Architektonik und System in der Philosophie Kants: Herausgegeben:Stolzenberg, Jürgen; Fulda, Hans F 3787315861, 9783787315864

Die klassische deutsche Philosophie nach Kant ist in einem engen Kontakt und argumentativen Austausch unter ihren Protag

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Architektonik und System in der Philosophie Kants: Herausgegeben:Stolzenberg, Jürgen; Fulda, Hans F
 3787315861, 9783787315864

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System der Vernunft Kant und der deutsche Idealismus Band 1

SYSTEM DER VERNUNFT KANT UND DER DEUTSCHE IDEALISMUS

Herausgegeben von Wilhelm G. Jacobs Hans-Dieter Klein Jürgen Stolzenberg Band 1

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

ARCHITEKTONIK UND SYSTEM IN DER PHILOSOPHIE KANTS

Herausgegeben von Hans Friedrich Fulda und Jürgen Stolzenberg

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Herausgegeben in Verbindung mit der Philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Internationalen Gesellschaft »System der Philosophie« Internationalen Kant-Gesellschaft, North American Kant Society, Internationalen Fichte-Gesellschaft, Internationalen Schelling-Gesellschaft, Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Internationalen Hegel-Vereinigung, Internationalen Hegel-Gesellschaft, Internationalen Gesellschaft für Dialektische Philosophie – Societas Hegeliana

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Architektonik und System in der Philosophie Kants / hrsg. von Hans Friedrich Fulda und Jürgen Stolzenberg. – Hamburg : Meiner, 2001 (System der Vernunft ; Bd. 1 ) ISBN 3 7873-1586-1

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2001. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch, Kusel-Satz, Hamburg. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Schaumann, Darmstadt. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

Einleitung Hans Friedrich Fulda, Jürgen Stolzenberg System der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

I. DIE KANTISCHE SYSTEMATIK IM UMRISS Manfred Baum Systemform und Selbsterkenntnis der Vernunft bei Kant . . . . . . . . .

25

Peter König Die Selbsterkenntnis der Vernunft und das wahre System der Philosophie bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Günter Zöller »Die Seele des Systems«: Systembegriff und Begriffssystem in Kants Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Karl Ameriks Kant’s Notion of Systematic Philosophy: Changes in the Second Critique and After . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Bernhard Thöle Kants Systemidee. Bemerkungen zu Karl Ameriks’ »Kant’s Notion of Systematic Philosophy« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

Eckart Förster Das All der Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Burkhard Tuschling Übergang: Von der Revision zur Revolutionierung und Selbst-Aufhebung des Systems des transzendentalen Idealismus in Kants Opus postumum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

VI

Inhalt

II. DAS SYSTEM DER TRANSZENDENTALPHILOSOPHIE UND SEIN KONTEXT Béatrice Longuenesse Logical Functions and the World-Whole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Michael Wolff Über Kants System der Urteilsfunktionen. Bemerkungen zu Béatrice Longuenesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Thomas M. Seebohm Die reine Logik, die systematische Konstruktion des Prinzips der Vernunft und das System der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Wilhelm Vossenkuhl Das System der Vernunftschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Volker Gerhardt Selbstüberschreitung und Selbstdisziplin. Zur Aktualität des Systembegriffs nach Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Georg Siegmann Zur systematischen Selbsttäuschung der reinen Vernunft . . . . . . . . 262 Konrad Cramer Kants Bestimmung des Verhältnisses von Transzendentalphilosophie und Moralphilosophie in den Einleitungen in die »Kritik der reinen Vernunft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Allen W. Wood The Moral Law as a System of Formulas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

III. ZUR SYSTEMATIK BESONDERER TEILE DER EIGENTLICHEN METAPHYSIK Brigitte Falkenburg Kants Forderungen an eine wissenschaftliche Metaphysik der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Michael Friedman Matter and Motion in the Metaphysical Foundations and the first Critique: The Empirical Concept of Matter and the Categories . . . . . 328

Inhalt

VII

Hans Friedrich Fulda ›Deduktion der Einteilung eines Systems‹ – erörtert am Beispiel »Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre« . . . . . . . . . . . . . . 346 Brigitta-Sophie von Wolff-Metternich ›System‹ oder ›Annäherung zum System‹? Anmerkungen zu Hans Friedrich Fulda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Paul Guyer From Nature to Morality: Kant’s New Argument in the »Critique of Teleological Judgment« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Jürgen Stolzenberg Organismus und Urteilskraft. Überlegungen im Anschluß an Paul Guyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

VORWORT

Die Erforschung der klassischen deutschen Philosophie ist in den letzten Jahrzehnten mit großer Energie vorangebracht worden. Hierbei hat sich das Interesse vornehmlich auf das Werk jeweils eines Autors – Kant, Fichte, Schelling, Hegel – konzentriert. Dies hat seine Gründe zum einen in den Sachproblemen, vor die jeder der Autoren die Interpreten nach wie vor stellt, zum anderen darin, daß beträchtliche Forschungsaktivitäten von den großen historisch-kritischen Gesamtausgaben der Werke Fichtes, Schellings und Hegels ausgegangen sind. Eine solche Ausrichtung wird der wahren Sachlage nicht gerecht. Die Philosophie nach Kant ist in einem engen Kontakt und argumentativen Austausch unter ihren Protagonisten entstanden und ausgebildet worden. Wenn auch seit langem die Bedeutung Friedrich Hölderlins für den jungen Hegel oder die Debatten zwischen Fichte und Schelling bzw. Schelling und Hegel für die Ausbildung der idealistischen Systementwürfe und ihre jeweiligen Differenzen bekannt sind, so hat man die in diesen Debatten vorgebrachten Argumente und ihre polemischen Bezüge noch kaum in ihren kontextuellen Verflechtungen und in Distanz zu ihren Autoren darzustellen, zu prüfen und ihre Folgen abzuschätzen versucht. Und noch weniger hat man versucht, mit Bezug auf die reifen Systementwürfe Fichtes, Schellings und Hegels zu einer Einschätzung ihrer Grundoptionen zu gelangen, die aus der Übersicht über die Diskussionslagen, aus denen sie hervorgegangen sind, entwickelt worden ist. Nur so ist es aber möglich, sich über das theoretische Profil dieser Epoche insgesamt zu verständigen und auch in eine fruchtbare Diskussion mit gegenwärtigen Tendenzen der Begründung systematischer Philosophie einzutreten. Die Bewältigung der genannten Aufgabe kann von einem einzelnen Forscher nicht mehr geleistet werden. Daraus ergab sich der Gedanke, daß die verschiedenen wissenschaftlichen Gesellschaften, die sich der Erforschung der Werke der Autoren der Epoche des deutschen Idealismus widmen, sich zusammenfinden möchten, um gemeinsam in forschender Absicht erneut in jenen Diskurs einzutreten, der ehedem die Sache der Philosophie vorangebracht hat. So haben sich in der Mitte des Jahres 1995 die Präsidenten der Internationalen Hegel-Vereinigung, der Internationa-

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Vorwort

len Fichte-Gesellschaft, der Internationalen Schelling-Gesellschaft, der Internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie – Societas Hegeliana, der Hegel-Gesellschaft und der Internationalen Gesellschaft »System der Philosophie« zum ersten Mal seit ihrem Bestehen auf Einladung des Präsidenten der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu einer gemeinsamen Planung einer auf sechs Tagungen angelegten Tagungsreihe unter dem Titel System der Vernunft – Kant und der deutsche Idealismus zusammengefunden. Das Ergebnis dieses Treffens war der Beschluß zur Durchführung einer solchen Tagungsreihe. Da die Systematik der kritischen Philosophie Immanuel Kants der leitende Hintergrund für die idealistischen Systementwürfe ist und ein eher vernachlässigtes Thema der Kant- und Idealismusforschung darstellt, sollte die erste Tagung den Problemen von Architektonik und System in der Philosophie Kants gewidmet sein. Sie fand vom 7.–11. Oktober 1997 unter Beteiligung der North American Kant-Society und der Internationalen Kant-Gesellschaft in Wien statt. Die Tagung wurde von einem eigens dafür gebildeten Team von Manfred Baum, Hans Friedrich Fulda, Paul Guyer und Hans-Dieter Klein vorbereitet, vor Ort von Hans-Dieter Klein organisiert und von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici (Neapel) auf großzügige Weise finanziert. Die Herausgeber danken allen, die durch Finanzierung, Vorarbeit, technische Organisation sowie nicht zuletzt durch ihre Beiträge zum Gelingen der Tagung beigetragen haben. Der vorliegende Band vereinigt die Beiträge, deren mündliche Versionen auf dieser Tagung zum Vortrag gekommen sind. Die Herausgeber sind dem Meiner Verlag, Hamburg, der die Reihe in sein Programm aufgenommen hat, sowie seinem Lektor, Herrn Horst D. Brandt, für die stets entgegenkommende Zusammenarbeit zu großem Dank verpflichtet. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Drucklegung auf großzügige Weise gefördert hat, gilt ein besonderer Dank. Alexander Aichele, Doris Lomott, Oliver-Pierre Rudolph und Dieter Schönecker haben bei der Einrichtung des Manuskripts für die Drucklegung wertvolle Hilfe geleistet. Heidelberg und Halle im Dezember 2000

Hans Friedrich Fulda Jürgen Stolzenberg

Hans Friedrich Fulda, Jürgen Stolzenberg Einleitung: System der Vernunft

1. System ist in den heutigen Fachwissenschaften ein Wort inflationären Gebrauchs. Niemand stößt sich daran. Nur die Philosophie verhält sich hier bedenklich scheu. Seit längerem wird sie von vielen betrieben, denen der Gedanke indiskutabel erscheint, die Philosophie sei auf ein System auszurichten oder habe sich selbst zu einem solchen zu organisieren. Bei den seltenen Anlässen, aus denen eine solche Möglichkeit wenigstens noch erwogen wird, spielt so gut wie keine Rolle, was es da, wo die Philosophie vielleicht System werden soll, eigentlich als System zu entfalten und zu erkennen gilt. Obwohl die Philosophie, jedenfalls im Deutschen, nach wie vor ›systematisch‹ heißt, wenn sie Sachfragen direkt nachgeht und nicht bloß vergangene Arbeit daran erforscht, gilt es weithin auch für abwegig anzunehmen, ihre Fragen und Streitsachen könnten in Absicht auf ein System philosophischer Erkenntnisse verhandelt werden. Wo der philosophischen Tätigkeit überhaupt noch irgendwelche Erkenntnischancen zugebilligt werden, sollen die Ansprüche zumindest bescheidener sein als diejenigen, die auf die Konstruktion eines Systems zielen. Unberücksichtigt bleibt hierbei indessen, daß die Systemform, welche sich die Philosophie einst zu geben versuchte, einen nicht geringen Anteil an der Disziplinierung des philosophischen Denkens und der umsichtigen Ausbildung von philosophischen Disziplinen mit je spezifischen Aufgaben hatte. Sie schützte vor Naivitäten wie z. B. der, die Welt sei alles, was der Fall ist; sie trieb das Denken an, nicht Halt zu machen vor hartnäckigen Gegensätzen, wie z. B. denen von Natur und Geist, Körper und Seele, Freiheit und Notwendigkeit; und nicht zuletzt trug sie dazu bei, die Philosophie gegen Vorurteile abzuschirmen, die von institutionellen Autoritäten aus auf sie einzuwirken versuchten oder von der öffentlichen Meinung und von Ideologien gesellschaftlicher Kräfte ausgingen. Außer dem Zweck, fundamentalen Einsichten einen Gewinn an anders nicht zu erlangender Evidenz zu verschaffen, hatte ein philosophisches System auch die Funktion, Grenzen solcher Evidenz möglichst präzise zu markieren. Im Vergleich zu früheren Formen der inneren Organisation von Philosophie brachte es eindeutige Vorteile der Orientierung im Den-

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Einleitung · H.F. Fulda, J. Stolzenberg

ken mit sich. Philosophische Systeme schufen nicht nur neue Möglichkeiten, in langen Jahrhunderten erarbeitete, grundlegende Einsichten für die Anwendung auf vielen, z. T. dann von den Geisteswissenschaften besetzten Gebieten zu reproduzieren und fruchtbar werden zu lassen. Sie eröffneten auch eine Aussicht, der Forderung des delphischen Orakels auf eine der Philosophie ganz eigene Weise zu entsprechen: So nämlich, daß das ›Erkenne dich selbst!‹ an den einzelnen Menschen nicht allein im Hinblick auf sein Gewissen, sondern vor allem an ihn als menschlichen Geist gerichtet erschien und ihn dazu aufforderte, diesen Geist in seinem Verhältnis zum Geist überhaupt zu bedenken.1 Um derartiger Vorzüge willen, die freilich mit einigen gegen sie abzuwägenden Mängeln erkauft gewesen sein mögen, wird hier die bedenkenswerteste Phase der neuzeitlichen Systemphilosophie – der Kantische und nachkantische deutsche Idealismus – zum Gegenstand einer mehrbändigen Serie von Einzeluntersuchungen gemacht. Einige Besorgnis wegen in Kauf zu nehmender Mängel kann man wohl vorab ausräumen. So wäre es unangemessen, eine Systemphilosophie deshalb zu verwerfen, weil sie untauglich sei, individuelles menschliches Dasein sich offenbar werden zu lassen wie in einem Roman, oder weil es ein System solchen Daseins nicht geben kann.2 Nie wollten die idealistischen Systeme Kants, Fichtes, Schellings und Hegels dahingehende Wünsche erfüllen. Doch dies ist kein Grund, ihrem ›Sitz im Leben‹ ein schlechteres Zeugnis auszustellen als dem irgendeiner späteren Philosophie. Und darum ist der Wille zum philosophischen System auch nicht, wie Nietzsche meinte, eo ipso »eine Form der Unmoralität«.3 Über den moralischen Status eines solchen Willens entscheidet die Frage, ob jemand, der ihn hat, sich redlich eingesteht, was er leisten kann und was nicht. Ebensowenig berechtigt ist der Einwand, Philosophie, die ein wissenschaftliches Gedankensystem ausbildet, müsse sich vom Leben ab-

1 Man vergleiche dazu I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Königsberg 1797. § 14 und G. W. F. Hegel, Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Berlin 1830. § 377. 2 Vgl. F. H. Jacobi, Werke. Hrsg. v. F. Roth u. F. Köppen. Leipzig 1812. Bd I, S. XIII–XVI; Bd. VI/1, S. XXXVII–XLII; S. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken (1846). In: Gesammelte Werke. Hrsg. v. E. Hirsch. Bd. XVI/1. Düsseldorf/Köln 1957. S. 101. 3 F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 11 [410]. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. München/Berlin/New York 1980. Bd. XIII, S. 189.

System der Vernunft

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schließen und den menschlichen Geist mitsamt der von ihm belebten Person in ein Gehäuse einsperren.4 Selbst Hegels »Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften«, die stets zum abschreckenden Exempel einer in Systemform gegossenen Philosophie dient – in Wahrheit aber gar nicht das ›Hegelische System‹, sondern ein zu Lehrzwecken verfaßtes Buch ist –, ist während der ganzen Lebenszeit ihres Verfassers ein ›work in progress‹ geblieben. Daß der Autor darin zu sehr ex cathedra redet, sollte man auf einem anderen Blatt verbuchen. Auch vom Typ jener Projekte-macherischen ›men of system‹, die bei Adam Smith auf eindrucksvolle Weise kritisiert werden,5 war Hegel ebensowenig wie Kant oder sonst einer von den Repräsentanten des deutschen Idealismus. In manchen jüngeren antisystematischen Äußerungen, dies sei hier am Rande vermerkt, regt sich offenbar der Verdacht, die Systemform der Philosophie laufe darauf hinaus, gesellschaftliche Zwänge zu verstärken, unter denen wir ohnehin, aber vielleicht vermeidbarerweise, leiden; oder sie habe die ›Meisterdenker‹ der Vergangenheit in eine gefährliche Affinität zum Totalitarismus unseres Jahrhunderts gebracht.6 Solche Nachrede legt die Frage nahe, wieviel Kenntnis der Kantischen »Metaphysik der Sitten« sowie der Hegelischen Rechtsphilosophie ihr eigentlich zugrunde liege und wie es sich denn erkläre, daß die linken und rechten totalitären Regime und Weltanschauungen gerade gegen die Systemform der Philosophie dezidiert polemisch eingestellt waren. Waren ihre Exponenten etwa so dumm, nicht zu merken, was sie für ihre totalitären Zwecke eigentlich hätten brauchen können? Ein gewichtigeres Bedenken ist es, ob die modernen Fachwissenschaften uns nicht längst über die Wissens-Chancen, die einmal in philosophische Systembildungen gesetzt waren, eines Besseren belehrt haben. Wenn irgend etwas, so zeigt doch die Zersplitterung der Wissenschaften und zeigen noch nachdrücklicher die Erkenntnisse der heutigen physikalischen Kosmologie, daß wir in einem Universum existieren, das für uns unüberschaubar ist und von dem uns trotz rapider Erkenntnisfortschritte nur einige kleine Ausschnitte zugänglich sind. Jeder Versuch, den Stand dieser Erkenntnisse mit rein philosophischen Mitteln systematisieren zu wollen, wäre in der Tat naiv und dazu verdammt, überholt zu sein, bevor er noch unternommen ist. Was aber, wenn die Philosophie, 4

Vgl. K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen. Berlin 1919. S. 269 ff. Ders., Philosophie. Bd. I. Berlin 1932. S. 329. 5 The Theory of Moral Sentiments. Hrsg. v. D. D. Raphael u. A. L. Macfie. Oxford 1976. S. 233 f. 6 Vgl. A. Glucksmann, Die Meisterdenker. Frankfurt a. M./Berlin 1989. S. 107 ff.

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Einleitung · H.F. Fulda, J. Stolzenberg

recht verstanden, mit einem ›System‹ gar nicht in Konkurrenz zu den Fachwissenschaften tritt, weil sie eigenen Erkenntnisforderungen zu genügen hat, die nicht auf Erkenntnis eines ›Systems der Welt‹ gehen – geschweige denn auf eine Erkenntnis, die sich in alle Zukunft hinein dauernde Verbindlichkeit zuspricht? Man kann nicht im Ernst annehmen, die Systemerkenntnis wäre mit einer solchen Beschränkung entwertet. Eher legt sie sich damit als ein Erfordernis genuin philosophischer Suche nach Einsicht nahe.

2. Um systematische Philosophie in einer diesen Ausdruck rechtfertigenden Erkenntnisabsicht zu diskutieren und unter dieser Perspektive historische Paradigmen solcher Erkenntnis und Bildung zu untersuchen, braucht man durchaus nicht anzunehmen, die Philosophie als Ganze müsse lediglich aus Systemen bestehen oder sogar nur aus einem einzigen System. Nicht einmal die entschiedensten Systematiker des deutschen Idealismus haben für ihre Systembildung einen solchen Ausschließlichkeitsanspruch erhoben oder ihre philosophische Arbeit ihm gemäß betrieben. Umgekehrt aber erklären diejenigen, die solche Erkenntnis scheuen, ihre antisystematische Einstellung in der Regel für die Philosophie zur einzig möglichen, ihr Denken hingegen durchaus zu einem ›systematischen‹. Sie sollten sich besinnen, was sie damit sagen. Philosophische Systemerkenntnis hat sich nicht nur um Fragen der Methode, sondern auch um die Bestimmung ihrer Grenzen zu kümmern. Was die Beschäftigung mit Kant und seinen idealistischen Nachfolgern interessant macht, ist nicht zuletzt, daß ihnen unter anderem diese Bestimmung wichtig war. Man kann beim besten Willen nicht sagen, die Philosophie habe sich um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vom vernunftsystematischen philosophischen Erkenntniskonzept deshalb abgewandt, weil ihre bedeutendsten Repräsentanten definitiv zur Einsicht gekommen seien, daß dieses Konzept sowie ein jedes denkbare, mit ihm verwandte unrealisierbar ist. Die Abkehr vollzog sich als ein vielfältig motivierter Interesseverlust, dem das große Vergessen folgte. In den herrschenden Vorurteilen über Unsinn und Grenzen systemphilosophischer Bemühungen hält das Vergessen trotz aller seither geleisteten philosophiehistorischen Arbeit bis heute an. Auch die Interessen originärer Philosophien unseres Jahrhunderts gingen in andere Richtungen als die einer Konzentration

System der Vernunft

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auf Fragen genuin philosophischer Vernunft-Erkenntnis, die sich zu einem System organisiert. Um diese Fragen aber, nicht um eine närrische Idee, die Philosophie à tout prix zum System zu machen, war es Kant und den nachkantischen Idealisten mit ihren Programmen und Beiträgen zu einer erneuerten Form der Philosophie zu tun. Man sollte nicht übersehen, daß ihre Überlegungen dazu nicht nur formaler Natur, sondern bei aller Abstraktheit zugleich inhaltlich bestimmt waren. Es spricht viel dafür, daß man sie nicht vom Inhalt ablösen kann – von der Vernunft und ihren Objektivationen. Diese Vernunft gilt es in ihren Zusammenhängen zu erkennen. Dementsprechend sollten die auf philosophische Erkenntnis gerichteten Fragen nicht in spezialisierten Untersuchungen über Motive und Leistungen irgendwelcher Formen philosophischer Systeme bearbeitet werden.7 Ebensosehr wie die bestmögliche Ausbildung eines darstellenden, philosophischen Systems betreffen sie Möglichkeiten, ein bestimmtes, in der Philosophie dargestelltes System als solches zu erkennen, vielleicht aber auch eine Mehrzahl von derartigen Systemen. Was man über die Chancen eines philosophischen Systems sagen muß, ist sogar in erster Linie von der Aufklärung über solche Möglichkeiten abhängig. Deshalb soll dem Interesse an philosophischer Systembildung hier jener Kontext belassen werden, der zugleich ein historischer ist. Vielleicht wird das dem Ausdruck ›System‹ auch etwas von seinem Reizwortcharakter nehmen. 3. System der Vernunft hat Wilhelm Windelband den zentralen Abschnitt in einer seiner Darstellungen des nachkantischen deutschen Idealismus betitelt.8 Mit gleichem Recht hätte er sein Kapitel über Kants kritische Philosophie so überschreiben können.9 Der Ausdruck steht daher außer für die Sache, die er bezeichnet, in historischer Anwendung besser als Titel über Untersuchungen, die Kant nicht weniger als seinen idealistischen Nachfolgern gelten. Solche Untersuchungen sollten allerdings genauer als Windelband Auskunft geben über das Kantische und nachkantische Verständnis der im Titel verbundenen Begriffe. Sie sollten die mit dieser 7

Zum Programm solcher Untersuchungen vgl. Systeme im Denken der Gegenwart. Studien zum System der Philosophie. Hrsg. v. Hans-Dieter Klein. Band I. Bonn 1993. S. 1 ff. 8 Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (1891). Zwölfte Auflage. Tübingen 1928. § 42. 9 KrV, B 866–69.

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Begriffsverbindung zusammenhängenden Gedanken und Probleme auch eingehender erörtern, als es im gesamten Neukantianismus und in den auf ihn folgenden Beschäftigungen mit dem deutschen Idealismus geschah: Durchgehend nämlich fehlt es bisher in bezug auf diese Epoche der Philosophie an einer einzelne Autoren übergreifenden, synoptischen Thematisierung jener systematologischen Konzepte, die zugleich Entwürfe genuin philosophischer, d. h. durch Vernunftprinzipien geleiteter Erkenntnis sind und die als solche zu verfolgen für eine sachgemäße Beurteilung der idealistischen Systemphilosophie erforderlich ist. Genau genommen fehlte allzu lange das ›systematische‹ Interesse dafür. Gewiß nahm der Neukantianismus das Programm einer philosophischen Systematik sehr wichtig. Bei seiner enormen philosophiehistorischen Produktivität hätte er sich daher eigentlich intensiv mit der Systemform der Kantischen und nachkantischen Philosophie befassen müssen. Aber er war, was epistemologische Fragen betrifft, von Anbeginn so sehr aufs fachwissenschaftliche Erkennen fixiert, daß er sich für das Verfahren spezifisch philosophischer Erkenntnis und für die Rechtfertigung von deren Ansprüchen mit allzu einfachen Mitteln behalf, nämlich – traditionell gesprochen – mit ausschließlich zur ›analytischen Methode‹ gehörenden. Für die viel subtiler angelegten idealistischen Bemühungen um philosophische Systemerkenntnis hatte er kein Organ.10 Wo der Ausgang vom ›Faktum der Wissenschaft‹ im Neukantianismus nicht dieselbe Rolle spielte wie bei den Marburgern, ging die Absicht auf eine wissenschaftliche Philosophie der gesamten menschlichen Kultur und der darin möglichen Weltanschauungen. Philosophische ›Weltanschauungslehre‹ sollte ihr Fundament in der Aufklärung über ein umfassendes System menschlicher Werte haben.11 Ohne sich dafür auf Fachwissenschaften berufen und einer Analyse ihrer ›logischen Grundlagen‹ bedienen zu können, blieb sie mit den Behauptungen, die den Aufbau dieses Systems tragen sollten, allerdings in erheblicher Beweisnot. Aber weder das offenkundige Begründungsdefizit noch das Wertesystem selbst scheinen zu einem eingehenden Studium der ideali10

Wer das nicht bereits aus Kants Theorie der Erfahrung (1871) und Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft (1907) von Hermann Cohen folgern möchte, der vergleiche mit Cohen Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (1906 ff.), Band II und III, sowie Kants Leben und Lehre (1918)! 11 Vgl. H. Rickert, System der Philosophie. Erster Teil: Allgemeine Grundlegung der Philosophie. Tübingen 1921. S. 348 ff.; ferner Vom System der Werte. In: Logos IV, 1913, S. 295 ff.

System der Vernunft

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stischen Systementwürfe und ihrer Erkenntnisbemühungen als solcher angeregt zu haben.12 Wie schon bei Windelband interessierte weder an der Kantischen Philosophie noch an einer der nachkantischen idealistischen Philosophien exemplarisch deren Form und Möglichkeit. Eine Wiedererinnerung und Aneignung der Gedankenentwicklung, die von Kant zu Hegel geführt hatte, schien ausschließlich im Blick auf kulturphilosophisch bedeutsame Gehalte angezeigt. Post-neukantianische philosophische Orientierungen der ersten Jahrhunderthälfte schufen eher noch ungünstigere Voraussetzungen dafür, Interessen an philosophischer Systematik und an spezifisch philosophischer Erkenntnis im Studium des Kantischen und nachkantischen Idealismus auszubilden und zu bündeln. Entsprechendes ist von der ersten Nachkriegszeit zu sagen. Zunächst blieben die philosophischen Orientierungen großenteils dieselben wie zuvor, während die neu hinzukommende Attraktivität des Marxismus, der linken Gesellschaftskritik und der akademischen Auseinandersetzung mit beiden keine wirklich gravierende Änderung für jene Interessenbündelung mit sich brachte.13 Mit der hermeneutischen Philosophie, die sich seit den 60er Jahren zunächst in Deutschland und dann auch im Westen ausgebreitet hat, dehnte sich der Umfang philosophiehistorischer Themen ebenso rapide aus wie die Anzahl der ihnen gewidmeten Studien. Auch davon haben die genannten Interessen und ihre Verbindung, auf die es hier ankommt, nicht automatisch profitiert; desgleichen nicht von der zunehmenden Internationalität philosophiehistorischer Forschung. Standards, Arbeitstechniken und Themenpräferenzen der analytischen Philosophie angelsächsischer Provenienz verstärkten dann allerdings, als sie in die philosophiehistorische Forschung eindrangen, die Sensibilität für argumentative Potentiale. Sie kamen vor allem der Fähigkeit zu präziser Rekonstruktion komplexer, in historischen Texten oftmals nur angedeuteter Argumente zugute. Das zumindest hat in Monographien über Werke und Themen der deutschen Idealisten hier und da zur Aufhellung der Konzepte beigetragen, welche diese Philosophen von philosophischer Erkenntnis sowie von deren System-generativer bzw. System-erschließender Leistung ausgearbeitet hatten. Aber die Beiträge 12

Anlaß dazu hätte Richard Kroner für sein zweibändiges, »historisch-systematisch oder historisch-kritisch« (19) vorgehendes Werk Von Kant bis Hegel (Tübingen 1921/24) gehabt. Aber weder die Einleitung noch die umfangreiche Darstellung gibt an irgendeiner Stelle zu erkennen, daß er diesen Anlaß nahm. 13 Einen guten Beleg hierfür liefern die fruchtlosen Debatten über materialistische und idealistische, negative und spekulative Dialektik.

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hierzu ergaben sich eher beiläufig. Sie entsprangen nicht einer programmatisch eigens auf diese Konzepte gerichteten Fragestellung. Und meistens waren sie auf das Denken jeweils eines einzelnen der einschlägigen Autoren beschränkt. Wo sie sich auf deren ›Symphilosophieren‹ und die entsprechenden ›Konstellationen‹ konzentrierten, hatten sie eine Vielzahl thematischer Gesichtspunkte zu berücksichtigen, unter denen solcher Gedankenaustausch stattfand, und sie mußten sich an kurzfristige und regional begrenzte Gedankenbildungsprozesse halten. Nichtsdestoweniger sollte dankbar anerkannt werden: Wo solche Prozesse und Debatten wesentlich der Möglichkeit einer neuen, nachkantischen Form der Philosophie galten, ist ihre Erforschung ein nützliches Pendant zu dem mit dem vorliegenden Band in Angriff genommenen Programm.14 Ähnliches kann man über einige historische Arbeiten sagen, welche im Umkreis von Bestrebungen zustande gekommen sind, die Transzendentalphilosophie, insbesondere in ihrer Fichteschen Gestalt, zu erneuern.15 Einen kräftigeren Impuls aber, die idealistische Systemerkenntnis als solche zu thematisieren, müßten eigentlich jüngste Tendenzen im Umfeld des empiristischen Denkens auslösen. Dort konzentrierte sich die philosophiehistorische Hermeneutik bezüglich der Kantischen und nachkantischen Philosophie während der letzten Jahre verstärkt auf das Vernunftkonzept dieser Philosophie sowie auf die in ihm gedachte Einheit der Vernunft und die darin über Kant hinausführenden Gedankenmotive.16 Fast gleichzeitig begaben sich namhafte Autoren wieder einmal auf den Weg von Kant zu Hegel – diesmal im Ausgang von W. Sellars’ Variatio14

Zu nennen sind vor allem die Arbeiten von Dieter Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795). Stuttgart 1991 und ders., Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795). Stuttgart 1992. Zu nennen sind ferner: Manfred Frank, »Unendliche Annäherung«. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a. M. 1997, sowie Violetta L. Waibel, Hölderlin und Fichte. 1794–1800. Paderborn u. a. 2000. 15 Insbesondere R. Lauth, Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre (1795–1801). Freiburg/München 1975 sowie Erneuerung der Transzendentalphilosophie im Anschluß an Kant und Fichte. Hrsg. v. K. Hammacher u. A. Mues. Stuttgart-Bad Cannstatt 1979. 16 Als wenige Beispiele unter vielen: F. Beiser, The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte. Cambridge/Mass. 1987. R. B. Pippin, Hegels Idealism: The Satisfaction of Self-Consciousness. Cambridge/Mass. 1989. S. Neiman, The Unity of Reason. Rereading Kant. New York/Oxford 1994. R. B. Pippin, Idealism as Modernism. Hegelian Variations. Cambridge/New York 1997. Aus dem erwähnten Trend erklärt sich übrigens auch, daß die angelsächsische Forschung im vorliegenden Band verhältnismäßig stark repräsentiert ist.

System der Vernunft

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nen Kantischer Themen.17 Ihr Programm will uns nicht nur bewußt machen, was gewisse Formen besagen, in denen wir faktisch reden. Es soll uns auch über die Objektivität unseres Denkens irgendwelcher Objekte aufklären. Dafür aber dürfte nicht ausreichen, daß die sprachlichen Formen herausgearbeitet werden, in denen wir Objektivitätsansprüche explizit machen oder Aussagen, mit denen solche Ansprüche erhoben werden, von anderen unterscheiden, bei denen dies nicht der Fall ist.18 Beim philosophischen Explizit-machen müssen wir darüber hinaus das Vernünftige im gewöhnlich implizit Bleibenden zu erkennen suchen und dasjenige, was am Impliziten die Orientierung auf Vernunft noch vermissen läßt, darauf ausrichten. Das bedarf einer anspruchsvolleren Reflexion als derjenigen auf vereinzelte sprachliche Phänomene. Die Reflexion muß auf ein systematisch gegliedertes Ganzes der begrifflichen Gehalte gehen, welche Objektivität als solche konstituieren; und sie muß zum Erkennen dieses Ganzen aus dem Erkennen seiner Prinzipien führen.

4. Jede Reflexion, die auf solches Erkennen ausgeht oder seinen historisch gewordenen Bestrebungen nachdenkt, hat wohl zur Voraussetzung, daß im Voraus, also wenigstens vorläufiger Weise, wichtige Bedeutungskomponenten des Ausdrucks System sowie der Ausdrücke Vernunft und System der Vernunft ausgemacht werden. Über sie Auskunft zu geben, ist daher hier (4., 5.) am Platze, zumal sich daraus auch ergibt, was am Thema des vorliegenden Bandes hauptsächlich interessieren sollte bzw. in dessen Beiträgen unternommen wird (6.). Das Wort System bezeichnet nicht nur eine qualifizierte, nämlich geordnete Menge von Aussagen oder von Begriffen, die jemand hat und die als Aussagenpotentiale zu verstehen sind, so daß sie auch die Kerne von Meinungen und Überzeugungen bilden. Der Ausdruck bezeichnet mindestens ebensogut eine derart qualifizierte Menge dessen, wovon in solchen Aussagen und in Äußerungen solcher Überzeugungen bzw. Meinungen die Rede ist, oder wovon in jenen Begriffen etwas gedacht wird. ›System‹ bezeichnet m. a. W. auch Sachen, die den Gegenstand solcher Rede oder solchen Denkens ausmachen. Allemal aber, wenn es sich um 17

J. McDowell, Mind and World. Cambridge/Mass. 1994. R. B. Brandom, Making It Explicit. Reasoning and Representing in Discursive Commitment. Cambridge/Mass. 1994. 18 R. Brandom, a.a.O., S. 592 ff.

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ein System handeln soll, ist die geordnete Menge näher dadurch qualifiziert, daß ihre Elemente zusammen ein Ganzes bilden, also dessen Teile sind. Die Teile des Ganzen sind in einem System darüberhinaus so verbunden, daß sie zusammen bestehen und in ihrem ›Zusammenstand‹ den Bestand des Ganzen sichern helfen. Umgekehrt ist vom Ganzen zu sagen, daß es durch die Art und Weise, wie es aus seinen miteinander verbundenen Teilen besteht, sich unter variierenden Umständen oder Bedingungen selbst erhält. Die Philosophie hat deshalb besonders da Anlaß, sich zu einem System auszubilden oder dessen Erkenntnis zum Programm zu machen, wo in ihr verschiedene, schon für sich thematische Elemente nicht ohne weiteres zusammenzubringen und als Teile eines Ganzen zu erkennen sind; oder da, wo nicht ohne weiteres einzusehen ist, wie das Ganze aus ihnen entsteht und sich erhält (z. B. als eine Harmonie, die ›prästabiliert‹ ist). Die Variation der Existenzbedingungen oder Umstände der Bildung eines Systems mag von außen oder intern erzeugt sein, wie auch die Umstände und Bedingungen externe – einer ›Umgebung‹ des Systems – oder interne sein mögen. Ein System kann daher umfassend sein (wie z. B. ein System der ganzen Welt) oder einen beschränkten Umfang haben, also eine ›Umwelt‹ besitzen. In beiden Klassen von Fällen gehört zu einem System ein Prozeß möglicher Variationen und ein Spielraum, in welchem die Variationen stattfinden können, ohne den Bestand des Systems zu gefährden; also gehört dazu auch eine Grenze des Spielraums, bei deren Überschrittenwerden der Bestand gefährdet oder das System sogar vernichtet wird. Doch ist eine gewisse Prozessualität in den Begriff eines Systems auch noch auf andere Weise eingebaut: Mag das Ganze, das ein System ist, in der Zeit entstanden und vergänglich sein oder nicht; mag es ferner durch Zusammensetzung seiner Teile errichtbar sein oder nicht bzw. durch Auflösung vernichtet oder nicht vernichtet werden können: es muß jedenfalls vorstellbar, ja denkbar sein als entweder so zusammengesetzt bzw. zersetzt oder, weil nicht entstanden bzw. vergänglich, als wenigstens in seiner ganzen Struktur so Stück für Stück begreiflich und rekonstruierbar. Erst am Ende seiner Genese oder seines Begriffs also ist das ganze Gebilde oder ist es wenigstens begriffen. Da die Begriffe hierzu nicht alle zugleich und gleicherweise verfügbar sind, gehört zum Begreifen ihre Synthesis. Da sie als Begriffe des ganzen Systems, seiner Teile und der Verbindung dieser Teile mehr oder weniger abstrakt sind, findet sich unter der Synthesis, deren sie bedürfen, nicht nur eine der Koordination, sondern auch eine der Subordination, durch die schließlich alle Begriffe, die das System bzw. seine Teile beschreiben, in der Einteilung

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eines obersten Systembegriffs plaziert werden. So haben wir am Ende der Genese des Begriffs von einem System ein zweites System: dasjenige der Begriffe, in welchen das erste begriffen und dargestellt wird; und ein auf dieses erste System gerichtetes Denken hat sich zugleich reflexiv dem zweiten und seinem Aufbau zu widmen.

5. Was aber hat damit die Vernunft zu schaffen? Solange es nur um den alltäglichen Gebrauch der Ausdrücke ›Vernunft‹ und ›vernünftig‹ geht, also um deren prudentiellen oder instrumentellen Sinn, kann man nicht sagen, zwischen dem damit Bezeichneten und dem in der Rede von einem System Gemeinten bestehe eine natürliche Affinität, oder ein System müsse bereits als solches mit Vernunft bzw. Vernünftigem zu tun haben. Unsere Begriffe, die der gewöhnliche Gebrauch dieser Ausdrücke enthält, sind dafür zu vage (obwohl sie für alltägliche, prudentielle Zwecke durchaus prägnant sind). Die Philosophiegeschichte hingegen, in der sich die meisten Begriffe von Vernunft und Vernünftigem ausgebildet haben, ist im Hinblick auf diese Begriffe so weitläufig und verschlungen, so voll überraschender Wendungen, Bedeutungsverschiebungen und Neukombinationen überlieferter Bestimmungen, in jüngster Zeit aber so restriktiv, daß mit Hinweis auf ihren ganzen Verlauf eine Behauptung jener Affinität gewiß auch nicht gestützt werden könnte. Wohl aber besteht in der kurzen, hier interessierenden Phase der von Kant inspirierten Philosophie ein enger begrifflicher Zusammenhang zwischen der Vernunft und einem System. Der Zusammenhang ist, wenn nicht bereits vom umrissenen Begriff eines Systems aus, so jedenfalls am Kantischen Begriff der Vernunft leicht erkennbar und in der vorausgehenden Wolff’schen Schulphilosophie bestens vorbereitet.19 Bereits in dieser nämlich ist die Vernunft (ratio), subjektiv oder als Erkenntnisvermögen betrachtet, nicht nur in formaler Hinsicht bestimmt – als ein Vermögen, mittelbar zu schließen;20 schon gar nicht ist sie bloß Fähigkeit zu einer der Betätigung dieses Vermögens vorauszusetzenden oder nachfolgenden intuitiven Einsicht – sei’s in irgendwelche Prinzipien, sei’s in Begriffszusammenhänge des Gehalts von Konklusionen. Gewiß also ist sie keine Fähigkeit, die eigentlich intuitiver 19 20

Vgl. A. G. Baumgarten, Metaphysica. Halle 1757. §§ 640 ff. § 646.

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Verstand zu nennen wäre. Sie ist vielmehr eine Spezifikation des durchaus diskursiven, forschenden und begrifflich vorstellenden Verstandes im engeren Sinn, d. h. der intelligentia:21 ein nicht nur zu klarer, sondern auch zu deutlicher Erkenntnis taugliches Vermögen, kraft dessen ich allgemeine Zusammenhänge von Dingen begrifflich vorstelle, letztlich aber in solchen Zusammenhängen die Welt je nach der Lage meines Körpers in ihr.22 Dabei mag der Wirkungskreis der Vernunft größer oder kleiner sein.23 Um von hier aus zum Kantischen Begriff der Vernunft zu gelangen, braucht man daher nur zu beachten, daß die eingeschränkte Vernunft eines jeden von sich aus auf größtmögliche Erweiterung ihres Wirkungskreises geht, und daß jede mögliche Welt als ein Ganzes von seriell geordneten Teilen außer der bedingten Einheit, die sie mit ihren zufälligen Beschaffenheiten hat, in ihren Wesensbestimmungen auch eine unbedingte Einheit enthält.24 Dann liegt es nahe zu sagen, die Vernunft sei nicht nur, da formaliter ein Vermögen, mittelbar zu schließen, materialiter ein Vermögen der Exposition irgendwelcher Prinzipien, aus denen sich schließen läßt; sondern im Rückgang auf Prinzipien – begrifflich also im Entwerfen des Allgemeinen, unter dem sich das Besondere denken und von dem aus es sich unter Zusatzvoraussetzungen ableiten läßt – gehe die Vernunft denkend vom Bedingten bis auf eine unbedingte Einheit in einem letzten Grund sei’s innerhalb, sei’s außerhalb der Welt. Damit sind vom Begriff der Vernunft in erster Näherung bereits die Kantischen Bestimmungen versammelt, wenn man noch nicht auf den theoretischen oder praktischen Gebrauch der Vernunft abhebt, sondern sich zunächst an die Vernunft überhaupt hält. Näher, wenngleich weiterhin mit der in einer Einleitung gebotenen Vorläufigkeit gesagt, ist Vernunft subjektiv genommen für Kant, außer formaliter ein Vermögen zu mittelbarem Schließen, materialiter ein Vermögen, kraft dessen wir selbsttätig das »allgemeine zuerst entwerfen […] können und das besondere in ihm«.25 Durch den Gebrauch dieses Vermögens stiften wir Einheit unter unseren Vermögen, Begriffen, Erkennt21

Vgl. §§ 402, 624, 632. § 642. 23 § 644. 24 § 359; vgl. Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik. Hrsg. v. G. F. Meier. Neue vermehrte Auflage. Halle 1783. § 260. 25 Kant’s handschriftlicher Nachlaß. Reflexion 705. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königl. Preuß. Akademie der Wissenschaften. Bd. XV/1. Berlin/Leipzig 1923. S. 312. 22

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nissen, Kräften und Handlungen; und die Intention auf Einheit durch Synthesis von Verschiedenem geht dabei im Unterschied zu derjenigen des Verstandes hinter Bedingtes in der Reihe seiner Bedingungen zurück bis auf ein Unbedingtes, das in einem ›zuerst‹ zu entwerfenden, d. h. aller weiteren Vernunfttätigkeit vorausgehenden Begriff eines höchsten Allgemeinen gedacht wird. Bereits diesen Bestimmungen gemäß ist die Intelligenz als Vernunft in der vom Systembegriff her zu erwartenden Weise reflexiv auf sich selbst gerichtet. Sie hat den Verstand mit sich selbst in durchgängigen Zusammenhang und seine Erkenntnisse, ihren ganzen Umfang berücksichtigend, in ein System zu bringen. Als was die Vernunft darüber hinaus objektiv betrachtet, d. h. sie für ihren Gegenstand genommen,26 zu bestimmen ist, ergibt sich aus der Leistungsfähigkeit des Vermögens, das sie ist. Worin, d. h. vorab in welchen Begriffen von ihrem Gegenstand (oder ihren Gegenständen) die Bestimmung des Näheren besteht, ist hier nicht zu erwägen. Denn auch so schon sieht man, daß die auf eine begrifflich bestimmte, unbedingte Einheit gerichtete Intention der Vernunft um der Deutlichkeit willen zugleich darauf gehen muß, diese Einheit in einer systematisch gegliederten Mannigfaltigkeit von zu durchlaufenden begrifflichen Bestimmungen als ein Ganzes von Teilen unter einem höchsten, eingeteilten Begriff dieses Ganzen zu denken. Die Einteilung des Ganzen sowie seines obersten Begriffs und der Teile sowie Teilbegriffe muß unter Prinzipien der Koordination und Subordination vollständig sein. Die Intention der Vernunft hat daher sowohl auf ein darstellendes System als auch auf ein darin dargestelltes System zu gehen. Vom Verfahren der Erzeugung des darstellenden Systems aber wird es abhängen, was zum dargestellten System gehört und ob dieses System Gegenstand einer Erkenntnis ist oder nicht. Eine sekundäre Frage ist hingegen, ob und gegebenenfalls in welchem Sinne das dargestellte System die Welt sein kann oder sie zusammen mit ihrem außerweltlichen Grund oder die sich darstellende Vernunft als etwas von beiden Verschiedenes. Zu welcher dieser Alternativen das Verfahren am Ende führen wird und wie weit der Erkenntnisanspruch seiner Schritte im einzelnen reichen mag, – das Verfahren und seine Schritte haben jedenfalls einen Zweck, der nur durch Vernunft, d. h. mittelbar, zu erreichen ist, aber dem Ergebnis auch eine gewisse, freilich nur im Verfahren zu bestimmende Objektivität sichert. Vor der Unterscheidung einer theoretischen von einer praktischen Vernunft und vor jeder weiteren Unterscheidung innerhalb dieser beiden geht die Vernunft nach Kan26

Vgl. Baumgarten a.a.O. § 646; vgl. Meier § 473.

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tischem Verständnis also aus auf ein systematisch gegliedertes Ganzes von Begriffen und auf Systematizität des darin Begriffenen.27 Aber das ist nur eine Folge davon, daß sie, wie beschrieben, das höchste der intellektuellen Erkenntnisvermögen ist. Von diesem Vernunftkonzept aus, das nicht nur für Kant besteht, sondern insoweit auch für die nachkantischen Idealisten bedeutsam bleibt, läßt sich klar machen, was man sagt, wenn man ein System zu einem System der Vernunft spezifiziert. Die Spezifikation sagt uns, daß der oberste Systembegriff, den es einzuteilen gilt, jedenfalls einer der Vernunft ist. Aber das will recht verstanden werden. Es bedeutet nicht eo ipso, das dargestellte System müsse und könne ausschließlich die Vernunft selber sein. Ob es sich so verhält oder nicht, ist vielmehr abhängig von weiteren Fragen, deren Beantwortung sich aus Möglichkeiten bzw. der Unmöglichkeit ergibt, die Vernunft berechtigtermaßen objektiv zu nehmen. Man darf daher nicht meinen, im Ausdruck ›System der Vernunft‹ werde der Begriff eines Systems lediglich, wie z. B. im Ausdruck ›systema mundi‹ durch Benennung jenes Ganzen spezifiziert, welches das in Rede stehende System ist. Es kann sogar sein, daß dies gerade nicht zutrifft und daß das im Genitivausdruck Genannte – die Vernunft – nur ein Teilsystem des Ganzen ist, wenngleich dadurch ausgezeichnet, daß es sich, auf die eine oder andere Weise modifiziert, in allen Teilsystemen findet, in denen die Vernunft objektiv genommen werden kann. Ein System der Vernunft, so kann man auch sagen, muß nicht als solches schon ein System der reinen Vernunft sein, obwohl dieses – wenn auch nicht in expliziter Form – in ihm enthalten ist. Zusätzlich zum ganzen System oder einem ausgezeichneten Teilsystem spezifiziert der Ausdruck ›Vernunft‹ die Art und Weise, in welcher sich die Teile miteinander zu einem beständigen Ganzen verbinden; außerdem aber auch das Prinzip, gemäß welchem der Begriff des Ganzen sich einteilt. Da dieses Prinzip nicht nur eines ist, aufgrund dessen das Ganze als darstellendes oder (zusätzlich) als dargestelltes System besteht, sondern auch dasjenige, aus dem das Ganze begriffen wird, dient der im spezifizierenden Ausdruck enthaltene Vernunftbegriff letztlich auch dazu, das Verfahren zu bestimmen, dem folgend die Philosophie das System und seine möglichen Teilsysteme zu erkennen hat – sei’s als erkennend dargestelltes oder bloß als so darstellendes System. 27

Vgl. P. Guyer, The Systematic Order of Nature and the Systematic Unity of Ends. In: Vernunftbegriffe in der Moderne. Hrsg. v. H. F. Fulda u. R.-P. Horstmann. Stuttgart 1994. S. 202.

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Selbst damit ist erst ein Teil der Gesichtspunkte benannt, unter denen am deutschen Idealismus das System der Vernunft zum Thema gemacht werden sollte. Als Kant die »Kritik der reinen Vernunft« veröffentlichte, war er hinsichtlich seines Verfahrens einer Transzendentalphilosophie und der auf diese folgenden Disziplinen keineswegs schon ganz im Reinen mit sich. Ähnliches gilt sogar noch für die anderen beiden Kritiken. Die nachkantischen Idealisten mußten sich also nolens volens ihre eigenen Gedanken dazu machen. Das hat für uns zur Folge, daß jeder, der eindringlich mehrere von ihren und den Kantischen Werken studiert, gleichsam in eine Experimentierwerkstatt eintritt und daß die in dieser Werkstatt ausgeübte Tätigkeit für alle Fragen, die das Systematische der Philosophie betreffen, bis heute von unüberbotenem Wert ist. Gerade im Hinblick auf ihren systematischen Charakter verdienen die Werke Kants und der nachkantischen Idealisten immer wieder neu beleuchtet, interpretiert und in den Dienst weiteren Denkens genommen zu werden. Doch von Interesse ist dabei nicht nur der Aufbau der Systeme, welche in ihnen entworfen, ausgeführt oder dargestellt werden; auch nicht nur ihr Zusammenhang mit Verfahren, aus denen sie hervorgehen, und mit Einteilungen bzw. Disziplinen der Philosophie, die sich hierbei ergeben. Berücksichtigung verdient nicht zuletzt, welches Programm philosophischer Lehrart sich mit einem darstellenden System oder einer Disziplin verbindet, wie darin mit Aussagen und Begriffen einzelwissenschaftlicher Empirie oder Theorie umgegangen wird und welche Rolle sich die systematische Lehrart für ein philosophisches Leben zuspricht.

6. Kant hat der subjektiv genommenen Vernunft vor der objektiv genommenen eindeutig den Vorrang gegeben und diesen Vorrang in seinem ganzen, von ihm veröffentlichten Werk durchgehalten. Das sprach dafür, Kants Philosophie eines Systems der Vernunft im vorliegenden Band unter den Titel Architektonik und System zu stellen und die Transzendentalphilosophie28 als gewichtigstes Stück der architektonischen Gestalt dieses Systems eingehender als andere Kantische Philosophiedisziplinen zu behandeln. Denn philosophische Architektonik ist für Kant die Kunst des Entwerfens und Ausführens von Gedankensystemen. Wenn man sich mit 28

Siehe im Inhaltsverzeichnis unter II.: »Das System der Transzendentalphilosophie und sein Kontext«.

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einem Kantisch verstandenen System der Vernunft befaßt, hat man also vornehmlich mit dieser Kunst zu tun. Und fürs Ausüben sowie Lehren der Kunst bedarf es reflektierten Gebrauchs der Vernunft als eines ›Vermögens‹ im Zusammenhang mit anderen Erkenntnisvermögen. Nichts anderes aber als deren systematische Untersuchung soll die Kantische Transzendentalphilosophie sein – mit dem Zweck, nicht Gegenstände zu erkennen, sondern von irgendwelchen Gegenständen alle Erkenntnisse a priori, die wir in ›reinen‹, d. h. nichts Empirisches enthaltenden, Begriffen haben können. Also ist die Transzendentalphilosophie nicht nur ein erster, sogar paradigmatischer Anwendungsfall jener Kunst. Sie muß auch zum bevorzugten Untersuchungsgegenstand werden, weil sie als Auskunft über die Vernunft und ihren sachgemäßen Gebrauch mehr als jede andere Disziplin zum besseren Verständnis und Erwerben jener Kunst dient. Für Menschheitsinteressen wichtiger als dieser allgemeine Teil Kantischer Metaphysik sind allerdings, als die eigentliche Metaphysik, deren besondere Teile: die Metaphysik der Natur und die Metaphysik der Sitten. Daher durften deren Systeme und ihre Verbindung von einem hauptsächlich mit Kant befaßten Band natürlich nicht übergangen werden.29 – Andererseits machten die hochgradige Komplexität des gesamten Kantischen Gedankengebäudes sowie die Mannigfaltigkeit der in dessen Baugeschichte systemisch wirkenden Faktoren und die Subtilität des diese Faktoren verbindenden Begriffs es erforderlich, die Systematik von Kants kritischer Philosophie zunächst einmal im Umriß zu thematisieren.30 So ergaben sich die drei Sektionen, in welche die Beiträge zum vorliegenden Band gegliedert sind. Für die erste Sektion, d. h. die Beschäftigung mit dem großen Ganzen der Kantischen Systematologie, waren zwei Gesichtspunkte leitend: Zum einen mußten Kants Begriff eines Systems der kritischen Philosophie und die in ihm gedachte Systematik unterschieden werden vom Methodenund Systemverständnis der vorkritischen Wolff’schen Schulphilosophie. Es waren gewissermaßen die Konturen zu verfolgen, mit denen sich die Kantische Gestalt eines die Gegenstände der Philosophie darstellenden Systems von ihrem wichtigsten geschichtlichen Hintergrund abhebt. Da das Kantische Philosophiekonzept nach der »Kritik der reinen Vernunft« nicht unverändert dasselbe blieb, galt es zum anderen, der Veränderung 29

Vgl. ebda. unter III.: »Zur Systematik besonderer Teile der eigentlichen Metaphysik«. 30 Vgl. das Inhaltsverzeichnis unter I: »Die Kantische Systematik im Umriß«.

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dieses Konzepts nachzugehen, – also der Tatsache Rechnung zu tragen, daß zur Ausübung einer Architektonik nicht nur die Errichtung eines Baus gehört, sondern eventuell auch dessen Umbau, und daß es solchen Umbaus im Fall der Kantischen kritischen Philosophie zweifellos mehrmals bedurfte. Beide Aufgaben werden von den sieben Autoren, die sich ihnen widmen, weiter strukturiert: Die erste umfaßt nicht nur die Frage nach Identität und Differenz, Übereinstimmung und Widerstreit zwischen den vorkritisch-schulphilosophischen und den kritisch-Kantischen Systemvorstellungen. Außer einer dieser Sache angemessenen Beschreibung ist zu überlegen, wie es sich rechtfertigt oder wenigstens erklärt, daß Kant im Ambiente des Aufklärungs-Eklektizismus seiner Zeit die Systematizitätsforderungen der Schulphilosophie nicht nur verteidigt, sondern extrem verschärft. Die Überlegung gibt Anlaß zu der spezielleren Frage, worauf die wichtigsten, das Kantische Systemkonzept auszeichnenden Momente zielen: ob auf Selbsterkenntnis der Vernunft in einem transzendentalen Selbstbewußtsein als einer Domäne des Verstandes (M. Baum); ob auf Selbsterkenntnis einer Vernunft, die ihrer Natur nach architektonisch ist (P. König); oder auf die Idee eines ›generativen‹ Systems, dessen Begriff man vom architektonischen Systembegriff noch unterscheiden muß und als Idee auch braucht, um das Kategoriensystem als ›Seele des Systems‹ denken zu können (G. Zöller). – Im Hinblick auf die zweite Aufgabe muß man die »Kritik der reinen Vernunft« zunächst sowie die anderen beiden Kritiken mit heutigen Systematizitätserwartungen vergleichen und überlegen, wie bescheiden oder anspruchsvoll ihre Systemkonzepte im Verhältnis zu diesen Erwartungen sind. Ergebnis des Vergleichs ist die These, Kants Begriff systematischer Philosophie sei seit der »Kritik der praktischen Vernunft« mit einem relativ bescheidenen Anspruch verbunden gewesen (K. Ameriks). In einem Korreferat hierzu (B. Thöle) wird diese These energisch bestritten. Am Ende aber muß der Vergleich auch aufs ›Opus postumum‹ ausgedehnt werden; und er muß daran sowohl den Ansatzpunkt weitreichender Veränderungen in Konzepten des höchsten Guts betreffen (E. Förster) als auch der Frage gelten, wie tief die Veränderungen ins Gefüge des ganzen vorhergehenden Kantischen Systemkonzepts hinabreichen (B. Tuschling).31 Von der Beantwortung dieser Frage hängt sogar ab, ob man für die späteste Phase 31

Beim mündlichen Vortrag waren die beiden Beiträge zum ›Opus postumum‹ aus organisatorischen Gründen dem dritten Abschnitt des Ganzen zugeordnet. Das hat im einen von ihnen zu einer berechtigten Kritik geführt. Der Sache nach gehören sie an die angegebene, ursprünglich für sie vorgesehene Stelle.

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Kantischen Systemdenkens noch in jeder Hinsicht von einem Vorrang der subjektiv genommenen Vernunft vor der objektiv genommenen sprechen darf. Wenn, wie in der zweiten Sektion des Bandes, Kants Architektonik exemplarisch an der Transzendentalphilosophie untersucht werden soll, so kommt es darauf an, die »Kritik der reinen Vernunft« auf diese Disziplin hin transparent zu machen. Denn beide fallen ja nicht zusammen, sondern das zustande gekommene Werk ist nur Vorbereitungswissenschaft zur Transzendentalphilosophie, obwohl es deren ganze Systematik im Grundriß »architektonisch, d. i. aus Prinzipien,« entwerfen soll.32 Wenn am System ferner das Architektonische interessiert, also nicht das fertige Ergebnis und Ensemble seiner Teile, sondern die Art, wie es zustande kommt und wie sich die Teile zusammenfügen, so muß die Überlegung vornehmlich der »eigentümlichen Methode einer Transzendentalphilosophie« gelten, also einem Aspekt des Systems, von welchem die »Kritik der reinen Vernunft« nach eigener Auskunft nichts sagen kann.33 Man darf daher von den Beiträgen der zweiten Sektion nicht Interpretationen der »Kritik der reinen Vernunft« oder einzelner ihrer Kapitel als solcher erwarten. Die Beiträge haben paradigmatisch Gedanken zu explizieren, die in der »Kritik« berechtigtermaßen implizit geblieben sind. Beim Interesse an einem Kantisch konzipierten System der Vernunft war jedoch nicht nur all’ das zu berücksichtigen, was Kant zur Idee der Transzendentalphilosophie und zum Formalen der Ausführung dieser Disziplin gesagt hat. Zumindest in einigen Hinsichten mußte die Aufmerksamkeit auch dem Kontext des Systems gelten, das die Transzendentalphilosophie bilden und als ein erstes System der Vernunft darstellen soll. Zu einem hierbei wichtigen Teil des Kontextes gehört die Auffassung, die Kant von einer reinen allgemeinen Logik und vom Verhältnis der transzendentalen Logik zu dieser der Philosophie vorauszusetzenden, formalen Disziplin gehabt hat. Es ist zu bedauern, daß sich keiner der Beiträge auf diese Seite des Kontextes der Transzendentalphilosophie konzentriert. Immerhin aber werden in den ersten vier Beiträgen der Sektion Bemerkungen hierzu gemacht. Wie nicht anders zu erwarten war, lassen sie übrigens durchaus kontroverse Urteile über eine Kantisch verstandene allgemeine Logik und das Verhältnis der transzendentalen Logik zu ihr erkennen. Auch an anderer Stelle des transzendentalphilosophischen Systems führen unumgängliche Fragen in dessen Kontext. Sie betreffen vor allem 32 33

KrV, A 13/B 27. KrV, B 766.

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die Abgrenzung der Transzendentalphilosophie von der eigentlichen Metaphysik praktischen Vernunftgebrauchs und den Gebrauch, den die praktische Philosophie von begrifflichen Strukturen der Transzendentalphilosophie macht. Diesen Fragen gehen die beiden Beiträge nach, die an den Schluß der Sektion gestellt wurden (K. Cramer, A. Wood). Um die verschiedenen Akzentuierungen der sechs vorausgehenden Beiträge zu erfassen, sollte man vor allem beachten, daß der Ausdruck ›Vernunft‹ im Kantischen Gebrauch eine Ambiguität enthält, die sich auf die Rede von einem System der Vernunft überträgt. In weiterer Bedeutung steht bei Kant ›Vernunft‹ für die Intelligenz oder das ›obere‹ Erkenntnisvermögen insgesamt. ›Vernunft‹ ist also insofern gleichbedeutend mit ›Verstand‹, wenn dieser Ausdruck ebenfalls in seiner weiten Bedeutung genommen wird. Als ein System der Vernunft in diesem Sinn umfaßt die Transzendentalphilosophie mit dem in ihr zu Erkennenden daher nicht nur spezifisch diejenige Vernunft, die formaliter als Vermögen, mittelbar zu schließen, und materialiter als Vermögen der Prinzipien sowie der in diesen enthaltenen Begriffe von Unbedingtem verstanden wird. Sie umfaßt ebenso, ja zuvor, den menschlichen Verstand. Daher ist sie als System der Vernunft auch nicht nur Lehre vom transzendentalen Schein, der den Begriffen von Unbedingtem anhaftet, und von den Irrtümern, welchen das metaphysische Denken anheimfällt, solange es nicht durch Kritik diszipliniert ist, sowie von der Möglichkeit, die Irrtümer zu vermeiden. Die Transzendentalphilosophie ist vielmehr auch eine Lehre von der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis, die wir dem Verstand (im engeren Sinn als einem Vermögen der Regeln unseres begrifflichen Umgangs mit einem wie auch immer Gegebenen) verdanken; und sie ist als solche nicht transzendentale Dialektik (d. h. Belehrung über den richtigen Umgang mit dem in der Natur der Vernunft gründenden Schein), sondern Analytik der synthetischen Erkenntnisse a priori, die wir von Gegenständen einer möglichen theoretischen Erkenntnis aus reinen Begriffen haben. Bereits diese Erkenntnisse bilden ein System (nämlich der synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes), und die Analytik hat als transzendentale dieses System nicht nur aufzustellen und zu lehren; sie hat es zu erkennen, indem sie von ihm erkennt, daß und wie es in ebenfalls zu erkennenden Systemen von Kategorien, Urteilsformen und (letztlich) Verstandesfunktionen gründet. Ohne ein System der Vernunft, welches die Transzendentalphilosophie bereits insoweit ist, wäre die Vernunft im Besonderen nicht systematisch zu erkennen – als ein System von Formen syllogistischer Schlüsse, von ihnen entsprechenden Begriffen eines jeweils Unbedingten und von spezifischen Funktionen dieser Begriffe.

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Nun sieht man wohl, welchen Aufgaben – in welcher Reihenfolge – sich die ersten sechs Beiträge der Sektion widmen müssen. Nicht nur für eine »Kritik der reinen Vernunft« und eine Transzendentalphilosophie, sondern auch wenn an dieser das Architektonische interessiert, empfiehlt es sich, der Beschäftigung mit Vernunft als einem besonderen Vermögen diejenige mit dem Verstand vorauszuschicken, wobei das Interesse und der zu seiner Befriedigung verfügbare Raum vom Inhalt der transzendentalen Analytik freilich nur einen kleinen Ausschnitt zu thematisieren erlaubt. Der erste Beitrag (B. Longuenesse) hat als solchen Ausschnitt den letzten der von Kant ›Analogien der Erfahrung‹ genannten Grundsätze und die korresponierende, darin wirksame Kategorie, Urteilsform sowie insbesondere Verstandesfunktion gewählt. Denn in dieser Funktion und entsprechend in allem, was auf ihr beruht, ist der Verstand bereits systematisierend tätig, sofern er Handlungen des Einteilens eines begrifflich gefaßten Ganzen und des dazugehörigen Aufzählens disjunkter Elemente vollzieht. Der zweite, als Korreferat hierzu angelegte Beitrag (M. Wolff) gibt zu bedenken, wie eine Alternative zu der im ersten Beitrag gegebenen Auskunft (über Kants Begründung der dritten Analogie sowie über die Korrespondenz von logischen Urteilsfunktionen und Kategorien) aussehen könnte. Vor allem aber macht er darauf aufmerksam, daß die in Betracht gezogene systematisierende Funktion, bloß als eine des Verstandes im engeren Sinn genommen, noch nicht die Einheit eines kritischen Systems von Verstandesfunktionen, Urteilsformen, Kategorien und Grundsätzen verbürgt, weil sich aus ihr allein nicht die für Systeme erforderliche Vollständigkeit von Einteilungen ergibt. Um sich angemessen zu den Vollständigkeitsbehauptungen in der transzendentalen Analytik zu verhalten, müßte man also aufklären, wie bereits darin die Vernunft mit einer ihrer spezifischen Funktionen am Werk ist. Diesen Funktionen insgesamt wenden sich die folgenden vier Beiträge zu: Zuerst mit der Frage, wie Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« zum System der transzendentalen Ideen als Vernunftbegriffen von Unbedingtem gelangt (Th. Seebohm), dann wiederum in Gestalt eines Korreferats mit der Absicht, das hierfür in Anspruch genommene System von Formen syllogistischer Schlüsse und seine Leitfadenfunktion weiter aufzuklären (W. Vossenkuhl). In den nächsten beiden Beiträgen hingegen (ebenfalls als Referat und Korreferat zusammengehörig) geht es um Funktionen, welche die Vernunft erst mit ihren Ideen hat – sei’s für einzelwissenschaftliche Empirie und Theorie, sei’s für unser Verhältnis zu uns selbst im außerwissenschaftlichen Leben. Der eine der Beiträge hebt darauf ab, daß der im Kantischen Vernunftbegriff gelegenen Tendenz zur

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Selbstüberschreitung eine zur Selbstdisziplinierung entspricht und daß die Verschränkung beider Tendenzen nicht nur für die Suche nach größtmöglicher Einheit einzelwissenschaftlichen Wissens besteht, sondern auch für’s Fragen nach einer in uns als vernünftigen Naturwesen angelegten Kongruenz zwischen menschheitlichen Zwecken und der physischen Welt, in der wir leben (V. Gerhardt). Ergänzend dazu betont der andere Beitrag, daß sich die Selbstdisziplinierung nach Kantischem Vernunftverständnis als Selbstkritik vollzieht, die man kontinuierlich an Selbsttäuschungen übt, indem man systematisch aufdeckt, was diese Selbsttäuschungen in der menschlichen Vernunft unvermeidlicherweise entstehen läßt (G. Siegmann). Die Gesichtspunkte, unter denen die Beiträge der dritten Sektion das Thema des Bandes spezifizieren, bedürfen keiner Erklärung, sollten aber wenigstens noch genannt werden. Die Absicht des ersten Beitrags (B. Falkenburg) ist es, bezüglich der Metaphysik der Natur zu zeigen, wie Kant nicht nur – von der Transzendentalphilosophie aus – zu einer mehrfachen Einteilung des Konzepts dieser Metaphysik (als einer ›Physiologie der Vernunft‹) zu gelangen versucht, sondern innerhalb des Konzepts die Voraussetzungen für »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft« (als rationale Physik) vor allem dadurch sichert, daß er zusätzlich zu den Verstandes- und Vernunftfunktionen, die es in der »Kritik der reinen Vernunft« bzw. Transzendentalphilosophie aufzudecken gilt, weitere Prinzipien annimmt, die der Analyse erfolgreicher Wissenschaften abgewonnen sind und die Forschung auf logische sowie ästhetische Vollkommenheiten von Erkenntnis ausrichten. Diese Vollkommenheiten wurden nur in Einleitungen zu Logik-Vorlesungen (anhand von G. F. Meiers Compendium) gelehrt und nur im Kantischen Vortrag systematisiert. Indem Kant die wichtigsten von ihnen den von der ersten Kritik aufgedeckten Prinzipien hinzufügt, vermag er in seiner Metaphysik der Natur eine ganze Reihe von Grundsätzen der Newtonischen Physik und metaphysischen Kosmologie des 18. Jahrhunderts zu vereinigen, die zuvor disparat geblieben waren; und die Vereinigung läßt hinsichtlich der Inhalte sogar eine erstaunliche Kontinuität zwischen der kritischen Metaphysik der Natur und der vorkritischen Kantischen Kosmologie bestehen. Der nächste Beitrag (M. Friedman) befaßt sich nicht mit der ganzen Systematik einer Kantisch konzipierten Metaphysik der Natur, sondern konzentriert sich auf den Übergang von der Transzendentalen Analytik zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften. In der Absicht zu zeigen, daß man nicht (wie vor kurzem behauptet) den Materiebegriff der Metaphysischen Anfangsgründe braucht, um erfolgreich

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die objektive Realität der Kategorien demonstrieren zu können, und daß man Kant auch nicht unterstellen muß, er habe in seiner Naturphilosophie den Unterschied von allgemeiner und spezieller Metaphysik verwischt oder die objektive Realität seines empirischen Begriffs von Materie durch mathematische Konstruktion erweisen wollen, analysiert der Verfasser Schritt für Schritt die wichtigsten Begriffe, welche beim Verbinden der transzendentalen Analytik mit der besonderen, immanenten Metaphysik der Natur ins Spiel kommen. Zusätzlich zur Klarheit über den Gehalt und die jeweilige Funktion, welche diese Begriffe im Kantischen Konzept einer metaphysischen Naturerkenntnis haben, ergibt sich dabei, daß das einzige uns bekannte System von Objekten, das die Bedingungen solcher Erkenntnis erfüllt und an dem wir die wahren von den scheinbaren Bewegungen unterscheiden können, mit den Gegenständen der Newtonischen Mechanik identisch, im übrigen aber nicht das einzig mögliche ist. Der Objektbereich, dem es angehört, ist unter den Kantischen Bedingungen offen für weitere Erkenntnis, welche über die Newtonische Mechanik hinausführen mag. Es folgen zwei Beiträge zur Metaphysik der Sitten. Der erste (H. F. Fulda) erwägt am exemplarischen Fall metaphysischer Erkenntnis des Gegenstands, den Kants »Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre« haben, wie die – von Kant ausdrücklich bekundete – Möglichkeit zu denken ist, die Einteilung des Systems, aus dem dieser Gegenstand besteht, zu deduzieren. Für die wichtigste Einteilung von Rechtspflichten und Rechtstiteln wird eine Interpretation vorgeschlagen, die uns wenigstens die wesentlichen Gesichtspunkte einer möglichen Deduktion an die Hand zu geben verspricht. Das folgende Korreferat (B.-S. v. Wolff-Metternich) kommentiert den Vorschlag und konfrontiert ihn mit Fragen, die teils durch Vorkehrungen gegen Mißverständnisse, teils durch Differenzierungen zu beantworten wären. Wie aber sollen sich die Metaphysik der Natur und diejenige der Sitten im Bewußtsein desjenigen, der sie ›hat‹, miteinander verbinden lassen – wo nicht in umfassender, homogener Erkenntnis eines einzigen Systems, so wenigstens in der Absicht, über die Erkenntnisgebiete beider Metaphysiken, d. h. die Natur und die Freiheit, so Auskunft zu geben, daß deutlich wird, wie man im Leben von der Denkungsart theoretischer Erkenntnis zu der sittlicher Einsicht (und umgekehrt von dieser zu jener) übergehen kann, ohne sich dafür der Unterscheidungs- und Rechtfertigungskünste einer Transzendentalphilosophie bedienen zu müssen? Das insbesondere will die »Kritik der teleologischen Urteilskraft« zeigen. Dem weitläufigen Argument, das Kant dazu entwickelt hat, widmen sich

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die letzten beiden Beiträge. Der eine (P. Guyer) rekonstruiert das Argument Schritt für Schritt, um die Frage aufzuwerfen, ob man es nicht als selbstdestruktiv betrachten muß. Das Korreferat hierzu (J. Stolzenberg) hingegen interpretiert das Argument so, daß dieses Problem vermieden wird. 7. Eine Aufsatzsammlung von einundzwanzig Autorinnen und Autoren kann nicht ›aus einem Guß‹ sein, also nicht die Stelle einer Monographie einnehmen, deren wir eigentlich bedürften. Dem Thema zuliebe, dessen Bearbeitung sie dient, sollte die Sammlung andererseits auch kein »repräsentativer Querschnitt« von Forschungen sein, die ohnehin schon betrieben werden. Vielleicht vermögen ihren Mangel an Homogenität sogar spezifisch pluralistische Tugenden wettzumachen: Facettierungen des Themas in einer Vielfalt, wie sie ein einziger Autor nicht präsentieren würde; fruchtbare Kontroversen in zahlreichen Referaten und Korreferaten; Potentiale, sich von einzelnen Beiträgen zu tieferem Eindringen in die Perspektive anderer anregen zu lassen. Daß der vorliegende Band solche Tugenden aufweist, ist jedenfalls die Überzeugung, mit der die Herausgeber ihn veröffentlichen. Die Hoffnung und Herausforderung ist, daß auch die nachfolgenden Bände der Reihe »System der Vernunft – Kant und der deutsche Idealismus« die besonderen Chancen einer Kooperation mehrerer Autoren wahrnehmen werden. Beim Stimmengewirr der nachkantischen Idealisten und in Anbetracht der Masse neu erschlossener Dokumente ihrer Tätigkeit wird solche Kooperation gewiß noch dringlicher sein als im Fall der Kantischen Philosophie. Doch anders als der vorliegende Band sollen die weiteren Bände nicht jeweils einem einzigen der deutschen Idealisten gelten. In stetem, möglichst engem Rückbezug auf Kantische Systemkonzepte und -probleme werden sie den nachkantischen Bestrebungen, soweit diese Systemfragen betreffen, allemal bei mehreren der von Kant inspirierten Autoren in deren intellektueller Vernetzung nachgehen und sich dabei jeweils auf eine bestimmte Entwicklungsphase der nachkantischen Philosophie konzentrieren. Bei der Erforschung solcher Phasen und der in ihnen bestehenden Interdependenzen zwischen Bestrebungen verschiedener Autoren sollen die Gestalten von Gedanken und vor allem die sie stützenden oder widerlegenden Argumente hinsichtlich Struktur, Tragweite und Gewicht Präferenz haben vor Lebens-, Rezeptions- und Einflußgeschichten. Das Kunststück wird sein, sich durch den Impuls in-

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Einleitung · H.F. Fulda, J. Stolzenberg

haltlicher Sachfragen nicht ablenken zu lassen vom Reflexionsinteresse an Vernunftsystemen und ihrer Erkenntnis – und das sogar in bezug auf jene erste, revolutionäre Periode, in welcher die Systementwürfe innerhalb oder außerhalb neuer Theorieversuche wie Pilze aus dem feuchten Boden schossen. Um dies zu bewerkstelligen, werden die zunächst sehr vagen, neuen Systemgedanken im zweiten Band der Reihe möglichst eingehend mit Hilfe und vor dem Hintergrund der Kantischen Systemkonzeption beschrieben und beurteilt werden müssen. Er wird daher den Titel tragen: »Kant und der Frühidealismus«.

I. DIE KANTISCHE SYSTEMATIK IM UMRISS

Manfred Baum Systemform und Selbsterkenntnis der Vernunft bei Kant

1. In der ersten deutschen Übersetzung von Humes »Inquiry Concerning Human Understanding« von 1755 sagt deren Herausgeber Sulzer in seiner »Vorrede« über Christian Wolff, er sei »der verehrungswürdige deutsche Philosoph, der der Welt das erste aneinander hangende System der Philosophie gezeiget« habe. Nur »Euclides« habe »ein ähnliches System der gemeinen Geometrie hinterlassen«,1 wie Wolff es im Felde der Philosophie zustande gebracht habe. Nun haben wir nicht nur das imposante Wolffische System in seiner deutschen und lateinischen Ausarbeitung vor uns, von dem schon Sulzer wußte, daß es zu wenig studiert wurde, sondern glücklicherweise auch eine Abhandlung vom Jahre 1729, »De Differentia intellectus systematici et non systematici«,2 in welcher sich Wolff über die Möglichkeit und Notwendigkeit der Systemform der Philosophie ausspricht. Zunächst aber ist dem »Discursus praeliminaris« (1740) zu entnehmen, worauf die Ähnlichkeit des Wolffischen Systems der Philosophie mit dem Euklidischen System der Geometrie beruht. Dort heißt es: »Methodi philosophicae eaedem sunt regulae, quae methodi mathematicae« (»Die Regeln der philosophischen und der mathematischen Methode sind dieselben«), so daß man also kurz und bündig von der »identitas methodi philosophicae et mathematicae«3 sprechen 1

David Hume: Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß. Hrsg. von Johann Georg Sulzer. Hamburg und Leipzig 1755, Vorrede des Herausgebers (unpaginiert). 2 In: Christian Wolff: Horae subsecivae Marburgenses. Gesammelte Werke Abt. II, Bd. 34.1. Hrsg. und bearbeitet von Jean École. Hildesheim u.a. 1983, S. 107–154. 3 Christian Wolff: Philosophia rationalis sive logica. Gesammelte Werke Abt. II, Bd. 1. Hrsg. und bearbeitet von Jean École. Hildesheim u. a. 1983. Pars I: Discursus praeliminaris de philosophia in genere, § 139 (im folgenden »Wolff: Philosophia«).

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kann. Die der Philosophie und der Mathematik gemeinsame Methode besage ja lediglich, daß man nur genau definierte Termini verwenden darf, nichts als wahr angenommen wird, was nicht hinreichend bewiesen ist, in den Sätzen (propositiones) der Wissenschaft Subjekt und Prädikat gleichermaßen genau bestimmt werden und alles, also Begriffe und Sätze, so angeordnet wird, daß dasjenige vorausgeschickt wird, wodurch das folgende verstanden und begründet wird (adstruuntur). Diese Identität der Methoden ist auch nicht verwunderlich, da sie beide aus demselben Grunde abgeleitet sind, nämlich dem Begriff der Gewißheit (ex notione certitudinis) der Erkenntnis (cognitionis). Das bedeutet aber auch, daß die Philosophie ihre Methode von der Mathematik nicht entlehnt. Denn auch wenn es gar keine Mathematik gäbe oder sie noch nicht so weit entwickelt wäre, daß sie gewisse Erkenntnis lieferte, könnte keine andere philosophische Methode gefunden werden, um zur gewissen Erkenntnis der Dinge zu gelangen. Also ist jeder Streit über die Anwendbarkeit der mathematischen Methode auf die Philosophie überflüssig. Beide Wissenschaften schöpfen ihre Methode »aus der wahreren Logik« (ex veriori Logica), und diese gemeinsame Methode kann darum statt »philosophische« richtig mit dem allgemeinen Namen »wissenschaftliche« Methode bezeichnet werden, da ihre Gesetze ja jeder Erkenntnis als solcher zukommen sollen.4 Die wissenschaftliche Methode ist gar nichts anderes als die genaue Anwendung der logischen Regeln. Die Regeln der Logik aber sind allgemein und leiten in jeder Erkenntnis den Verstand (intellectum), damit er nicht vom Wege der Wahrheit abbiegt und in Irrtum verfällt. Die »wahrere« Logik der Wolffischen »Philosophia rationalis« ist aber selbst ein »systema logicum« und keine bloße »compilatio«,5 da sie ihre wahren Sätze (veritates plurimae) sowohl untereinander als auch mit ihren Prinzipien, nämlich ihren Definitionen und Beobachtungen (observationibus) verknüpft. Ein System aber, wie Wolffs »Logica methodo scientifica pertractata«, ist ja ganz allgemein zu definieren als eine Ansammlung von Wahrheiten, die unter sich und mit ihren Prinzipien verknüpft sind (»veritatum inter se et cum principiis suis connexarum congeries«).6 Die Anwendung der wissenschaftlichen Methode auf irgendeinen Bereich der menschlichen Erkenntnis macht daraus notwendig ein System von Erkenntnissen.7 4

Wolff: Philosophia. a.a.O., Pars III, § 793, recte § 792. Wolff: Philosophia. a.a.O., Pars III, § 889. 6 Ebda. 7 Schon mehr als hundert Jahre vor Wolff heißt es in Clemens Timplers Metaphysicae systema methodicum (1616) generell von der ars liberalis externa, zu der Logik, 5

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In der schon erwähnten Abhandlung »De differentia«, die vom systematischen Verstand handelt, wird der Begriff eines Systems genauer bestimmt als im übrigen Werk Wolffs. Hier wird zunächst angegeben, worin die Verknüpfung der Sätze besteht, von der im »Discursus praeliminaris« die Rede war. Sätze sind dann verknüpft, wenn die einen durch die anderen bewiesen werden, d. h. wenn die Wahrheit eines Satzes durch andere Sätze, die wir als wahr anerkennen, bewiesen wird. Da in jedem bestimmten Satz der Begriff des Subjekts den zureichenden Grund dafür enthält, warum das Prädikat dem Subjekt zuzusprechen ist, kann die Wahrheit eines Satzes als Bestimmbarkeit seines Prädikates durch seinen Subjektbegriff definiert werden.8 Deshalb wird durch den Subjektbegriff bewiesen, daß das Prädikat dem Subjekt zukommt, wobei wir uns anderer Sätze als Prinzipien des Beweises bedienen. Es genügt also nicht, daß verschiedene Sätze einer Theorie vom selben Gegenstand handeln und dadurch untereinander verbunden sind, es bedarf eines deutlichen Begriffes von der Verknüpfung der Sätze untereinander, also von den Gesetzen der wissenschaftlichen Methode, um von einem wirklichen System reden zu können. Das Muster eines solchen Systems sind die Elementa des Euklid, in welchen die Sätze offenkundig aufs engste (arctissime) verknüpft sind,9 und dasselbe gilt für die Werke der ihm nachfolgenden alten Geometer und aller wahren Mathematiker, aber auch für die des Aristoteles, wie man aus dessen Organon ersehe.10 Er befolge hier die Methode Euklids, während der große chinesische Philosoph Konfuzius durch seine natürliche Anlage zum systematischen Verstand herausrage.11 Unter den Neueren wird Descartes als Vorbild eines systematischen Denkers gepriesen. Wolff wendet sich dann gegen diejenigen, die bestreiten, daß es solche Elementarsysteme, wie die Euklidische Geometrie eines ist, auch außer der Mathematik geben könne. Deren Fehler beruhe darauf, daß sie, in Unkenntnis des Euklidischen Verfahrens, seinen Erfolg dem besonderen Gegenstand zuschrieben, statt seiner Methode. Aber aus der Wolffischen Logik sei zu ersehen, daß Euklids Methode nicht vom Gegenstand, Metaphysik, Physik und Rhetorik gehören, sie sei ein »systema non confusum et perturbatum, sed bene secundum leges methodi ordinatum et dispositum.« Zitiert nach Manfred Riedel, »System, Struktur«. In: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6. Hrsg. v. O. Brunner, W. Conze u. R. Koselleck. Stuttgart 1990, S. 285 ff., hier S. 293. 8 Ein Aussagesatz ist also dann und nur dann wahr, wenn sein Prädikatsbegriff mittelbar oder unmittelbar durch seinen Subjektbegriff bestimmt wird. 9 Wolff: De differentia, a.a.O., (Anm. 2), S. 112 f. 10 Wolff: De differentia, a.a.O., S. 115. 11 Wolff: De differentia, a.a.O., S. 116 ff.

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sondern nur aus dem allgemeinen Begriff eines Dinges und aus der Natur des menschlichen Geistes (»ex ipsa entis notione generali et mentis humanae natura«) abgeleitet sei.12 Der Begriff des ens überhaupt und das Wesen des menschlichen Geistes, die die wissenschaftliche Methode ihrer Form nach (forma methodi) bestimmen,13 werden in der Ontologie, der Logik und der Psychologie abgehandelt, sie sind nicht auf Größen, von denen die Mathematik handelt, eingeschränkt. So beansprucht Wolff, fast alle von Euklid als Axiome angenommenen und ihnen verwandte Sätze auf die Grundbegriffe (notiones communes) seiner Ontologie zurückgeführt und die ihnen entsprechenden Sätze bewiesen zu haben. Die reine Mathematik entnimmt also ihre ersten Prinzipien der Ontologie, und die Logik, die die Gesetze des Verstandesgebrauches darlegt und beweist, entnimmt ihre Grundbegriffe (außer der Ontologie) der Psychologie. Es hindert also nichts, daß die Gesetze der wissenschaftlichen Methode auf alle Gegenstände, die der menschliche Geist zu erkennen vermag, angewandt werden und so Systeme von Wissenschaften hervorbringen, allen voran die Systeme der Philosophie, deren Elementarsysteme der Ontologie und Psychologie zur Metaphysik gehören, aber ihrerseits ihrer Form nach von der Logik abhängen. Wer also der Wolffischen Gründlichkeit auf den Grund gehen wollte, der müßte in diesem Beziehungsdreieck von Ontologie, Psychologie und Logik den Ursprung des Begriffes eines Möglichen (ens) überhaupt aufsuchen, welcher Ursprung zugleich das in der Natur des menschlichen Geistes liegende Prinzip aller Prinzipien, der Satz vom Widerspruch, ist. Schließlich macht Wolff in der Erörterung seines Systembegriffes eine unvermittelte Anmerkung. Ein Rechtssystem, wie das Corpus iuris civilis oder jedes andere System von Gesetzen, das ein System des Rechts in der wahren Bedeutung dieses Wortes sei, verdiene den Namen eines Corpus, »da ›tierischer Körper‹ (corpus animale) sich auf ein System bezieht, in welchem die Organe und ihre Teile nach dem Gesetz (ea lege) angeordnet sind, nach welchem den Wahrheiten in einem System zukommt, angeordnet zu werden (qua veritates in systemate ordinari convenit).«14 Obwohl also Wolff den Systembegriff auf den der Logik entnommenen Begriff der Methode gründet und das Muster eines Systems von Wahrheiten in der Euklidischen Axiomatik findet, zögert er nicht, das Gesetz der logischen Verknüpfung von Sätzen im Beweis mit dem »Gesetz« der 12 13 14

Wolff: De differentia, a.a.O., S. 133. Ebda. Wolff: De differentia, a.a.O., S. 148.

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realen Verknüpfung der Glieder eines Organismus gleichzusetzen. Aber er gibt keine Erläuterung oder gar Begründung für die Behauptung dieser Identität. 2. In der »Vorrede« zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« nennt Kant diese Kritik einen »Traktat von der Methode« der Metaphysik, der zwar selbst ein System der transzendentalen Untersuchung der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis darstellt und in diesem Sinne zur Metaphysik gehört, nicht aber selbst »ein System der Wissenschaft«,15 nämlich ein wirkliches und vollbrachtes »System der Metaphysik«16 sein soll, wie es eine jede Metaphysik sein muß, die als Wissenschaft wird auftreten können. Dieses künftige und von Kant nie fertig gestellte »System der Metaphysik« wird »der strengen Methode des berühmten Wolff, des größten unter allen dogmatischen Philosophen, folgen« müssen.17 Die Momente dieser strengen Methode, die Kant erwähnt (»gesetzmäßige Feststellung der Principien, deutliche Bestimmung der Begriffe, versuchte Strenge der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen«),18 beschreiben in der Tat die »methodus scientifica« des Wolffischen Gesamtwerkes. Als Kant in der »Vorrede« zur zweiten Auflage der »Kritik« dieses wohl durch Jacobis Angriff auf den Wolffianer Mendelssohn, dessen Tod im Januar 1786 und den darüber hinaus fortgeführten sog. Pantheismusstreit veranlaßte Bekenntnis zu Wolff veröffentlicht, hat er schon im Jahre zuvor, in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft«, eben diesen mißverständlich so genannten mos geometricus befolgt.19 Dies tat er ungeachtet dessen, daß, seit der »Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral« (1764) und erst recht seit der neubegründeten Entgegensetzung von mathematischer und philosophischer Methode in der ersten Auflage

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Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (KrV), B XXII. KrV, B XXIII. 17 KrV, B XXXVI. 18 Ebda. 19 In Mißachtung der Jacobischen Neuauflage der pietistischen Attacken auf Wolff durch Lange, Budde und Crusius, die wie Jacobi den Spinozismus- und d. h. Atheismusvorwurf auch durch den Spinoza und Wolff gemeinsamen mos geometricus begründet sahen. Wolff hatte seinerseits in »De differentia« das »systema errorum« Spinozas (a.a.O., 126) auf Fehler in dessen Elementarsystem zurückgeführt, wozu die falsche Definition der Substanz gehört. 16

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der »Transzendentalen Methodenlehre« der »Kritik der reinen Vernunft« über die Differenzen zu Wolff kein Zweifel bestehen konnte. Kant stimmt auch darin mit Wolff überein, daß die Metaphysik, wie jede Wissenschaft, die diesen Namen zu Recht beansprucht, eben dieser Methode ihren Wissenschaftscharakter verdankt. Denn eine Menge von metaphysischen Erkenntnissen ist nur dadurch eine Wissenschaft, daß sie ein »System der reinen Vernunft« ist, nämlich »die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntniß aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhange«.20 Ein solches System der Metaphysik hätte Wolff besser als jeder andere Philosoph zustandebringen können, weil er wußte, wie »der sichere Gang einer Wissenschaft zu nehmen sei«, wenn er es nur nicht, wie alle Dogmatiker, an der »Kritik des Organs, nämlich der reinen Vernunft selbst«,21 hätte fehlen lassen, durch welches ein solches Vernunftsystem allein zustandegebracht werden kann. Kants Traktat von der Methode der Metaphysik ist zwar selbst ein »System«, auf dessen »Unveränderlichkeit« er hofft,22 und diese Kritik der reinen Vernunft kann als nichtempirische »Untersuchung alles dessen, was jemals a priori erkannt werden kann« nur selbst ein Stück Metaphysik sein, aber sie ist dennoch kein System der Metaphysik, also keine »Darstellung desjenigen, was ein System reiner philosophischer Erkenntnisse dieser Art ausmacht, von allem empirischen aber, imgleichen dem mathematischen Vernunftgebrauche unterschieden ist«.23 Und auch an dieser strikten Unterscheidung der metaphysischen Erkenntnis, als synthetischer Erkenntnis a priori, von aller empirischen und mathematischen Erkenntnis hatte es Wolff fehlen lassen. Die ganz neue Wissenschaft, die den Namen »Kritik der reinen Vernunft« trägt, ist also eine Vorbereitungswissenschaft (Propädeutik) zum »System der reinen Vernunft«.24 Dieses System ließe sich zustandebringen, wenn dazu ein »Organon« zur Verfügung stünde, nämlich »ein Inbegriff derjenigen Principien […], nach denen alle reine Erkenntnisse a priori können erworben und wirklich zu Stande gebracht werden«.25 Zu diesen Prinzipien würden jedenfalls diejenigen »Begriffe a priori von Gegenständen überhaupt«26 gehören, deren »System […] Transscenden20 21 22 23 24 25 26

KrV, B 869. KrV, B XXXVI f. KrV, B XXXVIII. KrV, B 869. KrV, B 25. KrV, B 24 f. KrV, A 11 f.

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tal-Philosophie« heißen müßte,27 worunter aber nicht mehr die Ontologie, sondern die Untersuchung ihrer Möglichkeit als Gegenstandserkenntnis a priori zu verstehen wäre, von welcher ihrerseits die vorgebliche aber nur »scheinbare« metaphysica specialis abhinge, wenn sie nur eine realiter mögliche Erkenntnis wäre. Die Kritik als »Wissenschaft der bloßen Beurtheilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen« muß also insgesamt als »Propädeutik zum System der reinen Vernunft«28 angesehen werden, d. h. zu einem »vollständige[n] System der Philosophie der reinen Vernunft«29 oder zur Metaphysik, deren Fundamentalteil die Transzendentalphilosophie der Idee nach ist. Von dieser Transzendentalphilosophie als dem »System aller Principien der reinen Vernunft«, unterscheidet sich die »Kritik der reinen Vernunft« nur durch ihre Unvollständigkeit, die darin besteht, daß sie keine »ausführliche Analysis der ganzen menschlichen Erkenntnis a priori« enthält. Also ist die »Kritik« zwar ein System, aber kein »vollständig[es] System«30 der reinen Vernunftprinzipien, und insbesondere enthält sie nicht eine »Verantwortung der Vollständigkeit einer solchen Analysis [aller Stammbegriffe der menschlichen Erkenntniß a priori] und [der] Ableitung« anderer reiner Begriffe aus ihnen. Die »Kritik« geht also in der Analysis nur so weit, »als es zur vollständigen Beurteilung der synthetischen Erkenntnis a priori erforderlich ist«.31 Darum findet sich in ihr auch keine »Verantwortung« der Vollständigkeit des Systems der Kategorien und der Urteilsfunktionen und insbesondere keine Ableitung dieser Elemente aus einem Prinzip. Kant hat die der »Kritik« und der künftigen Metaphysik gemeinsame Systemform an vielen Stellen seines Werkes zum Thema gemacht, meist in Gestalt von Andeutungen und unter Verwendung von Metaphern, am ausführlichsten im »Architektonik-Kapitel« der »Methodenlehre«, aus dem ich schon zitiert habe. Während er in der Phase der Überprüfung der Ergebnisse seiner Dissertation »De mundi sensibilis […]« aufgrund der Einwände von Mendelssohn und Lambert und der energischer werdenden Selbstkritik (die zum Projekt der »Kritik der reinen Vernunft« führen sollte) gegenüber Marcus Herz 1771 davon spricht, daß er in sich den »skeptische[n] Geist« aufwachen lasse und »nicht von der Systemensucht

27 28 29 30 31

KrV, B 25. Ebda. KrV, B 26. KrV, B 27. KrV, B 28.

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hingerissen ist«,32 hat er nach der Vollendung seiner ersten »Kritik« eine Wolff weit überbietende Strenge des Systembaues gefordert. Die »gründliche Metaphysik als Wissenschaft« müsse »dogmatisch und nach der strengsten Forderung systematisch […] ausgeführt werden«,33 und von der vorbereitenden »Kritik« heißt es in den »Prolegomena«, daß sie notwendigerweise »als Wissenschaft systematisch und bis zu ihren kleinsten Theilen vollständig dastehen« muß, um so als »Grundlage« der neuen Metaphysik dienen zu können.34 Es ist diese Ambivalenz von einerseits behaupteter Unvollständigkeit in der Analyse und Synthese der Begriffe und insbesondere hinsichtlich der Rechtfertigung der inneren Systematik der transzendentalen Kritik durch deren Herleitung aus einem höchsten Prinzip und andererseits behaupteter Vollständigkeit der Elementarbegriffe und Grundsätze des reinen Verstandes, die u. a. Reinhold und Fichte irritiert hat. Reinhold glaubte, der »Kritik der reinen Vernunft« das vermeintlich fehlende Fundament (die »Prämissen«) nachliefern zu können, und Fichte beanspruchte, die in der Kantischen Propädeutik nur antizipierte Wissenschaft aller Wissenschaften vorgelegt zu haben, durch welche alle Philosophie nun aufgehört habe, wie in der Vergangenheit bloße Liebe zur Wissenschaft zu sein. Diese ersten Vertreter des später sogenannten deutschen Idealismus mußten mit dem »Vertrauen«35 Kants kollidieren, die »Natur einer reinen speculativen Vernunft«36 vollständig ausgemessen zu haben. Das von ihm vorgelegte System der Selbsterkenntnis der reinen Vernunft würde sich in seiner »Unveränderlichkeit«37 behaupten können, weil sein Gegenstand »einen wahren Gliederbau enthält, worin alles Organ ist, nämlich Alles um Eines willen und ein jedes Einzelne um aller willen« bestehe, so daß »jede noch so kleine Gebrechlichkeit, sie sei ein Fehler (Irrtum) oder Mangel, sich im Gebrauche unausbleiblich verraten« müsse.38 Und Kant gibt auch an, worin die Berechtigung seiner Zuversicht liege: es sei »die Evidenz, welche das Experiment der Gleichheit des Resultats im Ausgange von den mindesten Elementen bis zum Ganzen der reinen Vernunft und im Rückgange vom

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Brief an Marcus Herz vom 7. Juni 1771. In: Kant’s gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe (AA)), X, S. 122. 33 KrV, B XXXVI. 34 Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, AA IV, S. 261 (im folgenden »Kant: Prolegomena«). 35 KrV, B XXXVIII. 36 KrV, B XXXVII. 37 KrV, B XXXVIII. 38 KrV, B XXXVII f.

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Ganzen […] zu jedem Theile bewirkt«.39 Das genannte Ganze der reinen Vernunft enthält nämlich nicht nur die Aufgaben und Leistungen der theoretischen, sondern auch die der praktischen Vernunft, ja es wäre unmöglich, die reine Vernunft als ein gegebenes Ganzes von Erkenntnissen zu denken, wenn es nicht auch »die Endabsicht« aller reinen Vernunft »im Praktischen« enthielte.40 Dieser Endzweck der Vernunft in ihrem reinen Gebrauche ist das System der Sitten als dasjenige System von Pflichten, das aus der Selbstgesetzgebung für die Freiheit entspringt. Die reine praktische und insofern freie Vernunft ist der einzige Baustoff der Metaphysik der Sitten, die die höchste Bestimmung aller Vernunfterkenntnis darstellt. Die von Kant nur angedeutete wechselseitige Bestätigung von Metaphysik der Natur und Metaphysik der Sitten als Prüfstein der immanenten Wahrheit der ganzen Vernunfterkenntnis besteht eben in der Einsicht, daß »der Versuch, auch nur den kleinsten Theil abzuändern, sofort Widersprüche nicht bloß des Systems, sondern der allgemeinen Menschenvernunft herbeiführt«.41 Das Gesamtsystem der Metaphysik ist also, in einer noch ganz anderen Weise als bei Wolff, in der systematischen Verfassung der menschlichen Vernunft gegründet, die es in allen drei Kritiken aufzudecken gilt. Das künftige »vollständige System der Philosophie der reinen Vernunft« wird die Metaphysik der Natur als ersten Hauptteil enthalten, der seinerseits ein »System von nicht gar großem Umfange sein« wird, denn hier macht »nicht die Natur der Dinge, welche unerschöpflich ist, sondern der Verstand, der über die Natur der Dinge urtheilt, und auch dieser wiederum nur in Ansehung seiner Erkenntniß a priori den Gegenstand« aus.42 Die an die Stelle der dogmatischen Ontologie tretende kritische Transzendentalphilosophie als grundlegender Teil einer Metapyhsik der theoretischen Vernunft ist demnach »die Idee« einer projektierten Wissenschaft, zu der »die Kritik der reinen Vernunft den ganzen Plan architektonisch, d. i. aus Prinzipien, entwerfen soll, mit völliger Gewährleistung der Vollständigkeit und Sicherheit aller Stücke, die dieses Gebäude ausmachen«.43 Systeme sind ganz allgemein hergestellte Lehrgebäude, sie werden erbaut nach einem Plan, der ihnen in den Gedanken eines Architekten zugrunde liegt. Bauplan und Struktur des Gebäudes sind 39 40 41 42 43

KrV, B XXXVIII. Vgl. ebda. Ebda. KrV, B 26. KrV, B 27.

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isomorph, aber der ausgeführte Bau enthält mehr unterscheidbare materiale und sogar formale Elemente und Beziehungen, als sie der Plan enthielt. Nun ist dieser Plan im Falle der Metaphysik kein freier Entwurf, sondern das logische System dieser Theorie erhält seine Struktur nach dem Muster eines Realsystems der menschlichen Vernunft selbst, und es ist dieses als Vernunft existierende System von Handlungsweisen (operationes mentis), das der Erkenntnis durch eben diese Vernunft und vor allem ihrer Kritik bedarf. Denn die sich selbst überlassene, dem Menschen natürliche Vernunft ist eine geborene Metaphysikerin, die eine ebenso natürliche Neigung zur Dialektik, also zu Scheinerkenntnissen und Hirngespinsten hat, aus welchen nach Kant die Geschichte der Metaphysik besteht. Diese Kantische Konzeption der Vernunft, die in der Geschichte der Philosophie kein Vorbild hat, liegt also zugleich dem gegenüber Wolff noch gesteigerten Ideal der Strenge des Systems und der Forderung nach Selbstkritik und Vermeidung von Realisierung, Hypostasierung oder gar Personalisierung der Vernunftprodukte, der sogenannten Ideen, zugrunde. Ein besonders schlagendes Beispiel für diese metaphysische Scheinerkenntnis durch theoretische Vernunft bietet das transzendentale Ideal des allerrealsten Wesens, das die Spekulation als einen, und zwar notwendig existierenden Gegenstand zu erkennen vermeint. Kant hat in einer Fußnote skizziert, wie der Schein der theistischen Gottesvorstellung aus einer Vergegenständlichung des menschlichen Verstandes selbst entstehend gedacht werden kann: »weil die regulative Einheit der Erfahrung nicht auf den Erscheinungen selbst (der Sinnlichkeit allein), sondern auf der Verknüpfung ihres Mannigfaltigen durch den Verstand (in einer Apperzeption) beruht, [scheint] mithin die Einheit der höchsten Realität und die durchgängige Bestimmbarkeit (Möglichkeit) aller Dinge in einem höchsten Verstande, mithin in einer Intelligenz zu liegen«.44 Die Wahrheit der göttlichen Intelligenz ist also, so könnte man sagen, nichts als der menschliche Verstand als Gegenstand der Vernunft in der Idee vorgestellt, und so ist es in aller metaphysischen Scheinerkenntnis aus reiner theoretischer Vernunft.45 Denn alle angebliche Erkenntnis durch reine Vernunft beruht zwar auf einem in dieser selbst liegenden System, aber dieses System ist nur das 44

KrV, B 611. Kant kommt also gar nicht auf die Idee, die Selbsterkenntnis der Vernunft als eine Vollzugsform der Selbsterkenntnis des Absoluten im Erkennen des endlichen Menschengeistes zu denken. 45

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System der reinen Verstandeserkenntnis, ins Unbedingte gesteigert und von den allein Erkenntnis ermöglichenden Bedingungen der reinen Anschauung befreit. Kant hat in den »Prolegomena«, im Anhang »Von dem System der Kategorien«, von diesem Kategoriensystem gesagt, es mache »alle Behandlung eines jeden Gegenstandes der reinen Vernunft selbst wiederum systematisch« und gebe »eine ungezweifelte Anweisung oder Leitfaden ab, wie und durch welche Punkte der Untersuchung jede metaphysische Betrachtung, wenn sie vollständig werden soll, müsse geführt werden: denn es erschöpft alle Momente des Verstandes, unter welche jeder andere Begriff gebracht werden muß«.46 Folglich ist ein aus der menschlichen Vernunft geschöpftes System der Metaphysik nur in Abhängigkeit von diesem System der Kategorien möglich. Wenn also die transzendentale Methodenlehre von der »Architektonik« als »Kunst der Systeme« oder als »Lehre des Scientifischen in unserer Erkenntniß überhaupt« spricht und von unseren »Erkenntnisse[n] überhaupt« sagt, daß sie kein »bloße[s] Aggregat« und »keine Rhapsodie, sondern […] ein System ausmachen« müßten,47 so ist dabei vor allem an das Gegenbild der Aristotelischen Rhapsodie der Kategorien zu denken, von der auch die »Prolegomena« handeln. Was im folgenden über das System einer Wissenschaft überhaupt gesagt wird, ist, auch hinsichtlich des Vergleichs mit dem »thierische[n] Körper«,48 den wir schon bei Wolff fanden, auf das System der Kategorien zu beziehen, das ja nach dem obigen der Leitfaden »jede[r] metaphysische[n] Betrachtung, wenn sie vollständig werden soll«, sein muß.49 Die Systemform der metaphysischen Erkenntnisse ist also gerade dadurch, daß diesen irgendwie das Kategoriensystem zugrunde liegt, »die Einheit [dieser] mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee«. Aber auch umgekehrt können diese Kategorien, als Erkenntnisse oder Erkenntnisstücke, nur dadurch ein System bilden, daß ihnen ihrerseits eine Idee zugrunde liegt. »Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Theile untereinander a priori bestimmt wird.«50 Im Falle des Kategoriensystems haben wir also ein Ganzes von Begriffen vom Gegenstande einer nichtintellektuellen Anschauung überhaupt, durch dessen ›Form‹ seine Teile, die Kategorien, in ihrer Anzahl (›Umfang‹) und ihrem Verhältnis zuein46 47 48 49 50

Kant: Prolegomena, AA IV, S. 325. KrV, B 860. KrV, B 861. Kant: Prolegomena, AA IV, S. 325. KrV, B 860.

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ander, sofern sie sich nämlich in diesem Ganzen eine Stelle anweisen, bestimmt sind. Ein solches seinen eigenen Teilen vorhergehendes und sie bestimmendes Ganze sind für Kant die formalen Anschauungen von Raum und Zeit, die Naturzwecke und insbesondere alle Artefakte. Bei aller Unterschiedlichkeit kommt es diesen Ganzheiten gemeinsam zu, nicht aus Teilen aufgebaut zu sein, die zufällig zusammengeraten sind und so eine synthetische Einheit ausmachen, sondern eine ihre Teile ihrer Form und ihrer Zusammengehörigkeit nach erst ermöglichende, ursprünglich-synthetische Einheit zu sein. Da nun ein logisches System, wie das Kategoriensystem oder die Metaphysik, als eine Art von Artefakt angesehen werden kann, so muß ihm ein Zweckbegriff zugrunde liegen, ein Begriff von dem, was das Ganze sein soll, der dieser Form des Ganzen gemäß die Anzahl der zugehörigen Teile und deren wechselseitige Funktionen in diesem Ganzen der Erkenntnis bestimmt. Ist aber das Kategoriensystem oder gar die ganze Metaphysik als aus der reinen Vernunft irgendwie entsprungen anzusehen, so müßte diese menschliche Vernunft selbst nach Analogie eines Naturzweckes, also als ein intellektueller Gliederbau gedacht werden, und die Freiheit des Artifex (oder des Architekten) in der Auswahl und Anordnung der Teile seines Systems wäre beschränkt auf die bloße Abbildung oder Darstellung des ihm zur Selbsterkenntnis gegebenen Systems der Vernunft. Wäre aber – um bloß vom System der Kategorien zu sprechen – die Selbsterkenntnis der Vernunft in dieser Weise zu verstehen, so wäre es offenbar nur ein empirisches Faktum, daß die Vernunft ein in der Form des Systems der reinen Verstandesbegriffe gegliedertes Ganzes ist. Das Kategoriensystem kann aber kein bloßes in der Vernunft beobachtbares Faktum sein, wenn die Kategorien notwendige Bedingungen aller Objekterkenntnis sind und wenn solche Objekterkenntnis für den menschlichen Verstand und sein Selbstbewußtsein ihrerseits notwendig ist, wie es nach Kant der Fall ist. Also ist eine solche Art von empirischer Selbsterkenntnis der Vernunft mit dem Begriff der Kategorien und ihres Systems unvereinbar. Es bedarf also für die Erkenntnis des Systems der Kategorien als solcher zugleich einer Erkenntnis seiner inneren Notwendigkeit, und das heißt, die Vernunft, die das System der reinen Verstandesbegriffe enthält, kann sich nicht deskriptiv zu diesem System als etwas Gegebenem verhalten. Nun ist bekanntlich das System der Kategorien, das als Leitfaden eines jeden Systems der Metaphysik zu dienen hat, seinerseits von einem Leitfaden abhängig, dem System der Urteilsfunktionen. Die Vollständigkeit als Folge der systematischen Einheit der Kantischen Urteilstafel ist

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also nach ihrem Autor der letzte Grund aller Metaphysik als Wissenschaft, d. h. als System. Zweifel an der Möglichkeit eines architektonisch errichteten Systems der reinen Philosophie haben sich also letztendlich an dieses Kantische Unternehmen zu adressieren, jedenfalls betrifft dies diejenigen, die sich auf Kants Projekt bis hierhin einzulassen bereit sind. Nun hat es nicht an Philosophen und Interpreten gemangelt, die den Systemanspruch der Kantischen theoretischen Philosophie und dessen Rechtfertigung aus dem von Kant als vollständig behaupteten System der Urteilsfunktionen mehr oder weniger verständig und gründlich in Frage gestellt haben. Es fehlt auch nicht an Interpreten, die sich sogar auf Kant selbst berufen zu können glauben, wenn sie meinen, ein Beweis für die Vollständigkeit, sei es der Kategorien, sei es der Urteilstafel, sei a priori ausgeschlossen. Das scheint in einem Satz Kants gesagt zu sein, in dem sich die beiden genannten Leitfäden friedlich nebeneinander finden: »Von der Eigenthümlichkeit unseres Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zu Stande zu bringen, läßt sich eben so wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine anderen Functionen zu Urtheilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind.«51 Das scheint zu bedeuten, daß die Kategorien und Urteilsfunktionen mitsamt ihrem sogenannten System ebensolche facta bruta sind, die wir hinzunehmen haben und von keinem Grunde ableiten können, wie es bei Zeit und Raum nun einmal der Fall ist. Umgekehrt hat man daraus übrigens geschlossen, daß die Behauptung der Ableitbarkeit der Kategorien und Urteilsfunktionen die Ableitbarkeit von Zeit und Raum zur Konsequenz haben müsse. Jedenfalls besagt der Satz Kants eindeutig, daß die Kategorien und Urteilsfunktionen mit demjenigen Verstande, den wir faktisch haben, mitgegeben sind, und das schließt ein, daß, wenn es die Möglichkeit der Ableitung der Urteilsfunktionen in ihrer systematischen Einheit geben sollte (und damit die der Kategorien), diese Ableitung nur unter Zugrundelegung der spezifischen Natur unseres diskursiven, der Begriffe zur Erkenntnis der Gegenstände bedürfenden, Verstandes und der ihm als solchem notwendigen Funktionen erfolgen könne. Weil aber sogar die Kantische Absicht bestritten worden ist, eine solche Ableitbarkeit, oder vielmehr Abgeleitetheit der Kategorien und der ihnen zugrunde liegenden Urteilsfunktionen zu behaupten, will ich nur einen weiteren Satz aus der transzendentalen Deduktion der Kategorien bemühen, in welchem es 51

KrV, B 145 f.

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heißt, daß die Verstandesformen als »Principien der objectiven Bestimmung aller Vorstellungen, so fern daraus Erkenntniß werden kann, […] alle aus dem Grundsatze der transscendentalen Einheit der Apperception abgeleitet sind.«52 Daß also die Kontingenz der Verstandesformen als der Formen des diskursiven Denkens, die sie mit der Kontingenz der Anschauungsformen vergleichbar macht, für Kant nicht im Widerspruch mit deren Ableitbarkeit aus dem Grundsatz der transzendentalen Einheit der Apperzeption steht, ist damit zumindest wahrscheinlich gemacht. Was hier als ableitbar behauptet wird, das sind: (1) die Prinzipien der objektiven Bestimmung aller Anschauungen, nämlich die Kategorien, und (2) die Prinzipien der objektiven Bestimmung aller Begriffe, ›sofern daraus Erkenntnis werden kann‹, die Urteilsfunktionen. Denn nur erst im Urteil können Begriffe zur Erkenntnis von Objekten gebraucht werden. Gehen nun die Funktionen zu Urteilen diesen, der Materie nach aus Begriffen bestehenden, Urteilen als deren Formen voran, so ist es möglich, daß ein System solcher Funktionen durch ihren gemeinsamen Ursprung aus derjenigen synthetischen Einheit der Apperzeption gestiftet wird, die Kant die ursprünglich-synthetische und zugleich die objektive Einheit der Apperzeption genannt hat. Eine sachgerechte Beurteilung dieser Kantischen Gedankengänge wird also nicht umhin können, von Kants Definition der logischen Form aller Urteile als »der objectiven Einheit der Apperception der darin enthaltenen Begriffe«53 auszugehen. Umgekehrt wird eine Beurteilung der Kantischen Behauptung der Vollständigkeit seiner Urteilstafel, die dies nicht tut, wohl keine sachgerechte sein. Aber auch ohne Zugrundlegung der Kantischen Urteilsdefinition lassen sich, wie Kant es selbst im Anhang »Von dem System der Kategorien« tut, darüber viele artige Betrachtungen anstellen, die, wie Kant versichert, »alle ihren großen Nutzen haben«.54 Läßt man also den höchsten Punkt der Kantischen Systematologie einmal außer acht, so ergeben sich immer noch Erkenntnisse von der Art der Lambertschen, deren Autor sich seinerseits auf John Locke beruft. Im Zusammenhang mit der Aristoteles-Kritik, die sich seit dem Brief an Marcus Herz vom Februar 1772 in vielen Variationen wiederholt, stellt Kant die Notwendigkeit heraus, ein System der Kategorien dadurch zustande zu bringen, daß man sie »aus einem Prinzip a priori« ableite, denn erst dann wisse man, »daß gerade nur soviel, nicht mehr, nicht weniger, 52 53 54

KrV, B 142. KrV, B 140. Kant: Prolegomena, AA IV, S. 325.

Systemform und Selbsterkenntnis der Vernunft bei Kant

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die Erkenntnißart ausmachen könne«. Man sieht dann auch »die Nothwendigkeit seiner Eintheilung ein, welches ein Begreifen ist, und nun hat [man] allererst ein System«.55 Daraus geht soviel hervor, daß die Ableitung aus einem Prinzip als Ableitung a priori zu erfolgen habe und daß dies eine logische und damit notwendige Einteilung des Abzuleitenden als Mittel seiner Gewinnung impliziere, dessen Mannigfaltiges sich dadurch allein als ein systematisches Ganzes von Teilen begreifen lasse. Als Beispiele solcher apriorischer Einteilungsgründe werden die Bildung von »Correlata« und »Opposita« genannt56, durch die sich dann unter den abgeleiteten »formalen Bestimmungen« »gerade so viel, nicht mehr noch weniger« antreffen lasse.57 Über dichotomische und trichotomische Einteilungen a priori hat sich Kant andernorts ausgesprochen. Aber erst wenn ein »Princip« der Ableitung »vorhanden« sei, »nach welchem der Verstand [in seinem synthetischen Gebrauch] völlig ausgemessen und alle Functionen desselben, daraus seine reine Begriffen entspringen, vollzählig und mit Präcision bestimmt werden« können, lasse sich das System der Kategorien denken. Ein solches Ableitungsprinzip für die Kategorien, so berichtet Kant autobiographisch, galt es erst zu entdecken: »Um aber ein solches Princip auszufinden, sah ich mich nach einer Verstandeshandlung um, die alle übrigen enthält und sich nur durch verschiedene Modificationen oder Momente unterscheidet, das Mannigfaltige der Vorstellung unter die Einheit des Denkens überhaupt zu bringen, und da fand ich, diese Verstandeshandlung bestehe im Urtheilen.« 58 Damit sind wir wieder zum höchsten Punkt zurückgekehrt, dem Prinzip der Ableitung aller Kategorien. Denn das Ableitungsprinzip ist offenbar das Prinzip aller Verstandesfunktionen, und es selber ist eine modifizierbare und nach Momenten unterscheidbare einheitliche Verstandeshandlung, deren Modi oder Momente eben diese verschiedenen Funktionen zu Urteilen als ebenso viele modi operandi des Verstandes im Gebrauch seiner Begriffe zur Erkenntnis von Objekten sind. Daraus ergibt sich dann leicht eine Definition des Urteils seinem allgemeinen Begriff nach: Es ist diejenige Verstandeshandlung, durch die das Mannigfaltige der Vorstellungen unter die ›Einheit des Denkens überhaupt‹ gebracht wird. Und von hier aus ist der Weg nicht weit zur ›objektiven Einheit der Apperzeption der im Urteil enthaltenen Begriffe‹ als der logi55 56 57 58

Kant: Prolegomena, AA IV, S. 322. Kant: Prolegomena, AA IV, S. 325 Anm. Kant: Prolegomena, AA IV, S. 323. Ebda.

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schen Form aller Urteile, die aus jener Bringung unter die Einheit des Denkens überhaupt entspringt. Auch im Ausgang also von Kants artigen Betrachtungen wird man auf den höchsten Punkt aller metaphysischen Systembildung zurückgeführt. Die relativ unverbindliche Rede von der Selbsterkenntnis der Vernunft bedarf zu ihrer Fundierung und Konkretisierung einer Analyse des Selbstbewußtseins des Verstandes, welches sich in dieser Analyse als die synthetische Einheit der Apperzeption erweist. Das aber ist ein anderes Thema.

Peter König Die Selbsterkenntnis der Vernunft und das wahre System der Philosophie bei Kant

Manfred Baum1 konzentriert sich in seinem Beitrag auf Kants Kategorientafel und ihren Zusammenhang mit der Idee des Systems. Für diesen Zusammenhang sind nach Baum vier Feststellungen kennzeichnend: (1) ein aus der menschlichen Vernunft geschöpftes System ist nur in Abhängigkeit vom System der Kategorien möglich; (2) die Kategorien können nur deshalb ein System bilden, weil ihnen eine Idee zugrunde liegt; (3) es bedarf zur Erkenntnis des Systems der Kategorien zugleich einer Erkenntnis seiner inneren Notwendigkeit, so daß die Vernunft sich nicht bloß deskriptiv zu diesem System als etwas (mit ihrer Natur) Gegebenes verhalten darf; und schließlich (4) das Ableitungsprinzip für das System der Kategorien ist ein Prinzip aller Verstandesfunktionen, eine modifizierbare und nach Momenten unterscheidbare einheitliche Verstandeshandlung. Es fällt schwer, im Hinblick auf diese Aussagen mit Baum nicht übereinzustimmen. Statt Kritik an ihnen zu üben, lohnt es sich daher vielleicht eher, Kants Begriff des philosophischen Systems noch aus einem anderen Gesichtspunkt zu betrachten als dem von Baum gewählten. Die Systemidee ist nach Kant ausdrücklich ein Vernunftbegriff, woraus folgt, daß alle systematischen Einteilungen der »Kritik der reinen Vernunft« (KrV), auch die der Kategorientafel, ein Produkt der Vernunft bzw. der Vernunfterkenntnis sind. Es stellt sich daher die Frage – und mit ihr werde ich mich im folgenden beschäftigen –, worin die Erkenntnis der systematischen Struktur der Vernunft begründet ist und welche Form ein System der Philosophie annehmen müßte, das dieser inneren Struktur der Vernunft selbst vollkommen adäquat wäre.

1. »Die Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch.« Kant definiert die Philosophie als den Inbegriff aller Vernunfterkenntnis aus Begriffen und betont gleichzeitig, daß es die reine Vernunft in der Philosophie nur mit sich selbst zu tun habe. Die Philosophie ist insofern 1

Manfred Baum: Systemform und Selbsterkenntnis der Vernunft bei Kant. In diesem Band, S. 25ff.

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das Ergebnis einer Selbsterkenntnis der Vernunft.2 Nun besteht allerdings in Kants Auffassung von der philosophischen Selbsterkenntnis der Vernunft eine konzeptionelle Spannung, die sich an zwei Behauptungen festmachen läßt. Zum einen behauptet Kant nämlich, daß die Vernunft ihrer Natur nach architektonisch ist; zum anderen, daß es sich bei der Architektonik um eine Kunst (der Systeme) handelt. Nach der einen Seite (als Natur) steht die Vernunft vor der Aufgabe, sich selbst zu erkennen, wie sie in Wahrheit beschaffen ist, auf der anderen Seite (als Kunst) vor der Aufgabe, sich selbst zu schaffen und zu erzeugen. Daß die Vernunft ihrer Natur nach architektonisch ist, wird von Kant damit begründet, daß sie auf »die Vollendung eines Gebäudes von Erkenntnissen« ausgerichtet ist und alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System betrachtet.3 Die These von der architektonischen Natur der Vernunft läßt jedoch verschiedene Deutungen zu: 1) Ihren architektonischen Charakter beweist die Vernunft im Hinblick auf die anderen Erkenntnisvermögen, denen sie einen bestimmten Gebrauch vorschreibt oder die sie auf ein bestimmtes Ziel hinleitet, das sie nicht aus sich selbst heraus setzen können; dies gilt insbesondere für den theoretischen Verstandesgebrauch, dem die Vernunft durch die logischen Prinzipien der Homogenität, der Varietät und der Affinität das Feld bereitet und den sie durch die transzendentalen Ideen auf eine dem Verstand als solche nicht faßbare Einheit der Natur und Naturerkenntnis ausrichtet. Die eigentümliche Leistung der Vernunft besteht insofern in der Vorgabe einer besonderen Art von Einheit, nämlich einer unbedingten, absoluten Einheit. Diese ist im Unterschied zu der des Verstandes nicht logisch und distributiv, sondern real und kollektiv. 2) Die Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch, weil sie eine innere systematische Struktur und eine absolute Einheit besitzt. Die reine Vernunft ist selbst eine »vollkommene Einheit« und das systematisch geordnete »Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft« läßt sich aufstellen, behauptet Kant, »sobald man nur das gemeinschaftliche Prinzip derselben entdeckt hat.«4 In der Tat begegnet man dem systematischen Charakter der Vernunft in der KrV auf Schritt und Tritt. So bilden die transzendentalen Ideen ein System, weil sie hinsichtlich ihrer Zahl genau bestimmt sind und jeder eine bestimmte 2 3 4

KrV, B 708. Vgl. KrV, B 502. Vgl. KrV, Vorrede zur ersten Auflage, A XIII und A XX.

Das wahre System der Philosophie bei Kant

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Stelle im Verhältnis zu den übrigen angewiesen werden kann. Systematisch sind die Blendwerke und Täuschungen der Vernunft, denn unter ihnen besteht ein bestimmter Zusammenhang und sie können auf ein gemeinsames Prinzip des Mißverstandes der Vernunft mit sich selbst zurückgeführt werden. Schließlich liegt dem Ganzen der Vernunfterkenntnis aus Begriffen, d. i. dem System der reinen Philosophie, eine dreifache Absicht in Gestalt dreier zu lösender Aufgaben zugrunde, die auf einen gemeinsamen obersten Zweck verweist und sich insofern zu einer absoluten Einheit bringen lassen muß. 3) Die Vernunft enthält nicht nur Normen für den Gebrauch der anderen Erkenntnisvermögen, sondern gibt sich Zwecke auch für den eigenen Gebrauch vor. Obwohl Kant selbst sich gelegentlich so ausdrückt, handelt es sich hierbei nicht nur darum, über die zweckmäßige Einrichtung der menschlichen Erkenntnisvermögen im Sinn von Naturanlagen zu reflektieren; vielmehr erfolgt die Bestimmung des Zwecks, dem diese Vermögen und insbesondere das Vermögen der Vernunft dienen, durch die Vernunft selbst. Daß die Vernunft es in der Philosophie nur mit sich selbst zu tun habe, schließt für Kant ein, daß die Vernunft in einem wesentlichen Sinn das Vermögen ist, den Zweck ihres eigenen Gebrauchs selbst zu bestimmen und damit ihre eigene Architektonik hervorzubringen. Die Vernunft ist folglich auch deshalb ihrer Natur nach architektonisch, weil sie die Kunst ist, Selbstschöpferin ihrer eigenen systematischen Struktur zu sein. 4) Kunst definiert Kant als die Hervorbringung »durch eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde legt«, d. i. durch Freiheit.5 Daß die Architektonik der reinen Vernunft eine ›Kunst der Systeme‹ ist, muß daher so verstanden werden, daß es dabei nicht mehr nur um die wissenschaftliche Erkenntnis der Natur der Vernunft, sondern um das praktische Vermögen des Philosophen, des von Kant so genannten »Vernunftkünstlers«, geht, der vor der Aufgabe steht, ein System der Philosophie nach einem bestimmten Zweck hervorzubringen. Diese in der Vernunft liegende Verbindung von Kunst und Natur erklärt zwei für Kants Theorie der philosophischen Architektonik wichtige Aussagen: die Aussage, daß es zur Hervorbringung philosophischer Systeme des philosophischen Genies bedarf (Kunst als Natur), und die, daß eine Architektonik der Philosophie nur von einer Teleologie der menschlichen Vernunft zu erwarten ist (Natur als Kunst).

5

Vgl. KU, AA V, 303.

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Kants Behauptung, daß die Vernunft es in der Philosophie nur mit sich selbst zu tun habe, erweist sich also als reichlich verwickelt. Baum konzentriert sich in seinem Beitrag zu Recht auf die Kategorientafel, die nach Kant die Grundlage für alle Systematisierungen in der Philosophie bildet, die aber ihrerseits bereits ein System von Begriffen darstellt, dessen einheitliches Prinzip in der Verstandeshandlung des Urteils gesucht werden muß. Demgegenüber muß meines Erachtens die Bedeutung und Eigenständigkeit der Kantischen Vernunfttheorie stärker hervorgehoben werden. Man kann zwar in einer Hinsicht die Begriffe der Vernunft als die ins Unbedingte erweiterten Begriffe des Verstandes betrachten und sie daher für sekundär erachten. Es ist aber mit Kants Ansatz mindestens so gut verträglich, wenn man die Verstandesbegriffe umgekehrt als in ihrem Gebrauch eingeschränkte Vernunftbegriffe deutet und den Vernunftbegriffen des Unbedingten und Uneingeschränkten, jedenfalls im Hinblick auf das Ganze der philosophischen Erkenntnis, den Vorrang einräumt. Dann aber knüpft sich an die These von der Selbsterkenntnis der Vernunft in der Philosophie eine Reihe von Fragen. Sofern die Vernunft eine innere Struktur und Gliederung aufweist, stellt sich die Frage, was die Vernunfteinheit der Vernunft selbst ausmacht? Worin besteht das letzte gemeinsame Prinzip ihrer Organisation? Wie verhält sich das Vermögen der Vernunft, das bereits auf einen zweckmäßigen Gebrauch ausgerichtet ist und eine innere Struktur besitzt, zur Selbstbestimmung des Zwecks? Und wie müßte ein System der Philosophie aussehen, in dem die Selbsterkenntnis der Vernunft, die offenbar theoretische und praktische Aspekte, Naturbegriff und Freiheitsbegriff umfaßt, im Mittelpunkt steht? 2. Die Idee des Systems Unter einem System versteht Kant ein vollständiges, in sich gegliedertes Ganzes, das den Vernunftbegriff von der Form des Ganzen voraussetzt, »sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen so wohl, als die Stelle der Teile untereinander a priori bestimmt wird.«6 Bei einem systematischen Ganzen muß folglich unterstellt werden, daß den Teilen des Ganzen ein gemeinsames Prinzip, ein ›gemeinschaftlicher Grund ihrer Möglichkeit‹ zugrunde liegt. Wenn die Idee von der Form des Ganzen selbst Grund der Kausalität ist, die zur Hervorbringung des Ganzen führt, dann hat man es mit einem Zweck zu tun, und das allen Teilen zugrundeliegen6

Vgl. KrV, B 860.

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de Prinzip ist genauer ein Prinzip der Zwecke. Erst durch den Bezug auf einen Zweck erhält man eine Begründung für die einzelnen Teile des Systems, die Mannigfaltigkeit, aus denen es besteht, wird nach einem Kantischen Ausdruck ›wesentlich‹. Jeder einzelne Teil ist nunmehr danach zu beurteilen, was er zur Erreichung des Zwecks des Ganzen beiträgt. Das Prinzip der Zwecke ist jedoch bereits ein spezifisches Prinzip der systematischen Einheit. Für den Systemgedanken in einem allgemeinen Sinn genügt es nach Kant, daß man über einen Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen verfügt, aus dem sich dessen Teile und ihre Stelle untereinander ableiten lassen. In der KrV gibt Kant eine präzisere Bestimmung dieser allgemeinen Idee von Systematik, indem er zwischen drei systematischen Prinzipien der Einheit unterscheidet: dem Prinzip der Homogenität, dem der Varietät und dem der Affinität. Die in der Idee gedachte systematische Einheit setzt voraus, daß sich das Mannigfaltige untereinander soweit wie möglich als einheitlich erweist, daß es voneinander auf maximale Weise unterschieden ist und daß sich alle Unterschiede als solche einer einzigen obersten Gattung darstellen.7 Für die Idee vom ›System‹ ist zweifellos der Aspekt der Kontinuität bzw. der Affinität von entscheidender Bedeutung. Denn mit der Annahme der durchgängigen Affinität des Mannigfaltigen ist die Vorstellung von einem Maximum der Einheit und der Mannigfaltigkeit, mithin eine Bestimmtheit des Aspekts der Einheit im Verhältnis zur Mannigfaltigkeit verbunden, die wesentlich zum Systemgedanken gehört, aber ohne die Annahme der Affinität des Mannigfaltigen nicht erhalten werden kann.

3. Das System der Philosophie Kants Systembegriff läßt sich seiner Allgemeinheit oder Formalität wegen sowohl auf den Bereich der Naturobjekte (realen Objekte) wie auf den Bereich des Wissens und der Erkenntnis (wie auch etwa auf das Reich der Zwecke), insbesondere aber auf den Bereich der Philosophie und der philosophischen Erkenntnis anwenden, in dem die Vernunft das eigentliche Gebiet ihrer Betätigung besitzt. Nach Kant umfaßt die Philosophie die ganze scheinhafte sowohl wie wahre Vernunfterkenntnis aus Begriffen in einem System, das anfänglich aus zwei Teilen – einem theoretischen und einem praktischen Teil – besteht, das am Ende jedoch zu einem einzigen System vereinigt werden 7

Vgl. KrV, B 685/686.

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können muß. In der Transzendentalen Methodenlehre der KrV beschränkt sich Kant darauf, einen Entwurf des theoretischen oder spekulativen Teils des Systems der Metaphysik vorzutragen. Die theoretische oder spekulative Philosophie (oder Metaphysik im engeren Sinn) gliedert sich danach in die allgemeine Wesenlehre (Ontologie bzw. Transzendentalphilosophie), die Naturlehre (Physiologie der Objekte des inneren und des äußeren Sinns), die Weltlehre (Kosmologie) und die Gotteslehre (Theologie).8 Kant orientiert sich hier im wesentlichen am Wolffschen System der rationalen Philosophie. Nun läßt sich das Wolffsche System der Philosophie zwar sehr gut in der Einteilung der »Kritik der reinen Vernunft« zuordnen, insbesondere in ihrem dialektischen Teil, nicht jedoch den ausgeführten metaphysischen Teilen von Kants Werk. Es sind daher Zweifel erlaubt, ob es sich bei diesem Schema um mehr handelt als um die Angabe, welche Teile im System der reinen Philosophie irgendwie enthalten oder berücksichtigt sein müssen. Über den wahren Aufbau dieses Systems der reinen Philosophie lassen sich meines Erachtens daraus keine Rückschlüsse ziehen.

4. Systeme der falschen oder scheinbaren Vernunfterkenntnis Dieser Eindruck wird durch die Feststellung Kants erhärtet, daß die Philosophie auch die ganzen wahren sowohl als scheinbaren Erkenntnisse aus reiner Vernunft einschließen müsse. Tatsächlich grenzt Kant sowohl in der KrV wie in den anderen Kritiken verschiedene ›falsche‹ philosophische Systeme von seinem eigenen ›System‹ ab, wobei er mit der Aufzählung der zurückgewiesenen Doktrinen zugleich einen Anspruch auf Vollständigkeit verbindet. So heißt es etwa in der Kritik der rationalen Psychologie hinsichtlich der »Theorien über die Gemeinschaft zwischen Seele und Körper«, daß die Theorien des physischen Einflusses, der prästabilierten Harmonie und der übernatürlichen Assistenz die »drei hierüber erdachten und wirklich einzig möglichen Systeme« seien.9 Alle diese ›falschen‹ philosophischen Systeme sind qua Systeme Produkte einer Vernunfttätigkeit. Denn sie haben eine bestimmte Absicht – die Erklärung einer bestimmten Art des Wissens oder der Erkenntnis –,

8

Dieser Gliederung liegt die Einteilung der Klassen der Kategorien zugrunde, und zwar jeweils die dritte Kategorie jeder Klasse, die die anderen beiden in sich enthält (vgl. Reflexion zum Handexemplar der KrV (A-Auflage), AA 23, 43). 9 Vgl. KrV, A 389/390.

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und sie legen jeweils ein einziges einheitliches Erklärungsprinzip zugrunde. Auch wenn sie nicht leisten, was sie leisten sollen, gehören sie doch zum System der Kritik, weil die Vernunft offenbar selbst in ihren Täuschungen und Blendwerken systematisch verfährt und die Festigkeit und Dauerhaftigkeit des vollendeten Gebäudes der philosophischen Erkenntnis nur dann gesichert sind, wenn eine Disziplin errichtet werden kann, die sich gegen alle möglichen Verirrungen der Vernunft wendet. Die Kritik muß daher selbst systematisch sein, sie muß zum Ursprung, zu den Quellen, zu den Prinzipien auch des falschen und täuschenden Vernunftgebrauchs vordringen, um alle möglichen Mißverständnisse der Vernunft mit sich selbst bekämpfen zu können. Darüber hinaus vertritt Kant die Auffassung, daß alle philosophischen Systeme – genauso wie die verschiedenen Tiergattungen auf die Urform des Tieres – auf ein gemeinschaftliches Schema (gleichsam ein Urbild der Philosophie) verweisen, aus dem sie durch Kürzung oder Streckung, Einwicklung oder Auswicklung der einzelnen Teile kontinuierlich (in einer Stufenleiter, einem continuum formarum) hervorgebracht werden können. Mit der Annahme eines solchen gemeinsamen Schemas der Philosophie ist für Kant zugleich der Anspruch einer möglichen Hierarchisierung der verschiedenen philosophischen Systeme verbunden. Dieser Anspruch ist nicht selbstverständlich, denn man könnte solche Systeme auch als das Ergebnis einer Anpassung der Vernunft an ein sich eventuell gerade nicht stetig wandelndes historisches, soziales oder kulturelles Umfeld betrachten. Um behaupten zu können, daß eine Hierarchie der verschiedenen Systeme der Vernunft besteht, müßte man annehmen, daß die Vernunft einen inneren Zweck besitzt, dem sie in allen ihren Systementwürfen mehr oder weniger erfolgreich nachzustreben sucht, daß es mit anderen Worten eine kontinuierliche Realität der Vernunft in der Geschichte der Philosophie gibt. Daß es sich so verhält, ist aber Kants Ansicht. Das höchste oder wahre System der Philosophie ist zugleich die höchste Verwirklichung der Vernunft. Es zeigt sich für Kant darin eine Analogie zur Verwandtschaft der verschiedenen Tiergattungen durch Erzeugung aus einer gemeinschaftlichen Urmutter.

5. Die innere Struktur der Vernunft Nimmt man wie Kant an, daß »die reine Vernunft […] in der Tat mit nichts als sich selbst beschäftigt« ist, dann vermag eine geschichtliche Betrachtung der Philosophie zu zeigen, daß die Vernunft selbst eine syste-

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matische Struktur besitzt, daß es in ihrer Natur liegt, ein System zu sein. Die Philosophie läßt sich als eine Abfolge solcher Systeme der sich auswickelnden Vernunft auffassen. Die Frage nach dem wahren System der Philosophie ist jedoch nur zu beantworten, wenn man weiß, worin die wahre systematische Struktur der Vernunft besteht und wie sie sich erkennen und rechtfertigen läßt. Hinsichtlich der Möglichkeit einer solchen wahren Selbsterkenntnis der Vernunft sind verschiedene Ansätze denkbar: 1) In der KrV und in anderen Schriften kommt Kant immer wieder auf die Feststellung zurück, daß in der Philosophie ein ständiges Interesse an den Fragen der Unsterblichkeit der Seele, an der Freiheit und am Dasein Gottes besteht und daran auch der gemeine Menschenverstand, d. i. die natürliche Vernunft jedes Menschen (vor jeder Kultur) regen Anteil nimmt, daß die Auflösung dieser Fragen jedoch von ganz geringem spekulativen Interesse ist. Um die empirische Forschung über die (innere wie äußere) Natur anzuleiten, genügt es, wenn man sich Gott lediglich als etwas denkt, das der Natur die größtmögliche Einheit verschafft, aber es bedarf keiner näheren Bestimmung dieser Idee. Statt dessen hat die Vernunft ein Interesse an diesen Fragen, das über das Interesse an der Natur und der Naturerkenntnis hinausreicht. In der natürlichen Vernunft liegt insofern ein Kriterium, anhand dessen sich die spekulativen Versuche der Philosophie im Hinblick darauf beurteilen lassen, ob sich in ihnen die Vernunft richtig versteht. Aber der Rückgang auf die natürliche Vernunft und das populäre Interesse an der Philosophie, so sehr er ein Korrektiv der Selbsterkenntnis der Vernunft bildet, liefert keine befriedigende Antwort auf die Frage, worin der Zusammenhang der transzendentalen Ideen besteht bzw. warum die menschliche Vernunft sich für diese und gerade diese und keine anderen Fragen interessiert. Insofern ist die natürliche Vernunft, gerade was das Prinzip der Selbsterkenntnis der Vernunft betrifft, unvollkommen. 2) Man könnte versuchen, die innere Struktur der Vernunft aus der Vergegenständlichung der Ideen des regulativen Vernunftgebrauchs abzuleiten, insbesondere aus der Idee Gottes als einer ursprünglichen, selbständigen Vernunft, die zugleich Urgrund der Welt ist, nämlich der des intellectus archetypus. Dann läge in einer richtig verstandenen rationalen Theologie zugleich der Schlüssel für die Selbsterkenntnis der Vernunft als eines Systems. Dies ist, beiläufig gesagt, die Wolffsche Lösung des Problems. Gegen diese Lösung spricht jedoch die Kritik, die Kant im Zusammenhang des physikotheologischen Be-

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weises an der Möglichkeit einer Begründung der Theologie auf einer physischen Teleologie übt. Die physische Teleologie erlaubt nach Kant allenfalls eine Dämonologie zu begründen, nicht aber eine Theologie, weil allein aufgrund der Betrachtung der vielfältigen Zweckmäßigkeit der Natur unmöglich angegeben werden kann, wozu all diese natürlichen Anlagen und Einrichtungen letztlich nützen. Aus der bloßen Idee des Verstandes oder der Vernunft läßt sich nach Kant der Zweck des Ganzen der Natur nicht ablesen. Die Idee eines intellectus archetypus ist daher ebenfalls ungeeignet zur Bestimmung der ursprünglichen Vernunfteinheit. 3) Eine Bestimmung der systematischen Struktur und inneren Einheit der Vernunft ist nach Kant nur im Rahmen einer teleologia rationis humanae möglich. In ihr muß die Architektonik der Vernunft und ihre Selbsterkenntnis verankert werden. In der Methodenlehre der KrV gibt Kant auch einige Hinweise darauf, wie eine solche Teleologie der menschlichen Vernunft aussehen müßte. Offenbar genügt es nicht, von den natürlichen Wirkungen der Ausstattung der menschlichen Gattung mit dem Vernunftvermögen auszugehen und diese Wirkungen als deren natürlichen Zweck zu interpretieren: in diesem Fall ergäbe sich der Zweck der Vernunft aus dem Zweck des menschlichen Lebens selbst, d. i. dem der Selbsterhaltung als Individuum bzw. als Gattung, kurz: der Glückseligkeit. Für Kant kann eine solche Betrachtung jedoch lediglich eine technische Vollkommenheit begründen, bei der die Vernunft immer empirisch bedingt und bloße Klugheit bleibt und keine Auskunft im Hinblick darauf geben kann, wozu die Selbsterhaltung des Individuums oder der Gattung selbst dienen sollte. Eine für die Vernunft befriedigende Antwort müßte dagegen den Zweck, dem die Vernunft dient, aus der Vernunft selbst ableiten. Nach Kant ist dieser aus der Vernunft selbst abgeleitete, durch das Bewußtsein der Pflicht aufgegebene Endzweck, der zugleich die Bestimmung des Menschen ausmacht, das höchste Gut. Dieser Zweck hat zu den notwendigen Bedingungen seiner Möglichkeit, wie Kant sich ausdrückt, die Ideen Gottes, der Freiheit und der Seelenunsterblichkeit, und zwar in der Form von Postulaten, also in der Form von praktischen Sätzen, mit deren Hilfe es zur Auflösung einer Aufgabe oder eines Problems kommen kann. Das System der Metaphysik müßte daher letztlich auf die oberste Aufgabe des höchsten Guts bezogen werden und als eine Lehre der Mittel zur Verwirklichung dieses Zwecks eine Theologie, eine Psychologie und eine Kosmologie in der Form einer Postulatenlehre enthalten, dage-

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gen eine Physiologie der äußeren Sinne nur im Sinne einer Begrenzung, durch die sichergestellt wird, daß der höchste Zweck der Vernunft nicht gefährdet wird.

6. Das unausgeführte System der Philosophie Vergleicht man diesen Entwurf einer Teleologie der menschlichen Vernunft, der sich in ähnlicher Form auch in der KpV und in der KU findet, mit dem in der Methodenlehre der KrV vorgeschlagenen Schema der Philosophie, dann fallen eine Reihe von Unstimmigkeiten ins Auge, die Zweifel daran wecken, ob es sich bei diesem ›Schema‹ bereits um das gesuchte wahre System der Philosophie handelt, in dem die Selbsterkenntnis der Vernunft hinsichtlich ihrer eigenen architektonischen Struktur ihre adäquate Darstellung findet. Es sind v.a. drei Ungereimtheiten, auf die ich aufmerksam machen möchte: 1) Kant selbst weist darauf hin, daß das System der Philosophie ›anfänglich‹ in zwei Teile zerfalle, zuletzt aber doch in ein einziges System vereinigt werden müsse. Worin dieses eine System der Philosophie besteht, teilt Kant uns nicht mit; zu erwarten, daß es durch eine bloße Fortführung der letztlich Wolffschen Systemkonzeption der Philosophie zustande kommen könnte, führt meines Erachtens in die falsche Richtung. Die Vollendung der Systematik hängt vielmehr von dem Nachweis der Affinität aller Teile des ›Systems‹ ab. Damit besitzt das Thema des Übergangs für Kant eine herausragende Bedeutung, und dies bereits in der KrV. Die Philosophie (als Vernunftkunst) steht vor der Aufgabe, die Übergänge zwischen den verschiedenen Teilen der Metaphysik aufzuzeigen, um auf diese Weise zu rechtfertigen, daß alle diese Teile zu einem einzigen System gehören, sich aus einem einzigen obersten Begriff der Gattung ableiten. Wenn man die Bedeutung der Idee der Affinität für Kants Systembegriff ernstnimmt, dann müßte man davon ausgehen, daß in dem vollendeten System der Philosophie die Möglichkeit eines Übergangs zwischen dem theoretischen und dem praktischen Teil der Metaphysik aufgewiesen wird. Man kann auch durchaus angeben, was ein solcher Übergang zu leisten hätte: er müßte den Begriff von einem Gegenstand thematisieren, der sowohl unter den Natur- wie unter den Freiheitsbegriff fällt, nichts Empirisches voraussetzt und gleichwohl eine eigene Realität besitzt, die alle Gegenstände der Natur und der Freiheit einheitlich umfaßt (d. h. er müßte eine eigene

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Realität im Hinblick auf einen einheitlichen Begriff der Vernunft besitzen). 2) Kant rechnet in dem Systementwurf der Methodenlehre die Kosmologie und die Theologie zur Metaphysik der Natur, obwohl die Begründung für die Notwendigkeit einer Kosmologie und einer Theologie (wie die Teleologie der menschlichen Vernunft zeigt) ohne die Hilfe der praktischen Vernunft gar nicht auskommt. Gerade bezogen auf die Möglichkeit einer Erkenntnis der Gegenstände der Kosmologie und der Theologie würden sich nach allem, was Kant in der KrV dazu bemerkt, beide Systemteile als transzendent und daher als leer (oder als lediglich zur Disziplin gehörig) erweisen. Eine Metaphysik (im Sinn von metaphysischen Anfangsgründen) hat Kant in der Tat auch nur im Hinblick auf den Gegenstand der Naturwissenschaften, also als Physiologie des äußeren Sinnes, ausgeführt, sowie im Hinblick auf den Gegenstand der Sittenlehre, nicht jedoch im Hinblick auf die Theologie, Kosmologie oder Psychologie. 3) Rätselhaft an dem Entwurf der Methodenlehre der KrV ist schließlich die Zuordnung der Transzendentalphilosophie zur Metaphysik. Nach Kants Systementwurf soll die Transzendentalphilosophie an die Stelle der Wolffschen Ontologie treten. Tatsächlich aber insistiert Kant nicht nur in der KrV, sondern auch in anderen Schriften auf dem Unterschied, der zwischen der Transzendentalphilosophie und der Metaphysik besteht. Denn die Metaphysik, sei es nun die Metaphysik der Sitten oder die Metaphysik der Natur, setzt etwas empirisch Gegebenes in ihrem jeweiligen obersten Begriff voraus: die Metaphysik der Sitten die sinnliche Triebfeder im Begriff der Pflicht, die Metaphysik der Natur die Materie im Begriff des Beweglichen im Raum. Die Transzendentalphilosophie hingegen beschäftigt sich mit dem Begriff von einem Gegenstand überhaupt, sofern dieser Realität besitzt, ohne etwas (empirisch) Gegebenes vorauszusetzen. Aus allen drei Unstimmigkeiten kann man die Schlußfolgerung ziehen, daß das wahre System der Philosophie, in dem zugleich die innere Architektonik der Vernunft ihren adäquaten Ausdruck findet, nicht mit jenem Entwurf des Systems der spekulativen Metaphysik identisch ist, den Kant in der Methodenlehre der KrV präsentiert. Vielmehr müßten, bezogen auf diesen Entwurf, die Transzendentalphilosophie, die Psychologie, die Kosmologie und die Theologie aus der Metaphysik der spekulativen Vernunft ausgegliedert und in einer neuen Weise einander zugeordnet werden. Ins Zentrum der Transzendentalphilosophie müßte vermutlich die Psychologie rücken, sofern darin die Selbsterkenntnis der

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Vernunft im Hinblick auf jenes eine gemeinsame Prinzip thematisiert wird, das auch der Aufspaltung in die theoretische und die praktische Vernunft (und in ihre jeweiligen Gegenstandsbereiche) zugrundeliegt. Ernsthafte Ansätze Kants, ein solches System in Angriff zu nehmen, finden sich jedoch erst im opus postumum (in den beiden letzten Konvoluten). Inwiefern hier Baums Verankerung des Systems der Kategorien ›im höchsten Punkt‹ (der synthetischen Einheit der Apperzeption) nicht am Ende doch den Kern des Kantischen Systembegriffs trifft, wäre im Hinblick auf diese Perspektive genauer zu untersuchen.

Günter Zöller »Die Seele des Systems«: Systembegriff und Begriffssystem in Kants Transzendentalphilosophie »[…] des Morgens muß man die Materialien zu einem System in Ordnung bringen des Abends hingegen Materialien samlen.«1

Die Theorie und Praxis philosophischer Systematik und systematischen Philosophierens verdankt wesentliche methodische Impulse der Kantischen Transzendentalphilosophie. Doch sind Terminus und Begriff des Systems in der Philosophie älteren Datums. Nach den mittelalterlichen Summen und Sentenzienkommentaren und den frühneuzeitlichen Traktaten von Gott und Welt ist es vor allem die deutsche Schulphilosophie der Aufklärung, die Philosophie und System in einen engen methodischen Zusammenhang bringt. Kant entwickelt seinen philosophischen Systembegriff in kritischer Auseinandersetzung mit diesen unmittelbaren Vorgängern. Dabei verschärft er die Anforderungen an ein philosophisches System bzw. an systematisches Philosophieren mit dem Ergebnis, daß der Terminus ›System‹ aus vorgegebenen Verwendungszusammenhängen verschwindet und in neuen auftaucht. Die Form des Systems wird bei Kant erstmals zu einer notwendigen methodischen Voraussetzung des Philosophierens. Der folgende Essay präsentiert das Spezifische und Innovatorische des Kantischen Systemverständnisses im Kontrast zu Terminus und Begriff des Systems in der deutschen Schulphilosophie. Einführend wird Kants überraschend positive Einschätzung der Rolle Christian Wolffs in der Vorbereitung systematischen Philosophierens erörtert (1). Daran schließt sich eine Übersicht zu Gebrauch und Bedeutung des Systembegriffs bei den Wolff-Schülern Baumgarten und Meier an (2). Es folgt ein Abschnitt zu Kants kritischer Rezeption von Terminus und Begriff des Systems bei den Wolffianern (3) sowie eine Sektion zu Kants innovativem Systemverständnis (4). Der Schlußteil behandelt die Zuspitzung des Kantischen Systembegriffs zum ursprünglichen Begriffssystem der Transzendentalphilosophie (5). 1

Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und ihren Nachfolgern. Berlin, später Berlin und New York 1900 ff. (im folgenden »AA«), 24/2: 685 (Logik Busolt).

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1. Zurück zu Wolff Von den klassischen Arbeiten Max Wundts, Heinz Heimsoeths, Martin Heideggers und der übrigen Vertreter der ontologischen oder metaphysischen Kantinterpretation bis hin zu jüngeren Arbeiten etwa von Karl Ameriks2 hat die Kantforschung des zwanzigsten Jahrhunderts neben erkenntnistheoretischen und analytischen Ansätzen immer auch das Studium Kants im Kontext der abendländischen metaphysischen Tradition gepflegt. Dabei kommt durchweg der zeitgenössischen deutschen Universitäts- oder Schulphilosophie Christian Wolffs und seiner Nachfolger – der von Kant selbst sogenannten »Leibniz-Wolfischen Philosophie« (A 44/B 61)3 – eine Schlüsselstellung zu. Die »Kritik der reinen Vernunft« erscheint in der historisch-metaphysischen Perspektive als das Ergebnis einer langwierigen produktiven Auseinandersetzung mit der Wolffischen Metaphysik in Gestalt des Metaphysik-Kompendiums von Alexander Gottlieb Baumgarten,4 über das Kant während dreier Jahrzehnte seine Vorlesungen zur Metaphysik abgehalten hat.5 Natürlich ist dieses Bild Kants als nachwolffischem Reformmetaphysiker durch die Berücksichtigung anderweitiger Einflüsse 2

Vgl. Max Wundt, Kant als Metaphysiker: Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1924; ders., Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1945; Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt a. M. 1929; Gottfried Martin, Immanuel Kant: Ontologie und Wissenschaftstheorie. Köln 1951; Heinz Heimsoeth, Studien zur Philosophie Immanuel Kants: Metaphysische Ursprünge und ontologische Grundlagen. Köln 1956; Ingeborg Heidemann, Spontaneität und Zeitlichkeit: Ein Problem der Kritik der reinen Vernunft. Köln 1958; Friedrich Delekat, Immanuel Kant: Historisch-kritische Interpretation der Hauptschriften. Heidelberg 1969; Karl Ameriks, Kant’s Theory of Mind: An Analysis of the Paralogisms of Pure Reason. Oxford 1982, 2. Auflage 2000. 3 Nachweise von Zitaten aus der Kritik der reinen Vernunft erfolgen parenthetisch im Text unter Angabe der Originalpaginierung der ersten bzw. zweiten Auflage der Kritik (»A« bzw. »B«); die Textgestalt folgt der Ausgabe von Raymund Schmidt, Hamburg 1970. Verweise auf die Kritik finden sich in den Anmerkungen. 4 Metaphysica Alexandri Gottlieb Baumgarten. 4. Auflage. Halle 1757. Abdruck in AA 17: 5–206 und AA 15: 5–54. Das Hauptdokument von Kants Dialog mit Baumgarten sind die Reflexionen zur Metaphysik in Kants durchschossenem Handexemplar der Metaphysica sowie auf einer Anzahl separater Notizzettel. Vgl. AA 17 und 18. 5 Vgl. die von Werner Stark kompilierte tabellarische Übersicht über Kants Vorlesungen ab 1770 auf der website des Marburger Kant-Archivs für die Arbeitsstelle Kant-Ausgabe der Göttinger Akademie der Wissenschaften (http://www.uni-marburg.de/kant/webseitn/gt_v_tab.htm) sowie die Nachschriften von Kants Metaphysik-Vorlesungen in AA 28 und 29 und deren Übersetzung in Auswahl in Immanuel Kant, Lectures on Metaphysics, übers. u. hrsg. v. Karl Ameriks und Steve Naragon. Cambridge 1997.

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und Anregungen zu ergänzen. Das gilt für die Rolle der frühen WolffKritiker Christian August Crusius6 und Johann Heinrich Lambert,7 insbesondere aber für Rousseau8 und Hume.9 Doch bleibt bei all dem die Wolffisch-Baumgartensche Neo-Scholastik der Hauptbezugspunkt der »Kritik«, ja recht eigentlich der Gegenstand ihres negativ-kritischen Hauptanliegens in der Transzendentalen Dialektik, auch wenn diese den Ahnherren als Prügelknaben zu behandeln scheint. Doch Kants Einschätzung der Wolffischen Schulmetaphysik ist nicht einfach aus der systematischen Destruktion der Metaphysica specialis zu ermessen. Da ist zum einen die Rolle der Wolffischen Metaphysica generalis – der von Wolff so benannten Ontologia – als Folie der Transzendentalen Analytik zu berücksichtigen.10 Sodann ist zu erinnern an Kants Schätzung, ja Hochschätzung des »berühmten Wolf, des größten unter allen dogmatischen Philosophen […], der zuerst das Beispiel gab, […] wie durch gesetzmäßige Feststellung der Prinzipien, deutliche Bestimmung der Begriffe, versuchte Strenge der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen der sichere Gang einer Wissenschaft zu nehmen sei« (B XXXVI). Kant rezipiert und tradiert Wolff als den Urheber methodisch strengen Philosophierens, dessen Verfahren auch noch das »künftige System der Metaphysik« (B XXXVI) verpflichtet sein soll. Was Kant an Wolff positiv hervorhebt, ist nicht diese oder jene materiale Einsicht, sondern die von Wolff geübte Darstellungsform von Philosophie, deren »Lehrart« (B XXXVII). Kant unterscheidet hier zwischen der nachahmenswerten methodischen »Lehrart« bei Wolff und dessen zu verwerfender »dogmatischer Denkungsart« (B XXXVII). Den Dogmatismus teilt Wolff mit aller vorkritischen Metaphysik, die methodische Lehrart gilt Kant als Wolffs Errungenschaft und Legat an die kritische Philosophie. Das von Wolff in die Philosophie eingeführte Verfahren charakterisiert Kant näherhin als »szientifische Methode« (A 855/B 883). Für Kant hat Wolff die Philosophie auf den Weg zur Wissenschaft gebracht. Freilich nur erst auf den Weg. Ins Ziel kommt wissenschaftliche Philosophie nur als kritische.11 Die Einschätzung Wolffs als Pionier wissen6

Vgl. Heinz Heimsoeth, Metaphysik und Kritik bei Chr. A. Crusius, in: ders., Studien zur Philosophie Immanuel Kants, 125–188. 7 Vgl. v. Verf., Lambert, Johann Heinrich, in: The Routledge Encyclopedia of Philosophy, hrsg. v. Edward Craig (i. Ersch.). 8 Vgl. Richard L. Velkley, Freedom and the End of Reason: On the Moral Foundation of Kant’s Critical Philosophy. Chicago 1989. 9 Vgl. Lothar Kreimendahl, Kant: Der Durchbruch von 1769. Köln 1990. 10 Vgl. A 247/B 303. 11 Vgl. A 856/B 884.

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schaftlichen Philosophierens findet sich vor der »Kritik der reinen Vernunft« übrigens schon in Lamberts »Anlage zur Architectonic« (1771), wo es heißt: »Die Ehre, eine Methode, eine richtige und brauchbare Methode in der Weltweisheit anzubringen, war Wolffen vorbehalten.«12 Daß Kant in gewissen Methodenfragen mit den Wölf(f)en heult, heißt nun aber nicht, daß er die Methode Wolffs im einzelnen billigt oder gar verteidigt. Vielmehr unterzieht Kant das der Mathematik verpflichtete Wolffische Verfahren mit Definitionen, Axiomen und Demonstrationen in der Philosophie13 einer rigorosen Kritik.14 Die Philosophie kann nicht, wie die Mathematik, von Definitionen ausgehen, sondern allenfalls am Ende der Untersuchung ihre Begriffe definieren. Sie verfügt auch nicht, wie das die Mathematik tut, über unmittelbar gewisse Prinzipien. Schließlich vermag sie auch nicht, wie die Mathematik, Lehrsätze aufzustellen, sondern bloß Grundsätze möglicher Erfahrung. Der Grund dafür, daß Kant ungeachtet aller Differenzen in Sach- wie Methodenfragen mit Wolff und den Wolffianern sympathisiert, liegt in der beiden Lagern gemeinsamen Opposition gegen den Naturalismus in der Philosophie, der metaphysische Probleme »durch gemeine Vernunft ohne Wissenschaft (welche er die gesunde Vernunft nennt)« (A 855/B 853) zu lösen bestrebt ist. ›Naturalismus‹ meint bei Kant also die Vernunft im Naturzustand, ohne wissenschaftliche Bildung – und nicht wie im heutigen philosophischen Sprachgebrauch das Philosophieren nach den Standards der Naturwissenschaften. Für Kant stellt der philosophische Naturalismus nur scheinbar eine alternative Methode dar; in Wahrheit hat der Naturalismus den Mangel an Methode zu deren Surrogat erhoben (A 855/B 883).15 Zu den von Kant im Rückgriff auf den Wolffischen wissenschaftlichen Philosophiebegriff bekämpften Naturalismen in der zeitgenössischen 12 Johann Heinrich Lambert, Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntnis, 1. Bd., 1. Teil. Allgemeine Anlage zur Grundlehre, § 11; abgedruckt in: ders., Texte zur Systematologie und zur Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis, hrsg. v. Geo Sigwart. Hamburg 1988, 60 f. 13 Vgl. dazu Christian Wolff, Philosophia rationalis sive logica, Pars I, hrsg. v. Jean École. Hildesheim/Zürich/New York 1983, 69 f. (Discursus praeliminaris de philosophia in genere, § 139). 14 Vgl. A 727/B 755 – A 738/B 766. Auch Lambert diskutiert das Verhältnis der Wolffischen Methode in der Metaphysik zum Verfahren der Mathematik im allgemeinen und der Geometrie im besonderen und betont dabei das Fehlen von Postulaten und Problemen als konstitutiven Bestandteilen der Euklidischen Geometrie in Wolffs Metaphysik. Vgl. Anlage zur Architectonic, §§ 11 f.; Texte zur Systematologie, 60 f. 15 Vgl. auch AA 4: 314 (Prolegomena, § 31).

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Philosophie gehört einmal die schottische Schule des ›common sense‹ – Kant nennt im einzelnen Reid, Oswald, Beattie, des weiteren auch Priestley.16 Hume gilt dagegen als Hauptrepräsentant einer alternativen, nichtdogmatischen wissenschaftlichen Methode des Philosophierens, nämlich der skeptischen szientifischen Methode.17 Wichtiger noch für Kants bedingtes Zweckbündnis mit Wolff ist die zeitgenössische deutsche Variante des philosophischen Naturalismus in Gestalt der Popularphilosophie, mit Christian Garve als deren Hauptvertreter. Gegenüber dem neuerdings erhobenen populären Ton in der Philosophie verweist Kant auf das Beispiel Wolffs als Garanten eines »bisher noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit in Deutschland« (B XXXVI).18 Daß die von Kant unter Berufung auf Wolff in die Philosophie und speziell die Metaphysik wiedereingeführte »gründliche Denkungsart« (A XI Anm.) gerade die Schulphilosophie endgültig um den Kredit brachte, macht die historische Ironie von Kants Rückgriff auf Wolff aus.

2. ›System‹ bei Baumgarten und Meier Die von Kant wegen ihrer wissenschaftlichen Gründlichkeit gepriesene und empfohlene Wolffische Philosophie ist nun aber keineswegs im strengen, von Kant selbst entwickelten Sinne systematisch. Der Abstand Wolffs und seiner Nachfolger von den Kantischen Ansprüchen an systematisches Philosophieren bekundet sich schon in der eingeschränkten Verwendung von Ausdruck und Begriff des ›Systems‹ in der deutschen Schulphilosophie. Bei den Wolffianern figuriert der Systembegriff im wesentlichen in zwei Zusammenhängen, deren einer in der Metaphysik und deren anderer in der Logik zum Tragen kommt. In beiden Fällen läßt sich eine kritische Reaktion Kants auf den Schulgebrauch des Systembegriffs feststellen.19 In der Wolffischen Metaphysik kommt der Ausdruck ›System‹ bzw. sein lateinisches Pendant ›systema‹ zur Anwendung innerhalb der Cosmologia bei der Erörterung der Gemeinschaft (commercium) zwischen den 16

Vgl. AA 4: 258 f. (Prolegomena, Vorwort). Vgl. auch Manfred Kuehn, Scottish Commom Sense in Germany 1768–1800: A Contribution to the History of Critical Philosophy. Kingston, Ontario 1987. 17 Vgl. A 856/B 884. 18 Vgl. auch AA 24/1: 37 (Logik Blomberg): »Wolff aber, und überhaupt die Deutschen haben eine Methodische Philosophie.« 19 Vgl. dazu Abschnitt 3.

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Substanzen in der Welt sowie in der Psychologia bei der Diskussion des Verhältnisses von Seele und Körper. So unterscheidet Baumgartens Cosmologia drei mögliche Formen von mundaner Intersubstantialität: die allgemein vorherbestimmte Harmonie zwischen Substanzen (harmonia praestabilita universalis), den physischen Einfluß der Substanzen aufeinander (influxus physicus) und das Verhältnis der Gelegenheitsursachen (causae occasionales).20 Ebendiese drei Formen des Verhältnisses werden dann in Baumgartens Psychologia im Hinblick auf das mundane Sonderverhältnis von Seelensubstanz zu zugehöriger Körpersubstanz unterschieden.21 In beiden Fällen greift Baumgarten auf den Terminus ›systema‹ zurück, um den Status jedes der drei Verhältnisse als Gegenstand einer philosophischen Theorie zu charakterisieren. Er selbst verdeutscht ›systema‹ als ›Meinung‹. ›Systemata‹ sind für Baumgarten Sätze (sententiae), die das kosmologische bzw. psychologische intersubstantielle Verhältnis zu erklären geeignet »erscheinen« (videntur).22 Baumgartens Systembegriff ist also lokal und plural. Ein System ist eine von mehreren Theorien, die zur Lösung eines speziellen philosophischen Problems denkbar sind oder auch historisch entwickelt, begründet und gegebenenfalls akzeptiert wurden. Baumgarten liefert eine kritische Erörterung der explanatorischen Vorzüge und Nachteile der jeweiligen Systeme. Weder bei Baumgarten noch bei Wolff steht die Behandlung der kosmologischen bzw. psychologischen Systeme (systemata cosmologica, systemata psychologica) im Mittelpunkt der metaphysischen Doktrin. Dem Status nach handelt es sich bei den ›systemata‹ um Hypothesen, die in Ermangelung direkter Einsicht in die Natur der Sache entwickelt werden, aber nie eigentlich bewiesen werden können. So warnt denn auch Wolff ausdrücklich davor, System-Hypothesen wie die Leibniz’sche vorherbestimmte Harmonie der weiteren philosophischen Argumentation zugrunde zu legen.23 Bei den ›systemata‹ der Wolff-Schule handelt es sich um hypothetische Lösungen von Einzelproblemen und nicht um Grundlagen weiterer philosophischer Argumentation. Den Ursprung dieses hypothetischen, pluralen und epistemischen Systembegriffs hat man in der modernen Astronomie zu suchen, in der ›System‹ nicht mehr, wie in der antiken Kosmologie, den Weltbau selbst nach dessen gesetzlicher Verfassung bezeichnet, sondern den im Prinzip 20

Metaphysica, § 448, in AA 17: 119 f. Metaphysica, § 761, in AA 17:145. 22 Metaphysica, §§ 448 und 761, in AA 17: 119 f. bzw. 145. 23 Vgl. Wolff, Philosophia rationalis sive logica, 62 (Discursus praeliminaris de philosophia in genere, § 128). 21

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kontroversen jeweiligen Lehrbegriff vom Bau der Welt, wie dies in der Rede von den Systemen des Ptolemaios, Tycho Brahe oder Kopernikus zum Ausdruck kommt.24 Der zweite locus des Systembegriffs bei den Woffianern ist die Logik oder Vernunftlehre. Meiers Auszug aus der Vernunftlehre (1752), das Textbuch zu Kants Logikvorlesungen, handelt in zweifachem Kontext vom System. Bei der Erörterung der »Wahrheit der gelehrten Erkenntnis«,25 und zwar näherhin im Zusammenhang der Unterscheidung von dogmatischen und historischen Wahrheiten (veritates dogmaticae, veritates historicae) handelt Meier vom ›systema‹ oder ›Lehrgebäude‹. Letzteres ist, Meier zufolge, »eine Menge dogmatischer Wahrheiten, welche dergestalt miteinander verbunden werden, daß sie zusammen eine Erkenntnis ausmachen, welche man als ein Ganzes betrachten kann.«26 Meier stellt drei Anforderungen an ein Lehrgebäude oder System: die Richtigkeit der Teile, deren Widerspruchsfreiheit untereinander und deren Verbindung nach dem Grund-Folge-Verhältnis, das auch in wechselseitiger Form vorliegen kann.27 Im Schlußabschnitt des Auszugs aus der Vernunftlehre, »Von gelehrten Schriften«, überträgt Meier dann noch die Unterscheidung dogmatischer und historischer Wahrheiten auf deren jeweilige Darstellung in Schriften. Schriften, die eine gelehrte Erkenntnis dogmatischer Wahrheiten vortragen, sind »systematische Schriften (scriptum systematicum)«. Allgemeiner noch ist jede inhaltlich weitläufig angelegte Schrift ein »grosses Werk (systema).«28 Der logische Systembegriff bei Meier ist also total, struktural und epistemisch. Ein System gruppiert einzelne Erkenntnisse zu einem umfassenden Ganzen, dessen Teile durch die Struktur der Grund-Folge-Beziehung verbunden sind. Meiers Denken über die logische Struktur eines Systems von Erkenntnissen orientiert sich hier an den Realverhältnissen, die in der schulphilosophischen Ontologie und Kosmologie unter den Titeln »Totale et partiale« bzw. »Partes universi« untersucht werden.29 24 Zum astronomischen Systembegriff vgl. »System«, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hrsg. v. Jürgen Mittelstraß, Bd. 4. Stuttgart/Weimar 1996, 183–185, hier 183. Zu Kants Charakterisierung des Kopernikanischen Systems als Hypothese vgl. AA 9: 86 (Jäsche-Logik), AA 24/1: 221 (Logik Blomberg) und AA 24/2: 559 (Logik Pölitz). 25 Vgl. Vernunftlehre, § 92 ff., in AA 16: 237 ff. 26 Vernunftlehre, § 104, in AA 16: 275 f. 27 Vgl. Vernunftlehre, § 105, in AA 16: 277. 28 Vernunftlehre, § 518, in AA 16: 860 f. 29 Vgl. Metaphysica, §§ 155–164 und §§ 392–435, in AA 17: 58–61 und 109–117.

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3. Kants Kritik am schulphilosophischen Systembegriff Kants Rezeption des Systembegriffs der Wolffischen Metaphysik und Logik läßt sich in verstreuten Reflexionen zu Baumgartens Metaphysik und Meiers Auszug aus der Vernunftlehre und in Passagen aus den erhaltenen Vorlesungsnachschriften zu seinen Metaphysik- und Logik-Vorlesungen verfolgen. Zwar sind die meisten Punkte von Kants Kritik am Systembegriff bei Wolff, Baumgarten und Meier auch in den von ihm selbst veröffentlichten Schriften, speziell in der Kritik der reinen Vernunft, zu finden, aber dort erfolgt die Kritik zumeist ohne Namensnennung der kritisierten Autoren. In den frühen siebziger Jahren greift Kant in einzelnen Reflexionen wiederholt auf die kosmo-psychologische Systematik von vorherbestimmter Harmonie, physischem Einfluß und Okkasionalismus zurück, um die Möglichkeit realer Grundsätze der Vernunft zu erörtern. Die systematischen Positionen dienen nicht mehr der Verhältnisbestimmung zwischen Substanzen. Vielmehr geht es nun um den Grund der Beziehung subjektiver Prinzipien der Vernunft oder des Verstandes auf reale Gegenstände, von denen diese gelten sollen.30 Kant identifiziert einzelne Philosophen mit jeweils einem der »systemata« der schulphilosophischen Metaphysik: Crusius mit dem »systemate praeformationis«, Aristoteles und Locke mit dem »influxu physico.«31 Ergänzt wird das Inventar von Theorien zum Gegenstandsbezug der Vernunftprinzipien durch die Berufung auf den intuitus intellectualis bei Plato und Malebranche sowie durch die Kennzeichnung von Kants eigener Lösung als Erklärung »nach der epigenesis aus dem Gebrauch der natürlichen Gesetze der Vernunft.«32 Noch in der Zweitfassung der Transzendentalen Deduktion der Kategorien macht Kant von dieser biologischen Analogie Gebrauch. Das »System der Epigenesis der reinen Vernunft« (B 167) erklärt die prinzipielle Anwendbarkeit der Kategorien auf Erfahrungsgegenstände aus dem Umstand, daß die Kategorien allererst die Gegenständlichkeit der Erfahrung ermög-

30

Zum Problem der Gegenstandsbeziehung intellektueller Begriffe und Grundsätze vgl. AA 10: 125–127 (Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772). 31 AA 17: 492 (Refl. 4275); vgl. auch AA 18: 275 (Refl. 5637). Zur Identifikation von Crusius mit dem epistemologischen Prästabilismus vgl. auch AA 4: 319 Anm. (Prolegomena, § 36) sowie B 167 f. 32 AA 17: 492 (Refl. 4275); vgl. auch AA 17: 553–555 (Refl. 4446); dort findet sich statt »systema« der Ausdruck »methodus«.

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lichen, ganz so wie die Keime das erwachsene Individuum hervorbringen.33 Doch abgesehen von diesen vereinzelten Fällen terminologischer Übernahme sucht man vergeblich bei Kant nach der Verwendung des Wolffischen hypothetischen, lokalen und pluralen Systembegriffs. Insbesondere vermeidet es Kant geflissentlich, die eigene Position des transzendentalen Idealismus als ›System‹ zu charakterisieren und sie damit dem Verdacht einer an sich selbst ungewissen metaphysischen Mutmaßung auszusetzen. Im Gegenteil betont er die apodiktische Gewißheit des transzendentalen Idealismus, die überdies doppelt etabliert wird: direkt aus der Untersuchung von Raum und Zeit in der Transzendentalen Ästhetik34 und indirekt durch die einzigmögliche Lösung der Antinomie der reinen Vernunft in der Transzendentalen Dialektik.35 Statt des vorbelasteten Terminus ›System‹ bedient sich Kant mit bezug auf den eigenen transzendentalen Idealismus der unverfänglichen Kennzeichnung »Lehrbegriff« (A 491/B 519), bei der allerdings immer noch die Verwandtschaft zum System als Lehrgebäude durchklingt. Den logischen Systembegriff in Meiers Auszug aus der Vernunftlehre kritisiert Kant ausdrücklich. Allgemein bemängelt er das Methodenverständnis Meiers, der »methodus« durch »Lehrart« übersetzt und dabei übersieht, daß nicht erst die Darstellung des Gedachten, sondern bereits das Denken selbst der Leitung durch eine Methode bedarf: »Viele glauben das systematische gehöre nur zum Vortrag, nicht daß die Erkenntniß selbst systematisch entstehn solle. […] auch der Ursprung der Erkenntniß ist in vielen Fällen schon systematisch.«36 Die methodische Lehrart ist um eine methodische Denkart oder Denkungsart zu ergänzen.37 Des weiteren kritisiert Kant die pauschale Gleichsetzung von System und Bau bei Meier: »nicht jeder Bau, nicht jede Zusammenhäufung da ein Autor von particulairen Sätzen die ihm glänzend scheinen anfängt und dann mit Unterdrückung aller Zweifel die ihm aufsteigen, um nicht vergebens gearbeitet zu haben, fortfähret und ein Ganzes zusammenklebt; nicht ein jedes solches Flickwerk ist ein System.«38 Was das System 33

Zur Kantischen Selbstinterpretation mit den Mitteln der zeitgenössischen Generationstheorien vgl. v. Verf., Kant on the Generation of Metaphysical Knowledge, in: Kant: Analysen – Probleme – Kritik, hrsg. v. Hariolf Oberer und Gerhard Seel. Würzburg 1988, 71–90. 34 Vgl. A 46/B 63 und B XXII Anm. 35 Vgl. A 506 f./B 534 f. 36 AA 24/2: 531 (Logik Pölitz). 37 Vgl. AA 24/2: 779 (Logik Dohna-Wundlacken). 38 AA 24/1: 400 (Logik Philippi).

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vom Flickwerk unterscheidet, ist das Vorliegen und Einhalten eines Plans, der sich nicht post factum aus den zusammengeflickten Teilen ergibt, sondern der bereits die Auswahl und Zusammenstellung der Teile anleitet: »Der Plan muß von einer aparten Hauptidee herkommen nicht von den Theilen.«39 Kant konzediert in diesem Zusammenhang, daß bei der Ausführung eines vorgefaßten Planes nicht immer alle Gebäudeteile voll ausgebaut werden – er spricht von »Lücken und leeren Fächern,« die sichtbar bleiben werden.40 Ein System kann dem Plan nach komplett sein, auch wenn die Ausführung unvollständig ist und bleibt. Die fehlenden Teile sind durch Leerstellen genau bezeichnet und so in ihrer Abwesenheit präsent. In den Vorlesungen zur Metaphysik nach Baumgarten aus den frühen achtziger Jahren bringt Kant den Systembegriff hauptsächlich in der Behandlung der Ontologie ins Spiel. Wie schon die Wolffsche Ontologia ist dieser Teil von Baumgartens Metaphysica ein Inventar ontologischer Grundbegriffe oder allgemeiner Seinsprädikate (praedicata entis universalia). Allerdings greifen weder Wolff noch Baumgarten auf den Terminus ›System‹ zurück und thematisieren auch nicht eigentlich die Einheit der mannigfaltigen ontologischen Begriffe. Bei Baumgarten findet sich nur die Einteilung der allgemeinen Seinsprädikate in innere (interna) und relationale (relativa). Die inneren werden noch einmal in eingliedrige (universalia qua sunt in singulis) und zweigliedrige (disiunctiva, quorum alterutrum est in singulis) geteilt.41 Auch der Terminus ›Kategorie‹ kommt in der schulphilosophischen Ontologie nicht zum Tragen. Bei Kant findet er sich erstmals Anfang der siebziger Jahre unter Rückgriff auf Aristoteles im Zusammenhang der Erörterung des Gegenstandsbezuges reiner Verstandesbegriffe.42 An der Enumeration der ontologischen Grundbegriffe bei Baumgarten moniert Kant das Fehlen einer leitenden Idee. Dabei unterstellt er Baumgarten durchaus die Intention auf ein System: »Unser Autor (sc. Baumgarten) hatte wie alle andre die Absicht, ein System zu entwerfen, aber die Freiheit (sic) fehlte gänzlich, oder das princip, das Mannigfaltige zu ordnen.«43 Das Fehlen eines ontologischen Systems bei Baumgarten erscheint so nicht bloß als Mangel sondern als Fehlschlag. Kant faßt das 39

Ebda. Ebda. 41 Vgl. Metaphysica, § 6, in AA 17: 24. 42 Vgl. AA 10: 125–127 (Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772). Vgl. auch A 79 f./B 105. 43 AA 29/1–2: 805 (Metaphysik Mrongovius). 40

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methodische Defizit der Baumgartenschen Ontologie und allgemeiner der Baumgartenschen Metaphysik mit der Gegenüberstellung von System und Aggregat: »sie (sc. Baumgartens Metaphysik) war kein System, sondern aggregat.«44 In der Kritik der reinen Vernunft wird der Aggregatzustand der Philosophie dagegen niemals namentlich mit Baumgarten oder Wolff in Verbindung gebracht.45 Kants Rezeption des Systembegriffs bei Baumgarten und Meier bietet ein Bild der Diskontinuität. Zum einen setzt Kant den schulphilosophischen Gebrauch von ›System‹ in der Bedeutung von Lehrbegriff aus strategischen Gründen nicht fort. Der eigene Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus bleibt begrifflich wie terminologisch vom hypothetischen Status der ›systemata‹ abgesetzt. Zum anderen mißt Kant die Bemühungen der schulphilosophischen Metaphysik an einem dort weder terminologisch noch begrifflich präsenten Verständnis von System.

4. Kants generativer Systembegriff Das Hauptmerkmal von Kants kritischem Systembegriff ist die Vorgängigkeit der Idee des Ganzen gegenüber den Teilen. Die mereologische Präzedenz versteht Kant streng: die Idee des Ganzen bestimmt a priori die Teile wie deren Stellung zu einander und im Ganzen.46 Umfang und Anordnung der Teile sind damit für das jeweilige projektierte System ein für alle Mal und im voraus festgelegt. Die Vollständigkeit des Systems hinsichtlich seiner wesentlichen Bestandteile ist Resultat apriorischer Abteilung oder Einteilung. In der Idee des Systems wird das Ganze vorab eingeteilt. Mehr noch, das Ganze in der Idee generiert oder produziert durch Ein- oder Abteilung den Umfang und die Ordnung der Teile. Kants alternativer Systembegriff ist epistemisch und näherhin szientifisch. Systeme sind ideenbestimmte Ganze von Erkenntnissen. Die »systematische Einheit« macht »gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft.« Das Aufstellen von Systemen ist eine Sache jener »Kunst der Systeme« (A 832/B 860), als die Kant die Architektonik einführt. Während der Anwendungsbereich des Kantischen Systembegriffs in die Philosophie, speziell in die Metaphysik fällt, liegt der Ursprung dieses Begriffs in einer anderen Sphäre. Das Vorbild der philosophischen Ar44 45 46

Ebda. Vgl. A 645/B 673 und A 832/B 860. Vgl. A 832/B 860.

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chitektonik bei Kant ist zunächst die menschliche Bautätigkeit.47 In der Architektur wird aus vorhandenem Bauzeug nach Maßgabe eines Planes ein Gebäude errichtet. Doch bleibt das Verhältnis von Teilen und Ganzen im Fall der Architektur äußerlich und mechanisch. Das Ganze bzw. die Idee des Ganzen ist nicht der Grund der Teile als solcher, sondern nur der Grund von deren nachträglicher Einheit. Die Zugehörigkeit der Teile zum Ganzen bleibt zufällig. Eine radikalere Konzeption systematischer Einheit läßt die Teile allererst im Ausgang vom Ganzen bzw. dessen Idee zustande kommen. Erst das generative Verhältnis von Idee-Ganzem und Teilen garantiert die für Kants Systembegriff spezifische apriorische Einteilung und Anordnung. Kant selbst vergleicht das Ganze eines Systems von Erkenntnissen mit einem tierischen Körper, »dessen Wachstum kein Glied hinzusetzt, sondern […] ein jedes zu seinem Zweck stärker und tüchtiger macht« (A 833/B 861). Der tierische Organismus wächst, nach der hier zugrundeliegenden Konzeption, nicht durch den Einbezug neuer Teile, sondern durch spezifisch verteilten Größenzuwachs im Rahmen einer bereits abgeschlossen vorliegenden Differenzierung des Ganzen in seine wesentlichen Teile. Doch die Vergleichbarkeit von Organismus und Erkenntnissystem beschränkt sich nicht auf das quantitative Wachstum bereits artikulierter Teile oder Glieder eines biologischen oder kognitiven Ganzen. Die biologische Analogie betrifft auch die ursprüngliche Ausdifferenzierung des Ganzen in die spezifische Anzahl und Anordnung der Teile. Die in Kants Systembegriff vorliegende Konzeption der Abteilung der Teile nach Anzahl und Anordnung aus einer vorgängigen Ganzheit folgt dem biologischen Konzept der Entwicklung oder ›Auswicklung‹ des Organismus aus ›Keimen‹ und ›Anlagen‹, die es zur Heranbildung besonderer Teile bzw. zur bestimmten Größe und dem gegenseitigen Verhältnis dieser Teile prädisponieren. Kant hatte das Modell biologischer Entwicklung im Rahmen seiner Überlegungen zur Differenzierung der einen Menschengattung nach »Racen« aus dem Jahre 1775 herangezogen48 und hat auch später noch mehrmals auf diesen Gedanken zurückgegriffen.49 Für Kants Systembegriff ist die von ihm favorisierte Theorie der epigenetischen Entwicklung 47

Vgl. A 707/B 735. Vgl. AA 2, 434 (Von den verschiedenen Racen der Menschen). 49 Vgl. AA 8: 43–66 (Recension von I. G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit), AA 8: 89–106 (Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace) sowie AA 8: 89–106 (Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie). 48

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des Organismus besonders erhellend. Anders als in der konkurrierenden präformationistischen Theorie, der zufolge das voll ausgebildete Individuum im Keim en minature enthalten ist und lediglich der ›Eduktion‹ unterliegt, rechnet der Epigenetizismus mit der ›Produktion‹ oder Hervorbringung von Teilen (Gliedern), die im Keim nur virtuell, als Entwicklungsmöglichkeiten vorhanden waren.50 Der Keim bringt den erwachsenen Körper aus sich selbst hervor; das Ganze (in Keimform) produziert die Teile. Die Präsenz des Entwicklungsmodells im Hintergrund von Kants Systemverständnis ist nicht nur auf das Vorbild der Biologie beschränkt. Auch in Kants frühen Überlegungen zur mechanischen Entwicklung des Weltgebäudes aus einem undifferenzierten Urzustand in der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) geht es um die allmähliche interne Ausdifferenzierung zu einem gegliederten Ganzen. Die Formation der Himmelskörper nach Zahl und Stellung bzw. Laufbahn ist Ergebnis des Kräftespiels von Anziehung und Abstoßung zwischen den Partikeln des Urnebels.51 In der Allgemeinen Naturgeschichte trägt Kant überdies einen nicht-epistemischen Systembegriff vor. Den Terminus ›System‹ verwendet er dort nicht zur Bezeichnung des »Lehrbegriffs von der allgemeinen Verfassung des Weltbaues«52 sondern für »die systematische Verfassung des Weltbaues«53 als solchem. Des weiteren unterscheidet Kant in seiner kosmologischen Naturgeschichte zwischen dem System im weiteren Sinne, unter dem er die Anordnung von Himmelskörpern um einen »gemeinschaftlichen Zentralkörper« versteht54 und dem engeren Systembegriff, der die gesetzmäßige Verbindung der Systemteile auf deren gemeinsame Lage in einer Ebene zurückführt. Damit hat Kant das Erfordernis eines Zentralkörpers aus dem astronomischen Systembegriff eliminiert. Der ursprünglich am Fall des Sonnensystems artikulierte Systembegriff kann nunmehr rekursiv auf die Milchstraße als ein System von in einer Ebene liegenden Sub- oder Sonnensystemen, die ihrerseits nicht mehr um einen Zentralkörper laufen, angewandt werden.55 50

Vgl. auch Kants spätere Charakterisierung der Epigenesis als generischer Präformation in § 81 der Kritik der Urteilskraft (AA 5: 423). 51 Vgl. AA 1: 261–347, bes. 261–277. 52 AA 1: 247 (Herv. v. m.).Vgl. auch AA 1: 339: »mechanische Erklärungsart«. 53 AA 1: 246 (dort Sperrdruck). Vgl. auch AA 1: 339: »das Systematische des Weltbaues«. 54 Ebda. 55 Vgl. AA 1: 247–258.

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In Kants biologischen und astronomischen Arbeiten findet sich ein nicht-epistemischer Systembegriff, der durch epigenetische Selbstdifferenzierung bzw. rekursive Applikation gekennzeichnet ist. Diese Merkmalskombination spielt eine wesentliche Rolle im ursprünglichen Systembegriff der Kantischen Transzendentalphilosophie.

5. Vom Systembegriff zum Begriffssystem In der Transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft formuliert Kant die »formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der Vernunft« in vier Kapiteln zu Disziplin, Architektonik, Kanon und Geschichte der reinen Vernunft. Unter Rückgriff auf die Metaphorik des Bauens und Wohnens spricht er von »Plan« (A 707/B 735), nach dem aus den Materialien, die in den voraufgehenden Teilen der Kritik zusammengetragen worden sind, dereinst der Sitz der Vernunft errichtet werden soll. Spezielle Ausführungen zum Begriff des Systems im allgemeinen und zum »System der Erkenntnisse der reinen Vernunft« im besonderen bietet das Architektonik-Kapitel der Methodenlehre. Doch systematische Form oder die Form des Systems gehört nicht nur zu den methodischen Erfordernissen des projektierten Vernunftsystems. Schon die Kritik der reinen Vernunft als »Propädeutik zum System der reinen Vernunft« (A 11/B 25) ist systematisch verfaßt. Und dies gilt nicht nur im Hinblick auf solche Partien des Werks, die den Ausdruck ›System‹ im Titel tragen, wie »Das System der Grundsätze des reinen Verstandes« (A 151 ff./B 189 ff.) oder das »System der transzendentalen Ideen« (A 333 ff./B 390 ff.). Vielmehr ist die Transzendentalphilosophie bzw. deren Aufriß in der Kritik der reinen Vernunft ebenso fähig wie verpflichtet, ihre Begriffe und Prinzipien in systematischem Zusammenhang aufzustellen.56 Die Möglichkeit einer durchgängig systematischen »transzendentalen Kritik« (A 12/B 26) gründet ihrerseits in der systematischen Verfaßtheit von deren Gegenstand, der reinen Vernunft selbst, d. h., dem gesamten oberen Erkenntnisvermögen als solchem oder dem Verstand im weiteren Sinne (intellectus).57 Der ursprüngliche Systembegriff der Kritik der reinen Vernunft ist so nicht der »szientifische Vernunftbegriff« (A 832/B 860) von der Einheit philosophischer Erkenntnisse, sondern der Begriff von Verstand oder 56 57

Vgl. A 67/B 92. Vgl. A 835/B 863.

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Vernunft selbst als System. Die Gegenüberstellung von System von Erkenntnissen und System der Vernunft als solcher folgt der Kantischen Unterscheidung zwischen Erkenntnissen und deren Grund in einem oder mehreren Erkenntnisvermögen. Kants ursprünglicher Systembegriff beinhaltet die apriorische Entwicklung oder Entfaltung einer wohlgeordneten Vielzahl von Elementen aus einem zugrundeliegenden Prinzip. Die Entwicklung des systematischen Zusammenhangs der Begriffe und Prinzipien des reinen Verstandes ist Gegenstand und Aufgabe der Transzendentalen Anaytik der Kritik der reinen Vernunft. Dabei handelt es sich nicht um die Analyse schon geformter Begriffe und Prinzipien, sondern um die »Zergliederung des Verstandesvermögens selbst« (A 65/B 90).58 Genauerhin ist zu unterscheiden zwischen dem analysierenden Verstand des Transzendentalphilosophen und dem analysierten Verstand als solchem. Der philosophierende Verstand liefert eine Darstellung der ursprünglichen Entwicklung des reinen Verstandes. Die dargestellte Entwicklung umfaßt den Ursprung des Systems der reinen Verstandesbegriffe und -prinzipien. Zur Darstellung kommt diese Entwicklung im Ausgang vom empirischen Verstandesgebrauch durch Abstraktion von allen empirischen Bedingungen. Kant will, wie er es im Rückgriff auf die leitende biologische Metaphorik ausdrückt, »die reinen Begriffe bis zu ihren ersten Keimen und Anlagen im menschlichen Verstande verfolgen, in denen sie vorbereitet liegen, bis sie endlich bei Gelegenheit der Erfahrung entwickelt und durch eben denselben Verstand, von den ihnen anhängenden empirischen Bedingungen befreit, in ihrer Lauterkeit dargestellt werden.« (A 66/B 91) Der vom philosophischen Verstand in der Transzendentalen Analytik künstlich herauspräparierte reine Verstand wird im Bild des Lebensprozesses dargestellt. Die Keime oder Anlagen sind der Verstand als Prinzip oder Vermögen, dessen Entwicklung zum voll ausgewachsenen System der Verstandesbegriffe und -prinzipien ›bei Gelegenheit der Erfahrung‹ vor sich geht. Die Erfahrung nimmt keinen ursprünglichen formativen Einfluß auf die Gestaltung des Systems, sondern bietet den Anlaß für Entfaltung dessen, was a priori (in den Keimen und Anlagen) festgelegt ist. Das System des Verstandes kommt so in dessen empirischem Gebrauch zustande. Der Transzendentalphilosoph stellt das empirisch realisierte System rein dar – als System der alle empirische Erkenntnis als 58

An der zitierten Stelle bezieht sich Kant speziell auf die Analytik der Begriffe. Doch gilt, was er dort sagt, mutatis mutandis auch für die Analytik der Grundsätze. Vgl. A 154/B 193–A 158/B 197.

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deren apriorische intellektuelle Form bedingenden reinen Verstandesbegriffe bzw. -grundsätze. Das von der Transzendentalphilosophie rekonstruierte ursprüngliche System des Verstandes oder das System, in das sich das Verstandesvermögen a priori entwickelt, ist das ›System der Kategorien‹, das die Modi oder Grundmodifikationen des Verstandes nach Anzahl und Anordnung verzeichnet. Zwar spricht Kant in beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft durchgängig von der »Tafel der Kategorien«, doch handelt er ausführlich vom »System der Kategorien« in dem eigens so bezeichneten Anhang zum Zweiten Teil der Prolegomena.59 Kant ersetzt die auf Aristoteles zurückgehende, noch bei den Wolffianern geübte Aufzählung ontologischer Grundbegriffe durch eine in der Prinzipienfunktion des Verstandes als Urteilsvermögens gründende Herleitung der reinen Verstandesbegriffe aus den elementaren Funktionen des Denkens.60 Dabei ist die Zwölfzahl der Urteils- bzw. Denkmodi unter Titel (Quantität, Qualität, Relation, Modalität) zu je drei Momenten gebracht und in Gestalt eines auf die Spitze gestellten Quadrats angeordnet. Die Abfolge der Titel in der Kategorien-Tafel folgt der Schreib- und Leseordnung, geht also von oben nach unten bzw. von links nach rechts.61 Im Unterschied zur Kategorienliste der vorkritischen Metaphysik liegt der Kantischen Kategorientafel ein Auswahl- und Anordnungsprinzip zugrunde, das die Zugehörigkeit und Stellung traditionell gegebener ontologischer Grundbegriffe sowie die Aufnahme und Platzierung weiterer Kategorien a priori bestimmt.62 In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bezeichnet Kant den Nachweis des identischen Ursprungs der Grundformen objektiven Denkens und der Grundformen des Denkens als solchem als »metaphysische Deduktion« der Kategorien – im Unterschied zum Nachweis der möglichen Anwendung der Denkformen auf anschaulich gegebene Ge59

Vgl. AA 4: 322–326 (Prolegomena, § 39). Vgl. auch die ausführliche Diskussion des Systems der Kategorien in der Metaphysik Mrongovius (AA 29/1–2: 801–806). 60 Vgl. A 66/B 91–A 83/B 109, bes. A 79/B 104 f. 61 Vgl. A 70/B 95 und A 80/B 106. Vgl. auch A 161/B 200 (Tafel der Grundsätze des reinen Verstandes) und A 344/B 402 (Topik der rationalen Seelenlehre), B 419 (Tafel des Ich denke) sowie AA 4: 302 f. (Prolegomena, § 21) (Logische Tafel der Urteile, Transzendentale Tafel der Verstandesbegriffe, Reine physiologische Tafel allgemeiner Grundsätze der Naturwissenschaft). 62 Zum historischen Hintergrund der Kantischen Kategorientafel vgl. Heinz Heimsoeth, Zur Herkunft und Entwicklung von Kants Kategorientafel, in: ders., Studien zur Philosophie Immanuel Kants II: Methodenbegriffe der Erfahrungswissenschaften und Gegensätzlichkeiten spekulativer Weltkonzeption. Bonn 1970, 109–132.

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genstände in der »transzendentalen Deduktion« (B 159). In beiden Deduktionen handelt es nicht um die Derivation der einzelnen Grundformen des Urteilens bzw. Gegenstandsdenkens, sondern um den prinzipiellen Nachweis des Zusammenhangs zwischen Urteil und Kategorie bzw. Kategorie und Erscheinung. Die Beweislast für die Vollständigkeit und die Anlage der Kategorientafel ruht damit auf dem vorausgesetzten Systemcharakter der Urteilstafel, die Kant im Rückgriff auf Klassifikationen der traditionellen Logik-Tradition aufstellt.63 Dies heißt aber nun nicht, daß die Urteilstafel den präformierten Keim für die ›eduktive‹ Entwicklung der Kategorientafel bildet. Vielmehr ist für das Zustandekommen beider Tafeln ein epigenetisches Verhältnis zwischen dem Prinzip (Verstand als Urteilsvermögen bzw. Vermögen gegenständlichen Denkens) und dessen ›produktiver‹ Entwicklung in die jeweilige Systemform anzusetzen. Die Gewinnung der Kategorientafel am ›Leitfaden‹ der Urteilstafel in der Kritik der reinen Vernunft erfolgt in ordine cognoscendi. Im Prinzip oder Ursprung sind die beiden Tafeln bzw. Systeme identisch; sie sind epigenetische eineiige Zwillinge. Die transzendentalphilosophische Rekonstruktion der epigenetischen oder produktiven Entwicklung der einzelnen Systemteile (›Momente‹) aus dem jeweiligen Prinzip vermag allerdings nicht, gleichsam das transzendentale Wachstum des Systems wiederzugeben. Vielmehr muß sich die Kritik mit der kriteriologischen Funktion des Systemprinzips begnügen, mittels dessen Kandidaten für Systempositionen eliminiert bzw. adoptiert werden. Der rekonstruktive Abstand der Philosophie zur ursprünglichen Genesis des Systems der Verstandesfunktionen aus der Grundform des Denkens reflektiert Kants nüchterne Einschätzung der Erkenntnismöglichkeiten in jenem Forschungsfeld, dem die Metaphorik von Entwicklung und Erzeugung entlehnt ist. So wie Kant nicht damit rechnet, »daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde,«64 ist auch die genetische

63

Vgl. A 70/B 96 – A 76/B 101 sowie AA 4: 323 f. (Prolegomena, § 390). Zum Problem der Vollständigkeit der Urteilstafel vgl. Klaus Reich, Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel. Berlin 1932, 2. Aufl. Berlin 1948, 3. Auflage Hamburg 1986; Reinhardt Brandt, Die Urteilstafel: Kritik der reinen Vernunft A67–76; B92–101. Kant-Forschungen Bd. 4, Hamburg 1991; Michael Wolff, Die Vollständigkeit des kantischen Urteilstafel: Mit einem Essay über Freges Begriffsschrift. Frankfurt a. M. 1995. 64 Wie Kant in der Kritik der Urteilskraft ausführt, ist es »ungereimt«, auf einen Newton des Grashalms, der organisches Leben ohne den Rückgriff auf teleologische Prinzipien erklären könnte, zu hoffen. Vgl. AA 5: 400 (Kritik der Urteilskraft, § 75).

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Erklärung der Urteils- bzw. Kategorientafel ohne die fiktionalistische Annahme eines deren systematische Entwicklung konzipierenden und exekutierenden nicht-endlichen Verstandes nicht zu erwarten. Die Möglichkeit des endlichen Verstandes einzusehen, bedürfte es eines anderen als des bloß endlichen Verstandes. Kants Systembegriff unterliegt so den Möglichkeiten wie den Grenzen allen teleologischen Denkens. Während die quasi-organische Erklärung der Urteils- und Kategorientafel eine ›Wissenschaft für Götter‹ darstellt, bleibt durchaus Raum für die quasi-mechanische Erörterung des entwickelten Systems hinsichtlich seiner Anwendbarkeit auf multiple Gegenstandsbereiche. Die Tafel der Kategorien exemplifiziert nämlich nicht nur den Kantischen Systembegriff des prinzipiengegründeten, nach Zahl und Anordnung a priori bestimmten Ganzen. Das System der Kategorien als ursprüngliches System des Verstandes liefert auch die »Form eines Systems« (B 110) für jede andere apriorische theoretische Vernunftwissenschaft. Kant selbst stellt die Rolle der Kategorientafel als »Leitfaden« für das Vorgehen der Untersuchung in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft heraus.65 Das System der Kategorien bringt in rekursiver Anwendung die Systemform anderer Wissenschaften zustande. Die Vollständigkeit der nach Anleitung der Kategorientafel durchgeführten Untersuchung eines philosophischen Gegenstandes führt Kant dabei auf den »geschlossenen Kreis« zurück, den der durch die Titel bzw. Momente gefädelte Leitfaden beschreibt.66 Daß gerade die Tafel der Kategorien den systematischen Kern der Kritik der reinen Vernunft und das universale Element aller philosophischen Systematik ausmacht, ist umso mehr zu betonen, als die nach-kantische Formel vom »System des transzendentalen Idealismus«67 die Gründung des Kantischen Systems in der kritischen Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung nahe legt. Demgegenüber ist daran zu erinnern, daß Kant den transzendentalen Idealismus nicht unter Berufung auf den Titel ›System‹ vorträgt. Der transzendentale Idealismus ist weder ein ›sy65 Vgl. B 110. Zur Leitfadenfunktion des Kategorienssytems vgl. AA 4: 325 (Prolegomena, § 39). Vgl. auch Ingeborg Heidemann, Über die methodische Funktion der Kategorientafel. Zum Problem der ›eigentümlichen Methode einer Transzendentalphilosophie‹, in: 200 Jahre Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. Joachim Kopper und Wolfgang Marx. Hildesheim 1981, sowie Monika Sänger, Die kategoriale Systematik in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre«. Berlin/New York 1981. 66 Vgl. AA 4: 325 (Prolegomena, § 39). 67 Kant eigener Gebrauch der Wendung »System des transzendentalen Idealismus« im Opus postumum bezieht sich auf Schellings Werk dieses Titels aus dem Jahre 1800. Vgl. AA 21: 87 und 97.

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stema‹ im Wolffischen Verständnis noch ein System nach Kants eigenem Begriff. Kant selbst hat in den Prolegomena auf Johann Georg Heinrich Feders Kennzeichnung der Kritik der reinen Vernunft als eines »System[s] des transscendentellen […] Idealismus«68 mit einer doppelten Klarstellung geantwortet. Zunächst korrigiert er das Mißverständnis seines Idealismus als »transscendentell«, fügt aber sogleich die Bemerkung hinzu, daß der Idealismus, um den es sich in der Kritik handele (eben der transzendentale Idealismus) »bei weitem noch nicht die Seele des Systems ausmacht.«69 Die ›Seele des Systems‹, wenn es denn nicht der transzendentale Idealismus sein soll, wird man im ›System der Kategorien‹ als dem Protosystem der Transzendentalphilosophie zu suchen haben.70 Im projektierten ›System der transscendentalen Philosophie‹ kann dann im Ausgang vom ›System der Kategorien‹ auch der »Lehrbegriff« des »transzendentalen Idealism aller Erscheinungen« (A 369) seine Stelle finden. Die Einsicht in das Prinzip der Kategoriensystematik (Verstand als Urteilsvermögen) führt nämlich zur Erkenntnis, daß die Kategorien als bloße Denkformen, die an sich selber keine Erkenntnis von einem »Objecte an sich selbst« liefern, sinnlicher Anschauungen bedürfen.71 Zwar nicht im Ursprung, aber in der Anwendung unterliegen damit die Kategorien den Bedingungen von Raum und Zeit und sind auf den Erfahrungsgebrauch eingeschränkt.72 Ob aber Kant selbst, wie viele seiner 68

AA 4: 373 (Prolegomena, Anhang). Vgl. die Rezension der Kritik der reinen Vernunft in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen (1782; Garves Besprechung in der Redaktion von Feder), nachgedruckt in: Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, hrsg. v. Rudolf Malter. Stuttgart 1989, 192–200, hier 193. Daß es sich bei der zitierten Passage um einen Zusatz Feders handelt, geht hervor aus dem Abdruck der Originalversion von Garves Rezension in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek (1783), nachgedruckt, in Prolegomena, hrsg. v. Malter, 219–246. 69 AA 4: 374 (Prolegomena, Anhang). 70 Als »Seele des ganzen Werkes« identifiziert Kant selbst in einer Vorarbeit zu den Prolegomena »die wichtige Aufgabe wie synthetische Sätze a priori moglich seyn« (AA 23:57; Hinweis von Manfred Baum). Man wird hier zwischen der Seele des Werks und der Seele des Systems unterscheiden dürfen. Als belebende Mitte (»Seele«) des Werkes wird die in der Göttinger Rezension völlig übersehene und daraufhin in den Prolegomena und den Ergänzungen der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft explizit gemachte Problemstellung der Transzendentalphilosophie hinsichtlich der Bedingungen, unter denen erfahrungsunabhängiges Wissen möglich ist, gelten können. Die belebende Mitte des Systems bildet dann die Lösung des transzendentalen Problems im Rahmen der Theorie von den apperzeptiv-kategorialen Verstandesformen und ihren Realisationsbedingungen. 71 Vgl. AA 4: 324 (Prolegomena, § 39). 72 Kant erwägt den Ausgang der Transzendentalphilosophie mit den Kategorien

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Nachfolger und Interpreten dies taten, das ausgeführte transzendentalphilosophische System im Rückgriff auf die Apellation »transzendentaler Idealismus« vorzutragen gedachte, steht zu bezweifeln angesichts der Tatsache, daß terminologisch wie begrifflich transzendentale Idealität nicht den Funktionen des Verstandes sondern nur den Affektionen der Sinnlichkeit zukommt.73

und das Fortschreiten zu Raum und Zeit in einer Reflexion aus der zweiten Hälfte des Jahres 1797 mit Bezug auf Jacob Sigismund Beck: »Wie wenn Hr. Bek von den categorien, die für sich keine Bedeutung haben, aber doch Begriffe a priori sind, anfinge, dann zu den Anschauungen a priori, die ihnen correrspondiren, fortschritte und so auf Raum, Zeit und realitaet käme.« (AA 18: 679 [Refl. 6353]). Vgl. auch eine entsprechende Ausführung Kants im Brief an Johann Heinrich Tieftrunk vom 11. 12. 1797 (AA 12: 222–225). 73 Zur Sonderstellung der Transzendentalen Ästhetik in der Kritik der reinen Vernunft bzw. im ganzen der Transzendentalphilosophie vgl. v. Verf., Fichte’s Transcendental Philosophy: The Original Duplicity of Intelligence and Will. Cambridge 1998, 12–15

Karl Ameriks Kant’s Notion of Systematic Philosophy: Changes in the Second Critique and After Although it is well-known that Kant was very concerned with presenting his philosophy as a ›system‹, the unique nature of that concern has not been fully appreciated. It is still unclear what Kant had in mind by the demand for a system, and why his own efforts were so quickly thought by his contemporaries to fall far short of the system that seemed needed. These questions will be central to my discussion here of a few key features of Kant’s work from 1787–1790, the period in which he was writing his second (1788) and third (1790) Critiques, right after producing the most famous overview of the Critical philosophy in a new Preface (1787) to the new edition of the first Critique (first edition, 1781).

1. Kant claimed his philosophy was scientific, in a broad and crucial sense, because it was so truly systematic that it restored the rigor to philosophy that Wolff was to be praised seeking.1 Against suggestions by Fichte and others that he had fallen short in any way in this regard, Kant protested vehemently: »the assumption that I have intended to publish only a propaedeutic to transcendental philosophy and not the actual system of this philosophy is incomprehensible to me. Such an intention never occurred to me, since I took the completeness of pure philosophy within the Critique of Pure Reason to be the best indication of the truth of my work.«2 Yet the dear fact is that by his own standards Kant never presented a »complete« philosophy. In a letter to Jakob of Sept. 11, 1787, he explained in a brief outline what a »short system of metaphysics« might look like, but he did not publish such a system himself.3 He often claimed that the first Critique could be completed easily enough in an explicit system that would take the two-part form of a metaphysics of nature and a metaphys1

Kant, Critique of Pure Reason, B xxxvii. Kant, April 7, 1799, AA, XII: 370–371. Translation from Kant: Philosophical Correspondence: 1755–1799, tr. A. Zweig (Chicago: Univ. of Chicago Press, 1967), p. 254. 3 Kant, AA X: 493–495. 2

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ics of morals, i. e., a systematic theoretical philosophy and a systematic practical philosophy.4 But although toward the end of his career Kant did finish a volume called The Metaphysics of Morals (1797), that book always remained very much overshadowed by his interjection of the Groundwork of the Metaphysics of Morals (1785) and of the second and third Critiques, works that approached moral issues in ways not foreseen in his first Critical remarks on a system. Moreover, Kant never published a metaphysics of nature, and this failure goes much deeper than his not getting around to supplementing the Metaphysical Foundations of Natural Science (1786) – his theoretical parallel to the Groundwork – with a completed »transition« to a full philosophy of physics in his opus postumum. The most startling fact is that Kant never made it to writing a theoretical metaphysical system, not even something in the short outline form that he recommended to Jakob. And yet he lectured year after year on this subject, clearly presenting it as his favorite and as the compendium of theoretical philosophy as such.5 If Kant had published a general metaphysics textbook, the most basic systematic issue that one would hope to find resolved in it would be an explanation of the unity of his work, of precisely how the metaphysics of nature and of morals are to be related. The lecture notes that we have do not provide or even promise much of a discussion of such overarching questions, and they are treated only in a very compact way in the prefaces and introductions of his Critiques. Does the lack of a fully articulated Kantian system signify only an absence of incidental details, or does it mean, as many readers have felt, that there are fundamental flaws in his whole approach to systematicity? Kant himself remained extremely confident, and concluded his repudiation of Fichte by reiterating that he had accomplished basically all that is needed: »the Critical philosophy must remain confident of its irresistible propensity to satisfy the theoretical as well as the moral, practical purposes of reason, confident that no change of opinions, no touching up or reconstruction into some other form is in store for it; the system of the Critique rests on a fully secured foundation, established forever, it will be essential too for the noblest ends of mankind in all future ages.«6 These are strong words, but the fact remains that the way that Kant’s ›foundation‹ grounds the two branches of his system is not worked out 4

Kant, Critique, A12/B26. See the editors’ Introduction to Lectures on Metaphysics/Immanuel Kant, ed. and tr. Karl Ameriks and Steve Naragon (Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1997). 6 Kant, AA XII: 370–371. 5

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anywhere in detail; the Critique of Pure Reason says little about practical reason, and the second Critique says little about theoretical reason. The third Critique then makes matters only more complicated by providing not a mere unification in retrospect but rather a new threefold division of faculties: understanding, judgment, and reason. By multiplying faculties, Kant would seem to be only multiplying divisions and problems, rather than providing a straightforward account of what gives his philosophy a true unity. 2. In order best to appreciate the specific virtues and difficulties of the Kantian system, I believe it is helpful to step back to reflect on Kant’s entire project and to consider the context of the issues of the whole era that lie behind any talk of a ›system‹. Quite apart from Kant, a natural beginning is to think that systematicity is at best an ideal, not a requirement of knowledge. And yet all the major philosophers that Kant was most familiar with took a systematic orientation to be virtually self-evident. Empiricists as well as rationalists all presumed that the human mind and its operations comprise a systematically connected whole. Whether the basis be innate ideas or sensible impressions, what classical modern philosophy produces, time and time again, is a confident reconstruction of a new comprehensive system that common life and technical disciplines are taken to require and to be incapable of articulating themselves. The major inspiration for this orientation is not difficult to find: the giants of the scientific revolution managed to discover what is a real system: modern physics. The systematicity of their works was an obvious and essential feature from the start; the general laws that they contained, and the way that they were combined to explain many different kinds of phenomena, was crucial to their initial formulation in precise mathematical ›systems of the world‹. But if modern science already has a systematic explanation ›in nuce‹ of the world, there would seem to be no basic need to duplicate things with special philosophical furniture. Nonetheless, after Descartes, philosophers insisted on working out not only a new physics but also a ›foundation‹ for it, with epistemological considerations and ontological components that often are presented explicitly as not part of either ›working‹ science or common belief. Much of this philosophical ingenuity was stimulated by the fact that the spectacular growth of physics made especially acute the question of what to do with the old views that were not part of it, i. e., of what to

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make not only of religion, ethics, and scholastic philosophy, but also of elementary common sense and the whole range of notions developed in long-standing and prestigious disciplines that were not organized like the new fundamental and quantitative sciences. Thus there arose the problem that became a main theme of a famous Vienna lecture earlier in the last century, Edmund Husserl’s account of the tense relation between the ›life-world‹ and what we now call the ›scientific image‹.7 The mainline account of this relation, from Descartes through such different schools as phenomenology and the Vienna Circle, has been to isolate a privileged sphere, a set of foundational representations – be they clear and distinct ideas, or sense data, or noeses of primordial intentionally – from which the claims of both pre-scientific and scientific experience could be evaluated and reconstructed. The thought was that philosophical discourse about such a system of representations would provide the only coherent and fully responsible way of meeting skepticism while also incorporating the achievements of modern science. But this thought led to a dead end, because what really gave skepticism its greatest strength was the ironic fact that the very representational tools that modern philosophers turned to as a certain foundation (be it sense data, ideas, words, or associations), in order to find something immune from doubt, created an abyss of uncertainty between those tools and the separate objects that they were supposed to help us reach. Modern philosophy thus has seemed condemned to two opposite but equally unappealing options. One option is to accept the challenge of skepticism and to try to save the claims of science only by integrating them within an internal system of representations – and thus to deny their original meaning as claims that transcend what is already within mere natural belief (thus the common objections to Berkeley and positivism). The other option is to accept modern science itself as absolute, as naturalism has done with more and more popularity recently, and not to worry that this leaves traditional philosophy as well as common sense, taken as special sources of truth, reduced rather to irrelevance, confusion, and error.8 7

Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, in Philosophia 1 (1936), 77–176; cf. Wilfrid Sellars, Science, Perception, and Reality (London: Kegan Paul, 1963). 8 Quine has been most influential here. But see the fine Kantian counterattack by Michael Friedman, Philosophical Naturalism, Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 71 (1997), 7–21, and Exorcising the Philosophical Tradition, Philosophical Review 105 (1996), p. 427–467.

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3. If we move back now and try to locate Kant within these alternatives, it is all too tempting and common to see him, as e.g., Richard Rorty has done, as but one more failed version of the representationalist option.9 Moreover, Kant’s very interest in system may seem only to reinforce such a reading. For many readers, the Kantian system, with its massive transcendental idealist architectonic, has appeared to be but one more desperate attempt to construct a modern pseudo-object, a literally fabricated philosopher’s world, lying in an unneeded nowhere land between the informalities of ordinary life and the strict claims of science itself. Even if one brackets the troublesome issue of Kant’s metaphysical commitments, it remains hard from the start for many readers to accept any of Kant’s complex philosophical apparatus because it still seems unable to meet the challenge of skepticism without falling back into what is only a more complicated rearrangement of the old internal and inadequate tools of representationalism. Nonetheless, I believe there is also a different and more promising way to understand his basic strategy, a way that transcends these objections. But before this alternative interpretation can be laid out and applied to evaluating Kant’s later work, more needs to be said to fill out what I am taking to be the ›standard‹ reaction to Kant and its background. Practically before the ink was dry on Kant’s Critical work, the suspicion arose that for all his talk of a system, his philosophy was not systematic in any satisfactory sense, and this for at least two reasons: (i) that it only exacerbated rather than alleviated the challenge of skepticism, and (ii) that it lacked basic unity because it divided the world, the self, and philosophy into untenable strict dualisms such as the phenomenal and the noumenal, the sensible and the rational, the theoretical and the practical. These problems dominated the worries of Kant’s first influential critics – G. E. Schulze, F. H. Jacobi, and Fichte – and even of his first major advocate, K. L. Reinhold, who soon insisted that Kant’s system must be revised radically, so that it can be brought into an adequately ›firm‹ and ›broad‹ shape.10

9

Richard Rorty, Strawson´s Objectivity Argument, Review of Metaphysics 24 (1970), p. 207–44; and Philosophy and the Mirror of Nature (Princeton: Princeton Univ. Press, 1979). 10 See my The Practical Foundation of Philosophy in Kant, Fichte, and After (forthcoming).

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The influence of the issue of skepticism cannot be underestimated. Schulze and his successors in the late eighteenth century, just like Strawson and Stroud in our century, have generated an atmosphere in which the measure of Kantian philosophy tends at first to be nothing other than how well it can defeat skepticism’s challenge. It is as if Critical philosophy is all an obscure enterprise unless it can be formulated as a transcendental ›objectivity argument‹ that ideally turns the very tools of Cartesianism against itself and shows that self-consciousness absolutely requires physical objects.11 This is an old issue in the Kant literature, and here I can do little more than refer to earlier work in which I and others have contended that, despite numerous complications, the intentions of the first Critique, and even of the legendary ›Refutation of Idealism‹, can be understood best by abstracting from any such claim to defeat radical skepticism on its own terms.12 Moreover, it can be argued that radical skepticism is a position that no one is going to be able to defeat with a compelling theoretical argument, and so it is not a significant failing if a specific philosopher such as Kant has no such argument either. Nonetheless, the prime concern of modern skepticism, the problem of proving the existence of physical objects, can be shown to arise naturally from developments in the era immediately preceding Kant. Reflections on modern physics not only undermined naive presumptions of common sense about the intrinsic nature of specific kinds of external objects (e.g., about their color or force), but also eventually undercut all assumptions about any a priori insight into the form of causal connections – and without such insight there can be no certain path at all from our perceptions to whatever external ground they may have. Kant was especially familiar with this problem from the lively disputes among his teachers concerning issues such as the doctrine of pre-established harmony, and from early on he expressed a common sense attitude toward it that I take to be a crucial and underappreciated indication of his general methodology. He remarked that on such issues even philosophers should simply accept what all people really do believe – in this case, a plurality of finite interacting things – and move on from there.13 This might seem like a 11

See P. F. Strawson’s classic, The Bounds of Sense (London: Methuen, 1966), ch. 2. II. Many recent versions of the strategy can be found, e. g., Q. Cassam, Self and World (Oxford: Oxford Univ. Press, 1996). 12 See my Recent Work on Kant’s Theoretical Philosophy, American Philosophical Quarterly 19 (1982), 1–24; Kant’s Theory of Mind (Oxford: Oxford Univ. Press, 1981), ch. III. C. 13 I have been struck especially by the Moorean point made at Metaphysik Herder,

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horribly deflationary approach, one that would put him back in the ranks of the crude ›popular philosophers‹ whom he generally castigated. But such objections overlook other crucial differences and presuppose that Kant must be read as a representational foundationalist, as someone who takes private inner ideas as the absolute given. This presupposition is a serious mistake, even if it is true that Kant frequently uses the term »representation,« and is concerned with many problems that come straight out of the Descartes to Hume tradition. There are harmless ways to explain these facts, and on the whole it is clear that Kant initiated a very striking departure from the common practice of beginning arguments from an elementary basis of mere ›representations‹ in the typical modern pre-Kantian sense, e.g., private images or sense data. While Kant did not deny the existence of such ›data‹, he premised his arguments on a higher level of consciousness not adequately explored by his predecessors. In focusing on ›experience‹ (›Erfahrung‹) in the sense of putatively warranted empirical judgment, Kant made a decisive methodological break with all philosophies that insisted on beginning with simple ideas or impressions. Unlike impressions, judgments are not atomic entities that merely exist or fail to exist; they are already structured cognitive wholes, with essential semantic and normative features. In their paradigmatic form in Kant’s texts, they are originally oriented toward external objects, as in the »judgment of experience«, »bodies are heavy.«14 A traditional representationalist might object that if Kant is starting with judgments in this sense, then all the interesting questions are already being begged. But the Kantian reply is that from this level on there still remain a host of significant questions, for example, the questions at the heart of the Critique: Supposing that there are legitimate empirical judgments, can we make sense of ordinary practices of justifying these without eventually invoking any formal limits, any a priori principles that would order them systematically? Kant was sure that, with his doctrine of forms of judgment and its related table of the categories, he had discovered substantive and final answers here. Most philosophers now would prefer a more flexible and historical notion of ›the a priori‹, but as long is it still appears worthwhile to explore some kind of answers here of a broadly Kantian type, some kind of formal constraints for know-

AA XXVIII: 6, »finden sich in der Folge Sätze, die dem Sens commun widersprechen, so prüfe man alle vorhergegangene Beweise.« 14 Kant, Critique of Pure Reason, B 142. This interpretation of Kant owes much to G. Prauss, Erscheinung bei Kant (Berlin: de Gruyter, 1971).

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ledge at least as we envisage it now, then the underlying idea of the Kantian system can maintain its value as a basic option.15 In place of leaving us with only radical subjectivism or radical naturalism – and all their limitations – and instead of resting content with mere common sense or technical disciplines alone, the Kantian hypothesis of a layer of a priori principles can provide a useful bridge between ordinary life and exact science. Principles such as causality (whose precise meaning needs to be refined over time, of course) can be argued, for example, to function both as necessary conditions for particular empirical judgments and as framework postulates for specific higher sciences, and in this way the whole fabric of our knowledge can take on a much more coherent sense for us as its major intertwining threads are revealed. This general strategy can be filled out further by noting that Kant’s own principles are hardly an accidental array, but rather are linked to each other in a thoroughly systematic fashion in which the very structure of judgment itself provides a constant ›clue‹.16 Kant’s approach is systematic in a multiple sense because it claims a necessary and tightly connected framework linking philosophical principles with the extremes of ordinary and scientific judgments, while also arguing for similar although somewhat looser structures within each of the spheres of ordinary and scientific judgments themselves, structures that parallel the architectonic of the philosophical principles. For example, the relations between Kant’s specific principles of substance, cause, and interaction correspond in multiple ways to relations between both weaker ›everyday‹ uses of these concepts, and also stronger, scientifically determined employments of them. This general notion of a nesting of types of systematicity can be worth exploring even if one allows that Kant went overboard in his confidence about the specific systematic structures that he thought he had established. The crucial point about Kant’s enthusiastic talk about a philosophical ›system‹ is simply that he understood that more is possible – and desired by us now – than a simple reliance on a chaos of popular truths or an absolutized set of quantitative theories. Part and parcel of this stress on systematicity is Kant’s rejection of foundationalism and naive representationalism: he understood, and argued more influentially than anyone else, that knowledge is anything but a ›mirror 15

See e. g., Philip Kitcher, The Unity of Science and the Unity of Nature, in Kant and Contemporary Epistemology, ed. P. Parrini (Dordrecht: Kluwer, 1994), 331–347; and see again Friedman, Philosophical Naturalism. 16 Cf. B. Longuenesse, Kant and the Capacity to Judge (Princeton: Princeton Univ. Press, 1998).

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of nature‹, a matter of isolated tokens magically picturing transcendent correlates; it is a web of judgments, holding itself together with various conceptual ›knots‹ that hold up over and over again in all kinds of arguments. It is no accident that concepts such as space, time, and causality, which structure everyday life systematically, also take on a fundamental role in the higher sciences. Practically any account that thematizes the relation between these concepts in an organized but nonreductionist manner – and thus contrasts with prior modern philosophies – can qualify as Kantian in an extended sense. Kant’s own interest in philosophical systematicity goes far beyond these generalities, and it is by no means limited to the well-known discussion of specific regulative principles near the end of the first Critique and developed throughout the third Critique. On a Critical view, philosophy itself has a fundamental systematicity already in its transcendental structure, which contains three main steps: (i) an exposition of a commonly accepted basis, (ii) a set of immediate derivations from that basis, and then (iii) a determination of the nature of the range and domain of these derivations. The first of these steps consists in explaining that we have experience, i. e., episodes subject to a »principle« of judgment, and thus to a specifiable logical structure needed by any sensible beings who can make claims that aim to be true.17 The second step, the layer of particular deductions, takes the form in Kant’s work of a sequence of ordered transcendental arguments, i. e., deductions that concern space, time, categories, and principles that each already presume some kind of objective knowledge, for which necessary epistemic conditions are then offered. In his third basic step, Kant tries to determine the full range of possible a priori knowledge, and to explain exactly where principles of reason become theoretically ungrounded when they lack an objective transcendental role. A final aspect of this step, which can be abstracted from for now, is to give a metaphysical interpretation of the meaning of the whole domain of experience that has been transcendentally explored. For Kant this amounts to an endorsement of the specific doctrine of transcendental idealism as the only metaphysics that consistently helps »make intelligible« all that we already know.18 Note that there is a remarkable modesty that marks even the more specific Kantian notion of a system. The ›experience‹ that we start with is 17

See e. g., the first Preface to the Critique, A xx, on »the common principle,« by which »the inventory of all our possessions through pure reason is systematically arranged.« 18 Kant, Critique of Pure Reason, B 41.

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not metaphysically necessary, and it is not even claimed to be epistemically irresistible – skeptics can opt out of the discussion and deny that they have any such warranted judgments. Secondly, the derivations do not claim an absolute necessity, and Kant is perfectly willing to allow that various basic aspects of experience remain inexplicable primitives; we just do work with space, time, and the forms of judgment, and there are no more basic entities – Leibnizian monads, Spinozoan substance, Humean impressions, etc. – from which these common sense notions are taken to be even in principle derivable. For Kant there is no discoverable single ›root‹ faculty, nor is there a single top-down procedure for all truth, such as Leibnizian analysis. Thirdly, there are substantive limits that are stressed even in the account of the scope of Kant’s system, both in its very negative claims about what constitutive unifying principles of reason can be found, and also in its general metaphysical thesis that our theoretical knowledge is restricted because of transcendental idealism. In the third Critique especially, Kant emphasizes that although there is a ›regulative‹ injunction to seek to tie together all of our actual knowledge into an overarching science, in principle we can never expect to claim that this science will reach a point of absolute completeness. Similarly, whatever transcendental idealism exactly means, Kant stresses it is not an account that even purports to give any positive ›explanation‹ of how we come to have the basic powers of mind that we exhibit. Unlike his predecessors, Kant does not set up a detailed ontology that contrasts with science itself, nor does he raise epistemological demands to unrealistic levels. The contrast between Kant and his immediate successors (Reinhold, Fichte, etc.) is even sharper, for they were still preoccupied by the problem of skepticism and deeply disturbed precisely by the limits of Kant’s system. They repeatedly called for a clearly certain basis, an absolutely necessary set of derivations, and a truly exhaustive (global and constitutive, rather than partial and regulative) interpretation of the scope of experience.19 Kants anticipation of such a call, and his shrewd pre-emptive reaction to it, is what I believe most influences the programmatic reformulations that one finds summed up in his important introductions to the second and third Critiques. In these introductions he confronts the second crucial objection that was listed early – the worry that his philosophy lacks a fundamental unity, and especially a proper unity of theoretical and practical reason. The crucial background of his 19

See my Kant, Fichte, and Short Arguments to Idealism, Archiv für Geschichte der Philosophie 72 (1990), 63–85.

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answer to that worry has been provided already in the course of clarifying Kant’s response to the first main objection, the problem of skepticism: just as Kant can take a calm attitude toward skepticism, and erect a ›modest‹ system that foregoes the excesses of representationalist foundationalism, so too he can take a calm attitude toward calls for absolute unity, and can show how we can do best with a philosophy whose unity remains modest, a unity of coherence rather than any reduction of practical considerations to theoretical ones, or to some ›common root‹.

4. Underlying Kant’s approach here is a final important methodological feature that needs to be made explicit before we can understand his reaction to the specific problems raised in the introductions of his Critiques. This feature is what can be called Kant’s acceptance of a fundamentally ›apologetic‹ role for philosophy. One way to develop a philosophy might be, to use Strawson’s words, to present a ›revisionary‹ metaphysics, that is, to introduce a philosophical construction that is meant to displace the commitments of ordinary people and ongoing disciplines.20 But especially after his early ›Rousseau experience‹, Kant was loath to call into question the commitments of reason found implicitly in the simplest person, e.g., even a Savoyard vicar. Yet he also knew that those commitments had been severely challenged by modern developments, scientific and philosophical, and that many had come to think that once modern people become reflective at all, it is impossible for them to feel truly rational while holding on to such ordinary beliefs as common ethics and the core of popular religion. To meet this challenge, Kant came to realize that what he needed was not a theoretical account of how the metaphysics of ethics and religion work in detail; he needed only a good apology, a story of how the best examination of all the latest options of metaphysics and science shows that there is still room for our most important common beliefs. He also went on to insist that he had proven there was no way that the content of these beliefs could ever be shown to be impossible. This claim was more than what was strictly needed, as was his extra belief that various alternative philosophies, such as materialism, were not only dubious or uncertain but definitely false. There was typical and 20

P. F. Strawson, Individuals: An Essay in Descriptive Metaphysics (London: Methuen, 1959).

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overconfident ›overkill‹ in Kant’s response, but we can bracket this again and still extract from his work an attractive apologetic strategy that gives philosophy the modest negative role of primarily defending modern agents simply against philosophy itself – and its ever growing alienating effects. This strategy nicely supplements the positive and modest systematic role for philosophy discussed earlier, its unique function of providing a structured account of how all our different levels of knowledge hang together. Kant sees that while the apologetic role of philosophy in protecting our pictures of morality and science is of prime importance, it still needs to be – and can be – balanced with our modest systematic need to develop some positive picture of how all the efforts of our reason tie together. 5. When we look at what actually happened after the first edition of the first Critique, it turns out that Kant’s path took several twists and turns before coming to the relatively dear form of the modest position just outlined. The main twist in this path, and in my view the dominant modification in his Critical period, occurred when it became clear in the second Critique that Kant had in hand no ambitious unification of reason, and in particular nothing of the type suggested by his own arguments in the intervening Groundwork. The Groundwork culminates in a section that encourages taking the central experience of judgment as itself a demonstration of strict theoretical and practical spontaneity. If such a demonstration could work, both the capacity for the absolute freedom of action needed for morality, and the soul’s independence from nature postulated by traditional metaphysics, could be warranted in one magnificent step. But the second Critique pointedly insists that we give up the dream of any such demonstration, while it properly reminds us that there is still a coherent way that theoretical reason and practical reason can support each other, even if they are not rooted in a ground that would defeat every kind of skepticism. It therefore is fitting, and not a weakness of the book, that it is devoted in large part (especially the Introduction) to showing simply that objections raised to the coherence of the Critical System can be met. This, in barest outline, is what I see as the main modification of 1787 and after: Kant’s explicit willingness to live with a ›loose‹ system. In the next and final section I will recount some of the details of this basic shift. The account is, of course, controversial, but it has extensive sources in

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earlier research and overlaps with points other interpreters have made. The new angle in my presentation of this period here is simply the explanation of how Kant’s shift in the second Critique can be understood within the broader context of his whole systematic conception of philosophy, especially as it contrasts with his major predecessors and successors. Thus, in seeing how Kant becomes more ›modest‹ in the second Critique’s discussion of freedom, we get a prime instance of the general limits of his approach, and this general approach in turn makes the modification in his difficult text of 1788 less of a mystery than it would otherwise be. The main innovation in the Critique of Practical Reason is the introduction of the peculiar notion of a ›fact of reason‹ (ch. 1, part 7) as central to morality and the idea of freedom, at the same time that Kant still insists (on the first page of the second Critique’s Preface) that freedom constitutes the ›keystone‹ of his system. The notion of a Kantian ›keystone‹ that is called a ›fact‹ may seem to be more than perplexing, but there is a fairly simple explanation of at least the terminology here. This ›fact of reason‹ is said to be a ›fact‹ because it is not derived from something prior to it, i. e., something meant as acceptable to a completely neutral audience, such as the bare notion of judgment. At the same time it is ›of reason‹ because it is understood to be given to us not through contingencies of feeling but from part of our general and essential, albeit not merely theoretical, character as a rational agent. Kant took a long route to come to the doctrine of a fact of reason. In the first Critique he had constructed an entire theoretical system, a global transcendental idealism (expanding the doctrine of the ideality of space and time in his Dissertation to a doctrine of the ideality of all our determinate theoretical knowledge), to make room for at least the possibility of asserting human freedom in an absolute rather than relative or compatibilistic sense. However, at that time he did not work out a positive argument for human freedom, and he even skipped over discussion of the issue at the natural place for it in the Paralogisms. The dense final part (III) of the Groundwork of the Metaphysics of Morals finally addresses the issue of freedom’s actuality by directly confronting the worry that our belief in such freedom, which Kant took to be essential to our very notion of morality, might be a mere ›figment of the brain‹ (›Hirngespinst‹). The argument of part III of the Groundwork, for all its ambiguities and obscurities, then clearly presents itself as a deduction, as an argument that defends the assertion of human freedom from the starting point of general considerations such as the mere (supposedly ›spontaneous‹) nature of judgment, considerations that do not themselves already

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contain practical and especially controversial moral presumptions in any ›thick‹ Kantian sense. This is why it is such a striking shift when, in returning to the issue just a few years later in the second Critique (1788; some dues were given in the second edition Preface of the first Critique, 1787), Kant eschews reference to his earlier Groundwork argument, chooses to speak of a mere ›confirmation‹ of freedom, and insists (Preface, n. 1) that morality and the freedom which it requires rather has its sole ›ratio cognoscendi‹ in the ›fact of reason‹, i. e., the authority of our pure practical reason.21 There are many different readings of these difficult texts, but on my interpretation we can easily enough take them at face value and see Kant as retreating from even the appearance of a ›strong‹ or foundational argument for freedom, one that would supposedly address even skeptics about morality, and as falling back explicitly on a moderate or ›coherentist‹ argument that relies on the ›fact‹ of what is already found in what is supposed to be our common moral reason. Against the worry that Kant could not have made such a momentous reversal so quickly without marking it out even more clearly, it is worth knowing that considerable evidence has now been assembled that shows Kant went through several significant shifts in his treatment of major metaphysical issues, and especially freedom, from his early pre-critical period, through his lectures in the 1770s, to the time of the first Critique itself.22 It is striking, for example, that he starts as a compatibilist, shifts without explanation to a vigorous anti-compatibilism, and then presents strong dogmatic arguments for freedom (in his lectures) which he later chooses totally to ignore rather repeat, let alone criticize or modify, in the first Critique. Similar key shifts can be found also in later aspects of Kant’s thought as well, for example in the very idea of a separate second or third Critique. At one point such studies seemed to be excluded or unnecessary for transcendental philosophy; and then in work very soon thereafter they were presented as essential to the Critical program. Many important contemporary philosophers would nonetheless dispute the sharp contrast drawn here in Kant between an early deduction that moves from broadly theoretical considerations to morality and a

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A crucial passage here is Critique of Pure Reason, B xxviii; see my Kant’s Deduction of Freedom and Morality, Journal of the History of Philosophy 19 (1981), 53–79 (= Kant’s Theory of Mind, ch. VI). 22 See again my Kant’s Theory of Mind, which is reinforced now by the materials available in Lectures on Metaphysics/Immanuel Kant.

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categorical assertion of freedom, and a later mere ›confirmation‹ that moves from a moral fact of reason to simply an unpacking of freedom and other ideas supposedly implicit in the practical perspective that comes with that fact. One way to minimize this contrast would be to contend that the second Critique itself offers something that is still tantamount to a deduction of freedom, but a more widespread strategy is to take the opposite approach and to contend that Kant in fact does not and need not ever claim to be giving an argument for the actuality of freedom. On this strategy, it is enough if Kant can be taken always to be reminding us simply that ›from a practical point of view‹ we ›must regard‹ ourselves as spontaneous and thus as ultimately subject to strict moral standards. Henry Allison, for example, has suggested that we should read Kant’s ethics as not making any metaphysical claims about transcendent powers but as making only a ›conceptual‹ point about how we regard ourselves as agents.23 This is an especially appealing strategy for his popular type of Kant interpretation because (unlike some more traditional interpreters) Allison also takes even many components of Kant’s theoretical philosophy to express what is merely a ›conceptual distinction‹ between points of view. Thus, ›phenomena‹ and ›noumena‹ do not stand for two possibly distinct realms of objects but rather indicate what are simply different ways, roughly epistemic and nonepistemic, of considering a realm of empirical objects that implies nothing about anything transcendent. Christine Korsgaard and other Rawlsian neo-Kantians appear to endorse a similar strategy, for example, when Korsgaard argues that for a Kantian questions of personal identity are not a matter of absolute metaphysical status but depend rather on one’s practical perspective.24 For many readers it understandably seems much easier, for both internal and external reasons, to defend Kant’s philosophy when it is taken to back away from any traditional metaphysical and transcendent claims.25

23 See the essays collected in H. E. Allison, Idealism and Freedom (Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1996), and C. Korsgaard, The Sources of Normativity, with G.A. Cohen et al. (Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1996), and Creating the Kingdom of Ends (Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1996). Cf. my review of Allison in Philosophy and Phenomenological Research (forthcoming). 24 Cf. John Rawls, Themes in Kant’s Moral Philosophy, in Kant’s Transcendental Deductions, ed. E. Förster (Stanford: Stanford Univ. Press, 1989), 81–113. 25 A major source for this kind of interpretive strategy is no doubt Kant’s talk about presupposing freedom »merely as an idea,« at Groundwork, AA IV: 448 n. This passage requires a long explanation; for a start, see above, n. 23.

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Without claiming that Kant’s own position can be easily defended, I would argue that in this area metaphysical considerations are nevertheless inescapable, and for reasons both external and internal to Kant’s work. Externally, it is hard to see how any philosopher today can flatly assert that ›we must regard ourselves as free‹, even if only from ›a practical perspective‹. If the ›must‹ is meant to record a mere stipulative or accidental psychological fact, it goes against the deep attachment to spontaneity that is being implied, but if it is insisted that the ›must‹ signals a deep and universal psychological standpoint, then it is directly contradicted by the army of non-libertarian philosophers (growing ever larger since Hume’s day, and certainly well-known to Kant) who not only argue that their philosophy denies we are free (in Kant’s non-compatibilist sense) but who also observe, accurately enough, that in daily life people in general seem to get along quite well without a belief in absolute freedom. People do use and need a belief in their own agency, but the thought that they can and do act does not entail that there is, or even that they must believe there is, nothing sufficient acting on them. Of course, this does not settle the metaphysical issue of freedom, but it does show how in the end Kant’s arguments become quite odd if they are taken in this way to rest on mere conventional or psychological presumptions. On the other hand, if it is said that we ›must‹ believe in absolute freedom simply because this is a ›normative‹ implication of a ›genuine‹ moral perspective, then this still begs the issue with Kant’s opponents in moral theory, and at most points to where the real discussion has to begin. There are not only external difficulties for the position that we must merely ›regard ourselves as free‹; it is hard to square this reading with central concerns internal to Kant’s system. One can ask: What is the point of this belief that we supposedly must have in strict freedom, what exactly is it that can’t be captured by compatibilism, especially for philosophers who (unlike Kant himself, on my reading) refuse to assert that there literally are any ›metaphysical powers‹, i. e., sources of agency not determined by the rules we take to cover the empirical domain? Here the talk of freedom seems like a wheel turning idly – whereas if one thinks that the idea of freedom is not merely part of our ›conceptual standpoint‹ but designates an actual and separate power, then it at least involves an ineliminable existential claim, and one can immediately see why Kant thought it was such a difficult issue. And not only is a literal notion of non-empirical agency something that would give talk of freedom a real reference and point, it appears to be clearly what Kant himself had in

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view. In the first Critique he talks explicitly of absolutely spontaneous and non-temporal sources of action, and the natural way to understand his argument in the third Antinomy is precisely as making room for some real causation that would transcend whatever action we can know empirically.26 Confusions may arise here for readers who do not see that when Kant relies in the second Critique on a ›fact of reason‹ as the ground for freedom, he is not denying a commitment to the truth that we have non-temporal agency, nor is he saying ›we merely believe‹ we have such freedom. Rather, he holds explicitly that there is a fact here and we can be certain about it; it is just that we should not any longer suggest that we might be in the epistemic position of being able to derive this fact from neutral theoretical considerations, e. g., the general features of judgment cited in the Groundwork.27 All this does leave Kant (after the Groundwork) in a position that makes him not only unable to defeat a moral skeptic but also still weighted down by a literal belief in nonempirical agency that can embarrass many contemporaries who share an attachment to much of the content of his strict morality. There is a problem here, but I believe the difficulties his libertarianism presents all by itself are not much worse than those that other philosophical systems have when faced with the most fundamental questions. There is a special methodological problem for Kant, however, which arises from the fact that in the Groundwork he appeared to concede that a strong reply to skepticism, not just an assertion but a proof of freedom, was needed here, and to suggest that his system could provide a reply even while answering not only the demands of global Newtonianism but also the perspective of neutral common sense. Kant’s own abandonment in 1788 of even the suggestion of such a strong argument, i. e., of his apparently ›neutral‹ or categorical deduction of both morality and freedom in the Groundwork, naturally generated the suspicion that his final moral philosophy is inadequate on its own grounds. To start by calling for a deduction to defeat skepticism, and to end by relying on something called a ›fact‹, is to raise and frustrate expectations that others would understandably want to see satisfied. I believe that these expecta26

Cf. Allen Wood, Kant’s Compatibilism, in Self and Nature in Kant’s Philosophy, ed. A. Wood (Ithaca: Cornell Univ. Press, 1984), p. 57–72. 27 I believe the often invoked retreat to a Fichtean notion of an ›act‹ (›Tathandlung‹) rather than a ›fact‹ (›Tatsache‹) is ultimately of no help here, since the relevant sense of fact at issue is simply that of a state of affairs that corresponds to a true proposition, a proposition asserting freedom exists. Acts are facts – even if they are free acts.

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tions, and the keen interest in Kant’s moral philosophy from the period of its first reception, go a long way in helping to explain the incredibly intense search, after Kant, for a philosophy with an absolute foundation – i. e., the remarkable Schulze to Fichte phase noted earlier, and its strong influence on all later phases of reaction to Kant. Note, however, that while Kant’s own philosophy, on my reading of the Groundwork, naturally engenders this search for such a foundation, his methodology elsewhere and the content of his moral theory (e. g., the formulations of the categorical imperative) alone do not require it. Kantians concerned merely with this content could have rested with moral experience as simply a fact of common sense like theoretical experience; in this way the projects of the first and second Critiques could have been accepted as having a parallel and relatively modest structure. But a peculiar combination of circumstances in the Idealist era stood in the way of such a common sense approach. Three factors were especially important: 1) Kant’s own belief in metaphysical powers as not only actual but essential to our picture of ourselves as agents (i. e., as free agents in a system that excludes compatibilism and yet takes nature to be governed by Newtonian laws) was responsible for keeping alive a drive for some kind of ambitious metaphysics, and this naturally led to a hope for a strongly unified system. 2) The association of Kant’s work with Hume, and a natural misunderstanding of the Critique’s basic structure, reinvigorated the disastrous thought that Kant’s philosophy, like earlier modern philosophy, has to be evaluated primarily from the perspective of how well it can answer radical skepticism. 3) The tumultuous cultural circumstances of late eighteenth century Germany, combined with Kant’s own talk about instituting a new era of scientific philosophy and rational society, generated the thought that to lead and preserve such an era philosophy required an immediate certainty and exhaustive scope, a form that alone could give it the irreversible attachment not only of specialists but of the whole public of the Enlightenment.

6. All these factors had as a consequence the fact that readers were very dissatisfied with the second Critique’s claim that it is enough if theoretical reason merely leaves room, metaphysical permission, for the moral pos-

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sibilities that our pure practical reason supposedly commits us to at the level of sound common sense. Nonetheless, in developing a third Critique and in expanding his account of a priori principles, Kant did not turn back on the doctrine of the fact of reason and a less than absolutely unified root for his philosophy. Rather, he showed in new ways how in the areas of taste and natural science, reason and sense can cooperate with each other, while he refused to claim that the principles in either of these areas could give a strict demonstration, or even a strongly unified argument, against skepticism to the effect that all our fundamental interests are fulfilled. This refusal earned him the disdain of his successors. Kant realized this, and yet, as is evident from his late letter on Fichte (cited at the beginning), he was not willing to retreat from his estimate of his own system as completely adequate. Ironically, what makes that system most attractive today is the fact that, especially after 1788, it never tried to be complete in the absolute way that a casual reading of his letter might suggest. On the contrary, the actual ›complete‹ Kantian system is meant to remain something that must appear, at least from the perspective of many pre- and post- Kantians, as an incomplete work, characterized by mere ›facts‹ at its base, and many ›loose‹ and unfinished steps in its development. What others have regarded as weaknesses here, we can rather accept, at least in large part, as a strength, as another sign of Kant’s proper critical appreciation for our limits.

Bernhard Thöle Kants Systemidee. Bemerkungen zu Karl Ameriks’ »Kant’s Notion of Systematic Philosophy« Ameriks will uns davon überzeugen, daß Kants Idee eines philosophischen Systems viel bescheidener war als üblicherweise unterstellt wird. Seine zentralen Thesen sind im einzelnen: Die Entstehung der philosophischen Systeme ist durch die spezifische Problemlage bedingt, die mit der Entwicklung der modernen Wissenschaften sowie der Wiederbelebung des Skeptizismus eintrat.1 Die Standardreaktion auf diese Problemlage bestand in dem Versuch, den radikalen Skeptiker zu widerlegen und die Erkenntnisansprüche von Wissenschaft und gemeinem Menschenverstand auf der Grundlage unbezweifelbarer Daten zu rekonstruieren.2 Im Gegensatz dazu beabsichtige Kant nicht, den radikalen Skeptiker zu widerlegen. Statt dessen gehe er von dem ›Faktum der Erfahrung‹ aus und versuche lediglich, grundlegende Strukturen als Bedingungen sowohl der wissenschaftlichen wie der Alltagserfahrung auszuweisen.3 Dabei bediene sich Kant eines Verfahrens, das zwar eine »fundamentale Systematizität« aufweise, sich aber nichtsdestoweniger durch eine »bemerkenswerte Bescheidenheit« auszeichnen soll.4 Zum vollen Durchbruch gelange diese bescheidene Systemidee aber erst, nachdem Kant mit der Lehre vom Faktum der Vernunft seine früheren Versuche, eine anspruchsvolle Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie durch Rückführung auf ein gemeinschaftliches Prinzip zu begründen, aufgegeben habe.5

1. Zum historischen Hintergrund der Systemidee Obwohl Kant nach Ameriks nicht die Ambitionen seiner radikal antiskeptischen Zeitgenossen teilte, reagiere er gleichwohl auf das durch die Entwicklung der modernen Wissenschaft entstandene Spannungsverhältnis: 1 2 3 4 5

Ameriks (i. d. Band) S. 76. Ameriks (i. d. Band) S. 76. Ameriks (i. d. Band) S. 79. Ameriks (i. d. Band) S. 81f. Ameriks (i. d. Band) S. 84ff.

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»In place of leaving us with only radical subjectivism or radical naturalism [...] and instead of resting content with mere common sense or technical disciplines alone, the Kantian hypothesis of a layer of a priori principles can provide a useful bridge between ordinary life and exact science. Principles such as causality [...] can be argued, for example, to function both as necessary conditions for particular empirical judgments and as framework postulates for specific higher sciences, and in this way the whole fabric of our knowledge can take on a much more coherent sense for us«.6 Mir ist weder klar, worin eigentlich das Problem bestehen soll, zu dessen Lösung ein solcher Brückenschlag zwischen gewöhnlicher und wissenschaftlicher Erfahrung erforderlich sein soll, noch, wie Kants Antwort auf diese Problemlage aussehen soll. Ameriks erwähnt in diesem Zusammenhang drei Problemfelder: (a) Das Problem des Status der sinnlichen Qualitäten, (b) das Außenweltproblem sowie (c) das Kausalitätsproblem. Aber das Problem der Objektivität der Empfindungsqualitäten hat Kant nicht sonderlich interessiert;7 und weder das Außenweltproblem noch das Kausalitätsproblem waren Resultat einer Spannung zwischen gewöhnlicher und wissenschaftlicher Erfahrung.8 Mir erscheint es daher nicht besonders erhellend, die Kantische Systemidee durch Beziehung auf eine Problemlage, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlichem und ›manifestem‹ Weltbild ergeben soll, zu motivieren.9

6

Ameriks (i. d. Band) S. 80. Ja, es ist nicht einmal klar, ob die wenigen diesbezüglichen Bemerkungen Kants überhaupt ein konsistentes Bild ergeben. Vgl. dazu v. Vf., Kant und das Problem der Gesetzgebung der Natur. Berlin 1991, S. 96f. (im folgenden zitiert als Thöle (1991)). 8 Dies gilt jedenfalls sowohl für Descartes’ skeptische Argumente zum Außenweltproblem in der ersten Meditation, gegen die sich Kants ›Widerlegung des Idealismus‹ richtet (vgl. B 274), als auch für Humes Skeptizismus in bezug auf das Kausalitätsproblem, den Kant »aus dem Grunde [...] heben« wollte (AA IV, 310). 9 Von einem für Kant allerdings entscheidend wichtigen Problem ließe sich dies dann sagen, wenn man zum manifesten Weltbild auch unser Selbstverständnis als frei handelnde Wesen rechnet. Denn dann kann man das Problem der Vereinbarkeit von Freiheit und Naturkausalität durchaus als Ausdruck eines solchen Spannungsverhältnisses deuten. Aber dann muß man auch zugestehen, daß zur Lösung dieses Problems ein ›Brückenschlag‹ in der von Ameriks oben beschriebenen Art denkbar ungeeignet wäre. Von Kants Lösung dieses Problems mittels der Zwei-Welten-Theorie wird man jedenfalls kaum sagen können, daß sie sich auf den Einsatz besonders bescheidener theoretischer Mittel beschränke. 7

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I. Die kantische Systematik im Umriß · B. Thöle

Kants kritisches Unternehmen war vielmehr durch die Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik motiviert:10 Die Kritik der reinen Vernunft soll über die »Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt« entscheiden, und eine »Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben« liefern – »alles aber aus Prinzipien« (A XII). Dabei kam es Kant vor allem auf die Frage nach der Möglichkeit einer die Erfahrungsgrenzen überschreitenden, transzendenten Metaphysik an, denn »gerade in diesen [...] Erkenntnissen, welche über die Sinnenwelt hinausgehen, [...] liegen die Nachforschungen unserer Vernunft, die wir, der Wichtigkeit nach, für weit vorzüglicher, und ihre Endabsicht für viel erhabener halten, als alles, was der Verstand im Felde der Erscheinungen lernen kann [...]. Diese unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft selbst sind Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Die Wissenschaft aber, deren Endabsicht [...] eigentlich nur auf die Auflösung derselben gerichtet ist, heißt Metaphysik« (B 6 f.). Eine solche Kritik muß aber »nach der strengsten Forderung systematisch [...] ausgeführt werden« (B XXXVI) und muß »das reine Vernunftvermögen in seinem ganzen Umfange und Grenzen« darstellen, sowie »vollständig und nach allgemeinen Prinzipien [...] bestimmen« (AA IV, 261; meine Herv.). Kants Bedürfnis nach Vollständigkeit war der entscheidende Grund für seine Forderung nach Systematizität. Dieses Bedürfnis resultierte aus der strategischen Lage, in der er sich sah: Um die die Erfahrungsgrenzen überschreitenden Erkenntnisansprüche des Dogmatikers wirksam zurückweisen zu können, mußte eine umfassende Theorie aller Arten der Erkenntnis a priori entwickelt werden, und es mußte verständlich gemacht werden, wieso sich der Dogmatiker zur Legitimation seiner Ansprüche nicht z. B. auf die Möglichkeit der mathematischen Erkenntnis berufen kann.11 Gegen den Skeptiker mußte gezeigt werden, wieso die Einsicht in die Unmöglichkeit einer transzendenten Metaphysik nicht zu einem allgemeinen Mißtrauen in unsere Erkenntnisfähigkeiten führt.12 Der durch den Skeptiker angerichteten »Verwirrung aber kann nur durch förmliche und aus Grundsätzen gezogene Grenzbestimmung unseres Vernunftgebrauchs abgeholfen und allem Rückfall auf künftige Zeit vorgebeugt werden« (AA IV, 351).

10

Vgl. zum Folgenden: Thöle (1991) S. 9 ff. Vgl. etwa B 8 f., A 712 f./B 740 f. sowie AA IV, 315 f. 12 Vgl. A 768/B 795 u. Prolegomena AA IV, 351. sowie meine Ausführungen in Thöle (1991) S. 26 ff. 11

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2. Theoretische Bescheidenheit? Man kann nicht sinnvoll bestreiten, daß sich Kants kritisches Unternehmen auch gegen den Skeptiker richten sollte. Aber das bedeutet nicht, daß Kant den radikalen epistemologischen Skeptiker hat widerlegen wollen. Kants soeben skizziertes Programm schließt nicht offensichtlich aus, daß die Geltung z. B. des Kausalprinzips lediglich als Bedingung einer bereits als möglich vorausgesetzten objektiven Erfahrungserkenntnis begründet wird.13 Aus Kants Programm alleine ergibt sich also nicht, daß Ameriks’ Behauptung, Kant habe lediglich ein schwaches, die Möglichkeit der Erfahrung voraussetzendes Beweisprogramm verfolgt, zurückzuweisen ist – zumal ein solches schwaches Beweisprogramm durchaus substantielle Resultate liefern kann. Schließlich ist es z. B. alles andere als trivial, daß – wie Kant behauptet – die durchgängige Geltung des Kausalprinzips eine Bedingung möglicher Erfahrung von Objekten ist. Aber all das bedeutet natürlich nicht, daß Kant sich auch tatsächlich mit der Verfolgung eines schwachen Beweisprogramms begnügt hat. Diese Frage läßt sich nur entscheiden, wenn man genauer betrachtet, wie Kant zu diesem Zwecke tatsächlich verfährt, und hier sieht die Lage für Ameriks nicht mehr besonders günstig aus.14 Denn folgte man Ameriks’ Behauptung, wonach der eigentliche Ausgangspunkt der transzendentalen Deduktion die Theorie des Urteils ist, bliebe ganz unverständlich, worin die argumentative Funktion der §§ 16–18 eigentlich bestehen soll. Vom Urteilen ist schließlich erst im § 19 die Rede. Zudem ist die Argumentationsstruktur des ersten Teils der B-Deduktion (§§ 15–20) – bei allen Schwierigkeiten im Detail – einigermaßen klar: Nachdem Kant den Begriff der Verbindung eingeführt hat (§ 15), behauptet er, daß alle meine Vorstellungen unter der analytischen Einheit der Apperzeption stehen,

13

Denn Kants antiskeptische Haltung richtet sich in erster Linie gegen Hume als metaphysischen Skeptiker: Hume schloß aus der Unmöglichkeit, das Kausalitätsprinzip aus bloßen Begriffen zu begründen, »daß die Vernunft sich mit diesem Begriffe ganz und gar betrüge« (AA IV, 257) – mit der für Kant inakzeptablen Folge, daß damit auch »der praktische Gebrauch eines theoretisch nichtigen Begriffs ganz ungereimt gewesen« wäre (AA V, 56). Es waren vor allem die beunruhigenden Folgerungen für die praktische Philosophie, die Humes Skeptizismus für Kant irritierend erscheinen ließen (vgl. Thöle (1991) S. 31 ff.) 14 Ich beschränke mich im wesentlichen auf die B-Deduktion, da sich auch Ameriks in erster Linie an ihr orientiert (vgl. Karl Ameriks, Kant’s Transcendental Deduction as a Regressive Argument, in Kant-Studien 69 (1978), S.273–87 (im folgenden zitiert als Ameriks (1978)).

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und daß die analytische Einheit der Apperzeption die durchgängige Möglichkeit einer synthetischen Einheit voraussetzt (§ 16). Sodann versucht Kant zu zeigen, daß die synthetische Einheit der Apperzeption eine objektive Einheit ist (§ 17/18) – um dann (§ 19) diese objektive Einheit mit der Urteilseinheit zu identifizieren. Da sich die Anwendung der Kategorien als Resultat der Verbindung des Mannigfaltigen durch die logischen Urteilsfunktionen ergeben soll, kann Kant schließlich folgern, daß »[a]lle sinnlichen Anschauungen [...] unter den Kategorien [stehen], als Bedingungen, unter denen allein das Mannigfaltige derselben in ein Bewußtsein zusammenkommen kann« (B 143) (§ 20). Wenn Kant aber auf diese Weise für die Geltung der Kategorien argumentiert, ist klar, daß es sich um eine ›starke‹ Deduktion handelt: Denn in § 16 wird von allen meinen Vorstellungen – ohne jede Einschränkung – behauptet, daß sie unter der analytischen Einheit stehen. Da dies implizieren soll, daß sie zu einer durchgängigen synthetischen Einheit müssen gebracht werden können, so daß dadurch das so verbundene Mannigfaltige »in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird« (B 139), ergibt sich, daß alle meine Vorstellungen auf Objekte müssen bezogen werden können. Zur Verteidigung seiner schwachen Lesart stützt sich Ameriks im wesentlichen auf drei Argumente: (1) Kant unterscheide im § 16 die ursprüngliche Apperzeption von der empirischen Apperzeption dergestalt, daß nur die letztere das bloße Haben von Vorstellungen bezeichne.15 Daraus schließt Ameriks, daß die ursprüngliche Einheit der Apperzeption nicht eine Einheit sei, die allen meinen Vorstellungen als solchen zukommt. (2) Vielmehr sei die ursprüngliche Einheit der Apperzeption bereits als objektive Einheit der Apperzeption definiert.16 Daher – so Ameriks – werde in der B-Deduktion die Geltung der Kategorien auch nur für diejenigen Vorstellungen bewiesen, die bereits auf Objekte bezogen sind. (3) Schließlich beruft sich Ameriks zur Stützung seiner Interpretation auf Henrichs Interpretation der B-Deduktion.

15 Vgl. Ameriks (1978) S. 283: »Kant immediately distinguishes ›original apperception‹ from ›empirical apperception‹ (B 132) in such a way that only the latter designates the mere having of representations«. 16 Vgl. Ameriks (1978) S. 283 f.: Aus der – nicht weiter begründeten – Behauptung, die Äquivalenz von ursprünglicher und objektiver Apperzeption ergebe sich »by definition and not because of any progressive argument« (»›original‹ and ›objective‹ unity of apperception are here interchangeable terms for Kant«), schließt Ameriks: »the unity which concerns Kant is not that given with the ›fact of consciousness‹ but is that involved when there is ›objective‹ consciousness, i. e., experience in his sense« (Ameriks (1978) S. 283 f.).

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Ich halte all diese Argumente für wenig überzeugend. Was (1) betrifft, so ist zwar durchaus richtig, daß Kant bereits im § 16 die »ursprüngliche« von der »empirischen« Apperzeption unterscheidet und im nächsten Absatz behauptet, daß »das empirische Bewußtsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, [...] an sich zerstreut [sei] und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts« (B 133). Aber das ist nicht so zu verstehen, daß sich die ursprüngliche Apperzeption – wie Ameriks behauptet – (im Gegensatz zur empirischen Apperzeption) nicht auf alle meine Vorstellungen, sondern nur auf diejenigen Vorstellungen, die bereits objektive Einheit besitzen, bezieht. Vielmehr behauptet Kant wiederholt das genaue Gegenteil: bereits im ersten Satz des § 16 sagt Kant ohne jede Einschränkung von allen meinen Vorstellungen, daß sie vom ›Ich denke‹ müssen begleitet werden können; und im letzten Satz des § 16 wird das Resultat ebenfalls ohne jede Einschränkung formuliert: »alle mir gegebenen Vorstellungen stehen« unter der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption (B 135; meine Herv.).17 Wenn Kant behauptet, daß das empirische Bewußtsein »an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts« sei, so besagt dies – wie aus dem Kontext der Stelle zweifelsfrei hervorgeht – lediglich, daß das bloße Begleiten mit Bewußtsein noch nicht bedeutet, daß ich mir auch schon die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen vorstelle. Vielmehr will Kant hier ja gerade zeigen, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in allen meinen Vorstellungen nur vorstellen kann, indem »ich eine zu der anderen hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewußt bin« (B 133). Aus dem Umstand, daß empirisches Bewußtsein nicht mit dem Bewußtsein der Identität meiner selbst zusammenfällt, kann also nicht geschlossen werden, daß der Grundsatz von der Einheit der Apperzeption nicht für alle meine Vorstellungen als solche gilt. Im Gegenteil: dies ist gerade das, was Kant wiederholt behauptet: »die mannigfaltigen Vorstellungen [...] würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewußtsein gehörten, d. i. als meine Vorstellungen (ob ich mich ihrer gleich nicht als solcher bewußt bin) müssen sie doch der Bedingung notwendig gemäß sein, unter der sie allein in einem allgemei17

Und das sind bei weitem nicht die einzigen Stellen. Vgl. etwa A 117 Anm.: »Alle Vorstellungen haben eine notwendige Beziehung auf ein mögliches empirisches Bewußtsein [...]. Alles empirische Bewußtsein hat aber eine notwendige Beziehung auf ein transzendentales [...] Bewußtsein, nämlich das Bewußtsein meiner selbst, als die ursprüngliche Apperzeption«. Hier wird sogar behauptet, daß selbst solche Vorstellungen, die nicht vom empirischen Bewußtsein begleitet werden, zur Einheit der Apperzeption müssen gebracht werden können.

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nen Selbstbewußtsein zusammenstehen können, weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden« (B 132 f.).18 Auch Ameriks’ Behauptung (2), wonach die ursprüngliche Einheit der Apperzeption als objektive Einheit definiert ist, ist ohne Grundlage in Kants Text. Im § 16, in dem die ursprüngliche Einheit der Apperzeption eingeführt wird, ist von einer objektiven Einheit überhaupt noch nicht die Rede. Es ist vielmehr die Aufgabe des § 17, den Nachweis zu führen, daß die »Einheit des Bewußtseins dasjenige [ist], was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objektive Gültigkeit, [...] ausmacht« (B 137).19 Erst auf der Grundlage dieses Nachweises kann Kant dann im ersten Satz des § 18 erklären: »Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist diejenige, durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird. Sie heißt darum objektiv« (B 139). Schließlich hilft auch der Rückgriff auf Henrichs Interpretationsvorschlag (3) nicht weiter. Nach Henrich soll das Resultat von § 20 unter einer einschränkenden Bedingung stehen: »Das Beweisresultat von § 20 gilt [...] nur für alle diejenigen Anschauungen, die bereits Einheit enthalten. [...] Dieser Einschränkung im § 20 korrespondiert der auf § 26 bezogene Text: [...] Im zweiten Teil der Deduktion soll gezeigt werden, daß die Kategorien gültig sind für alle Objekte unserer Sinne«.20 Aber erstens scheitert Henrichs Interpretation aus dem bereits oben gegen Ameriks’ Deutung angeführten Grund: Im § 16 gibt es keine Ein-

18

Vgl. (B 134): »diese in der Anschauung gegebenen Vorstellungen gehören mir insgesamt zu, heißt demnach soviel, als ich vereinige sie in einem Selbstbewußtsein, oder kann sie wenigstens darin vereinigen«. 19 Daß Kant diese Behauptung nicht einfach definitorisch festsetzt, ergibt sich daraus, daß er sie explizit als Folgerung aus dem zuvor Ausgeführten kennzeichnet. Diese Begründung fällt zwar nicht besonders befriedigend aus, da unklar bleibt, wieso die Einheit des Bewußtseins nicht nur eine notwendige, sondern zugleich eine hinreichende Bedingung für den Gegenstandsbezug unserer Vorstellungen sein soll. Das ändert aber nichts an dem Befund – zumal Kant in der A-Deduktion (vgl. insb. A 104–110) diese Lücke auszufüllen versucht. Auch wenn man diese Ausführungen der Sache nach für nicht schlüssig hält, kann man nicht bestreiten, daß er zumindest versucht zu begründen, daß »Beziehung auf einen Gegenstand [...] nichts anderes [ist], als die notwendige Einheit des Bewußtseins« (A 109) (vgl. dazu Thöle (1991) S. 229– 235). 20 Dieter Henrich, »Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion«, in G.Prauss (Hg.), Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln. Köln (1973), S. 90–104; hier: S. 93 (meine Herv.) (im folgenden Henrich 1973)).

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schränkung auf Anschauungen, die bereits Einheit besitzen.21 Und selbst wenn Henrichs Interpretation überzeugend wäre, würde dies Ameriks zweitens nichts nützen. Denn aus Henrichs Interpretation folgt nur, daß mit dem ersten Teil der Deduktion allein noch keine starke Deduktion erbracht ist. Aber nach Henrichs Deutung soll jene Einschränkung im zweiten Teil der Deduktion gerade aufgehoben werden, indem Kant die Einheit von Raum und Zeit ins Spiel bringt: »Nun haben wir aber im Falle unserer Vorstellungen von Raum und Zeit Anschauungen, die Einheit enthalten und die zugleich alles in sich einschließen, was unseren Sinnen nur vorkommen kann. [...] Wir können also sicher sein, daß alles gegebene Mannigfaltige ausnahmslos den Kategorien unterworfen ist.«22 Das bedeutet aber, daß die Deduktion im ganzen betrachtet eine starke Deduktion ist. Denn nach Kant können wir keine Anschauungen haben, die nicht zumindest in der Zeit enthalten sind. Aus all dem ergibt sich, daß Ameriks’ schwache Lesart der Deduktion kaum überzeugend begründet ist. 3. Verspätete praktische Bescheidenheit? Ich komme damit zu Ameriks’ Behauptung, daß Kant erst auf Umwegen zu einer bescheidenen Position in Sachen philosophische Systematik gelangt sei, da er noch nach der Veröffentlichung der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft glaubte, über einen Beweis theoretischer und praktischer Spontaneität aus dem Bewußtsein des Urteilens zu verfügen:23 »The argument of part III of the Groundwork [...] clearly presents itself as a deduction, as an argument that defends the assertion of human freedom from the starting point of general considerations such as the mere (supposedly ›spontaneous‹) nature of judgment, considerations that do not themselves already contain practical and especially controversial moral presumptions in any ›thick‹ Kantian sense.«24 Erst in der Kritik der praktischen Vernunft habe Kant mit seiner Lehre vom Faktum der Vernunft diesen Versuch – und damit eine anspruchs21

Zu Henrichs Interpretation und einem Alternativvorschlag vgl.: v. Vf., »Die Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion in der zweiten Auflage der ›Kritik der reinen Vernunft‹«, in Akten des 5. Internationalen Kant-Kongresses 1981, Bd I. 1, S. 302– 312, sowie Thöle (1991) S. 115–19 u. S. 271–93. 22 Henrich (1973) S. 94. 23 Ameriks (i. d. Band) S. 84ff. 24 Ameriks (i. d. Band) S. 85f.

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volle Vereinigung von theoretischer und praktischer Vernunft – aufgegeben.25 Ich will nicht bestreiten, daß Kant in der Kritik der praktischen Vernunft mehr oder weniger gravierende Modifikationen an seiner in der Grundlegung ausgeführten Position vorgenommen hat. Aber Ameriks’ Behauptung, daß Kant erst in der Kritik der praktischen Vernunft die Möglichkeit eines theoretischen Beweises der Freiheit ausgeschlossen habe, ist einfach deshalb falsch, weil es einen solchen theoretischen Beweis in der Grundlegung gar nicht gibt. Es wäre auch höchst verwunderlich, wenn dies so wäre. Schließlich war es das zentrale Anliegen der Kritik der reinen Vernunft, den Nachweis zu führen, daß eine theoretische Vernunfterkenntnis, die über die Grenzen möglicher Erfahrung hinausgeht, nicht möglich ist. Und folgerichtig erklärt Kant bereits in der Kritik der reinen Vernunft, daß es »nicht gelingen« könne, »die Wirklichkeit der Freiheit, als eines der Vermögen, welche die Ursache von Erscheinungen unserer Sinnenwelt enthalten«, darzutun , – ja er habe »auch gar nicht einmal die Möglichkeit der Freiheit beweisen wollen; denn dieses wäre auch nicht gelungen«. Lediglich, »daß Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite, das war das einzige, was wir leisten konnten« (A 557 f./B 585 f.). In Übereinstimmung mit diesen Bemerkungen weist Kant just an der Stelle der Grundlegung, an der nach Ameriks’ Ansicht der erste wichtige Schritt eines solchen theoretischen Beweises der Freiheit erfolgen soll, darauf hin, daß er sich »nicht verbindlich machen dürfte, die Freiheit auch in ihrer theoretischen Absicht zu beweisen« (AA IV, 448 Anm.). Und schließlich faßt Kant am Beginn des folgenden Unterabschnittes das Resultat des angeblichen Freiheitsbeweises so zusammen: »Wir haben den bestimmten Begriff der Sittlichkeit auf die Idee der Freiheit zuletzt zurückgeführt; diese aber konnten wir als etwas Wirkliches nicht einmal in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen; wir sahen nur, daß wir sie voraussetzen müssen, wenn wir uns ein Wesen als vernünftig und mit Bewußtsein seiner Kausalität in Ansehung der Handlungen, d. i. mit einem Willen, begabt uns denken wollen« (AA IV, 448 f.; meine Herv.).26 25

Ameriks (i. d. Band) S. 88f. In Kant’s Theory of Mind. Oxford 1982 (im folgenden Ameriks (1982)), S. 204–9, versucht Ameriks die Schwierigkeit, die sich aus dieser Stelle für seine Interpretation ergibt, dadurch zu umgehen, daß er behauptet, aus dem Bewußtsein des Urteilens ließe sich nur beweisen, daß wir über Freiheit im negativen Sinn (Unabhängigkeit von fremden bestimmenden Ursachen) verfügen, nicht aber auch schon über Freiheit im positiven Sinn (Autonomie). Dieses Manöver erscheint mir aus drei Gründen wenig plausibel: Erstens hat Kant den Übergang von negativer zu positiver Freiheit bereits 26

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Und auch nachdem die »Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen [sic!] Vernunft« (AA IV, 447) abgeschlossen ist,27 bleibt Kant dabei, daß die »Freiheit nur eine Idee der Vernunft [ist], deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist« (AA IV, 455). Denn daß der Mensch einen Willen besitzt, »der nichts auf seine Rechnung kommen läßt, was bloß zu seinen Begierden und Neigungen gehört«, ist eine bloße ›Anmaßung‹ (AA IV, 457). Die Freiheit »gilt nur als notwendige Voraussetzung der Vernunft in einem Wesen, das sich eines Willens [...] bewußt zu sein glaubt« (AA IV, 459; meine Herv.). Alles in allem erscheint es mir daher mehr als zweifelhaft, daß Kant in der Grundlegung versucht haben soll, einen theoretischen Beweis für die Freiheit zu liefern.

4. Wie bescheiden ist Kants Systemidee? Nach Ameriks ist Kants System in drei Hinsichten bescheiden: (a) Statt eine Widerlegung des radikalen Skeptikers zu versuchen, begnüge sich Kant damit, zwischen wissenschaftlicher und alltäglicher Erkenntnis zu vermitteln, indem deren strukturelle Gemeinsamkeiten auf die ihnen zugrunde liegenden philosophischen Prinzipien bezogen werden.28 (b) Kants Verfahren weise sowohl in der theoretischen wie (schließlich auch) im 1. Unterabschnitt vollzogen (vgl. AA IV, 446 f.). Zweitens schließt Kant in jenem Argument aus dem Bewußtsein des Urteilens (unter Rückgriff auf den im 1. Unterabschnitt bereits behaupteten Zusammenhang zwischen negativer und positiver Freiheit), daß in einem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, sich die Vernunft »als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen« müsse (AA IV, 448) – also als positiv frei. Drittens behauptet Ameriks, daß Kant jenen Schritt von der negativen zur positiven Freiheit dann im III. Unterabschnitt unter Rückgriff auf die Fähigkeit der Vernunft, Ideen hervorzubringen, begründe. Dies hat aber die für Ameriks’ Position mißliche Konsequenz, daß es sich nun nicht mehr um eine Deduktion aus dem Bewußtsein des Urteilens allein handelt – ja der Hinweis auf die Unabhängigkeit der Vernunft im Urteilen wird dadurch ganz überflüssig. Ameriks versucht daher, diesen neuen Gesichtspunkt herunterzuspielen (»it is only briefly characterized as the ›pure spontaneity‹ exhibited in our having ›ideas‹« (Ameriks (1982) S. 207)). Und so sieht sich Ameriks am Ende zu dem Zugeständnis gezwungen, daß Kant die Freiheit des Willens zwar »kategorisch« behaupte, ohne aber seine Gründe für diese Behauptung klar darzulegen (Ameriks (1982) S. 207). Statt Kants Text ein solches argumentatives Chaos anzulasten, wäre es sinnvoller, die ohnehin problematische Annahme aufzugeben, Kant habe einen theoretischen Beweis der Freiheit geben wollen. 27 Dies muß spätestens im IV. Unterabschnitt (AA IV, 454) geschehen sein, da Kant dort rückblickend von der Bestätigung der »Richtigkeit dieser Deduktion« spricht. 28 Ameriks (i. d. Band) S. 79f.

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in der praktischen Philosophie zwar eine »fundamentale Systematizität« in ihrer »transzendentalen Struktur« auf. Diese sei aber durch eine »bemerkenswerte Bescheidenheit« charakterisiert sei.29 (c) Kant habe, nachdem er das Scheitern seines theoretischen Freiheitsbeweises in der Grundlegung eingesehen habe, auf den Versuch verzichtet, die Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie durch Rückführung auf ein gemeinschaftliches Prinzip (das Urteilen) zu begründen und gelernt, mit einem »lockeren System« zu leben.30 Da ich auf den ersten Punkt bereits oben eingegangen bin, will ich mit einigen Bemerkungen zu den beiden übrigen Punkten schließen. Die »fundamentale Systematizität« der Kantischen Philosophie besteht nach Ameriks in ihrer »transzendentalen Struktur«, die durch drei Hauptschritte gekennzeichnet sein soll:31 in einem ersten Schritt gehe es um die Herausstellung einer allgemein akzeptierten Basis; in einem zweiten Schritt sollen mit Hilfe transzendentaler Argumente die Bedingungen a priori für die im ersten Schritt herausgestellten Fakten ermittelt werden. Schließlich bestimme Kant in einem dritten Schritt Umfang und Grenzen der auf solche Weise begründeten Erkenntnis a priori und versehe sie mit einer »metaphysischen Interpretation«. Nach Ameriks weist diese fundamentale Systematizität gleichwohl eine »bemerkenswerte Bescheidenheit« in allen drei Schritten auf: Erstens erhebe Kant nicht den Anspruch auf absolute Gewißheit der Basis; es handle sich vielmehr um »mere ›facts‹«.32 Zweitens beanspruchten die Ableitungen im zweiten Schritt keine absolute Notwendigkeit; vielmehr enthielten sie »many loose and unfinished steps«.33 Drittens schließlich sei Kants System insofern bescheiden, als die im dritten Schritt vollzogene Grenzbestimmung der Vernunfterkenntnis zu einer substantiellen Einschränkung unserer Erkenntnisansprüche führe. Letzteres kann kaum bestritten werden. Aber die beiden ersten Behauptungen, für die Ameriks keinerlei Belege liefert, stehen in einem auffallenden Kontrast zu den Darstellungen, die Kant selber von seinem Programm gibt. Es trifft zwar zu, daß die Anschauungsformen von Raum und Zeit und die Urteilsformen, wie Ameriks behauptet, nicht auf Grundlegenderes zurückgeführt werden;34 aber es ist doch eher zweifel29 30 31 32 33 34

Ameriks (i. d. Band) S. 81f. Ameriks (i. d. Band) S. 84f. Vgl. zum Folgenden Ameriks (i. d. Band) S. 81f. Ameriks (i. d. Band) S. 91. Ameriks (i. d. Band) S. 91. Vgl. Ameriks (i. d. Band) S. 82. Zumindest hinsichtlich der Urteilsformen ist

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haft, daß Kant sie deshalb als bloße »common sense notions«35 bezeichnet hätte. Nicht durch Befragung des »common sense«, sondern indem er »in der reinen Vernunft selbst forschte«, suchte Kant »in dieser Quelle selbst die Elemente sowohl als auch die Gesetze ihres reinen Gebrauchs nach Prinzipien zu bestimmen« (AA IV, 274). Ameriks’ Behauptung, Kant begnüge sich am Ende mit einem System, dessen Basis ›bloße Fakten‹ enthalte, mit denen keinerlei Anspruch auf Gewißheit verbunden sei, steht nicht nur im Widerspruch zu Kants Feststellung, daß die Kritik der reinen Vernunft »nichts als gegeben zum Grunde legt außer die Vernunft selbst und also, ohne sich auf irgend ein Faktum zu stützen, die Erkenntnis aus ihren ursprünglichen Keimen zu entwickeln sucht« (AA IV, 274, meine Herv.). Sie ist auch schwerlich mit Kants Behauptung vereinbar, daß die Kritik der reinen Vernunft »selbst das Beispiel aller apodiktischen [...] Gewißheit sein soll« (A XV, meine Herv.). Schließlich trägt sie auch nicht der Tatsache Rechnung, daß Kant sowohl von der Einheit der Apperzeption (A 113) wie vom Faktum der Vernunft (AA V, 47) behauptet, sie seien »apriori gewiß«. Was schließlich Ameriks’ Behauptung zum Status der transzendentalen Beweise betrifft, so ist von ›lockeren und unfertigen Schritten‹ bei Kant jedenfalls nicht die Rede – wohl aber davon, daß er »die Gesetze, welche a priori der Natur [...] zum Grunde liegen, mit ihren genugtuenden Beweisen versehen« habe (B XIX) und daß sie »einer völligen Gewißheit fähig sind« (A 162/B 201). Und schließlich sind die folgenden Äußerungen Kants vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie sicher eines nicht zum Ausdruck bringen: eine ›bemerkenswerte Bescheidenheit‹: »Was nun die Gewißheit betrifft, so habe ich mir selbst das Urteil gesprochen: daß es in dieser Art von Betrachtungen auf keine Weise erlaubt sei, zu meinen und daß alles, was darin einer Hypothese nur ähnlich sieht, verbotene Ware sei, die auch nicht für den geringsten Preis feil stehen darf, sondern sobald sie entdeckt wird, beschlagen werden muß. Denn [...] eine jede Erkenntnis, die a priori feststehen soll, [will...] für schlechthin notwendig gehalten werden, und eine Bestimmung aller reinen Erkenntnisse a priori [sc. die Kritik der reinen Vernunft] noch viel auch diese These bekanntlich umstritten (vgl. etwa die wichtige Studie von M. Wolff, Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel. Frankfurt a.M. 1995), aber in diesem Punkt stimme ich mit Ameriks überein (vgl. dazu Thöle, »Michael Wolff und die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel«, in Akten des 9. Internationalen Kant-Kongresses (i. Ersch.)). 35 Ameriks (i. d. Band) S. 82.

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mehr, die das Richtmaß, mithin selbst das Beispiel aller apodiktischen [...] Gewißheit sein soll.« (A XV) »[I]ch habe sie [sc. die Fragen der Vernunft] nach Prinzipien vollständig spezifiziert und, nachdem ich den Punkt des Mißverstandes der Vernunft mit ihr selbst entdeckt hatte, sie zu ihrer völligen Befriedigung aufgelöst.« (A XII f.) »[I]ch erkühne mich zu sagen, daß nicht eine einzige metaphysische Aufgabe sein müsse, die hier nicht aufgelöst, oder zu deren Auflösung nicht wenigstens der Schlüssel dargereicht worden.« (A XIII) Die Kritik muß »nach der strengsten Forderung systematisch [...] ausgeführt werden [...]; denn diese Forderung an sie, da sie sich anheischig macht, gänzlich a priori, mithin zu völliger Befriedigung der spekulativen Vernunft ihr Geschäft auszuführen, ist unnachläßlich« (B XXXVI). »Die Transzendental-Philosophie ist die Idee einer Wissenschaft, wozu die Kritik der reinen Vernunft den ganzen Plan architektonisch, d. i. aus Prinzipien, entwerfen soll, mit völliger Gewährleistung der Vollständigkeit und Sicherheit aller Stücke.« (A 13/B 27) Man mag ja dem Selbstvertrauen, das aus solchen Äußerungen spricht, skeptisch gegenüberstehen; aber man kann sie nicht – wie Ameriks36 – einfach als für die Philosophie seiner Zeit typische, bloße Übertreibungen abtun, wenn man verstehen will, wieso die Idee eines philosophischen Systems für Kant so große Bedeutung hatte. Ich komme damit zum letzten Punkt: der Frage nach der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft. Ich habe oben zu zeigen versucht, daß Ameriks’ These, Kant habe in der Grundlegung noch geglaubt, theoretische und praktische Vernunft auf ein gemeinsames Prinzip zurückführen zu können, nicht haltbar ist. Unser Dissens in diesem Punkt betrifft aber nur die Frage, seit wann Kant eine solche anspruchsvolle Vereinigung von theoretischer und praktischer Philosophie für unmöglich hielt. Wir sind uns einig, daß er sich spätestens mit der Kritik der praktischen Vernunft von einem solchen Programm verabschiedet hat. Aber ist damit auch klar, daß für Kant nach 1788 nur noch eine »lockere« Einheit zwischen theoretischer und praktischer Philosophie besteht? Es ist nicht leicht, diese Frage zu beantworten, da Ameriks sich nur sehr allgemein über den Charakter dieser lockeren Einheit äußert. Klar ist, daß sie zumindest insofern locker ist, als kein einheitliches Deduktionsprinzip angenommen wird, aus dem sowohl die theoretische wie die praktische Philosophie ableitbar wären. Weniger klar ist, in welchem 36

Ameriks (i. d. Band) S. 1 u. S. 80.

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Sinn nun überhaupt noch von einer Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft die Rede sein kann. Mitunter gewinnt der Leser den Eindruck, als bestehe jene Einheit lediglich darin, daß die legitimen Ansprüche von theoretischer und praktischer Vernunft einander nicht widersprechen. An einer Stelle scheint Ameriks aber mehr als bloße Konsistenz im Auge zu haben, wenn er behauptet, »that there is still a coherent way that theoretical reason and practical reason can support each other«.37 Aber es bleibt unklar, worin diese wechselseitige Stützung bestehen soll. Obwohl Ameriks zu Beginn seiner Ausführungen darauf verweist, daß diese Thematik in den Vorreden und Einleitungen der drei Kritiken behandelt wird, geht er überraschenderweise auf die für diese Frage in erster Linie einschlägigen Ausführungen in der Kritik der Urteilskraft, die Kant immerhin als das »Verbindungsmittel der zwei Teile der Philosophie zu einem Ganzen«38 bezeichnet hat, nirgends ein.39 So bleibt am Ende nicht nur unklar, wie locker Kants System eigentlich ist, sondern auch, für wie locker Ameriks es hält.

37

Ameriks (i. d. Band) S. 84 (meine Herv.). So die Überschrift des dritten Abschnittes der Einleitung (AA V, 176). 39 Völlig unverständlich ist mir, wie Ameriks seine These, daß Kant nirgends im Detail ausgearbeitet habe, wie die zwei Teile seines Systems (die theoretische und die praktische Philosophie) zusammenhängen, mit der folgenden Bemerkung glaubt stützen zu können : »The third Critique then makes matters only more complicated by providing not a mere unification in retrospect but rather a new threefold division of faculties: understanding, judgment, and reason« (Ameriks (i. d. Band) S. 75.). Wenn etwas in der Kritik der Urteilskraft neu ist, dann allenfalls die Idee, daß neben den beiden ersten Kritiken auch eine Kritik der Urteilskraft erforderlich ist; aber sicherlich nicht die Einteilung des oberen Erkenntnisvermögens in Verstand, Urteilskraft und Vernunft, die sich bereits in der Kritik der reinen Vernunft findet (vgl. etwa A 130/B 169). Ameriks’ Feststellung ist aber zudem insofern äußerst irreführend, als es Kant gerade in der Kritik der Urteilskraft um die »Verknüpfung der Gesetzgebungen des Verstandes und der Vernunft durch die Urteilskraft« geht (so die Überschrift zu Abschnitt IX der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft (AA V, 195)). 38

Eckart Förster Das All der Wesen

Das All der Wesen Gott und die Welt in einem System der Ideen der Transc. Phil. vorgestellt – so und ähnlich faßt Kant immer wieder das Ergebnis seiner Arbeit am Opus postumum in den Titelentwürfen des letzten Konvoluts zusammen, z. B. auf der zweiten Seite des fünften Bogens, die er mit der Bezeichnung »Titelblatt« kennzeichnete.1 Warum machen Gott und die Welt das All der Wesen aus? Warum bilden ihre Ideen das System der Transzendentalphilosophie? Und warum der Gedanke von diesem All, dem höchsten Standpunkt der Transzendentalphilosophie, wie andere Titelentwürfe ergänzen? Was hat dies noch gemein mit der Transzendentalphilosophie, die wir aus der Kritik der reinen Vernunft kennen? Einen versteckten Hinweis darauf, in welche Richtung der Interpret zu gehen hat, gibt Kant im siebten Konvolut: »Das Rechtsprinzip im categorischen Imperativ macht das All nothwendig als absolute Einheit.« (22:109) Daran ist allerdings vieles unklar, vor allem, was mit dem Rechtsprinzip im kategorischen Imperativ genau gemeint ist, und wie und warum ein solches Prinzip die Einheit von Gott und Welt notwendig machen sollte. Ich werde vorerst die Welt beiseite lassen und mich auf den Gottesbegriff und seine Beziehung zum kategorischen Imperativ konzentrieren. Da diese Beziehung im Opus postumum anders gefaßt ist als in den früheren Schriften, beginne ich mit einem kurzen Überblick über die Entwicklung der Gottesvorstellung im kantischen Denken. Wenige Bestandteile seiner Philosophie hat Kant einem so kontinuierlichen Wandel unterworfen wie die Gotteslehre. Was dieses Theoriestück angeht, so scheint er alle – oder fast alle – Deutungsmöglichkeiten erwogen und zeitweise vertreten zu haben.

1

Allerdings entspricht die Textanordnung, die Gerhard Lehmann in der Akademieausgabe von dieser Seite erstellte, in keiner Weise dem Original. So stehen z.B. die Titelentwürfe nicht allein und wie Überschriften am oberen Rand der Seite, sondern neben dem, was hier Seite 60.16–22 zum Abdruck kommt. Der Bogen V ist auch keine einfache Fortsetzung der Bögen I bis IV; während diese in der Schönschrift des Haupttextes abgefaßt sind, sieht der fünfte Bogen wie eine Notizensammlung aus. Die Bogenbezeichnung »V« ist später hinzugekommen. Auch auf anderen Bögen des ersten Konvoluts weicht Lehmanns Textgestaltung auf nicht nachvollziehbare Weise vom Original ab.

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Am Anfang stehen bekanntlich die Beweisversuche der theoretischen Vernunft: vom Existenzbeweis der Nova dilucidatio, der Gott quasi-spinozistisch als omnitudo realitatis faßte, zum modifizierten Beweis des Einzig möglichen Beweisgrunds, der der Einsicht Rechnung trug, daß in Gott keine real-kontradiktatorischen Attribute vereint gedacht werden können und das höchste Wesen deshalb nur als letzter Grund aller Möglichkeiten zu denken ist; zu der epochalen Einsicht der Kritik der reinen Vernunft, daß alle theoretischen Beweise für (oder gegen) die Existenz Gottes grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sind. Der theoretischen Vernunft ließ Kant 1781 nur noch die Vorstellung Gottes als regulatives Ideal eines aller Erfahrung zugrundeliegenden transzendentalen Substratums. Die Schwierigkeit für eine philosophische Gotteslehre bleibt dabei, daß sich von diesem obzwar »fehlerfreien Ideal« (A641)2 der spekulativen Vernunft die moralischen Qualitäten Gottes bzw. seine personale Natur überhaupt nicht verstehen lassen.3 Darum stellt Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft die moralische Theologie als letztes Ziel der Vernunftbemühungen hin (A814). Der Gottesbegriff wird damit eigentlicher Gegenstand der praktischen Vernunft. Im folgenden möchte ich die These vertreten, daß sich nach 1781 eine ähnliche Entwicklung in der Gottesvorstellung der praktischen Vernunft beobachten läßt, wie das vor 1781 für die theoretische Vernunft der Fall ist. Dazu muß ich zuerst kurz untersuchen, wie Kant den moralischen Gottesbegriff einführt. 1. Dafür müssen wir vom Kanon-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft ausgehen, in dem Kant den Begriff einer moralischen Welt diskutiert als einer möglichen Welt, die durch menschliche Freiheit hervorgebracht würde, wäre diese Freiheit den sittlichen Gesetzen gemäß. Eine solche Welt können wir uns denken, indem wir von allen Hindernissen der Sittlichkeit (Neigungen) abstrahieren. In einer solchen Welt, sagt Kant, wür2

Ich zitiere Kants Werke im Text nach der Akademieausgabe unter Angabe von Band- und Seitenzahl, die Kritik der reinen Vernunft nur unter Angabe der Seitenzahl der ersten Auflage (A). 3 Es gehört zu Kants fundamentalen Einsichten, daß sich der traditionelle Gottesbegriff aus ganz heterogenen Theoriestücken zusammensetzt, deren innere Einheit von einer philosophischen Theologie allererst einmal erwiesen werden muß. Den Nachweis einer solchen Einheit zu erbringen, ist daher ein zentrales Motiv seiner Überlegungen.

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den wir selbst Urheber unserer eigenen und zugleich anderer Glückseligkeit sein. Denn die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit ist »die durch sittliche Gesetze theils bewegte, theils restringirte Freiheit« (A809).4 Die proportionale Entsprechung von Tugend und Glückseligkeit ist deshalb hier auch »als notwendig zu denken«. Damit dürfte einerseits klar sein, daß ›Glückseligkeit‹ nicht im Sinne einer Maximierung bloßer Neigungsbefriedigung zu verstehen ist. Zum anderen ist festzuhalten, daß Glückseligkeit auch nicht schon im Bewußtsein der eigenen Tugend besteht, wie die Stoa es wollte. Die Idee von »der sich selbst lohnenden Moralität« ist vielmehr nur richtig unter der Bedingung, »daß jedermann thue, was er soll« (A810).5 Was genau gemeint ist, läßt sich anhand von Kant’s Reflexionen der 70er Jahre sowie seiner Ethikvorlesungen aus derselben Zeit näher erläutern. So heißt es z. B. in der Refl. 6907: »Die Glükseeligkeit ist zwiefach: entweder die, so eine Wirkung der freyen Willkühr vernünftiger Wesen an sich selbst ist, oder die nur eine Zufellige und äußerlich von der Natur abhängende Wirkung davon ist. Vernünftige Wesen können sich durch handlungen, welche auf sich und auf einander wechselseitig gerichtet sind, die Wahre Glükseeligkeit machen, die von allem in der Natur unabhängig ist. und die Natur kann ohne diese auch nicht die eigentliche Glükseeligkeit liefern« (19:202). Mit anderen Worten: die wahre, moralische Glückseligkeit folgt notwendig aus wechselseitiger Tugend. Sie ist von der Natur unabhängig; darum kann in der Beschreibung der moralischen Welt auch von Neigungen abstrahiert werden. Daneben gibt es die physische, von der Natur abhängige Glückseligkeit als Befriedigung meiner sinnlichen Neigungen. Da ich zugleich Sinnenwesen bin, suche ich auch sie unausbleiblich; aber sie selbst ist zufällig und ohne Moralität eigentlich keine wahre Glückseligkeit. Entscheidend ist, daß wir selbst Urheber einer solchen moralischen Welt und der damit gegebenen wechselseitigen Glückseligkeit sein können. Zur Realisierung einer solchen Welt wird Gott also nicht vorausgesetzt. Vielmehr kommt er in der Kritik der reinen Vernunft deshalb ins Spiel, weil nicht jederman tut, was er unter moralischem Gesichtspunkt tun soll. 4

Das moralische Gesetz schreibt nämlich vor, daß wir »das Weltbeste an uns und an anderen befördern« (A819), also uns die Glückseligkeit der anderen wechselseitig zur Pflicht machen. 5 Das übersieht M. Albrecht in ›Glückseligkeit aus Freiheit‹ und ›empirische Glückseligkeit‹, in: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses, 1974, Band II, 2, 563–67, bes. 564.

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Damit ist die Glückseligkeit des Einzelnen der Zufälligkeit anheim gestellt und steht in bloß kontingentem Verhältnis zur eigenen Sittlichkeit. Meine Hoffnung auf moralische Glückseligkeit kann ich somit begraben. Wie steht es aber mit der physischen Glückseligkeit? Auch damit sieht es nicht gut aus. Denn oft genug stehen moralische Forderung und eigene Neigungen im Widerspruch. Die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes, das kategorische ›Du sollst‹, ist davon aber unberührt. Folglich sieht sich die Vernunft genötigt, eine andere Verbindung zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit anzunehmen, als sie die Erfahrung anzeigt (bzw. nicht anzeigt). Denn es ist ja ›dieselbe‹ Vernunft, die einerseits das Sittengesetz aufstellt, die andererseits den unabweisbaren Auftrag hat, unter dem Namen der ›Klugheit‹ (A800, 806) meine physische Glückseligkeit zu befördern. Eine prinzipielle Unvereinbarkeit ihrer beiden grundsätzlichen Forderungen, von Sittlichkeit und Klugheit, müßte die Vernunft, wenn nicht zur Verzweiflung bringen, dann zumindest von der Sittlichkeit abhalten. Moralisch zu sein wäre unter solchen Umständen in höchstem Maße unklug. Genauso wesentlich wie die fundamentale Unterscheidung von Klugheit und Moral ist darum auch die Möglichkeit einer nicht-empirischen Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit. So schreibt Kant in der ersten Kritik: »Die Sittlichkeit an sich selbst macht ein System aus, aber nicht die Glückseligkeit, außer sofern sie der Moralität genau angemessen ausgetheilt ist. Dieses aber ist nur möglich in der intelligibelen Welt unter einem weisen Urheber und Regierer. Einem solchen sammt dem Leben in einer solchen Welt, die wir als eine künftige ansehen müssen, sieht sich die Vernunft genöthigt anzunehmen, oder die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der nothwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte […]. Ohne also einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichbare, aber gehoffte Welt sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft apriori bestimmt und nothwendig ist, erfüllen« (A81l–813, Hvh. v. Verf.). In den Ethikvorlesungen dieser Zeit illustriert Kant dies mit dem Beispiel eines allgemeinen Friedens. Ein solcher Frieden ist zwar »richtig in der Idee«, wie Kant sich ausdrückt, und wäre der Zustand allgemeiner Gerechtigkeit, die er auch voraussetzt, aber er ist bloß ideal, denn »die Mächte stimmen nicht sogleich überein« (27:137). Ähnliches gilt für die Moral bzw. die Glückseligkeit. Auch in den Vorlesungen betont Kant,

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daß die Glückseligkeit »weit ausgebreitet« (27:138) wäre, wenn alle Menschen dem Sittengesetz folgten: ja, dann könnte man selbst auf einer unbewohnten Insel im arktischen Eismeer wie im Paradies leben.6 Es folgen aber nicht alle Menschen dem Sittengesetz. Und die Tugend des Einzelnen ist zur Verwirklichung eines solchen Zustands so wenig hinreichend wie die gerechte Gesinnung eines Einzelnen für die Realisierung eines allgemeinen Friedens. Ohne Gott bliebe das Sittengesetz zwar ›richtig‹ und diente dadurch, daß es die Idee der vollkommenen Handlung vorstellig macht, zur besseren Unterscheidung verschiedener Handlungstypen (geschickt, pragmatisch, moralisch), aber es würde, da Glückseligkeit seine Befolgung nicht begleiten würde, nicht handlungsmotivierend sein: »keine moralitaet kann […] practisch seyn ohne Religion« (27:137).7 Drei Anmerkungen möchte ich hierzu machen. 1) Das Dasein Gottes wird auch in der Kritik der reinen Vernunft schon als ein Postulat bezeichnet, jedoch als Bedingung der Möglichkeit der Verbindlichkeit des Sittengesetzes. Ist ein Dasein »schlechthin notwendig« als Bedingung für etwas, das »dasein soll«, so wird dieses Dasein von der praktischen Vernunft postuliert. Entsprechend schreibt Kant dort: »Da es praktische Gesetze giebt, die schlechterhin notwendig sind (die moralische), so muß, wenn diese irgend ein Dasein als die Bedingung der Möglichkeit ihrer verbindenden Kraft notwendig voraussetzen, dieses Dasein postulirt werden« (A633–34, Hvh. v. Verf.). Dieses Dasein ist Gott. »Gott also und ein künftiges Leben sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Principien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen« (A811). 2) Die Glückseligkeit, die Gott der Kritik der reinen Vernunft zufolge einem sittlichen Lebenswandel entsprechend erteilt, ist in einer ›künftigen Welt‹, in einem ›künftigen Leben‹ angesiedelt. Sie folgt ja gerade 6 Vgl. Eine Vorlesung Kants über Ethik, hg. von Paul Menzer, Berlin 1924, 66: »[W]enn nur alle Menschen zusammen einstimmig wollten ihre Glückseligkeit befördern, so könnte man in Nowaja Semlja [d.h. einer Insel im nördlichen Eismeer! vgl. 9:435] ein Paradies machen. Gott setzt uns in den Schauplatz, wo wir einander können glücklich machen, es beruht nur auf uns.« 7 »[I]n unsern moralischen Gesezzen würde lauter Idealitaet seyn und keine Realitaet, wenn nicht ein Wesen da wäre, welches nach diesen moralischen Gesezzen regieren würde […]. Wäre dieses nicht, so wäre auch in der Belohnung unsers Wohlverhaltens lauter Idee und keine Realitaet, weil es keine Vollziehung derselben geben würde. Um also der moral Realitaet zu verschaffen, müßen wir ein Wesen annehmen, welches zur Richtschnur seines Willens die moralischen Gesezze hat, und welches uns, wenn wir uns der Glückseeligkeit würdig gemacht haben, derselben auch wirklich theilhaftig machen wird« (27:137).

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nicht »aus der Natur der Dinge der Welt« (A810). Vielmehr erhofft sich der Rechtschaffende, wie Kant in den Ethikvorlesungen erläutert, eine künftige Glückseligkeit, jenseits »dieses elende[n] Leben[s] […] nach der Analogie der physischen Welt« (27:285; Ethik Menzer, 64 f.). Dann ist es aber auch alles andere als zwingend, daß Gott auch »als Ursache der Natur« zum Grunde gelegt werden muß. Um Glückseligkeit in einem künftigen Leben bzw. einer intelligiblen Welt auszuteilen, muß Gott nicht einmal kausalen Einfluß auf diese Welt haben bzw. ausüben. 3) Diese in den Vorlesungen und in der Kritik der reinen Vernunft vertretene Position hat Kant schon bald nach 1781 aufgegeben. Wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe,8 waren es vor allem Einwände, die Christian Garve in seiner Rezension der Kritik an der Lehre des Kanon-Kapitels formulierte, die Kant zu der Einsicht führten, daß in der Vorstellung von Gott als Triebfeder noch Reste von Heteronomie im Spiel sind. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) hat Kant den Gottesbegriff von der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes abgekoppelt und diese ganz aus dem Gefühl der Achtung für das moralische Gesetz erklärt. Die Vernunft als Autonomie unterwirft sich dem Sittengesetz, wie Kant jetzt ausdrücklich betont, »ohne irgend eine Triebfeder und Interesse derselben als Grund unterzulegen« (4:444). Damit muß aber auch das mit dem Gesetz »unzertrennlich« (A809) verbundene ultimative Handlungsziel, das höchste Gut, in dieses Leben, in diese Welt, verlegt werden. Dieser zweite Schritt ist explizit vollzogen in dem Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientiren?, der zugleich Kants Rezeption des Spinozastreits zwischen Jacobi und Mendelssohn darstellt. Es ist unschwer zu sehen, daß sich Kants Postulatenlehre in ihrer klassischen Form gerade in dieser Auseinandersetzung mit dem Spinozastreit entwickelt bzw. präzisiert hat. Ausgehend von Mendelssohns wiederholter Bemerkung,9 daß, wenn er sich mit den Glaubensspekulationen Jacobis konfrontiert sieht, er das Bedürfnis verspüre, sich neu zu orientieren, führt Kant eine grundsätzliche Überlegung zum Orientierungsbegriff sowie dem Begriff eines Vernunftbedürfnisses durch. Sowenig wir uns z. B. im empirischen Raum ohne einen subjektiven Unterscheidungsgrund (nämlich unser körperli8

Vgl. Eckart Förster, Was darf ich hoffen?, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 46 (1992), 168–185. 9 Vgl. Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, Berlin 1785, 164 f., und ders., An die Freunde Lessings, Berlin 1786, 33 und 67.

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ches Lagegefühl) orientieren könnten, genauso wenig können wir uns im Feld des Übersinnlichen orientieren, ohne das subjektive Bedürfnis der Vernunft, zum Bedingten etwas Unbedingtes zu suchen, zu Grunde zu legen. Die theoretische Vernunft kennt allerdings nur ein hypothetisches Vernunftbedürfnis: wenn wir über die ersten Ursachen alles Zufälligen urteilen wollen, so werden wir auf die Annahme eines unbedingten Wesens geführt, wie die Kritik der reinen Vernunft gezeigt hatte. Ein solcher Vernunftgebrauch bleibt aber immer ein ›zufälliger‹ bzw. regulativer. Anders ist es mit der praktischen Vernunft: da sie hinsichtlich der zu tuenden Handlungen urteilen muß, zugleich hinsichtlich des möglichen Erfolgs des zu Tuenden nicht gleichgültig sein kann, so hat sie ein unaufgebbares Bedürfnis, die Möglichkeit ihres Erfolgs einzusehen. Damit haben wir eine neue Phase von Kants Moraltheologie erreicht. Das höchste Gut ist jetzt das dem praktisch Bedingten entsprechende Unbedingte, oder die Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft. Statt der Frage nach der hinreichenden Motivation bzw. Triebfeder stellt sich damit nun die Frage nach der objektiven Realität eines solchen Begriffs. Damit einem Begriff objektive Realität attestiert werden kann, muß die reale Möglichkeit seines Gegenstands dargetan werden (vgl. Bxxvi Anm., A596, etc.); im Falle des höchsten Guts muß die reale Möglichkeit einer wirklichen Entsprechung von Tugend und Glückseligkeit in dieser Welt gezeigt werden. Da die Naturgesetze eine solche Proportionalität nicht implizieren, die Realisierung des höchsten Guts in der Welt aber von der praktischen Vernunft unabdingbar gefordert wird, muß ein moralischer Weltenherrscher angenommen werden, dessen Dasein folglich postuliert wird: ein praktisches »Fürwahrhalten«, das, wie Kant sagt, »dem Grade nach keinem Wissen nachsteht« (8:141;): »Denn der reine praktische Gebrauch der Vernunft besteht in der Vorschrift der moralischen Gesetze. Sie führen aber alle auf die Idee des höchsten Gutes, was in der Welt möglich ist, so fern es allein durch Freiheit möglich ist: die Sittlichkeit; von der anderen Seite auch auf das, was nicht bloß auf menschliche Freiheit ankommt, sondern auch auf die Natur ankommt, nämlich auf die größte Glückseligkeit, so fern sie in Proportion der ersten ausgetheilt ist« (8:139, Hvh. v. Verf.). Die hier erstmals vorgestellte Position wird dann zwei Jahre später in der Kritik der praktischen Vernunft vertieft und die Postulatenlehre in ihrer klassischen Form präsentiert.10 Ein Postulat der praktischen Vernunft, so 10

Daß sich die neue Postulatenlehre aus der Konfrontation mit dem Spinozastreit und besonders der Auseinandersetzung mit Mendelssohns Orientierungsbegriff ent-

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Kant jetzt, ist ein theoretischer Satz, der gleichwohl kein Objekt konstituiert und folglich keine Erkenntnis begründet. Er drückt vielmehr eine »subjektive, aber doch wahre und unbedingte Vernunftnotwendigkeit« aus, einen theoretisch nicht erweislichen Satz, der »einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetz unzertrennlich anhängt« (5:122). Es benennt das Dasein einer für die Ausführbarkeit von Handlungen notwendige Bedingung: praktische Realität und Ausführbarkeit sind für Kant folglich Wechselbegriffe (vgl. 5:457). Wenn ich weiß, daß ich kann, weil ich soll, muß ich auch wissen können, obwohl nur in praktischer Hinsicht, daß das, was durch Pflicht gefordert ist, möglich ist. Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß der Begriff der ›Glückseligkeit‹ im höchsten Gut ebenfalls eine Bedeutungsverschiebung erfährt. Da ich das höchste Gut in dieser Welt zu befördern die Pflicht habe, dabei auf die Tugendhaftigkeit der anderen nicht rechnen kann, muß auch die Glückseligkeit, auf die ich als ihrer Würdiger dennoch hoffen kann, nicht als moralische Glückseligkeit, sondern als empirische Glückseligkeit interpretiert werden. Die Glückseligkeit in der Kritik der praktischen Vernunft ist durchgängig empirisch gefaßt.11 Sie beruht jetzt »auf der Übereinstimmung der Natur zu [meinem] ganzen Zweck« (5:124). Unsere von sinnlichen Gegenständen abhängende Natur ist damit das eigentliche Hindernis der Glückseligkeit, nicht die mangelnde Moralität der anderen. Damit ist aber auch die These der Kritik der reinen Vernunft, daß wir selbst wechselseitig Urheber unserer eigenen Glückseligkeit sein könnten, zurückgenommen. Erst jetzt kann die Antinomie der praktischen Vernunft entstehen!12 Die neue Notwendigkeit, das Dasein Gottes zu postulieren, ist damit eigentlich eine zweifache: einerseits muß es die einzige Möglichkeit auswickelt hat, wird auch nahegelegt durch Kants Antwort auf die Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften: Welches sind die wirklichen Fortschritte, welche die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat?, wo die Postulatenlehre explizit mit der Orientierung im Übersinnlichen in Verbindung gebracht wird, zu welcher die »Philosophen« durch die »gemeine Menschenvernunft«, in deren Namen Mendelssohn aufgetreten war, »genöthigt« wurde (23:301). 11 So auch Michael Albrecht, Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim/New York 1978, 51. 12 Bezeichnenderweise kennt Kant in der ersten Kritik gar keine Dialektik der praktischen Vernunft und kann ihr deshalb einen Kanon zubilligen (A796–7); in der Grund1egung dagegen, durch Garves Rezension der Kritik eines Besseren belehrt, räumt er eine natürliche Dialektik »wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln« (4:405) ein, in der zweiten Kritik schließlich, wegen der Bedeutungsverschiebung im Begriff der ›Glückseligkeit‹, muß die praktische Vernunft sich gegen eine eigene Antinomie zur Wehr setzen.

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drücken, die Natur so zu denken, daß diese die Realisierung meiner moralischen Absichten nicht vereitelt, zum zweiten muß es die einzige Möglichkeit darstellen, eine genaue Proportionalität von Tugend und Glückseligkeit in dieser Welt zu erhoffen. Diesem Postulat liegt also der Gedanke zugrunde, daß ich meine eigene Glückseligkeit nicht in meiner Gewalt habe, weil ich keinen durchgängigen Einfluß auf die Gegenstände meiner Neigungen habe. Selbst wenn ich ganz tugendhaft wäre, wäre ich nur eines »Analogon[s] der Glückseligkeit« (5:117) fähig, das Kant Selbstzufriedenheit nennt. Es bedeutet nur ein negatives Wohlgefallen an meiner Existenz, weil ich mir bewußt bin, in der Bestimmung meines Willens von meinen Neigungen unabhängig zu sein. Die daraus resultierende unveränderliche Zufriedenheit kann, sagt Kant, da sie auf keinem besonderen Gefühl beruht, nur intellektuell heißen. Sie ist, könnte man hinzufügen, der ästhetischen Interesselosigkeit verwandt, der die Existenz des schönen Gegenstandes gleichgültig ist. Neigungen, und damit Glückseligkeit, kennen diese Interessenlosigkeit nicht; sie haben ein wesentliches Interesse an der Existenz ihres Gegenstands. Das höchste Gut ist also nur möglich, insofern »eine oberste Ursache der Natur angenommen wird, die eine der moralische Gesinnung gemäße Causalität hat« (5:125). Daraus folgt allerdings noch immer nicht, daß Gott auch Urheber der Welt sein muß, sondern nur, daß er jetzt und in Zukunft auf sie Einfluß haben können muß, und daß er die moralischen Gesinnungen des Menschen kennen muß. Der Gott der Kritik der praktischen Vernunft muß also selbst summum bonum und summa intelligentia sein, aber daß er auch ens summum ist, folgt aus dem moralischen Argument bisher noch nicht. Genau diese Ergänzung liefert aber die Kritik der Urteilskraft, indem sie das höchste Gut zugleich als den Endzweck der Schöpfung zu interpretieren erlaubt (5:443). Unter der Voraussetzung der Autonomie der reflektierenden Urteilskraft wir es nämlich nun a priori zwingend, die Natur selbst als ein zweckmäßiges Ganzes zu denken und die Realisierung des höchsten Guts in Zusammenhang zu setzen mit dem Plan, der der ganzen Schöpfung zugrunde liegt. Aus diesem so bestimmten Prinzip ergibt sich allererst die Notwendigkeit, das Urwesen nicht nur »als Intelligenz und gesetzgebend für die Natur, sondern auch als gesetzgebendes Oberhaupt im einem moralischen Reiche der Zwecke« zu denken und die traditionellen göttlichen Prädikate (nach den Kategorien): allwissend, allmächtig, allgütig/gerecht, ewig/allgegenwärtig in dem Begriff des einen Gottes zu vereinen. Mit gutem Grund führt Kant jetzt an: »Auf solche Weise ergänzt die moralische Teleologie den Mangel der physischen und gründet allererst eine Theologie« (5:444).

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Damit ist das erreicht, was gewöhnlich als der Höhepunkt oder das Ergebnis der Ethikotheologie Kants bezeichnet wird. Zugleich dürfte aber auch deutlich geworden sein, daß Kant dabei nicht stehen bleiben konnte. (Damit komme ich zur dritten Phase von Kants Ethikotheologie.) Endzweck der Schöpfung kann natürlich nicht das moralische Individuum und seine individuelle Glückseligkeit sein, sondern nur die Menschheit als sittliche. In seinen bisherigen Schriften hatte Kant die Thematik aus der Sicht des Einzelnen, des individuellen Handelnden aufgerollt: Da nicht alle das tun, was zur Realisierung einer moralischen Welt bzw. zum höchsten Gut erforderlich ist, hatte er sich darauf konzentriert, wie dem Begriff einer dem sittlichen Handeln proportionalen Glückseligkeit dennoch objektive Realität zukommen könne. Die naheliegende Frage, was getan werden solle, damit eine moralische Welt, eine ethische Gemeinschaft entstehe, wurde bisher überhaupt nicht erörtert.13 Das ändert sich auf frappierende Weise mit der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793). Dort ist zum ersten Mal die Rede von der Pflicht des menschlichen Geschlechts zur »Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts« (6:97, Hvh. v. Verf.). Denn die Realisierung des Endzwecks ist solange unmöglich, argumentiert Kant nun, als der Mensch sich im ethischen Naturzustand befindet, d. h. in einem Zustand der unaufhörlichen wechselseitigen Befehdung des Tugendprinzips.14 So wie im Hobbesschen Naturzustand alle Menschen in status belli omnium in omnes sind (wie Kant Hobbes korrigiert, vgl. 6:97), so sind die Menschen im ethischen Naturzustand einer bleibenden Anfechtung ihrer sittlichen Gesinnung ausgesetzt. In einem solchen Zustand ist also auch der Tugendhafte, egal wie sehr er sich dem Sittengesetz verschrieben hat, allein dadurch, daß er unter Menschen ist. Damit steht er nämlich in einem Gefüge von Neid, Habsucht, Herrschsucht usw. und ist der dauernden Versuchung zur Übertretung des Gesetzes ausgesetzt: »es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen« (6:94). Aus diesem ethischen Naturzustand kann der Mensch sich nach Kant nur erheben, wenn es gelingt, eine Gesellschaft nach Tugendgesetzen zu 13

Vgl. auch Pauline Kleingeld, Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg 1995, 147. 14 Vgl. hierzu auch Hans Michael Baumgartner, Gott und das ethische gemeine Wesen in Kants Religionsschrift. Eine spezielle Form des ethiko-theologischen Gottesbeweises?, in: Kant in der Diskussion der Moderne, hrsg. von Gerhard Schönrich und Yasushi Katô, Frankfurt 1996, 408–24.

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errichten, eben ein ethisches gemeines Wesen oder moralisches Volk Gottes. Dieses setzt ein politisches Gemeinwesen zu seiner Realisierung zwar voraus, es hat aber ein ganz anderes und eigenes ›Vereinigungsprinzip‹, nämlich Tugend, und daher auch eine vom Zivilstaat unterschiedene Form und Verfassung. Da es auf Tugendpflichten errichtet sein muß, ist es außerdem notwendig nicht nur auf eine Menge von Menschen, sondern auf das »Ideal eines Ganzen aller Menschen« (6:96) bezogen – eine tatsächliche politische Gesellschaft kann deshalb immer nur als Schema des ethischen Gemeinwesens angesehen werden. Auch hierzu einige Anmerkungen: 1) Da die Beförderung des höchsten Guts Pflicht ist, so ist auch der Austritt aus dem ethischen Naturzustand und die Bildung einer »allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen« Pflicht, und zwar eine Pflicht besonderer Art, nämlich nicht die eines einzelnen Menschen gegen einen anderen, sondern »des Menschengeschlechts gegen sich selbst«, denn das höchste Gut auf Erden, so Kant jetzt, kann »allein« im ethischen Gemeinwesen realisiert werden (6:97 f.). 2) Die Menschen selbst sind aber allein nicht in der Lage, ein ethisches Gemeinwesen zu schaffen: sie können die Form desselben in seiner Reinheit vorstellen, die Mittel zu seiner Realisierung sind aber unter den Bedingungen der sinnlichen Natur des Menschen zu sehr eingeschränkt: die »für sich unzulänglichen Kräfte der Einzelnen« (6:98) müssen durch göttlichen Beistand ergänzt werden: »Ein moralisches Volk Gottes zu stiften, ist also ein Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet werden kann« (6:100). Warum? Darauf werde ich gleich zurückkommen. 3) Damit haben wir eine erneute, wichtige Erweiterung des Postulats der Existenz Gottes zur Kenntnis zu nehmen: »Weil der Mensch die mit der reinen moralischen Gesinnung unzertrennlich verbundene Idee des höchsten Guts (nicht allein von Seiten der dazu gehörigen Glückseligkeit, sondern auch der nothwendigen Vereinigung der Menschen zu dem ganzen Zweck) nicht selbst realisiren kann, gleichwohl aber darauf hinzuwirken in sich Pflicht antrifft, so findet er sich zum Glauben an die Mitwirkung oder Veranstaltung eines moralischen Weltherrschers hingezogen, wodurch dieser Zweck allein möglich ist, und nun eröffnet sich vor ihm der Abgrund eines Geheimnisses von dem, was Gott hiebei thue, ob ihm überhaupt etwas und was ihm (Gott) besonders zuzuschreiben sei indessen daß der Mensch an jeder Pflicht nichts anders erkennt, als was er selbst zu thun habe, um jener ihm

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unbekannten, wenigstens unbegreiflichen Ergänzung würdig zu sein« (6:139). Damit ergibt sich eine neue Schwierigkeit. Man kann sich ein Volk Gottes unter statutatorischen Gesetzen denken, also eine sichtbare Kirche, die sich aus Offenbarungsglauben zusammenschließt. Das ist aber nicht das als Pflicht gebotene ethische Gemeinwesen, da ihm nur Legalität zukommt. Die ethische Vereinigung der Menschen ist eine, deren Gesetzgebung »bloß innerlich« (6:100) sein kann. Zu ihrer Realisierung werden folglich nicht nur freie, autonome Wesen vorausgesetzt, sondern sie müssen zur inneren »Eintracht« kommen und den Austritt aus dem ethischen Naturzustand aufgrund geänderter Gesinnungen ausführen (vgl. 6:105). Ich glaube, daß Kant diesen wirklichen Abgrund eines Geheimnisses vor Augen hat, wenn er im Opus postumum wiederholt betont, daß selbst Gott keinen moralisch guten oder bösen Menschen machen könnte – man kann es nur selbst tun. »Daß der Mensch recht handle«, schreibt er dort, »kann zwar von Gott geboten aber von ihm nicht gemacht oder gezwungen werden und er dazu bestimmt werden« (21:57). Und an anderer Stelle notiert er: »Es ist selbst nicht in göttlicher Macht einen moralisch-guten Menschen (ihn moralisch gut) zu machen: er muß es selbst tun« (21:83, vgl. auch 66). Dann wäre aber auch der Gedanke einer Realisierung des ethischen Staates durch Gott nicht nur unbegreiflich, sondern widersprüchlich. Zugleich bleibt seine Realisierung Pflicht, da nur im ethischen Gemeinwesen das höchste Gut verwirklicht werden kann. Und vielleicht kamen Kant schon bei der Abfassung der Vorrede zur Religionsschrift, die ja erst nach Vollendung ihres vierten Teils geschrieben wurde, Zweifel gerade an der philosophischen Relevanz eines solchen angeblichen Geheimnisses. So kommentiert er den eigenen Satz, daß sich die Moral zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, mit der Frage: wie ist aber ein solcher Satz a priori möglich? Und er erwidert: »Den Schlüssel zur Auflösung dieser Aufgabe, soviel ich davon einzusehen glaube, kann ich hier nur anzeigen, ohne sie auszuführen« (6:6 Anm.). Die Anmerkung erwähnt das ethische Gemeinwesen nicht explizit, nennt aber das, was Kant als den eigentlichen Grund angeführt hatte, warum das ethische Gemeinwesen ohne Gottes Hilfe nicht zustande kommt: die »Natureigenschaft« des Menschen, sich zu allen Handlungen einen Zweck denken zu wollen,15 15

Der Grund, warum ein ethisches Gemeinwesen nicht durch Menschen selbst möglich sein soll, ist die »besondere Schwäche der menschlichen Natur«, daß sie sich nicht überzeugen kann, »daß die standhafte Beflissenheit zu einem moralisch-guten Lebenswandel alles sei, was Gott vom Menschen fordert, um ihm wohlgefällige

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und schließt mit dem Konditionalsatz: »Wenn nun aber die strengste Beobachtung der moralischen Gesetze als Ursache der Herbeiführung des höchsten Guts (als Zweck) gedacht werden soll: so muß, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dies geschieht, d. i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion« (6:7–8 Anm.). Ist mit diesem Konditionalsatz eine Zurücknahme des bisherigen Beweisziels verbunden? Zumindest scheinen andere Denkmöglichkeiten des Verhältnisses von Moralität und Glückseligkeit nicht mehr kategorisch ausgeschlossen zu sein. Tatsache jedenfalls ist, daß wir im Zuge der kantischen Moraltheologie bisher mindestens vier verschiedene Argumente dafür, das Dasein Gottes zu postulieren, bekommen haben – was die für ein praktisches Postulat geforderte Notwendigkeit der Voraussetzung zum Handeln zumindest fraglich werden läßt. Diese sind: 1) Gott als Triebfeder; 2) Gott als Austeiler individueller, der Tugend proportionaler Glückseligkeit; 3) Gott als Garant der Übereinstimmung von Natur und Sittengesetz; 4) Gott als Stifter des ethischen Gemeinwesens. Das erste Postulat hat Kant, wie wir gesehen haben, schon 1785 zurückgenommen. Am vierten sind uns gerade prinzipielle Zweifel entstanden. Das dritte wird durch die Selbstsetzungslehre des Opus postumum unterlaufen, wie wir im letzten Teil sehen werden. Damit bleibt das Postulat Gottes als »Austeiler« (5:128) einer der Würdigkeit proportionalen Glückseligkeit. Auch an der praktischen Denknotwendigkeit dieses Postulats müssen aber jetzt Zweifel entstehen, wenn wir zur Kenntnis Unterthanen in seinem Reiche zu sein. Sie können sich ihre Verpflichtung nicht wohl anders, als zu irgend einem Dienst denken, den sie Gott zu leisten haben« (6:103). Durch diesen Hang zu einer gottesdienstlichen Religion »geschieht es nun, daß Menschen die Vereinigung zu einer Kirche und die Einigung in Ansehung der ihr zu gebenden Form […] niemals für an sich nothwendig halten werden« (6:106). Auch hieran sieht man m. E., daß eine Realisierung des ethischen Gemeinwesens durch Gott einer von außen bewirkten Gesinnungsänderung gleichkommen müßte. In der Vorrede sagt Kant allerdings schon: »Alle Menschen könnten hieran [am Sittengesetz] genug haben wenn sie (wie sie sollten) sich bloß an die Vorschrift der reinen Vernunft im Gesetze hielten.« Denn Sollen impliziert bekanntlich Können. Statt dessen sehen sie sich nach einem »Erfolg« um, den sie »lieben« können. Vgl. hiermit 6:108: »Der gemeine Mann« braucht jederzeit »seinen Kirchenglauben, der ihm in die Sinne fällt, anstatt daß Religion innerlich verborgen ist und auf moralische Gesinnung ankommt.«

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nehmen, daß Kant in der Religionsschrift das höchste Gut als Endzweck der Schöpfung mit dem ethischen Gemeinwesen als einem System wohlgesinnter Menschen identifiziert16 und konsequent wieder zu einem moralischen Begriff von Glückseligkeit zurückkehrt, der nun auch explizit von einer bloß physischen Glückseligkeit (»Befreiung von Übeln und Genuß immer wachsender Vergnügen« (6:67)) abgegrenzt wird. Diese »moralische Glückseligkeit« besteht vielmehr im Bewußtsein der »Beharrlichkeit einer im Guten immer fortrückenden […] Gesinnung« (6:67, vgl. 6:75); als solche ist sie auch prinzipiell vom Subjekt selbst erreichbar. Nun ist in der Fußnote der Vorrede zur Religionsschrift dem synthetischen Satz, der das Dasein Gottes »außer dem Menschen« behauptet, noch ein analytischer Satz gegenübergestellt. Kant beschreibt ihn folgendermaßen: »Das Zusammenstimmen mit der bloßen Idee eines moralischen Gesetzgebers aller Menschen ist zwar mit dem moralischen Begriffe von Pflicht überhaupt identisch, und sofern wäre der Satz, der diese Zusammenstimmung gebietet, analytisch« (6:6, Hvh. v. Verf.). Damit knüpft Kant an eine Überlegung an, die sich ebenfalls im dritten Stück der Religionsschrift befindet (vgl. 6:98–100) und die einen ganz neuen, von der Postulatenlehre unabhängigen Gottesgedanken einführt. (Man könnte ihn als die vierte Stufe von Kants Ethikotheologie bezeichnen.) Er läßt sich kurz so zusammenfassen: Ein ethisches Gemeinwesen ist ein Zusammenschluß aller Menschen unter öffentlichen Gesetzen, die als Gebote eines gemeinschaftlichen Gesetzgebers müssen gelten können. Da diese Gesetzgebung eine ethische sein soll – es also im Gegensatz zur juridischen nicht auf die Legalität von Handlungen, sondern auf die Gesinnung, der die Handlungen entspringen, ankommt – kann das Volk als solches bzw. dessen gemeinschaftlicher Wille nicht selbst für gesetzgebend angesehen werden. Anders als die Legalität von Handlungen sind Gesinnungen als Innere anderen Menschen – und manchmal dem Subjekt der Handlungen selbst – nicht zugänglich. Wir können Andere also sittlich nicht beurteilen. Folglich muß ein Anderer als das Volk selbst für ein ethisches gemeines Wesen gesetzgebend sein. Allerdings dürfen die Gesetze auch nicht als bloß statutarische von dem Willen dieses Anderen ausgehend gedacht werden, weil sie sonst nicht ethische Gesetze und die ihnen entsprechende Pflicht nicht freie Tugend wären. »Also«, schließt Kant zu recht, »kann nur ein 16

Vgl. auch J. Bohatec, Die Religionsphilosophie Kants in der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, Hamburg 1938 (Neudruck Hildesheim 1966), 484–87.

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solcher als oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens gedacht werden, in Ansehung dessen alle wahren Pflichten, mithin auch die ethischen, zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen: welcher daher auch ein Herzenskündiger sein muß, um auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muß, jedem, was seine Thaten werth sind, zukommen zu lassen. Dieses ist aber der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher. Also ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Geboten, d. i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Tugendgesetzen, zu denken möglich« (6:99). Dieser Gottesbegriff ist also analytisch mit dem Pflichtbegriff bzw. dem kategorischen Imperativ, sofern er als ›Vereinigungsprinzip‹ freier Vernunftwesen gedacht ist, verbunden. Als solcher ist er, worauf Kant ausdrücklich hinweist, in einer dreifachen Qualität zu denken, nämlich als allmächtiger und heiliger Gesetzgeber, als gütiger Regierer und Erhalter des menschlichen Geschlechts, und als Verwalter seiner eigenen Gesetze, d. h. als gerechter Richter. Die Idee eines solchen moralischen Weltherrschers, in dem Legislative, Jurisdiktion und Exekutive vereint sind, »liegt in dem Begriffe eines Volks als eines gemeinen Wesens, worin eine solche dreifache obere Gewalt (pouvoir) jederzeit gedacht werden muß, nur daß dieses hier als ethisch vorgestellt wird, daher diese dreifache Qualität des moralischen Oberhaupts des menschlichen Geschlechts in einem und demselben Wesen vereinigt gedacht werden kann, die in einem juridischbürgerlichen Staate nothwendig unter drei verschiedenen Subjecten vertheilt sein müßte« (6:140). Und der Glaube an ein solches Wesen, so fügt Kant hier ausdrücklich hinzu, »enthält eigentlich kein Geheimniß, weil er lediglich das moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte ausdrückt; auch bietet er sich aller menschlichen Vernunft von selbst dar und wird daher in der Religion der meisten gesitteten Völker angetroffen.« Damit kann ich abschließend zu Kants Opus postumum übergehen. 2. Im Opus postumum findet sich an systematischer Stelle nur noch der analytisch gewonnene Gottesbegriff aus der Religionsschrift, als rechtliches Oberhaupt eines ethischen Gemeinwesens. Um das zu verstehen, müssen wir kurz den Zusammenhang erörtern, in dem der Gottesbegriff hier auftritt, nämlich die Selbstsetzungslehre. Dabei muß ich natürlich aus Platzgründen alles das, was innerhalb des Opus postumum zur Selbstsetzungs-

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lehre geführt hat, beiseite lassen und mich auch bei dieser Lehre selbst auf das Wesentlichste beschränken. Ausgangspunkt ist das logische Selbstbewußtsein ›Ich bin‹ oder ›Ich bin ich‹ mit seinem unergründlichen Imperativ: nosce te ipsum (vgl. 22:22). Das in diesem Selbstbewußtsein bloß gedachte Ich muß deshalb zur Erkenntnis bestimmt, oder, wie Kant sich oft ausdrückt, das cogitabile muß dabile werden. Der Sinn der Selbstsetzungslehre besteht genau darin, zu erläutern, wie dies zu denken ist. Impliziert ist dabei die Bestimmbarkeit des Ich, da der Gedanke von sich als solcher keinen Inhalt hat und ohne Synthesis von in einer Anschauung Gegebenem gar nicht statthaben könnte. Bis zu den Axiomen der Anschauung kann Kant deshalb auf das in der ersten Kritik Gesagte zurückgreifen. Erst mit den Antizipationen der Wahrnehmung sind wir auf dem eigentlichen Boden des Nachlaßwerks. Damit etwas Wahrnehmung sein kann, müssen Erscheinungen nicht nur bewußt sein (vgl. A 120), sondern als Wirkungen bewegender Kräfte des wahrgenommenen Gegenstands auf das Subjekt gedacht werden können. Antizipation der Wahrnehmung ist Antizipation bewegender, das Subjekt affizierender Kräfte. Kräfte kann ich aber nur als Gegenkräfte erfahren, im Widerspiel, d. h. ich kann nur die Kräfte erfahren, die ich selbst vorher in die Erscheinungen ›gelegt‹ habe und die ich zur Wechselwirkung anrege: »Wir würden nämlich kein Bewußtsein von einem harten oder weichen, warmen oder kalten [usw]. Körper als einem solchen haben wenn wir nicht vorher uns den Begriff von diesen bewegenden Kräften der Materie (der Anziehung und Abstoßung oder der diesen untergeordneten der Ausdehnung oder des Zusammenhängens) gemacht hätten und nun sagen könnten daß eine oder die andere derselben unter diesen Begriff gehöre« (22:341). Die bewegenden Kräfte, die ich also vor aller Erfahrung kennen und in die Erscheinungen hineinlegen muß, sind die des Elementarsystems, das Kant aus dem Ätherbeweis gewonnen hat, den vier Kategoriengruppen entsprechend.17 Der Äther des Opus postumum ist folglich keine physikalische Hypothese, sondern der Vernunftbegriff eines den Raum sinnlich machenden Kräftekontinuums: er ist die dynamische omnitudo realitatis und damit materiale Bedingung aller äußeren Erfahrung. Dadurch, daß ich den Analogien der Erfahrung gemäß bewegende Kräfte errege bzw. ›darstelle‹ und zusammensetze, entsteht zuerst ein physischer Gegenstand für die Erkenntnis und ich erscheine mir als affi17

Vgl. Eckart Förster, Die Idee des Übergangs. Überlegungen zum Elementarsystem der

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ziert, und damit als körperlich. Damit erst kommt die Selbstsetzung in ihr eigentliches Element, das cogitabile ist in ein dabile verwandelt und ich erscheine mir selbst als ›außerhalb des Begriffs‹ von mir, d. h. als ein Gegenstand der Wahrnehmung im Raum: »Unsere Sinnenanschauung ist zuerst nicht Warnehmung […] denn ihr geht ein Princip voraus sich selbst zu setzen und sich dieser Position bewußt zu werden« (22:420). »Das Subject afficirt sich selbst und wird ihm selbst Gegenstand in der Erscheinung in der Zusammensetzung der bewegenden Kräfte zu Begründung der Erfahrung« (22:364). Von da aus schreitet das Subjekt fort ›in unendlicher Reihe‹ der Bestimmung in der Erfahrung mit dem Ziel eines Systems der Physik. Das Prinzip der theoretischen Selbstsetzung ist also der Ätherbegriff, als Kontinuum aller bewegenden Kräfte im Raum – als ›allbegreifende Natur‹ geht dieser Ätherbegriff in den späteren Konvoluten über in den Weltbegriff. Nun ist im Zusammenhang der Kantischen Überlegung entscheidend, daß ich mich nicht nur als Körper in einer Welt setze, sondern auch als Person, als Freiheitswesen, das Rechte und Pflichten hat. Wie ist das zu verstehen? Ich gebe zuerst die Stelle, in der Kant den Übergang von der theoretischen zur praktischen Selbstsetzung vollzieht: »Es ist eine Allbegreifende Natur (in Raum u. Zeit) worin die Vernunft alle physische Verhältnisse in Einheit zusamenfaßt. – Es ist eine allgemeinherrschende wirkende Ursache mit Freyheit in Vernunftwesen und mit denselben ein categorischer diese alle verknüpfender Imperativ und mit demselben ein allbefassendes moralisch gebietendes Urwesen – Ein Gott. Die Phänomene aus den bewegenden Kräften der moralisch// practischen Vernunft in so fern sie a priori in Ansehung der Menschen im Verhältnis auf einander sind sind die Rechtsideen […] Es ist ein Gott: denn es ist in der moralisch practischen Vernunft ein categ. Imperativ, der auf alle Vernunftige Weltwesen ausgebreitet und wodurch alle Weltwesen vereinigt werden.« (22:104–105, Hvh. v. Verf.). Dazu möchte ich folgende Erläuterung vorschlagen. Vernunft entsteht (allgemein gesprochen), wenn die ursprüngliche Spontaneität der Vorstellungskraft sich einschränkt bzw. sich selbst eine Gesetzmäßigkeit auferlegt. In der Selbstsetzung geht es folglich darum, »mögliche die Vernunft afficirende Kräfte« (21:83) zu antizipieren. Dies gilt für die theoretische Vernunft wie für die praktische. So entspringen z. B. die Begriffe von Pflicht und Recht (und damit die reine praktische Vernunft) bewegenden Kräfte, in: Übergang. Untersuchungen zum Spätwerk Immanuel Kants (Herausgegeben vom Forum für Philosophie Bad Homburg), Frankfurt 1991, 28–48.

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durch die Selbsteinschränkung der Freiheit, also in dem Moment, wo sie durch sich selbst gesetzmäßig wird. Ein praktisches Gesetz, auch eines, das ich mir selbst gebe, kann aber nur als ein solches gedacht werden, wenn seine Übertretung Sanktionen gemäß Prinzipien zur Folge hat. Ein Gesetz, an das keine Konsequenzen geknüpft sind oder dessen Übertretung ich mir selbst vergeben könnte, wäre als Gesetz null und nichtig. Aus dem bloßen aber vollständigen Begriff eines allgemeingültigen Sittengesetzes folgt daher schon: »Es muß aber auch eine gesetzgeberische Gewalt (potestas legislatoria) geben oder wenigstens gedacht werden welche diesen Gesetzen Nachdruck (Effect) giebt obzwar nur in der Idee« (22:126). Nicht die Hoffnung auf eine nur durch Gottes Hilfe zu erringende Glückseligkeit führt also hier zur Annahme eines moralischen Oberhaupts, sondern die Reflexion auf die Implikationen des moralischen Gesetzesbegriffs als menschlichen Vereinigungsprinzips im Zusammenhang der praktischen Selbstsetzung. Da das Sittengesetz a priori der Selbstkonstitution der praktischen Vernunft zugrunde liegt, ist damit der Begriff von einem das Gesetz verwaltenden Wesen, von einem Wesen, das »das All der moralischen Wesen unter sich faßt« (22: 109), schon impliziert: »Gott ist nicht eine Substanz sondern die personificirte Idee des Rechts und Wohlwollens deren eines die andere einschränkt« (22:108). Das ist, in der gebotenen Kürze, der Ursprung des Gottesbegriffs im Opus postumum. Dabei ist es interessant zu sehen, wie parallel Kant sich die beiden actus der Selbstsetzung der Vernunft denkt. In gewisser Weise ist eine solche Parallelisierung schon in den früheren Schriften vorbereitet, die das Recht quasi-newtonisch als eine »Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung« nach dem Freiheitsgesetz charakterisierten (vgl. z. B. 5:464–65, 6:232, 8: 292, 23:135, etc.). Zugleich weist das Opus postumum terminologische Unsicherheiten auf, die auf eine sich wandelnde Konzeption hinweisen. Das zeigt sich besonders am Postulatenbegriff selbst. Ich möchte dies zum Schluß noch etwas näher erläutern. Für beide, theoretische und praktische Vernunft, gibt Kant Axiome an. Das der theoretischen Vernunft ist: »Es ist [nur] Ein Raum und Eine Zeit« (22:101: vgl. 610). Das der praktischen Vernunft ist: »Es ist nur ein Gott« (22:108) bzw. nur ein (moralisches) Recht. Da Gott Oberhaupt des einen ethischen Gemeinwesens ist, kann es auch nur einen geben, da nur einer sein kann, der nur Rechte und keine Pflichten hat. Die theoretische Vernunft hat auch ein Postulat: »Ein Körper ist durch seine bewegende Kräfte andern Körpern oder auch jeder andern Materie unmittelbar in der Entfernung (d. i. durch den leeren Raum) gegenwärtig

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in der Newtonischen Anziehung« (22:113). Hat auch die praktische Vernunft ein Postulat? Das wäre der Satz ›Gott existiert‹. Aber indem Kant dies Postulat aufstellt, schränkt er es zugleich ein: »Die Existenz eines solchen Wesens aber kann nur in practischer Rücksicht postulirt werden nämlich die Notwendigkeit so zu handeln als ob ich unter dieser furchtbaren zugleich aber auch heilbringenden Leitung und zugleich Gewährleistung stände in der Erkentnis aller meiner Pflichten als göttlicher Gebote (tanquam non ceu), mithin wird in dieser Formel die Existenz eines solchen Wesens nicht postulirt welches auch in sich widersprechend seyn würde« (22:116). Was in einem solchen Satz postuliert würde, ist nicht eigentlich die Existenz eines vom menschlichen Denken und Handeln unabhängigen Wesens (dies wäre ›widersprechend‹, da Gott analytisch mit dem Pflichtbegriff verbunden ist), sondern das, was der praktischen Vernunft in den Rechtsideen ›bewegende Kraft‹ verleiht und ihre Einheit möglich macht: »das Rechtsverhältnis a priori als moralischer Zwang« (22:129, Hvh. v. Verf.). Dazu müssen die Rechtsverhältnisse als von einem moralischen Oberhaupt ausgehend gedacht werden, obwohl der moralische Zwang von der praktischen Vernunft selbst stammt. ›Gott existiert‹ bedeutet darum, er existiert in der praktischen Vernunft: »est Deus in nobis« (22:130) notiert Kant mit Ovid und erläutert dazu etwas später: »Daß ein solches Wesen existire kann nicht geläugnet werden aber nicht behauptet werden daß es ausser dem vernünftig denkenden Menschen existire« (22:55). Die Vernunft konstituiert sich nach Kant also durch Aufstellung zweier Ideale mit ihren entsprechenden Einheitsbedingungen. Nur innerhalb solcher Einheitsvorgaben kann sie sich selbst, durch Antizipation möglicher, sie affizierender Kräfte, als theoretische und praktische Vernunft entfalten. Für die theoretische Vernunft ist die Frage: »Wie sind Gesetze der vereinigten Raum und Zeit Bestimmung der bewegenden Kräfte a priori möglich? Newtons Wer.« (22:56). Für die praktische Vernunft ist die Frage: Wie ist die Einheit der sittlichen Welt möglich? Dazu stellt sie das Ideal Gottes auf als »alle Vernünftige Welt Wesen in die Einheit der moralischen Verhältnisse setzendes höchstes Wesen« (22:113). Gott ist dabei aber verstanden als »die reine practische Vernunft selbst in ihrer Persönlichkeit und mit ihren bewegenden Kräften in Ansehung der Weltwesen und ihren Kräften.« (22:118, Hvh. v. Verf.). Attraktionskräfte gibt es (so sagt Kant als Newtonianer), wenn es Materie gibt im Raum. Ist der Raum leer, gibt es keine Attraktion, aber auch keine Erfahrung. Wird ein Körper im Raum gedacht, müssen wir auch Kräfte denken, die dieser ausübt. Diese sind aber bloß Erscheinungen.

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D. h. der Raum und mit ihm die Kräfte in ihm sind natürlich auch im Opus postumum transzendental ideal zu verstehen: »Das denkende Subjekt schafft sich auch eine Welt als Gegenstand möglicher Erfahrung im Raum u. in der Zeit. Dieser Gegenstand ist nur eine Welt. In diese werden bewegende Kräfte z. B. der Anziehung und Abstoßung ohne welche keine Wahrnehmung seyn würde gelegt; aber nur das Formale« (21:23). Entsprechend werden wir sagen müssen, daß es einen Gott nur gibt, wenn es mit Willen begabte Vernunftwesen gibt. Sobald solche Wesen gedacht werden, wird das moralische Vernunftgesetz, werden Rechte und Pflichten gedacht, mithin ein moralisches Oberhaupt: »Die Vernunft schaft sich unvermeidlich selbst obiecte. Daher jedes Denkende einen Gott hat« (21:83) Auch in die Vorstellung Gottes, könnte man sagen, werden die bewegenden Kräfte gelegt, ohne die keine Sittlichkeit sein könnte. »Die Newtonische Attraction durch den leeren raum und die Freiheit des Menschen sind einander analoge Begriffe, sie sind kateg. Imperative, Ideen« (21:35). Auch hierzu möchte ich abschließend drei Anmerkungen machen: 1) Wie bereits erwähnt ist die Summe der Realitäten im Opus postumum auf den Äther übertragen, er ist die omnitudo realitatis der theoretischen Vernunft. Der Ätherbegriff des Opus postumum ist der Folgebegriff des transzendentalen Ideals der ersten Kritik. Damit ist der Gottesbegriff jetzt nicht nur hauptsächlich, sondern ausschließlich Eigentum der praktischen Vernunft.18 Und erst jetzt läßt sich Kants jahrzehntelanges Problem lösen, die innere Einheit des Gottesbegriffs wirklich plausibel machen. Das äußere Zeichen dafür ist Kants Formel »Gott (ens summum, summa intelligentia, summum bonum)«, die 22:112 erstmals auftaucht und dann unermüdlich wiederholt wird. Es ist dies die Formel für die oben genannten drei moralischen Kräfte oder Qualitäten Gottes, als oberster Gesetzgeber, Regierer und Richter. Davon sagt Kant jetzt: »Ens summum, summa intelligentia, summum bonum – diese Ideen insgesamt gehen aus dem categorischen Imperativ hervor« (22: 112, Hvh. v. Verf.). 2) Die sich selbst setzende theoretische Vernunft ist technisch praktische, d. h. zweckmäßige Vernunft. Damit wird auch das oben noch nicht diskutierte, dritte Postulat Gottes, das die Zusammenstimmung von Natur und Freiheit verständlich machen sollte, unterlaufen. »Weil der 18

Denn mit der Identifizierung des Äthers mit der omnitudo realitatis ist dem Gottesbegriff der Boden als Substrat aller Erscheinungen entzogen – es sei denn, man wolle Gott mit dem Äther identifizieren, was Kant nirgends tut.

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Mensch sich seiner selbst als einer sich selbst bewegenden Maschine bewußt ist […] so kann er, und darf […] organisch//bewegenden Kräfte der Körper in die classeneintheilung der Körper überhaupt a priori hineinbringen« (21:213). An unserer eigenen Organisation versagt nämlich jegliches ›als-ob‹-Prinzip: »Das Bewußtsein unserer eigenen Organisation als einer bewegenden Kraft der Materie macht uns den Begriff des organischen Stoffs und die Tendenz zur Physik als organischem System möglich« (21:190). Und: »Die bewegende Kräfte der Materie sind das was das bewegende Subject selbst thut mit seinem Körper an Körpern. Die diesen Kräften correspondirende Gegenwirkungen sind in den einfachen Acten enthalten wodurch wir die Körper selbst warnehmen« (22:326–327). Die prinzipielle Verträglichkeit von Natur und menschlicher Zwecksetzung ist vom Standpunkt der Selbstsetzungslehre schon durch die Wirklichkeit der Erfahrung gesichert bzw. garantiert. Damit ist es aber auch möglich, die Natur so zu denken, »daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme« (5:176) – ohne daß Gott dafür vorausgesetzt werden müßte. 3) Ging Kants vorkritische Ethikotheologie davon aus, daß nicht Gott sondern nur die Vernunft Ursprung des Sittengesetzes sein kann und er sich dem Problem ausgesetzt sah, ob dies nicht dadurch zum bloßen Hirngespinst ohne verbindende Kraft würde, so steht am Abschluß seiner Überlegungen die Einsicht, daß das Sittengesetz nur so gedacht werden kann, als ob unsere Pflichten zugleich göttliche Gebote seien: »Der categorische Imperativ setzt nicht eine zu oberst gebietende Substanz voraus die ausser mir wäre sondern ist ein gebot oder Verbot meiner eigenen Vernunft. – Dem ungeachtet ist er doch als von einem Wesen ausgehend was über alle unwiederstehliche Gewalt hat anzusehen« (22:51). Kants letztes Wort in Sachen Ethikotheologie steht damit fest. Ob Gott auch außer dem denkenden Menschen existiert, kann philosophisch nicht entschieden werden; ja, es kann, wie Kant jetzt wiederholt insistiert, danach in der Transzendentalphilosophie nicht einmal gefragt werden (vgl. 22:52–3). In ihr examiniert die Vernunft lediglich ihre eigenen Prinzipien (22:53), durch die sie sich selbst als Vernunft konstituiert, nämlich: »Durch Setzung von 3 Obiecten Gott, Welt und Pflichtbegriff« (21:81). Damit ist für Kant auch die praktische Vernunft zuletzt bei dem philosophischen Agnostizismus angelangt, zu dem sich die theoretische Vernunft schon 1781 verpflichtet fand.

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Und wenn Kant noch in der Religionsschrift behauptete, daß die Moral unumgänglich zur Religion und damit zum Postulat eines machthabenden Gesetzgebers »außer dem Menschen« führe, so kann er im Opus postumum nur dem ersten Teil dieses Gedankens zustimmen. Von der Religion sagt er deshalb jetzt, sie bestehe nicht im Glauben an eine Substanz (21:143) und fügt ergänzend hinzu: »Religion ist Gewissenhaftigkeit (mihi hoc religioni). Die Heiligkeit der Zusage u. Wahrhaftigkeit dessen was der Mensch sich selbst bekennen muß. Bekenne Dir selbst. Diese zu haben wird nicht der Begriff von Gott noch weniger das Postulat; ›es ist ein Gott‹ gefordert« (21:81; vgl. 98). Nosce te ipsum. Ethik und Religion fallen damit am Ende zusammen. Die Postulatenlehre in ihrer klassischen Form ist im Opus postumum endgültig verabschiedet.19

19

Eine leicht gekürzte Fassung dieses Aufsatzes erschien unter dem Titel Die Wandlungen in Kants Gotteslehre, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52:3 (1998), 341–362.

Burkhard Tuschling Übergang: Von der Revision zur Revolutionierung und Selbst-Aufhebung des Systems des transzendentalen Idealismus in Kants Opus postumum 1. Prämissen 1) Das Opus postumum1 ist die Dokumentation von 17 Jahren kontinuierlicher philosophischer Arbeit Kants, beginnend nach dem 2. Dezember 1786, endend an der Jahreswende 1803/04 – Kants philosophisches Tagebuch. 2) Opus postumum ist die Bezeichnung für eine kontinuierliche Reihe von zunächst isolierten Reflexionen, dann von systematisch angelegten Entwürfen zur Naturphilosophie und zur Transzendentalphilosophie, die Kant, beginnend mit einem vom 2. Dezember 1786 datierten Blatt bis in den Januar 1804 hinein, fortlaufend und systematisch zusammenhängend niedergeschrieben hat: von 1786–1796 zunächst auf sog. Losen Blättern, seit 1796 in einer Reihe von insgesamt 12–14 Entwürfen, zusammengefaßt in 12 sog. Konvoluten. Die Manuskripte sind in der von Erich Adickes rekonstruierten Reihenfolge2 wie folgt zu lesen und auch nur in dieser Reihenfolge gelesen – also durchgängig abweichend von der Reihenfolge der Akademie-Ausgabe – zu begreifen:3 i) 23 Lose Blätter (entstanden zwischen 1786 und 1796): 21.415–477; ii) der sogenannte Oktaventwurf von 1796 (Kants Bezeichnung »1–21«): 21.373–412; iii) die in den Jahren 1797–1799 entstandenen Entwürfe »A–C«: 21.307–334 – »α–ε«: 22.205–215 / 21.247–264 / 21.495–504 / 21.521–528 – unsignierte Bögen und Lose Blätter: 21.337–351 / 21.477–488 / 21.174–181 – »a–c«: 21.267–249 – »No. 1–No. 3η« und »1«: 21.161–174 / 21.352–361 / 22.246–267 / 22.216–226 / 1

Das Opus postumum ist kein Werk, wie der Titel suggeriert; auch nicht mehrere Werke; sicher kein Descartes’ Regulae oder Leibniz’ Nouveaux Essais vergleichbares, absichtlich oder unabsichtlich zu Lebzeiten nicht publiziertes Nachlaßwerk; weshalb man besser vom sogenannten Opus postumum sprechen sollte. 2 Dazu und zum Opus postumum, seiner Geschichte und seinen Problemen insgesamt vgl. Erich Adickes, Kants Opus postumum dargestellt und beurteilt, Berlin 1920. 3 Im folgenden zitiert nach der Edition der Akademie-Ausgabe mit Band- und Seitenzahl, ggf. auch mit Zeilenzahl; die von Adickes rekonstruierte Reihenfolge ist auch einer dem Bd. 22 am Ende angefügten Tafel zu entnehmen.

Revolutionierung und Selbst-Aufhebung des Systems

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21.361–369 / 21.528–535 / 21.294–307 / 21.504–512 – El[ementar]syst[em] 1–7: 22.135–201 – »Farrago 1–4«: 21.615–645 – »A. Übergang, B. Übergang«: 22.226–246 – »A. Elem. Syst. 1–6«: 21.181–206 / 22.267–276 / 22.585–609; iv) der Entwurf »Übergang 1–14«, entstanden Mai bis August 1799: 21.206–247 / 21.535–612 / 21.512–520 / 22.609–615; v) die Entwürfe »Redactio 1–3« und die Entwürfe »A–Z« des X. und XI. Konvoluts (entstanden 1799/1800): 22.556–585 / 21.488–492 / 22.279–295 / 22.295–409 / 22.453–539 / 22.425–452; vi) die Entwürfe des VII. und des I. Konvoluts (entstanden 1800–1803): 22.3–101 / 22.101–131 / 22.409–421 und 21.9–139 / 21.139–155 / 21.155–158 / 21.3–9. 3) Intension und Extension des Titels Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik sind von Anfang an inkongruent: der Titel suggeriert intensional eine bloße Ergänzung des Buches von 1786, die Ausfüllung einer Lücke in der kantischen Metaphysik der Natur oder im System der Transzendentalphilosophie. Gegenstand der Abhandlung unter diesem Titel aber ist schon 1796 der »Aether«, die »Idee von einer expansiven Materie«, die den Weltraum erfüllt (21.378: 9–18),4 »ein Ganzes der Weltattraction« (21.378: 20), »der einige allgemeine Weltkörper [...], der [...] durch dieses ursprüngliche Zusammenstoßen und aufspringen in Ewigkeit oscillirt« (21.379: 1–3). Diese »Idee« einer in Ewigkeit oscillierenden Materie ist nicht nur nicht der empirische Begriff von Materie, der 1786 in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft durch alle Kategorientitel hindurch expliziert worden war. Diese Idee oder dieser Vernunftbegriff von Materie des Jahres 1796 und der folgenden Jahre ist mit der Schrift von 1786 und darüber hinaus mit der Kritik der reinen Vernunft – und hier insbesondere mit der transzendentalen Dialektik – nicht vereinbar. 4) Im kontinuierlichen Prozeß philosophisch-systematischer Arbeit wälzt Kant den Übergang experimentell aber nicht nur extensional, sondern auch intensional, also nicht nur formal, sondern die Substanz und die Architektonik des Transzendentalen Idealismus betreffend, ständig um. Aus dem Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik wird am Ende der »Übergang von den 4

»Eine solche den Weltraum erfüllende Materie anzunehmen ist eine unvermeidlich nothwendige Hypothese weil ohne ihn kein Zusammenhang als welcher zur Bildung eines physischen Körpers nothwendig ist gedacht werden kann.« (21.378: 15–18)

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metaphysischen A. Gr. der Nat. W. zur Transc. Phil.«5 bzw. der Übergang zu »der transcendentalen Theologie«,6 in der aus dem ursprünglich konzipierten einen Übergang ein Quadrupel von Übergängen im System der Transzendentalphilosophie selbst und schließlich ein spekulativer Beschluß wird: »Cosmotheologie. Eine Idee der Einheit der Verknüpfung der Anschauung mit Begriffen nach Spinoza Transc. Philos. ist das Princip synthet. Erkent. a priori aus Begriffen 1.) Übergang von den metaphysischen Anf. Gr. der N.W. zur Physik. 2) Übergang von der Physik zur Transc. Philos. 3.) Übergang von der Transc. Phil. zum System zwischen Natur und Freiheit. 4.) Beschlus von der allgemeinen Verknüpfung der lebendigen Kräfte aller Dinge im Gegenverhältnis Gott und Welt.« (21.17: 17–24).

5) In seinen Grundzügen durchläuft Kants Philosophieren über die Metaphysik der Natur und das System der Transzendentalphilosophie – insbesondere was die Architektonik und die Systematik materiell betrifft –, in den 17 Jahren von Dezember 1786 bis Januar 1804 drei Phasen: in der ersten (nach 1786, v. a. zwischen 1796 und 1799) entwickelt Kant auf der Basis des Begriffs von Materie als Idee eine neue Metaphysik der Natur, die nunmehr die systematische Grundlage aller Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie) sein soll. Schon in dieser ersten Phase bleiben die Systematik und die Architektonik des transzendentalen Idealismus nicht unangetastet, auch wenn das Bemühen, es bei systematischen Ergänzungen und kleineren Revisionen bewenden zu lassen, gelegentlich noch erkennbar ist. In der zweiten Phase (1799, v. a. dokumentiert durch den Entwurf Übergang 1–14) wird diese Metaphysik der Natur Transzendentalphilosophie, und ihr Zentralbegriff eines Weltsystems der Materie, der Äther, wird a priori transzendental deduziert.7 Hier kommt es systematisch definitiv zum Bruch nicht nur mit den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft von 1786, sondern auch mit den Prinzipien der Kritik der reinen Vernunft: Die Systematik der Transzendentalen Analytik wird unter Aufhebung der Transzendentalen Dialektik durch eine grundlegend neue Konzeption transzendentaler Idealität und Synthesis der Einheit des Mannigfaltigen aller Objektivität ersetzt. In der dritten und

5

21.85: 14. Vgl. u.a. 21.9: 13 ff., Cosmotheologie (21.17: 11 f., 21.17: 17). 7 Von einer »Deduction des Wärmestoffs« spricht Kant selbst einmal ausdrücklich: 21.586: 19. 6

Revolutionierung und Selbst-Aufhebung des Systems

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letzten Phase (1799–1803/4) wird die Transzendentalphilosophie Spinozismus: das Ich wird Substanz-Subjekt, Causa sui, »Person, die sich selbst zum Princip constituirt und ihres Selbst Urheberin ist. [...]. Die transc. Idealität des sich selbst denkenden Subjects macht sich selbst zu einer Person. Die Göttlichkeit derselben. Ich bin im höchsten Wesen. Ich sehe mich selbst (nach Spinoza) in Gott, der in mir gesetzgebend ist.« (22.54: 3–8)

– ein Ich, das Gott und die Welt aus sich heraus erzeugt und in seinem eigenen Begriff, dem Geist des Menschen, vereinigt. So wird aus der Transzendentalphilosophie eine transzendentale Theologie, eine Cosmotheologie:8 »Drey Principien: Gott, die Welt und der Begriff des sie vereinigenden Subjects welches in diese Begriffe synthetische Einheit bringt (a priori) indem die Vernunft jene transcendentale Einheit selbst macht Aenesidemus – Gott, die Welt, und Ich, Gott, die Welt, und der Geist des Menschen als das was die erstere verbindet die moralisch//practische Vernunft mit ihrem categor. Imperativ. Das intelligente Subject welches die Verbindung Gottes mit der Welt unter einem Princip begründet. Die höchste Natur Die höchste Freyheit Das höchste Gut (Seeligkeit Glückseeligkeit) 1. Die Frage: Ist ein Gott? Man kann ein solches Object des Denkens nicht als Substantz außer dem Subject beweisen: sondern Gedanke Das blos Subjective in der Sinnenvorstellung ist Gefühl. Der Transcendentalphilosophie höchster Standpunct ist was Gott und die Welt unter einem Princip synthetisch vereinigt. Natur und Freyheit […] Das denkende Subjekt schafft sich auch eine Welt als Gegenstand möglicher Erfahrung im Raum u. der Zeit.«9

6) Gegenstand meines Beitrags ist der aus den Reflexionen der zweiten und dritten Phase des im Opus postumum dokumentierten kantischen Philosophierens – d. h. aus dem X./XI., im VII. und I. Konvolut und insbesondere aus dem Entwurf Übergang 1–14 – resultierende Befund: Kants experimentelle, immer radikaler und fundamentaler werdende – d. h. die Konstituentien des transzendentalen Idealismus umwäl8 9

Vgl. dazu erneut 21.17: 17–24. 21.23: 1–28; vgl. auch 32: 10 ff., 34: 10 ff.

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I. Die kantische Systematik im Umriß · B. Tuschling

zende und aufhebende – Revision der Theorie der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und ihrer Gegenstände, kulminierend in einer Theorie absoluter Subjektivität und Selbstsetzung, die alle Objektivität a priori durchgängig bestimmt.10 Dieser Befund soll zunächst durch Vorstellung der Grundzüge der neuen Systematik mitgeteilt und erst anschließend ausgewertet und interpretiert werden.

2. Der Befund Der Begriff von Materie im Entwurf Übergang 1–14 Materie überhaupt und Körper müssen als »das Object der Naturwissenschaft«11 voneinander unterschieden werden. Die die Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung12 der Physik thematisierende Philosophie erklärt und deduziert die Bildung von Körpern aus Materie a priori wie folgt: – »Materie als Subject dieser Form der bewegenden Kräfte – Stoff zu einem Körper [...] als ein Continuum [...] eine für Körper alldurchdringende für sich bestehende und alle Körpertheile unablässig und gleichförmig agitirende Materie«.13 – Dieser »Stoff zu einem Körper«14 oder Materie überhaupt ist ein »realer und a priori durch die Vernunft gegebener Weltstoff und für ein Princip der Möglichkeit der Erfahrung des Systems der bewegenden Kräfte geltend anzusehen«.15 – »Die Existenz dieses Stoffs nun und die Nothwendigkeit seiner Voraussetzung a priori beweise ich auf folgende Art. [Zur Erfahrung von Materie und physischen Körpern] bedarf ich Einflus einer Materie auf meine Sinne.« Leerer Raum und Atomismus16 sind »bloß vernünftelt – der Satz: es gibt physische Körper, setzt den Satz voraus: es gibt Mate10

NB.: omnimoda determinatio ist seit Übergang 1–14 sowohl t.t. als auch zentrale Idee der Argumentation und Konzeption Kants, vgl. 21.550: 11, 571: 24, 603: 9. 11 21.215: 14 ff.; vgl. dazu auch im Oktaventwurf den gesamten Abschnitt 21.378: 7 – 379: 6, insbesondere: »Eine solche den Weltraum erfüllende Materie anzunehmen ist eine unvermeidlich nothwendige Hypothese weil ohne ihn kein Zusammenhang als welcher zur Bildung eines physischen Körpers nothwendig ist gedacht werden kann.« (2l.378: 15–18) und 21.378: 29 – 379: 6. 12 Vgl. dazu 21.216: 5 – in der im übernächsten Absatz zitierten Passage 216: 4–7. 13 21.215: 19 ff. – 216: 2. 14 21.215: 19 f. 15 21.216: 4–7. 16 »die Erdichtung einer Atomistik der Materie« (21.215: 21 f.)

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rie, deren bewegende Kräfte und Bewegung der Erzeugung eines Körpers in der Zeit vorhergeht [...].«17 – Als Subject der bewegenden Kräfte, Stoff zu einem Körper und Grund der Bildung von Körpern besitzt diese Materie »Selbstthätigkeit«,18 »denn diese [sc. Bewegung der Erzeugung eines Körpers] ist nur die Bildung derselben und geschieht von selbst (spontaneo).«19 Der Begriff von Materie erhält hier, in Übergang 1–14, also folgende Momente: »Subject dieser Form der bewegenden Kräfte – Stoff zu einem Körper [...] Continuum«20 – »für Körper alldurchdringend«21 und »innerlich alle Körper (als Last onus) durchdringend und sie zugleich beharrlich bewegend«22 – »für sich bestehen[d] und alle Körperteile unablässig und gleichförmig agitiren[d]«23 – »Weltstoff« – »a priori durch die Vernunft gegeben«24 – »Princip der Möglichkeit der Erfahrung«25 – »Subject […] der bewegenden Kräfte«26 der »Selbstthätigkeit«,27 i.e. der Bildung von Körpern28 – »Weltganzes aus einem Stoff«29 – »jener allgemein // möglichen Erfahrung a priori zum Grunde lieg[end]« – a priori »gegebener ursprünglich bewegender Weltstoff«30 – »durch keine Erfahrung erweisliche[r] (mithin [!] im Erkenntnis a priori gegebene[r]) allverbreitete[r] und alldurchdringende[r] Weltstoff«31 – »Urstoff der Körperwelt [...] sich innerlich selbst bewegende[r] Urstoff«32 – »aus Begriffen a priori mithin als

17

21.216: 14–19. »Diese Bildung aber, die von der Materie selbst geschehen soll, muß einen ersten Anfang haben, davon zwar die Möglichkeit unbegreiflich, die Ursprünglichkeit aber als Selbstthätigkeit nicht zu bezweifeln ist.« (21.216: 20–23) Vgl. aber dagegen 21.222: 21–25, aber auch 21.553: 1–3 oder 21.563: 11–15: dieser sich selbst bewegende Urstoff / Selbstbewegung als Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung = die Subjektivität / Spontaneität. 19 21.216: 16–19. 20 21.215: 19–23, vgl. auch 21.218: 10. 21 21.216: 1. 22 21.216: 24 f. 23 21.216: 1 f. 24 21.216: 4 f. 25 21.216: 5 f. 26 21.215: 19. 27 21.216: 22 f. 28 Vgl. 21.216: 20–23. 29 21.217: 2. 30 21.217: 12–15. 31 21.559: 5–9, als Titel präsentiert. 32 21.561: 7–10. 18

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nothwendig hervorgehender aber zum Behuf der Möglichkeit Einer allbefassenden Erfahrung überhaupt categorisch gegebener Stoff«.33 Die Pointe, der Dreh- und Angelpunkt des Beweises a priori der Existenz dieses Stoffes, lautet u. a. wie folgt: »weil er [sc. dieser gegebene ursprünglich bewegende Weltstoff] die Anschauung, die sonst leer und ohne Wahrnehmung seyn würde, zuerst bezeichnet.«34

Oder, noch deutlicher: »Der Grund zu dieser Behauptung ist: daß die Anschauungen in Raum und Zeit nur Formen sind und ohne etwas das sie auch nur blos für die Sinne kennbar machte, gar keine realen Objecte an die Hand geben würden, welche eine Existenz überhaupt, vornehmlich auch die der Größe, möglich machte, mithin den Raum und die Zeit für die Erfahrung schlechterdings leer lassen würden.«35

Oder, nochmals deutlicher: »weil ohne diesen Stoff vorauszusetzen ich auch gar keine äußere Erfahrung haben könnte.«36

Oder schließlich, systematisch fundamental ansetzend: »denn ohne diese Bewegung d. i. ohne Erregung der Sinnenorgane als jener ihre Wirkung findet keine Warnehmung irgendeines Sinnenobjects mithin auch keine Erfahrung statt«,

woraus Kant den Schluß zieht: »[...] also ist ein [...] Stoff als Erfahrungsgegenstand (obgleich ohne empirisches Bewustseyn seines Princips) d. i. der Wärmestoff ist wirklich und kein blos zum Behuf der Erklärung gewisser Phänomene gedichteter sondern aus einem allgemeinen Erfahrungsprincip (nicht aus Erfahrung) nach dem Grundsatz der Identität (analytisch) erweislicher und in den Begriffen selbst a priori gegebener Stoff.«37

Beweisziel, Beweislast und Beweisprogramm kehren sich hier gleichsam um: nicht der Existenzbeweis a priori dieser Materie als solcher38 ist das systematische Zentrum, sondern die Möglichkeit der Erfahrung von 33

21.563: 12–15. 21.217: 16 f. 35 21.217: 7–12. 36 21.229: 20 f. 37 21.573: 3–13. 38 Kant thematisiert die Problematik, mögliche Widersprüchlichkeit, Einzigartigkeit, Paradoxie eines solchen Beweises wiederholt. 34

Revolutionierung und Selbst-Aufhebung des Systems

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Natur. Anschauung, so heißt es, wäre ohne die Existenz dieses Weltstoffs – dieses Weltganzen von Materie, dieses Subjekts der bewegenden Kräfte und der ursprünglichen Selbsttätigkeit der Bildung von Körpern – leer, Erfahrung, ja bloße Wahrnehmung fänden nicht statt. Das bedeutet: dieser »a priori durch die Vernunft gegebene Weltstoff« ist deshalb »Princip der Möglichkeit der Erfahrung«, weil er allein Bedingung der Möglichkeit äußerer Wahrnehmung ist.39 Der Raum (und die Zeit) – ohne diesen »Stoff« leer – enthielten kein Mannigfaltiges, wären also in Ermangelung eines der Synthesis bedürftigen Mannigfaltigen nicht fähig, als Formen der Anschauung zu fungieren, wären nicht Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. Mehr noch: Einheit des Mannigfaltigen – Synthesis des Mannigfaltigen selbst also – wäre nicht möglich. Denn »dieser Stoff ist die Basis der Verknüpfung a priori aller bewegenden Kräfte der Materie ohne welche keine Einheit in dem Verhältnisse des Mannigfaltigen derselben in einem Ganzen der Materie gedacht werden könnte.«40 Erfahrung wäre also nicht nur als System der Wahrnehmungen nicht möglich, Wahrnehmung äußerer Gegenstände überhaupt, von Körpern, die Natur selbst und Physik als empirische Naturforschung wären unmöglich. Kurz: der transzendentale Idealismus hätte den Anspruch, die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und ihrer Gegenstände zu exponieren, nicht nur nicht vollständig – er hätte ihn gar nicht eingelöst, sein Ziel verfehlt. Aus diesem Grunde also ist diese Materie oder dieses Weltganze aus einem Stoff 41 vom kantischen Standpunkt aus keine physikalische Hypothese: sie ist vielmehr Princip der Möglichkeit der Erfahrung, weil sie Princip der Möglichkeit und der Bildung, i.e. der Wirklichkeit von Körpern – ihr Constituens und Grund, ihre Substanz und das Subjekt der Selbsttätigkeit ihrer Bildung – ist. In dieser Bedeutung und Funktion ist sie Grund der Natur, der Welt äußerer Gegenstände, des Universums insgesamt. Das Gegebensein des Kontinuums der Materie, und zwar als eines absoluten Ganzen, ist a priori und transzendental. Das bedeutet: Materie oder das Elementar- bzw. das Weltsystem der bewegenden Kräfte ermöglicht und sichert als ein a priori »durch die Vernunft«42 »zum Behuf der Möglichkeit Einer allbefassenden Erfahrung überhaupt catego-

39

Vgl. außer der oben zitierten 21.573: 3–13 u.a. auch die weiter unten zitierte Passage 21.229: 23–30. 40 21.229: 23–30. 41 21.217: 2. 42 21.216: 4–7.

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risch gegebener Stoff«43 die Kontinuität des empirisch apprehensiblen Mannigfaltigen und stiftet die Einheit der Synthesis dieses Mannigfaltigen, damit Einheit der Erfahrung und aller Gegenständlichkeit überhaupt.44 Diese transzendentale Funktion ist das »Princip a priori« der »Deduction des Wärmestoffs«45 und seine Existenz wird so, ebenfalls kategorisch, deduziert und bewiesen. Weil nun diese Materie Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, aller äußeren Gegenstände, von Gegenständlichkeit überhaupt ist, ist sie auch Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung selbst. In Umkehrung des obersten Grundsatzes aller synthetischen Urteile a priori46 – und Kant zögert nicht, hier die »Regel«, den »Satz« oder das Prinzip der Identität zu benutzen47 – wird das materielle Kontinuum, das System der bewegenden Kräfte als a priori durch die Vernunft gegebener Weltstoff zu einem und schließlich sogar zum ersten, obersten,48 alleinigen49 Princip der Möglichkeit der Erfahrung erhoben. Diese Funktion allein erlaubt es dann, die Existenz der Materie und »die Einheit«50 dieses »Weltganzen aus einem Stoffe«51 »nach dem Gesetz der Identität aus Begriffen a priori«52 [!] zu beweisen, und zwar als eines »nach dem Gesetz der Identität aus Begriffen a priori hervorgehende[n] Stoff[s]« wegen seiner »All43

21.563: 12–15. »Dieser Stoff [...] wird als Princip der Möglichkeit der Erfahrung jener Kräfte postulirt und der Begriff von demselben ist die Basis der Verknüpfung a priori aller bewegenden Kräfte der Materie ohne welche keine Einheit in dem Verhältnisse des Mannigfaltigen derselben in einem Ganzen der Materie gedacht werden könnte.« (21.229: 23–30) 45 21.586: 19–21. 46 KrV B 197; Kant macht davon aber auch quasi regelrecht Gebrauch: vgl. 21.230: 16–21. 47 21.225: 18; 21.226: 17 f.; 21.228: 2 f.: »[...] eine den ganzen Weltraum mit bewegenden Kräften erfüllende Materie, deren Existenz durch das Princip der Identität hinreichend begründet ist.« 21.228: 12 f.: »Kein hypothetischer, sondern nach dem Gesetz der Identität aus Begriffen a priori hervorgehender Stoff.« Vgl. auch 21.229: 19; 21.559: 14 oder 21.241: 13–17: »[...] absolute Einheit eines Ganzen [...] Die logische Einheit die auf das Allgemeine geht wird mit der realen identificirt [!] die aufs All der Materie geht.« 21.551: 14–20: [...] es existirt im Weltraum ein [...] Stoff dessen agitirende Kräfte mit Aus-schließung alles Leeren Einheit des Ganzen aller möglichen Erfahrung schon in seinem Begriffe nachdem Grundsatz der Identität mithin einem Princip a priori bey sich führt [...] gegebener Elementarstoff.« 48 21.228: 15; 21.554: 2; 21.559: 10 (»ein solcher Stoff müßte alle äußere Erfahrung zu oberst möglich machen [...]«). 49 21.225: 16. 50 21.228: 14. 51 21.217: 2. 52 21.228: 12 f. 44

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durchdringung [...] so wie [die Einheit] des Raumes selbst« als »das oberste Princip der Möglichkeit der Erfahrung äußerer Sinnenwesen.«53 Es sind also zuallererst die transzendentalen Funktionen des Raumes und der Zeit, v. a. aber die transzendentale Funktion des Kontinuums der Materialität als oberster Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung; oder kurz: es ist die Transzendentalphilosophie selbst, und zwar als Theorie der Bedingungen der Möglichkeit aller äußeren Objektivität und der Erfahrung von ihr – nicht die Ätherdeduktion als Beweisprogramm und -problem für sich genommen –, um die es in letzter Konsequenz geht: das dynamische Kontinuum, der Weltstoff, »der ganze Weltraum als ein Object möglicher Erfahrung«54 ist als a priori gegeben die letzte, i.e. oberste materielle Bedingung dafür, daß Erfahrung überhaupt möglich ist. Dies in der Kritik der reinen Vernunft nicht thematisiert zu haben,55 ist das von Kant in Briefen und im Opus postumum durchgängig beklagte Versäumnis – die Lücke im System, die es zu schließen gilt. Und sie ist zu schließen, weil nur dann der transzendentale Idealismus den Anspruch, die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und ihrer Gegenstände entwickelt zu haben, einlösen kann. An diesem Gedanken der Notwendigkeit des Apriori-Gegebenseins, der Apriori-Beweisbarkeit und der Notwendigkeit eines transzendentalen Beweises des materiellen Kontinuums oder Weltsystems der bewegenden Kräfte als Subjekt der Selbsttätigkeit und als selbsttätiger Grund aller Objektivität hält Kant durch alle Entwürfe, Experimente und Modifikationen hindurch eisern fest. Von hier aus sind auch die Momente zu verstehen,56 die dem Begriff von Materie im Zuge der Ätherdeduktionen des Entwurfs Übergang 1–14 verliehen bzw. zugeschrieben werden: 53

21.228: 7–16. 21.228: 7. 55 Obwohl – wie B. J. Edwards in seiner Dissertation Substance, Force and Transcendental Dynamics in Kant’s Philosophy of Material Nature, Marburg 1987 gezeigt hat – Kant in den drei Analogien der Erfahrung von dieser Voraussetzung systematisch Gebrauch macht und Kant selbst dies 21.592: 23–27 implizit, der Sache nach jedoch sehr bestimmt anerkennt [s.u.]. 56 Aus diesem Gedanken resultieren in letzter Konsequenz auch die zunehmende Transzendentalisierung, die Idealisierung, die Subiektivierung des Materiellen im Zuge der Weiterentwicklung der Materialität als oberster Grund der Einheit des Mannigfaltigen, der Weiterentwicklung zum Subiekt-Objekt der Selbstsetzungslehre, in welcher Vereinigung von Substanz und Subjekt der transzendentale Idealismus Spinozismus wird – Momente und Entwicklungen, die weiter unten zu betrachten sind. Ein Nota bene jedoch vorab: der Spinozismus, mit dem sich Kant identifiziert und mit dem er experimentiert ist nicht derjenige Spinozas, sondern ein Spinozismus absoluter Subjektivität, in der, wie Hegel sagt, »der Geist [...] sich als Ich, als freie Subjec 54

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»Der erste Beweger« vs. »die Agitation der Materie, [die] sich von selbst ewig zu erhalten [scheint]« (21.217: 20–22) »Urstoff [...] blos in Gedanken da [...] uranfänglich bewegend [...] nicht ein Erfahrungsobject [...], hat aber doch Realität und seine Existenz kann postulirt werden [...].« (21.219 :10–14) »Urstoff [...] categorisch a priori erweislicher Stoff für die Vernunft im Übergange von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik identisch enthalten [...].«57 »Die Basis aller möglichen Wahrnehmungen der bewegenden Kräfte [...] der Begriff eines Elementarstoffs [...]58 von dem der Begriff zum alleinigen Princip der Möglichkeit der Erfahrung von einem absoluten Ganzen aller innerlich bewegenden Kräfte der Materie gemacht wird und nach der Regel der Identität als ein solches erkannt wird.«59 »Diese Form eines solchen allverbreiteten, alldurchdringenden und an seiner eigenen Stelle continuierlich bewegenden Weltstoffs characterisirt nun die ursprünglich bewegende Materie [...] zu einem realen, existirenden Stoff, nach dem Princip der Möglichkeit der Erfahrung selbst und verschafft dadurch dem Begriffe desselben objective Realität.«60 »[...] Postulat einer im Raum und der Zeit end- und anfangslos bewegten und bewegenden Materie, welche ins Unendliche getheilt alle Materie in Bewegung erhält.«61 tivität gegen die Bestimmtheit constituirt, aus der Substanz, und die Philosophie, indem ihr dies Urtheil absolute Bestimmung des Geistes ist, aus dem Spinozismus heraustritt.« (Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse § 415 A, GW 19.317: 25–29). 57 Diese Bestimmungen werden in folgendem Kontext entwickelt: »Lehrsatz ›Die uranfänglich bewegende Materien setzen einen den ganzen Weltraum durchdringend erfüllenden Stoff voraus als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung der bewegenden Kräfte in diesem Raume welcher Urstoff nicht als hypothetischer zur Erklärung der Phänomene ausgedacht wird, sondern [als] categorisch a priori erweislicher Stoff für die Vernunft im Übergange von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik identisch enthalten ist.‹ Beweis Weltstoff [...] Medium für die Ortbewegung der Körper [...] gleichsam ein materieller Raum [...] ein Stoff welcher ein Princip möglicher Erfahrung ist [...] ein uranfänglich bewegender Stoff [...] ein Continuum, welches auch für sich selbst betrachtet ein Ganzes der bewegenden Kräfte ausmacht, dessen Existenz a priori erkannt wird.« (21.223: 1 – 21.224: 2) 58 »der blos in seinen eigenen Theilen anziehend und abstoßend überall im Weltraume verbreitet sich selbst innerlich kontinuierlich bewegend ist«. 59 21.225: 12–19. 60 21.225: 20–26. 61 Dieses Postulat wird im Kontext von 21.227: 19 ff. aus einem »dynamische[n] Princip der Bewegung« hergeleitet.

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»[...] eine den ganzen Weltraum mit bewegenden Kräften erfüllende Materie deren Existenz durch das Princip der Identität hinreichend begründet ist...«62 »Kein hypothetischer, sondern nach dem Gesetz der Identität aus Begriffen a priori hervorgehender Stoff. Denn wegen dieser Alldurchdringung ist die Einheit desselben sowie des Raumes selbst das oberste Princip der Möglichkeit der Erfahrung äußerer Sinnenwesen [...].«63 »Der Raum selbst als Gegenstand möglicher Erfahrung vorgestellt ist der Elementarstoff. Er macht den Raum sensibel, heißt Wärmestoff, ohne daß gerade Wärme die Function seiner Thätigkeit sey, primitive Idee der bewegenden Kräfte.«64 »Weltstoff, dessen Wirklichkeit blos auf dem Princip der Möglichkeit äußerer Erfahrung beruht und so a priori nach dem Satz der Identität erkannt und bewährt ist weil ohne diesen Stoff vorauszusetzen ich auch gar keine äußere Erfahrung haben könnte: der leere Raum aber kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist.«65 »Von dem a priori erkennbaren System der bewegenden Kräfte der Materie«66 »[…] diese Materie [ist] als das erste Bewegende (primum mobile et movens) subjectiv für die Basis der Theorie von den zuoberst bewegenden Kräften der Materie zum Behuf eines Systems der Erfahrung anzunehmen.«67 »Eine Bewegung die dazu geeignet ist von selbst anzufangen muß auch die bewegende Kraft haben sie gleichförmig und immerwährend fortzusetzen [...] dieser Urstoff der Körperwelt [...] sich innerlich selbst bewegend [...] in einer beständig oscillirenden Bewegung begriffen [...] kann so allein wenngleich nur mittelbar ein Gegenstand möglicher Erfahrung seyn.«68 »[…] das Object Einer gesamten Erfahrung«69 – »das Object Einer allbefassenden Erfahrung«70 – »Materie deren bewegende Kraft körperbildend, uranfänglich bewegend und bildend ist«71 – »Object der absoluten Einheit des Ganzen möglicher Erfahrung [...] Erfahrung von dem Gegenstande der Erfahrung und als das Ganze der Bestimmung dieses Gegenstandes (omnimoda determinatio) die Existenz des Gegenstandes.«72 »Äußere Warnehmung als Stoff zur Erfahrung kann selbst nichts anders als Wirkung agitirender Kräfte der Materie in dem Subiecte seyn. Diese müssen also 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72

21.228: 1–4. 21.228: 12–16. 21.228: 24–27. 21.229: 17–21. 21.234: 2. 21.553: 14–17. 21.561: 3–12. 21.574: 15. 21.578: 3. 21.575: 26–29. 21.583: 26–29.

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a priori vorausgesetzt werden. [...] Die subjective analytische Einheit also der möglichen Erfahrung ist zugleich die objective synthetische der Gegenstände der Erfahrung – Äußere Erfahrung selbst beruht auf den das Subject (als physischen Körper) bewegenden Kräften der Materie nur daß die distributive Einheit der von diesen bewirkten Warnehmungen desselben in die collective der dazu erforderlichen bewegenden Kräfte der Form der Einheit (Gesammtheit) in dem Ganzen der Erfahrung gemäß gedacht und so der die Sinne bewegende Stoff welcher subjectiv gedacht und eben darum auch objectiv als Gegenstand der Erfahrung schlechthin gegeben wird.«73 »[...] so giebt es auch nur Einen Gegenstand möglicher äußerer Erfahrung im Felde der Caussalität der Warnehmung von Aussendingen«74 – »ursprüngliche Causalverbindung [...] Einheit aller Weltsysteme und ihre Gemeinschaft.«75 »[...] die absolute Einheit möglicher Erfahrung überhaupt in so fern das Object dieses Begriffs Eines und Alles der äußeren Sinnenobjecte ist und die Deduction des Wärmestoffs als Basis jenes Systems bewegender Kräfte hat ein Princip a priori nämlich das der nothwendigen Einheit in dem Gesamtbegriffe der Möglichkeit Einer Erfahrung zum Grunde liegen welche zugleich die Wirklichkeit dieses Objects identisch also nicht synthetisch sondern analytisch mithin zu Folge einem Princip a priori bey sich führt.«76 »[...] ein allgemeines Object äußerer Sinne, Gegenstand Einer allein möglichen Erfahrung – Erfahrungen (in plurali) bedeuten ein Aggregat von Warnehmungen die allererst in das Ganze einer Erfahrung nach dem formalen Princip der Vereinigung des Mannigfaltigen derselben zu Einer Erfahrung durch einen Vernunftbegriff (folglich a priori) als durchgängig unter sich verbunden gedacht werden so daß das subjective Princip des Formalen der Verbindung der gegebenen Vorstellungen (von bewegenden Kräften der Materie überhaupt) vor dem Materialen (dieser Kräfte selbst) vorhergeht. – Es ist objectiv nur Eine Erfahrung [...] alle Warnehmungen stehen in einem [...] gegebenen System des absoluten Ganzen derselben d. i.: ›es existirt ein Absolut//Ganzes als System der bewegenden Kräfte der Materie [...] a poße ad esse valet consequentia [...] das All der Materie bezeichnet nicht eine distributive sondern collective Allgemeinheit der Gegenstände die zur Absoluten Einheit aller möglichen Erfahrung gehören.«77

73

21.573: 25–574: 12. 21.579: 25–28. 75 21.580: 12–15. 76 21.586: 17–24. 77 21.591: 22–292: 15; vgl. dazu auch: »Die logische Einheit die auf das Allgemeine geht wird hier mit der realen identifiziert die aufs All der Materie geht« (21.241: 15–17) und, erneut: »Die subjective analytische Einheit also der Möglichen Erfahrung ist zugleich die objective synthetische der Gegenstände der Erfahrung – [...] Stoff welcher 74

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3. Auswertung a) Systematische Momente der Umwälzung und Aufhebung des transzendentalen Idealismus Materie ist: »Subject«; »alldurchdringend«; »für sich bestehend«;78 »a priori gegeben«;79 »durch die Vernunft gegeben«;80 »Weltstoff«;81 »nicht diskret, sondern Kontinuum«;82 »selbsttätig (spontan)«;83 »Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung«;84 »Urstoff der Körperwelt, sich innerlich selbst bewegend«;85 »körperbildend, uranfänglich bewegend und bildend«;86 »nach dem Gesetz der Identität aus Begriffen a priori hervorgehender Stoff«;87 »aus einem allgemeinen Erfahrungsprincip (nicht aus Erfahrung) nach dem Grundsatz der Identität (analytisch) erweislicher und in den Begriffen selbst a priori gegebener Stoff«;88 »das oberste Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung äußerer Sinnenwesen89 Weltganzes aus einem Stoff«.90

Jede dieser Bestimmungen des Begriffs von Materie ist schon für sich genommen, alle zusammengenommen aber sind in der Transzendentalphilosophie Kants inexaudita und widersprechen den Prinzipien der Kritik der reinen Vernunft: danach ist Materie nicht Subjekt, nicht alldurchdrinsubjectiv gedacht und eben darum auch objectiv als Gegenstand der Erfahrung schlechthin gegeben wird.« (21.574: 3–12) 78 21.215: 19 ff. – 216: 2. 79 21.216: 4–7. 80 Ebda. 81 21.216: 5; 21.217: 15; 21.559: 9. 82 21.215: 19–23; 21.218: 10. 83 21.216: 16–19. 84 21.216: 4–7. 85 21.561: 7–10. 86 21.575: 25. 87 21.228: 7–16. 88 21.573: 11–13. 89 21.228: 15 f. 90 21.217: 2.

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gend, nicht für sich bestehend oder Substanz. Letzteres ist Materie dann und nur dann, wenn sie – durch die schematisierte Kategorie der Substanz begriffen – das Beharrliche oder Substrat der empirischen Zeitbestimmung ist.91 Schon mit den bis hierher ausgewerteten Bestimmungen wird Materie zu der Einen – der Einzigen und Einzelnen – Substanz erhoben und der Gedanke der individuellen Substanz oder unendlich vieler individueller Substanzen, die mittels der schematisierten Kategorie der Substanz als Gegenstand möglicher Erfahrung begriffen und erkannt werden könnten, aufgehoben. Dies ist das erste systematische Moment, das den transzendentalen Idealismus umwälzt. Das Apriori-Gegebensein dieser Einen Materie ist das zweite mit den Prinzipien der Kritik der reinen Vernunft unvereinbare Moment: Materie ist danach das eigentlich Empirische, d. h. das allein empirisch Gebbare – sei es als der unbestimmte Gegenstand der empirischen Anschauung, sei es als Objekt der Empfindung und der Wahrnehmung. Eine a priori gegebene Materie oder ein a priori gegebenes Objekt wäre eine contradictio in adjecto. Dasselbe gilt für das Dasein. Ein Apriori-Gegebensein von Existenz und Dasein wäre eine notwendige Wirklichkeit, ein notwendiges Dasein, wovon wir keinen Begriff und a fortiori keine Erkenntnis – und schon gar nicht eine Erkenntnis a priori – haben könnten. Von einem notwendigen Dasein könnte es höchstens einen Vernunftbegriff geben. Von einem solchen Dasein könnten wir aber nichts wissen. Dies führt zu dem dritten Moment: dem Gegebensein von Materie und Dasein durch die Vernunft, in Begriffen a priori und der Beweisbarkeit aus dem Begriff nach dem Grundsatz der Identität. Nach Prinzipien der Kritik der reinen Vernunft wird Dasein oder Materie allein durch die Sinnlichkeit gegeben, nicht durch das Denken. Deshalb ist das Gegebensein von Materie oder alles Gegebensein von Mannigfaltigem überhaupt sinnlich und synthetisch, resultiert niemals aus bloßen Begriffen. Vernunft gibt kein Dasein, keine Materie; sie enthält allenfalls Begriffe, denen aber kein Gegenstand irgendeiner empirischen Anschauung entspricht.92 Vernunft enthält darüber hinaus zwar auch Prinzipien, die aber nicht von konstitutiver, sondern allenfalls von regulativer Bedeutung und Funk91

KrV B 183 und B 224–232. »Ich verstehe unter der Idee einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein korrespondierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann.« (KrV B 383) »So wie also der Verstand der Kategorien zur Erfahrung bedurfte, so enthält die Vernunft in sich den Grund zu Ideen, worunter ich nothwendige Begriffe verstehe, deren Gegenstand gleichwohl in keiner Erfahrung gegeben werden kann.« (Prolegomena § 40; 4.328: 11–24) 92

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tion sind. Beides, Begriffe und Grundsätze der Vernunft, schließen es also aus, daß Vernunft Materie überhaupt gibt, Materie a priori gibt und Materie als ein Objekt konstitutiv bestimmt. Nach Prinzipien des transzendentalen Idealismus stiftet der Rekurs auf einen Vernunftbegriff also keine Beziehung auf das Dasein, die Existenz und die Wirklichkeit, d. h. auf Materie als materielles Substrat der Erscheinungen, i. e. keinerlei Beziehung auf irgendein Objekt überhaupt. Eo ipso ist damit das Hervorgehen von Materie – Dasein, Existenz, Wirklichkeit – aus dem Begriff oder gar ihr Enthaltensein a priori in Begriffen und die Beweisbarkeit der Existenz aus Begriffen, analytisch, a priori, nach dem Satz der Identität ausgeschlossen. Gegen diese Art von spekulativer Metaphysik ist Kant doch gerade für eine kritischen Prinzipien genügende künftige Metaphysik angetreten, die als Wissenschaft auftreten können sollte. Beweisbarkeit aus dem Begriff aber und der Begriff eines Etwas, dessen Dasein in seinem bloßen Begriff enthalten und dessen Funktion die omnimoda determinatio aller Objektivität ist:93 das ist der metaphysische Gottesbegriff, das transzendentale Ideal bzw. das ist Rationale Theologie, deren Unmöglichkeit die »Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft«94 doch gezeigt haben sollte. Das vierte Moment sind dann die mit dieser Bestimmung des Begriffs von Materie durch die Vernunft als Weltbegriff und mit ihrem AprioriGegebensein verbundenen inhaltlichen Momente: Urstoff der Körperwelt, Weltstoff, Weltganzes aus einem Stoff. Hier wird der Vernunft genau diejenige Kompetenz zugesprochen, die ihr die transzendentale Dialektik abspricht, und zwar gleich in zweifacher von der Kritik der reinen Vernunft ausgeschlossener Funktion: Erstens begründet Vernunft einen Weltbegriff, und zwar einen nicht regulativen, sondern für alle physischen Körper, i. e. alle möglichen Gegenstände äußerer Sinne, für alle Objektivität – und zwar sowohl für die distributiv-individuelle als auch für die kollektiv-allgemeine Objektivität – konstitutiven Weltbegriff, der die Vernunft nach Prinzipien des transzendentalen Idealismus in genau diejenigen Widersprüche und Antinomien verwickelt, aus denen sie doch dieser selbe Idealismus befreien sollte. Zweitens aber wird hier nicht nur ein Widersprüche und Antinomien enthaltender Weltbegriff von Materie eingeführt, es wird darüber hinaus sogar die Existenz dieses widersprüchlich-antinomischen Ganzen von Materie und Welt aus 93

KrV, Transzendentale Dialektik, 3. Hauptstück: Das Ideal der reinen Vernunft, B 595 ff., insbes. 599–611. 94 KrV, B 659 ff.

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bloßen Begriffen bewiesen, und zwar als eines unbedingten Ganzen und als notwendiges, a priori begründetes Dasein oder als die Existenz eines Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit in sich vereinigenden Ganzen.95 Diesem Ganzen oder dieser Substanz – und das impliziert weitere inexaudita und adynata der Kritik der reinen Vernunft – werden göttliche Eigenschaften zugesprochen: die Existenz, das Dasein dieser Materie ist unbedingt, absolut, und: dieses Dasein, diese Materie ist absolute Einheit, absolutes Eins, »Eines und Alles der äußeren Sinnenobjecte«96 – das All-Eine, Hén kaì pân. Es ist objektiv göttlich und schöpferisch, nämlich alldurchdringend, allerhaltend, immerwährend usw., körperbildend,97 uranfänglich bewegend und bildend überhaupt, d. h. dieses Dasein ist nicht nur kausal mechanisch, sondern auch teleologisch-kausal bestimmend. Die wichtigsten dieser Bestimmungen werden dieser einen Materie oder Substanz ausdrücklich als Attribute zugeschrieben.98 Schließlich ist diese Materie auch objektiv Subjekt, ein Selbst, selbsttätig, spontan, bildend, insbesondere die Bildung physischer Körper und Organismen von selbst anfangend, sich selbst bewegend. Eben damit aber – und dies ist das fünfte systematisch revolutionierende Moment – ist dieses »Eines und Alles der äußeren Sinnenobjecte«, dieses Dasein, dieser Urstoff, diese Materie, nicht nur objektiv Subjekt bzw. Subjekt und Objekt zugleich oder objektives Subjekt-Objekt. Materie ist dies auch subjektiv: denn sie ist eben »Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung«,99 ja: »das oberste Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung äußerer Sinnenwesen.«100 Oder: Materie, dieser Urstoff der Körper oder dieses Kontinuum wird nicht nur zur ersten, obersten Bedingung der Möglich95

Vgl. dazu 21.595: 19 – 596: 12: »Nun ist die absolute Einheit möglicher Erfahrung zugleich die Einheit des gesammten Stoffs mithin auch der die äußeren Sinne bewegenden Kräfte der Materie. Also liegt schon im Begriffe der Einheit der Erfahrung a priori (vor allem Empirischen als Aggregat der Warnehmungen) der Begriff eines Systems agitirender Kräfte der Materie als in der Erfahrung nothwendig gehörend. Was aber zum Existirenden unbedingt nothwendig (durch den bloßen Begriff vom Gegenstande) gehört ist Selbst wirklich. – Also existirt Ein Elementarsystem der bewegenden Kräfte der gesammten Materie als die Basis aller Bewegungen Die Existenz dieses Stoffs ist also hier nicht aus der Erfahrung gefolgert sondern zum Behuf des Begriffs der Einheit der möglichen Erfahrung a priori gegeben Das Ganze aller bewegenden Kräfte der Materie welches zur absoluten Einheit der möglichen Erfahrung gehört«. 96 21.586: 18 f. 97 Vgl. erneut 21.575: 25 sowie diverse in Abschnitt 2 zitierte Belege. 98 21.584: 22 ff.; 21.588: 28 ff.; 21.591: 6 ff.; 21.593: 12 ff. und 17 ff. 99 21.216: 4–7. 100 21.228: 15 f.

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keit der Erfahrung oder auch zur alleinigen Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung erhoben, ohne die Erfahrung nicht möglich wäre. Materie, dies Eines und Alles, vereinigt nicht nur in sich die Funktionen, die der transzendentale Idealismus der Kritik der reinen Vernunft der ursprünglich-synthetischen Einheit des Selbstbewußtseins, der transzendentalen Apperzeption, zuschreibt; sie ist diese Funktion: erstes, oberstes,101 alleiniges102 Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung, Grund der absoluten Einheit, des absoluten Ganzen als Objekt aller möglichen äußeren Erfahrung und zugleich absoluter Grund der Einheit aller Wahrnehmungen103 und aller Erfahrung von und in diesem Weltganzen. Dasselbe gilt für die Momente der Objektivität: dieser Urstoff enthält oder vereinigt in sich nicht nur – en passant auch die Antinomie der teleologischen Urteilskraft aufhebend104 – Mechanismus und Teleologie, unorganische und organische Natur, sondern auch Substantialität, Kausalität105 und Gemeinschaft der Weltkörper.106 Er vereinigt also in sich genau diejenigen drei Funktionen, die Kant in den drei Analogien der Erfahrung jeweils besonderen Verknüpfungsregeln oder transzendentalen Funktionen des reinen Verstandes zugewiesen hatte. Und er vereinigt sie in sich, weil er als Urstoff der Körperwelt eben »Eines und Alles der äußeren Sinnenobjecte« ist, ihr »›Princip a priori nämlich das der nothwendigen Einheit in dem Gesammtbegriffe der Möglichkeit Einer Erfahrung«, die absolute Einheit, Prinzip der »Deduction des Wärmestoffs«,107 i. e. der Existenz seiner selbst. Der Spinozismus dieser Konzeption ist vollkommen, ja er ist über Spinoza hinaus – ein Spinozismus derjenigen Art, wie er im Anschluß an den sogenannten Spinozismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn diskutiert108 und dann insbesondere von Schelling und Hegel entwickelt wor101

21.228: 15; 21.554: 2; 21.559: 10. 22.225: 16. 103 »[...] denn ohne diese Bewegung d.i. ohne Erregung der Sinnenorgane als jener ihre Wirkung findet keine Warnehmung irgendeines Sinnenobjects mithin auch keine Erfahrung statt« (22.573: 3–5) 104 KU, § 69 ff. 105 21.579: 25–28. 106 21.580: 12–15. 107 21.586: 17–24. 108 »Lessing. Ich merke, wir verstehen uns. Desto begieriger bin ich, von Ihnen zu hören: was Sie für den Geist des Spinozismus halten [...] Ich. Das ist wohl kein anderer gewesen als das Uralte: a nihilo nihil fit. [...] [Spinoza] fand [...], daß durch ein jedes Entstehen im Unendlichen [...], durch einen jeden Wechsel in demselben, ein Etwas aus dem Nichts gesetzt werde. Er verwarf also jeden Uebergang des Unendlichen zum Endlichen; überhaupt alle Causas transitorias, secundarias oder remotas; und setzte an die Stelle des emanirenden ein nur immanentes Ensoph; eine inwohnende, ewig in 102

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den ist. Hier – in Übergang 1–14 – erklärt sich Kant noch nicht explizit als Spinozist, und er identifiziert auch noch nicht den transzendentalen Idealismus mit Spinozismus wie später im VII. und I. Konvolut. Aber von der Sache her ist alles da: Der transzendentale Idealismus ist und bleibt Transzendentalphilosophie, d. h. Philosophie einer alle Objektivität transzendental konstituierenden Subjektivität. Aber ihr oberster Grund ist nicht mehr die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption des endlichen erkennenden Subjekts für sich genommen, ihr übergeordnet und – als oberster Grund aller Objektivität – ihr zugleich immanent ist nunmehr die Eine Substanz, die selbst zugleich Subjektivität ist. Kant formuliert das »Eines und Alles der äußeren Sinnenobjecte« sicher nicht unbewußt oder bewußtlos, sondern absichtlich; ebensowenig spricht Kant zufälligerweise von Attributen des Weltstoffs oder Wärmestoffs. Hier, im Entwurf Übergang 1–14, auf Bogen Übergang 12, drückt er zum ersten Mal klar seine Einsicht aus in das, wohin ihn sein unerbittlich radikales Philosophieren geführt hat: Kant ist »All Einer« geworden, um Mendelssohns Ausdruck zu benutzen,109 und zwar nicht mit einem »zweiten Spinozismus« wider Willen,110 sondern bewußt und entschlossen. Denn er hat die Lehre von einer unendlichen Vielzahl von individuellen Substanzen in der Erscheinung entschieden aufgegeben und ersetzt durch die Theorie der Einen Substanz und ihrer Attribute, die zugleich Subjekt der absoluten Einheit aller Objektivität und aller Wahrnehmung sich unveränderliche Ursache der Welt, welche mit all ihren folgen zusammengenommen – Eins und dasselbe wäre. [...] Diese inwohnende unendliche Ursache hat, als solche, explicite, weder Verstand noch Willen: weil sie, ihrer transcendentalen Einheit und durchgänigen absoluten Unendlichkeit zufolge, keinen Gegenstand des Willens haben kann [...] […] daß in der ersten Ursache, die unendlicher Natur ist, weder einzelne Gedanken, noch einzelne Bestimmungen des Willens angetroffen werden können; sondern nur der innere, erste, allgemeine Urstoff derselben [...].« (Jacobi IV 56–58) »Der Gott des Spinoza ist das lautere Principium der Wirklichkeit in allem Wirklichen, des Seyns in allem Daseyn, durchaus ohne Individualität, und schlechterdings unendlich. Die Einheit dieses Gottes beruhet auf der Identität des Nichtzuunterscheidenden, und schließt folglich eine Art von Mehrheit nicht aus. [Jacobi verweist hierzu auf Beylage VII] Bloß in dieser transcendentalen Einheit angesehen muß die Gottheit aber schlechterdings der Wirklichkeit entbehren [...].« (Jacobi IV 87 f.) 109 »Mendelssohn sey entschlossen, die Schrift über Lessings Character vor der Hand bey Seite zu legen, um diesen Sommer, wenn er Gesundheit und Muße hätte, erst einen Gang mit den Spinozisten, oder All Einern, wie er sie lieber nennte, zu wagen.« (Jacobi IV 98 f.) 110 »So wurde durch unsern Kant, ganz wider seine Absicht, ein zweiter Spinozismus begründet, den ich anderswo [sc. in dem Brief an Fichte] einen verklärten genannt habe.« (Jacobi III 432)

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und Erfahrung ist – und zwar sowohl distributiv, i. e. als Grund der Einheit aller individuellen Objekte bzw. des Mannigfaltigen einzelner Wahrnehmungen, als auch kollektiv, als Grund der Einheit des Einen Systems aller Objektivität, der Materie, des Alls von Materie, der Natur,111 des Universums und Grund der Einheit der Einen allbefassenden Erfahrung. Bevor die Frage des ›Warum?‹ beantwortet werden soll, ist noch ein weiterer systematisch fundamentaler Punkt herauszustellen: Die Architektonik nicht nur der transzendentalen Analytik wird hier negiert und mit der Vereinigung der Funktionen der drei Analogien der Erfahrung in dem Begriff des »Einen Gegenstand[s] möglicher äußerer Erfahrung«,112 der Subjekt-Objekt ist, aufgehoben. Es wird auch die transzendentale Analytik mit der transzendentalen Dialektik vereinigt: dieses absolute Ganze, dieses Eine Objekt, das zugleich Subjekt, Grund der absoluten Einheit, der Möglichkeit der Wahrnehmungen und der einen Erfahrung ist – dieser für sich genommen bereits dialektische Weltbegriff wird mit den systematischen Funktionen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption ausgestattet, ja identifiziert und eben dadurch noch in systematisch fundamentalerer Weise dialektisch: denn er ist eo ipso Idealität einer Subjekt-Objekt-Dialektik, d. h. Identität der Identität und Nichtidentität der Subjektivität und der Objektivität und der Dialektik ihres Ineinander-Übergehens. Die ursprüngliche Einheit der Apperzeption, nunmehr als Absolutum begriffen, ist dieser Weltstoff, das Universum oder das absolute Objekt. Diese Vereinigung von transzendentaler Analytik und Dialektik ist die Aufhebung des transzendentalen Idealismus113 in einer spekulativen Identität von Substanz und Subjekt.114 111

Später auch der Freiheit. »Materie und ihre[r] innere[n] Bewegung in der Zeit [...] das gilt nun auch vom Weltraum daß sie [sc. diese Materie] nämlich im Zugleichseyn aller Teile desselben nebeneinander alle körperlichen Dinge in Gemeinschaft und das Subiect in die Bedingung möglicher Erfahrung auch des entferntesten setzt z.B. daß sie die Weltkörper für die Sinne perceptibel und zum Gegenstande möglicher Erfahrung macht.« (21.562: 21–27) »[...] so giebt es auch nur Einen Gegenstand möglicher äußerer Erfahrung im Felde der Causalität der Warnehmung von Aussendingen« (21.579: 25–28) »Man kan in der ursprünglichen Causalverbindung nicht von den Theilen zum Ganzen sondern nur umgekehrt von der Idee des Ganzen zu den Theilen gehen. – Die Einheit aller Weltsysteme und ihre Gemeinschaft.« (21.580: 12–15) 113 Es versteht sich nach dem Befund gleichsam von selbst, daß, wie erwähnt, durch die absolute – spekulative – Einheit und Identität auch die Antinomie der teleologischen Urteilskraft aufgehoben wird, und zwar nicht mehr, wie in der Kritik der Urteilskraft durch Maximen der reflektierenden Urteilskraft, sondern durch die nunmehr konstitutive Funktion von Vernunft und die daraus resultierende konstitutive Bestimmung des Begriffs von Materie, ursprünglich bewegend-körperbildend und 112

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b) Gründe der Umwälzung und Aufhebung des transzendentalen Idealismus Wie ist es zu dieser radikalen und durchgängigen Umgestaltung des Systems des Transzendentalen Idealismus und seiner Architektonik gekommen? Implizit ist die Frage bereits oben beantwortet worden: »weil ohne diesen Stoff vorauzusetzen ich gar keine äußere Erfahrung haben könnte«.115 »Denn ohne diese Bewegung d. i. ohne Erregung der Sinnenorgane als jener ihre Wirkung findet keine Wahrnehmung irgendeines Sinnenobjekts mithin auch keine Erfahrung statt.«116 Diese Antwort impliziert die – für Kant schmerzliche – Entdeckung einer fundamentalen Lücke im System: ohne diesen den ganzen Weltraum erfüllenden Urstoff der Körper und ihrer Bildung vorauszusetzen – von dem in der Kritik der reinen Vernunft explizit nicht gesprochen wird und auch nicht gesprochen werden konnte, weil er mit der Systematik der drei Analogien der Erfahrung selbsttätig zu sein. Weitere Konsequenzen: durch diese Revision der Kritik der teleologischen Urteilskraft und durch die Neubestimmung des Begriffs und der Funktion von Vernunft und Materie als absolute Einheit von Substantialität und Subjektivität wird nicht nur die immanente Architektonik der Kritik der Urteilskraft, sondern auch ihr Verhältnis zur Kritik der reinen Vernunft und, last, not least aller drei Kritiken zueinander, eben die Architektonik des Systems des transzendentalen Idealismus als eines Ganzen umgeworfen. 114 Spekulativ ist die Identität sowohl in der kantischen als auch der hegelschen Bedeutung des Ausdrucks: auf sie trifft intensional wie extensional der in der »Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft« gebrauchte Begriff zu. Und eben so ist sie spekulative Identität im Sinne des dritten der »Momente jedes LogischReellen« (Hegel, Enzyklopädie 1830, § 79 A, GW 20.118: 18), des Speculativen oder Positiv-Vernünftigen: »§82 Das Speculative oder Positiv-Vernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflösung oder ihrem Uebergehen enthalten ist. 1) Die Dialektik hat ein positives Resultat [...] 2) Diß Vernünftige ist daher, ob wohl ein gedachtes auch abstractes, zugleich ein Concretes, weil es nicht einfache formelle Einheit, sondern Einheit unterschiedener Bestimmungen ist. [...] 3) In der speculativen Logik ist die bloße Verstandes-Logik enthalten und kann aus jener sogleich gemacht werden; es bedarf dazu nichts, als das Dialektische und Vernünftige wegzulassen [...]« (GW 20.120: 2–17) Alle drei in § 82 A genannten Momente sind auch bei Kant zu finden: er konzipiert das Spekulative als das Positiv-Vernünftige und macht es zum Grund der Einheit sowohl aller Subjektivität der »Anstellung der Erfahrung« (21.564: 4 f.) als auch aller Objektivität und Gegenständlichkeit, zunächst der Natur und der Welt, schließlich auch der Freiheit. 115 21.229: 20 f. 116 21.573: 3–5.

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und der Auflösung der Antinomie im Weltbegriff durch den Transzendentalen Idealismus der Transzendentalen Dialektik unvereinbar ist –, findet Wahrnehmung nicht, mithin auch Erfahrung nicht statt: schärfer läßt sich das Defizit der Theorie der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, die in der Kritik der reinen Vernunft exponiert worden ist, nicht formulieren. Denn Kant erklärt hier das absolute Versagen seiner Konzeption. Insofern ist auch die Redeweise von einer »Lücke« oder selbst von »Kluft« noch eine untertreibende Metapher, weil beide Bilder die Möglichkeit der Schließung, der Überbrückung oder eben einen Übergang implizieren, aber einen solchen, der – wie schon der früheste Entwurf, der sog. Oktaventwurf von 1796, a fortiori der hier ausgewertete Entwurf Übergang 1–14 zeigt –, nach Prinzipien der Kritik der reinen Vernunft nicht möglich ist. Dieser Übergang bedeutet vielmehr die Aufhebung des Transzendentalen Idealismus, der Systematik der transzendentalen Analytik und insbesondere der Grundsätze des reinen Verstandes. Schließlich bedeutet er, wie gezeigt, die Vereinigung von transzendentaler Analytik und Dialektik und ist damit die Negation des Transzendentalen Idealismus. Eo ipso wird damit aus einem Übergang innerhalb des Systems – von allgemeinen transzendentalen Prinzipien oder metaphysischen Anfangsgründen zu einer besonderen metaphysischen Naturwissenschaft –, ein Übergang des Systems selbst in einen anderen Idealismus, d. h. ein Übergang des transzendentalen in einen spekulativen Idealismus. Der Transzendentale Idealismus enthält also nach dieser Erklärung Kants – horribile dictu – seine eigene Negation, damit die Notwendigkeit, sich selbst aufzuheben und in einen spekulativen Idealismus-Spinozismus oder was auch immer, überzugehen. Das kann nicht sein, weil es nicht sein darf: diese Maxime hat die Kantforschung seit nunmehr 60 Jahren zum allgemeinen Gesetz erhoben und ignoriert damit, was Kant selbst, und zwar mit unmißverständlicher Klarheit, dazu sagt: »Wir würden gar keine Einheit äußerer Erfahrung haben wenn wir nicht die Existenz eines solchen Stoffs voraussetzten und implicite unserem Begriff von Erfahrung zum Grunde legten wenn nicht ein System der bewegenden Kräfte der Materie als wirkende Ursache selbst der Möglichkeit der Erfahrung tacite untergelegt wäre.« (21.592: 23–27)

Sowohl »unser Begriff von Erfahrung« – d.h. ›mein‹ [Kants] in der Kritik der reinen Vernunft entwickelter Begriff – als auch unser – jeder – Vollzug117 von »Erfahrung von Außendingen« setzen implicite und tacite 117

Auch dieses Moment – die »Anstellung der Erfahrung über diesen Gegenstand«

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»ein Ganzes der Materie als äußeren Sinnenobjects gegeben« und »die Existenz eines solchen Stoffs« voraus.118 Die systematische Konsequenz von Kants Diktum: der transzendentale Idealismus setzt das absolute Objekt der Einen Materie, die die Eine Substanz, ursprüngliche Kausalität und Gemeinschaft aller Körper und Weltkörper ist, in absoluter Einheit und alle empirische Gegenständlichkeit durchgängig bestimmend voraus. Denn ohne diese Voraussetzung erfüllten Raum, Zeit und Kategorien des reinen Verstandes ihre transzendentale Funktion nicht, Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und ihrer Gegenständlichkeit zu sein, und sie könnten sie auch nicht erfüllen. Die transzendentale Idealität der empirischen Realität der Erscheinungen setzt also genau diejenige absolute Einheit, absolute Objektivität, Materialität und die ihnen immanente Dialektik voraus, die sie als Lösungsmittel der Antithetik und der Antinomie der reinen Vernunft im Weltbegriff negiert bzw. aufhebt. c) Scheitern des Versuchs einer konservativen Interpretation an der systematischen Radikalität von Kants Identitätsphilosophie Kants Reflexionen und seine Neukonzeption des transzendentalen Idealismus sind weder senil noch leichtsinnige Rückkehr zum Dogmatismus der Metaphysik; sie sind Zeugnisse äußerster systematischer Sensibilität, wie viele »Anmerkungen« zur Einzigartigkeit und Absonderlichkeit der Beweisart der transzendentalen Deduktion des absoluten Objekts, das Bedingung der Möglichkeit aller äußeren Erfahrung ist, zeigen; u. a. die folgende: »Anmerkung Die Beweisart des obigen Satzes119 ist in ihrer Art einzig weil das Object in dem selben einzeln ist. In der That wird in ihr nur indirect verfahren nicht sowohl um die Wahrheit des Gegenstandes als die Unmöglichkeit des Gegenteils zu bewei-

(21.564: 4 f.) – d.h. die Einbeziehung des erkennenden Subjekts nicht nur als abstrakte Instanz der Apperzeption und Synthesis des Mannigfaltigen, sondern als »physischer Körper« (21.574: 6, vgl. die früher zitierte Passage 21.573: 25 – 21.574: 12), als Objekt unter anderen Objekten in die transzendentale Analyse der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung ist ein absolutes Novum des Opus postumum. 118 21.592: 17 f. und 21.592: 24. 119 Sc. »Der Wärmestoff ist [...] aus Begriffen a priori mithin als nothwendig hervorgehender aber zum Behuf der Möglichkeit Einer allbefassenden Erfahrung überhaupt categorisch gegebener Stoff« (21.563: 11–15).

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sen nämlich aus dem Princip der Zusammenstimmung jenes Begriffs mit den Bedingungen der Möglichkeit Einer allbefassenden Erfahrung überhaupt wobey der Gegenstand derselben als ein einziger postulirt wird. – Die Wichtigkeit des Ausspruchs über diese Aufgabe für die Naturwissenschaft ist nicht zu verkennen denn der Begriff ihres Objects enthält die Basis zur Vereinigung aller Erscheinungen die zum Weltbegriffe hinweisen. Aber es ist doch immer nur ein Begriff der nicht als Thatsache demonstrabel ist und in der Erfahrung nicht begründet /564 sondern a priori aus der Vernunft hervorgehen soll. Nun ist aber das Princip der Möglichkeit aller Erfahrung die Realisirung des Raums selber als eines einzelnen Sinnenobjects d. i. der empirischen Anschauung. Also ist das subjective Princip der Anstellung der Erfahrung über diesen Gegenstand zugleich für das Object selbst und seine Existenz d. i. objectiv gültig. – Die bewegenden Kräfte der Materie ohne welche keine Erfahrung möglich ist sind ihrer Form nach vereinigt in der Vorstellung Eines Gegenstands und der Beweis seiner Existenz kann a priori ohne sich auf Erfahrung zu gründen mithin a priori geführt werden weil die absolute Einheit derselben als allgemein durch die Vernunft zu verknüpfender Warnehmungen die Bedingungen der Möglichkeit dieses Ganzen derselben zum Erfahrungsgegenstande macht.« (21.563: 16 – 21.564: 12)

In dieser Passage – in Verbindung mit den Abschnitten 21.241: 15–17, 21.573: 25 – 574: 12 und 21.591: 2 – 592: 15 betrachtet – werden die Grundzüge bzw. Grundlinien der neuen Systematik skizziert. Auch der Ansatz zur Selbstsetzungslehre zeichnet sich ab. Das systematisch vielleicht tiefgreifendste Moment der Neukonzeption des Transzendentalen Idealismus, das zugleich alle anderen in sich vereint, ist die Identität von Subjekt und Objekt, die Vereinigung von Idealität und Materialität, schließlich die Identität von Idealität und Materialität durch Vereinigung beider mit absoluter Einheit, dem Einen, das Alles ist. Nun bedient sich Kant selbst des Ausdrucks Subjekt-Objekt nicht. Ist also eine Kant systematisch mit Spinoza, wenn nicht sogar mit Schelling oder Hegel identifizierende Interpretation nicht doch vielleicht abwegig? Ich denke nicht. Denn erstens identifiziert Kant selbst sich und den Transzendentalen Idealismus ausdrücklich, wiederholt und durchgängig mit Spinozismus;120 anerkennt er zweitens Schelling zusammen mit Lichtenberg und Spinoza als Repräsentanten des Transzen120

22.64: 6–11: »Der transcendentale Idealism ist der Spinosism in dem Inbegriff seiner eigenen Vorstellungen das Object zu setzen. Von Spinozens Idee alle Gegenstände in Gott anschauen heißt soviel als alle Begriffe welche das Formale der Erkenntnis in einem System d.i. die Elementarbegriffe ausmachen unter Einem Princip fassen.«

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dentalen Idealismus,121 anerkennt Schelling also als Schüler und Nachfolger, und sein »System des transzendentalen Idealismus« von 1800 als Werk der Transzendentalphilosophie.122 Drittens aber – und dies ist systematisch entscheidend – macht sich Kant Grundmomente des Spinozismus zu eigen, zwar nicht Momente des authentischen Spinozismus des Spinoza selbst, wohl aber einen solchen, den Jacobi123 einen verklärten nennt. Die systematische Aneignung solcher Momente ergibt sich aus einer ganzen Reihe von Passagen, u. a. aus 21.563: 16 – 564: 12 und aus der schon öfter zitierten Passage 21.591: 22 – 592: 15, wozu auch 21.241: 15–17 und 21.573: 25 – 574: 12 hinzuzuziehen sind. Ich arbeite hier nur die wichtigsten systematischen Konstituentien heraus. In 21.563: 16 – 564: 12 interpretiert Kant den Beweis »des obigen Satzes«124 in zwölf Momenten selbst wie folgt: 1) Jener Begriff stimmt »mit den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zusammen«; 2) Erfahrung ist »Ein[e] allbefassend[e] Erfahrung«; 3) »Der Gegenstand derselben« wird »als einziger postulirt«; 4) Der Begriff des Objekts der Naturwissenschaft »enthält die Basis zur Vereinigung aller Erscheinungen«; 5) Es sind »Erscheinungen die zum Weltbegriffe hinweisen«; 6) Dieser Begriff ist »nicht als Thatsache demonstrabel und in der Erfahrung nicht begründet«; 7) Er soll »a priori aus der Vernunft hervorgehen«; 8) Prinzip der Möglichkeit aller Erfahrung ist die Realisierung des Raumes als eines einzelnen Sinnenobjects; 9) »Das subjective Princip der Anstellung der Erfahrung über diesen Gegenstand« ist »zugleich [...] objectiv gültig«, sc. »zugleich für das Object und seine Existenz«; 10)»Die bewegenden Kräfte der Materie ohne welche keine Erfahrung möglich ist sind ihrer Form nach vereinigt in der Vorstellung Eines Gegenstandes«; 121 »System des transc. Idealisms durch Schelling, Spinoza, Lichtenberg etc. gleichsam 3 Dimensionen: Die Gegenwart, Vergangenheit u. Zukunft.« (21.87: 26–31) 122 »Transc. Phil. ist das formale Princip, sich selbst als Object der Erkenntnis systematisch zu konstituiren. System des transc. Idealism von Schelling, vide Litteratur-Zeitung, Erlangen No. 82.83.« (21.97: 23–29) 123 U.a. im Brief an Fichte (Jacobi III 11). 124 Sc. 21.563: 11–15: »Der Wärmestoff ist [...] aus Begriffen a priori mithin als notwendig hervorgehender aber zum Behuf der Möglichkeit Einer allbefassenden Erfahrung überhaupt categorisch gegebener Stoff«.

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11)»und125 der Beweis seiner Existenz kann a priori ohne sich auf Erfahrung zu gründen, mithin apriori geführt werden«; 12)»Weil die absolute Einheit derselben als allgemein durch die Vernunft zu verknüpfender Wahrnehmungen die Bedingungen der Möglichkeit dieses Ganzen derselben zum Erfahrungsgegenstande macht.« Wer versuchen wollte, diese Passage klassisch zu interpretieren, könnte vielleicht sagen: (1) zeigt doch, daß Kant sich treu bleibt; (2) mag wegen KrV, B 383 und Prolegomena § 40126 ein Problem sein, aber (3) zeigt doch, daß es hier nur um ein Postulat geht. (4) und (5) sind trivial und deshalb unproblematisch, ungefährlich. (6) zeigt, daß Kant an der strikten Unterscheidung von Apriorität und Erfahrung festhält. (7) zeigt ebenso wie (3), daß dieser Begriff für einen bloß regulativen Gebrauch bestimmt ist. (8) ist eine Annahme, von der auch die Kritik der reinen Vernunft ausgeht bzw. die sie in der Theorie des Raumes als reine Anschauung entwickelt hat. (9) reproduziert nur »das oberste Principium aller synthetischen Urteile«, d. h. KrV B 197. (10) ist unproblematisch, solange davon nur regulativer Gebrauch gemacht wird. Nur (11) und (12) gehen zu weit, sind daher abzulehnen. Verzichtet man auf sie – und Kant hat sie ja schließlich nicht publiziert – bleibt alles akzeptabel und beim alten, d. h. beim klassischen transzendentalen Idealismus. Zweifellos macht eine solche Interpretation auf etwas außerordentlich Wichtiges aufmerksam: die Kontinuität von Kants Argumentation und die der Konzeption transzendentaler Idealität: Kant bleibt seiner Sache treu. Zugleich ist diese Interpretation um systematische Kohärenz des transzendentalen Idealismus bemüht, wie Kant selbst auch. Aber sie scheitert: Denn erstens ignoriert sie den »obigen Satz« und seinen Inhalt: der Wärmestoff geht aus Begriffen hervor, mithin ist seine Existenz a priori und notwendig; und: er ist kategorisch gegeben, und zwar zum Behuf der Möglichkeit Einer allbefassenden Erfahrung überhaupt. Das bedeutet: Bewiesen wird die Existenz a priori, i. e. die notwendige Existenz eines einzigen oder einzelnen Gegenstandes, der der einzige Gegenstand äußerer Erfahrung überhaupt127 ist. Und: diesem Gegenstand wird die transzendentale Funktion zugeschrieben, alle äußere Erfahrung möglich zu machen. Zweitens ignoriert diese Interpretation den existential import, der hier dem Prinzip von KrV B 197 über die Prinzipien der Kritik der reinen Ver125 126 127

Sc. direkt anschließend an den Satz 10. S. o. Fußnote 91 u. 92. Früher hieß das: »der Gegenstand äußerer Sinne«.

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I. Die kantische Systematik im Umriß · B. Tuschling

nunft hinaus zugeschrieben wird: Für die transzendentale Analytik ist das Bestimmtsein der Gegenstände der Erfahrung durch den reinen Verstand, die transzendentale Einbildungskraft und die Kategorien Bestimmtsein des Mannigfaltigen der Anschauung eines Gegenstandes überhaupt »in Ansehung einer der Funktionen zu urteilen« (KrV B 128). Es ist also nicht omnimoda determinatio, sondern es setzt das Gegebensein von Mannigfaltigem in der empirischen oder reinen Anschauung voraus. Und: »Es versteht sich von selbst, daß die Vernunft zu dieser ihrer Absicht, nämlich sich lediglich die notwendige durchgängige Bestimmung vorzustellen, nicht die Existenz eines solchen Wesens, das dem Ideale gemäß ist, sondern nur die Idee desselben voraussetze, um von einer unbedingten Totalität der durchgängigen Bestimmung die bedingte, d. i. die des Eingeschränkten abzuleiten.«128 Hier aber – in Teilsatz (9) – fügt Kant nachdrücklich die Existenz hinzu: Das subjektive Prinzip der Anstellung der Erfahrung gilt zugleich für das Objekt und seine Existenz. Das Objekt ist also durch das subjektive Prinzip omnimode determiniert, die transzendentale Subjektivität wird damit absolut. Allerdings wird »die Existenz eines solchen Wesens, das dem Ideale gemäß ist«, im opus postumum nicht konzipiert. Vielmehr werden dieses transzendentale Ideal und seine göttliche Idealität mit all ihren Funktionen spinozistisch mit dem Ein und Alles, dem Einen Objekt, dem absoluten Ganzen der Materie, dem Plenum, der Welt, der Natur identifiziert und damit materialisiert. Eo ipso wird damit die transzendentale Idealität spekulativ. Eben damit aber ignoriert eine solche Interpretation drittens und insbesondere die Subjektivität dieses einzelnen, einzigen und einzigartigen Objekts, seine transzendentale Stellung und Funktion, damit schließlich auch die Transzendentalität des Beweises. Kant macht von den Vernunftideen nicht, wie die Interpretation insbesondere für die Teilsätze (3), (7) und (10) unterstellt, bloß regulativen Gebrauch. Und es reicht auch nicht hin, den in (11) und (12) ausgedrückten Gedanken eines Existenzbeweises a priori und einer absoluten Einheit zu eliminieren. Denn (8) und (10) ebenso wie (4) und (5) drücken absolute Einheit des »Eines und Alles der äußeren Sinnenobiekte«129 in konstitutiver Funktion und Bedeutung aus. Der Teilsatz (8) sagt entscheidend mehr und anderes als die Kritik der reinen Vernunft aus, nämlich dies: sowohl als Form der Anschauung, d. h. distributiv-allgemein (für die räumliche Bestimmtheit der empirischen Gegenstände) als auch kollektiv-allgemein, d. h. als formale reine An128 129

KrV B 605 f. 21.586: 18 f.

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schauung oder als der eine unendliche Raum kann der Raum nach Teilsatz (8) und der das Opus postumum durchgängig bestimmenden Argumentation nur unter der Voraussetzung dieses »Einen«, i.e. dieses absolut einen und einzigen Objekts, das zugleich »Alles«, nämlich materielles Kontinuum und Plenum ist, fungieren. Denn dieser Stoff – »der Begriff ihres Objects [sc. der Naturwissenschaft]« (21.563:25) – ist nicht nur die Basis von Erscheinungen, sondern aller Erscheinungen und die Basis ihrer Vereinigung. Dies wiederum nicht nur kollektiv – was vielleicht noch vermittelst eines bloß regulativen Vernunftgebrauchs denkbar wäre –, sondern auch distributiv – und dies revidiert die Systematik der transzendentalen Analytik an ihrem »höchsten Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und, nach ihr, die Transzendentalphilosophie heften muß«, d. h. es revidiert die transzendentale Funktion der synthetischen Einheit der Apperzeption.130 Denn die Einheit, die dieser Stoff schafft, ist die synthetische Einheit des Mannigfaltigen aller Erscheinungen, jeder Erscheinung für sich genommen und ihres Zusammenhangs im Ganzen. Dies ist der Sinn von »die Realisierung des Raumes« in Teilsatz (8). Dieser Stoff also stiftet absolute Einheit des Mannigfaltigen sowohl für das einzelne empirische Objekt, wie für die Gesamtheit aller Gegenstände möglicher Erfahrung überhaupt. Daran lassen sowohl die hier ausgewerteten Sätze als auch die früher schon zitierten Passagen keinen Zweifel: »Wir würden gar keine Einheit äußerer Erfahrung haben.«131 Und: »weil die absolute Einheit derselben als allgemein durch die Vernunft zu verknüpfender Warnehmungen die Bedingungen der Möglichkeit dieses Ganzen derselben zum Erfahrungsgegenstande macht.«132 Hier wiederum sind die folgenden revolutionären Momente und Identifikationen enthalten: 1) Die bewegenden Kräfte sind »allgemein zu verknüpfende Warnehmungen«.

130

KrV B 134, Anmerkung. 21.592: 23 ff. 132 21.564: 10–12; vgl. auch 21.217: 7–12: »Der Grund zu dieser Behauptung ist: daß die Anschauungen in Raum und Zeit nur Formen sind und ohne etwas das sie auch nur blos für die Sinne kennbar machte, gar keine realen Objecte an die Hand geben würden, welche eine Existens überhaupt, vornehmlich auch die der Größe, möglich machte, mithin den Raum und die Zeit für die Erfahrung schlechterdings leer lassen würden.« und 21.573: 3–5: »denn ohne diese Bewegung d.i. ohne Erregung der Sinnenorgane als jener ihre Wirkung findet keine Warnehmung irgendeines Sinnenobjects mithin auch keine Erfahrung statt«. 131

156

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2) Vernunft ist absolute Einheit dieser bewegenden Kräfte der Materie als »allgemein zu verknüpfender Warnehmungen«. 3) Die Wahrnehmungen sind durch die Vernunft zu verknüpfen. 4) Der Vernunft wird konstitutive Funktion zugeschrieben, und es ist diese Vereinigung von absoluter Materialität [All-Einheit] und Idealität der Vernunft, die »die Bedingungen der Möglichkeit dieses Ganzen zum Erfahrungsgegenstande« und damit Erfahrung möglich macht. 5) Es ist diese von der Vernunft – nicht vom reinen Verstand oder der Apperzeption – erzeugte Einheit, die subjektives Prinzip und objektiv gültig ist.133 Der in Teilsatz (9) des obigen Arguments erfolgende Rekurs auf den obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile wird hier nicht auf einen Grundsatz oder eine Verknüpfungsregel des Verstandes, sondern auf eine Verknüpfungsregel der Vernunft, die dialektisch ist, bezogen. Es ist also ein Vernunftprinzip, das in den Rang einer für die Erfahrung konstitutiven Bedingung ihrer Möglichkeit, ja zum obersten Grund der Einheit der Erfahrung erhoben wird. Dabei mag es noch zweifelhaft sein, ob dieses Prinzip damit als synthetisches Urteil a priori begriffen wird oder nicht. An dem Faktum, daß hier von einem Vernunftprinzip konstitutiv Gebrauch gemacht und die Synthesis des Mannigfaltigen einzelner und aller Erscheinungen nicht mehr der Apperzeption in der Beziehung auf das von der Sinnlichkeit gegebene Mannigfaltige, sondern der Vernunft in Beziehung auf das eine und einzige in bloßen Begriffen a priori gegebene Objekt zugeschrieben wird, ist nicht zu zweifeln. Mit den hier zuletzt unter Punkt 4 und 5 genannten Momenten ist die Vereinigung von Substantialität und Subjektivität oder von Substanz und Subjekt zur absoluten Identität vollzogen. Auch in diesem Punkt macht sich Kants Sensibilität für die Systematik des transzendentalen Idealismus gleichzeitig mit oder sogar in der sich herausprozessierenden Umwälzung zu einem Substantialität und Subjektivität vereinigenden Spinozismus geltend. Denn Kant selbst thematisiert das Problem der Analytizität und der Synthetizität wiederholt und sehr konsequent in diversen Passagen, u. a. wie folgt: »Dieser Beweis der Existenz einer Materie durch Begriffe a priori ist so wie diese die absolute Einheit eines Ganzen betrifft auch nur der Einzige seiner Art in der Be133

21.564: 4–6: »Also ist das subjective Princip der Anstellung der Erfahrung über diesen Gegenstand zugleich für das Object selbst und seine Existenz d.i. objectiv gültig.«

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weisführung durch bloße Begriffe die auf kein anderes Objekt anwendbar ist. Die logische Einheit die auf das Allgemeine geht wird hier mit der realen identificirt, die aufs All der Materie geht«.134 In dieser Passage werden Allgemeinheit und All, Begriff und Wirklichkeit, formale und reale Logik, Einheit des Denkens und des Seins, also Einheit und Einssein nicht nur miteinander identifiziert, sondern von Kant als solche thematisiert und problematisiert. Die systematischen Besonderheiten einer zweiten Passage, nämlich 21.573: 25 – 574: 12, sind: 1) »Erfahrung« ist »Wirkung agitirender Kräfte der Materie im Subjekt«. 2) »Diese135 müssen also a priori vorausgesetzt werden«. 3) »Die subjektive analytische Einheit also der möglichen Erfahrung ist zugleich die objektive synthetische der Gegenstände der Erfahrung.« 4) »Äußere Erfahrung selbst beruht auf den das Subject (als physischen Körper) bewegenden Kräften der Materie nur daß die distributive Einheit der von diesen bewirkten Warnehmungen desselben136 in die collective der dazu erforderlichen bewegenden Kräfte der Form der Einheit (Gesammtheit) in dem Ganzen der Erfahrung gemäß gedacht und so der die Sinne bewegende Stoff welcher subjectiv gedacht eben darum [!] auch objectiv als Gegenstand der Erfahrung schlechthin [!] gegeben wird.« In dieser Passage sind nahezu alle Ungeheuerlichkeiten der Umwälzung und Neukonzeption des Transzendentalen Idealismus enthalten. Zugleich wird Kants Sensibilität und Differenziertheit evident. In (1) und (4) akzentuiert er, wie schon in der früher zitierten Passage 21.563: 16 – 564: 12, das ›realphilosophische‹ Problem von Erfahrung nicht nur als Problem einer transzendentalen Logik der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und von synthetischen Urteilen a priori oder Gesetzen, sondern als realen Vollzug. Und auch dies zeichnet die systematische Arbeit Kants im Opus postumum gegenüber der Kritik der reinen Vernunft aus:137 das Erkennen ist nicht nur eine transzendentale Bewegung der Verbindung von Mannigfaltigem (Synthesis) in Begriffen; Erkennen wird auch begriffen als reale Bewegung, als physischer oder, noch allgemeiner, als realer Prozeß der bewegenden Kräfte138 des Subjekts als Objekt. Die 134 135 136 137

21.241: 12–17. Sc. bewegende Kräfte und ihre objektive Vereinigung in einem System. Sc. des Subjekts. Vermutlich in Konsequenz der Kritik Maimons und vieler anderer Zeitgenos-

sen. 138

Der technisch-praktischen und der moralisch-praktischen Vernunft, wie Kant später sagen wird.

158

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in (2) artikulierte Voraussetzung a priori ist also die Voraussetzung nicht nur des Begriffs, des Urstoffs, Wärmestoffs oder Elementarsystems der bewegenden Kräfte a priori; vorausgesetzt wird das reale oder existentielle Einbezogensein des erkennenden Subjekts in das Prozessieren dieses Weltsystems, dessen Existenz – und nicht nur sein Begriff – das Absolutum ist. Die Formel (3) ist das sowohl formal- als auch transzendental-logisch vielleicht spektakulärste Moment: Analytische und synthetische Einheit sind identisch, subjektive und objektive Einheit sind identisch, Einheit der Erfahrung und Einheit der Gegenstände der Erfahrung sind ein und dasselbe. Aus dieser in (3) artikulierten absoluten Identität wird dann schließlich in (4) das Schlechthin-Gegebensein des materiellen Kontinuums, Systems der bewegenden Kräfte oder Weltstoffs analytisch deduziert – das Um-Denken der distributiven Einheit der Wahrnehmungen in die kollektive Einheit der dazu erforderlichen bewegenden Kräfte soll also dieses Schlechthin-Gegebensein aller Materialität (allen Daseins) begründen! Folgende Komplexe sind aus diesen Reflexionen festzuhalten: 1) Analytisch und synthetisch, subjektiv und objektiv, Einheit der Erfahrung und der Gegenstände der Erfahrung werden nicht mehr als contradictorie oder zumindest contrarie absolute opposita, sondern als in einander übergehende Momente, d. h. sie werden dialektisch begriffen. 2) Sie sind identisch und nicht identisch, Ausdruck einer Identität der Identität und Nichtidentität. 3) Sie sind als identisch und unterschieden Ausdruck ein und desselben Absoluten, das All und Eines, Allgemeinheit, All und Einzelheit ist. 4) Die ursprünglich transzendental begriffene Einheit des sinnlich gegebenen Mannigfaltigen, erzeugt durch die Synthesis des reinen Denkens oder durch die sowohl Denken als auch Sinnlichkeit in sich vereinigende transzendentale Einbildungskraft, wird hier ersetzt durch die unbedingte Identität eines Absoluten, das sowohl analytische als auch synthetische Einheit, sowohl subjektiv als objektiv, sowohl Vernunft, reines Denken, res cogitans als auch Materie, dynamisches Kontinuum, res extensa, d. h. sowohl Idealität als auch Materialität ist und dadurch die Synthesis der distributiven Einheit des Mannigfaltigen der Sinnlichkeit für das erkennende Subjekt empirisch möglich macht. 5) Das in 4. Ausgedrückte ist diejenige »Verklärung« des Materialismus in Idealismus und ihre Vereinigung in der Einen Substanz, die Jacobi

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u. a. im Brief an Fichte systematisch schon Spinoza selbst139 und später als systematisches Ergebnis wider Willen auch dem »zweiten Spinozismus« Kants140 zuschreibt. Auf jeden Fall aber ist die hier herangezogene Passage neben vielen anderen ein besonders deutlicher Beweis dafür, daß Kant nicht nur All-Einer und Spinozist geworden ist, sondern eo ipso den cartesianischen Dualismus, die absolute Trennung von Subjekt und Objekt, von reinem Denken und allein durch die Sinnlichkeit gegebener Materialität – kurz: die Lehre von der absoluten Entgegensetzung der beiden »Stämme«141 oder »Grundquellen« unserer Erkenntnis142 – und damit die der ausschließenden Entgegensetzung von Analytizität und Synthetizität, Apriorität und Empirizität systematisch aufgegeben hat. Zur selben Zeit also, zu der der junge Hegel in der Vorrede zur Differenzschrift das Spekulative als den wahren Geist der kantischen Philosophie hervorhebt, zugleich aber konstatiert: »es bleibt außer den objektiven Bestimmungen durch die Kategorieen ein ungeheures empirisches Reich der Sinnlichkeit und Wahrnehmung eine absolute Aposteriorität, für welche keine Apriorität als nur eine subjektive Maxime der reflektirenden Urtheilskraft aufgezeigt ist; d. h. die Nichtidentität wird zum absoluten Grundsatz erhoben«,143 hebt Kant diesen absoluten Grundsatz der Nichtidentität auf, vereinigt Subjektivität und Objektivität, Idealität und Materialität, Apriorität und Aposteriorität, Analytizität und Synthetizität, oder kurz: Subjekt und Substanz in absoluter Einheit, in der all diese Momente dialektisch ineinander übergehend ein und denselben Prozeß als Substantialität und Subjektivität konstituieren oder ausmachen.

139

Jacobi III 10/11: »Auf diese Weise haben die zwey Hauptwege: Materialismus und Idealismus; der Versuch, alles aus einer sich selbst bestimmenden Materie allein, oder allein aus einer sich selbst bestimmenden Intelligenz zu erklären, dasselbe Ziel; ihre Richtung gegeneinander ist keineswegs divergirend, sondern allmählig annäherend bis zur endlichen Berührung und Durchdringung. Der speculative, seine Metaphysik ausarbeitende Materialismus mußte zuletzt sich von selbst in Idealismus verklären; denn außer dem Dualismus ist nur Egoismus, als Anfang oder als Ende – für die Denkkraft, die ausdenkt. Wenig fehlte, so wäre eine solche gänzliche Verklärung des Materialismus schon durch Spinoza zu Stande gekommen [...].« 140 In einem Text allerdings, den Kant im Unterschied zu Jacobis Brief an Fichte von 1799 nicht gekannt haben kann (Jacobi III 432). 141 KrV B 29. 142 KrV B 74. 143 Hegel, GW 4.6: 11–15.

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Die oben144 konstatierte, aus der Vereinigung von transzendentaler Analytik und Dialektik resultierende spekulative Identität von Substantialität und Subjektivität findet in dieser Vereinigung aller im transzendentalen Idealismus der Kritik der reinen Vernunft absolut getrennten und einander entgegengesetzten Momente bis ins letzte systematische Detail hinein ihren konsequenten Ausdruck.

d) Subjektivität, Physik, synthetische Urteile a priori, höchster Standpunkt der Transzendentalphilosophie Die Substanz-Subjekt-Philosophie des Entwurfs Übergang 1–14 wirft viele Fragen auf, insbesondere aber diejenige, was für eine Art von transzendentaler, metaphysischer oder spekulativer Subjektivität es ist, die nicht nur absolut, sondern zugleich auch empirisch ist und es erlaubt, äußere Wahrnehmung als stofflich, als Wirkung agitierender Kräfte der Materie im Subjekt zu erfahren:145 Wie ist es möglich, ein und dieselbe Aktivität und Spontaneität als physikalischen Prozeß und als Prozeß einer Synthesis im Subjekt zu begreifen, die gleichzeitig empirisch und transzendental ist? Einer Synthesis also, die als empirische nur Wirkung dieser agitierenden Kräfte der Materie ist, und zwar eine Wirkung agitierender Kräfte im Subjekt, das eo ipso als bewegter physischer Körper begriffen wird,146 von Kräften, die aber zugleich »a priori vorausgesetzt werden müssen«?147 Und wie soll man es verstehen, daß dieser »Stoff zur Erfahrung«, nämlich »äußere Wahrnehmung« zwar zunächst »distributive Einheit der von diesen [Kräften] zu vereinigenden Wahrnehmungen« ist, indem er »in die collective der dazu erforderlichen bewegenden Kräfte der Form der Einheit (Gesamtheit) in dem Ganzen der Erfahrung gemäß gedacht« wird, eben darum aber – nur wegen des in dieser Form der Gesamteinheit der Erfahrung Gedachtwerdens – »auch objektiv als Gegenstand der Erfahrung schlechthin gegeben wird.«148 Dieses Denken also erzeugt das schlechthin, d. h. das unbedingte Gegebensein dieses Stoffs in kollektiver Einheit. Wie ist das möglich?

144 145 146 147 148

Am Schluß des Abschnitts 3. a). 21.573: 25. 21.574: 5–12. 21.574: 1. 21.573: 25–574: 12.

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Es ist diese Frage, die sich Kant im Anschluß an den Entwurf Übergang 1–14 stellt und zwar in verschiedenen Formen, die aber systematisch alle auf dasselbe abzielen. Was ist Physik?149 Was sind synthetische Urteile a priori und wie sind synthetische Urteile a priori möglich?150 Was ist ein Übergang?151 Was ist Erfahrung?152 Dabei wird in der Frage »Wie ist Physik möglich?« Physik nunmehr als »die Wissenschaft der Prinzipien der Erkenntnis der Gegenstände der Erfahrung, entweder der unmittelbaren oder der Erfahrung von der Erfahrung« begriffen;153 als »Physik welche a priori gedacht werden muß.«154 Diese Fragen führen schließlich zur Konzeption der Selbstsetzung: »Das subjective Princip des Bewußtseyns seiner selbst in der synthetischen Einheit a priori der Zusammensetzung (synthesis) eines Objects der Anschauung seiner selbst als Erscheinung eines Gegenstandes überhaupt außer mir, d. i. der Raum, oder meiner selbst in mir, die Zeit als das Formale der Anschauung liegt zuerst zum Grunde der Warnehmung (der empirischen Vorstellung mit Bewußtseyn) als dem Materialen außer mir und in mir, und der Verstand macht den Fortschritt zur Möglichkeit der Erfahrung. Die Erfahrung als der Überschritt von den metaph. A. Gr. der N. W. zur Physik ist nun eine unbedingte Einheit, d. i. es gibt nicht Erfahrungen, sondern alle Wahrnehmungen, Erfahrung als synthetische Einheit jenes Mannigfaltigen der empirischen Vorstellungen in einem System, ist nur Eine als durchgängige Bestimmung. Behuf zur Physik [...] Raum, Zeit und synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Sinnenanschauung der durchgängigen Bestimmung des Subjects in Zusammensetzung desselben als das Formale derselben ist die transcendentale Idealität. Also Raum und Zeit und die Verbindung des Aggregats der Warnehmungen zu einem Ganzen der Möglichen Erfahrung in beyden als System derselben (für, nicht durch die Erfahrung) ist das Formale. – Raum, Zeit, und die synthetische Einheit des Mannigfaltigen derselben in der Anschauung als Erscheinung des Sinnenobiects, wie das Subject von ihm als einem absoluten Gantzen afficirt wird.« (22.445: 9 – 446: 9)

In diesem Zusammenhang wird u. a. auch ein neuer Grundsatz der Transzendentalphilosophie artikuliert: »[…] das Bewußtseyn meiner selbst in der Formul: Ich bin ist identisch mit dem Satze: Ich bin mir selbst ein Gegenstand, und zwar der inneren Anschauung 149 150 151 152 153 154

22.456. 22.449/450. 22.467/68. 22.445: 9 – 446: 9. 22.455: 8 ff. 22.468: 26–28.

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(dabile) und des Denkens der Bestimmung dessen, was ich mir beilege (cogitabile). Der Satz also ›Ich bin mir selbst ein Gegenstand der Anschauung und des Denkens des Mannigfaltigen der Anschauung meiner selbst‹ ist ein synthetischer Satz a priori, nach dessen Möglichkeit ich nicht forschen darf und der Grundsatz der Transzendental=Philosophie, der in der Aufgabe: Wie sind synthetische Sätze apriori möglich? [sich] selbst beantwortet.«155 »Anschauung eines Objects ohne Grenzen, Raum und Zeit und durchgängige Bestimmung seiner Selbst als Subject in der durchgängigen Bestimmung im Raum und der Zeit als Princip der Möglichkeit der Erfahrung (äußerer und innerer) als Erkenntnis eines Lehr-Systems, Physik genannt, zu welchem durch diesen Act ein Überschritt der Doctrin von den metaph. A. Gr. der N.W. zur Physik geschieht. Hiebey ist keine Idealität eines gegebenen Obiects. sondern Realität der Synthesis des sich selbst a priori constituirenden Princips der Verbindung des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt als Erscheinung, d. i. insofern sie nach dem Formalen ihrer Einheit (es ist Ein Raum und Eine Zeit) zugleich Fortschritt ins Unendliche ist, in welchem die empirischen Vorstellungen mit Bewustseyn (Warnehmungen) Einheit der möglichen Erfahrung zu einem System fortschreiten, welches nicht gegeben, sondern gedacht wird. Also Raum, Zeit und Princip der durchgängigen Bestimmung der Erscheinung eines Gegenstands der Anschauung im Raume und der Zeit machen das aus, was nicht blos ein Aggregat des Mannigfaltigen der Warnehmung durch Observation und Experiment, sondern ein System, Erfahrung genannt, die nur Eine ist, ausmacht und zu welchem der Verstand übergeht. Der erste Act des Vorstellungsvermögens, wodurch das Subject das Mannigfaltige seiner Anschauung setzt und sich selbst zum Sinnengegenstande macht, ist ein synthetisches Erkenntnis a priori des Gegebenen (dabile), Raum und Zeit als Formalen der Anschauung und des Gedachten in der Zusammensetzung dieses Mannigfaltigen (cogitabile), insofern es blos als Erscheinung dem Formalen der Anschauung nach a priori vorstellbar ist. [...] Es gehört aber viel dazu auszumachen, ob ein empirisches Erkenntnis für ein Prinzip der Erkenntnis und einen Erfahrungssatz gehalten werden könne. Denn dazu wird durchgängige Bestimmung, als welche allein das Dasein des Gedachten ausmachen kann, erfordert. – Erfahrung ist absolute Einheit und Vollständigkeit der Warnehmung, nicht in einem unbestimmten Aggregat, sondern in einem System, und die Vollständigkeit der Erfahrungserkenntnis kann nicht aus dem System, sondern nur für dasselbe constituirt werden, mithin gibts nur Fortschreiten zur Erfahrungs Kenntnis, aber eigentlich nicht physische Erfahrungslehre.

155

22.449:25 – 450: 3.

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Das Subject setzt sich selbst in der reinen Anschauung und macht sich zum Object.«156 »Wenn ich statt Materie (Stoff) bewegende Kräfte der Materie und statt des Object, welches beweglich ist, das bewegende Subject nehme, so wird das möglich, was vorher unmöglich schien, nämlich empirische Vorstellungen, die das Subject selbst macht, nach dem formalen Princip der Verbindung a priori als gegeben vorzustellen. Das Subject hat keine Warnehmungen als blos empirische Vorstellungen, die es der Erscheinung gemäß autonomisch157 in Einem Bewußtseyn verbindet, und wodurch es zugleich Princip der Möglichkeit der Erfahrung ist. Es ist wirklich unmöglich, empirische Vorstellungen a priori zur Einheit der Erfahrung verbunden zusammenzustellen, und doch scheint es, daß dieses aus dem Begriff einer Physik, zu der übergegangen werden soll, nothwendig ist.«158 »Der erste Gedanke, von dem die Vorstellungskraft ausgeht, ist die Anschauung seiner selbst und die Categorie der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Erscheinung, d. i. der reinen (nichtempirischen) Vorstellung, die vor aller Wahrnehmung vorhergeht unter dem Prinzip a priori, wie sind synthetische Urteile apriori möglich? Dessen Beantwortung ist: sie sind in der unbedingten Einheit des Raumes und der Zeit als reine Anschauungen identisch enthalten, deren Qualität darin besteht, daß das Subject sich selbst als gegebenen (dabile) setzt, ihre Quantität aber, daß der Act der Zusammensetzung als unbegrenzt im Fortschreiten (cogitabile) als ein denkbares Ganzes die Anschauung eines unendlich unendlichen Ganzen enthält.«159

Und es ist schließlich diese Fragestellung, die auch explizit zum Spinozismus der transzendentalen Idealität führt.160 Kurz: Es ist die Sache des Transzendentalen Idealismus, an der Kant unermüdlich und unerschrocken arbeitet, die ihn zu immer radikaleren Neubestimmungen des Transzendentalen Idealismus als Spinozismus der Selbstsetzung, zur Anerkennung Schellings und schließlich zum »höchsten Standpunkt der Transzendentalphilosophie«, nämlich der transzendentalen Theologie161 führt: »Der transcendentale Idealism ist der Spinozism in dem Inbegriff seiner eigenen Vorstellungen das Object zu setzen Von Spinozens Idee alle Gegenstände in Gott anzuschauen heißt soviel als alle 156 157 158 159 160 161

22.451: 11–452: 24. Vgl. Schelling I.3 361. 22.455: 17–27. 22.11: 2–12. Vgl. u.a. die am Ende dieses Aufsatzes zitierte Passage 22.53: 27 – 54: 8. 21.23: 17.

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Begriffe welche das Formale der Erkentnis in einem System d. i. die Elementarbegriffe ausmachen unter einem Princip zu fassen«162 »Der erste Act des Subjects ist mein Erkentnisvermögen der Qualität und Quantität nach zu erkundigen und auszumessen, d. i. erstlich das Bewußtseyn meiner selbst (logisch) und die Anschauung meiner selbst (metaphysisch) durch synthetische Sätze apriori. Sich selbst zu setzen.«163 »Ich bin ein Gegenstand von mir selbst und meiner Vorstellungen. Daß noch etwas außer mir sey ist ein Product von mir selbst. Ich mache mich selbst. Der Raum kan nicht wargenommen werden. (Aber auch nicht die bewegende Kraft im Raum in so fern sie ohne einen Körper der sie ausübt als wirklich vorgestellt wird). Wir machen alles selbst.«164 »Der Verstand fängt mit dem Bewußtseyn seiner selbst (apperceptio) an und übt damit einen logischen Act aus an welchen sich das Mannigfaltige der äußern und innern Anschauung reihet und das Subject sich selbst in grenzenloser Reihe zum Object macht. Diese Anschauung ist aber nicht empirisch d. i. sie ist nicht Warnehmung d. i. nicht vom Sinnengegenstande abgeleitet sondern bestimt den Gegenstand durch den Act des Subjects a priori seiner eigenen Vorstellungen Inhaber und Urheber zu seyn und schreitet weiter mit seiner Vorstellungskraft von den metaphysischen Anf. Gr. zur Transcendental//Philosophie [...]«165 »Transc. Phil. ist das formale Princip, sich selbst als Object der Erkenntnis systematisch zu konstituiren. System des transc: Idealism von Schelling, vide Litteratur-Zeitung, Erlangen No. 82/83.«166,167 »Tr.Ph. ist das Selbstgeschöpf (autonomie) der theoretisch//speculativen und moralisch//practischen Vernunft welche das Formale zu Ideen der synthetischen Erkenntnis a priori aus Begriffen enthält und so über die reine Mathematik in Ansehung ihrer Anwendung hinausreicht – es giebt nicht Materien (basis) nicht Erfahrungen. Sie ist das Princip der synthetischen Erkenntnis a priori aus Begriffen überhaupt in einem System der Ideen sieh selbst vor aller Warnehmung zum Gegenstande der reinen Anschauung zu constituiren. Die Autonomie der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt als absoluter Einheit Transc: Ph. ist das System aller Ideen der r.V. wodurch das Subject sich selbst 162

22.64: 5–11. 22.67: 25–28. 164 22.82: 17–21. 165 22.82: 22 – 83: 4. 166 I.e. vom 28. und 29. April 1801, eine außerordentlich positive Rezension von Schellings Buch enthaltend. 167 21.97: 23–29. 163

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synthetisch u. a priori zum Gegenstande des Denkens constituirt und seines eigenen Daseyns Urheber wird, Spinozens Gott der keinen Gegenstand ja gar keinen der Warnehmung enthält.«168

e) Omnimoda determinatio und transzendentales Ideal: Die transzendentale Idealität des sich selbst denkenden Subjekts Man kann die Konsistenz und die Rücksichtslosigkeit von Kants Arbeit an der Revision des Transzendentalen Idealismus, die schließlich zu seiner Aufhebung führt, vielleicht auf einen einzigen, allerdings zentralen und fundamentalen Tatbestand des Transzendentalen Idealismus schon der Kritik der reinen Vernunft zurückführen und so den Übergang zu einer transzendentalen Kosmo-Theologie und einem spekulativen Idealismus der absoluten Substanz-Subjektivität, die Selbst-Aufhebung des Transzendentalen Idealismus also als Konsequenz aus der Sache selbst, d. h. aus dem Begriff dieses Transzendentalen Idealismus bzw. aus Prämissen schon der Kritik der reinen Vernunft verstehen. Dieser Tatbestand ist das transzendentale Ideal. Schon dort ist omnimoda determinatio oder der »Grundsatz der durchgängigen Bestimmung [...] der Grundsatz der Synthesis aller Prädikate [...] eine transzendentale Voraussetzung, nämlich die der Materie zu aller Möglichkeit welche a priori data zur besonderen Möglichkeit jedes Objekts enthalten soll.«169 Schon dort ist »dasjenige [...] worin das Reale aller Erscheinungen gegeben ist, die einige allbefassende Erfahrung« und »so muß die Materie zur Möglichkeit aller Gegenstände der Sinne als in einem Inbegriff gegeben vorausgesetzt werden.«170 Das Apriori-Gegebensein der Materie, und zwar als Grundsatz der Synthesis aller Prädikate, ist also eine »transzendentale Voraussetzung« schon der Kritik der reinen Vernunft, »nämlich die der Materie zu aller Möglichkeit welche a priori die data zur besonderen Möglichkeit jedes Dinges enthalten soll.«171 Kants Fazit aus all diesem: »folglich ist nichts für uns ein Gegenstand, wenn es nicht den Inbegriff aller empirischen Realität als Bedingung seiner Möglichkeit voraussetzt.«172 Schon 1781 wie 1787 hat Kant exakt das beschrieben, was er im Opus postumum tut, nur hat er es damals noch als 168 169 170 171 172

21.100: 23 – 101: 4. KrV B 600 f. KrV B 609 f. KrV B 600 f. KrV B 610.

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»transzendentale Subreption«173 kritisch disqualifiziert und als »Gegenstand einer transzendentalen Theologie«174 von der kritischen Philosophie ausgeschlossen. »Daß wir aber hernach diese Idee vom Inbegriffe aller Realität hypostasieren kommt daher: weil wir die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes in die kollektive Einheit eines Erfahrungsganzen dialektisch verwandeln und an diesem Ganzen der Erscheinung uns ein einzelnes Ding denken [...].«175 Genau diese dialektische Verwandlung der distributiven in die kollektive Einheit eines Erfahrungsganzen, der Mannigfaltigkeit des Daseins aller empirischen Anschauung in den Einen Gegenstand äußerer Erfahrung vollzieht Kant im opus postumum, erstmals in Übergang 1–14, dann durchgängig, wenn auch mit Modifikationen, bis zum Ende seiner Arbeit. Warum? Die kürzeste Antwort: die Struktur und der Prozeß der Synthesis, i. e. der Vereinigung alles Mannigfaltigen zur Einheit eines Objekts, ist dialektisch, und darum ist diese Transformation der distributiven in die kollektive Einheit notwendig und von der Sache her bereits geschehen. Die längere Antwort: Aus allen oben zitierten Passagen resultiert, mannigfach variiert, ein und dieselbe Antwort: die logische Allgemeinheit ist mit der realen, dem All der Materie, identisch;176 subjektive analytische Einheit der möglichen Erfahrung ist die objektive synthetische der Gegenstände der Erfahrung.177 Also ist diese Identität von subjektiv-analytischer und objektiv-synthetischer Einheit der Grund aller Erfahrung; und schließlich die distributive Einheit der Wahrnehmungen muß »in die collective der Form der Einheit (Gesamtheit) in dem ganzen der Erfahrung gemäß gedacht« werden »und so [wird] der die Sinne bewegende Stoff; welcher subjektiv gedacht eben darum auch objektiv als Gegenstand der Erfahrung schlechthin gegeben.«178 Diese »transzendentale« Voraussetzung, die »sich [...] aus den Verhandlungen der transzendentalen Analytik von selbst dar[bietet]«,179 ist die Einsicht, zu der Kant sich in vielen Jahren Arbeit durchgerungen hat: »Der die Sinne bewegende Stoff« ist unbedingt gegeben, ein unbedingtes Ganzes, unbedingte Einheit, Ein Objekt. Denn: »Äußere Erfahrung beruht auf den das Subjekt 173 174 175 176 177 178 179

KrV B 611. KrV B 508. KrV B 610. 21.241: 12–17. 21.574: 3–5. 21.574: 10–12. KrV B 609.

Revolutionierung und Selbst-Aufhebung des Systems

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(als physischer Körper) bewegenden Kräften der Materie«;180 deshalb muß die distributive Einheit der Wahrnehmungen in die kollektive Einheit eines Absoluten umgedacht werden. Und das bedeutet, wie schon früher zitiert und von Kant unmißverständlich gesagt: Wenn wir das, was ich, Kant, in der Kritik der reinen Vernunft als »transzendentale Subreption« kritisch disqualifiziert habe, nicht vollziehen, »würden [wir] gar keine äußere Erfahrung haben«:181 Das System der bewegenden Kräfte ist die »wirkende Ursache selbst der Möglichkeit der Erfahrung.«182 Denn das erkennende Subjekt ist als physischer Körper183 Teil dieses durchgängig bestimmenden Systems der Materie. Und: »Es ist ein Ganzes der Materie als äußeren Sinnenobjekts gegeben [...] Wir würden gar keine Einheit äußerer Erfahrung haben«184 – d. h. wir würden auch keine Synthesis und keine Theorie der Synthesis a priori besitzen –, »wenn wir nicht die Existenz eines solchen Stoffs voraussetzten und implicite unserem Begriff von Erfahrung zum Grunde legten«:185 Und ich, Kant, habe von diesem Erfahrungsbegriff in meiner transzendentalen Analytik bereits durchgängig Gebrauch gemacht, die Existenz dieses Ganzen »als äußeren Sinnenobjects [...], ohne welche es gar keine Erfahrung von Außendingen geben würde«, durchgängig vorausgesetzt: »Ein System der bewegenden Kräfte der Materie« ist also »als Ursache selbst der Möglichkeit der Erfahrung« implicite meinem »Begriff von Erfahrung« und damit meiner eigenen Theorie der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung »tacite untergelegt.«186 Die dialektische Verwandlung der »distributiven Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes in die kollektive Einheit eines Erfahrungsganzen« ist also deshalb notwendig, weil sonst weder Erfahrung stattfände noch eine transzendentale Analytik ihrer Bedingungen möglich wäre. Die transzendentale Analytik setzt also diese Dialektik – d. h. das Übergehen der distributiven in die kollektive Einheit – als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit, damit also auch die Aufhebung ihrer absoluten Entgegensetzung gegen die Dialektik und schließlich die Vereinigung mit ihr sowie die Wahrheit der Dialektik der omnimoda determinatio voraus, der »einigen allbefassenden Erfahrung«, der »Materie zur Möglichkeit aller Gegenstände der 180 181 182 183 184 185 186

21.574: 5 f. 21.592: 23. 21.592: 26 f. 21.574: 6. 21.592: 17–23. 21.592: 23–25. 21.592: 17–27.

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Sinne«,187 des »Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung« als »Grundsatz der Synthesis aller Prädikate, die den vollständigen Begriff von einem Dinge machen sollen und nicht bloß der analytischen Vorstellung.«188 Kurz: Diese Voraussetzung der transzendentalen Analytik ist »eine transzendentale Voraussetzung, nämlich die der Materie zu aller Möglichkeit, welche a priori die data zur besonderen Möglichkeit jedes Dinges enthalten soll.«189 Nun ist diese transzendentale Voraussetzung nichts anderes als das absolute Ganze der Materie, des Systems der bewegenden Kräfte des Äthers oder des Wärmestoffs, des Opus postumum, des »Eines und Alles der äußeren Sinnenobjecte und die Deduction des Wärmestoffs hat ein Princip a priori nämlich das der nothwendigen Einheit in dem Gesamtbegriff der Möglichkeit Einer Erfahrung zum Grunde liegen.«190 Deshalb geht die transzendentale Analytik in die Dialektik über. Die transzendentale Idealität ist selbst dialektisch und »tacite« ist sie die spekulative Identität aller entgegengesetzten Bestimmungen. Der Transzendentale Idealismus geht also aus der Notwendigkeit seines Begriffs in die spekulative Idealität eines Spinozismus der Einen Substanz, die Subjekt ist, über. Q. e. d. Systematisches Fazit: Der transzendentale Idealismus wird Theorie der absoluten Identität von Subjektivität und Objektivität, Analytizität und Synthetizität, distributiver und kollektiver Einheit. Das Denken aber wird die Tätigkeit oder Bewegung, diese absolute Einheit und Identität der Subjektivität und Objektivität, subjektiv – als oberste Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung – und objektiv – als der Objektivität immanenter Grund der Einheit alles Mannigfaltigen, aller Individualität – distributiv und kollektiv zu erzeugen.

Schlußwort Diese neuerliche kopernikanische Wende Kants, diesen Übergang des transzendentalen in den spekulativen Idealismus, diese Selbstaufhebung des Transzendentalen Idealismus, die aus der von Kant gewonnenen Einsicht in die Dialektik und die spekulative oder positiv-vernünftige Ein-

187 188 189 190

KrV, B 610. KrV, B 599 f. KrV, B 600. 21.586: 18–22.

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heit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung resultiert – all dies zur Kenntnis und ernstzunehmen, ist der Kantforschung kategorisch geboten. Dies gilt insbesondere für die zu einer Tagung über Architektonik und System in Kants Philosophie versammelte scientific community. Das Opus postumum enthält nicht »weitere nach der Kritik der Urteilskraft vorgenommene Modifikationen«.191 Es ist auch kein Beitrag »zur Systematik besonderer Teile der eigentlichen Metaphysik und ihres Inhalts«.192 Das Opus postumum ist keine metaphysica specialis. Die in Fuldas Einladungsschreiben benutzten Formeln sind gravierende Unterschätzungen des im Opus postumum vorliegenden systematischen Sachverhalts, sie treffen die Sache, Kants System des transzendentalen Idealismus, nicht. Und noch die Formel des vorläufigen Tagungsprogramms »Systematik des Universums und der ganzen Naturphilosophie« enthält zwar ein Moment von Wahrheit, spielt aber die systematische Brisanz und die Relevanz der im Opus postumum von Kant entwickelten Philosophie herunter, ja schließt die Betrachtung dieser Philosophie als Transzendentalphilosophie schon im Titel aus. Damit geht auch diese Formulierung in letzter Konsequenz an der Sache vorbei. Sicher ist Naturphilosophie Thema des Opus postumum, aber sie ist selbst auch Transzendentaler Idealismus und konzipiert das System des Transzendentalen Idealismus als spekulativen Spinozismus der Subjekt-Objekt-Identität. Das Opus postumum stellt die transzendentale Hauptfrage193 und beantwortet sie erneut, und zwar so, daß Physik, transzendentale Analytik, Dialektik und Theologie als zu einem einzigen Natur und Freiheit vereinigenden System gehörig begriffen werden. Der Liebe zur Wahrheit verpflichtet, geht Kant der recherche de la vérité rücksichtslos nach. Das bedeutet nicht, daß Kant ohne Rücksicht auf das, was er geschaffen hatte, vorgeht; rücksichtslos ist er nur in der Konsequenz, dieses von ihm selbst Geschaffene in einem neuen System der Transzendentalphilosophie aufzuheben. Die Einsicht in die aus dem Begriff transzendentaler Idealität selbst folgende Notwendigkeit, diesen Idealismus in einen spekulativen Idealismus absoluter Identität aufzuheben, hat Kant nicht nur dazu gebracht, Schelling als Repräsentanten des Transzendentalen Idealismus anzuerkennen, sondern auch dazu, dessen 191

So die Formulierungen im Einladungsschreiben von Hans Friedrich Fulda, ›Reflexionen zu einer Tagung über Architektonik und System in der Philosophie Kants‹ vom 29. November 1995, S.7. 192 Ebd. S.9. 193 Prolegomena § 5, 4.280: 1 und Titel der Prolegomena 1.Teil, 280: 18–20, 2.Teil 4.295: 35, 3. Teil, 4.327: 1–3 und Auflösung der allgemeinen Frage der Prolegomenen, 4.365: 5–8.

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spinozistischen Neuansatz zu einer Identitätsphilosophie zumindest als einen möglichen Weg zur Wahrheit, wenn nicht sogar als den einzigen Weg zur Wahrheit sich zu eigen zu machen. Kant hat also die Fortsetzung der systematischen Arbeit an der Transzendentalphilosophie durch seine jüngeren Zeitgenossen nicht nur zur Kenntnis genommen, er hat sie auch selbst aufgenommen. Wie 1765, 1770, 1772, 1781, 1787, 1788 und 1790 steht er »nach so mancherlei Umkippungen«194 im Begriff, Metaphysik der Natur und der Sitten neu zu begründen, wozu es, wie Kant hoffte, damals wie 1772 nur der Abfassung eines kleinen Traktats ihrer Methode »vielleicht bis zur nächsten Ostermesse« bzw. »binnen drei Monathen« bedürfte,195 woraus dann 1781 und 1787 die Kritik der reinen Vernunft, seit 1796 schließlich das Opus postumum resultierte. Der für den orthodoxen Kantianismus nicht nachvollziehbare, von Kant selbst aber zumindest experimentell vollzogene Übergang vom transzendentalen zu einem spekulativen Idealismus des Absoluten ist kein seniler Fehltritt Kants, den man besser ignoriert, er ist Konsequenz aus der Sache, d. h. der Sache des transzendentalen Idealismus bzw. der transzendentalen Idealität selbst. Begreifen wir also, was Kant damit sagt – und warum er es sagt –, wenn er erklärt: »Das Subject bestimmt sich selbst 1) durch technisch // praktische 2) durch moralisch // praktische Vernunft und ist sich selbst ein Gegenstand von beyden Die Welt und Gott. Das erste im Raum u. der Zeit als Erscheinung. Das zweyte nach Vernunftbegriffen, d. i. einem princip des categorischen Imperativs Ens summum, summa intelligentia, summum bonum: Sache und Person. Apperceptio, Apprehensio et Comprehensio phenomenologica Cognitio, et Recognitio. Das Erkenntnis seiner Selbst als einer Person, die sich selbst zum Princip constituirt und ihres Selbst Urheberin ist. Gott und die Welt sind beydes ein Maximum. Die transc. Idealität des sich selbst denkenden Subjects macht sich selbst zu einer Person. Die Göttlichkeit derselben. Ich bin im höchsten Wesen. Ich sehe mich selbst (nach Spinoza) in Gott, der in mir gesetzgebend ist« (22.53: 27 – 54: 8) »NB. nicht, daß wir wie Spinoza wähnt in der Gottheit anschauen sondern Umgekehrt daß wir unseren Begriff von Gott in die Gegenstände der reinen Anschauung in unseren Begriff der transc. Philosophie hinein tragen.« (22.59: 21–24)

194

10.55: 30 f. Kant an Lambert am 31.12.1765, Akademie-Ausgabe 10.56: 12 f., 22–30 und, am 21.2.1772, an Herz, 10.132: 17. 195

II. DAS SYSTEM DER TRANSZENDENTALPHILOSOPHIE UND SEIN KONTEXT

Béatrice Longuenesse Logical Functions and the World-Whole

Kant claimed that human beings’ representation of the world depends on a system of fundamental categories or ›pure concepts of the understanding.‹ He also claimed that these categories are originally nothing other than elementary logical functions, which find expression in logical forms of judgment. Kant expounded these functions in a systematic ›table‹ which then became the architectonic principle not only for the Critique of Pure Reason, but also for the Critique of Practical Reason and the Critique of Judgment. In a famous footnote to the Metaphysical Foundations of the Science of Nature (1783), Kant claimed that as long as one accepted the two cornerstones of his doctrine: the merely sensible, receptive character of our intuitions, for which space and time are a priori forms; and the derivation of categories from logical functions of judgment –, then it mattered little if the details of his proofs (in particular, the details of his transcendental deduction of the categories) failed to carry complete conviction in the eyes of his readers. For the two main points of his demonstration, as far as he was concerned, were sufficiently established. Those two points are that (i) we have a priori concepts of objects originating in the understanding alone; and (ii) these concepts can be applied in cognition only to appearances (that is, to objects given in accordance with the a priori forms of space and time), not to things as they are in themselves.1 The problem, of course, is that precisely the two purported pillars of the critical system are what consistently met, very early on, with the most 1

Cf. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, AA 4, 475–76n; Metaphysical Foundations of Natural Science, transl. J. W. Ellington (Indianapolis: Bobbs-Merill 1970) 11–14, n. 8. Works of Kant are cited from the edition of the Berlin Academie: Kant’s Gesammelte Schriften (AA, volume and page), followed by a reference in the relevant standard English translation. The Critique of Pure Reason is cited by the standard A and B pagination of the first (1781) and second (1787) editions.

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II. Das System der Transzendentalphilosophie · B. Longuenesse

radical scepticism on the part of Kant’s readers. Kant’s logic is charged with being archaic, caught within the narrow bounds of Aristotelian predicative logic. It is also charged with psychologistic fallacy: Kant, objectors say, is mistaken in supposing that logical forms have anything whatsoever to do with acts of our minds. As for the role he assigns to a priori forms of intuition in grounding synthetic a priori judgments, Kant is charged with relying on a conception of arithmetic and geometry made obsolete by the development of non-Euclidean geometries and modern quantificational logic; he is also charged with a misguided absolutization of a Newtonian model of natural science made obsolete by revolutions in 19th and 20th century physics. In the present paper, I shall examine Kant’s claims concerning the second of the two cornerstones mentioned above: the derivation of categories from logical functions. To do this I shall focus on one particular case: the category of community, its relation to the logical function of disjunctive judgment, and its application to appearances in the so-called »Principle of Community,« namely the Third Analogy of Experience. This case is interesting for two main reasons. First, it is the most difficult to defend. Kant himself was aware of this, and took great pains to explain why even in this case, however implausible it might seem, the relation he maintained between logical functions and categories does in fact hold. The general view of Kant commentators, however, is that his defense remains utterly unconvincing. I shall argue, on the contrary, that the correspondence Kant wants to establish between the logical function of disjunctive judgment and the category of community is an important and interesting one, although indeed it is more complex than any other. But this very complexity is in fact my second reason for focusing on this case: what makes the category of community difficult to grasp is that it can be understood only in connection with the other two categories of relation (and even with the previous two ›titles‹ of categories, quantity and quality). This being so, examining Kant’s argument in this case should also give us some insight into his overall argument on the relation between logical functions, categories, and the application of categories to appearances in synthetic a priori judgments. My paper consists of three parts. In the first, I shall briefly expound the relation Kant claims to establish between logical functions of judgment and categories. In the second part, I shall examine Kant’s logical form of disjunctive judgment, and its relation to the category of community or universal interaction.

Logical Functions and the World-Whole

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In the third part, I shall examine Kant’s proof of the Third Analogy of Experience, namely his proof that necessarily, things we perceive as simultaneously existing, exist in relations of universal interaction or, in Kant’s terms, of dynamical community. The lesson of this examination, I shall suggest, is that Kant’s claim that categories are originally nothing other than logical functions of judgment does not deserve the summary dismissal it is often met with. On the contrary, not only does it provide an indispensable key to Kant’s conception of the application of categories to objects given in sensible intuition and thus to Kant’s proofs for the principles expressing this application; it also provides a unique insight into the unity of the critical system, and the most comprehensive standpoint from which we may evaluate Kant’s relation to his posterity.

1. Logical functions and categories. The understanding as a capacity to judge (Vermögen zu urteilen) In chapter one of the Transcendental Analytic, Kant explains that the understanding, or intellect as a whole – the intellectual faculty at work in forming concepts, combining them in judgments, combining judgments in inferences, and finally constituting systems of knowledge –, the intellect that produces all this is essentially a Vermögen zu urteilen, a capacity to form judgments.2 In other words, describing the features of the intellect that make it capable of forming judgments is by itself describing just those features that also make it capable of forming concepts, inferences, systems of thought and knowledge. This is because, as Kant puts it in the section that precedes his table of logical functions of judgment, if we start with the traditional notion that the understanding is a capacity for concepts, we soon find, upon examination, that we form concepts only for use in judgments, and this use itself involves implicit inferential patterns and their systematic arrangement. Kant’s explanation of this point can be summarized as follows. Concepts, as he defines them, are ›universal and reflected representations.‹ They are formed by comparing individual objects, focusing on the common features or marks of these objects and ignoring their differences. A concept is thus a conjunction of common marks under which one may recognize a class of objects as falling under the same concept. But this 2

Cf. A69/B94, A81/B106.

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II. Das System der Transzendentalphilosophie · B. Longuenesse

means that forming concepts is forming implicit judgments: for instance, forming the concept ›tree‹ is forming the implicit judgment, ›everything that has a trunk, branches, and roots, is a tree‹ (and conversely, ›everything that is a tree has a trunk, branches and roots‹). On the other hand, forming such a judgment is forming the premise for a possible syllogism, for instance, ›everything that has a trunk, leaves, and roots, is a tree; this tiny thing here has a trunk, branches, roots; therefore it is a tree.‹ Judgments and syllogistic inferences, systematically arranged, give rise to universal hierarchies of genera and species under which individual things are classified into natural kinds; thus they give rise to systematic knowledge. It is by virtue of their form that judgments can thus be the source of the systematic unity of knowledge. What Kant calls the form of a judgment is the way concepts are combined in judgment.3 When we analyze the ›mere form‹ of judgment, we have to consider concepts themselves as to their ›mere form‹, namely their universality: their being combinations of marks common to a multiplicity of individual objects.4 The ›form‹ of a judgment is thus the way in which concepts, as universal representations, are combined in it. Kant’s table of logical forms, or functions, of judgment5 is a table of just those modes of combination of concepts that are minimally necessary for the functions of intellect briefly outlined above to emerge: subsumption of individual objects under concepts, syllogistic

3

Cf. Logik, § 18, AA 9, 101; The Jäsche Logic, in Lectures on Logic, transl. J. Michael Young (Cambridge University Press 1992) 518. Also Refl. 3039 and 3040, AA 16, 628–29. 4 Logik § 2, §§ 4–8, AA 9, 93–96; 591–94. Refl. 2855, AA 16, 547; Refl. 2859, AA 16, 549. 5 On Kant’s notion of a »function« of judgment, see KrV, A68/B93: »Whereas all intuitions, as sensible, rest on affections, concepts rest on functions. By function, I mean the unity of the act of ordering different representations under a common representation.« Kant seems, on the one hand, to be using the term ›function‹ by analogy with the notion of a physiological function: the function of the understanding is thus to ›order various representations under a common representation‹ just as the function of the eye is to perceive colors and shapes, or the function of the ear is to perceive sounds. On the other hand, by defining the function as »the unity of the act,« Kant seems to indicate that the ›function‹ is the specific structure, or lawlikeness, of an act of the understanding. Now, this lawlikeness results in judgments’ having specific forms. There are thus as many specifications of the function of judging as there are original forms of judgment, that is, ways in which concepts are combined in judgments. On this point, cf. A70/B95: »If we abstract from all content of a judgment and consider only the mere form of understanding, we find that the function of thought in judgment can be brought under four heads, each of which contains three moments.«

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inference, the systematic arrangement of knowledge and thought. I now want briefly to review this table, with only the degree of detail necessary to situate the particular function of disjunctive judgment within it. Recall that concepts, in Kant’s logic, are defined as ›universal and reflected representations‹ (that is, as universal representations formed by comparing objects, selecting common marks, and leaving aside particular marks by which the objects thought under the same concept nevertheless differ from each other). So considered, the kinds of combinations concepts may enter into in judgment are exclusively what Kant calls ›concept subordinations‹, where the extension of one concept (everything that falls under the concept) is, as a whole or only in part, included in, or excluded from, the extension of the other. The first two titles in Kant’s table (quantity and quality, in their first two moments: universal and particular, affirmative and negative) describe precisely the four possible cases just mentioned: inclusion of the extension of a concept in the extension of the other, or exclusion therefrom (affirmative or negative judgment, as are b or as are not b), in totality or in part (universal or particular judgment, all/no as are b, some as are/are not b).6 To these four possible combinations that exhaust the possible cases of concept subordination, Kant adds, under each of the first two titles (quantity and quality), a form of judgment that relates concept subordination, respectively, to individual objects (singular judgment under the title of quantity), and to the unified logical space within which all spheres of concepts reciprocally limit each other (›infinite‹ judgment, A is not-B). The raison d´être for the third title, that of ›relation,‹ is more difficult to elucidate. Kant notes that a judgment, considered according to the forms of relation, combines two concepts (categorical judgments) or two judgments (hypothetical judgment, where the connective is ›if…then‹) or several judgments (disjunctive judgment, where the connective is ›either…or‹).7 This is hardly any explanation at all. We can do better if we consider the relation of judgment to syllogistic inference mentioned above. We saw that combining concepts in a universal categorical judgment (all A’s are B) was eo ipso obtaining the premise for a syllogistic inference in which one might attribute the predicate B to anything thought 6

On these explanations and the privilege given to the point of view of extension in defining the form of judgment as to its quantity and quality, cf. Logik, §§ 21–22. Note that consideration of the extension of concepts, and of judgment as expressing the inclusion or exclusion of concepts’ respective extension (Umfang) is also prominent in the explanations Kant gives in KrV, A71–72/B96–98. 7 A73/B98.

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II. Das System der Transzendentalphilosophie · B. Longuenesse

under the subject-concept A. This is why Kant calls a universal categorical judgment a rule, and the subject-concept in such a judgment the condition of a rule (for instance, the concept ›man‹ functions as a condition of the rule: ›all men are mortal‹). The term ›condition‹ should here be understood as meaning ›sufficient‹ not ›necessary‹ condition: that some entity x be a man is a sufficient condition for its being mortal. Or, if x is a man, then x is mortal. Since being a man is a sufficient condition for being mortal, subsuming any individual x under the concept ›man‹ provides a sufficient reason for asserting of it that it is mortal.8 However, there are other kinds of conditions for a rule. One is that of hypothetical judgment, the second title of relation in Kant’s table. According to this form, a concept is not by itself, on its own, the condition for attributing a certain mark to an object thought under the concept. Instead, one can do so only under an added condition: ›If c is d [added condition], then a is b‹ (and thus any object x subsumed under the concept a receives the predicate b under the added condition that some relevant c is d). Kant’s example is the proposition: ›If there is perfect justice, then the obstinately wicked will be punished.‹ (Implicit possible subsumption: any individual falling under the concept ›wicked‹ is doomed to be punished, under the added condition that the state of the world be one of perfect justice). Or, to take up an example Kant uses in the Prolegomena, »If the sun shines on a stone, the stone gets warm« (implicit possible subsumption: any individual falling under the concept ›stone‹ gets warm, under the added condition that the stone be lit by the sun).9 8

On the notion of the condition of a rule, see A322/B378; also Logik, § 58, AA 9, 120; 615. Refl. 3196–3202, AA 16, 707–710. For a discussion of Kant’s forms of relation in judgment, see Béatrice Longuenesse, Kant et le Pouvoir de Juger (Paris: Presses Universitaires de France 1993) 107–122. Kant and the Capacity to Judge, Princeton: Princeton University Press, 1998, 93–104. 9 Cf. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, AA 4, 312; Prolegomena to Any Future Metaphysics that Will Be Able To Come Forward As Science, transl. Paul Carus revised by James W. Ellington (Indianapolis: Hackett 1977) 54–55. It is important here to keep in mind that Kant’s logical form of hypothetical judgment is significantly different from our modern truth-functional material conditional. For reasons of length I cannot develop this difference in any detail. At least I want to stress two points: 1) the truth of Kant’s hypothetical judgment does not depend on the truth or falsity of its components. Instead, it is the truth of the Konsequenz itself: the judgment is true just in case there is between antecedent and consequent a connection such that asserting the former entails asserting the latter. This is how the meaning of the connective ›if…then‹ grounds inferences in modus ponens – the antecedent of a hypothetical judgment being posited in the minor premise (›a is b‹), the consequent should be posited in the conclusion (›so, c is d‹) – and modus tollens – the

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A third kind of condition for a rule is that expressed in a disjunctive judgment. The proper function of this form of judgment is to recapitulate, as it were, the possible specifications of a concept. According to this form, one divides the sphere of a concept, say a, into the mutually exclusive spheres of specifications of this concept, say b, c, d, e: something thought under concept a is either thought under b, or thought under c, or thought under d, or thought under e. There are two different ways in which one might consider a disjunctive judgment as a possible rule for subsumption, and thus a rule by virtue of which one might attribute some predicate to any individual thought under the condition of the rule. One is to say that the subject of the disjunctive judgment, say a, is the condition of the rule »something a is either b, or c, or d, or e,« so that being thought under a is a sufficient condition for being thought as falling under either b, or c, or d, or e. But this is not terribly informative. A more interesting way (corresponding to the classical inferences in modus ponendo-tollens or modus tollendo-ponens) is to consider the assertion of any one of the specifications (b, c, d, or e) of the divided concept a, as a sufficient condition for negating the others, and conversely considering the negation of all but one as a sufficient condition for asserting the remaining one: something a is b under the condition that it be neither c, nor d, nor e; something a is neither c, nor d, nor e, under the condition that it be b; and so on.10 Note also the close connection between the forms of disjunctive and consequent being negated in the minor premise (›c is not d‹), the antecedent should be negated in the conclusion (›so, a is not b‹). 2) The two examples of hypothetical judgments I have just cited in the main text differ significantly from one another with respect to the nature of their Konsequenz, namely the nature of the connection between antecedent and consequent. In the first (›If there is a perfect justice, the obstinately wicked will be punished‹), the relation between the (added) condition (›there is a perfect justice‹) and the conditioned (›the obstinately wicked will be punished‹) is analytic (it is part of our concept of perfect justice that the wicked be punished); in the second (›if the sun shines on the stone, the stone gets warm‹), the Konsequenz is synthetic, and even a posteriori. This is why the question needs to be raised, according to Kant, of how the Konsequenz can nevertheless express a necessary connection. But of course this question is of no concern to ›general pure‹ or ›formal‹ logic. The latter considers only the form of judgment, in this case the connective (if…then) and the forms of inference it grounds. On Kant’s logical form of hypothetical judgment, see Logik, §§ 25–26, AA 9, 105–106; 601–602; cf. Longuenesse (1993), 118–22; (1998), 101–104. On the relation between hypothetical judgment and the concept of cause, see Prolegomena, § 29, AA 4, 312; 54–55; cf. Longuenesse (1993), 409–12; (1998), 356–58. 10 Just as Kant’s hypothetical judgment is different from our truth-functional material conditional, so Kant’s disjunctive judgment is different from our truth-functional disjunction. First of all, as we just saw, Kant’s disjunctive judgment is a disjunction of predications: a concept a is specified as either b, or c, or d, or e (and thus any object

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infinite judgment: these forms jointly contribute to the constitution of a unified logical space within which concepts delimit each other’s sphere, and thus contribute to the determination of each other’s meaning. About the fourth title, that of modality, Kant explains that it does not add to the ›content‹ of judgments. What Kant seems to mean is that the modal determinations of judgment do not determine a specific difference in the function of judging – by contrast with quantity, according to which one subordinates all or part of the extension of the subject-concept to that of the predicate-concept; quality, according to which the extension of the subject-concept is included in or excluded from the extension of the predicate-concept; relation, according to which the predicate-concept is asserted of objects under the condition that the subject-concept be asserted of them, or under an added condition (expressed in the antecedent of a hypothetical judgment). Instead, the modality of a given judgment »concerns only the value of the copula in relation to thought in general.«11 Accordingly Kants modality of judgments finds no particular linguistic expression, contrary to quantity (›all‹ or ›some‹), quality (›is‹ simpliciter or ›is not‹) and relation (›is,‹ ›if…then,‹ ›either…or‹). Instead, in the examples Kant gives for ›problematic,‹ ›assertoric‹ or ›apodeictic‹ judgments, modality is marked by no particular modifier but consists, he says, merely in the ›value of the copula‹ in the judgment, as detemined by its place in a hypothetical or disjunctive judgment or in syllogistic inferences.12 These remarks are certainly too brief to give a full account, let alone an evaluation, of Kant’s table. My hope is that they at least shed some light on the systematic character and, in the end, the simplicity of Kant’s table: it displays forms (i) of concept subordination (first two moments of quantity and quality), (ii) under either an ›inner‹ or an ›outer‹ condition (first two moments of relation), which also takes into account (iii) the subsumption of singular objects under concepts (singular judgments, third moment of quantity) and (iv) the unity of concept subordination in a system of genera and species (infinite and disjunctive judgments, third falling under a falls under either b, or c, or d, or e). Second, the disjunction is exclusive, not inclusive: what is asserted in a disjunctive judgment is that if one of the disjunct predicates belongs to the subject, then the others do not, and conversely. Thus the meaning of the connective ›either…or‹ grounds the forms of inference in modus ponendo-tollens and tollendo-ponens: asserting of an object falling under the subject-concept one of the predicates specifying the subject-concept (and thus determining the division of its sphere) is a sufficient reason for negating the others, negating all but one is a sufficient reason for asserting the remaining one. 11 A74/B 100. 12 Cf. A74–76/B100–101.

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moments of quality and relation). Finally, (v) the place of each judgment in other judgments or in inferences (its ›relation to thought in general‹) determines its modality. It is no whimsical choice on Kant’s part to have presented these forms as a table. The tabular presentation makes perspicuous ›at one glance‹ the systematic whole of elementary logical functions at work for the production of any of the judgments by means of which individual objects given in sensibility are subsumed under concepts. Kant calls analysis the use we make of the understanding according to the logical forms laid out in his table. By analysis here he does not mean simply or even primarily analysis of concepts, i. e. the laying out of the marks that constitute the content of a given concept. He means the analysis of representations given in sensibility so as to generate concepts from them, by means of the aforementioned operations: comparing individual objects, focusing on common features or marks of these objects and setting aside their differences.13 Now, such analysis presupposes that the objects in question are combined together in some way, in order to be thus compared and subsumed under concepts. And not only this: they need to be recognized as a plurality of individual things that remain identical through time. For this, much more than simply bringing together objects for comparison is needed. What is needed is a process of generating the representation of these objects themselves as numerically identical individuals persisting through time. And for this, our representation of space and time themselves need to be unified and ordered. All of these operations of bringing together and ordering: (i) bringing together individual things for comparison, (ii) generating the representation of these individual things as numerically identical and persisting through time, (iii) bringing together the manifold of space and time themselves – all of these operations Kant calls synthesis. For any analysis leading to concepts to take place, synthesis must already have taken place. And given that analysis proceeds according to the logical functions of judgment, synthesis too must take place in such a way that what is synthesized becomes susceptible to being brought under concepts according to the logical functions of judgment. This relation between analysis and synthesis, finally, provides the key to Kant’s definition of the categories: they are, he says, »universal representations of synthesis« or, according to the more extensive definition of 13

On this notion of analysis, cf. A76/B 102. So considered, analysis consists in the operations of »comparison, reflection, abstraction« described in Logik, § 6, AA 9, 94; cf. Refl. 2876, AA 16, 555.

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the B edition, they are »concepts of an object, by means of which the intuition of this object is taken to be determined with respect to one of the logical functions of judgment.«14 Categories are originally nothing other than logical functions of judgment, functions by means of which ordinary concepts (concepts other than categories: mathematical and empirical concepts, moral concepts, sensation and feeling-concepts…) are subordinated to one another, and by means of this subordination objects are subsumed under concepts. But as full-fledged concepts, categories are more than mere ›logical functions.‹ They are themselves ›universal and reflected representations.‹ What they ›universally reflect,‹ however, are not empirical features of objects, but the universal forms of syntheses generated with the purpose of reflecting objects under (ordinary) concepts according to logical functions of judgment. As original logical functions, categories guide synthesis. As concepts, they reflect or ›universally represent‹ just those syntheses by means of which manifolds given in (pure or empirical) intuition become susceptible to being reflected under concepts combined according to logical functions of judgment. I said a moment ago that Kant’s table of logical functions was meant to make available ›at one glance‹ the system of elementary logical functions necessary to generate the least empirical judgment by means of which empirical objects are subsumed under concepts. I also suggested that in this table, the specific role of infinite and disjunctive judgments is to relate all concept subordination to the unified logical space within which concepts reciprocally delimit each other’s sphere and meaning. If I am right, this means that correspondingly, the specific synthesis corresponding to these logical forms will be a synthesis by means of which the totality of objects belonging to a common logical sphere are reflected under concepts. I now want to show what this means by considering more closely Kant’s exposition of the relation between logical form of disjunctive judgment and category of community.

2. Disjunctive judgment and the category of community (Gemeinschaft, Wechselwirkung) In the Jäsche Logic, Kant pictures the disjunctive judgment »a is either b, c, d, or e« by the division of a rectangular area a (representing the extension of the divided concept a) into four regions b, c, d, and e (which respec14

See A78/B104; B128.

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tively represent the extensions of the species of a). In a disjunctive judgment, says Kant, any »x thought under the concept a« belongs to one or the other of the divisions b, c, d, or e. He prefaces this explanation by a comparison between categorical and disjunctive judgment: »In categorical judgments, x, which is contained under b, is also contained under a: In disjunctive ones x, which is contained under a, is contained either under b or c, etc. Thus the division in disjunctive judgments indicates […] all the parts of [the whole concept’s] sphere.«15 In the Critique of Pure Reason, Kant draws a surprising parallel between this logical form and the category of community: just as in a disjunctive judgment, the sphere of a concept (the class of objects thought under this concept) is divided into its subordinate spheres so that these subordinate spheres are in a relation of mutual determination while at the same time excluding each other, so in a material whole, things mutually determine each other, or even in one material thing or body considered as a whole, the parts are in a relation of mutual attraction and repulsion. »To gain assurance that [the category of community and the form of a disjunctive judgment] do actually accord, we must observe that in all disjunctive judgments the sphere (that is, the multiplicity [Menge] which is contained in any one judgment) is represented as a whole divided into parts (the subordinate concepts), and that since no one of them can be contained under any other, they are thought as co-ordinated with, not subordinated to, each other, and so as determining each other, not in one direction only, as in a series, but reciprocally, as in an aggregate – if one member of the division is posited, all the rest are excluded, and conversely. Now in a whole which is made up of things, a similar connection [Verknüpfung] is being thought; for one thing is not subordinated, as effect, to another, as cause of its existence, but, simultaneously and reciprocally, is co-ordinated with it, as cause of the determination of the other (as, for instance, in a body the parts of which reciprocally attract and repel each other).« (B 112)16

15

Logik, § 29, AA 9, 108; 604. Cf. also Refl. 3096, AA 16, 657–58. When Kant talks about »the multiplicity contained in any one judgment« he means: the multiplicity thought under each sub-species of the divided concept (for instance, the multiplicity thought under ab, and the multiplicity thought under ac). 16

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What is surprising here is that Kant appears to assimilate a logical relation between concepts and a material relation between things: the mutual exclusion and complementarity of spheres or extensions of concepts is assimilated to the mutual determination, as by attraction and repulsion, of material bodies or parts of material bodies. But this can’t possibly be right. Assimilating in this way the relation of mutually exclusive concepts in a disjunctive judgment and the relation of things belonging to one world-whole, or of parts making up one material thing, is prima facie precisely the kind of move Kant rejects throughout the Critique. As he insists in the Appendix to the Transcendental Analytic (On the Amphiboly of Concepts of Reflection) this rejection is the core of his opposition to Leibnizian rationalist metaphysics. Leibniz’s major metaphysical mistake, according to Kant, is to have thought that things could be distinguished and determined by concepts alone, specified all the way down to individuals, so that the latter are completely determined as infimae species, lowest specifications of concepts. Against this view Kant maintains, in the Amphiboly chapter, that two drops of water, for instance, may be identical as to their concepts, namely as to the discursive representation of their internal determinations of shape, size and quality, and nevertheless be numerically distinct, solely by virtue of their position in space.17 Similarly, any two surfaces may be identical to one another as to their concept, namely their internal determinations of size and shape, and nevertheless be numerically distinguished by their position in space as a whole. Now, it seems that the parallel Kant draws, in the metaphysical deduction of the categories, between the logical relation of mutually exclusive and complementary concepts in disjunctive judgment on the one hand, and the relation of things expressed in the category of community on the other hand, is just the Leibnizian error Kant denounced in the Amphiboly chapter. This impression is only enhanced by the fact that in the text quoted earlier, Kant describes the reciprocal action between parts of things in terms of attraction and repulsion, namely in terms of precisely the kind of external relation that he insists is quite distinct from the relation of internal determinations expressed in a logical disjunction of completely determined concepts, as Leibniz would have it.18 This being so, the scepticism or even derision frequently di-

17

A264/B320; cf. Leibniz, Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain, II, chapt. 27,

§ 3. 18

Cf. A265–66/B321, A274/B330. One may argue on Kant’s behalf that he explains the form of disjunctive judgment in terms of the division of the sphere or extension of a

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rected at Kant’s claim concerning the parallel between the logical forms of disjunctive judgment and category of community seems to be a very healthy one indeed, by the terms of Kant’s own doctrine. For if this parallel displays the very confusion Kant himself denounces in the Amphiboly, there is every reason for discounting this particular correspondence between logical form and category. However, I want to argue that this suspicion, despite its seeming plausibility, is unwarranted. Kant’s point is not that relations of things in space (the a priori form of external sense) are essentially the same as relations of concepts – or even the extensions of concepts – in logical space. If we follow the general thrust of his metaphysical deduction of the categories, we should understand his point as being, rather, that the same act of the mind which, by means of analysis, generates the unified logical space expressed in the form of disjunctive judgment and in the form of a unified system of such judgments, also generates, by means of the synthesis of spatio-temporal manifolds, the representation of a unified framework of external relations of things or parts of things – »for instance« (B 112 quoted above) the relations of reciprocal attraction and repulsion of parts in a material body. And indeed, this is what Kant writes: »The same procedure the understanding follows in representing to itself the sphere of a divided concept, it also observes in thinking a thing as divisible; and just as, in the former case, the members of a division exclude each other, and yet are combined in one sphere, so the understanding represents to itself the parts of the latter [namely, the divisible thing, B. L.] as existing (as substances) in such a way that, while each exists independently of the others, they are yet combined together in one whole.« (B 113, emphasis mine) concept into its subspheres, which is the division of a whole into its parts and thus grounds the parallelism with the division of a whole of physical things into its parts, or even the division of one physical thing into its parts (thought in the category of community). This is correct as far as it goes, but it is not sufficient to alleviate the charge of amphiboly. First, it remains that if things are represented as the ultimate parts of the sphere of a concept, then they are individualized as ultimae species, lowest specification of a concept, instead of being, as Kant claims they should be, individualized (represented as numerically distinct) by virtue of their position in space and time as forms of sensible intuition. Second, Kant invariably presents the category of community as a concept of the universal interaction of empirical things. We need more than a consideration of concepts according to their extension to explain how such an interaction might relate to the community of concepts under a higher concept, and thus clear Kant of the suspicion of amphiboly. And indeed, Kant does provide us with more justification than this, as I show below. On this point, see also Longuenesse (1993), 375–93; (1998), 436–53.

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Admittedly, even if we focus our attention on the identity of the act of the understanding at work in the representation of logical disjunction of concepts on the one hand, material interaction of substances on the other, Kant’s statement is very far from clear. One mistake we should not make in trying to understand it is to lay too much weight on the example Kant gives, that of reciprocal attraction and repulsion of parts of material bodies. For this example belongs, strictly speaking, to the context of the Metaphysical Foundations of the Science of Nature rather than to that of the Critique of Pure Reason. In chapter two of the Metaphysical Foundations, Kant explains that the concepts of repulsive and attractive forces are applications of the categories of reality and limitation to the empirical concept of matter as »the movable insofar as it fills space.« In chapter 3, he explains that the Newtonian principle of equality of action and reaction in the communication of motion is an application of the category of community (reciprocal action) to the empirical concept of matter as »the movable insofar as it is something having a moving force.«19 This means that we must already possess the a priori concept of reciprocal action and presuppose the truth of the principle that all appearances are in universal relation of community or reciprocal action, in order to form empirical concepts such as those of attractive and repulsive force, and to obtain the law of equality of action and reaction in the motions they generate. I do not propose to examine Kant’s argument on either of these points or to evaluate his claim concerning Newtonian science. What I do want to stress is that when Kant says in the text of the Critique quoted earlier, that ›the same procedure of the understanding‹ is at work in disjunctive judgment and in representing the parts of a material whole as being in reciprocal relations of attraction and repulsion, the point we should focus on is not the particular case of attraction and repulsion, but the general idea of reciprocal action in general, of which the action and reaction of moving forces (whether force of attraction or force of repulsion) is only a particular case. What we need to examine, then, is simply Kant’s point that the same procedure of the understanding generates the logical form of disjunctive judgment and the representation of a thoroughgoing reciprocal action of substances, whatever the empirical determination of that reciprocal action happens to be. Here again the Amphiboly chapter might help – no longer as a warning against possible amphibolous interpretations of Kant’s point, but 19

Cf. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, AA 4, 496–99, 544–47; 40–43, 106–09.

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rather as a contribution to a positive account of the correspondence between the logical disjunction of concepts and the category of community. Kant explains, in the Amphiboly, his opposition to Leibniz’s view according to which substances are individuated by their internal determinations – determinations they have on their own, independently of any external relation to other substances. According to Kant, on the contrary, substances – material things whose essential properties persist while their accidental properties change – are nothing but substitutional instances for the variable ›x‹ in judgment, recognized under concepts of external relations. There is nothing purely internal about their determinations. This means that concepts of natural kinds are nothing but concepts of relational properties.20 This is precisely what the Third Analogy is required to establish: things are individuated and recognized under concepts allowing for disjunctive judgments expressing universal kinds in nature, only by their relational properties – properties that consist in their being related, by position and physical influx, to other things similarly individuated and recognized. If my reading of the relation Kant wants to maintain between the logical forms of disjunctive judgment and category of community is correct, then as I suggested earlier, this particular correspondence is more complex than any other between the two tables. For reflecting upon material substances according to the logical form of disjunctive judgment (a thing a is either b, c, d, or e) is only a tentative, even incomplete result of reflecting upon them according to the other two logical forms of relation in judgment: the forms of categorical and hypothetical judgments by means of which we produce concepts of substances (things individuated in space and recognized under essential and accidental properties) and of their causal interactions. In other words, our use of the logical form of disjunctive judgment, according to which we may arrive by reflection at concepts of natural kinds, is mediated by our use of categorical and hypothetical judgment, themselves specified, of course, according to the other two titles, of quantity and quality. But at the same time, the form of disjunctive judgment guides the formation of all empirical judgments, if recognizing things is recognizing them under concepts, and recognizing them under concepts is endeavoring to correlate these concepts under universal hierarchies of genera and species. Stressing the complexity of the correspondence Kant wants to maintain between disjunctive judgment and the category of community is thus 20

Cf. A274–75/B330–3 1, A283–84/B339–40.

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also emphasizing its systematic import. For if the ›Verfahren des Vestandes‹ here at work involves, as well as guides, all the other logical functions, and so too the other categories, then the Third Analogy should also be the lieu par excellence from which to behold the systematic unity of all logical functions, schemata, categories and principles of pure understanding. To confirm this, I will now examine Kant’s argument in the Third Analogy of Experience.

3. Kant’s proof of the Third Analogy. Simultaneity and Universal Interaction Kant’s purpose in the Third Analogy of Experience is to prove that our experiencing the simultaneous existence of appearances is sufficient to attest that these appearances are in relations of thoroughgoing community (Gemeinschaft) or reciprocal action (Wechselwirkung). This is because, Kant argues, representing the simultaneous existence of appearances is our doing, and this representation is possible only if appearances give us reason to believe that they are in relations of thoroughgoing reciprocal action. Thus the statement of the Analogy: »All substances, insofar as they can be perceived as simultaneous in space, are in thoroughgoing reciprocal action [in durchgängiger Wechselwirkung].«21 As students of Kant’s Analogies of Experience know, the three Analogies should be read together as one argument, which concerns the conditions of our representation of objective time determinations. Kant’s question is: how do we come to have any representation at all of objective temporal determinations of appearances, since our apprehension of them is always successive, and since we have no given temporal framework that might allow us to situate events and states of affairs in time? In the Second Analogy, Kant explains how a subjective succession in apprehension is interpreted as an objective succession of states of things; in the Third Analogy, he explains how a subjective succession in apprehension is interpreted as an objective simultaneity of things and of their states. Prior to this, in the first Analogy he has argued that any representation of objec-

21

B256. In the first edition the Analogy is stated as follows: »Principle of community. All substances, insofar as they are simultaneous, are in thoroughgoing community (i. e. reciprocal action among one another).« The formulation in B is superior in that it makes clearer that ›simultaneous‹ means: ›something we represent, or perceive, as simultaneous‹. I say more on this point below.

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tive temporal order (succession or simultaneity) rests on the presupposition of something permanent, as the substrate of objective temporal determinations. I do not propose here to evaluate Kant’s overall argument in the Analogies of Experience.22 What I am mainly concerned with is how discursive forms and sensible syntheses relate, according to Kant, in the particular case of the Third Analogy. Kant’s reasoning proceeds according to the following steps:23 1) Our apprehension is always successive. 2) We nevertheless perceive a subjective succession in apprehension as an objective simultaneity of things under specific states, if we are aware of the subjective succession as being order-indifferent. For example, we are aware that we could direct our gaze indifferently from the moon to the earth or from the earth to the moon; it is in this way that, even though we might never perceive at the same time the moon at its zenith and the surface of the earth, we do experience these objects as simultaneously existing.24 3) But what makes us interpret the subjective succession as order-indifferent and thus a representation of objective simultaneity? We have no perception of time itself that would allow us to derive from the simultaneity of objective states the order-indifference of subjective succession.25 4) Nor could the mere subjective succession, by itself, suffice to generate either the representation of its order-indifference or the interpretation of this order-indifference as objective simultaneity. The subjective succession in apprehension would merely give us one perception, then the other, and reciprocally the latter, then the former; but it would give us no access to the simultaneity of things as the necessary condition for the order indifference of the perceptions.26 22 For an analysis and evaluation of Kant’s Analogies of Experience, see Longuenesse (1993), chapt. 10; (1998), chapt. 11. 23 There are two expositions of the argument in the Third Analogy. The first in A, remaining unchanged in B: A211/B258–A213/B260 (AA 4, 141 (13)–142 (14), AA 3, 181(28)–182(26)). The second added in B: B256–58 (AA 3, 180(29)–181(27)). In my view, the exposition in B is the clearer of the two. My reconstruction follows its order. In an effort to limit the length of footnotes, I shall indicate the textual support for each step simply by the reference in B (for the 1787 version) and A/B (for the 1781 version), and (in parentheses) the relevant pages and lines in AA 3. I shall not quote the texts themselves. 24 B257 (180(29)–181(6)); A211/B258 (181(29–32)). 25 B257 (258(6–10)). 26 B257 (258(10–15)). In the 1781 version, the steps of the proof were less clearly

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5) We interpret the subjective succession as order-indifferent, and thus as a representation of objective simultaneity, just in case, in relating the subjective succession to objects, we form judgments such as: if object x ›recognized under concept a‹ exists at time t at point p1, then object y ›recognized under concept b‹ exists at that same time at point p2; and reciprocally, if the latter exists, then the former exists at the same time. This means that a pure concept of the understanding is applied whenever we experience an objective simultaneity.27 6) This concept is that of reciprocal action. Thus the simultaneity of substances in space can be known only under the presupposition that they are in a relation of reciprocal action or community.28 7) Therefore, all appearances, insofar as we perceive them as existing simultaneously, exist in relations of thoroughgoing reciprocal influence.29 Now, this conclusion is prima facie completely implausible. It is simply not true, one might object, that I perceive my desk and my chair as simultaneously existing only if I suppose a relation of interaction between them, and it is also not true that I perceive the earth and the moon as simultaneous only if I suppose a reciprocal influence between them. However, this objection might be overcome if we remember that there is originally nothing more to the pure concept of cause than the »mere logical function« of hypothetical judgment. Thus by ›reciprocal action‹ (namely reciprocal causal action), Kant means nothing more than the relation between the states of one substance and the states of another, thought by means of hypothetical judgments whose converse (the consequent taking the place of the antecedent, and reciprocally) is also thought to be true. What Kant is saying is that interpreting two successively apprehended states, say a, b, as simultaneously existing states of objects, is thinking something like this: ›If x (recognized under concept a) is part of the present whole of my experience, then y (recognized under concept b) is part of the same whole. And if y (recognized under concept a) is part of the distinguished. What I present here as step (4) was thrown together with some points resembling steps (5) and (6) at A212/B258–59 (181(37)–182(10)). 27 B257, (181(10–19)). In what I present as step (5), I am making explicit that the ›pure concept of the understanding‹ needed to represent the reciprocal sequence as objective is no other than the logical function of a hypothetical judgment together with its reciprocal converse. I hope to show later why it is helpful to remember in this way that the ›pure concept of the understanding‹ is originally no other than the logical function of hypothetical judgment. 28 B257–258, AA 3 (181(19–26)); A212–13/B259–60 (182(11–21)). 29 B258 (181(26–27)); A2 13/B259–60 (182(21–22)).

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whole of my present experience, then x (recognized under concept b) is part of the same whole.‹ What we represent to ourselves as the simultaneity of things in space is then nothing other than the sensible (temporal) form resulting from a synthesis according to the discursive form of a hypothetical judgment whose symmetrical converse is also thought to be true. In accordance with this discursive form, asserting the presence (existence, Dasein) of one of the objects perceived is represented as a sufficient condition for asserting the presence of the other, and conversely the presence of the latter is reflected as a sufficient condition for asserting the presence of the former. Which specific determinations pertain to this reciprocal conditioning (i. e., specifically what conditions what), we do not know. We shall acquire such determinate cognition only by means of the indefinite, never completed process of corrections and specifications of our discursive judgments in actual experience. Nevertheless, Kant’s point is that this process finds its initial impulse in the mere consciousness of the simultaneous existence of things in space, because such consciousness itself already depends on a synthesis of sensible manifolds guided by our capacity to judge, namely, a synthesis oriented toward reflection according to the form of hypothetical judgments.30

30

Note that Kant’s reasoning here, just like his argument in die Second Analogy, displays a complex web of interdependence between subjective and objective temporality. On the one hand, awareness of the irreversibility or reversibility (order-determinateness or order-indifference) of the subjective succession of representations is all that perceiving (experiencing) the objective temporal order of appearances amounts to. So, the perception of the objective temporal order depends on a specific feature of the subjective succession of representations. But on the other hand, what generates our awareness of such a feature of the subjective succession just is our act of relating our representations to an intentional object (an object they are the representation of). This is because relating our representations to objects is attempting to reflect objects under concepts according to the logical forms of categorical, hypothetical and disjunctive judgment, and this in turn is what generates – depending on what is given to our senses – our awareness of the irreversibility of the subjective succession in case the pattern that emerges is that of a permanent object whose states change, or the reversibility of the subjective succession in case the pattern that emerges is that of several coexisting permanent objects whose states are interrelated. So, striving to relate representations to objects is what generates the awareness of the reversibility or irreversibility of the subjective succession, and this in turn just is what our awareness of the objective temporal order (succession or simultaneity of states of things) amounts to. Thus Kant’s Analogies of Experience should be understood as being essentially an explanation of how we relate representations to objects in general: an explanation of intentionality, and as a result, a theory of what makes it possible to apply concepts such as those of causal connection and causal interaction to the objects of an empirical science of nature.

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In section two of this paper, I argued that when Kant relates our representation of the universal interaction of individual things or parts of things in a world-whole (according to the category of community), to our representation of the reciprocal limitation of spheres of concepts within the sphere of one divided concept (according to the logical form of disjunctive judgment) he is not thereby committed to the Leibnizian view that individual things are known as ultimae species, ultimate specifications of concepts. For Kant, things are known as the individual things they are, not by means of their completely determined or specified concept, but by means of their position in space and time. However, we determine the latter by means of judgments whose elementary form is: ›if at time t, x is in state a at point p1, then at that same time t, y is in state b at point p2. And conversely.‹ From these elementary (hypothetical) judgments, cognition can progress toward concepts of causal interactions, whose systematic unity is thought according to universal hierarchies of genera and species, and thus according to the logical form of disjunctive judgment. This, at least, is the thesis that I suggest emerges from Kant’s argument in the Third Analogy of Experience. Note that the relation I am propounding here on Kant’s behalf, between hypothetical and disjunctive judgment as we use them in empirical cognition – and first, in the cognitive process of identifying objects as individuals in space and time – this relation is distinct from the one that is implicit within the logical form of disjunctive judgment itself. Kant’s disjunctive judgment, ›a is either b, or c‹ can be developed in the following way: ›if x, thought under a, is b, then it is not c; and if x, thought under a, is c, then it is not b; and if x, thought under a, is not b, then it is c; and if x, thought under a, is not c, then it is b.‹ This meaning of the connective ›either … or’ is what grounds for Kant the inferences in modus ponendo-tollens and tollendo ponens. But the use of hypothetical judgment I have been concerned with, and which I argued is necessary for the form of disjunctive judgment and thus the category of community to be applicable, is not this one. The reader may have noted that in the use I was concerned with, antecedent and consequent both have a positive, not a negative form: an object’s being present in a given state at a given point is connected to another object’s being also present in a given state at another point in space, at the same time. This use of hypothetical judgment is related to the concept of cause (and reciprocal causality, or interaction) and by this mediation it makes it possible for us eventually to come up with the representation of universal hierarchies of genera and species (specifications of concepts of causal connections), according to the form of disjunctive judg-

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ment. For this reason – namely, because the empirical-cognitive use of the form of disjunctive judgment has to be mediated by that of the form of hypothetical judgment, and thus the application of the category of community has to be mediated by that of causal interaction – I said earlier that the category of community is the most complex of all. It cannot be understood except under the presupposition of the other relational categories, and thus under the presupposition of the empirical use of the logical forms they depend upon. I submit that this is why the third category of relation has two names: Wechselwirkung (reciprocal action, where the emphasis is on the relation of causal interaction) and Gemeinschaft (community, where the emphasis is on objects belonging to one worldwhole and under one logical space of concepts).

4. Concluding remarks In the introductory section of this paper, I mentioned some of the criticisms classically formulated against Kant’s logic: it is suspiciously psychologistic, it is caught within the narrow bounds of an Aristotelian model of predication and syllogistic inference – a model that had been superseded even before Kant’s time and was later relegated to irrelevance by Fregean/Russellian extensional logic. However, in light of the use Kant makes of his ›logical functions of judgment‹ for solving the problems he addresses in the critical system, I would like to suggest that the charges of psychologism and archaism perhaps cancel each other. Because what Kant calls ›pure general‹ or ›formal‹ logic is exclusively concerned with the ›universal rules of the understanding,‹ and understanding is the faculty of concepts (defined as ›universal and reflected representations‹), Kant’s logical forms of judgment are nothing but forms of concept subordination, and the forms of inference he is concerned with are merely the various ways in which concept-subordination (inclusion or exclusion of the extensions of concepts, under an internal or an external condition) allow for truth-preserving inference. And because his ›pure general logic‹ is so narrowly defined, it can make a claim to being a description of the forms according to which minds such as ours are capable of universalization of their representations – capable of combining their representations in such a way that they are susceptible to being reflected under concepts and thus related to objects, defined both logically as instances of concepts, and intentionally as what our representations are representations of (the intentional correlate of our representations). None of this

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II. Das System der Transzendentalphilosophie · B. Longuenesse

makes Kant’s »general pure logic« simply a part of psychology, for logic, as Kant puts it, is concerned not with the way we think, but with the way we should think, the ways in which rules of combination of concepts in judgments should be applied so that our representations of objects remain coherent and thus empirically testable as to their truth and falsity.31 I pointed out earlier that in his explanation of logical forms of judgment – especially the form of disjunctive judgment – Kant gives pride of place to an extensional consideration of concepts and concept-subordinations, that is, to the consideration of the classes or multiplicities (Mengen) of objects thought under concepts. This is because his main concern is to elucidate the ways in which forms of concept subordination are also forms according to which individual objects are subsumed under concepts, and thus extensions of concepts are constituted in the first place. And this in turn is related to the role Kant assigns to forms of intuition (space and time) as the forms according to which objects are individuated, distinguished from one another and brought together, ›synthesized‹ so that they become susceptible to being reflected under concepts. Examining and evaluating Kant’s notion of a form of intuition went beyond the limits of this paper. Nevertheless, in light of my examination of Kant’s logical form of disjunctive judgment and its relation to the category of community, I suggest that we should be attentive to the ways in which the notion of an a priori form of intuition is meant to account for an original capacity to represent (anticipate, generate) homogeneous multiplicities (multiplicities of objects thought under the same concept) just as Kant’s table of logical functions is meant to account for an original capacity to form universal concepts. Kant did not anticipate logical or scientific revolutions to come, and ought perhaps to have been more circumspect (in his remarks on Aristotelian logic, Euclidean geometry or Newtonian science). But what he did provide was a remarkably rich model of how elementary functions of minds such as ours – functions of concept formation and functions of object-individuation – might account for the unity of our unsophisticated, everyday perceptual world, and our sophisticated, scientific world-view. This model, I would like to suggest, has perhaps been summarily dismissed without being sufficiently explored.

31

Cf. A54/B78; also Logik, Einl. I, AA 9, 14; 529.

Michael Wolff Über Kants System der Urteilsfunktionen. Bemerkungen zu Béatrice Longuenesse1

1. Die Sonderstellung der Funktion des disjunktiven Urteils Béatrice Longuenesse hat in ihrem Beitrag die Sonderstellung beleuchtet, die der disjunktiven Urteilshandlung in Kants System der Urteilsfunktionen zukommt. Diese Sonderstellung tritt noch deutlicher ans Licht, wenn wir sagen: Diese Funktion ist auf das System von zwölf Elementen nicht nur dadurch bezogen, daß sie eines der Elemente ist, sondern auch dadurch, daß das disjunktive Urteilen ausmacht, was man die systematisierende Funktion des Verstandes nennen kann. Disjunktives Urteilen besteht ja für Kant nicht etwa im Gebrauch des wahrheitsfunktionalen ausschließenden »entweder-oder«, sondern im Einteilen eines Ganzen und damit im vollständigen Aufzählen von Elementen. So ist ein Urteil der Form »A ist entweder B oder C (oder D usw.)«, als disjunktives Urteil, wahr nicht schon dann, wenn dem A genau eines der Prädikate B, C, D usw. zukommt, sondern erst dann, wenn die Reihe B, C (D usw.) ein vollständiges Ganzes ist, d. h. wenn der Umfang des eingeteilten Begriffs A durch die Umfänge aller einteilenden Prädikatbegriffe ausgefüllt wird. Zum Beispiel trifft der Satz »Kegelschnitte sind entweder Kreise oder Ellipsen oder Parabeln oder Hyperbeln« genau dann zu, wenn (1) die vier aufgezählten Arten disjunkte Klassen bilden und wenn (2) es weder mehr noch weniger als die vier aufgezählten Arten gibt. Mit Béatrice Longuenesse könnte man sagen, daß disjunktive Urteile Begriffssphären so aufeinander beziehen, daß sich die Sphären der (untergeordneten) Prädikatbegriffe im ›logischen Raum‹, den der (übergeordnete) Subjektbegriff gleichsam aufspannt, wechselseitig begrenzen, indem sie diesen Raum zugleich vollständig erfüllen. Kant hätte folglich seine systematischen Einteilungen (und Untereinteilungen) der Urteile, Kategorien und Grundsätze statt durch Tafeln genauso gut durch disjunktive Urteile ausdrücken können.2 1

Béatrice Longuenesse, Logical Functions and the World-Whole, in diesem Band, S. 171ff. 2 Etwa in der folgenden Weise: (1) »Eine bestimmte Urteilsform besteht entweder in der Quantität oder in der Qualität oder usw. des Urteils«, (2) »Ein quantitativ bestimmtes Urteil ist entweder ein allgemeines oder ein besonderes oder usw.«, (3) »Eine

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Im Hinblick auf das Thema, das uns für diese Tagung aufgegeben wurde, wäre es naheliegend, die Frage zu stellen, mit welchen und mit wie guten Gründen Kant annehmen konnte, daß die logische Form, in der systematische Einteilungen stattfinden, selbst eine elementare, d. h. irreduzible logische Form ist. Nicht weniger naheliegend wäre es zu fragen, mit welchen und wie guten Gründen Kant meinen konnte, logische Funktionen und Formen, Kategorien und Grundsätze seien einer (disjunktiven) Einteilung überhaupt fähig. Wenn es zutrifft, mit Béatrice Longuenesse zu sagen, disjunktives Urteilen ›involviere‹ nach Kant andere (oder sogar alle anderen) Urteilsfunktionen, was garantiert dann, daß es nicht reduziert werden kann auf diese Funktionen? Wir haben gehört, Kant habe bei der Aufstellung seiner Urteilstafel sein Blickfeld eingeschränkt auf Urteile, die entweder Begriffe unter andere Begriffe subordinieren oder Gegenstände unter Begriffe subsumieren. Welches relevante und systematisch interessante Kriterium stand dann aber Kant zur Verfügung, um gerade nur diese Urteile für seine Systematik in Betracht zu ziehen? Auf diese Fragen werde ich in Abschnitt 4 zurückkommen. Zuvor dürfte es meine Aufgabe sein, Probleme zu diskutieren, die Béatrice Longuenesse aufgeworfen hat. Das erste dieser Probleme betrifft die von Kant behauptete Korrespondenz zwischen logischen Urteilsfunktionen und Kategorien, insbesondere die Korrespondenz zwischen der disjunktiven Urteilsfunktion und der Wechselwirkungskategorie. Das zweite Problem betrifft den Inhalt des Beweises der dritten Analogie. Für beide Probleme möchte ich andere Lösungen vorschlagen.

2. Zur Korrespondenz zwischen disjunktiver Urteilsfunktion und Wechselwirkungskategorie Auf die Sonderstellung, die der disjunktiven Urteilsfunktion in Kants Systematik zukommt, fällt weiteres Licht durch die Erläuterung, die Kant in § 11, 3. Anm. (KrV B 112–3) der Korrespondenz zwischen dieser Funktion und der Kategorie der Wechselwirkung gegeben hat. Um diese Erläuterung zu verstehen, ist ein präziseres Verständnis der logischen Form des disjunktiven Urteils erforderlich. Das Urteil »Kegelschnitte sind entweder Kreise oder Ellipsen oder usw.« entspricht zwar in seiner OberKategorie ist entweder eine quantitative oder eine qualitative oder usw. Gegenstandsbestimmung«, (4) »Die quantitativ bestimmende Kategorie ist entweder die der Einheit oder die der Vielheit oder usw.«

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flächenstruktur der Form »A ist entweder B oder C oder usw.«. Aber es besagt nicht, daß entweder (alle) Kegelschnitte Kreise sind oder (alle) Kegelschnitte Ellipsen sind oder usw. Vielmehr ist eine Einteilung gemeint, nach der ein einzelner, z. B. ein vor uns aufgezeichneter Kegelschnitt ein Kreis ist, es sei denn, er ist entweder eine Ellipse oder usw. Disjunktive Einteilungsurteile haben demnach, genauer betrachtet, die Form »entweder ist ein (bestimmtes einzelnes) A ein B, oder es ist ein C (oder usw.).«3 Aus diesem Umstand ergeben sich zwei bedeutsame Konsequenzen. Erstens bestehen disjunktive Urteile wesentlich aus singulären Urteilen.4 Als drittes Moment des dritten Titels der Urteilstafel involviert die Funktion des disjunktiven Urteilens die dritten Momente beider vorangehenden Titel. Denn darauf, daß es mit der Funktion des unendlichen Urteils die gemeinsame Eigenschaft hat, untergeordnete Begriffssphären auf ›den logischen Raum‹ einer übergeordneten Sphäre zu beziehen, in dem sie sich einander begrenzen, hat schon Béatrice Longuenesse hingewiesen. Die zweite Konsequenz besteht darin, daß aus disjunktiven Urteilen der Form ›Entweder ist ein bestimmtes A ein B, oder es ist ein C (oder usw.)‹ Urteile der Form ›Entweder ist ein bestimmtes B ein A, oder es ist ein C (oder usw.)‹ unmittelbar folgen. Wenn z. B. gilt: ›Ein Kegelschnitt ist entweder ein Kreis oder eine Ellipse oder usw.‹, so folgt daraus sogleich, daß ein Kreis ein Kegelschnitt ist, es sei denn, er ist eine der Figuren, die kein Kreis sind. Ganz allgemein gilt, daß disjunktive Einteilungsurteile wahr bleiben, wenn einer der koordinierten Unterbegriffe seine Stelle mit der des Oberbegriffs vertauscht. Daher ist aus der logischen Form des disjunktiven Urteils allein nicht zu erkennen, welcher der darin vorkommenden Termini der eingeteilte Oberbegriff und welche dieser Termini 3

Das von Kant selbst (unter Ziffer 3 der Erläuterungen zur Urteilstafel) gegebene Beispiel für disjunktive Urteile ist vielleicht irreführend. Es lautet: »Die Welt ist entweder durch einen blinden Zufall da, oder durch innere Notwendigkeit, oder durch eine äußere Ursache« (A 74, B 99). Man kann diesen Satz zwar ohne weiteres als Disjunktion aus drei universellen Urteilen deuten, die besagt: »Entweder ist alles, was geschieht, durch Zufall da, oder alles dies usw.«. Aber aus dem Kontext ergibt sich sofort, daß Kant nicht der Meinung war, es sei etwa die Welt (oder alles, was geschieht) dasjenige, was durch das Einteilungsurteil in Zufälliges und Nicht-Zufälliges eingeteilt würde. Das würde gar keinen vernünftigen Sinn ergeben. Was hier vielmehr eingeteilt werden soll, ist offenbar etwas, wovon der Satz selbst nicht explizit handelt, nämlich: mögliche Erkenntnis. So verstanden besagt er: »Eine bestimmte mögliche Erkenntnis von der Ursache des Daseins der Welt besteht entweder darin zu erkennen, daß die Welt durch Zufall da ist, oder sie besteht darin zu erkennen, daß usw.« 4 Zur Form des singulären Urteils im Sinne der Urteilstafel s. Michael Wolff, Erwiderung auf die Einwände von Ansgar Beckermann und Ulrich Nortmann, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998), S. 453 ff.

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die einteilenden Unterbegriffe sind. Die logische Situation ist hier genau analog der logischen Situation, die Kant im Hinblick auf das kategorische Urteil beschreibt. Bei der kategorischen Form »Alles A ist ein B« bleibt es, wie Kant in § 14 sagt, »in Ansehung des bloß logischen Gebrauchs des Verstandes [...] unbestimmt, welchem von beiden Begriffen [A und B] die Funktion des Subjekts, und welchem die des Prädikats man geben wolle« (B 128–9). Denn statt »Alle Körper sind teilbar« könne man auch sagen: »Einiges Teilbare ist ein Körper«. Um am Beispiel des kategorischen Urteils zu erläutern, was eine Kategorie ist und in welcher Weise sie einer der zwölf aufgezählten logischen Funktionen korrespondiert, fährt Kant fort: »Durch die Kategorie der Substanz aber, wenn ich den Begriff eines Körpers darunter bringe, wird es bestimmt: daß seine empirische Anschauung in der Erfahrung immer nur als Subjekt, niemals als bloßes Prädikat betrachtet werden müsse; und so in allen übrigen Kategorien.« (B 129) Dementsprechend nimmt Kant im Hinblick auf das disjunktive Urteil offenbar an, daß es die Kategorie der Gemeinschaft oder Wechselwirkung ist, durch deren Anwendung auf dasjenige, was unter die im Urteil vorkommenden Begriffe fällt, dessen Anschauung als eingeteiltes Ganzes bzw. als Teil dieses Ganzen bestimmt werden kann (B 128). Ich möchte diese Annahme auf folgende Weise erläutern. Das Urteil ›Ein Kegelschnitt ist entweder ein Kreis oder eine Ellipse oder usw.‹ ist wahr, wenn die Gesamtheit der Kegelschnitte aus Kreisen, Ellipsen usw. besteht und wenn von Kreisen, Ellipsen usw. angenommen werden darf, daß sie disjunkte Klassen bilden. Nun ergibt sich aus der logischen Form dieses Urteils noch nicht, daß der Subjektterminus ›Kegelschnitt‹ die Gesamtheit der in der Anschauung vorkommenden Gegenstände erfaßt, die durch die vier Prädikattermini des Urteils eingeteilt werden. Es ergibt sich aus ihr auch noch nicht, welche der insgesamt vorkommenden fünf Termini disjunkte Klassen bezeichnen. Das ergibt sich vielmehr daraus, daß die Anschauung dieser Figuren begrifflich, und zwar unter einer Kategorie geordnet wird, nämlich so, daß Kreise, Ellipsen, Parabeln und Hyperbeln bestimmt werden als dasjenige, was die ›Gemeinschaft‹ der Kegelschnitte ausmacht. Die 3. Anmerkung zu § 11 präsentiert anstelle des Beispiels der Gesamtheit der Kegelschnitte das Beispiel des »Ganzen der Dinge.« Der Text legt es dem Leser nahe, hierbei an die Welt der einander ziehenden und widerstehenden »Körper« (B 112) zu denken. Physikalische Wechselwirkung scheint damit ins Spiel zu kommen. Dies gibt Anlaß zu fragen, was in Kants Augen Gemeinschaft mit Wechselwirkung zu tun haben soll. Wie ist seine etwas rätselhafte Bemerkung zu verstehen, ähn-

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lich wie im disjunktiven Urteil werde »in einem Ganzen der Dinge« eine »Verknüpfung« gedacht, bei der eines der Dinge »zugleich und wechselseitig als Ursache in Ansehung der Bestimmung der anderen beigeordnet wird« (B 112)? 3. Zur dritten Analogie Um Kants Beweis der dritten Analogie zu verstehen, ist es notwendig, diese Frage beantwortet zu haben. In diesem Beweis kommt der Begriff der Wechselwirkung ins Spiel. Es heißt dort, »ein Verstandesbegriff von der wechselseitigen Folge der Bestimmungen dieser außer einander zugleich existierenden Dinge« werde »erfordert, um zu sagen, daß die wechselseitige Folge der Wahrnehmungen im Objekte gegründet sei, und das Zugleichsein dadurch als objektiv vorzustellen« (B 257). Nach Béatrice Longuenesse ist der Verstandesbegriff, von dem hier die Rede ist, ›ursprünglich nichts anderes als die logische Funktion des hypothetischen Urteils‹, mit der nach Kant aber nicht die Kategorie der Wechselwirkung, sondern die der Kausalität korrespondiert. Longuenesses Ansicht hat aber den Nachteil, unverständlich zu machen, warum Kant die dritte Analogie nicht auf die Kategorie der Kausalität, sondern auf die der Wechselwirkung bezieht. Kants Rede von Wechselwirkung scheint die Vorstellung von mechanischer Wirkung und Gegenwirkung (Repulsion und Attraktion) nahezulegen. Béatrice Longuenesse hat zwar vor dieser Assoziation gewarnt, kommt aber selbst von ihr nicht ganz los. Sonst würde sie nicht meinen, es sei falsch zu sagen, man unterstelle eine Beziehung der Wechselwirkung zwischen Tisch und Stuhl, falls man diesen Tisch hier und diesen Stuhl dort als etwas zugleich Existierendes wahrnimmt. Nehmen wir an, Tisch und Stuhl seien, wegen ihrer relativen Stellung im Raume, nur in zeitlicher Abfolge wahrnehmbar, diese Abfolge sei aber reversibel, so ist, nach Kants Ansicht, nur dann diese Abfolge irrelevant für die zeitliche Existenz von Tisch und Stuhl und nur dann auch die Annahme berechtigt, es gebe einen Zeitpunkt, an dem beide gleichzeitig existieren, wenn eine ›wechselseitige Folge der Bestimmungen‹ von Tisch und Stuhl vorausgesetzt wird. Was mit dieser wechselseitigen Folge gemeint ist, können wir verstehen, wenn wir uns klargemacht haben, daß disjunktive Einteilungsurteile schon ihrer eigenen Bedeutung nach von wechselseitigen Folgen handeln. So ist das Urteil ›Entweder ist ein A ein B oder ein C‹ gleichbedeutend mit dem Urteil: ›Wenn ein A ein B ist, so ist es kein C, und (um-

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gekehrt), wenn es kein B ist, so ist es ein C.‹ Dieses Urteil wiederum ist gleichbedeutend mit dem Urteil: ›Wenn ein A ein B ist, so ist nicht dieses, wohl aber ein anderes A ein C (falls ein C existiert), und (umgekehrt), wenn nicht dieses, wohl aber ein anderes A ein B ist, so ist es selbst ein C.‹ Es scheint mir genau diese Art der Explizierbarkeit der Bedeutung des disjunktiven Urteils der Grund dafür zu sein, daß Kant behauptet, »das Disjunktive« des disjunktiven Urteils bestehe in der »Wechselwirkung« seiner Glieder (A 75, B 100). Denn so expliziert bringt das disjunktive Urteil eine Beziehung zum Ausdruck, in welcher verschiedene Gegenstände Prädikate haben, wovon der Grund jeweils wechselseitig im anderen Gegenstand liegt. Wechselwirkung ist nach diesem Sprachgebrauch eine rein logische Beziehung. Von ihr behauptet § 11, ihr entspreche eine »ähnliche Verknüpfung« im Begriff eines Ganzen der Dinge. An Tisch und Stuhl kann man sich die Art der gemeinten Verknüpfung ebenso gut klarmachen wie anhand von Kants Beispiel von Mond und Erde (B 275), nämlich in folgender Weise: Die objektive Koexistenz eines Tisches und Stuhles setzt voraus, daß Tisch und Stuhl Teile eines Ganzen gleichzeitig existierender Dinge sind, z. B. Teile des Mobiliars in diesem Zimmer oder Teile des Weltganzen (d. h. der Gesamtheit alles zugleich Existierenden). Diese Voraussetzung läßt sich sogleich in Form eines disjunktiven Urteils zum Ausdruck bringen, z. B. so: ›Ein Teil dieses Mobiliars ist entweder ein Tisch oder ein Stuhl oder ein ... etc..‹ Nach der soeben explizierten Bedeutung von ›entweder-oder‹ heißt das: ›Wenn ein Teil des Mobiliars ein Tisch ist, so folgt daraus, daß nicht dieser, wohl aber ein anderer Teil ein Stuhl ist, und vice versa.‹ Der Umstand, daß Kant die Kategorien der Gemeinschaft und der Wechselwirkung als Begriffspaar präsentiert, läßt sich daraus erklären, daß der Begriff der Wechselwirkung in Beziehung auf den Inhalt disjunktiver Urteile dasselbe leistet wie die Kategorie der Gemeinschaft: Durch beide Begriffe wird es »bestimmt« (§ 14, B 129), daß irgendwelche Anschauungen als Teile eines (gemeinschaftlichen) Ganzen einander (wechselseitig) bestimmen. Demnach ist es die Kategorie der Wechselwirkung, die Kant mit dem »Verstandesbegriff von der wechselseitigen Folge der Bestimmungen« in B 257 meint. Der Begriff einer reversiblen Kausalbeziehung spielt im Beweis der dritten Analogie eher keine Rolle. Daraus folgt nicht, es sei falsch, mit Béatrice Longuenesse zu behaupten, die Funktion des disjunktiven Urteils ›involviere‹ diejenige des hypothetischen Urteils, folglich involviere der Wechselwirkungsbegriff den der Kausalität. Man erfaßt ja (wie wir soeben gesehen haben) die Bedeutung des disjunktiven

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Urteils eben dadurch, daß man die entweder-oder-Syntax in eine logisch äquivalente wenn-so-Syntax transformiert.

4. Zur Frage nach Einheit in Kants Systematik Dürfen wir aus dem Involviertsein anderer Funktionen in der Funktion des disjunktiven Urteils auf die Einheit der Systematik dieser Funktionen schließen? Ein solcher von Longuenesse nahegelegter Schluß stößt auf Bedenken. So hat schon John Neville Keynes den systematischen Charakter der Urteilstafel mit dem Argument gerade angezweifelt, kategorische Urteile seien als Urteilsglieder in hypothetischen und disjunktiven Urteilen involviert; daher könne von Gleichrangigkeit der Tafelelemente (hinsichtlich ihres elementaren Charakters) keine Rede sein.5 Der Einwand berührt das von Kant beschriebene Problem der Vermeidung von »Einteilungssprüngen« (saltus divisionis) im »Beweis der Stetigkeit« einer Systemeinteilung. Ohne diesen Beweis (»eine der am schwersten zu erfüllenden Bedingungen für den Baumeister eines Systems«6) und ohne einen Beweis der Vollständigkeit bleibt der Anspruch auf systematische Einheit eines Ganzen von Elementen unerfüllt. Ich möchte mich hier darauf beschränken, drei Vorbedingungen aufzuzählen, unter denen eine strengere Prüfung von Kants fundamentalsten systematischen Ansprüchen noch philosophisches Interesse verdient. Die erste Vorbedingung (a) besteht in der genauen Beachtung der Einteilung der ›Wissenschaft der Logik‹, wie sie Kant in der Einleitung zur transzendentalen Logik vornimmt. Die zweite Vorbedingung (b) besteht in der Beachtung der Zweistufigkeit des architektonischen Verfahrens, aus dem sich die Einteilung der Verstandesfunktionen und Urteilsformen ergibt. Die dritte Vorbedingung (c) besteht darin, den Einteilungsgrund, den Kant zugrunde legt, als zwingend beschreiben zu können. Ich möchte diese drei Bedingungen zum Schluß kurz erläutern. (a) Kants Logik-Einteilung ist für das Verständnis der Urteilstafel als Darstellung eines vollständigen Systems von größtem Interesse, weil aufgrund dieser Einteilung einsichtig wird, daß Kants Vollständigkeitsanspruch mißverstanden wird, wenn man meint, die Tafel solle alle logischen Urteilsformen aufzählen. In Wahrheit soll sie nur Formen von 5

Vgl. Michael Wolff, Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel. Frankfurt 1995, S. 16. 6 Metaphysik der Sitten, AA 6, 218.26–30.

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Verstandesurteilen aufzählen, d. h. logische Urteilsformen, die Handlungen des (›reinen‹) Verstandes zum Ausdruck bringen. Nicht zufällig ist im Kontext der Urteilstafel nur vom Urteilen des Verstandes die Rede, und nicht zufällig wehrt Kant im selben Kontext den ›besorglichen Mißverstand‹ ab, es müßten, unter ›technischen‹ (Anwendungskontexte einbeziehenden) Einteilungsgesichtspunkten, teils mehr teils weniger als zwölf Formen aufgezählt werden. Berücksichtigt man, was Kant meint, wenn er vom Verstand spricht, so heißt das, daß die Logik der Urteilstafel von Urteilen nur insofern handelt, als (allgemeine) Begriffe darin vorkommen. Dies kann sinnvollerweise nur heißen, daß die syntaktischen Formen, die sie aufzählt, ausschließlich Formen genereller Sätze sind, die als solche nicht singuläre, sondern nur generelle Termini enthalten. Erst wenn wir so den Inhalt der Urteilstafel beschreiben, verstehen wir, warum die Urteile, von denen sie handelt, nicht heterogen sind, insofern sie teils Begriffe unter Begriffe subordinieren, teils Gegenstände unter Begriffe subsumieren. Denn auch singuläre und disjunktive Urteile können die Form des generellen Satzes annehmen und haben es dann gleichfalls, nur auf besondere Weise, mit dem Ordnen von Begriffen unter Begriffen zu tun – ich bevorzuge hier, Kant (A 68, B 93) folgend, den Dativ (»unter Begriffen«), weil disjunktive Subordinationen zugleich Koordinationen sind. Aus dieser Beschreibung des Inhalts der Urteilstafel ergibt sich sogleich eine scharfe Abgrenzung gegenüber logischen Formen, von denen z. B. die moderne Quantorenlogik handelt. Die Form des generellen Satzes schließt ja den Auftritt von Individuenvariablen oder -konstanten aus. Nun wäre es sicher ein voreiliger Schluß, aus der Begrenztheit des Inhalts der Urteilstafel mit Béatrice Longuenesse zu folgern, Kant ›reduziere‹ die (ganze) Logik auf eine Logik der Begriffssubordination. Denn offenbar gehört es zum Sinn der Logik-Einteilung Kants, die (›allgemeine‹ und ›reine‹) Logik der Urteilstafel nicht mit der ganzen Logik gleichzusetzen. Diese soll vielmehr alle besonderen Logiken mit umfassen (darunter die transzendentale Logik). Man verkennt die ›Stetigkeit‹ in Kants Logik-Einteilung (A 52, B 76), wenn man übersieht, daß zunächst die ganze Logik in die des allgemeinen und besonderen Verstandesgebrauchs und dann die des besonderen Verstandesgebrauchs in Fachlogiken (darunter die (transzendentale) Logik der Metaphysik) eingeteilt wird. (b) Mit der Zweistufigkeit des architektonischen Einteilungsverfahrens meine ich den Umstand, daß nach Auskunft des Architektonik-Kapitels (A 832, B 860) zwei Dinge zur Errichtung eines Systems (als »Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee«) erforderlich sind: (1) die

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Bestimmung des »Umfangs des Mannigfaltigen« »durch den Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen« und (2) die Anweisung der »Stelle der Teile untereinander a priori«. Laut Einleitung zum Leitfaden-Kapitel (A 67, B 92) setzt Stufe (2) die Einsicht in eine »Regel« voraus. Diese ergebe sich aus einem »Zusammenhang« der Teile »nach einem Begriffe, oder Idee«. Demnach ist es Sache von Stufe (1), einen solchen Zusammenhang zu finden. Nun stimme ich mit Béatrice Longuenesse darin überein, daß der Begriff oder die Idee, aus der die gesamte Herleitung des Inhalts von Urteils- und Kategorientafel erfolgt, der Begriff des »Verstandes überhaupt« als eines »Vermögens zu urteilen« (A 69, B 94) ist. Eine Idee ist er im präzisen Sinne eines conceptus ratiocinatus, da er das Ergebnis einer Reihe von Schlußfolgerungen ist, die im ersten Leitfaden-Abschnitt gezogen werden. Darin wird die These begründet, daß dem Verstand (als ganzem oberen Erkenntnisvermögen) eine bestimmte Menge möglicher Handlungsweisen zukomme, von denen dann festgestellt wird, sie alle seien in der Urteilshandlung enthalten. An dieser Stelle des Verfahrens dürfte Stufe (1) abgeschlossen sein, da der ›Umfang‹ alles dessen, was dem Verstande an Funktionen zugeschrieben werden kann, nunmehr bestimmt ist. Was ihm zugeschrieben wird, steht auch in einem ›Zusammenhang‹, denn es findet in oder mit dem Urteilen statt. Damit steht auch eine Regel zur Anweisung einer Stelle gemäß Stufe (2) zur Verfügung, nämlich eine Regel im Sinne des Obersatzes eines disjunktiven Einteilungsschlusses. Stufe (2) des architektonischen Verfahrens muß mit der Anwendung dieser Regel einsetzen. Wegen ihrer disjunktiven Form muß der ganze Rest des Verfahrens aus lauter disjunktiven syllogistischen Schlüssen bestehen, zu deren zweiten Prämissen die Urteils- und Kategorientafel jeweils den Stoff liefern. Diese stillschweigenden Prämissen lauten sinngemäß wie folgt: Nun ist aber die und die logisch-syntaktische Urteilsform bzw. der und der ontologische Begriffsausdruck der und der Handlungsart als einer Stelle in den Tafeln zuzuordnen oder nicht zuzuordnen. Conclusio: Also usw. Damit ist das architektonische Verfahren insoweit abgeschlossen, als der Vollständigkeitsbeweis bezüglich der Arten von Verstandeshandlungen dargelegt und gezeigt ist, welchen Stellen Verstandeshandlungen als Unterarten zuzuordnen sind. Die Zweistufigkeit der Argumentation läßt deutlich werden, daß zwischen Handlungsarten (den sogenannten Verstandesfunktionen) einerseits und den logisch-syntaktischen Urteilsformen und Kategorien andererseits unterschieden werden muß. Die Systematisierung der aus Logikbüchern bekannten Formen anhand der architektonischen Regel dient nur dazu, das deduktiv entwickelte System der Verstandeshandlungen durch Sub-

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divisionen weiter zergliedern zu können, um anschließend, analog zum so verfeinerten System, das architektonische Hauptziel erreichen zu können: die Systematisierung der aus Metaphysikbüchern bekannten ontologischen Begriffswörter. (c) Mein dritter und letzter Punkt bezieht sich auf die Frage nach der richtigen Auslegung des soeben erwähnten obersten Einteilungsprinzips, des ›Verstandes überhaupt‹ als eines ›Vermögens zu urteilen‹. Mit diesem Vermögen muß das (gesamte) nicht-sinnliche Erkenntnisvermögen gemeint sein. Tatsächlich ist es plausibel anzunehmen, auch der Verstand i. e. S., als Vermögen, Begriffe zu gebrauchen, müsse bereits urteilen können. Denn die herkömmliche Meinung, er könne sich (durch apprehensio simplex) unmittelbar und nicht-propositional auf Gegenstände beziehen, ist nicht haltbar, wenn man Kants Auffassung folgt, Begriffe seien wesentlich Allgemeinbegriffe. Daß auch die zweite Instanz des oberen Erkenntnisvermögens, die Urteilskraft, im Vermögen zu urteilen schon mit berücksichtigt ist, ergibt sich fast von selbst. Um sie dem ›Verstand überhaupt‹ eingliedern zu können, müssen ihre spezifischen Funktionen wie die des Verstandes i. e. S. als Arten des Gebrauchs von Begriffen in Urteilen aufgefaßt werden. Für die dritte Instanz, die Vernunft als Vermögen zu schließen, gilt Entsprechendes. Béatrice Longuenesse hat mit Recht darauf hingewiesen, daß sich für Kant die unter dem Titel der Relation aufgezählten Funktionen aus der Berücksichtigung der Formen syllogistischer Prämissen ergeben. Da Kant auch diese Funktionen aus dem Verstand als Vermögen zu urteilen herleiten möchte, kann er nicht meinen, man dürfe Art und Anzahl dieser Funktionen der Art und Anzahl syllogistischer Schlußweisen entnehmen. Das wäre ein Zirkel. Vielmehr wird Kant meinen, umgekehrt folge die Systematik der Schlußweisen aus der Einteilung der Verstandesurteile in kategorische, hypothetische und disjunktive. Was damit gemeint ist, können wir uns am Beispiel des disjunktiven Urteils verdeutlichen. Wir hatten gesehen, daß dieses Urteil in seiner Form ›Entweder P oder Q‹ bedeutet: ›Wenn P, so nicht Q‹ und: ›Wenn nicht P, so Q‹. Es liegt folglich in der Bedeutung des Obersatzes disjunktiver Schlüsse, daß diese nach Modus ponendo tollens oder Modus tollendo ponens gültig sind. Anders ausgedrückt: Wir wenden beim disjunktiven Schließen nicht irgendwelche gültigen und schon als gültig einsehbaren Schlußregeln auf disjunktive Obersätze an, sondern disjunktive Schlußregeln sind als gültige Regeln nur einsehbar, weil disjunktive Urteile bedeuten, daß, wenn eines der Teilurteile wahr ist, die übrigen Teilurteile falsch sind, und daß umgekehrt eines der Teilurteile wahr ist, wenn die übrigen Teilurteile falsch sind. Daß Kant so oder ähnlich über

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das Verhältnis des Urteilens zum Schließen gedacht hat, scheint mir aus dem ersten Leitfaden-Abschnitt (ja bereits aus seiner frühen Abhandlung über die »Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren«) hervorzugehen. Wenn Kant so gedacht hat, dann liegt der Systematik der Urteilstafel nicht die dreifache Gliederung des oberen Erkenntnisvermögens zugrunde, sondern umgekehrt: Diese folgt aus jener.

Thomas M. Seebohm Die reine Logik, die systematische Konstruktion des Prinzips der Vernunft und das System der Ideen 1. Einleitung Vorauszuschicken ist ein allgemeiner Hinweis. Die Kantische Unterscheidung zwischen formaler, oder wie er sagt, allgemeiner reiner, und transzendentaler Logik enthält mehr und ganz anders gelagerte Probleme als die, die in der vom deutschen Idealismus geprägten Standardinterpretation der Kantischen Philosophie aufgeführt werden. So wie die Unterscheidung allgemein in B 77 bis B 81 eingeführt wird, ist sie zunächst zwar in sich verständlich, muß aber für den, der sich an einer extensionalen Interpretation logischer Formen gewöhnt hat, einigermaßen befremdlich sein oder sollte es zumindest sein. Für Kant bedeutet nämlich die Abstraktion, die Voraussetzung dafür ist, daß nur die logische Form der Beziehungen zwischen Erkenntnissen aufeinander, d. h. die Form des Denkens, zu betrachten ist, nicht nur eine Abstraktion von allem Inhalte, sondern auch von allem Bezug auf das Objekt (B 80, analoge Stellen in den verschiedenen Versionen der Logiken lassen sich finden). Erst die transzendentale Logik klärt, wie insbesondere auch die Kategorien, die ja zunächst nichts anderes sind als die Begriffe der logischen Funktionen in Urteilen, auf Objekte bezogen werden können. Das würde aber bedeuten, daß in der allgemeinen reinen Logik bei Kant die Dimension des Gegenstandbezuges völlig fehlt, d. h. ihre Reinheit liegt gerade auch darin, daß sie rein subjektivisch und konzeptualistisch eine intensionale Logik ist. Es kann gesagt werden, daß die deutschen Idealisten diese Charakterisierung der formalen Logik übernommen haben, und vor allem Hegel hat in seinen Ausführungen über den mathematischen Schluß, aber auch an anderen Stellen, die Ansätze zu einer formalistischen und extensionalen Interpretation logischer Beziehungen bei Leibniz, Plouquet und Euler mit der gnadenlosen Polemik behandelt, die üblicherweise dann auftritt, wenn von einem Paradigma einer Wissenschaft ausgehend ein anderes, inkompatibles Paradigma behandelt wird. Man darf aber daraus keineswegs folgern, daß es nicht sinnvoll wäre, Kantische Argumente mit den Mitteln der formalisierten Logik zu analysieren und ihre Gültigkeit bzw. Ungültigkeit in diesem Medium nachzuprüfen, obwohl auch einzuräumen wäre, daß solche Analysen nicht systemimmanent sind. Ein m. E.

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gelungener Versuch einer Analyse der Antinomienlehre mit den Mitteln der formalisierten Logik ist in jüngster Zeit vorgelegt worden.1 Man wird ein solches Unterfangen aber von einer strikt textimmanenten Interpretation und Analyse unterscheiden müssen, die sich nur an die Kantische formale Logik und ihre Grundlagen hält. Eben das ist die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung. Genauer betrachtet aber taucht des Problem der Beziehung der intensionalen und der extensionalen Interpretation der Logik, ohne als solches gleich erkennbar zu sein, bei Kant auch als ein systemimmanentes Problem auf. Es gelingt ihm nämlich zum ersten nicht, sein Programm einer ganz auf einer Lehre vom Begriff aufbauenden reinen Logik, die von jedem Bezug auf Objekte abstrahiert, in seinen Logikvorlesungen durchzuhalten. Das Programm kann zwar an einigen Stellen zum Tragen kommen, ist aber dann vom extensionalen Standpunkt aus betrachtet geradezu absurd. Das ist u. a. der Fall bei der unmittelbaren Rückführung des singulären Urteils auf das allgemeine und nicht auf das partikuläre Urteil und die Interpretation retionaler, d. h. für die reine Logik allein relevanter partikulärer Urteile ebenso auf allgemeine Urteile durch conversio per accidens. Umgekehrt aber scheint die Einbeziehung der Modalurteile und die Verwendung modaler Kategorien in den Erläuterungen der Urteile der Relation mit dem Kantischen Paradigma einer reinen Logik und ihrer Beziehung zur transzendentalen Logik kaum verträglich zu sein. Kant hat immer wieder darauf verwiesen, daß der Bereich analytischer Wahrheit der Bereich der problematischen Urteile sei, und sofern die reine Logik und deren oberstes Prinzip, das der Widerspruchsfreiheit, eben der Bereich des Analytischen ist, sollte in ihr von assertorischen Urteilen nicht die Rede sein dürfen. Assertorische Urteile sind nach den Logikvorlesungen Sätze, deren Wahrheit behauptet wird und die somit Gegenstandsbezug haben. Damit würden sie aber nach der Kantischen Konzeption gar nicht zur reinen Logik gehören, sondern könnten nur in einer transzendentalen Logik ihren Platz haben. Man könnte das als einen, vielleicht durch pragmatisch-didaktische Motive abdeckbare kleine Inkonsequenz der Logikvorlesungen werten. Das aber ist nicht möglich, da der Begriff des Assertorischen zentral für die Definitionen der Urteile der Relation und auch der Schlüsse und ihrer Prinzipien ist. In der Kritik der reinen Vernunft werden die Abweichungen der Einteilung der Urteile der Logiker und der transzendentalen Logik von Kant 1

Wolfgang Malzkorn, Kants Kosmologie-Kritik. Eine formale Analyse der Antinomienlehre, Kantstudien-Ergänzungshefte, Band 134, Berlin 1999.

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nach Kräften heruntergespielt, sind aber doch gravierend, wie eine nähere Analyse zeigen kann. Insbesondere der Zusammenhang zwischen dem bei Kant strikt disjunktiven Urteil, das begriffslogisch zur Begriffseinteilung gehört, und der Kategorie der Wechselwirkung ist doch noch problematischer, als es nach Kant der Fall sein soll. Es bietet sich transzendentallogisch, also mit Bezug auf mögliche Gegenstände an, die zu Grunde liegende Urteilsfunktion als ein Bikonditional zu verstehen, d. h. die konjunktive Verknüpfung eines hypothetischen Urteils mit einem weiteren, in dem Antezedens und Konsequens des ersteren vertauscht ist. Nun ist unmittelbar intuitiv einsichtig, daß strikte Disjunktion und Bikonditional kontradiktorisch sind, da beide wechselseitig durch ihre Negationen definiert werden können. Diese und andere in den Bereich der transzendentalen Analytik gehörigen Schwierigkeiten habe ich in einem Betrag zum letzten Internationalen Kant-Kongreß behandelt. Hier muß ich mich mit einem Verweis auf diese Veröffentlichung begnügen.2 Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich aus den gleichen Gründen auch in der transzendentalen Dialektik.

2. Die terminologischen Voraussetzungen der Konstruktion des Prinzips der Vernunft Bevor Kant zu dieser Konstruktion kommt, führt er einige dort vorausgesetzte Unterscheidungen in seiner Terminologie ein, auf die zunächst eingegangen werden muß. Bereits bei der ersten Erwähnung der Unterscheidung von Logik und Dialektik und transzendentaler Logik und transzendentaler Dialektik wird auf die Versuchung hingewiesen, reine Begriffe über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus auf Gegenstände überhaupt, damit aber auch auf übersinnliche Gegenstände anzuwenden. Der reine Verstand wäre demzufolge ein Organon, das sich anmaßt, nicht nur über erfahrungsimmanente, sondern auch über erfahrungstranszendente Gegenstände zu urteilen. Ein solcher Anspruch aber beruht auf Schein, ist eine Illusion. »Also würde der Gebrauch des reinen Verstandes alsdann dialektisch sein. Der zweite Teil der transzendentalen Logik muß also eine Kritik dieses dialektischen Scheins sein [...] als eine

2

Vgl. v. Vf.: Some Difficulties in Kant’s Conception of Formal Logic, in Proceedings of the 8. International Kant-Congress Memphis 1995, ed. H. Robinson, Milwaukee: Marquette University Press, 1995, Vol. I, Part I, Sect. 1–2, 567–581.

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Kritik des Verstandes und der Vernunft in Ansehung ihres hyperphysischen Gebrauchs.« (B 88) Zuerst ist klarzustellen, was Schein ist und welche Arten des Scheins es gibt. Schein ist nicht Wahrscheinlichkeit, d. h. das, womit sich nach Kant die Wahrscheinlichkeitskalküle befassen. Schein ist auch nicht Erscheinung, d. h. die Weise, in der uns Gegenstände in den Anschauungsformen Raum und Zeit erscheinen. Schein ist vielmehr allgemein das Fürwahrhalten eines an sich irrigen Urteils. Es gibt (a) empirischen Schein, »durch welchen die Urteilskraft durch Einfluß der Einbildung verleitet wird« (B 352), und es gibt (b) den logischen Schein der Trugschlüsse, der durch mangelnde Achtsamkeit auf die logischen Regeln entsteht. Ein logischer Schein kann durch gehörige Aufmerksamkeit vermieden werden. Beim empirischen Schein ist das nicht der Fall, er hat den Charakter einer Illusion. Eine Illusion kann zwar durch eine andere, korrigierende Wahrnehmung als solche aufgedeckt werden, sie kann aber als solche nicht vermieden werden. Der transzendentale Schein ergibt sich, wenn man die Grundsätze des reinen Verstandes über ihre erfahrungsimmanente Anwendung hinaus als transzendendente Grundsätze benutzt, d. h. versucht, sie auf erfahrungstranszendente Gegenstände anzuwenden. Ein kurzer terminologischer Exkurs ist am Platze. ›Immanent‹ und ›transzendent‹ sind Prädikate für erfahrungsimmanente und erfahrungstranszendente Gegenstände. ›Transzendental‹ ist ein Prädikat für Begriffe, genauer für den Gegenstandsbezug, den Gebrauch von Begriffen, und das eigentliche Problem ergibt sich hier mit der Frage nach dem Gegenstandsbezug von reinen Begriffen a priori, von Notionen. Was in der transzendentalen Dialektik gezeigt wird, ist, daß der Anspruch, daß sich Notionen oder Begriffe aus Notionen auf transzendente, hyperphysische, übersinnliche Gegenstände beziehen, eine Illusion ist. Sofern hier nun die Frage ist, ob ein reiner Begriff transzendental auf einen transzendenten Gegenstand bezogen werden kann, ergeben sich hier prima facie Schwierigkeiten für eine klare Abgrenzung, die aber bei gehöriger Aufmerksamkeit sofort verschwinden. Es bleibt dabei: ›Transzendent‹ ist ein Gegenstandsprädikat, ›transzendental‹ aber bezieht sich auf möglichen Gegenstandsbezug von Begriffen. Wird ein reiner Begriff transzendent angewendet, d. h. auf einen transzendenten Gegenstand bezogen, dann muß man unterscheiden (a) eine transzendente Anwendung, die ein bloßer Fehler der nicht durch Kritik gezügelten Urteilskraft ist. Es handelt sich um einen bloßen Mißbrauch der Kategorien, wie er z. B. in Phaenomena und Noumena allgemein und

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insbesondere dort im Abschnitt Amphibolie der Reflexionsbegriffe als Mißbrauch aufgedeckt wird. Der eigentliche transzendentale Schein ist kein bloßer Mißbrauch, sondern wird durch ein Prinzip der Vernunft erzeugt, und er ergibt sich deshalb mit einer gewissen subjektiven Notwendigkeit. Er hat nicht den Charakter eines durch genügend Aufmerksamkeit vermeidbaren Mißbrauches, sondern den Charakter einer Illusion. Kant charakterisiert ihn zunächst so: »Der transzendentale Schein dagegen hört gleichwohl nicht auf, ob man ihn schon aufgedeckt und seine Nichtigkeit durch transzendentale Kritik deutlich eingesehen hat (z. B. der Schein in dem Satze: die Welt muß der Zeit nach einen Anfang haben). Die Ursache hiervon ist diese: daß in unserer Vernunft (subjektiv als menschliches Erkenntnisvermögen betrachtet) Grundregeln und Maximen ihres Gebrauches liegen, welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben und wodurch es geschieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe, zugunsten unseres Verstandes, für eine objektive Notwendigkeit der Bestimmung der Dinge an sich selbst gehalten wird. Eine Illusion, die gar nicht zu vermeiden ist, so wenig wir es vermeiden können, daß uns das Meer in der Mitte nicht höher erscheine wie an dem Ufer, weil wir jene durch höhere Lichtstrahlen als dieses sehen, oder, noch mehr, so wenig selbst der Astronom vermeiden kann, daß ihm der Mond im Aufgange nicht größer erscheine, ob er gleich durch diesen Schein nicht betrogen wird.« (B 353/54) Etwas vorgreifend kann gesagt werden: Die Grundregeln und Maximen, die das menschliche Erkenntnisvermögen subjektiv regeln, regulativ bestimmen, sind nichts anderes als Regeln, die angeben, wie wir unsere Erkenntnis erfahrungsimmanenter Gegenstände in den Grenzen immanenter Erfahrung bleibend in indefinitum erweitern können. Es handelt sich dabei um das, was Kant später als ›den regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft‹ bezeichnet. Aber solche Ideen können – eben dadurch ergibt sich transzendentaler Schein – auch als objektive Grundsätze gebraucht werden, d. h. über ihre bloß regelnde Funktion hinaus wird ihnen ein transzendenter Gegenstand zugeordnet, auf den sie sich beziehen sollen. Wird die subjektive Regel zum transzendenten Grundsatz, so gilt: Ein transzendenter Grundsatz ist ein uns aufgegebener Grundsatz – er ist Prinzip der Vernunft selbst –, über alle immanente Erfahrung hinaus ins Transzendente zu gehen, und das bedeutet auch – hier werden von Kant die Ansatzpunkte für die weitere Entwicklung im deutschen Idealismus vorbereitet –, eben zur unbedingten Totalität, zum Absoluten zu gehen.

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Ist ein solcher allgemeiner Grundsatz, der sich auf alle Grundsätze des reinen Verstandes beziehen läßt, gegeben, so ergeben sich aus den Grundsätzen des Verstandes hinsichtlich der ihnen zu Grunde liegenden Kategorien die ›Ideen der reinen Vernunft‹, wenn das noch zu analysierende ›Prinzip der reinen Vernunft‹ auf die solchen reinen Kategorien zuzuordnenden Schlußformen angewandt wird.

3. Die logische Konstruktion des Prinzips der Vernunft Was eine Idee ist, hat Kant in einem Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft definiert. In B 377 heißt es: »Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee, oder der Vernunftbegriff.« Bereits im einleitenden Passus des ersten Buches wird allgemein angedeutet, wie man denn von Notionen zu den Ideen kommt: Vernunftbegriffe sind nicht bloß ›reflectierte‹ (d. h. bestimmte, gegebenenfalls durch Definitionen bestimmte) Begriffe, sondern eben, nach B 377, aus Notionen geschlossene Begriffe. Zur objektiven Gültigkeit dieser Begriffe wird vordeutend gesagt: »Haben dergleichen Begriffe dessen ungeachtet, objektive Gültigkeit, so können sie conceptus raciocinati (richtig geschlossene Begriffe) heißen; wo nicht, sind sie wenigstens durch einen Schein des Schließens erschlichen und mögen conceptus ratiocinantes (vernünftelnde Begriffe) genannt werden.« (B 368) Die Bemerkung ist wichtig, denn sie deutet an, daß es bei Kant zwei Arten geschlossener Begriffe gibt, nämlich: (1) Die von den Stammbegriffen des reinen Verstandes abgeleiteten reinen Begriffe, die Prädikabilien. Sie können rein analytisch (im Kantischen Sinne) aus den Kategorien ›geschlossen‹ abgeleitet werden und sind somit ebenso wie die Kategorien von objektiver Gültigkeit für Gegenstände der Erfahrung und damit »richtig geschlossene Begriffe.« (2) Daraus ergibt sich in Umkehrung: die Ideen, die vernünftelnden Begriffe, ergeben sich durch dialektische Schlüsse, die einen Schein im Schließen enthalten. Es muß hier über die einfachen Formen syllogistischen Schließens hinaus ein ›Mehr‹ ins Spiel kommen, das den Schein generell erzeugt. Dieses ›Mehr‹ in dialektischen Schlüssen ist das Prinzipium der Vernunft, das den Schein der Möglichkeit eines Aufstieges vom sinnlichen zum übersinnlichen Bereich durch bloß logisches Schließen erzeugt. Dieses Prinzip, dieser Grundsatz, sagt: Wenn das Bedingte gegeben ist, dann ist die Totalität der Bedingungen gegeben.

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Dieses Prinzip der Vernunft hat nun durchaus auch einen erfahrungsimmanenten Anwendungsbereich, wenn es, betrachtet als bloße Regel für die Erweiterung des Verstandesgebrauches, nur besagt: Gegeben ein Bedingtes, so ist es immer sinnvoll, nach den Bedingungen zu fragen und, wenn sie entdeckt sind, nach deren Bedingungen usf. in indefinitum. Auch in dieser Hinsicht ist das infinitum für ein Voranschreiten in indefinitum vorausgesetzt, aber eben nicht als gegeben ›geschlossen‹, sondern nur in Form einer Regel des Fortschreitens. Man kann sich das – Kant tut es nicht – an der Reihe der positiven ganzen natürlichen Zahlen verdeutlichen. Die Möglichkeit, in indefinitum immer eine neue Zahl hinzuzufügen, impliziert hinsichtlich des Unendlichen den Satz, daß das Unendliche das ist, worauf die Zahlenreihe in indefinitum zuläuft, ohne es jemals zu erreichen. Was im Fortschreiten lediglich erreicht wird, ist eine weitere bestimmte endliche Zahl. Das Unendliche hat also eine Funktion nur in der Regel, die das Fortschreiten in der Zahlenreihe regelt, und ist nicht selbst ein in diesem Fortschreiten gebbare Zahl. Für die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten, dem Unbedingten, dem Absoluten, wird aber genau das angesetzt, denn das Prinzip sagt schlicht, dies wäre als erschlossen gegeben. Wie der Schluß aussieht, ist noch zu analysieren. Diese Zweideutigkeit der Rede vom Unendlichen, von der Totalität, die hier analogisch verdeutlicht wurde, ist ein erster Hinweis darauf, warum, auch im Rahmen der theoretischen Philosophie, von der Metaphysik als Naturanlage die Rede sein kann, warum der Schein, der sich im objektiven Setzen einer bloß subjektiven, d. h. regulativen Notwendigkeit ergibt, nicht vermeidbar ist. Allerdings hinkt die Analogie. Die Erzeugung der Zahlenreihe ist ein Progressus und in einem Progreß ist, wie wir sehen werden, die angegebene Versuchung nach Kant nicht gegeben. Sie ergibt sich erst in der durch logischen Regreß erzeugten Reihe. Es ist weiter anzumerken, daß es in der Mengenlehre des 19. und 20. Jahrhunderts im puren Formalismus durchaus möglich ist, auch überabzählbar unendliche Mengen als Objekte der Mathematik anzuerkennen. Auch das stößt und stieß auf Bedenken. Entscheidend ist aber, daß das ganz außerhalb des Kantischen Horizonts liegt. Weiter ist anzumerken, daß Metaphysik als Naturanlage nach Kant noch eine andere Wurzel hat, nämlich das praktische Interesse der Vernunft bzw. das Interesse der praktischen Vernunft an den Vernunftideen. Dieses Interesse kann aber nur zum Tragen kommen, d. h. kann den transzendentalen Schein als natürlichen Schein nur erzeugen, sofern es sich auf die regulative Verwendung des Prinzips der Vernunft, in welcher

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die Totalität nicht als Gegenstand gesetzt wird, sondern in angegebener Weise nur in der Regel der Erzeugung eines Fortschreitens in indefinitum in Anspruch genommen wird, bezieht. In ihm liegt also die eigentliche natürliche Wurzel der Erzeugung der Illusion, der nun allerdings noch weitere logische Schritte zu Grunde liegen. Dialektik, bezogen auf formale Logik, ergibt sich mit der Annahme, die Logik sei ein Organon, eine Methode der Wahrheitsfindung, sei es des Wahren, sei es des Wahrscheinlichen. Eine solche Annahme kann sich nur mit Bezug auf die Lehre vom Schluß ergeben. Für Kant führt die Annahme aber nur auf die trügerische, sophistische Kunst, in ›wahrscheinlichen‹ Schlüssen neue Erkenntnisse erschließen zu wollen. Was die Logik aber bietet, ist lediglich eine Analyse der gültigen Schlußformen, und diese Gültigkeit impliziert nichts über die Wahrheit oder auch Wahrscheinlichkeit von Prämissen und Konklusionen. Der Logiker abstrahiert von allem Bezug auf den Gegenstand und braucht demzufolge nicht zu wissen, was »wahr« ist (VI 229 Metaphysik der Sitten). Betrachtet man Kants Schlußlehre allgemein, d. h. ohne auf die Differenz von kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Schlüssen zu achten, so ist bei den in jeder dieser Schlußformen möglichen Kettenschlüssen die Unterscheidung von Prosyllogismen, Syllogismen a parte priori und Episyllogismen, Syllogismen a parte posteriori zu beachten. Da die Terme ›priori‹ und ›posteriori‹ hier in der Schlußlehre gebraucht werden, hat die Unterscheidung nichts mit der Unterscheidung von Urteilen a priori und a posteriori zu tun, auch dann nicht, wenn Kant verkürzend in solchen Zusammenhängen von ›a priori‹ spricht. Die Jäsche-Logik spricht in § 87 von Prosyllogismen, d. h. a parte priori, und Episyllogismen, d. h. a parte posteriori. Kant verwendet diese Terminologie ebenfalls in der Kritik der reinen Vernunft. Es ist bei Kant üblich, eine Konklusion, da sie aus den Prämissen folgt, das logisch Bedingte zu nennen, und die Prämissen, aus denen sie folgt, als logische Bedingungen oder logische Gründe zu bezeichnen. Der terminologische Hinweis ist beim folgenden umfangreichen Zitat aus der Kritik der reinen Vernunft zu berücksichtigen: »Man wird aber bald inne, daß die Kette, oder Reihe der Prosyllogismen, d. i. der gefolgerten Erkenntnisse auf Seiten der Gründe, oder der Bedingungen zu einem gegebenen Erkenntnisse, mit anderen Worten: die aufsteigende Reihe der Vernunftschlüsse, sich doch gegen das Vernunftvermögen anders verhalten müsse, als die absteigende Reihe, d. i. der Fortgang der Vernunft auf der Seite des Bedingten durch Episyllogismen. Denn da im ersteren Falle das Erkenntnis (conclusio) nur als bedingt gegeben ist; so kann man zu dem-

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selben vermittelst der Vernunft nicht anders gelangen, als wenigstens unter der Voraussetzung, daß alle Glieder der Reihe auf der Seite der Bedingungen gegeben sind (Totalität in der Reihe der Prämissen), weil nur unter dieser Voraussetzung das vorliegende Urteil a [parte, d. Verf.] priori möglich ist; dagegen auf der Seite des Bedingten oder der Folgerungen nur eine werdende und nicht schon ganz vorausgesetzte oder gegebene Reihe, mithin nur ein potentialer Fortgang gedacht wird. Daher, wenn eine Erkenntnis als bedingt angesehen wird, so ist die Vernunft genötigt, die Reihe der Bedingungen in aufsteigender Linie als vollendet und ihrer Totalität nach gegeben anzusehen. Wenn aber ebendieselbe Erkenntnis zugleich als Bedingung anderer Erkenntnisse angesehen wird, die unter einander eine Reihe von Folgerungen in absteigender Linie ausmachen, so kann der Vernunft ganz gleichgültig sein, wie weit dieser Vorgang sich a parte posteriori erstrecke, und ob gar überall Totalität dieser Reihe möglich sei; weil sie einer dergleichen Reihe zu der ihr vorliegenden Conclusion nicht bedarf, indem diese durch ihre Gründe a parte priori schon hinreichend bestimmt und gesichert ist. Es mag nun sein, daß auf der Seite der Bedingungen die Reihe der Prämissen ein Erstes habe, als oberste Bedingung, oder nicht, und also a parte priori ohne Grenzen; so muß sie doch Totalität der Bedingung enthalten, gesetzt, daß wir niemals dahin gelangen können, sie zu fassen; und die ganze Reihe muß unbedingt wahr sein, wenn das Bedingte, welches als eine daraus entspringende Folgerung angesehen wird, als wahr gelten soll. Dies ist eine Forderung der Vernunft, die ihr Erkenntnis als a priori bestimmt und notwendig ankündigt.« (B 388/89) Dieser die logischen Voraussetzungen zusammenfassende Passus findet sich in der Kritik der reinen Vernunft im zweiten Abschnitt des ersten Buches, nachdem in einem Kurzverfahren, ausgehend von dem Begriffspaar Bedingtes/Bedingung, das System der transzendentalen Ideen entworfen wurde. Da es aber dieser Passus ist, der die eigentlichen logischen Hintergründe klar legt, wurde er vorgezogen und ist zunächst genauer zu betrachten, da hier das Verhältnis von formaler und transzendentaler Logik durchsichtig wird. Zur Interpretation der Stelle ist nun Folgendes zu sagen: Man kann a parte posteriori in weiteren Ableitungen in Kettenschlüssen, in denen die gewonnene Konklusion als Prämisse für weitere Schlüsse dient, immer weitere Konklusionen gewinnen. Hier ist Wahrheit im weiteren Fortgang gesichert, da die Prämissen ja als wahr gesicherte Konklusionen oder einfach als wahre Urteile, die aus der Erfahrung als wahr gewonnen wurden, gelten. Dieser Prozeß geht in indefinitum weiter fort. Analog kann

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man auch a parte priori verfahren, aber hier liegen die Verhältnisse etwas anders. Zunächst – und das wird von Kant nicht eigens hervorgehoben –, gilt, daß die Konklusion, das Bedingte, ein in der Erfahrung als wahr anerkennbares Urteil ist. Sucht man rein formallogisch nach Prämissen in einem gültigen Schluß, so könnte man auch falsche Prämissen einsetzen, denn in einem gültigen Schluß kann ja aus falschen Prämissen auch eine wahre Konklusion folgen. Geht man nun vom regulativen Gebrauch des Prinzips der Vernunft aus, dann besagt das, daß man jeweils auch nach wahren Prämissen zu suchen hat. Da dieser regulative Gebrauch erfahrungsimmanent bleibt, ist es eine Frage der Erfahrung, ob man die jeweils dann wahren Prämissen findet. Hat man sie, dann gilt das nun ebenfalls logische Prinzip, daß aus wahren Prämissen nur wahre Konklusionen folgen. Der Zusammenhang ist also keinesfalls rein logisch im Sinne der ursprünglichen Kantischen Konzeption der reinen Logik. Wahrheit und Gegenstandsbezug kommen vor. Es handelt sich also um transzendentallogisches Abzielen auf Wahrheit und Gegenstände, und nicht um rein logische Gültigkeit, sofern eben Prämissen ebenso wie die Konklusion sich auf Gegenstände der Erfahrung beziehen und somit objektiv gültig sind. Ausgehend von diesem auch transzendentallogisch gegründeten Zusammenhang, der zum regulativen Gebrauch des Prinzips führt, kann man nun einen transzendentallogischen Metaschluß konstruieren. In ihm bezieht man sich (a) auf die allgemeine Form des Schließens und (b) auf die anzusetzenden wahren Prämissen, die als wahr im konkreten Falle nicht ausgewiesen sein müssen. Es wird nur leer angesetzt, daß es solche Prämissen a parte priori geben muß. Zu erinnern ist an die Jäsche-Logik: Nicht nur die Korrektheit der Ableitung, sondern auch die Wahrheit der Prämissen sind für Vernunftschlüsse vorausgesetzt. Nun sind im Regreß solche, nur formal angesetzten Prämissen auch wieder als Konklusionen aus weiteren Prämissen zu gewinnen. Gäbe es sie nicht, und gäbe es nicht die Totalität solcher Prämissen, die Totalität solcher Bedingungen, dann könnte das Bedingte, das als die als wahr erkannte Konklusion gegeben ist, nicht wahr sein. Es ist aber als wahr bekannt. Also wird in einem transzendentallogischen modus ponens auf der Metaebene geschlossen: 1) Wenn das Bedingte gegeben ist, dann ist die Totalität der Bedingungen gegeben. 2) Nun ist das Bedingte gegeben. Also: Die Totalität aller Bedingungen als das Unbedingte ist gegeben.

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Kant sagt von der Totalität der Bedingungen, daß sie (a) Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten ist, damit (b) ein Unbedingtes ist, das (c) als absolute Totalität zu verstehen ist: »Demnach restringieren wir in der Konklusion eines Vernunftschlusses ein Prädikat auf einen gewissen Gegenstand, nachdem wir es vorher in dem Obersatz in seinem gesamten Umfang unter einer gewissen Bedingung gedacht haben. Diese vollendete Größe des Umfanges, in Beziehung auf eine solche Bedingung, heißt die Allgemeinheit (Universalitas). Dieser entspricht in der Synthesis der Anschauungen die Allheit (Universitas) oder Totalität der Bedingungen. Also ist der transzendentale Vernunftbegriff kein anderer, als der von der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Da nun das Unbedingte allein die Totalität der Bedingungen möglich macht, und umgekehrt die Totalität der Bedingungen jederzeit selbst unbedingt ist: so kann ein reiner Vernunftbegriff überhaupt durch den Begriff des Unbedingten, sofern er einen Grund der Synthesis des Bedingten enthält, erklärt werden.« (B 379/80) Das Unbedingte ist absolute Totalität. Zum Wortgebrauch wird gesagt: »Das Wort absolut wird jetzt öfters gebraucht, um bloß anzuzeigen, daß etwas von einer Sache an sich selbst betrachtet und also innerlich gelte. In dieser Beziehung würde absolutmöglich das bedeuten, was an sich selbst (interne) möglich ist, welches in der Tat das wenigste ist, was man von einem Gegenstande sagen kann. Dagegen wird es auch bisweilen gebraucht, um anzuzeigen, daß etwas in aller Beziehung (uneingeschränkt) gültig ist (z. B. absolute Herrschaft) und absolutmöglich würde in dieser Beziehung dasjenige bedeuten, was in aller Absicht, in aller Beziehung möglich ist, welches wiederum das meiste ist, was ich über die Möglichkeit eines Dinges sagen kann.« (B 381) Von Kant wird angemerkt, daß diese beiden Bedeutungen manchmal zusammentreffen können, manchmal nicht. Worauf es ankommt, ist, daß die zweite Bedeutung die ist, in der das ›absolut‹ in der Verbindung ›absolute Totalität‹ zu verstehen ist, d. h. das Unbedingte ist ein in jeder Beziehung Unbedingtes. Damit hat Kant im Grunde festgelegt, wie in der Folge im deutschen Idealismus der Begriff ›das Absolute‹ verstanden werden wird, wobei natürlich noch, vgl. Hegels Rede von der konkreten Totalität des Absoluten, Weiterungen zu berücksichtigen sind, auf die hier nicht einzugehen ist. Festzuhalten ist dagegen, daß das Bedingte, das dem Metaschluß des Prinzips der Vernunft zufolge ein empirisch gegebenes Urteil, ein Satz im Sinne der Jäsche-Logik, ist, der wahr ist. Die im Metaschluß als gegeben erschlossene absolute Totalität dagegen kann seiner Natur nach kein

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Gegenstand der Erfahrung sein, in der die Vernunftideen lediglich regulative Funktion haben und immer Erfahrungsgegenstände betreffen müssen. Damit hat man das letzte Grundprinzip, nach dem die metaphysica specialis sich einen übersinnlichen Gegenstand als gegeben vorstellt. Es handelt sich um einen Metaschluß, der von der Wahrheit von Urteilen über Gegenstände der Erfahrung auf die Wahrheit der Gegebenheit eines erfahrungstranszendenten Gegenstandes schließt. Daß es sich hier nicht um einen rein logischen Schluß handelt, sondern um einen einem transzendentalen Schein erliegenden transzendentallogischen Schluß, muß hervorgehoben werden. Bereits im Rahmen der Erörterung des Prinzips der Vernunft selbst findet sich ein Passus, der diese Frage im Zusammenhang mit der weiteren, allgemein das Prinzip der Vernunft angebenden Frage nach der Gegebenheit solcher Ideen als Naturanlage nach der theoretischen Seite hin klärt. »Soviel Arten des Verhältnisses es nun gibt, die der Verstand vermittelst der Kategorie sich vorstellt, so vielerlei reine Vernunftbegriffe wird es auch geben; und es wird also erstlich ein Unbedingtes der kategorischen Synthesis in einem Subjekt, zweitens der hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe, drittens der disjunktiven Synthesis der Teile in einem System zu suchen sein. Es gibt nämlich eben so viel Arten von Vernunftschlüssen, deren jede durch Prosyllogismen zum Unbedingten fortschreitet, die eine zum Subjekt, welches nicht mehr Prädikat ist, die andere zur Voraussetzung, die nichts weiter voraussetzt, und die dritte zu einem Aggregat der Glieder der Einteilung, zu welchem nichts weiter erforderlich ist, um die Einteilung eines Begriffes zu vollenden. Daher sind die reinen Vernunftbegriffe von der Totalität in der Synthesis der Bedingungen wenigstens als Aufgaben, um die Einheit des Verstandes, womöglich, bis zum Unbedingten fortzusetzen, nothwendig und in der Natur der menschlichen Vernunft gegründet, es mag auch übrigens diesen transzendentalen Begriffen an einem ihnen angemessenen Gebrauch in concreto fehlen, und sie mithin keinen anderen Nutzen haben, als den Verstand in die Richtung zu bringen, darin sein Gebrauch, indem er auf äußerste erweitert, zugleich mit sich selbst durchgehends einstimmig gemacht wird.« (B 379/80) Angemerkt werden kann, daß der zitierte Passus am Schluß nun ganz deutlich sagt, was Kant meinte, wenn er, wie vordem besprochen, von einer Naturanlage spricht. Diese Naturanlage ist ein Bedürfnis, nämlich das Bedürfnis schrittweise zu immer höherer Organisation des Ganzen der Verstandesgebrauchs zu kommen, das ganz unabhängig von dem Bedürfnis ist, das sich aus dem Interesse der praktischen Vernunft an

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jeweils einer Seite der dialektischen Alternativen ergibt. Die logische Struktur einer solchen rein theoretischen schrittweisen Vervollkommnung der Verstandeserkenntnis setzt die Vernunftideen voraus, die sich aus der Kette der Prosyllogismen ergeben. Bezogen auf den Verstand haben sie eine regulative Funktion. Weil sie hier unentbehrlich sind, sind die Vernunftideen Naturanlage. Man kann sie sozusagen nicht los werden, wenn man den Verstand gebrauchen und erweitern will. Die Vernunftideen sind aber darüber hinaus der Anlaß zu einer Illusion, und die besteht in der Annahme, daß sie einen angemessenen Gebrauch in concreto haben, sich auf ein Objekt beziehen und damit einen transzendentalen Gebrauch haben, wie die Kategorien. Der heute geläufige Ausdruck für die Annahme, daß die Ideen einen konkreten Gebrauch haben, wäre: Die Vernunftideen referieren. Die Annahme, daß sie das tun, ist ebenfalls Naturanlage. Warum soll man annehmen, daß ein Begriff, der auf ein Unbedingtes geht, nicht ebenso referiert wie der, der auf ein Bedingtes geht, wenn man nicht durch Kritik belehrt wird. Die Illusion bleibt aber, zwar korrigiert, als Naturanlage bestehen. Kant hat die im ersten Teil des Zitates angedeuteten Schemata der Konstruktion der Vernunftideen nirgendwo durch eine präzis durchgeführte logische Konstruktion einer Vernunftidee illustriert. Bevor man selbst einen solchen Versuch macht, muß man selbstverständlich alle weiteren brauchbaren Angaben in der transzendentalen Dialektik sammeln. Diese Angaben gehören noch zu einer allgemeinen Analyse des Prinzips der Vernunft. Die Interpretation und Rekonstruktion der logischen Konstruktionen der Ideen im Einzelnen kann im Rahmen dieses Beitrages nicht mehr behandelt werden. Etwas genauer wird die Struktur der Konstruktion in B 386–388 beschrieben. Wir müssen hier auch im Ganzen zitieren. »Vernunft, als Vermögen einer gewissen logischen Form der Erkenntnis betrachtet, ist das Vermögen zu schließen, d. i. mittelbar (durch die Subsumtion der Bedingung eines möglichen Urteils unter die Bedingung eines gegebenen) zu urteilen. Das gegebene Urteil ist die allgemeine Regel (Obersatz, Major). Die Subsumption der Bedingungen eines anderen möglichen Urteils unter die Bedingung der Regel ist der Untersatz (Minor). Das wirkliche Urteil, welches die Assertion der Regel in dem subsumierten Falle aussagt, ist der Schlußsatz (Conclusio). Die Regel nämlich sagt etwas allgemein unter einer gewissen Bedingung. Nun findet in einem vorkommenden Falle die Bedingung der Regel statt. Also wird das, was unter jener Bedingung allgemein galt, auch im vorkommenden Falle (der diese Bedingung bei sich führt) als gültig angesehen. Man sieht leicht, daß die Vernunft durch Verstandeshandlungen,

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welche eine Reihe von Bedingungen ausmachen, zu einem Erkenntnisse gelange. Wenn ich zu dem Satze: alle Körper sind veränderlich, nur dadurch gelange, daß ich von dem entfernteren Erkenntnis (worin der Begriff des Körpers noch nicht vorkommt, der aber doch davon die Bedingung enthält) anfange: alles Zusammengesetzte ist veränderlich; von diesem zu einem näheren gehe, der unter der Bedingung des ersteren steht: die Körper sind zusammengesetzt; und von diesem allererst zu einem dritten, der nunmehr das entfernte Erkenntnis (veränderlich) mit dem vorliegenden verknüpft: folglich sind die Körper veränderlich; so bin ich durch eine Reihe von Bedingungen (Prämissen) zu einer Erkenntnis (Conclusion) gelangt. Nun läßt sich eine jede Reihe, deren Exponent (des kategorischen oder hypothetischen Urteils) gegeben ist, fortsetzen; mithin führt eben dieselbe Vernunfthandlung zur ratiocinatio polsyllogistica, welches eine Reihe von Schlüssen ist, die entweder auf der Seite der Bedingungen (per prosyllogismos), oder des Bedingten (per episyllogismos) in unbestimmte Weiten fortgesetzt werden kann.« (B 386–388) Anzumerken ist: 1) Was Kant hier über die Struktur des Vernunftschlusses allgemein sagt, deckt sich inhaltlich ganz mit dem, was in den §§ 56–58 der JäscheLogik gesagt wird. Es entspricht auch völlig dem, was zur Form der kategorischen Vernunftschlüsse in §§ 62 und 63 und zu den hypothetischen Vernunftschlüssen in den §§ 75 und 76 gesagt wird. Festzuhalten ist, daß in B 387 die disjunktiven Vernunftschlüsse nicht erwähnt werden. Das könnte einfach eine Auslassung sein. Es könnte aber auch sachliche Gründe haben, die abschließend anzudeuten sind. 2) Kant spricht von ›Exponent‹ in der Jäsche-Logik § 58, Anmerkung, und auch in B 387, wenn er sich auf die Regel des Obersatzes und die Reihe bezieht, die sich in der Reihe der Prosyllogismen ergibt. Die dort gegebene Worterklärung muß nun für den Bereich der transzendentalen Dialektik weiter präzisiert werden. Eine weiterführende Erklärung kann zunächst von der allgemeinen Form des Exponenten als Hochzahl in der Formel ab = c ausgehen. c wird berechnet nach einer Regel, die die linke Seite angibt. Diese hat einen Exponenten, nämlich b, der angibt, wie oft a mit sich selbst zu multiplizieren ist. Der Exponent kann hier analogisch auf das Prädikat der Regel, d. h. des Obersatzes, bezogen werden. Diese Analogie paßt aber nicht ganz. Anzumerken ist nur, daß ›Exponent‹ im damaligen mathematischen Sprachgebrauch durchaus nicht nur auf die Operation des Potenzierens bezogen wird. Was sich auf diese Operation bezieht wird exponens dignita-

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tis genannt. Nach dem Mathematischen Lexikon von Christian Wolff gibt es nun auch einen exponens rationalis oder Exponent des Verhältnisses. Er bezieht sich auf die Zahl: »welche herauskommt, wenn man das Förderglied eines Verhältnis durch das andere Glied dividiert, z. E. in der das Verhältnis 6 zu 3 ist der Exponent 2. Es dienet derselbe die Verhältnisse von einander zu unterscheiden.«3 Man hat hier also die Gleichung a:b = c. Verglichen mit der Gleichung oben, also dem exponens dignitatis,4 fällt auf, daß in beiden Formeln die Rechenoperation links steht und ›Exponent‹ genannt wird. Rechts steht das Resultat der Rechenoperation. ›Exponent‹ bezeichnet also nicht die Hochzahl, auch nicht beim exponens dignitatis, sondern die Rechenoperation. Anzumerken wäre, daß noch Hegel den mathematischen Begriff ›Exponent‹ genauso versteht, wie hier angegeben. Nun gilt aber für den Obersatz eines kategorischen, hypothetischen oder disjunktiven Schlusses, daß durch ihn die im Schluß vorzunehmende Operation festgelegt wird, er ist also in genau diesem Sinne ein Exponent. Man wird also in dieser Zeit immer darauf achten müssen, daß bei analogischer bzw. metaphorischer Benutzung von Exponent in der Logik ›Exponent‹ allgemein wie in der derzeitigen Mathematik eine Operation meint, deren Form im logischen Schließen durch die Form des Obersatzes festgelegt ist. 3) Die angegebene Stelle, die grundlegend für die Konstruktion der logischen Form der Ideen ist, steht unmittelbar vor der Stelle über Pround Episyllogismen (a parte priori und a parte posteriori), die oben zitiert wurde. Sie gibt eine nähere Konstruktionsvorschrift zunächst für den Ausgang vom kategorischen und vom hypothetischen Syllogismus. Die so erzeugten Reihen sind in ihrer Erzeugung durch einen bestimmten Exponenten der Form nach bestimmt. Der Exponent ist hier somit Exponent einer Reihe. Es gilt nun, daß Kant dem Gesagten bei den Paralogismen, d. h. in der rationalen Seelenlehre, über die Angaben hinaus, die zitiert wurden, überhaupt nichts hinzufügt, und bei den Antinomien, d. h. der rationalen Kosmologie, ergibt sich hinsichtlich der Konstruktion nichts Neues. Lediglich inhaltlich wird auf die Reihenbildung, die man in der Welt der Erscheinungen antreffen kann, besonders eingegangen. Anders verhält es sich beim Ideal der reinen Vernunft. Hier werden erhebliche Weiterungen 3

Christian Wolff, Mathematisches Lexikon, in: ders., Gesammelte Werke., Abt. I, Bd. 11, Spalte 611. 4 Vgl. ebd., Sp. 610/11.

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eingeführt, die insgesamt gesehen alle auf das begriffslogische Fundament der Form, des Prinzips disjunktiver Syllogismen, Bezug nehmen. Aus Raumgründen kann nun weder hierauf noch auf die von Kant nicht hervorgehobenen Besonderheiten, die sich nun bei der Konstruktion der Totalität auf der Grundlage kategorischer und hypothetischer Syllogismen ergeben, eingegangen werden. Die Aufgabe wäre hier zu zeigen, daß durchweg eine transzendentallogische und nicht eine rein logische Interpretation der Vernunftschlüsse zu Grunde gelegt wird. Demnach würde gelten, daß die ursprüngliche Unterscheidung zwischen einer reinen Logik und einer transzendentalen Logik, wobei die erstere ganz vom Bezug auf den Gegenstand und damit der semantischen und objektiv gerichteten Seite der formalen Logik zu abstrahieren hat, in der Durchführung auf problematische Zweideutigkeiten führt. Das Dilemma, das sich ergibt, ist, daß man entweder auf die Unterscheidung von formaler und transzendentaler Logik verzichten muß und damit bereits der formalen Logik einen formalen Gegenstandsbezug und einen formalen Wahrheitsbegriff zuordnen muß. Oder man hält an der Unterscheidung fest, dann fragt sich, ob eine transzendentale Logik überhaupt bei der Analyse ihrer Urteils- und Schlußformen eine solche reine Logik und die Interpretation der Urteils- und Schlußformen der reinen Logik als ›Leitfaden‹ wählen sollte. Da Kant in seinen Logikvorlesungen die von der Kritik der reinen Vernunft geforderte Trennung und die ihr zugehörige Konzeption der reinen Logik nicht durchhalten kann, werden ›Künste der Interpretation‹ hier nicht weit führen. Es kommt auf systematische Entscheidungen an.

4. Die logischen Konstruktionen der Vernunftideen im Einzelnen Wir gehen die logischen Konstruktionen jetzt der Reihe nach durch, ohne auf die jeweiligen Anwendungen auf verschiedene Gebiete der metaphysica specialis einzugehen. Die logische Konstruktion der Idee eines Unbedingten der kategorischen Synthesis in einem Subjekt, d. h. einem Subjekt, welches nicht mehr Prädikat ist (B 379), ist, entgegen dem ersten Eindruck, nicht ohne Probleme. Betrachtet man rein formallogisch die Reihe der möglichen Regresse in Prosyllogismen, so fällt auf, daß eigentlich bei einem vorliegenden kategorischen Syllogismus zwei Prosyllogismen fällig sind, nämlich einen, der den Obersatz und einen, der den Untersatz zur Konklusion hat. Es würde sich nicht nur die Reihe eines Kettenschlusses ergeben,

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sondern eine sich ständig verdoppelnde Anzahl von sich verzweigenden ›Ketten‹. Davon ist nun nirgendwo die Rede, aber es findet sich eben auch kein expliziter Hinweis für das Vorgehen im Einzelnen. Alles, was wir haben, ist das Beispiel B 387, das zitiert wurde: Man kommt ausgehend von dem Urteil »Alle Körper sind veränderlich« zu einer entfernteren Erkenntnis, in der der Begriff des Körpers noch nicht vorkommt; in aufsteigender Richtung, in diesem Falle etwa zu »Alles Zusammengesetzte ist veränderlich«, durch Vermittlung mit Hilfe des Satzes »Alle Körper sind zusammengesetzt«. Die Kette, die sich hier ergibt, bezieht sich also nur auf den Obersatz und hier formell gesehen auf den hier die Subjektstelle einnehmenden Mittelbegriff. Der Obersatz ist die Regel, der Exponent und, wie Kant an der zitierten Stelle sagt: wenn der Exponent einer Reihe gegeben ist, dann läßt sich die Reihe fortsetzen. Die Exponenten wären hier kategorische Urteile, aber in hypothetischen Syllogismen eben auch hypothetische. Es ist bei hypothetischen Syllogismen unmittelbar klar, daß eine Reihenbildung im Regreß nur im Ausgang vom Obersatze ›Wenn A, dann B‹ gefunden werden kann. Der Untersatz, d. h. die assertorische Setzung von A, bietet dafür keinen Anhaltspunkt. Bei kategorischen Syllogismen liegen die Dinge nicht so auf der Hand. Man könnte auch, siehe oben, davon ausgehen, daß sich hier im Ausgang von einem Syllogismus nicht bloß ein, sondern zwei Prosyllogismen ergeben. Da Kant nun aber den Untersatz als eine bloße Subsumtion eines Begriffes unter die im Obersatz anzutreffende Regel begreift, kommt es nur im Bezug auf den Obersatz zu einem Regreß. Denkt man sich hier die unbedingte Totalität einer solchen Reihe, so kommt man zur Idee eines absoluten Subjektes, das nicht mehr selbst als Prädikat gebraucht werden kann. Ein weiterer Stolperstein beim Nachvollzug der Konstruktion ist, daß die Konstruktion, so wie sie durch Kants Beispiel und seine Redeweise B 387 nahegelegt wird, einen weiteren Schönheitsfehler insofern hat, als in kategorischen Syllogismen der Mittelbegriff in der ersten Figur im Obersatze im Untersatz als Prädikat gebraucht wird. Hier wäre die dritte Figur, in der der Mittelbegriff in beiden Prämissen Subjekt ist, passender gewesen. Für die Kantische Konstruktion ist die Frage nach der kleineren Prämisse nicht von Interesse. Von Interesse ist lediglich der Regreß durch den Obersatz, der letztlich auf ein absolutes Subjekt verweist, das nichts anderes ist als der Exponent der gesamten Reihe. In diesem Regreß ist nicht von Interesse, daß a parte posteriori im subsumierenden Untersatz das Subjekt des Obersatzes zum Prädikat wird. Die Richtung, die Kant einschlägt, kann festgestellt werden. Betrachtet man das Vorge-

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hen aber vom formallogischen Standpunkt, so kann zunächst der Eindruck einer gewissen Willkürlichkeit nicht ganz vermieden werden, wenn man nicht genau klärt, was ›Exponent‹ im Zusammenhang mit der Reihe von Prosyllogismen heißen soll. Die auf ein absolutes, unbedingtes Subjekt führende Idee verblieb rein im Bereich des logisch Begrifflichen. Ein im Regreß der Prosyllogismen sich ergebendes absolutes Subjekt wird seine Prädikate – das ergibt sich aus der Logik des Begriffes –, als ein Aggregat der Koordination in sich enthalten. Bei der zweiten Gruppe von Vernunftideen – und es wird sich hier um eine ganze Gruppe handeln –, wird es sich im Regreß um das Unbedingte der hypothetischen Synthesis der Glieder einer nicht nur logischen, sondern realen Reihe handeln. Bei hypothetischen Schlüssen muß man sich daran erinnern, daß hier der Untersatz ein assertorisches Urteil, das Setzen des Antezedens, ist. Damit geht man hier aber, wenn der Verstandesbegriff durch die Vernunft von aller möglichen Erfahrung freigemacht wird, von einem objektiv Gegebenen aus und erzeugt so allgemein eine Reihe. Formal betrachtet hat das Anfangssegment eines von einem so Gegebenen beginnenden Regresses folgende Gestalt: ›Wenn F, dann G; nun aber F: also G.‹ F im Untersatz gesetzt, muß also von einem Prosyllogismus erschlossen sein: ›Wenn E, dann F; nun aber E: also F.‹ Weiter: ›Wenn D, dann E; nun aber D: also E‹ usf. Besieht man sich die Reihe des Regresses, dann ergibt sich in den Konklusionen die Reihe: G, F, E, D … usf. Diese Reihe ist nun – ebenso wie die des assertorischen Untersatzes des Syllogismus – eine Reihe, die objektiv gegeben ist. F, E, D … haben aber auch im Obersatze, der Regel, als Antezedentien des hypothetischen Urteils die Funktion der Bedingungen. Denkt man sich hier, dem Prinzip der Vernunft folgend, diese Reihe als unbedingte Totalität vollendet, dann ist diese Totalität T etwas, das als solches nie im Untersatz oder gar in der Konklusion auftreten wird. Sie ist somit kein objektiv Gegebenes, m. a. W. nichts, was in der Erfahrung angetroffen werden kann. Kant sagt hierzu zu Beginn der ›Antinomien‹ etwas, das auch für das Gesamtverfahren wichtig ist: »Dieses geschieht dadurch, daß sie [die Vernunft] zu einem gegebenen Bedingten auf der Seite der Bedingungen (unter denen der Verstand alle Erscheinungen der synthetischen Einheit unterwirft) absolute Totalität fordert, und dadurch die Kategorie zur transzendentalen Idee macht. [...] Also werden erstlich die transzendentalen Ideen [in den ›Antinomien‹] eigentlich nichts, als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien sein, und jene werden sich in eine Tafel bringen lassen, die nach den Titeln der letzteren angeordnet ist. Zweitens aber werden doch

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auch nicht alle Kategorien dazu taugen, sondern nur diejenigen, in welchen die Synthesis eine Reihe ausmacht und zwar der einander untergeordneten (nicht beigeordneten) Bedingungen zu einem Bedingten. Die absolute Totalität wird von der Vernunft nur sofern gefordert, als sie die aufsteigende Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten angeht, mithin nicht, wenn von der absteigenden Linie der Folgen [im Progreß der Konsequenzen der Reihe der hypothetischen Urteile], noch auch dem Aggregat der coordinierten Bedingungen [wie im kategorischen Regressus zum absoluten Subjekt] zu diesen Folgen die Rede ist.« (B 436/37, Einfügungen v. Verf.) Da nun der Ausgangspunkt der regressiven Reihe im Untersatze und der Konklusion assertorische Urteile sind, wird hier nicht von reinen Kategorien, sondern von den auf Zeit und Raum restringierten Kategorien die Rede sein müssen. Und hier ergibt sich zunächst hinsichtlich der Quantität die von einem gegebenen Zeitpunkt regressiv erschließbare Zeitreihe. Für den Raum gilt, daß seine Teile nicht untergeordnet, sondern beigeordnet sind. Aber die Synthesis der Räume geschieht in der Zeit, und hier ergibt sich demzufolge eine regressive Reihe. Ausgehend von einem gegebenen Raum kann regressiv zu dem ihn einschließenden fortgegangen werden und so fort. Also ist jeder begrenzte Raum ein Bedingtes, der einen Raum, in dem er begrenzt ist, als seine Bedingung voraussetzt, eben als Bedingung seiner Grenze und so weiter. Hinsichtlich der Qualität gilt, daß das Reale im Raum die Materie ist. Sie ist ein Bedingtes, sofern sie Teile hat, diese Teile aber wiederum Teile haben usf. Die hier gesuchte Totalität ist eine vollendete Teilung. Es gibt also auch hier eine Reihe von Bedingungen, die in einem Unbedingten kulminiert. Bei den Analogien ergibt sich für die Kategorie der Substanz keine Reihe. Die Substanz ist Bedingung ihrer Akzidentien, die nur sind, sofern sie der Substanz inhärieren, aber sie inhärieren ihr koordiniert und nicht subordiniert. Anzumerken wäre: diese Stelle ist bereits von der Vernunftidee des absoluten Subjekts besetzt. Da es sich bei der Wechselwirkung um Wechselwirkung koordinierter Substanzen handelt, ergibt sich auch hier keine Reihe. Es handelt sich vielmehr um ein Aggregat. Dagegen führt die Kategorie der Kausalität, in welcher die Totalität der Reihe der Ursachen zu einer gegebenen Wirkung zu konstruieren ist, auf eine Reihe. Schließlich kann gesagt werden, daß alles bedingte Dasein zunächst ein Zufälliges ist, zu dem aber eine Bedingung aufgesucht werden kann, unter der es notwendig erscheint. Die so aufgewiesene notwendige Bedingung ist aber zunächst wiederum ein Zufälliges, für das seinerseits eine notwendige Bedingung zu suchen ist, und so ergibt sich

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hier durch die Reihe die Idee der unbedingten Notwendigkeit. Man hat hier also nach Quantität, Qualität, Kausalität und Notwendigkeit die Tafel der gesuchten Vernunftideen der Reihen, die in die Antinomie führen werden. Dabei kann vorgreifend gesagt werden, daß man sich in allen diesen Fällen die unbedingte Totalität entweder als eine reale Reihe ohne Grenzen a parte priori denken kann, in der der Regressus potentialiter unendlich ist. Man kann aber auch das Unbedingte in ein Anfangsglied der dann als abgeschlossen vorgestellten unbedingten Totalität ansehen. Hier liegt die Wurzel der Antithetik der Vernunft. Kant hatte die Wechselwirkung der Substanzen, d. h. die Form, die die Kategorie der Gemeinschaft in den Grundsätzen annimmt, von den Vernunftideen, die sich auf Totalitäten von Reihen beziehen, ebenso wie die Idee eines absoluten Subjektes, einer absoluten Substanz als Träger ihrer inhärierenden Akzidenzien, ausgeschlossen. Auf die Problematik des Überganges vom disjunktiven Urteil zur Kategorie der Gemeinschaft und dann zu Wechselwirkung wurde hingewiesen. Nun spielt aber im disjunktiven Syllogismus nur das disjunktive Urteil als Exponent seine Rolle. Es wird also vom Problem der Disjunktion unmittelbar auszugehen sein, und hier ist daran zu erinnern, daß Kant den disjunktiven Urteilen und Schlüssen in der Logik des Begriffes vom Aggregat der Einteilung der subordinierten Begriffe zu einem gegebenen Begriff zuordnete, ebenso, wie er dem kategorischen Urteil die Reihe der subordinierten Begriffe zuordnen konnte, die aber keine objektive Reihe ist, da in der Subordination alle höheren Begriffe dem Subjektbegriff zwar durch das kantisch abgewandelte dictum de omni et nullo zwar vermittelt, aber doch eben in der Konklusion des kategorischen Urteils dem Subjekt unmittelbar zukommen: Was dem Merkmal eines Merkmals zukommt, kommt auch dem Begriff zu. In der Konstruktion der dem disjunktiven Syllogismus zuzuordnenden Vernunftidee, d. h. das Unbedingte der disjunktiven Synthesis der Teile in einem System, geht Kant wiederum von den begriffslogischen Grundlagen aus. Die Konstruktion der zuzuordnenden Vernunftideen ist sehr komplex – schließlich handelt es sich hier, wie später aufzuzeigen ist, um das höchste Absolute, um die Gottesidee der Philosophen der Neuzeit. Ich zitiere im Auszug mit interpretierenden Zusätzen: »Ein jeder Begriff ist in Ansehung dessen, was in ihm selbst nicht enthalten ist, unbestimmt, und steht unter dem Grundsatze der Bestimmbarkeit; daß nur eines von jeden zwei einander kontradiktorisch-entgegengesetzten Prädikaten ihm zukommen könne, welcher auf dem Satze des Widerspruchs beruht, und daher ein bloß logisches Prinzip ist, das von allem Inhalte

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der Erkenntnis abstrahiert, und nichts, als die logische Form derselben vor Augen hat.« (B 599) Vom disjunktiven Syllogismus ist hier nicht explizit die Rede. Es ist aber daran zu erinnern, daß für den disjunktiven Syllogismus nach der Jäsche-Logik folgendes gilt: »Alle Glieder der Disjunktion, außer Einem, zusammengenommen, machen das contradictorische Gegenteil dieses Einen aus. Es findet hier also eine Dichotomie statt, nach welcher, wenn eines von beiden wahr ist, das andere falsch sein muß und umgekehrt. [...] Das Prinzip der disjunktiven Schlüsse ist der Grundsatz des ausschließenden Dritten: A contradictorie oppositorum negatione unis ad affirmationem alterius […] valet consequentia.« (IX 130, § 77 Anmerkung und § 78) Kant geht also in B 599, obwohl er sie nicht mehr erwähnt, von den disjunktiven Vernunftschlüssen aus, in denen über das Prinzip des Widerspruchs hinaus der Satz vom ausgeschlossenen Dritten eine Rolle spielt. Nun muß, für das Prinzip der reinen Vernunft der Kritik der reinen Vernunft nicht von Begriffen, sondern von einem Gegebenen, d. h. von irgend einem ›Dinge‹ ausgegangen werden. Demzufolge ergibt sich: »Ein jedes Ding aber seiner Möglichkeit nach steht noch unter dem Grundsatze der durchgängigen Bestimmung, nach welchem ihm von allen möglichen Prädikaten der Dinge, sofern sie mit ihrem Gegentheile verglichen werden, eines zukommen muß. Dieses beruht nicht nur bloß auf dem Satze des Widerspruches; denn es betrachtet, außer dem Verhältnis zweier einander widersstreitenden Prädikate, jedes Ding noch im Verhältnis auf die gesammte Möglichkeit, als den Inbegriff aller Prädikate der Dinge überhaupt, und, indem es solche als Bedingung a priori voraussetzt, so stellt es ein jedes Ding so vor, wie es von dem Antheil, den es an jener gesammten Möglichkeit hat, seine eigene Möglichkeit ableite. Das Prinzipium der durchgängigen Bestimmung betrifft also den Inhalt, und nicht bloß die logische Form. Es ist der Grundsatz der Synthesis aller Prädikate, die den vollständigen Begriff von einem Dinge ausmachen sollen [...].« (B 599/600) Es gilt also, daß der Grundsatz der Vernunft, der auf die durchgängige Bestimmung eines gegebenen Dinges rein durch die Vernunft – anzumerken wäre: für Kant ist nach der transzendentalen Analytik ein individuelles Ding als solches nicht durch reine Vernunft, sondern durch Anschauung bestimmt, siehe die Leibnizkritik der Amphibolie der Reflexionsbegriffe – von allen möglichen, keineswegs von allen wirklichen Prädikaten ausgeht. Die gesamte Konstruktion des Ideals der reinen Vernunft, um die es sich hier handelt, handelt also von einem Möglichen. Diese Idee vom Inbegriffe aller möglichen Prädikate, der Bedingung der durch-

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gängigen Bestimmung jedes Dinges, ist ein Urbegriff, von dem gilt, daß er »als Urbegriff, eine Menge von Prädikaten ausstoße, die als abgeleitet durch andere schon gegeben sind, oder nebeneinander nicht stehen können, und daß sie sich zu einem durchgängigen a priori bestimmten Begriff läutere, und dadurch der Begriff von einem einzelnen Gegenstand werde, der durch die bloße Idee durchgängig bestimmt ist, mithin ein Ideal der reinen Vernunft genannt werden muß.« (B 601/02) Die Prädikate werden nun, da ja von einem realen Dinge ausgegangen wurde, nicht bloß logisch, sondern »transzendental, d. i. nach ihrem Inhalte, der an ihnen a priori gedacht werden kann« betrachtet. Die logische Verneinung bezieht sich nicht auf einen Begriff seinem Inhalt nach, sondern auf eine Begriffsbeziehung in einem Urteil. Auch die unendlichen Urteile, logisch betrachtet, lassen den Inhalt unberührt. »Eine transzendentale Verneinung bedeutet dagegen das Nichtsein an sich selbst, dem die transzendentale Bejahung entgegengesetzt wird, welche ein Etwas ist, dessen Begriff an sich selbst schon ein Sein ausdrückt, und daher Realität (Sachheit) genannt wird, weil durch sie allein, und so weit sie reicht, Gegenstände Etwas (Dinge) sind, die entgegenstehende Negation hingegen einen bloßen Mangel bedeutet, und, wo diese allein gedacht wird, die Aufhebung alles Dinges vorgestellt wird. Nun kann sich niemand eine Verneinung bestimmt denken, ohne daß er die entgegen gesetzte Bejahung zum Grunde liegen habe. [...] Es sind also auch alle Begriffe der Negationen abgeleitet, und die Realitäten enthalten die Data und sozusagen die Materie, oder den transzendentalen Inhalt, zu der Möglichkeit und durchgängigen Bestimmtheit aller Dinge. Wenn also der durchgängigen Bestimmung in unserer Vernunft ein transzendentales Substratum zum Grunde gelegt wird, welches gleichsam den ganzen Vorrath des Stoffes, daher alle möglichen [realen, nicht bloß logischen] Prädikate der Dinge genommen werden können, enthält, so ist dieses Substratum nichts anders, als die Idee von einem All der Realität (omnitudo realitatis). Alle wahre Verneinungen sind alsdann nichts als Schranken, welche sie nicht genannt werden könnten, wenn nicht das Unbeschränkte (das All) zum Grunde läge. Es ist aber auch durch diesen Allbesitz der Realität der Begriff eines Dinges an sich selbst, als durchgängig bestimmt, vorgestellt, und der Begriff eines entis realissimi ist der Begriff eines einzelnen Wesens, weil von allen möglichen entgegengesetzten Prädikates eines, nämlich das, was zum Sein schlechthin gehört, in seiner Bestimmung angetroffen wird. [Das ens realissmum ist also, so kann hinzugesetzt werden, schrankenlos, da es keine transzendentalen Negationen enthält.] Also ist es ein trans-

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zendentales Ideal [nicht bloß eine transzendentale Idee]. [...] Es ist aber auch das einzige eigentliche Ideal, dessen die menschliche Vernunft fähig ist; weil nur in diesem einzigen Falle ein an sich allgemeiner Begriff von einem Dinge durch sich selbst durchgängig bestimmt, und als die Vorstellung von einem Individuum erkannt wird.« (B 603/604, Einfügungen v. Verf.) Bevor nun auf den zweiten Schritt der Konstruktion eingegangen wird, ist kurz noch einmal auf den formal-logischen und den transzendental-logischen Aspekt dessen einzugehen, was bis jetzt behandelt wurde. Was sich im vollendeten Regreß des disjunktiven Syllogismus logisch ergeben kann, ist die Totalität des Aggregates der Glieder einer Einteilung des Begriffes, die die Einteilung des Begriffes vollendet. Man hat hier (B 379/80) das Unbedingte der disjunktiven Synthesis in einem System, das rein begriffslogisch die im Regreß erschließbare formale, d. h. regulative Idee der abgeschlossenen Totalität der Einteilung aller Begriffe ist. Nun tritt, um Vernunftideen allgemein und das Ideal der reinen Vernunft im besonderen zu konstruieren, das Prinzip der Vernunft hinzu. Nach ihm kann von einem gegebenen Bedingten auf die Gegebenheit der Totalität der Bedingungen des Bedingten geschlossen werden. Sofern hier von der Gegebenheit von etwas die Rede ist, ist das Prinzip nicht mehr bloß formal logisch sondern transzendental logisch. Es ordnet dem Bedingten und der Totalität der Bedingungen Gegenstände zu. Das Bedingte, von dem bei der Konstruktion des Ideals der Vernunft ausgegangen wurde, war ein reales Ding mit seinen realen Prädikaten, die, logisch betrachtet, der Qualität nach Affirmationen sind. Ihnen ist die Liste der vom Ding ausgeschlossenen negierten Prädikate für die vollständige Bestimmung des Dinges zur Seite zu stellen. Diese aber erscheinen real als Einschränkung des Dinges. Sofern man nun alle Negationen, wiederum logisch betrachtet, als abgeleitet von zu Grunde liegenden Affirmationen betrachten kann, gelangt man zu der gesuchten gegebenen Totalität zunächst in Gestalt eines Alls der Realität, aus dem sich alle Dinge durch Einschränkungen ergeben. Kant sagt zum allgemeinen Hintergrund: »Die logische Bestimmung eines Begriffes durch die Vernunft beruht auf einem disjunktiven Vernunftschlusse, in welchem der Obersatz eine logische Einteilung (die Teilung der Sphäre eines allgemeinen Begriffs) enthält, der Untersatz diese Sphäre bis auf einen Teil einschränkt und der Schlußsatz den Begriff durch diesen bestimmt. Der allgemeine Begriff einer Realität überhaupt kann a priori nicht eingeteilt werden, weil man ohne Erfahrung keine bestimmten Arten von Realität kennt, die unter jener Gattung enthalten wären. Also ist der transzendentale Obersatz der durchgängigen Bestimmung aller

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Dinge nichts anderes, als die Vorstellung des Inbegriffs aller Realität, nicht bloß ein Begriff, der alle Prädikate ihrem transzendentalen Inhalte nach unter sich, sondern der sie in sich begreift.« (B 604/5) Soweit zum Beleg für das Gesagte. Der Schritt von der omnitudo realitatis, die als Idee die Totalität der Bedingungen für jedes reale Ding, das in ihr als eingeschränkte Realität gegeben ist, selbst nach dem Prinzip der Vernunft gegeben ist, führt nun zum Begriff des ens realissimum, das ein Individuum, eine absolute und unbeschränkte Einheit ist, auf Grund folgender, nun wieder logischer Erwägung: Alle negativen, einschränkenden Prädikate des Dinges wurden, um den Begriff der omnitudo realitatis zu gewinnen, als abgeleitete Begriffe behandelt, d. h. die Negation oder Einschränkung wurde herausgestrichen. Nun ergibt sich aber ein unmöglicher Begriff nur, wenn Begriffswiderspruch vorliegt. Hat man aber nur affirmierte Prädikate im logischen Sinn und damit reale Prädikate im transzendental-logischen Sinn, dann kann sich kein Widerspruch ergeben, wenn man den Inbegriff aller realen Prädikate als ein individuelles Wesen, als unbeschränkte Einheit denkt. Ein ens realissimum wird denkbar, möglich, als bloß in der Vernunft befindlicher Gegenstand ihres Ideals. Von diesem Ideal gilt bis dato: »Es versteht sich von selbst, daß die Vernunft zu dieser ihrer Absicht, nämlich sich lediglich die notwendige durchgängige Bestimmung der Dinge vorzustellen, nicht die Existenz eines solchen Wesens, das dem Ideale gemäß ist, sondern nur die Idee desselben voraussetzte, um von einer unbedingten Totalität der durchgängigen Bestimmung die bedingte, d. i. die des Eingeschränkten, abzuleiten.« (B 606/7) Angemerkt sei hier, daß Kant im Anschluß weniger an Plato als an die neuplatonische Tradition vom Ideal als »Urbild (prototypon) aller Dinge, welche insgesamt […] mangelhafte Copeien (ectypa)« sind, spricht. Das ens realissimum ist also vorerst ein nur denkbarer Gegenstand der Vernunft, dem Existenz nicht zugesprochen wird, lediglich logische Möglichkeit, d. h. Widerspruchsfreiheit. Es gilt nun: »Daher wird der bloß in der Vernunft befindliche Gegenstand ihres Ideals auch das Urwesen (ens originarium), sofern es keines über sich hat, das höchste Wesen (ens summum), und, sofern alles, als bedingt, unter ihm steht, das Wesen aller Wesen (ens entium) genannt. Alles dies bedeutet nicht das objektive Verhältnis eines wirklichen Gegenstandes zu anderen Dingen, sondern der Idee zu Begriffen, und läßt uns wegen der Existenz eines Wesens von so ausnehmenden Vorzuge in völliger Unwissenheit.« (B 606/7) Das Ideal des Urwesens, das sich qua Ideal gegenüber der bloßen Idee der omnitudo realitatis als Individuum ergeben hat, ist als solches ein-

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fach, schlechthinnige Einheit, da es in sich keine mögliche Einschränkung hat und außer sich auch nicht. Nun ist aber in der Konstruktion von eingeschränkten Wesen, Dingen, ausgegangen worden. Sie sind insofern ›vorausgesetzt‹, obwohl vom Urwesen ›gesetzt‹ (Dieser Gebrauch des Verhältnisses von ›Setzen‹ und ›Voraussetzen‹ wird von Kant nicht eingeführt. Eingeführt wurde er erst durch Hegel, den ich hier einfach benutze). Aber eben die Rückkehr vom Urwesen zu den Dingen, die doch vorausgesetzt waren, würde bedeuten, daß eine Einschränkung vorgenommen werden müßte, die auf nichts als eine Teilung herausläuft und das Urwesen, das als schlechthinnige Einheit zu denken war, zum bloßen Aggregat abgeleiteter Wesen macht. Was Kant hier nicht sagt, ist, daß das in gewissem Sinne sogar einen Widerspruch im Begriffe des Urwesens indizieren würde. Er sagt sogleich, wie dieser Widerspruch vermieden werden kann. Die höchste Realität aller Dinge, die die Möglichkeit aller Dinge ausmacht, liegt den Dingen nicht als Inbegriff, sondern als Grund ihres Seins zu Grunde. Die Idee wird also ›hypostasiert‹. Anzumerken ist, daß Kant das logische Grundmodell nicht erwähnt, das aber anzusetzen ist: Der oberste Begriff einer vollständigen Einteilung enthält unter sich vielfach verzweigte Serien der Subordination von Begriffen, deren Erkenntnisgrund er insgesamt ist. Freilich handelt es sich jetzt hier nicht um einen Erkenntnis- sondern um einen Seinsgrund. Schließlich gilt, daß das hypostasierte ens realissimum auch personalisiert wird. Voraussetzung ist, daß sich das ens realissmum aus allen realen Dingen ergibt und sich als deren Seinsgrund auf alle Dinge bezieht. Das bedeutet aber, daß hier sowohl die Seite des Objekts wie die des Subjekts einbezogen sind. Sofern die subjektive Seite mit einbezogen ist, muß das Wesen aller Wesen auch Person sein. Dabei gilt für es als unendliches Wesen natürlich nicht, daß ihm gegebene Objekte gegenüberstehen, die außer ihm sind. Wie bereits am Ende der transzendentalen Ästhetik vermerkt, wird in der natürlichen Theologie klargestellt, daß die Bedingungen von Raum und Zeit und Anschauungsformen überhaupt im höchsten Wesen nicht gegeben sein können. Es hat nichts, was außer ihm ist, es ist auch nicht zeitlich und damit endlich. Ein intuitus originarius muß intellektuelle Anschauung sein, d. h. ein Denken, das Objekte nicht von außen gegeben, sondern in sich selbst durch es selbst setzt. In diesem Sinne ist es, um den Ausdruck Schellings zu gebrauchen, ein Subjekt-Objekt. Wenn wir also Gott als Person und damit als Subjekt denken, so haben wir das nur dadurch, daß wir von allen Bedingungen, die für endliche Subjekte grundlegend sind, abstrahieren.

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Diese, wie gesehen, durchaus nicht nur logischen, sondern transzendental-logischen Konstruktionen der Ideen werden nun die Themen der metaphysica specialis zugeordnet. Kant sagt: »Nun ist das Allgemeine aller Beziehung, die unsere Vorstellungen haben können; 1. die Beziehung aufs Subjekt, 2. Die Beziehung auf Objekte, und zwar entweder als Erscheinungen, oder als Gegenstände des Denkens überhaupt. Wenn man diese Unterteilung mit der obigen [d. h. der sich aus ihrer Konstruktion ergebenden Einteilung der Vernunftideen] verbindet, so ist alles Verhältnis der Vorstellungen, davon wir uns entweder einen Begriff, oder eine Idee machen können, dreifach: 1. das Verhältnis zum Subjekt, 2. zum Mannigfaltigen des Objektes in der Erscheinung, 3. zu allen Dingen überhaupt. [...] Folglich werden alle transzendentalen Ideen sich unter drei Klassen bringen lassen, davon die erste die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts, die zweite die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung, die dritte die absolute Einheit der Bedingungen aller Gegenstände des Denkens überhaupt enthält.« (B 391/92, Einfügungen v. Verf.) »Das denkende Subjekt ist der Gegenstand der Psychologie, der Inbegriff aller Erscheinungen (die Welt) der Gegenstand der Kosmologie, und das Ding, welches die oberste Bedingung aller Möglichkeit von allem, was gedacht werden kann, enthält das (Wesen aller Wesen) der Gegenstand der Theologie. Also gibt die reine Vernunft die Idee zu einer transzendentalen Seelenlehre (psychologia rationalis), zu einer transzendentalen Weltwissenschaft (cosmologia rationalis), endlich auch zu einer transzendentalen Gotteserkenntnis (Theologia transcendentalis) an die Hand.« (B 391/92) Gemäß ihrer Konstruktion gilt, daß diese Ideen sich nicht durch den Verstand ergeben können. Diese Wissenschaften sind also nicht Verstandeswissenschaften. Sie ergeben sich aus dem sich auf die Verstandesbegriffe beziehenden höchsten logischen Gebrauch der Vernunft nach dem Prinzip der Vernunft. Sie sind damit ein echtes Problem der Vernunft, die sich nicht, wie der Verstand, geradezu auf Gegenstände bezieht, sondern nur indirekt, sofern sie durch Verstandesbegriffe gegeben sind, indem sie sich eben auf diese Verstandesbegriffe bezieht. Es wird sich nun zeigen, daß von diesen Ideen keine objektive Deduktion möglich ist, wie bei den Kategorien. Es wurde oben gesagt, daß sich unsere Vorstellungen allgemein auf Gegenstände der Erscheinungen und auf Gegenstände überhaupt beziehen können. Unter die Gegenstände überhaupt fallen nun die noumena, das, was in Verbindung mit dem transzendentalen Objekt, d. h. dem, was in unseren Vorstellungen von Erscheinungen ihre Gegenständlichkeit allgemein ausmacht, nämlich die Materie, die auch für sich

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betrachtet, ein unbekanntes X ist, und schließlich das Ding an sich, sofern es als Bedingung, als Ursache der Materie der Erscheinungen gedacht wird, das ebenfalls ein unbekanntes X ist, von dem wir aber nicht entscheiden können, ob es außerhalb der Materie und außer uns, oder in uns oder in einer Materie, die causa sui ist, liegen wird. Diese Bestimmungen von Gegenständen überhaupt, die nicht Gegenstände der Erscheinungen sind, betrifft sie als Gegenstände des Verstandes nach Phänomena und Noumena B 344/45 und B 333/34. Anzunehmen, daß man sie sich als gegebene Dinge an sich für den Verstand denken kann, beruht auf einem bloßen Mißbrauch der Kategorien. Bei den Gegenständen überhaupt, die nicht Gegenstände der Erscheinung und Erfahrung sind und die den Ideen korrespondieren, liegt kein bloßer Mißbrauch vor. Hier wird, sogar im Ausgang von einem abstrakt als in der Erscheinung gegebenen Gegenstand auf die Totalität seiner Bedingungen geschlossen, und dieses Absolute wird von der metaphysica specialis in jenen drei Formen als gegeben gedacht. Es wird nun aber gezeigt werden, daß es keine objektive transzendentale Deduktion wie bei den Kategorien gibt. Dagegen kann gezeigt werden, daß die letztlich durch das Prinzip der reinen Vernunft schlußweise als gegeben erschlossene absolute Totalität in allen drei Fällen den Charakter einer Illusion, eines nicht zu vermeidenden Scheins, hat. Dagegen war es möglich, eine subjektive Ableitung der Ideen aus der Natur unserer Vernunft und aus dem Allgemeinen aller Beziehung, die unsere Vorstellung haben, zu liefern und eben das hat Kant, wie er behauptet, im ersten Buch der transzendentalen Dialektik Von den Begriffen der reinen Vernunft auch getan. Aus dieser Untersuchung ergab sich auch: »daß unter den transzendentalen Ideen selbst ein gewisser Zusammenhang und Einheit hervorleuchte, und daß die reine Vernunft vermittelst ihrer, alle ihre Erkenntnisse in ein System bringe. [...] Wir haben vorläufig unsern Zweck schon erreicht, da wir die transzendentalen Begriffe der Vernunft, die sich sonst gewöhnlich in der Theorie der Philosophen unter andere mischen, ohne daß diese sie einmal von Verstandesbegriffen gehörig unterscheiden, aus dieser zweideutigen Lage haben herausziehen, ihren Ursprung, und dadurch zugleich ihre bestimmte Zahl, über die es gar keine mehr geben kann, angeben und in einem systematischen Zusammenhange haben vorstellen können, wodurch ein besonderes Feld für die reine Vernunft abgesteckt und eingeschränkt wird.« (B 394–96) Da Kant nun ausdrücklich gesagt hat, daß von den transzendentalen Ideen keine objektive Deduktion möglich sei, wie man sie für die Kategorien und ihren Objektbezug, ihre objektive Gültigkeit für Gegenstände der Erfahrung, geben kann, sollte man doch besser vermeiden, von einer

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transzendentalen Deduktion der Ideen zu sprechen. Eine transzendentale Deduktion ist der Nachweis für den Objektbezug, die objektive Gültigkeit eines Begriffes a priori. Das aber ist nach Kant (B 393) bei den Vernunftideen nicht möglich. Über das Prinzip der reinen Vernunft wird zwar der Anspruch erhoben, daß sie sich auf besondere, alle Objekte der Erfahrung und die Erfahrung überhaupt übersteigende Gegenstände beziehen, aber dieser Anspruch wird von Kant im zweiten Buch der transzendentalen Dialektik Von den dialektischen Schlüssen der reinen Vernunft zurückgewiesen. Er beruht auf Schein, Illusion. Mit einem gewissen Recht könnte man dagegen sagen, daß das erste Buch eine ›metaphysische Deduktion‹ geliefert habe, sofern gezeigt wurde, daß die Ideen eine in einem System stehende besondere Gruppe von Begriffen a priori sind. Kant aber vermeidet auch das. Er bezeichnet die Ideen als transzendental, weil sie mit dem Anspruch auftreten, objektive Gültigkeit für erfahrungstranszendente Objekte zu haben. Was aber im Folgenden deduziert werden soll, ist, daß dieser Anspruch in eine Illusion führt, die allerdings im bereits erörterten Sinn nicht zu vermeiden ist. Das scheint mir, nach dem Kantischen Sprachgebrauch, die einzig vertretbare Deutung zu sein.

Wilhelm Vossenkuhl Das System der Vernunftschlüsse

1. Inhalt, Form und Umfang des Systems Kant gibt der Vernunft in der Transzendentalen Dialektik zwei Arten von Aufgaben, eine logische und eine transzendentale. Beide Aufgaben sollen gleichzeitig erfüllt werden und ein einziges Resultat haben, das System der reinen Vernunft. Thomas Seebohm1 hat bereits gezeigt, daß es Kant in der Kritik der reinen Vernunft2 nicht gelingt, eine reine, von Gegenstandsbezügen freie Begriffs-Logik zu verwenden, wie er sie in der Jäsche-Logik projektiert. Ich gehe daher auf dieses Thema nicht mehr ein. Statt dessen konzentriere ich mich auf den transzendentalen Gebrauch der reinen Logik, insbesondere auf die Struktur der Vernunftschlüsse bei der Konstruktion des Systems. Der Gebrauch der reinen formalen Logik ist von Anfang an transzendental motiviert. Kant versteht die Vernunft nicht nur im formalen, sondern gleichzeitig auch im transzendentalen Sinn als Vermögen zu schließen. Nicht die syllogistische Form des Vernunftschlusses, sondern die drei Typen der Vernunftschlüsse stehen daher im Zentrum des Interesses. Schon die Auswahl dieser drei Schlußtypen, des kategorischen, des hypothetischen und des disjunktiven, ist transzendental motiviert. Es handelt sich um die drei Typen der relationalen Schlüsse. Kant wählt sie mit der knappen Begründung aus, sie seien die unterscheidbaren Typen »aller Urteile überhaupt« (AA III, 241). Tatsächlich ist dies nur in dem Sinne der Fall, daß alle übrigen Urteilsformen – also die quantitativen, qualitativen und modalen – relational bestimmbar sind. Sie sind aber an sich nicht relational bestimmt. Allen Urteilsformen liegt natürlich das Verhältnis zwischen einer Bewußtseinseinheit und einem Erkenntnisgehalt zugrunde. Dieses Verhältnis hat aber erst durch die weitere Bestimmung als quantitatives, qualitatives, relationales oder modales Urteil eine eigene begrifflich-formale Struktur. Das Besondere an den relationalen Urteilen ist, daß es bei ihnen inhaltlich und formal um das Verhältnis

1

Thomas Seebohm, Die reine Logik, die systematische Konstruktion des Prinzips der Vernunft und das System der Ideen, in diesem Band, S. 204ff. 2 Zitate werden wie üblich nach der Akademieausgabe der Werke Kants unter der Abkürzung ›AA‹ mit Angabe der Band- und Seitenzahl zitiert.

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zwischen Bewußtsein und Erkenntnisgehalt geht. Anders als bei den quantitativen, qualitativen und modalen Urteilen geht es bei den relationalen also unmittelbar um die transzendentale Frage, wie der Gehalt einer Erkenntnis einem Bewußtsein gegeben ist. Die relationalen Urteile liegen allen anderen also keineswegs im formalen Sinn zugrunde. Nur bei den relationalen Urteilen geht es um Form und Inhalt des Verhältnisses eines Bewußtseins zu seinem Gehalt selbst. Kant geht nicht der Frage nach, warum er allein die relationalen Urteile des Verstandes zu Modellen der Vernunftschlüsse macht. Statt dessen deklariert er von Anfang an in transzendentaler Absicht die Formen der relationalen Urteile als die wechselseitig irreduziblen Typen der Vernunftschlüsse. Er trifft eine wichtige systematische Vorentscheidung bei der logischen Konstruktion des Systems. Die relationalen Vernunftschlüsse bilden die Schnittstelle zwischen reiner formaler und transzendentaler Logik. Die Auswahl der relationalen Urteile als Grundtypen der Vernunftschlüsse hat weitreichende Folgen für die gesamte Anlage des Systems. Den Schlußtypen ordnet Kant nämlich Funktionen zu, die den Inhalt, die Form und den Umfang des Systems bestimmen. Die kategorischen Schlüsse liefern den Inhalt oder die Materie dessen, was zu einem System vereinigt wird. Die hypothetischen Vernunftschlüsse bilden die Form dieser Synthese und die disjunktiven den gesamten Umfang, die absolute Totalität und Reichweite des Systems. Wie die drei Schlußtypen der Vernunft diese Funktionen erfüllen können, müssen wir noch sehen. Wenn wir ihre Leistungen in einer einfachen Übersicht betrachten, erkennen wir die Architektur des Systems. Sie eröffnet ihren Spannungsbogen beim kategorisch präsentierten imprädikativen Subjekt, dem Subjekt ohne Prädikat, dem ›Ich denke‹. Sie erstreckt sich über die in hypothetischen Schlüssen präsentierten Objekte des möglichen Wissens von der Welt. Sie endet mit dem Aggregat aller möglichen denkbaren Gegenstände überhaupt. Dieses Aggregat wird disjunktiv erschlossen und in einem Subjekt vereinigt, das inhaltsgleich mit dem Prädikat ›absolute Totalität‹ ist, dem ›Wesen aller Wesen‹. Die Vernunftschlüsse sollen zeigen, wie sich Psychologie, Kosmologie und Theologie als Einheiten erschließen und zu einer Gesamteinheit vereinigen lassen. So entsteht in Gedanken die Architektur des Systems.

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2. Die Dynamik der logischen Funktionen Die besondere Eignung der drei Schlußtypen für diese Architektur ist weder formal noch inhaltlich offensichtlich. Die kategorischen Vernunftschlüsse legen zwar durch das Verhältnis von Subjekt und Prädikat eines Urteils den Sachgehalt fest, der behauptet und in allen anderen Schlußtypen verwendet werden kann. Die Schlüsse selbst bleiben aber statisch. Eine Dynamik kann sich auf der logischen Basis der kategorischen Schlüsse allein nicht entwickeln. Die Dynamik, die dafür sorgt, daß ein Zusammenhang und eine Vereinigung der behauptbaren Urteilsgehalte entsteht, entwickelt sich erst durch die transzendentalen Grundsätze und Maximen, die dem Umgang mit den Schlüssen die Richtung zum System geben. Dazu gehören die Reduktion aller Erkenntnisse auf ein Minimum an Prinzipien (AA III, 241), die Kohärenz zwischen Vernunft- und Verstandesleistungen (ebda.), vor allem aber der Grundsatz, »daß sich die Reihe der Bedingungen [...] bis zum Unbedingten erstrecke« (AA III, 243). Natürlich gelten diese Maximen und Grundsätze für den Gebrauch aller Schlußtypen. Die Frage ist allerdings, wie sie gelten. Unklar ist vor allem der zuletzt erwähnte Grundsatz. Wie ist er zu befolgen? Der Grundsatz fordert keine deskriptive Vollständigkeit. Es soll keine Reihe bis zum Unbedingten durch Vernunftschlüsse vollständig hergestellt werden. Weder die kategorischen noch die beiden anderen Vernunftschlüsse können am Ende eines Schlußverfahrens direkt zu einem Unbedingten führen. Dies zeigen Überlegungen zu Inhalt und Form der Schlüsse. Die Inhalte der Obersätze aller Schlüsse sind vom Verstand vorgegeben und dementsprechend Prädikate mit allgemeinem, schließlich mit größtmöglichem Umfang, wie z. B. in ›Alles Zusammengesetzte ist veränderlich‹ (vgl. AA III, 256). Im Umfang eines solchen Prädikats sind die Umfänge der Prädikate beliebiger anderer Subjekte eingeschlossen, wie z. B. ›alle Körper‹ oder ›alle Mengen‹. Die Subjekte mit kleinerem Umfang sind ihrerseits im Subjekt mit dem größtmöglichen Umfang eingeschlossen. Wie sie im allgemeineren Subjekt eingeschlossen sind, zeigt das regressive Verfahren, das zu jedem Bedingten solange die Bedingung sucht, bis es die allgemeinste mit der größtmöglichen Domäne gefunden hat, mit Hilfe von sog. Prosyllogismen. Es lohnt sich, an dieser Stelle darüber nachzudenken, wie das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat aussieht, wenn die größtmögliche Domäne bzw. die allgemeinste Bedingung einer Reihe gefunden ist. Wir verstehen dann nämlich besser, warum der kategorische Vernunftschluß seinen höchsten Punkt im Subjekt ohne Prädikat erreicht. Die allgemein-

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ste Bedingung einer Reihe ist idealiter nämlich dann erreicht, wenn das Subjekt gefunden ist, dessen Domäne mit derjenigen des allgemeinsten Prädikats einer Reihe übereinstimmt. Dann kann das Prädikat ganz im Subjekt aufgehen. Diese ideale Grenzbedingung ist nur vor dem Hintergrund verständlich, daß das Subjekt in jedem kategorischen Schluß eine kleinere Domäne hat als das Prädikat. In dem Beispiel trifft dies etwa für das Subjekt ›alle Körper‹ relativ zum Prädikat ›veränderlich‹ zu. Das Subjekt ›alles Zusammengesetzte‹ hingegen hat die gleiche Reichweite oder Domäne wie das Prädikat ›veränderlich‹. Subjekt und Prädikat können ihre Stellen tauschen: alles, was zusammengesetzt ist, ist auch veränderlich, und umgekehrt.3 Allerdings geht das Prädikat ›veränderlich‹ nicht völlig auf im Subjekt ›alles Zusammengesetzte‹, und umgekehrt.4 Sie ergänzen sich vielmehr wechselseitig. Wir verstehen das eine besser durch das andere. Eine ideale Verschmelzung des Prädikats mit dem Subjekt sieht Kant erst in der absoluten Einheit des denkenden Subjekts, im ›Ich denke‹.5 Deswegen liegt der kategorische Vernunftschluß der transzendentalen Psychologie zugrunde (AA III, 257 f.). Er erreicht das ihm gemäße Unbedingte im Subjekt ohne Prädikat. Wenn wir aber von dieser Idealbedingung absehen, ist es offensichtlich, daß das regressive Verfahren im Aufstieg vom Bedingten zu seiner allgemeinsten Bedingung nicht bei einem Unbedingten, sondern lediglich da endet, wo Subjekt und Prädikat äquivalent sind und ihre Stellen tauschen können. Kant ist wohl der Ansicht, daß eine regressive Reihe

3

Wir können diese logisch-semantische Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat als Äquivalenz ausdrücken: alles, was zusammengesetzt ist, ist veränderlich und alles, was veränderlich ist, ist zusammengesetzt; symbolisch: ∀x, ∀y ((x≠y) & (x↔y)). 4 ›Völlig aufgehen‹ würde in einer schwachen Lesart so viel bedeuten wie ›analytisch enthalten sein‹. Im Subjekt ›alles Zusammengesetzte‹ ist z.B. das Prädikat ›ist teilbar‹ analytisch enthalten, aber auch das Prädikat ›hat Teile‹; weitere Substitutionen sind denkbar. Allerdings ist Analytizitat selbst eine problematische Beziehung, wie Quine in Two Dogmas of Empiricism gezeigt hat. 5 Wie diese ideale Verschmelzung genau aussieht, können wir uns klar machen, wenn wir das ›Ich denke‹ als Subjekt und das ›begleitet alle meine Vorstellungen‹ als Prädikat einsetzen. Das Prädikat, also das, was ›alle meine Vorstellungen begleitet‹, ist allein und nur das ›Ich denke‹. Das Prädikat geht hier in einem starken, ausschließlichen Sinn im Subjekt auf. Ohne die Bedeutung des Subjekts wüßten wir nämlich nicht, wie das Prädikat genau zu verstehen ist. Genau dies macht die starke im Unterschied zu einer schwachen Substitution aus. Dennoch ist auch dieses Subjekt-Prädikat-Verhältnis ein analytisches. Seinen synthetischen Charakter verstehen wir nur über die Leiter des logisch-analytischen Verhältnisses der Satzteile zueinander. Dies zeigt, daß das ›Ich denke‹ auch als Unbedingtes einen analytischen Charakter hat bzw. als Äquivalenz zu verstehen ist.

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potentiell beim Unbedingten endet. Er legt sich aber nicht ausdrücklich fest, wie weit die regressive Reihe der Prosyllogismen tatsächlich verfolgt werden kann. Er meint, sie sei »in unbestimmte Weiten« fortsetzbar (AA III, 256). In einer Hinsicht trifft dies zu, nämlich in der, daß es keine logische Möglichkeit gibt, die Menge oder Anzahl aller regressiven Schlüsse deskriptiv festzulegen. In logisch-begrifflicher Hinsicht ist die Grenze aber genau dort erreicht, wo Subjekt und Prädikat des regressiven Schlusses äquivalent sind. Diese Äquivalenz ist aber nichts Unbedingtes, sondern eine logisch-semantische Allgemeinheit. Tatsächlich ›in unbestimmte Weiten‹ führen die progressiven Reihen, die von den Bedingten zu weiteren Bedingten gehen. Diese letzteren können nicht zuende kommen, weil sie in die Zukunft reichen. Die regressiven Reihen von Schlüssen können also logisch-begrifflich, sie können aber nicht deskriptiv vollendet werden. Kant selbst läßt offen, ob regressiv eine höchste oder erste Bedingung erreicht wird. Die Reihe der Bedingungen kann in seinen Augen offenbar auch unbegrenzt sein. Wie immer wir über die Frage der Abschließbarkeit der regressiven Prosyllogismen denken, wesentlich ist nicht die deskriptive Vollständigkeit der Reihe der Bedingungen bzw. Prämissen, sondern ihre Wahrheit. Hier können wir Kant uneingeschränkt zustimmen. Die Reihe muß »die Totalität der Bedingungen enthalten«, auch wenn wir sie nicht erfassen können, und das bedeutet für Kant und, wie ich zeigen will, auch für uns: die Reihe der Bedingungen »muß unbedingt wahr sein, wenn das Bedingte, welches als eine daraus entspringende Folgerung angesehen wird, als wahr gelten soll« (AA III, 257). Ganz offensichtlich gibt es in Kants Argumentation eine systematische Lücke zwischen den dynamisch gebrauchten Vernunftschlüssen und dem Ziel, das sie erreichen sollen. Das Unbedingte ist nicht wirklich auf logischem Weg erreichbar. Deswegen wird die Wahrheit der Totalität der Bedingungen als »Forderung der Vernunft« (ebda.) und nicht als Ergebnis eines Folgerungsprozesses eingeführt. Da der regressive Gebrauch der Vernunftschlüsse als analytischer Prozeß6 zu verstehen ist, können wir auch sagen: auf analytischem Weg ist das Unbedingte nicht zu erreichen. Es muß vorausgesetzt werden. Die systematische Lücke zwischen dem analytischen Prozeß und der synthetischen Voraussetzung der als wahr angenommenen absoluten Totalität der Bedingungen kann weder auf logische noch auf transzendentale Weise geschlossen werden. Kant 6

Kant bestätigt den analytischen Charakter dieses Prozesses ausdrücklich in einer Anmerkung (AA III, 260).

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nimmt die Natur bzw. das Bedürfnis der Vernunft zu Hilfe, Vollständigkeit der Bedingungen herzustellen (AA III, 243).

3. Hypothetische und disjunktive Schlüsse Meine obige Behauptung, daß die Vernunftschlüsse statisch seien und bestimmte transzendentale Maximen und Grundsätze nötig seien, um sie dynamisch für die Konstruktion des Systems zu gebrauchen, ist zwar richtig, erweckt aber eine schiefe Vorstellung von den hypothetischen und disjunktiven Schlüssen. Diese beiden Typen haben formal – wenn auch nicht inhaltlich – einen dynamischen Charakter. Den hypothetischen Schlüssen liegt als Prinzip der Satz vom Grund, den disjunktiven das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten zugrunde (vgl. AA IX, 129 f.). Der Satz vom Grund, in der logischen Form des modus ponens und modus tollens, ist insofern dynamisch, als er die Form eines Übergangs von einem Bedingten zu einer Bedingung anbietet. Jedes konditionale Argument macht formal diesen Übergang. Disjunktive Schlüsse sind ebenfalls der Form nach dynamisch, weil sie alle gültigen Alternativen im Gebrauch eines Begriffs zeigen, ohne eine bestimmte auszuwählen. Kants Beispiel (AA IX, 107) ist der Begriff ›Gelehrter‹, dessen Domäne die ›historischen Gelehrten‹, die ›Vernunftgelehrten‹ oder die ›Schriftgelehrten‹7 etc. einschließt. Für die Architektur des Systems sind diese beiden Typen von Vernunftschlüssen wesentlich, weil sie eine Verknüpfung von Schlüssen zu vollständigen und geschlossenen regressiven Reihen ermöglichen. Die Obersätze der hypothetischen Schlüsse haben einen modalen Charakter. Sie sind – in Kants Begriffen – problematisch. Lediglich die Untersätze sind assertorisch. Bei disjunktiven Schlüssen sind alle Glieder problematisch. Eine konditionale Verknüpfung ist daher leicht möglich. Was immer disjunktiv erschlossen ist – wie z. B. ›Gelehrter‹ – kann selbst zum Disjunkt eines Schlusses zur Bestimmung von etwas Allgemeinerem werden – z. B. ›Beruf‹. Trotz des konditionalen und hypothetischen Charakters der Form der hypothetischen und disjunktiven Schlußtypen bleibt der Anspruch bestehen, daß die Wahrheit des Bedingten die Wahrheit des Unbedingten voraussetzt. Kant läßt keine wahren Schlüsse ex falso zu. Er kann sie auch nicht zulassen, da die Form eines hypothetischen Schlusses seine Wahr7

Außer diesem letzten stammen alle Beispiele von Kant (AA IX, 107).

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heit nicht rechtfertigt. Der modus ponens oder der modus tollens stellen lediglich Formen von hypothetischen Argumenten vor, sind aber per se keine gültigen Beweise. Welche Gründe kann, besser gesagt, könnte Kant für seine Forderung, daß nur Schlüsse aus wahren Prämissen gültig sind, beanspruchen? Am besten wir sehen uns einen analogen modernen Beweis an, der für den hypothetischen Schluß einschlägig ist. Ein konditionaler Beweis besteht nicht einfach aus der Form des modus ponens: (1) p→q, (2) p, (3) q. Wir wollen – ähnlich wie Kant – wissen, nach welcher Regel wir für einen Satz ›q‹ (ein Bedingtes) einen Satz ›p‹ (eine Bedingung) mit Hilfe des modus ponens so annehmen können, daß ›q‹ wahr ist. Einfacher gesagt, wir wollen wissen, unter welchen Voraussetzungen ›p‹ die Ableitung von ›q‹ erlauben würde. Nehmen wir an, wir könnten die beiden Sätze ›A‹ und ›A→B‹ annehmen. Wir können nun fragen, was der Fall wäre, wenn das Antecedens ›A‹ wahr wäre. Wir wissen es ja nicht. Wenn ›A‹ aber wahr wäre, könnten wir mit dem modus ponens (A→B) und mit der angenommenen Prämisse ›A‹ nach ›B‹ gehen. Wenn also ›A‹ wahr wäre, wäre auch ›B‹ wahr und durch die Konjunktion wäre (A&B) wahr. Formal laufen diese Überlegungen auf den Schluß hinaus: A→(A&B). Ein konditionaler Beweis dieser Art hat also fünf Schritte: 1) A→B 2) A (angenommene Prämisse) 3) B (aus 1, 2) 4) A&B (aus 2, 3 durch Konjunktion) 5) A→(A&B) (aus 2–4, konditionaler Beweis) Kant verwendet diesen konditionalen Beweis zwar nicht. Der Beweis zeigt aber, daß Kant mit guten Gründen die Wahrheit des Antecedens für den hypothetischen Schluß postuliert. Der modus ponens ist per se noch kein gültiges Argument. Erst unter der Voraussetzung, daß alle Bedingungen eines Bedingten wahr sind, können sowohl die Bedingungen als auch das Bedingte als wahr gelten. Kant insistiert, daß die drei Schlußtypen nicht wechselseitig aufeinander reduzierbar sind. Es handelt sich, wie er zurecht meint, nicht um Varianten des kategorischen Schlusses. Dies gilt auch für die modernen Versionen hypothetischer und disjunktiver Syllogismen.8 Sie repräsentieren im übrigen auch das, was Kant unter diesen Schlußtypen versteht.

8

Der hypothetische Syllogismus hat die Form: (1) p→q, (2) q→r, (3) p→r; der disjunktive Syllogismus: (1) p∨q, (2) ¬p, (3) q und (1) p∨q, (2) ¬q, (3) p.

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4. Das Aggregat des Unbedingten Anfangs wies ich darauf hin, daß den drei Schlußtypen jeweils ein Unbedingtes korrespondiert. Später wurde deutlich, daß die Schlußtypen selbst nicht so zu verstehen sind, als könnten oder sollten sie den Weg zu ihrem jeweiligen Ziel, dem Unbedingten, deskriptiv vollständig zurücklegen. Es gibt – wie Kant meint9 – keinen analytischen Weg zum Unbedingten, vielmehr muß das Unbedingte vorausgesetzt werden. Ich will nicht auf die großen und heute sicher umstrittenen Ansprüche dieser Voraussetzung eingehen, sondern das – von Kant nicht weiter untersuchte – Verhältnis der drei unbedingten Einheiten zueinander beleuchten. Wenn die drei Schlußarten jeweils einem Unbedingten korrespondieren, selbst aber wechselseitig irreduzibel10 sind, fragt sich, wie eine unbedingte Einheit der drei absoluten Einheiten (Subjekt, Welt, Gott) denkbar ist. Die wechselseitige Irreduzibilität der Schlußtypen überträgt sich offenbar nicht auf die unbedingten Einheiten. Die Entwicklung in Richtung auf das System beginnt beim Subjekt, bei der Erkenntnis seiner selbst, schreitet fort zur Welterkenntnis und geht dann über zur Erkenntnis des Urwesens (AA III, 260). Diese Dynamik ist in Kants Augen so natürlich wie der »logische Fortgang der Vernunft von den Prämissen zum Schlußsatze« (ebda.). Er versteht die Architektonik des Systems also als transzendental-logische Konstruktion. Und er deutet – in einer Fußnote (AA III, 260) – den regressiven dynamischen Prozeß selbst als analytisches Verfahren, in dem die Ordnung des Systems umgekehrt wird. Die Ordnung geht von oben nach unten, also von Gott abwärts. Wir können sie aber nur von uns selbst aufwärts konstruieren – besser gesagt: rekonstruieren. Wie können aber wechselseitig irreduzible Schlußtypen ein logisches Kontinuum bilden? Ihrer logischen Form nach bilden die Schlußtypen kein Kontinuum, sondern ein Aggregat. Der disjunktive Schluß repräsentiert selbst ein Aggregat und ist deswegen geeignet, am Ende des SchlußVerfahrens der Vernunft zu stehen und die Ergebnisse der kategorischen und der hypothetischen Schlüsse zum absoluten Ganzen des Systems zu integrieren. Meine Frage ist daher genauer, wie ein Aggregat ein logisches Kontinuum bilden kann. Nicht aus eigener Kraft, sondern nur 9

Thomas Seebohm weist zurecht darauf hin, daß auch überabzählbare unendliche Mengen Objekte der Mathematik sind (Seebohm, a.a.O., S. 210). Selbst wenn das Unbedingte aus unendlich vielen Elementen besteht, läßt es sich ausdrücken. 10 Kant erklärt diese Irreduzibilität in der Jäsche-Logik (AA IX, 105).

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dann, wenn zusätzliche Bedingungen angenommen werden, die dem Aggregat zugrunde liegen. Eben diese Bedingung nimmt Kant an, wenn er den Zusammenhang der Erkenntnis ›aus einem Prinzip‹ deutet und sagt: »Diese Vernunfteinheit setzt jederzeit eine Idee voraus, nämlich die von der Form eines Ganzen der Erkenntnis, welches vor der bestimmten Erkenntnis der Theile vorhergeht und die Bedingungen enthält, jedem Theile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen.« (AA III, 428) Unter dieser Prämisse ist das Aggregat in Kants Augen nicht zufällig, sondern ein systematisch geordnetes logisches Kontinuum. Allerdings ist dieses Kontinuum nur gedacht, nur eine »projectierte Einheit« (AA III, 429), ein System auf hypothetischer Basis. Die systematische Lücke zwischen dem analytisch regressiven Aufbau des Systems und seiner projektierten Vollkommenheit und Vollständigkeit kann nur hypothetisch geschlossen werden. Solange diese Voraussetzung gilt, wirkt sich die »unentbehrlich notwendige« (AA III, 428), aber eben auch »betrügerische« Illusion (ebda.) der Vernunft für das System nicht zerstörerisch aus. Die hypothetische Überbrückung der systematischen Lücke im Systemaufbau drückt Kant in der ebenfalls hypothetischen Deduktion der Ideen aus: »Wenn man zeigen kann, daß, obgleich die dreierlei tranzendentalen Ideen (psychologische, kosmologische und theologische) direct auf keinen ihnen correspondierenden Gegenstand und dessen Bestimmung bezogen werden, dennoch alle Regeln des empirischen Gebrauchs der Vernunft unter Voraussetzung eines solchen Gegenstandes in der Idee auf systematische Einheit führen und die Erfahrungserkenntnis jederzeit erweitern, niemals derselben aber zuwider sein können: so ist es eine nothwendige Maxime der Vernunft, nach dergleichen Ideen zu verfahren.« (AA III, 443) Worum geht es Kant hier? Offenbar nicht um die Notwendigkeit des Gebrauchs der Ideen. Denn für einen ›nothwendigen‹ Gebrauch der Ideen kann dieser Beweis selbst dann nicht gelten, wenn seine beiden Prämissen anerkannt werden. Die erste Prämisse besteht darin, daß die drei Ideen keine objektiven Gegenstände haben und entsprechend auch keine Ansprüche erheben, die objektive Konsequenzen hätten; sie verändern die empirische Welt nicht. Die zweite Prämisse scheint der ersten zu widersprechen, weil sie den Ideen die empirisch relevante Funktion zuschreibt, die Erfahrungserkenntnis zu erweitern. Allerdings soll damit keine inhaltliche Modifikation, sondern allein die Integration der empirischen Erkenntnis in ein System verbunden sein. Kant unterstellt, daß

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diese Integration inhaltlich neutral ist und deswegen nicht im Widerspruch mit dem Kategoriensystem des Verstandes steht. Fassen wir diese beiden Prämissen zusammen: 1) Die drei Ideen haben keine Objekte und erheben keine objektiven Ansprüche. 2) Sie erweitern die Erfahrungserkenntnis inhaltsneutral zu einem System. Kant könnte daraus folgern: 3) Die Ideen stehen nicht im Widerspruch zur Verstandeserkenntnis. Ihr Gebrauch ist daher erlaubt. Statt dessen folgert er: Wenn die Ideen in keinem Widerspruch zu den objektiven Erfahrungsbedingungen stehen, ist es »eine nothwendige Maxime der Vernunft, nach dergleichen Ideen zu verfahren« (ebda.). Es geht ihm also nicht bloß um die Möglichkeit oder Erlaubnis des Gebrauchs der Ideen, die aus den obigen Prämissen folgen. Es geht ihm um etwas anderes, nämlich um die Notwendigkeit der Vernunftmaxime, mit den Ideen dem »Interesse der Vernunft« (AA III, 440) zu dienen. Und dieses Interesse besteht darin, Einheit und Vollkommenheit der Erkenntnis herzustellen. Das Interesse der Maximen der Vernunft entspricht dem oben erwähnten Prinzip, der Erkenntnis die Form eines systematischen Ganzen zu geben. Dieses Prinzip und das entsprechende Interesse der Maximen der Vernunft sollen als unausweichlich anerkannt werden. Über diesen Appell geht Kants Argumentation für ein geschlossenes System der Vernunft nicht hinaus. Das System bleibt – wie er selbst sagt – »projectiert« (AA III, 429).

5. Holismus oder Fundamentalismus11 Die eben diskutierten Schwierigkeiten mit der Geschlossenheit des Systems der Vernunft gehen nicht nur auf die Frage des logischen Kontinuums zwischen Verstand und Vernunft zurück. Sie hängen auch mit dem zweideutigen theoretischen Status des Systems der Vernunftschlüsse zusammen. Zweideutig ist dieses System, weil nicht klar ist, ob es fundamentalistisch oder holistisch ist. Probleme ergeben sich daraus, daß beide Varianten vertreten sind. Erkennbar wird dies an den drei unterschiedlichen Reihen von Vernunftschlüssen. Allen Schlüssen liegt das Prinzip 11

Diesen Begriff verwende ich analog zu seiner empiristischen, erkenntnistheoretischen Verwendung.

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zugrunde, daß mit dem Bedingten »auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen« gegeben ist (AA III, 243). Kant sagt ausdrücklich, daß die Reihe insgesamt »unbedingt« sei (ebda.). Dieser Begriff des Unbedingten ist holistisch, weil das Ganze der Reihe, also das ganze Aggregat der Bedingungen unbedingt ist, und nicht nur die erste Bedingung. Dieser holistische Charakter des Unbedingten läßt sich am Gebrauch aller drei Schlußtypen, vor allem aber an den disjunktiven Schlüssen erkennen. Die disjunktiven Schlüsse sollen zum einen nicht nur regressiv in Reihen verwendet werden, deren Vollständigkeit und Geschlossenheit als wahr angenommen wird. Jeder einzelne Schluß ist zum andern nur sinnvoll im Kontext des systematischen Ganzen. Diese beiden Merkmale disjunktiver Schlüsse kennzeichnen das Unbedingte, das ihnen korrespondiert, als holistisches Ganzes. Auch die beiden anderen Schlußtypen lassen sich holistisch verstehen, und zwar genau dann, wenn die Schluß-Ketten, die mit ihnen erzeugt werden können, jeweils in ihrer Gesamtheit als Unbedingtes gelten. Anders verhält es sich, wenn lediglich die ersten und allgemeinsten Glieder der kategorischen und hypothetischen Schlüsse als unbedingte Bedingungen betrachtet werden. Das Unbedingte als erste und höchste Bedingung, von der alle anderen abhängen, ist ein fundamentalistisches Unbedingtes. Die Schlüsse enden aus dieser Perspektive bei einem Allgemeinsten, bei einer höchsten Bedingung, die als erste gleichzeitig auch der Ursprung der Geltung aller folgenden Bedingungen in der Reihe ist. Fundamentalistisch ist dieses Unbedingte, weil die Bedeutung der ersten oder höchsten Bedingung nicht von der Menge des Bedingten, also nicht von der Geschlossenheit der Reihe aller folgenden Bedingungen abhängt. Progressiv oder abwärts ist die Reihe des Bedingten notgedrungen bis zum Ende der Zeiten unabgeschlossen. Der doppelte, holistische und fundamentalistische Status des Unbedingten zeigt sich auch an den Ideen, die den Schlußtypen korrespondieren. Das ›Ich denke‹ hat als erster Grund des Bewußtseins einen ebenso fundamentalistischen Charakter wie Gott als Wesen aller Wesen. Dagegen hat die Welt einen eindeutig holistischen Charakter. An der Idee Gottes zeigt sich die Zweideutigkeit des theoretischen Status des Unbedingten am deutlichsten. Einerseits steht diese Idee im holistischen Sinn für die Einheit alles Denkbaren, andererseits ist sie analog zum Subjekt der höchste Einheitspunkt des Systems und im fundamentalen Sinn Bedingung alles Bedingten. Dieser fundamentalistische Charakter der Idee Gottes paßt nicht zum disjunktiven Schlußtyp, weil dieser Schlußtyp nur ein logisch geordnetes Aggregat, aber keine teleologische Ordnung der

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Bedingungen kennt. Es wäre im Hinblick auf den Charakter des disjunktiven Vernunftschlusses konsequenter, das Aggregat alles Denkbaren nicht in Analogie zu einem Wesen, das alles Denkbare teleologisch ordnet, sondern holistisch zu verstehen. Auf diese Weise wäre inhaltlich nichts verloren, was zum Vernunftsystem gehört. Es wären aber auch die teleologischen Mißverständnisse vermeidbar, die die transzendentale Theologie mit sich bringt. Ähnliches trifft für das ›Ich denke‹ zu. Kant zeigt, daß die erste Bedingung des Bewußtseins keine Substanz ist. Er legt damit eine holistische Auffassung des Bewußtseins nahe, ohne sie aber wirklich zu entwickeln. Ein Grund für die Unklarheit, ob das Unbedingte einen holistischen oder fundamentalistischen Charakter hat, geht auf die Unklarheit dessen zurück, was »regulativ« in der Dialektik bedeutet. Wenn es die Vernunft tatsächlich nicht mit Objekten und dann auch nicht mit kausalen Strukturen zu tun hat, ist die regulative Einheit des Systems eine Einheit von Begriffen (AA III, 428) und als solche holistisch.12 Es kann auch nicht anders sein, wenn die Vernunft als Vermögen, das »Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten« (AA III, 429), verstanden wird. Denn das Allgemeine – sei es gewiß oder nur hypothetisch – kann keine Ursache für ein Besonderes sein. Wenn die Vernunft aber ein »nach nothwendigen Gesetzen zusammenhängendes System« (AA III, 428) entwerfen soll, dessen Evidenz13 »die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse« (AA III, 429) ist, kann ihr Gebrauch nicht regulativ im holistischen Sinn sein. Denn dann geht es um die Einheit der natürlichen Kräfte und Prozesse. Diese Kräfte und Prozesse können ihre teleologische Richtung und ihre generative Kraft nicht aus sich selbst haben. Deswegen kann der Richtungsgeber nur im fundamentalistischen Sinn als Unbedingtes angenommen werden. Dann bedeutet ›regulativ‹ aber soviel wie ›quasi-konstitutiv‹, und dafür sprechen die vielen ›als-obs‹ im Kapitel über die »Endabsicht der natürlichen Dialektik« (AA III, 442 ff.). Die holistisch-fundamentalistische Zweideutigkeit des Systems kann sicher nicht zugunsten einer rein holistischen Anlage korrigiert werden, ohne den Vernunftbegriff grundlegend zu verändern. Ein holistisches System benötigt keine Vernunft, die ihrer Natur nach von einem Bedürfnis nach teleologisch organisierter Einheit geleitet und von Illusionen be12

Eine solche Einheit von Begriffen kann nur als semantisches Ganzes und damit holistisch verstanden werden. 13 Kant spricht nicht von Evidenz, sondern vom »Probirstein der Wahrheit der Regeln« (AA III, 429).

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droht ist. Eine Korrektur des theoretischen Status des Systems zugunsten des Holismus hat Konsequenzen, die in unserem Jahrhundert durch Quine und Davidson realisiert wurden. Der Systemgedanke ist in dieser Entwicklung allerdings abhanden gekommen und mit ihm der Vernunftbegriff Kants. Die einzigen holistischen Systeme unseres Jahrhunderts, die wesentliche Impulse von Kant erkennen lassen, sind Wittgensteins Logisch-philosophische Abhandlung und Carnaps Logischer Aufbau. Aber das ist ein anderes Thema.

Volker Gerhardt Selbstüberschreitung und Selbstdisziplin. Zur Aktualität des Systembegriffs nach Kant 1. Schwierigkeiten mit dem System Systematisches Philosophieren steht heute nicht hoch im Kurs. Was damit über den Zustand der Gegenwartsphilosophie gesagt ist, braucht man niemandem zu erklären, wenn er nur weiß, daß die Philosophie aus dem Impuls zu systematischem Wissen lebt. Ihr Alltagsgeschäft, das in der Aufmerksamkeit gegenüber dem Leben, in der Prüfung vorliegender Theorien und Argumente sowie in der historischen Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte besteht, wird von der Erwartung getragen, daß in allem Scharfsinn gegenüber einzelnen Fragen immer auch der Horizont des Ganzen begriffliche Beachtung findet. Auf dieses Ganze, ob man es nun ›Sein‹ oder ›Wirklichkeit‹, ›Welt‹, ›Macht‹ oder ›Chaos‹ nennt, läßt sich aber begrifflich nur zugehen, wenn man darauf eingestellt ist, die Vielfalt, die es allemal enthält, systematisch zu ordnen. Selbst eine Philosophie, die sich ganz auf den Weg zur Weisheit konzentrieren wollte, könnte vom Anspruch eines systematisch ausgreifenden Wissens nicht absehen. Doch wie man weiß, hat sich die universitäre Betriebsamkeit der Philosophie von diesem Ursprungsmotiv des Denkens weit entfernt. Zwar ist es bei den großen Denkern der Moderne unverändert wirksam. Man ist heute aber durch die explosionsartige Vermehrung des Wissens derart eingeschüchtert, daß man Systeme oder auch nur Synthesen für unmöglich hält. Das ist eine legitime Position, solange sie sich nicht durch den Zusatz rechtfertigt, früher sei das alles noch ganz anders gewesen: Bis ins 17., 18., ja bis ins 19. Jahrhundert hinein habe man noch systematisch philosophieren können; die Menge des Wissens sei damals noch überschaubar gewesen. In unserem Jahrhundert dagegen sei die Erkenntnis in eine Vielzahl von Disziplinen zerfallen. Da könne es keine Universalgelehrten mehr geben1 und also auch keine einheitsstiftende Theoriebildung.

1

Üblicherweise wird auf Leibniz als den letzten »Universalgelehrten« verwiesen; neuerdings wird aber auch Ernst Cassirer als der »letzte universal Gebildete« genannt

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Wer so argumentiert, weiß offenbar nicht, daß bislang mit der Menge des Wissens immer auch die Kapazitäten für den Umgang damit gewachsen sind. Auf das vermehrte Wissen hat man heute einen ungleich besseren Zugriff; seine Verfügbarkeit muß älteren Generationen geradezu phantastisch erscheinen. Außerdem sollte man sich hüten, vorausliegende Epochen zu verharmlosen, so als sei bis in unser Jahrhundert hinein alles noch leicht und übersichtlich gewesen. Mit dem Unrecht, das man den Alten auf diese Weise antut (denn sie hatten es mindestens genauso schwer wie wir), verstellt man sich selbst die Lösung der heute anstehenden Fragen. Der Gegenwart ist allemal besser gedient, wenn man sie im Kontinuum mit ihrer Vorgeschichte beläßt. Nachteile hat das nur für die Voreiligen, für die selbsternannten Revolutionäre, Avantgardisten und Paradigmenwechsler, die einen turning point nach dem anderen herbeireden. Der Philosophie aber kann es nur günstig sein, wenn sie ihrem ursprünglichen Impuls nach Einheit und Ordnung des menschlichen Wissens verbunden bleibt. Also tut sie gut daran, ihrem systematischen Anspruch zu folgen, ohne den sie nicht bliebe, was sie ist. Das systematische Denken aber sucht nach einem – möglichst kohärenten – Zusammenhang. Und es liegt in der Natur des Denkens, dabei so weit wie irgend möglich zu gehen. 2. System als Ordnung, die wir brauchen Im Lamento über die explosionsartige Vermehrung des Wissen, die heute angeblich keine systematischen Synthesen mehr zulasse, hat man offenbar übersehen, daß in der Moderne ein neuer Zugang zum System eröffnet worden ist, der den Schluß von der Menge des Wissens auf die Schwierigkeiten des systematischen Umgangs damit von vornherein als ahnungslos qualifiziert. Diesen neuen Zugang verdanken wir Kant. Und man hätte sich an seine innovative Leistung auch außerhalb der Philosophie erinnern können, weil er es ist, der die Rede vom System erst populär gemacht hat. Um deutlich zu machen, worin das Neue von Kants systematischem Zugang liegt, bediene ich mich einer idealtypischen Simplifikation: Das, was schon in der Stoa systema genannt wurde, galt der Bezeichnung des objektiv-realen Ordnungsbestands der Welt. Die systasis meint primär die (Jürgen Habermas, Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, Frankfurt a. M. 1997, S. 12). Die Urteile stehen also alles andere als fest.

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Einrichtung, Beschaffenheit oder den Zustand von etwas, das sich vor den Augen des Betrachters befindet. Erst in zweiter Linie ist damit auch die Vorstellung gemeint, die man sich von etwas macht. In dieser Verwendung kann systasis dann auch die Empfehlung bedeuten, nach der man sich bei der Durchführung oder Schilderung eines Vorhabens richtet. Seit den Anfängen des Philosophierens ist systematisches Denken, auch wenn es, wie gesagt, diesen Titel erst spät erhält, an der systasis der Dinge orientiert. Systema meint die gesetzliche Verfassung der Welt; es ist ein terminus technicus für die alles umfassende, alles erfüllende, alles durchwirkende Ordnung der Natur, also des kosmos in seiner schön und gut geratenen Herrschaft in allem und über alles. Ihn gilt es in eben dieser Ordnung zu erfassen, wenn systematisch philosophiert werden soll. Wo dies – mit der in der Philosophie erreichbaren Überzeugungskraft – gelingt, ist das System die nach Möglichkeit rein begriffliche Darstellung dieses objektiven Zusammenhangs der nach Art eines Gegenstands vorgestellten Welt. Man braucht nun nicht viel Phantasie, um sich anschaulich zu machen, welche Konsequenzen es für die objektiv darstellende Funktion des Systems haben muß, wenn sich die Welt vor den Augen des wissenschaftlichen Betrachters von einem kosmos in ein chaos verwandelt, wenn also die Masse des Wissens unübersehbar wird und sich die Welt nicht nur an ihren äußeren zeitlichen und räumlichen Grenzen, sondern gerade auch in ihren inneren Wirkungsimpulsen in ein scheinbar regelloses Fließen und Springen auflöst. Dann scheint es evident zu sein, daß sich eine so aus den Fugen des Wissens geratene Welt nicht mehr systematisch beschreiben läßt. Ich betone noch einmal, daß diese historische Skizze des Systemgedankens eine philosophiegeschichtliche Vereinfachung darstellt. Von ihr müßten wir bereits Platon ausnehmen, der, wann immer er über den kosmologischen Zusammenhang der sichtbaren Dinge spricht, die innere Dynamik von Welterzeugung und Weltbeschreibung kenntlich macht und über eine illusionslose Einsicht in die chaotische Mannigfaltigkeit des Werdens aller Dinge verfügt.2 Platon ließe sich auch nicht auf die epistemologische Trennung von gegenständlicher Welt und begrifflicher Darstellung bringen. Doch da die meisten ›Fußnoten zu Platon‹, insbesondere dort, wo sie unter dem Titel des ›Platonismus‹ firmieren, falsch sind, darf man hier ausnahmsweise einmal vom Begründer des systematischen Denkens absehen und be2

Platon, Theaitetos, 152d–157d.

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haupten, daß über Jahrtausende hinweg in der Korrespondenz von geordneter Welt und ihrer systematischen Darstellung gedacht worden ist – insbesondere in den großen theorationalistischen Systemen des 17. und 18. Jahrhunderts. Und ihnen gegenüber vollzieht Kant seine radikale Wende.3 Kant selbst hat sich nicht gescheut, die idealtypische Kontrastierung schon in den Vorreden zur Kritik der reinen Vernunft in eindringlicher Rhetorik vor Augen zu führen. Das hat manchen so beeindruckt, daß er in der Formel von der ›kopernikanischen Wende‹ eine »absolute Metapher« zu entdecken glaubte.4 Unter Kant-Kennern können wir das auf sich beruhen lassen.5 Erst recht, wenn die Systemfrage interessiert. Dann empfiehlt es sich, direkt in jenen Abschnitt zu springen, in dem Kant nicht nur verheißungsvolle Ankündigungen macht, sondern sich sachlich auf die Frage nach Zusammenhang und Einheit unseres Wissens bezieht. Das geschieht erstmals eher beiläufig in einem Anhang, ist aber, wenn ich das so sagen darf, von größtem systematischen Gewicht. Dieser Anhang zur transzendentalen Dialektik folgt unmittelbar auf Kants kritische Abrechnung mit »aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft« (B 659 ff.). Mit Blick auf den äußersten Ordnungsgaranten eines objektiven Weltzusammenhangs wird noch einmal festgestellt, was zuvor bereits für die rationale Psychologie und die Kosmologie demonstriert wurde: »Es ist aber gänzlich unmöglich, aus einem Begriffe von selbst hinaus zu gehen, ohne daß man der empirischen Verknüpfung folgt [...]« (B 667). Die Erfahrung läßt sich nicht »durch die Macht bloßer Ideen [...] überfliegen« (B 666); also bleiben wir in unserer sachhaltigen Erkenntnis an die Verstandesbegriffe gebunden, die selbst aber nur Bedeutung haben, wenn sie auf unsere sinnliche Wahrnehmung bezogen bleiben. Folglich kann es noch nicht einmal einen adäquaten Begriff eines Gottes geben; denn ein Gott müßte als vollkommen unabhängig von uns 3

Kant ist somit zwar ein Anti-Platoniker, aber er steht damit nur gegen das, was durchschnittlich als Platonismus gelehrt wird, nicht gegen das, was man aus Platons Texten kennen kann. 4 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 6 (1960), S. 9. – Der literarische Reiz des Begriffs der ›absoluten Metapher‹ liegt natürlich darin, daß er eine contradictio in adiecto enthält. Denn die Metapher ist durch und durch Relation. Es gibt – auch in ihr – nichts Absolutes. Deshalb versagt sie definitiv bei der Darstellung eben des Absoluten. 5 Ich erinnere hier nur an Blumenbergs eigenen Abbruch seiner Kant-Interpretation. Nach seiner Kritik an der handlungstheoretischen Deutung der theoretischen Leistungen des Verstandes bricht er die Überlegungen, die seine Skizze theoriefähig machen könnten, einfach ab (Hans Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Metapher, Frankfurt a. M. 1979, S. 77–93).

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gedacht werden: Doch schon diesen Begriff eines von uns vollkommen unabhängigen Wesens können wir nicht denken, weil wir immer unsere Vorstellung einmischen; die Verbindung zu uns selber bleibt. Was immer wir über einen Gott aussagen, ist »aus der Natur (unserer Seele) entlehnt« (B 659). Dies ist, wie gesagt, der äußerste und systematisch endgültige Punkt, an dem die letzte vielleicht noch verbliebene Erwartung auf die Erkenntnis eines objektiven Weltsystems zusammenbricht. Nachdem sich kein widerspruchsfreier und somit allgemein verbindlicher Zugang zur Totalität der Natur gefunden hat; nachdem auch bewiesen worden ist, daß die Natur unserer Seele nicht die Rationalität enthält, von der aus sich auf ein vernünftiges Ganzes schließen ließe, ist nun auch die letzte philosophische Hoffnung auf einen sich dem Wissen verläßlich erschließenden Weltgrund destruiert. Also kann es nicht länger die gegebene Ordnung des Daseins sein, die den systematischen Zusammenhang des Ganzen lediglich zu einer Frage der adäquaten Darstellung macht. Am Ende der transzendentalen Dialektik also muß es so aussehen, als habe die Philosophie ein für alle Mal auf jeden systematischen Anspruch zu verzichten. Denn es gibt da weder in uns selbst noch innerhalb der Welt – noch außerhalb derselben – irgendetwas, das sich uns nach Art einer systasis zur bloßen begrifflichen Darstellung anböte. Wir brauchen uns also gar nicht erst auf die explosionsartige Vermehrung des Wissens zu berufen, um die Unmöglichkeit einer systematischen Wiedergabe der Welt zu konstatieren. Die Paralogismen der Vernunft, ihre Antinomien und das Scheitern aller rationalen Theologie nehmen die Kapitulation der Philosophie vor der Unübersichtlichkeit der Welt durch bloße Vernunftkritik vorweg. Davon geht der Anhang zur transzendentalen Dialektik mit dem harmlosen Titel Vom regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft wie von einem gesicherten Ergebnis aus: Ein System der Philosophie, das nur das klar und distinkt erkannte System der Welt zur Darstellung brächte, kann es nicht geben. Aber was bleibt dann noch übrig? Nun, eben ein System, das sich die Vernunft aus ihrem eigenen »Interesse« (B 676) schafft: Das »Systematische der Erkenntnis« ist, mit Kants Worten, »dasjenige, was Vernunft ganz eigentümlich« über unsere Verstandeserkenntnisse »verfügt und zu Stande zu bringen sucht« (B 673). Es ist die »Form eines Ganzen«, das mit dem von der Vernunft aufgegebenen »Zweck« »kongruiert« (B 860). Dieser »Zweck«, in welchem das »Weltganze« zur »systematischen Einheit« findet, ist selbst eine »bloße Idee«; folglich ist die zur Aufgabe gemachte Natur- oder Welteinheit »lediglich nur projektierte

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Einheit, die man an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muß« (B 675).

3. Das System befriedigt ein Bedürfnis Mit Blick auf den heute üblichen (und ja schon von Goya kritisierten Sprachgebrauch)6 kann man nur von Glück sprechen, daß Kant nicht das ›Projekt‹ der systematischen Einheit apostrophiert. Aber seine Sprache ist aktivistisch genug, wenn er die »lediglich nur projektierte Einheit« gleichsam als Mittel versteht, das nur »dazu dient, zu dem mannigfaltigen und besonderen Verstandesgebrauche ein Principium zu finden und diesen dadurch auch über die Fälle, die nicht gegeben sind, zu leiten und zusammenhängend zu machen« (B 675; Hvh. v. mir). Das System ›dient‹ also ausdrücklich einem Zweck; und der liegt allein im ›richtigen Gebrauch‹ der einzelnen Erkenntnisse zu den Zwecken des Menschen, die selbst wieder nur durch Vernunft bestimmt werden können. Der Garant für die Einheit liegt also nicht in der ›gegebenen‹ Einheit der Welt, denn da gibt es nichts, was als Einheit zu erkennen wäre. Die empirische Mannigfaltigkeit der Welt, die exponential anwachsende Menge wissenschaftlicher Daten, kann also a priori keinen Einwand gegen das System erbringen. Wenn es überhaupt ein Kriterium für die systematische Einheit gibt, dann liegt dies in der Widerspruchsfreiheit der Vernunftbegriffe sowie in ihrer logischen und sachlichen Übereinstimmung mit den empirischen Verstandeserkenntnissen (B 675). Doch die logischen Funktionen können nicht als exempla oder Beweisstücke der Einheit gelten. Denn Widerspruchsfreiheit kann zwar die Vereinbarkeit von Aussagen garantieren (und insofern einen ›Probierstein‹ der Einheit abgeben), aber sie kann nicht den Abschluß eines Erkenntniszusammenhangs zu einem Ganzen gewährleisten. Dazu bedarf es eines Zwecks. Der aber stammt allein aus der Vernunft. Vernunft, wenn wir denn überhaupt von ihr wissen, kann nur unsere eigene – und somit keine andere als die menschliche – Vernunft sein. Das System wird somit nur durch den Menschen an die Welt herangetragen. Es ist also nichts in der wie auch immer gegebenen Welt, was ihre Systemeinheit sachlich begründen könnte; die systematische Einheit stammt 6

Wilhelm Hennis, Die Vernunft Goyas und das Projekt der Moderne, in: Wilhelm Hennis, Politikwissenschaft und politisches Denken. Politikwissenschaftliche Abhandlungen, Band 2, Tübingen 2000, 350–373.

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allein aus einem Interesse der Vernunft. Und soweit die Einheit zustande kommt, ist sie ausschließlich eine Leistung der Vernunft, die es sich zutraut, dem empirisch arbeitenden Verstand eine »zweckmäßige Anstellung zum Gegenstande« zu geben (B 672). Das versucht sie, indem sie ihm »eine gewisse kollektive Einheit zum Ziele« setzt (B 672). Das Selbstvertrauen der Vernunft, aus eigenem Anspruch und gänzlich mit eigenen Mitteln eben die Zwecke zu erreichen, die sie sich selber setzt, könnte größer nicht sein. Und das Verwegene und Vermessene in diesem Vorhaben wird kaum dadurch gemindert, daß hier nur ein ›regulativer‹ Gebrauch der Ideen in Anschlag gebracht werden soll. Denn diese Rede sagt lediglich, daß die Vernunft sich die in systematischer Einheit gedachte Welt nicht auch selber macht. Wohl aber schafft sie die Einheit, die es uns allererst erlaubt, die Welt als Welt zu denken. Man kann es gar nicht anders denn als eine Ungeheuerlichkeit bezeichnen, wenn die Einheit der Welt auf nichts anderes als auf das Bedürfnis des Menschen zurückgeführt wird. Ein solches Bedürfnis kann selbst wieder nur durch etwas befriedigt werden, was mit den eigenen Anstrengungen des Menschen kongruiert. Die müssen auf einen Zweck bezogen werden, in dem das Bedürfnis seinen Ausdruck findet. Also bewegt sich die Einheit der Welt ganz und gar in einem Funktionskreis des Menschen, der darin niemals bloß vernünftig, sondern immer auch naturbelassen ist. Denn ein Bedürfnis mag noch so sehr durch geschichtliche Entwicklungen modelliert und durch persönliche Erfahrung modifiziert sein: Schon als Bedürfnis ist es eine Äußerung der Natur. Und es ist selbst nichts als Natur – insofern es befriedigt werden muß.

4. Das System als Ausdruck humaner Selbstbeschränkung Die Natur, die sich in Bedürfnissen äußert, die mit der Vernunft in Verbindung stehen, ist die des Menschen. Auch die Zwecke, die sich die Vernunft erschließt, können als sinnvoll nur begriffen werden, wenn es die möglichen Zwecke von Menschen sind. Doch das bedarf keiner näheren Erläuterung. Denn daß hinter allen Motiven, Instrumenten und finalen Absichten der Vernunft immer nur der Mensch wirksam ist, das kann mit Blick auf Kants Vernunftkritik schlechterdings nicht bestritten werden.7 Schon aus Gründen des gesicherten Zugangs zur Vernunftkritik kann 7

Vgl. Volker Gerhardt, Die kopernikanische Wende, in: Kant-Studien 78 (1987), S. 133–152; ders., Immanuel Kant. Der Mensch und die Philosophie, Stuttgart 2001.

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von gar keiner anderen Vernunft die Rede sein als der, die wir nur dadurch kennen, daß wir sie gebrauchen. Daß damit keine empirische Einschränkung auf ein nur in diesem raum-zeitlichen Gebrauch funktional hervortretendes Organ des Naturwesens Mensch vorliegt, gehört zu den eigentümlichen Leistungen der Vernunft, ändert aber nichts daran, daß wir sie nur als unsere Vernunft kennen, die in ihrem endlichen Gebrauch bereits aus sich selbst heraus auf einen ihr immanenten zwecksetzenden Willen angewiesen ist. Das ist ein weites und von der Forschung viel zu zögerlich betretenes Feld, auf das hier nur ganz allgemein verwiesen werden kann.8 Um nicht als anthropologischer Empirist zu gelten, möchte ich in diesem Zusammenhang lediglich anfügen, daß die eigentümliche Leistung der Vernunft (neben vielem anderen) auch darin besteht, das Empirische zu relativieren und selbst als etwas Bedingtes zu qualifizieren. Überdies ist die Vernunft das einzige Medium, in dem sich einander fremde Wesen – ohne Aufhebung ihrer Differenz – völlig einig sein können. Wir haben uns längst an den ungeheuer weitreichenden Anspruch gewöhnt, der mit der von Kant inaugurierten systematischen Erwartung der Vernunft verbunden ist. Das ist uns und unseren Lehrern leicht gefallen, weil die Vernunftkritik uns gute Argumente gibt, in dieser vermeintlichen Vermessenheit tatsächlich nur einen Ausdruck der Bescheidenheit des Menschen zu erkennen. Denn maßlos und die menschlichen Kräfte definitiv übersteigend war es, die systematische Erschließung der Natur als ganzer als eine umfänglichere Art der Gegenstandserkenntnis auszugeben. Die Hybris liegt nicht bei Kant, sondern bei seinen Vorgängern. So jedenfalls ist der Eindruck nach der erfolgten Selbstkritik der Vernunft: Die Maßlosigkeit ist das Vergehen des traditionellen Denkens. Es nimmt seinen Anfang bei der vorphilosophischen Überzeugung, die Welt tatsächlich so erkennen zu können, wie auch ein Gott sie betrachten müßte. Das ist die natürliche Sicht der Dinge, aber nicht der Welt. Sobald die philosophische Erkenntnis auf die Welt als ganze ausgreift und sie dabei so vorstellt, als sei sie auch nur ein ins Unermeßliche gerechneter Gegenstand, wird sie nicht nur der Welt nicht gerecht, sondern überschreitet, nach Kant, ihre Kompetenz. Deshalb sei es unerläßlich, die ›Grenzen der menschlichen Vernunft‹ zu bestimmen, damit der Mensch sich endlich auch epistemisch mit dem zu begnügen lernt, was in seiner Macht steht. Er hat zu realisieren, daß seine intellektuellen Kräfte an die 8

Vgl. Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 311 ff.

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Gegenwart sinnlicher Leistungen gebundenen bleiben. Letztlich heißt dies, daß sich der Geist nicht vom Leib ablösen läßt.9 Was immer die Vernunft denkt, hat sie auf ihren eigenen menschlichen Standpunkt zu beziehen. Eben diese Bindung der Weltperspektive an die humane Ausgangsposition kommt im Systembegriff Kants zum Ausdruck. So weit das Denken in Systemen auch ausgreifen mag: Es führt das wie immer auch Gedachte in den natürlich-geschichtlichen Zusammenhang des menschlichen Lebens zurück. Also ist auch die Rückbindung der systematischen Einheitsleistung allein an das Vermögen der menschlichen Vernunft alles andere als eine Verwegenheit: Es ist vielmehr ein Akt der Selbstbeschränkung der menschlichen Kräfte. Und eben dies bringt Kant sowohl im Anhang zur transzendentalen Dialektik wie auch in dem die ganze Elementarlehre beschließenden Abschnitt Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft gebührend zum Ausdruck. Kant will den »Mißbrauch« der spekulativen Vernunft überwinden und stellt alle systematische Welterkenntnis unter den einschränkenden Vorbehalt des »als ob« (B 699); die Idee der menschlichen Vernunft gebe lediglich ein »Schema«, nach dem sie im Umgang mit den Verstandeserkenntnissen verfahren könne; sie spricht nicht von »objektiver Gültigkeit« ihrer Einsichten, sondern es ist vorsichtig nur von der »Idee von Etwas« die Rede, das lediglich »nach der Analogie einer wirklichen Substanz« gedacht werde (B 703); überhaupt werde die Einheit der Natur nur »nach der Analogie der Realitäten in der Welt« gedacht (B 706), ja, die »systematische Einheit« diene uns bloß »zur Richtschnur des empirischen Gebrauchs der Vernunft«, ohne irgendetwas über den möglichen »Grund dieser Einheit« oder gar die »innere Eigenschaft« der Welt aussagen zu wollen (B 703). Alles steht somit unter dem Vorbehalt, wie »wir« die Welt denken (B 725), es bezieht sich lediglich auf den »Weltgebrauch unserer Vernunft« (B 726), ist ganz allein auf die »Gesetzgebung unserer Vernunft« (B 728) eingeschränkt und wird letztlich auch deshalb so ausführlich vorgeführt, um »im Archiv der menschlichen Vernunft« (B 731) für die ausführliche Dokumentation der Selbstkritik der menschlichen Vernunft zu sorgen. Und bei alledem ist Kant bewußt, daß es gerade in den regulativen Lei9

Das ist eine Einsicht, die in dieser Schärfe erst der späte Kant im Opus postumum formuliert. Sie ist aber in der für die Erfahrung notwendigen Beziehung zwischen Anschauung und Begriff – also in der Basiseinsicht der Kritik der reinen Vernunft – angelegt.

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stungen der Vernunft unmöglich ist, den »subtileren Anthropomorphismen« unserer Vorstellung vom Ganzen und seiner Einheit auszuweichen (B 728).10 5. Die Zweckmäßigkeit systematischen Denkens Mit alledem kehrt sich die heute übliche Diagnose um: Nach Kant kann man eben nicht sagen, daß heute immer schwieriger werde, was früher angeblich viel leichter war: nämlich systematisch zu denken. Nach den Voraussetzungen der Vernunftkritik ist im Gegenteil erst heute möglich, was früher auf gänzlich unangemessenen Voraussetzungen beruhte: nämlich systematisch zu denken. Solange man glaubte, die Welt nach Art eines Gegenstandes fassen zu können, mußte jedes System ins Leere greifen, weil es eine metaphysische Objektivität unterstellte, die der systembildenden Vernunft nicht zugänglich ist. Erst wenn dies eingesehen ist, kann das System seine unerläßliche Leistung erbringen, die sich immer erst im Umgang mit dem Wissen und in seinem Gebrauch im Interesse des Menschen erweisen kann. Aber eben damit stellt sich ein Unbehagen ein: Denn ganz gleich, ob die systematischen Aussagen über das Ganze der Natur unter den Vorbehalt des Als-ob gestellt oder ob sie mit der methodologischen Einschränkung eines regulativen Gebrauchs versehen werden; gedacht wird die Natur, deren Ansicht wir vor Augen haben; beschrieben wird die Wirklichkeit, in der wir selber wirksam sind, eine Welt, die längst da war, bevor es überhaupt Menschen gab. Es wird sie wohl noch lange geben, nachdem der Mensch längst aus ihr verschwunden ist. Davon hatte Kant höchst anschauliche Visionen.11 Was aber heißt das für die Transzendentalphilosophie? Gesetzt, es ›gibt‹ die Welt in dem eben skizzierten Sinn: Ist dann der ›transzendentale Idealismus‹ noch zu retten? Machen die Begriffe die Realität, oder werden letztlich nicht doch die Begriffe durch die Realität hervorgebracht? Es ist klar, daß sich diese Fragen nicht im Vorbeigehen beantworten lassen. Und wenn es eine Antwort geben sollte, kann sie nur mittels der Unterscheidung zwischen genetischer und geltungstheoretischer Perspektive gelingen. Alles wird und ist im Kontext einer durchgängigen Wirksamkeit, die der Mensch als ›Wirklichkeit‹ begreift; aber schon dieser Be10

Die an dieser Stelle gegebene Einschränkung auf den spekulativen Gottesbegriff ändert nichts an der Gültigkeit der Einsicht für alle Vernunftideen, denn sie müssen dem Menschen und seinen Kräften entsprechen. 11 Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, AA 1, 327 f.

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griff muß seiner eigenen Aktivität entspringen, wenn er als Begriff – und somit als dasselbe – auch seinesgleichen, d. h. seinen Mitmenschen einleuchten können soll. Daß aber die ursprünglich von jedem einzelnen hervorgebrachten Begriffe mit der Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen, übereinstimmen, kann sich nur zeigen, indem ihr Gebrauch gelingt. Die sich in den eigenen Begriffen vollziehende Verständigung muß möglich sein, und die darauf basierenden Handlungen dürfen nicht in jedem Fall scheitern. Kurz: Der Mensch braucht Erfolg in dem, was er von sich aus tut.12 Kant denkt diese unerläßliche Erfolgsbedingung des Denkens mit, gerade indem er das Denken als ein Handeln beschreibt. Denken ist actio in einem Feld, in welchem sich Wirkungen und Gegenwirkungen entsprechen. Das gilt auch für die Leistungen der Vernunft, die – wie gleich noch erläutert werden wird – den absichtlichen Handlungsvollzügen des seiner selbst bewußten Menschen näher stehen. Da auch die Leistungen der Vernunft aus der kausal nicht auf anderes zurückführbaren Spontaneität des Einzelnen stammen, benötigen auch sie eine Versicherung, die unsere systematischen Entwürfe dem Vorbehalt des bloßen Als-ob entzieht und ihnen eine Verläßlichkeit gibt, die über die natürlich stets geforderte Kongruenz mit den empirischen Erkenntnissen hinausgeht. Auch wenn man eingesteht, daß die verlangte Übereinstimmung mit der Erfahrung nicht eben wenig ist, so bleibt doch gerade der Anspruch auf die zweckmäßige Einheit des Ganzen ungedeckt. Keine wissenschaftliche Naturerkenntnis erlaubt uns, die alle systematische Einheit erst ermöglichenden Zwecke der Vernunft als gesichert anzunehmen. Entsprechendes gilt für die Mittel, durch die wir sie zu realisieren suchen. Hier bleibt der Verdacht einer Anmaßung, die möglicherweise selbst nicht mehr kritisch ausgewiesen ist, so daß zu befürchten steht, die systematische Einheit der Vernunft sei letztlich auf nichts anderes als den Willen gegründet. Für Kant scheint der Zusammenhang zwischen Vernunft, Zweck und Wille so offenkundig zu sein, daß er sich nirgendwo die Mühe macht, ihr in allem erforderliches Zusammenspiel zu erweisen. Selbst dort, wo er beide promiscue gebraucht, wie in den ersten Absätzen der Grundlegung,13 unternimmt er keinen Versuch, den wechselseitigen Übergang vom einen zum anderen zu erläutern. Man braucht jedoch nur zu fragen, wie denn das eine ohne das jeweils andere überhaupt möglich ist, um zu erkennen, 12

John Dewey, Experience and Nature, 2. Ed., New York 1929, S. 121 f. (success); Gerold Prauss, Die Welt und wir, Bd. I/1, Stuttgart 1991, S. 228 ff. 13 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, 393–397.

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daß die Vernunft auf den Willen und der Wille auf die Vernunft angewiesen ist. Ihre jeweilige Verbindung wird über nichts anderes als über den Zweck vermittelt. Und nur, wenn wir den Zusammenhang von Vernunft und Wille unterstellen, können wir uns die Frage beantworten, woraus denn eigentlich die Vernunft ihr Vertrauen schöpft, daß die von ihr gesetzten Zwecke mit der Welt zusammenstimmen, in der wir leben. Da Kant diesen Zusammenhang nicht eigens anspricht, hat es immer wieder den Anschein, als schleiche sich in seinen Vernunftbegriff ein kritisch nicht ausgewiesenes naturhaft-organisches Element mit ein: »Alles«, so heißt es zu Beginn des Anhangs zur transzendentalen Dialektik, »alles, was in der Natur unserer Kräfte gegründet ist, muß zweckmäßig und mit dem richtigen Gebrauche derselben einstimmig sein [...]« (B 670). So sehr die Vernunft der Natur als ihrem Objekt gegenübersteht, so offenkundig ist sie selbst doch naturgemäß verfaßt: Sie hat einen »natürlichen Hang« (B 670), hat natürliche »Absichten« (vgl. B 599), ist auf »zweckmäßige Erzeugungen« aus (B 654), hat sogar die Fähigkeit zur »Selbstgebärung« (und diese gelingt nur, wenn sie durch »Erfahrung geschwängert« ist (B 793)); und sie wird selbst immer wieder ›natürlich‹ genannt. Sie gehört, daran ist nicht zu deuteln, zur Naturanlage des Naturwesens, das wir selber sind. Aber warum sollten wir hier Bedenken haben? Die Skepsis, von der Kant methodisch ausgegangen war, hatte sich noch nicht gegen die Selbsterfahrung unserer Lebendigkeit gerichtet; das ist erst eine späte Erfindung unserer Soziologen, denen ein schrecklicher politischer Mißbrauch vermeintlich biologischer Erkenntnisse zu Hilfe kam. Doch man kann Ressentiments nicht mit Ressentiments aufklären. An der Tatsache, daß wir durch und durch Natur sind und daß sogar Gesellschaft nur die Natur ist, in der sich verselbständigte Naturwesen in größeren kooperativen Einheiten organisieren, ist nicht zu zweifeln. Also haben wir keinen Grund, die Selbstverständlichkeit, mit der Kant die Vernunft als eine ›Naturanlage‹ begreift, zu beargwöhnen. Im Gegenteil: Wir hätten – gerade mit Blick auf eine systematische Selbstaufklärung unseres Daseins – allen Grund, von ihm zu lernen. Dabei will ich offen lassen, ob es dem Autor der Kritik der Urteilskraft gelungen ist, auch die natürlich-organische Verfassung unserer Vernunft kritisch zu hinterfragen. Denn mir ist nicht klar, ob wir die Stimmigkeit im Zusammenspiel unserer Erkenntnisvermögen, auf die sich das von einem ›Lebensgefühl‹ stimulierte ›Erleben‹ der Zweckmäßigkeit gründet (das seinerseits den Begriff der Zweckmäßigkeit trägt), in die distanzierte Betrachtung des Als-ob zurücknehmen können – ganz abgesehen

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davon, daß der Begriff des Zwecks (so raffiniert er auch definiert ist)14 sich nur erläutern läßt, sofern wir uns selbst als praktisch handelnde Wesen, die nicht unter dem Als-ob-Vorbehalt stehen, begreifen. Doch wie dem auch sei: Das Selbstverständnis der Vernunft als einer Naturanlage, die wir selbst immer auch schon praktisch ausfüllen, läßt uns am ehesten verstehen, wie die Vernunft zur Sicherheit ihres auf das Ganze der Welt ausgreifenden Systemanspruchs gelangen kann. Also ist es die Zweckmäßigkeit in der Vernunfttätigkeit selbst, die uns verstehen läßt, warum die Vernunft nicht mit ihren Zwecken allein bleibt und von daher das Vertrauen in einen Zusammenhang haben kann, dem sie – selbst in ihrer »reinen« Tätigkeit – zugehört. In der Tat verfährt die Vernunft – selbst in ihrer »reinen« Tätigkeit – zweckmäßig. Denn was tut sie? Sie »schließt«! Sie ist »das Vermögen zu schließen«, also Schlüsse auszuführen, etwas zum Abschluß zu bringen und somit etwas auf kürzestem Weg zu einem aussagekräftigen und insofern sinnvollen Ende zu führen. Kant macht den Handlungscharakter dieser Tätigkeit der Vernunft immer wieder kenntlich, und ich denke nicht, daß wir die Rede von den Handlungen des Verstandes und der Vernunft lediglich als metaphorisch verstehen dürfen. Natürlich handelt der Verstand nicht wie eine Person. Das ist trivial.15 Der Verstand kann selbst ja nicht das »Subjekt« der Tätigkeit sein, aus der er besteht. Entscheidend für den Begriffsgebrauch ist allein, daß auch die Vollzüge des Denkens nach dem für Kant grundlegenden Modell der Wirksamkeit gedacht werden. Der Grundtypus des Handelns ist actio,16 die stets in einem Feld von actiones – im Gegeneinander von actio und reactio – stattfindet. Das aber heißt, daß Denken eine gerichtete Bewegung ist, die mit Widerständen zu rechnen hat. So ist das Handeln des Verstandes eine gezielte Selbstbewegung eines lebendigen Wesens, das in dieser Aktivität auf etwas aus ist. 14 Kritik der Urteilskraft, § 10, AA 5, S. 220: »so ist Zweck der Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem [...] angesehen wird.« 15 Gleichwohl wird es von den Kritikern der Redeweise von den ›Handlungen‹ des Verstandes (wie z.B. Blumenberg, a.a.O., S. 93) nicht bedacht. 16 Vgl. Volker Gerhardt, Handlung als Verhältnis von Ursache und Wirkung. Zur Entwicklung des Handlungsbegriffs bei Kant, in: Gerold Prauss (Hrsg.), Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt a. M. 1986, S. 98–131. Kants Handlungsverständnis ist nicht, wie mancher heute glaubt, an Intentionalität gebunden. Zwar setzt unser nach dem eigenen Handlungsverständnis gebildeter Handlungsbegriff unsere eigene Absichtlichkeit voraus. Doch in der Anwendung auf physische Sachverhalte wird stets von einigen ursprünglich gegebenen Momenten unseres Selbstbegriffs abstrahiert. Nur so kommt es überhaupt zum Begriff einer objektiven Natur, die Gegenstand einer Naturwissenschaft sein kann.

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Eben dies gilt auch für die Aktivitäten der Vernunft. Ihr muß sogar, im Unterschied zum Verstand, ein Handeln im ursprünglich individuellen Sinn zugestanden werden. Das heißt: Die Vernunft ist wie ein personales Individuum tätig. Ihre bewußte Selbstbewegung vollzieht sich absichtsvoll; sie wird von ›Bedürfnissen‹ getrieben und von ›Interessen‹ geleitet. Sie wird als ›Organ‹ eines Menschen angesehen; sie kommt wie ein Instrument zum Einsatz, das gar nicht unabhängig von Zwecken und Zielen verstanden werden kann. Aber ihre eminente Rolle als leitendes Organ könnte sie nicht spielen, wenn sie nicht zugleich auch als Instanz betrachtet werden könnte. Somit ist sie beides: Instrument und Instanz17 – und sie ist in beiden Funktionen in einen bewußten Handlungskontext einbezogen. Wie anders könnte Kant sonst auf die Idee kommen, das Schließen der Vernunft sogar praktisch als (fettgedruckte) »Entschließung« zu verstehen (B 615)? Zwar wird diese unmittelbar praktische Auslegung sogleich als Kurzschluß verworfen; der Gedanke an die Tat ist natürlich nicht schon die Tat selbst. Doch am Handlungscharakter des Schließens kann gleichwohl kein Zweifel bestehen. Handeln ist ohne Zwecksetzung nicht möglich. Da aber auch keine Zwecksetzung ohne zugrundeliegende Handlung gedacht werden kann, hat die zwecksetzende und in sich zweckmäßige Tätigkeit der Vernunft ein reales praktisches Implikat. So bahnt jeder Vernunftschluß den Weg für einen Willen.

5. Disziplinierte Selbsterweiterung der Vernunft Gesetzt, diese Auslegung trifft zu, dann brauchen wir uns nur noch eine einfache Frage vorzulegen: Wie lange kann man Zwecke setzen, ohne daß ihnen etwas entspricht? Ich gebe zu, daß dies eine ziemlich alltägliche, vielleicht allzu natürliche Frage ist, die deplaziert erscheint, wenn die Tätigkeit der reinen Vernunft verhandelt wird. Aber ist sie nicht trotzdem angemessen? Könnte die reine Vernunft ihre erschließende Arbeit durchhalten, wenn sie in ihren Schlüssen stets erfolglos bliebe und Bestätigung nur im ›Lebensgefühl‹, also bloß im entweder kontemplativen oder stimulierenden Genuß der inneren Stimmigkeit ihrer Schlüsse fände? So gestellt, beantwortet sich die Frage von selbst: Auch und gerade die Vernunft braucht den Erfolg. Und den hat sie, sofern sie korrekt arbeitet, 17

Zur Doppelfunktion der Vernunft als Instrument und Instanz siehe: Volker Gerhardt, Selbstbestimmung, a.a.O., S. 342 ff.

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genug und übergenug, indem sie die Verstandeserkenntnisse konsequent ordnet und zweckmäßig zusammenfaßt. Denn wie man sieht und weiß, läßt sich nach den Vorgaben der Vernunft das ganze Feld der Erfahrung nach den Prinzipien der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität (B 686) systematisieren, so daß Neues entdeckt und Altes beträchtlich erweitert werden kann. Außerdem sichert die Vernunft sich dadurch ab, daß sie stets von wahren Prämissen auszugehen sucht.18 Und schließlich muß man in Rechnung stellen, daß sie selbst bei einem bloß immanenten Gebrauch stets über das hinausgeht, was ihr in den Verstandeserkenntnissen als Material für ihre Schlüsse vorliegt. Die Leistung der Vernunft besteht somit in einer »projektierte[n] Einheit« (B 675), also in etwas, das sich lediglich als Aufgabe fassen läßt. Da aber schon die Konzeption der Aufgabe systematisierende Leistungen einschließt, übt sich die Vernunft bereits mit Erfolg in der Systematisierung der Naturerscheinungen und ihrer Gesetze, sofern sie weltliche Zusammenhänge nur entwirft. Dabei macht sie Angebote, in denen sich schon ihre integrale Kraft beweist. Ihre Leistung zeigt sich daher, noch ehe sie ihren jeweils letzten Schritt vorbereitet, der die Welt als ganze zu erfassen sucht. Wenn sie nur ›Welt‹ oder ›Menschheit‹ denkt, hat sie schon (mit Erfolg) eine jener Einheiten gedacht, auf die sie aus ist. Durch ihre erfolgreiche immanente Tätigkeit, die der Form nach bereits dem äußersten Schluß auf das Unbedingte entspricht, ist die Vernunft auf ihre grenzüberschreitende metaphysische Tätigkeit immer schon eingestellt und eingeübt. Sie schließt am Ende nur im Ganzen ab, was sie in Teilen bereits zu partiellen Abschlüssen gebracht haben muß. Noch ehe sie sich in umfassenden Antworten versucht, muß sie erfolgreich fragen können. So steckt die systematische Leistung nicht erst in überzeugenden Abschlußgedanken, sondern in gesicherten Ausgangspositionen, ohne die man noch nicht einmal wüßte, wo man mit seinem eigenen Wissen steht. Im absoluten Abschluß, also in der erstrebten Totalität, hat die Vernunft ihre schwerste Aufgabe dann jeweils darin, den Menschen selbst in das erschlossene Ganze einzubeziehen. Das ist deshalb so heikel, weil sie mit der theoretischen Integration des Menschen in das gedachte Ganze nicht mehr und nicht weniger als sich selber einzubeziehen hat. So kommt im System der die Reflexion insgesamt tragende Selbstbezug zur Geltung. Der Abschlußgedanke der Vernunft korrespondiert dem Grund, von dem 18

Vgl. dazu den Beitrag von Thomas M. Seebohm, Die reine Logik, die systematische Kontruktion des Prinzips der Vernunft und das System der Ideen, in diesem Band, S. 204ff.

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sie jeweils auszugehen hat.19 Damit erscheint das System als Vollendung dessen, was das vernünftige Denken von Anfang an ausmacht: Es bringt die selbstbezügliche Integrationsleistung des Denkens auch mit Blick auf das mögliche Ganze zu sich selbst. Im System gelangt das Denken auf seinen eigenen Ausgangspunkt zurück. Also ist die Vermessenheit, auf das Ganze des Weltzusammenhangs zu schließen, nicht ganz so abenteuerlich, wie es auf den ersten Blick erscheint. Denn die Vernunft schließt eigentlich nur die Arbeit ab, mit der sie auf dem Feld der Erfahrung immer schon beschäftigt ist. Sie führt lediglich nach ihren eigenen Maximen zu Ende, was ihre tagtägliche Aufgabe in der Ordnung, Ergänzung und Erweiterung der Verstandeserkenntnis ist. Genau besehen, wendet sie nur auf sich selber an, was sie im Umgang mit den Gesetzmäßigkeiten der Natur unablässig tut. Der Übergang zum ›Weltsystem‹ vollzieht sich folglich in eins mit dem Übergang zum ›Vernunftsystem‹. Indem die Vernunft das Insgesamt der Welterkenntnis zu einem zweckmäßigen Abschluß zu bringen sucht, kommt sie zugleich zu sich selbst und vollendet ihre Arbeit in der Anwendung ihres Verfahrens auf sich selbst. Und nur, wenn sie sich über diese Selbstanwendung Rechenschaft gibt, kann sie aufdecken, daß in der Ablösung ihrer Schlüsse von den Gegenständen der Erfahrung überhaupt eine Selbstüberschreitung liegt, der sie eben nur durch Selbstdisziplin Herr werden kann. Das ist das Thema der Methodenlehre. In diesem letzten Teil der Kritik der reinen Vernunft zeigt Kant das wechselvolle Ineinander von Selbstüberschreitung und Selbstdisziplin der Vernunft in der geschichtlichen Entwicklung. Dabei treten in geradezu dramatischer Anschaulichkeit die Realbedingungen der sich nur in polemischen Gegensätzen entfaltenden Vernunft hervor. Es wird kenntlich, wie sehr das ›Interesse der Vernunft‹ mit dem ›Interesse des Menschen‹ kongruiert und wie stark die Vernunft in ihrer Geschichte, trotz aller Streitigkeiten, Rückschläge und Demütigungen auf szientifische, politische und kulturelle Erfolgsbedingungen setzt – wie sehr sie sich also in ihrem eigenen Entwicklungsgang durch eigene Leistungen im Feld der Erfahrung versichern und bestätigen läßt.20

19

Ich verwende die erhellende Begrifflichkeit Dieter Henrichs, der an Kant die zwei Grundfunktionen der Metaphysik, den Grund zu suchen und den Abschluß zu finden, unterschieden hat (Dieter Henrich, Fluchtlinien, Frankfurt a.M. 1983). Sowohl der Grund- wie auch der Abschlußgedanke erschließt sich natürlich nur dem systematischen Denken. 20 Vgl. Volker Gerhardt, Die Disziplin der reinen Vernunft, 2. bis 4. Abschnitt, in:

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Systematisch entscheidend ist, daß sich die Vernunft am Leitfaden des Systems selbst zum Fortgang und zur Erweiterung ihrer Erkenntnis motiviert: Am Leitfaden der Ideen treibt sie sich über die Grenzen der Erfahrung hinaus.21 Das systematische Denken entfacht und entfaltet die treibenden Kräfte des menschlichen Wissens. In der damit jeweils gesuchten Ordnung liegt die methodologische Herausforderung, weiterzugehen, tiefer anzusetzen und Lücken zu füllen – Lücken, die überhaupt erst im systematischen Vorgriff erkennbar werden. Im System liegt nicht, wie manche Kritiker Kants vermuten, eine Restriktion, die das Denken zum Stillstand kommen läßt. Gewiß: Je nach Lage der Dinge kann man sich mit allem zufrieden geben. Aber in der Logik des Systems wirkt die dynamische Kraft des Wissens über den jeweils erreichten Stand hinaus. Der Unruhe des Erkennens wird eine Richtung gegeben. Es ist dies eine Leistung, die sich an Kants eigenem Denken bestätigt – insbesondere in der Zeit, in der sein kritisches System schon abgeschlossen schien. Noch der greise Kant wird, wie das Opus postumum beweist, durch das Verlangen, den systematischen Übergang zwischen den Kategorien und den Begriffen der Physik zu finden, über die Grenzen seines transzendentalphilosophischen Subjektivismus hinausgetrieben. Der angebliche ›Chinese von Königsberg‹ (so glaubte Nietzsche den alten Kant charakterisieren zu können) hielt sich im Denken überaus beweglich, weil er sein Vorhaben systematisch verfolgte. Doch die Dynamik gibt sich nicht nur Ziele, sondern auch den Rhythmus vor: Der bereits ihre Fragen antreibende Impuls hat in der Ordnung des Denkens seinen Takt und sein Maß. Das System motiviert und reguliert. Vorausgesetzt man bleibt bei den Prämissen der Vernunftkritik, dann wird die systematisch freigesetzte Selbstüberbietung der Vernunft durch den systematischen Anspruch nicht nur motiviert, sondern auch reguliert. Der Überschuß des Denkens wird durch systematisches Denken gefordert, gefördert und gelenkt. Und wenn es ein Denken sein und bleiben soll, dann verlangt es aus eigener Dynamik nach einer Disziplin. Das System sucht somit nach einer disziplinierten Selbststeigerung der besten menschlichen Kräfte.

Georg Mohr/ Marcus Willaschek (Hrsg.): Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (in der Reihe: Klassiker auslegen, Bd. 17/18), Berlin 1998, S. 571–596. 21 Die Selbstmotivation der Vernunft durch ihre eigene Tätigkeit war eines der Themen, die Friedrich Kaulbach in seinen Kant-Interpretationen herausgearbeitet hat. Seiner Deutung bin ich auch in diesem Zusammenhang verpflichtet.

Georg Siegmann Zur systematischen Selbsttäuschung der reinen Vernunft

Um das Besondere der Kantischen Philosophie in ihrem eigentlich ›kritischen‹ Bereich (der Lehre von Gott, Welt, Freiheit und Seele) auszumachen, will ich nach der immanenten Konsequenz und Systematik von Kants transzendentaler Ideenlehre fragen. Dabei soll sich erweisen, daß das Prinzip der Kantischen Philosophie überhaupt Selbstprüfung ist, die nur als Selbstkritik von Selbsttäuschung möglich ist.1

1. Es geht in einer historisch-systematischen Kant-Erklärung immer auch um Kants Aktualität,2 die allerdings weniger in einer Abstimmung seiner Gedanken auf den Zeitgeist als in einer Radikalisierung unserer Interpretation zu suchen ist. Radikal ist es, einen Autor unausweichlich fragwürdig zu machen. Das Fragwürdigste ist die Behauptung eines Systems.3 In diesem Sinn frage ich: Wie ist in der Kritik der reinen Vernunft die folgende Anmerkung (B 395)4 zu verstehen, die den Abschnitt über das »System der transzendentalen Ideen« abschließt?5 »Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, so daß der zweite Begriff, mit dem ersten verbunden, auf den dritten, als einen notwendigen Schlußsatz führen soll. Alles, womit sich diese Wissenschaft sonst beschäftigt, dient ihr bloß zum Mittel, um zu diesen Ideen und ihrer Realität zu gelangen. Sie bedarf sie nicht zum Behuf der Naturwissenschaft, sondern um über die Natur hinaus zu kommen. Die Einsicht

1

Ich danke Manfred Baum und Inez Maier, die mir bei der Arbeit an diesem Text sehr geholfen haben. 2 Vgl. Volker Gerhardt, Selbstüberschreitung und Selbstdisziplin. Zur Aktualität des Systembegriffs nach Kant (in diesem Band S. 245ff.). Ich beziehe mich auf diesen Beitrag nur im Grundsätzlichen, d.h. insofern wir uns beide auf das Grundsätzliche der reinen menschlichen Vernunft beziehen. 3 Hinter der Strenge von Kants Denken bleiben wir notwendig an Logik und an Leidenschaft zurück, wenn wir nur Kantinterpreten sein wollen. 4 Ich zitiere die Kritik der reinen Vernunft nach der ersten (A) und zweiten Auflage (B), alle anderen Kanttexte nach der Akademieausgabe (AA). 5 In A gibt es diese Anmerkung noch nicht.

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in dieselben würde Theologie, Moral, und durch beider Verbindung, Religion, mithin die höchsten Zwecke unseres Daseins bloß vom spekulativen Vernunftvermögen und sonst von nichts anderem abhängig machen. In einer systematischen Vorstellung jener Ideen würde die angeführte Ordnung, als die synthetische, die schicklichste sein; aber in der Bearbeitung, die vor ihr notwendig vorhergehen muß, wird die analytische, welche diese Ordnung umkehrt, dem Zweck angemessener sein, um, indem wir von demjenigen, was uns Erfahrung unmittelbar an die Hand gibt, der Seelenlehre, zur Weltlehre, und von da bis zur Erkenntnis Gottes fortgehen, unseren großen Entwurf zu vollziehen.«

Schon der erste Satz dieser Anmerkung gibt so etwas wie die Idee von der Einheit der Ideen zu denken, einen geschlossenen Zusammenhang der drei höchsten Ideen in Form eines Vernunftschlusses (die ja die Form der Vernünftigkeit überhaupt und deshalb auch die Vernunftform des Systems ist): Wenn Gott existiert und der Mensch in der Welt frei ist, indem er tut, was er soll, nur weil er es soll, dann ist begründete Hoffnung, daß die Seele unsterblich ist. Oder formgerechter: Obersatz: Alles Unbedingte (das All des Unbedingten, d. h. Gott) ist schlechthin (zeitlos, immer). Untersatz: Der Mensch (als frei, d. h. selbstbestimmt in der Welt Handelnder) ist unbedingt. Schlußsatz: Also ist der Mensch (als freies Wesen, als denkende Seele) schlechthin (zeitlos, immer, unsterblich). Dies ist ebenso streng wie (wenn wir von der praktischen Absicht absehen)6 fehlerhaft geschlossen. Die so anfänglich im Gottesbegriff begründete Systematik einer reinen, spekulativen Metaphysik ist nämlich ein trügerisches, gleichwohl notwendiges Gebilde. Das klärt sich in der kritischen Bearbeitung auf. Diese beginnt analytisch mit dem Schlußsatz und zeigt, wie in diesem fälschlich aus der Unbedingtheit des Ich-denke die Unzerstörbarkeit einer Seelensubstanz gefolgert wird. Weiter analytisch aufsteigend zu den Sätzen über die Welt und über Gott löst die Kritik den Zusammenhang dieser Ideen als einen objektiven auf und reflektiert ihn als einen bloß regulativen. Die so entdeckte regulative Systematik erklärt den mehrdeutigen (nämlich theoretischen, prakti-

6

Den praktischen (›zurechnenden‹) Sinn dieses höchsten Vernunftschlusses faßt Kant ganz knapp zusammen in seiner Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie (AA VIII, 418).

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schen, natürlichen, religiösen, ästhetischen, wahren, falschen, moralischen, unmoralischen, dogmatischen oder kritischen) Gebrauch dieser Ideen. Also ermöglicht gerade die Unmöglichkeit einer Erkenntnis der Seele (insbesondere ihrer personalen Unsterblichkeit), der Welt (insbesondere, ob in ihr Freiheit möglich ist) und Gottes (ob er überhaupt existiert und insbesondere als ein vernünftiger Welturheber), – also ermöglicht gerade die Unmöglichkeit solcher Ideenerkenntnis das System von Kants Metaphysik? Wie das? Offenbar hängt das Denken von Ideen unmittelbar mit dem Gedanken bzw. mit der Möglichkeit eines Systems zusammen (und umgekehrt). Denn System ist die Einheit, Ordnung und Vollständigkeit von Erkenntnissen nach einer Idee.7 Auch von dem einen umfassenden System der Philosophie (oder Metaphysik) müssen wir uns vorweg eine Idee machen, und diese wiederum vorweg zu prüfen, macht die Idee einer Kritik der reinen Vernunft aus. Letztere ist also durchaus selbstbezüglich (auch in einem zirkulären, möglicherweise täuschenden Sinn). Denn die Kritik der reinen Vernunft entscheidet erst in ihrem Vollzug, was es mit dem Vermögen der Vernunft, Ideen zu bilden, und also mit ihrer eigenen Idee, der Idee einer sich selbst kritisierenden Vernunft, und mit der Idee eines durch solche Kritik fundierten Metaphysiksystems auf sich hat, d. h. ob und wie beide möglich sind.8 Vorläufig bleibt auch die Frage offen, ob die Vernunft eher auf einen bleibenden Erkenntnisbesitz zugeht und also die Kritik nur eine vorübergehende Epoche9 in der Geschichte der menschlichen Vernunft ist, auf die wieder eine dogmatische, dann aber für immer durch Kritik von allen Selbstmißverständnissen gereinigte Philosophie in Form eines metaphysischen Systems (der Natur und der Sitten) folgen wird, oder ob die menschliche Vernunft zufolge ihrer sie selbst immer wieder verstrickenden Dialektik in ihrer Polemik und Antithetik auch immer an die Aufgabe der Kritik gebunden bleibt. Kant wird auf dem regulativen Zirkel insistieren: Der ewige Frieden in der Philosophie ist eine Idee praktischer 7

»Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Teile untereinander a priori bestimmt wird.« (B 860) 8 »Denn Metaphysik ist ihrem Wesen und ihrer Endabsicht nach, ein vollendetes Ganze; entweder Nichts, oder Alles.« (Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, 258) 9 »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik« (Anm. zu A XI).

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Weisheit, die eine immer erneute Selbstkritik der Vernunft geradezu fordert, indem sie das Gegeneinander, Durcheinander und Nacheinander dogmatischer (positiv beirrender), skeptischer (negativ beirrender) und moderater (halbwahrer) Zeiten bzw. Philosophien in Gang hält.10

2. Folgerichtig sehen moderne Kantinterpreten den (Ideen-)Zirkel von Metaphysik und Kritik in der Anthropologie zentriert, d. h. in der globalen Praxis des Menschen, sich seine Natur, Geschichte, Kultur, politischen Verhältnisse und Moral selbst zum Zweck zu machen.11 Es gilt aber mit Kant zu sehen, daß erst der Aufweis des Vermögens und Unvermögens der reinen Vernunft Anthropologie zu einer philosophischen, d. h. kritischen Disziplin macht. Philosophische Anthropologie hat ihren Sinn im kritischen Umgang mit der schicksalhaften Selbsttäuschung der menschlichen Vernunft bezüglich ihrer höchsten Hinsichten und Ansichten und Absichten: den Ideen von Gott und Welt und Mensch. 12 Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht endet mit einer gewissen Aporetik aller Versuche einer Gattungsbestimmung des Menschen als eines »irdischen vernünftigen Wesens«, »weil wir von vernünftigen, nichtirdischen Wesen keine Kenntnis haben« (AA VII, 321) und also das Unterscheidende, das Spezifische des Menschen unter allen endlichen Vernunftwesen nicht ausmachen können. Daß Kant überhaupt diesen Ansatz zu einer Bestimmung des Menschen macht (also nicht wie herkömmlich den Menschen gleich als vernünftiges Tier bestimmt), daß er die Gattung des Menschen in seine Vernünftigkeit, das Artspezifische aber in seine Erdhaftigkeit13 setzt, bedeutet einerseits eine Wende ins Anthropologische (das Irdische ist das artentscheidende Bestimmungsstück des Menschen, nicht die Vernünf10

Auf diese Weise durchdenkt Kant die immer beirrende Antinomie von Nichtwissen und Wissen in der Philosophie (in seiner Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie, AA VIII, 411–422). 11 So verstehe ich auch Volker Gerhardt (a.a.O. S. 252 ff.). Zwar möchte er ausdrücklich nicht einer empirischen Anthropologie in der Philosophie das letzte Wort geben, aber wo er das Spezifische der reinen menschlichen Vernunft angeben will, vermischt er es doch zu leicht mit der Zweckmäßigkeit des Erfolgs. 12 Vgl. nur die ersten Sätze der A-Vorrede der Kritik der reinen Vernunft. 13 Die Verhaftung des Menschen an die endliche Erdoberfläche hat z.B. in der Metaphysik des Rechts geradezu den Charakter eines metaphysischen Postulats zur Begründung des Eigentumsrechts.

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tigkeit) und bedeutet doch andererseits erst die eigentliche Wende ins Metaphysische, ins Vernunftwesen des Menschen, das nicht nur Attribut animalischer Natur, auch nicht nur von außen kommende Zugabe (Einstrahlung) des göttlichen Geistes ist, sondern das ursprüngliche Gattungswesen des Menschen selbst ausmacht. Die Vernunftfähigkeit unterscheidet uns zwar zureichend deutlich (technisch, pragmatisch, moralisch) von den anderen »lebenden Erdbewohnern« (AA VII, 322). Aber es ist, wie Kant mutmaßt, eine bestimmte Differenz in der Vernünftigkeit selbst, die uns eigentümlich als Menschen von möglichen anderen Vernunftwesen (»auf irgendeinem anderen Planeten«, AA VII, 332) unterscheidet. Denn diese Differenz bestimmt uns innerlicher und wesentlicher als der Unterschied zu den Tieren: »Es gehört also schon zur ursprünglichen Zusammensetzung eines menschlichen Geschöpfs und zu seinem Gattungsbegriffe: zwar anderer Gedanken zu erkunden, die seinigen aber zurückzuhalten; welche saubere Eigenschaft denn so allmählich von Verstellung zur vorsätzlichen Täuschung, bis endlich zur Lüge fortzuschreiten nicht ermangelt.« (ebda.)

Die Anthropologie Kants beschließt sich also wenigstens versuchsweise in der Bestimmung des Menschen als des sich verstellenden Vernunftwesens, – nachdem sie durchgehend (vom logischen Egoismus über den »erlaubten moralischen Schein«14 bis zu den Zweideutigkeiten des geschlechtlichen Charakters) diesen Hang des Menschen, nicht nur anderen, sondern vor allem sich selbst etwas vorzumachen, als das Eigentümliche unseres Vernunftgebrauchs beobachtet hat und überall klug in Rechnung zu stellen rät. Wir kennen nur unsere Vernunft. Die Endlichkeit unserer Vernunft manifestiert sich in der Zweiheit eines immer nur sinnlichen (reinen oder empirischen, jedenfalls immer zeitlichen) Anschauens und eines immer nur diskursiven (durch allgemeine, abstrakte Merkmale denkenden) Verstandes. In dieser für uns unüberwindlichen Zweiheit der beiden »Stämme« unseres Erkenntnisvermögens15 beruht eine unvermeidliche Zwiespältigkeit und Doppelsinnigkeit unserer Vernunft, durch die sie sich selbst dialektisch und sophistisch beirrt. Und dies gilt prinzipiell, das heißt, es betrifft auch die höchsten Prinzipien der Vernunft.

14

AA VII, 151. Wie es zu dieser unserer Doppelnatur kommt, bleibt uns eben durch sie »unbekannt« (A 15 / B 29). 15

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3. Der natürliche Hang unserer Vernunft, sich (selbst) zu täuschen, wurzelt im Bereich ihrer theoretischen und praktischen Ideen und Prinzipien.16 Hier sind es nicht andere, die die Vernunft täuschen, nicht andere Menschen oder Schriften, auch nicht die Schwäche der Sinne, nicht die Endlichkeit des diskursiven Verstandes, sondern die Vernunft selbst täuscht sich selbst, nicht weil sie logische Fehler begeht oder sich willentlich selbst verwirrt, sondern weil sie selbst der »Sitz« eines »transzendentalen Scheins« (B 355 ff.) ist, indem sie nämlich für ihre wenn auch nur subjektiv notwendigen Grundsätze doch irgendwie Objekte braucht, um sich überhaupt etwas damit denken zu können, und nun diese nur eingebildeten Objekte für dasjenige halten muß, wovon ihre Grundsätze objektiv gültig sind, und also das in ihnen Ausgesagte notwendig für an sich seiend nimmt. Wenn sich die Vernunft sogar da täuschen muß, wo sie die höchsten Maßstäbe (Prinzipien, Grundsätze) sucht, um alle Täuschung letztlich kritisieren und korrigieren zu können, wenn sich also Vernunft als solche selbst täuscht, d. h. a priori, prinzipiell, systematisch, im Ansatz, Grundsatz und Endzweck täuscht, wenigstens unvermeidlich selbst beirrt, dann wird jede Behauptung fragwürdig, die ihre ursprüngliche Verstrickung in einen transzendentalen17 Schein nicht selbst kritisiert, also auch jeder (unkritische) Rationalismus und Empirismus, Skeptizismus oder Agnostizismus. Denn eine transzendentale Verwechslung und Verirrung kann nicht durch verschärfte Aufmerksamkeit oder höhere Eingebung oder vermehrte Beobachtung oder logische Stringenz und Fehleranalyse, auch nicht durch vorsichtige Urteilsenthaltung oder vorgeblichen Zweifel an allem, sondern nur durch transzendentale Selbstkritik der Vernunft entdeckt werden. Der transzendentale Schein steckt im Wesen der zweistämmigen, menschlichen Vernunft und kann deshalb als solcher von uns nicht beseitigt, sondern nur beurteilt werden. Die Meinung, diesen Schein besei-

16

Diese prinzipielle Selbsttäuschung hat ihren gefährlichsten Ausdruck im »Religionswahn«, der als Aberglaube in die Anfänge aller Menschengeschichte (wenn diese Aufklärungsgeschichte ist) gehört. Vgl. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, insb. AA VI, 152–202. 17 ›Transzendental‹ heißt im Zusammenhang der von mir diskutierten Ideenlehre und ›transzendentalen‹ Selbsttäuschung der reinen Vernunft: die Bedingungen der Möglichkeit von Metaphysik überhaupt betreffend.

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tigen zu können oder beseitigt zu haben, ist selbst noch einmal dieser Schein. Nur der transzendentalen Selbstkritik der reinen Vernunft schließt sich der Sinn der transzendentalen Selbsttäuschung der reinen Vernunft auf: daß der Mensch, um weise zu werden, gottgleiche Erkenntnis des Übersinnlichen versuchen muß, also nicht einfach darüber unwissend sein darf, sondern sich darüber täuschen muß, damit er sich durch die Unmöglichkeit einer theoretischen Klärung an die praktische Realisierung seiner Ideen verwiesen sieht. Die Ideen und Prinzipien der Vernunft sind das, worin der Mensch seine Einheit (die Einheit seiner Vermögen) ebenso suchen wie verfehlen muß, um sie prüfen und praktisch objektiv und theoretisch regulativ begründen zu können. Selbst die einzige objektiv realisierbare Idee der Freiheit (bzw. des Rechtes, der Tugend) vermag der Mensch ihrer inneren Möglichkeit nach nicht einzusehen, was ihn in bleibend täuschende (theoretische und praktische) Antinomien verstrickt.

4. Selbstkritisch muß sich die Vernunft fragen, wie sie überhaupt dazu kommt, sich Vorstellungen vom Übersinnlichen zu bilden, etwa die Vorstellung von Freiheit oder von Gott, aber auch die Vorstellung eines vollkommenen Menschen oder Tiers oder Elements usw., welche Vorstellungen alle mögliche Erfahrung übersteigen, weil sie als begriffliche Totalisierungen in keiner sinnlichen (reinen oder empirischen) Anschauung adäquat (also nicht nur symbolisch) dargestellt werden können.18 Diese spezifischen Vernunftbegriffe können nur aus dem spezifischen Vernunftvermögen (nämlich zu schließen bzw. aus Prinzipien zu erkennen) abgeleitet werden. Dazu taugt nur der einzige Grundsatz der Vernunft, durch den sie sich überhaupt vom Verstand mit seinen erfahrungsbezogenen Grundsätzen unterscheidet. Dieser Grundsatz heißt, daß zu einem Bedingten (Erkenntnis oder Gegenstand) alle Bedingungen, die Totalität der Bedingungen, d. i. die vollständige Bedingung bzw. das Unbedingte zu suchen ist (als subjektive Heuristik formuliert) oder gege-

18

Solche Vorstellungen will Kant im Anschluß an Platon ›Ideen‹ nennen (obwohl dessen Ideen gerade nicht Vorstellungen vom Übersinnlichen sind, sondern dieses selbst), weil er sich vor allem in der vornehmlich praktischen Bedeutung der Ideen mit Platon einiger weiß als dieser mit sich selbst. Vgl. in der Kritik der reinen Vernunft den Abschnitt »Von den Ideen überhaupt«, B 368 ff.

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ben ist (als objektives, dann freilich täuschendes Gesetz formuliert).19 Im übrigen muß die Vernunft sämtliches Begriffsmaterial vom Verstand entlehnen, um es nach diesem ihrem einzigen Grundsatz zu entschränken, zu totalisieren, zu verabsolutieren. Wenn die Vernunft ihr grundsätzliches logisches Vermögen und Verfahren als realen Grundsatz auffaßt, entspringen ins Unbedingte erweiterte Verstandes-Kategorien, und zwar je nachdem, welche der drei Bedingungsrelationen, deren Synthesis der Verstand leistet, ins Unbedingte, also über alle mögliche sinnliche (reine oder empirische) Anschauung hinaus erweitert wird. Das geschieht nach den drei möglichen Vernunftschlüssen (dem kategorischen, dem hypothetischen und dem disjunktiven Vernunftschluß), wenn diese gemäß ihrer logischen Intention, aus dem Allgemeinsten oder der Bedingung in ihrem vollen Umfang zu schließen, jeweils zur Vorstellung einer unbedingten Bedingung führen.20 Es erschließen sich also drei Ideen vom schlechthin Unbedingten: Als das Unbedingte zu allen vorgestellten Prädikaten erschließt sich (kategorisch) das unbedingte, transzendentale Subjekt aller Vorstellungen: das Ich, die denkende Seele. Als das Unbedingte in allen Bedingungsreihen erschließt sich (hypothetisch) das unbedingte, transzendentale Objekt aller möglichen Erfahrung: die Welt. Als das unbedingte Ganze zu allen überhaupt möglichen Einteilungen erschließt sich (disjunktiv) das unbedingte, transzendentale Objekt des Denkens überhaupt: Gott.

5. Die Kritik zeigt nun, daß der Gebrauch dieser Ideen zur Erkenntnis ihrer Gegenstände immer täuschend, immer selbstbetrügerisch ist, auch wenn sich die Vernunft dabei durchweg zwingender nichtempirischer Beweise bedient.21 Diese Beweise stehen nämlich in einem Täuschungszusam-

19

Vgl. B 364. »Soviel Arten des Verhältnisses es nun gibt, die der Verstand vermittelst der Kategorien sich vorstellt, so vielerlei reine Vernunftbegriffe wird es auch geben, und es wird also erstlich ein Unbedingtes der kategorischen Synthesis in einem Subjekt, zweitens der hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe, drittens der disjunktiven Synthesis der Teile in einem System zu suchen sein.« (B 379) 21 Es ist nicht so, daß die Ideen gar nicht rein gedacht werden können (wie Gerhardt meint, a.a.O., S. 248f.), sondern gerade weil die Ideen so konsequent und widerspruchsfrei gedacht werden, täuschen sie Erkenntnis vor. 20

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menhang, der sich aus der grundlegenden transzendentalen Verwechslung von Erscheinungen und Dingen-an-sich ergibt und der sich von einer falschen (paralogistischen) Gleichsetzung über eine falsche (antinomische) Entgegensetzung zu einer falschen (ontologischen) All-einheitssetzung vertieft. 1. Das, was für alle möglichen Urteile das erste Subjekt ist, ist das Unbedingte in dem Bedingungsverhältnis von Inhärenz und Subsistenz. Also wird das Ich-denke22 als unbedingte, einfache, ewige Seelensubstanz gedacht und paralogistisch objektiviert. Der Paralogismus liegt in der unkritischen Nicht-unterscheidung des Subjekts aller Vorstellungen und einer an sich seienden rein geistigen Substanz. Das Ich-denke ist so sehr der »höchste Punkt« (B 134) der ganzen Logik, dass sich in ihm auch die »Logik des Scheins« mit der »Logik der Wahrheit« (B 82–88) das Prinzip teilt. Die Schwierigkeit, in dieser höchsten Einheit und Einfachheit, im Ich, nicht das täuschend Gleiche für dasselbe zu nehmen, veranlaßt Kant in der B-Auflage der Kritik der reinen Vernunft zu einer Neufassung der einschlägigen Lehrstücke (der »Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« und der »Paralogismen der reinen Vernunft«) und veranlaßt ihn letztlich, alle theoretische Selbstkritik der Vernunft auf praktische Selbstkritik, d. h. auf innere Aufrichtigkeit zurückzuführen, nämlich die Idee des Ich-selbst nicht als systematische Ausflucht, sondern zur moralischen Selbstprüfung zu gebrauchen. 2. Das Bedingungsverhältnis von Grund und Folge in der Form des hypothetischen Urteils ins Unbedingte zu denken heißt, daß zu allen gegebenen Erscheinungsformen rückwärtige Bedingungsreihen (aufsteigende Gründe, vorausliegende Voraussetzungen) bis zum Unbedingten hin gesucht und gefunden werden müssen. Das geschieht in jeder Kategorie der Erscheinungswirklichkeit genau in der Art, wie sich Reihen bilden können, also von äußeren Raum- und Zeitgrößen, von inneren Teilgrößen der Realität (d. i. der Materie), von Ursachen und zuletzt von modalen Abhängigkeiten. So erschließt sich die Weltidee als eine in sich antinomische, weil Welt (im Unterschied zu Seele und Gott) ein Erscheinendes und Nichterscheinendes, also einen widersprüchlichen Begriff bedeutet, der sich entweder aufhebt oder platonisch in zwei Welten verdoppelt. Das zeigen viermal je zwei einander nicht nur ausschließende, sondern auch durch diese Ausschließung apagogisch-trügerisch (in einem negativen Zirkel) selbstbeweisende Gegenthesen von der Welt.

22

»der alleinige Text der rationalen Psychologie«, B 401.

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3. Im Bedingungsverhältnis eines vorgängigen Ganzen und seiner Teile bedeutet der auf’s Unbedingte schließende Grundsatz der reinen Vernunft den Versuch, eine unbedingte Ganzheit zu realisieren: den Inbegriff der Realität. Dieser Schluß auf das objectum transzendentale schlechthin (Gott) ist das selbsttäuscherische Ideal der reinen Vernunft. Diese SelbstIdolisierung des reinen Denkens nimmt die formale Einfachheit und völlige Leere (bloßer Widerspruchsfreiheit aller möglichen positiven Bestimmungen) für die an sich seiende Fülle und Konkretion einer absoluten Singularität. Diese höchste und falscheste Synthesis (von Denken und Sein) erweist sich als die systematische Voraussetzung auch des Selbstwiderstreits der Vernunft durch Verwechslung von Für-uns- und Ansich-sein im Weltbegriff und der unkritischen Nichtunterscheidung von Erscheinung und Ding an sich im Ich. Durch ihr transzendentales Ideal realisiert und verkennt die reine Vernunft sich selbst: erst als ens realissimum, als Wesen aller Wesen (im ontologischen Gottesbeweis), dann als ens necessarium und außerweltliche Weltursache (im kosmologischen Gottesbeweis), zuletzt als Intelligenz, als vernünftiger Welturheber und Systembaumeister der zweckmäßig verfaßten Welt (im physikoteleologischen Gottesbeweis). 6. Der ontologische Beweis, auf dem alle metaphysischen Beweise als theoretische zuletzt gründen und der von Parmenides bis Hegel das hohe Selbstbewußtsein der Philosophen trägt, wird hier als das durchschaut, was er ist: das Prinzip einer systematischen Selbsttäuschung der reinen Vernunft. Diese aufzuklären heißt, daß allein ein System der Metaphysik möglich ist, in welchem das zwingend Gedachte, weil es ebenso ein zwingend Verkanntes ist, doch zugleich ein frei zu Realisierendes oder eine Idee der praktischen Vernunft ist. Nur eine Metaphysik der Freiheit ist als System möglich. Der höchste Punkt der systematischen Selbsttäuschung der reinen Vernunft ist eine Art Selbstvergottung des Ich-denke. Darin gipfelt nämlich das metaphysische (neuplatonische) Hauptvorurteil, unser Denken sei ein intellektuelles Anschauen, in welchem die Dinge als sie selbst präsent sind. Nur diese Selbstüberschätzung der menschlichen Vernunft, gerade was ihre höchsten Erkenntnisabsichten (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) betrifft, veranlaßt und motiviert die Vernunft im Gegenzug zu den kritischen Unterscheidungen: von Anschauen und Denken, Erscheinung und Ding an sich, theoretischer und praktischer Vernunft, objektivem

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und subjektivem Gebrauch von Begriffen usw. Die in ihrer spekulativen Einfachheit immer beirrenden Ideen werden durch solche Selbstkritik der Vernunft Prinzipien eines mehrfachen Gebrauchs: 1. eines negativen, sich selbst disziplinierenden Erkenntnisgebrauchs, 2. eines konstitutiven, objektiven, aber bloß moralisch-praktischen Gebrauchs, 3. eines regulativen, systembauenden, freilich bloß subjektiven Gebrauchs und 4. eines kritischen Gebrauchs, der nicht der höchste (das bleibt der moralische), aber der eigentlich philosophische ist. In diesen Differenzierungen des sinnvollen Gebrauchs von Ideen begründet sich aber der volle Zirkel der drei Kantischen Kritiken als Bedingung der Möglichkeit eines dogmatischen Systems der Metaphysik der Natur und der Sitten. Kants eigentümliche Ideenlehre, ihre kritische Systematik, steht zwischen Platons Ideenhypothese und Hegels absoluter Idee. Diese Zwischenstellung bedeutet aber nicht Vermittlung, nicht Ausgleich, sondern die einzige Möglichkeit unserer Vernunft, sich aufzuklären in der unvermeidlichen Selbstverkennung ihrer spezifischen Differenz.23 Die großen nichtsystematischen Philosophen nach Kant, nämlich Nietzsche und Heidegger, haben das transzendentale Scheinwesen des Menschen und seiner Ideen weitergedacht in die perspektivische Selbsttäuschung des Lebens und in die Endlichkeit und Zeitlichkeit der Wahrheit selbst. Wer nach diesen Einsichten in die Unwahrheit aller Wahrheit doch noch wieder ein System der Philosophie bzw. die Philosophie systematisch begründen will, muß jedenfalls den transzendentalen Schein, wie ihn Kant als unlöslich, weil systematisch mit der Vernunft verbunden nachweist, noch einmal besser als Kant selbst verstehen.24

23

Diese anthropologische Differenz drückt sich in der von einer aristotelischen Definitions-Logik nicht faßbaren Verschiebung vom vernünftigen Tier zum irdischen Vernunftwesen aus. 24 Das ist etwas ganz anderes als die Auffrischung von Positionen des Deutschen Idealismus oder die Reduktion des Problems auf Geltung, Kommunikation und Erfolg.

Konrad Cramer Kants Bestimmung des Verhältnisses von Transzendentalphilosophie und Moralphilosophie in den Einleitungen in die »Kritik der reinen Vernunft« In der Methodenlehre der »Kritik der reinen Vernunft« schreibt Kant 1781 und 1787 unverändert folgendes: »Die Frage: Was soll ich tun? ist bloß praktisch. Sie kann als solche zwar der reinen Vernunft angehören, ist aber dann doch nicht transzendental, sondern moralisch, mithin kann sie unsere Kritik an sich selbst nicht betreffen.« (A805, B833). ›Unsere Kritik‹ – das ist hier die in der Elementarlehre der »Kritik der reinen Vernunft« gelieferte Bestimmung des Ursprungs, des Umfangs und der Grenzen unserer Erkenntnis, sofern sie a priori möglich ist. Sie betrifft exklusiv die theoretische Erkenntnis von Gegenständen und antwortet in diesem freilich restringierten Sinn auf die Frage: »Was können wir wissen?«. Warum ist eine Frage, die als solche zwar der reinen Vernunft angehören kann, aber moralisch ist, nicht transzendental? 1781 hatte Kant den Begriff der transzendentalen Erkenntnis folgendermaßen bestimmt: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unseren Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendental-Philosophie heißen« (A11). 1787 heißt es präzisierend: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt« (B25). Diese Bestimmungen spezifizieren den Gegenstandsbereich, auf den sich Begriffe a priori und unsere Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, beziehen, offensichtlich noch nicht. Sie schränken als solche die Transzendentalphilosophie noch nicht auf theoretische Erkenntnis ein. Warum also sollte eine Frage, die moralisch ist und daher in die Moralphilosophie gehört und, mit ihr, die Moralphilosophie selber nicht auch zur Transzendentalphilosophie gehören, gesetzt nämlich, daß mit Bezug auf den ihr eigentümlichen Gegenstandsbereich eine Erkenntnisart ausgezeichnet werden kann, die sich nicht sowohl mit moralischen Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart dieser Gegenstände, insofern sie a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt? Die Ausdrücke ›Gegenstand‹, ›Begriffe a priori‹ und ›Erkenntnisart a priori‹ machen es nicht. Denn ihr Referenzbereich ist nicht auf den Bereich der

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Gegenstände des theoretischen Wissens eingeschränkt. Auch das moralische Wissen hat, als Wissen, seinen Gegenstand. Nun wissen wir natürlich aus einer Vielzahl anderer Stellen, daß eine ursprüngliche Differenz der Gegenstandsbereiche, die in der Transzendentalphilosophie einerseits, in der Moralphilosophie andererseits zu thematisieren sind, den Ausschluß der Moralphilosophie aus der Transzendentalphilosophie begründet und die Aussage erlaubt und erzwingt, daß die Frage »Was soll ich tun?«, die in der »Kritik der reinen Vernunft« entwickelte Kritik des Erkenntnisvermögens ›an sich selbst nicht betreffen kann‹. So heißt es zum Beispiel in der ›Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft‹ gelegentlich der Erörterung des Begriffs der Philosophie als eines Systems der Vernunfterkenntnis durch Begriffe, daß der »materiale« oder »reale« Teil dieses Systems, der »die Gegenstände, darüber gedacht wird, sofern ein Vernunfterkenntnis derselben aus Begriffen möglich ist, systematisch in Betrachtung zieht«, »nicht anders als nach dem ursprünglichen Unterschied ihrer Objekte und der darauf beruhenden wesentlichen Verschiedenheit der Prinzipien einer Wissenschaft, die sie enthält, eingeteilt werden« kann, »so, daß der erste Teil die Philosophie der Natur, der andere die der Sitten sein muß.« (AA XX, 195 f.). Näher heißt es dazu: »Alle praktischen Sätze, die dasjenige, was die Natur enthalten kann, von der Willkür als Ursache ableiten, gehören insgesamt zur theoretischen Philosophie, als Erkenntnis der Natur, nur diejenigen, welche der Freiheit das Gesetz geben, sind dem Inhalt nach spezifisch von jenen unterschieden [...] die letzteren aber gründen allein eine besondere praktische Philosophie.« (AA XX, 197, Hvh.v.V.). Da nun – wie es in diesem Zusammenhang sogleich heißt –, »Freiheit schlechterdings kein Gegenstand der Erfahrung sein kann« (AA XX, 195), mithin kein Gegenstand der Natur und näher auch keine der Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen der Natur, teilt sich Metaphysik als System der reinen Vernunft »in die des spekulativen und praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft und ist also entweder Metaphysik der Natur, oder Metaphysik der Sitten. Jene enthält alle reinen Vernunftprinzipien aus bloßen Begriffen von dem theoretischen Erkenntnisse aller Dinge; diese die Prinzipien, welche das Tun und Lassen a priori bestimmen und notwendig machen.« (A841, B869). So bereits das Architektonikkapitel der Methodenlehre der »Kritik der reinen Vernunft«. Die Metaphysik der Natur als der »spekulative Teil der Metaphysik«, der »alles, sofern es ist (nicht das, was sein soll) aus Begriffen a priori erwägt«, besteht nun »aus der Transzendentalphilosophie und der Physiologie der reinen Vernunft.« (A845, B873). Erstere betrachtet »nur den Verstand und Vernunft

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selbst in einem System aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen« (ebda.); und es ist nach den soeben zitierten Stellen klar, daß sich die Transzendentalphilosophie in dieser ihrer Betrachtung nur auf Gegenstände der theoretischen Erkenntnis beziehen kann. Über diese Beschränkung des Themas der Transzendentalphilosophie sieht sich der Leser der »Kritik der reinen Vernunft« freilich erst an ihrem Ende, durch das Architektonikkapitel, ins Bild gesetzt. Natürlich heißt dies nicht, daß er nicht schon bemerkt hat, daß die transzendentale Ästhetik, Analytik und Dialektik Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft nur in der Perspektive der Begründung theoretischer Einsicht behandelt haben. Stellen wir uns jedoch einen Leser vor, der 1781 die »Kritik der reinen Vernunft« aufschlägt. Er weiß noch nichts von dieser Architektonik und auch noch nichts von Kants Theorie der Freiheit und ihrer Bedeutung für die Einteilung der gesamten ›materialen‹ Philosophie der reinen Vernunft in theoretische und praktische Philosophie. Mit der Idee der Transzendentalphilosophie wird unser Leser vielmehr erstmals durch die ›Einleitung‹ vertraut gemacht. Nun erfährt er in der Tat schon hier, daß die Moralphilosophie nicht Teil der Transzendentalphilosophie und letztere eine »Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft« (A15) ist. Das von Kant in der ›Einleitung‹ hierfür gelieferte Argument ist jedoch ein anderes als das für den späteren Kenner erwartbare. Es heißt nämlich: »Das vornehmste Augenmerk bei der Einteilung einer solchen Wissenschaft« – der Transzendentalphilosophie – »ist: daß gar keine Begriffe hineinkommen müssen, die irgend etwas Empirisches in sich enthalten, oder daß die Erkenntnis a priori völlig rein sei. Daher, obzwar die obersten Grundsätze der Moralität, und die Grundbegriffe derselben, Erkenntnisse a priori sind, so gehören sie doch nicht in die Transzendentalphilosophie, weil die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen, der Willkür und so weiter, die insgesamt empirischen Ursprungs sind, dabei vorausgesetzt werden müßten. Daher ist die Transzendentalphilosophie eine Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft.« (A14 f., Hvh.v.V.). Ich mache zunächst auf eine eher befremdlich wirkende Voraussetzung aufmerksam, die dieses Argument macht. Es unterscheidet innerhalb des Bereichs der Erkenntnisse a priori zwischen ›völlig reinen‹ und nicht völlig reinen, oder kürzer: zwischen reinen und nicht-reinen Erkenntnissen a priori. Erkenntnisse a priori sind genau dann nicht rein, wenn in sie, wie es heißt, Begriffe hineinkommen, die irgend etwas Empirisches in sich enthalten. Nun ist sogleich darauf aufmerksam zu ma-

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chen, daß diese Unterscheidung zwischen reinen und nicht-reinen Erkenntnissen a priori die systematische Pointe hat, daß sie sich auf den Bereich der synthetischen Erkenntnisse a priori bezieht. Denn Erkenntnisse a priori, die nicht rein sind, gibt es trivialerweise in Menge. Alle analytischen Urteile über den logischen Inhalt von Begriffen, die aus der Erfahrung abstrahiert worden sind, sind solche nicht-reinen Erkenntnisse a priori. Um sie geht es in der Transzendentalphilosophie nicht. Ihre ›Principal-Aufgabe‹ besteht in der Auflösung der Frage ›Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?‹ Da die Exposition der Idee der Transzendentalphilosophie im Lichte dieser Frage steht, muß man folgern, daß Kant innerhalb der Sphäre der synthetischen Urteile a priori die Differenz von reinen und nicht-reinen Urteilen a priori zuläßt. Nun besteht die Moralphilosophie in ihren obersten Grundsätzen so wenig wie die Transzendentalphilosophie aus analytisch wahren Sätzen. Auch die obersten Grundsätze der Moralphilosophie sind, wenn sie denn Urteile sind, synthetische Urteile a priori. Sie werden jedoch von Kant als nicht-reine Erkenntnisse a priori mit dem Argument gekennzeichnet, daß sie Begriffe empirischen Ursprungs voraussetzen. Für die Transzendentalphilosophie soll dies jedoch gerade nicht gelten, und zwar schon deswegen nicht, weil Begriffe empirischen Ursprungs natürlich solche sind, die irgend etwas Empirisches in sich enthalten, nämlich genau dasjenige Empirische, aus dem sie ihrem Inhalt nach geschöpft sind. Anders die Moralphilosophie. Und eben deshalb – so läuft das Argument der ›Einleitung‹ – gehören deren oberste Grundsätze und Grundbegriffe nicht in die Transzendentalphilosophie. Von einer prinzipiellen Differenz von einem Reich der Natur und einem Reich der Freiheit und einer dieser korrespondierenden Differenz zwischen den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis des einen und des anderen Bereichs als des Discrimen zwischen theoretischer und praktischer Philosophie ist hier überhaupt nicht die Rede. Kant behauptet hier etwas ganz anderes: Weil die Transzendentalphilosophie gänzlich empiriefrei sein muß, die Moralphilosophie dies aber nicht sein kann, gehört die Moralphilosophie nicht in die Transzendentalphilosophie. Das Argument für den Ausschluß der Moralphilosophie aus der Transzendentalphilosophie ist hier gerade nicht, daß die Transzendentalphilosophie eine »Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft«, das heißt der Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauch ist. Daß dies der Fall ist, ist hier vielmehr Folge des von Kant behaupteten Sachverhalts, daß die obersten Grundsätze und Grundbegriffe der Moralität, obzwar a priori, Begriffe empirischen Ursprungs voraussetzen. Daher ist die Trans-

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zendentalphilosophie, die nach der Behauptung eine solche Voraussetzung nicht machen darf, eine Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft. Als Begriffe empirischen Ursprungs, die in der Moralphilosophie vorausgesetzt werden müssen, werden die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen, der Willkür benannt. Empirischen Ursprungs sind diese Begriffe offenbar aus folgendem Grunde: Daß es Wesen gibt, die in mehr als einem Empfindungszustand sind und daher solche Zustände mit den unterschiedenen und einander entgegengesetzten Gefühlen von Lust und Unlust begleiten können, daß solche Wesen gleiche Empfindungszustände auf ganz unterschiedliche Weisen mit Lust oder Unlust begleiten, daß sie lustbetonte Zustände suchen, unlustbetonte meiden, daß sie auf Grund jener ganz unterschiedlichen Weisen ganz verschiedene Neigungen ausbilden, die sie durch ihr willkürliches Tun und Lassen zu befriedigen suchen – das alles wissen wir nicht auf nichtempirische Weise, also nicht a priori, sondern allein a posteriori, nämlich durch die Erfahrung, daß wir solche Wesen sind. Die in die Form einer empirischen Wissenschaft überführte Erfahrung dieses Typs ist die Anthropologie. Wenn nun Begriffe der Anthropologie für die obersten Grundsätze und Grundbegriffe der Moralität vorausgesetzt werden müssen, so muß dies heißen, daß schon die Exposition dieser Grundsätze und Grundbegriffe ohne Rekurs auf empirische Begriffe, die die Natur des Menschen betreffen, gar nicht möglich ist. Und zwar muß dies – rätselhaft genug – unbeschadet des Umstands gelten können, daß diese Grundsätze und Grundbegriffe Erkenntnisse a priori sind, und zwar solche, die nicht aufgrund der Anwendung des Satzes vom auszuschließenden Widerspruch einzuleuchten vermögen. Die in der Einleitung in A gegebene Begründung für den Ausschluß der Moralphilosophie aus der Transzendentalphilosophie steht nun in einem auffälligen Kontrast schon zu einigen Äußerungen Kants in A selbst – so zu A55 und A841 –, besonders aber zu der 1785 in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« entwickelten Idee einer reinen Moralphilosophie. In der Vorrede heißt es, daß es eine rationale Ethik entweder nur als »reine Moralphilosophie [...], die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre« (GMS 388) oder überhaupt nicht gibt. Die Frage, ob die Prinzipien der Sittlichkeit »in der Kenntnis der menschlichen Natur (die wir doch nur aus der Erfahrung haben können) zu suchen seien«, ist strikt negativ und näher dahingehend zu beantworten, daß sie »völlig a priori, frei von allem Empirischen, schlechterdings in reinen Vernunftbegriffen und nirgends an-

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ders, auch nicht dem mindesten Teile nach anzutreffen sind.« (GMS 410). Bei der Absicht, »a priori zu beweisen, [...] daß es ein praktisches Gesetz gebe [...], und daß die Befolgung dieses Prinzips Pflicht sei«, sei es, »von der äußersten Wichtigkeit, sich es ja nicht in den Sinn kommen zu lassen, die Realität dieses Prinzips aus der besonderen Eigenschaft der menschlichen Natur ableiten zu wollen. Denn Pflicht soll praktisch-unbedingte Notwendigkeit der Handlung sein; sie muß also für alle vernünftigen Wesen (auf die nur überall ein Imperativ treffen kann) gelten und allein darum auch für den menschlichen Willen ein Gesetz sein.« (GMS 425). Und so leuchte die Notwendigkeit einer von allem Empirischen gesäuberten reinen Moralphilosophie »von selbst aus der gemeinen Idee der Pflicht und der sittlichen Gesetze ein.« (GMS 389). Nun hatte die Einleitung in A behauptet, daß Begriffe empirischen Ursprungs, die offensichtlich die Natur des Menschen betreffen, für die obersten Grundsätze und Grundbegriffe der Moralität vorausgesetzt werden müssen. Wenn dies so ist, muß die These der Grundlegungsschrift, daß es einen von allem Empirischen gesäuberten Teil der Moralphilosophie gebe – der allenfalls nur zu seiner Anwendung auf den Menschen der Anthropologie bedarf – falsch sein. Denn demjenigen Teil, der die obersten Grundsätze und Grundbegriffe der Moralität thematisiert, kann kein anderer Teil der Moralphilosophie vorausgehen. Die damit angezeigte Schwierigkeit kann man nun nicht mit dem Argument auszuräumen versuchen, daß ein Text von 1781 gegenüber dem von 1785 keine Autorität beanspruchen kann. Denn der Text der Einleitung in die zweite Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« von 1787, der dem Text von A entspricht, enthält eine Veränderung, mit der eine noch bemerkenswertere Behauptung aufgestellt wird. Es ist in B nämlich gerade der Begriff der Pflicht selber, auf den Kant hinweist, um die Moralphilosophie aus der Transzendentalphilosophie auszuschließen, und zwar mit dem Argument von 1781. Es heißt jetzt: »Daher, obzwar die obersten Grundsätze der Moralität und die Grundbegriffe derselben, Erkenntnisse a priori sind, so gehören sie doch nicht in die Transzendentalphilosophie, weil sie die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen und so weiter, die insgesamt empirischen Ursprungs sind, zwar nicht selbst zum Grunde ihrer Vorschriften legen, aber doch im Begriff der Pflicht, als Hindernis, das überwunden, oder als Anreiz, der nicht zum Bewegungsgrunde gemacht werden soll, notwendig in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit mit hineinziehen müssen. Daher ist die Transzendentalphilosophie eine Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft.« (B28, Hvh.v.V.). Hier ist zwar nicht mehr davon die Rede,

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daß die aufgeführten Begriffe empirischen Ursprungs, unter denen nun der Begriff der Willkür bezeichnenderweise nicht mehr aufgeführt ist, für die obersten Grundsätze und Grundbegriffe der Moralität vorausgesetzt werden müßten. Diese Textkorrektur soll ohne Zweifel das mögliche Mißverständnis abwehren, daß sich Moralität nur im Rekurs auf diese empirischen Begriffe begründen lasse. Es wird jetzt aber gesagt, daß die obersten Grundsätze und Grundbegriffe der Moralität diese empirischen Begriffe notwendig in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit mit hineinziehen müssen, und zwar im Begriff der Pflicht. Der Begriff der Pflicht aber war es gerade, der in der Grundlegungsschrift auf die Notwendigkeit einer von allen empirischen Implikationen freien und in diesem Sinne reinen Moralphilosophie Anweisung geben sollte. Betrachten wir unseren eigenen, den menschlichen Fall, so leuchtet ein, daß und auch wie die genannten anthropologischen Begriffe in die Exposition des logischen Inhalts des Begriffs unserer Pflicht Eingang finden müssen. Der Begriff der Pflicht enthält den einer Nötigung zu dem, was das sittlich Gute ist. Er kann daher in der Tat nur im Rekurs auf die Vorstellung eines Hindernisses, das überwunden, oder eines Anreizes, der nicht zum Beweggrund gemacht werden soll, gefaßt werden. Denn nur unter dieser Bedingung läßt sich verstehen, daß ein Wille nicht schon von Haus aus auf das sittlich Gute aus ist, sondern zu ihm genötigt werden kann. Steht mir etwas in einer bestimmten Situation als meine Pflicht vor Augen, so eine Handlung, die ich tun soll, ob ich gleich nicht Begierde und Neigung, nicht ›Lust zu‹ ihrer Ausführung habe. Die Erfüllung meiner Pflichten muß zwar nicht, kann aber meinen Begierden und Neigungen, dem also, worauf ich aufgrund meines persönlichen Lust-UnlustHaushaltes gleichsam naturwüchsig aus bin, Abbruch tun. Eben deshalb soll ich meine Pflicht tun. Daß aber etwas, das ich tun soll, meiner Neigung, mithin meiner Auffassung von dem, was mir Lust gewährt, entgegenstehen kann, das kann ich nur wissen, wenn ich meine Neigungen kenne. Und die kenne ich nur, weil ich sie auf der Grundlage der Erfahrung dessen, was mir Lust bzw. Unlust gewährt, ausgebildet habe. Diese Erfahrung gründet sich ihrerseits darauf, daß ich bemerkt habe, daß ich mit gewissen gegebenen Empfindungszuständen das Gefühl der Lust, mit anderen das Gefühl der Unlust verband. Den Auftritt einer Mannigfaltigkeit gegebener und qualitativ differenter Empfindungs- und Gefühlszustände konnte ich jedoch in keiner Weise a priori antizipieren, sondern an mir nur dadurch kennen lernen, daß ich mich de facto in ihnen befand. Hier ist von einer Erkenntnis a priori keine Rede. Nur die Erfahrung, so sagt Kant selber, kann uns lehren, was uns Freude macht. (MS 215).

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Bei der Exposition des logischen Inhalts des Begriffs der Pflicht sind also dann, wenn ich mir diesen Begriff als einen durch meine eigenen Handlungen zu instantiierenden Begriff vorstelle, in der Tat empirische Begriffe im Spiel, welche die Erfahrung beschreiben, die ich an meinem Willen mache. Nun ist es aber nicht dieser Sachverhalt, der es in der Einleitung in B ausschließt, Moralphilosophie als Teil der Transzendentalphilosophie anzusehen. Kants Argument hierfür lautet vielmehr, daß die obersten Grundsätze und Grundbegriffe der Moralität die im Begriff der Pflicht gelegenen empirischen Konnotationen deswegen in das System der reinen Sittlichkeit mit hineinziehen müssen, weil der Begriff der Pflicht selber in dieses System mit hineingezogen werden muß. Dies Argument ist freilich nur dann überzeugend, wenn wirklich gilt, daß der Begriff der Pflicht ein Begriff des Systems der reinen Sittlichkeit ist. Wie aber sollte der Begriff der Pflicht, wenn er ohne Rekurs auf empirische Begriffe nicht einmal gebildet werden kann, überhaupt ein Begriff des Systems der reinen Sittlichkeit sein können, einer reinen Moralphilosophie also, von der Kant in der Grundlegungsschrift gefordert hatte, daß sie von allem, was in irgendeinem Sinne zur Erfahrung gehört, gereinigt sein muß? Gerade aus dem Begriff der Pflicht und der sittlichen Gesetze – also doch zumindest auch aus dem Begriff der Pflicht – leuchte aber, so hatte die Grundlegungsschrift behauptet, die Notwendigkeit einer solchen reinen Moralphilosophie ein. Nach der Grundlegungsschrift gehört der reine Teil der Moralphilosophie in eine Wissenschaft vom Typus der Transzendentalphilosophie, insofern nämlich von diesem reinen Teil gefordert wird, daß gar keine Begriffe hinzukommen müssen, die irgend etwas Empirisches enthalten. Nach beiden Einleitungen in die »Kritik der reinen Vernunft« verhält es sich so gerade nicht, und zwar nach den Aussagen in B genau deshalb nicht, weil der Begriff der Pflicht mit seinen empirischen Konnotationen notwendig in das System der reinen Sittlichkeit mit hineingezogen werden muß. Wie aber sollte das zugehen können, wenn gilt, daß der Begriff der Pflicht bei der Betrachtung unseres eigenen Falles der Anthropologie bedarf? Es läßt sich zeigen, daß Kants Konzeption einer reinen, von aller empirischen Beimischung freien Moralphilosophie nicht im Widerspruch zu der Aussage steht, daß der Begriff der Pflicht ohne den Rekurs auf eine Art von Wissen, das nicht den Status apriorischer Einsicht besitzt, gar nicht verständlich gemacht werden kann. Das muß dann freilich heißen, daß der Begriff der Pflicht weder ein Grundbegriff, noch auch nur ein Begriff einer reinen Moralphilosophie im von Kant geforderten Sinne sein

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kann. Diese These scheint bei der Bedeutung, die der Begriff der Pflicht für das Analyseverfahren der Grundlegungsschrift und für Kants Ethik im ganzen hat, so abwegig zu sein, daß sie nur schwer Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermag. Gleichwohl ist diese These Kants eigene These. Sie wäre nämlich nur dann verfehlt, wenn der allein über die Entfaltung des Inhalts des moralischen Gesetzes exponible Begriff eines reinen Willens und der Begriff eines Willens, dem das, was das moralische Gesetz aussagt, als seine Pflicht vor Augen steht, äquivalente Begriffe wären. Eine solche Äquivalenz behauptet Kant nirgends. Eine reine Moralphilosophie im Sinne der Grundlegungsschrift hat vielmehr den Begriff eines reinen Willens, den der Begriff der Pflicht zwar enthält, der aber mit einem verpflichteten Willen nicht identisch ist, ganz unabhängig von seinem Verhältnis zum Begriff der Pflicht zu exponieren und zu rechtfertigen, nämlich so, daß erst auf der Grundlage dieser Exposition und Rechtfertigung aufgewiesen werden kann, was es eigentlich bedeutet, daß der Begriff der Pflicht den eines reinen Willens unter gewissen subjektiven Einschränkungen und Hindernissen enthält. Diese gegenüber der Analyse des Pflichtbegriffs autonome Exposition des reinen Willens führt Kant in der »Kritik der praktischen Vernunft« von 1788 durch. Deren Grundoption lautet: Reine Vernunft ist genau dann praktisch, wenn es praktische Gesetze gibt; und praktische Gesetze gibt es genau dann, wenn diese Gesetze Gesetze der Bestimmbarkeit des Wollens eines jeden vernünftigen Wesens sind. Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft ist eines der Vernunft, und Vernunft kann, »da ihr die Materie des Gesetzes abgeht, nichts mehr als die Form der Tauglichkeit der Maxime des Willens zum allgemeinen Gesetze selbst zum obersten Gesetze und Bestimmungsgrund der Willkür machen.« (MS AA VI, 214). Der Begriff der Pflicht spielt in den Argumenten, die zu diesem Ergebnis führen, nicht nur keine Rolle, er kommt in ihnen nicht einmal vor. Aus diesen Argumenten folgt vielmehr, daß der Begriff der Pflicht nicht Teilbegriff des Begriffs des reinen oder schlechterdings guten Willens ist. Der Begriff der Pflicht muß also nicht nur nicht, er kann gar nicht in denjenigen Teil der Moralphilosophie mit hineingezogen werden, der den obersten Grundsatz der Moralität – das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft – und den Grundbegriff derselben – den reinen Willen – exponiert und gegen Einreden verteidigt. Damit aber wird die Frage unabweislich, wie sich dieser reine Teil der Moralphilosophie zum Begriff der Pflicht und, mit ihm, zur Theorie des mit ihm vorgestellten Sollens und das heißt: zur Theorie des kategorischen Imperativs verhält. Ich habe andernorts genauer auszuführen versucht,

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daß die Theorie des kategorischen Imperativs, obwohl sie wegen des in ihm vorgestellten Sollens nicht rein a priori verfahren kann und sich in diesem Punkte von der Exposition des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft unterscheiden muß, deswegen noch lange nicht ein Teil der Moralphilosophie ist, der der Anthropologie bedarf.1 Zwar gibt es eine Anwendung des kategorischen Imperativs auf die spezifischen Struktureigentümlichkeiten des menschlichen Wollens und Handelns. Sie führt zu einer praktischen Anthropologie. Diese Anwendung des kategorischen Imperativs, die Kant gar nicht ausgeführt hat, ist aber nicht mit derjenigen Anwendung des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft auf den Menschen zu identifizieren, die allererst zur Formulierung des kategorischen Imperativs führt. Diese Anwendung steht nicht unter der Bedingung von Informationen, die nur aus der Anthropologie gezogen werden können. Sie setzt vielmehr nur den Begriff eines mit einem Willen begabten vernünftigen Wesens voraus, auf das, wie Kant in der Grundlegungsschrift völlig zutreffend formuliert, »nur überall ein Imperativ treffen kann.« Die Einführung des kategorischen Imperativs entlehnt auch dann, wenn man in ihr die Anwendung des reinen Teils der Moralphilosophie auf den Menschen sieht, immer noch »nicht das Mindeste von der Erkenntnis desselben (Anthropologie).« (GMS 389). Sie betrachtet vielmehr den Menschen nur unter dem Begriff, unter dem er überhaupt Adressat dieses Imperativs sein kann, nämlich als ein noch nicht spezifisch anthropologisch zu beschreibendes, sondern generisch zu beschreibendes vernünftiges Naturwesen, als ein solches, das als Naturwesen überhaupt kraft dieser seiner Natur der sittlichen Einsicht widerstreben kann und dem daher das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft als kategorischer Imperativ vor Augen stehen kann, aber auch muß. Die spezifisch bestimmte menschliche Natur muß in der Theorie des kategorischen Imperativs ebenso wenig in Betracht gezogen werden wie in der transzendentalen Deduktion der Kategorien in ihrem ersten Schritt die spezifisch bestimmte Weise unserer sinnlichen Anschauung. Wie es dort die Natürlichkeit eines vernünftigen Naturwesens überhaupt ist, ist es hier sinnliche Anschauung überhaupt, die in Betracht gezogen werden muß. Aus dieser Analyse werde ich abschließend noch eine Folgerung zu ziehen haben, die die Bestimmtheit des Verhältnisses von Transzenden1

Siehe hierzu näher K. Cramer, Metaphysik und Erfahrung in Kants Grundlegung der Ethik, in: Neue Hefte für Philosophie. Hrsg. v. R. Bubner, K. Cramer u. R. Wiehl. Heft 30/31: Metaphysik und Erfahrung. Göttingen 1991, S. 15–68.

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talphilosophie und Moralphilosophie betrifft. Hierfür ist jedoch ein Perspektivenwechsel vonnöten, der den Begriff der Transzendentalphilosophie als solchen in den Blick nimmt. Das vornehmste Augenmerk bei der Einteilung einer solchen Wissenschaft ist, so schärft Kant seinem Leser in beiden Fassungen der ›Einleitung‹ in die »Kritik der reinen Vernunft« ein, daß in sie gar keine Begriffe hineinkommen müssen, die irgend etwas Empirisches in sich enthalten; oder daß die Erkenntnis a priori völlig rein sei. Hat Kant, als er diese Aussage von Al4 in B28 wiederholte, vergessen, was er in B3 geschrieben und womit er den Text der Einleitung in A auf entscheidende Weise modifiziert hat? Es heißt da: »Von den Erkenntnissen a priori aber heißen diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist. So ist z. B. der Satz: eine jede Veränderung hat ihre Ursache, ein Satz a priori, allein nicht rein, weil Veränderung ein Begriff ist, der nur aus der Erfahrung gezogen werden kann.« (B3). Liest man dies im Lichte von B28, müßte gefolgert werden, daß der Satz ›Eine jede Veränderung hat ihre Ursache‹ kein Satz der Transzendentalphilosophie sein kann. Denn da der Begriff der Veränderung nach B3 ein Begriff ist, der nur aus der Erfahrung gezogen werden kann, und jeder solche Begriff, wie eingangs entwickelt, ein Begriff ist, der irgend etwas Empirisches in sich enthält, genügt dieser Satz eben deshalb nicht der negativen Bedingung, die an Begriffe und Erkenntnisse zu stellen sind, die solche der Transzendentalphilosophie sein können. Nun handelt es sich aber bei dem Satz ›Eine jede Veränderung hat ihre Ursache‹ um eine der von Kant vorgeschlagenen Formulierungen des Prinzips der Kausalität. Nach B28 wäre das Kausalitätsprinzip daher kein in der Transzendentalphilosophie thematisierbarer Satz. Das wäre jedoch eine absurde Konsequenz. Das Kausalitätsprinzip ist vielmehr für Kant nachgerade das Paradigma eines »transzendentalen und synthetischen« (A782, B810) Satzes, der unter dem Namen der ›Zweiten Analogie der Erfahrung‹ exklusiv in demjenigen Teil der Transzendentalphilosophie bewiesen werden muß, den Kant unter dem Titel einer ›Analytik der Grundsätze des reinen Verstandes‹ ausgearbeitet hat. Damit ist freilich zugleich bedeutet, daß der Begriff der Veränderung entgegen seiner Charakterisierung in B3 von Kant nicht als ein sozusagen normaler empirischer Allgemeinbegriff aufgefaßt worden sein kann. Conceptus communes empirici besitzen auf Grund des Ursprungs ihres logischen Inhalts aus der wirklichen Erfahrung die epistemische Eigenschaft, auf einen Gegenstand der Erfahrung zu referieren. Wäre der Begriff der Veränderung ein solcher Begriff, entfiele der von Kant selber angegebene »einzig mögliche Beweisgrund« (A788, B816) für die Gültigkeit

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des Kausalitätsprinzips, der genau darin besteht, daß nur durch die synthetisch und a priori erfolgende Beziehung des Begriffs der Relation von Ursache und Wirkung auf den Begriff der Veränderung dem Subjektbegriff dieses Prinzips – nämlich eben dem Begriff der Veränderung selbst – objektive Gültigkeit, das heißt seine epistemische Eigenschaft gesichert werden kann, sich auf ein Objekt einer uns möglichen Erfahrung beziehen zu können. Ein empirischer Allgemeinbegriff kann der Begriff der Veränderung also gar nicht sein, wenn die objektive Gültigkeit des synthetischen Urteils a priori ›Alle Veränderungen haben ihre Ursache‹ gegen Humes Angriff auf das Kausalitätsprinzip, d. h. seine bloß regularitätstheoretische Interpretation unter Beweis gestellt werden können soll. Auch wäre es ja zunächst ganz unerfindlich, wie es zugehen könnte, von einem Begriff, der aus der wirklichen Erfahrung von Gegenständen in Raum und Zeit abstrahiert ist, ein Prädikat nicht nur synthetisch, sondern auch a priori, das heißt unabhängig von aller Erfahrung, auszusagen. Es ist daher nicht zufällig so, daß Kant dem Begriff der Veränderung in Wahrheit einen ganz anderen Status verleiht und ihn auch nur deshalb als einen Begriff der Transzendentalphilosophie in Anspruch nehmen kann. Die Kategorien als Stammbegriffe des reinen Verstandes haben ihre abgeleiteten Begriffe a priori; und diese, die Kant im Unterschied zu den Kategorien als den »Prädikamenten« die »Prädikabilien des reinen Verstandes« nennt, können »in einem vollständigen System der Transzendentalphilosophie keineswegs übergangen werden« (A8l f., B107f.). Den Prädikamenten der Modalität werden nun die Prädikabilien »des Entstehens, Vergehens, der Veränderung usw.« untergeordnet (A82, B108). Nach dieser Disposition der Kantischen Begriffstheorie ist der Begriff der Veränderung kein conceptus communis empiricus, sondern ein abgeleiteter Begriff a priori, der, wie aus einer Stelle eines Entwurfs zur späten ›Preisschrift‹ hervorgeht, der Modalkategorie des »Daseins« untergeordnet ist (AA XX, 272). Das paßt erstens bereits sehr viel besser zu Kants These, daß dieser Begriff Subjektbegriff eines synthetischen Urteils a priori ist. Zweitens aber gibt seine Unterordnung unter die Modalkategorie des Daseins bereits zu erkennen, daß der logische Inhalt des Begriffs der Veränderung nicht im Rekurs auf Kategorien beziehungsweise deren Kombination mit Momenten der reinen Anschauung allein gebildet werden kann. Eine der Standarddefinitionen des Begriffs der Veränderung lautet: »Veränderung ist Verbindung kontradiktorisch entgegengesetzter Bestimmungen im Dasein eines und desselben Dinges.« (B291). Eine solche Verbindung ist nur in der Zeit möglich, und zwar näher so, daß die kon-

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tradiktorisch entgegengesetzten Bestimmungen im Dasein eines und desselben Dinges in der Zeit aufeinander folgen. »Bei aller Veränderung sind: 1. oppositae determinationes, quatenus eidem competunt. 2. successio earundem.« (Reflexion 4041) Die im Begriff der Veränderung zu denkende Aufeinanderfolge von Bestimmungen läßt sich jedoch nicht im Rekurs auf die reine Anschauungsform der Zeit allein verständlich machen. Denn was da an einem und demselben in der Zeit aufeinander folgt oder wechselt, ist nicht die Zeit, sondern etwas in der Zeit, mithin ein Mannigfaltiges nicht der reinen, sondern der empirischen Anschauung. Daher ist der logische Inhalt des Begriffs der Veränderung nur im Rekurs auf eine nicht a priori, sondern nur empirisch an die Hand gebbare Differenz von Gegebenheiten der sinnlichen Anschauung bildbar. Anders gewendet: Wenn wir uns den logischen Inhalt des Begriffs der Veränderung verständlich machen wollen, müssen wir auf dasjenige Minimum an Differenz von empirischen Anschauungen oder Empfindungen rekurrieren, welches die notwendige Bedingung dafür ist, eine zeitliche Folge von kontradiktorisch entgegengesetzten Bestimmungen an etwas Beharrlichem zu konstatieren. Die in ihm zu denkende Verbindung ist die einer Synthesis empirischer Daten. Aber das macht den Begriff der Veränderung nicht zu einem conceptus communis empiricus. Er wäre als ein nicht-reiner Begriff a priori zu charakterisieren. Darin kommt er mit dem Begriff der Pflicht überein. Denn auch dieser ist kein reiner Vernunftbegriff. Er stellt das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft für ein vernünftiges Naturwesen vor, dessen Natur es ausschließt, daß sein Wille ein heiliger Wille ist. Entsprechend muß das Kausalitätsprinzip als ein nicht-reines synthetisches Urteil a priori bezeichnet werden. Dasselbe gilt, wenn man einmal, wie Kant dies gelegentlich tut, den kategorischen Imperativ als Urteil ansieht, für den kategorischen Imperativ. Der kategorische Imperativ stellt einem vernünftigen Naturwesen das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft in präskriptiver Form vor, weil dieses Wesen ein Naturwesen ist und seine Natur nicht mit Vernunft identifiziert werden kann. Aus diesen Analysen folgt jedoch etwas Entscheidendes für den Begriff der Transzendentalphilosophie: Kants Behauptung in beiden Einleitungen in die »Kritik der reinen Vernunft«, daß in die Transzendentalphilosophie keine Begriffe hineinkommen dürfen, die irgend etwas Empirisches enthalten, ist unhaltbar. Das Kausalitätsprinzip enthält in seinem Subjektbegriff, dem der Veränderung, einen Begriff, der etwas Empirisches enthält, nämlich im durch die Analyse seines logischen Inhalts präzisierten Sinne. Aber dieser Begriff ist im Unterschied zu empirischen

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Allgemeinbegriffen als solcher kein Begriff empirischen Ursprungs. Daraus folgt, daß das Kausalitätsprinzip ein nicht-reines synthetisches Urteil a priori ist, und zwar ein solches, das in der Transzendentalphilosophie zu beweisen ist.2 (Dasselbe läßt sich für alle »Analogien der Erfahrung« zeigen.) Kants Behauptungen in A14 und B28 werden also durch den Aufbau der Transzendentalphilosophie falsifiziert. Für die Moralphilosophie aber gilt genau das Umgekehrte: deren oberste Grundsätze und Grundbegriffe sind einerseits Erkenntnisse, die ›völlig rein‹ sind, andererseits Begriffe, die gar nichts Empirisches enthalten: einmal das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft und zum zweiten der durch es interpretierte Begriff eines reinen Willens. In genauem Unterschied zu dem, was beide Einleitungen in die »Kritik der reinen Vernunft« über das Verhältnis von Transzendentalphilosophie und Moralphilosophie aussagen, gilt: Der reine Teil der Moralphilosophie genügt den rigiden formalen Forderungen, die Kant an die Transzendentalphilosophie stellt. Die Transzendentalphilosophie genügt diesen Forderungen in einem ihrer zentralen Teile nicht. Und das kann auch gar nicht anders sein.

2

Zur Sache siehe näher K. Cramer, Nicht-reine synthetische Urteile a priori. Ein Problem der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants. Heidelberg 1985.

Allen W. Wood The Moral Law as a System of Formulas

1. Introduction a) One law, three formulas The aim of Kant’s Groundwork to the Metaphysics of Morals is simple enough: »the search for and establishment of the supreme principle of morality« (Ak 4:392).1 If most readers of the Groundwork were asked to name the principle with which Kant concludes this search, they would name the Formula of Universal Law (FUL): »Act only in accordance with that maxim through which you can at the same time will that it should become a universal law« (Ak 4:421, cf. 4:402). For it is extremely common, among Kant’s sympathizers as well as his critics, to think that his chief (or even his only) contribution to ethical reasoning is the idea of testing maxims by the formal criteria of universalizability. One could cite a series of passages, both in the Groundwork and in other works, where Kant seems to declare explicitly that FUL is the universal formula of the moral law (Ak 4:436–437; 5:30; 6:225). Nevertheless, a more careful reading of the Groundwork cannot sustain any such view. For Kant in fact formulates the supreme principle of morality in at least three ways – adding to FUL, and its variant, the Formula of the Law of Nature (FLN), both the Formula of Humanity as End In Itself (FH) and the Formula of Autonomy (FA), with its variant, the Formula of the Realm of Ends (FRE). Formula of the Law of Nature (FLN): »Act as if the maxim of your action were to become by your will a universal law of nature (Ak 4:421). Formula of Humanity as End In Itself (FH): »So act that you use humanity, whether in your own person or in the person of any other, always at the same time as an end, never merely as a means« (Ak 4:429).

1

Kant’s writings will be cited according to volume: page number in the Gesammelte Schriften, Ausgabe der preussischen Akademie der Wissenschaften (Berlin: de Gruyter, 1902 ff.), abbreviated as »Ak«. The Critique of Pure Reason, however, will be cited by the more familiar A/B pagination. Kant’s Reflexionen will be referred to by »R« followed by the number, then by volume: page in Ak.

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II. Das System der Transzendentalphilosophie · A. W. Wood

Formula of Autonomy (FA): »… the idea of the will of every rational being as a will giving universal law« (Ak 4:431), »Act in accordance with maxims that can at the same time have as their object themselves a universal law of nature« (Ak 4:437), or »Act on a maxim that at the same time contains in itself its own universal validity for every rational being« (Ak 4:437–438). Formula of the Realm of Ends (FRE): »Act according to the maxims of a universally legislative member of a merely possible realm of ends« (Ak 4:439).

The search for the principle of morality in the Groundwork results not in one formula but three. Which of them does Kant regard as the principle he means to discover and establish in the Groundwork? Or if as the outcome of the search involves all three, which formula (if any) has primacy, what is the relationship between them, and how do all three fit together in providing a ground for morality?

b) Claims to primacy FUL is the first formula mentioned by Kant, and most of Kant’s readers have taken it to be the primary formula in both the Groundwork and the Critique of Practical Reason. From the standpoint of applying the law, however, a good case can be made for FH among the three formulas. For in the Metaphysics of Morals Kant refers explicitly to humanity as end or to the dignity of rational nature in arguing for no fewer than nine of the fifteen ethical duties he enumerates, and three others are based on it by implication. FUL, by contrast, is explicitly appealed to only once, and neither FA nor FRE are ever mentioned explicitly at all.2 On the other hand, from the standpoint of establishing the moral law, a good case can be made for the primacy of FA. It is FA alone that Kant seeks to show to be reciprocally implied by freedom of the will, and hence to be presupposed from a practical standpoint along with the presupposition of freedom (Ak 4:446–448). The same considerations might motivate a reinterpretation of the passages in which most readers take Kant to be declaring FUL as the universal formula of the law, so that they can be taken instead to grant this status to FA (Ak 4:437). Kant’s statements of the two formulas are often verbally similar, and in the Critique of Practical Reason, at

2

For documentation of this last claim, see my General Introduction to Mary J. Gregor (trans. and ed.) Kant: Writings on Practical Philosophy (New York: Cambridge University Press, 1996), pp. xxxi–xxxii, note 17.

The Moral Law as a System of Formulas

289

least, Kant’s universal formula of the law is specifically presented as that which reciprocally implies freedom of the will (Ak 5:30). FUL is an especially doubtful candidate for the universal formula of the law in light of the fact that its function is limited to testing individual maxims for permissibility. It can provide only one positive duty – the duty of beneficence to others – because only in the one case do we necessarily adopt a maxim (that of pursuing our own happiness) which the universalizability test can then require to be willed in a universal form, so that it includes the happiness of others as well as our own (Ak 6:452–453). There are of course notorious problems about the applicability of FUL. There are also problems about its derivation, since (as I have argued elsewhere) the universalizability tests it proposes do not actually follow from the very concept of a categorical imperative, as they are supposed to.3 c) The formulas presented as a system Kant himself, however, most directly answers the question about the three formulas in a terse passage occurring in the middle of the Second Section. There he sees his three formulas as together forming a system. Each formula represents one side or aspect of a single moral law. From this standpoint, there is no reason to accord any of the three formulas an absolutely privileged place. And this standpoint also renders the FUL’s shortcomings themselves far less serious, insofar as FUL is seen as only the preliminary stage of a systematic argument. Its deficiencies, in derivation as well as in substance and applicability, will then be viewed as something intended to be made good by later developments in Kant’s argument, in which the task of formulating and establishing the moral law is eventually completed. The Groundwork’s search for the supreme principle of morality should thus be seen as ending only when we grasp the moral law as an entire system of formulas. Kant presents the system as follows: »All maxims have, namely, 1) a form, which consists in universality; and in this respect the formula of the moral imperative is expressed thus: that maxims must be chosen as if they were to hold as universal laws of nature; 2) a matter, namely an end, an in this respect the formula says that a 3

See Allen Wood, Kant on the Rationality of Morals, in P. Laberge (ed.) Proceedings of the Ottawa Kant Congress (Ottawa: University of Ottawa Press, 1976); and Hegel’s Ethical Thought (New York: Cambridge University Press, 1990), pp. 163–167.

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II. Das System der Transzendentalphilosophie · A. W. Wood

rational being, as an end by its nature and hence as an end in itself, must in every maxim serve as the limiting condition of all merely relative and arbitrary ends; 3) a thoroughgoing determination of all maxims by means of that formula, namely, that all maxims from one’s own legislation are to harmonize with a possible realm of ends as with a realm of nature« (Ak 4:436).

d) Pure formulas and their intuitive variants Before we investigate the significance of this systematization of Kant’s formulas, we should notice one thing about the way he characterizes the formulas he is systematizing. The first and third formulas have two variants: one purer and more abstract, the other more intuitive and suitable for application to practice. FUL and FA are the pure principles, while FLN is the more intuitive variant of FUL and FRE is the more intuitive variant of FA. FH is evidently already deemed intuitive enough for application, perhaps because it was derived by considering the subjective conditions under which a will might follow a categorical imperative. It can do so, namely, by taking as its motive the worth of a rational being as an end in itself. Moreover, as we have already noted, FH is overwhelmingly the formula most often appealed to in deriving particular duties. We see, then, that the formulas Kant chooses to systematize are the more intuitive or applicable ones: FLN, FH and FRE. Perhaps this is to be explained as follows: Kant introduces the system by first asserting that the three formulas are equivalent, and then suggesting that the difference between them is »subjectively rather than objectively practical, intended namely to bring the idea of reason closer to intuition (by a certain analogy) and thereby to feeling« (Ak 4:436). Thus he may have chosen the more intuitive formulas because with them the differences among the three formulas are clearer, which would facilitate comparison among them and hence make the relations between them easier to grasp, too.

2. The system of formulas and the architectonic of the critical philosophy In constructing this system of formulas, Kant alludes to analogies with a least two other parts of his own philosophical system, namely his theory of concepts and his categories of quantity. I have long been of the

The Moral Law as a System of Formulas

291

opinion that there is only a limited amount to be learned about the content of Kant’s system from examining the architectonic pretensions of its formal structure, which often seem less like a guarantee of scientific rigor, as Kant intended them to be, than a procrustean bed on which Kant tortures and mutilates his best philosophical insights. Nevertheless, at a conference dedicated to the theme of systematicity in Kant’s philosophy, I am resolved to shed as much light as I can from this standpoint on the system of formulas in the Groundwork. Light is certainly needed from this direction in this case, since there is from no other source any comparable clue to the relationship Kant intended between the different formulas in which he articulates the fundamental principle of his ethical system.

a) Ontology and the determination of concepts In the context of Kant’s ontology, the triad form, matter, thoroughgoing determination refers to the conditions for the possibility of the concept of an individual thing. The formal condition of a concept is its logical possibility or noncontradictoriness; the material condition is the givenness of some reality as the matter of thought; and »thoroughgoing determination« refers to the Leibnizian idea that the concept of an individual, in contrast to that of a universal, is determined with regard to every possible pair of contradictory predicates (A166/B207–208, A218–224/B265–272, A266–268/B322–324, A571–573/B599–601). Form, matter and thoroughgoing determination together constitute the necessary and sufficient components for the complete concept of a possible individual. But what does the theory of individual concepts have to do with formulations of the moral law? We may take this allusion, to begin with, as an indication that the three formulas are supposed to complement one another, and that only together do they specify the moral principle completely. Looking at the comparison in greater detail, the first formulation of the principle (FUL) corresponds to the form of generality in every maxim, the fact that every maxim is a general principle of action. FUL (presented here in its more intuitive form, FLN) specifies the formal condition which a maxim must satisfy if it is not to contradict the moral principle. Every maxim, however, like every concept, has a matter, that is, every maxim contains an end for the sake of which the action is performed (Ak 4:400, 427; 5:21–23). FH specifies the moral principle in terms of the objective end which serves as the motive of the will which follows a categorical imperative: this is the existent end of humanity as end in

292

II. Das System der Transzendentalphilosophie · A. W. Wood

itself. The moral motive, described in the First Section as the motive of ›duty‹, is here revealed to be the worth of humanity (or rational nature, the capacity to set ends according to reason) in the person of some rational being. No obedience to a categorical imperative as such is conceivable except in terms of this end, operating as a ground of the will’s determination (Ak 4:427–428). ›Thoroughgoing determination‹ is not a component of any individual maxim, but it is a necessary requirement of an entire system of moral legislation governing the conduct of a rational agent. FA differs from FUL chiefly in the fact that it formulates the moral law in terms of such a system of legislation, instead of considering maxims one by one and testing each for permissibility according to whether it can exist or be willed as a universal law. This difference is most explicit when FA is formulated more intuitively as FRE, since FRE spells it out that the laws must unite all rational beings as ends in themselves, together with all their particular ends, into a harmonious organic system. Looking at the three formulas in light of Kant’s comparison with the formal conditions for the concept of an individual, we may note a sort of division of labor between them, and also a progression through them in the direction of greater explicitness about the content of the moral law. FUL and its variant FLN refer us only to the formal condition of rational action, namely that it must be on a maxim, and they attempt to specify the law in terms of necessary conditions maxims must fulfill in order to be permissibly acted on. But just as the concept of an individual is empty or incomplete when considered solely from this purely formal standpoint, so the law is specified only formally and incompletely through FUL and FLN, since they provide neither positive duties, nor objective grounds and motives for acting, still less a positive system of moral legislation. The first two of these deficiencies are made good, however, by FH, since it provides both the motive for morality (in the form of an objective end), grounding the legislative form of a maxim in general. In other words, it is not FUL (or FLN) which is to provide this form, but only FH, and this is what makes it possible for FH to ground positive duties, where the application of FLN could never take us farther than determining the permissibility or impermissibility of individual and contingently selected maxims of action. In the case of an individual concept, however, we still do not have one even when we have both the universal form and the particular matter which is to fill it. In addition, an individual concept must be determined thoroughly, that is, with respect to each pair of contradictory predicates.

The Moral Law as a System of Formulas

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Analogously, we do not have a genuine and complete system of moral legislation when we consider the moral law only as it is presented in FUL and FH. It is only with FA (especially when it is determined as FRE) that we first arrive at the idea of a system of moral legislation, and thus at the conception of a genuine moral law.

b) The categories of quantity Kant’s other attempt to represent the systematicity of the three formulas based on something else in the critical philosophy occurs in a remark which immediately follows the presentation of the system itself: »A progression takes place here, as through the categories of the unity of the form of the will (its universality), the plurality of the matter (of objects, i. e. of ends), and the allness or totality of the system of these« (Ak 4:436). Here Kant is proposing that the three formulas correspond somehow to the three categories of quantity: unity, plurality and totality. This suggestion is in some ways much more suggestive even than Kant’s allusion to the conditions of an individual concept, but it is also more obscure. To explore it will force us to deal with some disputed issues about the categories of quantity themselves, as well as with some less than obvious associations these categories suggested to Kant. Before we tackle these issues, however, we should consider for a moment Kant’s suggestion that the three formulas represent a progression analogous to that found in the categories of quantity. We have seen already, in terms of Kant’s comparison of the formulas to the elements constituting an individual concept, that there is a progression in the formulas in the direction of greater content, determinacy and completeness. The suggestion that this progression is analogous to that found within the categories of quantity puts it in a slightly different light, however. For within each triad of the categories there is supposed to be a progression in the sense that the third member combines the second category with the first: »Thus allness or totality is just plurality considered as a unity« (B 110–111). Now Kant has already claimed that FA combines FUL and FH in the sense that it follows from the two of them (Ak 4:431). This is best understood if we think of FA as combining the idea of an unconditional practical law (in FUL) with that of a will whose supreme worth or dignity (as given in FH) is capable of grounding such legislation. Kant further claims, however, that any one of the three formulas unites the other two in itself (Ak 4:436). This would be a disanalogy with the cat-

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II. Das System der Transzendentalphilosophie · A. W. Wood

egories of quantity, since Kant does not claim that the category of unity combines those of plurality and totality, nor that plurality combines totality and unity. But it also remains unclear how FH counts as a combination of FUL with FA, or how FUL could be said to unite FA and FH; the only case which is relatively clear is that FA combines the idea of universal law (present in FUL) with the idea of the rational will as a ground of value (present in FH). So perhaps it is best to think of the three formulas simply in terms of the progression analogous to that found in each triad of the categories.

α) The quantity of judgments Kant’s attempt to systematize the formulas in terms of the categories of quantity appears in any case to rest on the following thoughts: FUL (FLN) is analogous to the category of unity. FH is analogous to the category of plurality. FA is analogous to the category of totality. In order to make anything further out of these analogies, however, we need to understand a bit better how Kant grasps the categories of quantity themselves. This, however, is in some respects a problematic and even a controversial matter. One source of controversy concerns the relationship between the table of categories and the table of judgments, derived from general logic, which Kant used as a clue or guiding thread to the discovery of the categories. Kant’s table of categories appears to correspond precisely to the table of judgments, both in their division into four groupings and in their ordering within each division. However, in the case of the categories of quantity, this strict ordering would yield the following correspondences: CATEGORIES OF QUANTITY Table of Judgments (A70/B95)

Table of Categories (A80/B106)

Quantity of Judgments

Of Quantity

Universal

Unity

Particular

Plurality

Singular

Totality

The universal form of judgment (All A is B) corresponds to the category of unity. The particular form of judgment (Some A is B) corresponds to the category of plurality. The singular form of judgment (The A is B) cor-

The Moral Law as a System of Formulas

295

responds to the category of totality. This ordering, however, appears at first glance to be the direct inverse of what one might expect, since unity would seem more naturally derived from the singular judgment form, and totality would seem more naturally derived from the universal judgment. In an article of 1970, Michael Frede and Lorenz Krüger argued that this was in fact Kant’s intention, even though it runs contrary to the printed text of both editions of the Critique.4 A reply to this argument, defending the ordering actually present in the text, has been made recently by Manley Thompson.5 The substantive argument for Thompson’s position (which is also that of Kant’s printed text) is that the universal judgment rests on the formal unity of the subject concept, while the subject of a singular judgment is an individual thing, which thus contains implicitly a totality of thorough determination in respect of every pair of contradictory predicates. The text of the Groundwork actually lends support to Thompson’s interpretation as well, since it explicitly associates the category of unity with universality, and associates the category of totality with a system of thorough determination (Ak 4:436–437). This strongly suggests that Kant was committed to the correspondence of judgment forms and categories present in the text of the first Critique, and for the reasons just suggested. Such an account further coheres with Kant’s other comparison, since it relates the judgment forms and categories of quantity quite closely to the theory of individual concepts – associating FUL and the category of unity with the universal form of a concept, FH with the category of plurality and the matter of a concept, and FA with the category of totality and the thorough determination pertaining to every individual concept.

β) The transcendentals: unum verum bonum Beyond the association of the categories of quantity with the forms of subject concept in a judgment, the second edition of the first Critique also alleges a correspondence of these three categories to the traditional theory of transcendentals, according to the scholastic proverb quodlibet ens est unum, verum, bonum (B113–116). Kant maintains that the three so-called 4

M. Frede and L. Krüger, Über die Zuordnung der Quantitäten des Urteils und der Kategorien der Größe bei Kant, in Kant-Studien 61 (1970). 5 Manley Thompson, Unity, Plurality, Totality, in Monist 73 (1990). I am much indebted to Daniel Sutherland, who is a defender of Thompson’s account of the matter, for bringing to my attention both this controversy and many of the other relevant

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II. Das System der Transzendentalphilosophie · A. W. Wood

transcendentals: one, true and good (or perfection), are in fact not predicates of things but only logical requirements of the cognition of things, prescribed respectively by the quantitative categories of unity, plurality and totality (B 114). Every cognition requires the unity of a concept, in particular the qualitative unity in a manifold of cognition which is brought under a single concept. Truth appears in the guise of the qualitative plurality of true consequences that follow from a given concept (B 114). Goodness as perfection consists in qualitative completeness, insofar as the plurality thought under a concept is unified insofar as it is thought as according with this concept and with no other (B 114–115). In Kant’s Nachlaß there are intriguing attempts to associate the three categories of quantity with other triads, which evidently arose partly out of this attempt to derive the three transcendentals – one, true and perfect – from the categories of quantity. Kant associates this triad with the triad of faculties: understanding, judgment and reason (R5734, 18:339–40), probably because understanding is the faculty which gives unity to concepts, judgment is the faculty which applies them to a plurality of consequences, and reason is the faculty which seeks unconditioned completeness under principles. He associates the categories also with the three principles of contradiction, sufficient reason, and thorough determination (R5562, 18:234). We might think of the first of these principles as corresponding to the minimal condition for a unified concept, supplied by understanding, the second as the principle grounding the plurality of valid consequences of concepts as supplied by judgment, and the third as the principle of rational completeness, at least in the case of ideally complete individual concepts.

γ) Quantity and modality Yet another triad Kant associates with the categories of quantity are the modal concepts: possibility, actuality and necessity (R5739–42, 18:341) – which are closely related to, but not precisely the same as, the three categories of modality. The categories of modality, namely, are not simply the three modal concepts but rather the pairs of opposites: possibility-impossibility, existence-nonexistence, necessity-contingency. Kant may think issues regarding the categories of quantity which are raised in the course of this paper. Sutherland’s informative work on this topic will be presented in his Ph.D. dissertation, currently in progress at UCLA.

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that possibility (at least logical possibility) corresponds to non-contradiction, actuality to sufficient reason (since whatever exists or is actual must have a sufficient reason for being so) and necessity to thorough determination, since the determination of an individual by one of each pair of contradictories is necessary to its individual concept (even though for any individual it is often contingent which member of the pair this is).

δ) ›One‹ and ›all‹ Finally, Kant associates the categories of unity with a set of three relationships between ›one‹ and ›all‹: unity corresponds to: »All derived from the one«, plurality to »all connected in one« and totality to »the one derived from all« (R 4026 17:389, R4805–4807 17:733–735, R5734 18:340, R5562 18:341, R5747 18:342, R5734–5737 18:339–340). In a concept, which provides the understanding’s unity to the manifold, the entire manifold is derived from this unity in the sense that the concept is that through which the manifold is thought as a totality; a plurality is thought when many disparate individuals are connected through a single ground; a totality is a ›one derived from all‹ insofar as the concept of a totality arises when many individuals or determinations are presented systematically – and perhaps the clearest case of this is the idea of the ideal thorough determination of an individual concept, when that determination is thought through a single ground, as Kant projects doing in Section 2 of the Ideal of Pure Reason (A571–583/B599–611).

3. Comparisons These various analogies and comparisons are summarized in the following table: Formula

FUL (FLN)

FH

FA (FRE)

Texte

Concept

Form

Matter

Thorough determination

4:437

Q. Category

Unity

Plurality

Totality

4:437

Judgment form

Universal

Particular

Singular

A70, 79/B95,106

Transcendental

One

True

Good (perfect)

B113–115

Faculty

Understanding

Judgment

Reason

R5734, 18:339–40

Principle

Contradiction

Sufficient reason

Thorough determination

R5562, 18:234

Modality

Possibility

Actuality

Necessity

R5739–42, 18:341

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II. Das System der Transzendentalphilosophie · A. W. Wood

For our purposes it is really not crucial whether Kant’s categories of quantity can be derived from the three forms of judgment, whether he succeeds in reducing the transcendentals to the categories of quantity, or whether there is anything philosophically defensible in any of the parallels he draws between the categories of quantity and the triadic structure of faculties, principles, modalities or one-many relations. Our aim here is to get a grip on how Kant understood the fundamental principle of morality as a system of formulas, and for this purpose it is instructive to look at the associations in his mind between the categories of quantity, which he employed in creating such a system, and various other notions which might be used to interpret the respective roles of FUL, FH and FA in constituting a single moral principle. Even if Kant’s attempts to relate the categories of quantity to the transcendentals, modal concepts or relations of one and all are ultimately unsuccessful, they might still suggest relationships between the three formulas of the moral law which shed light on the actual interconnections between those formulas.

a) Consequences for the formulas taken separately The parallels presented in the table do suggest a number of ideas, which are perhaps best presented as reflections first on each formula in turn, and then on the interrelations between the three formulas.

α) FUL (FLN) Kant himself associates FUL with the category of unity in virtue of the fact that it displays »the unity of the form of the will (its universality)« (Ak 4:436). In other words, FUL presents the will which conforms to the moral principle as conforming to universal laws in general and as doing so for the sake of that conformity as such or because the will itself thereby gives itself a certain form. This form, when considered in terms of the maxims of the will, is called in the Critique of Practical Reason the »legislative form« of those maxims, consisting in the fact that the maxims themselves conform to universal law (Ak 5:27). This corresponds to the universal form of judgment because every law, regarding its form, can be represented as saying that all rational beings must do so-and-so. This formula presents the required form of the will as a qualitative unity (corresponding to the transcendental ›one‹) in that this

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form is represented as one which could (and should) be the same at all times and in all rational beings. In that way, FUL presents the good will abstractly, as a will which simply conforms to a concept, namely, that of the universally valid or universally legislative. And this is the sort of unity prescribed to the manifold in experience by the understanding.6 By the same token, it also presents all the acts of such a will, or even of all rational agents themselves, as being derived from a single determining ground, namely the universal form of the will which makes it a will conforming to universal law. Since the indispensable condition for a concept of this kind is noncontradictoriness, it is natural for Kant to devise his test under FUL as one which seeks noncontradictoriness of maxims to universal legislation. And this also indicates that FUL should be treated as specifying merely a criterion of moral possibility (or permissibility) since the absence of contradiction between one’s maxim and the principles of universal legislation can never show anything more than that one is acting in a way that is morally possible or permissible. Kant goes beyond what he is entitled to claim, however, when he converts this into a test of the noncontradictoriness of the maxims themselves when they are considered as universal laws. For it is quite possible that a maxim might conform to universal law (in the sense of not violating any universal law) while being incapable itself of being made into a universal law which is binding on all rational beings. This is the source of many infamous counterexamples to Kant’s universalizability test, such as the maxim of always yielding the right of way to others when intending to pass through a doorway. This policy could not itself be willed as a universal law of human conduct, because then in the envisioned circumstances no one would go through the doorway (which would make the end of the maxim impossible); but as a general policy, this maxim also seems entirely permissible (and even meritorious in its generosity). In this way, as well as others, FUL (in its applied form FLN) is inadequate as a general moral criterion, as many of Kant’s critics have long observed. But these defects do not count against FUL insofar as its aim is merely to present the law as requiring that the will have a certain universally valid form, and its maxims as being noncontradictory to universally valid laws. The mistake Kant made in the Groundwork, in his attempt to illustrate how FUL might 6

Hegel is therefore not without warrant when he regards Kant’s formalism in ethics as a formalism of the understanding. See Berlin Encyclopedia §§ 54, 503–512; Elements of the Philosophy of Right § 135, Lectures on the History of Philosophy III (Frankfurt: Suhrkamp Theoriewerkausgabe, 1970), 20:367–369.

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be exemplified in actual cases, was to suggest that this abstract unity in the form of the will could be presented in such a way as to serve directly as a sufficient criterion of actions conforming to universal law. Whether he actually thought it was to be used as that sort of criterion, it seems to me, remains unclear. What should be clear, however, is that with FUL and FLN, Kant has only begun the task of formulating the supreme principle of morality, and if we find these formulas insufficient for moral practice, we should not straightway condemn Kant’s principle on that ground, but instead wait for the principle as a whole to be fully developed before deciding that Kant’s search for it has been in vain.

β) FH In fact, many of the ideas associated with FH strongly suggest – what we have already twice observed – that it is the formula best suited to application in particular cases. It is the formula Kant associates with the faculty of judgment, whose theoretical function is to determine a subject by applying a concept to it, and whose practical function would presumably be to apply the will’s unity of legislative form in particular instances. In contrast with the conditions of mere possibility or permissibility provided us by FUL, FH is to give us conditions of moral actuality, to tell us when an action positively ought to be done. FH is associated with the transcendental true, understood by Kant as the derivation of true consequences from a concept. FH provides the connection of such consequences in the one by giving to the abstract concept of the unity of form in a will or the legislative form of a maxim a particular content, which is specified as »the plurality of the matter (of objects, i. e. of ends)« (Ak 4:436). The judging or particularizing function performed by FH is closely associated with the fact that FH is the formula which also gives a specific content to the abstract idea of the will’s universal or legislative form by providing the will with a motive or objective determining ground of volition (Ak 4:427). Because FH supplies the motive for action, just as the category of plurality provides the ground for the many consequences derived from a concept, Kant associates both with the principle of sufficient reason. In acting from the universal law of morality, we are always acting for the sake of an end, namely the worth of rational nature, and this gives us the motive to act while simultaneously helping to specify which actions we should perform. In this way, we see that Kant’s practical psychology actually affirms what it has often been taken to deny, that de-

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ciding practically what should be done in a particular case is always closely associated with being rationally motivated to do it. The determining ground which was presented abstractly in FUL now also acquires in FH a determinate content. We fully understand what is meant by a ›legislative form‹ of a maxim or a ›formal principle‹ of volition only when we see that there is an end, namely, the worth of rational nature as an end in itself, which is not derivative from or contingent on empirical desire but objectively valid for all rational wills. Only an end of this kind is capable of motivating a will to obey an imperative which is categorical rather than merely hypothetical, or, what is the same thing, only it can ground formal practical principles, rather than material principles, which are based on contingent and subjective ends arising from empirical desire. This also tells us how we should read Kant’s apparent rejection (as ›material‹ principles) of all practical principles grounded on ends, in the Critique of Practical Reason (Ak 5:21–23). Material principles, that is to say, are those grounded on merely subjective ends, while formal principles are grounded on the sole objective end, which is rational nature as an end in itself (Ak 4:427–428). FH may be the best of the three formulas for deciding in particular cases what the moral law requires, and also for expressing what motivates us (or should motivate us) to follow the law when we do. But it is not adequate to two other tasks which are important to grounding morality. FH does not adequately articulate what makes the moral law a single principle binding on the will, and it does not serve to articulate the ground of the law’s unconditional authority. FH provides us with a plurality of ends in themselves as objective grounds for action, but it does not give us a determinate set of principles specifying how we must act in order simultaneously to show respect for the totality of those possible beings who are ends in themselves. Still less does it show how these principles are grounded in a single practical law. Although FH provides us with an objective ground for particular actions, it does not display the ultimate ground for a system of moral laws which might realize the abstract idea of universal legislation expressed in FUL.

γ) FA (FRE) The formula which accomplishes these tasks, albeit in only a general way, is FA, and its variant FRE. FA exhibits the worth of rational nature, derived from FH, in a new way, not merely as a ground for particular acts

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showing respect for humanity in the person of some rational being, but as a source of authority for a system of moral laws, located in the very rational nature of the agent to whom these laws are addressed. When the worth of rational nature is grasped in this new way, as the ground of a moral legislation, then Kant also ascribes to it a new kind of worth, which he calls dignity (Ak 4: 434–435). In the form of FRE, this way of looking at the moral principle systematizes the plurality of ends in themselves into a »realm« – a systematic union of rational beings under common laws (Ak 4:433). FRE corresponds to the singular judgment by uniting all rational beings and their ends into a single determinate system, just as the ideally complete concept of an individual unites all its predicates into a thorough determination. It corresponds to the transcendental concept of good (or perfection) by presenting the plurality of ends in themselves in a systematic unity, just as a concept, under the heading of ›qualitative perfection‹ represents a plurality of determinations as leading back to this concept and no other. The ideal community of rational beings in FRE corresponds to an ideal system of laws uniting them into a realm, which is in this respect ›the one derived from all‹. Moreover, it is only insofar as the principle of morality is represented as a complete system of laws, valid for all rational beings because it harmonizes the ends of all into a single harmonious system, that the moral principle can go beyond being merely a test of permissibility (as it is in FUL) or a ground for performing a plurality of actions harmonizing with a mere plurality of ends, as it is represented in FH, and finally achieve the status of a command legislating all duties with a practical necessity. By the same token, it is only when the moral law is grasped as such a system arising from the will of each rational agent that it is truly grasped as a law of reason – rather than merely being thought through an abstract concept of understanding (in FUL) or conceived as a principle of judgment (in FH). Of course, when the principle of morality is grasped as FA or FRE, the system of moral laws is still presented abstractly or ideally, as the general conception of a thoroughly determinate system of laws or an organically unified realm of ends. The task of developing the contents of such a system fall outside the Groundwork, which, as its name tells us, merely lays the ground for an entire ›metaphysics of morals‹ or a complete and determinate system of duties. Nor should the ›thoroughgoing determination‹ associated with such a system be misconstrued to mean that specific duties will necessarily crowd in on the agent in every situation, removing all latitude from moral choices. What it does mean, I think, is

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that morality ought ideally to have something to say about every situation, and that an ideal system of moral laws would be completely determinate in the sense that nothing of value – no rational being as end in itself, and no permissible end of such a being – would be excluded from the scope of these laws.

b) Consequences for the formulas as a system Looked at in this way, the system of formulas does indeed involve a progression, in the sense that FUL by itself is incomplete, FH providing an indispensable supplement to it, and FA (or FRE) finally conceives the moral law in an adequate fashion. In this way, FUL should be seen as a preliminary and consciously inadequate formulation of the principle, FH as a more adequate but still imperfect one, while FA (or FRE) is to be seen as the only fully adequate one. Yet it would miss the point entirely to take this as meaning that we need only FA and FRE, and could dispense with FUL and FH altogether. For in viewing the system of formulas as a progressive one, we need at the same time to acknowledge that each formula in the progression builds on the earlier ones and is not regarded as possible without it. Thus we can ask about the determinate motive or objective end of following a categorical imperative, or (what is the same thing) we can inquire into the content of a formal principle or the legislative form of a maxim, only when we have first formulated the moral law as FUL. And we can begin to recognize rational nature as the source of the law’s authority, and can conceive of moral legislation as systematized into a realm of ends only when the worth of rational nature as an objective end has first been conceived through FH. Looked at in this way, the progression from each formula to the next follows a pattern paralleling the three categories of quantity. For just as the unit provides the basis for plurality, so the concept of the legislative form of a maxim leads in Kant’s argument to the search for the objective end or motive which could serve, subjectively, to represent this legislative form, and this end is located in the plurality of rational beings as ends in themselves. Likewise, just as unity and plurality combine to form totality, so FUL and FH are put together to yield FA, in which the worth of rational nature (which grounds FH), conceived as the idea of rational will, is represented as the author of the universal laws (which are presupposed in FUL).

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In the moral law as a system of formulas, then, the three formulations of the moral law need to be regarded as mutually complementary. Like the categories of quantity, they refer to complementary ways in which the moral principle is applied to maxims. FUL corresponds to the category of unity in that it refers to the universal validity of each single maxim; FH, to plurality through directing us to the many rational beings who must be treated as ends; and FA (once again as FRE), to totality in presenting these ends as an entire system. FUL corresponds to unity in that it refers to the »legislative form of the maxim« as the single pure determining ground of the good will, »which must be exactly the same determining ground for the will of all rational beings and in all cases« (KpV 5:25). FH represents plurality because there are many rational beings, each containing humanity as an end in itself. FA (as FRE) corresponds to totality, since it represents these beings as ends in an organized whole or »realm« under a system of laws. 4. ›The very same law‹ This puts us in a better position to understand Kant’s most striking claim about his three main formulas of the moral law: »The above three ways of representing the principle of morality are only so many formulas of the very same law (eben desselben Gesetzes), and any one of them of itself unites the other two in it« (G 4:436). Kant’s three formulas obviously share a common spirit. If we treat all others as ends in themselves (as FH enjoins), then we will not take ourselves to have greater worth than they have, and so (following FUL and FLN) we will not adopt maxims we could not will all others to follow as well. Respecting rational nature as an end, we will also (after FA) recognize the idea of rational will as the authority standing behind all binding principles of reason, and so we will live according to principles that bring the ends of rational beings into harmony, as a single system or ›realm‹ (as FRE puts it). Beyond noting this common spirit, however, I think we will search in vain for a proof that the three formulas are logically equivalent, so that given any one of them, we could simply deduce the other two from it. That sort of equivalence is even precluded by the very idea of a ›progression‹ between the formulas, which is displayed in Kant’s own procedure in the second section of the Groundwork. For he derives FUL and FH from quite distinct sources (FUL from the concept of a categorical imperative in general and FH from the concept of the motive which

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could determine the rational will to obey such an imperative), and then he derives FA by putting together, and extending, the ideas contained in FUL and FH. We have been given no reason to expect that formulations of the law derived in such distinct ways will be equivalent in the sense that they would logically co-imply one another. Thus only malice or poverty of imagination could induce us to give such an implausible interpretation to Kant’s claim. Nor does it make much sense to attempt an ›equivalency proof‹ among the formulas in the sense of demonstrating that their practical consequences must be identical (that they will require and forbid exactly the same things under the same circumstances). This is not because these consequences will be different, but rather because none of the three formulas – all by itself and independently of empirical information required to apply it – has consequences which are determinate enough for such an ›equivalence proof‹ to make sense. FA and FRE are merely general characterizations of the entire system of moral laws, which resist direct application to individual cases. FH tells us only to treat rational nature in every person as an end in itself, that is, appropriately to its dignity. This is an important injunction, and by no means empty of consequences. But in order to draw conclusions what it requires in particular circumstances, we require premises telling us what is the expressive meaning of various courses of action regarding the dignity of rational nature.7 As for the universalizability tests employed in FUL (or FLN), there are notorious problems involving the formulation of maxims to be tested, and especially the level of generality or specificity which is appropriate. FUL is best interpreted, in any case, as presupposing determinate moral laws (distinct from it) with which the maxim is to be tested by its agreement or disagreement.8 Kant admits as much himself when he says that when we transgress the law we will »the opposite of our maxim« to be a universal law (Ak 4:424). Between the supreme principle of morality and the particular facts of any given situation in which someone is to act, moral reasoning always requires an intermediate set of premises or principles through which the supreme principle is to be applied. I think Kant was trying to articulate

7

See Allen Wood, Humanity as End in Itself, in Robinson (ed.) Proceedings of the Eighth International Kant Congress (Milwaukee: Marquette University Press, 1995), 1.1, pp. 311–316. 8 As Hegel rightly claimed. See Elements of the Philosophy of Right, § 135; Phenomenology of Spirit, 596–631.

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the need for such intermediate principles when he distinguished between the purer and the more intuitive forms of his formulations, and also when he distinguished the moral law itself from the »typic of pure practical judgment« in the Critique of Practical Reason (Ak 5:67–71). In the final form of Kant’s practical philosophy, presented in the Metaphysics of Morals, the moral law is mediated by a system of ends – or »duties of virtue«, ends which it is a duty to have (Ak 6:384–389). This means that the fundamental principle of morality, if it is considered just by itself in any of its formulations, will remain somewhat vague in its practical consequences and in need of interpretation both through other formulations of the principle itself and through intermediate principles through which it is applied. The three formulas represent ›the very same law‹, therefore, only in the sense that the supreme principle of morality, as Kant intends it, is adequately expressed only in the system of all three – the system which Kant is about to present when he makes this remark. In other words, we cannot take any single formulation of the law to have achieved the Groundwork’s avowed aim of searching for the fundamental principle of morality (G 4:392). Each formula ›unites the other two in itself‹ in the sense that they complement one another: none of them is adequately understood except in its systematic connection with the other two. Each has its distinctive role relative to the formulas that complement it. Kant’s claim that the formulas represent the very same law is not an invitation to explore the logical relation between his verbal statements of the three formulas, or to look directly for contradictions or equivalency proofs regarding their consequences. Instead, it should be taken as a constraint on how they should be interpreted in light of one other.

III. ZUR SYSTEMATIK BESONDERER TEILE DER EIGENTLICHEN METAPHYSIK

Brigitte Falkenburg Kants Forderungen an eine wissenschaftliche Metaphysik der Natur Im Systementwurf des Architektonik-Kapitels der Kritik der reinen Vernunft (KrV) sind zwei Motive wirksam, die schon Kants vorkritische Philosophie prägten. Das eine ist, die Prinzipien der Newtonschen Physik in eine Metaphysik nach Wolffschem Vorbild einzubauen. Das andere ist die Absicht, dies systematisch und nicht eklektizistisch zu tun – nach einer wohldefinierten Methode. Beide Motive sorgen für die erstaunliche Kontinuität, die Kants Theorie der Natur über den Bruch mit der vorkritischen Metaphysik hinweg in vielen Details zeigt. Sie sind im folgenden mein Leitfaden zum Verständnis der Architektonik der reinen Vernunft. 1. Zunächst rekapituliere ich den Zusammenhang, den Kant zwischen wissenschaftlicher Methode und systematischem Vorgehen in der Metaphysik sieht. 2.–3. Danach arbeite ich die logischen und semantischen Prinzipien heraus, die dem Aufbau seiner Metaphysik der Natur zugrunde liegen. 4. Abschließend skizziere ich das Begründungsprogramm der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft (MAN) im Verhältnis zur Transzendentalphilosophie.

1. Der ›sichere Gang‹ einer Wissenschaft Die KrV soll ein Vorhaben realisieren, das in Cartesischer Tradition steht und um das sich der junge Kant vergebens mittels der analytischen Methode der Newtonschen Physik bemüht hatte: die systematische Erneuerung der Metaphysik als einer Wissenschaft von den Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Seit der kritischen Wende glaubt Kant nicht mehr, daß die Analyse gegebener Phänomene oder Vorstellungsinhalte zu tragfähigen metaphysischen Grundsätzen führt. Die kritische Methode beruft sich anders als das vorkritische, naiv-analytische Vorgehen

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nicht auf vorgegebene Erkenntnisinhalte, sondern auf die Prinzipien, nach denen Erkenntnisinhalte zustande kommen. Die Vorrede zur 2. Auflage der KrV stellt das Vorgehen nach diesen Prinzipien als die eigentliche methodologische Leistung der exakten Wissenschaften heraus. Sie vergleicht die antike Mathematik, der das entscheidende ›Licht‹ aufging, als man Beweise durch geometrische Konstruktionen zu führen begann, und die neuzeitliche Physik, der die experimentelle Methode zum ›sicheren Gang einer Wissenschaft‹ verhalf, mit der Metaphysik, der eine entsprechende Erkenntnismethode noch fehlt. Kant hat damit die vorkritischen Methodenideale nicht verabschiedet, aber er deutet sie auf neue Weise. Er hält es für irreführend, zur Erkenntnis metaphysischer Gegenstände das Vorgehen einer exakten Wissenschaft kopieren zu wollen. Statt dessen steht und fällt für ihn das Projekt einer wissenschaftlichen Metaphysik nun damit, die Prinzipien, auf denen wissenschaftliches Vorgehen in den exakten Wissenschaften seit jeher beruht, zum Untersuchungsgegenstand zu machen und die traditionellen analytisch-synthetischen Methodenideale auf das Zustandekommen der Erkenntnis anzuwenden. So wie die Physik nach der resolutiv-kompositiven Methode Galileis experimentelle Phänomene herstellt und untersucht, oder die Chemie die Ingredienzien von Stoffen analysiert und synthetisiert,1 soll die Metaphysik als Wissenschaft von den Prinzipien der menschlichen Erkenntnis unser kognitives Vermögen analytisch in einzelne Komponenten zergliedern und synthetisch deren Zusammenwirken rekonstruieren. Dadurch kehrt sich das methodologische Verhältnis von Wissenschaft und Metaphysik gegenüber der vorkritischen Philosophie gerade um. Die Metaphysik darf die Methodenideale der Logik, Mathematik oder Physik nicht naiv auf metaphysische Gegenstände anwenden, um dem Eklektizismus zu entkommen. Sie muß diese Methodenideale umgekehrt benutzen, um die Prinzipien deutlich zu machen, nach denen eine Wissenschaft wie Logik, Mathematik oder Physik seit jeher vorgeht. Diese Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und Metaphysik hat mehrere Konsequenzen:

1

Vgl. KrV B XIII und die Anm. auf B XIX. – Die analytische Methode hat zwei Teilschritte: einen analytischen, mit dem man von gegebenen Phänomenen oder Vorstellungsinhalten auf theoretische Grundsätze schließt; und einen synthetischen, der die Probe auf die Ergebnisse der Analysis macht. Vgl. Cotes im Vorwort zur 2. Auflage von Newtons Principia; siehe auch H.-J. Engfer, Philosophie als Analysis, Stuttgart 1987. M. Friedman, Kant and the Exact Sciences, Cambridge, Mass. 1992, Introduction, vernachlässigt die synthetischen Aspekte der analytischen Methode.

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1) Systematisches Vorgehen überhaupt wird zum Definiens für Wissenschaft. Entsprechend hebt Kant im Architektonik-Kapitel der KrV hervor, daß »die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d. i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht«.2 2) Systematizität oder Wissenschaftlichkeit überhaupt wird auf die Vernunft als das synthetische Vermögen des Vorgehens nach Prinzipien zurückgeführt. Nur dies gewährleistet nach Auffassung des kritischen Kant die Gewißheit der Inhalte einer Wissenschaft. 3) Das vorkritische Projekt, die Grundsätze einer Metaphysik nach Wolffschem Stil mit denjenigen der Newtonschen Physik vereinbar zu machen, wird nun vernunfttheoretisch angegangen. Das traditionelle metaphysische Streitfeld, auf dessen Terrain sich etwa die LeibnizClarke-Debatte bewegt, wird durch Vernunftkritik neu abgesteckt; die metaphysischen Grundlagen und Anwendungsbedingungen der mathematischen Physik werden aus transzendentalphilosophischen Prinzipien gewonnen. 4) Die Vollständigkeitsbedingungen, denen eine wissenschaftliche Theorie unterliegt, müssen geklärt und erfüllt werden. Erkenntnisse, die nicht systematisch gegliedert sind, bleiben eklektizistisches Stückwerk – »Stücke, die zu keinem Gantzen gehören«, wie es in einer Logik-Reflexion aus den siebziger Jahren heißt.3 Dagegen ist eine wissenschaftliche Theorie für Kant ein System von Erkenntnissen, dessen Aufbau oder ›Architektonik‹ vollständig bestimmt ist: »Die Wissenschaft enthält also ausser den Theilerkenntnissen noch einen abris des Gantzen und die Stelle einer jeden besonderen Erkenntnis in diesem Ganzen.«4 Kants Systematizitätsforderungen sind der modernen Forderung analog, daß eine formale Theorie logisch und semantisch vollständig sein sollte. Sie zielen jedoch auf epistemische Vollständigkeit und sind stärker als die Vollständigkeitsbedingungen der modernen Logik. Die Axiome eines formallogischen Systems sollen logisch unabhängig sein. Kant dagegen will die Prinzipien wissenschaftlicher Theorien, etwa die Axiome der Newtonschen Mechanik, auf die einheitsstiftenden Leistungen der Vernunft zurückführen. Sein Systembegriff zielt darauf, auch vernunfttheoretische Beziehungen zwischen den Axiomen einer wissenschaftlichen Theorie herzustellen, die formallogisch unabhängig sind. Solche systema2 3 4

B 860/A 832. R 1865, Akademie-Ausgabe Bd. 16, S. 141 (=AA 16, 141). Ebda.

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tischen Beziehungen sind zwangsläufig nicht-extensional. Im Rahmen der modernen Logik sind sie nicht erfaßbar. Genauso wenig sind sie in der reinen Form der Anschauung konstruierbar, die Kants Theorie der Natur zu einer extensionalen Theorie macht. Kant benötigt jedoch Kriterien dafür, wie man eine wissenschaftliche Theorie erzeugt und wann sie vollständig ist. Die nicht-extensionalen Prinzipien, nach denen ein Erkenntnissystem zusammenhängt, müssen ähnlich wie die reinen Verstandesbegriffe schematisiert werden, damit sie realisiert werden können. Dies geschieht durch ein Analogon zum Schema der Sinnlichkeit.5 In der Kritik der Urteilskraft charakterisiert Kant dieses Analogon im Gegensatz zum intuitiven Schema der Sinnlichkeit als symbolisch.6 Das symbolische Schema liefert ein Konstruktionsprinzip, das es erlaubt, die Beziehungen zwischen dem Systemganzen und seinen Teilen nach Art eines extensionalen, räumlichen Modells zu denken. Seine Funktion besteht analog zum Schematismus des reinen Verstandes darin, die Anwendbarkeit von logischen Funktionen der reinen Vernunft sicherzustellen; es stellt die logischen Bedingungen für die systematische Vervollständigung der Erkenntnis symbolisch dar.

2. Der logische Aufbau der Metaphysik Kant gewinnt diese Bedingungen aus logischen Erkenntnisidealen, die er nicht in der KrV, sondern in seinen Logik-Vorlesungen expliziert. Zur Einleitung in die formale Logik unterrichtete er regelmäßig eine allgemeine Erkenntnislehre, mit der er unter Verwendung von Lehrinhalten der Schulphilosophie an seine eigene systematische Philosophie heranführte. Diese Lehre von den Vollkommenheiten in der Erkenntnis liefert die Prinzipien für den Aufbau jeder Wissenschaft.7 5

»Die Idee bedarf zur Ausführung ein Schema, d. i. eine a priori aus dem Prinzip des Zwecks bestimmte wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der Teile.« KrV B 861/A 833. – »Allein, obgleich für die durchgängige systematische Einheit aller Verstandesbegriffe kein Schema in der Anschauung ausfündig gemacht werden kann, so kann und muß doch ein Analogon eines solchen Schema gegeben werden.« KrV B 693/A 665. 6 Kritik der Urteilskraft, § 59. 7 Sie knüpft an die rationalistische Lehre von der ›gelehrten‹, ›philosophischen‹, ›vernünftigen‹ oder auch ›vollkommenen‹ Erkenntnis an, die Kant in G. F. Meiers Logik-Kompendium vorfand. Ihre Leitmotive sind durch das Leibnizsche Ideal der cognitio perfectissima gesetzt. Letztlich liegen ihre Wurzeln in der Cartesischen Lehre von den Graden der Erkenntnis sowie in den vier Regeln des Discours de la Méthode.

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Die ›Vollkommenheiten‹ der Erkenntnis sind teils konstitutive Prinzipien für Erkenntnis überhaupt und teils regulative Prinzipien für das Zusammenstimmen von Einzelerkenntnissen in einem System. Sie repräsentieren jeweils einen unübertreffbaren Grad an Erkenntnis – ein epistemisches Supremum, das nicht unbedingt erreichbar sein muß. Kant unterscheidet logische, ästhetische und praktische Vollkommenheiten der Erkenntnis, die er jeweils nach der Kategorientafel in Allgemeinheit, Deutlichkeit, Wahrheit und Gewißheit einteilt. Die ästhetischen und praktischen Erkenntnisideale sind ›subjektiv‹; sie betreffen die Faßlichkeit der Erkenntnis bzw. die technisch- oder moralisch-praktischen Absichten bei der Theorienbildung. Die logischen Erkenntnisideale dagegen sind ›objektiv‹. Sie sind formale Vollständigkeitsbedingungen für Theorien sowie deren epistemischen Gehalt und liefern die formalen Prinzipien zum Aufbau eines Systems der theoretischen Erkenntnis.8 So wird nach dem Kapitel vom regulativen Gebrauch der Ideen ein System natürlicher Arten durch die »Idee des Maximum der Abteilung und der Vereinigung der Verstandeserkenntnisse unter einem Prinzip« als symbolisches Schema erzeugt.9 Für ein Begriffssystem gewinnt man diese Idee direkt aus den Erkenntnisidealen der logischen Deutlichkeit und Allgemeinheit.10 Für den Aufbau eines metaphysischen Systems, das nicht nach natürlichen Arten, sondern nach Vernunftprinzipien gegliedert sein soll, ist die Idee der maximalen Begriffseinheit und -einteilung Welche Wichtigkeit er ihr beimaß, ersieht man aus dem Umfang, den er ihr in den Logik-Vorlesungen einräumte: In der Jäsche-Logik macht sie den größten Teil der Einleitung aus und nimmt mehr Raum ein als die gesamte unter ›Elementarlehre‹ abgehandelte allgemeine Logik. In den erhaltenen Vorlesungsnachschriften wird sie in Anlehnung an Meier zur ›Elementarlehre‹ der Logik gezählt und umfaßt mehr als die Hälfte davon. Darüber hinaus ist ihr ein Großteil der Logik-Reflexionen gewidmet. Kant handelt sie in Anknüpfung an die Ideen- und Erkenntnislehre des Wolffianismus innerhalb der Logik ab, aber er betrachtet sie gemäß der Unterscheidung von Anschauungen und als der Logik systematisch übergeordnet. 8 Zum folgenden vgl. etwa die Jäsche-Logik, AA 9, 038 f. 9 KrV B 693/A 665. 10 Maximale Begriffseinteilung bedeutet, daß der Inhalt jedes Begriffs eines Begriffsgefüges maximal ist, d.h. eine maximale Anzahl von Merkmalen aufweist oder maximale logische Deutlichkeit hat. Maximale Einheit in der Begriffseinteilung entspricht umgekehrt einer Begriffshierarchie mit möglichst allgemeinen Begriffen auf allen Ebenen. Auch die Prinzipien der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität, nach denen ein System natürlicher Arten erzeugt wird, gewinnt man aus den Idealen der logischen Allgemeinheit und Deutlichkeit. Aus dem Ideal der logischen Deutlichkeit folgt das Spezifikationsprinzip, aus dem Ideal der logischen Allgemeinheit das Homogenitätsprinzip. Das Kontinuitätsprinzip resultiert aus der Vereinigung der beiden anderen Prinzipien. Vgl. KrV B 686/A 658.

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allein allerdings wenig hilfreich. Kant definiert die Metaphysik als das »System der reinen Vernunft (Wissenschaft), das die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhange«11 umfaßt. Über das symbolische Schema, nach dem der Grundriß eines solchen Systems der Metaphysik skizziert werden kann, gibt das Architektonik-Kapitel nur spärlich Auskunft. Die wenigen Hinweise zeigen aber, daß die Lehre von den Vollkommenheiten der Erkenntnis in der Tat maßgeblich ist.12 So hebt Kant hervor, daß die Philosophie nach dem »Schulbegriff« einer historisch überlieferten Disziplin (cognitio ex datis) dem Ideal eines logisch vollkommenen Erkenntnissystems unterliegt; denn der »Schulbegriff« der Philosophie ist der Begriff »von einem System der Erkenntnis, die nur als Wissenschaft gesucht wird« und ausschließlich auf die »systematische Einheit dieses Wissens, mithin logische Vollkommenheit der Erkenntnis« zielt.13 Nach dem »Weltbegriff« oder als rationale Disziplin (cognitio ex principiis) dagegen beruft sich die Philosophie nicht auf Lehrsysteme, sondern schreitet ausschließlich nach Vernunftprinzipien fort. Danach ist die Philosophie dem »Ideal des Philosophen« gemäß als Wissenschaft der undogmatischen Vernunftausübung bestimmt und geht auf die »wesentlichen« Zwecke der Vernunft.14 Das Schema eines Systems der Metaphysik dient entsprechend der Ausrichtung von Einzelerkenntnissen nach Vernunftprinzipien auf Vernunftzwecke. Damit soll das Schema aber vollkommenen Vernunftgebrauch ermöglichen; denn Vollkommenheit besteht für Kant

11

B 869/A 841. Vernunfterkenntnis aus Begriffen ist philosophische Erkenntnis; B 865/A 837. Die Philosophie wiederum ist das System aller philosophischen Erkenntnis; B 865 f./A 837 f. Die Philosophie soll also eine Wissenschaft sein – die Wissenschaft, zu der das skizzierte System der Metaphysik gehört. Kant unterteilt die Philosophie in »Propädeutik« oder »Kritik«, als systematische Untersuchung des menschlichen Vermögens, zu »reiner Erkenntnis a priori« zu gelangen, und »Metaphysik«; B 869/A 841. Nach dieser Einteilung zählen zumindest die Resultate der philosophischen Propädeutik, die in der KrV vorliegt, mit zur Metaphysik. Entsprechend enthält die KrV bereits die Grundlage der metaphysica generalis, nämlich die Prinzipien der Transzendentalphilosophie oder Ontologie. 12 Vgl. B 863 ff./A 835 ff. 13 B 866/A 838. 14 B 867/A 839: »In dieser Absicht ist Philosophie die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae), und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern ein Gesetzgeber der menschlichen Vernunft.« Das Architektonik-Kapitel sagt über das Schema eines Systems der Metaphysik nur, daß es auf die »wesentlichen Zwecke« der Vernunft bezogen ist: es ist »architektonisch«, nicht »technisch«, d.h. es entspringt a priori den Zwecken der Vernunft. Vgl. B 861/A 833.

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nach einer Logik-Reflexion aus den fünfziger Jahren im Zusammenstimmen von Mannigfaltigem zu einem gemeinsamen Zweck.15 Die Hinsichten, nach denen die Vernunfterkenntnisse vollkommen sein oder zu Vernunftzwecken zusammenstimmen sollen, müssen das symbolische Schema liefern, nach dem ein System der reinen Vernunft aufgebaut werden kann. Durch logische Erkenntnisideale ist dieses Schema offenbar nur partiell bestimmt. Die Systematik der Metaphysik insgesamt wird nach dem Weltbegriff der Philosophie aus dem Begriff der Gesetzgebung durch die menschliche Vernunft generiert.16 Die Metaphysik der Natur ist nicht auf praktische Vernunftzwecke ausgerichtet, sondern auf den theoretischen Zweck der Erkenntnis aller Dinge, die es gibt. Ihr systematischer Aufbau muß also durch das Ideal der logischen Vollkommenheit festlegt sein. Dabei beruht sie auf Naturgesetzen. Naturgesetze sind formaliter Gesetze, die das erste innere Prinzip des Daseins eines Dings betreffen, und materialiter Gesetze, die für die Natur als Inbegriff von Sinneserscheinungen gelten.17 Das systematische Prinzip, nach dem die Metaphysik der Natur erzeugt wird, ist die Gesetzgebung durch die Vernunft nach Naturgesetzen in beiden Bedeutungen. Kant muß es nach seinen logischen Erkenntnisidealen schematisieren, um das System einer Metaphysik der Natur im Grundriß vollständig zu entwerfen. Dabei müssen auch die Adäquatheitsbedingungen von Naturgesetzen berücksichtigt werden, denn Wahrheit und Gewißheit sind im Katalog der logischen Erkenntnisideale als notwendige Erkenntnisbedingungen ausgezeichnet.18 Sie bestimmen den Aufbau der Metaphysik mit, weil die philosophische Erkenntnis auf Welterkenntnis zielt. Die Metaphysik handelt traditionellerweise von Gegenständen, die nicht als bloße Schöpfungen des Erkenntnisvermögens, sondern als gegeben gelten und denen die Schulphilosophie Dasein zuspricht. Die Systematisierung der philosophischen Erkenntnis in einer ›szientifischen‹ Metaphysik der Natur muß demnach auf die Einteilung aller Gegenstände zielen, die a priori als gegeben und nicht als gedacht vorgestellt werden. Sie muß auf denjenigen Prinzipien beruhen, nach denen Gegenstände a priori als gegeben vorgestellt werden, insbesondere auf den Grundsätzen des reinen Verstan15

R 1748: »Die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in einer Sache zu einer gemeinschaftlichen Absicht heißt die Vollkommenheit.« (AA 16, 100) 16 B 867 f./A 839 f. 17 MAN, AA 4, 467. 18 Vgl. etwa R 1765, AA 16, 106 (nach § 27 von Meiers Logik-Kompendium, ebda.); sowie AA 9, 65 ff.

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des. Nach Kants Definition der Metaphysik umfaßt die Metaphysik jedoch nicht nur wahre, sondern auch scheinbare philosophische Erkenntnis. Scheinbare Erkenntnis hat bloß den subjektiven Anschein der Wahrheit, also ästhetische anstelle logischer Wahrheit.19 Sie ist keine Erkenntnis im eigentlichen Sinn. Zu dieser zählt nur der wahre Teil der Metaphysik, der sich auf Gegenstände mit objektiver Realität bezieht und der den Erkenntnishorizont eines Wesens mit Anschauung und Verstand nicht überschreitet. Da die Metaphysik auch den systematischen Zusammenhang der wahren mit der scheinbaren Erkenntnis beinhalten soll, müssen zu den Erzeugungsprinzipien ihres Aufbaus auch die dialektischen Vernunftschlüsse gehören, mit denen das Erkenntnisvermögen seinen logischen Horizont zu überschreiten versucht: der Paralogismus, die kosmologische Antinomie und das transzendentale Ideal. Insgesamt legt Kant seinem Grundriß einer Metaphysik der Natur damit, soweit ich sehe, folgende logischen Prinzipien zugrunde: 1) Die Idee eines Maximums der Begriffseinteilung und -einheit als generelles symbolisches Schema zur Erzeugung eines Begriffssystems; 2) die Forderung der logischen Gewißheit als notwendige und hinreichende Bedingung für rationale Erkenntnis; 3) die Prinzipien a priori, nach denen die Gegenstände der Metaphysik als gegeben vorgestellt werden; und 4) das Kriterium der logischen Wahrheit zur Abgrenzung des wahren vom scheinbaren Teil der Metaphysik. Aus diesen vier Prinzipien gewinnt Kant bereits den Grundriß seiner Metaphysik der Natur. Die überlieferte Einteilung in metaphysica generalis et specialis ergibt sich trivialerweise aus der Idee eines Maximums der Begriffseinteilung und -einheit. Erst beim Übergang von der metaphysica generalis zu den einzelnen Abteilungen der metaphysica specialis weicht Kant von der überlieferten Einteilung der Metaphysik nach Wolff oder Baumgarten ab. Die spezifischen Inhalte der einzelnen Teile seiner Metaphysik ergeben sich nämlich aus den Prinzipien a priori, nach denen metaphysische Gegenstände als gegeben vorgestellt werden und die im kritischen Teil des Systems der Philosophie entwickelt sind – in der KrV. Die metaphysica generalis oder Ontologie identifiziert er als Lehre von Gegenständen überhaupt mit der Transzendentalphilosophie und teilt die besondere Metaphysik der Natur unter dem Oberbegriff rationale Physiologie sodann 19

Vgl. AA 9, 39: »die ästhetische Wahrheit. – Eine bloß subjektive Wahrheit, die nur in der Übereinstimmung des Erkenntnisses mit dem Subjekt und den Gesetzen des Sinnen-Scheines besteht und folglich nichts weiter als ein allgemeiner Schein ist.«

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danach ein, wie das Erkenntnisvermögen nach Prinzipien a priori besondere Erkenntnisgegenstände als gegeben vorstellt. Dabei unterscheidet er die Begriffe von Gegenständen möglicher Erfahrung, die durch »physischen« oder »immanenten« Vernunftgebrauch gegeben sind, von den Begriffen der Gegenstände keiner möglichen Erfahrung, die aus »hyperphysischem« oder »transzendentem« Vernunftgebrauch resultieren.20 Erstere beruhen auf den Grundsätzen des reinen Verstandes und begründen die wahre metaphysische Erkenntnis; letztere resultieren aus den dialektischen Vernunftschlüssen, mit denen das Erkenntnisvermögen die Verstandeserkenntnis nach Vernunftprinzipien zu vervollständigen versucht, und begründen bloß scheinbare metaphysische Erkenntnis. Mit den Prinzipien a priori, nach denen metaphysische Gegenstände als gegeben vorgestellt werden, kommt bei der systematischen Einteilung der Metaphysik ein ästhetisches Erkenntnisideal ins Spiel – das Ideal der ästhetischen Deutlichkeit. Dieses Ideal fungiert in Kants Erkenntnislehre aus heutiger Sicht als ein semantisches Prinzip. Es fordert nämlich, daß der logische Horizont der Erkenntnis bzw. der Umfang eines abstrakten Begriffs durch Anwendungsfälle oder Beispiele in concreto dargestellt oder versinnbildlicht werden kann. Gegenstände überhaupt kann man sich nicht als gegeben vorstellen. Gegenstände, die als gegeben vorgestellt werden können, werden als bestimmte Gegenstände vorgestellt. Sie müssen in irgendeiner Hinsicht die Bedingung der ästhetischen Deutlichkeit erfüllen, die Kants Erkenntnislehre wie folgt definiert: »die ästhetische Deutlichkeit [...] ist die Deutlichkeit in der Anschauung, worin durch Beispiele ein abstrakt gedachter Begriff in concreto dargestellt oder erläutert wird«.21 Beim scheinbaren Teil der Metaphysik wird es sich dabei um ästhetische Deutlichkeit handeln, die von den Bedingungen erborgt ist, unter denen sinnliche Erkenntnis zustande kommt. Oder nach dem Sprachgebrauch der Dissertation von 1770: die ästhetische Deutlichkeit der Gegenstände des scheinbaren Teils der Metaphysik, der Vernunftideen ›Seele‹, ›Welt‹ und ›Gott‹, ist erschlichen durch den Gebrauch von Grundsätzen, die nur unter Bedingungen der Sinnlichkeit gelten. Wenn man sich diese Gegenstände als gegeben vorstellt, so vernachlässigt man, daß Begriffe von Gegenständen, die a priori als gegeben vorgestellt werden, keine materiale, sondern höchstens formale ästhetische Deutlichkeit haben können. Beispiele in concreto mit formaler ästhetischer Deutlichkeit sind nicht durch die Sinneswahrnehmung gegeben, sondern sie beruhen 20 21

KrV B 873/A 845. AA 9, 39.

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III. Zur Systematik besonderer Teile der Metaphysik · B. Falkenburg

auf Konstruktion in der reinen Form der Anschauung. Die Gegenstände des wahren Teils der besonderen Metaphysik unterliegen dieser Bedingung. Damit gerät die wahre metaphysische Erkenntnis in direkte Nachbarschaft zur mathematischen Erkenntnis: sie hat mit der Mathematik gemein, daß ihre Gegenstände logische Gewißheit und formale ästhetische Deutlichkeit haben sollen.22 Mit der Unterscheidung von wahrer und scheinbarer Naturerkenntnis spaltet Kant die tradierte Kosmologie – zu der auch die Gegenstände seiner Allgemeinen Naturgeschichte von 1755 und seiner Monadologia physica von 1756 gehören – in immanente und transzendente Physiologie auf. Zur ersteren zählt er die metaphysische Grundlegung der Physik, zur letzteren die kosmologische Weltidee – den Gegenstand der Antinomienlehre. Die Aufspaltung entspricht der Einteilung in rationale Physik und rationale Kosmologie. Die immanente Physiologie untergliedert sich in rationale Physik oder Körperlehre und rationale Psychologie oder Seelenlehre. Die Einteilung erfolgt danach, wie Gegenstände a priori als in der Anschauung gegeben vorgestellt werden können: entweder durch den äußeren oder durch den inneren Sinn. Die transzendente Physiologie wiederum ist danach eingeteilt, wie ihre nicht-erfahrbaren Gegenstände nach dialektischen Vernunftschlüssen aus Begriffen von Erfahrungsobjekten extrapoliert werden: die Idee der Welt im Ganzen ist durch »innere Verknüpfung« der Erfahrungsgegenstände zum Begriff einer Gesamtheit von Naturdingen gegeben, die Gottesidee durch »äußere« Verknüpfung der Natur mit dem Begriff eines übernatürlichen Wesens.23 Dies führt zur Vierteilung in rationale Physik und rationale Psychologie als Disziplinen a priori der Gegenstände des äußeren und inneren Sinns, sowie rationale Kosmologie und rationale Theologie als transzendentale 22

Die Philosophie beruht im Gegensatz zur Mathematik auf Erkenntnis aus Begriffen, soll also diskursive und nicht intuitive Gewißheit haben. Die Metaphysik kann ihre logische Gewißheit also nicht wie die Mathematik der formalen ästhetischen Deutlichkeit ihrer Begriffe verdanken. Ihrem wahren Teil muß darum die diskursive Gewißheit synthetischer Urteile a priori zukommen. Besondere Gegenstände der Metaphysik, die konkret als gegeben vorgestellt werden können, müssen jedoch zugleich in concreto in der reinen Form der Anschauung konstruierbar sein. Diese Adäquatheitsbedingung impliziert, was Kant in der Vorrede der MAN hervorhebt: der wahre Teil der besonderen Metaphysik der Natur reduziert sich auf die metaphysische Begründung der mathematischen Naturerkenntnis – auf die rationale Physik. Diese ist aber strikt gegen die mathematische Physik abgegrenzt. Sie enthält nur die diskursiven Prinzipien a priori, nach denen die Gegenstände der Physik in der Anschauung konstruierbar sind, aber nicht die Konstruktion dieser Gegenstände; diese bleibt den mathematischen Methoden der Physik überlassen. Vgl. die Anm. zu KrV B 875/A 847. 23 KrV A 846/B 874.

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Welt- und Gotteserkenntnis – und damit zur Einteilung der Metaphysik der Natur ex principiis.24 Metaphysik der Natur ex principiis





metaphysica specialis Physiologie

➝ immanent (Sinn)

➝ (innerer) Psychologie

➝ (äußerer) Physik

➝ transzendent (Verknüpfung)



metaphysica generalis Ontologie

(innere) Kosmologie

➝ (äußere) Theologie

3. Die Konkretisierung Wie wollte Kant diese Systematik konkret ausfüllen? Bezüglich der Inhalte der rationalen Ontologie, Psychologie, Kosmologie und Theologie kann man sich an den Metaphysik-Vorlesungen der achtziger und neunziger Jahre orientieren. In ihnen trug er aus kritischer Sicht Lehrinhalte der Schulphilosophie nach Baumgarten vor.25 Die Transzendentalphilosophie oder Ontologie hielt er für vollständig aus den Urteilsfunktionen, Kategorien und Grundsätzen der KrV ableitbar – nach welchen Prinzipien auch immer. Die Kosmologie bestand nach den Vorlesungen weitgehend in Vernunftkritik. Sie umfaßte die Antinomienlehre als Hauptgegenstand; dazu kam eine formale Lehre der Welt im Ganzen nach dem Stil des ersten Abschnitts der Dissertation von 1770, die aber nun als problematische anstelle apodiktischer Erkenntnis dargestellt wurde.26 Diese formale Kosmologie, deren Gegenstand ›Welt‹ eine abstrakte Entität ohne korrespondierende Anschauung ist, konnte nicht den Status hypothetischen Wissens, sondern höchstens den Status doktrinalen Glaubens 27 haben. 24 Um zu zeigen, inwieweit sich die überlieferte Einteilung der Schulphilosophie ex principiis reproduzieren läßt, gibt Kant abschließend die folgende Vierteilung an, die der traditionellen Ontologie, Kosmologie, Psychologie und Theologie nach Wolff oder Baumgarten entspricht: 1. Ontologie, 2. rationale Physiologie, 3. rationale Kosmologie, und 4. rationale Theologie. Kant gewinnt sie aus seiner eigenen Systematik, indem er die Einteilung in immanente und transzendente Physiologie vernachlässigt und die immanente Physiologie unscharf als »Physiologie« bezeichnet. Vgl. A 846 f./B 874 f. 25 Vgl. insbes. die Metaphysik-Vorlesung Mrongovius von 1783, AA 29, 848 ff. 26 Vgl. AA 28, 850 f. 27 Vgl. KrV B 853 ff./A 825 ff.

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III. Zur Systematik besonderer Teile der Metaphysik · B. Falkenburg

Ausgeführt hat Kant vom gesamten System einer Metaphysik der Natur nur die MAN als Grundlage der rationalen Physik. Dies hat systematische Gründe. Die rationale Physik, die kein Korrelat in der Schulphilosophie hat, kommt in den Metaphysik-Vorlesungen nicht explizit vor. Vor allem aber betrachtet er sie als den eigentlichen Prüfstein seiner gesamten theoretischen Philosophie – einen Prüfstein, wie ihn die vorkritischen metaphysischen Systeme einschließlich seines eigenen Systems von 1755/56 nicht haben. Er muß nämlich zeigen, daß die immanente Physiologie wahre Erkenntnis umfaßt. Andernfalls hängt die besondere Metaphysik der Natur als bloße Spekulation in der Luft; und mit ihr die Transzendentalphilosophie, die für sich genommen keine Gegenstände in concreto besitzt oder sich noch nicht auf bestimmte Vorstellungen von Einzelobjekten bezieht, sondern nur von Gegenständen überhaupt oder in abstracto handelt. Der immanente Teil der Metaphysik der Natur muß eine konkrete Erfüllungsinstanz besitzen, die als in der Anschauung gegeben vorstellbar ist. Andernfalls hat die Metaphysik keine konkrete intendierte Anwendung vorzuweisen und kann insgesamt nicht beanspruchen, Welterkenntnis zu sein. Kant versucht sein Konkretisierungsproblem so zu bewältigen, daß er als minimale materiale Zutat zu seiner Metaphysik der Natur die blanke Vorstellung a priori eines Gegenstandes zuläßt, der durch den äußeren oder inneren Sinn gegeben ist. Dabei greift er auf den empirischen Begriff von etwas in der Anschauung Gegebenem zurück, ohne irgendwelche sonstigen Voraussetzungen bezüglich der empirischen Beschaffenheit dieses Gegebenen zuzulassen: »[...] wie kann ich eine Erkentnis a priori, mithin Metaphysik, von Gegenständen erwarten, so fern sie unseren Sinnen, mithin a posteriori gegeben sind? und, wie ist es möglich, nach Prinzipien a priori, die Natur der Dinge zu erkennen und zu einer rationalen Physiologie zu gelangen? Die Antwort ist: wir nehmen aus der Erfahrung nichts weiter, als was nötig ist, uns ein Objekt, teils des äußeren, teils des inneren Sinnes zu geben.«28 Ein Gegenstand des äußeren oder inneren Sinns muß danach durch einen empirischen Begriff vorgestellt werden, der ein Konkretisierungsprinzip für die allgemeine Metaphysik liefert. Die entsprechenden empirischen Begriffe sind nach dem Architektonik-Kapitel die Begriffe der »Materie (undurchdringliche leblose Ausdehnung)« und des »denkenden Wesens (in der empirischen inneren Vorstellung: Ich denke)«.29 Diese Begriffe sollen nach dem obigen Zitat 28 29

KrV B 875 f./A 847 f. KrV B 876/A 848.

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zur Konkretisierung der Metaphysik der Natur jeweils als einzige empirische Zutat die Vorstellung eines gegebenen Gegenstands des äußeren oder inneren Sinns beisteuern; davon abgesehen muß die immanente Metaphysik der Natur (im Gegensatz zur empirischen Naturwissenschaft) ›nach Prinzipien a priori‹ fortschreiten. Welche empirischen Voraussetzungen nach Kant in diesen empirischen Begriff genau einfließen dürfen (und welche er in die MAN einfließen läßt!), ist in der Kant-Forschung umstritten. Ich vermute, daß an verschiedenen Stellen des metaphysischen Begründungsverfahrens der MAN verschiedene Arten empirischer Voraussetzungen eingehen; und daß Kant sich darüber nicht vollständig Rechenschaft abgelegt hat – unter anderem, weil für ihn keine Alternativen zur Euklidischen Geometrie und zur Newtonschen Mechanik vorstellbar waren. Die entscheidenden Textstellen im Architektonik-Kapitel und in der Vorrede der KrV lassen jedoch keinen sehr weiten Deutungsspielraum bezüglich Kants Absichten offen. Nach der Charakterisierung im Architektonik-Kapitel ist der empirische Materiebegriff die empirische Vorstellung eines Gegenstands, der undurchdringlich, leblos und ausgedehnt ist. Nach den MAN dagegen ist die Grundbestimmung des Materiebegriffs, die durch die Kategorientafel transportiert werden soll, die Bewegung, so daß der Begriff ›Materie als Bewegliches im Raum‹ der Ausgangspunkt des synthetischen Vorgehens der MAN ist. Nachdem Kant die Ausführungen des Architektonik-Kapitels in der B-Auflage der KrV nirgends revidiert, müssen beide Bestimmungen miteinander vereinbar sein. Man darf also nicht denken, das Prädikat ›beweglich‹ mache bereits den vollen empirischen Materiebegriff aus. Es handelt sich nur um die »Grundbestimmung« des Materiebegriffs. Diese Grundbestimmung entspricht einerseits einem empirischen Minimalbegriff der Materie im Sinne eines »Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll«,30 und sie ist andererseits geeignet für die Mathematisierung durch Konstruktion in der reinen Anschauung. Ausgehend von diesem empirischen Minimalbegriff sind dann nach dem Materiebegriff des Architektonik-Kapitels zumindest die empirischen Prädikate ›undurchdringlich‹, ›leblos‹ und ›ausgedehnt‹ durch Subsumtion unter die Kategorien und Grundsätze des reinen Verstandes zu rekonstruieren, aber darüber hinaus keine weiteren empirischen Bestimmungen hinzuzunehmen.31 30

Vgl. AA 4, 476 f.; dazu K. Cramer, Nicht-reine synthetische Urteile a priori, Heidelberg 1985, S. 132 ff. 31 Kant betrachtet die Prädikate ›leblos‹ und ›träge‹ als gleichbedeutend; vgl. AA

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Der empirische Begriff eines Gegenstands des äußeren bzw. inneren Sinns muß in der immanenten Metaphysik der Natur also zum Ausgangspunkt synthetischer Urteile a priori gemacht werden. Konrad Cramer hat darauf hingewiesen, daß hieraus nicht-reine synthetische Urteile a priori resultieren.32 Die immanente Metaphysik der Natur ist demnach »philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft«33 nur im Hinblick auf die Urteilsfunktionen, auf denen ihre Grundsätze a priori beruhen, nicht aber im Hinblick auf die Grundbestimmungen des Begriffs, aus dem sie nach synthetischen Urteilen a priori generiert werden soll. Diese Grundbestimmungen beruhen auf gegebenen Anschauungsinhalten. Die Erzeugung wahrer metaphysischer Erkenntnis aus diesem Begriff mit empirischem Ursprung steht unter zwei Adäquatheitsbedingungen: sie muß (i) die diskursive Gewißheit von synthetischen Urteilen a priori haben – und (ii) die formale ästhetische Deutlichkeit von Erkenntnissen, deren Gegenstände in concreto in der reinen Form der Anschauung konstruierbar sind. Die immanente Metaphysik der Natur kann danach nichts anderes als Prinzipien a priori der Mathematisierung ihrer Gegenstände enthalten. Da der empirische Begriff der Seele im Gegensatz zum Materiebegriff nicht mathematisierbar ist, kann die rationale Physik als einziger wahrer Teil der Metaphysik der Natur in concreto ausgeführt werden. Kant hebt entsprechend in der Vorrede zu den MAN in bezug auf die reinen Verstandesbegriffe der Transzendentalphilosophie oder Ontologie hervor, daß »der Verstand nur durch Beispiele aus der körperlichen Natur belehrt wird, welches die Bedingungen sind, unter denen jene Begriffe allein objektive Wahrheit haben können. Und so tut eine abgesonderte Metaphysik der körperlichen Natur der allgemeinen vortreffliche und unentbehrliche Dienste, indem sie Beispiele (Fälle in concreto) herbeischafft, die Begriffe und Lehrsätze der letzteren (eigentlich der Transzendentalphilosophie) zu realisieren, d.i. einer bloßen Gedankenform Sinn und Bedeutung unterzulegen.«34 Die Wendung »Sinn und Bedeutung« ist hier wörtlich zu lesen: das Beispiel in concreto, das die MAN der metaphysica generalis liefern soll, ist eine konkrete Erfüllungsinstanz der Begriffe und Grundsätze der allgemeinen Metaphysik der Natur. Der intensionale Aspekt oder »Sinn« dieser Erfüllungsinstanz sind die Prädikate, die 4,544: »Die Trägheit der Materie bedeutet nichts anders, als ihre Leblosigkeit, als Materie an sich selbst.« Entsprechend identifiziert er ›Materie‹ im Architektonik-Kapitel mit ›undurchdringliche leblose Ausdehnung‹; siehe KrV B 876/A 848. 32 Cramer, a.a.O. 33 KrV B 869/A 841. 34 AA 4, 478.

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der Materie nach dem allgemeinen Naturbegriff bzw. den reinen Grundsätzen des Verstandes zukommen. Der extensionale Aspekt oder die »Bedeutung« sind die konkreten Gegenstände, die diesen Grundsätzen unterliegen, etwa Systeme mechanischer Körper im Raum, die Bestandteil der Sinnenwelt sind und den Gesetzen der Newtonschen Mechanik gehorchen.35 Man darf ›Beispiele‹ (›Fälle in concreto‹) oben also nicht im schwachen Sinne einer subjektiven Faßlichkeit oder Versinnbildlichung der Transzendentalphilosophie lesen. Die ästhetische Deutlichkeit oder das Vorliegen eines Beispiels in concreto, das hier gefordert ist, hat den Status einer (formalen und materialen!) Adäquatheitsbedingung für die metaphysische Erkenntnis. Mit ihr steht und fällt für Kant die Adäquatheit der gesamten Theorie der Natur; und damit auch die Realisierbarkeit seines ursprünglichen Projekts, die Newtonsche Physik mit einer Metaphysik nach Wolffschem Vorbild zu vereinheitlichen.

4. Das Begründungsprogramm der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft Kants Projekt, die Grundsätze der Newtonschen Physik in eine Metaphysik nach Wolffschem Vorbild einzubetten, zielt seit den Schriften von 1755/ 56 darauf, die metaphysischen Debatten des 18. Jahrhunderts um die Begriffe von Raum und Zeit, um den Kraftbegriff, um die Existenz von Atomen und um das Verhältnis der materiellen Welt zu immateriellen Substanzen zu schlichten. Den systematischen Vorgaben einer Metaphysik nach Wolffschem Vorbild entsprechend umfaßt dieses Vereinheitlichungsprojekt noch in der kritischen Philosophie zwei Teilaufgaben, die faktisch untrennbar sind und jeweils wiederum aus zwei Teilaufgaben bestehen: 1) horizontale Vereinheitlichung: innerhalb der einzelnen Abteilungen der Metaphysik müssen auf zwei Ebenen disparate metaphysische Grundsätze (etwa aus der Leibniz-Clarke-Debatte) in Einklang gebracht werden: a) in der metaphysica specialis: divergierende Grundsätze für die physikalische Materietheorie und Kosmologie; b) in der metaphysica generalis: allgemeine Grundsätze wie das Prinzip des zureichenden Grundes und ihre Anwendungsbedingungen. 35

Ich bin mir nicht sicher, wie genau sich Kants Begriffe von Sinn und Bedeutung auf die von Frege abbilden lassen; Freges Terminologie geht umgekehrt auf Kants Sprachgebrauch zurück.

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2) vertikale Vereinheitlichung: die besondere Metaphysik der Natur muß in zwei Ableitungsrichtungen als Spezialfall der allgemeinen Metaphysik erwiesen werden: a) die Theorie der körperlichen Natur muß als Beispiel in concreto erweisen, daß die metaphysica generalis keine leere Theorie ist; b) aus Grundsätzen der allgemeinen Metaphysik muß eine metaphysische Grundlegung der Physik gewonnen werden. Kants kritische Wende tangiert weniger dieses Vereinheitlichungsprogramm als die Durchführung. Bei der ersten Teilaufgabe, der horizontalen Vereinheitlichung, stehen kosmologische Streitfragen bezüglich des absoluten Raums, des Kraftbegriffs, des Atomismus und der durchgängigen systematischen Organisation des Universums nach Naturgesetzen zur Entscheidung an, die Kant bereits mit der Materietheorie und Kosmologie der fünfziger Jahre hatte auflösen wollen. In gewissem Sinn zielen noch die MAN auf die Bewältigung der Aufgabe, die Kant 1756 in der Monadologia physica mit dem Vorhaben verglichen hatte, Pferde und Greife zusammenzuspannen – nämlich darauf, die mathematische Physik oder ›Geometrie‹ mit der Metaphysik oder ›Transzendentalphilosophie‹ zu vereinigen. Er ging dieses Problem schon damals so an, daß er zunächst in der Nova dilucidatio von 1755 auf der Ebene der metaphysica generalis die logische Tragweite des Prinzips des zureichenden Grundes zu bestimmen versuchte und die Leibnizsche Lesart des Indiszernibilienprinzips kritisierte. Die horizontale Vereinheitlichung der Metaphysik in der metaphysica specialis muß mit den Grundsätzen der metaphysica generalis im Einklang sein; nur so ist sichergestellt, daß die vertikale Vereinheitlichung von allgemeiner und besonderer Metaphysik gelingen kann. Die zwei Ableitungsrichtungen der vertikalen Vereinheitlichung haben ihr vorkritisches Pendant in den beiden Teilschritten der analytischen Methode. Der Nachweis, daß die allgemeine Metaphysik der Natur einen Anwendungsfall oder eine Realisierung in concreto hat, entspricht einem analytischen Schluß von der besonderen auf die allgemeine Metaphysik der Natur. Die metaphysische Grundlegung der Newtonschen Physik nach Grundsätzen der Transzendentalphilosophie entspricht umgekehrt dem synthetischen Vorgehen, die Grundsätze der Metaphysik der körperlichen Natur aus allgemeinen metaphysischen Grundsätzen zu gewinnen. Der oft bemerkte Sachverhalt, daß sich die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft und die KrV in gewissem Sinne gegenseitig voraussetzen, ist also keine methodologische »Inkonsequenz in Kants Ansatz«,36 36

P. Plaass, Kants Theorie der Naturwissenschaft, Göttingen 1965, S. 68.

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wie Peter Plaass meinte, sondern eher eine Konsequenz davon, daß Kant die analytisch-synthetische Methode noch im kritischen System verwendet, um dessen inneren Zusammenhang zu sichern und sein metaphysisches Vereinheitlichungsprojekt zustande zu bringen. Tatsächlich soll die analytisch-synthetische Methode hier bedeutend mehr leisten als die vertikale Vereinheitlichung der Metaphysik in zwei Ableitungsrichtungen. Sie soll es auch ermöglichen, von der Wahrheit eines Teils der metaphysica specialis auf die objektive Realität der allgemeinen Metaphysik der Natur und umgekehrt zu schließen. Indem die MAN ein konkretes Modell der Transzendentalphilosophie mit ästhetischer Deutlichkeit und diskursiver Gewißheit vorweisen, sollen sie den Nachweis für die objektive Realität der Kategorien und Grundsätze des reinen Verstandes erbringen, den die Transzendentalphilosophie für sich genommen nicht vollständig erbringen kann, weil sie kein Konkretisierungsprinzip hergibt. Umgekehrt ist die diskursive Gewißheit oder ›apodiktische Notwendigkeit‹ der Grundsätze der Materietheorie, soweit diese aus den Grundsätzen des reinen Verstandes abgeleitet sind, von der diskursiven Gewißheit der Urteilsfunktionen und Kategorien ererbt. Worin die Begründungsleistung der Metaphysischen Anfangsgründe im einzelnen besteht, kann ich im folgenden nur noch andeuten. Die rationale Naturerkenntnis, der die MAN ein Beispiel in concreto liefern sollen, erzeugt Erkenntnisinhalte a priori. Für Kant heißt »etwas a priori erkennen es aus seiner bloßen Möglichkeit erkennen«.37 Entsprechend geht es in den MAN darum, den Materiebegriff als Grundbegriff der rationalen Physik aus der Annahme der bloßen Möglichkeit der Materie zu gewinnen. Dabei meint Kant nicht die logische, sondern die reale Möglichkeit der Materie im Sinne eines bestimmten Vorstellungsinhalts,38 d. h. im Sinne der Vorstellung eines bestimmten, durch die Anschauung individuierten Erkenntnisobjekts. Reale Möglichkeit in diesem konkreten Sinne erfordert, daß der Materiebegriff formale ästhetische Deutlichkeit hat, oder »daß die dem Begriff korrespondierende Anschauung a priori gegeben werde, d. i. daß der Begriff konstruiert werde.«39 Der konkrete Vorstellungsinhalt, der dem Materiebegriff korrespondiert, muß als ein raumzeitliches Modell in der Anschauung konstruierbar sein. Der transzendentalphilosophische Begriff eines Gegenstandes überhaupt bekommt so sein Beispiel in concreto, das ihm Sinn und Bedeutung verleiht. Aus37 38 39

AA 4, 470. Zum Begriff der realen Möglichkeit siehe P. Plaass, a.a.O., S. 56 ff. AA 4, 470.

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gangspunkt des Konstruierbarkeitsbeweises ist der empirische Begriff der Materie als Inbegriff von Gegenständen des äußeren Sinnes. Die Grundbestimmung dieses Begriffs ist nach Kant die Bewegung, so daß der Begriff ›Materie als Bewegliches‹ der Ausgangspunkt der MAN ist. Die Aufgabe der rationalen Physik besteht also darin, die metaphysischen Prinzipien einer mathematischen Konstruktion der empirischen Merkmale des Materiebegriffs so zu entwickeln, daß anhand der Grundsätze des reinen Verstandes gezeigt wird, wie diese Merkmale real möglich sind bzw. sich in der reinen Anschauung (re-)konstruieren lassen. Die Entwicklung dieser metaphysischen Prinzipien folgt der synthetischen Methode der Mathematik, wie Kant hervorhebt. Die vier Hauptstücke der MAN transportieren den empirischen Materiebegriff (bzw. seine in der Anschauung konstruierbare Grundbestimmung ›Bewegung‹, vgl. unten) durch die Kategorientafel. Dabei wird der Materiebegriff in jedem Hauptstück a priori um neue Prädikate angereichert, die sich in der reinen Anschauung (re-)konstruieren lassen. Kant sagt selbst am Ende der Vorrede, er habe »die mathematische Methode, wenn gleich nicht in aller Strenge befolgt [...], dennoch nachgeahmt«40 – in der Hoffnung, daß die Resultate seiner Metaphysischen Anfangsgründe dereinst in Physik-Lehrbüchern als separater Teil von Begriffserklärungen und Grundsätzen den Definitionen und Axiomen der mathematischen Physik vorangestellt werden mögen.41 Die Synthesis des Materiebegriffs erfolgt, 40

AA 4, 478. Das synthetische Vorgehen hält er entgegen den Ausführungen in der Preisschrift von 1764 nun für ein zulässiges metaphysisches Verfahren, denn die Kategorien und Grundsätze des reinen Verstandes gewährleisten nach der KrV systematische Vollständigkeit in der Erkenntnis. Vgl. AA 4, 472 ff. – Dennoch muß der synthetischen Erweiterung des empirischen Materiebegriffs durch apriorische Prädikate »eine vollständige Zergliederung des Begriffs von einer Materie überhaupt zum Grunde gelegt« werden (ebda.). Plaass wurde durch diese kryptische Textstelle zur paradoxen Rede von einer »synthetischen Zergliederung« veranlaßt (a.a.O., S. 77). Vor dem Hintergrund der Teilschritte der analytisch-synthetischen Methode deute ich Kants Vorgehen dagegen wie folgt: Das Ergebnis der Analyse unseres Vermögens, reine Verstandesbegriffe zu bilden, wird beim synthetischen Vorgehen in den MAN vorausgesetzt; der empirische Materiebegriff wird zuerst nach ihnen zergliedert und sodann unter sie subsumiert. Die Aufgabe der vier Hauptstücke der MAN besteht darin, einen rudimentären empirischen Materiebegriff synthetisch um Prädikate, die in der reinen Anschauung konstruierbar sind, zu erweitern. Soweit diese Prädikate bereits im empirischen Materiebegriff angetroffen werden, soll das Verfahren die Möglichkeit einer mathematischen Rekonstruktion empirischer Begriffsinhalte begründen. Soweit sie noch nicht zum empirischen Begriff einer ›Materie überhaupt‹ gehören, soll es Prinzipien a priori ihrer mathematischen Konstruktion liefern. Die Resultate der Zergliederung des empirischen Materiebegriffs in einzelne Prädikate, die unter die Kategorien 41

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indem Kategorien und Grundsätze des reinen Verstandes in vier Hauptstücken zu physikalischen Grundbegriffen und Grundsätzen spezifiziert werden. Ergebnisse dieser Spezifikation sind: Definitionen für die kinematischen und dynamischen Begriffe der Mechanik; Konstruktionsprinzipien der Möglichkeit von Materie nach repulsiven und attraktiven Kräften; ein Massenerhaltungssatz sowie das Trägheits- und Wechselwirkungsgesetz der Newtonschen Mechanik; und schließlich: Konstruktionsvorschriften für Bewegungen in Inertialsystemen, für die Messung von Masse und Bewegungsgröße, sowie für die sukzessive Bestimmung des Schwerpunktssystems immer umfassenderer Systeme mechanischer Körper. Um zu verstehen, was im einzelnen der ›metaphysische Ertrag‹ dieser Definitionen, Grundsätze und Konstruktionsprinzipien ist, müßte ich nun ins Detail gehen, was hier nicht mehr geht. Lassen Sie mich statt dessen mit drei grundsätzlichen Bemerkungen schließen. 1) Nach Kants Ausführungen zum ›sicheren Gang einer Wissenschaft‹ in der Vorrede B zur KrV hat man diese Ergebnisse im Sinne eines Entwurfs zu verstehen, den die Vernunft der mathematischen Physik zugrunde legt, um physikalische Phänomene nach Naturgesetzen zu deuten – etwa die Bewegungen von Himmelskörpern nach Gesetzen der Newtonschen Mechanik; oder Dichteunterschiede materieller Körper, Erscheinungen der Kohäsion, unterschiedliche Aggregatzustände etc. nach verschiedenen Graden abstoßender und anziehender Kräfte innerhalb der Materie. Das Methodenideal, das die empirische Naturwissenschaft nach der Vorrede B bereitstellt, ist eine spezifische Variante der analytischen Methode: die resolutiv-kompositive Methode Galileis mit ihrem konstruktiven Aspekt einer kontrollierten Erzeugung von experimentellen Phänomenen unter künstlichen Bedingungen. Entsprechend zielt die metaphysische Grundlegung der mathematischen Physik nicht auf eine deskriptive, sondern auf eine strukturierende, konstruktive Physik. Sie müßte sich bruchlos in eine Theorie des Experiments weiterentwickeln lassen, die den konstruktiven Aspekten der resolutiv-kompositiven Methode Galileis gerecht wird und die direkt an die in der Vorrede B hergestellte Analogie zwischen der kritischen Wende in der Metaphysik und der experimentellen Methode anknüpft. 2) Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft lassen sich dabei weder für neukantianische noch für postmoderne Varianten und Grundsätze des reinen Verstandes subsumierbar sind, werden dabei als gegeben vorausgesetzt. Kant benutzt also die analytische Methode, um den Ausgangspunkt für seine metaphysische Begründung der Physik zu gewinnen, und schreitet sodann am Leitfaden der Ergebnisse der Analysis synthetisch fort.

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III. Zur Systematik besonderer Teile der Metaphysik · B. Falkenburg

eines wissenschaftlichen Konstruktivismus vereinnahmen. Nach ihren Begriffen und Grundsätzen soll der gesetzmäßige Zusammenhang von Phänomenen der empirischen Naturwissenschaft konstruiert werden – nach systematischen Prinzipien, die aus kosmologischen Ideen hergeleitet sind. Dabei fungieren die Prinzipien eines metaphysischen Realismus immerhin als erkenntnisleitende Ideen. So zielt die Methode zur Konstruktion eines immer umfassenderen Schwerpunktsystems von Himmelskörpern auf das metaphysische Projekt einer szientifischen Rekonstruktion der ›systematischen Verfassung des Weltbaus‹, das Kant bereits in der Allgemeinen Naturgeschichte von 1755 verfolgt hatte. Die MAN sollen endlich sein altes Programm der Vereinheitlichung divergierender Auffassungen über Raum und Zeit, Kraft und Substanz, Atomismus und Kontinuumstheorie der Materie etc. bewältigen. Die vernunftkritische Entscheidung über die kosmologischen Debatten des 18. Jahrhunderts beruht auf den Auflösungen des mathematischen Teils der Antinomienlehre: Kant übernimmt sie en detail in die MAN, wie man zeigen kann. Den Gegenstand ›Welt‹ der kosmologischen Idee denkt er dabei im Sinne eines potentiell-unendlichen konkreten Modells der Newtonschen Mechanik als schrittweise, wenngleich nicht vollständig, konstruierbar. Zu fragen ist allerdings, ob er so die strikte Grenzziehung zwischen doktrinalem Glauben und hypothetischem Wissen wahren kann, die seine Erkenntnislehre für den kosmologischen Gegenstand ›Welt‹ erzwingen will. 3) Im Verhältnis zur Transzendentalphilosophie, d. h. in bezug auf die beiden Ableitungsrichtungen der vertikalen Vereinheitlichung, erbringen die MAN eine semantische Leistung. Sie geben den Verstandesbegriffen und Grundsätzen der KrV mit den entsprechenden physikalischen Begriffen und Grundsätzen eine konkrete, raumzeitliche Interpretation, die vom Begriff des Beweglichen im Raum ausgehend konstruiert werden kann. Damit zeigen die MAN, daß sich empirische Veränderungen in der Tat nach den Begriffen und Grundsätzen der Transzendentalphilosophie deuten lassen. Umgekehrt zeigen sie zugleich – etwa durch operationale Vorschriften für die Messung der Masse oder Bewegungsgröße eines mechanischen Körpers –, daß die metaphysischen Grundbegriffe und Grundsätze der Physik an eine außerphysikalische, empirische Deutung von Veränderungen angeschlossen werden können.42 Diese semantische Leistung ist stärker als 42

Vgl. meinen Aufsatz zu Kants Substanzbegriff und Newtons Massebegriff in Dialektik 1993/1 sowie die Repliken von M. Friedman und mir in Dialektik 1993/3.

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ein zirkuläres Begründungsverfahren, das ›analytisch‹ von den Inhalten der Metaphysik der körperlichen Natur auf die der Transzendentalphilosophie schließt und ›synthetisch‹ von der letzteren auf erstere zurückschließt. Aber sie darf aus guten Gründen schwächer sein als ein Nachweis der Adäquatheit der Newtonschen Mechanik, oder gar der Transzendentalphilosophie, in einem naiv korrespondenztheoretischen Sinn.

Meine damalige Lesart von Kants Theorie der Natur war unbestritten zu stark empiristisch gefärbt. Daß die MAN auf eine doppelte semantische Begründungsleistung zielen, die auch bestimmte empirische Aspekte hat, denke ich jedoch immer noch.

Michael Friedman Matter and Motion in the Metaphysical Foundations and the first Critique: The Empirical Concept of Matter and the Categories* The Metaphysical Foundations of Natural Science is intended to be a »realization« of the more general system of transcendental principles of the first Critique that provides »examples (cases in concreto)« for the concepts and principles of the latter. In this way, the concepts and principles of transcendental philosophy are further specified so as, in particular, to yield pure principles of natural science. In connection with the category of substance and the first analogy, for example, the concept of substance is realized in terms of the quantity of matter, and the principle of the permanence of substance is realized in terms of a conservation law for this quantity. What Kant calls »special metaphysics« – here the metaphysical doctrine of body – thereby supplies »sense and meaning« to the exceedingly abstract and relatively indeterminate system of »general metaphysics« or transcendental philosophy, without which the latter would remain a »mere form of thought.«1 The bridge between the two systems, between general metaphysics and special metaphysics, is what Kant calls »the empirical concept of matter« (470). For it is by adding this concept to the more abstract and general concepts and principles of transcendental philosophy that we then obtain the concepts and principles of special metaphysics – the metaphysical doctrine of body – from the former. In the case of the category and principle of substance, for example, in order to obtain the conservation of matter from the first analogy it is necessary »only to verify what substance is to be in This paper is reprinted from E. Watkins, ed., Kant and the Sciences (Oxford: Oxford University Press, 2000). © Oxford University Press. I am indebted to Eric Watkins, and to Oxford University Press, for permission to publish it here. * I am indebted to discussions with and comments from Konstantin Pollok, during our work together on the Kantian conception of motion in connection with his paper, »Kant’s Critical Concepts of Motion.« I am particularly indebted to both Pollok and Daniel Sutherland for help with the notes and references. I would also like to acknowledge helpful comments from Daniel Warren on a previous draft. 1 All quotations here are from the Preface to the Metaphysical Foundations and, in particular, from the Akademie edition of Kant’s gesammelte Schriften (Berlin, 1902 ff.), vol. 4, 478. Parenthetical page references in the text are either to this volume or to the standard A/B pagination of the Critique of Pure Reason.

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matter.« Since matter is »the movable in space,« and since »the aggregate of movables external to one another is the quantity of substance [in matter],« it follows that the total quantity of such movab-les is necessarily conserved – although, to be sure, they remain entirely free to separate from one another and thereby change their overall arrangement in space.2 This much is relatively clear and uncontroversial. But when it comes to saying more precisely what the content of the concept of matter is, explaining in what sense this concept is empirical, and articulating the precise relationship between this concept and the pure concepts or categories of the first Critique, we are immediately plunged into what appear to be insuperable difficulties. First of all, what is the content of the concept of matter, and how is it possible nonetheless to extract a priori knowledge from such an admittedly empirical concept? In the Preface to the Metaphysical Foundations Kant introduces the idea of a special metaphysics of nature as that which »concerns itself with a particular nature of this or that kind of things, for which an empirical concept is given, but still in such a manner that, outside of what lies in this concept, no other empirical principle is used for its cognition (for example, it takes the empirical concept of matter or of a thinking being as its basis, and it seeks that sphere of cognition of which reason is capable a priori concerning these objects), and here such a science must still always be called a metaphysics of nature, namely, of corporeal or of thinking nature. However, [in this second case] it is then not a general, but a special metaphysical natural science (physics or psychology), in which the above transcendental principles are applied to the two species of objects of our senses.« (470) And, in the first Critique, Kant addresses the question of how a priori knowledge can thereby be forthcoming as follows: »[H]ow can I expect an a priori cognition, and thus a metaphysics, of objects in so far as they are given to our senses, and therefore given a posteriori? […] The answer is: we take no more from experience than what is necessary to give us an object – of either outer or inner sense. The former takes place through the mere concept of matter (impenetrable, lifeless extension), the latter through the concept of a thinking being (in the empirical inner representation: I think).« (A847 f./B875 f.)

We know a priori that there are two general types of objects of our senses: objects of inner sense and objects of outer sense. The concept of matter, it 2

All quotations here pertaining to substance and the quantity of matter are from Ak. 4 (see note 1), 541 f.

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appears, is simply that of an arbitrary object of outer sense – the concept of an object in space. And, in this sense, its content then appears to be entirely a priori.3 This suggestion seems to be confirmed – and indeed even strengthened – in the next paragraph of the Metaphysical Foundations, where the idea of a priori knowledge in this connection is further articulated: »[T]o cognize something a priori means to cognize it from its mere possibility. But the possibility of determinate natural things cannot be cognized from their mere concepts; for from these the possibility of the thought (that it does not contradict itself) can certainly be cognized, but not the possibility of the object, as a natural thing that can be given outside the thought (as existing). Hence, in order to cognize the possibility of determinate natural things, and thus to cognize them a priori, it is still required that the intuition corresponding to the concept be given a priori, that is, that the concept be constructed.« (470)

Kant appears to be saying that we obtain a priori knowledge from the concept of matter precisely by constructing this concept in pure intuition. Thus, not only is the content of this concept given wholly a priori, but objects corresponding to it can also be given wholly a priori – that is, by mathematical construction.4 The sense in which the concept of matter is actually empirical may now appear entirely to evaporate. The idea that the concept of matter is not really empirical after all appears to be further supported, finally, by the way in which Kant describes the relationship between the special metaphysics of corporeal nature and the general metaphysics of the first Critique: »It is also indeed very remarkable (but cannot be expounded in detail here) that general metaphysics, in all instances where it requires examples (intuitions) in 3

The view that the content of the concept of matter is a priori, and that it designates simply an arbitrary object of outer sense, is represented especially by P. Plaass, Kants Theorie der Naturwissenschaft (Göttingen, 1965) – translated as Kant’s Theory of Natural Science (Dordrecht, 1994). For Plaass, whereas the content of the concept is a priori, its objective reality can only be given empirically – by the fact that there are in fact objects of outer sense. A similar view is represented by M. Washburn, »The Second Edition of the Critique: Toward an Understanding of Its Nature and Genesis,« KantStudien 66 (1975): 277–290, who holds, apparently following Plaass, that the concept of matter is empirical only in that experience is needed to show that it is non-empty. 4 That the concept of matter can be mathematically constructed in pure intuition is explicitly asserted by Washburn, op. cit. (see note 3), p. 290; he also asserts, accordingly, that the real possibility and objective reality of the concept can thereby be demonstrated a priori (p. 289, n. 41). Washburn does not explain how this is supposed to be consistent with the idea that experience is needed to show that the concept is non-empty.

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order to provide meaning for its pure concepts of the understanding, must always take them from the general doctrine of body, and thus from the form and principles of outer intuition; and, if these are not exhibited completely, it gropes uncertainly and unsteadily among mere meaningless concepts. This is the source of the well known disputes, or at least obscurity, in the questions concerning the possibility of a conflict of realities, of intensive magnitude, and so on, in which the understanding is taught only by examples from corporeal nature what the conditions are under which such concepts can alone have objective reality, that is, meaning and truth.« (478)

Here Kant seems to be saying that without the special metaphysics of corporeal nature the pure categories of transcendental philosophy would not yet have objective reality – a suggestion that looks particularly plausible when this passage is compared to a parallel passage added to the second edition of the Critique: »It is even more remarkable, however, that, in order to understand the possibility of things in accordance with the categories, and thus to verify the objective reality of the latter, we require not merely intuitions, but always even outer intuitions. If, for example, we take the pure concepts of relation, we find, first, that in order to supply something permanent in intuition corresponding to the concept of substance (and thereby to verify the objective reality of this concept), we require an intuition in space (of matter), because space alone is determined as permanent, but time, and thus everything in inner sense, continually flows.« (B291)

It appears, then, that we need the concept of matter to demonstrate the objective reality of the categories.5 So this concept can hardly be an empirical concept in any ordinary sense of the term. Something has gone terribly wrong here. It is perhaps not so problematic if the concept of matter is not really an empirical concept in the ordinary sense of the term. For it is clear beyond the shadow of a doubt that Kant takes this concept to be a source of a priori knowledge. It would be intolerable, however, if it turned out that we needed the special meta5

That the concept of matter, and the project of the Metaphysical Foundations, is needed to demonstrate the objective reality of the categories, is a central thesis of E. Förster, »Is There ›A Gap‹ in Kant’s Critical System?« Journal for the History of Philosophy 25 (1987): 533–555. According to Förster, the Metaphysical Foundations was written precisely to fill this yawning ›gap‹ in the critical system, and it was Kant’s later conviction that the Metaphysical Foundations also fails that led to the so-called ›transition‹ project of the Opus postumum. For a different view of the transition project and the ›gap‹ it was intended to fill see my Kant and the Exact Sciences (Cambridge, Mass., 1992), Chapter 5.

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physics of corporeal nature to demonstrate the objective reality of the categories. For this would entirely erase the distinction between general metaphysics or transcendental philosophy and special metaphysics. The task of demonstrating the objective reality of the categories is already supposed to be completed in the main argument – the transcendental deduction – of the first Critique. If special metaphysics is required for this task then it must belong, contrary to Kant’s completely explicit intentions, to transcendental philosophy. Moreover, it would also be intolerable, as we shall see below, if we could demonstrate the objective reality of Kant’s concept of matter by mathematical construction, or, even worse, if we could demonstrate the objective reality of the categories in this way. So let us now try to untangle these questions step by step. First of all, if the content of the concept of matter were simply that of an object of outer sense in general, then it would be entirely unclear how this concept differed from a pure a priori concept. How, in particular, would it differ from the concept of »the real in space,« which Kant introduces in the anticipations of perception (A173/B215)? This latter concept belongs to the categories of quality and is thus a pure a priori concept (reality plus space, as it were); and, for precisely this reason, Kant emphasizes explicitly that no empirical concepts are involved: »I may not here call [the real in space] impenetrability or weight, for these are empirical concepts.« But we know from the Metaphysical Foundations that precisely these concepts – impenetrability and weight – are essential constituents of the empirical concept of matter and, as such, are manifestations of the fundamental forces of repulsion and attraction respectively. Repulsion belongs immediately (analytically) to the concept of matter itself; attraction is added to it (synthetically) by inferences (509). Accordingly, Kant explains the concept of matter as follows: as »impenetrable, lifeless extension« (A848/B215); as that concept which contains the concepts »of motion, of impenetrability (on which the empirical concept of matter is based), of inertia, and so on«;6 and as that concept which includes the concepts »of motion, of the filling of space, of inertia, etc.« (472). Hence, the empirical concept of matter differs from the mere concept of something real in space in general in virtue of precisely the circumstance that the (empirical) concept of impenetrability belongs to the former but not to the latter.7 6

This characterization of the concept of matter is from §15 of the Prolegomena. Contrary to Plaass (see note 3), then, it appears that the content of the concept of matter is clearly empirical: it explicitly includes (as a partial concept) the empirical concept of impenetrability and is precisely thereby distinguished from the pure a priori concept of something real in space. 7

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Secondly, with respect to the concept of impenetrability itself, Kant makes a central distinction between two types of impenetrability and two different concepts of matter that may arise thereby. On the one hand, there is a »mere mathematical concept of impenetrability (which presupposes no moving forces as originally inherent in matter),« in accordance with which »matter as matter resists all penetration utterly and with absolute necessity« (502). And from this concept of matter there arises »the mathematical-mechanical mode of explanation« (524) or »the mechanical natural philosophy,« which aims to explain the specific variety of matters »by the constitution and composition of their smallest parts, as machines,« that is, by »atoms and the void« (532). On the other hand, however, there is also a dynamical concept of impenetrability, which Kant himself defends. »According to our discussion,« he says, »impenetrability rests on a physical basis; for expanding force first makes matter itself possible, as an extended thing filling its space« (502). In accordance with this concept, »everything real in the objects of the outer senses, which is not merely a determination of space (place, extension, and figure) must be viewed as moving force« (523), and there thereby arises »the metaphysical-dynamical mode of explanation« (525) or »the dynamical natural philosophy« (532). Therefore, in order to obtain Kant’s particular concept of matter, we must first add the concept of impenetrability to the mere concept of the real in space, and then, in addition, the much more specific concept of what Kant calls relative or dynamical impenetrability. Third, when Kant sets up a comparison between the mathematical and dynamical concepts of matter, it emerges that the former concept has at least one advantage. The possibility of the dynamical concept cannot be comprehended or demonstrated a priori, because the possibility of fundamental forces cannot be comprehended a priori. In the mathematical-mechanical mode of explanation, however, we use only purely geometrical concepts, such as extension, figure, and the void, without presupposing any fundamental forces. In this case, therefore, we can give an a priori proof of possibility, »because the possibility of figures, and also of void interstices, can be verified with mathematical evidence« (525). But, in the case of the dynamical concept of matter, the situation is entirely different: »by contrast, if the material itself is transformed into fundamental forces […], we lack all means for constructing this concept of matter, and presenting what we thought universally as possible in intuition« (525). Thus the dynamical concept of matter, in sharp contrast to the mathematical concept, can by no means be constructed in pure intuition.

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More generally, only pure mathematical concepts can be constructed in pure intuition and thereby be shown to be really possible. In the postulates of empirical thought Kant makes an explicit distinction between empirical concepts, which are »extracted [erborgt] from experience,« and pure concepts, on which, »as a priori conditions, experience in general (the form thereof) rests« (A220/B267). The concept of a triangle, for example, can be constructed a priori in space, and, because »space is a formal a priori condition of outer experience,« this construction is sufficient to demonstrate the real possibility of this concept (A223 f./B271). In the case of empirical concepts, by contrast, their »possibility can only be gathered from their actuality in experience« (A223/B270). This holds, in particular, for »concepts of substances, of forces, of interactions«: »If one wanted to fashion [such concepts], without borrowing the example of their connection from experience itself, then one would find oneself among mere phantoms of the brain, with absolutely no criterion at all of their possibility« (A222/B269). Therefore, we can only exhibit the real possibility of the two fundamental forces constituting Kant’s dynamical concept of matter by perceiving their actuality in experience itself: »no law of either attractive or repulsive force may be risked on a priori conjectures; rather, everything, even universal attraction as the cause of weight, must be inferred, together with its laws, from data of experience« (534). And it is in precisely this way, in fact, that empirical concepts are essentially different from pure mathematical concepts in regard to their real possibility.8 There is a parallel yet additional distinction, finally, between the pure concepts of the understanding – and thus the pure concept of an object of experience in general – and pure mathematical concepts. In the discipline of pure reason Kant explains this distinction as follows: »Now an a priori concept (a non-empirical concept) either already contains a pure intuition in itself, and in this case it can be constructed, or it contains nothing but the synthesis of possible intuitions that are not given a priori, and in this case we can indeed judge by means of it in a synthetic and a priori manner,

8

Thus, I do not see how the content of the concept of matter can be a priori while, at the same time, the question of its objective reality or real possibility is empirical (compare notes 3, 4, and 7). Kant’s discussion of (real) possibility in the postulates of empirical thought leaves room for only two types of concepts: a priori concepts and empirical concepts. The real possibility of the latter »can only be gathered from their actuality in experience,« whereas that of the former »can only occur [in so far as they are] formal and objective conditions of an experience in general« (A223/B271).

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but only discursively in accordance with concepts, and never intuitively by the construction of the concept.« (A719 f./B747 f.)

Consequently, »the a priori synthetic cognition of [the concept of a thing in general] can therefore supply nothing further than the mere rule of synthesis of that which perception may yield a posteriori, but never the a priori intuition of the real object, because this must necessarily be empirical. Synthetic propositions that extend to things in general, whose intuition can by no means be given a priori […] contain merely the rule, in accordance with which a certain synthetic unity of that which cannot be intuitively represented a priori (perception) is to be empirically sought.« (A720 f./B748 f.) The objects corresponding to the pure concepts of the understanding – and thus to the pure concept of an object of experience in general – can never be given a priori by mathematical construction. On the contrary, they can only be given a posteriori by means of sensible and empirical perception. Such objects are in principle empirical objects. It does not follow, however, that the real possibility or objective reality of the pure concepts of the understanding is itself empirical. For the objective reality of these concepts does not consist in their having corresponding objects. It consists in precisely the circumstance, rather, that they contain the a priori conditions in virtue of which experience of objects of perception – however the latter may be given – is first possible. In the postulates of empirical thought Kant writes: »Only in the circumstance, therefore, that [pure concepts of the understanding] express a priori the relations of perceptions in every experience, do we cognize their objective reality, that is, their transcendental truth. We certainly do this, moreover, independently of experience, but not independently of all reference to the form of an experience in general, and to the synthetic unity in which alone objects can be empirically known.« (A221 f./B269)

The pure concepts of the understanding thus contain only the form in accordance with which the empirical objects of perception must be experienced, if objective experience of these objects is possible at all. But the pure concepts of the understanding cannot supply these objects themselves. They supply only the rule by which we must search out the appearances, in order thereby to find, where possible, the objects of experience. And it is in precisely this way, and no other, that the pure concepts of the understanding acquire their own real possibility and objective reality.

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What, then, is the relationship between the objective reality of the categories, on the one side, and that of the empirical concept of matter and the associated general doctrine of body, on the other? In the passage from the Preface to the Metaphysical Foundations cited above (478), Kant asserts that »general metaphysics, in all instances where it requires examples (intuitions) in order to provide meaning for its pure concepts of the understanding, must always take them from the general doctrine of body,« so that »a separated metaphysics of corporeal nature does excellent and indispensable service for general metaphysics, in that the former furnishes examples (instances in concreto) in which to realize the concepts and propositions of the latter (properly speaking, transcendental philosophy), that is, to give a mere form of thought sense and meaning.« Hence, the only concrete instances we have that satisfy or realize the pure concepts and principles of the understanding are those provided by the special metaphysics of nature of the Metaphysical Foundations.9 And these, according to what we have just seen above, are necessarily empirical objects given in perception. So what exactly are these objects? I do not have room to argue this here, but I believe that the system of empirically given spatio-temporal objects corresponding to the Kantian concept of matter consists of the solar system together with the other heavenly bodies (including the sublunary region around the earth), as this system of bodies is described by Newtonian physics.10 If this system were not given to us in perception, then we would have no basis whatsoever for »extracting« the fundamental forces of attraction and repulsion »from data of experience.« Therefore, if this system were not given to us in perception, the empirical concept of matter would have no actual object corresponding to it – and thus no objective reality. For, as we have seen, Kant’s dynamical concept of matter, in sharp contrast to the opposing purely mathematical concept favored by the »mathematical-mechanical mode of explanation,« cannot be con9

Kant further asserts in this same passage that »the understanding is taught only by examples from corporeal nature what the conditions are under which such concepts can alone have objective reality – that is, meaning and truth.« This does not mean, in my view, that only the objects of corporeal nature provide objective reality for the categories, but rather that without the objects of corporeal nature (the only actual instances or examples of the categories known to us) we would have no idea what the conditions for the objective reality of the categories actually are – which conditions, however, are themselves much more general than those of corporeal nature (see below). 10 See my Kant and the Exact Sciences (note 5), Chapters 3 and 4, and »Causal Laws and the Foundations of Natural Science,« in P. Guyer, ed., The Cambridge Companion to Kant (Cambridge, 1992), 161–199.

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structed in pure intuition and, accordingly, can only acquire a corresponding object in experience. Now precisely the same system, as Kant suggests in our passage from the Preface, is also the only actual system of objects or »example in concreto« known to us corresponding to transcendental philosophy in general. In particular, it is the only system of objects known to us in which the concepts and principles of the pure understanding are fully and precisely realized. Only here do we have an empirically given system of »substances, forces, and interactions,« our knowledge of which is in fact rigorously made possible by a combination of transcendental and mathematical knowledge – that is, by a priori knowledge. For only here can we use geometry together with the Newtonian laws of motion actually to ground our empirical knowledge of perceptual objects. Nevertheless, although this system is the only instance known to us of the transcendental concept of an object of experience in general, it is by no means the only possible such instance. For the content of the transcendental concept of an object of experience in general is much more abstract, and much less determinate than that of the empirical concept of matter. Kant’s dynamical concept of matter depicts a world of material, lifeless substances that interact with one another by the fundamental forces of attraction and repulsion and thereby mutually alter their states of motion. The transcendental concept of an object of experience in general, by contrast, depicts an otherwise entirely indeterminate system of substances in space, living as well as lifeless, that alter their states – whatever these may be – only by means of entirely undetermined forces and interactions. In this way, and in particular, Kant can now leave it entirely open how the future course of natural science may advance beyond Newtonian physics through the discovery of new substances, forces, and interactions. This last feature of the pure concepts of the understanding – their much greater generality in comparison with the empirical concept of matter – further elucidates the sense in which their objective reality, as opposed to that of both empirical concepts and pure mathematical concepts, is not dependent on the existence of any particular given concrete instances. For these concepts obtain their objective reality rather from the circumstance that they express the a priori conditions under which alone objective experience of any empirical object whatsoever is possible. Accordingly, the characteristic function of the pure concepts of the understanding is precisely to ground the spatio-temporal unity of any and all empirical objects that may be given to us. Kant explains this point as follows in the case of the concept of causality:

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»By means of the concept of cause I actually proceed from the empirical concept of an event (where something happens) – not, however, to the intuition that exhibits the concept of cause in concreto, but rather to the condition of time in general, which may be found in experience in accordance with the concept of cause. I thus proceed according to concepts, and I cannot proceed by the construction of concepts, because the concept is a rule of synthesis of perceptions, which are not pure intuitions, and thus cannot be a priori given.« (A722/B750n)

The pure concepts of the understanding (the concepts of general metaphysics) do not express mathematical but rather metaphysical conditions, »drawn from the essence of the thinking faculty itself« (472). An a priori proof of their objective reality, as opposed to such a proof for a mathematical concept, can therefore not proceed by the a priori exhibition of any particular object. What can be exhibited, once again, is only the form or rule of time-determination in general underlying all possible empirically given objects. Let us now return, with these points in mind, to the two parallel passages in which Kant explains how the objective reality of the categories depends on »the form and principles of outer intuition« – the one from the Preface to the Metaphysical Foundations, the other from the general remark to the system of principles added to the second edition of the Critique. The first point to notice is that in the latter passage, unlike the former, Kant does not actually mention the empirical concept of matter and the general doctrine of body. He does not explicitly appeal to the special metaphysics of corporeal nature. After saying, as we already saw, that the objective reality of the category of substance requires »an intuition in space (of matter),« Kant rather continues as follows: »Second, in order to exhibit alteration, as the intuition corresponding to the concept of causality, we must take motion, as alteration in space, for the example. Indeed, it is even the case that we can make alteration intuitive to ourselves solely in this way, as no pure understanding can conceive its possibility. Alteration is combination of contradictorily opposed determinations in the existence of one and the same thing. How it may now be possible that an opposed state follows from a given state of the same thing is not only inconceivable to any reason without example, but is not even understandable without intuition – and this intuition is the motion of a point in space, whose existence in different places (as a sequence of opposed determinations) alone makes alteration intuitive to us in the first place. For, in order that we may afterwards make even inner alterations intuitive, we must make time, as the form of inner sense, intelligible figuratively as a line – and inner alteration by the drawing of this line (motion), and thus the suc-

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cessive existence of our self in different states by outer intuition. The essential reason for this is that all alteration presupposes something permanent in intuition, in order even to be perceived as alteration, but in inner sense no permanent intuition whatsoever is to be found.« (B291 f.).

Here Kant gives a completely explicit example of an intuition in outer sense required for verifying the objective reality of the categories. But this is an example in pure intuition: the motion of a point in space. Moreover, the same idea of a ›figurative‹ representation of time in terms of the motion of a point in space plays a prominent role in § 24 of the second edition transcendental deduction, entitled »on the application of the categories to objects of the senses in general.« After introducing the notion of »figurative synthesis (synthesis speciosa)« or »transcendental synthesis of the imagination,« characterized as »an action of the understanding on sensibility and its first application to objects of an intuition possible for us (and at the same time the ground of all other applications)« (see B150–152), Kant goes on to illustrate this notion as follows: »We always observe [the transcendental activity of the imagination] in ourselves. We can think no line without drawing it in thought, no circle without describing it, […]; and we cannot represent time itself without attending, in the drawing of a straight line (which is to be the outer figurative representation of time), merely to the action of synthesis of the manifold, through which we successively determine inner sense, and thereby attend to the succession of this determination in it. Motion, as action of the subject (not as determination of an object*), and thus the synthesis of the manifold in space – when we abstract from the latter and attend merely to the action by which we determine inner sense in accordance with its form – [such motion] even first produces the concept of succession.« (B154 f.)

A crucial step in the transcendental deduction of the categories – the demonstration of how the unity of apperception is applied to sensibility so as to convert inner sense into a »determinate intuition […], which is only possible through the consciousness of the determination of the manifold by the transcendental action of the imagination (synthetic influence of the understanding on inner sense), which I have called figurative synthesis« (B154) – therefore proceeds precisely by the pure representation of motion. In the footnote to this passage, however, Kant makes a fundamental distinction between two very different ways of considering the concept of motion: »Motion of an object in space does not belong in a pure science and thus not in geometry. For, that something is movable cannot be cognized a priori but only

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through experience. But motion, as the describing of a space, is a pure act of successive synthesis of the manifold in outer intuition in general through the productive imagination, and it belongs not only to geometry, but even to transcendental philosophy.« (B155n)

Motion as the describing of a space takes place in pure intuition: it is the motion of a mere mathematical point belonging, in the first instance, to pure geometry, but also, via its role in the figurative representation of time, to transcendental philosophy. By contrast, the motion of an actual object in space – that is, an empirical object – takes place in empirical intuition; and motion understood in this sense cannot, as Kant says, belong to a pure science; it can belong neither to geometry nor to transcendental philosophy. It is striking, then, that a parallel distinction is present at the very beginning of the Metaphysical Foundations. After stating, in the first »explication« of the first chapter or Phoronomy, that »matter is the movable in space,« Kant explains, in the first remark to this explication, that motion is here considered as that of a mere mathematical point: »Since in phoronomy nothing is to be at issue except motion, no other property is here ascribed to the subject of motion, namely, matter, aside from movability. It can itself so far, therefore, also be considered as a point, and one abstracts in phoronomy from all inner constitution, and therefore also from the quantity of the movable, and concerns oneself only with motion and what can be considered as quantity in motion (speed and direction).« (480)

In the second remark, however, Kant immediately introduces a quite different mode of consideration: »If I am to explicate the concept of matter, not through a predicate that belongs to it itself as object, but only by relation to that cognitive faculty in which the representation can first of all be given to me, then every object of the outer senses is matter, and this would be the merely metaphysical explication thereof. Space, however, would be merely the form of all outer sensible intuition […]. Matter, as opposed to form, would be that in the outer intuition which is an object of sensation, and thus the properly empirical element of sensible and outer intuition, because it can in no way be given a priori. In all experience something must be sensed, and that is the real of sensible intuition, and therefore the space in which we are to arrange our experience of motion must also be sensible – that is, it must be designated through what can be sensed – and this, as the totality of all objects of experience, and itself an object of experience, is called empirical space.« (481)

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With respect to empirical space, moreover, as opposed to the pure form of outer sensible intuition, motion can certainly not be considered as an a priori concept: »[S]ince the movability of an object in space cannot be cognized a priori, and without instruction through experience, I could not, for precisely this reason, enumerate it under the pure concepts of the understanding in the Critique of Pure Reason; and . . . this concept, as empirical, could only find a place in a natural science, as applied metaphysics, which concerns itself with a concept given through experience, although in accordance with a priori principles.« (482)

Comparing the wording here with that in the footnote to B155, it is entirely clear, I believe, that precisely the same distinction is at work in both texts.11 Thus, the Metaphysical Foundations is brought into a priori connection, as it were, with the transcendental philosophy of the Critique by means of a transition from the pure concept of motion, as the describing of space in pure intuition, to the empirical concept of motion, as the determination of an object in space in empirical intuition. The first representation indeed plays a central role in the deduction of the objective reality of the categories. Nevertheless, it does not provide actual objects corresponding to the categories, for these, as we have seen, must be empirical objects. What it provides, rather, are schemata for the categories, where »the schema of a pure concept of the understanding is something that can by no means be brought into an image, but is rather only the pure synthesis, 11

A few pages later in the Phoronomy Kant elucidates the mere motion of a mathematical point involved in the first remark to Explication 1 as follows (489): »In phoronomy, since I am acquainted with matter through no other property but its movability, and may thus consider it only as a point, motion can only be considered as the describing of a space. However, I do this in such a way that I attend not only, as in geometry, to the space described but also to the time in which, and thus to the speed with which, a point describes the space.« Thus I cannot follow Plaass (op. cit., § 5.2) when he entirely disassociates the »describing of a space« at B155n from the concept of motion of the Metaphysical Foundations – and, in particular, from the phoronomical concept. This same disassociation is evident in K. Cramer’s otherwise very rich account of the concept of motion, in Nicht-reine synthetische Urteile a priori (Heidelberg, 1985), where the discussion of B155n in Chapter 3 considers only »the motion of an object in space« and omits the describing of a space, whereas the discussion of phoronomical motion in Chapter 4 similarly fails to consider the parallel passage at 489. Yet I am also unable to follow K. Gloy, Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft (Berlin, 1976), who, by giving exclusive emphasis to the a priori concept of motion as the describing of a space (see especially § 16), fails to consider the explicitly empirical elements introduced in the second remark to Explication 1 of the Phoronomy.

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according to a rule of unity by concepts in general, which the category expresses. And it is a transcendental product of the imagination that concerns the determination of inner sense in general, in accordance with conditions of its form (time), with respect to all representations, in so far as they are to cohere a priori in a concept according to the unity of apperception.« (A142/B181) This first schematization of the categories by means of the describing of space in pure intuition, as »an action of the understanding on sensibility and its first application to objects of an intuition possible for us (and at the same time the ground of all other applications),« then serves as such a ground precisely by securing the basis in the understanding for mathematical construction in intuition and also, and at the same time, for the concepts of alteration and succession. In particular, the motion of a point involved in the drawing of a straight line yields a representation of rectilinear inertial motion – the privileged state of force-free motion serving as the foundation for all modern physics and thus for »pure natural science.« In finding an actual domain of concrete objects corresponding to the demands of the categories, the understanding then has the task of applying these representations – those given by mathematical construction and the pure representation of rectilinear inertia – so as to seek out a system of empirical objects whose behavior can actually be described by them. In applying the representation of motion to empirical objects, however, a fundamental problem immediately arises. In the fourth chapter or Phenomenology of the Metaphysical Foundations Kant explains that »the movable, as such a thing, becomes an object of experience, when a certain object (here a material thing) is thought as determined with respect to the predicate of motion« (554). But in such a determination motion is always considered in relation to one or another given empirical space: as we change the empirical space relative to which the object is considered (as we change what we now call the reference frame), the predicate of motion as applied to this object is constantly changing as well.12 How, then, is an objective and determinate predication here possible? The remainder of the Phenomenology chapter outlines a procedure whereby »all motion and rest [is] reduced to absolute space, if the appearance thereof is to be

12

This same problem is the main theme of the second remark to Explication 1 of the Phoronomy considered above; and thus it is precisely here, in my view, that the crucial transition from a pure to an empirical representation of motion takes place (compare note 11).

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transformed into a determinate concept of experience (which unites all appearances)« (560). This procedure, as I have argued elsewhere, is modeled on Newton’s argument in Book III of the Principia for inferring the true or absolute motions in the solar system from the relative or apparent motions.13 For Newton, the argument terminates in the center of mass frame of the solar system – a frame fixed very close to the center of the sun. For Kant, however, the procedure is to be indefinitely extended beyond this point: to the center of mass of the Milky Way galaxy, to the center of mass of a system of galaxies containing the Milky Way, to the center of mass of a system of such systems, and so on ad infinitum. And it is in this sense that the concept of absolute space, for Kant, is in the end »a necessary concept of reason, and thus nothing but a mere idea« (559). The Kantian procedure for inferring the true motions from the apparent, and thus for making »the movable in so far as it, as such a thing, is an object of experience« first possible (554), is based, as is the Newtonian argument, on the application of geometry and the laws of motion (especially the third law of motion, the equality of action and reaction) to the appearances presented to us by the solar system from our vantage point here on the earth. And an essential ingredient in this procedure, of course, is the theory of universal gravitation, which is simultaneously inferred along with the true motions themselves. Since »[t]he action of the universal attraction immediately exerted by each matter on all matters, and at all distances, is called gravitation« (518), it is clear that Kant’s fundamental force of attraction is also given to us along with the same procedure. Moreover, although the role of Kant’s fundamental force of repulsion in this procedure is not quite so transparent, it is clear that the reflection of light from the other heavenly is what first makes it possible for us to perceive their relative positions (and thus relative motions) around us – a circumstance that Kant himself explicitly emphasizes in the third analogy (A213/B60). Kant seems to have this circumstance also in mind when explaining the complementary roles of attraction and repulsion in an important remark in the Metaphysical Foundations (509 f.). For it is only by means of »that property whereby it fills space« that the determinate figure, quantity, and position of a heavenly body can first »strike our senses« and thereby underwrite »the first application of our concepts of quantity to matter, through which it first becomes possible for us to transform our outer perceptions into the empirical concept of a matter, as object in general.« 13

See the references cited in note 10.

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A system of objects realizing the categories thereby emerges step by step, as the outcome of a kind of constructive procedure. The pure concepts of the understanding, independently of sensibility, provide us with the idea of a unified world of mutually interacting substances, bound together, and thereby constituting a single world, precisely by means of such interactions. And this idea, which is already fully expressed in the pre-critical writings, is clearly modeled on, although also much more abstract and general than, the Newtonian system of universal gravitation.14 In schematizing this idea in terms of the forms of sensibility, a process that is of course characteristic of the critical period, we then obtain the idea of a system of substances in space, interacting with one another and thereby changing their states in time via some or another, otherwise entirely indeterminate forces. Moreover, since this process of schematization essentially involves the pure intuition of space, wherein the substances in question are arranged about us, as it were, and through which, accordingly, both they and we continually interact and move, the pure representation of motion, which makes both geometrical construction and the fundamental principle of mathematical physics (the law of rectilinear inertia) first possible, is also necessarily applicable to the world of substances in space as an object of experience in general.15 In this way, in particular, we obtain a basis for a priori knowledge of such objects that is both metaphysical and mathematical. Nevertheless, in applying such an a priori basis to actual objects of experience, by starting from our particular vantage point and then working our way out, as it were, towards a fully objective description of this world, we find that a second, essentially empirical representation of motion, that of the motion of an object relative to one or another empirical space (material reference frame), is also required. And this circumstance leads to the problem of distinguishing true from apparent motion – a problem which is only solved, once again, by the Newtonian system of universal gravitation, and therefore, in accordance 14

That Newtonian universal gravitation consistently provides Kant with his model for a fully realized system of substances coexisting in space – and thus for the fundamental metaphysical concepts of substance, force, and interaction – is sufficient to explain, in my view, why the Preface to the Metaphysical Foundations insists that without the metaphysics of corporeal nature even general metaphysics or transcendental philosophy would be empty. But this does not mean, once again, that only the objects of corporeal nature can provide objective reality for the categories. Compare note 9. 15 For the connection between motion (of the subject) in space and specifically geometrical construction see my »Geometry, Construction, and Intuition in Kant and his Successors,« in G. Scher and R. Tieszen, eds., Between Logic and Intuition: Essays in Honor of Charles Parsons (Cambridge, 2000), 186–218.

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with this system, by the two particular fundamental forces of attraction and repulsion. The empirical concept of matter, a representation having one foot in the a priori basis for empirical knowledge provided by a combination of metaphysics (that is, general metaphysics) and mathematics, and the other foot in the necessary conditions for the application of this a priori basis to the actual objects of perception we in fact find arranged about us (the system of heavenly bodies), thus emerges naturally as the solution to Kant’s problem. The system of heavenly bodies described by Newtonian universal gravitation thereby confers objective reality on the empirical concept of matter, and it is precisely the need for actual perceptually given instances here that makes this concept a genuinely empirical one. By contrast, although the same system of heavenly bodies is also the only system so far known to us in which the pure concepts of the understanding are actually fully realized in experience, we cannot conclude, in addition, that it also confers objective reality on these concepts. For the role of the categories, as we have seen, is to provide the a priori conditions that make possible any and all objects of experience, including all those objects of experience not accounted for by universal gravitation (those essentially involving chemical phenomena, electric and magnetic phenomena, thermal phenomena, biological phenomena, and so on) – objects that will only receive their proper a priori grounding as empirical natural science continually advances beyond Newtonian physics. Finally, since the a priori basis for such grounding nonetheless remains identically one and the same throughout the indefinitely extended continual advance of our knowledge – and is given precisely, in fact, by the a priori schematization of the categories in pure intuition – it is just this a priori schematization, and not any particular empirically given objects made possible thereby, that, in the end, confers objective reality on the categories.

Hans Friedrich Fulda ›Deduktion der Einteilung eines Systems‹ – erörtert am Beispiel »Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre« 1. Zur Orientierung In der »Metaphysik der Sitten«1 hat Kant darauf aufmerksam gemacht, daß sein Bemühen um Systematik auch die Deduktion der Einteilung des jeweiligen Systems einschließt, mit dem man es in einer philosophischen Wissenschaft zu tun hat. Ohne Zweifel überließ er sich bei Erwähnung dieser Aufgabe nicht einem momentanen Einfall. In Vorarbeiten zur Einleitung in die Rechtslehre notierte er sich lapidar: »Von der Einteilung aller Rechtsverhältnisse nach principien a priori ihrer Vollständigkeit und Ordnung. Auf derselben beruht die Metaphysik des Rechts und ein Vernunftsystem, sonst ist es blos Aggregat« (AA XXIII, 259). Wenn im Rahmen des Generalthemas ›Architektonik und System bei Kant‹ auch die MS behandelt wird, sollte daher wohl an ihrem Fall exemplarisch untersucht werden, was es mit einer solchen Deduktion auf sich hat. Ich wende mich diesem Thema zu, beschränke mich aber auf die MARL und versuche nicht, die entsprechende Deduktion auszuführen, sondern erwäge nur, inwiefern für das System von Rechten und Pflichten, das in den MARL gelehrt wird, die Forderung erfüllbar ist, seine Einteilung zu deduzieren. Die fragliche Deduktion hat nach der erwähnten Fußnote in einem doppelten Beweis zu bestehen: demjenigen der Vollständigkeit der Einteilung, um die es geht; und demjenigen ihrer Stetigkeit – was jedenfalls heißen soll, »daß der Übergang vom eingeteilten Begriffe zum Gliede der Einteilung [...] durch keinen Sprung [...] geschehe« [218]. Meine Absicht ist zu zeigen, daß für die Erfüllbarkeit beider Forderungen im Fall der MARL erstaunlich starke Gründe sprechen. Eingeteilt wird der soeben zitierten Äußerung zufolge ein Begriff. Daß seine Einteilung vollständig und stetig sei, ist die Behauptung, um deren Beweisbarkeit es geht. Versuchen wir uns vorab über den Kontext zu informieren, in dem der Beweis stehen müßte! Hierzu fünf Bemerkungen: 1

Genauer: in einer Fußnote zur Überschrift von Abschnitt III der Einleitung in die Metaphysik der Sitten (im folgenden »MS«). Stellen ihres Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre betitelten ersten Teils (im folgenden »MARL«) werden angegeben nach Nummern von §§ oder nach Seitenzahlen (in »[ ]«) der Akademie-Ausgabe (=AA), Bd. VI.

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1) Um die Behauptung beweiswürdig zu machen, kann die Einteilung natürlich keine in kontradiktorisch entgegengesetzte Glieder sein. Denn die wäre trivialerweise vollständig. Die Einteilung muß sich ergeben haben in einem Progreß wissenschaftlicher Erkenntnis, so daß im Licht dieser Erkenntnis Ernstzunehmendes für oder wider die Behauptung vorzubringen ist. Allerdings handelt es sich beim Einzuteilenden nicht nur um einen Begriff, sondern auch um ein System. Der eingeteilte Begriff bildet, falls seine Einteilung vollständig und stetig ist, zusammen mit allen ihn einteilenden Begriffen zumindest ein Ganzes. Doch ein System ist mehr als das Ganze aus einem obersten Begriff und seiner vollständigen Einteilung. Die Teile des Ganzen und dessen Begriff befinden sich zusätzlich in einer gewissen Ordnung. Sie sind im Verhältnis zueinander früher und später. Ob hingegen die Einteilung des Systems und damit das System selbst nur aus Begriffen besteht oder zusätzlich auch aus einer Einteilung von Realem, das unter die Begriffe fällt, hängt vom Charakter der Begriffe und der Leistungsfähigkeit ihres Gebrauchs ab. In der Metaphysik jedenfalls geht es darum, die objektive Realität von Begriffen zu untersuchen; und wenn die Untersuchung ergibt, daß die zum System gehörenden Begriffe alle solche Realität haben, so wird das System nicht nur eines von Begriffen sein, sondern auch ein System von etwas Realem. Ein solches wollen wir in der ›Metaphysik des Rechts‹ erkennen. 2) Mit Einteilung welches Begriffs und einem System welcher Begriffe, welches möglicherweise Realen oder welcher Objekte hat man es im Fall der MARL zu tun? Da dieses Werk verschiedene ›Rechte‹ abhandelt und selbst weiterhin gegliedert ist durch aufeinanderfolgende Erwähnung dieser Rechte, wird man die Einteilung als diejenige des Rechtsbegriffs betrachten wollen. Ganz so einfach verhält es sich freilich nicht. Bereits die Fußnote, in welcher von Deduktion der Einteilung eines Systems die Rede ist, macht uns darauf aufmerksam, daß es zuerst einen Objektbegriff einzuteilen gilt, über dessen ganzen Umfang die normativen Begriffe dieser Metaphysik operieren, wenn sie objektive Realität haben. Es ist also vorab zu klären, welcher Begriff im Fall der MARL dieser Oberbegriff ist, was seinen Umfang begrenzt und was zu seiner obersten Einteilung nötigt. Ich werde hierzu den Begriff einer Option benutzen und verstehe darunter alles, wofür man sich willkürlich entscheiden kann oder auch tatsächlich entscheidet. 3) Objekt der Rechtslehre ist die Menge aller Handlungen aus Optionen freier Willkür aller Subjekte, die solche Willkür haben, – aber mit der Einschränkung, daß die Optionen solche zu äußeren Handlungen

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sind, welche bei anderen Subjekten Einfluß haben können auf deren Optionen zu äußeren Handlungen und damit auf diese Handlungen selbst. Die Subjekte freier Willkür sind natürliche oder ›moralische‹ (d. h. hier juristische) Personen, die juridischen Pflichten unterliegen und Ansprüche bzw. Befugnisse gegenüber anderen haben. Da sie bei endlicher Lebensdauer allesamt nur eine endliche Menge von Willküroptionen besitzen und in begrenztem Raum (auf der Globusoberfläche) leben, ist das Objekt in seinem Umfang begrenzt. Der Begriff dieses Objekts ist der oberste einer Rechtslehre. Denn eine MS hat sich mit allem zu befassen, was Gesetzen der Freiheit unterliegt; als metaphysische Rechtslehre aber mit allem, worüber die juridischen unter diesen Gesetzen gebieten. Vom Begriff eines solchen juridischen Gesetzes aus versteht sich leicht, inwiefern nun – als oberste Einteilung des Objektbegriffs – eine Dichotomie folgen muß: diejenige in den Begriff dessen, was an willkürlichen Handlungen oder von ihnen hergestellten Zuständen (bzw. den Optionen zu solchen) juridisch recht (justum) ist, und in den Begriff des minus justum (vgl. [223,5]). 4) Interpersonale Verhältnisse, die in diesem Sinn als recht zu qualifizieren sind, sind die Rechtsverhältnisse. Wie aber hängt mit den beiden besonderen Objektbegriffen der Begriff zusammen, in dessen Einteilung auch das System der Rechtsbegriffe unterzubringen ist, auf das uns Kants ›Tafel der Einteilung der Rechtslehre‹ verweist? Ich denke so: Wenn ein Gesetz der Freiheit unsere Willkür in ihrem Gebrauch einschränken soll, so verlangt das in unserem Willen einen gesetzlichen Grund, der durch eine entsprechende Triebfeder beim Willkürgebrauch wirksam wird. Nur wenn ein solcher Grund erkennbar besteht und von ihm zu erkennen ist, daß es auch eine entsprechende, wirksame Triebfeder gibt, kann man von seinem Begriff sagen, er habe praktische Realität. Und nur wenn die Triebfeder gesetzlich wirksam ist: er habe objektive praktische Realität. Einen solchen Grund mag man, wenn es um Willküreinschränkung unter einem juridischen Gesetz geht, Rechtsgrund nennen. Sein Begriff hat objektive praktische Realität in Beschränkung des Willkürgebrauchs, so wahr der Gedanke nicht chimärisch ist, daß es juridische Gesetzgebung gibt und daß deren Wirkung sich auch in der erfolgreichen Betätigung menschlicher Erkenntnisvermögen vollzieht. Alle Begriffe, die diesen Begriff einteilen sollen, müssen dieselbe Funktion haben und dürfen daher natürlich nicht leer sein. Keineswegs aber müssen sie darum allemal Begriffe von Rechten sein, die einer hat. Vielmehr stellt der Begriff eines Rechtsgrundes sicher, daß das System nicht nur eines von Rechten ist,

›Deduktion der Einteilung eines Systems‹

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wie sie in der Tafel der Einteilung angegeben werden, sondern auch eines von Pflichten. Ein Grund nämlich setzt – unter einer hinzutretenden Bedingung – Folgen. Die mögen unter verschiedenen Bedingungen verschieden, ja verschiedener Art sein. Sie mögen den Grund vielleicht sogar nur unter Voraussetzung eines weiteren Grundes eine bestimmte Folge haben lassen. Auf jeden Fall kommt man vom Begriff eines solchen Rechtsgrundes durch codivisio einerseits zu den Begriffen verschiedener Rechtspflichten, andererseits zu denen verschiedener Rechtstitel. Im Sinn solcher Rechtstitel spricht die ›Tafel der Einteilung‹ von den verschiedenen Rechten. Von einem Rechtstitel sind dann noch unter ihn fallende, besondere Ansprüche oder Befugnisse zu unterscheiden. Wenn Kant hingegen eingangs (§ B) das Recht den Inbegriff der »Bedingungen« nennt, »unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«, so sind damit all jene Bedingungen gemeint, unter denen sich bei Vorliegen eines Rechtsgrundes Rechtstitel oder -pflichten ergeben. Innerhalb dieses grundbegrifflichen Rahmens also ist die Deduktion der Einteilung eines Systems zu leisten, in welchem es Begriffe von Rechtsgründen sowie von Rechtspflichten und Rechtstiteln gibt. 5) Was kann man vorab über die Chancen ausmachen, die Aufgabe zu bewältigen, welche die Deduktion der Einteilung eines solchen Systems stellt? Jedenfalls wird in systematischer Rechtserkenntnis nach einem Ursprung zu suchen sein, welcher grob gesprochen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption für die theoretische Erkenntnis entspricht. Denn ein Beweis, der zugleich Deduktion ist, hat auf einen ursprünglichen Grund in unserem Erkenntnisvermögen zurückzugehen. Die Hoffnung, hierbei fündig zu werden, erweckt vielleicht den Eindruck wilder Entschlossenheit zu einer sich vom Kantischen Text weit entfernenden Konstruktion. Näher besehen aber bedarf sie nur sorgfältiger Auslegung der einzigen Andeutung, welche die MARL zur Vollständigkeit ihrer Einteilung machen. Nachdem Kant [236 f.] die drei ulpianischen Rechtsregeln (honeste vive, neminem laede, suum cuique tribue) angeführt und als Ausdruck einer lex justi, lex juridica und lex justitiae neu interpretiert hat, behauptet er, diese drei Formeln seien zugleich Einteilungsprinzipien des Systems der Rechtspflichten in »innere, äußere und in diejenigen, welche die Ableitung der letzteren vom Prinzip der ersteren durch Subsumtion enthalten.« In gewissen Sinn will ich nur aufklären und auswerten, was diese dunkle Andeutung besagt.

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2. Umrisse metaphysischer Rechtserkenntnis Leider bedarf es zu dieser Aufklärung weiterer vorbereitender Schritte: Ehe man erwägen kann, ob die Einteilung vollständig und stetig ist, müssen ihre Glieder als solche identifiziert werden. Zuvor aber muß plausibel gemacht werden, daß die Einteilung, die sie bilden, Ergebnis eines Erkenntnisverfahrens ist. Denn nur dies kann ihr Tugenden sichern, ohne welche die Erwägung witzlos wäre. Darum vorab drei Thesen hierzu und eine minimale Begründung der letzten beiden von ihnen: 1) Die Glieder der Einteilung müssen, um ihre Funktion für die Einschränkung von Willkür zu haben, mindestens folgenden Erfordernissen genügen: Sie müssen (a) derart disjunkt sein, daß sie in Beziehung auf die Realität, über welcher der eingeteilte Begriff operiert, je spezifische Leistungen markieren. Sie müssen (b) miteinander verträglich sein, dürfen also den Willen nicht in eine antinomische Situation bringen. Ferner müssen (c) synthetisch in ihnen verbundene Merkmale voneinander separiert, und ihre Verbindungen eigens gerechtfertigt werden. Jeder der Begriffe, die Einteilungsglieder sind, muß dabei (d) je für sich auf objektive praktische Realität hin prüfbar sein, und alle müssen, jedenfalls zusammen, die Prüfung bestehen. Die Lehre vom angeborenen Recht und vom Privatrecht an äußeren Gegenständen zeigt, daß die darin vorkommenden Einteilungsglieder diesen Erfordernissen genügen. Insoweit haben wir mit einem Erkenntnisverfahren zu tun, das uns erlaubt, die Einteilungsglieder zu entdecken und die geforderten Tugenden an ihnen auszumachen.2 2) Aber die gesonderte Prüfung der Begriffe des angeborenen und erwerblichen Rechts sowie der neminem-laede-Pflicht endet in einem Fiasko. Denn alles erwerbliche Recht für sich genommen zerstört rechtens, d. h. so daß jedes Gericht dies zulassen müßte, tendenziell sich selbst;3 und seine Selbstzerstörung in einem allgemeinen Fehdezustand könnte durch keine prudentiell noch so gut ausgedachte Willkürhandlung unter Normen des angeborenen und erwerblichen Rechts rechtlich aufgehalten werden. Ja, das erwerbliche Recht für sich genommen zerstört nicht nur sich selbst, sondern auch das angeborene Recht und damit tendenziell auch die äußeren Rechtspflichten.

2

Für einen Teil der Aufgabe vgl. meinen Aufsatz Erkenntnis der Art, etwas Äußeres als das Seine zu haben. In: O. Höffe (Hrsg.), Kants Metaphysik der Sitten. Die Rechtslehre. Berlin 1999. 3 Vgl. MARL, § 42.

›Deduktion der Einteilung eines Systems‹

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Denn welche Verbindlichkeit sollen äußere Rechtspflichten noch haben, wenn es kein Recht zwischen den Menschen mehr gibt, das nicht zu verletzen sie doch von uns verlangen? Einzig die inneren Rechtspflichten und ihr besonderer Rechtsgrund, nämlich ich als homo noumenon bzw. das Recht der Menschheit in meiner Person, bleiben von diesem Debakel der objektiven praktischen Realität unserer Begriffe privatrechtlicher Rechtsansprüche verschont, weil sie gar nicht zu denen des strikten Rechts (vgl. § E) gehören. Für alle anderen Rechtsbegriffe des Privatrechts, wenn man sie für sich nimmt, ist hingegen die Lage so fatal wie das Ende der Hegelischen Lehre vom abstrakten Recht. Wenn wir eine Rechtserkenntnis haben, die dies verhindert, dann nur in anderen Begriffen als den bis dahin exponierten des Privatrechts. 3) Wir haben diese Erkenntnis in Begriffen, welche im Postulat des öffentlichen Rechts enthalten und in den Gründen dieses Postulats zu denken sind. Der Begriff einer Rechtspflicht, diesem Postulat zu entsprechen, erfüllt die unter Nr.1 genannten Erfordernisse (a)–(d). Das Postulat verlangt nämlich von jedem, aus dem natürlichen Zustand heraus- und in einen rechtlichen Zustand überzugehen, in dem distributive Gerechtigkeit herrscht oder hergestellt wird; und es verlangt dies ohne irgendeine Bedingung – also unbedingt – von jedem, der nicht vermeiden kann (oder, obwohl er es kann, nicht vermeidet), daß sein eigener äußerer Willkürgebrauch denjenigen anderer berührt oder von ihm berührt wird. Da es sich hier um ein unbedingtes Rechtsgebot handelt, hat der Begriff der Pflicht sowie derjenige des in meinem Willen bestehenden Rechtsgrundes, den das hinter dem Rechtsgebot stehende Gesetz mit sich bringt, objektive praktische Realität; und wenn dieser Rechtsgrund Rechtstitel begründet, gilt dasselbe auch für deren Begriffe. Natürlich aber ist das Gesetz, wie schon bei den inneren Rechtspflichten, ein anderes Gesetz als die lex juridica des strikten Rechts. Kant nennt es die lex justitiae. Der Grund für das Postulat läßt sich nach Kant »analytisch aus dem Begriffe des Rechts im äußeren Verhältnis im Gegensatz zur Gewalt (violentia) entwickeln« (§ 42,1). Denn Recht im äußeren Verhältnis ist das Recht von Menschen, die das Vermögen haben, sich gegenseitig zu verpflichten. Dieses Recht wird abgehoben vom Recht der Menschheit im inneren Verhältnis eines jeden (als homo phaenomenon) zu sich selbst, der als homo noumenon ihn verpflichtet. Nun betrachten wir den Begriff ›Recht der Menschen‹ (als einen Teil-Inbegriff von Bedingungen der Willkür-Übereinstimmung gemäß § B) hinsichtlich seiner fraglichen

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Realität. Wir stellen fest, daß unter Bedingungen eines natürlichen Zustandes Gewalttätigkeiten, die materialiter rechtlich, ja rechtens sind, diese Realität illusorisch machen, weil die Gewalttätigkeiten durch die bis jetzt in jenem Inbegriff gedachten Bedingungen nicht einmal dann ausgeschlossen werden, wenn sie das Recht der Menschen zerstören; und wir stellen des weiteren fest,4 daß das dabei begangene Unrecht, das sogar eines höchsten Grades ist, all solcher Gewalttätigkeit vorausgeht: Es liegt bereits im Vorsatz, im natürlichen Zustand zu bleiben. Schließlich zeigt der weitere Gang der Begründung, daß die Vermeidung des erwähnten Unrechts nur im Herausgehen aus dem Naturzustand und Zusammentreten zu einem bürgerlichen Zustand bestehen kann5, den mit anderen zusammen zu begründen und zu unterhalten jeder genötigt werden darf (§ 8).

3. Die zustande kommende Einteilung Bezüglich der Einteilung können wir damit sagen: Wir haben unsere drei Rechtspflichten und entsprechende Rechtstitel.6 Aber wir haben eine erkennbare objektive praktische Realität bis jetzt nur für die inneren Rechtspflichten und die Pflicht, zu einem bürgerlichen bzw. rechtlichen Zustand überzugehen. Die Frage ist nun: Können von hier aus die anderen Rechtsbegriffe ihre objektive praktische Realität erhalten; und wie können sie es gegebenenfalls? Um die Frage zu beantworten, muß in den Grund für die Einschränkung des Willkürgebrauchs zurückgedacht werden. Aber wie weit? Einen Augenblick mag man sich sagen, dazu sei wohl ein höherer Begriff erforderlich als der eines Rechtsgrundes überhaupt im empirisch bestimmten Willen, da es ja unter anderem auch die Verpflichtung aus einem Recht der Menschheit durch mich als homo noumenon zu integrieren gilt. Man braucht sich aber nur daran zu erin-

4 Was dann Hegel ermutigen wird, aufs abstrakte Recht und seine Selbstdestruktion die Moralität folgen zu lassen. 5 Näheres dazu habe ich ausgeführt in Kants Postulat des öffentlichen Rechts (RL § 42). In: Jahrbuch für Recht und Ethik. Bd. 5 (1997), S. 267–290. 6 Nämlich innere, äußere und ›suum-cuique-tribue‹-Rechtspflichten, die im Postulat des öffentlichen Rechts enthalten sind, sowie die Titel des angeborenen Rechts, des erworbenen Rechts und des Rechts, andere zur Mitwirkung an der Herstellung und Unterhaltung eines bürgerlichen Zustands zu verpflichten. Vgl. das in der nächsten Fußnote angegebene Schema! Dem Text der folgenden Seiten in »{ }« hinzugefügte Abkürzungen beziehen sich hierauf.

›Deduktion der Einteilung eines Systems‹

353

nern, daß der fragliche Grund mit einer Triebfeder verbunden sein muß, die für äußere, freie Willkürhandlungen ohne ethische Motivation ausreicht; dann sieht man, daß wir es nur mit einem Grund im empirisch bestimmten Willen zu tun haben können und daß wir nun lediglich diesen Begriff bestimmter denken müssen als anfangs geschehen, um von ihm aus dann auch denjenigen des neuen Glieds der Einteilung näher zu bestimmen. Wir müssen unsere bisherige, in die Aporie führende Einteilung sozusagen umschichten oder umschreiben7 zu einer ergänzten Eintei7

Vgl. die kursiven Eintragungen ins nun anzugebende Schema zentraler Begriffe der MARL ; nämlich – ihres G e g e n s t a n d e s, d. h. .... ..... ..... .............. der Akt freier Willkür justum

minus justum

– ihrer G e s e t z e, d. h. . . . ..... ..... ...... ..... ............... der lex justi

juridica

justitiae

– des gesetzlichen Bestimmungsgrundes (im empirisch bestimmten Willen und in Funktion der Bestimmung des justum), d. h. .... ..... ...... .................. des RG

überhaupt für die Einschränkung von Willkürgebrauch, der öffentlich o d e r privat ist

U RG des PR überh. RG 1 innere Rpfl. angeb. R.

RG 2

RG 3

äußere Rpfl.

s.c.t.-Rpfl.

erworb. R.

R., zum Eintritt in den b. Z. zu verpflichten

§£•£¶ §£££•£££¶ obj. prakt. Realität

RG des ÖR überh.

bloß problemat. obj. prakt. Realität

RG 4

StaatsR. VölkerR. WeltbürgerR.

§£££££££•£££££££££££££££££¶ objektive praktische Realität Legende ,

:= Subordination;

,

:= Einteilung, dichotomisch, trichotomisch;

:= Co-Divisionen

:= objektives Verhältnis des Bestimmungsgrundes zum Gesetz, wodurch dieses etwas zur Pflicht macht Eintragung nur kursiv := Unbestimmtheit hinsichtlich der Zwischenglieder, bevor das Verfahren zu diesen kommt Kursiv-Schrift := Ersetzung einer (zunächst unbestimmten) Subordination durch eine andere (differenziertere) := Kenntnis, woraus das entwickelt werden kann, worauf der Pfeil weist

§•¶

:= Reales, das unter (oben bezeichnete) Begriffe fällt, deren Realität gesichert oder problematisch ist angeb.:= angeboren; b. Z.:= bürgerlicher Zustand; erw.:= erwerblich, erworben; ÖR:= öffentliches Recht; Pfl.:= Pflicht; PR:= Privatrecht R:= Recht; s.c.t.:= suum-cuique-tribue; RG:= Rechtsgrund; überh.:= überhaupt; U:= Ursprung

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lung, in welcher zwischen unseren zunächst ziemlich unbestimmten Oberbegriff eines Rechtsgrundes {RG} überhaupt und die bisherigen Begriffe von Rechtsgründen des angeborenen {RG 1} und des erworbenen {RG 2} Rechts Zwischenbegriffe eingeschoben, aber auch neue, koordinierte Begriffe berücksichtigt sind. Der oberste dieser Begriffe darf nicht mehr unbestimmt sein hinsichtlich der Differenz privaten und öffentlichen Willkürgebrauchs. Vielmehr muß er sich einteilen in zwei Begriffe von Rechtsgründen je für die Einschränkung des einen sowie des anderen Willkürgebrauchs; und unter dem ersten von diesen beiden Begriffen, d. h. unter dem Begriff eines Rechtsgrundes fürs Privatrecht überhaupt, muß eine dreigliedrige Einteilung stehen. Der Grund für das Postulat öffentlichen Rechts {s.c.t.-Rpfl.} aber, den wir zu ›entwickeln‹ haben aus dem Begriff des Rechts der Menschen in Verhältnis zur Gewalt (§ 42), wird in dem neuen Glied {RG 3} der dreigliedrigen Einteilung nur enthalten gedacht. Sein Begriff also steht über diesem Glied. Nach dem Argument des höchsten zu vermeidenden Unrechts muß er ja erlauben, die drei unterschiedenen Rechtsgründe zu verbinden: den unter der lex juridica stehenden mit einerseits dem unter der lex justi stehenden des Rechts der Menschheit in meiner Person, von dem die Einteilung ausgegangen war, sowie andererseits mit dem unter der lex justitiae stehenden, welcher unser zuletzt hinzugekommenes Einteilungsglied {RG 3} ist. Da wir von ihm aber – dem Postulat des öffentlichen Rechts und entsprechenden Rechtstitel gemäß – noch einen Rechtsgrund des öffentlichen Rechts unterscheiden müssen, haben wir auch einen beiden übergeordneten Begriff {U} zu denken. Er dürfte derjenige eines Grundes im empirisch bestimmten Willen sein, durch den dieser Wille Folgen unter der Idee eines ursprünglich und apriori vereinigten, gesetzgebenden Willens (§ 16) setzt und sich darum zu einem auf diesen Ursprung in der Idee hin vereinigenden macht. Der Grund ist, sofern er seine Folge setzt, die Tätigkeit in meinem empirisch bestimmten Willen, ohne weitere Bedingung sowohl die drei Rechtsgründe, die unter den drei Gesetzen stehen, miteinander zu vereinigen, als auch sich, den empirisch bestimmten Willen, mit meinem reinen Willen des homo noumenon in mir, wie auch nicht zuletzt meinen vereinzelten Willen mit dem ebenso verfaßten Willen eines jeden anderen zu einem Rechtsgrund des öffentlichen Rechts {RG 4}. In dem so bestimmt gemachten höchsten Rechtsgrund-Begriff {U} und seiner Anwendung auf unseren eigenen, empirisch bestimmten Willen, über ihn aber auch auf unsere Willkür, haben wir den Ursprung aller Rechtserkenntnis, den es von Anfang an zu suchen galt. Unter der einzigen, kontingenten Voraussetzung unseres un-

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vermeidlichen ›Nebeneinanderseins‹ setzt der in ihm gedachte Grund die Folge, die im dritten Glied {RG 3} der Einteilung des Rechtsgrund-Begriffs gedacht ist: unseren vereinzelten Willkürgebrauch so zu beschränken, wie es das Postulat des öffentlichen Rechts gebietet. Eben hiermit aber setzt er auch den Rechtsgrund des öffentlichen Rechts überhaupt. Unter der zusätzlichen, ebenfalls kontingenten Bedingung, daß die Bewerkstelligung eines solchermaßen vereinigten Willens nicht alle Willenssubjekte, sondern nur eine begrenzte Menge von Menschen und ihre »(anmaßlich) angeerbte Vereinigung« (§ 43) umfassen kann, setzt er als bestimmterer Grund {RG 4} die Folge eines besonderen vereinigten Willens unter andere solche Willen, die sich ebenso wie er selbst alle unter der Idee eines ursprünglich und apriori vereinigten, gesetzgebenden Willens bestimmen; damit bringt er die Notwendigkeit einer Differenzierung des öffentlichen Rechts in Staatsrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht mit sich. Im Hinblick auf beide Fälle apriori vereinigten Willens aber ist der Begriff dieses Grundes nicht ohne objektive praktische Realität. Denn jeder Mensch hat einen zwingenden Grund zur Vermeidung höchsten Unrechts. Jeder besitzt auch eine für die Folge und praktische Realität erforderliche Triebfeder: Zur Bildung der einen sowie der anderen Willensgemeinschaft verfügen wir allemal über die erforderlichen Zwänge, wenngleich natürlich im einen Fall für die Arbeit an einem Projekt, das die ganze Menschheitszukunft umfaßt, im anderen Fall hingegen für die Mitwirkung an einem längst ins Werk gesetzten Unternehmen. Die Triebfedern bestehen darin, daß wir unseren Selbstzwang und den äußeren Zwang, den wir aufeinander ausüben, miteinander koordinieren. Durch den mit Selbstzwang koordinierten, gesetzlichen äußeren Zwang, den jeder übt sowie sich gefallen läßt, besitzt also der Begriff die für seine objektive praktische Realität erforderliche Triebfeder. Fehlt nur noch, daß über ihn auch unsere Begriffe der privaten Rechte und Pflichten des Menschen nicht nur objektive praktische Realität, sondern überdies die Bestimmtheit und weitere Bestimmbarkeit erlangen, die ihnen für sich genommen abgehen. Im Hinblick darauf ist es nun nicht mehr allzu schwer, genau zu sehen, inwiefern die Rechtspflichten, die durch Eintreten in einen bürgerlichen Zustand mit anderen und Arbeit für ihn erfüllt werden, gemäß MARL [237] die »Ableitung« der äußeren Rechtspflichten (unter dem Gebot ›neminem laede‹) vom Prinzip der inneren (d. h. dem Recht der Menschheit in unserer eigenen Person) durch Subsumtion unter dieses Prinzip enthalten. Ableitung eines Begriffs besteht im ›inneren Gebrauch‹ seiner Merkmale, um die Sache durch diese Merkmale, als ihre Erkenntnisgrün-

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de, selbst zu erkennen. Solchen Gebrauch macht eine Realdefinition,8 ohne deren Möglichkeit die äußeren Rechtspflichten weder Bestimmtheit erlangen noch Bestimmbarkeit haben könnten. Wie gesagt besitzen die Rechtspflichten, die unter dem Gebot ›neminem laede!‹ stehen, für sich genommen beide, Bestimmtheit und Bestimmbarkeit, nicht und können beide nur haben in Abhängigkeit vom Inhalt der Pflicht, mit anderen in einem bürgerlichen Zustand zu leben, in welchem einem jeden gesichert werden kann, was ihm rechtlich zukommt.9 Nun gilt zusätzlich: Die äußeren Rechtspflichten erlangen durch Realdefinition ihre Bestimmtheit und weitere Bestimmbarkeit in einer Gesellschaft nicht automatisch, sondern nur auf dem Wege von Gesetzgebung, in der zumindest »die Verbindlichkeit nach dem Gesetze« [227,2] des Ius naturae zustandegebracht wird; und sie erlangen die jeweils weitere Bestimmtheit nicht durch jederlei Gesetzgebung, die positives Recht schafft, sondern nur durch eine solche, die sowohl ihr Verfahren wie auch dessen Ergebnisse dem Recht der Menschheit in der Person eines jeden von uns als ihrem unumstößlichen Prinzip unterordnet. Nach allem, was wir über den Grund des ursprünglich und apriori vereinigten, gesetzgebenden Willens ausgemacht haben, muß diese Subsumtion auch erfolgen. Damit sind wir endlich in der Lage, direkt die Deduzierbarkeit der Einteilung diskutieren zu können.

4. Die Vollständigkeit der Einteilung Jede Einteilung eines Begriffs ist genau dann vollständig, wenn der eingeteilte Begriff und die disjunktiv verbundenen Glieder der Einteilung Wechselbegriffe sind. Wird das nicht bereits durch den logischen Charakter der Einteilung garantiert, so müssen wir, um beweisen zu können, daß es bei einer vorliegenden Einteilung der Fall ist, in der Lage sein auszumachen, ob die Wechselbegriff-Bedingung erfüllt ist oder nicht. Das wiederum verlangt, daß wir es mit hinlänglich bestimmten Begriffen zu tun haben und einem nicht nur begrenzten, sondern auch überschaubaren Umfang an Realität unter unserem eingeteilten Begriff wie auch unter den 8

Vgl. I. Kant, Logik Jäsche, Einl. VIII u. § 107; Kant’s handschriftlicher Nachlass. (AA Bd. XIV ff.) Reflexion 3008; AA Bd. XXIV, S. 726. Auf Nummern von Reflexionen aus Kants Nachlaß wird im folgenden mit der Abkürzung »R« verwiesen. 9 Aber nicht die äußeren Rechtspflichten selbst sind im Inhalt der unter diesem Gebot stehenden, anderen Pflichten enthalten, womit sie ja nur eine Teilklasse von ihnen wären. Das Enthaltensein wird nur von der Ableitung der äußeren Rechtspflichten aus dem Prinzip der inneren behauptet.

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Begriffen, die Glieder der Einteilung sind. Überschauen in der fürs Feststellungsverfahren erforderlichen Weise lassen sich die Umfänge, wenn sie sich aus einer endlichen, abzählbaren Menge von Gegenständen zusammensetzen, die Instantiierungen der Begriffe sind. Wir haben gesehen, daß die für uns relevanten Optionen eine solche Menge bilden. Aber ein Beweis, der zum Zweck der erforderlichen Feststellung alle für uns relevanten Optionen durchlaufen müßte, wäre gleichwohl illusorisch, da wir nicht alle diese Optionen kennen und keine Chance haben, sie jemals alle kennenzulernen. Was für eine andere Idee eines möglichen Beweises mag Kant für die Einteilung der Begriffe seiner MARL vorschweben? Ich vermute, die Idee, der er folgt, setzt sich aufs Ganze gesehen aus drei Hauptstücken zusammen. Im Hinblick auf die Schwierigkeit einer möglicherweise unbestimmten Menge von Einteilungsebenen denkt Kant sich von einer gewissen Ebene der Einteilung an durch die übergeordneten Begriffe garantiert, daß im Objekt, sofern es als justum vom minus justum deutlich genug abgegrenzt ist, ein Verfahren besteht, gemäß dem nicht nur alle weiteren Einteilungen unter den übergeordneten Begriffen erfolgen, sondern auch die Vollständigkeit aller Einteilungen auf niedrigeren Ebenen bewerkstelligt werden kann. Das Verfahren ist dasjenige einer positiv-rechtlichen Gesetzgebung, die unter festen, durch Naturrechtslehre zu rechtfertigenden Prinzipien steht. Die Einteilungen auf diesen Ebenen sind einfach deshalb vollständig, weil sie durch entsprechende positiv-rechtliche Gesetzgebung vollständig gemacht werden. Die Frage ist dementsprechend nur noch, was auf den Einteilungsebenen oberhalb davon, im Erkenntnisbereich der metaphysischen Rechtslehre unserer Einteilung Vollständigkeit versprechen und deren Behauptung beweisbar machen kann. Auf diese Frage beziehen sich die anderen beiden Hauptstücke der Beweisvorstellung. Das eine von ihnen, dessen nähere Betrachtung hier nur dem Zwang zur Kürze weichen muß, hat uns natürlich auf den Begriff und die Ausrichtung jener positiv-rechtlichen Gesetzgebung in den metaphysischen Anfangsgründen der Lehre vom öffentlichen Recht zu führen. Zuvor aber müssen in einem Hauptstück die für praktische Erkenntnis und Institutionalisierung des Verfahrens grundlegenden Einsichten und Begriffe ihrerseits systematisiert werden durch ein Vorgehen, das in die Willkür-beschränkende Rolle dieser Begriffe ein Maximum an Übersicht, Verträglichkeit der einzelnen Funktionen und Rechtfertigung der Verbindung von Begriffen bringt. Insbesondere muß dabei gewährleistet werden, daß (1) der Begriff des Objekts der Rechtslehre, mit dem gearbeitet wird, wirklich der oberste dieser Wissenschaft ist und alle ande-

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ren Begriffe im Hinblick auf den ganzen Umfang seiner Realität untersucht werden; und (2) die Begriffe, die der Abgrenzung des justum vom minus justum dienen, alle unter einen einzigen, im Verhältnis zu ihnen höchsten gebracht werden, dessen Bestimmtheit wir der Einsicht in unser Vermögen praktischer Erkenntnis verdanken und der durchgängig im Hinblick auf seine Willkür-beschränkende Funktion eingeteilt wird. Daß und wie Kant diesen Forderungen im großen Ganzen Rechnung trägt, ist dargelegt worden (wenn auch nur für die obersten Ebenen der normativen Begriffe). Es bleiben aber zwei weitere Forderungen zu berücksichtigen. Sie beziehen sich aufs Verfahren, in welchem der höchste Begriff willkürbeschränkender Funktion eingeteilt wird: Die Forderung (3) nämlich, daß die Begriffe, welche Glieder einer Einteilung sein sollen, erkennbarerweise auf eine unter ihnen enthaltene Realität in einer Dimension bezogen sind, in der es für die Beschränkung von Willkür ein Analogon zur Teilung eines kontinuierlichen Quantums durch einen Schnitt gibt; und daß sie eine solche ›schnittartige‹ Teilung eben jenes Umfangs vornehmen, den sie in disjunktiver Verbindung haben. Schließlich aber auch die Forderung (4), daß dieser Umfang erkennbarerweise mit dem Umfang des eingeteilten Begriffs zusammenfällt. Wenn erklärt ist, was diese beiden Forderungen besagen, wird hoffentlich einleuchten, daß mit ihrer Erfüllung auch eine vollständige Einteilung (auf einer jeweiligen Einteilungsebene) bewerkstelligt und beweisbar wäre. Dann bleibt nur noch, den explizierten Inhalt der Forderungen mit dem (im Vorigen leider nur skizzierten) Erkenntnisverfahren Kants zu konfrontieren und zu erwägen, ob das Verfahren die Behauptung erlaubt, den Forderungen sei Rechnung getragen worden. Zur Erläuterung des Geforderten kann ein simples Beispiel von Teilung eines kontinuierlichen Quantums durch einen Schnitt mittels entsprechender Einteilung eines Begriffs dienen: Eine Einteilung des Begriffs ›Dreieck‹ (in der Geometrie ebener Flächen) unter dem Gesichtspunkt von Winkelgrößen bzw. die Teilung des Kontinuums, in dem sich die Größe von Dreieckswinkeln abwandeln mag. Wir mögen den Begriff ›Dreieck‹ einteilen (indem wir seinen Umfang teilen) in den des Dreiecks mit einem Winkel größer als ein rechter Winkel, denjenigen des Dreiecks, das nur Winkel hat, die kleiner als ein rechter Winkel sind, und – genau dazwischen – denjenigen des rechtwinkligen Dreiecks. Die Einteilung ist offenkundig vollständig. Wenn unsere rechtsphilosophischen Einteilungen Analoga dazu wären und wir annehmen dürften, daß sie es sind, hätten wir Gründe für die Behauptung ihrer Vollständigkeit. Allerdings müßten wir dazu nicht nur feststellen, daß sich die Realität unter unseren

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als Einteilungsgliedern betrachteten Begriffen hinsichtlich ihrer Teilbarkeit analog zu derjenigen des ganzen Kontinuums verschiedener Winkelgrößen im Dreieck verhält. Wir müßten auch, um Forderung (4) zu entsprechen, etwas erkennen, das im Beispielfall einer vollständigen Einteilung des Begriffs ›Dreieck‹ trivial ist: daß die unter dem einzuteilenden Begriff enthaltene Realität und die Realität unter den zu seiner Einteilung gebrauchten, disjunktiv verbundenen Begriffen zusammenfallen, so daß beide denselben Umfang haben, also Wechselbegriffe sind. Im Fall unserer rechtsphilosophischen Einteilungen ist das ja keineswegs selbstverständlich, sondern gerade beweisbedürftig. Wenn gar zu erkennen wäre, daß wir es nicht nur mit analogen Fällen zu tun haben, sondern in der Rechtslehre mit Fällen, in denen eine Einteilung (via Teilung einer ganzen Dimension von Realität) letztlich aus analogieunabhängigen Gründen vollständig ist, hätten wir für den Vollständigkeitsbeweis eine feste Basis. Wir befänden uns dann ja nicht mehr auf dem schwankenden Boden einer Analogiebehauptung. Gibt es für Begriffe, deren Realität kein kontinuierliches und dazuhin kein anschauliches Quantum ist, so daß sich die Begriffe nicht konstruieren lassen, dennoch ein Analogon zu unserem geometrischen Beispielfall? Läßt sich erkennen oder wenigstens mit guten Gründen behaupten, daß wir in unseren rechtsphilosophischen Einteilungsfällen solche Analoga vor uns haben? Und basiert die Behauptung ihrer Vollständigkeit nicht nur auf der Unterstellung oder Plausibilität einer Analogie, sondern auf unabhängigen Gründen, mögen sie auch letztlich dieselben sein wie diejenigen des analogen Falles? Ich glaube, man darf diese drei Fragen bejahen. Das Analogon nämlich zu unserem geometrischen Beispiel ist die Teilung einer Realität (und dadurch Einteilung eines Begriffs, der zumindest in einer Dimension seines Umfangs diese Realität unter sich enthält) in: 1) ein Reales, das für ein anderes Bedingung ist; 2) ein anderes Reales, das im Verhältnis zum ersten Bedingtes ist; und 3) eines, das gleichsam als ›Schnitt‹ zwischen beiden zum bedingenden Realen hinzugefügt die Bedingung unbedingt macht – und dadurch die Erkenntnis des Bedingten aus der Erkenntnis des Bedingenden ableitbar. Genau dieses Verhältnis Willkür-beschränkender Realitäten zueinander haben in den MARL, was objektive praktische Realität betrifft, die Glieder der dreigliedrigen Kantischen Einteilungen: Vorab die allgemeine Einteilung der Rechtspflichten und – als codivisio hierzu – diejenige der Rechtstitel; aber auch diejenige des Privatrechts an äußeren Gegenständen, ja sogar diejenige der Erwerbungsgründe (§ 10); vermutlich auch

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diejenige der Gründe zu den drei möglichen Formen des rechtlichen Zustandes (§ 43) und zu den drei Staatsgewalten (§ 45).10 Die Realitäten unter den Gliedern der trichotomischen Einteilungen haben das angegebene Verhältnis übrigens nicht nur stillschweigend, sondern erklärtermaßen. Denn die Einteilungen sind sämtlich Teilungen eines apriori gegebenen Begriffs – also Einteilungen, bei denen wir zu suchen haben, was im gegebenen Begriff enthalten ist, und das Enthaltene via ›decompositio logica‹ darlegen. Solche Dekompositionen haben den Charakter einer divisio metaphysica. Die aber ist allemal eine »zuerst in zwey theile« (R 3025). Wenn sie a priori durch Begriffe zu erfolgen hat wie in unserem Fall, wird sie »jederzeit trichotomie« (R 3021). Weil dabei die im zu teilenden Begriff steckende Synthesis von Merkmalen zu rechtfertigen ist, muß sie eine »aus dem Prinzip der Synthesis apriori« sein (R 3031); und die Glieder bzw. (genauer) Teile dieser Teilung verhalten sich dann zueinander als »1. Der Begriff der Bedingung, 2. [der Begriff] des Bedingten, 3. [der Begriff] der Ableitung des letzteren aus dem ersteren« (ebda.). Es wird aber nicht nur ins Allgemeine hinein behauptet, daß wir es bei den dreigliedrigen metaphysischen Einteilungen, also auch denen der MARL, mit den umrissenen Verhältnissen zu tun bekommen. Mindestens für die allgemeine Einteilung der Rechtspflichten und Rechtstitel wird es zweitens im skizzierten Rückgang auf den Ursprung der Rechtserkenntnis eingesehen. Denn nicht nur stehen erkennbarerweise die inneren und die äußeren Rechtspflichten sowie das angeborene und das erworbene Recht im Verhältnis von Bedingung und Bedingtem zueinander. Mit der Notwendigkeit des Rückgangs in den Ursprung der Rechtserkenntnis und des Übergangs vom Privatrecht zum öffentlichen Recht wird auch erkannt: Die verbindende Kraft allen Rechts liegt im Recht der Menschheit; und durch den wechselseitigen äußeren sowohl als Selbst10 Diesen Einteilungen geht freilich eine dichotomische voraus: diejenige des Gegenstandsbegriffs der Rechtslehre in einen Begriff des justum und des minus justum. In ihr hat man es mit einer »Abteilung« zu tun, in der die Sphäre des obersten Begriffs eingeteilt und zu diesem Zweck »auf die Unterscheidung der fremdartigen stücke gesehen« wird (R 3021). Die Abteilung ist trivialerweise vollständig, aber zunächst unbestimmt, und alle weiteren Einteilungsschritte dienen der Aufgabe, sie bestimmt zu machen. Ob wir als den im weiteren zu teilenden Begriff den des justum betrachten oder denjenigen des Inbegriffs von Rechtsgründen und Bedingungen, gemäß denen die Willkür aller unter einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt werden kann, kommt dabei aufs selbe hinaus. Beide sind Wechselbegriffe, da die im justum gedachte, vollständig unter Rechtsbestimmungen beschränkte Willkür und die ausschließlich aber vollständig durch diese Bestimmungen erfolgende Beschränkung von Willkürgebrauch in gegenständlicher Hinsicht exakt dieselbe Realität sind.

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zwang, einen kollektiv-allgemeinen, gesetzgebenden und machthabenden, auf Durchsetzung distributiver Gerechtigkeit gehenden Willen zu bilden, wird die Bedingung von äußeren Rechtspflichten und von Rechtstiteln erwerblichen Rechts im Verhältnis zu diesen beiden Bedingten unbedingt – und zwar sowohl, was die Bestimmtheit und Bestimmbarkeit dieses Bedingten betrifft, als auch hinsichtlich der Triebfedern, welche für die Gesetzgebung einer lex juridica wirken. Zugleich wird durch Rückgang auf den Ursprung aller Rechtserkenntnis der Realitätsbezug, also Umfang der disjunktiv verbundenen Begriffe, die Glieder unserer Einteilungen sein sollen, gegenüber dem anfänglich angenommenen (auf natürliche Personen und Zustände beschränkten) erweitert: auf schlechthin alle Formen des rechtlichen (§ 43) oder natürlichen Zustandes, schlechthin alle Bedingungen, unter denen es vor einem Gerichtshof zu entscheiden gilt, was rechtens ist, und vor allem auf alle (natürlichen und moralischen) Personen unter juridischen Gesetzen, so daß der Umfang nun nicht mehr nur alle Privatpersonen umfaßt, sondern ebenso sehr alle öffentlichen, für ihre Handlungen verantwortlichen und juridischer Zurechnung fähigen Träger von Rechten und Pflichten. Die Erweiterung wird aber nicht nur vorgenommen. Es wird auch eingesehen, daß sie notwendig ist und daß mit ihr, aber auch erst mit ihr die Rechtsgründe, welche wahre Folgen des Grundes sind, dessen Begriff es in der divisio metaphysica einzuteilen gilt, in die Einheit dieses Begriffs zurückführen und nur zu diesem völlig zusammenstimmen. Letzteres in Anwendung des dritten der drei Kriterien, welche Kant in § 12 der KrV benannt hat und deren Erfüllung für jede Erkenntnis eines Objekts zu fordern er als die richtig gedolmetschte Lehre von den Transzendentalien betrachtete.11 Ich glaube, wir dürfen sagen, diesem Kriterium sei mit einem erkennenden Rückgang in den Ursprung aller Rechtserkenntnis und dem entsprechenden Übergang vom Privatrecht zum öffentlichen Recht Rechnung getragen. Dann aber dürfen wir wohl auch behaupten, mit dem gleichen Erkenntnisschritt werde ausgemacht, daß der eingeteilte Begriff und die disjunktive Verbindung der ihn einteilenden Begriffe denselben Umfang haben. Bleibt schließlich die Frage, ob es im Kantischen Erkenntnisverfahren von der obigen Analogie-Annnahme unabhängige Gründe gibt für die Be11

Vgl. Peter König, Einheit, Wahrheit und Vollkommenheit. Zum dreiteiligen Aufbau der transzendentalen Deduktion der Kategorien in der B-Auflage der KrV (vorläufiger Titel). Erscheint in: Kant, Critique of Pure Reason. The German Philosophical Tradition, ed. Ottfried Höffe and Robert B. Pippin, Cambridge 2001.

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hauptung, unsere Einteilungen seien vollständig, wenn sie nach den angegebenen Prinzipien vorgenommen werden. Auch diese Frage ist wohl zu bejahen. Denn für die Einsicht, daß der im Erkenntnisverfahren identifizierte einzuteilende Begriff und die disjunktive Verbindung der zu seiner Einteilung gebrauchten Begriffe Wechselbegriffe sind, müssen wir uns nicht auf eine Analogie der vorgenommenen Einteilungen mit der zum Vergleich herangezogenen geometrischen Einteilung berufen. Es genügt die berechtigte Berufung auf die transzendental-logischen Kriterien einer jeden Erkenntnis eines Dinges überhaupt und die dafür erforderliche Feststellung, daß wir es bei der Realität unter den Gliedern der Einteilung mit einem bedingten Realen, seiner Bedingung und einem zwischen das Bedingte und seine Bedingung tretenden, die Bedingung fürs Bedingte unbedingt machenden Dritten zu tun haben. Allerdings steht die Feststellung unter einem den Vollständigkeitsanspruch relativierenden Vorbehalt – ebenso wie die Behauptung, den transzendentallogischen Erkenntniskriterien sei Rechnung getragen: dem Vorbehalt der jeweiligen, endlichen Breite und Tiefe, in der wir uns die apriorische Begrifflichkeit unserer Erkenntnis – hier insbesondere unserer praktischen Erkenntnis – logisch deutlich gemacht haben. Das läßt Revisionen unserer mit Vollständigkeitsanspruch verbundenen metaphysischen Einteilungen zu. Es macht sie bei fortgeschrittener Analyse sogar erforderlich. Einen unter mehreren Punkten, an denen ich im Hinblick auf die Einteilungen der MARL eine solche Revision erforderlich finde, habe ich oben mit einem Hinweis auf Hegel angedeutet (vgl. Fußnote 4!).

5. Zur Stetigkeit der Einteilung Sollte auch die Stetigkeit unserer Einteilung deduzierbar sein? Wenn ›ja‹: warum? – um vom ›wie‹ ganz zu schweigen. Ich muß gestehen, daß ich mich mit diesen Fragen und meinen Überlegungen dazu viel unbehaglicher fühle als hinsichtlich der Vollständigkeit. Ich bin mir sogar nicht einmal sicher, mich damit auf dem rechten Weg zu befinden. Deshalb deute ich nun nur noch Gesichtspunkte an, die dafür sprechen, daß das umrissene Erkenntnisverfahren der MARL für eine ihm gemäß zustande kommende Einteilung eine gewisse Stetigkeit und zugleich Kriterien liefert, das Zustandegekommene auf Stetigkeit hin zu beurteilen. Eine Einteilung ist nach Kants Erläuterung [218] genau genommen nicht schon dann stetig, wenn sie im Übergang vom eingeteilten Begriff »zum Gliede der Einteilung [...] durch keinen Sprung« geschieht, der ein

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für die Einteilung erforderliches Glied überspringt; sondern erst wenn »in der ganzen Reihe der Untereinteilungen« kein Sprung vorkommt. Zu welchen unter den verschiedenen Gliedern, die einen Begriff einteilen, von diesem Begriff aus übergegangen wird, ist der Formulierung nach zu urteilen entweder gleichgültig, so daß die Forderung für jedes beliebige unter den Gliedern einer Einteilung gleichermaßen gilt; oder es muß festgelegt sein durch eine Ordnung unter allen Gliedern einer Einteilungsebene, so daß auch dieser Ordnung gemäß zu prüfen ist, ob dem Erfordernis Rechnung getragen wird oder nicht. Die dabei leitende Vorstellung scheint jedenfalls zu sein, daß zwischen dem Oberbegriff einer Einteilung – als dem Begriff des Grundes, aus dem sich unter Zusatzbedingungen Folgen ergeben – und den Gliedern von Einteilungen bzw. Untereinteilungen als Begriffen von nächsten oder entfernteren Folgen in gewissem Sinne ein Kontinuum besteht und daß beim Übergang vom Grund zu immer entfernteren Folgen kein Stück des Kontinuums übergangen werden darf. Die Vorstellung erscheint nicht ganz abwegig, wenn man bedenkt, daß in unserem Fall alle zur Einteilung dienenden Begriffe die Funktion haben, Willkür einzuschränken. Das Kontinuum ist eines zunehmender Intensität an Bestimmtheit in der Einschränkung von Willkürgebrauch. Gleich die oberste Einteilung unseres Gegenstandsbegriffs in die beiden formalen Bestimmungen des justum und des minus justum legt uns für alle weiteren Einteilungsschritte auf diesen Gesichtspunkt fest. Denn wo es praktisch das minus justum vom justum abzuteilen gilt (vgl. Fußnote 10!), da ist an unseren Optionen die Grenze auszumachen, welche unter ihnen zwischen dem einen und dem anderen verläuft; und das wird nur gelingen, wenn ein Erkenntnisverfahren uns zum einen instand setzt, lückenlos alle hierfür erforderlichen »attendenda« (d. h. Momente, vgl. § 10) in Betracht zu ziehen, zum anderen uns aber auch Mittel an die Hand gegeben werden zu überprüfen, ob die attendenda im Gang der Erkenntnis wirklich berücksichtigt wurden; und wenn zum dritten die Erkenntnis gemäß diesem Verfahren gewonnen wird. Man begreift also durchaus, was die Stetigkeitsforderung soll. Sie ist keine Marotte eines Schulmannes, sondern für den praktischen Sinn des ganzen Erkenntnisgangs eminent wichtig.12 12

Vielleicht sollte an dieser Stelle noch eine zweite dichotomische Einteilung erwogen werden: diejenige zweier Arten, die Rechte systematisch zu lehren. Ihre Glieder haben im Hinblick auf die Erkenntnis eindeutig die Stellung eines früheren und eines späteren; aber sie teilen am Begriff nicht seinen Umfang ein und teilen darum auch das Objekt selbst nicht als ein bestimmtes vom Unbestimmten ab. Sie teilen den Begriff ein hinsichtlich der Weise, wie sein Objekt erkannt bzw. diese Erkenntnis

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Ihre eigentliche Bedeutung hat die Stetigkeitsforderung für die auf Abteilung des Gegenstandes folgende divisio metaphysica der juridischen Gesetze und gesetzlichen Bestimmungsgründe im empirisch bestimmten Willen. Anhand welcher Kriterien können wir überprüfen, ob die Forderung in der Ausführung einer solchen divisio bzw. in der Erkenntnis, die zu ihr führt, befolgt ist oder nicht? Soweit ich sehe, haben wir dafür sechs Anhaltspunkte, und deren Beachtung gehört tatsächlich zum Kantischen Vorgehen: (1) Wie gesagt geht es in einer divisio metaphysica um Teilung eines apriori gegebenen Begriffs. Durch »decompositio logica« (R 3030) des ganzen zu teilenden Begriffs oder ›Inbegriffs‹ müssen daher zunächst jeweils zwei Merkmale in Betracht gezogen werden, die in diesem Begriff synthetisch verbunden sind. Für die Zwecke der divisio ist darauf zu achten, daß sie einander in Beziehung auf einen gemeinsamen Grund (d. h. unter einem Oberbegriff, dessen Einteilung sie dienen) qualitativ entgegengesetzt sind.13 (2) Da es sich bei der divisio zugleich um Teilung eines Ganzen handelt, sind die einander entgegengesetzten Einteilungsglieder so auszuwählen, daß sie sich ergänzen – wenn nicht gleich zum ganzen geteilten Begriff, so wenigstens zu einem vollständigen Teil seiner und damit in einer besonderen Hinsicht, unter welcher die ganze Realität des Oberbegriffs nun durchgehend betrachtet wird, solange es um die einander entgegengesetzten Einteilungsglieder geht.14 Auch unter zwei weiteren Gesichtspunkten ist der Übergang vom Oberbegriff zum Glied der Einteilung kontinuitätsfreundlich reguliert: (3) Der Übergang darf nicht in einer beliebigen inhaltlichen Bereicherung des Oberbegriffs bestehen, die von dessen Realität gedeckt ist. Der qualitative Zusatz zum Inhalt des Oberbegriffs muß vielmehr – ausschließlich auf den Erkenntniszweck (d. h. die Willkürbeschränkung) bezogen – von kleinstmöglichem Grad sein. Außerdem ist dabei (4) die Anordnung der Einteilungsglieder nicht beliebig. Vielmehr hat der Übergang (in Ausrichtung auf den Erkenntniszweck) zu beginnen mit demjenigen Einteilungsgelehrt wird: als Naturrecht oder als positives Recht [237,3]. Ich habe keine Idee, wie sich dieser Schritt im Hinblick auf die Stetigkeitsforderung rechtfertigen läßt; aber ich vermag auch nicht zu sehen, was davon abhängt, daß man ihn unter diese Forderung bringt. 13 Nach Reflexionsbestimmungen, z.B. des Inneren und Äußeren, der Form und Materie bzw. des Angeborenen und Erworbenen, des Habens und Erwerbens bzw. Erworbenseins. 14 Im Fall der inneren und äußeren Rechtspflichten bzw. des angeborenen und erworbenen Rechts betrifft die das Ganze einschränkende Hinsicht z.B. den ausschließlich privaten Willkürgebrauch. Die Ergänzung erfolgt also zunächst unter Abstraktion von allem öffentlichen Gebrauch der Willkür.

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glied, das im Vergleich zu seinem Gegenglied den kleinstmöglichen Zuwachs zum Begriffsinhalt des Oberbegriffs aufweist und in seiner Erkenntnisfunktion Bedingung für die Funktion des entgegengesetzten Glieds (als eines dadurch bedingten) ist. So bekommt z. B. die innere Rechtspflicht vor der äußeren einen eindeutigen Erkenntnisvorrang, ebenso das angeborene Recht vorm erwerblichen. Wegen der unabhängig voneinander bestehenden Forderung qualitativer, ergänzender Entgegensetzung und kleinstmöglicher Zuwächse an Begriffsinhalt kann der Übergang vom einen Glied zu seinem Gegenglied in dessen Untereinteilung führen. Allemal aber gibt es für den bruchlosen Übergang vom ersten Glied der Einteilung zu seinem Gegenglied (mit eventueller Untereinteilung) ein Erfolgskriterium, das ein Analogon zu jener (dreigliedrigen) Teilung ist, die in einem quantum continuum durch einen ›Schnitt‹ vorgenommen wird: Der Übergang vom Begriff der Bedingung zu demjenigen des Bedingten und von ihm zu einem dritten Einteilungsglied, welches die Ableitung des Bedingten aus seiner Bedingung enthält, muß so erfolgen, daß (5) die Bedingung durch ein im dritten Einteilungsglied zu denkendes Moment unbedingt gemacht wird, so daß das Bedingte damit notwendige Folge seiner Bedingung ist. Aber nicht nur für die Übergänge von Einteilungsglied zu Einteilungsglied besteht auf diese Weise eine Art Stetigkeitsforderung, sondern auch für den Übergang vom Oberbegriff zu den Gliedern seiner Einteilung – allerdings in einem Sinn, der in den Einteilungen eines quantum continuum, soweit ich sehen kann, kein Analogon hat. Das ergibt einen Anhaltspunkt für ein weiteres Kriterium: Der Gang der Erkenntnis, in dem sich die Einteilung aufbaut, muß (6) auch ein Kennzeichen dafür mit sich bringen, daß in der Einteilung kein Zwischenglied zwischen dem eingeteilten Begriff und den Gliedern seiner Einteilung übersprungen worden ist. Er besitzt dies Kennzeichen im erwähnten Vollständigkeitskriterium jeder Erkenntnis eines Gegenstands (KrV § 12). Demgemäß ist die Erkenntnis eines Gegenstandes dann vollständig, wenn die Folgen des Grundes, der im Begriff des Gegenstandes gedacht wird, nicht nur wahr sind, sondern in den Begriff dieses Grundes zurückführen, ihn also konkret machen; und wenn sie nicht nur in den Begriff zurückführen, sondern zu ihm und keinem anderen völlig zusammenstimmen. Ist das für alle unter erfüllten Zusatzbedingungen eintretenden Folgen einer gewissen Abstraktionsebene der Fall und sind möglichst alle diese Folgen berücksichtigt worden, so liegt hierin auch ein Grund für die Stetigkeit des Übergangs vom hinreichend bestimmten Oberbegriff zum Einteilungsglied, wobei die Stärke dieses Grundes natürlich von der Berücksichtigung der Folgen

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und darum auch von der Übersicht über diese abhängt. Wäre nämlich ein Zwischenglied übersprungen, also z. B. ein entgegengesetztes Glied nicht als solches beachtet worden, so würden dadurch falsche Aussagen nicht durchschaut, sondern als wahre Folgen des Grundes betrachtet. Das aber müßte zu Widersprüchen unter den Folgen oder zumindest dahin führen, daß die für wahr gehaltenen Folgen nicht alle zum Gegenstandsbegriff und nur zu ihm zusammenstimmen. Freilich sagt uns dieses Kriterium in einem solchen Fall nicht, an welcher Stelle eines Übergangs zum Glied einer Einteilung die Stetigkeitsforderung verletzt ist. Es darf wohl nicht behauptet werden, mit den erwähnten Kriterien sei die Stetigkeit einer Einteilung deduzierbar, oder es sei gar schon abzusehen, welche Form ein entsprechender Beweis annehmen müßte. Dazu könnte man erst gelangen, wenn sich auch ausmachen lassen würde, wie die Aufgabe, die Kriterien anzuwenden, mit der Rückführung der metaphysischen Erkenntnis in ihren Ursprung zusammenhängt. Gewiß aber wäre es unangemessen, nach allem Ausgeführten noch zu behaupten, Kant habe kein wohldurchdachtes Programm gehabt, die Systematizitätsforderung, die er für eine jede philosophische Wissenschaft erhob, in seiner Rechtsphilosophie epistemologisch einzulösen. Wichtige Punkte daraus hat, soweit ich sehe, von den nachkantischen Idealisten nur Hegel in sein eigenes rechtsphilosophisches Programm übernommen.

Brigitta-Sophie von Wolff-Metternich ›System‹ oder ›Annäherung zum System‹? Anmerkungen zu Hans Friedrich Fulda1 Ausgangspunkt für Hans Friedrich Fuldas Überlegungen ist eine bislang wenig beachtete Anmerkung aus der ›Einleitung zur Metaphysik der Sitten‹, in der Kant hinsichtlich der Einteilung der Metaphysik der Sitten in eine solche des Rechts und der Tugenden räsonierend bemerkt, daß »die Deduction der Eintheilung eines Systems: d. i. der Beweis ihrer Vollständigkeit sowohl als auch der Stetigkeit [...] eine der am schwersten zu erfüllenden Bedingungen für den Baumeister eines Systems«2 ist. Zwar beabsichtigt Kant dies nicht mehr im Rahmen der vorliegenden Metaphysik der Sitten zu leisten, gleichwohl unterstreicht er mit dieser Stelle, daß er in dem Nachweis der vollständigen und stetigen Einteilung eine notwendige und prinzipiell lösbare Aufgabe sieht.

1. Dieses von Kant angedeutete Desiderat seiner Schrift versucht nun Fulda ein Stück weit, d. h. unter bestimmten Selbstbeschränkungen, zu beheben. Sein Interesse gilt der Frage, ob und inwieweit Gründe für die Erfüllbarkeit der Vollständigkeit der Einteilung der ›Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre‹ angegeben werden können. Das hört sich zwar nicht nach einer einfach zu lösenden, aber doch klar konturierten Aufgabenstellung an. Bei den sich anschließenden, eher harmlos wirkenden Fragen, was hier eigentlich eingeteilt wird, d. h. worin das Eingeteilte und die Einteilungsglieder bestehen, und von welcher Art die Einteilung selbst ist, stößt man dann aber schon auf gravierende interpretatorische Probleme, die eine direkte Behandlung und Lösung der gestellten Aufgabe erschweren. Und das kommt nicht von ungefähr, setzt doch eine sinnvolle Erörterung der Systematizität der hier zu diskutie-

1

Hans Friedrich Fulda, ›Deduktion der Einteilung eines Systems‹ – erörtert am Beispiel »Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre«, in diesem Band, S. 346ff. (im folgenden »Fulda«). 2 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. VI, Berlin 1968, S. 218 (im folgenden »Kant, MS«).

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renden Einteilung bereits voraus, daß man sich über die spezifische Aufgabenstellung der ›Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre‹, nämlich eine apriorische Begründung des Rechtes zu leisten, sowie über ihren Ausgangspunkt und ihr Verfahren vorab verständigt hat. Genau darin liegt das Hauptproblem, mit dem die Fuldaschen Überlegungen zu ringen haben: Daß sich die Einteilung bereits in einem ›Progreß wissenschaftlicher Erkenntnis ergeben‹ haben muß, bedeutet im Grunde, den gesamten Argumentationsgang des Kantischen Textes als Interpretationsvoraussetzung zu bemühen: von der ›Einleitung in die Rechtslehre‹, in der der Begriff sowie das Prinzip des Rechtes und seine zur Konstruktion mathematischer Begriffe analoge Darstellung als Zwangsbefugnis und ferner drei verschiedene Einteilungen hinsichtlich der Rechtspflichten, Rechte und Verpflichtungsverhältnisse gegeben werden, über den ersten Teil zum Privatrecht bis hin zum zweiten, das öffentliche Recht behandelnden Teil. Obwohl schon stark abkürzend und vom Charakter eher appellativ als ausführend, nehmen Fuldas Vorüberlegungen dementsprechend viel Raum ein. Freilich etwas vereinfachend lassen sie sich unter folgender Leitfrage zusammenbringen: Als was muß sich die hier auf ihre Vollständigkeit hin zu überprüfende Einteilung bereits ergeben haben, damit die Frage nach der Vollständigkeit allererst sinnvoll gestellt werden kann? Im Rahmen der Klärung, welchen Forderungen die hier zu diskutierende Einteilung genügen muß, trifft Fulda die ebenso treffende wie erläuterungsbedürftige Feststellung, daß die Einteilung im Hinblick auf ihre Deduktion nicht unmittelbar und schlichtweg nur als diejenige des Rechtsbegriffs in verschiedene Rechte aufgefaßt werden dürfe. Vielmehr müsse sie zunächst in den grundbegrifflichen Rahmen von ›Rechtsgründen‹, ›Rechtstiteln‹, ›Rechtspflichten‹, juridischen Gesetzen und Objektbereichen juridischer Gesetzgebung eingespannt werden. Dieser Aufgabe nachzugehen, heißt im Grunde nichts anderes, als zu versuchen, die theoretischen Implikationen und Prämissen der Einteilung aufzudecken. Und genau diesen Zweck verfolgen Fuldas propädeutische Überlegungen. Dazu sei an folgende Gesichtspunkte erinnert, die Fulda in diesem Zusammenhang betont: 1) Die eingeteilten Begriffe müssen sich als Begriffe von ›objektiver Realität‹ erweisen lassen. 2) Bei der Einteilung des Rechtsbegriffes muß es sich auch um die Einteilung eines Objektbegriffes handeln. Objekt der Rechtslehre ist die »Menge aller Handlungen aus Optionen freier Willkür aller Subjekte, die solche Willkür haben, – aber mit der Einschränkung, daß die Op-

›System‹ oder ›Annäherung zum System‹?

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tionen solche zu äußeren Handlungen sind«,3 sofern diese Einfluß auf die Optionen anderer zu äußeren Handlungen haben. Insofern es Aufgabe der ›Metaphysik des Rechts‹ ist, sich mit allem zu befassen, was juridischen ›Gesetzen der Freiheit‹ untersteht, ergibt sich als oberste Unterscheidung die dichotomische Einteilung des Objektbegriffes in die Begriffe dessen, was an Handlungen juridisch recht bzw. unrecht ist. 3) Da nun die Erfordernis gedacht ist, den Umfang des obersten Objektbegriffs auf denjenigen des ›iustum‹ zu beschränken, werden wir in einem weiteren Schritt auf den Begriff des Rechtsgrundes geführt, also auf jenen obersten einzuteilenden Begriff aller normativen Rechtsbegriffe, von dem her sich allererst die normativ-einschränkende Funktion aller Rechtsbegriffe ergibt. Seine objektive Realität ist jedoch erst dann gesichert, wenn sich eine ihm entsprechende gesetzlich wirksame Triebfeder nachweisen läßt. 4) Vom Begriff des Rechtsgrundes her wird dann deutlich, daß das System nicht nur eines von Rechtstiteln – im Sinne der Tafel der Einteilung4 – sondern auch eines von Rechtspflichten ist. In diesen Bemerkungen deutet sich an, worauf der weitere Argumentationsgang zielt. Fulda geht es darum, den höchsten Rechtsgrund als höchsten Begriff des Rechtssystems ausfindig zu machen. Daß die drei Ulpianischen Rechtsregeln (›honeste vive‹, ›neminem laede‹ und ›suum cuique tribue‹) dabei als Orientierungshilfe und Leitfaden fungieren, mag erstaunen, ist aber keineswegs abwegig. Schließlich erhebt sie Kant selbst zu »Eintheilungsprincipien des Systems der Rechtspflichten in innere, äußere und in diejenigen, welche die Ableitung der letztern vom Princip der ersteren durch Subsumtion enthalten.«5 Doch bevor sich Fulda auf die Suche nach dem höchsten Punkt des Rechtssystems begeben kann, gilt es nun, weiterhin vorbereitend, die Einteilungsglieder zu bestimmen und auf gewisse Eigenschaften hin zu Überprüfen (Disjunktheit, Verträglichkeit, Deduzierbarkeit, objektive Realität).6 Bemerkenswert an diesen Überlegungen ist, daß sich durch das Aufspannen der inneren und äußeren Rechtspflichten sowie des angeborenen und erworbenen Rechts im genannten grundbegrifflichen Rahmen ein Zusammenhang abzeichnet, der erahnen läßt, auf welche Weise die 3 4 5 6

Fulda, S. 347f. Kant, MS, a.a.O., S. 210. Kant, MS, a.a.O., S. 237. Vgl. Fulda, S. 350ff.

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III. Systematik bes. Teile d. Metaphysik · B-S. von Wolff-Metternich

Haupteinteilungsglieder der ›Metaphysik des Rechts‹ miteinander systematisch verknüpft sind. Ist nämlich in bezug auf die Sphäre von innerer Rechtspflicht, zugeordneter ›lex iusti‹ und angeborenem Recht der Menschheit in unserer eigenen Person als homo noumenon die praktisch objektive Realität durch die gesetzlich wirkende, wenn auch nicht immer hinreichend wirksame, Triebfeder des Selbstzwanges unmittelbar verbürgt, so ist die objektive Realität in bezug auf die Trias von äußerer Rechtspflicht, zugeordneter ›lex iuridica‹ und erworbenem Recht (Privatrecht) grundsätzlich anders zu beurteilen: Das erworbene Recht für sich zerstöre nicht nur sich selbst, sondern tendenziell alle äußeren Rechtspflichten und letztlich sogar das angeborene Recht selbst. Der Übergang vom privaten zum öffentlichen Recht und der ihm zugeordneten ›lex iustitiae‹ kann nach Fulda von daher schon nicht wie bei Hobbes pragmatisch aus einer bloßen Verbesserungsbedürftigkeit des Naturzustandes erklärt werden. Vielmehr werde er bei Kant apriorisch motiviert. Als unbedingte Forderung sichere dieses Rechtsgebot nicht nur dem neuen Einteilungsglied, sondern auch den bislang nur provisorischen Begriffen des Privatrechts allererst objektive Realität. Doch – und damit schließt sich der Kreis der vorbereitenden Überlegungen: Worin besteht nun der Grund dieses neuen Einteilungsgliedes? Diese Frage stellen, heißt, in den gesuchten Grund der Einteilung zurückfragen und damit versuchen, die drei Rechtsgründe, nämlich den Rechtsgrund des Rechts der Menschheit in der ›lex iusti‹, den Rechtsgrund des privaten oder äußeren Rechts und den Rechtsgrund der Pflicht, in einen rechtlichen und öffentlichen Zustand zu treten, unter einem obersten Rechtsgrund zu verbinden. Trotz der fehlenden argumentativen Entfaltung des Begründungszusammenhangs sieht Fulda in Kants diesbezüglich ziemlich dunkler Äußerung, daß sich der Grund für das ›exeundum e statu naturali‹-Postulat, »analytisch aus dem Begriffe des Rechts im äußeren Verhältnis zur Gewalt«7 entwickeln lasse, die Möglichkeit eröffnet, die Einteilung nach oben durch einen höchsten Rechtsgrund zu schließen. Die entscheidenden gedanklichen Schritte Fuldas lauten: Der höchste Rechtsgrund muß als Grund, einen öffentlichen und gesetzgebenden Willen zu bilden, begriffen werden. Denn nur so garantiert er den Ausschluß höchsten Unrechts, das ja nach Kant bereits im Vorsatz liegt, im »Zustande äußerlich

7

Kant, MS, a.a.O., S. 307.

›System‹ oder ›Annäherung zum System‹?

371

gesetzloser Freiheit zu bleiben«.8 So gewährleistet er die antinomiefreie Vereinigung der drei unter ihm stehenden Rechtsgründe. Damit sind auch die für seine objektive Realität erforderlichen Triebfedern nachweisbar: Sie sind als die Koordination von Selbstzwang und äußerem Zwang gegeben. Und genau diese Koordinierungsleistung ist es, von der her nun für Fulda verständlich werden soll, inwiefern die daraus resultierenden Rechtspflichten auch als solche aufgefaßt werden können, die die ›Ableitung‹ der äußeren Rechtspflichten vom Prinzip der inneren durch Subsumtion unter dieses enthalten: Durch ihre Erfüllung, nämlich in einen öffentlich-rechtlichen Zustand einzutreten, erlangen die äußeren Pflichten nämlich allererst Bestimmtheit – allerdings nicht automatisch durch jede Gesetzgebung, sondern nur durch diejenige, die »ihr Verfahren wie auch dessen Ergebnisse dem Recht der Menschheit in der Person eines jeden von uns als ihrem unumstößlichen Prinzip unterordnet.«9

2. Daß man den Begrifflichkeiten der Rechtslehre in ihrem innersystematischen Bezug nachgehen muß, wenn man über die Rechtmäßigkeit des von Kant erhobenen Systemanspruchs entscheiden will, belegen Hans Friedrich Fuldas Überlegungen zur Vollständigkeit und Stetigkeit der Einteilung des Rechtssystems auf eindringliche Weise. Sie zeigen, daß sich der systematische Zusammenhang der eingeteilten Rechtsbegriffe in der Trias von Rechtsgründen, Rechtstiteln und Rechtspflichten entfaltet. Und damit gelingt es ihnen, den Blick auf eine prima facie nicht leicht erkennbare Tiefendimension der Kantischen Rechtsmetaphysik zu eröffnen. Ohne Frage: Fuldas Überlegungen leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Erhellung und Aufdeckung der inneren Systematik der Kantischen Rechtsmetaphysik. Dennoch schließen sich an sein Fazit, Kant habe ein »Programm gehabt, die Systematizitätsforderung [...] in seiner Rechtsphilosophie epistemologisch einzulösen«,10 zwei kritische Überlegungen an. Sie führen auf folgende zwei Fragen: 1) Wie weit reicht die Systemkonzeption der ›Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre‹?

8 9 10

Ebda. Fulda, S. 356. Fulda, S. 366.

372

III. Systematik bes. Teile d. Metaphysik · B-S. von Wolff-Metternich

2) Wie verbindet sich Kants Ziel eines vollständig eingeteilten Systems mit seinen Ausführungen zur Art des philosophischen Begriffsgebrauchs? Die erste Frage bezieht sich auf Fuldas Behauptung, daß Kant ein Verfahren kenne, mit dem sich die Vollständigkeit aller Einteilungsglieder auf allen, auch den niedrigeren Einteilungsebenen bewerkstelligen lasse: »Das Verfahren ist dasjenige einer positiv-rechtlichen Gesetzgebung, die unter festen, durch Naturrechtslehre zu rechtfertigenden Prinzipien steht. Die Einteilungen auf diesen Ebenen sind einfach deshalb vollständig, weil sie durch entsprechende positiv-rechtliche Gesetzgebung vollständig gemacht werden.«11 Auszuweisen sei im Grunde daher nur noch die Vollständigkeit der höheren zur metaphysischen Rechtslehre gehörenden Einteilungsebenen. Diese darin verborgene Ausdehnung des Systemanspruchs auf das positive Recht hinaus, geht bei weitem über das Anliegen der ›Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre‹ hinaus. Schließlich kennzeichnet Kant seine Rechtslehre ausdrücklich als ›Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre‹ und verzichtet damit erklärtermaßen auf den Titel einer ›Metaphysik des Rechts‹. Seine Rechtslehre ist eben kein System, und dies nicht bloß deshalb, weil Kant im Rahmen dieser Schrift die Deduktion der Vollständigkeit noch nicht geleistet hat, sondern, weil der Systematisierung prinzipiell strikte Grenzen gezogen sind. Sie müssen gezogen werden, weil trotz der geforderten »Anwendung« des reinen Rechtsbegriffs »auf in der Erfahrung vorkommende Fälle« der Nachweis der »Vollständigkeit der Eintheilung des Empirischen«12 nicht möglich ist. Wir verfügen über kein Vollständigkeitskriterium hinsichtlich der Rechte, die »auf besondere Erfahrungsfälle bezogen werden.«13 Der Konkretionsgrad der empirischen Rechtspraxis bleibt für die metaphysische Erörterung unerreichbar. Demnach können wir in einer metaphysischen Erörterung des Rechts höchstens »Annäherung zum System«,14 nicht aber das ›System der Metaphysik des Rechts‹ selbst erwarten. Und damit findet in den ›Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre‹ auch noch kein Übergang zur Wissenschaft vom positiven Recht statt. Für die genaue Bestimmung des Verhältnisses von apriorischer Rechtslehre und empirischer Rechtspraxis müßte man genauer untersuchen, ob und inwiefern die ›Metaphysischen Anfangs-

11 12 13 14

Fulda, S. 357. Kant, MS, a.a.O., S. 205. Ebda. Ebda.

›System‹ oder ›Annäherung zum System‹?

373

gründe der Rechtslehre‹ eine ähnliche Funktion erfüllen wie die ›Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‹. Die zweite oben gestellte Frage greift einen Punkt auf, den Fulda abschließend zu Bedenken gibt, daß nämlich der »Vollständigkeitsanspruch« unter dem »relativierenden Vorbehalt« steht, »ebenso wie die Behauptung, den transzendentallogischen Erkenntniskriterien sei Rechnung getragen: dem Vorbehalt der jeweiligen, endlichen Breite und Tiefe, in der wir uns die apriorische Begrifflichkeit unserer Erkenntnis – hier insbesondere unserer praktischen Erkenntnis – logisch deutlich gemacht haben.«15 Das ist ein nicht unerheblicher Selbsteinwand. Er betrifft die Frage, inwiefern die trichotomischen Einteilungen der Rechtsbegriffe (›divisio metaphysica‹) tatsächlich eine der Einteilung mathematischer Begriffe entsprechende Vollständigkeit verbürgen. Obwohl die Metaphysik der Sitten in einem anderen Zusammenhang zwar selbst die Analogizität zwischen der philosophischen Exposition des Rechtsbegriffes und der Konstruktion mathematischer Begriffe herstellt,16 gilt es zu sehen, daß der mathematische Begriffsgebrauch von grundsätzlich anderer Natur ist. Darauf weist Kant in der ›Vorrede‹ der Metaphysik der Sitten mit Bezug auf die Kritik der reinen Vernunft dann auch noch einmal ausdrücklich hin: Die Konstruierbarkeit ihrer Begriffe ist nach Kant der Grund dafür, daß die Mathematik einen Grad an Gewißheit besitzt, der von keiner anderen Erkenntnisart je erreicht werden kann:17 Das gilt trotz der gemeinsamen Apriorizität ihrer Erkenntnis auch für den philosophischen Begriffsgebrauch. Daß wir ›in philosophicis‹ Begriffe nur exponieren, also Merkmale eines a priori gegebenen Begriffs analytisch bestimmen können, hat zur Folge, daß wir hier – im Unterschied zur Mathematik – kein Kriterium für die Vollständigkeit der angegebenen Merkmale reklamieren können: »Da der Begriff [...], so wie er gegeben ist, viele dunkle Vorstellungen enthalten kann, die wir in der Zergliederung übergehen, ob wir sie zwar in der Anwendung jederzeit brauchen: so ist die Ausführlichkeit der Zergliederung meines Begriffs immer zweifelhaft und kann [...] vermuthlich, niemals aber apodictisch gemacht werden.«18 Auch bei der letzten Bestimmung einer philosophischen Begriffserklärung kann wiederum die Frage nach ihrer Bedeutung aufkommen und damit 15

Fulda, S. 362. Kant, MS, a.a.O., S. 232 f. 17 Vgl. B.-S. von Wolff-Metternich, Die Überwindung des mathematischen Erkenntnisideals. Kants Grenzbestimmung von Mathematik und Philosophie, Berlin/New York 1995. 18 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. III, Berlin 1968, B 756 f. 16

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zu neuen Bestimmungen und Einteilungen führen. Demzufolge müßte man, und dies lag in der Tendenz des Vortrages, folgende gravierende Einschränkung vornehmen: Die eingeteilten Rechtsbegriffe und die disjunktiv verknüpften Einteilungsglieder stellen Wechselbegriffe dar – allerdings nur in bezug auf den je erreichten Grad der Verdeutlichung des einzuteilenden Begriffs. Die Einsicht in die prinzipielle Unabschließbarkeit der Verdeutlichung von Begriffen impliziert damit aber bereits die Überwindung des Anspruchs auf absolute Vollständigkeit.

Paul Guyer From Nature to Morality: Kant’s New Argument in the »Critique of Teleological Judgment« 1. As the conclusion of each of the three Critiques, Kant argues that the rationality of moral conduct requires a conception of the laws of nature as favorable for the realization of human objectives. His argument is that the possibility of the highest good as the complete good and ultimate object of morality requires that we conceive of the laws of nature as compatible with the realization of the form of happiness set as a goal by this concept, a possibility that we can conceive only by postulating an intelligent Author of the laws of nature who also has an eye on the requirements of the moral law, »a supreme cause of nature having a causality in keeping with the moral disposition.«1 Kant’s various accounts of the highest good are by no means unequivocal,2 but for present purposes we may consider something like the following to be his basic argument from the necessity of the highest good to the possibility of its realization in 1

Critique of Practical Reason, 5:125. The following conventions will be used to locate citations. Citations from the Critique of Pure Reason will be located by the pagination of the first (A) and second (B) editions, included in all modern editions and English translations. Other citations will be located by the pagination of Kant’s gesammelte Schriften, edited by the Royal Prussian (later German) Academy of Sciences (Berlin: Georg Reimer, later Walter de Gruyter & Co., 1900 ff.). Citations from the Critique of Judgment, which appears in volume 5 of this, the so-called »Academy edition,« will be given by the page number from this volume preceded by the section sign (§) and a roman or arabic numeral, depending on whether the section is from the introduction or the body of the text. All translations from the Critique of Judgment are my own. Citations to Kant’s works other than these two will include the volume as well as page number from the Academy edition. Translations will be as indicated. The translation of the passage cited from the Critique of Practical Reason is from Immanuel Kant, Practical Philosophy, translated and edited by Mary J. Gregor, with a General Introduction by Allen W. Wood (Cambridge: Cambridge University Press, 1996), p. 240. 2 There is of course a large literature on the concept of the highest good. Useful recent discussions of some of it may be found in Andrews Reath, Two Conceptions of the Highest Good in Kant, in Journal of the History of Philosophy 26 (1988): 593–620; Stephen Engstrom, The Concept of the Highest Good in Kant’s Moral Theory, in Philosophy and Phenomenological Research 52 (1992): 747–780; and Victoria S. Wike, Kant on Happiness in Ethics (Albany: State University Of New York Press, 1994), Chs. 5 and 6, pp. 115–163.

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III. Zur Systematik besonderer Teile der Metaphysik · P. Guyer

accordance with the laws of nature: Virtuous action must, of course, be motivated by respect for the moral law rather than by any natural inclination toward happiness, whether the relevant agent’s own happiness or the happiness of any others about whom an agent may happen to care. However, the universalizability of one’s maxims that the moral law commands is itself grounded in the recognition of humanity, in the person of all including oneself, as the sole necessary and unconditional object of value and therefore end of human action. Respect for humanity as the necessary end of action in turn requires respect not for only the existence of all human beings as ends in themselves, but also for their capacity to set their own ends freely, and even requires the adoption of policies and performances of actions intended to advance the fulfillment of freely and permissibly chosen particular ends. But human happiness simply consists in the satisfaction of ends, so a complete object of morality that includes the satisfaction of a whole of all »particular human ends in systematic connection«3 in fact requires the adoption of policies and performance of actions that would produce a systematic form of human happiness, at least under ideal circumstances.4 Further, it would be irrational for us to act as duty commands if we did not believe that the realization of the object it turns out to command is at least possible. This condition can be satisfied only if we conceive of the laws of nature as making possible the realization of the form of human happiness that is commanded by morality. Since we can conceive of laws only as the product of thought, this requires us to conceive of the laws of nature as the product of an intelligent Author »having a causality in keeping with the moral disposition.«5 Of course, Kant stresses in all his presentations of this train of thought that it is not intended as an argument in speculative metaphysics, demonstrating the truth of the theoretical propositions that it seems to yield, but is rather to be understood as a complex of ideas, valid only ›from a practical point of view,‹ which somehow is sufficient to keep our moral dedication intact in spite of the impossibility of our having adequate theoretical evidence of its truth. 3

See Groundwork of the Metaphysics of Morals, 4:433. See Critique of Pure Reason, A 809 f./B 837 f. 5 For a more detailed account of this argument, see my article In praktischer Absicht: Kants Begriff der Postulate der reinen praktischer Vernunft, in Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 104 (1997): 1–18. One of the clearest of all of Kant’s accounts of the highest good is that found in Section I of the 1793 essay, »On the common saying: That may be correct in theory, but it is of no use in practice,« where Kant rejects Christian Garve’s interpretation that he has made the rationality of morality dependent upon the promise of one’s own or ›selfish‹ happiness; see especially 8:278–284. 4

Kant’s New Argument in the »Critique of Teleological Judgment«

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Now in the Introduction to the Critique of Judgment,6 Kant famously claims »there is an incalculable gulf fixed between the domain of the concept of nature, as the sensible, and the domain of the concept of freedom, as the supersensible« (§ II, 175 f.), which needs to be bridged. He then claims that although this gulf cannot be bridged »by means of the theoretical use of reason« (176), it can be bridged »not with regard to the cognition of nature, but from the consequences« of »the concept of freedom (and the practical rule that it contains)« for nature (§ IX, 195). Even though we think of the domains of nature and freedom »just as if each were different worlds, the first of which can have no influence on the second,« constructing the bridge between them becomes possible when we realize that »the latter ought to have an influence on the former, namely the concept of freedom should make the ends set by its laws real in the world of sense, and nature must consequently also be able to be so conceived that the lawfulness of its form is at least harmonious with the possibility of the ends that are to be realized in it in accordance with the laws of freedom« (§ II, 175 f.). But this suggests that the argument that will bridge the incalculable gulf is just the inference from the object set for us by morality to the possibility of realizing that object in nature that Kant had already expounded in the first two critiques. The fact that Kant rehearses the argument from the highest good as the object of morality to a conception of the laws of nature and their author as providing the condition of its possibility one more time in the late sections of the second half of the Critique of Judgment, the »Critique of Teleological Judgment« (§§ 87 f.), confirms this impression. These passages suggest that there is no novelty in the Critique of Judgment’s bridging of the alleged gulf, although its restatement of the argument from the highest good as part of a theory of reflective judgment gives Kant a new way to emphasize that the postulates of practical reason are regulative principles for the guidance of human conduct and not constitutive principles for the enrichment of human knowledge. Although there is no novelty in Kant’s repetition of the argument from the highest good to a certain conception of the laws of nature and their 6

That is, the introduction published with the text, which was written only once the text was complete, not the earlier draft of an introduction now known as the »First Introduction« (found in the Academy edition in Vol. 20 (1942), pp. 192–261. A convenient summary of what is known about the relation between the two versions of the introduction may be found in Immanuel Kant, Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, edited by Manfred Frank and Veronique Zanetti (Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1996), pp. 1158–1164.

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Author,7 the »Critique of Teleological Judgment« does introduce a striking new argument into Kant’s philosophy. This is an argument that the scientific study of nature also requires us to adopt the regulative principle that human morality is the final end (Endzweck) of nature. Thus Kant now argues that whether we start from the standpoint of scientific inquiry or that of moral conduct, we must ultimately reach the same conception of nature as a realm governed by laws that make possible the realization of the ultimate object of morality. In Kant’s words: »For theoretical reflective judgment, physical teleology was sufficient to prove an intelligent cause of the world from physical ends; for practical reflective judgment, moral teleology accomplishes this through the concept of a final end, which it is compelled to ascribe to the creation from a practical point of view. The objective reality of the idea of God, as the moral author of the world, cannot be displayed through physical ends alone; nevertheless, when the cognition of these is combined with that of the moral end, then the former, by means of the maxim of pure reason to seek unity of principles as far as is possible, become of great importance, supporting the practical reality of that idea through the reality for the power of judgment that it already has from a theoretical point of view.« (§ 88, 456). In Kant’s ultimate system of nature and freedom, theoretical and practical reason join forces to impose upon us a single conception of the world that is regulative for both inquiry and conduct.8 7

Even this argument cannot be understood unless it is first recognized that the happiness comprised in the highest good is a happiness that must be realized in nature. Kant himself is sometimes confused about this point (e. g., Critique of Pure Reason, A 811/B 839), though usually not (see A 819/B 847; Critique of Practical Reason, 5:124 f.; Critique of Judgment, § 87, 450; »Theory and Practice,« 8:279). 8 Those commentaries on the »Critique of Teleological Judgment« that reach the issue of its connection to Kant’s moral theory at all typically see it as presenting only the argument from the highest good to its realizability in nature that Kant had already suggested in the previous two critiques; see, for example, Klaus Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff, Kantstudien Ergänzungsheft 96 (Bonn: Bouvier, 1968), pp. 102–115. He argues that nothing in nature can itself lead us to a moral idea, although a teleological view of nature can explain how »the final end and its effects are possible in our world« (115). For an exception to this generalization, see the recent article by Jürg Freudiger, Kants Schlußstein: Wie die Teleologie die Einheit der Vernunft stiftet, in Kant-Studien 87 (1996): 423–435. He comes close to the interpetation to be presented here by arguing that the point of Kant’s excursus into teleology – what he calls Kant’s »fourth critique« – is to show that the »supersensible« which must underlie nature, according to Kant’s theoretical philosophy, is identical with the »supersensible« that is contained in the concept of freedom (425). His interpretation, however, differs from mine on three key points. First, he does not state that Kant reaches his idea of the single Author of the

Kant’s New Argument in the »Critique of Teleological Judgment«

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Kant’s new argument is certainly alien to the post-Darwinian frame of mind. It is also complicated, confusing and in one key step possibly confused as well. My aim here is simply to lay it out clearly enough to establish its position as the central argument of the »Critique of Teleological Judgment« and to draw attention to one tension within it. The argument begins with the claim that understanding the character of one kind of object that we encounter in nature, namely what we now call organisms, requires us to conceive of them as the product of intelligent design, and follows this with the inference that once we are forced to look at organisms this way, it becomes inevitable for us at least to try to see the whole of nature as a systematic product of intelligent design as well. The argument then contends that once we have formed the idea of an intelligent design for nature, and hence an intelligent designer of nature, it will be inevitable for us to seek for an intelligible purpose for nature. This is because, working with the only example of intelligent activity known to us, namely our own, we cannot conceive of productive activity that is intelligent yet not also purposive. Next, Kant will argue that we have no way of forming a determinate conception of a unique purpose for nature except by conceiving of something that is a necessary because unconditional end for us. Finally, Kant argues that the only candidate for such an end is our own moral vocation and the end it imposes on us. The argu-

laws of both nature and freedom by two parallel arguments, the well-known one beginning from the moral imperative of the highest good and the less well-known, which I will expound here, beginning from questions arising in scientific inquiry. Second, since he does not discuss how Kant actually makes his move from the experience of organisms to the necessity of teleology (428), he does not show that Kant employs three different arguments here, the last of which puts the special role of organisms into question; nor does he ask how Kant makes the inference from the purposiveness of organisms to the purposiveness of nature as a whole. Third, in his discussion of the capstone (to use his term) of Kant’s argument from teleology to morality (430), he does not make sufficiently clear that the concepts of the ›ultimate end‹ (letzter Zweck) and ›final end‹ (Endzweck) of nature are distinct concepts, thus that Kant actually supplies an argument that the only candidate that can satisfy the non-normative concept of the ›ultimate end‹ of nature is what also satisfies the normative concept of the ›final end‹ of nature, namely, humanity in its moral vocation. A recent paper by Thomas Pogge, Kant on Ends and the Meaning of Life, in Andrews Reath, Barbara Herman, and Christine M. Korsgaard, Reclaiming the History of Ethics: Essays for John Rawls (Cambridge: Cambridge University Press, 1997), pp. 361–387, recognizes that Kant separates the concepts of the ultimate and the final end before concluding that both are instantiated by a single thing, namely human morality and its object; but Pogge does not explore any of the details of the argument from organisms that will be examined here.

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ment is thus meant to show that the only way we can conceive of both organisms in particular and nature as a whole as intelligently designed systems is by thinking of the laws of nature as aimed at the realization of the highest good set for us as the ultimate object of morality. Kant stresses throughout his exposition of this argument that our difficulty in comprehending organisms is due to the character of our own cognitive constitution, and that we can only appeal to our own selfunderstanding to deal with this difficulty. The argument therefore yields regulative principles of reflective judgment rather than constitutive principles of theoretical understanding. Thus Kant claims that this vision of nature plays only a heuristic role, though an indispensable one, in the conduct of scientific inquiry. But he similarly denies that the conception of the laws of nature and their author to which we are driven by the concept of the highest good is a constitutive thesis of speculative metaphysics; »it is far from sufficient to demonstrate the objective reality of this ideal from a theoretical point of view, but is fully satisfying from a moralpractical point of view.«9 In both cases, the teleological conception of the world is an a priori conception that serves as a guide and possibly a spur to action, though one of those actions is the construction of empirical theories of the natural world in our capacity as scientific investigators and the other is our conduct as moral agents in the same natural world. I will not debate the plausibility of this grand vision. However, I will draw attention to one problem in Kant’s argument. This is that Kant actually raises three different problems about our comprehension of organisms that are supposed to require us to conceive of them as the pro ducts of intelligent design: he argues that organic processes do not fit our usual, mechanical model of causation, and that we can only conceive of these processes as the effects of antecedent design; that the centrality of the principle of inertia to our conception of matter precludes any reduction of organic life to the merely material; and that the always general or ›discursive‹ nature of our concepts leaves too much about the determinacy or particularity of organisms contingent for us to tolerate, a problem that we try to remedy by conceiving of organisms as the product of a kind of intelligence more powerful than our own. This last consideration, however, applies to all fully determinate particular objects in nature, organic or not, and thus obviates the need for a separate inference from a teleological view of organisms to a teleological view of nature as a whole.

9

From the draft of an essay on the »Real Progress of Metaphysics,« 20:307.

Kant’s New Argument in the »Critique of Teleological Judgment«

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Since Kant does not appear to acknowledge this problem,10 we will only be able to speculate on a solution to it.

2. (1) The argument that dominates the »Critique of Teleological Judgment« is that a special difficulty which we encounter in attempting to understand organisms as a distinctive kind of object among the others that we experience in nature leads us to a teleological conception of them which we then attempt to extend to nature as a whole. To adopt such a perspective on organisms and then on nature as a whole is to conceive of them as if they were the products of intelligent and purposive agency that we must conceive of in analogy with our own productive powers. Later Kant will add that just as we must conceive of our productive powers as put to the service of our moral end, so must we conceive of the productive power behind nature as put to the service of that same moral end. The first step of this argument is the claim that we encounter a special difficulty in understanding organisms that first requires us to take a teleological perspective on nature at all: »Organized beings are, therefore, the only beings in nature which, even when considered in themselves and without a relationship to other things, must still be able to be considered as ends of nature, and which therefore first provide objective reality for the concept of an end that is not a practical end, but an end of 10

None of the commentators on the »Critique of Teleological Judgment« whom I have read distinguish these three different arguments; a fortiori, none askes what happens to the special place of organisms in Kant’s argument once he introduces his arrgument from the contingency of particularity relative to our general concepts (§§ 76 f.). On the contrary, many German commentators especially proceed as if the latter problem is the only problem about our comprehension of organisms that Kant recognizes. See, for instance, Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff, pp. 89 f.; Joachim Peter, Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft, in Kant-Studien Ergänzungsheft 125 (Berlin: Walter de Gruyter, 1992), pp. 1, 188; and Veronique Zanetti, Kants Antinomie der teleologischen Urteilskraft, in Kant-Studien 84 (1993): 341–355, at pp. 350 f. Henry E. Allison, Kant’s Antinomy of Teleological Judgment, in Sourthern Journal of Philosophy 30 Supplement (1991): 25–42, also suggests that it is »the discursivity of our understanding« which »underlies the necessity of estimating living organisms in light of the idea of an intelligent cause« (34). I will argue below that although Kant introduces his discussion of the ›discursivity‹ of human understanding in the context of a discussion of organisms, the problems raised by this ›discursivity‹ are neither specially suggested by organisms nor limited to organisms.

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III. Zur Systematik besonderer Teile der Metaphysik · P. Guyer

nature, and thereby provide for natural science the basis for a teleology [...]« (§ 65, 375 f.). Kant reaches this conclusion by two steps. First, he observes that there is nothing in our experience of nature that initially forces a conception of its ›relative‹ or external purposiveness upon us, that is, a conception of some things in nature as means to the existence of others as ends: of course we can view driftwood and reindeer as means to the existence of humans in inhospitable arctic climes, but since we may see no reason why human beings should live in such inhospitable places to begin with, there is apparently nothing that forces us to impose such a means-end relationship on our understanding of nature at all (§ 63, 368 f.).11 In organisms, however, we encounter natural objects that we can only understand through a conception of internal purposiveness, a reciprocal relation of the parts of the object to each other and to the object as a whole. We cannot understand this relation on the basis of our ordinary conception of causation, so we must instead conceive of organisms as if they were products of intelligent design. This conception of organisms, forced upon us by our actual experience, will in turn lead to the conception of nature as a whole as a system with an ultimate end, and will by this means require us to discover a plausible conception of the external purposiveness of nature after all. The initial reason why we must see organisms as manifesting internal purposiveness and as driving us thereby to a conception of their intelligent design is that we must see an organism as ›both cause and effect of itself,‹ which defies our ordinary understanding of causation. On our ordinary understanding, »The causal connection is a nexus that constitutes a series (of causes and effects), which always goes forward« (§ 65, 372); that is, we always conceive of a cause as preceding its effect in time (or at least not succeeding it).12 Further, on our ordinary conception causation is 11

This exclusion must be understood as provisional; Kant’s eventual argument will be that once the experience of organisms forces the conception of their internal purposiveness upon us, then we will be forced also to conceive of nature as purposive relative to our own final purpose, that is, our moral and not just our cognitive purpose. In his comment on this passage, J.D. McFarland does not make it clear that Kant’s exclusion of relative purposiveness is only provisional (Kant’s Concept of Teleology (Edinburgh: Edinburgh University Press, 1970), p. 100); and since he stops his commentary short of the Doctrine of Method of the »Critique of Teleological Judgment,« which is where Kant overcomes this initial difficulty by introducing our own final moral end as the ultimate end of nature as well, it is not clear that McFarland does recognize the merely provisional nature of Kant’s initial statement. 12 Kant tries to maintain the premise that a cause always precedes its effect in the

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›mechanical‹ or reductionist; we see the character of a whole as being entirely determined by the antecedent and independent character, behavior and relation of its several parts, in particular, by the motions of these parts in accordance with the laws of mechanics. But, Kant claims, we cannot comprehend organisms solely in these terms. In an organism, we see the character of the parts as determining the character of the whole, but we also see the character of the whole as determining the existence and character of its parts. We also see the parts as both producing but yet depending upon each other. In our experience of organisms, therefore, we are forced to recognize causal connections which, »if considered as a series, would thus introduce backwards as well as forwards dependency.« However, the only model that we have for understanding such forms of causal relation is that of our own technical or artistic production, in which our antecedent representation of a whole is the cause of the existence of parts which are in turn the cause of the subsequent actual existence of the whole, and which make sense only given their planned and intended relationships to each other and to the envisioned whole. Here Kant alludes to the Aristotelian example of building a house, where the antecedent representation of the house (and, for example, the income that renting it will bring) is the cause of the production or acquisition of a particular set of parts that can be constructed into the envisioned whole.13 Thus, Kant supposes, we must understand organisms at least as if they were the product of an antecedent design in an intelligent author, the parts of which are made as they are because only thus can the whole function as intended. Kant offers three examples of the kinds of organic processes that he thinks can only be conceived of in these teleological terms, namely reproduction, growth, and self-maintenance (§ 64, 371 f.). These are all supposed to be examples of how in an organic »product of nature every part is conceived of existing only through all the others but also for the sake of the others and the whole« (§ 65, 373), and of why an organism is not only an »organized« but also a »self-organized being« (374). In such a being we conceive of the parts as if they »produce one another reciprocally in their form as well as in their relation to each other and thus bring forth a whole out of their own causality, the concept of which is in turn the cause of face of examples of simultaneous causation by appealing to the idea that the interval between cause and effect can be vanishingly small (see Critique of Pure Reason, A 203/B 248). Redescribing the temporal structure of causation by saying the cause can never succeed its effect is what he needs for the present argument. 13 See Aristotle, Physics, Book II, Ch. 3, 194b–195b.

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them (in a being which possesses a causality from concepts appropriate to such a product)« (373). We may now doubt whether such organic processes defy our ordinary conception of causation; as we now understand them, processes such as evolution by natural selection and both growth and reproduction by the transmission and subsequent expression of genetic material are paradigmatic examples of temporally unidirectional causal processes, and from a philosopher’s point of view have been adopted by scientists precisely because they bring hitherto incomprehensible processes into our ordinary paradigm of scientific explanation. As if to anticipate this objection, however, Kant subsequently adduces a more general reason why organisms cannot be understood mechanically. This claim is that life itself cannot be understood as a product of mere matter because matter is governed by the law of inertia: »The possibility of a living matter cannot even be thought (its concept contains a contradiction, since lifelessness, inertia, constitutes the essential characteristic of matter); the possibility of a living matter and of all of nature, as an animal, can only be used out of necessity (in behalf of a hypothesis of purposiveness at large in nature) insofar as it is revealed to us in the organization of nature in the small; its possibility can by no means be understood a priori.« (§ 73, 394). Kant does not explain the premises of this argument in the Critique of Judgment. But it rests on two principles that he maintains elsewhere. First, the principle of inertia entails that all change in the condition of an object comes from the action of an external force upon it, not any force internal to it. As Kant puts the »Second Law of Mechanics« in the Metaphysical Foundations of Natural Science: »Every change of matter has an external cause.«14 By contrast, life is the power to move or change in response to internal rather than external forces. As Kant put it in his lectures on metaphysics, »All matter is lifeless and thus contains no ground of life in it. Life must depend upon an immaterial, thinking principle; this principle cannot be material, for by the principle of life we always imagine something which determines itself from inner grounds, which matter, which can always be moved only by outer causes, cannot.«15 Thus Kant 14

Metaphysical Foundations of Natural Science, 5:543. For an explicit identification of this law with the principle of inertia, see Michael Friedman, Kant and the Twentieth Century, in Paolo Parrini, ed., Kant and Contemporary Epistemology (Dordrecht: Kluwer, 1994), pp. 27–46, at p. 27. 15 Metaphysik K2, 28:765; translation from Immanuel Kant, Lectures on Metaphysics, edited and translated by Karl Ameriks and Steve Naragon (Cambridge: Cambridge University Press, 1997), p. 405.

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infers that since the internal forces we find in organisms cannot be understood to be in matter by its own nature, they must be conceived to arise from something immaterial, which we will in turn conceive as an intelligence.16 In both his particular argument about organic processes and his general argument about life, however, Kant severely restricts the force of his claims from the outset. In arguing that we can only conceive of organic processes as products of design because we have to conceive of them as if the parts of a whole were produced by an antecedent design of the whole, he insists that this conception of an organism can only be an analogy with human artistic production (§ 72, 390). There are also many disanalogies between organic processes and human artistic production: for example, even the best products of our art, such as a fine watch, do not have all the »formative powers« such as reproduction and self-repair that organisms have (§ 65, 374) – in Kant’s terms, the products of human art are »organized« but not »self-organized.«17 And even after his introduction of the argument that it is the law of inertia itself which precludes a purely mechanical explanation of life, Kant continues to insist that the validity of the 16 This distinct ground for a teleological view of organisms is at work in a remarkable passage in which Kant almost – but not quite – anticipates Darwinism. Kant writes that »the remarkable simplicity of the outline« of so many species of animals« can be explained by »the shortening of this member and the lengthening of another, by the involution of this part and the evolution of that one,« which in turn »strengthens the suspicion of an actual kinship [Verwandtschaft]« of all species »in their generation from a common primordial mother [Urmutter] through the gradual approximation of one species of animal to another [...] from man to the polyp and from this even to mosses and lichens and finally to the lowest stage of nature observable to us« (§ 80, 418 f.). He even goes so far as to suggest that this »mechanism« of natural change, as he explicitly calls it, can be understood as a process of increasing adaptation to animals’ »native surroundings and relations to each other« (419), although he does not suggest that adaptation is achieved by the natural selection of random mutations. Nevertheless, Kant’s view falls short of a contemporary understanding of evolution because he continues to insist that no matter how well the changes in forms and species of organisms can be explained by mechanical processes, the origin of life itself can never be explained mechanically: for all his success, the »archaeologist of nature« must »nevertheless in the end ascribe to this common mother and organization purposively aimed at all these creatures, without which the possibility of the purposive form of the products of the animal and plant kingdoms is not to be conceived at all« (419). Kant remains convinced that we cannot understand life as arising through merely mechanical causes, although once life is granted we can imagine it as evolving into its diverse forms through all sorts of mechanical processes. 17 Perhaps computers that can diagnose their own malfunctions, or computers that can regulate the production-line for more computers, might shake Kant’s faith in this point – but probably not very much.

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teleological view of organisms is restricted to our own understanding of them precisely because it is forced upon us by the »peculiar constitution of our own cognitive faculties« (§ 75, 397). These claims imply that the unidirectional conception of causation and the inertial interpretation of causation in matter are valid for the human point of view, but cannot be maintained to be valid for all possible views of nature, thus for nature in itself. Because of the supposed limits of our cognitive faculties, Kant maintains, we can be confident that »no Newton could ever arise who could make the generation of even a blade of grass comprehensible in accordance with natural laws that no intention had ordained«; but at the same time it would be entirely »presumptuous« of us to judge that just because we cannot understand in mechanical terms alone how an organism is generated and maintained, »if we could penetrate to the principle of nature in the specification of its universal and known laws, there could not lie hidden a sufficient ground of the possibility of organized beings without their generation from an intention (thus in a mere mechanism)« (§ 75, 400; cf. § 67, 378). And because we cannot assert dogmatically the validity of the very conceptions of matter and causation which make understanding organic life difficult for us, we also cannot assert the objective validity of the teleological conception of an intelligent designer by means of which we overcome this difficulty. Thus, the conception of organisms as manifesting internal purposiveness as a product of intelligent design does not furnish us with any knowledge of the properties of such objects but only »guides our research about objects of such a kind by means of a distant analogy with our own causality according to ends« (§ 65, 375). (2) The next step in Kant’s argument is the claim that even if it is only the special case of organisms that forces us to consider the idea of an intelligent designer, once we have introduced this idea we will inevitably consider such an agency as the intelligent source of nature as a whole, and thus consider nature as a whole as a system manifesting a purposive relation among all its parts analogous to that which holds among the parts of an organism. This extension of Kant’s argument immediately follows his initial analysis of why we must conceive of organisms as products of design: »It is thus only matter, insofar as it is organized, which necessarily introduced the concept of itself as an end of nature, but its specific form is at the same a product of nature. But now this concept necessarily leads to the idea of the whole of nature as a system in accordance with the rule of ends, to which idea all mechanism in nature must now be subordinated in accordance with principles of reason (at least for the investigation of the appearance of nature).« (§ 67, 378 f.)

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Kant repeats this move at least three times, testifying to its importance for him (e. g., § 67, 380 f.; § 71, 391; § 78, 414).18 And again, Kant insists that this expansion of the teleological perspective is heuristic and even experimental, stimulating and guiding us in our attempt to discover ever more extensive laws of nature: »Once such a guide for the study of nature has been assumed and been found to be confirmed, we must at least try this maxim of the power of judgment on the whole of nature, since many of nature’s laws may be able to be discovered by means of this maxim which would otherwise remain hidden because of the limitation of our insight into the inside of the mechanism of nature.« (§ 75, 398). However, Kant does not say why it is inevitable for us to extend the conception of intelligent design from organisms to the whole of nature, even if this extension is undertaken only in an experimental spirit.19 But it seems likely that by his suggestion that this extension is ›in accordance with principles of reason,‹ Kant means to say that the extension is a product of human reason’s attempt to subsume all of its objects under a single ultimate principle. Thus, we naturally suppose that all of the causal processes we need to conceive of nature, even organic ones, must fall under a single form of explanation that applies to nature as a whole. In other words, it is inevitable for human reason – although perhaps not for other forms of thought – to include a teleological component in its ideal 18

In another passage that should be noted, Kant observes that once we have been forced to introduce the teleological perspective by our experience of organisms, it will also be natural for us to look at natural beauty as evidence of the design of nature, even though no such thought was needed as part of the original explanation of our experience of natural beauty: »Even beauty in nature, i. e., its agreement with the free play of our cognitive faculties in the apprehension and adjudgment of its appearance, can be considered in this way as objective purposiveness of nature in its whole, as a system of which mankind is a member: namely, once organized beings, given at hand, have justified us in the idea of a great system of the ends of nature.« (§ 67, 380) Contrary to the view recently argued for by Georgie Dickie, who claims that Kant’s explanation of our experience of natural beauty in the »Critique of Aesthetic Judgment« presupposes a teleological approach to objects in nature, this passage makes it clear that a teleological perspective on natural beauty is an additional intepretation of what we have already experienced as beautiful, necessitated and justified only by the teleological perspective we are forced to adopt in order to understand organisms. See George Dickie, The Century of Taste: The Philosophical Odyssey of Taste in the Eighteenth Century (New York: Oxford University Press, 1996), pp. 99–103. 19 One commentator has suggested that this extension is based on the factual consideration that an organism needs inorganic material to survive, thus that organisms and (at least some) inorganic material in their environment must constitute an ecological system (Düsing, Die Teleologie, pp. 121 f.). This proposal would make Kant’s extension entirely empirical, and there is no evidence that this is what Kant intends.

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ultimate explanatory principle if it is forced to do so by any of its objects of experience, thus to seek to apply that same principle to the rest of its objects even where the latter would not themselves force the adoption of that principle when considered in isolation.20 In fact, on Kant’s conception of reason, it will be inevitable for human reason to seek such a unification of principles unless it is stopped in its tracks either by some external counter-example or some internal self-contradiction. Indeed, only such an interpretation makes sense of the structure of the »Critique of Teleological Judgment,« for Kant’s extension of the teleological viewpoint from the special case of organisms to all of nature is immediately followed by the »Dialectic of Teleological Judgment,« which considers nothing other than the question of whether there is an antinomy lurking in the application of both the mechanical and teleological principles of explanation to both organisms and all of nature. This is precisely what we should expect if the extension of the teleological principle is an expression of reason’s fundamental and inescapable interest in unity. Finding the ground for the extension of the teleological viewpoint to all of nature in the characteristic behavior of human reason would not make the teleological principle constitutive, of course. In the Critique of Pure Reason, Kant argued that reason cannot establish theoretical propositions by itself, but only with the assistance of sensibility and understanding; and since the limits of our sensibility itself preclude the confirmation of any claim about the content of all of nature,21 any theoretical principle of reason can only be regulative. In the idiom of the third Critique, this means that the conception of nature as a single system can only be heuristic, encouraging and guiding us to seek out purposive relations among all parts and aspects of nature. In fact, what Kant initially stresses is that this principle encourages us to extend the scope of mechanical explanation in nature: under its aegis we seek to give explanations in the terms that we do understand to relations among natural objects that we might not have noticed without the idea of nature as a single system. Through this idea

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For at least a suggestion of such an interpretation, see Wolfgang Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1972), who writes that an Idee is »eine absolute Einheit der Vorstellung,« thus that the purpose exhibited for the idea for the manifoldness of nature must extend to everything that lies in the product of nature (p. 186). 21 Sensibility allows for the confirmation of unconditional claims about the the spatio-temporal form of all of nature, but since that very form implies the indefinite extent of nature, it also precludes unconditional claims about everything that can be found in space and time. This is the lesson of the »Antinomy of Pure Reason,« of course.

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»we get a clue to consider things in nature in relation to a ground of determination that is already given [...] and to extend our knowledge of nature [Naturkunde] in accordance with another principle, namely that of final causes, yet without injury to the mechanism of its causality« (§ 67, 379). In the first instance, then, the idea that nature as a whole is a single system only urges us to expand the scope of explanation in accordance with mechanical causation. Yet the heuristic status of the principle of universal teleology should not be mistaken for an optional status.22 Kant never allows that any principle that has its origin in reason is optional; even if such a principle is merely regulative, Kant always argues that it is also indispensable, indeed that principles of reason can be given their appropriate form of transcendental deduction only by being shown to be indispensable regulative principles.23 As I said, since the extension of the teleological point of view from organisms to nature as a whole is an expression of reason’s fundamental interest in unity, it would be natural for Kant to interrupt his argument to see whether this extension is subject to any fatal antinomy. In his own exposition, this is exactly what he does next. However, I am going to 22 This suggestion is made by McFarland, who writes »But we do not have to view the world as a whole, as purposively organized [...]. The principle of reason for judging all of nature teleologically is a way in which we may investigate nature; but it is not a way in which we must investigate it, as we must investigate organisms as if they are purposive« (Kant’s Concept of Teleology, p. 114). In support of this, he quotes Kant’s statement that the use of the (teleological) maxim for judgment in regard to ›the whole of nature‹ »is to be sure useful, but not indispensable, because nature as a whole is not given to us as organized (in the strictest sense of the word introduced above). But in regard to those products of nature which must only be judged as formed intentionally and not otherwise in order to acquire even an empirical cognition of their inner constitution, that maxim of reflective judgment is essentially necessary« (§ 75, 398; McFarland, pp. 114 f. n.). But perhaps the emphasis in this passage should be on the word »given«: only organisms are given to us as organized, thus only in their case does experience force the teleological viewpoint on us; but once that experience has forced this standpoint upon us, then the unifying character of our own reason forces upon us at least the heuristic extension of this principle to the whole of nature. In any case, the passage cited by McFarland needs to be reconciled with Kant’s previous claim that the concept of organized matter »necessarily leads to the idea of all of nature [der gesamten Natur] as a system in accordance with the rule of ends, to which idea all mechanism of nature must be subordinated in accordance with principles of reason (at least to investigate the appearance of nature in accordance with it)« (§ 67, 379). This seems to set forth the idea of a necessary even though merely heuristic principle. 23 See the deduction of the ideas of reason as heuristic principles in the second part of the Appendix to the Transcendental Dialectic of the first Critique (A 671/B 699), and the similar deduction in the published Introduction to the Critique of Judgment, § V, 183 f.

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postpone my discussion of Kant’s »Dialectic of Teleological Judgment« so that we will neither lose sight of his larger argument nor rush over the problem lurking in this »Dialectic.« (3) The next premise in Kant’s overall argument is that whatever we can consider to be the origin of intelligent design we must also conceive to act with a purpose; thus we must conceive there to be a purpose for existence of both organisms and, given the previous step, the system of nature as a whole. Kant connects the idea of »a cause whose capacity to act is determined through concepts« with that of a »capacity to act in accordance with ends (a will)« from the outset of his argument (§ 64, 369 f.). But his clearest statement of this premise comes in the final summary of his argument: »If we assume the final connection in the world to be real and a special kind of causality, namely that of an intentionally acting [wirkenden] cause, then we cannot stop at the question: why do things of the world (organized beings) have this or that form, why do they stand in this or that relationship to other things in nature; rather, as soon as an understanding is conceived that must be regarded as the cause of the possibility of such forms, because they are really found in things, then at the very same time we must ask about the objective ground that could have determined this productive understanding to an action [Wirkung] of this sort, which is then the final end [Endzweck] for which such things exist.« (§ 84, 434; see also § 81, 422 and § 82, 426) An intelligent agent simply does not act without an end in mind. As before, Kant does not offer an explicit argument for this premise. But presumably what he is doing here is working out the implications of the analogy which he has all along been claiming governs our teleological thinking. We do not undertake planned and rule-governed activity without some particular purpose and goal in mind, and moreover, Kant assumes, insofar as we are fully rational we do not act without some unique and necessary end in mind,24 the search for unconditional unity, again, being essential to reason. So insofar as we conceive of the rational ground of nature in analogy with ourselves as rational agents, we will conceive of any agency that acts in accordance with an antecedent representation of the object it is to produce as acting with an antecedent representation of the unique and necessary goal it thereby hopes to attain as well.25

24

See Groundwork of the Metaphysics of Morals, 4:427, and Religion within the Boundaries of Mere Reason, 6:4. 25 See also Düsing, Die Teleogie in Kants Weltbegriff, p. 208.

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Of course, Kant has also stressed from the outset that the analogy between the technical or artistic activity of human beings and a teleological conception of organisms is incomplete (§ 65, 374); so naturally it can be questioned whether the connection between design and purpose that is self-evident in our own activity should be extended to the ground of nature as well. But, as in the extension of teleology from individual organisms to nature as a whole, Kant sidesteps this worry by suggesting that the present conclusion is also not just heuristic but also experimental: he is not claiming that there is an unimpeachable theoretical basis for the connection (§ 68, 381), but rather proposing it to see whether it has valuable and indispensable consequences for the conduct of inquiry and ultimately for conduct in the more ordinary sense as well, that is, for morality. The strength of the inference, in other words, may ultimately turn as much on what purpose we could conceive the design of nature as a whole to have, and what the implications of this conception for our own conduct are, as any argument that could be made for it independently of these conclusions. (4) The final step of Kant’s argument then considers what we can conceive the purpose of an intelligent and purposive ground of nature to be. Kant tackles this question in the third section of the »Critique of Teleological Judgment,« its »Doctrine of Method.« The treatment of this question under that title can suggest that here is where the application of teleological judgment, or its pay-off, is to be found.26 The »Doctrine of Method« begins with three sections (§§ 79–81) in which Kant partially anticipates the later idea of evolution but still insists that the origin of life itself requires an immaterial and therefore as far as we can conceive intelligent ground.27 Kant then reminds us of his previous conclusion that we can conceive of an intentionally acting cause of nature only if we also ascribe some end to it (§ 81, 422), and finally raises the question of what this end might be. At this point, we might expect an argument that this end must be something we ourselves can conceive, because the entire theory of teleological judgment is supposed to be based on the limits of our own cognitive capacities, and hence something that we can conceive of as being realized in nature, where our own ends must be realized. Kant clearly assumes this, but he does not say so explicitly. 26

However, there is no justification for translating the title of the section »Theory of the method of applying the teleological judgment,« as Meredith did (Immanuel Kant, Critique of Teleological Judgment, translated by J.C. Meredith (Oxford: Clarendon Press, 1928), p. 75). 27 See note 16 above.

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He explicitly introduces a different constraint on anything that we can conceive of as the end of nature, namely, that whatever we might conceive as the purpose of nature must be something that we must be able to conceive of as an unconditional end or end in itself. Kant’s argument is then that there is only one thing that we can conceive of that satisfies that constraint, namely the development of human morality with all that this entails, including the object it sets for all our efforts, the highest good. This end will bridge the gap between the sensible and the supersensible that Kant worried about at the outset of the whole book, and that he reintroduced as the condition of the compatibility of mechanical and teleological explanation, because the possibility of human freedom as the end of nature must be grounded in the supersensible side of our own constitution, but the object which human freedom itself sets for us, the realization of the highest good, must be realized within nature. Thus Kant argues that the only thing we can conceive of as an unconditional end for nature, though set as an end by reason rather than mere nature, is also something that must be realizable in nature.28 Kant accomplishes this last stage of his argument by distinguishing between an »ultimate end« (letzter Zweck) of nature and a »final end« (Endzweck) for it, and then arguing that the ultimate end and the final end must be the same, namely the realization of the highest good. The initial difference between the concepts of the ultimate and the final end, which once again Kant hardly makes explicit, seems to be a distinction between what might be thought as the value-neutral last stage of some causal process and a value-positive goal of such a process. It is presumably an objective of theoretical reason, transformed into a goal of reflective judgment, that we be able to conceive of an end-point for nature conceived of as a causally linked series of events, while it is a requirement of practical reason, also transformed into a regulative ideal of reflective judgment, 28

This point seems to have escaped numerous commentators. Düsing holds that the highest good as the »proper object of practical reason« is an »›objective final end of the human race‹ which must lie outside of nature,« and which can at best be prepared for rather than actually realized by any condition of culture that can be realized within nature, even the condition of perpetual peace (Kants Begriff der Teleologie, p. 222). Zanetti thinks that Kant’s solution to the antinomy of teleological judgment collapses because of the contrast between the possibility of a purposive-cause in nature« and the »necessity of a supersensible purposive-cause« (Kants Antinomie der teleologischen Urteilskraft, p. 354). But Kant’s point is precisely that the end for nature that we can conceive a supersensible cause to set for it, which is nothing other than the end that we can set for ourselves in virtue of our supersensible capacity of freedom, is nothing other than the realization of the highest good in nature.

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that the ultimate end of nature also be a final end, something of unconditional and intrinsic value. Kant’s argument then takes the form of showing that the expression of human freedom in the form of morality is in fact the only thing that can be thought of as both the ultimate end of nature, or its aim from an explanatory point of view (§§ 82 f.), but also the final end for nature, or its only possible aim from an evaluative point of view (§ 84). In somewhat more detail, the argument proceeds as follows. Kant first reminds us of what he had observed at the very beginning of the »Critique of Teleological Judgment,« namely that from an initial view of nature there can be no thought of any determinate end for it at all, ultimate or final: we might think that plant life exists in order to support animals that are in turn of use to us, but we could just as easily imagine that animals and even we ourselves exist merely to fertilize and care for the plants (§ 82, 427). In order even to begin to think about an end for nature, we have to think of mankind as its end, because the human being »is the only kind of being on earth that is capable of making a concept of ends for itself and, by means of its reason, making a system of ends out of an aggregate of purposively formed things« (426 f.). As the only sort of being that can form a conception of ends, Kant’s argument seems to be, mankind must be the origin of all ends, and therefore the only candidate for the ultimate end in any explanatory account of nature.29 29

This conception of humans as the originators of all value has been presented as the basis of Kant’s ethical theory by Christine Korsgaard; see her Creating the Kingdom of Ends (Cambridge: Cambridge University Press, 1996), chs. 4 and 6. I think it is clear at least in the present context that this is only one premise in Kant’s value theory, and that he will go on to argue that human beings must recognize their own freedom as an end in itself in order properly to employ their capacity to give value to everything else in nature by setting ends. Without something that functions as an objective constraint on their unique capacity to set ends, humans could also disvalue everything in nature. Jürg Freudiger comes closer to the argument made here when he suggests that what makes mankind into the »ultimate end« of nature, namely his own capacity to set and thus be the source of ends, does not itself automatically make man into a final end, something that is not a mere means to something else (Kants Schlußstein, p. 430). He then claims that Kant’s »second step is not entirely developed,« but consists merely in a vague allusion to the fact that »man is a citizen of two spheres« and only thereby »comes into question as a final end« (p. 431). I think that Kant can be given credit for clearly recognizing that establishing that mankind is suitable for the role of an ultimate end in virtue of his capacity to set ends does not suffice toe stablish that mankind is the final end of nature, and then explicitly maintaining that this second claim can be sustained only by introducing the premise that mankind’s capacity to set ends freely is itself of unconditional value.

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This argument takes the crucial step of implying that even if we must conceive of nature as the product of a supersensible agency in order to explain its apparent design, we can nevertheless conceive of the purpose that is the point of this agency’s action only as something that is from at least one point of view within rather than outside of nature, namely humankind itself. But the mere thought that mankind must be the ultimate end of nature because it is the only being of which we have any experience that is capable of setting ends hardly suffices to determine a unique or even coherent end for nature as a system. This is because human beings sets all sorts of ends for themselves, many if not most of which are utterly unsuitable for being considered as the final end of nature. From here we can see Kant’s argument as proceeding in two further steps. First, he argues that any naturalistic conception of human happiness is both logically and empirically unsuitable as a candidate for the ultimate end of nature. The logic of human happiness unsuits it for such a role because individual conceptions of happiness are often internally incoherent and/or externally incompatible with each other, and thus offer no possible determinate end for nature; and even an individually coherent and interpersonally consistent conception of human happiness would seem empirically unsuitable for this role because nature seems to pay no regard to human happiness: »in its destructive actions, in pestilence, famine, flood, frost, attacks from animals great and small, etc., nature spares mankind just as little as any other animal« (§ 83, 430). Only a human end that can be both coherently conceived and plausibly seen as an actual end of nature can be a candidate for the ultimate end of nature. Kant then argues that from »among all mankind’s ends in nature« the only candidate for an ultimate end that is left is »the formal, subjective condition, namely the capacity for setting ends for itself and using nature as means suitable to the maxims of its free ends (independent from nature in the determination of these ends)« (§ 83, 431). This is what Kant calls human »culture,« not in the sense of the mere development of skills and talents that might be useful for the achievement of any human ends regardless of their moral value but rather in the sense of »the liberation of the will from the despotism of desires which, by their attachment to certain things in nature, would make us incapable of choosing for ourselves« (432). In other words, the only candidate for the ultimate end of nature is the self-disciplined expression of human freedom that is the essence of human morality. The final stage of this argument is then Kant’s claim that the very same thing, the expression of human freedom through the development of

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morality, is the only thing that is fitted to be the final end of nature because it is the only thing that is of unconditional value. Kant’s exposition of this claim is, to say the least, compressed. He begins § 84 with a definition of a final end as »that end, that requires no other as the condition of its possibility« (435). This might make it sound as if the concept of a final end is an explanatory concept after all, and a hopeless one at that, like an uncaused cause. And perhaps Kant even has something like that in mind, for he subsequently argues that »the final end is not an end which nature would be sufficient to bring about and produce in accordance with its idea, because it is unconditioned,« and nothing in nature is unconditioned, precisely because all »grounds of determination to be found in nature itself are themselves always in turn conditioned,« i. e., there is nothing in the causal order of nature that is not determined by a prior cause (435). But it seems clear that what Kant is really looking for is something that is of unconditional value, something the mere idea of which is a sufficient reason for its existence rather than a sufficient cause, something which blocks any further question »why (quem in finem) it exists?« In any case, Kant’s key claim is the expression of human freedom in the form of morality is the only thing that is of unconditional value. It is thus the only candidate for the final end of nature, so the only candidates for the ultimate end of nature and for the final end of nature turn out to be the same: »Now we have only one sort of being in the world whose causality is teleological, i.e., directed at ends, and yet is at the same time so constituted that the law in accordance with which it has to determine ends is represented by itself as unconditional and independent from natural conditions but yet as necessary. The being of this sort is the human being, but considered as noumenon: the only natural being in which we can cognize a supersensible faculty (freedom) [...] together with the object which it can set before itself as the highest end (the highest good in the world) from the side of its own constitution.« (§ 84, 435) This extraordinary paragraph packs in an awful lot. First, it draws the conclusion that the only thing that is a viable candidate for being the ultimate end of nature because it explains the setting of ends – namely human freedom – is also the only thing that is a candidate for being the final end of nature because it is of unconditional value. Second, it says that this end, or mankind as the bearer of this end, is something that must be conceived of as outside of nature, because its possibility requires the conception of the supersensible as the ground for the sensible world, but at the same time must be regarded as something that is also manifest in the natural world, in human beings as creatures in nature. Third, it makes

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into the final end of nature not only human freedom as the capacity that is the basis of morality, but also the highest good, which is the object set for us by morality. This is clearly represented through the remainder of the »Critique of Teleological Judgment« as a condition which is to be realized within nature (§ 87, 450). Thus to conceive of nature as an intentional product of design also requires us to conceive of it as a system aimed at the highest good, and we can only do this by conceiving of the laws of nature as laws consistent with the human realization of the highest good – the very same conception of nature that we reach, according to Kant’s first two critiques as well as to the remainder of the third, by starting out from purely moral reflection on the highest good and the conditions of the rationality of our efforts to realize it. This conclusion might appear to conflict with Kant’s observation that nature seems to show no special favor toward human happiness; in the claim that human morality is the only thing we can conceive of as the final end of nature, but that through this status for morality the highest good as the object of morality in turn becomes the final end of nature, Kant seems to claim that happiness must be the end of nature after all. How are these two claims to be reconciled? In part, the answer must be that happiness as Kant first talked about it was happiness conceived as a merely natural object of inclination, the happiness of oneself and perhaps of some others contingently near and dear to one, conceived of over the short rather than the long range; the happiness conceived in the concept of the highest good, however, that is, the happiness of humankind as a whole as a product of human virtue, is not a natural object of inclination at all, but rather a conception imposed upon natural inclination by the free exercise of human reason.30 Second, we may also have to take Kant’s observation about nature’s indifference to our happiness to have been meant in an at least partially provisional way. Nature certainly seems indifferent to human happiness on first glance, and perhaps it really is indifferent to merely natural or selfish conceptions of human happiness; but it may still be possible to see it as well-disposed to human happiness in the long run, to human happiness as the long-run product of human virtue – and virtue itself is not something that we have any expectation will be fully achieved in any short run. In any case, Kant seems to hold that we have to be able to conceive of nature as having this special form 30

See my article Freiheit als ›der Innere Werth der Welt‹, in Christel Fricke, Peter König, and Thomas Petersen, eds., Das Recht der Vernunft: Kant und Hegel über Denken, Erkennen und Handeln (Stuttgart: Fromann-Holzboog, 1995), pp. 231–262.

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of human happiness in the long run as its goal in order to be able to conceive of it as having any intelligent and therefore purposive design at all.

3. This concludes my account of the main and novel argument of the »Critique of Teleological Judgment.« Earlier, however, I noted that if the crucial step of this argument in which the teleological principle is extended from organisms to all of nature is to be seen an expression of reason’s demand for unity, then we should expect Kant to argue that this extension is not undermined by an antinomy. This is just what he does in the »Dialectic of Teleological Judgment.«31 But Kant’s exposition of the »Dialectic« also raises a problem about the starting-point of the entire argument we have just considered. For the most general point of the »Dialectic« is that the mechanical and teleological principles of explanation can be reconciled, not just by regarding both principles as merely regulative rather than constitutive, but ultimately by regarding mechanical causation as itself the sensible expression of the purposiveness of the supersensible ground of nature, thus as the means through which the end of nature is achieved. This implies, however, not only that all of nature can be seen as purposive, but equally that all of nature can at least in principle be seen as mechanically explicable; and this may seem to undermine Kant’s opening claim that it is the mechanical inexplicability of organisms that leads us to a teleological view of nature in the first place. This problem is not apparent in Kant’s initial formulation of the antinomy of teleological judgment. Kant begins by arguing that there cannot be an antinomy of reason between the two purportedly constitutive principles that »All generation of material things is possible in accordance with merely mechanical laws« and »Some generation of such things is not possible in accordance with material laws« because neither of these

31

In the opening of her article Kants Antinomie der teleologischen Urteilskraft, Zanetti suggests that the point of the antinomy is to establish that human freedom can be effective in a world apparently governed by mechanical causal laws (pp. 341 f.). This needs to be refined, for presumably Kant has already established that human beings are free to form whatever intentions morality might require in the third Antinomy of the first Critique and the treatment of freedom in the second; what remains to be shown by the arguments of the »Critique of Teleological Judgment« is that the laws of nature are compatible with or even conducive to the successful realization of freely formed human intentions.

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principles can be proved by reason at all (§ 71, 387).32 Instead, he says, the question can only be whether there is a conflict between what he calls two »maxims« of reflection or »regulative principles for research,« the first maxim that »All generation of material nature cannot be judged as possible except in accordance with merely mechanical laws« and the second maxim that »Some products of nature cannot be judged as possible in accordance with merely mechanical laws« (387). It is often thought that pointing out the regulative character of these principles is itself Kant’s resolution of the question of an antinomy. But it should be noted that Kant says that this is only the »preparation« for a solution to the antinomy (§ 71, 388),33 and this is a good thing, because it seems as if there is still a conflict even between the two mere maxims of reflection.34 If there really are some objects that cannot be judged to be possible on a purely mechanical conception of causation, then, assuming the principle that »ought implies can,«35 we could not reasonably be enjoined even to try to judge all objects as possible solely on mechanical principles. Kant obscures this point when he claims that in his contrast between the two maxims of reflection »it has not been said that those forms [of organisms] were not possible in accordance with the mechanism of nature« (§ 70, 388). That may be true, but we are still being told by the first maxim to »judge as possible in accordance with merely mechanical laws« some products of nature which the second maxim tells us »cannot possibly be judged in accordance with merely mechanical laws« (§ 70, 387), and thus the first maxim enjoins an impossible task on us.36 32

Kant apparently intends to make a contrast with the »Antinomy of Pure Reason« in the first Critique, where his argument is that each of the opposed theses and antitheses appears to be required by pure reason. 33 This point has been noticed by a number of commentators, including McFarland, Kant’s Concept of Teleology, p. 121; Peter McLaughlin, Kant’s Critique of Teleology in Biological Explanation (Lewiston: Edwin Mellen Press, 1990), p. 131; and Zanetti, Kants Antinomie der teleologischen Urteilskraft, p. 345. 34 See McLaughlin, Kant’s Critique of Teleology, pp. 134, 139 (at p. 138n5 McLauglin cites older commentators who failed to see this point); Allison, Kant’s Antinomy of Teleological Judgment, p. 29; and Zanetti, Kants Antinomie der teleologischen Urteilskraft, pp. 344 f. 35 It is sometimes noted that Kant does not explicitly formulate this principle in his famous argument from consciousness of the moral law to the recognition of freedom in the Critique of Practical Reason (5:29 f.). But he does formulate it explicitly and repeatedly in the Religion (e. g., 6:47, 62 f.). 36 Perhaps it is thus an example of what Allen Wood has called an absurdum practicum; see his Kant’s Moral Religion (Ithaca: Cornell University Press, 1970), pp. 25–34. In his treatment, Allison stresses that even regulative principles entail ontological

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What would not be contradictory, however, would be the principles that »Everything in nature can be judged as possible in accordance with merely mechanical laws« and »Some (or all) things in nature can also be judged as possible in accordance with non-mechanical (or teleological) laws.« In other words, the only way to reconcile the conflict between the first maxim for the judgment of nature that Kant formulates and any teleological conception of it would be to argue that at least some objects can be judged in accordance with both mechanical and teleological principles.37 And in proceeding beyond the mere »preparation« for a solution to the antinomy, this is exactly what Kant goes on to defend. He argues first that even though we can have no expectation of explaining organisms purely mechanically it would still be presumptuous for us to insist that there is no mechanical explanation of the organic (§ 75, 400). And then he argues that the way to reconcile the two maxims is to realize that they work at different levels: we can conceive of explaining anything in nature both mechanically and teleologically because we can conceive of the supersensible ground of nature as expressing its purposiveness through its legislation of the mechanical laws of nature:38 »The principle

commitments, so the antinomy between mechanism and teleology cannot be resolved merely by asserting that the maxims to seek mechanical explanations for all objects but teleological ones for some are regulative (Kant’s Antinomy of Teleological Judgment, pp. 31 f.). 37 This point is also made by McLaughlin, Kant’s Critique of Teleology, p. 130, and Zanetti, Kants Antinomie der teleologischen Urteilskraft, p. 345. 38 Henry Allison suggests that by connecting the concept of a purposive cause solely to the constitution of our cognitive faculties, Kant resolves the antinomy by separating the maxims of reflective judgment from any ontological commitments at all (Kant’s Antinomy of Teleological Judgment, p. 34). I would instead suggest that Kant’s solution takes the form of solving the antinomy by means of an ontological conception, namely the conception of a supersensible ground of the sensible world which achieves its purposes through mechanical laws, where however the objective validity or epistemic status of this conception is not asserted dogmatically but is restricted to our own subjective point of view. Peter McLaughlin also tries to eliminate any ontological element from Kant’s solution to the antinomy, holding that its solution consists simply in recognizing that although we must always explain things mechanically (or, as he also calls it, reductionalistically), nature simply does not allow all of its products to be explained this way; the solution to the antinomy is just to accept this fact (Kant’s Critique of Teleology, p. 162). This interpretation has the virtue of maintaining the special status of organisms in Kant’s conception of natural science, unlike the solution by appeal to the supersensible, which could survive even a complete mechanical explanation of organisms; but it fails to show how the solution to the antinomy contributes to Kant’s larger objective in the Critique of Judgment, that of unifying the theoretical and practical points of view.

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that is to make possible the unifiability of both of them in the judgment of nature in accordance with them must be posited in what lies outside of both of them (thus as outside the possible empirical representation of nature), but in what contains the ground of them both, i. e., in the supersensible, and each of the two sorts of explanation must be related to that.« (§ 78, 411 f.) Once we adopt this point of view, two maxims of judgment can be held simultaneously, although not the two that Kant originally formulated but rather the two maxims »Everything in nature must be able to be judged in accordance with mechanical laws« and »Some (or even all things) must also be able to be judged in accordance with a teleological conception.« It may be noted that affirming the first of these maxims in this way obviates any need to see Kant as giving up the first Critique’s claim for the universal validity of a principle of causation immanent within nature.39 At the same time, this solution throws Kant’s original claim about the mechanical inexplicability of specific organic functions into doubt. This problem may not be apparent in the first part of Kant’s resolution of the antinomy. Here (§§ 72–74) Kant considers four systems for dealing with life and its appearance of purposive design in nature.40 Two of these are what he calls »idealist« systems, by which he means that they actually explain away any appearance of purposiveness in nature. The other two are »realist« accounts, that is, they purport to give adequate explanations of something that is not to be explained away (§ 72, 391). The two ›ideal-

39

See McFarland, Kant’s Concept of Teleology, pp. 119–122. Zanetti also raises the problem of whether the antinomy of teleological judgment requires any revision of Kant’s view of the universal validity of causation in the first Critique. She argues that what Kant should have concluded from the antinomy is that a mechanical conception of causation (in which only the character of the parts of an object determine the behavior of the whole; see Allison, Kant’s Antinomy of Teleological Judgment, p. 27) is a necessary but not a sufficient condition for the complete causal explanation of the behavior of some objects (pp.350–352); indeed, her identification of the problem about comprehending organisms with the problem about the incomplete determination of particulars by discursive general concepts that Kant discusses in §§ 76 f. is clearly intended to make room for this proposal. She laments that Kant solves the antinomy instead by arguing that the distinction between the supersensible and the sensible allows objects to be seen as both sufficiently determined by mechanical laws and by a teleological purpose at the same time (pp. 352, 354 f.). But if she rejects that point of view completely, then one is left wondering what has become of her original characterization of the point of the antinomy as being that of showing the effectiveness of (a supersensible) freedom in the (sensible) world of nature. 40 A useful discussion of these four systems may be found in Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, pp. 199–205.

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ist‹ accounts are the system of »accidentality,« i. e., Epicureanism, according to which any appearance of design in nature is the product of utterly accidental collisions among bits of matter, and the system of »fatality,« ascribed to Spinoza, on which everything in nature is the product of an original being as the underlying ground of nature, but is not to be attributed to any »understanding« or intelligence in such a ground, and is not designed (391 f.). The two systems of ›realism‹ are, first, the »physical« or »hylozoistic« system, in which real design in nature is a product of »the life of matter« itself, and, second, the »hyperphysical« or »theistic« system, according to which design in nature is a genuine product of the »primordial source of the universe« conceived as an »intentionally acting (originally living) intelligent being« (392). Kant then argues that the first three of these systems implode before they even get off the ground, but that the fourth, theism, while it cannot be dogmatically demonstrated, is at least not internally incoherent, and can therefore be adopted as a principle of reflective if not determinant judgment. Both the system of accidentality and the system of fatalism eliminate all »unity of purpose« and any appearance of »intentionality« (das Absichtliche) (§ 73, 393); moreover, while Epicureanism makes everything in nature contingent, which undermines our conception of experience, Spinozism removes all contingency from nature, which equally belies our own experience (§ 80, 421). Hylozoism, in turn, is impossible because the idea of »a living matter« is self-contradictory: here is where Kant insists that »lifelessness, inertia, constitutes the essential character of matter« (394). Thus, only the idea that the appearance of design in living matter is imparted to it from an outside intelligent source is even coherent. Such theism cannot »dogmatically establish« the »possibility of natural ends« any more than the other theories can, but we can at least coherently conceive of an »intentional causality for the generation of nature« in »an understanding ascribed to a primordial being« (395). In this argument, it still appears to be the peculiar nature of organisms as living matter that requires us to conceive of an intelligent and purposive supersensible ground of sensible nature and then to extend that thought to the whole of nature. In Kant’s next argument, however, the teleological perspective on the whole of nature is not suggested by the special case of the experience of organisms, but is immediately reached by a general consideration about the knowledge of nature, organic or not. This argument appears in §§ 76 f. of the »Dialectic« of the »Critique of Teleological Judgment.«41 Kant 41

A related argument appears in the introduction to the Critique of Judgment. There

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makes it sound as if this argument has a special connection with »physical ends« or organisms, saying that the conception of such an object as a »product of nature« involves »natural necessity and yet at the same time a contingency of the form of the object in relation to mere laws of nature« (§ 74, 396). That is, although we try to think of everything about an object in nature as being determined, the kind of causal laws we are able to apply to organisms – mechanical laws – are not in fact adequate to explain everything determinate about them. But Kant then goes on to make an entirely general point about the relation between laws and particulars that does not turn on the specific kind of objects or laws concerned. He argues that the distinctions between the possible and the actual as well as the necessary and contingent are inherent and entirely general limitations of human thought, deriving from the even more fundamental distinction between concepts and intuitions. General concepts and laws, whatever their specific character, can only represent an object as possible, and intuition is always needed to represent it as actual (§ 76, 401 f.); and only those features of an object dictated by a concept of it seem necessary, while those further features presented only by (empirical) intuition always seem contingent (§ 77, 406 f.). Thus, what makes a particular object fully determinate always seems contingent relative to any general concept we have for it. Yet we cannot tolerate this ineliminable residue of contingency, so we conceive of particular objects, like general laws, as if they were products of an intelligence greater than our own, whose concepts are sufficient to determine individual objects in every respect (§ 77, 404 f.) – even though the very distinction between possible concept and Kant argues that although we can explain the necessity of such high-level or entirely abstract laws of nature as the principle of universal causation as being due to »the laws given by our understanding a priori,« these laws only establish »the possibility of a nature (as object of the senses) in general,« and are not sufficient to furnish the laws for the particular »manifold forms of nature as, as it were, so many modifications of the general concepts of nature.« Yet such particular laws, »even though as empirical laws they may be contingent with regard to the insight of our understanding must still, if they are to be laws (as the concept of a nature requires) be able to be regarded as necessary on the basis of some principle of the unity of the manifold, even if it is unknown to us« (§ IV, 179 f.). He then claims that: »This principle can be nothing other than that, since general laws of nature have their basis in our understanding, which prescribes them to nature (although only in accordance with the general concept of it as nature), the particular empirical laws, in regard to that which is left undetermined in them by the general laws, must be regarded as if in accordance with such a unity that an understanding (although not ours) would have given them in order to make possible a system of experience in accordance with particular laws of nature for the sake of our own cognitive capacity.« (§ IV, 180; see also § V, 183 f.).

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actual existence that is the inherent limitation of our thought that starts us down this path also means that we know we can never have knowledge of the actual existence of such an intelligence (§ 76, 402). Though Kant emphasizes this gap between general concept and fully particularized form in our knowledge of organisms (407 f.), this argument actually applies to all particular objects in nature. And for precisely that reason it is consistent with the resolution of the antinomy of teleological judgment that, as we saw, Kant needs in order to avoid contradiction even between two maxims of reflective judgment, namely one that argues that the mechanical and teleological perspectives on nature as a whole are compatible because we can think of the mechanical perspective as applying to all of the sensible and the teleological perspective to the supersensible, which achieves its purposes in the sensible realm through the mechanical laws of nature. In Kant’s words, matter, even though »its nature is in accordance with mechanical principles, can be subordinated to the represented end as means« (§ 78, 414). If this argument about the contingent and the necessary suffices to introduce a teleological perspective into natural science, then it does so even if, contrary to Kant’s previous claims, specific organic functions and even the emergence of life itself could be explained in purely mechanical terms. Kant never acknowledges this, even though after his initial discussion of organic functions (§§ 64–66) he does most often write as if we cannot set any specific limit to the possibility of mechanical explanations, even of organic functions, and know only in some unspecified general way that they will never be complete (e. g., § 68, 383). Yet both before and after the argument of §§ 76 and 77, Kant continues to write as if the experience of organisms is indispensable for the introduction of the teleological point of view. Why? Why doesn’t he treat the special experience of organisms as a ladder that can be tossed aside once we have climbed up to this more general argument? Here I can only conjecture that Kant’s focus on organisms is related to his claim that among proofs of the existence of God the argument from design must always be treated with a kind of respect that is not due to the more abstract ontological and cosmological arguments because it is the »clearest and the most appropriate to common human reason« (A 623/B 651). That is, his assumption may be that the common and inescapable experience of organisms – the plants and animals on which we all depend every day of our lives – makes the teleological perspective natural and plausible to all normal human beings in a way that abstract philosophical considerations like those concerning the contingency of the particular relative to general concepts never could.

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In this way, the experience of organisms would play an indispensable role in introducing the teleological perspective to normal human agents, the ultimate subjects of Kant’s moral anthropology, even though it is not necessary for a purely philosophical deduction of this perspective. Privileging the experience of organisms in this way would be entirely consistent with Kant’s approach to morality throughout the Critique of Judgment, which is meant throughout to bridge the gulf between nature and freedom not for rational beings in general but for real human beings, who find themselves embodied in nature as we are.42

42

For my argument that precisely such approach explains Kant’s connection of aesthetics to morality in the first half of the Critique of Judgment, see Feeling and Freedom: Kant on Aesthetics and Morality, Chapter 1 of my Kant and the Experience of Freedom: Essays on Aesthetics and Morality (Cambridge: Cambridge University Press, 1993), pp. 27–47.

Jürgen Stolzenberg Organismus und Urteilskraft. Überlegungen im Anschluß an Paul Guyer Mit Recht hat Paul Guyer1 in seiner Rekonstruktion des Argumentationsgangs von Kants ›Kritik der teleologischen Urteilskraft‹ darauf hingewiesen, daß dessen erster Schritt den gesamten weiteren Untersuchungsgang dominiert. Diesen ersten Schritt hat Paul Guyer mit der These Kants identifiziert, daß der Begriff eines organisierten Wesens, sofern es als Naturzweck betrachtet wird, kein konstitutiver Begriff zur objektiven Erkenntnis dieses Wesens, sondern ein regulativer Begriff ist, dessen Funktion darin besteht, der reflektierenden Urteilskraft eine Regel an die Hand zu geben, unter der sie die Verfassung eines organisierten Wesens in Analogie zu unserem eigenen technisch-praktischen Verhalten als Produkt eines durch Absichten geleiteten Handelns aufzufassen vermag. So grundlegend diese These für Kants Argument auch ist, so wenig hinreichend läßt sich ihr Gehalt, ihre Plausibilität und ihre systematische Bedeutung, die ihr für Kants Theorie der teleologischen Urteilskraft zukommt, aus dem Zusammenhang, in dem sie zuerst entwickelt wird, verstehen. Dies erlaubt erst eine spätere Argumentation, die Kant unter den Titel »Von der Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes, wodurch uns der Begriff eines Naturzwecks möglich wird« (AA V, 405)2 gestellt hat. Diesem Zusammenhang und den daraus sich ergebenden systematischen Folgen möchte ich im folgenden im Anschluß und in Ergänzung an das von Paul Guyer hierzu Ausgeführte nachgehen.

1. Es sind vornehmlich zwei Thesen in Kants erstem Argumentationsschritt, die einer genaueren Analyse bedürfen. Die erste These findet sich am Ende von Kants Analyse der Bedeutung des Begriffs eines organisierten Wesens, sofern es als Naturzweck betrachtet wird. »Genau zu reden«, 1

Paul Guyer: From Nature to Morality: Kant’s New Argument in the »Critique of Teleological Judgment«. In diesem Band, S. 375ff. 2 Kants Werke werden im Text nach der Akademieausgabe unter Angabe von Band- und Seitenzahl zitiert.

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so schreibt Kant hier, »hat also die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalität, die wir kennen« (AA V, 375). Aus diesem Befund leitet Kant die erwähnte, für den weiteren Gang der Untersuchung grundlegende These ab, daß der Begriff eines organisierten Wesens, das als Naturzweck betrachtet wird, »kein konstitutiver Begriff des Verstandes oder der Vernunft [ist], aber doch ein regulativer Begriff für die reflektierende Urteilskraft sein [kann], nach einer entfernten Analogie mit unserer Kausalität nach Zwecken überhaupt die Nachforschung über Gegenstände dieser Art zu leiten und über ihren obersten Grund nachzudenken.« (ebda., Hvh. v. V.). Man muß fragen, wie dieser Schritt und Kants Rede von einer »entfernten Analogie mit unserer Kausalität nach Zwecken« vor dem Hintergrund der ersten Aussage, daß die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgendeiner uns bekannten Kausalität hat, zu verstehen ist. Wendet man sich in dieser Absicht Kants Überlegungen zur Bestimmung der »Idee von einem Naturzwecke« (AA V, 370) zu, dann ist leicht zu sehen, daß Kant diese Idee im Kontrast zur Struktur eines Kunstprodukts zu bestimmen sucht. Während ein Produkt der Kunst sich einem vernünftigen Wesen verdankt, dessen Handlungen durch Begriffe von einem zu realisierenden Zweck bestimmt sind und das als Ursache von seinem Produkt real unterschieden ist, ist ein organisiertes Wesen, das als Naturzweck betrachtet wird, durch eine innere Kausalität bestimmt, die Kant als ein spezifisches Selbstverhältnis dieses Wesens beschreibt. »Ein Ding existiert als Naturzweck«, so lautet Kants Erklärung, »wenn es von sich selbst (obgleich in zwiefachem Sinne) Ursache und Wirkung ist« (ebda.). Man kann den ersten Schritt von Kants Argument als ausgeführte Analyse des Gehalts dieser Aussage verstehen, von der Kant selber bemerkt, daß sie eine »vorläufig« gewählte Redeweise und »ein etwas uneigentlicher und unbestimmter Ausdruck ist, der einer Ableitung von einem bestimmten Begriffe bedarf« (AA V, 372). Der erste Schritt dieser Ableitung beschreibt die Struktur eines Organismus zunächst so, daß die Existenz und die Verbindung seiner Teile ihren zureichenden Grund in einem Begriff haben, der sich auf die Gesamtheit dieser Teile bezieht. Dieser Beschreibung genügt der Begriff einer objektiven inneren Zweckmäßigkeit, der, wie Kant in einem früheren Zusammenhang ausgeführt hat, die Regel der Verbindung der Teile zu einem Ganzen enthält und aus dem die qualitative Vollkommenheit eines Gegenstandes begriffen werden kann. Doch ist mit diesem Begriff offenbar nur die Form eines Kunstprodukts beschrieben, das die Wirkung einer vernünftigen Ursache ist, die über einen Begriff von der Ver-

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bindung der Teile zu einem Ganzen verfügt, von dem sie als Ursache unterschieden ist. Genau diese Beziehung auf eine externe Ursache soll für die Struktur eines Naturzwecks nicht gelten. Dessen Begriff ist vielmehr dadurch definiert, daß er in sich selbst und seiner inneren Möglichkeit nach, und das heißt, »ohne die Kausalität der Begriffe von vernünftigen Wesen außer ihm« (AA V, 373, Hvh. v. V.) eine Beziehung auf Zwecke enthält. Dieser Bedingung ist Kant zufolge nur so zu genügen, daß die Teile den Begriff des Ganzen dadurch repräsentieren, »daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind« (ebda.). Nur auf diese Weise, so lautet Kants Argument, hat der Begriff eines Ganzen, der das Arrangement der Teile bestimmt, mit Bezug auf den Begriff eines Naturzwecks eine Anwendung, eine Anwendung allerdings, wie Kant präzisierend hinzufügt, in der ihm nicht die Funktion einer Ursache zukommt, – »denn da wäre es ein Kunstprodukt« – sondern nur die Funktion eines »Erkenntnisgrundes« (ebda.), aus dem die systematische Einheit der Form und Verbindung der Teile zu einem Ganzen begriffen werden kann. Es mag scheinen, daß Kant bereits hier aus der Unangemessenheit des Kunstwerk-Paradigmas für die Verständigung über die formale Verfassung eines Organismus den Begriff des Naturzwecks als eine bloß subjektive Maxime der Beurteilung der inneren Zweckmäßigkeit eines solchen organisierten Wesens für die reflektierende Urteilskraft verstanden wissen möchte. Der Fortgang der Überlegung zeigt jedoch, daß dies nicht Kants Absicht ist. Kant behauptet nämlich zweierlei: zum einen, daß die Struktur eines Naturzwecks so zu denken ist, daß »die Teile [...] einander wechselseitig und so ein Ganzes aus eigener Kausalität hervorbringen« (ebda.); zum anderen, daß es die dem Naturzweck eigentümliche Kausalität auch erfordert, den Begriff des Ganzen als »Ursache [dieses Ganzen – d. V.] nach einem Prinzip« (ebda.) zu denken, ohne in das KunstwerkParadigma zurückzufallen. In diesem Zusammenhang spricht Kant problematisch von »einem Wesen, welches die einem solchen Produkt angemessene Kausalität nach Begriffen besäße« (ebda., Hvh. v. V.). Mit Bezug auf ein solches Wesen wäre der zuvor namhaft gemachte Erkenntnisgrund zugleich als Ursache der Teile und ihrer Verbindung zu einem Ganzen anzusehen, und von ihm wäre zu sagen, so fährt Kant fort, daß die »Verknüpfung der wirkenden Ursachen zugleich als Wirkung durch Endursachen beurteilt werden könnte« (ebda., Hvh. v. V.). Die folgenden Ausführungen dienen der Präzisierung der Struktur eines solchen Wesens. So ist es nicht genug, wenn man ein solches Produkt der Natur nur so beschreibt, daß in ihm ein jeder Teil »als um der an-

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deren und des Ganzen willen« (ebda., Hvh. v. V.) existiert; vielmehr ist zu sagen, daß jeder Teil ein die anderen Teile wechselseitig hervorbringendes Organ ist. Genau dies sagt der Begriff eines Naturzwecks, unter dem ein sich selber organisierendes Wesen zu verstehen ist, das sich in seinen Teilen und deren Verbindung als Ganzes realisiert und unabhängig davon gar nicht existiert. Diese Eigenschaft der Selbstorganisation verweist im Unterschied zu einem Kunstprodukt wie einer Uhr, dem nur eine nach dem Naturmechanismus zu verstehende »bewegende Kraft« (AA V, 374) zukommt, auf eine »bildende Kraft« (ebda.), die sich Elementen, die sie nicht besitzen, mitteilt und sich darin zum Zwecke ihrer Selbsterhaltung organisiert. Daher ist eine solche Kraft genauer eine »sich fortpflanzende bildende Kraft« (ebda.) zu nennen. Diese Eigenschaft verbietet es, und dies leitet nun den letzten Schritt im Gang der Analyse des Begriffs des Naturzwecks ein, die Selbstorganisation der Natur, wenn nicht als Kunstprodukt, dann als ein »Analogon der Kunst« (ebda.) aufzufassen, da man auf diese Weise die Vorstellung von einem »Künstler [...] außer ihr« (ebda.) doch nicht los wird. Ähnliches gilt für den Versuch, die Selbstorganisation der Natur als »Analogon des Lebens« (ebda.) aufzufassen, da man entweder die an sich leblose Materie als lebendig denken müßte, was einen Widerspruch impliziert, oder ein Kommerzium der Materie mit einer Seele annehmen müßte, wobei jedoch entweder organisierte Materie als Werkzeug vorausgesetzt oder die Seele zur Künstlerin ihres Produkts gemacht werden müßte, womit man dieses Produkt der körperlichen Natur aber gerade entzöge. So zeigt sich am Ende, redet man nur genau, daß »die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgend einer Kausalität [hat], die wir kennen«, und dies schließt die »menschliche Kunst« (AA V, 375) mit ein. Aus diesem Befund folgert Kant, und dies geschieht hier zum ersten Mal im Gang der Analytik der teleologischen Urteilskraft, daß der Begriff eines organisierten Wesens, das als Naturzweck gedacht werden soll, kein konstitutiver Begriff sein kann, der in erkennender Absicht erfolgreich verwendet werden könnte. Er kann vielmehr nur ein regulativer Begriff für die reflektierende Urteilskraft sein, und zwar so, daß unser eigenes Selbstverständnis als nach Absichten handelnder Wesen die Regel, wenngleich in einer »entfernten Analogie« (AA V, 375) enthält, über Gegenstände dieser Art zu urteilen. Damit kommt der erste Schritt im Gang von Kants ›Kritik der teleologischen Urteilskraft‹ an sein Ziel.

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2. Es ist deutlich, daß der Rekurs auf unser Selbstverständnis als handelnder Wesen das Paradigma des Kunstwerks wieder einführt, um dessen Ausschluß Kant sich gerade bemüht hat. Und es ist auch deutlich, daß auf diese Weise das Spezifische im Begriff eines Naturzwecks, das Kant im Prinzip der Selbstorganisation sieht, unverstanden bleibt. Denn von ihm soll offenbar gelten, daß es mit Bezug auf sich selber Zweck ist. Dies gilt für unser technisch-praktisches Verhalten nicht. Diese Differenz findet ihren Ausdruck in Kants Rede von einer ›entfernten Analogie mit unserer Kausalität nach Zwecken‹. Folgt man nämlich Kants Erklärung des Begriffs der Analogie als »Identität des Verhältnisses zwischen Gründen und Folgen (Ursachen und Wirkungen), sofern sie ungeachtet der spezifischen Verschiedenheit der Dinge [...] stattfindet« (AA V, 464, Anm.), dann hat man die Identität beider Verhältnisse in der Möglichkeit der Anwendung des Zweckbegriffs zu sehen, während die spezifische Verschiedenheit durch das Selbstverhältnis bzw. den Selbstzweckcharakter im Begriff eines Naturzwecks angegeben wird. In dieser Differenz muß man daher die Entfernung zu ›unserer Kausalität nach Zwecken‹ sehen. Versucht man, sich über den methodischen Status der vorgestellten Argumentation ins Klare zu setzen, dann wäre zu sagen, daß die Ableitung des von Kant als uneigentlich und unbestimmt bezeichneten Ausdrucks, mit der er die Form der Selbstorganisation eines Naturzwecks zunächst beschrieben hatte – nämlich »sich zu sich selbst wechselseitig als Ursache und Wirkung [zu] verhalten« (AA V, 372) – von einem bestimmten Begriff ihre systematische Pointe darin hat, daß sie als ein begriffsanalytisches Experiment unternommen wird, das am Ende zu der Einsicht führt, daß eine für uns mögliche rationale Verständigung über die in Frage stehende Struktur eines Organismus nur mit Hilfe einer ›entfernten Analogie‹ zu unserem eigenen praktischen Selbstverständnis möglich ist. Nur auf diese Weise ist uns ein bestimmter Begriff gegeben, und das heißt, ein Begriff, mit dem allein wir erfolgreich im Felde einer teleologischen Betrachtung der Natur operieren können. Aus dem vorgestellten Argumentationsgang folgt unmittelbar, daß wir jenes Wesen nicht objektiv erkennen können, welches, wie es an zentraler Stelle der ›Ableitung‹ hieß, »die einem [Naturzweck] angemessene Kausalität nach Begriffen besäße« (AA V, 373). Doch hat Kant hierfür ein Argument eigener Art, das im Kontext des ersten Argumentationsschritts gar nicht entwickelt wird, und von dem sich zeigen läßt, daß es mit der These von der reflektierenden Funktion der Urteilskraft mit Bezug auf

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die Struktur eines Organismus nicht bloß verbunden ist, sondern erst den zureichenden Grund für die Notwendigkeit dieser Funktion enthält. Diese Überlegung hat Kant unter dem Titel »Von der Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes, wodurch uns der Begriff eines Naturzwecks möglich wird« (AA V, 405) entfaltet.

3. Hier führt Kant unter anderem aus, daß ein solches Wesen über die Anschauung eines Ganzen von Teilen verfügen würde und von ihr aus die Verbindung der Teile dieses Ganzen zu bestimmen in der Lage wäre. Ein solches Verfahren wäre ein Übergang vom »Synthetisch-Allgemeinen« (AA V, 407), dem die Anschauung eines Ganzen entspricht, zu den Teilen als dem Besonderen, indem die Teile durch das Ganze determiniert wären und insofern aus ihm notwendig folgend eingesehen werden könnten. Ein solches Verfahren steht indessen nur einem intuitiven Verstand zu Gebote und nicht unserem diskursiven, der von Begriffen als dem »Analytisch-Allgemeinen« (ebda.) zum Besonderen, dem eine gegebene empirische Anschauung entspricht, gehen muß. Unser Verstand vermag daher das Besondere, das unter einen Begriff fällt, hinsichtlich seiner Beschaffenheit nicht durch diesen Begriff zu bestimmen. So ist und bleibt es für uns zufällig, »welcherlei und wie sehr verschiedene« (AA V, 406) Gegenstände, die uns in der empirischen Anschauung gegeben sind, unter einen Begriff fallen. Es ist nun entscheidend zu sehen, welchen argumentativen Gebrauch Kant im vorliegenden Zusammenhang von dieser aus der ersten Kritik hinlänglich bekannten Unterscheidung zwischen einem intuitiven und diskursiven Verstand macht. Sie dient Kant zur Erklärung, ›wodurch uns der Begriff eines Naturzwecks möglich wird.‹ Er wird mit Rücksicht auf die Forderung der Vernunft nach einer systematischen Einheit und einem nach Prinzipien geordneten Ganzen der Erfahrung und ihrer besonderen Gesetze möglich. Denn auch wenn das Besondere durch das Allgemeine nicht bestimmt und aus ihm nicht abgeleitet werden kann, so soll dieses unendlich vielfältige Besondere doch unter das Allgemeine subsumiert werden können, was indessen als gänzlich zufällig angesehen und in der Perspektive der Urteilskraft ohne irgendein für sie geeignetes Prinzip erscheinen muß. Um die Möglichkeit der Übereinstimmung der besonderen Gegenstände der Natur und deren Eigenschaften zur Funktion der Urteilskraft »wenigstens denken zu können« (AA V, 407), so lautet nun

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Kants Argument, müssen wir uns zugleich einen anderen Verstand denken, mit Bezug auf den wir uns jene für uns zufällige Zusammenstimmung der besonderen Naturgesetze mit unserer Urteilskraft als notwendig vorstellen können. Dieser andere Verstand ist ein intuitiver Verstand. Dieses Kontrastmodell eines intuitiven Verstandes ist unter den für unseren Verstand geltenden Bedingungen auf die von der Vernunft geforderte systematische Einheit und Ganzheit der Erfahrung der Natur und ihrer Gegenstände in der folgenden Weise anzuwenden. Da das Ganze nicht, wie im Falle des intuitiven Verstandes, als Realgrund der Möglichkeit der Verbindung der Teile gedacht werden kann, kann es für uns nur die Vorstellung eines Ganzen sein, die den Grund der Möglichkeit der Verbindung der Teile enthält. Auf diese Weise erscheint das Ganze als Wirkung, dessen Ursache die Vorstellung seiner Möglichkeit ist. Genau diese Relation defniert den Begriff von einem Zweck, denn einen Zweck denkt man sich Kant zufolge genau dann, wenn der Begriff von einem Objekt zugleich der Grund der Wirklichkeit dieses Objekts ist. (Vgl. AA V, 180.) Dieses Argument läßt sich auch auf besondere organisierte Produkte der Natur als Naturzwecke anwenden, denn auch für sie gilt, daß sie, wie Kant ausführt, eine Zufälligkeit der Form enthalten und wir ihnen eben deswegen den Begriff einer Absicht unterlegen müssen, wenn wir der Natur in ihren organisierten Produkten nachforschen wollen. (Vgl. AA V, 398.) So ist es also nur die Eigentümlichkeit unseres diskursiven Verstandes ›wodurch uns der Begriff eines Naturzwecks möglich wird‹, und wodurch sich auch einsehen läßt, daß dieser Begriff kein konstitutiver, sondern nur ein regulativer Begriff für die reflektierende Urteilskraft sein kann, durch den die Natur insgesamt wie auch ihre besonderen Produkte so beurteilt werden, als ob ein Verstand den Grund ihrer Einheit enthalte. (Vgl. AA V, 180.)

4. Blickt man von dieser Argumentation auf die erste Ableitung des Begriffs eines Naturzwecks zurück, dann ist klar, daß Kants problematische Rede von einem Wesen, das die einem Naturzweck angemessene Kausalität nach Begriffen besäße, sich auf jenen intuitiven Verstand bezieht, aus dessen Begriff die Entfernung der Analogie zu unserer Kausalität nach Zwecken nun erst wirklich ausgemessen und verstanden werden kann. Die vorgetragene Argumentation erlaubt jedoch noch eine andere und systematisch entscheidende Einsicht. Es ist offensichtlich, daß Kant im

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Kontext seiner ersten Ableitung des Begriffs von einem Naturzweck von dem Begriff eines intuitiven Verstandes als eines solchen keinen argumentativen Gebrauch macht. So erfolgt der Übergang zur These vom bloß regulativen Begriffsgebrauch unmittelbar nach der Feststellung, daß es ein angemessenes Kausalmodell zur Erklärung der Struktur der Selbstorganisation eines Naturzwecks nicht gibt. Die anschließende These, daß der Begriff eines Naturzwecks doch ein regulativer Begriff für die reflektierende Urteilskraft sein kann, verweist aber lediglich auf das Faktum, daß wir mit Bezug auf unser Selbstverständnis als handelnder Wesen über den Begriff einer Kausalität nach Zwecken verfügen, der sich, wenngleich in einer entfernten Analogie, für einen bloß regulativen Gebrauch anbietet. Diese Formulierung enthält jedoch keine Behauptung über die Notwendigkeit eines solchen Gebrauchs. Den Beweis für die Notwendigkeit dieses Gebrauchs hat Kant in dem späteren Argumentationsgang aus der Idee des intuitiven Verstandes zu führen gesucht. »Damit man sagen könne«, so faßt Kant dort seine Argumentation zusammen, »gewisse Naturprodukte müssen nach der besonderen Beschaffenheit unseres Verstandes von uns ihrer Möglichkeit nach absichtlich und als Zwecke erzeugt betrachtet werden«, dazu »muß [...] die Idee von einem anderen möglichen Verstande als dem menschlichen zum Grunde liegen« (AA V, 405). Diese Idee muß deswegen zum Grunde liegen, weil nur aufgrund der Einsicht, daß die einem intuitiven Verstande mögliche Operation der Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen unserem Verstand nicht zu Gebote steht, die Unausweichlichkeit des reflektierenden Gebrauchs der Urteilskraft mit Bezug auf die Verständigung über die Struktur von Organismen wie auch der Natur als eines Systems begründet werden kann. Das, was die erste Argumentation nicht erreichen und deutlich machen kann, ist das, was Kant die Autonomie, bzw. genauer die ›Heautonomie‹ der reflektierenden Urteilskraft nennt. Sie besteht darin, daß die reflektierende Urteilskraft nicht der Natur und ihren Produkten, sondern sich selber das Prinzip der Einheit, unter der sie die besonderen Formen subsumiert, a priori gibt. Und dieses Prinzip ist das Prinzip einer Einheit, die so betrachtet wird, als ob sie von einem Verstand, der nicht der unsrige ist, herrührt. Der Begriff einer solchen Einheit, der zugleich der Grund der Wirklichkeit eines Objekts ist, ist der Begriff von einem Zweck. Also ist der Begriff der Zweckmäßigkeit ein Begriff a priori, der in der reflektierenden Urteilskraft seinen logischen Ursprung hat und mit Bezug auf den sie ihre ›Heautonomie‹, wie Kant sich ausdrückt, beweist. Erst im Kontext einer solchen Überlegung, die Kant in der Zweiten Einleitung in

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die »Kritik der Urteilskraft« als eine transzendentale Deduktion des Begriffs der Zweckmäßigkeit bezeichnet hat (vgl. AA V, 182), läßt sich dem Begriff eines Naturzwecks denn auch eine objektive Realität und eine für die reflektierende Urteilskraft notwendige Funktion sichern. Daher ist Kants Rekurs auf den intuitiven Verstand und den nicht aufzuhebenden Unterschied zu unserem Verstand der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration, wodurch uns der Begriff eines Naturzwecks a priori möglich wird. 5. Damit, so scheint es, läßt sich auch eine Antwort auf Paul Guyers Frage nach der systematischen Funktion von Kants Rekurs auf die Idee eines intuitiven Verstandes und der daraus abgeleiteten Notwendigkeit einer teleologischen Beurteilung der Natur im allgemeinen im Verhältnis zu Kants ersten Überlegungen zur besonderen Struktur eines Organismus und dessen teleologischen Beurteilung geben. Paul Guyers Frage lautet, warum Kant sowohl vor wie nach der Diskussion des Problems der Besonderheit und Zufälligkeit der Gegenstände der Natur und der Forderung ihrer systematischen Einheit an der Überzeugung festhält, daß die Betrachtung von Organismen für die Einführung des teleologischen Gesichtspunktes unverzichtbar sei, wenn dieser Gesichtspunkt doch aus einer allgemeinen Betrachtung der Naturgegenstände und ihrer systematischen Einheit begründet werden könnte. Warum, so fragt Paul Guyer, hat Kant die besondere Art der Betrachtung von Organismen nicht wie eine Leiter behandelt, die nur am Anfang, aber dann nicht mehr gebraucht wird, wenn das Argument ein allgemeines, auf das Ganze einer Natur bezogenes Niveau erreicht hat? Vor dem Hintergrund der vorgetragenen Überlegungen läßt sich hierzu folgendes sagen. Zunächst ist mit Paul Guyer darauf hinzuweisen, daß es für die Einführung des teleologischen Gesichtspunktes der von der Vernunft geforderte Begriff eines Ganzen, sei es des Ganzen der Natur, sei es des Ganzen eines organisierten Wesens, ist, der Kant auf die Annahme des intellectus archetypus führt. In der Vernunft liegt somit der Grund, warum, wie Paul Guyer schreibt, wir den Gedanken der Kontingenz sozusagen nicht ertragen können und die organisierten Produkte und die besonderen Gesetze der Natur als Produkte einer Intelligenz, die größer als die unsere ist, betrachten. Aber erst aus dem Kontrast zwischen dieser Intelligenz und unserem Verstand läßt sich ein zureichender Grund, der zugleich ein Grund apriori ist, für die Notwendigkeit der teleologischen

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Betrachtung von Organismen angeben. Die Betrachtung von Organismen erscheint dann nicht als eine Leiter, die im Fortgang der Argumentation nicht mehr benötigt wird, sondern als eine phänomenale Basis, deren hinreichende Erklärung erst aus dem allgemeineren Argument erfolgen kann. Daher ist der erste Schritt der kantischen Argumentation zwar grundlegend, aber doch nicht zureichend aus sich selbst zu verstehen und zu begründen.

PERSONENVERZEICHNIS *

Adickes, Erich 128 Albrecht, Michael 108, 113 Allison, Henry E. 17, 87, 381, 398 – 400 Ameriks, Karl 54, 54, 74, 92 f., 95 ff., 384 Aristoteles 27, 38, 60, 68, 383 Bartuschat, Wolfgang 388, 400 Baum, Manfred 17, 41, 44, 52, 71, 262 Baumgarten, Gottlieb Alexander 11, 13, 53 f., 57 f., 60, 62 f., 314, 317, 317 Baumgartner, Hans Michael 115 Beattie, James 57 Beck, Jacob Sigismund 72 Beckermann, Ansgar 195 Beiser, Frederick 8 Berkeley, George 76 Blumenberg, Hans 248, 257 Bohatec, Josef 119 Brahe, Tycho 59 Brandom, Robert B. 9 Brandt, Reinhardt 69 Brunner, Otto 27 Bubner, Rüdiger 282 Budde, Johann Franz 29 Carnap, Rudolf 244 Carus, Paul 176 Cassam, Quassim 78 Cassirer, Ernst 6, 245 Clarke, Samuel 309, 321 Cohen, Gerald Allan 87 Cohen, Hermann 6 Colli, Georgio 2 Conze, Werner 27 Cotes, Roger 308

Craig, Edward 55 Cramer, Konrad 19, 282, 286, 319 f., 320, 341 Crusius, Christian August 29, 54, 60 Davidson, Donald 244 Delekat, Friedrich 54 Descartes, René 27, 75 f., 79, 93, 128, 310 Dewey, John 255 Dickie, Georgie 387 Düsing, Klaus 378, 381, 387, 390, 392 École, Jean 25, 56 Edwards, B. J. 137 Ellington, James W. 171, 176 Engfer, Hans-Jürgen 308 Engstrom, Stephen 375 Euklid 25, 27 f., 56, 192, 319 Euler, Leonhard 204 Falkenburg, Brigitte 21 Feder, Johann Georg Heinrich 71 Fichte, Johann Gottlieb 2, 32, 73 f., 77, 82, 89 ff., 146, 152, 159 Förster, Eckart 17, 87, 111, 121, 331 Frank, Manfred 8, 377 Frede, Michael 295, 295 Frege, Gottlob Friedrich Ludwig 191, 321 Freudiger, Jürg 378, 393 Fricke, Christel 396 Friedman, Michael 21, 76, 308, 326, 384 Fulda, Hans Friedrich 14, 22, 169, 367 – 373, 367, 369, 371– 373 Galilei, Galileo 308, 325

* Kursiv gesetzte Ziffern beziehen sich auf eine Anmerkung der entsprechenden Seite.

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Personenverzeichnis

Garve, Christian 57, 71, 111, 113, 376 Gerhardt, Volker 21, 262, 265, 269 Gloy, Karen 341 Glucksmann, André 3 Goya, Francisco de 250 Gregor, Mary J. 288, 375 Guyer, Paul 14, 23, 336, 405, 405, 413 Habermas, Jürgen 246 Hammacher, Klaus 8 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2 f., 7 f., 137 f., 145, 151, 159, 204, 214, 218, 228, 271 f., 299, 305, 351, 352, 362, 366 Heidegger, Martin 54, 272 Heidemann, Ingeborg 54, 70 Heimsoeth, Heinz 54, 68 Hennis, Wilhelm 250 Henrich, Dieter 8, 96, 98 f., 260 Herman, Barbara 379 Herz, Marcus 31, 32, 38, 60, 62, 170 Hirsch, Emanuel 2 Hobbes, Thomas 115, 370 Höffe, Otfried 350, 361 Horstmann, Rolf-Peter 14 Hume, David 25, 55, 79, 82, 88, 90, 93, 95, 284 Husserl, Edmund 76 Jacobi, Friedrich Heinrich 2, 29, 77, 111, 145 f., 152, 158 f. Jakob, Ludwig Heinrich 73 Jaspers, Karl 3 Katô, Yasushi 115 Kaulbach, Friedrich 261 Keynes, John Neville 199 Kierkegaard, Søren Aabye 2 Kitcher, Philip 80 Klein, Hans-Dieter 5 Kleingeld, Pauline 115 Konfuzius 27 König, Peter 17, 361, 396 Köppen, Friedrich 2 Kopernikus, Nikolaus 59 Kopper, Joachim 70 Korsgaard, Christine M. 87, 379, 393

Koselleck, Reinhart 27 Kreimendahl, Lothar 55 Kroner, Richard 7 Krüger, Lorenz 295, 295 Kuehn, Manfred 57 Laberge, Pierre 289 Lambert, Johann Heinrich 31, 38, 55 f., 170 Lange, Joachim 29 Lauth, Reinhard 8 Lehmann, Gerhard 106 Leibniz, Gottfried Wilhelm 58, 82, 128, 182, 185, 190, 204, 224, 245, 291, 309, 310, 321 f. Lessing, Gotthold Ephraim 145 f. Lichtenberg, Georg Christoph 151 f. Locke, John 38, 60 Longuenesse, Béatrice 20, 80, 193 ff., 197 – 202 Macfie, Alec Lawrence 3 Maier, Inez 262 Maimon, Moses ben 157 Malebranche, Nicolas 60 Malter, Rudolf 71 Malzkorn, Wolfgang 205 Martin, Gottfried 54 Marx, Wolfgang 70 McDowell, John 9 McFarland, John D. 382, 389, 398, 400 McLaughlin, Peter 398 f. Meier, Georg Friedrich 12 f., 21, 53, 57, 59 ff., 63, 310 f., 313 Mendelssohn, Moses 29, 31, 111 ff., 145 f. Menzer, Paul 110 Meredith, James C. 391 Mittelstraß, Jürgen 59 Mohr, Georg 261 Montinari, Mazzino 2 Moore, George E. 78 Mues, Albert 8 Naragon, Steve 54, 74, 384 Neiman, Susan 8 Newton, Isaac 21 f., 69, 89 f., 124 f.,

Personenverzeichnis 192, 307, 308, 309, 319, 321 f., 325 – 327, 326, 336 f., 343 – 345, 344, 386 Nietzsche, Friedrich 2, 261, 272 Nortmann, Ulrich 195 Oberer, Hariolf 61 Oswald, James 57 Parmenides 271 Parrini, Paolo 80, 384 Peter, Joachim 381 Petersen, Thomas 396 Pippin, Robert B. 8, 361 Plaass, Peter 322 – 324, 323, 330, 332, 341 Platon 60, 247, 268, 272 Ploucquet, Wilhelm Gottfried 204 Pogge, Thomas 379 Pollok, Konstantin 328 Prauss, Gerold 79, 255, 257 Priestley, John 57 Ptolemaios, Claudius 59 Quine, Willard Van Orman 235, 244 Raphael, David Daiches 3 Rawls, John 87 Reath, Andrews 375, 379 Reich, Klaus 69 Reid, Thomas 57 Reinhold, Karl Ludwig 32, 77, 82 Rickert, Heinrich 6 Rorty, Richard 77 Roth, Friedrich 2 Rousseau, Jean-Jacques 55, 83 Russell, Bertrand 191 Sänger, Monika 70 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 2, 70, 145, 151f., 163 f., 169, 228 Schönrich, Gerhard 115 Schulze, Gottlob Ernst (Aenesidemus) 77 f., 90 Seebohm, Thomas M. 20, 232, 239, 259 Seel, Gerhard 61 Sellars, Wilfried 8, 76

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Siegmann, Gerhard 21 Sigwart, Geo 65 Sher, Gila 344 Smith, Adam 3 Spinoza, Benedictus de 29, 82, 11, 130 f., 137, 145 f., 151 f., 159, 163, 170, 401 Stolzenberg, Jürgen 23 Strawson, Peter F. 78, 83 Stroud, Barry 78 Sulzer, Johann Georg 25 Sutherland, Daniel 295 f., 328 Thöle, Bernhard 17, 94, 98, 99, 103 Thompson, Manley 295, 295 Tieftrunk, Johann Heinrich 72 Tieszen, Richard 344 Timpler, Clemens 26 Tuschling, Burkhard 17 Velkey, Richard L. 55 Vossenkuhl, Wilhelm 20 Waibel, Violetta L. 8 Warren, Daniel 328 Washburn, Michael 330 Watkins, Eric 328 Wiehl, Reiner 282 Wike, Victoria S. 375 Willaschek, Marcus 261 Windelband, Wilhelm 5, 7 Wittgenstein, Ludwig 244 Wolff, Christian Freiherr von 25 ff., 46, 48, 50, 53 ff., 73, 218, 307, 309, 314, 317, 321 Wolff, Michael 20, 69, 103 Wolff-Metternich, Brigitta-Sophie von 22, 373 Wood, Allen W. 19, 89, 289, 305, 375, 398 Wundt, Max 54 Young, J. Michael 174 Zanetti, Veronique 377, 381, 392, 397 – 400 Zöller, Günter 17 Zweig, Arnulf 73