Aristoteles betrachten und besprechen: (Metaphysik I-VI) 9783495817018, 9783495489840

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Polecaj historie

Aristoteles betrachten und besprechen: (Metaphysik I-VI)
 9783495817018, 9783495489840

Table of contents :
Cover
Inhalt
Einleitung
Buch I
Buch II
Buch III
Berliner Protokolle
Donnerstag, 6. Dezember
Freitag, 7. Dezember
Samstag, 8. Dezember
Montag, 10. Dezember
13. Dezember 2012
999a 33 – 999b 24
5. Juni 2013
1000a 5 – 1000a 24
1000a 24–32
Berliner Protokoll
Sonntag, 8. Juni
Mittwoch, 12. Juni
Donnerstag, 13. Juni
1001a 19–35
4. Dezember 2013
Buch IV
Grundsatz 1:
Grundsatz 2
Grundsatz 3
16. Mai 2014
Buch V
1. arche
2. Ursache
3. Element
4. physis
4. Februar 2015
5. notwendig
6. ein
18. März 2015
26. März 2015
Brief von Peter Berz am 4. April 2015
Brief an Peter Berz vom 6. April 2015
17. April 2015
7. Das Seiende
29. April 2015
8. Das Wesen
27. Mai 2015
9. dasselbe, verschieden, unterschieden, gleich, ungleich
2. Juni 2015
20. Juni 2015
10. entgegengesetzt
1. Juli 2015
11. eher, später
12. Vermögen
17. Oktober 2015
13. Quantum
14. Quale
15. bezüglich
12. November 2015
18. November 2015
16. vollendet
3. Dezember 2015
17. Grenze
18. wonach, an sich
5. Jänner 2016
Neujahrsprotokoll
9. Jänner 2016
Philosophen-Café-Protokoll
15. Jänner 2016
19. Anlage
20. Das Innehaben
21. Die Affektion
27. Jänner 2016
22. Privation
23. haben
15. Februar 2016
24. aus etwas sein
25. Der Teil
30. März 2016
26. Das Ganze
27. verstümmelt
28. Gattung
11. Mai 2016
14. Juni 2016
Buchpräsentation Friedrich Wolfram: Anthropologie der Gewissheit. Ein Versuch über den Glaubensbegriff bei Aristoteles (Wien 2016).
29. falsch
19. Oktober 2016
10.–13. November 2016
14. Dezember
5. Jänner 2017
11. Jänner 2017
Akzidens
1025a 14–34
18. Jänner 2017
Buch VI
25. Jänner 2017
1026b 3–7
8. Februar 2017
1025b 8–30
15. Februar 2017
1025b 30 – 1026a 7
22. Februar 2017
1026a 8–19
Plural oder Singular?
1. März 2017
1026a 20 – 23
8. März 2017
1026a 23–32
15. März 2017
1026a 33 – 1026b 26
22. März 2017
1026b 27 – 1027a 19
29. März 2017
1027a 19–27
30. März 2017
5. April 2017
26. April 2017
1027a 28 – 1027b 16
29. April 2017
3. Mai 2017
11. Mai 2017
17. Mai 2017
1027b 17 – 1028a 5
24. Mai 2017
31. Mai 2017
7. Juni 2017
7. Juni 2017
8. Juni 2017

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Walter Seitter

Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I–VI)

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817018

.

B

Walter Seitter Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I – VI)

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Walter Seitter

Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I – VI)

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Walter Seitter Considering and Discussing Aristotle (Metaphysik I – VI) In his new study Walter Seitter engages with one of the most famous but at the same time one of the least read philosophical texts: Aristotle’s Metaphysics. Seitter considers Aristotle’s foundational book a »meta-text« in many regards. Aristotle wrote the Metaphysics after he had completed other books, thus it is an addition to other works, and presumably most accessible only after having read other works by him that deal with more clearly defined topics (like Physics and Nicomachean Ethics). The Metaphysics, then, is the search for an additional perspective, the meta level. Seitter’s book follows the text quite closely. This, however, shows that the Metaphysics is far from being a straightforward and consistent argument. Instead, Aristotle appears to approach the question at hand in several different ways. Seitter’s study also shows that there is within the Metaphysics a wealth of diverging thematic directions. This gives rise to the question what the actual aim of Aristotle’s text really is. Reading the Metaphysics was a yearlong project of Seitter and it involved periodic conversations with friends and colleagues. Seitter’s own philosophical project – which he calls »Philosophical Physics,« a completely independent »repetition« of Aristotle’s Physics – also has a significant influence on this present reading of the Metaphysics. Seitter’s study of the first six books of the Metaphysics concludes that Aristotle’s special invention of ontology institutes a subject area that is concerned with the diverse modalities of being and that more or less allows »substance« (or »essence«) to assert its primacy – but not its splendid isolation.

The author: Walter Seitter, born 1941 in St Johann in Engstetten in Lower Austria. Seitter studied in Salzburg, Munich, and Paris. He was a teaching fellow in Aachen and Vienna. His translations of major philosophical works include texts by Michel Foucault, Pierre Klossowski, and Francis Ponge. He lives in Vienna.

https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Walter Seitter Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I – VI) Walter Seitter dokumentiert hier die Lektüre eines sehr berühmten, aber wenig gelesenen Buches: der aristotelischen Metaphysik. Ein »Metabuch« in mehrfachem Sinn: geschrieben nach anderen Büchern, lesbar wohl nur nach anderen Werken mit direkterem Gegenstandsbezug (Physik, Ethik …), Suche nach einer zusätzlichen Betrachtungsebene (unter Einschluss der Metaebene). Die hier vorgestellte Lektüre folgt dem Textduktus, obwohl dieser keineswegs glatt oder folgerichtig verläuft, sondern mehrere Anläufe hintereinander schaltet, auch thematisch divergierende Themenrichtungen verfolgt, welche die Frage aufwerfen, worauf die aristotelische Suchbewegung eigentlich hinausläuft. Das Lesen selber hat sich auseinandergezogen, da es über mehrere Jahre mehrere Personen beschäftigt hat und da es immer wieder unterbrochen wird durch philosophische Aktivitäten, in denen Walter Seitter seiner eigenen philosophischen Linie nachgeht, die er »Philosophische Physik« nennt – eine vollkommen unabhängige »Wiederholung« der aristotelischen Physik. Die Betrachtung der ersten sechs Bücher der Metaphysik führt zum Eindruck, dass Aristoteles mit seiner speziellen Erfindung der Ontologie eine Gegenstandsebene instituiert hat, auf der es um die diversen Seinsmodalitäten geht, unter denen das Wesen seinen Primat zwar einigermaßen behaupten kann – aber nicht seine splendid isolation.

Der Autor: Walter Seitter, geboren 1941 in St. Johann in Engstetten (Niederösterreich), Studien in Salzburg, München, Paris. Lehrtätigkeiten in Aachen und Wien. Übersetzung von Werken Michel Foucaults, Pierre Klossowskis, Francis Ponges. Lebt in Wien.

https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Foto S. 221: Aristoteles (Thessaloniki, 1999), Bildhauer: Giorgos Georgiades; Foto: Sophia Panteliadou (2017); Bearbeitung: Manfred Hulverscheidt Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48984-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81701-8

https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Buch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Buch II

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Buch III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

Buch IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Buch V

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

Buch VI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239

7 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Einleitung

Diese Metaphysik-Lektüre zeichnet sich dadurch aus, dass sie seit dem Jahr 2011 in der Wiener Hermesgruppe durchgeführt wird und dass ihr eine ebenfalls langwierige Lektüre der aristotelischen Poetik vorausgegangen ist. Von 2007 bis 2010 lasen und besprachen wir das bekannte und relativ schmale Buch über die Dichtkunst und aufgrund der regelmäßig geführten Protokolle ist jene Lektüre in zwei kleinen Bänden dokumentiert worden. 1 Zur Hermesguppe gehören bzw. gehörten im Laufe der Zeit außer mir Valerie Deifel, Horst Ebner, Gesche Heumann, Ivo Gurschler, Wolfgang Koch, Sophia Panteliadou, Bernd Schmeikal, Gianluigi Segalerba, Dagmar Travner, Gerhard Weinberger. Größere antike Texte sind aufgrund der damaligen Buchtechnik in mehrere »Bücher« gegliedert. Die Poetik hatte ursprünglich zwei Bücher, das zweite, welches von der Komödie handelt, ist nicht erhalten, daher lässt sich sagen, dass die Überlieferungsgeschichte der Poetik teilweise vernichtenden Charakter hat. Und der ist von Umberto Eco in seinem Roman Der Name der Rose (1980) dramatisch dargestellt worden: die Handschrift des zweiten Buches sei in einem italienischen Kloster aufbewahrt und gleichzeitig mit geradezu mörderischen Mitteln von jedem Leser ferngehalten worden, weil die Beschäftigung mit dem Thema der Komödie zum Lachen reizen und damit die klösterliche und jedwede Ordnung hätte gefährden können. Schließlich geht das gesamte Kloster mitsamt dem verpönten Text in Flammen auf. Diese im frühen 14. Jahrhundert angesiedelte fiktive Geschichte kann geeignet sein, unsere Beschäftigung mit antiken Texten mit Aspekten der Denk- und der Text-, der Wissenschafts- und Literatur-

Die von uns gelesene Poetik existiert also in zwei Büchern: siehe Walter Seitter: Poetik lesen 1, 2 (Berlin 2010, 2014).

1

9 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Einleitung

und Politikgeschichte zu konfrontieren, die übrigens allesamt durch die Dimensionen der Geographie gebrochen sind. Aristoteles ist in Stagira (heute in Nordostgriechenland) geboren und hat von 384 bis 322 (vor Christus) gelebt. Als 17-Jähriger, also 361, ging er nach Athen an die von Platon gegründete und geleitete Akademie, eine hochangesehene Lehr- und Lerneinrichtung. Er blieb dort 20 Jahre lang und dürfte bereits zu Platons Lebzeiten in die Lehrtätigkeit eingetreten sein, aus welcher seine erhaltenen Schriften stammen. So die Abhandlungen zur Logik, zur Rhetorik, zur Physik, zur Zoologie. Um 342 unterrichtete Aristoteles einige Zeit in Mieza (heute Nordwestgriechenland) den makedonischen Königssohn Alexander, den späteren Alexander den Großen. Dabei dürfte die HomerLektüre eine Rolle gespielt haben und insofern könnte dieser Unterricht auch zur Entstehung der Poetik beigetragen haben. 335 ging Aristoteles wieder nach Athen, gründete dort seine eigene Schule im Lykeion, gab sich ganz seiner Lehrtätigkeit hin, aus der alle seine erhaltenen Schriften hervorgegangen sind, neben den bereits erwähnten auch die zur Ethik und Politik. Sowie die Texte, die am Ende seines Lebens wohl vorlagen, aber noch keine endgültige Ordnung und keine Titulierung gefunden hatten und die im 1. Jahrhundert vor Christus, also 300 Jahre nach seinem Tod, durch Andronikos von Rhodos in den heutigen Zustand gebracht worden sind. Sie bekamen den Titel meta ta physika – »nach der Physik«, der wohl bibliothekstechnisch zu verstehen ist, oder aber in dem Sinn, dass diese Texte inhaltlich an die Vorlesung zur Physik anschließen. Die Formulierung des Titels geht in keiner Weise auf Aristoteles selber zurück, wir dürfen oder sollen ihn pragmatisch so verstehen, dass wir diesen Text eher nach den anderen genannten lesen sollen, da er sie zeitlich und sachlich voraussetzt. Und da er nicht so leicht zugänglich ist wie jene. Die Metaphysik beginnt eigentlich nicht mit der Angabe eines bestimmten Gegenstandsfeldes. Wenn es dann irgendwo in Buch I heißt, die »gesuchte Wissenschaft« solle ein Wissen von den »anfänglichen Ursachen« gewinnen (983a 24), so bleibt uns eine solche Formulierung doch sehr fremd. Ja ich würde sagen, sie ist uns unverständlich – und wir sollten diese Unverständlichkeit zunächst einmal akzeptieren. Indessen spricht Aristoteles gelegentlich auch eine Sprache, die für uns zugänglicher ist – etwa ganz am Anfang von Buch I, wo von den 10 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Einleitung

Stufen des Erkennens die Rede ist, und später im Buch VI, wo er seine Klassifikation der Wissenschaften vorlegt. Derartige Ausführungen liegen nach dem Verständnis des 20. Jahrhunderts nach Christus auf der »Metaebene«: das Sprechen über Sprechen, über Erkennen, über Wissenschaft bildet die Ebene von Metasprache oder Metawissenschaft. 2 Und insofern dieses Sprechen in dem Metaphysik genannten aristotelischen Buch eine ziemlich große Rolle spielt, gewinnt das Präfix meta – überraschend, zufällig? – hier eine heute plausible Bedeutung. Metasprache setzt Objektsprache, Metawissenschaft setzt Objektwissenschaft voraus – auch in dem Sinn, dass gewissermaßen »normale« Objektwissenschaften zunächst einmal bekannt sein müssen, am besten praktiziert werden müssen, damit eine Metaebene sinnvoll etabliert und nachvollziehbar kultiviert werden kann. Insofern muss die Metaphysik nicht zuerst, sondern eher zuletzt oder sagen wir irgend später gelesen werden – wenn überhaupt (sie »muss« nämlich gar nicht gelesen werden – sie ist ein Luxusprodukt). Mit dem Poetik-Lesen haben wir uns die Voraussetzung für die Metaphysik-Lektüre relativ ökonomisch erarbeitet – nicht nur weil jenes Buch ein ziemlich schmales ist, sondern auch weil es in gewisser Weise allen drei Wissenschafts-Gattungen, die Aristoteles unterscheidet, angehört: zu den poietischen oder technischen Wissenschaften gehört es von Haus aus, da es vom Erzeugen von erwünschten Werken handelt; zu den theoretischen insofern, als es auch auf die Physik der Dichtungswerke eingeht; und die praktischen Wissenschaften berührt es, weil es in den Dichtungen um menschliche Schicksale mit den Momenten von Glück und Unglück geht. Die Metaphysik agiert – jedenfalls teilweise – auf der metasprachlichen Ebene. Das aber tun Logik und Rhetorik ebenfalls – und zwar konsequent. Das Nicht-Normale der Metaphysik beruht auch darauf, dass der ganze Text in 14 Bücher gegliedert ist, diese Gliederung aber keine durchgehende Ordnung, schon gar nicht einen durchgehenden Zug aufweist. Mindestens die ersten sechs Bücher tun so, als wären sie jeweils das erste Buch. Jedes dieser Bücher macht einen neuen Anfang, ja einen Neuanfang. Soviel Anfang war nie – ? Der berühmte Satz im Hölderlin-Ton mag sich hier nahelegen, führt aber eher in die Irre, vor allem wenn man damit das archaische Die Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache geht auf einige Logiker des frühen 20. Jahrhunderts zurück, so auf Alfred Tarski (1901–1983).

2

11 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Einleitung

Griechenland assoziiert, das sogenannte »vorsokratische«. Im ersten Buch der Metaphysik geht Aristoteles explizit darauf zurück, vielmehr blickt er zurück auf eventuelle Anfänge seiner »gesuchten Wissenschaft«, die für ihn immer noch – in seiner Gegenwart – eine gesuchte Wissenschaft ist. Seine Gegenwart ist seine Suchbewegung – und diese Suchbewegung setzt im zweiten Buch wieder ein, dann wieder und zwar anders im dritten, anders im vierten, ganz anders im fünften und wieder im sechsten – hier mehr in der Form des »wieder«. Also eine kaum geordnete Anhäufung von Anfängen. Ein Nacheinander von unterschiedlichen Schnitt- oder Bruchflächen – das eine große Kontrapunktik ergeben wird, innerhalb derer auch noch kleinere Dissonanzen thematischer Art zu vernehmen sein werden. Die Diskussion der Philologen über die tatsächlich ursprüngliche Datierung beziehungsweise Reihung der vierzehn Bücher lasse ich beiseite und betrachte vom frühen 21. Jahrhundert nach Christus aus ein Werk, das zwischen dem 4. und 1. vorchristlichen Jahrhundert entstanden und überliefert, geordnet und redigiert worden ist, dann seit gut zwanzig Jahrhunderten überliefert, gelesen, kommentiert, in andere Sprachen übersetzt, hoch geschätzt, dann wieder verachtet und vergessen, schließlich auch in die sogenannten modernen Sprachen übersetzt und weltweit verbreitet, in allen großen öffentlichen Bibliotheken deponiert ist und in vielen privaten. Wissenschafts- und philosophiehistorisch nimmt sich die aristotelische Metaphysik heute wie ein frühes, ein altertümliches Werk aus. In seiner Entstehungszeit war es ein Spätling: innerhalb der Aristoteles-Schule, wo es gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war, eine ungeordnete, vielleicht unfertige Lehrschrift; innerhalb der Athener Tradition ein postplatonischer, im großen und ganzen ein antiplatonischer Wurf, nachsokratisch sowieso und nachsophistisch ebenfalls und gegenüber den »Naturphilosophen« eine avantgardistische Innovation, zumal da der Autor in anderen Texten eigene Naturforschungen vorgelegt hat. Diese Betrachtungen zur Eigenart des berühmten und als schwierig geltenden aristotelischen Buches sind aber kaum geeignet, irgendeine Vorstellung davon zu liefern, was mich, was die Hermesgruppe zum Lesen des bekannten Werkes bewegt hat. Dazu muss ich noch einmal auf unsere Poetik-Lektüre zurückkommen, die eine überraschende Wende genommen hat – und zwar in eine Richtung, die genau auf eine sehr spezielle Version der Ausführungen in der sogenannten Metaphysik zielt. 12 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Einleitung

Im erhaltenen ersten Buch der Poetik geht Aristoteles am ausführlichsten auf die Tragödie ein – jene Dichtungsform, die er zuletzt auch über das Epos stellt, welches bei dem von ihm als bester Dichter geltenden Homer seine klassische Ausprägung erhalten hat. 3 Zur Tragödie macht er aber nicht nur die zu seiner Zeit vielleicht schon geduldete Aussage, ihre Handlung sollte nicht durch das Einwirken von Göttern vorankommen; auch die Wirksamkeit der menschlichen Akteure ordnet er einem Kausalmechanismus der akzidenziellen Situationen unter. 4 Damit aber scheint Aristoteles seine eigene Auffassung von der Rangordnung der Kategorien zu suspendieren. Tut er das tatsächlich – oder konstruiert er nur für die Dichtung eine andere revisionäre »Ontologie«? Hier drängt sich dieser Begriff auf – der noch postaristotelischer als der Titel »Metaphysik« ist. Und er bezeichnet eine Untersuchungsrichtung, die Aristoteles in seiner vielleicht frühesten Schrift, den Kategorien, begonnen, dann in der Metaphysik, im Buch IV, weitergeführt hat, wo die Substanz als die primäre Seinsmodalität, aber keineswegs als die einzige, instituiert wird. Das heißt, die Lektüre der Poetik, die mich mit Kommentatoren wie Stephen Halliwell und Martha Husain zusammengeführt, anderen wie Arbogast Schmitt jedoch schroff entgegengesetzt hat, hat mich unversehens in die Metaphysik geschleudert, und zwar in eine Version derselben, die Aristoteles dort nicht von Anfang an, jedenfalls nicht vom ersten Anfang an, ins Auge fasst. Der hier vorgelegte Bericht von einer Lektüre der Metaphysik beruht auf Protokollen, worin die Lesetätigkeit der Hermesgruppe mitgeschrieben worden ist, und daher trägt er auch (auto)biographische Züge an. Diese verstärken sich, wenn andere Vorkommnisse einbezogen werden, die in irgendeiner Weise mit dem Aristoteles-Lesen zusammenhängen. So etwa die Griechenland-Reisen, die mich seit 2008 nach Athen, Thessaloniki oder anderswohin geführt haben, entweder zu antiken Stätten wie den platonischen und aristotelischen Schulen in Athen, zu Vorträgen über Aristoteles oder Plethon, zu Kolloquien über aktuelle Themen, zu Präsentationen von griechischen Büchern. Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht versäumen, mich an den scharfen Blick zu erinnern, der mich im Dezember 1969 im Amsterdamer Rijks-Museum mit Rembrandts Aristoteles (mit der Homer-Büste) verbunden hat. 4 Siehe Walter Seitter: Poetik lesen 1 (Berlin 2010): 97 ff. 3

13 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Einleitung

Oder anderweitige Lektüren, Gespräche oder Besuche. Auf diese Weise kann ich auch die erste, die weiter zurückreichende Voraussetzung für meine Metaphysik-Lektüre en passant anklingen lassen: meine eigene philosophische Tätigkeit, deren Hauptlinie sich als Philosophische Physik bezeichnen lässt. Dieser Philosophischen Physik bin ich seit den frühen Achtzigerjahren nachgegangen, etwa seit den Menschenfassungen, in denen ich mit Rückgriffen auf Michel Foucault, Jacques Lacan, Helmuth Plessner eine relativ physikalistische Politische Anthropologie entworfen habe, dann mit der Physik des Daseins, mit der Geschichte der Nacht und der Kunst der Wacht, mit der Physik der Medien, mit der Reaktionären Romanik, dem Untersberg sowie der Ponge-Übersetzung Der Tisch. Diese und andere Texte bilden zusammen meine »Physik«. Ich habe sie ohne Rückgriffe auf Aristoteles geschrieben – umso leichter fällt es mir, sie der aristotelischen Physik an die Seite zu stellen, also jener »normalen« Wissenschaft, die er in der sogenannten Metaphysik voraussetzt. Ohne die vielen Versuche, gegenwärtige Phänomene »philosophisch-physikalisch« ernst zu nehmen, zu beschreiben und auszulegen, hätte ich es nicht wagen können, mich an das »unnormale« Buch namens Metaphysik heranzumachen, und diesen Zusammenhang will ich daher auch in dieser Darstellung erkennbar machen, indem ich manche Bezugnahmen auf meine normale philosophische Tätigkeit in die Erzählung einflechte. Meine Darstellung präsentiert die Ereignisse in ihrer zeitlichen Reihenfolge, wobei die Mittwoch-Sitzungen die regulären Hauptereignisse bilden, und daher habe ich allen Teilnehmern meinen Dank für ihre Mitwirkung auszusprechen – in der Hoffnung, dass sie mehr als diesen Dank hier einstreichen, nämlich einen Gewinn, der in der Teilnahme selber besteht und nicht erst in eventuellen Lernerfolgen. Diese rühren ohnehin weniger von irgendwelchen Belehrungen her, sondern von den Tätigkeiten des Lesens und Diskutierens, die man selber vollzieht. Die Engländer haben dafür bekanntlich eine gute Formulierung. Die Kapitel der Darstellung halten sich an die Gliederung des Textes in die Bücher I bis VI – denn unsere Lektüre ist von Anfang 2011 bis Mitte 2017 nur bis zum Sechsten Buch gelangt. Womit aber bereits viel zusammengekommen ist – vor allem aufgrund der Tatsache, dass jedes Buch wie schon angedeutet einen eigenen Weg beschreitet, 14 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Einleitung

der noch dazu eine Einführung in die eine Wissenschaft sein soll, die da gesucht wird. Indem ich unsere Mittwoch-Sitzungen referiere, nimmt mein Text narrative Züge an und diese Narrativität versuche ich auch ins gelesene Buch hineinzutragen, was mir möglich erscheint, weil Aristoteles von Anfang auf eine »gesuchte Wissenschaft« aus ist. Und das Partizip Perfekt Passiv »gesucht« lässt sich leicht in ein Partizip Präsens Aktiv umwandeln: es handelt sich um eine suchende Wissenschaft. Wir können einer Suchbewegung zuschauen und nachgehen, einem bewussten Vorgehen, das sich seine Motivation im allerersten Satz selber vorschreibt, aber dennoch kein gleichmäßiges Fortschreiten ist, sondern mehrfach abbricht, einen neuen Weg sucht und findet. Die aristotelische Metaphysik ist eine großformatige Aktion, eine Unternehmung – der ich nachzuspüren suche, indem ich auf die unterschiedlichen Textsorten achte, die da eingesetzt werden, die unterschiedlichen Themenwahlen und Stoßrichtungen, etwa Polemiken, etwa Erfindungen. Ich versuche, das Lesen zu einem darüber hinausgehenden Sehen zu steigern und dieses durch das diskussive Besprechen zu erweitern und in ein konstruierendes Schreiben zu überführen. Die von mir vorgeschlagene »Dramatisierung« des berühmten Buches folgt auch der Tatsache, dass es sich – nach allgemeiner Vermutung – um Vorlesungstexte handelt, um Transkriptionen von Reden. Und mindestens einmal berührt Aristoteles diese Tatsache ausdrücklich, wobei er nicht seine Lehrredetätigkeit reflektiert, sondern die Zuhörergewohnheiten und -erwartungen kritisch kommentiert (995a 32 ff.). Wenige Zeilen später bricht das sogenannte Zweite Buch ab – verträgt sich die aristotelische Textform, dieser nüchterne Prosastil mit der Reflexion auf die eigene Performanz, auf die »Lehrveranstaltung« und ihre möglichen Missverständnisse doch nicht so gut? Ob nun mündlich oder schriftlich, die aristotelische Metaphysik ist in jedem Fall ein materielles Ereignis, eine physische Aktion, gemacht aus Wörtern, ausschließlich aus Wörtern, die wiederum durch mannigfaltige Relationen miteinander verbunden sind, von denen einige ebenfalls dem Materiellen nahestehen, so jedenfalls die topischen und die chronischen. An den Wörtern hängen – hoffentlich – Bedeutungen, die psychisch-kognitiver Natur sind. Was ich hier vorlege, könnte daher auch als »Physik der Metaphysik« bezeichnet werden. Physik dieses Buches, der ersten fünf oder sechs seiner »Bücher«, der vielen Behauptungen, Fragestellun15 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Einleitung

gen, Polemiken, Kehrtwendungen, der wenigen Erfindungen, der gar nicht so wenigen Überraschungen – womit immer auch Willenserklärungen, Willensvorstöße, Umstöße verbunden sind. Vielleicht sogar Zustöße von woanders her. Ein Buch namens Metaphysik als Performanz zu betrachten und zu beschreiben und es folglich zu narrativisieren und dramatisieren – das mag zunächst als Gewaltakt erscheinen. Wahrscheinlich ist es das auch. Die Ergebnisse, die Effekte dieser Lektüre werden zeigen, ob der Versuch sachgerecht ist, ob er aus dem alten Buch mehr zutage fördert als die bisherigen Bekanntheiten. Im Jänner 2011 Einstieg in die neue Aristoteles-Lektüre. Die Sitzungen finden in meiner Wohnung in Wien statt, auf dem höchsten Punkt der Inneren Stadt, wo vor fast 2000 Jahren das Zentrum des Römerlagers Vindobona lag, mittwochs um 16 Uhr. Von 2007 bis 2010 ging den Aristoteles-Sitzungen jeweils eine Klossowski-Sitzung voraus: Lektüre von La monnaie vivante (Paris 1970), dem schwierigsten Buch des französischen Übersetzers, Philosophen, Schriftstellers und Malers Pierre Klossowski (1905–2001). Dieses zwischen Anthropologie und Wirtschaftspolitik oszillierende Werk lasen wir mit der Absicht, ein größeres Sammelwerk darüber zu verfassen, in dessen Zentrum ein »Wörterbuch« nur über dieses eine Buch stehen soll. 5 Wir werden sehen, dass es etwas ganz Ähnliches auch bei Aristoteles gibt. Für die Metaphysik-Lektüre verwenden wir verschiedene deutsche Ausgaben: ich die von Franz F. Schwarz besorgte Übersetzung, erschienen 1970 im Reclam-Verlag. Den Originaltext haben wir in der Ausgabe bei LOEB CLASSICAL LIBRARY vorliegen, die auch eine englische Übersetzung enthält. Eine neuere und bewusst anders sein wollende Übersetzung ins Englische bietet Aristotle’s Metaphysics. A new translation by Joe Sachs (Santa Fe 2002).

Siehe Horst Ebner, Ivo Gurschler, Walter Seitter (Hg.): Wörter, Bilder, Körper. Zu Pierre Klossowskis Lebendes Geld (Wien 2018).

5

16 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Buch I

Am Anfang des ersten Buches keine Angabe eines Gegenstandes oder Themenfeldes, sondern Behauptungen, die ganz offen essenzialistisch-anthropologisch auftreten: »Alle Menschen streben von Natur aus nach dem Wissen. Ein deutliches Zeichen dafür ist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen. Denn abgesehen vom Nutzen werden diese um ihrer selbst willen geliebt, und von allen besonders die Sinneswahrnehmung, die durch die Augen zustande kommt. Denn nicht nur um zu handeln, sondern auch, wenn wir keine Handlung vorhaben, ziehen wir das Sehen allem vor …« (980a 21 ff.) Aussagen, die sich generell aufs menschliche Erkennen beziehen, dieses Erkennen sogleich differenzieren, zuerst in Richtung Wahrnehmung – und dem Erkenntniskomplex auch einen gegliederten Willenskomplex vorschalten. Da die Aussagen so allgemein gehalten sind, treffen sie »natürlich« auch auf den Vorgang zu, der mit diesen Sätzen selber performiert wird, und womöglich auf den größeren Vorgang, der mit diesen Sätzen eingeleitet wird, nämlich auf das ganze Buch, das eine Aktion darstellt, in welcher Aussagen gemacht, wahre Aussagen beansprucht werden – obwohl die Sätze sich nicht als Einleitung, Themenangabe oder dergleichen geben. Zweifellos stellt Aristoteles mit diesen und den folgenden Sätzen sich selber in das Streben nach Wissen hinein, das er allen Menschen »natürlich« zuspricht. »Natürlich« schließt gerade nicht aus, dass sich die Menschen dem »künstlich« oder »willkürlich« oder sonstwie verschließen können. Und noch weniger schließt es aus, dass sie es bewusst und vielleicht institutionell kultivieren. Kaum haben wir den ersten Satz gelesen, widerspricht Gesche Heumann heftig – nicht nur weil sie offensichtlich auch schon gegenteiliges menschliches Verhalten wahrgenommen hat, sondern weil irgendwann die Rede davon war, Jacques Lacan mache drei mensch17 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Buch I

liche Leidenschaften namhaft: lieben, hassen, nichtwissenwollen. 6 Das hat er in seinem Seminar am 30. Juni 1954 getan – und wenn ich schon beim Datieren bin: unsere Lektüre des aristotelischen ersten Satzes fand am 19. Jänner 2011 statt, womit ich auch sagen will: um die letzte Jahrhundertwende, nämlich die jetzige, die unsrige. Die Datierung des Aristoteles-Satzes ist mir natürlich nicht möglich, darum mache ich sie eben wirklich und sage, Aristoteles habe so einen Satz zu Beginn seiner eigenen, seiner peripatetischen, Lehrtätigkeit ausgesprochen, etwa im Herbst 335. Lacan hat seinen Satz folgendermaßen gerahmt: direkt davor zeichnete er einen »kleinen Diamanten« an die Tafel, einen sechsflächigen Diëder, der auf der Dreizahl beruht, von der aus Lacan den beiden polaren Leidenschaften Hass und Liebe eine dritte dazwischenschiebt: die Ignoranz. 7 In ihr verknüpfen sich die beiden Dimensionen des Intellektuellen und des Affektiven auf negative Weise, um die positive Verknüpfung, die im aristotelischen Satz statuiert wird, außer Kraft zu setzen. Mit Leidenschaft lässt sich sogar »natürlich« suspendieren, was »natürlich« angelegt ist. Auf derartige Paradoxien ist die Psychoanalyse mit ihrem Spürsinn fürs Individuelle spezialisiert, der auch ein Gespür für die historische Situation einschließt; mit Rücksicht auf den nicht weit zurückliegenden Zweiten Weltkrieg sprach Lacan von einer »Zivilisation des Hasses«, welche zum abendländischen Moralismus gehöre und den Hass nicht mehr so richtig spüren lasse. Im Sommer 2017, in dem ich diesen Text redigiere, er stammt eben auch aus mehreren Jahren, hört sich die Rede vom Hass als Politikum auch nicht mehr so fremd an wie vielleicht Anfang 2011. Aristoteles schiebt seinem ersten etwas großspurigen Satz eine weitläufige Indizienkette nach, die mit kleinen Erkenntnistatsachen anhebt und diese von Anfang an mit affektiven und volitiven Vorzeichen versieht: »lieben« im Sinne von »hochschätzen« (die agape sollte später im Christentum eine große Karriere machen), »vorhaben« und »vorziehen« sogar von »uns« ausgesagt, womit Aristo6 Das hat er am 30. Juni 1954 getan, siehe Jacques Lacan: Seminar I: Freuds technische Schriften (Olten 1978): 340. 7 Die Ignoranz in dem spezifisch bösartig-wienerischen Sinn von »ned amoi ignorian«.

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teles auch sich selber ins Feld dieses Wollens stellt. 8 Wahrnehmungen mit Augen und mit Ohren führen zu Erinnerungen, Erinnerungen an eine Sache ergeben eine Erfahrung; viele ähnliche Erfahrungen bilden den Sockel, auf dem die Künste (auch im Sinne von Techniken) möglich werden – im Sinne von Herstellungsfähigkeit und -wissen. Mit der Kunst sind Lernen und Lehren verbunden und damit ein Wissen, das sich aufs Allgemeine richtet und näherhin aufs Weshalb, Aristoteles spricht da von »Ursache«. So nähert sich also Kunst der Wissenschaft, aber ihre spezielle Stärke liegt im Eingehen aufs Einzelne; wofür die ärztliche Kunst genannt wird, und da unterläuft Aristoteles bereits ein Unfall in Sachen Ontologie: es sei für ein Individuum ein Akzidens, dass es Mensch ist (siehe 981b 19). »Unfall« steht für eine Extremversion von Akzidens und obwohl ich hier bereits »ontologische« Wörter einführe, beziehe ich mich damit auf aristotelische Aussagen, die gar nicht in Richtung »Sein« oder »Metaphysik« fliegen, sondern menschliches Wollen, Sehen, Lieben thematisieren, die herkömmlicherweise dem Psychischen zugerechnet werden. Die Metaphysik beginnt »psychologisch«. Diese anthropologischen Bemerkungen wenden sich dann eindeutig dem Wissen zu. Innerhalb der Künstler unterscheidet Aristoteles die handwerklichen und die leitenden, bei diesen überwiegt das Wissen der Ursache und des Allgemeinen, und mit diesem Mehr an Wissen kommen sie der Weisheit näher. Deren Vollendung wird erreicht, wenn die Wissenschaften nicht mehr um der Lebensnotwendigkeiten willen betrieben werden, sondern in reiner Muße kultiviert werden. Was Aristoteles erstmals bei den ägyptischen Priestern realisiert sieht (siehe 981b 24). Den Sinneswahrnehmungen spricht Aristoteles die Qualität der Weisheit ab, da sie hauptsächlich Erkenntnis von Einzelfällen liefern. Thanos Lipowatz vertritt die These, dass die alten Griechen den Begriff des Wollens eigentlich nicht hatten. Umso erstaunlicher, wenn sich Aristoteles ihm hier deutlich nähert – und zwar ausgerechnet im Kontext der griechischen Spezialitäten Sehen und Erkennen. Ich nenne diesen Zusammenhang »Erkenntnispolitik«. Siehe Walter Seitter: Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft. Mit einem Vorwort des Autors zur Neuausgabe 2012 und einem Essay von Friedrich Balke: Tychonta, Zustöße. Walter Seitters surrealistische Entgründung der Politik und ihrer Wissenschaft (Weilerswist 2012).

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Allerdings hatte Aristoteles eingangs auch den Sinneswahrnehmungen die Möglichkeit zugestanden, ohne Handlungsdruck und rein um ihrer selbst willen praktiziert und »geliebt« zu werden, und insofern würden sie einen ähnlichen Platz einnehmen wie die Weisheit. Das Interesse für Kunst im modernen Sinn des Wortes könnte man da als Beispiel einsetzen. Mit der von ihm durchgeführten Aufstufung von Erkenntnisformen gelangt Aristoteles zum Begriff der »Weisheit«, welche es mit »gewissen Prinzipien und Ursachen« (982a 3) zu tun habe, und identifiziert diese mit der »Wissenschaft, die wir suchen« (983a 4). Anstatt von vornherein ein bestimmtes Wissenschaftsprogramm aufzustellen, hat er aus der Analyse des Wissens, genauer gesagt des Wissenwollens die Weisheit als höchste Wissenschaft aufgebaut. Und zwar als eine betrachtende (oder theoretische) Wissenschaft, die über den hervorbringenden (poietischen oder künstlerischen oder technischen) stehe – denen er aber in seiner Stufenanalyse einen beträchtlichen Stellenwert eingeräumt hat (siehe 982b 10). Mit der Weisheit greift Aristoteles auf eine Benennung zurück, die in Griechenland außerhalb der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte längst eingeführt war und einen hohen Stand an Wissen, Ratgebung und Herrscherklugheit bezeichnete. Die sogenannten Sieben Weisen waren Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die vornehmlich in politischen Funktionen tätig waren und von denen Weisheitssprüche überliefert wurden. Einige bekanntere sind Chilon von Sparta, Solon von Athen, Thales von Milet. Aristoteles macht sich das Prestige zunutze, das mit dem Wort »Weisheit« verbunden ist, und verwendet es – allerdings nur vorläufig – für die höchste Wissenschaft, die er offensichtlich mit diesem Buch begründen will. Also ein alter Name für eine neue – oder doch nicht ganz neue? – Wissenschaft. Für die Weisheit, die Aristoteles zum Konzept einer neuen Wissenschaft transformiert, gibt Aristoteles folgende Kriterien an: 1. weise ist, wer alle Dinge in ihrer Allgemeinheit kennt (soweit möglich); 2. weise ist, wer die schwierigen Dinge erkennt (also nicht bloß die wahrnehmbaren); 3. weise ist, wer genau ist und die Ursachen zu lehren versteht; 4. Weisheit ist die Wissenschaft, die um ihrer selbst 20 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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willen erstrebt wird, nicht wegen ihres Nutzens; 5. Weisheit ist die herrschendere Wissenschaft, denn der Weise soll anordnen, nicht gehorchen (siehe 982a 9 ff.). Die anthropologisch-epistemologischen Ausführungen schlagen eine politische Richtung ein: es geht auch um die Heranbildung einer politischen Elite. Heranbildung heißt: die Elite soll sich nicht einfach aus den Familien rekrutieren, die schon immer das Sagen hatten, sondern durch die Entwicklung einer Wissenschaft, die es noch gar nicht gibt. Des Weiteren führt Aristoteles aus, die Weisheit sei die Wissenschaft vom Allgemeinen, vom Ersten, vom Wissbarsten, von dem Worumwillen einer jeden Handlung, also vom Guten, ja vom Besten. Der Gegenstandsbereich dieser höchsten Wissenschaft verenge sich notwendigerweise auf ein Eines, welches die poietischen Wissenschaften hinter sich lasse, nach meinem Eindruck aber auch die Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Wissenschaften … (siehe 982b 6) Und an diesem Punkt macht Aristoteles den Sprung zu den Vorläufern der Problematik und spricht von denen, die als erste philosophiert haben – womit er die »Weisen« durch die »Philosophen« ersetzt. Dieser Titel ist eher der jüngere und das Wort »Philosophie« schaltet (wie Aristoteles selber in seinen ersten Sätzen) vor die intellektuelle Qualität eine volitiv-emotionale: Liebe zur Weisheit. Die Menschen wurden Philosophen, weil sie sich wunderten, und sie werden es immer noch aus diesem Grund (siehe 982b 13). Aristoteles verschränkt eine ungefähre Geschichtserzählung mit einer Strukturanalyse, in die er sich selber und seine gesuchte Wissenschaft hineinstellt und somit die ersten Schritte einer suchenden Wissenschaft tut. Neugriechisch könnten wir sagen: eine zetetische Wissenschaft. Die Menschen wunderten sich, weil sie mit Ausweglosigkeiten konfrontiert waren, aus denen sie allmählich »fortschritten«. Sie wussten um ihre Unwissenheit und stellten sich Fragen über die Gestirne oder gar über die Entstehung des Alls; sie philosophierten, um der Unwissenheit zu entkommen – die jetzt zum Movens der Wissensbewegung wird. 9 Wer voller Fragen ist und sich wundert, greift vielleicht zu Der Übergang von der Unwissenheit zum Wissen, den Aristoteles hier eher makrohistorisch ins Auge fasst, liegt auf einer anderen Ebene als derjenige, den Platon in

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den Mythen, die aus Wunderbarem zusammengesetzt sind. Damit schlägt der Philosoph eine Lanze für den Mythenfreund und ähnelt ihn dem Weisheitsliebenden an (982b 18). Die ganze Passage spricht auf zwei Zeitschienen – der Vorgeschichte sowie der Gegenwart – von der Erkenntnis-Anfangs-Situation und vom Erkenntnis-AnfangsWillen, von Aporien und Lösungsversuchen. Jenen Anfängern ging es nicht um die Lebensnotwendigkeiten oder -annehmlichkeiten, sondern um Einsicht um ihrer selbst willen – wie auch ein freier Mensch um seiner selbst willen lebt (also ein etwas anderer Übergang als der in Ägypten) (siehe 982b 23 ff.). Bei diesem griechischen Anflug von menschlicher Selbstbehauptung fällt Aristoteles ein Dichterwort ein, wonach die Götter sie als Hybris betrachten und sanktionieren würden. Dem setzt Aristoteles einen menschenfreundlichen Gott entgegen, was es ihm ermöglicht, sein Wissenschaftsprojekt erst recht zu theologisieren und dem Menschen ein Wissen vom Göttlichen, das zuerst dem Gott gehört, gleichwohl zuzutrauen (siehe 983a 6 ff.). Aristoteles hebt sein Wissenschaftsunternehmen dermaßen in die Höhe, dass er sie in die Nähe des Göttlichen rückt, wo er von der religiösen Tradition Einspruch befürchten muss – den er jedoch nach dem Vorbild Platons abwehrt. Die Sache mit dem Göttlichen scheint doch so oder so interpretierbar. Aristoteles verbindet seine Wissenschaftskonzeption mit einer geläuterten Fassung des Göttlichen, ohne ihr die Mühen der Ebene zu ersparen – nämlich den Ausgang von der Verwunderung über technische, geometrische oder astronomische Sachverhalte. Die Menschen müssen sich aus Unwissenheit und Staunen zu diesem Wissen emporarbeiten. Auch wenn das Ziel dieser Wissenschaft nun angegeben ist, so bleibt sie doch eine »gesuchte Wissenschaft« – und seinem berühmten Höhlengleichnis schildert. Dort geht es darum, dass ein Individuum gezwungen wird, aus dem Reich der Schatten ans Licht der Sonne aufzusteigen, wo es zuerst nur Blendung und Augenschmerz erfährt, bevor ihm die höhere und wahre Erkenntnis zuteil wird. Mit diesem Gleichnis motiviert Platon sein Erziehungsprogramm, um die künftigen Wächter des Staates zur nötigen Erkenntnis »umzuwenden«, und nennt es, wie später Aristoteles, »die von uns gesuchte Wissenschaft« (Politeia 515e – 533e). Sprach Platon von einer notwendigen »Umkehr«, so berichtet Aristoteles von allmählichen »Fortschritten«, beruhend auf dem Wissen von der eigenen Unwissenheit.

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die Untersuchung und die ganze Vorgangsweise steht nun erst bevor. (983a 20). Aristoteles betont also unablässig den anfänglichen und volitiven und operationalen Charakter seines Unternehmens. Dieses erste und ziemlich rasant vorgetragene Stück der Metaphysik haben wir im Januar, Februar und März 2011 gelesen. Zu der hier schon anklingenden aristotelischen Unterscheidung zwischen theoretischen, praktischen und poietischen Wissenschaften machten wir die Anmerkung, dass sich die heute üblichen Wissenschaftsklassifikationen weit davon entfernen. Diese sind ja von der universitären Zweiteilung in Natur- und Geisteswissenschaften ausgegangen, zu der dann noch die Sozialwissenschaften als drittes Element dazugekommen sind. An den Technik- und Kunsthochschulen etablierten sich zusätzliche Disziplinen, die einigermaßen den poietischen Wissenschaften im aristotelischen Sinn entsprechen würden (zu der allerdings auch die Medizin als Lehre der Heilkunst zu rechnen wäre). Man merkt schon, dass die Einteilungen grundverschieden sind. * Auch in diesem Winter finden wieder Sitzungen des Ersten Wiener Philosophen-Cafés statt. Es handelt sich um eine im Jahre 1996 gegründete Einrichtung, die auf eine Pariser Erfindung zurückgeht: samstags nachmittag wird bei freiem Publikumszutritt über ein jeweils schon festgelegtes Thema diskutiert, wobei es eher chaotisch als akademisch zugeht: es gibt hauptsächlich Anfängerphilosophen. Am 12. März lautet das Thema »Was ist Philosophie?« und es ging vor allem um die Nähe oder den Unterschied zwischen Philosophie und Religion. Die Problematik ist also gar nicht so weit von der entfernt, die im Text von Aristoteles auf zwei Zeitschienen behandelt wird. Wir fügen eine zusätzliche Zeitschiene hinzu. Im März 2011 ein Paris-Aufenthalt mit Christian Bertram und Simone Bernet (Berlin); Nachforschung im Nachlass von Pierre Klossowski; Treffen mit Sylvie Zucca, der Witwe von Pierre Zucca, der mit Klossowski fotografiert und gefilmt hat; außerdem Treffen mit den Psychoanalytikern Claude Duprat (Paris) und Christos Sidiropoulos (Thessaloniki). Diese Begegnungen stehen in Zusammenhang mit

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der erwähnten Klossowski-Lektüre und sie bereiten auch den Transfer von Klossowskis Denken nach Griechenland vor. Jede Wissenschafts- und Denktätigkeit spielt sich ja auch in der Geographie ab und ist daher auch mit topischen Vorzeichen versehen: da oder woanders, dableiben oder fortgehen, importieren oder exportieren. Die Geschichte der Philosophie wird jederzeit – also bis heute – von der Dimension der Geographie durchquert und auseinander gespreizt. Eine Aussage, welche an eine »Physik der Philosophie« denken lässt, wie sie dem »Physikalismus« des »Wiener Kreises« entspricht: Philosophieren selber als Raum-Zeit-Gebilde. Wenn wir in Wien Aristoteles lesen, ist das bestimmt keine besondere Leistung oder Innovation, denn das tut man in Wien seit dem 14. Jahrhundert, in dem die Universität gegründet worden ist. Im späten Mittelalter verbreitete sich die Aristoteles-Rezeption in ganz Westeuropa, im Lateinischen Europa; im gesamten Mittelmeer-Raum hatte sie naturgemäß schon früher eingesetzt. Zunächst bei den Griechen und Römern; Andronikos von Rhodos, der erste »Herausgeber« der erhaltenen Schriften von Aristoteles, hat möglicherweise auch in Rom gewirkt. In der neu aufkommenden christlichen Religion griffen einige Theologen auf aristotelische Lehren zurück; auch in den islamischen Ländern war ihr Einfluss bei vielen Gelehrten beträchtlich. 10 Dann kam die große Blütezeit des Aristotelismus in der westeuropäischen Scholastik, die allerdings seit dem 16. Jahrhundert in die Rolle der Nachhut geriet. Erst im 19. Jahrhundert setzte wieder ein intensives Interesse an Aristoteles ein, wobei vor allem Franz Brentano (1838–1917) zu nennen ist, der als Professor nach Wien berufen wurde und dessen Wirksamkeit bis zum »Wiener Kreis« verfolgt werden kann. Wenn wir uns hier mit Aristoteles beschäftigen, dürfen wir uns in seine Nachfolge stellen. * Es ist bekannt, dass arabische, persische und hebräische Gelehrte im frühen und hohen Mittelalter die Aristoteles-Rezeption im lateinischen Europa angeregt und befördert haben. Die Frage, in welchem Ausmaß das Abendland seine Kenntnis der antiken Kultur den orientalischen Anregungen verdankt, ist vor kurzem durch Sylvain Gougenheim aufgeworfen worden, der diesen Anteil geringer veranschlagt: Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel. Die griechischen Wurzeln des christlichen Abendlandes (Darmstadt 2011).

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Aristoteles’ Bemühung um die »gesuchte Wissenschaft« hat zunächst zu dem programmatischen Ergebnis geführt, dass es sich um die Wissenschaft von wenigen höchsten Ursachen handeln muss, zuhöchst von einer einzigen Ursache, nämlich von dem Gott, dem dieses Wissen selber im höchsten Maße zukommt. Dieses Wissenschaftsprogramm gipfelt also in einer äußerst knapp angedeuteten »Theologie«, die sich kaum an die polytheistische Volksreligion hält, die damals in Griechenland noch ziemlich uneingeschränkt das Feld beherrschte. Vielmehr erinnert sie an Monotheismus-Konstruktionen, die von mehreren griechischen Philosophen schon vor Aristoteles vorgeschlagen worden sind (und die man ihnen gelegentlich als Religionsfrevel vorgehalten hatte). Aristoteles wird erst im Buch XII seine philosophische Theologie zur Darstellung bringen. Er schiebt also hinaus. Im nun folgenden Abschnitt blickt Aristoteles ausführlicher auf die Vorgeschichte dieser Wissenschaft zurück und zur Einleitung in diesen historischen Rückblick modifiziert er seine Rede von den Ursachen ganz beträchtlich. Hatte er oben noch die Wissenschaft von möglichst wenigen Prinzipien zur höchsten erklärt (982b 26), so greift er nun aus der Physik, aus seiner Physik, die Lehre von den vier Ursachen heraus: »die Ursachen werden vierfach ausgesagt« oder es gibt vier Sorten von Ursachen – und zwar in dem Sinn, dass bei jeder Verursachung, also bei jeder Entstehung oder Bewegung oder Veränderung, alle vier Ursachen mitwirken, zusammenwirken müssen: das Wesen oder das Wassein, der Stoff, das Woher der Bewegung, das Ziel oder das Gute (siehe 983a 27 ff.). Diese Rede von vier Ursachen kann für unsere modernen Ohren nur dann verständlich werden, wenn wir uns zunächst einmal ihre Fremdheit klarmachen. Es handelt sich um vier ganz verschiedene, verschieden wirksame Faktoren, von denen wir nur dem als dritten genannten unser Wort »Ursache« zuordnen möchten (oder das Wort »Urheber«). Die beiden zuerst genannten Faktoren sind eher Bestandteile oder Elemente oder Komponenten, denn sie wohnen dem »Verursachten« oder dem Resultat inne: sie sind immanent; wobei dem Bestandteil, der »Wesen« heißt (oder »Substanz« oder »Essenz«) in der Ontologie die Hauptrolle zufallen wird. Das »Gute« war bereits genannt worden, es ist die Ursache, die vom Ziel her, die als Zielbestimmung wirkt und die von der modernen Wissenschaft am entschiedensten eliminiert worden ist; die aristotelische Teleologie galt in der Neuzeit vielfach als 25 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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schlechterdings »überholt«. Neuerdings urteilt man vorsichtiger, denn zu den Gegenständen der Wissenschaft, jedenfalls der Physik des Aristoteles, gehören mit den anderen Lebewesen auch die Menschen; und warum sollte eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Menschen sich weigern, nach erfüllenden Zielen im Menschsein zu fragen? Das notwendige Zusammenwirken der vier Ursachen läuft darauf hinaus, dass es eigentlich nur »Mitursachen« gibt – und diesen Begriff führt Aristoteles tatsächlich ein: etwa für Atmung oder Nahrung als »mitursächlich« in Bezug auf Lebewesen (siehe 1015a 20). Aristoteles vervielfältigt die Ursächlichkeit, differenziert sie sehr stark – und vermeidet damit so etwas wie Monokausalität. Zugunsten einer konstellativen oder strukturalen Kausalität, für die vielleicht auch andere Begriffe eingesetzt werden könnten. Wiederum spricht Aristoteles von den ersten Philosophen und charakterisiert sie hier als diejenigen, »die zur Untersuchung der Dinge übergegangen sind und über die Wahrheit philosophiert haben« (983b 2). Womit er vielleicht die eingangs erwähnte Unterscheidung von Objektsprache und Metasprache im Visier hat – das heißt die jetzt gesuchte Wissenschaft würde jene durch diese ergänzen. Indessen hätten jene Philosophen überwiegend die Auffassung vertreten, die Ursprünge aller Dinge lägen allein im Stoff beziehungsweise in einem Element, aus dem alle Dinge hervorgehen und in das hinein sie zugrundegehen, wobei die Wesenheit gleichbleibt und die Zustände sich ändern. Doch über die Art dieses Prinzips seien sie unterschiedlicher Meinung gewesen. Thales, den Aristoteles überhaupt zum archegos, das heißt Urheber, Gründer, Stifter, Erfinder, der Philosophie ernennt, habe gesagt, das Wasser sei das Prinzip. Der Titel archegos verbindet das griechische Wort für »Prinzip« mit »Führer«, das heißt, Aristoteles nennt für die spezielle Ebene der Historie, der Wissenshistorie, eine Rolle, die er mit seinem eigenen Projekt für sich in Anspruch nimmt; nämlich selber »Ursache« zu sein. In so abstrakte Begriffe wie »Ursache« oder »Prinzip« können eben auch Menschen eintreten. Dass er einen speziellen Wissenschaftsbereich bereits ausgearbeitet hat, nämlich die Physik, erwähnt er ausdrücklich (siehe 983b 7 ff.).

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Wir haben es also an dieser Stelle mit drei Wissenschaftsformen zu tun: mit der hier gesuchten und langsam entwickelten Wissenschaft, die über den Buchtitel dann den Namen »Metaphysik« bekommen wird, mit der erwähnten und von ihm bereits ausgearbeiteten Physik, aus der einige Bausteine jetzt übernommen werden. Und drittens mit der überhaupt nicht thematisierten, wohl aber skizzenhaft durchgeführten Geschichtsschreibung, von der gar nicht sicher ist, dass sie überhaupt eine Wissenschaft ist (zu der wurde sie eigentlich erst unter dem modernen Sammelbegriff »Geisteswissenschaften« erklärt). In seiner Poetik hatte er die Historiographie als weniger »philosophisch« denn die Dichtung bezeichnet – jetzt versucht er sich in der Historiographie der Philosophie. 11 Aristoteles stellt eigene Vermutungen dazu an, was Thales zu seiner weitreichenden Annahme über das Wasser bewogen haben könnte, eine Erklärung bezieht sich auf den offensichtlichen Zusammenhang zwischen Feuchtigkeit, Wärme und Lebendigkeit – also einen biologischen Zusammenhang, womit sich vielleicht die biologische Ausrichtung der aristotelischen Physik andeutet. Andererseits erwähnt Aristoteles auch ganz andere Vertreter des »Urprinzips Wasser«, nämlich die ersten »Theologen«, die in uralten Zeiten die Meeresgottheiten Okeanos und Thetys zu den Eltern der Weltentstehung erklärt haben. Diejenigen, die solchermaßen »theologisiert« haben und damit die Volksreligion geprägt haben, haben offensichtlich mit der Personifizierung von Naturmächten eine ganz andere Sprache gesprochen als die Philosophen, auch eine sexuellere Sprache, aber die Sprachen scheinen ineinander übersetzbar zu sein (983b 29 ff.). So scheint Aristoteles die Vorgeschichte seines Unternehmens als Parallelgeschichte von Philosophie und – mythischer – Theologie zu betrachten, wobei die Theologie dann aber gleich zurücktritt; erst in Buch XII wird er im Zuge der Vollendung seines Philosophierens plötzlich auf Gott stoßen. Dann nennt Aristoteles einige Nachfolger des Thales, welche die Luft oder das Feuer zum Urelement erklärt haben oder aber alle vier sich ineinander verwandelnden und unvergänglichen Elemente dafür eingesetzt haben – so Anaximenes von Milet, Diogenes von Apollonia, Hippasos von Metapont, Heraklit von Ephesos, Empedokles von 11

Siehe Walter Seitter: Poetik lesen (Berlin 2010): 123 ff.

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Akragas, Anaxagoras von Klazomenai. Die geographische Streuung dieser Philosophen zwischen Sizilien, Kleinasien und (dem heutigen) Bulgarien zeigt, dass sich die Philosophiegeschichte nicht nur im Nacheinander, sondern auch im simultanen Mit- und Gegeneinander abspielt: immerhin ermöglicht diese Zeitrelation am besten die Praxisform der Diskussion. Allen bisher genannten frühen Philosophen unterstellt Aristoteles, dass sie zunächst nur Stoff-Ursachen anerkannt haben. Da sie sich aber so auf den Weg machten, habe ihnen die Sache selbst den Weg gewiesen und sie zu weiterer Forschung gezwungen. Hier wird neuerdings vom »Fortschreiten« gesprochen, doch wird den Denkern plötzlich ein anderer Akteur an die Seite, ja sogar »vor«gesetzt: das »pragma«, die Sache, die zu erkennende Sache (984a 18 ff.). Ein Subjektwechsel, eine Subjektvermehrung, die man Aristoteles gar nicht zutrauen würde, wenn man ihn ganz und gar auf einen commonsense-Philosophen reduziert. Ist es erlaubt, hier an den französischen Wissenschaftssoziologen Bruno Latour zu denken, der neben den menschlichen Akteuren auch nicht-menschliche Aktanten annimmt, wobei Aristoteles die Wissenschaftsobjekte zu Subjekten (im modernen Sinn) ernennt? Oder könnte man sagen, Aristoteles transformiert Jörg Rheinbergers »epistemische Objekte« zu »epistemischen Subjekten«? Ich würde hier auch von einer Dramatisierung des Wissenschaftsprozesses sprechen, da das Streben nach Wissen oder die Liebe zur Weisheit, welche jenen Philosophen unterstellt werden kann, von der Objektseite angetrieben wird, und zwar von der Dimension der Objekte selbst, die noch unterhalb der Dimension von Wissen oder Weisheit angesiedelt ist. Vermehrung der Antriebskräfte im Wissenschaftsprozess, welche zu einer Erweiterung der »Ursachen« im aristotelischen Sinn führt. Nämlich über die Materialursächlichkeit hinaus zur Beweg- oder Wirkursächlichkeit. Denn die Stoffe wie Holz oder Erz seien nicht in der Lage, Veränderungen herbeizuführen, die etwa eine Statue ergeben. Es habe Denker gegeben, die einem der Elemente so eine Bewegungskraft zugesprochen haben, etwa dem Feuer. Außerdem könnte man vielleicht dem allerdings schwierigen Parmenides die Erkenntnis einer Bewegursache zutrauen. Nach diesen Versuchen, die auch nicht hinreichten, die Natur der Dinge zu erklären, wurden einige Denker »von der Wahrheit selbst 28 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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gezwungen« (984 b 10), das nächste Prinzip zu suchen. Jetzt soll also vom Meta-Objekt »Wahrheit« die Motivation, ja der Zwang ausgegangen sein, die Ursachenforschung weiterzutreiben – um das Gutsein und die Ordnung der Dinge zu erklären, wozu die Elemente nicht ausreichen. Dass so eine gewichtige Angelegenheit irgendeinem Zufall zuzuschreiben sei, konnte nicht befriedigen. So hat denn der schon genannte Anaxagoras behauptet, die den Lebewesen und der Natur innewohnende Vernunft sei die Ursache jeder Schönheit und jeder Ordnung. Demnach sei die Ursache des Guten gleichzeitig ein Prinzip der Dinge, das die Dinge in Bewegung setze. Aristoteles führt dann einige »mythologisch« klingende Aussagen an, die so etwas wie Liebe oder Begierde als Prinzip in den Dingen annehmen – sie stammen von Hesiod und von Parmenides. Liebe und Begierde scheinen tatsächlich Bewegungen, Bewegungsantriebe in den Dingen zu sein, die wir als animalische kennen, angefangen bei den Pflanzen, die nur aufnehmen, was sie »brauchen«. 12 Die oben erwähnte psychologische Thematik des ersten Abschnitts scheint auf der zoologischen Ausrichtung des aristotelischen Denkens zu beruhen, die man als »Animalismus« bezeichnen könnte, der sogar einen gewissen »Animismus« suggeriert. 13 Sowohl Hesiod (750–680) wie auch Parmenides (540–480) führen Eros als den ersten unter den Göttern ein und damit bewegt sich die Suche nach der Ursache des Guten und des Schönen zwischen einer umfassenden Vernunftlehre und einer zoologischen wie auch anthropologischen Wunschlehre. Da es in der Natur aber auch das Gegenteil des Guten gibt, die Unordnung und das Hässliche und vielleicht sogar mehr Schlechtes als Schönes, wie Aristoteles selber einzuräumen scheint, hat Empedokles die Freundschaft als Ursache des Guten, den Streit als Ursache des Schlechten eingeführt (984b 23 ff.).

Zum Zusammenhang zwischen »gut« und »Wunsch« siehe neuerdings Ulla Wessels: Das Gute. Wohlfahrt, hedonisches Glück und die Erfüllung von Wünschen (Frankfurt 2011). Dass Vorzugs- und Nachsetzungsakte schon im »Fühlen« impliziert sind, hat Max Scheler am Anfang des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet. 13 »Animismus« oder auch »Animatismus« werden Ansichten von einer allgemeinen Belebung der Natur genannt. Bis vor kurzem hat man sie in die Ethnologie abgeschoben, was sich nun zu ändern scheint. Siehe etwa den Sammelband I. Albers, A. Franke (Hg.): Nach dem Animismus (Berlin 2017). 12

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Die von Aristoteles selber sowie von den genannten Vorläufern gesuchte Wissenschaft muss etwas Gutes sein, sonst würde sie ja nicht sowohl ihn wie auch jene in Bewegung setzen, sodass diese Leute sich selber in Bewegung setzen und miteinander, teilweise auch gegeneinander, diese Wissenschaft voranbringen, in die Welt setzen. Allerdings machen sie das nach Ansicht des Aristoteles teilweise so schlecht, dass er einen Streit vom Zaun bricht und dem Anaxagoras vorwirft, er setze bei seiner Lehre von der Weltherstellung die Vernunft wie einen deus ex machina ein – was nach dessen Einschätzung in der Poetik ein vernichtendes Urteil ist. 14 Generell gilt, dass das Streben nach dem Guten und das Gute sich wechselseitig aktivieren und insofern verursachen, sodass »von allem Guten das Gute selbst die Ursache ist« (985b 9). Ob daraus weitreichende Schlüsse für die Kosmologie gezogen werden können, sei jetzt einmal dahingestellt, nämlich woandershin gestellt. Für uns selber jedoch, für unser Tun und Lassen können wir schon die Lektion lernen, dass wir uns von wichtigen Dingen wie bestimmten Personen oder Aufgaben dazu bewegen lassen, etwas in Bewegung zu setzen. So kommen reziproke Verursachungen in Gang, die man als »Kosmopolitik« bezeichnen kann, sei es auch nur »Mikrokosmopolitik«. Im Wort »Kosmos« überlagern sich ja faktische Bedingungs- und Koexistenzverhältnisse mit Effekten von Ordnung und Schmuck. * Nach dem Sommer 2011 mache ich Anfang Oktober eine sechstägige Reise nach Griechenland, die sich zunächst unglücklich ankündigt, da der morgendliche Flug nach Athen wegen Streiks des Bodenpersonals in Griechenland ausfällt. Ungewisses Warten auf dem Flughafen in Wien, immerhin erfreuliche Lektüre eines Zeitungsartikels von Otfried Höffe über Textsorten in der Philosophie: Lehrgedicht (Empedokles), Dialog (Platon), Abhandlung (Aristoteles), Essay (Montaigne), Aphorimus (Pascal) … 15 Schließlich kann um 17 Uhr 30 ein griechisches Flugzeug starten. Über dem Balkan gegen Westen ein greller und sehr farbenreicher Sonnenuntergangshimmel, unter Siehe Walter Seitter: Poetik lesen (Berlin 2014): 15 ff. Siehe Ottfried Höffe: Vorsicht, intellektuelle Handgranate, in: Frankfurter Allgemeine, 1. Oktober 2011.

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mir verstärken sich die blauen Schatten und sie steigen wie ein Wasser höher und höher: ich sehe mit größter Deutlichkeit fast eine Stunde lang das Entstehen, das Aufsteigen der Nacht vom Boden, das heißt von der Erde aus, bis sich vom Osten aus schließlich das Schwarz der Nacht durchsetzt, das ab 20 Uhr »weihnachtlich« von Lichtern punktiert wird. 16 Ex oriente lux – atque nox. Ankunft in Athen 21 Uhr, langwierige Busfahrt zu einem obskuren Busbahnhof, mit dem Regionalbus Ankunft in Argos um 5 nach 24 Uhr. Blick auf die beleuchtete Festung Larissa. Argos hat einen großen antiken Namen, hat sehr ansehnliche und wenig beachtete antike Denkmäler und ist eine Stadt, die ganz und gar den Griechen gehört – im Unterschied zu den berühmten Stätten Tyrins und Mykene in der Nähe. Ich besuche das stille Hera-Heiligtum auf den trockenen Wiesen über den Obstgärten, das riesige Theater aus hellgrauem Stein, das in der Nacht beleuchtete Nymphaion – überall bin ich da der einzige und deswegen sogar ein als verdächtig betrachteter Besucher. Argos möchte eine »normale« Stadt sein. Die Festung Larissa, die von mykenischen bis zu osmanischen Zeiten wieder und wieder befestigt und gestürmt worden ist, wirkt aus der Ferne immer noch so, als wäre sie immer noch fest und erhaben (wie die Festung Hohensalzburg). Besuch in Nemea, der einsamen Heiligtumsruine zwischen den Weingärten, wo man zu den erhaltenen Säulen des Zeus-Tempels einige zusätzlich neu aufstellt; suche vergeblich nach den Resten der Stadt Kleonai. Abschließend ein Tag in Athen, Empfang mit polizeilichem Tränengas. Sitze dann zu Füßen der nächtlich – auch mit hellem Halbmond – beleuchteten Akropolis. Am nächsten Tag auf der vielbesuchten Akropolis – moderne Baustelle. Abstieg ins Dionysos-Theater. In der Agora finde ich einen Granatapfel, Feigen. Immer wenn ich in Griechenland Obst finde, eigentlich »stehle«, fühle ich, dass ich in Griechenland bin. Zugabe zu den Steinen.

Diese langsame und deutliche Wahrnehmen der Entstehung der Nacht hat meinem Wissen von ihr eine neue Präzision verliehen, nachdem ich ein solches bereits in einem Buch niedergelegt hatte: Geschichte der Nacht (Berlin 1999); Zur Physik und zur Technik und zur Ästhetik der Nacht. Ein Beitrag zur Nyktologie, in: A. HussleinArco u. a. (Hg.): Die Nacht im Zwielicht. Kunst von der Romantik bis heute (München, London, New York 2012): 32 ff.

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Am 18. Oktober ist Friedrich Kittler (1943–2011) gestorben, dessen theoretisches Arbeiten sich von der Germanistik in die Medientheorie gedreht hat, die er zu einer hintergründig politischen Kulturwissenschaft ausgebaut hat, mit der er – nach Michel Foucault und anderen – eine ganze Archäologie des Abendlandes in Angriff genommen hat, von der nur die Bände zur griechischen Antike erschienen sind; doch die weiteren Folgen hat er mit seinen materialreichen Analysen zum 19. und 20. Jahrhundert nach Christus schon durchblicken lassen: Analysen zu seiner unmittelbaren Herkunft – denn er stammt wie ich aus dem Zweiten Weltkrieg. Seine narrativen wie auch physikalistischen Einlassungen in die griechische Antike profilieren Wissenschaften und Philosophie vor dem Hintergrund von Götterverehrung und Poesie. Obwohl Aristoteles zu der mit Athen verbundenen Dekadenz gezählt wird, schneidet er insgesamt gut ab und bekommt einige treffende Attribuierungen. 17 Das Lykeion in Athen ist jenes antike Gymnasion, in dem Aristoteles seine Schule untergebracht hat und in das ich mich im Herbst 2009 verbotenerweise eingeschlichen habe. 18 Heute, am 28. Oktober 2011 berichtet die Zeitung TO BHMA über die derzeitige Ausgrabungsstätte mitsamt einem Foto, das zeigt, dass die seinerzeitige große Wiese jetzt abgetragen ist. Das Erdreich liegt zutage und man sieht ziemlich viele Mauerreste. Diese werden von den Archäologen als Sportplatz, Palaistra, Arena, Raum zum Einölen, Bäder, Säulenhalle, Leseraum identifiziert. Welche Ausgrabungen direkt der Aristotelischen Schule zugeordnet werden können, geht aus dem Artikel nicht hervor. Anscheinend war das Gymnasion die übergeordnete, die gastgebende Institution und vielleicht rekrutierte sich der Schülerkreis um Aristoteles auch aus den jungen Leuten, welche die Ephebenschule bevölkerten. Fest steht, dass Aristoteles als Ausländer in Athen nicht über Grundbesitz verfügen durfte; er konnte die Räumlichkeiten nur als Gast oder Mieter nutzen. *

Siehe Friedrich Kittler: Musik und Mathematik I. Hellas 1: Aphrodite, Hellas 2: Eros (München 2006, 2009); Walter Seitter: »Ich bin selbst ein Ding aus der Vergangenheit«. Friedrich Kittler und andere Kinder des Zweiten Weltkriegs, in: Einundzwanzigste Etappe (Bonn 2011/2012). 18 Siehe Walter Seitter: Poetik lesen 2 (Berlin 2014): 73 f. 17

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In der Metaphysik zuletzt zwei, wenn schon nicht absichtliche, so doch faktische Bezugnahmen auf die Poetik, die darauf verweisen, dass die sog. Metaphysik ein »Metabuch« gegenüber allen »normalen« Büchern des Aristoteles ist. Die Kritik des Deus ex machina in der Poetik und die Kritik an der Theorie des Anaxagoras mithilfe der Deus ex machina-Metapher richten sich beide gegen den Mangel an Kohärenz, Schlüssigkeit. Aristoteles erwartet Kohärenz sowohl von der Dichtung wie von der Theorie – insofern schiebt er diese beiden Gattungen doch näher zusammen, als er in seinen Erklärungen kundtut. Wenn er den Einbruch des »Religiösen« sowohl in die Dichtung wie in die Theorie kritisiert, heißt das, dass er das Religiöse grundsätzlich ablehnt? Oder kann man ihm unterstellen, dass er von der Religion eine – derartige – Kohärenz gerade nicht erwartet? Oder dass auch in der Religion eine gewisse Kohärenz am Werk sein könnte – vielleicht eine andere? Sieht man im Tempel eine auf Dauer gestellte Theatermaschine, die einem Gott auf Dauer Aufenthalt zuweist, so könnte man sagen, diese Gottes-Maschine sei sehr wohl kohärent, konsistent, in ihrer Struktur »notwendig-wahrscheinlich«, d. h. kontinuierlich, permanent, stabil, zuverlässig (dazu muss sie aber baulich und liturgisch »erhalten« und »betrieben« werden). Nun zu zwei anderen Theorie-Vorgängern oder »Vorsokratikern«: Leukipp und Demokrit. Sie nehmen zwei andere Elemente an: einerseits das Volle, andererseits das Leere, die sie als das Seiende und das Nicht-Seiende bezeichnen – wobei letzteres genauso »seiend« ist wie das erste. Das Volle wird auch das Feste und der Körper genannt. Aus diesen beiden Elementen konstituiert sich die Mannigfaltigkeit der Dinge und Erscheinungen durch dreierlei Differenzierungen, nämlich nach Schema, Anordnung und Position, bzw. durch Rhythmus, Zusammenhalt oder Wendung, wofür Aristoteles die Unterschiede zwischen den Buchstaben-Erscheinungen A – N, AN – NA, Z – N herschreibt bzw. -zeichnet (985b 3 ff.). Schlagartig führt er damit vor Augen, vor seine und unsere Augen, dass es die Metaphysik, die er gerade schreibt, nicht nur mit der Kosmologie oder gar Kosmogonie zu tun hat, sondern auch mit so kleinen Erscheinungen, die wir künstlich erzeugen: Makrokosmos, Mikrokosmos, Physiokosmos, Technokosmos. Die genannten »Atomisten« scheinen sich für die Ebene der Geometrie oder Topologie zu interessieren. Allerdings hält Aristoteles ihnen vor, dass auch sie die Bewegung, wodurch die jewei-

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ligen Zustände zustandekommen, nicht erklären können: sie unterschlagen die Bewegursachen. Aristoteles geht zu einer anderen Theoretiker-Schule über. Zu den Pythagoreern, die sich erfolgreich mit der Mathematik beschäftigten, wodurch sie allerdings zur Annahme verführt worden sind, dass die Prinzipien der Mathematik die Prinzipien von allem und jedem seien (985b 22 ff.). Und wenn sie eine Zahl für vollkommen hielten, passten sie ihre Theorie auch entgegen der empirischen Realität einer solchen Zahl an. Allerdings steht im Griechischen hier gar nicht das Wort »Theorie« – sondern beinahe das Gegenteil davon: pragmateia. Und das heißt: Beschäftigung, Unternehmung, Arbeit, Studium. Mit pragmateia bringt Aristoteles den Tätigkeitscharakter der Wissenschaft geradezu schlagartig-metaphorisch zur Darstellung: er setzt einfach das Wort »Tätigkeit« oder »Pragmatik« für Wissenschaft, Theorie, Forschung. Er ersetzt durch diese Benennung »Wissenschaft« durch – »Machenschaft«. »Machenschaft« war das schon ziemlich polemische Prädikat, das Heidegger der Wissenschaft zugesagt hat. Die Pragmatisten und Heidegger – beides haben wir in diesem aristotelischen Satz mit dem Wort pragmateia – das auf die Pythagoreer gemünzt ist. Und die »gesuchte Wissenschaft«, die zur »suchenden Wissenschaft«, zur »Suchbewegung« umgedreht worden ist, weil sie sich selber dazu gedreht hat? Die Pythagoreer führten die Zahlen auf deren Elemente ungeradegerade zurück und stellten davon ausgehend Paare von Gegenteilen auf und erklärten diese Gegenteile zu Prinzipien der Dinge. So weißschwarz, groß-klein, gut-schlecht – insgesamt zehn Gegensatz-Paare. Auf diese Weise näherten sie sich einer weiteren Gattung von »Ursache« – nämlich dem Wesen oder Was-ist (986a 18 ff.). Doch sie konnten den Ursach-Begriff nicht klären und einige von ihnen gelangten zur Auffassung von nur einem Seienden, so Parmenides, der diese Lehre doch nicht durchhielt, weil er der Einheit des Begriffs die Vielheit der Wahrnehmung gegenüberstellte, die er allerdings als nicht-seiend bezeichnete (986b 27 ff.). Eben aus dieser grundlegenden Aporie sollte sich Aristoteles mit seiner flexiblen Ontologie herauskatapultieren.

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»Nach den besprochenen Philosophien entstand dazu, kam dazu …« (987a 29) Zum ersten Mal in dieser später »Metaphysik« genannten Schrift die Präposition meta im Sinne von »nach«, nach den in den Plural gesetzten »Philosophien«. Diese Pluralsetzung ist die typische Geste der Philosophiegeschichte und sie wird von manchem Philosophen als eher unphilosophisch oder antiphilosophisch empfunden, als Relativierung, Vergleichgültigung. Was kam dann dazu? Die Philosophie Platons? Ja, gewiss. Aber jetzt setzt Aristoteles statt »Philosophie« – wieder – das Wort ein, das uns schon oben ziemlich unphilosophisch vorgekommen ist: pragmateia – was ja eigentlich Aktivität, Unternehmung bedeutet. Aristoteles behält also seinen eher distanzierten Ton bei, obwohl sein historischer Bericht jetzt eigentlich eine andere Positionalität einnimmt: denn während er von den »vorplatonischen« Philosophien wohl eher aufgrund von »Hören-Sagen«, vielleicht aufgrund der Lektüre von Texten berichten konnte, kennt er die Lehre Platons aus eigenem und zwar jahrelangem Zuhören bei Platon persönlich, gewiss auch von vielen Diskussionen, die er selber mit ihm geführt hat, also von direktem Hören und Sprechen, vom »Sprechen-Hören« (oder wie man das nennen soll). Allerdings merkt man davon – jedenfalls zunächst – keine Veränderung in seinem Ton, nur dass der Bericht ausführlicher, detaillierter wird. Aristoteles erwähnt die sehr verschiedenen Lehrer Platons und betont, dass er ihnen allen in gewissen Punkten folgte: wie ein Fortsetzer und Zusammenführer unterschiedlicher Traditionen. Seine pragmateia hatte aber auch viele eigene Züge gegenüber der »Philosophie der Italiker«. Den Lehrmeinungen des Heraklit (hier eine sehr andere Bezeichnung für dessen Philosophie) folgte er insofern, als auch er daran festhielt, dass die wahrnehmbaren und ständig fließenden Dinge wissenschaftlich nicht erfasst werden können, also nicht definiert werden können. Hauptsächlich sei er dem Sokrates gefolgt, der in den Fragen der Ethik das Allgemeine aufgesucht und Definitionen aufgestellt habe. Daraus habe er die Ideen oder Formen gemacht (siehe 987b 3). Wörtlichste Übersetzungen für idea und eidos: die »Sicht« und das »Gesicht« (Gesehenes, Aussehen, Gestalt). Mit diesen Wörtern unterstellt Platon, dass die Ideen »eigentlich« sehr wohl sichtbar sind – allerdings nicht für unsere irdisch-körperlichen Augen. Die gewöhnlichen Sinnesdinge existieren kraft einer Nachahmung an jenen Ideen oder Formen, kraft einer Teilhabe an ihnen. Für Aristoteles sind das unklare Begriffe (987b 14). 35 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Und dann fügt Aristoteles dieser bekannten platonischen Lehre noch eine weitere Ebene hinzu, er schaltet ihnen ein zusätzliches Geschoss vor: die Ideen beruhen auf »Elementen«, die sich in die »stofflichen« und die »wesenhaften« (= ideenhaften) gliedern: »das Große und das Kleine« (oder die »Zweiheit«) sowie »das Eine« (987b 20 ff.). Also eine sehr abstrakte zusätzliche Ebene von Prinzipien, die übrigens vor einigen Jahrzehnten als Platons »ungeschriebene« oder gar »Geheimlehre« ein gewisses Aufsehen erregte. Wie Aristoteles bemerkt, nähert sich Platon damit der pythagoreischen Lehre an. Auffällig scheint mir, dass auch auf dieser tieferen (oder höheren) Ursachenebene so etwas wie »Gott« nicht aufzutauchen scheint, ebenso wenig wie auf der Ebene der Ideen. Insofern bei Platon eine »gottlose« Prinzipienlehre? Aristoteles gesteht Platon zu, dass er als ungefähr einziger unter seinen Vorgängern die Wesens- oder Formursache überhaupt zur Sprache gebracht – wenn auch nicht angemessen artikuliert – habe. Insgesamt hätten seine Vorläufer seine eigene Lehre von den vier Ursachen indirekt bestätigt, da sie keine darüber hinausgehende genannt hätten. Die Weshalb-Ursache sei allerdings von keinem mit ausreichender Präzision behandelt worden. Aristoteles setzt seine kritische Auseinandersetzung mit den ihm vorausgehenden Ursachenforschern fort und in diesem Zusammenhang nennt er eine bestimmte Disziplinbezeichnung zum ersten Mal: er spricht von denen, die »Physiologie« machen, wörtlich also »Naturlehre« oder »Naturkunde« (988b 27). Diese Bezeichnung hat er aber nicht erfunden, sie hat durchaus »historischen« Charakter, denn einige Vorsokratiker hatten ihre Bücher so genannt. Aristoteles hat in der Poetik Empedokles als Physiologen bezeichnet (1447b 20). Wir können annehmen, dass Aristoteles sich diese Bezeichnung nicht zueigen macht – weder für seine Vorlesungen über die Natur und schon gar nicht für die hiesige Untersuchung. Pauschal wirft er jenen Vorläufern vor, dass sie die Beweg-Ursache sowie die Was-Ursache nicht berücksichtigen, ferner dass sie von den sogenannten »einfachen Körpern« – damit sind hier die vier Elemente gemeint – allzu leichtfertig einen zum Prinzip erklären: mit der Erde machen sie das allerdings nicht, die scheint ihnen denn doch dazu ungeeignet (dazu gleich weiter unten). Zu diesen Elementen macht Aristoteles nun eine Ausführung, die sie im Grunde genommen auf ein Grundelement zurückführt: denn sie entstehen, so seine Ansicht, auseinander durch Zusammendrückung oder Auseinanderziehung in der Reihenfolge 36 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Feuer-Luft-Wasser-Erde (oder umgekehrt). Die erste Reihenfolge, die vom Feuer ausgeht, scheint ihm die plausibelste, weil dieses der kleinteiligste und feinste, daher auch der höchste und vornehmste Körper ist. Rudolf Steiner hat in seiner Rede vom sogenannten »Feinstofflichen« diese Hierarchisierung übernommen: das Feinstoffliche bildet bei ihm den Übergang zum »Geistigen« – so eindeutig liegen die Verhältnisse bei Aristoteles aber wohl nicht. Aristoteles behauptet, Feuer, Luft oder Wasser seien von einzelnen Theoretikern jeweils zum ersten Prinzip ernannt worden. Und schließt dann die Frage an: Wieso nicht die Erde, wie doch die meisten Menschen meinen? Jetzt führt er ein anderes Wissenssubjekt ein, sozusagen ein demokratisches oder populistisches: »die meisten Menschen«, die meinen, alles, genauer gesagt alle Dinge ist (sind) Erde: 989a 10. Übrigens hatte Aristoteles in seinem allerersten Satz »alle Menschen« zum Subjekt eines – eben allgemeinen – Wissensstrebens gemacht. Aber in seiner nun schon viele Seiten langen Theoriegeschichte kommen eben nur Theoretiker vor und demgegenüber scheint mir sein Eingehen auf eine andere Ansicht der »vielen Menschen« bemerkenswert. Ich würde meinen, es handelt sich um eine bäuerliche, vielleicht sogar um eine jägerisch-sammlerische, Ansicht. Und deshalb gerade nicht um die Ansicht der frühen Theoretiker, die ja wie Lacan gemeint hat, Herren waren, welche sich das Wissen der Sklaven aneigneten. Aristoteles nennt diese Ansicht »archaisch und volkstümlich« (989a 12). Diese Stufe liegt noch vor der der »Physiologen«. Aber auch sie hat einen prominenten Sprecher: den schriftstellernden Bauern Hesiod, der nicht in seinem Buch über die Bauernarbeit, sondern in dem über die Kosmo- und Theogonie von der Erde als dem zuerst entstandenen Körper schrieb: meinte er damit eher den Himmelskörper oder das weich-harte Material, aus dem alles wächst? Hesiod zählt nicht zu den Philosophen, sondern zu den Dichtern, und zwar zu den ältesten Dichtern; eventuell kann man ihn in die Nähe der »Weisen« rücken, die hauptsächlich Staatsmänner waren und von denen »Sprüche« überliefert sind. Gleichzeitig betont Aristoteles das Volkstümliche dieser Ansicht – um sie jedoch als für Theoretiker zu unfein, zu grobschlächtig hinzustellen. Für diese kann nur das Feuer seiner Natur nach das erste Element sein – was aber nicht ausschließt, dass der Entstehung nach doch die Erde das erste Element ist. Diese Diskussion steht wie angedeutet unter der Voraus-

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setzung, dass die vier Elemente nur vier Versionen oder auch Aggregatszustände eines einzigen Grundstoffes sind. Andere Theoretiker wie Empedokles, die ebenfalls diese vier Elemente ansetzen, sehen darin tatsächlich vier oder immerhin zwei eigentliche Grundstoffe, die nicht aufeinander zurückgeführt werden können. Relativ ausführlich wird wiederum Anaxagoras kritisiert, der zwei Prinzipien ansetzt: das Eine oder die Vernunft, das Andere oder das Unbestimmte oder das Vermengte. Die Formulierung dieses zweiten Prinzips hält Aristoteles für ungenügend, gleichwohl gesteht er Anaxagoras zu, etwas geahnt zu haben, was als moderne oder heutige Ansicht gilt (siehe 989a 30 ff.). Aristoteles macht nun eine große Zweiteilung in Bezug auf seine »Vorgänger«: die einen beschäftigen sich nur mit Dingen oder Phänomenen, die entstehen, vergehen und sich bewegen, die anderen hingegen »machen die Theorie (Betrachtung) aller Seienden, sowohl der sinnlich wahrnehmbaren wie der nicht wahrnehmbaren«. Da er sich diesen näher fühlt, will er auf Richtigkeit und Unrichtigkeit prüfen, was sie für seine bevorstehende Untersuchung zu sagen haben. Und dabei hat er die Pythagoreer im Auge, die sich entfernterer Prinzipien bedienen als die »Physiologen« (welche nur die »Natur« im engeren Sinn betrachten). Doch auch die Pythagoreer beginnen mit der Betrachtung der »Natur« – also des Himmels mit seinen Teilen, Zuständen und Aktivitäten. Sie behaupten jedoch, sie könnten sich zu höheren Dingen erheben; tatsächlich können sie mit ihren Prinzipien nicht einmal die natürlichen Dinge erklären, für deren tatsächliche Eigenschaften (leicht, schwer, Feuer, Erde) sie sich gar nicht zu interessieren scheinen (989b 28 ff.). Um es im traditionellen philosophischen Jargon zu sagen: wer keine »Physik« zustandebringt, ist deswegen noch lange kein guter »Metaphysiker« – so einfach-negativ geht es nicht. Aristoteles wendet sich wieder den Platonikern zu und kritisiert die Art und Weise, in der sie die Existenz von Formen, genauer gesagt von »Ansichten« oder »Arten« beweisen. Gibt es Formen auch von Negationen, von vergänglichen oder schon vergangenen Dingen: von allen Dingen, von denen es Wissenschaften, Begriffe, Vorstellungen gibt? Also auch von der Bezüglichkeit und somit von den Akzidenzien – und nicht nur von den Substanzen? Eine solche Position läuft einerseits darauf hinaus, möglichst viele »Ideen zu schaffen«, und andererseits die Dinge oder Entitäten, deren »Sein wir mehr 38 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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wollen«, geradezu »aufzuheben« – und zwar schlichterweise nicht in dem raffinierten dreifachen Sinn Hegels, sondern einfach im Sinn von beseitigen, abschaffen (990b 18). Aristoteles versteigt sich hier zu einer voluntarististischen und konstruktivistischen Sprache über Theorien, wobei er für sich selber einen Voluntarismus in Anspruch nimmt – einen »Willen zum Sein« von bestimmten Dingen, den Gegnern jedoch, nämlich den übermäßig platonisierenden Theoretikern, eine »Produktion« unterstellt, welche die »Destruktion« der von ihm bevorzugten Dinge zur Folge hat. Wenn es sich hier tatsächlich um einen Ausdruck der aristotelischen Position handelt, dann ist sie vor allem aufgrund ihrer Formulierung interessant, die die eigene theoretische Position als Willenshaltung oder Willensentscheidung darstellt und die entgegengesetzte als wirkungsmächtiges Handeln: Theorie als Entscheidung, Theorie als Schaffung bzw. Zerstörung von Gegenständen. Inhaltlich aber stellt sich Aristoteles auf die Seite eines weltlichen Realismus, auf die Seite der hiesigen Dinge, während er der Gegenseite ein haltloses Erfinden und Vermehren, ein endloses Hervorbringen und Vermehren von sogenannten Ideen unterstellt, womit die real existierenden Dinge zurückgedrängt, vielleicht sogar verdrängt und vernichtet werden. Der hier zum Ausdruck kommende Voluntarismus scheint über denjenigen hinauszugehen, den wir in den allerersten Sätzen der Metaphysik angetroffen haben, wo die Liebe zum Wissen, zur Wahrnehmung, zur Weisheit als Tatsache und als Programm aufgestellt wird. Jedenfalls formuliert hier Aristoteles seine Position als Reaktion auf eine gegnerische Unternehmung, die er einige Zeilen weiter unten äußerst polemisch als »leeres Gerede und dichterisches Metaphorisieren« anprangert, und aus seiner Kenntnis der platonischen Attitüde heraus hängt er auch noch die ironische Frage an: »Was ist das, das hier am Werk ist und zu den Ideen hinschaut?« (991a 22 f.) 19

19 Hatte Aristoteles in der Poetik die Metaphernbildung zum Markenzeichen des guten Dichters erklärt, so scheint er nun eben diese dem Philosophen nur noch zum Vorwurf zu machen.

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Es deutet sich an und es wird noch deutlicher werden, dass Aristoteles ausgerechnet in der sogenannten Metaphysik, in dem Superlativ von Theorie, politisiert – im Sinn von Carl Schmitts Feind-Erklärung. Ironisierend malt er an die Wand, was sich ergibt, wenn Platons Ideenlehre konsequent durchgeführt werden würde. Vom Menschen gäbe es dann mehrere Urbilder oder Formen, nämlich die Gattungsform »Lebewesen«, die differentia-specifica-Form »zweifüßig« und dann eben noch die Gesamtform, für die Aristoteles den Neologismus »das Selbstmensch« oder »das Eigentlichmensch« bildet, wobei er den Artikel des dritten Geschlechts vor das erweiterte Substantiv mit der üblichen männlichen Endung stellt: to autanthropos (991a 29, 991b 19). 20 Aristoteles hat auch die Zweiheit so »platonisiert«, dass »das Zweiheit« herauskommt (991a 4). Ironisierende Karikaturen. Die solchermaßen zustandegekommenen sprachlichen Monster (mit Geschlechtsumwandlung) stehen für Hybridbildungen, denen wir, so Aristoteles, jeden Respekt verweigern sollten, und diese Respektlosigkeit können wir sozusagen prophylaktisch auch gegenüber dem aristotelischen Text walten lassen, wenn er uns dazu verführen sollte, Entitäten anzunehmen, die über das empirisch Zugängliche, über das logisch Einsichtige oder über das plausibel Erschließbare hinausgehen. Was die Menschen betrifft, also solche, wie wir selber welche sind, so gibt es eben nur solche mit dieser Wesensbeschaffenheit. Die dazukommenden Eigenschaften, Fähigkeiten und so weiter können allerdings gewaltige Unterschiede aufweisen – erschreckende oder wunderbare. Außerdem mag es Entitäten geben, die wir mit menschlichen Namen nennen, zum Beispiel den Aristoteles auf dem Aristoteles-Platz in Thessaloniki. Wenn wir ihn »Aristoteles« nennen, bezeichnen wir ihn notwendigerweise implizit auch als Menschen. Und wir mögen das tun, solange wir uns dessen bewusst sind, dass diese Benennungen und Bezeichnungen zwar üblich sind, aber gleichzeitig vollkommen sachwidrig. Ein derartiges Beispiel bringt Aristoteles mit Karl Löwith hat auch in Heideggers Rede vom »Dasein« eine Entsexualisierung des Menschen bemerkt; siehe Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, in ders.: Gesammelte Schriften, IV, (Frankfurt 1980): 20.

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»Kallias und der Holzfigur« (991a 9). Für Platon wäre das Holzbild auch ein Kallias – aber ein noch minderer als der aus Fleisch und Blut, der nur ein Abbild des Ideenmenschen ist. Für Aristoteles ist die Holzfigur ein Ding, das einer anderen Gattung angehört – und wenn es ein gutes Bild ist, so ist es etwas Hervorragendes. Diesen elegantesten Einwand gegen die Ideenlehre hat im 20. Jahrhundert nach Christus der belgische Maler René Magritte mit dem berühmten Schrift-Bild Dies ist keine Pfeife wiederholt, welches dann von Michel Foucault kommentiert worden ist. 21 Mit seinen ironischen Platonisierungen hat Aristoteles die linguistische Taktik polemisch auf die Spitze getrieben, mit der ungefähr zwei Jahrhunderte davor die Erfindung der Philosophie in die Wege geleitet worden ist. Die Bildung von Neu-Substantiven mit dem Artikel »das« war ein wichtiger sprachlicher Kunstgriff oder Trick, um einerseits alte und bekannte Wörter zu verwenden und andererseits durch die neue Wortform eine halb-neue, eine zwar verständliche, aber doch auch seltsame Redeweise zu schaffen. Dieser Sprach-Trick war nur möglich, weil das Griechische die auch uns bekannten drei grammatischen Geschlechter hat, und zwar mit den Artikeln (im Unterschied zum Lateinischen). Die Substantivierung mit dem Artikel to wurde zunächst vor allem an Adjektiven vollzogen: das Unbegrenze, das Trockene, das Gemeinsame (Pythagoras, Empedokles, Heraklit …). Die Substantivierung von Adjektiven ist die naheliegendste, denn die Adjektive sind von den Substantiven nicht so weit entfernt. Bekanntlich lassen sich Adjektive auch mit dem männlichen oder weiblichen Geschlecht plausibel substantivieren: der Mächtige oder der Gütige oder die Schöne sind ebenfalls verständliche Wortbildungen (die etwa in den Mythen und in der Politik ihren Platz haben). Doch die Philosophie ist auch damit entstanden, dass die beiden sexuierten (sexuellen) Genera häufig zurückgestellt, beiseitegedrängt wurden (die wurden den Dichtern überlassen) und das asexuelle dritte Genus wurde bevorzugt. Mit dem wurden dann auch die Infinitive von Verben substantiviert – und das ist ein Schritt weit über die Substantivierung der Adjektive hinaus. In deren Rahmen gehört noch die Substantivierung von Partizipien (die sind ja Verbalnomina) – auch hier im dritten Geschlecht, vornehmlich bei Aristoteles: to on, ta

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Siehe Michel Foucault: Dies ist keine Pfeife (München 1974).

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onta: »das Seiende«, »die Seienden«. Und Parmenides: to noein, to legein, to einai: »das Vernehmen«, »das Sagen«, »das Sein«. Mit derartigen Kunstgriffen wird das reflexive Wissen um die Sprache (Linguistik, Grammatik) ins Objektwissenschaftliche gedreht. Vielleicht ist Aristoteles, der späte, am weitesten gegangen mit der Schöpfung von Begriffen mittels des Artikels to. Er hat aus der Präposition metaxy (zwischen) mit dem to unseren Begriff »Medium« geschaffen; 22 das Temporaladverb nyn (jetzt) hat er mit dem Artikel substantiviert, um es in den Plural setzen zu können: »die Jetzte«. Ja er hat ganze Sätze, wenn auch kleine, mit dem to quasi substantiviert, ja mehr, nämlich deklinierbar gemacht, also manipulierbar gemacht. Ti estin – ein kleiner Frage- oder Relativsatz, wird von Aristoteles mit tou in den Genitiv gesetzt: 988a 10 f. Auch komplexere Verbalfolgen können mit dem Artikel to gleichsam zusammengepackt werden und dann wie Substantive eingesetzt werden. Berühmt: to ti en einai. Das to gehört zu einai: dasjenige … sein, aber von dem hängt ab bzw. das wird bestimmt durch diese Art Nebensatz: ti en: was war. 23 Wenn die Expansion des dritten, des asexuellen Geschlechts zur Erfindung der Philosophie beigetragen hat und wenn sich noch Aristoteles in dieser Richtung betätigt, so hat er gleichwohl auch andere Wörter hervorgehoben und sie gelegentlich auch sanft personalisiert. So die zu seiner Zeit ja schon längst bekannte Philosophie, die er nun als »Erste Philosophie« ausdrücklich um gut hundert Jahre zurückdatiert, um ihr zu bescheinigen, sie sei damals noch jung gewesen und sie habe eben gestammelt, wie Kleinkinder es tun (993a 16). So rafft er sich zu einer fast zärtlichen Vermenschlichung auf und wir müssen uns nicht wundern, wenn diese Wissenschaft auch nach dem Buch I nicht sofort als reife Person vor uns hintritt. Vielleicht wird die »gesuchte Wissenschaft« nun auch deswegen »Erste Philosophie« genannt, weil sie die älteste Philosophie ist, da sich ihre Frühgeschichte mit den ersten theologischen Verlautbarungen bei den Griechen überschneidet. Und dennoch scheint sie immer

Dazu Walter Seitter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen (Weimar 2002): 23 ff. 23 Siehe Walter Seitter: Die Geburt der Philosophie aus einem bestimmten Artikel, in: skug. Journal für Musik 7–9 (2012); zu dieser griechischen Voraussetzung für die Entstehung von Wissenschaft und Philosophie siehe auch Friedrich Kittler: Musik und Mathematik I. Hellas 2: Eros (München 2009): 105. 22

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noch als Stammlerin, als Anfängerin weiter zu existieren, und zwar bis jetzt – womit das aristotelische Jetzt gemeint ist. Ich habe ja eingangs davon gesprochen, dass mindestens die ersten sechs »Bücher« sich jeweils als Neuanfang aufführen, und vielleicht ist es dies, was Lacan gesehen hat, als er am 15. Dezember 1971 in seinem Seminar sagte: »… ich möchte Ihnen sagen, lesen Sie die Metaphysik von Aristoteles, ich hoffe, dass Sie ebenso wie ich spüren werden: das ist ziemlich verrückt, beinahe kuhblöd … Es geht nicht um die Metaphysik des Aristoteles in ihrem Wesen, in ihrem Signifikat … Dieses Büchel, denn es ist ja bloß ein Büchel, ist etwas ganz anderes als die Metaphysik. Ich sprach eben von einem Büchel, das geschrieben worden ist. Man hat ihm einen Sinn gegeben, den man die ›Metaphysik‹ nennt, man muss jedoch das Büchel vom Sinn unterscheiden. Seitdem man ihm diesen Sinn gegeben hat, ist das Büchel nicht mehr leicht aufzufinden …« 24 Worin besteht die Kunst, das Büchel aufzufinden? Man muss es unter dem riesigen Signifikat hervorholen, der ihm in Jahrtausenden aufgeladen, eingeredet, eingeschrieben worden ist – unter der Bezeichnung »Metaphysik«. Das ganze Unternehmen Lacan ist ja davon ausgegangen, dass er die saussuresche Unterordnung des Signifikanten unter das Signifikat suspendiert bzw. umgedreht hat und für die Lektüre schwieriger philosophischer Bücher wie etwa Kants Kritik der praktischen Vernunft hat er daraus die Empfehlung abgeleitet, sie wie einen Roman voller Humor zu lesen. 25 Als was für ein literarisches Werk könnten wir die aristotelische Metaphysik lesen? Einen Hinweis können wir Aristoteles selber entnehmen, der den Inhalt seines Buches zunächst zu wiederholten Malen »gesuchte Wissenschaft« genannt hat. Wenn wir das Partizip Perfekt Passiv »gesucht« ins aktive Partizip Präsens umwandeln, so wird daraus »suchend« – also »suchende Wissenschaft«. Eine Suchbewegung, die in den Eingangssätzen ihren ersten Antrieb formuliert hat und von der wir jetzt schon gesehen haben, dass sie sich in vielerlei Gestikulationen äußert. Mitten in der Auseinandersetzung mit den platonischen Prinzipien geometrischer oder sonstiger mathematischer Art bereits ein

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Jacques Lacan: Séminaire XIX: … ou pire (Paris 2011): 28. Siehe Jacques Lacan: op. cit.: 28 f.

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Vorgriff auf die eigensinnigste aristotelische Erfindung, die multiple Ontologie: »Überhaupt ist es unmöglich, die Elemente der Seienden aufzusuchen, ohne die vielfachen Bedeutungen von ›seiend‹ auseinanderzuhalten …« (992b 18)

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Was macht die Suchbewegung im Buch II – das eigentlich kein eigenes Buch ist, sondern ein Annex, der im Griechischen die Nummerierung klein alpha bekommen hat? Die paar Seiten, die in der lateinischen Zählung als Buch II geführt werden, demonstrieren einigermaßen gut, dass der uns vorliegende Text nicht als Ergebnis einer ursprünglich-endgültigen Redaktion betrachtet werden kann, sondern eher als Notlösung (zu der man sich 300 Jahre nach Aristoteles entschlossen hat). So haben also diese Seiten gewissermaßen akzidenziellen Charakter, auch wenn wir sie dem Autor Aristoteles zurechnen. Eingangs wird die »Betrachtung der Wahrheit« nicht als Programm statuiert – sondern als Ambivalenz problematisiert: sie sei einerseits schwer, andererseits leicht. Einerseits könne niemand sie angemessen erfassen, andererseits sei es unmöglich, sie gänzlich zu verfehlen. Eine typisch aristotelische Antwort – aber bei näherem Zusehen doch überraschend. Und: es sei leichter, das Ganze zu haben, nicht den Teil. Das liege weniger an den Dingen als vielmehr an uns: unsere Vernunft verhalte sich zu den offenkundigsten Dingen so wie die Augen der Fledermäuse zum Tageslicht (993a 30 ff.). Isoliert man die negative Seite dieser Ambivalenz, so stößt man auf einen Erkenntnis-Pessimismus, den man Aristoteles nicht ohne weiteres zugetraut hätte. Der erste Satz der Metaphysik hat ja auf der Ebene des Strebens einen anthropologischen Erkenntnis-Optimismus statuiert – dem wird nun ein Erkenntnis-Pessimismus auf der Ebene des Könnens entgegengestellt, und dies für die Vernunft, die mit den Augen von irgendwelchen lichtscheuen Tieren verglichen wird. Muss man da nicht an Platons Höhleneinwohner denken, die aufgrund ihrer dunklen Heimat sich mit dem Licht der Wahrheit schwerlich anfreunden können? Indessen geht Aristoteles von dieser Bemerkung nicht dazu über, den Zweifel an der Vernunft, gar die Verzweiflung an ihr zu thematisieren. 45 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Er zieht vielmehr eine Konsequenz, die sich auf seine Geschichtserzählung von den Anfängen der »gesuchten Wissenschaft« bezieht, und zwar eine menschenfreundliche Konsequenz im Sinn guter Kollegialität. Es sei gerecht, auch jenen Vorgängern dankbar zu sein, die nichts Großartiges geleistet haben; auch sie hätten etwas beigetragen, indem sie die Lehrer-Schüler-Kette aufrechterhalten hätten: »sie haben unsere Fähigkeit vorgeschult« (993b 14). Aristoteles erklärt sogar sich selber als Schüler solch durchschnittlicher Lehrer – womit er wohl seine überdurchschnittlichen Lehrer (auch die hatte er) sozusagen in dieselbe Reihe stellt. Ich würde sagen, auch so eine Erklärung bestätigt eher die historische Rolle des Aristoteles: dass er nämlich kein Guru, schon gar nicht ein Genie war, sondern »nur« ein Professor, dem es einerseits um Sachlichkeit und Klarheit ging, andererseits um Weitergabe, Vermittlung. Und bei den Professoren ist es durchaus wichtig, dass es da auch bescheidene und fleißige Arbeiter gibt. Sollte etwa der zitierte Satz einer sein, nach dem wir neulich gesucht haben, als wir feststellten, Aristoteles spreche nirgendwo vom Geben, nicht einmal das Wort komme vor bei ihm? Um die Sache mit der Traditionskette zu erläutern, nennt er einige Dichter, unter denen ein eher schwacher die Voraussetzung dafür war, dass dann ein besserer die Bühne betreten konnte. Ähnlich gehe es bei den Spezialisten für die Wahrheit zu: von einigen Lehrern hätten »wir« gewisse Ansichten übernommen, doch für deren Existenz seien andere ursächlich gewesen. Das heißt, dass Aristoteles nun ausdrücklich den Begriff »Ursache«, also das Kriterium für Wissenschaftlichkeit, für seine eigene Historiographie einsetzt, nicht so sehr, um auch diese in den Rang einer Wissenschaft zu heben, sondern um die Kollegialität unter Philosophen auf eine breitere Basis zu stellen, die auch relativ wertfreie Kausalität einschließt. Kollegen sind nicht nur die, die man »gut findet«, deren Ansichten man teilt, sondern alle, die sich überhaupt mit der Sache beschäftigt haben und so »Urheber« geworden sind – und die haben sich bestimmt als Vermittler oder dergleichen Verdienste erworben. Aristoteles plädiert hier also für einen großzügigen Begriff von Kollegialität und agiert auf der Ebene der Wissenschaftsethik. Ich sage »Wissenschaftsethik« und spreche also mehr von »Wissenschaft« als von »Philosophie«. Denn sein Philosophieren bewegt sich im Horizont der Wissenschaften (im Plural!) und nur manchen Wissenschaften spricht er dann den Ehrentitel »Philosophie« zu, 46 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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wenn sie sich durch bestimmte Sonderleistungen oder -ansprüche dazu qualifizieren. Er vermeidet also den Fehler des »Philosophismus«, der sich einbildet, die Philosophie müsse sich von den Wissenschaften abschotten, um sich über sie zu erheben. Man könnte von einer »déformation professionelle« sprechen, die bei Philosophen vorkommt und in den letzten Jahrzehnten speziell bei Anhängern der sogenannten »Continental philosophy« auftritt. Die Gegenpartei wird »Analytical philosophy« genannt. Versteht man darunter nicht die extreme Position, die der Philosophie keine eigene Erkenntnisaufgabe neben den (Natur)Wissenschaften einräumt, sondern ein Eintreten für eine produktive Koexistenz zwischen Philosophie und anderen Wissenschaften, so würde man Aristoteles eher der Analytischen Philosophie zurechnen können (abgesehen davon, dass er selber »Analyse« als wissenschaftliches Verfahren – nicht nur in der Logik – zur Anwendung gebracht hat). Nun wird ausdrücklich erklärt, die Philosophie sei Wissenschaft der Wahrheit oder von der Wahrheit (993b 20). Um dieser Aussage überhaupt ein Profil zu verleihen, subsumiert Aristoteles die Philosophie unter ihr genus proximum, also in die nächstliegende Allgemeinheit, das sind die »betrachtenden oder theoretischen Wissenschaften«, denen ja schon in 982b 10 die »höchste Wissenschaft« oder »Weisheit« zugerechnet worden war. Die theoretischen Wissenschaften, zu denen auch Physik und Mathematik gehören, haben die Wahrheit zum Ziel. Die praktischen Wissenschaften hingegen das Werk: da unterläuft Aristoteles eine Unschärfe – denn aufs Werk zielen eigentlich die poietischen Wissenschaften; hier meint er jedoch die Ethik und Politik, in denen es um richtiges Handeln geht. Da sie aber Wissenschaften sind, überlegen auch sie, wie sich etwas verhält, das heißt ihre Aussagen sollen wahr sein, beziehen sich aber nicht aufs Wesenhafte, sondern auf das Bezügliche und Jeweilige und zielen tun sie aufs gute Handeln (993b 19 ff.). Hingegen soll die Philosophie auf das Wahre nicht nur zielen, sondern sich auf es als Gegenstand beziehen: das Wahre als Eigenschaft von Aussagen und darüber hinaus als Ziel und all das jetzt auch als Gegenstand: diese Kumulierung, auch eine Art Höherschraubung, führt Aristoteles jetzt dazu, das Substantiv »Wahrheit« an die Spitze dieses minderen Buches klein alpha zu setzen: als das Wahre im höchsten Grad, welches das Wirkliche und Ursächliche im höchsten 47 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Grad ist. Hier schließt Aristoteles wieder an das an, was er am Anfang über die Weisheit gesagt hatte. Dass nämlich diese Wissenschaft sich auf den Superlativ des Wirklichen und des Wahren beziehen soll. Reicht dieser Begriff von Wahrheit nicht in die Sphäre, die man mit der platonischen Ideenlehre assoziiert, welche doch von Aristoteles abgelehnt worden ist? Wir werden auf diese Frage noch zurückkommen müssen. Doch wie dieser Begriff ausschaut, ist damit noch nicht geklärt. So ein Superding wie das Eigentlichmensch soll damit wohl nicht produziert werden – denn das würde die gewöhnlichen Dinge aufheben, zumindest verdrängen. Und von denen hat Aristoteles gesagt, dass »wir ihr Sein mehr wollen«. Damit ist auch gesagt, dass sie mit Zwecksetzungen zusammenhängen und sei es auch nur auf einer Ebene der Mittel. Nun gibt es aber vier Sorten von Ursachen oder Elementen oder Bestandteilen, die jeweils zusammenwirken, um etwas zu verursachen, das heißt zustandezubringen. In jeder Ursachensorte ist eine Ursachenkette am Werk, die von einer ersten Ursache bis zur jeweils letzten reicht. Und jede dieser Ursachenketten muss endlich sein – die Materialursachen für einen Menschen bilden laut Aristoteles etwa folgende Kette: Feuer, Luft, Wasser, Erde, Fleisch. Zur Erhaltung des Menschen muss es allerdings »neben« dem Fleisch noch andere Körper geben, die ihm zur Atmung und zur Nahrung dienen – also Mitursachen, wie wir schon erwähnt haben (1015a 20). Und auf deren Funktionieren werden wir eher zufällig noch zu sprechen kommen. Für die Zweckursachen nennt Aristoteles hier folgende sehr kurze Kette: Glückseligkeit, Gesundheit, Gehen. Mit der Glückseligkeit als höchstem Ziel ist nicht hauptsächlich irgendein angenehmes Gefühl gemeint, sondern in erster Linie die Fähigkeit und die Neigung zu richtigem Verhalten, zu angemessenen Entscheidungen. Dazu ist aber auch so ein Glücksgut wie die Gesundheit sehr förderlich, d. h. mitursächlich. Und dazu wiederum sind die oben erwähnten Stoffzufuhren wie Atmung und Nahrung als Bedingungen erforderlich. Das heißt, die Ursachen verzweigen sich auch seitlich zu den benachbarten Ketten hin. In der Wirkursachenkette nennt Aristoteles dann noch das Gehen als Ursache für die Gesundheit – eine Implikation der eben genannten Zweckursachenkette.

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Es handelt sich nicht um eine einzige Ursachenkette, sondern um ein Netz aus Bedingungen, das immanent verdichtet und verfeinert werden kann, etwa durch die Erfindung neuer medizinischer oder sonstiger technischer Hilfsmittel. Aber grundsätzlich ist es endlich, wie überhaupt die Welt eine endliche zu sein hat, um überhaupt existieren zu können (994b 27). Aristoteles bezieht dann seine eigene Berufstätigkeit, die er eben mit diesen Darlegungen ausübt, in das Netz der »Zweckursachen« ein. Wissenschaftliche Untersuchungen und Darstellungen dürften zweierlei Zwecksetzungen dienen oder vielmehr von ihnen hervorgerufen werden: Erkenntnis von Wahrheiten und Vermittlung solcher Erkenntnisse an bestimmte Menschen. Er »reflektiert« auf seine Berufstätigkeit, indem er seine Gegenseite in Augenschein nimmt: die Hörer, also Schüler, mit ihren Gewohnheiten, Erwartungen, Vorlieben. Der Vorlesungsbetrieb ist auch dann »dialogisch«, wenn er rein monologisch vor sich geht: es hängt zuletzt von den Hörern ab, ob sie etwas hören und lernen und profitieren (994b 32 ff.). Das Anhören von Vorlesungen richtet sich nach den Gewohnheiten der Hörer: die einen hören nur zu, wenn jemand wie ein Mathematiker spricht, andere wollen unbedingt Beispiele, wieder andere verlangen nach Dichter-Zitaten. Die einen legen Wert auf große Genauigkeit, die anderen ertragen gerade diese nicht. Ferner muss der Lehrer zwischen der Wissenschaft und ihrer Vermittlung unterscheiden. Der Wissenschaftler muss wissen, welche Gegenstände mathematisch zu behandeln sind und welche nicht. Er muss wissen, ob die Ursachenforschung einer oder mehreren Wissenschaften obliegt. Mit diesen Problemstellungen leitet Aristoteles zu den folgenden theoretischen Erörterungen über. Er wirft aber auch praktische Fragen betreffend seine eigene Tätigkeit auf: Schriften verfassen, Vorlesungen halten oder Gespräche führen? Zu den Vorlesungen welches Publikum einladen? Welche Redeweise einschlagen, welches Niveau einführen? Er ist von Beruf Theoretiker und gerade die jetzt in Angriff genommene Wissenschaft definiert er als »theoretische«. Doch in diesen Fragestellungen kommen poietische oder technische Probleme, die man der Rhetorik zuschlagen könnte, ebenso zur Diskussion wie praktische Probleme der Bildungstätigkeit in einer Gesellschaft.

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Und diese Fragen können auch an meine eben hier sich vollziehende und sich dokumentierende Tätigkeit gestellt werden. Im frühen 21. Jahrhundert nach Christus Aristoteles lesen? In einer Zeit, die sich durch rasante Fortschritte auf manchen Gebieten von der sogenannten Antike immer schneller entfernt, aber auch von den jüngeren Epochen europäischer Bildungsideale sich eifrig verabschiedet. Und ausgerechnet dieses berühmte und doch wenig gelesene Buch? Dieses wenig gelesene und bis vor wenigen Jahrzehnten, wie mir scheint, überhaupt nicht gelesene, sondern nur mit irgendwelchen Worthülsen tradierte, zitierte und geradezu karikierte und dementsprechend von anderer Seite verachtete und lächerlich gemachte Buch? Dieses schwierige Buch mit einer kleinen Gruppe von Leuten mit unterschiedlicher Herkunft und Spezialisierung und mit nur geringfügiger Einbeziehung von Sekundärliteratur lesen und besprechen? Und wie diese Leute wie auch mich selber bei der Stange halten, durch Lese- und Diskussionserlebnisse, durch spürbare Lernerfolge eine gewisse Begeisterung erzeugen und aufrechterhalten? Diese pragmatischen Selbstbefragungen sollten gelegentlich auch aktualisiert werden. Und um sie in Gang zusetzen, konstelliere ich die Aristoteles-Lektüre hier mit kleinen simultanen oder parallelen Episoden meines philosophischen Lebens, in denen ähnliche Probleme auftauchen. * Im November 2011 erscheint das Buch Der Tisch von Francis Ponge, das ich übersetzt habe – nicht vollständig, denn die Passagen, die dem Wort »Tisch« (table) gewidmet sind, sind weggelassen, da unübersetzbar. Mein Nachwort liefert eine neuerliche Problematisierung »meiner« Philosophischen Physik, die ich in zwei Werken relativ ausführlich dargestellt habe, indem ich ihr zwischen der Wissenschaftlichen Physik und der Poetischen Physik ihren Platz zuweise. 26 Damit habe ich ein Pendant zur aristotelischen Physik hervorgebracht, sodass meine Metaphysik-Lektüre nicht ganz ohne objektwissenschaftliche Voraussetzung stattfindet. Was Ponge zur Philosophischen Physik hinzufügt, das ist seine persönliche, inständige, anrufende Sprache, die sich aufs Objekt überträgt und es »animiert«, personalisiert, kollegialisiert. Siehe Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1999); Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen (Weimar 2002).

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Hier einige kleine Auszüge aus dem Ponge-Text: »Tisch, du wirst mir dringend Tisch, komm, nimm Platz unter meinem (linken) Ellenbogen wie du es so oft getan hast, ohne dass in meinem Schreibzeug von dir die Rede war. Tisch, heute komm, um mir zu helfen, dich zu befragen, von dir deine Lektion zu erhalten.« »Nicht auf eine Metaphysik stützen wir unsere Moral sondern auf eine Physik*, lediglich (wenn wir ihrer bedürfen). Vgl. Epikur und Lukrez. * (Die atomistische Physik: die der Zeichen, der im Raum verteilten Zeichen, (der diskreten), die der Buchstaben)«. 27 Das Ansprechen der Dingen, in diesem Sinn praktizierter Animismus bildet unmittelbar den Horizont der Poetischen Physik und mittelbar, auf größere Distanz, auch den der Philosophischen – welche Aussage ich indirekt auf die aristotelische, direkt auf die meinige beziehe. Friedrich Kittler: »Es gibt die Götter, sofern wir oder sonst wer sie gibt (geben)«. Verallgemeinerung des Herodot-Satzes, der gesagt hat, Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götter gegeben. Hat sich Herodot damit als Atheist deklariert? Jedenfalls hat er den Dichtern eine gewisse Ursachenkraft zugesprochen, die quer oder konträr oder komplementär zu derjenigen der Götter steht. Konträr auch zu derjenigen der Priester. Und die Kittler-Aussage steht kontrapunktisch zu Nietzsches Nachricht von der Tötung Gottes. Geben ist seliger denn … * Im März 2012 wieder in Paris und Sichtung des Klossowski-Nachlasses (Das lebende Geld). Sehe, dass Armande Ponge da war, die Tochter des Dichters (auch der Ponge-Nachlass in dieser Bibliothek). Besuche die Tochter in ihrer Wohnung im 5. Arondissement. Tochter eines großen »Physikers«. Im Französischen Kulturinstitut wird das Ponge-Buch präsentiert. Zum Zustandekommen der Übersetzung hat Sebastian Hackenschmidt viel beigetragen; er ist am Museum für Angewandte Kunst

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Francis Ponge: Der Tisch (Klagenfurt 2011): 9, 24.

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in Wien Kustos für Möbel und Holzarbeiten und hat folglich mit »Physik« in meinem Sinn viel zu tun. 28 Gleichzeitig erscheint meine Reaktionäre Romanik. Stilwandel und Geopolitik (Wien 2012). Da wende ich die Physik ins Architekturhistorische und Geopolitische. Die Architektur muss für den Philosophischen Physiker ein erstrangiges Objekt bilden und die Historie muss in jedem Moment geographisch präzisiert und gestreut werden, womit sie zusätzlich physikalisiert wird. Am 14. Mai 2012 wird in Salzburg das Buch Untersberg. Geschichten Grenzgänge Gangsteige (Salzburg 2012) präsentiert, das ich mit Bodo Hell, Peter Kubelka, Elsbeth Wallnöfer gemacht habe. In gewissem Sinn mein »Heimatbuch«. Von mir wurde die Historie dieses Berges zusammengeschrieben und auch seine Physik definiert: aufgestellte, gegenständig gewordene Unterwelt (und wie sein Name sagt: dieser Berg weiß es). Anwesend ist Sepp Forcher, mit seiner Fernsehsendung »Klingendes Österreich« ein wichtiger Intellektueller in Österreich. Ende Mai an der Universität Frankfurt eine Tagung über »mediamatter«. In meinem Vortrag gebe ich eine Zusammenfassung meiner Medienphysik mit einer vorsichtigen Andeutung ihrer Verschiebung in Richtung »Metaphysik«: Erweiterung auf spezifisch menschliche, ja persönliche, existenzielle Aspekte. 29 Im Juni eine Tagung in Linz über Georges Bataille. Ich skizziere seine kosmische und gleichzeitig ökonomische Physik, welche die spezifisch menschlichen Verhaltensweisen mit seiner Position im Universum korreliert. Bei der Gelegenheit korrigiere ich das weit verbreitete Missverständnis, Bataille halte das Verschwendungsverhal-

Dazu meine Schriften: Möbel als Medien. Prothesen, Paßformen, Menschenbildner. Zur theoretischen Relevanz Alter Medien, in: A. Keck, N. Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen (Bielefeld 2001); Möbelkörperanalysen / Furniture Body Analyses, in: Robert Maria Stieg. Vorsicht: Möbelhaftes! (Wien 2007); Möbel als Medien, in: S. Hackenschmidt, K. Engelhorn (Hg.): Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kultur der Dinge (Bielefeld 2011). 29 Erschienen als (Meta)physics of Media, in: B. Herzogenrath (Hg.): media/matter (New York, London 2015) 28

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ten der Sonne für die einzige maßgebliche Naturtatsache; ohne das »Mängelwesen« Erde könnten wir nicht existieren. 30 * Ich stelle fest, dass wir mit der Lektüre äußerst langsam vorankommen. Es ist jetzt schon Sommer 2012, das heißt wir lesen seit fast anderthalb Jahren – kaum mehr als dreißig normale Seiten. Es handelte sich dabei um zwei oder drei unterschiedliche Abschnitte oder Themenstellungen, die doch einigermaßen identifizierbar und nachvollziehbar waren. Die Ausführungen sind nicht übermäßig schwierig – aber sehr weit weg. Manche Passagen entziehen sich unserem Verständnis – sie werden hier einfach übergangen. Aber auch die irgendwie verstehbaren Textstücke hinterlassen ein Gefühl der Fremdheit. Ich glaube, das Beste ist es, wenn man die Ferne des Textes zur Kenntnis nimmt und durch langsames, auch wiederholtes Lesen anerkennt. Dabei handelt es sich nicht um eine offensichtliche und faszinierende Fremdheit, etwa eine solche, wie sie von vorsokratischen Texten, also Fragmenten, ausgehen mag, die einen in eine ferne Vorzeit versetzen und dort erhabene Schauer aufkommen lassen. Aristoteles betätigt sich in diesem Buch, vor allem in Buch I, mit seinen Rückblicken, mit seinen harschen Kritiken, dann wieder mit der Anstrengung zu mildem Urteil, ja zu Dankbarkeit gegenüber schwachen Vorläufern, ostentativ als Nachsokratiker, ja Nachplatoniker, als Spätling, der bereits eine Art Überblick über fast zweihundert Jahre Philosophiegeschichte hat. Sicherlich gab es in der Antike viel später dann noch weitere Philosophen. Aber Aristoteles selber gehört zu ihnen, da das Buch, das wir jetzt lesen, erst 300 Jahre nach seinem Tod die Form erlangt hat, die uns heute vorliegt. Dabei ist der Aristoteles, wie er bis zur Zeitenwende existiert hat, der Verfasser eleganter Dialoge, längst ein untergegangener. Heute haben wir nur den Aristoteles aus der Römischen Zeit, den reinen Lehrer, den modernen, wenn auch privaten Professor. Am Ende des sogenannten Buches II hat sich Aristoteles zu einer Reflexion über seine Lehrtätigkeit herbeigelassen. Auch über die Gewohnheiten seiner Hörer, die etwa gar noch am Mythischen und Kindlichen hängen oder die nur Mathematisches hören wollen. Wenn er nur derlei – allerdings divergierende – Gewohnheiten befriedigen Walter Seitter: Georges Bataille und die Philosophische Anthropologie, in: A. R. Boelderl (Hg.): Welt der Abgründe. Zu Georges Bataille (Wien, Berlin 2015).

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Buch II

würde, würde man ihm zuhören, aber der Erkenntniseffekt wäre doch in Frage gestellt, denn Erkennen sollte ja auf einer Konfrontation mit Neuem beruhen. Schon am Ende von Buch I war dieses Problem angeschnitten worden: kann man in eine neue Wissenschaft eintreten, wenn man schon einiges Vorwissen hat – oder eher dann, wenn sie ganz neu ist? (992b 25 ff.) Gibt es einen Ertrag dieses minderen Buches II? In der mittleren Textpassage behauptet Aristoteles, dass die Ursachen begrenzt sind: sowohl in der Zahl der Arten wie auch in den jeweiligen Verursachungsketten. In der Eingangs- sowie in der Schlusspassage macht er Ausführungen zu »pragmatischen« Aspekten seiner Tätigkeit: zur unterschiedlichen Qualität seiner Lehrer sowie zu den unterschiedlichen Erwartungen seiner Hörer, also Schüler. Was die Lehrer oder Vorläufer betrifft, so betont er, dass sie die Ursachenkette ausmachen, die zu ihm geführt hat, und das gilt auch für diejenigen, die keine großen Neuerungen gebracht haben, sondern nur die Überlieferungskette fortgesetzt haben. Ausdrücklich werden sie als Lehrer »Ursachen« bzw. »Urheber« genannt. Damit wird der Ursach-Begiff auf die kulturelle Ebene erweitert: Kulturwissenschaft. Weniger ausdrücklich werden die Schüler zu Ursachen für ihren Lernerfolg erklärt. Denn wenn ein Schüler nur an seinen Erwartungen, etwa Dichter-Zitate zu hören, festhielte, so würde er von einem Lehrer, der nicht solche, sondern nur einen Lehrstoff weitergeben möchte, vermutlich nichts annehmen und empfangen. Auf der anderen Seite sollte der Lehrer sich überlegen, ob sein jeweiliges Unterrichtsthema poetisch oder mathematisch oder sonst wie dargestellt werden sollte. Damit steht oder fällt auch die Qualität seines Ursach-Seins als Lehrer. In der zentralen Textpassage betont Aristoteles, dass die Arten der Ursachen wie auch ihre Zahl in den einzelnen Ursachenketten endlich sind, und so wird die Rede von den Ursachen ins Fassbare gerückt. Im Buch I war ja zunächst etwas pauschal von den »Ursachen und Prinzipien« die Rede, sodann wurden aus der Physik die vier Ursachensorten übernommen, von denen mindestens zwei sich unserem heutigen Ursach-Begriff überhaupt nicht fügen, man müsste sie eher als Bestandteile bezeichnen. Und auf der anderen Seite werden bei ihm auch menschliche Akteure im kulturellen Zusammenhang als »Ursachen« bezeichnet, wo eher von »Urhebern« geredet werden sollte. Die 54 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Buch II

aristotelische Metaphysik tritt häufig in einem derart fremden und sperrigen Sprachgewand auf, dass es uns schwerfällt, ihre feinen Konturen und Nuancen wahrzunehmen und zu verfolgen. Andere Übersetzungen – etwa »Grund« statt »Ursache« – würden daran kaum etwas ändern.

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Buch III

Buch III greift in »wir«-Rede die »gesuchte Wissenschaft« auf und dramatisiert sie zu »Aporien« (995a 24). Eine Übernahme aus den platonischen Dialogen, wo die »Aporie« eine Ratlosigkeit, eine Verlegenheit von Personen bedeutet. Obwohl Aristoteles die Aporie zur »theoretischen Schwierigkeit« versachlicht, dient sein Gebrauch von stammverwandten Verben wie aporein, diaporein, euporein – verlegen sein, herumsuchen, einen Ausweg finden – dazu, subjektive Befindlichkeiten, Lösungsversuche und Wegfindungen zu bezeichnen. Schwierige Fragen werden zunächst verkehrswissenschaftlich metaphorisiert zu Ausweglosigkeit oder Sackgasse. Aber sogleich wird diese Weg-Metaphorik von einer kleinformatigen Textil-Metaphorik überlagert bzw. zu dieser zusammengezogen: wenn sich die Schwierigkeiten zu einem Knoten verdichten und die Fäden dieses Knotens gleichzeitig die einzigen Wege bilden, auf denen man sich fortbewegen kann, dann ist man selber in ein wirres Geflecht hineingezwungen und kann einen Ausweg für sich nur finden, wenn man den verschieden verlaufenden Fäden vorsichtig nachspürt, bis man einen findet, der wirklich weiterführt. Der freudsche Begriff des Durcharbeitens bietet sich als Analogon an – so sehr, dass ich sogar sagen würde, dass Aristoteles hier einem Ethos der Arbeit das Wort redet, obwohl das seinen griechischen Denkgewohnheiten widersprechen mag. 31 Diesem Arbeitsethos entspricht es, dass die hier von Aristoteles vorgeschlagene Wissenschaft kaum eine Superwissenschaft sein dürfte, eher eine »Durchwissenschaft«. »Throughscience«. »Perszienz«. 32 »Dieses Durcharbeiten der Widerstände mag in der Praxis zu einer beschwerlichen Aufgabe für den Analysierten … werden.« Sigmund Freud: Gesammelte Werke, 10 (London 1991): 136. Auch Immanuel Kant hat der aristotelischen Philosophie diesen Arbeitscharakter zuerkannt, siehe Wolfgang Welsch: Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles (München 2012): 129. 32 Diese Formulierungen kamen mir auf dem Aristoteles-Kongress im Mai 2016. 31

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Buch III

Den Knoten lösen, nicht zerschlagen. Das war auch die Methode, die Aristoteles der guten Tragödie empfohlen hat: der zweite Teil der Handlung, die Lösung, soll sich aus dem ersten Teil der Tragödie, der Knüpfung, ergeben. In der Tragödie haben Knüpfung und Lösung nicht die wertende Zuordnung zu »Ausweglosigkeit« und »Gelingen«, da geht es um formal-dramaturgische Geschehensspannung und -entspannung (wobei diese dann zumeist ins Unglück führt). Also die Analogie zur Tragödien-Dramaturgie ist eine eher formale. Umso erstaunlicher die Analogie in den Empfehlungen des Aristoteles. Der Umschwung in der Tragödie soll nicht durch einen Übermachtakt göttlicher oder maschineller Art herbeigeführt werden, sondern auf derselben »technischen« Ebene sich vollziehen, auf der die Handlung eingefädelt worden ist: durch viele kleinteilige pragmata in ihren gegenseitigen Verstrickungen und Überraschungen. Natürlich fällt einem da auch die Fabel vom Gordischen Knoten ein, den der Aristoteles-Schüler (in dieser Hinsicht schlechte Schüler!) Alexander gerade nicht gelöst, sondern zerschlagen haben soll. Er hat sich das Erkennen, das Durchschauen, das Nachspüren, das Nach- bzw. Auseinanderziehen des Knotens erspart – und diesen bzw. das geknotete Seil zerstört. Die aristotelische Methoden-Empfehlung für den Weg zur »gesuchten« Wissenschaft: langsames, geduldiges, hartnäckiges, mühsames, vielleicht auch konfliktreiches und frustrierendes Arbeiten. Nicht diktatorische Dezision, nicht genialische Intuition, auch nicht religiöse Offenbarung – führen zur »Metaphysik«. Wer sich auf diese Suche begibt, hat es nicht mit einem »Knoten« zu tun, der vor ihm liegt. Er (sie) ist selber in diese Sache, in diese Ausweglosigkeit, verstrickt – und daher wäre ein Zerschlagen des Knotens, also irgendeine wundersame Sofort- und Endlösung eine Gewaltaktion gegen ihn (sie) selber: eine Scheinlösung, eine Selbsterhöhung, die auf Selbstschädigung hinausläuft: Selbstvernichtung des Suchenden als solchen, und damit Selbstverhinderung des Findenden als solchen. Wie wir gesehen haben, haben auch die von Aristoteles gemeinten »Aporien« etwas von Blockaden, in welche sogar der Philosophierende selber verstrickt ist – auch wenn die Aporien in gewissem Sinn viel »objektiver« ausgerichtet sind. Die aristotelischen Aporien, die zunächst so ernsthaft und sogar »existenziell« bestimmt worden sind, werden dann auf abstrakte Fra57 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Buch III

gestellungen von jeweils ein oder zwei Sätzen reduziert und in einer Liste aneinander gereiht. Diese Fragestellungen werden nur mit den Begriffen formuliert, die bisher aufgetaucht sind: Wissenschaft, Prinzip, Wesen … rein seriell aufgezählt und insofern quasi »bürokratisch« behandelt. Sie werden aber doch nicht rein additiv aufgereiht, sondern logisch aneinander gekettet, nämlich so, dass die jeweils nächste Frage eine bestimmte Antwort auf die vorhergehende voraussetzt. So jedenfalls die ersten vier Fragen, womit die ersten drei Fragen als schon beantwortet erscheinen. Die Aneinanderreihung der ersten »Aporien« folgt also dem Schema: 1 oder 2? – 2.1 oder 2.2? – 2.1.1 oder 2.1.2? – 2.1.2.1 oder 2.1.2.2? Nach der Aufzählung werden die Aporien in derselben Reihenfolge jeweils »gelöst« – in kurzen Abhandlungen, welche die Fragestellung zumeist differenzieren, sodass dann nicht immer eine bündige Lösung geliefert wird (995b 4 ff., 996a 18 ff.). So die Aporie 1: Einzahl oder Mehrzahl der für die Betrachtung der Ursachen zuständigen Wissenschaft(en)? In Aporie 2 geht es um die Frage, ob die gesuchte Wissenschaft nur die ersten Wesensprinzipien zu betrachten hat oder auch die allgemeinen Beweisprinzipien, also Axiome: es handelt sich um verschiedene Wissenschaften. Aporie 3: Gehören die verschiedenen Wesenswissenschaften allesamt zu einer Gattung, etwa zur Weisheit? Plädoyer für unterschiedliche Wissenschaft(en) mit dem Hinweis auf die Rolle der Akzidenzien, die hier offensichtlich ernster genommen wird als anderswo. Aporie 4: Gibt es außer den sinnlich erfassbaren Wesen auch andere und bei diesen mehrere Gattungen? Hier wiederholt Aristoteles seine Polemik gegen die platonische Verdoppelung ja Verdreifachung von Mensch, Pferd, Gesundheit, Himmel, Sonne, Mond und überhaupt Sinnesding … Aporie 5 wirft anhand von gleich-ungleich, früher-später, Gegensatz und Gegenteil die Frage nach einer Beweisführung betreffend das Verhältnis Wesen-Akzidenzien auf und liefert keine Lösung. 6: Inwiefern sind die Gattungen Prinzipien der Dinge? 7: Und die höchsten Gattungen »seiend«, »ein«? Aporie 8: Wenn es nur die Einzeldinge gibt, ist dann die Sinneswahrnehmung eine Wissenschaft (Protagoras)? Gibt es Ewiges, Bewegungsloses, Unentstandenes? Wie existieren Stoff und Form? 9: Sind die Prinzipien in Art und Zahl begrenzt? 10: Sind die Prinzipien des Vergänglichen und des Unver58 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Buch III

gänglichen vergänglich oder unvergänglich? Diskussion der empedokleischen Prinzipien Streit und Liebe. Aporie 11 ist die schwierigste und notwendigste: Sind das Eine und das Seiende dasselbe? Sind sie auf bekanntere Prinzipien zurückzuführen wie Freundschaft oder Feuer – also mannigfach ausgesagt? Aporie 12: Sind die Prinzipien allgemein oder wie Einzeldinge? Aporie 13: Existieren sie dem Vermögen nach oder der Wirklichkeit nach? Aporie 14: Sind die Zahlen, die Körper, die Flächen, die Punkte Wesen? Aporie 15: Und wenn sie Wesen sind, bestehen sie getrennt von den Sinnesdingen oder sind sie in ihnen enthalten? Die Aneinanderfügung dieser Fragen, Hypothesen, Behauptungen führt zunächst zur Differenzierung zwischen verschiedenen Wissenschaften und immer wieder zur Frage, welche von denen nun die »gesuchte« sein dürfte. Aristoteles bewegt sich also in einer auch von ihm selber konstruierten Pluralität von Wissenschaften und gleichzeitig will er hier auf eine bestimmte bzw. erst zu bestimmende Wissenschaft hinaus, die den Ehrentitel »Weisheit« oder »Philosophie« tragen darf. In der Folge werden alle Aporien noch einmal »durchgenommen«, was den Text noch einmal von der Form der ausführlichen Abhandlung absetzt. Eine wichtige Abzweigung ist die in Aporie 2 vorgenommene: Wesensprinzipien und Beweisprinzipien (995b 7 ff.), Wissenschaft des Wesens und Wissenschaft der Axiome (siehe 997a 12). Die Beweisprinzipien oder Axiome werden auch »allgemeine Ansichten« oder »Prämissen« (protaseis) genannt; das oder die wichtigste besagt, »dass jedwedes entweder bejaht oder verneint werden muss«, beziehungsweise, dass »nichts zugleich sein und nicht sein kann« (996b 27 ff.). Ein Axiom, das in Buch IV eine große Rolle spielen sollte und im übrigen einen etwas irreführenden Namen bekommen wird. Welche Wissenschaft ist die bedeutendere – die Wesenswissenschaft oder die Beweiswissenschaft? Diese ist wohl als die allgemeinere zu betrachten, sie verfügt über die Kriterien für die Unterscheidung zwischen wahr und falsch – obliegt also nicht sie dem Philosophen? (siehe 997a 13 f.) In der folgenden Aporie stellt Aristoteles eine direkte Verbindung zwischen Wesenswissenschaft und Axiomatik her: es können nicht alle Wesen in ein und derselben Wissenschaft abgehandelt werden, sondern eine jede Wissenschaft betrachtet ausgehend von bestimm59 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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ten Prämissen die für eine Gattung wesentlichen Akzidenzien. Aristoteles unterscheidet zwar grundsätzlich zwischen zwei Wissenschaftsoperationen: betrachten und beweisen. Die erste wird eher den Wesenswissenschaften zugeordnet, aber die Sache kompliziert sich: »Erstreckt sich die Betrachtung lediglich auf die Wesen oder auch auf ihre Akzidenzien? Ich meine beispielsweise: Wenn ein Körper ein Wesen ist, ebenso aber auch Linien und Flächen, ist es nun Aufgabe ein und der selben Wissenschaft, diese zu erkennen und die Akzidenzien, die jeder Gattung zukommen, worüber die mathematischen Wissenschaften ihre Beweise führen, oder ist es Aufgabe einer anderen Wissenschaft? Denn ist es Aufgabe ein und derselben Wissenschaft, dann dürfte auch die Wissenschaft vom Wesen eine beweisende sein; allein für das »was ist« scheint es keinerlei Beweis zu geben. Ist es aber Aufgabe einer davon verschiedenen Wissenschaft, welche soll es wohl sein, die die Akzidenzien hinsichtlich des Wesens betrachtet? Darauf eine Antwort zu finden ist ungemein schwierig.« (997a 25 ff.) Es sieht jedenfalls so aus, als ob diese Aporie keine Lösung finden würde, als würde sie den Superlativ an »Aporetik« darstellen, die in Resignation, ja Kapitulation mündet. Ihr Ertrag liegt zunächst in der schlichten Unterscheidung zwischen Beweisen und Betrachten, womit der exemplarischen Wissenschaft, als welche die Mathematik mit ihren Beweisführungen gelten mochte, eine andere Wissenschaftsform gegenübergestellt wird, die eigentlich nicht aus dem Wissenschaftsbetrieb zu stammen scheint, sondern aus dem Alltagsleben mit seinen Wahrnehmungen und Beobachtungen. Allerdings kann es beim Betrachten allein nicht bleiben, auch da muss zum Aussagen, zum Behaupten, möglicherweise zum Fragen und Antworten, zum Diskutieren übergegangen werden – wenn einer etwas anderes sieht als die andere. »Sehen und Sagen« – so hieß Jahre hindurch eine Lehrveranstaltung, die ich an der Hochschule für angewandte Kunst durchführte und mit dem Untertitel »Übung« versah, weil dieses einfache, genauer gesagt, dieses zweifache Tun, zwischen einer Person und einer anderen und einer weiteren am besten gelernt werden kann: was siehst du und wie willst du es benennen, damit ich gut erfassen kann, was du siehst, und ich das mit meinem Sehen und Sagen vergleichen kann … 60 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Buch III

Diese Übungen haben bei mir dazu geführt, dass ich »meine« Physik entwickelt habe, dann auch begonnen habe, einzelne Art-Physiken, nämlich »Physik des Weinglases«, »Physik der Autobahn«, »Physik des Buches« niederzuschreiben oder vorzutragen, woraus sich zunächst das Buch Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen ergeben hat, und zwar dank dem Sonderzahl Verlag in Wien, der den Texten zu buchförmiger Körperlichkeit verholfen hat, ohne welche das Buch eben gar kein Buch wäre. So habe ich auf meine Weise in die – allerdings philosophisch sein wollende – Normalwissenschaft »Physik« hineingefunden, die Aristoteles auf andere Weise ebenfalls realisiert hat. * Am 14. November 2012 haben wir auf Vorschlag von Peter Berz (Berlin) und zusammen mit ihm in ein »objektsprachliches« Werk von Aristoteles hineingeschaut, und zwar in dasjenige, das nach allgemeiner Auffassung, auch ausweislich unserer bisherigen Lektüre in der Metaphysik, deren Metasprechen direkt zugrunde liegt, nämlich in die Physik, und zwar ins 1. Kapitel von Buch II, dem Martin Heidegger einen ausführlichen Kommentar gewidmet hat: »Vom Wesen und Begriff der Physis. Aristoteles, Physik B,1«. 33 Hier nun das Referat von Peter Berz: Große Zweiteilung der Seienden in solche, die von »Natur« aus da sind (Tiere, Pflanzen, Feuer, Luft, Wasser …), und in solche, die von »Kunst« aus da sind (Bett, Kleid). Die ersteren haben den Anfang und den Drang nach Bewegung und sonstiger Veränderung in sich selber. Die letzteren – die Hergestellten – haben den Anfang ihrer Herstellung nicht in sich selber. Natur hat solchen Anfang – der Entstehung? – in sich selber. Alle diese Dinge sind Seiendheit; nämlich Zugrundeliegendes. Doch sind sie nicht Natur, haben nicht Natur, sondern sie sind von Natur aus, gemäß Natur. Dass es dergleichen gibt, muss man nicht beweisen. Es beweisen wollen, wäre so etwas wie das Reden von Blinden über Farben: sie reden nur von Wörtern, ohne noein = wahrnehmen, sehen, vernehmen. Einige wie Antiphon (480–411) sagen, die Natur sei das jeweils ungegliederte Material: das Wasser für Erz und Gold, die Erde für Knochen und Holz; andere halten die vier Elemente für die Natur 33

Siehe Martin Heidegger: Wegmarken (Frankfurt 2004): 239–301.

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aller Dinge und für ewig; während die konkreten Dinge (auch Naturdinge) nur deren vorübergehende Wirkungen, Verhaltensweisen, Anordnungen seien. Eine andere Wendung von Natur sei »die Gestalt, das Ge-Sicht (Aussehen) gemäß dem Logos«. Handelt es sich hier um drei Aspekte des jeweiligen sokratisch-platonischen Allgemeinen: plastischer, visueller, sprachlicher Aspekt? Auch die sprachliche Fassung gehört zum Gestalt-Aussehen von Naturding oder Kunstding (bei dem ist sie noch entscheidender, da sie die Regel formuliert). Gestalt und Aussehen sind vom Einzelding nur sprachlich abtrennbar – weil eben die Sprachlichkeit (verbinden und trennen können) dazugehört, durch die aus der Möglichkeit Wirklichkeit wird. 34 Diese Wendung, die mehr Natur ist (als das sogenannte bloße Material), vollendet sich in der Vollendung (Entelechie) – sowohl bei den sogenannten Natur- wie bei den Kunstdingen. Ebenso kennzeichnet der Umschlag sowohl die Natur- wie die Kunstdinge. Daher gehört auch das Fehlen, der Ausstand, der Gegensatz, die Verbergung als Bedingung für Veränderung. Martin Heidegger hat seinen Kommentar zu diesem AristotelesText 1939 geschrieben, als die deutschen Truppen ihren Ostfeldzug begannen, in dem es hauptsächlich um »Rohstoff« ging. Heidegger habe mit seiner Lektüre den neuzeitlichen, in der traditionellen Philosophie seit langem dominanten Stoff-Form-Dualismus in Frage stellen wollen. physis und techne: ihre Differenzen, Divergenzen, Konvergenzen, ihre Herkünfte und Übersetzungen, ihr Wissen, ihre Praxis, ihre Seinsweisen scheinen mir eine der brisantesten Herausforderungen unserer Epoche und ihrem »biological turn«, der langsam alle Diskurse ergreift. Morphologien und Morphogenesen: Sie sind ein gegen Darwinismus und Genetik fundamental anderer Einsatz im Wissen von den Lebewesen. Jean Petitot-Corda in seinem Buch La morphogenèse du sens (Paris 1985) hat diesen Einsatz im Horizont einer Geschichte des Strukturalismus gedacht. (Aber schon in Deleuzes Différence et répétition finden sich eine Fülle morphogenetischer Theoreme und morphogenetischen Wissens.)

34 Siehe dazu die neue Arbeit von Sebastian Florian Weiner: Aristoteles’ Bestimmung der Substanz als logos (Hamburg 2016).

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Von Roger Caillois’ surrealistischer Biologie her gesehen, die mich seit langem immer wieder heimsucht: Da gibt es im Hintergrund eine neoaristotelische Biologie, von der Caillois wesentliche Teile seiner Biologie bezieht. Es handelt sich um das Werk eines Philosophieprofessors und Entomologen am Institut Catholique in Paris: Paul Vignon: Introduction à la biologie expérimentale (Paris 1930). Genau dazu passt ein Zitat aus der Poetik 1449a: »… die Tragödie machte viele Veränderungen durch, pollas metobolas metaballousa, aber als sie ihre Natur erreicht hatte, epei esche tes autes physin – da hörten die Veränderungen auf«. Von den seienden Dingen, sagt die Physik des Aristoteles, sind die einen von Natur aus da, physei. Das sind die Tiere und ihre Teile und die Pflanzen und die »einfachen Körper« dazu: Erde, Feuer, Luft und Wasser. Wir heute müssten hinzufügen: und die Pilze, die Protisten alias Protozoa und die Bakterien. Alle diese Wesen seien, so Aristoteles, dadurch bestimmt, dass sie den Anfang von Bewegung und Stabilisierung, von kinesis und stasis, in sich selbst haben. Veränderung oder Verwandlung ist ihnen eingepflanzt, emphyton. Anders dagegen die Liege oder das Kleid: sie haben den »Anstoß von Veränderung« nicht in sich. Denn sie sind nicht physei, sondern apo technes. Aristoteles geht dann die Rede von der physis und alle ihre möglichen Formen durch: physis, physei, kata physin, physis sein, physis haben, to physikon sein oder pros ten physin. Eine besondere Rede von der physis (nämlich die des Sophisten Antiphon) besage, dass es auch an den Dingen apo technes, also der Liege und dem Kleid physis gebe. Die physis der Liege sei das Holz, to xylon. Und das darum, weil das Holz als Holz arrythmiston ist, ohne Rhythmus, »ohne Verfassung« (Heidegger). Beweis: Wenn man eine Liege in den Boden eingräbt und sie verrottet und in der Verrottung ein Keim, blastos, hervorbräche, dann entstünde daraus immer nur Holz, aber keine Liege. Dem Holz komme die Bestimmung, Liege zu werden, eben nur nebenbei zu, und zwar nach Maßgabe gesetzmäßiger Anordnung und Technik, kata nomon diathesin kai ten technen. Dieser Rede, nach der die physis der »zugrundeliegende Stoff«, hypokeimene hyle ist (wobei hyle selbst noch bei Homer nichts anders heißt als Holz) setzt Aristoteles eine andere entgegen. Eines nämlich gelte für die Dinge gemäß einer Technik und für die Dinge gemäß der physis gleichermaßen: Was nicht aussieht wie eine Liege, nicht das eidos einer Liege hat, sondern nur irgendwann mal eine Liege werden könnte, das ist eben keine Liege. Genau so können wir 63 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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die Dinge, die von Natur aus sind, etwa Fleisch oder Knochen, nur als solche ansprechen, kata ton logon, wenn sie das eidos und – hier führt Aristoteles ein neues Wort ein – die morphe von Fleisch und Knochen haben, he morphe kai to eidos to kata ton logon. Morphe und eidos to kata ton logon nun seien mehr physis, stärker physis als der Stoff, die hyle. Die Dinge, die den Anfang ihrer Bewegung aus sich haben, haben damit ihre morphe aus sich. Gerade darin besteht jetzt ihre physis. Aristoteles: »Ein Mensch entsteht aus einem Menschen, nicht aber eine Liege aus einer Liege.« Martin Heidegger wird 1939 in Aristoteles’ Gedankengang von der techne zur physis, von der physis zur morphe und von der morphe zur genesis – und zurück – die Möglichkeit aufblitzen sehen, für einen Moment den Anfang der abendländischen Philosophie zu berühren. Und »in diesem Anfang wird das Sein als physis gedacht …«. 35 (Geschichtlich tritt dieser Moment von 1939 genau dann auf, als Heidegger die planetarischen Züge der Technik sichtbar werden: im »großen eiligen historischen Gestürze auf Rußland«.) Soweit das Protokoll von Peter Berz. Heideggers Physik-Lektüre sollte zumindest einen kleinen Eindruck davon geben, dass es bei Aristoteles vor der »gesuchten Wissenschaft« bereits eine, mindestens eine, »gefundene Wissenschaft« gibt, auf die er bei der Suche nach der gesuchten zurückgreifen kann, sodass sich die Suche nicht total in sich selber, in ihrer Aporetik, verfangen muss. Daher hier wiederum eine eigene Aktion auf dem Boden der Physik, die ich selber mache, indem ich Sehen und Sagen verbinde. * Seit Ende Oktober 2014 ist im Belvedere in Wien die große Ausstellung Im Zwielicht der Nacht. Kunst von der Romantik bis heute zu sehen, bei deren Kuratierung ich Brigitte Borchhardt-Birbaumer unterstützt habe. Dabei geht es um eine Thematik, die von kosmischen »Ursachen« bis zu sehr menschlichen Auswirkungen und wiederum sehr menschlichen Einwirkungen (also Ursachen) reicht und die folglich sowohl in die aristotelische wie auch in »meine« Physik hineinreicht. Wie schon erwähnt, habe ich mich mit ihr vor Jahren in einem eigenen Buch beschäftigt, und wie schon erwähnt, gab mir im Herbst 2011 ein Flug über dem Balkan (nach Athen) Gelegenheit zu einer exzep35

Martin Heidegger: Wegmarken (Frankfurt 2004): 300.

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tionellen Wahrnehmung der Nacht – zunächst »von außen«. Seither weiß ich, woher die Nacht jeden Tag kommt: einerseits von Osten (ebenso wie der Tag), andererseits von unten, vom Boden, aus der Erde (wo sie anscheinend immerzu herrscht). Ich habe diese neuen Erkenntnisse (neu jedenfalls für mich, und wohl auch für einige andere) in meinem Katalogbeitrag dargestellt. 36 Im Zuge dieser Ausstellung eine Führung, in der ich genau jene »woher-Frage« stelle; und dann eine Busfahrt durch die Stadt zur Universitätssternwarte, wo die künstlichen und die natürlichen Nacht-Lichter besprochen werden. Paradoxerweise zeichnet sich ja die Nacht nicht nur durch den Rückzug »des Lichtes« aus, sondern vielmehr durch das Auftauchen »der Lichter« (darauf beruht speziell die »Physik der Weihnacht«). Sowohl der Astronom Thomas Posch wie auch der schon genannte Peter Berz führen in diese Fragen ein. 37 Ich führe auch ein Gespräch mit der (in der Ausstellung vertretenen) Hamburger Malerin Silke Silkeborg, die sich auf das Malen der und in der Nacht spezialisiert hat und über diese ihre Erfahrungen ein kleines Buch gemacht hat. 38 *

Berliner Protokolle Donnerstag, 6. Dezember Um 9 Uhr früh Ankunft in Berlin. Schnee und Schneetreiben. Sofort ins Literaturhaus in der Fasanenstraße, einen der schönsten Orte in Berlin, den ich vor allem vom sommerlichen Garten her kenne. Heute Ausblick in den verschneiten Garten, mit etwas Sonnenschein. Gespräch mit Christian Bertram und Horst Ebener über La monnaie

Siehe Walter Seitter: Zur Physik und zur Technik und zur Ästhetik der Nacht. Ein Beitrag zur Nyktologie, in: A. Husslein-Arco u. a. (Hg.): Die Nacht im Zwielicht. Kunst von der Romantik bis heute (München, London, New York 2012): 32 ff. 37 Siehe Thomas Posch und Walter Seitter: Nacht und Kampf gegen die Nacht aus kulturhistorischer Perspektive, in: Th. Posch u. a. (Hg.): Das Ende der Nacht. Lichtsmog: Gefahren – Perspektiven – Lösungen (2. erweiterte Auflage, Weinheim 2013); Peter Berz, Helmut Höge, Markus Krajewski (Hg.): Das Glühbirnenbuch (Wien 2001). 38 Siehe Silke Silkeborg: Das Dunkel. Journalberichte über das Malen in der Nacht (Hamburg 2012). 36

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vivante, vor allem das seinerzeitige Zustandekommen des Buches, die Anteile von Pierre Klossowski und Pierre Zucca. Ausstellung »Schinkel: Geschichte und Poesie« im Kupferstichkabinett (neben der Gemäldegalerie). Karl Friedrich Schinkel (1781– 1841), ein »Gesamtkünstler«, der mit seinem überwiegend klassizistischen (aber auch romantischen und »nationalen«) Profil wesentlich zum modernen Preußen beigetragen hat, in einer Zeit, in der sich Österreich kulturell eher zurückgehalten hat. Immerhin war seine Entdeckerlust so groß, dass er auch unsere Gegenden aufgesucht hat: 1803 Fußmarsch nach Schöngrabern in Niederösterreich (siehe meine Reaktionäre Romanik) und Wien (dann weiter bis Süditalien); 1811 nachgeholte Hochzeitsreise nach Salzburg und Berchtesgaden. Sein Philhellenismus gipfelte in einem Entwurf für einen gigantischen, ja megalomanischen Königspalast auf der Athener Akropolis, der dort oben das gesamte Gelände zwischen den Tempeln mit Palast und Gärten ausgefüllt und den Anblick von unten stark verändert hätte. Wie ist dieser – nicht ausgeführte – Entwurf einzuschätzen? Soweit wir wissen, war die Akropolis in »klassischer« Zeit nur Tempelbezirk (allerdings von hohen Festungsmauern umgeben). Irgendwann in vorklassischer Zeit muss aber auch diese Akropolis vornehmlich Palast und Festung getragen haben. Insofern hätte Schinkels Entwurf eine archäologische Berechtigung gehabt, aber … Den Königspalast hat dann Friedrich von Gärtner (1791–1847) herunten in der Stadt gebaut: heute Parlamentsgebäude und Mittelpunkt der unaufhörlich katastrophalen griechischen Politik. Abends zu der von eben dieser Griechenland-Politik veranlassten und von Irini Athanassakis mitorganisierten Großkonferenz »Bonds: Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten« im Haus der Kulturen der Welt. Gespräch über Korruption, gegen die alle sind und die munter fortlebt. Aber was ist Korruption? Später Abend: Abendessen in der Paris Bar, die ich aus den Siebziger- und Achtzigerjahren, also aus Jacob-Taubes-Zeiten kenne. Dort meine elementare Typologie der Wirtschaftsformen: Mutterwirtschaft und Marktwirtschaft. In der ersten gibt A den b, c, d das, was diese brauchen. In der zweiten geben und nehmen A, B, C usw. voneinander und miteinander. Die zwei Typen (»Idealtypen« im Sinne von Max Weber) unterscheiden sich radikal voneinander – und zwar 66 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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nicht kontradiktorisch, sondern konträr. Folglich kann es auch verschiedene Mischtypen geben. Etwas Logik schadet nicht beim Reden über die Realität. Vermutlich »muss« es beide Typen geben und man muss nicht den einen im Namen des andern verteufeln. Freitag, 7. Dezember Mit Horst Ebner besuche ich die Ausstellung »Mythos Olympia. Kult und Spiele«. Eine gigantische und sozusagen vollständige Ausstellung – auch für jemanden wie mich, der vor zweieinhalb Jahren zwei Wochen lang in Olympia war und »alles« gesehen hat. Wiederum das merkwürdige Phänomen, dass das regelmäßige Stattfinden von »Frauenspielen« zwar erwähnt, aber in keinster Weise näher geschildert wird. Die tatsächlichen Verhältnisse scheinen also einigermaßen symmetrisch (zwischen den Geschlechtern) gewesen sein, aber die Verkündigung, das Prestige war recht einseitig verteilt. Am Nachmittag auf der Schulden-Konferenz ein vierstündiger »Staffellauf« mit 15 Theoretikern (jeweils in der Doppelrolle von Interviewer und Interviewtem). Am Abend eine dramatische Aufführung nach einem Theorie-Buch: Die Ökonomie von Gut und Böse (München 2012) von dem Ökonomie-Professor Tomáš Sedláček. Seine Methodik: ökonomische Bücher religiös lesen, religiöse Bücher ökonomisch lesen. Samstag, 8. Dezember Vormittag ein kleiner Bataille-Workshop. Ich treffe Rita Bischof, der ich meinen Wiener Vortrag über La monnaie vivante zugeleitet hatte. Zu den dort wiedergegebenen Passagen aus Klossowskis Nachlass sagt sie: das Beste, was Klossowski geschrieben hat. Auf der Schulden-Konferenz Lesung von Aris Fioretos aus seinem neuen Roman Halbe Sonne. Eine Auseinandersetzung zwischen Sohn und Vater mit dem scherzhaften Hauptbegriff »Repaparatur«, d. h. Vater-Reparatur. Vielleicht eine Alternative zu »Ödipus« (Vatermord) – aber auch zu »Anti-Ödipus« (und dessen Aggressivität). Anschließend Vortrag von Sigrid Weigel, die der 68er Generation (zu der auch sie gerade noch gehört) einen moralischen Reinheits-Totalitarismus vorhält. 67 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Daraufhin Diskussion zwischen ihr und Fioretos – auch über die deutsch-griechischen Schuld(en)-Schiebungen. Ich melde mich zu Wort und skizziere eine Diagnose der griechischen Situation: in Griechenland vor dreißig Jahren mit Brüsseler Hilfe Stilllegung einer funktionierenden altmodischen Wirtschaft (mit Rosinen-, Tabakfabriken …), Bau von Autobahnen, Import von Luxuslimousinen. Was dazu führt, dass in Griechenland (wo seinerzeit die abendländische Begriffskultur erfunden worden ist) die soziologischen Begriffe »postindustrielle Gesellschaft«, »Konsumgesellschaft« in voller Reinheit verwirklicht sind (was sich zunächst recht gut angefühlt hat). Fioretos zu mir: ich teile Ihre Analyse. Am Abend Vortrag von Marcel Hénaff: »Kosmische, symbolische und finanzielle Schulden«. Drei Stadien: Antike mit prekärer Balance, Neuzeit mit Grenzenlosigkeit, Moderne mit Thermodynamik, d. h. irreversibler Entropie. Ich: wir leben immer noch in der »Antike«: es gibt auch die Kräfte der Negentropie, die Differenz, Information steigern, z. B. animalisches Wachstum, kulturelle Leistungen. Jedenfalls »bei uns« gibt es sie und von uns hängt es auch ab, ob diese Kräfte immer wieder erstarken. Zum Abendessen suchen wir zunächst ein Lokal auf, in dem ein echter Klossowski hängt. Folgeerscheinung: es gibt dort nur ein Menü; der Preis steht kleingedruckt ganz unten … Wir wechseln in die »Trattoria Maria« mit herrlicher Pizza. Funktionierende Marktwirtschaft. Weder Mutter- noch Vater-Zwang. Meine Formulierung für die vermutete Wurzel der Krise (die sich keineswegs auf Griechenland beschränkt): die Wurzel heißt »zu viel Geld« (was leider auch zur Folge hat, dass es manchenorts zu wenig Geld gibt). Die Formel »zu viel Geld« passt auch zur Entropie-Dominanz. Denn zu viel von einer Realitätssorte oder Qualität (ob Geld, Wasser, Wärme …) bedeutet automatisch eine Differenz-Schwächung. In Delphi war auch die Inschrift »Nichts zuviel!« angebracht. Die Missachtung dieses Gebots steigert die Entropie. Im Übrigen scheint mir die Empfehlung »Abschaffung des Geldes« keineswegs eine Lösung zu versprechen. 39 Siehe meinen Aufsatz: Zu viel Geld!, in: Tumult Vierteljahresschrift für Konsensstörung (Sommer 2014). TVK ist eine Abzweigung von dem in den späten Siebziger-

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Montag, 10. Dezember In der Villa Einstein Treffen mit Peter Berz. Inzwischen hat er auch unsere letzten Protokolle gelesen und freut sich über die Konvergenz der Denkbewegungen. Wobei er in seine Philosophie der Biologie auch Helmuth Plessner einbezieht, vor allem dessen einschlägiges Hauptwerk, die 1928 erschienenen Stufen des Organischen und der Mensch. Wir sprechen darüber, dass dieses Buch zunächst im Schatten eines Scheler-Plagiat-Vorwurfs stand; viel wichtiger aber die Tatsache, dass es auf Dauer in den Schatten von Heideggers Sein und Zeit geraten ist. Auch Peter Berz meint, dass man heute Heidegger mit Plessner parallel-lesen muss, um Heidegger aus dem Raunen herauszubringen und »jetzig« lesen zu können. Das ist auch die Richtung, die mit dem Wien des frühen 20. Jahrhunderts angezeigt ist. 13. Dezember 2012 Am Dienstag im Deutschen Historischen Museum eine riesige Informationen-Aufstellung zur Geschichte Deutschlands vom Jahre 0 bis zum Jahre jetzt. Die wenigen Jahre der DDR sind natürlich inkludiert, die vielen Jahrhunderte Österreichs ebenso. Mit dem Filmemacher Manfred Hulverscheidt besuche ich das Tieranatomische Theater aus dem Jahre 1794. Dieser palladianische Zentral- und Kuppelbau, auch »Zootomie« genannt, diente der Präsentierung von frisch geschlachteten Tieren, hauptsächlich Pferden, auf einem großen runden Tisch, der aus dem Untergeschoss in den Hörsaal hinaufgehoben wurde. Luxus für die Wissenschaft. Anatomie: Aufschneidung, Auseinanderschneidung, Auseinanderfaltung. * Zu den letzten Protokollen, die sich von Aristoteles etwas entfernen und den Spannungsbogen zwischen Heidegger und dem Wien des frühen 20. Jahrhunderts thematisieren.

jahren gegründeten Organ Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft (TSV), in dem ich viele Beiträge auch zur Philosophischen Physik geliefert habe – etwa Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft 23: Physiken (1998).

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Die große Philosophie-Verweigerung Österreichs, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts konsequent durchgehalten worden ist, dürfte ihren Hauptgrund darin haben, dass in Österreich die intellektuelle Energie hauptsächlich in Richtung Kunst geleitet worden ist: Theater, Musik, Oper. Daneben gab es immer wieder Perioden mit funktionierender Naturwissenschaft, die aber kaum zu einer stabilen Wissenschaftskultur führten. Das Fach Philosophie musste aus traditionellen Gründen unterrichtet werden, was die Jesuiten so besorgten, dass die Philosophie als »reine Philosophie« den Status leeren Geredes innehatte. Eine Änderung trat zunächst in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein: Einführung der Medizin außerhalb der Universität: von da an war Wien eine Hauptstadt dieser Disziplin – mit der Psychologie als Anhängsel. Erst im 19. Jahrhundert berief man angesehene Philosophieprofessoren aus Deutschland, zuletzt Franz Brentano (1838–1917) (in Wien bis 1895). Seine Richtung konnte sich mit Alexius Meinong (1853–1920) in Graz besser halten, wo Fritz Heider aus seiner Schule hervorging – der für meine Medienphysik wichtig geworden ist. 40 Der große Umschwung wurde dadurch eingeleitet, dass Österreich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts den Anschluss an die internationale Wissenschaftskultur, und zwar in allen Disziplinen, fand, womit der Grund für eine bodenständige Genese von Philosophie bereitet wurde. Die hatte zwar auch dann noch mit Schwierigkeiten zu kämpfen – doch auch diese gehörten zum Milieu eines sozusagen »ersten Philosophie-Anfangs«, der immer nur aus Wissenschaftskultur hervorgehen kann. Siehe Physik als »Grundbuch« der abendländischen Philosophie. * In den Aporien (Buch III) postuliert Aristoteles ein sorgfältiges, intensives, arbeitsames Sich-Einlassen auf die Tradition, auf die Vorgeschichte der von ihm »gesuchten« Wissenschaft. Er spielt nicht den ersten Anfang, den »ersten Philosophen« im chronologischen Sinn. Er weiß, dass er in der dritten oder vierten Generation philosophiert. Meint allerdings auch, dass die vorausgehenden Generationen jedenfalls für diese Wissenschaft den sicheren, den erfolgreichen Weg Siehe Walter Seitter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen (Weimar 2002): 33 ff.: »Aristoteles und Fritz Heider«.

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noch nicht gefunden haben. Gleichzeitig nimmt er an, dass sie Wege zu dieser Wissenschaft versucht haben. Im Buch I hatte er selber einen anderen Zugang zu dieser Tradition versucht. Einen, den wir »historisch« im üblichen Sinn nennen würden: Nennen von Namen, kurzes Referieren der Positionen, abwägendes, manchmal auch polemisches Kritisieren jener Thesen als unzureichend. Obwohl er selber von Anfang an die »Wissenschaft«, die Suche nach »Ursachen«, in den Vordergrund gestellt, hat er da auch »theologische«, wir würden sagen »mythologische« Antworten einbezogen. Außerdem hat er sogar die gesuchte Wissenschaft selber als »Weisheit« bezeichnet. Wohl wissend, dass »Weisheit« in seiner Kultur ein längst etablierter Begriff war, dass die »Weisen« eine angesehene soziale Position innehatten. Zu ihnen gehörten eher Staatsmänner, Redner, Verfassungsgeber (im 20. Jahrhundert hat dann der russisch-französische Philosoph Alexandre Kojève den Titel des Weisen über den des Philosophen gestellt). Aristoteles möchte die Philosophie mit dem sozialen Prestige der Weisheit ausstatten – und absichern. Und dazu hatte er einigen Grund. Denn die Philosophen galten zu seiner Zeit, obwohl es solche doch schon seit fast 200 Jahren gab, immer noch als unsichere Kantonisten, gewinnsüchtige Sophisten, verdächtige Neuerer, gefährliche Avantgardisten, aggressive Aporetiker. Bekanntester und bekanntlich athenischer Fall: Sokrates. Mit dem Buch III schlägt Aristoteles einen anderen Zugang zur Tradition »seiner« gesuchten Wissenschaft ein: theoretische Reduzierung auf 14 Sachfragen. Obwohl er die Aporien zunächst als Verknotung von theoretischen Problemen und persönlicher Ausweglosigkeit definiert hat, macht er daraus eine Vierzehnerliste. Die serielle Listen-Form verleiht diesem Buch etwas Mechanisches, sozusagen Blechernes, das noch verstärkt wird durch den zweimaligen Durchgang: Nennung der Aporien, dann Behandlung also angebliche Lösung der einzelnen Aporien. Eigentlich verlässt Aristoteles hier die wichtigste Textform seiner Schriften, die ja Lehrschriften sind: die Abhandlung, die intern gegliedert ist in Einleitung und Fragestellung, sorgfältiges Unterscheiden der Aspekte, Versuche 71 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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der Antwortfindung, Eingehen auf Einwände, abschließende Zusammenfassung. In den kurzen Abschnitten dieses Buches bleibt kaum Platz für Aufsammeln von Beispielen und langsames Abwägen; es wiederholen sich unentwegt die Fachbegriffe – etwa wenn neuerlich die vier Ursachen erklärt werden und im Zusammenhang damit gefragt wird, welche von den entsprechenden Wissenschaften als »Weisheit« gelten dürfe. Die führende, ja herrschende Rolle der Wissenschaft vom Ziel und vom Guten wird immerhin mit dem drastischen Vergleich illustriert, dass dieser Wissenschaft die anderen ebenso wenig widersprechen dürfen wie Sklavinnen: 996b 12. Damit ist übrigens nicht der sogenannte Satz vom Widerspruch gemeint. In einer neuerlichen Widerlegung der platonischen Ideen setzt Aristoteles die menschengestaltigen Götter der Volksreligion mit angeblichen »ewigen Menschen« gleich und die Ideen überhaupt mit »ewigen Sinnesdingen« (997b 10 f.). Also auch eine religionskritische Stoßrichtung. Ich habe den Eindruck, dass sich mit dem Buch III der erste Anlauf der »gesuchten Wissenschaft«, der sich übrigens auf drei Anfänge auseinandergelegt hat, erschöpft hat. Die zweifache Serialisierung der in vierzehn Einzelprobleme zerlegten Wissenschaft legt eine theoretische Krise auf einer zusätzlichen Metaebene zutage. Sozusagen eine Meta-Aporie. Meine Vermutung: die Untersuchung hat sich totgelaufen, weil sie zu hartnäckig am Begriff »Ursache« festgehalten hat. Zwar wird dieser Begriff gar nicht so univok gehandhabt, wie er zunächst klingt, er ist bereits in vier Varianten abgewandelt, sodass die Übersetzung mit »Ursache« schon irreführend erscheint, es geht ja auch um Bestandteile, Elemente, Prinzipien … Aber diese Mannigfaltigkeit kann gar nicht Thema einer einzigen Wissenschaft sein, welche ja hier gesucht werden soll. Im Grunde genommen ist bereits mit der ersten Aporie und mit ihrer Lösung, dass nämlich nicht alle Gattungen der Ursachen, und schon gar nicht der Ursachen aller Dinge, in einer einzigen Wissenschaft untersucht werden können, dieses ganze Vorhaben in eine Sackgasse geraten. Die Untersuchung aller Ursachen muss sich auf mehrere Wissenschaften verteilen – insonderheit auf 72 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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solche, die ohnehin schon gegründet sind. Um eine zusätzliche Wissenschaft mit einem gewissen Allgemeinheitsanspruch ins Leben zu rufen, wird Aristoteles eine andere Betrachtungsebene einführen bzw. erfinden müssen. * Wiederum ein Einschub mit autobiographischen Angelegenheiten. Am 24. Jänner 2013 wird mir vom Wissenschaftsminister Heinz Töchterle das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse verliehen. Meine Geschwister und viele Freunde sind anwesend. Anschließend kleine Feier im Café Landtmann. Horst Ebner hält eine schöne Laudatio, in der die thematische wie auch formale Vielfalt meines philosophischen Wirkens hervorgehoben wird. Daran ließe sich natürlich auch die Frage anhängen, ob die Benennung der Auszeichnung – »für Wissenschaft und Kunst« – etwa auch direkt auf mich zutreffen könnte. Wenn man mir gelegentlich das Lob spendet, meine Texte hätten etwas Künstlerisches, dann reagiere ich eher missmutig, weil ich darin die Aussage vermute, mit der Wissenschaftlichkeit meiner Sachen sei es nicht weit her. Doch wenn ich mir selber vergegenwärtige, dass meine Schriften tatsächlich sehr unterschiedlichen Textsorten, Formaten, Stilen, Sprechweisen angehören, dann bekomme ich den Eindruck, dass das Performative bei mir sich vordrängt und eine Position einnimmt, die mit dem Inhaltlichen, dem Sachbezug gleichzieht – oder vielmehr den Sachbezug jeweils modifiziert oder moduliert. Das Künstlerische, das darin zum Vorschein kommt, hat weniger mit dem modernen Kunst-Begriff zu tun als vielmehr mit dem antikischen, der dem Handwerklichen nähersteht. * Aristoteles’ hartnäckige Kritik an der sogenannten »Ideenlehre« Platons wirft die Frage auf, ob es das, was bei Platon »Idee« heißt, bei Aristoteles gar nicht gibt oder, wenn doch, dann mit welchen Unterschieden. Das in den sokratisch-platonischen Dialogen herausgearbeitete »Allgemeine« wird von Aristoteles sehr wohl übernommen, bekommt aber bei ihm einen anderen Status: es existiert nicht »getrennt« in einem Ideenhimmel, sondern wohnt den Einzelwesen als deren Form, als innere Seinsursache inne. Wobei das Wort »Ursache« 73 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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wiederum den Nachteil hat, dass es den immanenten Charakter dieser Form verdeckt. Diese innere Form existiert nicht »extra« – sondern sie »immaniert«: sie wohnt dem Einzelwesen inne und liefert ihm sein Was, seine Wesenheit, seine Seiendheit, seine Energie – lauter Bestimmungen, die dem aristotelischen Vokabular entsprechen. * Am 13. März 2013 Präsentierung meines Buches Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft, das im Vorjahr – mit einem Vorwort des Autors zur Neuausgabe 2012 und einem Essay von Friedrich Balke: ›Tychonta, Zustöße. Walter Seitters surrealistische Entgründung der Politik und ihrer Wissenschaft‹ – neu herausgekommen ist. Es handelt sich um meine Aachener Habilitationsschrift, verfasst im Winter 1980–1981, zuerst erschienen in München 1985. Im ersten Teil eine historische Untersuchung der Erkenntnistechniken von der Heraldik zur Statistik, 1200 bis 1700; im zweiten Teil Versuch eines neuen »Begriffs des Politischen«. Da hier auch eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt geführt wird, habe ich diesem im Jahr 1981 das Typoskript sogleich nach der Fertigstellung zugeschickt, worauf er mir wenige Tage später mit einigen Zeilen geantwortet hat. Dieses Buch habe ich geschrieben, bevor mir meine persönliche Entscheidung zur »Physik« in der Philosophie bewusst war. Aber offensichtlich habe ich schon damals eine »physikalische« Linie eingeschlagen – und zwar und sogar in Bezug auf die menschlichen Angelegenheiten. Um einen kleinen Eindruck von der »Menschenphysik« zu geben, die in diesem Buch historisch illustriert wird, zitiere ich eine Passage aus Friedrich Balkes Nachwort: »Die Heraldik ist ein solches System von dinghaft verkörperten oder präsentierten Namen und Zeichen, das denen, die über sie verfügen, einen Zweitkörper verleiht, der sich ihrem physischen Körper hinzufügt oder anheftet und dem ›Wappenherren‹ die Möglichkeit eröffnet, nicht nur da zu sein, wo er ist, sondern auch dort, wo er nicht ist. Was lässt uns denn z. B. die Figur eines Ritters zugleich so fremd und faszinierend erscheinen? Die Tatsache, dass er, worin auch immer seine ›persönlichen‹ kriegerischen Fähigkeiten und Leistungen liegen, ein komplexes Arrangement ist, das nach innen gegliedert ist – Mensch, Pferd, Steigbügel, Rüstung, Wappen – und mit eben dieser Gliederung sich zu Außen verhält: sich verbündend, sich schlagend, 74 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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sich schließend, sich öffnend. Die Wappen sind rechtsverbindliche Zeichen, die denjenigen, die sie zu führen berechtigt sind, erlauben, sich zu erkennen zu geben, wobei die Erkenntnis, um die es hier geht, keine epistemologische, sondern eine ›soziologische‹ oder klassifikatorische Funktion erfüllt. Das Wappen informiert darüber, mit wem man es zu tun und als wen man jemanden zu behandeln hat. Seine ›Eigenkörperlichkeit‹ hebt das heraldische Erkennungssystem zudem in die Sphäre jener Zweitkörper, die Ernst Kantorowicz zufolge dem König vorbehalten sind: Sie reichen möglicherweise nicht an die Unsterblichkeit des royalen Zweitkörpers heran, gleichwohl übersteigen sie die Lebensspanne des jeweiligen Individuums, das sie führt und das durch dieses Zeichen nicht ›sich selbst‹, sondern seine Zugehörigkeit zu einer Familie, einem Clan, einem Geschlecht oder einem Haus signalisiert … Die Wappenschilder werden getragen oder angeheftet, ihre figuralen Motive sind komplex und sie unterliegen einer historischen Dynamik: das Wappen ist ›entwicklungs‹- oder ausbaufähig, seine Zeichenstruktur ist zusammengesetzt oder -gestückelt aus anderen, fremden Zeichen, woraus die ›Brisur‹ des Wappens resultiert. Das Wappen ist kein Symbol, das die Homogenität einer wesensmäßigen Identität seines Trägers ins Bild setzen würde. Vielmehr unterliegt es einer fortgesetzten Arbeit am Zeichen, geht aus einer SignifikantenBricolage hervor, durch die zu den Zeichen, die bereits auf dem Wappenschild versammelt sind, jederzeit neue Zeichen, die die Wappentheorie ›Beizeichen‹ nennt, hinzukommen können. Diese Zeichen verändern die Signifikanz des Wappens bei Wahrung seines Zusammenhalts … Mit Blick auf die sich anschließende Geschichte des europäischen Wappenentzugs und der Abdrängung der Heraldik in den Bereich des Steckenpferds sind eine Reihe von Phänomenen in Betracht zu ziehen, die auf eine untergründige Fortwirkung der heraldischen Menschenfassung verweisen …«. 41 Friedrich Balke hat auch die Tatsache gewürdigt, dass ich im systematischen Teil des Buches dafür plädiere, »die Erkenntnis der Menschendinge von der Seite der Akzidenzien her anzugehen«, und er Friedrich Balke: Tychonta, Zustöße. Walter Seitters surrealistische Entgründung der Politik und ihrer Wissenschaft, in: Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft (Weilerswist 2012): 272 f.

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konnte bereits darauf eingehen, dass in der oben erwähnten PoetikLektüre der Hermesgruppe (in den frühen Zehner-Jahren) eine erstaunliche und bisher kaum gesehene Zurückdrängung des Menschen-Wesens (vonseiten Aristoteles’!) festgestellt worden ist – womit die Grundfrage der Ontologie (Primat der Substanz?) aufgeworfen worden ist. 42 * Ende März 2013 fahre ich nach Aix-en-Provence, welche Stadt ich kenne und liebe – vor allem weil sie die Stadt von Paul Cézanne ist. Ich war da schon zweimal und bin sogar auf den Berg gestiegen, den er so hartnäckig gemalt hat (und wohl nie bestiegen hat). Dieses Mal eine Einladung von dem Philosophen Michel Guérin, der vor einiger Zeit in Wien Direktor des Französischen Kulturinstituts gewesen war. Auf der Tagung, die dem Thema »Die Geste« gewidmet ist, spreche ich über »Die beiden Hände – ein Medium?«. Es ist ein Stück aus meiner Medienphysik und gibt mir Gelegenheit, eine neue Definition des Menschen vorzuschlagen: nach den beiden aristotelischen Definitionen »Tier mit Sprache«, »Tier mit Polis« nun das »Tier mit den Dingen«: animal chosiste, animal chosant; der Mensch gebraucht oder verbraucht nicht bloß irgendwelche dinglichen Nahrungsmittel oder dergleichen, sondern er »hängt an ihnen« – seien es Geräte, Symbole, Bilder und so weiter. 43 * Aristoteles wendet sich der Aporie Nr. 6 zu und definiert allgemein den Ausweg aus einer Aporie als »aletheias tychein«: mit der Wahrheit Glück gehabt haben, die Wahrheit berührt haben (998a 20 ff.). Die Aporie besteht in der Frage, ob die Prinzipien und Elemente in den immanenten Bestandteilen einer einzelnen Sache liegen – oder in der Gattung, also in einer höheren Gemeinsamkeit. Als Beispiel nennt er den Laut. Zumindest beim Vokal scheint uns die Sache nach Bestandteilen (im Plural) unmöglich, so nehmen wir uns als Beispiel den visuellen Druckbuchstaben a (oder A) und da finden wir – visuelle – Bestandteile. Die Gattung würde lauten: Buchstabe oder aber Figur oder dergleichen. Siehe Friedrich Balke: loc.cit.: 282 ff. Siehe Walter Seitter: Les deux mains – un médium?, in: M. Guérin (Hg.): Le geste entre émergence et apparence. Éthologie, éthique, esthétique (Aix-en-Provence 2014).

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Deutlicher sein zweites Beispiel: geometrische Zeichnungen (diagrammata) haben Elemente, die in allen oder in den meisten Figuren vorkommen (z. B. Linie); aber da nennt er die alternative Fragestellung, die nach der Gattung, nicht; die würde wohl auf »Figur« hinauslaufen. Sein drittes Beispiel entnimmt Aristoteles dem Empedokles: alle Körper bestehen alternativ oder inklusiv aus vier Elementen (Wasser, Erde, Luft, Feuer); doch die alternative Fragerichtung gibt es bei Empedokles nicht: die würde auf den Allgemeinbegriff »Körper« oder den noch allgemeineren Gattungsbegriff »Seiendes« hinauslaufen. Die zweite Fragerichtung kann nur Allgemeinbegriffe nennen, im besten Fall Allgemeinstbegriffe. Da bewegt man sich im reinen Raum der Klassifikation und steigt in die Höhen der Logik. Die erste Fragerichtung geht in Richtung Physik, wie wir ja schon in der Poetik anhand der Wörter, Silben und Laute gesehen haben. Die Alternative, die Aristoteles hier aufmacht, ist also die zwischen Physik und Logik. Welche der beiden Disziplinen hat mehr Chancen, zur »gesuchten Wissenschaft« zu gehören? Es fragt sich, was denn das Eigene der »gesuchten Wissenschaft« sein soll. Sein nächster Satz verbindet die Bestandteile einer Sache mit ihrer »Natur« (physis) – das sieht nach eindeutigem Plädoyer für die Physik aus. Abschließend: die Gattungen können nicht die Prinzipien der Dinge sein. »Metaphysik« also doch eher Physik als Logik. Sind die Prinzipien der Dinge eher bei den – physischen – Bestandteilen aufzusuchen oder bei den – logischen – Gattungen? (998b 5 ff.) Das war die Frage, die Aristoteles mit dem Kapitel 3 aufgeworfen hatte. Er argumentiert einmal in die Richtung, einmal in die andere. Im Großen und Ganzen hält er daran fest, dass nur eine der beiden Möglichkeiten in Frage kommt. Denn der »Begriff der Wesenheit« sei nur einer. Allerdings führt er mit »Wesenheit« noch einmal einen anderen Begriff ein und unterstellt gleichzeitig, dass Prinzip und Wesenheit wenn schon nicht identisch sind, so doch auf einer Linie liegen. Er sagt aber nicht, ob der Begriff der Wesenheit aufseiten der Gattung oder des Bestandteils angesiedelt ist. Abgesehen davon, dass er mit der Einzigkeit der Wesenheit die von mir aufgefundenen ca.

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neun Synonyme für »Formalursache« zu strikt univoken Synonymen erklärt (herabsetzt). Aristoteles stellt sich dann auf die Seite der Hypothese von den Gattungen als Prinzipien, schließt aber gleich die Frage an, ob das für die ersten Gattungen oder für die zuletzt von den Individuen ausgesagten Gattungen zutreffe. Mir scheint der hier eingesetzte und im Plural gebrauchte Begriff atomon für »Individuum« wichtig zu sein, weil er unserem heutigen üblichen Sprachgebrauch nahesteht und weder in der Übersetzung von Schwarz (sehr wohl aber in der englischen von Tredennick) noch im Aristoteles-Lexikon von Höffe klar hervortritt. Welche aber sind die »ersten« und die »letzten« Gattungen? Aristoteles spricht daraufhin von den höchsten und allgemeinsten Gattungen – das sind wohl die »ersten«. Und da bieten sich zwei solcher Gattungen an: das Seiende und das Eine. Die beiden haben jedoch keinen Gattungsunterschied gegeneinander – sie sind gleich allgemein. Also sind sie nicht die Gattungen, die als Prinzipien in Frage kommen. Wenn das Eine in höherem Maße »prinzipartig« (eine Adjektivbildung, die zeigt, wie Aristoteles mit den Wörtersorten umgeht) ist, dann dürfte die letzte Gattung eher in Frage kommen. Zudem scheinen die – spezifischen – Unterschiede in höherem Maße »eine« zu sein und in noch höherem Maße die Unzerlegbaren und die Individuen, und über dem Besser und Schlechter gibt es keine höhere Gattung, vielmehr ist das Bessere jeweils das Frühere, also das Prinzipartigere. Die ersten Gattungen könnten nur dann Prinzipien sein, wenn sie außerhalb der Individuen existierten.

999a 33 – 999b 24 Man hat den Eindruck, Aristoteles schlägt sich noch immer mit dem Platonismus (sprich: Ideenlehre) herum. Diejenigen, die annehmen, dass etwas außerhalb der Einzeldinge existiert, laufen Gefahr, in die platonische Irre zu gehen. Gilt das auch für die Annahme, der Stoff (hyle) existiere außerhalb der Einzeldinge? Aristoteles wendet sozusagen gegen seine eigene Position ein, wenn es nur die Einzeldinge gäbe, so gäbe es nur Sinnesdinge und es wäre nichts erkennbar – es sei 78 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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denn, man verstiege sich zur Behauptung, die Sinneswahrnehmung sei selber Wissenschaft (Sensualismus). Und dann gäbe es nichts Unbewegt-Ewiges. Dann aber wäre die Entstehung der Vergänglichen auch nicht möglich – denn die beginne mit einer Entstehung aus Unentstandenem (anderfalls würde die genealogische Kette ins Endlose zurückreichen und damit selber unmöglich werden oder die Entstehung müsste aus einem anfänglichen Nichts hervorgehen – ebenso unmöglich). Aristoteles betont, was banal erscheinen mag, dass das, was entstanden ist, sobald es entstanden ist, auch ist. Dieses Insistieren mag ein Zugang zu dem sein, was man später »Ontologie« genannt hat. Dann schiebt er einen anderen unentstandenen Bestandteil eines jeden Seienden ein, nämlich die ousia, die laut Schwarz noch unentstandener ist als der Stoff (wenn so ein Unterschied möglich sein sollte). Wenn es diese beiden Unentstandenen nicht gäbe, hätte nie etwas entstehen können und folglich gäbe es überhaupt nichts. Diese Gar-Nichts-Hypothese wird von Aristoteles immerhin ausgesprochen und insofern liefert er das Stichwort für die berühmte Frage, die sich durch die neuzeitliche Ontologie ziehen sollte (Leibniz, Schelling, Heidegger): Warum gibt etwas und nicht vielmehr nichts? Welche Frage die Annahme zu implizieren scheint, dass die GarNichts-Existenz irgendwie wahrscheinlicher, weil einfacher oder bequemer, wäre – etwa im Sinne der entropischen Wahrscheinlichkeit von weniger Differenz (Information) gegenüber mehr Differenz (Information). Diese Implikation ist von Leibniz selber formuliert worden, der an seine Frage die Erklärung anschließt: »Das Nichts ist einfacher und leichter als etwas.« 44 Die Modernen neigen dazu, das Sein von etwas überhaupt als völlig kontingent anzusetzen: stattdessen könnte es »ebenso gut« (mindesEs ist das Verdienst von Rémi Brague, vor kurzem auf diesen Punkt hingewiesen zu haben: ders.: Les ancres dans le ciel. L’infrastructure métaphysique (Paris 2011): 62. Er verbindet die Frage mit den ethischen Problemen von Selbstmord und Fortpflanzungsverweigerung und aktualisiert die mittelalterliche Lehre von den Transzendentalien »seiend«, »wahr«, »gut« zu einer Diagnose der Neuzeit in dem Sinn, dass im 19. Jahrhundert die Frage nach dem Guten dominiert habe, im 20. Jahrhundert die Frage bzw. die Krise des Wahren, während sich im 21. Jahrhundert die ethisch-politische Krisensituation fundamental-ontologisch verschärfen könnte. Ausführlich zu dem Frage-Satz siehe D. Schubbe, J. Lemanski, R. Hauswald (Hg.): Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wandel und Variationen einer Frage (Hamburg 2013). 44

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tens) nichts geben. Die Ontologie bewegt sich ständig im Zusammenspiel mit Meontologie. Heidegger: »ens qua ens ex nihilo fit«. Die jüdisch-christliche Schöpfungslehre hat ihren Anteil an dieser postantiken Auffassung (allerdings nur für die »Schöpfung«). Für Aristoteles ist das »Sein überhaupt« nicht kontingent, das Gegenteil davon vielmehr unmöglich. Und als Grund dafür braucht er hier nicht einen fernen unbewegten Beweger, sondern die mit den Dingen ständig kopräsenten Prinzipien Stoff und Form. Unentstandene Prinzipien in der Schöpfung, die aber gerade keine »Schöpfung« ist – sondern eine insgesamt ewige Welt, die eine Gesamtkontingenz nicht zulässt, sie immer schon überwunden hat. Sein ist nicht in erster Linie oder gar bloß bloßes Existieren. Dies ist es zwar auch, aber zudem ist es immer auch, jedenfalls tendenziell Etwas-Sein, Stoff-Sein, Form-Sein, Wirksam-Sein, Zweck-Sein, also multiples Ursach-Sein und Begründet-Sein. Sein ist etwas Flexibles, ein Mehr-oder-weniger-Sein, substanzielles oder akzidenzielles Sein. Erst in der Neuzeit wird es sich dem Nicht-Sein annähern, um sich gerade noch davon abzusetzen – in Kontrastierung von seiner mittelalterlichen Theologisierung. * 5. Juni 2013 Nehmen wir an, das Einzelding werde durch zwei Prinzipien gebildet: die Form (morphe, eidos oder ousia) und den Stoff (hyle) (999b 17 ff.). In welchem Verhältnis stehen die zum Einzelding? Sind sie daneben, dabei oder darin? Aristoteles verwendet die Präpositionen »neben« und »bei«; das »darin« scheint er zu implizieren, wenn er sagt, das Einzelding oder das Gesamtding »ist diese beiden« (999b 24). Allerdings erscheinen die Ausführungen in diesem Abschnitt keineswegs klar. Vielleicht deswegen, weil wir uns mitten in den Aporien befinden. In der neunten Aporie geht es um die Anzahl der Prinzipien. Sind sie eines – so entweder der Art nach oder der Zahl nach. Beide Annahmen widersprechen dem, was wir von Aristoteles wissen. Ein einziges Prinzip der Zahl nach: das würde heißen: ein strikter Ursach-Monis80 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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mus etwa so wie das Wasser für Thales oder ein einziger Schöpfergott wie im Alten Testament. Aber Aristoteles diskutiert diese Frage gar nicht so grob-weltanschaulich. Sondern er formalisiert sie zu erkenntnistheoretischen und logischen Widersprüchen und als konkretes Beispiel nimmt er nun anscheinend das, was er gerade schreibt, nämlich diese oder jene Silbe, die aus Buchstaben besteht. Es sieht so aus, als würde Aristoteles Streitfragen, die bekannt sind, sozusagen als Schulbeispiele vorführen und im Schnellverfahren abhandeln. Von einem wirklichen Durcharbeiten dieser Streitfragen, das er am Anfang des Kapitels postuliert hat, merkt man wenig.

1000a 5 – 1000a 24 Wir greifen auf den Satz in 999b 24 zurück; auf den Schlussteil des Satzes, der »nur« ein Fragesatz ist, »und wie ist das Konkrete diese beiden (nämlich die Wesenheit und der Stoff)?«; und interessieren uns nur für die grammatische Form des Satzes: Subjekt im Singular, Prädikatsverb im Singular und Prädikatsnomen im Plural (obwohl nur zwei und nur pronominal ausgedrückt). Im Deutschen müsste das Prädikatsnomen ebenfalls im Singular stehen: Subjekt und Prädikatsverb »regieren« oder »fixieren« die Zahl des Prädikatsnomen. Im Griechischen hingegen kann das Verb »sein« sich so dehnen oder spreizen, dass es den Übergang vom Singular zum Plural vermittelt. Allerdings handelt es sich hier um einen »schwachen« Plural, einen Neutrum-Plural und der regiert auch als Subjekt die Singularform des Verbs. Die asexuellen Dinge werden nur als »ein Ding« behandelt: als ein Sachverhalt, als eine Menge von Dingen. Es sieht so aus, als hätten die asexuellen Dinge eine viel schwächere Eigenheit: für die Satzbildung verschmelzen sie immer schon zu einem Gesamten. Was hier von der griechischen Sprache gesagt wird, geht in dieselbe Richtung, die Aristoteles mit seinen Ausführungen über Zahl und Art der Prinzipien andeutet (9. Aporie): dass das antike Denken – ob nun aristotelisch oder allgemein-sprachlich – in manchen Punkten von dem unsrigen dermaßen abweicht, dass es für uns nur schwer zugänglich ist. Im Übrigen handelt es sich hier um die Explikation einer Aporie, nicht um deren Beantwortung. 81 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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10. Aporie: Haben die vergänglichen und die unvergänglichen Dinge dieselben Prinzipien? Der Schule um Hesiod und den Theologen hält Aristoteles vor, sie hätten nur bedacht, was ihnen selber glaubhaft schien und wenig Rücksicht auf uns genommen. Da zwischen ihnen und »uns« mindestens zwei oder drei Jahrhunderte liegen, erscheint die aristotelische Rüge doch sehr streng. Sie scheint vorauszusetzen, dass es damals schon möglich gewesen wäre, über die seinerzeitigen Denkgewohnheiten hinauszugehen: also unvergängliche Denkleistungen zustande zu bringen – hier darf, nein muss man an die Mathematik denken. Was sie gerade mit ihren Annahmen über die ewigen Götter nicht taten – so Aristoteles. Falls diese in ihrem göttlichen Sein von Nektar und Ambrosia abhängig waren, wären diese beiden Nahrungsmittel »Ursachen« der Götter gewesen. Da sieht Aristoteles eine Unstimmigkeit: solche Götter können gar nicht ewig sein. Dem Einwand ließe sich entgegenhalten, dass die Götterspeisen in einem ewigen Kosmos ewig kopräsent bzw. »nachwachsend« zu denken wären. Und bzw. aber: die Autarkie und die Allmacht, ganz zu schweigen von der Ewigkeit der Götter: das waren schon in jener Volksreligion Huldigungsübertreibungen, die einerseits notwendig waren, um die Götter zu erhalten (die also auch von den Menschen abhängig waren), die andererseits aber nie ganz stimmten.

1000a 24–32 Auf die letzte Bemerkung zu Aristoteles zurückkommend stellen wir die Frage, wo denn bei ihm die Grenze zwischen Wissenschaft im Sinne von Einzelwissenschaft und Philosophie zu finden sein könnte – und zwar im Sinn der modernen Wortbedeutungen. Es darf vorausgesetzt werden, dass bei Aristoteles – wie bei uns – der Begriff der Wissenschaft eine größere Bedeutung hat als der der Philosophie, jedenfalls im quantitativen Sinn. Alles, was er selber macht, ist Wissenschaft, ist einer bestimmten Wissenschaft zuzuordnen. »Wissenschaft« ist ein eher technischer Begriff. »Philosophie« meint wie schon vor Aristoteles eine sehr qualifizierte Seelenhaltung und Seelenleistung, die zu Wissenschaft befähigt. Unter bestimmten Voraussetzungen erhalten bestimmte Wissenschaften den Ehrentitel »Philosophie«. So wird die Physik auch »Zweite Philosophie von den 82 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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beweglichen Gegenständen« genannt (Met. VII 1037a 14 ff.), Ethik und Politik werden einmal als die »Philosophie der menschlichen Angelegenheiten« zusammengefasst (Nik. Eth. X 1181b 15). Beide Male fallen also Wissenschaft und Philosophie zusammen, also würde es sich beide Male um »empirische Philosophie« handeln. * Von Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur (Berlin 2011) beziehe ich einen heute üblichen Begriff von »Animismus«: Menschen schreiben Elementen der Umwelt – Tieren, Pflanzen und anderen – menschliche Merkmale wie Personalität, bewusstes Handeln zu und verhalten sich zu ihnen entsprechend. Die konträr entgegengesetzte Denk- und Verhaltensweise nennt Descola »Naturalismus«: sie habe sich nur im Abendland ausgebildet und durchgesetzt. Zu den Anfängen dieser Entwicklung zählt Descola auch die aristotelische Philosophie, da sie mit dem Wort »physis« den Bereich der außermenschlichen Natur bezeichne; was sie aber nicht konsequent tut. Ich greife das aristotelische Lehrstück »Hylomorphismus« heraus: Zusammengesetztheit aus Stoff und Form, die für alle Dinge und Wesen gilt. Und ich isoliere das Element der Formursache und stelle fest, dass es dafür bei Aristoteles ungefähr neun Ausdrücke gibt: morphe, eidos, physis (jetzt als Bestandteil aller Wesen), logos, ousia, to ti estin, to ti en einai, energeia, entelecheia. Diese Synonyme heben jeweils unterschiedliche Nuancen des Formprinzips hervor. Die beiden zuletzt genannten steigern das Prinzip schon zu einiger Höhe. So dass man als höchste Version den Ausdruck psyche = Seele einsetzen kann. Die kommt allerdings nicht allen Seienden zu, sondern nur den zur Selbstbewegung fähigen, also den zoa (Menschen, Tiere, Pflanzen, Himmel). Die sind aber nur graduelle Steigerungen der anderen, der übrigen Wesen. Und insofern schreibe ich Aristoteles einen Fast- oder Krypto-Animismus zu. 45 Meine Feststellung der ungefähr zehn Synonyme beruft sich auf ein »Zusammenlesen« vieler Textstellen bei Aristoteles. In der Sekundärliteratur habe ich sie nicht gefunden. Wenn sie stimmt, ist sie das Siehe Walter Seitter: Morphismus, Energismus, Krypto-Animismus … Eine postaristotelische Glosse, in: I. Albers, A. Franke (Hg.): Nach dem Animismus (Berlin 2017). 45

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Ergebnis eines »Sehens«, das sich aus Lektüren zusammensetzt, auch sehr wortwörtlichen, das aber auch ein darüber hinausgehendes oder ein durchgehendes Sehen ist, eben ein Seherblick. Lesen und trotzdem oder vielmehr mit dem: Sehen. Dieses Sehen, das womöglich mit einem Sagen, einem irgendwie neuen Sagen zusammenhängt – soll meine Physik konstituieren. Die Physik und zwar die aristotelische steht im Mittelpunkt einer ausführlichen Rezension in der Süddeutschen Zeitung vom 16. April. Jürgen Busche über Martin Heidegger: Seminare. Platon – Aristoteles – Augustinus. Hg. von M. Michalski (Frankfurt 2012). HeideggerSeminare von 1929 bis 1952 werden da dokumentiert: aufgrund von Heideggers persönlichen Notizen sowie von Protokollen seiner Schüler. Nach der Aufhebung des Lehrverbotes führte Heidegger drei Semester »Übungen im Lesen« durch, die sich bezeichnenderweise auf die aristotelische Physik bezogen – die wir ja schon berührt haben. Wenn diese Übungen tatsächlich so stattgefunden haben wie angekündigt, dann haben sie mit dem Üben im Lesen »Physik« im aristotelischen Sinn gelehrt. Denn dieser lautet: »das Wahrgenommene sagen« (1037a 13 f.). Am späteren Abend dann noch ein Vortrag über ein interessantes Buch von Bernhard Lang: Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers (München 2011). Die auf Sokrates zurückgehende griechische Philosophenschule der Kyniker soll auf den jüdischen Kulturraum schon vor Jesus eingewirkt haben, mit den Propheten Elias und Johannes als Protagonisten. Die Lehre Jesus’ lasse sich nur in diesem Kontext verstehen – womit allerdings kirchliche Dogmatik in Frage gestellt werde. Diese Thesen stehen neben denjenigen des Buches von Bruno Delorme: Le Christ grec. De la tragédie aux évangiles (Montrouge 2009) – auf das wir während der Poetik-Lektüre gestoßen sind. * Im Mai 2013 nehme ich an einer Tagung teil, auf der sich sozusagen die weltweite Plethon-Gemeinde trifft, welche ich einige Jahre zuvor bereits in Mistra, Plethons Residenz in der Nähe von Sparta, kennengelernt hatte. 46 Georgios Gemistos Plethon (1355–1452) ist der letzte 46

Siehe Walter Seitter: Poetik lesen 2 (Berlin 2015): 125.

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antike und erste moderne griechische Philosoph, den ich 1991 in Rimini entdeckt habe, wo seine sterblichen Überreste ruhen. Er hat seinerzeit für Platon und gegen Aristoteles Partei ergriffen, was ihn aus der Beschäftigung mit Aristoteles gerade nicht ausschließt. 47 In Olmütz sprach ich jedoch nicht über Plethon, sondern über die eher bescheidenen Anfänge philosophischer Kultur, auch der Aristoteles-Rezeption, an der Wiener Universität vom späten 14. bis zum frühen 16. Jahrhundert. 48 Auf Anregung von Paul Wilhelm Blum besuchte ich den Nachbarort von Olmütz, Proßnitz, wo 1859 der Philosoph Edmund Husserl geboren wurde; der war folglich Österreicher, was allerdings in seiner Biographie dann ziemlich untergegangen ist. Die von Edmund Husserl begründete neuere Phänomenologie gehört zu den wichtigsten philosophischen Schulen des 20. Jahrhunderts und meine Philosophische Physik wäre ohne sie kaum möglich geworden. *

Berliner Protokoll Meine neuerliche Berlin-Reise hat wiederum einen ins Theoretische gehenden Grund, nämlich die Präsentierung von Tumult. Schriften für Verkehrswissenschaft 40: Friedrich Kittler – Technik oder Kunst? Sonntag, 8. Juni Schon am Vormittag sehe ich in Potsdam eine große Ausstellung zum 100. Geburtstag des Malers Siegward Sprotte (1913–2004). Ich habe ihn 1980 in Kampen auf Sylt kennengelernt und er hat mir das philosophische Programm »Sehen und Sagen« nahegebracht, das zum performativen Grundmotiv meiner Philosophische Physik geworden ist. Daher habe ich in der Physik des Daseins eine Art Gedicht von ihm zitiert, das er mit Pinsel und in Farben auf ein großes Papier geschrieben hat: Siehe Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 29: Georgios Gemistos Plethon (1355–1452): Reformpolitiker, Philosoph, Verehrer der alten Götter (2005). 48 Siehe Walter Seitter: The Mathematical-Poetic Renaissance in Austria (Johannes von Gmunden, Georg von Peuerbach, Regiomontanus, Conrad Celtis), in: Czech and Slovak Journal of Humanities: Philosophica 3/2016. 47

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»Das aktive Sehen ist ein farbiges Sehen. Farbig und gegenwärtig – augenblicklich – sprechen Sehen und Sagen einander an …« 49 Die Philosophische Physik ist nämlich nicht hauptsächlich aus dem Lesen von Büchern erwachsen, und trotzdem stelle ich sie auf eine Ebene mit der aristotelischen Physik, wie auch mit der goetheschen Farbenlehre. Die gegenwärtige Metaphysik-Lektüre wird allerdings auch auf die Frage stoßen, wie sich die sogenannte Metaphysik zur Physik verhält. Mittwoch, 12. Juni Eine Tagung über »Griechische Identität als ein philosophisches Problem – von den byzantinischen Zeiten bis zur heutigen Krise in Griechenland«. Vortrag von Christos Giannaras (Athen) über »Die ideologische Version der politischen Identität und der griechische tropos«. Ich lese seit vielen Jahren die Artikel von Giannaras in der Tageszeitung Kathimerini, wo er den jetzigen Griechen ein ideales Bild des Griechentums entgegenwirft: es ist zusammengesetzt aus dem platonischen Element der »Wahrheitsübung« und dem christlichen der »Gemeinschaft«. Am Abend dann die Feier zum posthumen 70. Geburtstag von Friedrich Kittler, der von der Literaturwissenschaft und Medientheorie herkommend eine eigenwillige, auch politisch profilierte Genealogie des Abendlandes entworfen hat. Die beiden Bände, die er der mittelmeerischen Antike gewidmet hat, sind auch für mich paradigmatisch. 50

Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997): 14. 50 Friedrich Kittler: Musik und Mathematik. Band I: Hellas. Teil 1: Aphrodite, Teil 2: Eros (München 2006, 2009). 49

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Buch III

Donnerstag, 13. Juni Im Atelier von Joulia Strauss, deren aus Glitzerdraht gefertigtes, dreidimensionales Kittler-Porträt für das Titelbild des Tumult-Bandes verwendet worden ist. Ich sehe bei ihr eine ähnliche, aber riesige Schildkröte und genieße und spreche das Auf- und Abtauchen der Regenbogenfarbenpunkte, wie ich es ähnlich und doch anders auch im schwarzen Sand am Strand von Kos gesehen habe, wo auf wenigen Quadratdezimetern Nachthimmel fast unzählige Sterne in vielen Farben blinken … * 1001a 19–35 Wenn das Wesen der Dinge im Einen und im Seienden liegt, so handelt es sich um sehr abstrakte oder formale Wesenheiten, die man eher als Prinzipien bezeichnen und der Logik zuordnen möchte (1001a 19 ff.). Näherhin könnte man das eine als »ontologisch«, das andere als »mathematisch« bezeichnen. Identifiziert man die beiden miteinander unter dem Primat der Mathematik: »Die Ontologie – das ist die Mathematik«, so hat man die pythagoreische Position (in der Moderne bei Alain Badiou, Friedrich Kittler). Die Gegenposition findet sich bei denen, die etwas »Bekannteres« als Ursachen anführen, sei es die Freundschaft, seien es Feuer, Luft und dergleichen. Also Phänomene, die uns aus der natürlichen oder sozialen Umwelt bekannt sind. Dass solche Gegebenheiten Ursachen für andere Gegebenheiten sind, erscheint ganz banal und würde einfach in die Physik oder in die Politik gehören. Nur wenn so eine Ursache als »erste« irgendwie für »alles« zuständig sein sollte, wäre das eine Aussagen, die in die »gesuchte Wissenschaft« hineingehören könnte. Immerhin deutet Aristoteles an, dass mit derartigen Ursachen die Pluralisierung schon nahegelegt wird.

4. Dezember 2013 Wir unterschieden zwischen »Wesen« im Sinn von Wesensform, Wesenheit einerseits und »Wesen« im Sinn von existierendem Lebe87 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Buch III

wesen oder dergleichen. Im Sprachgebrauch unterscheiden wir die beiden ganz zwanglos: ein Reh »ist« ein Wesen mit möglicherweise individuellen Eigenschaften und Schicksalen (»Bambi«); und es »hat« ein Wesen, das es strikt mit allen Rehen teilt: die Rehheit. Diese Artbestimmtheit schlägt sich in der Natur immerhin so massiv nieder, dass die Fortpflanzung nur innerhalb der Artgemeinschaft möglich ist. Aristoteles teilt mit Platon die Auffassung, dass es diese Wesensform gibt. Nicht aber die Auffassung, dass diese Form ihrerseits dinglich existiert – getrennt von den einzelnen Rehen. Für Aristoteles existiert die Wesensform nur in den Einzelwesen – nein, sie »insistiert«. In diesem Fall eine »natürliche« Wesensform in einem »historischen« Einzelwesen. Wir werden sehen, dass da ein springender Punkt für die Untersuchungsrichtung liegt, welche im nächsten Buch eingeschlagen wird. In der sogenannten Metaphysik folgt eine Textsorte auf eine andere, eine Untersuchungsrichtung auf eine andere.

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Buch IV

Hier wird nicht gesucht, sondern gesagt.

Grundsatz 1: »Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende als seiendes und die ihm an ihm selber zukommenden Bestimmungen betrachtet.« (1003a 21) Dieser Satz – geradezu ein Paukenschlag, der einen klaren und weichen Ton in die Welt setzt, der einige Zeit eine schmale Tonspur wie eine Linie nach sich zieht. Ein völlig neuer Ton im Vergleich zu den Ursachen, Elementen, Prinzipien und Wesen, die bisher auf weite Strecken das Feld beherrschten. Sicherlich, die Erkenntnisanalytik, mit der Buch I eröffnet hat, hat einen anthropologischen und gewissermaßen politischen Impetus geliefert, der mit den geradezu existenziellen Reflexionen zur Didaktik (Buch II) und zur Aporetik (Buch III) verfeinert worden ist. Doch erst der Eröffnungssatz von Buch IV liefert einen eigenständigen theoretischen Boden, der eine allgemeine Wissenschaft jenseits der diversen Ursachenforschungen und abseits der religiösen Ursachenbehauptungen möglich macht. Ein fester und gut begehbarer, ein federnder und sozusagen sportlicher Boden, wenn man will: ein tänzerischer Boden. Ein wissenschaftlicher Boden, der wenig apriorische Vorgaben festlegt … »Das Seiende« – abgesehen von der für uns befremdlichen Form, nämlich dem neutralen Partizip Präsens von »sein« – heißt: das, was ist, das Reale, das Wirkliche, egal welcher Art. 51 Gianluigi Segalerba Zur konstitutiven Rolle des dritten Geschlechts für das Vokabular der Philosophie siehe oben S. 40–42.

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Buch IV

setzt dafür gern »die Entität« – als Umschreibung, die dem Lateinischen näher ist und sogar unserer Umgangssprache ein bisschen näher steht. 52 Mit »dem Seienden« ist sozusagen punktförmig ein ebener Boden als Niveau markiert, der sich als Ebene in die zwei Dimensionen der Fläche erstreckt (auf die dritte, in die Höhe gehende Dimension wird nicht ganz verzichtet werden). Doch wie jeder gute Boden, der elastisch, federnd sein soll, hat auch dieser etwas von einem doppelten Boden: die Verdoppelung des Seienden durch das »als« lässt sich ja auch umformulieren in: das Seiende, insofern es seiend ist; also in einen Nebensatz, der mit »insofern« eingeleitet wird, so als würde damit das zweite »seiend« vom ersten abgerückt werden, obwohl es ihm ja eigentlich ganz eng angenähert und parallel gesetzt wird. Schaut man sich dann noch die Zusatz-Bestimmung, nämlich die in einen unbestimmten Plural gesetzten »zukommenden« an, dann hat man den Eindruck, das dürften Aspekte oder gar Entitäten sein, die sozusagen seitlich dazukommen und das Seiende etwas in die Breite vermehren, damit es nicht mehr so punktförmig-allein eine ganze Ebene markieren muss. Doch diese dem Seienden »zukommenden« sind im Griechischen »unterstehende«, »unterkommende«; sie bilden sozusagen ein Untergeschoss, eine parallele Subebene; also da ist die dritte, die vertikale Dimension schon am Werk, damit ein guter Boden zustande kommen kann. Diese Weiterbestimmungen, wörtlich »Unterbestimmungen«, gehören fest zum Seienden und die Wissenschaft von diesem wird nun plausibel als eine Wissenschaft hervorgehoben, die sich von den Teilwissenschaften unterscheidet, welche sich jeweils einen Teil herausschneiden, welche sich durch ein Akzidens absetzen: so die mathematischen Wissenschaften. Dann kommt Aristoteles auf seine erste Bestimmung der »gesuchten Wissenschaft« zurück: Suche nach den Prinzipien und höchsten Ursachen – und zwar des Seienden als solchen.

Gianluigi Segalerba: Semantik und Ontologie. Drei Studien zu Aristoteles (Bern 2013): 91.

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Grundsatz 2 Vor allem aber kommt er noch einmal auf die gefundene bzw. programmierte Ebene zurück, besser gesagt, er insistiert auf dem gefundenen Ausgangspunkt und weitet ihn so aus, dass er zu einer richtigen Ebene wird, die sich von vorn nach hinten, von links nach rechts erstreckt: »das Seiende wird mannigfaltig ausgesagt« (to on legetai pollachos) (1003a 32) – nicht mit homonymen Wörtern, die gleich klingen, aber Verschiedenes meinen, sondern einerseits immer mit demselben Wort, nämlich »seiend«, andererseits mit unterschiedlichen Wörtern, die verschiedene Versionen von »seiend« meinen.

Grundsatz 3 Von den Seienden wird gesagt, dass sie »Wesen sind oder Wesenszustände (-erleidungen) oder Weg ins Wesen oder Untergänge (Vernichtungen) oder Beraubungen (Mängel) oder Qualitäten oder Wesensherstellungen oder -entstehungen oder Beziehungen zum Wesen oder sogar Verneinungen von so etwas oder von einem Wesen; denn von dem Nicht-Seienden sagen wir, es sei Nicht-Seiendes.« (1003b 7 ff.) Alle diese werden als lauter Seiende, sehr verschiedene Seiende ausgesagt, welche die erwähnte Ebene ausweiten, bevölkern, gliedern bzw. auch ein bisschen chaotisieren. Aus der Nennung der vielen Modalitäten geht bereits hervor, dass dem Wesen der Primat zukommt und die übrigen Versionen von ihm abhängen. Für Aristoteles wird diese Rangordnung selbstverständlich gewesen sein. Sie ergibt sich gewissermaßen aus der Sprache, denn ousia (Seiendheit, Wesen(heit)) klingt wie ein Abstraktum zum on – so wie philia (Freundschaft) zum philos (Freund). Der Primat des Wesens ist der eine Pol des hiermit eröffneten ontologischen Feldes, der andere und gegenläufige wie auch dazugehörige Pol besteht in der Multipolarität der anderen »Versionen von seiend«, welche das ganze Feld zu einem multipolaren umpolen. Das Seiende ist multipel, multiversional, multipositional, multimodal und dieses 91 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Buch IV

Feld – ich ziehe jetzt das Wort »Feld« der »Ebene« vor – nennt man das der »Ontologie«. Ein Wort, das erst im 17. Jahrhundert nach Christus geprägt worden ist, also noch viel später als »Metaphysik«. Mit dem Wort »Ontologie« wird der zitierte Grundsatz 2 »to on legetai (pollachos)« in ein Substantiv, in eine Disziplinbezeichnung, transformiert: Seienden-Sagung (multipel). Dem einen Wesen werden hier neun andere Realitätsversionen oder Seinsmodalitäten gegenübergestellt. Vier von denen sowie auch das Wesen selber, insgesamt fünf Bestimmungen wiederholen Bestimmungen, die Aristoteles schon früher, in den Kategorien, genannt und ausführlich beschrieben hat. Denn die Ontologie hat hier, im Buch IV der Metaphysik, nicht ihre erste Gründungsstelle. Der erste Gründungsakt der Ontologie – wohl gemerkt auch dort ohne diese Bezeichnung – hat in der Kategorienschrift stattgefunden, nach Ansicht mancher die erste aristotelische Schrift. Dort unter dem Titel der zehn Kategorien, von denen das Wesen die erste ist, gefolgt von den neun Akzidenzien: Quantität, Qualität, Relation, wo, wann, Lage, Haben, Bewirken, Erleiden (Cat. 4, 1b 25 ff.). Die Kategorien werden tendenziell als Begriffe aufgefasst, in der Metaphysik werden eher Seienden-Versionen oder Seinsmodalitäten genannt. Doch die beiden Suppositionen schließen einander nicht aus – vielmehr ein. In der Aufzählung von Buch IV steht dem Primat des Wesens eine stärkere Dramatik der anderen Modalitäten gegenüber: die Erleidungen oder Passivitäten, wobei immer eine Veränderung vorausgesetzt ist und eine freiwillige oder weniger freiwillige Zustandsänderung, der Weg ins Wesen, womit eine Art Ortsveränderung gemeint erscheint; der »Weg ins Wesen« klingt ziemlich heideggerisch, ist aber wörtlich aristotelisch; die problematischen Weg-Metaphern haben übrigens auf einer anderen Ebene das Buch III, das Aporien-Buch bestimmt, nämlich als menschliche, wissenschaftliche Bewegungsversuche: Ab-Wege, Un-Wege, Irr-Wege, Sackgassen – aber mit der Möglichkeit von Aus-Wegen (wenn man sich anstrengt); auch die Vernichtungen betreffen die Wesen, für die Lebewesen bedeuten sie also nichts Geringeres als den Tod; Privation als Fehlen dessen, was eigentlich da sein soll, stellt ebenfalls einen dramatischen Aspekt dar – selbst dann, wenn sie ein notwendiger Bestandteil aller veränderlichen Körper sein soll (die folglich Mängelwesen sind); von den aus92 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Buch IV

stehenden fünf Versionen nenne ich nur noch die letzte, die am verblüffendsten erscheint: nicht nur die Negation des Wesens (die ja bereits mehrfach aufgerufen worden ist), sondern sogar die des Seienden soll jetzt eine Seienden-Version sein. Nimmt man die beiden jetzt genannten Schrift-Stellen zusammen, besteht das Feld der Ontologie aus dem Wesen und ungefähr zehn Nicht-Wesens-Bestimmungen. Zu denen werden aber noch einige dazukommen – wie zum Beispiel die Möglichkeit, eine der wichtigsten aristotelischen Erfindungen. Im Grunde genommen ist die Zahl der »dazukommenden« Seinsmodalitäten gar nicht abzählbar, weil einige von ihnen sich unterteilen und weil auch rein logische Begriffe dazu gezählt werden können. Das Buch V wird dreißig Stichworte abhandeln, von denen viele in die hiesige Problematik fallen. Diese gewisse Unschärfe des Feldes oder einiger seiner Ränder dürfte aber kaum seine theoretische Bedeutung in Frage stellen. Sondern bestätigt sie eher, weil sie der Unschärfe der Realität entspricht (allerdings scheint diese unserem modernen Realitätsverständnis näher zu liegen als dem aristotelischen). Auch im Sprachgebrauch leistet sich Aristoteles Unschärfen – wenn er alle Akzidenzien (oder gar alle Seinsmodalitäten) auch mit dem Begriff für ein Akzidens, nämlich pathos = Affektion, bezeichnet (1004b 6). Offensichtlich sind die im Buch IV zum Wesen neu dazukommenden Seinsmodalitäten dem Wesen noch stärker entgegengesetzt als die Akzidenzien, die sich ihm doch recht brav unterordnen. Entstehung und Untergang oder bloße Möglichkeit sind Modalitäten, die den Primat des Wesens beinahe bestreiten, da sie ja an seine Existenz rühren. Ich nenne sie daher »Superakzidenzien« und behaupte, dass der Primat des Wesens nicht ganz selbstverständlich ist. In der modernen Ontologie wird er von einigen Gelehrten ausdrücklich in Frage gestellt und im Übrigen hat sogar Aristoteles selber für eine bestimmte Sonderzone, nämlich für den plot der Tragödie, die Substanzen degradiert. 53

53 Siehe Uwe Meixner: Einführung in die Ontologie (Darmstadt 2011): 203 f.; Walter Seitter: Poetik lesen (Berlin 2010): 97 ff.

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Obwohl ich in meiner Beschreibung der Akte, mit denen Aristoteles die Ontologie begründet, an den Begriffen »Boden« und »Ebene« festhalten möchte, muss ich diese Begriffe in Richtung »Gelände« oder »Landschaft« modifizieren. Der »Weg« ist ja bereits eine Bodenmodifikation und zweifellos geht er, wenn er in das »Wesen« führt, zu einer höheren Entität. Zumindest versuchsweise schlage ich eine zweite Zeichnung vor, die stärker ins Dreidimensionale geht und in der das Nicht-Seiende als plötzliches Loch im Boden vorkommt, in der es Auf und Ab gibt, vielleicht sogar andere Aggregatzustände – die Möglichkeit als Weichheit, die Notwendigkeit als gesteigerte Härte –, und schemenhaft müssten sich die Wesen abzeichnen als die präsumptiven Hauptbewohner dieser Landschaft. Mir schwebt eine Graphik vor, eine graphische Version der aristotelischen Ontologie. Die würde ein ganz anderes Bild ergeben als der Platonische Ideenhimmel, wo die verschiedenen artbestimmenden Wesenheiten als gut unterscheidbare Diamantstatuen in feierlicher Hierarchie einen Hofstaat bilden. Die aristotelische Ontologie zeichnet viel formalistischer, grau in grau, schemenhaft, eine Dramatik aus Bewegungen, Entstehungen, Vergehungen … Ein ziemlich abstrakter magischer Realismus … oder besser Formalismus, Strukturalismus? Die Seinsmodalitäten gliedern die Realität nicht nach Regionen oder Gattungen etwa wie Natur, Kultur, organisch, anorganisch. Im Unterschied zu diesen Realitätsbereichen oder -regionen handelt es sich in der Ontologie um formale Versionen oder Positionen oder Positionalitäten. Am einfachsten zu erläutern anhand der Wörtersorten Substantiv, Adjektiv, Verb, Adverb. Vermutlich hat Aristoteles die Kategorien eben diesen Wörtersorten abgeschaut und hat vom Substantiv auf die Substanz oder das Wesen geschlossen, vom Eigenschaftswort auf die Qualität, vom Verb auf das Tun oder Leiden. Die Realitätsbereiche, die nur einzelwissenschaftlich erschlossen werden können (aristotelisch: Physik, Ethik, Politik, Poetik …), lassen sich aber zusätzlich auf ihre ontologischen Strukturen abfragen und diese ontologischen Strukturierungen können zusätzliche Lichter auf die Sachen werfen. Obwohl ich »Ontologie« inhaltlich von »Metaphysik« unterscheide und die Erfindung der Ontologie jetzt einmal 94 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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für den Geniestreich des Aristoteles halte, ist das Präfix meta auch für sie maßgeblich und zwar sowohl im Sinn des zeitlichen Nachher wie auch im modernen Sinn des Metasprachlichen. Zuerst müssen die inhaltlich bestimmten Wissenschaften vorangetrieben werden, die objektsprachlichen, die normalsprachlichen, damit man dann metasprachlich darüber räsonieren kann: die Ontologie wendet nämlich die Metasprache selber wieder ins Objektsprachliche zurück. Die Ontologie bringt das Kunststück fertig, eine sehr allgemeine Wissenschaft zu sein, und doch nur eine – die sich nicht verzettelt und verstreut. Sie kann das, weil sie aus der Gesamtrealität eine einzige »Ebene« »herausschneidet« – auch wenn diese Ebene nicht nur plan und starr ist, sondern sich auch wie ein Netz unter den Sachen, Aspekten, Versionen oder über ihnen durchzieht und ausbreitet. Eben weil mich die Ontologie zu so einer anschaulichen – zaghaft und keineswegs barock anschaulichen – Beschreibungssprache verlockt, stelle ich mit Erstaunen fest, dass Aristoteles gerade hier davon spricht, dass die Einheit jeder Wissenschaft darauf beruht, dass sie es mit einer einzigen Gattung – von Gegenständen – zu tun hat und dass einer jeden Gattung eine einzige Sinneswahrnehmung entspricht (1003b 19 ff.). Wie am Anfang von Buch I wird also wieder die Wissenschaft auf die Sinneswahrnehmung zurückgeführt – und hier so, dass die Aufstufung Wissenschaft Gattung Sinneswahrnehmung

Grammatik Laute Gehör

die epistemologische Struktur eines jeden Realitätsbereichs abbildet. Diese Realitätsbereiche werden zwar von der Ontologie durchquert, haben aber jeweils ihre Eigengesetzlichkeit. Wenn die Ontologie eine Wissenschaft ist, dann hat sie es mit der Gattung der »Kategorien« zu tun, oder aber mit der erweiterten und dramatischeren Gattung der »Seinsmodalitäten«, für die Aristoteles später auch den Begriff tropos oder Version prägt.

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Also sehen die oberen Geschosse der Ontologie so aus, dass unter ihrem Namen die Seinsmodalitäten zu stehen kommen. Was aber steht unter denen? Eine eigene Wahrnehmungsmodalität wird da kaum einzusetzen sein, denn die Kategorien oder Seinsmodalitäten sind abstrakte Begriffe oder Modalitäten, Begriffe zweiter Ordnung – weit weg von sinnlicher Anschauung. Lassen wir es vorläufig bei dieser naheliegenden Ansicht – vielleicht werden wir noch eines Besseren belehrt. Aristoteles hält sich noch einige Zeit damit auf zu erklären, wieso diese – jetzt nicht mehr gesuchte, sondern im Ansatz nunmehr gefundene – Wissenschaft ihre große Allgemeinheit so zusammenhalten kann, dass sie ihre Einheitlichkeit bewahrt. Und dies, obwohl es sich nicht um die Totalwissenschaft als Einheitswissenschaft handelt. Keineswegs maßt sich diese Wissenschaft an, über alles und jedes, im Kosmos und in der Menschenwelt, Auskunft zu geben. Allerdings gilt auch für diese Wissenschaft, dass sie, wenn sie von einer Sache handelt, auch das Entgegengesetzte betrachtet (1004a 9). Die Ontologie ist die Wissenschaft vom Seienden als solchen und von allen Gegenteilen auf dieser Ebene: auf der sozusagen dünnen und gleichwohl »vielfältigen«, nämlich markierten, gefalteten, aufgebauschten, gelöcherten, abstürzenden Ebene des Seienden als solchen beziehungsweise im Ebenen-Labyrinth der Seiendheit. Diese Gegenteile reichen bis zum Grenzfall des Nichtseienden und die meisten von ihnen füllen gerade den Zwischenraum: Möglichkeit, Entstehung, Vergehung, Beraubung – andere analysieren die positive Umgebung des Seienden: Qualität, Quantität, wo, wann, Relation … Er sagt es so: »Dass es Sache einer Wissenschaft ist, das Seiende, insofern es seiend ist, zu betrachten sowie die ihm, sofern es seiend ist, zukommenden, unterkommenden Entitäten, ist klar … und dass dieselbe Wissenschaft nicht nur die Wesen zu betrachten hat, sondern auch die diesen zukommenden Aspekte, von denen bereits die Rede war, sowie auch das Früher und Später, Gattung und Art, Ganzes und Teil und anderes dergleichen.« (1005a 13 ff.) 96 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Die Erfindung dieser so weit reichenden Betrachtungsweise, die sich offensichtlich an die Logik, man könnte auch sagen an die Sprachanalyse anlehnt und von da her ihre Stringenz oder Selbstverständlichkeit bezieht und gleichzeitig sich davor hütet, etwa »alles« erforschen oder gar bereits wissen zu können, das Menschliche und das Göttliche und so weiter – diese dünne und flexible Art von Wissenschaft, die nur das Was und die Leiden und die Akzidenzien, also die formalen Eigentümlichkeiten des Seienden als seienden erkennen will, muss doch eine ziemlich neue Sache gewesen sein. Denn mitten in seinen Erklärungen zu ihrer Eigenart »fällt« Aristoteles in eine scharfe Abgrenzung gegen solche, die zwar auch über solche Sachen nachdenken, aber meinen, sie gehören nicht zur Philosophie; das wäre aber gar nicht ihr schlimmster Irrtum, vielmehr ignorieren sie den Primat des Wesens (1004b 9). Sind das nun Leute, die mit Aristoteles ohnehin nichts zu tun haben, weil ihr Denken in andere Richtungen geht? Wollen sie mit dem Wesen nichts zu tun haben – weil dieser Begriff bei ihnen noch gar nicht angekommen ist? Wenn dem so wäre, würde Aristoteles sich nicht über sie ärgern. Wenn er sagt, dass sie den Primat des Wesens nicht beachten, dann meint er, dass sie sich zwar über solche Dinge äußern, ja dass sie sogar in die Gestalt des Philosophen schlüpfen, aber dass sie das, was allen Sachen gemeinsam ist, nämlich das Seiende, dass sie die Eigentümlichkeiten des Seienden als solchen, also die Seiendheit – und das ist die wörtliche Bedeutung von ousia – nicht beachten, wahrscheinlich gar nicht »wahrnehmen«. Aristoteles nennt diese seine Gegner nicht mit ihren Eigennamen, wohl mit den beiden Gruppennamen »Dialektiker« und »Sophisten« (1004b 19). Offensichtlich meint Aristoteles zeitgenössische Philosophen, aber die Gruppenbezeichnungen verweisen auf Schulen und Auseinandersetzungen, die vor allem aus den platonischen Schriften bekannt sind. Die Dialektiker sind nämlich Platonschüler, die Sophisten hingegen sind Nachkommen der platonischen Lieblingsfeinde. Aristoteles, der mehr oder weniger abtrünnige Platonschüler, muss mehr oder weniger zwischen diese beiden Schülergruppen geraten sein und auf diese heikle Situation reagiert er nun sehr aggressiv: Sophistik und Dialektik machen so etwas wie Philosophie; während 97 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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die Sophistik nur eine Scheinweisheit beziehungsweise Scheinphilosophie sei, erschöpfe sich die Dialektik im Diskutieren über alles und im Versuchen von allem. Beim Sophisten fehle es an der »Wendung der Fähigkeit«, beim Dialektiker an der »Entscheidung für die Lebensweise« – so fehle beiden die Einstellung, die Schaltung, die Disposition zum anspruchsvollen Erkennen, von welcher Platon mit der metanoia gesprochen hat. Gerade weil beide Gruppen den Anschein erwecken, Philosophie zu machen, sind sie zu gefährlichen Konkurrenten geworden und Aristoteles wird hier so polemisch und ausfällig wie nie zuvor in seiner Kritik von anderen Philosophen. Der Unterschied: hier geht es um Zeitgenossen, um direkte Rivalen und gleichzeitig auch um alte Bekannte: bekannte Mitschüler, Freunde, Gegner, Feinde … daher lieber keine Namen. Der andere Unterschied: hier geht es nicht darum, die Zahlenspekulation der Pythagoreer noch einmal ad absurdum zu führen, nicht darum, sich über die platonische Ideenlehre karikierend lustig zu machen. Hier verteidigt Aristoteles seine persönliche Errungenschaft in der Philosophie. Eine Neuerung, mit der er sich zwischen alle Stühle gesetzt hat – und die er auch nicht übermäßig geschickt und konsequent begriffsschöpferisch und zusammenfassend formuliert. Deshalb ist sie in der jahrtausendelangen Nachwelt auch nur zögernd wahrgenommen und ernst genommen worden. Genau dieses Wahrund Ernstnehmen hat er ja bei seinen Zeitgenossen vermisst und sie deshalb gleich zu Feinden erklärt. Bei den scholastischen Philosophen des Mittelalters, die ja im Hauptberuf Theologen waren (und für die es sogar nur einen »Philosophen« gab: Aristoteles) und die dennoch mit ihrem Interesse für Logik geeignet waren, so etwas wie die Ontologie (auf den Namen kommt es nicht an) verstehen zu können, hat sich dieses Verständnis in dem Begriff der analogia entis niedergeschlagen – der Gleichklang trügt nicht. Allerdings haben sie diese Analogie überwiegend in Richtung Theologie »verwendet«, um sagen zu können, dass sich der Begriff des Seins von den irdischen Dingen »ähnlich« auf Gott übertragen lässt, womit sichergestellt ist, dass man von ihm überhaupt

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etwas sagen kann – ohne seiner Geheimnishaftigkeit Abbruch zu tun (gemeint ist der Gott des Christentums). 54 Hingegen kommt in den ersten Abschnitten von Buch IV, wo die Ontologie ihre deutlichste Gründung erfährt, das Wort »Gott« überhaupt nicht vor. Die Ebene, die mit dem Themenpunkt »Seiendes als seiendes« markiert wird, durchzieht alle Entitäten, zu denen auch Götter gehören mögen, aber sie genießen da keinerlei privilegierte Stellung. Weder in diesem Textabschnitt noch in der Kategorienschrift, wo die Ontologie erstmals und sogar ausführlicher durchformuliert worden ist, spielt der Begriff »Gott« irgendeine Rolle. 55 Dies liegt vor allem daran, dass es die Ontologie mit der Ebene der Seinsmodalitäten zu tun, ja dass Aristoteles hier diese Ebene explizit erfunden, jedenfalls instituiert hat. Und diese Dimension muss von derjenigen der Realitätsbereiche unterschieden werden, wo das Natürliche und das Künstliche und eventuell noch weitere, etwa das Göttliche, beheimatet sind. Die beiden Dimensionen sind so grundverschieden, dass sie einander gar nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig durchqueren. Jedes Stück Natur muss mit dieser oder jener Seinsmodalität gekennzeichnet sein – oder vielmehr mit allen Seinsmodalitäten in jeweils einer Version. Offiziell laufen die Aussagen der Ontologie darauf hinaus, dass der Primat des Wesens ständig betont wird – ansonsten würden die mannigfachen Versionen der Seinsaspekte auseinanderfliegen und man hätte weder eine einheitliche bestimmte Wissenschaft noch ein einheitliches und benennbares Gegenstandsfeld. Das Wesen ist die stärkste, weil stabilste und kohärenteste Seinsmodalität – dieser Primat kommt ihm gewissermaßen selbstverständlich zu, was für die Philosophie nicht unbedingt verbindlich ist, und daher kann dieser Primat auch bestritten werden.

54 Die analogia entis ist ein Lehrstück der Scholastik, in die ich in meinem ersten Studienabschnitt in Salzburg eingeführt worden bin; siehe dazu etwa Erich Przywara: Analogia entis (München 1932). 55 Daher kann Martin Heideggers philosophiehistorischer und -kritischer Begriff der »Ontotheologie« kaum Aristoteles zugerechnet werden.

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Dies gilt unter der Voraussetzung, dass das ontologische Feld überhaupt aufgemacht ist. Doch die Aufmachung dieses Feldes, also der Gründungsakt der Ontologie, verdankt sich einem Impuls, der eher in die andere Richtung geht. Das Seiende als seiendes und die ihm zukommenden Bestimmungen … Das Seiende wird mannigfaltig ausgesagt … Der Gründungsimpuls der Ontologie geht in die Richtung der vielen, der schwächeren, der abhängigen, ja der zweifelhaften Bestimmungen – und das sind zum einen die eher harmlosen Akzidenzien, das sind dann die rein logischen Größen, das sind dann auch die dramatischen Superakzidenzien, die in Richtung Negation tendieren. Noch einmal aus dem Schlusssatz der Ontologie-Gründung 1005a 13 ff.: »die dem Seienden als seienden zukommenden Bestimmungen … und nicht nur die Wesen (!), sondern auch die diesen zukommenden Bestimmungen …«. Beide Male die zukommenden bzw. unterkommenden Bestimmungen im Plural. Die Wesen, die sind sowieso wichtig, d. h., die machen sich wichtig, deren Primat ist evident, weil sie ihn beanspruchen und weil er in der »Regel« von »allen« akzeptiert wird. Zu diesen »allen« gehört offiziell auch Aristoteles und mit seiner Ontologie-Gründung verschreibt er sich offiziell dem Primat des Wesens. Aber wenn man genau schaut, was er schreibt und wie er schreibt, dann sieht man eine andere Stoßrichtung. Der Punkt, von dem aus die Ontologie gegründet wird, ist das Seiende als seiendes, und von diesem Punkt strahlen sofort die »Eigentümlichkeiten des Seienden« aus (1004b 15), zu denen nach dem Wesen – die mehrheitlichen Nicht-Wesen gehören, die Gegenteile, Gegengewichte, vor allem die Akzidenzien. An vielen Stellen statuiert Aristoteles, dass es von den Akzidenzien keine Wissenschaft gibt. Im Abschnitt 2 von Buch IV wird der Ontologie die Aufgabe zugewiesen, Akzidenzien zu suchen und festzustellen – wohlgemerkt Akzidenzien des Wesens, das sich der Betrachtung des Seienden als seienden darbietet. Die Frage, wann denn in der Philosophiegeschichte die aristotelische Ontologie-Erfindung wahrgenommen und gewürdigt zu werden angefangen hat, sei auf später verschoben. * 100 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Das Schreiben von der Lektüre der ersten Abschnitte von Buch IV, also von der Gründung der Ontologie mitsamt dem Wutausbruch gegen gewisse Philosophen-Kollegen beziehungsweise gegen gewisse Pseudo-Philosophen, hat bei mir kein Bedürfnis aufkommen lassen, irgendeinen autobiographischen Bericht dazwischenzuschieben, weil mir dieses Schreiben selber »autobiographisch« vorgekommen ist, weil ich mich da in den Aristoteles hineinversetzen konnte – vielleicht in Erinnerung an Zeiten, als mein eigenes suchendes und findendes Schreiben sehr intensiv war und mir wie ein wahrhaftes »Leben« vorgekommen ist; auch in Erinnerung an eine jüngere Vergangenheit, als sich Konflikte mit alten Bekannten auftaten, die fast so etwas wie Feindschaft aufkommen ließen. Jetzt aber doch eine Notiz über eine alte Freundschaft, die mir wichtig ist. Im Februar 2014 Reise nach Berlin zur Beerdigung von Peter Gente (1936–2014). Ich hatte ihn und seine Freundin Heidi Paris in den frühen Siebzigerjahren kennengelernt, als ich anfing, Bücher von Michel Foucault zu übersetzen. Er interessierte sich dafür und bald habe ich auch für seinen Verlag (Merve) Publikationen betreut. Wir haben uns oft getroffen, zumeist in Berlin, im Verlag in der Crellestraße oder in seiner Wohnung in der Güntzelstraße – oder etwa im Atelier von Anselm Kiefer oder im Dom zu Worms. Er nahm auch Anteil an der Gründung der Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft, in diesem Zusammenhang gab es einmal eine Sitzung mit Michel Foucault in der Güntzelstraße. Es war eine Freundschaft, in der der eine den anderen um Rat fragte, ihm Vorschläge machte – ohne ihn zu belästigen oder zu überfordern. In den Neunzigerjahren zog er sich nach Thailand zurück, wo er vor kurzem verstorben ist. Die Trauerfeier war sehr würdig, seiner würdig. Sein Tod ruft mir natürlich ins Bewusstsein, dass ich in die Altersklasse komme, in der gestorben wird. Ich aber sterbe noch nicht. * Ich kehre zurück zu dem Strang der Ereignisse, den unsere Metaphysik-Lektüre bildet – und erschließt. Es handelt sich um einen 101 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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zweifachen Strang: unsere bzw. meine Lese-, Diskussions- und Aufzeichnungstätigkeit im frühen 21. Jahrhundert nach Christus sowie die aristotelischen Vorlesungen im 4. Jahrhundert vor Christus, näherhin die Erfindung einer neuartigen philosophischen Betrachtungsweise, die sich sowohl von der Suche nach »ersten Ursachen« wie auch von der Beschreibung empirischer Sachen und Ursachen absetzt. Die Erfindung der Ontologie ist im Buch IV der Metaphysik nicht zum allerersten Mal niedergeschrieben worden; es gab einen Vorlauf in den Kategorien – einige Jahre, vielleicht einige Jahrzehnte früher. Doch die ungefähr vier Seiten der Abschnitte 1 und 2 bilden einen kompakten Vorstoß, dessen theoretischer Duktus deutlich wahrzunehmen ist. Und mitten drin ein scharfer Angriff auf Philosophen, die sofort zu Pseudo-Philosophen ernannt werden, weil sie so etwas Ähnliches machen, in Wirklichkeit etwas Anderes und Falsches. Die Aggression richtet sich im Grunde genommen gegen das gesamte philosophische Milieu um Aristoteles herum: die Platoniker und deren notorische Feinde, die Sophisten. Aristoteles tut hier also nichts anderes, als die zwei »historischen Feinde« – platonische und sophistische »Philosophen« – zu einem Doppelpaket zusammenzuschnüren und zu seinem aktuellen Feindbild aufzubauen, auszubauen. Ein ansehnliches Doppel-Feind-Bild. Wieso dieser neue Ton im Umgang mit »anderen« Philosophen? Aristoteles deutet einen sachlichen Grund an: beide schlüpfen in die Gestalt des Philosophen, beide reden genau über die philosophischen Themen, das Thema, das allen gemeinsam ist, also Dialektikern, Sophisten und ihm selber, ist justament »das Seiende«. Aristoteles betont diese präzise Gemeinsamkeit. Und die hat nun gerade im Buch IV ihre engste Zuspitzung erfahren: jetzt hat Aristoteles die Bestimmung der »gesuchten Wissenschaft« verschärft durch die fast tautologische Wiederholung: »das Seiende als seiendes«. Indem die Konkurrenten sich genau auf diesen sehr speziellen Gegenstand kaprizieren – ihn aber gleichwohl verfehlen, werden aus Kollegen, Konkurrenten, Gegnern nicht bloß Feinde. »Feinde«, das ist immerhin noch eine politische Kategorie. Es werden aus ihnen solche, die nur noch mit einem »ontologischen« Negativ-Vorzeichen angeschrieben werden können: mit »Schein-«, oder »Un-«, oder »Nicht-«. Im Ergebnis verfehlen sie den gemeinsam mit allen gesuchten Gegenstand. Sie verfehlen ihn aber nicht aufgrund zufälliger Fehlleistungen, sondern 102 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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aufgrund habitueller Fehleinstellungen, sei es auf der Ebene der »Wendung des Vermögens«, sei es auf derjenigen der »Haltung« (1004b 23 ff.). Mit der radikalen Disqualifizierung dieser Schein-Philosophen deutet Aristoteles an, dass zur Qualifizierung für die Tautologie-Insistenz namens »Ontologie« eigentlich keine übermäßige Spezialisierung oder Raffinierung nötig ist, sondern nur der Einsatz von Fähigkeit und Haltung, das Aufbringen von Können und Bereitschaft. Der Einsatz der elementarsten menschlichen Ressourcen ist notwendig und gewissermaßen hinreichend, um die »Wahrheit über gewisse Eigentümlichkeiten des Seienden, sofern es seiend ist, zu erkunden« (1004b 15 f.). Die Auseinandersetzung mit seinen Feinden und Mehr-als-Feinden veranlasst Aristoteles, von dem feinen Objektivismus der Ontologie herunterzusteigen und auf die subjektiven Bedingungen einzugehen – ohne die es nun einmal nicht geht. 56 Die subjektiven Leistungen in Sachen Ontologie oder in irgendeiner anderen »-logie« bestehen nun einmal in den »-logien«: Sprechleistungen, Sprechhandlungen. Und auf diese sehr wohl andere Ebene geht Aristoteles in der Folge ein, wobei er sich bemüht, den Zusammenhang mit der Ontologie doch zu beteuern. In der Aporie 2 hatte Aristoteles ausdrücklich zwischen dem Beweisen und dem Betrachten unterschieden, obwohl er bis dahin, nämlich in den ersten Suchbewegungen auf die gesuchte Wissenschaft hin, diese beiden Vorgangsweisen nicht sehr ausdrücklich zur Sprache gebracht hatte. Die Suche nach Ursachen und Prinzipien mag eher dem Beweisen naheliegen, weil man da etwas nachweisen will, was nicht unmittelbar vorliegt, was aber als notwendig erschlossen wird. Aber das aristotelische Suchen beziehungsweise Finden machte entweder den Eindruck von alltagsnahen oder aber spekulativen Behauptungen. Nur in der Ablehnung pythagoreischer oder platonischer Ursachenbehauptungen tauchte so etwas wie die negative

Eine Tatsache, die sich ja schon im Suffix »-ismus« ausdrückt oder aber in dem »orientated« der tautologischen »Object-Orientated-Ontology«.

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Kehrseite des Beweisens auf, indem solche Behauptungen als »unwahrscheinlich« oder »unmöglich« hingestellt worden sind. Ich behaupte, dass die aristotelische Physik den Mutterboden für die wissenschaftliche Vorgangsweise namens »betrachten« bildet, und berufe mich dafür auf die Definition der Physik, die in der Metaphysik geliefert wird: »Deswegen versuchen wir auch hinsichtlich der wahrgenommenen Dinge Definitionen zu geben, denn die Betrachtung der wahrgenommenen Wesen ist gewissermaßen die Aufgabe der Physik und der Zweiten Philosophie.« (1037a 9 f.) 57 Der Sache nach bilden die Kategorien den Vorläufertext für die Begründung der Ontologie in Abschnitt 1 und 2 im Buch IV. Dort tritt der linguistisch-logische Charakter der ontologischen Seinsmodalitäten deutlicher hervor: es handelt sich um die höchsten Gattungen der Prädikate und zwar der Prädikatsformen (nicht der inhaltlichen Prädikate wie etwa »natürlich«, »irdisch«, »himmlisch« …). Sie werden in der Kategorienschrift genannt, charakterisiert und differenziert: Wesen, Quantität, Qualität, Bezüglichkeit, wo, wann, Liegen, Haben, Tun, Erleiden. Zu diesen zehn Kategorien kommen noch sogenannte Postprädikamente wie Bewegung, Gegensatz – was darauf hindeutet, dass die Zahl nicht in Stein gemeißelt ist. * Hier schiebe ich den Bericht von einem anderen philosophischen Ereignis ein, das sich im Jahr 1969 abgespielt hat: das Erscheinen von Michel Foucaults Archéologie du savoir. Das dürfte in jenem Sommer gewesen sein, jedenfalls fand ich da in einer Freitag-Ausgabe von Le Monde eine Rezension von diesem neu erschienenen Buch. Es war in Salzburg, ich hatte damals von Foucault schon gehört, war bereits fasziniert von den Informationen über ihn und hatte auch schon die Fahrkarte nach Paris in der Tasche, um das kommende Studienjahr Ich bin auf diese Stelle im Jahr 2000 gestoßen, als ich – motiviert durch den erschütternd-melancholischen Film Der Mann, der ein schönes Haus hatte von Jimmie Durham – die Metaphysik durchflog, um aus den Bemerkungen über das Haus dessen Physik zusammenzulesen. 57

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dort zu verbringen. Ich kaufte die Zeitung bei einem Zeitungsstand auf dem Grünmarkt vor der Kollegienkirche, ging damit ins benachbarte Café Mozart in der Getreidegasse und werde da wohl die Rezension mit fiebrigem Kopf und bescheidenen Französisch-Kenntnissen überflogen haben. Was ist das zentrale Objekt jenes Buches von Foucault? Des einzigen, das nicht als Historie daherkommt, sondern total systematisch konstruiert ist – es sei denn man sieht in dieser sturen Systematik eine genealogische Rekonstruktion der Begrifflichkeit seiner großen Abendland-Archäologien über Wahnsinn, Klinik, Wissenschaft. Das zentrale Objekt ist ein ebenso elementares, beinahe tautologisches wie das Seiende als solches, aber jetzt eben eine modern-subjektive Banalität, nämlich die »Aussage« – und wie kommt man dazu, sie begrifflich bestimmen zu können? Man muss sie überhaupt erst zu Gesicht bekommen. »Man bedarf einer bestimmten Wendung des Blicks und der Haltung, um sie erkennen und an ihr selber ins Auge fassen zu können.« 58 Foucault meint damit eine »Konversion« (so im Französischen) zum Blicken, zum Sehen überhaupt und ein Festhalten daran, um wirklich sehen zu können. »Konversion«, »Umdrehung« in einem existenziellen, mikropolitischen, natürlich erkenntnispolitischen Sinn, ein ferner Nachhall der platonischen Drehung. Bei Foucault geht es ums Erblicken der Aussage, insofern sie Aussage ist, um die Aussage im Allgemeinen und gleichzeitig im Feinen, im Feinen ihrer Struktur, im Feinen einer geometrischen Form eines goldenen Gitterwerks etwa. Wie Aristoteles in eben diesem Kapitel eine spezifische Sinneswahrnehmung für jede Wissenschaft postuliert, so Foucault eine bestimmte Wahrnehmungsintensität für die Aussage-Analyse, weil die Aussage so etwas Selbstverständliches ist, dass man sie kaum sieht. Es geht um die »Aussage als Aussage« – um ihre minimalsten und folglich »notwendigen« Bestimmungen, zu denen dann noch vielerlei Michel Foucault: Archäologie des Wissens (Frankfurt 1973): 161. Foucault hat dieses Buch in Tunesien geschrieben, ebenso wie jenes über die Malerei von Édouard Manet, von dem jedoch nur ein Essay überlebt hat: Michel Foucault: Die Malerei von Manet (Berlin 1999); und ebenso die dem Maler René Magritte gewidmete Schrift Dies ist keine Pfeife.

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Charaktere hinzutreten, wenn sie – die Aussagen – in spezielle Kontexte oder Milieus eintreten. Sie müssen sogar in bestimmte Milieus eintreten – und dann setzen sich Zusatzbestimmungen an ihnen an. Doch die setzen sich an Parametern an, welche jeder Aussage als Minimalausstattung mitgegeben sind. Foucaults Programm lautet: die Aussage als Aussage betrachten und beschreiben. Diese quasi tautologische Verdoppelung eines Begriffs ist das Gemeinsame zwischen der aristotelischen Ontologie und Foucaults Aussagenanalyse. In dieser werden vier interne Parameter der Aussage herausgestellt: Gegenständlichkeit, Subjektpositionierungen, Begrifflichkeit, Strategien. Daraus ergeben sich nach außen auch Existenzmodalitäten der Aussagen, die Gesetze ihrer Koexistenz. Wenn Aristoteles die Vorgangsweise des Betrachtens vor allem in seiner Physik geübt und entwickelt hat, so gilt für mich etwas Analoges, da die Philosophische Physik die Hauptlinie meines Philosophierens bildet. Und vor allem um diesen meinen philosophischen Boden immer wieder in Erinnerung zu rufen, das heißt unter die Metaphysik-Lektüre drunter zu legen, schiebe ich autobiographische Parallelen zur dieser Lektüre ein. Mein erstes ganz explizites Physik-Buch ist nun in Thessaloniki in neugriechischer Sprache erschienen, in der Übersetzung von Omiros Tachmazidis, im Verlag ENEKEN. Wenn ich mich zu einem Überschwang hinreißen lasse, gebe ich als Motiv zu dieser Aktion an: unter der Voraussetzung, dass ein intelligenter Altgrieche Neugriechisches lesen kann, besteht nun die Möglichkeit, dass Aristoteles Seitter liest. Hier einige Angaben zu den beiden Buchpräsentationen in Thessaloniki im Mai 2014: Auf der Internationalen Buchmesse hielt der Psychoanalytiker Christos Sidiropoulos eine Rede, die eindringlich auf einige Dinge hinwies, die mein Buch inspiriert haben: Schnee, Mauer, Mode – »Dieses Buch ruft, wenn man es liest, ein Erdbeben hervor.«

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Und im Café Poeta sprach der Ökonom Grigoris Zarotiadis über einige Aspekte meines Buches, welche die Architektur im weitesten Sinn betreffen: die Autobahn, die begrenzte oder die unbegrenzte Stadt, das Wohnen zwischen Stabilität und Mobilität. In der Nummer 34 der Zeitschrift ENEKEN hat der Philosoph Thanos Lipowatz dem Buch eine Besprechung geliefert, die den Titel »Für eine neue Physik« trägt: indem der Autor sich den Gegenständen als Erscheinungen nähere, versuche er eine dialogische Beziehung zu ihnen herzustellen. Und der Medientheoretiker Dionys Kavvathas rezensierte mein Buch zusammen mit einem von Georges Didi-Huberman und einem von Giorgos Tzirtziliakis in The Athens Review of Books (Mai 2016) unter dem Titel »Lob der Mikropolitik«; er schreibt, dass mein Minimalismus die Dinge in ihrer Abhebung vom Nichts profiliere, womit die Physik in Ontologie umschlage. Dieser Bemerkung widerspreche ich nicht, obwohl ich die Physik – sowohl die aristotelische wie die meinige – von der elaborierten Ontologie unterscheide. * Bereits in der Aporie 2, also im Buch III, war in Bezug auf die »gesuchte Wissenschaft« die Frage gestellt worden, ob in dieser Wissenschaft nur die ersten Wesensprinzipien betrachtet werden oder auch die allgemeinen Beweisprinzipien, wie etwa »dass man alles entweder bejahen oder verneinen muss und dass es unmöglich ist, dass etwas zugleich sei und nicht sei« (996b 29). Beziehungsweise ob die Beweisprinzipien als solche allesamt Sache einer einzigen Wissenschaft seien. Die erste Frage wird eher negativ beantwortet (und der Beweiswissenschaft ein Vorrang zugesprochen (997a 12)), die zweite ebenfalls negativ entschieden, wobei der Mathematik indirekt ein historischer Vorsprung in Sachen Beweiswissenschaft oder Axiomatik eingeräumt wird (996b 33). So nun auch in Buch IV 1005a 19 f. Ich betone das besonders, weil damit deutlich wird, dass sich aristotelisches Philosophieren im Horizont von Wissenschaften abspielt – und nicht etwa nur in dem der Philosophie. Die Mathematik gehörte damals längst zu den etablierten Wissenschaften und sie war ja auch durch Platon und die Pythagoreer philosophisch geadelt worden – was allerdings nicht die Zustimmung des Aristoteles gefunden hat, wie wir gesehen haben. 107 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Aber als Wissenschaft war sie unbestritten und ihre Axiomatik hatte sie offensichtlich bereits ausgebildet. Aristoteles nennt die mathematischen Axiome nicht im Einzelnen. Heute werden sie dem Euklid von Alexandria zugeschrieben, der allerdings hundert Jahre nach Aristoteles gelebt hat, aber offensichtlich älteres Gedankengut aufgezeichnet hat. Trotzdem nenne ich hier einige seiner Formulierungen, nämlich: 1. Dinge, die demselben Dinge gleich sind, sind einander gleich. 2. Fügt man zu Gleichem Gleiches hinzu, so sind die Summen gleich. 3. Nimmt man von Gleichem Gleiches hinweg, so sind die Reste gleich. 4. Was zur Deckung miteinander gebracht werden kann, ist einander gleich. Diese Axiome gelten innerhalb der Mathematik und haben dort die Funktion von unbezweifelbaren Grundsätzen, die von allen Beweisführungen vorausgesetzt werden, selber aber nicht bewiesen werden können. Sie beziehen sich auch auf den Bereich der Naturwissenschaft (Physik). Da aber die Natur nur eine Gattung des Seienden bildet, so muss die Erforschung der darüber hinausgehenden Axiome der Wissenschaft zufallen, die das Seiende im Allgemeinen und das »erste Wesen« betrachtet (1005a 35 ff.) Der Philosoph, der »die Natur jedes Wesens« betrachtet sowie »das Seiende als seiendes«, wird auch die »Prinzipien des Schlussverfahrens« und die »sichersten Prinzipien der Sache« anzugeben wissen (1005b 6 ff.). Aristoteles wird nicht müde, die Sicherheit, Erkennbarkeit, Täuschungsunmöglichkeit dieses Prinzips mit allen Superlativen zu betonen (1005b 11 f.) Dieses Axiom besagt, dass »es unmöglich ist, dass dasselbe demselben in derselben Beziehung gleichzeitig zukomme und nicht zukomme« (1005b 19 f.). Diese Formulierung entspricht ja derjenigen im zweiten Satz von 996b 29. Sie operiert mit der Modalität der Unmöglichkeit und bezieht sich direkt auf so etwa wie Sein. Im ersten Satz von 996b 29 ging es um die Notwendigkeit eines bestimmten Sagens. Eine dritte Formulierung dieses »Sichersten Prinzips« lautet: »Es ist unmöglich, dass jemand annimmt, dasselbe sei und sei nicht.« (1005b 24) Hier also die Unmöglichkeit eines selbstwidersprüchlichen, eines »doppelten« Meinens. 108 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Sofern sich das Axiom auf Sein bzw. auf objektive Realität bezieht, kann man von einer »ontologischen Version« sprechen. 59 Wie es sich zur Ontologie im präzisen Sinn des Wortes, nämlich zu der in Abschnitt 1 und 2 begründeten Betrachtungsweise verhält, wird noch zu erörtern sein. Immerhin spricht ihnen Aristoteles dieselbe Reichweite und auch denselben Urheber oder Fachmann zu: »Die Axiome treffen für alles, insofern es seiend ist, zu … daher ist ihre Betrachtung Sache dessen, der das Seiende, insofern es seiend ist, betrachtet (1005a 27). Die »logische« Version des Axioms, die sich aufs Denken oder Sagen bezieht, ergibt sich daraus, dass es sich um ein Beweisprinzip handelt, und zwar um das sicherste und »letzte«. Eben aus diesem Grunde ist es selber nicht beweisbar – gleichzeitig aber »muss« es bewiesen werden, und zwar dringend, sofern es von irgendjemandem oder gar von irgendwelchen Autoritäten missachtet oder in Frage gestellt oder gar verworfen wird. Diese Beweisnot macht aus den Abschnitten 3 bis 8 so einen drängenden Text. Man spricht aber auch von einer »psychologischen« Version, die sich aufs Annehmen oder Meinen bezieht. Und die kommt zum Zug, wenn Aristoteles den ersten prominenten Leugner des Axioms anführt. Immerhin drückt er sich vorsichtig aus und sagt, nach Ansicht einiger behaupte Heraklit von Ephesos (520–460), was niemand wirklich annehmen kann, dass nämlich dasselbe sei und nicht sei (1005b 24). Aristoteles unterscheidet zwischen annehmen oder meinen einerseits, sagen und behaupten andererseits. Und niemand müsse ja das, was er sagt, auch annehmen – vor allem dann nicht, wenn es sich um die Leugnung des allersichersten Prinzips handle. Es sei nämlich genau genommen sogar unmöglich, anzunehmen, dasselbe sei und sei nicht. Damit führt Aristoteles eine bemerkenswerte Differenz in das menschliche Wahrheitsverhalten ein: sagen und meinen. Jeder Mensch könne allerhand sagen – aber niemand könne meinen, dass demselben zugleich die Gegenteile zukommen; niemand könne sowohl eine bestimmte Meinung wie auch die gegenteilige Meinung oder die Meinung der Gegenrede tatsächlich annehmen. Im Meinen Siehe Christof Rapp, Aristoteles über die Rechtfertigung des Satzes vom Widerspruch, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 47 (1993), 4: 525.

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halten alle an dieser »letzten Meinung« fest, welche von Natur aus das Prinzip aller Axiome ist und auf welche alle Beweisführenden zurückkommen (1005b 28 ff.). Dem Meinen schreibt Aristoteles auf dieser Ebene eine höhere Wahrheitssicherheit zu als dem Reden – eine erstaunliche Aufwertung desselben gegenüber seiner platonischen Geringschätzung, ja Verdächtigung. So wird das Reden und sogar das Beweisen dem Meinen gewissermaßen untergeordnet. Allerdings ist damit das Problem noch nicht aus der Welt geschafft. Im Abschnitt 4 kommt Aristoteles darauf zu sprechen, dass ausgerechnet unter den Naturphilosophen viele behaupten, dass dasselbe sein und nicht sein könne, und dass sie obendrein behaupten, dies auch anzunehmen (1006a 1 ff.) Woraufhin wiederum andere verlangen, das Sicherste Prinzip zu beweisen und damit über die Diskussion zu erheben. Dagegen Aristoteles: man kann nicht alles beweisen und schon gar nicht das genannte Prinzip, denn es sei die Grundlage aller Beweisführungen (1006a 12 ff.). Wohl aber könne hier die indirekte, die elenktische Beweismethode eingesetzt werden, indem man den Opponenten dazu bringt, überhaupt etwas zu sagen. Diese Beweisform ist nur in einem Dialog einzulösen und setzt eine Rollenverteilung zwischen einem Opponenten und einem Defendenten voraus. Damit soll der Opponent entgegen seiner ausdrücklich bekundeten Ablehnung dazu gebracht werden, das Prinzip doch anzuerkennen – und zwar einfach dadurch, dass er überhaupt etwas sagt, und zwar klar und deutlich. 60 Christof Rapp verwendet in dieser Zusammenfassung der elenktischen Beweismethode, die übrigens von Aristoteles selber ausführlicher geschildert wird, den Ausdruck »Dialog« und erinnert damit an die sokratische Maieutik, welche den Diskussionspartner selber das Wahre aus sich hervorbringen lässt, ihn zur »Ursache« werden lässt (1006a 26).

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Siehe Christof Rapp, loc cit.: 522 ff.

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Im Glücksfall. Widrigenfalls aber hält Aristoteles eine zwar nur ironische, aber doch gravierende Disqualifizierung, nämlich eine regelrechte Desessenzialisierung für ihn bereit: sofern er nämlich nicht zu irgendeiner klaren Aussage fähig ist, macht er sich einer »Pflanze« gleich, also einem Wesen noch unter dem Niveau der Tiere (1006a 15). 61 In der elenktischen Beweisführung verlangt man vom Gegner nicht, dass er einer bestimmen Aussage zustimme – sondern nur, dass er überhaupt etwas sagt; dass er Ausdrücke verwendet, die »eines bezeichnen« – jedenfalls nicht unendlich vieles (1006a 29 ff.). Nur so vermag er, in Unterredung einzutreten – also in Rede und Gegenrede (1006b 9 f.). Er müsste das Wort »Mensch« so verwenden, dass es etwas anderes bedeutet als »Nicht-Mensch«; und er müsste Wörter verwenden, die etwas Stabileres bezeichnen als andere Wörter – zum Beispiel »Mensch« im Unterschied zu »weiß« (1006b 20 ff.). Diejenigen, die das nicht tun, heben das Wesen auf und erklären, dass alles Akzidens sei (1007a 20 ff.). Sie leugnen den Unterschied zwischen dem, was ausgesagt wird, und dem, worüber etwas ausgesagt wird. In diesem Zusammenhang führt Aristoteles auch aus, dass »ein Akzidens nicht Akzidens an einem Akzidens« sein kann (1007b 3). Die beiden Akzidenzien des Sokrates – weiß und gebildet – bilden zwei verschiedene Dimensionen. Aber kann nicht sein Gebildetsein akzidenziell weiterbestimmt sein durch eine gewisse Manieriertheit und sein Weißsein durch einen elfenbeinernen Ton? 62 Gibt Aristoteles diesem Axiom auch eine Bezeichnung im Sinn einer Benennung? Bisher hat er es immer inhaltlich resümiert: Unmöglichkeit von gleichzeitigem Zutreffen entgegengesetzter Aussagen und Ivo Gurschler weist darauf hin, dass neuere Forschungen die weitgehende Unfähigkeit der Pflanzen in Frage stellen; siehe Matthew Hall: Plants as Persons. A Philosophical Botany (New York 2010). Wenn Hall vom »Zoozentrismus« des Aristoteles spricht, vermeidet er immerhin die von Heidegger unterstellte Onto-Theologie. 62 Diese Frage wird diskutiert bei Andreas Josef Schlick: Über den Satz vom Widerspruch im vierten Buch der aristotelischen Metaphysik (Würzburg 2011): 52 f. 61

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daher Verbot von gleichzeitigem Perfomieren entgegengesetzter Aussagen (in Bezug auf dasselbe). Ein Verbot, das sich allerdings damit selber »bestraft«, dass man bei Überschreitung desselben »nichts« sagt: also keinerlei Rede, auch keine Gegenrede, keine Unterredung zustande bringt. In 1007b 17 ff. zum ersten Mal der Ausdruck, aus dem der heute übliche Name für dieses Axiom gewonnen worden ist. Daraus, dass nicht alles als Akzidens ausgesagt werden kann, schließt Aristoteles, dass es etwas gibt, was das Wesen bezeichnet. Und damit sei bewiesen, dass die Gegenbehauptungen nicht gleichzeitig ausgesagt werden können. Also nun doch ein Beweis für das Axiom – und zwar aus der Ontologie, die hier aus der durch Widerlegung erhärteten Axiomatik erschlossen worden ist. In beiden mir vorliegenden Übersetzungen werden die antiphaseis als »Widersprüche« wiedergegeben – und daher heißt das Axiom »Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch«. Meines Erachtens eine Übersetzung, die zunächst einmal irreführend ist, weil sie suggeriert, als wäre die Gegenaussage, die Gegenbehauptung als solche auszuschließen. Tatsächlich gehört diese zu jeder Rede oder Redekultur – als Unterredung, als Dialog –, sofern nicht der absolute Monolog, die Zensur, die Verordnung des Schweigens durchgesetzt werden sollen. Das, was mit diesem Axiom hintangehalten werden soll, ist »Widerspruch« im Sinne von »Selbstwiderspruch«: zu viel oder alles oder das Gegenteil von allem auf einmal sagen und damit das eigene Sagen verwirren bis zerstören. Anstatt von Ausschließung des sogenannten »Widerspruchs« sollte man von der Vermeidung des Selbstwiderspruchs und von der Pflicht zu möglichst eindeutigem und genauem, jedenfalls bestimmtem Reden oder Schreiben sprechen, welche Pflicht aber die Phasen des Herumsuchens, die Momente des Überschwanges, die Augenblicke der Poesie gerade nicht »ausschließen« muss. Nun meine ich bestimmt nicht, dass ich die Benennung dieses Axioms als »Satz vom Widerspruch« abschaffen werde. Aber auf die Unklarheit – nämlich Widersprüchlichkeit im Sinne von Selbstwidersprüchlichkeit – dieser Benennung hinweisen werde ich wohl.

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Andreas Josef Schlick weist auf die Problematik hin und verunklärt sie gleichzeitig durch seine Wortwahl: »Die Ansicht des Aristoteles, dass Widersprüche nicht möglich sind, darf nicht mit der gleichlautenden Ansicht des Antisthenes verwechselt werden (…). Dieser nämlich war der Meinung, dass Widersprüche grundsätzlich nicht möglich sind, d. h. unterschiedliche Menschen können keine unterschiedlichen Standpunkte vertreten und auch derselbe Mensch kann nicht zu unterschiedlichen Zeitpunkten entgegengesetzte Ansichten haben. Nach Aristoteles sind Widersprüche lediglich gemäß dem Satz vom Widerspruch nicht möglich, d. h., etwas kann nicht zur selben Zeit und in derselben Hinsicht in einer bestimmten Weise sein und nicht sein und auch nicht von derselben Person zur selben Zeit in einer Weise gedacht und nicht gedacht werden.« 63 Dieser mühselig herumredende Erklärungsversuch zeigt deutlich, dass die Vorliebe für das Wort »Widerspruch« Verwirrung stiftet. Wenn man verschiedene Wörter wie antilegein, antiphasis immerzu mit »Widerspruch« übersetzt, ohne zunächst einmal auf »Gegenaussage«, »Gegenrede« zu kommen, dann verstrickt man sich genau in die Art von »Widerspruch«, die man »Selbstwiderspruch« nennen sollte. Aristoteles nennt nun den Philosophen Anaxagoras (499–428), für den »alles« zusammen existiert – in Wahrheit aber nichts (1007b 20 ff.). Diese Leute scheinen vom »Unbestimmten« zu reden – das allerdings nur der Möglichkeit nach existiere, nicht der Wirklichkeit nach. Hier, in dieser langwierigen Apologie des sogenannten Satzes vom Widerspruch, spricht Aristoteles diese Unterscheidung aus, die zu einem der wichtigsten Stücke seiner Ontologie geworden ist, und zwar über die Kategorien hinaus: die Unterscheidung zwischen dynamis und energeia (entelecheia): Möglichkeit und Wirklichkeit (Vollendung). Mit dieser Unterscheidung kann Aristoteles auf diejenigen, die gegen die, gegen »seine« (?) Axiomatik verstoßen, zugehen und eine Auseinandersetzung versuchen. Und vor allem kann er mit dem ontologischen Begriff der Möglichkeit dem eigentlichen Anliegen seiner Ontologie, nämlich die schwächeren, die uneigentlichen Entitäten

Andreas Josef Schlick: op.cit.: 17, 127. Schlick gibt nicht exakt wieder, was Antisthenes (laut Aristoteles) sagt; dazu unten S. 225.

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und Existenzweisen nicht ins Nicht-Sein verstoßen zu müssen, nachkommen. 64 Diejenigen, die darauf bestehen zu sagen, etwas sei weiß und nicht weiß, kann man der Wahrheit näherbringen, indem man zeigt, wie es einmal weiß ist, ein andermal nicht weiß, da weiß und dort nicht weiß (1008a 18). Aber Aristoteles bleibt auch bei seiner strengen Haltung und stellt diejenigen, die etwas meinen und das Gegenteil ebenfalls, wiederum mit den Pflanzen auf eine Stufe (1008b 11). In einem gewissen Sinn eine grobe Verunglimpfung der Pflanzen: selbst wenn sie tatsächlich nicht reden können, so wird doch ihr Verhalten in Sachen Stoffwechsel und Fruchtbarkeit und so weiter keineswegs selbstwidersprüchlich sein. Sie sind gerade keine Selbstmörder. Und Aristoteles selber weitet die Problematik auch bei den Menschen auf Handlungsoptionen, auf Entscheidungen zwischen »besser« und »schlechter« aus: wenn man nach Megara gehen will, empfiehlt es sich sehr aufzupassen, dass man nicht in den nächstbesten Brunnen fällt (1008b 15 ff.). Und er empfiehlt dem Kranken dringend, sich »bestimmt« um die Gesundheit zu bemühen. Ein durchaus pragmatisches Plädoyer für Entschiedenheit, für Entscheidung (1008b 29 f.). Es geht bei dieser »zweiten« Ontologie-Gründung um etwas ganz anderes als bei der ersten: um Aussage-Konsistenz und sogar um Verhaltens-Konsistenz und überhaupt ums Seins- oder Realitätskonsistenz. Andererseits: auch wenn sich alle Dinge so bzw. nicht so verhalten, so gibt es doch auch in der Natur der Dinge das Mehr und Weniger. Es gibt größere und geringere Irrtümer oder Täuschungen. Was allerdings den Maßstab von Sicherheit und Wahrheit voraussetzt und uns von der unzulänglichen Lehre erlöst, die uns hindert, durch Überlegung zu fester Bestimmung zu gelangen (1008b 32 ff.). 65

Auch Arbogast Schmitt äußert die Ansicht, Aristoteles habe die Kategorien namhaft gemacht, um der Substanz das Seinsmonopol abzunehmen; siehe ders.: Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht (Heidelberg 2016): 148 f. 65 Zur Problematik von »Unbestimmtheit und Bestimmungszwang« siehe meine 64

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Die ethische Empfehlung, die Aristoteles hier einschiebt, verdient bei aller ihrer Banalität unsere Aufmerksamkeit. Das Sicherste Prinzip hat nun einmal etwas Banales und muss daher mit einer gewissen Flexibilität gehandhabt werden. Es zeichnet sich durch eine formale Prinzipialität aus – stellt aber keineswegs den Gipfel der Wahrheit dar. Schon gar nicht verweist es auf irgendeine höchste Wirklichkeit, welche Aristoteles seiner Ersten Philosophie mehrmals zugewiesen hatte. Im 5. Abschnitt stellt Aristoteles mit Erstaunen fest, dass die Naturphilosophie des Anaxagoras mit der Lehre des Protagoras konvergiere. Bei diesem handle es sich um die sophistische Ansicht, dass die Wahrheit in den Erscheinungen liege, diese aber hängen von den Sinnesempfindungen ab, welche zwischen menschlichen Individuen, zwischen unterschiedlichen Arten von Lebewesen und sogar bei einem Individuum von Mal zu Mal unterschiedlich ausfallen (1009a 5 ff.). Deshalb seien alle diese Empfindungen wahr – denn die Mehrzahl von gleichen Empfindungen könne ja wohl nicht als Wahrheitskriterium dienen. Naturphilosophische Theoretiker würden denselben Ansichten zuneigen und sie sogar radikalisieren, indem sie Sinnesempfindung und Verstandeserkenntnis gleichsetzen. Hier nennt Aristoteles Demokrit, er zitiert Empedokles und Parmenides, der sogar den nous von den körperlich zustande gekommenen Empfindungen abhängig macht. Er stellt auch Anaxagoras in die Reihe dieser »Relativisten« und sogar Homer wird mit einem – allerdings ungewissen – Zitat die Aussage zugeschrieben, ein Bewusstloser denke nicht etwa »daneben« sondern nur »anders« (1009a 22 ff.). Aristoteles sieht in diesen sensualistischen, ja materialistischen »Erkenntnistheorien« die schwierigen oder sogar gefährlichen Fragestellungen nach der »Gesundheit« oder »Normalität« der einen, nach der »Krankheit« oder »Verrücktheit« der anderen auftauchen (1009b 4 ff.). Wenn selbst Parmenides, Empedokles, Homer solchen Ansichten zuneigen, »wie sollte dann nicht den Anfängern in der Philosophie nicht der Mut schwinden? Wäre denn das Suchen nach Wahrheit nichts weiter als das Haschen nach Davonfliegendem?« (1009b 34 ff.) * Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft (Weilerswist 2012): 173 ff.

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16. Mai 2014 Gerade in der Zeit unserer Lektüre der aristotelischen Auseinandersetzung mit Protagoras fand gestern der sozusagen antizyklische Vortrag von Thomas Buchheim (München) über »Der Mensch als Maß der Dinge. Das protagoreische Prinzip und seine Aufnahme bei Aristoteles« statt. 66 Thomas Buchheim hat bereits vor längerer Zeit eine ausführliche Studie über die Sophistik vorgelegt, welche diese gehörig entdämonisiert hat. 67 Und nun führte er aus, dass die Sophisten die Weisheit, welche einstmals als den Göttern vorbehalten galt und von den ersten Philosophen wie Parmenides und Heraklit sozusagen mit göttlicher Lizenz verkündet wurde, entschieden zu einer menschlichen Veranstaltung erklärten. 68 Damit haben sie auch den aristotelischen Grundsatz vorweggenommen, Wissenschaft müsse von dem für uns Bekannten ausgehen – und das heißt auch: vom Anschein und vom Meinen. Protagoras’ berühmter Homo-Mensura-Satz: »Aller Dinge Maß ist der Mensch, derer die sind, dass sie sind, derer die nicht sind, dass sie nicht sind.« (der von Aristoteles in Met. X, 1053a 31 ff. sehr sachlich wiedergegeben wird) besagt, dass alle chremata, das sind alle möglichen Entitäten ohne besonderen Rang, sowohl nach dem Gesichtspunkt des Seins wie nach dem des Nichtseins gemessen werden. 69 Thomas Buchheim: »Denn vermöge der Alternative von Sein und Nichtsein, die zuerst Protagoras so ausdrücklich zugelassen zu haben scheint, werden gemäß dem angelegten Maß alle Dinge in ihrem ganzen Umfang aufgenommen und vertreten. Der Mensch oder jedes Wesen, das die Alternative von Sein und Nichtsein auf die Dinge beziehen würde, ist in der Lage, ihr volles Ausmaß wahrzuneh-

Freundlicherweise stellt mir Thomas Buchheim nun seinen Text »Sophistische Kunst und die Mittel menschenmöglicher Korrektur am Gegebenen« zur Verfügung, der die Gedanken seines Wiener Vortrags. aufgreift und in Barbara Zehnpfennig (Hrsg.): Die Sophistik (Baden-Baden 2018) erscheinen wird. 67 Thomas Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens (Hamburg 1986). 68 Siehe Thomas Buchheim: loc.cit.: 5 f. 69 Siehe Thomas Buchheim: loc. cit.: 8 ff. 66

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men und folglich durch die Messung ein vollständiges Äquivalent der Dinge zu formulieren.« 70 Nach Buchheim hat sich Aristoteles der sokratisch-platonischen Gegenstellung zu Protagoras nicht einfach angeschlossen. Vielmehr hat er die protagoreische Errungenschaft des Messens des Seienden und des Nichtseienden zum Prinzip seiner Ontologie gemacht und er hat sogar den protagoreischen Vorrang des Meinens und des Scheines in gewissem Sinn übernommen, nämlich als Ausgangsebene für die Bemühungen um Wahrheit. Aristoteles meint, dass wir die Situation der Wahrnehmung nicht aufgeben können zugunsten höherer Ansichten der Sache selbst. »Dies birgt Irritationen in Menge …, durch die wir uns – Maß, das wir sind – messend hindurchmanövrieren müssen, immer möglichst am Leitfaden dessen bleibend, was die Erscheinungen uns an Anhaltspunkten zur Wahrheit … gewähren. Das meinte auch Protagoras. Nur hat er sich und seinen Satz, typisch sophistisch und schnellfertig, allzu leicht einem ontologischen Kurzschluß des Phänomenalen in erster Instanz in den Rachen geworfen, anstatt die Messung methodisch bewußt und systematisch gerechtfertigt zu Ende zu führen.« 71 Buchheims These stößt bei mir auf viel Verständnis – vor allem deswegen, weil ich lange vor der Aristoteles-Lektüre eine »Philosophie der Erscheinungen« ausgeführt habe: so der Untertitel der Physik des Daseins. Und sie führt bei mir zu einem radikalen Umbau der Aristoteles-Genealogie. Bekanntlich war Aristoteles jahrzehntelang PlatonSchüler und Helmut Kuhn (München) sagte in den Sechzigerjahren, Aristoteles sei Platoniker – aber ein kritischer. Außerdem ist bekannt, dass Aristoteles die sokratisch-platonische Verwerfung der vorsokratischen Naturphilosophen in gewisser Weise rückgängig gemacht hat. Die Auseinandersetzung mit ihnen führt er auch hier im Buch IV – parallel zu derjenigen mit den Sophisten. Er nennt sie öfter »Physiker« und die meisten seiner eigenen Bücher – diejenigen über die Tiere, aber auch das über die Seele – gehören in den Bereich, den er »Physik« nennt.

70 71

Siehe Thomas Buchheim: loc. cit.: 13. Thomas Buchheim: loc. cit.: 19.

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Am Beginn des Buches IV hat er zwei Hauptfeinde der Philosophie – der Betrachtung des Seienden – ausgemacht, die Sophisten und die Dialektiker (Platoniker) (die sich ihrerseits seit Sokrates als Feinde gegenüberstanden): 1004b 17–26. Nach der Einführung des »Axioms« zettelt er eine langwierige Widerlegung der Leugnung des Axioms an und als Leugner des Axioms nennt er einerseits die Naturphilosophen Heraklit, Anaxagoras, Demokrit, andererseits den Sophisten Protagoras und seine Schule. Er unterscheidet diese beiden Typen derselben falschen Lehre, wonach alle Meinungen wahr seien, indem die einen aufgrund von Zweifeln zu falschen Überlegungen gelangt seien, die anderen jedoch sich von ihrer Redekunst hätten verführen lassen. Dementsprechend könnten die einen durch bessere Überlegungen von ihrer falschen Lehre »geheilt« werden, die andern durch bessere Reden. Die ersten sind die Naturphilosophen, die zweiten die Sophisten. Ihr gemeinsamer Irrtum habe aber auch eine gemeinsame Wurzel: dass sie nämlich alle Erscheinungen für wahr halten. Das grenzenlose Vertrauen in die Erscheinungen – das ist, wie ich sagen würde, die eigentümliche Stärke – oder aber Schwäche – der Griechen. Aristoteles möchte hier mit der Methode der Unterscheidung einen Ausweg finden, der darauf hinausläuft, dass er einerseits der Ansicht des Protagoras folgt (speziell gegen Platon), andererseits auch der Sicht der Naturphilosophen. In dem genannten Buch handelt Buchheim davon, wie Aristoteles entgegen der großen sokratisch-platonischen Polemik (die er selber auch mitmacht) wesentliche Lehrstücke der Sophisten aufgreift und sie mit naturphilosophischen wie auch mit platonischen verbindet. Sodass er zu einer triadischen (»borromäischen« im Sinne von Jacques Lacan) Figur wird: Platoniker (aber kritischer) und Protagoreer (allerdings sehr kritischer) und Physiker (und zwar revisionistischer). Es zeichnet sich eine Aristoteles-Struktur ab, die sich aus seinen drei philosophischen Herkünften ergibt, welche sich gegenseitig kritisieren und relativieren und sozusagen halbieren. Die platonische, die naturphilosophische und die sophistische Herkunft sind in dieser Reihenfolge bekannt: die platonische ist die bekannteste, die sophistische ist die unbekannteste; vielleicht ist sie auch die »schwächste« – jedenfalls »schwächt« sie entscheidend die beiden anderen, viel »stärkeren«. Die drei schwächen sich gegenseitig und wenn man sie sich als 118 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Ringe vorstellt, könnte man sie sich eher als Halbringe, Ringfragmente denken, um Aristoteles als Zusammensetzung aus Halbplatoniker, Halbnaturkundler und Halbsophisten darstellen zu können. Drei gebrochene Ringe bilden ineinander verkettet eine Ringkette – aber eine leicht lösbare. Insofern vergleichbar mit einer »borromäischen« Kette – die aber technisch ganz anders geartet ist (und nicht nur zirkulär, sondern auch linear gefügt sein kann). Jacques Lacan hat 1973 ausgehend vom Seemannsknoten den sogenannten »Borromäischen Knoten« konstruiert, der gar kein Knoten ist, sondern eine Kette. 72 Die Form der aus drei Ringen gefügten Kette hat ihm dann dazu gedient, den Zusammenhang der drei Register des Imaginären, des Symbolischen und des Realen darzustellen. 73 Man könnte nun eine Analogie zwischen dieser Konstruktion Lacans und der von mir vorgeschlagenen Aristoteles-Struktur aus platonischer, naturphilosophischer und sophistischer Herkunft annehmen, indem man den platonischen Anteil dem Symbolischen, den naturphilosophischen dem Realen, den sophistischen dem Imaginären zuordnet. Im Buch IV stellt Aristoteles den Bezug zu den genannten drei philosophischen Traditionslinien ausschließlich kritisch her – und zwar schärfer, polemischer und hartnäckiger als in den ersten Büchern. Erst hier beginnt er die Auseinandersetzung mit den Sophisten – bekanntlich die Lieblingsfeinde von Sokrates-Platon. Und indem er die Kritik an den Sophisten eng mit derjenigen an den Naturphilosophen verbindet, teilweise sogar vermischt, bestätigt er – wenngleich negativ – die Verknüpfung der von ihm relativierten und modifizierten und übernommenen philosophischen Traditionen. * Was ist die »Ursache« für die verqueren Meinungen der genannten Denker? Eine zugrundeliegende Meinung: dass nämlich die sinnlich wahrnehmbaren Dinge die einzigen seien (1010a 1 ff.). Für diese veränderlichen Dinge jedoch treffe die Aussage zu, dass in ihnen das

Siehe Jacques Lacan: Seminar XX: Encore (Weinheim 1986): 131 ff. In den späten Achtzigerjahren wurden an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien aus echten Fäden echte borromäische Ketten gemacht und besprochen. 73 Zu diesen drei Registern oder Aggregatzuständen siehe Paul-Laurent Assoun: Lacan (Paris 2003): 31–62. 72

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Unbestimmte vorherrsche, denn sobald man über sie spreche, sind sie gar nicht mehr: der Fluss Heraklits ist im nächsten Moment schon gar nicht mehr da, »er« fließt ja schon im selben Moment weg. Dagegen Aristoteles: wenn etwas sich ändert, wenn etwas entsteht oder vergeht, so muss es doch Voraussetzungen, Bedingungen, ein Woraus und ein Worin geben, welche dableiben und gleichbleiben. Ich würde sagen, jedwede Veränderung setzt stabile Elemente voraus, an denen und gegen die die Veränderung überhaupt wahrnehmbar ist. Dabei handelt es sich um Umweltbedingungen, Rahmenbedingungen, die gar nicht weit weg sein müssen. Dass ein Fluss fließt, sieht man im Kontrast zum ruhig bleibenden Ufer bzw. von diesem aus. Wird dieses auch weggerissen, während man als Beobachter am Ufer steht, so steht man nicht lange und die Beobachtung wird beendet (vielleicht für immer). Tatsächlich bewegt sich auch das ruhige Ufer ständig mit der Drehung der Erdkugel in rasendem Tempo gen Osten – aber diese Bewegung, welche uns selber mit fortreißt, bemerken wir nicht, sie würde unser Wahrnehmen unmöglich machen. Die Wissenschaft kann sie nur feststellen, indem sie eine andere stabile Kontrastfolie aufstellt. Aristoteles reißt hier selber die kosmologische Perspektive auf, welche ihm die Bahnung der »Metaphysik« eröffnet: der gesamte Weltraum wird in zwei konzentrische Sphären unterteilt: »bei uns« auf der Erde und in ihrer Nähe sind die Dinge veränderlich und beweglich, weiter draußen bzw. weiter oben erstreckt sich ein viel weiterer Raum, Aristoteles nennt ihn »Himmel«, wo die Dinge unveränderlich und unvergänglich sind (1010a 25 ff.). Die Sophisten machen den Fehler, die hiesige Veränderlichkeit auf den Himmel zu projizieren. Wenn man schon das gesamte All »gleichschalten« wollte, sollte man eher die kleine menschlich-irdische Sphäre an die große himmlische angleichen. So meint hier ein eifrig platonisierender Aristoteles – doch würde er damit seine eigene Wissenschaftserfindung dementieren: die Wissenschaft von den veränderlichen Dingen. Übrigens hat die neuzeitliche Physik die Gleichschaltung doch vollzogen: einerseits in der sophistischen Richtung der Bewegung überall, andererseits in der Gegenrichtung einer Verhimmlischung des Irdischen: denn die lineare Fallbewegung »neigt« zur Kreisbewegung

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(die für Aristoteles den Übergang zur Unbewegtheit darstellt – 1010a 25 ff.). Aristoteles sieht das Element der Unbewegtheit keineswegs nur im fernen Himmel – sondern auch in jedem hiesigen Ding: zumindest in der Wesensform. Und was die Großbewegungen im Himmel betrifft, so sind sie es, die jedenfalls vorläufig die Stabilität unserer Makrosituation garantieren: Jahre und Jahreszeiten, Tag und Nacht. Dann setzt Aristoteles zu einem sehr andersartigen Beweis gegen die Annahme an, es gebe nur Wahrnehmbares. Denn in diesem Fall gäbe es gar nichts – weil es dann keine beseelten Wesen gäbe. Onta empsycha: beseelte Seiende, Lebewesen (1010b 31). Lesen wir nur so weit, dann setzt Aristoteles voraus, dass beseelte Wesen – also Menschen, Tiere – nicht wahrnehmbar sind. Eine merkwürdige Voraussetzung, die ihm kaum zuzutrauen ist. Oder meint er, dass die Tatsache, dass ein Wesen beseelt, also animalisch lebendig ist, nicht direkt wahrnehmbar ist? Oder noch eingeschränkter: die Tatsache, dass ein Wesen wahrnehmen kann bzw. tatsächlich wahrnimmt, sei nicht wahrnehmbar? Selbst das ist dem Zoo- und Anthropologen Aristoteles nicht zuzutrauen. Und die weitergehende Einschränkung: die Seele selber sei nicht wahrnehmbar, würde vielleicht zu irgendeinem christlichen Seelen-Begriff passen – aber nicht unbedingt zum aristotelischen, für den die Seele nicht ein Gespenst irgendwo drinnen ist, sondern das Organisationsprinzip einen lebenden Körpers. Aristoteles’ irreale Schlussfolgerung geht tatsächlich dahin, dass es dann keine Wahrnehmung gäbe. Es ist also die Wahrnehmung, die er für unwahrnehmbar hält – daher muss es auch Unwahrnehmbares geben. Wenn es nur sinnlich Wahrnehmbares gäbe, gäbe es gerade nichts sinnlich Wahrnehmbares – weil keine Sinneswahrnehmung. Aber die Substrate, also die Elemente oder Materien, die die Wahrnehmung auslösen und veranlassen, die würde es schon geben. Also das, was dann zum Objekt der Wahrnehmung wird. Wahrgenommen werden nur Objekte – und nicht etwa die Wahrnehmung selber. Wahrnehmung ist nicht reflexiv, sondern ausschließlich »objektiv«. Es gibt also mindestens ein unwahrnehmbares, neuzeitlich gesagt »übersinnliches« Etwas: die Wahrnehmung selber. Und Aristoteles scheint dieses Unwahrnehmbare auf den Träger der Wahrnehmung auszuweiten. Tatsächlich?

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Im Abschnitt 6 geht Aristoteles dem Erkenntniszweifel, den Leute wie Protagoras verbreiten, noch tiefer nach – bis hin zu dem geradezu cartesischen Zweifel an der Unterscheidbarkeit zwischen Schlafen (mit Träumen) und Wachen (1011a 7). Gegen diejenigen, die behaupten, alle Erscheinungen seien wahr, genüge es nicht, es sei sogar grundverkehrt, den Erscheinungen die Existenz abzusprechen. Vielmehr gelte es, genau zu beachten und festzuhalten, dass das Erscheinende für den existiert, für den es erscheint, dass es dann existiert, wann es erscheint, dass es in der Hinsicht existiert, in der es erscheint, dass es so existiert, wie es erscheint (1011a 23 ff.). Ein Gleiches gilt für die Meinungen – sie sind mehr oder weniger sicher beziehungsweise unsicher. Am sichersten ist die Meinung, dass entgegengesetzte Aussagen nicht gleichzeitig wahr sein können (1011b 13). Gegenteilige Bestimmungen können nicht gleichzeitig demselben zukommen – denn beide Gegenteile sind Privation eines Wesens. Der im 7. Abschnitt behandelte »Satz vom ausgeschlossen Dritten« stellt meines Erachtens kein vom »Satz des Widerspruchs« unabhängiges Prinzip dar (1011b 23 ff.) 74. Ein Gleiches gilt allerdings von den im 8. Abschnitt erörterten und zurückgewiesenen Verallgemeinerungen wie »Alles ist wahr«, die der Sache nach ja bereits genannt worden sind. »Für alle diese Behauptungen aber folgt das schon oftmals Erörterte, dass sie sich selbst aufheben.« (1012a 29 ff.) Daher sage ich, dass im Abschnitt 8 der »Satz vom ausgeschlossenen Allen« vorgeführt – aber keineswegs als solcher formuliert – wird. Auch er gehört zur Axiomatik, deren erster Satz der sogenannte »Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch« ist und den ich ebenso gut »Satz vom ausgeschlossenen Zweiten« nennen könnte, womit er sich als »Satz vom bloßen Einen« entpuppt. Damit aber erhebt sich die Frage, wie sich die Abschnitte 3 bis 8 zu denen von 1 bis 2 verhalten, in denen ich die Gründung der Ontologie sehe.

Hierin folge ich Andreas Josef Schlick: Über den Satz vom Widerspruch im vierten Buch der aristotelischen Metaphysik (Würzburg 2011): 22 f.

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Dass der »Satz vom Widerspruch« auch eine ontologische Dimension hat, scheint mir schon deswegen unabweisbar, weil dem »Aussagen« und in diesem Text vor allem dem »Meinen« ein unmittelbarer Realitätsbezug nicht abzusprechen ist. Außerdem gibt es ja mehrere Formulierungen dieses Prinzips, die mit den Verben einai oder hyparchein operieren. Christof Rapp äußert sich dennoch sehr zurückhaltend zur ontologischen Tragweite des Satzes. 75 Allerdings unterscheidet er sich in seinem Duktus sehr deutlich von der Ontologie, die in den Abschnitten 1 und 2 begründet und skizziert wird (und zwar in Fortsetzung der weit zurückliegenden Kategorien). Duktus des »Satzes vom Widerspruch« beziehungsweise aller drei zusammengehörigen Sätze? Die Sätze selber gibt es in zahlreichen Versionen, und wenn man nach ihrem gemeinsamen Gegenstand sucht, so stößt man auf so etwas Dürftiges wie »etwas«, »dasselbe«, »eines«. Keineswegs wird ihm der Standardbegriff der eigentlichen Ontologie, »das Seiende« oder auch bloß »seiend« entschieden zugesprochen. Der Satz selber ist nur damit beschäftigt, eine gewisse Zweiheit abzuwehren, für unmöglich zu erklären – und das Eine zwar zu verteidigen, aber möglichst unscheinbar zu halten. Rapp und Schlick betonen zu Recht, dass der Satz positiv auf der »Eindeutigkeit des Bezeichnens« bzw. auf der »bestimmten und abgrenzbaren Einheit« insistiert und nur auf der. 76 Der Satz will eigentlich nur eine Setzung verteidigen – eine Setzung von einem etwas, das durch verschiedenste theoretische Angriffe bedroht, ja in seiner Existenz gefährdet erscheint. Die Abwehr der Zweiheit dient der Rettung der Einheit – zunächst vor der Zweiheit, dem Zuviel, dem Chaos. Und dann sogleich vor der Auflösung, vor dem Verschwinden ins Nichts, vor dem bloßen nichts, vor dem reinen nicht, gar nicht. Es geht um die Rettung von »überhaupt etwas«. 75 76

Siehe Christof Rapp, loc cit.: 525 f. Siehe Christof Rapp: loc. cit.: 536; Andreas Josef Schlick: op. cit.: 23.

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Minimalismus, Anti-Nihilismus. Hat das etwa doch mit Ontologie zu tun? Ja – aber in einem etwas anderen Sinn als in der assertorischen Gründung der Ontologie, die in den Abschnitten 1 und 2 vollzogen wird: mit ruhig feststellenden Sätzen, die vorschlagenden, aufzählenden Charakter haben; ohne Beweisnot, ohne Hektik. In den Abschnitte 3 bis 8 entwickelt die Beweisführung fürs Unbeweisbare mit der Verteidigung des Sichersten Prinzips eine fundamentalontologische Position, die das Etwas vor dem Nichts rettet, die sich selber die allerhöchste Gewissheit zuspricht und in Bezug auf das Reden der Menschen als höchstes Gebot beziehungsweise Verbot auftritt und sogar mit Sanktionen bewaffnet ist: in Bezug auf die objektive Realität wird mit deren Vernichtung gedroht, in Bezug auf den Opponenten mit dessen Entmenschlichung. Der Begriff »Axiom« impliziert ja eine volitive und normative Intention – und dieses sicherste und insofern superlativische Axiom geriert sich als Imperativ mit Sanktionsandrohungen, als Gebot und Verbot. Andererseits reduziert es, minimalisiert es das Spektrum der Seinsmodalitäten von Abschnitt 1 und 2 auf ein bloßes Etwas, das sich vom Nichts absetzt, um es davor zu retten. Alwin Diemer hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der sogenannte Satz vom Widerspruch eigentlich als »Satz der Bestimmtheit« zu verstehen bzw. zu banalisieren ist. 77 Ich sage noch schlichter und in leicht ironischer Anspielung auf Ernst Bloch: »Prinzip etwas«. Aufgrund dieser Minimalisierung, die gleichzeitig Rettung vor dem Nichts verheißt, spreche ich vom »fundamentalontologischen« Prinzip und meine eigentlich: »minimalontologisches« Gebot/Verbot. Gibt es eine Analogie zwischen diesem Sichersten Prinzip und irgendeinem Ersten Gebot? Ich glaube ja – aber mit deutlichen Unterschieden. Jenes Erste Gebot verlangt den maximalen Willenseinsatz des Menschen für das übermenschliche Realitätsmaximum und ihm 77

Siehe Alwin Diemer: Einführung in die Ontologie (Meisenheim 1959): 55.

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folgen Gebote und Verbote, welche das sichtbare Verhalten der Menschen regulieren. Jenes Erste Gebot war einige Jahrhunderte vor dem aristotelischen Prinzip in einem nicht sehr philosophischen, aber immerhin schriftstellerischen Volk in Vorderasien aufgeschrieben worden. Erinnern wir uns daran, dass im Buch I der »gesuchten Wissenschaft« von einer göttlichen und herrschenden Wissenschaft vom Wissbarsten und vom Besten die Rede war. Und nun ist die suchende Wissenschaft mit einem Sichersten Prinzip fündig geworden, das sich damit begnügt, einfach nur etwas zu sichern, um nicht nichts (Dativ) anheimzufallen. Beträchtliche Fallhöhe dieses Absturzes in die Fundamental-, besser gesagt Minimalontologie, die von Aristoteles noch dazu über viele Seiten gegen eine große Menge von Philosophenkollegen verteidigt wird. Aufgrund seines normativen Charakters könnte das minimalontologische Axiom auch als »Ontonomie« bezeichnet werden. Seine banale praktische Relevanz scheint mir ausgerechnet von einem Schriftsteller jenes anderen Volkes glänzend formuliert worden zu sein. Einem – übrigens hellenisierten – Schriftsteller des ersten Jahrhunderts, ungefähr ein Jahrhundert nach der Schlussredaktion der Metaphysik. Bei Matthäus (5, 37) heißt es: »Eure Rede sei: ja, ja; nein, nein; was darüber ist, ist vom Übel.« Eine Etage über diesem theoretischen Minimalniveau breitet sich bei Aristoteles die Ebene aus, auf der die eigentliche, die positive, Ontologie erfunden, gespielt, akkumuliert wird. Auch sie verzehrt sich keineswegs in der Sehnsucht nach einem Höchsten, vielmehr sieht sie ihre Aufgabe darin, den vielen Wirklichkeitsmodalitäten neben und »unter« der substanziellen Seinsweise, den akzidenziellen und womöglich noch geringeren Wirklichkeitsversionen, ihre Plätze anzuweisen. Eine Topologie für alle formalen Modalitäten. Indessen gibt es auch Beziehungen zwischen der »elenktischen« Minimalontologie und der »assertorischen«, soll ich sagen Normalontologie? Sobald das Axiom gegen bestimmte Thesen logischer oder erkenntnistheoretischer oder sonstiger Art verteidigt wird, ergeben sich 125 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Theoreme, die für die Ontologie maßgeblich sind: vor allem die Unterscheidung zwischen Substanz (Wesen) und Akzidenzien; aber auch die Ansicht, dass es nicht nur veränderliche oder wahrnehmbare Entitäten gibt. Und dann erweist sich der »Satz vom Widerspruch« als »Prinzip« der Ontologie, nicht als deren Formel oder Zusammenfassung, sondern als deren winziges Samenkorn, das auf »Angriffe« mit seiner Entfaltung reagiert – und so geht die Ontologie aus dem Aggregatzustand der Betrachtung oder der Deskription in den der Demonstration oder der Defension über. Diese Phase haben Andreas Josef Schlick wie auch Gianluigi Segalerba in ihren ausführlichen Untersuchungen rekonstruiert. Allerdings würdigen sie zu wenig, dass die quasi-axiomatische Demonstration einiger ontologische Theoreme, die mit der Verteidigung des sichersten Prinzips Hand in Hand geht, keineswegs die einzige Gründung der Ontologie ist, die in der Metaphysik stattfindet. Sie findet statt, sie hat den Charakter einer sehr speziellen Aktion. Ich nenne sie die »elenktische Gründung«. Schlick: »Im vierten Buch der Metaphysik eröffnet Aristoteles die Wissenschaft vom Seienden als Seiendes mit seiner Untersuchung über die höchsten Prinzipien« – nämlich mit dem Satz vom Widerspruch in 1005b 11 f. 78 Der Autor scheint zu ignorieren, dass ungefähr diese Wissenschaft in einer ganz anderen Tonart, mit einer anderen Intention und mit ziemlich anderen Ergebnissen ab 1003a 21 eingeführt, angefangen und entwickelt worden ist. Und zwar mit einem auffälligen Unterschied: nicht nur das »Axiom«, dessen Begriff aus der Mathematik übernommen wird, kommt da nicht vor; auch von Beweis und Widerlegung ist weder die Rede, noch findet sich irgendein Ansatz dazu; die Aussagen und die Wörter werden mit »und« verbunden und oftmals ist von Betrachten die Rede. Der erste Satz »Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende, insofern es seiend ist, betrachtet …« scheint eine deskriptive Untersuchung anzukündigen, klingt aber auch ein bisschen nach Erfindung … Es handelt sich um eine explizit »assertorische« Gründung der Ontologie, die allerdings nur ein paar Seinsmodalitäten nennt und relativ bald abbricht, um von der hektischen Aporetik zwischen superlativischen Behauptungen und ziemlich polemischen Invektiven, zwischen Notwendigkeit 78

Andreas Josef Schlick: op. cit.: 24.

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und Unmöglichkeit einer Beweisführung abgelöst zu werden. 79 Diese führt dann tatsächlich zu einigen Thesen, welche einige Begriffe der vorangehenden assertorischen Gründung verbinden. Ist die indirekte, die elenktische Beweisführung für die Ontologie tatsächlich ausschlaggebend? Ein Satz wie 1005b 15, demzufolge »man über dieses Prinzip verfügen muss, um irgendetwas von den Seienden zu verstehen«, spricht dafür. Unter dem Prinzip ist der Satz vom Widerspruch zu verstehen – und unter dem »irgendetwas« (hotioun) genau das Spezialobjekt der Axiomatik, nämlich das minimale gerade ein bisschen mehr als nichts –, welches natürlich die Voraussetzung bildet für jegliche Ontologie, die allerdings auf dem Feld der Seienden genauere Erkenntnisse gewinnen will. Gianluigi Segalerba identifiziert meines Erachtens vorschnell den »Satz vom Widerspruch« mit der Ontologie. Damit meine ich nicht den Übergang vom Logischen zum Ontologischen im landläufigen Sinn – dieser Übergang scheint mir unproblematisch zu sein, weil für Aristoteles Denken, Sagen und sogar Meinen sozusagen automatisch (wenn auch nicht immer zutreffend) objektbezogen sind. Vielmehr besteht die Eigentümlichkeit dieses Satzes in seinem Minimalimus, der an den Reichtum, an die Mannigfaltigkeit und die Aufstufung der ontologischen Seinsmodalitäten – von den Akzidenzien zum Wesen, vom Möglichen zum Vollendeten – gar nicht heranreicht. Der »Satz vom Widerspruch« erreicht nur so etwas wie »etwas überhaupt« – was Segalerba so ausdrückt: »Ohne Satz vom Widerspruch keine Entität.« 80 Die zweifache Negation, die diesen Satz kennzeichnet, ist typisch für seinen minimalistischen Charakter, den ich als »fundamentalontologisch« bezeichnet habe. Hingegen überschätzt, überzeichnet Segalerba den Satz vom Widerspruch, wenn er schreibt: »Der Satz vom Widerspruch soll meiner Ansicht nach als die Strukturformel der Realität definiert werden …

Assertorisch = feststellend, behauptend. Gianluigi Segalerba: Ohne Satz vom Widerspruch keine Entität – der Satz vom Widerspruch als Strukturformel der Realität, in: Journal of Ancient Philosophy Vol. V 2011 Issue 2: 3.

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Der Satz vom Widerspruch ist die grundlegende Struktur jeder besonderen Entität …«. 81 Eine vollkommen unzutreffende Aussage. Der »Satz vom Widerspruch« bezeichnet auf der Objektseite überhaupt keine Struktur, die ja immer ein multipolares Gefüge darstellt, sondern er insistiert nur, allerdings heftig und fanatisch, auf der Setzung und Aufrechterhaltung irgendeines einfachen etwas. Der Satz insistiert nur auf dem Satz – also auf sich. Hingegen wird die »Strukturformel« der aristotelischen Ontologie nicht vom »sichersten Prinzip« sondern vom Grundsatz 2 in der assertorischen Gründung der Ontologie geliefert, jedenfalls vorbereitet, die in Abschnitt 1 und 2 von Buch IV vollzogen wird: »das Seiende wird mannigfaltig ausgesagt«. Ein Satz, der sich zum Sichersten Prinzip eher kontrapunktisch verhält. Diese assertorische Gründung wird vor derjenigen vollzogen, welche mit dem »Satz vom Widerspruch« aufgezogen wird und offensichtlich die zweite ist. Diese zweite Gründung hat einen demonstrativen und fast verzweifelten Charakter. Ich nenne sie die »elenktische« Gründung – nach der indirekten Beweismethode, mit der unbeweisbare und aber für Beweise unabdingbare Voraussetzungen oder Ansichten aufgewiesen werden. Die elenktische Begründung einiger ontologischer Theoreme resultiert aus der Verteidigung des »Satzes vom Widerspruch«. Im Buch IV liegen also zwei Gründungen der Ontologie vor: eine schlicht assertorische, gleichzeitig differenzierende, zusätzliche Bestimmungen auffindende und aufzählende, eine typisch betrachtende sowie eine aufgeregt und hektisch elenktische, die sich wiederholt, eine typisch beweisende und recht haben müssende. Die beiden Abschnitte leisten ganz Unterschiedliches: positive und flexible additive Ontologie; fundamentalontologische Beweisführung für ein Minimum mit einigen Beweisresultaten, die weiter ausgreifen. Betrachten und beschreiben einerseits. Beweisen oder vielmehr widerlegen andererseits. 81

Gianluigi Segalerba; loc, cit.: 4.

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Einerseits ein assertorischer, aneinanderreihender, großzügig admissiver Modalitätenpluralismus. Andererseits ein elenktischer, restriktiver, exklusiver Bestimmtheitsmonismus. Handelt es sich um zwei weit auseinander klaffende Flügel einer Ontologie? Oder etwa gar nicht um ein und dieselbe Ontologie? Ist diese Frage überhaupt schon einmal aufgeworfen worden? Offensichtlich agieren diese beiden Ontologien auf verschiedenen Ebenen. Ich nenne die beiden vorläufig Ontologie A und Ontologie E. Immerhin werden einige Thesen, die zu Ontologie A gehören, in Ontologie E aufgewiesen.

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Im zweiten Teil des Buches IV spielt der Begriff »Prinzip« eine dominante Rolle und da er mit »Axiom« einigermaßen gleichgesetzt wird, ist klar, dass damit ein Satz gemeint ist, ein Grundsatz, und zwar einer, der nicht in ruhigem, deskriptivem Ton gesagt wird, sondern mit den extremen logischen Modalitäten Notwendigkeit und Unmöglichkeit beziehungsweise mit den normativen Modalitäten von Gebot oder Verbot aufgeladen ist. Daher auch die Hektik und Unermüdlichkeit und Unerbittlichkeit, mit der er in den Abschnitten 3 bis 8 gegen zahlreiche Übertretungen verteidigt wird. Nun steht am Anfang von Buch V genau dasselbe griechische Wort – nämlich arche – und man könnte meinen, dass dieses Buch an das vorhergehende kontinuierlich anschließt. Doch tut es dies noch weniger als die vorangegangenen Bücher. Schon die Textform ist eine radikal andere. Die beiden Teile von Buch IV hielten sich an die Form der Abhandlung, also der einigermaßen sorgfältig vorgehenden und zu einem Abschluss kommen wollenden Erörterung eines Themas. Buch V hingegen hat die Form einer Serie, einer seriellen Behandlung von 30 Gliedern, und zwar von 30 Stichworten oder Begriffen, die in ziemlich kurzen, höchstens zwei Seiten umfassenden, Beiträgen abgehandelt werden. Es besteht eine gewisse Analogie zum Buch III, wo vierzehn sogenannte Aporien abgehandelt oder »gelöst« werden – und das zweimal. Die Serienbildung des Buches V mag uns viel vertrauter erscheinen, denn es handelt sich um Stichworte, um Begriffe und daher kann man von einem Begriffslexikon sprechen oder gar einem Wörterbuch, und zwar so, dass diese Begriffe sprachlich wie auch sachlich analysiert, differenziert werden.

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1. arche Zur Auswahl, auch zur Reihung dieser Begriffe, soll später etwas gesagt werden. Dass das Wort arche an den Anfang gesetzt wird, mag mit seiner »prinzipiellen« Bedeutung zusammenhängen. Allerdings wird diese in der hiesigen Wortanalyse zunächst weit weg vom Begriff »Prinzip« dingfest gemacht – nämlich in der ganz und gar physischen, chrono- oder topologischen Wortbedeutung »Anfang«. Das heißt, die Bedeutungsanalyse greift über die wissenschaftliche Terminologie hinaus, geht von umgangssprachlicher Wortverwendung aus (was Heidegger dann ebenfalls getan hat – und zwar in philosophischer Absicht). Ob die Textform des Begriffslexikons in der griechischen Philosophie auch sonst üblich war, kann ich nicht beurteilen, ich vermute: eher nicht. Hier handelt es sich ja nicht um ein eigens angelegtes Wörterbuch im Sinne von »Sekundärliteratur«, sondern um ein »Buch«, also ein größeres Teilstück innerhalb eines primärliterarischen Werkes. So jedenfalls in der uns vorliegenden Redaktion aus dem 1. Jahrhundert vor Christus. Trotzdem eignet so einem Wörterbuch immer ein gewisser sekundärer Charakter – auch im Sinne des Präfixes meta, womit die heterogene Komposition der Metaphysik wiederum hervortritt: ein meta-Stück im Werk selber. Ein sekundärer Charakter auch im Sinn von Übersicht, von Didaktik. Ein Aristoteles-Lexikon als Sekundärliteratur gibt es in deutscher Sprache seit 2005, herausgegeben von Otfried Höffe, mit über 300 Artikeln, verfasst von 25 Autoren. So liegen uns also ein aristotelisches und ein modernes Aristoteles-Lexikon vor – ein bemerkenswerter Zusammenklang über fast 2500 Jahre hinweg. Ich habe bereits einmal darauf hingewiesen, dass Höffe die Frage der Textsorten in der Philosophie aufgeworfen hat. Nun stelle ich fest, dass er mit seinem Aristoteles-Wörterbuch Aristoteles selber nicht gerade kopiert, aber doch imitiert hat (in Zusammenarbeit mit vielen anderen Gelehrten). Ist das die Art von »Neuschreibung« oder »Wiederschrift«, die Foucault in der Archäologie des Wissens an die Stelle der Exegese rücken wollte? Ich jedenfalls werde bei der Beschreibung des aristotelischen Wörterbuches gelegentlich das moderne heranziehen. Die Textform des Wörterbuchs oder Begriffslexikons bedeutet zunächst einmal das Abrücken von der behauptenden und verbindenden 131 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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und synthetischen Aussage als der eigentlichen Form des Denkens und die Hinwendung zu einfachen Begriffen. Die aber werden dann jeweils analysiert, also auseinandergenommen und in viele teilweise disparate Bedeutungen zerlegt. Die verschiedenen Bedeutungen werden dann durch teils linguistische, teils andere empirische Aussagen illustriert: insgesamt eher minimalistische Aussagenensembles. Man wird versuchen zu sehen, wieso Aristoteles so ein Wörterbuch oder Begriffsregister, so ein analytisches Sachregister in den Text der »gesuchten Wissenschaft« aufgenommen hat. Man wird sehen, wie er es gemacht hat und was dieses »wie« zu den Aussagen beiträgt. Ich gebe jetzt einmal arche mit »Anfang« wieder und stelle fest, dass mit »Anfang« zunächst der Teil einer Sache bezeichnet wird, von wo aus eine Bewegung in Gang gesetzt wird (1012b 34): sodass die Strecke zwischen meiner Wohnung und dem Café Demel ihren Anfang in der einen Richtung beim Wildpretmarkt hat, in der anderen Richtung auf dem Kohlmarkt. Eine einziger Weg hat also zwei Anfänge – je nachdem, ob jemand von da nach dort oder von dort nach da geht. Eben lasen wir von einem allersichersten Prinzip, von dem alle Beweisführungen ausgehen, dieses »Prinzip« hingegen ist erstens einmal nur ein Anhängsel an etwas anderem, nämlich einem willkürlich gewählten Weg, und zweitens hat dieser Weg zwei Anfänge, genauer gesagt doch nur einen – aber je nach dem. Und doch stimmen die beiden Bedeutungen überein: ich muss gewiss und unbedingt zuerst den Wildpretmarkt durchschreiten – wenn ich zum Demel gehen will und nicht etwa einen Hundertmeter-Weitsprung veranstalten will. Arche ist alles mögliche »Erste«, von dem aus etwas am besten entstehen kann, also wohl so etwas wie der Ursprung oder die Herkunft oder der Grund – und die einzige Erläuterung, die wir dazu bekommen, ist eine rein negative: denn dieser reale Grund sei gerade häufig nicht derjenige, der das Erkennen der betreffenden Sache begünstige, als sei er eher versteckt. Sodann wiederum fast derjenige Teil einer Sache, der zu ihr gehört und sie begründet: wie der Kiel das Schiff, das Fundament das Haus, das Herz oder das Gehirn das Lebewesen (worüber es verschiedene Ansichten gebe). Und dann etwas einer Sache Äußerliches, das zu ihrer Entstehung oder Bewegung beiträgt: Vater und Mutter im Hinblick auf das Kind, Streitereien im Hinblick auf eine militärische Auseinandersetzung. Ferner Entscheidungsinstan132 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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zen für Städte wie Behörden oder Dynastien, Königtümer, Tyranneien – also Herrschaften. Auch die Künste oder Produktionsfähigkeiten werden so genannt, vor allem die leitenden, die im Griechischen – von arche – die »architektonischen« genannt werden. Und dann noch das Erkenntnisprinzip einer Sache wie die Voraussetzungen der Beweisführung (1012b 34 ff.) – wie das Sicherste Prinzip in Buch IV. Aristoteles subsumiert dann noch den ebenfalls weiten Begriff der Ursache unter dieses »Erste« und fügt als spezielle Ausprägungen noch dazu: die Natur, das Element, die Überlegung, die Entscheidung – also die Initiative (!), das Wesen, das Weswegen, das Gute und das Schöne (!). Wenn Aristoteles das Gute und das Schöne als zwei – einander nahestehende – Ursachen und Anfangsfaktoren ansetzt, so spricht er ihnen eine starke Wirkmächtigkeit zu (ohne sie als »Ideen« zu bezeichnen). Darauf wird noch zurückzukommen sein. Einige der eben genannten Begriffe werden auch in die hier begonnene Serie, also ins Begriffslexikon, aufgenommen werden und daraus ergibt sich schon, dass die arche gerade wegen ihrer Eigenheit, wegen ihrer Prominenz und sozusagen tautologisch an den Anfang, als Anfang der Serie gesetzt wird. Hier also eine strikt sachliche Reihung oder anders gesagt: der Platz der arche im Lexikon gehört selber zu den über sie getätigten Aussagen. Wie ist die Vieldeutigkeit der arche zu verstehen? Als pure Homonymie – selbes Wort für ganz unterschiedliche Sachen – bestimmt nicht. Analog zum Grundsatz 2 der Ontologie: »Das Seiende wird mannigfaltig ausgesagt«? Die Mannigfaltigkeit der arche liegt sicher auch in der Sache »arche«; sie bezieht sich aber nicht so sehr auf Seinsmodalitäten, sondern zuvörderst auf Realitätsbereiche: Architektur, Politik, Logik, Psychologie … Das aber heißt, dass anhand des ersten Stichwortes schwer zu entscheiden ist, auf welchen Bereich, auf welche Disziplin sich dieses Wörterbuch überhaupt bezieht. Auf die »gesuchte Wissenschaft« im Sinne von Buch I? Wohl auch auf Ontologie im Sinne von Buch IV. Zum einen spiegelt die aristotelische Bedeutungsdifferenzierung den Wortgebrauch in der griechischen Umgangssprache wider; zum ande133 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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ren werden bereits spezifisch philosophische, auch aristotelische Wortverwendungen berücksichtigt. Ein möglicher Erkenntnisgewinn aus diesem kurzen Textstück scheint mir darin zu liegen, dass die architektonische, die politische, die logische, die psychologische Bedeutung nicht einfach nebeneinanderstehend zu denken sind, sondern dass es zwischen ihnen Bedeutungsübergänge, also auch -verbindungen gibt. Dass sie gewissermaßen Arten einer Gattung bilden – wenn auch nicht unbedingt im strikten Sinn; denn tatsächlich gehören sie unterschiedlichen Gattungen an. Übrigens wird die arche bei Höffe in thematisch sehr ähnlicher Weise aufgeschlüsselt; bekommt aber einen wesentlich längeren Eintrag, acht Seiten statt einer; entsprechend der Wichtigkeit des Begriffs, die auch bei Aristoteles deutlich wird, was ihn nicht von lakonischer Kürze abhält.

2. Ursache Schlüssigerweise bildet die »Ursache« das zweite Glied in der Reihe der Stichwörter. Aus dem Gesagten ergibt sich schon, dass die einzelnen Begriffe mit ihren Implikationen keineswegs strikt nebeneinander, einander ausschließend, positioniert sind. Die Analyse des nicht ganz so weiten Ursach-Begriffs wird formeller, sozusagen ordentlicher durchgeführt. Aristoteles wendet die Formel pollachos legetai auf ihn an; er greift auf die Vierzahl zurück, die schon im Buch I aus der Physik übernommen worden ist; führt aber auch noch eine zusätzliche Einteilung ein, die aus der Logik stammt. Und einen Fachbegriff für so etwas wie »Art«: nämlich tropos, das heißt »Version«. Zunächst die Ursache, die der – verursachten – Sache innewohnt, wie das Erz der Statue: also die Materialursache (1013a 24.). Schon die Tatsache, dass sie in der Sache enthalten ist, setzt sie von unserem heutigen Ursach-Begriff ab. Das gilt analog auch für die Formursache – Aristoteles nennt sie hier eidos und Vorbild und Zusammensetzung sowie Begriff des Was-war-seins (das sind schon einige der Synonyme für die ousia). Und als Beispiel die Ursache »zwei zu eins« für die Sache »Oktave«; also eine mathematische Ursache für eine musika134 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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lische Sache. Dritte Ursach-Version ist das Woher der Bewegung oder Ruhigstellung; wie etwa der Ratgeber ein Urheber ist oder der Vater und jedwedes Bewirkende oder Verändernde. Für den Ratgeber und den Vater setzt Aristoteles das adjektivische Wort »ursächlich« ins Maskulin, damit die Person nicht im vorherrschenden Neutrum untergeht (1013a 32). Und schließlich das Ziel oder Weswegen: die Gesundheit als Ursache des Spazierengehens. Diese Kausalitätsordnung verdankt sich dem Streben, das die Zielursache einsetzt. Das Gehen kann jedoch auch wie die anderen Heilmaßnahmen als Wirkursache der Gesundheit betrachtet werden (1013a 33 ff.). Aristoteles spricht selber von einer möglichen Kausalreziprozität: Arbeiten als Ursache des Wohlbefindens, Wohlbefinden als Ursache des Arbeitens (1013b 10). Hier verstärkt Aristoteles sein Plädoyer für die Arbeit, das uns schon im Buch III aufgefallen war. War er ein früher Moderner? In der Neuzeit wurden nicht nur Material- und Formursache aus dem Ursach-Begriff entfernt. Auch die Ziel- oder Zweckursachen wurden als solche abgeschafft und ihre Verursachten zu Wirkursachen ernannt. Ziel- oder Zweckursachen gibt es nur, wenn Strebetätigkeiten vorausgesetzt werden, das heißt, wenn in der Realität starke Voluntarismen angesetzt werden, welche man dem antiken Denken nicht so ohne weiteres zutraut. Denn willentliche oder ähnliche Triebkräfte werden gemeinhin erst dem modernen Denken, seit Fichte, Schopenhauer, Nietzsche, Freud, als realitätsbestimmend angesetzt. Doch Aristoteles formuliert so einen Voluntarismus ausdrücklich und schreibt die Willenstätigkeit sogar dem Guten zu, das normalerweise als Gewolltes definiert wird: »Das Weswegen nämlich will doch das Beste und das Ziel der anderen Dinge sein.« (1013b 26 f.) Eine höchst merkwürdige Vermehrung der Willentlichkeit, die zumindest die Vermutung aufkommen lässt, dass es bei Aristoteles so etwas wie einen Animismus gibt: Seelentätigkeit auch bei Entitäten, die nicht formell als psychische Wesen definiert sind. Und dazu dann noch die sozusagen protagoreische Liberalismusformel: »Dabei soll es keinen Unterschied machen, ob man das Gute selbst oder das scheinbare Gute bezeichnet.« (1013b 26 ff.) Innerhalb der einzelnen Ursach-Sorten lassen sich noch zahlreiche Varianten unterscheiden. Ist Polykleitos als Urheber einer Statue vorausgesetzt, so lassen sich »auch noch« der Bildhauer oder der 135 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Mensch oder das Lebewesen als Urheber einsetzen – oder aber der Weiße oder der Musische (1013b 35 ff.). Außerdem können der wirkende und der potenzielle Urheber unterschieden werden und ferner der Urheber dieser Statue und der Urheber einer Statue und der Urheber eines Abbildes überhaupt oder aber der Urheber dieses Erzes und der Urheber eines Erzes und die Ursache eines Materials überhaupt (1014a 7 ff.). Unterscheidungen rein logischer Art oder aber technologischer beziehungsweise kosmologischer Art. Diese Ursachenvermehrung, die von Aristoteles dann sogar mit der Grundzahl sechs mathematisch systematisiert wird, sollte uns dazu anhalten, den Begriff übersetzungsmäßig zu differenzieren und insofern »aufzulösen« – dann dürfte er auch sachlich verständlicher werden.

3. Element Sodann bilden auch die »Elemente« – wie die Ursachen – eine Unterklasse der Prinzipien. Sie werden aber viel stringenter definiert: nämlich als Bestandteile, die in keine weiteren andersartigen Bestandteile zerlegt werden können (1014a 25 ff.). Nehmen wir als Beispiel für ein Zusammengesetztes den Wein und analysieren wir ungefähr antikmodern: Der Wein ist zusammengesetzt aus Wasser, Mineralien (Erde) und »Geist« (Feuer). Er ist also kein Element. Aber seine drei Bestandteile kommen den antiken Elementen sehr nahe: jedenfalls galt das Wasser nicht mehr als zusammengesetzt aus anderen Bestandteilen: es bestand nur aus Wasserpartikeln. Für die moderne Physik besteht das Wasser aus Wassermolekülen – das wären die aristotelischen Elemente bzw. das eine Element Wasser. Doch die moderne Mikrophysik bzw. Chemie zerlegt dieses in noch kleinere und andersartige Teilchen: Wasserstoffatome und Sauerstoffatome. Daher werden Wasserstoff und Sauerstoff heute »Elemente« genannt – was formal den aristotelischen Elementen entspricht. Nur dass die jetzt eine Stufe tiefer (mikroskopischer) angesetzt sind. Und die antiken Atomtheorien gingen ebenfalls eine Stufe unter die wahrnehmbaren Stoffqualitäten. Während die antike Elemententheorie mit Erde, Wasser, Luft und Feuer bei den sinnlichen Qualitäten (trocken, kalt, flüssig …) blieb. 136 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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In unserer Stelle geht Aristoteles auf die kosmologische Dimension des Elementenbegriffs nicht ausführlich ein, sondern begnügt sich mit Parallelen zur Geometrie und zur Logik, sodass der Begriff hier sehr blass bleibt und dieses Kapitel das »schwächste« der drei ersten, den archai gewidmeten Kapitel des Buches V bleibt. In der Poetik nennt er stoicheion den ersten – d. h. einfachsten – Bestandteil der Sprache: den Buchstaben bzw. den einfachen Laut, aus dessen Vermehrung und Zusammenfügung alle weiteren Teile gebildet werden. Die Grundbedeutung des Wortes ist: Glied einer Reihe, und diese Bedeutung trifft direkt auf die Buchstaben zu. Das lateinische Wort »Element« soll ja aus der Buchstabenfolge L M N stammen. Das griechische Wort besteht fast aus derselben Lautfolge wie Stück … Die vier (oder fünf) kosmischen Elemente gehen über diesen stückhaften Begriff von »Element« weit hinaus: sie sind die Grundstoffe sämtlicher Körper, sie sind durch sinnliche Qualitäten bestimmt, durch spezifische Bewegungen sowie Verwandlungsmöglichkeiten. * Ende November 2014 werde ich von Botschafter Gerhard Weinberger (er hat im Jahre 1996 wesentlich zur Gründung des Ersten Wiener Philosophen Cafés beigetragen) zu einer großen internationalen Tagung nach Tunis eingeladen. Thema war das »Engagement in der Literatur«, ich war der einzige Philosoph in der großen Runde und sprach über meinen persönlichen Weg in der Philosophie. 82 Außerdem hielt ich einen Vortrag bei den Philosophen an der Universität – und dafür habe ich einen neuen Schritt gesetzt und mich in die Gründungsphase der Philosophie in Österreich hineingelesen, die erst sehr spät begonnen hat: am Ende des 19. Jahrhunderts – und zwar ausgehend von der Psychologie und von der Physik. Aufseiten der Psychologie kann der Aristoteliker Franz Brentano genannt werden, zu dessen Schülern auch Edmund Husserl gehört, der Begründer der neueren Phänomenologie. Aufseiten der Physik sind es Ernst Mach und Ludwig Boltzmann, die als Vordenker des »Wiener Krei-

Siehe »Philosophie et engagement«, in: Littérature et engagement. Deuxième Rencontre Euromaghrébine d’Écrivains (Tunis 2015) www.litteratureetengagement.com

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ses« gelten; dessen programmatischer »Physikalismus« berührt sich zwar kaum mit meiner Philosophischen Physik, aber ein gemeinsames Grundmotiv würde sich schon formulieren lassen. 83 Zu den Erfahrungen in Tunis gehört auch die Erinnerung an die dortige Lehrtätigkeit von Michel Foucault in den Jahren 1966 bis 1968 – die hier bereits genannte Archäologie des Wissens hat er dort und damals geschrieben. Auch seine Replik auf den Maler René Magritte mit dem Titel Ceci n’est pas une pipe hat er damals geschrieben. Inzwischen schreiben wir das Jahr 2015 *

4. physis Die ersten drei Abschnitte des Buches V waren verschiedenen Versionen des Ursächlichen gewidmet. Abschnitt 4 hat die Natur (physis) zum Thema. Doch wir werden gleich sehen, dass er sich damit von der Ursachen-Thematik kaum entfernt. Das liegt an der weiten Fassung dieses Komplexes bei Aristoteles. Wir haben uns schon einmal ausdrücklich mit der physis beschäftigt, nämlich am 14. November 2012, als uns Peter Berz Heideggers Aufsatz zum 1. Kapitel von Buch II der Physik vorgestellt hat: eigentlich eine sehr ähnliche, aber ausführlichere Darlegung derselben Bedeutungsvielfalt. Wir sehen daran neuerlich, dass die »gesuchte Wissenschaft« in der Metaphysik im Vergleich zu den anderen, von Aristoteles vorher bearbeiteten Wissenschaften, vor allem zur Physik, keineswegs eine Wissenschaft vom ganz Anderen ist (in dem Sinn keine »Heterologie«) – sondern eine Fortsetzung, eine Ausweitung oder Vertiefung. Wobei wir die Vorsilbe meta in zweifachem Sinn verstehen können: erstens in dem eher antiken Sinn einer extensionalen Erweiterung, zweitens in dem eher modernen Sinn von »Metawissenschaft« (von da führt der Weg zur Ontologie).

Inzwischen wurde an der Universität Wien diesem »Wiener Kreis« eine große Ausstellung gewidmet und es erschien die ausgezeichnete Monographie von Karl Sigmund: Sie nannten sich Der Wiener Kreis. Exaktes Denken am Rand des Untergangs (Wien 2015).

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Die erste Bedeutung von physis führt Aristoteles geradezu ultraheideggerianisch, nein performativ-physisch vor: man spreche, so schreibt er, das y in der ersten Silbe des Wortes sehr langsam aus, dann hört man, nein: man macht die Zeit zum Entstehen der Wachsenden: phy(omenon gene)sis (1014b 15) – physis ist wie alle sisWörter ein Nomen mit verbaler Bedeutung: Wachsung, Werdung, Gedeihung. Spricht man das Wort so wahrnehmend und wahrgebend aus, dann vollzieht man auch mitwissend das Werden, das Wachsen dieses Wortes und man fügt die »Elemente« des vorigen Abschnitts in ihrer linguistischen Bedeutung zusammen. Zweite Bedeutung: das anfängliche und immanente Woraus des Wachsens des Wachsenden (der Samen?). Dritte Bedeutung: das Woher der spezifischen Bewegung eines natürlichen Wesens: Vermehrung kraft Berührung und Zusammenwachsens oder Anwachsens (etwa der Embryonen). Vierte Bedeutung: das unvergängliche Woraus oder der Grundstoff der natürlichen Dinge: also die kosmischen Elemente. Fünfte Bedeutung: die ousia oder die Wesenheit der natürlichen Dinge, sofern sie ihre Gestalt oder Form gefunden haben. Diese physis ist ein weiteres Synonym für die Formursache der vollendeten Dinge. »Natur gibt es von keinem der Dinge, sondern nur Mischung und Trennung der gemischten Dinge gibt es; der Ausdruck Natur für diese Dinge stammt von den Menschen.« (1015a 1 f.) Mit dem Empedokles-Zitat legt Aristoteles eine Version der Wesenheit nahe, welche in Mischung besteht. So etwas war bereits in der dritten Bedeutung angeklungen. Diese knappen Ausführungen zur physis entfalten keineswegs den Reichtum, den wir mit dem Begriff »Natur« verbinden; sie konzentrieren sich auf das Wort und das Wesen und insofern auf seine ontologische Importanz. Im letzten Protokoll habe ich angedeutet, dass die Ontologie (im aristotelischen Sinn) mit der Metawissenschaft (im modernen Sinn) zusammenhängt, obwohl sie eher als Objektwissenschaft zu gelten hat. Allerdings als Objektwissenschaft auf einer höheren Ebene – im Vergleich zu Physik, auch zu Poetik oder Politik. Die Ebene der Meta139 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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wissenschaft wird von Aristoteles in den logischen Schriften betreten bzw. realisiert: beginnend mit der Lehre von den Kategorien. Sein Buch Metaphysik beginnt aber auch metawissenschaftlich: Stufen der Erkenntnis – ungefähr Erkenntnistheorie im modernen Sinn – und entwirft ein Programm einer Objektwissenschaft, die sachlich über die schon bekannten Objektwissenschaften hinausgeht: durch Erweiterung des Gegenstandsbereiches in Richtung Gesamtheit bzw. erste Ursachen. Doch im Buch IV schiebt er eine neue Betrachtungsart ein: Betrachtung des Seienden als Seienden mit dazugehöriger Vielfältigkeit – welche aber nicht zusätzliche Realitätsbereiche erschließen will, sondern nur immanente Modalitäten: Kategorienvielfalt und -ordnung und allgemeinste Bestimmungen wie »etwas«, »ein«, »wahr«, »gut«. Im Kapitel über die »Natur« bewegt sich Aristoteles natürlich wieder fest auf dem Boden der Objektwissenschaft, wenn er den WasserMaterialismus des Thales über den Vorgang der Schmelzung plausibilisiert (1015a 14). Was der aristotelischen Lehre von der IneinanderVerwandlung der vier (oder fünf) Elemente entspricht. Im Buch IV und sogar innerhalb der assertorischen, also ganz irenischen Ontologie-Gründung sahen wir Aristoteles sehr heftig gegen zwei Gruppen von Irr-Lehrern polemisieren: gegen die Sophisten und die Dialektiker. Diese charakterisiert er damit, dass sie die Dialektik, die als Lehre von der Diskussion ein Teil der Logik ist, zu einer selbstzweckhaften Beschäftigung ausbauen. * Die berühmteste Ausprägung dieser Lehre in der Neuzeit ist die hegelsche Dialektik, welche den logischen Schematismus aus These, Antithese, Synthese zum Inbegriff aller Erkenntnisse und Wirklichkeiten erklärt. Ein Fehlgriff, den Foucault 1975 in Los Angeles sehr deutlich kommentiert hat: »Ich akzeptiere nicht dieses Wort Dialektik. Nein, nein! Die Dinge müssen klar sein. Sobald man das Wort ›Dialektik‹ ausspricht, fängt man an, auch wenn man es nicht sagt, das hegelsche Schema von These und Antithese zu akzeptieren und damit eine Form der Logik, die mir nicht geeignet erscheint, eine wahrhaft konkrete Beschreibung dieser Probleme zu liefern. Ein reziprokes Verhältnis ist kein dialektisches Verhältnis … Das Wort ›Widerspruch‹ hat in der Logik einen bestimmten Sinn. Es handelt sich 140 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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um einen Widerspruch in der Logik der Propositionen. Aber wenn man die Realität betrachtet und wenn man eine Menge von Prozessen beschreiben und analysieren will, so sieht man, dass diese Realitätsbereiche frei von Widersprüchen sind. Nehmen wir den Bereich der Biologie. Man findet da zahlreiche antagonistische Wechselwirkungen, aber das heißt nicht, dass es sich um Widersprüche handelt. Es gibt nicht auf der einen Seite eines antagonistischen Prozesses einen positiven Aspekt und auf der anderen einen negativen Aspekt, also einen Widerspruch im Sinne der Logik, wie von der Dialektik angenommen wird. Es gibt keine Dialektik in der Natur.« 84 Foucault hat sich nur selten so entschieden von einer philosophischen Position abgesetzt wie hier (dabei verwirft er auch die konfusionistische Verwendung des Begriffs »Widerspruch«). Sachlich können wir ihm daraus auch eine trivial erscheinende Ansicht unterstellen, die mit dem zuletzt besprochenen aristotelischen Abschnitt zu tun hat: nämlich, dass es den Bereich der Natur, dass es zumindest das Reich der Pflanzen und Tiere gibt – Foucault erwähnt ausdrücklich Darwin als jemanden, der von einschlägigen antagonistischen Prozessen gesprochen habe, ohne sie mit der Logik zu identifizieren. * 4. Februar 2015

5. notwendig Nach physis ist »notwendig« der nächste hier behandelte Begriff – im Unterschied zu den vorhergehenden durch ein Adjektiv vertreten, folglich gewiss einer anderen Kategorie zugehörig. Aber welcher? Auch bei diesem Begriff nennt Aristoteles verschiedene Bedeutungen (1015a 20 ff.). Die erste wird durch Beispiele veranschaulicht, die jeweils eine Bedingung oder ein Mittel für eine erwünschte Zweckrealisierung darstellen: nützliche und daher notwendige Mittel. Für das Leben der Lebewesen, für die Erhaltung der Gesundheit oder für den Empfang einer Geldsumme (dafür wird beispielshalber als notwendige Bedingung eine Reise nach Ägina genannt – also nichts, was mit 84

Michel Foucault: Dialogue sur le pouvoir, in ders.: Dits et écrits III (Paris 1994): 471.

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Natur zu tun hat; heutzutage könnte man den Besitz einer Kreditkarte und den Gang zu einem Bankomaten oder aber sehr gute Beziehungen zu einer bestimmten Person nennen). Im Übrigen werden diese Mittel von Aristoteles auch als »ursächlich« (genauer »mitursächlich«) bezeichnet – insofern schließen sie sich an die ersten vier Begriffe an. Hier wird also »notwendig« im praktischen Sinn der Seite des Guten zugeschlagen (was zufällig der Etymologie des deutschen Wortes entspricht, wohl nicht der des griechischen). Notwendig ist das, was für die Erreichung eines Gutes oder für die Vermeidung von etwas Schlechtem nützlich, hilfreich, ja unentbehrlich ist. Was muss man wissen, um von so etwas zu wissen? Man muss wissen, welches Gut man erreichen will, welches Schlechte man vermeiden will, und dann: welche Ursachen für das eine wie das andere ursächlich, also wirksam, als Mittel geeignet, also notwendig sind. Praktisches Wissen vom Ziel und theoretisches, physikalisches oder psychologisches Wissen von den notwendigen Maßnahmen. Die zweite Bedeutung von »notwendig« sieht sehr konträr aus: nämlich irgendeine Gewalt, die sich meinem Trieb, meiner Entscheidung widersetzt – und zwar siegreich. Also eine Blockade, die mich zur Unfreiheit oder Erfolglosigkeit verdammt. Auch hier ließe sich der Begriff »Ursache« einführen: Ursache meines momentanen Scheiterns oder meiner dauernden Erfolglosigkeit. Diese beiden Bedeutungen von »notwendig« gehen also ins Praktische, ins Existenzielle – und wirken sich da ganz entgegengesetzt aus. Wie ist das möglich? Das deutsche Wort »notwendig« fügt sich nicht so recht in diese zweite und negative Bedeutung. Man sagt zwar: man fügt sich ins Notwendige, aber den widrigen Faktor selber nennt man nicht »notwendig« – eher schon »Not«, Blockade, Missgeschick. Aristoteles definiert dann das Notwendige als Gegenteil einer Bewegung, die einer Entscheidung und Überlegung folgt (1015a 32 f.). Diese Bestimmung scheint der zweiten Bedeutung zu entsprechen. Tatsächlich leitet sie über zur neutralen Hauptbedeutung: notwendig ist das, was sich nicht anders verhalten kann, was so ist, wie es ist, so wirkt, wie es wirkt. Die Unabänderlichkeit wirkt sich stark als Ursächlichkeit aus und epistemologisch positiv in der Beweisführung, wenn aus ersten Prä142 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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missen keine andere Schlussfolgerung gezogen werden kann (1015b 7 f.). Diese neutrale Grundbedeutung wird von Aristoteles dann auf das »Einfache« zurückgeführt, welche Eigenschaft zuvörderst gewissen ewigen und unbewegten Dingen zukomme (1015b 14). Für »gewisse« sagt Aristoteles allerdings »irgendwelche« oder vielmehr setzt er eine Abkürzung ein, die im Deutschen mit »irwelche« oder gar »irche« nachgeahmt werden könnte – damit sie als fern und irgendwie … Wenn sich Aristoteles in Richtung »Metaphysik« bewegt, dann tut er das hier so. Die drei Bedeutungsrichtungen von »notwendig«, die Aristoteles unterscheidet, scheinen mir ein beachtliches Analyseergebnis zu sein. Um es nachzuvollziehen, empfiehlt es sich, die entsprechenden Wörter in drei Sprachen näher anzuschauen: die etymologische Bedeutung von »notwendig« liegt auf der Hand, das griechische anankaios heißt »zwangsmäßig«, das lateinische necessarius heißt »unaufhörlich«. * Ludwig Wittgenstein: »Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – ›Wissen‹, ›Gegenstand‹, ›Ich‹, ›Satz‹, ›Name‹ – und das Wesen des Dinges zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.« (Philosophische Untersuchungen 116) Gewissermaßen ähnlich ist Heidegger vorgegangen, wenn er die philosophischen Begriffe, zumeist die griechischen, auf ihre etymologischen Wurzeln und deren Semantik zurückgeführt hat: logos auf legein, d. h. reden, aber ursprünglich – angeblich – sammeln als eine physisch-häusliche Tätigkeit. Im frühen 20. Jahrhundert wirkte in Wien der Publizist, Schriftsteller und Dichter Karl Kraus (von dem sich Ludwig Wittgenstein inspirieren ließ) und eines seiner Anliegen war der Kampf gegen die »Phrase«: damit meinte er den Gebrauch hoher oder angeblich wichtiger Worte, ohne genaue Vorstellung von ihrer Bedeutung (Signifikat und Referent), Sprachgebrauch ohne Vorstellungskraft bzw. Vorstellungsleistung. Und in diesem Sinne möchte ich mir die von Wittgenstein 143 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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aufgestellte Empfehlung zu eigen machen (an ihn allerdings auch die Frage richtend, was er denn mit »metaphysisch« meine) – und zwar speziell für unsere Aristoteles-Lektüre, mit der ja immer Übersetzen und Sprechen über das Gelesene verbunden ist. Dieses Sprechen sollte frei von »Phrasen«, von leeren Worthülsen sein. Dies umso mehr, als Aristoteles selber, wie wir eben bei seiner Behandlung der Begriffe physis oder »notwendig« gesehen haben, vorgeht, wie Wittgenstein empfiehlt: Ausgang von Alltagsbedeutungen, eventuell auch von Etymologien, der betreffenden Wörter. Aristoteles ist eben ein »analytischer« Philosoph. Von Karl Kraus beeinflusst war seinerzeit auch der junge Eric(h) Voegelin (1901–1985). Er gehörte in den Zwanzigerjahren in Wien zum »Geist-Kreis« – einer national-ökonomisch und soziologisch ausgerichteten Parallelaktion zum »Wiener Kreis«. Diesem gehörte zwar Wittgenstein nicht direkt an, aber seine wegwerfende Verwendung des Wortes »metaphysisch« mochte ihn mit ihm verbinden. Voegelin seinerseits hat jedenfalls in seinen späteren Jahren von der Philosophie des Wiener Kreises wenig gehalten und in den Darstellungen gilt er als Vertreter einer konservativen und beinahe religiösen Politik-Theorie. Es mag sein, dass diese Bezeichnungen etwas treffen. Aber auf der erkenntnistheoretischen Metaebene hat er sich scharf von allen Dogmatisierungen, philosophischen oder religiösen, distanziert und betont: es geht um Erfahrungen und die müssen symbolisiert werden und die Symbolisierungen können so oder so ausfallen, sie sollten möglichst differenziert sein: also präzis und nicht simplifizierend. Das heißt: es kann immer wieder bessere Symbolisierungen geben und bessere Symbolisierungen wirken sich wiederum auf die Verfeinerung von Erfahrungen aus. Mit den Begriffen »Erfahrung« und »Symbolisierung« gerät Voegelin in die Nähe der Sprache des Wiener Kreises (was ihm wohl nicht ganz entgehen konnte). In der ZEIT vom letzten Donnerstag (12. Februar 2015) erwähnt Bruno Latour Voegelins These (und Postulat) von der Differenzierung von Vorstellungen sowie Symbolen. Auf Wittgensteins Frage »Was heißt ›Wesen‹ ?« – nämlich bei Aristoteles – werden wir noch kommen. *

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6. ein Bekanntlich das erste Element der Zahlenreihe und als solches oder aber darüber hinaus ein theoretischer Begriff, der uns auch schon mehrmals untergekommen ist, so in der Form »eines als eines«: parallel bzw. konvertibel mit »seiend als seiend«. Auch am Schluss des letzten Abschnittes war die Rede von »einfach« in einem wohl verwandten Sinn. Hier unterscheidet Aristoteles zwei Bedeutungen: »eines akzidenziell«, »eines an sich« (1015b 15 ff.). Bei der ersten Bedeutung von »ein« handelt es sich um die nicht notwendige Zusammenfügung von unterschiedlichen Bestimmungen (Wesenheit als spezifische Soseinsbestimmtheit – hier »Mensch«; konkret-existierender Mensch mit dem Namen »Koriskos«; Fähigkeiten oder Eigenschaften auf der Ebene von Charakter oder Kompetenz). Zu diesem Behufe wird der arme Koriskos zunächst einmal nach Strich und Faden zerlegt, ohne dass diese Zerlegung dann auch genetisch analysiert wird – etwa nach Natur und Kultur. Insgesamt machen die genannten Eigenschaften einen eher kulturellen Eindruck; nur die Wesenheit muss als natürlich gelten. (Bei den Kausalitäten unterscheidet Aristoteles die natürliche, die künstliche und darüber hinaus die zufällige.) Auf die Wesenheit trifft ohnehin das Eine im Sinn von »an sich« zu. Der Abschnitt über das akzidenzielle »eine« spielt auf die Akzidenzien überhaupt an und da stellt sich die Frage, ob die akzidenziellen Eigenschaften wirklich mit Notwendigkeit nichts zu tun haben. Mir scheint, dass bestimmten Wesenheiten bestimmte Eigenschaftsdimensionen notwendig zukommen – nur die jeweils auftretenden Eigenschaften sind zufällig: und zwar im Vergleich zur Wesenheit, nicht aber gegenüber dem konkreten Individuum. Menschen müssen so etwas wie »Charakter« haben: und der fällt so aus oder so oder verändert sich vielleicht sogar. Oder ein physisches Ding muss an jeder Stelle farbig sein: die Farbe kann so sein oder so oder kann sich ändern. * Der britisch-amerikanische Philosoph Barry Smith, der sich hauptsächlich als Ontologe versteht, verbindet seine Auffassung von Philosophie mit starkem Interesse für die österreichische Philosophie, die seit dem späten 19. Jahrhundert eine Schule des logischen Empiris145 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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mus hervorgebracht hat. Seit einigen Jahren fragt man sich mehr und mehr, wieso es zu dieser österreichischen Entwicklung gekommen ist, die sich deutlich vom mainstream deutschen Philosophierens absetzt. Barry Smith, dessen erstes, 1994 erschienenes Buch Franz Brentano (1838–1917) gewidmet war, möchte die Frage beantworten, indem er sie durch eine anscheinend entgegengesetzte These ersetzt. Den Sonderfall philosophischer Entwicklung habe nicht Österreich, sondern Deutschland hervorgebracht: mit dem Deutschen Idealismus und weiterhin mit Nietzsche und Heidegger sei das begründet worden, was man seit einigen Jahrzehnten als »Continental Philosophy« bezeichnet: ein Philosophieren, das sich stärker an Literatur und Politik anlehnt als an wissenschaftliches Forschen und Argumentieren und dessen Ergebnisse sich durch Kommentarbedürftigkeit und sogar durch Unübersetzbarkeit auszeichnen. 85 Die deutsch-französische – von Amerika aus so benannte – »Continental Philosophy« stehe der normalen Philosophie gegenüber, die weltweit verbreitet ist, die die Standards der Wissenschaftlichkeit nicht ignoriert – und mit der Philosophie überhaupt erfunden worden ist: also auch mit Aristoteles. Daher geht es in unserer Lektüre hier nicht darum, einen tiefsinnigen Text zu feiern, sondern eine rationale Suchbewegung zu verstehen, ihr auch mit eigenen Fragen und Thesen zu begegnen, sofern diese geeignet erscheinen, den Text mitsamt seinem Sachbezug verständlich zu machen. So habe ich im letzten Protokoll die Frage aufgeworfen, ob die akzidenziellen Bestimmungen (mit ihrer Art von Einheit, also Zugehörigkeit) total nicht-notwendig im Raum schweben. Oder ob auch sie mit einer Art Notwendigkeit verbunden sind. Im Sinne der »Unvermeidlichkeit der Akzidenzien« (Menschenfassungen: 169 ff.) habe ich die These aufgestellt, dass die auch nicht-notwendigen Akzidenzien in aller Regel einer bestimmten Notwendigkeit unterstehen: dass sie als Variablen in konstanten Parametern auftreten, die zu bestimmten Wesen gehören. Menschen müssen nun einmal irgendwelche ethischen Eigenschaften haben – auch wenn sie das theoretisch oder sonstwie (siehe Musils Mann ohne Eigenschaften) vermeiden zu können meinen. Ebenso hängen den Menschen notwendige Dimensionen physischer Eigenschaften an: zum Beispiel Geschlecht, Körpergröße, Augenfarbe. Diese Skalen kann man Eigenschafts85 Siehe Barry Smith: Austrian Philosophy. The Legacy of Franz Brentano (Chicago 1994).

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dimensionen oder Parameter nennen und damit wird das von Aristoteles Gesagte nicht unbedingt korrigiert, wohl aber vervollständigt. Oder ich habe hier das moderne Präfix »meta«, das der – indirekt aus der Brentano-Schule stammende – polnische Logiker Alfred Tarski (1901–1983) erfunden hat, um die Metasprache von der Objektsprache zu unterscheiden, eingeführt, um den Gesamtduktus der aristotelischen Metaphysik klarer zu machen. Und wie verläuft dieser Duktus bisher? Aristoteles versucht, sowohl objektsprachlich wie metasprachlich über die einzelnen schon gegebenen Wissenschaften hinaus Rationalität auszuweiten – und zwar wissenschaftliche. * Nach der akzidenziellen Einheit bespricht Aristoteles das »eine an sich« (1016a 1 ff.). Und zwar zuerst das Kontinuum, welches sich dadurch auszeichnet, dass es viel Vielheit (im Sinne von Ausdehnung) enthält. Unterschiedliche Typen von Kontinuum (Bündel, Linie) enthalten mehr oder auch weniger Einheit. Als Maß der räumlichen Einheit wird die Einheitlichkeit der Bewegung aufgestellt – so kommt auch die Zeit in Betracht. Die Kontinuen schließen »kontinuierlich« an die akzidenziellen Einheiten an. Bleibt die Frage, wieso das Eine in der antiken Philosophie (und überhaupt in den Wissenschaften) so ein wichtiger Grundbegriff (und zwar nicht nur in der Mathematik) war und wieso das heute nicht mehr der Fall zu sein scheint. Für uns ist »ein(e)s« ein Zahlwort und darauf scheint Gianluigi Segalerba zu rekurrieren, wenn er einen Aufsatz »Numerische Einheit als ontologisches Kriterium. Zur Unterscheidung der Entitäten bei Aristoteles« nennt. Er bezieht das »eine« nur auf die aristotelische »erste Substanz«, also das existierende Ding, in welchem das »Allgemeine« enthalten ist. Hingegen sieht er in der platonischen Lehre eine »stufenartige Ontologie«: Existenz von unvollkommenen Abbildern, die jeweils von einem vollkommenen Urbild abhängen. 86

Siehe Gianluigi Segalerba: Numerische Einheit als ontologisches Kriterium. Zur Unterscheidung der Entitäten bei Aristoteles, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, XXXV/2003: 59 ff.

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Das Kontinuum, welches die zweite Bedeutung des Begriffes »ein« (oder die zweite Verwendung des Begriffs) begründet hat, spielt sich innerhalb des Akzidens »Quantität« ab. Eine weitere Begriffsbedeutung (oder -verwendung) von »ein« wird durch Unterschiedslosigkeit im Substrat veranlasst, worunter Aristoteles das Material versteht, wie aus den Beispielen (Wasser, Wein) hervorgeht und aus der erkenntnistheoretischen Bestimmung: wo bei einer Zerlegung kein qualitativer Unterschied für die Sinneswahrnehmung entsteht: wenn bei der Zerteilung von Wasser immer Wasser übrigbleibt, hat man es mit dem einheitlichen Stoff »Wasser« zu tun. Wie schon in 1015a 9 ff. erwähnt Aristoteles auch hier die Möglichkeit, dank dem Schmelzprozess zu einem Urstoff »Wasser« aufzusteigen, den wir eher als den Aggregatzustand »Flüssigkeit« bezeichnen würden. Damit wäre eine sehr weitreichende, geradezu universale »Einheit«, erreicht. Eine andersartige Begründung, viele Dinge als »eines« zu bezeichnen, sieht Aristoteles, wenn sie einer gemeinsamen Gattung angehören. Er nennt übrigens auch die Gattung ein »Substrat« – aber ein logisches, und er vergleicht ausdrücklich den Stoff und die Gattung bezüglich ihrer Einheitsstiftungsfunktion. Verschiedenartige Lebewesen – darunter auch der Mensch – bilden »eines« aufgrund der gemeinsamen Gattung. Man könnte hier von einer Parallele zu Darwin sprechen, auch wenn Aristoteles die »Verwandtschaft« nicht als Nacheinander, sondern als Nebeneinander betrachtet. Und wie beim Stoff spricht Aristoteles auch bei der Gattung vom Aufstieg zu umfassenderen Gemeinsamkeiten, woraus sich noch größere Einheitsbildungen ergeben. Fünftens werden Dinge »eines« genannt, wenn der Logos ihr Wassein (Was-(war-)sein) so aussagt, dass er es ununterscheidbar vom einen wie vom anderen darlegt. Das heißt wohl: Dinge, denen die Wesensform oder Wesensart gemeinsam ist, sind »eines«. Eine Selbstverständlichkeit, wenn sogar die gemeinsame Gattungsform, die ja etwas Dünneres ist, dies bewirkt. Bemerkenswert, wie das Besitzen der Wesensform auf subjektartige Aktivitäten zurückgeführt wird: einmal sozusagen tautologisch mit logos legon sowie mit »die Sache darlegend« (1016a 32 f.). Und außerdem wird der Sachverhalt ausdrücklich auf ein Erkenntnisvermögen zurückgeführt – wie das ja 148 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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auch schon bei den Materialien der Fall war: aisthesis. Vielleicht ist aber mit noesis gar nicht bloß das Erkenntnisvermögen gemeint, sondern der Erkenntnisvollzug – der im Deutschen zumeist mit »Denken« wiedergegeben wird. Besser aber vielleicht mit Erfassen, Verstehen, Erfassung. Dazu kommt, dass dieser Ausdruck, so wie oben logos, mit dem entsprechenden Partizip Präsens nicht nur verdoppelt, sondern ausdrücklich »verbalisiert« und aktiviert wird: die das Wassein erfassende Erfassung. Noesis noousa – eine beinahe feierliche, um nicht zu sagen: jubelnde Formel (1015b 1). Spielt sie etwa auf eine ähnlich klingende und viel berühmtere Formel – im Buch XII – an? Also doch ein tiefsinniger Text? Erinnern wir daran, dass noesis laut Hermes-Motto keineswegs das ganz Andere zur aisthesis ist: »Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem Aussagen und dem vernünftigen Vernehmen.« (De anima III, 431a 10) Das Kapitel über das Eine gehört insofern in die Ontologie, als die Einheit eine Eigenschaft ist, die jedem Seienden als solchem zukommt (»ens et unum convertuntur«). Aristoteles fragt, wieso und inwieweit diese Eigenschaft verschiedenartigen Entitäten zukommt, und er beginnt bei solchen, bei denen es mit der Einheit nicht besonders gut aussieht. Erstes Beispiel: Verbindungen von Substanz mit Akzidenzien. Zweites Beispiel: Kontinuen mit Ausdehnung. Drittes Beispiel: mehrere Dinge, die nur das gemeinsam haben, dass sie aus demselben Material bestehen (oder gar auf einen einzigen Urstoff zurückgeführt werden können). Viertes Beispiel: viele Dinge, die immerhin derselben Gattung angehören (etwa Lebewesen). Fünftes Beispiel: Dinge, die durch ein einheitliches Wesen zusammengehalten werden. Meint er damit – analog zur Gattung – alle Dinge, die derselben Art angehören, oder doch eher das Einzelding, das durch ein bestimmtes Was-Sein bestimmt ist? Diese Einheit wäre zweifellos die selbstverständlichste, aber auch die stärkste von allen bisher erwähnten. Er meint wohl diese. Denn der nächste Typ von Einheit deckt sich sachlich mit dem zuerst genannten: der Verbund aus Substanz und Akzidenzien. Dem wird dann wieder die reine Wesenseinheit gegenübergestellt (doch differenziert nach Kontinuität und Art). Und erst jetzt die Gegenbegriffe zum Einen: die Tätigkeit des Zählens und das Wort »pleio«: mehrere. Mit der Tätigkeit des Zählens schließt Aristoteles die Reihe der subjektiven kognitiven Leistungen ab, die den jeweiligen Objekten zugeordnet sind: 149 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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aisthesis:

hyle

logos legon, noesis noousa:

to ti en einai

arithmein:

pleio *

18. März 2015 Der Schweizer Philosophiehistoriker Christophe Erismann erhielt vom Europäischen Forschungsrat eine an die Universität Wien gebundene Projektförderung über die frühmittelalterliche Pflege der aristotelischen Logik durch griechische, lateinische, syrische und arabische Gelehrte. Beim Lateiner handelt es sich um den aus Irland stammenden und im heutigen Frankreich tätigen Scotus Eriugena (815–877), der als Neuplatoniker gilt und die griechische Philosophie mit der christlichen Theologie zu vermitteln suchte. Sozusagen trotzdem hat er die aristotelische Logik sehr scharf analysiert und auch ihre ontologischen Konsequenzen in einer Weise formuliert, die ihresgleichen sucht. Erismann zitiert in einem Aufsatz folgenden Eriugena-Satz: »Nullus homo alio homine humanior est.« 87 Dieser Satz sperrt sich gegen so manche modernen Sentimentalitäten – die allerdings die traurige Eigenschaft haben, dass sie still und leise Sexismus und Rassismus und ähnliche Entgleisungen auf den Weg bringen. Hierzu erinnere ich an die deutsche Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, die im Jahre 2014 von »Halbwesen« und »zweifelhaften Geschöpfen, halb Mensch, halb künstlichem Weißnichtwas« sprach, wobei sie sich auf jetzt lebende Menschen bezog, die ihr Leben sogenannten nicht natürlichen Zeugungsmethoden verdanken (aber doch wohl natürlichen Keimzellen). Im 18. Jahrhundert musste sich der deutsche Aufklärungsphilosoph(!) Christoph Meiners (1747– 1810) immerhin um ein paar hundert oder tausend Kilometer nach Zit. in: Christophe Erismann: The Logic of Being: Eriugena’s Dialectical Ontology, in: J. Marenbon (Hg.): Vivarium 45: The Many Roots of Medieval Logic: The Aristotelian and the Non-Aristotelian Traditions (Leiden 2007): 217. Siehe http://unil. academia.edu/Erismann

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Osten versetzen, um die mongolischen Völker als »Mittelwesen zwischen den Europäern und den unvernünftigen Thieren, oder als eine Art von Halbmenschen« einzustufen. Der zitierte lateinische Satz geht direkt auf eine Passage in den aristotelischen Kategorien zurück (3b-4a), welche doch im allgemeinen modernen Bewusstsein nur als scholastisch und längst überholt gelten. Tatsächlich formuliert er eine notwendige logische und sogar ontologische Voraussetzung für die politischen Errungenschaften, die wir für unsere kulturellen Optionen beziehungsweise für gültige Normen halten. 88 Im Unterschied zu Wesenheiten können akzidenzielle Bestimmungen mit den Vorzeichen »mehr« oder »weniger« auftreten: ein Mensch kann eifriger sein als ein anderer oder als er selber früher war; er kann sogar ganz uneifrig sein, dann wird man ihm eine logisch positive Eigenschaft zusprechen, die auf demselben Parameter das Gegenteil darstellt, zum Beispiel: faul. Möglicherweise wird man jedem Menschen einen Grad auf dem Parameter »Arbeitsfreude« zusprechen. * »Weiter nennen wir in gewisser Hinsicht alles eines, wenn es ein Quantum ist und kontinuierlich …« (1016b 12 ff.) Aristoteles setzt wiederum mit einem »subjektiven Faktor« ein, formuliert ihn aber jetzt nicht mehr mit einem theoretischen Begriff wie logos oder noesis, sondern umgangssprachlich, indem er sich und seine Zuhörer als Subjekte des subjektiven Faktors setzt – das Wort »Subjekt« kommt ja aus der Grammatik: »Wir nennen Eines … ein Quantum oder ein Kontinuum …«, so bereits in 1016a 1. Doch jetzt zieht er diese Zusage zurück und behält sie dem Ganzen vor, das eine Form hat; womit er die Passage 1016a 32–1016b aufgreift. Am Bei-

Unter der – aristotelischen – Voraussetzung, dass die Seele als (zweite) Substanz betrachtet werden kann, findet sich für den aristotelisch-dürren Satz bei Platon eine direkte Vorlage: eine Diskussion zwischen Simmias und Sokrates, der mehrmals betont, dass niemals eine Seele mehr Seele, oder weniger Seele, als eine andere sei; wohl aber könne sie tugendhafter oder schlechter sein … (Phaidon, 93b–d). Für den Hinweis danke ich Gianluigi Segalerba.

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spiel von »Schuhzeug« unterscheidet er zwischen bloß irgendwie Zusammengeleimtem und der Einheit der Schuhform. Das folgende Beispiel aus der Geometrie schließt anscheinend direkt daran an. Doch indem er die Kreislinie als die »einste« von allen Linien bezeichnet und quasi den Superlativ von »ein« bildet, verlässt er die mit dem Wesen verbundene Alternative von »Wesen« und »Nicht-Wesen«. Eigenschaften, die im Positiv, Komparativ oder Superlativ auftreten, fallen gewöhnlich unter die Akzidenzien: süß, süßer, noch süßer … Der Kreislinie spricht er den Superlativ zu, weil er da die einfache Eigenschaft von Ganzheit und Vollkommenheit unterstellt. In 1016a 12 hat Aristoteles allerdings die unterschiedlichen Formen der Linie bezüglich der Einheit andersherum bewertet. Abgesehen von dieser inneraristotelischen Unklarheit wird die Einheit dennoch nicht als akzidenzielle Eigenschaft gelten können und schon gar nicht als eine Wesenheit. Sondern als eine »transzendentale« Eigenschaft, die allen Entitäten zukommt – aber stufenweise je nach dem Grad der Seiendheit: ens et unum convertuntur. * 26. März 2015 Zunächst kommen wir auf die beiden unterschiedlichen Antworten zurück, die Aristoteles auf seine Frage gibt, welche Linie die »einste«, also die einheitlichste sei. Im Abschnitt über die Kontinuen (als Typen von Einheit) sagt er, die gerade Linie sei die am meisten eine. Und als Begründung verweist er auf die damit gegebene Einheit der Bewegung. Zwei Seiten später sagt er, die Kreislinie sei die einheitlichste. Begründung: sie ist ganz und vollkommen. Diese Antwort fügt sich in einen anderen Einheitstyp ein: die Form, das Wesen, die Ganzheit. Und zwar ist das ein höherer oder stärkerer Einheitstyp. Er rekurriert auf die Wesensform, die Aristoteles von Platon übernommen hat (bei dem sie allerdings noch stärker in Richtung Vollkommenheit »idealisiert« wird). Beide Antworten können auch von uns noch nachvollzogen werden, ohne dass wir antike Theoreme heranziehen. Die Erscheinungen der beiden Linien sind so prägnant, dass sie uns zwei Gestalten vor Augen 152 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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führen, zwei einprägsame Charaktere. Wie gesagt worden ist: die gerade Linie ist die kürzeste Verbindung zwischen mehreren Punkten, sie ist die einheitlichste aufgrund einer mathematisch-mechanischen Betrachtung. Die Kreislinie hingegen macht auf dem Weg von einem Punkt zum anderen nur Umwege, aber sie erreicht eine Form von ganz anderer Art (die übrigens auch wieder mathematisch definiert werden kann). Aristoteles reflektiert nicht darauf, dass er diese beiden einander ausschließenden Antworten gibt. Ob er es überhaupt bemerkt hat? Irgendwer in seiner Schule wird es sicher bemerkt haben und vielleicht daraus einen Einwand gemacht haben. Aristoteles kann den Einwand zwar mit irgendeinem Verweis in der Art von »einerseits – andererseits« abgewehrt haben. Doch im Text gibt es keine Erklärung dazu und so bleibt da ein gewisser »Widerspruch« stehen. Widerspruch ist also irgendwie doch zugelassen: Selbstwiderspruch in einem Text. Widerrede ist sowieso zugelassen – sie gehört ja zu einer Hauptmethode der Philosophie: zum Diskutieren. Und meine Widerrede habe ich eben durchgeführt. Der kann wiederum widerredet werden. Obiger Widerspruch ist vielleicht keiner, sondern ein Doppelrede. Da Aristoteles die Eigenschaft »ein« in den Superlativ setzt, kommen wir noch einmal auf den Unterschied zwischen steigerbaren (minderbaren) und nicht-steigerbaren Bestimmungen zurück. Aus der lateinischen Aristoteles-Rezeption des Mittelalters habe ich ja neulich einen Satz herzitiert, der die Minderung von »menschlich« in Abrede stellt. In jenem Satz wird »menschlich« als substanzielle Bestimmung aufgefasst und da gibt es kein Mehr oder Weniger. Alle anderen Bestimmungen sind steigerbar (minderbar) – also alle akzidenziellen. Und sogar die transzendentalen Eigenschaften wie »seiend«, »ein«. Deren parallel-laufende Steigerbarkeit (oder Konvertibilität) mag uns merkwürdig erscheinen, weil sie zu sehr allgemeinen Hierarchisierungen führt. Aber irgendwelche Hierarchisierungen werden sowieso vollzogen – und da ist es besser, man weiß darum, als dass man sie rein unbewusst vollzieht. Unbewusstes Tun ist nämlich keineswegs ein besseres.

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Eine Substanz wie Wein (wir setzen das als Beispiel – unabhängig davon, ob die antike Physik oder die moderne Chemie damit einverstanden sind) ist mit Steigerungen und Minderungen vielfältiger Art kombinierbar: sauer, weniger sauer, fruchtig, fruchtiger, gut, weniger gut … Das sind lauter akzidenzielle Variationen – die aber sowohl für den Genuss (Gebrauchswert) wie auch fürs Geschäft (Tauschwert) sehr wichtig, ja entscheidend sein können. Akzidenziell heißt nicht unbedingt »unwichtig«. »Substanzielle« Steigerungen würden lauten: weinhaft, weinhafter, noch weinhafter. Wein, Weiner, Weinst. Gibt es so etwas? So wohl nicht. In gewissem Sinn aber doch bei der Weinentstehung, die ja ein paar Monate lang und mit einigen Zwischenstufen vor sich geht: und zwar der Übergang von Nicht-Wein über Fast-Wein zu Wein. Aber wenn die Wesensform »Wein« erreicht ist, gibt es nur noch akzidenzielle Variationen. Schlechter Wein (allerdings auch zu viel guter Wein) kann dazu führen, dass dem Weintrinker schlecht wird. Wir haben es jetzt mit zwei Substanzen zu tun: eine Substanz W und ein Substanz M. Das »Schlecht-Werden« vollzieht sich an der Substanz M. Ist das nun eine substanzielle Änderung? Keineswegs bzw. hoffentlich nicht. Selbst wenn die Substanz M ernsthaft erkranken würde und wenn sich daraus medizinische oder finanzielle Komplikationen ergeben würden, wären das »nur« akzidenzielle Veränderungen. Wer solche Änderungen für »substanziell« erklärt, darf das natürlich tun – aber er verabschiedet sich vom aristotelischen Begriff. Der aristotelische Substanzbegriff bezeichnet nicht alles mögliche Wichtige oder Dramatische. Das Dramatische eigentlich gar nicht – dramatisch ist die Akzidenzialität der Substanzen. Der aristotelische Substanzbegriff hat nun aber leider die komplizierende Eigenschaft, dass er im Doppelaspekt auftritt. Erste Substanz ist ein existierendes Individuum mit einer bestimmten Wesensform. Zweite Substanz ist: eben so eine Wesensform. Diese Aspekte können auch im Deutschen beide mit »Wesen« bezeichnet werden, aber die Zweideutigkeit gibt es auch da. Wir haben darüber schon ausführlich gesprochen und gesagt: Wesen, Wesenheit. »Erste Substanz« ist also gar nichts Geheimnisvolles oder Rares. Sowas kommt massenhaft vor, millionenhaft ist untertrieben, man denke an die vielen Leute, Bakterien, Sterne, Insekten, vielleicht sogar Bücher – lauter Erste Substanzen. Zweite Substanzen gibt es nicht ganz so viele – denn 154 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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das sind die Typen, die Wesensformen. Die aristotelischen Kategorien haben viel Präzises, manchmal vielleicht auch Chaotisches, aber wenig Mysteriöses. Aristoteles war ein analytischer Philosoph. Was müsste geschehen, damit aus dem Genuss von schlechtem Wein mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen doch eine substanzielle Veränderung resultiert? Der einfachste Fall: Tod der Person, also Ende von Substanz M. Oder aber Substanz M1 (Sophia) verwandelt sich in Substanz M2 (Gesche). Tatsächlich eine substanzielle Veränderung? Die Wesensform Mensch bliebe ja erhalten. Doch unter dem Gesichtspunkt der Ersten Substanz, also der individuellen, wäre das eine substanzielle Änderung. Nur eine Änderung der Wesensform wäre eine substanzielle im vollen Sinn des Wortes: wenn aus der Substanz M eine Substanz F (Fuchs) würde. Gilles Deleuze schwärmte vom Tier-Werden. Aristotelisch gesprochen ist jeder Mensch als Gattungswesen schon, d. h. a priori, ein Tier – nicht ein Fuchs-Tier oder ein Schmetterling-Tier, sondern eben ein MenschTier. Aristoteles sagt es gelegentlich so flapsig: Mensch und Pferd und Gott sind gleichermaßen zoon (woraus auch erhellt, dass Aristoteles den Menschen weniger von der Theologie aus denkt, sondern eher Gott von der »Zoologie« aus). Lässt man den Wein bei bestimmten Luftbedingungen und Temperaturen lange stehen, so wird daraus bestimmt schlechter Wein – und irgendwann »kippt« der Wein und es wird so etwas wie Essig draus. Setzen wir Essig als ein anderes Wesen, so hat sich damit eine substanzielle Änderung vollzogen. Jetzt gehen wir vom Normalfall des genussreichen und unschädlichen Weintrinkens aus. Was passiert da? Der Wein dringt in den Körper ein, die Verdauungsorgane bearbeiten ihn. Die Substanz W wird innerhalb der Substanz M transformiert – zu was? Zur Substanz M und ein Rest wird als Exkrement ausgeschieden. So geschieht es mit allen aufgenommenen Nahrungsmitteln: also Substanz W oder Substanz B (Brot). Es vollzieht sich innerhalb weniger Stunden eine echte substanzielle Veränderung, besser gesagt eine doppelte: eine Zerlegung in Substanz M und in Substanz E (Exkrement). Im Mittelalter haben die aristotelischen Theologen dafür die treffende Bezeichnung »Transsubstantiation« gefunden. Aber nicht für die 155 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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normale Nahrungsaufnahme, bei der sie natürlich stattfindet, haben sie sie erfunden, sondern für die kultisch-sakramentale Wandlung, die mit den Substanzen Brot und Wein und bestimmten Wörtern auf dem Tisch namens Altar durchgeführt wird: »Dies ist mein Leib«, »Dies ist mein Blut«. Dieser Leib und dieses Blut, beide künstlich hergestellt zu dem Zweck, dass sie dann von Menschen gegessen und getrunken und in sie verwandelt werden und doch in ihnen eine bestimmte zusätzliche Wirkung erzielen. Begründet wurde dieses Ritual am »Gründonnerstag« des Jahres 33 von demjenigen, in dessen Fleisch und Blut seither Brot und Wein verwandelt werden. Sicherlich, das geschieht nur für die, die daran glauben; aber diejenigen, die daran glauben, glauben an substanzielle Wandlungen. Es ist gut, wenn diejenigen, die glauben, wissen, was sie glauben. * Brief von Peter Berz am 4. April 2015 It’s a very odd thing – As odd can be – That whatever Miss T eats Turns into Miss T.; (Walter de la Mare)

Die Annäherung Ihrer Aristoteles-Lektüren an die Chemie ist wirklich sehr anregend. Ein paar kleine Randbemerkungen fielen mir dazu ein. 1. Die Frage nach Linie oder Kreis: Denken Sie, denkt die Hermesgruppe es eigentlich als möglich, mit Koyré die Kosmologie des Aristoteles ganz vom Kreis her zu denken, bis in die Sphären, und dagegen die neuzeitliche Wissenschaft seit Galilei von der unendlichen Geraden her? »Ich stelle mir vor, mente concipio, eine unendliche, ganz glatte Ebene, auf der ein Körper (eine Kugel) ohne Widerstände in einer Richtung rollt …« – das wird von Koyré/Heidegger als die Grund-Anordnung des neuzeitlichen Wissens stilisiert. Und dagegen die Kreisform als Grundlage des Aristoteles, über die Koyré/Heidegger freilich nur Andeutungen machen.

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2. Das andere wäre die Frage, ob Aristoteles, Euklid und vielleicht die römische Wissenschaft die Linie wirklich von der Bewegung her gedacht haben, also als etwas, was von einem sich bewegenden Punkt generiert wird? Ist das nicht ein Ergebnis erst der Trigonometrie, also von Pi, also der Bewegung eines generierenden Kreises? Und Euklid hätte wirklich nur die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten konstruiert und mit dieser Konstruktion argumentiert. 3. Ein kleiner Nebengedanke: Wäre es – ganz freihändig gedacht – auch eine Möglichkeit, die Tragödie vom Drama zu unterscheiden, indem man die Tragödie als ein Geschehen, als Verwandlung an und in Substanzen begreift, das Drama als Geschehen an Akzidenzien? Wahrscheinlich läge das gar nicht im aristotelischen Horizont. 4. Wesen und Wesenheit: Es wäre schön, einmal eine kleine Arbeit über den Ausdruck, die Programmatik des Wortes »Lebewesen« zu versuchen. (Ich versuche intern seit längerer Zeit, das Wort Organismus, wo immer möglich, durch Lebewesen zu ersetzen.) 5. Ganz wunderbar ist, wie Sie den Vorgang des Gärens in die Metaphysik-Lektüre einführen! Und das ganze Nachdenken über die Transformation. Das Gären als Transformation! (Im biologischen Jargon: Transfer von Molekülgruppen im Vorgang der stufenweisen, nicht vollständigen Oxidation von Produkten der Glykolyse, etwa des Pyruvat. Der ganze Prozess wird, das Wort Substanz ersetzend, angesprochen als: »Substrat-Stufen-Phosphorylierung«. Jedes Enzym hat genau ein nur mit ihm reagierendes »Substrat«, das es verwandelt, das Enzym wirkend als hochspezifischer Katalysator.) Das »Umkippen« der Verwandlung: alles das müsste ich beim Nachdenken über die metabole des Metabolismus bedenken, statt der viel zu fern liegenden Bemerkungen über die metabole als Bewegungsform. 6. Und die Verbindung zur Transsubstantiation, die Sie machen, ist wirklich passionierend! Auch Bruno Latours Nachdenken kreist ja seit einiger Zeit – völlig griechenvergessen – um die Frage: Warum werden nicht Korn und Traube, sondern Brot und Wein in Fleisch und Blut trans-substanziiert? Er sagt: Es sind eben schon Produkte der Kultur, der Technik, mithin künstliche Produkte, die gewandelt werden. * 157 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Brief an Peter Berz vom 6. April 2015 Vielen Dank für Ihre beiden reichlichen Ausführungen oder Einführungen in das Zusammendenken von Philosophie und Naturwissenschaft. Jetzt nur ein paar punktuelle Anmerkungen. In der aristotelischen Zweiteilung des Kosmos herrscht im sublunaren Bereich die geradlinige Bewegung, im supralunaren die kreisförmige. Die moderne homogenisierende Physik hat anscheinend die geradlinige Bewegung zur Alleinherrschaft gebracht. Aber stimmt das? Sind nicht die geraden Bewegungen Teilstücke größter Kreise? Im Zusammenhang mit dem neuen Jelinek-Stück »Die Schutzbefohlenen« ist die Rede von »Postprotagonistischem Theater«. Tatsächlich gibt es da fast nur den »Chor«. Würde dem Ihr »Drama« entsprechen? Aristoteles hat die Tragödie immerhin in diese Richtung gedacht – aber nicht zum Chor, sondern zu den »pragmata«. Völlig frei flottierende Akzidenzien sind für Aristoteles dennoch kaum denkbar (daher ernennt er manchmal auch die anorganischen Körper zu Substanzen). Die moderne »analytische« Ontologie (z. B. Uwe Meixner) tendiert tatsächlich dazu und macht manchmal das Ereignis zur Hauptkategorie. Wenn man »morphe« als Formursache oder Wesenheit auffasst, könnte man die Transsubstantiation mit »Metamorphose« übersetzen. Aber die ovidische Metamorphose liegt eher im Gestaltwandel des Zeus (z. B. Stiergestalt). Die substanzielle Metamorphose würde sich hingegen auf den Stier beziehen: denn der »ist« nun Zeus. Metousiosis. So heißt es tatsächlich in der griechischen Sakramentenlehre. Ist die mit jeder Nahrungsaufnahme verbundene Transsubstantiation tatsächlich ein absoluter Geheimtipp (odd thing)? * Zur Lichtung. Sollte man nicht zwei »Phasen« unterscheiden? Den Wortsinn der Ausdünnung des Waldes, Entfernung von opaken Körpern. Und dann das Mehr an Leuchten. In Wien werden jetzt die Maler der »Donauschule« (um 1500) ausgestellt, die entschieden 158 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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den »wilden« Baum und nicht die Marmorsäule als Stütze der Welt aufstellen bzw. stehen lassen. Konrad Celtis war seinem Latein-Dichten zum Trotz der Protagonist jener ästhetischen Dendrophilie. Vor dem Hintergrund meiner Philosophischen Physik, die eine Physik aller Dinge sein will, lese ich jetzt den als Positivisten verschrienen Otto Neurath, der in den Dreißiger- und Vierzigerjahren seinen etwas engherzigen »Physikalismus« flexibilisiert hat – zu einer Enzyklopädik aller Wissenschaften von Raum- und Zeitgebilden, in der die Unterschiede zwischen belebt und unbelebt, zwischen Kosmos und Geschichte keine Abgründe bilden. Auch die Konstanzen, die von physikalischen Prognosen vorausgesetzt werden, sind historischer Art, wenngleich langfristiger. Sein Leitbegrff wird die »Behavioristik« und die gibt es als Physik der Gesellschaft, Physik der Maschinen, Physik der Sterne, Physik der Gebirge, Physik der Lufthülle … (1931). Und nebenbei hat Neurath auch den für mich seinerzeit maßgeblichen Dualismus zwischen Heraldik und Statistik relativiert. 89 * 17. April 2015 Unsere Diskussion über das Essen hat – am Beispiel krankmachender Nahrungsaufnahme – gezeigt, dass wichtige Vorkommnisse nicht ohne weiteres als »substanzielle Veränderung« (im aristotelischen Sinn) aufgefasst werden müssen. Die Akzidenzien werden zwar von Aristoteles der ousia untergeordnet, deswegen müssen sie aber nicht »unwichtig« sein. (Meine Vermutung: das Wort »wichtig« gibt es in den antiken Sprachen nicht, wohl aber in den modernen – die modernen haben alle »das gleiche« Vokabular). Schon mit ihrer Zahl gewinnen die Akzidenzien ein gewisses Übergewicht über die Substanzen. Und wenn man sie sich näher anschaut, dann machen ihre Eigenarten – zum Beispiel Relation, Wirken, Erleiden – auch nicht den Eindruck von Unwichtigkeit. Eigentlich machen sie zusammen das aus (allerdings zusammen mit den Substanzen), was man »Ereignis«, »Dramatik«, »Schicksal« nennen könnte. Daher ist es kein Zufall, dass der Erfinder dieser substanzdominierten Ontologie diese seine Ontologie Siehe Otto Neurath: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften (Band 1+2), herausgegeben von Rudolf Haller und Heiner Rutte (Wien 1981).

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für die dramatische Dichtung selber suspendiert, ja subvertiert hat und die Agenskausalität durch Ereigniskausalität (Uwe Meixner) ersetzt hat (wie unsere Poetik-Lektüre gezeigt hat). Keine bestimmte Ontologie muss das Maß aller Dinge sein – notfalls oder besser luxusfalls kann man eine alternative Ontologie aufstellen. Was das Essen betrifft, so ist die von uns zur Sprache gebrachte substanzielle Veränderung, nämlich die Transsubstantiation des Nahrungsmittels ins Wesen der essenden Person, die sich im »Normalfall« unbemerkt vollzieht, ja nun wohl doch nichts Unwichtiges. »Unscheinbar« ja, »unwichtig« ganz und gar nicht. Genaugenommen bildet sie den, jedenfalls einen Hauptzweck des Essens: fortlaufende Selbsterhaltung des Essenden. Diese Tatsache in heftigen Diskussionen zur Sprache, nämlich zur aristotelischen bzw. scholastischen Sprache gebracht zu haben, ist eine philosophische Leistung, die sich hier in den letzten Wochen abgespielt hat. Übrigens hat sich das entsprechende Wort auch in der griechischen Theologie implantiert: metousiosis. Deutsch könnte man sagen: Umwesung. Doch wieso nur in der Theologie? Die aristotelische Ontologie kann sich doch bewähren, auch wenn sie zunächst einmal als suspendierbar erscheint. Beide Momente bilden zusammen das, was ich »okkasionelle Ontologie« nennen würde und wofür man auch den neueren Begriff der »Ontographie« einsetzen könnte, sofern man von konkreten Beschreibungen oder Erzählungen ausgeht. Und Ontologie in Diskussion, als Diskussion, als Hin und Her zwischen verschiedenen Ontologie-Entwürfen: Ontodialogie. Wir haben ja auch ein »unnormales« Essen herangezogen: das christliche »Gott-Essen« (Jan Kott). Wozu das gut ist, ist eine religiöse bzw. theologische Frage. Analog dazu könnte man andere Sonder-Essen heranziehen: Genussmittel, Drogen. Man könnte auch ein anderes Mensch-Essen nennen: das Mutter-Essen des Säuglings und die Verwandlung von Mutter-Substanz in Baby-Substanz. Oder das MannFrau-Essen (zum Beispiel). Die Ontologie kann auf diese Sachverhalte ihre Lichter werfen – beziehungsweise sie selber wird dadurch provoziert, vielleicht entwickelt oder umgebaut. 160 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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In einem gewissen Sinn aber muss die Ontologie »zurückgestellt« werden: nämlich wissenschaftspragmatisch. Wenn man über das Essen oder eine bestimmte Form des Essens wissenschaftlich und philosophisch arbeiten will, wird man nicht mit der Ontologie beginnen. Sondern mit Beobachtungen, vorsichtigen Begriffsbildungen, die im Sinn des Aristoteles zu einer Abteilung der »Physik« gehören würden. Da könnten dann verschiedene aristotelische Begriffe für Veränderung eine Rolle spielen: genesis, phthora, auxesis, kinesis, alloiosis, metabole – von diesem Wort leitet sich »Metabolismus« = Stoffwechsel ab. Im Übrigen hat Aristoteles seine eigene Physik der Ernährung aufgestellt, die mit der heutigen Physik, Chemie, Physiologie nicht übereinstimmt. Ontologie ist eine Betrachtungsart, die man dann zusätzlich, sozusagen hybriderweise, auch noch durchführen kann.

7. Das Seiende Die Thematik dieses Abschnittes deckt sich offensichtlich mit derjenigen von Abschnitt 1 und 2 im Buch IV, die ich als »assertorische Gründung der Ontologie« bezeichnet habe. Dennoch handelt es sich nicht um eine simple Wiederholung. Anstatt »to on wird mannigfach ausgesagt« heißt es nun »wird einerseits akzidenziell, andererseits an sich ausgesagt« (1017a 8 ff.). Bereits die Voranstellung der akzidenziellen Aussagung (vor der substanziellen) und dann die Verkettung von vielen knappen akzidenziellen Aussagen legen es nahe, das Partizip Präsens to on nicht substantivisch zu verfestigen, sondern als nominale Zusammenfassung zahlreicher verbaler Modalitäten anzunehmen: »Akzidenziell sagen wir, dass der Gerechte musisch sei und der Mensch musisch und der Musische Mensch, ähnlich wie wir auch sagen, dass der Musische baue, da es eben dem Baumeister akzidenziell zukommt, musisch zu sein, oder dem Musischen, ein Baumeister zu sein (denn ›dies ist dies‹ heißt, dass dies akzidenziell diesem zukommt) …« Die Beispielsätze laufen darauf hinaus, dass to on heißt: seiend, dies seiend, diesem akzidenziell zukommend, jenem zukommend … An ihnen selber werden die ›seiend‹ und die ›sein‹ und die ›zukommen‹ in so vielen Bedeutungen ausgesagt, wie es Kategorien gibt: also 161 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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in der Bedeutung des Was oder der Qualität oder der Quantität, des Bezüglichen, des Wirkens oder Leidens, des Wo oder des Wann, wobei es keinen Unterschied macht, ob man sagt, der Mensch schreitet oder er ist schreitend. Hier handelt es sich also hauptsächlich um die Akzidenzien und andererseits wird auch der Infinitiv »sein« zum Subjekt des ontologischen Grundsatzes (1017a 23 ff.) und die Verbindungen mit »sein« können durch andere gewöhnliche Verben ersetzt werden. Eine dritte Variante des to on wird mit »wahr sein« oder »ist wahr« eingeführt und eine vierte mit »sein« oder »seiend« – »entweder dem Vermögen nach (dynamei) oder der Vollendung nach (entelecheia)«, wobei irgendwelche normalen Verben, etwa »sehen«, die konkrete Bestimmung etwa des Wirkens oder des Leidens liefern können, oder das »sein« in einer Aussage über ein Wesen: »der Hermes sei im Steine« (1017b 8) – nämlich der Möglichkeit nach. Dieser Abschnitt 7 betont also das Verbale am to on, er dreht es ins Verbale, indem er öfter das »ist« und das »sein« dafür einsetzt und ausdrücklich andere Verben dafür einsetzt; er wehrt sozusagen das Substantivische ab und wenn man es in diesem Sinn direkt und wörtlich übersetzen möchte, müsste man es eher adjektivisch formulieren: »das ›seiend‹«, und dieses wiederum kopulativ oder sogar »transitiv« verlängern: »das ›dies seiend‹«, »das ›so seiend‹«. Wäre eine solche Schreibweise eine neue Ontographie? 90 Und wenn sie einen neuen Blick eröffnen würde – eine neue Ontoskopie? * Die Rede vom Mutter-Essen des Säuglings, von der Verwandlung der Mutter-Substanz in die Baby-Substanz, hat bei einigen Seminarteilnehmerinnen einen Widerstand hervorgerufen, der vielleicht weniger auf die Unverständlichkeit oder Fragwürdigkeit der Aussage zurückzuführen ist, sondern mehr auf ihren Anspruch, eine philosophische Aussage zu sein.

Michael Stadler: Was heißt Ontographie? Vorarbeit zu einer visuellen Ontologie (Würzburg 2015).

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Es gibt so wie in allen Berufen auch in der Philosophie eine déformation professionelle, eine typische Berufskrankheit. Diejenige in der Philosophie nenne ich »Philosophismus« und darunter verstehe ich die Auffassung oder die Gewohnheit, dass man erstens nur das Reden mit philosophischen Fachausdrücken für Philosophie hält; zweitens das Zitieren von berühmten Philosophien für das Um und Auf der Philosophie hält; drittens das Reden über Philosophie für die Spitze der Philosophie hält: zum Beispiel Heidegger kritisieren, über Adorno etwas meinen, zum Unterschied zwischen Platon und Aristoteles etwas sagen. Wohlgemerkt: alle derartigen Bezugnahmen auf die Geschichte der Philosophie sind erlaubt und in gewissem Sinn gehören sie zum Handwerk der Philosophie, die ja eine Disziplin mit eigener Geschichte und bestimmten Traditionen ist. Doch die Hauptaufgabe der Philosophie besteht darin, bestimmte Tatsachen im Gegebenen oder Aufgegebenen deutlich und klar zur Sprache zu bringen, insbesondere solche, die in den herrschenden Redensarten etwas aus dem Gebrauch gekommen sind, die vielleicht sogar untergegangen sind. Tatsachen, die mit den Dingen der Welt zusammenhängen und die, wenn man sie ausspricht, die Dinge der Welt etwas verrücken, jedenfalls die Gewohnheiten etwas stören. Tatsachen oder aber Zweifel. Ich trage meine Rede von »Mutter-Essen des Säuglings« und von der »Verwandlung der Mutter-Substanz in Baby-Substanz« sowohl einem Chemiker wie einem Mathematiker vor: beide finden sie nicht nur zulässig, sondern sachlich treffend und geradezu selbstverständlich. 29. April 2015 Von Ende März bis Ende April haben wir eine Reihe von menschlichen Nahrungsaufnahmen besprochen und jeweils mit aristotelischen Kategorien zu fassen gesucht. Es waren eher ungewöhnliche Beispiele – von einem krankmachenden Trinken über das JesusEssen der Christen bis zum Mutter-Essen des Säuglings. Ich habe 163 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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diese Vorgänge ziemlich drastisch in der deutschen Umgangssprache benannt – was aber nichts daran ändert, dass es sich mehr oder weniger um Sonderformen eines Vorgangs handelt, dessen substanzhafte Teilnehmer mit Allgemeinbegriffen wie »Nahrungsmittel« und »Mensch« benannt werden können. Wir haben versucht, die Kategorien »Substanz« sowie diverse »Akzidenzien« so einzuführen, dass deren überlieferte – aristotelische – Bedeutung gewahrt bleibt. Aber auch den Begriff »Transsubstantiation«, der von mittelalterlichen Theologen für den Sondervorgang Nummer 2 (beziehungsweise für das Vorspiel zu ihm) eingeführt worden ist – und der meines Erachtens auch auf den normalen Vorgang von Nahrungsaufnahme, Verdauung und so weiter angewendet werden kann. Die Begriffsordnung, die von Gattungen über Arten zu den Individuen herabsteigt, kann höchst unterschiedliche, auch extreme Fälle, einordenbar machen, ohne dass ihre Besonderheiten reduziert werden. Sogar sogenannte »unvorstellbare« Sachverhalte lassen sich einfügen: ihre Einordnung, Vergleichung und Unterscheidung entzieht sie einer angeblichen Unsagbarkeit. Es gibt ja nicht nur die Katastrophen, die in der Zeitung stehen, sondern auch solche, die darin bestehen, dass eine Ente getötet, weiter behandelt und dann von mir verspeist wird. Oder soll ich mir einbilden, dies sei eine Ehre für sie? Auf jeden Fall wird sie transsubstantiiert. Hie und da muss man auch zu den Dingen dieser Welt etwas sagen – und vielleicht drastisch etwas sagen, damit man merkt, dass da etwas gesagt wird. Was ich jetzt »Drastik« nenne, hat Gilles Deleuze im Jahr 1967 »Methode der Dramatisierung« genannt: in den sokratischen Dialogen gebe es eine Zwietracht zwischen der Hauptfrage nach dem Was und den »minderen« Fragen nach dem Wer und Wie, nach dem Wo und Wann. 91 Das Was entspricht der Wesenheit, das Wer dem individuellen Wesen, das Wie und Wo und Wann einigen Akzidenzien. Das heißt: es ist hiermit das ontologische Spektrum ausgebreitet, das aus zwei Substanz-Aspekten sowie vielen Akzidenzien besteht, zu denen auch noch ein paar noch dramatischere Seinsmodalitäten wie Siehe Walter Seitter: Die Unvermeidlichkeit der Akzidentien, in: ders.: Menschenfassungen: 169 ff.

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Wirklichkeit und Möglichkeit, Entstehung und Vernichtung gehören. Deleuze plädiert für die Hegemonie der Akzidenzien (und ich habe dieses Plädoyer für die Politikwissenschaft übernommen – Aristoteles übernimmt es für das Drama in der Tragödie). 92 Im Abschnitt 7 von Buch V kommt Aristoteles auf die mannigfache Aussagung von »seiend« (1003a 33) zurück, bezieht auch den Fachausdruck »Kategorien« ein, womit er sich auf die erste Gründung der Ontologie zurückbezieht – und doch nimmt er eine sprachliche Modifizierung vor, indem er statt des Partizips jetzt öfter den Infinitiv »sein« einsetzt und den offensichtlich sogar in den Plural setzt (was nur an dem kath’auta erkennbar ist). Mit dem Übergang vom Partizip zum Infinitiv praktiziert Aristoteles so etwas Ähnliches wie das, was er dann in den Beispielen mit verschiedenen Wortformen vorführt. Der Wechsel von »seiend« zu »sein« entspricht sprachlich immerhin dem von Heidegger geforderten oder betriebenen Übergang. Bei Aristoteles wird er gewiss nicht mit seinsgeschichtlichem Pathos aufgeladen. Doch mit der Pluralisierung setzt Aristoteles – nur im ersten Halbsatz der Periode – einen eigenen Akzent, indem er das, was er sagen will, selber sprachlich performiert. Flexibilisierung der Ontologie.

8. Das Wesen »Wesen (ousia) werden genannt einfache Körper, wie Erde, Feuer, Wasser und dergleichen, und überhaupt Körper und die aus ihnen bestehenden Lebewesen und göttlichen Dinge und ihre Teile …« (1017b 10 ff.) Jetzt geht es nicht um den Grundbegriff der Ontologie, sondern um ihren Hauptbegriff, die erste Kategorie und deren Signifikat: Wesen, Substanz. Welche Seiende, welche Entitäten können als ousiai gelten? Sind es etwa sogenannte »metaphysische«? Aristoteles’ Antwort ist klipp und klar: es sind in erster Linie physische. Es sind die Körper, die das Gegenstandsfeld der Physik ausmachen. Als ich mich vor kurzem zur Vermutung durchrang, die uns bekannten Substanzen oder 92

Siehe Walter Seitter: Poetik lesen (Berlin 2010, 2014).

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Wesen seien die Körper, wusste ich nicht von der jetzt gelesenen Stelle, wo Aristoteles den Umfang des Begriffs »Substanz« mit der Körperwelt identifiziert (die er allerdings nicht ganz eng fasst). Zuerst nennt er die Elemente, also die Grundstoffe Erde, Wasser usw. Dann die empirisch vorkommenden Körper anorganischer Art, dann die daraus bestehenden Lebewesen, zu denen auch die nicht extra erwähnten Menschen gehören, sowie die erwähnten göttlichen Dinge (daimonia, gemeint sind gewisse Himmelskörper). Göttlichkeit und Körperlichkeit schließen sich also nicht aus. Substanzialität und Körperlichkeit schließen sich geradezu ein. Was nicht heißt, dass die beiden Begriffe Synonyme sind. Sie liegen auf unterschiedlichen Ebenen. »Körper« ist der Grundbegriff der Physik (und er bleibt es mindestens bis Newton). »Substanz« ist ein logisch-ontologischer Begriff, der auf der Metaebene liegt. Es stellt sich aber die Frage, ob man und wie man die Begriffe der einen Ebene auf solche der anderen Ebene beziehen kann. Andere Basis- oder Objektwissenschaften wie Politik, Ethik, Poetik haben es übrigens auch mit Körpern, vor allem mit lebenden, zu tun und das ist wohl der Grund dafür, dass Aristoteles der Physik einen gewissen Vorrang einräumt. Und das verbindet ihn wiederum mit dem sogenannten Physikalismus des Wiener Kreises. Der wollte allerdings von »Metaphysik« gar nichts hören. Wie und wieso führt Aristoteles so eine Zusatz-Wissenschaft ein – wohlgemerkt als »gesuchte Wissenschaft« (während die anderen Wissenschaft schon gefunden sind)? Diese Frage hat uns nun schon seit geraumer Zeit – jedenfalls seit Buch I – beschäftigt. Inzwischen haben wir festgestellt, dass sich innerhalb der gesuchten Wissenschaft eine Untersuchungsrichtung herauskristallisiert, die – allerdings erst seit dem 17. Jahrhundert nach Christus – den Namen »Ontologie« trägt. In der wiederum macht sich ein Grundbegriff namens »Seiendes« wichtig, von dem wir eben festgestellt haben, man könnte ihn ein bisschen kleiner schreiben und eventuell mit dem Infinitiv »sein« oder etwa gar mit dem geradezu minimalen »etwas« austauschen, welches uns durch das Erste Prinzip aufgedrängt worden ist. Der flexible Seinsbegriff der Ontologie hat uns mehrere Seinsmodalitäten vorgeführt, von denen eine mit Dominanzanspruch auftritt. Mit ihrem Namen ousia bezeugt sie ihre enge und monopolartige 166 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Verwandtschaft mit dem on. Etymologisch-wörtlich heißt ousia »Seiendheit«, sie tituliert sich als Protagonistin, als Hauptvertreterin des Seienden. Und sie gehört sogar einem interessanteren Geschlecht an als das fade »Seiende« oder »Sein«. Dem weiblichen. 93 Höchste Zeit, dass diese ousia im Abschnitt 8 nun eine eigene Würdigung erfährt. Wie sieht diese aus? Sie folgt dem allgemeinen Schema von Buch V – nämlich: wird genannt einerseits, dann andererseits. Einerseits alle Körper – das klingt nun wirklich nicht nach großer Erhebung, denn alle Körper sind Gegenstand der Physik (und der anderen Objektwissenschaften). Nur dass diese alle Körper auch die höchsten Himmelskörper inkludieren (so auch in der Physik). Das ist die physikalische oder körpertheoretische Erklärung der Wesen. Zu ihr kommt eine logische: die Wesen figurieren in den Aussagen nicht als Prädikate, sondern als Subjekte (Substrate) (1017b 15). Und das heißt nun »ontologisch«, dass sie selbständig existieren, nicht bloß Eigenschaften, Aspekte, sortale Terme sind. Diese Existenzfähigkeit gehört allerdings zu den Körpern. Und da mag es erstaunen, dass Aristoteles sie auch den Teilen von Körpern zuspricht. Das impliziert wohl, dass er mit Körperlichkeit als solcher Existenzkraft, Selbständigkeit verbindet, selbst wenn der Augenschein nicht sehr dafür spricht. Und andererseits wird Wesen genannt die dem Körper innewohnende Seinsursache, die man beim Lebewesen Seele nennt (1017b 17). Das sind die beiden tropoi des Wesens, die beiden Versionen der Substanz. Aristoteles spaltet sozusagen den ontologischen Begriff der Substanz auf zwei Versionen auf, die auch mit den ziemlich umgangssprachlichen Wörtern »Körper« und »Seele« bezeichnet werden. Dabei stellt die Seele keinen Gegensatz zum Körper dar. Sie existiert ja nicht ex-

Nicht zufällig hat Friedrich Kittler beim pythagoreischen Philosophen Philolaos ein weiteres weibliches Substantiv gefunden, das direkt vom Verb »sein« abgeleitet ist: esto; siehe dazu meinen Beitrag: Glosse zur esto, in Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 40: Friedrich Kittler. Technik oder Kunst? (2012), herausgegeben von W. Seitter, M. Ott: 108 ff.

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tra, sondern sie qualifiziert, spezifiziert den Körper zu dem, was er jeweils ist: eine Blume, ein Hund, ein Wasser oder ein Stern. Sie »insistiert« ihn. Er verdankt seine Qualität, seine Energie ihr. Diese Qualifizierung verdankt er der inneren Seinsursache, für die Aristoteles auch andere Wörter hat: Form, morphe, eidos, energeia, entelecheia. Begriffe, die einigermaßen an »Seele« heranreichen. Erstaunlich, dass der Abschnitt 8, der die Hauptkategorie »Wesen« behandelt, von allen bisher gelesenen (im Buch V) der kürzeste ist. Er liefert zwar in knapper Form äußerst aufschlussreiche Klarstellungen zu seinem Thema. Aber wieso die wichtigste aller Kategorien, die für Stabilitäts- und Kohärenzzonen in der Gesamtrealität sorgt, in zwei Versionen auftritt, scheint noch nicht geklärt zu sein. Körper und Seele werden gleichermaßen als »Wesen« bezeichnet, und zwar als Wesen des jeweiligen Seienden. Nein nicht gleichermaßen, sondern ungleichermaßen, wohl aber gleichberechtigterweise. In der Kategorienschrift hat Aristoteles den Sachverhalt rein logisch-ontologisch mit Erster Substanz und Zweiter Substanz umschrieben. Ich fürchte, wir werden noch darauf zurückkommen müssen, wie diese Doppelung oder Spaltung in der Einheit zu verstehen ist.

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9. dasselbe, verschieden, unterschieden, gleich, ungleich Bestimmungen, die uns umgangssprachlich vertraut sind, deren logischer Status jedoch nicht leicht anzugeben ist. Dasselbe im akzidenziellen Sinn sind etwa das Weiße und das Musische, wenn sie demselben akzidenziell zukommen; oder der Mensch und das Musische, weil jedes jedem akzidenziell zukommt, oder das Musische und der Mensch, weil jenes diesem akzidenziell zukommt … (1017b 26 ff.) Hingegen wird all dies nicht allgemein ausgesagt, denn es nicht wahr, dass jeder Mensch und das Musische dasselbe sei … Als dasselbe gelten auch Dinge, deren Stoff einer entweder der Art oder der Zahl nach ist oder deren Wesen eines ist. Es ist also klar, dass die Selbigkeit eine Art Einheit des Seins ist – entweder von mehreren 168 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Dingen oder von einem, das wie mehrere angesehen wird (1018a 3 ff.). Verschieden nennt man Dinge, wenn die Arten oder der Stoff oder der Wesensbegriff mehrere sind. Und überhaupt gebraucht man den Ausdruck »verschieden« im Gegensatz zu »dasselbe«. Unterschieden aber nennt man Dinge, die verschieden sind und in gewisser Beziehung doch dasselbe sind, allerdings nicht der Zahl nach, sondern der Art oder der Gattung oder der Analogie nach; weiter Dinge, deren Wesen oder Gattung verschieden ist, sowie Gegenteile. Gleich (oder ähnlich) werden Dinge genannt, deren Affektionen oder Qualitäten oder Gegenteile jeweils selbe sind; und die gegenteiligen sind ungleich. * 2. Juni 2015 Bericht über den Vortrag von Christophe Erismann zur »Übertragung der aristotelischen Logik von Alexandria nach Konstantinopel«: Der griechische Philosoph Stephanos von Alexandria wurde bald nach 610 vom oströmischen Kaiser Herakleios (575–641) nach Konstantinopel berufen, wo er den Titel »Weltlehrer« erhielt. Er verfasste Kommentare zu Aristoteles und Schriften zur Astronomie und Alchemie. Damit gehört er in die große Bewegung der translatio studiorum hinein: die sowohl historische wie auch geographische Übertragung antiker Wissenschaft ins Mittelalter sowie in neue Räume. Eine Frucht war dann zweihundert Jahre später der Mönch und Kirchenlehrer Theodoros Studites (759–826), der im Byzantinischen Bilderstreit gegen die Ikonoklasten auftrat. Diese argumentierten gegen die bildliche Darstellung Christi folgendermaßen: mit der Inkarnation sei zwar die zweite göttliche Person Mensch geworden, doch sie habe den »allgemeinen Menschen« angenommen; daher sei es unmöglich und widersinnig, seine Gestalt mit bestimmten Farben darzustellen. 169 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Dagegen Theodoros: Wie kann der »allgemeine Mensch« in Christus anwesend sein? Doch nur genauso wie in allen Menschen, in Peter oder Paul oder sonst wem. Nämlich in ihnen als Individuen. In dieser Hinsicht fällt Christus überhaupt nicht aus dem allgemeinen Schema heraus. Und für dieses Schema setzt Theodoros die aristotelische Ontologie ein: das Allgemeine existiert nur partikularisiert. Nicht, wie die Platoniker meinen, in einer Sonderform in einer Extrawelt, nicht, wie die Nominalisten annehmen, nur im menschlichen Geist bzw. in der Sprache (in Form von Wörtern). Diese Aristoteles-Rezeption in Konstantinopel vollzieht zwar eine Applikation auf die christliche Theologie, aber sie respektiert so weit wie möglich Buchstaben und Geist der aristotelischen Logik (und Ontologie). Ja, sie führt in die Theologie ein Stück »weltliches« Denken ein. Und das geht in diesem Fall so weit, dass die malerische Darstellung des Gottmenschen theoretisch ermöglicht wird: wobei die Malerei nur auf die Menschheit, nämlich die Menschengestalt, direkt abzielen kann. Christus muss als Mensch eine bestimmte Gestalt gehabt haben, bestimmte Haare, eine bestimmte Nase und so weiter. Nicht ein »Mensch ohne Eigenschaften«. Es gibt kein Wesen ohne Akzidenzien. Es gibt keine Frau ohne Eigenheiten. »Kein Wesen ohne Akzidenzien.« Vielleicht resümiert dieser Satz am besten den Eindruck, den die Lektüre der ersten sechs Bücher der Metaphysik erzeugt. Wohlgemerkt eine vielmals unterbrochene und mit mancherlei Zutaten sowie Umständen angereicherte Lektüre. (Postskript am 5. Juli 2017) Theographie via Anthropographie. Konkrete Fragen nach der Möglichkeit einer »ähnlichen« Christographie bleiben damit natürlich offen. Dazu etwa: Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst (München 1990). All dies im Rahmen einer Theologie, die den unvermeidlichen theologischen Überschwang (Enthusiasmus) mit common sense (lumen naturale) verbindet. 170 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Sicherlich wäre auch die theologische Position möglich, der »Ausnahme-Mensch« Jesus (der er ja dem Glauben gemäß ist), müsse auch in seiner Menschheit anders konstituiert sein, etwa durch direkte Realisierung der »Menschheit an sich«. So könnte er »mehr Mensch« sein als die anderen. Doch Studites scheint diese Möglichkeit zu verneinen. Insofern hält er sich an die ebenfalls aristotelische Devise »Nullus homo alio homine humanior est«, die im März (über Erismann und Eriugena) hierher zitiert worden ist. Was Christus von den anderen Menschen unterscheidet, ist also nicht seine »Menschheit«, sondern die Tatsache, dass in seiner Person (Hypostase) mit der Menschheit die Gottheit koexistiert – und zwar unvermischt (entgegen den »Monophysiten«). Diese Koexistenz wird von den Theologen »hypostatische Union« genannt. Oder auch von der Trinität her als »Zirkuminzession« oder »Perichorese« bezeichnet. Insofern mit der Trinität das aristotelische Ideal der akzidenzienlosen Substanzialiät schon durchbrochen scheint, könnte man vielleicht diese Union oder Zirkuminzession oder Perichorese als Akzidenzialität auf höchster Stufe bezeichnen. Die beiden Wesenheiten koinzidieren nicht miteinander, sondern sie akzidieren einander. Diese Koexistenz von Menschheit und Gottheit wirft naturgemäß gravierende ontologische Probleme auf – sofern man überhaupt mit griechischer Philosophie an sie herangeht. 20. Juni 2015 In der letzten Stunde sind wir zunächst noch einmal auf das Thema des Vortrags von Erismann eingegangen. Dabei handelt es sich um eine Aristoteles-Rezeption im Byzantinischen Bilderstreit am Anfang des 9. Jahrhunderts. Um die Verwendung eines aristotelischen Theoriestücks in der christlichen Theologie: so etwas hat es bereits im Zuge der Dogmatisierungen seit dem 4. Jahrhundert gegeben (später dann etwa in der lateinischen Scholastik seit dem 13. Jahrhundert). Das Besondere in dieser Angelegenheit liegt nun darin, dass Aristoteles in eine der berühmtesten bildpolitischen Episoden der Weltgeschichte eingeführt worden ist. In der ging es nicht um die Frage, ob Bilder so oder so beschaffen sein sollen, sondern ob bestimmte Bildtypen, und zwar wichtige oder prominente Bilder, überhaupt her171 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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gestellt, angebracht, verehrt werden dürfen – oder ob sie gänzlich zerstört, abgeschafft und nie mehr hergestellt werden sollen. Und die (post)aristotelische Argumentation, die sich gar nicht auf Bilder bezog, sondern auf einen prominenten Bildgegenstand (von dem allerdings Aristoteles nie etwas gewusst hatte), wurde in dem Sinn eingebracht, dass der Streit für die Bilderverehrer (Ikonodoulen) entschieden worden ist – und für die Bildermaler: der Mensch Jesus ist ebenso malbar wie der Mensch Maria oder der Mensch Pontius Pilatus. *

10. entgegengesetzt »Entgegengesetzt (antikeimena) werden genannt: Gegensatz und die Gegenteile und die Relationen und Privation und Innehaben und die Extreme, aus denen und in die Entstehen und Vergehen geschieht … Das Graue nämlich und das Weiße finden sich nie zugleich an demselben Ding, daher bestehen sie aus Entgegengesetztem.« (1018a 20 ff.) Es handelt sich also um die rein ontologische Fassung des Sichersten Prinzips, das in Buch IV ab Abschnitt 3 aufgewiesen worden ist. * Am 18., 19., 20. Juni fand in Wien eine Foucault-Tagung statt, der Anlass hieß »40 Jahre Überwachen und Strafen«. Das Buch ist seinerzeit von mir übersetzt worden. Ich referierte über »Menschenformen. Unterschiedliche Menschenunterscheidungen (Foucault, Weininger)«. Michel Foucault hat in seinen Büchern und Vorlesungen innerhalb der europäischen Zivilisation (seit dem 17. Jahrhundert) Strategien der Menschenunterscheidung ausfindig gemacht und analysiert, die so tief gegangen sind, dass gewisse Menschengruppen aus der Menschheit faktisch ausgeschlossen worden sind. Ein Buchtitel nennt sie Die Anormalen (Frankfurt 2003). Der österreichische Philosoph Otto Weininger (1880–1903) hat in seinem Buch Geschlecht und Charakter einen Antifeminismus formuliert, 172 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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den er selber indirekt als »ontologischen« qualifiziert hat, und zwar zu Recht. Denn er läuft darauf hinaus, dass er eine wichtige akzidenzielle Dimension des Menschen, die Sexualität mit ihren zwei exklusiven oder auch inklusiven Polen »männlich« und »weiblich«, dermaßen mit dem Wesen des Menschen identifiziert, dass dieses seine Eigenständigkeit, das heißt seine durchgängige Präsenz verliert. Es wird von der sexuellen Polarisierung – eigentlich Gegenteile innerhalb derselben Art (siehe 1058a 30 ff., 1058b 22 ff.) – ergriffen und zerteilt. Mit dem Ergebnis, dass Wesensbestandteile des Menschen wie Seele oder Geist bei einer disjunktiv-exklusiven Verteilung der Sexualcharaktere den weiblichen Exemplaren, jedenfalls den meisten, eventuell auch gewissen männlichen Exemplaren, wenn bei ihnen der weibliche Sexualcharakter überwiegt, abgesprochen werden. Ergebnis: Das Wesen des Menschen wird disjungiert und es gibt Menschen ohne Seele. Es gibt Menschen, bei denen die Wesenseigenschaft der Menschheit gravierend reduziert ist oder gar ausfällt (Frauen, Juden). 94 Derartigen Aussagen steht der lateinisch herbeizitierte aristotelische Satz entgegen, wonach substanzielle Eigenschaften nicht steigerbar und nicht minderbar sind. Dadurch unterscheiden sie sich von akzidenziellen Eigenschaften und manifestieren ihre Notwendigkeit oder Unverzichtbarkeit für die Anerkennung der Menschheit in allen Menschen. Diese Anerkennung ist eine ethische oder politische Leistung – sie bedarf aber der Möglichkeit einer theoretischen oder deskriptiven Erkennung. Die aristotelische Wesenslehre liefert eine theoretische Explikation dafür. Es ist jedoch nicht sicher, dass wir diese Wesenslehre bereits vollständig gelesen, rekonstruiert, verstanden, gar gesehen haben. *

Siehe Walter Seitter: Menschenformen. Unterschiedliche Menschenunterscheidungen (Foucault, Weiniger), in: M. Rölli/R. Nigro (Hg.): Vierzig Jahre »Überwachen und Strafen«. Zur Aktualität der Foucault’schen Machtanalyse (Bielefeld 2017): 139–156.

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11. eher, später Auch dieses Begriffspaar bezeichnet »nur« relationale Größen, wobei der in Abschnitt 1 behandelte Begriff der arche (Anfang) den Bezugspunkt bildet. Der Bezug kann zeitlicher, örtlicher, kinetischer, epistemischer, ontologischer Art sein. Die verschiedensten Seinsmodalitäten sind in unterschiedlichen Hinsichten eher oder später: das Allgemeine bzw. das Einzelding, das Akzidens oder das Ganze, das Mögliche oder das Wirkliche, der Teil oder das Ganze. In diesem Zusammenhang wird übrigens der ontologische Grundsatz 2 ausdrücklich auf den Infinitiv einai umgestellt: »das Sein wird mannigfach …« (1019a 5). Woraus wir schließen können, dass der Grundbegriff der Ontologie, nämlich »das Seiende«, der ja an Hölzernheit kaum zu übertreffen ist, für Aristoteles vielleicht doch nur eine Art Notlösung war: dieses Partizip Präsens hat immerhin das Geniale, dass es Verbales und Nominales verschmilzt. Zur sehr abstrakten Thematik von Abschnitt 11 sei ein Seitenblick auf das deutsche Wort »eher« gestattet: es bildet den Komparativ zum Positiv »ehe« und vielleicht zum Superlativ »erst«, den Aristoteles öfter in seine Terminologie einbaut: »Erste Substanz« in den Kategorien, und »Erste Philosophie« im Buch VI. * Sommer und Herbst 2015 bringen den einen oder anderen Einschnitt mit sich. Der deutsche Historiker Andreas Rödder lanciert zu den sich akkumulierenden Krisen den Slogan »Mehr Aristoteles wagen!« 95 Eine paradoxe Formulierung, weil Aristoteles kaum etwas anzubieten zu haben scheint, was nach Wagemut aussieht, sondern eher als Denker der »realistischen« Lösungen, der »pragmatischen« Vernunft gilt. Immerhin zitiert Andreas Rödder auch den uns aus der Poetik bekannten Satz »Es ist wahrscheinlich, dass etwas Unwahrscheinliches geschieht.« Irgendwann kamen wir darauf zu sprechen, dass Lacan am 15. Dezember 1971 in seinem Seminar auf die Metaphysik des Aristoteles zu sprechen kam, ja ihre Lektüre empfahl – allerdings mit der merkwür95

Andreas Rödder: Denkverbote aufheben, in: DER SPIEGEL 28/2015.

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digen Klausel, man müsse das Buch wie ein blödes Büchel lesen: unter Absehung von all der sogenannten »Metaphysik«, die man aus dem Buch herausgelesen habe und deren »Dekonstruktion« jetzt der letzte Schrei sei. 96 Genau ein Jahr zuvor, am 9. Dezember 1970, hatte Michel Foucault seine Lehre am Collège de France mit der Vorlesung unter dem Titel »Der Wille zum Wissen« eröffnet, welcher eigentlich den ersten Satz der Metaphysik paraphrasiert: »Alle Menschen streben von Natur aus zum Wissen.« Als Beweis bzw. als Beispiel für diese Behauptung spricht Aristoteles davon, dass die Menschen die Sinneswahrnehmungen, vor allem die visuellen, lieben, nämlich hochschätzen, weil sie so reichlich liefern. Die Bezeichnung »Philosophie« setzt dieses semantische Wortfeld, nämlich die Verbindung von volitiven und kognitiven Elementen fort. Foucault bezieht sich in der ersten Vorlesung auf jenen ersten Satz, kommt aber zu dem Schluss, dass Aristoteles die Außenbeziehungen zwischen Wissen und Begehren gekappt habe, indem er das Streben nach dem Wissen in die menschliche Natur eingeschrieben hat. Die Wissensformen, die sich dem allgemeinmenschlichen Erkennen widersetzen, das tragische, das sophistische, das kommerzielle Wissen, welche von Gewalt, Kampf, Aneignung gezeichnet seien, habe er so nachhaltig ausgeschieden, dass erst Nietzsche sie wieder zu philosophischen Gegenständen gemacht habe. 97 Foucault geht dann auch auf die ersten Ausführungen in der Metaphysik ein, welche die frühesten Ergebnisse philosophischer Erkenntnis sammeln und kritisieren. Es gehe dabei um den Aufweis der ersten Prinzipien, welche die allerwahrsten sind und insofern in der »Erkenntnis« bereits enthalten sind. Wieso kommt es dann eigentlich zu den vielen Unterschieden, Mängeln und Defiziten in den älteren Philosophemen? Ein Grund dafür liegt in der Vielfältigkeit auf der Ebene der Prinzipien, Ursachen und Bestandteile. Die einzelnen Philosophen haben einzelne Aspekte hervorgehoben und andere vernachlässigt. Ein anderer Grund liege in gewissen Tricks der Sophisten – deren Gemeinsamkeit darin liege, dass den Wörtern als solchen, dass der »Materialität des Diskurses« der Primat eingeräumt werde. Siehe Jacques Lacan: Séminaire XIX: … ou pire. 1971–1972 (Paris 2011): 28 f. Siehe Michel Foucault: Leçons sur la volonté de savoir. Cours au Collège de France. 1970–1971 (Paris 2011): 7 ff.

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Und Foucault identifiziert sich mit dieser materialistischen sowie bellizistischen Einstellung der Sophisten. 98 Das geht ungefähr in die Richtung, die Lacan für die Lektüre empfiehlt. Aristoteles hingegen versucht – laut Foucault – das als vorgängig vorausgesetzte Erkennen einzuholen. Es mag sein, dass er das versucht. In unserer Lektüre stellen wir allerdings fest, dass der Text des Buches Metaphysik nicht die apriorische Zirkularität des »Erkennens« bestätigt, sondern dass er immer wieder neue Anläufe macht und vorläufig zu keinem definitiven Ende kommt. Der Inhalt des Gesamtbuches wird anfänglich als »Weisheit« bezeichnet – eine ehrwürdige Kategorie seit archaischen Zeiten, von den Sophisten jedoch ins Zwielicht gerückt: zwischen mutigem Nonkonformismus und höherer Geschäftsklugheit. Bleiben wir bei den verbalen Bezeichnungen für die volitiven Annäherungen an das kognitive Ziel, so haben wir das »Streben«, das »Lieben« und zwar das hochschätzende, das verehrende Lieben (agapesis) sowie die Freundschaft, die im Wort »Philosophie« steckt. Doch die Hauptbezeichnung, die Aristoteles zunächst für sein Unternehmen erfindet, heißt »gesuchte Wissenschaft«: eine älteste und gleichzeitig eine neueste Wissenschaft, weniger gut begründet und etabliert als etwa Mathematik oder Medizin. »Gesuchte Wissenschaft« – das heißt zunächst einmal Wissenschaft, speziell aber eine noch zu suchende und umso mehr eine noch suchende und nur suchende Wissenschaft: eine Aufeinanderfolge und Aneinanderfügung von verschiedenen Suchbewegungen, die jeweils in einem der »Bücher« vorangetrieben und dann abgebrochen werden. Dass für Aristoteles die Suchtätigkeit charakteristisch ist, geht aus einem Artikel über zwei griechische Philosophen des 15. Jahrhunderts – Plethon und Scholarios – hervor, welche die Überlegung oder Erwägung (boule, bouleuesthai) näher bestimmen wollten. Die boule ist nach Aristoteles eine Erkenntnisform, die in praktischen Angelegenheiten ihren Platz hat, wo es um die richtigen Mittel für einen vorausgesetzten Zweck geht. Doch in dem erwähnten Aufsatz geht es um die Frage, ob sie auch in Natur und Kunst anzutreffen ist. Plethon bejaht 98

Siehe Michel Foucault: op. cit.: 33 f.

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die Frage, weil er unter boule die Antizipation des Zwecks durch den Intellekt versteht. Scholarios verneint sie, weil er die boule eher aristotelisch als ein Suchen und Herumschauen auffasst, das mit Zweifel und Unsicherheit einhergeht. Es scheint, dass er damit dem Duktus der Metaphysik nahekommt. 99 Die Metaphysik beginnt mit einem Satz über das Wollen. Das Streben nach dem Wissen, das allen Menschen von Natur aus zukomme. Diese Verallgemeinerung und Naturalisierung des Wollens hat nach Foucault den Effekt, die tatsächlichen Verhältnisse zwischen dem Wissen und dem Wollen zu verdrängen und die Philosophie für Jahrtausende vor den Unruheherden namens Wollen, Begehren, Kampf, Macht zu schützen. Er sieht also im ersten Satz der Metaphysik eine sehr zweideutige »Voluntarismus-Erklärung«. Bei Aristoteles laufe sie auf eine Zähmung, ja Stilllegung des Wollens hinaus. Gegen einen solchen »Erkenntnis-Quietismus« möchte Foucault seinen eigenen »Wissens-Voluntarismus« setzen. Am Anfang der erwähnten Vorlesung vom 9. Dezember 1970 erklärt Foucault, dass er den Titel »Der Wille zum Wissen« auch den meisten seiner bisherigen historischen Analysen hätte geben können und er würde auch zu den künftigen passen. Das heißt, sein Lebenswerk bestehe aus »Fragmenten zu einer Morphologie des Willens zum Wissen«. 100 Tatsächlich sollte er ja auch 1976 dem ersten Band seiner Geschichte der Sexualität diesen Titel geben. 101 Aristoteles, der Foucault die allgemeine Formel für die voluntaristische Erkenntnisdramatik liefert, habe sich dieser schließlich doch entzogen. Er habe den Willen zur Erkenntnis naturalisiert, essenzialisiert – und ihn so seiner Kontingenz, seiner Gewaltsamkeit beraubt. Sowohl die Erkenntnis wie auch darüber hinaus die Wahrheit seien »Erfindungen – über dem Spiel der Instinkte«: Erfindungen aus

Siehe Sergei Mariev: Plethon and Scholarios on Deliberation in Art and Nature, in: J. Matula, P. R. Blum (Hg.): Georgios Gemistos Plethon. The Byzantine and the Latin Renaissance (Olmütz 2014): 113 ff. 100 Michel Foucault: op. cit.: 3. 101 Siehe Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen (Frankfurt 1977). 99

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Schein, Illusion, Irrtum, Lüge. So resümiert Foucault über Nietzsche seine Gegenposition zu Aristoteles. 102 Vielleicht sollte die Frage für uns sein, welchen Erkenntniswillen wir bei Aristoteles tatsächlich feststellen können und ob wir so einen auch für uns – hier, jetzt – übernehmen wollen bzw. können.

12. Vermögen Vermögen (dynamis) als Fähigkeit ist ein Prinzip der Bewegung oder Veränderung, das sich nicht im Bewegten oder Veränderten befindet (1019a 15). So die Baukunst, die nicht im Gebäude liegt. Andererseits heißt Vermögen die Fähigkeit, eine Einwirkung zu erleiden, vor allem eine zu Gutem: Fähigkeit geheilt zu werden. Oder die Fähigkeit, aufgrund einer Entscheidung etwas auszuführen, und zwar in guter Weise: gut sprechen können. Oder aber die Fähigkeit, ungute Einwirkungen wie Zerbrechung oder Vernichtung hintanzuhalten; in diesen Grenzfällen wird die »Apathie« von Aristoteles als Vermögen eingestuft – keineswegs aber wird sie generell zur Basis tugendhaften Lebens erklärt (1019a 26 ff.), wie etwa bei den Stoikern. Das Adjektiv dynaton heißt »vermögend« in allen angeführten Bedeutungen. Oder aber »möglich« im logischen Sinn, wo es in einer Reihe mit notwendig, wahrscheinlich, wirklich, unwahrscheinlich, unmöglich steht – wie wir in unserer Poetik-Lektüre festgestellt haben. Das Unvermögen ist eine Privation des Vermögens (1019b 16). Der Dativ des positiven Substantivs – also dynamei – heißt »der Möglichkeit nach«, »potenziell« und stellt als eine Seinsmodalität (gegenüber energeia – der Wirklichkeit nach – oder entelecheia – der Vollendung nach) eine der wichtigsten ontologischen Erfindungen des Aristoteles dar: wie die Akzidenzien erlaubt es dieser Begriff, schwächere Seinsmodalitäten nicht gleich ins Nicht-Sein zu verstoßen (wozu die Vorläufer der Ontologie, Parmenides und Platon, immerhin tendieren). Die Wichtigkeit der Schwächeren als ein Leit102 Siehe Michel Foucault: Leçons sur la volonté de savoir. Cours au Collège de France. 1970–1971 (Paris 2011): 195 ff.

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motiv der aristotelischen Ontologie – die Aufmerksamkeit dafür dürfte wiederum eine spezifische Leistung der hiesigen Lektüre sein. Allerdings bedeutet dynamis als Möglichkeit nicht nur ein Weniger gegenüber der Aktualisierung, sondern auf ihrer Ebene vielleicht ein quantitatives Mehr: mehrere Möglichkeiten. Und als Kraft kann sie eine eigene Qualität haben: eine Zukunftskraft, die nicht unmittelbar wahrnehmbar sein muss. Wenn Aristoteles den unreifen Weizen als Beispiel dafür herangezogen hat (siehe 1017b 9), könnte man das Menschenkind als größeres Exempel namhaft machen: denn aus ihm kann ein Wesen werden, das jahrzehntelang eine ungeheure Fülle an Erlebnissen oder gar an Leistungen realisiert. Ich sage das jetzt so dahin, weil ich es im Moment so empfinde. Immerhin wird die aristotelische Wesenslehre da ihre höchste, wenn auch nicht allerhöchste, Ausprägung finden. * 17. Oktober 2015 Am letzten Wochenende hielt Arbogast Schmitt in Wien einen Vortrag unter dem Titel »Nietzsche contra Euripidem et Socratem. Über den Verstand als ›Totengräber der Kunst‹«. Ich kannte bisher Arbogast Schmitt als Verfasser einer Poetik-Übersetzung und -Kommentierung, auf die ich in meiner Poetik-Lektüre sehr kritisch eingegangen bin. 103 Das Thema seines Vortrags berührte sich sogar mit meinem wichtigsten Kritikpunkt, nämlich der Eindeutigkeit oder Zweideutigkeit des Handlungsbegriffs bei Aristoteles. Leider ging Schmitt auf sein eigenes Thema kaum ein, sondern hielt sich bei philosophiegeschichtlichen Präliminarien auf. In der Diskussion wies ich ihn darauf hin, dass nach meiner Wahrnehmung Aristoteles und Nietzsche in vergleichbarer Weise Mythos und Charakter gegeneinander polarisieren, wobei die Unterschiede nicht zu übersehen seien: während Nietzsche mit der Vorsokratik 103

Siehe Walter Seitter: Poetik lesen 1 (Berlin 2010): 154, 160.

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kokettiere, entwickle Aristoteles eine entschieden postsokratische Perspektive. Schmitt nahm das zunächst erstaunt zur Kenntnis, um dann gleich zu replizieren, der aristotelische mythos und der nietzscheanische Mythus hätten miteinander nichts zu tun. Ich: sie seien wohl zu unterscheiden, aber zu tun hätten sie schon miteinander. An dem aristotelischen mythos = plot hänge ein eigener Handlungsbegriff, nämlich der literarische, der vom ethischen zu unterscheiden sei. Schmitt: dass in einem Text ein und dasselbe Wort zwei verschiedene Begriffe enthalte, und zwar ohne explizite Kennzeichnung, sei nicht anzunehmen. Bleibt also die Frage, wie Aristoteles es mit der Eindeutigkeit oder Mehrdeutigkeit seiner Begriffe hält.

13. Quantum Quantum ist, was in innewohnende Teile zerlegbar ist, von denen jeder der Natur nach ein Eines und ein Das ist (1020a 8). Unterscheidung zwischen der diskontinuierlichen Menge, die zählbar ist, und der kontinuierlichen Größe, die messbar ist. Rein geometrische oder arithmetische Entitäten sind Quanta an sich. Akzidenzielle Quanta sind etwa das Musische und das Weiße – das kann sich nur auf Menschen beziehen, denen die Qualitäten musisch und weiß zukommen, und da dieselben Menschen auch quantitative Merkmale aufweisen, bezieht Aristoteles die unterschiedlichen Eigenschaften auch direkt aufeinander – was tatsächlich nur akzidenziell, also ziemlich uneigentlich, eher indirekt gesagt sein muss. Immerhin ist damit jetzt einigermaßen nachträglich die ontologische Basis für unser Frühlings-Thema gelegt: die quantitative Teilbarkeit der Menschenfrau hat im Mutter-Essen des Säuglings eine drastische Exemplifizierung gefunden. Das Beispiel ist drastisch, aber nicht durch Einwände, die Milch sei kein Teil der Mutter, die Mutter sei doch nicht nur ein Quantum, die arme Mutter, aus der Welt zu schaffen. So ein Beispiel, das gerade nicht aus dem aristotelischen Text genommen ist, sondern aus einer, wenn man will, banalen jahrtausendealten – und immer wieder erneuerten – Praxis, ist geeignet, Aristoteles sachlich, also philosophisch, zu verstehen. Lacan hat mit 180 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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seinen vier Objekten klein a ein paar Körperausscheidungen namhaft gemacht, darunter auch die der mütterlichen Brust; die hat er zu Freud dazugesagt. Ich habe dieselbe zu Aristoteles dazugesagt.

14. Quale Und nun die »Qualität«. Zu meiner Überraschung – das Beste, was einem Leser passieren kann – bestimmt Aristoteles Qualität zunächst nicht als Gegenstück, als anderes Akzidens, neben der Quantität, sondern hebt sie auf die höhere Stufe der ousia, als Sosein der Art, differentia specifica zwischen Mensch und Pferd (womit der Mensch ziemlich antihumanistisch in die Ordnung der Dinge, in den Garten der Arten, in den Zoo der Gattung eingesperrt wird) (1020a 33). Und dann die Qualität auch als Artbestimmtheit von geometrischen und arithmetischen Entitäten: zum Beispiel die Spezies »Kreis«; auch »sechs« ist ein Wesen und als solches unteilbar (10120a 36 ff.). Und dann erst die Qualität als Akzidens, eines der neun Akzidenzien. Doch Aristoteles vermengt sie gleich mit einem anderen Akzidens: den »Leiden« oder »Affektionen« der »bewegten Wesen« (1020b 9 ff.). Die bewegten, veränderten usw. Wesen bilden den Gegenstandsbereich der Physik und bewegt, verändert werden sie, indem sie Einwirkungen erleiden – und so bekommen sie ihre Qualitäten, die nicht notwendig sind: warm, kalt; schwer, leicht … Die bewegten Wesen werden hier auch als »sich verändernde Körper« bezeichnet – da gibt es vielerlei Arten, so die oben genannten zweifüßigen Tiere, also Menschen. Dass Aristoteles auch jetzt an sie denkt, geht daraus hervor, dass er den körperlichen Menschen – es gibt keine anderen (siehe Mutter) – auch andere mögliche Qualitäten zuschreibt: Tugendhaftigkeit, Schlechtigkeit (mit allen möglichen Mischungen). Selbst die Eigenschaft »gut« taucht auf dieser nicht besonders prominenten Ebene auf – wiederum ein Zeichen dafür, dass formale und inhaltliche Bedeutsamkeit nicht immer Hand in Hand gehen (1020b 13 ff.). Indem Aristoteles solche physischen Eigenschaften wie »warm« oder »schwer« und solche moralischen wie »tugendhaft« oder »weniger tugendhaft« auf engstem Ort zusammenschreibt, demonstriert er seine Auffassung von den Gemeinsamkeiten zwischen allen Wesen 181 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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dieser Erde. Bernd Schmeikal spricht von »bioenergetisch«, einem Begriff von Wilhelm Reich und Alexander Lowen, die das zu Freud, gegen Freud dazugesagt haben. Im Abschnitt 8 hat Aristoteles seinen ontologischen Hauptbegriff »Wesen« auf zwei seiner physikalischen Hauptbegriffe appliziert: nämlich »Körper« und »Seele« – die hier für zwei Versionen von Wesen stehen. Bei Aristoteles wird die Ontologie nicht absolut gesetzt – sondern sie lässt sich jederzeit auf die Realitätsbereiche beziehen, mit denen sich Physik oder Ethik oder Poetik beschäftigen. Für den Fall, dass die seit dem Frühling geführte Rede von der Milch, die der Mutter vom Baby weggenommen wird, irgendwie »antifeministisch« aufgefasst worden sein sollte, sei zum Ausgleich nachgetragen, dass auch der Mann ein Quantum ist, folglich auch er teilbar, und aktuelle Teilungen finden statt, indem geringe Mengen einer weißlichen Flüssigkeit abgetrennt, ausgeschieden, subtrahiert werden (wohin auch immer sie gelangen mögen).

15. bezüglich Eine akzidenzielle Kategorie, die man auch »Relation« nennt; bei Aristoteles bekommt sie den äußerst knappen, ja dürftigen Titel pros ti – zu etwas (1012b 26 ff.). Mir scheint, dass diese Kategorie beim modernen Menschen in hohem Ansehen steht, er sogar dazu neigt, sie für grundlegender zu halten als etwa die Substanz. 104 Die altgriechische Bezeichnung hingegen ist ein Extrem von Lakonie, Unvollständigkeit: zu was. In der Metaphysik behauptet Aristoteles irgendwo, dass die Relation die seinsschwächste Modalität sei (1088a 22 ff.), und in unserem Kapitel führt er sie zunächst als Weiterbestimmung der Quantität ein: das Doppelte, das Dreifache, das Vielfache, das Übertreffende. Aber dann doch auch als das Bewirkende zum Bewirkten – welche beiden ja als eigene Kategorie figurieren und im Grunde genommen das ausmachen, was man »Kausalität« nennt. Und schließlich einige Bewirk104 Auch der schon genannte zeitgenössische griechische Philosoph Christos Giannaras neigt dazu und hat ihr ein eigenes Buch gewidmet: Ontologia tis schesis (Athen 2004). Wie es scheint, spielt Giannaras die »Beziehung« gegen die »Natur« aus.

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te oder Resultate zu den jeweiligen kognitiven Tätigkeiten wie Messen, Wissen, Wahrnehmung. Es handelt sich also um eine weit verbreitete Kategorie bzw. Modalität und insofern kommt Aristoteles der modernen Einschätzung doch wieder nahe. Bei den quantitativen Relationen unterscheidet Aristoteles zwischen den zahlenmäßig bestimmten und den zahlenmäßig unbestimmten. Damit greift er die im vorletzten Abschnitt getroffene Unterscheidung zwischen »diskret« und »stetig« wieder auf, und der amerikanische Übersetzer Joe Sachs macht dazu eine theoriegeschichtliche Anmerkung, die ich so verstehe, dass seit Descartes die nicht-zahlenmäßige, also die stetige Quantität ihre rationale Eigenständigkeit verloren hat: alle Quantitäten werden »numeralisiert«, »digitalisiert«. 105 Dies in der Mathematik. Und die sogenannte Quantenphysik: weitet sie die Digitalisierung auf die Physik aus? * 12. November 2015 Nicola Schössler hat ihre Tochter Ida (16 Monate alt) mitgebracht und schon führt sie vor (allerdings nicht in Vorführungsabsicht, sondern aufgrund von Naturnotwendigkeit), was wir zuletzt besprochen haben: die Menschenteilung, wie sie zwischen Mutter und Säugling üblich ist. Wir haben also Gelegenheit, etwas im pragmatischen Vollzug wahrzunehmen, was man wissenschaftlich elaborieren und sogar philosophisch sublimieren kann. Wie die ersten Sätze der Metaphysik zeigen, bildet nicht die Philosophie den weitesten Horizont für die Ausführungen dieses Buches, sondern Erkenntnis überhaupt, beginnend mit den Sinneswahrnehmungen – auch mit denen der anderen Tiere. Den etwas engeren Horizont bilden dann die Wissenschaften, die es damals – um das Jahr 320 – schon in größerer Zahl gab, einige von ihnen von Aristoteles selber erfunden oder zumindest vorangetrieben. Und einige dieser Wissenschaften, nicht alle, sind von Aristoteles in den Rang von 105

Siehe Aristotle’s Metaphysics. A new translation by Joe Sachs (Santa Fe 2002): 97.

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»Philosophie« gehoben worden, ohne ihren empirischen Charakter zu verlieren: Physik, Ethik, Politik … Das Buch Metaphysik hingegen möchte aus der Philosophie eine eigene Wissenschaft machen – eine höchste. Doch werden in diesem Buch ständig Stücke aus den schon bekannten Wissenschaften wieder und wieder wiederholt, resümiert, umformuliert und nur in einzelnen Schüben werden die Steigerungen vollzogen, die aus der »gesuchten« Wissenschaft eine »wirkliche« Wissenschaft und eine »eigene« Philosophie machen sollen. Bisher, bis zum Buch V, ist nur eine Steigerungsrichtung deutlich artikuliert worden: die ontologische. Die metaphysische bleibt auf später hinausgeschoben. Und was nun die ontologische Stoßrichtung betrifft, die von der Logik, also Metasprache ausgeht, so wird sie von Aristoteles nicht zu einem »höheren Standpunkt« verfestigt, von dem aus dann auf die anderen Wissenschaften, die gewöhnlichen, und erst recht auf den »gemeinen Menschenverstand«, mit Verachtung hinuntergeschaut wird. So ein Gestus ist hingegen an der hegelschen Philosophie von Hegels Zeitgenossen und meinem Landsmann Franz Grillparzer (1791–1872) (und nicht nur von ihm) beobachtet worden – mitsamt gewissen politischen Implikationen (denn »Verachtung« ist schon ein politischer Gestus). Und im 20. Jahrhundert hat Martin Heidegger die Attitüde der Verachtung direkt mit der Ontologie amalgamiert – zweifellos ein Kunststück für sich und daher die riesige Faszination, die von Heidegger ausgeht (auch auf mich). 106 * Aristoteles hat die Relation zunächst als Affektion des Quantitativen besprochen (als als Akzidens an einem anderen Akzidens), wobei die Relation »mehr als« in Bezug auf Eines festgestellt wird. Sie kann aber auch in Bezug auf ein Wesen oder eine Qualität ausgesagt werden. Ein anderes Feld der Relation eröffnet sich von Tätigkeiten aus, die sich auf ein Objekt beziehen: messen, wissen, wahrnehmen, sowie verschiedene Arten von Bewirken. So ergibt sich der Vater als Rela106 Siehe dazu meine neuliche Lesung »Franz Grillparzer über Hegel, Heidegger, Hitler«, sowie: Grillparzer, Ontologie, Heidegger, in: Tumult Zeitschrift für Konsensstörung (Winter 2015).

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tionsbegriff: Bewirker des Sohnes. Als negatives Objekt des Sehens nennt Aristoteles das Unsichtbare – bei der Gelegenheit komme ich auf meine »Grundsätze der Optik« zu sprechen, welche einige Klarstellungen zum Sichtbaren und Unsichtbaren bringen. 107 Das Feld der Bezüglichkeit wird in zwei Bereiche geteilt: die Zahl und das Vermögen (von welchem das Bewirken ausgeht). Für die Relationen des Bewirkens betont Aristoteles, dass sie jeweils nur in einer Richtung existieren – und nicht reziprok. Das Sehen ist auf eine Farbe oder dergleichen gerichtet. Damit bestätigt Aristoteles die Vermutung, dass auch er Akzidenzienparameter wie die Farbigkeit für etwas Notwendiges hält.

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16. vollendet Vollkommen, vollendet, vollständig – diese Adjektive bezeichnen die Eigenschaft, um die es im Abschnitt 16 geht. Erste Bedeutung: vollständig ist, wem keiner seiner Teile fehlt (1021b 13 ff.); Beispiel: »die Zeit eines jeden …«; die Rede von Teilen verweist auf ein Quantum und natürlich fällt die Zeit darunter, Frage ist nur: Zeit wessen? Im modernen Aristoteles-Lexikon meint Friedo Ricken, es handle sich um irgendeine Maßeinheit wie Stunde oder Jahr, die seien immer vollständig; das stimmt sicher, bleibt aber ganz abstrakt-reflexiv; in seinem Artikel über chronos betont Anton Friedrich Koch, dass die Zeit über die Bewegung jeweils einem Wesen anhängt; so müsste man in die Genitiv-Bestimmung »eines jeden« etwas einsetzen und der Satz würde sich zu beachtlicher Tragweite aufbauen: die Zeit eines jeden Baumes, eines jeden Menschen, vielleicht sogar eines jeden Werkes ist vollständig. Eine aristotelische Aussage? Zweite Bedeutung: vollkommen ist, was hinsichtlich der Gutheit oder einer sonstigen Tüchtigkeit einen Superlativ darstellt: 107 Siehe Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997): Grundsätze der Optik, 62 ff. Meine Feststellungen zum Sichtbaren und Unsichtbaren sind sehr weittragend, verbleiben aber im Empirischen, Nachvollziehbaren, Kritisierbaren (ungefähr so wie die aristotelische Physik).

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bester Arzt oder bester Flötenspieler; hier geht es also um Qualitäten – und zwar in einem messbaren, jedenfalls vergleichbaren Grad. Vollständig ist etwas, dessen Teile allesamt in ihm liegen und nicht etwa irgendwo anders. Für die Zeit lassen sich zwei Dreiteilungen denken: die drei Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und die drei Zeitrelationen früher, gleichzeitig, später. 108 Die griechische Sprache umfasst darüber hinaus mehrere Zeit-»Begriffe«: Dauer (chronos), jetzt (nyn), Gelegenheit (kairos), Ewigkeit (aion). In dieser Reihenfolge stehen sie für mehr und mehr Gegenwart bzw. Gleichzeitigkeit. An die übliche Redensart, dass die Zeit »vergeht«, lässt sich vielleicht die einsichtigere Feststellung anschließen, dass die Zeit ständig weiterentsteht: wir stehen an der vordersten Front des Zeitwachstums – persönlich und kosmisch. Die vollständige Zeit enthält nicht nur alle ihre Teile: je vollkommener sie ist, umso mehr wachsen die Teile zusammen zu kairos, der in aion übergeht. Vollkommenheit ist mehr als Vollständigkeit: nämlich ein Superlativ in einer erwünschten Qualität (oder aber in einer unerwünschten – die es aber kaum gäbe, wäre sie nicht doch von jemandem erwünscht). Beispiel: der perfekte Dieb (1021b 21). Mit dem Vollkommenen bezieht Aristoteles das platonische und hoffentlich nicht nur platonische Gute in die »gesuchte Wissenschaft« ein – gleichzeitig formalisiert er es derart, dass es geradezu diabolisch auch ins Gegenteil gewendet wird: wenn etwas »vollkommen« zugrundegeht oder »vollkommen« zerstört wird, dann erreichen die Zerstörung und das Böse ihre Extreme: »zwei äußerste Dinge« (1021b 30). * 3. Dezember 2015 Vor der Seminar-Sitzung habe ich in der Herrengasse 5 (wo am 14. Oktober meine erste Grillparzer-Lesung stattgefunden hatte) auf Einladung durch Aloisia Wörgetter eine kleine Betrachtung über die 108 Siehe Walter Seitter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen (Weimar 2002): 393 ff.

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Nähe zwischen Poesie und Religion angestellt. Den direkten Anlass bildete das Gedicht »Stirb nicht wie sie« von Shumisa Al Numani (Oran); eine zusätzliche Inspiration lieferte mir Grillparzers Satz »Religion ist die Poesie der Poesielosen« sowie Elias Canettis »Elftes Gebot«. 109 Meine These: die heiligen Schriften der Religionen sind Dichtungen und daher können sie auch weitergedichtet werden. Die meisten mir bekannten Religionen verdrängen diese Tatsache – was den Umschlag in Fanatismus erleichtert. Die seinerzeitige altgriechische Religion indessen hat ihre Herkunft von Homer und Hesiod nicht ganz vergessen. Daran lässt sich die These anschließen: eben jene einzigartige kulturelle Situation habe das Aufkommen der Philosophie ermöglicht – Philosophie als mit der Religion konkurrierende Orientierungsweise, die von den Wissenschaften herkommt. Damit stelle ich mich in die Nähe der deutschen Philhellenen Martin Heidegger und Friedrich Kittler – ohne ihnen gänzlich folgen zu müssen. Aber die aktuelle weltpolitische Lage, in der die sogenannten abrahamischen Religionen Problemlieferanten sind, erfordert auch Denkschritte, die über eine derzeit modische – und nicht angstfreie – Religionsbegeisterung hinausführen. Und daher Aristoteles lesen. Wir sprechen darüber, dass wir uns mit dem Aristoteles-Lesen eher ins Abseits bewegen. Seit dem 19. Jahrhundert wird er nur »ausnahmsweise« ernst genommen. Zwar haben Hegel und Heidegger ihn ernsthaft studiert, kamen aber schließlich zum Ergebnis, ihn »überwunden« zu haben: der eine mit seiner irrationalistischen »Dialektik«, der andere mit seiner »Seynsgeschichte«. Andererseits hat bereits die technologische Grundeinstellung der modernen Naturwissenschaft die aristotelische, nämlich deskriptive Wissenschaftsauffassung marginalisisiert (obwohl diese ebenfalls stark naturwissenschaftlich ausgerichtet ist). Daher, so meine These, finden sich heutzutage ernsthafte AristotelesRezeptionen gerade bei »analytischen« Philosophen. Beispiel: Ernest 109 Al Numanis Gedicht findet sich in I. M. Hamid (Hg.): Symphonie der Rub AlChali. Gedichte (Wien 2015): 62 ff.; Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod (München 2014).

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Jonathan Lowe: The Four-Category Ontology: A Metaphysical Foundation for Natural Science (Oxford 2006); Barry Smith und Uwe Meixner wurden schon genannt. *

17. Grenze peras heißt die »Grenze«, welche einem Ding seine Vollständigkeit und Bestimmtheit gibt. Anfang wie auch Ziel, die durch die Wesensbestimmtheit festgelegt sind (1022a 4 ff.). Gegenbegriff zu apeiron – unendlich, grenzenlos, unbestimmt. Aristoteles hegt diesem Begriff gegenüber große Vorbehalte: aktual, substanziell gibt es das Unendliche nicht, eher nur potenziell. Insofern ist peras trotz einer gewissen Vieldeutigkeit ein Leitbegriff für Aristoteles – und eben deswegen vieldeutig, besser vielortig, weil der Begriff »überall« gebraucht wird, um das Drohen der Unendlichkeit, der totalen Offenheit aufzuhalten. Mir kommt jetzt die momentane Situation Europas in den Sinn … Für die Griechen war das Meer, insonderheit der allerdings sehr ferne Ozean, eine mögliche und gefürchtete Realisierung des Unendlichen. Und jede Küste, ja jeder Felsenriff, ein Anhaltspunkt dagegen … Ein umgangssprachliches Synonym für peras ist terma – das uns im lateinischen terminus sozusagen näher ist.

18. wonach, an sich Diese beiden nicht-substantivischen Präpositionalausdrücke, der eine relativ oder interrogativ, der andere demonstrativ (bzw. reflexiv) können Hinsichten bezeichnen, die, ebenso wie das letzte Stichwort, die Wesensbestimmung im Auge haben. Beide operieren mit der Präposition kata – also »gemäß«, »entsprechend«. Das »an sich« steht auch für die berühmte Wesensformel »das, was war, sein« (1022a 26) und folglich heißt es: »Der Mensch an sich lebt; denn die Seele ist der Teil des Menschen, in dem zuvörderst das Leben enthalten ist« (1022a 33). Damit wird die Bestimmung der Seele aus Abschnitt 8 aufgegriffen, das Biologisch-Psychologische wird ontologisch situiert.

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Bei dieser Zuordnung geht es um die beiden Dimensionen, deren Unterscheidung ein wichtiges Ergebnis unserer Lektüre ist: nämlich um die Unterscheidung zwischen der ontologischen Dimension der »Seinsmodalitäten« und der ihr vorausliegenden Dimension solcher »Realitätsbereiche« wie des Physischen, des Psychischen, welche in »Normaldisziplinen« wie Physik abgehandelt werden (in der aristotelischen Systematik gehört auch die »Psychologie« sowie die »Zoologie« zur Physik). * Nach der Sitzung höre ich – genau zu diesem Thema – in der Universität einen Vortrag von Dory Scaltsas (Edinburgh): »Mind and Matter in Aristotle’s Hylomorphic Soul«. Er behandelt das Thema anhand von zwei weit auseinander liegenden Beispielen: Haus und Zorn. Dabei folgt er De anima, I, 403a. Schon die Tatsache, dass der Zorn, eine Affektion der menschlichen Seele, parallel zum Haus, einem nach prosaischer Auffassung seelenlosen, leblosen Gebilde, behandelt wird, sollte uns verblüffen. Sie weist darauf hin, dass die für Lebewesen konstitutive Seele bei den Lebewesen genau die ontologische Stelle einnimmt, die bei allen irgendwie substanziellen Entitäten das Wesen, die Wesenheit, die Washeit, die Form ausfüllt. Sowohl der Zorn wie das Haus werden nach Aristoteles von zwei unterschiedlichen Wissenschaftlern betrachtet und definiert: vom Physiker und vom Dialektiker. Der Physiker definiert den Zorn über körperliche Vorgänge: Sieden und Kreisen des Blutes ums Herz; der Dialektiker bestimmt den Zorn als Streben nach Wiedergutmachung eines Leides. Wieso »Dialektiker«? Das ist wohl eine platonische Redensart, Dialektik als höchste und vollständigste Wissensart. Wenige Zeilen davor hatte übrigens Aristoteles die »dialektische« Redeweise als unzureichend und leer abgetan. 110 Ich würde die zweite Definition des Zornes als »ethische« bezeichnen.

110 Im Buch IV haben wir gesehen, dass Aristoteles sowohl die Dialektiker wie auch die davon unterschiedenen Platoniker geradezu als Todfeinde des Philosophen stigmatisiert.

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Und das Haus? Das wird vom einen durch Steine, Ziegel, Hölzer definiert – wohl vom Physiker. Vom anderen als schützender Ort, der Wind, Regen und Hitze abhält. Diese zweite Definition erfasst den »Begriff« des Hauses – und als Spezialist für den Begriff gilt der Dialektiker. Aber jetzt wird nicht mehr so einer genannt, sondern meines Erachtens viel plausibler der Kunstfertige, der Architekt. Und Sokrates würde sehr plausibel sogar den Hausbewohner an die erste Stelle setzen. An dieser Stelle möchte ich nicht ohne Sentimentalität anführen, dass meine Aristoteles-Lektüre im Jahre 2000 eingesetzt hat: damals habe ich eine ganze »Physik des Hauses« sozusagen in den Fußnoten der Metaphysik gefunden und zusammengetragen. Hier aber im Buch über die Seele stellt Aristoteles das Haus neben die menschliche Seele und deren Affektionen. Und deutet damit das an, was ich im Aufsatz »Morphismus, Energismus, Krypto-Animismus … Eine postaristotelische Glosse« ausgeführt habe. 111 Alle Wesen haben eine Wesenheit – das heißt so etwas Ähnliches wie eine Seele. 112 Wie sieht nun die Haus-Definition des Nicht-Physikers aus? Ist sie etwa möglichst »immateriell« – wie sie nach der heutigen Mode sein sollte? Nein – sie ist genauso »physikalisch« wie die des Physikers: »Ort, der Wind, Regen und Hitze abhält«. Lauter physikalische Begriffe, einige davon noch »kosmologischer« (wenn überhaupt möglich) als die »Steine« und »Hölzer« der anderen Definition. Auch »abhalten« ist ein physikalischer Begriff, wie ich hoffentlich weiß. Allerdings wird in dieser Definition auch die Zwecksetzung, die menschenbezogene, immerhin leise angedeutet. Ich bin jetzt aufs Haus intensiver eingegangen als gestern Dory Scaltsas in seinem Vortrag. Weil der große Komplex aus Bahnhof, Eisenbahn, Straße, Mauer, Haus, Wohnung meine Philosophische Physik Erschienen in I. Albers, A. Franke (Hg.): Nach dem Animismus (Berlin 2017). Explizit hat Aristoteles einem Artefakt wie der Tragödie gleichsam eine Seele zugesprochen und ihm abverlangt, wie ein Tier wirken zu sollen. Siehe Walter Seitter: Poetik lesen 2 (Berlin 2014): 94 ff., 100 ff. 111 112

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motiviert hat – und zwar bereits vor der Aristoteles-Lektüre. 113 Eine solche Lektüre ist ja nicht hauptsächlich dazu da, dass man Aristoteles kennenlernt, sondern dazu, einen Kollegen zu finden, mit dem man, neben dem man, sich für bestimmte Sachen interessiert. Die Kollegialität entspringt aus oder führt hin zu: Sachlichkeit. Aristoteles nennt die Affekte wie den Zorn logoi enhyloi – in den Stoff eingelassene Begriffe. Scaltsas verbalisiert das zu enmattering – ein Ausdruck, der den Anklang an die christliche Formel von der »Inkarnation« nicht vermeidet. Er unterstellt Aristoteles eine »psychosomatische Beschreibung«, womit die traditionelle Bezeichnung »Hylomorphismus« modernisiert wird. Und er unterstellt ihm »Funktionalismus«, womit der traditionelle Begriff der »Teleologie« in eine neuere Sprache übersetzt wird. 5. Jänner 2016

Neujahrsprotokoll In den Weihnachtsferien las ich zwei Bücher des schwedischen Schriftstellers Aris Fioretos (den ich vor drei Jahren in Berlin gesehen und getroffen habe und im letzten Dezember wieder in Wien). 114 Er ist mütterlicherseits österreichischer und väterlicherseits griechischer Herkunft. Und diese Herkunft liefert indirekt und direkt den Stoff sowohl für den Roman Der letzte Grieche (München 2011) wie für Die halbe Sonne. Ein Buch über einen Vater (München 2012). Das zuletzt genannte Buch würde sich gut zu einer philosophischen Interpretation eignen, ja eine solche herausfordern, weil es mit seiner ungewöhnlichen Schreibweise selber eine Reihe von theoretischen oder analytischen oder spekulativen Methoden einsetzt.

113 Siehe Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997); Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen (Weimar 2002). 114 Siehe dazu das Berliner Protokoll vom 12. Dezember 2012.

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Doch möchte ich nur einige letzte Zeilen des erstgenannten Buches zitieren, welche die Bilanz eines tödlichen Verkehrsunfalls ziehen, bei dem ein Vater und seine neun Monate alte Tochter sterben. Diese Zeilen treiben auf die Spitze, worüber wir gesprochen haben, als wir im Abschnitt 13 von Buch V von der Kategorie der Quantität gelesen haben: indirekt, nämlich akzidenziell können auch Menschen als Quanten bezeichnet werden. So schreibt Fioretos von den beiden Toten des Verkehrsunfalls, der sich am 29. November 1969 in Zagreb ereignet hat: 256 Zentimeter, 74,5 Kilo Zweieinhalb Quadratmeter Haut Vier Augen: zwei grüne, zwei schwarze Zweiunddreißig Zähne, verteilt auf einen Mund Zwei Münder Zwanzig Finger, zwanzig Zehen, mehrere Knochenbrüche Ein anderes von mir neulich gelesenes Buch ist Gold und Geist. Prolegomena zu einer Theorie des Schmucks von Pravu Mazumdar (Berlin 2015) – also eine philosophische Abhandlung. Ich greife daraus nur ein Kapitel heraus, dessen Titel »Apeiron und Kosmos« an den Abschnitt 17 anklingt, der vom peras handelt – dem Gegenteil von apeiron. Mazumdar übersetzt peras mit »Schranke« und schreibt, der Begriff sei für die Konzeption des kosmos als des endlichen Weltganzen maßgeblich gewesen, welches von einem Endlosen (apeiron) umflossen sei. Nach Anaximandros und anderen Naturphilosophen sei das apeiron göttlich, unsterblich und unvergänglich. Aristoteles hingegen lässt das Unendliche nur potenziell gelten – sozusagen in der logisch-mathematischen Dimension. Er verwirft eine substanzielle Konzeption des Unendlichen; insofern gehört er dem Hauptstrom der griechischen Tradition an, der das Unendliche als das Unbestimmte, Chaotische, Nichtige dem Endlichen als dem Begrenzten, Bestimmten, Substanziellen nachordnet. Bemerkenswert, dass mit kosmos das Ganze des Seienden als endliches bestimmt wird, was mit den Zusatzbedeutungen »Ordnung« und »Schmuck« gut zusammenpasst.

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9. Jänner 2016

Philosophen-Café-Protokoll Das Thema des heutigen Philosophen-Cafés war die Frage »Warum existiert die Welt?« und diese verdient es, protokollarisch festgehalten zu werden. Einmal weil sie durch ihre Eigenart imstande ist, die Position der Philosophie zu markieren: als die Fähigkeit oder das Interesse, auch solche Fragen zu stellen, die in Richtung Unbeantwortbarkeit tendieren. Mit dem Begriff »Welt« nimmt sich die Frage eine Größe vor, welche schon an den Rand unserer Fassungskraft grenzt (wiewohl der neulich erwähnte griechische Kosmos-Begriff den Welt-Begriff fassbar zu machen sucht). Doch die Warum-Frage scheint das Phänomen »Welt« auch noch zu übersteigen. Vor allem, wenn man an die uns bekannten Schöpfungsreligionen denkt, welche der Welt einen transzendierenden Gott »vorsetzen« – um die Frage zu beantworten (auch wenn sie sie gar nicht stellen). Die Spezialität der Religionen liegt ja darin, Antworten auf alle möglichen Fragen zu liefern, auch auf solche, die vom menschlichen Verstand weder aufgeworfen noch beantwortet werden. Doch unsere Frage positioniert die Philosophie auch im Verhältnis zu den Einzelwissenschaften, welche aufgrund begrenzter Erkenntnisse weitere – aber begrenzte – Fragen aufwerfen. In unserem Fall etwa die Frage nach einem eventuellen zeitlichen Anfang der Welt. Falls der Begriff »Welt« hier die Gesamtheit des Existierenden meint, könnte die Frage ohne wesentliche semantische Änderung durch eine klassische Formel ersetzt werden, die da lautet: »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?« Sie wird häufig auf Leibniz zurückgeführt, findet sich aber auch bei anderen Autoren. 115 Es geht dabei nicht einfach um die Gegenüberstellung von »etwas« und »nichts«, schon gar nicht um ein substantiviertes »Nichts«, sondern um das Warum für die vorausgesetzte Tatsache, dass es überhaupt etwas gibt (und nicht gar nichts). Eine Voraussetzung, die schwerlich zu bestreiten ist (höchstens einige griechische Sophisten mögen sich dazu verstiegen haben) und die bei 115 Siehe dazu die umfangreiche Publikation von D. Schubbe, J. Lemanski, R. Hauswald (Hg.): Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? (Hamburg 2013).

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näherem Zusehen auch noch Spezielleres impliziert: etwa die Existenz der Frage selber sowie die der Fragenden. Der Fragesatz setzt also die Existenz von etwas voraus – und trotzdem fragt er nach dem Warum. Ich höre da einen leisen Protest heraus, ein leises Plädoyer dafür, dass es »vielmehr«, d. h. »eher«, d. h. »lieber« nichts geben möge – weil dann vielleicht »alles« einfacher, leichter wäre. Jedenfalls könnte bzw. müsste man dann nicht so eine schwierige, ja unbeantwortbare Frage stellen. Ich bin darauf schon einmal eingegangen – am 29. Mai 2013. Ich vermute da eine Tendenz zum Einfacheren, ja zum Bequemeren. Eine Tendenz, die ich mit der »Moderne«, einer bestimmten Moderne, assoziiere: Tendenz zu weniger Arbeit, zu weniger Anstrengung, zu mehr »Freizeit« (nicht: Muße). Eine Tendenz zu weniger Unterscheidung, zu weniger Ordnungsaufbau, zu weniger Unwahrscheinlichem. Zu Wahrscheinlicherem. Also die Tendenz, die man seit dem 19. Jahrhundert als Tendenz zu mehr »Entropie« bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen irreversiblen Prozess in geschlossenen Systemen. Einfachstes Beispiel: Auflösung einer aus vielen Schneekristallen bestehenden weißen Schneedecke in eine weniger geordnete Bewegung einer Wassermenge, die ins Erdreich versinkt. Weniger einfaches Beispiel: Verwesung eines abgestorbenen Organismus, etwa eines verendeten Rehes, und Auflösung in seine Bestandteile, die irgendwann nicht mehr »RehCharakter« haben. Dabei handelt es sich um irreversible Prozesse in geschlossenen Systemen, also in begrenzten Formaten. Während die Leibniz-Frage sich auf viel größere Dimensionen, ja auf alles überhaupt bezieht. Weshalb sie ja auch das Übergewicht der »Negentropie« akzeptiert; ich sage: akzeptieren muss. Der Vorläufer des Begriffs »Negentropie«, nämlich »negative Entropie«, wurde von Erwin Schrödinger eingeführt, und zwar zur Charakterisierung von Lebewesen. 116 Schrödinger hielt daran fest, dass auch Lebewesen den Gesetzen der Physik folgen. Sie zeichnen sich jedoch 116 Siehe Erwin Schrödinger: Was ist Leben? – Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet (Basel 1946). Auch Ludwig von Bertalanffy erforschte den Zusammenhang zwischen Entropie und Leben.

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durch Energiezufuhr, -speicherung und -umwandlung aus, sind also offene Systeme und fähig, das Gegenteil von Entropie zu leisten. Ähnliches geschieht bei Aufbau von kulturellen Organisationen, Werken, Praktiken. Auch da kommt es zu unwahrscheinlichen Gebilden und Prozessen. In Bezug auf die Leibniz-Formel vermute ich nun: gerade weil sie einen leisen pro-entropischen Ton anschlägt, legt sie eine anti-entropische Beanwortung der in ihr enthaltenen Frage nahe: es gibt etwas – und nicht etwa gar nichts, weil in dem von ihr eröffneten Raum eine Kraft am Werk ist, die für Etwas überhaupt, für das Sein von Etwas überhaupt optiert und arbeitet. Eine Kraft und eine Art Wille. Ein Art Wille, der sich gegen das Leichtere und Einfachere entscheidet: für Differenzierung, Strukturierung, Ordnung, für Leistung und Tätigkeit, für die Fortsetzung und Vermehrung von Tätigkeit. Eine Option für das Existieren, die mit dem Einsatz für Tätigkeit und Relation, für Differenz und Pluralität Hand in Hand geht. Ich setze diese Option in einer ontologischen Schicht an, in der ich noch keine getrennten Entitäten, etwa Subjekte oder Objekte, ausmachen kann. Auch keine unterscheidbaren Aktivitäten wie Lieben oder Erkennen oder Hassen. Aber irgendwelche Kristallisierungen müssen da stattfinden, die wohl zu solchen Differenzen führen, wie sie uns in der Welt der Erscheinungen begegnen. Begegnungen und Erscheinungen – ja solche banalen Phänomene müssen da zustande kommen. Was denn sonst? Und Begegnungen und Erscheinungen mit Bedeutungen. Wenn mein Antwortversuch von einer fundamentalen Willensschicht spricht, mag man daran denken, dass Philosophen wie Arthur Schopenhauer oder Friedrich Nietzsche einen »Willen zum Leben«, einen »Willen zur Macht« angenommen haben. Inwieweit der von mir vermutete Grundwille mit diesen Konzeptionen konvergiert, sei dahingestellt. *

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15. Jänner 2016

19. Anlage »Anlage nennt man die Anordnung eines Dinge, das über Teile verfügt – entweder dem Ort, dem Vermögen oder der Art nach.« (1022b 1 f.) Der Abschnitt 19 ist so extrem kurz – er besteht aus kaum mehr als einem Satz, dass ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, das Buch V sei doch nicht ganz ordentlich komponiert oder redigiert – womit das hier vorfallende Stichwort als Frage ans Buch selber gerichtet wird. Wie ordentlich ist die Anordnung seiner Teile? Ist diese Anordnung eher chaotisch oder doch »kosmisch«? Denn das Stichwort lautet »Disposition« – ich ziehe hier die lateinische Übersetzung vor, weil sie dem Griechischen näher ist. Disposition ist die Ordnung, die innere Ordnung eines Dinges, das über Teile verfügt, und zwar über Teile in drei möglichen Hinsichten: Raumteile, Fähigkeitsteile, Definitionsteile. Wie überzeugend dieser lakonische Abschnitt 19 auch sein mag, sein Thema oder gar sein Anliegen ist die Ordnung und das wollte ich mit meiner etwas ironischen Paraphrase auch gar nicht in Abrede stellen. Wohl aber wollte ich darauf hinweisen, dass man sich mit dem Insistieren auf der Ordnung auch ein bisschen verhaspeln kann – und das tut Aristoteles hier, indem er die Lakonie doch etwas übertreibt. Wenn man eine Sache extrem verkürzt, hat sie nämlich höchstens zwei oder drei Teile, und dann ist es mit der Ordnungsleistung möglicherweise nicht mehr weit her. Gianluigi Segalerba weist darauf hin, dass nicht Platon der Hauptgegner des Aristoteles ist, sondern Empedokles, dessen Lehre von Liebe und Streit voller Selbstwidersprüche sei. Dass Aristoteles bei aller Kritik an Platon doch Platon-Schüler geblieben sei, habe ich in den Sechzigerjahren ganz explizit bei Helmut Kuhn in München gehört (und Eric Voegelin hat der Sache nach dasselbe gemeint). 117 117 Meinem Lehrer Eric Voegelin (1901–1985), dem gemeinhin und nicht ganz zu Unrecht eine platonisch-aristotelische Orientierung nachgesagt wird, widme ich hier

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20. Das Innehaben Das Stichwort in Abschnitt 20 lautet »hexis« – das Verbalsubstantiv von »echein«. Also heißt »hexis«: Habung, Haltung, Habitus. Franz Schwarz übersetzt mit »Zustand«, »Innehaben«. Der Zustand des Gewandhabens ist ein Mittleres zwischen dem Habenden und dem Gehabten (1022b 8). Die zweite Bedeutung von hexis wird unter Disposition subsumiert – die also doch etwas weiter ausgeführt wird. Und zwar im Sinn von Befinden, sich gut oder schlecht befinden; etwa Gesundheit. Hexis kann auch ein Teil eines solchen Befindens sein. Teil der Gesundheit? Etwa Kräftigkeit oder Appetit oder … Und jetzt erst kommt Aristoteles auf das Wort, welches in seiner Ethik den wichtigsten Anwendungsbereich der hexis bezeichnet: arete: Tüchtigkeit, Vortrefflichkeit, Tugend.

21. Die Affektion Die Begriffe, welche in den einzelnen Abschnitten von Buch V bestimmt und differenziert werden, verhalten sich nicht immer exkludierend gegeneinander; gelegentlich wird ein solcher Begriff unter einen anderen subsumiert. Im Abschnitt 21 werden die Erleidungen mit den Qualitäten gleichgesetzt, mit Geschmacks- oder Farbqualitäten – sofern etwas sie bekommen kann (z. B. schwarz werden) oder sofern etwas sie schon bekommen hat (schwarz geworden ist).

aus eher politischem Anlass eine Fußnote, und zwar aufgrund einer Erwähnung, die ihm Jörg Scheller jetzt in der ZEIT zuteil werden lässt. Scheller setzt sich mit Marc Jongen auseinander, der mit flotten und (selbst)widersprüchlichen Thesen eine »konservative« Position zu entwickeln sucht. Und stellt ihm als Beispiel für ein glaubwürdiges konservatives Denken Voegelin gegenüber, der amerikanische Common-SensePhilosophie mit philosophisch durchdachtem Christentum, »offene Gesellschaft« mit meditativer »Offenheit der Seele« verbinde. Siehe Jörg Scheller: Wenn die stolzen Geister denken, in: DIE ZEIT 2016/3.

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Pathos ist das Substantiv zum Verb paschein, das seinerseits zu den Kategorien gehört und »erleiden« bedeutet. Es bedeutet ein qualitatives Werden oder Erleiden – ein passives Werden. Zunächst ein neutrales Verändertwerden, Bewirktwerden, ein neutrales passives Affiziertwerden. Daher auch die deutsche (und englische) Übersetzung mit »Affektion«. Die lateinischen Entsprechungen zu »paschein« und »pathos« lauten »pati« und »passio«. In diesen Wörtern leben die griechischen Wörter direkter weiter und zu ihrem Wortfeld gehört eben auch die Passivität, welche den Wortsinn sehr neutral bewahrt. Vor den emotionalen Profilierungen, wie sie sowohl im Leiden als auch in der Leidenschaft zum Ausdruck kommen. Leiden, Schmerz, Unglück bilden dann bei Aristoteles die dritte (bzw. die zweite) Bedeutungsebene von pathos. In seinem bzw. im griechischen Vokabular gehört auch die Leidenschaft dazu – wie wir in der Poetik gelesen haben. Der Übergang zu dieser Bedeutungsebene ergibt sich daraus, dass Passivität bei den Griechen tendenziell als Übel, jedenfalls als Mangel betrachtet worden ist. Und als Charakteristik den Frauen und den Sklaven zugeschrieben worden ist. Wohlgemerkt als qualitativer, also akzidenzieller Mangel und nicht, jedenfalls laut aristotelischer Kategorienlehre, als Wesensmangel (denn wenn kein Mensch menschlicher ist als ein anderer, dann ist auch kein Mensch weniger menschlich als ein anderer – womit dem Rassismus immerhin die Spitze gebrochen wird). 118 Die Leidenschaften galten den Antiken als Überwältigtwerden durch irgendwelche Kräfte, als Verlust der Eigenmächtigkeit, als Einbuße an Macht und Selbstherrschaft. Bis zum Stoizismus (der noch in den lateinischen Philosophen der frühen Neuzeit weiterlebte) galt die Parole, die Leidenschaften (zu denen auch Gefühle wie Trauer und Freude gehören) müssten ausgeräumt, zumindest zurückgedrängt werden. Aristoteles hat bekanntlich auch hier jeden Radikalismus

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Siehe die Eintragung unter dem 18. März 2015.

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vermieden und die ethische Zulassung und Formung der Leidenschaften, etwa auch des Zorns, vorgezogen. Platon, der das stoische Programm der Leidenschaftsniederhaltung begründet hat, hat allerdings gewisse Formen des Überwältigtwerdens von seinem Verdikt ausgenommen: die von den Göttern verhängte Raserei, die so etwas wie die Dichter (und wohl auch Platon selber) möglich macht: »enthousiasmos«, »mania«. Unterwerfung unter den Gott, Passivität unter Gott: ja. 119 Was aber die gewöhnlichen Passiven und Schwachen, also die Sklaven und die Frauen angeht, so haben die in der Spätantike in einer der orientalischen, nicht-olympischen Sekten ihre Zuflucht gefunden: im Christentum, das so klug war, seine eigentlich jüdische Religionsreform ins Griechische zu übersetzen und damit die eigenen Schriftgelehrten überflüssig zu machen. 120 Griechische Frauen und Sklaven waren, wie aus den Paulus-Briefen zu ersehen ist, diejenige Schicht, die den Aufstand gegen die antike Herrengesellschaft, den Auszug aus der olympischen Herrenreligion, zwar still und leise, langsam und mühselig und mit vielem Leiden, vorangetrieben hat. Die griechische Kultur hat in mehrfacher Hinsicht dem Christentum vorgearbeitet – und den unleugbaren qualitativen Sprung möglich gemacht (was fanatischen Philhellenen wie Nietzsche und Heidegger großes Kopfzerbrechen bereitet hat – nicht nur Kopfzerbrechen). 121

119 Michel Foucault, der auf den Aktiv-Passiv-Kontrast in der antiken Kultur aufmerksam gemacht hat, hat in seinen späten Schrifen einer gewissen Selbsttransformation durch Unterwerfung unter die Wahrheit das Wort geredet. 120 Friedrich Kittler, der bekennende Nicht-Christ, hat in der christlichen (und griechischen) Außerkraftsetzung der jüdischen Schriftgelehrten sowohl ein Motiv für die Kreuzigung Jesu wie auch für die ökumenische Durchsetzung des Christentums gesehen. 121 Siehe dazu Micha Brumlik: Was wir auch den Griechen verdanken? Das Christentum!, in: Neue Rundschau 125, 2014, 4: 98 ff. Papst Benedikt XVI. hat 2006 in seiner Regensburger Vorlesung vor einer »Enthellenisierung« des Christentums gewarnt; Benedikt XVI.: Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung (Freiburg, Basel, Wien 2006).

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Zum Schluss wurde die Frage aufgeworfen, was für eine Art von Untersuchung oder Disziplin hier in diesem aristotelischen Wörterbuch vorliegt. Gianluigi Segalerba hat daraufhin von »analytischer Ontologie« gesprochen, und zwar mit Bezugnahme auf Donald Cary Williams (1899–1983), der in seinem Buch Principles of Empirical Realism. Philosophical Essays (Springfield 1966) schreibt: »Concerned with what it means to be a thing or kind at all, [analytic ontology] is in some wise prior to and independent of the other great branch of metaphysics, speculative cosmology: what kinds of things are there, what stuff are they made of, how are they strung together?« Dieser Auskunft können wir wohl zustimmen, wenngleich wir erst zwei Drittel des Wörterbuchs gelesen und besprochen haben. Die darin aufgelisteten und differenzierten Begriffe machen einen sehr heterogenen Eindruck: die meisten von ihnen sehen tatsächlich wie »Begriffe« aus und beziehen sich auf die grundsätzlichen Ausführungen im Buch I, oder aber sie greifen die Wörter auf, mit denen im Buch IV die Ontologie begründet worden ist – teilweise sind das auch Ausdrücke, denen wir den Titel »Begriff« nicht ohne weiteres zubilligen würden: formale oder formalistische Anzeigen, Relativ- oder Interrogativpartikel, Demonstrativ- oder Indefinitpronomina; das geht in die Richtung der Ontologie, die Williams richtig kennzeichnet: in die Richtung der – formalen – Seinsmodalitäten, die eine Tendenz zum Dramatischen haben. Hingegen bleibt die Ebene der – inhaltlichen – Realitätsbereiche (etwa Lebewesen, Heilkunst, Baukunst) fast völlig ausgespart – es sei denn, diese tauchen dann in den Differenzierungen bzw. Illustrationen der Begriffe auf.

27. Jänner 2016

22. Privation Privation bedeutet generell, dass etwas etwas nicht hat, sei es, weil etwas dieses etwas ohnehin nicht hat, oder aber, obgleich etwas so ein etwas haben sollte (1022b 21 ff.); Beispiel: Blindheit. Beide Zustände des Nicht-Habens werden aber durch den Akt bezeichnet, durch welchen etwas aus dem Haben zum Nicht-Haben verändert 200 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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wird: die Beraubung. Ein akzidenzieller Zustand wird also mit dem akzidenziellen Vorfall bezeichnet, der durchaus als Unfall gelten muss. Akzidens heißt ja wörtlich: Zufallendes. Solchermaßen neigt die Sprache der Ontologie zur Dramatisierung und provoziert zur Narrativisierung. Dieser Akt der Beraubung selber gilt für Aristoteles dann als zweite Bedeutung des Begriffs, doch geht er auf den kriminologischen Sachverhalt nicht näher ein (1022b 32). Vielmehr zieht er sich auf die harmloseste, die rein linguistische Form der Privation zurück, welche durch das sogenannte alpha privativum besorgt wird, wo also ein Buchstabe als »Räuber« auftritt; Beispiele dafür, die ins Deutsche übernommen worden sind: anormal, apathisch, atheistisch. Aristoteles’ Beispiele: ungleich, unsichtbar (= farblos), unfüßig (oder schlechtfüßig) (1022b 33 ff.). Das Beispiel »unkernig« (kernlos) weist auf einen zivilisatorischen Unterschied zu uns hin: kernloses Obst galt seinerseits als sehr mangelhaft, war es doch mit Unfruchtbarkeit geschlagen; bei uns hingegen gilt es als züchterische Errungenschaft. Die Beispiele schlecht, ungerecht versieht Aristoteles mit dem Kommentar, es gebe nicht nur gute und schlechte Menschen, sondern viele dazwischen (1023a 6 f.). Indessen erwähnt Aristoteles hier nicht die wichtigste Bedeutung der Privation, die man eine ontologische nennen muss: alle beweglichen, körperlichen Dinge bestehen aus drei Bestandteilen: Form, Privation, Stoff; Beispiel Farbe: weiß, schwarz, Oberfläche (XII, 1070b 20 f.; 1069b 34; 1071a 7 ff.). Der Mangel als zentrales Element eines jeden Dinges, als Voraussetzung für seine Veränderungen. Dies ist nur ein – allerdings – schwerwiegendes Anzeichen dafür, dass die Begriffsanalysen im »Wörterbuch« des Buches V als weit entfernt von jeder Vollständigkeit angesehen werden müssen. Oder könnte man einwenden, Aristoteles habe die Wortbedeutungen der Privation wohl aufgelistet, nicht aber ihre Rollen in verschiedenen theoretischen Zusammenhängen? Der folgende Abschnitt bestätigt eher die Vermutung von der Mangelhaftigkeit der Begriffsanalysen, denn er scheint die Unvollständigkeit der Analyse von hexis (Abschnitt 22) kompensieren zu wollen, 201 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

Buch V

indem er nun direkt den Infinitiv echein – »haben« – zum Stichwort macht.

23. haben Hier wird speziell das transitive Bedeutungsspektrum aufgetan, beginnend mit einer sehr aktiven Bedeutung: echein = agein: etwas nach eigenem Trieb treiben, führen … : so das Fieber den Menschen, die Tyrannen die Städte, die Bekleideten das Gewand; nach eigenem Trieb agieren ist die typisch animalische Aktivität. Die zweite Bedeutung von Haben: ein Material hat eine Form oder Qualität. Dritte Bedeutung: haben als umfassen; so das Gefäß die Flüssigkeit, die Stadt die Menschen, das Schiff die Matrosen. Übrigens spricht Aristoteles dem Ort eben dieses Umfassen zu; jeder Ort hat seine Sache. Vierte Bedeutung: »haben« als halten, festhalten, auseinanderhalten, zusammenhalten (und daran hindern, nach eigenem Trieb zusammenzufallen oder auseinanderzufliegen – also gegen den Trieb eines anderen wirken). Und »in etwas sein« entspricht dem »gehabt werden«. Dem Haben wird da eine Kraft zugesprochen, eine Art Übermacht über das Gehabte. Wobei die Stadt einmal in der Rolle des Schwächeren, ein ander Mal in der Rolle des Stärkeren vorkommt. schwächer Leute

stärker Stadt

Tyrann

Die Stadt ist stärker als die Leute: aufgrund ihrer baulichen, seinerzeit festungsartigen Struktur, außerdem Übermacht des Kollektivs gegen die Einzelnen; wenn dann das Kollektiv auch noch einem übermächtigen Einzelnen anheimfällt, dann sind die kleinen Einzelnen schlecht dran. Das kann sich ändern, wenn die Stadt von den Leuten selber gehabt, innegehabt wird – und zwar von den Leuten, welche die natürliche Übermacht des Kollektivs über die Einzelnen ausbalancieren können, sodass die Stadt Leute hat, welche die Stadt haben, und sich keine schroffe Übermacht bildet.

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Dass Aristoteles das Verbum »haben« so eindeutig mit »machthaben« assoziiert und in diesem Sinn politisch versteht, darf vermerkt werden: Zusammenfassung und Machtausübung. Die Unterscheidung von »schwächer« und »stärker« gehört zur Dimension der Seinsmodalitäten – woraus hoffentlich hervorgeht, dass diese nicht unwichtig ist. Es lässt sich sogar die Frage daran anschließen, ob nicht »das Politische« (im Sinn von Carl Schmitt), das kein eigenes Sachgebiet (wie etwa das Moralische, das Ästhetische, das Ökonomische) bezeichnet, sondern nur den äußersten Intensitätsgrad einer »seinsmäßigen« oder »existenziellen« Verbindung oder Trennung von Menschen, eine Nähe zu den ontologischen Seinsmodalitäten aufweist, während die ökonomischen, religiösen, moralischen, ästhetischen Sachgebiete den Realitätsbereichen nahestehen. 122 Gesche Heumann fragt, ob etwa die Religion im Wörterbuch eine Erwähnung findet. Eher nicht. Doch findet sich eben im Abschnitt 23 die typisch griechische Bemerkung, dass der Titan Atlas den Himmel trage (damit der nicht herabstürzt): ein augenscheinlich existierendes, ein natürliches Phänomen wird personifiziert und mit einer übergroßen kosmologischen Leistung betraut (siehe 1023a 20). Und die Antwort ist ebenso typisch aristotelisch: die Dichter machen Atlas den Himmel halten: die Religion wird auf die Dichter zurückgeführt (in diesem Fall ist es Hesiod). * 15. Februar 2016 Reise nach Thessaloniki. Wohne wieder im Hotel Luxembourg, von wo das Meer zu sehen ist, sein Duft zu spüren und der Gipfel des Olymp zu erbicken ist. Claude Duprat schenkt mir das neueste Büchlein zur Weltkrise von Alain Badiou: Notre mal vient de plus loin. Siehe Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen (Berlin 1932); 26 ff., 38 f. Mein schon genannter Buchtitel Menschenfassungen enthält auch die beiden eben genannten Bedeutungen – und das Buch selber liefert eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt.

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Penser les tueries du 13 novembre (Paris 2016). Ich lese es an Ort und Stelle. Im Café Poeta wird die griechische Übersetzung meines Textes zu El Greco präsentiert: Dominikos Theotokopoulos. O Ellinas sta xena. Übersetzt von Omiros Tachmazidis (Thessaloniki 2016). Der Kunsthistoriker Antonis Kotidis referiert sehr gut über das Buch und es entwickelt sich eine lebhafte Diskussion, in der der Filmemacher Giorgos Keramidiotis meine Herangehensweise an Greco mit den österreichischen Aktionisten assoziiert. Am nächsten Tag wird Claude Duprats griechisches Buch Klossowski mit Lacan (Thessaloniki 2016) präsentiert: eine Parallelisierung der beiden intellektuellen Leben, die einander in der Distanz berührt und befruchtet haben; Klossowskis surrealistisches wirtschaftspolitisches Projekt zielt auf die Steigerung von Reichtümern, die ihr Maß nicht nur im Geld finden. Auf einer kleinen Tagung zu den aktuellen politischen Krisen versuche ich zu der seit dem letzten Sommer sprunghaft angestiegenen Einwanderungswelle aus Asien und Afrika Worte zu finden, und das gelingt mir nur, indem ich die Spannung zwischen Dableiben und Weggehen grundsätzlich und autobiographisch reflektiere: »partir, rester, migrer, habiter … Une dimension physique du politique«. Zum ersten Mal sehe ich, dass vom Aristoteles-Platz aus, der die Zentralachse der Stadt vorgibt, in derselben Achse in der anderen Richtung, also über dem Meer, der gesamte schneebedeckte Olymp erscheint (bei klarer Luft).

24. aus etwas sein Erste Bedeutung: aus einem Material sein. Logische Reihe von der Statue, die aus Erz ist, zu allem Schmelzbaren, das aus Wasser ist – dem geschmolzenen (1023a 26 ff.). Zweite Bedeutung: aus etwas, nämlich aus einem ersten bewegenden Anfang, herrühren; wie aus der – verbalen – Schmähung der – handgreifliche – Kampf; Entstehung von Konflikten, Kriegen aus »ganz anderen«, jedenfalls kategorial anderen Anfängen (1023a 30 ff.).

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Wenn das Kind von Vater und Mutter stammt oder die Pflanzen aus der Erde, so trifft dies nur für einen Teil der jeweiligen Herkunft zu (1023b 4 ff.). Und wenn die Nacht aus dem Tag entsteht, so heißt dies so viel wie nach dem Tag (1023b 7).

25. Der Teil Dieser Begriff wird durch den Begriff »Quantum« erläutert, so wie das Quantum seinerseits (im Abschnitt 13) durch die Teilbarkeit erklärt worden ist 1013b 13 ff.). Die Teilbarkeit kann aber auch über das Quantitative hinausgreifen. So sagt man, die Arten seien Teile der Gattung. Oder von einem ehernen Würfel sei sowohl das Erz ein Teil wie auch die Winkel, also die Form der Geometrie. Ebenso ist der Begriff (logos) einer Sache ein Teil derselben (1013b 23). * Dieser bescheidene Abschnitt spielt mit seiner Rede von »Form« und »Begriff« auf den Hauptbegriff der Ontologie an: ousia, Wesen, Substanz. Während das Seiende und viele weitere Stichworte des Wörterbuchs (zum Beispiel das Haben) als »mannigfach ausgesagt« vorgeführt werden, geschieht dies mit der ousia nicht. Vielmehr hat es von ihr geheißen: kata dyo tropous legetai – sie wird in zwei Versionen eingesetzt (1017b 23): wohlgemerkt in genau zwei Versionen und diese zwei sind nicht einfach zwei nebeneinander liegende Bedeutungen, sondern zwei formal unterschiedliche und streng zusammengehörige Aspekte. In den Kategorien heißen sie »Erste Substanz« und »Zweite Substanz«. Mit der Ersten Substanz sind getrennt existierende Individuen gemeint, mit der Zweiten Substanz sind Artbestimmungen gemeint, die nur in diesen Individuen vorkommen und ohne die die Individuen nicht auskommen. Mit den Artbestimmungen werden die Individuen an die Klasse ihrer Artgenossen angeschlossen, indirekt auch an die noch umfangreichere Klasse ihrer Gattungsgenossen. Mir geht es in der Aristoteles-Lektüre darum, seine Fachsprache in Umgangssprache zu übertragen. Ein Anliegen, das sich nicht mit dem 205 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Problem der Übersetzung, der technisch optimalen Übersetzung, deckt, sondern darüber hinausgeht. Erfreulicherweise hat Aristoteles selber sich dieses Anliegen zu eigen gemacht und das Verhältnis von Erster Substanz und Zweiter Substanz auch mit dem Schema »Ganzes – Teil« ausgedrückt. So in dem bereits gelesenen Abschnitt 25, wo als Ganzes ein eherner Würfel vorgestellt wird und als zwei Teilaspekte der Stoff, also die Bronze, und die Form beziehungsweise das Formelement Winkel. Die Gesamtform, also die Würfelform, würde der Zweiten Substanz entsprechen. Diese Form ist zwar nur ein Teilaspekt des Würfels, aber ein so wesentlicher, dass Aristoteles ihm den Titel »Substanz« nicht verweigern will (der ja mit dem Wort »Wesen« auch sehr gut wiedergegeben werden kann – worüber wir bereits gesprochen haben). Daher die »Spaltung« der Substanz in die »zwei Substanzen« (oder in die »zwei Wesen«), die beide denselben Titel bekommen, obwohl die beiden als das Ganze und der Teil eigentlich nicht gleichberechtigt zu sein scheinen. Aber dieser Teil ist eben gleichberechtigt, daher gleichermaßen titelberechtigt. Die Spaltung ist auch eine Doppelung. Übersetzend kann man sie meines Erachtens am besten klarmachen, wenn man für die Erste Substanz »Substanz« einsetzt und für die Zweite Substanz »Essenz« – wie das Thamar Rossi Leidi tut. 123 Bleibt allerdings die riesige sprachliche Differenz zu Aristoteles, der mit ousia die beiden Wendungen des Begriffs in ein einziges Wort hineinpackt und so ihre Einheit festschreibt. Mit der Differenzierung durch Nummerierung war Aristoteles dann selber nicht ganz zufrieden, deshalb hat er sie später aufgegeben. Dass die lateinischen Wörter für die Wiedergabe von ousia problematisch sind, ist nun seit langem bekannt. Der Vorschlag von Joe Sachs, das Wort mit »thinghood« zu übersetzen, ist gewiss mutig – aber wir müssen nicht näher darauf eingehnen. 124

123 Siehe Thamar Rossi Leidi: Die Aktualität des Substanzbegriffs, in: K. Beier, Th. Rossi Leidi (Hg.): Substanz denken. Aristoteles und seine Bedeutung für die moderne Metaphysik und Naturwissenschaft (Würzburg 2016): 37 ff.; der Autor liefert mit »Verhalten«, »Funktion«, ergon (Werk) gute Hilfsbegriffe zum Verständnis von Substanz. 124 Siehe Aristotle’s Metaphysics. A new translation by Joe Sachs (Santa Fe 2002): XXXIV ff.

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Im Abschnitt 8 des Wörterbuchs hat Aristoteles für seine Fachbegriffe Erste Substanz und Zweite Substanz die Allerweltsbegriffe »Körper« und »Seele« eingesetzt, damit alle verstehen und nach Belieben selber konkrete Beispiele bilden können. Das Wort »konkret« passt übrigens besonders gut für die »erste Substanz«, die eben zusammengewachsen ist aus Stoff und Form, man könnte auch sagen aus Erster Substanz und Zweiter Substanz. Das heißt, dass Aristoteles dem Hauptbegriff des Realitätsbereichs der Physik, also »Körper«, in der Ontologie, die es mit den Seinsmodalitäten zu tun hat, gewissermaßen einen prominenten Platz zuweist – und mit »Körper« meint er alle kohärenten Erscheinungen des Kosmos, insonderheit die Lebewesen, darunter auch die Menschen (zu denen auch die Philosophen zählen). Sie alle sind Erste Substanzen. Und sie alle haben je eine Zweite Substanz, also eine »Seele« – im strikten oder im weiteren Sinn, denn wenn sie keine hätten, wären sie keine Körper, keine qualifizierten Körper (Steine, Blumen, Tiere und so weiter). Die Seele wird wiederum als »Ursache des Seins«, als Formursache, fachsprachlich charakterisiert. Sie verleiht dem Körper seine spezifische Qualität, »verursacht« die Aufrechterhaltung dieser durch die Zeit hindurch, ermöglicht durch spezifische Seelenkräfte die spezifischen Leistungen der Körper (wie Atmen, Essen, Sprechen …). Man ist Körper und hat Seele. »Man« – das heißt: jeder, jede, jedes. »Körper« heißt: das jeweilige individuelle Ganze; »Seele« heißt: die Kraft des Was, des Soseins, der Art, welche jeden Körper qualifiziert und mit allen Artgenossen verbindet. * 30. März 2016 Um dem Vergessen neuerlich entgegenzutreten und damit überhaupt so etwas wie Lernen endlich zu ermöglichen, gehen wir noch einmal auf das in den letzten Stunden (und auch in den letzten Jahren) Gelesene und Gesagte zurück. Jetzt zum Verhältnis zwischen Erster Substanz und Zweiter Substanz und zu meiner Behauptung, die Erste Substanz könne als ein Ganzes, 207 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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die Zweite Substanz als ein Teil dieses Ganzen betrachtet werden. Aber nicht als irgendein Teil – so wie ein Ast ein Teil eines Baumes ist, sondern ein »substanzieller« bzw. »essenzieller« Teil: der WasTeil, derjenige Teil, der dem Baum die Baumheit liefert, der den Baum als solchen qualifiziert und der deshalb ebenfalls den Titel »Substanz« zugesprochen bekommt. Daher bei Aristoteles die etwas verwirrende »Doppelung« des Substanz-Begriffs sowie der ganz enge Zusammenhang der »beiden Substanzen«. Doppelung oder Spaltung? Die Dualität und der Zusammenhang zwischen Erster und Zweiter Substanz kann mit einer ganz anderen Dualität verglichen werden: mit der platonischen Dualität zwischen Urbild und Abbild, wobei die aristotelische Zweite Substanz mit dem platonischen Urbild zunächst einmal ungefähr (!) gleichgesetzt werden kann (sie wird sogar einmal Vorbild genannt), während die aristotelische Erste Substanz in etwa die Stelle des platonischen Abbildes einnimmt. Und dennoch müssen die beiden Begriffspaare deutlich voneinander unterschieden werden. Die aristotelische Zweite Substanz hat nicht wie das platonische Urbild eine eigene und sogar höhere Existenz, sondern sie ist nur als Wesensteil der Ersten Substanz wirklich im vollen Sinn. Nicht transzendent, sondern immanent. 125 Es handelt sich bei Platon und bei Aristoteles um zwei ganz verschiedene Topiken oder Ortsverhältnisse. Bei Platon sind Urbild und Abbild weit voneinander entfernt, das Abbild ist nur ein Abglanz, ein schwacher, ganz und gar abhängig vom Urbild. Erste Substanz und Zweite Substanz hängen hingegen wie Ganzes und Teil eng aneinander, besser: ineinander – allerdings hängt die Zweite Substanz mit 125 Gianluigi Segalerba meint, man müsse der platonischen Auffassung ein gewisses Verständnis entgegenbringen; denn Platon sei es im Kampf gegen die Sophisten darum gegangen, die Wesensqualität als solche zu »retten«, weil er ihre Anerkennung für politisch notwendig hielt. Der Unterschied zwischen der aristotelischen und der platonischen Ontologie beruhe auf unterschiedlichen Ansichten und Einstellungen zur Anthropologie, zur Ethik, zur Politik. Meines Erachtens lassen sich die »Ideen« als Übertreibung oder Überhöhung der deskriptiven Wesenheiten kaum plausibilisieren; eher hingegen als normative Qualitäten: »das Wahre«, das »Schöne«, »das Gute«. Im Mittelalter nannte man sie »Transzendentalien« und man könnte von partiellem Platonismus sprechen.

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anderen gleichartigen Ersten Substanzen ebenso eng zusammen. Die Zweiten Substanzen existieren jeweils polytopisch in allen Mitgliedern der Artgenossenschaft: in den Ersten Substanzen, die jeweils monotopisch jede für sich existieren. Bei Platon residiert und regiert das transzendente Urbild monotopisch, die jeweiligen dazugehörigen und abhängigen Abbilder sind polytopisch zerstreut. Das alles sind Formulierungen, die sich auf die aristotelische Fachsprache beziehen, sie mit der platonischen Sprache und Position vergleichen. Sie verbleiben innerhalb der aristotelischen Terminologie, schauen sich in ihr um, suchen nach Abwandlungen, nach zusätzlichen Gesichtspunkten, etwa den topischen. Und nun zu meinem Satz »Man ist Körper und hat Seele.« Ein Satz, der ungewohnt klingt, vielleicht sogar anstößig. Und er will geradezu auffällig sein, ja anstoßend. Nur wenn er so wahrgenommen wird, hat er eine Chance, verstanden zu werden. Er will die aristotelischen Aussagen im Abschnitt 8, welche den Begriff »Substanz« mit den umgangssprachlichen Wörtern »Körper«, »Seele« erklären, illustrieren sollen, ziemlich radikal umformulieren – damit wir sie endlich verstehen. Jetzt sage ich »wir« und damit vollziehe ich bereits eine Drehung der Sprache, die ich noch weiter treibe, indem ich den Protokoll-Satz »Man ist Körper und hat Seele.« noch um 45 Grad weiterdrehe und sage: »Ich bin Körper und habe Seele.« Ich transformiere die ersten Sätze von Buch V, Abschnitt 8, in diesen Ich-Satz – als Mittel-Satz setze ich voraus bzw. dazwischen: »Ich bin ein Lebewesen.« Da Aristoteles mit diesem Satz einverstanden ist, wahrt auch meine Umformulierung den Sinn seiner Sätze. Es handelt sich um eine »radikale« Umformulierung, da sie vielleicht zum ersten Mal so vollzogen wird, und vor allem, weil sie mit der IchPerspektive einen Ausgangspunkt wählt und eine Aussagerichtung einschlägt, die Aristoteles eher vermieden hat. »Ich bin dieser Körper (aufgrund einer bestimmten Seele).«

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Wenn ich den – hohen – Anspruch erhebe, Aristoteles in unsere Umgangssprache zu übertragen, so meine ich damit auch die Personalpronomen der ersten und der zweiten Person, und zwar diese Personalpronomen als Bestandteile des theoretischen Sprechens. Immerhin hat sich Aristoteles schon auf diesen Weg gemacht und auf diesem Weg hat er die zweite Person bereits in seine theoretische Rede eingeführt – was eigentlich nur von der ersten Person aus möglich ist: »Denn das Du-sein ist nicht das Musisch-sein. Denn du bist nicht musisch, insofern du bist; was du also bist, insofern du du bist, das ist dein Was-war-sein.« (1029b 15 f.) 126

26. Das Ganze Ein Ganzes ist etwas, dem keines seiner Teile fehlt, und das gleichzeitig Umfassendes und Umfasstes ist (1023b 26 f.). Ein anderes Ganzes ist das Allgemeine, zum Beispiel das Lebewesen, welches den Menschen, das Pferd, den Gott umfasst, die je für sich ein ganzes lebendiges Wesen sind (1023b 32 f.). Oder ein Quantum, das über Anfang, Mitte, Ende verfügt, ist ganz, wenn die Lage der Teile einen Unterschied macht; es ist nur gesamt, wenn sie keinen Unterschied macht (so das Wasser) (1023b 37 ff.).

27. verstümmelt Wie kommt so ein Wort, ein ganz kontingentes Akzidens, eine banale Eigenschaft aus dem beschädigten Leben, in eine Reihe mit »Anfang«, »Wesen«, »Gattung«?

126 In den Wendungen »Du-sein« und »Musisch-sein« stehen die Wörter »du« und »musisch« bei Aristoteles im Dativ. Im Deutschen hingegen im Nominativ, weil die Kopula »ist« Nominativ mit Nominativ verbindet. So auch im Griechischen. Doch in Infinitiv-Ausdrücken setzt Aristoteles den Dativ, sodass er wörtlich schreibt: das dirsein. Als würde er im finiten Satz sagen: du bist Dir, du bist einem Menschen. Als wäre das kopulative oder transitive »bist« ein adressatives oder »ethisches« – dativus ethicus?

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Oder trifft etwa genau auf diese Eigenschaft – da war einmal ein wohlgeratenes natürliches Wesen, es erlebte einen Unfall, und ein Stück wurde ihm abgebrochen – der Begriff »metaphysisch« im Sinn von »postnatural«, »nachnatürlich« zu? Führt uns gerade dieses Stichwort zu einem Höhepunkt unserer Metaphysik-Lektüre? Dann wäre unsere Metaphysik-Lektüre tatsächlich eine andere … Die Eigenschaft »verstümmelt« wird unter dem Akzidens Quantität subsumiert, das im Abschnitt 13 behandelt worden ist (1024a 11 ff.). So gerät sie auch ontologisch in den niedrigen Rang, in den sie dank ihrer lebensweltlichen »Qualität« ohnehin schon gefallen ist. Es folgen einige diffizile, aber nachvollziehbare Unterscheidungen, die ihr ihren Platz genau anweisen. Die Eigenschaft »verstümmelt« verdankt sich einer Privation (auch der wird sie untergeordnet), die das Wesentliche einer Sache denn doch verschont hat. Und auch dem Akzidens der Affektion, des Erleidens oder Erlittenhabens wird man die Verstümmelung zuordnen können: da ist etwem etwas angetan worden, und zwar nachhaltig. Aristoteles durchquert in Windeseile den gesamten Kosmos, um nachzusehen, welche Dinge überhaupt verstümmelbar sind und welche nicht. Zahlen etwa können nicht verstümmelt werden – wenn man was wegnimmt, kommt immer noch eine Zahl heraus. Physische Dinge, bei denen es nicht auf die Lage ankommt (Wasser, Feuer), sind nicht verstümmelbar. Ähnliches gilt, aber anders, für die Harmonie. Bleiben schließlich – aber nur als Beispiele – zwei Sachen, die verstümmelt werden können; Becher, Mensch. Doch bei denen führt nicht jedwede Privation zu einer Verstümmlung. Würde etwa jemand einen Becher durchbohren (man mag dabei an Hagen im Nibelungenlied denken), so würde der Becher seiner Funktion, also seines Wesens beraubt: er wäre zerstört, nicht verstümmelt. 127 Wohl aber, wenn man ihm einen Henkel, ein »Ohr« abschlägt (1024a 25). Die zweite Hiermit erinnere ich an meine Lektüre homer-artiger Epen: Das politische Wissen im Nibelungenlied. Vorlesungen (Berlin 1987); Versprechen, versagen. Frauenmacht und Frauenästhetik in der Kriemhild-Diskussion des 13. Jahrhunderts (Berlin 1990); Distante Siegfried-Paraphrasen: Jesus, Helmbrecht, Dietrich (Berlin 1993).

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verstümmelbare Sache ist der Mensch. Beraubt man ihn lebensnotwendiger Teile, so tötet man ihn. Verstümmelt ist er, wenn ihm irgendwelche andere äußeren Teile weggenommen sind – aber nur solche, die eigentlich nachwachsen könnten. 128 Was die Verstümmlung von der Zerstörung unterscheidet – innerhalb der Privation –, ist die Erhaltung der »Hauptsachen des Wesens«, des Funktionieren-Könnens, der »Seele«. Aristoteles »braucht« seinen ontologischen Hauptbegriff »Substanz«, um so ein armseliges Akzidens wie »verstümmelt« identifizieren zu können. Formursache � Zweite Substanz � Funktionalität � »Seele« So viel zur »modernen« Ersetzung von Substanz durch Funktion. Man ist Körper, man hat Seele. Ich bin dieser Körper – aufgrund einer bestimmten Seele. Das Anthropologische dem Substanz-Begriff zusagen, das ist bisher fast nie geschehen. Deshalb ist der Substanz-Begriff bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts so stumpf, so blind, so uninteressant geblieben (und in weiter zurückliegenden Jahrhunderten musste man ihn auf »Gott« beziehen, um ihn interessant zu machen). Immerhin hat man dann gegen Ende des 20. Jahrhunderts entschieden damit begonnen, den Substanz-Begriff denjenigen Wesen zuzusprechen, die zu den bevorzugten Objekten des Empirikers Aristoteles gehörten, nämlich den Lebewesen oder Tieren. Das war die »zoologische oder biologische Wende«. 129 Jetzt ist es Zeit für die »anEs scheint, dass Franz Brentano in seiner eigenen Kategorienlehre den Soldaten, der in der Schlacht einen Arm verlieren kann oder gar tatsächlich verloren hat, anders beurteilt als Aristoteles und einen »mereologischen Aktualismus« vertritt; siehe Barry Smith: Austrian Philosophy: The Legacy of Franz Brentano (La Salle und Chicago 1994): 76 ff.; Franz Brentano: Kategorienlehre (Leipzig 1933). 129 »Seine (scil. Aristoteles’) Philosophie der Substanz ist im Kern eine Philosophie des Organischen.« Siehe Wolfgang Welsch: op. cit.: 165 f. Welsch liefert auch eine gute Zusammenfassung des aristotelischen Seelenkonzeption, siehe op. cit.: 173 ff. 128

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thropologische Wende« – die bei Aristoteles sehr wohl angelegt ist, wenn er den Substanz-Begriff immer wieder auf Sokrates oder mit Kallias und einmal sogar auf »dich« appliziert. Wohl gemerkt, es handelt sich um Applikationen, welche die quer zueinander stehenden Ebenen der Realitätsbereiche und der Seinsmodalitäten nicht etwa verschmelzen, sondern zu gegenseitiger Erhellung führen sollen. Die Kategorie »Substanz« soll mit dem Erfahrungsgehalt »Mensch« »gefüllt« werden und der Begriff »Mensch« durch die ontologische Kategorie ousia (mitsamt ihren Synonymen) pointiert werden. Die Zweite Substanz oder die Seele ist mit dem Fragepronomen »was« assoziiert. Und die Erste Substanz, für die ich »man« oder »ich« einsetze? Mit dem Fragepronomen »wer« – das auch bei Aristoteles öfter auf dieser Ebene eingesetzt wird. Während das Was zum grammatischen dritten Geschlecht, dem asexuellen, gehört, enthält das Wer die beiden sexuellen Geschlechter: der oder die. Damit ist die Bahn von irgendwelchen Tieren zu den Personen schon eröffnet. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde in Deutschland von Scheler, Plessner, Gehlen die Philosophische Anthropologie begründet. Heidegger stand dieser Bewegung sachlich nahe, legte aber Wert auf Distanzierung, um sich zur »Ontologie« zu erheben. Als 1935 der katholische Philosoph Theodor Haecker ein Buch mit dem Titel Was ist der Mensch? publizierte, reagierte Heidegger höhnisch mit der Forderung: wenn schon dann »Wer ist der Mensch«! Indessen war es doch die Theologie, besser gesagt die christliche Theo- und Anthropographie, welche die ontologische Sprache mit ihrem parmenideisch-platonisch-aristotelischen to on schon seit vielen Jahrhunderte zu einem ho on (der Seiende) transformiert. Diese Buchstaben schreibt die orthodoxe Ikonenmalerei in den Christus-Nimbus hinein (den man auch in den orthodoxen Kirchen Wiens sehen kann). Und damit einen Weg zu einer besseren Ontographie eröffnet. Fehlt noch die Graphie, welche he ousa schreiben würde: die Seiende.

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Wenn man überhaupt bei diesem Partizip Präsens bleiben will. Was aber den Substanz- oder Wesensbegriff angeht, so muss nicht nur seine Spaltung oder Doppelung klargestellt werden, auch seine Einheitlichkeit darf nicht vergessen werden. Und die dürfte mit dem deutschen Wort »Wesen« am besten gewahrt bleiben, das man ja von der ersten Person aus zweifach wenden kann: Ich bin ein Wesen: ein irgendwie unabhängig Existierendes, ein lebendes Individuum. Ich habe ein Wesen: eine Wesenheit, eine Artbestimmtheit, die mich an andere Ähnliche anschließt. In diesen beiden Sätzen spricht ein Wesen aristotelisch im Sinne der Kategorien: erstens reflexiv von sich als »Erstem Wesen«, zweitens transitiv von seinem »Zweiten Wesen«, und zwar von seinem eigenen Wesen – also doch auch wieder reflexiv. Das Zweite Wesen gilt zwar als »Teil« des Ersten Wesens – aber als ein so wichtiger und »wesentlicher«, dass es denselben theoretischen Titel bekommen muss wie das Ganze, nämlich »Wesen«. Ganzes und Teil erheben Anspruch auf denselben oder den gleichen Begriff? Ist das denkbar? Die Unterscheidung zwischen den Fragepronomen »wer« und »was« habe ich schon eingeführt. Das Erste Wesen bietet die Antwort, die Realantwort auf die Frage »wer?«. Das Zweite Wesen liefert die Realantwort auf die Frage »was?«. Wird damit nicht das Erste Wesen immerzu personalisiert – auch wenn es sich um eine Pflanze oder um einen Becher handelt? Beim Ersten Wesen handelt es sich um ein irgendwie dinglich Existierendes, ein konkretes Etwas – dieses »et« heißt »irgend« und im alten Deutsch gab es auch das Wort »etwer«, das ich am liebsten, wie ich es einige Abschnitte zuvor getan habe, reaktivieren möchte. Beim Zweiten Wesen geht es um ein pures Was, um eine Washeit, um eine eidetische Qualität; aber nicht um sowas wie »weiß«, »gelb«, 214 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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»rot« oder »zufrieden«, »unzufrieden«, sondern um ein stabileres Was wie »Sonnenwas« oder »Menschenwas«, welches ein wesentlicher Teil eines »Ersten Wesens« wie der Sonne oder der Phyllis sein kann. Sollte man das Erste Wesen pronominal als »etwer« bezeichnen – dann würde man es tendenziell wieder personalisieren. Muss man das Erste Wesen tendenziell personalisieren, um es vom Zweiten abzusetzen? Dann läge auch im Ersten Wesen die Tendenz zum Animismus beschlossen, die wir in den Synonymen für das Zweite Wesen schon angetroffen haben. Der zweifache und dennoch einheitliche Wesensbegriff, der das Ganze und eine bestimmte Sorte von Teil gleichrangig verbindet – das wäre die Struktur, die auch an den Menschen, also bei solchen wie wir, anzunehmen ist. Das Wesen als Teil-Ganzes oder Ganzes-Teil?

28. Gattung Dieses Stichwort lautet im Griechischen genos und wird im Aristoteles-Kontext zumeist mit »Gattung« wiedergegeben, welches Wort wiederum der Logik zugerechnet wird und da eine der Art übergeordnete, also eine größere Allgemeinheit bezeichnet. Das Wörterbuch mit seiner extrem heterogenen Zusammensetzung enthält eben auch logische Begriffe – das Wort »verstümmelt« steht da natürlich weit ab. Doch Aristoteles führt zunächst eine ganz andere Bedeutung an, differenziert sogar diese mehrmals – diese Bedeutung muss mit »Geschlecht« wiedergegeben werden. Und da dieses Wort im Deutschen selber in Obsoleszenz geraten ist, beinahe in Verruf, hier eine Bemerkung zu »Geschlecht«. Es weist im Deutschen zwei Bedeutungen auf, die ich jetzt einmal mit 1 und 2 unterscheide.

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Geschlecht 1: Generationenabfolge, Abstammung, Fortpflanzung – also das Nacheinander im »Menschengeschlecht« bzw. in einzelnen, z. B. adeligen »Geschlechtern«. Geschlecht 2: in diesem Sinn gibt es zwei natürliche oder sexuelle Geschlechter: männlich, weiblich. Die drei grammatischen Geschlechter (der, die, das) kann man als abgeleitete Variation bezeichnen. Und neuerdings spricht man sogar bei den natürlichen menschlichen Geschlechtern von mehr als zwei, wofür jetzt unterschiedliche neue Bezeichnungen erfunden werden. Um die Natürlichkeit der zwei menschlichen Geschlechter zu relativieren, hat man im Englischen neben das Wort »sex« das Wort »gender« gesetzt, dem seine direkte Herkunft von genus an die Stirn geschrieben ist. Dass man im Neudeutschen jetzt auch »gender« sagen muss, trägt zur Geschlechtsvergessenheit kräftig bei. Und der Zusammenhang zwischen Geschlecht 1 und Geschlecht 2 liegt darin, dass Geschlecht 1, d. h. Fortpflanzung bei den Menschen und bei vielen Tieren und Pflanzen, nur »mit Geschlecht 2«, nur mit dem Miteinander zwischen den beiden sexuellen Geschlechtern (und innerhalb einer Art) funktioniert. 130 Im Großen und Ganzen und trotz den angedeuteten Sprachtendenzen dominiert heute im Deutschen »Geschlecht 2«, während »Geschlecht 1« aus der Mode gekommen ist. Bis zum 18. Jahrhundert dürfte hingegen es vorgeherrscht haben (eine geradezu tautologische Feststellung, weil mit dieser Bedeutung so etwas wie »Herrschaft« verbunden war). Jetzt aber noch zum Wort »Gattung«, das in die Logik gehört. Schaut man dieses Wort an, hört man womöglich darauf, dann nimmt man

Andreas Hofbauer unterscheidet »die räumliche (sex) wie die zeitliche (Generation) Verfasstheit des Geschlechts«; siehe: Andreas L. Hofbauer, René Luckhardt: HER (Wien 2015): 14. Und die Salzburger Schriftstellerin Dorothea Macheiner weiß ebenfalls von dieser Konstellation, wenn sie zu einem Gedicht von Georg Trakl schreibt: »O, wie alt ist unser Geschlecht, damit ist nicht der Traklsche Stammbaum gemeint, sondern die Vereinigung mit der Schwester.« Dorothea Macheiner: Bei gleichzeitigem Verschwinden. Zwei ineinander verschlungene Essays (Krems 2016): 131. 130

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wahr, dass es mit den »Gatten« verwandt ist, also mit Geschlecht 2. Also entstammt (Geschlecht 1) auch es dem Bereich der Biologie. Und Aristoteles verortet sein Wort zunächst nur in diesem Bereich, der ja sein wichtigster naturwissenschaftlicher Forschungsbereich war. Allerdings zunächst mit einer gewissen Verallgemeinerung: »kontinuierliche Entstehung der (Dinge), die dieselbe Form (Art) haben« (1024a 29). Wobei für »Entstehung« genesis steht – also genau das einschlägige sis-Wort, das einen Vorgang oder eine Tätigkeit bezeichnet, und die Tätigkeit heißt im Deutschen »Fortpflanzung«, »Zeugung«. Einzelne Geschlechter bzw. Stämme oder Völker werden nach den Stammvätern benannt, oder auch nach den Stammmüttern, wofür Aristoteles einige Beispiele aus der griechischen Geographie und Sagenwelt nennt. Er wundert sich selber darüber, da nach seiner Auffassung die Zeugung als Übertragung der Menschenform nur vom Vater geleistet wird, die Mutter liefere lediglich den Stoff. Zeugung und Gebärung seien die unterschiedlichen Fortpflanzungsleistungen von Mann und Frau. Aber das Wort genos hat bei Aristoteles nur die Bedeutung von Geschlecht 1. Und dann eben noch die logische Bedeutung »Gattung« (1024a 37 ff.). Aristoteles nennt Beispiele aus der Geometrie: die Gattung der Fläche umfasst verschiedene Arten von Flächen, die Gattung der Körper umfasst verschiedene Arten von Körpern; formal kann die Gattung definiert werden als erster Bestandteil einer Definition oder als Substrat für die Unterschiede. Die scholastische Zusammenfassung lautet: definitio fit per genus et differentiam specificam. * 11. Mai 2016 In Wien findet ein großer internationaler Kongress über »Philosophy of Nature in regard on Neoaristotelism in all-encompassing system of knowledge« statt. Im Zentrum stehen die antiken ostasiatischen Weisheitslehren und die aristotelische Kosmologie wird als Brückenpfeiler zwischen jenen Weisheitslehren und der modernen westlichen (und globalen) Naturauffassung eingesetzt. Die fernöstlichen Zivili217 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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sationen stellen mit ihren antiken Traditionen wichtige Gesprächspartner dar, weil ihr qualitativer Beitrag zum Verstehen der menschlichen Existenz gut nachvollzogen und diskutiert werden kann. Es ist ja kein Zufall, dass wir ihnen den aus der griechischen Kultur stammenden Titel der »Weisheit« zusprechen. Andererseits ist die Auseinandersetzung mit ihnen geeignet, die Besonderheiten des abendländischen Denkens ins Licht zu rücken, wie aus François Julliens Schriften zu ersehen ist. Eben jetzt ist ein neues Buch von dem schon erwähnten Arbogast Schmitt erschienen: Wie aufgeklärt ist unsere Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht (Heidelberg 2016). Darin wird der aristotelischen Philosophie ein hohes Maß an direktem Realitätskontakt zugesprochen und eine mögliche positive Rolle in der interkulturellen Diskussion. Das heißt, es mehren sich zurzeit die Stimmen, die die Beschäftigung mit Aristoteles empfehlen. 131 Ebenfalls im Mai hält der südafrikanische Psychotherapeut Jo Steenkamp in Wien ein Seminar über die von ihm entwickelte Methode »Spontaneous Healing Intrasystemic Process« ab, die Traumatisierten helfen soll, durch einen möglicherweise schmerzhaften Erkenntnisprozess hindurch ihre Potenziale zu entdecken und zu einem produktiven Wollen zu gelangen. Ich sagte zu Jo Steenkamp, dass ich zum 2400. Geburtstag von Aristoteles fahren werde; daraufhin er, ob denn Aristoteles noch am Leben sei; darauf ich: ja natürlich, ich fahre doch nicht zu einem Geburtstag von einem Toten … Vom 23. bis zum 28. Mai nahm ich also an dem Aristoteles-Kongress in Thessaloniki teil, auf dem ungefähr 250 Vorträge gehalten wurden, außerdem gab es Exkursionen sowie musikalische Feiern. Mein eigener Vortrag mit dem Titel »Accidentalism in Aristotle: Poetics and Ontology« war dem Hauptresultat der Poetik-Lektüre in der Hermesgruppe gewidmet – worüber ich schon berichtet habe. 132

Meine Rezension des Buches erscheint in Die Presse (10. September 2016) unter dem Titel »Mit Lust erkennen«. 132 Erschienen in: Archivum Historii Filozofii. 61/2016. 131

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Das spektakulärste Ereignis des Kongresses war wohl die von dem Archäologen Sismanidis Konstantinos bekanntgegebene »Entdeckung«, tatsächlich jedoch nur eine neue Hypothese von einem in Stageira befindlichen »Grab« des Aristoteles. Am 27. Mai 2016 lief diese Nachricht um den Erdball und genau an diesem Tage waren wir in Stageira, dem Geburtsort des Aristoteles, und traten an dieses sehr leere Grab heran. Ein leeres Grab ist mitnichten etwas Lächerliches – zeigt doch gerade es an, dass es das betroffene Individuum noch immer gibt – aber woanders. Man denke an das Jahr 33. Wir besuchten auch Mieza in Nordwest-Griechenland, wo Aristoteles den jungen Alexander unterrichtet hat und von wo damals gewissermaßen eine Hellenisierung Asiens und Afrikas ausgegangen ist. Etwas, was man heute vielleicht wieder wünschen könnte. Während der gesamten Kongress-Woche war ich mit einem zusätzlichen Gegenstand beschäftigt, auf den ich bereits lange zuvor gestoßen war. Der sonderbare dem Wort »verstümmelt« gewidmete Abschnitt in der Metaphysik hat mich daran erinnert, dass sich in Thessaloniki auf dem Aristoteles-Platz, nein, am Aristoteles-Platz, nämlich an seinem Rande und im Schatten einiger Bäume, eine merkwürdige Statue befindet. Nicht so ein weißer Marmor, wie er in Griechenland viele Plätze schmückt oder vielmehr langweilt, sondern auf einem großen Marmorwürfel eine Sitzfigur aus Bronze, gemütlich und lässig, mit einem intensiven Gesichtsausdruck, nicht die kalte Denkerpose. Mir hat die Statue immer gefallen, auch weil sich manchmal junge Leute um sie drängen, und da ich Augen zum Sehen habe, habe ich auch das Rätselhafte und Verstörende an dieser Statue gesehen: die unbekleideten Körperpartien, Füße und Unterschenkel, Arme und linke Schulter, Wangen weisen deutliche Spuren von Verletzungen, teilweise richtige Löcher auf, die der Bildhauer dem Mann zugefügt hat. Aber wieso? Mein Übersetzer, Omiros Tachmazidis, hat mir geschrieben, dass die Skulptur (dies der bessere Begriff) erst im Jahre 1999, also vor knapp zwanzig Jahren, geschaffen worden ist: von Giorgos Georgiades (* 1937). Und er schickt mir einen ausführlichen Artikel über Aristoteles-Darstellungen in der neugriechischen Kunst, verfasst von Gerakina Mylona. Da wird auch diese Statue erwähnt und kurz beschrieben. Der Kopf sei der bekannten Wiener Büste nachgebildet (die ich 219 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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schon öfter erwähnt habe). Der Bildhauer habe den tradierten Typ mit einigen neueren Zügen kombiniert: so die schiefen Füße, aber auch die kakoseis = Spuren von Misshandlungen, eigentlich Verunstaltungen, Verschlimmerungen. Nur mit diesem einen Wort spielt die Verfasserin auf die von mir gesehenen »Verletzungen« an – ohne sich irgendwelche Fragen dazu zu stellen. Sie hat ihre Erwähnung offensichtlich bald nach 1999 geschrieben und hinzugefügt: die definitiven Kritiken seien noch nicht geschrieben worden. Sie bescheidet sich also sehr und tut so, als würde sie von diesem Bildhauer gar nichts wissen. Ich hingegen weiß schon ein bisschen mehr als nichts. Die Suche im Internet hat unter dem Namen Giorgos Georgiades nur einen Fußballer ergeben und keinen Bildhauer. Dann aber ein Bericht von einer Berliner (!) Ausstellung im Jahr 1985, wo von diesem Bildhauer ein Torso in verschiedenen Variationen zu den Themen »Einsamkeit«, »Gemeinsamkeit« und »Siegesfreude« gezeigt worden ist. Die Abbildung zeigt in der grausamen »Hautbehandlung« deutliche Ähnlichkeiten mit der Thessalonicher Aristoteles-Skulptur (und zwar unabhängig vom Motiv »Torso« – das ja eine gewisse semantische Nähe zur Verstümmelung aufweist). Im Internet sind auch andere Werke zu sehen: alle figural und tendenziell gespenstisch. Der Künstler ist bis heute sehr aktiv, jedenfalls mit Ausstellungen und Publikationen. Die Aristoteles-Statue hingegen wird nirgendwo mit seinem Namen verbunden. Gleich am ersten Tag des Kongresses fragte ich die Präsidentin, was sie von dieser Statue halte und ob sie den Bildhauer eingeladen habe. Ihre spontane Antwort war total demokratisch: die ganze Stadt sei gegen die Statue, daher auch sie. Ich habe es mir in jener Woche zur Aufgabe gemacht, möglichst viele Leute zu diesem Zweitkörper des Aristoteles zu führen und sie zu fragen, was sie da sehen, und dann darüber zu sprechen, wieso dieser Aristoteles diese Verwundungen erleide. Am Ende dieser Thessalonicher Woche filmt Giorgos Keramitiodis neben der römischen Agora ein Gespräch zwischen Omiros Tachmazidis und mir, in dem ich meine Beschäftigung mit Aristoteles, dem Philosophen und seiner Gegenwart, expliziere.

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In Wien stellen wir die Frage, ob die Beschädigungen oder Verletzungen, die an der Thessalonicher Aristoteles-Skulptur angebracht sind, auf biographische oder persönliche Schäden oder Mängel bei Aristoteles selber hinweisen könnten. Man kann davon ausgehen, dass diese Statue wohl die einzige skulpturale Aristoteles-Darstellung aus neuerer Zeit ist, die vom klassischen Statuen-Ideal in großen Zügen wie auch in einigen krassen Details abweicht. Also wohl ein Ausnahme-Fall. In seiner Athener Zeit hatte Aristoteles gravierende Nachteile in Kauf zu nehmen, da er nicht einheimischer Staatsbürger war. Obwohl Gründer und Leiter einer angesehenen Lehranstalt, konnte er sich da nur als Mieter oder Gast halten. Eventuell hing schon die Tatsache, dass er nach dem Tod Platons (347) nicht die Leitung der 221 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Akademie übernehmen konnte, mit seinem schwachen politischen Status zusammen. Vollends dramatisch wurde seine Situation, als er nach dem Tod Alexanders des Großen (323) um sein Leben fürchten musste: »Mit mir werdet ihr nicht machen, was ihr Sokrates angetan habt.« Er ging nach Euboia, wo er bald starb. * Und dann noch einmal zur Frage, wie sich das Stichwort »verstümmelt« im Buch V ausnimmt, das ja als Wörterbuch – Wörterbuch der »Metaphysik«? – gilt. Zunächst einmal stellt es sich als der marginalste, der niedrigste Begriff in der Serie der 30 Stichworte dar. Alle übrigen – 29 – Stichworte sind Begriffe von hoher Allgemeinheit, das gilt auch für so dünne wie »wonach«, »an sich«. Natürlich auch für »Quantität«, »Privation«, »Teil«, »Ganzes« – mit denen die Verstümmelung in näherer logischer Beziehung steht. »Verstümmelt« wird erstens den Quantitäten untergeordnet und zweitens als eine Sorte von Privation bestimmt. Gerade diese Unterordnungen weisen darauf hin, dass es sich um einen niedrigen Begriff handelt – tatsächlich um den niedrigsten in der Reihe der dreißig. Ähnlich niedrige, das heißt konkrete, das heißt beliebige Bestimmungen kommen in den übrigen Abschnitten zuhauf vor – aber immer nur als Beispiele, als Differenzierungen für die Stichworte. Beispiele wie »blind«, »farblos«, »kernlos«, »ungerecht« – für Privation. Da sieht man schon, wenn man sieht, dass »verstümmelt« genau in diese Reihe hineinpassen würde. Es steht aber nicht in dieser Reihe, sondern ist sozusagen daraus emporgehoben worden und steht nun gleichrangig neben dem Stichwort »Privation«, obwohl es logisch eine Stufe darunter angesiedelt ist. Die Eigenschaft »verstümmelt« ist also logisch (nicht nur logisch) der niedrigste Stichwort-Begriff – aber textuell, literarisch, lexikographisch emporgehoben in die Serie der höheren Begriffe (zu denen aber kaum allerhöchste im »metaphysischen« Sinn zählen). Das heißt, Aristoteles hat mit »verstümmelt« eine Sonderaktion durchgeführt, er hat eine Ausnahme gemacht, sodass aus dem niedrigsten Begriff der besonderste geworden: eine Störung der Logik, ein Ausnahme-Fall, ein echter Unfall. * Am letzten Donnerstag, dem 2. Juni, war eine Ausstellung zu sehen, die dem Thema »Muttermilch« gewidmet ist. Also genau dem The222 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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ma, das wir vor einigen Monaten mit der aristotelischen Terminologie besprochen haben – nicht ohne deutlichen Widerstand einiger Seminarteilnehmerinnen. Wir sprachen vom »Mutteressen des Säuglings«, wir betrachteten die Sache aus der Perspektive des Säuglings, des Nehmenden und sein Überleben Besorgenden. All das muss einen irgendwie grausamen Eindruck gemacht haben. In der Ausstellung hat die Künstlerin, Irini Athanassakis, die Sache unter den Hauptbegriff des Gebens gestellt und damit befand man sich in einer ethischen Wohlfühlatmosphäre. Es ging aber um genau denselben Sachverhalt. Man kann jedweden Sachverhalt mit unterschiedlichen Zugängen, Betrachtungsweisen, Redensarten »behandeln« und damit unterschiedliche Wirkungen erzielen. (Dieser sozusagen »MetaSachverhalt« liegt dem zugrunde, was ich einmal »Tychanalyse« genannt habe.) Es wurde die Feststellung gemacht, dass das Wort »geben« bei Aristoteles nicht in den Rang einer Kategorie gehoben worden ist – und sogar, dass dieses Wort bei Aristoteles überhaupt sehr selten, beinahe nie (?) vorzukommen scheint. Kann man das Geben irgendwo in seiner Kategorientafel implizit ausfindig machen? Am ehesten wohl als eine Sorte in der Kategorie »Wirken«, und die Kategorie »Haben« hängt indirekt damit zusammen. Das Wort für »Nicht-Haben«, nämlich Privation, steht außerhalb der Kategorien, kommt aber im Wörterbuch von Buch V vor. Der Begriff »Bewegung« spielt bei Aristoteles eine allergrößte Rolle, bildet aber keine Kategorie. Daraus ergibt sich die Frage, ob die Kategorientafel in Erz gegossen ist oder ob man sie auch umbilden könnte. Ob Ontologie zwar mit Wissenschaftsanspruch gemacht wird – aber nicht ohne Kontingenz. 14. Juni 2016

Buchpräsentation Friedrich Wolfram: Anthropologie der Gewissheit. Ein Versuch über den Glaubensbegriff bei Aristoteles (Wien 2016). In dem Buch wird gezeigt, dass bei Aristoteles der Begriff pistis (Überzeugung, Glaube) eine große Rolle spielt; aber nicht etwa im Zusammenhang der Religion, sondern in der Erkenntnistheorie, weil das menschliche Erkennen nicht allein auf den jeweils individuellen Erkenntnisleistungen beruht, sondern auf sozialem und sprachlichem 223 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Verhalten wie Gespräch, Diskussion, Überzeugen. Die Griechen hatten dafür die Disziplinen Rhetorik und Dialektik. Gewissermaßen am anderen Ende der aristotelischen Erkenntnistheorie bewegte sich der Vortrag von Victor Caston (Michigan) über »Aristotle on Illusions, Hallucinations, and Dreams: Was he a Direct Realist?«. Die zuletzt gestellte Frage wird positiv beantwortet: Wahrnehmung ist in einem engen Sinn genommen irrtumsfrei – was aber nicht ausschließt, dass auf der Ebene der Vorstellung Täuschungen und sogar Wahnideen möglich sind. Im Buch II hatte Aristoteles ja seinen Erkenntnis-Optimismus bereits kräftig relativiert.

29. falsch Sachverhalte sind falsch, wenn Dinge so nicht zutreffen: entweder überhaupt nicht (dass die Diagonale kommensurabel sei) oder fallweise nicht (dass du sitzt – wenn du gerade nicht sitzt) (1024b 18 ff.). Des Weiteren sind Dinge falsch, die zwar existieren, aber ihrer Natur nach nicht so erscheinen, wie sie sind, oder aber etwas anderes, was sie nicht sind, zeigen (hier nennt Aristoteles die illusionistische Malerei und die Träume). Also die Verweigerer von richtigem Erscheinen und die Falscherscheinungen (auch Anschein, Schein, bloßer Schein). Was könnte mit den Sachen gemeint sein, die sich weigern, richtig zu erscheinen? Etwa die Natur, die es liebt, sich zu verbergen (Heraklit)? Oder alle festkörperlichen Dinge, von denen man nur die äußere Hülle sieht, welche alles zudeckt (Seitter)? 133 Das wäre dann arg viel. Für Illusionsmalerei sagt Aristoteles »Schattenmalerei« – das moderne Pendant dazu ist die Fotografie (Lichtmalerei); beide vermögen auf zweidimensionalen Flächen dreidimensionale Realität zu suggerieren. Und die Träume? Sie sind so »täuschend echt«, dass man sie erst im Nachhinein vom echten Erleben unterscheiden kann. 134

Siehe dazu die »Grundsätze der Optik« in Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997): 62 ff. In diesem Buch wird die Philosophische Physik von den Erscheinungen aus aufgebaut. 134 Zur trügerischen Wirklichkeit der Träume siehe Walter Seitter: Kunst der Wacht. Träumen und andere Wachen (Berlin, Wien 2001). 133

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Diese Bemerkungen zu falschen Erscheinungen lassen an Aristoteles’ Auseinandersetzung mit Autoren denken – im Buch IV, die behaupten, dass alle Erscheinungen wahr seien –, was zu »widersprüchlichen« Schlussfolgerungen führt. Auf der anderen Seite hat Aristoteles im Buch IV gezeigt, dass die Relativität der Erscheinungen, wenn man sie sich klarmacht, die generelle Zuverlässigkeit der Erscheinungen nicht aufhebt. Nach den nicht existierenden Sachverhalten und den falschen Erscheinungen sind die logoi die nächsten Kandidaten für Falschheit. So ist der Begriff des Kreises falsch, wenn er auf das Dreieck bezogen wird (1024b 28). Einerseits gibt es für jede Sache nur einen Begriff, nur eine Definition – nämlich von ihrem Was-war-sein; andererseits auch viele Begriffe oder Aussagen – nämlich von ihren Affektionen oder Akzidenzien, etwa vom musischen Sokrates (diese Aussagen sind zahlenmäßig kaum begrenzt). Jetzt wendet sich Aristoteles gegen den Philosophen Antisthenes, einen Sokrates-Schüler, der von 445 bis 365 gelebt hat und ein Begründer der Kynischen Schule gewesen ist (1024b 32 ff.). Einfältigerweise habe er gemeint, auf jedes Einzelwesen dürfe nur ein einziger Begriff angewendet werden, nämlich der für es eigentümliche: sein Eigenname. Mit so einer allzu einfachen Begriffspolitik werden Begriffe im präzisen des Wortes, nämlich Allgemeinbegriffe, ausgeschlossen – und diese Ansicht kann sich sogar darauf berufen, dass Allgemeinbegriffe viel zu allgemein sind und dass sie das Eigentliche des Einzelwesens naturgemäß verfehlen und verfälschen. 135 Hier mag uns bereits der Verdacht dämmern, dass mit so einer Begriffspolitik dem Einzelwesen nicht nur alle Akzidenzien erspart bleiben, auch eine sogenannte Zweite Substanz wird von ihm ferngehalten. Doch Aristoteles sorgt sich hier nicht um die Aufrechterhaltung seiner Ontologie. Vielmehr kommt er zur Schlussfolgerung, dass eine derartige Begriffs- bzw. Begriffsvermeidungspolitik, dass ein so weit getriebener Eigentlichkeitswahn zweierlei verhindert: jedwedes Widersprechen und beinahe auch jedes Falschreden. Und dies bedeutet für ihn etwas genauso Schlimmes wie die Missachtung des Sichersten Prinzips, das er im Buch IV so leidenschaftlich verteidigt hat und das Gegen einen solchen Anti-Begriffs-Affekt habe ich in den schon genannten Menschenfassungen einen »Exkurs zur Begriffs-Allgemeinheit« eingeschaltet.

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missverständlicherweise »Satz vom Widerspruch« genannt wird (seit wann eigentlich?). Jetzt argumentiert er gegen Antisthenes mit der Sorge, ja mit der Insistenz, dass dessen Postulat die Möglichkeit von Widersprechen, Widerrede, Gegenrede blockiere und auch beinahe die Möglichkeit von Falschrede. Wieso tritt Aristoteles für die Möglichkeit der Widerrede und sogar der Falschrede ein? Weil nur unter diesen Bedingungen die Möglichkeit, wohlgemerkt nur die Möglichkeit, zu Rede überhaupt, zum Etwas-Sagen, so auch zum Wahrreden (véridiction), aufrechterhalten bleibt. Irgendwo sagt das auch Lacan (denn der sagt ziemlich oft irgendetwas Wahres). Aber dank dem einfältigen und eigentlichen Antisthenes sagt es – allerdings sehr komprimiert – bereits Aristoteles im 4. Jahrhundert vor Christus. Die antisthenische Attitüde könnte sich eine gewisse »WahrheitsGarantie« zugutehalten: sie vermeidet Falschaussagen und immunisiert sich gegen Widerrede, indem sie sich darauf beschränkt, von etwas nur das auszusagen, was seine engste Identität ausmacht. Also »Deleuze ist Deleuze«, und ich wähle dieses Beispiel, weil es vorkommt, dass Anhänger von berühmten Philosophen ihre Sorge um Präzision damit zum Ausdruck bringen, dass sie sich weigern, das Denken so eines berühmten Philosophen mit Begriffen, vor allem mit selbstgewählten Begriffen, zu umreißen, weil damit so ein Denken immer nur verfälscht werden könne. Tatsächlich muss sich jedes Denken auch mit Begriffen, die ihm fremd sind, charakterisieren lassen (wenn es einen Charakter hat) – also zum Beispiel, aber nur zum Beispiel: »Deleuze praktiziert einen aktiven Materialismus«. Ein Satz, dem widersprochen werden könnte, ein Satz, der vielleicht sogar als Fehlinterpretation aufgewiesen werden könnte. Aber nur auf diese Gefahr hin wurde er gesagt. Er war ein Wagnis – nur so konnte er gesagt werden: als nicht-antisthenisches Wagnis. Eben ein Satz, ein Sprung. Selbstverständlich gibt es interessantere »Sätze« als so einen hermeneutischen. Schließlich widmet Aristoteles auch noch den »falschen Menschen« ein kräftiges Porträt. Falsch ist ein Mensch, wenn er zu falschen Begriffen oder Aussagen gern bereit ist – nur um der Falschheit willen (1025a 2 ff.); oder 226 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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sie gern anderen beibringt. Falsch ist es ja auch, eine falsche Vorstellung zu erzeugen. Und da greift Aristoteles auf den platonischen Dialog Hippias minor zurück, wo ein Gespräch zu dem inakzeptablen Ergebnis führt, dass der Gute derjenige ist, der absichtlich Schlechtes tut. Denn er könnte ja auch gut handeln, während der Schlechtere schlecht handelt, weil er es nicht besser kann. Am Beispiel des Hinkens macht Aristoteles klar, dass der absichtlich und freiwillig Hinkende genau genommen das Hinken nachahmt und hinsichtlich des Sittlichen kein Besserer ist (1025a 13). So wird die Verwechslung zwischen der technischen Kompetenz und der ethischen Qualität aufgelöst und ganz nebenbei lässt Aristoteles auch die für sein Denken wichtige Differenz zwischen einer Sache und ihrer Mimesis anklingen (mit welcher in eine andere Gattung übergegangen wird, was hier im Buch I schon einmal ausgeführt worden ist): Mimesis von H ist Nicht-H. 136 * Im Juli und August verbringe ich wieder drei Wochen in Kampen auf Sylt. Strandtage mit Lauf, Meer, Sonne. Beschäftige mich mit den Hünengräbern, den steinzeitlichen und den bronzezeitlichen. Lese die Mutzenbacher, das Pferdebuch von Ulrich Raulff, das Buch über die Gewissheit bei Aristoteles. In der Galerie Sprotte treffe ich den Kunsthistoriker Thomas Gädecke, der mir von seinem PhilosophieLehrer Heribert Boeder erzählt – einem sehr ernsthaften Philosophen, der sich als Diener der Weisheit deklariert, welche es an verschiedenen Orten gebe. Die Philosophie sei ein möglicher Weg zur Weisheit, darin liege ihre Berechtigung – oder Notwendigkeit. 137 Auch die Metaphysik sei so ein Weg. Und wenn unsere Lektüre uns auf diesen Weg führen sollte, sollten wir ihn nicht übersehen, sondern

136 Nachahmung des Hinkens ist auf der Bühne eine vom Schauspieler zu erbringende technische Leistung; anderswo handelt es sich möglicherweise um eine ethische Missetat. In beiden Fällen etwas anderes als Hinken. Diese Unterscheidung zwischen drei Verhaltensweisen wurde im November 2016 aktuell, als der damalige Präsidentschaftskandidat Donald Trump den Journalisten Serge F. Kovaleski kritisierte und dabei dessen unfreiwillige zuckenden Bewegungen nachahmte. 137 »Ich diene der Sophia«. Jörn Müller im Gespräch mit Heribert Boeder, in: Information Philosophie, Oktober 2005: 34. Thomas Gädeke hat mit Jutta Götzmann das Buch Die Welt farbig sehen – Siegward Sprotte Retrospektive (Bönen 2013) herausgegeben. Der Maler Siegward Sprotte war seit 1980 für mich ein Lehrer zum Sehen und Sagen.

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sehen und und uns von ihm führen lassen. Haben wir den Anfang der Weisheit bereits gespürt? Sitze wieder vor oder im Hotel Walter’s Hof mit dem Blick auf die beiden Meere, denke und notiere zu Aristoteles, zu Grillparzer, zu Bürokratie. Am 10. September 2016 erscheint in der Presse unter dem Titel »Mit Lust erkennen« meine Rezension der umfänglichen Studie von Arbogast Schmitt: Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht (Heidelberg 2016). Darin wird dargetan, dass Aristoteles mit seiner Zusammenschaltung der unterschiedlichen Vermögen dem Erkenntnisproblem besser nahekommt als die Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts, die Erkenntnis als Erzeugung und Bearbeitung von »Vorstellungen« auffassen. Im selben Herbst erscheint Band 2016/3 der Neuen Rundschau, deren Hauptteil Friedrich Kittler (zum 5. Todestag) gewidmet ist. Von mir der Beitrag »Aristotelica«, in dem ich mehrere Gelehrtenstreite bespreche – vor allem den meinigen mit Arbogast Schmitt in Bezug auf die Poetik-Interpretation, die bereits erwähnte, in der es um die Konstituierung der »Handlung« in der Tragödie geht. Am 20. September spreche ich in einer Vorschau auf Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft 42: Bleibende Steinzeit über »Infinitesimalphysik: Von der Unterwelt bis zum Staub«. Dabei erwähne ich zwei Disziplinen: erstens die Philosophische Physik, zu deren wichtigsten Gegenständen der Stein gehört und alles, was aus Stein ist. Das Reich der Mineralien ist ein Realitätsbereich und die viele Realitätsbereiche mit ihren Arten und Gattungen sind Sache der Physik, der aristotelischen wie auch der sonstigen. Und da meine Rede weniger auf die Kohäsion der Steine abzielt, welche sie mit den Organismen verbindet (siehe: Kristall), sondern auf ihre Brüchigkeit, auf die Unhaltbarkeit von »Einstein«, nenne ich den Begriff »Stück« als einen wichtigen Begriff einer modernen Ontologie. Die ontologischen Begriffe bezeichnen »formale« Seinsmodalitäten quer durch alle Realitätsbereiche. Physik (und Ethik, Politik, eventuell auch Metaphysik) werden unvermeidlicherweise von Ontologie affiziert, durchquert. Meine Rede spricht dem »Steinbruch« eine gewisse Übermacht über die »Kohäsion« zu, die im Kristall ihre schönste Ausprägung findet. 138 138

So bereits in meinem Aufsatz »Monarchitektur, Anarchitektur, Pararchitektur«,

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Am 24. September im Café Imperial, das ich nur selten aufsuche (auch Kennedy und Chruschtschow waren nur einmal da), Gespräch mit Andreas Hofbauer und Ivo Gurschler über die digitale Transformation des »Büros«: einerseits gewaltige Leistungssteigerung, andererseits ganz neue Störanfälligkeiten, Gefährdungen durch kriminelle, kriegerische Gegenrechner. Physik des Büros: Stein, Papier, Elektrizität, Elektronik. Sämtliche Abläufe werden rechner-, das heißt büroabhängig. Die Automatisierung ist mit einer verzweigten Vernetzung verbunden, einer weitgespannten Zusammenschaltung, welche allerdings auch zur Folge hat, dass jedes »Büro« von vielen anderen erreicht und angegriffen werden kann. Ein riesiger Zuwachs an Sabotage- und Spionagemöglichkeiten: an Desimmunisierung. In der Nationalbibliothek lese ich Robert Zimmermann: Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft (Wien 1865) – eine Ästhetik, die auf erstaunliche Weise Formalismus mit Materialismus verbindet und vielleicht das erste österreichische Philosophie-Buch überhaupt ist! Im Frühjahr war ich durch eine bemerkenswerte Ausstellung im Belvedere darauf aufmerksam geworden, die unter dem Titel »Formkunst« stand. 139 Am 5. Oktober findet in Dieter Bandhauers Weinhandlung das von einigen Helmut-Kohlenberger-Schülern initiierte Seminar »Einführung in die Gegenwart« statt, in dem die Frage nach der krisenhaften Situation auf strenge Weise gestellt und diskutiert werden soll. In einer anschließenden Nachtsitzung mit Reinhold Knoll und Philipp Roessler formuliere ich erstmals meine These, dass die monotheistischen Religionen mit ihrem Wahrheitsanspruch nicht nur zu Fanatismus und Gewalt verführen (so die These von Jan Assmann) – sondern die Sensibilität für Wahrheit unterminieren, indem sie die natürlichen und mehr oder weniger zuverlässigen Wahrheitsquellen wie Wahrnehmung, Erfahrung, Enttäuschung (!), Logik entwerten und andersartigen »Wahrheiten«, die auf Offenbarung und Glauben beruhen, höheren Rang einräumen. Damit wird der Sinn für Wahrheit, der ein wichtiger Teil des sensus communis ist, unterminiert. in: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997): 113 ff. 139 Robert Zimmermanns Hauptwerk Anthroposophie im Umriss. Entwurf eines Systems idealer Weltansicht auf realistischer Grundlage (Wien 1882) ist 2015 in London wieder erschienen.

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19. Oktober 2016 Da unser Aristoteles-Seminar bis zum Jahresende 2016 eine Pause einlegt, machen wir heute eine »Zwischensitzung« und versuchen eine Bilanz über die Lektüre der Metaphysik, Buch I bis V, zu ziehen. Feststellung, dass in der Philosophie unterschiedliche Textformen und Textstrategien vorkommen: Abhandlung, Dialog, Liste, Geschichtserzählung, Hymnus, Aphorismus; Gründung, Beschreibung, Kritik, Diskussion, Beweisführung. Was an den Büchern I bis V auffällt, ist, dass sie sehr unterschiedlich gebaut sind – und viele der eben genannten Formen einsetzen. Buch I liefert in Abschnitt 1 und 2 eine sorgfältige Konstruktion des Begriffs einer irgendwie neuen und daher gesuchten Wissenschaft, die sich am Begriff der Weisheit orientiert und auch schon Hinweise auf die Entstehung dieser Wissenschaft gibt. Die Abschnitte 3 bis 10 bieten eine gegliederte Historie und Kritik der bisherigen Versuche zu dieser Wissenschaft: Wissenschaft von den allgemeinen und höchsten Prinzipien und Ursachen – oder Philosophie. Buch II fügt einige systematische Aspekte dazu, so den Begriff der Wahrheit, und außerdem wird auf die Vorlesungstätigkeit als solche reflektiert. Buch III führt den erkenntnispsychologischen Begriff der »Aporie« ein. Nennt dann 14 Aporien, die sich um Prinzipien und Ursachen, Wesen und Akzidenzien drehen, und behandelt alle 14 in jeweils kurzen Abhandlungen – sodass die Textform der Liste zweimal zum Zug kommt. Buch IV zerfällt in zwei Teile. Abschnitt 1 und 2 enthalten ganz explizit den Gründungsakt einer betrachtenden Wissenschaft vom Seienden als Seienden, d. h. von den Modalitäten des Seins: Ontologie A. In Abschnitt 3 bis 8 indirekte und insistierende Beweisführungen für das allgemeinste Axiom, dem jede Aussage, egal welche, folgen muss, um überhaupt als Aussage ernst genommen werden zu können: Ontologie E. Buch V hat die Form eines Lexikons: 30 Begriffe, die teilweise in I bis IV schon vorgekommen sind, teilweise engere Spezifizierungen darstellen, werden in ziemlich gleichförmiger Weise analysiert: n wird in vielfältiger Weise ausgesagt, n bedeutet einerseits dies, andererseits das … Bei diesen Analysen handelt es sich um deutlich 230 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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sichtbare Operationen – daher ermöglicht dieses Buch recht gut, was ohnehin von dieser Lektüre angestrebt wird: dass das Lesen in Sehen umschlägt, dass man sieht, was Aristoteles macht, dass sein Text als operatives Vorgehen wahrnehmbar wird.. Das Buch, das wir lesen, heißt seit dem 1. Jahrhundert vor Christus Metaphysik; im 17. Jahrhunderte entstand die Disziplinbezeichnung »Ontologie«. Wie können wir die beiden Begriffe inhaltlich unterscheiden und wie auf die Bücher I bis V verteilen? Buch I, wo Anthropologie, Kosmologie, Theologie angeschnitten werden, kann man der Metaphysik zuordnen, obwohl dieser Begriff in vielfacher Weise aufgeladen, auch verzerrt worden ist. Die reinste Zuordnung lässt sich meines Erachtens mit dem Begriff »Ontologie« vornehmen, und zwar in erster Linie zu Abschnitt 1 und 2 von Buch IV. Das Buch V mit seinen 30 Begriffsanalysen lässt sich ebenfalls der Ontologie zuordnen, in manchen Punkten aber auch der Physik, in manchen der Logik oder der Ethik. Tatsache ist, dass die Bezeichnung »Ontologie« im aristotelischen Sinn heute nicht nur in der Aristoteles-Forschung, sondern auch bei anderen Philosophen im Gebrauch ist, so etwa bei Analytischen Philosophen. »Ontologie« tendiert zu neutralen Bedeutungen, weniger zum Guten oder zum Göttlichen. Diese Sachverhalte haben eher in der »Metaphysik« ihren Platz. Darauf hat sehr klar Alwin Diemer hingewiesen. 140 * Am 19. Oktober halte ich im Grillparzer-Haus (dem seinerzeitigen Amtssitz des Archivdirektors bei der Hofkammer) den Vortrag »Grillparzers philosophischer Hintergrund, Grillparzers Ästhetik, Grillparzer als Philosophie-Katalysator«. Der österreichische Dichter Franz Grillparzer (1791–1872) hat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am noch schwach entwickelten philosophischen Leben in Wien mit einiger Entschiedenheit teilgenommen (siehe dazu meine Lesung im Herbst 2015). Auf dem Gebiet der Ästhetik entwickelte er eine eigenständige Position. Persönliche Kontakte mit Ernst von Feuchtersleben (1806–1849) und mit Robert Zimmermann (1824–1898) haben es ihm ermöglicht, das erstmalige Hervortreten der Philosophie in Österreich nach der Revolution von 1848 anzuregen und zu fördern. 140

Siehe Alwin Diemer: op. cit.: 170.

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10.–13. November 2016 Einige Tage in Berlin. Zunächst in Potsdam, im Neuen Palais, eine Tagung der Helmuth-Plessner-Gesellschaft über Anthropologie und Ontologie bei Helmuth Plessner und Nicolai Hartmann. Die Konstellation Anthropologie-Naturphilosophie-Ontologie bei Hartmann nicht weit entfernt von Aristoteles. In der Alten Nationalgalerie eine kleine Sonderausstellung zu einem kleinen Panorama der Stadt Rom von Friedrich Loos (1797–1890), einem Maler, dem ich in den beiden letzten Jahren öfter nahegekommen bin. Um 1830 hat er am großen Salzburg-Panorama mitgewirkt und einige hervorragende Landschafts-, Stadtschaftsporträts geschaffen: »Rudolfskai«: halb gemalt, halb nur gezeichnet. Nach Wien und Rom verbrachte er seine letzten Jahrzehnte in Kiel, war Zeichenlehrer an der Universität (für alle Studenten!). Vielleicht eine Parallelfigur zu Siegward Sprotte. * Vom 1. bis zum 4. Dezember 2016 wieder auf Einladung durch Botschafter Gerhard Weinberger in Tunesien. Dieses Mal komme ich gar nicht in die Stadt Tunis, sondern bleibe in der vornehmen Gegend nördlich davon. Gleich nach meiner Ankunft besuche ich die mir aus Wien bekannte Freundin Irini Athanassakis, die Autorin und Künstlerin ist – derzeit beschäftigt sie sich mit dem Themenkomplex Muttermilch zwischen Geben und Nehmen, den wir hier im Frühjahr 2015 ausführlich und sogar kontrovers besprochen haben. Am Freitag und Samstag dann das international besetzte Kolloquium über »Glücklich sein – heute?«. Ich habe aus gegebenem Grund »Eine bescheidene Konzeption von Glück« gewählt und entfalte sie von einer tatsächlich minimalistischen Glücksdefinition aus: »etwas zu tun haben«; ziehe Aristoteles’ eudaimonia heran und übersetze sie als gute seelische Verfassung oder Verhaltensdisposition – zum Tätigsein; übernehme Ernst von Feuchterslebens psychologischere Formel »etwas wollen können« und spanne sie auf einen negativen Pol und einen positiven Pol auseinander. Die Tagung findet in einem ehemaligen Königs- und Präsidentenpalast direkt am Meer statt, heute Sitz der Tunesischen Akademie 232 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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der Wissenschaften und Künste, in Karthago. Am Abend treffe ich in der Österreichischen Botschaft die tunesische Philosophin Rachida Triki, die in den Sechzigerjahren Michel Foucault in Tunis erlebt hat und seinen Vortrag über »Manets Malerei« herausgegeben hat – einen wichtigen Text zur »Physik der Malerei«. Am Samstag in derselben Gegend in dem »Künstlerdorf« Sidi Bou Said, schöne Dämmerung über dem Meer und über der Stadt. Am 6. Dezember wird mir aus Olmütz die Publikation meines Aufsatzes »The Mathematical-Poetic Renaissance in Austria (Johannes von Gmunden, Georg von Peuerbach, Regiomontanus, Conrad Celtis)« zugeschickt, den ich dort im Jahre 2013 vorgetragen habe. Bericht von den Anfängen der Wiener Universität im 14. Jahrhundert mit obligatorischer Aristoteles-Lektüre, hauptsächlich der Physik und der Logik, also mit einer gewissen positivistischen Engführung. Im 15. Jahrhundert kommt es zu einer interessanten Erweiterung der »Mathematik« durch »Poetik« und um 1500 taucht eine Figur auf, die man gern als die erste Erscheinung der Philosophie in Österreich bezeichnen würde, wenn sie sich nicht zu sehr in lateinischem Manierismus verloren hätte: Conrad Celtis. 141 14. Dezember Der Sonderzahl Verlag richtet zu meinem Geburtstag ein Fest aus, auf dem mir ein Buch gewidmet und überreicht wird: Sehen und Sagen, herausgegeben von Ivo Gurschler, Sophia Panteliadou, Christopher Schlembach. Der (von mir gewünschte) Titel formuliert meinen philosophischen Ansatz auf einer ganz elementaren Ebene. Fünfzig äußerst heterogene Beiträge, die ich als Repliken auf mich sehen kann – sozusagen tychanalytische. Ich halte eine kleine Rede, in der ich ausgehend von meinem bekannten Sensualismus und zu meiner eigenen Überraschung den Leuten, auch mir, die drei normativen Qualitäten des Wahren, des Schönen, 141 Siehe Walter Seitter: The Mathematical-Poetic Renaissance in Austria (Johannes von Gmunden, Georg von Peuerbach, Regiomontanus, Conrad Celtis), in: Czech and Slovak Journal of Humanities. Philosophica 1/2016.

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des Guten ans Herz lege. Und zwar diese drei Qualitäten in strenger Unterscheidung – eine Art partieller Platonismus. Ich stelle den Text dann in meine Webseite – als »Philosophisches Manifest«. Am 16. Dezember führe ich mit Silke Silkeborg, der Nachtmalerin aus Deutschland, ein Gespräch über ihre Arbeit, das Malen (in) der Nacht. Ich selber habe die Nacht, dieses alltägliche Phänomen, als Gelegenheit erfahren, die Stellung des Menschen im Kosmos zu spüren. Die Nacht ist ein alltägliches Extremphänomen, in dem sich zeigt, wie unsere Existenz aus unterschiedlichen Qualitäten »zusammengesetzt« ist. Die Extreme und die Zusammensetzung – zwei Kategorien bei Georges Bataille. Die Weihnachtszeit verbringe ich wieder – wie schon seit über dreißig Jahren – auf der Insel Fuerteventura, die mir mit ihrem ein bisschen südlichen Meer, mit dem vielen Sand, mit den braunen Geröllbergen, mit den sternigen Nächten, auch mit einer gewissen Hinführung zur spanischen Sprache und zum Philosophen, Schriftsteller, Dichter Miguel de Unamuno manches gegeben hat. 5. Jänner 2017 Im Café Demel Treffen mit Wolfgang Koch, der mir ein Buch schenkt: Josef Zürcher: Aristoteles’ Werk und Geist (Zürich 1952). Die These des Buches: das vorliegende Opus Aristotelicum ist postaristotelisch – größtenteils von dem Aristoteles-Schüler Theophrast niedergeschrieben. Eine These, über die ich nicht urteilen kann, die aber, wenn sie stimmen sollte, dem Opus kaum schaden würde, da sie nur seinen Entstehungsprozess verlängert. 11. Jänner 2017

Akzidens 1025a 14–34 Das Buch V weist die sonderbare Form einer Auflistung von 30 Begriffen auf, die auf ziemlich gleichartige Weise analysiert, in ihrer 234 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Mehrdeutigkeit auseinandergelegt werden. Der letzte Abschnitt mit dem letzten Begriff ist dem Akzidens (symbebekos) gewidmet – einem Hauptbegriff der aristotelischen Philosophie und gleichzeitig auch einem »geringsten«, nämlich dem Gegenbegriff zum »Wesen«. Begriffe, die rangmäßig obenan stehen, haben wir in den ersten Abschnitten angetroffen; seit geraumer Zeit, etwa seit der Nummer 10, haben wir es eher mit niedrigen Begriffen zu tun, die dem Akzidenziellen näherstehen – nun also genau der Begriff des Akzidens. Zuerst eine logische Charakterisierung (gleichzeitig eine ontologische): Akzidens ist das, »was an etwas vorhanden ist und wahrheitsgemäß ausgesagt werden kann, aber nicht aufgrund von Notwendigkeit oder Häufigkeit«. Bernd Schmeikal weist darauf hin, dass logische Modalität und mathematisierbare Wahrscheinlichkeit unterschieden werden müssen – aber hier scheint Aristoteles die Wahrscheinlichkeit in die Modalitäten einzugliedern (explizit hat er das in der Poetik getan). Akzidenzielles hat einen niedrigen Wahrscheinlichkeitsgrad. Das ist offensichtlich beim zufälligen Schatzfund, der zwar als Glücksfall erlebt werden kann, zunächst aber ist er ein Störfall bei der Gartenarbeit. Zweites Beispiel: das Zusammentreffen von Gebildetheit und weißer Hautfarbe (womit wohl die Hautfarbe der Europäer gemeint ist). Wenn Aristoteles diese beiden Beispiele formal also wahrscheinlichkeitsmathematisch gleichschalten würde, hieße das, dass er das Bildungsniveau der Europäer eher gering veranschlägt. Oder aber das Bildungsniveau der feinen Leute, die ihre vornehme Blässe bewahren, weil sich nicht als Hirten oder Bauern oder Steinbrucharbeiter verdingen müssen. Auch das dritte Beispiel für diese Art von Akzidenzialität geht in Richtung Unwahrscheinlichkeit, da es ein größeres Verkehrsmissgeschick evoziert: ein Sturm oder ein Raubüberfall haben einen Reisenden nach Ägina verschleppt. Der zweite Typ von Akzidens besteht in der Winkelsumme von 180 ° beim Dreieck, welche genauso notwendig und ewig ist wie das Wesen des Dreiecks. Wieso aber dann Akzidens? Weil sie nicht in seinem Wesen enthalten ist, da das Dreieck auch ohne sie konstruiert werden kann – allerdings stellt sie sich dann notwendig ein: notwendiges oder eigentümliches Akzidens. Ewiges Akzidens (wohlgemerkt eine nicht-religiöse Ewigkeit). Ein sehr wesensnahes Akzidens, für unsere Vorstellung eigentlich schon eine Wesenseigenschaft. Dieser »Lexikon-Eintrag« zum Akzidens kann als aristotelisch gelten, selbst wenn sich seine Redaktion über den Tod des Aristoteles 235 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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hinaus erstreckt hat, etwa gar bis ins 1. Jahrhundert vor Christus, in welchem nach allgemeiner Auffassung die Schlussredaktion der heute erhaltenen Schriften von Andronikos von Rhodos vorgenommen worden ist. Und jetzt mache ich einen Lektüre-Sprung, indem ich nicht einfach andere aristotelische Textstellen über das Akzidens heranziehe – sondern einen anderen Lexikon-Eintrag zum Akzidens. Einen anderen »aristotelischen« Lexikon-Eintrag aus Otfried Höffes Aristoteles Lexikon (Stuttgart 2005), der von Michael-Thomas Liske verfasst worden ist. Also einen weit entfernten, um über 2000 Jahre entfernten »kollegialen« Artikel, der die Systematik um den Akzidens-Begriff besser ausarbeitet. Das Buch V erweist sich als ein Textstück, welches zentrale Begriffe der aristotelischen Philosophie zumeist sehr unvollständig analysiert. Es systematisiert sie eher schlecht, füllt aber seine Analysen mit kunterbunten Beispielen auf, womit häufig überraschende Anschlussmöglichkeiten eröffnet werden. Zu den Akzidenzien habe ich gelegentlich noch weitere Fragen beziehungsweise Gesichtspunkte entwickelt. So die Frage, ob nicht auch die zufälligen akzidenziellen Eigenschaften insofern an Notwendigkeiten hängen, als die jeweiligen Parameter wie etwa Ort oder Zeit oder Farbe (Qualität) den jeweiligen Wesen, also den natürlichen Körpern, notwendig zukommen. Eine derartige Erörterung findet sich in dem Mail-Verkehr zwischen Wilhelm Schwabe und mir, abgedruckt unter dem Titel »Platon, Aristoteles«, in Sehen und Sagen. Für Walter Seitter (Wien 2017): 166 ff. Und in Poetik lesen 1 (Berlin 2010) wird gezeigt, wie Aristoteles selber die Dominanz der Substanzen gegenüber den Akzidenzien relativiert und diese zu den Hauptakteuren erklärt.

18. Jänner 2017 Unsere erste Lektüre des Abschnitts 30 hat den bereits öfter aufgekommenen Eindruck bestätigt, dass sich das Buch V nicht nur durch eine eigenwillige Textstruktur, sondern gelegentlich auch durch inhaltliche Einseitigkeit oder gar Extravaganz auszeichnet. Die systematische Positionierung der Akzidenzien besteht in ihrer Unterordnung unter das – oder die – Wesen, und diese Unterordnung wird hier in allen vier Beispielen eher überspielt als betont. Das Akzidens »weiß« wird dem Akzidens »musisch« zugeordnet und die 236 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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notwendig dazuzudenkende Substanz wird nur mit dem unbestimmten Personalpronomen »jemand« notiert. Hier sieht es fast so aus, als würde ein Akzidens einem anderen Akzidens zugeschrieben (was Aristoteles anderswo ausdrücklich verwirft: Met. IV, 1007b 2 ff.). Andererseits wird das Akzidens der Winkelsumme von 180 ° als ebenso notwendig und ewig wie das Wesen des Dreiecks bezeichnet. Und die beiden überraschenden Vorfälle – der Schatzfund im Garten und die Schiffsentführung, sie passieren zwar jemandem, aber der wird gar nicht substanziell oder essenziell definiert als derjenige, der über diesen Vorkommnissen steht. Er verschwindet eher unter ihrer Wucht und ihren eventuellen Folgen. Daher sehe ich eine Konvergenz zwischen diesen Beispiels-Ereignissen, aus denen sich eine Komödie oder sonst ein Drama entwickeln könnte, und der aristotelischen Tragödientheorie, in der Aristoteles selber seine SubstanzAkzidenzien-Ordnung explizit umwirft und die pragmata zu den Hauptakteuren erklärt (anstelle der Götter und Menschen). 142 Michael-Thomas Liske hat in seinem Akzidens-Artikel diese Tendenz des aristotelischen Akzidens-Artikels bemerkt und sehr gut zum Ausdruck gebracht, wenn er schreibt: »Met. V 30 entwickelt einen Begriff des symbebekos, der zum Zufälligen zugespitzt ist …« und für so ein Akzidens gebe es keine bestimmte Ursache, sondern eine zufällige (tychon), also wieder eine akzidenzielle. 143 Die Verkettung der Akzidenzien, pragmata oder tychonta, konstituiert laut Poetik die Handlung der Tragödie. Die wird von Aristoteles als ontologische Sonderzone ausgewiesen, in der eine revisionäre Ontologie erprobt wird. Ist die Literaturtheorie das Gebiet für diese Entfernung von einer Ontologie, die auf dem Boden einer Naturlehre erwachsen ist? Weder der moderne noch der antike Artikel über das Akzidens erwähnen die schlichteste Systematisierung der Akzidenzien, welche 142 Siehe Aristoteles: Poetik 1450a 15 ff.; Walter Seitter: Poetik lesen 1 (Berlin 2010): 97 ff. In der modernen Ontologie dreht sich zwischen Substanz (Ding) und Ereignis der Streit um den ersten Platz; siehe den bereits zitierten Uwe Meixner sowie H. Gutschmidt, A. Lang-Balestra, G. Segalerba (Hg.): Substantia – Sic et Non. Eine Geschichte des Substanzbegriffs von der Antike bis zur Gegenwart in Einzelbeiträgen (Heusenstamm 2008): 445 ff. 143 Die aristotelische Ursachenlehre teilt sich in zwei Viererreihen: die wohlbestimmten Verursachungen vollziehen sich dank Natur oder Vernunft (Kunst), die unbestimmten im automaton oder in der tyche; und in jeder Verursachung wirken vier Ursachen zusammen: Stoff-, Form-, Wirk- und Zielursache; siehe Physik II. Es gibt also vier Verusachungsbereiche und vier Ursachensorten.

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in den Kategorien vorliegt, von denen neun eben die Akzidenzien benennen und gliedern: Qualität, Quantität, Relation usw. Mit dieser Kategorienlehre werden die Akzidenzien zu braven und folgsamen Trabanten der Substanz erklärt. Doch der Abschnitt 30 des Buches V entfernt sich davon. Er spannt das Profil der aristotelischen Akzidenzienlehre in eine bestimmte Richtung aus, polarisiert es in einer bestimmten Richtung und trägt so insgesamt zu seiner nicht einfachen Reichhaltigkeit bei. Ja, er probt den »Aufstand« der Akzidenzien gegen ihre schlichte Unterwerfung unter die Substanz.

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25. Jänner 2017 1026b 3–7 1. Im Abschnitt 30 von Buch V bezog sich eines der vier Beispiele für Akzidenzien darauf, dass ein Musischer auch weiß sein könnte (1025a 19). Wir verstanden das so, dass mit »weiß« die Hautfarbe gemeint sei, nämlich die relativ stabile Hautfarbe, die heute den Europäern oder Kaukasiern zugeordnet wird. Und wir vermuteten, dass Aristoteles das Zusammentreffen von solcher Hautfarbe mit einem relativ hohen Grad an Bildung als eher selten betrachtet (worüber wir uns gewundert haben). In der Frankfurter Allgemeinen gab es gestern (24. 1. 2017) einen sehr informativen Artikel über die menschlichen Hautfarben von Nina G. Jablonski, der auch auf historische und kulturelle Einstellungen zu den natürlichen Hautfarben einging. Einerseits würden die Menschen die in ihrer Nähe vorkommenden Körpereigenschaften für »normal« halten, andererseits seien erst durch die Erfindung von Landwirtschaft und Fernhandel weit auseinander liegende Populationen miteinander in Kontakt gekommen. Im alten Ägypten und Griechenland seien sich die Leute der unterschiedlichen Hautfarben wohl bewusst gewesen, aber kulturelle Unterschiede galten als wichtiger. Erst mit dem Zusammenrücken aller Kontinente in der frühen Neuzeit sei das Erschrecken über die anders erscheinenden Menschen zu einer häufigen Erfahrung geworden, wobei die Europäer in der Regel als die »Herren« auftraten. Man wird also annehmen dürfen, dass das aus der Antike stammende aristotelische Beispiel ohne emotionale Spannung verstanden worden ist. 2. Ich habe das Aristoteles Lexikon von Otfried Höffe als »zweites« einschlägiges Wörterbuch nach Abschnitt 30 von Buch V bezeichnet und insoweit als eine Art »Weiterschreiben« von Aristoteles. Ande239 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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rerseits stelle ich diesen kurzen Text, der den Akzidenzien eine starke Position zuschreibt, in die Nähe der Poetik, wo die dramatische Handlung weniger auf die substanziellen Akteuren als vielmehr auf die Aufeinanderfolge der Ereignisse zurückgeführt wird – mitsamt der paradoxen Wendung, dass auch unwahrscheinliche Ereignisse in der Wahrscheinlichkeitskette ihre Bedingung fänden. Daher mein Vorschlag, ausgehend von den Akzidenzien-Beispielen von Met. V, 30, die eine oder andere Dramenhandlung zu erfinden (womit die Thematik von VI, 3 vorweggenommen werden würde). 3. Die ersten Sätze von Buch VI definieren – wieder einmal – die Richtung des ganzen hiesigen Unternehmens, das in dem gesamten Buch in Angriff genommen wird: in dem gesamten Buch, das später den Titel »Metaphysik« bekommen sollte. Und dieses Unternehmen wird mit folgenden Tätigkeiten umschrieben: Prinzipien und Ursachen suchen, dianoetisches Tun, Wissenschaft. In der Folge mehrmals der Begriff »Wissenschaft« und die Unterscheidung verschiedener Wissenschaften unter besonderer Hervorhebung der Naturwissenschaft (Physik). Den Horizont des aristotelischen Unternehmens (er war Unternehmer!) bilden die Wissenschaften. Das Insistieren auf Prinzipien und Ursachen wird als das Eigentümliche jeder Wissenschaft bezeichnet, womit gleichzeitig impliziert wird, dass es auch unwissenschaftliches Wissen gibt (das im allerersten Satz des ganzen Buches ausdrücklich vorausgesetzt wird). Entspricht diese Profilierung von Wissenschaft auch dem heutigen Verständnis? Die Angabe der Formalobjekte Prinzipien, Ursachen (und Elemente) scheint dem eher zu widersprechen, da heute eher Funktionen, Bedingungen, Zusammenhänge genannt werden. Dabei handelt es sich um unbestreitbare Unterschiede; andererseits aber nicht um total verschiedene Wissenschaftskonzeptionen; so ist zu berücksichtigen, dass mit »Ursachen« und »Prinzipien« mehrere Aspekte gemeint sind, die heute einfach anders genannt werden. Allerdings legt das heutige Wissenschaftsverständnis darauf Wert, keine Einzelwissenschaft für das Gesamte des Wirklichen zuständig zu erklären. Wir greifen auf die große Wissenschaftsklassifikation vor, die im Text dann gleich folgen wird und die zunächst einmal ohne den Begriff »Philosophie« auskommt. Es werden drei Gattungen von Wissenschaft unterschieden, die sich zunächst weniger durch Objektwahl als vielmehr durch Einstellungen oder Zielsetzungen profilieren. Die theoretischen Wissenschaften, sie werden dann auch die 240 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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»theoretischen Philosophien« genannt, haben als Ziel nur das Erkennen selber bzw. dessen objektiven Pol, die Wahrheit. Die drei dazugehörigen Wissenschaften sind die Physik (deren Gegenstände die natürlichen selbständigen Dinge sind), die Mathematik (deren Gegenstände die unselbständigen Quantitätsformen sind) und die dritte, die zunächst verschiedene Namen bekommt: Erste Wissenschaft, Theologie, Erste Philosophie. Die beiden anderen Wissenschaftsgattungen haben als Ziel das menschliche Tun, sie handeln von dem, was so sein kann oder anders, weil es vom Tun abhängt, das wiederum vom Wünschen oder Wollen getragen ist. Insofern ist das Ziel beider das Gute. Das Ziel der poietischen Wissenschaften ist das Herstellen, das zu einem erwünschten Resultat führt, einem Werk: das kann ein Haus sein oder ein Gedicht oder die Gesundheit. Dieses Gute kann als Nützliches, als Schönes oder als Angenehmes aufgefasst werden. Eigentlich sind diese Wissenschaften vom Herstellen, besser gesagt: die Wissenschaften zum Herstellen diejenigen, die dem gewöhnlichen Menschen am nächsten stehen. Dazu gehören die Medizin, die Baukunde, die Kunstwissenschaften, alle Technikwissenschaften, auf denen die Techniken der Nahrungsmittelerzeugung, des Transportwesens, der Energiegewinnung und so weiter beruhen; dass die wiederum auf die Naturwissenschaften (Physik) zurückgreifen müssen, zeigt, dass die drei Wissenschaftsgattungen nicht unverbunden nebeneinander stehen. Dann gibt es noch die praktischen Wissenschaften, die auf das Handeln zielen, welches nicht bloß zu einem guten Resultat führt, sondern von Anfang an und durchgehend gut sein soll. Da geht es um das Gute im ethischen und politischen Sinn: richtiges Entscheiden und richtiges Verhalten als Selbstzweck. Wolfgang Koch hat aus dem Internet die aristotelische Wissenschaftsklassifikation (nach O. Höffe) ausgedruckt, die etwas anders aussieht als die hier formulierte; es gibt ja bei Aristoteles selber unterschiedliche Versionen. Es handelt sich nämlich um eine durchdachte Gliederung und nicht um einen sakrosankten Text. Was gedacht und durchdacht und gut formuliert ist, kann nicht nur, sondern »möchte« auch neuerlich gedacht und durchdacht und vielleicht neu formuliert werden. 144

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Einen großen Überblick bietet Andreas Rötzer: Die Einteilung der Wissenschaf-

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Das heißt: Aristoteles weiterschreiben. Im Buch namens »Metaphysik« hat Aristoteles dieses Umdenken und Umschreiben selber wieder und wieder praktiziert – daher die verschiedenen Ansätze und Anläufe zu diesem »einen« Buch. In gewissem Sinn haben schon seinerzeit mehrere Autoren an dem Corpus Aristotelicum »mitgeschrieben«: Platon (mitsamt Vorgängern), der jüngere und dann der ältere Aristoteles, seine unmittelbaren Schüler und Nachfolger (zum Beispiel Theophrast), dann die Redakteure wie Andronikos von Rhodos; später dann die vielen Kommentatoren und Übersetzer; Übersetzer schreiben bekanntlich »alles« neu – mit weitreichenden Folgen. * Am 26. Jänner stellt Helmuth Vetter seine neue Parmenides-Ausgabe vor. Parmenides: Sein und Welt. Die Fragmente neu übersetzt und kommentiert von Helmuth Vetter (Freiburg 2016). Vetter legt den Hauptakzent darauf, dass es sich in der im Lehrgedicht thematisierten Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit nicht auf der einen Seite um bloßen Schein handelt, sondern um Erscheinung im positiven Sinn, welche auf die Wirklichkeit des göttlichen Kosmos verweist. Ohne die riesigen Distanzen verkürzen zu wollen, darf ich daher annehmen, dass der Erscheinungsbegriff meiner Philosophischen Physik in eine ähnliche Richtung geht. * Anstatt im Text weiterzulesen, kommen wir noch einmal auf die aristotelische Wissenschaftsklassifikation zurück. Zunächst lässt sich feststellen, dass so eine Klassifikation ein typisches Beispiel dafür ist, was als »Metawissenschaft« gelten kann – im Gegensatz zu Objektwissenschaft. Es wird nämlich nicht eine Wissenschaft betrieben, die sich einem Objekt, sei es einem Naturgegenstand oder einer Kulturerscheinung, zuwendet, sondern es wird etwas über eine Wissenschaft, in diesem Fall sogar über alle Wissenschaften, gesagt. Diese Bedeutung von »meta« ist erst am Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt worden, und zwar von dem polnischen Logiker Alfred Tarski. In der Antike hingegen war das Präfix »meta« ten. Analyse und Typologisierung von Wissenschaftsklassifikationen (Diss. Passau 2003) https://opus4.kobv.de/opus4-uni-passau/files/59/AndreasRoetzer.pdf

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mit der Bedeutung »nach« versehen – in der die moderne Bedeutung allerdings schon impliziert erscheint. Ein erster Blick auf die aristotelische Wissenschaftsklassifikation zeigt, dass es sich um eine große, sehr grundsätzliche Gliederung handelt, in der allerdings das typisch Wissenschaftliche, nämlich das Theoretische, nur einen Pol bildet, sodass Nicht-Wissenschaftliches in die Gliederung einbezogen zu werden scheint. Dieses aber wird nicht auf einen Gegenpol, das Praktische, konzentriert, sondern in zwei Glieder zerlegt: das Poietische und das Praktische. Es ergibt sich also nicht einfach ein Dualismus aus theoretisch und praktisch – sondern es entstehen auf der Gegenseite zum Theoretischen zwei speziellere Glieder: ein Praktisches in einem engeren Sinn und ein spezifisch Poietisches. Diese beiden Wissenschaftsformen begnügen sich nicht mit Erkennen (auf das sie natürlich verpflichtet sind), sondern zielen auf Tätigkeiten, aber zwei unterschiedliche Tätigkeiten, deren Unterschiedlichkeit jedoch seit der Neuzeit den Menschen nicht mehr so einleuchtet: dem Herstellen, das auf erwünschte Resultate zielt, und dem Handeln, das selbstzweckhaft wichtig, entscheidend ist – und »gut« sein soll. Damit ist der Bereich des ethischen, politischen Tuns (und Leidens) gemeint. Die Herstellungen hingegen zielen auf angenehme, nützliche, schöne Resultate: »Werke«. In der antiken Realität ruhten diese beiden Tätigkeitsformen auf einer dritten auf, die als so niedrig galt, dass sie von den Philosophen ignoriert worden ist: auf der gewöhnlichen mühseligen Arbeit, die man nur den Sklaven (und den Frauen) zumutete und die keiner wissenschaftlichen (und lehrhaften) Erörterung würdig war. Die Dreiheit aus Arbeit, Herstellen, Handeln (in aufsteigender Reihenfolge) ist sehr postaristotelisch (aber ganz in seinem Sinn) erst im 20. Jahrhundert nach Christus formuliert worden und zwar von einem besten Philosophen überhaupt: Hannah Arendt in ihrem Buch Vita activa. Ich sage »einem besten Philosophen« – weil ich sie mit allen Philosophen vergleiche. Arendt klassifiziert nicht Wissenschaften, sondern sie erörtert Tätigkeitsweisen. Also macht sie nicht Metawissenschaft, sondern Objektwissenschaft – hauptsächlich praktische Wissenschaft, modern gesagt eher Subjektwissenschaft (Anthropologie).

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8. Februar 2017 Da »wir« bekanntlich in den Jahren 2007–2010 mit der Poetik eine wichtige Vertreterin der »poietischen Wissenschaft« gelesen haben und diese Lektüre in Poetik lesen (Berlin 2010, 2014) nachgelesen werden kann, bringe ich heute ein Beispiel der »praktischen Wissenschaft«, das zufällig letzte Woche entstanden und vorgetragen worden ist, indem ich im Stift Melk an einer »Interreligiösen und Interkulturellen Begegnung« teilgenommen und dort gesprochen habe. Hier der Text: Die Liebe zum Guten Liebe Damen und Herren, das Gute ist kein Wesen und kein Ding, also auch keine Gottheit, keine Person, keine Gemeinschaft. Es ist nur eine Eigenschaft, eine Bestimmtheit. Man könnte sagen, es ist etwas Abstraktes und Allgemeines. Trotzdem aber nicht etwas Unbestimmtes. Es setzt sich immer ab von einem Schlechten oder gar von einem Bösen. Oftmals tritt es sogar erst dann in unser Bewusstsein, wenn das Schlechte oder gar das Böse überhandnehmen und sich ins Unerträgliche steigern. Der französische Philosoph Michel Foucault gehörte zu denen, die große Schwierigkeiten damit haben, den Begriff des Guten mit Erkenntnis, also mit einer gewissen Allgemeinverständlichkeit, mit so etwas wie Objektivität zu verbinden. Er neigte dazu, die Sache vom Gegenteil aus begreiflich zu machen, das war für ihn das Unerträgliche. Die Unterscheidung zwischen dem Schlechten oder Bösen einerseits und dem Guten andererseits werden wir alle seit frühen Kindheitstagen zu machen gelernt haben, sowohl innerhalb wie auch außerhalb von religiösen oder parteipolitischen Traditionen. Auch außerhalb von oder zwischen derartigen Großtraditionen haben wir Erfahrungen gemacht im Alltag, in Familien und Schulen, mit Geschichten und mit Büchern, mit Vorbildern, die unsere Sensibilität für das Gute gebildet haben. Quer zu dieser Grundunterscheidung lassen sich innerhalb des Guten viele Nuancen unterscheiden, die vom körperlich Angenehmen, über vielfältig Nützliches, zum mitmenschlich Hilfreichen, Edlen, Gerech244 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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ten, Richtigen, Großzügigen, vielleicht sogar zum Heroischen reichen. Lauter Eigenschaften, die an vielerlei Wesen vorkommen, jedenfalls vorkommen sollen. Wir erwarten sie von Handlungen und Verhaltensweisen anderer, man erwartet sie aber auch von unseren Handlungen. Ich habe von religiösen und parteipolitischen Traditionen gesprochen. Es gibt sie, weil die Menschen orientierungsbedürftige Tiere, pardon Wesen sind. Derartige Orientierungsversuche und -angebote neigen oft zu einer gewissen Engführung und daher sollte man sich aus den Verengungen herausarbeiten, muss deswegen aber nicht jene Traditionen völlig abwerfen. Es gibt eine zusätzliche Orientierungsmöglichkeit – und dies wohl nicht nur in Europa. Man nennt sie »Bildung« und man meint damit die ernsthafte Beschäftigung mit Wissensbeständen oder Kunstleistungen, etwa mit Fremdsprachen oder mit Musikausübung oder mit Poesie. Auch die Philosophie wird man da nennen können. Diese Beschäftigungen liefern keine direkten Anleitungen zum Guten im Sinn der Ethik, aber sie weiten den Horizont, sie fügen zum Guten die Dimensionen des Schönen und des Wahren hinzu und halten die Tendenz zum Fanatismus auf. Der Fanatismus, sowohl religiöser wie auch politischer Art, pervertiert das Gute zum Bösen hin. Schon deshalb ist das Böse niemals und nirgendwo völlig ausgeschlossen, auch dann nicht, wenn sich alle fleißig zum Guten bekennen. Verkündigungen und Bekenntnisse allein genügen nicht, sie können sogar kontraproduktiv wirken, indem sie Langeweile verbreiten oder antiautoritäres Aufbegehren provozieren. Zweifellos ist der Dialog eine wichtige Praxisform innerhalb der Orientierung auf das Gute. Dabei wird auch die Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen eine Rolle spielen. Ein politischer Begriff wie der der »Menschenrechte« gilt dennoch in allen Bereichen und seine Geltung impliziert logisch den Begriff der »Menschenpflichten«. Auf der anderen Seite sollten auch sogenannte Bösewichter nicht ein für allemal »abgeschrieben« im Sinn von »ausgeschlossen« werden. Traditionen und Erfahrungen müssen nicht zu festen Standpunkten führen, die sich der Diskussion entziehen. Wenn die Menschenrechte, wie man sagt, »nicht verhandelbar« sind, wenn Tötung und Gewaltanwendung abgelehnt werden, so müssen diese Positionen doch dis245 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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kussionsfähig bleiben, weil sie auf Erkenntnis beruhen, nicht auf bloßer Indoktrinierung. Möglicherweise werden diese Positionen dann auch gewisse Flexibilitäten für Grenzfälle entwickeln. Erkenntnis in Form von Sensibilität, Spürsinn, letzten Endes von Empfindlichkeit für Verletzlichkeit, dem Mitgefühl für Verletzlichkeit. »Gefühl« ist hier kein bloßes Fühlen, sondern die Verdichtung der fünf körperlichen Wahrnehmungssinne zu einem körperlich-seelischen Gemeinsinn: Sinn für das Gemeinsame der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem weniger Guten. Und die Bereitschaft, das Gute in Wort und Tat weiterzutragen. Zum Schluss drei Wortpaare, die das ethisch-politische Gute umreißen: Selbsterhaltung und Selbsthingabe Selbsterhaltung und Welterhaltung Selbstverbesserung und Weltverbesserung Melk, 2. Februar 2017

Walter Seitter

Diese kleine Rede ist nicht in einem wissenschaftlichen oder gar akademischen Zusammenhang gehalten worden, sondern in einem »praktischen« – im engeren aristotelischen – Sinn. Wenn nämlich Freundschaft zwischen Menschen und Menschengruppen dem Bereich der Praxis zugeordnet werden kann, was ohne Zweifel der Fall ist. Ich habe dabei nicht an Aristoteles gedacht, sondern an bestimmte heutige Probleme des Zusammenlebens. Da ich immerhin als Philosoph gesprochen habe, wird die Rede wohl doch wissenschaftlich geraten sein, also nicht bloß wünschend-empfehlend, sondern auch überlegend, klarstellend, unterscheidend, ein bisschen argumentierend. Die Begriffseinführung am Anfang geht von einer Formulierung aus, die mit der Substantivierung des Adjektivs (gut-Gutes) eindeutig auf Platon verweist, jedoch die Substantivierung in Richtung »Eigenschaft« zurücknimmt. Nun trifft es sich, dass Aristoteles im Abschnitt 4 von Buch I der Nikomachischen Ethik eine Überlegung anstellt, die seine eigenen bio246 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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graphischen Anfänge als Platon-Schüler zum Ausgangspunkt nimmt. Platon hat »das Gute« in seine Ideenlehre eingefügt, ja es an die Spitze der »Ideen« gestellt. Doch ein solches Gutes können die Menschen weder erwerben noch realisieren, meint Aristoteles (Nik. Eth. 1096b 33). Dennoch hält er an der Rede vom »Guten« fest, flexibilisiert es indessen analog zum »Seienden« (siehe Met. IV, 1–2), entsprechend der Vielzahl der Kategorien: substanzhaft existiert das Gute in Gott und menschlichem Geist, qualitativ in den Tugenden, quantitativ im rechten Maß, relational im Brauchbaren oder Nützlichen (gut zu etwas), temporal im kairos, lokal im Erholungsaufenthalt (1096a 23 ff.). Mit der lokalen Version des Guten trifft Aristoteles das, was heute als Tourismus betrieben wird (und wohl seit vielen Jahrtausenden bei den Vögeln üblich ist). Das ethisch-politische Gute verbindet er mit dem Akzidens der Qualität, genauso wie ich, verwendet aber dafür das heute altmodische klingende Wort »Tugenden«, womit Gewohnheiten oder Verhaltensweisen gemeint sind, die sich empfehlen, die empfohlen und geübt und ausgeübt werden sollen – eben weil sie gut sind. Daher möchte ich nicht versäumen, die Frage aufzuwerfen, ob die platonische Substantivierung, die zur Formel »das Gute« führt, nicht doch auch beibehalten werden sollte, weil sie den normativen Charakter der entsprechenden Qualität einigermaßen deutlich kennzeichnet – ohne dass damit wie wohl bei Platon eine substanzhafte Größe gemeint sein muss. In meiner erwähnten Rede vom 14. Dezember 2016 habe ich mit den drei »normativen Qualitäten« des Wahren, des Schönen, des Guten einen partiellen Platonismus skizziert, der sich auf diese beschränkt (und keine »Ideen« für deskriptive Entitäten annimmt). 145

1025b 8–30 Auch Buch VI hält sich auf der Ebene der theoretischen Wissenschaften (hier auch die »dianoetischen« genannt) und da unterscheidet Aristoteles unterschiedliche Vorgehensweisen: Ausgang von den Sinneswahrnehmungen oder reine Wesens-Betrachtungen ohne Ent145 Inzwischen steht diese Rede als »Philosophisches Manifest« auf meiner Webseite www.walterseitter.at

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scheidung über Existenz oder Nicht-Existenz. Absetzung von den poietischen Wissenschaften (auch Kunst- oder Technikwissenschaften) und von den praktischen Wissenschaften (bei diesen steht der Ineinsfall von Entscheiden und Handeln für die Selbstzweckhaftigkeit der Praxis).

15. Februar 2017 1025b 30 – 1026a 7 Die Physik, also Naturwissenschaft, Naturkunde, Naturlehre, ist so eine theoretische Wissenschaft und sie beschäftigt sich mit Dingen, die sich bewegen können, aber auch mit dem begriffsmäßigen Wesen, sofern es in der Regel nicht getrennt vom Stoff existiert. Bereits mit dieser Zweiheit formuliert Aristoteles neu, was er in der Kategorienschrift mit Erster Substanz und Zweiter Substanz sowie im Abschnitt 8 von Buch V mit Körper und Seele unterschieden hatte. Ohne Herausarbeitung des Was oder der Wesenheit gibt es keine Wissenschaft und schon gar nicht eine theoretische Wissenschaft. Was nun die Körper betrifft, hatte er schon in Buch V auch deren Teile unter den Begriff ousia gestellt, was uns wundern mag, da wir Körperteilen kaum die Leistung der selbständigen Existenz oder gar der Selbstbewegung zuschreiben dürften – allerdings finden sich gerade am Menschen viele Körperteile, die doch dazu fähig zu sein scheinen, etwa Arme, Hände und sogar Finger, erst recht das Herz als Hauptmotor und -maschine, und das gilt sogar für die Nase, die als eine Art Luftbewegungmaschine funktionieren kann. 146 Aristoteles treibt jetzt die Polarität zwischen Körperding und Begriffswesen auf die Spitze, indem er einerseits den Körperteil Nase und andererseits eine mögliche, im Grunde genommen paradoxe und jedenfalls akzidenzielle Eigenschaft derselben, nämlich die Eigenschaft »hohl« (konkav), aufstellt; paradox weil die Nase insgesamt als Körpervorsprung zur geometrischen, besser gesagt topologischen Eigenschaft »konvex« neigt oder vielmehr ragt. Jetzt soll ausgerech146 Die jeweils getrennte Selbstbeweglichkeit der Finger ist zum Ausgang der sogenannten Digitalität geworden, die – nach Fritz Heider – die Philosophische Physik generiert hat; siehe Walter Seitter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen (Weimar 2002): 41 ff.

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net die der äußeren Nasengestalt abgeschaute Eigenschaft »hohl« für das Wesen stehen und diesem Wesen werden drei Grade von zunehmender Abstraktion bzw. abnehmender Konkretion zugeschrieben, was in Richtung Logik bzw. formale Ontologie geht: Hohlnase, Hohlnasigkeit, Hohlheit. 147 Aber im ganzen Beispiel geht es um »Nasologie« als Teildiszipin der Physiognomie bzw. Physiologie und wenn wir die Sache so ernst nehmen, wie wir sollen, denn ein Nur-Logiker ist Aristoteles nicht und wir hoffentlich auch nicht, so kommen wir darauf, dass auch die beiden anderen großen Wissenschaftsrichtungen sich um die Nase kümmern könnten. 148 Vor allem die poietischtechnischen Wissenschaften – angefangen von der Medizin mit Nasenheilkunde (Rhinologie), Nasenpflege, prothetische und ästhetische Nasenchirurgie (Rhinoplastik), bis hin zum Nasenschmuck mit Piercing oder ähnlichem sowie zur Riechkultur, wozu es neuerdings viele Bücher, auch philosophische gibt. Wie überhaupt alle technischen und ästhetischen Eingriffe müssen sich auch die nasenspezifischen gewissermaßen an der Nase fassen (lassen) und sich der Frage aussetzen, ob sie jeweils zum Glück der Menschen beitragen, und die Glücksproblematik ist nach Aristoteles eine Frage der »Praxis«, die nach Kriterien des »Guten« oder der »Tugenden« zu entscheiden und zu besorgen ist, die ihrerseits in einer praktischen Wissenschaft überlegt und besprochen werden sollte. Die ästhetische Chirurgie etwa mag auch Sache der ärztlichen Ethik sein, die seit dem Hippokratischen Eid die Heilkunst in den Bereich der »Praxis« einrückt. Ich habe das Nasenbeispiel jetzt noch etwas detaillierter besprochen, als Aristoteles das tut. Noch weniger detailliert nennt er in der Folge fast zehn weitere natürliche Körper oder Körperteile – aus den Bereichen der menschlichen und der pflanzlichen Anatomie, z. B. Auge, Fleisch, Knochen, Blatt, Wurzel, Rinde. Bei den Körpern geht die Analyse, wenn sie nicht nur mit der Sprache, sondern auch mit Hän147 Indem Aristoteles von der Nasenästhetik ausgehend so tut, als würde er die Hohlheit zur Wesenheit der Nase erklären (wie Heidegger die Hohlheit des Kruges zelebriert hat), wobei er die tatsächliche und wesensnotwendige innere Nasenhöhlung ignoriert, treibt er den Akzidenzialismus noch viel weiter als mit der Erhebung von »verstümmelt« zu einem Hauptbegriff der Philosophie im Buch V. 148 Im 18. Jahrhundert erfand der Hannoveraner Arzt Johann Georg Zimmermann (1728–1795) die neue Wissenschaft »Nasologie«, die Aristoteles anscheinend 2000 Jahre zuvor schon ins Auge gefasst hatte – und die vielleicht erst jetzt ausgearbeitet werden könnte.

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den und Messern operiert, in die Anatomie über. Und bei all dem findet der Naturwissenschaftler immer auch die Wesenheit oder »Seele«, wie Aristoteles nun wieder ausdrücklich feststellt (1026a 6). Denn die Seele ist nichts anderes als die Formursache, die die besseren Körper, die selbstbewegungsfähigen, qualifiziert, befähigt, beseelt. Daher habe ich vor mehreren Jahren die ungefähr zehn aristotelischen Synonyme für »Formursache« zusammengeschrieben und an ihre Spitze den Begriff »Seele« gestellt – und das Ganze unter den Titel »Morphismus, Energismus, Krypto-Animismus … Eine postaristotelische Glosse«. Jetzt ist der Text erschienen in I. Albers, A. Franke (Hg.): Nach dem Animismus (Berlin 2017). Der heute von uns gelesene Text zeigt geradezu drastisch, wo diese Seelenlehre ihren Platz hat: in der Philosophischen Physik.

22. Februar 2017 1026a 8–19 Der eben gelesene kleine Abschnitt, der der Physik gewidmet ist, scheint mit seinen Beispielen aus der menschlichen und der pflanzlichen Anatomie etwas über die Vorlesung Physik hinauszugehen. Tatsächlich befasst sich die Wissenschaft der Naturkunde mit allen Naturkörpern, ja mit der Definition aller wahrnehmbaren Wesen (Met. VII 1037a 14). Wir gehen davon aus, dass Aristoteles beim Schreiben dieses Buches hier die Physik bereits vorliegen hatte, und das würde heißen, dass seine Situation mit der meinigen insofern vergleichbar ist, weil ich ebenfalls schon eine sehr weit ausholende Philosophische Physik in mehreren Büchern in Angriff genommen habe und von dieser Ausgangslage aus die zusätzlichen theoretischen Wissenschaften als Leser ins Auge fasse. Wobei sich die Frage stellt, welche zusätzlichen Disziplinen es da noch gibt. Für Aristoteles beantwortet sich die Frage zunächst mit der Mathematik. Doch diese Antwort fällt äußerst knapp aus – es scheinen nur unbewegliche und selbständige Gegenstände überhaupt noch übrig 250 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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zu bleiben – sind die wirklich Sache der Mathematik? Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass er sich hier so zurückhaltend äußert – obwohl wir doch offiziell längst »wissen«, dass die Mathematik für Aristoteles die zweite betrachtende Wissenschaft ist und welche ihre Gegenstände sind. Es gibt ja Leute wie Friedrich Kittler, die behaupten, Aristoteles habe ein gestörtes Verhältnis zur Mathematik, er habe den Ahnherrn der griechischen Mathematik, Pythagoras, nie verstanden. Von mir selber weiß ich leider, dass ich da sehr schwach bin. Aristoteles noch einmal: Unbewegliches und Selbständiges ist Sache der Mathematik. Und dann: wenn es Ewiges, Unbewegliches, Selbständiges gibt – also das Gleiche plus Ewiges, wenn es das gibt, ist es Sache einer betrachtenden Wissenschaft. Aber nicht der Physik und nicht der Mathematik (deren Zuständigkeit jetzt anders bestimmt und geteilt wird). Sondern einer dritten oder vielmehr vorausliegenden, einer ehesten, also ersten Wissenschaft, die vom pluralischen Selbständigen und Unbeweglichen handelt – das doch zuvor der Mathematik zugeordnet worden war. Aber wohlgemerkt nur, w e n n es Ewiges, Unbewegliches, Selbständiges gibt. Und diese Sachen werden jetzt plötzlich zu Ursachen ernannt – zweifellos eine Ernennung, nämlich Aufwertung. (Wie steht es eigentlich mit der Wertfreiheit – oder nicht – der drei Wissenschaftsrichtungen? Die poietischen Wissenschaften werden kaum als wertfrei gelten können – denn sie zielen ja auf Herstellungsfähigkeiten, die ihrerseits erwünschte, also wertvolle Werke hervorbringen sollen: Gesundheit, Gedichte oder dergleichen. Die praktischen Wissenschaften zielen auf Handlungen, die in sich selber erwünscht, also gut, also wertvoll sein sollen. Im Unterschied dazu sind die theoretischen Wissenschaften »wertfrei«, weil sie nur betrachten und aussprechen (!), was so ist, wie es ist – ohne ein Eingreifen, ohne Verändern, ohne Wunschdenken. Aber wie wir gleich lesen werden, spricht Aristoteles gerade diesen Wissenschaften einen Wert zu, und zwar den höchsten. Oder soll man sagen: einen Rang, und zwar den höchsten?

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Die drei Wissenschaftsrichtungen haben also alle etwas mit irgendwelchem Guten zu tun – aber wo und wie und inwiefern?) Nach dieser Betrachtung in der Klammer und auf Metaebene wieder zurück zu den Gegenständen der dritten beziehungsweise ersten betrachtenden Wissenschaft – falls es solche Gegenstände überhaupt gibt. Es sind Ursachen (im Plural) für die Sichtbarkeiten, Offenbarkeiten, Erscheinungen, Evidenzen (im Plural) des bzw. der Göttlichen (im Plural). Wolfgang Koch sagt, dass Aristoteles hier den Sprung in die Spekulation macht. Er selber könne das Gesagte nicht nachvollziehen, wolle es aber nicht abwerten. Ich sage zum einen, dass mit den »Sichtbarkeiten« die Funktion der Betrachtung und Nachvollziehbarkeit aufrecht bleibt. Insofern die Sichtbarkeiten solche der Göttlichen sind, gibt es jedoch einen Übergang mit Differenz. Die Göttlichen scheinen zwar zu erscheinen, aber die Erscheinungen sind nicht ganz identisch mit den Erscheinenden. Wir haben auch ansatzweise davon gesprochen, was diese Erscheinungen sein könnten: die äußerste aus den Fixsternen bestehende Sphäre des Kosmos, deren Materie der Äther ist – siehe Himmel. Zum andern wird mit dem »wenn« (das dann gleich wiederholt wird) eine Kluft eingeführt, ein Abgrund, der diese dritte und angeblich erste betrachtende Wissenschaft (mitsamt den Erscheinungen) von den eher normalen beiden ersten (für uns ersten!) Wissenschaften trennt. Wenn es das überhaupt gibt … Da wird ein Fragezeichen davor gesetzt … eine »Als-Ob-Betrachtung«? Also doch Spekulation? So viel einstweilen zu dem winzigen Satz 1026a 18. Rührt hier Aristoteles zum ersten Mal – in der Metaphysik – an das Göttliche? Im Buch I geschah das schon (982b 29 ff., 983b 29) – oder war es dort nur historisch gemeint? Nicht nur. Dazu kommen noch im Buch V bei der Nennung der Körper (!), die Wesen sind, die daimonia (1017b 12). Zusammenfassend nennt Aristoteles noch einmal die drei betrachtenden Wissenschaften: die mathematische, die physische, die theologi252 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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sche. Doch plötzlich bezeichnet er sie als »Philosophien« und verleiht ihnen damit einen höheren Status. Diese auffällige Tatsache muss uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Projekt »Metaphysik« in dem Buch bisher fast immer unter »Wissenschaft« lief. Von Anbeginn an lief es unter »gesuchte Wissenschaft« und das bedeutet, dass es bereits etablierte Wissenschaften gibt, zu denen nun eine weitere hinzukommen soll. Die etablierten sind solche, die es schon seit längerem gibt – so die Mathematik mitsamt ihren Gliederungen, so die Medizin; dann die Physik, die Aristoteles selber in Form gebracht hatte (die aber auch schon Vorgängerinnen gehabt hatte). Die aristotelische Philosophie wurde von Anfang an und durchgängig im Horizont der Wissenschaften entwickelt – die besprochene Klassifikation verstärkt die Bedeutung des Plurals. Dieser Horizont gehört zu ihr und zu jeder Philosophie. Philosophen, die die Philosophie aus dem Horizont der Wissenschaften emanzipieren wollten, würden in eine déformation professionelle verfallen, die als »Philosophismus« bezeichnet wird: Befreiung der Philosophie von den Kriterien der Wissenschaftlichkeit (Nachvollziehbarkeit, Diskutierbarkeit). Aristoteles wird die Philosophie immerzu unter der großen, nicht übermäßig vornehmen Gattung »Wissenschaft« subsumieren. Und damit reiht er sich eher bei den »analytischen« Philosophen ein als bei den »kontinentalen«.

Plural oder Singular? Natürlich kann man, muss man jedes Substantiv, je nach Sachlage, im Singular oder im Plural verwenden. Im 19. Jahrhundert gab es eine Tendenz, bestimmte Wörter in einen feierlichen und irgendwie anspruchsvollen Singular zu setzen. So auch »die« Wissenschaft. Und besonders interessant, vor allem für den Bereich der poietischen Fähigkeiten, Tätigkeiten, Wissenschaften: »die« Kunst, »die« Technik. Beide vom griechischen Wort techne abgeleitet, welches eine Vielzahl von Techniken/Künsten bezeichnet hat. »Die« Kunst und »die« Technik reißen den mannigfaltigen Bedeutungsraum von techne dualistisch auseinander und suggerieren zwei große, womöglich unverträgliche Institutionen. 253 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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* Beim Vortrag vom 20. Februar 2017 über »Grillparzers philosophischer Hintergrund, Grillparzers Ästhetik, Grillparzer als Philosophie-Katalysator« hat sich als Hauptthema die Tatsache herauskristallisiert, dass Österreich jahrhundertelang ein Land ohne Philosophen war und dass sich erst nach der Revolution 1848 professionelle Philosophen etablieren konnten, wozu Grillparzer lateral oder marginal beigetragen haben könnte. Von Wittgensteins Bemerkung zu Grillparzer (über die Wahrheit aufseiten des Unwahrscheinlichen) geht J. C. Nyiri (Gefühl und Gefüge. Studien zum Entstehen der Philosophie Wittgensteins, Amsterdam 1986) zur Kritik über, die Wittgenstein an Moritz Schlicks Fragen der Ethik (Wien 1930) übt, in der gesagt worden war: Gott befiehlt das Gute deshalb, weil es gut ist. Dagegen Wittgenstein: »Gut ist, was Gott befiehlt.« Hier liegen zwei diametral entgegengesetzte Ansichten vor, die in der Geschichte des Denkens auch schon lange davor diskutiert worden sind – etwa zwischen dem Rationalismus eines Thomas von Aquin und dem Voluntarismus eines Duns Scotus. Wittgenstein stellt den Willen Gottes über die Qualität des Guten, er macht diese von einem Willen abhängig, von einer personalen Autorität. Ganz anders Schlick, der es wagt, eine bloße Qualität unabhängig von einer höchsten Autorität einmal vorauszusetzen. Dieser höchsten Autorität bleibt dann nichts übrig, wenn sie befehlen will, als die vorausgesetzte Qualität anzuordnen, ihr zur Durchsetzung zu verhelfen. Die Position von Schlick ist auch dann verständlich, wenn die Existenz Gottes in Frage gestellt wird. An die Stelle dieses Befehlenden können auch andere Autoritäten gesetzt werden: König, Parlament, Gericht. Innerhalb einer staatlichen Ordnung sind die Entscheidungen solcher Instanzen anzuerkennen, als gültig und richtig zu akzeptieren. Ob sie wirklich als gut anzunehmen sind, hängt jedoch davon ab, ob es Erkenntnismöglichkeiten für die Qualität »gut« gibt. 254 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Diese Erkenntnismöglichkeit scheint Schlick mit diesem Satz vorauszusetzen, obwohl man das ihm als einem Positivisten kaum zutraut. Zumindest erzeugt Wittgensteins Gegenrede so einen Eindruck. Unabhängig davon würde ich sagen, die Qualität oder vielmehr die Qualitäten, die mit dem Wort »gut« ausgedrückt wird bzw. werden, sind erkennbar. Das heißt nicht: jederzeit mit einem Schlag schon klar. Wohl aber können sie empfunden und gespürt werden, sie müssen aber auch praktiziert, auch artikuliert, besprochen, hin und her diskutiert werden. Häufig wird diese Qualität nur ex negativo – im Kontrast zu einem Schlechten oder Bösen – empfunden werden. Aber dann umso stärker und fordernder. Es handelt sich nämlich beim Guten um eine fordernde, eine normative, eine anrufende Qualität. Diese Rede suggeriert nun doch wieder etwas Personales, was in Richtung einer Autorität gedeutet werden könnte, was in die Richtung Wittgensteins zu weisen scheint, bei dem es auch einmal heißt: »Wenn etwas gut ist, so ist es auch göttlich. Damit ist seltsamerweise meine Ethik zusammengefaßt«. Indessen scheint mir diese Formel viel unklarer als die kleine Kontroverse zwischen Schlick und Wittgenstein, bei der ich mich auf die Seite von Schlick stelle. Mein Neffe Herbert Müller, dem ich diese Frage vorgetragen habe, hat dazu einen interessanten Beitrag geliefert, indem er aus dem biblischen Schöpfungsbericht die mehrfache Aussage des Schöpfers über sein Werk zitiert: »Und Gott sah, dass es gut war« (Genesis 1,3–24). Der Sehende sieht etwas Distantes, das vom Sehenden nicht schlechterdings gemacht wird: idea, Sicht, Ansicht, Gesicht, Vision. Wohl aber wird es vom Sehenden, der auch ein Sprechender ist, angepeilt, angeblickt, angesprochen. Jenem Sehen und Sagen kommt, wenn man es wörtlich genau ernst nimmt, ein besonderes Gewicht zu – da es ja vom Schöpfer des Gesehenen und Beurteilten ausgeht. Der Schöpfer könnte es »gut gefunden« haben, einfach aus Eitelkeit, weil es ja sein Werk war. Es steht jedoch geschrieben, dass er »sah«, d. h. dass er etwas ihm Vorliegendes, etwas ihm Gegenüberstehendes, etwas (horribile dictu!) Gegenständliches, etwas selbständig Dastehendes so gesehen hat, wie es an ihm selber gewesen ist und vielleicht immer noch anwesend ist. Das 255 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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würde heißen, dass jener Schöpfergott des hebräischen Heiligen Buches plötzlich oder etwa gar immer schon – auch – ein »Grieche« war: ein Augenwesen. 149 Oder um es anders zu sagen: dass sich jener Gott mit diesem Urteil auf die Seite von Moritz Schlick gestellt hat! 150 Deswegen konnte auch Rémi Brague unter Verweis auf eben diesen Passus in der Genesis schreiben, dass die klassische philosophische Tradition der Griechen sich sogar in der anderen Quelle der abendländischen Kultur, nämlich in der Bibel, wiederfinde. 151 Allerdings bezieht sich das Sehen und Sagen jenes Schöpfergottes wohl doch nicht genau oder insgesamt auf das Gute, das ich in meinem Melker Vortrag anvisiert habe und das in der WittgensteinSchlick-Kontroverse zur Debatte steht: denn da geht es um das Gute mit Betonung auf der Richtigkeit, der Gerechtigkeit und Großmütigkeit personalen Verhaltens. Lässt sich von dieser Problemstellung ein Bogen zur antiken Thematisierung schlagen, die hier am 8. Februar in Erinnerung gerufen worden ist? Platon hat die Eigenschaft »gut« zum »Guten« substantiviert und dieses zur höchsten »Idee« erhoben, der substanzhafte Wirklichkeit zugesprochen wird. Aristoteles hat diese Lehre jahre-, ja jahrzehntelang gehört und diskutiert. In der Nikomachischen Ethik schiebt er sie beiseite, weil ein solches »Gutes« für die Menschen unzugänglich sei. Für die Ethik sei die Qualität »gut« relevant und die werde in den »Tugenden« fassbar.

149 Dass der Gott des Alten Testamentes weniger anthropomorph (anthropoid) sei als die bekanntermaßen sehr menschlichen Götter der Griechen, stimmt gar nicht. Und eine weit darüber hinausgehende Behauptung: Gottheiten scheinen eine menschliche Spezialität zu sein. 150 Ich weiß, dass so eine Formulierung etwas Anmaßendes hat, will sie aber trotzdem auf eine zusätzliche, nämlich empirische Spitze treiben, indem ich die Ermordung von Moritz Schlick (die am 25. Juni 1936 in der Wiener Universität stattfand) auch noch in diesen Zusammenhang hineinstelle. Denn der Mörder, ein ehemaliger Schüler und Doktorsohn von Schlick, hat zu seiner Entschuldigung dann vorgebracht, Schlick habe ihn von seiner »katholischen Weltanschauung« abgebracht (in der war wohl ein Vorrang »Gottes« vor dem Guten inkludiert). 151 Siehe Rémi Brague: op. cit.: 38 f.

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Es gibt also einen Unterschied zwischen der platonischen und der aristotelischen Sicht des Guten, die sich wohl auch auf die ethischpolitischen Anwendung auswirken dürfte. Aber in der hier aufgeworfenen Unterscheidung zwischen einer autoritären und einer kognitiven Fassung von »gut«, also zwischen Wittgenstein und Schlick, stehen sowohl Platon wie auch Aristoteles aufseiten der kognitiven Fassung. Damit verbunden ist eine gewisse Unabhängigkeitserklärung der Moral von positiven Religionen. Eine Ansicht, die in der Gegenwart von vielen philosophisch denkenden Wissenschaftlern geteilt wird, z. B. von Jan Assmann, Michael Tomasello. Die Differenz zwischen Platon und Aristoteles relativiert sich weiterhin, wenn man bedenkt, dass die Lehre von den Tugenden ein großes sokratischplatonisches Erbstück ist. Die platonische Substantivierung des Guten zur »Idee« bewahrt immerhin das Adjektivische, das Qualitative und gleichzeitig das Normative, das Maßgebliche – für uns Maßgebliche. Daher meine bereits einmal formulierte Vermutung, dass dieser Teil der platonischen »Ideenlehre«, die einen »Maßstab« (oder mehrere) aufstellt, ohne die Existenz eines Gottes zu postulieren, plausibel sein könnte. Der protagoreische homo-mensura-Satz, der die immanent-menschliche Bezüglichkeit ausformuliert, wäre dann nicht etwa durch einen platonischen deus-mensura-Satz zu ersetzen, sondern aufgrund der menschlichen Exzentrizität durch einen bonum-mensura-Satz zu ergänzen. Es handelt sich um die Exzentrik des Sehens, welches das Gute bzw. etwas Gutes als solches erkennt, und um die Exzentrik des Wollens, das einem solchen Gut zustimmen könnte bzw. sollte. * 1. März 2017 1026a 20 – 23 Zum Thema der Erkennbarkeit des Guten wird nachgetragen, dass sie nur dann gegeben ist, wenn die Frage nach dem Guten spezifiziert wird, also auf bestimmte Arten des Guten und dann auch auf konkrete Fälle eingeschränkt wird. Wenn es um die ethische Güte geht, die eine menschliche Qualität ist, muss diese Qualität sowohl durch entsprechende Sensibilität wie durch ein differenziertes Vokabular 257 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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erfasst werden. Bloße Gewohnheiten oder Traditionen können da nur konventionelle Übereinstimmung herstellen. Auch bei der genannten Qualität geht es um Wahrnehmung, um feines Gespür, um Unterscheidungsvermögen und so können Urteile zustande kommen, die auf Zustimmung hoffen können – bei solchen mit ähnlich ausgebildeter Sensibilität. Wozu die fünf Sinne und eventuell noch ein sechster oder siebenter beizutragen haben. Daher lautet das aristotelische Motto der Hermesgruppe: wahrnehmen ist so etwas Ähnliches wie vernünftig erfassen. Dann zu dem zuletzt gelesenen Passus, wo Aristoteles gewisse äußerste kosmische Entitäten, wenn es sie überhaupt gibt (!), zum Gegenstand der dritten, sachlich gesehen der ersten theoretischen Wissenschaft erklärt. Und er ernennt sie zu Ursachen, ewigen Ursachen für die Erscheinungen der Göttlichen (diese wohl nicht persönlich aufgefasst, wie Gerhard Weinberger, heute unser Gast, richtig vermutet – womit sowohl die griechische Volksreligion wie die monotheistischen Offenbarungsreligionen ausgeschlossen sind). Jetzt bekommt die dritte, eigentlich die erste der betrachtenden Philosophien, eine Bezeichnung: sie wird die »theologische« genannt. Und ihr Gegenstand, das Göttliche, wird wieder rein hypothetisch eingeführt: wenn irgendwo vorhanden, dann in einer solchen Natur. Wird es damit einfach der Natur zugeordnet, für die die Naturkunde, also die Physik, zuständig ist? Dann wäre es auf den Rang der Naturkunde herabgesetzt. Oder doch der Natur, welche die äußerste Grenze des Kosmos darstellt? Dann wäre auch verständlich, warum diese Wissenschaft, jetzt wieder Wissenschaft, den höchsten Rang zugesprochen bekommt: aufgrund ihres Gegenstandes wie auch aufgrund ihres eigenen Niveaus. Den höchsten Rang innerhalb der betrachtenden Wissenschaften, die ihrerseits über den praktischen und den poietischen Wissenschaften stehen. Und nun wird auch der zweite Satz eingeschoben, der direkt dem Göttlichen gewidmet ist und der dem Göttlichen wiederum äußerst wenig zuspricht: nämlich das »wenn überhaupt« und zweitens die Einordnung in »eine solche Natur«. Und drittens wird dem Göttlichen auch eine Qualität zugeschrieben: der Superlativ von »ehrenvoll«, »kostbar« – »wichtig« (?).

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Diese Annäherung an das Göttliche ist äußerst vorsichtig und trotz des genannten Superlativs doch eher minimalistisch. Sie geht von der Naturkunde aus, die mit sehr vergänglichen Körperteilen illustriert wird; dann von der Mathematik, der bereits das Unbewegte zugeordnet wird; dann geht sie zum äußersten Rand des Kosmos über, zu ewigen Ursachen für die Erscheinungen – des Göttlichen. Und dieses sehr entfernte und nur hypothetisch mit Existenz ausgestattete Göttliche, das zwischen Erscheinen und Darüberhinaus oszilliert … Es oszilliert epistemologisch und wohl auch ontologisch zwischen Stärke und Schwäche. Immerhin meine ich, dass dieses Oszillieren zu seiner Erkennbarkeit, auch zu seinem Charakter gehört. Ist diese aus knappen Sätzen zusammengesetzte aristotelische Darlegung nachvollziehbar? Ja, aber mitsamt ihrer offen erklärten Darlegungsschwäche. Schwierige Nachvollziehbarkeit – aber immerhin. Dieses Göttliche, ein substantiviertes Adjektiv, bezeichnet etwas Qualitätsartiges, ähnlich wie das Gute; das Substanzhafte, das ihm zugeschrieben wird, bleibt ohne Profil. Nun tritt es aber über den Superlativ von timios direkt ins Bedeutungsfeld »gut« ein, von dem ich gesagt habe, dass es verständlich, intelligibel, nachvollziehbar ist. Die Nachvollziehbarkeit des aristotelischen Göttlichen bleibt eine sehr gebrochene. Daher liegt hier etwas anderes vor als eine große Verkündigung – die man glauben soll. Im Anschluss wird dann auch gleich die Benennung der dritten betrachtenden Wissenschaft als Theologie in Frage gestellt.

8. März 2017 1026a 23–32 Zuletzt war ausdrücklich von den theoretischen (betrachtenden) Wissenschaften (oder Philosophien) die Rede und davon, dass sie die ehrwürdigsten sind. Wodurch unterscheiden sie sich von den anderen, den poietischen und den praktischen? Dadurch, dass sie auf kein wissenschaftsfremdes Tun (also Herstellen oder Handeln) abzielen. Sondern ausschließlich auf ihr wissenschaftliches Tun: schauen und sagen, denken, beweisen (da sind immerhin schon mehrere Vermögen 259 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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oder Tätigkeiten involviert). Das Ziel liegt allein im Wissen und womöglich in der Wahrheit. Selbstzweckhaftigkeit dieser Wissenschaften. Diese »Reinheit« und der hohe Rang der betrachtenden Wissenschaften hat sich speziell in der antiken Physik so ausgewirkt, dass sie sich vom Handwerk und vom Ingenieurwesen weitgehend ferngehalten hat – im Unterschied etwa von der Medizin oder der Strategik. Genau das hat sich dann in der frühen Neuzeit geändert, als das Experiment einen hohen Stellenwert in der Theorie bekam: Experiment heißt Versuchsanordnung, Eingriff, Fragestellung durch Veränderung der Bedingungen und Warten auf Reagieren der Natur; die Natur zwingen, Antworten zu geben. Die Naturbeherrschung, also die Herstellung, die zum Ziel erklärt wird, wird bereits in der Theorietätigkeit vorweggenommen, »ausprobiert«. In der Mathematik ist das anders – sie ist ja keine Naturwissenschaft; eigentlich ist sie die reine »Geisteswissenschaft«. Die historisch-philologischen Wissenschaften, die im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt und dann »Geisteswissenschaften« genannt wurden, haben gewissermaßen den antiken Typ »betrachtende Wissenschaften« übernommen und auf Kultur und Historie übertragen (auch wenn ihnen dann die »praktische« Zwecksetzung »Bildung« noch ein bisschen aufgeladen worden ist) – aber die »betrachtende Lebensweise« mit ihrer Autarkie galt schon in der Antike als ideale Lebensform, d. h. – praxis. In 1026a 23 wird die zuvor als »theologische Philosophie« bezeichnete Wissenschaft »Erste Philosophie« genannt und sofort mit der Frage verknüpft, wovon sie eigentlich handelt. Drei Möglichkeiten: von Allgemeinem oder von einer Gattung und von einer bestimmten Natur. Letzteres wäre nur möglich, wenn es überhaupt neben den natürlichen Wesen noch eine andere Gattung (von Wesen) gäbe. Wenn nein, wäre die Physik die erste Wissenschaft und der Materialismus, der sich in der Lehre von den Substanzen eigentlich schon angekündigt hat, wäre das letzte Wort. Wenn ja, also wenn es ein unbewegtes Wesen gibt, dann ist die Wissenschaft davon die erste und gleichzeitig ist sie die allgemeine Wissenschaft, weil jenes erste Wesen das erste von allen ist. Die obige Frage, die zwei Möglichkeiten offen ließ, bekommt nun eine Antwort, die sich wieder in zwei Richtungen teilt, 260 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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welche etwas verschoben und unklar beide Möglichkeiten verbindet und bejaht: die erste Philosophie habe das Seiende als Seiendes zu betrachten – sowohl in Bezug auf sein Was wie auch in Bezug auf die ihm (als Seiendem) zukommenden Bestimmungen (1026a 32). Aristoteles unterscheidet so die »theologische« (mit seinem Ausdruck) und die »ontologische« (mit dem modernen Begriff) Forschungsrichtung innerhalb der Ersten Philosophie. Im Unterschied zum Buch IV, wo die Ontologie aus heiterem Himmel als Betrachtung der Seinsmodalitäten inauguriert worden ist, wird sie hier etwas mühsam aus der Konstellation der drei betrachtenden Wissenschaften und näherhin mit einer Differenzierung innerhalb der dritten (nämlich Ersten) Wissenschaft (bzw. Philosophie) vorgeschlagen. In einem größeren Zusammenhang verschiedener Realitätsebenen sowie mit einigen Unsicherheiten und Fragen. Die Verbindung der beiden Dimensionen Realitätsbereiche und Seinsmodalitäten verwirrt die Lage etwas. Wolfgang Welsch hat den Unterschied zwischen Buch IV und Buch VI deutlich gesehen – und überdeutlich überzeichnet, indem er sagt, in Buch IV gehe es um eine Wissenschaft, die alle Seinsaspekte betrachte, in Buch VI um die Wissenschaft vom höchsten, nämlich göttlichen Seienden. 152 Tatsächlich werden in Buch IV die Realitätsebenen überhaupt nicht erwähnt – es wird allein die ontologische Dimension der Seinsmodalitäten hervorgehoben und in einer Weise profiliert, die über die Kategorienlehre hinausgeht. Von Natürlichem oder Göttlichem ist da keine Rede. In Buch VI hingegen wird im Ausgang von den Realitätsbereichen des Natürlichen, Mathematischen und Göttlichen der Ersten Philosophie sowohl die Ontologie sowie die Theologie zugewiesen. Zwei Gegenstandsbestimmungen, die jedenfalls in aristotelischer Sicht deutlich unterschieden sind: die erste hat es mit den Seinsmodalitäten zu tun, und zwar mit allen; die zweite greift aus den Realitätsbereichen einen heraus, und zwar den höchsten.

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Siehe Wolfgang Welsch: op. cit.: 233 ff.

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Die beiden sind häufig auch unter dem Obertitel »Metaphysik« zusammengestellt worden, was natürlich die begriffliche Unterscheidung nicht gefördert hat. Die beiden postaristotelischen Disziplin-Bezeichnungen »Metaphysik« und »Ontologie« wurden in späteren Zeiten auch so zugeordnet, dass die erste mehr aufs Göttliche, die zweite mehr auf das allen Seienden Zukommende bezogen worden ist. Wenn die Ontologie in der frühen Neuzeit sich gegenüber der Metaphysik stärker durchsetzen konnte, so war das eine Reaktion auf den mittelalterlichen Aristotelismus, den man nicht ganz zu Unrecht »onto-theologisch« genannt hat. 153 Bei Aristoteles selber sieht die Sache ganz anders aus. Ja, in Buch VI wird das Göttliche sehr schnell abgetan und das Zufällige der Akzidenzien ausführlich behandelt und mit Beispielen aus dem Realitätsbereich des Menschlichen illustriert – obwohl es von den Akzidenzien gar keine Wissenschaft geben soll. PS.: Wolfgang Koch stellt die Behauptung auf, dass Aristoteles mit seiner geozentrischen Kosmologie den Fortschritt der Wissenschaft blockiert habe. Die pure Betrachtung hat tatsächlich bestimmte Entdeckungen verhindert – sie hat die Naturbeherrschung blockiert, weil sie sie gar nicht angestrebt hat. Die Moderne hat die Naturbeherrschung vorangetrieben – mit vielen Vorteilen für die Wissenschaft, für unsere Lebenstechnik und mit erst langsam sichtbar werdenden Nebenfolgen. Allerdings muss man die Begrifflichkeit des Aristoteles, wenn man sie aufgreift, richtig handhaben. Die Erde ist in seiner Kosmologie unbewegt – sie ist aber kein »unbewegtes Wesen« in seinem Sinn; sie besteht hauptsächlich aus den Elementen Erde und Wasser, die sich beide nach unten bewegen. Also müsste sie sich konsequent in einer Richtung bewegen. Tatsächlich bewegt sich der Himmelskörper Erde für Aristoteles nicht »nach unten«, weil er schon im Unten angekommen ist. Wir sagen heute, dass die Erde ihre Position relativ zu ihren Nachbarkörpern rhythmisch stabil hält. Das schließt nicht aus, 153

Siehe Panajotis Kondylis: Die neuzeitliche Metaphysikkritik (Stuttgart 1990).

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dass sie sich makrokosmisch doch in einer Richtung bewegt: Gravitation oder Expansion? Eher das zweite. Für Aristoteles war die relative Stabilität der Erde, also der Augenschein, die Anzeige dafür, dass sie sich nicht bewegt. Im 20. Jahrhundert haben Edmund Husserl und Peter Sloterdijk der Geozentrik und dem Augenschein wieder eine gewisse Berechtigung zugesprochen. Aristoteles’ Auffassung von den »betrachtenden Wissenschaften« beruht auf der Hochschätzung des Augenscheins – die ihn von Platon trennt und dem Sophisten Protagoras annähert wie auch den Dichtern. Ich selber habe die Philosophische Physik zwischen der Wissenschaftlichen und der Poetischen Physik positioniert – siehe mein Nachwort zu Francis Ponge: Der Tisch. Ein Textauszug (Klagenfurt 2011).

15. März 2017 1026a 33 – 1026b 26 Wir haben gesehen, dass die Erste Philosophie laut Buch VI zwei deutlich unterscheidbare Richtungen einschlagen soll: eine theologische, die sich auf ein vom Kosmos aus situiertes Unbewegtes Wesen bezieht, und eine ontologische, die formale Aspekte thematisiert, die an jeglichem Seienden vorkommen. Die antike Bezeichnung des ganzen Buches, nämlich Metaphysik, scheint der ersten Richtung näher zu stehen; die zweite hingegen der Logik bzw. dem im frühen 20. Jahrhundert aufgekommenen Begriff der »Metasprache«. Die beiden Richtungen lassen sich auch so unterscheiden, dass die erste auf ein höchstes Wesen, ein superlativisches zielt, während die zweite ins Mannigfaltige geht und da auch niedrige Seinsmodalitäten benennt und ordnet; nämlich solche, die von Parmenides und Platon eher dem Nicht-Seienden zugerechnet, also aus dem Wirklichen ausgeschlossen worden sind. Gerhard Weinberger fragt, ob damit auch gemeint sein könnte, was man die »Phänomene« nennt; und ich sage dazu: man könnte die »Erscheinungen« dazu zählen, wenn man darunter speziell die der Wahrnehmung zugänglichen Aspekte meint, also die Akzidenzien wie Farbe, Größe.

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Von mir die Vermutung, dass Aristoteles mit der Berücksichtigung der niedrigen Seinsmodalitäten, mit ihrer Bewahrung vor dem Ausschluss, also mit seiner Ontologie, ich meine natürlich die Ontologie A, einen quasi-demokratischen Akt vollziehe: Rettung der niedrigen Seinsmodalitäten vor der Verstoßung ins Nichts. Weiterlesend stoßen wir tatsächlich auf derartige Aspekte der Ontologie: das Akzidenzielle, das Wahre und Falsche, die Kategorien (zu denen allerdings wieder die Akzidenzien zählen), möglich und wirklich. Allerdings kommt dann die Erklärung, eine wissenschaftliche Betrachtung der Akzidenzien sei nicht möglich, und der Hinweis, keine der drei Wissenschaftsrichtungen beschäftige sich mit ihnen. Diese Erklärung überrascht, da sie die platonische Ausschließung der Akzidenzien zu wiederholen scheint, und außerdem, weil Aristoteles selber, vor allem in den Kategorien, die Akzidenzien schon ausführlich erörtert hat. Und übrigens: wo sollen denn die Akzidenzien außerhalb der Wissenschaften überhaupt behandelt oder besprochen werden? In vorwissenschaftlichen oder literarischen Beschreibungen oder Erzählungen? Wie das in der Poetik vor allem für die Tragödie programmatisch erklärt worden ist? Wird da eine Unterscheidung zwischen wissenschaftsfähigen und nicht-wissenschaftsfähigen Sachen eingeführt? Bleiben wir bei den Erscheinungen, so gibt es dazu zweierlei wissenschaftliche Strategien: Zurückführung auf Ursachen auf einer anderen Ebene oder aber Ordnung der Erscheinungen auf der Ebene der Erscheinungen. In Bezug auf die Farben sind das die Strategien von Newton und von Goethe. Welcher Strategie folgt nun Aristoteles? Er verweist darauf, dass die mannigfaltigen Akzidenzien eines Hauses, seine von den Menschen unterschiedlich empfundenen Eigenschaften nicht von der Baukunst bewirkt worden seien. Von dieser stamme nur das Wesen des Hauses, das Haus an sich. Dazu wäre zu vermuten, dass die Auskunft des Aristoteles eher auf die Bauwissenschaft zutrifft als auf die Baukunst – denn diese muss dem Bau ungeheuer viel Akzidenzielles mitgeben: Auswahl des Bauortes, der Materialien, der präzisen Proportionen und Maße, der Farben usw. Hingegen geht es dem Geometer tatsächlich nur um das Wesen des Dreiecks, nicht um die Farbigkeit seiner Zeichnung. Das Akzidens sei überhaupt bloß ein »Name« und nicht 264 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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etwas Reales: eine viel weitergehende Entwertung, ja Entwirklichung. Daher habe Platon es der Sophistik zugewiesen, die sich nur für Wörter interessiert habe. Es folgen ganz elementare Beispiele von akzidenziellen Beziehungen, wie sie schon öfter vorgebracht worden waren: Eigenschaften und Dinge, verschiedene Eigenschaften. Allerdings mit der etwas verwirrenden Entgegensetzung zwischen Akzidenziellem und Entstehen/ Vergehen. In 1026b 25 f. dann die paradoxe Wendung. »Man muss vom Akzidens so weit als möglich klären, was seine Natur ist und aus welcher Ursache es ist. Daraus wird klar werden, weshalb es von ihm keine Wissenschaft gibt.« Also wissenschaftliches Eingehen darauf mit den beiden wissenschaftstypischen Kriterien – Erkenntnis der Natur und der Ursache. Er spricht sogar von einer Natur des Akzidens, also einem Wesen des Akzidens und stellt ihm dennoch die Unmöglichkeit wissenschaftlicher Behandlung in Aussicht. Beim Akzidens scheint es sich um eine Achilles-Ferse der aristotelischen Systematik zu handeln – das heißt: das Akzidens erweist sich selber auch auf der Metaebene als solches – Zufall, Unfall. Verfolgt Aristoteles mit den Akzidenzien nicht doch eine »elementardemokratische« Strategie? Immerhin hat er im Buch VI bereits bis 1026 b 26 dem Akzidenziellen quantitativ gesehen fast mehr Aufmerksamkeit gewidmet als dem Göttlichen.

22. März 2017 1026b 27 – 1027a 19 Zunächst eine große Zweiteilung aller Dinge: die einen verhalten sich immer und notwendig auf dieselbe Weise, die anderen sind nicht notwendig oder immer oder zumeist – und bei denen liegt das Prinzip und die Ursache für so etwas wie ein Akzidens. Das heißt also bei dem, was eher selten vorkommt. Aristoteles setzt hier zwei parallel laufende Parameter ein, deren Bestimmungen von einem Extrem bis zum konträren Gegenteil gehen: vom Notwendigen über das Wahr265 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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scheinliche zum Unwahrscheinlichen (und weiter bis zum Unmöglichen) und von »immer« über »oft« zu »selten« (und weiter bis »nie«). Was weder immer noch zumeist existiert, nennt er ein Akzidens. Also das Seltene oder Unwahrscheinliche. Beispiel kaltes Wetter an den Hundstagen im Sommer. Oder weiße Hautfarbe bei Menschen – ein Beispiel, das wir am ehesten nachvollziehen können, wenn die »vornehme Blässe« gemeint ist. Hingegen liegt die Animalität beim Menschen immer vor – als Gattungsbasis seines Wesens. Man kann sie oft und überall beobachten, sie ist gut erfahrbar und erfassbar, als immerzu gleiche oder jedenfalls ähnliche. Und ähnlich bei allen Tieren. Also etwas massenhaft (im quantitativen Sinn) Auftretendes. Diese Behauptung vom Generisch-Animalischen scheint mir sehr beherzigenswert. Hingegen ist die heilende Tätigkeit bei einem Baumeister ein Akzidens – weil diese Tätigkeit nicht zu seinem Beruf gehört (dagegen ließe sich etwa einwenden, ein Baumeister kann sehr gezielt Gesundheitseffekte in ein Haus einbauen – aber dann wäre eben auch die ärztliche Kompetenz einbezogen). Ähnliches Beispiel bereits in 1026b 6 ff.: eine Heilwirkung, die von einem Baumeister oder einem Koch erreicht wird, beruht nicht auf einer Kunst, einem fest bestimmten Vermögen. Sie ist akzidenziell, ebenso wie ihre Ursache akzidenziell ist. Im Buch V lasen wir von viel dramatischeren und noch selteneren Akzidenzien: vom Schatzfund im Garten und vom Reiseunglück in Richtung Ägina und da wurde die Ursache der Akzidenzien deutlicher angegeben: als Zufall, also Akzidens im gesteigerten Sinn. So als bildete das Akzidenzielle eine eigene – formale, ontologische – Region innerhalb der Realität. Nein, nicht eine eigene Region, sondern eine eigene Kausalitätsdimension. Gewisse Dinge entstehen notwendig und immer, viele Dinge geschehen zumeist – und der Rest nur selten und akzidenziell. So etwa das Musisch-Werden eines Weißen (etwa weil die Vornehmen dafür kein Interesse aufbringen – aber das wäre ja schon eine sachliche Ursachenangabe, die Aristoteles eher vermeidet). Stattdessen eine pauschale Ursachenangabe, die eine andere Richtung einschlägt: die Ursache des Akzidenziellen liegt im Stoff (1027a 13), womit hier 266 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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wohl das Stoffliche gemeint ist, das unbestimmt ist und sich stets anders verhalten kann; nämlich die Dimension der vier Elemente, die ihren spezifischen Bewegungen folgen und die auch ineinander übergehen können. Diese Ursachenangabe geht in Richtung Physik, kann man sagen: Kosmologie? Aber ist sie für uns nachvollziehbar? Etwa in der Richtung der ungeordneten Bewegungen, der Entropie? Aristoteles stellt ausdrücklich die Frage, ob es das selten Eintreffende, also das Akzidenzielle, tatsächlich gibt. Und die Gegenfrage, ob es das Ewige gibt. Diese Frage war kurz vorher, in 1026a 10 ff., zumindest hypothetisch schon beantwortet worden – und zwar mit der Einführung des Göttlichen. Das Akzidenzielle und das Göttliche bilden also zwei konträre Pole innerhalb der Realität, Aristoteles würde sogar sagen: innerhalb des Kosmos. Jedenfalls wird jetzt wieder behauptet, dass es keine Wissenschaft vom Akzidenziellen gibt: dazu ist es zu selten oder zu flüchtig. Wissenschaft kann es nur von dem geben, was immer oder doch zumeist vorkommt. Wie sollte man das andere »lernen«, d. h. in mehreren aufeinanderfolgenden Erkenntnisschritten (induktiver oder deduktiver Art) sich klarmachen und einprägen, wie es lehrend jemandem beibringen? Aristoteles formuliert eine rhetorische Frage, wohl in der Absicht, damit seine bestimmte Behauptung zu suggerieren. Aber hat er nicht eben sowie im Abschnitt 30 von Buch V einige Lern- und Lehrschritte auf die Akzidenzien hin vorgebracht? Mit Beispielen unterschiedlichster Art, aber auch mit einigen sehr schematisch wiederholten? Zeigen nicht diese Beispiele, dass nicht alle Akzidenzien absolute Ausnahmeerscheinungen sind – und selbst diese lassen sich mit Allgemeinbegriffen bezeichnen – wie denn sonst? Ich würde also meinen, dass Aristoteles übertreibt, wenn er die Akzidenzien aus der Wissenschaft, aus der wissenschaftlichen Erkennbarkeit, Behandelbarkeit ausschließen will. Er übertreibt nicht nur, er selber macht das Gegenteil. Allenfalls müsste man dann schauen, ob die Wissenschaft anders agieren muss, wenn sie den Akzidenzien nachgeht. Vielleicht beschreibender, erzählender, anekdotischer – historischer? Die Historiographie wird von Aristoteles immerhin als Zuträgerin für die Politik anerkannt. In der Poetik hingegen wird die Dichtkunst als philosophischere Behandlung der unwahrscheinlichen Ereignisse gewürdigt. 267 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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29. März 2017 1027a 19–27 Welcher Art können Akzidenzien sein? In den Kategorien unterscheidet Aristoteles neun Arten. In unserem Text erwähnt er Eigenschaften, die an einem Ding hängen: weiß. Eigenschaften, die für bestimmte andere zur Wirkung kommen: eine unwahrscheinliche Heilwirkung, die nur für einen Kranken erscheinen kann – ein Vorkommnis. Der Schatzfund im Garten, den man als Ereignis bezeichnen kann. Damit ist man beim Gegenbegriff, den die moderne Ontologie gegen das Ding ausspielt. Sachverhalt, Tatsache, Vorkommnis, Ereignis – bilden eine Reihe von eher modernen Kategorien, auf die hin man die aristotelischen Akzidenzien umformulieren kann. Unter denen gibt es auch solche, die »immer« vorkommen, die Winkelsumme im Dreieck, und von der kann man bestimmt eine Wissenschaft machen: die Geometrie. Das heißt die allgemeine Aussage, es gebe keine Wissenschaft vom Akzidens, der wird von Aristoteles selber widersprochen – weil es eben so grundverschiedene Akzidenzien gibt. Die ganz seltenen Vorkommnisse kann man entweder doch in Reihen stellen, etwa durch lange Beobachtungszeiträume, dann kann man sie auch wissenschaftlich besprechen. Oder es bleibt bei den Singularitäten – die man entweder in der Dichtung bespricht oder man erfindet einen neuen Typ von Wissenschaft eben für solche Entitäten. Das hat man im 19. Jahrhundert getan: mit den historischen Geistes- oder Kulturwissenschaften, zu denen auch die Biographie zählt, und auch die Psychoanalyse versteht sich als eine – allerdings nicht nur theoretische – Wissenschaft vom Individuum. Vorläufer waren die Exegesen von für sehr wichtig und allgemein verbindlichen gehaltenen Texten, die es so nur einmal gibt, nämlich der biblischen Texte, dann auch von Texten der griechisch-römischen Klassik. Und damit sind wir bei unserer hiesigen Tätigkeit im AristotelesSeminar. Zwar sehe ich die Hauptlinie darin, dem aristotelischen Wissenschaftsbegriff, der sich an Regelmäßigkeit orientiert, zu folgen, und seine Sachorientierung nachzuvollziehen (soweit möglich). Aber ein zweites damit verbindbares Erkenntnisinteresse mag sich 268 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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auf den Text selber, seine Vorgehensweise, seinen Charakter beziehen. Der Text als Individuum. Bestimmte Charakterzüge sind uns schon aufgefallen: eine ziemlich starke Heterogenität zwischen den bisher gelesenen sechs Büchern. Im Einzelnen starke Unterschiede zwischen Aussagen zu ein und derselben Thematik. Dabei muss es sich nicht um Selbstwidersprüche handeln, sondern um Differenzen zwischen Aussagen, die ein Thema auffächern. Im Blick, der auf den Text selber gerichtet ist, geht es darum, wie er sein sachliches Interesse verfolgt. In diesem Wie liegt die Individualität des Textes, seine »Physiognomie«. Seine »Stilistik« – die aber doch wohl hauptsächlich durch sein Sachinteresse geprägt ist. Das Gesicht des Textes: sein Sehvermögen, seine Sehtätigkeit und gleichzeitig die Struktur seiner Sichtbarkeit.

30. März 2017 Wolfgang Koch legt ein Thesenpapier vor: »Was war zuerst da: Philosophie oder Wissenschaft?« Hier einige zentrale Sätze aus seinen Thesen, die zumeist von Nietzsche (Nachgelassene Fragmente, 1869–1888) und von André Pichot (La naissance de la science, 1991) übernommen sind: »Die Griechen übernehmen die Wissenschaft von den Orientalen. Die Mathematik und Astronomie ist (sic!) älter als die Philosophie.« Diese These lässt sich noch erweitern auf Geographie, Physik, Kosmologie und Medizin, die als Erkundungsfelder alle schon vor der Philosophie bestanden haben. Die Vorsokratiker unterschieden sich allerdings in einem Punkt von ihren mesopotamischen und ägyptischen Kollegen. Sie suchten nicht nur »positive Kenntnisse«, sondern sie verstärkten die Suche nach Prinzipien zwischen den Resulaten. Mit anderen Worten: sie theoretisierten ihr Wissen stärker, sie leiteten Ideen aus den Resultaten ab, deren Diskussion sich in den Doxographien über Generationen hinweg verfolgen lässt. Die Wissenschaften der Griechen waren darüber hinaus diskursiver als die ihrer Vorgänger an den großen Strömen. 269 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Das alles war historisch neu, aber wurden die Vorsokratiker auf diese Weise zu den »ersten Philosophen«, wie Aristoteles meint (Metaphysik, I.3), der die Ausdrücke Wissenschaft und Philosophie weitgehend synonym verwendet? Dagegen spricht einiges. »Die Philosophie hat nichts Gemeinsames, sie ist bald Wissenschaft, bald Kunst«, lehrt Nietzsche; und Nietzsche beschreibt im Rückblick aus dem 19. Jahrhundert ein triadisches Wechselspiel dieser Sphären. In der Genese des griechischen Denkens geht es den Philosophen vor allem um Wissenschaftsbeherrschung: »Was soll der Philosoph? Inmitten der ameisenhaften Wimmelei das Problem des Daseins, überhaupt die ewigen Probleme zu betonen. Der Philosoph soll erkennen, was noth thut, und der Künstler soll es schaffen. Der Philosoph soll am stärksten das allgemeine Leid nachempfinden: wie die alten griechischen Philosophen jeder eine Noth ausdrückt: dort, in die Lücke hinein stellt er sein System. Er baut seine Welt in diese Lücke hinein«. Die Wissenschaftsbeherrschung wurde das Hauptziel der philosophischen Produktion des 4. Jahrhunderts v. u. Z. – vornehmlich durch Platon und Aristoteles. Diese Systemphilosophen bildeten erstmals Institutionen, die das Lehrgut eines Meisters bewahrten, sie schafften Bibliotheken, in denen das als »überholt« geltende Wissen mit der Zeit zwangsläufig wieder verlorengehen musste. Die vorsokratischen Erkenner und Erkunder haben keine solchen Schulinstitutionen betrieben; die Häuser des 4. Jahrhunderts v. u. Z. aber vermittelten die Kenntnisse nun nicht nur hierarchisch, sie dramatisierten das gewonnene Wissen in einem sich ständig selbst verschlingenden Prozess. 5. April 2017 Zuerst eine Diskussion zu den Thesen von Wolfgang Koch. Dass es die Wissenschaften (jedenfalls einige) im alten Griechenland und in Ägypten schon vor der Philosophie gab, geht auch aus Aristoteles hervor, für den überhaupt die Wissenschaften den Horizont seines Tuns bilden. Daher definiert er im Buch I der sogenannten Metaphysik das Objekt dieses seines Unternehmens als »gesuchte Wissenschaft« (neben den anderen bereits existierenden).

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Vor den Philosophen gab es in Griechenland auch die sogenannten »Weisen«, das waren Inhaber verschiedener Rollen (z. B. Verfassungsgeber), denen man ein allgemeines Orientierungswissen zusprach. Bestimmte Wissenschaftler wie Thales oder Pythagoras verallgemeinerten ihre Fragestellung, führten Weisheit und Wissenschaft zu einer neuen Art von Orientierungswissen, zu einer höchsten Wissenschaft zusammen, die »Philosophie«, also Liebe zur Weisheit genannt wurde und automatisch in einen Konflikt mit der Religion geriet. Während sich in den nicht-griechischen Imperien die Wissenschaften mit der staatlichen Religion (wie mit der ebenso staatlichen Ökonomie) gut vertrugen. Dort kam auch keine Philosophie auf. Herodot (490–424) besuchte fremde Länder in Asien und Afrika und beschrieb die Unterschiede zwischen den Kulturen, womit er den Wissenshorizont der Griechen erheblich ausweitete (ohne dass seine Forschung von den Philosophen als Wissenschaft anerkannt wurde). Ein weitgehend philosophenloses Land war dann viel später Österreich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Da beherrschten die Künste (zusammen mit der Religion) die Bühne der Öffentlichkeit – so sehr, dass die Dichtung die Stelle der Philosophie einnehmen musste. Zeitweise Aufschwünge der Wissenschaften (Mathematik, Ökonomie, Medizin) beförderten tendenziell das Aufkommen von Philosophie, das sich aber erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verstetigen begann. Hier könnten viele Übergangsfiguren genannt werden, wie etwa der Psychiater und Schriftsteller Ernst von Feuchtersleben (1806–1849), der sich für die Reform des Bildungswesens und die Etablierung des Faches Philosophie einsetzte. Der »Wiener Kreis« steht im frühen 20. Jahrhundert für ein Philosophieren, welches seine Abhängigkeit von den Wissenschaften auch noch affirmiert. Die Existenz von Philosophie scheint ein rareres Faktum zu sein als die Existenz anderer Wissenschaften. Gleichwohl wird man sagen können, dass die Philosophie eine Form von kultivierter Orientierungssuche ist, ohne die Gesellschaften heute kaum auskommen: so sind alle neueren Verfassungen von philosophischen Konzepten geprägt. Gerhard Weinberger erinnert an Hans Kelsen (1881–1973), der als Architekt der österreichischen Bundesverfassung (1920) gilt. Und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist noch weit stärker philosophisch imprägniert – etwa mit dem Satz »Die Würde des 271 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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Menschen ist unantastbar«, der auf Immanuel Kant und Helmuth Plessner zurückgeführt werden kann. * Damit haben wir einen Bogen von der Entstehung der Philosophie in Griechenland zu ihrer heutigen Bedeutung geschlagen und mit der Geschichte haben wir auch die Dimension berührt, in der Akzidenzien eine stärkere Rolle spielen als in anderen Bereichen, etwa in der Natur. Und zwar die Akzidenzien so, wie sie in Abschnitt 30 von Buch V und in Abschnitt 2 von Buch VI definiert werden: Sachverhalte, Ereignisse, Ereignisfolgen, die nicht immer oder häufig eintreten, sondern eher selten oder ausnahmsweise. Im Unterschied zu solchen, die häufig oder regulär auftreten, weil sie von einsichtigen oder sogar einsehenden Instanzen wie Vernunft oder Kunst oder Natur verursacht werden. In der »Geschichte«, d. h. in der Abfolge, in der Masse, im Durcheinander der menschlichen Taten und Leiden überlagern sich reguläre Verursachungen, also geplante und absichtliche Handlungen, mit Gegenaktionen, Überraschungen, Nebenwirkungen, ungewollten Resultaten. Der Zusammenhang zwischen Akzidentialität und Geschichte war das Ergebnis meiner Poetik-Lektüre. Und jetzt zeigt sich auch in der Metaphysik-Lektüre so etwas Ähnliches. Die Erste Philosophie, die vor den anderen betrachtenden Wissenschaften (Physik und Mathematik) rangiert, teilt sich in Theologie, die Wissenschaft vom Höchsten und Wissbarsten, und in die Ontologie, die Wissenschaft von den allgemeinen Bestimmungen des Seienden als Seienden. Die wiederum gliedern sich in die Wesensbestimmungen und die Akzidenzien, von denen es gar keine Wissenschaft geben soll. Trotzdem geht Aristoteles im Buch VI auf diese ein und fragt sogar nach ihren Ursachen, womit er sie doch wissenschaftlich behandeln möchte. Bisher hat er zwei Antworten auf die Frage nach den Ursachen der Akzidenzien gegeben: Ursache ist der Zufall (1025a 25), Ursache ist der Stoff (1027a 14). 1027a 29 ff. wird diese Ursachenfrage neuerlich aufgeworfen. Da könnten wir schon während der Osterferien hineinschauen. Immer272 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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hin wird zu Ostern ein extrem akzidenzielles Ereignis (im aristotelischen Sinn) gefeiert: eigentlich unmöglich, angeblich doch passiert, also etwas Exzeptionelles, Unwahrscheinliches, Rares, Rarissimum.

26. April 2017 1027a 28 – 1027b 16 Zuletzt habe ich das Ereignis erwähnt, das im christlichen Osterfest gefeiert wird: ein extrem akzidenzielles Ereignis im aristotelischen Sinn, nämlich ein sehr unwahrscheinliches, ja unmögliches. In der Poetik hat er auch derartige Ereignisse für den Plot von Tragödien vorgesehen – sofern es dem Dichter gelingt, sie in den wahrscheinlich-notwendigen Handlungsverlauf einzubinden. Und seinerzeit habe ich auf das Buch von Bruno Delorme hingewiesen, wo die These vertreten wird, dass die Evangelien von der Kompositionskunst der griechischen Poetik und Rhetorik gelernt haben. 154 Aristoteles unternimmt nun einen neuerlichen Anlauf, um die Verursachung des Akzidens, also des selten oder unwahrscheinlich Eintreffenden, zu klären. Er macht es etwas umständlich, gibt eine Regel für Verursachung überhaupt an, die darauf hinausläuft, dass ein Geschehen in einem bestimmten Zeitpunkt durch ein anderes Geschehen in einem vorausliegenden Zeitpunkt oder -abschnitt herbeigeführt wird und dieses wiederum durch ein vorausliegendes Geschehen. Diese Zurückführung gelangt zu einem ersten Prinzip, einer ersten Ursache. Sein Beispiel zeigt, dass es sich dabei um ein äußerst triviales Vorkommnis handeln kann. In diesem Fall geschah es, dass jemand daheim eine sehr salzige Speise zu sich genommen hat. Rein zufällig sind wir vor genau einem Jahr in diesem Aristoteles-Seminar auf die Nahrungsaufnahme und ihre möglichen Auswirkungen zu sprechen gekommen, darunter auch solche, die man als »Transsubstantiationen« bezeichnen muss. Hier nun führt die Einnahme einer stark gesalzenen Speise zu einem starken Durstgefühl, und da es im Haus an einem geeigneten Getränk fehlt, geht der Betroffene hinaus. Dort 154

Bruno Delorme: Le Christ grec. De la tragédie aux évangiles (Montrouge 2009).

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aber, außer Haus, passiert ihm etwas, was alsbald zu seinem Tode führt: ein Gewaltüberfall oder eine schwere Erkrankung. Aristoteles lässt die Verursachung in diesem Zeitabschnitt offen, er lässt zwei Möglichkeiten zu und unterstreicht so den akzidenziellen Charakter der Verursachungskette. Der liegt darin, dass zwischen dem Ausgangsgeschehen, einer bestimmten Nahrungsaufnahme, und dem schlussendlichen Zufallsgeschehen, dem Tod, keine einsichtige Kausalbeziehung besteht (auch nicht, wenn als vorletzte Ursache die Erkrankung angenommen wird, die ja auf Aushäusigkeit zurückgeführt wird). Während in Buch V (1025a 25) Aristoteles den Zufall als Ursache für ein Akzidens, das selber zufälligen Charakter hat, angibt, verweist er hier auf drei der vier »normalen« Ursachensorten, und auf die wieder alternativisch: Stoff- oder Ziel- oder Wirkursache. Er ordnet also die Verursachung des Akzidens in die reguläre Verursachungslehre ein, mit gewissen Abstrichen. Was könnte die Stoffursache für den Tod sein? Im Falle der Erkrankung irgendein Getränk. Welche Zielursache? Wohl nicht eine Zielsetzung des Betroffenen, sondern eher eine aufseiten des Gewalttäters. Die Wirkursache auch auf dieser Seite. Eine Akzidens-Verursachung ergibt sich durch den Mangel an Kenntnis aller Ursachen und der wiederum ist eine Folge der Häufung von kontrapunktischen Ursachen, etwa durch Hinzutreten eines Bösewichts. Es bestätigt sich die Annahme, dass die Akzidenzien im zugespitzten Sinn, also die Zufälle, und ihre Verursachungen die Dimension konstituieren, die wir mit Story, Historie, Geschichte bezeichnen.

29. April 2017 Aloisia Wörgetter weist mich darauf hin, dass die im Februar geführte Diskussion über den autoritativen oder kognitiven Charakter des Guten im platonischen Dialog Euthyphron direkt angeschlagen worden ist. Da soll eine Wesensbestimmung der Frömmigkeit vorgenom274 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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men werden. Sie wird definitorisch als der Teil der Gerechtigkeit bestimmt, in dem es um den menschlichen Verkehr mit den Göttern geht, in einem anderen Teil geht es um die Sorge für die Menschen. Auf diese Weise wird das Fromme dem Guten zugeordnet, wie wir es seinerzeit besprochen haben. Unsere Frage wird jetzt von Sokrates folgendermaßen formuliert: »Wird das Fromme von den Göttern geliebt, weil es fromm ist, oder ist es fromm, weil es geliebt wird?« (Euthyphron 10a 2) Und die Frage klingt so, als stünde hinter ihr die Überlegung: Wird die Frömmigkeit von den Göttern geliebt, weil die Menschen mit ihrer Frömmigkeit den Göttern angenehm sind – oder weil die Frömmigkeit eine objektiv richtige Einstellung ist, die als solche erkannt und dann entsprechend auch eingehalten werden kann? Die zweite Möglichkeit scheint für den Fragensteller, also Sokrates, plausibler zu sein. Es findet aber keine Überlegung statt, welche sich für Erkenntnis und Entscheidung in diesem Sinn ausspricht. Stattdessen bringt Sokrates eine Reihe von sehr knappen und gleichförmigen Beispielen, die darauf hinauslaufen, dass eine Sache nur dann eine bleibende Eigenschaft, eine passive Qualität haben kann, wenn sie zuvor durch einen aktuellen Vorgang affiziert worden ist. Sokrates: »Etwas wird nicht deswegen gesehen, weil es ein Gesehenes ist, sondern es ist ein Gesehenes, weil es gesehen wird.« (10b 7) Und weiter: S.: Was sagen wir denn nun über das Fromme, mein Euthyphron? Es wird doch wohl nach deiner Erklärung von allen Göttern geliebt? E.: Jawohl. S.: Deswegen weil es fromm ist oder aus irgendwelchem anderen Grunde? E.: Nein, aus diesem Grunde. S.: Also weil es fromm ist, wird es geliebt; es ist aber nicht deswegen fromm, weil es geliebt wird? E.: Offenbar. S.: Aber das Gottgeliebte ist, weil es von den Göttern geliebt wird, ein von den Göttern Geliebtes und Gottgeliebtes? E.: Wie sollte es nicht? 275 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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S: Also ist gottgeliebt nicht identisch mit fromm, Euthyphron, und auch fromm nicht mit gottgeliebt, wie du behauptest, sondern das eine ist von dem anderen verschieden. E.: Wieso denn Sokrates? S.: Weil wir einverstanden sind, dass das Fromme deswegen geliebt wird, weil es fromm ist, und nicht deswegen fromm, weil es geliebt wird. (10 d 1 ff.) Das ist die Schlussfolgerung, die wir schon eingangs vermutet hatten. Aber das Gespräch geht weiter, verliert sich offensichtlich im Aporetischen. Im Gegensatz zu obigem letztem Zitat neigt Maximilian Forschner, wenn auch mit Vorbehalten, zur Annahme, der Dialog münde in die These Euthyphrons, etwas sei fromm, weil es von den Göttern geliebt wird, also in einen »theologischen Voluntarismus« oder gar in eine »autoritäre Ethik«. 155 Doch wendet er selber ein, diese Annahme entspreche kaum dem Duktus des sokratisch-platonischen Denkens. Der Dialog folgt eher der inkonsistenten Gangart Euthyphrons – aber er bringt die unterschiedlichen Positionen zur Darstellung. 3. Mai 2017 Sophia Gabriel berichtet von einem Kunstprojekt, das sich mit dem Gehen beschäftigt, und wir stellen die Frage, ob diesem Thema auch Philosophen nahegetreten sind. Aristoteles kann hier indirekt genannt werden, insofern seine Athener Schule unter dem Namen »Peripatetiker« gelaufen ist: Hin- und Hergeher. Wie Gerhard Weinberger vermerkt, ist diese Bezeichnung dann in der weiblichen Form »péripateciennes« für die (weiblichen) Prostituierten üblich geworden. Womit die Prostituierten gewissermaßen zu Aristotelikerinnen ernannt worden sind – meines Erachtens kein Sakrileg. Andererseits ist Aristoteles im späten Mittelalter in die Rolle eines Reittiers für die schöne Hofdame Phyllis hineinfabuliert worden – womit dem Philosophen eine zusätzliche Bewegungstechnik, vor allem aber eine leidenschaftliche Verirrung nachgesagt worden ist.

155 Maximilian Forschner: Platon: Euthyphron. Übersetzung und Kommentar (Göttingen 2013): 132 ff.

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Wolfgang Koch stellt zwei sehr kurze Erzählungen (Parabeln) aus dem 20. Jahrhundert vor – von Marcel Béalu und von Daniil Charms. Beide handeln lakonisch von merkwürdigen Begebenheiten, in denen »Substanzen« (Menschen, eventuell Statuetten) und »Akzidenzien« (Anfertigung der Statuetten, Vorbeikommen der Leute, eventuell Wegwerfen der Statuetten, Serie von unfreiwilligen Fensterstürzen) aufeinander prallen – womit ich eigentlich jetzt den Akzidenzien den Vorrang eingeräumt habe. Das tut auch Wittgenstein, wenn er sagt: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.«Tatsächlich besteht die Welt aus Substanzen und Akzidenzien und die Rolle der letzteren unterstreicht der Maler Siegward Sprotte mit der Inschrift: »Wenn der Zufall abnimmt, nimmt der Abfall zu.« Es gehört zu einer gewissen Qualität des Lebens, dass nicht alles reglementiert, geplant abläuft; das heißt, dass nicht einige Substanzen oder gar nur eine allmachtsartig alles festlegt. Und natürlich wird die Lebensqualität dadurch bestimmt, wie die Akzidenzien »ausfallen«. Dagmar Travner komponiert aus den aristotelischen Akzidenzienerwähnungen in V, 30 und VI, 1, 2, 3 eine kleine Geschichte aus Wetterkapriolen, Menschen, Eigenschaften, Heilungen, glücklichen und unglücklichen Zufällen. Und die Akzidenzien beschränken sich nicht auf die seltenen Ereignisse, wie das Aristoteles in VI, 2 definitorisch festlegt. Sie sind sehr wohl auch mit Notwendigkeit versehen. Disjunktiv in der Form, dass man in der konkreten Situtation entweder stirbt oder nicht (1027b 6), schlechterdings in dem Sinn, dass ein Lebewesen irgendwann sterben muss (1027b 9). Daher definierten die vorphilosophischen Griechen die Menschen als die »Sterblichen« (und nicht etwa als die »Vernünftigen«). Denn das Sterben ist ein Akzidens – ja das Akzidens par excellence. Es tritt extrem selten, gewissermaßen niemals ein – das ist für mich meine Erfahrung seit über 75 Jahren (allerdings habe ich im Alter von zehn Jahren das Sterben in einem Traum tatsächlich erlebt). Aber irgendwann dürfte oder müsste es eintreten – doch bitte nicht heute oder morgen oder überhaupt … Unter welches der neun »offiziellen« Akzidenzien wird man das Sterben subsumieren können? Vielleicht unter paschein – also leiden, erleiden, affiziert werden. Aber Aristoteles scheint sich nicht dafür zu interessieren, das Sterben »theoretisch« einzuordnen. Vielleicht 277 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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kommt er ihm dort am nächsten, wo er der Verstümmelung einen prominenten Platz innerhalb der theoretischen Begriffe zuweist und sie von der tödlichen Privation genau unterscheidet. Auch der Begriff der phthora (Vernichtung) könnte hier genannt werden. Im selben Abschnitt 27 von Buch V erklärt Aristoteles sogar, dass das Akzidens »Lage« gewissen Dingen »nach ihrem Wesen« zukommt (1024a 19). So wie ich behaupte, dass das Akzidens Farbe allen Körpern zukommt. Aristoteles hat betont, dass es keine Wissenschaft vom Akzidens gibt, und es wird wohl so sein, dass es jetzt keine Wissenschaft gibt, die mein Sterben im Detail voraussehen, ableiten, analysieren kann. Aber dass das Wissen vom Sterben wissenschaftlich vorangetrieben werden kann, möchte ich nicht ausschließen – nicht nur medizinisch, sondern philosophisch vielleicht in einer praktischen Wissenschaft, die zu mehr Weisheit führt. Es sei denn, dass so eine Wissenschaft vor Jahrtausenden oder Jahrhunderten bereits versucht worden ist. Wie schon mehrmals erwähnt hat Aristoteles in der Poetik den Akzidenzien weitaus mehr Gewicht zugemessen als in seinen anderen Schriften – da geht es eben um Geschichten: literarische, die ihrerseits existenzielle nachbilden. Selbst für die Geschichte der Philosophie lässt sich ein geradezu unfallartiger Zufall sozusagen prominent anführen. Als erster Philosoph gilt nämlich – auch für Aristoteles – Thales von Milet. Doch die Episode, die ihn zu einem Philosophen gemacht hat, setzt voraus, dass er vorher schon Mathematiker und Naturforscher war. Eines Nachts so vor sich hin gehend, den Blick zu den Sternen erhoben, fiel er in einen Brunnen. Und eine witzige reizende Magd verspottete ihn: »Er strenge sich an, die Dinge im Himmel zu erkennen, von dem aber, was ihm vor Augen und vor den Füßen liege, habe er keine Ahnung.« Dieser peinliche Vorfall und Kommentar könnte Thales über die Wissenschaft aufgeklärt und ihn zum Philosophen gemacht haben. Unfall und Begegnung sind die beiden extremen Bedeutungspole von »Akzidens«. Aristoteles schwankt stark in seinen theoretischen Einschätzungen der Akzidenzien. Zwar unterscheidet er sich von seinen theoretischen Vorgängern dadurch, dass er ihnen überhaupt einen ontologischen Status zugewiesen hat – anstatt sie als »eigentlich unwirklich« ab278 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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zutun. Doch kann er sich nur schwerlich darauf verständigen, ihren Platz in seiner Wissenschaft, in seinen Wissenschaften kohärent zu bestimmen. Sie werden eine Achillesferse künftiger Aristotelismen bilden.

11. Mai 2017 Im letzten Protokoll habe ich zum einen geschrieben, das Sterben sei das Akzidens par excellence, und zum andern, Aristoteles habe sich dazu kaum geäußert. Wolfgang Koch sagt nun, Aristoteles habe in den naturwissenschaftlichen Schriften das Sterben der Tiere behandelt, wo die Lebensprozesse durch Nahrung und Atmung, Wärmung und Kühlung bestimmt seien, und da sei der Tod eher als ein Verlöschen beschrieben worden. Nun würde ich sagen, dass die naturwissenschaftlichen Ausführungen des Aristoteles auf einer anderen Ebene liegen als seine ontologischen Bestimmungen: bei diesen geht es um Seinsmodalitäten, die allen Seienden zukommen, während jene sich jeweils auf einen Realitätsbereich mit seiner Eigengesetzlichkeit beziehen (im speziellen Fall auf die Organismen). Die Seinsmodalitäten Entstehen und Vergehen haben eine allgemeinere Tragweite und für den Menschen definieren sie seine individuelle und soziale und geschichtliche Existenz, auch für das Kunstwerk könnte man die Kategorien zwischen Ding und Ereignis in Anschlag bringen. Die Verstümmelung wird von Aristoteles sowohl für den Becher wie für den Menschen als mögliches Schicksal in Erwägung gezogen – obwohl die beiden natürlich unterschiedlichen Realitätsbereichen angehören. Ontologie einerseits und Physik, Zoologie, Poetik oder Ethik andererseits liegen auf unterschiedlichen Ebenen. Diese Regionaldisziplinen haben sich bis in die moderne Wissenschaftskultur durchgehalten, die Ontologie hingegen bildet eine aristotelische Spezialität und es ist die Frage, ob wir sie überhaupt für sinnvoll halten. Ich würde sagen: sinnvoll ja – aber nicht als Fundament, sondern als Supplement. Allerdings ist zu beobachten, dass Ontologie im Moment wieder in Mode kommt – nicht nur bei Analytischen Philosophen, sondern auch bei Foucault-Anhängern.

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Da die Kleinen naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles von dem Wiener Professor Eugen Dönt herausgegeben worden sind (Stuttgart 1997), kommen wir darauf zu sprechen, wie sich die Aristoteles-Tradition an der Wiener Universität darstellt. Seit ihrer Gründung im Jahre 1365 war da die Aristoteles-Lektüre vorgeschrieben – was nicht heißt, dass sie zu schöpferischem Philosophieren angeregt hat. Darüber berichte ich in dem Aufsatz »The Mathematical-Poetic Renaissance in Austria (Johannes von Gmunden, Georg von Peuerbach, Regiomontanus, Conrad Celtis)«, in: Czech and Slovak Journal of Humanities. Philosophica 1/2016. Und das hat sich bis ins frühe 19. Jahrhundert auch gehalten – so sehr, dass ein Student wie der spätere Dichter Franz Grillparzer zu persönlicher Aristoteles-Lektüre animiert war. Allerdings ist die Philosophie als eigenes Studienfach erst aufgrund der Revolution von 1848 eingeführt worden, in einer Studienreform, die indirekt von einem der allerersten österreichischen Philosophen, dem Böhmen Bernard Bolzano (1781–1848) inspiriert war (der antiidealistisch und insofern aristotelisch orientiert war). Im Zuge dieser Reform ist Hermann Bonitz (1814–1888) aus Berlin berufen worden, ein Aristoteles-Forscher, dessen Übersetzungen bis heute in Gebrauch sind. Aus dem Bolzano-Milieu und aus Böhmen stammte der schon einmal erwähnte Robert Zimmermann (1824–1898), 1861 als Philosoph nach Wien berufen – er könnte als Aristoteliker in einem weiteren Sinne bezeichnet werden. Aus Deutschland wurde 1873 Franz Brentano (1838–1917) berufen, ein philosophischer Aristoteles-Spezialist, der als Lehrer große Wirkung hatte, die bis an den Wiener Kreis heranführt, aber auch Sigmund Freud und Edmund Husserl und Thomas Masaryk geprägt hat sowie den polnischen Logiker Alfred Tarski. Brentanos Dissertation Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (Freiburg 1862) hat den jungen Heidegger auf die Aristoteles-Spur geführt. Im 20. Jahrhundert ist für Wien Fridolin Wiplinger (1932–1974) zu nennen und sein großes Buch Physis und Logos. Zum Körperphänomen in seiner Bedeutung für den Ursprung der Metaphysik bei Aristoteles (Freiburg, München, Wien 1971). Eugen Dönt sagte mir im Vorjahr, Wiplingers Buch sei interessant, aber unlesbar. Für Sagen und Sehen (Wien 2017) schrieb er einen Aufsatz, der das Unlesbare ein bisschen aufschließt. 280 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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17. Mai 2017 1027b 17 – 1028a 5 Wir lesen den letzten Abschnitt des Buches VI, der thematisch eine andere Richtung einschlägt: wahr und falsch sind Eigenschaften von Begriffszusammensetzungen, also von Aussagen. Sie liegen nicht in den Sachen und folglich gibt es kein »wahres Seiendes« im Sinne einer eigenen Gattung von Seienden – etwa »das Gute, das wahr«, »das Schlechte, das falsch« wäre. Hier spielt Aristoteles auf das an, was man die platonische Ideenlehre nennt; jedenfalls auf eine Klischeevorstellung davon, dergemäß alles, was sich auf der Welt abspielt, zum Beispiel wahre bzw. falsche Aussagen, irgendwo anders ein Pendant hat, das aus Sachen besteht. Aristoteles hat die platonische Ideenlehre im Ersten Buch ausführlich dargestellt und kritisiert: Platon würde den konkreten Menschen (wie er selber einer war oder eben irgendeiner namens Kallias) eine allgemeine, eine gemeinsame Form zuschreiben – und zwar zu Recht. Doch würde er dieser Form, die er »Idee« nennt, eine gesonderte Existenz zusprechen und einen höheren Rang; Aristoteles erfindet dafür die ironische Bezeichnung »das Selbstmensch« – das sei laut Platon das Urbild, von dem die hiesigen Menschen nur Abbilder und zwar schwächere Abbilder seien. Und wenn ein Bildhauer eine Porträtbüste von Kallias anfertige, dann sei diese Büste des Kallias – laut Platon – ein noch schwächerer Mensch (eben nur aus Holz). Das Verhältnis Urbild-Abbild setze sich in der Kunst fort – und dagegen formuliert Aristoteles die Behauptung, die im 20. Jahrhundert nach Christus vom belgischen Maler René Magritte mit dem Schrift-Bild Dies ist keine Pfeife eingeschärft worden ist: das Porträt ist zwar ein Abbild, aber kein Mensch und kein schwächerer Mensch. Sondern ein Bildwerk – und vielleicht ein sehr gutes. Für solche Dinge wie Menschen, Pflanzen, vielleicht auch Häuser, brauche es keine entsprechenden Urbilder, die in einem Ideenhimmel existieren. Diese platonische Ideenlehre sei irreführend und überflüssig. Und jetzt komme ich auf das Buch I zurück, wo Aristoteles in seiner Zusammenfassung der Vorgeschichte der »gesuchten Wissenschaft« 281 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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davon spricht, dass manche Denker, unzufrieden mit den bisherigen Ergebnissen, »von der Wahrheit selbst gezwungen wurden, das nächstfolgende Prinzip zu suchen« (984b 11). Und auf das Buch II, wo gleich am Anfang die »Betrachtung der Wahrheit« zum Thema gemacht und erklärt wird, »es sei richtig, die Philosophie Wissenschaft (von) der Wahrheit zu nennen« (993b 20). Die Wahrheit als mögliche Eigenschaft jeder Aussage sowie als Ziel der theoretischen Wissenschaften wird jetzt auch als Gegenstand der höchsten theoretischen Wissenschaft gesetzt: als solcher Gegenstand hat sie eine eigene Drehung durchgemacht und sie verleiht dieser Wissenschaft eine Richtung oder Kurvierung und präzisiert das Profil, das ihr Aristoteles bereits zugesprochen hat. Die Art und Weise, in der Aristoteles hier die »Wahrheit« einführt, nämlich als existenzielle Schwierigkeit und als »Ursache« für Wahrheitsbemühungen in den Wissenschaften, hat einen platonischen Duktus und verleitet mich zur Annahme, man könne die bekannten Gegensätze zwischen Platon und Aristoteles an dieser Stelle relativieren und den platonischen Ideen des Guten und des Schönen diese aristotelische Positionierung der Wahrheit an die Seite stellen – und so die im 18. Jahrhundert formulierte Trias des »Wahren, Schönen, Guten« philosophisch zu plausibilisieren versuchen. 156 An die eben zitierte Einführung und Hervorhebung der Wahrheit ließe sich die Stelle im Buch V anfügen, wo »das Gute und das Schöne« als »Erkenntnis- und Bewegungsursache« genannt werden (1013a 23). Sie werden nicht »Ideen« genannt – sondern Aristoteles bestimmt sie mit seiner Begrifflichkeit: Qualitäten, von denen Wirkungen ausgehen. Lassen sie sich mit »Ideen« im platonischen Sinn vergleichen? Zur Beantwortung dieser Frage unterscheide ich zwischen »allgemeiner und spezieller Ideenlehre«: die allgemeine Ideenlehre spricht von Urbildern real existierender Wesen wie Mensch oder Pferd. Der speziellen Ideenlehre lassen sich die Ideen des Guten und des Schönen zu156 Siehe Gerhard Kurz: Das Wahre, Schöne, Gute. Aufstieg, Fall und Fortbestehen einer Trias (München 2015). Wesentlich für den Charakter dieser Qualitäten: ihren jeweiligen Negationen (unwahr, hässlich, böse) kommt keine vergleichbare Stellung zu; dazu Hannah Arendt: Sokrates. Apologie der Pluralität (Berlin 2016): 105.

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ordnen, denen ein anderer Sinn zukommt, da sie von den Menschen nicht nur erkannt werden sollen, sondern auch ihr Verhalten und Tun bestimmen sollen. Meine Vermutung geht in die Richtung, dass dieser partielle Platonismus von Aristoteles nicht mit derselben Schärfe und Bestimmtheit abgelehnt wird, weil er den beiden Qualitäten ähnliche Bedeutung zuspricht wie Platon. Ich würde sagen: Normativität, Attraktivität, Seduktivität, Effektivität. Und er stellt die Wahrheit auf eine ungefähr gleiche Ebene. Was man wohl auch von Platon sagen kann, wenngleich dieser die Wahrheit weniger als Idee bezeichnet, sondern mit Sonne und Licht metaphorisiert – was wiederum semantisch gar nicht weit entfernt ist.

24. Mai 2017 Platon hat die Ideen seiner »Ideenlehre« eigentlich für sichtbar gehalten – idea heißt gerade »Sicht«; ja für Höhepunkte der Sichtbarkeit, wie überhaupt für Höhepunkte. Um eine anschauliche Vorstellung davon geben, bezeichne ich sie als diamantene Statuen – also stehen im Ideenhimmel eine Menschenstatue aus Diamant, eine Pferdestatue aus Diamant und so weiter. Allerdings scheint mir die Annahme von solchen real existierenden und nicht menschengemachten Ideen für deskriptive Entitäten gar nicht plausibel zu sein. Natürlich ist sie auch für solche Qualitäten wie das Wahre, Schöne, Gute nicht leicht zu präzisieren – aber eine gewisse Plausibilität, eine pragmatische, vielleicht politische Notwendigkeit scheint mir dafür zu sprechen. Vor allem in Zeiten wie diesen. Platon hat seine Zeit so ähnlich eingeschätzt. Immerhin bleibt Aristoteles einer quasi-platonischen Auffassung von diesen Qualitäten nahe – und insofern könnte ich ihm unterstellen, dass die Unterscheidung zwischen allgemeiner und spezieller Ideen283 https://doi.org/10.5771/9783495817018 .

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lehre bereits von ihm, wenigstens implizit, vorgenommen, jedenfalls praktiziert worden ist. Erstaunlich, dass François Jullien in seinem keineswegs platonisch orientierten Buch Vivre en existant. Une nouvelle Éthique (Paris 2016) dem platonischen Wahren und Schönen doch eine Funktion zugesteht – und zwar als Momente oder Impulse, die zur Veränderung dieser Welt antreiben können. 157 Eine gar nicht platonische Erklärung würde die »Idee« des Guten auf die primäre, gar auf die pränatale Mutter-Kind-Beziehung zurückführen, in der so etwas wie Urvertrauen erfahren und gelebt, geschenkt und angenommen wird. Und sie kann sogar »platonisch« interpretiert werden: wenn das Gute, das vom Embryo erlebt wird, auf einen ihm übergeordneten, ihm nicht zur Gänze bekannten Akteur zurückgeführt wird. Allerdings geht diese Deutung schon eher in die Richtung des Religiösen. Jullien geht vom Begriff »leben« aus (ich übernehme die französische Kleinschreibung, um das Substantiv »Leben« fernzuhalten) und reformuliert ihn als Widerstand gegen den Tod (Bichat). Und er greift auf den von Erwin Schrödinger (und Léon Brillouin) entwickelten Begriff der »Negentropie« zurück: jene Umkehrung der Entropie, deren Ergebnisse unwahrscheinliche Ordnungen wie auch die biologischen sind. 158 Leben erweist sich als ein Prozess, den man nicht als durchgehendes homogenes Sein beschreiben kann, sondern als Hin und Her von Anspannung und Entspannung, Hinausgehen über bloßes Sein, ständige bzw. unständige Veränderung, Versuch und Irrtum, Kampf gegen ein Negatives, das eigentlich ein Positives ist: ein »Negaktives«. 159 Und dafür setzt er dann das seit langem bekannte Wort »existieren« – dessen Präfix ex er in Richtung Aufbruch, Ekstase, Siehe François Jullien: op. cit: 201 ff. Siehe Erwin Schrödinger: Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen eines Physikers betrachtet (Bern 1946): 107 ff. Ich entnehme Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), dass bereits vor Schrödinger der negative Zusammenhang zwischen Organismus und Entropie mit dem sehr passenden Begriff der »Ektropie« gefasst worden ist; siehe Georg Hirth: Die Ektropie der Keimsysteme (München 1900); Felix Auerbach: Ektropismus oder die physikalische Theorie des Lebens (Leipzig 1910). 159 François Jullien: op. cit: 52. 157 158

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Abenteuer deutet. Damit skizziert er eine Ontologie, die gerade nicht als »Ontologie« bezeichnet wird – denn mit der »Existenz« soll das »Sein« verabschiedet werden, das für volles Sein, totale Präsenz steht, in Wirklichkeit jedoch nur so ein niedriges Sein wie das Stein-Sein abbildet. Der traditionelle Seinsbegriff stehe für ein vom Wesen geprägtes Sein und verfehle gerade damit die doch relativ hohe Seinsweise des Lebewesens – so Jullien. Philosophiehistorisch hat sich das Existieren schon vor Sören Kierkegaard (der als Ahnherr der »Existenzphilosophie« gilt) neben das Sein gestellt und die Kontingenz zu seinem Hauptmerkmal gemacht. Rémi Brague hat diese Geschichte bereits im Zusammenhang mit der Leibniz-Frage thematisiert und er greift historisch noch viel weiter zurück: der persische Philosoph Avicenna hat im 11. Jahrhundert Essenz und Existenz unterschieden und letztere als etwas Hinzukommendes betrachtet, was der arabische Philosoph Averroës im 12. Jahrhundert mit dem aristotelischen Begriff »Akzidens« übersetzt hat. 160 Und damit würde sich dieses Existieren vom aristotelischen Sein, das sich am Wesen als erster Kategorie orientiert, ziemlich weit entfernt haben. Vor dieser seit dem Mittelalter wirksamen Übersetzungs- und Deutungstendenz liegen jedoch die Bücher V und VI der Metaphysik, die – wohl kaum programmatisch, vielleicht mehr zufällig (!) – die Ontologie zum Akzidenziellen hin schieben: Buch V, das Begriffslexikon, mit seiner minimalen Berücksichtigung des Wesens (eigentlich nur im Abschnitt 8) und seinen vielen Ausführungen zu akzidenziellen Bestimmungen (und mit der Erhebung von »verstümmelt« zu einem hochrangigen Begriff). Buch VI mit seinem ausführlichen Eingehen auf die Akzidenzien (entgegen deren sehr niedriger wissenschaftstheoretischer Einstufung). Die faktisch-tendenzielle Akzidenzialisierung des Seienden in V und VI verfolgt keine bestimmte inhaltliche Richtung, es sei denn man würde die Alltäglichkeit als eine solche bezeichnen. Immerhin kann das Beispiel der Verstümmelung auf die Resistenz gegen die Vernichtung bezogen werden, die in solchem Fall gerade noch vermieden worden ist.

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Siehe Rémi Brague: op. cit.: 45.

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Jullien meint, dass das Phänomen des Lebens nur beschrieben werden kann, wenn man das von Aristoteles aufgestellte Sicherste Prinzip, den Satz vom ausgeschlossenen Selbstwiderspruch, nicht befolgt. Und Bernd Schmeikal zitiert dazu den Schlusssatz von Platons Dialog Parmenides: »das Eine … ist es selbst und das Andere, wie es sich zeigt, sowohl im Verhältnis zu sich selbst wie zueinander … und ist es auch wieder nicht, und erscheint als alles dies und erscheint auch wieder nicht so.« (166c 5) Jullien selber formuliert nicht so grobmaschig; es geht ihm nicht darum, dem Denkgebot einfach zu widersprechen. Zwar beruft er sich auf Levinas’ Motto, das den Verzicht auf Kategorien nahelegt, wenn die Begegnung mit dem Anderen nicht verfehlt werden soll. 161 Aber er bemüht sich, das »widersprüchliche« Phänomen Leben differenzierend, mit neuen Kategorien, mit durchaus harten oder aber mit geschmeidigen, notfalls auch mit Wortschöpfungen wie »negaktiv« zu beschreiben. Er findet, dass die Sprache der Literatur, der französischen Roman-Literatur des 19. Jahrhunderts, die geeignetste sei, solchen Phänomenen wie Gegnerschaft, Begegnung oder Landschaft nahezukommen. Haben nicht auch wir gemeint, wo die Akzidenzien überwiegen, sei die Stunde der Dichtung gekommen? * Ich mache nach dem Buch VI einen Schnitt und versuche, die Lektüre der Bücher I bis VI zu resümieren. Dieser Schnitt findet sich im Text ungefähr genau so gut begründet, wie ein jedes dieser Bücher einen neuen Anfang in dem und zu dem großen Projekt zu machen scheint, das erst im Buch VI seinen endgültigen Namen bekommt: Erste Philosophie. Es bekommt da diesen merkwürdig blassen Namen, der zwar hohes Prestige anzeigt, aber kaum etwas zum Inhalt, zum Gegenstand sagt. Wir haben gesehen, die Gegenstandsangabe bleibt zwiespältig: Ontologie (um es auf Neugriechisch zu sagen) und Theologie. *

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Siehe François Jullien: op. cit.: 222.

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31. Mai 2017 Ich habe vorgeschlagen, in Platons Ideenlehre zwei Ebenen zu unterscheiden: eine »spezielle Ideenlehre« mit solchen Qualitäten wie dem Guten und dem Schönen und dem Wahren und eine »allgemeine Ideenlehre« mit den Urbildern von Dingen wie Mensch oder Reh. Und ich neige dazu, nur die erste für nachvollziehbar, aus politischen Gründen sogar für notwendig zu halten. Wolfgang Koch äußert seine Bedenken dazu. Die Politik brauche keine von oben eingespeiste »Idee des Guten«, sie komme ohnehin nur noch dazu, Entwicklungen aus den Bereichen der Technik oder Ökonomie nachzulaufen und eben dieses als alternativlos anzupreisen. Bei den Menschen allerdings, die Betroffene derartiger Entwicklungen oder eventueller Begleitmaßnahmen sind, gebe es Erfahrungen des Schlechten, hinter denen so etwas wie eine Idee des Guten stehe. Diese Idee gibt es also doch, sie braucht gar nicht erarbeitet oder angepriesen werden – und insofern entspricht sie vielleicht dem, was Platon mit der ewigen Idee des Guten gemeint hat. Möglicherweise hat er damit etwas anderes gemeint als das Gute, das man früher gern in noch früheren Zeiten vermutet hat (NostalgieGutes) oder das man vor allem in der Moderne von einem rasanten Fortschritt erwartet (Fortschritts-Gutes) – ? Generell lässt sich sagen, dass Platon mit den Ideen die jeweils über individuellen Handlungen und Dingen stehenden Gemeinsamkeiten (das Gerechte, das Menschenhafte) anvisiert hat. Im Mittelalter sprach man von den Universalien und es gab drei Konzeptionen von ihrer Situierung. Universale ante rem: die platonische Konzeption setzt die Realität der Universalien bereits vor ihrer jeweiligen Individualisierung an: also die Idee der »Rehheit« vor allen einzelnen Rehen. Universale in re: die aristotelische Konzeption, setzt die Universalien nur in den jeweiligen Individuen an: die Rehheit also im Rehbock wie in der Rehgeiß und ebenso im Rehkitz (die Fortpflanzung ist der Mechanismus der Natur, welche die Gemeinsamkeit »in rebus« vom »ante« bis zum »post« sicherstellt).

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Universale post rem: die Nominalisten haben dem Gemeinsamen die Realität abgesprochen und es auf Konvention, Wortgebrauch, Gedankending reduziert. Eben damit haben sie eine weitere Realitätsebene der Idee sozusagen »eingeführt«: nämlich »Idee« im modernen Sinn des Wortes: subjektive Idee, Vorstellung, Gedanke, Vorschlag, »idée directrice« – Beispiel: die »Idee Österreich«. Angenommen Thales von Milet war der erste Philosoph, dann würde ein extremer Platonismus sagen, die »Idee des Philosophen« habe es schon vorher gegeben und nur deswegen konnte dann irgendwann zum ersten Mal »ein Philosoph« die Welt betreten. Richtig an dieser Annahme dürfte sein, dass »der Philosoph« nicht ex nihilo entstanden ist. Aber aus dem diamantenen »philosophus ante rem« wohl doch auch nicht. Sondern aus einer irdischen Gemengelage bestehend aus dem Weisen, dem Naturwissenschaftler, aus Antriebskräften wie der Wahrheit und irgendwelchen Zufällen als Wirkursachen. Die Bezeichnung »Philosoph« dürfte dann noch etwas später dazu gekommen sein: post rem. Und dann hat sich auch die »Idee des Philosophen« gebildet, die seit der Antike in allen möglichen Variationen herumgeistert. Eine platonische Idee? Nein, ein Artefakt der Kulturgeschichte, das sehr wohl auch eine Prägekraft besitzen kann. Platon hat die sokratische Errungenschaft der Konzeption des Allgemeinen als Realität übersteigernd hochstilisiert, damit sie nur ja nicht verlorengehe. Aristoteles wollte an der Konzeption festhalten – aber die Übersteigerung zurücknehmen. Seine mittlere Position ist aber nur zu verstehen als Mitte in einer größeren Spannung. Damit wird der betont nüchterne, der professorale Philosoph in eine Problematik hineingestellt, in der auch wir als Philosophierende uns situieren dürfen.

7. Juni 2017 Als Ergebnis der Lektüre von Buch I bis VI der Metaphysik können wir festhalten, dass sich die Konturen der »gesuchten Wissenschaft«

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einigermaßen geklärt haben – dass sie aber keineswegs als eine einheitliche Figur vor unseren Augen steht. Sie figuriert als dritte, rangmäßig als erste der theoretischen (betrachtenden) Wissenschaften, die ihrerseits wieder vor der poietischen und der praktischen Wissenschaft rangieren. Sie hat den Namen »Erste Philosophie« bekommen und gleichzeitig hat sie zwei unterschiedliche Gegenstandsgebiete zugewiesen bekommen: einerseits den höchsten Realitätsbereich, genannt das »Göttliche«, andererseits das Spektrum der Seinsmodalitäten, das sämtliche Realitätsbereiche durchquert. Die Formulierung und Differenzierung dieses Spektrums obliegt der Spezialdisziplin, die am Anfang der Neuzeit den Namen »Ontologie« bekommen hat und als eine genuin aristotelische Erfindung gelten kann. Deren Beitrag zur Erkenntnis besteht darin, dass neben den Wesen, also den eigentlich Seienden und deren Washeiten, auch die uneigentlich Seienden, also die abhängigen, die minderen Seinsaspekte wie Qualität, Quantität, Relation, also die Akzidenzien, und sogar Seinsmodalitäten knapp über dem Nichts, also Entstehen, Vergehen, Möglichkeit nicht dem Nichts zugerechnet werden (wie das eventuell bei Parmenides der Fall ist), sondern mit ihrem eigenen Profil betrachtet und gewürdigt werden. Zu diesen schwachen Momenten gehört auch das bloße »etwas«, die bloße Bestimmtheit, welche im sogenannten Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (Selbstwiderspruch) als in jeder Aussage notwendig festzuhaltende postuliert wird. Während das Wesen, die Akzidenzien, Entstehen, Vergehen und Möglichkeit das Feld der assertorischen Ontologie bilden, welches durchaus auch für weitere Kategorien offen ist, etwa für das Ereignis, konstituiert der sogenannte Satz vom Widerspruch nur eine postulatorische Minimalontologie. Beide Versionen der Ontologie (die im Buch IV begründet werden) heben das »seiend« vom Nichts ab. Und insofern – nur insofern – lassen sie sich mit dem neuzeitlichen Begriff des Existierens resümieren, der das Sein auf das minimale Nicht-Nichtsein reduziert und von Leibniz mit der Frage »Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?« dramatisiert worden ist.

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»Existieren« ist der neuzeitliche minimale Seinsbegriff, der eine »natürliche« Tendenz zum Nichtsein impliziert – welche im 19. Jahrhundert bei den Physikern den Begriff der Entropie erzeugt hat, bei anderen so etwas wie den Todestrieb. Allerdings impliziert dieser Begriff des Existierens notwendigerweise auch schon eine Gegentendenz, ohne deren vorgängige Wirksamkeit die Entropie-Tendenz überhaupt nichts zu tun hätte. Und die bis heute merkwürdig unterbelichtet bleibt, was auf eine kulturelle Metatendenz zugunsten der Entropie schließen lässt. Immerhin haben einige wenige Naturwissenschaftler im 20. Jahrhundert dann doch auf diese Gegentendenz hingewiesen, die man spätestens bei der physikalischen Erklärung des Lebens berücksichtigen muss (auch des Lebens irgendwelcher Wissenschaftler), indem sie Begriffe wie »Ektropie« oder »Negentropie« eingeführt haben (Georg Hirth, Felix Auerbach, Erwin Schrödinger, Léon Brillouin). Die Ektropie-Tendenz, die zu »unwahrscheinlichen Ordnungen« führt, ist übrigens nicht nur in Organismen tätig, sondern auch in Katastrophen wie Vulkanausbrüchen oder in Kulturleistungen wie Pyramiden oder Aristoteles-Lesen. Seit Kierkegaard ist die ektropische Tendenz auch im Begriff des Existierens aktiviert worden und hat ihm ein spezifisches Pathos eingetragen, das vor kurzem von François Jullien aufgegriffen worden ist. 162 Bei Aristoteles ist die Kategorie des Wesens die Hauptkategorie – ihr stehen die neun Akzidenzien gegenüber und insofern könnte man sagen, dass die Dominanz der Wesenskategorie gar nicht so unbestritten erscheint. In gewissem Sinn hängt das Schicksal der Wesen, hängt also »alles« von den Akzidenzien ab, zum Beispiel vom Tun und Leiden, von aktiver und passiver Politik. Ob das Wesen irgendeines konkreten Wesens zu einer Leerfomel verkommt, wenn alles Tun und Leiden auf Entwesung aus sind, hängt von dem Tun und Leiden, also Vivre en existant. Une nouvelle Éthique (Paris 2016); das als »Orgien-MysterienTheater« bekannte Werk von Hermann Nitsch ist vor kurzem in einer Wiener Ausstellung mit dem Titel »ExistenzFest« assoziiert worden – der dem ektropischen Duktus dieses Werkes sicher gerecht wird.

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von Akzidenzien ab. Aber auch in so einem Fall werden die Taten und die Leiden menschliche sein (zum Beispiel) – sie entkommen dem Menschenwesen als einem theoretischen Rahmen und einem praktischen Maßstab nicht. Zum Tun der Menschen gehört auch das theoretische Tun – es ist nicht egal, was gesehen, nicht gesehen, was gesagt, nicht gesagt wird. Sehen und sagen, die Hauptelemente des theoretischen Tuns, sind selber Praktiken, also Akzidenzien. Es läuft also ohnehin auf eine Art Übermacht der Akzidenzien hinaus – welche Aristoteles in seiner Poetik für die Tragödie selber notifiziert hat und die uns sogar in unserer Lektüre der hiesigen Metaphysik, genauer gesagt in den Ausführungen zur Ontologie im Buch VI, aber auch schon in Buch V, unterschwellig aufgefallen ist. Dieser hier wahrgenommenen Tendenz zu einem gewissen ontologischen »Akzidenzialismus« (oder Modalitätenpluralismus) bei Aristoteles selber antwortet – wieder bei ihm selber – die Tatsache, dass in seinen Texten für das Wesen ungefähr zehn Synonyme angetroffen werden können, die bei näherem Zusehen recht unterschiedliche Nuancen andeuten, sodass das Wesen sich von sich aus zu »extrovertieren« scheint. Sachlich immanente, sprachlich differente – also »synonymische Extrovertierung des Wesens«. Die ja schon mit der Doppelung bzw. Spaltung in zwei Wesensversionen – Erste Substanz, Zweite Substanz – angehoben hat. Diese Doppelung erbaut eine Art Kronreif wie ein aufgehendes Werk. Die Synomyme der ousia lauten: paradigma, eidos, morphe, physis, logos, synthesis, to ti estin, to ti en einai, energeia, entelecheia – und schließlich lässt sich als äußerste Extrapolation sogar psyche noch anschließen oder draufsetzen. 163 Die ungefähr zehn ousia-Synonyme zeichnen wie ein Kranz aus verschiedenen Edelsteinen das Profil der Wesenheit – des Hauptes der Seinsmodalitäten. 163 Siehe meinen Aufsatz »Morphismus, Energismus, Krypto-Animismus … Eine postaristotelische Glosse«. Jetzt ist der Text erschienen in Irene Albers, Anselm Franke (Hg.): Nach dem Animismus (Berlin 2017).

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Und den Wesens-Synonymen antworten die ungefähr gleich vielen akzidenziellen Seinsmodalitäten (mit Potenz, Entstehen, Vergehen, Bewegung … sind es mehr) und zusammen fügen sie sich zu einer Ontologie-Version, ich würde sogar sagen Ontologie-Revision, welche das aristotelische »System« vielleicht nicht gerade sprengt, aber doch aufweicht und ausweitet beziehungsweise den Chaos-Anteil dieses Systems nicht unterschlägt, sondern in einer höheren Balance wieder austariert. Sie hat sich einer suchenden und sehenden, aber auch diskussiven und diskontinuierlichen, sich immer wieder unterbrechenden Lektüre erschlossen, und es steht zu vermuten, dass sie es möglich macht, das aristotelische Denken in einer Richtung weiterzuschreiben, wo es zur Klärung des Denkens in diesem 21. Jahrhundert nach Christus beitragen könnte. Einige der genannten Synonyme lassen sich zwanglos in die Begriffe übersetzen, welche das Leistungsprofil der Ektropie oder Negentropie bezeichnen: Aktivität, Information, Ordnung. Mit dem Begriff der Ektropie hat die Physik des 20. Jahrhunderts angefangen, sehr vorsichtig angefangen, die seit dem 17. Jahrhundert ansteigende entropische Tendenz zu konterkarieren. 164 Anstatt wie Platon die Wesen zu himmlischen Dingen emporzustilisieren, ist es Aristoteles widerfahren, die Wesenheit wortwörtlich in erfahrungsnahe Nuancen aufzufächern, die Affinitäten zu den Akzidenzien aufweisen. Eine Annäherung der Wesenheit an die Akzidenzien-Vielfalt, die ihm unterlaufen ist, weil ihn das Aufeinandertreffen von Sehen und Sagen angetrieben hat: zur Vermehrung der Wörter um der Ordnung der Dinge willen. * »Ordnung der Dinge«: eine Adalbert Stifter- und Michel FoucaultFormel, die auf die Voraussetzungen, also Bedingungen, auf die An-

164 Ich lasse jetzt dahingestellt, ob und wie die Polarität zwischen Ektropie und Entropie genauer mit aristotelischen Begriffen, etwa energeia und dynamis, korreliert werden kann. Für mich stelle ich fest, dass ich sie der Philosophischen Physik leichter annähern kann als etwa die Relativitätstheorie.

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triebe und Initiativen – und auf deren Blockierungen – auszuweiten ist. Ordnung der Dinge und Undinge. Wie schon erwähnt, haben moderne Philosophen, angefangen mit Sören Kierkegaard, den Begriff »Existenz« gegen den des Wesens ausgespielt und ausgearbeitet – so sehr, dass dieser Begriff zu einer anderen Version, zu einem weiteren Synonym des Wesens, und zwar des menschlichen, geworden ist. So ein Umschlag kann passieren. Und Helmuth Plessner hat die »exzentrische Positionalität« zum Schlüsselbegriff für die menschliche Natur erklärt, die er sich nicht hat ausreden lassen. Er ist einer der Begründer der Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert. 165 PS.: Zu den erklärten – jedenfalls verbalen – Gegnern der »Anthropologie« gehörte Jacques Lacan (dessen scharfe Wahrnehmung der Metaphysik schon erwähnt worden ist). Umso bemerkenswerter sein Wortspiel, welches die Entropie und die »Anthropie« zusammenstellt – gegenüberstellt? Im Französischen ohne phonetische Differenz. »Anthropie« – Menschung, Menschenwesung, Menschenbetrieb, Menschengetue … Im Internet finde ich unter http://tsrerst.blogspot.co.at/2009/10/entropie-et-anthropie.html einen Text, der von Lacan inspiriert sein könnte und zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt wie ich: »Or, il se trouve justement que la vie est une organisation qui contrecarre l’entropie : elle ne dégrade pas, mais construit. C’est comme s’il y avait là-derrière un dessein intelligent : laissée à elle-même, la matière se dégrade, mais un phénomène, appelé ›vie‹, va à l’encontre de ce funeste destin, et structure, assemble, fait vivre, la matière, et, guidé par l’anthropie, la fait évoluer vers un être intelligent qui pourra appréhender tout cela. En résumé : l’anthropie contrecarre l’entropie … !« 166 * 165 166

Siehe Helmuth Plessner: op. cit. Tatsächlich hat sich Lacan sehr ausführlich mit den Anhängern der Entropie-

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7. Juni 2017 Ich suche im Arkadenhof der Universität das Denkmal für Franz Brentano auf. In diesem Hof sind seit dem Ende des 19. Jahrhunderts über 150 Büsten oder Plaketten aufgestellt oder angebracht worden, die meisten zu Ehren von Professoren der Universität. Der hier schon öfter erwähnte Franz Brentano (1838–1917) war einer der ersten philosophischen Aristoteliker im 19. Jahrhundert und er verband in seiner Lehre wie in seinen Publikationen antike und mittelalterliche Traditionen mit modernen Versuchen einer Verbindung zwischen philosophischen und einzelwissenschaftlichen Wegen der Erkenntnis. Er lehrte an der Universität Wien zwanzig Jahre lang, mit großem Erfolg bei seinen Studenten, musste aber schwerwiegende Einschränkungen vonseiten der Obrigkeit hinnehmen, so etwa eine Reduktion seiner Professur auf eine Privatdozentur. 1895 zog er sich von der Universität zurück. Erst lange nach seinem Tod wurde eine Ehrung durch eine Büste im Arkadenhof eingeleitet – nämlich im Dezember 1937. Die Aufstellung der Büste war für den 26. April 1938 vorgesehen. Kurz davor kam es jedoch zum Anschluss Österreichs an Deutschland und prompt wurde die Ehrung für Brentano abgesagt, da er mit einer Jüdin verheiratet gewesen war. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Denkmal an der Westwand des Hofes angebracht und enthüllt – am 12. Mai 1952. (Die Jahre 1937 und 1952 waren offensichtlich in Österreich solche, in denen man bereit war, Brentano die Ehre zu erweisen.) Die Büste wurde von dem Bildhauer Theodor Georgii (1883–1963) gefertigt – in einem antikisierend-jugendstiligen non finito-Stil, der Theorie auseinandergesetzt und ihnen vorgehalten, sie »hätten sich selber ausgelassen«, siehe Jacques Lacan: Seminar II (1954/55): Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse (Olten – Freiburg 1980): 106 ff.; ders.: Séminaire XVII (1969–70): L’envers de la psychanalyse (1969–70): 50 ff.; Seminar XX (1972/73): Encore (Weinheim – Berlin 1986): 68.

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Buch VI

den wuchtigen Kopf weich aus dem natürlichen, aber knapp geschnittenen Stein hervorwachsen lässt. Etwas ungewöhnlich auch die darunter angebrachte Inschrift Dem großen Lehrer der Philosophie FRANZ BRENTANO 1874–1895 8. Juni 2017 In meinem Vortrag »Gehen in der Stadt« verbinde ich das Thema der Ektropie mit demjenigen des Gehens, dem Aristoteles einige Aufmerksamkeit gewidmet hat, etwa mit der Problematisierung des Hinkens in Met., V, 1025a 10 f. oder mit seiner Bestimmung des Gehens als Mittel zur Gesundheit und dieser wiederum als einer Voraussetzung der Glückseligkeit. Des Weiteren ziehe ich die Theorie des Gehens von Honoré Balzac heran und sehe, dass da nicht eines der üblichen Wörter wie aller, partir, sortir für »gehen« steht, sondern démarche – dies meint wohl in erster Linie den Aufbruch zum Marschieren, also zum festesten und entschlossensten Fußauftritt, sich losreißen von der Bequemlichkeit des Sitzens, sich ent-scheiden, auf-brechen, also sich aufrichten, nur stante pede, ex stante pede kann man gehen, losmarschieren. Eben daher hat »démarche« auch die feineren Bedeutungen Schritt, Initiative, Maßnahme, Erklärung. 167 * Auseinandersetzung mit Platon und Absetzung von ihm über die Positionierung und die genaue Fassung des »Wesens« zum einen und zum anderen ein ständiges Hin und Her zwischen seiner ontologischen Privilegierung und dem Andrang der Akzidenzien, die weit davon entfernt sind, als unwichtig gelten zu können.

167 Honoré de Balzac: Theorie des Gehens. Übers. Von Alma Valazza (Lana – Wien – Zürich 1997).

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Buch VI

Diese beiden Sprech- und Denkbewegungen haben sich durch die Bücher I bis VI durchgehalten. Werden sie in der Folge weitergehen – und zu einem Ende führen?

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