Argentinische Rechtstheorie und Rechtsphilosophie heute [1 ed.] 9783428463053, 9783428063055

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Argentinische Rechtstheorie und Rechtsphilosophie heute [1 ed.]
 9783428463053, 9783428063055

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Argentinische Rechtstheorie u n d Rechtsphilosophie heute

Schriften

zur

Rechtstheo

Heft 125

Argentinische Rechtstheorie und Rechtsphilosophie heute

Herausgegeben von

Eugenio Bulygin u n d Ernesto Garzón Valdés

DUNCKER

&

HUMBLOT

/

BERLIN

Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Argentinische Rechtstheorie und Rechtsphilosophie heute / hrsg. von Eugenio Bulygin u. Ernesto Garzón Valdés. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1987. (Schriften zur Rechtstheorie; H. 125) ISBN 3-428-06305-8 NE: Bulygin, Eugenio [Hrsg.]; GT

Alle Rechte vorbehalten © 1987 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3-428-06305-8

Inhaltsverzeichnis

Eugenio Bulygin / Ernesto Garzón Valdés Einleitung: Ursprung und Entwicklung der analytischen Rechtsphilosophie in Argentinien

7

I . Grundlegung und Grenzen der sprachlichen Struktur von Normen Carlos E. Alchourrón und Eugenio Bulygin Expressive Konzeption der Normen

15

Genaro R. Carrió Grenzen der normativen Sprache am Beispiel des Rechts

47

Ricardo A. Guibourg Normative Selbstreferenz und Verfassungskontinuität

73

Carlos Santiago Nino Begriff und Rechtfertigung der ursprünglichen verfassungsgebenden Gewalt

.

85

I I . Aufbau, Struktur und Rationalität der Rechtsordnung Jorge A. Bacqué Stufenbau der Rechtsordnung oder Einebnung der Normenpyramide?

111

Ricardo Alberto Caracciolo Rechtsordnung, System und Voraussagen des Rechts

117

Roberto J. Vernengo Systematisierung und Rationalisierung in Rechtsdogmatik und richterlicher Entscheidungsfindung 133 JoséM. Vilanova Konstruktion und Rekonstruktion der Rechtsordnung

143

6

Inhaltsverzeichnis I I I . Rechtfertigung und Legitimation von Recht und Staat

Martin Diego Farrell Ableitung eines Minimalstaates

153

Ernesto Garzón Valdés Allgemeine positive Pflichten und ihre Begründung

167

Antonio A. Martino Bemerkungen zur begrifflichen Bestimmung der Diktatur

189

Eduardo Rabossi Mensch und Moralität

217

Die Autoren dieses Bandes

237

Bibliographie

237

Personenregister

241

Einleitung: Ursprung und Entwicklung der analytischen Rechtsphilosophie in Argentinien Mit erheblicher Verspätung kam die analytische Philosophie nach Argentinien wie nach Lateinamerika überhaupt. Die Philosophie, die bis dahin in Universitäten und akademischen Zentren zugelassen und gepflegt wurde, war fast ausschließlich die Philosophie der deutschen und französischen Tradition (Kantianismus, Phänomenologie, Existenzialismus, in geringerem Maße Hegelianismus und Thomismus) - und ist es in beträchtlichem Maße auch heute noch. Die ersten Arbeitsgruppen zum Studium der analytischen Philosophie bildeten sich in den 40er und 50er Jahren im Umfeld von Wissenschaftlern der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität von Buenos Aires, die sich für moderne Logik interessierten. Mario Bunge und Gregorio Klimovsky kamen von der Physik, Rey Pastor von der Mathematik, Rolando Garcia von der Meteorologie. Das zweite bedeutende Zentrum entstand in der zweiten Hälfte der 50er Jahre an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität von Buenos Aires, genauer am Institut für Rechtsphilosophie, das unter der Leitung von Ambrosio L. Gioja stand. Mit Ausnahme des Zeitraums von 1956 bis 1966, in dem Bunge eine Professur für Wissenschaftsphilosophie und Klimovsky den Lehrstuhl für Logik innehatte, war die analytische Philosophie an der Philosophischen Fakultät bis in allerjüngste Zeit nämlich bis zum Amtsantritt der demokratischen Regierung von Präsident Raùl Alfonsin Ende 1983 - nicht vertreten. Der analytische Schwerpunkt des Instituts für Rechtsphilosophie war der einzige, der sich an der Universität von Buenos Aires in all diesen schwierigen und leidvollen Jahren behaupten konnte, wenngleich auch er, wie wir im folgenden sehen werden, in den politischen Krisen, die das argentinische Universitätsleben in den Jahren 1966, 1973, 1974 und 1976 erschütterten, zahlreiche schwere Verluste erlitt. Das Institut geht zurück auf die Initiative von Carlos Cossio, Professor für Rechtsphilosophie an den Universitäten von La Plata (1935 - 45) und Buenos Aires (1946 - 55) und als Begründer der egologischen Rechtstheorie auch international bekannt. Ihm ist es zu verdanken, daß die Rechtsphilosophie in den 40er und 50er Jahren einen starken Aufschwung nahm. Wenn auch sein theoretischer Einfluß in den nachfolgenden Jahren deutlich zurückging, da sich seine Art des Philosophierens - die sich durch gewagte Globalentwürfe und wenig Präzision in der Argumentation auszeichnete - mit dem nüchternen

8

Einleitung

Stil der analytischen Philosophen nicht vertrug, so muß man dennoch seine Bedeutung als Lehrer hervorheben. Fast alle Rechtsphilosophen, die in den 40er und 50er Jahren aktiv wurden, waren von seinem Denken beeinflußt. Viele, denen später eine herausragende Stellung zukam, wie Genaro R. Carrió, Julio Cueta Rùa, Ambrosio L. Gioja, Roberto J. Vernengo, José M. Viianova usw., waren ursprünglich Schüler oder Mitarbeiter von ihm. Gioja, der sich aus politischen Gründen von Cossio distanziert hatte, löste diesen 1955 auf dem Lehrstuhl und in der Leitung des Instituts ab. Obwohl er der phänomenologischen und orthodox-kelsenianischen Schulrichtung zuneigte, fand Gioja zu einer für andere philosophische Strömungen offenen Haltung. Im Laufe der Zeit interessierte er sich zunehmend für die analytischen Autoren, vor allem unter dem Einfluß von Carlos Aichourron, der - obgleich sehr viel jünger - die analytische Philosophie am Institut für Rechtsphilosophie einführte und überzeugend vertrat. Dabei ist anzumerken, daß schon Cossio trotz seiner kritischen Haltung gegenüber der analytischen Philosophie das Studium von Autoren wie Alf Ross, Alfred Tarski und Georg Henrik von Wright angeregt hatte; es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß Cossio schon 1953 ein Seminar über von Wrights „Deontic Logic" abhielt, die erst knapp zwei Jahre zuvor veröffentlicht worden war und später große Berühmtheit erlangen sollte. Aber erst unter der Leitung von Gioja wurde das Institut in den 60er Jahren zu einem Schwerpunkt der analytischen Philosophie. Ludwig Wittgenstein, Rudolf Carnap, Alfred Tarski, George Moore, Charles Stevenson, Georg H. von Wright sind die am eifrigsten studierten und gelehrten Autoren dieser Jahre. In der Rechtsphilosophie erscheinen neben Kelsen die Namen Alf Ross und H. L. A . Hart, deren Hauptwerke (On Law and Justice und The Concept of Law) von Carrió 1965 ins Spanische übersetzt wurden, lange vor jeder Übersetzung in eine andere Sprache. Im Jahre 1965 erschien dann das erste wichtige rechtsphilosophische Werk eines Argentiniers, das zweifelsfrei der analytischen Strömung zuzurechnen ist: Notas sobre Derecho y Lenguaje (Bemerkungen über Recht und Sprache) von Genaro R. Carrió. Von 1964 bis 1969 wurde unter Leitung von Gioja die Zeitschrift Notas de Filosofia del Derecho (Anmerkungen zur Rechtsphilosophie) herausgegeben. Wichtige ausländische Denker statteten ihre Besuche ab: 1965 Alf Ross, Héctor-Neri Castaneda, Eduardo Garcia Mâynez und Peter F. Strawson; 1966 Chaim Perelman und Ulrich Klug; 1968 Georg H. von Wright. Zu den Mitarbeitern Giojas aus der ersten Phase gehörten Carlos Aichourron, Maria Isabel Azaretto, Jorge Bacqué, Eugenio Bulygin, Genaro R. Carrió, Remo Entelman, Moisés Nilve, Eduardo Rabossi, Horacio Solari, Roberto J. Vernengo. Später kamen Ricardo Caracciolo, Martin Farrell, Ernesto Garzón Valdés, Ricardo A . Guibourg, Antonio Martino, Carlos S. Nino, Maria Eugenia Urquijo und viele andere dazu. Mehr als einhundert Dozenten waren im Laufe der Zeit am Institut tätig.

Einleitung

Im Jahre 1966 erfolgte ein Militärputsch, der die demokratische Regierung stürzte und General Juan Carlos Ongania an die Macht brachte. Dieser errichtete eine Diktatur nach dem Muster des Franco-Regimes in Spanien. Schon kurz nach dem Putsch wurden die Universitätsbehörden abgesetzt, Polizei drang in die Universität ein und verprügelte Professoren und Studenten. Aus Protest legten zahlreiche Professoren ihre Ämter nieder. Die Gruppe um Gioja blieb an der Universität, aber einige ihrer Mitglieder - darunter auch Carrió und Rabossi - entschieden sich, ihre akademischen Posten aufzugeben. 1971 starb Gioja, sein Nachfolger wurde Vernengo. Für die Universität wie für das ganze Land begann eine Zeit großer Unruhe. Im Gefolge des peronisrischen Wahlsieges von 1973 fiel die Universität in die Hände linksperonistischer Gruppen von dogmatisch-marxistischer Tendenz. Zahlreiche Professoren wurden wegen des Verdachts, einer bürgerlich-liberalen Ideologie anzuhängen, entlassen. Im Jahre 1974 lieferte die peronisrische Regierung, jetzt schon unter der Führung von Isabel Perón, die Universität an deutlich faschistisch ausgerichtete Gruppen aus. Wieder wurden viele Professoren fristlos entlassen, diesmal unter dem Vorwurf, links-liberal zu sein, unter ihnen Vernengo und Garzón Valdés, die nach Mexiko bzw. in die Bundesrepublik Deutschland gingen. Das Institut wurde philosophisch unbedeutenden Personen unterstellt, die sich allein durch ihre bedingungslose Unterstützung des politischen Regimes hervortaten. 1976 folgte ein weiterer Militärputsch, und wie üblich Schloß sich eine erneute Säuberungswelle unter den Universitätsprofessoren an. Wie viele andere mußten nun auch Bacqué, Martino und Caracciolo die Universität verlassen. Inmitten dieses Klimas der Unsicherheit und der politischen Verfolgungen unter verschiedenen ideologischen Vorzeichen beschloß eine Gruppe von Philosophen und Wissenschaftlern die Gründung einer privaten Gesellschaft, um in diesem Rahmen das fortzuführen, was innerhalb der Universität unmöglich geworden war: die freie Diskussion philosophischer Gedanken. Dies war der Ursprung der SADAF (Sociedad Argentina de Anâlisis Filosofico - Argentinische Gesellschaft für philosophische Analyse). Sie wurde 1972 auf Initiative von Rabossi gegründet, der ihr erster Generalsekretär und später bis 1984 ihr Präsident war. Die SADAF begann ihre Arbeit mit der Organisation akademischer Treffen, bei denen unveröffentlichte Arbeiten ihrer Mitglieder gelesen und diskutiert wurden, ein wenig im Stil der Philosophical Society von Oxford. Tatsächlich entstand die Idee zur Gründung der SADAF unmittelbar in Oxford, wo in den Jahren 1968 - 70 Bulygin, Carrió, Rabossi und Thomas Moro Simpson zufällig zusammentrafen. Aufgrund des unerträglichen politischen Klimas an der Universität fand die SADAF schon sehr bald großen Zuspruch. Immer mehr Seminare, Studienzirkel, Kurse und Vorträge ausländischer Philosophen wurden organisiert. In den ersten 15 Jahren ihres Bestehens folgten zahlreiche Philosophen den Einladungen der SADAF, darunter H. Albert, K. O. Apel,

10

Einleitung

J. Bochenski, D. Davidson, R. Hilpinen, F. Miro Quesada, T. Nagel, E. Sosa, B. Williams, G. H. von Wright und viele andere. Von den Rechtsphilosophen, die in dieser Zeit bei der SADAF Seminare und Vorlesungen abhielten, sind besonders A . Aarnio, N. Bobbio, E. Diaz, R. Dworkin, A . Peczenik, J. Raz, Ο. Weinberger und J. Wroblewski zu nenen. Heute ist die SADAF mit ihren über 200 Mitgliedern das wichtigste philosophische Forum des Landes. Sie ist Mitglied der Fédération Internationale des Sociétés de Philosophie (FISP) und der Sociedad Interamericana de Filosofia (Interamerikanische Gesellschaft für Philosophie). Alle Bereiche der Philosophie sind in der SADAF vertreten; die Rechtsphilosophen bilden nur eine Untergruppe, wenn auch eine der zahlenmäßig stärksten innerhalb der SADAF. Die Autoren der im vorliegenden Band zusammengestellten Aufsätze gehören zur ersten Generation der Rechtsphilosophen von SADAF. Aus Platzgründen müssen die Arbeiten jüngerer Mitglieder, die es unter dem Gesichtspunkt ihrer Qualität durchaus verdienten, vorgestellt zu werden, auf eine spätere Gelegenheit warten. Die Arbeiten, die hier nun in deutscher Sprache veröffentlicht werden, stecken thematisch ein so weites Feld ab, daß das aktuelle Spektrum der argentinischen Rechtsphilosophie damit ziemlich getreu widergespiegelt wird. Die analytischen Rechtsphilosophen haben auf allen Gebieten einer Philosophie des Rechts, aber auch auf benachbarten Gebieten gearbeitet. Alle hier vertretenen Autoren haben Beiträge zur Rechtstheorie geleistet, viele von ihnen haben sich darüber hinaus mit speziellen Themengebieten befaßt, so z.B. mit Normenlogik (Aichourron, Bulygin, Guibourg, Vernengo), Ethik (Farrell, Garzón Valdés, Nino, Rabossi), Politischer Philosophie (Farrell, Garzón Valdés, Martino, Nino), Handlungstheorie (Guibourg, Nino) und Rechtsinformatik (Guibourg, Martino). Einige der Autoren dieses Bandes sind auch im deutschen Sprachraum bestens bekannt, vor allem durch ihre Publikationen im „Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie" und in „Rechtstheorie". Vier von ihnen (Alchourrón, Bulygin, Garzón Valdés und Vernengo) figurieren in dem schon 1965 von Ernesto Garzón Valdés herausgegebenen Sammelband Lateinamerikanische Studien zur Rechtsphilosophie (ARSP Beiheft 41 - Neue Folge 4, Luchterhand), der einen allgemeinen Überblick über das vielfältige Panorama der Theorie und Philosophie des Rechts in Lateinamerika vermittelte. Demgegenüber ist der vorliegende Band die erste Anthologie argentinischer analytischer Rechtsphilosophie nicht nur in deutscher Sprache, sondern überhaupt. Der Leser erhält hier erstmals eine zusammenfassende Darstellung der argentinischen Theorie und Philosophie des Rechts in analytischer Perspektive. Drei der Autoren dieses Bandes (Bulygin, Garzón Valdés und Nino) sind ehemalige Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung, ohne deren

Einleitung

finanzielle Unterstützung die Veröffentlichung dieses Werkes nicht möglich gewesen wäre. Der Stiftung und ganz besonders ihrem Generalsekretär Dr. Heinrich Pfeiffer sind wir zutiefst dankbar. Unser Dank gilt auch Jutta Breitenstein, Ulrike Wolf und Ruth Zimmerling für ihren Einsatz und ihre Mühe bei der Übersetzung der hier publizierten Texte ins Deutsche. Unser Kollege Werner Krawietz hat die Vorbereitung dieser Anthologie von Anfang an gefördert, er hat die Kontakte zum Verlag Duncker & Humblot hergestellt und die übersetzten Manuskripte mit großer Geduld von sprachlichen Unebenheiten befreit. In diesem Sinne ist er durchaus als Mitherausgeber dieses Buches anzusehen. Der Dank der Herausgeber gilt schließlich dem Generalbevollmächtigten und Geschäftsführer des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Rechtsanwalt Norbert Simon, der dem von uns verfolgten Anliegen einer Darstellung der argentinischen Rechtstheorie und Rechtsphilosophie mit großer Aufgeschlossenheit entgegengekommen ist. Eugenio Bulygin Buenos Aires

Ernesto Garzón Valdés Mainz

Ι · Grundlegung und Grenzen der sprachlichen Struktur von Normen

Expressive Konzeption der Normen Von Carlos E. Aichourron und Eugenio Bulygin* I. Zwei Auffassungen der Normen Im letzten Jahrzehnt sind Fragen nach dem ontologischen Status und den logischen Eigenschaften von Normen nicht nur von Rechts- und Moralphilosophen, sondern auch von einer ständig wachsenden Zahl „deontischer" Logiker verstärkt diskutiert worden. Dennoch wurde eine beträchtliche Anzahl sehr grundlegender Probleme offensichtlich nicht gelöst. Sie bleiben nach wie vor bestehen. Eines dieser Probleme ist die Frage nach der Möglichkeit einer Logik der Normen. Einige Autoren sind der Ansicht, es gebe logische Beziehungen zwischen Normen, und sprechen sich daher für die Entwicklung einer spezifischen Logik der Normen aus. Sie wird gelegentlich „deontische Logik" genannt, obwohl „normative Logik" vielleicht ein treffenderer Name wäre. 1 Andere weisen schon die Möglichkeit einer solchen Logik zurück, da es in ihren Augen keine logischen Beziehungen zwischen Normen gibt. Ihrer Meinung nach kann deontische Logik nur die Form einer Logik normativer Propositionen annehmen, das heißt (wahrer oder falscher) Propositionen über (die Existenz von) Normen. 2 Ein anderes Grundproblem bzw. ein anderer Aspekt desselben Problems, über das keine Einigkeit herrscht, ist die Beziehung von Normen zur Wahrheit: während einige Autoren ohne weiteres Normen einen Wahrheitswert zuschreiben, 3 lehnen andere entschieden ab, daß Normen als wahr oder falsch angesehen werden können. Diese Frage hängt mit der ersten zusammen, allerdings auf ziemlich undeutliche Weise. Diejenigen Autoren, die glauben, daß Normen einen Wahrheitswert besitzen, akzeptieren sicherlich auch die Möglichkeit einer Logik der Normen. Das Umgekehrte gilt aber nicht: die Anerkennung logischer Beziehungen zwischen Normen führt nicht zwingend zu der Ansicht, daß Normen einen Wahrheitswert besitzen.4 * Wir möchten David Makinson unseren Dank für seine hilfreichen Bemerkungen und die Korrektur von Stil und Inhalt ausdrücken. 1 Vgl. Kalinowskis Diskussion dieser Ausdrücke in Kalinowski 1978. 2 Vgl. D. F0llesdal und R. Hilpinen, Deontic Logic: A n Introduction, in Hilpinen 1971. 3 U. a. Kalinowski und Rödig.

16

Carlos E. Alchourrón und Eugenio Bulygin

Eine dritte und mit dem vorhergehenden anscheinend nicht verwandte Frage ist die nach den Erlaubnisnormen. Eine große Zahl von Philosophen, vor allem Rechtsphilosophen, bestreiten die Existenz von Erlaubnisnormen und lassen nur einen Normentyp (Gebotsnormen, Imperative, Befehle) zu. Logiker und Juristen tendieren, obwohl vermutlich aus unterschiedlichen Gründen, in geringerem Maße zu einer solchen monistischen Auffassung und haben keine Bedenken, von Erlaubnisnormen zu sprechen (unabhängig davon, ob diese eine autonome Kategorie bilden oder auf Gebote zurückgeführt werden können). Schuld an diesen Diskrepanzen ist zu einem großen Teil die Tatsache, daß die Autoren bisweilen von zwei radikal verschiedenen und unvereinbaren Auffassungen der Natur der Normen ausgehen, die - wenn überhaupt - selten explizit dargestellt werden. Eine kurze Charakterisierung dieser Auffassungen könnte vielleicht erkennen helfen, warum verschiedene Verfasser verschiedene und sogar diametral entgegengesetzte Ansichten über einige ganz grundlegende Eigenschaften von Normen vertreten. Diese beiden Auffassungen werden im folgenden als hyletische bzw. expressive Konzeption der Norm bezeichnet. Für die hyletische Auffassung sind Normen propositionsartige Entitäten, also Bedeutungen bestimmter Ausdrücke, die normative Sätze genannt werden. Ein normativer Satz ist der linguistische Ausdruck einer Norm, und eine Norm wird angesehen als die Bedeutung eines normativen Satzes, ganz ähnlich wie eine Proposition als die Bedeutung (der Sinn) eines deskriptiven Satzes betrachtet wird. Aber normative Sätze haben anders als deskriptive Sätze eine präskriptive Bedeutung: daß etwas der Fall sein (oder getan werden) soll oder darf. Bei dieser Auffassung sind Normen nicht sprachabhängig; sie können zwar nur mit linguistischen Mitteln ausgedrückt werden 5 , aber ihre Existenz ist von jeglichem linguistischen Ausdruck unabhängig. Es gibt Normen, die noch in keiner Sprache ausgedrückt worden sind und vielleicht niemals ausgedrückt sein werden. Eine Norm ist - von diesem Standpunkt aus gesehen - eine abstrakte, rein gedankliche Entität. Normen sind aber von deskriptiven Propositionen nicht unabhängig: sie sind das Ergebnis einer Operation auf solchen Propositionen. In einer Norm ,Op' z.B. finden wir zwei Komponenten: eine deskriptive Proposition ρ und einen normativen Operator Ο, die beide zum begrifflichen Inhalt der Norm gehören. In diesem Sinne gleichen normative Operatoren modalethischen Operatoren, und eine Norm ist eine Proposition ganz in dem Sinne, in dem eine Proposition wie Np als Proposition angesehen wird. 4

Vgl. G. H. von Wright 1963, Weinberger 1977. Der Ausdruck „Sprache" ist im weiteren Sinne zu verstehen; eine Geste, ein Blick, eine Verkehrsampel sind in diesem Sinne linguistische Ausdrücke. 5

Expressive Konzeption der Normen

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Normen sind zu unterscheiden von normativen Propositionen, d.h. von deskriptiven Propositionen, die aussagen, daß ρ geboten (verboten oder erlaubt) ist gemäß irgendeiner bestimmten Norm oder Menge von Normen. Auch normative Propositionen, die als Propositionen über Mengen (Systeme) von Normen angesehen werden können, enthalten normative Ausdrücke wie »geboten 4 , ,verboten 4 usw., aber diese haben rein deskriptive Bedeutung. 6 Im folgenden werden die Symbole ,0' und ,P4 zur Bezeichnung dieser deskriptiven deontischen Operatoren benutzt. Für die expressive Auffassung hingegen sind Normen das Ergebnis eines präskriptiven Gebrauchs von Sprache. Ein Satz, der die gleiche Proposition ausdrückt, kann bei verschiedenen Gelegenheiten für verschiedene Dinge gebraucht werden: behauptend, fragend, befehlend, vermutend usw. Das Ergebnis der Durchführung dieser Handlungen ist dann eine Behauptung, eine Frage, ein Befehl oder eine Vermutung. Der Unterschied zwischen Behauptungen, Fragen, Befehlen usw. entsteht nur auf der pragmatischen Ebene des Sprachgebrauchs; auf der semantischen Ebene gibt es einen solchen Unterschied nicht. So kann ζ. B. die in dem Satz „Peter legt das Buch auf den Tisch" ausgedrückte Proposition gebraucht werden als eine Behauptung (Peter legt das Buch auf den Tisch.), als eine Frage (Legt Peter das Buch auf den Tisch?) oder als ein Befehl (Peter, leg das Buch auf den Tisch!). Die Zeichen und ,!' werden gebraucht zur Anzeige der Art (Behauptung oder Gebot) des von einem (ungenannten) Sprecher durchgeführten linguistischen Aktes. Diese Zeichen sind nur Hinweise auf das, was der Sprecher tut, wenn er bestimmte Worte äußert, sie tragen aber nichts zur Bedeutung (d.h. zum begrifflichen Inhalt) der geäußerten Worte bei. Sie zeigen, was der Sprecher tut; der aber sagt nicht, was er tut, während er es tut; also sind sie nicht Teil von dem, was er aussagt oder was seine Worte bedeuten. Der Ausdruck ρ 4 gibt an, daß ρ behauptet wird, und ,!p 4 zeigt an, daß ρ befohlen wird, während ,Op 4 eine Proposition ausdrückt, daß ρ sein (getan werden) soll. ,Op 4 ist also das Symbol für eine Norm in der hyletischen Auffassung, während ,!p 4 eine Norm in der expressiven Auffassung symbolisiert. Es muß noch einmal unterstrichen werden, daß die Ausdrücke ,!p' und p 4 nicht die Tatsache beschreiben, daß ρ befohlen oder behauptet wurde. Die Sätze „ A behauptet, daß p" und „ A befiehlt, daß p" drücken sicherlich Propositionen aus, die bestimmte Sprechakte beschreiben, aber sie sagen nicht, was mit diesen Propositionen getan wird: sie können jeweils behauptet, hinterfragt, befohlen werden usw. Aber ,!p 4 und ,h p 4 drücken überhaupt keine Proposition aus, obwohl sie mit Hilfe der Proposition ρ konstruiert sind; sie haben folglich keinen Wahrheitswert und können weder negiert noch mit6 Vgl. Alchourrón und Bulygin , Von Wright on Deontic Logic and the Philosophy of Law, in P. A. Schilpp (ed.), The Philosophy of Georg Henrik von Wright, Library of Living Philosophers, La Salle, Illinois (demnächst).

2 Bulygin / Garzón Valdés

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Carlos E. Alchourrón und Eugenio Bulygin

tels propositionaler Operationen kombiniert werden. 7 Was ein Sprecher bei einer bestimmten Gelegenheit tut, kann von ihm nicht (bei derselben Gelegenheit) gesagt werden; es kann nur durch eine Geste, eine bestimmte Hebung der Stimme oder irgendein besonderes Zeichen angedeutet werden, aber diese Mittel zeigen nur den Modus an, in dem der Satz gebraucht wird; sie bilden keinen Teil von dem, was der Satz aussagt (d.h. von seinem begrifflichen Inhalt). Für die expressive Auffassung sind Normen hauptsächlich Befehle, aber sie sind sorgfältig zu unterscheiden von Propositionen, die feststellen, daß eine bestimmte Norm existiert oder daß ρ geboten oder verboten ist, also von normativen Propositionen. Normative Propositionen hängen mit Normen auf folgende Weise zusammen: wenn ρ befohlen wurde, dann ist die Proposition, daß ρ geboten ist, wahr. Wenn ~ ρ (die Unterlassung von p) befohlen wurde, dann ist wahr, daß ρ verboten oder - was dasselbe ist - daß ~ ρ geboten ist. Die beiden Auffassungen von Normen sind radikal verschieden und unvereinbar; für einen irgendwie gearteten Eklektizismus ist kein Raum. Sind Normen Ausdrücke in einem bestimmten Handlungsmodus, dann sind sie nicht Teil der Bedeutung; sind sie Bedeutungen (Propositionen), so sind sie von jeglichem Sprachgebrauch oder Handlungsmodus unabhängig. Trotzdem halten sich viele Autoren nicht eindeutig an eine der beiden Auffassungen, sondern scheinen beiden gleichzeitig anzuhängen. Es ist kennzeichnend für die überaus diffizile Art der Problems, daß gerade die Philosophen, die am tiefsten in diese Problematik eingedrungen sind, zu denen gehören, die zwischen den beiden Auffassungen hin- und herzuschwanken scheinen. So zeigt sich C. I. Lewis klar als Expressivist, wenn er sagt: „. . . the element of assertion in a statement is extraneous to the proposition asserted. The proposition is something assertable ; the content of the assertion; and this same content, signifying the same state of affairs, can also be questioned, denied, or merely supposed, and can be entertained in other moods as well." Lewis erwähnt unter diesen „moods" explizit den „imperative or hortatory mood" und schließt bei seiner Charakterisierung „modal statements of possibility and necessity" ein. 8 Dagegen behandelt er in seiner modalen Logik den Ausdruck ,Ο p' als Proposition, wobei der modale Operator der Möglichkeit Teil des Inhalts der Proposition ist. Ebenso finden wir bei von Wright Argumente, die es uns erlauben würden, ihn jeder der beiden Auffassungen zuzuordnen. Einerseits spricht er von „prescriptively interpreted deontic expressions", zwischen denen bestimmte logische Beziehungen bestehen;9 danach scheint er zu den Anhängern der hyletischen Auffassung zu gehören. Andererseits stellt er fest: 7

Vgl. H. Reichenbach 1947, S. 337ff. s C. I. Lewis 1946, S. 49.

Expressive Konzeption der Normen

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„it would be misleading to conceive throughout of the relation between norms and their expressions in language on the pattern of the above two ,semantic dimensions' [sense and reference]. A t least norms that are prescriptions must be called neither the reference nor even the sense (meaning) of the corresponding norm-formulations. . . . the use of words for giving prescriptions is similar to the use of words for giving promises. Both uses can be called performatory uses of language." 10

Dies scheint mehr in Richtung des Expressivismus zu weisen. Diese Zitate aus den Arbeiten der Begründer modaler bzw. deontischer Logik zeigen, daß beide Auffassungen plausibel sind, wobei in manchen Zusammenhängen die eine plausibler ist als die andere und umgekehrt, so daß eine Entscheidung hinsichtlich der beiden Auffassungen nicht leicht fällt, bevor man nicht das ganze Ausmaß ihrer Konsequenzen untersucht hat. Nach dem Stand der Dinge teilen aber die meisten Rechts- und Moralphilosophen sowie die deontischen Logiker die expressive Normenauffassung; die auffallendsten und deutlichsten Fälle unter ihnen sind Bentham, Austin, Kelsen, A l f Ross, Hare, Jörgensen, Moritz, Hansson, Âquist, Raz und von Kutschera. 11 Zu den weniger zahlreichen Vertretern der hyletischen Auffassung kann man Kalinowski und Weinberger zählen. 12 Es kann nicht überraschen, daß derartig antagonistische Ansichten über die Natur von Normen zu sehr unterschiedlichen Antworten auf die drei am Anfang dieser Arbeit erwähnten Probleme führen. Für die expressive Auffassung kann es keine Logik der Normen geben, weil es keine logischen Beziehungen zwischen Normen gibt. Deontische Logik kann nur die Form einer Logik normativer Propositionen annehmen. 13 Für die hyletische Auffassung dagegen gibt es zwei Logiken: eine Logik der Normen und eine Logik normativer Propositionen. 14 Die Lage hinsichtlich der zweiten Fragestellung ist weniger klar. Anhänger der expressiven Auffassung vertreten die Ansicht, Normen hätten keinen Wahrheitswert; unter den Vertretern der hyletischen Auffassung gibt es dage9 G. H. von Wright 1963, S. 134: "The 'fully developed' system of Deontic Logic is a theory of descriptively interpreted expressions. But the laws (principles, rules), which are peculiar to this logic, concern logical properties of the norms themselves, which are then reflected in logical properties of norm-propositions. Thus, in a sense, the 'basis' of Deontic Logic is a logical theory of prescriptively interpreted O- and P-expressions." 10 V. Wright 1963, S. 94. 11 Vgl. Bibliographie. Ein weniger deutlicher Fall - zumindest auf den ersten Blick ist der von Castaneda, aber man sollte sich nicht von Unterschieden in der Terminologie irreführen lassen. Was Castaneda ,norms' nennt, sind normative Propositionen (in unserem Sinne); er hat also eine sehr interessante Theorie normativer Propositionen, aber er analysiert keine Normen, die als ,regulations', »ordinances' oder ,rules' bezeichnet werden. Vgl. Castaneda 1978. 12 Vgl. Kalinowski 1967 und 1978, Weinberger 1978. 13 D. F0llesdal und Hilpinen, 1971, S. 7f. 14 Vgl. Aichourron 1969 und 1972. 2*

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Carlos E. Alchourrón und Eugenio Bulygin

gen zwei Richtungen. Einige von ihnen 15 glauben, Normen seien wahr oder falsch; andere behaupten, sie hätten keinen Wahrheitswert. 16 Diese Frage soll hier nicht diskutiert werden. Die meisten Expressivisten bestreiten die Existenz von Erlaubnisnormen (was nicht die Verneinung der Existenz erlaubter Sachverhalte bedeutet), weil sie nur eine Art normativer (präskriptiver) Handlung zulassen: das Befehlen. Diese Version der expressiven Auffassung ist die imperative Normentheorie. Es gibt aber auch unter eindeutigen Expressivisten Ausnahmen; einige von ihnen lassen einen besonderen normativen A k t zu: den des Erlaubens. 17 Wir werden später sehen, ob es Gründe für die expressive Auffassung gibt, neben Befehlen andere Arten von normativen Akten sowie die Existenz permissiver Normen anzuerkennen. Für die hyletische Auffassung ergeben sich solche Probleme nicht; daher akzeptieren die Autoren, die diese Auffassung teilen, zumindest zwei Arten von Normen: gebietende oder O-Normen und permissive oder P-Normen. Absicht dieser Arbeit ist eine einigermaßen detaillierte Untersuchung der expressiven Auffassung. Bei näherem Hinsehen erweist sie sich als sehr viel wirksamer als es auf den ersten Blick scheinen mag. Wenn man sie in angemessener Weise um einige Begriffe (die mit ihrem Geist vereinbar sind, aber von ihren Anhängern gewöhnlich übersehen werden) erweitert, dann ist sie in der Lage, wenn nicht alle, so doch die meisten wichtigen Eigenschaften des normativen Phänomens einzufangen. Viele Expressivisten müssen aber, wie Horatio, mehr Dinge akzeptieren, als sich ihre Philosophie erträumen läßt. In früheren Veröffentlichungen, vor allem in Normative Systems, waren wir Anhänger der hyletischen Auffassung. Normen wurden als abstrakte Wesenheiten behandelt, als Propositionen mit präskriptiver Bedeutung, die logische Beziehungen eingehen konnten. Seither sind wir uns bewußt geworden, daß die meisten Verfasser die expressive Auffassung teilen. Es erschien uns daher interessant, deren Möglichkeiten zu untersuchen, um ihre Grenzen aufzudekken und die Unterschiede zwischen den beiden Auffassungen zu zeigen. Das war der Ausgangspunkt für diese Arbeit. Wir haben jetzt den Eindruck, daß in beiden Auffassungen die gleichen begrifflichen Unterscheidungen auftreten, obwohl sie natürlich in verschiedenen Sprachen ausgedrückt werden. Die Wahl zwischen ihnen wird durch ontologische Überlegungen bezüglich der Natur von Normen bestimmt, aber es scheint keinen zwingenden Grund zu geben, der eine Entscheidung zugunsten einer der beiden rechtfertigen würde. Es sieht somit letztendlich so aus, als 15 Kalinowski 1967 und 1978. 16 Vgl. Weinberger 1978, von Wright 1963, 1968, Alchourrón - Bulygin 1971. 17 Vgl. Moritz 1963.

Expressive Konzeption der Normen

21

handele es sich mehr um ein Problem des philosophischen Stils oder sogar der persönlichen Vorliebe als um eine Frage der Wahrheit. Wir halten es mit Carnap: „Let us be cautious in making assertions and critical in examining them, but tolerant in permitting linguistic forms." I I . Normen und normative Systeme Die expressive Auffassung befaßt sich hauptsächlich mit Normen, die von einer Normen-Autorität erlassen werden und an andere Personen (NormenSubjekte) gerichtet sind, d.h. mit Normen, die von Wright prescriptions nennt. 18 Wir wollen also nur diese Art Normen betrachten, für die viele Rechtsnormen ein deutliches Beispiel darstellen. 19 Wir wollen mit einer Untersuchung der imperativen Normentheorie beginnen, die nur eine Art des normativen Akts zuläßt, nämlich den A k t des Befehlens, und folglich nur eine Art Norm: gebietende Normen. (Es ist unbedeutend, ob sie als Gebote oder Verbote angesehen werden.) Das Befehlen ist im Grunde ein linguistischer Vorgang, ein Sprechakt. Es besteht im Formulieren bestimmter Worte (oder anderer Symbole) mit einer bestimmten Bedeutung. Eine Norm ist ein sinnvoller Satz in seiner imperativen Anwendung (!p). Der Inhalt der Norm ist die Proposition, die mit „p" ausgedrückt wird. Also kann der A k t des Befehlens beschrieben werden als der A k t des Erlassens einer Norm. Der A k t des Erlassens ist von temporärer, aber momentaner Existenz. Von Normen wird aber gesagt, sie existierten fortwährend über eine bestimmte Zeitspanne hinweg. Dies ist ganz klar der Fall bei Rechtsnormen. Wie kann dieses Merkmal von Normen in der expressiven Auffassung erklärt werden? Um dies zu veranschaulichen, werden wir in Anlehnung an Hart eine vereinfachte Situation annehmen, bei der eine bestimmte Bevölkerung, die in einem bestimmten Land lebt, von einem absoluten Monarchen namens Rex regiert wird. Rex kontrolliert sein Volk mittels allgemeiner Befehle, die die Ausführung bestimmter Dinge und die Unterlassung bestimmter anderer Dinge verlangen. Weiter wollen wir annehmen, Rex sei die einzige legislative Autorität dieses Landes. Von Zeit zu Zeit führt Rex die Handlung des Befehlens einer bestimmten Proposition oder einer Menge von Propositionen durch. Die von Rex befohlenen Propositionen bilden eine Menge, die Befehlsmenge A. Jedesmal, wenn Rex einen neuen Befehl erläßt, vergrößert sich diese Menge um die neue von 18

Von Wright , 1963, S. 7ff. Die Theorie kann aber auch an Gewohnheitsnormen angepaßt werden. Deren Existenz hängt ab von bestimmten Dispositionen, die durch bestimmte Handlungen offenbar werden. 19

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Rex gebotene Proposition und wird so zu einer neuen Menge, etwa A i . Im Laufe der Zeit haben wir folglich nicht eine Menge, sondern eine Folge von Mengen ( A i , A 2 . . . A n ) . Bislang (d.h. solange nur die imperativistische Spielart des Expressivismus akzeptiert wird) können diese Mengen nur durch Hinzufügen neuer Propositionen vermehrt werden, so etwas wie Substraktion gibt es indessen nicht. Eine Proposition wird zum Element einer Menge der Folge als Ergebnis eines von Rex durchgeführten Befehlsaktes. Wir können also sagen, daß die Norm ! ρ von dem Moment an existiert, in dem ρ geboten wurde und damit die Proposition ρ Element der entsprechenden Menge geworden ist. Dies ist natürlich nur eine Redeweise. Tatsächlich ist die Norm !p von momentaner Existenz, genau wie der A k t des Befehlens von p. Wesentlich ist aber, daß alle zur Menge A gehörigen Propositionen in A als geboten angesehen werden. Da ein und dieselbe Proposition ρ Element z.B. von aufeinanderfolgenden Mengen A 2 , A 3 . . . A n sein kann, ohne Element von A i zu sein, ist ρ nicht geboten in A i , wohl aber in A 2 usw. Solange die aufeinanderfolgenden Mengen durch neue Befehle nur vergrößert werden können, gehört das zum Zeitpunkt ti gebotene ρ zu allen Mengen, die auf die ti zugeordnete Menge folgen. Die Existenz einer Norm ( = die Zugehörigkeit des Norm-Inhalts) hängt also von bestimmten empirischen Tatsachen ab (Akt des Erlassens im Falle von Vorschriften; bestimmte Handlungen, die über Dispositionen Aufschluß geben, im Falle von Gewohnheits-Normen). Da es keine logischen Beziehungen zwischen Tatsachen gibt, gibt es folglich keinen Raum für eine Logik der Normen. Dies schließt aber nicht die Möglichkeit einer Logik normativer Propositionen aus. Wie wir schon bemerkt haben, ist die Proposition, daß ρ in A geboten ist, wahr, wenn ρ von Rex befohlen wurde und so Element der Befehlsmenge A ist. Dies ist zwar eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für die Wahrheit von „p ist geboten in A " . Es kann vorkommen, daß Rex ρ nie befohlen hat, daß er aber ζ. Β. ρ & q befohlen hat. Dies ist eine andere Proposition, und folglich würde nach unseren Kriterien ρ nicht zu A gehören. Da aber ρ eine Folge von ρ & q ist (weil es logisch von ρ & q ableitbar ist), ist auch wahr, daß ρ in A geboten ist. Das Gebotensein von ρ ist eine Folge des Gebotenseins von ρ & q, weil ρ eine logische Folge von ρ & q ist. Wir können nun den Begriff eines normativen Systems als die Menge aller Propositionen definieren, die Folgen der explizit befohlenen Propositionen sind. 20 (Obwohl wir den traditionellen Ausdruck „normatives System" verwenden, muß betont werden, daß für die expressive Auffassung ein normatives System nicht eine Menge von Normen ist, sondern eine Menge von Norm20

XVI.

Über die Vorstellung von Folgerung siehe Tarski 1956, besonders I I I , V , X I I und

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Inhalten, d.h. von Propositionen). Dies setzt uns in die Lage, zu unterscheiden zwischen der Menge A (die von allen explizit befohlenen Propositionen gebildet wird) als der axiomatischen Basis des Systems und dem normativen System Cn(A), welches die Menge aller Folgen aus A ist. Wir können jetzt unser Kriterium für die Wahrheit einer normativen Proposition korrigieren: ,p ist geboten in A ' ( 0 A (p)) ist wahr dann und nur dann, wenn ρ Element des Systems Cn(A) ist - d. h. dann und nur dann, wenn ρ zu den Folgen aus A gehört. Dies bedeutet, daß ρ in A geboten ist dann und nur dann, wenn ρ befohlen wurde oder wenn ρ eine Folge von den Propositionen ist, die befohlen wurden. Im letzteren Fall sagen wir, daß ρ ein abgeleitetes Gebot ist. Die Idee des abgeleiteten Gebots hängt zusammen mit der Idee des impliziten Befehls. Letzterer steht seinerseits in enger Beziehung zum Begriff der impliziten Behauptung. Tatsächlich gibt es mindestens zwei unterschiedliche Weisen, wie man eine von einer Person aufgestellte Behauptung auffassen kann. Im psychologischen Sinne von „Behauptung" wird beim A k t des Behauptens der geäußerte Satz behauptet und nicht die mit diesem Satz ausgedrückte Proposition. In diesem Sinne von „behaupten" hat X mit der Behauptung „Hans küßte Maria" nicht behauptet „Maria wurde von Hans geküßt", weil dies ein anderer Satz ist, obwohl beide Sätze dasselbe bedeuten, d.h. dieselbe Proposition ausdrücken. In einer anderen, nichtpsychologischen Bedeutung von „behaupten" aber behauptet X mit der Behauptung „Hans küßte Maria" explizit die mit diesem Satz ausgedrückte Proposition und folglich auch, daß Maria von Hans geküßt wurde, und überdies behauptet er damit (implizit) alle Propositionen - wie „Jemand küßte Maria" - , die Folgen der explizit behaupteten Proposition sind. Dies ist eine nicht-psychologische Bedeutung von Behauptung, denn es ist offensichtlich, daß die fragliche Person wahrscheinlich überhaupt nicht an alle Propositionen gedacht hat und deshalb auch nicht die geringste Absicht hatte, sie zu behaupten. Es kann sogar der Fall eintreten, daß q eine Folge von ρ ist und daß die Person, die ρ behauptet, nicht nur dies nicht weiß, sondern sogar glaubt, q sei falsch. Ist sie nicht dazu bereit, q zu behaupten (z.B. weil sie es für falsch hält), so können wir zeigen, daß ihr Standpunkt widersprüchlich ist, indem wir beweisen, daß q aus ρ folgt. Dies ist eine sehr verbreitete Argumentationsweise: wir versuchen oft, unseren Gegner zu widerlegen, indem wir zeigen, daß die von ihm behaupteten Propositionen eine Proposition zur Folge haben, die er nicht anerkennen will. Diese Art von Argumentation stützt sich auf die Idee der impliziten Behauptung: dabei stellt man alle Propositionen fest, die eine Folge der explizit behaupteten Propositionen sind. In diesem Zusammenhang kann man an einen berühmten Fall erinnern. Als Russell einen Widerspruch in Freges System fand, hatte dies eine verheerende Wirkung auf Frege. Warum? Frege hatte gewiß keine widersprüchliche Propo-

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sition behauptet; aber Russell zeigte, daß eine sich selbst widersprechende Proposition ein Theorem (eine Folge) von Freges System war. Frege hatte sie durch die Behauptung der Axiome seines Systems implizit behauptet, und er konnte nicht die Axiome aufrechterhalten und dieses Theorem zurückweisen. Man kann denselben Typ von Beobachtung hinsichtlich des Befehlsaktes machen. Auch hier haben wir eine nicht-psychologische Bedeutung von impliziten Befehlen. Wenn eine Person etwas befiehlt, dann befiehlt sie auch alle Folgen von dem, was sie explizit befohlen hat (selbst, wenn ihr diese nicht bewußt sind). Wenn z. B. ein Lehrer befiehlt, alle Schüler sollten das Klassenzimmer verlassen, dann befiehlt er implizit auch, daß Hans (der einer von den Schülern ist) das Klassenzimmer verlassen soll, selbst wenn ihm nicht bewußt ist, daß Hans anwesend ist. Diese Überlegungen zeigen, daß es logische Beziehungen zwischen normativen Propositionen gibt. Neben dem Gebot können wir auch die Begriffe des Verbots und der Erlaubnis für normative Propositionen definieren: ρ ist verboten in A ( 0 A ( ~ p)) := die Negation von ρ ( ~ p) ist Element des Systems Cn(A). ρ ist erlaubt in A ( P A (p)) :=die Negation von ρ Cn (A).

p) ist nicht Element von

Selbst wenn es für die imperative Normentheorie keine Erlaubnisnormen gibt, so gibt es doch erlaubte Propositionen und Sachverhalte. Nach der Definition ist ρ in A erlaubt dann und nur dann, wenn ρ in A nicht verboten ist. Dies zeigt, daß Erlaubnisse einen anderen normativen Status haben als Gebote und Verbote. Die Erlaubnis von ρ wird durch das Unterlassen bestimmter Akte (Akte des Verbietens von ρ oder - was dasselbe ist - des Befehlens von ~ p) gegeben, während das Verbot (das Gebot) die Existenz bestimmter normativer Akte verlangt. Die Analysen in diesem Abschnitt zeigen, daß man einen sorgfältigen Unterschied machen muß zwischen: a) dem A k t des Erlassens einer Norm (Befehlen), b) der Operation des Hinzufügens von neuen Elementen zu einem System als Ergebnis solcher Akte, und c) den Kriterien, nach denen ein solches Hinzufügen von Elementen geregelt wird. Es ist wichtig sich klarzumachen, daß das, was als Folge des Erlassens einer Menge von Propositionen Β zu dem System A hinzugefügt wird, nicht nur die Menge Β ist, sondern auch alle ihre Folgen und überdies all die Propositionen, die - ohne Folgen von Β oder von A zu sein - nichtsdestotrotz Folgen von A und Β zusammen sind. Mit anderen Worten ist das resultierende System, wenn wir einer Menge A die Menge Β hinzufügen, nicht Cn(A) + Cn(B), sondern C n ( A + B). In den meisten Fällen ist diese letzte Menge beträchtlich größer als die erste.

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I I I . Ablehnung Nehmen wir an, Rex wird sich darüber klar, daß der Sachverhalt p, den er vor einiger Zeit verboten hat, jetzt nicht verboten sein sollte (vielleicht, weil er mit dem Verbot von ρ einen Fehler gemacht hat oder weil die Umstände, die das Verbot von ρ erforderlich machten, sich geändert haben). Er möchte also ρ erlauben; wie kann er das erreichen? Wenn der A k t des Befehlens von — ρ erst einmal ausgeführt ist, kann natürlich niemand diese Tatsache abändern. Es wird also immer wahr sein, daß ρ in A verboten ist. Wenn Rex ρ erlauben will, so muß er das System in ein solches umändern, zu dem ~ ρ nicht gehört. Diese Änderung ist aber unmöglich, solange es nur Befehlsakte gibt, die in der imperativen Normentheorie allein zugelassen werden. Durch Befehlen kann ein erlaubter Sachverhalt verboten werden, aber nicht umgekehrt. Die Änderung eines Verbots in eine Erlaubnis verlangt eine Subtraktions-Operation; Addition allein ist offensichtlich nicht ausreichend. Um also ρ zu erlauben, muß Rex die Norm, die ρ verbietet, zurücknehmen oder aufheben; noch genauer muß er ~ ρ aus dem System entfernen. Hierzu muß er zunächst identifizieren, was er entfernen will p) und anschließend die Operation der Subtraktion von — ρ durchführen, so daß als Ergebnis dieser Operation ~ ρ aus dem System entfernt wird. Hier muß wieder unterschieden werden zwischen dem von Rex ausgeführten A k t , der Ablehnungsakt genannt werden soll, der Operation des Entfernens von bestimmten Propositionen aus dem System und den Kriterien, die diese Entfernung regeln. 21 Wir wollen mit der Analyse des Ablehnungsakts beginnen. Genauso, wie es (unter anderem) zwei Arten von auf Propositionen bezogene Haltungen gibt: deskriptive und präskriptive, d.h. in diesem Zusammenhang Behaupten und Befehlen, so gibt es zwei Arten von Ablehnungsakten, die sich auf dieselbe Proposition beziehen können. Wir wollen sie deskriptive und präskriptive Ablehnung nennen. Der Inhalt beider Arten von Akten ist eine Proposition, aber die beiden Akte lehnen sie auf unterschiedliche Weise ab. Der erste Ablehnungsakt ist einer Behauptung entgegengesetzt, der zweite einem Befehl. Wir wollen die Zeichen ,-f und ,j' benutzen, um die beiden Arten der Ablehnung zu symbolisieren. Es ist wichtig sich klarzumachen, daß Ablehnen nicht dasselbe ist wie Negieren. Wenn wir eine Proposition negieren, so behaupten wir eine andere Proposition, die die Negation der ersten ist. Folglich bedeutet das Negieren von ρ das Behaupten von ~ p. In ähnlicher Weise kann das Negieren des 21 Über den Begriff der Derogation gibt es nur wenig Literatur. Vgl. die ausgezeichnete Arbeit von Cornides, der ein echter Vorreiter auf diesem Gebiet ist. Weinbergers Unterscheidung zwischen ,Begrenzungssatz4 und ,Tilgungsoperation (Streichung) 4 scheint unsere Unterscheidung zwischen Ablehnung und Ausschließung aufzunehmen. Vgl. Weinberger 1978, S. 192.

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Befehls, daß ρ, angesehen werden als das Befehlen, daß ~ p: in diesem Falle wäre die Negation des Befehls, daß p, das Verbieten, daß p. Wenn also Rex, um zu erlauben, daß p, das Verbieten, daß p, negieren würde, indem er befiehlt, daß p, so würde er damit nichts weiter erreichen, als die Einführung eines Widerspruchs in das System: sowohl ρ wie auch ~ ρ würden zu Cn(A) gehören, die Propositiónen „p ist geboten in A " und „p ist verboten in A " wären beide wahr und weder ρ noch — ρ wären erlaubt. Dies ist nicht das, was Rex erreichen will, wenn er ρ erlauben will. Ablehnung ist also eine andere Art von Sprechakt; wer eine Proposition ablehnt, behauptet dazu keinerlei Proposition. Es ist der gleiche Unterschied wie zwischen einem Atheisten und einem Agnostiker. Der Atheist negiert die Existenz Gottes; er tut dies, indem er die Proposition behauptet, daß Gott nicht existiert. Der Agnostiker lehnt die Proposition ab, daß Gott existiert, ohne die Proposition zu behaupten, daß Gott nicht existiert. Nebenbei zeigt dies auch, daß der Standpunkt eines Skeptikers nicht notwendig widersprüchlich ist. Es wäre selbst-widerlegend, wenn der Skeptiker behaupten würde, daß man nichts wissen kann, denn damit würde er zumindest die Proposition zu wissen beanspruchen, daß man nichts wissen kann. Wenn er aber nicht mehr tut, als alle Propositionen abzulehnen, so behauptet er keine Proposition, und sein Standpunkt ist völlig kohärent. In ähnlicher Weise ist die (präskriptive) Ablehnung von ρ keinerlei Vorschrift; insbesondere ist sie kein Verbot von p. Das Zeichen ,j' ist also ein bloßer Indikator für einen bestimmten Sprechakt und bildet keinen Teil des begrifflichen Inhalts dieses Akts. (,jp' drückt genau wie ,!p' keine Proposition aus, sondern gibt nur an, was mit der Proposition ρ getan wird.) 2 2 Wenn Juristen von Derogation sprechen, dann geht es normalerweise um die Ablehnung eines Norm-Inhalts. Keine Ablehnung ist erforderlich, wenn das, was derogiert wird, nicht ein Norm-Inhalt ist, sondern nur die Formulierung einer Norm (ein Satz). Wenn der Gesetzgeber bemerkt, daß es zwei oder mehr überflüssige Formulierungen gibt, d.h. daß derselbe Norm-Inhalt z.B. durch verschiedene Paragraphen eines Gesetzes ausgedrückt wird, dann möchte er vielleicht die überflüssigen Formulierungen aufheben, ohne den Norm-Inhalt zu eliminieren. In diesem Fall will er die überflüssigen Formulierungen „ausradieren" und nur eine von ihnen stehenlassen. U m dieses Ziel zu erreichen, ist keine Ablehnung eines Norm-Inhalts erforderlich. Aber die Entfernung einer Norm-Formulierung darf nicht verwechselt werden mit der Eli22 Hare beschreibt den Unterschied zwischen Negation und Ablehnung, indem er sagt, daß in einer Negation das Wort ,not' Teil desphrastic sei, daß es aber auch im neustic auftreten könne: es wird dann zu ,not-yes' und ,not-please'. Dies scheint dem zu entsprechen, was wir Ablehnung nennen. Hares ,not-yes' ist dann unsere deskriptive Ablehnung und sein ,not-please' die präskriptive Ablehnung. Vgl. Hare 1952, S. 20 21.

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minierung eines Norm-Inhalts. In diesem letzten Fall ist das, was die Autorität aus dem System entfernen will, ein bestimmter begrifflicher Inhalt (eine Proposition), und um dies zu erreichen, ist der Vollzug eines Ablehnungsakts notwendig. Der Expressivismus muß also neben dem Befehlen noch eine andere Art normativer Akte anerkennen: den des Ablehnens. Die imperative Normentheorie hat keine Erklärung für das Phänomen der Derogation, aber der Expressivismus ist auf sie nicht angewiesen. Die Anerkennung verschiedener Arten von normativen Akten, und insbesondere von Ablehnungsakten, ist mit der expressiven Auffassung völlig vereinbar. Wenn als Ergebnis der Ablehnung eines Norm-Inhalts dieser aus dem System entfernt ist, hört die Norm auf zu bestehen. Hieraus kann man zwei wichtige Folgerungen ziehen: (1) Normen fangen nicht nur zu einer bestimmten Zeit zu existieren an; sie hören auch in einem bestimmten Augenblick zu existieren auf; (2) normative Mengen können nicht nur durch Addition neuer Elemente erweitert werden; sie können auch durch Subtraktion von Elementen verkleinert werden. Zur Folgerung (1) sind einige erklärende Anmerkungen nötig. Wie wir schon gesehen haben, ist die temporäre Existenz von Normen nur eine Metapher. Tatsächlich werden zwei Arten von Akten durchgeführt (Befehlen und Ablehnen): dies sind die einzigen für die Existenz einer Norm relevanten empirischen Tatsachen. Es besteht keine Notwendigkeit für das Auftreten irgendeiner weiteren Tatsache, die die Proposition, daß eine Norm existiert, wahr machen würde. 23 Andererseits ist die Behauptung, daß eine bestimmte Norm in einem bestimmten Moment zu existieren aufhört, irreführend. Es gibt nichts weiter als eine Folge verschiedener Mengen von Propositionen, und eine bestimmte Proposition ρ kann Element von einigen dieser Mengen sein und nicht von anderen. Wenn sie zu einer bestimmten Menge gehört, so gehört sie für immer dazu; auch wenn es vorkommen kann, daß sie nicht zur folgenden Menge gehört. Wir nehmen nämlich zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Mengen als Bezugspunkte für unsere Behauptungen, daß bestimmte Propositionen oder Sachverhalte geboten, verboten oder erlaubt sind: dies vermittelt die Illusion einer Veränderung in der Zeit. Normative Propositionen sind aber in der Tat zeitlos, denn sie beziehen sich immer auf ein festbestimmtes System. Folglich ist die Proposition „p ist geboten in Αχ" entweder wahr oder falsch, wenn aber wahr, so ist sie immer wahr, selbst nach der Aufhebung von p. Wenn nämlich ρ entfernt wird, dann erhalten wir ein neues System, etwa A 2 . Die Proposition „p ist geboten in A 2 " ist, unter dieser Hypothese, falsch, aber dies ist eine andere Proposition. Die erste Proposition 23 Vgl. Alchourrón - Bulygin 1979; für eine abweichende Meinung siehe v. Wright 1963, Kapitel 7.

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(ρ ist geboten in Αχ) bleibt weiterhin wahr, obwohl einen dies vielleicht nicht länger interessiert. In diesem Sinne sind normative Systeme momentan; 24 wenn Juristen davon sprechen, daß Rechtssysteme die Zeit überdauern (wie zum Beispiel das französische Rechtssystem), dann meinen sie nicht ein System, sondern eine Folge von Systemen. I V . Konflikt von Erlassen und Ablehnung Wenn X behauptet, daß p, und Y behauptet, daß ~ p, so werden die beiden Behauptungen als unvereinbar angesehen, nicht in dem Sinne, daß sie nicht gemeinsam existieren könnten, sondern in dem Sinne, daß die beiden von X und Y behaupteten Propositionen widersprüchlich sind, d.h. es können nicht beide wahr (oder falsch) sein. Die Tatsache, daß zwei Personen zwei widersprüchliche Propositionen behaupten, ist sicher möglich (und überdies äußerst häufig); es ist sogar möglich, daß ein und dieselbe Person zwei widersprüchliche Propositionen behauptet. Solche Behauptungen aber konfligieren. Wollen wir sie in ein kohärentes Ganzes integrieren, so müssen wir zunächst den Konflikt lösen. Analog konfligieren auch der Befehl, daß p, und der Befehl, daß ~ p, weil die Norm-Inhalte ρ und ~ ρ widersprüchlich sind. Dies ist die „klassische" Vorstellung von normativer Widersprüchlichkeit. Sie ist eine Erweiterung des Begriffs des Widerspruchs zwischen Propositionen auf Befehle (Normen), da sie nicht auf dem Kriterium der Wahrheit beruht (Befehle haben keinen Wahrheitswert), sondern auf dem Begriff von Erfüllung: es ist logisch unmöglich, beide Befehle !p und ! ~ p zu erfüllen oder beiden zu gehorchen. Trotzdem ist es sicherlich für zwei Personen oder sogar für eine Person möglich, zwei konfliktive Befehle zu erlassen. Solange diese zu verschiedenen Systemen gehören, gibt es kein Problem; der Bedarf für die Lösung des Konflikts entsteht erst, wenn sie Elemente desselben Systems werden. Die Einheit des Systems bestimmt dieses Bedürfnis. Ein Normensystem, das gleichzeitig ρ und ~ p enthält, ist widersprüchlich, und dies wird als ernster Fehler des Systems angesehen, denn bezüglich dieses Systems sind die Propositionen, daß ρ geboten und daß ρ verboten ist, gleichzeitig wahr. Man betrachte nun die Art von Konflikt, die entsteht nicht zwischen einem Gläubigen und einem Atheisten (die die beiden widersprüchlichen Propositionen „Gott existiert" bzw. „Gott existiert nicht" behaupten), sondern zwischen einem Gläubigen und einem Agnostiker. Ein Agnostiker lehnt die Proposition, daß Gott existiert, ab, ohne jedoch die Negation zu behaupten. Hier gibt es keinen Widerspruch zwischen zwei Propositionen, sondern einen Konflikt 24 Vgl. Raz 1970, der unsere Aufmerksamkeit auf diese Tatsache gelenkt hat. Siehe Alchourrón - Bulygin 1976.

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zwischen zwei propositionalen Haltungen betreffs derselben Proposition: Behauptung und Ablehnung. In gewisser Weise sind Behauptung und (deskriptive) Ablehnung unvereinbar. In ähnlicher Weise sind das Erlassen sowie das Ablehnen einer Norm desselben Norm-Inhalts unvereinbar: Es gibt eine Art von Konflikt zwischen dem Befehlen von ρ und dem Ablehnen von p. Dieser Konflikt unterscheidet sich von dem des Befehlens von ρ und ~ p . Im letzten Fall haben wir eine Übereinstimmung in der Haltung, aber eine Unstimmigkeit im Inhalt: dies haben wir als normativen Widerspruch bezeichnet. Im ersten Fall haben wir eine Unstimmigkeit in der Haltung, aber eine Übereinstimmung im Inhalt; diese Art von Konflikt wird nach Carnap 25 Ambivalenz genannt. Ein Bedarf für die Konfliktlösung bezüglich einer Ambivalenz tritt auf, wenn dieselbe Proposition (direkt oder indirekt) von derselben Autorität oder von verschiedenen Autoritäten im selben System geboten und abgelehnt wird. Um Ambivalenzkonflikte zu lösen, werden bestimmte Kriterien benutzt, die Präferenz-Kriterien oder -Regeln genannt werden sollen. 26 Präferenzregeln dienen der Lösung von Konflikten zwischen Erlassungs- und Ablehnungsakten, die sich (direkt oder indirekt) auf denselben Norm-Inhalt beziehen. Sie legen fest, welcher der Akte Vorrang hat vor dem anderen. Daß der A k t der Ablehnung von ρ Vorrang hat vor dem A k t des Befehlens von p, bedeutet, daß die Menge, die ρ nicht enthält, der Menge, die ρ enthält, vorzuziehen ist als Bezugspunkt für normative Urteile der Form 0 A (p) oder P A (p) und umgekehrt. Präferenzregeln werden so gut wie nie explizit angegeben, aber sie werden de facto von Juristen und allen, die mit normativen Systemen arbeiten müssen, benutzt. Drei dieser Regeln werden für gewöhnlich in der Rechtspraxis angewandt; wir werden sie Regeln der auctoritas superior , auctoritas posterior und auctoritas specialis nennen. Diese Namen sind eine Angleichung an bestimmte andere, analoge, aber unterschiedliche Regeln, die von Juristen explizit angeführt werden, um Widersprüche zwischen Normen zu lösen (lex superior usw.), auf die wir später zu sprechen kommen werden (Abschnitt VI.). Die Regel auctoritas superior legt fest, daß ein A k t (sei es Erlassung oder Ablehnung), der von einer Autorität höherer Rangstufe vorgenommen wird, Vorrang hat vor einem von einer Autorität niedrigerer Stufe vorgenommenen Akt. Dies bedeutet, daß eine Norm, die von einer höheren Autorität, z.B. einer Legislative, erlassen wurde, nicht von einer untergeordneten Autorität, ζ. B. der Exekutive, aufgehoben werden kann. Selbst wenn sie abgelehnt wird, ändert sich das System nicht. Wenn andererseits eine höhere Autorität einen 25

Carnap 1942, S. 187. Der Ausdruck „Regel" bedeutet hier nicht eine Norm (einen Befehl oder befohlenen Inhalt), sondern ein rein begriffliches Kriterium. 26

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Norm-Inhalt ablehnt, so hebt dieser A k t ihn auf (d.h. führt zu seiner Entfernung aus dem System), sofern er vorher von einer niedrigeren Autorität erlassen worden war, und verhindert seine Hinzufügung zu dem System durch einen späteren Erlassungsakt durch eine untergeordnete Autorität. Dieser letzte Fall ist besonders interessant: er zeigt, daß Ablehnung nicht zeitlich auf den Erlassungsakt folgen muß. Wenn wir zwischen der Operation des Ausschließens von Norm-Inhalten, die abgelehnt wurden, und dem A k t des Ablehnens (oft auch „Derogation" genannt) unterscheiden, so wird uns klar, daß es völlig sinnvoll sein kann, den Norm-Inhalt ρ abzulehnen, auch wenn ρ kein Element des Systems ist. Obwohl eine solche Ablehnung nicht zur Eliminierung irgendeines NormInhalts führt, kann sie doch das wichtige Ergebnis hervorrufen, daß die Addition von ρ verhindert wird, sollte ρ später von einer Autorität niedrigeren Ranges erlassen werden. Dies ist, was mit Rechten und Garantien geschieht, die in der Verfassung verankert werden: die Verfassung lehnt im Voraus bestimmte Norm-Inhalte (welche die Grundrechte beeinträchtigen würden) ab und hindert so die Legislative an der Erlassung dieser Norm-Inhalte, denn wenn die Legislative einen solchen Norm-Inhalt erläßt, kann er von den Gerichten für verfassungswidrig erklärt werden und wird dem System nicht hinzugefügt. Die beiden anderen Regeln operieren in ähnlicher Weise. Die Regel auctoritas posterior legt fest, daß ein zeitlich späterer A k t , sei es Erlassung oder Ablehnung, Vorrang hat vor dem früheren Akt. Diese Regel ist selbstverständlich nur anwendbar auf Akte, die von Autoritäten gleichen Ranges vorgenommen werden; sie ergänzt also die erste Regel. Die Regel auctoritas specialis schließlich legt fest, daß der A k t des Erlassens (oder des Ablehnens) eines weniger allgemeinen Norm-Inhalts Vorrang hat vor dem Akt der Ablehnung (der Erlassung) eines allgemeineren NormInhalts. Es ist wichtig zu betonen, daß diese Regeln nicht alle möglichen Konflikte zwischen Erlassungs- und Ablehnungsakten lösen. Es kann sehr wohl vorkommen, daß dieselbe Autorität oder zwei Autoritäten gleichen Ranges gleichzeitig denselben Norm-Inhalt erlassen und ablehnen. In einem solchen Fall ist offensichtlich keine der drei Regeln anwendbar; solche Fälle treten, wenn auch selten, gelegentlich in der Rechtspraxis auf. U m solche Konflikte zu lösen, müssen weitere Präferenzkriterien eingeführt werden. Es wäre aber ein Irrtum, wenn man Präferenzregeln (traditionelle oder andere) als logische Regeln ansehen wollte.

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V . Implizite Ablehnung und Derogation Wenn Rex einen Norm-Inhalt (oder eine Menge von Norm-Inhalten) ablehnt, so gibt dieser A k t an, was er aus dem System ausgeschlossen (subtrahiert) sehen möchte. Die Menge der ausdrücklich abgelehnten Propositionen soll demnach derogandum genannt werden. Wenn aber nur das derogandum vom System substrahiert wird, könnte Rex das Erreichen seines Zwecks verfehlen. Man nehme z.B. an, ρ sei abgelehnt worden, das System enthalte aber nicht nur p, sondern auch ρ & q. Dann reicht es nicht aus, nur ρ auszuschließen, denn solange ρ & q Element des Systems bleibt, ist es auch p. Die Ablehnung von ρ könnte in einem solchen Fall höchstens eine Veränderung des Status von ρ bewirken; war es explizit befohlen und demnach ein Element der Basis, so ist es jetzt eine der Folgen der Basis, bleibt aber ein Element des Systems. Also wurde ρ keineswegs derogiert. Dieses Argument zeigt, daß die Derogation von ρ nicht nur die explizite Ablehnung von ρ verlangt, sondern auch die Ablehnung all der Propositionen, die ρ zur Folge haben. Wir werden sagen, daß diese Propositionen mit dem Ablehnen von ρ implizit abgelehnt werden. Überdies kann es vorkommen, daß zwei oder mehr Propositionen (zusammengenommen) eine abgelehnte Proposition nach sich ziehen, obwohl keine von ihnen (allein genommen) dies tut. Man nehme z.B. an, q => ρ und q seien Elemente des Systems und ρ werde abgelehnt. Die Menge (q => p, q) impliziert p, also muß sie (implizit) abgelehnt werden. In Verallgemeinerung dieses Ergebnisses können wir folgendes allgemeine Kriterium für implizites Ablehnen angeben: Die Ablehnung einer Menge von Propositionen Β lehnt implizit alle Propositionen und Mengen von Propositionen ab, die irgendwelche der zu Β gehörenden Propositionen zur Folge haben. Es ist anzumerken, daß durch einen A k t der Ablehnung nicht eine Menge von Propositionen abgelehnt wird, sondern eine Familie von Mengen. Diese Tatsache bedeutet einen wichtigen Unterschied zwischen Erlaß (Setzung) und Derogation: Es ist immer eine Menge von Propositionen, die erlassen (gesetzt) wird, aber es ist immer eine Familie von Mengen, die abgelehnt wird („abgelehnt" heißt hier „explizit oder implizit abgelehnt"). Welche Wirkung ruft ein A k t des Ablehnens hervor? Wir müssen zwischen zwei Fällen unterscheiden: (i) Wenn keine der explizit abgelehnten Propositionen Element des Systems Cn(A) ist, dann ist keine der abgelehnten Mengen in A enthalten. Hier tritt das Problem der Subtraktion nicht auf. Wenn aber irgendwelche der abgelehnten Propositionen oder Mengen später erlassen würden, so würde

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diese Tatsache einen Ambivalenzkonflikt hervorrufen. Ein solcher Konflikt kann nur durch Anwendung einer Präferenzregel gelöst werden. (ii) Wenn irgendwelche der explizit abgelehnten Propositionen Elemente des Systems Cn(A) sind, dann sind auch irgendwelche der abgelehnten Mengen in A enthalten. Da die Elemente von Cn(A) erlassen sind, haben wir einen Ambivalenzkonflikt und brauchen zu seiner Lösung eine Präferenzregel. Wird er zugunsten der Erlassung gelöst, so bringt das Ablehnen keinerlei Wirkung hervor, keine Derogation findet statt, und es gibt keine Veränderung im System. Hat aber die Ablehnung Vorrang, so müssen bestimmte Propositionen durch Subtraktion aus dem System ausgeschlossen werden. Welches sind diese Propositionen? Welche Kriterien bestimmen die Operation der Subtraktion? Es ist klar, daß keine abgelehnte Proposition und keine abgelehnte Menge in A bleiben kann; denn in diesem Falle würden Elemente des derogandum (d.h. explizit abgelehnte Propositionen) weiterhin Elemente des Systems Cn(A) sein. Wenn eine Menge abgelehnt wird, wäre insbesondere zumindest eine explizit abgelehnte Proposition eine Folge davon. Deshalb müssen alle abgelehnten Mengen aus A ausgeschlossen werden. Was heißt es aber, eine Menge auszuschließen? Wenn eines ihrer Elemente aus der Menge entfernt wird, so verschwindet die Menge als solche: an ihrer Stelle erhalten wir eine andere, weniger umfangreiche Menge. Andererseits ist es dieselbe Menge, solange alle ihre Elemente vorhanden sind. Die Entfernung mindestens eines ihrer Elemente ist also eine hinreichende und notwendige Bedingung für die Eliminierung einer Menge. Wenn nun - wie wir angenommen haben - wenigstens eine der explizit abgelehnten Propositionen zu dem System Cn(A) gehört, dann ist die Menge A (d. h. die Basis des Systems) eine der abgelehnten Mengen. Sie muß folglich eliminiert werden; wenn wir aber alle ihre Elemente entfernen, bricht das ganze System zusammen. Wir würden also mit der Aufhebung eines NormInhalts die Aufhebung des ganzen Systems bewirken. Dies scheint eine etwas zu drastische Methode für die Erfüllung der Forderung zu sein, daß alle abgelehnten Mengen aus A auszuschließen sind. Diese Beobachtung legt die folgenden Angemessenheitsbedingungen für die Operation der Subtraktion nahe: (i) keine abgelehnte Proposition oder Menge von Propositionen soll im System verbleiben, und (ii) die Menge des Subtrahenden soll minimal sein, d.h. es sollen nur diejenigen Propositionen ausgeschlossen werden, die zu entfernen unbedingt notwendig ist, um (i) zu erfüllen. Mit anderen Worten muß das, was nach Durchführung der Operation übrigbleibt, die maximale Teilmenge von A sein, die mit der Derogation vereinbar ist.

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Eine Teilmenge von A (d.h. der explizit erlassenen Propositionen), die die Forderungen (i) und (ii) erfüllt, soll derogans genannt werden. Jedem nichtleeren derogandum entspricht mindestens ein derogans. Um ein einem derogandum entsprechendes derogans zu konstruieren, müssen wir mindestens eine Proposition aus jeder abgelehnten Menge in A herausnehmen.27 Da aber einige solcher Mengen mehrere Elemente haben können (von denen keines angelehnt wird), kann für die Konstruktion des derogans jedes davon benutzt werden; es gibt also verschiedene Möglichkeiten für die Konstruktion eines derogans, und folglich haben wir nicht ein derogans, sondern mehrere. Da jedes derogans eine Menge von Propositionen ist, ist die Menge aller derogantes eine Familie, d.h. eine Menge von Mengen. Was wir aber subtrahieren müssen - falls wir die Angemessenheitsbedingungen erfüllen wollen - , ist nur eine von ihnen, denn wenn wir ein derogans entfernen, dann enthält die Restmenge keine abgelehnte Menge (und daher auch keine abgelehnte Proposition). Wenn andererseits mehr als ein derogans entfernt wird, so ist die Restmenge keine maximale Menge mehr, und Bedingung (ii) wäre nicht erfüllt. Dies zeigt, daß Situationen entstehen können, in denen einem derogandum mehrere derogantes entsprechen und es daher verschiedene Möglichkeiten für die Durchführung der Subtraktion gibt, die demselben A k t des Ablehnens entsprechen. Was noch schlimmer ist: Wir haben hierfür nicht unbedingt Präferenzkriterien. In solchen Situationen gibt es mehrere mögliche Restmengen anstelle von nur einer: der Rest ist nicht eine Menge, sondern eine Familie von Mengen. Dies ist das, was wir an anderere Stelle die logische Unbestimmtheit des Systems genannt haben. 28 Das Problem der Unbestimmtheit entsteht nicht, wenn die explizit abgelehnten Propositionen (das derogandum) unabhängige Elemente von A sind. Dann ist es ausreichend, das derogandum allein aus A zu entfernen. Allgemein: Die Derogation ist eindeutig dann und nur dann, wenn es nur ein derogans und deswegen nur eine Restmenge gibt. Es kann vorkommen, daß die Subtraktion eines derogans den Ausschluß irgendwelcher anderer Propositionen mit sich bringt, die Folgen von A sind (d.h. sie gehören nicht zu A , sind aber Elemente des Systems Cn(A)), und nicht mehr Folgen von A minus derogans. Die Menge ausgeschlossener Pro27 Wir sagen ,mindestens eine4 anstatt ,nur eine 4 , weil es im Falle sich überschneidender Mengen unmöglich ist, ein und nur ein Element aus allen von ihnen zu entfernen. Man denke z.B. an den Fall der drei folgenden Mengen: { x , y } , { y , z } und { x , z } ; wird ein Element aus zweien von ihnen entfernt, so werden auch beide Elemente der dritten entfernt. 28 Vgl. Alchourrón - Bulygin 1976, 1977, 1978. Dieses Problem wurde schon von Cornides gesehen, obwohl er ihm keine große Bedeutung einzuräumen scheint. Vgl. Cornides 1969, S. 1241.

3 Bulygin / Garzón Valdés

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Positionen kann schließlich also doch größer sein als die Menge der subtrahierten Propositionen (derogans). Es ist also angebracht, zwischen Subtraktion und Ausschluß (Eliminierung) zu unterscheiden. Zusammenfassend: Derogation wurde analytisch in zwei Komponenten zerlegt: den A k t des Ablehnens und die Operation der Subtraktion, die zu einem neuen System (der Restmenge) führt. Der A k t des Ablehnens identifiziert ein derogandum. Das resultierende System ist die Restmenge nach Subtraktion eines (dem derogandum entsprechenden) derogans vom ursprünglichen System. Es ist schließlich Wert zu legen auf die Feststellung, daß diese Art von Subtraktion - wie unsere unformalisierte Untersuchung zeigt - eine viel kompliziertere Operation ist als die gewöhnliche mengentheoretische Subtraktion. 29 V I . Widersprüchlichkeit In Abschnitt I V . haben wir Ambivalenzkonflikte untersucht, die auftreten zwischen zwei auf Propositionen bezogenen Haltungen: dem Erlassen und Ablehnen derselben Norm. Die beiden Akte sind unvereinbar, weil sie unvereinbare Ergebnisse zu erreichen suchen: Addition eines Norm-Inhalts zu einem System und seine Subtraktion von diesem. In diesem Abschnitt wollen wir die andere Art normativen Konflikts analysieren: Widersprüchlichkeit von Norm-Inhalten (normativer Widerspruch). Wenn gleichzeitig eine Proposition ρ und deren Negation ~ ρ Elemente eines normativen Systems sind, so wird das System als widersprüchlich bezeichnet. Das Problem mit widersprüchlichen Systemen ist, daß es aus logischen Gründen unmöglich ist, alle seine Normen zu befolgen. Zumindest die Normen !p und ! ~ p können nicht befolgt werden. Darüber hinaus sind die Wirkungen eines Widerspruchs sogar noch verheerender, wenn man den klassischen Begriff der Folgerung akzeptiert: Alle Propositionen gehören zu einem widersprüchlichen System. Dies ist der Fall, weil nach dem klassischen Begriff der Folgerung aus einem widersprüchlichen Propositionspaar jegliche andere Proposition abgeleitet werden kann. Also sind alle widersprüchlichen Systeme äquivalent: Sie enthalten dieselben Folgerungen und sind gleich nutzlos. Nach einem solchen System ist alles geboten, niemand kann es jemals befolgen, und es kann also keinerlei Handlung leiten. Trotzdem ist es äußerst wichtig sich klarzumachen, daß widersprüchliche normative Systeme sehr gut möglich sind und ihr Vorkommen, zumindest in bestimmten Gebieten wie etwa dem Recht, ziemlich häufig ist. Der Grund hierfür ist offensichtlich. Die Auswahl der Propositionen, die die Basis des 29 Für eine eingehende Analyse des Begriffs der Aufhebung siehe Alchourrón Makinson.

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Systems bilden (die Menge A ) , basiert auf bestimmten empirischen Tatsachen: Befehls- oder Erlassungsakten. Es ist nun nichts seltsames an der Idee, daß eine Autorität ρ gebietet, während eine andere Autorität (oder dieselbe Autorität vielleicht bei anderer Gelegenheit) ~ p gebietet. Es kann sogar ein und dieselbe Autorität zur selben Zeit ρ und ~ p gebieten, besonders wenn eine große Anzahl von Normen bei derselben Gelegenheit erlassen wird. Dies geschieht, wenn die Legislative ein sehr umfassendes Gesetz erläßt, z.B. ein Gesetzbuch, das manchmal vier- bis sechstausend Anordnungen umfaßt. Sie alle werden als zur selben Zeit von derselben Autorität erlassen angesehen, so daß es nicht wunder nimmt, daß sie manchmal eine gewisse Menge expliziter oder impliziter Widersprüche enthalten. Nichtsdestotrotz zögern viele Autoren, diese relativ einfache Tatsache anzuerkennen. Einige von ihnen (besonders deontische Logiker und Moralphilosophen) sind vielleicht beeinflußt von ihrem (direkten oder indirekten) Interesse an einem moralischen Diskurs, denn es scheint nur schwer zu akzeptieren zu sein, daß dieselbe Handlung gleichzeitig moralisch gut und schlecht (geboten und verboten) sein kann. In diesem Gedanken steckt ein Kern von Wahrheit. Er ist wahrscheinlich wahr für rationale Moral, aber höchstwahrscheinlich nicht wahr für positive Moral und ganz einfach falsch für positives Recht. Seltsamerweise gibt es auch Rechtsphilosophen, deren Hauptinteresse ja auf positives Recht gerichtet ist, die diese antiseptische Vorstellung teilen. Kelsen ist oder besser war unter den Rechtsphilosophen vielleicht der prominenteste Vertreter dieser Auffassung. In seinem Buch Reine Rechtslehre (1. Aufl. 1934) leugnet er nicht, daß Gesetzgeber widersprüchliche Gesetze erlassen können, aber er hält daran fest, daß das Rechts-System immer widerspruchsfrei ist. Dieses „Wunder" wird nach Kelsen von der Rechtswissenschaft vollbracht; Juristen merzen alle Widersprüche aus, und so wird „das Chaos zum Kosmos", d.h. „so wird die Fülle der von den Rechtsorganen gesetzten generellen und individuellen Rechtsnormen, das ist das der Rechtswissenschaft gegebene Material, erst durch die Erkenntnis der Rechtswissenschaft zu einem einheitlichen, widerspruchslosen System, zu einer Rechtsordnung". 3 0 Was Kelsen hier sagt, klingt vielleicht etwas zu optimistisch, aber es ist grundsätzlich wahr. Jedoch weit davon entfernt, seine Behauptung zu unterstützen, daß Rechtssysteme immer widerspruchslos sind, beweist es, daß diese falsch ist. Wenn nämlich Widersprüche ausgemerzt werden müssen, dann gibt es so etwas wie einen Widerspruch, der ausgemerzt werden muß. Q. E. D. Dieses Ergebnis wird sogar von Kelsen selbst bestätigt. In seinen letzten Veröffentlichungen (,Derogation' und ,Law and Logic 4 , beide enthalten in Weinbergers Ausgabe von Kelsens Essays in Legal and Moral Philosophy ) 30 Kelsen 1960, S. 74. 3*

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nämlich ändert Kelsen seine Meinung hinsichtlich normativer Konflikte radikal, eine Meinung, die er in allen seinen früheren Schriften aufrecht erhalten hatte. In ,Law and Logic' stellt Kelsen nun ganz deutlich fest, daß Konflikte zwischen Normen sehr gut möglich sind, wobei er unter „konfliktiven Normen" zwei Normen versteht, die unvereinbare Handlungen vorschreiben, z.B. ρ und ~ p . (Also entspricht Kelsens Vorstellung eines Normenkonflikts genau unserer „Widersprüchlichkeit zwischen Norm-Inhalten".) Solche Konflikte unterscheiden sich nach der neuen Doktrin insofern von logischen Widersprüchen, als zwei widersprüchliche Propositionen nicht beide wahr sein können, während zwei konfliktive Normen beide gültig sein können in dem Sinne, daß sie von kompetenten Autoritäten erlassen worden sind. Ein solcher Konflikt kann nur gelöst werden - nach Kelsens neuer Meinung - durch exlizites oder implizites Aufheben einer (oder beider) der zwei konfliktiven Normen. Kelsens neuer Standpunkt stimmt also völlig mit den Ansichten überein, die in dieser Arbeit vertreten werden. Es ist natürlich eine rein terminologische Frage, ob der Ausdruck „System" nur auf Mengen von Norm-Inhalten angewandt wird, deren Widersprüche schon bereinigt wurden, oder ebenso auf widersprüchliche Mengen. Wichtig ist nur, die Widersprüche festzustellen und die Methoden zu untersuchen, die zu ihrer Entfernung benutzt werden. Dies möchten wir in diesem Abschnitt leisten. Interessanterweise erkennen Juristen (die nicht von der Philospohie angesteckt sind) ohne weiteres die Möglichkeit von Widersprüchen im Recht an. Dies wird bewiesen durch die Tatsache, daß es alte traditionelle Prinzipien für die Lösung solcher Konflikte gibt. Die Prinzipien des lex posterior, lex superior und lex specialis hätten überhaupt keine Verwendung, wenn es keine Widersprüchlichkeiten in rechtlichen Anordnungen gäbe. Allein die Tatsache, daß Juristen oft auf solche Prinzipien zurückgreifen, zeigt zumindest, daß sie glauben, daß normative Widersprüche durchaus möglich sind. Und dieser Glaube ist kein Irrtum. Wie werden Fälle von Widersprüchlichkeit in der Rechtspraxis behandelt? Zwei Situationen müssen unterschieden werden: (a) Wenn eine gesetzgebende Autorität einen Widerspruch in einem Rechtssystem entdeckt, kann sie entweder einen oder beide der konfliktiven Norm-Inhalte aufheben, oder sie kann die Dinge lassen, wie sie sind, im Vertrauen auf die Fähigkeit der Richter, den Konflikt zu lösen. Wenn sie sich für die Derogation einer oder beider der konfliktiven Norm-Inhalte entscheidet, ist damit das Problem gelöst. Das Seltsame bei der Derogation ist die Tatsache, daß eine Lösung des Konflikts erreicht werden kann durch eine eher unerwartete Vorgehensweise (zumindest, wenn man den klassischen Begriff der Folgerung akzeptiert): durch die Derogation einer beliebigen Proposition! Dies ist leicht zu beweisen. Ange-

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nommen, ρ und ~ p sind Elemente von Cn(A), und der Gesetzgeber lehnt q ab; in diesem Falle ist { p, ~ p } eine der abgelehnten Mengen (da aus einem Widerspruch jede Proposition einschließlich q abgeleitet werden kann), und mindestens eins ihrer Elemente muß ausgeschlossen werden. Es genügt, daß eine Proposition nicht Element eines Systems ist, damit dieses widerspruchslos ist. Folglich garantiert die Aufhebung irgendeiner Proposition die Widerspruchsfreiheit des Systems. Das einzige Problem, das in diesem Zusammenhang auftreten kann, ist die Unbestimmtheit des Rest-Systems. (b) Die Lage des Richters scheint eine andere zu sein. Richter sollen das Recht anwenden, nicht es ändern. Sie haben nicht die Kompetenz oder Macht, um von der Legislative erlassene Gesetze aufzuheben (außer vielleicht im Falle verfassungswidriger Gesetze). Was können Richter angesichts eines widersprüchlichen Sytems tun? Welche Methoden wenden sie bei der Bewältigung solcher Situationen tatsächlich an? A n dieser Stelle müssen wir daran erinnern, daß Rechtssysteme nicht nur Mengen von Normen, sondern hierarchische Strukturen sind. 31 Es gibt bestimmte hierarchische Beziehungen zwischen Rechtsnormen oder, wie wir sagen würden, zwischen zu einem Rechtssystem gehörigen Norm-Inhalten. Solche Hierarchien können vom Gesetzgeber festgelegt werden (d.h. durch Gesetze selbst) oder bestimmt sein durch irgendwelche allgemeinen Kriterien, die begründet sind im Zeitpunkt des Erlasses (lex posterior), in der Kompetenz der erlassenden Autorität (lex superior) oder in dem Allgemeinheitsgrad der Norm-Inhalte (lex specialis). Sie können sogar vom Richter selbst unter Gebrauch seiner persönlichen Präferenzkriterien vorgeschrieben werden. 32 Wie im Fall der Ambivalenz sind die drei allgemein anerkannten traditionellen Prinzipien nicht ausreichend, um alle möglichen Widersprüche zu lösen. Manchmal müssen Richter auf weitere Kriterien zurückgreifen, die z.B. auf Gerechtigkeitsüberlegungen oder auf anderen, in Verbindung mit dem Fall stehenden Werten basieren. Die hierarchische Anordnung des Systems gestattet es dem Richter, einige Norm-Inhalte oder Mengen von Norm-Inhalten anderen vorzuziehen und so hierarchisch niedriger stehende Mengen außer Betracht zu lassen. In solchen Fällen neigen Juristen dazu zu befinden, daß es sich um einen scheinbaren Konflikt handelt und es eigentlich gar keinen Widerspruch gegeben hat. Dies kann völlig richtig sein, vorausgesetzt, man versteht unter „Normensystem" nicht eine Menge sondern eine geordnete Menge von Norm-Inhalten, 31

Dies wird von den meisten Rechtsphilosophen betont. Vgl. Kelsen, Alf Ross, Hart. Vom logischen Standpunkt aus ist eine solche Anordnung entweder eine Partialordnung (eine reflexive, transitive und anti-symmetrische Relation) oder eine schwache Ordnung (eine reflexive, konnexe und transitive, aber nicht unbedingt anti-symmetrische Relation). Die erste Alternative (Partialordnung) wird m Alchourrón - Makinson ausführlich untersucht. 32

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wobei die Ordnungs-Relationen dem Begriff des Normensystems als fester Bestandteil angehören. Dies zeigt, daß Juristen - zumindest in bestimmten Zusammenhängen - dazu neigen, den Ausdruck „Normensystem" in dieser speziellen Bedeutung zu gebrauchen. Wenn wir aber unter „Normensystem" eine geordnete Menge von NormInhalten verstehen, dann verändert jede Änderung der Ordnungs-Relation eo ipso das System selbst. Die Tatsache, daß als Ergebnis einer neuen Anordnung das System unterschiedliche Lösungen für dieselben spezifischen Fälle anbietet, zeigt, daß es ein anderes, mit dem ursprünglichen nicht identisches System ist, selbst wenn es dieselben Elemente (Norm-Inhalte) enthält. Trotzdem ist die Vorstellung weitverbreitet, daß Derogation (die bestimmte Norm-Inhalte gänzlich entfernt) eine viel grundsätzlichere Operation ist als einfaches Ordnen und daß deswegen der Richter, obwohl er eine neue Ordnung vorschreiben oder die existierende verändern kann, gesetzlich erlassene Norm-Inhalte aus den gleichen Gründen nicht aufheben kann, aus denen er keine neuen Normen erlassen kann. Dies beruht auf dem Gedanken, daß das System im Grunde identisch bleibt, solange es dieselben Elemente enthält, und daß also der Richter, der die Elemente des Systems „nur" ordnet, dieses nicht verändert und folglich die Grenzen seiner Macht nicht überschreitet. Ordnung wird demnach angesehen als eine viel elastischere und weniger dauerhafte Operation als Derogation. Diese Vorstellung ist aber falsch. Der Eindruck, daß die Entfernung einer oder mehrerer Propositionen durch Derogation irgendwie fundamentaler und dauerhafter sei als die Auferlegung einer Ordnung auf ein System, beweist sich als reine Illusion. Eine Änderung der Ordnung ist genauso fundamental wie die Entfernung von Elementen; tatsächlich sind beide Vorgänge im Grunde äquivalent. 33 Diejenigen Norm-Inhalte, die durch eine Umordnung „beiseite gelegt" oder außer Acht gelassen werden, sind ebensowenig anwendbar (bezüglich dieser Ordnung), als wenn sie aufgehoben würden. Auch bezüglich der angeführten Dauerhaftigkeit der Derogation gibt es keinen Unterschied. Eine von der Legislative vorgenommene Derogation kann für eine nur sehr kurze Zeit bestehen, wenn die Legislative ihre Meinung ändert und die aufgehobenen Norm-Inhalte erneut erläßt. Andererseits kann eine von einem Richter vorgenommene Ordnung eine sehr lange Lebensdauer haben, wenn auch andere Richter sie übernehmen. Die Frage nach der zeitlichen Dauer ist also für diese Angelegenheit völlig irrelevant.

33 In dem Sinne, daß jeder Derogation eine (Menge von) Ordnung(en) entspricht und jeder Ordnung eine Derogation. Für einen ausführlichen Beweis siehe Alchourrón - Makinson. Sie sind aber nicht ganz identisch: eine einem System auferlegte Partialordnung überträgt Eindeutigkeit auf ansonsten unbestimmte Derogationen mittels eines Prozesses der rangmäßigen Ordnung der verschiedenen Restmengen.

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Die sehr umstrittene Frage, ob Richter Recht „schaffen" oder nur anwenden, kann zugunsten der ersten Annahme entschieden werden, zumindest in der Hinsicht, daß sie das Rechtssystem verändern, indem sie seinen Elementen eine Ordnung auferlegen, wenn sie Widersprüche lösen müssen, wobei sie einige Norm-Inhalte außer Acht lassen (was soviel bedeutet wie sie aufzuheben). Nichtsdestotrotz sind dies zwei unterschiedliche Methoden, die von unterschiedlichen Arten von Autoritäten angewandt werden (legislativer Autorität im Falle der Derogation, richterlicher Autorität im Falle der Ordnung), obwohl diese beiden Methoden zu im Grunde identischen Ergebnissen führen (und es deswegen gerechtfertigt ist, sie äquivalent zu nennen). Beide dienen der Lösung des gleichen Problems: der Widersprüchlichkeit eines normativen Systems. Dies zeigt, daß Widersprüchlichkeit in der Tat behandelt wird als ein Problem, das eine Lösung erfordert, und daß es also Widersprüche und widersprüchliche Systeme gibt. V I L Erlaubnis Für die imperative Normentheorie (welche die populärste Variante der expressiven Auffassung ist) gibt es nur eine Art normativen Akts (das Befehlen); also gibt es nur gebietende Normen, die Handlungen und Unterlassungen vorschreiben und somit Gebote und Verbote entstehen lassen. Erlaubnis scheint eine rein negative Idee zu sein; es ist das Fehlen eines Verbots. Es kann also erlaubte Sachverhalte geben, aber bis jetzt gibt es weder permissive Akte (d.h. Akte, die eine Erlaubnis erteilen) noch permissive Normen. Wie kann diese Theorie Akte erklären, die eine Erlaubnis oder Autorisierung erteilen? Wenn Rex sagt: „Hiermit erlaube ich, daß p", wie kann dann dieser Sprechakt analysiert werden? Es scheint zwei mögliche Wege aus dieser Schwierigkeit zu geben, (i) Ein Weg ist die Beschreibung des Akts als die Derogation eines Verbots, d.h. als Derogation von p. (ii) Ein alternativer Weg ist die Anerkennung einer neuen Art von normativem A k t , des Akts des Gewährens einer Erlaubnis (kurz: Erlaubnisakt). Wird dies anerkannt, so muß auch die Existenz zweier Arten von Normen anerkannt werden, nämlich gebietender Normen und Erlaubnisnormen (in der Bedeutung, in der ein Expressivist den Ausdruck „Norm" verwendet). Eine Erlaubnisnorm ist - wie eine gebietende Norm - ein sinnvoller Satz in seinem besonderen, d.h. permissiven Gebrauch. Der A k t der Gewährung einer Erlaubnis kann also beschrieben werden als der A k t des Erlassens einer Erlaubnisnorm. 34 34 Es gibt relativ wenige Expressivisten, die diese zweite Interpretation anerkennen. Vgl. Moritz 1963, der einer der wenigen ist.

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Diese beiden Vorschläge sollen getrennt untersucht werden. (i) Die zweite Analyse beinhaltet die explizite Anerkennung einer neuen Art normativen Akts; dies ist wahrscheinlich der Grund, warum sie weniger verbreitet ist unter Expressivisten, die sich in gewisser Weise mit Ockham verbunden fühlen. Wie aber in Abschnitt I I I . dargestellt wurde, führt auch die erste Analyse implizit zur Anerkennung eines neuen normativen Akts: des Ablehnungsakts. Da aber bisher Philosophen und Logiker dem Begriff der Derogation wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben, ist noch keine vollständige Analyse des Ablehnungsakts ausgearbeitet worden. 35 Dies ist ein ernstes Manko der heutigen expressivistischen Theorien. Nur wenn der Ablehnungsakt als grundlegender und unabhängiger normativer A k t anerkannt wird, kann die expressive Auffassung so wichtige Dinge wie Derogation und Erlaubnis erklären. Wenn dies erst einmal geschehen ist, dann gibt es zwei verschiedene Begriffe von Erlaubnis: negative Erlaubnis (Fehlen eines Verbots) und positive Erlaubnis (Derogation eines Verbots). Positive Erlaubnis ist an einen positiven A k t , den Ablehnungsakt gebunden und demnach an einen Ambivalenzkonflikt. Dieser Konflikt kann tatsächlich oder nur potentiell vorliegen, wenn ρ bisher nicht verboten worden war. Ist der Konflikt dadurch gelöst, daß man der Ablehnung den Vorzug gibt und das Verbot (durch Subtraktion) entfernt wird, dann ist ρ im positiven Sinne erlaubt. Der Hauptunterschied zwischen negativer und positiver Erlaubnis scheint (neben ihrem unterschiedlichen Ursprung) der folgende zu sein: Ist ρ negativ erlaubt, so gibt es keinen Konflikt, wenn eine Autorität ρ verbietet: ~ p wird zu dem System hinzugefügt, und im neuen System ist nicht länger wahr, daß ρ erlaubt ist. Ist ρ aber positiv erlaubt, so entsteht aus jedem A k t des Verbietens von ρ ein Ambivalenzkonflikt, der nach einer Lösung verlangt. Nur wenn dieser Konflikt zugunsten des Verbotsakts gelöst wird, wird wahr sein, daß ρ (im neuen System) verboten ist. 3 6 (ii) Wenden wir uns jetzt der zweiten Analyse von erlaubnisgewährenden Sätzen zu. Für diese Analyse gibt es zwei unterschiedliche Akte: Befehlen und Erlauben, Erlassen (Setzung) einer gebietenden Norm und Erlassen einer Erlaubnisnorm. Folglich gibt es auch zwei Arten von Erlaubnis: negative oder 35

Z u diesem Thema gibt es einige wertvolle Anmerkungen. Vgl. Hare 1952, S. 21: "Modal sentences containing the word 'may' could, it seems, be represented by negating the neustic; thus 'You may shut the door' (permissive) might be written Ί don't tell you not to shut the door' and this in turn might be rendered 'Your not shutting the door in the immediate future, not-please'." Wenn man die Negation des neustic als Ablehnung ansieht - wie in Anmerkung 22 vorgeschlagen - , so bedeutet Hares Vorschlag die Analyse des Erlaubnisakts mittels einer Ablehnung. 36 Manche Autoren interpretieren Erlaubnis als Ausnahme zu einer verbietenden Norm. Dies kann erklärt werden als partielle Derogation des Norm-Inhalts, d.h. als Derogation einiger der Folgen der verbietenden Norm.

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schwache Erlaubnis (Fehlen eines Verbots) und starke Erlaubnis, die durch eine Erlaubnisnorm gegeben wird. Starke Erlaubnis ist wie positive Erlaubnis mit einem Verbot unvereinbar, aber der Konflikt scheint hier nicht ein Konflikt der Ambivalenz, sondern des Widerspruchs zwischen zwei Normen zu sein. Es ist jedoch anzumerken, daß dieser Widerspruch nicht der klassische Widerspruch ist, bei dem ρ und ~ p beide Elemente der befohlenen Menge sind. Nach unserer Hypothese wurde ~ ρ befohlen, also gehört ~ p zur befohlenen Menge, aber ρ war nicht befohlen worden; es ist erlaubt worden. Was passiert mit ρ als Folge seines Erlaubtseins? Es kann sicherlich nicht der befohlenen Menge angehören, denn in diesem Falle wäre wahr, daß ρ geboten ist. Mit anderen Worten: Wie sollen wir das System konstruieren, wenn wir zwei Arten der Erlassung anerkennen? Wir können nicht alle erlassenen Norm-Inhalte zusammenfassen, denn dann könnten wir nicht unterscheiden zwischen Geboten und Erlaubnissen. (Für einen Expressivisten kann der Unterschied nur in der Art des Erlasses, d.h. des Erlassensakts liegen und nicht im begrifflichen Inhalt des Akts; gäbe es einen Unterschied in der Proposition, würde dies die Anerkennung der hyletischen Auffassung bedeuten!) Der einzige Ausweg scheint die Bildung von zwei Mengen zu sein: der Menge der gebotenen Propositionen (der befohlenen Menge A ) und der Menge der erlaubten Propositionen (der erlaubten Menge B). Wollen wir ein nicht-ambivalentes System, dann müssen wir die beiden Mengen irgendwie vereinen. Offensichtlich wäre die Subtraktion der erlaubten von der befohlenen Menge kein gangbarer Weg. Wir wollen keine Gebote, sondern Verbote entfernen; wenn also ρ verboten und folglich ~ ρ Element von A ist und ebenso ρ erlaubt und demnach Element von Β ist, müssen wir nicht p, sondern seine Negation ( ~ p ) von A subtrahieren. Deswegen verlangt die Vereinigung die Subtraktion der Negationen der Propositionen, die Elemente der erlaubten Menge sind, von der befohlenen Menge. 37 Ist also ρ erlaubt, so muß ~ p subtrahiert (aus A ausgeschlossen) werden und umgekehrt. Also zieht die Erlaubnis von ρ die gleiche Operation nach sich wie die Ablehnung von ~ p . A n diesem Punkt möchte man fragen: Gibt es wirklich zwei unterschiedliche Analysen? Was ist der Unterschied zwischen dem Erlassen einer Erlaubnis und der Derogation eines Verbots? Was ist der Unterschied zwischen dem A k t des Erlaubens von ρ und dem A k t des Ablehnens von ~ p? Tatsächlich gibt es zwischen den beiden Begriffen sehr starke Analogien: (1) Das Befehlen einer Proposition ist unvereinbar mit dem Erlauben ihrer Negation, ganz genauso wie das Befehlen von ρ unvereinbar ist mit dem 37

Die Bildung von zwei Mengen, einer Menge erlaubter Propositionen und einer Menge ihrer Negationen, wäre ebenso nutzlos wie die Trennung der gebotenen von den verbotenen Propositionen. In beiden Fällen haben wir die gleiche Haltung bezüglich zweier widersprüchlicher Propositionen.

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Ablehnen von p. In beiden Fällen haben wir einen Ambivalenzkonflikt (zwei unvereinbare Haltungen bezüglich derselben Proposition). (2) Die Menge der Negationen von erlaubten Norm-Inhalten (die von der befohlenen Menge zu subtrahieren ist) ist formal identisch mit der Menge der abgelehnten Propositionen, denn sie ist auf die gleiche Weise konstruiert. (3) Die Operation der Subtraktion ist die gleiche: die Identität des Subtrahenden bestimmt die Identität der Restmenge. (4) Starke Erlaubnis erweist sich als dasselbe wie positive Erlaubnis. Man gewinnt den Eindruck, daß beide Analysen im Grunde äquivalent sind in dem Sinne, daß sie zwei verschiedene Beschreibungen derselben Situation geben. Wenn dies so wäre, wäre es ein recht überraschendes Ergebnis; es würde die Fruchtbarkeit des Begriffs der Derogation und seine Wichtigkeit für die Normentheorie zeigen. Auf den Begriff der Erlaubnisnorm könnte man verzichten; dies wäre eine Tatsache, die den Standpunkt derjenigen Expressivisten rechtfertigen würde, die nur gebietende Normen anerkennen, vorausgesetzt sie akzeptieren den Begriff der Derogation.

V I I I . Schlußfolgerungen Wir sind nun in der Lage, aus den vorausgegangenen Analysen einige Schlußfolgerungen zu ziehen; wir werden dies tun, indem wir die hyletische und die expressive Auffassung von Normen (im folgenden H A und E A ) vergleichen. (1) H A beruht auf einer sehr starken ontologischen Grundvoraussetzung platonischer Färbung: der Annahme, daß es präskriptive Propositionen gibt. Für E A wird keine solche Grundvoraussetzung benötigt. (2) Der Preis, den E A für diesen Vorteil zahlen muß, ist die Ausbreitung illokutionärer Akte: sie muß einerseits unterscheiden zwischen Behaupten und Befehlen; andererseits zwischen zwei Arten des Ablehnens (deskriptivem und präskriptivem Ablehnen). Für H A gibt es nur zwei Arten von Akten: Behauptung und Ablehnung, weil Befehlen nur das Behaupten einer O-Norm und Erlauben das Behaupten einer P-Norm ist. Und es gibt nur eine Art der Ablehnung; was variiert, ist der Inhalt dieses Akts; er kann eine deskriptive oder eine präskriptive Proposition, d.h. eine Norm, sein. (3) E A kann auf Erlaubnisnormen verzichten, denn sie kann erlaubnisgewährende Akte erklären durch Derogation (Ablehnung und Subtraktion). Für H A kann es Erlaubnisnormen auf der gleichen Ebene wie gebietende Normen (O-Normen) geben.

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(4) Für E A gibt es zwei Arten von Unvereinbarkeit: Konflikte zwischen Norm-Inhalten (normative Widersprüchlichkeit: !p und ! ~ p ) und Konflikte zwischen Akten des Erlassens und des Ablehnens (Ambivalenz: !p und jp). Für H A gibt es zwei Arten von Widersprüchlichkeit zwischen Normen: die Widersprüchlichkeit zwischen Gebot und Verbot (Op und 0 ~ p ) und die Widersprüchlichkeit zwischen Verbot und Erlaubnis ( 0 ~ p und Ρ ρ oder, was das gleiche ist, Ο ρ und ~ O p ) . Neben diesen zwei Arten von Widersprüchlichkeit zwischen Normen gibt es den Haltungskonflikt zwischen Erlaß und Ablehnung (Ambivalenz). Ob die Widersprüchlichkeit zwischen Verbot und Erlaubnis reduziert werden kann auf einen Ambivalenzkonflikt (wie die Analyse in Abschnitt V I I . nahelegt), kann als eine offene Frage angesehen werden. (5) Für H A gibt es zwei Logiken: eine Logik der Normen und eine Logik normativer Propositionen (eine Logik der Erlassung und Derogation). Die Logik der Normen befaßt sich mit logischen Beziehungen zwischen präskriptiven Propositionen (Normen); sie ist eine besondere normative Logik. 3 8 Die Logik normativer Propositionen befaßt sich mit logischen Beziehungen zwischen deskriptiven Propositionen über normative Systeme. Ihr Ziel ist die Entwicklung einer umfassenden Logik normativer Systeme, die als Spezialfall von Tarskis Logik der Systeme aufgefaßt werden kann. Von besonderem Interesse wäre eine Logik, die in der Lage wäre, dem dynamischen Charakter normativer Systeme Rechnung zu tragen, d. h. ihrer zeitlichen Entwicklung durch Akte des Erlassens und der Derogation. (Es braucht nicht erwähnt werden, daß in ihrem aktuellen Zustand die deontische Logik vom Erreichen dieses Ziels weit entfernt ist.) 39 (6) Für E A gibt es nur eine mögliche Logik: die Logik (deskriptiver) normativer Propositionen, im gleichen Sinne wie für H A . Diese deontische Logik sieht der „klassischen" deontischen Logik von Wrights sehr ähnlich, 40 aber mit zwei wichtigen Unterschieden: (a) Normative Propositionen sind immer bezogen auf ein ganz bestimmtes normatives System. Deswegen die Indices in Formeln wie 0 A (p). (b) Das Gesetz deontischer Subalternation 0 A (p) =5 Ρ Α ( ρ ) - analog zu von Wrights Theorem Ο ρ —» Ρ ρ - gilt nicht uneingeschränkt. 41 Es gilt nicht für widersprüchliche Systeme, und eine der wichtigsten Thesen dieser Arbeit ist, daß normative Systeme widersprüchlich sein können. Von dem, was in Abschnitt V I . und V I I . gesagt wurde, folgt aber, daß ein System widerspruchsfrei ist: (i) wenn es mindestens eine derogierte Proposition gibt; (ii) wenn der Begriff der Folgerung eingeschränkt wird durch eine Ordnungsrelation, die dem System auferlegt wird 4 2 , und (iii) wenn es mindestens 38 39 40 41 42

Vgl. Alchourrón 1969, 1972, und Alchourrón - Bulygin 1971. Einige Hinweise in diese Richtung sind bei Alchourrón - Makinson zu finden. Von Wright 1951 und 1968. Vgl. Lemmon 1965. Vgl. Alchourrón - Makinson.

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eine positiv erlaubte Proposition gibt. (Tatsächlich laufen die drei Bedingungen auf das gleiche hinaus: Derogation mindestens eines Norm-Inhalts.) D i e Bedingungen, unter denen ein System widerspruchsfrei ist (und das Gesetz deontischer Subalternation gilt) sind äußerst schwach u n d leicht zu erfüllen. (Deutsch v o n R u t h Zimmerling)

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Carlos E. Alchourrón und Eugenio Bulygin

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Grenzen der normativen Sprache am Beispiel des Rechts Von Genaro R. Carrió I. Interne Grenzen normativer Sprache Wie der Titel dieses Essays mit gewissem Nachdruck nahelegt, werde ich mich mit der normativen Sprache und ihren Grenzen beschäftigen. Drei einführende Erläuterungen oder Hinweise halte ich für notwendig: Erstens. Unter normativer Sprache werde ich im weiteren Sinne die Sprache verstehen, die wir benutzen, um Akte wie etwa die folgenden zu vollziehen: verbieten, autorisieren, gewisse Arten von Kritik anbringen, entschuldigen, rechtfertigen; Rechte gewähren oder anerkennen; behaupten, daß jemand eine Kompetenz, eine Pflicht, ein Recht, eine Verantwortung hat (oder nicht hat); Pflichten oder Verpflichtungen auferlegen; behaupten, daß eine von jemandem begangene Handlung eine Übertretung ist (oder nicht ist) oder eine Belohnung oder Strafe verdient (oder nicht) usw. Zweitens. Unter Grenzen normativer Sprache werde ich eine nicht-homogene Gruppe von Dingen verstehen, die - so hoffe ich - im Laufe der Abhandlung ausreichend klar werden sollten. Damit aber von Anfang an verständlich werden kann, auf was ich mich mit diesem Ausdruck beziehe, sei gesagt, daß der Gebrauch einer normativen Sprache oder bestimmter, zu dieser gehöriger Ausdrücke manchmal diverse Formen von Unsinn im weitesten Sinne dieses Wortes hervorbringt, einschließlich der Ungereimtheit und der Absurdität. Hinzugefügt sei, daß es nützlich ist, diese Formen von Sinnlosigkeit zu untersuchen, unter anderem auch deswegen, weil einige davon dazu beitragen, von außen her das Gebiet abzugrenzen, innerhalb dessen man normative Sprache sozusagen ernsthaft benutzen kann und außerhalb dessen diese, um eine bekannte Metapher zu wiederholen, feiert bzw. wie verrückt leerzulaufen beginnt wie eine Turbine, die sich in der Luft außerhalb ihres Getriebes dreht. 1 Drittens. Das Thema dieses Essays ergab sich für mich aus einigen juristischen Problemen, die sehr eng mit Fragen von großem allgemeinem Interesse zusammenhängen. Trotzdem werde ich bemüht sein, der Abhandlung kein rein juristisches Interesse zu unterlegen, falls überhaupt. Ich werde mich nicht 1 Die Metapher ist aus Wittgenstein, 88, 132, etc.

Philosophical Investigations, Oxford 1958, § 38,

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mit den Grenzen der juristischen normativen Sprache befassen, sondern mit den Grenzen normativer Sprache an sich, obwohl eines meiner Beispiele, das am weitesten entwickelt werden wird, mit dem Recht zu tun hat. Zu Anfang werde ich anhand einiger weniger Beispiele ein Paar Unsinnigkeiten aufzeigen, die dem Gebrauch normativer Sprache entspringen, wenn der, der sie benutzt, die schwierige Pirouette ausführen will, einige ihrer internen Grenzen und Schranken zu überschreiten, ohne sie wirklich zu durchbrechen, das heißt wenn jemand ein linguistisches Werkzeug, das zu bestimmten Zwecken dient, für einen mit diesen verwandten Zweck benutzen will, für den es nicht geeignet ist. Es ist etwa so, als wollte man versuchen, Suppe mit der Gabel zu essen. Wie im Falle dieser Analogie pflegt das Ergebnis eines solchen falschen Gebrauchs entweder komisch oder lächerlich zu sein. Wenn wir so handeln, bringen wir einen Unsinn hervor, der durch eben diese Art von Ergebnis charakterisiert wird. Der Unterschied zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung, zwischen dem A k t des Rechtfertigens eines Verhaltens und dem seiner Entschuldigung, ist wohl bekannt. Die Verwechslung der Funktion des einen mit der des anderen Aktes - z. B. sich rechtfertigen zu wollen, indem man etwas vorbringt, was nur zur Entschuldigung dient - erzeugt gewöhnlich besondere Formen von Unsinn. Ich erinnere mich an einen alten Film aus den 30er Jahren, in dem eine außergewöhnliche Gestalt auftrat, die dieser Verwechslung wiederholt erlag und damit einen komischen Effekt erzielte. Es handelte sich um einen heruntergekommenen Adligen, der ständig Dinge in Geschäften stahl. Er war, wie man zu sagen pflegt, ein Langfinger. Als man ihn in flagranti ertappte und ihn daran hindern wollte, weiterhin fremdes Eigentum zu stibitzen, setzte dieser Mann von Adel die Miene eines beleidigten Adligen auf, zog ein zerknittertes Papier aus der Tasche, hielt es seinem Gesprächspartner unter die Nase und sagte dazu: „Belästigen Sie mich nicht, mein Herr. Sie müssen wissen, daß ich Kleptomane und als solcher von der medizinischen Fakultät von Paris anerkannt bin!" Die Komik der Situation ergab sich ganz klar daraus, daß diese Person versuchte, sich mit Hilfe einer Entschuldigung zu rechtfertigen. Als ob das Kleptomanie-Zertifikat, anstatt im besten Falle als Entschuldigung zu dienen, etwas wie ein Diplom oder ein Patent wäre, das ihm das Recht zum Stehlen verliehen hätte. In anderen Fällen besteht diese Form des Unsinns, die - wie ich gesagt habe - entsteht, wenn wir illegitimerweise bestimmte interne Grenzen der normativen Sprache zu überwinden suchen, in einer Verwechslung der Befreiung von einer Pflicht mit der Übertretung derselben. Dies geschieht offensichtlich im Falle der Frau, die in einer Erzählung von Chamico mit Genugtuung erklärt, daß ihr Sohn durch Desertion vom Militärdienst befreit wurde. Eine ähnliche, wenn auch nicht genau gleiche Pirouette ist die, welche der Verfasser des Vorworts einer Ausgabe von Burtons The Anatomy of Melancholy in vollem Bewußtsein ihrer Wirkung vollführt, wenn er den Fall eines älteren Pfarrherrn

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beschreibt, der „es geschafft hatte, die Bürde seiner Pflichten durch Übertragung auf andere und durch Vernachlässigung zu erleichtern". I I . Normative Sprache und kontextbedingte Voraussetzungen Die Beispiele, die ich im folgenden geben werde, veranschaulichen eine andere Form von Unsinn, die ebenfalls Aufmerksamkeit verdient. Nehmen wir an, eines Nachts dringen Räuber in mein Haus ein. Es gelingt ihnen, die ganze Familie zu überwältigen, und sie treiben uns mit vorgehaltenem Revolver im Wohnzimmer zusammen. Während zwei der Räuber uns mit ihren Schießeisen in Schach halten, konzentriert sich ein dritter auf die Aufgabe, alles, was er an Wertobjekten finden kann, in einen Sack zu stecken. Plötzlich hält er inne, wendet sich an mich, zeigt auf das Telefon und fragt: „Darf ich mal telefonieren?". Offensichtlich ist diese Frage fehl am Platze. Sowohl eine zustimmende wie auch eine ablehnende Antwort darauf wäre absurd, wie es auch die Frage selbst ist. Man beachte - denn dies ist von Interesse - , daß eine solche Frage ebenso wie die möglichen Antworten darauf auch in einer anderen als der geschilderten Situation absurd sein könnten. Nehmen wir an, in meinem Haus sei ein Brand ausgebrochen. Um den Brandherd zu bekämpfen und auch um dahin vorzudringen, wo meine Familie und ich, eingeschlossen von den Flammen, sich befinden, reißen die Feuerwehrleute eine Mauer nach der anderen mit der Spitzhacke ein. Schließlich schlägt ein kleines Kontingent von ihnen die letzte Wand ein und stößt zu uns durch, eingehüllt in Rauch und den Staub der Trümmer. Der Anführer des Trupps sieht das Telefon und fragt: „Darf ich mal telefonieren?". Worin besteht das Absurde dieser Bitten um Erlaubnis in den erzählten Begebenheiten? Es besteht darin, daß in Situationen wie diesen in dramatischer Deutlichkeit einige der grundlegenden Voraussetzungen fehlen, die stillschweigend die „ernsthafte" Einhaltung bestimmter Höflichkeitsnormen bedingen. Aus diesem Grunde gerät die Erfüllung dessen, was jene unter normalen Umständen verlangen, nämlich um Erlaubnis zu bitten, wenn man das Telefon in einem fremden Haushalt benutzen will, zur Absurdität, und folglich wird es genauso absurd, mit „Ja" oder „Nein" zu antworten. Diese Form von Unsinn ist verschieden von der, die ich im vorigen Abschnitt verdeutlicht habe. Es handelt sich schon nicht mehr um die Verletzung einer internen Grenze normativer Sprache, denn wir wollen nicht ein Werkzeug für eine Sache benutzen, das für eine andere Sache gemacht ist. Es ist nicht so, als versuçhte man, Suppe mit der Gabel zu essen. Es ist vielmehr so, als ob ein Taucher sich den Taucheranzug anzöge, mit Tauchgerät und allem anderen, um ins Kino zu gehen. Hier fehlt eine oder fehlen mehrere der 4 Bulygin / Garzón Valdés

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normalen Voraussetzungen für den Gebrauch bestimmter Ausdrücke der normativen Sprache (in diesem Fall Ausdrücke, die die aktuelle Gültigkeit oder Angemessenheit bestimmter Höflichkeitsregeln voraussetzen). Fragen vom Typ „Erlauben Sie mir, dies zu tun?" setzen als Kontext eine Reihe von Tatsachen oder Umständen voraus, deren Fehlen in einer gegebenen Situation die Frage als fehl am Platz erscheinen läßt, um es einmal so auszudrücken, und sie ernsthaft weder mit Ja oder mit Nein zu beantworten erlaubt. Folglich liegt hier eine neue Form von Unsinn vor, die die Existenz anderer Arten von Grenzen aufdeckt. Dies sind Grenzen, welche die Anwendung einer Menge von Regeln ausschließen oder ganz „außen vor lassen", die einer Dimension der normativen Sprache angehören, und zwar wegen des Fehlens von kontextgegebenen Voraussetzungen, die diese Dimension oder, besser gesagt, diese Regeln betreffen. Es wäre nicht nur absurd, unter den geschilderten Umständen um Erlaubnis zur Benutzung des Telefons zu bitten. Ebenso absurd wäre es, wenn ich die Einbrecher oder die Feuerwehrleute dafür kritisieren wollte, daß sie ohne Verabschiedung weggegangen seien, und wenn ich ganz allgemein ein Urteil über das Verhalten der einen oder der anderen in den jeweiligen Ausnahmesituationen fällen wollte aus der Sicht gewisser Regeln der Höflichkeit oder auf Rechte pochen bzw. die Erfüllung von Pflichten verlangen wollte, die durch diese Regeln zugeteilt bzw. auferlegt werden. Diese spielen unter solchen Umständen keine Rolle. I I I . Externe Grenzen normativer Sprache 1. Eine seltsame Konsultation Im folgenden nähern wir uns einer abnormen Form rechtlicher Ungereimtheit oder besser gesagt einem Gebiet strikter Sinnlosigkeit, deren Präsentation und Untersuchung uns längere Zeit aufhalten wird. Sie macht, wie wir sehen werden, deutlich, daß es sozusagen externe Grenzen normativer Sprache gibt, und sie hilft uns bei der Erforschung der Zone, in der wir auf diese Grenzen stoßen könnten. Es ist angebracht, uns ihr allmählich zu nähern; hierzu mag das folgende, selbstverständlich imaginäre Beispiel nützlich sein. Nehmen wir an, Dr. Κ sei Rechtsanwalt und übe seinen Beruf in einem lateinamerikanischen Land aus. Dr. Κ genießt wohlverdientes Ansehen. Man hält ihn für einen ernsthaften und fähigen Fachmann. Eines Morgens kommt er in sein Büro. Seine Sekretärin unterrichtet ihn davon, daß die Herren X , Y und Ζ um einen gemeinsamen Konsultationstermin gebeten haben. Zum vereinbarten Zeitpunkt erscheinen die neuen Mandanten. Der Anwalt bittet sie in sein Büro. Nach den unerläßlichen Begrüßungsfloskeln fordert er sie auf, ihr Problem darzustellen. Die Besucher erklären als erstes, daß sie aus Gründen, die ihr Gegenüber leicht verstehen werde, die falschen Namen X , Y und

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Ζ benutzt hätten. Die Neuankömmlinge informieren Dr. K, daß sie Militärs von sehr hohem Rang seien und Schlüsselpositionen in den militärischen Strukturen des Landes einnähmen. Dann verkünden sie, daß die gesamten Streitkräfte, ohne Ausnahme, zu einer revolutionären Bewegung zusammengeschlossen seien, die noch in derselben Nacht losschlagen werde, um die Regierung zu stürzen. Sie hätten, so sagen sie, ein populäres Programm, das die Zustimmung der großen Mehrheit der Bevölkerung sicherstellen werde. Sie möchten nun wissen, ob sie unter dem im Lande geltenden Recht Befugnisse für die Ersetzung einer Regierung durch eine andere besitzen. Außerdem möchten sie wissen - und sie sind sehr daran interessiert, die Meinung von Dr. Κ hierzu kennenzulernen - ob sie befugt sind, eine Reihe von Klauseln der bis zu diesem Moment gültigen Verfassung zu ändern, da sie der Meinung sind, der Erfolg des von ihnen durchzuführenden populären Programms setze diese Änderungen voraus. In verständlicher Bestürzung versucht Dr. K, sich aus der Affäre zu ziehen. Er gibt vor, verstanden zu haben, daß seine Gesprächspartner von ihm wissen möchten, wie groß die Wahrscheinlichkeit dafür ist, daß die von ihnen vorgesehenen Veränderungen und Reformen allgemeine Anerkennung finden und dauerhaft sein werden. Dr. Κ sagt ihnen also zunächst, er müsse, um diese Frage beantworten zu können, unter anderem wissen, worin die Änderungen bestehen sollen. Er sieht sich jäh unterbrochen. „Nein", sagt einer der Besucher, „wir wollen nicht wissen, was wahrscheinlich in der Zukunft geschehen wird. Was wir wissen wollen ist, ob wir jetzt Kompetenzen oder Befugnisse für das besitzen, was wir vorhaben. Das heißt, eine neue Regierung einzusetzen und die Verfassung zu ändern, und zwar auf revolutionärem Wege." Die neuen Mandanten sagen Dr. K, daß er ihnen nicht sofort antworten muß; sie zögen es vor, daß er die Sachlage prüft und ihnen ein schriftliches Gutachten auf der Basis der Lehrmeinungen der besten Experten auf dem Gebiet des Verfassungsrechts erstellt. Sie kündigen an, daß sie am selben Abend wieder vorbeikommen wollen. Wieder allein und nachdem er sich von dem Schock erholt hat, fragt sich Dr. K: Was soll ich diesen Herren antworten?. Aber bevor er überhaupt beginnt, eine Antwort auf diese Frage zu suchen, stellt er sich folgende andere, die er für absolut vorrangig hält: Was genau wollen eigentlich seine neuen und ungewöhnlichen Mandanten wissen? Sie müssen doch wissen, daß das Strafgesetzbuch die Rebellion untersagt; daß Rebellion ein Delikt ist, etwas Verbotenes. Aber wenn er genau darüber nachdenkt, sagt sich Dr. K, dann haben sie ihn nicht gefragt, ob es erlaubt oder verboten ist zu rebellieren, d.h. eine Reihe von Handlungen durchzuführen in der Absicht, die Autoritäten zu stürzen oder, was dasselbe ist, sie mit Gewalt an der Fortsetzung der Regierungsausübung zu hindern. Was sie ihn gefragt haben ist, ob sie Befugnisse (oder Kompetenzen oder Ermächtigungen) besitzen zur Einsetzung einer neuen Regie4*

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rung anstelle derjenigen, die zu stürzen sie beabsichtigen - eine Einsetzung, die den Tatbestand des Sturzes voraussetzt - und ob sie Befugnisse (oder Kompetenzen oder Ermächtigungen) zur Änderung der Verfassung besitzen. Es handelt sich nicht um ein Problem der Gesetzlichkeit oder Nicht-Gesetzlichkeit bestimmter Handlungen, sondern um die Existenz oder Nichtexistenz von Befugnissen zur Durchführung bestimmter normativer Akte - eine neue Regierung einzusetzen, die Verfassung zu ändern - und infolgedessen um die Gültigkeit oder Ungültigkeit der in Ausübung dieser angenommenen Befugnisse durchgeführten Akte und festgesetzten Normen. Intuitiv schockiert Dr. Κ der Gedanke, daß das geltende Recht - daß irgendeine Rechtsordnung - seinen Besuchern und den von ihnen befehligten Kräften solche Befugnisse zugestehen könnte. Er erkennt eine gewisse Inkongruenz in der Vorstellung, daß eine normative Ordnung Befugnisse zu ihrer eigenen gewaltsamen Ersetzung zuweisen könnte. Dr. Κ weiß natürlich, daß es in der Vergangenheit Revolutionen gegeben hat und daß die Gerichte die allgemeinen Befehle als verbindlich erklärt haben, die von denjenigen ausgegeben wurden, die durch Revolution an die Macht gelangten und sich dort festsetzen konnten, und daß diese Anerkennung sich sogar auf allgemeine Befehle erstreckte, die zweifellos mit dem Text der zur Zeit der Revolution geltenden Verfassung unvereinbar waren. Aber Dr. Κ erkennt intuitiv, daß aus der Tatsache, daß es jemandem gelungen ist, eine Regierung zu stürzen, um sie durch eine andere zu ersetzen, nicht folgen muß, daß er zu einer solchen Ersetzung befugt war, und noch viel weniger, daß andere in Zukunft gleiche Befugnisse gegenüber anderen Regierungen hätten. Wer diese Befugnisse aus dem Erfolg jener Unternehmung ableiten wollte - denkt Dr. Κ - , der wäre einem irgendwie gearteten Fehlschluß verfallen, den zu entlarven nicht schwierig sein dürfte, falls er nicht sogar schon entlarvt ist. Andererseits jedoch scheint es Dr. Κ intuitiv schockierend, sich in seinem Gutachten dahingehend zu äußern, daß es sich für seine neuen Mandanten nicht lohne, sich die Mühe einer Revolution aufzuladen, weil alles, was sie tun würden, selbst wenn sie gewinnen sollten, unabänderlich ungültig wäre. Scheint die zustimmende Antwort („Sie besitzen Befugnisse!") ihm intuitiv auf einem irrigen Gedankengang zu beruhen, so erscheint ihm die ablehnende Antwort („Sie haben keine Befugnisse!") unentschuldbar naiv, vereinfachend oder sogar irrelevant. Man kann keinen Sinn darin erkennen, den Revolutionären zu sagen, ihr Unternehmen sei nutzlos, da sie nur ungültige Akte durchführen oder ungültige Normen festlegen könnten, weil die Revolutionäre wissen, daß - wenn sie die Macht übernehmen und erreichen können, daß ihre Befehle allgemeine Anerkennung finden - diese Befehle über kurz oder lang als gültige Normen anerkannt werden, da die Maßstäbe, die jene als ungültig hätten qualifizieren können, selbst ihre Gültigkeit verloren haben und zwar durch die Tatsache des Triumphs der Revolution selbst.

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Nach langen Grübeleien zieht Dr. Κ den Schluß, daß eine Frage, die keine sinnvolle Antwort zuläßt, einen sinnlose Frage ist, und daß man sinnlose Fragen zurückweisen muß. Er hält dies für die einzig angebrachte Haltung. Aber als er sich ans Schreiben macht, fällt ihm ein, daß seine Besucher verlangt haben, er solle seine Meinung auf die Lehren der Experten im Verfassungsrecht stützen. Bevor er die Antwort verweigert und erklärt, warum er es ablehnt, hält es Dr. Κ für klug zu prüfen, ob die Experten etwas Nützliches zu sagen haben zu jemandem, der sich in einer derart außergewöhnlichen Lage wie er befindet.

2. Begriff der ursprünglichen verfassungsgebenden

Gewalt

Welche Art von Hilfe würde wohl derjenige bei den Lehrern des Verfassungsrechts finden, der irgendwann einmal auf deren Texte zurückgehen müßte, um ein Gutachten zu erstellen wie das, welches unserem Dr. Κ solche Kopfschmerzen bereitet? Die Theoretiker des Verfassungsrechts würden ihm etwa folgendes sagen: 1. Verfassungen sehen im allgemeinen ihre eigene Änderung vor, zumeist mittels eines ad hoc-Verfahrens und/oder durch ein ad hoc-Organ. Ebenso wie es Legislative, Exekutive und Judikative gibt, die jede für sich durch die Verfassung als eine Einheit mit abgegrenzter Kompetenz konzipiert ist, so gibt es auch eine verfassungsgebende Gewalt, gleichfalls geschaffen durch die Verfassung, die nur handeln kann, indem sie sich den vorgesehenen Formalitäten unterwirft, und nur innerhalb des vorgegebenen Rahmens. 2. In Ausdrücken wie „legislative Gewalt" und „exekutive Gewalt" bezeichnet das Wort „Gewalt" einmal eine Menge von Kompetenzen und Befugnissen und ein anderes Mal, je nach dem Kontext, das mit diesen ausgestattete Organ. Dasselbe geschieht mit dem Wort „Gewalt", wenn wir von durch die Verfassung geschaffener verfassungsgebender Gewalt sprechen. 3. Die durch die Verfassung geschaffene verfassungsgebende Gewalt ist ein Geschöpf derselben wie auch die anderen Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative). Daher nennen die Theoretiker des Verfassungsrechts sie „abgeleitete verfassungsgebende Gewalt" und stellen ihr gegenüber das, was sie „ursprüngliche verfassungsgebende Gewalt" nennen. Das Konzept der ursprünglichen verfassungsgebenden Gewalt bezeichnet nicht ein Geschöpf der Verfassung, sondern deren Schöpfer beziehungsweise die unbegrenzte Menge allerhöchster Kompetenzen, die zur Schaffung der Verfassung ausgeübt werden. 4. Die ursprüngliche verfassungsgebende Gewalt ist originär, autonom und unbedingt. Sie ist originär, weil es über ihr weder de facto noch de jure irgendeine andere Gewalt gibt. Ihre Autonomie ist allein eine Folge ihres originären

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Charakters. Sie ist unbedingt, denn sie unterwirft sich in Erfüllung ihrer Aufgabe keinerlei Regel, sei diese inhaltlich oder formal (Burdeau, Traité de Science Politique, t. I I I , p. 174). 5. Die ursprüngliche verfassungsgebende Gewalt liegt immer außerhalb der Rechtsordnung. Sie ist von Natur aus keiner Gehorsamspflicht unterworfen. In ihrem ganzen Ausmaß tritt sie auf in Krisenzeiten, wenn die Gemeinschaft auf revolutionäre Weise den politischen und sozialen Rahmen sprengt (.Burdeau, op. cit., t. I I I , pp. 171, 172, 173 und 174). 6. Die ursprüngliche verfassungsgebende Gewalt „hat nur ein einziges Gesicht, und zwar das, unter dem sie ihre Unabhängigkeit von jeder staatlichen Anordnung enthüllt" (Burdeau, op. cit., t. I I I , p. 203). Wollten wir ein Phantombild dieses einzigen Gesichts ausarbeiten, so müßten wir die folgenden Züge und Merkmale berücksichtigen, die ihm zugeschrieben werden von denen, die es beschreiben (oder besser gesagt, von denen, die etwas zu beschreiben glauben): - sie ist, wie wir schon sagten, originär, autonom und unbedingt; - sie ist von Natur aus ohne Gehorsamspflicht; - sie ist einheitlich, unteilbar und völlig frei (Schmitt, Verfassungslehre, p. 77; Xifra Heras, Curso de Derecho Constitucional, t. I, p. 148); - sie ist selbst formlos und bildet alle Formen (Schmitt, op. cit., p. 80); - sie ist allerhöchste Autorität, frei von jeglicher Formalität, die auf sich selbst und in sich selbst gründet (Xifra Heras, ebd.); - sie ist permanent und unveräußerlich; ihre Ausübung - weit entfernt davon, sie zu vernichten - ist im Gegenteil ein Ausdruck ihrer selbst und reflektiert ihre Wesensart (Xifra Heras, ebd.); - ihre Lebenskraft und ihre Energie sind unerschöpflich (Schmitt, op. cit., p. 83); - sie ist eine allmächtige und unkontrollierbare Fähigkeit (Imaz, El poder constituyente, L L , t. 82, p. 971). 7. Diese Litanei schöpft die Charakteristiken der ursprünglichen verfassungsgebenden Gewalt keineswegs aus; deren Liste könnte viel länger sein. Es geht darum, daß wir verstehen müssen, daß sie eine Kompetenz ist (oder besitzt), die jeglicher Normenfestlegung vorausgeht, und daß diese Kompetenz unbegrenzt bzw. total ist. Der typische, wenn auch nicht der einzige Gebrauch des Konzepts von „ursprünglicher verfassungsgebender Gewalt" ist der zur Legitimierung oder Rechtfertigung revolutionärer Herstellung verfassungsmäßiger Normen. 8. Gegenüber der ursprünglichen verfassungsgebenden Gewalt, deren „einziges Gesicht" wir soeben mit Hilfe der Experten des Verfassungsrechts cha-

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rakterisiert haben, erhebt sich - vielleicht sollte man besser sagen: beugt sich - die abgeleitete verfassungsgebende Gewalt, d.h. die durch die Verfassung selbst etablierte und reglementierte Gewalt zur Verfassungsänderung. Wie wird nun diese Gewalt charakterisiert? Es wird von ihr etwa Folgendes gesagt: - sie ist eine „abgeschwächte Form" der echten verfassungsgebenden Gewalt (Burdeau, op. cit., t. I I I , p. 172); - sie ist „ein Kunstgriff, der konzipiert ist, um - im Rahmen des Möglichen die spontane verfassungsgebende Gewalt zu ersetzen" (Burdeau, ebd.); - sie besitzt keinen Eigenwert; ihr Wert besteht nur insofern, als sie ein partieller und unvollständiger Ausdruck der ursprünglichen verfassungsgebenden Gewalt ist (Burdeau, ebd.); - sie ist eine Entartung, eine Parodie der ursprünglichen verfassungsgebenden Gewalt (Burdeau, op. cit., t. I I I , pp. 179 und 207); - sie ist von Geburt an impotent (Burdeau, op. cit., t. I I I , p. 215). Diese letzte Metapher der angeborenen Impotenz der abgeleiteten verfassungsgebenden Gewalt wird fast bis an die Grenzen der Obszönität getrieben, wenn die besagte Gewalt - unter Beibehaltung der Metapher - verglichen wird mit der allmächtigen ursprünglichen verfassungsgebenden Gewalt. Dies führt so weit, daß z.B. Dinge gesagt werden wie: „Man entstellt die verfassungsgebende Gewalt, indem man sie einem Revisionsorgan inkorporiert, um ihre Ausübung, wenn man sie erst einmal verschämt entmannt hat, nach den Erfordernissen des Regimes handhaben zu können. Im Laufe der Zeit kann man dann zu glauben beginnen, daß die Operation erfolgreich war. Aber es wird der Tag kommen, an dem Samson in wiedererlangter Männlichkeit all die Pappsäulen stürzen wird, die das Verfassungsgebäude gestützt haben" (Burdeau, op. cit., t. I I I , p. 179). 9. Diese reichlich mit allegorischer Kraft gesegnete Sprache herrscht vor in einem guten Teil der Versuche, die ursprüngliche verfassungsgebende Gewalt zu charakterisieren oder, um es nüchterner auszudrücken, die Bezeichnung „ursprüngliche verfassungsgebende Gewalt" zu definieren. Man hat auch gesagt, daß sie „eine Gewalt ist, die nicht durch den Gesetzgeber lokalisiert noch durch einen Philosophen formuliert werden kann; denn sie paßt nicht in Bücher hinein, und sie sprengt den Rahmen von Verfassungen; wenn sie einmal auftaucht, dann setzt sie die Atmosphäre in Flammen, verletzt das Opfer und verlöscht" (Donoso Cortés, Lecciones de Derecho Politico, Madrid, 1836/ 37, p. 237, zustimmend zitiert von Xifra Heras, op. cit., p. 147). 10. Die ursprüngliche verfassungsgebende Gewalt, obwohl ohne Gehorsamspflicht, spontan und unkontrollierbar, ist indes keine reine Macht, nichts Α-legales. Mit dem Ausdruck „ursprüngliche verfassungsgebende Gewalt" will man, zumindest in einer der Ausdeutungen dieser zweideutigen Bezeich-

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nung, hinweisen auf eine unbegrenzte Serie von Befugnissen, eine absolut vorrangige und totale Kompetenz, eine unendliche und ewige Summe von Vorrechten. So sagt man, sie sei die „Handlungsberechtigung, die sich ableitet aus dem ursprünglichen Recht der Gesellschaft, für ihre politische und rechtliche Organisation zu sorgen, indem sie als obligatorische Verhaltensregel eine Verfassung erläßt und durchsetzt. Sie ist eine im Wesentlichen juristische Gewalt, die aufgrund ihrer Natur dazu bestimmt ist, juristische Wirkungen zu erzielen: die grundlegenden Normen sozialen Lebens, auf denen sich das übrige Regelwerk des Staates gründen muß." (Messineo, I l potere costituente, 1946, pp. 11 und 12). Selbst diejenigen, die die verfassungsgebende Gewalt im Sinne nackten politischen Willens zu charakterisieren vorziehen, können nicht umhin, ihr Autorität zuzugestehen; sie als „ermächtigt" anzusehen (Schmitt, op. cit., p. I l l ) , ihr die Rolle eines „Geltungsgrundes" (