) und „Furcht und Mitleid! Zu Lessings Ehrenrettung“, in: Antike und Abendland 42 (1996). Michael Erler, geb. 1953, Studium der Klassischen Philologie und Philosophie ab 1973 in Köln und London (University College). 1977 Promotion (Köln), 1985 Habilitation (Konstanz), 1989 Professor für Klassische Philologie (Schwerpunkt Latein) in Erlangen, 1992 o. Professor für Klassische Philologie (Schwerpunkt Griechisch) in Würzburg. Schwerpunkte: Griechische und römische Philosophie (Platonismus, Epikureismus), Drama, hellenistische Dichtung, griechische Literatur der Kaiserzeit. Veröffentlichungen (Auswahl): Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons (1987). Epikur – Die Schule Epikurs – Lukrez, in: Die Philosophie der Antike, Band 4,1 (1994), Römische Philosophie, in: Einleitung in die lateinische Philologie, hrsg. v. F. Graf (1997), Platon (2006), Platon. Die Philosophie der Antike Band 2/2 (2007). Dorothea Frede, geb. 1941, Studium der Philosophie, klassischen Philologie, Germanistik und Musikwissenschaft in Hamburg und Göttingen, 1968 Promotion, 1991–2006 Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg. Seit 2006 Mills Visiting Professor am Department of Philo-

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Hinweise zu den Autoren

sophy, UC Berkeley. Schwerpunkte: Antike Philosophie, mittelalterliche Philosophie, Phänomenologie. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Aristoteles und die Seeschlacht: das Problem der Contingentia Futura in De interpretatione 9 (1970), Platon: Philebos. Übersetzung und Kommentar (1997), Heideggers Tragödie: Bemerkungen zur Bedeutung seiner Philosophie (1999), Platons „Phaidon“: der Traum von der Unsterblichkeit der Seele (1999). Otfried Höffe, geb. 1943, ab 1964 Studium der Philosophie, Geschichte, Theologie und Soziologie in Münster, Tübingen, Saarbrücken und München; 1970 Promotion, 1974–1975 Habilitation, 1976–1978 nach Vertretung o. Professor für Philosophie an der Universität Duisburg, 1978 Lehrstuhl für Ethik und Sozialphilosophie an der Universität Freiburg (Schweiz), seit 1992 o. Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Seit 2002 ständiger Gastprofessor für Rechtsphilosophie an der Universität Sankt Gallen. Schwerpunkte: Aristoteles, Kant, Moral- und Rechtsphilosophie, Erkenntnistheorie. Otfried Höffe ist Mitherausgeber der Zeitschrift für philosophische Forschung. Er ist Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina sowie Ehrenmitglied der Teheraner Akademie für Philosophie und Weltweisheit. Buchveröffentlichungen (Auswahl; zahlreiche Übersetzungen): Praktische Philosophie – Das Modell des Aristoteles (1971, 3. Aufl. 2008), Immanuel Kant (1983, 7. Aufl. 2007), Aristoteles. Leben – Werk – Wirkung (1996, 3. Aufl. 2006), Lebenskunst und Moral. Oder: Macht Tugend glücklich? (2007), Ist die Demokratie zukunftsfähig? (2009), als Herausgeber: Aristoteles-Lexikon (2005), Aristoteles: Die Hauptwerke. Ein Lesebuch (2009). Andreas Kablitz, geb. 1957, Studium der Romanistik und Geschichte an der Universität Köln; 1983 Promotion, 1987 Habilitation, 1988 Oberassistent am Institut für Romanische Philologie der FU Berlin, 1989/90 Professor für Romanische Philologie an der Universität Tübingen, 1990–1994 Ordinarius für Italienische Philologie an der LMU München; zugleich Vorstand des Instituts für Italienische Philologie, seit 1994 Professor für Romanische Philologie an der Universität zu Köln; zugleich Direktor des Petrarca-Instituts der Universität. Schwerpunkte: Literatur der europäischen Renaissance, Literaturtheorie als Kulturtheorie, mittelalterliche und frühneuzeitliche Zeitlichkeits- und Raumkonzepte sowie Konzepte der Verkörperung und Theatralität. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Die Diskussion um das ridiculum im 16. Jh. in Italien (1987), Der verborgene Gott und die Welt des Menschen. Studien zu einer literarischen Anthropologie der

Hinweise zu den Autoren

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Renaissance (2003), als Herausgeber (zusammen mit G. Neumann): Mimesis und Simulation (1997). Joachim Küpper, geb. 1952, 1970–1977 Studium der Romanistik und der Geschichtswissenschaften in Bochum, Paris und Toulouse, 1980 Promotion, 1987 Habilitation in Romanischer Philologie, 1990 Professur in Wuppertal, seit 2000 Lehrstuhl für Romanische Philologie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Balzac und der Effet de réel. Eine Untersuchung anhand der Textstufen des Colonel Cahbert und des Curé de village (1986, Diss.), Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung und Evolution des Romans von der französischen Spätaufklärung bis zu Robbe-Grillet. Ausgewählte Probleme zum Verhältnis von Poetologie und literarischer Praxis (1987), Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Calderón (1990, Habil.), Petrarca. Das Schweigen der Veritas und die Worte des Dichters (2002). Oliver Primavesi, geb. 1961, Studium der Schulmusik, anschließend der Klassischen Philologie in Heidelberg und Oxford, 1994 Promotion, 1997 Habilitation, Seit 2000 Lehrstuhl für Griechische Philologie I an der LMU München. Schwerpunkte in der Gräzistik: Philosophie (insbes. Empedokles und Aristoteles), Homerisches Epos, Papyrologie. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Die Aristotelische Topik: Ein Interpretationsmodell und seine Erprobung am Beispiel von Topik B (1996, Diss.), Empedoklesstudien: Ein unveröffentlichter Papyrus und die indirekte Überlieferung (1997, Habil.), Empedokles Physika I: Eine Rekonstruktion des zentralen Gedankengangs (2008). Christof Rapp, geb. 1964, Studium der Fächer Philosophie, Gräzistik, Logik und Wissenschaftstheorie in Tübingen und München 1984–1991; Promotion in München 1993; 2000 Habilitation in Tübingen. Seit 2001 Universitätsprofessor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin; Mitherausgeber der Zeitschrift für philosophische Forschung und Phronesis; Bücher u. a. Vorsokratiker (1997, 2. Aufl. 2007), Aristoteles zur Einführung, (2001, 2. Aufl. 2004, 3. Aufl. 2007), Aristoteles, Rhetorik. Neuübersetzung und Kommentare (2002), zusammen mit T. Wagner Aristoteles, Topik (2004), von 2001–2004 Erster Vorsitzender der Gesellschaft für antike Philosophie e. V. (GANPH). Arbogast Schmitt, geb. 1943, Studium der Gräzistik, Latinistik, Philosophie und Germanistik in Würzburg und Berlin. Nach dem Staatsexamen zunächst Gymnasiallehrer, 1974 Promotion, 1981 Habilitation, 1982 Ordinarius

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Hinweise zu den Autoren

für Gräzistik an der Universität Mainz, seit 1992 Ordinarius für Gräzistik in Marburg. Schwerpunkte: Erkenntnistheorie und das Verständnis von Ästhetik, Ethik und Politik bei Platon und Aristoteles, Homerisches Epos, attische Tragödie, antike Literaturtheorie sowie die neuzeitliche Rezeption dieser Phänomene. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Die Bedeutung der sophistischen Logik für die mittlere Dialektik Platons (1974, Diss.), Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer. Hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie Homers (1990), Der Einzelne und die Gemeinschaft in der Dichtung Homers und in der Staatstheorie bei Platon. Zur Ableitung der Staatstheorie aus der Psychologie (2000), Die Moderne und Platon (2003), Aristoteles: Poetik. Übersetzung und Kommentar (2008). Michael Schramm, geb. 1972, studierte 1992–1999 Klassische Philologie und Philosophie in Heidelberg, Mainz und Paris, 2002 Promotion in Heidelberg. 2002–2004 Postdoc im GK „Leitbilder der Spätantike“ in Jena, seit 2005 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Klassische Philologie und Komparatistik in Leipzig. Buchveröffentlichung: Die Prinzipien der Aristotelischen Topik (2004). Aufsätze zur antiken Philosophie, spätantiken Literatur und ihrer Rezeption.