»Arisierung« und »Wiedergutmachung« in deutschen Städten 9783412216689, 9783412221607

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»Arisierung« und »Wiedergutmachung« in deutschen Städten
 9783412216689, 9783412221607

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Christiane Fritsche · Johannes Paulmann (Hg.)

„ARISIERUNG“ UND „WIEDERGUTMACHUNG“ IN DEUTSCHEN STÄDTEN

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2014

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Boykottaufruf auf dem Schaufenster der Drogerie Kopp Joseph in der Körnerstraße 5. Auf dem Plakat steht „Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!“ Aufnahmedatum 1933, Aufnahmeort: Berlin © bpk.

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Patricia Simon, Langerwehe Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Reproduktionen: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22160-7

Inhalt Christiane Fritsche/Johannes Paulmann

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort: Perspektiven auf die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz deutscher Juden und die Entschädigung nach 1945  ................................... 

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Christoph Kreutzmüller

Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin. Begriffe und Blickwinkel  ..............................................................................  45 Benno Nietzel

Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit. Die Konstruktion „jüdischer Unternehmen“ und die Öffentlichkeit der Judenverfolgung in Frankfurt am Main 1933 – 1939  . . ...........................  65 Gerald Lamprecht

„Arisierung“ als soziale Praxis und gesellschaftlicher Prozess am Beispiel der Stadt Graz und der Steiermark  .. ..........................  89 Berthold Unfried

Neuere Ergebnisse zu „Arisierung“ und Restitution von Unternehmen in Wien  ..........................................................................  115 Christiane Fritsche

Mannheim „arisiert“. Die Mannheimer Stadtverwaltung und die Vernichtung jüdischer Existenzen  .................................................  137 Jürgen Klöckler

Von Mannheim nach Konstanz. Der Finanzbeamte Bruno Helmle im Nationalsozialismus und in der unmittelbaren Nachkriegszeit  ..........  163 Kurt Schilde

Bürokratie des Todes. Die Deportation der jüdischen Familie Fenichel aus Berlin im Spiegel von Finanzamtsakten  ...............................................  205

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Inhalt

Timo Saalmann

Relikte der „Arisierung“ und Wiedergutmachung in den Sammlungen der Museen der Stadt Bamberg  ................................  235 Monika Tatzkow

„Praktisch zertrümmert“. Die Kunstsammlung Adolf Bensinger, Mannheim  ........................................................................  261 Lina-Mareike Dedert

„Arisierung“ in Mannheim am Beispiel der Röhrengrosshandlung Leopold Weill . . .........................................................  285 Susanna Schrafstetter

Von der Soforthilfe zur Wiedergutmachung: die Umsetzung der Zonal Policy Instruction No. 20 in der britischen Besatzungszone  ................................................................  309 Julia Volmer-Naumann

„Betrifft: Wiedergutmachung“. Entschädigung als Verwaltungsakt am Beispiel Nordrhein-Westfalen  . . ..................................  335 Marlene Klatt

Die Entschädigungspraxis im Regierungsbezirk Arnsberg und die Reaktionen jüdischer Verfolgter  ....................................................  363 Register  . . .........................................................................................................  387

Christiane Fritsche/Johannes Paulmann

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort: Perspektiven auf die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz deutscher Juden und die Entschädigung nach 1945 Zwischen 1933 und 1945, innerhalb von zwölf Jahren, wurde das gesamte jüdische Eigentum in Deutschland „arisiert“, wie man es im Dritten Reich nannte. Betriebe wurden an „Arier“ verkauft oder liquidiert, Grundstücke gingen in „arischen“ Besitz über oder wurden vom Deutschen Reich eingezogen. Bargeld, Sparbücher und Aktien flossen als Judenvermögensabgabe, als Reichsfluchtsteuer oder beim Devisentransfer in die Kassen des Deutschen Reichs. Als die deutschen Juden deportiert wurden, wurde ihr Hausrat, ihre Möbel, ihre Kleidung, ihr Geschirr, versteigert. Überall im Deutschen Reich war die „Arisierung“ ein gigantischer Umverteilungsprozess, von dem unzählige „Volksgenossen“ profitierten. Nach 1945 besaßen die Juden, so sie überhaupt überlebt hatten, fast nichts mehr. Oft genug war ihnen, wenn sie in letzter Sekunde das Deutsche Reich verlassen hatten, nur ein Koffer mit wenigen Habseligkeiten geblieben. Und wer deportiert worden war, besaß bei Kriegsende in der Regel nicht mehr als die gestreifte Häftlingskleidung, die er am Leib trug. In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die deutschen Städte mit der Not der Überlebenden konfrontiert und mussten Hilfe organisieren. Zugleich schufen die Alliierten mit den Rückerstattungsgesetzen Möglich­ keiten, um den Überlebenden oder ihren Erben das zurückzugeben, was ihnen im Dritten Reich geraubt worden war. Und schließlich leistete die Bundesrepublik Deutschland Entschädigungszahlungen, u. a. für KZ-Haft oder für im Dritten Reich geleistete Sonderabgaben. Beide Prozesse, die „Arisierung“ und die nach 1945 erfolgende „Wiedergutmachung“, nimmt der vorliegende Band in den Blick und stellt dabei die Vorgänge vor Ort in den Mittelpunkt. Schließlich berührten beide Prozesse die deutschen Städte unmittelbar. Zentraler Ansatzpunkt ist die kommunale Perspektive: Die einzelnen Beiträge spüren den lokalen Unterschieden nach und analysieren das Verhalten von Stadtverwaltungen sowie anderen Akteuren vor Ort. Denn bis zum Erlass reichsweiter Verordnungen zur „Arisierung“ ab 1938 gab es markante örtliche Unterschiede bei der Verdrängung der deutschen Juden aus der Wirtschaft.

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Für die Zeit nach 1945 werden die Unterschiede zwischen einzelnen Städten bei ersten Hilfsmaßnahmen für NS -Opfer nach dem Krieg ebenso wie die Unterschiede bei der „Wiedergutmachung“ beleuchtet. Insgesamt spannt der vorliegende Band einen weiten Bogen von der Vernichtung jüdischer Gewerbe­ tätigkeit in deutschen sowie österreichischen Städten und der „Arisierung“ von Kunstsammlungen über die finanzielle Ausplünderung und die „Verwertung“ von jüdischem Besitz nach den Deportationen bis hin zur Soforthilfe für jüdische Überlebende nach 1945 und den Entschädigungsleistungen in der Bundesrepublik Deutschland. Neben dem kommunalen Fokus erweist sich die biografische Perspektive auf „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ als aufschlussreich, weil anhand konkreter Lebensläufe von Opfern und Tätern ihre jeweiligen Strategien, Handlungsspielräume und Alternativen aufgezeigt werden können. Dabei wird auch die Zeit nach 1945 berücksichtigt, also auch das Schicksal von jüdischen Emigranten in der neuen Heimat bzw. die Nachkriegskarrieren von ­Ariseuren und Profiteuren. Der im breiteren Sinne gesellschaftliche Umgang mit ­„ Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ in einer Stadt bildet schließlich eine weitere Perspektive unseres Bandes. Die „Arisierung“ des jüdischen Eigentums als umfassendster Besitzwechsel in der deutschen Geschichte spielte sich öffentlich ab, und neben dem Deutschen Reich profitierten Kommunen und die örtliche Bevölkerung. Die „Arisierung“ fand vor aller Augen statt, man kannte einander. Das Gleiche traf teilweise für die „Wiedergutmachung“ nach dem Zweiten Weltkrieg zu, denn nach 1945 waren zahlreiche Deutsche als Zeugen oder Fachgutachter in „Wiedergutmachungsverfahren“ eingebunden, nicht selten dieselben Akteure, die schon im Dritten Reich an der „Arisierung“ beteiligt gewesen waren. Die einzelnen Beiträge fordern daher heraus zu fragen, wie Stadtgesellschaften und die bundesdeutsche Gesellschaft als Ganzes mit „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ umgingen.

I. „Arisierung“, „Entjudung“, Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben – „Wiedergutmachung“, Restitution, Entschädigung: Begriffe und Definitionen „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ – die beiden gängigen Worte für das Unrecht, das in den Jahren zwischen 1933 und 1945 den Juden angetan wurde, und die Art, wie nach dem Zweiten Weltkrieg für dieses Unrecht Entschädigung geleistet wurde, sind durchaus problematisch. Der Begriff „Arisierung“

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

stammt aus dem nationalsozialistischen Wortschatz und tauchte bereits in den 1920er-Jahren in Schriften des völkischen Antisemitismus auf.1 Zudem waren im Dritten Reich mit „Arisierung“ unterschiedliche Bedeutungen verbunden.2 So wurde mit „Arisieren“ nicht nur der Verkauf einer Firma oder eines Grundstücks an einen „Arier“ bezeichnet, sondern konnte sich auch darauf beziehen, dass „Nicht-Arier“ aufgrund ihrer Verdienste zu „Ehrenariern“ ernannt wurden. Man sprach gar mit Blick auf Jesus von „Arisieren“; so forderten etwa die Deutschen Christen seine „Arisierung“, also eine „Reinigung“ des Christentums von den jüdischen Wurzeln. Wie Christoph Kreutzmüller in seinem Beitrag erläutert, polemisierte 1938 eine SS -Zeitung gar gegen die Verwendung des Begriffs „Arisierung“, weil sie darin eine Tarnung jüdischer Unternehmen zu erkennen glaubte. Im amtlichen Gebrauch setzte sich im Dritten Reich daher meist der Begriff „Entjudung“ durch. Entsprechend schwer tut sich die Geschichtswissenschaft heute, „Arisierung“ eindeutig zu definieren, und so wird der Begriff vielfältig verwendet. Am weitesten gehen Wojak und Hayes: Für sie erstreckt sich der „Ent- und Aneignungsprozess […] in Form der Zwangsarbeit bis auf die Ausbeutung der physischen Kräfte der aus der deutschen ‚Volksgemeinschaft‘ Ausgegrenzten“ und auf die „Verwertung“ der Ermordeten selbst, die Nutzung ihrer Haare oder das Herausbrechen des Zahngolds also.3 In den letzten Jahren haben sich zwei weniger breite Begriffsdefinitionen herauskristallisiert. So gilt „Arisierung“ in einem engeren Sinn als Transfer von jüdischem Vermögen in „arischen“ Besitz, in einem etwas weiteren Sinne meint „Arisierung“ „den gesamten wirtschaftlichen Ausschaltungsprozess“.4 Sie wird dann als 1 Vgl. Marian Rappl, „Unter der Flagge der Arisierung … um einen Schundpreis zu erraffen“: Zur Präzisierung eines problematischen Begriffs, in: Angelika Baumann (Hrsg.), München arisiert: Entrechtung und Enteignung der Juden in der NS-Zeit, München 2004, 17 – 30, hier: 4 – 5. 2 Vgl. Frank Bajohr, „Arisierung“ als gesellschaftlicher Prozeß. Verhalten, Strategie und Handlungsspielräume jüdischer Eigentümer und „arischer“ Erwerber, in: Irmtrud Wojak/Peter Hayes (Hrsg.), „Arisierung“ im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt am Main 2000, 15 – 30, hier: 28/Fußnote 2. 3 Irmtrud Wojak/Peter Hayes, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), „Arisierung“ im Nationalsozialis­ mus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt am Main 2000, 7 – 13, hier: 7. 4 Frank Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg: Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer, 1933 – 1945, Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 35, Hamburg 1998, 9/Fußnote 1. Vgl. für die engere Definition Axel Drecoll, Der Fiskus als Verfolger: Die

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„wirtschaftliche Verdrängung der Juden und die daraus resultierende Vernichtung ihrer Existenz“ verstanden.5 Eben dieser zweiten, weiter gefassten Definition von „Arisierung“ folgt der vorliegende Band. Damit fallen unter „Arisierung“ nicht nur der Verkauf von jüdischen Firmen, Grundstücken oder Kunstgegenständen an „Arier“, sondern auch die Liquidierung jüdischer Betriebe, die Verdrängung jüdischer Selbstständiger, die finanzielle Ausplünderung der Juden, die Enteignungen durch das Deutsche Reich und die Verwertung von jüdischem Besitz nach der Deportation. In diesem Sinn definiert ist „Arisierung“ „eine der gnadenlosesten und unverschämtesten Raubaktionen, die an der eigenen Bevölkerung oder an einem Teil der eigenen Bevölkerung vollzogen wurde“6, und „einer der größten Besitzwechsel der neuzeitlichen deutschen Geschichte“7. „Arisierung“ als zeitgenössischen und nicht klar definierten Begriff haben wir in Anführungszeichen gesetzt. Das Gleiche gilt für „arisch“ und „Arier“, „halbjüdisch“ oder „Halbjude“, auch sie Worte aus der Sprache der Täter. Ebenfalls in Anführungszeichen gesetzt werden müssten außerdem Jude und jüdisch, denn nicht selten verstanden sich Menschen, die ab 1933 als Juden verfolgt wurden, selbst gar nicht als jüdisch. Daneben war die „jüdische Wirtschaft“, wie Benno Nietzel in seinem Beitrag zeigt, eine Konstruktion nicht nur der antisemitischen Propaganda, sondern auch einer willkürlich, vor Ort initiierten Praxis. Eigentlich müsste man daher jüdisch, vor allem im Kontext mit Wirtschaft, in Anführungszeichen setzen und dürfte nicht von Juden sprechen, sondern von Menschen, die im Dritten Reich als Juden verfolgt wurden, oder von antisemitisch Verfolgten.8 Weil Konstruktionen wie diese umständlich und steuerliche Diskriminierung der Juden in Bayern 1933 – 1941/42, Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 78, zugl. Diss. Univ. München, München 2009, 25 – 29. 5 Rappl, Unter der Flagge der Arisierung, 19. Ähnlich die Definition von Bajohr, „Arisierung“ als gesellschaftlicher Prozeß, 15. 6 So Andreas Heusler vom Stadtarchiv München in Michael Verhoevens Dokumentation Menschliches Versagen von 2009 (Minute 48:30). 7 Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg, 9. 8 So vermeiden Zwilling und Meinl in ihrer Studie zur finanziellen Ausplünderung soweit wie möglich Begriffe wie „jüdisches Vermögen“ oder „Jude“ und sprechen stattdessen von „antisemitisch Verfolgten“, vgl. Susanne Meinl/Jutta Zwilling, Legalisierter Raub. Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus durch die Reichsfinanzverwaltung in Hessen, Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Bd. 10, Frankfurt am Main 2004.

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

nicht besonders elegant sind, verzichten wir auf sie; der besseren Lesbarkeit wegen haben wir Jude und jüdisch zudem nicht in Anführungszeichen gesetzt. Nicht weniger schwierig als Worte wie Jude, „Arier“ oder „Arisierung“ ist der zweite Begriff, der im Titel dieses Bandes auftaucht: „Wiedergutmachung“. So empfinden Assmann und Frevert das Wort als „unerträglich verharmlosend“9, und auch von jüdischer Seite wird der Begriff kritisiert. 2002 plädierte der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden Paul Spiegel dafür, nicht mehr von „Wiedergutmachung“ zu sprechen; der Begriff sei, so Spiegel weiter, „mehr geprägt worden vom Wunschdenken der ersten Nachkriegsgeneration der nicht-jüdischen deutschen Gesellschaft, als von den Realitäten der Entschä­digungspraxis“10. In der Tat schwingen bei dem Begriff „Wiedergutmachung“ immer auch die Erwartung „auf einen irgendwann erfolgenden Abschluss wenigstens der materiellen Seite“11 mit und der Wunsch, irgendwann müsse es doch „wieder gut“ sein – ganz ähnlich wie im Übrigen bei dem nicht minder problematischen Wort Vergangenheitsbewältigung, das ja auch impliziert, irgendwann sei die NS-Vergangenheit einmal bewältigt und könne ad acta gelegt werden. Schwierig ist das Wort „Wiedergutmachung“ jedoch auch, weil es seine eigene sprachliche Vorgeschichte hat, denn – wie Gerald Lamprecht und Berthold Unfried in ihren Beiträgen erläutern – im Dritten Reich wurden nach dem „Anschluss“ Österreichs Zuwendungen an „alte Kämpfer“ als „Wiedergutmachung“ bezeichnet. Freilich kann „wiedergutmachen“ im Deutschen nicht nur wortwörtlich „wieder gut machen“ bedeuten, sondern auch „entschädigen“, „ausgleichen“ oder „büßen“.12 In diesem Sinn werden jüdische Emigranten, die sich bereits 9 Aleida Assmann/Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit. Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, 57. Vgl. zur Kritik am Begriff „Wiedergutmachung“ auch Thorsten Eitz/Georg Stötzel, Wörterbuch der „Vergangenheitsbewältigung“. Die NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch, Bd. 1, Hildesheim 2007, 677 – 701. 10 So zitierte ihn der Berliner Tagesspiegel („Wiedergutmachung ist das falsche Wort“, in: Der Tagesspiegel, 14.11.2002, online verfügbar unter http://www.tagesspiegel.de/politik/ wiedergutmachung-ist-das-falsche-wort/363862.html). 11 Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NSVerfolgte seit 1945, Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 111, Göttingen 2005, 12. 12 Vgl. http://www.duden.de (Zugriff: 14.03.2014). Als weitere Synonyme für „wiedergutmachen“ nennt der Duden „abfinden“, „bereinigen“, „ins Reine bringen“, „klären“, „klarstellen“ und „korrigieren“.

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während des Zweiten Weltkriegs Gedanken darüber machten, wie das ihnen angetane Unrecht entschädigt werden könnte, und die dabei von „Wiedergutmachung“ sprachen, das Wort verwendet haben.13 Auch nach 1945 gebrauchten nicht wenige NS-Opfer selbst den Begriff und ohne ihn in Anführungszeichen zu setzen, wie etwa der aus Mannheim stammende Julius Loewenstein. Er erkundigte sich im Mai 1946 beim Oberbürgermeister der Stadt Mannheim nach dem Schmuck, den er als Jude 1939 beim Städtischen Leihamt Mannheim hatte abliefern müssen, und betonte, man dürfte „doch annehmen […], dass die jetzigen deutschen Behörden jegliche Hilfe zur Wiedergutmachung dieses Raubs leisten“14. Und schließlich führt Susanna Schrafstetter in ihrem Beitrag aus, dass auch die unmittelbare Soforthilfe bei Kriegsende als „Wiedergutmachung“ bezeichnet wurde. Nichtsdestotrotz ist unbestritten, dass das Wort irreführende Konnotationen besitzt und dass selbstverständlich das Unrecht, das NS-Verfolgte erlitten hatten, in keiner Weise „wieder gut“ gemacht werden konnte. Dies betrifft, wie Frei, Goschler und Brunner mit Recht betonen, vor allem „immaterielle Schäden wie de[n] Verlust von Kindheit, Heimat, Selbstwert, Glauben, Tradition und Identität“15 sowie „die Erfahrung von mörderischem Hass, extremer Unmenschlichkeit und Todesangst“. Weil es jedoch für den Gesamtvorgang, den „Wiedergutmachung“

13 Vgl. Hans Günter Hockerts, Wiedergutmachung. Ein umstrittener Begriff und ein weites Feld, in: ders./Christiane Kuller (Hrsg.), Nach der Verfolgung. Wiedergut­ machung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland?, Dachauer Symposien zur Zeit­geschichte, Bd. 3, Göttingen 2003, 7 – 33, hier: 10. Hockerts betont zudem, dass ins­besondere Bundespräsident Theodor Heuss in den 1950er-Jahren den Begriff „Wiedergutmachung“ sicher „nicht in apologetischer Absicht“ verwendet habe, sondern „als Zeichen der Anerkennung von Schuld und Verbrechen und als moralischen Appell, um die Selbstbezogenheit und Teilnahmslosigkeit des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung zu überwinden“ (ebd.). 14 Julius Loewenstein, New York, an Oberbürgermeister Mannheim, 25.5.1946, in: StadtA MA -ISG , Hauptregistratur, Zugang 42/1975, Nr. 2353. Auch der Mannheimer Rechtsanwalt Friedrich Jacobi sprach von Wiedergutmachung, vgl. Friedrich Jacobi an Paul Jacobi, 16.2.1946, in: StadtA MA-ISG, NL Jacobi, Friedrich, Zugang 3/1991, Nr. 4. 15 Norbert Frei/José Brunner/Constantin Goschler, Komplizierte Lernprozesse. Zur Geschichte und Aktualität der Wiedergutmachung, in: dies. (Hrsg.), Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirklichkeit in Deutschland und Israel, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1033, Bonn 2010, 9 – 47, hier: 27. Im Folgenden ebd.

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

meint, keinen besseren Begriff gibt und weil das in Israel vielfach verwendete schilumim 16 im deutschen Sprachraum kaum bekannt ist, wird hier dennoch von „Wiedergutmachung“ gesprochen, der umstrittene Begriff aber in Anführungszeichen gesetzt. Abgesehen davon, dass das Wort an sich schwierig ist, gibt es auch für „Wiedergutmachung“ mehrere geschichtswissenschaftliche Definitionen. So versteht Hockerts unter „Wiedergutmachung“ in einem weit gefassten vergangenheitspolitischen Kontext sechs Aspekte, nämlich die Rückerstattung von Vermögen, die Entschädigungen u. a. für Freiheitsberaubung oder Schäden an Gesundheit, Sonderregelungen wie etwa in der Sozialversicherung, die juristische Rehabilitierung wie die Aufhebung von Unrechtsurteilen, zwischenstaatliche Abkommen und die ideelle oder erinnerungskulturelle Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.17 In einem engeren Sinn definieren Goschler, Lillteicher und Winstel „Wiedergutmachung“ erstens als Restitution, also als Rückerstattung von noch feststellbaren Vermögenswerten, und zweitens als Entschädigung durch die Bundesrepublik Deutschland.18 Diesem Ansatz folgt auch der vorliegende Band. Nicht untersucht wird damit das weite Feld der Vergangenheitsbewältigung in kultureller und ideeller Hinsicht, wenngleich es den Hintergrund für die bürokratischen Entschädigungsprozesse bildete, die Julia Volmer-Naumann und Marlene Klatt in ihren Beiträgen untersuchen.

16 Schilumim wird für individuelle Entschädigungszahlungen ebenso verwendet wie für die Wiedergutmachungsleistungen an Israel, zu denen sich die Bundesrepublik 1952 mit dem Luxemburger Abkommen verpflichtete. Der Begriff stammt aus dem Alten Testa­ ment, steht für Vergeltung oder Zahlung und geht nicht mit Verzeihen oder Schuldvergebung einher, vgl. Goschler, Schuld und Schulden, 16 und Frei/Brunner/Goschler, Komplizierte Lernprozesse, 18 – 19. 17 Vgl. Hockerts, Wiedergutmachung, 11. 18 Vgl. Constantin Goschler/Jürgen Lillteicher, „Arisierung“ und Restitution jüdischen Vermögens in Deutschland und Österreich. Einleitung, in: dies. (Hrsg.), „Arisierung“ und Restitution: Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002, 7 – 28, hier: 11 und Tobias Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit. Rückerstattung und Entschädigung für jüdische Opfer in Bayern und Westdeutschland, Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 72, zugl. Diss. Univ. München, München 2006, 9.

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II. „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort: eine späte Forschungsperspektive Lange fand die „Arisierung“ in der ansonsten so umfangreichen histo­rischen Forschung zum Dritten Reich wenig Beachtung.19 Ausschlaggebend dafür war einerseits, dass die wirtschaftliche Vernichtung der Juden angesichts ihrer physischen Vernichtung in den Konzentrationslagern verblasst, dass sich die NS-Forschung also zunächst ganz auf den Holocaust und das System der Vernichtungslager konzentrierte. Andererseits rückt die „Arisie­ rung“ im Gegensatz zum Holocaust „bis an die Haustür eines jeden B ­ ürgers heran“20, wie Lillteicher es einmal sehr anschaulich genannt hat. Denn bei der „Arisierung“ stellen sich Fragen nach Schuld und Verstrickung in einer ganz anderen Dimension, schließlich waren an der Ausplünderung der Juden ganz normale Deutsche beteiligt: Kaufleute, die eine jüdische Firma erwarben, Hausfrauen, die bei Versteigerungen ihren Vorrat an Tischwäsche aufstockten, oder Finanzbeamte, die von Juden die Reichsfluchtsteuer eintrieben. Aufgrund der derart lange vermiedenen Auseinandersetzung mit „Arisierung“ kann die kommunale und regionale Perspektive auch heute noch vieles entdecken und erklären. Jürgen Klöckler zeigt dies in diesem Band an einem herausragenden Beispiel eines Täters, während Kurt Schilde

19 Vgl. Rappl, Unter der Flagge der Arisierung, 29. Im Dritten Reich selbst befasste sich Wagner in seiner Doktorarbeit mit der „Überführung jüdischer Betriebe in deutschen Besitz“ – so der Titel der 1941 an der Universität Heidelberg eingereichten Dissertation – und untersuchte dabei vor allem Firmenarisierungen in Baden, vgl. Hans Wagner, Die Überführung jüdischer Betriebe in deutschen Besitz, unter Berücksichtigung der Verhältnisse in Baden, Diss. Univ. Heidelberg, Heidelberg 1941. Vgl. aus der NS-Perspektive auch Alf Krüger, Die Lösung der Judenfrage in der Wirtschaft. Kommentar zur Judengesetzgebung, Berlin 1940. Adler prägte in seinem Standardwerk zur Deportation der deutschen Juden den Begriff vom Finanztod der Juden für ihre finanzielle Ausplünderung, der der physische Tod in den Vernichtungslagern folgte, vgl. Hans Günther Adler, Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland, Tübingen 1974, 166. – Der folgende Forschungsüberblick fußt wesentlich auf einer detaillierten Übersicht in Christiane Fritsche, Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt. Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim, Ubstadt-Weiher 2013, 18 – 31. 20 Jürgen Lillteicher, Die Rückerstattung in Westdeutschland. Ein Kapitel deutscher Vergangenheitspolitik?, in: Hockerts/Kuller, Nach der Verfolgung, 61 – 77, hier: 74.

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

einen wenig spektakulären, aber dennoch genauso bedrückenden Fall mit Blick auf die Opfer vorstellt. Ausführlich untersucht wurde die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich erstmals von Genschel in seiner 1966 erschienenen Pionierstudie. Darin betont er zwar, dass die „Arisierung“ „größtenteils in aller Öffentlichkeit stattfand“, identifiziert als treibende Kraft jedoch die Reichsregierung und die NSDAP, allen voran Hermann Göring als Beauftragten für den Vierjahresplan.21 Genschel konzentriert sich daher auf die „Arisierung“ „von oben“, auf Aktionen von NS-Gliederungen sowie auf Gesetze und Verordnungen zur Ausschaltung der Juden. Auch meint er, bis 1937 habe es lediglich eine „schleichende Judenverfolgung“ in der Wirtschaft gegeben, „die eigent­ liche Arisierungswelle“ habe erst im Herbst 1937 begonnen.22 Genau dies weist Barkai in seinem 1988 erschienen Band zum wirtschaftlichen Existenzkampf der Juden im Dritten Reich zurück. Er betont die Kontinuität der „Arisierung“ seit 1933 und spricht für die Jahre 1934 bis 1937 von einer „Illusion der Schonzeit“23. Daneben nimmt Barkai auch die jüdischen Reaktionen auf die NS-Politik in den Blick und skizziert beispielsweise die jüdische Selbsthilfe und die Entwicklung eines jüdischen Wirtschaftssektors als Folge der Verdrängung der Juden aus der deutschen Wirtschaft. Einen Markstein in der Arisierungsforschung setzte 1998 Bajohr mit einer Lokalstudie zu Hamburg. Diese Arbeit hat bis heute eine weit über Hamburg hinausreichende Bedeutung, weil sie nicht, wie viele andere Arbeiten, eine Ansammlung von Einzelfällen ist, sondern auf einer Metaebene wichtige 21 Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd. 38, Göttingen 1966, 13, 65 bzw. 269. 22 Ebd., 147. 23 So der Titel des entsprechenden Kapitels, vgl. Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933 – 1943, Frankfurt am Main 1988. Neben Barkai analysierte ebenfalls bereits in den 1980er-Jahren Kratzsch die Rolle des Gauwirtschaftsberaters bei den Arisierungen in West­falenSüd. Daneben nahmen Barkai und Hayes die Rolle der deutschen Unternehmer bei Arisierungen in den Blick, vgl. Gerhard Kratzsch, Der Gauwirtschaftsapparat der NSDAP. Menschenführung – „Arisierung“ – und Wehrwirtschaft im Gau West­ falen-Süd, Münster 1989, Avraham Barkai, Deutsche Unternehmer und Judenpolitik im „Dritten Reich“, in: GG (15/1989), 227 – 247 und Peter Hayes, Big business and „Aryanization“ in Germany, 1933 – 1939, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 3, 1994, 254 – 281.

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Erkenntnisse liefert. So verstand Bajohr „Arisierung“ als Erster „keineswegs als Prozess ‚von oben‘ durch bloße Exekution reichsweiter Anordnungen“, sondern als „politisch-gesellschaftliche[n] Prozess“, in den „zahlreiche Akteure und Profiteure involviert waren“24. Er untersucht daher neben Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft Ariseure und Profiteure. Dabei unterscheidet er drei Typen von Ariseuren, die skrupellosen Profiteure, die Juden beim Verkauf massiv unter Druck setzten, die stillen Teilhaber, die zusätzlich zu den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen keine individuellen Repressionen ausübten und die „Arisierung“ äußerlich korrekt abwickelten, und die wenigen gutwilligen Geschäftsleute, die Juden mit dem Kauf in ehrlicher Absicht helfen wollten.25 Daneben macht Bajohr für die „Arisierung“ in Hamburg folgende Phasen und Zäsuren aus: den Antisemitismus von unten unmittelbar nach der Machtergreifung, den Übergang zur systematischen „Arisierung“ 1936/37, die Arisierungen in scheinlegaler Form zwischen April und November 1938 sowie die Arisierungen ab November 1938. Seit Ende 1990er-Jahre sind zahlreiche Lokalstudien zur „Arisierung“ in einzelnen Städten und Regionen gefolgt. Dieser Graswurzelforschung kommt insofern besondere Bedeutung zu, als die zentralen, reichsweit gültigen Gesetze zur Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft erst 1938 in Kraft traten und sich damit die Prozesse der „Arisierung“ vor Ort ganz erheblich voneinander unterschieden, ja mehr noch: „maßgebliche Impulse der wirtschaftlichen Verfolgung von der Region aus[gingen]“26. Mit Recht betont daher Bopf, dass die „wirtschaftliche Existenzvernichtung wie kaum ein anderes Thema der nationalsozialistischen Judenverfolgung eine vergleichbare regionalgeschichtliche Relevanz besitzt“27. Bopf selbst hat sich 2004 mit der „Arisierung“ in

24 Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg, 16 – 17; Bajohr, „Arisierung“ als gesellschaftlicher Prozeß, 17. Vgl. auch Frank Bajohr, „Arisierung“ und Restitution. Eine Einschätzung, in: Constantin Goschler/Jürgen Lillteicher (Hrsg.), „Arisierung“ und Restitution: Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002, 39 – 59, hier: 45 – 50. 25 Vgl. Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg, 317 – 319. 26 Drecoll, Der Fiskus als Verfolger, 60. 27 Britta Bopf, „Arisierung“ in Köln. Die wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden 1933 – 1945, Schriften des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, Bd. 10, Köln 2004, 16.

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

Köln befasst, daneben liegen Arbeiten zu Leipzig 28 und Bremen 29 vor, zu Marburg 30, Witten 31, Bamberg 32 und Göttingen 33 sowie jüngst zu Mannheim 34. Besonders gut erforscht ist die „Arisierung“ in der einstigen „Hauptstadt der Bewegung“. Im Kontext einer Ausstellung des Stadtarchivs entstanden zwei Sammelbände mit Beiträgen u. a. zur „Arisierung“ des Münchner Kaufhauses Uhlfelder, zur Rolle der Münchner NSDAP bei der Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft, zur „Arisierung“ der Sammlung Pringsheim und zu jüdischen Büchern in der Bayerischen Staatsbibliothek.35 2004 legte Selig 28 Ein von Gibas herausgegebener Sammelband konzentriert sich auf Arisierungen in der „Buchstadt“ Leipzig und auf Raubkunst. So werden u. a. das Schicksal des Musikverlags C. F. Peters beleuchtet sowie Kunsthändler und Kunstmuseen als Ariseure vorgestellt, vgl. Erika Bucholtz, Ausgrenzungen und „Arisierung“. Der Leipziger Musikverlag C. F. Peters, in: Monika Gibas (Hrsg.), „Arisierung“ in Leipzig. Annäherung an ein lange verdrängtes Kapitel der Stadtgeschichte der Jahre 1933 bis 1945, Schriftenreihe Geschichte – Kommunikation – Gesellschaft, Bd. 4, Leipzig 2007, 98 – 114 und Monika Gibas, „Arisierte“ Kunstschätze: Kunstmuseen und privater Kunsthandel als Täter und Nutznießer der Enteignung jüdischer Kunstbesitzer in Leipzig, in: dies., „Arisierung“ in Leipzig, 196 – 241. 29 Balz hat sich ausschließlich mit Grundstücksarisierungen in Bremen befasst, vgl. Hanno Balz, Die „Arisierung“ von jüdischem Haus- und Grundbesitz in Bremen, Schriftenreihe Erinnern für die Zukunft Bd. 2, zugl. Magisterarbeit Universität ­Bremen, Bremen 2004. 30 Vgl. Barbara Händler-Lachmann/Thomas Werther, Vergessene Geschäfte – verlorene Geschichte. Jüdisches Wirtschaftsleben in Marburg und seine Vernichtung im National­ sozialismus, Marburg 1992. 31 Vgl. Hans-Christian Dahlmann, „Arisierung“ und Gesellschaft in Witten. Wie die Bevölkerung einer Ruhrgebietsstadt das Eigentum der Jüdinnen und Juden übernahm, Münster 2001. 32 Vgl. Franz Fichtl/Stefan Link/Herbert May/Sylvia Schaible, „Bambergs Wirtschaft judenfrei“. Die Verdrängung der jüdischen Geschäftsleute in den Jahren 1933 bis 1939, Bamberg 1998. 33 Vgl. Alex Bruns-Wüstefeld, Lohnende Geschäfte. Die „Entjudung“ der Wirtschaft am Beispiel Göttingens, Hannover 1997. Thematisiert wird die „Arisierung“ auch in Fleiters Studie zur hannoverschen Stadtverwaltung im Dritten Reich; vgl. Rüdiger Fleiter, Stadtverwaltung im Dritten Reich. Verfolgungspolitik auf kommunaler Ebene am Beispiel Hannovers, Hannoversche Studien/Schriftenreihe des Stadtarchivs Hannover, Bd. 10, Hannover 2006, Kapitel 3 zur Verfolgung der Juden, insbes. 165 – 216. 34 Vgl. Fritsche, Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt. 35 Vgl. Julia Schmideder, Das Kaufhaus Uhlfelder, in: Angelika Baumann/Andreas Heusler­ (Hrsg.), München arisiert. Entrechtung und Enteignung der Juden in der NS-Zeit, München

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zudem ein fast 1.000 Seiten starkes Werk zur „Arisierung“ jüdischer Firmen in München vor und schildert darin detailliert das Schicksal einzelner jüdischer Kaufleute und Betriebe.36 Am Anfang stehen Historiker indes bei der Erforschung der „Arisierung“ in Berlin. Freilich sind sie mit einschüchternden Zahlen konfrontiert. So gab es, wie Christoph Kreutzmüller für seine Studie zur Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin herausgefunden hat, 1933 in der Reichshauptstadt 50.000 als jüdisch diffamierte Betriebe.37 In einem 2007 erschienenen Sammelband zur „Arisierung“ in Berlin befassen sich die einzelnen Beiträge u. a. mit der Verdrängung der Juden aus der IHK sowie aus Vorständen und Aufsichtsräten und der „Arisierung“ des Kaufhauses Wertheim sowie der Radioaktiengesellschaft D. S. Loewe – allesamt freilich, wie Herausgeberin Schreiber betont, nur die „Spitze eines Eisbergs“.38 Ebenfalls noch weitgehend unerforscht ist der Prozess der „Arisierung“ jenseits 2004, 127 – 144; Gerd Modert, Motor der Verfolgung – Zur Rolle der NSDAP bei der Entrechtung und Ausplünderung der Münchner Juden, in: Baumann/Heusler, München arisiert, 145 – 175; Lorenz Seelig, Die Münchner Sammlung Alfred Pringsheim – Verstei­ gerung, Beschlagnahmung und Restitution, in: Koordinierungsstelle für Kulturverluste Magdeburg (Hrsg.), Entehrt. Ausgeplündert. Arisiert – Entrechtung und Enteignung der Juden, Veröffentlichungen der Koordinierungsstelle für Kulturverluste, Bd. 2, Magde­ burg 2005, 265 – 290; Thomas Jahn/Stephan Kellner, Bücher im Zwielicht. Die Bayerische Staatsbibliothek und ihr Umgang mit zweifelhaften Erwerbungen der Jahre 1933 bis 1955, in: Koordinierungsstelle für Kulturverluste Magdeburg, Entehrt. Ausgeplündert. Arisiert, 85 – 105. 36 Vgl. Wolfram Selig, „Arisierung“ in München. Die Vernichtung jüdischer Existenz 1937 – 1939, Berlin 2004. 37 Vgl. Christoph Kreutzmüller, Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbe­ tätigkeit in Berlin 1930 – 1945, Berlin 2012. 38 Vgl. Christof Biggeleben, Die Verdrängung der Juden aus der Berliner Industrie- und Handelskammer und dem Verein Berliner Kaufleute und Industrieller, in: ders./Beate Schreiber/Kilian J. L. Steiner (Hrsg.), „Arisierung“ in Berlin, Berlin 2007, 55 – 86; ­Martin­ Münzel, Die Verdrängung jüdischer Vorstands- und Aufsichtsratsmit­glieder aus Berliner Großunternehmen im NS-Staat, in: Biggeleben/Schreiber/Steiner, „Arisie­ rung“ in Berlin, 95 – 120; Olaf Ossmann, „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ oder die unbekannte Geschichte des Kaufhausimperiums Wertheim nach 1945, in: Biggeleben/Schreiber/Steiner, „Arisierung“ in Berlin, 315 – 335; Kilian J. L. Steiner, Die Arisierung der Radioaktiengesellschaft D. S. Loewe in Berlin-Steglitz, in: ders./ Biggeleben/Schreiber, „Arisierung“ in Berlin, 225 – 246; Beate Schreiber, „Arisierung“

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

von Städten in der Provinz. So liegt abgesehen von einigen Aufsätzen 39 bis dato lediglich eine Studie zur „Arisierung“ in Thüringen 40 vor. Daneben untersucht Klatt die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im westfälischen Arnsberg und in Niedermarsberg, in einer Mittelstadt also bzw. einer ländlichen Kleinstadt.41 Neben der Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft auf lokaler Ebene werden seit den 1990er-Jahren auch die finanzielle Ausplünderung der Juden und die Rolle der jeweils zuständigen Finanzverwaltungen im Dritten Reich stärker beleuchtet. 1999 befasste sich die Wanderausstellung „Verfolgung und Verwaltung“ mit den westfälischen Finanzbehörden, und im Begleitband zur Ausstellung machen Kenkmann und Rusinek deutlich, dass „der physischen Liquidierung […] die ökonomische häufig voraus[ging]“42. Nachdem im März 1999 die Konferenz der Finanzminister der deutschen Bundes­ länder vereinbart hatte, dass Unterlagen der Behörden zur Verwertung des in Berlin 1933 – 1945. Eine Einführung, in: dies./Biggeleben/Steiner, „Arisierung“ in Berlin, 13 – 53, hier: 53. 39 Diekmann befasst sich mit Arisierungen in der Provinz Mark Brandenburg, und ­Wiesemann nimmt die Lage der jüdischen Viehhändler in Bayern in den Blick, vgl. Irene Diekmann, Boykott – Entrechtung – Pogrom – Deportation. Die „Arisierung“ jüdischen Eigentums während der NS-Diktatur. Untersucht und dargestellt an Beispielen aus der Provinz Mark Brandenburg, in: Dietrich Eichholtz (Hrsg.), Verfolgung – Alltag – Widerstand. Brandenburg in der NS-Zeit, Berlin 1993, 207 – 229 und Falk Wiesemann, Juden auf dem Lande. Die wirtschaftliche Ausgrenzung der jüdischen Viehhändler in Bayern, in: Detlev Peukert/Jürgen Reulecke (Hrsg.), Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, Wupper­tal 1981, 381 – 396. Daneben untersucht auch Drecoll ansatzweise den ländlichen Raum; zu den regionalen Schwerpunkten seiner Studie zur „Arisierung“ in Bayern zählen neben Städten wie München und Nürnberg auch die Region um Bad Kissingen und Hammelburg, vgl. Drecoll, Der Fiskus als Verfolger. 40 Vgl. Monika Gibas, „Arisierung“ in Thüringen: Ausgegrenzt, ausgeplündert, ausgelöscht, Leipzig 2009. 41 Als dritte Kommune und Industriestadt nimmt Klatt Hagen in den Blick, vgl. Marlene Klatt, Unbequeme Vergangenheit. Antisemitismus, Judenverfolgung und Wiedergutmachung in Westfalen 1925 – 1965, Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 61, zugl. Diss. Universität Münster, Paderborn u. a. 2009. 42 Alfons Kenkmann/Bernd-A. Rusinek, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Verfolgung und Verwaltung. Die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden und die westfälischen Finanzbehörden, Münster 1999, 11 – 14, hier: 11.

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jüdischen Vermögens der wissenschaftlichen Forschung zugänglich gemacht werden sollten,43 erschienen, oft im Auftrag und mit finanzieller Unterstützung einzelner Landesregierungen, Studien zur finanziellen Ausplünderung der Juden wie 2001 eine Arbeit zu Rheinland-Pfalz.44 2004 legten Zwilling und Meinl eine Arbeit zur Rolle der hessischen Finanzverwaltung im Dritten Reich vor. Im Zentrum steht dabei das „Netzwerk der Ausplünderung“45. Eine „geradezu strategische Bedeutung“46 bei der Enteignung der Juden bescheinigte Hockerts 2004 auch den bayerischen Finanzbeamten in einem Zwischenbericht zu einem breit angelegten Forschungsprojekt zur Finanzverwaltung und der Ausplünderung der Juden in Bayern. Dabei hat sich Drecoll auf den „Fiskus als Verfolger“47 in den Jahren bis 1941/42 konzentriert, während Kuller die sogenannte Aktion 3 vorstellt, die Verwaltung und Verwertung des Vermögens der jüdischen Deportationsopfer durch die bayerische Finanzverwaltung. Sie kommt zu dem Schluss, „die reibungslos funktionierende Bürokratie“ sei „ein grundlegendes Element des NS-Terrors gegen Juden“48 gewesen.

43 Vgl. Hans Günter Hockerts, Einführung in das Forschungsprojekt „Die Finanzverwaltung und die Verfolgung der Juden in Bayern“, in: ders./Christiane Kuller/Axel ­Drecoll/Tobias Winstel (Hrsg.), Die Finanzverwaltung und die Verfolgung der Juden in Bayern. Ein Bericht über ein Forschungsprojekt der LMU München in Kooperation mit der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, München 2004, 17 – 20, hier: 18. 44 Vgl. Walter Rummel/Jochen Rath (Hrsg.), „Dem Reich verfallen“ – „den Berechtigten zurückzuerstatten“. Enteignung und Rückerstattung jüdischen Vermögens im Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz 1938 – 1953, Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 96, Koblenz 2001. 45 Meinl/Zwilling, Legalisierter Raub, 49; vgl. den Ausstellungskatalog Sparkassen-Kultur­ stiftung Hessen-Thüringen (Hrsg.), Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933 – 1945, Frankfurt am Main 2002. 46 Hockerts, Einführung in das Forschungsprojekt, 17. 47 So der Titel seines Buches: Drecoll, Der Fiskus als Verfolger. 48 Christiane Kuller, Finanzverwaltung und Judenverfolgung: Die Entziehung jüdischen Vermögens in Bayern während der NS-Zeit, Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 160, München 2008, 210. Als dritte Studie im Rahmen des bayerischen Forschungsprojekts entstand die Dissertation von Winstel zur „Wiedergutmachung“ in Bayern, vgl. Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit.

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

Ein umfangreiches und detailliertes Werk zur fiskalischen Ausplünderung durch die Berliner Steuer- und Finanzverwaltung veröffentlichte schließlich 2008 Friedenberger. Dabei kam den Berliner Behörden insofern eine besondere Bedeutung zu, als das Finanzamt Moabit-West für die Eintreibung der Judenvermögensabgabe von bereits emigrierten Juden zuständig war und lange das enteignete Vermögen von ausgebürgerten Juden verwaltete. Insgesamt schätzt Friedenberger das Ausmaß der finanziellen Ausplünderung ab Ende der 1930er-Jahre auf mehrere Milliarden Reichsmark und meint, dass etwa 700 Millionen Reichsmark allein ab 1938 als Reichsfluchtsteuer in die Kassen des NS -Staats flossen sowie weitere 1,2 Milliarden Reichsmark als Judenvermögensabgabe.49 Umgerechnet in Euro wären dies mehr als 8 Milliarden. Jenseits dieser gigantischen Zahlen ist Friedenberger auf eine bisweilen beachtliche Eigeninitiative einzelner Finanzbeamter gestoßen, so etwa auf einen Vorschlag aus dem Finanzamt Mannheim, das 1935 ein eigenes System entwickelte, das „Mannheimer System“, mit dessen Hilfe die Reichsfluchtsteuer noch effektiver eingetrieben werden sollte.50 Neben Lokalstudien zur „Arisierung“ und Arbeiten zur finanziellen Ausplünderung liegen inzwischen Werke zu zahlreichen Einzelaspekten vor, so etwa zur Rolle der Banken im Dritten Reich im Allgemeinen und bei der „Arisierung“ im Besonderen.51 Daneben ist auch die Verdrängung deutscher Juden aus einzelnen Berufsgruppen erforscht, so das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin und jüdischer Ärzte in Bayern.52 Auch der Boykott 49 Vgl. Martin Friedenberger, Fiskalische Ausplünderung: Die Berliner Steuer- und Finanzverwaltung und die jüdische Bevölkerung 1933 – 1945, Dokumente – Texte – Materialien, veröffentlicht vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Bd. 69, Berlin 2008, 327. 50 Das „Mannheimer System“ avancierte gar zum „reichsweiten Modell“, Friedenberger, Fiskalische Ausplünderung, 79. Vgl. dazu detailliert Fritsche, Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt, 177 – 185. 51 Vgl. Harold James, Die Deutsche Bank und die „Arisierung“, München 2001, Ludolf Herbst/Thomas Weihe, Die Commerzbank und die Juden 1933 – 1945, München 2004 und Dieter Ziegler (Hrsg.), Die Dresdner Bank und die deutschen Juden, Die Dresdner Bank im Dritten Reich, Bd. 2, München 2006. Vgl. auch Ingo Köhler, Die „Arisierung“ der Privatbanken im Dritten Reich. Verdrängung, Ausschaltung und die Frage der Wieder­gutmachung, München 2005. 52 Vgl. Simone Ladwig-Winters, Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933, Berlin 1988 und Linda Lucia Damskis, Zerrissene Biografien.

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gegen jüdische Geschäfte wurde jüngst umfangreich untersucht: In ihrer 2011 erschienenen Dissertation analysiert Ahlheim die Bedeutung von antijüdischen Boykottbewegungen und überschreitet dabei eine andere Epochenzäsur, das Jahr 1933 nämlich, denn ihre Studie setzt bereits in der Weimarer Republik an und zeigt antisemitische Kontinuitäten auf.53 Und schließlich nehmen einige Studien neben materiellen Gütern den Verlust immaterieller Wirtschaftspositionen in den Blick, wie Münzel, der sich mit jüdischen Mitgliedern der deutschen Wirtschaftselite und ihrer Verdrängung befasst hat.54 Weiter betont Welzer die „psychosozialen Folgen des Verlusts von materiellem Eigentum“55. Denn er ist der Meinung, das Ensemble von persönlichen Dingen wie Möbeln und Kleidung sei „ein biographisches Arrangement, das das Selbstbild und die Identität in einem sehr konkreten Sinn fundiert und stützt“56; wenn all dies verlorengehe, käme dies einer „wachsenden psychosozialen Entstellung“ gleich. Im vorliegenden Band beleuchtet Kurt Schilde dies gleichsam von der anderen Seite, indem er den bürokratischen Umgang Jüdische Ärzte zwischen nationalsozialistischer Verfolgung, Emigration und Wiedergutmachung, München 2009. 53 So widmet Ahlheim den Boykottbewegungen vor 1933 etwa genauso viele Seiten wie den Boykotten unter dem NS-Regime. Dabei zeigt sie u. a., wie schon in der Weimarer Republik bei antisemitischen Boykotten Stereotype wie das vom „raffenden Juden“ bemüht wurden, vgl. Hannah Ahlheim, „Deutsche, kauft nicht bei Juden“. Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935, Diss. Univ. Bochum, Göttingen 2011, 53 – 105. 54 Vgl. Martin Münzel, Zerstörte Kontinuität. Die jüdischen Mitglieder der deutschen Wirtschaftselite zwischen Weimarer Republik und früher Bundesrepublik, in: Volker­ R. Berghahn/Stefan Unger/Dieter Ziegler (Hrsg.), Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert. Kontinuität und Mentalität, Essen 2003, 219 – 240 und ders., Die jüdischen Mitglieder der deutschen Wirtschaftselite 1927 – 1955. Verdrängung, Emigration, Rückkehr, Paderborn 2006. 55 Harald Welzer, Vorhanden/Nicht-Vorhanden. Über die Latenz der Dinge, in: Irmtrud Wojak/Peter Hayes (Hrsg.), „Arisierung“ im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt am Main 2000, 287 – 308, hier: 287. Daneben betont auch Bajohr, wie sehr die „Arisierung“ den Selbstwert der Juden erschütterte, schließlich ging mit dem Verlust von Eigentum auch der Verlust von Status, Anerkennung und sozialen Beziehungen einher. Die „Arisierung“ beseitigte damit „alle Grundlagen eines ständisch-besitzbürgerlichen Selbstverständnisses, das viele jüdische Unternehmer gepflegt hatten“, Bajohr, „Arisierung“ und Restitution, 53. 56 Welzer, Vorhanden/Nicht-Vorhanden, 294.

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

der Berliner Behörden mit den Hinterlassenschaften einer deportierten Familie untersucht. Christiane Fritsche erschließt in ihrem Beitrag die Rolle der Mannheimer Stadtverwaltung bei der Vernichtung jüdischer Existenzen über ausgesuchte Gegenstände der materiellen Kultur. Ähnlich wie lange Zeit die „Arisierung“ fristete auch die „Wiedergutmachung“ über Jahrzehnte hinweg ein „merkwürdig inselhaftes Dasein“57 in der Geschichtswissenschaft. Vermutlich, so meint zumindest Goschler, einer der Pioniere der Wiedergutmachungsforschung, schien Historikern eine wissenschaftliche Thematisierung und damit eine Historisierung des bis heute nicht abgeschlossenen Kapitels lange „verfrüht“58. Also blieb die sechsbändige, seit 1974 vom Bundesministerium der Finanzen in Zusammenarbeit mit dem deutsch-jüdischen Wiedergutmachungsanwalt Walter Schwarz herausgegebene Dokumentation lange die einzige Darstellung zur „Wiedergutmachung“ – freilich aus Sicht der Akteure und ganz auf die einschlägigen Gesetze sowie die verwaltungsrechtlichen Grundlagen konzentriert.59 Zudem nimmt Schwarz, der langjährige Herausgeber der Fachzeitschrift Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht und der „Nestor der bundesdeutschen Wiedergutmachung“60, in seinen Schlussbetrachtungen eine

57 Goschler, Schuld und Schulden, 17. 58 Ebd. 59 Vgl. Bundesminister der Finanzen/Walter Schwarz, Rückerstattung nach den Gesetzen der Alliierten Mächte, Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, München 1974; ders., Wie kam die Rückerstattung zustande? Neue Erkenntnisse aus den amerikanischen und britischen Archiven, in: ders./Friedrich Biella u. a. (Hrsg.), Das Bundesrückerstattungsgesetz, Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, München 1981, 801 – 814; ders., Schlußbetrachtung, Beilage zu: ders./Hugo Finke u. a. (Hrsg.), Entschädigungsverfahren und sondergesetzliche Entschädigungsregelungen, Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 6, München 1985; ders., Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland. Ein Überblick, in: Ludolf Herbst/Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989, 33 – 54. 60 Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit, 47. Vgl. zu Schwarz ebd., 49/Fußnote 144 bzw. Tobias Winstel, Die Testamentsvollstrecker. Zur Rolle von Anwälten und Rechtshilfe­ organisationen, in: Frei/Brunner/Goschler, Praxis der Wiedergutmachung, 533 – 553, hier: 546 – 547.

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„altersmilde Perspektive“61 ein. So macht er bei der Umsetzung der „Wieder­ gutmachung“ in der Praxis zwar „mitunter eine erschreckende Engherzig­ keit“ und „manche schmerzliche Ungerechtigkeit“ aus, doch lautet sein Fazit: „Die Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik war ein einmaliger historischer Vorgang“ und „eine eindrucksvolle Leistung“.62 Ein ganz anderes Urteil fällten in den 1980er-Jahren und 1990er-Jahren zwei Bücher, die aus der Perspektive der Geschädigten argumentierten und von einem moralischen Standpunkt aus mit der bundesdeutschen Entschädigung hart ins Gericht gingen. So schilderte zunächst Pross auf Basis von ihm durch „Wiedergutmachungsanwälte“ und NS-Opfer zur Verfügung gestelltem Material 14 zum Teil in der Tat haarsträubende Fallbeispiele – die freilich vor allem Gesundheitsschäden betrafen, die umstrittenste Schadenskategorie der bundesdeutschen Entschädigung überhaupt. Hier ist er auf „Voreingenommenheit vieler deutscher Gutachter gegenüber den Verfolgten“ gestoßen und auf „Kleinmütigkeit“ der Behörden. Für ihn war die „Wiedergutmachung“ daher einziger „Kleinkrieg gegen die Opfer“.63 In ein ähnliches Horn stoßen

61 Frei/Brunner/Goschler, Komplizierte Lernprozesse, 19. Lillteicher betont zudem, dass laut Vorgaben des Bundesfinanzministeriums der Grundtenor des Werkes positiv zu sein hatte, vgl. Jürgen Lillteicher, Raub, Recht und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik, Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. XV, Göttingen 2007, 17/Fußnote 30. Heftige Kritik übt u. a. Pross an jenen sechs Bänden und streicht heraus, dass ein eigentlich geplanter Beitrag von Otto Küster, bis 1954 Staatsbeauftragter für die Wieder­gutmachung in Baden-Württemberg, gestrichen wurde, weil er zu kritisch war, vgl. Christian Pross, Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Frankfurt am Main 1988, 49. 62 Schwarz, Schlußbetrachtung, 11, 4, 27; Schwarz verweist vor allem darauf, dass es für die Wiedergutmachungsgesetze keinerlei historisches Vorbild gegeben habe, vgl. ebd., 4. In der Kontinuität jener sechs Bände steht ein 2000 von Brodesser, Fehn, Franosch und Wirth herausgegebenes Werk, denn auch die vier Verwaltungsbeamten, einst allesamt in der „Wiedergutmachung“ bzw. Kriegsfolgenliquidation tätig, beschränken sich auf die Darstellung der gesetzlichen Grundlagen und attestieren der Wiedergutmachung, ein Erfolg gewesen zu sein; vgl. Hermann-Josef Brodesser/Bernd Josef Fehn/Tilo Franosch/ Wilfried Wirth, Wiedergutmachung und Kriegsfolgenliquidation. Geschichte – Regelun­ gen – Zahlungen, München 2000. 63 Pross, Wiedergutmachung, 187 u. 42.

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

der „Wiedergutmachungsanwalt“ Fischer-Hübner und seine Frau, denn in ihren Augen war der Kampf um die „Wiedergutmachung“, der „lange Weg durch die Instanzen“, für die Verfolgten eine „Wiederholung und Fortsetzung“ ihres Leidens im Dritten Reich.64 Damit wenden sie sich „gegen alle Versuche, die ‚Wiedergutmachung‘ als eine glorreiche humane Entschädigungsleistung des deutschen Volkes darzustellen“.65 Wissenschaftlich analysiert wurde die „Wiedergutmachung“ erstmals in den 1980er-Jahren, wobei der Fokus zunächst auf dem Luxemburger Abkommen, dem 1952 zwischen der Bundesrepublik und Israel geschlossenen Wieder­gutmachungsvertrag, lag.66 Daneben publizierten Goschler und Herbst erste Arbeiten zur „Wiedergutmachung“ und ordneten die Entschädigung in die Gesamtgeschichte der Bundesrepublik ein.67 Richtig angekommen ist das Thema „Wiedergutmachung“ in der Geschichtswissenschaft jedoch erst seit der Jahrtausendwende. Ausschlaggebend für die verstärkte Untersuchung von Entschädigung und Rückerstattung zu diesem Zeitpunkt mag die seit Ende der 1990er-Jahre geführte öffentliche Debatte 64 Fischer-Hübner, Helga, Das Leiden an der „Wiedergutmachung“. Begegnungen mit Betroffenen, in: dies./Fischer-Hübner, Hermann (Hrsg.), Die Kehrseite der „Wiedergutmachung“. Das Leiden von NS-Verfolgten in den Entschädigungsverfahren, Gerlingen 1990, 41 – 153, hier: 98, 99. 65 Fischer-Hübner/Helga und Hermann, Nachwort, in: dies., Kehrseite der „Wiedergutmachung“, 187 – 191, 188. Neben dem Ehepaar Fischer-Hübner kommen in dem Band u. a. Jan Gross, der einst selbst im KZ Bergen-Belsen inhaftiert gewesen war, und der damalige Innenminister von Schleswig-Holstein, Hans Peter Bull, zu Wort. 66 Vgl. u. a. Nana Sagi, Wiedergutmachung für Israel. Die deutschen Zahlungen und Leistungen, Stuttgart 1981 und Karl von Jena, Versöhnung mit Israel? Die deutschisraeli­schen Verhandlungen zum Wiedergutmachungsabkommen von 1952, in: VfZG 34, 1986, 457 – 480. 67 Vgl. Constantin Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus (1945 – 1954), München 1992. Vgl. auch Hans Günter Hockerts, Anwälte der Verfolgten. Die United Restitution Organization, in: Ludolf Herbst/Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989, 249 – 271, Karl Heßdörfer, Die Entschädigungspraxis im Spannungsfeld von Gesetz, Justiz und NS-Opfern, in: Herbst/Goschler, Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, 230 – 248, und Cornelius Pawlita, „Wiedergutmachung“ als Rechtsfrage? Die politische und juristische Auseinandersetzung um Entschädigung für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung (1945 bis 1990), Frankfurt am Main 1993.

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um die Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter gewesen sein. Ein wesentlicher Meilenstein war ein weiterer Band von Goschler, sein bis heute als Standard­ werk geltender Überblick über die Geschichte der „Wiedergut­machung“ zwischen 1945 und 2000. Darin versteht Goschler die Rehabilitierung und Entschädigung für die NS-Opfer als Teil der Vergangenheitsbewältigung.68 Ähnlich wie er ordnet auch Hockerts die „Wiedergutmachung“ in das weite Feld der Aufarbeitung der Hinterlassenschaften des Dritten Reichs ein 69, und auch Lillteicher versteht, obwohl er sich auf einen Teilaspekt der „Wieder­ gutmachung“ konzentriert, auf die Rückerstattung feststellbarer Vermögenswerte nämlich, diese als „Kapitel deutscher Vergangenheitspolitik“70. So betont Lillteicher, dass in der Nachkriegszeit aus deutscher Perspektive, anders als in der alliierten Sichtweise, vor allem der NS-Staat und weniger der Einzelne für die „Arisierung“ verantwortlich gemacht wurde und dass daher die Bundesrepublik und nicht die Käufer jüdischen Eigentums für die Folgen aufzukommen hatte.71 In der Tat leistete die Bundesrepublik und nicht einzelne Käufer Entschädigung für das nach den Deportationen versteigerte jüdische Umzugsgut. Lillteicher betont mit Recht, dass die Inanspruchnahme breiter Bevölkerungsschichten als Pflichtige im Rahmen von Rückerstattungsverfahren wegen des Umzugsguts dem Eingeständnis gleichgekommen wäre, dass die Zivilbevölkerung aktiv an der Ausbeutung und Verfolgung der Juden beteiligt gewesen war und von der Vernichtung der Juden gewusst hatte. Ein Eingeständnis wie dieses hätte jedoch kaum zum in den 1950er-Jahren weitverbreiteten Bild der deutschen Bevölkerung als Opfer des NS-Regimes gepasst und hätte destabilisierend auf die bundesdeutsche Gesellschaft wirken können. Die hier verborgene Brisanz zeigt sich bis heute in heftigen stadtpolitischen Debatten, die sich an der Erforschung lokaler Fälle entzünden.

68 Vgl. Goschler, Schuld und Schulden, 7. 69 Vgl. Hockerts, Wiedergutmachung, 7. 70 Lillteicher, Raub, Recht und Restitution, 526. Vgl. auch Kuller, für die „Wiedergut­ machung“ „stets ein Produkt der jeweiligen Gegenwart“ ist, Christiane Kuller, Dimensionen nationalsozialistischer Verfolgung, in: dies./Hockerts, Nach der Verfolgung, 35 – 59, hier: 54. 71 Vgl. Lillteicher, Raub, Recht und Restitution, 503, insbes. 264, 523 – 524 und 528.

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

Neben Beiträgen speziell zur „Wiedergutmachung“ in der SBZ bzw. DDR 72 und zu Raubkunst und ihrer Rückerstattung 73, die im vorliegenden Band von Timo Saalmann und Monika Tatzkow beispielhaft behandelt werden, erschienen im letzten Jahrzehnt einerseits umfangreiche Sammelbände zur „Wiedergutmachung“, die jeweils ein sehr breites Spektrum abdecken. So spannt der

72 Die DDR übernahm erst 1990 Verantwortung für die NS-Verbrechen an den Juden, so erklärte erst die erste in freien Wahlen zustande gekommene Volkskammer, dass sie für eine Entschädigung eintreten werde. Davor erhielten Opfer des Faschismus in der DDR keine Entschädigung, sondern wurden sozial betreut. Von den Menschen, die in der DDR als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt wurden, waren 1957 nur neun Prozent Opfer der antisemitischen Verfolgung. Die wichtigste Verfolgtengruppe waren stattdessen die Kommunisten. Wer als NS-Verfolgter anerkannt wurde, erhielt u. a. eine vorgezogene Altersrente, hatte Anspruch auf kostenfreie Gesundheitsfürsorge und Vorrang bei der Zuteilung von Wohnraum, vgl. Constantin Goschler, Zwei Wege der Wiedergutmachung? Der Umgang mit NS-Verfolgten in West- und Ostdeutschland, in: Hockerts/Kuller, Nach der Verfolgung, 115 – 137, hier: 115, 123 bzw. 128. Vgl. zur „Wiedergutmachung“ und Restitution in Ostdeutschland auch Peter Ralf Kessler/ Hartmut Rüdiger, Wiedergutmachung im Osten Deutschlands 1945 – 1953. Grundsätzliche Diskussionen und die Praxis in Sachsen-Anhalt, Frankfurt am Main/New York 1996, Christoph Hölscher, NS-Verfolgte im „antifaschistischen“ Staat. Vereinnahmung und Ausgrenzung in der ostdeutschen Wiedergutmachung (1945 – 1989), Berlin 2002, Ralf Kessler, Interne Wiedergutmachungsdebatten im Osten Deutschlands – die Geschichte eines Mißerfolgs, in: Constantin Goschler/Jürgen Lillteicher (Hrsg.), „Arisierung“ und Restitution: Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002, 197 – 213, Angelika Timm, Das dritte Drittel – Die DDR und die Wiedergutmachungsforderungen Israels und der Claims Conference, in: Goschler/Lillteicher, „Arisierung“ und Restitution, 215 – 239 und Jan Philipp Spannuth, Rückerstattung Ost. Der Umgang der DDR mit dem „arisierten“ Eigentum der Juden und die Rückerstattung im wiedervereinigten Deutschland, Diss. Univ. Freiburg, Essen 2007. 73 Vgl. u. a. Thomas Armbruster, Rückerstattung der Nazi-Beute. Die Suche, Bergung und Restitution von Kulturgütern durch die westlichen Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg (Diss. Univ. Zürich), Berlin 2009, Gabriele Anderl, … wesentlich mehr Fälle als angenommen: 10 Jahre Kommission für Provenienzforschung, Wien u. a. 2009, Monika Tatzkow/Melissa Müller, Verlorene Bilder – verlorene Leben: Jüdische Sammler und was aus ihren Kunstwerken wurde, München 2009, Beat Schönenberger, Restitution von Kulturgut. Anspruchsgrundlagen – Restitutionshindernisse – Entwicklung, Bern 2009 und Stefan Koldehoff, Die Bilder sind unter uns. Das Geschäft mit der NS-Raubkunst, Frankfurt am Main 2009.

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2003 von Hockerts und Kuller herausgegebene Band einen weiten zeitlichen Bogen von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Jahr 2000 und beleuchtet neben der Restitution ab Ende der 1940er-Jahre die Entschädigung für NS -Zwangsarbeiter, aber auch katholische bzw. protestantische Initiativen zur Wiedergutmachung.74 Ähnlich breit angelegt ist schließlich der Band von Frei, Goschler und Brunner. Sie verstehen „Wiedergutmachung“ als „einen permanen­ten Lernprozess der daran beteiligten Gruppen und Gesellschaften“75, und so nehmen die Beiträge verschiedene Opfergruppen wie Sozialdemokraten, Kommunisten, Sinti und Roma und Homosexuelle in den Blick, aber auch die Sachbearbeiter in der Entschädigungsbürokratie. Neben den Sammelbänden mit einem breiten Fokus erschienen andererseits in jüngster Zeit zahlreiche Regional- und Lokalstudien, so etwa zur „Wiedergutmachung“ im Oberlandesgerichtsbezirk Hamm 76, in Schleswig-Holstein 77 und in Hagen, Münster und Bochum 78. Die Dissertation von Franjic zur „Wieder­ gutmachung“ in Baden untersucht insbesondere die Frühphase der westdeutschen Entschädigung unmittelbar nach dem Krieg und konzentriert sich dabei auf die KZ -Betreuungsstelle in Karlsruhe sowie die ersten Entschädigungs­ gesetze in Württemberg-Baden.79 Am Beispiel des Dezernats für Wiedergutmachung beim Regierungspräsidenten Münster hat Volmer-Naumann eine

74 Vgl. Hockerts/Kuller, Nach der Verfolgung. Für einen Blick über die bundesdeutschen Grenzen hinaus vgl. Claudia Moisel/Hans Günter Hockerts/Tobias Winstel (Hrsg.), Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945 – 2000, Göttingen 2006. 75 Frei/Brunner/Goschler, Komplizierte Lernprozesse, 23. 76 Vgl. Katharina van Bebber, Wiedergutgemacht? Die Entschädigung für Opfer der national­sozialistischen Verfolgung nach dem Bundesergänzungsgesetz durch die Entschädigungsgerichte im OLG-Bezirk Hamm, Berlin 2001. 77 Vgl. Heiko Scharffenberg, Sieg der Sparsamkeit. Die Wiedergutmachung nationalsozia­ listischen Unrechts in Schleswig-Holstein, Bielefeld 2004. 78 Vgl. Maik Wogersien, Die Rückerstattung von ungerechtfertigt entzogenen Vermögensgegenständen. Eine Quellenstudie zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts aufgrund des Gesetzes Nr. 59 der britischen Militärregierung, Diss. Univ. Münster, Münster 2000. 79 Vgl. Silvija Franjic, Die Wiedergutmachung für die Opfer des Nationalsozialismus in Baden 1945 – 1967. Von der moralischen Verpflichtung zur rechtlichen Pflichtübung, Europäische Hochschulschriften, Reihe III Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 1030, zugl. Diss. Universität Karlsruhe, Frankfurt am Main 2006.

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

Verwaltungsgeschichte der „Wiedergutmachung“ vorgelegt.80 Sie beleuchtet die Münsteraner Entschädigungsbehörde, stellt u. a. das dort beschäftigte Personal vor und wertet die Entschädigungsakten des Dezernats statistisch aus. Im vorliegenden Band befasst sie sich mit der Entschädigung in Nordrhein-Westfalen als Verwaltungsakt, während Marlene Klatt die Entschädigungspraxis in Arnsberg aus der Perspektive der Verfolgten untersucht und Susanna Schrafstetter zeigt, wie die unmittelbare Soforthilfe in Göttingen und Flensburg die spätere gesetzliche „Wiedergutmachung“ prägte. Impulse, die über die regionalen Erkenntnisse hinausreichen, gibt insbesondere die Arbeit von Winstel zur „Wiedergutmachung“ in Bayern. Er hat sich die „Tiefenerschließung von Entschädigung und Rückerstattung“81 zum Ziel gesetzt und konzentriert sich daher auf Bedingungen, Strukturen und Deutungen der Wiedergutmachung. Konkret stellt Winstel die organisatorischen Strukturen und den rechtlichen Rahmen vor, die Akteure der „Wiedergutmachung“ und die Wirkungs- und Erfahrungsgeschichte, also u. a. das Erleben der NS-Opfer und die öffentliche Meinung. Sein Fazit lautet, dass die „Wiedergutmachung“ kein „symmetrisches Zurückdrehen der Verfolgung“ war, sondern dass in ihr als „einer Art Gerichtsprozess […] über Schuld und Verantwortung, über Sühne und Ausgleich verhandelt“82 wurde. Jenseits von Ergebnissen wie diesen machen in der Zusammenschau die Lokal- und Regionalstudien zur „Wiedergutmachung“ vor allem eines deutlich: Die Praxis der „Wiedergutmachung“ unterschied sich vor Ort bisweilen erheblich. So hat Klatt mit Recht darauf hingewiesen, dass es bei der Entschädigung „trotz der engen gesetzlichen Vorgaben durchaus einen Handlungsspielraum für die Verwaltungsorgane der Wiedergutmachung gab“83. Wie auch bei der „Arisierung“ lohnt sich damit der Blick auf die lokale Ebene, um noch mehr zur Faktengeschichte von Rückerstattung und Entschädigung zu erfahren. „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ – beide Prozesse gleichzeitig nehmen bis dato nur wenige wissenschaftliche Arbeiten in den Blick, und das, obwohl Brucher-Lembach bereits 2004 betonte, „welches Potenzial an Erkenntnissen und Einsichten die zusammenhängende Betrachtung beider Themen 80 Vgl. Julia Volmer-Naumann, Bürokratische Bewältigung – Entschädigung für nationalsozialistisch Verfolgte im Regierungsbezirk Münster, Geschichtsort Villa ten Hompel, Schriften, Bd. 10, zugl. Diss. Univ. Münster, Essen 2012. 81 Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit, 13. 82 Ebd., 395. 83 Klatt, Unbequeme Vergangenheit, 443.

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in sich birgt“84. Brucher-Lembach selbst hat „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ für Freiburg untersucht. Daneben vereinen zwei 2002 und 2003 erschienene Sammelbände von Goschler, Lillteicher und Ther beide Aspekte 85 ebenso wie eine Arbeit zur finanziellen Ausplünderung in Rheinland-Pfalz.86

84 Andrea Brucher-Lembach, „… wie Hunde auf ein Stück Brot: Die Arisierung und der Versuch der Wiedergutmachung in Freiburg, Alltag und Provinz, Bd. 12, zugl. Diss. Universität Freiburg, Bremgarten 2004, 10. Erste Ansätze zur Betrachtung beider Prozesse gab es bereits in den 1990er-Jahren, vgl. die beiden Aufsätze Günter Könke, Das Budge-Palais. Entziehung jüdischer Vermögen und die Rückerstattung in Hamburg, in: Arno Herzig/Ina Lorenz (Hrsg.), Verdrängung und Vernichtung der Juden unter dem Nationalsozialismus, Hamburg 1992, 657 – 667, und Britta Bopf, Zur Arisierung und dem Versuch einer Wiedergutmachung in Köln, in: Horst Matzerath/Harald Buhlan/Barbara Becker-Jákel (Hrsg.), Versteckte Vergangenheit. Über den Umgang mit der NS-Zeit in Köln, Köln 1994, 163 – 194. 85 Vgl. Goschler/Lillteicher, „Arisierung“ und Restitution und Constantin Goschler/Philipp Ther, Eine entgrenzte Geschichte. Raub und Rückerstattung jüdischen Eigentums in Europa, in: dies. (Hrsg.), Raub und Restitution. „Arisierung“ und Rückerstattung des jüdischen Eigentums in Europa, Frankfurt am Main 2003, 9 – 25. Der Band von Goschler­ und Lillteicher versammelt Beiträge u. a. von Safrian zur Bedeutung des „Wiener Modells“ für die antijüdische Wirtschaftspolitik des Dritten Reiches sowie von Goschler zur Politik der Rückerstattung in Westdeutschland, vgl. Hans Safrian, Beschleunigung der Beraubung und Vertreibung. Zur Bedeutung des „Wiener Modells“ für die antijüdische Politik des „Dritten Reiches“ im Jahre 1938, in: Goschler/Lillteicher, „Arisierung“ und Restitution, 61 – 89 und Constantin Goschler, Die Politik der Rückerstattung in Westdeutschland, in: ders./Lillteicher, „Arisierung“ und Restitution, 99 – 125. Die Aufsatzsammlung von Goschler und Ther enthält u. a. einen Beitrag von Dean zum Raub des jüdischen Eigentums in Europa sowie einen Aufsatz von Feldman zur Restitution und Entschädigung, vgl. Martin Dean, Der Raub jüdischen Eigentums in Europa. Vergleichende Aspekte der nationalsozialistischen Methoden und der lokalen Reaktionen, in: Goschler/Ther, Raub und Restitution, 26 – 40, und Gerald D. Feldman, Der Holocaust und der Raub an den Juden. Eine Zwischenbilanz der Restitution und Entschädigung, in: Goschler/Ther, Raub und Restitution, 225 – 237. 86 Vgl. Rummel/Rath, „Dem Reich verfallen“. Auch einige Bände der umfangreichen Darstellung der österreichischen Historikerkommission zu „Arisierung“ und Restitution in Österreich nehmen beide Vorgänge in den Blick, so etwa die Studien zu Salzburg, Oberösterreich und zum Burgenland, vgl. Albert Lichtblau, Arisierungen“, beschlagnahmte Vermögen, Rückstellungen und Entschädigungen: Salzburg, Veröffentlichungen der Öster­reichischen Historikerkommission, Bd. 17/2, Wien/München 2004, Daniela Ellmauer/Michael John/Regina Thumser, „Arisierungen“, beschlagnahmte Vermögen,

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

In jüngster Zeit untersuchte Damskis sowohl die Verdrängung jüdischer Ärzte im Dritten Reich als auch ihre Entschädigung in der Nachkriegszeit 87, und auch Klatt und Nietzel überschreiten mit ihren Darstellungen zu „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ in Westfalen bzw. zu jüdischen Unternehmern aus Frankfurt am Main die Epochenzäsur 1945.88 Daneben untersucht die breit angelegte Studie von Christiane Fritsche zu „Arisierung“ und „Wiedergut­ machung“ in Mannheim beide Prozesse. Schließlich ist, wie sie hervorhebt, die gemeinsame Betrachtung von „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ schon allein aufgrund der Aktenlage höchst sinnvoll. Denn oft ist das Material aus dem Dritten Reich selbst nicht mehr vorhanden, weil es bei Bombenangriffen verbrannte oder bei Kriegsende vernichtet wurde. Die „Arisierung“ ist daher oft nur über die Entschädigungsakten zu rekonstruieren, diese werden also zur wichtigen Ersatzüberlieferung. Daneben geben, so Fritsche weiter, die Quellen aus dem Dritten Reich zur „Arisierung“ von Betrieben und Grundstücken oft nur Auskunft über die Rahmendaten, also über das „arisierte“ Objekt, den Kaufpreis und die Namen von arischem Käufer und von jüdischem Verkäufer. Die Hintergründe der „Arisierung“, Details zum „arisierten“ Betrieb oder Grundstück sowie zum Verhalten des „arischen“ Käufers – all dies erschließt sich aus den Akten der 1930er-Jahre selten, ja mehr noch: Das Material aus dem Dritten Reich erzählt oft nur einen Teil der Geschichte, wie etwa im Fall der Mannheimer Putzgroßhandlung von Hugo Zimmern. Den „Arisierungsakten“ des badischen Finanz- und Wirtschaftministeriums ist nämlich nur zu entnehmen, dass Zimmern seinen Betrieb 1938 seiner arischen Frau Angela übertrug.89 Erst aus den Rückerstattungs- und Entschädigungsakten geht Rückstellungen und Entschädigungen in Oberösterreich, Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission, Bd. 17/1, Wien/München 2004, und Gerhard Baumgartner/­Anton Fennes/Harald Greifeneder u. a. (Hrsg.), „Arisierungen“, beschlagnahmte Vermögen, Rückstellungen und Entschädigungen im Burgenland, Veröffent­ lichungen der Österreichischen Historikerkommission, Bd. 17/3, Wien/München 2004. 87 Vgl. Damskis, Zerrissene Biografien. 88 Und auch die Zäsur von 1933, denn beide setzen weit vor der Machtergreifung, in den 1920er-Jahren, an, vgl. Klatt, Unbequeme Vergangenheit und Benno Nietzel, Handeln und Überleben: Jüdische Unternehmer aus Frankfurt am Main 1924 – 1964, Kritische Studien Zur Geschichtswissenschaft, Bd. 204, Göttingen 2012. 89 Vgl. Öffentliche Urkunde über Ehe- und Schenkungsvertrag erklärt von Hugo Zimmern­ Eheleuten in Mannheim, 6.8.1938, begl. Abschrift in: GLA Ka, Abt. 237, Zugang 19/1967, Nr. 2063.

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hervor, dass auch danach der Druck auf das eigentlich ja „arisierte“ Geschäft anhielt und dass Angela Zimmern deshalb 1941 gezwungen war, den Betrieb an Heinrich Weyers zu verkaufen.90 Neben der Quellenlage spricht ein zweiter Aspekt dafür, „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ gemeinsam zu untersuchen. Denn oft wird die „Wieder­ gutmachung“ nach dem Krieg nur vor dem Hintergrund der „Arisierung“ verständlich, wie im Fall einer Mannheimer Röhrengroßhandlung, die Lina-­ Mareike Dedert in ihrem Beitrag zu dem vorliegenden Band vorstellt. Nach 1945 einigte man sich auf eine Beteiligung der jüdischen Vorbesitzer an der Firma – eines der wenigen Beispiele für eine einvernehmliche, in einer gemeinsamen Geschäftsbeziehung mündende „Wiedergutmachung“. Daneben erschließen sich die menschlichen Tragödien der jüdischen Opfer kaum, wenn man nur die nüchternen Formulare der „Wiedergutmachungsbürokratie“ liest. Schließlich hatten die meisten Überlebenden Freunde und Verwandte in den Vernichtungslagern verloren; auch waren ihre finanziellen Verhältnisse in der Emigration prekär, und entsprechend dringend waren sie auf „Wiedergut­ machungszahlungen“ angewiesen. Nur wer diesen Hintergrund kennt, wird die Ungeduld und die bisweilen maßlose Enttäuschung der jüdischen Überlebenden über Rückerstattung und Entschädigung nachvollziehen können. So wie sich die „Arisierung“ erst über die „Wiedergutmachung“ erschließt, gilt dies also auch umgekehrt, und die „Wiedergutmachung“ erschließt sich vollends nur über die „Arisierung“. Mit einem Wort: „Arisierung“ und „Wieder­ gutmachung“ sind zwei Puzzleteile, die zusammengehören, und erst wenn beide zusammengesetzt werden, wird das ganze Bild erkennbar.

III. Sichtbarkeit und Handlungskompetenz In den Beiträgen dieses Sammelbandes zum Geschehen vor Ort, zur kommunalen Ebene und dem Handeln der beteiligten Akteure treten zwei gemeinsame, miteinander verbundene Themen hervor: erstens die Frage von Sichtbarkeit 90 Vgl. Karl Komes, DAF/Kreiswaltung Mannheim, an Firma Angela Zimmern, 24.3.1941, und Kaufvertrag zwischen Frau Angela Zimmern und der in der Gründung begriffenen, noch nicht handelsgerichtlich eingetragenen Firma Damenputz Heinrich Weyers K. G. in Mannheim, 27.5.1941, beide in: GLA Ka, 276 – 1, Nr. 21977 bzw. in: GLA Ka, 480, EK 4925, Nr. 1.

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

und Unsichtbarkeit jener Vorgänge, die hier als „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ bezeichnet werden. Wie gut wahrnehmbar das Wirtschaften von deutschen Juden war oder wie sichtbar es wann gemacht wurde, entschied mit darüber, welchen Handlungsspielraum die Verfolgten jeweils besaßen. Die Handlungskompetenz, das die Beiträge verbindende zweite Thema, war auch auf der Seite der Institutionen und Personen, welche die Verdrängung der Juden und die Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenz betrieben, mit davon bestimmt, wie sichtbar die Vorgänge abliefen, was öffentlich und was privat gewusst oder diskutiert wurde. Der Zusammenhang zwischen Handlungsmöglichkeiten und (Un-)Sichtbarkeit war auch im Rahmen der „Wieder­gutmachung“ relevant, sowohl in den bürokratischen Verfahren in den Amtsstuben als auch bei der Verschleierung von Vorkriegskarrieren und beim Verschwinden von geraubten Gegenständen. Der wissenschaftliche Blick auf die Handlungskompetenz sowohl der Täter als auch der Verfolgten lässt besser verstehen, warum sich die Akteure vor Ort, wo man sich meist gut kannte, wie verhielten. Vor allem gesteht er denjenigen, die bedrängt und ausgeraubt wurden und deren Existenz vernichtet wurde, prinzipiell ein gewisses Maß an Handlungskompetenz zu. Anpassungsstrategien, wirtschaftliches Kalkül und Erwartungshaltungen in den 1930er-Jahren und in der Nachkriegszeit können so als handlungsleitende Faktoren erkannt werden. Gerade in den Jahren zwischen 1933 und 1937/38 verlief die Verdrängung wenig koordiniert, sprunghaft und gelegentlich widersprüchlich. Chancen und neue Möglichkeiten taten sich immer wieder auf. Diese Einsichten sollten jedoch nicht vergessen lassen, dass die Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben von Anfang an intendiert war und der Rahmen reichsweit ebenso wie vor Ort immer enger wurde. Von Handlungsfreiheit konnte daher schon 1933 keine Rede mehr sein. Christoph Kreutzmüller behandelt die Vernichtung der jüdischen Gewerbe­ tätigkeit in Berlin. Schon indem er den Begriff „Arisierung“ vermeidet, bemüht er sich, den Blickwinkel derjenigen einzunehmen, deren wirtschaftliche Existenz seit dem sogenannten Boykott am 1. April 1933 bedroht war. So stehen nicht die Täter, die den Handelsboykott initiierten oder befolgten, im Vordergrund, sondern die unternehmerischen Behauptungsversuche der bedrängten, als jüdisch gekennzeichneten Betriebe. Eine Möglichkeit, die Einbußen möglichst gering zu halten, war die Verlagerung von Geschäften in Unternehmen, die als nichtjüdisch bekannt waren. Häufig nahmen Juden auch Nichtjuden, insbesondere Ehepartner, als Gesellschafter auf. Eine Anpassung der Dienstleistungen und Produkte konnte ebenfalls die Existenz schützen, vor allem wenn

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im Rahmen von Exportbeziehungen vom Regime dringend benötigte Devisen erwirtschaftet wurden. Insgesamt gewährte die Großstadt einen größeren Handlungsspielraum als etwa Klein- und Mittelstädte. Vor allem in Berlin war die im Gewerbebereich geforderte Trennung nach rassistischen Trennlinien schwerer zu kontrollieren und gleichzeitig war die Zahl der jüdischen Kunden groß. Während an vielen Orten die jüdische Gewerbetätigkeit bis 1937 stark zurückgedrängt wurde, nahm sie in Berlin kaum ab. Grundsätzlich spielte in Berlin die „Arisierung“ im engeren Sinne eines Transfers von Betrieben in „arische“ Eigentümerschaft nur bis 1938 eine größere, wenngleich eine keinesfalls dominierende Rolle, betraf sie doch nur etwa ein Drittel der jüdischen Unternehmen. Für die Vernichtung des Wirtschaftssegments kennzeichnend war vielmehr, dass 1939 über 90 Prozent aller jüdischen Gewerbe nicht von „Ariern“ übernommen, sondern liquidiert wurden. Die Übergabe in „arische“ Hände war dabei im Übrigen in hohem Maße von Korruption unter Parteigenossen geprägt. Die wirtschaftlichen Behauptungsstrategien jüdischer Gewerbetreibender in Berlin fußten teilweise darauf, das Jüdische im Sinne der rassistischen Kategorien unsichtbar zu machen. Benno Nietzel zeigt anhand von Unternehmen aus Frankfurt am Main, dass dies keine Begleiterscheinung war, sondern eine strategische Gegenwehr, denn die Judenverfolgung beruhte konstitutiv auf der öffentlichen Konstruktion von „jüdischen Unternehmen“ durch die National­ sozialisten und ihrer Sichtbarmachung. Tatsächlich fiel es der NS-Politik schwer, ihren Rassenantisemitismus in praktisch handhabbare Verordnungen umzusetzen. Es gab keinen „jüdischen Wirtschaftssektor“, mochte er in der Propaganda auch noch so präsent erscheinen. Regierung und Behörden überließen damit zunächst den lokalen und regionalen antisemitischen Akteuren das Feld. Wie auch anderswo erstellten in Frankfurt daher zunächst untere Parteifunktionäre Listen von Geschäften, die sie für jüdisch hielten, Stadtbeamte kündigten Liefer­ verträge, Bediensteten wurde verboten, in jüdischen Geschäften einzukaufen. Doch es gab keine amtliche Bestimmung des Begriffs „jüdisches Unternehmen“. Dies war auch kaum möglich, schließlich waren schon die Inhaber im rassis­ tischen Sinne nicht immer eindeutig identifizierbar. Umso schwieriger war die Einordnung, wenn mehrere Personen an einer Firma beteiligt waren. Denn bei Kapitalgesellschaften konnte der Personenkreis sehr groß und nicht jedem bekannt sein, und so blieb die Definition, ab wie vielen jüdischen Teilhabern ein Unternehmen als jüdisch gelten sollte, immer zu einem gewisse Grade willkürlich. Bis 1937 waren eine Vielzahl von einzelnen Akteuren, Organisationen,

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

Stellen und die NS -Presse mit der Etikettierung „jüdischer Unternehmen“ beschäftigt, ohne dass einheitliche Kriterien festgelegt worden wären. Eine Schlüsselrolle spielte in Frankfurt die Industrie- und Handelskammer: In ihrer Firmenkartei wurden, so beschreibt Nietzel, von 1933 an rote Vermerke an den Karten der jüdischen Betriebe angebracht und waren damit beim Blättern sofort erkennbar. Die Erfassung von Unternehmen als jüdisch war somit eine gesellschaftliche Praxis und zunächst kein rein amtlicher Akt. Vorangetrieben wurde die Stigmatisierung von lokalen antisemitischen Aktivisten durch öffentliche Gewalt- und Boykottaktionen, zumal der Magistrat hinsichtlich der Verdrängung von jüdischen Gewerbetätigen lange relativ zurückhaltend auftrat. Mit einer rigiden Verdrängungspolitik hätte sich die Kommune ökonomisch selbst geschadet, machten jüdische Betriebe doch rund ein Drittel der im Handelsregister eingetragenen Betriebe aus. Die lokalen NS-Aktivisten gingen daher auch zu einer umgekehrten Kennzeichnung über, indem sie Schilder mit der Aufschrift „Deutsches Geschäft“ verteilten. Die Boykottaktionen richteten sich vor allem gegen Einzelhandelsgeschäfte in der Innenstadt, weniger auf Großhandels- und Industriebetriebe, die sich in den Randbezirken gleichsam im Schatten befanden. Die Gewalt im Rahmen des Novemberpogroms diente dann ein letztes Mal dazu, „jüdische Geschäfte“ sichtbar zu machen, und verschmolz dann endgültig mit ihrem Verschwindenlassen. In österreichischen Städten war der Handlungsspielraum der jüdischen Unternehmen deutlich geringer, weil nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich in einer Phase „wilder Arisierung“ sehr rasch und unkoordiniert Vermögen entzogen und neu verteilt wurde. Gerald Lamprecht zeigt in seinem Beitrag am Beispiel von Graz und der Steiermark, dass das sogenannte Kommissarsystem, also die unkontrollierte „kommissarische“ Geschäftsübernahme durch „Volksgenossen“ und Parteigänger, der willkürlichen Bereicherung durch österreichische Nationalsozialisten und skrupellose Profiteure Tür und Tor öffnete. Diesen Vorgang suchte die NS-Regierung aus zwei Gründen durch örtliche Kaufmannschaften und Gauwirtschaftsämter zu kontrollieren. Zum einen sollten ehemals verfolgte Parteigänger „entschädigt“ werden. Zum anderen strebte man wirtschaftspolitisch eine Strukturbereinigung an, sodass Kleinbetriebe massenhaft liquidiert und nicht an „arische“ Besitzer transferiert wurden. Die Einrichtung einer sogenannten Vermögensverkehrsstelle erfolgte allerdings erst, nachdem die „kommissarischen Verwalter“ der Betriebe schon monatelang unkontrolliert tätig gewesen waren. Auch in den österreichischen Städten gewann die „Arisierung“ ihre Dynamik also aus der gesellschaftlichen

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Praxis; wegen des brutalen Vorgehens vor Ort, und weil ihnen viel weniger Zeit als den Juden im „Altreich“ blieb, hatten die Opfer jedoch deutlich geringere Handlungsspielräume. Die Besonderheiten in Österreich hebt Berthold Unfried in seinem Beitrag hervor, nämlich erstens den Zeitpunkt, d. h. die Umsturzsituation während des „Anschlusses“, die mit einer Radikalisierung der „Arisierungspolitik“ zusammenfiel und die Gewalttätigkeit anschwellen ließ, und zweitens die „Arisierung“ als „Wiedergutmachung“ für in Österreich vor 1938 verfolgte Nationalsozialisten. Die Übertragung jüdischer Unternehmen an NS-Parteigänger ohne entsprechende berufliche Qualifikation schädigte allerdings die Betriebe. Sie lief damit einem dritten Aspekt, der für Österreich maßgeblich war, zuwider: der Reaktion auf den ökonomischen Anpassungsdruck, der aus der mangelnden Konkurrenzfähigkeit vieler österreichischer Sektoren mit der reichsdeutschen Wirtschaft resultierte. Orientiert man sich bei der Untersuchung der „Arisierung“ an der Strukturanpassung und Rationalisierung, verwundert es nicht, dass viele jüdische Unternehmen schließlich liquidiert und nicht an neue Eigentümer verkauft wurden. Auch die „einvernehmlichen Arisierungen“ zwischen jüdischen und „arischen“ Besitzern gewinnen aus dieser Perspektive betrachtet eine andere Bedeutung, können sie doch als eine gemeinsam verfolgte Strategie interpretiert werden, um so eine Liquidierung zu verhindern. Hier eröffnete sich ein gewisser Handlungsspielraum auch für jüdische Unternehmer, so gering dieser auch gewesen sein mag. Dabei hatten insbesondere international verflochtene Geschäfte und solche, bei denen Exportinteressen berührt wurden, mehr Möglichkeiten, dies gilt vor allem für mittlere und größere Unternehmen, deren Besitzer bereits emigriert waren. Wurde ein Betrieb in „arische“ Hände überführt, so war die Übernahme für den „Ariseur“ häufig mit Wirtschaftsprüfung und Rationalisierungsauflagen verbunden. Staatliche Stellen nutzten die „Arisierung“ für die stärkere Lenkung der Wirtschaft. Unfried betont, dass bei der „Arisierung“ die Aspekte der Wirtschaftsbereinigung und der Eingliederung der österreichischen in die reichsdeutsche Wirtschaft bald vor den spektakulären und deutlich sichtbaren Raubzug von Parteileuten traten. Vor Ort wurde die Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben auch von den Stadtverwaltungen, den Finanzbehörden und anderen öffentlichen Einrichtungen getragen. Christiane Fritsches Beitrag zeigt am Beispiel Mannheim, dass die Kommunen durchgängig an der Vernichtung der wirtschaft­ lichen Existenz von Juden und an ihrer Ausraubung beteiligt waren. Sie stellten

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

Strukturen bereit und wirkten, wie im Falle Mannheims, oft in verschärfender Weise. So vergab die Mannheimer Stadtverwaltung seit März 1933 keine Aufträge mehr an Unternehmen, die als jüdisch galten, legte dabei möglichst harte Kriterien an und ignorierte die weicheren Bestimmungen der im Juli 1933 nachgelieferten Richtlinien der Reichsregierung. Daneben profitierte die Stadt Mannheim direkt von den erzwungenen Grundstücksverkäufen. Die „Arisierung“ von Grundstücken fand zu zwei Dritteln erst nach der Reichs­ pogromnacht statt. In Mannheim wurden allein im Dezember 1938 insgesamt 70 Grundstücke verkauft, also mehr als zwei pro Tag. Dass die Preise unter diesen Umständen fielen und die Zwangslage der jüdischen Verkäufer für alle Interessierten offenkundig war, muss nicht eigens betont werden. Der größte Profiteur war indes die rücksichtslos auftretende Kommune, die in mehr als 12 Prozent der insgesamt für Mannheim registrierten Grundstücksübertragungen aus jüdischem Besitz als „Ariseur“ auftrat und auch symbolträchtige Orte wie den alten jüdischen Friedhof erwarb. Nachdem die Toten überführt und die Grabsteine zertrümmert worden waren, erstreckte sich dort, wo über Jahrhunderte hinweg der jüdische Friedhof gewesen war, bis weit in die Nachkriegszeit hinein und mitten in der Innenstadt eine öde Fläche, die indirekt an die Vernichtung jüdischen Lebens erinnerte – ohne Gedenkstein, aber für jeden sichtbar. Vor aller Augen und unter Beteiligung städtischer Einrichtungen vollzog sich auch die zwangsweise Abgabe von Schmuck und Wertgegenständen im Frühjahr 1939 bei den kommunalen Pfandleihanstalten – in Berlin und Frankfurt am Main mussten wegen des „Ansturms“ gar Polizeikräfte für Ruhe und Ordnung sorgen. Vertreter der Stadt waren in Mannheim schließlich auch an der Verwertungsstelle für Volksfeindliches Vermögen beteiligt, die ab 1942 zurückgebliebenes Umzugsgut emigrierter Juden „verwertete“. Mannheimer, die dort Möbel und Haushaltsgegenstände erwarben, müssen gewusst haben, um wessen Besitz es sich hier handelte. Auch die endgültige Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz vollzog sich also nicht im Verborgenen, sondern vor den Augen und unter Beteiligung der städtischen Gesellschaft. In den bürokratischen Vorgang, der zur Vernichtung der jüdischen Existenz führte, waren zahlreiche Beamte, Angestellte und Privatpersonen eingebunden. Kurt Schilde veranschaulicht den letzten Akt der Ausraubung am Beispiel der Familie Fenichel, die 1942 aus Berlin deportiert wurde. Im Spiegel der Finanzamtsakten wird erkennbar, wer an der „Verwertung“ ihrer Hinterlassenschaften mitwirkte: die Beamten der Vermögenverwaltungsstelle des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg, Beamte der Staatspolizeileitstelle,

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der Obergerichtsvollzieher in Neukölln, Bürokräfte und Stromableser der Berliner Kraft- und Licht (Bewag)-Aktiengesellschaft, Gewerbetreibende wie etwa Kohlehändler, Möbelhändler und Schlosser, das Hauptwirtschaftsamt der Stadt Berlin, die Deutsche Bank, Beamte des Finanzamts Tempelhof, ein Kammerjäger. Die bürokratische Logik funktionierte reibungslos, doch lagen die Einnahmen, die der Staat bei der „Verwertung“ der bei der Deportation zurückgebliebenen Habe der Familie verbuchte, um fast 2.000  RM unter den Ausgaben, die für die Durchführung anfielen. Bei der „Verwertung“ der Habseligkeiten der Fenichels zeigte sich die gute Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Stellen: Viele wussten, was passierte, und waren am letzten Akt der wirtschaftlichen Vernichtung beteiligt. Vorgänge wie diese verschwanden nach 1945 zunächst in den Akten, bis sie erst vor gut einem Jahrzehnt von Historikern entdeckt wurden. Viele Beteiligte setzten in der Nachkriegszeit alles daran, ihr Mitwirken an der „Arisierung“ unsichtbar zu machen. Einen besonders „erfolgreichen“ Fall hat Jürgen Klöckler aufgedeckt. Bruno Helmle (1911 – 1996) war ein standes­bewusster Vertreter des höheren Verwaltungsbeamtentums im deutschen Südwesten: bei Kriegsende stellvertretender und dann hauptamtlicher Leiter des Finanzamts in Konstanz sowie kurzzeitig nebenamtlicher Bürgermeister von Meersburg; von 1957 bis 1980 Oberbürgermeister von Konstanz, weithin geachtet und u. a. Mitbegründer der dortigen Universität. Helmle erhielt selbstverständlich die Ehrenbürgerwürde der Bodenseestadt. Doch 2012 löste ein archivalischer Zufallsfund eine breite Debatte über Helmle aus: Jürgen Klöckler entdeckte ein Schreiben des Finanzbeamten Helmle, der im Februar 1945 der Stadtverwaltung Konstanz den jüdischen Friedhof zum Kauf angeboten hatte. Intensive Recherchen brachten in der Folge Helmles Beteiligung an der finanziellen Ausraubung der deutschen Juden ans Licht. So war er in seiner Zeit in Mannheim in einer Doppelfunktion als Beamter des dortigen Finanzamts und der Mannheimer Feststellungsbehörde für Fliegerschäden in der Verwertungsstelle für Volksfeindliches Vermögen (VVV) vertreten, die das Umzugsgut von emigrierten Juden „verwertete“. Obwohl Mitglieder der VVV eigentlich keine Güter aus jüdischem Besitz erwerben durften, deckte sich Helmle reichlich mit Gegenständen ein; unter dem Strich bezahlte er dafür eine Summe, die über seinem damaligen Jahresgehalt lag. All dies geht aus seiner staatlichen Personal­akte nicht hervor, denn diese ist, obwohl die Kassation von Personalakten höherer Verwaltungsbeamter grundsätzlich unterbleibt, nur noch als „Restakte“ mit lediglich zwei Schriftstücken überliefert. Offenbar wurde die Akte nach 1959

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

ausgedünnt, von wem, ist ungeklärt. Jemand wollte also das öffentliche Leben des Finanzbeamten Helmle in der NS -Zeit unsichtbar machen. Der spätere Oberbürgermeister selbst versteckte in seiner 1979 publizierten Autobiografie seine Tätigkeit beim Finanzamt Mannheim und unterschlug die Arbeit beim Finanzamt Konstanz in der Zeit vor dem 1. Mai 1945 vollständig. Vor diesem Hintergrund distanzierte sich der Gemeinderat Konstanz 2012 mehrheitlich von der Ernennung Helmles zum Ehrenbürger, der Senat der Universität Konstanz entzog deren Mitbegründer einstimmig die Würde des Ehrensenators. Zu den Wertgegenständen, die Juden im Dritten Reich unter Druck und Zwang abgeben mussten, gehörten auch Kunstwerke. Timo Saalmann erläutert, wie zahlreiche kulturhistorische Objekte in die Sammlungen der Stadt Bamberg gelangten und dass man sich heute erst bemüht, ihre Herkunft wieder erkennbar zu machen. Beim Raub der Kulturgüter arbeiteten städtische Museums­mitarbeiter, lokale Kunsthändler und kommunale Stellen der Bamberger Wirtschafts- und Finanzverwaltung eng zusammen. So wurde der Bestand der städtischen Sammlungen seit den frühen 1930er-Jahren wesentlich durch den Aufkauf von Hausrat und Kunstsammlungen aus dem Besitz deutscher Juden erweitert. Dabei lagen die Kaufpreise deutlich unter dem Marktwert. Saalmann zeigt am Beispiel der beiden Sammlungen der Bankiersfamilie Wassermann und des Hopfenhändlers Max Federlein, dass die Stadtverwaltung nach 1945 in den Fragebögen der amerikanischen Militärregierung über Kunstgegenstände ihren Ankauf zunächst nicht als verfolgungsbedingten Entzug angab. Die Rückerstattung musste im Falle von Max Federlein zwischen 1947 und 1953 erst erstritten werden. Bemerkenswert ist, dass bei der schließlich erfolgten gütlichen Regelung zwischen Stadt und Erben die in den 1930er-Jahren erfolgte Zahlung der Kommune an Federlein als „Wiedergutmachung“ und nicht als Kaufpreis deklariert wurde, und so innerstädtisch die Fiktion aufrechterhalten werden konnte, die Übergabe der Sammlung sei eine Schenkung von Federlein an die „Heimatstadt“ gewesen. Dass der Vorgang in Wirklichkeit Kunstraub gewesen war, an dem sich lokale Behörden beteiligt hatten, wurde so verschleiert. Die geringen Handlungsmöglichkeiten, die jüdischen Kunstbesitzern im Dritten Reich geblieben waren und die sie dennoch auszuschöpfen s­ uchten, verdeutlicht Monika Tatzkow in ihrem Beitrag über Adolf Bensingers Kunstsammlung. Der aus Mannheim stammende Kommerzienrat Bensinger hatte über Jahrzehnte hinweg freigiebig Ausstellungen durch Leihgaben der Werke von Liebermann, Menzel, Kaulbach, Daumier, Renoir, van Gogh und anderen

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unterstützt, und so war seine Sammlung in Museumskreisen weit über Mannheim hinaus bekannt. Der Direktor der Kunsthalle Karlsruhe, Kurt Martin, versuchte 1939, Teile der Sammlung möglichst unentgeltlich für sein Haus zu erhalten. So forderte er nach Bensingers Tod im Juni 1939 die Erben auf, ihm mehrere Gemälde auszuhändigen. Doch Adolf Bensinger hatte im März 1939 in einem neu gefassten Testament seine jüdischen Neffen und Nichten „enterbt“ und stattdessen ausschließlich Verwandte als Erben eingesetzt, die „Mischlinge I. Grades“ waren. Auf diesem Weg hoffte er, seine Sammlung ­retten zu können. Doch das System der finanziellen Ausraubung funktionierte effektiv: Als die Villa Bensinger im Februar 1940 für ein Kommando der Wehrmacht beschlagnahmt wurde, waren die Erben gezwungen, die Bilder innerhalb kürzester Zeit zu verkaufen. Das Kunst- und Auktionshaus Fritz Nagel versteigerte den Nachlass von „Kommerzienrat Adolf Israel Bensinger“ in dessen Wohnhaus selbst. Alle damaligen Käufer wussten also, um wessen Besitz es sich hier handelte. Auch hatte sich die Versteigerung in Kunsthändlerkreisen bis in die Schweiz herumgesprochen. Die „halbjüdischen“ Erben kauften nun einige der ihnen laut Testament ohnehin zustehenden Bilder. Sie verloren sie jedoch ein zweites Mal, als sie emigrierten. Die Bilder verschwanden nach der öffentlichen Versteigerung 1940 für Jahrzehnte aus der Öffentlichkeit. Inzwischen sind einige wieder aufgetaucht, in einem Fall konnten die Erben mit dem damaligen Besitzer eine auf den Washingtoner Prinzipien basierende einvernehmliche Lösung finden. Es ist allerdings kaum anzunehmen, dass trotz aller gegenwärtigen Bemühungen alle übrigen Werke jemals wieder für die Öffentlichkeit sichtbar werden. Der Spielraum innerhalb der wirtschaftlichen Verdrängung und der finanziellen Ausplünderung, den Adolf Bensinger 1939 vergeblich zu nutzen versuchte, war in anderen Bereichen größer, wie Lina-Mareike Dedert in ihrem Beitrag zur Röhrengrosshandlung Leopold Weill zeigt. Die Mannheimer Firma prosperierte nach 1933 – und das, obwohl die Inhaber Juden waren. Ausschlaggebend dafür war erstens die im Vergleich zu innerstädtischen Einzelhändlern wenig exponierte Lage der Firma im Industriehafen, wo es keine öffentlichen Boykottaktionen gab. Zweitens erlebte die Branche nach der „Machtergreifung“ einen Aufschwung, und so verbuchte die Firma nach 1933 ein Umsatzplus und wachsende Gewinne. Bis 1937 investierten die Inhaber gar in neue Maschinen und Gebäude. Und drittens besaß der Betrieb einen wirtschaftspolitisch für das Regime wichtigen Kunden- und Lieferantenstamm, zu dem Mannesmann und die Vereinigten Stahlwerke zählten. Weill konnte

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

aufgrund guter Kontakte in die Führungsebene dieser Unternehmen und mittels Sonderkonditionen manche Röhren exklusiv anbieten, war also teilweise Monopolanbieter. Die Lage verschlechterte sich erst zur Jahreswende 1937/38, denn nun litt die Firma Weill unter der Kürzung von Kontingenten. Als konkurrierende Röhrenhändler teilweise über örtliche NSDAP-Stellen Druck auf die Besitzer auszuüben versuchten, erkannten Leopold Weill und sein Neffe Alfred Sonder, dass sie selbst einen Käufer suchen mussten, um unter den immer schlechter werdenden Umständen möglichst gute Konditio­nen zu erzielen. Sie wurden schließlich mit der Gutehoffnungshütte Oberhausen handelseinig, zu der auch die Franz Haniel & Cie. GmbH gehörte. Im März 1938 wurden die „arische“ Firma Röhrenlager Mannheim AG gegründet und die Leopold Weill OHG liquidiert. Auf diese Weise wurden die jüdischen Vorbesitzer unkenntlich gemacht. Den Schleier ließ das amerikanische Militärgesetz zur Rückerstattung allerdings nicht gelten, obwohl die neuen Besitzer mit der Neugründung zu argumentierten versuchten. Nach 1945 einigte sich Alfred Sonder mit den „Ariseuren“ vor dem Schlichter für Wiedergut­ machungsangelegenheiten auf ein einvernehmliches, wirtschaftlich für beide Seiten profitables Ergebnis. Leopold Weills Erben wurden entschädigt, und Alfred Sonder erhielt ein Drittel des Betriebs sowie zwei Sitze im Aufsichtsrat. Wenn, was selten genug der Fall war, die verdrängten jüdischen Vorbesitzer überlebt hatten und zudem wie Sonder in der Emigration erfolgreich ein neues Unternehmen aufgebaut hatten, konnte „Wiedergutmachung“ also auch ein Geschäft unter Kaufleuten sein. Der gesetzlich geregelten Rückerstattung ging unmittelbar nach Kriegsende die elementare Soforthilfe voraus, die Susanna Schrafstetter in ihrem Beitrag darstellt. Dabei waren die deutschen Kommunen dafür zuständig, die überwiegend deutschen Displaced Persons medizinisch zu versorgen und für sie Nahrung, Kleidung und Unterkunft zu organisieren. Damit wurden auch deutsche Juden an die Behörden verwiesen, von denen sie kurz zuvor noch verfolgt worden waren. In einer ersten Phase gab es keinerlei Regelung durch die Besatzungsbehörde, und die Unterstützung fiel ganz unterschiedlich aus. Sie war von einer fortlaufenden Stigmatisierung der Verfolgten geprägt, so wurde etwa in Flensburg sprachlich und, was den Umfang der Unterstützung anging, zwischen politischen, kriminellen und asozialen ehemaligen KZ-Häftlingen unterschieden. Die Hilfskomitees der Verfolgten, die die Zusammenarbeit mit den Kommunen organisierten, verfestigten oft selbst diese diskriminierenden Unterscheidungen. Die Hilfsbereitschaft der Deutschen war ganz

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unterschiedlich ausgeprägt. In Göttingen etwa scheiterte der Vorschlag, Kleider und Geld für die Verfolgten zu sammeln, an der Stadtverwaltung, während in Flensburg eine entsprechende Initiative erfolgreich war. Auch fielen in Göttingen die Soforthilfen deutlich bescheidener aus, wurden allerdings unterschiedslos an alle Gruppen geleistet. Erst im Dezember 1945 erließ die britische Besatzungsmacht einheitliche Bestimmungen: Die Zonal Policy Instruction No. 20 gewährte besondere Vergünstigungen für alle Deutschen, die aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen waren. Damit wurde Juden generell Unterstützung gewährt, andere ehemalige Lagerinsassen wurden jedoch per Verordnung von Hilfsleistungen ausgeschlossen: kriminelle Häftlinge und meuternde Wehrmachtsangehörige ausdrücklich sowie indirekt auch Homosexuelle, Zwangssterilisierte und „Häftlinge mit schlechtem Charakter“, die im Dritten Reich als „asozial“ verfolgt worden waren. Die vereinheitlichenden, in- und exkludierenden Bestimmungen zur Soforthilfe durch die Besatzungsbehörde stellten damit die Weichen für die Entschädigungsgesetzgebung in den Ländern der britischen Zone, die ab 1947 ähnliche Unterschiede machte. Die der Soforthilfe ab 1947 folgende Phase der gesetzlich geregelten Entschädigung beleuchtet der Beitrag von Julia Volmer-Naumann. Er konzentriert sich auf nordrhein-westfälische Kommunen und insbesondere den Regierungs­bezirk Münster und zeigt, dass die Praxis trotz der hohen ausbezahlten Entschädigungssummen zwiespältig beurteilt werden muss. „Wiedergutmachung“ war ein bürokratischer Vorgang mit allen entsprechenden Vor- und Nachteilen. So konnte es nicht um Aufarbeitung oder um individuelle Betreuung gehen, denn für das Verwaltungshandeln waren normierende gesetzliche Vorgaben und finanzielle Restriktionen maßgeblich. Die Entschädigungsämter waren zwar Sonderbehörden, mussten aber übliche Verwaltungsbestimmungen einhalten, etwa hinsichtlich der Nachweisbarkeit von Aussagen, die die Überlebenden zu ihrem Verfolgungsschicksal machten. Nachteilig wirkte sich vor allem aus, dass das Personal in der „Wiedergutmachungsbürokratie“ weder behördenintern noch öffentlich Anerkennung erntete und dass man anfangs davon ausging, die Entschädigung sei bald schon abgeschlossen. Daher war eine Tätigkeit in den Entschädigungsämtern für qualifizierte Kräfte nicht besonders attraktiv. Bürokratische Verfahren, begrenzte Mittel und einschränkende Vorgaben, die gewaltige Zahl der Fälle sowie die mangelhafte personelle Ausstattung führten dazu, dass sich die einzelnen Verfahren oft über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte hinzogen.

„Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort

Die bürokratischen Praktiken und die Reaktionen der Verfolgten im Regierungsbezirk Arnsberg stehen schließlich im Zentrum von Marlene Klatts Beitrag. Sie arbeitet vor allem die Unterschiede in der „Wiedergutmachungspraxis“ heraus und zeigt, wie verschieden die Kommunen den Ermessensspielraum auslegten. Denn während sich das Wiedergutmachungsamt in Hagen „in jeder Hinsicht“ bemühte, schnell helfen wollte und immer wieder die konkreten Umstände der Verfolgung berücksichtigte, verhielt sich die Arnsberger Stadtverwaltung deutlich formalistischer. Sie setzte die Beweisanforderungen sehr hoch an, sodass die Bewilligungspraxis sehr restriktiv ausfiel. Das für Niedermarsberg zuständige Amt bagatellisiert gar die Verfolgung der ört­ lichen Juden und legte bei der Berechnung von Entschädigungen für jüdische Kaufleute durchgängig die schlechte Bilanz aus dem Jahr der Wirtschaftskrise 1930 zugrunde. Anders etwa als in Münster, wo die dortige jüdische Gemeinde das zuständige Amt lobte und ihm eine „gute Atmosphäre“ bescheinigte, gab es in Arnsberg und Niedermarsberg wenig Wohlwollen oder Verständnis für die jüdischen Antragsteller. Diese beklagten die lange Bearbeitungszeit und bekamen zu spüren, dass die „Wiedergutmachung“ keineswegs darauf abzielte, ihre frühere Lebenssituation wiederherzustellen. Desinteresse der zuständigen Sachbearbeiter, antisemitische Stereotype und der Vorwurf, ihre Aussagen seien unglaubwürdig, begegneten ihnen immer wieder. So wundert es nicht, dass manche Antragsteller empört waren, andere resignierten. In den Akten finden sich allerdings auch positive Reaktionen: Manch ein Antragsteller sah die geleistete Entschädigung, mochten die finanziellen Leistungen auch gering sein, als persönliche Rehabilitation. Die beiden Beiträge zur bürokratischen Praxis der „Wiedergutmachung“ lassen erkennen, dass die öffentliche Verwaltung vordringlich ein Interesse daran hatte, die Entschädigung ordnungsgemäß, kostengünstig und möglichst skandalfrei abzuwickeln. Nach der „Arisierung“ waren die jüdischen Verfolgten nun im Rahmen der „Wiedergutmachung“ erneut einem bürokratischen Verfahren unterworfen, dieses allerdings war prinzipiell zu ihren Gunsten entworfen worden. Freilich war die Entschädigung in erster Linie ein Verwaltungsakt, im Zentrum standen finanzielle Leistungen, die in Einzelfällen durchaus hilfreich waren. Mit der Herstellung von Gerechtigkeit hatte die Entschädigungspraxis allerdings kaum etwas zu tun. Jenseits der Amtsstuben sollte die „Wiedergutmachung“ möglichst nicht öffentlich werden, denn auf der lokalen Ebene, wo die meisten sich kannten, hätte das zu stadtpolitischen Debatten über individuelle Schuld und Verantwortung führen können. Die meisten ehemaligen

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„Volksgenossen“ wollten nicht, dass der Entschädigungsvorgang allzu sichtbar wurde. Vielleicht war dies jedoch durchaus auch im Sinne der jüdischen Antragsteller, wären sie doch in einer öffentlichen Auseinandersetzung um „Wiedergutmachung“ vor Ort als „jüdische Verfolgte“ stigmatisiert worden. Auch wäre ihr Anspruch auf Entschädigung in diesem Fall möglicherweise noch stärker als ohnehin schon als „Bittstellerei“ oder „Raffgier“ diffamiert worden. Zwischen Sichtbarkeit und Handlungskompetenz gab es also auch bei der „Wiedergutmachung“ einen Zusammenhang, auch wenn dieser anders ausgerichtet war als bei der „Arisierung“. Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im April 2012 in Mannheim stattfand. Sie stand im Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt, das zwischen 2009 und 2012 die Geschichte von „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ in Mannheim umfassend aufgearbeitet hat. Die Konferenz wurde ebenso wie die Drucklegung des Tagungsbands aus den Projektmitteln finanziert. Unser Dank gilt daher der Stadt Mannheim, der Universität Mannheim, der Heinrich-Vetter-Stiftung, der Wilhelm-Müller-Stiftung, dem Leihamt Mannheim und der IHK Rhein-Neckar. Die Tagung fand in Kooperation mit dem Stadtarchiv Mannheim – Institut für Stadtgeschichte in dessen Räumen statt. Die Herausgeber danken seinem Leiter Dr. Ulrich Nieß sowie Dr. Susanne Schlösser herzlich für die nicht nur bei dieser Gelegenheit ausgesprochen gute und enge Zusammenarbeit. Die Teilnehmer der Konferenz, auch diejenigen, die nicht mit Vorträgen, sondern ausschließlich in der Diskus­ sion aktiv waren, trugen zum Erfolg der Veranstaltung und damit auch zum vorliegenden Buch wesentlich bei. Barbara Kunkel vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz übernahm die organisatorische, Jacqueline Grünewald die redaktionelle Arbeit am vorliegenden Band. Dafür sei ihnen herzlich gedankt. Und schließlich gilt unser Dank dem Böhlau Verlag, und hier ganz besonders Dorothee Rheker-Wunsch, die den Band in das Verlagsprogramm aufgenommen hat, sowie Patricia Simon, die mit großer Sorgfalt die Schlusskorrektur übernommen hat.

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Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin. Begriffe und Blickwinkel

I. Einleitung Ab 1933 wurden jene rund 50.000 Gewerbebetriebe, die in Berlin als jüdisch betrachtet wurden, systematisch von den lokalen Verwaltungsinstanzen vom Geschäftsverkehr ausgeschlossen sowie von Teilen der Kundschaft und Geschäftswelt geächtet. Immer wieder kam es zu teils pogromähnlichen Gewaltaktionen, die in der Regel von der NSDAP ausgingen. Nachdem auch die in der Berliner Wilhelmstraße ansässigen Zentralinstanzen, namentlich das unter Hermann Göring reorganisierte Reichswirtschaftsministerium, Ende 1937 offen in den Prozess eingriffen und als nach dem sogenannten Anschluss Österreichs und vor dem Hintergrund der Vollbeschäftigung keine Rücksichten mehr genommen werden mussten, kulminierten der verwaltungsmäßige und der gewalttätige Prozess schließlich im Novemberpogrom sowie in der nachfolgenden „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben“.1 Nach einem guten Jahrzehnt intensiver Forschung sind die Grundzüge der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Deutschland zwar bekannt, doch fokussieren viele Beiträge auf die „Arisierung“ und damit auf die Täter. Angesichts dessen fand eines der wenigen überlieferten Fotos (Abb. 1), welches während des von der NSDAP sogenannten Boykotts am 1. April 1933 aus einem jüdischen Geschäft heraus gemacht wurde, bislang nur wenig Beachtung. In dem Foto ist jedoch ein wichtiger Perspektivwechsel angelegt, nehmen wir Betrachter doch unwillkürlich die Sichtweise des unbekannten Obsthändlers ein, dessen Schaufenster von einem SA-Mann beschmiert wurde.

1 Vgl. Christoph Kreutzmüller, Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930 – 1945. Berlin 2013 (Berlin 2012), 121 – 228.

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Abb 1  Foto aus einer unbekannten Obsthandlung, 1. April 1933, unbekannter Fotograf (Quelle: Wiener Library 871)

Hier setzt dieser Beitrag an und geht dabei von der These aus, dass die Begrifflichkeit auch den Blick der Forschung beengt hat. Daher soll im Folgenden der Prozess der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin skizziert werden, ohne dabei die Perspektive der von der Verfolgung betroffenen Gewerbetreibenden aus den Augen zu verlieren.

II. Der Begriff „Arisierung“ Der bereits in den 1920er-Jahren im völkisch-antisemitischen Diskurs ausgeprägte Begriff „Arisierung“ setzte sich im „Dritten Reich“ nur langsam durch.2 Um den sich in aller Öffentlichkeit vollziehenden Prozess der Ver-

2 Vgl. Frank Bajohr, Arisierung, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3. Boston/Berlin 2010, 30 – 32, hier: 30.

Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin

nichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit zu fassen, sprachen die Zeitgenossen in Deutschland zunächst entweder vom „Boykott“ oder von „Gleichschaltung“. Damit nutzten sie die Losung der NSDAP oder rückten die beginnende Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Juden in den Kontext der „Machtergreifung“. So wurde „Arisierung“ im ersten Band des 1936 vom Bibliographischen Institut in Leipzig herausgegebenen „Meyers Lexikon“ ebenso wenig aufgenommen wie in der 1937 erschie­nenen Ausgabe des „Großen Duden“.3 Nun hinken gedruckte Nachschlagewerke der Realität immer etwas hinterher. Denn um 1937 hatte der Begriff längst Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden. Hiergegen polemisierte allerdings die Zeitung der SS, Das Schwarze Korps: „Was heißt das: Ein Unternehmen sei nunmehr arisiert? Ist es arisch oder nicht arisch? Nach dem Sprach­ gebrauch dürfte es nicht arisch sein, denn was vergoldet ist, ist nicht aus Gold, was elektrisiert wird, ist nicht elektrisch, was arisiert ist, ist im Kern jüdisch und nur mit einer arischen Tünche versehen. Das Wort ‚arisiert‘ ist eine typisch jüdische Erfindung und bezeichnet die arische Tarnung.“4 Nachdem sich auch in Berliner Zeitungen Annoncen mehrten, in denen darauf hingewiesen wurde, dass ein bestimmtes Unternehmen „arisiert“ sei, hieb Das Schwarze Korps im Mai 1938 nochmals in die gleiche Kerbe: „Ist nicht schon der Ausdruck ‚Arisierung‘ bezeichnend genug? Wenn ein Arier einen jüdischen Laden übernimmt, so kauft er ihn. Der Laden wurde nicht ‚arisiert‘, sondern er ist in deutschem Besitz. Das Wort Arisierung hingegen bedeutet nicht Besitzwechsel[,] sondern nur eine äußerliche Umformung, die den Kern unberührt lässt – den Juden nämlich, der die Fäden in der Hand hält.“5 Auch wenn die Redaktion des einflussreichen Blattes von „Besitz“ sprach und damit unwillkürlich auf den Eigentumsvorbehalt unredlichen Erwerbs des bürgerlichen Rechts verwies, an den elf Jahre später die Rückerstattungsgesetzgebung anknüpfen sollte, setzte sich nun im behördlichen Schriftverkehr der Begriff der „Entjudung“ durch. Hatte der von Mitarbeitern des Berliner Polizeipräsidiums verfasste Gesetzeskommentar über die „Entjudung der deutschen Wirtschaft“ im November 1938 noch im Untertitel 3 Vgl. Bibliographisches Institut (Hrsg.), Meyers Lexikon, Erster Band A–Boll. Leipzig 1936; dass. (Hrsg.), Der Große Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter. Leipzig 1937. 4 Arisieren, ein neuer Sport, in: Das Schwarze Korps, 5.8.1937. 5 Jetzt wird’s ernst, in: Das Schwarze Korps, 5.5.1938.

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von „Arisierungsverordnungen“ gesprochen, so fehlte der Begriff in dem halbamtlichen Kommentar des Fachreferenten des Reichswirtschaftsministeriums über die „Lösung der Judenfrage in der deutschen Wirtschaft“ im Januar 1940 ganz.6 Vor diesem Hintergrund führte auch der 1942 erschienene Taschen-­Brockhaus zum Zeitgeschehen „Arisierung“ gar nicht auf, sondern verwies nur auf den Begriff der „Entjudung“, unter dem zu diesem Zeitpunkt bereits alle Maßnahmen zur Verdrängung der Juden aus sämtlichen Gebieten „des staatlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens“ verstanden wurden.7 Dessen ungeachtet sprach die Industrie- und Handelskammer zu Berlin (IHK) mit Blick auf den Verkauf von jüdischen Gewerbebetrieben an Nichtjuden auch weiterhin von „Arisierung“. Den Gesamtprozess, der neben dem Verkauf auch die Liquidation jüdischer Gewerbebetriebe beinhaltete, bezeichnete sie freilich als „Entjudung“.8 In diesem Sinne verwendete auch die Devisenprüfstelle des Berliner Oberfinanzpräsidenten „Arisierung“ als Teilbegriff der „Entjudung“.9 Unbeeindruckt von den semantischen Entwicklungen im Deutschen Reich sprach das Comité des Delegations Juives 1934 in Paris vom „Kampf gegen die Juden in der Wirtschaft“.10 Im Amsterdamer Exil fasste Alfred Wiener, der ehemalige Syndikus des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, den ihm aus eigener Anschauung bekannten Prozess im gleichen Jahr unter dem Stichwort „Wirtschaftsboykott“.11 Zwei Jahre später präzisierte Wiener seine Begrifflichkeit und sprach von der „Vernichtung der beruflichen und wirtschaft 6 Werner Markmann/Paul Enterlein, Die Entjudung der deutschen Wirtschaft. Arisierungsverordnungen vom 26. April und 12. November 1938. Berlin 1938; Alf Krüger, Die Lösung der Judenfrage in der deutschen Wirtschaft, Kommentar zur Juden­gesetzgebung. Berlin 1940. 7 Taschen-Brockhaus zum Zeitgeschehen. Leipzig 1942, 98. 8 Bericht der IHK über Bereinigung der Wirtschaft, o. D. (Nov. 1941), in: Wirtschaftsblatt der IHK Berlin, November 1941. Vgl. Ludolf Herbst, Banker in einem prekären Geschäft. Die Beteiligung der Commerzbank an der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit, in: ders./Thomas Weihe (Hrsg), Die Commerzbank und die Juden. München 2004, 74 – 137, hier: 75. 9 Vgl. z. B. Devisenprüfbericht von 21.2.1941, in: Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Rep. 36, 2556. 10 Comité des Delegations Juives (Hrsg.), Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage der Juden in Deutschland. Paris 1934, 280. 11 Alfred Wiener, Wirtschaftsboykott. Amsterdam 1934.

Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin

lichen Existenz der Juden“.12 Im Dezember 1936 verwies auch die Redaktion der in Prag herausgegebenen Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands fast gleichlautend auf den „Kampf gegen die Juden durch Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenz“.13 Auch die internationale Presse griff nicht etwa auf die Sprachpraxis der deutschen Behörden zurück. Ende März 1933 titelte die Times beispielsweise „Anti-Jewish Campaign“, während die in Basel erscheinende National-Zeitung im Juli 1935 über „große Aktionen gegen jüdische Geschäfte“ berichtete und die New York Times im Hinblick auf den Pogrom und die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftleben“ im November 1938 von „excluding Jews from all economic activity“ sprach.14 Dass der ungemein vielschichtige Prozess der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit trotzdem – und trotz aller zeitgenössischen Alternativen – sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit noch immer als „Arisie­rung“ bezeichnet wird, ist wohl hauptsächlich auf politische Erwägungen zurückzuführen. Denn noch Anfang der 2000er-Jahre, als die Forschung im Gefolge der wegweisenden Studie von Frank Bajohr über die „Arisierung in Hamburg“ einen Boom erlebte, klang moralische Verurteilung in dem Begriff mit.15 Da Begriffe – wie Bilder – unsere Wahrnehmung prägen, blieb dies nicht ohne Folgen. Streng genommen legt der Gebrauch des Begriffs „Arisierung“ erstens nahe, dass die jüdischen Gewerbebetriebe entweder allesamt – oder doch wenigstens größtenteils – von Nichtjuden übernommen wurden. Dies ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll, mitnichten der Fall. Zweitens lenkt der Fokus auf Arisierung den Blick hauptsächlich auf die direkten Nutznießer der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätig 12 Jewish Central Information Office (Hrsg): Entrechtung, Ächtung und Vernichtung der Juden in Deutschland seit der Regierung Hitler. Amsterdam 1936, 38. 13 Deutschland-Bericht vom Dezember 1936, in: Deutschland Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade), 3. Jg. (1936) (Reprint Frankfurt am Main 1980), (Sopade-Berichte), 1655. Vgl. Bericht vom April 1940, in: Sopade-Berichte, 7. Jg. (1940), 258. 14 Anti-Jewish Campaign, in: The Times, 28.3.1933; Die Aktionen gegen die Juden, in: National-Zeitung, 23.7.1935; Reich Bars Return of funds to Jews, in: New York Times, 14.11.1938. 15 Frank Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933 – 1945. Hamburg 1997. Vgl. Benno Nietzel, Die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der deutschen Juden 1933–-1945. Ein Literatur- und Forschungsbericht, in: AfS 49, 2009, 561 – 613.

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keit, die „Ariseure“. Die verfolgten Gewerbetreibenden werden dabei häufig übersehen oder treten nur am Rande – gleichsam als passive Opfer – ins Blickfeld. Es ist wohl bezeichnend, dass in Avraham Barkais bedeutsamer Studie über die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit, in der er 1988 explizit auch auf die Perspektive der Verfolgten einging, nicht „Arisierung“, sondern „Entjudung“ im Titel auftaucht.16 Um nicht weiter auf die Worte der Täter zurückgreifen zu müssen, soll im Folgenden auf die im Jahr 2004 im Rahmen des Projekts zur Erforschung der Geschichte der Commerzbank vorgestellte Begrifflichkeit zurückgegriffen werden, die – unwillkürlich – an Alfred Wiener anschloss. So wird von der „Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz“ gesprochen, um den gesamten Vorgang der Ausplünderung und Beraubung der Juden zu charakterisieren. Neben der Verdrängung der jüdischen Beschäftigten aus Unternehmen und der Entziehung ihres Vermögens ist als dritter Teilbereich die „Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit“ auszumachen, von der im Folgenden die Rede sein wird.17

III. Unternehmerische Behauptungsversuche Am Morgen des 1. April 1933 platzte Curt Joseph der Kragen. Der Inhaber eines renommierten Berliner Drogeriegeschäfts erklärte seinen Mitarbeitern, dass er „den sogenannten Sieg der Nazis für den Anfang vom Ende Deutschlands“ halte.18 Hintergrund für Josephs Ausbruch war, dass er im Ersten Weltkrieg als Soldat und danach in einem Freikorps gekämpft hatte und dort mehrfach ausgezeichnet worden war. Den Aufruf zum „Boykott“ jüdischer Unternehmen empfand er als persönlichen Affront, zumal das NS-Regime betonte, sogenannte Frontkämpfer besonders ehren zu wollen. Deshalb legte der 34-jährige Kaufmann, wie er nach seiner Emigration in seinem Beitrag für ein Preisausschreiben der 16 Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933 – 1945. Frankfurt am Main 1988. 17 Ludolf Herbst/Christoph Kreutzmüller/Ingo Loose/Thomas Weihe, Einleitung, in: Herbst/ Weihe, Commerzbank, 9 – 19, hier: 10 – 13. 18 Curt Joseph, NS-Betriebszellen in Aktion, in: Margarete Limberg/Hubert Rübsaat (Hrsg.), Sie durften nicht mehr Deutsche sein. Jüdischer Alltag in Selbstzeugnissen 1933 – 1938. Frankfurt am Main/New York 1990, 95.

Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin

Harvard University schrieb, am 1. April alle seine Orden an. Gleichzeitig ließ er die Verleihungsurkunden kopieren und in den beiden Filialen seines Unternehmens auf den Innenseiten der Schaufensterscheiben – direkt unter die von außen geklebten Boykottplakate – anbringen. Damit reagierte Joseph ganz im Sinne des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten und ähnlich wie ein Kaufmann aus Wesel, dessen Beispiel am 30. März 1933 im Israelitischen Familien­blatt hervor­gehoben worden war.19 Abb 2  Das plakatierte und beschmierte Schaufenster des Drogeriegeschäfts Kopp & Joseph in der Potsdamer Straße in Berlin am Nachmittag des 1. April 1933, unbekannter Fotograf (Quelle: bpk 30013837; Das Foto ist u. a. abgedruckt in: Barkai, Boykott, 29.)

Auf dem bekannten und oft abgedruckten Foto, welches das beschmierte und mit einem Boykottplakat versehene Schaufenster der Filiale von Kopp & Joseph

19 Vgl. Selbsthilfe eines jüdischen Frontkämpfers, in: Israelitisches Familienblatt, 30.3.1933. Vgl. Klaus Hesse/Philipp Springer, Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz. Essen 2002, 71.

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an der Tauentzienstraße zeigt, sind diese Kopien freilich nicht mehr zu sehen. Allerdings deuten die ungewöhnlich großen Leimspuren unter dem Plakat und der Umstand, dass unter dem Plakat zusätzlich noch einmal in großen Lettern das Wort „Jude“ und ein Davidsstern geschmiert worden waren, darauf hin, dass hier etwas von außen verdeckt werden sollte. Offenbar wurde das Foto am Nachmittag des 1. April aufgenommen. Denn die SA war am Mittag in das Geschäft eingedrungen, hatte die Kopien entfernt und dabei ganz offensichtlich die im Schaufenster aufgestapelten Seifenstücke durcheinandergebracht. Dies ließ Joseph nicht auf sich sitzen: Er ging in das nahe gelegene Sturm­lokal und verlangte von dem dortigen SA -Führer die Rückgabe der Kopien. Mit dem Argument, dass die SA-Männer kein Recht gehabt hatten, in das Geschäft einzudringen, konnte der couragierte Kaufmann tatsächlich die Rückgabe der Fotokopien erreichen.20 Curt Joseph hatte 1928 die Leitung des 1893 von seinem Vater und einem Kompa­gnon gegründeten Unternehmens übernommen und – wie sich der zuständige Filialleiter der Hausbank erinnerte – durch „unerhörten Fleiß und gute Fachkenntnisse“ zum Berliner Marktführer seiner Branche ausgebaut.21 Doch auch wenn sich Joseph gegen die Ausgrenzung seines Drogeriebetriebes zu wehren wusste, kam er nur schwer gegen den informellen Handelsboykott der Berliner Krankenhäuser an und musste empfindliche Einbußen hinnehmen.22 Deshalb verlagerte Joseph einen Teil seiner Geschäfte in Unternehmen, die nicht mit der als jüdisch bekannten Muttergesellschaft in Verbindung gebracht werden konnten. Nachdem er bereits im November 1932 die Ultrazell GmbH gegründet hatte, auf die der Handel mit Rotlicht- und UV-Lampen sowie Höhensonnen übertragen wurde, etablierte Joseph im September 1936 die Adriane Fabrikation chemischer und kosmetischer Artikel GmbH, die die Fabrikabteilung von Kopp & Joseph weiterführte.23 Zwar musste er das Firmengrundstück verkaufen, doch konnte Joseph den Stammbetrieb aufrechterhalten, der ihm offenbar auch ­emotional viel bedeutete.24 Ende 1938 wurde das Unternehmen in das Verzeichnis 20 Vgl. Joseph, NS-Betriebszellen, 96. 21 Eidesstattliche Versicherung von Max Lippmann, 26.7.1957, in: Entschädigungsamt Berlin (EAB), 62928. 22 Vgl. eidesstattliche Versicherung von Max Jaffe, 19.1.1954, in: EAB, 62928. 23 Vgl. Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin, online verfügbar unter http:// www2.hu-berlin.de/djgb (Zugriff: 14.03.2014). 24 Vgl. eidesstattliche Versicherung Curt Joseph, 12.1.1952, in: EAB, 62928.

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jüdischer Gewerbebetriebe im Verwaltungsbezirk Tiergarten eingetragen; zu diesem Zeitpunkt hatte der Betrieb noch 13 Angestellte, von denen fünf jüdisch waren.25 Wenige Wochen zuvor waren freilich die Geschäftsräume während des Pogroms geplündert und zerstört worden. Joseph wurde in das KZ Sachsen­ hausen verschleppt und verkaufte kurz nach seiner Freilassung das Restgeschäft weit unter Preis. Die Firma Kopp & Joseph wurde schließlich im Juli 1939 von einem hierzu ermächtigten „Helfer in Steuersachen“ aus dem Handelsregister gelöscht.26 Schon vor der Löschung seiner Firma war Joseph nach Großbritannien emigriert, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1963 als Chemiker arbeitete.27 Den Plan, seine Familie nachzuholen, „machte der Krieg unmöglich“, sodass seine Frau und seine beiden Kinder im Zuge der als Fabrikaktion bezeichneten Massendeportationen aus Berlin Anfang 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden.28 Joseph stand mit seiner Reaktion auf das, was die Nationalsozialisten als Boykott bezeichneten, keineswegs allein. Weil in der Reichshauptstadt fast ein Viertel aller Juden nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaß und die diplo­matischen Vertretungen allesamt vor Ort waren, lag es für die Betroffenen buchstäblich nahe, sich um konsularische Unterstützung zu bemühen, wenn sie von Verfolgungsmaßnahmen bedroht oder betroffen waren. Im April 1933 wandten sich beispielsweise mehrere polnische Markthändler an das Generalkonsulat und monierten, dass ihnen der Handel auf einigen Märkten des Bezirks T ­ reptow verboten worden sei. Hieraufhin intervenierte das Generalkonsulat beim Auswärtigen Amt und erreichte tatsächlich eine (vorübergehende) Wiederz­ulassung.29 Häufig nahmen Juden auch Nichtjuden als Gesellschafter auf, um das Stigma eines „jüdischen Unternehmens“ abzustreifen oder um einen möglichen Nachfolger einzuarbeiten. Wenn der Ehepartner nichtjüdisch war, war es dabei natürlich naheliegend, diesen in die Gesellschaft aufzunehmen.

25 Vgl. Verzeichnis jüdischer Gewerbebetriebe im Verwaltungsbezirk Tiergarten, Nr. 91, o. D. (1938/39), in: Landesarchiv Berlin (LAB), A Rep.  005 – 03 – 02, 2. 26 Vgl. Verfügung des Amtsgerichts, 24.7.1939; Vollmacht von Curt Joseph, 5.4.1939, beide in: LAB, A Rep. 342 – 02, 37844. 27 Vgl. Brief von Curt Joseph an das Entschädigungsamt Berlin, 4.6.1955, in: EAB, 62928. 28 Brief von Curt Joseph an den Berliner Innensenator Joachim Lipschitz, 19.4.1957, in: EAB, 62928. 29 Brief des Polnischen Generalkonsulat an den Oberbürgermeister der Stadt Berlin, 27.4.1933, in: PArch AA, R. 100211.

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Da es in Berlin überdurchschnittlich viele Ehen zwischen Juden und Nichtjuden gab, war diese Option tatsächlich von großer Bedeutung. Diesen Weg ging beispielsweise Max Jaschkowitz, der seiner nichtjüdischen Frau Clara die Führung seines Fuhrunternehmens übertrug, der es gelang, den Betrieb bis 1943 zu behaupten. Dann allerdings fand die ganze Familie bei einem Bombenangriff ein tragisches Ende.30 Manche Betriebe änderten ihr Angebot oder zogen in die Nähe von anderen jüdischen Unternehmen. Zwar wollten sich die meisten Gewerbebetriebe nicht völlig neu positionieren, doch passten fast alle ihre Dienstleistungs- oder Produktpalette an die Gegebenheiten an. Dabei bemühte sich ein Teil der Unternehmer verstärkt um Verbindungen ins Ausland, um durch Export Devisen zu erwirtschaften. Da Devisen knapp waren, waren ihre Gewerbebetriebe bis Ende 1938 relativ gut geschützt, liefen allerdings Gefahr, in die Mühlen der Bürokratie, die sich um die Devisenbewirtschaftung entspann, zu geraten. Offensichtlich eröffnete die Großstadt und insbesondere die Metropole Berlin Handlungsräume, die es in Kleinstädten und Landgemeinden nicht gab. Die Vielzahl der in Berlin angewandten Behauptungsstrategien entsprach letztlich der großen Vielfalt der jüdischen Gewerbetätigkeit.31 Zudem standen den jüdischen Gewerbetreibenden in Berlin originär jüdische Wirtschaftshilfeeinrichtungen zur Seite. Diese waren schon in den 1920er-­ Jahren entstanden, als sich trotz der intensiven Verflechtung von jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung auf ökonomischem Gebiet auch in den Großstädten Tendenzen zu einer Entflechtung der Wirtschaft entlang rassistisch definierter Bruchlinien abzeichneten. So wurden 1924 die erste jüdische Darlehnskasse Deutschlands gegründet und 1928 zwei jüdische Genossenschaftsbanken. Mit einer dieser Banken, dem Jüdischen Kreditverein für Handel und Gewerbe eGmbH, war die jüdische Gemeinde eng verwoben. Die jüdischen Genossenschaftsbanken vergaben hauptsächlich Mikrokredite und unterstützten damit Gewerbebetriebe, die anderweitig keine Hilfe bekommen hätten.32 Dank der beim Aufbau von Darlehnskasse und Genossenschaftsbanken gemachten Erfahrungen konnte die Gemeinde 1933 schnell auf den unter rassistischen Vorzeichen 30 Christian Dirks, Verschüttet. Leben, Bombentod und Erinnerung an die Berliner Familie Jaschkowitz, Berlin 2011, 13. 31 Vgl. den Beitrag von Benno Nietzel in diesem Band. 32 Vgl. Geschäftsbericht des Kreditvereins für das Jahr 1936, in: Amtsgericht Charlottenburg (AGC), Genossenschaftsregister (GR), 1735c; Bilanz der Iwira Bank für das Jahr 1936, in: AGC, GR, 1741.

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geführten Wirtschafts-Bürgerkrieg reagieren. Schon im März gründete sich in Berlin die „Zentralstelle für Jüdische Wirtschaftshilfe“, die zum Vorbild und Ausgangspunkt für entsprechende Einrichtungen im gesamten Reich wurde.33 Die Wirtschaftshilfe erteilte einerseits Rechtsauskünfte, vergab andererseits aber auch Darlehn und versuchte potenzielle Investoren für Unternehmen zu finden.34 Im ersten Halbjahr ihres Bestehens 1933 nahmen insgesamt rd. 3.200 Gewerbetreibende ihre Dienste in Anspruch.35 Im Sommer 1936 stellte die Wirtschaftshilfe beispielsweise dem ungarischen Markthändler Salomon Wagner einen zinslosen Kredit zur Verfügung. Wagner hatte seit 1907 in der Zentralmarkthalle eine Obst- und Gemüsehandlung betrieben. Obwohl er sich niemals etwas zuschulden hatte kommen lassen und einen so guten Leumund hatte, dass sich selbst nichtjüdische Zulieferer für ihn einsetzten, wurde sein Stand wegen eines geringfügigen Mietrückstands im Juni 1936 gekündigt.36 Als ihm kurze Zeit später in Folge einer Intervention der ungarischen Botschaft ein Tagesstand zugewiesen worden war, hatte er keine Ware mehr, um diesen zu bestücken.37 Das Darlehen der Wirtschaftshilfe in Höhe von 500  RM verhalf Wagner zu neuer Ware und damit zu einem Wiedereinstieg in sein Geschäft, das er noch bis Juni 1938 fortführen konnte.38 Die Aktivitäten der bei Weitem größten jüdischen Gemeinde Deutschlands, der 1933 mehr als 160.000 Menschen angehört hatten, wurden flankiert von zahlreichen Eingaben des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten sowie des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), die ihren Hauptsitz in Berlin hatten und die anfangs noch direkten Zugang zu den 33 Vgl. Zentralstelle für jüdische Wirtschaftshilfe, in: Jüdische Rundschau, 31.3.1933. 34 Vgl. Alexander Szanto, Economic Aid in the Nazi Era. The work of the Berlin Wirtschaftshilfe, in: Leo Baeck Institute Year Book 4, 1959, 208 – 219. 35 Vgl. Scholem Adler-Rudel, Tätigkeitsbericht der Wirtschaftshilfe der Jüdischen Gemeinde Berlin für die Zeit von der Gründung (Mitte März 1933) bis Ende März 1935. Berlin 1936, 21. Vgl. ders., Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933 – 1939. Im Spiegel der Berichte der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, Bd. 29) Tübingen 1974, 122f. 36 Vgl. Brief der Gebrüder Havenaar an Salomon Wagner, 23.7.1936, in: LAB, A Pr. Br. 057, 517. 37 Vgl. Brief der Hauptmarkthallenverwaltung an den Oberbürgermeister, 22.7.1936; Brief der Wirtschaftshilfe an Salomon Wagner, 13.7.1936, beide in: LAB, A Pr. Br. 057, 517. 38 Vgl. Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin (DjGB), online verfügbar unter http://www2.hu-berlin.de/djgb (Zugriff: 14.03.2014).

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Fachreferenten der Reichsministerien hatten. Dies machte sich der CV ebenso zunutze wie den Umstand, dass es zwischen und teils auch innerhalb derselben Behörden unterschiedliche Auffassungen gab, ob, wie und wann die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit durchgesetzt werden sollte. Bis 1935/36 hatten Petitionen deshalb durchaus Erfolg. Parallel hierzu schwollen Annoncen und „Bezugsquellen-Nachweise“ in den vier Berliner Gemeindeblättern, der überregionalen CV-Zeitung und der zionistischen Jüdischen Rundschau auf ein beachtliches Ausmaß an. Zwischen 1933 und 1938 annoncierten hier insgesamt rund 1.000 Berliner Gewerbebetriebe!39 Nicht nur die Größe der Stadt Berlin, sondern auch die Größe der jüdischen Gemeinde wirkte sich also zum Schutze der jüdischen Gewerbebetriebe aus. Dass sich Juden – sei es aus Solidarität, Gewohnheit, Trotz oder Not – noch häufiger als vor 1933 an andere Juden wandten, ist deutlich erkennbar. Ob dies jedoch – Avraham Barkai folgend – wirklich bedeutet, dass sich ein „jüdischer Wirtschaftssektor“40 entwickelte, ist zu bezweifeln. Wenn in der Wirtschaft beispielsweise von dem primären Sektor die Rede ist, so wird hierunter ein großer, eindeutig unterscheidbarer Teilbereich der Produktion verstanden. Zu solchen klar trennbaren Teilbereichen der Wirtschaft führte der Schulterschluss zwischen Juden aber sicherlich nicht. Denn zum einen gab es natürlich auch weiterhin Liefer- und Kundenbeziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. Zum anderen umfasste der Wirtschaftsbereich nicht alle Juden der Stadt. Auch von einem „jüdischen Markt“ zu sprechen, wie Saul Friedländer dies tut, ist wohl nicht ganz treffend, weil die Zugangsbedingungen keinesfalls frei waren und mithin von einem Markt keine Rede sein kann.41 Das Ergebnis der Konzentrationsbewegung lässt sich daher wohl am besten als jüdisches Wirtschaftssegment beschreiben. Abgesehen davon hätten die jüdischen Unternehmen ohne ihre nichtjüdischen Kunden kaum überleben können. Hier schuf der Handlungsraum Großstadt eine Konstellation, die sich deutlich von den klein- und mittelstädtischen Räumen und Strukturen unterschied. Die Trennung der Wirtschaft entlang rassistischer Bruchlinien war in anonymen Großstädten kaum zu überwachen und

39 Vgl. Kreutzmüller, Ausverkauf, 276 – 278. 40 Barkai, Boykott, 57. 41 Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Verfolgung und Vernichtung, 2. Bde. Bonn 2006 [München 1998 und 2006], Bd. 1, 256.

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deshalb schwierig durchzusetzen.42 Darüber hinaus hatten auch die Berichte der in Berlin konzentrierten ausländischen Reporter über Übergriffe nachweislich eine schützende Wirkung für die jüdischen Gewerbebetriebe. Weil die Wirtschaftsmetropole Berlin Schutz vor Verfolgung und damit wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten versprach, war sie schon lange vor 1933 Zufluchtsort für jüdische Gewerbetreibende geworden. Nach 1933 verstärkte sich dieser Trend, sodass im Berliner Handelsregister bis 1938 erwiesenermaßen rund 1.000 jüdische Firmen neu eingetragen wurden. Die Folgen verfolgungs­ bedingter Landflucht waren zwar in fast allen Großstädten mit großen jüdischen Gemeinden zu spüren.43 Doch ebbte der Zuzug von Betrieben aus den Land­gemeinden und Kleinstädten in den anderen jüdischen Großgemeinden Deutschlands, wie etwa in Breslau oder Frankfurt am Main, Mitte der 1930er-Jahre deutlich ab. Berlin hingegen blieb als Zufluchtsort bedeutsam und nahm ab 1935/36 selbst Unternehmen aus anderen Großstädten auf. Als einer der Letzten eröffnete im Februar 1938 Casper Jacobsohn, der sein seit 1903 in Guben betriebenes Schuhhandelsgeschäft an einen Nichtjuden hatte veräußern müssen, einen Schuhgroßhandel in Berlin.44 Die Wirtschaftshilfe vermittelte zudem zahlreichen Gewerbetreibenden aus Landgemeinden Betriebe von alteingesessenen Berliner Juden, die diese im Zuge ihrer Emigration aufgaben. Insofern ist das in vielen Lokal­studien gezeichnete Bild der sich bis 1937 vollziehenden Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit ergänzungsbedürftig. Denn dieser Prozess ist wohl teilweise als eine innerdeutsche Ausweichbewegung und damit als Teil der Behauptungsstrategien jüdischer Gewerbetreibender zu sehen. Berlin nahm in diesem Kontext als größte jüdische Gemeinde eine zentrale Rolle ein.45 So hielt

42 Vgl. Christoph Kreutzmüller/Benno Nietzel/Ingo Loose, Persecution and Strategies of Survival. Jewish Entrepreneurs in Berlin, Frankfurt/Main and Breslau 1933 – 1938/42, in: Yad Vashem Studies (2011), 31 – 70, hier: 46f. Vgl. Hannah Ahlheim, „Deutsche, kauft nicht bei Juden“. Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935. Göttingen 2011; Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburg 2007. 43 Vgl. auch Christoph Kreutzmüller/Eckart Schörle, Stadtluft macht frei? Jüdische Gewerbe­ betriebe in Erfurt 1918 – 1939. Berlin 2013. 44 Brief von Casper Jacobsohn an das Amtsgericht, 22.2.1938; Brief der IHK an das Amtsgericht Berlin, 28.3.1938, beide in: Amtsgericht Charlottenburg, HR A 90, 94514, 1939 (Caspar Jacobsohn). 45 Vgl. Kreutzmüller/Nietzel /Loose, Persecution, 31 – 34. Vgl. Wiener, Wirtschaftsboykott, 3f.

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die Gestapo im Mai 1938 in einer Denkschrift fest, dass sich „in letzter Zeit ein ausserordentlich starker Zuzug von Juden nach Berlin bemerkbar gemacht [habe], der in der Hauptsache darauf zurückzuführen sein dürfte, dass die Juden in der Provinz infolge der dort möglichen strengen Beaufsichtigung immer geringere Existenzmöglichkeiten sehen“.46 Darüber hinaus war Berlin aber natürlich auch deshalb der zentrale Zufluchtsort innerhalb Deutschlands, weil in der Reichshauptstadt der Sitz sowohl von Botschaften und Konsulaten als auch von gemeinnützigen Organi­ sationen wie des American Jewish Joint Distribution Committee war, die Hilfe bei der Erlangung der rettenden Papiere versprachen. Überdies hatten sich in der Stadt zahlreiche Transfergesellschaften wie die Palästina-Treuhandstelle zur Beratung deutscher Juden GmbH oder die Allgemeine ­Treuhand-Stelle für die jüdische Auswanderung GmbH und zahlreiche Devisenberater nieder­ gelassen, deren Know-how von unschätzbarer Bedeutung für die Vorbereitung einer ins Auge gefassten Emigration war. Selbst der spätere stellvertretende Chefankläger der USA beim Internationalen Militärgericht in Nürnberg, Robert Kempner, engagierte sich nach seiner Entlassung aus dem preußischen Staatsdienst ab 1934 als Devisenberater.47 Im Zuge der Auswanderung setzte sich in gewissem Maße die Ausweichbewegung der jüdischen Gewerbetreibenden fort. Offenbar folgte die Emigration stärker, als dies in der Forschung bislang betont wurde, den Handelsströmen und damit einer unternehme­ rischen Perspektive. So ging die Auswanderung von Gewerbetreibenden teils mit der Verlagerung ihrer Produktion oder ihrer Produktionsmittel bzw. dem Übertrag von Forderungen einher. Das Konfektionsunternehmen ­Treitel & Meyer gründete beispielsweise 1934 eine Niederlassung in London. Erst nachdem der letzte Inhaber in die britische Hauptstadt emigriert war, stellte die Devisenstelle im November 1938 fest, dass dieser mehr als die Hälfte der Gewinne des britischen Tochterunternehmens vor den deutschen Behörden verschwiegen hatte. Außerdem hatte die Berliner Mutterfirma der 46 Denkschrift über die Behandlung der Juden in der Reichshauptstadt auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, S. 16, in: Yad Vashem Jerusalem, O8 – 17. Vgl. Wolf Gruner, „Lesen brauchen sie nicht zu können …“ Die Denkschrift über die Behandlung der Juden in der Reichshauptstadt auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens vom Mai 1938, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 4, 1995, 305 – 341. 47 Vgl. Robert Kempner, Ankläger einer Epoche. Lebenserinnerungen. Frankfurt am Main/ Berlin/Wien 1983, 124f.

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englischen Tochter Waren im Wert von mehr als 105.000 RM geliefert, ohne dafür den Gegenwert nach Deutschland überwiesen bekommen zu haben. 48 Mit Ausnahme Palästinas waren es die Haupthandelsländer der jeweiligen Kaufleute, die zum bevorzugten Ziel ihrer Emigration wurden, bevor diese Ende 1938 endgültig Formen der regellosen Flucht annahm.49

IV. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit Aufgrund ihrer Zähigkeit, ihres wirtschaftlichen Durchhaltewillens, erfolgreicher Behauptungsstrategien und infolge der Zuwanderung hatte sich die Zahl der als jüdisch betrachteten Gewerbebetriebe in der Reichshauptstadt bis zum Spätsommer 1938 kaum reduziert, wenn auch die Größe der einzelnen Firmen deutlich zurückgegangen war. Im Rahmen der Erfassungsaktion aufgrund der „Verordnung über die Anmeldung des jüdischen Vermögens“ vom April 1938 teilte der Gauwirtschaftsberater im September 1938 mit, dass es in Berlin noch 46.000 „erfasste eindeutig mosaische Betriebe“ gebe.50 Diese Unternehmen gerieten ab Oktober 1938 in den Strudel jener Gewaltwelle, die im Pogrom mündete. Da die Zahl der infrage kommenden Betriebe sehr hoch und die Plünderungen beim Pogrom umfassend waren, kann die von Reinhard Heydrich am 12. November 1938 auf der Konferenz im Reichsluftfahrtsministerium genannte Zahl von 7.500 verwüsteten Geschäften kaum zutreffen, auch wenn sie als Referenzwert bis heute allgemein akzeptiert wird.51 Nachweisbar ist außerdem, dass insbesondere die Plünderungen in Berlin von der Polizei und Gestapo nur schwer gestoppt werden konnten und während der Konferenz noch andauerten. Das Ausmaß der Plünderungen und das Ausmaß der erwart-

48 Bericht über die Prüfung der Firma Treitel & Meyer, 3.11.1938, in: BLHA, Rep. 36 A, 2252. 49 Vgl. Kreutzmüller, Ausverkauf, 327 – 330. 50 Brief von Heinrich Hunke an Otto de Mars, 19.9.1938, in: Bundesarchiv Berlin (BArch B), NS 1, 550. 51 Vgl. Stenographische Niederschrift der Besprechung über die Judenfrage bei Göring am 12. November 1938, in: Internationaler Militär-Gerichtshof (Hrsg.), Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof: Nürnberg, 14. November 1945 – 1. Oktober 1946. Nürnberg 1946, Bd. 28, 499 – 540, Dok. 1816 PS., hier: 508. Die Zahl war schon während der Konferenz vom österreichischen Handelsminister Hans Fischböck bezweifelt worden. Vgl. ebd., 523.

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baren Beute sind sicherlich ein – wenn nicht der – entscheidende Grund für die ungeheure Gewaltbereitschaft, für die, wie Michael Wildt unlängst betont hat, bislang noch keine hinreichende Erklärung gefunden worden ist.52 Frank Bajohr hat deshalb zu Recht die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Juden als „Kristallisationspunkt der Korrup­tion“ bezeichnet.53 Wie weit verbreitet Habgier und Korruption gerade unter Parteigenossen waren, macht u. a. die Rede des Leiters der Kommission für Wirtschaftspolitik der NSDAP, Bernhard Köhler, auf dem (letzten) Reichsparteitag im September 1938 deutlich. Köhler führte darin aus, dass „der verdächtige Übereifer der hungrigen Konjunkturhyänen“ fehl am Platze sei. Schließlich gehe es „nicht darum, den Juden etwas zu nehmen, um es beutegierigen Interessenten in die Hände zu spielen“.54 Ob die Ermahnungen auf fruchtbaren Boden fielen, ist zu bezweifeln. Dass sie die Richtigen ansprachen, ist unzweifelhaft. Auch in Berlin ging die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit mit einem hohen Maß an Korruption insbesondere von nationalsozialistischen Parteigenossen einher.55 In einem Bericht über die „Entjudung des Einzelhandels“ deutete der Berliner Stadtpräsident Julius Lippert dies Anfang Januar 1939 freilich nur an: „Der Gesamteindruck, den die Arisierung hinter­lässt, nachdem das Ergebnis für Berlin einigermaßen zu übersehen ist, ist nicht erfreulich. Denn ich hätte nicht geglaubt, dass die Möglichkeit[,] jüdische Geschäfte als Deutscher zu übernehmen, einen so außerordent­lichen Andrang von Bewerbern für jüdische Geschäfte hervorrufen würde, noch, dass Kreise, von denen es nicht zu erwarten war, den Berichterstatter [Julius Lippert, C. K.] fragen würden, ob er ‚nicht ein gutes jüdisches Objekt anhand [sic!] habe‘.“56 Eine Auswertung eines Samples von etwas mehr als 8.000 im Handelsregister geführten Firmen zeigt deutlich, dass in Berlin die Vernichtung der jüdischen

52 Vgl. Michael Wildt, Polizei der Volksgemeinschaft. Terror und Verfolgung im Deutschen Reich, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hrsg.), Topographie des Terrors. Gestapo, SS und Reichsicherheitshauptamt in der Wilhelm- und Prinz-Albrecht-Strasse. Eine Dokumentation. Berlin 2010, 274 – 285, hier: 279. 53 Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit. Frankfurt am Main 2004, 105. 54 Rassekampf in der Wirtschaft, in: Völkischer Beobachter, 21.9.1938. 55 Vgl. Bajohr, Parvenüs, 137f. 56 Sonderbericht des Stadtpräsidenten über die Entjudung des Einzelhandels in Berlin, 5.1.1939, in: BArch B, R 3101, 32170. Hervorhebung im Original.

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Gewerbetätigkeit erst nach dem Pogrom ihren Tiefpunkt fand. Erst ab April/ Mai 1938 stieg die Zahl derjenigen Gewerbebetriebe, die in den Besitz von Nichtjuden transferiert wurden oder die liquidiert wurden, spürbar an. Waren zwischen 1933 und 1937 rund ein Drittel und 1938 noch knapp 30 Prozent aller Unternehmen transferiert worden, waren es 1939 nur noch knapp zehn Prozent.57 Zu diesem Zeitpunkt wurden über 90 Prozent aller Gewerbebetriebe liquidiert! Besitzübernahmen Liquidationen

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Abb 3  „Arisierung“ und Liquidierung von jüdischen Gewerbebetrieben in Berlin 1933 – 1945

In diesem dramatischen Rückgang der Besitzübernahmen spiegelte sich letztlich der Substanzverlust wider, der durch jahrelange Verfolgung und die Verwüs­ tungen der Pogrome eingetreten war. Dies fasste der Schwiegersohn des am 10. November 1938 vom Mob ermordeten Likörhändlers Ernst Feuerstein Anfang der 1960er-Jahre gegenüber dem Entschädigungsamt Berlin lapidar so zusammen: „Wegen der totalen Zerstörung und Plünderung war ein Verkauf des Geschäfts,

57 Kreutzmüller, Ausverkauf, 243 – 251; Vgl. DjGB. Vgl. auch Benno Nietzel, Handeln und Überleben. Jüdische Unternehmer aus Frankfurt am Main 1924 – 1964. Göttingen 2012.

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der Waren, des Inventars, der Außenstände oder des goodwill völlig ausgeschlossen und es wurde liquidiert.“58 Trotz der uferlosen Gewalt und ganz im Gegensatz zur Entwicklung in den anderen Städten des Reichs war der Prozess der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin noch längst nicht abgeschlossen.59 Im Februar 1941 berichtete der zuständige Referent der Berliner IHK: Die Entjudung der Berliner Wirtschaft ist im Jahre 1940 weiter fortgeschritten und kann – soweit es die Arisierung der erhaltungswürdigen Betriebe betrifft – als abgeschlossen angesehen werden. Zwar ist bei zahlreichen Verfahren aus formalen Gründen eine Genehmigung noch nicht erteilt, doch ist in jedem Falle der jüdische Einfluss ausgeschaltet worden. Die Kammer hat im Berichtsjahr zu 184 eingereichten Arisierungsverträgen gutachtlich Stellung genommen. In der zweiten Hälfte des Jahres wurde die Liquidation derjenigen jüdischen Betriebe stärker vorangetrieben, bei denen wir die Erhaltungswürdigkeit verneint haben. Etwa 400 jüdische Betriebe sind in letzter Zeit geschlossen worden.60 Zahlreiche Unternehmen wurden schließlich erst aus dem Handelsregister gelöscht oder in den Besitz eines Nichtjuden überführt, als die Deportationen bereits im Gang waren. Dies zeigen nicht zuletzt auch die Handelsregister­ akten. Am 25. Januar 1942 wurde beispielsweise der 68-jährige Moses Manne verschleppt. Seine alteingesessene Weißwarenhandlung Nathan Manne in der Nähe des Roten Rathauses war bis dahin nicht aus dem Handelsregister gelöscht worden. Deshalb versuchte das Registergericht Kontakt zu den Gesellschaftern aufzunehmen und erkundigte sich beim Einwohnermeldeamt, wo Moses Manne verblieben sei. Als die Registerbeamten erfuhren, dass Manne „nach Riga überführt“ worden sei 61, wandten sie sich Ende März 1942 an Rudolf Lange, den Kommandeur der Sicherheitspolizei (KdS) in Lettland. Er hatte an der Wannsee-Konferenz teilgenommen, weil unter seinem Befehl im Januar 1942 58 Eidesstattliche Versicherung von Jizhak Nüssenfeld, 19.11.1962, in: EAB, 152501. 59 Vgl. Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich. Göttingen 1966, 269. 60 Bericht der IHK, 14.1.1941, in: BLHA, Rep. 70, IHK Berlin, Abgabe 2001, Nr. 163/55, 88. 61 Brief des Amtsgerichts an das Einwohnermeldeamt, 26.3.1942, in: AGC, HR A 91, 86256, 1942.

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die ersten deutschen Juden planmäßig durch Massenerschießungen ermordet worden waren. Entsprechend barsch antworte der KdS, dass keine Post in das Ghetto befördert werde und dass außerdem „hinsichtlich der Juden kein Papierkrieg geführt“ werde.62 Das Unternehmen wurde daraufhin ohne die Zustimmung seines inzwischen ermordeten Inhabers gelöscht. Die Löschung jüdischer ­Firmen aus dem Handels­register wurde von den Beamten noch bis Mitte März 1945 fortgeführt 63 – also noch einen Monat, nachdem das Reichswirtschafts­ ministerium die Vernichtung aller „Entjudungsakten“ angeordnet hatte,64 und nur etwas mehr als einen Monat, bevor die Rote Armee die Stadtgrenze erreichte und der ebenso sinnlose wie verheerende Kampf um Berlin begann.

V. Resümee Die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Juden war letztlich eine (teils unscharfen) rassistischen Kriterien folgende wirtschaftspolitische Landnahme. Nachdem Juden rasch weitgehend aus dem Staatsdienst und aus vielen Unternehmen entlassen worden waren, bedrohte dieser Prozess den durch die Wirtschaftskrise ohnehin fragilen materiellen Kern jüdischen Lebens in Deutschland. Hiergegen versuchten die Juden sich selbstverständlich mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln zu Wehr zu setzen. Der Existenzkampf war freilich nur eine Seite der Medaille. Curt Joseph ging es beileibe nicht nur um Vermeidung wirtschaftlicher Einbußen, sondern auch darum, seinen Ruf und guten Namen als redlicher Kaufmann zu wahren und das Fortbestehen seiner Firma zu sichern, die er als Familienerbe begriff. „Wir haben das Recht uns helfen zu lassen“, betonten der Rabbiner Leo Baeck und der Bankier Carl Melchior ganz in diesem Sinne im März 1933, „wenn wir zuerst und mit ganzer Kraft uns selbst helfen – vor allem wir deutschen Juden, die wir ein altes Ansehen und einen alten Ruf zu wahren haben“.65 62 Brief des Kommandeurs der Sicherheitspolizei (KdS) in Lettland an das Amtsgericht, 25.4.1942, in: AGC, HR A 91, 86256, 1942. 63 Vgl. Verfügung des Amtsgerichts, 14.3.1945, in: AGC, HR A 90, 92023. 64 Vgl. Rundschreiben des Reichswirtschaftsministeriums, 16.2.1945, in: BArch B, R. 3101, 9042. 65 Leo Baeck/Carl Melchior, Geleitwort, in: Zentralausschuss der Deutschen Juden für Hilfe und Aufbau (Hrsg.), Hilfe und Aufbau. Berlin 1933, 3.

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Berlin – zugleich Wirtschafts- und Industriemetropole und als Reichshauptstadt Sitz der wichtigsten Ministerien, Botschaften und jüdischen Interes­sensvertretungen – bot deutschlandweit die besten Grundlagen für die Behauptungsversuche und wurde so rasch zum bedeutendsten Zufluchtsort für eine auch wirtschaftlichen Überlegungen folgende jüdische Binnenmigration. Die Beharrungskräfte der jüdischen Unternehmer wurden effektiv von der Gemeinde unterstützt, sodass die Reichshauptstadt ab 1933 endgültig zu einem Laboratorium der innerjüdischen Wirtschaftshilfe auf Gegenseitigkeit wurde. In Berlin blieb deshalb die Grundsubstanz der Gewerbetätigkeit bis weit in das Jahr 1938 erhalten. Dies allerdings hatte zur Folge, dass die Vernich­tung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin mit besonderer Bruta­ lität ins Werk gesetzt wurde und teils erst mit der Deportation der Gewerbe­ treibenden einherging. Vor diesem Hintergrund erlaubt die Begrifflichkeit der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Juden nicht nur einen Perspektivwechsel und dabei eine gesellschaftsgeschichtliche Verortung, sondern ermöglicht es auch, an den von Raul Hilberg wegweisend analysierten Prozess der „Vernichtung der europäischen Juden“ anzuschließen.66 Laut Hilberg überlagerten sich die fünf von ihm herausgearbeiteten Teilprozesse. Die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Juden ist dabei der Teilprozess, der am längsten – nämlich bis über Konzentration und Mord hinaus – dauerte und damit in alle anderen Prozesse hineinreichte. Dabei überschnitten sich in den Augen der Täter scheinbar auch bestimmte Zweckrationalitäten, sodass sie den Begriff der „Liquidation“ aus seinem ursprünglichen betriebswirtschaftlichen Kontext herauslösten und ihn nutzten, um den Mord an sich zu bezeichnen. Eine Analyse der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Juden erlaubt damit auch neue Blicke auf alle anderen Aspekte des systematischen Mordes der europäischen Juden, den wir heute Holocaust nennen.

66 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt/Main 1990 (Berlin 1982).

Benno Nietzel

Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit. Die Konstruktion „jüdischer Unternehmen“ und die Öffentlichkeit der Judenverfolgung in Frankfurt am Main 1933 – 1939 Die wirtschaftliche Verfolgung der Juden während des Nationalsozialismus fand vor den Augen der Öffentlichkeit statt, zahlreiche Deutsche waren an ihr als Mittäter oder Nutznießer beteiligt.1 Diese öffentliche Dimension war indes keine sekundäre Begleiterscheinung der Judenverfolgung, Öffentlichkeit war für diesen Prozess vielmehr in einiger Hinsicht konstitutiv. Mit seiner Politik der Stigmatisierung, des Boykotts und der „Arisierung“ ging es dem NS-Regime um die gewaltsame Trennung einer jüdischen und einer nichtjüdischen Sphäre im Bereich der Wirtschaft. Hierzu musste öffentlich in Szene gesetzt und den Volksgenossen demonstriert werden, was mit dieser Trennung gemeint war und wo die Grenzen rassistisch definierter gesellschaftlicher und ökonomischer Sphären verlaufen sollten. Für die Nationalsozialisten war es eine unbestrittene Tatsache, dass es einen „jüdischen Wirtschaftssektor“, dass es „jüdische Unternehmen“ und „jüdisches Vermögen“ gab. Mit ihrer Propa­ganda verbreiteten sie diese Schlagworte in der alltäglichen politischen ­Sprache, sodass darüber auch von Nicht-Antisemiten wie über reale Dinge geredet wurde.2 Auch die heutige Forschung operiert mit diesen Begriffen; dabei gerät zuweilen etwas aus dem Blick, dass diese Kategorien keine empirische Substanz besaßen, sondern ideologische Zuschreibungen und Kons­ truktionen darstellten. Diese Feststellung ist nicht trivial, sondern erschließt einen wesentlichen Aspekt der nationalsozialistischen Judenverfolgung, deren Grundlage erst eine wirkungsmächtige Konstruktion des „Jüdischen“ sein konnte, die keineswegs unmittelbar evident war. 1 Vgl. Frank Bajohr, Verfolgung aus gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive. Die wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden und die deutsche Gesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 26, 2000, 629 – 652. 2 Vgl. auch Thomas Pegelow Kaplan, The Language of Nazi Genocide. Linguistic Violence and the Struggle of Germans of Jewish Ancestry. Cambridge 2009.

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Der vorliegende Beitrag zeigt am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main, wo 1933 nach Berlin die zweitgrößte jüdische Gemeinde im Deutschen Reich beheimatet war, wie „jüdische Unternehmen“ konstruiert wurden, und stellt damit einen Prozess dar, in dessen Verlauf ein ideologisches Phantasma in politische Wirklichkeit überführt wurde.3 Dieser Prozess war v. a. durch Versuche und Strategien der Sichtbarmachung dessen charakterisiert, was die Nationalsozialisten als „jüdisch“ wahrnahmen und definierten. Erst indem ihre Objekte öffentlich sichtbar gemacht wurden, erhielten diese Definitio­nen ihren eigentlichen Sinn und entfalteten ihre politische Wirkung. Im Gegenzug lassen sich indes vielfältige Gegenstrategien jüdischer Betroffener beobachten, „unsichtbar“ im Sinne der rassistischen Kategorisierungen zu werden. Die Radikalisierungsdynamik des antisemitischen Verfolgungsprozesses ergab sich zum Teil aus dem Wechselspiel dieser Strategien des Sichtbar-­ Machens und Unsichtbar-Werdens. Sie mündete in die Zerstörungsgewalt des Novemberpogroms und die Zerschlagung der jüdischen Gewerbetätigkeit im Deutschen Reich.

I. Definition und Erfassung „jüdischer Unternehmen“ Dass die nationalsozialistische Regierung nach der Machtübernahme 1933 gegenüber den deutschen Juden eine Politik der Ausgrenzung und Segregation betreiben würde, daran dürften die Zeitgenossen kaum gezweifelt haben. Das 25-Punkte-Programm der NSDAP von 1920 war in dieser Hinsicht eindeutig. Es war ebenfalls klar, dass die Nationalsozialisten nicht lediglich die Angehörigen der jüdischen Religion als „Juden“ sahen, sondern den Begriff in einem rassistischen Sinne und daher viel weiter verstanden. Wie genau er zu verstehen sei, darüber waren sich allerdings auch die neuen Machthaber selbst nicht recht im Klaren. Mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums legte die NS-Regierung nichtsdestoweniger bereits im April 1933 eine Definition derer vor, die als „Juden“ aus dem 3 1925 lebten in der Mainmetropole 29.835 jüdische Einwohner, 1933 noch 26.158. Im Handelsregister waren über 2.000 Firmen in jüdischem Besitz eingetragen. Vgl. ausführlich meine Arbeit Benno Nietzel, Handeln und Überleben. Jüdische Unternehmer aus Frankfurt am Main 1924 – 1964. Göttingen 2012. Zum Problem der Begrifflichkeit ebd., 15f.

Die Konstruktion „jüdischer Unternehmen“ in Frankfurt am Main 1933 – 1939

Staatsdienst auszuscheiden hatten. Die Ausführungsverordnung zog den Kreis der Betroffenen denkbar weit, ein einziger jüdischer Großelternteil führte im Regelfall zur Entlassung.4 Mit den Ausnahmen für Altbeamte und ehemalige Frontkämpfer vermischte das Gesetz aber rassistische und politische Zugehörigkeitskriterien.5 Viel deutet darauf hin, dass die NS-Regierung keine konkreten Vorstellungen von den faktischen Auswirkungen des Gesetzes hatte und vom Verwaltungsaufwand bei seiner Durchführung sowie insbesondere auch von der Zahl der Ausnahmeregelungen für jüdische Beamte überrascht wurde. In der folgenden Diskussion um eine grundlegende Rassengesetzgebung setzte sich die Haltung durch, das Berufsbeamtengesetz habe zu weit gegriffen und die Zahl der rassis­ tisch Ausgegrenzten falle durch eine solch rigide Regelung zu groß aus. Zur größten praktischen Schwierigkeit der NS-Rassenpolitiker geriet allerdings die Frage, welcher Status sogenannten jüdischen „Mischlingen“ (also Deutschen mit sowohl jüdischen wie auch nichtjüdischen Vorfahren) zukommen solle, wo also genau die Grenze zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung zu ziehen sei. Das Reichsbürgergesetz von 1935 löste dieses Problem nur scheinbar, indem es zwischen Juden und Nichtjuden eine gewisse Grauzone von „Mischlingen“ abgestufter Grade etablierte.6 Bis in die letzten Jahre der NS-Herrschaft sollte über den Umgang mit diesen „Mischlingen“ gestritten werden.7 Das wirre und in sich unlogische Dickicht der rassenantisemitischen Theo­ rien praktisch handhabbar zu machen, gelang der NS-Führung nie. Wer und was ein „Jude“ im rassisch-blutmäßigen Sinne war, ließ sich weder eindeutig feststellen noch im Zweifelsfall empirisch nachweisen.8 Daher waren alle 4 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933, RGBl I 1933, 175; Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 11.4.1933, ebd., 195. 5 Vgl. Hans Mommsen, Beamtentum im Dritten Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik. Stuttgart 1966. 6 Reichsbürgergesetz vom 15.9.1935, RGBl I 1935, 1146; Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.11.1935, ebd., 1333. 7 Vgl. Cornelia Essner, Die „Nürnberger Gesetze“ oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933 – 1945. Paderborn u. a. 2002; Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933 – 1945. Hamburg 1999. 8 Vgl. Diana Schulle, Das Reichssippenamt. Eine Institution nationalsozialistischer Rassenpolitik. Berlin 2001; Eric Ehrenreich, The Nazi Ancestral Proof. Genealogy, Racial Science and the Final Solution. Bloomington 2007.

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rassengesetzlichen Regelungen letztlich doch wieder gezwungen, zum einzig objektivierbaren Merkmal – der jüdischen Religionszugehörigkeit – Zuflucht zu nehmen, dessen Feststellung lediglich auf die Eltern- und Großelterngeneration der Betroffenen rückverschoben wurde. Wenn aber nicht einmal verlässlich gesagt werden konnte, wer Jude war, musste es umso schwieriger sein, „jüdische Unternehmen“ zu definieren. Zwar ließ sich ein Betrieb über die Inhaberperson identifizieren, doch waren an einem Unternehmen oftmals mehrere Personen beteiligt, an Kapitalgesellschaften unter Umständen ein sehr großer Personenstamm, der namentlich kaum genauer zu erhellen war und der sich zudem laufend ändern konnte. Angesichts dieser Schwierigkeiten ist nachvollziehbar, warum sich die NS-Regierung nach 1933 zunächst nicht mit einer Definition „jüdischer Unternehmen“ hervorwagte, obwohl dieses Schlagwort in der nationalsozialistischen Politik eine große Rolle spielte. Damit überließ sie dieses Feld weitgehend lokalen und regionalen Akteuren, von denen viele seit den ersten Tagen der Machtübernahme darauf brannten, ihrem antisemitischen Verbalradikalismus endlich auch effektive Taten folgen zu lassen. In Frankfurt sollten, nachdem die Reichsregierung einen Aufruf zum staatlich organisierten Boykott gegen jüdische Geschäfte im April 1933 erlassen hatte,9 die unteren Parteifunktionäre jüdische Geschäfte, Rechtsanwälte und Ärzte zellenweise in Listen zusammenstellen.10 Auch die ersten antisemitischen Maßnahmen der nationalsozialistischen Stadtregierung unter Oberbürgermeister Friedrich Krebs setzten eine solche Erfassung voraus. Krebs hatte schon am 28. März telefonisch aus Berlin verfügt, dass nicht nur alle jüdischen Angestellten der Stadt zu entlassen und jüdische Stadtbeamte zu beurlauben waren, sondern ordnete im gleichen Zuge auch die Kündigung aller Lieferverträge städtischer Dienststellen mit jüdischen Firmen an und verbot

9 Vgl. Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933 – 1943. Frankfurt am Main 1987, 26 – 35; Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933 – 1939. München 2000, 29 – 38. 10 Vgl. Rundschreiben der Kreisleitung Groß-Frankfurt, 29.3.1933, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HStAW), Abt. 483, 819b, Bl. 57; vgl. Wolfgang Wippermann, Das Leben in Frankfurt zur NS-Zeit, Bd. 1: Die nationalsozialistische Judenverfolgung. Darstellung, Dokumente und didaktische Hinweise Frankfurt am Main 1986, 53 – 57.

Die Konstruktion „jüdischer Unternehmen“ in Frankfurt am Main 1933 – 1939

den städtischen Bediensteten, in jüdischen Geschäften zu kaufen.11 Seit Juni 1933 war es städtischen Bediensteten auch verboten, bei Erkrankungen jüdische Ärzte aufzusuchen.12 Sieht man davon ab, dass sich die Regelungen des Berufsbeamtengesetzes zum Teil sinngemäß auf andere Bereiche übertragen ließen, geschah all dies, ohne dass eine amtliche Definition namentlich des Begriffs „jüdische Unternehmen“ existiert hätte. Da die Reichsregierung keine verbindliche Orientierungsgrundlage zu b ­ ieten gewillt war, versuchte sich die NSDAP eine Zeit lang darin, Definition und Erfassung jüdischer Unternehmen in Deutschland parteiamtlich zu zentralisieren. Das nach dem vorzeitig abgebrochenen Boykott vom April 1933 ohne rechte Aufgabe verbliebene zentrale Boykottkomitee versandte hierzu Fragebögen an Firmen der Industrie und des Großhandels, konnte die Beantwortung jedoch nicht erzwingen und sich somit nicht als Zuständigkeitsinstanz durchsetzen.13 Auch spätere Pläne des Sicherheitsdiensts des Reichsführers-SS (SD) zur Erstellung einer reichsweiten Kartei jüdischer Personen und Unternehmen verliefen im Sande.14 So verblieb die konkrete Praxis der Erfassung „jüdischer Unternehmen“ letztlich bis Ende 1937 und darüber hinaus in der Ägide lokaler Akteure. Auch auf der lokalen Ebene stellte sich in der Regel jedoch keine Vereinheit­ lichung ein, vielmehr machte sich eine Vielzahl von Einzelpersonen, Organisationen und Behörden daran, auf eigene Faust und nach eigenem Gutdünken „jüdische Unternehmen“ als solche zu etikettieren und zu erfassen. In Frankfurt spielten auf diesem Feld auch weiterhin die unteren Parteistellen eine tragende Rolle.15 11 Vgl. Aktenvermerk über telefonische Anordnung von OB Krebs aus Berlin, 28.3.1933, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (IfS), Magistratsakten, Nr. 5039, Bl. 3f.; Verfügung des Magistrats-Personaldezernenten Nr. 103, 28.3.1933, ebd., Bl. 5f. 12 Vgl. Verfügung Nr. 42 des Oberbürgermeisters, 16.6.1933, IfS, Magistratsakten. Nachträge, Nr. 216, Bl. 400. 13 Vgl. Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) an Landesverband Ostpreußen, 12.10.1934, Russisches Staatliches Militärarchiv, fond 721, opis 1, delo 3068, Bl. 2f. 14 Vgl. Runderlass des Chefs der Geheimen Staatspolizei, 17.8.1935, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945, Bd. 1. München 2008, 470; Bericht SD-Führer Oberabschnitt Fulda-Werra an Sicherheitshauptamt Abt. II 112, 4.6.1937, Russisches Staatliches Militärarchiv, fond 500, opis 1, delo 495, Bl. 36 – 39. 15 Vgl. z. B. NSDAP-Ortsgruppe Günthersburg an Kreisleitung betr. Auskunft über Fa. Dr. Paul Lehmann, 15.5.1936, HStAW, Abt. 483, Nr. 831; allgemein hierzu Carl-Wilhelm

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Auch die NSDAP-Presse tat sich immer wieder damit hervor, einzelne Listen mit jüdischen Geschäften zur Information der Stadtbevölkerung zu veröffentlichen. Im Verlag des lokalen Frankfurter Volksblattes erschien 1934 ein umfangreiches Nachschlagewerk als Broschüre, das Tausende jüdische Bürger aus Frankfurt alphabetisch auflistete und auch ein Branchenverzeichnis jüdischer Unternehmen enthielt. 1935 war das fast 180 Seiten starke Werk in einer zweiten, überarbeiteten Auflage erhältlich.16 Für amtliche Zwecke waren solche Verzeichnisse allerdings schwerlich zu gebrauchen, schließlich enthielten sie oftmals zahlreiche Mehrfach- und Fehl­ einträge und waren damit nicht verlässlich genug. Das Frankfurter Verkehrsund Wirtschaftsamt führte daher bei der Vorbereitung einer umfangreichen Denkschrift über die Folgen der Judenverfolgung für die städtische Wirtschaft 1934 eine eigene Erhebung durch. Von den im Frankfurter Handelsregister eingetragenen Firmen stufte es 1.700 als „nichtarisch“ ein und kam damit auf einen Anteil jüdischer Unternehmen von 34 Prozent.17 Welche Kriterien der Einstufung zugrunde lagen, ist indes unklar. Aus den Quellen ersichtlich ist jedoch, dass bei der Erfassung jüdischer Unternehmen die Frankfurter Industrie- und Handelskammer (IHK) eine Schlüsselrolle spielte. Auf den Blättern der überlieferten Firmenkartei, in der seit den 1920er-Jahren die zahlenden Mitgliedsunternehmen der Handelskammer geführt wurden, lassen sich schon seit der Frühphase der NS-Herrschaft Eintragungen über den „nichtarischen“ Charakter von Betrieben finden.18 Mit diesen oftmals in roter Farbe gehaltenen Vermerken veränderte sich auch die Struktur der Kartei: Schon beim schnellen Durchblättern wurden nun die „jüdischen Unternehmen“ sichtbar. Für die städtischen Behörden und Parteistellen war die Frankfurter IHK in dieser Hinsicht die wichtigste Auskunftsstelle.19

Reibel, Das Fundament der Diktatur. Die NSDAP-Ortsgruppen 1932 – 1945. Paderborn u. a. 2002, 311 – 327 und für Frankfurt ders., Die NSDAP-Ortsgruppen Dornbusch und Oberrad 1933 – 1945, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 65, 1999, 53 – 120. 16 Eine Antwort auf die Greuel- und Boykotthetze der Juden im Ausland. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1935. 17 Vgl. Denkschrift des Wirtschaftsamtes, 17.2.1934, abgedruckt in: Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden 1933 – 1945. Frankfurt am Main 1963, 178 – 185. 18 Die Kartei wird im Hessischen Wirtschaftsarchiv Darmstadt aufbewahrt. 19 Vgl. z. B. Auskunftsstelle der IHK an Gauleitung Hessen-Nassau, 22.5.1934, HStAW, Abt. 483, Nr. 10960, Bl. 237 betreffend die Firma Schade & Füllgrabe. Privaten

Die Konstruktion „jüdischer Unternehmen“ in Frankfurt am Main 1933 – 1939

Dabei blieb die Kategorie des „jüdischen Unternehmens“ noch lange Zeit ausgesprochen vage. Ein 1935 von Parteistellen versandter Fragebogen aus der Region Nürnberg-Fürth, mit dem dort die Herausgabe eines Verzeichnisses jüdischer Geschäfte vorbereitet werden sollte, zeigt die Vielzahl möglicher Krite­ rien, die sich die Verantwortlichen vorstellen konnten.20 In dem Fragebogen wurde nicht nur nach der Abstammung des Inhabers gefragt, sondern auch nach den Kapitalverhältnissen, nach der Belegschaft, nach jüdischen Vertretern, nach Vertretern, die für jüdische Unternehmen arbeiteten und die mit dem befragten Betrieb in Kontakt standen, nach Geschäftsbeziehungen zu jüdischen Unternehmen usw. Dies zeigt, wie sehr Unternehmen Schnittstellen vielfäl­tiger gesellschaftlicher Verflechtungen und Interaktionen sind und dass sie sich von ihrer Umwelt schlichtweg nicht eindeutig abgrenzen lassen. Was genau ein „jüdisches Unternehmen“ ausmachen sollte, war daher nur höchst willkürlich zu bestimmen: Waren es nur Betriebe im Besitz von Juden oder auch solche, die von Juden geleitet wurden oder in denen Juden Kapital investiert hatten? Oder sollten sogar Unternehmen als jüdisch gelten, die jüdische Angestellte beschäftigten, die mit jüdischen Unternehmern Lieferbeziehungen unterhielten, die jüdischen Betrieben Kredite gewährten, die jüdische Kunden hatten, die in jüdischen Zeitungen inserierten, deren Inhaber mit Juden p ­ rivat zu tun hatten? Das ideologische Bestreben, in der Wirklichkeit etwas zu fi ­ nden, das es nicht gibt, konnte so leicht in einen uferlosen Wahnwitz führen. Die Nationalsozialisten waren allerdings hier wie auch auf anderen Feldern in der Lage, pragmatische Wege zu beschreiten. Anfang 1938 versandte das Reichswirtschaftsministerium erstmals einheitliche Richtlinien an die Industrie- und Handelskammern, nach denen diese über den „jüdischen“ Charakter von Unternehmen entscheiden sollten.21 Mit einigen Verschärfungen wurden

Unternehmen verweigerte die IHK indes Auskünfte über den „jüdischen Charakter“ eines Unternehmens unter Verweis auf die politische Linie der Reichsregierung; vgl. z. B. IHK an Fa. Thüringer Gasgesellschaft, 6.10.1933, HStAW, Abt. 483, Nr. 10957, Bl. 145f. 20 Vgl. Fragebogen Nürnberg-Fürth an Firmen wegen geplanter Herausgabe eines Verzeichnisses jüdischer Geschäfte, o. D. [Februar 1935], Russisches Staatliches Militär­ archiv, fond 721, opis 1, delo 2749, Bl. 22. 21 Vgl. Rundschreiben des Reichswirtschaftsministeriums an die Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern, 4.1.1938, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BAL), R 3101, Nr. 8934, Bl. 101.

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diese Richtlinien im Juni 1938 als Dritte Verordnung zum Reichsbürgergesetz kodifiziert.22 Sie griffen auf die Nürnberger Gesetze zurück und fokussierten auf die an einem Unternehmen beteiligten Personen. Dabei hatte sich eher eine „kontagionistische“ Sichtweise durchgesetzt,23 denn ein Betrieb sollte bereits dann als „jüdisch“ gelten, wenn sich je nach Rechtsform unter den Inhabern, Gesellschaftern, Bevollmächtigten oder Aufsichtsräten auch nur ein einziger Jude fand. Eine Form von „Mischunternehmen“ analog zur Kategorie des „Mischlings“ im Bereich der Abstammung war bei Personengesellschaften nicht vorgesehen. Bei Kapitalgesellschaften galt allerdings nur eine mehr als 25-prozentige Beteiligung von Juden als „entscheidende Beteiligung“. Weil sich die Kapitalverhältnisse bei größeren Gesellschaften unter Umständen nicht leicht feststellen ließen, stellte die Verordnung praktischerweise folgende gesetzliche Vermutung auf: Wenn zu Jahresbeginn 1938 keine Juden in Vorstand oder Aufsichtsrat vertreten gewesen waren, bestehe wohl keine jüdische Kapitalbeteiligung. Damit wurde die antisemitische Fiktion des „jüdischen Unternehmens“ halbwegs konsistent in Paragrafen gegossen. Materiell allerdings wurden die scheinbare Rechtsklarheit bietenden Richtlinien durch einen schwammigen Zusatzpassus stark entwertet. Danach sollte ein Unternehmen auch bei Fehlen der genannten Merkmale als „jüdisch“ gelten, wenn es tatsächlich unter „jüdischem Einfluss“ stand. Dies öffnete willkürlichen Einzelentscheidungen Tür und Tor. Die gesetzliche Definition kam zudem ohnehin zu einem Zeitpunkt heraus, als lokale und regionale Akteure allenthalben bereits wirksame Fakten geschaffen hatten und mancherorts die Ausschaltung und Verdrängung jüdischer Unternehmer schon längst abgeschlossen war. Auch die Bestimmungen zur Eintragung jüdischer Unternehmen in ein öffentliches Verzeichnis waren zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung Mitte 1938 durch den Gang der Ereignisse in der Judenpolitik schon überholt. Das verdeutlicht, dass nicht theoretische Definitionen die entscheidende Ebene waren, sondern die Erfassung und Stigmatisierung jüdischer Unternehmen in der gesellschaftlichen Praxis.

22 Dritte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.6.1938, RGBl I 1938, 627. 23 Vgl. Essner, Nürnberger Gesetze, 32 – 40.

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II. Öffentliche Stigmatisierung und Boykotte als Instrumente zur Herstellung der Volksgemeinschaft Die im antisemitischen Überschwang der Machtübernahme erlassenen Maßnahmen der Frankfurter Stadtregierung reflektierten die Ausgrenzungs- und Schädigungsfantasien gegenüber Juden, die viele Nationalsozialisten hegten. Die Stadt suchte damit ihre Verbindungen zur jüdischen Bevölkerung soweit wie möglich zu kappen. Sehr bald wurde allerdings deutlich, dass sich Frankfurt mit einem solchen Diskriminierungskurs ins eigene Fleisch schnitt, denn jüdische Firmen stellten etwa ein Drittel der im Frankfurter Handelsregister eingetragenen Betriebe. Ihre Schädigung vernichtete Arbeitsplätze und gefährdete das Steueraufkommen der hoch verschuldeten Stadt. Schon im Sommer 1933 ruderte der Magistrat daher bereits wieder etwas zurück und schwächte seinen Beschluss zum völligen Boykott jüdischer Unternehmen durch die Stadt ein wenig ab.24 Zudem sprach sich die Reichsregierung im ersten Jahr der NS-Herrschaft wiederholt gegen staatliche Boykott- und Erfassungsaktivitäten aus. Während der Frankfurter Magistrat auf anderen Feldern einen durchaus rabiaten Kurs der Verfolgung und Ausgrenzung einschlug,25 setzte er, was die jüdische Gewerbetätigkeit anging, in den folgenden Jahren auf eine zumindest im Vergleich mit anderen deutschen Städten relativ zurückhaltende Politik. Den radikalantisemitischen NS-Aktivisten an der Basis war das allerdings viel zu wenig. Immer wieder versuchten sie, durch Gewalt- und Boykott­ aktionen in der Öffentlichkeit den Anbruch einer neuen Zeit und einer neuen gesellschaftlichen Ordnung für sich und für andere in Szene zu setzen. Nach dem Aprilboykott 1933 waren solche Aktion einigermaßen zurückgedrängt worden, fanden aber dennoch reichsweit immer wieder statt. In Frankfurt entlud sich die antisemitische Gewalt erstmals an Weihnachten 1934 wieder großflächig. Das als „christlich-deutsch“ codierte Weihnachtsfest hatte schon seit dem 19. Jahrhundert im Brennpunkt antisemitischer Aktionen gestanden.26 Seit dem 22. Dezember belagerten Boykottposten die größeren jüdischen 24 Vgl. Beschluss des Magistrats Nr. 462, 3.7.1933, IfS, Magistratsakten. Protokolle, P 175. 25 Vgl. Wippermann, Frankfurt, 68 – 96. 26 Vgl. Hannah Ahlheim, Antisemitische Agitation in der „Hochzeit des Konsums“. Weihnachtsboykotte in Deutschland 1927 – 1934, in: Vittoria Borsò/Christiane Liermann/ Patrick Merziger (Hrsg.), Die Macht des Populären. Politik und populäre Kultur im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010, 85 – 114.

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Geschäfte in der Innenstadt, riefen Parolen, beklebten die Schaufenster mit Zetteln und bildeten Absperrungen, um Kauflustige am Betreten der Läden zu hindern. Dabei kam es immer wieder zu größeren Menschenaufläufen, aber auch zu Tumulten und Schlägereien, wenn Einzelne versuchten, durch die Sperren zu gelangen, und daraufhin beleidigt oder herumgeschubst wurden. Auch Polizeibeamte, die zwar gegen die Posten selbst nicht vorgingen, aber immer wieder ausrückten, um größere Menschenansammlungen aufzulösen, wurden vereinzelt Ziel tätlicher Angriffe. Als Feldjäger vor dem bekannten Schuhhaus F. Ehrenfeld auf der Zeil fünf Boykottaktivisten festnahmen, konnten sie sich nur mit gezogener Waffe gegen die drohende Menge behaupten und die Gefangenen abtransportieren. Daraufhin sammelten sich bis zu 40 Angehörige einer SS-Standarte in voller Bewaffnung vor der Feldjägerunterkunft, um die Freilassung ihrer Kameraden, die sich in Zivilkleidung an der Aktion beteiligt hatten, zu erzwingen.27 Diese erbitterten Auseinandersetzungen reflektieren einen Kampf um den öffentlichen Raum, in dem es auch darum ging, inwieweit die nationalsozialistische Machtübernahme eine die ganze Gesellschaft erfassende Umwälzung darstellte. Was den nationalsozialistischen Radikalantisemiten als Verwirklichung ihrer Werte vorschwebte, ließ sich nicht auf dem Verordnungswege oder durch amtliche Maßnahmen herstellen. Diese Politik zielte auf eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Praxis, auf eine Verhaltensänderung aller Staatsbürger.28 Damit die Volksgenossen die Trennung einer „jüdischen“ und einer „nichtjüdischen“ Sphäre mit vollziehen konnten, musste die Grenzziehung öffentlich dargestellt, musste das Andere, Auszuschließende sichtbar gemacht werden. Die Boykottposten vor jüdischen Geschäften, die Drohungen und die Gewalt gegen deren Kunden machten der Öffentlichkeit sehr viel wirksamer klar, worum es ging, als eine 180-seitige Broschüre, die wohl nur hartgesottene Antisemiten ständig als Einkaufsratgeber mit sich herumtrugen. Die Reichsführung mit ihrem ambivalenten Kurs gegenüber der jüdischen Gewerbetätigkeit wehrte sich allerdings wiederholt gegen das Ansinnen, jüdische 27 Vgl. Bericht der Staatspolizeistelle für den Regierungsbezirk Wiesbaden, 6.2.1935, Russisches Staatliches Militärarchiv, fond 500, opis 1, delo 343, Bl. 93 – 97; Bericht des Central-Vereins an das Geheime Staatspolizeiamt Berlin, 29.12.1934, ebd., fond 721, opis 1, delo 3192, Bl. 92 – 94. 28 Vgl. Michael Wildt, Gewaltpolitik. Volksgemeinschaft und Judenverfolgung in der deutschen Provinz 1932 bis 1935, in: Werkstatt Geschichte 35, 2003, 23 – 43.

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Unternehmen öffentlich als solche zu kennzeichnen.29 In Frankfurt wie auch andernorts gingen die lokalen Parteistellen daher zu einem umgekehrten Weg der Kennzeichnung über, indem sie Schilder mit der Aufschrift „Deutsches Geschäft“ herstellten und vertrieben; diese sollten nur an nichtjüdische Betriebe ausgegeben werden.30 Firmen erhielten die Schilder, wenn sie einen Fragebogen ausfüllten, mit dem der Charakter des Unternehmens überprüft wurde. Die Schilderaktion wurde von der Frankfurter NSDAP-Kreisleitung koordiniert und von den Ortsgruppen in ihren Bezirken durchgeführt.31 Nach Beobachtungen der Frankfurter Ortsgruppe des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) besaß bis Februar 1935 die überwiegende Mehrheit der nichtjüdischen Geschäfte ein entsprechendes Schild, allerdings war es in den Außenbezirken weiter verbreitet als in der Innenstadt.32 Die Einführung der Schilder wurde in Frankfurt von einer umfangreichen Pressekampagne unterstützt und begleitet.33 Seit November 1934 waren in den Anzeigenteil des Frankfurter Volksblattes Aufrufe eingestreut, Weihnachtseinkäufe nur in „deutschen Geschäften“ zu tätigen.34 Mehrmals wurden auch Listen mit Inhabern von „deutschen Geschäften“ veröffentlicht.35 Im Laufe des Jahres 1935 wurde die Pressekampagne für eine „reinliche Scheidung“ von jüdischer und nichtjüdischer Sphäre auf allen Gebieten der Wirtschaft zu einem publi­zistischen Dauerfeuer und erreichte im Juli ihren Höhepunkt.36 Nun wurde nicht mehr nur die Kennzeichnung nichtjüdischer Geschäfte 29 Vgl. Reichswirtschaftsministerium an Deutschen Industrie- und Handelstag, 8.9.1933, abgedruckt in: Joseph Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung. 2. Aufl. Heidelberg 1996, 50. 30 Vgl. Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich. Göttingen 1966, 67f.; Hannah Ahlheim, „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“. Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935. Göttingen 2011, 283 – 299. 31 Vgl. Rundschreiben 0/208 der NSDAP-Kreisleitung Frankfurt/M., 7.12.1934, HStAW, Abt. 483, Nr. 724. 32 Vgl. Schreiben Central-Verein, Ortsgruppe Frankfurt/M. an Zentrale, 19.2.1935, Russisches Staatliches Militärarchiv, fond 721, opis 1, delo 2749, Bl. 46. 33 Vgl. Deutsche Geschäfte, in: Frankfurter Volksblatt, Nr. 322, 23.11.1934, 10. 34 Erstmals in: Frankfurter Volksblatt, Nr. 324, 25.11.1934, 14; ebenso Nr. 330, 1.12.1934, 24; Nr. 338, 9.12.1934, 19 und öfter. 35 Vgl. Frankfurter Volksblatt, Nr. 32, 2.2.1935, 4; Nr. 40, 10.2.1935, 5. 36 Vgl. Wir fordern reinliche Scheidung, in: Frankfurter Volksblatt, Nr. 195, 20.7.1935, 4.

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verlangt, sondern diese wurden auch dazu aufgerufen, auf jüdische Kundschaft zu verzichten. Insbesondere Gaststätten als Orte gemeinsamer Geselligkeit sollten Schilder mit der Aufschrift „Juden sind hier unerwünscht!“ anbringen, andernfalls wurde auch ihnen Boykott angedroht.37 Die Namen jüdischer Vertreter im Kohlenhandel wurden mit Adressen veröffentlicht, ebenso eine Liste nichtjüdischer Handwerksmeister, die jüdische Lehrlinge ausbildeten und damit „im Dienste Judas“ stünden.38 Im Frühjahr des folgenden Jahres meldete sich das Volksblatt in dieser Sache noch einmal zurück und gab eine Sonderbeilage mit dem Titel „Wegweiser zu den deutschen arischen Geschäften in Frankfurt“ heraus.39 Boykottdruck und öffentliche Stigmatisierung schädigten die betreffenden Betriebe natürlich ökonomisch; das war jedoch nicht das alleinige Ziel der NS-Aktivisten. Vielmehr waren die Boykottaktionen ein wesentliches Medium, um eine rassistisch verstandene „Volksgemeinschaft“ herzustellen.40 Die Boykotte markierten die Grenzen, die zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung gezogen werden sollten, und wachten über ihre Einhaltung. Es ist daher kein Zufall, dass sich Boykotte immer wieder gegen die exponierten jüdischen Geschäfte der Frankfurter Innenstadt richteten, während Übergriffe auf Großhandels- oder Industriebetriebe in Außenbezirken nicht überliefert sind. Jüdische Einzelhandelsgeschäfte waren symbolisch aufgeladene Orte gesellschaftlicher und ökonomischer Interaktion im öffentlichen Raum. An ihrem Beispiel ließ sich nicht nur der Anspruch des nationalsozialistischen Volks­ gemeinschaftsprojektes an das Verhalten des Einzelnen besonders eindrucksvoll in Szene setzen; vielmehr stellte das Einkaufen in jüdischen Geschäften auch tagtäglich ebendieses Projekt öffentlich infrage und negierte seine Voraussetzungen. Daher war es den radikalen NS-Anhängern ein besonderer Dorn im Auge. Insofern richtete sich antisemitischer Boykott nicht allein gegen die

37 Vgl. Juden sind hier unerwünscht, in: Frankfurter Volksblatt, Nr. 134, 18.5.1935, 4; Das war nationalsozialistische Disziplin!, in: ebd., Nr. 186, 11.7.1935, 4; Sie sollen uns aus dem Weg gehen, in: ebd., Nr. 200, 25.7.1935, 6. 38 Vgl. Jüdische Vertreter im Kohlenhandel, in: Frankfurter Volksblatt, Nr. 132, 16.5.1935, 4; Arische Handwerksmeister im Dienste Judas, in: ebd., Nr. 151, 5.6.1935, 4. 39 Achtung deutsche Geschäftsleute, in: Frankfurter Volksblatt, Nr. 85, 26.3.1936, 10; die 13-seitige Beilage erschien erstmals in Nr. 94, 4.4.1936. 40 Vgl. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburg 2007.

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jüdischen Betroffenen, sondern auch gegen die nichtjüdischen Volksgenossen, die ihn unterliefen. Auf sie zielten Zettel, die im August 1935 im Frankfurter Stadtteil Bockenheim von NS-Aktivisten in die Briefkästen geworfen wurden und auf denen stand: Das ist der Jude, der Staatsfeind Nr. 1, bei dem noch viele Volksgenossen einkaufen, oder ihn als Gast beherbergen. Volksgenosse, der Du das tust, Du wirst eines Tages an den Pranger gestellt, denn Du schädigst mit Deinem Tun die deutsche Nation! Warte Deine Zeit kommt auch bald!41 Natürlich zeigte sich in dieser aggressiven Rhetorik auch ein Stück weit die Hilfund Machtlosigkeit der NS -Parteistellen gegenüber den Frankfurter Konsumenten, die sich in ihrem Kaufverhalten kaum von ideologischen Prinzipien leiten ließen und durch reine Verhaltensappelle in dieser Haltung auch schwerlich zu erschüttern waren.42 Die hessische Gauleitung wandte sich seit Sommer 1935 wiederholt und in zunehmend strengerem Ton gegen gewalttätige antisemitische Aktionen und Übergriffe auf einzelne Unternehmen im öffentlichen Raum,43 und in den Jahren 1935 bis 1937 blieben sie offenbar weitgehend aus. Zwar sanken in vielen jüdischen Einzelhandelsgeschäften in der Frankfurter Innenstadt während dieses Zeitraums die Umsätze, die allermeisten existierten jedoch weiter, und dort einzukaufen war auch 1938 noch üblich.44 Im April 1938 zettelten Frankfurter Aktivisten daher erneut planmäßige Boykottaktionen gegen mindestens ein Dutzend größerer Einzelhandelsgeschäfte in zentraler

41 Central-Verein, Ortsgruppe Frankfurt/M. an Zentrale, 27.8.1935, Russisches Staat­ liches Militärarchiv, fond 721, opis 1, delo 3182, Bl. 370 – 372. Noch drastischer war ein Aufruf im Würzburger Generalanzeiger vom Mai 1933 formuliert, in dem nichtjü­ dische Frauen, die in jüdischen Geschäften kauften, als „Volksverräterinnen“ mit KZHaft bedroht wurden; abgedruckt in: Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage der Juden in Deutschland 1933. Paris 1934, 351f. Dieser Aufruf musste kurz darauf durch eine Richtigstellung der Gauleitung abgemildert werden; vgl. Genschel, Verdrängung, 69f. 42 Vgl. Bajohr, Verfolgung, 642. 43 Vgl. Rundschreiben des Gauleiters von Hessen-Nassau, 7.2.1935, IfS, Kreisleiter OB Krebs, Nr. 2, Bl. 432; Rundschreiben des Gauleiters von Hessen-Nassau, 8.10.1935, HS tAW , Abt. 483, Nr. 719. 44 Vgl. Nietzel, Handeln und Überleben, 137 – 149.

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Lage an.45 Diese Aktionen folgten zunächst dem bekannten Muster, waren aber gewalttätiger als früher. Passanten, die es noch wagten, in jüdischen Geschäften einzukaufen, wurden nun häufiger nicht nur beleidigt und bedroht, sondern tätlich angegangen, herumgestoßen und noch über mehrere Straßenzüge verfolgt.46 Die Vorgänge in Frankfurt waren Teil einer reichsweiten Gewaltwelle, die sich besonders in Berlin manifestierte, wo NS-Aktivisten am helllichten Tage jüdische Geschäfte beschmierten, mit Aufschriften und Plakaten versahen, zum Teil aber auch Schaufensterscheiben einschlugen und Waren plünderten. Immer wieder wurde dabei eine Kernforderung der NS-Anhänger artikuliert oder in Eigenregie umgesetzt: jüdische Geschäfte durch ihre Kennzeichnung im öffentlichen Raum sichtbar zu machen.47 Die Verdrängung jüdischer Unternehmen aus der Wirtschaft durch ­Verkauf oder Liquidation, die seit Ende 1937 in eine entscheidende Phase getreten war, war zu dieser Zeit allerdings schon so weit fortgeschritten, dass die Gewalt­ aktionen auf der unteren Ebene aus der Sicht der Reichsführung nur noch kontraproduktiv wirken konnten.48 Denn für die amtlichen Protagonisten der Judenverfolgung war die Existenz eines jüdischen Gewerbelebens ohnehin nur noch eine auslaufende Erscheinung. Das galt auch für die Gauwirtschafts­ berater der NSDAP, die in vielerlei Hinsicht im Zentrum des wirtschaftlichen Verdrängungsprozesses standen.49 Ihnen ging es v. a. darum, die Entflechtung von jüdischer und nichtjüdischer Sphäre auf der Ebene unternehmerischen Besitzes voranzutreiben und den Prozess des Übergangs jüdischer Unternehmen in nichtjüdische Hände zu kontrollieren und zu steuern. Der hessische Gauwirtschaftsberater Karl Eckardt systematisierte daher die Erfassung der jüdischen Betriebe in seinem Amtsbezirk seit dem Frühjahr 1938 und erhielt

45 Vgl. Bericht Central-Verein, Landesverband Hessen-Nassau an Zentrale, 2.5.1938, Russisches Staatliches Militärarchiv, fond 721, opis 1, delo 3182, Bl. 338 – 342. 46 Vgl. Aktennotiz Dr. Steinberg, 27.4.1938, ebd., Bl. 357 – 359. 47 Vgl. Christoph Kreutzmüller, Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbe­ tätigkeit in Berlin 1930 – 1945. Berlin 2012, 153 – 165. 48 Vgl. Vermerk betr. Kennzeichnung der jüdischen Geschäfte, 22.7.1938, Russisches Staatliches Militärarchiv, fond 500, opis 1, delo 261, Bl. 44. 49 Vgl. Gerhard Kratzsch, Der Gauwirtschaftsapparat der NSDAP. Menschenführung – „Arisierung“ – Wehrwirtschaft im Gau Westfalen-Süd. Eine Studie zur totalitären Herrschaftspraxis. Münster 1989; Frank Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933 – 1945. 2. Aufl. Hamburg 1998, 174 – 186.

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hierbei Unterstützung von Industrie- und Handelskammer und Wirtschaftsverbänden.50 Diese Form der Sichtbarmachung des noch verbliebenen jüdischen Wirtschaftssektors diente indes bereits seiner Liquidierung, beides griff nun ineinander.

III. Unsichtbar werden: jüdische Strategien als Antwort auf die Boykotte Aus der Perspektive der jüdischen Unternehmer waren die widersprüch­ lichen Signale des NS-Regimes seit der Machtübernahme nicht leicht zu lesen. Während sich die Reichsregierung wiederholt gegen die Diskriminierung und Stigmatisierung jüdischer Betriebe wandte, gab es doch immer wieder Boykott- und Gewaltaktionen, denen sich die Polizeikräfte nicht sonderlich konsequent entgegenstellten. Ob jüdischen Bürgern eine gewerbliche Betätigung unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen weiterhin und dauerhaft möglich sein würde, war aber nur eine der offenen Fragen. Unklar war auch, unter welchen Bedingungen ein Betrieb als „jüdisches Unternehmen“ galt oder behandelt werden würde. In der anonymen großstädtischen Öffentlichkeit war das Moment der Sichtbarkeit hierfür mitunter entscheidend. Jüdische Unternehmer registrierten, dass es den antisemitischen Aktivisten auch um einen symbolischen Kampf um die Öffentlichkeit ging. Unter Umständen war daher eine Option, sich aus den neuralgischen Schnittstellen dieser Öffentlichkeit zurückzuziehen – ein Weg, für den sich zwei Frankfurter Unternehmer entschieden. Simon Cohn, seit 1900 Alleinbesitzer des kleinen Wäschegeschäfts Geschwister Cohn in der Eckenheimer Landstraße, reagierte auf den Aprilboykott 1933, indem er das Geschäft in die obere Etage des Hauses verlegte, dabei aber gleichzeitig das Firmenschild an der Hausfassade vergrößerte. Auf diese Weise konnte er weiterhin auf sich aufmerksam machen, den Akt des Einkaufens jedoch der Öffentlichkeit der Straße entziehen. Das Geschäft existierte bis zum Novemberpogrom 1938.51 Die Firma Hermanns & Froitzheim, die in Frankfurt und Umgebung mehrere Filialgeschäfte für Modewaren unterhielt, machte in ihren per Post versandten Werbekatalogen ihre Kunden verstärkt auf die

50 Vgl. Nietzel, Handeln und Überleben, 201. 51 Vgl. HStAW, Abt. 518, Nr. 10132.

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Versandabteilung aufmerksam. Bestellungen wurden den Käufern in einem neutralen Lieferwagen ohne Firmenlogo und in neutralen Verpackungen geliefert.52 Auf diese Weise bot das Unternehmen seinen Kunden einen diskreten Service, der sie vor Belästigungen und Nachstellungen von NS-Aktivis­ten und Boykottposten bewahrte. Die Präsenz in der Öffentlichkeit zu reduzieren, konnte allerdings kaum die richtige Strategie für jüdische Einzelhandelsgeschäfte sein, deren Innenstadtlage zu einem Teil erst die Voraussetzung für den Geschäftserfolg darstellte. Daher kam für einige eine andere Möglichkeit des Unsichtbar-Werdens infrage, eine Strategie, die es sich zunutze machte, dass die Kategorie des „jüdischen Unternehmens“ in den Jahren seit 1933 keineswegs eindeutig war und sich erst sehr allmählich in institutionellen Kontexten einspielte. Die Textilgroßhandlung Weil, Marx & Co. war mit ihren drei jüdischen Inhabern Max Marx, Max Oppenheimer und Ludwig Weil zunächst recht eindeutig zu kategorisieren. 1934 schieden die beiden Erstgenannten aus der Kommanditgesellschaft aus, während Ludwig Weil Gesellschafter blieb und die langjährigen nichtjüdischen Angestellten Alwin Adelbert und Arthur Quosigk als Teilhaber aufnahm. Damit war von den drei Inhabern nur noch einer jüdisch. Zu diesem Zeitpunkt schien es durchaus möglich, dass ein solches Manöver ausreichend sein würde, um den Betrieb aus der Schusslinie zu nehmen.53 Durchaus riskant war das Vorgehen der jüdischen Inhaber im Falle der Firma M. L. Rosenstein, die, 1854 gegründet, eines der ältesten Frank­furter Großhandelsunternehmen für Textilwaren war. Als Bernhard Neumann, der zusammen mit seiner Frau Jenny Neumann und Felix Schamberg persönlich haftender Gesellschafter der offenen Handelsgesellschaft war, 1936 starb, entschieden sich die verbliebenen Gesellschafter, das Geschäft für etwa 270.000  RM an die Frankfurter Kaufleute Carl Lange und Hugo Cutivel zu veräußern. Die neuen Inhaber führten das Unternehmen unter der Bezeichnung Lange & Cutivel vorm. M. L. Rosenstein weiter und machten sich damit den bekannten Firmennamen zunutze.54 Den Verkaufserlös legten Schamberg und Neumann unterdessen verdeckt erneut im Unternehmen an: Sie überantworteten ihn einer Berliner Treuhandfirma zur Verwaltung, welche wiederum

52 Vgl. Ein neuer jüdischer Geschäftstrick, in: Frankfurter Volksblatt, Nr. 116, 29.4.1935, 13. 53 Vgl. HStAW, Abt. 519/A, Wi-Ffm-A 3995. 54 Vgl. HStAW, Abt. 519/A, Wi-Ffm-A 7792.

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als stille Gesellschafterin in die Firma Lange & Cutivel eintrat. Dabei betrug die Einlage bewusst knapp unter 50 Prozent, in der Erwartung, eine solche Geschäftskonstellation möge helfen, das Etikett „jüdisches Unternehmen“ erfolgreich abzustreifen.55 Wie schon im Fall der Firma Weil, Marx & Co. war eine häufig zu beobach­ tende Variante des Unsichtbar-Werdens jüdischer Unternehmer die Aufnahme nichtjüdischer Angestellter als Teilhaber eines Betriebes. Der Fall der Frank­ furter Lebensmittelgroßhandlung Bruno Scheidt ist hierfür ein weiteres, noch früheres Beispiel. Der alleinige Inhaber des 1921 gegründeten Unternehmens sah sich schon kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme veran­ lasst, das Land zu verlassen, und floh zunächst nach Frankreich.56 Um das Unternehmensvermögen auch weiterhin zu sichern, wandelte er die Firma im Dezember 1933 in eine GmbH mit dem neutralen Namen „Frankfurter Lebensmittelgroßhandel“ um. Zu Mitgesellschaftern wurden in diesem Zuge zwei nichtjüdische Angestellte ernannt, die beide schon seit Jahren im Betrieb arbeiteten. Ihre Kapitaleinlagen betrugen bei einem vorgeschriebenen Mindest­ stammkapital von 20.000  RM allerdings nur je 500  RM . Erst im April 1936 schied der jüdische Inhaber ganz aus dem Unternehmen aus und veräußerte seine Geschäftsanteile an die Mitgesellschafter.57 Einen Teil seines Vermögens konnte er auf diese Weise noch ins Ausland transferieren. Wurde ein solcher struktureller Anpassungsversuch erst in späterer Zeit unternommen, waren die Spielräume für Vermögenssicherung und -transfer meist geringer. Im Falle der Rohtabakgroßhandlung Carl Süß entschied sich der gleichnamige jüdische Inhaber erst im Oktober 1937 zu einer Umorganisation des Betriebes. Das Unternehmen hatte sich auf spezielle Tabake im oberen Preissegment spezialisiert und belieferte Zigarrenfabrikanten im ganzen Reichsgebiet. Angesichts dessen rechnete sich der jüdische Inhaber offenbar durchaus weitere Ertragschancen aus, sofern er nur den Ruch des „jüdischen Unternehmens“ und die damit verbundenen Einschränkungen abstreifen konnte. Er wandelte das Unternehmen, bisher ein Einzelbetrieb, daher in eine Kommanditgesellschaft um. Carl Süß selbst fungierte jetzt nur noch als Kommanditist, während der bisherige nichtjüdische Prokurist als persönlich haftender Gesellschafter und

55 Vgl. ebd. 56 Vgl. HStAW, Abt. 519/A, Wi-Ffm-A 3748. 57 Vgl. HStAW, Abt. 518, Nr. 1076/22.

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damit als allein berechtigter Geschäftsführer und Vertreter auftrat. Auch in diesem Fall war die Einlage des jüdischen Inhabers mit 50.000 RM bedeutend höher als die seines nichtjüdischen Partners, der lediglich 3.000 RM einbrachte.58 Gleichzeitig änderte Süß sein Wirkungsgebiet innerhalb des Unternehmens. Er emigrierte in die Niederlande und widmete sich dort dem laufenden Einkauf der Waren für die Firma. Diese Aufgabenverteilung wurde in einem Vertrag fest­ gelegt. Seine persönliche Existenz war insofern nicht mehr direkt gefährdet, die Geschäfte des Unternehmens schienen vorerst gesichert. Erst die Radikalisierung der Judenverfolgung im Jahr 1938 machte den Beteiligten klar, dass auch diese Konstellation keine Zukunft haben würde. Die Kommanditgesellschaft wurde im Juni 1938 vertragsgemäß gekündigt, Carl Süß blieb über seine Eigenschaft als Einkaufsvermittler aber noch an dem Geschäft beteiligt, bis er 1940 nach der Besetzung der Niederlande untertauchen musste.59 Das Unsichtbar-Werden bezog sich in den genannten Beispielen auf unterschiedliche Ebenen: Jüdische Unternehmer änderten Firmennamen in neutralere Namen, traten innerhalb der Geschäftsführung in den Hintergrund, v. a. aber kooperierten sie häufig mit nichtjüdischen Partnern. Damit schickten sie sich an, eine Prämisse antisemitischen Denkens zu unterlaufen, nach der sich die jüdische Wirtschaftstätigkeit von ihrer nichtjüdischen Umwelt eindeutig abgrenzen ließ. Tatsächlich waren bis 1933 Kooperationen von jüdischen und nichtjüdischen Partnern bei der Gründung und beim Betrieb eines Unternehmens vergleichsweise selten, was allerdings nicht bedeutet, dass „jüdische“ Unternehmen nicht auf vielfältige andere Weise mit ihrer nichtjüdischen Umwelt verflochten gewesen wären.60 Jüdische Betriebsinhaber rückte dieser Umstand allerdings gegenüber den nationalsozialistischen Definitions- und Stigmatisierungspraktiken in eine angreifbarere Situation, sodass manche nun die Verflechtung auch auf der Inhaberebene sozusagen im Eiltempo nachzuholen versuchten. Während sich das NS-Regime daran machte, die Grenzen zwischen Juden und Nichtjuden in der Wirtschaft zu definieren und öffentlich zu markieren, arbeiteten jüdische Akteure in entgegengesetzter Richtung, indem sie diese wieder verwischten und ihre Betriebe in einen Zustand der Uneindeutigkeit manövrierten.

58 Vgl. HStAW, Abt. 518, Nr. 1828/16; Abt. 460, 2 WiK 147. 59 Vgl. HStAW, Abt. 519/A, Wi-Ffm-A 149. 60 Vgl. Nietzel, Handeln und Überleben, 44f.

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Freilich boten solche Strategien einer strukturellen Anpassung in der Regel keine Rettung mehr, wenn sich ein Unternehmen bereits im Fokus der antisemitischen Verfolgung befand, wie z. B. die Allgemeine Optische Gesellschaft. Die Firma, ein Filialunternehmen mit Sitz in Fürth, das in Frankfurt vier Niederlassungen unterhielt, war bereits vor 1933 immer wieder Anfeindungen durch lokale NS-Anhänger ausgesetzt gewesen. Unmittelbar nach der Machtübernahme geriet der Betrieb sowohl durch gewalttätige Aktionen gegen die jüdischen Inhaber als auch durch diskriminierende Behördenmaßnahmen unter Druck. Der Anfang April 1933 unternommene verzweifelte Versuch, die Gesellschaftsanteile auf einen nichtjüdischen Bevollmächtigten zu übertragen und das Unternehmen damit aus der Schusslinie zu nehmen, hatte in dieser Situation keinen Erfolg mehr. Noch im Laufe des Jahres wurde das Unternehmen liquidiert und die einzelnen Filialen an ihre jeweiligen Geschäftsleiter verkauft.61 Eine ganze Serie von Anpassungsmanövern starteten die jüdischen Inhaber der Firma Süddeutsche Nährmittel GmbH, die mit Spezialfutter zur Tierhaltung handelte. Neben den jüdischen Brüdern Max und Ludwig Strauss sowie Berthold Weil war noch der nichtjüdische Prokurist Theo Gerlach als Geschäftsführer an dem Unternehmen beteiligt.62 Noch 1933 übertrugen ihm die jüdischen Gesellschafter ihre Geschäftsanteile und wandelten den Betrieb im folgenden Jahr in eine Kommanditgesellschaft um. Während Theo Gerlach als Komplementär und Geschäftsführer in Erscheinung trat, war er im Innenverhältnis der Gesellschaft nur mit zehn Prozent am Gewinn beteiligt. Weil sich das Unternehmen trotzdem wiederholten Angriffen der NS-Presse ausgesetzt sah und schwere Umsatzeinbußen erlitt, versuchten es die jüdischen Akteure 1934 mit der Gründung einer weiteren Gesellschaft namens Deutsche Emulsions-GmbH, über die neue Geschäfte angebahnt werden sollten.63 Als aber 1936 dem Unternehmen überraschend eine enorme Geldstrafe auferlegt und diese nur unter der Bedingung der Liquidation ermäßigt wurde, waren die Handlungsspielräume erschöpft.64

61 Vgl. HStAW, Abt. 460, 1/3 WiK 4264. 62 Vgl. HStAW, Abt. 460, 4 WiK 3118. 63 Vgl. HStAW, Abt. 519/A, Wi-Ffm-A 5849. 64 Vgl. HStAW, Abt. 460, 4 WiK 3118.

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Den nationalsozialistischen Stellen blieben die Versuche jüdischer Unternehmer, die antisemitischen Kategorienschemata zu unterlaufen, nicht verborgen. Bereits 1934 beschrieben Lageberichte des SD die Bemühungen jüdischer Betriebsinhaber, das Etikett „jüdisches Unternehmen“ durch eine Hereinnahme nichtjüdischer Teilhaber oder Geschäftsführer abzustreifen.65 Auch die NS-Presse widmete dem Phänomen in Frankfurt und andernorts immer wieder Aufmerksamkeit und begriff sich als eine Wächterinstanz, die solche Versuche der „Tarnung“ zu enthüllen und aufzudecken versuchte.66 Eine wirkliche Handhabe gab es in den Jahren bis 1938 hiergegen allerdings nicht. Für die Gauwirtschaftsberater der NSDAP, die seit 1936 zunehmend die Funktion einer Kontroll- und Genehmigungsinstanz für Übernahmen jüdischer Unternehmen usurpierten, war es daher ein wesentliches Anliegen, „Tarngeschäfte“ zu verhindern und auf diese Weise die Entflechtung von jüdisch-nichtjüdischen Wirtschaftsbeziehungen weiter voranzutreiben.67 Die Reichsregierung verengte im April 1938 die Spielräume durch die Verordnung gegen die Unterstützung der Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe schließlich entscheidend.68 An Schwammigkeit schwerlich zu überbieten, errichtete sie eine massive Drohkulisse gegenüber jüdisch-nichtjüdischen Geschäftskooperationen aller Art. Die oben genannte Firma Weil, Marx & Co. sah sich nach Erlass der Verordnung Angriffen der Deutschen Arbeitsfront als „getarntes Unternehmen“ ausgesetzt, der noch immer an der Gesellschaft beteiligte Ludwig Weil musste daher im Sommer 1938 endgültig ausscheiden. Wenige Monate später setzte die Zerstörungsgewalt des Novemberpogroms allen Ausweich- und Überlebensstrategien jüdischer Unternehmer ein Ende.

65 Vgl. Lagebericht des SD Mai/Juni 1934, Russisches Staatliches Militärarchiv, fond 500, opis 1, delo 180a, Bl. 45. 66 Vgl. Jüdische Geschäftsmethoden, in: Frankfurter Volksblatt, Nr. 125, 9.8.1935, 8; Neues Firmenschild, in: ebd., Nr. 152, 6.6.1935, 9; Einen Juden an den Pranger!, in: ebd., Nr. 202, 27.7.1935, 4; Die getarnte jüdische Fahrradfabrik, in: ebd., Nr. 211, 5.8.1935, 4; Salomon bleibt Salomon, in: ebd., Nr. 215, 9.8.1935, 5; Durchsichtige Manöver, in: ebd., Nr. 237, 31.8.1935, 4; Durchsichtige Manöver, in: ebd., Nr. 266, 29.9.1935, 4; Tarnungs-Uniformen, in: ebd., Nr. 20, 21.1.1936, 6; Sonderbare arische Firma, in: ebd., Nr. 34, 4.2.1936, 6; Wem gehören die Warenhäuser?, in: ebd., Nr. 241, 4.9.1936, 13. 67 Vgl. Kratzsch, Gauwirtschaftsapparat, 146 – 150; 157 – 163. 68 Verordnung gegen die Unterstützung der Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe vom 22.4.1938, RGBl I 1938, 404.

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IV. Novemberpogrom 1938: Zerstörung und Verschwinden Als in Frankfurt seit dem Morgen des 10. November 1938 Synagogen in Brand gesetzt sowie Geschäfte demoliert und geplündert wurden 69, hatte die Politik der „Arisierung“ im Grunde genommen ihre wesentlichen Ziele schon erreicht. In seinem wirtschaftlichen Lagebericht hatte das Verkehrs- und Wirtschaftsamt der Stadt Frankfurt schon Ende September 1938 vermelden können: „Die Arisierung seither jüdischer Industrie- und Handels­betriebe ist in den letzten Monaten gut fortgeschritten.“70 Unter den jüdischen Unternehmen, die bis zum Herbst 1938 den Besitzer wechselten, befanden sich viele der wichtigen und bekannten Betriebe der Stadt. Daher urteilte der letzte Quartalsbericht der Wehrwirtschaftsinspektion IX im Dezember 1938 nicht zu Unrecht, die Wirtschaft im Rhein-Main-Gebiet sei eigentlich schon vor dem Pogrom und den nachfolgenden Gesetzesmaßnahmen wirksam „entjudet“ worden.71 Tatsächlich waren die allermeisten zerstörten jüdischen Geschäfte in der Innenstadt nur noch von kleinem Umfang und dienten der mühsamen Sicherung des wirtschaftlichen Überlebens.72 Insofern war die jüdische Gewerbetätigkeit selbst in Frankfurt am Main, an dessen Wirtschaftsentwicklung die jüdische Handelstätigkeit entscheidenden Anteil gehabt hatte, zu dieser Zeit kein wirtschaftspolitisches Thema mehr. Den Gewalttätern des Pogroms ging es aber noch um etwas anderes: Ihre Zerstörungsgewalt machte ein letztes Mal die noch verbliebenen jüdischen Geschäfte öffentlich sichtbar und verdeutlichte vor aller Welt die nationalsozialistische Vorstellung einer kategorialen

69 Vgl. Wolf-Arno Kropat, Kristallnacht in Hessen. Der Judenpogrom vom November 1938. Eine Dokumentation. Wiesbaden 1988; „Die Synagogen brennen!“ Die Zerstörung Frankfurts als jüdische Lebenswelt. Frankfurt am Main 1988; Gottfried Kößler/Angelika Rieber/Feli Gürsching (Hrsg.), … daß wir nicht erwünscht waren. November­pogrom 1938 in Frankfurt am Main. Berichte und Dokumente. Frankfurt am Main 1993. 70 Wirtschaftlicher Lagebericht Juni/September 1938, 28.9.1938, Ifs, Magistratsakten, Nr. 6971, Bl. 237 – 248, Zitat Bl. 240. 71 Vgl. Wehrwirtschaftsinspektion IX: Wirtschaftsbericht IV/38, September-November 1938, 7.12.1938, Bundesarchiv-Militärarchiv, RW 19, Nr. 44, Bl. 3 – 22, hier: Bl. 6. 72 Vgl. Liste der zerstörten Geschäfte der DAF-Kreisleitung, 8.12.1938, HStAW, Abt. 519/1, Nr. 132.

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Ungleichheit zwischen Nichtjuden und Juden, deren Verfolgung und Misshandlung nun keine Grenzen mehr gesetzt waren.73 Der Novemberpogrom war indessen auch ein Wendepunkt in der Judenverfolgung als einem öffentlichen Geschehen. Sichtbar-Machen und Verschwinden-Lassen verschmolzen jetzt zu einem einzigen Vorgang. Den Inhabern zerstörter Betriebe wurde die Beseitigung der öffentlich sichtbaren Schäden auf eigene Kosten zur Auflage gemacht, im gleichen Zuge wurde die Betäti­ gung von Juden im Einzelhandel und Handwerk ab Januar 1939 generell gesetzlich untersagt.74 Tausende männliche Juden wurden am Pogromtag und in den folgenden Tagen festgenommen und in Konzentrationslager deportiert. Der dortige Gewaltraum war der Öffentlichkeit weitgehend entzogen.75 Nachdem die gelenkte Presseberichterstattung den Pogromereignissen kaum größeren Stellenwert eingeräumt hatte, setzte Mitte November noch einmal eine umfangreiche antisemitische Propagandakampagne ein, die bis Februar 1939 fortgeführt wurde.76 Danach verschwand das antijüdische Thema für längere Zeit aus der Propaganda, die legislative Verfolgung der deutschen Juden spielte sich von nun an immer stärker fernab der Öffentlichkeit und ohne mediale Begleitmusik ab.77 Dass sich Funktion und Wirkung der öffentlichen Stigmatisierung von Juden nach 1939 fundamental wandelten, zeigen nicht zuletzt die Einführung des Judensterns im Deutschen Reich im September 1941 und die ambivalenten Reaktionen darauf in der Bevölkerung. Ein weiteres Mal hatte das Regime hier auf Betreiben von Propagandaminister Joseph Goebbels versucht, mittels antisemitischer Symbolpolitik noch einmal die

73 Vgl. Wildt, Volksgemeinschaft, 347. 74 Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben vom 12.11.1938, RGB l I 1938, 1581; Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben vom 12.11.1938, ebd., 1580. 75 Vgl. Heiko Pollmeier, Inhaftierung und Lagererfahrung deutscher Juden im November 1938, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 8, 1999, 107 – 130. 76 Vgl. Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933 – 1945. München 2006, 123 – 144. 77 Vgl. Konrad Kwiet, Nach dem Pogrom: Stufen der Ausgrenzung, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Juden in Deutschland 1933 – 1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft. München 1988, 545 – 659; für Frankfurt Monica Kingreen (Hrsg.), „Nach der Kristallnacht“. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938 – 1945. Frankfurt am Main/New York 1999.

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öffentliche Stimmung zu stimulieren.78 Das Sichtbar-Machen des Jüdischen hatte zu dieser Zeit aber seinen konstitutiven Charakter für die Herstellung der Volksgemeinschaft wieder verloren – nicht zuletzt, weil diese Sichtbar­ machung kaum noch glaubwürdig die antisemitische Fiktion vermitteln konnte, dass die gedemütigten und zur Zwangsarbeit gezwungenen jüdischen Bürger eine Gefahr für das deutsche Volk darstellten.

78 Vgl. Longerich, Davon haben wir nichts gewusst, 163 – 181.

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„Arisierung“ als soziale Praxis und gesellschaftlicher Prozess am Beispiel der Stadt Graz und der Steiermark Anfang März 1939, als der Prozess der „Arisierung“ im Bereich Handel und Gewerbe in der Steiermark kurz vor seinem Abschluss stand, titelte die Obersteirische Volkszeitung: „Arisierung bedeutet Säuberung v. jüdischem Geist.“1 Das Blatt berichtete im Folgenden über eine Rede vom Reichskommissar und Gauleiter von Wien, Josef Bürckel 2, die dieser anlässlich der Bekanntgabe von staatlich geregelten Handelsspannen für Textilien, Kleider und Schuhe gehalten hatte. Bürckel erklärte darin, dass bei der Machtübernahme im März 1938 „die Befreiung Wiens von seinen 300.000 Juden“ eine der größten Sorgen gewesen sei. Ein Jahr später nun seien Wien und seine Wirtschaft vollkommen „arisiert“, wobei, wie er ergänzend anmerkte, dies jedoch nicht bedeute, dass Wien und die Wirtschaft auch „entjudet“ seien. Denn „Arisierung“ sei nicht nur der bloße Vermögenstransfer des Eigentums von Juden in „arische“ Hände, sondern heiße letztlich auch, dass das „völkische Gesetz der Gemeinschaft“ auch für die Wirtschaft gelte. „Arisieren bedeute ja nicht nur den Austausch eines Gesichtes gegen das andere, sondern die Säuberung des Geschäftes vom jüdischen Geist.“3 Demnach ging es im Prozess der „Arisierung“ der Wirtschaft auch darum, all jene Geschäftspraktiken, die im Sinne antisemitischer Argumentation als „jüdisch“ diffamiert wurden, zu unterbinden. Die Wirtschaft sollte zum Wohle der „Volksgemeinschaft“ staatlich gelenkt und die individuelle Freiheit des einzelnen Gewerbe- und Handeltreibenden zu deren Gunsten eingeengt werden. Und Bürckel weiter: „Wer nach jüdischen Grundsätzen handelt und seine Profitgier über die Pflichten eines ehrenhaften Kaufmannes stellt, der ist eben ein Jude.“4 1 Obersteirische Volkszeitung, 4.3.1939, 1. 2 Vgl. Karl Höffkes, Hitlers politische Generale. Die Gauleiter des Dritten Reiches – Ein biographisches Nachschlagewerk. (Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Nachkriegsgeschichte, Bd. XII.) Tübingen 1986, 40 – 45. 3 Schluß mit der jüdischen Geschäftsmoral! Die Rede des Gauleiters Bürckel, in: Tagespost, 4.3.1939, 3. 4 Ebd.

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In seiner Rede verwies Bürckel somit auf eine Reihe von Aspekten des nationalsozialistischen Vermögensentzuges, die sich auch in der Vielfalt von Begriffen für die Beraubung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus der Gesellschaft widerspiegeln. Zunächst jedoch machte er klar, dass die Verfolgung, Beraubung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus dem Wirtschafts- und Erwerbsleben, aus der Gesellschaft immer vorrangiges Ziel nationalsozialistischer Politik waren und unmittelbar im März 1938 in Angriff genommen wurden. Der besondere Stellenwert dieses Teilbereichs der Judenverfolgung zeigt sich im Übrigen auch daran, dass die „Arisierung“ bereits in der Zwischenkriegszeit ein zentrales Anliegen nationalsozialistischer wie auch gewerblich-antisemitischer Propaganda gewesen war. So veröffentlichte beispielsweise die NSDAP in den späten 1920erund frühen 1930er-Jahren regelmäßig Verzeichnisse von sogenannten „Juden­ geschäften“, wobei in Graz all jene als solche galten, die von Grazer Geschäftsleuten „jüdischer Rasse und Abstammung“5 betrieben wurden. Die Zusammenstellung dieser Verzeichnisse nahm aber auch einen zweiten Aspekt von Bürckels Rede vorweg, nämlich die ideologische und propagandistische Dimension, die sich um die Begriffe „Arisierung“6, „Entjudung“ und „Volksgemeinschaft“7 gruppiert. Denn immer wieder wurden in den

5 Grazer Nachrichten der nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (Hitlerbewegung), 23.3.1929, Folge 5, 1 – 2. 6 Der Begriff „Arisierung“ entstammt dem Umfeld des völkischen Antisemitismus, der bereits seit den 1920er-Jahren die Forderung nach einer „Arisierung“ der Wirtschaft bzw. einer „arischen Wirtschaftsordnung“ erhoben hatte. Unter „Arisierung“ ist zunächst die teilweise oder vollständige Verdrängung von Juden aus dem Wirtschaftsleben zu verstehen. Fasst man den Begriff, für den es keine exakte nationalsozialistische Definition gibt, weiter, so geht er über den Aspekt der wirtschaftlichen Verdrängung hinaus und zielt auf die völlige Existenzvernichtung der jüdischen Bevölkerung ab. Neben der Enteignung inkludiert „Arisierung“ zugleich auch die Aneignung. Vgl. Frank Bajohr, „Arisierung“ als gesellschaftlicher Prozeß. Verhalten, Strategien und Handlungsspielräume jüdischer Eigentümer und „arischer“ Erwerber, in: Irmtrud Wojak/Peter Hayes (Hrsg.), „Arisierung“ im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis. (Jahrbuch 2000 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust.) Frankfurt am Main/ New York 2000, 15; Gerhard Botz, Arisierungen in Österreich (1938 – 1940), in: Dieter Stiefel (Hrsg.), Die politische Ökonomie des Holocaust. Zur wirtschaftlichen Logik von Verfolgung und „Wiedergutmachung“. (Querschnitte, Bd. 7.) München 2001, 29 – 31. 7 Der Begriff der „Volksgemeinschaft“ wurde seitens der Nationalsozialisten ideologisch aufgeladen. Die „Volksgemeinschaft“ stand im Gegensatz zur als undeutsch gesehenen

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nationalsozialistischen Auflistungen auch Betriebe angeführt, deren Eigen­ tümer gar keine Juden waren. In die Listen aufgenommen wurden sie l­ ediglich aufgrund antisemitischer Vorstellungen der Redakteure in Bezug auf vermeint­ lich jüdische Namen oder „jüdisches“ Geschäftsgebaren. Daran wie auch an einer Reihe von Aussagen führender Nationalsozialisten zeigt sich, dass „Arisierung“ immer mehr als individueller und staatlich organi­ sierter Raub sein sollte. Vielmehr ging sie stets einher mit der propagierten Schaffung der „Volksgemeinschaft“, jenem Prozess also, der auf soziale Inklusion durch Gleichheitsversprechen, ökonomische Verbesserung und symbo­ lische Anerkennung für all jene abzielte, die den rassistischen Kriterien der Nationalsozialisten genügten, den „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“.8 Doch „Volksgemeinschaft“ bedeutete neben Inklusion zugleich auch immer die Exklusion all jener, die als „Nichtarier“ oder Feinde der „Volksgemeinschaft“ diesen Heilsversprechen im Wege standen. Die „Entjudung“ der Gesellschaft war damit Voraussetzung für die Realisierung der „Volksgemeinschaft“. Michael Wildt spitzt diesen Zusammenhang zu, indem er festhält: „Die Verfolgung der deutschen Juden als ‚Volksfeinde‘, als ‚rassische Gegner des Volkes‘, war das politische Instrument zur Zerstörung des Staatsvolkes und zur Herstellung der Volksgemeinschaft.“9 Dieser Zusammenhang findet sich im Kontext des Vermögensentzuges auch in einer Sprachregelung wieder. So verordnete der Leiter der Vermögensverkehrsstelle (VVSt.) Wien, Walter Rafelsberger, Mitte September 1938, dass fortan anstelle des Ausdrucks „Arisierung“ das Wort „Entjudung“ zu setzen sei.10 Indem der Eigentumstransfer in den Hintergrund gerückt wurde,

Gesellschaft, weshalb die Transformation von der Gesellschaft zur „Volksgemeinschaft“ ein Prozess der Vertreibung und Vernichtung der „undeutschen“ Elemente der Gesellschaft war. Vgl. u. a. verschiedene Texte von Michael Wildt zur „Volksgemeinschaft“, z. B. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburg 2007. 8 Vgl. ebd., 12. 9 Michael Wildt, Volksgemeinschaft. Eine Gewaltkonstruktion des Volkes, in: Ulrich Bielefeld/Heinz Bude/Bernd Greiner (Hrsg.), Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag. Hamburg 2012, 456. 10 Vgl. Bürorundschreiben innerhalb der Vermögensverkehrsstelle Wien, 19.9.1938. Steier­ märkisches Landesarchiv (StLA), LReg. Arisierungen Diverse Akten 1937–.

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trug man laut Frank Bajohr auch den mit „Arisierungen“ gemachten Erfahrungen – der Habsucht und Raffgier der „Ariseure“ – Rechnung.11 „Arisierung“ ist demnach in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext, der Schaffung der „Volksgemeinschaft“, zu betrachten, wobei die Prinzipien der Lockung und des Zwangs viele Menschen in unterschiedlichen Graden des Mitmachens zu Stützen des Regimes, zu Akteuren und Komplizen nationalsozialistischer Beraubungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik machten. Zugleich stellt die „Arisierung“ auch eine verbindende Klammer zwischen Opfern, Tätern und Zusehern dar. Denn beim Vermögensentzug geht es nicht nur um die Vertreibung der durch die „Nürnberger Rassengesetze“12 als Juden Bezeichneten aus ihren Berufen oder von ihren Besitztümern, sondern immer auch um die Verwertung und Verteilung des geraubten Gutes. Und die Geschichte/n der „Arisierungen“ erzählen von den jüdischen Opfern, doch viel mehr noch von den „arischen“ Tätern, den Profiteuren und Nutznießern. Sie berichten aber auch von einem öffentlichen Vorgang. Denn der zentralen ideologischen und propagandistischen Bedeutung der Judenverfolgung entsprechend war die „Arisierung“ stets Teil eines öffentlichen Diskurses. So wurden die entsprechenden Verordnungen und Gesetze ebenso in allen Zeitungen abgedruckt und kommentiert wie auch in Ansprachen und Reden nationalsozialistischer Funktionäre thematisiert. Die öffentlichen Versteigerungen jüdischen Eigentums und die erfolgreichen „Arisierungen“ wurden annonciert. Vor allem im Jahr 1938 findet sich in den Grazer Tageszeitungen eine Vielzahl von „Arisierungsanzeigen“, in denen die „Ariseure“ ihre „Geschäftsübernahmen“ bewarben. Aber auch die Vermögensverkehrsstelle Wien rühmte sich ihrer Taten und gestaltete 1940 in den Räumen der VVSt. eine Ausstellung mit dem Titel „Die Entjudung der Wirtschaft in der Ostmark“, in der sowohl Ablauf als auch Größenordnung und Vollstreckung der „Arisierung“ dargestellt wurden.13 Wie die „Arisierung“ in einem Teil Österreichs, der Steiermark und insbesondere in Graz, ablief und wer die entscheidenden Akteure waren, dies soll im Folgenden skizziert werden. 11 Vgl. Bajohr, „Arisierung“ als gesellschaftlicher Prozeß, 15. 12 Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15.9.1935, RGBl I 1935, 1146 – 1147. 13 Die Entjudung der Wirtschaft in der Ostmark. Ausstellung der Vermögensverkehrsstelle im Ministerium für Wirtschaft und Arbeit. Wien 1, Strauchgasse 1, o. J.

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I. „Arisierung“ als gesellschaftlicher Prozess – die Akteure Stellt man die Frage nach den Akteuren und Profiteuren der „Arisierung“, so lassen sich grob mehrere Gruppen einteilen. Neben dem Staat, der NSDAP und ihren Gliederungen waren es in der Regel „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“. In Bezug auf die letzte Gruppe der „Ariseure“ unterscheidet Frank Bajohr je nach Handlungsoptionen zumindest drei Kategorien: skrupellose Profiteure, die über die gesetzlichen Rahmenbedingungen hinaus persönlich die Initiative ergriffen, um sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen; „stille Teilhaber“, die an einer „korrekten“ Eigentumsübertragung interessiert waren und ihren Gewinn durch die Minderbewertung der jüdischen Geschäfte machten. Diese Gruppe übte zwar keinen Druck aus, war jedoch trotzdem durch die Zwangs­ situation, in der sich die jüdischen Geschäftsinhaber befanden, am persön­ lichen Gewinn interessiert. Und schließlich gab es die Gruppe der gutwilligen und verständnisvollen Geschäftsleute, die jüdische Geschäftsleute angemessen zu entschädigen versuchten. Sie hatten häufig schon vor der NS -Zeit guten persön­lichen Kontakt zu den jüdischen Geschäftsinhabern gehabt.14 Auch wenn es für Graz und die Steiermark bislang noch nicht möglich ist, eine genaue Verteilung der „Ariseursgruppen“ nach Bajohr vorzunehmen, so zeigen erste Untersuchungen 15, dass es v. a. ein starkes Übergewicht bei den ersten beiden Gruppen gab. Neben Parteimitgliedern waren es besonders die sogenannten „Alten Kämpfer“, die „Illegalen“, die einerseits die „Arisierungs­ initiative“ ergriffen und die andererseits nach den Vorstellungen des NS-Regi­ mes mit dem geraubten Vermögen oder mit Funktionen und Ämtern im „Arisierungsprozess“ materiell für ihre NS -Gesinnung und Parteimitgliedschaft während der „Verbotszeit“ im Austrofaschismus „entschädigt“ bzw. belohnt

14 Auf Hamburg bezogen gibt Bajohr eine ungefähre prozentuale Verteilung von je 40 Prozent für die ersten beiden Gruppen und 20 Prozent für die letzte Gruppe an. Vgl. Frank Bajohr, Verfolgung aus gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive. Die wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden und die deutsche Gesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 26, 2000, 645 – 646. 15 Vgl. u. a. Eduard Staudinger, „Ich bitte die Vermögensverkehrsstelle um baldige Entscheidung“. Aspekte der „Arisierung“ in der Steiermark, in: Gerald Lamprecht (Hrsg.), Jüdisches Leben in der Steiermark. Marginalisierung – Auslöschung – Annäherung. (Schriften des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 5.) Innsbruck/Wien/München/Bozen 2004, 209 – 222.

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werden sollten. Vor allem die kommissarischen Verwalter entsprechen diesem Bild des „Alten Kämpfers“, der mittels einer Funktion im „Arisierungsprozess“ eine Kompensation erhielt. So schrieb beispielsweise stellvertretend für eine Vielzahl vergleichbarer Fälle Georg Perner aus Graz Ende Mai 1938 an die Kanzlei des Führers und bewarb sich um die Stelle des kommissarischen Verwalters in einem „jüdischen“ Betrieb. In seinem Brief zeichnete er ausführlich seine nationalsozialistische Vergangenheit und verdienstvolle Tätigkeit beim Aufbau der örtlichen NSDAP während der „Verbotszeit“ in St. Georgen im Bezirk Leibnitz nach und führte sein wirtschaftliches Scheitern in den Jahren bis 1938 auf die Repressionsmaßnahmen seitens des Austrofaschismus, die er aufgrund seines Festhaltens an der NSDAP zu erleiden hatte, zurück. Ich wurde auch verhaftet. Als ich vom Arrest nach Hause kam, musste ich zu meinem größten Entsetzen feststellen, dass meine Mutter sehr schwer nervenleidend geworden war. Diese Volksverräter hatten ihr gedroht, wegen meiner illegalen Tätigkeit meiner Mutter die Trafik [Verkaufsstelle für Tabakwaren und Zeitungen, G. L.] zu entziehen. [sic!] Zwei Jahre dauerte es, bis Mutter wieder halbwegs von ihrem Verfolgungswahn geheilt war. Ich glaubte selbst verzweifeln zu müssen, aber der Glaube an meinen Führer war stärker als alles Leid. Als Mutter merkte, dass ich trotz des großen Unglücks welches wir hatten, noch immer Nationalso­zialist bin, musste ich (1937) von meiner Heimat fort. Die Mutter kaufte mir in Graz, da kein Posten zu bekommen war, ein kleines Lebensmittelgeschäft. Da ich hier aber meist mit Arbeitslosen zu tun hatte, muss ich das Geschäft wieder aufgeben. Nun stehe ich fast mittellos da. Ich bitte vielmals um eine kommissarische Leitung in einem Geschäft.16 Perners Ersuchen wurde der für die „Arisierungen“ zuständigen Vermögensverkehrsstelle Wien, Zweigstelle Graz übergeben, und diese bedachte ihn, trotz seiner mangelnden beruflichen Qualifikation, von Juni bis Dezember 1938 mit der kommissarischen Leitung der Ledergroßhandlung Bonyhady 17. In dieser

16 Georg Perner an die Kanzlei des Führers am 22.5.1938. StLA, LReg. Arisierung HG 1126. 17 Die Fa. Bonyhady meldete zum 31. Mai 1938 ihr Gewerbe als ruhend und stellte somit offiziell den Geschäftsbetrieb ein. Das Geschäft selbst wurde liquidiert, da sich die

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Funktion übernahm er die Leitung des Betriebes und wurde zudem für seine Tätigkeiten aus dem Firmenkapital mit monatlich 340 RM entlohnt.18 Perner wurde im Juni 1938 also offiziell durch die dafür zuständige NS-Behörde als kommissarischer Verwalter eingesetzt, in den ersten Wochen nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich war das sogenannte „Kommissarsystem“19 das Hauptfeld willkürlicher Bereicherung durch Natio­nalsozialisten und skrupellose Profiteure. Denn entgegen den verbreiteten Vorstellungen vom NS-Regime als einem durchorganisierten, bürokratischen Staat war die „Arisierung“ zum Zeitpunkt der Machtübernahme in Österreich weder staatlich organisiert noch strukturiert. Stattdessen manifestierten sich v. a. die antisemitisch motivierte Habsucht und Gier sowie die Gewalttätigkeit einzelner Nationalsozialisten oder NS-Formationen in pogromartigen Zuständen, in „wilden Arisierungen“ durch selbsternannte kommissarische Verwalter und in Beschlagnahmungen durch Parteistellen, SS, SA und Gestapo.20 „Gesetzliche“ Rahmenbedingungen mussten erst geschaffen werden. Während sich zunächst also Parteigenossen, Partei- und staatliche Organisationen am Prozess der „Arisierung“ beteiligten, so zeigt eine weiterführende Untersuchung, dass mit Fortdauer der NS-Herrschaft der Kreis der von

Kaufmannschaft des Landes Steiermark dafür aussprach. Ein Grund für die Liquidation war, dass zugleich die Lederhandlung Schwarz am Griesplatz „arisiert“ wurde und daher in den Augen der Kaufmannschaft kein Bedarf an einer weiteren Lederhandlung zu bestehen schien. Nichtsdestotrotz bemühte sich Eduard Bonyhady, der nach dem Tod seines Bruders und des bisherigen Eigentümers Salomon Bonyhady das Geschäft übernahm, noch bis Oktober 1938 um die Weiterführung des Betriebs. Er konnte laut Aktenvermerk vom 17. April 1939 fliehen, woraufhin sein Geschäft geschlossen wurde. Eduard Bonyhady konnte gemeinsam mit seiner Frau nach Palästina emigrieren. Vgl. StLA, LReg. Arisierung HG 1126. 18 Vgl. Jüdische Geschäfte und kommissarische Verwaltung in Steiermark & Burgenland. StLA, LReg. Arisierung Vermögensverkehr Aktenvermerke. 19 Unter „Kommissarsystem“ wurden die unkontrollierte Geschäftsübernahme und Bereicherung durch „Volksgenossen“ und Parteigänger verstanden. Da dabei über weite Strecken Willkür herrschte, versuchten die Nationalsozialisten rasch eine Regelung herbeizuführen. Vgl. dazu die Rede von Gauleiter Bürckel vom 2. Juli 1938 und seine Ausführungen zum „Kommissarsystem“. Die Rede des Gauleiters, in: Grazer Volksblatt, 3.7.1938, 3 – 4. 20 Vgl. Botz, Arisierungen in Österreich, 31; Hans Safrian/Hans Witek, Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938. Wien 2008, bes. 23 – 60.

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den „Arisierungen“ Profitierenden erweitert wurde. Das wird v. a. deutlich, wenn man den Blick nicht nur auf Industrieanlagen, Geschäfte oder Immobilien lenkt, sondern berücksichtigt, dass auch massenhaft Gegenstände des Alltags mit teils geringem materiellem Wert ihre Besitzer wechselten.21 Teppiche, Möbel, Bilder, Geschirr etc., all das wurde Jüdinnen und Juden geraubt und an Nichtjuden, „einfache“ „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“, zu günstigen Preisen verkauft, gratis verteilt oder von diesen einfach gestohlen.22 Auch in der Steiermark und hier besonders in Graz kam es zur „Umverteilung“ alltäglicher Gebrauchsgüter, v. a. in Form von Umzugsgut. Involviert in diese Aktionen waren Grazer Speditionen, die gegen Entlohnung für den sicheren Transport der Umzugsgüter der auswandernden Jüdinnen und Juden sorgen sollten und diese bis zur Erlangung der nötigen Papiere in Lagerhallen in Graz und Triest aufbewahrten.23 So waren beispielsweise bei der Speditionsfirma Pötsch & Rössler zwischen 1938 und 1939 insgesamt 500 Ladungen Umzugsgüter von jüdischen Auswanderern eingelagert. Viele Ladungen konnten jedoch aufgrund der vielfältigen Schwierigkeiten, die sich bei der Emigration ergaben – keine Einreisepapiere, kein Geld für den Transport nach der völligen Beraubung etc. –, nicht versandt werden und wurden schließlich im Sommer 1940 nach einem Erlass des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) durch die Gestapo beschlagnahmt und nach der Durchführung der Ausbürgerungsverfahren der Eigentümer zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen. Gleichzeitig wurde in Übereinkunft zwischen 21 V. a. bei den Gegenständen mit geringem materiellem Wert ist zu berücksichtigen, dass häufig alltägliche Dinge für die Opfer hohe symbolische Bedeutung hatten. Ihr Verlust war daher besonders schmerzhaft, verdeutlichte er doch auch die „Arisierung“ der Erinnerung und den Raub der Identität. Vgl. Mirjam Triendl/Niko Wahl, Spuren des Verlustes. Über die Arisierung des Alltags, in: „Arisierung“ von Mobilien. (Veröffent­ lichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Bd. 15.) Wien/München 2004, 251 – 428. 22 Vgl. als Beispiel die Versteigerung von Umzugsgut jüdischer Emigrantinnen und Emigranten in Bremen: Silke Betscher/Jan-Henrik Friedrichs, „Identitätsausrüstung unterm Hammer.“ Die Bedeutung der „Arisierung“ beweglichen Eigentums für den Begriff des (jüdischen) Gedächtnisortes, in: transversal 6, 2005, 2, 95 – 107. 23 Vgl. Gabriele Anderl/Edith Blaschitz/Sabine Loitfellner, Die Arisierung von Mobilien und die Verwaltungsstelle für jüdisches Umzugsgut, in: „Arisierung“ von Mobilien, 173 – 181.

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der Vermögensverkehrsstelle, der Gestapo und dem Oberfinanzpräsidenten der Grazer Rechtsanwalt Franz Löschnig mit der Durchführung der Abverkäufe dieser Güter wie auch der Abwicklung der zugleich eingezogenen „Auswandererkonti“ beauftragt.24 Löschnig ließ die bei den Speditionen lagernden Güter (Möbel, Teppiche etc.) in zwei Grazer Lagerhallen transportieren, wo sie an den Mann und die Frau gebracht wurden.25 Neben den Speditionen, die sich all ihre Dienste entlohnen ließen, profitierten somit auch die Erwerber der „gestrandeten“ Güter, zahllose „Volksgenossen“ und „Volkgenossinnen“, denn die Waren wurden zumeist zu günstigen Preisen verkauft und stellten v. a. in Hinblick auf die Kriegssituation außerordentliche „Schnäppchen“ dar.26

II. „Arisierung“ – der Ablauf Im März 1938 waren die ideologischen Fundierungen für den Vermögens­ entzug bereits vorhanden, während die organisatorischen und gesetzlichen Rahmen­bedingungen für dessen Umsetzung erst in den nachfolgenden Monaten geschaffen wurden. Dabei durchlief die „Arisierung“ auch in der Steiermark mehrere Phasen und wurde von wechselnden Akteuren mit unterschiedlichen Motivatio­nen getragen. Unverändert blieb von Anbeginn an immer die Zielsetzung: die flächendeckende Transferierung „jüdischen“ Eigentums in nichtjüdische Hände, die vollständige Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus dem wirtschaftlichen Leben, letztlich aus der Gesellschaft. 24 Vgl. ebd., 175. 25 Lagerraum der Fa. Kloiber, Riedel & Schrott in der Baumgasse 17 sowie Reininghaus-Pavillon im Industriehallenpark. Vgl. ebd., 176. 26 Aufgrund der geringen materiellen Werte der einzelnen Güter sowie der umfangreichen Aktenvernichtung gegen Kriegsende finden sich zur „Arisierung“ der Alltagsgegenstände nur wenige Akten. Für Graz gibt v. a. ein Akt über ein Volksgerichtsverfahren im Jahr 1946 Auskunft. Franz Löschnig zeigte als für den Verkauf der Güter Zuständiger während des Krieges zwei Grazer Speditionen wegen überhöhter Lagergebühren an. Nach 1945 wurde Löschnig deshalb von Grazer Spediteuren der Denunziation beschuldigt, und vor dem Volksgericht in Graz, einem jener außerordentlichen Gerichte, die in Österreich nach 1945 zur Ahndung von NS-Verbrechen eingerichtet worden waren, lief ein Verfahren gegen ihn an. Vgl. StLA, LG f. Strafrecht Graz Vr 6785/46.

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Nach der ersten Phase der sogenannten „wilden Arisierung“27 im März 1938, den ersten Beschlagnahmungen seitens unterschiedlicher nationalsozia­lis­ tischer Formationen, folgte die Phase der schrittweisen „Legalisierung“, die gesetzliche und organisatorische Regelung und damit verbunden die Schaffung der VVSt. als „Arisierungsbehörde“. Mit der Reichspogromnacht und den nachkommenden Verordnungen setzte schließlich die beschleunigte „Zwangsarisierung“28 ein. Den Schlusspunkt bildete die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941.29 Damit verloren alle Jüdinnen und Juden, die das Reichsgebiet verlassen hatten, die deutsche Staats­ bürgerschaft, zugleich verfiel ihr gesamtes Vermögen zugunsten des Reiches. Mit der Erweiterung dieser Verordnung auf die in die besetzten Gebiete, in Ghettos und Konzentrationslager deportierten Jüdinnen und Juden gelangte die Beraubung damit zu ihrem Abschluss.30 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass sich die „Arisierung“ in der „Ostmark“ 1938/39 von jener im „Altreich“ unterschied. So wurde in Österreich ein Großteil der jüdischen Betriebe ohne gesetzliche Grundlage in enormer 27 Vgl. Fritz Weber, Die Arisierung in Österreich: Grundzüge, Akteure und Institu­tionen, in: Ulrike Felber/Peter Melichar/Markus Priller/Berthold Unfried/Fritz Weber (Hrsg.), Ökonomie der Arisierung. Teil 1: Grundzüge, Akteure und Institutionen. (Veröffent­ lichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Bd. 10/1.) Wien/München 2004, 65 – 81. 28 „Zwangsarisierung“ bezieht sich darauf, dass es bis November 1938 entgegen der Praxis keine rechtliche Angebotsverpflichtung für jüdische Besitzer gab. Mit der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12. November 1938 mussten Unternehmen zum Kauf angeboten werden bzw. konnten auf Betreiben der Vermögensverkehrsstelle liquidiert werden. Vgl. ebd., 93. 29 Zuständig für die Einziehung des Vermögens war der Oberfinanzpräsident in enger Zusammenarbeit mit der Gestapo. Vgl. Elisabeth Schöggl-Ernst, Die Arisierungs­ akten des Oberfinanzpräsidenten Graz. Die Übernahme des Aktenbestandes von der Finanzlandesdirektion Graz, in: Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs 50/51, 2001, 357 – 361. 30 Vgl. Hannelore Burger/Harald Wendelin, Vertreibung, Rückkehr und Staatsbürgerschaft. Die Praxis der Vollziehung des Staatsbürgerschaftsrechts an den österreichischen Juden, in: Staatsbürgerschaft und Vertreibung. Beiträge von Dieter Kolonovits/Hannelore Burger/­ Harald Wendelin. (Veröffentlichungen der Österreichischen Histo­rikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Bd. 7.) Wien/München 2007, 296 – 306.

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Geschwindigkeit unmittelbar nach dem „Anschluss“ unter Verwaltung genommen, ein Akt, der zwar nachträglich legitimiert wurde, für das übrige Deutschland aufgrund seines pogromartigen Charakters jedoch als Abschreckung diente und die Schaffung von scheinlegalen Rahmenbedingungen beschleunigte.31

II.1 „Wilde Arisierungen“

Das Agieren der selbsternannten kommissarischen Verwalter in der Phase der „wilden Arisierung“ sowie die sich daraus ergebenden wirtschaftspolitischen Risiken durch Überschwemmung der Märkte mit geraubten Gütern waren auf gesamtstaatlicher Ebene Auslöser für die Bemühungen zur Strukturierung des Vermögensentzugs. In der Steiermark selbst vollzog sich diese erste Phase der „wilden Arisierung“ in enger Zusammenarbeit von einzelnen Nationalsozialis­ ten mit den örtlichen Kaufmannschaften und dem Gauwirtschaftsamt. So setzte in der ersten Zeit Parteimitglied und SA -Truppführer Richard Ranner 32 in Absprache mit der Kaufmannschaft Graz und dem Gauwirtschaftsamt als Beauftragtem der kommissarischen Verwalter in den einzelnen jüdischen Betrieben kommissarische Verwalter ein. In der Regel suchte Ranner in Begleitung des jeweiligen Kommissars und weiterer Personen das entsprechende Geschäft auf, zwang die Inhaber dazu, die Schlüssel und alle Wertgegenstände wie Kassen zu übergeben, und verwies sie anschließend des Geschäftes. Häufig geschah dies 31 Vgl. Hans Safrian, Kein Recht auf Eigentum. Zur Genese antijüdischer Gesetze im Frühjahr 1938 im Spannungsfeld von Peripherie und Zentrum, in: Katharina Stengel (Hrsg.), Vor der Vernichtung. Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalsozialis­ mus. Frankfurt am Main/New York 2007, 245 – 262. 32 Richard Ranner, geboren am 4. August 1886, war in Graz Schneidermeister und Geschäftsmann. Seit 1930 war er Mitglied der NSDAP und seit 1931 Mitglied der SA. In seinem Geschäft in der Neutorgasse trafen sich vor 1933 die lokalen NSDAP-Mitglieder. Ranner wurde Ende 1933 aufgrund seiner Parteitätigkeit verhaftet, floh 1934 nach Jugoslawien und später nach Berlin, wo er Mitglied der österreichischen Legion wurde. Sein Geschäft wurde vom Ständestaat geschlossen. 1938 kehrte Ranner nach Graz zurück und war einige Zeit für die Einführung der kommissarischen Verwalter zuständig, bis er Mitte 1938 das Kaufhaus Zilz in der Annenstraße „arisierte“. Nach 1945 wurde Ranner vom Volksgericht angeklagt und wegen Vergehen gegen § 11 VG (Qualifizierte Illegalität) und § 6 KVG („Missbräuchliche Bereicherung“) zu zweieinhalb Jahren Kerker verurteilt. Vgl. StLA, Lg f. Strafsachen Graz Vr. 5904/46; StLA, LReg. Arisierung HG 1686.

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unter massiver Gewaltandrohung.33 Des Weiteren agierten die Kommissare nach Gutdünken und bereicherten sich am Firmenkapital. Diese unkoordinierte und unkontrollierte Inbesitznahme jüdischen Eigentums stand im Gegensatz zur politischen Absicht, die „Arisierung“ in die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik einzubeziehen. Daher wurden mit den österreichischen und v. a. den Wiener Erfahrungen sogleich erste Schritte unternommen, um die „Arisierung“ zu regeln, wie Josef Bürckel am 29. April 1938 in einem Brief an den Beauftragten für den Vierjahresplan, Hermann Göring, festhielt: „Es muss deshalb die ganze Arisierung von einer bestimmten Planung beherrscht werden. Dabei muss Ziel sein, dass die Leistungsfähigkeit und die Höhenlage des Geschäftslebens in Wien nicht verschlechtert, sondern verbessert wird, dass aber gleichzeitig nur charakterlich wertvolle, womöglich um die Bewegung verdiente Männer bei der Arisierung zum Zuge kommen. Diese Planung der Auslese setzt aber auch eine Planung in der Kapitalbereitstellung voraus, wobei ich sicherlich mit Ihnen in der Auffassung einig bin, dass eine Zusammenballung von Betrieben in den Händen von neuen Syndikaten oder Finanzgruppen vermieden werden soll.“34 Nach Bürckels Vorstellungen sollten sowohl die Interessen der NS -Wirtschaftspolitik als auch jene der Partei berücksichtigt werden – zwei Aspekte, die sich in der gesetzlichen und praktischen Umsetzung niederschlugen. Letzteres wurde u. a. gewährleistet, indem die „Arisierungswerber“ politische Gutachten seitens der NSDAP benötigten, womit der Einfluss der Partei sichergestellt werden konnte und der gewünschte „Entschädigungscharakter“ aufrechterhalten wurde. Auch wurden für mittellose Parteigänger eigene „Arisierungskredite“, die sich durch die „Arisierung“ selbst finanzierten, bereitgestellt.35 Der erste Aspekt wurde dadurch berücksichtigt, dass die jeweiligen Kreis- und Gauwirtschaftsberater wie auch die Kaufmannschaft zu Stellungnahmen über die wirtschaftspolitische Bedeutung der „jüdischen“ Geschäfte eingeladen wurden. Sie gaben Empfehlungen ab, ob jüdische Betriebe „arisiert“ oder liquidiert werden sollten und ob die „Arisierungswerber“ beruflich qualifiziert waren. Dabei entschieden sie sich zumeist für die Liquidation, womit die „Entjudung“

33 Vgl. dazu diverse Zeugenaussagen aus dem Volksgerichtsprozess gegen Ranner. StLA, Lg f. Strafsachen Graz Vr. 5904/46. 34 Bürckel an Göring am 29.4.1938, zit. nach Botz, Arisierung in Österreich, 41. 35 Vgl. ebd., 41 – 42.

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in Form der massenhaften Liquidierung von Kleinbetrieben auch Teil der Rationalisierung der österreichischen (ostmärkischen) Wirtschaft und Steuerungselement nationalsozialistischer Wirtschafts- und Industriepolitik war.36 Im Rahmen der „Arisierungen“ wurde eine Strukturbereinigung in allen Wirtschaftsbereichen mit Ausnahme der Industrie durchgeführt. Für die Steiermark bedeutete dies, wie aus einer statistischen Aufstellung vom Januar 1941 hervorgeht, dass von 513 Betrieben im Bereich „Handel und Gewerbe“ 88 „arisiert“ und 413 liquidiert wurden.37 Weitere zwölf standen zum Berichtszeitpunkt noch unter kommissarischer Verwaltung. In der Kategorie „Industrie“ wurden von 52 Betrieben 45 „arisiert“, zwei liquidiert und fünf noch verwaltet. Unter „jüdische Geldinstitute“ nannte die Aufstellung eines, das liquidiert wurde. Vervollständigt wird diese Übersicht durch eine entsprechende Aufstellung der Liegenschaften, die allerdings erst ab Dezember 1938 systematisch erfasst wurden. Danach gab es 536 „jüdische“ Liegenschaften, wovon bis zum Januar 1941 291 „arisiert“ worden waren und 245 noch zur „Arisierung“ anstanden. Betreut wurden diese von einem durch die Vermögens­ verkehrsstelle Graz eingesetzten Verwalter.38 Der erste Schritt zur Regelung der „Arisierungen“ mit dem Ziel, das Kommissarsystem 39 einzudämmen, erfolgte durch das „Gesetz über die Bestellung von kommissarischen Verwaltern und kommissarischen Überwachungspersonen“ vom 13. April 1938. Der mit der Umsetzung des Gesetzes betraute Staatskommissar in der Privatwirtschaft, der Diplom-Ingenieur Walter Rafelsberger 40, 36 Vgl. Fritz Weber, Einleitung, in: Felber/Melichar/Priller/Unfried/Weber, Ökonomie der Arisierung. Teil 1: Grundzüge, Akteure und Institutionen, 21. 37 In den Akten wird die Summe mit 523 angegeben und nicht mit 513, wie sich aus den Teilsummen ergibt. Vgl. Statistische Aufstellung über die VVSt. Graz vom 16. Jänner 1941. StLA, LReg. Arisierungen. Diverse Akten 1937–. 38 Vgl. ebd. 39 Die genaue Anzahl an kommissarischen Verwaltern in dieser ersten Phase der „wilden Arisierungen“ lässt sich nur schwer eruieren. Vermutlich waren es an die 20.000 bis 30.000. Vgl. Weber, Die Arisierung in Österreich, 65. 40 Walter Rafelsberger wurde am 4. August 1899 in Wien geboren. Er studierte an der TU Wien und arbeitete bis 1930 bei der Szalonaker Bergbau AG im Burgenland. Danach wechselte er in das Gussstahlwerk Judenburg und war Betriebsleiter im Edelstahlwerk und Abteilungsleiter der Überwachungsstelle für Eisen und Stahl. Er engagierte sich beim Deutschen Turnerbund und war seit 1933 Mitglied der NSDAP, seit April 1934 zudem Mitglied der SS. Innerhalb der NSDAP war Rafelsberger zunächst Propaganda- und

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begnügte sich jedoch weitgehend mit der „Legalisierung“ des vorherrschenden Zustandes, womit die „wilden Arisierungen“ de facto anerkannt wurden und ihre Praxis eher bestätigt denn beendet wurde. Erst mit der „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ vom 26. April 1938, die eine Kontrolle der vorhandenen Vermögenswerte brachte, in Kombination mit „Streifendiensten“ der SS in Wien, Bürckels energischem Auftreten sowie der „Anordnung über kommissarische Verwalter in der Privatwirtschaft“ vom 2. Juli 1938 konnte dem Kommissarswesen endgültig Einhalt geboten und der „Vermögensentzug“ unter behördliche Kontrolle gestellt werden.41 Nun mussten kommissarische Verwalter ihre Tätigkeit der Vermögensverkehrsstelle melden; in einem weiteren Schritt wurde festgelegt, dass ihre Bestellung bis zum 1. Oktober 1938 erfolgen musste.42 Gleichzeitig stellte man die „Arisierung“ an der Vermögensverkehrsstelle vorbei unter Strafe und richtete Anfang Juli 1938 eine eigene Prüfstelle für die Überwachung der kommissa­ rischen Verwalter ein.43 Diese Prüfstelle wurde allerdings erst zu einem Zeitpunkt geschaffen, als die kommissarischen Verwalter schon monatelang unkontrolliert Bezirksleiter von Judenburg, später Kreisleiter. Er beteiligte sich am Juliputsch und wurde als Haupträdelsführer gesucht. Sein weiterer Aufstieg in der Partei war ungebremst: Er war bis Juli 1935 Gauleiter der Steiermark und Geschäftsführer der illegalen NSDAP in Österreich. Nach kurzfristigen Aufenthalten im Ausland wurde er Mitte 1935 in Österreich verhaftet und erst mit der Amnestie 1936 wieder auf freien Fuß gesetzt. Von 1936 bis 1938 lebte und arbeitete er in Berlin. 1938 wurde Rafelsberger von Seyß-Inquart nach Wien berufen und in der Dienststelle des Reichskommissars für die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich mit der Leitung des Referates IIA betraut, das für wirtschaftliche Fragen, insbesondere für Personalsachen und den Aufbau der gewerblichen Wirtschaft, zuständig war. In diesem Rahmen war er auch für die Vermögensverkehrsstelle verantwortlich. Bis Mitte 1939 blieb Rafelsberger für die Agenden der VVSt. zuständig. Auch abseits der VVSt. bekleidete Rafelsberger bis 1945 eine Anzahl wirtschaftspolitisch bedeutender Stellen. Nach 1945 konnte er untertauchen und lebte bis in die 1970er-Jahre in Südtirol. Vgl. Gertraud Fuchs, Die Vermögensverkehrsstelle als Arisierungsbehörde jüdischer Betriebe. Dipl.-Arb. Wien 1989, 79 – 80; Fritz Keller, Walter Rafelsberger, in: Wiener Geschichtsblätter 57, 2002, 1, 23 – 37. 41 Vgl. Weber, Die Arisierung in Österreich, 68 – 70. 42 Diese Bestellungsfrist wurde später auf den 1. April 1939 ausgedehnt. Vgl. Gesetz, womit das Gesetz über die Bestellung von kommissarischen Verwaltern und kommissarischen Überwachungspersonen, GB l. Nr. 80/1938, geändert wird vom 24.10.1938, GB l. F. Ö. Nr. 518/1938. 43 Vgl. Weber, Die Arisierung in Österreich, 68 – 75.

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die von ihnen „betreuten“ Betriebe finanziell stark geschädigt hatten. Zudem war aufgrund von Liquidationen und Geschäftsauflösungen nur noch ein Teil der kommissarischen Verwalter aktiv.44 Weiters wurden für kommissarische Aufsichtspersonen – sie wurden den Betriebsleitern als Kontrolle zur Seite gestellt – und kommissarische Verwalter – diese führten die Betriebe anstelle der Betriebsleiter – Dienstanweisungen erlassen. Laut einer internen Aufstellung der Prüfstelle für kommissarische Verwalter der Vermögensverkehrsstelle Graz vom 20. September 1938 wurden in der Steiermark und im südlichen Burgenland zum Berichtszeitpunkt 156 Geschäfte kommissarisch verwaltet.45 Ende November 1938 stieg diese Zahl auf 167 Betriebe, die von 152 kommissarischen Verwaltern geleitet wurden. Davon waren 90 im Bereich Handel, elf im Handwerk, elf in der Industrie, 20 in der Land- und Forstwirtschaft und 20 in den freien Berufen tätig. Am 1. Februar 1939 gab es nur noch 29 kommissarische Verwalter (13 in der Industrie, s­ ieben im Handel, neun im Verkauf und in freien Berufen), die 29 Betriebe zu verwalten hatten. Und bis zum 30. Oktober 1939 reduzierte sich die Anzahl der kommissarischen Verwalter auf vier (einer in der Industrie, drei im Verkauf und in freien Berufen) mit drei verwalteten Betrieben.46 Damit war die „Arisie­rung“ in den aufgelisteten Bereichen in der Steiermark und im südlichen Burgen­ land bis zum Jahresende 1939 weitgehend abgeschlossen. Vom Selbstverständnis der kommissarischen Verwalter zeugen nicht nur die ihre Tätigkeit dokumentierenden „Arisierungsakten“, sondern auch ein Schreiben von 29 kommissarischen Verwaltern an den Landesstatthalter und Gauwirtschaftsberater Armin Dadieu vom 1. Februar 1939. Darin forderten sie Dadieu dazu auf, dass er den aufgrund der erfolgten Liquidation der jüdischen Betriebe zum 31. Januar 1939 abberufenen Verwaltern bei der Erlangung „einer ihren Kenntnissen entsprechenden Stellung“ behilflich sein sollte. Denn die „Tätigkeit der Kommissare war durch die notwendige Eile der Durchführung eine derartige, dass der einzelne nicht in der Lage 44 Vgl. Fuchs, Die Vermögensverkehrsstelle, 46. 45 Im Juni 1938 meldet Dadieu an Rafelsberger eine Zahl von 103 kommissarischen Verwal­ tern aus der Steiermark und zusätzlich weiteren 30, die noch durch Rafelsberger bestätigt werden mussten. Vgl. StLA, LReg. Arisierungen. Vermögensverkehr. Diverser Schriftverkehr 1938 – 1945. 46 Vgl. Bericht des Staatskommissars in der Privatwirtschaft an Reichskommissar Bürckel am 6.11.1939. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), AdR, 04, Bürckel Materie 2160/2 K. 90.

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war, sich rechtzeitig eine Existenz zu sichern, bzw. Umschau nach einer entsprechenden Stellung zu halten. Tatsache aber ist, dass jeder der Unterzeichneten heute vor dem Nichts steht, weder Krankenkassa noch Arbeitslosen-Fürsorge als Rücken­deckung hat. Nicht unerwähnt wollen wir lassen, dass sich in unseren Reihen Pg. befinden, welche in der Systemzeit ihre Familie, Vermögen und Existenz für die Ideale der Partei und den Glauben an den Führer geopfert haben.“47

II.2 Die Vermögensverkehrsstelle

Das zentrale Element zur Eindämmung der „wilden Arisierungen“ wie auch der weiteren Durchführung der „Arisierung“ war die bereits mehrfach erwähnte Vermögensverkehrsstelle. Sie wurde offiziell, auch wenn sie bereits seit Ende April 1938 tätig war,48 durch die Bekanntmachung des Reichsstatthalters Arthur Seyß-Inquart vom 18. Mai 1938 im Ministerium für Handel und Verkehr (später Ministerium für Wirtschaft und Arbeit) in Wien eingerichtet. Zu ihrem Leiter wurde Walter Rafelsberger ernannt, der neben Josef Bürckel und dem Minister für Wirtschaft und Arbeit Hans Fischböck maßgeblich an der Entwicklung des später für das gesamte Deutsche Reich gültigen „Wiener Modells“ der „Arisierung“ beteiligt war.49 In das Tätigkeitsfeld der VVSt. fiel die durch die „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ vom 26. April 193850 bedingte Entgegennahme und Bearbeitung der Vermögensanmeldungen. Weiters war die VVSt. 47 StLA LReg. Arisierung Vermögensverkehr Aktenvermerke, Komm. verwaltete Geschäfte, Kontrollstelle. 48 Vgl. Fuchs, Die Vermögensverkehrsstelle, 32. 49 Vgl. Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Hamburg 1991, 21 – 68; hier bes. 25 – 27 und 33 – 49; Hans Safrian, Beschleunigung der Beraubung und Vertreibung. Zur Bedeutung des „Wiener Modells“ für die antijüdische Politik des „Dritten Reiches“ im Jahr 1938, in: Constantin Goschler/Jürgen Lillteicher (Hrsg.), „Arisierung“ und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989. Göttingen 2002, 61 – 89. 50 Aufgrund dieser Verordnung mussten Juden ihr gesamtes in- und ausländisches Vermögen mit einem Wert über 5.000 RM anmelden. Vgl. Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26.4.1938,RGBl I 1938, 414 – 415.

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für die Planung der Stilllegungen oder „Arisierungen“ „jüdischer“ Betriebe, die Anwendung des „Gesetzes über die Bestellung von kommissarischen Verwaltern und kommissarischen Überwachungspersonen“, die Verwaltung der „Arisierungserlöse“ sowie die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen nach dem am 14. April 1938 erlassenen „Gesetz zum Schutz der österreichischen Wirtschaft“ zuständig, demzufolge die Übernahme österreichischer Firmen sowie die Errichtung von Betriebsstätten in Österreich durch deutsche ­Firmen an Sondergenehmigungen gebunden waren.51 Das bedeutet konkret, dass von den einzelnen Mitarbeitern der VVSt. „Arisierungsanträge“ und –„werber“ überprüft, Genehmigungen oder Absagen erteilt und Auflagen berechnet werden mussten. Bei all diesen Vorgängen agierte die VVSt. allerdings nicht autonom, vielmehr waren verschiedene Parteistellen und Verwaltungsbehörden in die Entscheidungsprozesse eingebunden. Neben Walter Rafelsberger und seinen Mitarbeitern waren der Minister für Wirtschaft und Arbeit Hans Fischböck, Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart, Reichskommissar Josef Bürckel sowie die unter der Leitung von Adolf Eichmann stehende Zentralstelle für jüdische Auswanderung 52, die Kontrollbank und die Devisenstelle Wien maßgeblich für die Beraubung der jüdischen Bevölkerung verantwortlich. All diesen ­Stellen übergeordnet entschieden letztlich Hermann Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan wie auch der Reichsminister für Inneres, Wilhelm Frick. Allerdings handelte es sich keineswegs um einen von oben nach unten dirigierten Vorgang.53 Mit leichten Modifikationen, die v. a. die Einteilung der Abteilungen betrafen, existierte die VVSt. bis zu ihrer formellen Auflösung im Rahmen der Veran­ kerung des „Ostmarkgesetzes“54 bis Mitte November 1939 und beschäftigte in Wien bis zu 300 Mitarbeiter. Bis zum Spätherbst 1939 war die „Arisierung“ im handwerklichen, kleinbetrieblichen und distributiven Sektor weitgehend 51 Vgl. Weber, Die Arisierung in Österreich, 81. 52 Vgl. Gabriele Anderl/Dirk Rupnow, Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung als Beraubungsinstitution. (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Bd. 20/1.) Wien/München 2004. 53 Vgl. Fuchs, Die Vermögensverkehrsstelle, 34. 54 Gesetz über den Aufbau der Verwaltung in der Ostmark vom 14.4.1939, GBlÖ Nr. 500/1939 vom 21.4.1939.

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abgeschlossen. Alle noch nicht „arisierten“ Bereiche wurden von Dienststellen innerhalb der einzelnen Reichsgaue weitergeführt.55

II.3 Die Vermögensverkehrsstelle, Zweigstelle Graz

Zunächst wurden Angelegenheiten der „Arisierungen“ in der Steiermark unter der Leitung von Kalmann im Gauwirtschaftsamt unter der Aufsicht des Gauhauptmannes und Gauwirtschaftsberaters Armin Dadieu erledigt.56 Am 15. August 1938 wurde in Graz eine Zweigstelle der Vermögensverkehrsstelle Wien eingerichtet. Deren Leitung hatte bis zum 30. Juni 1939 Reinhard Brandner inne.57 Sein Nachfolger war ab Juli 1939 Josef Seak 58. Zum 15. November 1939

55 Vgl. Weber, Die Arisierung in Österreich, 95 – 104; Fuchs, Die Vermögensverkehrsstelle, 187 – 203. 56 Prof. Dr. Ing. Armin Dadieu war Landesstatthalter und Gauhauptmann. Zudem war er bis 1941 Gauwirtschaftsberater der NSDAP und Leiter der Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie. Nach 1945 wurde er für seine Taten von keinem Gericht zur Rechenschaft g­ ezogen. Vgl. dazu unter Berücksichtigung einer mangelnden kritischen Distanz der Autorin: Maria Schaffler, Professor Dr. Ing. Armin Dadieu, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 10, 1978, 315 – 317; im selben Band auch die biografischen Aufzeichnungen Armin Dadieu, Aus meinen Aufzeichnungen 1938 – 1945, 323 – 341. Vgl. auch Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung. Graz/Wien 1986, 99 – 106 sowie StLA, LReg. Arisierung Diverse Akten 1937–. 57 Reinhard Brandner, geboren am 18. September 1905 in Stankovic/Böhmen, war Kaufmann in Graz. Seit 1931 war er Mitglied der NSDAP. 1934 wurde Brandner wegen seiner nationalsozialistischen Tätigkeiten zu sechs Monaten Arrest im Anhaltelager Messendorf verurteilt, einem der Internierungslager, in denen während des Austrofaschismus poli­ tische Gegner inhaftiert wurden. Brandner floh aus dem Anhaltelager. Von 1934 an lebte er in der ČSR und dann in Berlin. Seit März 1938 war er wieder in Graz. Im Dezember 1938 wurde er Mitglied der SS, von Anfang 1939 bis 1945 war er Ratsherr der Stadt Graz. Nach 1945 wurde Brandner zunächst interniert und schließlich wegen seiner „illegalen“ Tätigkeiten wie auch der Funktionen während der NS-Zeit und wegen der „Arisierung“ des Schotterwerkes Peggau vom Volksgericht nach dem Verbotsgesetz und Kriegsverbrecher­ gesetz angeklagt und verurteilt. Das Urteil wurde schließlich vom Obersten Gerichtshof aufgehoben und Brandner freigesprochen. Vgl. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50. 58 Dr. Josef Seak wurde am 13. Februar 1889 in Marburg geboren. Er war Weltkriegsteilnehmer und promovierte 1928 zum Doktor der Rechts- und Staatswissenschaften. Zwischen 1929 und 1938 betrieb er das Reisebüro Nord-Süd in Graz. Seak war offiziell

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wurde die VVS t. schließlich offiziell aufgelöst, und die noch verbleibenden Aktivitäten wurden in den Wirkungsbereich des Reichsstatthalters Sigfried Uiberreither verlegt.59 Die Leitung der Abwicklungsstelle der VVSt. hatte bis zu deren Auflösung im September 1943 ebenfalls Seak inne.60 Die Aufgaben und Ziele der VVS t. bei der Übernahme im August 1938 beschrieb Reinhard Brandner bei einer Vernehmung im Zuge des Volksgerichtsverfahrens gegen ihn Anfang November 1946, eine Verurteilung befürchtend, völlig verharmlosend wie folgt: „Die Hauptübergriffe und Schwierigkeiten […] bestanden darin, dass von den einzelnen Parteifunktionären jeder machte, was er wollte, jeder Ortgruppenleiter, hatte einen Kommissar eingesetzt, und die Leute waren vollkommen ohne Kontrolle. Ich habe in diese zerrütteten Verhältnisse, so rasch wie möglich Ordnung gebracht. Meine Funktion hat praktisch darin bestanden einmal dieses Kontrollsystem aufzubauen, dann eine Prüfstelle für Kom. Verwalter zu errichten und [ich] habe vor allem auch darauf gesehen, dass nichts mehr ohne Zustimmung eines gerichtl. beeideten Sachverständigen verkauft wurde.“61 Brandner richtete die Tätigkeiten der Zweigstelle in Graz nach den ­Wiener Vorgaben aus, indem er versuchte, die bis dahin auch in der Steiermark betriebene „wilde Arisierung“ durch eine Formalisierung des Vorganges zu unterbinden bzw. zu legalisieren. Einen präziseren Einblick in die konkrete Arbeit der VVSt. gibt die Aussage von Robert Ulcar 62, der innerhalb der VVSt. für „jüdische“ Liegenschaften zuständig war, im Volksgerichtsverfahren gegen Brandner. „Normalerweise war der Geschäftsverkehr in der Dienststelle so, dass der gewöhnliche schriftliche Verkehr von den einzelnen Referenten geführt

seit Mai 1938 Mitglied der NSDAP. Bereits seit 1933 war er Mitglied des Steirischen Heimatschutzes, eventuell trat er 1933 auch der SA und der NSDAP bei. Beide Angaben lassen sich allerdings nicht verifizieren. Vgl. StLA, LG. f. Strafsachen Graz Vr 5084/46. 59 Vgl. Aus der statistischen Aufstellung über die VVSt Graz vom 16. Jänner 1941. StLA, LReg. Arisierungen. Diverse Akten 1937–. 60 Die Geschäfte der Abwicklungsstelle der Vermögensverkehrsstelle wurden zum 25. September 1943 in die zentrale Verwaltung des Reichsstatthalters eingegliedert. Zuständig war ab diesem Zeitpunkt Dr. Karl Mohr. Vgl. StLA, LReg. Arisierung Vermögensverkehr Diverser Schriftverkehr 1938 – 1945. 61 Vernehmung des Reinhard Brandner am Landesgericht für Strafsachen Graz am 6.11.1946. Vgl. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50. 62 Vgl. StLA, LReg. Arisierung Diverse Akten 1937–.

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wurde, während Schriftstücke, die praktisch rechtsbegründende Geschäfte darstellten, der Gegenzeichnung des Besch[uldigten] [Brandner, G. L.] bedurften. […] Die Tätigkeit der Zweigstelle bestand praktisch darin, dass sie die nötigen Vorarbeiten für die Hauptstelle Wien geleistet hat, damit bei Vorliegen mehre­ rer Arisierungsansuchen für ein Objekt die Hauptstelle Wien eine leichtere Auswahl unter den Bewerbern vornehmen konnte.“63 Um die Arbeiten strukturiert erledigen zu können, unterteilte sich die VVSt. nach dem Wiener Vorbild 64 in mehrere Abteilungen. Die Abteilung „Handel und Gewerbe“ wurde von Anton Kleinoscheg geleitet.65 Josef Seak war bis zur Übernahme der Leitung der Abwicklungsstelle der VVSt. für die Abteilung „Liegenschaften und Industrie“ zuständig. Den Bereich der „Liquidationen“ übernahm Karl Weichsel 66, während Robert Ulcar 67 Referent für „jüdische“ Liegenschaften und für die Geschäfte außerhalb von Graz war. Die Prüfstelle für kommissarische Verwalter 68 wurde von Andreas Berger geleitet 69, und schließlich gab es mit Oberstleutnant i. R. Franz von 63 Vernehmung von Dr. Ulcar am Landesgericht für Strafsachen Graz am 5.12.1946. StLA, LG f. Strafsachen Graz VR 2339/1950. 64 Aufgrund der vielfach größeren Zahl an „Arisierungsfällen“ gab es in der Vermögensverkehrsstelle Wien mehr Abteilungen. Vgl. Fuchs, Die Vermögensverkehrsstelle, 42. 65 Dr. Anton Kleinoscheg, geboren am 11. April 1911 in Gösting bei Graz, war seit 1932 NSDAP- und seit 1933 SA-Mitglied (Obersturmführer). Kleinoscheg studierte an der Universität Graz und war innerhalb der NSDAP-Ortsgruppe Gösting aktiv. Von Juli 1938 bis März 1939 war er Mitarbeiter der VVSt. Vgl. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 5038/46. 66 Karl Weichsel, geboren am 21. Februar 1893, war Kleiderfabrikant in Graz, Herrengasse Nr. 13/II. Vgl. Vernehmung von Dr. Seak am Landesgericht für Strafsachen Graz am 5.12.1946. StLA. LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50. Gegen Weichsel wurde ein Verfahren vor dem Volksgericht geführt, doch ist der betreffende Akt verschollen. 67 Dr. Robert Ulcar, geboren am 30. Mai 1910 in Triest, war von Mai 1938 bis 1943 Mitglied der NSDAP. 1943 wurde er wegen Wehrzersetzung und Schädigung des Ansehens der NSDAP aus der Partei ausgeschlossen. Zudem war er SA-Mitglied im Range eines Rottenführers. Vgl. StLA, LG. f. Strafsachen Graz Vr 5411/46. 68 Die Prüfstelle für kommissarische Verwalter gehörte nicht der Vermögensverkehrsstelle an, sondern war direkt Staatskommissar Rafelsberger unterstellt. Vgl. Rundschreiben an alle Abteilungsleiter von Rafelsberger am 1.9.1938. StLA, LReg. Arisierungen Diverse Akten. Jg. 1937–. 69 Ing. Andreas Berger, geboren am 20. Januar 1884 in Kobnitz (Spital an der Drau), war von März 1931 bis Mai 1945 Mitglied der NSDAP. Im Juni 1938 war er Berater für

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Morari einen eigenen Hausverwalter für „jüdische Liegenschaften“.70 Über all diesen Abteilungen stand Reinhard Brandner, der wiederum der VVSt. Wien unterstellt war. Über den konkreten Ablauf einer „Arisierung“ gibt die von Brandner verfasste „Belehrung für die Überleitung jüdischer Firmen jeglicher Art, jüdischer Industrie und jüdischen Haus- und Grundbesitzes“ Auskunft, die den Mitarbeitern der VVSt. vorgelegt wurde.71 Darin skizzierte Brandner gleichsam aus seiner Sicht den idealtypischen „Arisierungsfall“. Dieser wurde als klar geregelter, bürokratischer Ablauf dargestellt, in dem Formulare ausgefüllt und fest umrissene Regeln eingehalten wurden. Eine Vielzahl von F ­ akten der realen Arisierungspraxis wurde darin allerdings nicht angesprochen, so beispielsweise, dass der „Verkaufserlös“, der in der Regel weit unter dem tatsächlichen Verkehrswert lag 72, nicht an den „Verkäufer“, sondern auf ein Sperrkonto mit dem Namen des „Verkäufers“ überwiesen werden musste. Auf diese Konten hatte lediglich die Vermögensverkehrsstelle Zugriff, und Gelder wurden nur auf Verlangen und Bitten der jüdischen Eigentümer für Bauwirtschaft im Gauwirtschaftsamt in Graz und ab August 1938 Leiter der Prüfstelle für kommissarische Verwalter. Vgl. Polizeidirektion Graz an die Staatsanwaltschaft Graz am 19.9.1946. StLA, LG. f. Strafsachen Graz Vr 2875/49. Seine Tätigkeit beschrieb Berger folgendermaßen: „Ich bin glaublich im August 1938 auf Vorschlag des Beschuldigten [Brandner, G. L.] vom Gauwirtschaftsamt in die Vermögensverkehrsstelle gekommen. Meine Tätigkeit im Gauwirtschaftsamt bestand darin, die eingesetzten komm. Verwalter hins. ihrer Geschäftsführung zu überprüfen, weil einige Unregelmäßigkeiten vorgekommen waren. Diese Tätigkeit habe ich auch in der Vermögensverkehrsstelle beibehalten. Offiziell hieß mein Referat Prüfstelle für komm. Verwalter.“ Zeugenvernehmung Andreas Berger am Landesgericht für Strafsachen Graz am 7.1.1947. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50. 70 Franz von Morari, geboren am 1. März 1883 in Zara-Dalmatien, trat der NSDAP 1936 bei. Er war von 1921 bis 1922 Herausgeber der nationalsozialistischen Zeitschrift Sturmfahne, Träger des Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP und der Ostmarkmedaille. 1941 war er Hauptabteilungsleiter bei der „Festigung des Deutschen Volkstums“ in Marburg und dort mit der Verwaltung des beschlagnahmten Hausbesitzes und der Mobilien beschäftigt. Vgl. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 1834/47. 71 Vgl. Belehrung für die Überleitung jüdischer Firmen jeglicher Art, jüdischer Industrie und jüdischen Haus- und Grundbesitzes. StLA, LReg. Arisierung Diverse Akten. 72 Dieser Umstand führte schließlich dazu, dass mit Juni 1940 die Nachprüfung aller „Arisie­rungen“ per Verordnung erlassen wurde. Vgl. Verordnung über die Nachprüfung von Entjudungsgeschäften vom 10.6.1940, RGBl I 1940, 891.

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den Lebensunterhalt und eine etwaige Emigration freigegeben. Die Jüdinnen und Juden wurden so oft völlig herabgewürdigt und mussten schon wegen kleiner Geldbeträge als mittellose Bittsteller vorstellig werden. Nur angedeutet wurde von Brandner das weitere Schicksal der aus wirtschaftspolitischen Überlegungen zu liquidierenden Betriebe. Für diese wurden eigene Abwickler – zumeist verdiente NS-Rechtsanwälte, die mehrere Firmen übernommen hatten – bestellt. Sie trieben in der Folge die Außenstände ein, machten Lagerabverkäufe und hinterlegten die „Erlöse“ nach Abzug ihrer e­ igenen Auslagen und Honorare ebenfalls auf Sperrkonten zugunsten der VVSt. In einem Aktenvermerk der VVSt. Graz vom 26. September 1938 wurde die Aufgabe der Abwickler nochmals präzisiert: „Die Liquidation bedeutet, wie schon das Wort sagt, Flüssigmachung des Vermögens und damit Beendigung des Unternehmens.“73 Dabei galt für die Abwickler, dass „alle im Zuge der Abwicklung notwendigen Maßnahmen […] grundsätzlich so durchzuführen [sind], dass die Abwicklung in erster Linie möglichst schnell beendet wird. Der Abwickler hat mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmannes für die bestmögliche Verwertung der ihm anvertrauten Vermögenswerte mit den geringstmöglichen Kosten zu sorgen.“74 Den ehemaligen Firmeninhabern konnten aus den „Arisierungs“oder Abwicklungserlösen Lebensunterhaltskosten, Schiffskarten und Kosten für den Versand des Umzugsgutes ausbezahlt werden, allerdings nur, soweit „es der Vermögensstand erlaubt“.75 Damit hatten die Abwickler, die gegenüber der Abteilung „Abwicklung“ im Ministerium für Arbeit und Wirtschaft berichtspflichtig waren, einen großen Ermessensspielraum, den sie, wie aus den Akten hervorgeht, unterschiedlich nutzten, zumal sie ohne die Zustimmung der jüdischen Eigentümer mit deren Besitz verfahren konnten, wie sie wollten. Ein weiterer Themenkomplex, der in der „Belehrung“ nur wenig Beachtung fand, bezieht sich auf die Fragen der „Arisierung“ von Liegenschaften. Da diese erst mit der Verordnung vom 3. Dezember 193876 nur noch mit Genehmi­gung der VVS t. veräußert werden durften, suchte die Zweigstelle Graz bereits in den Monaten zuvor ohne erkennbaren Auftrag der Zentralbehörde in Wien 73 Aktenvermerk vom 26.9.1938. StLA, LReg. Arisierung Diverse Akten 1937–. 74 Anleitung für Abwickler. StLA, LReg. Arisierungen Vermögensverkehr. 75 Ebd. 76 Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich, wodurch die Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 bekannt gemacht wird, Gesetzblatt für das Land Österreich vom 6.12.1938.

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nach Wegen, um den „jüdischen“ Liegenschaftsbesitz vollständig zu erfassen. So erstellte Ulcar auf Basis der Vermögensanmeldungen wie auch der Meldungen der einzelnen Bezirkshauptmannschaften als den regionalen Verwaltungsbehörden 77 eine eigene Kartei. Jedes Karteiblatt beinhaltete den Namen, die Anschrift, die Art des Vermögens und ob es bereits kommissarisch ­verwaltet wurde sowie die sonstigen Vermögenswerte und die Abstammung der Eigentümer. Weiters wurden etwaige Rentenzahlungen für den Lebensunterhalt vermerkt.78 Um nun Liegenschaftsverkäufe an der VVSt. vorbei zu verhindern, wurde mit Oberlandesgerichtspräsident Fritz Meldt vereinbart, dass alle Vorgänge um Liegenschaftsveräußerungen der VVSt. von den einzelnen Bezirksgerichten gemeldet werden sollten und eine grundbücherliche Übertragung ohne Genehmigung der VVSt. nicht möglich sei. Außerdem wurden eigene Verwalter aufgestellt.79 Generell galt für den Liegenschaftsbesitz ab Dezember 1938 die ­Richt­linie von Hermann Göring, wonach die „Arisierung des Hausbesitzes an das Ende der Gesamtarisierung zu stellen [sei], d. h. es soll vorläufig nur dort der Hausbesitz arisiert werden, wo in Einzelfällen zwingende Gründe dafür vorliegen. Vordringlich ist die Arisierung der Betriebe und Geschäfte, des landwirtschaftlichen Grundbesitzes, der Forste u. a.“80 Das Hintanstellen der „Arisierung“ von Liegenschaften wurde zum einen damit begründet, dass der Erlös aus den Liegenschaften die jüdischen Fürsorgeeinrichtungen, die sich nach der Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus dem Erwerbsleben um die Mittellosen zu kümmern hatten, wie auch die Kosten für die Zwangsemi­ gration tragen sollte.81 Zum anderen wurden sie hintangestellt, um auch die im

77 Die Bezirkshauptmannschaften wurden in der Presse zur Meldung der „jüdischen“ Liegenschaften aufgefordert. Vgl. Zeugeneinvernahme Dr. Ulcar am 28.8.1946. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 5038/46. 78 Vgl. ebd. 79 In einer Aufstellung der VVSt. ohne genaues Datum werden für die Steiermark 40 Hausverwalter genannt, die insgesamt 174 Häuser verwalteten. Vgl. StLA, LReg. Arisierung Diverse Akten 1937–. 80 Schnellbrief von Hermann Göring vom 28.12.1938. StLA, LReg. Arisierungen Diverse Akten. Jg. 1937–. 81 Liegenschaftserlöse wurden beispielsweise im Rahmen der „Aktion Judenauswanderung aus der Steiermark“ zur Finanzierung der Emigration verwendet. Vgl. StLA, LReg. Arisierung. Diverse Befehle und Akten Bd. 2 1939–.

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Kriegsdienst befindlichen „Volksgenossen“ an der „Liegenschaftsarisierung“ nach dem Kriegsende zu beteiligen. Demnach stellten die Liegenschaften auch den Abschluss des „Arisierungsprozesses“ in der Steiermark dar. Denn während bis 1941 beinahe alle „jüdischen“ Gewerbe, Handelsbetriebe und Industrieanlagen oder -beteiligungen „arisiert“ bzw. liquidiert worden waren, zog sich die „Arisierung“ der Liegenschaften noch bis 1945 hin. Schließlich geht Brandners „Belehrung“ nicht darauf ein, dass es in den meisten „Arisierungsfällen“ zu verschiedensten Interventionen und Streitigkeiten zwischen den „Kaufwerbern“ und ihren Protegés kam. Als ein in dieser Hinsicht beispielhafter Fall kann die „Arisierung“ des Stampigliengeschäftes Brücklmeier in Graz gelten. Brücklmeier, der die „Andreas Brücklmeier u. Co Präge- und Gravieranstalt“ betrieb, wurde zum Verkauf gezwungen, wobei u. a. der Grazer Ratsherr und Stampiglienerzeuger Dunkler sein Interesse an einem Kauf oder der Liquidation bekundete und sich nach Kräften darum bemühte, sich durchzusetzen. Da der Betrieb jedoch aufgrund von Standortfragen nicht liquidiert werden sollte und Dunkler als unmittelbarer Konkurrent und nach der Liquidierung von Brücklmeier als möglicher Monopolist in Graz als „Ariseur“ von der VVSt. Wien nicht akzeptiert wurde, gab es in der Folge eine Vielzahl von Interventionen der „Arisierungswerber“ und ihrer jeweiligen Fürsprecher, die sowohl Parteistellen in Graz wie auch in Wien betrafen. Deutlich wird dabei neben dem unerbittlichen „Arisierungswillen“ einzelner Akteure und dem von Korruption und „Freunderlwirtschaft“ durchzogenen „Arisierungsprozess“ v. a. der nur geringe Handlungsspielraum der Opfer.82

III. Zusammenfassung Nach der „wilden Arisierung“ unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs gab es staatliche Versuche, den Vermögensentzug zu strukturieren und in ein scheinlegales Korsett zu zwängen. Festzustellen ist dabei jedoch, dass schematische Darstellungen des „Arisierungsvorganges“ die Perspektive der Opfer vollständig 82 Vgl. StLA, LReg. Arisierungen, HG 372/I-II sowie Gerald Lamprecht, Frauen im Prozess des Vermögensentzuges – Eine Annäherung, in: Karin M. Schmidlechner/Heimo Halbrainer (Hrsg.), Aus dem Blickfeld. Eine biographische Annäherung an ambivalente Lebensszenarien steirischer Frauen in der Kriegs- und Nachkriegszeit (1939 – 1955). (Grazer Gender Studies, Bd. 11.) Graz 2008, 57 – 92.

„Arisierung“ als soziale Praxis am Beispiel der Stadt Graz und der Steiermark 113

vernachlässigen und damit für eine Analyse zu kurz greifen. Von Bedeutung für die Dynamik der „Arisierung“ waren neben staatlichen Vorstößen v. a. Initia­ tiven einzelner Nationalsozialisten, sich Eigentum von Jüdinnen und Juden anzueignen oder von deren Vertreibung und Beraubung zu profitieren. Der nationalsozialistische Vermögensentzug, die „Arisierung“, war damit nicht bloß eine staatlich organisierte und verordnete Maßnahme, sondern sie bezog ihre Dynamik weitgehend aus dem eigenständigen Handeln von Kommissaren und weiteren Akteuren der „Arisierung“. Sie war, Alf Lüdtke folgend, „soziale Praxis“.83 Stellt man die Frage nach der Vermögensbewertung des geraubten Eigentums, so ist festzuhalten, dass sich dessen Wert aufgrund einer Vielzahl von Parametern nur sehr schwer oder gar nicht ermitteln lässt.84 Abseits der ideellen Werte der geraubten und zerstörten Güter bieten auch die „fiktiven“ Kaufsummen in den „Arisierungsakten“ häufig keine realen Anhaltspunkte. Denn zum einen wurden vor dem Abschluss der „Kaufverträge“ die Werte der Immobilien und Geschäfte durch Boykotte, Zwangsverkäufe und Geschäftsschließungen massiv geschmälert, zum anderen sollten bei der Bemessung von Firmenwerten nicht nur die Aktiva und Passiva, sondern auch Aspekte der Marktposition, der Produkt­palette, des Kundenstammes, der Geschäftsbeziehungen, der Absatzwege und des allgemeinen Ansehens einer Firma berücksichtigt werden. In der Regel wurden die Faktoren des sogenannten „Goodwill“ bei den Bewertungen der „arisierten“ Betriebe jedoch nicht beachtet, sondern lediglich Lagerbestände, Inventar und betriebliche Anlagen unter enormen Abschlägen in die Bewertung einbezogen. Dabei konnte nicht selten die politische und persönliche Nähe der „Ariseure“ zu höheren NS-Funktionären oder Beamten der Vermögensverkehrsstelle den „Kaufpreis“ noch zusätzlich senken.85 Versucht man dennoch, die Dimension

83 Alf Lüdtke, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: ders. (Hrsg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 91.) Göttingen 1991, 12 – 13. 84 Zur Frage der Bewertung vgl. u. a. Helen B. Junz/Oliver Rathkolb/Theodor Venus/Vitali Bodnar/Barbara Holzheu/Sonja Niederacher/Alexander Schröck/Almerie Spannocchi/ Maria Wirth, Das Vermögen der jüdischen Bevölkerung Österreichs. NS -Raub und Restitution nach 1945. (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Bd. 9.) Wien/München 2004. 85 Das Entgegenkommen nationalsozialistischer Kader bei der Preisgestaltung gegenüber verdienten Parteigenossen wie auch die Frage der Korruption spiegeln sich in vielen

114 Gerald Lamprecht

des Vermögensentzuges in der Steiermark zu beziffern, so kann man auf interne Aufstellungen der Vermögensverkehrsstelle zurückgreifen. Demnach waren in der Steiermark 513 Betriebe im Bereich Handel und Gewerbe, 52 im Bereich Industrie, ein Geldinstitut und 536 Liegen­schaften von der „Arisierung“ betroffen.86 Aus einem Bericht des Staatskommissars in der Privatwirtschaft, Walter Rafelsberger, vom 1. Februar 1939 mit dem Titel „Entjudung in der Ostmark“87, der auf den Vermögensanmeldungen vom 26. April 1938 basierte, geht zudem für die Steiermark ein Gesamtwert der zu „arisierenden“ Vermögen (Landund Forstwirtschaft, Grundvermögen, Betriebsvermögen, sonstiges Vermögen abzüglich der Außenstände) von 39.521.000 RM hervor. Dies entspricht laut der Währungskonvertierung der Österreichischen Nationalbank (1 RM im Jahr 1939 = 4,51 € im Jahr 2007) einem Wert von 178.239.710 €.88

Akten der VVS t. wider. Vgl. zur Korruption allgemein Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit. Frankfurt am Main 2004. 86 Vgl. Aufstellung der VVSt. Graz vom Jänner 1941. StLA, LReg. Arisierungen. Diverse Akten 1937–. 87 Ich möchte mich beim Archiv der Israeltischen Kultusgemeinde (IKG) Wien für die Überlassung der Statistik von Walter Rafelsberger bedanken. Das Original befindet sich im ÖStA im Bestand der Vermögensverkehrsstelle, Rafelsberger, Statistik. 88 Vgl. Anmerkungen zur statistischen Auswertung der Vermögensanmeldungen durch die Vermögensverkehrsstelle, 1939 („Rafelsberger-Statistik“). Archiv der IKG Wien.

Berthold Unfried

Neuere Ergebnisse zu „Arisierung“ und Restitution von Unternehmen in Wien Anstoß zu diesem Beitrag waren Forschungen zu „Arisierung“ und Restitution 1 von Unternehmen im Rahmen der Österreichischen Historikerkommission (1998 – 2003), die wie so viele europäische Historikerkommissionen in dieser Zeit Vermögensentziehungen im NS-Regime und ihre Behandlung nach 1945 erforschen sollte.2 Als die lange erwarteten Berichte dieser Kommission erschienen, war das Interesse daran schon deutlich abgeebbt. Die Entschädigungs­fragen, die ja der Ausgangspunkt für diese Auftragsforschung gewesen waren, waren längst durch politische Verhandlungen gelöst worden. Aber auch innerhalb der Historikerszene gab es kaum Diskussion über die voluminösen Forschungsberichte. Diese Debatte könnte nun nach einem knappen Jahrzehnt Verdauungs­ zeit dank der Mannheimer Initiative nachgeholt werden. Die Geschichte dieses langen Forschungsprojekts kann hier nicht erzählt werden. Für die Entstehung des zweibändigen Berichts über „Arisierung“ und Restitution von Unternehmen war zweierlei wichtig: Erstens funktionierte ein Teil der Historiker die engen Fragestellungen der Auftraggeber 3, die auf eine 1 Als Überbegriff für den in Westdeutschland nach 1945 verwendeten Begriff „Rück­ erstattung“ und den in Österreich nach 1945 verwendeten Begriff „Rückstellung“ wird in diesem Beitrag „Restitution“ verwendet. 2 Vgl. zu den Forschungsergebnissen, auf denen dieser Beitrag aufbaut: Berthold Unfried, Liquidierung und „Arisierung“ von Betrieben als Element von Strukturpolitik und NS -„Wiedergutmachung“, in: Ulrike Felber u. a. (Hrsg.), Ökonomie der „Arisierung“. Zwangsverkauf, Liquidierung und Restitution von Unternehmen in Österreich 1938 bis 1960, Teil 1: Grundzüge, Akteure und Institutionen. (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Bd. 10/1 u. 2.) Wien/München 2004, 166 – 226. 3 „…eine Schätzung des restituierten Unternehmensbesitzes […] im Verhältnis zum ursprünglichen Besitzstand: Wieviel nicht zurückgestellt wurde, was die Gründe und Begründungen dafür waren und welche Bewertungsprobleme sich ergeben.“ Arbeitsprogramm (1999), http://www.historikerkommission.gv.at/ (Zugriff: 14.03.2014).

116 Berthold Unfried

Bezifferung des konkreten Vermögens abzielten, sich bald als in dieser Form von Historikern nicht beantwortbar erwiesen und im Übrigen durch politische ­Verhandlungsabschlüsse obsolet wurden, in Forschungsfragestellungen um. Zweitens war der Forschungsverlauf – zumindest für mich – überraschend. Denn es trat der eher seltene Fall ein, dass sich Ausgangshypothesen nicht bestätigten und revidiert werden mussten. Die Archivmaterialien stützten gängige Meinungen in mehreren wichtigen Punkten nicht: •• Viele „Arisierungs“-Vorgänge wurden erst aus den Restitutionsakten verständlich. Mit diesem Archivmaterial war bis dahin überhaupt nicht gearbeitet worden. Die wenigen bis dato vorliegenden Arbeiten stützten sich weitgehend auf Aussagen von Betroffenen. Allianzen, die bei der „Arisierung“ verdeckt werden mussten, wurden nun im Material zur Restitution sichtbar. Als entscheidend für das Verständnis von „Arisierungs“-Vorgängen auf Unternehmensebene erwies sich die Kombinierung von „Arisierungs“und Restitutionsakten. Die Rekonstruktion von „Arisierungs“-Vorgängen aus Restitutionsakten, in manchen Fällen ergänzt durch Strafakten, macht Interessenslagen, Allianzen und Handlungsebenen deutlich, die aus den „Arisierungs“-Akten allein nicht hervor­gehen.  •• Die lückenhaft überlieferten Restitutionsakten zeigten ein gegenüber den Vorannahmen überraschend hohes Ausmaß an Restitutionen oder Vergleichen. Das passte nicht zu der landläufigen Meinung, es sei nur lächerlich wenig restituiert worden und die Auswirkungen der „Arisierung“ seien kaum beseitigt (was eine neuer­liche Restitutionsaktion nötig mache).  •• Eine wirtschaftsplanerische „Arisierungs“-Politik wurde sichtbar. Die Tätigkeit des Reichskomitees für Wirtschaftlichkeit (RKW) bei der Eingliederung der österreichischen Wirtschaft in die deutsche war schon aus dem richtungsweisenden Aufsatz von Aly und Heim bekannt.4 Aber es fehlte das Bindeglied zur Umsetzung der vom RKW ausgearbeiteten Pläne. Da machte ich einen Zufallsfund. Unsere Unternehmensforschungsgruppe hatte 4 Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. 9.–10. Tsd. Frankfurt am Main 1997 (Erstausgabe 1991), 22 – 43. In der zeitgleich erschienenen Studie von Tilla Siegel und Thomas von Freyberg, die grundsätzlich in eine ähnliche Richtung geht und sich u. a. mit dem „Reichskomitee für Wirtschaftlichkeit“ beschäftigt, fehlt der Bezug auf die „Arisierungs“-Politik, vgl. Tilla Siegel/Thomas von Freyberg, Industrielle Rationalisierung unter dem Nationalsozialismus. Frankfurt am Main/New York 1991.

„Arisierung“ und Restitution von Unternehmen in Wien 117

die Recherche aus pragmatischen Gründen nach einzelnen Wirtschaftsbranchen aufgeteilt. Ich hatte die Lebensmittelbranche übernommen. Im einschlägigen Archivbestand der „Arisie­rungs“-Behörde in Österreich, der „Vermögensverkehrsstelle“, fanden sich, falsch verzeichnet, Planungsmaterialien zu „Arisierung“ und Liquidierung von Unternehmen. In ihnen zeigten sich umsetzungsorientierte Planungsvorgänge im Detail, und die „rational“ nachvollziehbare wirtschaftsplanerische Seite der „Arisierung“ wurde sichtbar. Aus Platzgründen beschränkt sich dieser Beitrag zur „Arisierung“ und Resti­ tution in Wien weitgehend auf die „Arisierungs“-Seite und auf Unternehmen. Das Hauptaugenmerk soll auf drei Aspekte der „Arisierung“ und Restitution von Unternehmen gerichtet werden, die in der Literatur nicht ausreichend beleuchtet scheinen:  •• „einvernehmliche Arisierungen“,  •• die Rolle von Steuer­forderungen bei „Arisierung“ und Restitution, und  •• Liquidierung und „Arisierung“ von Unternehmen als Wirtschaftsstruktupolitik des NS-Staates. Die Fallbeispiele, auf die sich meine Ausführungen stützen, stammen zwar aus Wien oder zumindest aus Österreich, doch scheinen sie mir „arisierungs“­seitig in wesentlichen Punkten für das Reichsgebiet verallgemeinerbar. Allerdings gibt es einige nicht unwesentliche Besonderheiten in Österreich, die im Auge behalten werden sollten: Erstens stellte sich nach der Eingliederung in das Deutsche Reich für die österreichische Wirtschaft vor dem Hintergrund der mangelnden Konkurrenzfähigkeit zu vielen Sektoren der reichsdeutschen Wirtschaft das Problem einer Strukturanpassung. Deswegen treten Probleme der Rationalisierung am österreichischen Beispiel deutlicher hervor als in der reichsdeutschen Wirtschaft insgesamt. Zweitens wird als Gegenpol zu der wirtschaft­lichen Strukturanpassung in Österreich das Programm der „Wiedergutmachung“ für vom letzten österreichischen Regime verfolgte Nationalsozialisten durch die bevorzugte Zuteilung „arisierter“ Geschäfte besonders deutlich. Dabei wurde die politische Eignung der „Ariseure“ eindeutig vor die wirtschaftliche gestellt. Die wirtschaftsschädigenden Auswirkungen der Vermittlung von ­Menschen mit dem

118 Berthold Unfried

Beruf „Nationalsozialist“ als Unternehmer wurden bald deutlich 5, können aber gerade wegen des besonderen, eher atypischen Charakters der „Wiedergutmachungs“-Aktion für „Arisierungen“ nicht verallgemeinert werden. Und drittens muss auch die Chronologie berücksichtigt werden. Die Eingliederung Österreichs fand zu einer Zeit der Radikalisierung und Formalisierung der „Arisierungs“-Politik statt. Aufgrund der Umsturzsituation traten im März und April 1938 in Österreich zudem spontane und gewaltsame „Arisie­rungs“-Formen in den Vordergrund. Die Geschichtsschreibung hat den Blick zunächst auf diese spektakulären Fälle gerichtet.6 Dadurch sind jene Formen und Funk­tionen von „Arisierung“ in den Hintergrund getreten, auf die sich dieser Beitrag konzentriert. Er versteht sich als Beitrag zu einer Neuinterpretation, der aber den Blick auf die schon bekannten Aspekte von „Arisierung“ nicht verdecken, sondern ihn erweitern will. Was anhand von Fallbeispielen insbesondere aus der Lebensmittelerzeugung und dem Handel entwickelt wurde, müsste auch anhand anderer Sektoren der Wirtschaft geprüft werden. Auch wenn sich die Wirtschaftsrationalisierungsthese vielleicht nicht gut v­ erallgemeinern ließe, wäre sie als Orientierung für die Forschung valider als die vorherrschenden Bewertungen nach moralischen Kategorien.

I. Zur Begrifflichkeit Wenn wir von „Arisierung“ sprechen, übernehmen wir Kategorisierungen des NS-Regimes. Dieses Regime behauptete, dass die deutsche Wirtschaft durch die Beseitigung des „jüdischen“ Einflusses auf Erfolgskurs gebracht würde. Wirtschaftsgeschichtlich gesprochen stellt sich allerdings die Frage: Änderte sich in der deutschen Wirtschaft etwas wesentlich dadurch, dass „jüdische“ Unternehmer durch nichtjüdische ersetzt wurden? Das glaubten nicht einmal die Urheber dieser Politik. Sie wollten nicht nur Unternehmer ersetzen, die sie unter dem 5 Vgl. dazu Unfried, Liquidierung und „Arisierung“, 170 – 197. 6 Vgl. u. a. Hans Safrian/Hans Witek, Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938. Wien 1988; Hans Safrian, Beschleunigung der Beraubung und Vertreibung. Zur Bedeutung des „Wiener Modells“ für die antijüdische Politik des „Dritten Reiches“ im Jahr 1938, in: Constantin Goschler/Jürgen Lillteicher (Hrsg.), „Arisie­rung“ und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989. Göttingen 2002, 61 – 89.

„Arisierung“ und Restitution von Unternehmen in Wien 119

Gesichtspunkt der („jüdischen“ bzw. „arischen“) Herkunft aussonderten. Vielmehr wollten sie neben den „Juden“ v. a. auch eine Reihe unlieb­samer Erscheinungen aus dem Wirtschaftsleben eliminieren, die sie als „jüdisch“ kennzeichneten: „Raffgier“, „Schmutzkonkurrenz“, die Suche nach schnellem Gewinn, Steuerhinterziehung, übermäßiges Herausziehen von Kapital aus dem Unternehmen, Kreditbetrug. Es war den NS-Wirtschaftspolitikern klar, dass diese Erscheinungen und Verhaltensweisen auch mit Unternehmern in Verbindung gebracht werden konnten, die von ihrer Herkunft her gar nicht als „jüdisch“ zu klassifizieren waren. Denn auf die Herkunft der Unternehmer, wie sie mühsam in den „Nürnberger Gesetzen“ festgelegt wurde, ließen sich unerwünschte Geschäftspraktiken nicht eingrenzen. Auch rassereine „Arier“ konnten ohne Weiteres „jüdisch“ wirtschaften.7 Deswegen versuchte sich das Regime auf eine geeignetere Terminologie festzulegen: „Entjudung“ statt „Arisierung“.8 Nicht an der Person des „Ariseurs“, die sich in der Praxis nur zu oft als sehr zweifelhaft erwies, sollte der Vorgang festgemacht werden, sondern an unerwünschten Eigenschaften, die man loswerden wollte. Dennoch hat sich der Begriff „Arisierung“ gehalten und wird bis heute verwendet, ohne dass viel darüber nachgedacht wird, welche anderen Worte zur Kennzeichnung der Vorgänge verwendet werden könnten, die „Arisierung“ genannt wurden. Aus Sicht des Historikers sind „jüdisch“ und „arisch“ selbstverständlich keine zureichenden Begriffe zur Kategorisierung von Unternehmen und Geschäftspraktiken. Sie grenzen zwar den Forschungsbereich ab, den eben jene Unternehmen darstellen, die vom NS-Regime als „jüdisch“ behandelt wurden. Um den Vorgang, den das NS -Regime als „Arisierung“ bezeichnete, historisch beurteilen zu können, ist es aber notwendig, eigene Kategorien zu entwickeln. Ein erster genauerer Blick zeigt, dass bei den meisten Vermögensentziehungen, die man ohne viel nachzudenken als „Arisierung“ bezeichnet, nicht „jüdische“ Geschäftsleute durch „arische“ ersetzt, sondern Unternehmen liquidiert ­wurden. Betriebe wurden also nicht an „Arier“ übertragen, auch nicht an 7 Vgl. dazu Berthold Unfried, Anwendungsorientierter Antisemitismus. Verwendungen der Kategorien „jüdisch“ und „arisch“ in der „Arisierung“ der österreichischen Wirtschaft 1938, in: Heinrich Berger u. a. (Hrsg.), Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Festschrift für Gerhard Botz. Wien/Köln/Weimar 2011, 215 – 234. 8 Darauf wies zuletzt auch Schleusener zu Recht hin: Jan Schleusener, Eigentumspolitik im NS -Staat. Der staatliche Umgang mit Handlungs- und Verfügungsrechten über priva­tes Eigentum 1933 – 1939. Frankfurt am Main u. a. 2009, 205.

120 Berthold Unfried

noch so verdiente Parteigenossen, sondern sie wurden zugesperrt, fusioniert, neu struktu­riert. Diese Vorgänge sind als staatlicher Eingriff in die Wirtschaft adäquater darstellbar als mit dem NS-Begriff „Arisierung“. Daneben sei auf eine zweite notwendige grundsätzliche Unterscheidung hingewiesen: Der gemeinhin „Arisierung“ genannte Vermögenstransfer war entgegen der landläufigen Meinung keine entschädigungslose Enteignung. Der „rassisch“, politisch oder religiös begründete Vermögenstransfer im NS-Regime nahm unterschiedliche Formen an, die von einem Vorgang im Rahmen der damals gültigen Gesetze bis hin zu Raub reichten, der auch den damaligen Gesetzen zufolge formal illegal war. Nicht die entschädigungslose Enteignung war die vorherrschende Form der Vermögensentziehung, sondern der Verkauf unter mehr oder weniger starkem Zwang, der die Regeln des Marktes durch außerökonomische Intervention verzerrte, sie aber nicht gänzlich außer Kraft setzte. Das NS-Regime zielte viel weniger auf die Veränderung der Eigentumsrechte (etwa durch Verstaatlichung) ab als auf eine staatliche Kontrolle der Verfügung über Eigentum. Diese wichtige Unterscheidung zwischen der weiteren Form der Vermögensentziehung und der engeren der Enteignung wird heute sehr häufig verwischt. Sie hatte aber wichtige Folgen für den Restitutionsvorgang. Denn dabei wurde „enteignetes“ Vermögen nicht einfach zurückgegeben, sondern ein Kauf rückabgewickelt. Dieser komplexe Vorgang konnte sich in die Länge ziehen. Eine terminologische Vorbemerkung ist schließlich auch zu Wiedergut­ machung, Restitution und Entschädigung angebracht: Erstens ist der Oberbegriff „Wiedergutmachung“ spezifisch für Westdeutschland und nicht für andere Staaten verallgemeinerbar. Außer der Bundesrepublik sah sich kein anderer europäischer Staat veranlasst, die Rechtsnachfolge für NS-Deutschland zu übernehmen und deswegen für dessen Handlungen „Wiedergutmachung“ zu leisten. Die Republik Österreich lehnte das bekanntlich auf Grundlage des ihr von den Siegermächten zuerkannten Status als „liberated“ und nicht „enemy country“ ab. Zweitens war der Begriff in Österreich schon besetzt von der NS-„Wiedergutmachung“ 1938. In diesem Beitrag wird daher von Restitution gesprochen, wenn es um die Rückgabe eines Vermögensobjekts (in diesem Fall von Unternehmen) geht – in Westdeutschland hieß das „Rückerstattung“, in Österreich „Rückstellung“ – und von Entschädigung, wenn Vermögensverluste durch Kompensationszahlungen abgegolten wurden.

„Arisierung“ und Restitution von Unternehmen in Wien 121

II. „Einvernehmliche Arisierungen“ Kaum thematisiert wurden in der Literatur bisher Vorgänge „einvernehm­licher Arisierungen“.9 Dies mag damit zusammenhängen, dass der Verweis auf einvernehmliche Übernahmen als Rechtfertigungsargumentation von „Ariseuren“ bekannt ist und man daher geneigt ist, ihn als interessengeleitet zu sehen und nicht ernst zu nehmen. Bei genauerer Untersuchung von Einzelfällen findet man allerdings heraus, dass Abkommen zwischen „jüdischen“ Inhabern und „Ariseuren“ getroffen wurden, mittels derer sich beide gegen die Eventualitäten der politischen Konjunktur abzusichern versuchten. Im Rahmen des Zwangssystems der „Arisierung“ suchte der „jüdische“ Unternehmer einen „Ariseur“ aus und „überließ“ ihm für die Zeit der NS-Herrschaft das Unternehmen. Wer die überlieferten Akten zur „Arisierung“ und Restitution von Unternehmen aufmerksam liest, wird feststellen: Der Eindruck eines einseitigen Vorgangs, den die „Arisierungs“-Akten“ oft vermitteln, wird durch die Angaben über diese Vorgänge in den Restitutionsakten durchaus differenziert. Das ist insofern nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass bestimmte Zweckallianzen ­zwischen „jüdischem“ Eigentümer und „Ariseur“, beide mehr Privatunternehmer denn „Jude“ und „Arier“, vor der staatlichen „Arisierungs“-Behörde verschleiert werden mussten und daher in den „Arisierungs“-Akten nicht sichtbar werden.10 Sie treten deshalb erst bei der Restitution zutage – und machen einmal mehr deutlich, dass Restitutionsakten für die „Arisierungs“-Forschung unerlässlich sind. In der Tiefe der Schichten von Akten unterschiedlicher Provenienz zeigen sich also Interessensallianzen, die auf den ersten Blick nicht sichtbar werden. 9 Frühe Hinweise bei Barkai und Schwarz (Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933 – 1945. Frankfurt am Main 1988, 60 – 62; Walter Schwarz, Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland. Ein Überblick, in: Ludolf Herbst/­Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland. München 1989, 36 – 37), sind in der Folgezeit in der Literatur nicht aufgegriffen worden. Bei Frank Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933 – 1945. Hamburg 1997, 156 – 158, spielen solche Versuche eine nur ganz geringe Rolle. 10 Ich habe einen solchen Fall als eine von mehreren Gegenstrategien gegen die Vermögens­ entziehung exemplarisch dargestellt in: Heller, Olla, Bloch. Beispiele für Vorgangsweisen bei „Arisierung“ und Restitution von Unternehmen, in: Verena Pawlowsky/Harald Wendelin (Hrsg.), „Arisierte“ Wirtschaft. Raub und Rückgabe – Österreich von 1938 bis heute, Bd. 2. Wien 2005, 171 – 175.

122 Berthold Unfried

Ein solcher Fall zeigt sich bei einer Wiener Textilhandelsfirma. Der „Arisie­ rung“ lag ein stilles Abkommen zugrunde, das naturgemäß in den „Arisierungs“-­ Akten nicht sichtbar wird, weil es vor den NS -Behörden verborgen werden musste. Auf Grundlage der „Arisierungs“-Akten allein ist ein solcher Fall nicht zu verstehen. Er muss also von der Restitutionsseite her aufgerollt werden. ­Dieser Fall kann uns einfache methodische Vorgehens­weisen beim Schreiben von Geschichte in Erinnerung rufen. Auch die Erzählungen von Rückstellungswerbern können selbstverständlich nicht als Ausdruck der histo­rischen Wirklichkeit übernommen werden. Das Alltagsgeschäft des Histo­rikers, Erzählungen auf ihren Interessensgehalt zu prüfen und sie entsprechend miteinander in Beziehung zu bringen, um intersubjektive Annähe­rungen an die historischen Wirklichkeiten zu erzielen, muss auch bei „Arisie­rungs“- und Restitutionsfällen angewandt werden. In einem solchen Fall werden daher die beiden Erzählungen gegenübergestellt und dann versucht, daraus eine wahrscheinliche historische Wirklichkeit zu destillieren. Das entspricht der Struktur eines Gerichtsverfahrens, das die aktenmäßig überlieferten Restitu­tionsverfahren hatten. Über die „Arisierung“ der Textilhandelsfirma gibt es zwei einander widersprechende Erzählungen, weil es nach 1945 zu einem Rückstellungsverfahren und zu einem Strafprozess kam, in denen die beiden Parteien ihre jeweilige Version erzählten. Für die ehemaligen „jüdischen“ Eigentümer und nunmehrigen Rückstellungswerber war der „Ariseur“ ein notorischer Nazi und Judenhasser. Der „Ariseur“ stellte sich dagegen als uneigennütziger Freund der „Juden“ dar und hielt dagegen, sein Eintritt in die Partei sei von diesen begrüßt worden, weil sie einen Verbindungsmann zu den neuen Macht­habern gebraucht hätten. Die Interessenslagen und die wechselnden Allianzen und Gegnerschaften, die sich daraus ergaben, werden deutlich, wenn man Restitutionsakten und Strafgerichtsakten kombiniert. Es zeigt sich, dass die „jüdischen“ Eigentümer 1938 versuchten, die Firma durch Übertragung an einen Mitarbeiter zu erhalten. Gleichzeitig sollte diese Form der „Arisierung“ den „jüdischen“ Besitzern die Ausreise nach Südamerika erlauben, wo sie den Ausgang des national­ sozialistischen Experiments abwarten wollten. In dem „Ariseur“ sahen sie eine Art Statthalter für eine Zeit nach dem NS-Regime, von dessen vorübergehendem Charakter sie überzeugt waren.11 Die Zusammenarbeit zwischen „Juden“

11 Der Fall „Mendl & Schönbach“ ist beschrieben in Berthold Unfried, Grundzüge der Restitution von Unternehmen, in: Felber u. a. (Hrsg.), Ökonomie der „Arisierung“,

„Arisierung“ und Restitution von Unternehmen in Wien 123

und „Ariseur“ fußte auf dem gemeinsamen Interesse, eine Liquidierung des Betriebs zu verhindern. Tatsächlich gelang es ihnen, die Liquidierungslinie der „Arisierungs“-Behörde in Richtung „Entjudung“ abzulenken. Sie handelten also zusammen als Privatunternehmer gegen Eingriffe des Staates. Freilich schlossen solche Abkommen Konflikte bei der Restitution keineswegs aus, wie Beispiele aus den Restitutionsakten zeigen. Als die Unwägbarkeiten des Kriegsverlaufs sich dauerhaft zugunsten des Deutschen Reichs zu klären schienen, sahen sich manche „arische“ Vertragspartner offensichtlich nicht mehr genötigt, sich an die Abkommen zu halten, die ja getroffen worden waren, um sich gegenüber den weiteren politischen Entwicklungen abzusichern. Den Textilfabrikanten wurde klar, dass ihr Strohmann „beim Essen Appetit bekommen“ hatte, wie sie dies treffend ausdrückten. Auch der Staat trug durch seine Geldabschöpfungspolitik (Reichsfluchtsteuer, Judenvermögensabgabe, Entjudungsauflage) dazu bei, das Geschäft zwischen den „Juden“ und dem „Ariseur“ zunichtezumachen, indem er finanziellen Druck auch auf den „Ariseur“ entwickelte. Offenbar reichte der für diese Personalabgaben im Zusammenhang mit dem Firmenkaufvertrag intern vereinbarte Deckelbetrag nicht aus, da die Forderungen des Staates höher als erwartet ausfielen. Die Bereitschaft des „Ariseurs“ zur Zusammenarbeit mit den „Juden“ endete dort, wo sie finanzielle Nachteile gebracht hätte.12 „Einvernehmliche Arisierungen“ zeigen den Handlungsspielraum, den es bei diesen Vorgängen gab. Sie konnten auch die Interessen des „jüdischen“ Unternehmers berücksichtigen. Zumindest bei größeren Unternehmen greift eine Sicht auf „jüdische“ Unternehmer als passive Opfer zu kurz. Der Absicht der NS -Behörden, ihnen ihre Unternehmen und noch dazu möglichst viel Privatvermögen abzunehmen, konnten sie Gegenstrategien entgegensetzen. Diese Strategien waren prekär und nicht ungefährlich, aber sie hatten durchaus Erfolgsaussichten. Konkret konnten „jüdische“ Unternehmer ein Arrangement mit Nationalsozialisten suchen, die mit ihren Parteibeziehungen gemeinsame Interessen gegen den Zugriff des Staates abschirmten. Bei international verflochtenen Unternehmen und im Fall von Unternehmen, die ihre Aktien und 264 – 276 (Zit.:  268). 12 Nach der Zeugenaussage des ehemaligen kommissarischen Verwalters der Firma, ­Wilhelm Hoffmann, im Rückstellungsprozess, in: Stenographisches Protokoll der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor der Rückstellungskommission beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien am 15.5.1950, Wiener Stadt- und Landesarchiv, RK 52/59.

124 Berthold Unfried

Aktionäre rechtzeitig ins Ausland gebracht hatten, musste die NS-Seite echte Verhandlungen führen, damit ein Arrangement getroffen werden konnte, das die Exportinteressen dieser Unternehmen nicht gefährdete. Mit den Inhabern solcher Firmen mussten die Vertreter des nationalsozialistischen Staates auf Augenhöhe verhandeln. Dass „jüdische“ Unternehmer die Mobilität des Geldes gegen den territorialgebundenen Staat und seine Gewaltapparate nutzen und damit schneller sein konnten als die Gestapo und die Wehrmacht, zeigt der Fall der Präservativmarkenfirma „Olla“. Die NS-Behörden beschlagnahmten zwar den von Vermögen entleerten Wiener Firmensitz und verhafteten ein Familienmitglied der „jüdischen“ Firmeneigentümer, an die internationale Handelsfirma kamen sie jedoch ebenso wenig heran wie an deren Schweizer Bankkonten. Im Pariser Vertrag wurde eine Aufteilung der Interessensgebiete zwischen der Wiener „Olla“ und den Firmen der „jüdischen“ Firmeneigentümer außerhalb des deutschen Machtbereiches getroffen, dem zufolge die wesentlichen Auslandsmarkenrechte bei den Auslandsfirmen bleiben sollten. Bis Kriegsende gelang es den deutschen Behörden und Exekutivorganen nicht, des Vermögens dieser Handelsfirma habhaft zu werden.13 Darüber hinaus konnten solche Verhandlungen, besonders im Bereich der Exportbetriebe, zu einer partiellen Zusammenarbeit entlang von gemeinsamen Interessen führen. Im Interesse der Sicherung der Exportlinien sahen sich die NS-Behörden veranlasst, die „jüdischen“ Eigentümer des großen Wiener Papier­ unternehmens Bunzl & Biach am „arisierten“ Unternehmen zu beteiligen, um sie an dessen Erfolg zu interessieren.14 Solche Assoziierungen wurden bei der Restitution dieser Unternehmen durchaus beibehalten – was Positionsgefechte über Anteile und Ausgleichszahlungen nicht ausschloss.15

13 Diesen Fall habe ich zusammengefasst in Unfried, Heller, Olla, Bloch, 176 – 179. 14 Vgl. dazu die Falldarstellung von Peter Melichar, Arisierungen und Liquidierungen im Papier- und Holzsektor, in: Felber u. a. (Hrsg.), Ökonomie der „Arisierung“, 311 – 335. 15 Beispiele sind wiederum Bunzl & Biach und die bekannte Wiener Süßwarenfirma Heller, wo der „Ariseur“ das einzige „arische“ Familienmitglied war. Dieser Fall, der auch wegen zweckorientierter „Arisierung“ von Personen interessant ist sowie wegen Rationalisierungsvorgaben im Zuge der „Arisierung“, ist dargestellt in Berthold Unfried, „Arisierung“, Liquidierung und Restitution von Betrieben der Lebensmittelbranche, in: Ulrike Felber u. a. (Hrsg.), Ökonomie der „Arisierung“, Teil 2: Wirtschaftssek­ toren, Branchen, Falldarstellungen. Wien/München 2004, 797 – 804, sowie in Unfried, Grundzüge der Restitution von Unternehmen, 281 – 290.

„Arisierung“ und Restitution von Unternehmen in Wien 125

Diese Differenzierungen ändern allerdings nichts daran, dass die „Arisierung“ von Unternehmen für „jüdische“ Unternehmer potenziell gefährlich war. „Arisierung“ konnte Gewalt, erzwungene Emigration, KZ bedeuten. Beispiele „einvernehmlicher Arisierung“ finden sich eher bei mittleren und größeren Unternehmen, deren Inhaber emigrieren konnten. Insbesondere Kleinstunter­ nehmer, die sich die Ausreise nicht leisten konnten, liefen jedoch Gefahr, der NS-Judenvernichtungspolitik zum Opfer zu fallen, nachdem ihnen ihre Existenzgrundlage entzogen worden war.

III. Steuern und Steuerforderungen im Kontext von „Arisierungen“ Eine wichtige Rolle bei der Liquidierung und „Arisierung“ von Unternehmen spielten Steuerforderungen. Auf diesem Weg holte sich der Staat seinen Teil. Denn während der Vermögenstransfer an Privatpersonen in erster Linie über durch Zwang und Überangebot gedrückte Kaufpreise erfolgte, vollzog sich der Transfer an den Staat insbesondere über Steuern. Gemeint sind hier nicht nur die spezifisch gegen „Juden“ gerichteten Sondersteuern wie Judenvermögensabgabe und in der Praxis auch die Reichsfluchtsteuer, sondern auch die regulären Körperschaftssteuern. Zwischen 1936 und 1940 wurde im Deutschen Reich der Körperschaftssteuersatz von 25 auf 40 Prozent erhöht. Neuere Forschungen bestätigen, dass es eine verschärfte Einhebungspraxis und ein härteres Vorgehen gegen Steuerhinterziehung gab.16 Das Körperschaftssteueraufkommen erhöhte sich auch durch effizientere Wirtschaftsprüfungen, wofür „jüdische“ Unternehmen ein Exerzierfeld waren. Die „Arisierung“ war mit einer Welle von Wirtschaftsprüfungen verbunden. Auch die dabei gewonnenen Informationen erleichterten den Eingriff des Staates in die Privatwirtschaft. Er zog das Privatvermögen von Unternehmern zur Abdeckung von Firmenschulden heran. Insgesamt griff er in einer Weise in die Privatwirtschaft ein, wie es in parlamentarisch-demokratischen Regierungssystemen nicht möglich gewesen wäre. In Österreich wurde die Praxis von systematischen Betriebsprüfungen

16 Reimer Voß, Steuern im Dritten Reich. Vom Recht zum Unrecht unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. München 1995, 106; Axel Drecoll, Der Fiskus als Verfolger. Die steuerliche Diskriminierung der Juden in Bayern 1933 – 1941/42. München 2009, 162 – 163.

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überhaupt erst während des NS-Regimes eingeführt.17 So gesehen waren die im NS -Regime durchgeführten Reformen auf dem Gebiet von Steuerrecht und Steuerpraxis, soweit sie nicht, wie die Diskriminierung „rassisch“ definierter Steuerleister, gänzlich von der NS-Ideologie durchdrungen waren, ein „Modernisierungsschub“.18 In den 1930er-Jahren hatten viele Unternehmen und ihre Eigentümer beträchtliche Steuerschulden. Die Staaten der Zwischenkriegszeit hatten sich als schwache Steuereintreiber gezeigt. Die politische Zwangssituation bot nun die Gelegenheit, Steuern einzutreiben und dazu auch auf das Privat­ vermögen der Unternehmenseigentümer zuzugreifen. Zuvorderst davon betroffen war jener Kreis von Unternehmern, gegen die sich die Politik der „Entjudung“ richtete.19 Bei der Abgeltung dieser Steuerforderungen zeigen sich Interessenskon­ stellationen, die teils quer zu den politisch-ideologischen Linien lagen. Interessenskonflikte konnten sich zwischen „Arisierungs“- und Steuerbehörden ergeben. Dabei handelte es sich um die Frage, wer den Löwenanteil aus dem Vermögenstransfer einstreichen sollte: der Staat über die Steuerbehörde oder der „Ariseur“, der meist eine Privatperson war. Während der „Ariseur“ naturgemäß an einem niedrigen Übernahmepreis interessiert war, pochte die Steuer­ behörde in erster Linie auf die Begleichung der offenen Forderungen, die sich aus Rückständen der regulären Körperschafts- und Personalsteuern aus den Jahren vor dem „Anschluss“ sowie aus den NS-spezifischen Abgaben zusammensetzten. Ein niedriger Verkaufspreis des Unternehmens gefährdete die Zahlung der Steuervorschreibungen. Daraus ergab sich ein Interessensgegensatz zwischen „Arisierungs“-Stellen und Steuerbehörden. Denn Erstere nahmen bei der Festsetzung des Kaufpreises auf die finanziellen Möglichkeiten der Käufer Rücksicht, wurden dabei nicht selten von politischen Gesichtspunkten – der Begünstigung von Parteileuten – geleitet und wollten die „arisierten“ 17 Vgl. dazu Unfried, Liquidierung und „Arisierung“, 213. 18 Voß, Steuern, 242 – 243, Zitat 243. 19 Wie der Fall des „jüdischen“ österreichischen Zuckerindustriellen Bloch-Bauer exemplarisch zeigt, waren diese Steuerforderungen keine reine Erfindung der NS-Behörden, denn bei Bloch-Bauer wurden sie nach 1945 von der Vermögenskontrollabteilung der US-Besatzungsbehörde bestätigt. Die Diskriminierung bestand darin, dass Steuerforderungen im Rahmen der „Arisierungs“-Politik vorzugsweise bei „jüdischen“ Unternehmern aufgedeckt wurden. Vgl. dazu Unfried, Heller, Olla, Bloch, 180 – 184.

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Unternehmungen nach Möglichkeit von Steueraltlasten frei halten. Die Chancen der Steuerbehörden, die diversen Steuern hereinzubekommen, stiegen jedoch mit der Höhe des Kaufpreises. Auf die wirtschaftsregulatorische Funktion der Liquidierung und „Arisierung“ von Unternehmen haben Aly und Heim mit Blick auf die Tätigkeit des „Reichskuratoriums für Wirtschaftlichkeit“ schon hingewiesen. Beiträge in Sammelbänden zur „gelenkten Marktwirtschaft“ des Nationalsozialismus verfolgen diese Linie weiter.20 Allerdings ist diese Interpretationslinie von einem „restitutionsmoralischen“ Zugang überdeckt worden, der besonders Fragen nach Art und Ausmaß der „Wiedergutmachung“ nationalsozialistischer Vermögensentziehungen auf der Ebene der betroffenen Individuen stellt. Dieser Zugang ist heute offenbar vorherrschend. Im Licht eines wirtschaftshistorischen Zugangs aber erscheinen Liquidierung und „Arisierung“ von Unternehmen als NS-spezifische Form des staatlichen Eingriffs in die Privatwirtschaft. Auch die Steuerpolitik lässt sich in diesem Rahmen als eine Form des staatlichen Zugriffs auf die Privatwirtschaft erklären. Dieser Zugriff nahm aufgrund der rassistischen Grundlagen des NS-Systems vielfach die Form diskriminierender Bestimmungen gegen Steuerpflichtige an, die als „Juden“ qualifiziert wurden. Auch das Einkommensteuerrecht enthielt solche diskriminierenden Bestimmungen, die dem Prinzip der einheitlichen Besteuerung in einem modernen Steuersystem krass zuwiderlaufen.21 Vorschreibungen an Körperschaftssteuer an Unternehmen, die als „jüdisch“ qualifiziert worden waren, waren zweifel­ los auch ein Instrument der Vermögensentziehung, doch erschöpft sich ihre Bedeutung nicht darin. Denn ähnlich wie bei dem staatlichen Eingriff in die als „jüdisch“ klassifizierte Privatwirtschaft, der als Vorstufe zu einem staat­lichen Eingriff in die Privatwirtschaft insgesamt mit dem Ziel der Wirtschaftsregulierung gesehen werden kann, ließe sich auch in diesem Bereich die Frage stellen, inwieweit die steuerlichen Interventionen des NS-Staates als Maßnahmen gesehen werden können, die über die NS -Zeit hinaus Maßstäbe setzten. Es 20 So das Resümee von Christoph Buchheim/Jonas Scherner, Anmerkungen zum Wirtschaftssystem des „Dritten Reichs“, in: Werner Abelshauser/Jan-Otmar Hesse/Werner Plumpe (Hrsg.), Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. Essen 2003, 97. 21 Wie Voß am Beispiel der Einkommenssteuer zeigt, Voß, Steuern, 158. Darauf z. T. Bezug nehmend: Hans-Peter Ullmann, Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der öffentlichen Finanzen vom 18. Jahrhundert bis heute. München 2005, 161 – 162.

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wäre für die Forschung lohnenswert, sich solchen Fragen unbelastet von entschädigungspolitischen Interessen aus einem rein wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse zu widmen.

IV. Rationalisierung: Standortrationalisierung, Produktivitätssteigerung und Wirtschaftsplanung im Rahmen einer „gelenkten Marktwirtschaft“ Für die Lebensmittelbranche in Österreich sind Planungsunterlagen vorhanden, die eine Rekonstruktion der den „Arisierungen“ und Liquidierungen vorgelagerten Expertisen und Entscheidungen erlauben und die Akteure und ihre Interessen deutlich machen. In Planungsausschüssen waren Wirtschaftsverbände, staatliche Organisationen und die Partei vertreten. Wien hatte 1938 mehr Einzelhandelsgeschäfte als das bevölkerungsmäßig doppelt so große Berlin. Die Beseitigung der „Übersetzung“ (also der Überzahl an Geschäften) sollte vorzugsweise im Zuge der „Entjudung“ durchgeführt werden. Das war ein Hauptmotiv bei den „Entjudungs“-Vorgängen. „Entjudung“ bedeutete vorzugsweise Liquidierung: Acht von zehn „jüdischen“ Unternehmen im Lebensmittelhandel wurden nicht an „Arier“ übertragen, sondern liquidiert.22 Für die Lebensmittelbranche war der Reichsnährstand ein wichtiger Akteur. Er sollte im Auftrag des Landwirtschaftsministeriums mithilfe der Marktordnungsvorschriften die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte reduzieren. Bei Betrieben des Einzelhandels bestehe, so der Ernährungs- und Landwirtschaftsminister im Herbst 1938, ein „besonderes Bedürfnis einer durchgreifenden Berufsbereinigung, weil in Österreich und vornehmlich in Wien der Einzelhandel erheblich übersetzt ist“.23 Daher erstellte das RKW Untersuchungen, die Grundlagenmaterial für die Entscheidung über „Arisierung“ oder Liquidierung lieferten: Einzeluntersuchungen (zu einzelnen Unternehmen, „jüdischen“ wie „arischen“), „Branchenuntersuchungen“ (zu einzelnen Wirtschaftszweigen wie dem Braugewerbe etc.) und „Strukturuntersuchungen“ (etwa zur Lebensmittelbranche oder 22 Vgl. dazu Berthold Unfried, „Arisierung“, Liquidierung und Restitution von Betrieben der Lebensmittelbranche, 742 – 749. 23 Ernährungs- und Landwirtschaftsminister an Stellvertreter des Führers, Berlin, 24.9.1938, Österreichisches Staatsarchiv (ÖSTA), Archiv der Republik (AdR) 04, Bürckel Materie 2120/19/2.

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zur Wirtschaft in einzelnen Gauen). Zur Datenerhebung versandte das RKW Fragebögen an die Betriebe. Der Betriebs-Fragebogen erfasste die betriebswirtschaftlichen Eckdaten der Firma, ihre Kapitalisierung, die Rentabilität und die Standortsituation. Die Gutachten des RKW konzen­trierten sich keineswegs nur auf die „jüdischen“ Unternehmen. Denn die Frage, ob sie „arisiert“ oder liquidiert werden sollten, war nur eine unter vielen Fragen, die das RKW in Hinblick auf die Rationalisierung der österreichischen Wirtschaft untersuchte. Neben wirtschaftlichen Motiven der Rationalisierung und der Standortpolitik spielten auch wirtschaftspolitische Überlegungen eine Rolle, etwa, wie Autarkie in der Lebensmittelproduktion erreicht und wie Rohstoffe unter Hintansetzung reiner Rentabilitätsrechnungen maximal genutzt w ­ erden konnten. Die Hauptproblematik war nicht die „Entjudung“, sondern die Angleichung der österreichischen Wirtschaft an die reichsdeutsche nach dem Wegfall der Schutzzölle. Daneben waren die Empfehlungen zur Liquidierung „jüdischer“ Unternehmen und zu Rationalisierungsmaßnahmen im Zuge der „Arisierung“ nur ein Aspekt unter anderen. Genauso wurden die Kreditwürdigkeit, Produktionsmethoden und Kostenfaktoren „arischer“ Unternehmen untersucht mit dem Ziel, die Produktivitäts- und Preisdifferenz zu reichsdeutschen Unternehmen zu analysieren. Denn die „Entjudung“ war nur als erster Schritt einer umfassenden Rationalisierung der österreichischen Wirtschaft gedacht, in deren Rahmen auch „arische“ Unternehmen einer Planung im Hinblick auf ihre Rationalisierung respektive Liquidierung hätten unterzogen werden sollen. Die Branchenbereinigung sollte in der Folge auch den „­ arischen“ Teil der Wirtschaft, insbesondere im Bereich des Handels „auskämmen“, schließlich herrschten hier ja keine anderen Zustände als im „jüdischen“ Teil. Allerdings kamen diese Liquidierungen den Staat teurer zu stehen, mussten doch die „arischen“ Inhaber der geschlossenen Geschäfte entschädigt werden. Die Empfehlungen zu Liquidierung wurden im Allgemeinen umgesetzt, wie Stichproben zeigen. Doch folgte die für die Abwicklung von „Arisierung“ und Liquidierung zuständige „Vermögensverkehrsstelle“ nicht in allen Fällen den Empfehlungen der Fachverbände, die sich in der Regel für die Liquidierung aussprachen. In etlichen Fällen durchkreuzten Parteileute die Liquidierungspläne, indem sie sich „jüdische“ Unternehmen aneigneten.24

24 Beispiele bei Unfried, „Arisierung“, Liquidierung und Restitution von Betrieben der Lebensmittelbranche, 753 – 759, vgl. zum Beispiel der Essigerzeugung ebd., 759 – 765.

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Ausschlaggebend für die Entscheidung für eine Liquidierung konnten Überbelag der Gegend mit Geschäften, geringer Umsatz, schlechte Ertragslage, Überschuldung oder schlechte Ausstattung sein. Neben Überbelag war eines der häufigsten Argumente ungünstige Standortbedingungen wie Bezugs- und Absatzwege, die sich als Kostenfaktoren strukturell negativ auswirkten. „Da das Geschäft klein und unrein geführt ist und sich außerdem in unmittelbarer Nähe einer Reihe arischer Geschäfte befindet“, schlug der „Arbeitsausschuss“ die Liquidierung einer Gemischtwarenhandlung vor und brachte damit ein weiteres Standardargument vor.25 „Typisch jüdischer und unsauber gehaltener Fleischhauerbetrieb“, hieß es in einer anderen Liquidierungsempfehlung, und weiter: „für einen zeitgemäßen hygienischen Fleischhauerbetrieb nicht genug entsprechend“.26 „Arisierungs“-Empfehlungen waren mit Auflagen zur Rationalisierung der Produktion im Zuge der „Arisierung“ verbunden: Übernommene Firmen mussten sich verpflichten, Prinzipien „nationalsozialistischer“ Wirtschaftsführung anzuwenden. Dazu zählten Rationalisierung durch maximale Rohstoffnutzung und rationelle Produktionsabläufe, Modernisierung des Maschinenparks („neuzeitliche Maschinen“), kein Personalabbau, Einstellung von „Volksgenossen“ anstelle der zu entlassenden „Juden“, Sauberkeit der Produktionsstätten („hygie­nisch, sauber und rationell“), Maßnahmen, die der „Schönheit der Arbeit“ dienten wie die Verschönerung der Personalräume oder die Schaffung eines „Gefolgschaftsraums“. Außerdem wurden konkrete Rationalisierungsmaß­ nahmen in der Produktion (Stilllegung eines Produktionszweiges, Angliederung eines anderen, komplette Umgestaltung eines dritten) „dringend nahegelegt“. Auch die Produktionspalette wurde neu festgelegt. Die Firmen mussten sich verpflichten, Abteilungen stillzulegen, die Produktpalette zu verändern, die Rohstoffausnutzung zu verbessern. Die einzelnen Zweige des Lebensmittelgroßhandels wurden in Wirtschaftsverbänden zwangsorganisiert, die in den „Arisierungs“-Kommissionen in aller Regel Liquidierungen befürworteten. In „Arisierungs“-Kommissionen handelten Vertreter der Wirtschaft, des Staates, der Partei und der „Vermögensverkehrsstelle“ aus, welche Unternehmen „arisiert“ und welche liquidiert

25 Protokoll über die Sitzung des Arbeitsausschusses, 13.10.1938, ÖSTA, AdR 06, Vermögens­ verkehrsstelle (VVST) Stat. 815 (Kt. 585) 26 Stellungnahme Viehwirtschaftsverband Donauland o. D., ebd., VVST Gew. 2529 (Kt. 213).

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werden sollten. Wirtschaftsinteressen (Liquidierung von Konkurrenzbetrieben) konkurrierten mit Parteiinteressen („Arisierung“ als „Wiedergutmachung“). Übergeordnete Ziele waren aufseiten der Wirtschaftsverbände die Liquidierung von Konkurrenz, aufseiten der Vertreter des Staates Wirtschaftsrationalisierung durch staatliche Eingriffe in die Privatwirtschaft – Liquidierung, Standortrationalisierung, Kapitalisierung durch Kredite, Entschuldung oder Produktionsrationalisierung – und aufseiten der Partei die Zuführung von Parteileuten in die Wirtschaft und die Versorgung der Parteiklientel mit Kleinhandelsgeschäften. Die Verbände der Selbstverwaltung der Privatwirtschaft hatten ein leicht verständliches Interesse daran, möglichst viele Konkurrenten loszuwerden. Sie wollten keineswegs, dass Parteileute die Geschäfte der „Juden“ übernahmen. Dass sich die Konkurrenz durch neuen „arischen“ Besitzer wesentlich von der bisherigen „jüdischen“ unterscheiden würde, dass die Parteimitglieder die Geschäfte „nationalsozialistisch“-loyal und nicht „jüdisch“, im Sinn von eigennützig und konkurrenz­orientiert, führen würden, daran dürften sie nicht geglaubt haben. Der Staat hatte, sekundiert von den Rationalisierungsfachleuten des RKW, ebenfalls ein Interesse daran, dass Geschäftsübertragungen nicht auf einer rein „politischen“ Schiene liefen. Er war zwar auf Zuarbeit „von unten“ angewiesen, und so erstellte neben dem Fachverband auch die Partei Listen von „jüdischen“ Unternehmen und gab Gutachten zur politischen Eignung von „Arisierungs“-Bewerbern ab. Der NS-Einfluss in der Wirtschaft sollte gestärkt werden, aber die Erkenntnis, dass „zu viel Partei“ in der Wirtschaft dieser nicht guttun würde, führte zu einer Abwehrhaltung gegenüber Partei-„Arisierungen“.

V. Resümee und Ausblick Die Ergebnisse der Forschung zu „Arisierung“ und Restituierung von Unternehmen im ehemaligen Österreich nach der Eingliederung in das Deutsche Reich lassen sich abschließend in Thesenform zusammenfassen: Von den Ergebnissen her betrachtet erscheint die Politik der „Arisierung“, die überwiegend eine Politik der Liquidierung von Unternehmen war, in einer heutigen, nicht NS-geprägten Terminologie nicht in erster Linie als ideologisch (antisemitisch) motivierter Selbstzweck, wie sie die NS-Propaganda darzustellen versuchte („Befreiung der Wirtschaft von jüdischem Einfluss“), sondern als Auftakt zu einer großangelegten Wirtschaftsbereinigung in Form eines staatlichen

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Eingriffs in die gesamte (also auch die sogenannte „arische“) Privatwirtschaft. Nachdem der Staat nationalsozialistisch dominiert war und die Gesellschaft von der NS-Terminologie durchdrungen, erfolgten diese Wirtschaftsregulierungsmaßnahmen in dem Begründungszusammenhang der NS-Ideologie. Der Eingriff des Staates in die Privatwirtschaft im Gefolge der großen Wirtschaftskrise konnte am leichtesten in dem als „jüdisch“ definierten Sektor beginnen. Obwohl der Krieg und die Umstellung auf die Kriegswirtschaft dieses Projekt überlagerten, blieben als Haupteffekte der „Arisierung“: staatliche Regulierung und Konzentration der Wirtschaft. Außerdem sind die „Arisierungs“-Zwangsmaßnahmen in Österreich im Zusammenhang mit den grundlegenden wirtschaftlichen Änderungen zu sehen, welche die Eingliederung der österreichischen Wirtschaft in die reichsdeutsche und wesentlich stärker staatlich reglementierte Wirtschaft (Preisregulierung, Kontingentierung etc.) mit sich brachte. Die Produktivität lag in nahezu allen Wirtschaftssparten beträchtlich unter jener der reichsdeutschen Wirtschaft, das Preisniveau erheblich darüber. Der staatliche Zugriff auf die als „jüdisch“ klassifizierten Unternehmen sollte also auch die österreichische Wirtschaft im Vergleich mit der reichsdeutschen produktiver und konkurrenzfähiger machen. Im Zuge der „Arisierung“ wurden daher „Ariseure“ verpflichtet, Investitionen vorzunehmen, um die Betriebe zu modernisieren und auf das reichsdeutsche Niveau zu bringen. Der staatliche Zugriff auf den als „jüdisch“ gekennzeichneten Teil der Privatwirtschaft eröffnete auch einen Spielraum in einem größeren wirtschaftlichen Vorgang: die Eingliederung der österreichischen Wirtschaft in die reichsdeutsche. „Einem Juden könnte der Staat auf Grund seiner Verfehlungen den Betrieb um ein Butterbrot abnehmen. Wenn ihn aber zuerst ein Arier erwirbt, müssten dann teure Ablösen erlegt werden.“27 „Arisierung“ als Raubzug von Parteileuten trat damit bald hinter einen anderen Aspekt zurück: „Arisierung“ als Werkzeug der staatlichen Wirtschaftsregulierung. Die spektakulär gewalttätigen Wellen individueller Bereicherung unmittelbar im Anschluss an die NS-Machtübernahme und neuerlich während des November­pogroms 1938, die die Vorstellung von „Arisierung“ geprägt haben, haben diesen „wirtschaftsrationalen“ Aspekt überdeckt. Wirtschaftsrationalisierungseffekte wurden auch nach 1945 zu erhalten versucht. Deutlich wurde das besonders in der Frage der Wiederherstellung

27 Die Spiritusindustrie in Österreich, o. A., o. D., ÖSTA, AdR, Bürckel Materie 2230/3.

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liquidierter Betriebe. Diese Betriebe, in der Mehrzahl kleine Geschäfte, w ­ urden nicht wiederhergestellt. Der Konzentrationsprozess in diesem Sektor setzte sich nach 1945 auf wirtschaftlichem Weg fort.28 Daneben war „Arisierung“ auch ein Teil der NS-Sozialpolitik. Schließlich eröffnete sie Schichten eine Aufstiegsmöglichkeit als Unternehmer, die diesen unter „normalen“ Bedingungen mangels Kapital verwehrt geblieben wäre. Viele „Arisierungen“ sind damit auch Geschichten von sozialem Aufstieg, von der Konstituierung neuer Wirtschaftseliten. Das alles hatte Folgen für die Restitution. Nach dem Krieg wurden die Ergebnisse der NS-Wirtschaftspolitik – Liquidierung von Unternehmen, Rationa­ lisierung, Austausch von Teilen der Wirtschaftseliten – nicht einfach rückgängig gemacht. „Arisierte“ Unternehmen wurden weitgehend restituiert oder entschädigt, aber keineswegs der Zustand von 1938 wiederhergestellt. Bestimmten Entwürfen zufolge hätten „arisierte“ Unternehmen nicht restituiert, sondern verstaatlicht und entschädigt werden sollen.29 Diese Pläne wurden zwar nicht umgesetzt, aber sie zeigen, dass in der Nachkriegszeit wirtschaftsordnerische Vorstellungen zur Restitution respektive Entschädigung entzogenen Vermögens über den Gedanken der Genugtuung für individuelle Vermögensverluste dominierten. Die Liquidierung von Unternehmen und Banken wurde nicht rückgängig gemacht. Zu den Zuständen der Zwischenkriegszeit wollte niemand durch eine restaurative Restitutionspolitik zurück. Die Ergebnisse der hier kursorisch präsentierten Forschungen liegen quer zu etlichen Annahmen über „Arisierung“ und Restitution in der Literatur. Ausschlaggebend dafür scheint mir die hier vorgenommene Rekalibrierung des Blickwinkels. Ein kurzer Blick auf die Historiografie der „Arisierungen“ mag das illustrieren. Die Arbeit von Helmut Genschel zur „Arisierung“ im Deutschen Reich aus den 1960er-Jahren konzentrierte sich auf die staatliche Politik, deren keineswegs linear verlaufende Phasen sie differenziert unterschied.30 Seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre dominiert jedoch ein Zugang über die Betroffenen der „Arisierungs“-Politik. Richtungsweisend auf diesem Gebiet waren die Arbeiten des israelischen Historikers Avraham Barkai, der konsequent 28 Vgl. dazu Unfried, Grundzüge der Restitution von Unternehmen, Kap. 5.1. 29 So ein Entwurf des sozialdemokratischen Bundespräsidenten Karl Renner, vgl. dazu Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005. Wien 2005, 99 – 100. 30 Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich. Göttingen u. a. 1966.

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­zwischen der wirtschaftsgeschichtlichen und der Betroffenenperspektive trennte. Barkai widmete in der erweiterten Ausgabe seiner Dissertation über das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus der „Arisierung“ gerade eine Seite. In dem zeitgleich erschienenen Buch über den „wirtschaftlichen Existenzkampf der Juden“ nahm er explizit den Blickwinkel der als „Juden“ Betroffenen ein.31 Zusammen mit der Einteilung der Akteure in „Opfer“ und „Täter“ hat das die Perspektive dauerhaft verändert und das Thema aus der Wirtschafts- und Sozialgeschichte in die Holocaust Studies verlegt. Der Einsatz an moralischer Bewertung wurde um die Jahrtausendwende durch die europäische Entschädigungswelle für Verluste aus „Arisierungen“ noch erhöht. Die Geschichtsschreibung hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten stark auf „jüdische“ Unternehmer und ihr Leid konzentriert und die Geschichte der „Arisierung“ vom Standpunkt jener Individuen aus erzählt, gegen die sie sich richtete. Das hing auch mit der Reaktualisierung der NS-Vergangenheit auf diesem Gebiet durch die Entschädigungswelle seit Mitte der 1990er-Jahre zusammen. Der große Auftragsforschungsaufwand der europäischen Historikerkommis­ sionen, die um die Jahrtausendwende Verlusten aus Vermögensentziehungen der NS-Zeit nachgehen sollten, orientierte sich vorwiegend an entschädigungspolitischen und nicht an wirtschafts- und sozialhistorischen Fragestellungen, schließlich ging es um Entschädigungsansprüche von Individuen.32 Die auf Personen bezogene Forschung hat die wirtschaftspolitischen Resultate dieser Politik jedoch aus dem Blickfeld verloren.33 „Arisierung“ wurde nicht zu einer Etappe der deutschen und der europäischen Wirtschafts­ geschichte – wie es einem der „größten Besitzwechsel der neuzeitlichen 31 Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“; ders., Das Wirtschaftssystem des Natio­nal­ sozialismus. Frankfurt am Main 1988. 32 Ich versuche das in meinem demnächst (Göttingen 2014) erscheinenden Buch: Abgel­ tung von histo­rischem Unrecht. Entschädigung und Restitution in einer globalen Perspektive, zu analy­sieren. Auch die Forschungsergebnisse der französischen Histo­ rikerkommission, die noch am ehesten historisch-analytisch vorging, sind auf die Frage konzentriert, was an entzogenem Vermögen eventuell nicht restituiert oder entschädigt wurde, vgl. dazu die beiden Bände der Mission d’étude sur la spoliation des Juifs de France: Antoine Prost u. a., Aryanisation économique et restitutions. Paris 2000; Claire Andrieu u. a., La spoliation financière. Paris 2000. 33 Extrembeispiele sind an Falldarstellungen orientierte journalistisch-populärwissenschaftliche Bücher wie z. B. Johannes Ludwig, Boykott. Enteignung. Mord. Die „Entjudung“ der deutschen Wirtschaft. München/Zürich 1992 (Erstausgabe 1989).

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deutschen Geschichte […], dessen Ausmaß nur noch durch die Enteignungen in der SBZ/DDR nach 1945 übertroffen wurde“34, gebühren würde –, sondern zur Etappe des „Holocaust“. Und in diesen Zusammenhang gestellt schien es unumgänglich, die Perspektive der Opfer einzunehmen, Partei zu ­nehmen, mitzufühlen. Dieser Beitrag konzentriert sich dagegen auf wirtschafts- und sozialgeschichtliche Prozesse statt auf Individuen. Dieser Zugang schafft Distanz zu stark ideologie- und annahmegeleiteten Abhandlungen und liegt daher quer zu eingefahrenen Debatten über das Ausmaß von Zwang und von Autonomie oder Steuerung durch Anreize im Verhältnis von NS-Staat und Wirtschaft.35 Wenn durch Fallstudien etwa die Autonomie der Unternehmer und ihr Entscheidungsspielraum hervorgehoben werden, sollen damit die Handlungen dieser Unternehmer nicht moralisch bewertet werden. Wenn auf die Einvernehmlichkeit von bestimmten „Arisierungen“ hingewiesen wird, ist dies nicht als Gegenargument für Entschädigungsforderungen motiviert. Antrieb zu Erkenntnis ist wissenschaftliche Neugier und nicht der Wunsch, Anklage zu erheben, Verteidigungsstrategien zu stützen, Genugtuung oder Gerechtigkeit zu stiften. Deswegen habe ich die Begründungserzählungen der zeitgenös­ sischen Akteure und ihre Terminologie nicht übernommen, sondern habe auf der Basis von archivalischem, also nicht auf die Außendarstellung gerichtetem Material danach gefragt, welche konkreten Handlungen stattfanden. Dieser Beitrag plädiert dafür, die Logiken der Wirtschaft im NS-Staat und der Handlungsinteressen von Akteuren zu untersuchen, statt eine Einteilung 34 Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg, 9 – 10. 35 Vgl. dazu die Sammelbände Abelshauser/Hesse/Plumpe (Hrsg.), Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen, darin besonders Werner Abelshauser, Modernisierung oder institutionelle Revolution? Koordinaten einer Ortsbestimmung des „Dritten Reiches“ in der deutschen Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 17 – 39, und Werner Plumpe, Unternehmen im Nationalsozialismus. Eine Zwischenbilanz, 243 – 266; Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur. Frankfurt am Main 2005; Norbert Frei/Tim Schanetzky (Hrsg.), Unternehmen im National­ sozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur. Göttingen 2010, besonders Norbert Frei, Die Wirtschaft des „Dritten Reiches“. Überlegungen zu einem Perspektiven­ wechsel, 9 – 24; zur Debatte über Strukturveränderungen der französischen Wirtschaft in der Besatzungszeit und ihre Folgen für die Nachkriegsökonomie vgl. Olivier Dard/Hervé Joly/Philippe Verheyde (Hrsg.), Les entreprises françaises, l’Occupation et le second XXe siècle. Metz 2011.

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in Akteursgruppen von „Opfern“ und „Tätern“ vorzunehmen. Vermögens­ entziehung und Genozid sind chronologisch nicht aneinander gekoppelt. Die Politik der „Arisierung“ von Unternehmen und Liegenschaften fand im Wesentlichen in einer anderen Phase der nationalsozialistischen Judenpolitik statt als die nachfolgende Veräußerung von Mobilien Deportierter im Krieg und die Beschlagnahme von Restgeldvermögen durch die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz von 1941. Die nationalsozialistische Judenpolitik zur Kernzeit der „Arisierung“ von Unternehmen zielte noch nicht auf die Vernichtung der als „Juden“ definierten Menschen selbst ab, sondern auf deren Vertreibung. Davon zeugen nicht zuletzt die „Umschulungslager“ zur Qualifizierung von „jüdischen“ Kleinunternehmern und Händlern für die Emigration nach Palästina, denen durch die Liquidierung ihres Betriebs die Lebensgrundlage entzogen worden war.36 Was rückblickend – aufgrund der erdrückenden Bedeutung der nachfolgenden Judenvernichtungspolitik – meist als Etappe zum Genozid betrachtet wird, kann Erkenntnis stiftend auch in andere Zusammenhänge eingeordnet werden.37 Wenn man die Politik der „Arisierung“ primär als Etappe des politischen Eingriffs in die Wirtschaft statt als Etappe des „Holocaust“ betrachtet, ist sie eher in die Geschichte staat­licher Wirtschaftregulierung einzuordnen und in einer globalgeschichtlichen Perspektive eher mit anderen Fällen ethnisch-herkunftsargumentierter Vermögensentziehungen vergleichbar (Inder in Ostafrika, Chinesen in Südost­asien 38) als mit anderen Genoziden. Diese Perspektive weiterzuverfolgen, wäre ein lohnendes neues Forschungsfeld der internationalen Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

36 Vgl. dazu Unfried, Liquidierung und „Arisierung“, 214 – 217. Diese wenig bekannte Konse­ quenz aus der „Arisierungs“- und Liquidierungspolitik wäre eine eigene Studie wert. 37 Wie Schleusener scheint mir ein Hauptproblem darin zu liegen, dass „der Umgang des NS-Regimes mit Handlungs- und Verfügungsrechten jüdischer Deutscher bislang so gut wie ausschließlich im Zusammenhang der antisemitischen Politik Hitler-Deutschlands, die zum Holocaust führte, diskutiert wurde…“, Schleusener, Eigentumspolitik, 203. 38 In der sozialwissenschaftlich orientierten Forschung unter „Essential Outsiders“ zusammen­ gefasst: Daniel Chirot/Anthony Reid (Hrsg.), Essential Outsiders. Chinese and Jews in the Modern Transformation of Southeast Asia and Central Europe. Seattle/London 1997. Vgl. auch Berthold Unfried, Ugander statt Inder. Vertreibung und Rückkehr der ugandischen Inder, in: Die Furche, 28.8.2003. Unter diesem Blickwinkel ist nicht entscheidend, dass gegen Chinesen und Inder keine Genozide, sondern punktuelle pogromartige Vermögens­ entziehungsvorgänge stattfanden.

Christiane Fritsche

Mannheim „arisiert“. Die Mannheimer Stadtverwaltung und die Vernichtung jüdischer Existenzen Ein Posten Konfirmandenanzüge, Grabsteine, eine goldene Taschenuhr und eine Elfenbeinsammlung: Anhand dieser ganz unterschiedlichen Gegenstände möchte ich die Vernichtung jüdischer Existenzen in Mannheim darstellen. Dabei sind jene Dinge nicht nur Symbole für die „Arisierung“ in Mannheim, sondern auch für die „Arisierung“ durch die Stadt Mannheim. Der Titel ­meines Beitrags – „Mannheim arisiert“ – ist also bewusst doppeldeutig formuliert und kann nicht nur als „Mannheim ist arisiert“ verstanden werden, sondern auch als „die Stadt Mannheim arisiert“. Im Folgenden soll daher die Rolle der Mannheimer Stadtverwaltung bei der Ausplünderung der Juden und ihrer Vertreibung aus der Wirtschaft dargestellt werden. Die Konfirmandenanzüge, die Grabsteine, die goldene Taschenuhr und die Elfenbeinsammlung stehen für ganz unterschiedliche Phasen der „Arisierung“, und so wird mein Beitrag einen weiten Bogen spannen von der schleichenden Diskriminierung der jüdischen Kaufleute in den ersten Jahren des Dritten Reichs bis hin zur Verwertung des Hausrats der deportierten Juden Anfang der 1940er-Jahre. Schlaglichtartig sollen vier Aspekte beleuchtet werden: erstens die Maßnahmen der Stadt Mannheim gegen jüdische Betriebe und Selbstständige in der ersten Zeit nach der „Machtergreifung“; zweitens die „Arisierung“ von Grundstücken durch die Stadt Mannheim Ende der 1930er-Jahre; drittens die Abgabe von Wertgegenständen und Schmuck beim Städtischen Leihamt 1939 und viertens die Verwertung von jüdischem Hausrat in den 1940er-Jahren durch eine eigene Verwertungsstelle, in der auch ein städtischer Beamter vertreten war.

I. Die Konfirmandenanzüge oder: die Maßnahmen der Stadt Mannheim gegen jüdische Betriebe und Selbstständige in der ersten Zeit nach der „Machtergreifung“ In Mannheim, lange ein Zentrum jüdischen Lebens im deutschen Südwesten mit 1933 etwa 6.400 jüdischen Bürgern, gab es bei der „Machtergreifung“ rund

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1.600 jüdische Betriebe.1 Darunter waren wirtschaftliche Schwergewichte wie der Schifffahrts- und Speditionskonzern Rhenania mit mehr als 1.000 Arbeitern,2 die Korsettfabrik Eugen und Hermann Herbst GmbH, seinerzeit der zweitgrößte Betrieb seiner Art in ganz Deutschland,3 und das Warenhaus Hermann Schmoller am Paradeplatz.4 Daneben existierten zahlreiche kleine, oft familiengeführte jüdische Handwerksbetriebe und Einzelhandelsgeschäfte. Für Mannheim konnten für die Jahre ab 1933 fünf jüdische Friseurgeschäfte, elf jüdische Bäckereien, 17 jüdische Metzgereien, 32 jüdische Möbelläden und 33 jüdische Schneider identifiziert werden. Doch ob große Fabrik mit Hunderten Arbeitern oder kleines Einzelhandelsunternehmen: Unmittelbar nach der „Machtergreifung“ machte die Stadtverwaltung Mannheim den hier ansässigen jüdischen Gewerbetreibenden das Leben schwer. Konkret hatte die Stadt dabei drei Möglichkeiten. Diskriminiert werden konnten Juden erstens bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, zweitens über gezielte Boykottaufrufe an Beamte und städtische Bedienstete und drittens über Regelungen zur Einlösung von Bedarfsdeckungsscheinen. Diese drei Felder sollen im Folgenden skizziert werden. „Alle dienstlichen Beschaffungen im Bereich der badischen Staatsverwaltung […] sind künftig unter Ausschluß von Warenhäusern, Einheitspreisgeschäften, Konsumvereinen und ähnlichen Einrichtungen beim deutschen Einzelhandel (Mittelstand) vorzunehmen“5, so legte es der Reichskommissar 1 Dies ergab eine systematische Auswertung der für Mannheim verfügbaren Quellen zu jüdischen Firmen im Rahmen des Forschungsprojekts „Arisierung und Wiedergut­machung in Mannheim“. Vgl. Christiane Fritsche, Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt. Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim. (Sonderveröffentlichung des Stadtarchivs Mannheim Institut für Stadtgeschichte, Bd. 39.) Ubstadt-Weiher 2013, 234. 2 Vgl. zur Rhenania, die 1938 von Franz Haniel & Cie. „arisiert“ wurde: Hermann Hecht, Die Entstehung des Rhenania-Konzerns. Die ersten dreißig Jahre. Heidelberg 1983 bzw. Fritsche, Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt, 161 – 171. 3 Der Betrieb firmierte nach der „Arisierung“ durch Richard Greiling als Felina. Vgl. die zum 125. Firmenjubiläum herausgegebene Broschüre Rhein-Neckar-Industriekultur e. V. (Hrsg.), Felina. Architektur und Geschichte der Mannheimer Miederwaren-Fabrik. Mannheim 2011. 4 Vgl. Fritsche, Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt, 63 – 75. 5 Zit. n. Erster Bürgermeister Walli: Ausschluß von Warenhäusern usw. von der Beliefe­ rung staatlicher Stellen in Baden, 27.3.1933, in: Stadtarchiv Mannheim/Institut für Stadtgeschichte (StadtA MA-ISG), D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 173, Bl. 9.

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für Baden, Robert Wagner, am 25. März 1933 fest. Zwei Tage später leitete der Mannheimer Bürgermeister Otto Walli die Anordnung aus Karlsruhe an die städtischen Bediensteten weiter.6 Damit waren in Mannheim nur zwei Monate nach der „Machtergreifung“ Juden von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen – freilich kein Einzelfall, denn außer in den badischen Städten galten entsprechende Regelungen seit Frühjahr 1933 unter anderem im westfälischen Hagen 7, in Hannover 8 und in Köln 9. In Mannheim setzte man noch im April 1933 Wagners Weisung um: Flugs sammelten städtische Beamte Namen von jüdischen Firmen. Eine entsprechende Liste gab es im Städtischen Straßenbahnamt Mannheim bereits Mitte April 1933.10 Offenbar wollte man dort auf diese Weise auf einen Blick erkennen, wer als Lieferant nun nicht mehr infrage kam. Gleichzeitig kündigte die Stadtverwaltung bestehende Verträge mit jüdischen Firmen. So wies ebenfalls noch im April 1933 Bürgermeister Walli die städtischen Behörden an, die Geschäftsverbindungen mit der Mannheimer Wach- und Schließgesellschaft zu lösen.11 6 Vgl. ebd. In Freiburg wurde Wagners Anordnung erst am 30. März 1933 weitergegeben, vgl. Andrea Brucher-Lembach, „… wie Hunde auf ein Stück Brot“. Die Arisierung und der Versuch der Wiedergutmachung in Freiburg. (Alltag und Provinz, Bd. 12.) Diss. phil. Bremgarten 2004, 38. 7 Vgl. Marlene Klatt, Unbequeme Vergangenheit. Antisemitismus, Judenverfolgung und Wiedergutmachung in Westfalen 1925 – 1965. (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 61.) Diss. phil. Paderborn u. a. 2009, 80. 8 Vgl. Rüdiger Fleiter, Stadtverwaltung im Dritten Reich. Verfolgungspolitik auf kommu­ naler Ebene am Beispiel Hannovers. (Hannoversche Studien/Schriftenreihe des Stadtarchivs Hannover, Bd. 10.) Hannover 2006, 128. 9 Vgl. Britta Bopf, „Arisierung“ in Köln. Die wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden 1933 – 1945. (Schriften des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, Bd. 10.), Köln 2004, 64. 10 Die einseitige Liste ist unterteilt in „Juden“ und „Christl. Firmen“ und trägt den Eingangsstempel des Städtischen Straßenbahnamts vom 15. April 1933 (Kopie der Liste in: StadtA MA-ISG, D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 190, Bl. 9). 11 Vgl. auch im Folgenden Erster Bürgermeister Walli an sämtliche städtische Amtsstellen einschl. der Schulen und Städt. Sparkassen betr. die Bewachung städtischen Eigentums, 10.4.1933, Kopie in: StadtA MA-ISG, D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 173, Bl. 32. Diese Verfügung wurde erst am 21. Juli 1934 aufgehoben, nachdem die Firma den jüdischen Geschäftsführer Norbert Bluhm entfernt hatte und damit „jetzt rein arisch ist“ (Stadtrat [Name unleserlich] an sämtliche städt. Amtsstellen, 21.7.1934, Kopie in: StadtA MA-ISG, D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 173, Bl. 33).

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Ihr Geschäftsführer Norbert Bluhm war jüdisch. Stattdessen schloss die Stadt Mannheim nun Verträge mit der „arischen“ Konkurrenz ab, der Süddeutschen Bewachungsgesellschaft m. b. H. Allerdings gab es für den Erlass von Wagner und die Maßnahmen der Stadt Mannheim keinerlei rechtliche Basis auf Reichsebene. Denn erst im Juli 1933 erließ die Reichsregierung verbindliche Richtlinien über die Vergabe öffentlicher Aufträge. Danach sollten zwar bei gleichwertigen Angeboten „arische“ Firmen vor jüdischen bevorzugt werden, doch konnte, wenn ein jüdischer Betrieb viele Arbeiter beschäftigte, er auch weiterhin öffentliche Aufträge erhalten.12 Das heißt: Nach den Vorgaben aus Berlin wurden jüdische Firmen vorerst nicht komplett von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen.13 In Mannheim wurde die Weisung der Reichsregierung an die städtischen Behörden weiter­ gegeben und, wie Otto Walli betonte, „alle über den Rahmen dieser Richtlinien hinaus ergangenen Anordnungen […] aufgehoben“14. Allerdings war das nur die Theorie, denn in der Praxis änderte sich an der Vergabepolitik der Stadt Mannheim nichts. Jüdische Betriebe erhielten nach wie vor generell keine öffentlichen Aufträge. Dass es auch anders ging, macht das Beispiel Hamburg deutlich: Hier wurden jüdische Firmen erst 1938 von den Lieferantenlisten der städtischen Behörden gestrichen.15 Darüber hinaus legte die Mannheimer Verwaltung in den folgenden Jahren immer strengere Maßstäbe bei der Auswahl ihrer Lieferanten an. So erteilte 12 Vgl. Richtlinien über die Vergebung öffentlicher Aufträge, in: Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA Ka), 237, Nr. 40501. 13 Dies geschah erst fünf Jahre später in zwei Erlassen des Reichswirtschaftsministeriums vom 1. März 1938 bzw. vom 31. Mai 1938, vgl. Joseph Walk, Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung. (Motive – Texte – Materialien, Bd. 14.) Heidelberg/Karlsruhe 1981, 217 bzw. 227. 14 So ein Vermerk von Walli auf einem Schreiben des Deutschen Gemeindetags, mit dem dieser die Richtlinien über die Vergabe öffentlicher Aufträge den deutschen Kommunen mitteilte (Meyer, Deutscher Gemeindetag an alle Gemeinden und Ämter über 10000 Einw., an die Provinzen, an die Kreise über 75000 Einw.: Vergebung öffentlicher Aufträge, 25.7.1933, Kopie in: StadtA MA -ISG , D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 173, Bl. 48 – 53). 15 Vgl. Frank Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg: Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer, 1933 – 1945. (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 35.) Hamburg 1998, 103.

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die Stadt ab 1935 allen Firmen, die im Israelitischen Gemeindeblatt inserierten, keine Aufträge mehr,16 und ab Dezember 1937 wurden „arische“ Betriebe, wenn sie Geschäftskontakte zu Juden unterhielten, von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen.17 Das Gleiche galt für Firmen, deren Inhaber „jüdisch versippt“ waren wie der Besitzer der Autozubehörfirma Schwab & Heizmann. Weil er mit einer Jüdin verheiratet war, durfte er die Stadt Mannheim ab Herbst 1938 nicht mehr beliefern.18 Mit Entscheidungen wie diesen schoss Mannheim weit über jene Richtlinien hinaus, die die Reichsregierung im Juli 1933 erlassen hatte. In seiner Anordnung vom 25. März 1933 beschränkte sich Robert Wagner nicht darauf, jüdische Betriebe von der Vergabe öffentlicher Aufträge auszuschließen, vielmehr wurde Beamten und beim Staat Angestellten empfohlen, auch privat nicht mehr in jüdischen Geschäften zu kaufen. Ähnliche Weisun­gen erhielten auch die Beamten in Köln 19 und Düsseldorf 20. Allerdings wurde jene Empfehlung in Mannheim anfangs scheinbar weitgehend ignoriert, zumindest mussten die Beamten und städtischen Bediensteten immer wieder mit Nachdruck an Wagners Aufruf erinnert werden.21 Als offenbar auch dies nicht half, griff Oberbürgermeister Carl Renninger im September 1935 zu drastischeren Mitteln: Er verbot allen städtischen Angestellten und ihren Familien den Einkauf in jüdischen Geschäften, den Besuch bei jüdischen Ärzten und

16 Vgl. Oberbürgermeister Mannheim an das Hochbauamt und die Direktion des städtischen Krankenhauses, 7.9.1935, Kopie in: StadtA MA-ISG, D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 174, Bl. 61. 17 Vgl. Stadtrat Hofmann an die städtischen Amtsstellen, betr. Vergebung städt. Arbeiten und Lieferungen, 29.12.1937, Kopie in: StadtA MA-ISG, D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 175, Bl. 64. 18 Vgl. Oberbürgermeister Mannheim an Direktion der städt. Werke, betr. Vergebung öffentlicher Aufträge an jüdische Betriebe, hier Autozubehörgesellschaft Schwab & Heizmann, 20.9.1938, Kopie in: StadtA MA-ISG, D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 195, Bl. 80, bei Fliedner abgedruckt als Dokument 113b (Hans-Joachim Fliedner, Die Judenverfolgung in Mannheim 1933 – 1945. (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim, Bd. 1/2.) Stuttgart u. a. 1991, Bd. 2, 422). 19 Vgl. Bopf, „Arisierung“ in Köln, 67. 20 Vgl. Fleiter, Stadtverwaltung im Dritten Reich, 129. 21 Vgl. Renninger an sämtliche städtischen Angestellten zur Eröffnung an die Arbeiter, Angestellten und Beamten, 19.6.1934, Kopie in: StadtA MA-ISG, D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 173, Bl. 62.

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Rechtsanwälten sowie überhaupt jeden Verkehr mit Juden und drohte jedem, der dagegen verstieß, mit der Entlassung.22 Zwar ist kein Fall bekannt, bei dem in Mannheim ein städtischer Bediensteter tatsächlich seine Stelle verlor, weil er einen jüdischen Anwalt konsultiert oder in einem jüdischen Laden gekauft hatte. Nachgewiesen sind jedoch zahlreiche Anhörungen, bei denen sich städtische Angestellte und Arbeiter dafür rechtfertigen mussten, dass sie beispielsweise einen jüdischen Arzt aufgesucht hatten.23 So musste sich im August 1936 ein Arbeiter des Städtischen Tiefbauamts dafür verantworten, weil ein Nachbar von ihm einen jüdischen Arzt geholt hatte, als das Kind des Arbeiters plötzlich schwer krank geworden war und im Übrigen noch vor Eintreffen des Doktors gestorben war.24 Regelungen zur Einlösung von Bedarfsdeckungsscheinen waren schließlich eine dritte Möglichkeit, um jüdischen Ladeninhabern von Verwaltungsseite aus das Leben schwer zu machen. Bedarfsdeckungsscheine beispielsweise für Möbel oder Hausrat wurden an bedürftige und kinderreiche Familien ausgegeben, ebenso als Ehestandsdarlehen an frisch vermählte Paare. Bis Anfang 1935 wurden reichsweit 378.000 Ehestandsdarlehen mit einem Gesamtvolumen von 206 Mio. RM gewährt.25 Von diesem gigantischen Konjunkturprogramm profitierten jüdische Geschäfte in der Regel allerdings nicht, denn seit Juli 1933 waren sie einer Richtlinie des Reichsfinanzministeriums zufolge von der Annahme der Bedarfsdeckungsscheine bei Ehestandsdarlehen ausgeschlossen.26 Allerdings konnten jüdische Läden, wenn ihre Inhaber beispielsweise kriegsversehrt waren, trotzdem zur Annahme der Bedarfsdeckungsscheine

22 Vgl. Renninger: Rundschreiben an sämtliche städtische Angestellten, 10.9.1935, Kopie in: StadtA MA-ISG, D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 174, Bl. 62, bei Fliedner als Dokument 111 abgedruckt, Fliedner, Judenverfolgung, Bd. 2, 420 – 421. 23 Vgl. [Einbestellung von Elise Fischer] (Abschrift), 10.6.1936, Kopie in: StadtA MA-ISG D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 175, Bl. 15. In derselben Akte finden sich zahlreiche weitere ähnliche Dokumente. 24 Vgl. auch im Folgenden Tiefbauamt an Oberbürgermeister, 13.8.1936, in: StadtA MA-ISG, Tiefbauamt, Zugang 3/1968, Nr. 1063, abgedruckt bei Fliedner als Dokument 188b, ­Fliedner, Judenverfolgung, Bd. 2, 510 – 511. 25 Vgl. Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933 – 1945. (Siedler Deutsche Geschichte, Bd. 11.) Berlin 1998, 476. 26 So die Richtlinien des Reichsministeriums der Finanzen zum Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit vom 19. Juli 1933, vgl. Walk, Sonderrecht, 39.

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zugelassen werden.27 Die Verwaltung der Stadt Mannheim schien jedoch von diesen Kann-Regelungen keinen Gebrauch gemacht zu machen. Hier waren ab März 1933 alle jüdischen Geschäfte von der Entgegennahme der Bedarfs­ deckungsscheine ausgeschlossen.28 Darüber hinaus durften, obwohl das Reichsfinanzministerium ausdrücklich betonte, dass die Kommunen „nicht befugt“29 seien, die Richtlinien aus Berlin zu verschärfen, in Mannheim auch Geschäfte, die von „Halbjuden“ geführt wurden, keine Bedarfsdeckungsscheine annehmen, wie etwa der den „Mischlingen“ Roland und Ernst Altschüler gehörende Schuhladen R. Altschüler.30 Die rigorose Haltung der Stadt Mannheim hatte für jüdische Betriebe zum Teil massive Folgen. So wiesen eine ganze Reihe von jüdischen Geschäften, ­darunter bedeutende Betriebe wie das Warenhaus Kander, B. Kaufmann & Co. am Paradeplatz und das Hut- und Putzgeschäft Geschw. Gutmann, im Januar 1934 in einer Eingabe an das badische Finanz- und Wirtschaftsministerium auf „die gefährlichen Auswirkungen“31 des Ausschlusses von der Entgegennahme der Bedarfsdeckungsscheine hin; diese Entscheidung wirke sich „boykott­ artig“ aus. Auch das Wegbrechen der öffentlichen Aufträge machte nicht wenigen jüdischen Geschäftsinhabern in Mannheim schwer zu schaffen, wie etwa Martha Kaeferle. Sie betrieb in U 1, 11 ein Konfektionsgeschäft und hatte bisher pro Jahr Arbeits- und Schutzkleidung im Wert von bis zu 25.000 RM an das Städtische Fürsorgeamt geliefert.32 Dass die Stadt Mannheim im Frühjahr 1933 alle Aufträge an sie stornierte, war für Martha Kaeferle ein schwerer Schlag. Auch dass die Stadt Mannheim die Beamten und städtischen Angestellten dazu 27 Vgl. „Das Ehestandsdarlehen. Weitere Richtlinien für Gemeinden“, in: Neue Mannheimer Zeitung, 14.9.1933, S. 3. 28 Vgl. „Weitere Verfügungen der Kommissare“, in: Hakenkreuzbanner, 28.3.1933 und Heinrich Kronstein an Treuhänder der Arbeit, 8.12.1933, Kopie in: StadtA MA-ISG, D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 190, Bl. 89 – 90. 29 „Das Ehestandsdarlehen“, in: Neue Mannheimer Zeitung, 14.9.1933 (wie Anm. 27). 30 Vgl. Voss, Surén, v. Zwehl und Koellner an badisches Finanz- und Wirtschaftsministerium, 19.4.1934, Kopie in: StadtA MA-ISG, D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 191, Bl. 21. Mit dem Schreiben beschwerten sich die Anwälte der Altschülers, dass das Geschäft von der Annahme der Bedarfsdeckungsscheine ausgeschlossen worden war. 31 Diverse Mannheimer Firmen an badisches Finanz- und Wirtschaftsministerium, 30.1.1934, in: GLA Ka, 237, Nr. 40501. Im Folgenden ebd. 32 Vgl. auch im Folgenden Martha Kaeferle an das Landesamt für Wiedergutmachung, 19.6.1953, in: GLA Ka, 480, EK 04162, Nr. 1.

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aufforderte, nicht mehr in jüdischen Läden zu kaufen, hatte massive Auswirkungen für sie. Martha Kaeferle litt seit 1933 unter „großen Boykottschäden“; so blieb sie etwa im Frühjahr 1933 auf einem ganzen Posten Konfirmandenanzüge sitzen – offenbar, weil sich niemand traute, ausgerechnet in einem jüdischen Laden Bekleidung für ein christliches Fest zu kaufen. Die Folgen waren drama­tisch: Martha Kaeferles Umsatz brach von 175.000 RM in den Jahren bis 1933 auf 100.000 RM ab 1933 ein. Noch 1933 musste sie deswegen ihre beiden Verkäuferinnen entlassen. Ob Vergabe öffentlicher Aufträge oder Regelungen zu Bedarfsdeckungsscheinen: Die Mannheimer Stadtverwaltung eilte auf zahlreichen Gebieten den reichsweiten Regelungen voraus und missachtete teilweise gar bestehende Verordnungen aus Berlin. Freilich war Mannheim damit kein Einzelfall. Im Gegensatz zur älteren Dualismus-These, nach der sich im Dritten Reich Partei und Staat als Konkurrenten gegenüberstanden,33 zeigen neuere Forschungsergebnisse zur Judenverfolgung, dass reichsweit Beamte „immer wieder über Direktiven ‚von oben‘ hinausgingen bzw. sogar Verfolgungsmaßnahmen aus eigenem Antrieb ersannen“34. Mit einem Wort: Das Bild vom unbescholtenen Beamten, der vielleicht sogar zähneknirschend antisemitische Regelungen der nationalsozialistischen Reichsregierung umsetzen musste, bedarf einer Korrek­ tur. Beim Erlass von gegen Juden in der Wirtschaft gerichteten Maßnahmen erwies sich die Mannheimer Stadtverwaltung jedenfalls als „Vorreiterin“35. 33 Diese wurde in den 1960er-Jahren vor allem von Mommsen vertreten, vgl. Hans Mommsen, Beamtentum im Dritten Reich. Stuttgart 1966. 34 Rüdiger Fleiter, Kommunen und NS-Verfolgungspolitik, in: APuZ 14/15, 2007, 35 – 40, hier: 35. Wie Fleiter betonen auch Mecking und Wirsching, dass „die Kommunen mit ihrer motivierten, professionellen und über weite Strecken funktionalen Verwaltung zur erheblichen Leistungskraft des NS -Regimes beitrugen“, Sabine Mecking/Andreas Wirsching, Stadtverwaltung als Systemstabilisierung? Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume kommunaler Herrschaft im Nationalsozialismus, in: dies. (Hrsg.), Stadtverwaltung im Nationalsozialismus. Systemstabilisierende Dimensionen kommunaler Herrschaft. (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 53.) Paderborn 2005, 1 – 19, hier: 16. Dies wird auch bei der finanziellen Ausplünderung der Juden deutlich; so ersannen Finanzbeamte in Mannheim Mitte der 1930er-Jahre von sich aus das „Mannheimer System“, mit dessen Hilfe die Reichsfluchtsteuer noch effektiver eingetrieben werden konnte, vgl. dazu Fritsche, Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt, 177 – 185. 35 So Caroli allgemein mit Blick auf antisemitische Maßnahmen in Mannheim, Michael Caroli, 1933 – 1939. Keine „Hauptstadt der Bewegung“, in: ders./Ulrich Nieß (Hrsg.),

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Darüber hinaus war das Vorgehen der Stadt Mannheim gegen die hier ansässigen jüdischen Gewerbetreibenden unübersehbar. Dass die Stadtverwaltung jüdische Kaufleute nur wenige Monate nach der „Machtergreifung“ gezielt diskriminierte und benachteiligte, war für jedermann erkennbar.

II. Die Grabsteine oder: die „Arisierung“ von Grundstücken durch die Stadt Mannheim Insgesamt konnten für Mannheim für die Zeit zwischen 1933 und 1945 1.268 jüdische Grundstücke identifiziert werden, die in 950 Übertragungsvorgängen den Besitzer wechselten.36 Dabei fanden rund zwei Drittel der Grundstücks-„Arisierungen“ nach der Reichspogromnacht statt. Denn anders als die „Arisierung“ von Betrieben, die zu diesem Zeitpunkt in Mannheim bereits weitgehend abgeschlossen war,37 war der 9. November 1938 bei der Grundstücks-„Arisierung“ die entscheidende Zäsur. So wurden allein im Dezember 1938 in Mannheim 70 jüdische Grundstücke verkauft, im Schnitt also pro Tag mehr als zwei Liegenschaften.

Geschichte der Stadt Mannheim. Bd. III: 1914 – 2007. Heidelberg 2009, 224 – 351, hier: 271. Ähnlich attestiert auch Klatt dem westfälischen Hagen etwa, durch den Ausschluss von jüdischen Firmen von öffentlichen Aufträgen eine „zentrale Rolle […] bei den antijüdischen ‚Verdrängungsmaßnahmen‘“ gespielt zu haben, Klatt, Unbequeme Vergangenheit, 80. 36 Die Angaben zur „Arisierung“ von jüdischen Grundstücken in Mannheim basieren im Wesentlichen auf der systematischen Auswertung der in den Beständen des badischen Finanz- und Wirtschaftsministeriums überlieferten Kaufverträge sowie auf zwei vermutlich vom Mannheimer Polizeipräsidium angefertigten Verzeichnissen (Genehmigung von Verfügungen durch Juden über Grundstücke und Grundstücksgleiche Rechte gemäß V. O. vom 3.12.1938 und Genehmigung von Verfügungen durch Juden über Grundstücke und Grundstücksgleiche Rechte gemäß V. O. vom 3.12.1938: Verzeichnis der veräußerten jüdischen Grundstücke, nicht datiert, beide in: StadtA MA-ISG, Hauptregistratur, Zugang 42/1975, Nr. 2356). 37 Von den rund 1.600 jüdischen Betrieben, die noch 1933 in Mannheim bestanden hatten, gab es im Herbst 1938 nur noch 530, vgl. Polizeipräsidium Mannheim: Verzeichnis der jüdischen Gewerbebetriebe in Mannheim, in: GLA Ka, 237, Nr. 40492 bzw. Polizeipräsi­ dium Mannheim: Verzeichnis der jüdischen Gewerbebetriebe der Stadt Mannheim/ Ausländer u. Staatenlose, in: GLA Ka, 273, Nr. 40848.

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Angesichts dieses Überangebots befanden sich die Kaufpreise für Immobilien im freien Fall, und so konnten viele Firmen und Privatpersonen, das Deutsche Reich, das Land Baden, ja selbst die evangelische Kirche zu einem günstigen Preis Grundstücke erwerben.38 Der größte Profiteur der Grundstücks-„Arisierung“ in Mannheim war jedoch die Stadtverwaltung. Belegt sind 118 Grundstücksübertragungen aus jüdischem Besitz an die Stadt Mannheim.39 Dabei ­handelte es sich um 99 Verkäufe, neun Zwangsversteigerungen, ein Tausch­ geschäft sowie neun Übertragungen, bei denen unklar ist, auf welchem Weg genau die Stadt in den Besitz der jüdischen Grundstücke kam. In 61 Fällen „arisierte“ die Stadt Mannheim bebaute Grundstücke, in 43 unbebaute Flächen, also Äcker, Bauplätze und Wiesen.40 Alles in allem erwarb die Mannheimer Stadtverwaltung ab 1933 eine Fläche von 381.298 qm aus jüdischem Besitz 41 und

38 Dafür seien an dieser Stelle nur zwei Beispiele genannt: Im September 1938 erwarb die Polizeiverwaltung des Deutschen Reichs für 85.000 RM die Villa Pakheiser in der Werder­straße 36 von dem ehemaligen Zigarrenfabrikanten Paul Reiss. Laut einer Schätzung des Bezirksbauamts Mannheim lag der reale Wert des hochherrschaft­lichen Anwesens bei 240.000 RM (vgl. Öffentliche Urkunde über Kaufvertrag zwischen Paul Reiss Eheleuten in Amsterdam und dem Deutschen Reich – Polizeiverwaltung, nicht datiert (Abschrift) bzw. Polizeipräsident Mannheim an badischen Innen­minister, betr. Unterbringung des Abschnittskommandos „Süd“ in Mannheim, hier: Ankauf des Anwesens Werderstr. 36, 31.12.1938, beide in: GLA Ka, Abt. 237, Zugang 19/1967, Nr. 1462). Im Januar 1939 ging die Augustaanlage 25 für 92.000 RM an den Unterländer Kirchenfonds über. Die jüdischen Verkäufer, Elsa und Theodor Bodenheim, hatten für das 1.041 qm große Grundstück Ende der 1920er-Jahre 410.000 RM bezahlt (vgl. Kaufvertrag zwischen der Vereinigten Evang. Landeskirche Badens und Theodor­­Bodenheim in New York und dessen Ehefrau Elsa, 20.1.1939 (Abschrift), und Städtisches Hochbauamt an NSDAPKreiswirtschaftsberater, betr. Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3.12.1938, Gutachten über den Verkauf des bebauten Grundstücks Lgb. Nr. 9297, 1.3.1939, beide in: GLA Ka, Abt. 237, Zugang 19/1967, Nr. 186). 39 Generell basieren die Zahlen auch im Folgenden auf der Auswertung der Kaufverträge, die in den Akten des badischen Finanz- und Wirtschaftsministeriums überliefert sind, sowie auf der Übersicht: Genehmigung von Verfügungen durch Juden über Grundstücke und Grundstücksgleiche Rechte gemäß V. O. vom 3.12.1938 (wie Anm. 36). 40 In weiteren sieben Fällen handelte es sich um Straßengelände, bei ebenfalls sieben Grundstücksübertragungen geht aus den Quellen nicht hervor, was für Grundstücke „arisiert“ wurden. 41 Allerdings sind in zehn Fällen keine Quadratmeterzahlen überliefert.

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gab dafür mindestens 2,5 Mio. RM aus.42 Damit trat die Stadt Mannheim in 12,4 Prozent der insgesamt für Mannheim registrierten Grundstücksübertragungen aus jüdischem Besitz als Ariseur auf – ein beklemmend hoher Prozentsatz, doch beileibe kein Einzelfall, denn reichsweit profitierten Städte und Gemeinden „durch die Aneignung zahlloser billiger bzw. kostenloser Immobilien“43 von der Judenverfolgung. So beteiligte sich die Stadt Karlsruhe in „hohem Maße“44 an der Grundstücks-„Arisierung“ und kaufte für 5,2 Mio. RM jüdischen Grundbesitz; in Hannover erwarb die dortige Stadtverwaltung 107 jüdische Grundstücke für 2,9 Mio. RM 45, und die Stadt Frankfurt am Main „arisierte“ gar für 14 Mio. RM jüdischen Grundbesitz mit einer Fläche von 1.550.000 qm.46 Die Stadt Mannheim war jedoch nicht nur der größte Profiteur der Grundstücks-„Arisierung“, sondern trat oft besonders rücksichtslos auf. So erwarb die Kommune jüdische Grundstücke zum Teil zu auffallend niedrigen Preisen. Beim Kauf von vier Bauplätzen für weniger als 9 RM pro qm von der Erbengemeinschaft Leopold Wertheimer fragte selbst das badische Finanz- und Wirtschaftsministerium, das alle Kaufverträge über jüdische Grundstücke genehmigen musste, bei der Stadt nach, warum der Kaufpreis so niedrig sei.47 Auch machte die Stadt teilweise satte Gewinne, wenn sie die „arisierten“ Grundstücke weiterverkaufte, wie das Eckgrundstück Sophienstraße/

42 Konkret waren es 2.556.162,10 RM, doch sind in 26 Fällen in den Quellen keine Kaufpreise genannt. 43 Wolf Gruner, Die Grundstücke der „Reichsfeinde“. Zur „Arisierung“ von Immobilien durch Städte und Gemeinden 1938 – 1945, in: Irmtrud Wojak/Peter Hayes (Hrsg.), „Arisierung“ im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis. Frankfurt am Main 2000, 125 – 156, hier: 144. 44 Josef Werner, Hakenkreuz und Judenstern. Das Schicksal der Karlsruher Juden im Dritten Reich. (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs, Bd. 9.) Karlsruhe 1988, 173. 45 Vgl. Fleiter, Stadtverwaltung im Dritten Reich, 182. 46 Vgl. Doris Eizenhöfer, Die Stadtverwaltung Frankfurt am Main und die „Arisierung“ von Grundbesitz, in: Mecking/Wirsching, Stadtverwaltung im Nationalsozialismus, 299 – 324, hier: 300. 47 Vgl. Borho, badisches Finanz- und Wirtschaftsministerium, an Polizeipräsident Mannheim, betr. Kaufvertrag des Notariats Mannheim zwischen Gustav Wertheimer in Erbengemeinschaft und der Stadt Mannheim, 4.2.1939, in: GLA Ka, Abt. 237, Zugang 19/1967, Nr. 1986. Es handelte sich um die Grundstücke mit den Liegenschaftsnummern 460c, 460f, 469c und 470b; sie wurden am 23. Dezember 1938 von der Erbengemeinschaft Leopold Wertheimer für 16.500  RM an die Stadt Mannheim verkauft

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Ludwigstraße, das einst Kläre Brunnehild gehört hatte. Die Stadt Mannheim erwarb das Grundstück im Sommer 1939 im Wege der Zwangsversteigerung für 35.000  RM und verkaufte es bereits im November 1939 für 50.000  RM weiter.48 Und schließlich sorgte die Stadt Mannheim, wenn es mehrere Interessenten für ein Grundstück gab, stets dafür, dass sie zum Zuge kam. So setzte sie sich über im Grundbuch eingetragene Vorverkaufsrechte hinweg 49 oder erreichte, dass bereits geschlossene Verträge wieder aufgehoben wurden, wie beim Grundstück Neckarstraße 8 – 10, wo sich die Reste der in der Reichspogromnacht zerstörten Feudenheimer Synagoge befanden. Eigentlich hatte die Jüdische Gemeinde das Grundstück im Sommer 1940 dem Bildhauer Valentin Schaaf verkauft, doch wurde auf Initiative der Stadt Mannheim dieser Vertrag aufgehoben und das Grundstück ging stattdessen an die Stadt Mannheim über.50 Dass letztendlich die Stadt Mannheim und keine Privatperson die ehemalige Feudenheimer Synagoge kaufte, war kein Einzelfall, denn die Stadt Mannheim „arisierte“ mehr als die Hälfte der Grundstücke, die ursprünglich der Jüdischen Gemeinde oder jüdischen Vereinen gehört hatten, darunter F 7, 16, das im Besitz der Vereinigung der Ostjuden gewesen war, das Grundstück mit der ehemaligen Hauptsynagoge in F 2, das jüdische Gemeindehaus in F 5 und den jüdischen Friedhof in F 7, 1/2. Wie genau der alte jüdische Friedhof in F 7 – alt,

(vgl. Anzeige gemäss den Bestimmungen des Militärregierungsgesetzes 59, 5.5.1948, in: StadtA MA-ISG, Hauptregistratur, Zugang 42/1975, Nr. 2354). 48 Vgl. Anzeige gemäss den Bestimmungen des Militärregierungsgesetzes 59, 5.5.1948, in: StadtA MA-ISG, Hauptregistratur, Zugang 42/1975, Nr. 2354. 49 So im Fall von A 2, 5: Eigentlich hatte die jüdische Eigentümerin Emilie Steiner ein Vorverkaufsrecht zugunsten der Wohltätigkeitsgesellschaft Maria Hilf in Bühl bestellen lassen, doch die Stadt Mannheim setzte sich darüber hinweg und erwarb das Grundstück am 27. September 1940 für 67.000 RM (vgl. Polizeipräsidium Mannheim an badisches Finanz- und Wirtschaftsministerium, betr. Bestellung eines Vorverkaufsrechts durch Emilie Sara Steiner jr. WWe zu Gunsten der Wohltätigkeitsgesellschaft „Maria Hilf “ G. m. b. H. in Bühl, 19.11.1940, in: GLA Ka, Abt. 237, Zugang 19/1967, Nr. 1756 und Anzeige gemäss den Bestimmungen des Militärregierungsgesetzes 59, 5.5.1948, in: StadtA MA-ISG, Hauptregistratur, Zugang 42/1975, Nr. 2354). 50 Vgl. Aufhebung eines Kaufvertrags zwischen Israelitischer Gemeinde Mannheim und Bildhauer Valentin Schaaf/Kaufvertrag zwischen Israelitischer Gemeinde Mannheim und Stadt Mannheim, 16.7.1940, begl. Abschrift in: StadtA MA-ISG, Liegenschaftsamt, Zugang 23/1970, Nr. 583.

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weil dort schon seit 1839 nicht mehr bestattet wurde 51 – in den Besitz der Stadt Mannheim gelangte und was dabei mit den Grabsteinen passierte, soll im Folgenden etwas näher erläutert werden; dabei soll auch ein kurzer Blick auf die Zeit nach 1945 und auf die Rückerstattung geworfen werden. Den Mannheimer Nationalsozialisten war der alte jüdische Friedhof schon lange ein Dorn im Auge. Das Mannheimer NS-Blatt, das Hakenkreuzbanner, hetzte schon 1933 gegen den „vorsintflutlichen Judenfriedhof “52 im Herzen der Stadt, und Ratsherr Quatfasel plädierte bereits 1935 dafür, dass der Friedhof in F 7 „baldigst“53 verschwinden sollte. Tatsächlich kaufte die Stadt Mannheim das Grundstück im Juli 1938.54 Oberbürgermeister Carl Renninger prahlte danach höchstpersönlich vor den Ratsherren, ihm sei es gelungen, den Preis auf 28.000  RM „herabzudrücken“.55 Zusätzlich erhielt die Jüdische Gemeinde 12.000 RM als Entschädigung für die aufwendige Umbettung der Gebeine, denn ein eigens angereister Sachverständiger überwachte die Exhumierung der mehr als 3.500 Toten und die Überführung zum jüdischen Friedhof in der Talstraße.56 Von den oft Jahrhunderte alten Grabsteinen wurden nur wenige auf den neuen jüdischen Friedhof gebracht; die übrigen Steine wurden zertrümmert, eine in religiöser und kulturhistorischer Hinsicht „barbarische Tat“.57 Statt des jüdischen Friedhofs mit seinen mächtigen Bäumen und den alten Grabsteinen gab es bald also nur noch eine öde Fläche mit einigen wenigen vergessenen Stein­ trümmern – und das mitten in den Quadraten, im Herzen von Mannheim und für jeden Mannheimer Bürger, der hier vorbeikam, sichtbar. 51 Die ersten Gräber auf dem Friedhof stammten von 1661. Vgl. zur Geschichte des Friedhofs Fliedner, Judenverfolgung, Bd. 1, 60. 52 „Kleingärtnersorgen am Israel. Friedhof “, in: Hakenkreuzbanner, 29.6.1933. 53 Stadtratsprotokoll, 23.10.1935, S. 1186; als Dokument Nr. 136 bei Fliedner abgedruckt, Fliedner, Judenverfolgung, Bd. 2, 462. 54 Vgl. Kaufvertrag zwischen der Israelitischen Gemeinde Mannheim und der Stadt Mannheim, 20.7.1938, begl. Abschrift in: StadtA MA-ISG, Liegenschaftsamt, Zugang 23/1970, Nr. 581. 55 Stadtratsprotokoll, 15.7.1938, S. 87. 56 Vgl. Erinnerungen des Rabbiners Karl Richter, in: StadtA MA -ISG , D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 246. 57 Hans-Joachim Hirsch, „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen“, in: ders. (Hrsg.), „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen“. Die Gedenkskulptur für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in Mannheim. (Kleine Schriften des Stadtarchivs Mannheim, Bd. 23) Mannheim 2005, 14 – 109, hier: 59.

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Ursprüngliche Pläne, den Friedhof in einen Parkplatz umzuwandeln 58, wurden nicht realisiert, und so lag das Gelände während des Kriegs brach. Nach Kriegsende zogen sich die Restitutionsverhandlungen wegen des alten jüdischen Friedhofs bis Mitte der 1950er-Jahre hin, denn die Stadt Mannheim stellte sich zunächst auf den Standpunkt, der Kaufvertrag über den Friedhof wäre „auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus geschlossen worden“59. In aufwendigen Zeugenbefragungen versuchte die Rück­ erstattungskammer Anfang der 1950er-Jahre, die „Arisierung“ des Friedhofs zu rekonstruieren. Gehört wurden Beamte der Stadt, die am Kauf beteiligt gewesen waren, Juden aus Mannheim, aber auch der badische Landesrabbi­ ner Raphael Geis. Er erklärte, dass die Jüdische Gemeinde Mannheim in keinem Fall freiwillig ihren alten Friedhof verkauft hätte, schließlich ­würden im Judentum aus religiösen Gründen Friedhöfe niemals aufgelassen.60 Nachdem diese grundsätzliche Frage geklärt war, wurde auch um die letztendliche Nachzahlung zäh verhandelt. Die Stadt Mannheim war zunächst nur bereit, 15.000 DM zu zahlen.61 Schlussendlich aber leistete sie nach Abschluss eines Vergleichs im Januar 1955 eine Nachzahlung von 37.000  DM an die Jewish Restitution Successor Organization (JRSO), die jüdische Nachfolgeorganisation in der amerikanischen Zone, die in Rückerstattungsverfahren wegen erbenlosen jüdischen Besitzes und wegen des Eigentums der Jüdischen Gemeinden eintrat.62 Das Grundstück blieb damit im Besitz der Stadt Mannheim. Heute befinden sich dort ein städtischer Kindergarten und eine 58 Vgl. „Der alte Judenfriedhof verschwindet“, in: Neue Mannheimer Zeitung, 1.10.1937, S. 4. 59 Oberbürgermeister, Ref. I/Abtl. R, an Barry, Irso, betr. Anspruch der IRSO auf Rück­ erstattung des ehemaligen jüdischen Friedhofes in F 7,1 – 2, 15.4.1952, in: StadtA MA-ISG, Liegenschaftsamt, Zugang 23/1970, Nr. 581. 60 Vgl. Raphael Geis’ Aussage vor der Rückerstattungskammer (Heyd, Rückerstattungskammer beim Landgericht Mannheim, in Sachen IRSO gg. Stadt Mannheim wegen Rückerstattung, 20.1.1954, in: StadtA MA-ISG, Liegenschaftsamt, Zugang 23/1970, Nr. 581 und in: GLA Ka, 276 – 1, Nr. 18028). 61 Vgl. Barry, IRSO, Mannheim Regional Office, an Stamm, Stadtverwaltung Mannheim, Ref. I/Abtl. R, betr. ehemaliger juedischer Friedhof in Mannheim F 7,1 und 2, Lgb. # 2766, 18.6.1952, in: StadtA MA-ISG, Liegenschaftsamt, Zugang 23/1970, Nr. 581. 62 Vgl. Vergleich in Sachen Jewish Restitution Successor Organization Inc. gegen die Stadt Mannheim, 18.1.1955, in: StadtA MA-ISG, Liegenschaftsamt, Zugang 23/1970, Nr. 581 und in: GLA Ka, 276 – 1, Nr. 18028.

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öffentlich zugängliche Parkanlage. Hier erinnert eine Gedenktafel daran, dass in F 7, 1/2 über Jahrhunderte hinweg ein jüdischer Friedhof bestanden hatte. Festzuhalten ist für den alten jüdischen Friedhof zweierlei: Erstens macht dieser Fall besonders deutlich, wie rücksichtslos die Stadt Mannheim im Dritten Reich jüdischen Grundbesitz an sich brachte und wie skrupellos sie die ohnehin schon niedrigen Kaufpreise drückte. Zweitens gestaltete sich die Restitution nach dem Zweiten Weltkrieg als schwierig, denn selbst bei einem so symbolischen Grundstück wie dem ehemaligen jüdischen Friedhof verhandelte die Stadt hart um jede nachzuzahlende Mark.

III. Die goldene Taschenuhr oder: die Ablieferung von Schmuck und Wertgegenständen beim Städtischen Leihamt Unmittelbar nach der Reichspogromnacht entstand in Berlin die Idee, die deutschen Juden kollektiv um ihren Schmuck und ihre Wertgegenstände zu bringen. So verbot zunächst die Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 Juden, ihre Wertgegenstände frei zu veräußern.63 Im Februar 1939 wurde eine Ablieferungspflicht eingeführt, das hieß: Schmuck und Wertgegenstände mussten bei öffentlichen Ankaufsstellen abgegeben werden.64 Bei diesen Ankaufsstellen handelte es sich um die etwa 60 kommunalen Pfandleihanstalten. Denn der Deutsche Gemeindetag hatte alles daran gesetzt, um die Kommunen an dieser Form der „Arisierung“ zu beteiligen, und hatte von sich aus die Leihämter als „besonders geeignet[e]“65 Institutionen ins Gespräch gebracht. Schließlich verfügten, so argumentierte der Gemeindetag, die Mitarbeiter der Leihämter über das nötige Fachwissen, um die Wertsachen zu schätzen. In Mannheim nahm ab Februar 1939 das Städtische Leihamt am damaligen Platz des 30. Januar (heute: Georg-Lechleiter-Platz) den Schmuck und 63 Vgl. Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens, 3.12.1938, Art. IV, § 14, 8, in: RGBl I 1938, S. 1709. 64 Vgl. 3. Anordnung auf Grund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden, 21.2.1939, in: RGBl I 1939, S. 282. 65 Jeserich, geschäftsführender Präsident des Deutschen Gemeindetags, an Reichswirtschaftsministerium betr. Verwertung von Eigentum der Juden, 10.12.1938, in: Landesarchiv Berlin (LAB B), B Rep. 142 – 07 4.10.3, Nr. 26. Im Folgenden ebd.

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die Wertgegenstände von Juden entgegen. Dabei gaben nicht nur Juden aus Mannheim hier ihre Wertsachen ab, sondern auch „viele Juden aus dem badischen Hinterland“66, aus Freiburg und sogar aus dem Saargebiet. Paul Rösinger, seinerzeit im Leihamt für die Entgegennahme der Wertgegenstände zuständig, erinnerte sich später, dass der „Andrang“67 stets „gross“ gewesen sei. Ob jedoch, wie etwa in Berlin und Frankfurt am Main,68 auch in Mannheim eigens Polizei­kräfte angefordert werden mussten, um angesichts des Ansturms für Ruhe und Ordnung zu sorgen, ist nicht belegt. Fest steht indes, dass grundsätzlich alle Gegenstände aus Silber, Gold und Platin sowie Perlen und Edelsteine abgeliefert werden mussten. Es gab nur wenige Ausnahmen, so mussten unter anderem eigene Eheringe, die Eheringe von verstorbenen Ehepartnern und in Gebrauch befindlicher Zahnersatz nicht abgegeben werden.69 Die einzelnen Gegenstände wurden von den Mitarbeitern des Leihamts geschätzt, und die Juden erhielten den üblichen Großhandelsmarktpreis.70 Besonders wertvolle Stücke mit einem Wert über 300 RM bzw. 150 RM mussten 66 Rösinger, Städtisches Leihamt Mannheim, an Stadtverwaltung Mannheim Referat I Abt. R, betr. Haftung städtischer Pfandleihanstalten für Judenvermögen aufgrund des Rückerstattungsgesetzes, 15.9.1950, in: StadtA MA-ISG, Hauptregistratur, Zugang 42/1975, Nr. 1075. Vgl. zur Abwicklung der Pfandleihaktion in Mannheim auch Carl-Jochen Müller, Der große Schrank von Mannheim. Aus der Chronik des Städtischen Leihamts. (Kleine Schriften des Stadtarchivs Mannheim, Nr. 24.) Mannheim 2009, 57 – 60. 67 So Rösingers Aussage im Herbst 1953 im Zuge eines Restitutionsverfahrens einer aus Mannheim stammenden Jüdin gegen die Stadt Mannheim und das Städtische Leihamt Mannheim (Öffentliche Sitzung der Rückerstattungskammer beim Landgericht Mannheim in Sachen Lewinski gegen Deutsches Reich, Städt. Leihamt Mannheim, Stadt Mannheim, 6.10.1953, in: StadtA MA-ISG, Hauptregistratur, Zugang 5/1968, Nr. 180). 68 Vgl. Jeserich, geschäftsführender Präsident des Deutschen Gemeindetags, an Reichswirtschaftsministerium, betr. Verfahren der öffentlichen Ankaufsstellen für Edelmetalle und Juwelen (Schnellbrief), 1.3.1939, in: LAB B, B Rep. 142 – 07 4.10.3, Nr. 26. 69 Vgl. Durchführungsvorschriften des Reichswirtschaftsministers betr. Ablieferung von Juwelen und Gegenständen aus Edelmetallen durch Juden, 9.3.1939, in: GLA Ka, 237, Nr. 40488. 70 Vgl. zu den genauen Bestimmungen 3. Anordnung auf Grund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden, 21.2.1939 (wie Anm. 64); Durchführungsverordnung zur Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens, 16.1.1939, in: RGB l I 1939, S. 37 sowie Krüger, Reichswirtschaftsministerium an die kommunalen Pfandleihanstalten, betr. Errichtung öffentlicher Ankaufsstellen nach § 14 der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938, 25.1.1939, und

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direkt an eine Zentralankaufsstelle in Berlin abgegeben werden.71 Doch ob die Sachen von Mannheim oder von Berlin aufgekauft wurden: Die Differenz zwischen dem ausbezahlten Kaufpreis und dem tatsächlichen Wert der Gegenstände war oft gewaltig. So erhielt Martha Netter, die Ehefrau des Mannheimer Juweliers Paul Netter, für ein 17-steiniges Brillantcollier, das sie einst für 8.000 bis 9.000 RM gekauft hatte, nur 560 RM.72 Anschließend wurden die Gegenstände an den Reichsinnungsverband des Juwelier-, Goldund Silberschmiedehandwerks oder an die örtlichen Wirtschaftsfachgruppen weiterverkauft; Silber wurde in der Regel eingeschmolzen. Bis Ende März 1939 wurden auf diese Weise allein in Mannheim 1.542 Fälle bearbeitet,73 insgesamt waren es bis zum Sommer 1939 etwa 2.500.74 Einer dieser Fälle war der Rechtsanwalt Friedrich Jacobi. Er lieferte seine Wertgegenstände in einem Seesack ab, darunter ein 18-teiliges Silberbesteck, diverse Becher und Aufstellungsgegenstände, Manschettenknöpfe, einen silbernen Zigarrenkasten und eine goldene Glashütter Taschenuhr.75 Sie hatte Friedrich Jacobi einst von seinem Vater geerbt – und sie macht deutlich, was die Ablieferung für die Betroffenen bedeutete. Denn vor allem Schmuck­stücke oder Uhren hatten für die Besitzer oft einen hohen ideellen Wert, gerade wenn

Reichswirtschaftsministerium an kommunale Pfandleihanstalten, betr. Ablieferungspflicht für jüdische Juwelen und Schmuckgegenstände, 24.2.1939, beide in: GLA Ka, 237, Nr. 40488. 71 Vgl. Krüger an die kommunalen Pfandleihanstalten, 25.1.1939 (wie Anm. 70). Vgl. zur Senkung des Werts auf 150  RM Erlass des Reichswirtschaftsministeriums, betr. Ablieferung von Juwelen und Edelmetallen durch Juden, 21.3.1939, abgedruckt in: Walk, Sonderrecht, 289. 72 So die Aussage von Paul Rösinger (vgl. Schlichter für Wiedergutmachungssachen beim Amtsgericht Mannheim, Aktenzeichen Rest M 5917, 20.1.1955, in: GLA Ka, 276 – 1, Nr. 27002). 73 Vgl. Städtisches Leihamt Mannheim an Deutschen Gemeindetag, betr. Ablieferung der jüdischen Vermögenswerte (vertraulich!), 12.5.1939, in: LAB B, B Rep. 142 – 07 4.10.3, Nr. 26. 74 So 1950 eine Schätzung von Kurt Schmidt, seinerzeit Direktor des Städtischen Leihamts Mannheim (vgl. Städtisches Leihamt an Ref. I, Abt. R/Rechtsrat Stamm, betr. Wiedergutmachungsansprüche an das Städtische Leihamt, 11.10.1950, in: StadtA MA -ISG , Leihamt, Zugang 10/2009, Nr. 16). 75 So erinnerte sich Friedrich Jacobis Frau Emmi in den 1950er-Jahren, vgl. Emilie Luise Streubert: Eidesstattliche Versicherung, 29.11.1957, in: GLA Ka, 276 – 1, Nr. 22.

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es sich um Geschenke oder Erbstücke handelte, wie bei Friedrich Jacobis Taschenuhr. Dass diese Gegenstände unwiederbringlich verloren waren, hat sicherlich nicht wenige Juden genauso geschmerzt wie der materielle Verlust. Wie viele Taschenuhren, Becher und Silberbestecke insgesamt beim Leihamt Mannheim abgegeben wurden, ist heute nicht mehr zu rekonstruieren. Ebenso unklar wie die Dimensionen der Pfandleihaktion in Mannheim ist, ob es auch hier Auswüchse wie in anderen Städten gab, wie etwa in München, wo sich ein Ratsherr bei der Auswahl der Ehrenpreise für die Rennen des Galoppvereins Riem, dem er vorsaß, aus den jüdischen Beständen des Leihamts bediente.76 Umgekehrt lassen sich auch Aussagen von einstigen Leihamtsmitarbeitern aus der Nachkriegszeit nicht belegen, wonach man in Mannheim versucht habe, die Regelungen zur Abgabe der Wertsachen zu mildern. So behielten die Mitarbeiter des Leihamts nach eigener Aussage nicht, wie eigentlich vorgeschrieben, zehn Prozent des Ankaufswerts für den Verwaltungsaufwand ein.77 Auch wickelte der damalige Leiter des Leihamts Kurt Schmidt nach eigenen Worten bei Juden, die er persönlich kannte, die Abgabe in seinem Büro ab und ersparte ihnen so die Schmach, die Gegenstände in aller Öffentlichkeit abliefern zu müssen. Allerdings stammen all diese Aussagen aus Restitutionsverfahren in der Nachkriegszeit, als sich das Leihamt Mannheim mit schwindelerregend hohen Rückerstattungsforderungen konfrontiert sah 78 und die Leihamtsmitarbeiter darum bemüht waren, das Leihamt in ein günstiges Licht zu rücken. Und abgesehen davon: Selbst wenn Kurt Schmidt und seine Mitarbeiter großzügiger und großherziger agierten, als sie eigentlich gemusst hätten, sorgte das Mannheimer Leihamt dennoch wie die anderen kommunalen Pfandleihanstalten im 76 Vgl. Wolfram Selig, „Arisierung“ in München. Die Vernichtung jüdischer Existenz 1937 – 1939. Berlin 2004, 56. 77 So die Aussage von Kurt Schmidt im Zuge eines Restitutionsverfahrens einer aus Mannheim stammenden Jüdin gegen das Leihamt Mannheim und die Stadt Mannheim (Öffentliche Sitzung der Rückerstattungskammer beim Landgericht Mannheim, 6.10.1953, wie Anm. 67). Vgl. im Folgenden ebd. 78 Allein in Mannheim rechnete man mit Schadensersatzzahlungen von zwei bis drei Mio. DM, vgl. Oberbürgermeister Mannheim/Referat I/Abt. I/R an Regierungspräsidium Nordbaden, Abt. I Allgemeine und Innere Verwaltung, Karlsruhe, betr. Kommunale Pfandleihanstalten, 27.3.1953, in: StadtA MA-ISG, Leihamt, Zugang 10/2009, Nr. 16. Letzten Endes trat die Bundesrepublik Deutschland in die entsprechenden Rück­ erstattungsverfahren ein und leistete Schadensersatzzahlungen, vgl. dazu für Mannheim Fritsche, Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt, 697 – 706.

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Dritten Reich „zuverlässig für die bürokratische Abwicklung der Aktion“79 und stellte die Strukturen bereit, mit deren Hilfe Juden aus ganz Baden um ihre Wertgegenstände gebracht wurden.

IV. Die Elfenbeinsammlung oder: die Verwertung von jüdischem Hausrat durch die Verwertungsstelle für Volksfeindliches Vermögen (VVV) Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war das Umzugsgut von Hunderttausenden Juden in niederländischen oder italienischen Häfen hängen geblieben und konnte nicht mehr verschifft werden. Anfang der 1940er-Jahre bemühte man sich im ganzen Deutschen Reich, diese Gegenstände zurückzuschaffen und zu verwerten.80 Auf Initiative der Mannheimer NSDAP wurde ab Juni 1942 das Umzugsgut der Mannheimer Juden, das vor allem in niederlän­ dischen Häfen gelagert worden war, zurück nach Mannheim gebracht.81 Bis Mitte September 1942 trafen die ersten 300 Lifts in Mannheim ein.82 Ab 1943 wurde im Rahmen der sogenannten M-Aktion zusätzlich zum Umzugsgut von Mannheimer Juden der Hausrat von deportierten Juden aus den besetzten Gebieten verwertet. So kamen allein 1943 in Mannheim 326 Waggons mit dem Hausrat von verschleppten Juden aus den Westgebieten an.83 Daneben 79 Fleiter, Stadtverwaltung im Dritten Reich, 178. 80 Vgl. zu Bayern, Hamburg und Köln Christiane Kuller, Finanzverwaltung und Judenverfolgung: Die Entziehung jüdischen Vermögens in Bayern während der NS -Zeit. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 160.) München 2008, 87 – 93; Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg, 332 – 338 und Bopf, „Arisierung“ in Köln, 301. 81 Erste Versuche der Mannheimer NSDAP, an das in den Niederlanden lagernde Umzugsgut der ausgewanderten Mannheimer Juden zu kommen, sind für April 1942 belegt, vgl. Kramer, Reichskommissar für die besetzten Niederländischen Gebiete/Der General­ kommissar für Finanzen und Wirtschaft, Generalreferent, an NSDAP Gau Baden/ Kreiswirtschaftsberater, betr. Rücktransport von in Rotterdam lagernder Lifts jüdischer Emigranten, Ihre Anträge von 14. April und 10. Juni 1942, 17.6.1942, in: StadtA MA-ISG, Rijksinstituut voor Oorlogsdokum, Zugang 6/1967, Nr. 1. 82 Vgl. [Anlage zum Protokoll vom 16.9.1942], 16.9.1942, in: StadtA MA-ISG, Rijksinstituut voor Oorlogsdokum, Zugang 6/1967, Nr. 2. 83 Vgl. Dienststelle Westen: Gesamtleistungsbericht bis zum 31. Juli 1944, 8.8.1944, abgedruckt in: Wolfgang Dreßen, Betrifft: „Aktion 3“. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn.

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landete auch der Besitz von deportierten Juden aus dem besetzten Osteuropa in Mannheim.84 Für die Verteilung und den Verkauf all dieser Gegenstände zuständig war die im Spätsommer 1942 zu diesem Zweck gegründete Verwertungsstelle für Volksfeindliches Vermögen (VVV). Die VVV hatte einen Beirat, deren Vorsitz Georg Bechthold von der IHK Mannheim übernahm.85 Daneben gab es eine Kommission, die unter anderem entschied, welche der Gegenstände aus den Lifts verkauft wurden und was unentgeltlich an die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV ) oder Lazarette abgegeben wurde.86 Vorsitzender dieser Kommission war Heinrich Goebels, seit 1938 in Personalunion Präsident der IHK Mannheim und Mannheimer NSDAP -Kreiswirtschaftsberater. Mitglieder der Kommission waren außerdem Georg Bechthold als ein weiterer Vertreter der IHK Mannheim, Willi Schindler als Vertreter des NSDAP -Kreisleiters, Regierungsrat Walter Fischbach vom Finanzamt Mannheim sowie Bruno Helmle in einer Doppelfunktion als Vertreter des Finanzamts Mannheim und der Feststellungsbehörde für Fliegerschäden der Stadt Mannheim. Wie lief nun die Verwertung des jüdischen Hausrats konkret ab? Zunächst wurden die Lifts von Mitarbeitern des Zoll- und des Finanzamts ausgepackt.87 Dann wurden die Gegenstände vorsortiert: Ein Teil wurde kostenlos an die NSV abgegeben, andere Sachen wurden dem Städtischen Fürsorgeamt zum Kauf

Dokumente zur Arisierung. Berlin 1998, 52. 84 Vgl. 4. Bericht über die Verwertungsstelle für volksfremdes Vermögen, Mannheim, N 7.3, 15.5.1944, in: StadtA MA-ISG, Rijksinstituut voor Oorlogsdokum, Zugang 6/1967, Nr. 2 und Nr. 3. Die VVV wird in den Quellen auch als Verwertungsstelle für Volksfremdes bzw. Volkseigenes Vermögen bezeichnet. 85 Vgl. Satzungen der Verwertungsstelle für volkseigenes Vermögen, 22.9.1942, Kopie in: StadtA MA-ISG, D 1 Jüdische Geschichte, Zugang 16/1967, Nr. 177, Bl. 86 – 88. Vgl. zur VVV auch Fliedner, Judenverfolgung, 187 – 195. 86 Vgl. zur Kommission auch im Folgenden betr. Durchführung der Verteilung bzw. Verwertung der von Holland zurückgeführten jüdischen Umzugsgüter, 26.8.1942, in: StadtA MA-ISG, Rijksinstituut voor Oorlogsdokum, Zugang 6/1967, Nr. 2. Ab Mitte September 1942 war auch Lang von der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel Mitglied der Kommission, vgl. Protokoll über die Sitzung am 16. Sept. 1942, 21.9.1942, in: StadtA MA-ISG, Rijksinstituut voor Oorlogsdokum, Zugang 6/1967, Nr. 2. 87 Vgl. auch im Folgenden betr. Durchführung der Verteilung bzw. Verwertung, 26.8.1942 (wie Anm. 86) und Aufgaben-Verteilung, 5.11.1942, in: StadtA MA-ISG, Rijksinstituut voor Oorlogsdokum, Zugang 6/1967, Nr. 2.

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angeboten. Die übrigen Gegenstände wurden entweder über den Einzel­handel verkauft oder direkt über die VVV, die in N 7, 3 und später auch im Kaufhaus Vetter eine eigene Verkaufsstelle und zeitweise bis zu 20 Mitarbeiter hatte.88 Dabei flossen die Einnahmen aus der VVV – allein im ersten Halbjahr 1944 verbuchte die Verwertungsstelle einen Gewinn in Höhe von 111.229,31 RM – offenbar komplett an NS-Gliederungen wie die Mannheimer NSDAP.89 Zu kaufen gab es bei der VVV Möbel, Haushaltsgegenstände und Textilien. So wurden bei einer Inventur Ende 1943 etwa 860 Möbel gezählt, rund 1.480 Posten im Bereich Haushaltsgegenstände sowie gut 660 Positionen in der Textilabteilung.90 Dabei war das Angebot im Einzelnen breit gefächert, und so war für jeden Geldbeutel etwas dabei, vom Besteckkasten für 75 Pfennig über einen Frack für 40 RM bis hin zur sechsteiligen Wohnzimmereinrichtung für 1.275 RM. Über die VVV verwertet wurden auch die Gegenstände, die Netty und Leo Eichtersheimer eigentlich hatten mitnehmen wollen, als sie 1939 Mannheim verließen. In einem Lift hatte das Ehepaar seinen gesamten Hausstand über Rotterdam in die USA verschiffen lassen wollen.91 Dort kamen die Sachen allerdings nie an, denn der Container wurde im Laufe des Zweiten Weltkriegs zurück nach Mannheim geschafft.92 Für Eichtersheimers verloren waren damit

88 Vgl. Anlage 2: Rh.: Notiz, betr. Verwertung des vom Ostministerium zur Verfügung gestellten jüdischen Hausrates, 2.6.1943 (Anlage zu: Bruno Rappmann: Dritter Bericht über die Verwertungsstelle für volksfremdes Vermögen, Mannheim, N 7. 3 u. 4., 14.7.1943, in: StadtA MA-ISG, Rijksinstituut voor Oorlogsdokum, Zugang 6/1967, Nr. 3) und 4. Bericht, 15.5.1944 (wie Anm. 84). 89 Vgl. Rappmann: 5. Bericht über die Verwertungsstelle für volksfremdes Vermögen, Mannheim, N 7.3 für das 1. Halbjahr 1944, 25.8.1944 , in: StadtA MA-ISG, Rijksinstituut voor Oorlogsdokum, Zugang 6/1967, Nr. 2. So erhielt die NSDAP im ersten Halbjahr 1944 Zuwendungen in Höhe von 46.938,79 RM; weitere 23.840,50 RM gingen als Darlehen an die Partei, vgl. ebd. 90 Vgl. auch im Folgenden Reinschrift der Bestandsaufnahme/Filiale Verwertungsstelle für Volksfeindliches Vermögen, 31.12.1943, StadtA MA-ISG, Rijksinstituut voor Oorlogs­ dokum, Zugang 6/1967, Nr. 3. 91 Leo und Netty Eichtersheimer emigrierten im Sommer 1939 mit ihrer Tochter Ilse über England in die USA (vgl. Netty Echter [früher Eichtersheimer]: Mein Lebenslauf, Oktober 1957, Abschrift in: GLA Ka, 480, EK 06628, Nr. 1). 92 Vgl. Sammelverwaltung feindlicher Hausgeräte, an N. V. Transatlantica Transport Maatschappij, Rotterdam, 11.2.1943, in: StadtA MA-ISG, Rijksinstituut voor Oorlogsdokum, Zugang 6/1967, Nr. 1.

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unter anderem zwei Schreibmaschinen und ein neues Radio, Tischwäsche, Bettwäsche und Leibwäsche, ein Damenpelzmantel, ein Rosenthal-Service für 18 Personen, Kristallteller, ein vierteiliges Kaffee- und Teeservice aus Sterlingsilber sowie zwölf Perserbrücken.93 Eichtersheimers kamen also mit sprichwörtlich leeren Händen in Amerika an. Darüber hinaus hatte sich in ihrem Lift auch eine Sammlung aus Elfenbeingegenständen befunden, die Eichtersheimers zum Teil in Colombo erstanden hatten. Denn das Ehepaar hatte vor dem Ersten Weltkrieg auf einer Teeplantage in Borneo gelebt und von dort aus Sri Lanka besucht.94 Für Netty Eichtersheimer waren diese Jahre eine so spannende und interessante Erfahrung, dass sie, wie sie als alte Frau bekannte, „die Erinnerungen von dort nie missen möchte“. Dass die Elfenbeinsammlung nun verloren war und damit ein Andenken an die glückliche Zeit in Borneo, wird das Ehepaar vielleicht noch mehr getroffen haben als die materielle Dimension ­dieses Verlusts. Denn wenn man Besitz als etwas begreift, was einen als Mensch ausmacht, dann verloren Eichtersheimers mit jener Elfenbeinsammlung auch Stückchen Identität.95 Irgendwo in Mannheim landete also ab 1942 Eichterheimers Elfenbeinsammlung. Dabei waren vor allem Fliegergeschädigte, Kinderreiche, Neuvermählte und Flüchtlinge zum Kauf von Gegenständen über die VVV ­berechtigt.96 Berechti­gungsscheine stellte der NSDAP-Kreiswirtschaftsberater aus.97 Mitgliedern der Partei „vom Ortsgruppenleiter aufwärts“98 war, so sie nicht Fliegergeschädigte oder Flüchtlinge waren, der Erwerb von Gegenständen untersagt; das Gleiche galt für alle an der Verwertung beteiligten Personen – zumindest theoretisch. Die Praxis sah jedoch ganz anders aus: Denn neben Parteigenossen

93 Vgl. Netty Eichtersheimer: Inventar des Lifts, beim Landesamt für Wiedergutmachung eingegangen am 5.3.1958, Abschrift in: GLA Ka, 480, EK 06628, Nr. 1. 94 Vgl. Netty Echter: Mein Lebenslauf, Oktober 1957 (wie Anm. 91). Im Folgenden ebd. 95 So ist etwa Harald Welzer der Meinung, das Ensemble von persönlichen Dingen wie Möbeln und Kleidung sei „ein biographisches Arrangement, das das Selbstbild und die Identität in einem sehr konkreten Sinn fundiert und stützt“; wenn all dies ­verloren gehe, käme dies einer „wachsenden psychosozialen Entstellung“ gleich, Harald Welzer, Vorhanden/Nicht-Vorhanden. Über die Latenz der Dinge, in: Wojak/Hayes, „Arisierung“ im Nationalsozialismus, 287 – 308, hier: 294. 96 Vgl. betr. Durchführung der Verteilung bzw. Verwertung, 26.8.1942 (wie Anm. 86). 97 Vgl. Aufgaben-Verteilung, 5.11.1942 (wie Anm. 87). 98 Betr. Durchführung der Verteilung bzw. Verwertung, 26.8.1942 (wie Anm. 86).

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tauchen auf den erhalten gebliebenen Käuferlisten der VVV immer wieder Personen und Institutionen auf, die an der Verwertung der Gegenstände mitwirkten, so die IHK Mannheim und ein Mitarbeiter des Hauptzollamts Mannheim, aber auch die Herren Fischbach und Helmle vom Finanzamt Mannheim bzw. von der Feststellungsbehörde der Stadt Mannheim.99 Dabei deckte sich Helmle gar mit Gegenständen aus jüdischem Besitz im Wert von 4.694,80 RM ein – eine Summe, die über seinem damaligen Jahresbruttoeinkommen als Beamter in Höhe von 4.300 RM lag.100 Daneben kauften auch das Polizeipräsidium Mannheim, das Ostarbeiter-Lager in Feudenheim, das Städtische Maschinenamt, die NSDAP-Kreisleitung Mannheim und das Diakonissen-Mutterhaus Waren aus den Beständen der VVV.101 Vor allem aber profitierte die Mannheimer Bevölkerung von dem jüdischen Hausrat. Wie viele Privatleute sich über die VVV eindeckten, ist unklar. Fest steht allerdings, dass jeder Mannheimer, der hier Möbel oder Haushaltswaren erwarb, genau gewusst haben wird, was es mit diesen Gegenständen auf sich hatte, dass hier Diebesgut angeboten wurde und dass die rechtmäßigen Besitzer entweder ins Ausland geflohen oder in die Konzentrationslager verschleppt worden waren. Doch offenbar hatten die Kunden in den Verkaufsstellen der VVV keine Skrupel. Diese „Erosion moralisch-ethischer Standards in der deutschen Bevölkerung“102 kann man nur damit erklären, dass sich viele selbst als Opfer sahen – als Opfer des Bombenkriegs, weil sie an der Front verwundet worden 99 Vgl.[Rappmann: Anlagen zur Bilanz], 16.5.1944, in: StadtA MA-ISG, Rijksinstituut voor Oorlogsdokum, Zugang 6/1967, Nr. 3. 100 Vgl. ebd. bzw. Lothar Burchardt/Jürgen Klöckler/Wolfgang Seibel, Gutachten zur Tätigkeit von Dr. Bruno Helmle (1911 – 1996) während der Zeit des Nationalsozialismus und in den ersten Nachkriegsjahren. Konstanz 2012 (online verfügbar unter: http://www.suedkurier. de/region/kreis-konstanz/konstanz/Bruno-Helmle-verliert-Ehrentitel;art372448,5490708, 18). Helmles Aktivitäten im Dritten Reich – neben der Mitgliedschaft in der Kommission der VVV war er am Finanzamt Mannheim für die Eintreibung der Reichsfluchtsteuer zuständig sowie nach seiner Versetzung nach Konstanz am dortigen Finanzamt für die Verwaltung und Verwertung des jüdischen Besitzes – taten seiner K ­ arriere nach 1945 keinen Abbruch. 1959 bis 1980 war er in Konstanz Oberbürgermeister; in den 1980er-Jahren erhielt er die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg. Siehe zu Helmle den Beitrag von Jürgen Klöckler in diesem Band. 101 Vgl. [Rappmann: Anlagen zur Bilanz], 16.5.1944 (wie Anm. 99) und Rappmann: 5. Bericht über die Verwertungsstelle für volksfremdes Vermögen, 25.8.1944 (wie Anm. 89). 102 Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg, 346.

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waren oder einen Verwandten verloren hatten. In dieser Sichtweise wurden die von Juden gestohlenen Gegenstände zu einer Kompensation für die Nachteile, die man selbst im Krieg erlitten hatte. Freilich hatte die Nutznießerschaft weiter Bevölkerungsteile für die NS-Regierung einen höchst willkommenen Nebeneffekt. Denn der Kauf von jüdischem Hausrat war nichts anderes als „eine Wette im Glauben auf den Fortbestand des nationalsozialistischen Regimes“103. Mit anderen Worten: Wer geraubten jüdischen Besitz erwarb, der hatte kein Interesse daran, dass die rechtmäßigen Eigentümer eines Tages zurückkehren würden, und kämpfte umso entschlossener für den „Endsieg“.104 Die Konfirmandenanzüge, die Grabsteine, die goldene Taschenuhr und die Elfenbeinsammlung – symbolhaft zeigen diese Gegenstände, dass die Mannheimer Stadtverwaltung einer der größten Profiteure der „Arisierung“ war und eine treibende Kraft bei der Vernichtung jüdischer Existenzen in Mannheim. Denn „Arisierung“ und Ausplünderung der Juden waren kein von oben oktroyierter Prozess, der im fernen Berlin von der Reichsregierung beschlossen wurde, sondern „Arisierung“ wurde vor Ort, in Mannheim, von den Beamten und städtischen Angestellten und von normalen Deutschen getragen und vorangetrieben. Vor allem aber war „Arisierung“ nichts, was sich hinter den Kulissen, geheim und im Verborgenen abspielte. Ob frühe Maßnahmen der Stadt Mannheim gegen jüdische Kaufleute, massenhafter Erwerb von jüdischem Grundbesitz durch die Stadtverwaltung, zwangsweise Ablieferung von Wertsachen beim Städtischen Leihamt oder die Verwertung von jüdischem Hausrat in den 1940er-Jahren: Die Vernichtung jüdischer Existenzen und die Ausplünderung der Mannheimer Juden waren ein deutlich sichtbarer Vorgang, der sich im Herzen der Stadt, im Zentrum der Mannheimer Stadtgesellschaft vollzog.

103 Jürgen Lillteicher, Raub, Recht und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik. (Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kultur­ geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. XV.) Göttingen 2007, 523. 104 Vgl. Frank Bajohr, „Arisierung“ und Restitution. Eine Einschätzung, in: Constantin Goschler/Jürgen Lillteicher (Hrsg.), „Arisierung“ und Restitution: Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989. Göttingen 2002, 39 – 59, hier: 50.

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Der ehemalige jüdische Friedhof in Mannheim in F 7, 1/2. Foto, 1955 (Stadtarchiv Mannheim, StadtA MA -ISG )

Jürgen Klöckler

Von Mannheim nach Konstanz. Der Finanzbeamte Bruno Helmle im Nationalsozialismus und in der unmittelbaren Nachkriegszeit Das Lebenskonstrukt des Konstanzer Alt-Oberbürgermeisters und promovierten Juristen Bruno Helmle (1911 – 1996) war bis Dezember 2010 maßgeblich durch seine zwei Jahrzehnte zuvor der Öffentlichkeit übergebenen Lebenser­ innerungen geprägt.1 Als selbst- und standesbewusster Vertreter des höheren Verwaltungsbeamtentums in Südwestdeutschland 2 hat er zeitlebens – auch publi­ zistisch – das Licht der Öffentlichkeit nicht gescheut.3 Wie hat Bruno Helmle wenige Jahre vor seinem Tod die eigene Lebensgeschichte bis 1945 für eine breite Öffentlichkeit aufbereitet? Besonders betont er in den Memoiren seine katholische Sozialisation, seine Zeit als Ministrant in Mannheim,4 sein Engagement als „Vorsitzender der Zentrumspartei und des Görres-Ringes – Vereinigung katholischer Studierender – an der Universität Heidelberg“,5 seinen sozialen Aufstiegswillen, seine Zielstrebigkeit und seine frühen Erfolge: „Mit 23 Jahren hatte ich als einer der Jüngsten dann die Promotion geschafft.“6 Freilich fand das Rigorosum bereits nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten statt. Kein Wort, nicht einmal eine Andeutung fand sich in Helmles Lebenser­innerungen zur vollzogenen Anpassung im NS-Staat mit Parteibeitritt zum 1. Mai 1937, den

1 Vgl. Bruno Helmle, Erinnerungen und Gedanken eines Oberbürgermeisters. Konstanz 1990. 2 Vgl. Michael Ruck, Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972. (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland, Bd. 4.) München 1996. 3 Vgl. etwa die Publikation: Bruno Helmle, Zeugnisse aus bewegter Zeit. Mit einer Einführung von Staatssekretär Dr. Gerd Weng (Eine Dokumentation zur neuesten Konstanzer Stadtgeschichte herausgegeben vom Stadtarchiv Konstanz). Sigmaringen 1979. 4 Vgl. Helmle, Erinnerungen, 57f. 5 Bescheinigung des ehemaligen Zentrumsvorsitzenden in Mannheim, Spiegelhalder, vom 30. August 1945; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 6 Helmle, Erinnerungen, 21.

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er indirekt in den Memoiren sogar als umgangen beschrieb.7 Stattdessen strich er heraus, dass ihm wegen einer negativen politischen Beurteilung 8 während seiner Referendarszeit der Eintritt in den höheren Justizdienst verwehrt w ­ orden sei. Der Nationalsozialismus habe, so Helmles Interpretation, die Karriere eines politischen Gegners zerstört. Schließlich konnte Bruno Helmle nach eigener Auskunft erst Ende 1939 „wieder in die gesicherte Position einer Staatsverwaltung zurückkehren“9. Den Habitus des „immer treuen“ Beamten 10 hatte er bereits verinnerlicht: Staatsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht. Der im Korpsgeist des höheren Beamtentums sozialisierte Helmle fand bei der mit neuen Aufgaben betrauten Finanzverwaltung Verwendung, zuerst in Mannheim, dann kurzzeitig in Karlsruhe, schließlich für einige Jahre wieder in Mannheim. Rückblickend erinnerte sich Bruno Helmle: „Ich wurde als Regierungsrat z. b. V. [zur besonderen Verwendung] von der Wehrmacht freigestellt und dem Oberfinanzpräsidium Karlsruhe zugeordnet mit dem Auftrag, die Interessen des Reichsfinanzministeriums bei den Kriegsschadenämtern in Baden wahrzunehmen. Das bedeutete, die Kriegsschadenämter nach Angriffen unverzüglich mit Geldmitteln zu versorgen. Mannheim als Industriestadt war Schwerpunkt der Angriffe. Darum war meine Dienststelle in Mannheim.“11 Damit hatte Helmle – aus seiner Sicht – die Kriegsjahre und seine damalige Tätigkeit in wenigen Sätzen lückenlos, ja geradezu schlüssig erklärt und über seine eigene Vergangenheit Rechenschaft abgelegt. Einige Zeilen später freilich unterschlug er in einem nur vermeintlich vollständig publizierten Entlastungszeugnis 12 aus der Nachkriegszeit zweimal ein entscheidendes Wort, das zu kritischen Rückfragen hätte führen können:

7 Der Autor legte dem Leser indirekt nahe, dass er kein NSDAP-Parteimitglied gewesen sei, auch nicht bei Eintritt in die Finanzverwaltung. Ein Bekannter „schickte mir einen Fragebogen zu. Darin wurde erstaunlicherweise nicht nach der Parteizugehörigkeit gefragt“; Helmle, Erinnerungen, 32. 8 Diese Beurteilung befand sich wohl nicht in Helmles Gaupersonalamtsakte, welche in Straßburg in die Hände der Alliierten fiel und von der französischen Besatzungsmacht für das Entnazifizierungsverfahren herangezogen wurde. 9 Helmle, Erinnerungen, 31. 10 Vgl. Sabine Mecking, „Immer treu“. Kommunalbeamte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. (Geschichtsort Villa Ten Hompel, Bd. 4.) Essen 2003. 11 Helmle, Erinnerungen, 40f. 12 Vgl. ebd., 41f.

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„Finanzamt“. Der Karlsruher Finanzpräsident Amend bescheinigte ihm n ­ ämlich in einem „Persilschein“ vom 6. August 1947 eine gemeinsame Tätigkeit zwischen 1939 und 1945 „am Finanzamt Mannheim“.13 Helmle verkürzte in ­seinen Erinnerungen die entscheidende Nennung der Dienststelle auf die bloße Ortsangabe und unterschlug wenige Zeilen später ein zweites Mal gänzlich die Präzisierung „beim Finanzamt Mannheim“. Offensichtlich wollte Bruno Helmle seine Tätigkeit beim Finanzamt Mannheim-Stadt von Dezember 1939 bis November 1944 in seinen Memoiren vor einer breiteren Öffentlichkeit verschleiern. Des Weiteren erwähnte er in den Erinnerungen mit keinem Wort, dass sein aufgrund des Bombenkriegs erfolgter Dienstantritt am Finanzamt Konstanz als stellvertretender Amtsvorsteher bereits Anfang Dezember 1944 erfolgte, sondern er suggerierte eine spätere Ankunft („Anfang Februar 1945“14) am Bodensee, und zwar nicht in Konstanz, sondern in der Geburtsstadt seiner Mutter, in Meersburg. Erst unter französischer Besatzung – so Helmle – sei schließlich im Mai 1945 die Ernennung zum Vorsteher des Konstanzer Finanzamts erfolgt. Gab es Gründe, seine Tätigkeit als Finanzbeamter in Mannheim wie in Konstanz vor dem 1. Mai 1945 viereinhalb Jahrzehnte nach Kriegsende zu unterschlagen? Erste öffentliche Irritationen löste jedenfalls ein im November 2010 in den Beständen des Konstanzer Stadtarchivs aufgefundenes Schreiben des Finanzamts Konstanz vom 22. Februar 1945 aus. Es enthält das Angebot an die Stadtverwaltung, den „Judenfriedhof “ zu erwerben, und es trägt unter dem Briefkopf der „Verwaltung des jüd[ischen] und reichsfeindlichen Vermögens“ die Unterschrift von Bruno Helmle.15

I. Jugend und Studium, Referendars- und Assessorenzeit Früh schon erfährt jeder Mensch durch familiäre, gesellschaftliche und religiöse Sozialisation seine individuelle Prägung. Auch bei Bruno Helmle lassen Entwicklungslinien in Kindheit und Jugend zweifelsohne Rückschlüsse auf soziale 13 StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551 (DNZ-Akte Dr. Bruno Helmle). 14 Helmle, Erinnerungen, 49. 15 Als Faksimile abgedruckt in dem Artikel „Braune Schatten über Bruno Helmle“, in: Südkurier – Ausgabe Konstanz – vom 9. Dezember 2010. Das Original befindet sich im StadtA Konstanz S II 16364.

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wie generationelle Prägung zu. Geboren wurde Bruno Helmle am 5. Februar 1911 in Mannheim als Sohn eines Volksschullehrers, dem eine Generation zuvor unter zwölf Kindern der soziale Aufstieg aus katholischem, kleinbürgerlichem Milieu gelungen war. Die Mutter wiederum war Tochter eines Reichsbankrats a. D. und ebenfalls katholischer Konfession. Sozialer und gesellschaftlicher Aufstiegswille scheinen Bruno Helmle, der sich schon als Kind zielstrebig und wissbegierig gab, ebenso wie eine starke konfessionelle Milieubindung in die Wiege gelegt worden zu sein. Der zweite Sohn der Familie, Brunos vier Jahre älterer Bruder Hermann, machte Karriere als leitender Angestellter einer internationalen Speditionsfirma.16 Der aufstrebende Schüler Bruno Helmle – Mitglied der katholischen Jugendbewegung „Neu-Deutschland“ – besuchte das Badische Realgymnasium I in Mannheim, um im Frühjahr 1930 das Abitur abzulegen. Ab Frühsommer 1930 studierte er in Rom ein Semester katholische Theologie 17 (was er bis 1945 geflissentlich unerwähnt ließ), wechselte zum Wintersemester 1930/31 aber nach Heidel­berg (danach Berlin), um Rechts-, Finanz- und Volkswirtschaft zu ­studieren. Staatsdienst oder kirchliche Laufbahn, vor diese Wahl gestellt, entschied sich Helmle 1930 durch Aufnahme eines Brotstudiums für die als sicher geltende Verwaltungsbeamtenlaufbahn – wie der Vater, der Großvater mütter­ licherseits und weitere Verwandte und Bekannte. Andere berufliche Perspek­ tiven sah der Beamtensohn nicht, denn er verfügte damals „über keinerlei Beziehungen zur freien Wirtschaft oder zum Ausland“18 – so Helmle rückblickend. Mit großer Zielstrebigkeit und Energie absolvierte er das Studium in kaum zu unterbietender Zeit, das Referendarexamen legte er bereits im April 1934 erfolgreich ab. Als Zehnter von 42 Prüflingen stand ihm eine Assessorenstelle de facto offen – trotz seiner politischen Vergangenheit als exponierter Z ­ en­trumsanhänger. Parallel fand er in Professor Eugen Ulmer 19, dem Ordinarius für deutsches und

16 Vgl. Helmle, Erinnerungen, 21. 17 Bei dieser Gelegenheit lernte er auch Kardinalstaatssekretär Pacelli, den späteren Papst Pius XII, kennen; vgl. ebd., 19. 18 Revisionsbegründung von Helmle im Entnazifizierungsverfahren vom 11. Juni 1947; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 19 Ulmer trat im Mai 1934 der SA und am 1. November 1937 der NSDAP bei. Zugleich war er Mitglied des NS-Rechtswahrerbundes. Kraft Spruchkammerbescheid vom 10. September 1946 wurde Ulmer als „Mitläufer“ eingestuft. Zur Biografie vgl. Klaus-Peter Schroeder, „Eine Universität für Juristen und von Juristen“. Die Heidelberger Juristische

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ausländisches Privatrecht sowie Handels- und Wechselrecht, in Heidelberg einen Doktorvater, der ihn im September 1935 mit einer Arbeit zum Pfandrecht 20 promo­vierte. Die in kurzer Zeit erarbeiteten Grundlagen des Handelsrechts sollten ihm Jahre später als Finanzbeamter von Nutzen sein. Das gesamte Material der Arbeit, Unterlagen aus der Allgemeinen Transport-Gesellschaft in Frankfurt am Main 21, hatte ihm sein Bruder Hermann zur Verfügung gestellt.22 Die Dissertation behandelte im Kern die Pfandverwertung und ging der Frage nach, wie im Falle der Nichtbegleichung von Forderungen seitens der Speditionen die zum Versand hinterlegten Gegenstände in das Eigentum Dritter überführt werden konnten, nämlich (so Helmle) „durch einen privaten Verkauf der Pfandsache“.23 Auf den ersten Blick handelt es sich um eine trockene Thema­tik, die freilich in den Jahren nach 1933 angesichts der aus dem Deutschen Reich einsetzenden Emigrationswelle durchaus eine gewisse Aktualität gewann, worauf noch zurückzukommen sein wird. Den Vorbereitungsdienst in der Justizverwaltung hatte Helmle im Frühjahr 1934 als „freiwilliger Hilfsarbeiter“ unmittelbar nach Abschluss des ersten Staatsexamens und parallel zur Anfertigung seiner Dissertation angetreten. Als Referendar wurde er „an badischen Gerichten und Landratsämtern, ferner beim Landeskommissär und Polizeipräsidenten in Mannheim“ eingesetzt.24 Seine Vorgesetzten zeigten sich einhellig begeistert von den gezeigten Leistungen: „Gewissenhafter Fleiss, verantwortungsbewusstes, inneres Streben nach Ausbildung auf beruflichem und ausserberuflichem Gebiet, nach Leistung und Bewährung zeichnen ihn aus“.25 Helmle durchlief Fakultät im 19. und 20. Jahrhundert. (Heidelberger rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 1.) Tübingen 2010, 486 – 493. 20 Vgl. Bruno Helmle, Das Pfandrecht des Spediteurs, Frachtführers und Lagerhalters. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde einer Hohen Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Bottrop 1935. 21 Dort war Hermann Helmle vor 1945 als leitender Angestellter beschäftigt. Vgl. das Schreiben von Moritz Lederer an die Staatsanwaltschaft Konstanz vom 29. August 1950; StadtA Mannheim NL Lederer Nr. 10. 22 Vgl. Helmle, Erinnerungen, 21. 23 Helmle, Pfandrecht, 74. 24 Lebenslauf vom 19. August 1957; StadtA Konstanz S XIX Personalakte Bruno Helmle, Heft III. 25 Nicht beglaubigte Abschrift des Dienstzeugnisses, ausgestellt vom Mannheimer Land­gerichtsrat Martens vom 31. August 1937; ebd.

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in seiner Referendarszeit eine klassische Ausbildung zum Verwaltungs­ juristen. Der Mannheimer Amtsgerichtsdirektor Arnold bescheinigte ihm im Dienstzeugnis: „Für den Staatsdienst ist Dr. H. sehr gut geeignet.“26 Das Referendariat schloss Helmle mit der Großen juristischen Staatsprüfung am 25. April 1938 ab.27

II. Mitgliedschaft in der NSDAP und ihren Untergliederungen Mit der Wahl der Studienfächer hatte sich Bruno Helmle in der Endphase der Weimarer Republik für die Berufsbeamtenlaufbahn entschieden. Die „Machtergreifung“ und die grundlegenden politischen Umwälzungen des Jahres 1933 erforderten zumindest eine äußerliche Umorientierung in Präsentation und Selbstdarstellung, obwohl er bis Frühjahr 1933 zweifellos keinerlei Affinität zur NS-Ideologie gezeigt hatte. Seine klare Positionierung für den politischen Katholizismus in der Studentenzeit war unzweifelhaft, Opposition oder gar Renitenz hätte ihm mit Sicherheit „in der neuen Zeit“ keine Karrierechancen eröffnet. Konnte es sich ein zukünftiger Staatsdiener mit Blick auf die angestrebte Beamtenkarriere leisten, sich dem Nationalsozia­ lismus gänzlich zu verweigern? Tatsächlich erfolgte bei Helmle – wie bei Millionen anderer Deutscher auch – eine rasche äußerliche Anpassungsleistung. Wohl aus Opportunismus und ohne ideologische Motive trat der technikbegeisterte Helmle am 8. Juli 193328 der Motor-SA 29 und – nach deren Zusammenlegung – dem Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) bei. Ähnlich sozialisierte Vertreter der Kriegsjugend­ generation, wie etwa der nachmalige baden-württembergische Ministerpräsident und spätere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, folgten exakt diesem Muster

26 Nicht beglaubigte Abschrift des Dienstzeugnisses vom 1. Oktober 1936; ebd. 27 Handschriftlicher Lebenslauf vom 1. März 1939; ebd., Heft I. 28 Vgl. das Schreiben der Präsidialabteilung des Oberlandesgerichtspräsidenten Karlsruhe an das Gaupersonalamt vom 23. August 1938; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 29 Helmle dürfte einfacher SA-Mann in der Standarte 110 (Heidelberg) der SA-Brigade 153 gewesen sein. Die im BundesA Berlin erhaltenen Sammellisten der SA-Gruppe Kurpfalz (NS 23 Nr. 1091, 1092, 1098 und 1099) geben freilich keine weiterführenden Hinweise. Auch in den SA-Beständen des Generallandesarchivs Karlsruhe (465c) konnte Helmle nicht nachgewiesen werden.

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von Selbstanpassung und politischem Opportunismus.30 Das NSKK galt gemeinhin als eine Organisation, der man beitrat, um ein Mindestmaß an Loyalität mit dem NS-Regime unter Beweis zu stellen. Doch nicht nur Helmle missfiel das ganze paramilitärische Gehabe im NSKK, dessen Dienst für ihn eine stupide Zeitverschwendung war. Folgerichtig mied er jeden aktiven Dienst und war „im Dienstgrad eines einfachen NSKK-Mannes ohne Amt und Rang“31 nicht einmal in Besitz einer Uniform.32 Außerdem trat der „Jurist in Ausbildung“ – ebenfalls nicht untypisch – am 9. Mai 1934 in den Nationalsozialistischen Bund deutscher Juristen ein, dem späte­ren NS -Rechtswahrerbund.33 Es scheint, als sei Helmle auch diesen NS -Orga­ni­sationen nur beigetreten, um seine Loyalität durch NS -Mitgliedschaften unter Beweis zu stellen. Nach Angaben im „Personalblatt für Beamte“ des Freiburger NSDAP-Kreisamts für Beamte vom 2. September 1938 war Helmle in dieser NS-Organisation u. a. „Bezirksgruppenwalter der Jung Rechtswahrer im Bezirk Mannheim“34, doch zeigte der ansonsten umtriebige Helmle kein nennenswertes Engagement. Selbst die fälligen Beitragszahlungen suchte er möglichst zu umgehen, indem er bei den beruflich bedingten, recht

30 Vgl. dazu die Memoiren des späteren Bundeskanzlers: Kurt Georg Kiesinger, Dunkle und helle Jahre. Erinnerungen 1904 – 1958. Stuttgart 1989, 172 – 175. Zu dieser Problematik ebenfalls: Philipp Gassert, Kurt Georg Kiesinger 1904 – 1988. Kanzler zwischen den Zeiten. München 2006, 92f. sowie Jürgen Klöckler, Auslandspropaganda und Holocaust. Kurt Georg Kiesinger im Auswärtigen Amt 1940 – 1945, in: Günter Buchstab/Philipp Gassert/Peter Thaddäus Lang (Hrsg.), Kurt Georg Kiesinger 1904 – 1988. Von Ebingen ins Kanzleramt. Freiburg 2005, 201 – 227, zum NSKK 204f. 31 Schriftliche Erklärung des Landgerichtsrats Merkert, einem Jugendfreund Helmles, vom 2. Januar 1947; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 32 Vgl. die Bestätigung eines ehemaligen Heidelberger Kommilitonen vom 20. November 1946; ebd. 33 Helmle erhielt die Mitgliedsnummer 78049. Vgl. das Mitgliederverzeichnis des NS Rechtswahrerbundes; GLA 465c Nr. 981. 34 Personalblatt für Beamte vom 2. September 1938, unterschrieben vom Freiburger NSDAPKreisamtsleiter Martzloff (Amt für Beamte); MAE (Paris)/AdO HCFA Bade S. c. 567 dossier Helmle, Bruno. Im Neubau des Archivs des französischen Außenministeriums (Ministère des Affaires Etrangères/MAE) in Paris-Courneuve wird seit Sommer 2010 auch das ehemalige Archiv der Besatzung in Colmar (Archives de l‘Occupation française en Allemagne et en Autriche/AdO) verwahrt.

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häufigen Wohnungswechseln seine neuen Anschriften jeweils nicht mitteilte und es bei schriftlichen Rückfragen mit der Wahrheit nicht immer sehr genau nahm. So bemühte sich der NS -Rechtswahrerbund zwischen 1939 und 1943 mehrfach vergeblich, den Aufenthaltsort von Helmle zu erfahren, ohne von dem jungen Beamten pflichtschuldig Antwort zu erhalten, obwohl sich der Ton der erhaltenen Korrespondenz scharf, fast drohend ausnahm.35 Finan­ zielle Engpässe des Beamtenanwärters steckten wohl dahinter: Nach außen hin demonstrierte Helmle Loyalität durch formale Mitgliedschaft, die Bezahlung fälliger Beiträge gedachte er aber möglichst zu umgehen. Mehr Schein als Sein zur Wahrung seines persönlichen Fortkommens, das dürfte sich hinter Helmles NS -Mitgliedschaften der Jahre nach 1933 verbergen. Ein ideologisch „gefestigter“ oder „bekehrter“ Aktivist der NS-Bewegung wurde Bruno Helmle zu keinem Zeitpunkt. Eine „innere Bejahung des Nationalsozialismus“ kommt in seinem Fall, wie nach 1945 auch der Konstanzer Stadtrechtsrat Paul Kirchgäßner bestätigte, zweifellos „nicht in Betracht“36, zu stark war Helmle im Katholizismus sozialisiert. Ein Beleg für diese These ist auch sein Parteibeitritt, den er wahrscheinlich wegen seiner exponierten Tätigkeit als Zentrumsmann nicht wie etwa der später mit ihm befreundete Kurt Georg Kiesinger bereits im zeitigen Frühjahr 1933 als „Märzgefallener“ vollziehen konnte. Doch unmittelbar nach Aufhebung der 1933 erlassenen Mitgliedersperre, die erst zum 1. Mai 1937 gelockert und ab Mai 1939 gänzlich aufgehoben wurde 37, beantragte Helmle am 31. Mai 1937 35 Der Leiter der Gaugeschäftsstelle Baden schrieb an Helmle am 4. Juli 1939: „Ich weise darauf hin, daß ich im Interesse derjenigen Mitglieder, die die an Sie gestellten Anfragen ordnungsgemäß erledigen, nicht länger gewillt bin, Zeit und Geld für unnütze Anfragen zu verwenden. Ich ersuche Sie daher l e t z t m a l i g um sofortige Erledigung der Angelegenheit.“ Hervorhebung im Original. GLA 465 c Nr. 960. Helmle rechtfertigte sich mit unwahren Behauptungen: „Unter Bezugnahme auf das Schreiben vom 4. d. M. gestatte ich mir mitzuteilen, dass ich seit Jahren meinen Wohnsitz nicht mehr in Baden habe.“ Immerhin war er von 1934 bis 1938/39 als Assessor in verschiedensten badischen Behörden tätig gewesen; ebd. 36 Bestätigung des Konstanzer Stadtrechtsrats Paul Kirchgäßner vom 12. Juni 1947; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 37 Vgl. Juliane Wetzel, Die NSDAP zwischen Öffnung und Mitgliedersperre, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder. Frankfurt am Main 2009, 74 – 82 sowie Armin Nolzen, Parteigerichtsbarkeit und Parteiausschlüsse in der NSDAP 1921 – 1945, in: ZfG 48, 2000, 965 – 989, hier 974.

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seine Aufnahme in die NSDAP. Rückwirkend zum 1. Mai 1937 wurde er mit der Nummer 4.353.909 in die Partei Adolf Hitlers aufgenommen und erhielt am 15. November 1937 eine Mitgliedskarte.38 Wieder betrieb er dasselbe Spiel wie beim NS-Rechtswahrerbund. Nur bis 1940 meldete er seine zahlreichen Wohnungswechsel. Beiträge zahlte er danach nicht mehr, jedenfalls strich ihn der Gau Baden der NSDAP im Dezember 1940 wegen „unbekannten Aufenthalts“39 von der Mitgliederliste. Nach außen hin, selbst im Umgang mit der Partei, gab sich der Mannheimer Finanzbeamte freilich bis zuletzt als Pg zu erkennen (eventuell trug er sogar bisweilen das Parteiabzeichen am Revers), wie die nachfolgend noch zu behandelnden Protokolle der „Verwertungsstelle für volksfeindliches Vermögen“ der Jahre 1942/43 nahelegen. Hat Bruno Helmle außer den aufgezeigten nominellen Mitgliedschaften irgendeine Funktion oder ein Amt in der NSDAP übernommen? Diese Frage ist nicht restlos zu klären, aber wohl eher zu verneinen. Im Entnazifizierungsverfahren belastete ihn ein zeitgenössisches Dokument. Die Präsidialabteilung des Karlsruher Oberlandesgerichtspräsidenten hatte ihm im Sommer 1938 bescheinigt: „Dr. Helmle gehört seit 1. Mai 1937 der Partei an (Blockleiter in der Ortsgruppe Freiburg-Mittelwiehre)[;] er ist seit 8. Juli 1933 Angehöriger der SA und des NSKK.“40 Nach 1945 bemühte sich Helmle mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, den Beweis anzutreten, dass diese Angaben nicht den damaligen Realitäten entsprachen, sondern dass ihm die Blockleiterfunktion im Sommer 1938 aus reiner Gefälligkeit bestätigt worden sei. Ohne sein ­Wissen habe der zuständige Zellenleiter „etwas für ihn tun“ wollen.41 Im Entnazi­fizierungsverfahren sprach er sogar von „bewusster Tarnung“ und von einem „Akt der Notwehr zur Sicherung der Existenz“.42 Dass Helmles Mitarbeit in der Ortsgruppe nur vorgetäuscht war, dürfte stimmig sein, wenngleich sich dieser Sachverhalt auch genau gegenteilig zugetragen haben könnte. Möglicherweise hat Helmle den Zellenleiter damals überredet, ihm eine untergeordnete Funktion in der Partei zur Demonstration seiner Loyalität gegenüber 38 Vgl. BundesA Berlin BDC NSDAP 3100 Zentralkartei. 39 Ebd. 40 Schreiben der Präsidialabteilung des Oberlandesgerichtspräsidenten Karlsruhe an das Gaupersonalamt vom 23. August 1938; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 41 Erklärung des ehemaligen Zellenleiters Albert Triebel/Freiburg vom 27. Januar 1947; ebd. 42 Undatierter Schriftsatz von Bruno Helmle; ebd.

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dem NS-Regime zu attestieren. Menschen für sich und seine Ziele einzunehmen, fiel ihm zeitlebens nicht schwer. „Nach ‚oben‘ devot, ‚tritt‘ er nach unten“, urteilte der Mannheimer Dramaturg und jüdische Publizist Moritz Lederer aufgrund eigener Erfahrung Jahre später, und fügte hinzu: „der von Natur aus recht sympathische“ Helmle „stecke voller Widersprüche“.43 Auch auf dem „Personalblatt für Beamte“ wurde über Bruno Helmle vermerkt: „P[olitischer] L[eiter] seit Juni 1938“.44 Der Freiburger NSDAPKreis­amtsleiter Martzloff schrieb dort über Helmle: „Politisch sehr interessiert und jederzeit einsatzbereit mit guten Führereigenschaften […] Er ist Sturmmann im NSKK und Blockwalter bei der Ortsgruppe Mittelwiehre. Er ist politisch zuverlässig.“45 Ferner bescheinigte man Helmle in diesem Vermerk den regelmäßigen Besuch von Schulungs- und Kameradschaftsabenden der NSDAP. Unmittelbar nach dem zweiten Staatsexamen bewarb sich Helmle um die Übernahme in den Justizdienst, weshalb Karlsruhe umgehend beim Gauper­so­ nalamt nachfragte, „ob der Genannte die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintritt“.46 Der Gauper­so­nal­ amtsleiter bescheinigte nach Rücksprache mit dem Amt für Beamte, es bestünden „in politischer Hinsicht keine Bedenken“ gegen eine Übernahme Helmles in den höheren Justizdienst.47 Die Assessorenzeit begann am Landgericht in Freiburg, dann folgte ab 1. November 1938 der Wechsel ins Innenministerium als Beamter bei der Badischen Landeskreditanstalt für Wohnungsbau in Karlsruhe. Ende Februar 1939 stellte Regierungsrat Staiger von der Kreditanstalt klar: 43 Schreiben von Lederer an Staatsminister Wilhelm Eckert vom 7. August 1950; StadtA Mannheim NL Lederer Nr. 10. Zur Biografie vgl. Manfred Bosch, Lederer, Moritz, in: Bernd Ottnad (Hrsg.), BadenWürttem­bergische Biographien, Bd. II. Stuttgart 1999, 295f. sowie ders., Vom Bürgerschreck zum Theatervisionär: Moritz Lederer. Europäischer Grenzgänger aus Mannheim. (Kleine Schriften des Stadtarchivs Mannheim, Bd. 14.) Mannheim 1999. 44 Personalblatt für Beamte vom 2. September 1938, unterschrieben vom Freiburger NSDAPKreisamtsleiter Martzloff (Amt für Beamte); MAE/AdO HCFA Bade S. c. 567 dossier Helmle, Bruno. 45 Ebd. 46 Schreiben der Präsidialabteilung des Oberlandesgerichtspräsidenten Karlsruhe an das Gaupersonalamt vom 23. August 1938; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 47 Schreiben des Gaupersonalamtsleiters an die Präsidialabteilung des Oberlandesgerichts­ präsidenten vom 20. September 1938; ebd.

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„Assessor Dr. Helmle verlässt uns auf eigenen Wunsch, um den Probedienst bei der Reichsfinanzverwaltung aufzunehmen.“48 Der Wechsel vom Justiz- in das Innenressort und schließlich zur Finanzverwaltung scheint keinesfalls – wie von Helmle in seinen Lebenserinnerungen dargestellt – eine gewaltsame, politisch motivierte Zerstörung seiner Justizlaufbahn gewesen zu sein. Stattdessen dürfte ihn Helmle freiwillig und aktiv 49 selbst betrieben haben, mit dem Ziel, möglichst viele Arbeitsgebiete als Verwaltungsjurist kennenzulernen, um zukünftig in Führungspositionen der öffentlichen Verwaltung aufrücken zu können. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass es jemals jene „politisch negative Beurteilung des Leiters der Referendargemeinschaft“50 gab, die angeblich Helmles Karriere im Justizdienst beendete. Nicht einmal im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens tauchte sie als Entlastungszeugnis auf, und das, obwohl Helmles Gaupersonalamtsakte in Straßburg den Krieg unbeschadet überdauert hatte. Wegen seiner politischen Vergangenheit wurde Bruno Helmles Karriere 1938/39 jedenfalls nicht unterbrochen, vielmehr orientierte er sich – das eigene Fortkommen fest im Blick – in anderen Ressorts der öffentlichen Verwaltung aus freien Stücken neu. Berufliche Heraus­forderungen und Aufstiegsmöglichkeiten gezielt suchend, schien ihm die expandierende Finanzverwaltung Perspektiven zu bieten. Die bis Ende der 1950er-Jahre nachgewiesene staatliche Personalakte von Bruno Helmle, die vielleicht Auskunft zu Aspekten wie diesen hätte geben können, wurde auf nicht zu klärende Weise zu einer „Restakte“ ausgedünnt.51 48 Nicht beglaubigte Abschrift des Dienstzeugnisses vom 28. Februar 1939; StadtA Konstanz S XIX Personalakte Bruno Helmle, Heft III. 49 Der Oberfinanzpräsident in Karlsruhe schrieb an das Gaupersonalamt am 28. November 1938: „Ich bemerke noch, daß sich H e l m l e am 26.11.1938 bei dem Gausachbearbeiter Zoll, Pg. Zimmer, persönlich vorgestellt hat.“ StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 50 Helmle, Erinnerungen, 31. 51 Im Bestand Personalakten der Oberfinanzdirektion Karlsruhe ist lediglich eine „Restakte“, bestehend aus zwei Schriftstücken vom Januar 1946, vorhanden. „Auch ist der Verbleib der restlichen Personalakten nicht nachvollziehbar“; schriftliche Auskunft der Oberfinanzdirektion vom 24. Januar 2011 an den Verfasser. Im Finanzministerium in Stuttgart und im baden-württembergischen Innenministerium ist keine Personalakte Helmle vorhanden; Auskünfte vom 5. Januar 2011 bzw. vom 3. August 2011. Im Bundesarchiv (weder am Standort in Berlin-Lichterfelde noch in Koblenz), im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, im Staatsarchiv Freiburg und im Generallandesarchiv in

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III. Endgültiger Eintritt in den Staatsdienst und Regierungsrat am Finanzamt Mannheim-Stadt Zum 1. März 1939 trat Bruno Helmle seinen Dienst im Bereich des Oberfinanzpräsidenten in Karlsruhe an und begann seine Tätigkeit, erst als Finanzassessor am Finanzamt Mannheim-Neckarstadt und dann ab 1. Oktober 1939 beim Oberfinanzpräsidium in Karlsruhe. Erneut wurden Leistung, Einsatz und Befähigung glänzend beurteilt, etwa vom Mannheimer Finanzamtsvorsteher Süffert, der Helmle uneingeschränkt Führungseigenschaften attestierte: „weit über Durchschnitt“52. Als Sachbearbeiter für das Ausbildungswesen urteilte Regierungsrat Dexheimer: „Dr. Helmle bietet die Gewähr dafür, dass er auch bei schwierigsten Anforderungen zur Leitung eines grossen Sachgebietes imstande ist. Er wird bei weiterer Einarbeitung auch einem grossen Finanzamt tatkräftig und formsicher vorstehen können. Ich kann ihn für die endgültige Übernahme in die Reichsfinanzverwaltung nur wärmstens empfehlen.“53 Der Grundstein für eine zukünftige Verwaltungskarriere mit Führungsaufgaben war gelegt. Zum Regierungsassessor ernannt, wechselte Helmle zum 1. Dezember 1939 an das Finanzamt Mannheim-Stadt, wo er bis Ende November 1944 Dienst tat. In Mannheim war seitens der Finanzverwaltung Anfang 1940 ein Neubau für beide Finanzämter geplant, deren Aufgaben „erheblich gewachsen“ waren: „Dies hat eine große Personalvermehrung beider Finanzämter Karlsruhe ist die Personalakte von Bruno Helmle ebenfalls nicht nachweisbar. Da eine Kassation von Personalakten höherer Verwaltungsbeamter prinzipiell unterbleibt, ist die Akte wohl niemals in ein staatliches Archiv gelangt. Es deutet manches darauf hin, dass es sich bei der „Restakte“ bei der Oberfinanzdirektion Karlsruhe um die (wohl erst nach 1959) massiv ausgedünnte Personalakte handelt. Wer auf wessen Veranlassung handelte, verbleibt ungeklärt. Selbst im Stadtarchiv Meersburg ist keine Bürgermeisterakte von Helmle erhalten, obwohl die Akten seiner Vorgänger und Nachfolger archiviert sind. Die Akte A 2617 enthält Dokumente bis 1945 und einen Brief von Helmle an die Meersburger Bevölkerung vom Juni 1945. Die nächsten Dokumente stammen aus den Jahren 1953ff. Ganz offensichtlich wurde diese Akte ausgedünnt. 52 Nicht beglaubigte Abschrift der Beurteilung von Oberregierungsrat Süffert vom Finanzamt Mannheim- Neckarstadt vom 30. Juni 1939; StadtA Konstanz S XIX Personalakte Bruno Helmle, Heft III. 53 Nicht beglaubigte Abschrift der Beurteilung des Sachbearbeiters für das Ausbildungswesen beim Oberfinanzpräsidenten Baden in Karlsruhe vom 10. November 1939; ebd.

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zur Folge gehabt.“54 Am Finanzamt Mannheim-Stadt waren zu Kriegsbeginn 307 öffentlich Bedienstete, darunter 153 Beamte tätig.55 Im Finanzamt Mannheim-Stadt 56, das erstmals im Dezember 1940 von drei englischen Fliegerbomben getroffen wurde 57, fungierte der seit 1. März 1941 zum Regierungsrat beförderte Helmle unter Regierungsdirektor Carnier ausweislich des Einwohnermeldebuches von 1941/4258 in der Abteilung III als „Sachbearbeiter für Strafsachen, Steuerfahndungsdienst, Reichsfluchtsteuer, Volksverrat 59“. Die Reichsfluchtsteuer 60, obzwar schon 1931 unter Reichskanzler Brüning eingeführt, hatte sich zu einem der Hauptinstrumente für die finanzielle Ausplünderung der jüdischen Emigranten weiterentwickelt 61 und verursachte gesteigerten Arbeits- und Personalaufwand in der Finanzverwaltung – sie verhalf somit indirekt zu Karrierechancen. Der ursprüngliche Zweck, Auswanderung und Kapitalflucht zu verhindern, wandelte sich zur Unrechtsmaßnahme der Teilenteignung der deutschen Juden, die insgesamt 941 Mio. RM erbrachte.

54 Der Oberfinanzpräsident Baden an das Reichsfinanzministerium vom 29. Oktober 1940; BundesA Berlin R 2 Nr. 25845. 55 Vgl. ebd. 56 Zur personellen Zusammensetzung dieser Behörde vgl. Badischer Geschäfts- und Adreß-Kalender für 1942. Karlsruhe 1942, 287f. 57 In der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember 1940 wurde das Finanzamt Mannheim-Stadt von zwei Brand- und einer Sprengbombe der Royal Air Force getroffen. Vgl. das Schreiben des Oberfinanzpräsidenten Baden an das Reichsfinanzministerium vom 30. Dezember 1940; BundesA Berlin R 2 Nr. 25845. 58 Mannheimer Einwohnerbuch mit den Stadtteilen Feudenheim, Friedrichsfeld, Käfertal, Kirschgartshausen, Neckarau, Rheinau, Sandhofen, Sandtorf, Scharhof, Seckenheim, Straßenheim, Waldhof und Wallstadt. Ausgabe 1941/42 (Stand September 1941). Mannheim 1941, nach S. 4 (Finanzbehörden) ohne Seitenzahl. 59 Für den Wortlaut des „Gesetzes gegen Verrat der Deutschen Volkswirtschaft“ vom 12. Juni 1933 vgl. RGBl 1933, I, 360 – 363. 60 Zur Genese dieses Finanzinstruments vgl. Dorothee Mußgnug, Die Reichsfluchtsteuer 1931 – 1953. (Schriften zur Rechtsgeschichte, Bd. 60.) Berlin 1993. 61 Vgl. Martin Friedenberger, Die Rolle der Finanzverwaltung bei der Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung der deutschen Juden, in: ders./Klaus-Dieter Gössel/Eberhard Schönknecht (Hrsg.), Die Reichsfinanzverwaltung im Nationalsozialismus. Darstellung und Dokumente. (Veröffentlichungen der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Bd. 1.) Bremen 2002, 10 – 94, hier: 12.

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Die beiden Mannheimer Finanzämter hatten schon Mitte der 1930er-Jahre ein dichtes Netz der Überwachung zur Beitreibung der Reichsfluchtsteuer zwecks „Erhöhung der Schlagkraft“62 aufgebaut, unter Integration von Gestapo, NSDAP-Kreisleitung, Zollverwaltung, Polizeipräsidium, Post und der Karls­ ruher Devisenstelle.63 Die schon zeitgenössisch als „Mannheimer System“ bezeichnete lückenlose Überwachung der Juden erlangte Vorbildfunktion für ganz Deutschland, andere Finanzämter wurden zur Nachahmung aufgefordert.64 Die Funktionsweise des Mannheimer Verfahrens, dem eine vollständige, listenmäßige Erfassung aller Juden durch das Finanzamt vorausging, gestaltete sich folgendermaßen: Alle Anträge auf Auswanderung gehen bei der Reichsfluchtsteuerabteilung ein und werden hier zunächst registriert und dem StFD [Steuerfahndungsdienst] zur Nachprüfung zugeteilt. […] Der StFD nimmt nun aufgrund der Aktenlage unter Zuhilfenahme von Durchsuchungen und Beschlagnahme (je nach Sachlage) eine unmittelbare Prüfung bei den Pflichtigen vor. Gleichzeitig wird dem Pflichtigen bis zur Erledigung des Falles der Pass entzogen. […] Hat jemand gegen einen Reichsfluchtsteuer- oder Sicherheitsbescheid ein Rechtsmittel eingelegt, oder ist eine Person ohne Bezahlung oder Sicherstellung seiner Reichsfluchtsteuer ausgewandert, so daß ein Steuersteckbrief erlassen bezw. die Vermögensbeschlagnahme verfügt werden muss, so werden auch diese Arbeiten von der Reichsfluchtsteuerstelle erledigt.[…] Gleichzeitig werden von der Reichsfluchtsteuerstelle auch verschiedene andere Abteilungen (Erbschaftsteuer – Finanzamt Heidelberg, – Kapitalverkehrsteuer, Grunderwerb- und Wertzuwachssteuer etc.) benachrichtigt

62 Ausarbeitung zur Reichsfluchtsteuer des Finanzamts Mannheim-Stadt vom 30. November 1935; BundesA Berlin R 2 Nr. 5973. 63 Vgl. Christoph Franke, Die Rolle der Devisenstellen bei der Enteignung der Juden, in: Katharina Stengel (Hrsg.), Vor der Vernichtung. Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalsozialismus. (Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Bd. 15.) Frankfurt am Main 2007, 80 – 93 sowie den ungezeichneten Reisebericht der zuständigen Abteilung des Reichsfinanzministeriums vom 18. März 1936, der für Mannheim die „straffe Zusammenarbeit mit allen in Betracht kommenden Stellen“ hervorhebt; BundesA Berlin R 2 Nr. 5973. 64 Vgl. den Bericht über die Besprechung bei den Finanzämtern Mannheim und Frankfurt am Main vom 19. März 1936; BundesA Berlin, ebd.

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mit der Bitte um Mitteilung, ob dort evtl. Verfahren anhängig sind, deren steuerliches Endergebnis bei der Finanzkasse noch nicht in Soll gestellt ist, und deshalb sichergestellt werden muss. […] Erst nach Erledigung dieser Arbeiten wird von der Reichsfluchtsteuerstelle die [für die Emigration unerlässliche] Unbedenklichkeitsbescheinigung erteilt.65 Die Effizienz bezog das engmaschige „Mannheimer System“66 aus der Konzentration von Ermittlung, Festsetzung und Vollstreckung der Reichsfluchtsteuer an einer einzigen Stelle.67 Dieses Sachgebiet zur fiskalischen Ausplünderung der Juden „zum Zwecke der rechtzeitigen Erfassung irregulärer Auswanderungen“68 verantwortete beim Finanzamt Mannheim-Stadt ab Dezember 1939 Regierungsrat Helmle, der dafür bekannt war, in seinen jeweiligen Aufgabenbereichen Initiative zu entwickeln.69 In der Tat hat sich – trotz einer als Resultat des Bombenkrieges überaus prekären Quellenlage – ein von ihm gezeichnetes Dokument zur „Reichsfluchtsteuer und Judenvermögensabgabe“ erhalten.70 Fast zeitgleich wurde Helmle in einer Auskunft des zuständigen Amtes für Beamte vom NSDAP-Kreisamtsleiter als „Judengegner“ bezeichnet.71

65 Ausarbeitung zur Reichsfluchtsteuer des Finanzamts Mannheim-Stadt vom 30. November 1935; ebd. 66 Vgl. ausführlich Christiane Fritsche, Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt. Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim. (Sonderveröffentlichung des Stadtarchivs Mannheim, Bd. 39.) Ubstadt-Weiher 2013, 177 – 185 sowie René Skusa, Das „Mannheimer System“ – antisemitisches Verwaltungshandeln und finanzielle Ausplünderung (Manuskript des Vortrags vom 9. November 2009 in der Mannheimer Abendakademie), online verfügbar unter http://www.akjustiz-mannheim.de/ MS-AVuFAdjB.pdf (Zugriff: 14.03.2014). 67 Vgl. Friedenberger, Rolle, 14. 68 Ausarbeitung zur Reichsfluchtsteuer des Finanzamts Mannheim-Stadt vom 30. November 1935; BundesA Berlin R 2 Nr. 5973. 69 Vgl. das Dienstzeugnis vom 17. Oktober 1952, ausgestellt vom Freiburger Oberfinanzpräsidenten Pilz; StadtA Konstanz S XIX Personalakte Bruno Helmle Heft III. 70 Darin bescheinigte Helmle am 24. Mai 1940 dem Finanzamt Hindenburg, dass ein Mannheimer Juden „hier“ noch nicht „veranlagt“ worden sei; StadtA Mannheim Judendokumentation D 01 Nr. 241. 71 Personalblatt für Beamte vom 2. September 1938, unterschrieben von NSDAP-Kreisamtsleiter Martzloff (Amt für Beamte); MAE/AdO HCFA Bade S. c. 567 dossier Helmle, Bruno.

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Polizeilich gemeldet war Bruno Helmle seit 2. Dezember 1940 im 5. Stock des Hauses Augusta-Anlage 23.72 Dort hatte er eine Altbauwohnung bezogen, was zweifellos den persönlichen Wohnkomfort steigerte: Nach der Heirat mit Magdalena Brust am 25. Oktober 1939 waren beide notgedrungen als Untermieter bei den Schwiegereltern in der Wohnung Parkring 4a einge­zogen. Angesichts eines gravierenden Wohnungsmangels in Mannheim 73 und der eigenen, beengten Verhältnisse bemühte sich der höhere Finanzbeamte wohl um eine standesgemäße Unterbringung. Im Rahmen der Deportation von insgesamt 1.993 Mannheimer Jüdinnen und Juden am 22. Oktober 1940 in das südfranzösische Lager Gurs eröffneten sich neue Möglichkeiten, da viele Häuser und Wohnungen zwangsweise frei wurden. Bei der Vormieterin 74 in der Augusta-Anlage 23 handelte es sich tatsächlich um eine Jüdin. Seit rund drei Jahrzehnten lebte dort die betagte Witwe Anna Darmstädter 75. Ihr bereits verstorbener Mann Emil (geb. 1850) stammte aus einer alteingeses­ senen Mannheimer Kaufmannsfamilie. Sie wurde – wahrscheinlich wegen Krankheit und Transportunfähigkeit – von der Deportation ausgenommen und am 26. Oktober 1940 in das Israelitische Krankenhaus in der Collini­ straße 47 verbracht. Nach Gurs deportiert wurde Alice Darmstädter, eine ihrer beiden Töchter; sie sollte im September 1942 in Auschwitz ermordet werden.76 Anna Darmstädter selbst verstarb rund sechs Monate, nachdem sie ihre vertraute Wohnung in der Augusta-Anlage 23 hatte verlassen müssen, am 72 Vgl. StadtA Mannheim Ehemeldekarte Bruno Helmle. 73 Der Mannheimer Oberbürgermeister („Abt. Ju[den]“) schrieb an das Reichsarbeits­ ministerium am 30. August 1940: „die Anzahl der fehlenden Wohnungen in Mannheim, ungerechnet die kriegsgetrauten Familien“ überschreite „die Zahl 6000 […]. Für die Unterbringung von 2100 Juden stehen nur 100 in jüdischem Eigentum befindliche Häuser zur Verfügung“; BundesA Berlin R 87 Nr. 119. 74 Das Haus Augusta-Anlage 23 als Ganzes war im Eigentum der Witwe Anna Lang, ab 1941/42 dann von Peter Groß aus Heidelberg; Auskunft des Stadtarchivs Mannheim vom 15. August 2011 (AZ 16.74.10). 75 Anna Darmstädter, geb. Lippmann (29. Dezember 1862 – 13. Dezember 1940), Witwe des Kaufmanns Emil Darmstädter; wohnhaft in der Augusta-Anlage 23 seit dem 13. März 1912; StadtA Mannheim Ehemeldekarte Emil Darmstädter. 76 Vgl. Archivdirektion Stuttgart (Hrsg.), Die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Baden-Württemberg 1933 – 1945. Ein Gedenkbuch. (Veröffentlichungen der staatlichen Archivdirektion Baden-Württemberg, Beiband zu Bd. 20.) Stuttgart 1969, 21.

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13. Dezember 1940 – wundgelegen, altersschwach und offensichtlich psychisch gebrochen.77 Ohne dass die Hintergründe im Fall Anna Darmstädter genau zu rekonstruieren sind, wurden die jungvermählten Eheleute Magdalena und Bruno Helmle im Spätherbst 1940 zu Profiteuren der Deportation der badischen Juden, indem sie eine mit Zwangsmitteln freigemachte Wohnung bezogen. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen Judenverfolgung und erstem gemeinsamem Wohnungsbezug der frisch Vermählten dürfte beiden Partnern bewusst gewesen sein, zumal sich Bruno Helmle – wie oben gezeigt – im Finanzamt täglich mit antijüdischen Maßnahmen wie Reichsfluchtsteuer, Judenvermögensabgabe 78, Steuersteckbriefe und -fahndung dienstlich zu beschäftigen hatte.

IV. Vertreter des Reichsinteresses bei Fliegerschäden und Abordnung an das Reichsfinanzministerium Gemäß Paragraf 14 der Kriegssachschädenverordnung vom 30. November 194079 waren reichsweit Vertreter des Reichsinteresses zu bestellen, die in Zusammenarbeit mit den Feststellungsbehörden der Landkreise bzw. der kreisfreien Städte die durch Luftangriffe entstandenen Schäden zu regulieren hatten. Bis zum 31. Oktober 1943 war Helmle Dienststellenleiter und Vertreter des Reichsinteresses für Kriegssachschäden mit der Zuständigkeit für den Stadtund Landkreis sowie den Wasserstraßenbezirk Mannheim 80, und nicht für alle Feststellungsbehörden in ganz Baden – wie er in seine Memoiren schrieb.81

77 Eingetragene Todesursache im Sterberegister war: „Altersschwäche, Decubitus“; StadtA Mannheim, Sterbeeintrag von Anna Darmstädter. 78 Die Judenvermögensabgabe wurde nach dem Pogrom vom 9. November 1938 als „Sühneleistung“ eingeführt und erbrachte rund 1,13 Mrd. RM. Vgl. Andrea Brucher-­ Lembach, … wie Hunde auf ein Stück Brot. Die Arisierung und der Versuch der ­Wiedergutmachung in Freiburg. (Alltag & Provinz, Bd. 12.) Bremgarten 2004, 107f. 79 Paragraf 14 lautete: „Der Reichsminister der Finanzen oder die von ihm beauftragten Stellen bestellen Vertreter des Reichsinteresses“; RGBl 1940, I, 1551. 80 Vgl. die Übersicht aller Feststellungsbehörden und zuständigen Vertreter des Reichs­ interesses des Oberfinanzpräsidenten Baden vom 19. Mai 1941; BundesA Berlin R 2 Nr. 29906. 81 Vgl. Helmle, Erinnerungen, 32.

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Auch im neuen Aufgabenbereich, der durch die frühen alliierten Luftangriffe auf Mannheim ständig wuchs, entwickelte er Eigeninitiative. Im Juni 1941 schlug er auf dem Dienstweg über den Finanzamtsvorsteher dem Oberfinanzpräsidenten in Karlsruhe neue Verfahren zur Schadensregulierung vor: „Der Erlass von Teilbescheiden oder der Abschluss einer Teilvereinbarung ist in vielen Fällen zweckmässiger als die Gewährung grosser Vorauszahlungssummen. […] Die sofortige Bewilligung von grösseren Vorauszahlungs­beträgen ohne Unterlagen kann, wie die tägliche Erfahrung zeigt, dazu führen, dass der endgültig festgestellte Schaden der Höhe nach wesentlich unter den vorausbezahlten Beträgen liegt.“82 Und direkt empfahl Helmle im September 1941 dem „Beauftragten des Reichsministers der Finanzen beim Reichstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsass“, dem seit Juli 1940 in Karlsruhe tätigen Regierungsrat Friedrich Karl Vialon 83, auf der Grundlage seiner Erfahrungen die Einführung des von ihm entwickelten „Mannheimer Verfahrens“ zur Schadensregulierung: Am Vormittag nach einem Fliegerangriff besichtigen die Innungsmeister zusammen mit den Beamten des Hochbauamtes die vom Schaden betroffenen Gebiete. Das Hochbauamt hat in allen Stadtteilen sog. Bezirks­leiter eingesetzt, die ihr Büro in der der Schadensstelle zunächst gelegenen Ortsgruppe der Partei aufschlagen. Aufgabe des Bezirksleiters ist es, die in seinem Bezirk wohnenden Handwerker zur Behebung der Schäden sofort heranzuziehen. […] Bei Totalschäden hat sich eine möglichst eingehende Vernehmung des Geschädigten über seine persönlichen Familienund Einkommensverhältnisse zu Beginn des Feststellungsverfahrens [als] praktisch erwiesen. Der Bearbeiter kann sich nach den Erfahrungen des

82 Schreiben von Carnier („Erstatter: Regierungsrat Dr. Helmle als Vertreter des Reichs­ interesses“) an den Finanzpräsidenten Baden vom 10. Juni 1941; BundesA Berlin R 2 Nr. 29908. 83 Zu dessen Tätigkeit vgl. BundesA Berlin R 2 Nr. 29915. Friedrich Karl Vialon (1905 – 1990) wurde im Mai 1942 zum Chef der Finanzabteilung („Vereinnahmung jüdischen Vermögens“) im Reichskommissariat Ostland in Riga bestellt. Ab 1950 war er im Bundesfinanzministerium, ab 1958 im Bundeskanzleramt tätig. Von 1962 bis 1966 war Vialon Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit; Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. 3. Aufl. Frankfurt am Main 2011, 640.

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Lebens und nach gesundem Volksempfinden dann in der Regel selbst ein Urteil über die Richtigkeit der Angaben bilden und die Gründe ermitteln, die in besonderen Fällen An[sprü]che über den Rahmen des Üblichen rechtfertigen können.84 Der Mannheimer Fachmann für Kriegssachschäden engagierte sich auch überregional. Auf einer Tagung von Vertretern des Reichsinteresses aus Südund Westdeutschland am 8. und 9. Juli 1943 in Frankfurt am Main brachte er fachliche Probleme zur Sprache, etwa die Abtretung von Entschädigungsansprüchen nur mit Zustimmung des Vertreters des Reichsinteresses 85 oder die Diskussion um die „aussergewöhnlich“ hohen Preise für raren Hausrat wie Teppiche. Helmle war der Meinung: „Es dürfte daher vertretbar erscheinen, den Geschädigten zuzumuten, die Wiederbeschaffung dieser Gegenstände auch schon im Hinblick auf die weiter drohende Fliegergefahr vorerst noch zurückzustellen.“86 Publizistisch trat er während des Krieges mit Artikeln in Tageszeitungen und Fachorganen hervor, etwa in der Nationalsozialistischen Gemeinde – Gauausgabe Oberrhein, wo er über Gebäudeentschuldungssteuer und den Ausgleich von Schäden infolge Luftschutzmaßnahmen schrieb.87 Zugleich veröffentlichte er in der Mannheimer Tagespresse zu Steuerfragen,88 auch was die Behandlung der Fremd- und Zwangsarbeiter betraf. Am 12. Februar 1942 schrieb Helmle im Hakenkreuzbanner: „Die bisherige Besteuerung der ausländischen Arbeitnehmer 84 Erfahrungsbericht des Vertreters des Reichsinteresses in Mannheim, Regierungsrat Helmle, an Regierungsrat Vialon vom 24. September 1941. Vialon wiederum leitete den Bericht am 7. Oktober 1941 an das Reichsfinanzministerium weiter; BundesA Berlin R 2 Nr. 29908. 85 Vgl. den Punkt 17 der Besprechungsvorschläge sowie die Antwort in der Niederschrift vom 25. August 1943: „Mitwirkung des VdR [Vertreters des Reichsinteresses] bei Abtretung tatsächlich nicht erzwingbar“; BundesA Berlin R 2 Nr. 555. 86 Punkt 52 der Besprechungsvorschläge für die Besprechung der Vertreter des Reichsinte­ resses am 8. und 9. Juli 1943 in Frankfurt am Main; ebd. 87 Vgl. Bruno Helmle, Zum Ausgleich von Schäden infolge Luftschutzmaßnahmen, in: NSGemeinde (Folge 19/20) vom Oktober 1942, 134f. bzw. ders., Zur Aufhebung der Gebäudeentschuldungssteuer, in: NS-Gemeinde (Folge 21/22) vom November 1942, 147f. 88 Vgl. Regierungsrat Helmle, Der Krieg und die Steuern, in: Neue Mannheimer Zeitung vom 5. Februar 1940; Bruno Helmle, Steuerbehandlung beim Weihnachtsgeld, in: Hakenkreuzbanner vom 13. Dezember 1940.

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hatte Mängel“, der Arbeitgeber könne fortan „jeden Ausländer, der im Inland tätig ist, lohnsteuerlich wie einen Inländer behandeln“.89 In den Jahren 1942 und 1943 wurde Helmle nach eigenen Angaben dreimal nach Berlin abgeordnet. Tatsächlich lässt sich zumindest eine Besprechung mit Ministerialdirigent Schwandt, dem Leiter der Kriegssachschädenabteilung des Reichsfinanzministeriums („Vertreter des Reichsinteresses beim Reichskriegsschädenamt“), am 6. Oktober 1943 nachweisen.90 Es handelte sich bei diesen temporären Abordnungen wohl um kurzzeitige Aufenthalte zur Abklärung von Verfahrensregeln und zur Lösung bedeutender, mit hohen Zahlungen des Reichsfiskus verbundener Einzelfälle wie etwa die Beschwerde einer Mannheimer Zigarettenfabrik wegen Bereitstellung von Mitteln für anstehende Tabak­ ankäufe im Oktober 1943. Dabei ging es um die Summe von zwei Mio. RM, deren Auszahlung von Helmle befürwortet, von Berlin jedoch unter Hinweis auf die mögliche und anzustrebende „Verpfändung des Entschädigungs­anspruchs (§ 11 KSSchVO)“ abgelehnt wurde.91

V. Betrifft: „Aktion 3“ in Mannheim: die „Verwertungsstelle für volksfeindliches Vermögen“ (VVV)92 Mit der Wende der Verfolgungspolitik des NS -Staates von der Vertreibung zur Vernichtung der Juden wurden die Finanzbehörden mit Kriegsbeginn mehr und mehr zum „verlängerten Arm von Gestapo und SS “.93 Nach der

89 Regierungsrat Helmle, Zur Steuerpflicht ausländischer Arbeitskräfte, in: Hakenkreuzbanner vom 12. Februar 1942. 90 Vgl. das Schreiben von Helmle an Schwandt vom 21. Oktober 1943 mit Bezug auf die Unterredung in Berlin; BundesA Berlin R 2 Nr. 29908. 91 Vgl. die Korrespondenz der Rechtsanwälte der Mannheimer Firma mit Regierungsrat Helmle vom 14. Oktober 1943, dessen Antwort vom 25. Oktober und den Bescheid des Berliner Vertreters des Reichsinteresses beim Reichskriegsschadenamt vom 3. November; BundesA Berlin R 2 Nr. 555. 92 Vgl. dazu Fritsche, Ausgeplündert, 529 – 548 sowie http://www.akjustiz-mannheim.de/ MA_Stand_3-01-05.pdf (Zugriff: 14.03.2014). 93 Claus Füllberg-Stolberg, Sozialer Tod – Bürgerlicher Tod – Finanztod. Finanzverwaltung und Judenverfolgung im Nationalsozialismus, in: Stengel, Vor der Vernichtung, 31 – 58, hier: 45.

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Deportation der Juden halfen sie mit, im Rahmen der „Aktion 3“94 das Restvermögen zu „verwerten“; im Fall Mannheim soll im Folgenden die Tätigkeit des Finanzamts bei diesem finalen bürokratischen Akt untersucht werden, und zwar am Fallbeispiel des in den Niederlanden beschlagnahmten Umzugsguts der emigrierten Mannheimer Juden. Auch offiziell waren mit Wirkung vom 1. Februar 1942 in Baden die Dienstgeschäfte des Generalbevollmächtigten für das jüdische Vermögen auf den Karlsruher Oberfinanzpräsidenten übergegangen.95 Die „Verwertung“ des jüdischen Vermögens oblag nun der Finanzverwaltung, somit den lokalen Finanzämtern. Nach der „Reichskristallnacht“, verstärkt in den Monaten unmittelbar vor Entfesselung des Zweiten Weltkriegs, stieg die Zahl der jüdischen Auswanderungen aus Deutschland nochmals drastisch an. In diesem Zeitraum flohen auch rund 1.000 Juden 96 aus Mannheim, oft nach Übersee. Ihr Umzugsgut ­ließen sie rheinabwärts transportieren; allerdings konnte der in sogenannte Lifts verpackte Hausrat bei Speditionen im Hafen von Rotterdam nach Kriegsbeginn nicht mehr verschifft werden.97 Seit Sommer 1940 bemühte sich das Reichssicherheitshauptamt um Sicherstellung der Umzugsgüter, was aber aufgrund fehlender rechtlicher Handhabe scheiterte. Doch mit der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz 98 verfiel Ende November 1941 das gesamte Vermögen der ihren „gewöhnlichen Aufenthalt“99 im Ausland nehmenden deutschen Juden dem Reich zur „Förderung aller mit der Lösung der Judenfrage im Zusammenhang stehenden Zwecke“100. Mit der Vermögensbeschlagnahmung ging der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit einher.

94 Vgl. Betrifft: „Aktion 3“. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung. Ausgewählt und kommentiert von Wolfgang Dreßen. Berlin 1998. 95 Vgl. dazu Brucher-Lembach, Hunde, 141 – 145. 96 Vgl. Michael Caroli, 1939 – 1945. Der Sturz in die Katastrophe, in: ders./Ulrich Nieß (Hrsg.), Geschichte der Stadt Mannheim. Bd. III 1914 – 2007. Heidelberg 2009, 352 – 420, hier: 385. 97 Vgl. dazu ausführlich Hans-Joachim Fliedner, Die Judenverfolgung in Mannheim 1933 – 1945. Darstellung. (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim, Bd. 1.) Stuttgart 1971, 187f. 98 Für den Wortlaut der Verordnung vom 25. November 1941 vgl. RGBl 1941, I, 722ff. 99 Ebd., 722. 100 Ebd., 723.

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Jetzt war der Weg frei, um das im Hafen von Rotterdam bei niederländischen Spediteuren lagernde Umzugsgut jüdischer Emigranten zur „Verwertung“ ins Deutsche Reich zu transportieren, oder – um die Formulierung von Götz Aly zu gebrauchen – das „von Staats wegen Geraubte zu reprivatisieren“101. Auf Drängen der Mannheimer NSDAP-Kreisleitung wurden von Reichskommissar Seyß-Inquart aus dem Rotterdamer Hafen vorerst insgesamt „670 Lifts, Kisten und Koffer“ über den Karlsruher Oberfinanzpräsidenten „zur Versorgung der fliegergeschädigten Mannheimer Bevölkerung verausfolgt“.102 Für die Verteilung der aus den Niederlanden „zurückgeführten jüdischen Umzugsgüter“ wurde in Mannheim eine Kommission eingesetzt, die unter Vorsitz des NSDAP-Kreiswirtschaftsberaters ab August 1942 tagte und „alle mit der Verwertung zusammenhängenden Fragen“103 bearbeitete. Unter Vorsitz des Kreiswirtschaftsberaters Goebels, seines Zeichens zugleich Präsident der Mannheimer IHK 104, nahmen an ihr neben einem Vertreter der NSDAP -Kreisleitung seitens des Finanzamts die Abteilung „Verwaltung des jüdischen und reichsfeindlichen Vermögens, vertreten durch Regierungsrat Pg. Dr. Fischbach, bezw. Regierungsrat Pg. Dr. Helmle“105 teil. Der trotz Streichung aus der Mitgliederliste weiterhin als Partei­genosse firmierende Helmle nahm zudem in Personalunion auch als „Vertreter des Reichsinteresses für Fliegerschäden (Feststellungsbehörde der Stadt Mannheim)“ an den Sitzungen teil. Man nahm eine Aufgabenverteilung für die Verwertung des ­jüdischen Eigentums vor. Der Kreiswirtschaftsberater regelte die Ausgabe der Berechtigungsscheine zum Erwerb der Ware, die Kommission bestimmte Gegenstände zum freien wie zum bezugsberechtigten Verkauf und regelte Ausnahmegenehmigungen, 101 Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Durchgesehene und erweiterte Auflage Frankfurt am Main 2006, 149. 102 Aktenvermerk von Regierungsrat Fischbach vom Finanzamt Mannheim-Stadt vom 28. September 1942; StadtA Mannheim Dep. NIOD 6/1967. Vgl. auch Aly, Hitlers Volksstaat, 140ff. 103 Bericht des Wirtschaftsprüfers Rappmann vom Dezember 1942; StadtA Mannheim Dep. NIOD 6/1967 Nr. 2. 104 Zur Rolle Heinrich Goebels (1901 – 1962) bei der Verdrängung der Juden aus der Mannheimer Wirtschaft vgl. Fritsche, Ausgeplündert, 219 – 232 sowie Friedrich Burrer, Die Arisierung von Unternehmen schreitet unerbittlich voran (Die IHK Mannheim im Dritten Reich, Teil 3), in: IHK Wirtschaftsmagazin Rhein-Neckar 1,2006, 7ff. 105 Ungezeichnetes Protokoll vom 26. August 1942; StadtA Mannheim Dep. NIOD 6/1967 Nr. 2.

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das Zoll- und Finanzamt packte aus, sortierte, erfasste und schätzte die Gegenstände, eine neugeschaffene „Verwertungstelle für volksfeindliches Vermögen“ organisierte den Verkauf an die Bevölkerung und ein Treuhänder überwachte den Geldverkehr. Nur weil die Unterlagen des Wirtschaftsprüfers Bruno ­Rappmann im Stadtarchiv Mannheim erhalten sind, kann die Funktionsweise der Mannheimer „Verwertungsstelle“ rekonstruiert werden.106 Die Aufgaben der „Verwertungsstelle für volksfeindliches Vermögen“ wurden von der Kommission unter Mitwirkung von Helmle am 16. September 1942 definiert. Nach außen hin war die Kommission die Trägerin der VVV. Sie sei eine „selbständige Vermögensmasse“107, eine Gewinnerzielung wurde abgelehnt.108 Das Umzugsgut sollte „ausnahmslos der fliegergeschädigten Bevölkerung in Mannheim zu billigen Preisen zur Verfügung gestellt“ werden.109 Die Stelle wuchs rasch und wurde mehrfach verlagert, bis sie im Frühjahr 1943 auf rund 1.000 qm im stadtbekannten Kaufhaus Vetter (N 7, 3 – 4) prominent und zentral untergebracht werden konnte.110 Auf die bewährten Strukturen der VVV griff man ab 1943 erneut zurück, als der Hausrat von deportierten Juden aus Frankreich bzw. aus dem besetzten Gebieten im Osten in Mannheim verkauft wurde.111 Das Finanzamt Mannheim-Stadt als örtlicher Vertreter des Reichsministeriums der Finanzen wachte penibel über die Wahrung der Berliner Interessen. Helmle und Fischbach kontrollierten die Abwicklung des Umzugsguts der Mannheimer Juden, sie genehmigten Schätzpreise und ließen den korrekten 106 Die Unterlagen wurden 1967 über das Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie (NIOD) an das Stadtarchiv Mannheim abgegeben; StadtA Mannheim Dep NIOD 6/1967. 107 Rappmann an das Finanzamt Mannheim-Stadt vom 20. Oktober 1944; StadtA Mannheim Dep. NIOD 6/1967 Nr. 3. 108 Der von der VVV im Folgenden tatsächlich erzielte Überschuss kam dem Winterhilfswerk und auch der NSDAP zugute, im Geschäftsjahr 1943 etwa belief sich der Rein­ gewinn auf 83.000 RM. Vgl. Fritsche, Ausgeplündert, 534f. 109 Rappmann an das Finanzamt Mannheim-Stadt vom 20. Oktober 1944; StadtA Mannheim Dep. NIOD 6/1967 Nr. 3. 110 Vgl. René Skusa, Die Verwertungsstelle für Volksfeindliches Vermögen (VVV) – Der Verkauf von Mobiliar aus jüdischem Umzugsgut, in: Betrifft: „Aktion 3“. Die Verwertung jüdischen Eigentums in Mannheim. Ergebnisse lokalhistorischer Erkundungen vorgetragen auf der Veranstaltung am 13.1.2005, online verfügbar unter http://www. akjustiz-mannheim.de/MA_Stand_3-01-05.pdf, 10 – 14, hier: 13 (Zugriff: 14.03.2014). 111 Vgl. Fritsche, Ausgeplündert, 539f.

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Zahlungseingang an die Finanzkasse überwachen. Die beiden Regierungsräte bildeten ein Scharnier zwischen Staatsverwaltung, Partei und Bevölkerung. Helmle in seiner Doppelfunktion hatte zudem die Interessen der bombengeschädigten Bevölkerung zu vertreten, zu der er bald auch selbst zählen sollte.

VI. Gestellungsbefehl, Ausbombung und Erwerb von beschlagnahmtem „Judengut“ Immer wieder hatte es der knapp 30-jährige Bruno Helmle seit September 1939 verstanden, sich in der Verwaltung unentbehrlich zu machen, um durch Unabkömmlichkeitsstellung der Einberufung zur Wehrmacht zu entgehen. Die Unterstreichung der eigenen Nützlichkeit in Kriegszeiten mittels „individueller Eigen­ initiative“ ist nicht untypisch für Angehörige der Verwaltungselite.112 Zusätzlich hatte die sinnlose paramilitärische Schikane im Referendarslager Jüterbog 113 Helmle geprägt, das Juristen vor der zweiten Staatsprüfung den „letzten Schliff “ geben sollte. Auch Kurt Georg Kiesinger hatte diese schmerzliche Erfahrung gemacht, die ihn motivierte, „den Wehrdienst möglich zu umgehen“114 und buchstäblich in letzter Minute noch im Auswärtigen Amt unterzukommen. Faktisch setzte auch Bruno Helmle nach 1939 alles daran, nicht zur Wehrmacht eingezogen zu werden. Nach Erhalt eines (erneuten?) Gestellungsbefehls, der in Zusammenhang mit der verstärkten, durch hohe Verluste an der Ostfront bedingten Ersatzgestellung von Uk-Gestellten und Wehrfähigen der älteren Jahrgänge zu sehen ist 115, ließ sich Helmle im Sommer 1943 wegen Herz- und Magenleiden 112 Alfons Kenkmann, „Verwaltungsnomaden“, Verweigerer und Vollstrecker. Handlungsoptionen in der Finanzverwaltung, in: Stengel, Vor der Vernichtung, 127 – 139, hier: 133. 113 Im „Gemeinschaftslager Hans Kerrl“ wurden die Referendare durch den Erwerb des SA-Sportabzeichens auch im Kleinkaliberschießen ausgebildet. In den erhaltenen Akten des Lagers im Bestand des Reichsjustizprüfungsamts sind allerdings nur die Unterlagen der in Preußen eingesetzten Referendare erhalten; vgl. die Akte Buchstabe „H“ im BundesA Berlin R 3012 Nr. 52 Band 8. 114 Gassert, Kiesinger, 93. 115 Vgl. Bernhard R. Kroener, Die personellen Ressourcen des Dritten Reiches im Spannungsfeld zwischen Wehrmacht, Bürokratie und Kriegswirtschaft 1939 – 1942, in: ders./ Rolf-Dieter Müller/Hans Umbreit, Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 5/1: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1939 – 1941. Stuttgart 1988, 693 – 1001, hier besonders 981.

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für mehrere Monate dienstunfähig schreiben. Der behandelnde Arzt erinnerte sich: „Durch seine Erkrankung nahm die Wehrmacht von seiner Einberufung Abstand.“116 Nachweislich hat Helmle bis Kriegsende nicht gedient 117, wenngleich er nach 1945 verschiedentlich einen anderen Eindruck zu erwecken suchte.118 Doch der Krieg holte Helmle an der „Heimatfront“ ein. Die Wohnung in der Augusta-Anlage 23 wurde – genauso wie im Übrigen auch die Gebäude der Finanzämter Mannheim-Stadt und Mannheim-Neckarstadt 119 – bei einem schweren Luftangriff in der Nacht vom 5./6. September 1943120 „total flieger­ geschädigt“ – auch „unsere Wohnung hatte es erwischt“, wie Helmle in seinen Erinnerungen lakonisch schrieb.121 Jetzt erhielt der Finanzbeamte einen von der NSDAP-Kreisleitung Mannheim ausgestellten „Ausweis für Fliegergeschädigte

116 Erklärung des Chefarztes Baumann vom 7. August 1947; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 117 In den Unterlagen der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt) ist Bruno Helmle nicht verzeichnet; schriftliche Auskunft vom 4. März 2011 an der Verfasser. 118 In einer selbstverfassten Vorstellung anlässlich der Wahlen zum Konstanzer Oberbürger­ meister schrieb Helmle im Südkurier: „Im Jahre 1941 wurde ich als Beauftragter des Staates bei den Kriegsschädenämtern [!] in Baden eingesetzt und in dieser Eigenschaft an das Reichsfinanzministerium abgeordnet. Danach erfolgte die Einberufung zur Wehrmacht. Bei einem Luftangriff wurde ich verletzt und habe in Mannheim Wohnung und Hausrat verloren.“ Seine Tätigkeit im Konstanzer Finanzamt vor dem 1. Mai 1945 erwähnte er in dem Artikel nicht; vgl. „Der Südkurier stellt vor: Dr. Bruno Wolfgang Helmle“, in: Südkurier vom 10. Oktober 1957. Die zitierte Passage ist Teil eines auf den 19. August 1957 datierten Lebenslaufs für die Bewerbung um den Konstanzer Oberbürger­ meisterposten; StadtA Konstanz S XIX Personalakte Helmle Heft III. 119 Der Oberfinanzpräsident Baden berichtete dem Reichsfinanzministerium am 17. September 1943 über die Schäden des Luftangriffs vom 5./6. September: „1. Das Gebäude des FA [Finanzamts] Mannheim-Stadt ist völlig ausgebrannt. Dagegen sind die Keller­räume und die darin aufbewahrten Akten und Gegenstände erhalten geblieben. 2. Das Gebäude des FA Mannheim-Neckarstadt ist bis auf den Kassenraum und einige im Rückteil gelegene Zimmer des Erdgeschosses ebenfalls ausgebrannt, ebenso auch ein Teil des Kellers und die darin verwahrten Gegenstände“; BundesA Berlin R 2 Nr. 25845. 120 Zu den Zerstörungen dieses Angriffs vgl. die Luftaufnahme des Luftgaukommandos XII, als Vorsatz abgebildet in: Jörg Schadt/Michael Caroli (Hrsg.), Mannheim im Zweiten Weltkrieg. Mannheim 1993. 121 Helmle, Erinnerungen, 46.

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A“122, der auch ihm „bevorzugte Einkaufsmöglichkeiten“ sicherte.123 Als Mitglied der Kommission für die Abwicklung des jüdischen Umzugsguts und Hausrats war er bis dato von jeglichem Erwerb der im freien Verkauf kaum erhältlichen Waren kategorisch ausgeschlossen gewesen, aus Angst vor Korruption und Selbstbedienung behielt sich Kreisleiter Schneider lediglich Ausnahmen wie etwa „Kinderreiche, Neuvermählte, Flüchtlinge und sonstige Fälle“124 vor.125 Doch diese Regelung bestand nur auf dem Papier. Auf Grundlage handschriftlicher Listen des Wirtschaftsprüfers Rappmann kann der nachfolgende Zugriff Helmles (und weiterer Akteure) auf beschlagnahmtes jüdisches Eigentum genau quantifiziert werden. Zum 30. November 1944 erwarb Bruno Helmle Umzugsgut und Hausrat im (niedrig) geschätzten Wert von 4.694,80  RM, das er bis auf den letzten Pfennig bei der VVV auch beglich.126 Auf diversen handschriftlichen Debitorenlisten des Wirtschafts­prüfers fällt Helmle zwischen 1943 und 1945 als diejenige Privatperson auf, die am intensivsten auf jüdischen Besitz zurückgegriffen hat 127, ohne dass sich heute die Höhe des tatsächlich dokumentierten Bombenschadens wegen Verlusts seiner Kriegssachschädenakte in den frühen 1960er-Jahren rekonstruieren ließe.128 Zum Vergleich: Als Beamter im höheren Dienst bezog er 1944 Bruttoeinnahmen in

122 Der Ausweis wurde auf den 11. September 1943 datiert; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 123 Aly, Hitlers Volksstaat, 149. 124 Ungezeichnetes Protokoll vom 26. August 1942; StadtA Mannheim Dep. NIOD 6/1967 Nr. 2. 125 Kreisleiter Schneider schrieb an einen Parteigenossen am 1. Oktober 1942: „Nach der von mir getroffenen Anordnung bedürfen Parteigenossen, vom Ortsgruppenleiter aufwärts, sowie diejenigen, die mit der Verwertung der Judenlifts betraut sind, meiner besonderen Genehmigung beim Erwerb von Gegenständen aus dem Judenvermögen“; ebd. 126 Vgl. ebd. Nr. 3. 127 Insgesamt belief sich das Soll aller Debitoren (Firmen, Parteieinrichtungen, Privatpersonen) am 30. Juni 1945 [sic!] auf 67.993,53 RM; ebd. Nr. 5. 128 Die Kriegssachschädenakte von Bruno Helmle, aus der sein persönlicher Schaden und die geltend gemachten Entschädigungsansprüche hätten rekonstruiert werden können, ist seit Oktober 1960 nicht mehr nachweisbar. Laut Auskunft des Stadtarchivs Mannheim vom 5. Dezember 2011 wurde die Kriegssachschädenakte von Bruno Helmle „am 10.10.1960 von der Staatsanwaltschaft Offenburg bei der Stadt Mannheim angefordert, am 17.10.1960 dorthin verschickt und kam nie wieder zurück, obwohl um Rückgabe gebeten wurde“. In den Beständen der Staatsanwaltschaft Offenburg, die heute im StaatsA Freiburg verwahrt werden, konnte die Akte nicht nachgewiesen werden. Vgl. das Schreiben des StaatsA Freiburg vom 5. Dezember 2011.

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Höhe von rund 4.300 RM.129 Helmle investierte somit mehr als eine Jahresbrutto­ besoldung in den Erwerb von jüdischem Umzugsgut und Hausrat „zu billigen Preisen“. Wahrscheinlich bekam er nach der eigenen Ausbombung (Voraus-) oder Teil-Zahlungen über die Feststellungsbehörde der Stadt Mannheim bewilligt.130 Fliegergeschädigte erhielten im Rahmen der Kriegssachschädenverordnung vom 30. November 1940 in der Regel Vorschüsse in Form von Schecks oder aber als Geldanweisungen,131 wobei die Feststellungsbehörde nach Paragraf 26 nur bis 1.000 RM und mit Zustimmung des Vertreters des Reichsinteresses (also Helmle selbst oder dessen Vertreter im Amt) bis zu 10.000 RM gewähren konnte.132 Doch mitten im Krieg war Geld allein nicht alles. Neu produzierter Hausrat in jeglicher Form war 1943 selbst mit Bezugsscheinen kaum mehr erhältlich, da die deutsche Industrie – wenngleich sehr spät – auf Kriegswirtschaft und Rüstungsproduktion umgestellt hatte. Die von Helmle erworbenen, aufgrund der Quellenlage aber nicht näher zu bezeichnenden Gegenstände hatten in etwa den Wert mindestens einer kompletten neuen Wohnungseinrichtung inklusive Wäsche, Kleidung und Geschirr 133 oder aber mehrerer durchschnittlich ausgestatteter, gebrauchter „Judenwohnungen“. Das lässt sich aus Berechnungen der Berliner Gestapo vom Februar 1942 schlussfolgern. Aus einer detaillierten Inventaraufstellung einer aus zweieinhalb Zimmern bestehenden „Judenwohnung“ in der Olympischen Straße, die am 9. Februar 1942 von der Gestapo an die Dienststelle für die Einziehung verfallener Vermögenswerte beim Oberfinanzpräsidenten Berlin geleitet wurde, geht der niedrig geschätzte Wert von rund 1.500 RM hervor.134 129 Vgl. die Angaben zum Einkommen in Helmles Fragebogen vom 11. Juni 1947; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 130 Der Karlsruher Landesbezirksdirektor der Finanzen, Amend, hielt in einer Bescheinigung vom 6. August 1947 fest: „Dr. Helmles Tätigkeit bestand darin, die staatlichen Geldmittel bei Fliegerschäden zu bewilligen“; ebd. Mit zwei Auslassungen („Finanzamt“) ist das Dokument abgedruckt in: Helmle, Erinnerungen, 41f. 131 Vgl. die Notiz „Schecks von Fliegergeschädigten“, in: Nachrichtendienst des Deutschen Gemeindetags vom 5. Januar 1944. 132 Vgl. RGBl 1940, I, 1553. 133 Der Durchschnittswert eines Dreipersonenhaushalts im Deutschen Reich lag nach Schätzung des Reichsverwaltungsgerichts bei 7.000 RM. Für einen Zweipersonenhaushalt dürften daher 4.000 bis 5.000  RM zu veranschlagen sein. Vgl. den Artikel „Wie groß ist mein Bombenschaden“, in: Bodensee-Rundschau vom 17. September 1943. 134 Ein Faksimile dieser Inventarliste findet sich in: Friedenberger, Rolle, 77 – 80. Die Summe der Schätzwerte des Inventars belief sich auf 1.484 RM.

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Unzweifelhaft ist, dass Bruno Helmle beschlagnahmten jüdischen Besitz erwarb, wie sich im Übrigen in ganz Deutschland Finanzbeamte mit ähnlichen Aufgaben „an der Plünderung der Beute“ beteiligten und sich in Zeiten des Mangels an „jüdischem Hausrat“ bedienten.135 Der promovierte Jurist handelte in vollem Wissen um die Herkunft und die rechtlich problematischen Eigentumsverhältnisse der Gegenstände, die pseudolegal die Besitzer wechselten. Mit zukünftigen Forderungen der emigrierten bzw. deportierten Juden rechnete offensichtlich kaum ein Finanzbeamter.

VII. Konflikt mit der Partei Bei einem Luftangriff auf Mannheim vom 9. Mai 1941 wurde u. a. die katholische Pfarrkirche St. Josef im Stadtteil Lindenhof durch einen Volltreffer beschädigt. Der für Kriegssachschäden zuständige Beamte Helmle stellte Mittel für den Wiederaufbau des Gotteshauses bereit, das bis November 1942 wieder nutzbar gemacht wurde.136 Nur zu gut kannte er die in der Bellenstraße gelegene ­Kirche: Dort hatte er viele Jahre als Ministrant regelmäßig die heilige Messe mitgefeiert, seine Eltern wohnten noch immer in der kaum 200 Meter entfernten Waldparkstraße 6. Es handelte sich um das Gotteshaus seiner katholischen Heimatgemeinde, zu der er zweifellos eine tiefe emotionale Bindung besaß. Helmle sah sich jedenfalls in der Pflicht, den Schaden zu regulieren, und stieß damit auf den „schärfsten Widerstand der Partei“137. Vor allem mit dem zuständigen Ortsgruppenleiter habe er sich eine Auseinandersetzung geliefert, die zu seiner Abberufung und Entlassung aus der Partei – datiert auf das Jahr 1943! – geführt habe.138 In der Nachkriegszeit nannte er sein Handeln Widerstand,

135 Susanne Meinl, Ganz normale Finanzbeamte? Die Verwalter und Verwerter „jüdischen Besitzes“, in: Stengel, Vor der Vernichtung, 140 – 157, hier: 150. 136 Die Kirche selbst wurde wie auch Helmles Wohnung in der Nacht vom 5. auf den 6. September 1943 erneut schwer beschädigt und erst 1950 wieder aufgebaut. Vgl. das Blatt Nr. 30 St. Josefkirche in der Akte StadtA Mannheim Hochbauamt 1/1967 Nr. 2236. 137 Bescheinigung des Pfarrers Johmann vom 24. Juli 1947; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 138 Ortsgruppenleiter Heinz (Mannheim-Lindenhof) soll sich gegenüber Helmle folgender­ maßen geäußert haben: „Ein Beamter, der für eine katholische Kirche Geld ausgäbe, beweise damit seine antinationalsozialistische Gesinnung. Es zeige, daß Dr. Helmle nicht gewillt sei, seine Haltung als früheres Mitglied der Zentrumspartei aufzugeben.

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bei genauerer Betrachtung wird man ihm zumindest moralische Verpflichtung und Anhänglichkeit gegenüber seiner kirchlichen Heimatgemeinde attestieren können. Denn in Mannheim versank noch manche Kirche in Trümmern, ohne dass während des Krieges Mittel zum Wiederaufbau bereitgestellt wurden. Die zeitlichen Zusammenhänge in den nach 1945 gemachten Angaben des Beamten können jedoch offensichtlich nicht stimmen. Wohl wurde Helmle „im Dezember 1943 von seinem Posten als Kriegsschädenfachmann […] plötzlich abberufen“139 und sollte – wie oben beschrieben – zur Wehrmacht eingezogen werden. Mit Attest für Monate krankheitsbedingt zurückgestellt, tat Helmle erst ab Winter 1943/44 wieder im Finanzamt Mannheim Dienst, wo er sich angesichts einer unter dem Bombenkrieg leidenden Stadt um eine Versetzung bemühte. Durch den längeren Ausfall des Kriegssachschädenfachmanns hatte zwischenzeitlich Oberregierungsrat Dr. Georg Astel 140 als Vertreter des Reichs­ interesses den Posten beim Finanzamt Mannheim-Stadt übernommen oder besser: infolge des Luftkrieges und der Masse der zu regulierenden Schäden schnellstmöglich übernehmen müssen. Nach seiner Gesundmeldung wurde Helmle am dortigen Finanzamt mit nicht mehr zu klärender Zuständigkeit wieder verwendet. Spätestens seit Frühjahr 1944 strebte er weg von Mannheim.

VIII. Wechsel an das Finanzamt Konstanz Der Wechsel gelang. Am 1. Dezember 1944 nahm Bruno Helmle den Dienst als stellvertretender Vorsteher des Finanzamts Konstanz auf, seinen Wohnsitz hatte er zusammen mit seiner Frau zu Verwandten nach Meersburg verlegt. Die Stadt am Nordufer des Bodensees zählte kaum 2.000 Einwohner und war mit Konstanz

Er werde den Ausschluß aus der Partei sofort veranlassen und diesen Ausschluß der vorgesetzten Dienststelle des Dr. Helmle mitteilen“; nicht beglaubigte Abschrift der Bestätigung des Dr. Endisch vom 21. Juli 1945; ebd. 139 Schriftliche Erklärung eines ehemaligen Mitarbeiters der Personalstelle des Oberfinanzpräsidiums Baden vom 10. Juni 1947; ebd. 140 Der Beauftragte des Reichsministers in Karlsruhe berichtete am 9. Mai 1944 nach Berlin, dass Oberregierungsrat Astel als Vertreter des Reichsinteresses bei den Finanzämtern Mannheim-Stadt und Mannheim-Neckarstadt tätig sei; BundesA Berlin R 2 Nr. 29906. Georg Astel wurde am 29. Juni 1955 zum Vorsteher des Finanzamts Mannheim-Neckar­ stadt ernannt. Vgl. http://chronikstar.mannheim.de/index.php. (Zugriff: 14.03.2014).

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verkehrstechnisch durch eine im September 1928 eingerichtete Fähre 141 verbunden. Von der Reformation bis zur Säkularisation residierten die Konstanzer Bischöfe in Meersburg. Im dortigen ehemals fürstbischöflichen Schloss war seit 1. ­Oktober 1937 eine Reichsfinanzschule untergebracht 142, die sich – ganz im Zeichen der Zeit – im September 1942 um „Wäsche aus Judenvermögen“ bemühte.143 Schon seit längerer Zeit hatte sich Helmle auf die seit Stalingrad absehbare militärische Niederlage vorbereitet, immer deutlicher rückte er vom NS-Regime und dessen Durchhalteparolen ab, mied den Hitlergruß und suchte eine möglichst günstige Positionierung für die Nachkriegszeit einzunehmen. Zwischen ihm und seinem neuen Vorgesetzten in Konstanz, Oberregierungsrat Sebastian Probst 144, einem „von der Idee der Bewegung“145 durchdrungenen „alten K ­ ämpfer“

141 Vgl. Waltraud Gut, Unterwegs zur Fähre. 75 Jahre Fähre Konstanz-Meersburg. (Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz, Bd. 2.) Konstanz 2003 sowie Jürgen Klöckler, Die Fähre Konstanz-Meersburg. Geschichte und Geschichten von der „schwimmenden Brücke“, in: ders./Krister Hennige/Franz Leinweber, Schwimmende Brücke. Die Fähre auf dem Bodensee. Konstanz 2003, 8 – 43. 142 Vgl. Karl Groth, Die Reichsfinanzverwaltung (Bücherei des Steuerrechts. Hrsg. von Fritz Reinhardt, Bd. 1.) 7. Aufl. Berlin 1942, 20. 143 Mit Schreiben vom 11. September 1942 teilte der Leiter der Reichsfinanzschule Meersburg unter dem Betreff „Wäsche aus Judenvermögen, das dem Reich verfallen ist“ dem Reichsfinanzministerium mit: „Ich bitte, meiner Schule aus den verfügbaren Wäschebeständen weitere Stücke an Küchenwäsche (Geschirrtücher, Gläsertücher, Handtücher usw.) zuzuweisen. Die Küchenwäsche unterliegt einem besonders raschen Verschleiß“; BundesA Berlin R 2 Nr. 56119. 144 Der am 9. März 1892 in Augsburg geborene Sebastian Probst war im Ersten Weltkrieg Unteroffizier. Er trat am 1. Dezember 1931 der NSDAP bei (Nr. 729.020), war seit 1932 Truppführer und schließlich Oberscharführer bei der SA. 1934 wurde Probst Kreisfachschaftsleiter des Amtes für Beamte bei der NSDAP-Kreisleitung. Als Finanzbeamter war er bis 1934 in Augsburg tätig sowie anschließend als Regierungsrat am Finanzamt Mannheim-Neckarstadt und seit Oktober 1935 beim Landesfinanzamt München; 1938 wurde er schließlich Vorsteher des Finanzamts Konstanz. Seit 1937 war Probst Mitarbeiter des SD. Im Mai 1945 wurde er verhaftet und durch die französische Besatzungs­ macht inhaftiert. Vgl. die Personalangaben über Beamte des höheren Dienstes vom 17. November 1945, von Helmle unterschrieben und vom Oberfinanzpräsidium Baden in Freiburg angefordert; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551 sowie BundesA Berlin Pk J 0203 und SA (ehem. BDC) 115-B. 145 Schreiben des Führers der SA -Gruppe Kurpfalz an das Personalamt der Obersten SA-Führung in München vom 24. April 1936; BundesA Berlin SA (ehem. BDC) 115-B.

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der NSDAP, traten umgehend „atmosphärische“ Spannungen auf. In Vertretung von Probst übernahm Helmle auch die „Verwaltung des jüdischen und reichsfeindlichen Vermögens“ und unterbreitete Ende Februar 1945 der Stadtverwaltung das eingangs erwähnte Angebot zum Erwerb des „Judenfriedhofs“, das sich nur in den städtischen Akten erhalten hat.146 Zudem wurde er – wie schon in Mannheim – am 15. Januar 1945 zum „Vertreter des Reichsinteresses für die Feststellungsbehörde des Stadtkreises Konstanz“ bestellt.147 Weitere Spuren der Tätigkeit des Konstanzer Finanzamts vor dem 26. April 1945 finden sich keine mehr, da der als „einsatzbereiter, unerschrockener Nationalsozialist“148 bekannte Probst aufgrund eines „Geheimerlasses“ des Reichsministeriums der Finanzen unmittelbar vor dem Einmarsch franzö­ sischer Kampftruppen eine umfassende Aktenvernichtung anordnete. Dieser „Geheimerlass“ fand sich allerdings bereits im September 1945 schon nicht mehr bei den Akten 149, sodass auch eigenmächtiges Beseitigen von Akten aus der Registratur des Konstanzer Finanzamts durch Dritte nicht ausgeschlossen werden kann. Zum 1. Mai 1945 wurde Bruno Helmle von Capitaine ­Bourgogne von der französischen Bezirksmilitärregierung (Abteilung Finanzen) zum Finanzamtsvorsteher eingesetzt, ohne dass zum damaligen Zeitpunkt eine obligatorische Überprüfung mittels Fragebogen stattgefunden hätte.150 Als neuer Vorsteher des Finanzamts Konstanz verantwortete Helmle in Personalunion als Sachgebietsleiter I auch das Sachgebiet „Verwaltung des jüdischen Vermögens“.151 Dorthin wandte sich im Herbst 1945 ein 74-jähriger, jüdischer Zahnarzt, der mit seiner Frau im Oktober 1940 von Konstanz in das 146 Vgl. StadtA Konstanz S II 16364. 147 Vgl. das Schreiben von Finanzamtsvorsteher Probst an den Oberbürgermeister von Konstanz vom 16. Januar 1945; StadtA Konstanz S II 10055. 148 Schreiben des Gauamtsleiters des Gaus München-Oberbayern an das Gaupersonalamt vom 28. April 1936; BundesA Berlin Pk Parteikorrespondenz J 0203. 149 Vgl. das Schreiben des Finanzamtsvorstands Helmle an Landeskommissär Nordmann vom 5. September 1945; StaatsA Freiburg A 96/1 Nr. 4861. 150 Helmle vermerkte am 17. November 1945: „Die Überprüfung des Fragebogens, der wegen Erkrankung erst Mitte Juni 1945 der Militärregierung vorgelegt werden konnte, änderte nichts an der erfolgten Einsetzung als Vorsteher“; Personalangaben über Beamte des höheren Dienstes, von Helmle unterschrieben und vom Oberfinanzpräsidium Baden in Freiburg angefordert; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 151 Vgl. den Geschäftsverteilungsplan des Finanzamts Konstanz vom 15. März 1946; MAE/ AdO HCFA Bade C 36 dossier 5212/88.

194 Jürgen Klöckler

südfranzösische Internierungslager Gurs deportiert worden war. Er bat um Rückübertragung seines „durch den Staat restlos konfisziert[en]“ Vermögens sowie um Erstattung des Betrags, den sein Schwiegersohn als Kredit zum teilweisen Aufkauf seiner Anfang Januar 1941152 öffentlich versteigerten Möbel aufgenommen hatte.153 Helmle befürwortete gegenüber der Militärregierung „wärmstens die Bitte um Auszahlung der beantragten Beträge“.154

IX. Bürgermeister von Meersburg In seinen Lebenserinnerungen berichtete Helmle, wie er als Meersburger Verhandlungsführer den einrückenden französischen Kampftruppen entgegengegangen sei und sich wegen seiner Sprachkenntnisse im Rathaus eingefunden habe: „Am nächsten Tag setzten mich die Franzosen auf Vorschlag der in der Stadt bekannten ‚Antifaschisten’ als Bürgermeister ein.“155 Tatsächlich stellte sich Helmle aber erst Ende Mai 1945 in einer Bürgerversammlung vor, unter der „feierlich abgegebenen Erklärung“, niemals Mitglied der NSDAP gewesen zu sein.156 Er empfahl sich selbst Es war nicht außergewöhnlich, dass dieselben Finanzbeamten, die vor 1945 an der finanziellen Ausplünderung der Juden mitwirkten, nach 1945 für die Wiedergutmachung zuständig waren, wie etwa auch das Beispiel von Oberregierungsrat Heinrich Heising beim Oberfinanzpräsidenten Westfalen belegt. Vgl. dazu Alfons Kenkmann, „Pater Devisius“ – ein Finanzbeamter zwischen Weltwirtschaftskrise, Weltanschauung und Wiedergut­ machung, in: Gerhard Hirschfeld/Tobias Jersak (Hrsg.), Karrieren im Nationalsozialismus. Funktions­eliten zwischen Mitwirkung und Distanz. Frankfurt am Main 2004, 57 – 71. 152 Am 7. und 8. Januar 1941, kaum zehn Wochen nach der Deportation der Konstanzer Juden, wurde durch den vom Landratsamt beauftragten Auktionator Leander Hauser Mobiliar, Teppiche, Gemälde, Nähmaschinen und vieles mehr im unteren Konzilsaal aufgerufen, ohne allerdings die Öffentlichkeit – wie bei früheren Auktionen – über die Herkunft des Versteigerungsgutes aufzuklären. Vgl. die Anzeige „Große Versteigerung“, in: Bodensee-Rundschau vom 4. Januar 1941. Weiterführend: StaatsA Freiburg A 96/1 Nr. 4739. 153 Schreiben des Zahnarztes an das Finanzamt Konstanz vom 13. Oktober 1945; MAE/AdO HCFA Bade C 36 dossier 5212/88. 154 Schreiben von Helmle an die Finanzabteilung der Konstanzer Militärregierung vom 16. Oktober 1945; ebd. 155 Helmle, Erinnerungen, 50. 156 Schreiben des Meersburger Gemeinderats Karl Raichle (KP) an Landrat Illner vom 6. Februar 1946; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. Helmle habe im Gasthaus „Letzter

Von Mannheim nach Konstanz 195

als bestens geeigneter Kandidat, weil der bisherige Amtsinhaber wegen Zugehörigkeit zur NSDAP nicht Bürgermeister bleiben könne. Helmle selbst drängte den noch amtierenden Bürgermeister zum raschen Rücktritt unter dem deutlichen Hinweis, „ihn selbst dem Stadtkommandanten als Nachfolger vorzuschlagen“.157 Am 14. Juni 1945 verkündete er in einem vervielfältigten offenen Brief den „lieben Mitbürgern“ seine Einsetzung als Bürgermeister von Meersburg.158 Seine Amtszeit sollte jedoch nur von kurzer Dauer sein. Hauptamtlich leitete er das Konstanzer Finanzamt, nebenamtlich fungierte er als Bürgermeister in Meersburg. Schon im Frühsommer 1945 kamen Gerüchte über Helmles NSDAP -Mitgliedschaft auf. Der Druck auf ihn stieg von Tag zu Tag. Durch freiwilligen Verzicht auf die Aufwandsentschädigung behauptete er sich „unter grossem Applaus“ des Gemeinderats im Herbst 1945 vorerst noch als Bürgermeister.159 Zur Jahreswende 1945/46 war Helmle jedoch nicht mehr zu halten. „Unterschlagung amtlicher Urkunden“ durch Zurückhaltung einer Weisung des Landrats bezüglich der Zusammensetzung des Gemeinderats lautete einer der erhobenen Vorwürfe.160 Der Überlinger Landrat Illner verfügte am 1. Februar 1946 schließlich die Amtsenthebung von Helmle „mit sofortiger Wirkung“ wegen dessen Mitgliedschaft in der NSDAP.161 Zwei Stunden vor Eintreffen der

Heller“ erklärt, „dass er, Gott sei Dank, nicht Parteimitglied, sondern nur für kurze Zeit Parteianwärter gewesen und infolge seiner Weigerung, aus der Kirche auszutreten, nicht in die Partei aufgenommen worden sei. In dieser Versammlung wurde Dr. Helmle als Kandidat für den Bürgermeisterposten aufgestellt. Mit dieser feierlich abgegebenen Erklärung begann die Verstrickung Dr. Helmles in immer weitere Verfehlungen.“ 157 Schreiben des vormaligen Gemeinderats Raichle (KPD) an den Untersuchungsausschuß für politische Säuberung des Stadtkreises Konstanz vom 18. Oktober 1947; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 158 „Liebe Mitbürger! Auf Vorschlag von Bürgern und dem Herrn Landrat hat mich die Militärregierung zum Bürgermeister der Stadtgemeinde Meersburg bestimmt. Ich übernehme dieses Amt in schwerster Zeit. Nur die Liebe zu Meersburg und die Hoffnung helfen zu können, liessen meine Bedenken gegen die Übernahme schwinden“; StadtA Meersburg Akten A 2617. 159 Schreiben des Meersburger Gemeinderats Karl Raichle (KP) an den Überlinger Landrat Illner vom 6. Februar 1946; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 160 Ebd. 161 Beglaubigte Abschrift des Beschlusses, der Helmle persönlich zugestellt wurde: „Nach einer bereits vor einiger Zeit ergangenen Weisung der franz. Militärregierung müssen sämtliche Bürgermeister, die zu irgendeinem Zeitpunkt Mitglied der NSDAP waren,

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Verfügung kam Helmle dem bürokratischen Akt durch kurzfristige Einberufung einer außerordentlichen Gemeinderatssitzung zuvor, in deren Verlauf er aus gesundheitlichen Gründen und wegen Arbeitsüberlastung 162 zurücktrat.163 Feierlich wurde der auf Repräsentation bedachte Helmle Tage später in einer für die damaligen Verhältnisse opulenten „Abschiedsfestlichkeit“164 offiziell verabschiedet, die vor dem Hintergrund der desolaten Ernährungssituation in der Stadt von der Bevölkerung kaum goutiert wurde. Folglich glätten sich die Wogen in der Kleinstadt nicht schnell. Am 25. August 1946 sprach der Zinnschmied und Gemeinderat Karl Raichle (KPD) in einer Versammlung der Badisch Christlich-Sozialen Volkspartei (BCSV/CDU) am 25. August 1946 im Vorfeld der ersten Kommunalwahlen nach Kriegsende „auf­ sehenerregende Worte zur Meersburger Gemeindepolitik. Er erwähnte, dass der Bürgermeister Dr. Helmle durch einen Betrug Bürgermeister geworden sei. Er habe den vorherigen Bürgermeister Obser von der Stelle gedrückt, weil Obser Pg. gewesen sei. Es habe sich nun herausgestellt, dass Helmle selbst Pg. gewesen sei und jetzt noch als Leiter eines Finanzamtes tätig sei.“165

X. Fragebogenfälschung und Prozess vor dem Militärgericht Angaben zur Mitgliedschaft und Funktion in der NSDAP sowie der Motor-SA/ NSKK waren im Frühsommer 1945 auf Helmles Fragebogen nicht korrekt vermerkt worden, wohl um seine Stellung als Meersburger Bürgermeister nicht zu gefährden. Doch die französische Militärregierung wies Unstimmigkeiten nach und verfügte am 12. November 1946 seine Entlassung als Vorsteher des

entlassen werden. Da diese Voraussetzung bei Ihnen gegeben ist, enthebe ich Sie mit sofortiger Wirkung Ihres Amts als Bürgermeister“, ebd. 162 „Ich erkläre hiermit im Hinblick auf meine angegriffene Gesundheit und auf meine berufliche Tätigkeit in Konstanz meinen Rücktritt als Bürgermeister von Meersburg.“ Erklärung von Helmle vom 2. Februar 1946; ebd. 163 In den Memoiren betonte er die Freiwilligkeit des Schritts: „Im Frühjahr [!] des Jahres 1946 gab ich mein Amt auf.“ Helmle, Erinnerungen, 52. 164 Schreiben des Meersburger Gemeinderats Karl Raichle (KP) an den Überlinger Landrat Illner vom 6. Februar 1946; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 165 Bericht des Gendarmerie-Postens Meersburg vom 26. August 1946; StadtA Meersburg Akten A 3069/1.

Von Mannheim nach Konstanz 197

Finanzamts. Mit der Erklärung, er habe den Fragebogen blanko im Krankenbett unterschrieben und seiner Sekretärin sei anschließend bei der Übertragung der Daten ein Unterlassungsfehler unterlaufen, begab er sich argumentativ auf sehr dünnes Eis. In einem Prozess vor dem in Konstanz tagenden Tribunal Intermédiare de Bade wurde er am 5. März 1947 der Fragebogenfälschung (fausse déclaration)166 angeklagt. Die Verhandlung selbst 167 erwähnt er zwar in seinen Lebenserinnerungen, doch konstruierte er rückblickend in Form einer groben Tatsachenverdrehung ein wenig plausibles Verfahren, um die Falschangabe bei der NSDAP-Parteimitgliedschaft als eigentlichen Anklagepunkt nicht nennen zu müssen.168

166 Vgl. die Abschrift der Anklage in: StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 167 Zum Verlauf der Verhandlung vgl. die Prozessakten: MAE/AdO HCFA AJ caisse 336 carton 678 dossier Helmle, Bruno. 168 Helmle schrieb in seinen Lebenserinnerungen: „Meine vorgesetzte Dienststelle war das ‚Gouvernement militaire‘ im Seehotel. Beim täglichen Rapport lautete die erste Frage des Finanzoffiziers nach Vorlage der Liste von Beamten, die sich zurückgemeldet hatten: ‚Pas de Nazis?‘ Im Interesse des Aufbaus einer geordneten Verwaltung und um den täglichen Druck nach diesen Fragen loszuwerden, habe ich diese Frage meistens positiv beantwortet. Aber Denunzianten gibt es überall. Vermutlich aus den eigenen Reihen wurde ich angezeigt, einen SS-Mann übernommen zu haben. Er wurde mir als fachlich qualifiziert geschildert. Nähere Einzelheiten über ihn kannte ich nicht. Ich wurde fristlos entlassen und vor dem Mittleren Militärgericht [gemeint: Tribunal Intermédiaire] unter Anklage gestellt. […] Der Anklagevertreter versuchte, mich als verkappten Nazi hinzustellen. Meine französischen Sprachkenntnisse erlaubten mir, seinen Ausführungen zu folgen. Als das Wort ‚Nazi‘ fiel, unterbrach ich ihn und verwahrte mich heftig dagegen. Nach diesem Vorfall schien meine Verurteilung unabwendbar. Mein Verteidiger versuchte, mich zu beruhigen mit dem Hinweis, aufgrund seiner guten Beziehungen würde er mich bald wieder auf freien Fuß bekommen. Mir fiel auf, daß der Vorsitzende, ein älterer, hoher Offizier, mich nicht gerügt oder gar in eine Ordnungsstrafe genommen hatte. Da ich aber grob fahrlässig oder gar vorsätzlich die Unwahrheit gesagt hatte, war der Tatbestand der ‚fausse déclaration‘ erfüllt. Umso größer war meine Überraschung, als Freispruch verkündet wurde. Die Begründung lautete: Die Militärverwaltung habe mich durch ihr ständiges Drängen in eine Zwangslage versetzt, aus der ich mich durch eine Notlüge zu befreien suchte. In unserem deutschen Strafrecht spricht man in solchen Fällen von übergesetzlichem Notstand. Tags darauf wurde ich in meine Funktionen wieder eingesetzt.“ Helmle, Erinnerungen, 52f.

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Mit der Anklage konfrontiert, hatte Helmle im Vorfeld der Verhandlung durch Antichambrieren und eloquentes Zureden weitere Entlastungszeugnisse beigebracht.169 Vor den französischen Richtern gab seine ihm loyal ergebene Sekretärin zu Protokoll, „daß das Versehen nur ihr unterlaufen sein kann“170. Die 45-jährige Therese S.171 hatte ihm zur Entlastung bereits im Frühjahr 1945 zwei wichtige „Persilscheine“172 ausgestellt. Es gelang Bruno Helmle, durch geschickte Manipulation seiner (weiblichen) Umwelt in schwieriger persönlicher Lage, nicht zuletzt dank seiner „unbestrittenen Überredungskunst“173, verbal wie schriftlich in Schutz genommen zu werden – bis hin zur Bezeugung unter Eid. Sein Auftreten war gemeinhin wortreich, einnehmend und überaus verbindlich. Das Tribunal Intermédiaire sprach Helmle noch am selben Tag mit der Begründung frei, es habe nicht hinreichend bewiesen werden können, dass Helmle wissentlich eine falsche Angabe gemacht habe, als er den Hinweis auf seine Funktion als Politischer Leiter der NSDAP unterlassen hatte.174 Doch 169 Auch sein Meersburger Nachbar der unmittelbaren Nachkriegsjahre, der Dramaturg und jüdische Publizist Moritz Lederer, bemerkte Helmles Jagd nach Entlastungsdokumenten. An Bundesanwalt Güde schrieb er am 2. Dezember 1950 nach Karlsruhe: „Mit solchen ‚Persilbriefen‘ manipulierte H. bereits in der Affäre der Fragebogenfälschung, dann vor der Spruchkammer, und auch jetzt wieder zeigt er solche Texte herum, die immer wieder seine ‚weisse Weste‘ dokumentieren sollen.“ StadtA Mannheim NL Lederer Nr. 10. 170 Undatiertes Schreiben von Helmle mit neuen Argumenten im Rahmen des Verfahrens vor dem Militärgericht vom März 1947; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 171 Therese S. war laut Geschäftsverteilungsplan des Finanzamts Konstanz vom 15. März 1946 in der Abteilung Steuerfahndungsdienst eingesetzt; MAE/AdO HCFA Bade C 36 dossier 5212/88. 172 Handschriftlich (und nicht wie angesichts der unzähligen Standgerichte zu vermuten wäre, nur mündlich) ließ die Sekretärin Helmle per Boten eine auf den 11. März 1945 datierte Warnung zukommen, Oberfinanzpräsident Müller habe ihr einen Bericht für Berlin diktiert, in dem Helmle als „politisch unzuverlässig und Defaitist erster Ordnung“ bezeichnet werde. In einer weiteren Erklärung vom 15. Mai 1945 wiederholte die Sekretärin diese Angaben, die insgesamt wenig glaubwürdig erscheinen; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 173 Schreiben des Meersburger Gemeinderats Karl Raichle (KP) an Landrat Illner vom 6. Februar 1946; ebd. 174 In der Urteilsbegründung vom 5. März 1947 wird ausgeführt: „Qu’il y a lieu, en conséquence, de dire qu’il n’est pas suffisamment établi que HELMLE ait sciemment fait une fausse déclaration, en omettant de se déclarer Politischer Leiter“; MAE/AdO HCFA AJ caisse 336 carton 678 dossier Helmle, Bruno. Die Funktion eines Politischen Leiters,

Von Mannheim nach Konstanz 199

der in Freiburg für die Entnazifizierung zuständige Offizier lehnte die Rückgängigmachung von Helmles Entlassung als Finanzamtsvorsteher ab. Hauptmann Ney war der Ansicht, „die Aufhebung der Entlassung in einem späteren Spruchkammerverfahren zu erwirken“.175

XI. „Entlastet“: ein ungewöhnliches Entnazifizierungsverfahren Helmles berufliche Zukunft hing somit vom Ausgang des Entnazifizierungs­ verfahrens ab, aus dem er trotz NSDAP-Mitgliedschaft schlussendlich als „entlastet“ hervorgehen sollte. Das war „nach der Praxis der Säuberungsverfahren ein ganz aussergewöhnlicher seltener Fall“176 im südbadischen Raum 177, denn das formale Kriterium der Parteimitgliedschaft verbot eigentlich aus prinzipiellen Erwägungen heraus diese Eingruppierung. Wiederum hatte Helmle Dutzende Entlastungszeugnisse beigebracht, die seine Vergangenheit in günstigem Licht erscheinen ließen, inklusive der Bestätigung einer führenden Mitwirkung an einer (in der regionalgeschichtlichen Forschung bislang nicht nachgewiesenen) Widerstandsgruppe im westlichen Bodenseeraum.178 Der maßgebliche

in diesem Fall „Blockwalter“ bei der NSDAP-Ortsgruppe Freiburg-Mittelwiehre, war in den Angaben im „Personalblatt für Beamte“ enthalten, das der Freiburger NSDAPKreisamtsleiter Martzloff auf die Anfrage der Präsidialabteilung des Oberlandesgerichts­ präsidenten Karlsruhe am 2. September 1938 erstellt hatte. Dort war auch von Helmle als „PL“ (Politischer Leiter) die Rede. 175 Schreiben des Leiters der Abteilung für Steuern und Zölle, Pilz, an das Finanzministerium vom 8. September 1949; StaatsA Freiburg C 30/1 Nr. 1559. 176 Dienstzeugnis vom 17. Oktober 1952, ausgestellt vom Freiburger Oberfinanzpräsidenten Pilz; StadtA Konstanz S XIX Personalakte Bruno Helmle Heft III. 177 Nur rund 270 Personen bei rund 250.000 überprüften Fällen in (Süd-)Baden wurden als „entlastet“ eingruppiert, was einem Prozentsatz von 0,11 entsprach; Clemens ­Vollnhals, Entnazifizierung. Politische Säuberung in den vier Besatzungszonen 1945 – 1949. München 1991, 333. 178 Pfarrerverweser Joseph Baur bestätigte am 15. Mai 1945, „dass Herr Dr. Bruno Helmle unserer Widerstandsbewegung im Bodenseegebiet und in den Allgäuer Alpen vor dem Einmarsch der Alliierten Truppen angehört hat. Herr Dr. Helmle war an der Leitung dieser Resistance mit mir und anderen Herren maßgeblich beteiligt.“ StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. Bei dem Dokument handelt es sich um eine nicht beglaubigte und auch nicht unterschriebene Abschrift. Die zeitgeschichtlich ausgerichtete

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Unterzeichner dieses „Persilscheins“, seit Juni 1942 Pfarrverweser in Güttingen bei Radolfzell am Bodensee, war vielfach mit der NSDAP aneinandergeraten und in den 1930er-Jahren vom Sondergericht Mannheim zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt worden.179 Der Untersuchungsausschuss des Stadtkreises Konstanz unterbreitete am 16. Oktober 1947 den Vorschlag, Helmle als „entlastet“ einzustufen, obwohl er anhand der formalen Kriterien als „Mitläufer“ hätte eingruppiert werden müssen. Die Kammer stellte in seinem Fall eine Entlastung fest, „wobei sie von dem Grundsatze ausgeht, dass bei einer formell, nur sehr geringfügigen Belastung an den aktiven Widerstand, sowie die durch diesen erlittenen Nachteile keine zu hohen Anforderungen zu stellen sind“.180 Die vorgebrachten Widerstandshandlungen des Regierungsrats bestanden aus der tageweisen Beherbergung zweier später in Konzentrationslager eingelieferter Männer in seiner Mannheimer Wohnung 181 und der von der Regionalgeschichtsforschung des Bodenseeraums hat bisher keinerlei Hinweise auf die Existenz dieser Widerstandsbewegung gefunden. 179 Zur Biografie von Joseph Baur (1908 – 1993) vgl. das Necrologium Friburgense, in: Freiburger Diözesanarchiv 116, 1996, 199. 180 Begründung des Vorschlags vom 16. Oktober 1947; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 181 Einer der beiden Entlastungszeugen betrieb in der Nachkriegszeit in Konstanz die Firma Intercompex Kurt Bleckwedel & Co (Firmensitz Hamburg, Zweigbüro Konstanz), die sich auf internationale Importe und Exporte über die Schweiz spezialisiert hatte. Im selben Gebäude in der Bahnhofstraße war auch die Allgemeine Transportgesellschaft vorm. Gondrand & Mangili (Berlin NW 21 Guitzovstraße 11/17, Zweigstelle Konstanz) untergebracht, bei der – wie oben ausgeführt – Helmles Bruder angestellt war. Vgl. das Einwohnerbuch des Stadtkreises Konstanz 1949, 146 sowie die Gewerbesteuerkartei StadtA Konstanz. Der zweite ehemalige KZ-Häftling, Jürgen von Gundlach, bescheinigte Helmle von Davos aus am 23. Dezember 1946 ebenfalls nicht näher ausgeführte Widerstandshandlungen: „Seinen Einsatz in der Widerstandsbewegung kann ich bezeugen.“ Auch d ­ ieser „Persilschein“ klingt inhaltlich wenig glaubwürdig, zumal die mit Schreibmaschine geschriebene und von Gundlach nachfolgend unterschriebene Erklärung bezüglich der Inhaftierung folgende Passage enthält: „Ich selbst wurde im Jahre 1944 in Hamburg von der Gestapo verhaftet und nach dem Konzentrationslager Buchenwald verbracht.“ Mit demselben Tintenfüller, den er für die Unterschrift benutzte, ergänzte von Gundlach die Zeitangabe über der Zeile zu „1944 (März)“. Das lässt den Rückschluss zu, dass die Erklärung von dritter Seite vorgefertigt und von Gundlach zur Unterschrift vorgelegt worden ist; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551.

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NSDAP abgelehnten Gewährung von Geldmitteln zum Wiederaufbau der im Bombenkrieg (wie bereits 1941) im Mai 1943 in Mannheim erneut stark beschädigten Kirche St. Josef. Der Wiederaufbau dieser Kirche betraf freilich die Jahre 1941/42. Helmle argumentierte, ihm sei deswegen umgehend von einem Ortsgruppenleiter der Ausschluss aus der Partei eröffnet worden. Als Zeugin fungierte eine ehemalige Sekretärin der Mannheimer NSDAP-Kreisleitung.182 Wie jedoch aus der NSDAP-Mitgliederkartei im Bundesarchiv zweifelsfrei hervorgeht, war er bereits 1940 als NSDAP-Mitglied gestrichen worden. Hätte die Kreisleitung Mannheim Mitte 1943 schriftlich Helmles Ausschluss betrieben, wäre trotz des Bombenkriegs mit ziemlicher Sicherheit ein Vermerk in der Mitgliederkartei erfolgt. Dieser ist freilich nicht vorhanden. Bei der Verteidigungsstrategie Helmles dürfte es sich letztlich um ein kaum den Tatsachen entsprechendes Entlastungskonstrukt handeln, das auf seine Weiterverwendung als Berufsbeamter zielte. Die Spruchkammer Freiburg übernahm, nicht zuletzt dank der Intervention des Konstanzer Oberbürgermeisters Franz Knapp 183 (BCSV/CDU) – in Personalunion zugleich „Vorsitzender des örtlichen Säuberungsausschusses“184 –, den Vorschlag vom Bodensee und reihte Helmle am 28. Februar 1948 in die Gruppe der „Entlasteten“ ein.185 Sühnemaßnahmen wurden nicht verhängt. Nun konnte Bruno Helmle seine Laufbahn in der Finanzverwaltung als Beamter im höheren Dienst fortsetzen und sich politisch in der CDU engagieren. Am 20. Oktober 1957 bzw. – nach Wahlanfechtungen – erneut am 21. Juni 1959 wurde Bruno Helmle zum Oberbürgermeister von Konstanz gewählt.186 Sein Wirken als Oberbürgermeister bis 1980, das ihm im selben Jahr die Ehrenbürgerwürde der Stadt einbrachte, sowie sein Engagement als

182 Vgl. die „Bescheinigung“ von Linda Z. vom 15. August 1945; StaatsA Freiburg, ebd. 183 Zu Knapp vgl. Jürgen Klöckler, Selbstbehauptung durch Selbstgleichschaltung. Die Konstanzer Stadtverwaltung im Nationalsozialismus. (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, Bd. 43.) Ostfildern 2012, 166 – 171 sowie 377ff. 184 Knapp schrieb am 24. März 1947 an Staatskommissar Streng bezüglich Helmle: „Er wurde von politischer Gegenseite verdächtigt, aber die Verdächtigungen erwiesen sich als den Tatsachen nicht entsprechend.“; StaatsA Freiburg D 180/2 Nr. 43551. 185 Vgl. die Abschrift der Entscheidung; StadtA Konstanz S XIX Personalakte Bruno Helmle Heft III. 186 Zu diesem außergewöhnlich heftig verlaufenden Wahlkampf vgl. Manuel Weih, Die Konstanzer OB-Wahl 1957 – 59. Masterarbeit Universität Konstanz 2012.

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Mitbegründer und Ehrensenator der Universität sollen hier nicht erörtert werden. Beides kann im sechsten Band der Konstanzer Stadtgeschichte im Detail nachgelesen werden.187

XII. Nachwirkungen Der Zufallsfund eines Schreibens des Finanzamts Konstanz vom 22. Februar 1945 zum Verkauf des „Judenfriedhofs“ in den Beständen des Konstanzer Stadtarchivs wurde Anfang Dezember 2010 bekannt. Dass der spätere Oberbürgermeister Bruno Helmle an der sogenannten „Abwicklung der Judenfrage“ im Nationalsozialismus beteiligt gewesen war, hinterließ eine irritierte städtische Öffentlichkeit. Im Januar 2011 beauftragte Oberbürgermeister Horst Frank eine mit Wissenschaftlern der Universität und der Stadt zusammengesetzte Historikerkommission mit der Rekonstruktion des beruflichen Werdegangs seines Amtsvorvorgängers. Im „Gutachten zur Tätigkeit von Dr. Bruno Helmle (1911 – 1996) während der Zeit des Nationalsozialismus und in den ersten Nachkriegsjahren“ legten die Universitätsprofessoren Lothar Burchardt und Wolfgang Seibel sowie der Privatdozent und Stadtarchivar ­Jürgen Klöckler am 22. Februar 2012 ihre nach Auswertung aller einschlägigen in- wie ausländischen Archive gewonnenen Erkenntnisse vor.188 Auf Grundlage dieses Gutachtens 189, das vollständig auf der Homepage der Stadt (http://www.konstanz.de) abrufbar und mitsamt einschlägigem, kopiertem Quellenmaterial im Stadtarchiv Konstanz einsehbar ist, beriet der Gemeinderat erstmalig am 1. März 2012 in einer insgesamt „nachdenklichen Debatte“190 das weitere Vorgehen. Am 20. März fand im unteren Konzilsaal

187 Ausführlich: Lothar Burchardt, Konstanz zwischen Kriegsende und Universitätsgründung. (Geschichte der Stadt Konstanz, Bd. 6.) Konstanz 1996, 266 – 280, 467 – 473 und 559 – 568. 188 Vgl. Wolfgang Messner, Der braune Schatten des früheren Konstanzer OBs, in: Stuttgarter Zeitung vom 1. März 2012 sowie Michael Lünstroth, Bruno Helmle im braunen Zwielicht, in: Südkurier – Ausgabe K – vom 25. Februar 2012. 189 Der zusammenfassende Teil des Gutachtens (S. 28 – 31) ist veröffentlicht in: Jürgen Klöckler, Verdrängte Vergangenheit. Zur Verwaltungstätigkeit des Finanzbeamten Bruno Helmle bis 1945/46, in: Konstanzer Almanach 59, 2013, 69ff. 190 Michael Lünstroth, Nachdenkliche Debatte über Helmle, in: Südkurier – Ausgabe K – vom 2. März 2012.

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eine öffentliche Podiumsdiskussion unter Vorsitz des Universitätsprofessors Rainer Wirtz statt, der zusammen mit den drei Gutachtern auf dem Podium saß. Rund 250 Zuhörer verfolgten eine „sehr ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem nicht ganz leichten Thema, die fern von moralischen Abrechnungen war“.191 Der Gemeinderat beriet abschließend am 3. Mai. Er distanzierte sich nach lebhafter Debatte mit 20 zu zwölf Stimmen bei fünf Enthaltungen von dem im Jahr 1980 gefassten Beschluss der Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Bruno Helmle.192 Am 23. Mai 2012 entzog ihm der Senat der Universität einstimmig die Ehrensenatorenwürde,193 eine Entscheidung, die der Rektor laut Pressemitteilung Nr. 78 vom selben Tag folgendermaßen erläuterte: „Die Verleihung der Ehrensenatorenwürde der Universität Konstanz ist eine hohe Auszeichnung, der Bruno Helmle aufgrund der heute bekannten und durch unsere Wissenschaftler bewiesenen Erkenntnisse über seine Vergangenheit sowie der damit verbundenen fehlenden Glaubwürdigkeit und des Vertrauens­ bruchs nicht gerecht wird.“

191 Michael Lünstroth, Eine Frage der Ehre, in: Südkurier – Ausgabe K – vom 22. März 2012. 192 Vgl. Michael Lünstroth, Bruno Helmle verliert Ehrentitel, in: Südkurier – Ausgabe K – vom 4. Mai 2012. 193 Jörg-Peter Rau, Uni entzieht Helmle höchste Ehrung, in: Südkurier – Ausgabe K – vom 24. Mai 2012.

Kurt Schilde

Bürokratie des Todes. Die Deportation der jüdischen Familie Fenichel aus Berlin im Spiegel von Finanzamtsakten Für die Beamten und Angestellten im Reichsfinanzministerium und insbesondere in der Berliner Vermögensverwertungsstelle trifft für die Zeit des ­Dritten Reichs das Postulat von Finanzstaatssekretär Fritz Reinhardt zu: „Er [der Beamte] ist Vollstrecker des Willens des von der NSDAP getragenen Staates.“1 Es fällt heute schwer nachzuvollziehen, in welcher Weise dieser folgenschwere aus dem Deutschen Beamtengesetz vom 26. Januar 1937 stammende Satz auf die Beamten, an die er gerichtet war, gewirkt hat. Ganz offensichtlich aber ist er nicht folgenlos geblieben, wie in diesem Beitrag anhand der dienstwilligen Mitwirkung von Beamten und Angestellten der Reichsfinanzverwaltung im Allgemeinen und der Berliner Vermögensverwertungsstelle im Besonderen zu zeigen sein wird. Finanzbeamte wurden damit zu „Vollstreckern des Willens des von der NSDAP getragenen Staates“. Der hier in einem kleinen Ausschnitt vorgestellte Umgang mit den Hinterlassenschaften der deportierten Familie Fenichel ist daher als die Arbeit einer „Bürokratie des Todes“ zu kennzeichnen. Konkret möchte ich im Folgenden aufzeigen, wie Beamte und Angestellte der Berliner Vermögensverwertungsstelle und zahlreiche andere Akteure, amtliche und nichtamtliche Institutionen ebenso wie Privatpersonen, in den Ablauf der Deportationen eingebunden waren. Damit soll nicht nur die Opferperspektive berücksichtigt werden, sondern auch die Täterseite.

1 Fritz Reinhardt, Innere Maßnahmen der Reichsfinanzverwaltung – § 1 des Steuer­ anpassungsgesetzes – Der Beamte im nationalsozialistischen Staat, in: Deutsche Steuer-­ Zeitung und Wirtschaftlicher Beobachter, Jg. II (XXV), Nr. 41 vom 10. Oktober 1936, 1177. Hervorhebungen im Original. Vgl. Willi Thiele, Die Entwicklung des deutschen Beamtentums. Herford 1981, 63. Die Diskussion des Terminus „Vollstrecker“ würde in diesem Zusammenhang zu weit führen. Vgl. Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin 1996, bzw. zur Debatte über die nicht unumstrittenen Goldhagen-Thesen Johannes Heil/Rainer Erb (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Frankfurt am Main 1998.

206 Kurt Schilde

I. Die Familie Fenichel und ihre Deportation 1942 Bis zum 11. Dezember 1942 lebte in dem Berliner Stadtteil Neu-Tempelhof in der Boelckestraße 107 die Familie Fenichel.2 Sie bewohnte ein noch heute bestehendes Einfamilienhaus, das früher den Eltern von Horst Fenichel gehört hatte und in dem diese seit 1927 ansässig gewesen waren. Der 1918 in Berlin geborene Horst Fenichel wuchs in einer zunächst vermögenden Familie auf. Sein Vater Leon Fenichel (1885 – 1941) war mit Else Fenichel (1891 – 1938) verheiratet und Eigentümer der Leon Fenichel GmbH gewesen. Der Betrieb, der Uhren, Uhrmacher- und Goldschmiedebedarfsartikel, Werkzeuge, Gold­ waren aller Art und ähnliche Artikel verkaufte, wurde 1939 „arisiert“. In dem Geschäft waren zeitweise zwei Uhrmacher, mehrere Büroangestellte und Vertreter beschäftigt, auch wurden Lehrlinge ausgebildet. Eine der Angestellten war Ilse Herschkowitz, in die sich Horst Fenichel verliebte und die er heiratete. 1940 kam Sohn Joel zur Welt und im Jahr darauf Tochter Judis. Der Familienvater musste als Zwangsarbeiter bei der Deutschen Reichsbahn arbeiten. Zum Oberbaustofflager in Köpenick hatte er einen überaus weiten Hin- und Rückweg. Als Ernährer der Familie bekam er einen Stundenlohn von 58 Pfennig. Dieser Betrag entsprach in etwa dem damaligen „Juden-Regel­ lohn“ für Hilfs- und Transportarbeiten.3 Unter diesen Bedingungen war er gezwungen, bis zur Deportation den Lebensunterhalt für seine Angehörigen allein aufzubringen. Im Dezember 1942 lebten im gleichen Haushalt die 1889 geborene Mutter von Ilse Fenichel, Ernestine Herschkowitz, sowie die 1917 geborene Schwester seiner Frau, Herta, und deren 1940 geborener Sohn Gideon Herschkowitz. Es gibt keine Hinweise, wovon Horst Fenichels Schwiegermutter, seine Schwägerin und sein Neffe gelebt haben.

2 Vgl. auch im Folgenden grundsätzlich Kurt Schilde, Bürokratie des Todes. Lebensgeschich­ ten jüdischer Opfer des NS-Regimes im Spiegel von Finanzamtsakten. Mit einem Geleitwort von Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen. (Reihe Dokumente – Texte – Materialien. Veröffentlicht vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Bd. 45.) Berlin 2002, 77 – 187. 3 Vgl. Wolf Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938 – 1943. Berlin 1997, 286ff.

Bürokratie des Todes 207

Abb 1  Horst Fenichel

Abb 2  Ilse Fenichel

208 Kurt Schilde

Abb 3  Judis Fenichel

Abb 4  Ernestine Herschkowitz

und ihr Enkel Joel Fenichel

Bürokratie des Todes 209

Abb 5  Hertha Herschkowitz

und ihr Sohn Gideon

Abbildungen 1 bis 5: Privatbesitz Eva Teppich

Am 11. Dezember 1942 verließen die Fenichels das Haus und mussten sich in das Sammellager in die Große Hamburger Straße 26 begeben. Es ist möglich, dass sie gemeinsam mit ihren bis dahin im gleichen Haus lebenden Verwandten Herschkowitz dorthin kamen. Es kann aber auch sein, dass sie diese erst dort ­wieder trafen. Drei Tage später ging der 25. Osttransport nach Auschwitz ab. Seine Geschichte ist noch unerforscht. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Deportierten ein paar Tage später in Auschwitz ankamen. Die Frauen und die Kinder wurden sicherlich gleich für die Gaskammer selektiert, während Horst Fenichel möglicherweise für den Arbeitseinsatz bestimmt wurde. Sein Tod ist für den 28. Januar 1943 festgestellt. Seine Familie wurde vermutlich sofort nach dem Eintreffen in Auschwitz ermordet. Dass die Fenichels den Tod zu erwarten hatten, ging aus einem Schreiben der Geheimen Staatspolizei hervor: Am 21. Dezember 1942 teilte die Staatspoli­ zeileitstelle Berlin dem „Herrn Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg, Vermögensverwertungsstelle“ unter dem Betreff „Evakuierte Juden“ mit: „In der Anlage übersende ich eine Transportliste über diejenigen Juden, deren Vermögen im Rahmen der Abschiebung durch Einziehung dem Reiche verfallen ist. Das Vermögen ist nicht verfallen, sondern durch Einziehung auf das Reich

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übergegangen. Es handelt sich um den 25. Osttransport. Gleichzeitig füge ich die entsprechenden Vermögenserklärungen bei.“4 Unter den am 14. Dezember 1942 deportierten 8135 Personen befanden sich mehrere, die vorher in dem Haus in der Boelckestraße 107 gelebt ­hatten. Auf Blatt 32 der Transportliste wird unter der laufenden Nummer 292 zunächst genannt: „Herschkowitz, Ernestine Sara, geboren am 13.12.1889, Ort: Prerau, Beruf: ohne, verheiratet: ja, Alter: 53, arbeitsfähig: ja, Wohnung: Tempelhof, Boelckestraße 107, Kennzeichen-Nr. 26113“. Diesen Angaben folgen mit der Nummer 293 „Herschkowitz, Martha [richtig: Herta] Sara“ und mit der Nummer 294 Herschkowitz, Gideon. Mit der direkt anschließenden Nummer 295 taucht eine wahrscheinlich nicht zur Familie gehörige Frau auf, die aber ebenfalls in dem Haus der Fenichels gewohnt hatte: Emma Kosterlitz, geboren am 30. Januar 1886. Vermutlich hatte sie im Zuge der von der Generalbauinspektion durchgeführten Wohnungsräumungen ihre ursprüngliche Wohnung verlassen müssen und war bei den Fenichels eingewiesen worden.6 Auf Blatt 37 der Transportliste werden die Mitglieder der Familie Fenichel genannt, mit der laufenden Nummer 387 „Fenichel, Horst Israel“ und mit Nummer 388 „Fenichel, Ilse Sara“. Es folgen die beiden Kinder, mit Nummer 389 „Fenichel, Joel“ und mit Nummer 390 „Fenichel, Judis“. Bei ihr heißt es weiter: „Beruf: ohne [sic!], ledig: ja [sic!], Alter: 1, arbeitsfähig: –.“ Joel und Judis Fenichel sowie ihr Cousin Gideon Herschkowitz waren nicht die einzi­gen Kleinkinder in diesem Transport, sie waren auch nicht die jüngsten Deportationsopfer. Am 14. Dezember 1942 wurden zwei weitere einjährige Jungen und je zwei zweijährige Jungen und Mädchen in den Tod geschickt.

4 Landesarchiv Berlin, A Rep. 092, Nr. 55136 (25. Osttransport vom 14.12.1942). Die zum Zeitpunkt der Recherche im Landesarchiv Berlin herangezogenen Archivalien befinden sich heute im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam. 5 In einer neueren Chronologie der Deportationstransporte wird die Zahl von 815 Personen genannt. Vgl. Alfred Gottwald/Diana Schulle, Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945. Eine kommentierte Chronologie. Wiesbaden 2005, 399. 6 Vgl. allgemein zu den Wohnungsräumungen Susanne Willems, Der entsiedelte Jude. Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau. (Publikationen der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Bd. 10.) Berlin 2000.

Bürokratie des Todes 211

Die Jüngsten waren zwei anderthalb Monate alte männliche Säuglinge und ein zwei Monate altes weibliches Baby.7

II. Ein seltsamer Friedhof und die Akte von Horst Fenichel Fast genau vier Jahre nach der Deportation erschien am 6. Dezember 1946 in der jüdischen Zeitung Der Weg ein Artikel über den „Besuch eines seltsamen Friedhofes“. Damit war die Überlieferung der Vermögensverwertungsstelle des Ober­ finanzpräsidenten Berlin-Brandenburg gemeint. Diese Behörde hatte den Raub der in der Wohnung der Deportierten zurückgelassenen Habseligkeiten organisiert.

Abb 6  Ansicht der Provinzial-Steuerdirektion (um 1896), seit 1942 Sitz der Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg (Bildnachweis: Architekten-­ Verein zu Berlin und Vereinigung Berliner Architekten (Hrsg.), Berlin und seine Bauten. Bd. II und III. Berlin 1896)

7 Vgl. die Transportliste, Landesarchiv Berlin, A Rep. 092, Nr. 55136 (25. Osttransport vom 14.12.1942). Jetzt befindet sich das Dokument im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam.

212 Kurt Schilde

Am Kurfürstendamm befindet sich ein großes Verwaltungsgebäude, welches 1946 die Generalsteuer-Direktion des Finanzamtes Berlin beherbergte. Im ­ersten Stock gab es ein Zimmer mit der Nummer 104, an dessen Tür ein kleines Schild mit der Aufschrift „Kartei“ hängt. […] In ­diesem Raum befindet sich der papierene Friedhof der mehr als fünfzig­ tausend Berliner Juden, die mit den berüchtigten Judentransporten in der Nazizeit nach dem Osten verschleppt worden sind. […] Mit deutscher Gründlichkeit und Beamten-Akkuratesse ist diese Kartei, die heute einen unschätzbaren Wert besitzt, zusammengestellt worden. […] Was an Hab und Gut nur von den Todgeweihten zu rauben war, das ließ man hier, mit Hoheitsstempel des Dritten Reiches beglaubigt, gewissenhaft registrieren. Tritt man durch die Doppeltür in das Zimmer Nr. 104, so prallt man vor dem mächtigen Umfang dieser Kartei erschrocken zurück. Hochgetürmt, Karteikasten auf Karteikasten, fast bis zur Decke reichend, steht da dieser gewaltige, papierene Friedhof. Schmach und Schande für die deutsche Vergangenheit und ein warnendes Memento für die deutsche Zukunft.8 Eine dieser rund 45.000 Einzelfallakten, zu denen 150.000 Karteikarten gehören, bezieht sich auf Horst Fenichel und indirekt auch auf seine Familie. Die Akte „Fenichel, Horst Israel“ besteht aus über 120 abgelegten Aktenblättern, anhand derer im Folgenden exemplarisch die von mir als „Bürokratie des Todes“ bezeichneten Vorgänge und die Arbeitsweise der Vermögensverwertungsstelle beschrieben werden sollen.9 Die Entstehung dieser Karteikarten und der dazu gehörigen Akten beruhte auf Dienstanweisungen des Reichsfinanzministeriums. Deren Verwaltung ­handelte entsprechend dem „Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Verwertung des eingezogenen Vermögens von Reichsfeinden“ vom 29. Mai 1941, mit dem die formal korrekte Aneignung der letzten Habseligkeiten der Deportierten geregelt wurde. Das Reichsfinanzministerium informierte am 4. November 1941 in einem Erlass die Finanzbeamten und -angestellten über die seit Oktober

8 Werner Maas, Besuch eines seltsamen Friedhofs, in: Der Weg, 1. Jg., Nr. 41 vom 6.12.1946, o. P. 9 Von den in der Akte dokumentierten 18 Vorgängen werden hier nur einige vorgestellt, vgl. die ausführliche Darstellung in: Schilde, Bürokratie.

Bürokratie des Todes 213

1941 durchgeführten Deportationen: „Juden, die nicht in volkswirtschaftlich wichtigen Betrieben beschäftigt sind, werden in den ­nächsten Monaten in eine Stadt in den Ostgebieten abgeschoben. Das Vermögen der abzuschiebenden Juden wird zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen.“10 Außerdem legte der Erlass die verwaltungsmäßige Durchführung der Vermögens­verwertung fest: „Es ist für jeden Einziehungsfall ein besonderes Aktenstück anzulegen, das zunächst das Vermögensverzeichnis und die Einziehungsverfügung aufnimmt. Ein Karteiblatt für jeden abgeschobenen Juden erleichtert die Übersicht. Erlöse und Ausgaben sind auf einer Kontokarte (für jeden Juden besonders) festzuhalten, damit jederzeit eine Übersicht über den Stand des eingezogenen Vermögens vorhanden ist.“11

III. Die „Bürokratie des Todes“: die Vorgänge in der Akte Fenichel III.1 „Zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen“: die Vermögenserklärungen und die Erklärung über den Vermögensentzug

Die Akte von Horst Fenichel beginnt mit einem Deckblatt, auf dem die sieben Familienangehörigen aufgelistet wurden. Es folgt ein Kontoblatt als Überblick. Den größten Teil der Akte nehmen die Vermögenserklärungen ein, für jeden der Familienangehörigen eine. Das Formular bestand jedes Mal aus 16 Seiten, meist waren die Blätter aber – abgesehen von rudimentären Informationen aus der Aufstellung von Horst Fenichel – leer geblieben. Es ist absurd: Sogar für die Kleinkinder Joel und Judis bzw. Gideon mussten die Aufstellungen ausgefüllt und von Horst Fenichel als Vater bzw. Herta Herschkowitz als Mutter unterschrieben werden.

10 Der Erlass des Reichsfinanzministeriums ist vollständig abgedruckt bei George Weiss (Hrsg.), Einige Dokumente zur Rechtsstellung der Juden und zur Einziehung ihres Vermögens 1933 – 1945. (Schriftenreihe zum Berliner Rückerstattungsrecht, Bd. VII.) [Berlin] 1954, 47 – 52. Hervorhebungen im Original. 11 Zit. nach H. G. Adler, Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland. Tübingen 1974, 508. Hervorhebungen im Original.

214 Kurt Schilde

Abb 7+8  Erste und letzte Seite der Vermögenserklärung von Horst Fenichel

Normalerweise hatte der Haushaltungsvorstand die Erklärungen für sich und die übrigen Mitglieder der Familie auszufüllen. Aber die allesamt mit Kopierstift vorgenommenen Eintragungen stammen offensichtlich nicht von Horst F ­ enichel selbst bzw. wurden nicht alle von ihm persönlich vorgenommen. Diese Vermutung legen die unterschiedlichen handschriftlichen Eintragungen und die deutlich von der Unterschrift abweichenden Schriftzüge nahe. Für die Eintragungen von fremder Hand spricht auch die häufige Verwendung von Abkürzungen, wie das eine das Ausfüllen von Vordrucken geübte Person tut. Es ist daher anzunehmen, dass eine Hilfskraft der Jüdischen Gemeinde im Sammellager Große Hamburger Straße 26 die Bögen ausfüllte bzw. ergänzte. Diese Helfer mussten oft tagelang die Formblätter ausfüllen, v. a. wenn die Anordnung zur Deportation zu überraschend oder zu kurzfristig kam, um ein eigenhän­ diges Ausfüllen noch zu ermöglichen. Auch liegt es nahe, dass Horst Fenichel angesichts der schrecklichen Umstände und der Panik, von einem Tag auf den ­anderen sieben Personen auf den Abtransport vorbereiten zu müssen, nicht in der Lage war, die komplizierten Vermögenserklärungen sachgerecht auszufüllen. In unmittelbarem Zusammenhang mit den Vermögenserklärungen steht die ebenfalls in der Akte als Blatt 11 erhaltene rechtliche Verfügung der Geheimen

Bürokratie des Todes 215

Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Berlin. Sie enthält den Vermerk, dass das Vermögen von Horst Fenichel „zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen“ ist. Entsprechend der gesetzlichen Vorschrift, die zu Deportierenden über ihre Enteignung offiziell zu informieren, hatte ein Gerichtsvollzieher dem Bestohlenen die Beschlagnahmeurkunde zu überbringen. Die Vermögens­ einziehungsverfügung mit der formelhaften Textwiedergabe, in der alle infrage kommenden Gesetzesparagrafen und Verordnungen mit genauer Angabe der Veröffentlichung im Reichsgesetzblatt aufgelistet sind, diente als Legitimation zur legalen Einziehung der Vermögen der Deportierten, der „Vollstreckung des bürgerlichen Todesurteils“12, so die Formulierung des Soziologen und Historikers H. G. Adler in seinem Standardwerk Der verwaltete Mensch zur Deportation der jüdischen Bevölkerung. Das Formular in der Akte Fenichel hatte ein Beamter der Staatspolizeileitstelle Berlin auf den 1. Oktober 1942 datiert. Diese bereits mehr als zwei Monate vor dem tatsächlichen Abtransport erfolgte Terminierung kann eigentlich nur bedeuten, dass Horst Fenichel mit Ehefrau und Kindern sowie wahrscheinlich auch die in seinem Haus lebenden Verwandten schon zu diesem Zeitpunkt verschleppt werden sollten. Aus einem nicht bekannten Grund verschob sich der Transport offenbar. Mit Gestapo-Dienstsiegel wurde die Einziehung des Vermögens von Horst Fenichel verfügt. Anzumerken ist die inkorrekte Schreibweise der Boelckestraße ohne „c“, die sich – mit weiteren Fehlern – wiederholt. Offenbar war der Name des Fliegeroffiziers aus dem Ersten Weltkrieg, Oswald Boelcke (1891 – 1916), der Gestapo-Schreibkraft ebenso wenig geläufig wie dem Unterzeichner. Die Verfügung über das eingezogene Vermögen ging laut Eingangsstempel am 13. Dezember 1942 bei dem Obergerichtsvollzieher Simon in Neukölln ein. Am gleichen Tag stellte er die – als Blatt 12 in der Akte abgeheftete – Zustellungsurkunde aus und vollstreckte durch die formal rechtsgültige „Zustellung“ das „bürgerliche Todesurteil“ von Horst Fenichel. Es wird der Anschein erweckt, als ob Obergerichtsvollzieher Simon die Verfügung an Horst Fenichel persönlich übergeben habe. Doch es existiert keine Empfangsquittung, weder in den Fenichel-Akten noch in anderen eingesehenen vergleichbaren Archivalien. So ist anzunehmen, dass Simon – oder einer seiner Angestellten – die Verfügung am 13. Dezember 1942 im Sammellager Große Hamburger Straße 26 abgab.

12 Ebd., 389.

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Dort ist sie wahrscheinlich von den im Auftrag der Geheimen Staatspolizei tätigen jüdischen Ordnern gemeinsam mit den Vermögenserklärungen und den anderen Schriftstücken für alle mit dem Transport Verschleppten wieder eingesammelt und an die Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidenten weitergeleitet worden. Da die vom Gerichtsvollzieher berechneten Gebühren – Zustellungsgebühren: 1,80 RM, Reisekosten: 0,10 RM und Vordruck: 0,05 RM, also insgesamt 1,95 RM – nicht in der Einnahme-Ausgabe-Rechnung des ­deportierten Horst Fenichel auftauchen, hat sie wohl die Gestapo als Auftraggeberin übernommen. Die Refinanzierung dürfte über die Beschlagnahme des den Deportierten zunächst noch zugestandenen Mitnahmebetrages von 50 RM erfolgt sein. Hierfür stand dem Referat „Juden und Judenangelegenheiten“ (Amt IV B 4) des Reichssicherheitshauptamtes das Sonderkonto „W[anderung]“ zur Verfügung.13 Es stellt sich die Frage, warum im Bereich der Staatspolizeileitstelle Berlin bzw. der Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidenten BerlinBranden­burg im Dezember 1942 eine individuelle Mitteilung über den Vermögenseinzug zugunsten des Deutschen Reiches erfolgte. Nach dem in der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz bereits aufgrund des pseudorechtlichen Verlustes der Staatsangehörigkeit pauschal erklärten Vermögensverfall wäre dies eigentlich nicht mehr erforderlich gewesen. So sind in den Vermögensverwertungsstellen anderer Oberfinanzpräsidien solche Verfügungen bisher nicht aufgetaucht. Eine mögliche Erklärung für diesen Bürokratismus liefert das Rundschreiben der Wirtschaftsgruppe Privates Bankgewerbe – Central­ verband des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes – vom 4. Dezember 1941 an ihre Mitglieder. Unter dem Betreff „Vermögensverfall ausgewanderter Juden“ heißt es dort, dass der Vermögensverfall „kraft Gesetzes mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit“ eintritt. Demnach handelt es sich bei der Verfügung der Geheimen Staatspolizei „lediglich [um] die verwaltungsmäßige Feststellung, ob die Voraussetzungen für den Vermögensverfall vorliegen“14. Im 13 Vgl. A. J. van der Leeuw, Der Griff des Reiches nach dem Judenvermögen, in: Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht 9, 1970, 391; vgl. zum Sonderkonto „W“ auch Adler, Mensch, 563f. 14 Rundschreiben der Wirtschaftsgruppe Privates Bankgewerbe – Centralverband des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes – an ihre Mitglieder mit dem Betreff: „Vermögensverfall ausgewanderter Juden“ vom 4. Dezember 1941. Als Faksimile wiedergegeben

Bürokratie des Todes 217

Übrigen wurde die Vermögensverwertungsstelle im Fall der Fenichels nun zum dritten Mal von dem Vermögensverfall bzw. der Einziehung zugunsten des Reiches informiert.

III.2 Die Begleichung von offenen Rechnungen

Abb 9  Schreiben der Bewag an den Oberfinanzpräsidenten, Abt. „Vermögensverwertung“

bei: Siegfried Wurm, Die finanzielle Vernichtung der Juden im Dritten Reich. Berlin 1999, 116f. Leider gibt der Autor nicht die Herkunft des Dokuments an.

218 Kurt Schilde

Nach dem plötzlichen Verlassen der Wohnung mussten einige Zahlungsvorgänge unerledigt bleiben, wie die Bezahlung des Gas-, Wasser- und Stromverbrauchs. Deshalb befindet sich in der Akte Fenichel ein Schreiben der Berliner Kraft- und Licht (Bewag)-Aktiengesellschaft, das etwa einen Monat nach der Deportation versandt wurde. Das Rechnungsbüro Steglitz der Bewag teilte am 15. Januar 1943 – an ­diesem Tag ist bis auf Horst Fenichel niemand von den Deportierten mehr am Leben – dem Oberfinanzpräsidenten mit, dass am 28. Januar 1943 – dies ist der offiziel­le Todestag von Horst Fenichel – der Zähler abgeschaltet werden solle. Da die Wohnung verschlossen und versiegelt war, wurde darum gebeten, „uns Gelegen­ heit zu geben, unseren Zähler auszuschalten, damit wir die Schlußrechnung aufmachen können. Heil Hitler!“ Das Schreiben ging laut Eingangsstempel am 16. Februar 1943 bei der „Vermögensverwertung-Außenstelle“ des „Oberfinanzpräsidenten Berlin“ ein.15 Am 16. April 1943 – also erst zwei Monate später – fragte die Bewag wegen der Öffnung der Wohnung an, um den Zähler ablesen zu können. Dieses Schreiben wurde wohl an das Hauptwirtschaftsamt „zur weiteren Veranlassung“ geschickt. Dieser Dienststelle der Stadt Berlin oblag die Räumung der Wohnungen der Deportierten, dort befand sich auch der Hausschlüssel. Damit hatte im Mai 1943 ein Stromableser der Bewag „Gelegenheit“, in die Wohnung zu gelangen. Der abgelesene Zählerstand fand Eingang in die Schlussabrechnung mittels des Bewag-DIN-A5-Formulars „Meldung über evakuierte Juden“. Das gedruckte Formblatt „K/R 248 Bewag 5000.1.42 Din A5“ verweist darauf, dass es offensichtlich schon zur Routine geworden war, bei „evakuierten Juden“ den Stromverbrauch abzurechnen. Der Formularbezeichnung ist zu entnehmen, dass anscheinend ab Januar 1942 mit etwa 5.000 anfallenden Geschäftsvor­ gängen gerechnet wurde. Das Formblatt zeigt aber auch, dass die Bewag ebenso wie die Geheime Staatspolizei, die Vermögensverwertungsstelle und andere an der Ausplünderung beteiligte Behörden und Institutionen Formulare geschaffen hatten, um die aus den Deportationen resultierenden Verwaltungsabläufe einfach, effektiv und standardisiert durchzuführen.

15 Seit Februar 1942 waren die Oberfinanzpräsidien von Berlin und Brandenburg vereinigt. Hier werden die in den Quellen jeweils benutzten Bezeichnungen wiedergegeben, auch wenn sie ungenau sind.

Bürokratie des Todes 219

Abb 10  Mitteilung der Bewag „Meldung über evakuierte Juden“

Am 18. Mai 1943 wurde die Meldung von einem Sachbearbeiter des Rechnungsbüros ausgeschrieben und vom Dienststellenleiter abgezeichnet. Am 30. Juli schließlich konnten 30,46  RM mit Wertstellung 20. Juli von der Oberfinanzkasse des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg vereinnahmt werden.16 Nicht nur mit offengebliebenen Rechnungen der Energieversorgungs­ unternehmen hatten die Beamten und Angestellten der Vermögensverwertungsstelle zu tun, sondern auch mit Forderungen von Gewerbetreibenden wie dem Kohlen­händler Wilhelm Wendland aus der Ringbahnstraße 76. Am 15. November 1943 schrieb dieser das erste Mal an den „Herrn Oberfinanzpräsi­ denten“ und machte auf eine offene Rechnung über eine im November 1942 an die Fenichels erfolgte Koksbelieferung aufmerksam. Bis zum Ausgleich der Rechnung im Februar 1944 vergingen allerdings mehr als zwei Jahre.

16 Vgl. Schilde, Bürokratie, 132.

220 Kurt Schilde

Am 1., 9. und 26. November 1942 hatte die Familie Fenichel den Brennstoff erhalten, aber Horst Fenichel konnte ihn nicht mehr bezahlen. Normalerweise hätte er wohl die Forderung über sein Konto bei der Deutschen Bank, über das er als Jude allerdings nur beschränkt verfügen konnte, ausgleichen können. Aber mit seiner Forderung kam Wendland zu spät, denn die Ausstellung der Rechnung Nr. 26208 vom 14. Dezember 1942 über 47,25  RM erfolgte erst, als das Haus schon verlassen war, genau an dem Tag nämlich, als die Deportation von Horst Fenichel und den Seinen erfolgte. Zwei Monate nach der Belieferung und vier Wochen nach der Deportation wandte sich der Kohlenhändler am 19. Januar 1943 zunächst an das Reichs­ sicherheitshauptamt, Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, um an sein Geld zu kommen. Er musste zwei Monate warten, bis er am 15. März 1943 an die Geheime Staatspolizei verwiesen wurde. Die Gestapo ließ ihn nach acht Monaten mit einem Schreiben vom 15. Oktober 1943 wissen, er solle sich an das Oberfinanzpräsidium wenden, was Wendland vier Wochen später, am 15. November 1943, auch tat. Die am folgenden Tag bei der Steuerbehörde eingehende Anfrage blieb fast zwei Monate unbeantwortet, bis am 25. Januar 1944 ein Schreiben an Wendland ging: „Zu Ihrer Anfrage vom 15.11.43 auf Begleichung einer unbeglichenen Rechnung für Kokslieferung: Der Jude ist bereits Mitte Dezember 1942 abgeschoben ­worden. Es bedarf des Nachweises, a) wann die Kokslieferung an den Juden erfolgt ist u[nd] b) daß und warum Sie den Rechnungsbetrag von 47,25 RM nicht von dem Juden selbst eingezogen haben. Bestimmungsgemäß sind Forderungen an Juden bzw. gegen deren eingezogenes Vermögen innerhalb von 6 Monaten anzumelden. Diese Anmeldefrist haben Sie verstreichen lassen.“ Das Schreiben der Vermögensverwertungsstelle kreuzte sich mit dem Brief Wendlands, in dem er bat, „die Angelegenheit doch schnellstens zu erledigen“. Wie Wendland inzwischen vermutlich gewohnt gewesen sein dürfte, erfolgte keine zügige finanzbehördliche Reaktion, und so musste er am 15. Februar 1944 erneut an seine Forderung erinnern. Er teilte detailliert mit: 1.) Die Koksbelieferung ist am 1.11.42 + 9.11.42 + 26.11.42 l[au]t meiner Bücher erfolgt. 2.) Jede Rechnung wurde [bisher, K. S.] über das beschränkt verfügbare Sicherungskonto (Deutsche Bank, Depositenkasse L 3) bezahlt. Zum Schluß möchte ich noch bemerken, daß ich die Frist zur Anmeldung m ­ einer Forderung nicht versäumt habe. Am 19.1.43 habe ich meinen Anspruch beim Chef der Sicherheitspolizei und des SD. (IV B 4 b-4-F.14404) geltend

Bürokratie des Todes 221

gemacht, wurde von dort am 15.3.43 an die Geheime Staatspolizei verwiesen, die mir am 15.10.43 (Stapo IV D 1 – F. 2635/43) Ihre Anschrift aufgab. Ich möchte nunmehr um schnellste Erledigung bitten, da ich das Geld benötige, um meinen Verpflichtungen nachzukommen. Erst jetzt kam es tatsächlich zur Überweisung des offenen Betrages von 47,25 RM, und der Vorgang konnte zu den Akten gelegt werden. Wilhelm Wendland hatte sein ihm zustehendes Geld erhalten, die Vermögensverwertung war auch diesmal korrekt abgewickelt worden. Aufschlussreich ist dabei, dass sich der Kohlen­händler Wendland unvermittelt, wenn auch erfolglos, an das Reichssicherheitshauptamt wandte. Offenbar war ihm bekannt, welche „spezielle“ Behörde für eine „abgeschobene“ jüdische Familie „zuständig“ war. Interes­sant ist aber auch, mit welchen bürokratischen – wenn auch letztendlich erfolg­ losen – Winkelzügen die Finanzbeamten versuchten, die berechtigten Forderungen eines Händlers abzuweisen.

III.3 Die Verwertung des zurückgelassenen Hausrats

Abb 11+12  „Inventar und Bewertung“

222 Kurt Schilde

Als die Familie Fenichel/Herschkowitz ihr Haus verlassen hatte, blieb ihr gesamter Hausrat zurück. Damit die Wohnräume wieder benutzbar wurden, musste das Haus geräumt werden. Um dies zu ermöglichen, nahm ein Gerichtsvollzieher eine Aufstellung des Inventars vor und bewertete es. Bei dem Schätzungsblatt des Hauptwirtschaftsamtes der Stadt Berlin handelt es sich auf den ersten Blick um ein normales Formular. Erst bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass in der oberen rechten Ecke nach dem „Aktenzeichen des O[ber]F[inanz] P[räsidenten] l[au]t Straßenliste“ gefragt wird. Die dort eingetragenen Ziffern „39/22520“, also die Angabe der Deportationswelle „39“ und der Registriernummer „22520“ der Akte von Horst Fenichel, weisen dementsprechend auf eine straßenweise Zusammenstellung der Deportationstransporte hin. Dieses Abholungsverfahren hatte Alois Brunner praktizieren lassen, der von Oktober 1942 bis Januar 1943 die Deportationen aus Berlin leitete.17 Auf der letzten Seite des Formulars befinden sich klein gedruckte Hinweise, wer ein Exemplar der Schätzungsblätter erhalten sollte, neben der Vermögens­ verwertungsstelle beim Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg und dem Hauptwirtschaftsamt der Stadt Berlin auch „der Möbelhändler, dem der Verkauf des Wohnungsinhaltes übertragen wird (der Möbelhändler erhält das Schätzungsblatt erst nach endgültiger Zuteilung des Wohnungsinhaltes, und zwar nicht unmittelbar durch den Obergerichtsvollzieher, sondern durch die Außenstelle Gebrauchtmöbel des Hauptwirtschaftsamtes)“. Weil die Verwertung des zurückgelassenen Hausrats seit 1. Dezember 1942 zu den Aufgaben des Hauptwirtschaftsamtes der Stadt Berlin gehörte, kam der Hausratsverwerter in dessen Auftrag.18 Am 25. April 1943 – also drei Monate nach dem Tod der Deportierten – listete Obergerichtsvollzieher Bleich aus Berlin NO 55 auf drei Blättern die Habseligkeiten auf und bewertete sie. Akribisch wurde aufgenommen, was sich noch im Haus befand: in der Küche beispielsweise ein „Küchenbufett (1 Scheibe besch[ädigt])“, bewertet mit 75 RM, sowie Geschirr und Hausrat (5 RM). In der Diele befanden sich ein Bücherspind (25 RM) und eine Flurgarderobe (10 RM) sowie in einem Raum im Parterre ein Bücherschrank (80 RM), ein Tisch und vier Stühle (zusammen 20 RM). Anschließend muss 17 Vgl. zu Brunners Wirken in Berlin Hans Safrian, Eichmann und seine Gehilfen. Frankfurt am Main 1995, 189 – 192. 18 Vgl. Martin Friedenberger, Das Berliner Finanzamt Moabit-West und die Enteignung der Emigranten des Dritten Reiches 1933 – 1942, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49, 2001, 677 – 694.

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Obergerichtsvollzieher Bleich nach oben in den ersten Stock gegangen sein, wo er ebenfalls alles Aufgefundene auflistete, darunter ein Kinderbett (neu), bewertet mit 40  RM , eine Littauer Nähmaschine (alt), bewertet mit 30  RM , und ein Klavier (beschädigt) zu 125 RM. In einem weiteren Raum fand er ein „Einbettschlafzimmer, best[ehend] aus einem Ankleideschrank, einer Bettstelle mit Aufl[age], zwei Nachttischen und einem Frisierspiegel“, alles zusammen 200 RM. Anschließend nahm der Gerichtsvollzieher in der Garage u. a. einen Kleiderspind und vier Reisekörbe auf sowie „zwei einf[ache] Schreibtische“ und einen grauen Teppich. Alles in allem schätzte Obergerichtsvollzieher Bleich den Wert des aufgelisteten Hausrats auf 1.590 RM. Von dieser Summe zog er pauschal 20 Prozent ab. Übrig blieben 1.272 RM. Diese Berechnung war offensichtlich ein übliches Verfahren. Die Herabsetzung des Schätzwertes um ein Fünftel könnte bedeuten, dass ein pauschaler Abzug als Ausgleich für mögliche Differenzen zwischen Schätz- und Erlöswert zugrunde gelegt wurde. Anschließend stellte Bleich seine Kostenrechnung auf: Gebühr, Fahrtkosten, Schreibgebühr, Telefonat mit der Gestapo-Zentrale Berlin sowie für den Schlosser 14,50 RM. Summa summarum betrugen die Schätzkosten 53,10 RM. Erst an dieser Stelle ist zu erfahren, dass es offenbar eines Schlossers bedurfte, um in das Haus zu gelangen.19 Von der Vermögensverwertungsstelle wurden später auf der letzten Seite des Formulars der Buchungsstempel angebracht und der Betrag von 1.272 RM vereinnahmt. Die ausgewiesenen Schätzkosten wurden wahrscheinlich vom Hauptwirtschaftsamt getragen, das den Gerichtsvollzieher mit dem Taxieren der Habseligkeiten beauftragt hatte. Was mag dem Schlosser durch den Kopf gegangen sein, als er am 25. April 1943 im Auftrag des Obergerichtsvollziehers Bleich das offenbar menschenleere Haus Boelckestraße 107 öffnete? Taten beide „nur ihre Arbeit“? Der Gerichtsvollzieher ging von unten nach oben durch alle Räume und erfasste präzise die dort zurückgelassenen Gegenstände. Stück für Stück prüfte er deren Beschaffenheit und bewertete sie. Eine solche Arbeit erledigte er tagein, tagaus, jahrein, jahraus. Es war sein beruflicher Alltag. Dazu zählte für Bleich offenbar auch das abgerechnete Telefongespräch mit der Zentrale der Geheimen Staatspoli­zei, einer Behörde, zu der man den Kontakt wohl allgemein eher vermied.

19 In den eingesehenen Akten gibt es keinen Hinweis, warum nicht der beim Hauptwirtschaftsamt befindliche Hausschlüssel benutzt wurde.

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Liest man die penible Aufstellung des Gerichtsvollziehers, fallen in erster Linie die Unterschiede zu den relativ unpräzisen und offensichtlich unvollständigen Angaben in der Vermögenserklärung von Horst Fenichel auf. Dies scheint zu bestätigen, dass er die Vermögenserklärung vom 11. Dezember 1942 nicht zu Hause, sondern erst im Sammellager ausfüllte bzw. dass sie dort ausgefüllt wurde. Des Weiteren fällt auf, dass sich vieles von dem, was man im Besitz einer Familie vermuten würde, nicht auf der Bleich’schen Liste befindet. Der Grund dafür dürfte sein, dass viele Gebrauchsgegenstände aufgrund zahlreicher Anordnungen gar nicht mehr im persönlichen Besitz der Verfolgten sein durften. Allein im Jahre 1942 mussten folgende Gegenstände entschädigungslos abgeliefert werden: bis Mitte Januar Woll- und Pelzsachen sowie Ski- und Bergschuhe; seit Februar war der Bezug von Zeitungen und Zeitschriften untersagt 20, und am 19. Juni 1942 musste die von der Geheimen Staatspolizei gesteuerte Reichsvereinigung der Juden in Deutschland im Jüdischen Nachrichtenblatt bekannt geben, dass elektrische Geräte, Plattenspieler und Schallplatten sowie Schreibmaschinen, Fahrräder und optische Geräte abzuliefern waren.21 Bereits vor 1942 waren Kraftfahrzeuge (1938), Gold, Silber, Platin, Edelsteine und Perlen (1939),22 Rundfunkgeräte (1939) sowie Fernsprechanschlüsse (1940) weggenommen worden.23 Laut der Eintragungen von Obergerichtsvollzieher Bleich befand sich im Erdgeschoss die komplett eingerichtete Küche der Fenichels mit Schränken, Tisch und Stühlen, Geschirr und Hausrat. Ein Herd wurde nicht aufgeführt, vielleicht weil er eingebaut war. Vielleicht aber waren die Kochplatten schon Mitte Juni 1942 aufgrund einer Anordnung der Geheimen Staatspolizei abgeliefert worden.24

20 Anordnung des Reichssicherheitshauptamtes vom 17.2.1942. Vgl. Joseph Walk, Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung. 2. Aufl. Heidelberg 1996, 364. 21 Vgl. Jüdisches Nachrichtenblatt Nr. 25 vom 19.6.1942, 1. 22 Vgl. Marlies Coburger, Der Silberschatz im Märkischen Museum, in: Jahrbuch Stiftung Stadtmuseum Berlin, Bd. IV (1998). Berlin 2000, 223 – 272. 23 Vgl. zu den Nachweisen im Einzelnen die Angaben bei Walk, Sonderrecht. 24 Vgl. Wolf Gruner, Judenverfolgung in Berlin 1933 – 1945. Eine Chronologie der Behör­den­­ maßnahmen in der Reichshauptstadt. Berlin 1996, 84.

Bürokratie des Todes 225

Die Wohnung wurde offenbar entsprechend der Anweisung: „gebrauchtes Geschirr, Abfälle und dergleichen darf in der Wohnung nicht herumstehen“25 sauber hinterlassen. Nicht verbrauchte Lebensmittel scheinen sich nicht mehr im Haus befunden zu haben. Sie wären allerdings bis zum April 1943 verdorben. Im Erdgeschoss befanden sich in der Diele und in einem weiteren Raum, vielleicht dem Wohnzimmer, Bücherschränke. Es wurden aber keine Bücher aufgelistet. Waren sie bereits früher – seit November 1941 war Juden der freie Verkauf von Büchern verboten 26 – veräußert oder weggegeben worden, oder hatten sie einen so geringen Verkaufswert, dass sie deshalb keine Erwähnung fanden? Nicht nur die Bücherregale scheinen leer gewesen zu sein, sondern auch die anderen Schränke, abgesehen von dem erwähnten Geschirr und Hausrat in der Küche. Die vier Erwachsenen, die neben ihrem Gepäck mög­ licherweise noch die kleinen Kinder tragen mussten, haben sicherlich nicht alle ihre Kleidungsstücke eingepackt. Hatten sie zum Zeitpunkt der Deportation nur noch so wenig, weil „alle Bekleidungsstücke, die bei eigener bescheidener Lebensführung nicht notwendig sind“, entsprechend der „Anordnung über die Ablieferung von Kleidungsstücken“ vom 9. Juni 194227 schon vorher abgeliefert worden waren? Oder hatte jemand nach dem Verlassen des Hauses den Inhalt von Bücherspind, -schrank und -regal, Ankleideschränken, Wäschespinden, Kommoden, Schränkchen, Nachttischen, Vitrine und Schreibtischen an sich genommen? Möglich wäre auch, dass diese Gegenstände vor der Deportation an Verwandte und Bekannte verkauft oder verschenkt wurden. Und was ist mit dem Spielzeug der drei Kinder Joel, Judis und Gideon? Wurde es als wertlos eingeschätzt oder haben sie es – was unwahrscheinlich sein dürfte – in das Sammellager mitgenommen? Es drängen sich noch eine Reihe weiterer Fragen auf: So ist nach der Aktenlage nicht erkennbar, was mit den letzten Habseligkeiten der Fenichels nach der Aufstellung durch Obergerichtsvollzieher Bleich geschah. Wurden die Gegenstände öffentlich versteigert oder an die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt gegeben? Wer hat das Sparbuch an sich genommen und andere Dokumente? Die

25 So ein Zitat aus Akten der Gestapo Würzburg, zit. nach Adler, Mensch, 565. 26 Vgl. Walk, Sonderrecht, 355. 27 Zur Anordnung über die Ablieferung von Kleidungsstücken vgl. Bruno Blau, Das Ausnahmerecht für die Juden in Deutschland 1933 – 1945. 3. Aufl. Düsseldorf 1965, 108.

226 Kurt Schilde

Quintessenz für die Berliner Vermögensverwertungsstelle war jedoch folgende: In dem verlassenen Haus waren die letzten Habseligkeiten von sieben deportierten Personen zurückgeblieben. Ihr geschätzter Wert verschaffte dem Reichshaushalt mit 1.272 RM die zweitgrößte Einnahme auf dem Kontoblatt der Akte Fenichel.

III.4 Die Abwicklung des Guthabens bei der Deutschen Bank

Nicht nur die im Haus zurückgelassenen Gegenstände konnten Geld einbringen, auch die Ersparnisse der Deportierten ließen sich verwerten. Am 12. August 1943 wurde der Deutschen Bank durch die Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidenten die Vermögenseinziehung „zu Gunsten des Reiches“ mitgeteilt. In einem am 30. August an die Deutsche Bank (Depositenkasse L 3) in Tempelhof abgeschickten Schreiben wurde um den Abschluss von Horst Fenichels Konto und um Überweisung des „Guthabens nebst Zinsen“ innerhalb von vier Wochen gebeten. Dem Formular „Verm.Verw. Nr. 7 (Anforderung von Bankguthaben)“ folgte der Vordruck „Vermögensverwertung Nr. 8 (Anforderung von Wertpapieren)“ mit der Bitte, eine Aufstellung des Wertpapierdepots von Horst Fenichel vorzunehmen. Und schließlich wies die Vermögensverwertungsstelle darauf hin, dass „Verfügungen über das Konto ohne mein Einverständnis nicht mehr getroffen werden“ dürfen. Eine Antwort auf die Anfrage wegen der Wertpapiere ist nicht in den Akten enthalten. Es ist anzunehmen, dass keine Wertpapiere (mehr) vorhanden waren. Vielleicht hatte der Verkauf der Papiere 1938 zur Finanzierung der Judenvermögensabgabe beigetragen?28 Zwei Monate später, am 2. Oktober 1943, gelangten als größter Einnahme­ betrag die Ersparnisse des inzwischen ermordeten Horst Fenichel von der Deutschen Bank an die Oberfinanzkasse. Der Vermögensverwertungsstelle wurde mitgeteilt, dass 1.659,65 RM mit dem Kassenzeichen 50/803 vereinnahmt wurden. Zwei Wochen später erfuhr die Vermögensverwertungsstelle „lediglich der Ordnung halber“, dass offenbar der Originalvordruck „Anforderung von Bankguthaben“ fälschlich an die Depositenkasse B 3, und nicht an L 3 adressiert worden war. Abschließend teilte das Finanzinstitut mit, dass der Betrag in Höhe von 1.659,65  RM – unter Abzug von Spesen – der Oberfinanzkasse

28 Vgl. Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit vom 12. November 1938, in: Reichsgesetzblatt Teil I, 1579.

Bürokratie des Todes 227

überwiesen worden sei. Das Konto von Horst Fenichel sei abgerechnet, aufgelöst und abgemeldet. Das Schreiben endet mit dem Satz: „Die Geschäfts­ verbindung ist somit zum Erlöschen gekommen.“



Abb 13  Schreiben der Deutschen Bank vom 13.10.1943

Offensichtlich funktionierte die Zusammenarbeit der Vermögensverwertungsstelle mit der Deutschen Bank ebenso reibungslos wie mit der Geheimen Staatspolizei und allen anderen an der Ausplünderung Beteiligten. Aus dem ehemaligen Kunden Horst Fenichel war eine „Geschäftsverbindung“ geworden, die, wenn es „von oben“ gefordert wurde, „zum Erlöschen“ gebracht wurde. Ein Vierteljahrhundert später konnte sich bei der Deutschen Bank niemand

228 Kurt Schilde

mehr daran erinnern, wie es zu der Auflösung des Kontos gekommen war. Das Kreditinstitut teilte dem Entschädigungsamt am 22. September 1966 mit: „Wir haben lediglich feststellen können, daß Herr Horst Fenichel mit unserer Depositenkasse L 3 in Geschäftsverbindung gestanden hat. Sein Konto ist im September 1942 aufgelöst worden. Wie über das Guthaben verfügt wurde, läßt sich leider nicht mehr feststellen.“29

III.5 Die Begleichung von Steuerschulden beim Finanzamt Tempelhof

Abb 14  Schreiben des Finanzamts Tempelhof an die Vermögensverwertungsstelle (Evakuierungsstelle)

Der von der Vollstreckungsstelle des Finanzamtes Tempelhof – der unteren Instanzenebene der Reichsfinanzverwaltung – am 4. März 1943 eröffnete Zahlungsvorgang zog sich bis zu seiner Erledigung sehr lange hin. Eingeleitet wurde dieses Beispiel von extremem Bürokratismus durch ein Schreiben

29 Das Zitat stammt aus einem Schreiben der Deutschen Bank, welches in den von mir eingesehenen Entschädigungsakten enthalten ist.

Bürokratie des Todes 229

der örtlich zuständigen Behörde, die – unbekannt ist, durch wen – von der Deportation informiert worden war. Bezeichnenderweise nannte die angeschriebene Vermögensverwertungsstelle zusätzlich die Evakuierungsstelle als Empfänger des Schriftstücks. Nach der „Ermittlung eines Vollziehungsbeamten“, so schrieb „im Auftrag“ Herr oder Frau Hanke [?] an die Mittelbehörde, soll der „Steuerpflichtige“ Horst Fenichel „evakuiert worden sein“. Der „Vollstrecker“ teilte mit, dass der „Jude Horst Israel Fenichel in Berlin-Tempelhof, Boelckestr. 107, […] dem Staat an Steuern und Kosten 21 RM“ schulde. Was mit dem früheren Steuerzahler inzwischen geschehen war, interessierte den Absender nicht, wohl aber, „ob das Vermögen des Steuerpflichtigen zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen worden ist“. Fast drei Monate lang passierte offenbar nichts, bis am 29. Mai 1943 die Vermögensverwertungsstelle das Tempelhofer Finanzamt von dem Vermögenseinzug unterrichtete und mitteilte, dass die Steuerrückstände „nieder­ geschlagen“ werden sollten, „da das Vermögen endgültig dem Reich verbleibt“. Auch sei „von einer Übersendung der Steuerakten […] abzusehen.“ Es folgte ein handschriftlicher Hinweis auf den Erlass des „Herrn Reichs­ministers der Finanzen vom 14. April 1942, S. 1915 – A – 282 VI“, dem zufolge in bestimmten Fällen – wozu dieser offenbar gehörte – die rückständigen Steuern niederzuschlagen waren. Wegen einer so geringen Summe wie jenen 21 RM sollten offenbar keine weiteren Kosten verursacht werden. Denn in dem genannten Erlass hieß es: „Unzweckmäßig ist die Geltendmachung der Steueransprüche dann, wenn das eingezogene oder verfallene Vermögen endgültig dem Reich verbleibt.“30 Es wäre dem Tempelhofer Finanzbeamten also durchaus möglich gewesen, die Steuerschuld – wie vorgeschrieben – niederzuschlagen. Dass er diese Verwaltungsvereinfachung missachtete, hing vielleicht mit dem Phänomen „Beamtenmentalität“ zusammen: Eine Akte war ordentlich abzuschließen, auch wenn das Verwaltungshandeln damit kontraproduktiv wurde. Der Tempelhofer Finanzbeamte hatte zunächst nicht den gewünschten Erfolg, und die förmliche Mitteilung der Enteignung vom 29. Mai 1943 wurde am 12. August 1943 mit dem veränderten „Vordruck Verw. Nr. 1 (Anfrage an Finanzamt)“ wiederholt. Nun bat die Vermögensverwertungsstelle darum, ihr mitzu­teilen, welche Vermögenswerte dem Finanzamt im Einzelnen bekannt

30 Erlass des Reichsfinanzministers vom 14.4.1942, unterzeichnet Hedding, zit. nach Adler, Mensch, 511.

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seien und ob noch Sicherheiten für die Reichsfluchtsteuer existierten. Die erneute Anfrage wurde erst am 28. November 1943 von dem im Finanzamt Tempelhof in Zimmer 201 tätigen Finanzbeamten Gericke [?] beantwortet. Fünf Tage ­später kam der Brief bei der Vermögensverwertungsstelle an. Die vom Finanzamt laut den Vermögenssteuerakten von Horst Fenichel angege­ benen Werte weichen zum Teil erheblich von den Angaben in der Vermögens­ erklärung vom 11. Dezember 1942 ab. Nicht alle Unterschiede dürften auf die zeitliche Differenz von fast einem Jahr zurückzuführen sein. Ob und was der Beamte in der Vermögensverwertungsstelle mit diesen Zahlen anfangen konnte, erschließt sich nicht aus der Akte.

Abb 15  Auszahlungsanordnung (Bezirksamt Tempelhof)

Ein Jahr nach der ersten Anforderung vom 4. März 1943 und 15 Monate nach dem gewaltsamen Tod des Steuerschuldners Horst Fenichel erhielt das Finanzamt Tempelhof endlich – wie die am 29. April 1944 ausgefertigte Auszahlungsanordnung zeigt – die angemahnten Steuerschulden, wenn auch nicht in der gewünschten Höhe. Unklar ist, warum der Betrag nicht bei 21  RM, sondern nur bei 7,20 RM lag. Abgesehen davon ist bei diesem Zahlungsvorgang dreier­ lei bemerkenswert: Erstens hielt sich das Finanzamt Tempelhof nicht an die

Bürokratie des Todes 231

Anweisung, die „rückständigen Steuern niederzuschlagen“. Zweitens hatte das Oberfinanzpräsidium den Vorgang nicht reklamiert. Offenbar arbeitete die Finanzbürokratie trotz des seit Jahren andauernden Zweiten Weltkrieges als gut funktionierende Behörde weiter, und das, obwohl viele Mitarbeiter zum Wehrdienst eingezogen oder zu Finanzämtern in die eroberten Gebiete abgeordnet worden waren. Drittens schließlich – und dies ist von allergrößter Bedeutung – verschwand die Person Horst Fenichel hinter der Sache „Grundstück Berlin-Tempelhof, Boelkestr. 107“. Hier zeigt sich die Verbindung zwischen dem Vollzug des bürgerlichen und des ökonomischen Todes auf prägnante Weise. Der Mensch Horst Fenichel war längst tot, physisch und rechtlich, und es „lebte“ nur noch die Sache: das ihm geraubte Grundstück. Zygmunt Bauman hat diesen Zusammenhang auf den Punkt gebracht: „Menschen verlieren die Eigenschaft des Menschseins, wenn sie auf Zahlen oder Nummern reduziert werden.“31 Der Vorgang lässt sich als eine auf die Spitze getriebene Bürokratisierung charakterisieren. Das örtliche Finanzamt setzte eine kleine schriftliche Lawine in Bewegung, um eine Steuerschuld von gerade einmal 21 RM einzutreiben, die eigentlich niederzuschlagen war, und gab sich nach über einem Jahr mit einer Zahlung von 7,20 RM zufrieden. Die von der bei der nächsthöheren Mittelbehörde Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg angesiedelten Vermögensverwertungsstelle beim Finanzamt eingeholten Informationen erbrachten nichts Neues, auch hatten sie keine in den Akten nachvollziehbaren Folgen. Alles in allem entsteht der Eindruck, dass hier entgegen den Anweisungen der Behördenspitze – des Reichsfinanzministeriums – die Bürokratie ad absurdum getrieben wurde. Die Beamten und Angestellten des Tempelhofer Finanzamtes, aber auch der Vermögensverwertungsstelle schienen sich an ihrer Arbeit „festgehalten“ zu haben. Offenbar wollten sie sich unentbehrlich machen, vielleicht weil sie nicht als Soldaten an die Front geschickt oder in die okkupierten Gebiete abgeordnet werden wollten? Schließlich war die Zahl der Beschäftigten in der Reichsfinanzverwaltung 1944 nur noch halb so groß wie 1939.32

31 Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg 1992, 118. 32 Vgl. Hans-Ulrich Misera, Organisationsänderungen in der Verwaltung. Frankfurt am Main 1994, 298. Die Zahlen beziehen sich jeweils auf den September.

232 Kurt Schilde

III.6 Die Räumung des Hauses und die „Entwesung“ durch einen Kammerjäger

Abb 16  Mitteilung des Hauptwirtschaftsamtes über die Räumung

Abb 17  Auszahlungsanordnung für Entwesungskosten

Bürokratie des Todes 233

Ohne Datumsangabe teilte Herrn Palettz [?] vom Hauptwirtschaftsamt der Vermögensverwertungsstelle kurz und knapp mit: „Zum Aktenzeichen 39/22520 ist Räumung am 15.5.43 erfolgt.“ Ein halbes Jahr nach der Deportation der Familie Fenichel wurde ihr Haushalt offiziell aufgelöst. Zu diesem Zeitpunkt waren die Deportierten alle längst tot und für die Bürokratie der Reichshauptstadt Berlin keine Menschen mehr, sondern nur noch ein Aktenzeichen. Der Kammerjäger Paul Heyne aus Berlin-Zehlendorf erhielt für die Entwesung des Hauses in der Boelckestraße 107 genau 229,40 RM. Der Rechnungsangestellte Mahnke bescheinigte am 19. Mai 1944 die sachliche Richtigkeit, und ein mit der Paraphe „M“ [?] zeichnender vorgesetzter Beamter wies den Betrag zur Auszahlung an. Da in der Akte zu diesem Vorgang keine weiteren Belege aufzufinden sind, muss offenbleiben, ob Heyne eine Rechnung ausgeschrieben und wem er sie gegebenenfalls zugestellt hatte. Unklar ist auch, warum „entjudete“ und von der Vermögensverwertungsstelle verwaltete Häuser „entwest“ werden mussten. Mit einem beabsichtigten Verkauf kann dieser Vorgang nicht zusammenhängen, denn das war bis Kriegsende verboten.33 Vermutlich ist die Erklärung ganz einfach: Die Desinfektion ist ein gewohnheitsmäßiger Bestandteil des entsprechenden Verwaltungsvorgangs. Ein Haus wurde geräumt und musste entwest werden. Während Horst, Ilse, Joel und Judis Fenichel sowie Ernestine, Herta und Gideon Herschkowitz in Auschwitz ermordet wurden, zogen in Berlin-Moabit die Beamten und Angestellten der Vermögensverwertungsstelle in gut funktio­ nierender Zusammenarbeit mit staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen sowie mit Privatpersonen deren zurückgelassenes Hab und Gut ein. Sie verwalteten und verwerteten Schritt für Schritt die in der Boelckestraße 107 hinterlassenen Gegenstände, offene Rechnungen und das Bankkonto. Die Verwertung des Besitzes der deportierten Juden war damit ein öffentlicher und deutlich sichtbarer Vorgang. Allerdings hat es den Anschein, als ob sich der erhebliche bürokratische Aufwand in diesem Fall nicht gelohnt habe. Die Saldierung aller Beträge ergibt: Die Summe der Einnahmen beträgt 3.007,32 RM und liegt deutlich unter den Ausgaben von 4.804,20 RM. Die Vermögensverwertung der Habe der Familie Fenichel und ihrer Verwandten Herschkowitz brachte dem Staat also nichts ein, sondern kostete ihn 1.796,88 RM. Das hängt freilich nur damit zusammen, dass die Liegenschaften vorerst nicht verwertet wurden.

33 Vgl. Brief des Oberfinanzpräsidenten Kassel an den Bürgermeister von Gladenbach vom 3. Juni 1943, zit. nach Adler, Mensch, 641.

Timo Saalmann

Relikte der „Arisierung“ und Wiedergutmachung in den Sammlungen der Museen der Stadt Bamberg In den Sammlungen der Museen der Stadt Bamberg befinden sich einige Kunstwerke und kulturhistorische Objekte aus dem Besitz jüdischer Bamberger, die während der NS-Zeit verfolgungsbedingt entzogen wurden – aus heutiger Pers­ pektive sind diese Stücke Relikte der „Arisierung“ und Wiedergutmachung, deren Geschichte künftig angemessen erzählt werden soll. Dies soll im Folgenden exemplarisch für zwei Sammlungen geschehen, aber auch ab Herbst 2013 im Rahmen der Sonderausstellung „Jüdisches in Bamberg“, die jene Objekte und Gegenstände der Öffentlichkeit zeigt und sie damit sichtbar macht. Konkret sollen in der Ausstellung bei der Darstellung der NS-Zeit die Verfolgungsgeschichte der Bamberger Juden – also die antijüdische Gesetzgebung und die „Arisierung“ von Eigentum sowie Vertreibung und Massenmord – ein Stück weit mit der Museums­geschichte parallelisiert und der Entzug von Kulturgut und dessen Zerstörung – wie in der Pogromnacht – thematisiert werden. Besonders interessant ist dabei die Schnittmenge zwischen Museumsgeschichte – also die Untersuchung der Sammlungsgeschichte des Bamberger Museums im Sinne einer Auseinandersetzung mit der Geschichte des Hauses – und der Möglichkeit, zugleich dem bürgerlichen Interesse an Kunst und Kultur nachzuspüren und konkret am Beispiel der jüdischen Bamberger und ihrer Sammlungen zu zeigen. Vor allem das „lange 19. Jahrhundert“ mit bürgerlicher Lebensführung und bürgerlichen Werten und der weitgehenden gesellschaftlichen Inklusion der deutschen Juden und die Auflösung und Vernichtung dieser Lebenswelten durch den Nationalsozialismus werden so anschaulich gezeigt. Insgesamt wird die Ausstellung einen inhaltlichen Bogen vom Mittelalter bis in die Gegenwart spannen. Gegenwärtig werden dazu, finanziell gefördert durch die Berliner Arbeitsstelle für Provenienzrecherche/-forschung, die Ankäufe und die Sammlungs­geschichte des städtischen Museums während der nationalsozialistischen Herrschaft untersucht, um so die Provenienzen bestimmter Sammlungsbestände genauer zu bestimmen. Dabei soll herausgearbeitet werden, wie eng ­Museumsmitarbeiter, lokale Kunsthändler und die kommunalen Stellen der Bamberger Wirtschaftsund Finanzverwaltung beim Ankauf von Sammlungen aus jüdischem Besitz

236 Timo Saalmann

miteinander kooperierten. Besonders galt dies wohl auch bei kleineren Erwerbungen, die möglicherweise auch aus aufgelösten Wohnungen jüdischer Bamberger stammen. Als nächste Schritte sollen daher die zahlreichen kleineren Kunsthändler in Bamberg akteurszentriert untersucht und ihre Kontakte zu Museen und zur städtischen Verwaltung insgesamt untersucht werden. Zusätzlich zu jenen Relikten der „Arisierung“ und Wiedergutmachung kamen im Laufe der 1950er-Jahre noch einige weitere Objekte, deren Provenienz oft unklar ist, aus der städtischen Wirtschafts- und Finanzverwaltung als Abgabe „herrenlosen Eigentums“ in die Museumssammlungen, was zumindest einen Zusammenhang mit der NS-Raubpolitik vermuten lässt. Die hier vorgestellten ersten Ergebnisse der laufenden Recherchen bieten somit Einblick in die Abläufe innerhalb der kommu­ nalen Wirtschafts-, Finanz- und Kulturverwaltung im Zusammenhang mit der „Arisierung“ und Restitution sowie in das Handeln der Museumsmitarbeiter und der kommunalen Verwaltung sowohl im Nationalsozialismus als auch vor dem Hintergrund der Wiedergutmachungspolitik der 1950er-Jahre. Im Folgenden soll zunächst ein Blick auf die Geschichte von Bambergs städtischen Kunstsammlungen sowie auf den Kulturgutraub in Bamberg im Dritten Reich geworfen werden. Anschließend werden das Schicksal der Sammlungen ­Wassermann und Federlein während des NS-Regimes sowie ihre Rückerstattung skizziert.

I. Bambergs städtische Kunstsammlungen Die Sammlungen, die den Bestand des städtischen Museums Bamberg aus­ machen, stammen aus unterschiedlichsten Quellen und blicken auf eine 175-­jährige Geschichte zurück. Den Kern des Sammlungsbestandes machen hauptsächlich Gemälde und Kunstgegenstände aus, die seit den 1830er-Jahren aus Nachlässen und Stiftungen von Bürgern, oft Geistlichen, in das Eigentum der Stadt übergingen. Die testamentarische Zueignung von 118 Gemälden des 1838 verstorbenen Domvikars Joseph Hemmerlein bildete den Grundstock. In diesem Jahr wurde auf seinen Wunsch hin auch die „Städtisch-Hemmerlein’sche Gemälde-Gallerie“ in einem Flügel des ehemaligen Benediktinerklosters Michaels­berg öffentlich zugänglich gemacht.1

1 Vgl. den ersten Bestandskatalog Berthold Joseph Krug, Die Städtisch-Hemmerlein’sche Gemälde-Gallerie auf dem Michaelsberge zu Bamberg. Bamberg 1839 sowie Regina

Die Sammlungen der Museen der Stadt Bamberg 237

In den 1920er-Jahren kam eine politische Diskussion um die zweckmäßigere Unterbringung des städtischen Kunstgutes in Gang. Generell sind die Jahre nach dem Ende des Kaiserreichs museumsgeschichtlich und kunstpoli­ tisch gesehen höchst interessant, da sie die gesellschaftliche und politische Zerrissenheit der Deutschen direkt spiegeln. Innovative Vermittlungskonzepte, eine stärkere, als Volksbildung apostrophierte Orientierung auf die ästhetisch wenig vorgebildete breite Masse wurden diskutiert, und ein anderes Selbstverständnis der Museumsbeamten als eigenständige akademische Funktionselite setzte sich durch.2 Zusätzlich hatte die neue demokratische Staatsordnung der Weimarer Republik verbunden mit der vorangegangenen Abdankung der deutschen Fürsten nach dem Ersten Weltkrieg Überlegungen nötig gemacht, wie nun mit dem materiellen Kulturgut des Staates umzugehen sei. Es galt v. a. zwischen dem Besitz des souveränen demokratischen Staates und dem (privaten) Eigentum der Krone bzw. der ehemaligen Landes­fürsten zu unterscheiden. Zum Familienfideikommiss eingesetzte Verwaltungen handelten dabei mit den Herrscherfamilien die Bedingungen aus, unter denen das kulturelle Erbe – und damit letztlich auch Instrumente zur staatlichen Traditionsbildung – verteilt wurden. Gerade in den Flächenländern wie Preußen, Sachsen oder Bayern zogen sich diese Verhandlungen bis weit in die 1920er-Jahre hin, und mit dem Schlagwort von der „Fürsten­enteignung“ konnten sowohl monarchistische und konservative als auch linke Parteien Politik machen.3

Hanemann, Museum in einer Welterbe-Stadt – Pflicht und Kür. Das Beispiel Historisches Museum Bamberg, in: Museum heute 32, 2007, 39 – 43; dies., Nomen est omen. Der Museumsname als Problem für die Sammlungskonzeption, in: Museum heute 34, 2008, 18 – 24. 2 Für die zeitgenössische Diskussion vgl. Die Kunstmuseen und das deutsche Volk. München 1919, zum Selbstverständnis Wilhelm Waetzoldt, Trilogie der Museumsleidenschaft. Bode, Tschudi, Lichtwark, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 1, 1932, 5 – 12. – Timo Saalmann, Von Wilhelm Bode zu Ludwig Justi. Die Generaldirektoren der Berliner Museen vom Kaiserreich bis in die Nachkriegszeit, in: Olaf Peters/­Barbara Schellewald (Hrsg.), Die Biographie. Mode und Universalie? (erscheint 2014). 3 Vgl. Karl Heinrich Kaufhold, Fürstenabfindung oder Fürstenenteignung? Der Kampf um das Hausvermögen der ehemals regierenden Fürstenhäuser im Jahre 1926 und die Innenpolitik der Weimarer Republik, in: Gunther Schulz (Hrsg.), Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert. (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, Bd. 26.) S­ t. Katharinen

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Auch in Bamberg reifte seit Beginn der 1920er-Jahre, forciert vom Direktor der Alten Pinakothek in München, Friedrich Dörnhöffer, der Plan, eine „wirklich erstklassige Galerie für Bamberg“ einzurichten.4 Die Gemälde aus staatlichem Bestand, die ohnehin in der Neuen Residenz als Filialgalerie der bayerischen Staatssammlungen präsentiert wurden, sollten dazu um die bedeutendsten Werke aus dem Kunstbesitz der Stadt ergänzt werden. Der Bamberger Stadtrat und der Oberbürgermeister konnten diesem Plan zunächst jedoch wenig abgewinnen, da sie sich um das Renommee der städ­ tischen Gemäldegalerie auf dem Michelsberg sorgten und verhindern wollten, dass „etwa der Überschuss oder Überfluss in München oder anderwärts in Bamberg untergebracht wird“.5 Außerdem war die Staatskasse während der Krisenjahre der Weimarer Republik notorisch leer, was häufiger zu Verzögerungen bei geplanten Renovierungsmaßnahmen führte. Zu Beginn der 1930er-Jahre waren die Bedenken jedoch überwunden, und so wurde der Plan gefasst, die Gemäldebestände in einer gemeinsamen Galerie in der Neuen Residenz zusammenzufassen. 1935 wurde die Galerie im Kloster Michelsberg geschlossen und die qualitativ hochwertigsten Bilder wurden überführt. Ein schon länger geplantes städtisches Museum sollte in die Alte Hofhaltung, seit dem Mittelalter der Sitz der Bamberger Fürstbischöfe, eingepasst werden (Abb. 1).6 Zum 100-jährigen Bestehen der städtischen Sammlung wurde das Museum in der Alten Hofhaltung am ­3. August 1938 im Beisein des bayerischen Ministerpräsidenten Ludwig Siebert als „Heimatmuseum“ eröffnet (Abb. 2). Am selben Tag wurde Siebert zum Ehrenbürger der Stadt ernannt.7





2004, 261 – 285; Rainer Stentzel, Zum Verhältnis von Recht und Politik in der Weimarer Republik. Der Streit um die sogenannte Fürstenenteignung, in: Staat 39, 2000, 275 – 297. 4 Soweit nicht anders angegeben, befinden sich die im Folgenden zitierten Akten noch in der Registratur der Stadt Bamberg. – Akt „Die Gemälde-Galerie in dem kgl. Schloße zu Bamberg, 1901“, Oberbaurat Schmitz an OB Wächter, 11.1.1923. 5 Ebd., Beschluss des Finanzausschusses vom 30.5.1923. 6 Vgl. Johann Joseph Morper, Die Alte Hofhaltung als Stadtmuseum. Bamberg 1940. 7 Vgl. StadtA Bamberg, BS (B) + 228 – 5 – H004 B002.

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Abb 1  Der Renaissancebau (1571 – 1578) der Alten Hofhaltung mit dem städtischen Heimatmuseum, um 1938 (Museen der Stadt Bamberg)

Abb 2  Der bayerische Minister-

präsident Ludwig Siebert hält die Eröffnungsrede für das städtische Heimatmuseum Bamberg (Stadtarchiv Bamberg)

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II. Kulturgutraub in Bamberg Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten hauptsächlich die Stiftungen reicher Wirtschaftsbürger und geistlicher Herren den Kern des städtischen Kunstbesitzes. Gerade die teils hervorragend bestückten Kunstsammlungen von Domherren legten den Grundstock für die umfängliche Bamberger Gemälde­ sammlung an altdeutscher und altniederländischer Malerei. In den frühen 1930er-Jahren bis zur Museumseröffnung 1938 wurde emsig an der Erweiterung des Sammlungsbestandes gearbeitet und auch nach der Eröffnung wurde weiter angekauft; vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Judenverfolgung hieß das, dass auch Objekte jüdischer Vorbesitzer in die städtischen Sammlungen kamen. Gleichzeitig wurde in Bamberg auch auf oberfränkische Geschichtsvereine Druck ausgeübt, Objekte für das Heimatmuseum zu stellen bzw. abzugeben. Dass so etwa Sammlungsgegenstände des Altenburgvereins, der sich einer im Kern aus dem 12. Jahrhundert stammenden Burganlage in Bamberg widmete, 1940 an das städtische Museum fielen, ist damit im Kontext der NS-Kulturpolitik zu sehen.8 Hier interessieren jedoch in erster Linie die verschiedenen Formen des Raubs an den deutschen Juden, die Enteignungen, Vermögensübertragungen und „Arisierungen“, die in der Phase der forcierten Emigration unter Zwang erfolgten Verkäufe von Hausrat und Kunstsammlungen, die dazu beitrugen, dass kunsthistorische und -gewerbliche Gegenstände in den Bestand gelangten. Ihr Ankauf muss auf die Auswirkungen der antijüdischen NS-Gesetzgebung zurückgeführt und als Notverkauf verstanden werden. Wie der Ankauf der Kunstsammlungen der beiden jüdischen Familien Wassermann und Federlein aus Bamberg ablief, ist inzwischen weitgehend bekannt und soll im Folgenden beispielhaft skizziert werden.9

8 Vgl. Hans Daig, Altenburgverein e. V., in: Heimat Bamberger Land 1, 1989, 125 – 128, hier: 126 – 127. 9 Die genauen, oft komplizierten Erwerbsbedingungen bei weiteren Zugängen und ihre rechtliche und historische Einordnung sind leider noch nicht hinreichend bekannt. Sie sind Gegenstand des laufenden Forschungsprojektes.

Die Sammlungen der Museen der Stadt Bamberg 241

II.1 Die Sammlung Wassermann

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unterhielt die Familie Wassermann eine Privatbank mit Hauptsitz in Bamberg. Samuel Wassermann, der vornehmlich im Großhandel von Leder und Textilien tätig war, stieg in den 1850er-Jahren in das Bankgewerbe ein. Am 19. September 1849 erhielt er vom Bamberger Stadtmagistrat die Erlaubnis, sich auf einer freigewordenen Matrikelstelle niederzulassen. Zuvor hatte er etwa zehn Jahre lang erfolglos versucht, vom bayerisch-schwäbischen Wallerstein nach Bamberg umzusiedeln. Hauptgrund dafür waren, so hieß es in seinen Gesuchen, die besseren Verkehrsverbindungen. Zudem wollte er, um den bereits ansässigen Händlern keine zu große Konkurrenz zu machen, den Leder- und Einzelhandel gänzlich zugunsten des Großhandels von Schnittwaren aufgeben. Samuel Wassermanns Söhne Angelo und Emil Wassermann bauten das Bankhaus weiter aus und erweiterten v. a. den Radius der Transaktionen entscheidend. Seit 1880 betrieben sie das Bankhaus als alleinige Gesellschafter unter dem Namen A. E. Wassermann und waren international tätig.10 In der Folgezeit expandierten sie wie viele andere jüdische Bankiersfamilien in eine andere Stadt. Im Falle der Wassermanns bot sich das boomende Berlin zur Gründung einer Filiale durch einen Familienzweig an. Die dortige Filiale führten seit 1889 Max und Oscar Wassermann, Angelos älteste Söhne.11 Das Bankhaus A. E. Wassermann spielte eine wichtige Rolle bei der Finanzierung vornehmlich der oberfränkischen wie auch der bayerischen Wirtschaft; Kapital bezogen hauptsächlich die Textilindustrie, der Holzhandel im Frankenwald sowie Hopfenhandlungen und Mälzereien, die den in Oberfranken konzentrierten Bierbrauereien zulieferten.12 Der Aufstieg der Wassermanns schlug sich auch in gesellschaftlicher Hinsicht und in der Sozialstratigrafie nieder; ihre Zugehörigkeit zum Wirtschaftsbürgertum verdeutlichte die Verleihung von Ehrentiteln und formelhaft symbolischen 10 Vgl. Diana-Elisabeth Fitz, Vom Salzfaktor zum Bankier. Familie Wassermann: Spiegelbild eines emanzipatorischen Einbürgerungsprozesses. Nördlingen 1992, 37 – 47. 11 Oscar Wassermann machte später eine herausragende Karriere in der deutschen Banken­ wirtschaft: Er verließ die Familienbank, trat 1912 in die Deutsche Bank ein und war dort ab Ende 1923 Vorstandsprecher. Vgl. dazu Avraham Barkai, Oscar Wassermann und die Deutsche Bank. München 2005, 35 – 50. 12 Vgl. Rainer Trübsbach, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Elisabeth Roth (Hrsg.), Oberfranken im 19. und 20. Jahrhundert. Bamberg 1990, 606 – 620.

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Auszeichnungen. 1909 wurde dem älteren Brüderpaar Angelo und Emil der prestigeträchtige Titel eines Kommerzienrates verliehen, und beide wurden wegen ihrer Verdienste um die Wirtschafts- und Industriefinanzierung zu Königlich Bayerischen Hofbankiers ernannt. Im folgenden Jahr wurde Angelo in den erblichen Adelsstand erhoben.13 Die Kunstsammlung des Bamberger Familienzweiges der Wassermanns repräsentierte die kulturellen Neigungen des gehobenen Wirtschaftsbürgertums und schmückte eine Gründerzeitvilla im Hainviertel, einer der vornehmsten Gegenden der Stadt. In jenem luxuriösen Viertel am Rande der Innenstadt ließen sich ab den 1860er-Jahren, begünstigt durch den wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland, viele erfolgreiche Unternehmer nieder. Das Hainviertel war im Übrigen erst nach einer 1803 von dem dann 1806 als Maximilian I. zum ersten bayerischen König gekrönten bayerischen Herzog beauftragten Umgestaltung eines zwischen den beiden Armen der Regnitz gelegenen urwüchsigen Wald­ gebietes zu einem Landschaftsgarten entstanden. Auch einige jüdische Familien siedelten sich an, neben den Wassermanns v. a. Hopfenhändler, so die Familie Dessauer in der Hainstraße 4, deren Wohnhaus den Museen der Stadt Bamberg heute als Stadtgalerie für Ausstellungen moderner Kunst dient. Aufgrund seiner Besiedlungsstruktur galt das Hainviertel daher früh als jewish space und „Zentrum des jüdischen Hopfenhandels“.14 In diesem kulturinteressierten und auch auf Repräsentation abgestellten bürgerlichen Umfeld sammelte die Bankiers­familie Wassermann Kunst; hervorzuheben sind aus der Sammlung die historischen Möbel und zahlreiche Uhren, darunter französische Arbeiten sowie ein Stück aus der berühmten Werkstatt des Bamberger Hofuhrmachers Leopold Hoys (1713 – 1797). Hinzu kamen Gemälde, Porzellane, eine kleinere Jagdwaffensammlung sowie kunsthandwerkliche Objekte und Erzeugnisse der Volkskunst in Metall und Glas. Im Garten der Villa waren über ein Dutzend Rokoko-Skulpturen der Schule des Ferdinand Tietz (1708 – 1777) aufgestellt, darunter eine wohl eigenhändige Arbeit einer Flora (Abb. 3/4).

13 Vgl. Fitz, Salzfaktor, 56 – 60. 14 Volkmar Eidloth, Das Bamberger Hainviertel, ehemaliges Zentrum des jüdischen Hopfen­ handels. Entstehung, Gestalt und Funktion eines Villenviertels im Wandel, 1825 – 1955, in: Hans Becker/Karsten Garleff/Wilfried Krings (Hrsg.), Vergangene jüdische Lebenswelten im Bamberger Raum. (Bamberger Geographische Schriften, Sonderfolge Nr. 3) Bamberg 1988, 19 – 152.

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Abb 3  Die nach 1945 verlorene

Flora von Ferdinand Tietz im Wassermann’schen ­Garten (Stadtarchiv Bamberg, D 3001, Biebinger + 109, Abzug: ­Jürgen Schraudner)

Abb 4  Studie zur Flora von

Fritz Bayerlein, 1924 (Staats­ bibliothek Bamberg, Sign. I T 163/92, Foto: Gerald Raab)

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Die Zerschlagung der Sammlung Wassermann und die Übertragung in städtischen Besitz folgten auf die „Arisierung“ des Bankhauses, das zum 1. Januar 1938 verkauft wurde. Die verschiedenen Familienzweige emigrierten nach London und New York; das Anwesen der Wassermanns in der Hainstraße 19 wurde getrennt vom Kunstgut am 2. September 1938 verkauft.15 Generell ist die für diese Jahre der NS-Diktatur typische „Arisierung von unten“ – zum einen wirtschaftspolitische Maßnahmen der kommunalen und staatlichen Verwaltung und zum anderen Aktivitäten von lokalen Geschäftsleuten mit unterschiedlich gelagerten, handfesten wirtschaftlichen Interessen an der Übernahme jüdischer Unternehmen – für Bamberg bereits untersucht.16 Das kulturhistorisch bedeutende Inventar des Wassermann’schen Wohnhauses kaufte die Stadt Bamberg bereits im Sommer 1938. Ende Juli besichtigte der Kunsthistoriker Johann Joseph Morper, der seit Beginn des Monats bis zum 15. August 1939 im Auftrag des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege und der Stadt die Bestände des Museums inventarisierte, das Haus der Wassermanns. An dem Ortstermin am 25. Juli war eine kleine Gruppe von Fachleuten aus der Stadtverwaltung, der staatlichen Kultusverwaltung und der Wissenschaft beteiligt: der Leiter des städtischen Hochbauamtes, Oberbaurat Will, dem auch das Museum unterstellt war, ein Abteilungsdirektor des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege aus München, Joseph Schmuderer, sowie der Theologe und Kunsthistoriker Heinrich Mayer, Professor und Prorektor an der örtlichen Philosophisch-Theologischen Hochschule.17 In einer darauffolgenden Besprechung zwischen Morper, seinem Amtsleiter Will und Joseph Maria Ritz, dem staatlichen Museumspfleger am 15 Vgl. Ferdinand von Weyhe, A. E. Wassermann, eine rechtshistorische Fallstudie zur „Arisierung“ zweier Privatbanken. Frankfurt am Main 2007, bes. 143 – 155. 16 Vgl. Franz Fichtl/Stephan Link/Herbert May, Geschichtswerkstattprojekt „Arisierung in Bamberg“, in: Geschichte quer 4, 1995, 29 – 31; Franz Fichtl, Vom Boykott zur Enteignung. Die Verdrängung der jüdischen Bamberger aus dem Wirtschaftsleben im Nationalsozialismus, in: Berichte des Historischen Vereins Bamberg 132, 1996, 189 – 224; Stephan Link/Sylvia Schaible, Die „Ausschaltung des Juden Kahn“. Eine Fallstudie, in: Geschichte quer 5, 1997, 39 – 41; Franz Fichtl u. a., Bambergs Wirtschaft Judenfrei. Die Verdrängung jüdischer Geschäftsleute in den Jahren 1933 bis 1939. Bamberg 1998; Christiane Kuller, Finanzverwaltung und Judenverfolgung. Die Entziehung jüdischen Vermögens in ­Bayern während der NS-Zeit. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 160.) München 2008, 71 – 80. 17 Vgl. Akt der Stadt-Verwaltung Bamberg, Ankäufe für das städtische Museum, 1926, II. Band, Vermerk Morper, 26.7.1938.

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Landesamt für Denkmalpflege, wurde am 2. August die Auswahl der Stücke bestätigt und „zum Erwerb für das Städtische Museum und die Städtischen Stiftungen“ vorgeschlagen; zwei Tage später wurde der Kauf genehmigt und am 5. August die Zahlung an die Berliner Wassermanns geleistet. Angekauft wurden die beweglichen Sammlungsgegenstände mit Teilrechnungen über Summen von 2.286 RM am 26. Juli 1938, 2.565 RM am 5. August und 1.422 RM am 29. August 1938.18 Insgesamt umfasste der Ankauf über 150 Objekte überwiegend aus dem 18. Jahrhundert, darunter Zunftkrüge und -kannen, Creußener Steinzeug, Schnapsflaschen aus Glas mit Emaillebemalung, Porzellane und Fayencen, Zinnteller mit figürlichen Darstellungen sowie verschiedene Militariagegenstände wie Radschlosspistolen, Pulverflaschen und -hörner. In den Besitz der Stadt Bamberg gingen darüber hinaus auch metallene Schmuckkassetten, Spazier­stöcke, zahlreiche Tischuhren, wie die Prunkuhr aus der Werkstatt Hoys, und einige Bürgerporträts in Öl über. Zusätzlich wurden in diesem Zeitraum „nach Rücksprache mit Rechtsrat Wimmer“ die Gartenskulpturen für 415 RM und zwei Steinbänke für 85  RM angekauft, die zwar auf dem Grundstück in der Hainstraße verblieben, jedoch „im kleineren Hof des Museums zur Aufstellung gelangen sollen“.19 Dass die Gelegenheit äußerst günstig war, um die städtischen Sammlungen aufzustocken, und dass die gezahlten Preise keineswegs dem regulären Marktwert entsprachen, verdeutlicht ein Aktenvermerk aus der Nachkriegszeit. Darin heißt es, die „16 kunsthistorisch wertvollen figürlichen Plastiken“ aus dem „rückwärtigen Ziergarten“ seien zu einem „äußerst ­niedri­gen Preise“ erworben worden.20 Auch nach dem Verkauf des Wassermann-Anwesens wurden weitere Einrichtungsgegenstände für das Museum angekauft, so am 19. Oktober 1938 „1 Barockspiegel um 1720 und zwei Rokokospiegel“ für 220  RM sowie eine versilberte Lichtputzschere mit Untersatz zum Preis von fünf RM und Anfang November 1938 „zwei große Stillebenbilder aus der berühmten Bamberger Malerschule der Treu (3. Viertel des 18. Jhs.) zum Preise von à 60 RM“. Auch der Verwalter des Wassermann-Hauses beteiligte sich am Ausverkauf; von ihm erwarb die Stadt am 5. Oktober 1938 „1 Zinnteller mit Reliefdarstellung aus

18 Vgl. ebd., Aktenvermerke und Auszahlungsaufträge Wimmer vom 26.7., 5.8 und 29.8.1938. 19 Ebd., Aktenvermerk Morper, 30.7.1938. 20 Ebd., Aktenvermerk Rh/Rauh, 10.2.1949.

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der Schöpfungsgeschichte, Nürnberger Arbeit um 1720“ zum Preis von 30 RM sowie am 3. November 1938 „vier außergewöhnlich gut erhaltene und seltene Guckkastenbilder (auswechselbare Dioramen)“ für 70  RM.21 Gerade die für die beiden Gemälde gezahlten Preise deuten auf ein insgesamt niedriges Preis­ niveau hin. Die Gouachen auf Pappe waren als Gegenstücke aufeinander bezogen und zeigten Blumenstillleben vor Architekturen (53 x 62 cm). Ein Stillleben in Öl der Katharina Treu (1742 – 1811), die es vor allen anderen Mitgliedern der Malerfamilie in diesem Sujet zur Meisterschaft gebracht hatte, wurde bei einer Versteigerung aus „nichtarischem Kunstbesitz“ 1939 in Frankfurt am Main mit einem Schätzpreis von 250 RM gelistet.22 Eine kleinformatige Zeichnung war im Jahr zuvor in Berlin mit etwa 50 RM angesetzt worden.23 Zwar waren die Gemälde der Wassermann-Sammlung nicht ausdrücklich K ­ atharina Treu zugeschrieben, doch wurden auch Arbeiten ihres Bruders Joseph Christoph Treu (1739 – 1798) deutlich höher angesetzt, so die kleinformatige Interieur­ szene „Quacksalber, der versucht, einer jungen Frau einen Heiltrank einzuflößen“ (44 x 38 cm), die seinerzeit auf 120 RM geschätzt wurde.24 Die von der Stadt angekauften Gegenstände der Wassermann-Sammlung wurden in der Folge ordentlich im Museumsinventar verzeichnet; Morper, der ohnehin mit der Inventarisierung beschäftigt war, beschrieb die Objekte ausführlich und legte entsprechende Karteiblätter an. Der Ankauf der Sammlung durch die Stadt war dadurch Mitte bzw. Ende Oktober 1938 formal zunächst 21 Ebd., Aktenvermerk Morper, 21.10.1938. 22 Vgl. Kunsthaus Heinrich Hahn, Sammlung H. F., ehem. Sammlung Komm.-Rat G., aus verschiedenem z. T. nichtarischem Privatbesitz, 175 Gemälde alter und neuzeit­licher Meister, deutsche und italienische Fayencen, darunter großer Höchster Fayence-­ Enghalskrug, und Majoliken, Porzellan, …: 6. und 7. Juni 1939 (Katalog Nr. 58). Frankfurt am Main 1939, 12, wie auch die folgenden Ausstellungskataloge zit. nach dem Digitalisierungsprojekt „German Sales 1930 – 1945“, http://www.arthistoricum.net/ themen/themenportale/german-sales (Zugriff: 14.03.2014). 23 Vgl. Rudolph Lepke’s Kunst-Auctions-Haus, Nachlass Johann Friedrich Lahmann, Weisser Hirsch, Dresden: Gemälde und Handzeichnungen alter und neuer Meister, Möbel, Teppiche, europäisches und ostasiatisches Kunstgewerbe; 27. bis 29. April 1938 (Katalog Nr. 2122). Berlin 1938, Digitalisat „a“. 24 Vgl. Kunsthaus Heinrich Hahn, Gemälde und Handzeichnungen, alte Meister, neuzeitl. Meister, Plastik, deutsche Fayencen, italien. Majoliken, Porzellan, Metallarbeiten, Uhren, Sammlung Dr. E., Ostasiatica, …: 15. und 16. November 1939 (Katalog Nr. 59). Frankfurt am Main 1939, Digitalisat „a“.

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abgeschlossen. Der Verlust des Kunstbesitzes, des Geschäftes sowie des privaten und gewerblichen Grundeigentums, den die Bankiersfamilie Wassermann durch NS-Unrecht erlitt, fällt damit in die Wochen um die Pogromnacht vom 9. November 1938, ein Zeitraum, in dem in Bamberg eine Vielzahl solcher Eigentumswechsel stattfand.25 Dennoch waren auf dem Kunstmarkt auch im Frühjahr des folgenden Jahres noch Stücke aus der Sammlung Wassermann zu haben. Morper hatte erfahren, dass Robert Mattiß, ein Händler in Berlin, weitere „wertvolle Bamberger Kunst aus dem 17. und 18. Jahrhundert und auch Möbel aus der alten Abtei Michelsberg, Uhren von dem berühmten Bamberger Uhrmacher ­Leopold Hoyß [sic!], Zunftkrüge einzelner Bamberger Zünfte, Fayencen, u.[nd] w.[eiteres] m.[ehr]“ eingelagert habe. Am 18. März 1939 machte Morper die Stadtverwaltung ­darauf aufmerksam, dass die Preise „besonders niedrig sein“ dürften, und war deshalb der Meinung, dass „alle Hebel in Bewegung gesetzt werden sollten, diese Chance auszunutzen“.26 Gerade diese avisierten weiteren Ankäufe und zusätzliche Absprachen mit vorgesetzten Verwaltungsstellen der Stadt offenbaren, dass es der Kunsthistoriker Morper war, der als fachlich versierter Experte darauf drängte, möglichst viele Stücke für das städtische Museum zu sichern. Oberbaurat Will betonte deshalb, dass die „Möglichkeit zur Erwerbung weiterer Bamberger Kulturgüter“ aus dem Besitz der W ­ assermanns, „wenn es die finanzielle Lage gestattet, keineswegs versäumt werden“ sollte. Er veranschlagte eine Summe von zusätzlichen 3.000  RM, die, um die Ausgaben auf mehrere städtische Haushaltjahre verteilen zu können, auch im „Haushaltsplan 1939/40 untergebracht werden können“. Die bis dahin noch nicht zum Verkauf gekommenen „Kunstgegenstände wären zur Ausstellung im Heimatmuseum, Böttingerhaus und für das Bürgerspital sehr geeignet“. Zum Ankauf dieser weiterhin angebotenen Gegenstände aus der Sammlung Wassermann kam es schließlich jedoch nicht. Wills Vorgesetzter Wimmer vermerkte handschriftlich auf dem Antrag, dass eine solche Summe „unmöglich zur Verfügung gestellt werden“ könne.27

25 Vgl. Fichtl u. a., Geschichtswerkstattprojekt „Arisierung in Bamberg“, 30; ders. u. a., Bambergs Wirtschaft Judenfrei, 188 – 189. 26 Akt der Stadt-Verwaltung Bamberg, Ankäufe für das städtische Museum, 1926, II. Band, Brief Morper, 18.3.1939. 27 Ebd., Vermerk Will, 20.3.1939.

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Auch wenn er nicht umgesetzt wurde, offenbart Wills Vorschlag die Beweggründe für das Handeln der Verwaltungsbeamten sehr deutlich. Die Antiquitäten aus jüdischem Besitz sollten keineswegs nur musealen Zwecken dienen, die Verwendung jüdischen Eigentums für städtische Belange ging viel weiter. Denn bei dem von Will genannten Bürgerspital handelte es sich um ein städtisches Altenheim, das ebenfalls von dem Verkauf der Wassermann-Sammlung profitieren sollte. Grundsätzlich war es durchaus üblich, auch andere der Stadt angebotene Antiquitäten zur Möblierung des Altenheims zu nutzen. Und auch das in städtischen Besitz gekommene, repräsentative Böttingerhaus, das sich der Bamberger Beamte Ignaz Tobias Böttinger zwischen 1707 und 1713 im Stil eines italienischen Palazzos hatte errichten lassen, sollte entsprechend ausgestattet werden. Dabei war der Erwerb des Böttingerhauses selbst eine „Arisierung“. Nachdem der Privateigentümer, der Maler Paul Barthel, 1933 gestorben war, nahm die Stadtverwaltung die schon in den 1920er-Jahren mehrfach geplanten Ankaufpläne wieder auf und erwarb das Haus im Juli 1937 von seiner jüdischen Witwe Mina Barthel. Der Kaufpreis für das Böttingerhaus belief sich auf 5.000 RM, wobei der Verkäuferin zusätzlich lebenslanges Wohnrecht als Nießbrauch und eine jährliche Leibrente in Höhe von 4.000 RM zugesichert wurden.28 Der Vertrag, mit dem die Stadt Bamberg das Haus kaufte, kam scheinbar ohne über die reguläre Verhandlungsführung hinausgehenden Druck zustande und war für die jüdische Verkäuferin wohl zufriedenstellend.29 Gleichwohl zeichnete sich beim Böttingerhaus ein Muster ab, das der Bereicherung der Stadt diente und bei dem Raubpolitik und „Arisierung“ einerseits und die Verwertung von ehemaligem jüdischem Eigentum andererseits nahtlos ineinander übergingen. Vier Jahre nach dem Verkauf des Böttingerhauses, am 27. oder 29. November 1941, wurde Mina Barthel nach Riga deportiert, wo sie vermutlich bald darauf ermordet wurde.30

28 Vgl. StadtA Bamberg, VII A 845/205, Band II 1933, Betreff: Erwerbung des Prellschen (Böttinger-)Hauses in der Judenstr. 14 – Vermietung, Aktenvermerk, 1.6.1937 und 29.6.1937. 29 Die Jewish Restitution Successor Organization (JRSO) forderte 1951 allein den Ausfall der Rentenzahlung an Mina Barthel für statistisch angesetzte weitere elf Jahre, die Stadt strebte vor der Wiedergutmachungskammer Fürth einen Vergleich an. Nach einer Einmal­zahlung von 3.000 DM blieb das Haus im Besitz der Stadt. Vgl. StadtA Bamberg, VII A 845 bis 849/205, Beiakt 1946, Aktenvermerk Stumpf, 7.9.1952. 30 Vgl. Norbert Haas, Paul Barthel (1862 – 1933) – Kunstmaler und Mäzen: Zum Schicksal der Familie Barthel und des Böttingerhauses zu Bamberg, in: Heimat Bamberger Land

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II.2 Die Grafiksammlung Federlein

Der unmittelbare Nachbar der Wassermanns war Max Federlein, der in der Hainstraße 21 die väterliche Hopfenhandlung Leopold Federlein fortführte. In den frühen 1930er-Jahren expandierte sein Geschäft; mit Beginn des Jahres 1934 übernahm er als Alleineigentümer drei Hopfenhandlungen, an denen er zuvor als Gesellschafter beteiligt gewesen war, von Anna Amalie Morgenroth, der Witwe des 1932 verstorbenen Mehrheitseigners Max Morgenroth.31 Angesichts der Radikalisierung antijüdischer nationalsozialistischer Maßnahmen und der Gewaltausbrüche beim Pogrom fühlte sich Federlein im Spätherbst 1938 in Bamberg zunehmend unsicher. Er bat den ihm gut bekannten Karl Kühnle, der in der städtischen Vermögensverwaltung beschäftigt war, beim nationalsozialistischen Oberbürgermeister Lorenz Zahneisen darum zu bitten, „bei einer Wiederholung einer Aktion gegen Bambergs Juden Max Federlein als alten Bamberger Bürger in Schutz zu nehmen“.32 Verzweiflung und die Angst vor weiteren Exzessen ließen Federlein in der Folge seine Emigration nach England vorbereiten. Die Hopfenhandlungen hatte er bereits am 30. Januar 1938 abgemeldet, sein ehemaliger Geschäftsführer – dem er im September 1937 zum 31. Juli 1938 gekündigt hatte – übernahm die bestehenden Geschäfts- und Handelsbeziehungen sowie den Kundenstamm. In den 1920er-Jahren hatte sich Federlein dem Aufbau einer Grafiksammlung verschrieben. Ab 1928 unterstützte und beriet ihn dabei Max Müller, der Leiter der Staatlichen Bibliothek in Bamberg. Die Grafiksammlung mit knapp über 400 Blättern war auf regionale Motive ausgerichtet und enthielt Bamberger Stadt- und fränkische Landschaftsansichten sowie Porträts und war von hervorragender Bedeutung (Abb. 5). Dass Federlein ein verstän­diger S­ ammler war, belegt auch das Vorbild, das er sich gewählt hatte. Ziel der Sammlung war, den Bestand von Bambergensia und Franconica nachzubilden, die der Bamberger Kaufmann, Kunstschriftsteller und Heimatforscher Joseph Heller in den 1820erbis 1840er-Jahren zusammengetragen hatte. Heller war ein ausgesprochen 10, 1998, Heft 3, 81 – 87. 31 Das Folgende nach Fichtl u. a., Bambergs Wirtschaft Judenfrei, 330 – 332. 32 StadtA Bamberg, Akt der Stadtverwaltung Bamberg betr. Ankauf der S.[ammlung] F.[ederlein] ab 1945 VI. M. Fach 651, 21. zit. nach Bruno Müller, Geschichte der Sammlung Federlein, in: Max Müller, Katalog der Sammlung Federlein (Alt-Bamberg). (Berichte des Historischen Vereins Bamberg, BHVB, 19. Beiheft.) Bamberg 1985, 6.

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kenntnisreicher Sammler gewesen; ihm eiferten nicht nur Federlein, sondern auch weitere Bamberger Grafiksammler nach.33 Die Grafik­sammlung Heller wird seit seinem Tod in der königlichen Bibliothek bzw. der heutigen Staatsbibliothek Bamberg verwahrt.34

Abb 5  Ansicht Bamberg von Süden aus der Sammlung Federlein, kolorierter Kupferstich von 1608/09 aus Civitates Orbis Terrarum, Bd. 6, 1612 (Museen der Stadt Bamberg Inv.-Nr. F 13g)

33 Verdienstvoll waren auch Hellers gelehrte kunsthistorische Arbeiten, die wegweisend für das Entstehen der kunstgeschichtlichen Forschung zur Druckgrafik sind. So legte er u. a. Monografien über die in Franken tätigen altdeutschen Meister Lucas Cranach d. Ä. und Albrecht Dürer vor, vgl. Joseph Heller, Das Leben und die Werke Lucas Cranach’s. Bamberg 1844; ders., Das Leben und die Werke Albrecht Dürer’s. Bamberg 1827 – 1831. 34 Vgl. Bernhard Schemmel, Joseph Heller (1798 – 1849). Graphiksammler und -forscher, in: Berichte des Historischen Vereins Bamberg 141, 2005, 177 – 180. Vgl. auch den Katalog der Sammlung und den frühen Beitrag Friedrich Leitschuh, Joseph Heller und die deutsche Kunstgeschichte, in: ders.: Katalog der Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Bamberg, Bd. 2: Die Handschriften der Helleriana. Leipzig 1887, I–LIV.

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Im Haus Max Federleins schmückten ausgewählte Kupferstiche aus der Sammlung das mit Biedermeiermöbeln ausgestattete repräsentative Wohnzimmer. In Gesellschaft wurde dort auch regelmäßig über die Blätter diskutiert; seit 1931 war zudem die wissenschaftliche Benutzung in der Staatsbibliothek möglich.35 Das „vollständige Biedermeierzimmer“ bot Federlein der Stadt Bamberg am 23. März 1939 für 800 RM zum Kauf an. Es war der mit ihm bekannte Kühnle aus der städtischen Vermögensverwaltung, der die Ausstattungsteile auflistete: „1 Bücherschrank, 1 Schreibtisch mit Schreibtischsessel, 1 runder Tisch, 2 Stühle, 1 Ohrenbackensessel, 1 Lehnsessel und 1 Kanapee; diese Stuhlmöbel gepolstert, 1 langer und ein kurzer Spiegel, 1 Nähtischchen, 1 Spucknapf, 1 Lichtschirm und 1 Ofenschirm, dazu etwa 15 alte Stiche und Lithographien (Stadtansichten in Biedermeierrahmen).“36 Bereits im Dezember 1938 hatte Federlein vereinbart, dass die Grafiksammlung als Schenkung an die Stadt übergehen sollte; die Übernahme erfolgte am 16. Juni 1939.37 Trotz der bereits vereinbarten, aber wohl nicht schriftlich fixierten Übertragung des Eigentums fürchtete die städtische Finanzverwaltung offensichtlich, Federlein könne seinen Kunstbesitz – nach nationalsozialistischer Gesetzeslage illegal – beiseiteschaffen oder mit in die Emigration nehmen. Das Amt wies deshalb darauf hin, dass er Anfang März 1939 in einem Fragebogen den Besitz einer „Sammlung im Wert von R. M. 5.500.- und Kunstgegen­ stände“ angemeldet habe, und bat „um Vorlage dieser Gegenstände sowie des Nachweises, dass Sie die Sammlung verschenkt haben“. Darüber hinaus sei „der Nachweis des erfolgten Verkaufs der Kunstgegenstände durch Vorlage von Original-Verkaufsbestätigungen mit Angabe der genauen Anschrift des ­Käufers (Ort, Strasse und Hausnummer) zu erbringen“. Dass sowohl die Vereinbarung, eben diese Sammlung „kostenlos an die Stadt Bamberg“ abzugeben, als auch der Kauf der Biedermeiermöbel vom 15. April 1939 in der Behörde bereits bekannt waren, reichte dabei nicht aus.38 Die Vermögensverwaltung hielt an einem strengen, formal bürokratischen Vorgehen fest und forderte für den Eigentumswechsel an die eigene Kommune schriftliche Belege. Oberbürger­ meister Zahneisen selbst bestätigte daher am 3. Mai 1939 den Übergang des

35 Vgl. Müller, Geschichte der Sammlung Federlein, 6. 36 StadtA Bamberg, Tit. VI. M/Fach-Nr. 651/Akten-Nr. 21, 23.3.1939. 37 Vgl. ebd., 17.6.1939. 38 Ebd., 28.4.1939.

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Eigentums.39 Federleins Sammlung, die für das regionalgeschichtlich ausgerichtete Museum natürlich von großem Interesse war, ging also – nach damaligem Verständnis gesetzeskonform – als Schenkung an die Stadt Bamberg und war für den Museumsbestand vorgesehen. Die Blätter wurden dann aber – gewissermaßen als Dubletten der Sammlung Heller – in der Staatsbibliothek verwahrt, ein Umstand, der im Wiedergutmachungsverfahren und in der Diskussion um den Zwangscharakter der Übertragung eine wichtige Rolle spielen sollte.

III. Nachgeschichte des NS-Raubes: Restitution und Wiedergutmachung Schon im Sommer 1945 begann eine Auseinandersetzung um die Sammlung Federlein zwischen dem städtischen Museum und der Staatsbibliothek. Der 1934 abgesetzte und von den Amerikanern wiedereingesetzte Oberbürgermeister Luitpold Weegmann (CSU) forderte aufgrund der als rechtmäßig erachteten Besitzverhältnisse auch die reale Übergabe an die Stadt, indem er feststellte, Federlein habe seine Sammlung der Stadt „unentgeltlich und bedingungslos übereignet, und zwar deshalb, weil ihm die Erfüllung besonderer Wünsche zugesagt wurde“. Außerdem habe Federlein die Verhandlungen „in dieser und in anderen Sachen ausschließlich mit dem Stadtoberamtmann Kühnle“ geführt; diesem gegenüber habe er stets bekräftigt, dass „die Sammlung nur der mit ihm seit Jahrzehnten bekannte […] Kühnle für die Stadt bekomme, die dort als ‚Sammlung Federlein‘ verbleiben und ergänzt werden solle“.40 Max Müller, der weiterhin die Staatsbibliothek leitete, bestand hingegen auf einem weiteren Verbleib der Sammlung an der Staatsbibliothek als Dauerleihgabe der Stadt, so wie es seiner Meinung nach dem Wunsch Federleins entsprach. Dieser habe die „Sammlung in Kästen mit dem Katalog unentgeltlich als Eigentum an die Stadt“ übergeben, und zwar unter der „Bedingung, dass die Sammlung zweckmäßig als Leihgabe an die Staatliche Bibliothek Bamberg kommt und durch mich als Verfasser des Katalogs und besonderen Kenner der Bamberger Graphik verwaltet und mit städt.[ischen] Mitteln weiter vermehrt wird“.41 Kühnle, der

39 Vgl. ebd., Bestätigung OB Zahneisen, 3.5.1939. 40 Ebd., Weegmann an Müller, 8.6.1945. – Federlein war wohl die Ausfuhr bestimmter Möbelstücke gewährt worden. 41 Ebd., Müller an Weegmann, 11.6.1945.

Die Sammlungen der Museen der Stadt Bamberg 253

während der Verhandlungen Ende 1938 in einer eigentümlichen Doppelrolle als städtischer Bediensteter und Mittelsmann aufgetreten war, erklärte, „kein Beamter der Stadtverwaltung [ist] an Federlein zum Verkauf seiner Sammlung herangetreten. Federlein wurde auch von keinem Angehörigen der Stadtverwaltung angebettelt, die Sammlung der Stadt zu schenken. Federlein kam ohne jede Aufforderung oder Bitten aus freiem Entschluß zu mir, um diese und andere Angelegenheiten mit mir zu besprechen. Ich war auch öfters bei ihm in der Wohnung, habe auch die Sammlung von dort abgeholt, aber niemals war die Rede davon, daß die Stadt nur die Besitzerin, die Staatsbibliothek die Verwahrerin sein sollte.“42 Die städtische Verwaltung zog sich auf diese Position zurück und erhielt zunächst die Sammlung, die während des Kriegs bereits ergänzt worden war. Am 21. Juni 1945 übergab Kühnle dem städtischen Museum „1 große Mappe und 4 Kästen enthaltend die Federlein’sche Sammlung Bamberger Graphik, die Federlein der Stadt Bamberg im Jahre 1938 unentgeltlich übereignet hat und 1 Katalog von Dr. Max Müller v. J. 1931“.43 Selbst in dem vermeintlich nebensächlichen Übergabeprotokoll betont Kühnle den freien Willen des Sammlers bei der Übergabe. Als Finanzbeamter wusste er spätestens nach dem logis­tischen und bürokratischen Aufwand, den die westlichen Besatzungsmächte zur Klärung von Eigentumsfragen an Kunstgut betrieben, wie wichtig es war, auch zu betonen, dass kein Geld geflossen und dass die Eigentumsübertragung als rechtskräftige Schenkung zu verstehen war. Damit machte sich Kühnle aber zugleich die während der NS-Zeit kursierende rationalisierende Auffassung zu eigen, dass die Eigentumsübertragung vormals jüdischen Eigentums scheinbar legal war. Nach dem Krieg pflegte die Stadt ihr neues Eigentum: „Sechs ­Blätter wurden in der Zwischenzeit erworben, mehr waren nicht zu haben.“ Das konnte aber letztlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Bewusstsein für die moralisch problematische „Anhäufung“ von Kulturgut – nicht nur aus jüdischem Besitz – während der NS-Zeit bestand: „Wertvolle Möbel, Bilder u.[nd] d[er] gl.[eichen], die in den Jahren 1938 bis heute angehäuft wurden, befinden sich in auswärtigen Bergungslagern. Nach deren Rückführung werden auch diese dem Museum übergeben.“44

42 Ebd., 13.6.1945. 43 Die drei folgenden Zitate nach ebd., Protokoll Kühnle, 21.6.1945. 44 Ebd., 21.6.1945.

254 Timo Saalmann

Trotz der Querelen um den Aufbewahrungsort präsentierte nach der Übergabe des Federlein-Bestandes an die Stadt im Oktober 1945 eine Ausstellung in der Staatsbibliothek die Grafiken der Öffentlichkeit. Die Frage nach dem Besitz und dem rechtmäßigen Erwerb der Sammlung rückte Ende der 1940er-Jahre erneut auf die Tagesordnung. Auf ersten Fragebögen der amerikanischen Militär­regierung über Kunstgegenstände, die Juden NS -verfolgungsbedingt entzogen worden und in öffentliche Sammlungen gelangt waren, hatte die Stadtverwaltung „Fehlanzeigen“ erstattet. Jedenfalls war weder der Erwerb der Sammlung Wassermann noch der Sammlung Federlein angemeldet worden. Die fortgesetzte Arbeit der in Bayern tätigen amerikanischen Kunstschutz­ einheit MFA & A (Monuments, Fine Arts and Archives) machte aber ein Handeln nötig. In den westlichen Besatzungszonen beschlagnahmten mit dem Kunstschutz betraute Organe vorerst sämtlichen vorgefundenen Kunstbesitz mit unklarer Provenienz und führten ihn zur späteren Rückgabe an die rechtmäßigen Besitzer in Sammellagern, für Bayern am Central Collecting Point München, zusammen.45 Wohl im Hinblick auf die andauernde Aktivität des amerikanischen Kunstschutzes erörterte der Bamberger Stadtrat eine mög­ liche Rückgabe­forderung und beschloss am 9. Dezember 1947, „die Sammlung, wenn sie von Max Federlein selbst oder einem bevollmächtigten Vertreter vom Stadtrat begehrt wird, zurückzugeben“. Gleichwohl wich das Gremium nicht von der seit 1939 vertretenen Einschätzung ab, dass die Übergabe freiwillig erfolgt sei; schließlich müsse „bestritten werden […], dass die Stadtverwaltung oder ein Beamter derselben bei Federlein wegen Herausgabe der Sammlung vorstellig geworden ist“.46 Auch Kühnle hielt an dieser Sichtweise fest. Darüber hinaus erklärte er, die Rettung der Sammlung als schützenswertes Kulturgut am Ende des Krieges sei allein der Stadt zu verdanken. Schließlich habe sie die Sammlung „treu behütet und während des Krieges in Sicherheit gebracht, um sie vor Beschuss oder Bombenschaden zu bewahren“.47 Den fortgesetzten Beteuerungen, die Sammlung sei rechtmäßig erworben worden, zum Trotz wurden Vorbereitungen für eine Klärung der Rechtslage 45 Vgl. Iris Lauterbach, Raub und Restitution. Zur Geschichte des Central Art Collect­ ing Point in München 1945 – 1949, in: Wolfgang Stäbler (Hrsg.), Kulturgutverluste, Provenienzforschung, Restitution. Sammlungsgut mit belasteter Herkunft in Museen, Biblio­theken und Archiven. (Museumsbausteine 10) München/Berlin 2007, 39 – 47. 46 StadtA Bamberg, Tit. VI. M/Fach-Nr. 651/Akten-Nr. 21, 9.12.1947. 47 StadtA Bamberg, Tit. VI. M/Fach-Nr. 651/Akten-Nr. 21, Beiakt, 3.3.1948.

Die Sammlungen der Museen der Stadt Bamberg 255

und eine mögliche Restitution getroffen. Federleins Anwältin hatte bewirkt, dass die „Sammlung samt Katalog (Inventar)“ am 6. Februar 1948 der MFA & A „auf Anforderung zur Sicherheitsverwahrung überlassen“ werden m ­ usste.48 Die Anmeldung eines Rückerstattungsanspruchs auf eine „‚Bambergensis’ Sammlung von Federzeichnungen, Handzeichnungen und Aquarellen von Alt-Bamberg, meist aus der Zeit vor 1850“ ist auf den 11. November 1948 datiert. Begründet wurde der Anspruch damit, dass „der Antragsteller Denny [früher Max] Federlein im Jahre 1939 kurz vor seiner Auswanderung gezwungen [wurde], die wertvolle Sammlung der Stadt Bamberg ‚schenkungsweise‘ zu überlassen“. Er sei „auf das Drängen der Stadtverwaltung nur ein[gegangen], um keinen Nachteilen im Hinblick auf seine damals in kürzester Zeit zu erwartende Auswanderung ausgesetzt zu sein oder gar deren Hintertreibung erleben zu müssen“. Somit läge „eine Entziehung im Sinne des Art. 3 Abs. 1b“ des Rückerstattungsgesetzes (REG) vor, und die „Schenkung [werde] gemäß Art. 4 REG angefochten“.49 Die Forderung nach der Herausgabe der Grafiken rief Max Müller auf den Plan, der einen Teil seines Lebenswerkes gefährdet sah. Er wandte sich deshalb an Federlein, den er an die gemeinsame Arbeit erinnerte. Dabei appellierte er nicht nur an dessen Heimatgefühl seiner Geburtsstadt gegenüber, sondern machte ihm Vorwürfe. „Ich weiß nicht, was Sie veranlasst hat, die Sammlung für sich zurückzufordern. Unsere gemeinsame Arbeit bei der Erwerbung und dem Ausbau Ihrer Sammlung ist meines Erachtens geschehen, um an Stelle der stark angeschlagenen Heller’schen Sammlung der Staatsbibliothek die Graphik von Bamberg für die Stadt zu sichern.“ Es sei zwar „nicht von der Hand zu weisen, daß Sie seinerzeit die Sammlung unter einem gewissen Druck der Stadt gegeben haben. Das war damals wohl auch der einzige Weg, um die Sammlung sicher zu erhalten.“ Hier bröckelt erstmals die sowohl von Müller als auch den Vertretern der Stadt zuvor öffentlich stets vorgetragene Behauptung, die Übergabe sei freiwillig ohne jeglichen Druck erfolgt. Dennoch änderte dieses Eingeständnis nichts an Müllers Absicht. Vielmehr bat er Federlein um Unterstützung, um die Sammlung dauerhaft in Bamberg zu halten.50

48 Ebd., 13.5.1948. 49 Ebd., 11.11.1948. 50 Vgl. ebd., Müller an Federlein, 17.12.1948.

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In der Zwischenzeit hatte sich auch die Stimmung auf der politischen Ebene gewandelt, und die Stadt legte Widerspruch gegen Federleins Rückerstattungsanspruch ein.51 Angesichts einer nun realen Forderung auf Heraus­ gabe wurde die Absichtserklärung des Stadtrats vom Wunsch abgelöst, die Sammlung in Bamberg zu halten. Mit diesem Ziel leistete StaatsbibliothekDirek­tor Müller, der in dem eher vertraulichen Brief an Federlein den Zwangs­ charakter der „Schenkung“ eingestanden hatte, wider besseres Wissen eine Falschaussage. „An Eidesstatt versichere“ er nicht nur, dass „Federlein die Sammlung aus freien Stücken der Stadt geschenkt“ habe, dieser habe ihm vielmehr „schon im Jahre 1928 […] öfters erklärt, daß er die Sammlung einmal seiner Vaterstadt zum Geschenk machen wolle. Ich habe deshalb mich besonders bemüht, gute B ­ lätter, die für die Mittel der staatlichen Bibliothek nicht erreichbar waren, für die künftige Stadtsammlung zu erwerben. Im Frühjahr 1939 teilte mir ­Federlein mit, daß er beabsichtige, seine Sammlung Bamberger Graphik der Stadt zu schenken.“52 Zu vermuten ist jedoch, dass Federlein vielleicht anfangs die Absicht zur Schenkung gehabt hatte, dass aber NS-Herrschaft und Judenverfolgung, die für ihn ein Leben in Bamberg unmöglich machten, ein Umdenken bewirkt hatten und er, durchaus nachvollziehbar, seine Absichten geändert hatte. Stadtintern wurde derweil diskutiert, welche juristische Position man einnehmen sollte. Der inzwischen pensionierte Josef Rauh, der im Hochbauamt zeitweise für das Museum zuständig gewesen war, meinte, es wäre am besten, an dem einmal gefassten Stadtratsbeschluss vom Dezember 1947 und der Heraus­ gabe festzuhalten. Dafür spräche auch, dass sich Federlein in London „sicherem Vernehmen“ nach „in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen“ befand. Daher bestehe die Möglichkeit, dass „er schließlich auch die Herausgabe der Schenkung nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung fordern (§ 528 BGB)“ könne. Auch für den hinzugezogenen Juristen des Finanzreferates war die Rückgabe letzten Endes unabwendbar, auch wenn Zweifel blieben. „Wenn auch der Nachweis, dass in irgend einer Weise ein Druck auf Federlein ausgeübt wurde, diese Graphiken der Stadt schenkungsweise zu überlassen, nicht erbracht werden kann, so glaube ich trotzdem, dass ein Rückerstattungsanspruch besteht.“ Er verwies auf Artikel 5

51 Vgl. StadtA Bamberg, Tit. VI. M/Fach-Nr. 651/Akten-Nr. 21, 8.8.1950. 52 StadtA Bamberg, Tit. VI. M/Fach-Nr. 651/Akten-Nr. 21, Beiakt, 21.8.1950.

Die Sammlungen der Museen der Stadt Bamberg 257

des Rückerstattungsgesetzes, der „bestimmt, dass dann, wenn einem anderen Vermögensgegenstände unentgeltlich überlassen wurden, vermutet wird, dass keine Schenkung, sondern eine Verwahrung oder ein Treuhandverhältnis vorliegt. Diese Vermutung zu entkräften dürfte sehr schwer sein. Es wird deshalb vorgeschlagen, den Rückerstattungsanspruch […] anzuerkennen.“53 Diese Position machte sich schließlich auch der Stadtrat zu eigen. Vor der Wiedergutmachungsbehörde III Oberfranken und Mittelfranken beim Amtsgericht Bamberg gab die Stadt am 14. November 1950 die „Einwilligung zur Herausgabe dieser Graphiksammlung“.54 Dennoch war der Verbleib der Sammlung auch ein Jahr nach der Einigung mit Federlein noch nicht endgültig geklärt. Bundesjustizminister Thomas Dehler bot sich als Vermittler an. Der aus dem oberfränkischen Lichtenfels stammende FDP-Politiker wohnte seit 1926 in Bamberg und betrieb dort eine Rechtsanwaltskanzlei. Mit Federlein war er bekannt, ab 1938 bewohnte er in dessen Haus die erste Etage zur Miete und riet ihm nach eigenen Angaben zur Emigration. Dehler verfügte in der Region über einigen Einfluss. Im Juni 1945 hatte ihn die amerikanische Militärregierung als Landrat für den Kreis Bamberg eingesetzt, am Oberlandesgericht Bamberg war Dehler bis 1947 Generalstaatsanwalt sowie anschließend bis 1949 dessen Präsident.55 Mit der Materie war Dehler wohlvertraut: Während der NS-Zeit hatte er einige Juden vertreten, die gegen „Arisierungen“ geklagt hatten, und nach dem Krieg war er als Minister wiederholt mit Fragen zum Umgang mit NS-Unrecht befasst. Grundsätzlich plädierte er für einen „Schlussstrich“ und setzte auf eine Befriedung der bundes­ republikanischen Gesellschaft mittels der Amnestiegesetze.56 Oberbürger­meister Weegmann unterrichtete Dehler, dass die Stadtverwaltung „nach wie vor an der Erhaltung dieser Sammlung für Bamberg interessiert“ sei, auch wenn die Finanzlage gerade „nicht günstig“ und ein „Betrag von 8.000.- DM“, der wohl im Raum stand, nicht verfügbar sei.57 53 StadtA Bamberg, Tit. VI. M/Fach-Nr. 651/Akten-Nr. 21, Finanzverwaltung an Rauh, 28. August 1950. 54 Ebd., 30.11.1950. 55 Vgl. Udo Wengst, Thomas Dehler 1897 – 1967. Eine politische Biographie. München 1997, zur Tätigkeit in Bamberg 43 – 75, zu Federlein 61, zur Nachkriegszeit 77 – 98. 56 Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1999, passim. 57 StadtA Bamberg, Tit. VI. M/Fach-Nr. 651/Akten-Nr. 21, 29.12.1951.

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Richtig in Gang kamen die Verhandlungen erst 1953. Federleins Anwältin unterbreitete am 7. Mai das Angebot, „die Sammlung gegen 500 englische Pfund, ferner Begleichung aller durch das Rückerstattungsverfahren und später angefallenen Kosten und Auslagen, zahlbar bei Annahme des Angebots, zu verkaufen“.58 Unmittelbar am folgenden Tag bestätigte Kulturreferent Hergenröder das weiterhin bestehende Interesse der Stadt und bat Walter Tunk, den vor Ort tätigen Konservator der Bayerischen Schlösserverwaltung, um ein Gutachten über den Wert der Sammlung. Tunk hob den in sich geschlossenen Charakter der Sammlung hervor und meinte: „Die Federlein-Sammlung ist also in dieser systematischen Gesamtheit mehr wert als die bloße Summe ihrer einzelnen Blätter. Man wird also den Preis von 3500.- DM, der [von Tunk] für die Summe der Einzelblätter errechnet wurde, füglich auf etwa 4000.- DM für die gesamte vorliegende Kollektion mit Katalog erhöhen müssen.“59 Nach Federleins Tod am 12. August 1953 ließ seine Tochter die Verhandlungen über die Bamberger Anwältin weiterführen.60 Von Federleins Tochter erwarb die Stadt im Oktober 1953 die Grafiken für 5.000 DM. Rechtlich gesehen war der Erwerb kein Kauf, sondern ein Vergleich, und jene Geldsumme wurde als „Ersatz“ gezahlt. Federleins Tochter verzichtete mit der Einigung vor der Fürther Wiedergutmachungskammer zugleich auf weitere „Entschädigungsansprüche wegen der verglichenen Vermögensgegenstände“.61 Auf der kulturpolitischen Ebene der Stadt war es wiederum Tunk gewesen, der nachdrücklich für die Einigung mit Federleins Tochter geworben hatte. Besonderen Wert legte er d ­ arauf, dass eine gütliche Regelung v. a. auch eine Form der symbolischen Wieder­ gutmachung sei. Denn bei diesem Wiedergutmachungsverfahren handele es sich „nicht etwa, wie so oft, um die Wiederholung eines käuflichen Erwerbs, der während der nationalsozialistischen Zeit schon einmal käuflich getätigt worden ist. Es geht hier vielmehr um eine ursprüngliche Schenkung, die durch den schuldhaften Antisemitismus des nationalsozialistischen Regimes diesen ihren Schenkungscharakter verloren hat und nunmehr – gleichwohl als eine Art der Wiedergutmachung – als käufliche Erwerbung zur Frage steht.“62 In 58 Ebd., 7.5.1953. 59 Ebd., Tunk an Hergenröder, 18.5.1953. 60 Vgl. ebd., 24.8.1953. 61 Ebd., 22.10.1953. – Zur hier nicht behandelten Entschädigung für den Verlust des Unternehmens vgl. Fichtl u. a., Bambergs Wirtschaft Judenfrei, 332. 62 StadtA Bamberg, Tit. VI. M/Fach-Nr. 651/Akten-Nr. 21, 30.10.1953.

Die Sammlungen der Museen der Stadt Bamberg 259

dieser Sichtweise ließ sich die innerstädtische Überzeugung, es habe sich um eine Schenkung an die Heimatstadt gehandelt, elegant aufrechterhalten und mit dem bundesrepublikanischen Anspruch auf die Wiedergutmachung national­ sozialistischen Unrechts verbinden.

IV. Relikte der „Arisierung“ und Wiedergutmachung Auch die Wassermanns stellten einen Wiedergutmachungsantrag für das in Bamberg verloren gegangene Eigentum. Die Forderung koordinierte der in Brüssel wohnende Robert Wassermann, die restliche Familie lebte verstreut in Tel Aviv, London und New York. Die Erbengemeinschaft bemühte sich um die Wiedererstattung eines Teils ihres Besitzes, also des Hauses in der Hainstraße 19 und des beweglichen Kunstinventars. „Meine Auftragg.[eber]“, ließ der vor Ort in Bamberg beauftragte Anwalt wissen, „verlangen von den derzeitigen Besitzern die Herausgabe aller noch feststellbaren beweglichen Gegenstände, insbesondere die Möbel, Teppiche, Kunstgegenstände und Antiquitäten, welche sich im Haus Hainstr. 19 befanden[,] als dies durch Kaufvertrag vom 8. August 1938 in das Eigentum der Stadt Bamberg überging.“ Dabei seien hauptsächlich die städtischen Museumsmitarbeiter aktiv gewesen, denn die „gesuchten Gegenstände aus dem Besitz derer von Wassermann wurden nicht von der Vermögensverwaltung, sondern von dem damaligen Verwalter der städt. Museen verwahrt und auch registriert“.63 Der Rückforderungsanspruch der Erben wurde bestätigt; die Kunstgegenstände wurden am 26. März 1952 zurückgegeben und anschließend im Auftrag der Wassermanns vom Auktionshaus Lempertz in Köln versteigert. Die Objekte wurden aus dem Museumsinventar gestrichen. Aus der Auktion erwarb das städtische Museum keine Kunstgegenstände, dafür aber einige andere Museen aus der Region. Die laut den Ankaufslisten von 1938 übernommenen, bei der Restitution 1952 jedoch vorerst nicht mehr nachweisbaren Objekte wurden später zum Teil im Bürgerspital, dem städtischen Altenheim, aufgefunden und am 11. August 1958 zurückerstattet.64 Der Verbleib der Steinfiguren aus

63 Akt der Stadt-Verwaltung Bamberg, Ankäufe für das städtische Museum, 1926, II. Band, 26.3.1952. 64 Vgl. Heimatmuseum Bamberg, 1950, IV. Band, Tit. IV/157, Nr. 35, 11.8.1958.

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dem ­Wassermann’schen Garten blieb jedoch unklar – und ist es bis heute. Die Skulpturen sollen laut einer Zeugenaussage von Anfang 1949 „schon vor längerer Zeit“ von amerikanischen Besatzungssoldaten vor der Asphaltierung des Hofes, der als Parkplatz genutzt werden sollte, „in Stücke zerschlagen und als Schutt abgefahren worden“ sein.65 Diese Erklärung scheint angesichts der Sensibilität des amerikanischen Kunstschutzes gerade für möglicherweise verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut äußerst zweifelhaft. Dass es sich um eine Schutzbehauptung zur Vertuschung eines illegalen Abtransportes der Skulpturen durch Dritte handelt, lässt sich allerdings ebenso wenig beweisen. Für die Sammlungen Wassermann und Federlein wurden Regelungen nach der Rechtslage der 1940er- und 1950er-Jahre getroffen. Sie spiegeln zwei heute noch bzw. seit der Jahrtausendwende wieder übliche Spielarten des Umgangs mit NS-Raubgut: den erneuten Erwerb durch Museen sowie die Rückerstattung an die Erben (mit anschließender Versteigerung oder Weitergabe in den Kunsthandel). Gleichwohl verblieben auch nach der Einigung einige wenige Objekte aus der Wassermann-Sammlung im Museumsbestand – wohl, weil sie bei der Antragstellung nicht mit gelistet worden waren oder vielleicht auch weil Einzelstücke bei der Herausgabe in den Depots nicht auffindbar waren. Die Gründe lassen sich im Einzelnen leider nicht mehr genau klären. Die Überbleibsel in der Sammlung des Historischen Museums sind jedoch wenige Einzelstücke von eher geringem Wert sowohl in kunsthistorischer als auch in materieller Hinsicht. Vielleicht sind sie deswegen bei der Rückforderung schlicht vergessen worden, da dabei Möbel, Teppiche und Kunstwerke im Mittelpunkt standen. Dessen ungeachtet können sie im Familiengedächtnis hohen ideellen Wert haben. Es sind daher gerade diese Objekte mit Reliktcharakter, die heute eine andere Möglichkeit eröffnen. Ihnen kommt – durch die Umstände ihres Erwerbs in der NS-Zeit und der Nachgeschichte der Wiedergutmachungsbemühungen der 1950er-Jahre – eine eigene historische Bedeutung zu. Sie sind zu Bedeutungsträgern der deutschen und deutsch-jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts geworden. Diesen Platz nehmen sie bei der Ausstellung in Bamberg ein. Weil die Objekte – warum auch immer – bei der Rückgabe vergessen wurden, eröffnen sie jetzt die Möglichkeit, die Geschichte von „Arisierung“, Kulturgutraub und Wiedergutmachung sichtbar zu machen, sie museal aufzubereiten und zu erzählen.

65 Akt der Stadt-Verwaltung Bamberg, Ankäufe für das städtische Museum, 1926, II. Band, Aktenvermerk Rauh, 10.2.1949.

Monika Tatzkow

„Praktisch zertrümmert“. Die Kunstsammlung Adolf Bensinger, Mannheim „Arisierung“, Restitution und Wiedergutmachung in deutschen Städten – zu d ­ iesen Vorgängen gehören auch die Verluste, die jüdische Kunstsammler zu beklagen hatten, der Versuch ihrer Entschädigung in den 1950er- und 1960er-Jahren in der Bundesrepublik Deutschland und der nach wie vor andauernde Kampf der Erben um Fairness und Gerechtigkeit. Im Dritten Reich mussten Juden ihre großen oder kleinen Sammlungen und oft auch Einzelwerke verschleudern, zwangsverkaufen, zurücklassen, unentgeltlich hergeben, um ihr nacktes Leben zu retten. Häufig fanden sich Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, Autografen oder bibliophile Kostbarkeiten in den Wohnungen Deportierter, die beschlagnahmt, akribisch erfasst und dann verwertet wurden. Die Erlöse vereinnahmte das Reich. In allen großen und kleineren deutschen Städten fand das statt. Restitution? Das war in den 1950er- und 1960er-Jahren bei Kunstwerken eher die Ausnahme 1 – es sei denn, eines wurde an einem der von den Alliierten eingerichteten Central Collecting Points abgegeben.2 Doch hierher gelangte kaum die von Juden abgepresste Kunst, die in Museumsbesitz oder in private Hände übergegangen war. Nur selten konnten die Überlebenden oder ihre Erben den Standort eines von ihnen gesuchten Kunstwerkes ermitteln und gegenüber dem öffentlichen oder privaten Besitzer eine Rückforderung geltend machen. In der Regel mussten sie sich mit einer schmalen Ausgleichszahlung abfinden. Wiedergutmachung? Ein Wort, das auszusprechen schwerfällt – wenngleich die entsprechenden Bemühungen, die es allein in Westdeutschland – nicht im Osten – gab, anzuerkennen sind. Dennoch: Wiedergutmachung konnte es nicht geben. 1 Vgl. Jürgen Lillteicher, Raub, Recht und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik. Göttingen 2007, 235ff. 2 Vgl. Iris Lauterbach, Der Central Art Collection Point in München 1945 – 1949, in: Inka Bertz/Michael Dormann (Hrsg.), Raub und Restitution. Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute. Berlin/Frankfurt am Main/Göttingen 2008, 195ff.

262 Monika Tatzkow

Über eine dieser Geschichten, die in Mannheim begann, soll hier berichtet werden. Sie handelt von dem jüdischen Industriellen und Kunstsammler Kommer­ zienrat Adolf Bensinger. Seine hochkarätige Sammlung wurde im Dritten Reich „arisiert“ – und das, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, vor aller Augen und damit für jeden, der es sehen wollte, deutlich erkennbar. Abb 1  Adolf Bensinger

(Stadt­archiv Mannheim, StadtA MA -ISG )

Bensinger wurde 1866 in Mannheim geboren. Er starb 1939 im Alter von 73 Jahren. Seine Lebensspuren waren weitgehend verloren gegangen. Erst nach der Verabschiedung der sogenannten Washingtoner Prinzipien im Dezember 1998 und der gemeinsamen Erklärung der Bundesregierung, der Bundes­länder und der kommunalen Spitzenverbände vom 14. Dezember 1999 sowie der auf ­diesen Grundlagen tatsächlich erreichten Rückerstattung des einen oder anderen mühsam aufgefundenen Gemäldes konnte das Schicksal von Adolf Bensinger, zumindest teilweise, rekonstruiert werden. Im Dezember 1998 verständigten sich in Washington Vertreter von 44 Staaten auf Prinzipien zur Lösung offener Fragen und Probleme im Zusammenhang mit den in der NS-Zeit aus rassischen Gründen verloren gegangenen und in

Die Kunstsammlung Adolf Bensinger, Mannheim 263

der Folge nicht zurückerstatteten Kunstwerken. Die Staaten – darunter die Bundesrepublik – hielten es angesichts der enormen Vielzahl dieser Kunstwerke für notwendig, dass •• Raubkunst identifiziert werden muss, •• die dafür relevanten Archive geöffnet werden müssen und Mittel sowie Perso­nal zur Verfügung zu stellen sind, •• die Beweisanforderungen bezüglich eines Verfolgungsverlustes – angesichts der verstrichenen Zeit und der mit Blick auf den Holocaust besonderen Umstände – angemessen gehandhabt werden sollen, •• sogenannte Verdachtsfälle (Kunstwerke mit Provenienzlücken zwischen 1933 und 1945) in Datenbanken zu veröffentlichen sind – nicht zuletzt, um die damaligen Eigentümer bzw. ihre Erben aufzufinden, •• die damaligen Eigentümer bzw. ihre Erben bestärkt werden sollen, ihre Ansprüche auf Kunstwerke anzumelden, •• und – wenn dies geschehen ist – rasch, eventuell mithilfe einzurichtender Kommissionen oder Gremien, eine faire und gerechte Lösung zu finden ist.3 In der Bundesrepublik Deutschland billigten Bund, Länder und Kommunen diese Prinzipien im Dezember 1999 ausdrücklich in der gemeinsamen Erklärung. Die Bundesländer hatten bereits 1994 beim Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt in Magdeburg eine Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste eingerichtet, die u. a. aufgrund nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen entzogene Kulturgüter in der öffentlich zugänglichen Datenbank L ­ ostart.de dokumentiert. Diese Datenbank wird in Umsetzung der Washingtoner Prinzi­ pien und der gemeinsamen Erklärung seither mit unzähligen Such- und Fundmeldungen gespeist. Durch diese neuen Entwicklungen ermutigt nahmen die Erben von Adolf Bensinger, unterstützt von Historikern und Rechtsanwälten, die Suche nach der Kunstsammlung auf, die ihr Vorfahre einmal besessen hatte und die 1940 aus rassischen Gründen verloren gegangen war.

3 Vgl. Gunnar Schnabel/Monika Tatzkow, Nazi Looted Art. Handbuch Kunstrestitution weltweit. Berlin 2007, 192ff.

264 Monika Tatzkow

I. Die Kunstsammlung von Adolf Bensinger Adolf Bensinger starb bereits 1939. Er erlebte die Zertrümmerung seines Vermögens nicht mehr, aber er ahnte, dass es so weit kommen würde. Denn wenige Monate vor seinem Tode änderte er am 17. März 1939 seine bisherige letzt­willige Verfügung. Eigentlich widersprach das seinen Vorstellungen, aber er, ein erfahrener Unternehmer und weitsichtiger Mann, war Realist. Dennoch sah er sich veranlasst, die fundamentale Veränderung seines Testamentes s­ einen Erben mit folgenden Worten zu erläutern: Ich hatte in meinem früheren Testament meine 6 Neffen & Nichten zunächst ungefähr gleichmäßig bedacht. Dann kamen der immer dringendere Zwang der Auswanderung und die gleichzeitige Verschlechterung des Transfers. Praktisch gesagt: nachdem meine 6 Neffen & Nichten ausgewandert sein werden, ist mein Vermögen in Sperrmark verwandelt, praktisch zertrümmert & das will ich nicht. Carola ist ausgewandert. Marianne und Fritz werden bald auswandern. Und um diese 3 von den 6 Zweigen nicht ganz zu zertrümmern, muss ich, so leid es mir tut[,] die 3 ‚enterben‘. Ich hoffe, sie werden meine Gedankengänge verstehen und nicht irgend eine Animosität meinerseits unterhalten … Die Wirkung ist nun die – von mir nicht ungewollt – dass als meine Erben die 4 Mischlinge I. Grades übrig bleiben – Ich hoffe und glaube, dass auch auf die Dauer diese Mischlinge so gut behandelt werden, dass sie nicht wie die 3 Enterbten gezwungen sind, auszuwandern.4 Drei Monate später war Adolf Bensinger tot. Und drei Jahre später mussten auch die „Mischlinge“ aus Deutschland fliehen. Wie so oft bei in die Welt vertriebenen oder ermordeten jüdischen Familien ist es äußerst schwierig, etwas über ihre Vorfahren zu erfahren. Das gilt auch für Adolf Bensinger. Wie war er aufgewachsen? Welche Schule hatte er besucht? Wer waren seine Freunde? Welche Berufsausbildung hatte er genossen? Wie lernte er seine Ehefrau kennen? Warum hatte er keine Kinder? Weshalb entwickelte

4 Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA Ka), Notariat Mannheim I, Nr. 51712.

Die Kunstsammlung Adolf Bensinger, Mannheim 265

er ein ausgeprägtes Kunstinteresse und legte sich eine Gemäldesammlung zu? All das war bislang kaum zu ermitteln. Deutliche Spuren hat allerdings das unternehmerische Wirken des Kommerzienrates Adolf Bensinger in seiner Stadt Mannheim hinterlassen. Bensinger war Teilhaber der in Mannheim-Neckarau ansässigen Rheinischen Gummi- u. Celluloid-Fabrik. Sein Vater Friedrich Julius Bensinger hatte die Firma 1873 zusammen mit dem Bankhaus H. L. Hohenemser und den Brüdern Victor und Alfred Lenel als Hartgummiwaren-Fabrik gegründet. Als 1880 europaweit die Fabrikation von Celluloid-Rohstoff einsetzte, spezialisierte man sich auch in Mannheim-Neckarau darauf und avancierte mit 6.000 Beschäftigten zum größten Arbeitgeber der Region, der sich auch sozial für seine Belegschaft engagierte. Es gab eine Werkskrankenkasse, Kantinen, öffentliche Bäder, einen Unterstützungsfonds, eine Werksbücherei, häusliche Pflege und verschiedene weitere Werkseinrichtungen.5 Nach dem Tod des Vaters übernahm Adolf ­Bensinger 1891 die Leitung, 1893 trat sein Bruder Karl in die Firma ein. Sie entwickelte sich zu einem der bedeutendsten Unternehmen in ihrem Bereich in Europa und war zunächst Vorreiter und später Branchenriese auf dem Gebiet der ­Celluloidpuppen-Herstellung, eine Revolution auf diesem Sektor, da Celluloid bruchfest, abwaschbar, farbecht und hygienisch war. Das Markenzeichen der Firma war die bekannte Schildkröt-Puppe, mit eingetragenem Warenzeichen beim Kaiserlichen Patentamt in Berlin. Schildkröt-Puppen werden übrigens noch heute hergestellt – inzwischen in Rauenstein in Thüringen. Zugleich war Adolf Bensinger Teilhaber der Fabrik wasserdichte Wäsche Lenel, Bensinger & Co., gleichfalls in Mannheim ansässig. Auch diese Firma arbeitete außerordentlich erfolgreich. Adolf Bensinger war ein wohlhabender Mann, der sich mit erheblichen Stiftungen auch dem Gemeinwohl verpflichtete – so z. B. mit einem Tuberkulose-Museum im benachbarten Frankenthal. Dies brachte ihm Anerkennung ein und bewog Großherzog Friedrich von Baden, ihm den Titel eines Kommerzienrats zu verleihen. 1899 heiratete Adolf Bensinger Luise Kahn, die dem Mannheimer Zweig einer renommierten Frankfurter Bankiersfamilie entstammte. Seit 1902 bewohnte das Ehepaar eine stattliche Villa am Werderplatz. Mag sein, dass es zunächst

5 Vgl. Désirée Spuhler/Karen Strobel, Inge, Hans und Christel – Aufstieg und Ende der Mannheimer Schildkröt-Puppen, in: Ulrich Nieß/Michael Caroli (Hrsg.), Geschichte der Stadt Mannheim, Bd. 3 (1914 – 2007). Heidelberg 2009, 606f.

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wie so oft vonstattenging: Das Ehepaar wollte, bestens ausgerüstet mit den dafür nötigen finanziellen Mitteln, seine Wohnräume durch Kunst an den Wänden verschönern. Erste Kunstkäufe erfolgten offensichtlich schon Ende des 19. Jahrhunderts. Die eigentliche Kunstsammlung entstand in den 1910er- und 1920er-­Jahren. Sie beherbergte deutsche Künstler wie Max Liebermann, Adolf Menzel, Hans Thoma, Wilhelm Trübner, Fritz von Uhde, Wilhelm von Kaulbach, Fritz Boehle, Heinrich Zügel und auch einige Werke französischer Maler, so von Camille Corot, Honoré Daumier und Auguste Renoir, sowie drei Arbeiten von Rosa Bonheur. Von van Gogh besaß Bensinger die „Gräberstraße in Arles“ von 1888. Er hatte das Bild bei Joseph Hessel in Paris gekauft. Und er fand auch an dem Schweizer Ferdinand Hodler und dem Italiener ­Giovanni ­Segantini Gefallen. Nur ein alter Meister, ein stattliches Ölbild zweier Falken im Kampf mit Hahn und Hühnern des Niederländers Melchior de H ­ ondecoeter, ist ­bislang in seiner Sammlung nachgewiesen. 1931 – zu diesem Zeitpunkt hatte sich Adolf Bensinger bereits aus dem Geschäftsleben zurückgezogen und seine Anteile an der Rheinischen Gummi- u. Celluloid-Fabrik veräußert – tätigte er nach eigenen Angaben seinen letzten Kunstkauf: eine kleine „Anbetung“ von Thoma. Ein in eine bestimmte Richtung ausgeprägtes Sammlerinteresse lässt sich im Hinblick auf Künstler oder Motiv nicht eindeutig erkennen – außer ­vielleicht eine Affinität zu französischen Künstlern. Adolf Bensinger sammelte zunächst das, was seinerzeit im Trend lag, und schwenkte dann ein auf die damals moderne, vom Hauptteil des Kunstestablishments vehement kritisierte franzö­ sische Kunst. Bensinger kaufte nach bisheriger Kenntnis bei deutschen und französischen Kunsthändlern und auch aus Privatbesitz. Die Kunstwerke hatte Bensinger mit Bedacht platziert.6 So hingen in seinem Herrenzimmer im Parterre der Villa Hodlers „Holzfäller“, der van Gogh sowie die „Badenden Knaben“ und die „Märchenerzählerin“ von Hans Thoma. Sein „grünes Zimmer“ – eher ein Damensalon mit entsprechendem Meublement – schmückten Bilder von Uhde („Verkündigung“/„Christus predigt“), Liebermann („Am Strand“), Thoma („Die Heilige Familie“ sowie „Apollo und Marsyas“) und Menzels „Kopf eines bärtigen Mannes“ von 1861. Das Musikzimmer, das sowohl einen Steinweg- als auch einen Bechstein-Flügel, Notenschränke und

6 Vgl. auch im Folgenden GLA Ka, Abt. 237, Zugang: 1967 – 19, Nr. 123.

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bequeme Möbel beherbergte, zierten u. a. je eine „Landschaft“ von Renoir und Corot, Segantinis „Heuernte“ und verschiedene Zeichnungen. Im Esszimmer hingen der große Hondecoeter, zwei Arbeiten von Rosa Bonheur („Gaisbock“ und „Löwe“) und – wie damals üblich – ein Bismarck-Porträt. Bevor ein Gast diese Zimmer betrat, durchquerte er die Diele und das Treppenhaus und kam an Schreyers „Brennendem Posthof “, Zügels „Kühen“, Thomas „Buchenwald“, der „Kartoffelernte“ von Boehle, einem „Pferdekopf “ von Bonheur und schluss­ endlich den „Clowns“ von Daumier vorbei. Alles in allem war Bensingers Villa am Werderplatz eine regelrechte Kunstgalerie. Offensichtlich entwickelte sich Adolf Bensinger zu einem kunstsinnigen und kunstgebildeten Menschen, der in enger Beziehung zur städtischen Gemälde­ sammlung bzw. zur 1909 als Museum eröffneten Kunsthalle stand. Schon 1907 hatte er der Gemäldesammlung ein Ölgemälde, den „Kirchgang“ des deutschen Malers Adolf Hoelzel, gestiftet.7 Diesem Vorbild folgten andere mit weiteren Stiftungen und legten so gemeinsam den Grundstock für die Kunsthalle in Mannheim. Bensingers Name erscheint auch später wiederholt, wenn sich die städtischen Sammlungen mit Ankaufvorhaben trugen. Kontakt pflegte der Kunstsammler Bensinger insbesondere zum Kunsthallen-­ Direktor Fritz Wichert, der ihn offenbar beim Ausbau seiner Sammlung beriet und Bensingers Präferenzen für französische Kunst nicht nur kannte, sondern ausdrücklich teilte. So informierte ihn Wichert im Januar 1918 mit „verbindlichsten Empfehlungen“: „Ich habe zufällig aus Privatbesitz einen sehr schönen Troyon hier. Forderung 25.000 MK . Vielleicht interessiert Sie das Bild. Soll ich es Ihnen zur Ansicht herüber schicken?“8 Zum Kauf kam es nicht, denn ein Bild dieses Künstlers ist in der Sammlung Bensinger nicht nachgewiesen. Adolf Bensingers Kollektion war sogar weit über die Mannheimer Stadtgrenze hinaus in kunstinteressierten Kreisen bekannt. Häufig baten deutsche und ausländische Museen den Sammler um Leihgaben für bedeutende Ausstellungen. Allein für die von der Mannheimer Kunsthalle und dem Kunstverein 1916/17 durch­geführte Ausstellung von Werken aus Mannheimer Privatbesitz lieh Bensinger 14 Gemälde und zwei Zeichnungen.

7 Vgl. Inge Herold, 29. August: Drei Mannheimer Bürger stiften Bilder für die städtische Gemäldesammlung, in: Sylvia Schraut/Margit Illing (Hrsg.), Mannheim 1707/1807/1907. Eine Stadt feiert sich selbst. Mannheim 2007, 177. 8 Zit. nach ebd., 178.

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II. Die „Arisierung“ der Sammlung Nach der „Machtergreifung“ lebte Adolf Bensinger sehr zurückgezogen. Im Mai 1934 starb seine Frau nach langer schwerer Krankheit. Der nächste Schicksalsschlag traf ihn, als sein drei Jahre jüngerer Bruder Karl Bensinger Anfang April 1936 starb; mit ihm zusammen hatte er lange Jahre die Gummi- u. Celluloid-­ Fabrik geleitet. Auch war er dessen Frau und drei Kindern auf das Engste verbunden. Um ihre Zukunft machte sich Adolf Bensinger große Sorgen. Eigentlich sollten sie das Werk des Vaters und Onkels in Mannheim fortführen. Nun sahen sie sich gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Adolf Bensinger selbst trug sich angesichts seines schweren Herzleidens nicht mit dem Gedanken auszuwandern. Spätestens seit der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 war ihm bewusst, dass die Gefahr drohte, alles zu verlieren, was er sich erarbeitet und erworben hatte. Seine Beteiligung an der Firma Lenel, Bensinger & Co. hatte er durch die „Arisierung“ des Unternehmens bereits verloren. Was sollte mit der Kunstsammlung werden? Bensinger hatte sie den Kindern seines Bruders Karl und Verwandten seiner verstorbenen Frau zugedacht. Nun war es „nach § 14 der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens […] Juden verboten, Kunstgegenstände, soweit der Preis für den einzelnen Gegenstand 1.000 RM übersteigt, frei zu veräußern. Dabei ist es gleichgültig, ob die Veräußerung durch ein Rechtsgeschäft oder durch Verfügung von Todes wegen erfolgt. Es ist auch gleichgültig, ob sie unentgeltlich oder entgeltlich vorgenommen wird. Die testamentarische Bestimmung in dem Testament Bensinger darf also durch die jüdischen Erben erst ausgeführt werden, wenn die vom Reich einzurichtende öffentliche Ankaufsstelle den Ankauf ablehnt […] Der Rechtszustand ist also zunächst so, dass für jüdische Kunstgegenstände im Werte von mehr als 1.000  RM zur Zeit eine völlige Veräu­ßerungssperre besteht.“9 So lauteten die einschlägigen Hinweise des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda an das für den Nachlass Bensinger zuständige Reichspropagandaamt Baden in Karlsruhe. Bensinger unternahm deshalb den Versuch, der – wie er es nannte – Zertrümmerung seines Vermögens entgegenzuwirken. Er war also nicht bereit, insbesondere die Zerschlagung seiner Sammlung hinzunehmen, sondern versuchte, den kleinen Handlungsspielraum, der ihm geblieben war, zu nutzen.

9 GLA Ka, Abt. 237, Zugang: 1967 – 19, Nr. 123.

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Allein aus diesem Grunde änderte er am 17. März 1939 sein Testament und setzte ausschließlich jene vier Großnichten und -neffen ein, die keine jüdischen Väter hatten und die damit nach Maßgabe der NS-Rassengesetze als Mischlinge ­ersten Grades galten. Diesem sogenannten Verfolgtentestament, das er als Adolf „Israel“ Bensinger unterzeichnen musste, gab er die an seine Nichten und Neffen gerichtete eingangs zitierte Erklärung bei, die seine Intensio­nen ebenso verdeutlicht wie die Zwangssituation, in der er sich befand. Testamentsvollstreckerin sollte die Witwe seines Bruders Karl, Lissie Bensinger, sein. Im Zuge der Durchführung der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens ergingen Aufforderungen an alle Juden, Vermögensverzeichnisse anzufertigen und bei den jeweiligen Devisenstellen einzureichen. Die Devisen­stelle Karlsruhe forderte Adolf Bensinger am 5. Juni 1939 auf, binnen zehn Tagen eine Aufstellung der in seinem Besitz befindlichen Gemälde, Stiche, Handzeichnungen, Porzellane, Zinnsachen, Bücher und Handschriften in doppelter Ausfertigung vorzulegen. Erwerbspreise und -zeitpunkte sollten ebenso genannt werden wie mögliche Weiterveräußerungen mit der Angabe der jetzigen Besitzer. Dieser Aufforderung kam Adolf Bensinger am 15. Juni 1939 nach: „Ich gebe in der Anlage Aufstellung meiner Gemälde. Nur No. 23 von Thoma 10 habe ich später – 1931 – gekauft und kann den Erwerbspreis mit M 1.500,- noch feststellen. Alle anderen Bilder sind seit über 20 Jahren in meinem Besitz, teilweise seit 30 bis 40 Jahren. Bei dieser Länge der Zeit kann ich Erwerbspreis und Jahr nicht mehr zuverlässig feststellen. Alle Bilder hängen noch in meiner Wohnung Werderplatz 12 in Mannheim. Ich habe seit über 20 Jahren kein Bild oder Kunstwerk weiterveräussert oder weitergegeben.“11 Die Aufstellung enthält 26 Gemälde und Zeichnungen sowie die Alt-Meißner Porzellangruppe „Die Künste“, bestehend aus 14 jeweils 65 Zentimeter hohen Einzelteilen, die Bensinger 1908 als Geschenk erhalten hatte.12 Die Sammlung des Juden Bensinger war in Museumskreisen bekannt, nicht zuletzt durch seine freigiebige Unterstützung von Ausstellungen. Nun hegte insbesondere der Direktor der Kunsthalle Karlsruhe, Kurt Martin, die Hoffnung, aus der Bensinger-Sammlung den eigenen Museumsbestand möglichst

10 Hans Thoma: „Anbetung der Heiligen Familie/Weihnacht – Engel auf Wolke, Abend­ stern“, 1915. 11 GLA Ka, Abt. 441, Zugang: 1981 – 70, Nr. 390. 12 Vgl. GLA Ka, Abt. 237, Zugang: 1967 – 19, Nr. 123.

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unentgeltlich aufzustocken. Nur wenige Tage nach Eingang der Sammlungsaufstellung bei der Devisenstelle schrieb er an Adolf „Israel“ Bensinger und verwendete damit den diskriminierenden Vornamen für Juden. Martin berief sich auf seine Kontrollfunktion als Beauftragter des Badischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, kündigte die Besichtigung und eventuelle Sicherstellung des Kunstbesitzes an und teilte mit: „Das in Betracht kommende Kulturgut darf in der Zwischenzeit weder veräußert noch darf darüber in irgend einer anderen Form verfügt werden.“13 Über seinen Besuch bei Adolf Bensinger berichtete Kurt Martin wenig später der Devisenstelle in Karlsruhe, gab Hinweise für die weitere Verwertung dieses jüdischen Kunstgutes und stellte dabei die Interessen seines Museum klar: Die im Besitz von Adolf Israel Bensinger, Mannheim, Werderplatz 12, befindlichen Gemälde habe ich besichtigt. Es handelt sich durchweg um hochwertiges Kunstgut. Bensinger ist 72 [sic] Jahre alt und so schwer herzleidend, dass er eine Auswanderung nicht mehr in Betracht zieht. Die Gefahr einer Abwanderung der Kunstgüter besteht deshalb nicht. Dennoch muss ich auf die Sicherstellung einiger Bilder Wert legen […] Diese Bilder müssten in die Kunsthalle Karlsruhe verbracht werden, die die Kosten für den Transport übernimmt. Die übrigen Bilder können im Hause des Bensinger selbst sicher gestellt werden in der Form, dass ihm Verfügung über das Eigentum entzogen und die Verbringung an jeden anderen Ort untersagt wird. Da Bensinger nicht auswandern wird, kann das erwähnte Kunstgut nicht durch Vergünstigung bei der Mitnahme anderen Besitzes erworben werden. Es ist deshalb vorzuschlagen, dass diese Erwerbung durch die Freigabe einiger weniger bedeutender Bilder erwirkt wird, die Bensinger dann entsprechend seinem jetzigen Testament seinen halbarischen Verwandten in Deutschland vermachen könnte. Er selbst hat keine Kinder; seine jüdischen Verwandten sind ausgewandert.14 Am 28. Juni 1939 machte die Devisenstelle beim Oberfinanzpräsidenten von Baden Adolf Bensinger „zur Auflage, über die in Ihrem Besitz befindlichen Gemälde und Kunstgegenstände bis zum Eintreffen weiterer Weisungen in keiner

13 Ebd. 14 GLA Ka, Abt. 441, Zugang: 1981 – 70, Nr. 390.

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Weise zu verfügen“15. Damit hatte Bensinger durch behördliche Anordnung de facto seinen Kunstbesitz verloren. Diese Zuspitzung der nationalsozialis­tischen Repressionen, die drohende Zertrümmerung seiner Sammlung, ging über seine Lebenskräfte. Adolf Bensinger erlag noch am gleichen Tage seinem Herzleiden. „Der Sicherstellungsbescheid lag geöffnet auf seinem Schreibtisch.“16 Nun musste die Witwe seines Bruders, die Testamentsvollstreckerin Lissie Bensinger, ihres Amtes walten. Sie tat dies mit Unterstützung des der F ­ amilie nahe stehenden Mannheimer Bankdirektors im Ruhestand Siegfried Plato. Wenige Tage nach Adolf Bensingers Tod erhielten beide Besuch von Kurt Martin von der Karlsruher Kunsthalle, der sich auf mündliche Absprachen mit dem Verstorbenen berief und darauf drang, aus dessen Nachlass sieben Gemälde – zwei von Thoma, zwei von Menzel, einen Corot, einen Renoir und einen Daumier – ohne Entgelt für sein Museum zu bekommen. Da jedoch nichts dergleichen im Testament vermerkt war und auch die zuständigen Behörden keine entsprechende Anweisung erteilt hatten, konnten ihn die Testamentsvollstrecker abweisen. Am 11. September 1939 nahmen sie unter Aufsicht des Mannheimer Ortsrichters Julius Knapp und des Kunsthändlers Fritz Nagel, der in Mannheim ein alteingesessenes Kunst- und Auktionshaus betrieb, das Inventar der Bensinger-Villa in einem sogenannten Fahrnisverzeichnis auf.17 Es umfasste 140 zum Teil summarisch zusammengefasste Positionen und wies insgesamt einen Schätzwert in Höhe von 194.680 RM aus. Bis in die Schweiz hatte sich herumgesprochen, dass der Nachlass des in Mannheim verstorbenen Juden Bensinger vielleicht zur Disposition stand: „Und besitzt der Mann einen schönen Segantini, ein großes Bild (Heuernte) […] Man hat mir gesagt, dass der Kommerzienrat dieses Bild der Gemeinde St. Moritz vermacht hätte. Andererseits glaube ich aber nicht, dass ein Jude solche Vergabungen machen kann und dass es deshalb möglich wäre, entweder gegen Devisen das Bild zu kaufen oder aber sogar gegen deutsche schöne Bilder zu vertauschen. Ich würde ganz gern für das Bild schw. Fr. 20.000 bezahlen.“ – so ließ einer der Hauptakteure im Schweizer Raubkunsthandel, der Luzerner Kunsthändler Theodor Fischer, einen seiner deutschen

15 GLA Ka, Abt. 237, Zugang: 1967 – 19, Nr. 123. 16 GLA Ka, Abt. 441, Zugang: 1981 – 70, Nr. 390. 17 Vgl. GLA Ka, Abt. 237, Zugang: 1967 – 19, Nr. 123.

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Gewährsleute wissen.18 Auch der deutsch-französische Kunsthändler Hans Wendland, den die Alliierten später auf ihren für NS-Kollaborateure eingerichteten black lists führten, schaltete sich in der Hoffnung ein, aus der Bensinger-Sammlung lukrative Tauschobjekte zu erlangen.19 Und aus ­B erlin meldete sich der zwielichtige Kunsthändler Carl Reinemer und bat das Mannheimer Amtsgericht „ergebenst um Aufgabe der Erben von […] Adolf Israel Bensinger“, weil er von dessen Ableben erfahren hatte und sich für seine Bilder interessierte.20 Eine ganze Reihe bekannter, um nicht zu sagen berüchtigter Figuren im Kunsthandel hatten also von Bensingers Tod gehört und hofften, sich einen Teil seiner Sammlung sichern zu können. Dass Bensingers Kunstwerke „arisiert“ werden sollten, war in den einschlägigen Kreisen rasch bekannt. Am 22. September 1939 erteilte das Nachlassgericht Mannheim I den gemeinschaftlichen Erbschein zugunsten der sogenannten Mischlinge ersten Grades, so wie es Adolf Bensinger vorgesehen hatte. Dass den Erben dennoch der jüdische Nachlass verschlossen blieb, hatte ihn in den Tod getrieben. Die Testamentsvollstrecker beantragten anschließend beim Oberfinanzpräsi­ denten die Aufhebung der Verfügungssperre zunächst über den Kunstbesitz unter Hinweis auf den „Mischlingscharakter“ der Erben, die nach dem Gesetz wie Reichsbürger zu behandeln seien. Doch der Oberfinanzpräsident wollte offensichtlich keine Freigabe erteilen und übertrug die Angelegenheit der Abteilung „Sonderaufgaben“ der Devisenstelle. Auch die Devisenstelle konnte sich monatelang nicht dazu durchringen, eine Freigabeentscheidung wenigstens für den Kunstbesitz des jüdischen Erblassers Adolf Bensinger zu treffen. Für zusätzliche Verwirrung sorgten die wiederholten Besuche des Karls­ruher Kunsthallen-Direktors Martin, der weiterhin Bilder für sein Museum reklamierte, denn – so seine Worte – „ein Jude [darf] auch auf Testamentsweg nicht über seinen Kunstbesitz verfügen […]“21. Anfang Februar 1940 trat plötzlich eine neue Wendung ein: Die Bensinger-­ Villa am Werderplatz 12/13, in der sich die nach wie vor verfügungsgesperrte Kunstsammlung befand, wurde vom Kommando des Flughafenbereichs 18 Zit. nach Thomas Buomberger, Raubkunst – Kunstraub. Die Schweiz und der Handel mit gestohlenen Kunstgütern zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Zürich 1998, 179. 19 Vgl. GLA Ka, Abt. 441, Zugang: 1981 – 70, Nr. 390. 20 GLA Ka, Notariat Mannheim I, Nr. 51712. 21 GLA Ka, Abt. 441, Zugang: 1981 – 70, Nr. 390.

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Mannheim-Sandhofen für Zwecke der Wehrmacht beschlagnahmt; das Gebäude sollte innerhalb von 14 Tagen geräumt werden.22 In dieser Zwangssituation waren Bensingers Erben, jene „Mischlinge ersten Grades“, außerstande, sich über den Nachlass entsprechend den Intensionen Adolf Bensingers auseinanderzusetzen. Bensinger wollte gerade nicht, dass sein Besitz „praktisch zertrümmert“ wurde. Den Testamentsvollstreckern jedoch blieb keine andere Möglichkeit, als das Inventar der Villa, darunter das Gros der Kunstsammlung, schnellstens versteigern zu lassen. Noch am Tage der Beschlagnahme des Hauses, am 10. Februar 1940, erteilten sie dem Kunst- und Auktionshaus Fritz Nagel nicht etwa wegen Erbauseinandersetzung, sondern wegen „sofortiger Räumung der Villa infolge Beschlagnahme“23 den Versteigerungsauftrag. Das verschwieg Nagel in seinem Auktionskatalog später tunlichst. Ihm, der sich mit strammem „Heil Hitler“ der NSDAP-Kreisleitung als spezialisierter „Taxator des Kulturgutes für auswandernde Juden“ angedient hatte 24 und der in Mannheim immer wieder den Besitz von Juden zur Versteigerung brachte, winkte ein erstklassiges Geschäft. Deshalb kümmerte er sich im Eiltempo in Berlin, Karlsruhe und Mannheim um die Freigabe des Kunstbesitzes und die Genehmigung der Auktion. Schon nach zehn Tagen, am 21. Februar 1940, hatte sich Nagel alle notwendigen Papiere und behördlichen Zustimmungserklärungen verschafft. 24 S­ tunden später führte er die Versteigerung des Kunstbesitzes von Adolf Bensinger durch – nicht in seinem Versteigerungslokal, sondern in Bensingers Haus. Die potenziellen Käufer durchstreiften die Villa am Werderplatz 12/13 auf der Suche nach günstigen Schnäppchen, der Auktionator nahm die Bilder von den Wänden, die Zeichnungen aus den Schubladen, die Porzellane aus den Vitrinen – weg von den Plätzen, die Adolf Bensinger ihnen zugedacht hatte – und händigte sie dem jeweils Meistbietenden aus. Der Auktionskatalog verschleiert den tatsächlichen Grund der Veräußerung, indem er sie als bloße „Nachlass-Versteigerung“ bezeichnet. Unmissverständlich benennt er jedoch die jüdische Herkunft des Nachlasses von „Kommerzienrat Adolf Israel Bensinger“. Jeder, der bei der Versteigerung am Werderplatz teilnahm, muss also gewusst haben, dass hier jüdischer Besitz „arisiert“ wurde. Insgesamt kamen 184 Positionen, darunter 32

22 Vgl. GLA Ka, Abt. 237, Zugang: 1967 – 19, Nr. 123. 23 Ebd. 24 Stadtarchiv Mannheim, D 01 Jüdische Geschichte, Zugang: 16/1967, Nr. 189.

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Kunstwerke, unter den Hammer.25 Der Auktionserlös in Höhe von 133.430,10 RM ging auf das für den Nachlass eingerichtete Sperrkonto.26 Über die Erwerber bei der Nagel-Auktion ist bislang nichts bekannt – mit einer Ausnahme. Zu den von Adolf Bensinger bewusst und vorsorglich als sogenannte Mischlinge ersten Grades ausgewählten Erben gehörten die minder­ jährigen Enkel seines Bruders Karl, die Mädchen Gabriele (geboren 1927) und Irmgard Conzen (geboren 1930). Adolf Bensinger hatte gedacht, sie seien vor nationalsozialistischen Repressionen geschützt, denn ihr Vater war kein Jude. Allerdings lebte er, als die Versteigerung stattfand, nicht mehr. Der jüdischen Mutter, Annemarie Conzen, der Tochter von Adolf Bensingers Bruder, war es jedoch verboten, sich um das Erbe ihrer beiden Mädchen zu bemühen. Es bedurfte der Einrichtung einer „arischen“ Beistandschaft durch das zuständige Amtsgericht. Weil die Familie Conzen in Berlin-Schlachtensee lebte, betraute das Amtsgericht Lichterfelde den Berliner Rechtsanwalt und Notar Hans F ­ röhlich mit dieser Aufgabe. In vielen Schriftsätzen an das Amtsgericht und die beteiligten Behörden legte er die dabei auftretenden Schwierigkeiten dar – so z. B. am 8. April 1941: „Die Angelegenheit ist außerordentlich umfangreich, da infolge der Judenevakuierung in Mannheim vom 22. September [sic.] 1940 die Testamentsvollstrecker über den Nachlass Bensinger plötzlich abgeschoben wurden, da sämtliches Material von der Geheimen Staatspolizei beschlagnahmt wurde und infolge dessen die Einsetzung neuer Testamentsvollstrecker notwendig war.“27 Am 17. Juli 1940 berichtete Fröhlich von „unendliche[n] Komplika­ tionen, zum größten Teil durch die Nichtarischkeit des Nachlasses bedingt, die alle beseitigt werden wollten, und die zu beseitigen kein Vergnügen war […] welche Laufereien allein dazu gehörten, um die Versteigerung möglich zu machen […] weil ganz anormale Komplikationen infolge von Beschlagnahmen“28 bestanden. Zudem beklagte er die zermürbenden Kämpfe mit dem Direktor der Kunsthalle Karlsruhe Martin, der lange nicht gewillt war, seine Begehrlichkeiten für die Bensinger-Bilder aufzugeben.29

25 Vgl. GLA Ka, Abt. 441, Zugang: 1981 – 70, Nr. 390. 26 Vgl. GLA Ka, Notariat Mannheim I, Nr. 51712. 27 AG Berlin-Lichterfelde, Akten betreffend die Beistandschaft der Geschwister Conzen, 6 IX 4190. 28 GLA Ka, Notariat Mannheim I, Nr. 51712. 29 Vgl. ebd.

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Die Erben nach Adolf Bensinger – so auch die minderjährigen Conzen-Töchter bzw. deren Beistandschaft – wollten trotz der auf dem jüdischen Nachlass ihres Großonkels lastenden Zwangsumstände dennoch nicht gänzlich auf das ihnen zugedachte Erbe verzichten. Deshalb beteiligte sich Rechtsanwalt Hans F ­ röhlich für seine Pfleglinge Irmgard und Gabriele Conzen an der Versteigerung des Auktions­hauses Nagel und erwarb für sie fünf Gemälde und eine Zeichnung für insgesamt 45.600 RM. Die Erben kauften mithin einen Teil der ihnen zustehenden Erbmasse mit erheblichem an den Auktionator zu zahlendem Aufgeld, als handele es sich um völlig fremdes Eigentum. Doch auch dieses – erkaufte – Andenken an den Großonkel Adolf Bensinger sollten ihnen wieder genommen werden. Die in Berlin lebende Annemarie Conzen und ihre „halbjüdischen“ Töchter Irmgard und Gabriele waren zunächst vor der nationalsozialistischen Judenverfolgung durch ihren „arischen“ Ehemann und Vater geschützt. Annemarie und ihre Töchter pflegten eine freundschaftliche Verbindung zur Familie des Admirals Wilhelm Canaris, ihres Nachbarn, der das Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht leitete. Im Frühjahr 1942 warnte Canaris Annemarie Conzen, dass sie und ihre Kinder trotz seiner Fürsprache nun nicht mehr sicher seien. Es könne jedoch möglicherweise in einer geheimen Aktion gelingen, sie zusammen mit sechs anderen jüdischen Familien aus Deutschland heraus in die Schweiz zu schmuggeln. Für Annemarie Conzen und ihre Töchter bot sich damit eine Möglichkeit, dem Schicksal ihrer Mutter und Großmutter Lissie Bensinger zu entgehen, die im Oktober 1940, ebenso wie der Mittestamentsvollstrecker Siegfried Plato, deportiert worden war und 1942 in A ­ uschwitz ermordet wurde. Allerdings mussten alle sieben Familien ihr gesamtes Vermögen dem Amt Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht übertragen. Alle sagten zu und ergriffen die Chance, ihr Leben zu retten. Am 11. September 1942 übergab einer der Leidensgenossen dieses „Unternehmens Sieben“30 der Schweizerischen Gesandtschaft in Berlin ein Schreiben, in dem es hieß: „In der Anlage überreiche ich Gesuche um Erteilung einer Einreisebewilligung in die Schweiz mit Ergänzungsformularen für Emigranten für die folgenden Personen […] Zur Frage 15 (‚Ist Ihre Rückreise nach dem Heimatstaat gesichert und beabsichtigt?‘)

30 Der Historiker Winfried Meyer hat Canaris’ Geheimaktion ausführlich erforscht. Vgl. Winfried Meyer, Unternehmen Sieben. Eine Rettungsaktion für vom Holocaust Bedrohte aus dem Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht. Mit einem Begleitwort von Klaus von Dohnanyi. Frankfurt am Main 1993.

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darf ich hinzufügen, dass die deutschen Sichtvermerke zwar wie üblich eine einmalige Wiedereinreise in das Reichsgebiet als zugelassen vorsehen, dass aber der Gebrauch von dieser Möglichkeit zum sicheren Untergang der Passinhaber führen würde.“31 Zuvor mussten für alle sieben Auswandererfamilien die notwendigen Unbedenklichkeitsbescheinigungen des Finanzamtes, des Arbeitsamtes und der Devisenstelle beschafft werden, was zu diesem Zeitpunkt, als die „Endlösung der Judenfrage“ bereits europäische Maßstäbe angenommen hatte, äußerst schwierig war, regelmäßig auf den Widerstand der jeweiligen Amtsstelle stieß und häufig allein durch die persönliche Einflussnahme von Vertrauensleuten aus dem Amt Abwehr erreicht werden konnte. Am 30. September 1942 überschritten Annemarie Conzen und ihre Töchter die schweizerische Grenze und waren in Sicherheit. Wie zuvor vereinbart, wurde ihr Vermögen, einschließlich der Bilder des Großonkels, dem Amt Abwehr übertragen. Alles wurde vom Oberkommando der Wehrmacht verkauft und die Erlöse an das Amt Abwehr abgeführt. Diese Vorgänge schilderte Annemarie Conzen später in einer eidesstattlichen Erklärung. Sie gab an, dass die Kunstwerke zusammen mit anderen Mobilien „von einem Lastauto des OKW etwa 14 Tage vor meinem Weggang in Berlin abgeholt“ worden seien.32 „Wir haben also durch die Hingabe unseres Vermögens buchstäblich unser nacktes Leben erkauft.“33 So hatten die Erben von Adolf Bensinger die ihnen zustehenden – in der Nagel-Auktion teuer erkauften – Nachlassgegenstände ihres Großonkels durch die Judenverfolgung endgültig verloren.

III. Die Wiedergutmachung Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes stellte Annemarie Conzen auch im Namen ihrer Töchter bei den Berliner Wiedergutmachungsbehörden Rückerstattungsanträge. Sie schlossen die von Irmgard und Gabriele Conzen in der Nagel-Auktion aus der Erbmasse ihres Großonkels erworbenen und dann an das Oberkommando der Wehrmacht verlorenen Kunstwerke ein. Keines dieser Kunstwerke konnte aufgefunden werden. Fritz Nagel, der sein Auktionshaus

31 Landesarchiv Berlin (LAB), B Rep. 025 – 01, Nr. 3236/50. 32 LAB, B Rep. 025 – 01, Nr. 4025/55. 33 Ebd.

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inzwischen nach Stuttgart verlegt hatte (wo es noch heute existiert), erinnerte sich nicht mehr an die Umstände der Beschlagnahme und Zwangsversteigerung der Bensinger-Sammlung. Auf Anfrage der Berliner Behörden teilte er mit, dass er „im Auftrag der Erben Adolf Bensinger […] mit Genehmigung der Reichskulturkammer die Gemäldesammlung sowie die ganze Wohnungseinrichtung als freiwillige Versteigerung im März 1940 verwertet [habe] […] Der Ertrag der Auktion ca. 120.000 RM wurde auf das Conto der Erben einbezahlt.“34 Auch der Karlsruher Kunsthallen-Direktor Kurt Martin hielt die damalige Nachlass-Versteigerung für einen völlig normalen Vorgang. Allerdings antwortete er 1947 auf Anfrage der Conzen-Vertreter, dass Adolf Bensinger in gewisser Weise selbst schuld an der Zertrümmerung seiner Sammlung gewesen wäre, da er seinerzeit die Übergabe an die Kunsthalle Karlsruhe abgelehnt habe.35 Doch damit nicht genug: Die Gegenpartei des Conzen-Antrags – das Deutsche Reich, dessen Rechtsnachfolger, die Bundesrepublik Deutschland, in Berlin von der städtischen Oberfinanzdirektion vertreten wurde – nahm unter völliger Verkennung der von Canaris und seinen Mitstreitern organisierten Rettungsaktion zunächst für sich in Anspruch, die Vermögensinteressen der Vertriebenen mit ganz besonderem, nämlich lebensrettendem Erfolg wahrgenommen zu haben. Erst nach langwierigen Auseinandersetzungen gelang es, die Ansprüche der Conzens 1962 im Wege eines allgemeinen Vergleichs zu regeln. Die Kunstwerke selbst blieben verschollen. Als im Jahre 2000, gestützt auf die eingangs genannten Washingtoner Prinzi­ pien und die deutsche gemeinsame Erklärung, die Suche erneut begann, war die Ausgangssituation für die Ermittlungen nicht völlig aussichtslos, denn es fanden sich immerhin der Katalog des Kunst- und Auktionshauses Fritz Nagel aus dem Jahre 1940 und einige weitere Dokumente. Der Katalog enthielt relativ genaue Bilddaten und in einigen Fällen sogar Abbildungen. Die Kunstwerke der Sammlung Bensinger wurden in der Hoffnung auf Hinweise in die ­Lostart-Datenbank der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste eingestellt. Die Nachforschungen führten bald zu einem ersten Ergebnis: Eines der Bilder, die ehemals zur Sammlung Bensinger gehört hatten, dann von seinen Erben in der Auktion des Nachlasses von Adolf „Israel“ Bensinger bei Nagel ersteigert und schließlich dem Oberkommando der Wehrmacht überlassen worden

34 GLA Ka, Rest M 6576. 35 Vgl. GLA Ka, Abt. 441, Zugang: 1981 – 70, Nr. 390.

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waren, konnte ermittelt werden. Es handelte sich um Adolf Menzels „Kopf eines bärtigen Mannes“. Das Bild wurde 1997 bei Christie’s in London angeboten und erschien damit nach vielen Jahrzehnten erstmals wieder in der Öffentlichkeit.36 Der Auktionskatalog nennt als Provenienz allein Menzels 1907, also 90 Jahre zuvor verstorbene Schwester Emilie Krigar-Menzel. Mit der Hilfe des Auktionshauses fanden die Erben Bensinger und der aktuelle Besitzer eine faire und gerechte Lösung, was umso bemerkenswerter ist, da sich die Washing­toner Erklärung in erster Linie an staatliche und kommunale, und nicht an private Adressaten richtet. Das Gemälde befand sich zunächst in der Kunstsammlung Jan und Marie-Anne Krugier-Poniatowski und ist heute in anderem Privatbesitz.37 Abb 2  Adolf Menzel: „Kopf eines

bärtigen Mannes“ (aus: Linie, Licht und ­Schatten. Meisterzeichnungen aus der Sammlung Jan und Marie-Anne KrugierPoniatowski, Ausstellungskat. Berlin 1999)

36 Vgl. Katalog der Christie’s Auktion German and Austrian Art 1997, London, 9.10.1997, Lot 51. 37 Vgl. Katalog der Ausstellung Linie, Licht und Schatten. Meisterzeichnungen und Skulpturen der Sammlung Jan und Marie-Anne Krugier-Poniatowski. Berlin 1999, Nummer 98; Katalog der Ausstellung Das ewige Auge – von Rembrandt bis Picasso. Meisterwerke aus der Sammlung Jan Krugier und Marie-Anne Krugier-Poniatowski. München 2007, Nummer 105.

Die Kunstsammlung Adolf Bensinger, Mannheim 279

In der Folgezeit tauchten weitere Bilder aus der Sammlung von Adolf ­Bensinger auf. Fritz Boehles „Kartoffelernte“ aus dem Jahre 1899, die immerhin 1,50 mal 1,70 Meter misst, hatte Bensinger vermutlich 1910 erworben, als in der renommierten Berliner Kunsthandlung Eduard Schulte die Sammlung des Kunst­mäzen Louis Laroche-Ringwald aus Basel versteigert wurde. ­Bensinger verlieh das Bild für die Fritz-Boehle-Gedächtnisausstellung des Frankfurter Kunstvereins 38 ebenso wie für die von der Mannheimer Kunsthalle veranstaltete Ausstellung von Kunstwerken aus Mannheimer Privatbesitz 39. ­Boehle-Kenner wussten, dass dieses Bild in Bensingers Besitz war.40 Es befand sich im Eingangsbereich der Bensinger-Villa – bis es 1940 in der Zwangsauktion bei Nagel unter den Hammer kam und für 9.000  RM verkauft wurde. Danach blieb die „Kartoffelernte“ für Jahrzehnte verschollen. Erst 1972 tauchte sie wieder auf, als sie von der Polytechnischen Gesellschaft Frankfurt am Main an die Frankfurter Sparkasse von 1822 als Geschenk übergeben wurde. Die Sparkasse stellte das Bild 1983/84 der Frankfurter Galerie Joseph Fach als Leihgabe für die Fritz-Boehle-Gedächtnisausstellung zur Verfügung; der Ausstellungs­katalog gab allerdings keinerlei Vorprovenienzen an.41 Das von Robert M. Bock erarbeitete und 1998 publizierte Verzeichnis über „Das malerische Werk“ von Fritz Boehle verweist unter Bezugnahme auf die 1916er-­ Gedächtnisausstellung auf Adolf Bensinger als Eigentümer.42 Mit der Frankfurter Sparkasse fanden die Erben Bensinger inzwischen ebenfalls eine auf den Washingtoner Prinzipien und der deutschen gemeinsamen Erklärung basierende faire und gerechte Lösung. Die „Heuernte“ von Giovanni Segantini hängt heute im Segantini Museum in St. Moritz. Als sich Adolf Bensinger angesichts der zunehmenden Judenverfolgung und der bereits erfolgten Auswanderung von Familienmitgliedern 1939 gezwungen sah, sein Testament zu ändern, verfügte er, dass dieses Bild

38 Vgl. Katalog der Gedächtnisausstellung Fritz Boehle im Frankfurter Kunstverein Frankfurt am Main, 16.11.–20.12.1916, Nummer 15. 39 Vgl. Katalog der Ausstellung aus Mannheimer Privatbesitz der Kunsthalle Mannheim, Dezember 1916–Februar 1917, Nummer 161. 40 Vgl. z. B. Rudolf Schrey, „Dem Gedächtnis Fritz Boehles“, in: Deutsche Kunst und Dekoration XL, 1917. 41 Vgl. Katalog der Fritz Boehle Gedächtnisausstellung 1983/84, Galerie und Kunstanti­ quariat Joseph Fach, Nummer 6. 42 Vgl. Robert M. Bock, Fritz Boehle. Das malerische Werk. Weimar 1998, 217, Nummer 70.

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an die Gemeindeverwaltung von St. Moritz übergehen sollte. Diese bedankte sich dafür. Bis heute ist es dort unvorstellbar, dass dieses „Vermächtnis“ allein der Verfolgungssituation geschuldet sein soll, in der sich der jüdische Erblasser befand. Für die „Badenden Jünglinge“ von Hans Thoma hatte Adolf Bensinger einst einen Platz im Herrenzimmer seiner Villa ausgewählt. Er besaß das Gemälde spätestens seit 1909 und verlieh es mehrfach für Ausstellungen – so an die Berliner Nationalgalerie für deren Thoma-Präsentation im Jahre 192243 und 1924 nach Basel, Zürich und Bern für die dortigen Thoma-Ausstellungen 44. 1940 war auch dieses Gemälde Bestandteil der Zwangsauktion. Fritz Nagel kaufte in diesem Fall selbst – de facto jedoch im Auftrage der Münchner Galerie ­Zinckgraf, die sich gute Chancen für einen Weiterverkauf an Hitlers monströses Linzer Museum ausrechnete. Als Strohmann zahlte Nagel 16.000 RM auf das ­Bensinger-Sperrdepot ein.45 Die Galerie Zinckgraf verkaufte die „Badenden Jünglinge“ für 32.000  RM an den „Sonderauftrag Linz“.46 Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes befand sich das Bild im Central Collecting Point der amerikanischen Alliierten in München. Eine Rückerstattung blieb aus, denn weder die Alliierten noch die Treuhandstelle für Kulturgutverluste konnten einen Alteigentümer ermitteln. Deshalb wurde das Thoma-Gemälde in den Besitz der Bundesrepublik überstellt und zunächst leihweise dem Museum Städtische Kunstsammlungen in Bonn, dann dem Kaiser Wilhelm Museum in Krefeld übergeben. Anlässlich des 150. Geburtstages von Hans Thoma präsen­tierte man 1989 auch die „Badenden Jünglinge“ – freilich ohne irgendeinen Hinweis auf den ehemaligen Eigentümer Adolf Bensinger,47 obwohl das angesichts der vor 1933 erschienen Fachliteratur unschwer möglich gewesen wäre.48 Immerhin stellte der Bund das Bild als sogenannte Fundmeldung in die Lostart-Datenbank der

43 Vgl. Katalog der Thoma-Ausstellung der Nationalgalerie, Berlin 1922, Nummer 83. 44 Vgl. Kataloge der Ausstellungen Hans Thoma, Kunsthalle Basel, Januar/Februar 1924, Nummer 64; Kunsthaus Zürich, 6.3.–6.4.1924, Nummer 52; Kunsthalle Bern, 11.5.–9.6.1924, Nummer 69. 45 Vgl. Kunstpreisverzeichnis 1940, S. 75. 46 Vgl. Bundesarchiv Koblenz, Bestand B 323, Sign. 80. 47 Vgl. Katalog der Ausstellung Hans Thoma. Lebensbilder. Gedächtnisausstellung zum 150. Geburtstag, Augustinermuseum Freiburg im Breisgau, 2.10.–3.12.1989, Nummer 52. 48 Vgl. Hans Thoma. Des Meisters Gemälde in 874 Abbildungen, in: Klassiker der Kunst, Bd. XV. Berlin 1909, 123.

Die Kunstsammlung Adolf Bensinger, Mannheim 281

Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste ein. Inzwischen haben die Erben nach Adolf Bensinger dieses Gemälde zurückerhalten. Van Goghs „Gräberstraße in Arles“ von 1888, die in Adolf Bensingers Herren­ zimmer am Werderplatz hing und die er 1928 den berühmten Impressionisten-Ausstellungen bei Paul Cassirer in Berlin und M. Goldschmidt in Frankfurt am Main als Leihgabe zur Verfügung gestellt hatte, gelangte über das Oberkommando der Wehrmacht offensichtlich in die Hände des NS-Kunsthändlers Hans Wendland. Dieser berief sich bei dieser Transaktion ausdrücklich auf die Zustimmung des Karlsruher Kunsthallen-Direktors Martin, dem eine „Übernahme des van Gogh in die Schweiz lieb sei, da das Gemälde zum Tausch dort von [ihm] benötigt wird“49. Wendland allerdings scherte das wenig, denn er verkaufte das Bild nach Paris an den Kunsthändler Otto Wertheimer, dessen Familie im Übrigen ursprünglich aus Mannheim stammte. Dort sah es 1948 Lucas Lichtenhahn, der Direktor der Kunsthalle Basel und einer der engen Berater des Basler Kunstsammlers und damaligen Vizepräsidenten der Sandoz AG, Arthur Stoll.50 Lichtenhahn gab über diese „künstlerische Begegnung“, die ihn „sehr stark beschäftigt“, Bericht an Stoll, der das Bild noch im gleichen Jahr seiner Kollektion einverleibte. Zuvor hatte Wertheimer dem Käufer versichert, „dass das Bild rechtmäßig erworben wurde und weder aus gestohlenem noch aus ehemals feindlichem Besitze stammt“.51 Offensichtlich hatte Wendland ihn über die Vorgeschichte des Kunstwerks und über seine Herkunft gänzlich im Unklaren gelassen. 1949 konnte das Gemälde in der Schweiz für Annemarie Conzen sichergestellt und mit dem Besitzer eine gütliche Vereinbarung getroffen werden.52 Arthur Stoll trennte sich wenig später wieder von van Goghs „Gräberstraße in Arles“, die über den Kunsthändler Justin Thannhauser in die Sammlung des inzwischen verstorbenen griechischen Milliardärs Stavros Niarchos gelangte und sich heute in Privatbesitz befindet.53

49 GLA Ka, Abt. 441, Zugang: 1981 – 70, Nr. 390. 50 Vgl. Ester Tisa Francini/Anja Heuss/Georg Kreis, Fluchtgut – Raubgut. Der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz 1933 – 1945 und die Frage der Restitution. Zürich 2001, 89; Stefano Stoll, La collection Arthur Stoll ou lorsque la Science recontre l’Art, in: Die Kunst zu sammeln. Schweizer Kunstsammlungen seit 1848. Zürich 1998, 383ff. 51 SIK-ISEA, Schweizerisches Kunstarchiv, HNA 92 Arthur Stoll. 52 Vgl. GLA Ka, Rest M 4627 (1255). 53 Vgl. Walter Feilchenfeldt, Vincent van Gogh. Die Gemälde 1886 – 1890. Händler, Sammler, Ausstellungen. Die frühen Provenienzen. Wädenswil 2009, 169.

282 Monika Tatzkow

Auch die sich spätestens seit 1916 in Adolf Bensingers Besitz befindliche Studie „Christus predigt“ von Fritz von Uhde, eine Fassung für das Altar­ gemälde der Zwickauer Lutherkirche, war 1939 beschlagnahmt und 1940 bei Nagel versteigert worden. Die Großnichten Irmgard und Gabriele Conzen ­hatten das Bild durch ihren Beistand Fröhlich bei Nagel erwerben lassen, doch mussten sie es im Zuge des „Unternehmens Sieben“ dem Oberkommando der Wehrmacht überlassen. Danach verliert sich die Spur des Uhde-Gemäldes. Anhand einer Fotografie 54 ist jedoch für 1950 nachweisbar, dass das Bild inzwischen offensichtlich in die Sammlung des Berliner Immobilienmaklers und bekannten Kunstkäufers Conrad Doebbeke gelangt war. Dies ist insofern nicht überraschend, als Doebbeke in der NS -Zeit nachweislich Kunstwerke aus jüdischem Vorbesitz erwarb, insbesondere Werke deutscher Maler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Aus dem Besitz Doebbeke wurde das UhdeBild 1958 versteigert und ist danach in der Schweinfurter Kunstsammlung Georg Schäfer nachgewiesen. Diese Sammlung gab es am 24. Februar 2005 in die Sonderauktion des Münchner Kunstauktionshauses Neumeister. Der Versteigerungskatalog enthielt keinerlei Provenienzangaben.55 Das Gemälde von Uhde wurde vor der Auktion von Neumeister wegen der jüdischen Vorprovenienz und dem „Raubkunstverdacht“ zurückgezogen 56 und vermutlich dem Einlieferer ausgehändigt. Unter Bezugnahme auf die Neumeister-Auktion erhielt die Autorin inzwischen eine Information des Berliner Landeskriminal­ amtes (LKA), Abteilung Kunstkriminalität wegen kriegsbedingtem Verlust zum Nachteil Adolf Bensingers, wobei das LKA auf die strafrechtliche Verjährung hinwies. Eine gütliche Einigung über dieses Gemälde konnte bisher mit dem aktuellen Besitzer nicht erzielt werden. All die vorstehend genannten Kunstwerke haben nach der Beschlagnahme in Adolf Bensingers Nachlass 1939 und nach der Zwangsauktion durch Fritz Nagel abenteuerliche, zum Teil undurchsichtige Wege zurückgelegt. Die Mehrzahl der Bilder blieb bislang allerdings verschollen. Deshalb dauern die Nachforschungen an.

54 Vgl. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, Fotothek. 55 Vgl. Katalog der Sonderauktion bei Neumeister am 24.2.2005 „Bilder aus der Sammlung Georg Schäfer I“, Nr. 102. 56 Vgl. Süddeutsche Zeitung, 24.2.2005.

Die Kunstsammlung Adolf Bensinger, Mannheim 283

Die Arisierung der Sammlung Bensinger erfolgte seinerzeit in aller Öffentlichkeit vor den Augen der Kunstwelt. Eine ganze Reihe von Akteuren, Kurt Martin als Museumsmann etwa oder diverse Kunsthändler, waren eifrig darum bemüht, sich das eine oder andere Kunstwerk zu sichern und hielten das für einen völlig normalen Vorgang.

Lina-Mareike Dedert

„Arisierung“ in Mannheim am Beispiel der Röhrengrosshandlung Leopold Weill 1 Die „Arisierung“ gab es nicht und „Arisierung“ zeichnete sich nicht durch Gleichförmigkeit oder Einheitlichkeit aus. Jeder Enteignungsprozess war bei allen Schnittmengen anders. „Arisierung“ bedeutete ein Neben- und Übereinander von Zuständigkeiten, regionalen Besonderheiten und individuellen Anmaßungen. Eher leere als gefüllte Rechtsräume prägten sie vor dem Spätherbst 1938. Diese Unklarheiten führten neben gewaltsamer Willkür, wenn auch selten, zu Optionen auf ein längeres geschäftliches Überleben in speziellen Nischen. Ein solcher Fall war die Röhrengrosshandlung Leopold Weill in Mannheim. Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie bei diesem jüdischen Unternehmen exemplarisch vier Faktoren ein Prosperieren nach 1933 ermöglichten. Die Röhrengroßhandlung profitierte von ihrem Standort, von ihrer Spezialisierung und von ihren Beziehungen sowie dem persönlichen Einsatz ihrer Besitzer. Allerdings wird auch deutlich, ab wann ein erfolg­ reiches Behaupten für jüdische Unternehmer im Nationalsozialismus weder sinnvoll noch möglich war – und das war weit vor dem so oft als Wendepunkt bezeichneten 9. November 1938.

I. Die Ursprünge der Röhrengroßhandlung Der Handel mit Eisen- und Stahlerzeugnissen wurde Leopold Weill (1865 – 1940) in die Wiege gelegt. Sein Großvater, Vater und Onkel waren Eisenwarenhändler. Emanuel Marx Weill, ein Ururgroßonkel, hatte das

1 Der Beitrag stellt einen Teil der Dissertation der Verfasserin dar. Sie erörtert unter Migrations- und Mobilitätsschwerpunkten die Geschichte der badisch-jüdischen Familien Weill und Sonder vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er-Jahre. Ausgangspunkt der Recherchen war ein Aktenfund auf dem Dachboden eines Kippenheimer Hauses in den 1990er-Jahren. Vgl. dazu Fußnote 3.

286 Lina-Mareike Dedert

Mahlberger Eisenhandelsmonopol im 18. Jahrhundert gepachtet.2 Im Oberamt Mahlberg lag der Wohnort der Familie. Leopold Weills Geburtshaus 3 im südbadischen Kippenheim, das der Großvater Löw Weill (1789 – 1853) hatte errichten lassen, war auf die ökonomischen Bedürfnisse der Familie perfekt abgestimmt. Es verfügte im Hintergebäude über ein Magazin für verschiedenste Eisenwaren. Im Vordergebäude befand sich ein Ladengeschäft mit separatem Eingang. Es bot kleinteilige Eisenwaren wie Nägel, Pfannen, Ofenbrillen, Ketten aller Art etc. an und war gleichzeitig ein Speecerei­waarenLaden, in dem die Dorfbewohner das kaufen konnten, was sie nicht selbst auf ihren Höfen herstellten. So gab es beispielsweise Baumwolle in unterschiedlichen Farben, Gaslampen, Gewürze, Tabak und Zigarren verschiedenster Art, Bürsten, Hosenträger, Oblaten, Schreibwaren, Essig, Haarnadeln und Ähnliches. Im Laden waren insbesondere die Frauen der Familie tätig. Das Geschäft war ein Beispiel für jenes Geschäftsmodell, wie es nicht nur in badischen Orten weitverbreitet war: „The Jewish dry goods and hardware store soon became ubiquitous all over Central Europe.“4

2 Vgl. Generallandesarchiv Karlsruhe (im Weiteren abgekürzt als GLA) 117/ 1108 [Betrieb des Eisenhandels durch Juden in der Herrschaft Mahlberg, 1760 – 1798]. 3 Anfang der 1990er-Jahre entdeckte Hans Höfer, der jetzige Besitzer des Hauses, auf seinem Dachboden mit Kurrentschrift beschriftete Papiere. Die Schriftstücke entstammen den Jahren 1819 bis 1891; es handelt sich größtenteils um die Buchhaltung des Eisen­warenladens der Familie Weill. Eine Erklärung für den Fund im Kniestock könnten Isolierungsversuche sein. Wahrscheinlich lagerten die Bündel auf dem Dachboden und wurden sukzessive in den Hohlraum gestopft, um die Kaltluftzufuhr zu unterbrechen. Dabei spielten kulturell-religiöse Hintergründe eine Rolle. Es hatte sich im Judentum eine Praxis der Aufbewahrung von unbrauchbar gewordenen religiösen Schriften heraus­gebildet. Da diese die heiligen Namen Gottes enthielten, wurden sie aus Respekt und Ehrfurcht nicht weggeworfen. Im süddeutschen Raum und den angrenzenden Nachbarregionen wurden die Schriften in der Regel auf den Dachböden der Synagogen abgelegt und nicht weiter beachtet. Der Brauch begann sich zu verselbstständigen und bezog nichtreligiöse Papiere mit ein. Bisher wurden in 20 ehemaligen Landsynagogen Genisot und in vier ehemals jüdischen Privathäusern Privatgenisot entdeckt. Obwohl sie vor religiösem Hintergrund entstanden, lässt sich in ihnen eine Vielfalt an Materialien finden, die Rückschlüsse auf soziale und wirtschaftliche Aspekte der Landjuden ermöglichen. 4 Werner Cahnmann, Village and Small-Town Jews in Germany. A Typological Study, in: Leo Baeck Institute Year Book 24, 1974, 114.

„Arisierung“ am Beispiel der Röhrengrosshandlung Leopold Weill 287

Abb 1  Katalog des

Röhrenhandels, 1932 (Privatarchiv Uwe Groß, Foto: Lina-Mareike Dedert, 2010)

Leopold Weill lernte sein kaufmännisches Rüstzeug in der familieneigenen Eisen-Stahl- & Messingwaarenhandlung Löb Weill. Sie florierte bis Mitte der 1870er-Jahre. Vater und Onkel belieferten Handwerker der südbadischen Region, bezogen ihre Ware aber aus Baden, Württemberg, Hessen, Bayern, der Pfalz und dem Rheinland. Wegen Kreditproblemen und Schicksalsschlägen musste das Unternehmen im Jahre 1877 Insolvenz anmelden. Mit der Hilfe des Schwiegervaters, aber ohne den jüngeren Bruder begründete Leopold Weills Vater den Handel neu – allerdings in kleinerem Rahmen. Leopold Weill selbst erkannte, dass die Zukunft des Eisenhandels nicht in südbadischen Dörfern lag, sondern in der aufstrebenden Handelsmetropole Mannheim. Dort begann er um 1887 für die traditionsreiche Mannheimer Eisenwaarenhandlung A. Nauen sen. zu arbeiten, zunächst als einfacher Angestellter und später als Prokurist. Nachdem er im Unternehmen der Nauens alles erreicht hatte, was es dort für ihn zu erreichen gab – die höchsten Positionen waren den Familienmitgliedern vorbehalten –, wagte er den Schritt in die Selbstständigkeit. Im Januar 1903 eröffnete Leopold Weill sein Agentur- und Kommissionsgeschäft. „Der Mann“, so hieß es später in einer Festschrift der Firma, „der die Eisengroßhandlung gründete, wußte, daß die Zeit das Eisen in vielerlei Form brauchte. Daß er jedoch klug vorausschauend

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erkannte, wie man es in kommenden Jahren brauchen würde, in welcher Form und Gestalt, das war sein Verdienst.“5 Von 1907 bis zur Verlagerung an den Mannheimer Industriehafen 1916 führte Weill die Geschäfte von der Toräckerstraße 2 – 4 aus.6 1917 trat sein Neffe Alfred Sonder (1895 – 1970) ins Unternehmen ein, das sich nun auf den Verkauf von Röhren jeglicher Art spezialisierte.

II. Das Unternehmen in den ersten Jahren des Dritten Reichs Die Röhrengroßhandlung am Industriehafen entwickelte sich in der Zeit der Weimarer Republik vielversprechend und überstand die Weltwirtschaftskrise gut. 1930 wurden zwei Konkurrenten übernommen. Anders als für viele andere jüdische Betriebe, die unmittelbar ab 1933 unter dem NS-Regime litten, brachte die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten für das Unternehmen keine Verschlechterung, wie ein Blick auf die Geschäftszahlen deutlich macht. Der Fokus der Nationalsozialisten auf Aufrüstung und Beschäftigungsmaß­nahmen sowie die anziehende Konjunktur führten vielmehr zu einem Umsatzplus und zu wachsenden Gewinnen für die beiden Teilhaber. So stieg der steuer­ liche Gewinn von 1932 auf 1933 von 117.508 RM auf 122.924 RM; 1934 lag er bei 234.391 RM und 1937 gar bei 724.820 RM.7An diesen guten Zahlen orientierte sich später auch das Landesamt für die Wiedergutmachung in Karlsruhe, als es argumentierte, dass ein boykottbedingter Einkommens- oder Gewinnrück­ gang nicht feststellbar sei und dass deshalb keine Entschädigung wegen eines Wertverlustes zu leisten sei.8 Der Aufwand, der zu dieser Entwicklung führte,

5 Röhrenlager Mannheim Aktiengesellschaft, Festschrift zum 50jährigen Jubiläum, Mannheim 1953, 1. 6 Vgl. GLA 276 – 2/ 9061 [I. Kaufvertrag zwischen Frau Geheimer Commerzienrat ­Heinrich Lanz Wwe und Kindern in Mannheim und Leopold Weill, Kaufmann Eheleute in Mannheim II. Darlehensvertrag zwischen diesen und Herrn Adolf Goldmann, 1906] und GLA 276 – 2/ 18850 [Kaufvertrag zwischen der Rheinischen Industriegesellschaft mbH in Bonn und Leopold Weill Kaufmann in Mannheim, 31. Oktober 1911]. 7 Vgl. Privatarchiv Sonder [Vertrag über den Verkauf der Fa. Leopold Weill; Schlussbilanz der Fa. L. W.; Nachprüfung; Umsatzziffern; versteuerte Gewinne 1930 – 1937 L. W. & A. S.]. 8 „Die Höhe der steuerlichen Gewinne der Gesellschaft vom Jahre 1930 bis zum Jahre 1937 lässt erkennen, dass sich das Unternehmen nach einem Rückschlag in der Zeit

„Arisierung“ am Beispiel der Röhrengrosshandlung Leopold Weill 289

war jedoch beträchtlich. Diese Kraftanstrengung, den zur Verfügung stehenden, sich oftmals ändernden Handlungsspielraum geschäftlich optimal zu ­nutzen, wurde in erster Linie von dem jüngeren Teilhaber geleistet.9 Jahre später reflektiert er das gegenüber einem ehemaligen Mitarbeiter: „An Arbeit wird es Ihnen vermutlich nicht fehlen. Aber lassen Sie mal fuenfe gerade sein, das habe ich zwar frueher auch nicht gemacht und deshalb kann ich es jetzt besser beurteilen, denn ich bereue es doch sehr, dass man sich nicht mehr dem Privatleben gewidmet hat. Dadurch haette man mehr Abstand zu den taeg­ lichen Dingen bekommen.“10 Dank der günstigen Geschäftszahlen investierten Weill und Sonder nach 1933 in den Standort am Industriehafen – ein deutliches Zeichen dafür, dass sie für sich und ihr Geschäft weiterhin eine Zukunft im Deutschen Reich sahen. So wurden neue Fahrzeuge und Zuschneidemaschinen angeschafft sowie 1934 eine neue Tankanlage; 1935 und 1937 wurden neue Kranbahnanlagen eingebaut und ebenfalls 1937 neue Garagen bzw. Büros gebaut. 1938 verfügte die Röhrengroßhandlung über zwei Standorte am Industriehafen, sie hatte 80 Angestellte und Arbeiter sowie Vertreter im In- sowie Ausland. Sonder und Weill aufgrund dieser Investitionen als Opfer einer ­Illusion zu bezeichnen, wäre unangebracht. Dass die persönliche und die ökonomische Existenz vernichtet werden sollten, war für einen jüdischen Gewerbetreibenden

der Weltwirtschaftskrise (1931) stetig und nach 1934 stürmisch entwickelte […]. Diese Zahlen sprechen eindeutig gegen die Annahme eines boykottbedingten Rückganges des Geschäftsganges und damit auch eines Schwundes an Goodwill. Ein Entschädigungsanspruch könnte indessen trotzdem bestehen, wenn durch Entzug von Kontingenten die wirtschaftliche Stellung des Unternehmens im Zeitpunkt der ‚Arisierung‘ bereits erheblich unterhöhlt gewesen wäre. Diese Überzeugung vermag die Entschädigungsbehörde jedoch nicht zu gewinnen.“ GLA 480/ 32722 [Firma Leopold Weill OHG i. L.], Ablehnungsbescheid des Landesamts für die Wiedergutmachung, 22. Dezember 1960. 9 Der geänderte Gesellschaftsvertrag sah eine derartige Arbeitsteilung vor. Darin heißt es in § 6: „Herr Sonder ist verpflichtet[,] seine ganze Arbeitskraft den Geschäften zu widmen. Herr Weill wird in den Geschäften weiter tätig sein, jedoch ist die Art und der Umfang seiner Tätigkeit seinem freien Ermessen überlassen.“ Die enorm erschwerten Rahmenbedingungen führten zu einem stark erhöhten Arbeitspensum. Vgl. Privatarchiv Sonder [Gesellschaftsvertrag zwischen Leopold Weill und Alfred Sonder], geänderter Vertrag, 5. September 1930. 10 Privatarchiv Sonder, Brief von Alfred Sonder an den Direktor der Röhrenlager Mannheim AG, Fritz Schuster, 25. Januar 1939.

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Mitte der 1930er-Jahre schließlich nicht prognostizierbar. Onkel und Neffe bewiesen vielmehr ihre Qualitäten als Unternehmer, indem sie aus widrigen Bedingungen das Beste zu machen suchten. Eine Änderung des Firmennamens zur „Tarnung“ kam nie in Betracht. Weill und Sonder ­legten weniger Sturheit als energischen Durchsetzungswillen an den Tag und versuchten, das Gegebene zu optimieren. Die umgesetzten Baumaßnahmen zeigen, dass sie darin erfolgreich waren. Als ein Festhalten an der Firma nicht mehr möglich war, haben sie dies, wie noch gezeigt werden wird, gesehen und entsprechend reagiert.

Abb 2  Blick in die Lagerhalle des Röhrenhandels (Privatarchiv Sonder)

Die positive Entwicklung der Röhrenhandlung bestätigt die ökonomischen Widersprüchlichkeiten, denen jüdische Gewerbetreibende im nationalsozia­ listischen Staat zunächst ausgesetzt waren. Sie untermauert Fritsches Ausführungen, dass die Geschäftsentwicklung nach 1933 maßgeblich von vier Faktoren beeinflusst wurde: Firmensitz, Branche, Kunden- und Lieferanten­ struktur sowie individuelle Voraussetzungen. So schreibt Fritsche: „Hochspezialisierte Betriebe […], die vielleicht sogar eine Marktlücke besetzt hatten,

„Arisierung“ am Beispiel der Röhrengrosshandlung Leopold Weill 291

konnten länger ungestört arbeiten.“11 Wenn sich ein Alleinstellungsmerkmal mit der Position eines Großhändlers oder Großbetriebs verband, potenzierte sich der Vorteil. Das traf eindeutig auf den Röhrenhandel zu.12 Dazu kamen der abgelegene Firmensitz und die persönlichen Eigenschaften der Besitzer. Zu der positiven Entwicklung der Röhrengroßhandlung trug neben Alfred Sonders unermüdlichem Einsatz die enge, zum Teil sehr freundschaftliche Bindung an Zulieferer und Kunden bei. Vor allem der Kontakt zur Leitungsebene bei Mannesmann und den Vereinigten Stahlwerken war sehr gut. Teilweise bestanden Sonderkonditionen. Daher konnte die Röhrengroßhandlung exklusiv Röhren anbieten: „Weill bezieht einen Hauptteil seiner Ware (insbesondere die nutzbringenden Unterlängen = Ausschussrohre) von Mannesmann und Stahlverein – aufgrund alter persönlicher Beziehungen zu den massgebenden Herren der beiden Werke.“13 Schließlich spielte ein weiterer Faktor für die positive Entwicklung nach 1933 eine Rolle: Ein Geschäft im Industriehafen war weniger sicht- und angreifbar als beispielsweise ein als „typisch jüdisch“ diffamierbares, leicht zu boykottierendes Warenhaus im Zentrum. Wie es jüdischen Kaufleuten mit Geschäften in prononcierterer Lage ergehen konnte, erlebte Leopold Weills Schwägerin Meta Nachmann: Gemeinsam mit ihrem Mann Moritz führte sie das Kaufhaus M. Nachmann in Frankenthal. Es „war nicht nur das erste am Platze, ­sondern hatte darüber hinaus auch Bedeutung in der ganzen Pfalz“, so betonte später der Schwiegersohn Rudolf Weynen.14 Das Geschäft wurde systematisch boykottiert, wie Meta Nachmanns Sohn Kurt berichtete: „Nach Hitlers Machtantritt ging das Geschaeft und damit das Geschaeftseinkommen infolge des scharfen Judenboykotts sehr erheblich zurueck und war im Jahre 1934 auf ein Minimum herabgesunken.“15 Die nichtjüdischen Kunden standen bei einem solch exponierten Geschäft unter Beobachtung und konnten leicht unter Druck gesetzt werden. Die kleinstädtische Struktur 11 Christiane Fritsche: Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt. Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim, Ubstadt-Weiher 2013, 137. 12 Ebd., 138. 13 Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv Köln (im Weiteren abgekürzt als RWWA) 72.138/ 5 [Akten betr. Daimler-Benz], Schreiben von Siedersleben, 12. Februar 1938. 14 GLA 480/ 28765 [Entschädigungssache nach Meta Nachmann geb. Rosenmeyer, geb. am 20. April 1875], Zeugenvernehmung Rudolf Weynen, o. D. 15 Ebd., eidesstattliche Erklärung Kurt Nachmann, 7. Oktober 1957.

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bedeutete ein hohes Maß an Sozialkontrolle: Jeder kannte jeden, Gerüchte verbreiteten sich schneller, und immer weniger „arische“ Kunden betraten das Geschäft. Frank Bajohr meint daher: „Tendenziell scheint sich […] die Geschwindigkeit des Verdrängungsprozesses umgekehrt proportional zur Ortsgröße entwickelt zu haben, d. h. je kleiner die Stadt oder Gemeinde war, desto schneller und früher vollzog sich […] Liquidierung und ‚Arisierung‘.“16 Moritz Nachmann wurde schließlich ins Rathaus vorgeladen: „Es wurde ihm eröffnet, daß das Geschäft an einen deutschblütigen Inhaber übergehen sollte, und zwar war als Übernehmer ein SA-Mann, der Träger des goldenen Parteiabzeichens war und aus Worms stammte mit Namen Hain vorgesehen.“17 Nach dem Zwangsverkauf lebten die Nachmanns noch einige Zeit in Frankenthal. 1937 zogen sie nach Mannheim, einer der Söhne begann, in der Röhrengroßhandlung zu arbeiten. Die Entsprechung der genannten Faktoren führte dazu, dass die Röhrengroßhandlung privilegiert war. Dessen waren sich Sonder und Weill bewusst. Sie stellten Juden ein, die zuvor ihre Stellung aufgrund der antisemitischen Maßnahmen in anderen Unternehmen oder das eigene Geschäft verloren hatten. Arbeitslose Juden hatten es ab 1933 sehr schwer, neue Anstellungen zu finden. Falls es dennoch gelang, so oftmals nur bei jüdischen Arbeitgebern. Es entwickelte sich ein „jüdischer Wirtschaftssektor“18. Leopold Weill unterstützte darüber hinaus Verwandte 19 und nahm Freunde in seinem Haus auf. Offenbar geschah dies aus reiner Hilfsbereitschaft, zumindest hatte es Weill finanziell nicht nötig, sich auf diese Weise ein Zuverdienst zu verschaffen. 1936 bzw. 1935 zogen Max und Paula Sulzberger sowie Franz und Elsa Schloss bei ihm ein.20

16 Frank Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933 – 1945. Hamburg 1997, 135. 17 GLA 480/ 28765, Zeugenvernehmung Rudolf Weynen, o. D. 18 Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933 – 1945. Frankfurt am Main 1988, 57. 19 Dies waren u. a. Rebekka Fischer, vgl. GLA 480/ 23148 [Rebecca [sic] Fischer, geb. Horwitz], und GLA 480/ 22054 [Rebekka Fischer für Salomon Fischer], sowie Jenny Scherer, vgl. GLA 276 – 2/ 53857 [Nachlass Leopold Weill]. 20 Vgl. GLA 480/ 26525 [Inge Gard geb. Schloss für Franz und Elsa Schloss].

„Arisierung“ am Beispiel der Röhrengrosshandlung Leopold Weill 293

Abb 3  Leopold Weill

(Privatarchiv Sonder)

Für das Geschäft von Leopold Weill und Alfred Sonder änderte sich die Situa­ tion erst zum Jahreswechsel 1937/38 grundlegend, denn es litt nun unter den Kontin­gentskürzungen für jüdische Betriebe. Die nationalsozialistische Wirtschaft war eine gelenkte, allerdings keine Planwirtschaft. Sie war eine Art „staatliche Kommandowirtschaft“ bestehend aus „vorliberale[n], merkantilistische[n], […] spätkapitalistische[n], monopolistische[n]“ Elementen. Vieles wurde ratio­ niert, kontingentiert und reglementiert.21 Sogenannte Über­wachungsstellen, Fachgruppen und Reichsbeauftragte beaufsichtigten branchenbezogen Güter sowie Rohstoffe und teilten sie über Verbandsorganisationen in Form von Kontingenten den Unternehmen zu. Die Benachteiligung jüdischer Firmen in diesem System ab 1937/38 war daher einfach und eine gezielte Form der Ausschaltung. Entsprechendes schildert Alfred Sonder: „Die Firma Leopold Weill O.H.G. konnte wie alle Roehrenhandlungen in Deutschland nur von dem Roehrenverband G.m.b.H. Duesseldorf kaufen. Der Roehrenverband war die Verkaufsgesellschaft aller deutschen Roehrenproduzenten.“22

21 GLA 276 – 1/ 19459 [In Sachen Alfred Sonder als gesetzlicher Vertreter der Firma Leopold Weill O. H. G. gegen Fa. Franz Haniel & Co GmbH, Duisburg-Ruhrort, Firma Ferrostaal AG, Essen und Röhrenlager Mannheim AG, Mannheim], Anmeldung beim Zentralanmelde­ amt in Bad Nauheim, 27. November 1948. 22 Ebd.

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Schon 1937 wurde jüdischen Betrieben mit der Kürzung der Kontingente gedroht.23 Zum Jahreswechsel wurden die Kürzungen dann branchenübergreifend durchgeführt. Die den noch existierenden jüdischen Unternehmen zugewiesenen Kontingente wurden in der Regel so stark gekürzt, dass diese ihrer wirtschaftlichen Grundlage endgültig beraubt waren. Die selektive Kürzung der Kontingente bzw. allein die Androhung der Kürzung war eine strategische Maßnahme, um die zu dieser Zeit noch bestehenden jüdischen Unternehmen zu schädigen. Es war der klare Versuch, die, die noch immer tätig waren, zur Aufgabe zu zwingen. Dank der Rüstungskonjunktur war Rücksichtnahme nicht mehr nötig: „Arbeitsplatzverluste durch Liquidierung jüdischer Betriebe konnten jetzt leicht aufgefangen werden.“24 Nun traute man sich auch an Branchen heran, die zuvor als Tabu gegolten hatten. In einer gelenkten Wirtschaft war dies ein einfaches, effektives und wenig Aufsehen erregendes Mittel. Die Kontingentskürzungen trafen auch das Unternehmen von Weill und Sonder: „Anfang 1938 hat dieser Verband [d. i. der Röhrenverband GmbH Düsseldorf] auf Weisung der N.S.D.A.P. und der Regierung die Bezugsquote für juedische Firmen gekuerzt mit dem Ziele der Ausschaltung und Vernichtung solcher Firmen.“25 Mit ihren besonderen Beziehungen zu ihren Lieferanten bei den sogenannten Unterlängen hätte die Röhrengroßhandlung Weill das vielleicht sogar noch ausgleichen ­können, doch kamen massive Bedrohungen hinzu, wie aus der Anmeldung der Rückerstattungsansprüche nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich wird: „So hat beispielsweise ein anderer Interessent namens Max Schrey aus Frankfurt. M. und dessen damals in Muenchen wohnhafter Sohn Wolf Schrey […] mit der N.S.D.A.P. gedroht, falls die Firma nicht an den Sohn Schrey verkauft werde. Fernerhin erschienen Anfang 1938 im Buero der Firma ­Leopold Weill die Nazinachfolger der frueher juedischen Roehrengroßhandlung ­Nussbaum in Hannover und verlangten den Verkauf der Firma Leopold Weill an sie. Auf Weigerung des Antragstellers setzten sie

23 Entsprechendes für jüdische Unternehmen in der Tabakbranche berichtet Hans Joachim Fliedner, Die Judenverfolgung in Mannheim 1933 – 1945. Bd. 1. Stuttgart 1971, 138. Er zitiert u. a. einen Angestellten einer Tabakfabrik, wonach die „Arisierung“ „auf kaltem Wege“ erzwungen werden sollte. 24 Vgl. Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg, 127. 25 Vgl. GLA 276 – 1/ 19459.

„Arisierung“ am Beispiel der Röhrengrosshandlung Leopold Weill 295

die N.S.D.A.P. Mannheim in Bewegung.“26 Die Röhrengroßhandlung Weill wurde nun also von zwei ­Seiten unter Druck gesetzt.

III. Die „Arisierung“ Um den Drohungen und der befürchteten Beschlagnahmung zu entgehen „sowie aus Furcht für die persoenliche Freiheit der Inhaber der Firma und deren Familien“27 entschlossen sich Weill und Sonder, in Eigeninitiative nach einem Käufer für ihr Unternehmen zu suchen. Wenn der Verkauf schon unabwendbar war, so hofften sie auf diese Weise, noch Einfluss auf die Bedingungen nehmen zu können. Dafür nutzten sie die ihnen zur Verfügung stehenden geschäftlichen Beziehungen und boten das Unternehmen u. a. langjährigen Lieferanten, zu denen ein gutes Verhältnis bestand, an. So fand sich im Nachlass des Kölner Stahlhändlers Otto Wolff ein Schreiben seines Teilhabers Rudolf Siedersleben an Wilhelm Kissel, Vorstandsmitglied der Daimler-Benz AG, den Alfred Sonder um seine Mithilfe gebeten hatte. Siedersleben erläuterte darin „den verneinenden Bescheid […]wegen der etwaigen Einschaltung meiner Firma in die Arisierung der Stahl­röhren-Grosshandlung Leopold Weill in Mannheim“28. Er hatte den Kauf abgelehnt, weil er eine Beeinträchtigung seines Verhältnisses zu den Vereinigten Stahlwerken und Mannesmann fürchtete und meinte, die beiden Unternehmen würden die Belieferung der Firma Weill mit den lukrativen Unterlängen einstellen. Ändert sich jetzt die Inhaberschaft bei Weill und würde dort meine Firma massgebend vertreten sein, so stünde mit grosser Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass Mannesmann und Stahlverein in nicht zu ferner Zeit die Ausschuss-Röhren in den eigenen Absatzorganisationen vertreiben würden. […] Wie ich sogleich bei Ihrem Anruf bemerkte, würde mithin die Warengrundlage der Firma Weill bei einem Uebergang auf unsere Gruppe mir nicht 26 Vgl. GLA 276 – 1/ 19459. Dieser Nachfolger war Otto Ellersiek, vgl. Hauptstaatsarchiv Hannover Hann. 210 Acc. 2004/011 Nr. 64 [Hannoverscher Röhrenhandel Karl Nußbaum (jetziger Inhaber Otto Ellersiek) in Hannover Linden, 1935 – 1943] und Nds. 211 Hannover Nr. 7 [Rückerstattungsverfahren Karl Nußbaum und August Weinberg gegen Hannoverscher Röhrenhandel Otto Ellersiek, 1949 – 1951]. 27 Ebd. 28 RWWA 72.138/ 5 [Akten betr. Daimler-Benz], Schreiben Siedersleben, 12. Februar 1938.

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hinreichend gesichert erscheinen können. Darüberhinaus sehe ich nicht klar, ob nicht auch ein anderer künftiger Besitzer von Weill für die Zukunft ähnliche Sorgen haben muss; für die Gute Hoffnungshütte [sic] wird es, wie ­gestern kurz bemerkt wurde, vielleicht ebenfalls gelten. Auf die grundsätz­liche Seite des Problems brauche ich hiernach nicht weiter zurückzukommen.29 Die Firma Otto Wolff dürfte nicht die Einzige gewesen sein, die angefragt wurde. Zwar konnten entsprechende Unterlagen nicht gefunden werden, doch deutet vieles darauf hin, dass die Anfragen überwiegend mündlich erfolgten. Als Weill und Sonder schließlich mit der Franz Haniel & Cie. GmbH, Zweigstelle Mannheim und der Ferrostaal AG Gespräche aufnahmen, mit denen die Röhrengroßhandlung bereits in geschäftlicher Beziehung stand, war ihre Verhandlungsposition unvorteilhaft. Die Interessenten waren über die „Vorgaenge informiert und wussten außerdem, dass die Firma unter dem Druck und der Drohung der N.S.D.A.P. stand. Es wird in diesem Zusammenhang auf einen Briefwechsel […] verwiesen.“30 Franz Haniel & Cie. GmbH, Zweigstelle Mannheim und die Ferrostaal AG gehörten zum Konzern der Gutehoffnungshütte Oberhausen (GHH). Treibende Kraft für die Gespräche mit Weill und S­ onder waren Alfred Reisewitz

29 Ebd. Siedersleben kannte das Interesse des Konzerns der Gutehoffnungshütte (GHH) an der Firma Weill. Und dass sich die GHH der Problematik bewusst war, zeigt ein Brief von Franz Kirchfeld, dem Vorsitzenden der Ferrostaal AG, an Paul Reusch, den Vorsitzenden der GHH vom 17. März 1938. Darin heißt es: „An und für sich wird es immer Schwierigkeiten machen, Handelsgesellschaften von Werkshandelsgesellschaften aufkaufen zu lassen, bezw. eine Mehrheitsbeteiligung durch Werkshandelsgesellschaften aufzunehmen, da es aus dem Jahre 1936 eine Zusage des Stahlwerks-Verbandes gibt, dafür zu sorgen, dass die Werke verhindern, dass sich ihre Werkshandelsgesellschaften auf Kosten des freien Handels ausdehnen. Diese Schwierigkeit sehen wir jetzt auch bereits bei der Uebernahme der Firma Weill in Mannheim. Ebenso gibt es eine Anordnung, dass die Kontingente, die beim Eisenhandel im Augenblick eine grosse Rolle spielen, bei nichtarischen Firmen auf 50 Prozent herabgesetzt werden. Diese Herabsetzung soll auch gelten, wenn die Firmen nachträglich von arischen Interessenten übernommen werden. Auch dies macht uns bereits Schwierigkeiten bei der Uebernahme der Firma Weill, trotzdem ich persönlich sicher bin, dass wir diese Schwierigkeiten durch Verhandlungen ausräumen.“ RWWA 130 – 4001012022/17 [Ferrostaal AG, Allgemeines – aus Nachlass Paul Reusch]. Die Kontin­ gentskürzung wurde nicht wie bei ähnlich gelagerten Fällen zurückgenommen. 30 GLA 276 – 1/ 19459, Anmeldung beim Zentralanmeldeamt in Bad Nauheim, 27. November 1948.

„Arisierung“ am Beispiel der Röhrengrosshandlung Leopold Weill 297

und Oskar Bungert, die beide in der Mannheimer Haniel-Zweigstelle tätig waren. Diese befand sich ebenfalls am Industriehafen und handelte neben Kohlen und Düngemittel hauptsächlich mit Eisen. Der Eisenhandel war jedoch wesentlich kleiner als die Röhrengroßhandlung Weill und wenig gewinnträchtig – die Räume waren gemietet, es gab sieben Arbeiter.31 Gerade Bungert war schon lange an einer Ausweitung des Eisenhandels interessiert, insbesondere an der Einbeziehung von Röhren, weil er sich davon eine größere Effektivität der Mannheimer Zweigstelle versprach. Auch versuchte er schon länger, die Ferrostaal AG von einem Einstieg in den süddeutschen Eisenhandel zu überzeugen, was diese bisher aber immer abgelehnt hatte. Innerhalb des GHH-Konzerns wurde die Mannheimer Zweigstelle sehr kritisch gesehen und einmal gar als „Unfug“ bezeichnet.32 Als Weill und Sonder nach einem Käufer für ihr Unternehmen suchten, war dies für Bungert und Reisewitz offenbar eine Gelegenheit, um die Mann­heimer Zweigstelle aufzuwerten. Wahrscheinlich dachten sie eher an eine Fusion mit dem Röhrengroßhandel. Allerdings ließen dies die Konzernstrukturen der GHH nicht zu, sodass in Kooperation mit der Ferrostaal AG ein neues Unternehmen gegründet wurde, das die Geschäfte des Röhrengroßhandels übernehmen sollte: die Röhrenlager Mannheim AG. Warum die Bedenken der GHH-Konzernspitze schwanden, ist nicht klar; möglicherweise wollte man sich unbedingt das Weill'sche Geschäft sichern, das auch noch Jahre nach dem Krieg als „Perle“33 im Konzern bezeichnet wurde. Die entscheidenden Verhandlungen fanden am 7. März 1938 in den Geschäftsräumen der Mannheimer Haniel-Niederlassung statt. Zur Vertragsunterzeichnung am 18. März 1938 mussten Leopold Weill und Alfred Sonder nach Duisburg-Ruhrort reisen, wo die Franz Haniel & Cie. GmbH bis heute ihren Stammsitz hat. Der Verkauf erfolgte zum 31. März 1938; der Kaufpreis wurde in zwei Tranchen, wie generell üblich, auf Sperrkonten überwiesen, sodass Weill und Sonder darü­ber nicht frei verfügen konnten. Die

31 Außerdem war die Lagerhalle eine Holzbaracke und das Gelände verfügte über keine Kranbahn. In den Bilanzen des Jahres 1938 findet sich zudem folgende Akten­notiz, wobei unklar ist, wer sie verfasst hat: „Ich bin der Ansicht, dass beim Eisenhandel Mannheim etwas Grundsätzliches unternommen werden muss. Durch die schlechten Zustände auf dem Lagerplatz ist ein angemessener Ertrag unmöglich.“ RWWA 130 – 4000022/ 22 [Haniel, Mannheim Bilanzen]. 32 RWWA 130 – 400022/ 21, Schreiben an Paul Reusch, 27. April 1932. 33 Dietrich Wilhelm von Menges, Unternehmensentscheide. Ein Leben für die Wirtschaft. Düsseldorf 1976, 79.

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Summe in Höhe von rund 1,4 Millionen RM beinhaltete keine Gegenleistung für den Firmenwert, Kunden- oder Lieferantenbeziehungen, Werbematerialen und die Kontingente. 500.000  RM wurden für die Grundstücke, die Gebäude und die Einrichtungen gezahlt, 900.000 RM für das umfangreiche Röhrenlager. Die Höhe des Preises wird von den Beteiligten höchst unterschiedlich bewertet. Alfred Sonder betonte 1948: „Der vereinbarte Kaufpreis war nicht angemessen. Die Grundstuecke, Warenvorraete, Maschinen und Einrichtungsgegenstaende waren zwangslaeufig unterbewertet infolge der von den Nazis festgesetzten Preisgrenzen beim Verkauf juedischer Unternehmungen. Ausserdem wurde keine Verguetung für den Firmenwert (good will) geleistet. […] Dass der Firmenwert im Hinblick auf die Bedeutung der Firma Leopold Weill als einer der groessten, angesehensten und erfolgreichsten Roehrengrosshandlungen Deutschlands recht bedeutend war, bedarf keiner besonderen Darlegung.“34 Bemerkenswert ist die Bewertung des Kaufs durch den von Haniel beauftragten Wirtschaftsprüfer: „Die Preisfestsetzung beruht auf sorgfältiger Prüfung durch die Käuferin und ihre Aktionäre. Dabei ist besonders zu beachten, dass auch das Geschäft als solches mit übergeht, und zwar ohne Gewährung einer beson­ deren Vergütung, obwohl der Geschäftsbetrieb längere Zeit vor der Uebernahme in hohem Masse gewinnbringend war. Die Aufsichtsratsmitglieder Dr. Welker und Dr. K ­ irchfeld sind selbst an den Kaufverhandlungen beteiligt gewesen und aus eigener Anschauung darüber unterrichtet, dass der schliesslich vereinbarte Preis unter sorgfältiger Anwendung kaufmännischer Verhandlungsmethoden erzielt worden ist und als angemessen, eher mässig bezeichnet werden kann.“35 Der Röhrengroßhandel Weill ging in Liquidation. Darüber hatten Weill und Sonder die Geschäftspartner zu informieren: „An unsere Geschäftsfreunde. Wir teilen Ihnen mit, dass unser Geschäft mit Wirkung vom 31. März d. J. auf die Röhrenlager Mannheim Aktiengesellschaft in Mannheim übergeht. Die Abwicklung der schwebenden Geschäfte, insbesondere die Erledigung der laufenden Aufträge, erfolgt durch die neue Gesellschaft […]. Wir danken Ihnen für das uns in den langen Jahren unserer Geschäftsverbindung erwiesene Vertrauen und bitten Sie, dasselbe auf unsere Nachfolgerin zu übertragen.“36 34 GLA 276 – 1/ 19459, Anmeldung beim Zentralanmeldeamt in Bad Nauheim, 27. November 1948. 35 RWWA 130 – 42813/ 13 [Geschäftsbericht Haniel 1937 – 1938]. 36 Privatarchiv Sonder [Unterlagen zum Verkauf der Fa. Leopold Weill an Haniel-­ Ferrostaal], Bekanntmachung des Besitzerwechsels vom März 1938.

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Auch mussten sich Weill und Sonder vertraglich verpflichten, „zu allen Massnahmen mitzuwirken, die zur Uebertragung der Kontingente und der geschäftlichen Beziehungen zu Verbänden und Lieferanten erforderlich sind“37. Zudem enthielt der Vertrag die angesichts der Lage der deutschen Juden absurde Klausel, dass Weill und Sonder „innerhalb der nächsten fünf Jahre in Deutschland kein Röhrenhandelsgeschäft […] eröffnen“ durften.38Andern­falls hatten sie eine Strafzahlung zu leisten. Nach dem Verkauf berichteten die Käufer am 27. April 1938 an die Haniel-Gesellschafter nach Ruhrort: In den ersten Monaten dieses Jahres ergab sich für uns eine günstige Gelegenheit, das unter dem Namen Leopold Weill Röhrengroßhandlung in Mannheim bestehende Unternehmen zu erwerben. […]. Ein Firmenwert ist nicht vergütet worden, desgleichen ist auch für die Kontingente der Firma nichts bezahlt worden. Es handelt sich um ein Geschäft, welches ausschließlich Röhren handelt, und welches dafür bekannt ist, daß es alle Dimensionen und Sorten auf Lager hält. Infolge dieser reichhaltigen Vorräte war es der Firma, obwohl die Inhaber Juden waren, möglich, gerade in den letzten Jahren ganz bedeutende Umsätze und entsprechende Gewinne zu erzielen.39 Der Übergang gestaltete sich für die Käufer weitgehend zufriedenstellend, wie dem Bericht des Wirtschaftsprüfers zu entnehmen ist. Er geht auch auf die Veränderungen beim Personal ein: „Gleichzeitig wurde auch die Gefolgschaft,

37 Privatarchiv Sonder, § 2 des Kaufvertrages, 18. März 1938. 38 Ebd. 39 Haniel Archiv Duisburg ZABW 75, Aktenvermerk Dr. Schmidt, 27. April 1938. Die Firma Weill war nicht das einzige jüdische Unternehmen aus Mannheim, das Haniel erwarb. Ebenfalls gekauft wurde der Speditionskonzern Rhenania. Haniel scheint sich allerdings nicht auf strategischer Einkaufstour befunden zu haben, sondern Gelegen­heiten genutzt zu haben – und davon boten sich einige: mal in Mannheim (Rhenania und Weill), mal in Frankfurt am Main (Großmarktgaragen Ullman) oder mal in Wien (Kohlenhandlung Krum & Co. und Düngemittelhandel Heilpern & Haas). Vgl. RWWA 130 – 40010131/ 15 [Franz Haniel & Cie. GmbH – Schriftwechsel, aus Nachlass Kellermann], 130 – 40823/ 1 [Franz Haniel & Cie. – Verschiedenes, aus Nachlass Karl Haniel] und Haniel Archiv ZABW 75 [Restitution].

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soweit sie arischer Abstammung war, unter den bisherigen Arbeitsbedingungen weiterbeschäftigt, sodass in wirtschaftlicher Hinsicht die Geschäfte […] weiter­geführt worden sind. Der nichtarische Teil der Gefolg­schaft und die nicht­arischen Vertreter schieden alsbald aus, und es gelang, die damit verbundenen Schwierigkeiten rasch zu überwinden.“40 Die Entlassungen widersprachen dem Kaufvertrag. Dort hieß es nur, dass die Auslandsvertreter nicht übernommen werden würden, da die Röhrenlager Mannheim AG kein Auslandsgeschäft führen wolle. Das bewährte Personal sollte weiterbeschäftigt werden. „Bewährt“ und jüdisch schloss sich den Augen der Käufer allerdings offenbar aus, und so wurden u. a. Alfred Cahn 41, Elisabeth Sichel 42, Hans Nachmann 43, Kurt Cahn 44, Liesel Kahn 45 und Franz Schloss 46entlassen.

40 Haniel Archiv ZABW 19618, Bilanzprüfungsbericht zum 31. Dezember 1938, 13. Mai 1939. Wirtschaftsprüfer war Dr. Fluch. Er blieb dem Unternehmen verbunden und prüfte bis weit nach 1945 die Bilanzen der Röhrenlager Mannheim AG. 41 Der am 7. Februar 1909 in Mannheim geborene Cahn war kaufmännischer Angestellter bei der Röhrengroßhandlung bzw. dem Röhrenlager. Er emigrierte im August 1938 mit seiner Frau in die USA, vgl. GLA 480/ 21956 [Alfred Cahn]. 42 Elisabeth Sichel wurde am 23. Februar 1910 in Mannheim geboren. Sie wollte Lehrerin werden, wurde aber im April 1933 als Schulamtsbewerberin aus dem Schuldienst entlassen. Ab Juni 1936 arbeitete sie als Sekretärin bei der Röhrengroßhandlung bzw. dem Röhrenlager. Ende Juni 1938 wurde sie entlassen. Sie emigrierte in die USA und fand in New York (USA) Arbeit, vgl. GLA 480/ 11765 [Elisabeth Sichel]. 43 Hans Nachmann wurde am 20. Januar 1910 in Frankenthal/Pfalz geboren. Er war ein Neffe von Leopold Weill und arbeitete von Januar 1937 bis Mai 1938 als kaufmän­ nischer Angestellter für die Röhrengroßhandlung bzw. das Röhrenlager. Er emigrierte mit seiner Frau Ende Mai 1938 nach Philadelphia (USA), vgl. GLA 480/ 20289 [Hans Arthur Nachmann]. 44 Kurt Cahn, geb. am 30. März 1916 in Mannheim, absolvierte seine Lehre bis zu seiner Entlassung 1938 bei der Röhrengroßhandlung. Er emigrierte im Oktober 1938 in die USA, vgl. GLA 480/ 24476 [Kurt Cahn]. 45 Liesel Kahn, geb. am 10. März 1902 in Mannheim, arbeitete bis 1934 für ihren Vater. Nach der „Arisierung“ des väterlichen Unternehmens wechselte sie zur Röhrengroßhandlung. Ihr Vater und Leopold Weill waren befreundet. Sie emigrierte 1939 nach England, vgl. GLA 480/ 20669 [Liesel Cahn]. 46 Franz Schloss, geb. am 23. April 1884 in Mannheim, war bis 1935 als selbstständiger Getreideagent und Mühlenvertreter tätig. Danach arbeitete er als Buchhalter bei der Röhrengroßhandlung. Außerdem zog er mit seiner Frau und seiner Tochter zu Leopold Weill in die Schopenhauerstraße. Er starb im Juli 1941 im Israelitischen Krankenhaus

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Abb 4  Alfred Sonder

(Privatarchiv Sonder)

Die neugegründete Röhrenlager Mannheim AG war damit zum Jahreswechsel 1938/39 ein „arisches“ Unternehmen. Dazu hatte es im Grunde k­ einer gesetzlichen Grundlage bedurft. Denn „ungeachtet einschneidender antijüdischer Reichsgesetze wie den ‚Nürnberger Gesetzen‘ von 1935 [setzte] eine umfassende Zentralisierung der Judenpolitik erst 1938 ein.“47 Massive Drohungen unterschiedlichster Art hatten gereicht, um Sonders und Weills zeitintensive und umfangreiche Bemühungen, ihr Lebenswerk trotz der widri­gen Umstände zu halten, zunichtezumachen. Alfred Sonder reiste mit seiner Familie am 20. September 1938 in die Schweiz, dort warteten sie auf Visa für die USA. Sonders erreichten im März 1939 New York City. Leopold Weill starb – mittlerweile verwitwet – im Juni 1940 in Mannheim. In seiner Grabrede hieß es: „Darum sei des Lebenswerkes des

Mannheim, seine Frau wurde am 1. März 1943 von Stuttgart über Trier, Düsseldorf und Dortmund ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Sie wurde für tot erklärt. Franz Schloss’ Tochter kam im Dezember 1938 mit einem sogenannten Kindertransport allein nach London, vgl. GLA 480/ 26525 [Inge Gard geb. Schloss für Franz und Elsa Schloss]. 47 Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg, 16. Zu den konkreten gegen Juden in der Wirtschaft gerichteten Maßnahmen ab Spätherbat 1938 gehören beispielsweise die Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12. November oder die Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember.

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Heim­gegangenen, obwohl es den Aufbau eines der grössten kaufmännischen Unternehmungen der Branche darstellt, nur flüchtig Erwähnung getan, […] um so mehr wollen wir in der Stunde des Abschieds gedenken, der Liebe, die von diesem Manne geübt worden war an unzähligen Menschen.“48

IV. Die Rückerstattung 1945 waren die Firmengebäude der Röhrenlager Mannheim AG vergleichsweise wenig beschädigt und das Lager weiterhin gut ausgestattet. Der Wunsch der Röhrenlager-Leitung nach Kontinuität erfüllte sich jedoch nicht: „Nach den amerikanischen Bestimmungen fällt das Röhrenlager als arisiertes Unternehmen unter das Gesetz Nr. 52.“49 Der Betrieb wurde damit unter Vermögenskontrolle und Treuhandverwaltung gestellt. „Den Einwand der Herren, daß es sich hier um eine neue juristische Person, und zwar die nach Übernahme des Geschäftes von Weill gegründete Aktiengesellschaft handelt, bezeichnete ich als belanglos. Man müsse hier eben die Entwicklung abwarten.“50 Zwei Jahre später verlor die Leitung die Geduld. Dietrich W ­ ilhelm von Menges, neuer Aufsichtsratsvorsitzender der Ferrostaal AG, wollte mit Alfred Sonder eine Einigung jenseits alliierter Regularien und Verwaltungshandlungen erzielen, deren Dimension noch nicht abzusehen war. Über alte

48 Privatarchiv Sonder, Abschrift der Alfred Sonder zugesandten Grabrede, gehalten von Samuel Liebermensch. Bemerkenswerterweise wurden die testamentarischen Bestimmungen Leopold Weills, der sich mit einer Testamentsänderung am 30. Januar 1930 einen jüdischen Testamentsvollstrecker ausbedungen hatte, respektiert. Nachdem der erste Testamentsvollstrecker, Heinrich Strauss, nach Gurs deportiert worden war, musste ein Nachfolger gesucht werden. Dieser fand sich in Richard Müller, einem in sogenannter Mischehe lebenden jüdischen Anwalt, der sich nur noch Konsulent nennen durfte. Er konnte seine Tätigkeit allerdings nicht aufnehmen, und so war der Nachlass bei Kriegsende immer noch ungeteilt und wurde erst Ende 1961 abschließend geregelt. Vgl. GLA 276 – 2/ 53857 [Nachlass Leopold Weill]. 49 Dies äußerte Werner Dietrich Ahlers, der 1944 Johann Wilhelm Welker als General­ direktor bei Haniel nachfolgte, Haniel Archiv ZABW 163, Aktennotiz, 10.10.1945. 50 Ebd.

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Kontakte 51 bot er Sonder 1947 eine einvernehmliche Lösung an. Beide Seiten beauftragten Anwälte und es folgte ein reger Briefwechsel, der sich jedoch wegen der unterschiedlichen Vorstellungen bezüglich einer angemessenen Rückerstattung und der Beteiligung der Franz Haniel & Cie. GmbH kompliziert gestaltete.52 Parallel dazu begann Sonder die Korrespondenzen mit den Erben nach Leopold Weill. Dies waren 22 Personen, die in Brasilien, Kolumbien, Israel, England, Schweden, Deutschland, den USA und dem damaligen Rhodesien lebten. Er erreichte schließlich das Einverständnis aller, ihn zwecks einer Einigung zu bevollmächtigen. Außerdem nahm er die langsam sich entwickelnden legislativen Möglichkeiten der Rückerstattung wahr und meldete seine Ansprüche bezüglich der ehemaligen Röhrengroßhandlung aufgrund des in der amerikanischen Zone erlassenen Militärgesetzes Nr. 59 zur „Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen“ am 27. November 1948 an.53 Das Militärgesetz Nr. 59 für die amerikanische Zone war der entscheidende Beginn. Es folgten ähnliche Gesetze in der französischen und der britischen Zone. Die Bundesrepublik Deutschland verpflichtete sich zu den Vorgaben aus dem Militärgesetz Nr. 59 mit dem Überleitungsvertrag vom 26. Februar 1952. Bundeseinheitliche Regelungen brachten die Bundesentschädi­gungsgesetze vom 1. Oktober 1953 und 29. Juni 1956. 1957 wurde das Bundesrückerstattungsgesetz verabschiedet und 1965 eine Novellierung des Bundes­entschädigungsgesetzes.

51 Menges bat Rudolf Brinckmann, Aufsichtsratsmitglied bei der Ferrostaal AG, Eric M. Warburg in New York City zu kontaktieren. Dieser möge einen Brief an Alfred Sonder weiterleiten. Vgl. Haniel Archiv ZABW 75, Abschrift eines Briefes von Alfred Sonder an Eric Warburg, 21. März 1947. Brinckmann hatte 1938 zusammen mit Paul Wirtz die Bank M. M. Warburg „arisiert“. Diese gehörte Eric M. Warburgs Vater, Max M. Warburg. 52 Die Akteure aufseiten der Franz Haniel & Cie. GmbH reagierten dünnhäutig, als Ferro­staal bzw. namentlich Menges die Initiative ergriffen und den Prozess zu steuern schienen. Dies betrachteten sie als unangemessenes Vorgehen, da sie sich als diejeni­ gen sahen, die die Röhrenlager Mannheim AG zum GHH-Konzern gebracht hatten; daher meinten sie, ältere Ansprüche auf deren Geschicke zu haben. Vgl. Haniel Archiv ZABW 75 sowie GLA 276 – 1/ 19459. 53 Vgl. GLA 276 – 1/ 19459. Weiterführend vgl. Constantin Goschler/Philipp Ther (Hrsg.), Raub und Restitution. „Arisierung“ und Rückerstattung des jüdischen Eigentums in Europa. Frankfurt am Main 2003.

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Menges seinerseits hatte die Essener Kanzlei Schulte zur Hausen-­ Leveloh beauftragt.54 Einer ihrer Partner war der ehemalige Diplomat Ernst ­Achenbach.55 Er flog im Juli 1949 als Erster 56 für direkte Verhandlungen nach New York City.57 Die Gespräche waren nicht erfolgreich. Es entspann sich erneut ein reger Briefwechsel. Der nächste Unterhändler, der über den Nordatlantik flog, war Menges selbst. Sonder und er waren sich sympathisch und erreichten eine Einigung. Menges beschrieb die Begegnung in blumigen, nicht ganz der Wahrheit entsprechenden bemerkenswerten Worten:

54 Besonderes Renommee hatte die Kanzlei bis dato auf dem Gebiet der Rückerstattung nicht. Die Beauftragung stand wohl in einem anderen Zusammenhang. Menges hatte die Dienste der Kanzlei in Anspruch genommen, als er wegen Kriegsverbrechen angeklagt worden war. Er wurde freigesprochen. Vgl. RWWA 130 – 400101413/ 47 [Menges, Korrespondenz, aus Nachlass Paul Reusch], Schreiben Achenbach über den Prozessverlauf, 18. August 1948. 55 Dass ausgerechnet Achenbach mit Sonder über die Rückerstattung verhandelte, ist bemerkenswert. Achenbach war von 1936 bis 1943 in der Deutschen Botschaft in Paris tätig, zunächst als Gesandtschaftsrat und später als Leiter der Politischen Abteilung. Er war beteiligt an bzw. informiert über Verhaftungen und Deportationen. Achenbach hatte u. a. am 15. Februar 1943 ein Telegramm an das Auswärtige Amt unterzeichnet, in dem die Verhaftung und Deportation von 2.000 französischen Juden als „Sühnemaßnahme“ angeordnet wurde, nachdem zwei Tage zuvor zwei deutsche Luftwaffenoffiziere in Paris erschossen worden waren. Vgl. „Achenbach. Langjähriger Doppeldecker“, in: Der Spiegel 14, 1970, 31. Nach 1945 ließ sich der Jurist in Essen nieder und entdeckte „eines seiner zukünftigen Hauptbetätigungsfelder […]: die Verteidigung und juris­ tische wie moralische Rehabilitierung ehemaliger Nationalsozialisten“ für sich, ­Kristian Buchna, Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr. Friedrich Middelhauve und die nordrhein-westfälische FDP 1945 – 1953. München 2010, 65. Achenbachs prominenteste Mandanten waren Fritz Gajewski im „IG-Farben-Prozess“ und Ernst Wilhelm Bohle im „Wilhelmstraßen-Prozess“. 56 Anders als es Einreisevisa in seinem US -Pass, ausgestellt für die amerikanische und britische Zone im Zeitraum von Juni bis Juli 1948 sowie Juli bis Oktober 1949, auf den ersten Blick vermuten lassen, war Alfred Sonder nicht der Erste, denn in seinem Pass fehlen die entsprechenden Einreisestempel. Alfred Sonder kehrte erst 1950 für einen längeren Aufenthalt nach Europa zurück. Vgl. Privatarchiv Sonder, US-Passport Alfred Sonder, ausgestellt am 28. Mai 1948. 57 Vgl. GLA 276 – 1/ 19459, Schreiben Achenbach an das Amtsgericht Mannheim, 27. Juli 1949 mit der Bitte um Verlängerung der Erklärungsfrist. Sein Besuch in New York war für den 30. Juli 1949 terminiert.

„Arisierung“ am Beispiel der Röhrengrosshandlung Leopold Weill 305

Die Herren von Franz Haniel & Cie., insbesondere Werner Dietrich Ahlers, rieten mir von einer Kontaktaufnahme ab. Sie befürchteten nicht erfüllbare Forderungen an uns. Ich habe mich trotzdem in die Höhle des Löwen begeben. Ich wußte, daß die seinerzeitigen Verhandlungen […] besonders fair geführt worden waren. […] Das erste Gespräch im Büro von Alfred Sonder unter einem großen Bild von Jakob Weil [sic] begann verständ­ licherweise in einer etwas angespannten Atmosphäre. Wir haben dann in mehrtägigen Verhandlungen versucht, das Eis zu brechen. Ich bot Sonder an, daß er ein Drittel des Unternehmens zurückerhalten sollte. Dabei versuchte ich ihm klarzumachen, daß es wahrscheinlich im beiderseitigen Interesse liegen würde, die Firma aus der Bürokratie der Treuhänderschaft herauszulösen und gemeinsam weiterzubetreiben. Sonder, wohl unter dem Einfluß eines Restitutionsberaters, lehnte diesen Vorschlag ab. Er hielt aber die Tür für weitere Gespräche offen. Im Eisstation des Rockefeller-Centers in New York gelangten wir schließlich, nachdem wir die Eisfläche mehrmals – zu Fuß, nicht auf Schlittschuhen – umrundet hatten, zu einer Einigung. Von den beiden Gesellschaftern sollte ein zusätzlicher Betrag entrichtet werden. Die Sondersche Eisenhandelsorganisation 58, insbesondere sein darin tätiger Bruder in Brasilien, sollte beim Aufbau der Ferrostaal-Außen­organisation in Südamerika berücksichtigt werden. Mir schien dies ein faires Abkommen, und ich war daher sehr erstaunt, als ich bei meiner Rückkehr nach Essen auf weitgehende Ablehnung d ­ ieser Vorschläge stieß. Während ich schließlich mit Werner Dietrich Ahlers über die Frage verhandelte, ob Ferrostaal dieses Abkommen mit Sonder eventuell allein abschließen sollte, kam der bereits pensionierte Johann W. Welker dazu. Er realisierte sofort die Chancen, die in dem Sonderschen Vorschlag lagen[,] und stimmte Ahlers um.59

58 Alfred Sonder gelang es in New York City, erneut einen Röhrenhandel aufzubauen: die Tube & Steel Export Corporation. Dieser Umstand dürfte seine Bereitschaft zur Einigung, von der er sich auch eine geschäftliche Verbesserung versprach, erhöht haben. 59 Menges, Unternehmensentscheide, 79. Bei Menges‘ Schilderung passt manches nicht zueinander. Insgesamt scheint es ihm weniger um eine exakte Darstellung gegangen zu sein, als vielmehr darum, sich selbst als Person herauszuheben. Zum einen gab es gar kein Büro mit einem Gemälde, wie Alfred Sonders Sohn der Verfasserin versicherte („Menges was once again ‚ornamenting‘“, Fragenkatalog Gerhard Sonder,

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Am 12. Juni 1950 wurde der Rückerstattungsvergleich nebst Konsortialvertrag vor dem Schlichter für Wiedergutmachungssachen beim Amtsgericht Mannheim protokolliert. Die Vermögenskontrolle über die Röhrenlager Mannheim AG war damit aufgehoben. Alfred Sonder erhielt ein Drittel des Röhrenlagers sowie zwei Sitze im Aufsichtsrat, die Erben nach Leopold Weill wurden entschädigt. Dass Sonder damit an dem einst ihm gehörenden Betrieb beteiligt wurde, war eine große Ausnahme, denn die wenigsten ehemaligen jüdischen Firmenbesitzer ließen sich nach 1945 auf eine wie auch immer geartete Kooperation mit den einstigen „Ariseuren“ ein. Die Teilrückerstattung und die Entschädigungsleistungen zeigen eine bemerkenswerte Parallele zu den Vorgängen der „Arisierung“. Auf eine „private Arisierung“60 folgte eine ebenso privat ausgehandelte Rückerstattung.61 Die mit Haniel und Ferrostaal erreichte Einigung erwies sich für die Familie Sonder als sinnvoll, auch wenn die Zusammenarbeit mit der Ferrostaal AG schlussendlich weniger eng war. Bis zu seinem Tod 1970 reiste Alfred Sonder regelmäßig zu den Aufsichtsratssitzungen nach Mannheim. Sein Sohn und Nachfolger Gerhard begleitete ihn. 1986 verkaufte die Familie die Aktien, da die Regelung der Nachfolge zunehmend komplizierter wurde. Die Röhrenlager Mannheim AG wurde in eine GmbH umgewandelt und gehört mittlerweile der Benteler Distribution Deutschland. Zwar wurde der Mannheimer Standort stark verkleinert, doch hat sich an der grundsätzlichen Art und Weise, wie Leopold Weill und Alfred Sonder Röhren vertrieben, bis heute wenig geändert. Und wenn man sich heute dem alten backsteinernen Lagerhaus an der Industriestraße 41a von der Wasserseite

Antwort vom 7. August 2009.). Zum anderen vergaß Menges herauszustellen, dass Haniel-Ferrostaal Sonder eigentlich nur 25 Prozent ohne jegliche Entschädigungszahlungen angeboten hatten. Vgl. Haniel Archiv ZABW 75, darin befindet sich das erste Angebot an Sonder, 1. November 1948. 60 Dies meint Zwangsverkäufe ohne klaren gesetzlichen Rahmen, vgl. Martin Dean, Der Raub jüdischen Eigentums in Europa. Vergleichende Aspekte der nationalsozialis­ tischen Methoden und der lokalen Reaktionen, in: Goschler/Ther, Raub und Restitution, 28. 61 Sonder bemühte sich nicht nur darum, die Ansprüche für das Unternehmen und die Erbengemeinschaft durchzusetzen, sondern er strengte als Privatperson zahlreiche weitere Verfahren an. Im Generallandesarchiv in Karlsruhe finden sich umfangreiche Vorgänge dazu.

„Arisierung“ am Beispiel der Röhrengrosshandlung Leopold Weill 307

nähert, dann ist dort noch – wenn auch schwach – Leopold Weill Röhrengrosshandlung zu lesen.

Abb 5  Der verblasste Firmenname an der alten Lagerhalle in der Industriestraße 41a (Foto: Lina-Mareike Dedert, 2010)

Susanna Schrafstetter

Von der Soforthilfe zur Wiedergutmachung: die Umsetzung der Zonal Policy Instruction No. 20 in der britischen Besatzungszone Wir hofften, „das deutsche Volk würde uns nach der Befreiung mit offenen Armen in ihre Reihen als gleichberechtigte Bürger aufnehmen und versuchen, das an uns während der Hitler-Zeit begangene Unrecht wieder gut zu machen“1, sagte Moritz Goldschmidt, der Vorsitzende der Synagogengemeinde Köln bei Kriegsende. In der unmittelbaren Nachkriegszeit ging es für die Opfer des Nationalsozialismus zunächst um elementare Soforthilfe – ärztliche Versorgung, Nahrung, Kleidung und Unterkunft. Diese Soforthilfe wurde nicht selten mit Wiedergutmachung gleichgesetzt und als solche bezeichnet. Nicht wenige Deutsche sahen mit höheren Lebensmittelrationen und bescheidenen finan­ ziellen Beihilfen die Pflicht zur Wiedergutmachung an den Verfolgten als erfüllt an. Gleichzeitig markierte die Erstversorgung einen ersten Schritt in Richtung Wiedergutmachung an die Opfer. Ihre Vereinheitlichung durch die Zonal Policy Instruction No. 20 (ZPI No. 20) der britischen Besatzungsmacht stellte die Weichen für die Entschädigungsgesetzgebung in den Ländern der britischen Zone. In diesem Beitrag soll der Blick auf die britische Zone und die Erstversorgung der – überwiegend deutschen – Verfolgten gerichtet werden, die nicht in den DP camps, den von der Besatzungsmacht eingerichteten Lagern für Dis­placed Persons (DP s), Aufnahme fanden. Welche Maßnahmen ergriffen deutsche Behörden und die britische Militärregierung, um diesen Menschen zu helfen? Welche Gruppen von Verfolgten wurden unterstützt? Im Zentrum der Analyse stehen die unmittelbare Nachkriegszeit und die Umsetzung der Zonal Policy Instruction No. 20 durch deutsche Städte und Kommunen. Ein Schlaglicht wird dabei auf zwei Städte der britischen Zone geworfen: An den Beispielen Göttingen und Flensburg lassen sich unterschiedliche Handlungsspielräume,

1 Moritz Goldschmidt, Vorsitzender der Synagogengemeinde Köln, zit. nach Jürgen Zieher, Im Schatten von Antisemitismus und Wiedergutmachung. Kommunen und jüdische Gemeinden in Dortmund, Düsseldorf und Köln 1945 – 1960. Berlin 2005, 49 – 50.

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Vorgehensweisen und Probleme, aber auch Gemeinsamkeiten erläutern. Indem der vergleichende Blick auf Flensburg und Göttingen, aber auch auf andere Städte und Gemeinden in Zusammenhang mit der Politik der britischen Besatzungsmacht und der Perspektive der Betroffenen gebracht wird, verbindet der folgende Beitrag politik-, diplomatie- und sozialgeschichtliche Ansätze. Der Schwerpunkt der Forschung sowohl zur Wiedergutmachung als auch zu den Displaced Persons lag lange auf der amerikanischen Zone.2 Erst in den letzten Jahren sind einige Lokalstudien zur Wiedergutmachung in der bri­tischen Zone erschienen, die sich u. a. mit den Anfängen der Wiedergutmachung in bestimmten Ländern und der Situation der jüdischen Verfolgten in einzelnen Städten befassen.3 Arbeiten dieser Art stehen für die amerikanische Zone noch weitgehend aus. Dieser Beitrag behandelt den Übergang vom Ende der Verfolgung zum Beginn der gesetzlichen Regelung der Wiedergutmachung für die erlittene Verfolgung. Erste Entschädigungsgesetze traten in den Ländern der britischen Zone 1947 in Kraft. In der Zeit davor, in der Übergangsphase der unmittelbaren Nachkriegszeit, ging es um Soforthilfe; daneben wurde diese Phase von verfolgungsgeschichtlichen Kontinuitäten wie der fortdauernden (sprachlichen) Stigmatisierung gekennzeichnet und sie stellte die Weichen für die Wiedergutmachung. Schließlich bildeten sich in dieser Zeit bei der Behandlung der Verfolgten Inklusions- und Exklusionsmechanismen heraus, die auch die Wiedergutmachung bestimmten. Zentrale Akteure waren dabei nicht nur die britische Besatzungsmacht und deutsche Verwaltungsstellen, sondern auch die Verfolgten selbst, die keinesfalls nur passive Empfänger von Hilfsleistungen waren. 2 Vgl. Constantin Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus 1945 – 1954. München 1992; Angelika Königseder/Juliane Wetzel, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland. Frankfurt am Main 1994. 3 Vgl. z. B. Julia Volmer-Naumann, Bürokratische Bewältigung. Entschädigung für national­ sozialistisch Verfolgte im Regierungsbezirk Münster. Essen 2012; Marlene Klatt, Unbequeme Vergangenheit. Antisemitismus, Judenverfolgung und Wiedergutmachung in Westfalen, 1925 – 1965. Paderborn 2009; Zieher, Schatten; Heiko Scharffenberg, Sieg der Sparsamkeit. Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Schleswig-­ Holstein. Bielefeld 2004; Sigrun Jochims-Bozic, „Lübeck ist nur eine kurze Station auf dem jüdischen Wanderweg.“ Jüdisches Leben in Schleswig-Holstein 1945 – 1950. Berlin 2004; Anke Quast, Nach der Befreiung. Jüdische Gemeinden in Niedersachsen seit 1945. Göttingen 2001.

Von der Soforthilfe zur Wiedergutmachung 311

I. Wer wird wie und wo versorgt? Die Kategorisierung der Verfolgten durch die Alliierten Die Betreuung und Ernährung der Verfolgten des Nationalsozialismus wurde zunächst durch das Memorandum Nr. 39 des Obersten Hauptquartiers der Alliierten Expeditionsstreitkräfte (SHAEF) vom April 1945 zur Versorgung der DP s festgelegt. Dieses Memorandum unterschied zwischen DP s aus Staaten der Vereinten Nationen (UN -DP s) und DP s aus Feindstaaten bzw. ehemaligen Feindstaaten.4 Erstere unterstanden dem Schutz der Besatzungsmacht und wurden durch die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) versorgt. Deutsche Behörden sollten keinerlei Befehlsgewalt über diese Menschen mehr haben. Für die zweite Gruppe waren hingegen die deutschen Behörden zuständig, es sei denn, die DP s „waren aufgrund ihrer Rasse, Religion oder Aktivitäten zugunsten der Vereinten Nationen verfolgt worden“.5 In diesem Fall konnten sie den Status als UN -DP s beanspruchen. Diese Bestimmungen waren allerdings nicht nur diskriminierend gegenüber einer ganzen Reihe von Verfolgtengruppen, sondern auch etwas realitätsfern. In den chaotischen Nachkriegsmonaten, als Millionen von kranken und hungernden Menschen versorgt werden mussten, wurden sie deshalb oft ignoriert. In den DP-Lagern wurde in den ersten Wochen nach der Befreiung kaum nach Herkunft der Opfer unterschieden. Tausende UN-DPs suchten sich außerhalb der DP-Lager eine Unterkunft. Der polnische Jude Anatol Chari beschreibt in seinen Memoiren, wie er und seine Freunde den alliierten Kategorisierungseifer umschifften: Ein paar Tage, nachdem ich die Eier organisiert hatte, wurde ich ein T ­ scheche. Ich wollte so schnell wie möglich weg aus Bergen-Belsen. Da ich gehört hatte, dass die tschechischen Häftlinge in Kürze abreisen sollten, gab ich mich gegenüber den Briten als Tscheche aus. Die Tschechen sollten im etwa 15 Kilometer entfernten Celle bleiben. […] Ich erfuhr, dass deutsche Juden sich im Rathaus von Celle registrieren lassen konnten, um Lebensmittelkarten zu 4 Zu den ehemaligen Feindstaaten zählten Italien, Finnland, Bulgarien, Ungarn und Rumänien. Vgl. hierzu Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland, 1945 – 1951. Göttingen 1985, 31. 5 Malcolm Proudfoot, European Refugees, 1939 – 52: a Study in Forced Population Movement. London 1957, 465 – 466.

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erhalten. Also wurde ich vorübergehend Deutscher. Andere polnische Juden aus Bergen-Belsen taten dies ebenfalls. Wir gaben uns als deutsche Juden aus Breslau aus, woraufhin wir von den städtischen Behörden Coupons für Wurst und andere Lebensmittel bekamen.6 In der amerikanischen Zone erhielten alle deutschen Juden automatisch den Status von UN-DPs, nachdem der amerikanische Sonderbeauftragte Earl H ­ arrison im Sommer 1945 einen vernichtenden Bericht, den sogenannten Harrison-­Report, über die Versorgung jüdischer Überlebender an die britische und amerika­ nische Regierung gesandt hatte. In der britischen Zone wurde nur aus Konzen­ trationslagern befreiten deutschen Juden der Status als UN-DPs gewährt, und vielen auch das nur so lange, bis sie gesundheitlich so weit wiederhergestellt waren, dass sie nach Hause geschickt werden konnten.7 Die britische Besatzungsmacht bestand darauf, deutsche Juden als Deutsche zu behandeln, mit dem zweifelhaften Argument, die Diskriminierung der Natio­nalsozialisten nicht verlängern und dem Antisemitismus keinen Vorschub leisten zu wollen. Damit wurden deutsche Juden an Behörden des Landes verwiesen, das sie nur kurz zuvor entrechtet, verfolgt und ermordet hatte. Auch nichtjüdische deutsche Verfolgte waren überwiegend auf eine Erstversorgung durch die Heimatgemeinden oder die Orte der Befreiung angewiesen. Oft dauerte es Wochen, bis die Befreiten nach Hause reisen konnten. Zwar verfestigte sich nach und nach die Aufteilung in ausländische bzw. staatenlose Verfolgte in den von den UNRRA verwalteten Lagern, die sich auf die Emigration vorbereiteten, und deutschen Verfolgten, die versuchten, sich in Deutschland wieder eine Existenz aufzubauen, aber diese Trennung war keineswegs kategorisch. Schwere Gesundheitsschäden, Unterernährung, fehlendes Einkommen und Kleidung – diese elementaren Probleme galt es zunächst zu lindern. Nichtjüdische Verfolgte hatten meist wenigstens Angehörige, Freunde und ein Dach über dem Kopf. Jüdische Überlebende mussten oft feststellen, dass Familie und Freunde nicht überlebt hatten, dass ihre Gemeinden zerstört und ihr Besitz „arisiert“ worden waren und dass ihre Nachbarn gleichgültig oder feindselig

6 Anatol Chari, „Undermensch“. Mein Überleben durch Glück und Privilegien. München 2010, 187 – 188. 7 Vgl. Arieh Kochavi, Post-Holocaust Politics: Britain, the United States and Jewish Refugees, 1945 – 1948. Chapel Hill 2001, 56.

Von der Soforthilfe zur Wiedergutmachung 313

reagierten.8 Die britische Militärregierung ließ sich bis Dezember 1945 Zeit, um eine einheitliche Anordnung über die Behandlung von NS-­Opfern außerhalb der DP-Lager zu erlassen. Bis dahin war es Sache der deutschen Kommunen und Städte, sich um die Rückkehrer zu kümmern. Eine gemeinsame alliierte Fürsorgepolitik kam nicht zustande.9 Auch in der amerikanischen Zone gab es keine einheitlichen Richtlinien der Militärregierung (OMGUS). Im Oktober 1945 erließ die Public Welfare Branch der dortigen Militärregierung eine Anweisung, nach der jüdische Verfolgte bevorzugt mit Nahrung, Kleidung, Möbeln, Unterkunft und medizinischer Betreuung versorgt werden sollten; diese Anweisung wurde kurze Zeit später informell auf alle Verfolgten ausgeweitet.10

II. Wie sah die Soforthilfe aus? NS-Verfolgte in deutschen Städten und Kommunen der britischen Zone Unmittelbar nach Kriegsende war die Hilfsbereitschaft der Deutschen für die Verfolgten ganz unterschiedlich stark ausgeprägt. In Wuppertal stieß eine Sammlung zugunsten der Verfolgten des Nationalsozialismus auf ein breites Echo, wohingegen im nahe gelegenen Rheydt eine ähnliche Aktion von Teilen der Bevölkerung als „similar to rackets run by the Nazi Regime“11 bezeichnet wurde. Der Auschwitz-Überlebende Hans Frankenthal beschreibt seine Heimkehr nach Schmallenberg im Sauerland so: Unsere Nachbarin, […] die unsere Rückkehr beobachtet hatte, war durch die ganze Nachbarschaft gelaufen, um zu verkünden: „Die Frankenthal-Jungs sind wieder da!“ Es klingelte oft, aber es kam nicht ein einziger, der nicht

8 Vgl. Norbert Sahrhage, „… weil wir hofften, dass nach all dem Erlebten uns nunmehr Gerechtigkeit widerfahren würde.“ Reintegration und Entschädigung der jüdischen Bevölkerung des Kreises Herford nach 1945, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte, 1991, 371 – 404, hier: 376 – 377. 9 Vgl. Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945. Göttingen 2005, 66 – 67. 10 Vgl. Goschler, Wiedergutmachung, 77 – 78. 11 National Archives, Kew (NA), FO 1013/2104, Headquarters Military Government RB Düsseldorf an Regierungspräsident RB Düsseldorf, 6. August 1945.

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schon in der Nazizeit zu uns gehalten hatte. Die Besucher unterstützten uns mit Kleidung und Lebensmitteln […] Aber selbst bei den Menschen, mit denen wir jetzt Kontakt hatten, blieb uns eines völlig unerklärlich: Kein Schmallenberger fragte, wo unsere Eltern oder die anderen Juden seien. In unserer Enttäuschung versuchten wir[,] in der ersten Zeit noch die Leute wachzurütteln.12 Auch der englische Stadtkommandant von Schmallenberg, ein Jude, kam mit einem großen Lebensmittelpaket vorbei, aber die offizielle Hilfe von deutscher Seite war für Frankenthal enttäuschend: „Wir erhielten zwar einen Sonderhilfsausweis – mit dem man nicht besonders viel anfangen konnte –, aber sonst kümmerte sich die Stadt keinen Deut um uns. Der Bürgermeister, Dameries, ein von den Engländern eingesetzter Gegner des Nationalsozia­ lismus, interessierte sich offensichtlich nicht für uns.“13 Bald darauf benachrichtigte die Kommunalverwaltung Hans Frankenthal und seinen Bruder, dass sie sich ordnungsgemäß in der Stadt anmelden müssten, sonst würden sie keine Lebensmittelkarten mehr erhalten. Hans Frankenthal ging daraufhin ins Rathaus und erklärte erbost, er habe sich nie aus Schmallenberg abgemeldet, daher könne er sich nun auch nicht anmelden. Hinter dem Schreibtisch saß derselbe Beamte, der früher die Lebensmittelkarten der Familie Frankenthal mit „J“ gestempelt hatte.14 Einige Städte und Gemeinden, darunter Köln, hatten wenigstens die Rückholung der überlebenden Verfolgten aus den Konzentrationslagern organisiert.15 In Hagen veranstaltete die Stadtverwaltung für die Heimkehrer aus den Konzen­trationslagern einen Empfang im Weinkeller des Rathauses. Dort wurden Anfang Juli 1945 etwa 50 Personen, darunter mindestens fünf Juden aus Hagen, verköstigt.16 Ob dieser Empfang mit einer weitergehenden Erstversorgung verbunden war, ist unklar, aber zumindest war er ein Signal des Willkommens. In Bochum war die Versorgung dagegen wohl besonders schlecht. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde klagte, dass noch nicht einmal 12 Hans Frankenthal, Verweigerte Rückkehr. Erfahrungen nach dem Judenmord. Frankfurt am Main 1999, 97 – 98. 13 Ebd. 14 Vgl. ebd., 105 – 106. 15 Vgl. Zieher, Schatten, 40 – 41. 16 Vgl. Klatt, Vergangenheit, 241.

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Lebensmittel an die stark unterernährten Juden ausgegeben wurden.17 Im Wesentlichen waren es daher die Rückkehrer selbst, die sich in Hilfskomitees organisierten und in – mehr oder weniger zufriedenstellender – Zusammenarbeit mit den städtischen und kommunalen Verwaltungen eine elementare Grundversorgung aufbauten. In Hamburg etablierte sich das Komitee ehemaliger politischer Gefangener, in dem sich auch in anderen norddeutschen Städten Verfolgte organisierten und aus dem schließlich die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) hervorging. Ehemalige Verfolgte übernahmen in diesem Prozess oftmals Posten in neu geschaffenen Fürsorge- oder Wiedergutmachungsämtern in der Stadtverwaltung.18 In Flensburg kam bei einer groß angelegten Sammlung für ehemalige KZ-Häftlinge ein beträchtlicher Geldbetrag zusammen, der es der Stadt ermöglichte, ab August 1945 „politische Überzeugungstäter“ sechs Monate lang mit 200 Mark monatlich (300 Mark für Verheiratete) zu unterstützen. Die Beihilfe nannte sich explizit nicht Wiedergutmachung, sondern Übergangsgeld. „Politische Häftlinge im weiteren Sinne“ erhielten die Hälfte. Für sogenannte „kriminelle“ oder „asoziale“ Häftlinge gab es ein Taschengeld von 10 Mark im Monat und höhere Essensrationen.19 Auswärtige Verfolgte sollten bis zu 100 Mark für ihre Heimreise erhalten. Jüdische Verfolgte wurden interessanterweise mit keinem Wort erwähnt. Möglicherweise glaubte man, sie würden durch die Alliierten versorgt, oder sie wurden als politische Häftlinge im weiteren Sinne behandelt.20 Erst Anfang 1946 formierte sich ein jüdisches Hilfskomitee in der Stadt, das sowohl Hilfslieferungen des American Joint Distribution 17 Vgl. ebd., 236. 18 Dazu zählten z. B. Franz Heitgres in Hamburg, Marcel Frenkel in Nordrheinprovinz oder Agnes Nielsen in Schleswig-Holstein. Vgl. Scharffenberg, Sparsamkeit, 60; Klatt, Vergangenheit, 245 – 246; Nils Asmussen, Der kurze Traum von der Gerechtigkeit. „Wiedergutmachung“ und NS-Verfolgte in Hamburg nach 1945. Hamburg 1987, 31 – 32 und 38 – 39. 19 Vgl. Stadtarchiv Flensburg, VB 678, Stadtverwaltung Flensburg an den ­Oberbürgermeister der Hansestadt Lübeck, 8. September 1945. Die Summen orientierten sich offenbar an den Zahlungen, die politische Verfolgte in Hamburg erhielten. Vgl. auch Scharffenberg, Sparsamkeit, 23 – 24. 20 Auf der Liste, auf der alle Empfänger der Sonderhilfe im Monat Oktober 1945 aufgeführt sind, finden sich keine jüdischen Verfolgten, dafür aber drei Bibelforscher, vgl. Stadtarchiv Flensburg, VB 350, Liste der KZ-Leute, denen aus dem KZ-Fonds auszuzahlen sind, Oktober 1945. Allerdings betonte die KZ-Betreuungsstelle der Stadt, dass „auch

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Committee als auch von der Stadtverwaltung zugewiesene Nahrung, Kleidung und Schuhe verteilte.21 Daneben wurde in Flensburg auch eine Kleidersammlung durchgeführt, um alle ehemaligen Häftlinge „gewissenhaft einzukleiden“.22 Die Sammlungen waren das Ergebnis einer Einzelinitiative, welche „im Wesentlichen auf die Rührigkeit des Herrn Pick aus Berlin zurückzuführen ist, der den Vorschlag einer solchen Sammlung entwickelte und diese organisatorisch mit Unterstützung der Militärregierung, des Oberbürgermeisters und der Stadtverwaltung durchführte“.23 Max Pick war selbst verfolgt worden, wie er 1945 nach Flensburg gelangte, ist jedoch unklar. Vermutlich spielte er auch bei der Gründung des Flensburger Komitees ehemaliger politischer Gefangener eine tragende Rolle.24 Die Militärregierung erteilte nicht nur die Genehmigung für die Sammlungen, sondern spendete auch Radiogeräte für die Verfolgten. Offenbar hatte die Besatzungsmacht gegen die bevorzugte Behandlung „politischer Überzeugungstäter“ keine Einwände. Ehemalige Häftlinge aus dem Umkreis von Flensburg strömten in die Stadt, um das Übergangsgeld zu erhalten. Sie berichteten übereinstimmend, dass sie in ihren Gemeinden keinerlei Unterstützung erhalten hatten.25 Die Stadtverwaltung sah sich schließlich gezwungen, an das Landratsamt Flensburg zu schreiben, um die Gemeinden im Umkreis aufzufordern, ebenfalls entsprechende Hilfsmaßnahmen in die Wege zu leiten.26 In Göttingen wurde Ende Juni 1945 eine Betreuungsstelle für „ehemalige Konzentrationslager-Angehörige [sic!]“ eingerichtet. Auswärtige Verfolgte wurden mit Lebensmitteln, Raucherkarten, Bekleidung und 50 Mark Bargeld

die nicht politischen angemessene Betreuung erfahren“. Stadtarchiv Flensburg, VB 678, Stadtverwaltung Abt. KZ-Betreuung an Stadtrat Drews, 25. Januar 1946. 21 Vgl. Bettina Goldberg unter Mitarbeit von Bernd Philipsen, Juden in Flensburg, Flensburg 2006, 103 – 104. Das Komitee wurde von dem Kaufmann Kurt Wendt geleitet. 22 Stadtarchiv Flensburg, VB 678, Stadtverwaltung Flensburg an das Landratsamt Flensburg, 18. August 1945. 23 Ebd. 24 Max Pick galt als „Leiter der politischen KZ-Häftlinge“. Stadtarchiv Flensburg, II C 917, Flensburger Nachrichtenblatt der Militärregierung, 5. Juli 1945. 25 Vgl. Stadtarchiv Flensburg, VB 678, Stadtverwaltung Flensburg an das Landratsamt Flensburg, 18. August 1945. 26 Vgl. ebd.

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ausgestattet. Göttinger sollten eine dreimonatige Schwerstarbeiterzulage an Lebensmitteln sowie Kleidung und eine Unterkunft erhalten. Arbeitsplätze sollten bevorzugt an ehemalige Verfolgte vermittelt werden.27 Die Soforthilfe war damit im Vergleich zu Flensburg deutlich bescheidener, dafür richtete sie sich ausdrücklich an alle Opfer, die in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen waren. Dabei erwies sich ihre Unterbringung in Göttingen als besonders schwierig. Die örtliche Auffangstelle war völlig überfüllt, einige Menschen weigerten sich, dort zu übernachten. Die Stadtverwaltung ließ schließlich Zimmer in örtlichen Pensionen beschlagnahmen. Der Göttinger Bürger Professor G. hatte im Mai 1945 Oberbürgermeister Schmidt vorgeschlagen, eine Kleidersammlung und finanzielle Spenden für die ehemaligen Häftlinge zu organisieren.28 G. hatte damit in Göttingen angeregt, was Max Pick in Flensburg erfolgreich durchgeführt hatte. Die Stadtverwaltung Göttingen reagierte jedoch ablehnend.29 Das mag auch daran gelegen haben, dass G. u. a. vorgeschlagen hatte, den Beamten die Gehälter zugunsten der Verfolgten zu kürzen. Doch auch wenn die Stadt dieser Idee nicht folgte, hätte man wenigstens den Vorschlag einer Kleider- bzw. Spendensammlung aufgreifen können. Doch beantragte die Stadtverwaltung Göttingen erst im Juni 1946, d. h. ein Jahr später als in Flensburg, bei der Militärregierung die Erlaubnis, eine Spendenaktion zugunsten der ehemaligen Verfolgten durchzuführen.30 Die angeführten Beispiele zeigen, dass die Gemeinden in der britischen Zone unterschiedlich auf die Rückkehr der Verfolgten und die damit verbundenen Herausforderungen reagierten. Einige Städte organisierten die Rückholung ihrer überlebenden Bürger aus den Konzentrationslagern und deren Versorgung, andere taten offenbar sehr wenig. Von besonderer Bedeutung waren Einzelinitiativen, die manchmal gefördert und mancherorts im Keim erstickt wurden. Hans Frankenthal erinnerte sich daran, wie wenige Menschen in seiner Stadt überhaupt Notiz von seiner Rückkehr nahmen: alte Bekannte, die vorbeikamen, ein Bauer, der Fleisch schickte, ein Café, das Lebensmittel 27 Vgl. Stadtarchiv Göttingen, I 78, Oberbürgermeister Schmidt an Militärregierung, 16. Juni 1945. 28 Vgl. Stadtarchiv Göttingen, A 1.1, Professor Josef G. an Oberbürgermeister Schmidt, 29. Mai 1945. 29 Vgl. Stadtarchiv Göttingen, A 1.1, Oberbürgermeister Schmidt an G., 1. Juni 1945. 30 Vgl. Stadtarchiv Göttingen, I 76, Oberstadtdirektor an die Militärregierung, 24. Juni 1946.

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bringen ließ.31 Einige wenige Bürger wollten helfen oder Hilfe organisieren. In Flensburg spendete die Nordische Kakao- und Schokoladenfabrik Ruschig & Müller spontan Lebensmittel und lieferte zu Weihnachten sogar an Verfolgte in anderen Städten.32 Die genauen Umstände dieser Initiative und die Motive des Unternehmens sind unklar. In Flensburg ist kein weiterer Fall eines Betriebes, der Hilfe anbot, in den Akten dokumentiert. Hans Frankenthals Schilderungen zeigen nicht nur die personellen Konti­ nuitäten in den deutschen Behörden, sondern auch die bürokratischen Absurditäten, die aus der Einstellung der Verfolgung resultierten. Eine gleich­gültige Verwaltungsmaschinerie, die zuvor Existenzen vernichtet hatte, machte nun aus einigen wenigen Verfolgten wieder deutsche Staatsbürger. Selbst die Stadtverwaltungen, die eine vergleichsweise gute Soforthilfe organisierten, nannten vieles nicht beim Namen. In Flensburg wurden die jüdischen Verfolgten als Opfergruppe gar nicht erwähnt, so als hätte es sie nie gegeben, und das, obwohl im November 1945 mindestens 16 jüdische Überlebende in der Stadt lebten.33 Selbst wenn man annimmt, dass sie unter die Kategorie „weitere politische Opfer“ subsumiert wurden, wollte die Stadt ganz offensichtlich das Geschehene nicht thematisieren. Erst im Januar 1946 entstand mit der Gründung des jüdischen Komitees eine eigene Interessenvertretung. Politische Verfolgte ergriffen in vielen Städten die Initiative bei der Organisation und Versorgung der Verfolgten, trugen aber auch zur Ausgrenzung anderer Verfolgtengruppen bei. Dies galt v. a. für die als „asozial“ verfolgten Menschen, die in Flensburg nach wie vor in der Sprache der Nationalsozialisten als „Verfolgtengruppe dritten Ranges“ geführt wurden. Immerhin tauchten sie unmittelbar nach Kriegsende noch als Verfolgte auf, später sollten sie überhaupt nicht mehr berücksichtigt und sogar explizit von Hilfsleistungen ausgeschlossen werden. In Göttingen sprach die Stadtverwaltung von „Konzentrationslager-Angehörigen“, in Flensburg von „KZ-Entlassenen“ und „KZ-Leuten“. Zwar kannte natürlich jeder die Bedeutung des Wortes Konzentrationslager oder KZ, aber der Tatbestand der nationalsozia­ listischen Verfolgung blieb bei Bezeichnungen wie diesen doch etwas nebulös. 31 Vgl. Frankenthal, Rückkehr, 97. 32 Vgl. Stadtarchiv Flensburg, VB 678, Schreiben des Oberbürgermeisters, 4. September 1945. 33 Vgl. Jochims-Bozic, Lübeck, 251. Jüdische Verfolgte wurden weder in der städtischen Korrespondenz noch in dem Zeitungsartikel, der über die Spendenaktion informierte, erwähnt. Stadtarchiv Flensburg, II C 917, Flensburger Nachrichtenblatt der Militär­ regierung, 5. Juli 1945.

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Die weitverbreitete Verunsicherung der Stadtverwaltungen wegen fehlender Direktiven der Militärregierung wird z. B. in dem folgenden Schreiben deutlich. Im Oktober 1945 wandte sich der Leiter der Finanzabteilung in der Stadtverwaltung von Düsseldorf Dr. Kitz sorgenvoll an den Oberpräsidenten der Nordrheinprovinz Dr. Lehr: „Die Zahl der Wiedergutmachungsanträge wächst von Stunde zu Stunde“, so Kitz, und er führte weiter aus: Die finanziellen Auswirkungen sind außerordentlich groß. An einheit­ lichen Richtlinien fehlt es noch fast völlig und infolge dessen ist bei den verschiedenen Dienststellen eine ganz verschiedene Handhabung zu beobachten. Das schafft aber Verbitterung gegenüber denjenigen Dienststellen, die bei der finanziellen Lage glauben, sich mehr zurückhalten zu müssen. Darüber hinaus scheint es mir aber auch geboten zu sein, daß gerade in dieser Frage engste Verbindung mit den anderen Ländern und Provinzen der britischen Zone unterhalten wird. Soweit mir von Vertretern der anderen Provinzen und Länder mitgeteilt wurde, hat in einigen dieser Gebiete die Militär-­Regierung direkt angeordnet, daß die Frage der Wiedergut­machung bis zu ihrer Entscheidung zurückzustellen sei. Es müßten aber auch hier m. E. der Militär-Regierung Vorschläge möglichst einheitlich von den Provinz-Regierungen und Ländern unterbreitet werden.34 Die Städte waren zur Soforthilfe verpflichtet, aber es gab keine spezifischen Direktiven über Form und Umfang. Die Militärregierung genehmigte Pläne zur Erstversorgung, welche die deutschen Kommunen vorlegen mussten. Hier und da verweigerte sie ihre Zustimmung. Gründe und Maßgaben blieben dabei nicht selten unklar, so wurden in Köln und Dortmund Pläne zur Rückholung von Verfolgten aus Konzentrationslagern genehmigt, in Düsseldorf dagegen nicht.35 Da klare Anweisungen fehlten, tauschten sich die Städte untereinander aus. Dies galt nicht nur für das Rheinland. In Flensburg beantwortete man im September 1945 eine entsprechende Anfrage aus Lübeck.36 Im Oktober 1945 34 Hauptstaatsarchiv (HSTA ) Düsseldorf, NW 114 – 94, Kitz an Lehr, 11. Oktober 1945. Hervorhebung im Original. 35 Vgl. Zieher, Schatten, 43. 36 Vgl. Stadtarchiv Flensburg, VB 678, Stadtverwaltung Flensburg an den Oberbürgermeister der Stadt Lübeck, 8. September 1945.

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bat der Regierungspräsident von Schleswig-Holstein, Mensching, die Landräte und Oberbürgermeister um Erfahrungsberichte, um eine einheitliche Handhabung herbeizuführen.37 Doch noch einmal zurück zu Kitz’ Schreiben: Was genau meinte er mit dem Begriff „Wiedergutmachungsantrag“? Im Oktober 1945 gab es zwar vereinzelt Wiedergutmachungsämter, aber keine Regelungen zur Wiedergutmachung. Ging es um Anträge auf höhere Lebensmittelrationen, kostenlose ärztliche Versorgung und bescheidene finanzielle Beihilfen? Wurde elementare Erstversorgung mit Wiedergutmachung gleichgesetzt? Wahrscheinlich beantragten viele der Verfolgten jedoch nicht nur Lebensmittel und eine Unterkunft, sondern forderten auch die Rückgabe des Elternhauses oder etwa Haftentschädigung. Sie wollten ihre Ansprüche geltend machen. Mitarbeiter der im Entstehen begriffenen Wiedergutmachungs- und Fürsorgeämter ­konnten diese Anträge nur entgegennehmen und die Betroffenen auf zukünftige Regelungen vertrösten.

III. Soforthilfe und Wiedergutmachung: die Grundlagen der britischen Politik In der amerikanischen Zone bereitete die Militärregierung in Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Länderrat ein Gesetz zur Rückerstattung vor sowie ein sogenanntes Sonderfondsgesetz, das als Starthilfe für Verfolgte die Zeit bis zu einer umfassenden Regelung der finanziellen Entschädigung für die erlittene Verfolgung überbrücken sollte. Allerdings zeichnete sich schon Ende 1945 ab, dass sowohl beim Sonderfondsgesetz als auch ganz besonders bei der Rück­ erstattung noch Geduld vonnöten sein würde. Anders als die britische Militär­ regierung achtete OMGUS besonders darauf, dass gerade deutsche jüdische Überlebende angemessen versorgt wurden. Für die Belange der jüdischen Verfolgten wurde in Bayern im Oktober 1945 ein Staatskommissariat für rassisch Verfolgte innerhalb der Staatsregierung eingerichtet, für die anderen Verfolgten erst im März 1946.38 Seit Ende 1945 kümmerte sich ein „Hilfswerk für die

37 Vgl. Stadtarchiv Flensburg, VB 678, Regierungspräsident Mensching an alle Landräte und Oberbürgermeister, 8. Oktober 1945. 38 Vgl. Goschler, Wiedergutmachung, 78.

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von den Nürnberger Gesetzen Betroffenen“ speziell um jüdische Verfolgte. In Bayern lebte die mit Abstand höchste Zahl von Verfolgten in den Ländern der amerikanischen Zone.39 In London befasste sich die Working Party on Compensation unter der Leitung von John Troutbeck seit 1944 mit der Problematik der Rückerstattung und Entschädigung für deutsche NS-Opfer. Trotzdem gab es nach Kriegsende noch keine klare britische Position in dieser Frage. Mit Beginn der Besatzungszeit hatten sich die Zuständigkeiten verschoben, die Militärregierung – ein kompli­ziertes Gefüge mit einer Vielzahl verschiedener Abteilungen – hatte ihre Arbeit aufgenommen. Arbeitsgruppen wurden aufgelöst, neue Institutionen wie das Control Office for Germany and Austria (COGA) wurden gegründet.40 Generell sind die britische Besatzungspolitik und ihre Haltung in der Wieder­gutmachung als eine Form der „indirect rule“ beschrieben worden, eine sowohl aus Kostengründen als auch aus kolonialen Erfahrungen heraus eher zurückhaltende Besatzungspolitik.41 Dies ist zwar nicht verkehrt – gerade das Kosten­argument spielte eine zentrale Rolle –, greift aber als alleiniger Erklärungsansatz zu kurz. Denn in London erkannte man, dass die Wiedergutmachung für die NS-Opfer angesichts der Dimensionen der Verfolgung eine Aufgabe war, die kaum zufriedenstellend zu bewältigen sein würde, und wollte daher eigentlich so wenig wie möglich damit zu tun haben. „This horrible ball now lies at our collective feet“, kommentierte John Troutbeck den Auftrag an seine Arbeitsgruppe.42 Kein Wunder, dass der Abschlussbericht im Wesentlichen empfahl, weitgehend auf Entschädigung zu verzichten und die Rückerstattung im Großen und Ganzen den Deutschen zu überlassen.43 Die chaotische Zonenverwaltung, umständliche Kommunikation zwischen den Regierungsstellen und eine generelle Überforderung der Militärregierung taten das Ihre, und so diskutierten im Frühjahr 1946 verschiedene Abteilungen noch immer ergebnislos über den Abschlussbericht. 39 Vgl. ebd., 77 – 78. 40 Vgl. John E. Farquharson, The British Occupation of Germany 1945 – 6: A Badly-managed Disaster Area?, in: German History 11/3, 1993, 316 – 338, hier: 320 – 321. 41 Vgl. Jürgen Lillteicher, Raub, Recht und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik. Göttingen 2007, 46 – 47; Klatt, Vergangenheit, 238. 42 NA, FO 942/241, Troutbeck an Playfair, 1. September 1944. 43 Vgl. NA, FO 944/234, Report on Compensation and Restitution to Victims of Nazism, 29. Oktober 1945.

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Was die Soforthilfe anging, standen die DP-Lager im Zentrum der britischen Bemühungen. Auch dort fehlte es am Nötigsten: Die Militärregierung hatte Schwierigkeiten, ausreichend Lebensmittel zur Versorgung der DP-Lager bereitzustellen. Und während in Großbritannien Lebensmittel noch rationiert waren, mussten die Briten zur Versorgung der DPs Lebensmittel in ihre Zone einführen. In dieser Situation war man durchaus bereit, Verfolgte außerhalb der Lager sich selbst bzw. den Deutschen zu überlassen. Internationale Hilfsorganisationen konnten zunächst nur innerhalb der DP camps tätig werden. Die Jewish Relief Unit durfte ihre Hilfe erst Anfang 1946 auf deutsche jüdische Gemeinden ausweiten.44 Offiziell wurde dies mit dem Argument begründet, dem Antisemitismus keinen Vorschub leisten zu wollen. Faktisch aber war die britische Politik im Bezug auf die jüdischen NS-Opfer von Anfang an auch von der Angst gekennzeichnet, dass die Mehrheit der Verfolgten nach Palästina würde auswandern wollen. DP camps galten als „hotbeds of Zionism“, daher sollte der Kontakt zwischen deutschen Juden und DPs beschränkt bleiben.45 Deutsche Juden sollten als Deutsche behandelt werden, das Ziel war ihre Reintegration in Deutschland. Die Besatzungsmacht verkannte, dass sie dafür mehr hätte tun müssen, als die deutschen Juden ihren deutschen Nachbarn und ehemaligen Verfolgern zu überlassen.

IV. Der Erlass der Zonal Policy Instruction No. 20 Infolge zahlloser Anfragen deutscher Kommunen und weil es vor Ort ­völlig unterschiedliche Hilfsmaßnahmen gab, erkannte die britische Militär­ regierung schließlich die Notwendigkeit, einheitliche, verbindliche Regelungen zur Soforthilfe für NS-Opfer außerhalb der DP camps zu erlassen. Die Zonal Policy Instruction No. 20 war das Ergebnis deutscher Forderungen nach einer zoneneinheitlichen Regelung. Zugleich war sie auch die Antwort auf die wachsende Kritik an der Versorgung der jüdischen Verfolgten in der bri­ti­schen und amerikanischen Zone.46 Während sich die Bedingungen für die jüdischen Verfolgten nach dem Harrison-Report in der amerika­ nischen Zone im Sommer 1945 stark verbesserten, weigerte sich die britische

44 Vgl. Zieher, Schatten, 120 – 121. 45 Kochavi, Politics, 56 – 59. 46 Vgl. hierzu ebd., 90 – 97.

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Regierung, trotz massiver Kritik im Unterhaus und seitens der jüdischen Organisa­tionen, eine Kursänderung vorzunehmen.47 Die Kritik bezog sich überwiegend auf die Zustände in den DP camps, v. a. in Belsen, aber es gab auch kritische Fragen zur Situation der Verfolgten außerhalb der Lager. Am 20. Dezember musste John Hynd, der Leiter des Control Office for Germany and Austria, einräumen: Ex-enemy nationals, including many Jews, who have been persecuted because of their race, religion or activities in favour of the United Nations, provided that their loyalty to the Allies has been established, are treated similarly to United Nations displaced persons. […] The large number who are scattered as individuals throughout the British zone and live volun­ tarily as part of the indigenous population, cannot readily be traced, and the administrative difficulties are such that it is not yet possible to provide them with the material benefits that are available at the centres. The local British authorities have this matter under consideration and are endeav­ ouring to overcome the difficulties.48 Zwei Tage später erließ die britische Militärregierung kurzfristig die Zonen­ anweisung Nr. 20 über Hilfsleistungen für ehemalige Häftlinge der Konzen­ trationslager.49 Sie sah die Gewährung besonderer Vergünstigungen für alle deutschen Häftlinge und Staatsangehörige ehemaliger Feindstaaten vor, die aus Gründen der Rasse, Religion oder politischen Anschauung Konzen­ trationslagerhaft erlitten hatten. Bei Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit und Personen aus Staaten, die im Krieg neutral geblieben waren, war der Verfolgungsgrund egal. Ehemalige Verfolgte, die in einem DP camp versorgt wurden, waren nicht antragsberechtigt, auch wenn sie die oben genannten Krite­ rien erfüllten. Die Regelung sollte nicht nur den ehemaligen Verfolgten Hilfe zuteilwerden lassen, „sondern auch der deutschen Öffentlichkeit vor Augen führen, dass demjenigen, der als Gegner des Nationalsozialismus gelitten hat, angemessene Anerkennung gezollt wird“.50 Diesem erzieherischen Aspekt hätte 47 Vgl. ebd., 36 – 37. 48 Hansard, House of Commons, Debates, 1945, Vol. 417, Mr. John Hynd, 20. Dezember 1945, col. 1527. 49 Vgl. Scharffenberg, Sparsamkeit, 24 – 26; Volmer-Naumann, Bewältigung, 61 – 63. 50 NA, FO 945/724, Zonal Policy Instruction No. 20, 22. Dezember 1945.

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man auch mit einer besonderen Betreuung der jüdischen Verfolgten gerecht werden können, genau dies hatte man aber mit dem Argument, dem Antisemi­ tismus keinen Vorschub leisten zu wollen, lange abgelehnt. Angemessene Anerkennung bestand aus Sonderhilfe in Form von extra Lebensmittelrationen, der bevorzugten Zuteilung von Wohnung und Arbeit, Fürsorge (50 Prozent über dem regulären Tarif) und einem Mietkosten­zuschuss für zunächst 26 Wochen mit Option auf Verlängerung. In der französischen Zone war eine ähnliche, aber weitergehende Anweisung bereits Anfang September 1945 erlassen worden.51 Ausgeschlossen von den Hilfsleistungen waren Personen, die Mitglied der NSDAP gewesen waren, sowie all jene, die als meuternde Wehrmachtsangehörige oder weil sie „an internen Streitigkeiten der Nazipartei teilnahmen“ (dies zielte auf Vorgänge wie den sogenannten „Röhm-Putsch“ von 1934, aber auch auf die Mitwisser des Hitler-Attentats am 20. Juli 1944) bzw. wegen einer Straftat in einem Konzentrationslager inhaftiert gewesen waren. Auch ehemalige Insassen von Konzentrationslagern, die an der Bestrafung von Mitgefangenen beteiligt gewesen waren, sollten von der Sonderhilfe ausgeschlossen werden. Wer in der Besatzungszeit eine Straftat beging oder „wegen seines schlechten Charakters allgemein bekannt […] und einer Sonderhilfe nicht würdig ist“52, ging ebenfalls leer aus. Die Auswahl wurde sogenannten Kreissonderhilfsausschüssen (KSHA) übertragen. Diese sollten aus einem Juristen, einem ehemaligen Häftling und einer Person der allgemeinen Öffentlichkeit bestehen und den örtlichen Wohlfahrtsämtern angegliedert werden. Die Probleme, die sich aus dieser Anweisung ergaben, sind offensichtlich. Der explizite Ausschluss von „gewöhnlichen Kriminellen“ ging weiter als die Forderungen vieler politischer Häftlinge, die sich zwar von den „Kriminellen“ abgrenzen wollten, die aber bestimmte Beihilfen für diese Gruppe nicht ablehnten. Auch der Ausschluss meuternder Wehrmachtsangehöriger war problematisch. Andere Verfolgte, z. B. Homosexuelle oder Opfer von Sterili­sation, wurden gar nicht erst genannt. Die Exklusion von „Häftlingen mit schlechtem Charakter“ ermöglichte die Fortsetzung der Diskriminierung von Menschen, die die Nationalsozialisten als „Asoziale“ verfolgt hatten. Die Kriterien legen

51 Vgl. Regina Hennig, Entschädigung und Interessenvertretung der NS -Verfolgten in Niedersachsen, 1945 – 1949. Bielefeld 1991, 23. 52 NA, FO 945/724, Zonal Policy Instruction No. 20, 22. Dezember 1945.

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den Schluss nahe, dass für einige Häftlinge KZ-Haft als nicht unangemessen bzw. selbst verschuldet angesehen wurde.53 Man fragt sich auch, inwieweit die Kreissonderhilfsausschüsse Anträge von antragsberechtigten nichtdeutschen Verfolgten berücksichtigten, zum einen, weil sie der Auffassung waren, dass alle ausländischen Verfolgten in den DP camps versorgt würden, und zum anderen, weil Ressentiments gegenüber ausländischen DPs weit verbreitet waren. Auf britischer Seite machte man sich indes Sorgen, dass durch die ZPI No. 20 deutsche Opfer höhere Lebensmittelrationen erhalten würden als z. B. die DPs in Belsen.54 Die Beihilfe war an das Kriterium der Konzentrationslagerhaft geknüpft, nur in Sonderfällen waren Ausnahmen zulässig. Es zeigte sich jedoch bald, dass eine im Wesentlichen auf KZ-Haft basierende Definition von Verfolgung realitätsfern war und den Kreis der Berechtigten stark einengte. Diese Bestimmung wurde daher bereits nach wenigen Wochen informell ausgeweitet.55 Marcel Frenkel, der Leiter des Amtes für Wiedergutmachung der Nordrheinprovinz, der im Übrigen selbst nach den ursprünglichen Kriterien der ZPI No. 20 keinen Anspruch auf Soforthilfe gehabt hätte,56 wurde, wie viele seiner Kollegen, wie folgt angewiesen: „Care should be extended beyond concentration camp inmates to include all kinds of political prisoners and those persecuted for reasons of race. Also all persons oppressed by the Nazi regime should receive care.“57 Diese neuen Instruktionen waren nicht gerade präzise, auch widersprachen sie in gewisser Weise der ursprünglichen Anweisung, aber immerhin konnten sie nun großzügig interpretiert werden. Die Sonderhilfsausschüsse hatten einen erheblichen Entscheidungsspielraum, aber die Militärregierung als oberste Entscheidungsinstanz konnte Entscheidungen der Ausschüsse korrigieren.

53 Vgl. Scharffenberg, Sparsamkeit, 25. 54 Vgl. NA, FO 1032/2315, CCG British Element to Regional Commissioners, 15. April 1947. 55 Vgl. HSTA Düsseldorf, NW 114 – 37, Vermerk, 25. März 1946. 56 Als jüdischer Rechtsanwalt war Frenkel vor den Nationalsozialisten in die Niederlande geflohen, wo er im Untergrund als Mitglied einer Widerstandsgruppe überlebt hatte. Vgl. hierzu Boris Spernol, Im Kreuzfeuer des Kalten Krieges. Der Fall Marcel Frenkel und die Verdrängung der Kommunisten, in: Jose Brunner/Norbert Frei/Constantin ­Goschler (Hrsg.), Die Praxis der Wiedergutmachung: Geschichte, Erfahrung und ­Wirkung in Deutschland und Israel. Göttingen 2009, 203 – 236. 57 HSTA Düsseldorf, NW 114 – 37, Vermerk, 25. März 1946.

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Generell zeigt sich in der britischen Anweisung eine ausgeprägte Neigung zur Kategorisierung von Opfergruppen und Nationalitäten, was zu Exklusions­ prozessen führte, die langfristig die Weichen für die Wiedergutmachung stellten. Die Begrenzung auf politische, rassische und religiöse Verfolgung findet sich schon in frühen alliierten Entwürfen zur Behandlung der Opfer und sie galt auch in der amerikanischen Zone. Gelegentlich wurde diese Triade mit dem Kriterium der Konzentrationslagerhaft als NS-spezifische Verfolgungsform verknüpft.58 Die Briten hielten trotz der Erfahrungen mit der ZPI No. 20 daran fest, was Jahre später bei der Wiedergutmachung für britische Opfer des Natio­nal­sozialismus zu erheblichen Schwierigkeiten führen sollte.59 Im Mai 1946 wurden deutsche Behörden angewiesen, Anträge ausländischer Verfolgter bei der Gewährung der ZPI No. 20 nicht länger zu berücksich­tigen.60 Aus Furcht vor „zionistischen Aufwieglern“ hatten die Briten ihre Zone für DPs geschlossen. Wer noch nicht registriert war, erhielt keine Hilfe in den DP-Lagern und sollte auch von den Deutschen nicht versorgt werden. Damit nahm die Umsetzung der ZPI No. 20 den Ausschluss der ausländischen Opfer aus der Wiedergutmachung vorweg. Daneben zeigt diese Maßnahme, dass die Briten in Detailfragen in die Umsetzung der ZPI No. 20 eingriffen, was mit dem Bild von der „indirect rule“ schlecht vereinbar ist.

V. Die Umsetzung der ZPI No. 20 Wie sah die Zusammensetzung und Arbeit der Kreissonderhilfsausschüsse aus? In Flensburg sollte der KSHA aus dem jüdischen Rechtsanwalt Engel als Vorsitzendem, dem Kommunisten Hannemann, dem Druckereibesitzer Wolff und dem Stadtoberinspektor Brömel bestehen.61 Hannemann wurde jedoch von den Briten abgelehnt und durch Richter, den Leiter der KZ-Betreuungsstelle der 58 Vgl. Cornelius Pawlita, Wiedergutmachung als Rechtsfrage. Die politische und juristische Auseinandersetzung um Entschädigung für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung (1945 bis 1990). Frankfurt am Main 1993, 128 – 131. 59 Vgl. Susanna Schrafstetter, „Gentlemen, the cheese is all gone!“ British POWs, the Great Escape and the Anglo-German Agreement for Compensation to Victims of Nazism, in: Contemporary European History 17/1, 2008, 23 – 43. 60 Vgl. HSTA Düsseldorf, NW 114 – 52, Gesprächsprotokoll, 29. Mai 1946. 61 Vgl. Scharffenberg, Sparsamkeit, 27.

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Stadt, ersetzt.62 Die Ablehnung eines Kommunisten durch die Militär­regierung war kein Einzelfall. Sie antizipierte spätere britische Bemühungen, kommunistische Verfolgte aus Wohlfahrtsämtern und Fürsorgestellen zu entfernen.63 Diese Art von Eingriff passt nur schlecht in das Bild von einer „indirect rule“. Politischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus sollte laut ZPI No. 20 gegenüber den Deutschen zwar als anerkennenswert dargestellt werden, doch galt dies immer weniger für kommunistische Verfolgte, die weiterhin politisch aktiv waren. Nach und nach machte sich also der Einfluss des Kalten Krieges auf die Wiedergutmachung bemerkbar, der im Ausschluss von Kommunisten aus der bundesdeutschen Wiedergutmachung kulminierte. Am 6. April 1946 traf sich der KSHA Flensburg zu einer Sitzung. Das Gremium hatte zu diesem Zeitpunkt 199 Anträge erhalten; davon waren 144 genehmigt und 13 abgelehnt worden, über 42 Anträge war noch nicht entschieden worden.64 Die Anerkennungsquote ging später zurück.65 Der KSHA nahm die britische Anweisung, dass bei der Beurteilung großmütig verfahren werden sollte, ausdrücklich zur Kenntnis. Der Großmut der britischen und deutschen Behörden hielt sich allerdings in engen Grenzen. Zunächst hatte der KSHA Flensburg versucht, Personen mit geringen Haftzeiten auszuschließen. Dies wurde jedoch von der Militärregierung unterbunden. 66 Die folgenden Anordnungen, Entscheidungen und Einzelschicksale aus Flensburg lassen eine Anerkennungspraxis erkennen, die richtungsweisend war für eine fortdauernde soziale und moralische Stigmatisierung bestimmter Opfergruppen. In einem Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Schleswig-Holstein vom 11. April 1946 hieß es, „Zigeuner sind im allgemeinen als asoziale Elemente zu behandeln“.67 In vielen Fällen wurde dieser Anweisung Folge geleistet

62 Vgl. ebd. 27. 63 Vgl. hierzu Spernol, Kreuzfeuer , 203 – 236. 64 Vgl. Stadtarchiv Flensburg, II B 11, Bd. 2, Sitzungsprotokoll, 6. April 1946. 65 Bis November 1947 wurden 495 Anträge bearbeitet. Davon wurden 346 genehmigt, 254 wegen politischer, 70 wegen rassischer und 22 wegen religiöser Verfolgung. 137 Anträge wurden abgelehnt. Zwölf Antragsteller wurden nachträglich ausgeschlossen. Vgl. Stadtarchiv Flensburg, II B 11, Bd. 2 Sitzungsprotokoll, 14. November 1947. 66 Vgl. Scharffenberg, Sparsamkeit, 29. 67 Stadtarchiv Flensburg, VB 350, Informationen des Komitees ehemaliger politischer Gefangener, 25. April 1946.

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und Sinti und Roma von der Soforthilfe ausgeschlossen. So wurde in Flensburg einer Sintiza Sonderhilfe auf Probe gewährt.68 Die Wohlfahrtsämter in der Nordrheinprovinz erhielten von Frenkel die Anweisung, Sinti und Roma anzuerkennen – allerdings erst nach Überprüfung des Strafregisters.69 Vor Schwierigkeiten standen auch Menschen, die von den Nationalsozialisten als „Halbjuden“ verfolgt worden waren. Die Briten verfügten im März 1946, sie nicht automatisch als Verfolgte zu registrieren, vielmehr mussten sie Verfolgung und erhebliche Schädigung nachweisen.70 Wenige Monate später gab es offenbar eine neue britische Anweisung, nach der „Halbjuden“ unbedingt anerkannt werden sollten.71 In Flensburg scheint dies auch schon vor der revidierten britischen Anweisung der Fall gewesen zu sein.72 Abgelehnt wurde dort allerdings der Antrag einer nichtjüdischen Witwe, die mit einem Juden verheiratet gewesen war. Der Mann hatte die Verfolgung dank der „Mischehe“ zwar überlebt, hatte nach Kriegsende aber Suizid begangen. Der KSHA entschied, dass sich der Ehemann der Antragstellerin wegen mehrerer aufgeflogener Betrugsdelikte umgebracht hatte und dass der Freitod „in keinem Zusammenhang mit einer rassischen oder politischen Verfolgung stand“.73 Wie mag es sich angefühlt haben, nach den Jahren der Diskriminierung, des Hungers und der Angst alleine und ohne Hilfe dazustehen, und das noch dazu gebrandmarkt als Witwe eines Kriminellen? Ebenfalls abgelehnt wurde ein Antragsteller, der angeblich während der Haft „mit Kriminellen paktiert und den Interessen der politischen Häftlinge sehr entgegen gearbeitet hat“.74 Der Antrag von Herrn H. wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass „offenbar keine politischen, rassischen oder religiösen Gründe die Ursache des 7-jährigen Aufenthalts in der Irrenanstalt gewesen sind“.75 Auch eine Antragstellerin, die wegen einer Beziehung zu einem englischen Kriegsgefangenen in Haft gewesen war, erhielt keine Sonderhilfe.76 Ähnlich erging es auch Frau W. Sie war, weil sie Kontakt zu Zwangsarbeitern

68 Vgl. Scharffenberg, Sparsamkeit, 32. 69 Vgl. HSTA Düsseldorf, NW 114 – 52, Minutes, Meeting, 29. Mai 1946. 70 Vgl. Stadtarchiv Flensburg, II B 11, Bd. 2, Sitzungsprotokoll, 6. April 1946. 71 Vgl. Scharffenberg, Sparsamkeit, 29. 72 Vgl. Stadtarchiv Flensburg, II B 11, Bd. 2, Sitzungsprotokoll, 18. Juni 1946. 73 Stadtarchiv Flensburg, II B 11, Bd. 2, Sitzungsprotokoll, 14. November 1947. 74 Stadtarchiv Flensburg, II B 11, Bd. 2, Sitzungsprotokoll, 18. Juni 1946. 75 Stadtarchiv Flensburg, II B 11 Bd. 1, Antrag Nr. 411. 76 Vgl. Stadtarchiv Flensburg, II B 11, Bd. 2, Sitzungsprotokoll, 6. April 1946.

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gehabt hatte, zunächst ins Gefängnis nach Flensburg und dann im Juli 1943 ins Konzentrationslager Ravensbrück eingeliefert worden. Frau W. erklärte, ihre Verhaftung sei auch aus politischen Gründen erfolgt; sie habe gemeinsam mit einem Tschechen und seinen Freunden Feindsender gehört. Im November 1943 wurde Frau W. aus Ravensbrück entlassen, ihre Kinder hatte man inzwischen weggenommen, ihre Wohnung anderweitig vergeben. 1945 war ihr Mann in Russland vermisst, und ihre Kinder waren immer noch nicht zu ihr zurückgekehrt. Sie lebte allein und mittelos in sehr schwierigen Verhältnissen. In Ravensbrück hatte sie den roten Winkel für politische Häftlinge getragen, was nun von einer ehemaligen Insassin bestätigt werden konnte. Der KSHA schenkte allerdings dem Polizisten Glauben, der Frau W. damals verhaftet hatte und der jetzt behauptete, dass die Verhaftung nur wegen ihrer Beziehung zu einem Ausländer erfolgt sei. Frau W. erhielt keine Unterstützung.77 Wie sah es in Göttingen aus? Im April 1946, zu einem Zeitpunkt also, als in Flensburg bereits 200 Anträge bearbeitet worden waren, gab es hier noch keinen Sonderhilfsausschuss. Die Stadtverwaltung rechtfertigte sich gegenüber der britischen Besatzungsmacht mit Schwierigkeiten, geeignete Personen für dessen Besetzung zu finden, und argumentierte, dass auch in anderen Städten noch keine KSHAs oder Ausschüsse existierten.78 Colonel Bankart, der britische Militärkommandant in Göttingen, machte schlichtweg die Untätigkeit der Stadtverwaltung für die Situation verantwortlich.79 An der Verzögerung waren die britischen Behörden allerdings nicht unschuldig: Im August 1945 hatte sich in der Stadt ein Komitee ehemaliger politischer Gefangener gebildet, das in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung die Registrierung und Erstversorgung der ehemaligen Verfolgten organisierte. Kurz nach dem Erlass der ZPI No. 20 hatte Major Ruddy, der Amtsvorgänger von Colonel Bankart, den Vorsitzenden des Komitees ehemaliger politischer Gefangener, Fritz Körber, für den KSHA vorgeschlagen.80 Eine andere britische Dienststelle in Hannover hatte aber dem Göttinger Komitee im November 1945 die formale Zulassung verweigert.81 Dabei war der Antrag, den 77 Vgl. Stadtarchiv Flensburg, VIII D, Anträge auf Anerkennung als OdN, 00037. 78 Vgl. Stadtarchiv Göttingen, I 76, Bankart an den Oberbürgermeister der Stadt Göttingen, 4. April 1946, und Antwort (Entwurf), ohne Datum. 79 Vgl. Stadtarchiv Göttingen, I 76, Bankart an den Oberbürgermeister der Stadt Göttingen, 9. April 1946. 80 Vgl. Stadtarchiv Göttingen, I 76, Major Ruddy an den Oberstadtdirektor, 15. Januar 1946. 81 Vgl. Stadtarchiv Göttingen, I 76, Oberstadtdirektor an Commanding Officer, 8. April 1945.

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der Oberbürgermeister für das Komitee gestellt hatte, bei den Briten über fünf Wochen liegen geblieben, bevor er abgelehnt wurde. Der Oberbürgermeister führte nun, im Frühjahr 1946, diese Vorgänge als einen der Gründe an, warum es in Göttingen so lange dauerte, einen KSHA zu bilden. Außerdem war es offenbar besonders schwierig, einen unbelas­teten Juristen zu finden. Dieses Problem gab es in mehreren Städten.82 Zudem wurde die Tätigkeit nicht entlohnt, sondern bestenfalls Auslagen erstattet.83 Angesichts all dieser Schwierigkeiten wurden in Göttingen die ersten Anträge ehemaliger Verfolgter erst im Sommer 1946 bearbeitet. Die Episode ist bezeichnend für die Zustände innerhalb der britischen Militäradministration, die geplagt war von Kompetenzüberschneidungen, Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Abteilungen und genereller Überlastung. Aber auch seitens der Stadt Göttingen scheint man, wie aus der Korrespondenz ersichtlich ist, keine Eile gehabt zu haben, mehr als die elementaren Bedürfnisse der Verfolgten wie nach Nahrung und Kleidung zu befriedigen. Dies galt nicht nur für die Bildung des KSHA. Mitte 1946 gab es in Göttingen noch immer keinen Betraum für die jüdischen Verfolgten. Der jüdische Friedhof in der Stadt wurde als Müllhalde benutzt. Die Militärregierung musste einschreiten, damit sich die Zustände besserten.84 Die Sprache in den Akten deutet auf ein sehr gespanntes Verhältnis zwischen der Stadtverwaltung und den britischen Behörden hin. Auch in anderen Fragen kam es zu Auseinandersetzungen. So griffen die britischen Behörden im Vergleich zu Flensburg häufiger in die Entscheidungen des KSHA in Göttingen ein.85 Der Vergleich zwischen Göttingen und Flensburg zeigt, dass die ZPI No. 20 in unterschiedlicher Geschwindigkeit umgesetzt wurde. Besprechungen von Beschäftigten in den Wohlfahrtsämtern verdeutlichen aber auch, dass es in den verschiedenen Städten und Kommunen ähnliche Sorgen gab. Neben einem generellen Personalmangel kamen immer wieder Probleme mit gefälschten Sonderhilfsausweisen zur Sprache sowie zentrale Anliegen und Bedürfnisse der Verfolgten, die durch die ZPI No. 20 nicht gelöst wurden.86 Dazu gehörten 82 Vgl. Volmer-Naumann, Bewältigung, 71. 83 Vgl. ebd., 64. 84 Vgl. Stadtarchiv Göttingen, A 2.1, Bankart an Schmidt, 3. Juni 1946, und Bankart an Schmidt, 13. Mai 1946. 85 Vgl. Stadtarchiv Göttingen, Bestand I 76. 86 Vgl. HSTA Düsseldorf, NW 114 – 37, Frenkel an HQ Military Govt. North Rhine Region, 1. April 1946.

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v. a. die Bestrafung der Täter, aber auch die würdige Bestattung der Toten und die Pflege der (oft unbekannten) Gräber. Als besonders hartnäckiges P ­ roblem erwies sich die Wohnraumbeschaffung. 1947 wurden viele Nationalsozia­ listen, deren Häuser und Möbel zur Unterbringung beschlagnahmt worden waren, erfolgreich entnazifiziert und als entlastet eingestuft. Sie klagten nun auf Rückgabe ihres Eigentums. Diesen Klagen wurde immer häufiger stattgegeben, woraufhin Verfolgte ihre Unterkünfte verlassen mussten. Die bri­ ti­schen Behörden taten nichts, um die NS-Opfer zu schützen, insbesondere der Regional Commissioner der Nordrheinprovinz William Asbury spielte hierbei eine unrühmliche Rolle.87 Verschiedene Städte und Kommunen versuchten, Soforthilfe zu leisten, die über die ZPI No. 20 hinausging. In Hamburg hatten einige Verfolgte bei der Beratungsstelle für Wiedergutmachungsansprüche um Vorschüsse auf die zu erwartende finanzielle Entschädigung gebeten. Zum Aufbau einer neuen Existenz wurde in vielen Fällen Startkapital benötigt. Die Beratungsstelle wollte daraufhin zinsfreie Darlehen vergeben, was von den britischen Behörden mit Verweis auf die Kosten abgelehnt wurde.88 Daneben versuchten die Wohlfahrtsämter in Hamburg und Kiel, Verfolgten mit Gesundheitsschäden im Rahmen eines bestehenden Gesetzes, der Personenschäden-Verordnung, Hilfe zuteilwerden zu lassen. In Kiel scheint das funktioniert zu haben. In Hamburg blockierte die Militärregierung das Vorhaben jedoch aus Kostengründen und weil es eine zoneneinheitliche Regelung der Entschädigungsgesetzgebung gefährden würde.89 Dabei befassten sich nicht weniger als sechs verschiedene Abteilungen der Militärregierung über drei Monate hinweg mit der Frage, ob die Hamburger Initiative genehmigungspflichtig war, und gelangten zu keinem eindeutigen Ergebnis. Hier zeigte sich einmal mehr, wie ineffizient die Zonenverwaltung war. Das Argument der zu hohen Kosten sollte nun immer mehr zum Leitmotiv der britischen Entschädigungspolitik und der Haltung gegenüber den Ländergesetzen werden, die im Laufe des Jahres 1947 in der britischen Zone verabschiedet wurden.

87 Vgl. hierzu Zieher, Schatten, 108 – 109; Klatt, Vergangenheit, 264 – 269. 88 Vgl. Nils Asmussen, Der kurze Traum von der Gerechtigkeit. „Wiedergutmachung“ und NS -Verfolgte in Hamburg nach 1945. Hamburg 1987, 26 – 27. 89 Vgl. NA, FO 1014/854, Hamburg personal injury law correspondence, März – November 1947.

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VI. Von der Soforthilfe zur Wiedergutmachung: erste Entschädigungsgesetze in der britischen Zone Anfang 1947 legte OMGUS dem Länderrat einen Entwurf für ein vorläufiges Entschädigungsgesetz des sogenannten Sonderfondsgesetzes vor, um in der amerikanischen Zone eine einheitliche Regelung zu erreichen. Ein Länderratsentwurf war zuvor als unzureichend zurückgewiesen worden. Der Länderrat stimmte dem amerikanischen Entwurf im März 1947 zu.90 Zwar dauerte es noch bis August des Jahres, bis das Sonderfondsgesetz in allen Ländern erlassen wurde, aber im Frühjahr 1947 stand außer Zweifel, dass in der amerikanischen Zone in der Entschädigungsgesetzgebung konkrete zoneneinheitliche Schritte unternommen wurden. Als vorläufige Regelung zur Wiedergutmachung sah das Sonderfondsgesetz vor, rassisch, religiös und politisch Verfolgte in einer finanziellen Notlage zu unterstützen. Die Leistungen umfassten „befristete Renten, Kosten für Heilbehandlungen und berufliche Ausbildungen sowie Existenzgründungsdarlehen“91 und gingen damit erheblich weiter als die ZPI No. 20, waren aber an Bedürftigkeit geknüpft. Der Sonderausschuss Eigentumskontrolle des Länderrats arbeitete gleichzeitig an einem umfassenden Entschädigungsgesetz für die amerikanische Zone.92 Dieses Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (US-EG) trat schließlich 1949 in Kraft.93 In der britischen Zone war dagegen ein Entwurf des Länderbeirats (Zonal Council) in diversen Gremien versandet, obwohl Vertreter der Wohlfahrtsämter und Verfolgtenorganisationen seit Langem daran arbeiteten.94 In der Frage der Rückerstattung hatte die britische Regierung darauf vertraut, dass es zu einer zonenübergreifenden Regelung kommen würde, obwohl die Aussichten dafür immer schlechter wurden. Daran waren die Briten nicht unschuldig, schließlich konnten sich oft nicht einmal COGA und Militärregierung auf eine gemeinsame Position einigen. OMGUS war auf ein Scheitern der alliierten Lösung 90 Vgl. Goschler, Wiedergutmachung, 129. 91 Ebd., 128. 92 Vgl. ebd., 131. 93 Vgl. hierzu ebd., 131 – 148. 94 Vgl. Zonenbeirat/Zonal Advisory Council, 1946 – 1948, Protokolle und Anlagen, 1. – 11. Sitzung 1946/47, bearbeitet von Gabriele Stüber, hrsg. von Karl Dietrich Bracher, Rudolf Morsey und Hans Peter Schwarz, Bd. 9/I, 2. Halbbd., 7.–11. Sitzung 1946/47. Düsseldorf 1994, 1146 – 1167 und 1339 – 1343.

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vorbereitet und konnte im November 1947 das Militärregierungsgesetz Nr. 59 erlassen. In der französischen Zone trat gleichzeitig Order No. 120 in Kraft. In Nordrhein-Westfalen reagierte man auf diese Entwicklungen mit der Vorlage eines eigenen Gesetzes über die Gewährung von Unfall- und Hinterbliebenenrenten an die NS-Opfer. Nach dem Gesetz sollten Opfer der national­ sozialistischen Verfolgung, die arbeitsunfähig bzw. älter als 65 Jahre waren, eine monatliche Rente erhalten.95 Ein Rentenanspruch entstand allerdings erst bei einer Erwerbsminderung von mindestens 20 Prozent. Witwen und Waisen konnten Hinterbliebenenrenten erhalten. Der Kreis der Anspruchsberech­tigten orientierte sich im Wesentlichen an den laut ZPI No. 20 anerkannten Personen, da nur politisch, religiös und rassisch Verfolgte berücksichtigt wurden, die von einem KSHA anerkannt werden mussten. Das Gesetz galt zudem nur für Verfolgte mit Wohnsitz in Nordrhein-Westfalen. Britische Stellen reagierten unschlüssig auf diesen Vorstoß, ermutigten aber schließlich alle Länder der britischen Zone, ähnliche Gesetze zu verabschieden, verbunden mit dem Hinweis, dass die Länder die Kosten für das Gesetz selbst tragen müssten.96 Der Länderrat der britischen Zone schloss sich im November 1947 dieser Empfehlung an. In der Folge verabschiedeten alle Länder der bri­ tischen Zone ähnliche Gesetze über Unfall- und Hinterbliebenenrenten. Diese Gesetze wurden 1949 durch ein Haftentschädigungsgesetz erweitert. Die Ländergesetze von 1947 markierten den ersten Schritt von der Soforthilfe zur gesetzlich geregelten Wiedergutmachung in der britischen Zone. Zwar beinhalteten diese Gesetze ähnliche Regelungen, doch gab es auch bedeutende Unterschiede sowie „eine Fülle von regional verschiedenen Sonderaktionen“97 und damit keine zoneneinheitliche Regelung. Ausschlaggebend dafür war nicht nur die „indirect rule“, sondern auch eine chaotische Zonenverwaltung, briti­sches Desinteresse an der Materie und ein Blickwinkel,

95 Vgl. Volmer-Naumann, Bewältigung, 127. Der Höchstsatz lag bei 233,30 RM monatlich. Er wurde bei hundertprozentiger Arbeitsunfähigkeit ausgezahlt. 96 Vgl. NA, FO 1014/854, Headquarters CCG, British Element to Regional Commissioners, 15. April 1947. 97 Ernst Féaux de la Croix/Helmut Rumpf, Der Werdegang des Entschädigungsrechts unter national- und völkerrechtlichem und politologischem Aspekt. (Bundesminister der Finanzen in Zusammenarbeit mit Walter Schwarz (Hrsg.), Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, Bd. III.) München 1985, 33.

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der sich mehr und mehr auf die Kostenfrage reduzierte. Für die Verfolgten in Göttingen, Flensburg und anderen Kommunen der britischen Zone bedeutete dies, dass die unterschiedliche Behandlung, die sie, abhängig von ihrem jeweiligen Wohnort, seit Kriegsende erfahren hatten, fortgesetzt wurde. So waren in Niedersachsen nur deutsche Staatsbürger antragsberechtigt, Ausländer nur mit ministeri­eller Genehmigung, auch wenn sie ihren Wohnsitz in Niedersachsen hatten.98 Man wollte schlichtweg die zahlreichen nichtdeutschen Verfolgten des Lagers ­B elsen von der Regelung ausschließen. Der weitgehende Ausschluss der ausländischen Verfolgten, der mit der Umsetzung der ZPI No. 20 begonnen hatte, wurde in dem niedersächsischen Gesetz erstmals festgeschrieben und später mit der bundesdeutschen Gesetzgebung vollendet. In den anderen Ländern waren hingegen auch Verfolgte ohne deutsche Staatsbürgerschaft, aber mit Wohnsitz im Land antragsberechtigt. Somit konnte ein nichtdeutscher Verfolgter in Göttingen keine Ansprüche anmelden, in Flensburg hingegen schon. Auch divergierende Stichtags- und Fristenregelungen konnten dazu führen, dass Verfolgte, die von einem Land in ein anderes zogen, ihre Ansprüche verloren. Daneben wurden, wie bei der ZPI No. 20, in einigen Ländergesetzen auch Verfolgte „wegen asozialen Verhaltens“ explizit ausgeschlossen.99 Ein verengter, diskriminierender Blick auf bestimmte Verfolgtengruppen führte in Verbindung mit dem Kostenargument dazu, dass die Bewilligung der Leistungen noch restriktiver gehandhabt wurde als bei der ZPI No. 20. Die Exklusionsprozesse, die sich in den Jahren 1945 und 1946 in der gesamten britischen Zone etabliert hatten, hatten zur Folge, dass die Opfergruppen, die keine Soforthilfe erhielten, nun auch von den Entschädigungsregelungen ausgeschlossen blieben.

98 Vgl. ebd., 25. Vgl. hierzu auch Hennig, Entschädigung, 103 – 104. 99 Ebd., 104.

Julia Volmer-Naumann

„Betrifft: Wiedergutmachung“. Entschädigung als Verwaltungsakt am Beispiel Nordrhein-Westfalen Die meisten nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen wurden durch Verwaltungsstellen veranlasst, bürokratisch begleitet und durchgeführt. Dasselbe galt für die „Wiedergutmachung“1 dieser Maßnahmen – sei es durch die entsprechenden Dezernate für Rückerstattung bei den Oberfinanzdirektionen, sei es durch Gerichte oder kommunale Sozialämter, sei es durch die im Folgen­den dargestellten Entschädigungsbehörden. Hinter der Entschädigung für nationalsozialistische Verfolgung nach 1945 stand nicht nur ein politischer, moralischer, sozialer oder rechtlicher Auftrag, sondern v. a. auch ein Behörden­apparat. Die praktische, personelle und justizielle Umsetzung der gesetzlichen Entschädigungsmaßnahmen seitens Verwaltung und Justiz bildete den Schwerpunkt der (west)deutschen Wiedergutmachung.2 Insofern haben die Erkenntnisse zur „Entschädigungsbürokratie“ auch einen großen Anteil am generellen Fazit über die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Die verwaltungsgeschichtliche Perspektive ermöglicht dabei gleichsam eine Binnenanalyse des politischen, gesellschaftlichen und bürokratischen Umgangs mit der nationalsozialis­tischen Verfolgung in den 1950er- und 1960er-Jahren. Darüber hinaus eröffnet sie 1 Zur inzwischen hinlänglich diskutierten Problematik des Begriffs vgl. Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945. Göttingen 2005, 11 – 17. 2 Auch wenn die Wiedergutmachungszahlungen an Israel in Medien und Öffentlichkeit eine größere Präsenz hatten und häufig als die Wiedergutmachung angesehen wurden, so war und ist doch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) die bei Weitem kosten- und arbeitsintensivste deutsche Wiedergutmachungsmaßnahme; vgl. Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.), Entschädigung von NS-Unrecht. Regelungen zur Wiedergutmachung. Berlin 2009, 41, Anl. 6 (1). Bis zum 31.12.2008 wurden danach 66,064 Mrd. Euro für Wiedergutmachungszwecke ausgegeben, davon 45,725 Mrd. Euro im Rahmen der Umsetzung des BEG. Das Bundesministerium der Finanzen geht nach vorsichtigen Schätzungen von weiteren Wiedergutmachungsleistungen in zweistelliger Milliardenhöhe aus.

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einen neuen, detaillierten, sozusagen „zweitüberlieferten“ Blick in Verfolgungsgeschichten von NS-Verfolgten, deren Lebensläufe ohne ihr Zeugnis in den Entschädigungsakten häufig unsichtbar geblieben wären – nur die wenigsten wurden schließlich später als Zeitzeugen befragt.3 Da das diesem Beitrag zugrunde liegende Archivmaterial größtenteils aus Nordrhein-Westfalen – und hier schwerpunktmäßig aus dem Regierungsbezirk Münster – stammt, sind die folgenden Ausführungen v. a. mit nordrhein-westfälischen Beispielen versehen.4 Vergleiche mit anderen Bundesländern lassen aber auf ähnliche Arbeitsweisen, personalpolitische Entscheidungsmuster und eine vergleichbare Interaktion zwischen Verwaltung und Antragstellern schließen. Eine Entschädigungsbürokratie existierte bei Kriegsende und Befreiung nicht: Die nationalsozialistisch Verfolgten mit ihren Hilfs- und Versorgungsbedürfnissen und ihren Forderungen nach einer „Wiedergutmachung“ des an ihnen verübten Unrechts und der entstandenen Schäden stellten ein neues Problem und einen Auftrag für Politik, Verwaltung und Justiz dar, für die es keinen Präzedenzfall und keine konkreten Zuständigkeiten gab. Auch existier­ ten viele Verwaltungsstellen aufgrund von Kriegszerstörungen nicht mehr. Hinzu kam, dass im Zuge von Besatzung und demokratischer Neuorien­ tierung ganze Verwaltungszweige und -zuständigkeiten verändert wurden.5 In ­dieser Situation wurden die Städte und Gemeinden mit ihren Verwaltungen in

3 Vgl. zu in Entschädigungsakten enthaltenen „latenten“ Inhalten auch Siegfried Büttner/­ Robert Kretzschmar/Rainer Stahlschmidt, Der archivische Umgang mit großen Fallakten­ serien. Bericht der Arbeitsgruppe „Archivierung großer Fallaktenserien“ der Archivreferen­ tenkonferenz des Bundes und der Länder. Marburg 2001. 4 Für den folgenden Beitrag grundlegend ist die Dissertation der Verfasserin: Julia Volmer-­ Naumann, Bürokratische Bewältigung. Entschädigung für nationalsozialistisch Verfolgte im Regierungsbezirk Münster. Essen 2012. 5 Vgl. z. B. Georg-Christoph von Unruh, Die Lage der deutschen Verwaltung zwischen 1945 und 1949, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland. (Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5.) Stuttgart 1987, 70 – 86, hier: 71; Thomas Ellwein, Die öffentliche Verwaltung im gesellschaft­lichen und politischen Wandel 1919 – 1990. (Der Staat als Zufall und als Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe, Bd. 2.) Opladen 1997, 325; Karl Teppe, Zwischen Besatzungsregiment und politischer Neuordnung (1945 – 1949). Verwaltung – Politik – Verfassung, in: Wilhelm Kohl (Hrsg.), Das 19. und 20. Jahrhundert. Politik und Kultur. (Westfälische Geschichte, Bd. 2.) Düsseldorf 1983, 269 – 339.

„Betrifft: Wiedergutmachung“ 337

Ermangelung einer überregionalen Ordnung „quasi zu kleinen Republiken“6. Bei ihnen lag demnach auch die Hauptlast der Wohlfahrtsarbeit: KZ-Rückkehrer, Remigranten und Hinterbliebene von Verfolgten stellten nämlich zuvorderst ein „­ akutes Fürsorgeproblem“7 dar, dem vonseiten der Verwaltungen der auffangenden Gemeinden, Städte und Bezirke durch eine erste Grundversorgung mit Nahrung, Bekleidung, Wohnraum, Heilfürsorge und Erwerbsmöglichkeiten begegnet werden musste.8 Auch wenn die sich ebenfalls aus Mangel an überörtlicher Verwaltung gründenden Verfolgtenkomitees und Selbsthilfegruppen, die in dieser frühen Phase viele Betreuungs­aufgaben übernahmen, gleichzeitig auch eine moralische und justizielle Wiedergut­machung einforderten,9 wurde diese von Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit weitest­ gehend ausgeblendet. Im Prinzip blieb diese Gewichtung – Versorgung vor Aufarbeitung – auch später bestehen.10

6 Michael Heisig, Armenpolitik im Nachkriegsdeutschland (1945 – 1964). Die Entwicklung der Fürsorgeunterstützungssätze im Kontext allgemeiner Sozial- und Fürsorgereform. Frankfurt am Main 1995, 24. 7 Constantin Goschler, Nachkriegsdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozia­ lismus, in: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau. München/Zürich 1995, 317 – 342, hier: 318. 8 Vgl. Julia Volmer-Naumann, „Ich will keine große Bevorzugung sondern nur Gerechtig­ keit“. Fürsorge und ‚Wiedergutmachung‘ für nationalsozialistisch Verfolgte im Regierungsbezirk Münster in der frühen Nachkriegszeit, in: Sabine Mecking/Stefan Schröder (Hrsg.), Kontrapunkt. Vergangenheitsdiskurse und Gegenwartsverständnis. Essen 2005, 127 – 138; Jael Geis, Übrig sein – Leben „danach“. Juden deutscher Herkunft in der bri­ tischen und amerikanischen Zone Deutschlands 1945 – 1949. Berlin/Wien 2000, 47 – 57; Ursula Büttner, Not nach der Befreiung. Die Situation der deutschen Juden in der bri­ tischen Besatzungszone 1945 bis 1948. Hamburg 1986, 27ff. Vgl. auch den Beitrag Susanna Schrafstetters in diesem Band zur Soforthilfe der Kommunen nach 1945. 9 Vgl. Volmer-Naumann, „Ich will …“, 130ff.; Regina Hennig, Entschädigung und Interessenvertretung der NS-Verfolgten in Niedersachsen 1945 – 1949. Bielefeld 1991, 27 – 35 und 48ff. 10 Vgl. z. B. Ute Frevert, Die Sprache des Volkes und die Rhetorik der Nation. Identitätssplitter in der deutschen Nachkriegszeit, in: Arnd Bauerkämper/Martin Sabrow/Bernd Stöver (Hrsg.), Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945 – 1990. Bonn 1998, 18 – 31; Axel Schildt, Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit, in: Wilfried Loth/Bernd-A. Rusinek (Hrsg.), NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Frankfurt am Main/New York 1998, 19 – 54; Constantin Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus 1945 – 1954. München 1992, 211 – 224.

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Erst zum Jahreswechsel 1945/46 legten die britischen Besatzer in Nordrhein-Westfalen ihre Zurückhaltung gegenüber einer gesonderten Entschädi­ gung für NS -Verfolgte ab, die sich von der Fürsorge für andere Kriegs­opfer unterschied. Daher musste nun eine Verwaltungsstruktur für Entschädigungsaufgaben geschaffen werden. Die britische Zonenpolitische Anweisung Nr. 20 sah eine „Sonderhilfe“ für bestimmte Opfergruppen vor, so eine erhöhte Lebensmittelzuteilung, Anspruch auf bevorzugte Zuteilung einer Wohnung, vorzugsweise Arbeitsanstellung und zeitlich begrenzte finanzielle Beihilfen.11 Im Kern erfassten die britischen Maßnahmen den auch durch die spätere Bundesgesetz­ gebung berücksichtigten Personenkreis der deutschen oder ehemals deutschen aus politischen, „rassischen“ oder religiösen Gründen Verfolgten, also z. B. verfolgte Sozialdemokraten und Kommunisten, jüdische Verfolgte oder inhaftierte Kirchenangehörige, nicht aber Zwangssterilisierte, Deserteure oder Zwangsarbeiter.12 Die Entscheidung über eine Berechtigung zur Sonderhilfe wurde neu zu gründenden sogenannten Kreissonderhilfsausschüssen übertragen, die bei den Wohlfahrtsämtern der Kreise angesiedelt waren, in denen aber auch ehemals Verfolgte Mitglieder sein mussten. Die Berufungsbefugnis lag zunächst bei der britischen Militärregierung, erst 1947 wurden mit den Berufungskammern auf Bezirks- und Landesebene deutsche übergeordnete Instanzen eingerichtet. Im Zuge der entschädigungsrechtlichen Maßnahmen im Land Nordrhein-Westfalen entstanden zudem Sonderdezernate für Verfolgte bei den Regierungspräsidenten, daneben eine Sonderabteilung für Wiedergutmachung im Sozial-, später im Innenministerium. Die Verwaltungsstellen der mittleren und oberen Instanz hatten dabei v. a. koordinierende Funktionen; sie wurden ebenfalls von

11 Wortlaut der Anweisung z. B. in: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland (LAV NRW R), NW 114 – 228, 96 – 103. Vgl. Volmer-Naumann, „Ich will …“, 133 – 136; Hennig, Entschädigung, 55 – 64; Heiko Scharffenberg, Sieg der Sparsamkeit. Die Wieder­ gutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Schleswig-Holstein. Bielefeld 2004, 24 – 34; Donate Strathmann, Auswandern oder Hierbleiben? Jüdisches Leben in Düssel­ dorf und Nordrhein 1945 – 1960. Essen 2003, 74 – 89. 12 Vgl. stellvertretend für die Vielzahl an diesbezüglicher Literatur die entsprechenden Kapitel in: Constantin Goschler, Schuld; sowie die entsprechenden Aufsätze in: Ludolf Herbst/Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland. München 1989, und in: Norbert Frei/José Brunner/Constantin Goschler (Hrsg.), Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel. Göttingen 2009.

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Berufungsinstanzen flankiert.13 Mit dieser Struktur und Aufgabenverteilung, mit der Schaffung von Sonderbehörden und Sonderzuständig­keiten für Entschädigung, die oft gleichsam appendizitisch in existierende Behörden integriert wurden, war der Grundstein für eine nordrhein-westfä­lische Entschädigungsbürokratie gelegt. Die Ende der 1940er-Jahre geschaffenen Rahmen­bedingungen sollten auch die spätere Umsetzung der bundesgesetzlichen Entschädigungsmaßnahmen entscheidend prägen. Mit dem ersten Bundesgesetz zur Entschädigung, dem Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BErgG) von 1953, das 1956 durch das Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) abgelöst wurde, wurden für die Folgejahrzehnte in allen westdeutschen Bundesländern eine Entschädi­ gungsverwaltung und Entschädigungsjustiz etabliert.14 Anders als unter briti­scher Kontrolle gab es nach 1953 in allen mit der Entschädigung in Nordrhein-Westfalen betrauten Behörden keine verpflichtende Regelung mehr, die die Teilnahme von ehemals Verfolgten im Entschädigungsverfahren vorsah – dies war neben der Schaffung konkreter, dauerhafter Zuständigkeiten und reglementierter Arbeits- und Entscheidungsaufträge eines der sichtbarsten Anzeichen für die Bürokratisierung des Vorgangs. Da Entschädigung als Länder­sache definiert wurde, unterschied sich die praktische Ausgestaltung der BEG-Vorgaben teilweise deutlich:15 Nordrhein-Westfalen wählte als einziges Bundesland die Beibe­haltung der mehrstufigen Verwaltung und damit ein mehrschrittiges und weniger zentralisiertes Verfahren.16 13 Vgl. Richard Hebenstreit, Die Wiedergutmachung in Nordrhein-Westfalen [maschinenschriftl., unveröffentl. Fragment, Geschichtsort Villa ten Hompel, Münster (GO VtH), Depositum Hebenstreit], o. O., o. J., 6 – 10; Otto Gnirs, Die Entschädigungsbehörden, in: Hugo Finke u. a., Entschädigungsverfahren und sondergesetzliche Entschädigungsregelungen. (Bundesministerium der Finanzen in Zusammenarbeit mit Walter Schwarz (Hrsg.), Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundes­ republik Deutschland, Bd. VI.) München 1987, 3 – 18, hier: 4. 14 BGBl. I, 1953, 1387; BGBl. I, 1956, 562. 15 Vgl. §§ 184f. BEG; Gnirs, Die Entschädigungsbehörden, 5 – 18. Vgl. z. B. für Bayern respek­tive Schleswig-Holstein Tobias Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit. Rück­erstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und Westdeutschland. München 2006, 79f. und 93f.; Scharffenberg, Sieg der Sparsamkeit, 138f. 16 Vgl. Hebenstreit, Die Wiedergutmachung, 10ff.; Reinhard Mann/Dagmar Grape/ Michael M. Cropp unter Mitarbeit von Detlef Briesen, Leistungsverwaltung und

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Die Land- und Stadtkreise blieben weiterhin in die Entschädigung involviert: Sie bildeten mit ihren neu geschaffenen Ämtern für Wiedergutmachung, die wie die nun aufgelösten Kreissonderhilfsausschüsse in die Wohlfahrtsämter integriert wurden, die unterste Instanz im behördlichen Verfahren. Allerdings verloren sie ihre Entscheidungszuständigkeit. Während die drei Mitglieder der Kreissonderhilfsausschüsse – ein Jurist, eine Person aus Öffentlichkeit oder Verwaltung sowie ein ehemals NS-Verfolgter – noch die Hauptentscheidungsträger hinsichtlich der Gewährung von Sonderhilfen gewesen waren, wurden die Ämter für Wiedergutmachung zu Anmelde- und Ermittlungsbehörden. Sie nahmen die Anmeldungen der Anträge auf Entschädigung nach dem BEG entgegen und sollten dann vor Ort die in ihnen dargelegten Verfolgungsmaßnahmen und Verfolgungsschäden ermitteln und bewerten, um sie schließlich an die nächsthöhere Instanz weiterzuleiten.17 Diese wurde bei den Regierungspräsidenten angesiedelt, und zwar in Form der sogenannten Dezernate für Wiedergutmachung. Im Gegensatz zu den v­ orher dort existierenden Sonderdezernaten, deren Zuständigkeit sich weitgehend auf die Koordinierung der eigentlichen Entscheidungsarbeit in den Kreisen beschränkt hatte, wurden die neuen Dezernate zu Hauptentscheidungsträgern in Sachen Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz. Dies war ungewöhnlich, übten und üben doch die Bezirksregierungen als „klassische Mittelinstanzen“ ansonsten weitgehend Koordinierungs-, Aufsichts- und Mediationsaufgaben aus.18 Ab 1953 aber zeichneten sie zuständig für die Entscheidung über die Anträge von ehemaligen NS-Verfolgten und deren Hinterbliebenen auf eine Entschädigung für Berufs- oder Eigentumsschäden, für KZ-Haft oder Emigrationskosten. Das Aufgabenspektrum der Regierungsmitarbeiter reichte dabei von der Registrierung der aus den Kreisen eingehenden BEG-Anträge

Verwaltungsleistung. Analyse von Vollzugsproblemen am Beispiel der Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung [unveröffentl. Projektbericht]. Köln 1983, 149 – 152. 17 Vgl. Kreisarchiv Steinfurt (KASt), KAST-ST WG, 44, 3, Innenminister NRW, Abt. V, an die Regierungspräsidenten (RPen) Aachen, Arnsberg, Detmold, Düsseldorf, Köln, Münster und die Ämter für Wiedergutmachung der Landkreise und kreisfreien Städte, Erlass Nr. 100/53, 6.10.1953. 18 Vgl. zur Funktion der Regierungspräsidien Ellwein, Der Staat, 433 – 439; Rainer Wahl, Die Organisation und Entwicklung der Verwaltung in den Ländern und in Berlin, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5, 208 – 292, hier: 227 – 230.

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über zusätzliche Ermittlungsarbeit und den schriftlichen oder vielfach persönlichen Kontakt mit Antragstellern bis zur Ausfertigung eines rechtsgültigen Bescheids und der Vertretung der Landesinteressen vor Gericht.19 Lediglich die Entscheidung über bestimmte Rentenzahlungen an Hinterbliebene von NS-Opfern und an gesundheitlich geschädigte Verfolgte wurde einer weiteren Stelle übertragen: Mit der Landesrentenbehörde existierte in Nordrhein-Westfalen eine von der Mittelinstanz separierte obere Entschädigungsbehörde. Sie ging auf die 1947 ursprünglich beim nordrhein-westfä­lischen Arbeitsministerium geschaffene „Ausführungsbehörde für Unfallversicherung“ mit ihrer „Sonderabteilung für die Opfer des nationalsozialistischen Terrors“ zurück.20 Diese war für die Umsetzung des nordrhein-westfälischen Unfall- und Hinterbliebenenrentengesetzes für NS-Verfolgte zuständig gewesen. Damals hatte es zwei Hintergedanken bei der Ansiedlung der Behörde im Arbeitsministerium gegeben: Erstens sollte mit den Hilfsmaßnahmen – wenn möglich – die Arbeitsfähigkeit der Verfolgten wiederhergestellt ­werden, zweitens konnte ihre Entschädigung in das schon bestehende System der Unfall­entschädigung eingepasst werden. NS-Verfolgte oder ihre Hinterblie­ benen wurden also bis Anfang der 1950er-Jahre rententechnisch wie die Opfer eines Arbeitsunfalls behandelt. Die Sonderzuständigkeit für Renten wurde auch nach dem Inkrafttreten des Bundesergänzungsgesetzes 1953 beibehalten, allerdings wurde die Rentenbehörde nun aus dem Arbeitsministerium ausgegliedert: Sie kam zum Regierungspräsidenten Düsseldorf, stand aber unter der Fachaufsicht des Innenministeriums. Mit ihren Entscheidungen über Hinterbliebenenrenten und ihren medizi­ nischen Bewertungen über eine verfolgungsbedingte Erwerbsminderung (das war die Kategorie, in der Gesundheitsschäden gemessen wurden) war die Landes­rentenbehörde eine wichtige Instanz im Entschädigungsprozess, v. a. auch im Hinblick auf die finanzielle Absicherung von Verfolgten und Hinter­ bliebenen. Nicht nur deshalb waren ihre medizinischen Urteile, die insbesondere psychische Folgeerscheinungen der Verfolgung nur mangelhaft berücksichtigten,

19 Einen beispielhaften Überblick über Struktur, Praxis und Personal des münsterischen Dezernats für Wiedergutmachung bietet in Kurzfassung: Julia Volmer-Naumann, Vor und hinter dem Schreibtisch. Wiedergutmachungsbürokratie in Münster, in: Frei/ Brunner/Goschler, Die Praxis, 554 – 571. 20 Vgl. Hebenstreit, Die Wiedergutmachung, 4, 7f. und 12.

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oft umstritten.21 Im Jahr 1958 wurde die Landesrentenbehörde von der Düssel­ dorfer Bezirksregierung abgekoppelt und selbstständig, ab 1963 übernahm sie die Führung der Bundeszentralkartei für Verfolgte.22 Letzteres bedeutete, dass die jedem BEG-Antrag zugeteilten Karteinummern in Düsseldorf zentral verwaltet wurden und werden – einerseits, um Doppelanträge in unterschied­ lichen Bundesländern zu unterbinden, andererseits, um die teils schwierig zu ermittelnden Länderzuständigkeiten zu klären. Schließlich ist die Bundeszentralkartei mit ihren ungefähr zwei Millionen Karteikarten bis heute eines der wichtigsten Findmittel in Bezug auf Entschädigung – und zwar sowohl für Angehörige von Antragstellern und für Behörden als auch für Historiker. Darüber hinaus sind inzwischen übrigens alle nordrhein-westfälischen Entschädigungszuständigkeiten wieder beim Regierungspräsidenten in Düsseldorf konzentriert; als einzige noch existierende Stelle hat das unterdessen vom Rang einer Abteilung herabgestufte Dezernat Wiedergutmachung die verbleibenden Aufgaben von Kreisen, Bezirksregierungen, Landesrentenbehörde und Ministerien übernommen. Zurzeit arbeiten dort noch etwa 45 Mitarbeiter.23 Oberste Landesentschädigungsinstanz schließlich (über Ämtern und Dezernaten für Wiedergutmachung sowie Landesrentenbehörde) war die aus der alten Sonderabteilung für Verfolgte hervorgegangene Abteilung V im nordrhein-westfälischen Innenministerium. Sie fungierte v. a. als Aufsichts- und Koordinierungsbehörde für die auf der mittleren und unteren Ebene angesie­ delten Entschädigungsinstitutionen. Die Dienstaufsicht gehörte ebenso zu ihren Aufgaben wie die Herausgabe von Verfahrensrichtlinien und Erlassen, die Durchsetzung politischer Vorgaben sowie die fachliche Beratung der über 21 Vgl. stellvertretend Anke Schmeling, Nicht Wieder Gut Zu Machen. Die bundesdeutsche Entschädigung psychischer Folgeschäden von NS-Verfolgten. Herbolzheim 2000; ­William G. Niederland, Die verkannten Opfer. Späte Entschädigung für seelische Schäden, in: Herbst/Goschler, Wiedergutmachung, 351 – 359; Christian Pross, Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer. 2., erg. Aufl. Berlin 2001, bes. Kap. III und IV. 22 Vgl. Verordnung über die Rentenbehörde für Verfolgte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, GVBl. NRW I, Ausgabe A, Nr. 43, 18.7.1953, 299; GVBl. NRW, Ausgabe A, Nr. 23, 31.3.1958, 107; KASt, KAST-ST WG, 11, o. Bl., Innenminister NRW, Abt. V, an die RPen, nachrichtlich an Landkreise und kreisfreie Städte, die obersten Entschädigungsbehörden der Länder und die zuständigen Bundesressorts, 5.11.1962. 23 Vgl. die aktuelle Selbstdarstellung des Dezernats, online verfügbar unter http://www. brd.nrw.de/wiedergutmachung/wissenswertes_wiedergutmachung/Wissenswertes.html (Zugriff: 14.03.2014).

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die Entschädigungsanträge entscheidenden Stellen. Als eigenständige Abteilung existierte die Abteilung V von 1949 bis 1970; ab 1970 war sie ein Referat der Personal- und Organisationsabteilung des Innenministeriums.24 Dass die Abteilung V nicht von vornherein den Status eines Referats oder einer Gruppe zugewiesen bekommen hatte, war – laut Aussage ihres langjährigen Leiters Heinz Loos – ausschließlich der „politischen Bedeutung [der Wiedergut­ machung] zu Anfang der fünfziger Jahre“ geschuldet. Wie die den Wohlfahrts­ ämtern zugeordneten Ämter für Wiedergutmachung auf Kreisebene sei auch die Abteilung V stets „die kleinste Abteilung“ mit einem nur geringen Personal­ stamm gewesen, so Loos.25 Die Bescheide der Dezernate für Wiedergutmachung sowie der Landesrentenbehörde konnten beispielsweise die Entschädigung für den Ausbildungsschaden einer jüdischen Schülerin beinhalten, ebenso wie die körperliche Schädi­gung eines im KZ Dachau inhaftierten Priesters, den Berufsschaden eines sozialdemokratischen Schusters oder die Ermordung eines jüdischen Familienvaters. Gegen all diese Bescheide konnte Klage erhoben werden. Klage­gegner war das Land Nordrhein-Westfalen, das meist durch die Prozessdezernenten der zuständigen Behörden vertreten wurde.26 Die Klagefrist betrug drei Monate für in Deutschland lebende Antragsteller, während im Ausland lebenden Verfolgten oder Hinterbliebenen eine Frist von sechs Monaten eingeräumt wurde. Der Gerichtszug ließ die Amtsgerichte aus, die Klage konnte direkt bei den für den jeweiligen Regierungsbezirk zuständigen Landgerichten, und dort bei den eigens eingerichteten Entschädigungskammern, eingereicht werden. Dem Landgericht Düsseldorf fiel zudem die Entscheidungsfunktion für Klagen gegen 24 Vgl. LAV NRW R, Findbuch Bestand NW 114, Vorbemerkung; Auskunft Hans-Joachim Hornig, Innenministerium NRW, Düsseldorf, Referat 51, 17.9.2004. 25 Interview mit Dr. Heinz und Marga Loos, 27.9.2004, 05. 26 Auskünfte über das gerichtliche Verfahren aus Dezernatssicht hat der Verfasserin z. B. der spätere Büroleiter des münsterischen Wiedergutmachungsdezernats gegeben: vgl. Interview mit Antonius Lührmann, 19.7.1999, I, 2. Zu den Prozessdezernenten Münsters respektive Düsseldorfs vgl. Bezirksregierung Münster (BezRegMs), Altakten Dezernat 11, Ordner Dezernat 56, Bereich 2 – Stellenplan, o. Bl., Innenminister NRW an den Regierungspräsidenten (RP) Münster, 7.11.1959; ebd., o. Bl., RP Münster an den Innenminister NRW, 2.12.1959; Christina Strick, Jenseits der Routine? Die Bezirksregierung Düsseldorf 1945 – 1955. Diss. phil. Düsseldorf 2007, 126f. [online verfügbar unter http:// docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-7208/Dissertation%20 Strick_A1b.pdf].

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Bescheide der Landesrentenbehörde zu. Oberste Landes­berufungsinstanzen waren die Oberlandesgerichte (OLG) mit ihren Entschädi­gungssenaten. Auf Bundesebene war schließlich – auch in rechtsbildender Funktion – der Bundes­ gerichtshof als letzte Instanz zuständig.27 Auf der Ebene der Landgerichte bestand kein Anwaltszwang; erst ab OLG-Niveau musste ein Anwalt die Klage begleiten, der aber auch für die jeweils nächstniedrigere Instanz zugelassen sein durfte.28 Damit kam das BEG den Antragstellern insofern entgegen, als sie einen mit ihrem (häufig ja sehr persönlichen) Anliegen bereits vertrauten Rechtsvertreter in eine höhere Instanz „mitnehmen“ durften. Soweit der kurze „Durchmarsch“ durch das Tableau der zuständigen und beteiligten Institutionen am Verwaltungs- und Justizvorgang hinsichtlich der Entschädigung für nationalsozialistisch Verfolgte und ihre Hinterbliebenen. Wie sah nun aber die konkrete Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben aus – insbesondere im Hinblick auf Personal und Personalpolitik der Behörden? Wie funktionierte also die nordrhein-westfälische Entschädigungsbürokratie? In erster Linie hatten die „Entschädigungsbürokraten“ – angestellte und beamtete Sachbearbeiter in den Ämtern und Dezernaten für Wiedergut­machung, Ärzte im medizinischen Dienst der Landesrentenbehörde oder Richter der Entschädigungskammern und -senate – den Auftrag, die Entschädigung für nationalsozialistische Verfolgung möglichst schnell, effizient, reibungs- und skandallos sowie kostengünstig abzuwickeln. Fragen von moralischer Wiedergutmachung, Rehabilitierung der Opfer oder Herstellung von Gerechtigkeit gehörten nicht zu ihrem konkreten Aufgabenspektrum. Mantraartig wiederholte das in Nordrhein-Westfalen federführende Innenministerium unter Verweis auf die politische Relevanz der Entschädigung sein Drängen zur Eile. So drohte Innenminister Franz Meyers (CDU) den Regierungspräsidenten 1955 damit, dass er bei nicht gesteigerter Arbeitsleistung „an den Landtag [werde] herantreten müssen“. Schließlich habe er festgestellt, dass „bei gleichem Arbeitsablauf sämtliche Wiedergutmachungsanträge erst in etwa 8 bis 9 Jahren erledigt sein würden. Dies sei ein unmöglicher Zustand, und es müssten unbedingt Mittel 27 Vgl. §§ 208 und 210 BEG; ausführlich zum gerichtlichen Verfahren in Nordrhein-Westfalen Katharina van Bebber, Wiedergutgemacht? Die Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung nach dem Bundesergänzungsgesetz durch die Entschädigungsgerichte im OLG-Bezirk Hamm. Berlin 2001. 28 Vgl. § 224 BEG, daneben Adolf Pentz, Das gerichtliche Verfahren, in: Finke, Entschädi­ gungsverfahren, 113 – 167, hier: 116ff.; van Bebber, Wiedergutgemacht?, 78f.

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und Wege zur Abhilfe gefunden werden.“29 Auch Meyers’ späterer Nachfolger im Amt, Josef Hermann Dufhues (CDU ), bemängelte 1959 die schleppende Bearbeitung von BEG-Verfahren: „Die Landesregierung sei nicht gewillt, diese Entwicklung hinzunehmen. Es müsse erwartet werden, dass Sachbearbeiter und Dezernenten sowie die aufsichtsführenden Stellen alle Kräfte aufbieten, um die Durchführung zu beschleunigen. Dabei müssten sich alle Beteiligten der mit der Wiedergutmachung verbundenen moralischen und politischen Bedeutung dieser Aufgabe bewusst sein.“30 Gleichzeitig aber mussten sich die zuständigen Entscheider „vor Ort“ mit einem höchst komplizierten Gesetz auseinandersetzen, zu dem anfänglich noch nicht einmal Durchführungsverordnungen vorlagen.31 Sie waren konfrontiert mit Antragstellern, die teilweise schwer traumatisiert sowie finanziell bedürftig waren, die, als das Gesetz in Kraft trat, bereits seit acht Jahren auf Entschädigungszahlungen warteten und die sich eine echte „Wiedergut­machung“ erhofften, die die gesetzlichen Vorgaben nicht vorsahen. Zwar gingen die Regelungen des BEG von Inhalt und Anspruch her über eine fürsorgerische Versorgung hinaus – es bestand ein Rechtsanspruch auf Entschädigung.32 Dennoch waren 29 LAV NRW R, NW 114 – 221, 184f., Auszug aus der Niederschrift über die Konferenz mit den Regierungspräsidenten, Düsseldorf, 23.6.1955, hier: 185. Vgl. Boris Spernol/Matthias Langrock, Amtliche Wirklichkeit. Die Praxis der Entschädigung aus behördlicher Binnen­ perspektive, in: Frei/Brunner/Goschler, Die Praxis, 600 – 634, hier: 607ff. 30 KASt, KAST-ST WG, 8, o. Bl., Niederschrift der Dienstbesprechung mit den Leitern der Dezernate für Wiedergutmachung bei den Regierungspräsidenten und dem Leiter der Landesrentenbehörde, Düsseldorf, 3.7.1959, 1. Ähnlicher Druck auf die Entschädi­ gungsverwaltung wurde auch in Bayern ausgeübt, das sich – wie Nordrhein-West­ falen – hinsichtlich der Erledigungszahlen mit den anderen Bundesländern messen lassen musste; vgl. Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit, 302f. 31 Vgl. dazu z. B. die Beschwerde einer Juristenvereinigung, die ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Bundesergänzungsgesetzes monierte, dass fehlende Durchführungsverordnungen zum Gesetz die Bearbeitung und Auszahlung von Entschädigungsansprüchen zum Erliegen gebracht hätten. Dadurch habe sich „die groteske Situation ergeben, dass gerade entgegen dem Willen der Bundesregierung und des Bundesparlaments das neue Gesetz keine Verbesserung der Lage der Nazi-Opfer gebracht hat, sondern eine Verschlechterung, und dass die aeltesten und beduerftigsten darunter inzwischen wegsterben“; LAV NRW R, NW 189 – 631, 57, American Association of Former European Jurists [Dr. Julius B. Weigert, President/Dr. W. A. Kellogg, Secretary-Treasurer] an den Justizminister NRW, Amelunxen, 26.1.1954. 32 Vgl. Goschler, Schuld, 191 und 484; Scharffenberg, Sieg der Sparsamkeit, 134.

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der berechtigte Personenkreis und die zu entschädigenden Schäden Einschränkungen unterworfen, sei es, weil ausländische Verfolgte ausgeschlossen waren, sei es, weil beispielsweise Obergrenzen für Vermögensschäden existierten, keine Hinterbliebenenrenten für ermordete Kinder gezahlt oder Ausbildungsschäden pauschal mit 10.000  DM abgegolten wurden.33 Amtliche Entschuldigungen waren im Verfahren nicht vorgesehen.34 Die Vorgehensweise der Behörden war zudem ebenfalls wenig geeignet, einen offiziellen Willen zur Wiedergutmachung zu demonstrieren: Aufgrund der gesetzlichen Vorgaben, die meist individualisierte und nicht pauschale Entschädigungsbeträge vorsahen, mussten die Angaben der Antragsteller genauestens nachgeprüft werden, was nicht selten zu Nachfragen bei ehemaligen Verfolgern führte, ebenso wie zu Untersuchungen durch deutsche Amtsärzte.35 Nicht nur deswegen zogen sich die Verfahren jahrelang hin, und etliche Antragsteller verstarben vor dem Erhalt eines ersten Bescheids. Dem Inhalt des Vorgangs, der Entschädigung für Verfolgung, war die Bürokratisierung des Prozesses kaum angemessen. Gleichzeitig aber war eine effiziente, den Gegenstand und die Betroffenen mehr oder weniger außer Acht lassende Bearbeitung das, was man von einem Verwaltungsvorgang der staatlichen Leistungsverwaltung erwarten konnte. In der Konsequenz fühlten sich viele BEG -Antragsteller allerdings mehr als Bittsteller denn als Berechtigte. Der politisch verfolgte Bildhauer Hans Dinnendahl aus dem westfälischen Telgte drückte dies in einem Brief an das Dezernat für Wiedergutmachung in Münster so aus:

33 Vgl. die entsprechenden Paragrafen im BEG ; Erläuterungen dazu in: Walter Brunn u. a., Das Bundesentschädigungsgesetz. Erster Teil (§§ 1 bis 50 BEG). (Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV.) München 1981, und Hans Giessler u. a., Das Bundesentschädigungsgesetz. Zweiter Teil (§§ 51 bis 171 BEG). (Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, Bd. V.) München 1983. Seit den späten 1980er-Jahren findet sich darüber hinaus in allen mit Entschädigung befassten Abhandlungen Kritik am BEG bzw. an einzelnen BEG-Regelungen. 34 Vgl. Karl Heßdörfer, Die Entschädigungspraxis im Spannungsfeld von Gesetz, Justiz und NS-Opfern, in: Herbst/Goschler, Wiedergutmachung, 231 – 248, hier: 237. 35 Vgl. dazu z. B. Marlene Klatt, Unbequeme Vergangenheit. Antisemitismus, Judenverfolgung und Wiedergutmachung in Westfalen 1925 – 1965. Paderborn u. a. 2009, 353; Pross, Wiedergutmachung, 134 – 143; Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit, 83ff.

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Obwohl Sie reichlich 3 Jahre brauchten, um meinen Antrag zu bearbeiten, verlangen Sie eine Stellungnahme binnen 10 Tagen von mir. Der Text Ihres Schreibens vom 14.10.57 gefällt mir nicht, ich habe doch kein Bittgesuch an Sie persönlich gerichtet, sondern bin Geschädigter nach dem Gesetz, das die Volksvertreter im Oktober 1953 beschlossen haben. […] Ich kann als Geschädigter verlangen, dass ein an mich gerichtetes Schreiben sowie Rückfragen in höflicher Form abgefasst werden. Ich nehme an, dass Sie von mir nicht den Eindruck haben, dass ich mir eine Entschädigung erschleichen will.36 Hans Dinnendahls Schreiben drückt recht präzise das Dilemma aus, das der Entschädigungsbürokratie innewohnte: Auf der einen Seite des Schreibtischs – und auch am längeren Hebel – saßen die über die Entschädigungsanträge von ehemals Verfolgten entscheidenden Sachbearbeiter. Sie sahen sich als die ausführenden Bürokraten eines mit Mängeln behafteten Gesetzes. Auch wenn sie sich der Besonderheit ihrer Aufgabe und ihrer Klientel oft bewusst waren, war Entschädigung für sie in erster Linie eine zeitlich befristete Station ihres beruflichen Werdegangs.37 Auf der anderen Seite des Schreibtischs nahmen ehemals Verfolgte oder deren Hinterbliebene Platz, die durch die nationalsozialistische Verfolgung oft psychisch, körperlich und finanziell schwerst geschädigt waren. Sie erwarteten nicht nur einen finanziellen Ausgleich, sondern auch eine besondere Anerkennung für ihre Leiden. Entschädigung war für viele von ihnen ein bedeutender Aspekt im Rahmen ihres Weiterlebens nach 1945.38 Der gesetzlich vorgesehene und durch Politik, Verwaltung und Justiz ausgestaltete Entschädigungsvorgang war nicht dazu geeignet, diese Erwartungen zu erfüllen. Trotz 36 Bezirksregierung Düsseldorf, Dezernat Wiedergutmachung, BEG-Akten des Dezernats für Wiedergutmachung beim Regierungspräsidenten in Münster (BezRegD-W-Ms) 2014, Bundeszentralkarteinummer (BZK) 441390, Hans Dinnendahl, 17, Hans Dinnendahl, Telgte, an den RP Münster, Dezernat für Wiedergutmachung, 22.10.1957. 37 Vgl. z. B. Interview mit Antonius Lührmann, 19.7.1999, I, 2; Interview mit Eugen und Günther Ahlers, 8.7.2003, 1. 38 Vgl. z. B. das Schreiben der jüdischen Antragstellerin Paula Hertz an den münste­ rischen Hauptdezernenten: „Wenn wir die Rente oder sonstige uns zustehende Gelder jetzt hätten, könnten wir für die so zerrüttete Gesundheit meines Mannes etwas tun. Ich kann mich der Bemerkung nicht enthalten, dass es nach meiner Meinung nicht der Sinn des Gesetzes und der Wille des Gesetzgebers sein kann, alte Menschen einfach sterben zu lassen, ohne ihnen zu helfen!“; BezRegD-W-Ms 2143, BZK 440788, Albert Hertz, Aktenteil I, 156, Paula Hertz, Osnabrück, an Dr. Hans Kluge, 27.12.1954.

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Sondertiteln und besonderer politischer Aufmerksamkeit wurden die NS-Verfolgten mit ihren Ansprüchen auf Wiedergutmachung nämlich nicht besonders betreut, sondern in ein „normales Verfahren“ der Leistungsverwaltung involviert. Angesichts dieser ganz unterschiedlichen Perspektiven und Erwartungsho­ri­ zonte existierte also stets ein Gefälle zwischen den Entscheidungsträgern auf Behördenseite und den Leistungsempfängern auf Verfolgtenseite, deren Anträge durchnummeriert und hinsichtlich ihrer Angaben mit kritischem, durch enge finanzielle Spielräume geprägtem Blick durchleuchtet wurden. Wie die statistische Auswertung der Entschädigungsakten für Münster zeigt, erhielt im Ergebnis ein Drittel der Verfolgten, die beim Dezernat für Wiedergutmachung des Regierungspräsidenten in Münster einen Antrag auf Entschädigung nach BEG stellten, einen ablehnenden Bescheid. Etwas mehr als zehn Prozent aller Bescheide wurden im Klageverfahren einer gerichtlichen Prüfung unterzogen: Die meisten Entscheidungen des münsterischen Dezernats für Wiedergutmachung wurden dabei bestätigt, in rund 17 Prozent der Fälle wurde der Klage eines Antragstellers stattgegeben, in 20 Prozent kam es zumindest zu einem Vergleich. Ungefähr jedes siebte Verfahren ging in die Berufungsinstanz beim OLG Hamm, nur sehr wenige Antragsteller legten noch Berufung vor dem Bundesgerichtshof ein. 80 Prozent der münsterischen Klagen ­wurden durch Rechtsanwälte vertreten. Insbesondere jüdische Verfolgte – viele von ihnen aus dem Ausland – beschäftigten Anwälte, die meisten von ihnen Entschädigungsspezialisten.39 Auch wenn sich die meisten Entscheidungen und Bewertungen in den Verwaltungs- und Gerichtsverfahren lediglich konsequent an den BEG-Vorgaben orientierten, kam es doch zu Situationen, in denen eine persönliche Wertung über den Antragsteller getroffen wurde. Insbesondere bei abgelehnten Anträgen empfanden die laut Gesetz nicht entschädigungsberechtigten Antragsteller dies als zusätzliche und fortgesetzte Demütigung. So beurteilte beispielsweise das Landgericht Münster 1957 die Verfolgung der mit 25 Jahren an den Folgen ihrer KZ-Haft verstorbenen Therese Bloch, die eine Beziehung zu einem polnischen Zwangsarbeiter eingegangen war, als „nicht typisch nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahme“, da „Feindkontakt“ generell und auch in anderen Ländern

39 Ergebnisse einer statistischen Untersuchung eines dreiprozentigen Samples (361 von 12.044 Akten) der münsterischen BEG-Akten; BezRegD-W-Ms; vgl. ausführlich ­Volmer-Naumann, Bürokratische Bewältigung, Kap. 4.2.2.1.

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verboten gewesen sei. Die Begründung gegenüber der minderjährigen Tochter der Verfolgten, die als Vollwaise bei einem Vormund lebte, lautete: […] die Ursachen zu dem Umgang der beiden jungen und gesunden Leute – mag beiden auch das bestehende Verbot bekannt gewesen sein – [sind] in erster Linie, wenn nicht ausschließlich, in der beiderseitigen menschlichen und sexuellen Anziehungskraft zu erblicken, zumal sich die Frau, deren strenggläubige, christlich-katholische Haltung von dem Vormund [der Tochter] besonders betont wird, bewußt sein mußte, daß sie durch das Liebesverhältnis mit dem Polen dessen Ehe zerstören konnte und dadurch gegen ein bei allen Kulturvölkern gültiges, menschliches und göttliches Gesetz verstieß. […] So bedauernswert es ist, daß die Mutter der Klägerin für eine schwache Stunde so schwer büßen mußte, kann der Klägerin trotzdem nach den bestehenden gesetzlichen Vorschriften ein Anspruch auf Entschädigung nach BEG nicht zuerkannt werden.40 Das Oberlandesgericht Hamm pflichtete in der Berufungsverhandlung dieser Einschätzung bei. Selbst für die Antragsteller, viele von ihnen aus der Gruppe der jüdischen Verfolgten, deren Entschädigungsberechtigung von vornherein unzweifelhaft war und die nach Abschluss ihres Verfahrens eine Entschädigungszahlung, im günstigeren Fall eine Rente erhielten, war die Verwaltungssituation oft schwer zu bewältigen. Ohne Rechtshilfe im Verfahren, mit Problemen im Umgang mit Verwaltung, Verwaltungsvorgängen und Verwaltungssprache und mit dem Anspruch, Gerechtigkeit zu erfahren, waren die Antragsteller häufig überfordert und schnell verbittert. Nicht selten verlief ein persönlicher Kontakt zur Entschädigungsbehörde frustrierend und hinterließ den Eindruck, dass der Wiedergutmachungswille gering und die Vorurteile gegenüber Verfolgten weiterhin vorhanden seien. 40 BezRegD-W-Ms 5162, BZK 441471, Theresia N. nach Therese Bloch, Aktenteil II, 7ff., Entschädigungskammer des Landgerichts Münster, Entschädigungssache Theresia N. gegen das Land NRW, Urteil 10 0 (Entsch.) 7/57, 28.2.1957, hier: 9v. Hervorhebungen im Original. Grundsätzlich werden Namen und Daten von Antragstellern – soweit keine Zustimmung zur Veröffentlichung vorliegt oder die Verfolgungsgeschichte und die Namen der Verfolgten nicht schon anderweitig (selbst) publiziert oder öffentlich erwähnt wurden – aus Gründen des Daten- und Personenschutzes abgekürzt wiedergegeben.

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So beschwerte sich der kommunistisch verfolgte Antragsteller Arthur G. aus Ahlen 1957 über einen – im Übrigen selbst BEG-berechtigten 41 – Münsteraner Assessor, dem er „völlige Verständnislosigkeit den damaligen Verhältnissen gegenüber“ attestierte: „Der Geist, mit dem Herr Prank Entschädigungssachen bearbeitet, scheint mir nicht der Geist zu sein, den der Gesetzgeber für solche Entschädigungsfälle verlangt. Ich hatte den Eindruck, nicht vor einem Helfer, sondern vor einem Gegner zu sitzen.“42 Andersherum hatte der jüdische Verfolgte Guenther Hugo K., nachdem er den Münsteraner Hauptdezernenten Kluge kennengelernt hatte, nach anfänglich niedrigen Erwartungen spürbar größeres Vertrauen in das Entschädigungsverfahren. K. bedankte sich 1961 nach einem persönlichen Besuch in Münster „für die unerwartet freundliche Aufnahme[,] die ich bei Ihnen gefunden habe. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich bis jetzt vermieden habe mit deutschen Behörden direkt zu verhandeln, und hätte ich nicht zufällig in Münster einige Stunden ‚totzuschlagen‘ gehabt, wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen[,] bei Ihnen persönlich vorzusprechen. Ich war deshalb etwas überrascht und nachher richtiggehend gerührt über die Mühe[,] die Sie […] sich mit mir gegeben haben.“43 Ein – für diesen Zeitraum behördentypisches – Plakat wie jenes, das die Landes­ rentenbehörde Düsseldorf 1956 verteilen und aushängen ließ, konter­karierte allerdings den Charakter der Entschädigung und verdeutlichte die Proble­matik ihrer Bürokratisierung. Dem (geduzten) Antragsteller wurde mitgeteilt: 3. Vermeide den Besuch der Sachbearbeiter in den Büros. Er ist zwecklos, da Du dort nicht empfangen werden kannst. Gehe an den Sprechtagen sofort in den Empfangsraum (Zimmer 8). Nur dort erhältst Du Auskunft. 4. Wir arbeiten nur für Dich. Jede unnötige Störung behindert unsere Arbeit und verlangsamt die Erledigung Deines Antrages. 5. Fasse Dich bitte so kurz wie möglich.44 41 Vgl. Oberfinanzdirektion München, Landesentschädigungsamt, BEG 45191, W ­ illibald Prank. 42 BezRegD-W-Ms 6575, BZK 33009, Arthur G., Aktenteil I, 26, Arthur G., Ahlen, an Dienststellenleiter Dr. Kluge, eingeg. am 12.10.1957. 43 BezRegD-W-Ms 6218, BZK 622032, Guenther Hugo K. nach Albert K., Aktenteil I, 108, Guenther Hugo K., Köln, an Dr. Kluge, 13.4.1961. 44 KASt, KAST-ST WG, 45, o. Bl., RP Düsseldorf [Baurichter] an die RPen Aachen, Arnsberg, Detmold, Köln und Münster sowie an das Dezernat 14 im Hause, 14.12.1956; beigefügtes

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Die Personalpolitik des zuständigen Innenministeriums und des Regierungs­ präsidenten in Münster war im Übrigen ebenfalls nicht unbedingt dazu angetan, den besonderen Status der Entschädigung zu verdeutlichen. Auch wenn das nordrhein-westfälische Innenministerium, besonders nach Protesten von Verfolgtenorganisationen, die Entscheidungsbehörden immer wieder und unter Verweis auf die politische und moralische Bedeutung der Wiedergutmachung zu einer zügigen und großzügigen Erledigung der Wiedergutmachung drängte, unterstützte es diese öffentlich und intern geäußerte Ambition personalpolitisch kaum: Insbesondere die Dezernate für Wiedergutmachung bei den Bezirksregierungen sowie die Landesrentenbehörde, also die mit den Entschädigungsentscheidungen betrauten Stellen, waren, gemessen an dem Anspruch, die Entschädigung im Sinne der Verfolgten schnell abwickeln zu wollen, fast chronisch unterbesetzt. Mehrere Faktoren waren für die unzureichende personelle Ausstattung der Entschädigungsbehörden ausschlaggebend. Das BEG war in jeder Hinsicht ein eher „ungeliebtes Kind“: Es war politisch umstritten, da es relativ kostspielig war und die NS-Verfolgten gesondert hervorhob. In einer Gesellschaft, die sich selbst allmählich immer stärker als Opfer- und nicht als Tätergesellschaft wahrnahm, war dies nicht besonders gern gesehen, zumal Vorurteile gegenüber den NS-Verfolgten weiterlebten. Umfragen aus den 1950er-Jahren belegen, dass der Fürsorge für Kriegsopfer viel mehr Interesse entgegengebracht und eine höhere Bedeutung beigemessen wurde als der Wiedergutmachung für Verfolgte, ja, dass insbesondere Zahlungen an jüdische Verfolgte kritisch betrachtet wurden. Die Schaffung und die Umsetzung gesetzlicher Entschädigungsmaßnahmen fanden deshalb eher außerhalb einer größeren Öffentlichkeit statt.45 Dies galt auch für Politik und Verwaltung. Trotz ministerieller Beteuerungen hinsichtlich der politischen und moralischen Bedeutung der Wiedergutmachung handelte es sich bei der Entschädigungsbürokratie um einen Kleinstbereich der Verwaltung, der zudem – so zumindest der Plan – eine zeitlich eng begrenzte Existenz hatte. Die Wiedergutmachung wurde deshalb stets als „auslaufendes Gebiet“ betrachtet und behandelt, was Auswirkungen auf die Personalstärke und die Personalqualität der Entschädigungsbehörden hatte.46 Auch hier spielten finanzielle Aspekte eine Rolle. Plakat „Regierungspräsident Landesrentenbehörde Düsseldorf “. Vgl. auch Spernol/ Langrock, Amtliche Wirklichkeit, 630f. 45 Vgl. Goschler, Schuld, 125 – 146 und 181 – 203. 46 Vgl. Walter Schwarz, Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland. Ein Überblick, in: Herbst/Goschler, Wiedergutmachung,

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In der konkreten Entschädigungspraxis wirkten sich diese Faktoren wie folgt aus: Direkt nach der Verkündung des Bundesentschädigungsgesetzes – zu einem Zeitpunkt, als die NS-Verfolgten fest auf die nun endlich beginnende Auszahlung von Entschädigungsgeldern hofften – befanden sich die Entscheidungsstellen in einer chaotischen Aufbauphase.47 Kurzfristig verabschiedet, existierten für das BEG keine Durchführungsverordnungen. Die Dezernate für Wiedergutmachung befanden sich in einem „Rumpf “-Zustand, da sie bisher nicht für Entscheidungsaufgaben zuständig gewesen waren. Erst eine größere Personalaufstockung schuf Abhilfe: 1955 wurde der komplette Abschlussjahrgang ­junger nordrhein-westfälischer Regierungsinspektoren in die Wiedergutmachung versetzt. Zudem wurden durch die Auflösung der Bezirkspolizeien Mitarbeiter frei, die in den Entschädigungsdezernaten eingesetzt werden konnten.48 Bis Ende der 1960er-Jahre hatten die Landesrentenbehörde und die Dezernate für Wiedergutmachung dennoch stets mit Personalengpässen zu kämpfen – und zwar nicht nur auf der Ebene der Sachbearbeiter und Dezernenten. Der Vorsit­ zende des Bundes der Verfolgten des Naziregimes, einer konservativen Verfolgtenvereinigung, appellierte im März des Jahres 1955, eineinhalb Jahre nach dem Inkrafttreten des BErgG, an den nordrhein-westfälischen Innenminister: Mich quält die brennende Sorge, dass letztendlich die Wiedergutmachung an der simplen Personalfrage scheitern könnte. Es sind in letzter Zeit sehr dankenswerte Bemühungen gemacht worden, um das Problem der Entschädigung 33 – 54, hier: 52. Vgl. auch das bayerische Beispiel: Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit, 138 – 146. 47 Vgl. Verwaltungsberichte über die Anfangsphase, z. B. LAV NRW R, NW 114 – 181, 26ff., RP Aachen, Abt. I/9 – BEG , Niederschrift über die Verfolgten-Arbeitsbesprechung, 26.4.1955. 48 Vgl. LAV NRW R, NW 289 – 33, o. Bl., Nachweisung über den Mehrbedarf (ohne BWGöD); ebd., o. Bl., Übersicht über die von den Leitern der Dezernate für Wiedergutmachung der Bezirksregierungen auf der am 7.12.53 stattgefundenen Dienstbesprechung gemachten Angaben über die personelle Besetzung nach dem gegenwärtigen Stande (ohne für die Durchf. des BWGöD. tätigen Personals); LAV NRW R, NW 114 – 221, 166ff., Niederschrift über die Dienstbesprechung mit den Vertretern der Dezernate für Wgm. bei den RPr., Innenministerium NRW, 21.4.1955. Wie in Münster, so wurde auch in Düsseldorf das Perso­nal des aufgelösten Polizeibereichs fast geschlossen in die Wiedergutmachung versetzt; vgl. Christina Strick, Effizienz und Empathie. Wiedergutmachung im Regierungsbezirk Düsseldorf, in: Frei/Brunner/Goschler, Die Praxis, 572 – 599, hier: 589.

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in Fluss zu bringen. In den vergangenen Wochen musste ich aber mit Bestürzung feststellen, dass alle guten Absichten zu versickern drohen, wenn die einschlägigen Behörden nicht genügend Personal haben. Ich habe mich davon überzeugt, dass an den meisten Stellen der gute Wille vorhanden ist. Es macht sich aber vordringlich der Mangel an den einfachsten Kräften bemerkbar. Soll das grosse Werk der Wiedergutmachung schliesslich an einem Mangel an Schreib- und Registraturkräften scheitern!?49 Dass hier behördlicherseits nicht für schnelle Abhilfe gesorgt wurde, zeigt ein Schreiben des münsterischen Hauptdezernenten Kluge. Er konstatierte zwei Jahre später für sein Wiedergutmachungsdezernat, dass die verfügbaren Schreibkräfte nicht ausreichten, um „die anfallenden Schreibarbeiten zu erledigen. Monatlich müssen mehrmals alle Diktate für mehrere Tage eingestellt werden, weil die Arbeiten nicht geschafft werden. Dadurch wird die Bearbeitung der Wiedergutmachungsanträge gehemmt und der rechtzeitige Abschluß der Wiedergutmachung infrage gestellt.“50 Zudem bekam Münster erst im Jahr 1959 einen festen Prozessdezernenten zugewiesen. Dauerhaft beschäftigte und damit in die schwierige Materie eingearbeitete Juristen gab es in den Dezernaten darüber hinaus nicht, da die Dezernentenposten fast ausschließlich mit Assessoren besetzt wurden, für die das Entschädigungsdezernat nur eine zeitlich begrenzte Station im Rahmen ihrer Ausbildung darstellte.51 49 LAV NRW R, NW 289 – 33, o. Bl., Bund der Verfolgten des Naziregimes (BVN) e. V., Landesverband Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf [Ibach], an den Innenminister NRW, Dr. Franz Meyers, 25.3.1955. 50 BezRegMs, Altakten Dezernat 11, Ordner Dezernat 56, Bereich 2 – Stellenplan, o. Bl., RP Münster, Dezernat für Wiedergutmachung, 14.1 [Kluge], an das Dezernat 2, 11.1.1957. Vgl. eine ähnliche Situationsschilderung für das Dezernat für Wiedergutmachung Köln 1955 bei: Spernol/Langrock, Amtliche Wirklichkeit, 614. 51 Vgl. BezRegMs, Altakten Dezernat 11, Ordner Dezernat 56, Bereich 2 – Stellenplan, o. Bl., Innenminister NRW an den RP Münster, 7.11.1959; ebd., o. Bl., RP Münster an den Innenminister NRW, 2.12.1959. Christina Strick berichtet für das Düsseldorfer Wiedergutmachungsdezernat Ähnliches: Dem dortigen – kriegsblinden – Prozessdezernenten, ebenfalls (nur) Assessor, mussten die Fälle von seiner Ehefrau vorgelesen werden, da die ihm zugeteilte Vorlesekraft aus Personalmangel als Schreibkraft eingesetzt wurde. Trotz mehrmaliger Bitten des Regierungspräsidenten Düsseldorf um Abhilfe und eines deutlichen Anstiegs der Prozesstermine wurde das Dezernat 1955 in dieser Hinsicht nicht verstärkt; vgl. Strick, Jenseits der Routine?, 126f. Zum Problem des Einsatzes von

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Grundsätzlich lag der Personalpolitik in den Kreis-, Regional- und Landes­ behörden offenbar keinerlei Planung zugrunde: Es gab weder festgelegte Einstellungsvoraussetzungen noch durchdachte Stellenpläne; der Umgang mit den Mitarbeitern – auch hinsichtlich ihrer beruflichen Planungen – war von Unsicherheit und häufig von mangelnder Wertschätzung geprägt. Bis auf die ministeriell festgelegte Zahl der zu besetzenden Stellen gab es beispielsweise beim Regierungspräsidenten in Münster kaum eine Personalplanung, die diesen Namen verdiente. Die ersten Mitarbeiter des Wiedergutmachungs­ dezernats waren ältere Beamte, die im Zuge der Wiedereinstellungspolitik nach Abschluss der Entnazifizierung wieder in den Verwaltungsdienst zurückkehrten. So waren drei der sieben „Gründungsmitarbeiter“ des münsterischen Dezernats Mitglieder der NSDAP gewesen. Aufgefüllt wurde das Dezernats­ personal in der Folgezeit mit einem Mix aus jungen Berufsanfängern und älteren, in anderen Verwaltungsbereichen überflüssig gewordenen Angestellten und Beamten. Die politische Vergangenheit der Mitarbeiter spielte bei der Abordnung ins Wiedergutmachungsdezernat keine Rolle: Sie wurde in jedweder Hinsicht nicht abgefragt, sodass sich unter den Mitarbeitern im Laufe der Jahre ein erheblicher Anteil an NSDAP-Mitgliedern befand – in der vom Alter her infrage kommenden Gruppe 24 Prozent –, aber auch zwei selbst BEG-berechtigte Dezernenten.52 Auch die fachliche Qualifikation war kein ausschlaggebendes Einstellungsmerkmal. Zwar wurden durchweg nur Verwaltungsspezialisten und keine Laien eingestellt, ihre fachliche Eignung für den Umgang mit der schwierigen Rechtsmaterie Entschädigung sowie mit einer ganz besonderen Klientel wurde aber nicht abgeprüft. Was zählte, war schlicht die personelle Verfügbarkeit. Obwohl das Ministerium – v. a. gegenüber Verfolgtenverbänden – betonte, dass man sich sehr wohl der politischen

Assessoren vgl. LAV NRW R, NW 114 – 221, 184f., Auszug aus der Niederschrift über die Konferenz mit den Regierungspräsidenten, Düsseldorf, 23.6.1955, hier: 185. Vgl. zum Juristenmangel in der Wiedergutmachungsverwaltung auch Walter Schwarz, In den Wind gesprochen? Glossen zur Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts. München 1969, 43f. 52 So die Ergebnisse einer systematischen Durchsicht der Personalakten (PA ) der im münste­rischen Dezernat für Wiedergutmachung tätig gewesenen Beamten und Angestellten: BezRegMs, Dezernat 11; Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen (LAV NRW W); LAV NRW R bzw. BezRegD, Dezernat 11. Vgl. Volmer-Naumann, Bürokratische Bewältigung, Kap. 4.2.3.3.

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und moralischen Besonderheit der Aufgabe bewusst sei, wurden die Mitarbeiter nicht hinsichtlich der NS-Verfolgungspolitik oder des Umgangs mit Opfern der Verfolgung geschult. Dies verdeutlicht einmal mehr, dass Entschädigung im Prinzip als „normaler Verwaltungsvorgang“ betrachtet wurde.53 In den Ämtern für Wiedergutmachung war die Lage ähnlich, zumal hier häufig nur ein oder zwei Mitarbeiter pro Kreis für die Annahme der Entschädigungsanträge und die Ermittlung von Verfolgungs- und Schadenstatbeständen zuständig waren. Meist hatten diese Sachbearbeiter weitere Aufgabenbereiche im Rahmen der Wohlfahrtsämter abzudecken. Auch hier galt die Entschädigung als „auslaufendes Gebiet“. So beschwerte sich der in Gladbeck zuständige Sachbearbeiter 1958 darüber, dass der Abschluss der noch nicht beendeten BEG-Bearbeitung durch die Stadtverwaltung quasi schon voraus­ eilend vollzogen worden sei, indem „das Amt für Wiedergutmachung […] in dem neuen Fernsprechverzeichnis der Stadtverwaltung […] nicht mehr verzeichnet“ sei. Zudem sei „für das Amt für Wgtm. kein Türschild bestellt worden“, im neuen Geschäftsverteilungsplan des Fürsorgeamts werde das Amt für Wieder­gutmachung nicht mehr erwähnt, und Umläufe würden dem Amt „trotz wiederholter Erinnerung“ nicht zugeleitet.54 Bereits zwei Monate zuvor hatte der Gladbecker Beamte, dessen Arbeitsplatzzuweisung sich inzwischen auf drei städtische Ämter verteilte, mit Hinweis auf die weiterhin noch vorhandene Arbeitsbelastung mit Entschädigungssachen erklärt, dass „das Amt für Wiedergutmachung eine Dauereinrichtung ist und nicht, wie häufig angenommen wird, nach Durchführung der Ermittlungen aufgelöst werden kann. Die einheimischen Verfolgten kommen noch laufend mit Fragen und manche mit

53 Vgl. dazu z. B. die Stellungnahme des damaligen Innenministers Dr. Franz Meyers (CDU) vor dem Wiedergutmachungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags, „dass er immer wieder versuche, die Wiedergutmachung vorwärts zu treiben. […] Genügend qualifizierte Kräfte stünden ihm nicht zur Verfügung. […] Ausserdem halte das Innenministerium laufend Schulungen mit den infragekommenden Beamten der Regierungspräsidenten ab, um diese schnell und gründlich in die Materie einzuführen. Mehr vermöge er nach Lage der Dinge nicht zu tun.“; LAV NRW R, NW 189 – 631, 170ff., Justizminister NRW, Abt. II, Vermerk über die Sitzung des Wiedergutmachungsausschusses des Landtags am 4.5.1954 [Schlagheck], 5.5.1954, hier: 172. 54 Stadtarchiv Gladbeck (StdAGl), 50 – 60 – 00/22 – Personelle Besetzung, o. Bl., Vermerk [Sonnenberg], 20.5.1958.

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Kurverschickungsanträgen, die sie jedes Jahr wiederholen.“55 Der Gladbecker Sachbearbeiter war im Übrigen ebenfalls ein reaktivierter Beamter, der wegen seiner NSDAP- und SA-Mitgliedschaft erst zu Beginn der 1950er-Jahre in den Verwaltungsdienst zurückgekehrt war.56 Auch auf dieser Verwaltungsebene galt es also als unproblematisch, „Belastete“ mit Entschädigungssachverhalten zu betrauen, bzw. wurde diese Problematik als gering eingeschätzt. Die für die Entschädigungsfälle zuständigen Gerichte in Nordrhein-Westfalen schließlich verfügten kaum über die ansonsten vorhandene theoretische Möglichkeit, „unbelastetes“ Personal mit den Entscheidungen über Klagen zu betrauen: Schon in den ersten Nachkriegsjahren fiel es den zuständigen Stellen schwer, die von den Landes- und Regionalbehörden geforderte „besondere Sorgfalt“ bei der Auswahl von Mitgliedern der Kreissonderhilfsausschüsse walten zu lassen und überhaupt Juristen zu finden, die sich als „nicht belastet“ einstufen ließen.57 So wurde beispielsweise in Gelsenkirchen der dem dortigen Ausschuss vorsitzende Amtsgerichtsdirektor als „lediglich förderndes Mitglied der SS von 1933 bis 1939“ bezeichnet.58 Der Regierungspräsident in Münster meldete 1948 an die Wiedergutmachungsabteilung des Sozialministeriums: „Im Kreise Coesfeld sind völlig unbelastete Juristen nicht ansässig.“59 Auch nach der Verkündung des Bundesentschädigungsgesetzes sollte nach Möglichkeit den Entschädigungskammern bei den Landgerichten bzw. dem Entschädigungssenat beim Oberlandesgericht ein Beisitzer aus dem Kreis der Verfolgten angehören. 1953 gab es jedoch im ganzen OLG-Bezirk nur fünf Richter, die als Verfolgte anerkannt waren – und lediglich zwei von ihnen wollten auch tatsächlich in der Wiedergutmachung arbeiten. Die Landgerichtspräsidenten Arnsberg, Detmold, Paderborn und Siegen meldeten hinsichtlich verfolgter Richter postwendend „Fehlanzeige“ an den Oberlandesgerichtspräsidenten. Die Entschädigungs­ gerichte mussten demnach von vornherein hauptsächlich mit nicht verfolgten

55 Ebd., o. Bl., Sonnenberg, StA. (50, 71 u.) 75, an das StA. 50, 26.3.1958 [Eingabe]. 56 Vgl. StdAGl, PA Kurt Sonnenberg, 284. 57 KASt, KAST-ST WG, 90, o. Bl., Abschrift Oberpräsident der Provinz Westfalen [­ Amelunxen] an den RP Münster, Warendorf, pp., 12.1.1946. 58 LAV NRW R, NW 114 – 52, 461 – 463, RP Münster, Sonderdezernat für politisch, rassisch und religiös Verfolgte, „Zusammensetzung der Kreis-Sonderhilfsausschüsse im Reg.-­ Bezirk Münster“, 29.8.1947, hier: 463. 59 Ebd., 412, RP Münster, Sonderdezernat für politisch, rassisch und religiös Verfolgte, an den Sozialminister NRW, 27.2.1948.

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Richtern besetzt werden; ab 1958 befand sich in ihren Reihen kein Verfolgter mehr. Trotz der offiziellen Linie des nordrhein-westfälischen Justizministe­riums, dann zumindest möglichst „unbelastete“ Richter mit der Entschädigung zu betrauen, recherchierte Katharina van Bebber im Rahmen ihrer Dissertation, dass ein größerer Teil der – im Jahr 1955 durchschnittlich 50-jährigen – Entschädigungsrichter im OLG -Bezirk Hamm Mitglied der NSDAP bzw. einer ihrer Gliederungen gewesen war; einige wenige Richter hatten sogar zwischen 1933 und 1945 an NS-Sondergerichten gearbeitet.60 Schlüsse über eine auf der Personalpolitik basierende eher anerkennende oder ablehnende Urteilspraxis lassen sich aus diesem Befund aber schwer ziehen. Die einzige personalpolitische Ausnahme im von der Verfasserin detailliert untersuchten Regierungsbezirk Münster hinsichtlich besonderer, politisch motivierter Einstellungsvoraussetzungen bildete die Auswahl des späteren Hauptdezernenten des Dezernats: Mit Hans Kluge wurde ein Mann an die Spitze der Entscheidungsbehörde gesetzt, der über nur wenig Verwaltungserfahrung verfügte, dafür aber als „Unbelasteter“ und wegen seiner sozialen Einstellung dem Regierungspräsidenten als geeigneter Repräsentant der „münste­rischen Wiedergutmachung“ erschien.61 Ehemalige Mitarbeiter bezeichneten den promo­vierten Historiker Kluge übereinstimmend als das „Aushängeschild“ des Dezernats.62 Seine Einsetzung bewährte sich: Zumindest die Verfolgten, die sich persönlich an das Dezernat wandten, beurteilten Kluge, der sich intensiv für die Belange der Antragsteller einzusetzen versuchte und der als persönlicher und mitfühlender Ansprechpartner fungierte, als Person sehr positiv. Der verstorbene Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, beispielsweise lobte Kluge während eines Pressegesprächs im Jahr 2001 ganz ausdrücklich: Und Herr Dr. Kluge hat damals – ich erinnere mich noch sehr gut – mit sehr viel Fingerspitzengefühl […], mit sehr viel Sensibilität mit den Verfolgten gesprochen, ihnen geholfen. […]. Er hat wirklich […] große, große Verdienste; und er war bei den Verfolgten beliebt, weil er es verstanden hat,

60 Vgl. van Bebber, Wiedergutgemacht?, 59 – 70. 61 Vgl. LAV NRW W, PA BezRegMs, A, Dr. Hans Kluge, K 304. 62 Vgl. Interview mit Eugen und Günther Ahlers, 8.7.2003, 1; Interview mit Antonius Lührmann, 19.7.1999.

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die Angst vor der Wiedergutmachung zurückzunehmen. Man muss sich vorstellen, es war nicht einfach […] für [die Verfolgten] […], nach Deutschland zu kommen. Und dann konnte man ein paar Mark bekommen, waren ja keine Reichtümer […]. Und erst mal wurden aber – ich weiß das von vielen anderen Behörden –, wurden erst mal alle Antragsteller grundsätzlich skeptisch angesehen. […] Aber man wusste: Hier in Münster […] glaubt man uns, […] da können wir auch wirklich unsere Gefühle äußern. Und das war damals nicht leicht. […] Hier […] herrschte zumindest nach dem Krieg ein guter Geist […] bei der Entschädigung, […] dank dieses Leiters Herrn Dr. Kluge.63 Auch in Arnsberg und Düsseldorf wurden ehemals Verfolgte als Leiter der Wiedergutmachungsdezernate berufen.64 Wie man an den Entschädigungs­ ergebnissen ablesen kann, nach denen ein erheblicher Teil der Anträge abgelehnt wurde, war aber auch hier weniger der persönliche gute Wille ausschlaggebend als die Bindung an die gesetzlichen Vorgaben. Letztlich konnte und sollte nur das umgesetzt werden, was gesetzlich vorgegeben war. Antonius Lührmann, der langjährige Büroleiter in Münster, beschrieb dies so: Die Geschichten haben in den ersten Monaten oder besser gesagt in den ersten ein, zwei Jahren uns sehr belastet. […] Die Verfolgten […] wollten sich mitteilen. Sie wollten über ihre Probleme, die sie gehabt hatten, sprechen; und das haben wir sehr schnell gemerkt, dass es gut ist, sie erst 63 Aussage von Paul Spiegel während einer Pressebefragung anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung“ im GO VtH, Münster, 7.5.2001; GO VtH, Video 001, Nr. 035, Eröffnung der Dauerausstellung „Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung“. Eigenproduktion [Volker Pade], 75 Min., hier: 0:48 – 0:51. 64 In Arnsberg der als Sozialdemokrat und Gewerkschaftsfunktionär verfolgte Leo Radtke; vgl. Klatt, Unbequeme Vergangenheit, 409, Anm. 513. In Düsseldorf der „rassisch“ und politisch Verfolgte Werner Neukircher; vgl. LAV NRW R, NW 114 – 86, bes. 158, Bericht RP Düsseldorf [Böllhoff] an den Innenminister NRW , 14.11.1946; Julia Volmer, Der Beginn der Wiedergutmachung, in: Markus Dreist (Hrsg.), Die Düsseldorfer Bezirksregierung zwischen Demokratisierung, Nazifizierung und Entnazifizierung. Eine staatliche Mittelbehörde an der Schnittstelle zwischen Verwaltung und Politik. Essen 2003, 126 – 145, hier: 131 und 133. Vgl. für Bayern zur Einsetzung ehemals Verfolgter als Leiter von Entschädigungsbehörden: Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit, 124.

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mal reden zu lassen, anzuhören, und das war schon belastend. Wenn Sie als junger Mensch so mitkriegen, wenn Ihnen einer erzählt, was er im KZ alles erlebt hat, wie viele Angehörige er verloren hat, und dann müssen Sie mit ihm noch verhandeln, ob er jetzt 87,50  DM oder […] 89  DM bekommt, dann ist das irgendwie schändlich, empfinden Sie als schändlich, Sie würden viel lieber großzügiger noch gehandhabt haben das Ganze; das konnten Sie nicht, dann waren Ihnen also Vorgaben gegeben, worüber es nicht hinausging.65 Gleichzeitig konstatierte Lührmann aber auch einen Gewöhnungseffekt – letztlich wurde und war Entschädigung für ihn ein Verwaltungsauftrag unter vielen, den er im Laufe seiner beruflichen Karriere gemäß der in seiner Ausbildung erlernten Arbeitsweise auszuführen hatte. Die Tatsache, dass die Entschädigung einerseits ein Sonderbereich der Leistungsverwaltung war, andererseits aber in die Bearbeitungsschemata eben­ dieser Verwaltung eingepasst wurde, hatte für die Mitarbeiter der zuständigen Behörden verschiedene Konsequenzen: Der auf sie ausgeübte Zeit- und Erfolgsdruck war stets groß. Erledigungszahlen wurden zwischenzeitlich monatlich abgefragt,66 und es gab feste Sollzahlen für die Beschäftigten. So mussten die Schreibkräfte neben ihren übrigen Arbeiten täglich mindestens 25 Seiten ­tippen – mit Durchschlägen, denn Bürokopien gab es damals noch nicht. Deswegen konnte sich im Übrigen das Verfahren erheblich in die Länge ziehen, wenn beispielsweise Klage gegen einen Bescheid eingereicht wurde und die entsprechende, nur als Unikat vorliegende Entschädigungsakte zum zuständigen Gericht geschickt werden musste.67 Nach ministerieller Kritik an den Erledigungs­zahlungen sah sich der Chef der nordrhein-westfälischen

65 Interview mit Antonius Lührmann, 19.7.1999, I, 1. 66 Vgl. z. B. die Beantwortung „der vom Wiedergutmachungsausschuss des Landtags in seiner Sitzung am 3.11.1954 gestellten Fragen“: LAV NRW R, NW 114 – 181, 34ff., Statistischer Bericht über Anträge und Entschädigungsleistungen nach dem Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) vom 18.9.1953. Stand: 31.12.1954. 67 Vgl. Gespräch mit den ehemaligen Schreibkräften des münsterischen Dezernats Louise Prank und Helga Vogel, 25.10.2000, sowie Interview mit Antonius Lührmann, 19.7.1999, I,1. Vgl. BezRegMs, Altakten Dezernat 11, Ordner Dezernat 56, Bereich 2 – Stellenplan, o. Bl., Dezernat 56, Vermerk [Kluge], 23.3.1965: „Die Forderung von einer täglichen

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Landesrentenbehörde 1959 z. B. genötigt, zu betonen, dass „in der vergangenen Zeit […] niemand gefaulenzt“ habe.68 Gleichzeitig wurde der Druck auf die Mitarbeiter nicht durch eine Würdigung ihrer schwierigen Arbeit ausgeglichen. Im Gegenteil: Der Einsatz in der Wiedergutmachung brachte eher berufliche Nachteile mit sich. Wegen der konstanten zeitlichen Befristung des Arbeitsauftrags wurde die Stellenausstattung kaum angehoben. Während die Mitarbeiter anderer Dezernate rasch aufstiegen, bedurfte es beispielsweise im Fall des münsterischen Büroleiters Lührmann der Fürsprache des selbst als Jude verfolgten nordrhein-west­ fälischen Justizministers Josef Neuberger, um eine Beförderung durchzusetzen.69 Daneben war die Arbeit in der Leistungsverwaltung behördenintern geringer angesehen als in den sogenannten „klassischen“ Verwaltungs­ bereichen. Die eher gering geschätzte Klientel färbte sozusagen auf die Mitarbeiter ab.70 Die inhaltliche Aufgabe der bürokratischen Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit war darüber hinaus nicht besonders beliebt; ein Münsteraner Dezernent berichtete, dass man lieber den Blick nach vorne als zurück gerichtet habe, also Wiederaufbau-Aufgaben viel attraktiver erschienen seien.71 Auch wenn vonseiten der Dienstherren immer wieder Lob ob der Entschädi­ gungsarbeit zu vernehmen war, fühlten sich viele „Entschädiger“ mit ihrer schwierigen Arbeit alleingelassen. Antonius Lührmann sah sich und seine jungen Kollegen als diejenigen an, die die eigentliche Aufgabe der Aufarbeitung der NS -Vergangenheit verrichteten – stellvertretend nicht nur für die „belasteten“ Bediensteten der Bezirksregierung, sondern auch für die gesamte (west)deutsche Bevölkerung, und das, so betonte er, „obwohl wir nicht schuld waren“. Entgegen

Arbeitsleistung von 2,5 Ansprüchen bestehe nach wie vor und sei nur von voll arbeitsfähigen Kräften zu leisten.“ 68 KASt, KAST-ST WG, 8, o. Bl., Niederschrift der Dienstbesprechung mit den Leitern der Dezernate für Wiedergutmachung bei den Regierungspräsidenten und dem Leiter der Landesrentenbehörde, Düsseldorf, 3.7.1959, 5. 69 Vgl. Interview mit Antonius Lührmann, 19.7.1999, I, 2. Tobias Winstel konstatiert für Bayern ähnliche Mechanismen; vgl. Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit, 138 – 146. 70 Vgl. dazu auch Friedhart Hegner, Das bürokratische Dilemma. Zu einigen unauflöslichen Widersprüchen in den Beziehungen zwischen Organisation, Personal und Publikum. Frankfurt am Main/New York 1978, 43, sowie Goschler, Schuld, 198 und 258. 71 Vgl. Gespräch mit Dr. Rolf Wilms, 16.10.2000.

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ministeriellen Zusicherungen auf Weiterbeschäftigung und Förderung hatten die Entschädigungsspezialisten nach Abschluss der Entschädigung – Münsters Dezernat z. B. wurde 1968 geschlossen – mit behördeninternen Vorbehalten zu kämpfen. Büroleiter Lührmann, der zu einem Fachmann für Eigentums- und Vermögensschäden geworden war, wurde beispielsweise die Qualifikation für einen Posten als Haushaltssachbearbeiter abgesprochen, und das eigentlich für ihn vorgesehene Dezernat bei der Bezirksregierung Münster lehnte es ab, ihn zu übernehmen.72 Ähnliches widerfuhr einem jungen Kölner Assessor, wie der zuständige Wiedergutmachungsdezernent 1956 berichtete: Sofort nach dem Vorstellungstermin kam Ass. Kupprat zu mir und berichtete, daß er während der Prüfung gefragt worden sei, warum er in die Verwaltung wolle. Er habe geantwortet, daß er glaube, daß ihm diese Arbeit liege und s. E. habe ihm die bisherige Tätigkeit das auch bestätigt. Dann habe man ihn gefragt, wo er in der Verwaltung tätig gewesen sei. Er habe dann gesagt, daß er 3 Monate im Flüchtlingsdezernat und daran anschliessend in der Wiedergutmachung tätig gewesen sei. Daraufhin habe man ihm geantwortet, dann wisse er ja garnicht, was Verwaltung sei.73 Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass „Entschädigungsbürokratie“ in Nordrhein-Westfalen ein Komplex mit vielen Mängeln war. Dies lag natürlich auch an der schwierigen Ausgangslage – schließlich stellten das Erbe der national­sozialistischen Verfolgung und deren politische, justizielle und bürokratische Bewältigung die zuständigen Stellen und Personen vor eine komplizierte, vielschichtige und präzedenzlose Aufgabe.74 Die Umsetzung des Auftrags – eine ausreichende Wiedergutmachung für die Schäden der national­sozialistischen Verfolgung – war allerdings nur in Teilen erfolgreich. Letztlich waren drei Faktoren dafür verantwortlich, dass trotz der in der Summe beträchtlichen Pauschal- und Rentenzahlungen das Fazit über die Praxis der Entschädigung zwiespältig ausfällt.

72 Vgl. Interview mit Antonius Lührmann, 19.7.1999, I, 1 und I, 2. 73 LAV NRW R, NW 114 – 221, 289ff., Kurzprotokoll über die Dienstbesprechung mit den Leitern der Dezernate für Wiedergutmachung bei den Reg.Präsidenten, Innenministe­ rium Düsseldorf, 28.6.1956, hier: 292. 74 Vgl. dazu auch übergreifend Goschler, Schuld, 478 – 488.

362 Julia Volmer-Naumann

Erstens waren die gesetzlichen Vorgaben nicht dazu angetan, eine „Wieder­ gutmachung“ zu leisten, die es tatsächlich verdiente, als „großzügig“ und „gerecht“ bezeichnet zu werden. Die NS-Verfolgten wurden zudem nur in Teilen als Entschädigungsberechtigte und stattdessen in der Regel als Fürsorgeempfänger eingestuft. Zweitens war die Umsetzung auf der Ebene von Verwaltung und Justiz problematisch. Wegen der Entscheidung, das Entschädi­gungsverfahren zwar Sonderbehörden zu übertragen, diese aber nach „normalem“ Verwaltungs­ ablauf arbeiten zu lassen, erfuhren die Antragsteller keine ihrer Vorgeschichte angemessene und eine die deutsche Schuld anerkennende Behandlung. Nicht zuletzt zeigten auch Auswahl und Ausbildung des Personals der Entschädigungsbehörden, dass – trotz häufig anderslautender Beteuerungen – nur eine geringe politische und moralische Sensibilität gegenüber der Entschädigungsaufgabe vorhanden war. Hinzu kam, dass die Entschädigungsbüro­ kratie und die dort Beschäftigten weder öffentlich noch behördenintern Anerkennung erfuhren. Die deutsche Aufarbeitung der NS-Verfolgung in den 1950er- und 1960er-Jahren endete somit an den Türschwellen der Wiedergutmachungsbüros. Sie wurde vorerst ebenso wenig nach außen getragen wie die Geschichten der Betroffenen, die nur an die Ohren der Sachbearbeiter drangen, um dann zwischen Akten­deckeln abgelegt zu werden. Drittens sorgten finanzielle Restriktionen nicht nur dafür, dass ein großer Teil der Antragsteller leer ausging; sie waren auch ein Grund für die mangelhafte personelle Ausstattung der zuständigen Behörden und damit verantwortlich dafür, dass sich das Verfahren so lange hinzog und dass etliche Antragsteller dessen Abschluss nicht erlebten. Trotz der Niedrigschwelligkeit des Verwaltungszugangs in Nordrhein-Westfalen agierte die Entschädigungspraxis damit oft „verfolgtenfern“, da die dem Verwaltungsvorgang innewohnende Distanzierung und Objektivierung nicht durchbrochen wurde. Positiv zu wertende Personalien wie die Einsetzung von Hans Kluge in Münster standen nicht nur der Systemlogik von Verwaltung und Justiz, sondern auch den zeitlich bedingten mentalen, wissenschaftlichen und finanziellen Beschränkungen gegenüber.

Marlene Klatt

Die Entschädigungspraxis im Regierungsbezirk Arnsberg und die Reaktionen jüdischer Verfolgter In den Prozess der Wiedergutmachung war eine Vielzahl von Personen eingebunden: neben Beamten und Angestellten der Behörden eine große Bandbreite von Zeugen wie z. B. ehemalige Nachbarn, Berufskollegen, frühere Mitschüler und Lehrer, Vertreter berufsständischer Kammern und Verbände, aber auch „Ariseure“, bereits während der NS-Herrschaft tätig gewesene Polizisten sowie verschiedene ehemalige NS-Funktionsträger. Die jüdischen Verfolgten standen, wenn sie denn überhaupt Wiedergutmachungsansprüche geltend machen wollten 1, im Unterschied z. B. zu den politisch Verfolgten vor besonders großen Schwierigkeiten. Sie waren gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben worden und nun gezwungen, ihre Wiedergutmachungsanträge überwiegend aus dem Ausland einzureichen. In der Mehrzahl lebten sie in wirtschaftlich angespannten Verhältnissen. Schon aufgrund der räumlichen Entfernung und der komplexen Rechtsmaterie waren sie auf die Hilfe von Rechtsanwälten angewiesen. Ihnen hatten sie, obwohl dies nicht zulässig war, nicht selten Vorschüsse zu zahlen oder erhebliche Erfolgshonorare von den zu erwartenden Wiedergutmachungsleistungen abzutreten. Persönlich tauchten sie nur selten „vor den Schreibtischen“ der Wiedergutmachungsdezernate auf.2 Die nachfolgenden Ausführungen verdeutlichen die Praxis der Entschädigung für jüdische Verfolgte am Beispiel dreier westfälischer Städte – Hagen, Arnsberg und Niedermarsberg – und des übergeordneten

1 Der im Mai 2012 verstorbene jüdische Historiker Arno Lustiger sagte der Autorin bei einer Begegnung im Jahre 2005, dass er auf Entschädigungsanträge verzichtet habe, weil er kein „Blutgeld“ nehmen wollte. 2 In Anlehnung an Julia Volmer-Naumann, Vor und hinter dem Schreibtisch. Wiedergutmachungsbürokratie in Münster, in: Norbert Frei/José Brunner/Constantin Goschler (Hrsg.), Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel. Göttingen 2009, 554 – 571.

364 Marlene Klatt

Wiedergutmachungsdezernats Arnsberg.3 Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gab es bei der Entschädigungsbürokratie in diesen drei Städten, oder anders gefragt: Welche Interpretationsspielräume hatten die Mitarbeiter in den jeweiligen Ämtern bei ihren Entscheidungen? Neben dieser Frage steht die Analyse der verschiedenen Perspektiven und Blickwinkel der am Entschädigungsverfahren beteiligten Akteure, der Mitarbeiter in den Behörden, der Zeugen und nicht zuletzt der jüdischen Verfolgten 4 im Zentrum des vorliegenden Beitrags.

I. Die Entschädigungsbürokratie in Hagen, Arnsberg und Niedermarsberg In der kreisfreien Stadt Hagen bearbeitete das Wiedergutmachungsamt unter der Leitung eines Amtsinspektors die eingehenden Wiedergutmachungsanträge. Dort prüfte man in umfangreichen Ermittlungen die Angaben der Verfolgten, die sich in der Regel wegen verloren gegangener Unterlagen in Beweisnot befanden. In Arnsberg waren in der Hauptsache das Wiedergutmachungsamt der Kreisverwaltung und das Wiedergutmachungsdezernat der Bezirksregierung mit der Prüfung von Wiedergutmachungsansprüchen der früheren Arnsberger Juden befasst. Die Amtsverwaltung Arnsberg wurde von den übergeordneten Behörden nur marginal einbezogen, meist bei Befragungen potenzieller Zeugen, die man beim Wiedergutmachungsamt der Kreisverwaltung, vor dem Amtsgericht oder auch in deren Wohnungen vernahm.5 In Niedermarsberg war die Amtsverwaltung, d. h. das Ordnungs- und S­ ozialamt, 3 Vgl. dazu grundlegend die Dissertation der Autorin: Unbequeme Vergangenheit. Antisemitismus, Judenverfolgung und Wiedergutmachung in Westfalen 1925 – 1965. Paderborn 2009, insbesondere Teil III; siehe auch den Beitrag von Julia Volmer-­Naumann in diesem Band, der u. a. die Genese der Gesetzgebung und die Struktur der Entschädigungsbehörden in Nordrhein-Westfalen darstellt, bzw. Julia ­Volmer-Naumann, Bürokratische Bewältigung. Entschädigung für nationalsozialistisch Verfolgte im Regierungsbezirk Münster. Essen 2012. 4 Vgl. hierzu Marlene Klatt, Die Wiedergutmachungsrealität aus der Sicht der jüdischen Verfolgten. Ein Beitrag zum Klima der Wiedergutmachung in der frühen Bundesrepu­ blik, in: Alfons Kenkmann/Christoph Spieker/Bernd Walter (Hrsg.), Wiedergutmachung als Auftrag. Essen 2007, 137 – 156. 5 Vgl. STAM (Staatsarchiv Münster), Wiedergutmachung, 428586; ebd., 461054; ebd., 428586; ebd., 461054.

Die Entschädigungspraxis im Regierungsbezirk Arnsberg 365

das vor Ort ­federführende Organ für die Überprüfung der Angaben der jüdischen Antragsteller. Ähnlich wie in Arnsberg wandte sich das Wieder­ gutmachungsamt bei der Briloner Kreisbehörde, das für Niedermarsberg zuständig war, mittels eines Formblatts zur Einleitung der Ermittlungen an die Kommunalverwaltungen.6 Der Hagener Amtsleiter teilte im Sommer 1954 einem Antragsteller mit, dass er gerne bereit sei, „in jeder Hinsicht zu helfen“.7 Das war keine Floskel. Die sehr umfangreichen und objektiven Stellungnahmen des Amtes spiegeln ebenso wie das Vorgehen bei den Ermittlungen das offensichtliche Bemühen wider, den jüdischen Verfolgten zu einer „gerechten“ Wiedergutmachung zu verhelfen. Das Amt wurde bei seiner Arbeit von Stadtdirektor Jellinghaus unterstützt, selbst ein politisch Verfolgter.8 Die Hagener Behörde setzte sich insbesondere für in Not geratene Verfolgte ein, die aus der Emigration nach Hagen zurückgekehrt waren, um diesen möglichst schnell Wiedergut­machungsleistungen zuteilwerden zu lassen.9 Deshalb kam es mit der Regierungsbehörde in Arnsberg häufiger zu Auseinandersetzungen, z. B. wegen zu hoher Auflagen, die man den

6 Vgl. OKD (Oberkreisdirektion) Brilon, 11.9.1957, ebd., 167913. Dies geschah auf Empfeh­ lung der Bezirksregierung, um möglichst einheitliche Berichte zu erhalten, erlaubte in einer kurzen Rubrik „Bemerkungen“ jedoch nur wenige Erläuterungen, vgl. Dienst­ besprechung der Leiter der Wiedergutmachungsämter im Regierungsbezirk Arnsberg, Januar 1954, HSTAD (Hauptstaatsarchiv Düsseldorf), NW 114 – 222. Ähnlich wurde auch im Regierungsbezirk Detmold verfahren, vgl. Norbert Sahrhage, „Entnazifizierung“ und „Wiedergutmachung“. Das Umgehen mit nationalsozialistischen Tätern und Opfern im Landkreis Herford, in: Hubert Frankemölle (Hrsg.), Opfer und Täter. Zum nationalsozialistischen und antijüdischen Alltag in Ostwestfalen-Lippe. Bielefeld 1990, 224ff. 7 Stadt Hagen, 28.8.1954, STAM, Wiedergutmachung, 420396. 8 Vgl. z. B. Jellinghaus, 26.9.1956, ebd., 618065; ders., 4.2.1960, ebd., 613041. Im Verfahren (vgl. ebd., 25448) befürwortete das Amt wegen der schweren Schädigungen eines jüdischen Verfolgten eine Vorauszahlung, obwohl keine wirtschaftliche Notlage vorlag, vgl. Stadt Hagen, 1.4.1955, ebd. Auch das Herforder Wiedergutmachungsamt zeichnete sich durch Entgegenkommen und Hilfsbereitschaft gegenüber den jüdischen Verfolgten aus, vgl. Sahrhage, „Entnazifizierung“ und „Wiedergutmachung“, 227. 9 Vgl. Vermerk Stadtinspektor H., 30.7.1953 sowie Stadt Hagen, 7.5.1954, STAM, Wiedergutmachung, 53252; dies., 23.7.1954, ebd., 53331; dies., 8.11.1956, ebd., 53712; dies.,15.4.1957, ebd., 53741.

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Verfolgten zumutete,10 und wegen ungerechter Entscheidungen.11 In Hagen setzte man sich für Vorauszahlungen an Bedürftige sowie für die Beschleunigung von Verfahren ein.12 Zudem wies das Hagener Wiedergutmachungsamt in seinen Berichten immer ­wieder auf die Verfolgungsrealität vor Ort hin, auf Repressalien und Schikanen unabhängig von gesetzlichen Anordnungen.13 Das Amt machte z. B. auf den Umstand aufmerksam, dass jüdische Schüler bereits 1933 „wegen der starken judenfeindlichen Tendenzen“ höhere Schulen zu verlassen hatten 14, „sozusagen freiwillig“15. Dem Regierungspräsidenten, der die sogenannte Polenaktion noch im Frühjahr 1957 nicht als Verfolgungsmaßnahme anerkennen wollte, erklärte der Hagener Stadtdirektor: „Es ist doch allgemein bekannt, dass im Oktober des Jahres 1938 im ganzen Reichsgebiet polnische Juden verhaftet und nach Polen ausgewiesen wurden.“16 Das Wiedergutmachungsamt in Hagen versuchte zumeist, jeweils die persönliche Verfolgungsrealität zu rekonstruieren.17 Es beschränkte sich nicht auf Ermittlungsberichte, sondern gab in der Regel auch Empfehlungen zur Höhe der Entschädigungsleistung ab.18 Sofern Angaben der Antragsteller nicht bewiesen werden konnten, bemühte sich das Hagener Wiedergutmachungsamt um

10 Vgl. u. a. Stadt Hagen, 7.8.1961, ebd., 53874. Das Hagener Wiedergutmachungsamt bat im Fall eines stark traumatisierten 73-jährigen KZ-Überlebenden darum, nicht zu hohe Anforderungen bei der Erbringung von Beweisen durch den Verfolgten zu stellen, vgl. Stadt Hagen, 13.3.1956, ebd., 420396. 11 Vgl. Oberstadtdirektor Jellinghaus, 21.7.1958, ebd.; Stadt Hagen, 14.4.1955, ebd., 436704. 12 Vgl. u. a. Stadt Hagen, 6.3.1956, ebd., 604829; dies., 30.12.1955, ebd., 435877. 13 Vgl. Stadt Hagen, 30.3.1960, ebd., 163886; dies., 30.7.1956, ebd., 622095; dies., 7.5.1956, ebd., 53349. 14 Stadt Hagen, 8.12.1959, ebd., 163888; ähnlich dies., 8.12.1959, ebd., 163885; dies., 19.7.1957, ebd., 53794. 15 Stadt Hagen, 3.6.1955, ebd., 53560; dies., 13.3.1956, ebd., 420396. 16 Jellinghaus, 27.3.1957, ebd., 618030. 17 Die immer besseren Kenntnisse des Wiedergutmachungsamtes über die Judenverfolgung führten jedoch auch zur Ablehnung von Ansprüchen, vgl. Stadt Hagen, 11.12.1957, ebd., 53749; dies., 25.2.1959, ebd., 53750; dies., 22.8.1957, ebd., 623511; dies., 19.3.1959, ebd., 623798; dies., 17.10.1957, ebd., 623056; dies., 17.11.1961, ebd., 163883. 18 Vgl. Stadt Hagen, 8.1.1963, ebd., 163865; dies., 31.7.1962, ebd., 163851; dies., 26.9.1958, ebd., 163882; dies., 26.9.1958, ebd., 163882; dies., 17.11.1961, ebd., 163883. Vgl. für weitere Belege Klatt, Judenverfolgung und Wiedergutmachung, 363, Anm. 146.

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Vermittlung,19 indem es Vergleiche vorschlug.20 Die Mitarbeiter blieben jedoch kritisch und klärten den Regierungspräsidenten über die Aufrichtigkeit von Antragstellern auf.21 An der Tatsache der Verfolgung wurde allerdings nicht grundsätzlich gezweifelt.22 Selbst wenn Antragsteller falsche Angaben gemacht hatten, die eigentlich einen Ausschluss von Wiedergutmachungsleistungen zur Folge gehabt hätten, befürwortete man oft eine Entschädigungszahlung.23 Anders als in Hagen waren die Stellungnahmen der Arnsberger Stadtverwaltung und der Oberkreisdirektion sehr knapp und formalistisch, jedoch überwiegend sachlich gehalten. Sie offenbaren schon wegen des standardisierten Verfahrens mittels eines Formblatts kaum Empathie oder weitergehendes Interesse am Schicksal der jüdischen Verfolgten.24

19 Der Leiter des Wiedergutmachungsamtes teilte dem Regierungspräsidenten zum Berufsschadensantrag des Sohnes eines umgekommenen Händlers mit: „Die Ausführungen des Antragstellers sind nicht von der Hand zu weisen. Zweifellos wird es zutreffen, dass der Vater durch seinen ambulanten Handel mehr verdient hat als wie aus seinem offenen Ladengeschäft. […] Zu berücksichtigen ist, daß die Eltern den Antragsteller haben studieren lassen. Jedenfalls hätten die Eltern von einem Monatseinkommen von 200,– bis 250,– RM dieses nicht gekonnt.“ Stadt Hagen, 5.2.1959, ebd., 53777; ähnlich dies., 15.10.1959, ebd., 53866. 20 Vgl. u. a. Stadt Hagen, 7.8.1961, ebd., 53874; dies., 16.12.1960, ebd., 53884; dies., 25.6.1959, ebd., 600055; dies., 8.11.1956, ebd., 600453; dies., 15.12.1956, ebd., 618235; dies., 2.12.1960, ebd., 621993. 21 Vgl. u. a. Stadt Hagen, 7.8.1954, ebd., 422180; dies., 12.9.1956, ebd., 429086; dies., 29.8.1956, ebd., 603867; dies., 6.3.1956, ebd., 604829. 22 Vgl. Stadt Hagen, 26.1.1957, ebd., 429443; ebenso dies., 23.2.1957, ebd., 53750; ähnlich dies., 26.10.1955, ebd., 602437. 23 So sprach sich die Stadt Hagen in einem Verfahren (vgl. ebd., 623511) trotz unzutreffender Angaben der Antragsteller am 22.8.1957 für eine Entschädigungsleistung aus, was der Regierungspräsident jedoch am 3.5.1958 ablehnte. Zum individuellen Betrug in den Wiedergutmachungsverfahren vgl. Tobias Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit. Rück­ erstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und Westdeutschland. München 2006, 333ff. 24 Vgl. u. a. OKD Arnsberg, 4.8.1955, STAM, Wiedergutmachung, 428585; dies., 4.5.1956, ebd., 429466; dies., 6.3.1956, ebd., 27918; dies., 24.6.1957, ebd., 461008; vgl. für weitere Belege Klatt, Judenverfolgung und Wiedergutmachung, 368, Anm. 190. Vgl. OKD Arnsberg, 14.12.1955, STAM, Wiedergutmachung, 429466; dies., 16.3.1956, ebd., 605063; dies., 9.9.1961, ebd., 56947.

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Die Art und Weise der Ermittlungstätigkeit in Niedermarsberg unterschied sich deutlich von der in Hagen und Arnsberg. So benannte die dortige Amtsverwaltung als Zeugen angeblich „glaubwürdige ältere Bürger“, die allerdings anonym blieben.25 Auch stellte sie Behauptungen auf, deren Hintergründe nicht belegt wurden. Die Beurteilungen der Anträge wurden fast ausschließlich von einem einzigen Mitarbeiter des Ordnungs- und Sozialamtes nahezu durchgehend in tendenziöser Sprache abgefasst.26 Regelmäßig stellte die Amtsverwaltung die angeblich bereits vor der Verfolgung bestehende schlechte wirtschaftliche Lage der ehemaligen jüdischen Bürger in Niedermarsberg heraus.27 Als vermeintliche Belege wurden u. a. die Grundbücher und Kaufverträge der „arisierten“ ehemaligen jüdischen Grundstücke herangezogen und auf eingetragene Hypotheken, Steuerschulden sowie Kredite verwiesen.28 Auffällig ist, dass die Amtsverwaltung sich ausnahmslos auf die Steuerangaben aus den Jahren ab 1930 bezog,29 also auf eine Zeit, in der die geschäftliche Situation vieler – jüdischer wie nichtjüdischer – Unternehmer durch die Wirtschaftskrise stark geschwächt war.30 Die Amtsverwaltung leugnete sogar ortsbekannte Verfolgungstatbestände und reduzierte die Verfolgung der Juden bis zum Zeitpunkt des Novemberpogroms auf den Boykott jüdischer Geschäfte.31 Sie scheute sich nicht, pauschal zu bekunden, die Betroffenen in Niedermarsberg hätten keine Nachteile durch antisemitische Maßnahmen erlitten.32 Die Verfolgungsdarstellungen der jüdischen NS-Opfer

25 Stadt Niedermarsberg, 11.2.1060, ebd., 461944. 26 Einsichtnahme in die Personalakte des Mitarbeiters wurde der Autorin nicht gewährt. Der Erste Beigeordnete der Stadt Niedermarsberg teilte im August 2002 mündlich mit, dass es sich um einen im Zweiten Weltkrieg schwer Kriegsversehrten gehandelt habe. 27 Vgl. Stadt Niedermarsberg, 10.5.1957, STAM, Wiedergutmachung, 167899; dies., 22.10.1957, ebd., 167908. 28 Vgl. Stadt Niedermarsberg, 10.5.1957, ebd., 167899; dies., 22.10.1957, ebd., 167908; dies., 23.7.1955, ebd., 429020; dies.,16.12.1954, ebd.; dies., 9.9.1955, ebd., 439379; dies., 27.7.1955, ebd., 604264. 29 Vgl. Stadt Niedermarsberg, 10.5.1957, ebd., 167899; ähnlich dies., 15.6.1956, ebd., 20649; dies., 30.3.1955, ebd., 428164; dies., 23.7.1955, ebd., 429020; vgl. zu weiteren Belegen Klatt, Judenverfolgung und Wiedergutmachung, 371, Anm. 208. 30 Auf diesen Sachverhalt wies auch der Bevollmächtigte einer Antragstellerin hin, vgl. RA (Rechtsanwalt) F. R., 26.2.1959, STAM, Wiedergutmachung, 461937. 31 Vgl. Stadt Niedermarsberg, 4.12.1954, ebd., 432629; dies., 15.6.1956, ebd., 20649. 32 Vgl. Stadt Niedermarsberg, 23.7.1955, ebd., 429020; dies., 22.7.1955, ebd., 429029; dies., 16.5.1958, ebd., 461911; dies., 3.10.1958, ebd., 461928; vgl. für weitere Belege Klatt,

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in Niedermarsberg wurden als übertrieben oder unzutreffend beurteilt; damit wurde das Entschädigungsbegehren der Antragsteller als unberechtigt disquali­ fiziert – offenbar mit dem Ziel, die Judenverfolgung vor Ort zu bagatellisieren.

II. Zeugen im Entschädigungsverfahren Die „Vergangenheitspolitik“33 der Bundesregierung hatte Mitte der 1950er-Jahre Auswirkungen auch auf die Wiedergutmachungspraxis. Man überprüfte insbesondere in Arnsberg 34 potenzielle Zeugen nicht darauf, ob und inwieweit sie selbst in das Verfolgungsgeschehen verstrickt oder aktiv daran beteiligt gewesen waren.35 In allen drei untersuchten Kommunen wirkten oftmals die „Ariseure“ jüdischer Geschäfte als Zeugen und Gutachter in Entschädigungsverfahren derselben Verfolgten mit, die sie nach dem Krieg mit Rückerstattungsansprüchen konfrontiert hatten.36 In Arnsberg traten zudem auffallend häufig Polizeibeamte, die bereits Judenverfolgung und Wiedergutmachung, 376, Anm. 248. 33 Norbert Frei betont mit Blick auf die „Vergangenheitspolitik“: „In erster Linie ging es dabei um Strafaufhebungen und Integrationsleistungen zugunsten eines Millionenheers ehemaliger Parteigenossen, die fast ausnahmslos in ihren sozialen, beruflichen und staatsbürgerlichen – nicht jedoch politischen – Status quo ante versetzt wurden, den sie im Zuge der Entnazifizierung, Internierung oder der Ahndung ‚politischer‘ Straftaten verloren hatten. In zweiter Linie, gewissermaßen flankierend, ging es um die politische und justitielle Grenzziehung gegenüber den ideologischen Restgruppen des Nationalsozialismus; dem jeweiligen Bedarf entsprechend, wurde der antinational­ sozialistische Gründungskonsens der Nachkriegsdemokratie dabei punktuell neu kodifiziert.“ vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1996, 13ff. 34 Als Täter bekannt waren u. a. die Eheleute H. Sie machten auf Vorladung eine Aussage zu dem Entschädigungsbegehren einer Verfolgten, die sie selbst während des Pogroms bestohlen hatten, vgl. RA. H., 11.10.1960, STAM, Wiedergutmachung, 608675. 35 Dies stellt Julia Volmer auch für das Wiedergutmachungsdezernat Münster fest, vgl. Julia Volmer, Verwaltete Wiedergutmachung. Entschädigung für nationalsozialistisch Verfolgte im Regierungsbezirk Münster, in: Geschichte im Westen 2, 2002, 155. 36 Vgl. z. B. Metzgermeister Sch., 18.1.1955, STAM, Wiedergutmachung, 428586; ferner der Bundestagsabgeordnete Il., der von der IHK Arnsberg über den Wert des Warenlagers und über die Höhe des Umsatzes bei der Geschäftsübernahme befragt wurde, vgl. IHK Arnsberg, 20.7.1957, ebd., 56925; Tr., 8.1.1958 und Ed., 18.1.1958 über den Wert der Möbel bzw. der Bekleidung des H. He., ebd., 56947. Keine Bedenken hatte das Arnsberger

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während der Zeit des Nationalsozialismus vor Ort im Dienst gewesen waren, als Zeugen 37, manchmal sogar als Ermittler in Wiedergutmachungsverfahren jüdischer Antragsteller auf.38 Der Arnsberger Bürgermeister Karl Röhrig, der sich als Makler bei der „Arisierung“ betätigt hatte, fungierte in Rückerstattungsverfahren als Bevollmächtigter von Antragstellern und Rückerstattungspflichtigen und nahm als Gutachter Stellung zu jüdischen Unternehmen und Immobilien. Nun trat er in verschiedenen Entschädigungsverfahren als Zeuge auf.39 Zur wirtschaftlichen Situation der jüdischen Antragsteller vor der Verfolgung und den Auswirkungen des Boykotts befragt, bemühten sich viele Zeugen in Hagen, die Berechtigung des Anspruchs auf Wiedergutmachung zu untermauern, indem sie die Situation jüdischer Geschäftsleute vor der antisemitischen Verfolgung nachdrücklich als positiv beschrieben.40 Die „Ariseure“ jüdischer Geschäfte waren mit ihren Auskünften zurückhaltend, wie auch viele Zeugen, die zur „Arisierung“ oder zu Verschleuderungsverkäufen befragt wurden.41 Dabei begründeten die Zeugen das angebliche Unwissen mit ihrer Distanz zum Verfolgungsgeschehen und betonten, dass sie mit den eigenen Angelegenheiten genug zu tun gehabt 42 oder sich nicht für die Judenverfolgung interessiert hätten.43

Wiedergutmachungsamt, die „Ariseure“ und Geschäftsinhaber als Gutachter für die Wäsche und Kleidung derjenigen Familie zu bestellen, deren Geschäft und Haus sie übernommen hatten und für die sie enorme Nachzahlungen leisten mussten, vgl. Gutachten des Modehauses Sp., 12.5.1958, ebd., 56924. 37 So in den Verfahren ebd., 27918, 428586, 428585, 429466, 56925, 600216, 608675, 627089. 38 Vgl. z. B. den Ermittlungsbericht der Kriminalpolizei-Außenstelle Arnsberg, 28.5.1956 im Verfahren ebd., 27918; Bericht des Kriminalsekretärs H., 9.6.1956, ebd. 39 Röhrig hatte u. a. nach der Verhaftung bzw. Flucht eines Paares, das in sogenannter Mischehe lebte, dessen Wohnungseinrichtung im Auftrag der Kriminalpolizei inventarisiert, vgl. Karl Rö., 8.6.1956, ebd., 27918. 40 Vgl. u. a. L. E., 29.3.1961, ebd., 163865; W. W., 30.3.1961, ebd.; L. A., 6.9.1956, ebd., 53719; Metzgermeister L., 13.3.1957, ebd., 53874; J. K., 11.4.1957, ebd.; H. B., 16.5.1960, ebd., 53885; H. &. E. B., 26.12.1958, ebd., 53890; R. R., 18.4.1955, ebd., 53628. 41 Vgl. M. M., o. D., ebd., 621993. Die Wahrscheinlichkeit, dass gerade die Nachbarn, die das Geschehen rund um die Wohnungen der jüdischen Familien am einfachsten beobachten konnten, zu den vermutlichen Zeugen gehörten, lag für andere Befragte nahe, vgl. R. H., 8.2.1958, ebd., 616983. 42 Vgl. M. D., 9.7.1960, ebd., 25448; RA B., 19.6.1957, ebd., 625480. 43 Vgl. Frau K., 2.2.1961, ebd., 163905.

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In der kleineren Verwaltungsstadt Arnsberg hatte man die Einzelheiten des Verfolgungsgeschehens, insbesondere die berufliche und gesellschaftliche Verdrängung der Juden sowie den Novemberpogrom, aufmerksamer registriert als in der Großstadt Hagen.44 Wie dort bestätigten auch in Arnsberg Zeugen meist mit Nachdruck die Angaben der Antragsteller.45 Bei Fragen, die die „Arisierung“ betrafen, waren die Zeugen und ganz besonders die „Ariseure“46 allerdings wenig auskunftsfreudig.47 Die entsprechenden Aussagen machen zudem deutlich, dass der „Arisierung“ überall ein Makel des Raubes anhaftete. Die „Ariseure“ versuchten daher meist, den durch die Judenverfolgung verursachten Verkaufsdruck zu bagatellisieren. Ein zentrales Ereignis in der Erinnerung der Zeugen war in allen drei Kommunen der Novemberpogrom.48 Dabei betonten die Befragten nicht selten, am Pogrom nicht beteiligt gewesen zu sein bzw. auch zu dieser Zeit noch Kontakte zu jüdischen Nachbarn unterhalten zu haben. Die Berufsverbände und berufsständischen Kammern hatten mit ihren vorauseilenden Maßnahmen bei der beruflichen Verdrängung der Juden häufig eine große Rolle gespielt; nach dem Krieg wurden sie zur Beurteilung von wirtschaftlichen Verfolgungsschäden in die Wiedergutmachung einbezogen. Das Wiedergutmachungsamt in Hagen befragte z. B. den Einzelhandelsverband, den Verband ambulanter Gewerbetreibender und die Industrie- und Handelskammer, den Anwaltsverein, die Rechtsanwaltskammer, den Ärzteverein und die Ärztekammer Westfalen-Lippe, den Bund Deutscher Architekten sowie die Kreishandwerkerschaft. Da die Archive der Verbände und Vereinigungen in Hagen und im Ruhrgebiet überwiegend durch Bombeneinwirkung vernichtet worden waren, konnte man in den meisten Fällen nur Informationen von Verbandsmitgliedern einholen, die in der Regel anonym blieben.49 Es kam deshalb auch hier nicht selten vor, dass man die „Ariseure“ jüdischer Geschäfte und

44 Vgl. A. G., 7.1.1955, ebd., 428586; H. B., 17.1.1955, ebd.; O. Sch., 18.1.1955, ebd. 45 Vgl. C. L., 24.10.1956, ebd., 56917. 46 Vgl. O. Sch., 18.1.1955, ebd., 428586. 47 Vgl. Herr M., o. D. [1957], ebd. 48 Vgl. u. a. in den Verfahren ebd., 422425, 167917, 20649, 432629, 461935, 461944, 601285. 49 Vgl. u. a. EHV (Einzelhandelsverband Südwestfalen, Kreisverband Hagen), 7.6.1960, ebd., 163851. Die IHK Hagen stellte klar, dass sie über keinerlei Unterlagen mehr verfügte, vgl. IHK Hagen, 20.1.1959, ebd., 163889; vgl. auch dies., 20.1.1959, ebd., 163889; dies., 10.11.1958, ebd., 53867; dies., 4.12.1956, ebd., 627131, Bd. II; dies., 20.1.1959, ebd., 163889; dies., 27.5.1957, ebd., 53801; dies., 15.2.1958, ebd., 53828.

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Gewerbebetriebe um Auskunft zu den Umsätzen und Gewinnen der Verfolgten vor der Geschäftsübernahme bat 50, ebenso wie frühere Konkurrenten von jüdischen Ärzten und Rechtsanwälten. Dabei machten die Befragten vereinzelt falsche Aussagen oder stellten die Ereignisse tendenziös dar.51 Insgesamt jedoch erscheint die Mehrheit der Stellungnahmen der Verbände trotz der fehlenden kritischen Distanz zu den Informanten sachlich und objektiv 52; die eigene Rolle bei den antisemitischen Verdrängungsmaßnahmen wurde allerdings nicht thematisiert.

III. Die Entscheidungen des Wiedergutmachungsdezernats Arnsberg Wie in Münster und in vielen anderen Wiedergutmachungsdezernaten 53 übernahm in Arnsberg ein durch die NS-Vergangenheit Unbelasteter, in diesem Falle der politisch Verfolgte Leo Radtke, die Leitung des Dezernats.54 Was die Entscheidungsprozesse in diesem Dezernat angeht, so handhabte es die gesetzlichen 50 Vgl. EHV Hagen, 26.6.1958, ebd., 163882; ders., 7.0.1960, ebd., 163851; IHK Arnsberg, 20.7.1957, ebd., 56925. 51 Vgl. Stadt Hagen, 18.10.1955, ebd., 434227; Gutachten des Zahnarztes W. A., 23.6.1955, ebd., 434227. 52 Auf die Objektivität der meisten Stellungnahmen wies auch der Leiter des Hagener Wiedergutmachungsamtes hin, vgl. H., 31.12.1957, ebd., 53777. 53 Dies traf beispielsweise auch auf das Wiedergutmachungsdezernat der Bezirksregierung Münster zu, vgl. Volmer, Verwaltete Wiedergutmachung, 156; ferner Karl Heßdörfer, Die Entschädigungspraxis im Spannungsfeld von Gesetz, Justiz und NS-Opfern, in: Ludolf Herbst/Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland. München 1989, 232. 54 Regierungsrat (später Oberregierungsrat) Leo Radtke (1897 – 1969) war als Sozialdemo­ krat und Gewerkschaftsfunktionär verfolgt worden und selbst in Konzentrations­lagerhaft gewesen. Er leitete bereits seit Juni 1946 das Sonderdezernat für die Betreuung von NSVerfolgten, das bei der Bezirksregierung Arnsberg eingerichtet worden war, noch bevor das Innenministerium im November 1946 eine Verfügung hierzu erließ. Radtke galt als gut ausgebildet, betreute anfänglich sogar zusätzlich die Regierungs­bezirke Münster und Minden und wurde zudem für die Leitung des Hauptreferates im Innenministerium empfohlen, vgl. RP (Regierungspräsident) Arnsberg am 16.11.1946 an das Innen- und Sozialministerium, HSTAD, NW 114 – 86; siehe hierzu den Nachlass Radtkes im Archiv der sozialen Demokratie unter http://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/nachlass/ nachlass_r/radtke-le.htm (Zugriff: 14.03.2014).

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Vorschriften trotz des im Gesetz zugunsten der Berechtigten verbrieften Erleichterungsgrundsatzes meist sehr restriktiv,55 so etwa bei nicht fristgerecht gestellten Anträgen. Ähnlich streng behandelte die Behörde den Nachweis der Erblegitimation durch die Nachfahren umgekommener jüdischer Verfolgter. In Arnsberg wurde die Vorlage eines Erbscheines ohne gesetzliche Basis zur grundlegenden Voraussetzung.56 Die Anspruchsberechtigten mussten deshalb ein langwieriges sowie kostenträchtiges Gerichtsverfahren auf sich nehmen, worauf der Regierungspräsident selbst in den Fällen bestand, in denen nur geringe Entschädigungssummen zu erwarten waren.57 Dies trug zu erheblichen Verzögerungen bei der Bearbeitung der Anträge bei. Deshalb forderte der nordrhein-westfälische Innenminister Meyers bereits im Herbst 1954 grundsätzlich eine „beschleunigte Erledigung“ der Entschädigung.58 Ein Mitglied des Ausschusses für Wiedergutmachung mutmaßte im Februar 1955, der Grund für die Verzögerungen liege in der falschen Besetzung der Mitarbeiterstellen in den Wiedergutmachungsdezernaten, wo „auf der untersten Ebene gewurstet“ werde.59 Ausschussmitglieder kritisierten ferner die unterschiedliche Beurteilung von Anträgen durch die einzelnen Regierungspräsi­ denten.60 Dass für die Wiedergutmachung, anders als zeitweise geplant, kein zentrales Bundesamt eingerichtet worden war, war, wie sich nun herausstellte, für die jüdischen Verfolgten von Nachteil, da die föderalistische Aufteilung des Wiedergutmachungsrechts kein einheitliches Vorgehen garantierte.61 Der 55 Auch in Münster und Freiburg wurde so verfahren, vgl. Volmer, Verwaltete Wiedergutmachung, 156 bzw. Andrea Brucher-Lembach, „… wie Hunde auf ein Stück Brot.“ Die „Arisierungen“ und der Versuch der Wiedergutmachung in Freiburg. Bremgarten 2004, 211ff. 56 Hierauf verwiesen auch die Bevollmächtigten der Antragsteller und die Stadt Hagen, 3.4.1956 sowie 28.5.1956, STAM, Wiedergutmachung, 421646. Auch in einem anderen Verfahren teilten die Bevollmächtigten der Antragsteller am 6.9.1961 mit, dass der Regierungspräsident in Kassel auf die Vorlage eines Erbscheins verzichtet habe, vgl. ebd., 167851. 57 Vgl. z. B. im Verfahren ebd., 61919. 58 Kurzprotokoll des Ausschusses für Wiedergutmachung, 3.11.1954, HSTAD, NW 114 – 181. 59 Kurzprotokoll, 8.2.1955, ebd. 60 Vgl. ebd. 61 Vgl. hierzu Hermann Fischer-Hübner, Zur Geschichte der Entschädigungsmaßnahmen für Opfer nationalsozialistischen Unrechts, in: Helga und Hermann Fischer-Hübner (Hrsg.), Die Kehrseite der Wiedergutmachung. Gerlingen 1990, 25ff. Auf Probleme, die sich aus

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Entschädigungsprozess litt zudem, trotz der ständigen politischen Ermahnungen zur zügigen Bearbeitung, stets unter einem „Sparsamkeitsdiktat“, das sich am jeweiligen Haushaltsbudget orientierte.62 Das restriktive Vorgehen in den Wiedergutmachungsdezernaten zielte darauf ab, die Ansprüche der Verfolgten auf andere Weise erledigen zu lassen, etwa durch das Bundesrückerstattungsgesetz 63, ferner im stark zerstörten Hagen durch den „Lastenausgleich“64. Um Pogromschäden nachzuweisen, mussten die jüdischen NS-Opfer eine Liste aller in ihrem damaligen Besitz befindlichen Gegenstände vorlegen, inklusive Angaben über den Zeitpunkt des Erwerbs und den Kaufpreis. Auch hatten sie aufzuführen, ob die einzelnen Gegenstände zerstört, geplündert oder beschädigt worden waren.65 Waren Dinge beschlagnahmt oder an namentlich bekannte Personen „verschleudert“ worden, verweigerte die Arnsberger Behörde eine Leistung oder bot lediglich einen Vergleich an. Der Versuch, die Zuständigkeit abzuwenden, führte gerade bei den Vermögensschäden zu langwierigen Verfahren; bis zu einer endgültigen Entscheidung konnte es mehr als zehn Jahre dauern.66 Bei der Überprüfung der Ansprüche verursachte das Arnsberger Wiedergutmachungsdezernat einen mit erheblichen Kosten verbundenen Verwaltungsaufwand, der oftmals in keinem Verhältnis zur infrage stehenden Entschädigungsleistung stand. Das Landgericht Arnsberg legte deshalb dem Regierungspräsidenten in einem Berufungsprozess um

der unterschiedlichen Umsetzung der Entschädigung in den einzelnen Ländern ergaben, weist auch Constantin Goschler hin, vgl. Constantin Goschler, Zwei Wege der Wiedergutmachung? Der Umgang mit NS-Verfolgten in West- und Ostdeutschland im Vergleich, in: Hans-Günter Hockerts/Christiane Kuller (Hrsg.), Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland. Göttingen 2003, 125. 62 Den vorgegebenen „Sparzwang“ bei der Entschädigung thematisiert auch Heßdörfer, Entschädigungspraxis, 234. 63 Vgl. u. a. in folgenden Verfahren wegen Eigentumsschadens: STAM, Wiedergut­ machung, 428584, 53628, 53719, 53749, 53767, 53833, 53882, 600055, 618030, 620679, 621993, 600216. 64 Vgl. RP Arnsberg, 18.5.1956, ebd., 27918. 65 U. a. im Verfahren ebd., 425299; RP 6.4.1955, ebd., 428584. 66 Beispielsweise in den Verfahren ebd., 426257, 53719, 53882, 618030, 620679. Ähnlich lang dauerten die Verfahren im Wiedergutmachungsdezernat Münster, vgl. Julia Volmer, Die Villa ten Hompel 1953 – 1968. Wiedergutmachung an einem Täterort, in: Kenkmann/ Spieker/Walter (Hrsg.), Wiedergutmachung als Auftrag, 354; Volmer, Verwaltete Wieder­ gutmachung, 157 – 158.

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einen Vermögensschaden nahe, dem von den Antragstellern vorgeschlagenen Vergleich endlich zuzustimmen. Es sei kaum noch vertretbar, so das Gericht, den Rechtsstreit bei der geringen zur Disposition stehenden Streitsumme ­weiter zu betreiben.67 Man gewinnt den Eindruck, dass die Mitarbeiter des Wiedergutmachungsdezernats in Arnsberg mit ihren akribischen Beweisanforderungen lieber bewusst in Kauf nahmen, berechtigte Ansprüche abzulehnen, statt das Risiko einzugehen, unberechtigten stattzugeben. Ob dies nur aus finanziellen Gründen geschah und dabei antisemitische Einstellungen oder andere Motive wie Sozialneid ausgeschlossen werden können, erscheint zweifelhaft, denn auch im Umgang mit den jüdischen Verfolgten zeigten die Mitarbeiter der Arnsberger Behörde wenig Sensibilität. In vielen Fällen reagierten sie auf die Bitten der Antragsteller abweisend und schroff; dies galt selbst für Interventionen von wichtigen politischen Gremien, die aus Sorge um die außenpolitische Wirkung der Wiedergutmachungspraxis erfolgten.68 Nicht nur bei Formalia und in Bezug auf die Beweislast legte die Arnsberger Behörde den Verfolgten hohe Bürden auf. Auch hinsichtlich der Anerken­nung von Verfolgungstatbeständen nahm sie im Gegensatz zu anderen Regierungsbehörden eine auffallend restriktive Haltung ein.69 Grundlage für die Beurteilung war für die Arnsberger Regierungsbehörde in der Regel die normative Verfolgung, d. h. die vom NS-Regime angeordneten antijüdischen Maßnahmen.70 Das führte dazu, dass die Behörde z. B. die Verdrängung der jüdischen Schüler von öffentlichen Schulen an den gesetzlichen Vorgaben maß und für die Anerkennung jedes Einzelfalles einen besonderen Nachweis verlangte.71 Die alltägliche lokale Verfolgungsrealität unterschätzte bzw. ignorierte man

67 Vgl. LG (Landgericht) Arnsberg, 13.6.1961, STAM, Wiedergutmachung, 436681. 68 Ein Appell des nordrhein-westfälischen Landkreistages an seine Mitgliedskreise, der auf die politischen Auswirkungen der Verschleppung der Arbeit hinwies, macht diese Sorge deutlich, vgl. Volmer, Wiedergutmachung an einem Täterort, 351. 69 Die Münsteraner Behörde verfuhr hierbei wesentlich kulanter, vgl. Volmer, Verwaltete Wiedergutmachung, 161. 70 Vgl. Katharina van Bebber, Wiedergutgemacht? Die Entschädigung für Opfer der national­sozialistischen Verfolgung nach dem Bundesergänzungsgesetz durch die Entschädigungsgerichte im OLG-Bezirk Hamm. Berlin 2001, 359ff. 71 Vgl. RP, 31.12.1957, STAM, Wiedergutmachung, 25735; ders., 26.4.1955, ebd., 53560; ders., 16.4.1957, ebd., 53758; ders., 24.8.1957, ebd., 56943; ders., 13.9.1957, ebd., 167899.

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weitgehend.72 Auch gewährte der Arnsberger Regierungspräsident einigen Familienmitgliedern, die Ende Oktober 1938 im Zuge der sogenannten Polenaktion abgeschoben worden waren, eine Entschädigung für die Inhaftierung an der polnisch-deutschen Grenze bei Zbąszyń (Bentschen), anderen jedoch nicht.73 Derartig gegensätzliche Entscheidungen belegen, wie groß der Entscheidungsspielraum der Sachbearbeiter war. Regelmäßig unterstellten Mitarbeiter der Arnsberger Regierungsbehörde Antragstellern, unwahre oder übertriebene Angaben gemacht zu haben.74 Obwohl beispielsweise nach dem Bundesentschädigungsgesetz bei Ausbildungsschäden generell eine Pauschalentschädigung geleistet wurde, wenn eine nicht erfolgte bzw. verspätet absolvierte Ausbildung nachgewiesen w ­ erden konnte, überprüfte die Arnsberger Behörde im Einzelfall den konkreten Berufswunsch.75 Auch bewertete sie die moralische Integrität der Antragsteller.76 Kommentare zur Glaubwürdigkeit einzelner Personen finden sich in zahlreichen Verfahren.77 In einer internen Mitteilung des Wiedergutmachungsdezernats ließ ein Mitarbeiter einen Kollegen wissen, dass er die Einstufung eines bestimmten Antragstellers bereits unter Berücksichtigung eines „Lügenkoeffizienten“ vorgenommen habe, weil dessen Angaben seiner Meinung nach „mit äußerster

72 Das Ausmaß der Verfolgung verkannten anfänglich auch die Wiedergutmachungs­ behörden in Baden, vgl. Silvija Franjic, Die Wiedergutmachung für die Opfer des Nationalsozialismus in Baden (1945 – 1967). Von der moralischen Verpflichtung bis zur rechtlichen Pflichtübung. Frankfurt am Main 2006, 306. 73 Dies betraf beispielsweise die aus Hagen deportierte Familie B., vgl. RA Sp., 25.1.1957, STAM, Wiedergutmachung, 428013. 74 Den Eifer der Regierungsmitarbeiter bei der Suche nach Widersprüchen in den Angaben der Verfolgten kritisiert auch Heinz Düx, Geschichte der Entschädigung in Westdeutschland nach 1945, in: Gustav-Stresemann-Institut (Hrsg.), Die Opfer des NS-Staates heute – eine Zwischenbilanz der Entschädigungspraxis in Bund und Ländern. Bonn 1988, 21. Ein ähnliches Misstrauen gegenüber den Angaben der Verfolgten gab es auch in der Münste­ raner Regierungsbehörde, vgl. Volmer, Wiedergutmachung an einem Täterort, 360. 75 Diese Vorgehensweise wurde vom OLG (Oberlandesgericht) Hamm für unzulässig erklärt, vgl. OLG Hamm, 30.1.1959, STAM, Wiedergutmachung, 428477. 76 Ähnlich in Münster, vgl. Volmer, Wiedergutmachung an einem Täterort, 363. 77 Vgl. u. a. RP, 9.4.1956, STAM, Wiedergutmachung, 429489; ders., 17.10.1956, ebd., 622095; ders., 25.2.1956, ebd., 600025; ders., 6.5.1958, ebd., 429020, ebenfalls im Verfahren ebd., 429029; Vermerk RP, 3.2.1961, ebd., 436681; Bescheid, 10.8.1958, ebd., 461030; RP, 10.5.1958, ebd., 167913.

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Vorsicht“ zu bewerten seien.78 Die Arnsberger Regierungsbehörde versuchte außerdem, durch willkürliche Mutmaßungen und Unterstellungen Ansprüche zu mindern, indem sie z. B. unterstellte, dass „geplünderte Sachen ohnehin den Bomben zum Opfer gefallen wären“79. Dies war allerdings nicht zulässig.80 Auch unsachliche Bemerkungen sind in den Akten zu finden. So fügte der zuständige Mitarbeiter dem in einer Klageschrift wegen eines sogenannten Good-WillSchadens enthaltenen Satz „Der Kundenkreis war groß und treu“ die ironische Randbemerkung „Wie die Garde des Alten Fritz“ hinzu.81 Die Arnsberger Behörde ging bei der Wertung der Ermittlungsergebnisse über Entschädigungsanträge jüdischer Verfolgter oftmals manipulierend vor. Häufig entstanden Bescheide auf der Basis der für die Antragsteller ungünstigsten Stellungnahmen; Aussagen, die die Angaben der Opfer stützten, ignorierte man dagegen oft. In vielen Berufsschadensverfahren, und zwar auffallend häufig in Verfahren, die Erben ermordeter „Ostjuden“ betrieben, stufte das Wiedergutmachungsdezernat die Verfolgten regelmäßig niedriger als vom Hagener Wiedergutmachungsamt empfohlen ein.82 Von Remigranten verlangten die Mitarbeiter der Behörde ohne gesetzliche Grundlage Nachweise darüber, dass sie im Emigrationsland über keine ausreichende Lebensgrundlage verfügt hatten.83 Bei der Beurteilung von Verfolgungstatbeständen kam es deshalb häufig zu internen Auseinandersetzungen, insbesondere mit dem Dezernatsleiter Radtke.84 78 RP, 16.5.1957, ebd., 604363. 79 RP, 12.3.1956, ebd., 25721. 80 Die Rechtswidrigkeit dieser Argumentation nach § 9 Ab 5 BEG stellte das OLG Hamm am 19.8.1960 ausdrücklich fest, vgl. ebd., 436681. 81 RA G., 5.9.1958, ebd., 428026. 82 Vgl. u. a. in den Verfahren ebd., 163881, 163883, 163889, 53773, 53777, 53801, 53805, 53819, 53828, 53836, 53837, 53890, 614338. „Ostjuden“ wurden von Wiedergutmachungssach­ bearbeitern in bayerischen Ämtern oftmals schikaniert, vgl. Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit, 183. 83 Vgl. z. B. STAM, Wiedergutmachung, 627089. 84 Vgl. u. a. ebd., 610740, 421320, 421646, 429615, 53645, 56924, 604363, 605455, 610740, 611185, 613030; vgl. auch Interview Marc von Miquel mit Richard Hebenstreit, 3.11.2003, das der Autorin freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde. Hans Frankenthal berichtet dagegen in seiner Autobiografie, dass er und sein Bruder mit Leo Radtke „um jeden Pfennig streiten mussten“, vgl. Hans Frankenthal, Verweigerte Rückkehr. Erfahrungen nach dem Judenmord. Frankfurt am Main. 3. Aufl. 2002, 118; auf derartige

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Im Bestreben, Ansprüche möglichst zu minimieren, führte das Arnsberger Wiedergutmachungsdezernat zuweilen kuriose Argumentationen ins Feld. 1959 erklärte ein Mitarbeiter das Hausfrauendasein einer früheren Konzertsängerin zur Berufstätigkeit. Er forderte, die Klage auf höhere Einstufung abzuweisen, „weil die Antragstellerin in ihrem Beruf als Hausfrau ihres gut verdienenden Ehemannes eine ausreichende Lebensgrundlage gefunden“85 habe. Der Beamte ignorierte dabei eine vorausgegangene Entscheidung des Bundesgerichtshofes, wonach das Einkommen des Ehegatten bei der Bemessung des Berufsschadens keine Rolle spielte.86 Betrachtet man die Entscheidungen des Arnsberger Wiedergutmachungsdezer­ nats, so ist festzustellen, dass die Mitarbeiter den jüdischen Antragstellern über die ohnehin sehr restriktiven gesetzlichen Vorgaben hinaus zahlreiche zusätz­liche Steine in den Weg legten. Im Gegensatz zu anderen Wiedergutmachungsdezernaten wie dem Münsteraner, dessen Arbeit u. a. von der dorti­ gen Jüdischen Gemeinde gelobt und dem „eine gute Atmosphäre“ attestiert wurde,87 gehörte die Arnsberger Behörde zu jenen Dezernaten, die insgesamt wenig Bereitschaft zeigten, das an den Juden begangene Unrecht anzuerkennen. Die restriktive Haltung der Arnsberger Regierungsbehörde gegenüber den Wiedergutmachungsansprüchen jüdischer Verfolgter führte zu zahlreichen Klagen.88 Da Juden als sogenannte Kollektivverfolgte galten,89 mussten sich die Wiedergutmachungsgerichte weniger mit formalen Fragen als mit Aspekten der Judenverfolgung auseinandersetzen, deren Beurteilungen strittig waren. Dazu mussten auch sie sich, mehr noch als die Wiedergutmachungsbehörden, mit der antisemitischen Verfolgungsrealität beschäftigen.90 Die Gerichte fungierten Konflikte in den Wiedergutmachungsbehörden weist auch Heßdörfer hin, vgl. Heßdörfer, Entschädigungspraxis, 232. 85 RP 18.4.1959, STAM, Wiedergutmachung, 56924. 86 Vgl. BGH (Bundesgerichtshof), 30.6.1959, ebd., 428477. 87 Volmer, Verwaltete Wiedergutmachung, 162. 88 Heßdörfer spricht für Bayern von einer Klagequote gegen Ablehnungsbescheide von fast 20 Prozent, vgl. Heßdörfer, Entschädigungspraxis, 41ff. 89 Vgl. hierzu van Bebber, Wiedergutgemacht?, 118ff. Die Wiedergutmachungsgerichte im OLG-Bezirk Hamm wandten diese Vermutung allein bei jüdischen Klägern an, vgl. ebd., 59. 90 Vgl. Cornelius Pawlita, „Wiedergutmachung“ als Rechtsfrage? Die politische und juristische Auseinandersetzung um Entschädigung für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung (1945 – 1990). Frankfurt am Main 1993, 13.

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letztlich als Korrektiv bei der Beurteilung von Verfolgungstatbeständen: So gingen bei einem Querschnitt von 45 Klageverfahren vor dem Landgericht Arnsberg 22 zugunsten der jüdischen Antragsteller aus.91 Die Gerichte rügten dabei u. a. die hohen Beweisanforderungen des Wiedergutmachungsdezernats Arnsberg, die nicht mit dem Entschädigungsgesetz vereinbar waren.

IV. Die Reaktionen der jüdischen Verfolgten Zahlreiche Beschwerden und drängende Bitten um schnellere Entscheidungen dokumentieren die große Not und die Unzufriedenheit der jüdischen NS-Verfolgten mit dem Arnsberger Wiedergutmachungsdezernat.92 Sie waren jedoch kein spezifisches Phänomen, sondern, wie u. a. Beispiele aus Bayern

91 Davon wurden alle Berufungen der Bezirksbehörde durch die Entschädigungskammer des OLG Hamm zurückgewiesen. Sechs Klagen endeten mit einem Vergleich und nur sieben mit einer Niederlage der Kläger. Zu abweichenden Ergebnissen für die Zeit der Gültigkeit des Bundesergänzungsgesetzes zwischen 1954 und 1956 kommt van Bebber: Sie stellt für diesen Zeitraum die überwiegende Ablehnung von Anträgen rassischer Verfolgter durch die Entschädigungskammer des Landgerichts Arnsberg fest; vgl. van Bebber, Wiedergutgemacht?, 116. 92 Vgl. u. a. RA D., 31.1.1963, STAM , Wiedergutmachung, 163978; Deutsches Konsulat Kansas City, 9.6.1958, ebd., 613041; RA M. o. D., ebd., 610461; RA M. o. D., ebd., 610462. Vgl. hierzu auch Christian Pross, Wiedergutmachung, Der Kleinkrieg gegen die Opfer. Frankfurt am Main 1988, 185ff. Für das Jahr 1954 fand das Kölner Institut für Angewandte Sozialforschung heraus, dass es bei der Bearbeitung wegen Freiheitsschäden in Nordrhein-Westfalen im Schnitt 4,4 Jahre dauerte, bis es zu einer Entscheidung kam, Berufsschäden nahmen sogar sechs Jahre in Anspruch, vgl. Institut für Angewandte Sozialforschung (Universität Köln), Projektschlussbericht Leistungsverwaltung und Verwaltungsleistung. Analyse von Vollzugsproblemen am Beispiel der Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung. Köln 1983, 177. Der Detmolder Regierungspräsident machte 1954 in erster Linie die regionalen Entschädigungsämter für die schwerfällige Bearbeitung der Entschädigungsverfahren verantwortlich, vgl. Norbert Sahrhage, „Weil wir hofften, daß nach all dem Erlebten uns nunmehr Gerechtigkeit widerfahren würde.“ Reintegration und Entschädigung der jüdischen Bevölkerung des Kreises Herford nach 1945, in: Menora 2, 1991, 392. Die Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland berichtete fast wöchentlich über die schleppenden Verfahren, insbesondere in den Jahren 1953 bis 1955, vgl. Volmer, Verwaltete Wiedergutmachung, 161, Anm. 46.

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und ­Schleswig-Holstein zeigen, offenbar typisch für die Wiedergutmachungs­ praxis.93 Im Folgenden sollen anhand einiger Beispiele die Reaktionen jüdischer Verfolgter dargestellt werden. Verbreitet zeigten sich Ärger und Enttäuschung über die insgesamt sehr schleppende Bearbeitung der Wiedergutmachung. So beschwerte sich ein Kinder­arzt in sarkastischer Weise über das langwierige Verfahren: Am 3. März 1958 bat Herr Rechtsanwalt und Notar W. Ro. in Hagen um Ihre baldige Entscheidung wegen der geleisteten Judenvermögensabgabe. Seine höfliche Bitte wurde von Ihnen jedoch keinerlei Antwort gewürdigt. Bei den Nazis war man das allerdings so gewöhnt. Der 75 Jahre alte Herr Ro. konnte nun nicht noch länger auf Ihre Entscheidung warten und hat sich nun wegen hohen Alters aus der Liste der Anwälte streichen lassen. Die weitere Korrespondenz in der Sache müßte also an mich persönlich erfolgen. Ich hoffe, dass es Ihnen möglich sein wird, noch vor meinem Tode auf die Sache zurück zu kommen.94 Oftmals führte die lange Verfahrensdauer dazu, dass genau dies nicht der Fall war und dass die jüdischen Antragsteller keine Entschädigungsleistung mehr erhielten. Jüdische Verfolgte, die vor Ort überlebt hatten, trafen nicht selten auf besondere Schwierigkeiten. Helmut W. aus Hagen legte als Vormund seines jüdischen Vaters, der das Ghetto Theresienstadt überlebt hatte und schwer nervenkrank geworden war, 1955 gegen die Ablehnung der sogenannten bevorzugten Behandlung wegen einer Notlage Einspruch ein. Nach Ende des „Dritten Reiches“ war die Familie auf Anordnung der britischen Militärverwaltung in die Wohnung eines NSDAP-Funktionärs eingewiesen worden. Dieser versuchte nun, nach seiner Entnazifizierung, die Familie aus der Wohnung herauszuklagen. ­Helmut W. beschrieb die Folgen der schleppenden Bearbeitung des Verfahrens: „Die Entschädigung kommt reichlich spät. Ich habe es nicht verhindern ­können, dass in den vergangenen Jahren Schulden entstanden sind. Befreundete Personen

93 Vgl. Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit, 187 und Heiko Scharffenberg, Sieg der Sparsamkeit, Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Schleswig-Holstein. Bielefeld 2004, 143ff. 94 G. H. St.-H., 14.8.1959, STAM, Wiedergutmachung, 600124.

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haben mir hin und wieder Geldbeträge geliehen, außerdem sind in meinem Geschäft Schulden entstanden. Sowohl die Personen, die mir das Geld geliehen haben, als auch ich zweifelten nicht daran, dass eine Entschädigung für das den Juden im 3. Reich zugefügte Unrecht erfolgen würde. Es hat niemand geglaubt, dass allerdings Jahre vergehen würden.“95 Das Schreiben eines anderen Antragstellers macht deutlich, dass die Wiedergutmachungsleistung als zur Wiederherstellung der früheren Lebens­situation nicht ausreichend empfunden wurde: „Man schreibt Ihnen, dass ich eine enorme Summe fordere. Vor 20 Jahren konnte ich für mein Geld ein Geschäft mit Warenbestand haben und heute reicht der Betrag als Baukosten­zuschuß für ein Lokal nicht aus. Vom Regierungspräsidenten in Arnsberg höre ich wegen meiner Haftentschä­digung auch nichts.“96 Oftmals beklagten die jüdischen NS-Verfolgten auch das Desinteresse der Wiedergutmachungsbehörden, die Verfolgungsereignisse aufzuarbeiten und die dafür Verantwortlichen zu benennen. Ein Betroffener eines Übergriffs anlässlich des Novemberpogroms kritisierte das kollektive Beschweigen der antijüdischen Verfolgung durch die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft: „Warum sagt keiner der Zeugen klar aus. […] Viele in Arnsberg wissen, dass ca. 30 – 40 SA- oder SS-Leute unter Führung des vorgenannten Bürgermeisters in unserer Wohnung wüteten und alles zerstörten. Mein Vater wurde so mißhandelt, dass er lange Zeit zwischen Leben und Tod im Städtischen Kranken­haus in Arnsberg gelegen hat. Wie ich durch Zufall hörte, hat vor einigen Jahren ein Prozeß über die Arnsberger Kristallnacht Vorfälle stattgefunden. Man hat es aber verstanden, die Ereignisse, die in unserer Wohnung stattgefunden haben, irgendwie totzuschweigen, und zu übergehen.“97 Dass durch ihre NS -Vergangenheit belastete Zeugen im Entschädigungsverfahren hinzugezogen wurden, rief bei den jüdischen Verfolgten ebenfalls Empörung hervor: „Es ist nicht im Sinne der deutschen Wiedergutmachung, dass solche Nazis gegen Juden aussagen.“98 Beschwerden über Personen, die für die jüdischen Verfolgten eine negative Kontinuität darstellten, zeigen, dass die NS -Opfer eine im wahrsten Sinne des Wortes „entnazifizierte“

95 H. W., 10.6.1955, ebd., 25734. 96 O. Z., 16.7.1958, ebd., 53833. 97 P. F., 29.12.1958, ebd., 600216. 98 A. L., 29.10.1960, ebd., 614338.

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Wiedergutmachungspraxis erwarteten. Doch stießen die jüdischen Verfolgten in ihren Wiedergutmachungsverfahren auch auf andere Kontinuitäten. Denn nicht selten wurden sie mit antijüdischen Stereotypen und mit NS -Vokabular konfrontiert, das weit bis in die Nachkriegszeit unreflektiert benutzt wurde. So berichtete der Erwerber eines Wohn- und Geschäftshauses in Arnsberg 1955 als Zeuge in einem Entschädigungsverfahren, dass die jüdische Voreigentümerin ihren Fleischbedarf von „rassegleichen Metzgern“ bezogen habe.99 Mit besonderer Empörung reagierten die jüdischen Überlebenden, wenn Ablehnungen mit Argumenten begründet wurden, die sich ausschließlich an der gesetzlichen „Verfolgungsnorm“ orientierten und die alltägliche Verfolgungsrealität ausblendeten. Ein mittlerweile 80-jähriger Jude aus Hagen und dessen ebenfalls betagte Ehefrau hatten nach ihrer Emigration nach Belgien während der deutschen Besatzungszeit den „Judenstern“ tragen müssen und hierfür einen Antrag auf Entschädigung wegen Freiheitsbeschränkung gestellt. Im Dezember 1955 lehnte das Wiedergutmachungsdezernat in Arnsberg diesen mit der Begründung ab, im Ausland sei das „Verhältnis als Jude zur Bevölkerung ganz anderer Natur“ gewesen.100 Der Betroffene verwies darauf, dass während der Besatzungszeit ähnliche Verhältnisse wie in Deutschland geherrscht hätten.101 Die Realität ausblendende Ablehnungsbegründungen lösten auch in anderen Fällen Empörung aus: „Ich hoffe“, so schrieb ein Antragsteller, „dass die sogenannten deutschen Wiedergutmachungsbehörden mich weiterhin mit ihren notorischen Verfälschungen von Tatsachen ihrerseits verschonen. In dem Falle wäre von vornherein jeder weitere Schriftwechsel nur zeitraubend und unnütz.“102 Die Tatsache, dass das Wiedergutmachungsdezernat Arnsberg bei den Beweis­anforderungen oftmals überaus restriktive Maßstäbe anlegte, sorgte ebenfalls für Unmut: „Ich bin zwar sehr intelligent, aber doch nicht so, dass ich nach 37 (!) Jahren (in Worten: siebenunddreißig Jahren) noch sagen kann, welchen Kaufpreis ich 1922 […] entrichtet habe.“103 Daneben 99 O. Sch., 18.1.1955, ebd., 428586. 100 RP, 31.12.1955, ebd., 430761. 101 Vgl. ebd. Die „Judensterne“, die er und seine Frau hatten tragen müssen, schickte er aus Protest an die Arnsberger Behörde. Sie befinden sich bis heute in den Akten. 102 G. H. St.-H., 14.11.1959, ebd., 600124. 103 Ders., o. D. [April 1959], ebd.

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beklagte sich ein nach Hagen zurückgekehrter Remigrant bei der Regierungsbehörde, weil von ihm beurkundete Aussagen in Abrede gestellt oder Angaben bezweifelt wurden, die er unter Eid gemacht habe: „Im übrigen erlaube ich mir zu bemerken, dass ich von der Wiedergutmachung […] restlos enttäuscht bin.“104 Wie groß das Misstrauen u. a. der nach Deutschland zurückkehrenden Juden war, zeigt ein weiteres Beispiel. Um die sogenannte Soforthilfe für Rückwanderer zu erhalten, mussten Remigranten eidesstattlich erklären, dass sie beabsichtigten, in Deutschland wieder ihren dauerhaften Wohnsitz zu nehmen. Ein aus Hagen stammender Jude, der 1964 aus Israel zurückkehren wollte, tat dies mit folgender Einschränkung: „Davon will ich allerdings den Fall ausnehmen, dass ich durch Krieg oder Verfolgung wiederum gezwungen würde, zu emigrieren.“105 Neben Empörung zeigt sich in den Entschädigungsakten oftmals auch Resig­ nation. So gab die Witwe eines Viehhändlers aus Hagen ihre Entschädigungsansprüche auf, nachdem sie erfahren hatte, dass die Erteilung eines Erbscheines aussichtslos sei: „Sehr geehrter Herr H., ich danke Ihnen wirklich von ganzem Herzen für Ihr Interesse, das Sie meiner Sache entgegenbringen, doch lassen wir die Sache ruhen, mich hat das alles so mitgenommen, dass ich auf die Weiter­ bearbeitung meiner Entschädigungsangelegenheit keinen Wert mehr lege.“106 Zum Teil reagierten die Antragsteller auch auf politische Ereignisse, die mit der deutschen NS-Vergangenheit in Verbindung standen, wie Adenauers Moskaureise, die 1955 die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus russischer Gefangenschaft zur Folge hatte. Die ehemaligen Kriegsgefangenen erhielten für jeden Monat Gefangenschaft eine pauschale Entschädigung, während die NS-Verfolgten ihre erlittene KZ-Haft erst beweisen mussten. Über diese ungerechte Behandlung der NS-Verfolgten empörte sich ein jüdischer Antragsteller: Bei Ihnen werden diese Kriegsverbrecher als Helden gefeiert, welche Millio­ nen Menschen vor und unter den Kriegen, vor dem Kriege uns gepeinigt und ermordet haben. Ich schäme mich, um den Schadensersatz zu betteln,

104 A. N., 27.9.1963, ebd., 618030. 105 I. N., 7.2.1964, ebd., 53744. 106 E. St., 23.10.1956, ebd., 53628.

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wenn diese sogenannten freigelassenen Kriegsgefangenen 3000 – 6000 Mark bekommen, ohne unter Beweis gestellt zu haben und ohne untersucht zu haben, dass diese schuldfrei sind. […] Wir müssen erst einen Lebenslauf beschreiben [sic!] und mit anderen Handlungen beweisen, ob wir überhaupt Deutsche waren, dass wir Anspruch haben auf Schadensersatz und diesen Verbrechern schmeissen sie das Geld ins Maul. Das ist ein Skandal ohne gleichen.107 Immer wieder erinnerten jüdische Verfolgte an das von ihnen als legitim empfun­dene Recht auf Wiedergutmachung. Ein Antragsteller, der 1952 aufgefordert wurde, angeblich zu viel erhaltene Rente zurückzuzahlen, erklärte, dass er dazu nicht in der Lage sei und, davon abgesehen, diese Rückforderung nicht einsehe: „Dass wir ein finanzielles und aber auch sehr großes moralisches Recht auf Wiedergutmachung haben, dürfte außer Frage stehen.“108 Rückforderungen von Leistungen erfolgten im Übrigen bezeichnenderweise ungleich kurzfristiger als Auszahlungen an die Antragsteller. Die jüdischen Verfolgten maßen die Wiedergutmachung, wie viele Beispiele zeigen, nicht allein an den politischen Bekundungen, sondern u. a. an der Realität. Wie frustrierend die Wiedergutmachungspraxis für die jüdischen Antragsteller oftmals war, macht auch ein fast wie eine Petition anmutender Brief des 76-jährigen Hermann R. an die nordrhein-westfälische Landesregierung deutlich.109 Er entschuldigte sich im Oktober 1954 für seine „Dreistigkeit“, diese überhaupt zu behelligen. Jedoch beklagte er, dass die zu erwartenden Beträge nur einen Bruchteil der ihm eigentlich für seinen Schaden zustehenden Summe darstellten. Er warte jeden Morgen auf Post und erlebe ständig eine Enttäuschung; sein und seiner Frau sehnlicher Wunsch sei es, dass dies endlich ein Ende nähme. Ein anderer Antragsteller machte deutlich, wie ernüchternd die Wiedergutmachungsrealität für ihn war und dass die Entschädigung nur eine begrenzte Wirkung habe: „Sie können dies niemals mit Geld wiedergutmachen. Meine gesamte Jugendzeit wurde versaut – Verwandte nach allen Himmelsrichtungen verjagt.“110

107 K. L., 1.12.1955, ebd., 423856, Hervorhebung im Original. 108 F. K., 1.7.1954, ebd., 25479. 109 Vgl. H. R., 27.10.1954, ebd., 422180. 110 K. L., 1.12.1955, ebd., 423856.

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Indes gab es auch positive Reaktionen auf die Wiedergutmachung. Sie verdeutlichen, welchen ideellen und persönlichen Wert sie im Sinne einer moralischen und rechtlichen Rehabilitation für die Verfolgten besitzen konnte. So bedankte sich ein früherer Rechtsanwalt für die positive Entscheidung über seinen Berufsschadensantrag. Dabei hob er besonders hervor, dass die Entschädigungsbehörde seine Angaben zur alleinigen Grundlage des Bescheids gemacht hatte: „Das bedeutet, dass mein bis zum Jahre 1933 einwandfreier Name nach Ablauf von mehr als 22 Jahren seine frühere Geltung wiedererhalten hat. Obwohl die in dem Bescheid mir zuerkannte Entschädigung mir durchaus zustatten kommt, hat die implicite ausgesprochene Wiederherstellung meines ehemaligen Ansehens und meines Namens mir eine unvergleichbar tiefere innere Befriedigung verschafft als irgendwelcher Geldes Wert. Dafür spreche ich der entscheidenden Behörde meinen tiefstgefühlten Dank aus.“111 Auch formalisierte Gesten wie Glückwünsche, die der Regierungspräsident betagten Verfolgten anlässlich ihrer Geburtstage zukommen ließ, wurden vielfach mit großer Dankbarkeit aufgenommen: „Sehr geehrter Herr Regierungspräsident, Ich danke Ihnen herzlichst für Ihre Glückwünsche zu meinem 75. Geburtstag. Ich habe mich mit Ihrem Schreiben so gefreut, dass mir dieser Tag zum wahren Festtag wurde. Seit vielen Jahren träume ich davon, noch einmal Deutschland wiederzusehen. Endlich bin ich soweit und reise noch in dieser Woche mit meiner Frau hier ab.“112 Alles in allem war die Reaktion der jüdischen NS-Verfolgten auf die Wieder­ gutmachung zwiespältig: Einerseits nahmen sie die politischen Bekundungen wahr, das begangene Unrecht wiedergutmachen zu wollen; andererseits wurden sie in der Praxis mit einer spröden und wenig verständnisvollen Entschädigungsbürokratie konfrontiert. Den völlig unzureichend auf ihre Aufgabe vorbereiteten Sachbearbeitern 113 fehlte oft das Verständnis für die besondere Situation der jüdischen Verfolgten. Das führte dazu, dass die Entschädigungsverfahren in der Praxis für die jüdischen Antragsteller zu einem oftmals langwierigen, psychisch überaus belastenden sowie ernüchternden Prozess wurden, der mit vielfachen Enttäuschungen verbunden war. Insgesamt hat die Wiedergut­machung sicherlich dazu beigetragen, dass sich jüdische NS-Verfolgte dem deutschen

111 P. H., 13.11.1955, ebd., 437764. 112 St., 15.4.1958, ebd., 420396. 113 Vgl. dazu den Beitrag von Julia Volmer-Naumann in diesem Band.

386 Marlene Klatt

Staat und der deutschen Gesellschaft wieder annäherten. Dabei wurden sie in gewisser Hinsicht moralisch rehabilitiert und erhielten zumeist eine zumindest teilweise angemessene materielle Kompensation, die oftmals eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lebens­situation zur Folge hatte. In der Regel war das Entschädigungsverfahren zudem sogar ein Anlass für erste Kontakte mit der alten Heimat. Doch auch wenn die Wiedergutmachung in vielen Fällen helfen konnte, materielle Schäden zu mindern, war die Wiedergutmachungspraxis kaum dazu geeignet, das persönliche Verfolgungstrauma zu lindern. Abgesehen davon machen die Erkenntnisse zur Entschädigungspraxis in Hagen, Arnsberg und Niedermarsberg zweierlei deutlich. Erstens war der Handlungsspielraum der einzelnen Mitarbeiter in den Wiedergutmachungs­ behörden jenseits der gesetzlichen Vorgaben durchaus beträchtlich. Denn anders als in Hagen, wo man sich redlich darum bemühte, die jüdischen Verfolgten im Rahmen des Möglichen zu entschädigen, legte die Amtsverwaltung in Niedermarsberg die Regelungen grundsätzlich zulasten der jüdischen Antragsteller aus, ja missachtete teilweise gar die bestehende Rechtsprechung und gestand den Verfolgten grundsätzlich möglichst geringe Ansprüche zu bzw. lehnte die Anträge auf Wiedergutmachung ab. Zweitens prallten im Entschä­ digungsverfahren unterschiedlichste Perspektiven und Blickwinkel aufeinander. Während die jüdischen Verfolgten nach den Jahren der Entrechtung auf ihr Recht auf Wiedergutmachung pochten, begegneten nicht wenige Mitarbeiter in der Entschädigungsbürokratie diesen Ansprüchen mit Misstrauen. Auch bagatelli­sierten einige Sachbearbeiter, ebenso wie zu den Verfolgungstat­ beständen befragte Zeugen, das Ausmaß der antijüdischen Verfolgung.

Register Begriffe wie Mannheim, Berlin oder Bruno Helmle, die besonders häufig erwähnt werden, wurden nicht in das Register aufgenommen. Fehlende Vornamen im Personenregister waren bisher leider nicht zu eruieren.

Personennamen A Achenbach, Ernst  304 Adelbert, Alwin  80 Adenauer, Konrad  383 Ahlers, Werner Dietrich  304, 305 Altschüler, Ernst  143 Altschüler, Roland  143 Amend, Karl  165, 189 Arnold  168 Asbury, William  331 Astel, Dr. Georg  191 B Baeck, Leo  63 Bankart  329 Barthel, Mina  248 Barthel, Paul  248 Bechthold, Georg  156 Bensinger, Adolf  39, 40, 261 – 283 Bensinger, Friedrich Julius  265 Bensinger, Karl  265, 268, 269, 274 Bensinger, Lissie  269, 271, 275 Berger, Andreas  108, 109 Bluhm, Norbert  139, 140 Bock, Robert M.  279 Bodenheim, Elsa  146 Bodenheim, Theodor  146 Boehle, Fritz  266, 267, 279 Boelcke, Oswald  215 Bonheur, Rosa  266, 267

Bourgogne  193 Brandner, Reinhard  106 – 110, 112 Brücklmeier, Andreas  112 Brüning, Heinrich  175 Brunnehild, Kläre  148 Brust, Magdalena  178 Bungert, Oskar  297 Bürckel, Josef  89, 90, 95, 100, 102 – 105 C Cahn, Alfred  300 Cahn, Kurt  300 Canaris, Wilhelm  275, 277 Carnier  175, 180 Cassirer, Paul  281 Chari, Anatol  311 Cohn, Simon  79 Conzen, Annemarie  274 – 276, 281 Conzen, Gabriele  274 – 276, 282 Conzen, Irmgard  274 – 276, 282 Corot, Camille  266, 267, 271 Cutivel, Hugo  80 D Dadieu, Armin  103, 106 Darmstädter, Alice  178 Darmstädter, Anna  178, 179 Darmstädter, Emil  178 Daumier, Honoré  39, 266, 267, 271 Dehler, Thomas  257

388 Register

Dexheimer  174 Dinnendahl, Hans  346, 347 Doebbeke, Conrad  282 Dufhues, Josef Hermann  345 Dunkler  112 E Eichmann, Adolf  105 Eichtersheimer, Ilse  157 Eichtersheimer, Leo  157, 158 Eichtersheimer, Netty  157, 158 F Fach, Joseph  279 Federlein, Max (Denny)  39, 236, 240, 249 – 258, 260 Fenichel, Else  206 Fenichel, Horst  37, 38, 205, 206, 209 – 220, 222, 224 – 231, 233 Fenichel, Ilse (geb. Herschkowitz)  206, 210, 233 Fenichel, Joel  206, 210, 213, 225, 233 Fenichel, Judis  206, 210, 213, 225, 233 Fenichel, Leon  206 Feuerstein, Ernst  61 Fischbach, Walter  156, 159, 184, 185 Fischböck, Hans  59, 104, 105 Fischer, Theodor  271 Frankenthal, Hans  313, 314, 317, 318, 377 Frank, Horst  202 Frenkel, Marcel  315, 325, 328 Frick, Wilhelm  105 Fröhlich, Hans  274, 275, 282 G Geis, Raphael  150 Gerlach, Theo  83 Goebbels, Joseph  86 Goebels, Heinrich  156, 184 Goldschmidt, Moritz  309 Göring, Hermann  15, 45, 59, 100, 105, 111

Greiling, Richard  138 H Hain  292 Harrison, Earl G.  312 Helmle, Hermann  166, 167 Hergenröder, Anton  258 Herschkowitz, Ernestine  206, 210, 233 Herschkowitz, Gideon  206, 210, 213, 225, 233 Herschkowitz, Herta  206, 210, 213, 233 Hessel, Joseph  266 Heydrich, Reinhard  59 Hilberg, Raul  64 Hitler, Adolf  171, 218, 273, 280, 291 Hodler, Ferdinand  266 Hoelzel, Adolf  267 Hynd, John  323 I Illner  195 J Jacobi, Emmi  153 Jacobi, Friedrich  12, 153, 154 Jacobsohn, Casper  57 Jaschkowitz, Clara  54 Jaschkowitz, Max  54 Jellinghaus  365 Joseph, Curt  50 – 53, 63 K Kaeferle, Martha  143, 144 Kahn, Liesel  300 Kahn, Luise  265 Kiesinger, Kurt Georg  168, 170, 186 Kirchfeld, Franz  296, 298 Kirchgäßner, Paul  170 Kissel, Wilhelm  295 Kitz, Wilhelm  319, 320 Kleinoscheg, Anton  108 Kluge, Hans  350, 353, 357, 358, 362

Personennamen 389

Knapp, Franz  201 Knapp, Julius  271 Köhler, Bernhard  60 Körber, Fritz  329 Krebs, Friedrich  68 Krugier-Poniatowski, Jan  278 Krugier-Poniatowski, Marie-Anne  278 Kühnle, Karl  249, 251 – 254 L Lange, Carl  80 Lange, Rudolf  62 Laroche-Ringwald, Louis  279 Lederer, Moritz  167, 172, 198 Lehr, Robert  319 Lenel, Alfred  265 Lenel, Victor  265 Lichtenhahn, Lucas  281 Liebermann, Max  39, 266 Lippert, Julius  60 Loewenstein, Julius  12 Löschnig, Franz  97 Lüdtke, Alf  113 Lührmann, Antonius  358, 359, 360, 361 M Manne, Moses  62 Manne, Nathan  62 Martin, Kurt  40, 269 – 272, 274, 277, 281, 283 Martzloff  172, 199 Marx, Max  80 Mattiß, Robert  247 Melchior, Carl  63 Mensching, Werner  320 Menzel, Adolf  39, 266, 271, 278 Meyers, Franz  344, 345, 355, 373 Morper, Johann Joseph (Josef )  244, 246, 247 Müller, Max  249, 252, 253, 255, 256

N Nachmann, Hans  300 Nachmann, Meta  291 Nachmann, Moritz  291, 292 Nagel, Fritz  271, 273, 276, 280, 282 Netter, Martha  153 Netter, Paul  153 Neuberger, Josef  360 Neumann, Bernhard  80 Neumann, Jenny  80 Ney  199 Niarchos, Stavros  281 O Oppenheimer, Max  80 P Perner, Georg  94, 95 Pick, Max  316, 317 Plato, Siegfried  271, 275 Prank, Willibald  350 Pringsheim, Alfred  17 Probst, Sebastian  192, 193 Q Quosigk, Arthur  80 R Radtke, Leo  358, 372, 377 Rafelsberger, Walter  91, 101 – 105, 108, 114 Raichle, Karl  196 Ranner, Richard  99, 100 Rappmann, Bruno  185, 188 Rauh, Josef  256 Reinemer, Carl  272 Reinhardt, Fritz  205 Reisewitz, Alfred  296, 297 Reiss, Paul  146 Renninger, Carl  141, 149 Renoir, Auguste  39, 266, 267, 271 Ritz, Joseph Maria  244

390 Register

Röhrig, Karl  370 Rösinger, Paul  152, 153 Ruddy  329 S Schaaf, Valentin  148 Schäfer, Georg  282 Schamberg, Felix  80 Scheidt, Bruno  81 Schindler, Willi  156 Schloss, Elsa  292, 301 Schloss, Franz  292, 300, 301 Schmidt, Erich  317 Schmidt, Kurt  153, 154 Schmuderer, Joseph  244 Schneider  188 Schreyer, Christian Adolf  267 Schrey, Max  294 Schrey, Wolf  294 Schulte, Eduard  279 Schwandt  182 Schwarz, Walter  23, 24, 121 Seak, Josef  106 – 108 Segantini, Giovanni  266, 267, 271, 279 Seyß-Inquart, Arthur  102, 104, 105, 184 Sichel, Elisabeth  300 Siebert, Ludwig  238 Siedersleben, Rudolf  295 Sonder, Alfred  41, 285, 288 – 299, 301 – 306 Sonder, Gerhard  306 Spiegel, Paul  11, 357, 358 Staiger  172 Steiner, Emilie  148 Stoll, Arthur  281 Strauss, Ludwig  83 Strauss, Max  83 Sulzberger, Max  292 Sulzberger, Paula  292 Süß, Carl  81, 82

T Thannhauser, Justin  281 Thoma, Hans  266, 267, 269, 271, 280 Troutbeck, John  321 Troyon  267 Trübner, Wilhelm  266 Tunk, Walter  258 U Uiberreither, Sigfried  107 Ulcar, Robert  107, 108, 111 Ulmer, Eugen  166 V van Gogh, Vincent  39, 266, 281 Vialon, Friedrich Karl  180, 181 von Baden, Großherzog Friedrich  265 von Kaulbach, Wilhelm  266 von Menges, Dietrich Wilhelm  302 von Morari, Franz  109 von Uhde, Fritz  266, 282 W Wagner, Robert  139, 140, 141 Wagner, Salomon  55 Walli, Otto  138 – 140 Wassermann, Angelo  241, 242 Wassermann, Emil  241, 242 Wassermann, Max  241 Wassermann, Oscar  241 Wassermann, Robert  259 Wassermann, Samuel  241 Wassermanns, Familie  39, 236, 240 – 242, 244, 245, 247, 249, 254, 259, 260 Weegmann, Luitpold  252, 257 Weichsel, Karl  108 Weil, Berthold  83 Weil, Jakob  305 Weill, Emanuel Marx  285 Weill, Leopold  41, 285 – 299, 301 – 303, 306 Weill, Löw  286

Orte 391

Weil, Ludwig  80, 84 Welker, Johann W.  298, 305 Wendland, Hans  272, 281 Wendland, Wilhelm  219 – 221 Wertheimer, Leopold  147 Wertheimer, Otto  281 Weyers, Heinrich  32 Weynen, Rudolf  291 Wichert, Fritz  267 Wiener, Alfred  48, 50

Will  244, 247, 248 Wimmer  245, 247 Wirtz, Rainer  203 Wolff, Otto  295 Z Zahneisen, Lorenz  249, 251 Zimmern, Angela  31, 32 Zimmern, Hugo  31 Zügel, Heinrich  266, 267

Orte A Ahlen (Westf.)  350 Amsterdam  48, 146 Arnsberg  19, 29, 43, 340, 350, 356, 358, 363 – 365, 367 – 379, 381, 382, 386 Auschwitz  53, 178, 209, 233, 275, 300, 313

D Detmold  340, 350, 356, 365, 379 Dortmund  300, 319 Duisburg  297 Düsseldorf  141, 293, 294, 300, 319, 340 – 343, 350 – 353, 358

B Bamberg  17, 39, 235, 236, 238, 240 – 242, 244, 245, 247 – 260 Basel  49, 279 – 281 Belsen  323, 325, 334 Bentschen  376 Bergen-Belsen  25, 312 Bern  280 Bochum  28, 314 Bonn  280, 288 Bremen  17, 96 Breslau  57, 312 Brilon  365

E Essen  303 – 305

C Coesfeld  356 Colombo  158

G Gelsenkirchen  356 Gladbeck  355, 356 Göttingen  17, 29, 42, 309, 310, 316 – 318, 329, 330, 334

F Flensburg  29, 41, 42, 309, 310, 315 – 319, 326, 327 – 330, 334 Frankenthal  265, 291, 292, 300 Frankfurt am Main  31, 34, 35, 37, 57, 65, 66, 68 – 70, 73, 75 – 81, 83 – 86, 147, 152, 167, 181, 246, 265, 279, 281, 294, 299 Freiburg  30, 139, 152, 169, 171 – 173, 188, 192, 193, 199, 201, 373 Fürth  83, 248, 258

392 Register

Graz  35, 89, 90, 92 – 94, 96, 97, 99, 101, 103, 106 – 110, 112 Guben  57 Gurs  178, 194, 302 H Hagen  19, 28, 43, 139, 145, 314, 363 – 368, 370 – 374, 376, 377, 380, 382, 383, 386 Hamburg  15, 16, 49, 93, 140, 155, 200, 315, 331 Hamm (Westf.)  28, 348, 349, 357, 376 – 379 Hannover  139, 147, 294, 329 Heidelberg  14, 163, 166 – 169, 176, 178 K Karlsruhe  28, 40, 139, 147, 164, 165, 168, 171 – 174, 176, 180, 183, 184, 189, 191, 198, 199, 268 – 274, 277, 281, 288, 306 Kiel  331 Kippenheim  285, 286 Köln  17, 139, 141, 155, 259, 295, 309, 314, 319, 340, 350, 353, 361, 379 Konstanz  38, 39, 159, 163, 165, 167, 170, 187, 191, 192, 193 – 198, 200 – 203 Krefeld  280 L Leibnitz  94 Leipzig  17, 47 Linz  280 London  58, 244, 256, 259, 278, 301, 321 Lübeck  310, 319 Luzern  271 M Mahlberg  286 Marburg  17, 106, 109 Meersburg  38, 165, 174, 191, 192, 194 – 196, 198 München  10, 18, 19, 154, 192, 238, 244, 254, 280, 294, 350

Münster (Westf.)  28, 42, 43, 336, 340, 343, 346, 348, 350 – 358, 361, 362, 369, 372 – 374, 376 N New York  146, 244, 259, 300 – 305 Niedermarsberg  19, 43, 363 – 365, 368, 369, 386 Nürnberg  19, 58, 72, 92, 119, 246, 301, 321 P Paderborn  356 Paris  48, 124, 169, 266, 281, 304 Prag  49 R Radolfzell  200 Rheydt  313 Riga  62, 180, 248 Rom  166 Rotterdam  155, 157, 183, 184 S Sachsenhausen  53 Schmallenberg  313, 314 Siegen  356 Stalingrad  192 St. Georgen  94 St. Moritz  271, 279, 280 Straßburg  164, 173 Stuttgart  173, 277, 300, 320 T Tel Aviv  259 Telgte  346 Theresienstadt  380 Triest  96, 108 W Washington  40, 262, 263, 277 – 279 Wesel  51

Firmennamen 393

Wien  30, 89, 91, 92, 94, 100 – 102, 104 – 110, 112, 114, 115, 117, 122, 124, 128, 299 Witten  17 Worms  292

Wuppertal  313 Z Zürich  280

Firmennamen A Adriane Fabrikation chemischer und kosmetischer Artikel GmbH  52 Allgemeine Optische Gesellschaft  83 Allgemeine Treuhand-Stelle für die jüdische Auswanderung GmbH  58 Andreas Brücklmeier u. Co Präge- und Gravieranstalt  112 B Bankhaus A. E. Wassermann  241 Bankhaus H. L. Hohenemser  265 Benteler Distribution Deutschland  306 Berliner Kraft- und Licht (Bewag)Aktiengesellschaft  38, 218 B. Kaufmann & Co.  143 Bunzl & Biach  124 C Commerzbank  50

Eugen und Hermann Herbst GmbH  138 F Felina  138 Ferrostaal AG  296, 297, 302, 303, 305, 306 Frankfurter Lebensmittelgroßhandel GmbH  81 Franz Haniel & Cie. GmbH  41, 138, 296 – 299, 303 – 306 Fuhrunternehmen Jaschkowitz  54 G Geschw. Gutmann  143 Gutehoffnungshütte Oberhausen (GHH)  41, 296, 297, 303 H Hartgummiwaren-Fabrik Victor und Alfred Lenel  265 Heller  124 Hermann Schmoller & Co. (= Warenhaus Hermann Schmoller)  138 Hopfenhandlung Leopold Federlein  249

D Daimler-Benz AG  295 de Hondecoeter, Melchior  266 Deutsche Bank  38, 220, 226 – 228, 241 Deutsche Emulsions-GmbH  83 Drogeriegeschäft Kopp & Joseph  51 – 53

J Jüdischer Kreditverein für Handel und Gewerbe eGmbH  54

E Eisen-Stahl- & Messingwaarenhandlung Löb Weill  287 Eisenwarenhandlung A. Nauen  287

K Kanzlei Schulte zur Hausen-Leveloh  303 Kaufhaus M. Nachmann  291 Kaufhaus Vetter  157, 185

394 Register

Kaufhaus Wertheim  18 Konfektionsunternehmen Treitel & Meyer  58 Kunst- und Auktionshaus Fritz Nagel  40, 271, 273, 275 – 277, 279, 282 L Lange & Cutivel vorm. M. L. Rosenstein  80, 81 Lebensmittelgroßhandlung Bruno Scheidt  81 Ledergroßhandlung Bonyhady  94 Lederhandlung Schwarz  95 Leon Fenichel GmbH  206 M Mannesmann  40, 291, 295 Mannheimer Wach- und Schließgesellschaft  139 Mendl & Schönbach  122 M. Goldschmidt  281 M. L. Rosenstein  80 Modehaus Hermanns & Froitzheim  79 N Nordische Kakao- und Schokoladenfabrik Ruschig & Müller  318 O Obst- und Gemüsehandlung Wagner  55 Olla  124 Otto Wolff  296 P Palästina-Treuhandstelle zur Beratung deutscher Juden GmbH  58 Putzgroßhandlung Hugo Zimmern  31 R Radioaktiengesellschaft D. S. Loewe  18 R. Altschüler  143 Rheinische Gummi- u. Celluloid-Fabrik  265, 266, 268

Rhenania  138, 299 Röhrengrosshandlung Leopold Weill (Leopold Weill OHG)  40, 41, 285, 288, 289, 291 – 299 Röhrengroßhandlung Nussbaum  294 Röhrenlager Mannheim AG  41, 297, 298, 300 – 303, 306 Röhrenverband GmbH Düsseldorf  293, 294 Rohtabakgroßhandlung Carl Süß  81 S Sandoz AG  281 Schuhhandelsgeschäft Jacobsohn  57 Schuhhaus F. Ehrenfeld  74 Schwab & Heizmann  141 Sparkasse Frankfurt  279 Speditionsfirma Pötsch & Rössler  96 Süddeutsche Bewachungsgesellschaft m. b. H.  140 Süddeutsche Nährmittel GmbH  83 T Textilgroßhandlung Weil, Marx & Co.  80, 81, 84 U Ultrazell GmbH  52 V Vereinigte Stahlwerke  40, 291, 295 W Warenhaus Kander  143 Wäschegeschäft Geschwister Cohn  79 Wasserdichte Wäsche Lenel, Bensinger & Co.  265, 268 Weißwarenhandlung Nathan Manne  62

Firmennamen 395

MEIKE HOPP

KUNSTHANDEL IM NATIONALSOZIALISMUS: ADOLF WEINMÜLLER IN MÜNCHEN UND WIEN

Adolf Weinmüller (1886–1958) betrieb seit 1921 eine Kunsthandlung in München und eröffnete 1936 – nachdem der jüdische Kunsthändler Hugo Helbing sein Auktionshaus hatte schließen müssen – das in den Folgejahren nahezu konkurrenzlose „Münchener Kunstversteigerungshaus Adolf Weinmüller“. Zu seinem Kundenkreis gehörten NSDAP-Funktionäre wie Martin Bormann oder Händler wie die Galeristin Maria Almas-Dietrich, die gezielt Werke an Hitlers „Sonderauftrag Linz“ vermittelte. Nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 arisierte Adolf Weinmüller auch das Traditionshaus der jüdischen Kunsthändlerfamilie Kende in Wien. Nicht nur für die Provenienzforschung, auch für Forschungen zum Kunsthandel in der Zeit des Nationalsozialismus spielt Adolf Weinmüller eine wichtige Rolle. Seine Person und seine Aktivitäten zwischen 1936 und 1945 stehen im Zentrum dieses Bandes, der aus einem gemeinsamen Projekt des Münchener Kunstauktionshauses Neumeister und des Zentralinstituts für Kunstgeschichte München hervorgeht. 2012. 411 S. 48 S/W-ABB. FRANZ. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-20807-3

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

HARTMUT KRONES (HG.)

GEÄCHTET, VERBOTEN, VERTRIEBEN ÖSTERREICHISCHE MUSIKER 1934 – 1938 – 1945 (SCHRIFTEN DES WISSENSCHAFTSZENTRUMS ARNOLD SCHÖNBERG, BAND 1)

Der Band „Geächtet, verboten, vertrieben“ faßt die Ergebnisse einer Reihe von Symposien zusammen, die das am Institut für Musikalische Stilforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien beheimatete „Wissenschaftszentrum Arnold Schönberg“ in den letzten Jahren in Wien, Linz, New York, Mexico City und Jalapa durchgeführt hat. Thema ist insbesondere die 1938 bis 1945 stattfindende Ächtung, Vertreibung und Ermordung zahlreicher österreichischer Musiker und Komponisten durch die Nationalsozialisten, doch werden auch der Entzug jeglicher Lebensgrundlagen, der ab 1934 die in einem Naheverhältnis zur Sozialdemokratie stehenden Komponisten traf, sowie das damalige Verbot aller sozialdemokratischen Kulturvereinigungen in den Blick genommen. 2014. 608 S. ZAHLR. S/W-ABB. UND NOTENBSP. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-77419-8

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar