Arbeitsrecht in Europa [3. neu bearbeitete Auflage] 9783504381875

Das vorliegende Werk bietet einen Überblick über die Grundlagen des nationalen Arbeitsrechts 26 europäischer Staaten, da

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Arbeitsrecht in Europa [3. neu bearbeitete Auflage]
 9783504381875

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Henssler/Braun (Hrsg.)

Arbeitsrecht in Europa

Arbeitsrecht in Europa herausgegeben von

Prof. Dr. Martin Henssler Universität zu Köln und

Axel Braun Rechtsanwalt, Köln

Bearbeiter siehe nächste Seite

3. Auflage

2011

Bearbeiter Dr. Mustafa Alp Associate Professor, Universität DoKuz Eylül, Izmir

Kerstin Gröne Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Köln

Helga Aune Post-Doktorandin, rechtswiss. Fakultät Universität Oslo

Dr. Angela Harth Rechtsanwältin und Solicitor, Darmstadt

Axel Braun Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln

Dr. Katrin Hegewald Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, München

Vicente Calle Abogado, Madrid

Samuel Henne Rechtsreferendar, Lübeck

Elodie Caron Avocat, Straßburg

Prof. Dr. Martin Henssler Universität zu Köln

Guy Castegnaro, LL.M. Avocat à la Cour, Luxemburg

Martine Hoogendoorn Advocaat, Amsterdam

Dr. Beate Erken Rechtsanwältin, Frankfurt/M.

Bernd Hübinger Rechtsanwalt und Avocat, Lüttich, Köln

Dr. jur Dr. rer. pol. Eberhard Fedtke, LL.M. Rechtsanwalt, Betriebswirt, Notar a.D., Aachen, Braga Dr. Jorg Johannes Fedtke, LL.M. Rechtsanwalt, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Dortmund Niklaus R. Gadient Rechtsanwalt, Bern Dr. Arne Gobert Rechtsanwalt, Berlin, Budapest Dr. Ute R. Gotha Rechtsanwältin, Mannheim

Liisi Jürgen, LL.M. Juristin, Tallinn Kalliopi Kerameos, LL.M. Dikigoros (Rechtsanwältin), Athen Georgios Kerameus, LL.M. Dikigoros (Rechtsanwalt), Athen Mgr. Katarína Klimanová Právnik (Juristin), Bratislava Thorsten Koch Rentenberater, Director Düsseldorf Fortsetzung s. nächste Seite

Bearbeiter

Valters Kronbergs - Riga Advokats, Björn Kurz Advokat und Rechtsanwalt, Stockholm Mikko Leppä Attorney at law, Senior Associate, Helsinki Dr. Tomá• Linhart Advokát, Prag Monika Malinowska-Hyla, LL.M. Radca prawny (Rechtsanwältin), Warschau JUDr. Jana Markechová Advokátka, Bratislava Didier Matray Avocat und Rechtsanwalt, Lüttich, Köln, Paris Preben Haugmoen Mo, LL.M. Advokat, Oslo Dr. Helen Pelzmann, LL.M. Rechtsanwältin, Wien . Ieva Povilaitiene . . Advokato padejeja (Associate), Vilnius Stefanie Prehm Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Köln

Stefania Radoccia Avvocato, Mailand ^

Dr. Imre Krisch Ügyved (Rechtsanwalt), Budapest

Radim Ranic, LL.M. Rechtsanwaltskonzipient, Prag Julia Rogmans Rechtsanwältin, Amsterdam Lisbet Steinrücke Rechtsanwältin und Advokat Köln, Berlin Andrew Taggart Solicitor Advocate, London Paule Welter Avocat, Lille Mikael Hedager Würtz, LL.M. Advokat, Esbjerg Julita Zimoch-Tucholka Radca prawny (Rechtsanwältin), Warschau

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek veiZei.chnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 info®otto-schmidt.de www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-42681-1 ©2.011 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen nnd die Einspeicherung nnd Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig nnd umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck nnd Verarbeitung: Bercker, Kevelaer Printed in Germany

Vorwort Mit der kontinuierlich steigenden Bedeutung des europäischen Arbeitsrechts und des europäischen Binnenmarktes wächst in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union das Interesse der arbeitsrechtlichen Praxis an dieser Rechtsmaterie und an rechtsvergleichenden Informationen. Unser Werk hat hier eine Lücke geschlossen, gab es doch bis zum Erscheinen unserer ersten Auflage im deutschsprachigen Raum kein Werk, das in einem einbändigen Handbuch das Arbeitsrecht der europäischen Staaten im Überblick präsentiert. Die erfreulich positive Aufnahme der beiden Vorauflagen hat in nahem zeitlichem Abstand die nunmehr dritte Auflage ermöglicht. Schon in der zweiten Auflage hatten wir den Kreis der Länder, deren Arbeitsrechtsordnungen dargestellt werden, deutlich erweitert, so dass die Anzahl der Länderberichte auf 25 angewachsen war. Die dritte Auflage enthält nun erstmals auch eine Darstellung des Arbeitsrechts in Rumänien. Außerdem haben wir zwei einführende Kurzbeiträge zum Arbeitsrecht in Lettland und Litauen aufgenommen. Besondere Aufmerksamkeit der Leser verdient aufgrund der Fülle der krisenbedingten Änderungen der Bericht zum griechischen Arbeitsrecht. Für die Länderberichte wurden namhafte Autoren aus dem In- und Ausland gewonnen. Der Großteil der Autoren sind Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte des jeweiligen Landes. Hinzu kommt eine Reihe von deutschen Rechtswissenschaftlern und Anwälten. Die Herausgeber haben darauf geachtet, dass die Autoren kraft Beruf und Herkunft eine Brücke zwischen dem deutschen und dem jeweiligen ausländischen Arbeitsrecht schlagen können. Um ein paralleles Lesen der Beiträge zu erleichtern, wird ein einheitliches Gliederungskonzept verwendet. Im Anschluss an das jeweilige individuelle und kollektive Arbeitsrecht behandeln die Autoren die Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben. Teilweise wird zudem ein Überblick über das jeweilige Gerichtssystem gegeben. Abgerundet wird das Werk durch die Darstellung des Arbeitsrechts der Europäischen Union sowie des deutschen internationalen Privatrechts zum Arbeitsrecht. Diese beiden Beiträge bilden die Klammer, die die verschiedenen Länderberichte zusammenhalten und zueinander in Beziehung setzen. Das Werk richtet sich primär an den deutschen Nutzer, etwa Wirtschaftsunternehmen, die sich bei Investitionen im europäischen Ausland Grundinformationen über das dort geltende Arbeitsrecht verschaffen wollen. Besonders angesprochen werden deutsche Rechtsanwälte und Unternehmensjuristen, die bei Unternehmensgründungen oder -übernahmen im Ausland beraten. Die komprimierte Darstellung des einschlägigen Arbeitsrechts bietet dem Leser jeweils erste Informationen zu klärungsbedürftigen Fragestellungen und damit zugleich eine Gesprächsgrundlage mit ausländischen Geschäftspartnern. Dem rechtswissenschaftlich Interessierten erlauben die fundiert recherchierten Beiträge einen ersten Einstieg in eine rechtsvergleichende Auseinandersetzung mit der jeweiligen ausländischen Arbeitsrechtsordnung. Die Länderberichte verdeutlichen einerseits die erheblichen Unterschiede, welche die Arbeitsrechtsordnungen der einzelnen Länder Europas weiterhin aufweisen. Sie zeigen andererseits, welch großen Einfluss die Rechtsetzung der VII

Vorwort

Europäischen Union auf die einzelstaatlichen Rechtsordnungen bereits hat. Viele Regelungsbereiche sind weitgehend einander angenähert und wirken für den ausländischen Betrachter vertraut. Selbst jene europäischen Staaten, die weiterhin nicht der Europäischen Union angehören, haben teilweise die Grundzüge der europäischen Regelungen übernommen, ohne dass hierfür eine Verpflichtung bestanden hätte. Die parallele Darstellung der Strukturen der einzelstaatlichen Arbeitsrechte wird – so hoffen wir – einen Beitrag zur Harmonisierung des Arbeitsrechts in Europa leisten. Herzlich danken möchten wir all jenen, die an der Erstellung des Werkes beteiligt waren. Besonderer Dank gilt den Mitarbeitern im Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht, namentlich Herrn Akademischen Rat Dr. Clemens Höpfner, sowie Frau Dr. Julia Beck und Frau Sonja Behrens-Khaled für die ausgezeichnete verlagsseitige Betreuung des Werkes. Im März 2011 Prof. Dr. Martin Henssler

VIII

Rechtsanwalt Axel Braun

Inhaltsübersicht* Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Allgemeines Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

Arbeitsrecht der Europäischen Union (Henssler) . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Europäisches IPR des Arbeitsrechts (Braun/Gröne) . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Sozialversicherungsrecht bei grenzüberschreitender Tätigkeit deutscher Arbeitnehmer (Koch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

Arbeitsrecht in Belgien (Matray/Hübinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

Arbeitsrecht in Dänemark (Steinrücke/Würtz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

Arbeitsrecht in Estland (Jürgen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

Arbeitsrecht in Finnland (Leppä/Henne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289

Arbeitsrecht in Frankreich (Welter/Caron) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

337

Arbeitsrecht in Griechenland (Kerameos/Kerameus) . . . . . . . . . . . . . .

393

Arbeitsrecht in Großbritannien (Harth/Taggart) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

487

Arbeitsrecht in Irland (Erken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

547

Arbeitsrecht in Italien (Radoccia) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

607

Arbeitsrecht in Lettland (Kronbergs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

681

Arbeitsrecht in Litauen (Povilaitiene˙) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

699

Arbeitsrecht in Luxemburg (Castegnaro) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

713

Arbeitsrecht in den Niederlanden (Hoogendoorn/Rogmans) . . . . . . . . .

777

Arbeitsrecht in Norwegen (Aune/Mo) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

845

Arbeitsrecht in Österreich (Pelzmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

927

Arbeitsrecht in Polen (Zimoch-Tuchołka/Malinowska-Hyla) . . . . . . . .

995

Arbeitsrecht in Portugal (E. Fedtke/J. J. Fedtke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1053 Arbeitsrecht in Rumänien (Gotha) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1121 Arbeitsrecht in Russland (Hegewald) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1183 Arbeitsrecht in Schweden (Kurz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1231 Arbeitsrecht in der Schweiz (Gadient) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1267 Arbeitsrecht in der Slowakischen Republik (Markechová/Klimanová) . . 1327

* Ausführliche Inhaltsverzeichnisse zu Beginn der jeweiligen Beiträge.

IX

Inhaltsübersicht Seite

Arbeitsrecht in Spanien (Calle/Prehm) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1385 Arbeitsrecht in Tschechien (Linhart/Ranicˇ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1463 Arbeitsrecht in der Türkei (Alp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1511 Arbeitsrecht in Ungarn (Gobert/Krisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1555 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1597

X

Allgemeines Abkürzungsverzeichnis a.A. abgedr. ABl. Abs. a.E. AEntG AEUV AG a.M. Anm. AP ArbG ArbGB Art. Aufl. AÜG AuR Ausn.

anderer Ansicht abgedruckt Amtsblatt Absatz am Ende Arbeitnehmer-Entsendegesetz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Aktiengesellschaft anderer Meinung Anmerkung Arbeitsrechtliche Praxis, Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts Arbeitsgericht Arbeitsgesetzbuch Artikel Auflage Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Arbeit und Recht, Zeitschrift Ausnahme

BAföG BAG BB Bd. BDSG BetrVG BGB BGBl. BR-Drucks. BT-Drucks. bzw.

Bundesausbildungsförderungsgesetz Bundesarbeitsgericht Betriebs-Berater, Zeitschrift Band Bundesdatenschutzgesetz Betriebsverfassungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Drucksache des Deutschen Bundesrates Drucksache des Deutschen Bundestages beziehungsweise

CEEP CMLR

Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft Common Market Law Review

DB d.h. DZWir

Der Betrieb, Zeitschrift das heißt Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

EC EG EGB EGBGB EGV

European Community Europäische Gemeinschaft Europäischer Gewerkschaftsbund Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

XI

Allgemeines Abkürzungsverzeichnis

Einl. EU EuGH EuGVÜ

EuZA EuZW EVÜ EWG

Einleitung Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäisches Schuldvertragsübereinkommen Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

f., ff.

folgend(e)

gem. ggf. GmbH

gemäß gegebenenfalls Gesellschaft mit beschränkter Haftung

Halbs.

Halbsatz

idgF i.d.R. i.H.v. ILO IPR IPRax i.S.d. i.V.m.

in der geltenden Fassung in der Regel in Höhe von International Labour Organization Internationales Privatrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts, Zeitschrift im Sinne des in Verbindung mit

JArbSchG JZ

Jugendarbeitsschutzgesetz Juristenzeitung, Zeitschrift

KSchG

Kündigungsschutzgesetz

LAG lit.

Landesarbeitsgericht Buchstabe

max. MünchArbR MünchKomm MuSchG m.w.N.

maximal Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht Münchener Kommentar Mutterschutzgesetz mit weiteren Nachweisen

NJW Nr. n.v. NZA

Neue Juristische Wochenschrift, Zeitschrift Nummer nicht veröffentlicht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht

XII

Allgemeines Abkürzungsverzeichnis

o.g.

oben genannt

RdA RDV resp. RIW Rs. Rz.

Recht der Arbeit, Zeitschrift Recht der Datenverarbeitung, Zeitschrift respektive Recht der internationalen Wirtschaft, Zeitschrift Rechtssache Randziffer

S. SE SGB Slg. sog. SprAuG

Seite Societas Europaea Sozialgesetzbuch Sammlung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs so genannt (e, r, s) Sprecherausschussgesetz

TVG TzBfG

Tarifvertragsgesetz Teilzeit- und Befristungsgesetz

u.a. UNICE Unterabs. Urt. usw. u.U. u.v.m.

unter anderem Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas Unterabsatz Urteil und so weiter unter Umständen und vieles mehr

v. verb. vgl. VO

von, vom verbunden vergleiche Verordnung

z.B. ZESAR ZfA ZGR ZIAS

zum Beispiel Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeitsund Sozialrecht Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Tarif-, Arbeits- und Sozialrecht des öffentlichen Dienstes

Ziff. ZIP ZTR

XIII

Arbeitsrecht der Europäischen Union Prof. Dr. Martin Henssler*

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rz. 1

II. Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

III. Schwerpunkte des Europäischen Arbeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

1. Personenverkehrsfreiheiten . . . . . .

9

2. Gleichbehandlung von Mann und Frau . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3. Gleichbehandlung sonstiger Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4. Individualarbeitsrecht . . . . . . . . . . 4.1 Befristung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Teilzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Arbeitnehmerüberlassung . . . 4.4 Entsendung von Arbeitnehmern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Nachweis der Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . .

50 51 56 58 59 62

Rz. 4.6

Arbeitsentgelt bei Insolvenz des Arbeitgebers . . . . . . . . . . 4.7 Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 Arbeitnehmerdatenschutz . . 4.9 Betriebsübergang . . . . . . . . . . 4.10 Massenentlassung . . . . . . . . . 4.11 Urlaub. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65 69 73 76 82 85

5. Kollektives Arbeitsrecht . . . . . . . . 86 5.1 Europäischer Betriebsrat . . . 87 5.2 Arbeitnehmerbeteiligung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), der Europäischen Genossenschaft (SCE) und bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5.3 Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer . . . . . 102 IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Schrifttum Barnard, EC Employment Law, 3. Aufl., Oxford 2006. Bauer, Europäische Antidiskriminierungsrichtlinien und ihr Einfluss auf das deutsche Arbeitsrecht, NJW 2001, 2672. Bauer, Befristete Arbeitsverträge unter neuen Vorzeichen. Teil 1: Europarechtliche Vorgaben und Befristungen ohne Sachgrund, BB 2001, 2473. Bauer, Ein Stück im Tollhaus: Altersbefristung und der EuGH, NZA 2005, 800. Bauer/Arnold, Auf „Junk“ folgt „Mangold“ – Europarecht verdrängt deutsches Arbeitsrecht, NJW 2006, 6. Behrens, Die Konvergenz der wirtschaftlichen Freiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR 1992, 145. Bercusson, European Labour Law, 2. Aufl., London 2009. Bieback, Rechtliche Probleme von Mindestlöhnen, insbesondere nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz, RdA 2000, 207. Blanpain, European Labour Law, 12. Aufl., The Hague, London, Boston 2010. Blanpain/Schmidt/Schweigert, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl., Baden-Baden 1996. Braun, Die Sicherung der Unternehmensmitbestimmung im Lichte des europäischen Rechts, Baden-Baden 2005. Burrows/Mair, European Social Law, Chichester 1996. Buschmann/Dieball/Stevens-Bartol, Das Recht der Teilzeitarbeit, 2. Aufl., Köln 2001. * Der Autor ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der Universität zu Köln.

Henssler

1

Europ. Arbeitsrecht

Schrifttum

Calliess/Ruffert, Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 3. Aufl., München 2006. Dammann/Simitis, Textsammlung Datenschutzrecht, 9. Aufl., Baden-Baden 2005. Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Loseblattsammlung. Deinert, Vorschlag für eine europäische Mitbestimmungsrichtlinie und Umsetzungsbedarf im Betriebsverfassungsgesetz, NZA 1999, 800. Franzen, Die Richtlinie 98/50/EG zur Änderung der Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG und ihre Auswirkungen auf das deutsche Arbeitsrecht, RdA 1999, 361. Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, Wien, 3. Aufl. 2010. Gaul, Die neue EG-Richtlinie zum Betriebs- und Unternehmensübergang, BB 1999, 526 (Teil 1), 582 (Teil 2). Gaul, Die Einrichtung Europäischer Betriebsräte, NJW 1995, 228. Geiger/Khan/Kotzur, Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 5. Aufl., München 2010. Giesen, EU-Richtlinienvorschlag zur Information und Anhörung der Arbeitnehmer, RdA 2000, 298. Goos, Kommt der Europäische Betriebsrat?, NZA 1994, 776. Grobys, SE-Betriebsrat und Mitbestimmung in der Europäischen Gesellschaft, NZA 2005, 84. Hanau, Die Europäische Grundrechtecharta – Schein und Wirklichkeit im Arbeitsrecht, NZA 2010, 1. Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, Müchen 2002. Henssler, Unternehmerische Mitbestimmung in der Societas Europaea: Neue Denkanstöße für die „Corporate Governance“-Diskussion, FS Peter Ulmer, Berlin 2003. Henssler, Mitbestimmungsrechtliche Konsequenzen einer Sitzverlegung innerhalb der Europäischen Union, GS Meinhard Heinze, München 2004. Henssler/Strick, Aktuelle Entwicklungen im europäischen Arbeitsrecht, Zeitschrift für Anwaltspraxis 2006, 189. Herfs-Röttgen, Arbeitnehmerbeteiligung in der Europäischen Aktiengesellschaft, NZA 2001, 424. Höpfner, Altersdiskriminierung und europäische Grundrechte – Einige methodische Bemerkungen zum Richterrecht des EuGH, ZfA 2010, 449. Jahn/Herfs-Röttgen, Die Europäische Aktiengesellschaft – Societas Europaea, DB 2001, 631. Keller, Europäische Arbeits- und Sozialpolitik, 2. Aufl., München 2001. Kilian, Die Umsetzung der Richtlinie 94/45/EG („Europäische Betriebsräte“) im Vereinigten Königreich, RdA 2001, 166. Klumpp, Der EuGH und die Massenentlassung – Zeit für Junk II?, NZA 2006, 703. Koenig/Haratsch/Pechstein, Europarecht, 7. Aufl., Tübingen 2010. Kokott, Auslegung europäischen oder Anwendung nationalen Rechts?, RdA Beilage Heft 6, 30. Krause, Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gesellschaft, BB 2005, 1221. Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl., München 2001. Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im europäischen Gemeinschaftsrecht, Mainz 1990. Lenz/Borchardt, EU- Verträge, 5. Aufl., Baden-Baden 2010. Litschen, Die Zukunft des Bereitschaftsdienstes im öffentlich-rechtlichen Gesundheitswesen, Das SIMAP-Urteil des EuGH – ein stumpfes Schwert, NZA 2001, 1355. Lorenz/Zumfelde, Der Europäische Betriebsrat und die Schließung des Renault-Werkes in Vilvoorde/Belgien, RdA 1998, 168. Lunk/Nehl, „Export“ deutschen Arbeitsschutzrechts? – Zugleich eine Anmerkung zu den Auswirkungen der Entsenderichtlinie bei Entsendung deutscher Arbeitnehmer in andere Mitgliedstaaten, DB 2001, 1934.

2 Henssler

Schrifttum

Europ. Arbeitsrecht

Mauthner, Die Massenentlassungsrichtlinie der EG und ihre Bedeutung für das deutsche Massenentlassungsrecht, Heidelberg 2004. Nickel, Handlungsaufträge zur Bekämpfung von ethnischen Diskriminierungen in der neuen Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/43/EG, NJW 2001, 2668. Nicolai, EuGH bestätigt statische Weitergeltung von Tarifnormen nach Betriebsübergang, DB 2006, 670. Pluskat, Die neuen Vorschläge für die Europäische Aktiengesellschaft, EuZW 2001, 524. Preis, Verbot der Altersdiskriminierung als Gemeinschaftsgrundrecht – Der Fall „Mangold“ und die Folgen, NZA 2006, 401. Reichold, Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 8.2.2001 – Rs. C-350/99 – Lange/Schünemann GmbH, JZ 2001, 1025. Reichold, Durchbruch zu einer europäischen Betriebsverfassung – Die Rahmen-Richtlinie 2002/14/EG zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer, NZA 2003, 289. Richardi, Neues und Altes – Ein Ariadnefaden durch das Labyrinth des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, NZA 2006, 881. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, 2009. Rixen, Europarechtliche Grenzen des deutschen Arbeitszeitrechts, EuZW 2001, 421. Ruge, Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 13.3.2001 – Rs. C-379/98, EuZW 2001, 242 – Preussen Elektra AG, EuZW 2001, 247. Schaefer, Das Nachweisgesetz, Köln 2000. Schiek, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl., Baden-Baden 2007. Schild, Die EG-Datenschutz-Richtlinie, EuZW 1996, 549. Schlachter, Richtlinie über die Beweislast bei Diskriminierung, RdA 1998, 321. Schmidt, Die Richtlinienvorschläge der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zu den atypischen Arbeitsverhältnissen, Baden-Baden 1992. Schmidt, Das Arbeitsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 2001. Schüren, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, 4. Aufl., München 2010. Simitis, Datenschutz – Rückschritt oder Neubeginn?, NJW 1998, 2473. Spreer, Die Richtlinie 2002/14/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft, Berlin 2005. Steck, Geplante Entsende-Richtlinie nach Maastricht ohne Grundlage?, EuZW 1994, 140. Steinmeyer, Der Vertrag von Amsterdam und seine Bedeutung für das Arbeits- und Sozialrecht, RdA 2001, 10. Streinz, Europarecht, 8. Aufl., Heidelberg 2008. Szyszczak, EC Labour Law, Harlow 2000. Teichmann, Vorschläge für das deutsche Ausführungsgesetz zur Europäischen Aktiengesellschaft, ZIP 2002, 1109. Temming, Altersdiskriminierung im Arbeitsleben, 2008. Thüsing, Der Fortschritt des Diskriminierungsschutzes im Europäischen Arbeitsrecht – Anmerkungen zu den Richtlinien 2000/43/EG und 2000/78/EG, ZfA 2001, 397. Valverde, Die Massenentlassung im spanischen Recht und die europäischen Massenentlassungs-Richtlinien 75/129 und 92/56, RdA 1998, 216. Waas, Zur Konsolidierung des Betriebsbegriffs in der Rechtsprechung von EuGH und BAG zum Betriebsübergang, ZfA 2001, 377. Waddington/Bell, More Equal than others: Distinguishing European Union Equality Directives, CMLR 2001, 587. Wank/Börgmann, Der Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über befristete Arbeitsverträge, RdA 1999, 383. Wiedemann, Probleme der Gleichberechtigung im europäischen und deutschen Arbeitsrecht, in: Festschrift für Karl Heinrich Friauf, Heidelberg 1996, 135. Willemsen/Annuß, Neue Betriebsübergangsrichtlinie – Anpassungsbedarf im deutschen Recht?, NJW 1999, 2073.

Henssler

3

Europ. Arbeitsrecht Rz. 1

Einleitung

Wißmann, Probleme bei der Umsetzung der EG-Richtlinie über Massenentlassungen in deutsches Recht, RdA 1998, 221.

I. Einleitung 1

Dem europäischen Arbeitsrecht darf sich heute kein Arbeitsrechtler in Europa verschließen. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, das Europarecht solle allein den Europarechtlern überlassen werden. Jeder in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union tätige arbeitsrechtlich ausgerichtete Rechtsanwalt muss die Entwicklung auf europäischer Ebene mitverfolgen. Das europäische Arbeitsrecht spielt in vielen Bereichen in Form von Richtlinien und Verordnungen oder durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs eine unmittelbare Rolle, die bei Beratung und im Rechtsstreit keinesfalls übersehen werden darf. Vor allem die Entscheidungen des EuGH in Sachen Junk1, Mangold2/Kücükdeveci3 und Schultz-Hoff4 haben dies plastisch vor Augen geführt. Der europarechtskundige Rechtsanwalt wird außerdem neue arbeitsrechtliche Richtlinien, deren Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist, bei der Rechtsberatung berücksichtigen und seinen Mandanten bereits heute auf das zukünftig geltende nationale Recht vorbereiten müssen.

2

Das Arbeitsrecht selbst gewinnt innerhalb der Europäischen Union kontinuierlich an Bedeutung. Was ursprünglich als reine Wirtschaftsgemeinschaft geplant war, für die arbeitsrechtliche Fragen nur ein Annex zu den unternehmerischen Grundfreiheiten waren, hat sich zu einer umfassenden politischen Union entwickelt, die sich dem Arbeitsrecht schon seit langem nicht mehr verschließen kann5. Nachdem sich die Europäische Union anfangs allein mit der Freizügigkeit von Arbeitnehmern befasste, wurde sie ab Mitte der siebziger Jahre auf den klassischen Gebieten des Arbeitsrechts tätig. Geprägt von Ölkrise und Konjunkturrückgang, begleitet von der beginnenden Massenarbeitslosigkeit, sah sich die Europäische Union gezwungen, einen gewissen Mindestschutz für Arbeitnehmer einzuführen. Den Anfang machten Richtlinien zur Abfederung von Massenentlassungen, zum Fortbestand des Arbeitsverhältnisses beim Betriebsübergang und zur Absicherung der Arbeitnehmer in der Insolvenz des Arbeitgebers. Die achtziger Jahre waren dann geprägt durch die Verbesserung von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, sowie dem bereits im EG-Vertrag angestrebten Ziel der Gleichberechtigung 1 EuGH, Urt. v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03, NJW 2005, 1099 ff. zur Massenentlassung; vgl. im Einzelnen Rz. 84. 2 EuGH, Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04, NJW 2005, 3695 ff. zur Diskriminierung wegen des Alters; vgl. im Einzelnen Rz. 54 f. 3 EuGH, Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07, NJW 2010, 427 ff. zur Diskriminierung wegen des Alters. 4 EuGH, Urt. v. 20.1.2009 – Rs. C- 350/06 und C-520/06, NJW 2009, 495 ff. zur Übertragung und Abgeltung von Urlaubsansprüchen bei Langzeiterkrankung; vgl. im Einzelnen Rz. 84b f. 5 Zur Entstehungsgeschichte des Europäischen Arbeitsrechts Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2001, 12 ff.; siehe auch Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 11.

4 Henssler

Einleitung

Rz. 2a Europ. Arbeitsrecht

von Männern und Frauen im Arbeitsverhältnis. Eine umfangreiche Tätigkeit scheiterte oft am Einstimmigkeitserfordernis, das erst durch die neu eingeführten Art. 100a und 118a EGV (heute Art. 114 und 153 AEUV) teilweise eingeschränkt wurde. Doch auch diese neuen Artikel schufen nur in eingeschränktem Maße neue Kompetenzen im Arbeitsrecht. Die nach 1989 getroffenen Regelungen über den Nachweis der Bedingungen des Arbeitsverhältnisses, über die Arbeitszeit und zu besonderen Arbeitsverträgen, gestützt auf Art. 100a und 118a EGV (heute Art. 114 und 153 AEUV), hatten daher eine recht zweifelhafte Rechtsgrundlage. Diese Entwicklung ließ deutlich werden, dass ein Bedürfnis für umfassendere Kompetenzen der Europäischen Union auf dem Gebiet des Arbeitsrechts bestand. Mit dem Vertrag von Maastricht wurden ausdrückliche neue Zuständigkeiten und bislang unbekannte Formen der Rechtsetzung geschaffen. Seitdem wurden Regelungen zum Europäischen Betriebsrat, zur Arbeitszeit, zur Arbeitnehmerüberlassung und zur Telearbeit getroffen. Der Abschluss der jahrzehntelangen Bemühungen um eine Einigung über die Arbeitnehmermitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft war ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Vereinheitlichung des Arbeitsrechts in Europa6. Eine endgültig zufriedenstellende Regelung ist indes noch in weiter Ferne, bleiben doch auch nach Verabschiedung der einschlägigen Verordnung7 und der die Mitbestimmung betreffenden Richtlinie8 viele Fluchtmöglichkeiten für Mitgliedstaaten, die den hohen deutschen Mitbestimmungsstandard nicht mittragen wollen9. Nachdem die Verhandlungen über den Europäischen Verfassungsvertrag durch 2a ablehnende Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert waren, wurden die europäischen Verträge durch den Vertrag von Lissabon vom 13.12.2007 grundlegend überarbeitet. Der EU-Vertrag wurde neu gestaltet; aus dem bisherigen EG-Vertrag wurde der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Durch den Vertrag von Lissabon wurde die Säulenstruktur der Union abgeschafft. Nunmehr gibt es nur noch eine einheitliche, mit Rechtspersönlichkeit ausgestattete Europäische Union. Nachdem der Vertrag von Lissabon von sämtlichen Mitgliedstaaten ratifiziert und vom BVerfG gebilligt worden war10, trat er am 1.12.2009 in Kraft. Am selben Tag wurde zudem die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) für die Union und die Mitgliedstaaten (mit Ausnahme Polens und Großbritanniens) rechtsverbindlich. Sie enthält einen umfassenden Katalog von Grundrechten. Neben den aus dem Grundgesetz bekannten Freiheitsrechten umfasst sie insbesondere ein „Recht, zu arbeiten“ (Art. 15 Abs. 1 GR-Charta), einen „Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung“ (Art. 30 GRCharta), ein „Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen“ und auf „bezahlten Jahresurlaub“ (Art. 31 GR-Charta) sowie verschiedene Dis6 Dazu Heinze, ZGR 2002, 66; Hommelhoff, AG 2001, 279; Herfs-Röttgen, NZA 2001, 424. 7 Verordnung (EG) 2157/2001 v. 8.10.2001, ABl. EG (im Folgenden ABl.) Nr. L 294, v. 10.11.2001, 1, ber. ABl. Nr. L 302, v. 20.11.2003, 40. 8 Richtlinie 2001/86/EG v. 8.10.2001, ABl. Nr. L 294, v. 10.11.2001, 22. 9 Vgl. dazu Henssler, RdA 2005, 330. 10 BVerfG, NJW 2009, 2267.

Henssler

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 3

Rechtsquellen

kriminierungsverbote (Art. 21 GR-Charta), deren Auswirkungen auf das geltende Kündigungsschutzrecht, das Urlaubsrecht und die Debatte um einen Mindestlohn noch völlig ungeklärt sind11. 3

Heutzutage sind damit viele Bereiche des Arbeitsrechts von europäischen Richtlinien und Verordnungen sowie der nicht zu unterschätzenden Rechtsprechung geprägt. Während arbeitsrechtliche Regelungen zu Beginn der europäischen Integration noch die Ausnahme bildeten, gibt es heute kaum noch weiße Flecken im arbeitsrechtlichen Regelungsgefüge, die von europäischer Beeinflussung unberührt geblieben wären. Das europäische Arbeitsrecht hat sich zu einem eigenen Rechtsgebiet fortentwickelt12. Die scheinbar geringe Bedeutung des Europarechts in den einzelnen Mitgliedstaaten rührt allein daher, dass die Richtlinien durch nationales Recht umgesetzt werden und die europäische Herkunft damit verschleiert wird.

4

Die an sich nur für die Mitgliedstaaten gedachten Regelungen haben auch außerhalb ihres geographischen Geltungsbereiches Auswirkungen. So hat die Schweiz Regelungen zu Massenentlassungen und zum Betriebsübergang verabschiedet, die markante Ähnlichkeiten mit den entsprechenden europäischen Richtlinien aufweisen (vgl. Schweiz Rz. 27 ff. u. 181 ff.).

II. Rechtsquellen 5

Europäisches Arbeitsrecht ist zunächst im primären Unionsrecht zu finden13. Dazu gehören in erster Linie der Vertrag über die Europäische Union (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in der Fassung des Vertrags von Lissabon vom 13.12.2007, der am 1.12.2009 in Kraft getreten ist. Zudem ist seit 1.12.2009 die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) für die Union und die Mitgliedstaaten verbindlich. Anders als noch im Entwurf des gescheiterten Verfassungsvertrages ist die GRCharta nicht unmittelbarer Bestandteil des EU-Vertrages. Gleichwohl erkennt die Union gem. Art. 6 Abs. 1 EUV die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der GR-Charta niedergelegt sind. Die GR-Charta hat den gleichen Rang wie der EUV und der AEUV (Art. 6 Abs. 1 EUV am Ende) und stellt gemeinsam mit diesen faktisch eine Europäische Verfassung dar.

11 Vgl. nur Hanau, NZA 2010, 1; Krebber, RdA 2009, 224; Höpfner, ZfA 2010, 449. 12 Dementsprechend gibt es mittlerweile zahlreiche Lehrbücher zum europäischen Arbeitsrecht. Aus dem deutschen Schrifttum vgl. nur Blanpain/Schmidt/Schweigert, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 1996; Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2010; Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2001; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, 2009; Schiek, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2007; Schmidt, M., Das Arbeitsrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2001; aus dem englischsprachigen Schrifttum vgl. Barnard, EC Employment Law, 3. Aufl. 2006; Bercusson, European Labour Law, 2. Aufl. 2009; Blanpain, European Labour Law, 12. Aufl. 2010; Burrows/Mair, European Social Law, 1996; Szyszczak, EC Labour Law, 2000. 13 Ausführlich zu den Rechtsquellen Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts § 9 Rz. 15 ff.

6 Henssler

Rechtsquellen

Rz. 6 Europ. Arbeitsrecht

Die Aktivitäten der Europäischen Union äußern sich darüber hinaus in 20 Ver- 5a ordnungen und ca. 100 Richtlinien (sekundäres Unionsrecht), die im Bereich des Arbeitsrechts in den letzten 30 Jahren verabschiedet und umgesetzt wurden. Verordnungen gelten in den Mitgliedstaaten unmittelbar zu Gunsten und zu Lasten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern (vgl. Art. 288 Abs. 2 AEUV). Demgegenüber sprechen Richtlinien lediglich einen Auftrag an den nationalen Gesetzgeber aus, den vorgegebenen Inhalt mit adäquaten Mitteln im eigenen Land umzusetzen (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Richtlinien bedürfen zu ihrer Wirksamkeit eines mitgliedstaatlichen Umsetzungsgesetzes. Ein unmittelbarer Rückgriff auf die Richtlinie ist nur ausnahmsweise und auch nur gegenüber dem Staat möglich („vertikale unmittelbare Wirkung“), wenn die Umsetzungsfrist abgelaufen ist, die Richtlinie nicht oder unzulänglich umgesetzt wurde und die betreffende Richtlinienbestimmung inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist14. In Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten sind Richtlinien dagegen keinesfalls anwendbar. Eine „horizontale unmittelbare Wirkung“ von Richtlinien gibt es nicht15. Über Richtlinien und Verordnungen entscheiden grundsätzlich das Europäische Parlament und der Rat auf Vorschlag der Kommission im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art. 289 Abs. 1, 294 AEUV, sog. „Mitentscheidungsverfahren“). Das europäische Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 294 AEUV weist große Ähnlichkeit mit dem deutschen Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 76 ff. GG auf. Ein wesentlicher Unterschied liegt jedoch darin, dass die Gesetzgebungsorgane Parlament und Rat selbst kein Initiativrecht besitzen, sondern stets erst auf Vorschlag der Kommission tätig werden. Insoweit wird das Demokratieprinzip in Europa nicht vollständig verwirklicht. Daneben gibt es eine weitere Möglichkeit der Rechtsetzung für europäisches 6 Recht. Durch das Protokoll über die Sozialpolitik, das dem Vertrag von Maastricht 1992 als Annex beigefügt war, durch den Vertrag von Amsterdam in den EG-Vertrag eingefügt und durch den Vertrag von Lissabon in Art. 155 AEUV übernommen wurde, entstand der sog. soziale Dialog16. Vor der Unterbreitung von Vorschlägen im Bereich der Sozialpolitik muss die Kommission danach die europäischen Sozialpartner anhören. Sowohl die Arbeitgeber- als auch die Arbeitnehmerverbände sind auf europäischer Ebene mittlerweile durch eigene Organisationen vertreten (vgl. Rz. 85). Die Sozialpartner können gegenüber der Kommission eine Stellungnahme oder Empfehlung abgeben oder aber erklären, dass sie eine Vereinbarung nach Art. 155 AEUV aushandeln wollen. Gelingt es ihnen, innerhalb von neun Monaten eine Vereinbarung über den Inhalt des Vorschlags zu erzielen, so ist diese Vereinbarung Grundlage für die Rechtsetzung. Erreichen die Sozialpartner innerhalb der Frist keine Einigung, wie

14 EuGH, Urt. v. 19.1.1982 – Rs. 8/81, Slg. 1982, 53 – Becker. 15 Zuletzt EuGH, Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07, Rz. 46. 16 Ausführlich hierzu Keller, Europäische Arbeits- und Sozialpolitik, 2. Aufl. 2001, S. 123 ff. Vgl. dazu auch Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2010, 264 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 12 Rz. 113 ff.

Henssler

7

Europ. Arbeitsrecht Rz. 6a

Rechtsquellen

dies z.B. bei der Einführung des Europäischen Betriebsrats der Fall war, erhält die Europäische Union wieder die volle Rechtsetzungskompetenz. 6a

Umgesetzt werden soll die Vereinbarung in erster Linie durch die jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner und der Mitgliedstaaten, d.h. durch Tarifverträge in den einzelnen Mitgliedstaaten bzw. deren Untergliederungen. In diesem Fall übertragen die europäischen Behörden außer der Initiative zur Maßnahme sämtliche Entscheidungen auf die Sozialpartner und deren nationale Mitglieder. Insofern kann man von einem Rückzug der Europäischen Union als Organisation und Behörde auf dem Gebiet des Arbeitsrechts sprechen. Fassen die Unterzeichner der Vereinbarung indes einen entsprechenden Beschluss, wird dieser durch einen Beschluss des Rates auf Vorschlag der Kommission umgesetzt. Die letztgenannte Möglichkeit wurde bereits mehrfach praktiziert, so bei den Regelungen zu Teilzeitarbeitsverhältnissen17, für befristete Arbeitsverträge18 und für den Elternurlaub19. Die Rahmenvereinbarungen der Sozialpartner wurden durch einen Beschluss des Rates in Richtlinien eingebunden, die die Mitgliedstaaten anschließend umzusetzen haben. Der soziale Dialog wird somit dem Subsidiaritätsgedanken gerecht, zwar nicht in dem Sinne, dass die Kompetenzen zur Rechtsetzung bei den Mitgliedstaaten verbleiben, wohl aber bei den Sozialpartnern, die eine größere Sachnähe zur Beurteilung der anstehenden Fragen für sich in Anspruch nehmen können20.

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Die Rolle des EuGH als Motor der Integration darf in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden. Der EuGH stellt inzwischen Grundprinzipien für die nationale Arbeitsrechtsordnung auf. Der deutsche Arbeitsrechtler muss deshalb nicht nur im Anwendungsbereich der Verordnungen und Richtlinien das europäische Recht im Blick haben, sondern sich bei jeder nationalen Regelung fragen, ob sie mit den europarechtlichen Grundprinzipien vereinbar ist21. Rechtliche Grundlage der Herleitung allgemeiner Rechtsgrundsätze durch den EuGH ist Art. 6 Abs. 3 EUV, der auf die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als Rechtsgewinnungsquellen verweist. Die Norm steht in einem Spannungsverhältnis zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV und den Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit gem. Art. 5 EUV22. Die vor diesem Hintergrund gebotene Zurückhaltung bei der Entwicklung neuer Rechtsgrundsätze lässt der EuGH jedoch nicht selten vermissen, etwa bei der „Erfindung“ eines Verbots der Altersdiskriminierung im Mangold-Urteil23. Es 17 Richtlinie 97/81/EG des Rates v. 15.12.1997 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit, ABl. Nr. L 14, v. 20.1.1998, 9, ber. ABl. Nr. L 128, v. 30.4.1998, 71. 18 Richtlinie 99/70/EG des Rates v. 28.6.1999 zu der EGB-UNICE-CEEP Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, ABl. Nr. L 175, v. 10.7.1999, 43, ber. ABl. Nr. L 244, v. 16.9.1999, 64. 19 Richtlinie 96/34/EG des Rates v. 3.6.1996, ABl. Nr. L 145, v. 19.6.1996, 4, geänd. durch Richtlinie 97/75/EG v. 15.12.1997, ABl. Nr. L 10, v. 16.1.1998, 24. 20 Siehe hierzu auch Goos, NZA 1994, 776, 780. 21 Henssler/Strick, ZAP 2006, 189. 22 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rz. 122. 23 EuGH, Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04, NJW 2005, 3695 ff.

8 Henssler

Personenverkehrsfreiheiten

Rz. 10 Europ. Arbeitsrecht

ist offen, welche Bedeutung den ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen künftig neben dem umfassenden Grundrechtekatalog der GR-Charta zukommen wird24.

III. Schwerpunkte des Europäischen Arbeitsrechts Im Folgenden wird ein Überblick über die wesentlichen Rechtsgrundlagen und 8 Inhalte des in der Europäischen Union geltenden Arbeitsrechts gegeben. Die Darstellung gliedert sich in fünf Abschnitte: (1) Personenverkehrsfreiheiten, (2) Gleichbehandlung von Mann und Frau, (3) Gleichbehandlung sonstiger Gruppen, (4) Individualarbeitsrecht und (5) Kollektives Arbeitsrecht25.

1. Personenverkehrsfreiheiten Zu den Personenverkehrsfreiheiten, die im europäischen Primärrecht verankert 9 sind, zählen Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. AEUV), Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV) und – in Teilen (vgl. Rz. 17) – die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV). Sie gehören – gemeinsam mit der Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 ff. AEUV) und dem freien Kapitalverkehr (Art. 63 ff. AEUV) – zu den europäischen Grundfreiheiten, deren Verwirklichung eines der grundlegenden Ziele der Union darstellt (vgl. Art. 3 Abs. 2 und 3 EUV). Denn nur über die umfassende Geltung der Grundfreiheiten kann ein einheitlicher europäischer Binnenmarkt geschaffen werden (vgl. Art. 26 Abs. 2 AEUV). Entsprechend führt der Weg zur Herstellung eines einheitlichen europäischen Arbeitsmarkts über die Verwirklichung der Personenverkehrsfreiheiten, wobei die Arbeitnehmerfreizügigkeit vor allem die Interessen der Arbeitnehmer schützt, während die Arbeitgeber sich als selbständige Unternehmer häufig auf die Dienstleistungsund/oder Niederlassungsfreiheit berufen können. Die Personenverkehrsfreiheiten sind nach der Rechtsprechung des EuGH26 un- 10 mittelbar anwendbar, d.h. sie gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Entgegenstehendes nationales Recht ist unanwendbar27. Jeder Begünstigte kann sich vor den nationalen Gerichten und gegenüber der Verwaltung auf die Freiheiten berufen. Alle Träger hoheitlicher Gewalt, d.h. der Staat und sämtliche seiner Untergliederungen, sind an die Freiheiten gebunden und haben sie von Amts wegen zu berücksichtigen. Ob und inwieweit auch Privatpersonen an die Freiheiten gebunden sind, ist noch nicht abschließend geklärt. Die Rechtsprechung des EuGH lässt sich wie folgt zusammenfassen: Private unterliegen beim Erlass kollektiver Regelungen im Arbeits- und Dienstleistungsbereich

24 Vgl. dazu Höpfner, ZfA 2010, 449. 25 Zum hier nicht dargestellten umfangreichen Bereich des technischen Arbeitsschutzes siehe bei Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 18 Rz. 430 ff. 26 EuGH, Urt. v. 5.2.1963 – Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 – van Gend & Loos. 27 EuGH, Urt. v. 15.7.1964 – Rs. 6/64, Slg. 1964, 1141 – Costa/ENEL.

Henssler

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 11

Personenverkehrsfreiheiten

den Bindungen der Art. 45 und 56 AEUV28. Darüber hinaus hat der EuGH für Art. 45 AEUV anerkannt, dass auch eine einzelne Privatperson durch das dieser Vorschrift innewohnende Diskriminierungsverbot (vgl. Rz. 26) verpflichtet wird29. Gebunden sind die Sozialpartner, aber auch einzelne Arbeitgeber (vgl. auch Art. 7 Abs. 4 der VO Nr. 1612/68/EWG30). Des Weiteren sind die Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet, alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in ihrem Gebiet die Beachtung der Freiheiten sicherzustellen31. 11 Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union gewährleistet die Mobilität des Produktionsfaktors Arbeit32. Sie besitzt grundrechtsähnlichen Charakter und gewährleistet die Freiheit des Einzelnen, sich eine Existenzgrundlage dort zu sichern, wo die Voraussetzungen am günstigsten erscheinen33. Art. 45 AEUV hat folgenden Wortlaut: (1) Innerhalb der Union ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet. (2) Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. (3) Sie gibt – vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen – den Arbeitnehmern das Recht, a) sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben; b) sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen; c) sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben; d) nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission durch Verordnungen festlegt.

28 EuGH, Urt. v. 12.12.1974 – Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405 – Walrave und Koch; EuGH, Urt. v. 14.7.1976 – Rs. 13/76, Slg. 1976, 1333 – Donà/Mantero; EuGH, Urt. v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93, Slg. 1995, 4921 – Bosman; EuGH, Urt. v. 11.4.2000 – verb. Rs. C-51/96 u. C-191/97, Slg. 2000, I-2549 – Deliège; EuGH, Urt. v. 13.4.2000 – Rs. C-176/96, Slg. 2000, I-2681 – Lehtonen und Castors Braine. 29 EuGH, Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 – Angonese. Der Tenor des EuGH lautet: „Art. 48 EGV (nach Änderung jetzt Art. 39 EG) steht dem entgegen, dass ein Arbeitgeber die Bewerber in einem Auswahlverfahren zur Einstellung von Personal verpflichtet, ihre Sprachkenntnisse ausschließlich durch ein einziges in einer einzigen Provinz eines Mitgliedstaats ausgestelltes Diplom nachzuweisen.“ 30 Verordnung (EWG) 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft v. 15.10.1968, ABl. Nr. L 257/1968, v. 19.10.1968, 2, ber. Nr. L 295/1968, v. 7.12.1968, 12, geänd. durch VO (EWG) 312/76 v. 9.2.1976, ABl. Nr. L 39/1976, v. 14.2.1976, 2 sowie VO (EWG) 2434/92 v. 27.7.1992, ABl. Nr. L 245/1992, v. 26.8.1992, 1, ber. ABl. Nr. L 197, v. 6.8.1993, 57. 31 EuGH, Urt. v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95, Slg. 1997, I-6959 – Kommission/Frankreich („Französische Bauernproteste“). 32 Zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Europa ausführlich auch Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2010, 35 ff.; Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 105 ff.; Erfurter Kommentar/Wißmann, 10. Aufl. 2010, Art. 39 EGV Rz. 1 ff.; HWK/Tillmanns, 4. Aufl. 2010, Art. 45 AEUV Rz. 1 ff. 33 Koenig/Haratsch, Europarecht, 5. Aufl. 2006, Rz. 760.

10 Henssler

Personenverkehrsfreiheiten

Rz. 13 Europ. Arbeitsrecht

(4) Dieser Artikel findet keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung.

Art. 45 AEUV schützt Arbeitnehmer34, wozu nach der Rechtsprechung des EuGH solche Personen zählen, die während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringen, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhalten35. Um einen umfassenden Freizügigkeitsschutz zu garantieren, ist der Begriff des Arbeitnehmers weit auszulegen36. Lediglich Tätigkeiten von völlig untergeordneter Bedeutung scheiden als Schutzgut aus37. Art. 45 AEUV schützt u.a.: Teilzeitkräfte38, Studien- und Rechtsreferendare39, durch Arbeitsverträge gebundene Künstler und Sportler40, Arbeitsuchende41. Nicht unter den Arbeitnehmerbegriff fallen Personen, die sich ausschließlich zu Ausbildungszwecken in einem anderen Mitgliedstaat befinden (z.B. Studenten, die aber über das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV geschützt sein können). Ein Aufenthaltsrecht dieser Personen nach Art. 45 AEUV kann allerdings dann bestehen, wenn sie eine Ausbildung im Anschluss an eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat aufnehmen, die mit der früheren Berufstätigkeit in Zusammenhang steht42. Nach der Rechtsprechung des EuGH43 werden durch die Arbeitnehmerfreizü- 12 gigkeit auch Arbeitgeber geschützt. Ein Arbeitgeber kann sich z.B. dann auf Art. 45 AEUV berufen, wenn eine innerstaatliche Bestimmung es ihm verbietet, eine Person als Geschäftsführer zu bestellen, die nicht die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaates besitzt oder die in diesem Staat keinen Wohnsitz hat. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt grundsätzlich für alle Staatsangehörigen 13 der Mitgliedstaaten. Allerdings gilt dies für die Staaten, die zum 1.5.2004 der EU beitraten, nicht uneingeschränkt. Bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit wurden Übergangsfristen vereinbart. Diese erlauben es den alten Mitgliedstaaten, zunächst für zwei, dann für weitere drei Jahre ihre nationalen Regelungen beizubehalten. Von dieser Möglichkeit hat die Bundesrepublik Gebrauch gemacht. Nach Ablauf der fünf Jahre gilt prinzipiell die Freizügigkeit für alle Arbeitnehmer. Nur im Fall einer schweren Störung des Arbeitsmarktes oder der Gefahr einer solchen kann die Beschränkung weitere zwei Jahre aufrechterhalten werden44. Nicht anwendbar ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit hingegen für Staatsangehörige aus Drittstaaten, die aber ggf. durch das europäische Sekun-

34 Der Arbeitnehmerbegriff ist im europäischen Arbeitsrecht uneinheitlich, vgl. Hanau/ Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 14. 35 EuGH, Urt. v. 3.7.1986 – Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121 – Lawrie-Blum. 36 EuGH, Urt. v. 23.3.1982 – Rs. 53/81, Slg. 1982, 1035 – Levin. 37 EuGH, Urt. v. 21.6.1988 – Rs. 197/86, Slg. 1988, 3205 – Brown. 38 EuGH, Urt. v. 3.6.1986 – Rs. 139/85, Slg. 1986, 1741 – Kempf. 39 EuGH, Urt. v. 3.7.1986 – Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121 – Lawrie-Blum. 40 EuGH, Urt. v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 – Bosman. 41 EuGH, Urt. v. 12.5.1998 – Rs. C-85/96, Slg. 1998, I-2691 –Martínez Sala. 42 EuGH, Urt. v. 21.6.1998 – Rs. 39/86, Slg. 1988, 3161 – Lair. 43 EuGH, Urt. v. 7.5.1998 – Rs. C-350/96, Slg. 1998, I-2521 – Clean Car Autoservice. 44 Vertiefend HWK/Tillmanns, 4. Aufl. 2010, Vorb. AEUV Rz. 5.

Henssler

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 14

Personenverkehrsfreiheiten

därrecht geschützt werden. Art. 10 der Verordnung Nr. 1612/6845 gewährt dem Ehegatten und den noch nicht 21 Jahre alten Kindern des Wanderarbeiters unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit ein Aufenthaltsrecht; gem. Art. 11 der Verordnung haben sie zudem das Recht, eine selbständige oder unselbständige Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat auszuüben. Ein Aufenthaltsrecht gilt auch für Verwandte des Wanderarbeiters und diejenigen seines Ehegatten in auf- und absteigender Linie, sofern ihnen Unterhalt geleistet wird (Art. 10 der Verordnung). Das Einreise- und Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen wird durch die Richtlinie 2004/38/EG46 (früher 68/360/EWG47) näher konkretisiert. Kinder eines Wanderarbeiters können, wenn sie im Aufnahmestaat wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie Inländer am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen (Art. 12 VO Nr. 1612/68). Ihnen steht ein Anspruch auf BAföG zu48, selbst wenn sie in ihrem Heimatstaat studieren49. Die Rechtsstellung türkischer Wanderarbeiter bemisst sich nach dem „Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der EWG und der Türkei“ von 196350 und den zu dessen Durchführung gefassten Beschlüssen des Assoziationsrates. 14 Die Niederlassungsfreiheit ermöglicht die Mobilität von Unternehmern und damit auch von Arbeitgebern. Art. 49 AEUV lautet: „Die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten. Das Gleiche gilt für Beschränkungen der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaats, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig sind. Vorbehaltlich des Kapitels über den Kapitalverkehr umfasst die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften im Sinne des Artikels 54 Absatz 2, nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen.“

15 In den weit auszulegenden Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit fällt die tatsächliche Ausübung einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Dauer51. Geschützt werden die Aufnahme und Verlagerung von Hauptniederlassungen einerseits (Art. 49 Abs. 1 Satz 1 AEUV) sowie die Gründung von Zweigniederlassungen andererseits (Art. 49 Abs. 1 Satz 2 AEUV). Gegen die 45 Verordnung (EWG) 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft v. 15.10.1968, ABl. Nr. L 257/1968, v. 19.10.1968, 2, ber. Nr. L 295/1968, v. 7.12.1968, 12, geändert durch VO (EWG) 312/76 v. 9.2.1976, ABl. Nr. L 39/1976, v. 14.2.1976, 2 sowie VO (EWG) 2434/92 v. 27.7.1992, ABl. Nr. L 245/1992, v. 26.8.1992, 1, ber. ABl. Nr. L 197 v. 6.8.1993, 57. 46 Richtlinie 2004/38/EG v. 29.4.2004, ABl. Nr. L 158, v. 30.4.2004, 77. 47 ABl. Nr. L 257/1973, v. 19.10.1968, 13. 48 EuGH, Urt. v. 3.7.1974 – Rs. 9/74, Slg. 1974, 773 – Casagrande. 49 EuGH, Urt. v. 13.11.1990 – Rs. C-309/89, Slg. 1990, I-4185 – Carmina di Leo. 50 ABl. Nr. 217/3687; vgl. auch BGBl. II 1964, 509. Zur Rechtsstellung türkischer Arbeitnehmer im Einzelnen Scheuer/Weerth, in: Lenz/Borchardt, 5. Aufl. 2010, Art. 45 AEUV Rz. 20 ff. 51 EuGH, Urt. v. 25.7.1991 – Rs. C-221/89, Slg. 1991, 3905 – Factortame u.a.

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Personenverkehrsfreiheiten

Rz. 16 Europ. Arbeitsrecht

Niederlassungsfreiheit verstößt beispielsweise bereits eine (deutsche) Vorschrift, die die Zweigniederlassung eines Bauunternehmens, das in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, nur dann als Betrieb des Baugewerbes anerkennt, wenn ihre Arbeitnehmer zu über 50 % der betrieblichen Gesamtarbeitszeit bauliche Leistungen erbringen52. Eine solche Regelung erschwert nicht nur den Zugang der Bauunternehmen zum deutschen Markt, weil sie die Qualifizierung deutscher Zweigniederlassungen als Betriebe des Baugewerbes von Kriterien abhängig macht, die diese Zweigniederlassungen nur schwer erfüllen können. Sie diskriminiert auch Unternehmen mit ausländischer Hauptniederlassung gegenüber deutschen Unternehmen, für die es weniger wichtig ist, Verwaltungspersonal sowie technisches und kaufmännisches Personal in ihren deutschen Niederlassungen zu beschäftigen, da solche Aufgaben von dem am Hauptsitz des Unternehmens in Deutschland beschäftigten Personal übernommen werden können53. Begünstigte der Niederlassungsfreiheit sind zunächst natürliche Personen, die 16 die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, unabhängig von ihrem Wohnsitz. Allerdings fällt die Gründung einer Zweigniederlassung nur dann unter Art. 49 Abs. 1 Satz 2 AEUV, wenn der Unternehmer in einem Mitgliedstaat der EU ansässig ist. Auf Grundlage der Richtlinie 2004/38/EG vom 29.4.2004 haben u.a. auch Ehegatten und noch nicht 21-jährige Kinder des selbständig Erwerbstätigen ein Aufenthaltsrecht54. Über Art. 54 AEUV erstreckt sich die Niederlassungsfreiheit ebenso auf nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz55, ihre Hauptverwaltung56 oder ihre Hauptniederlassung57 innerhalb der Union haben (Kombination aus Gründungs- und Sitztheorie). Als Gesellschaften gelten nach der Definition des Art. 54 Abs. 2 AEUV die Gesellschaften des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften und die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts58 mit Ausnahme derjenigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen. Sog. Briefkastenfirmen, d.h. Gesellschaften mit rein fiktivem Sitz in der Union, werden durch Art. 49 AEUV ebenso geschützt wie Tochterunternehmen von Drittstaatsgesellschaften, wenn das Tochterunternehmen einen gesellschaftlichen Hauptsitz in einem Mitgliedstaat hat und eine Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat gründet; dies gilt unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Gesellschafter59. In seiner viel beachteten CentrosEntscheidung erkannte der EuGH:

52 EuGH, Urt. v. 25.10.2001 – Rs. C-493/99, BB 2001, 2427 – Kommission/Deutschland. 53 EuGH, Urt. v. 25.10.2001 – Rs. C-493/99, BB 2001, 2427 – Kommission/Deutschland. 54 ABl. Nr. L 159, v. 30.4.2004, 77. Diese Richtlinie ersetzt u.a. die Richtlinie 73/148 v. 21.5.1973, ABl. Nr. L 172, v. 21.5.1973, 14. 55 = der in der Gesellschaftssatzung formell genannte Sitz. 56 = Ort, an dem die Gesellschaftsorgane die wesentlichen Entscheidungen treffen. 57 = wirtschaftlicher Schwerpunkt. 58 Dazu gehören auch oHG, KG und GbR. 59 EuGH, Urt. v. 25.7.1991 – Rs. C-221/89, Slg. 1991, I-3905 – Factortame u.a.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 17

Personenverkehrsfreiheiten

„Ein Mitgliedstaat, der die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft verweigert, die in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, rechtmäßig errichtet worden ist, aber keine Geschäftstätigkeit entfaltet, verstößt gegen Art. 52 und 58 EGV [Art. 49 und 54 AEUV], wenn die Zweigniederlassung es der Gesellschaft ermöglichen soll, ihre gesamte Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in dem diese Zweigniederlassung errichtet wird, ohne dort eine Gesellschaft zu errichten und damit das dortige Recht über die Errichtung von Gesellschaften zu umgehen, das höhere Anforderungen an die Einzahlung des Mindestgesellschaftskapitals stellt.“60

17 Die Dienstleistungsfreiheit ermöglicht die Mobilität des Dienstleistungsverkehrs. Zentral sind die folgenden Regelungen des AEUV: Art. 56 Die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten. Das Europäische Parlament und der Rat können gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beschließen, dass dieses Kapitel auch auf Erbringer von Dienstleistungen Anwendung findet, welche die Staatsangehörigkeit eines dritten Landes besitzen und innerhalb der Union ansässig sind. Art. 57 Dienstleistungen im Sinne der Verträge sind Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Als Dienstleistungen gelten insbesondere: a) gewerbliche Tätigkeiten, b) kaufmännische Tätigkeiten, c) handwerkliche Tätigkeiten, d) freiberufliche Tätigkeiten. Unbeschadet des Kapitels über die Niederlassungsfreiheit kann der Leistende zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit vorübergehend in dem Mitgliedstaat ausüben, in dem die Leistung erbracht wird, und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Mitgliedstaat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt.

In den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit fallen selbständige Tätigkeiten, die vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat und in der Regel gegen Entgelt erbracht werden. Die Dienstleistung kann auf drei verschiedene Arten ausgeführt werden, die allesamt durch Art. 56, 57 AEUV geschützt werden: (1) als positive Dienstleistungsfreiheit, wenn sich der Dienstleistende zum Dienstleistungsempfänger in einen anderen Mitgliedstaat begibt61, (2) als sog. negative Dienstleistungsfreiheit, wenn sich der Dienstleistungsempfänger zum Dienstleistenden in einen anderen Mitgliedstaat begibt62 und (3) als Korrespondenzdienstleistung, wenn Dienstleistender und Dienstleistungsempfänger ihren Mitgliedstaat nicht verlassen, sondern die Dienstleistung selbst eine

60 EuGH, Urt. v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 – Centros; vgl. auch EuGH, Urt. v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-09919 – Überseering; EuGH, Urt. v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 – Inspire Art; EuGH, Urt. v. 16.8.2008 – Rs. C-210/06, Slg. 2008, I-9641 – Cartesio. 61 EuGH, Urt. v. 3.12.1974 – Rs. 33/74, Slg. 1974, 1299 – van Binsbergen. 62 EuGH, Urt. v. 31.1.1984 – verb. Rs. 286/82 u. 26/83, Slg. 1984, 377 – Luisi und Carbone.

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Personenverkehrsfreiheiten

Rz. 20 Europ. Arbeitsrecht

Staatsgrenze überschreitet63. Da lediglich in den ersten beiden Fallgestaltungen Personen mobil sind, handelt es sich bei der Dienstleistungsfreiheit nur insoweit um eine Personenverkehrsfreiheit, im Übrigen – wie beim freien Warenverkehr – um eine Produktverkehrsfreiheit. Begünstigt werden natürliche Personen, sofern sie Staatsangehörige eines Mit- 18 gliedstaats und innerhalb der Union ansässig sind (für Familienangehörige vgl. Rz. 13). Über Art. 62 AEUV finden die Art. 56 ff. AEUV auch auf Gesellschaften (Art. 54 AEUV) Anwendung64. Die Personenverkehrsfreiheiten sind wie folgt voneinander abzugrenzen: Die 19 Arbeitnehmerfreizügigkeit erfasst nur unselbständige Tätigkeiten (Kriterien: fehlendes unternehmerisches Risiko, Fremdbestimmtheit), während Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit eine selbständige Tätigkeit voraussetzen (Kriterien: Beteiligung an Gewinn und Verlust, freie Bestimmung der Arbeitszeit, Weisungsfreiheit, freie Auswahl der Mitarbeiter). Die Niederlassungsfreiheit erfordert eine dauerhafte wirtschaftliche Integration in einem anderen Mitgliedstaat mittels einer festen Einrichtung; dagegen bezieht sich die Dienstleistungsfreiheit auf vorübergehende Tätigkeiten in einem anderen Mitgliedstaat. Hintergrund der Differenzierung zwischen Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit ist, dass bei dauerhafter Eingliederung in einen anderen Mitgliedstaat die Beachtung der dort geltenden Vorschriften durchaus verlangt werden kann, ohne dadurch die Freiheit des Unternehmers zu sehr zu beeinträchtigen, während dies bei nur vorübergehender Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat zu einer unangemessenen Belastung des Unternehmers führen würde, der gezwungen wäre, die Vorschriften sämtlicher Mitgliedstaaten, in denen er tätig wird, einzuhalten65. Probleme entstehen, wenn sich ein Selbständiger ganz oder überwiegend auf 20 die Erbringung von Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat konzentriert, ohne dort niedergelassen zu sein. Hierdurch könnte er sich die Dienstleistungsfreiheit zunutze machen, um sich bestimmten beruflichen Reglementierungen zu entziehen, die auf einen niedergelassenen Selbständigen anwendbar wären. Nach der Rechtsprechung des EuGH66 sind in einem solchen Fall die Bestimmungen der Niederlassungsfreiheit anzuwenden. Allerdings darf nach den Grundsätzen der Gebhard-Entscheidung des EuGH67 durchaus auch im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit eine Infrastruktur in Form eines Büros im Staat der Dienstleistungserbringung vorgehalten werden. Seit September 2005 ist die Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen in Kraft. In ihrem Richtlinienvorschlag (KOM (2002)119 ENDG) strebte die Kommission noch an, Tätigkeiten bis zu 16 Wochen pro Jahr allein der Dienst63 EuGH, Urt. v. 30.4.1974 – Rs. 155/73, Slg. 1974, 409 – Sacchi. 64 Vgl. die Ausführungen zur Niederlassungsfreiheit Rz. 14 ff. 65 Vgl. EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99, Slg. 2002, S. I-787 – Bußverfahren gegen Portugaia Construções Lda; BB 2002, 624 mit Anm. Bayreuther; EWiR Art. 49 EG, 1/02, 245 (Henssler/Müller). 66 EuGH, Urt. v. 4.12.1986 – Rs. 205/84, Slg. 1986, 3755 – Versicherungen. Vgl. auch EuGH, Urt. v. 23.11.1999 – verb. Rs. C-369/96 und C-376/96, Slg. 1999, S. I-8453 – Strafverfahren gegen Arblade und Leloup. 67 EuGH, Urt. v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 21

Personenverkehrsfreiheiten

leistungsfreiheit zuzuordnen und diese damit weiter auszudehnen. In der nun geltenden Richtlinie findet sich dagegen nur ein Verweis auf den vorübergehenden und gelegentlichen Charakter, den eine Tätigkeit haben muss, um der Dienstleistungsfreiheit zu unterfallen. 21 Die Mitgliedstaaten dürfen eine Niederlassung in ihrem Staatsgebiet nicht zur Voraussetzung für die Erbringung von Dienstleistungen erheben. Das Erfordernis einer festen Niederlassung verstößt gegen die Dienstleistungsfreiheit, denn Art. 56 AEUV soll gerade die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit solcher Personen beseitigen, die nicht in dem Staat niedergelassen sind, in dem sie ihre Dienstleistung erbringen. Entsprechend stellte der EuGH in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland fest, dass die §§ 1 Abs. 1, 1b AÜG a.F. gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoßen68. 22 Auch im Zusammenhang mit der Anwendung von Arbeitnehmerentsendegesetzen69 kommt der Abgrenzung zwischen Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit grundsätzlich ausschlaggebende Bedeutung zu70. Sieht der Staat, in dem eine unternehmerische Leistung erbracht wird, die Zahlung von Mindestlöhnen vor, so ist daran – entsprechend den allgemeinen Grundsätzen – lediglich der von seiner Niederlassungsfreiheit Gebrauch machende Arbeitgeber gebunden, nicht hingegen der Dienstleister71. Der EuGH hat aber in seinem Urteil André Mazzoleni und Inter Surveillance Assistance SARL72 diese Grundsätze in ihr Gegenteil verkehrt. Der Entscheidung lag ein belgischer Ausgangsrechtsstreit folgenden Inhalts zugrunde: Ein französisches Unternehmen beschäftigte Arbeitnehmer in Belgien. Die belgischen Behörden forderten die Zahlung des belgischen Mindestlohns. Das französische Unternehmen berief sich auf eine umfassende Einbindung der Arbeitnehmer in das französische Sozialsystem, weil sie teilweise auch in Frankreich tätig würden und der Einsatz in Belgien nur vorübergehender Natur sei. Der EuGH entschied: „Die Art. 59 EGV (heute Art. 66 AEUV) und 60 EGV (heute Art. 75 AEUV) verwehren es einem Mitgliedstaat nicht, einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, das Dienstleistungen im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats erbringt, die Verpflichtung aufzuerlegen, seinen Arbeitnehmern die in den nationalen Vorschriften dieses Staates festgelegten Mindestlöhne zu zahlen. Die Anwendung solcher Vorschriften kann sich jedoch als unverhältnismäßig erweisen, wenn es sich um Beschäftigte eines Unternehmens mit Sitz in einer grenznahen Region handelt, die einen Teil ihrer

68 EuGH, Urt. v. 25.10.2001 – Rs. C-493/99, BB 2001, 2427 – Kommission/Deutschland. 69 Vgl. dazu EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99, Slg. 2002, S. I-787 – Bußverfahren gegen Portugaia Construções Lda; Sittard, Voraussetzungen und Wirkungen der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG und dem AEntG, 2010. 70 Dazu Sittard, Voraussetzungen und Wirkungen der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG und dem AEntG, 2010, S. 65 ff. 71 Vgl. auch Art. 6 Abs. 2 EuGVÜ; anders hingegen Art. 3 Abs. 1 der Entsenderichtlinie. 72 EuGH, Urt. v. 15.3.2001 – Rs. C-165/98, EuZW 2001, 315 ff. Vgl. zu den belgischen Entsendebestimmungen auch schon EuGH, 23.11.1999 – verb. Rs. C-369/96 und C-376/96, Slg. 1999, S. I-8453 – Strafverfahren gegen Arblade und Leloup. Zu den deutschen Entsendebestimmungen jetzt EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99, Slg. 2002, S. I-787 – Bußverfahren gegen Portugaia Construções Lda.

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Personenverkehrsfreiheiten

Rz. 24 Europ. Arbeitsrecht

Arbeit in Teilzeit und für kurze Zeiträume im Hoheitsgebiet eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten als desjenigen erbringen müssen, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat. Die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats müssen daher feststellen, ob und, wenn ja, inwieweit, die Anwendung einer nationalen Regelung, die einen Mindestlohn vorschreibt, auf ein solches Unternehmen erforderlich und verhältnismäßig ist, um den Schutz der betroffenen Arbeitnehmer sicherzustellen.“

In eine ähnliche Richtung weist ein Urteil des EuGH vom 25.10.2001, das die 23 unionsrechtliche Zulässigkeit des deutschen Urlaubskassenverfahrens zur Finanzierung von Urlaubsansprüchen der Arbeitnehmer im Baugewerbe betraf: „Die Art. 59 EG-Vertrag (heute Art. 66 AEUV) und 60 EG-Vertrag (heute Art. 75 AEUV) stehen dem nicht entgegen, dass ein Mitgliedstaat ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen, das eine Dienstleistung im Gebiet des ersten Mitgliedstaats erbringt, einer nationalen Regelung wie derjenigen des § 1 Absatz 3 Satz 1 ArbeitnehmerEntsendegesetz unterwirft, durch die den zu diesem Zweck von dem Unternehmen entsandten Arbeitnehmern Urlaubsansprüche garantiert werden, sofern zum einen die Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften des Niederlassungsmitgliedstaats ihres Arbeitgebers keinen im Wesentlichen vergleichbaren Schutz genießen, so dass die Anwendung der nationalen Regelung des ersten Mitgliedstaats ihnen einen tatsächlichen Vorteil verschafft, der deutlich zu ihrem sozialen Schutz beiträgt, und zum anderen die Anwendung dieser Regelung des ersten Mitgliedstaats im Hinblick auf das verfolgte im Allgemeininteresse liegende Ziel verhältnismäßig ist.“73

Ebenfalls für zulässig hielt der EuGH die Anwendung deutscher Urlaubs- 24 regelungen auf entsandte Arbeitnehmer. Nicht von vornherein europarechtswidrig sind danach solche deutschen Vorschriften, die im Ausland ansässige Arbeitgeber verpflichten, der Urlaubskasse Auskünfte zu erteilen, die den in Deutschland ansässigen Arbeitgebern nicht abverlangt werden. Gleiches gilt für eine Regelung, nach der nur deutsche, nicht aber in anderen Mitgliedstaaten ansässige Arbeitgeber Ansprüche gegen die Urlaubskasse geltend machen können, die von ausländischen Arbeitgebern entsandten Arbeitnehmer vielmehr einen direkten Anspruch gegen die Urlaubskasse haben. In beiden Fällen obliege den nationalen Gerichten die Prüfung, ob die unterschiedliche Behandlung deutscher und ausländischer Arbeitgeber durch objektive Gründe unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gerechtfertigt sei. Demgegenüber stellte der Gerichtshof die Unvereinbarkeit des § 1 Abs. 4 AEntG a.F., der einen unterschiedlichen Betriebsbegriff für im Inland und für im Ausland ansässige Arbeitgeber vorsah, mit Art. 56 AEUV fest. Eine Rechtfertigung für die dort normierte Ungleichbehandlung sei nicht vorgetragen worden74. Eine ungerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit wurde auch bejaht, wenn ein inländischer Arbeitgeber den in einem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag festgesetzten Mindestlohn durch den Abschluss eines Firmentarifvertrags unterschreiten könne, während dies ei73 EuGH, Urt. v. 25.10.2001 – verb. Rs. C-49/98, C-50/98, C-52/98 bis C-54/98 und C-68/98 bis C-71/98, BB 2001, 2648 – Finalarte Sociedade de Construção Civil Lda/ Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft u.a. 74 Vgl. EuGH, Urt. v. 25.10.2001 – verb. Rs. C-49/98, C-50/98, C-52/98 bis C-54/98 und C-68/98 bis C-71/98, BB 2001, 2648 – Finalarte Sociedade de Construção Civil Lda/ Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft u.a. Das BAG hat sich dieser Rechtsprechung – zumindest im Bereich des § 1 Abs. 3 AEntG – inzwischen angeschlossen (Urt. v. 13.5.2004 – 10 AS 6/04 (juris); v. 9.9.2003 – 9 AZR 478/02 (juris).

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 25

Personenverkehrsfreiheiten

nem Arbeitgeber, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, nicht möglich sei75. Die Konsequenzen sind nicht unerheblich: Im Anwendungsbereich des Arbeitnehmerentsendegesetzes wird eine eintretende Tarifkonkurrenz nicht über den Grundsatz der Spezialität, sondern über den Vorrang des vom Arbeitnehmerentsendegesetz erfassten Tarifvertrags gelöst. 25 Alle Personenverkehrsfreiheiten bedingen einen grenzüberschreitenden Bezug und eine Teilnahme am Wirtschaftsverkehr. Anhand des zuletzt genannten Merkmals grenzen sie sich von den Gewährleistungen der Vorschriften über die Unionsbürgerschaft (Art. 20 ff. AEUV) ab, die lediglich subsidiär anzuwenden sind und in der Regel weniger weitreichende Rechte verbriefen. Auch den Gewährleistungsinhalt im engeren Sinne interpretiert der EuGH mittlerweile für alle Personenverkehrsfreiheiten identisch (sog. Konvergenz der Grundfreiheiten76). Über Art. 45, 49 und 56 AEUV in Verbindung mit der Richtlinie 2004/38/EG vom 29.4.200477 steht den Unionsbürgern ein Wegzugsrecht gegenüber dem Heimatstaat und ein Einreise-, Aufenthalts- und Verbleiberecht gegenüber dem Aufnahmestaat zu. 26 Sämtliche Personenverkehrsfreiheiten enthalten ein Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit oder – positiv gewendet – das Gebot der Inländergleichbehandlung. Generell untersagt sind sowohl offene Ungleichbehandlungen, d.h. Differenzierungen unmittelbar nach der Staatsangehörigkeit, als auch versteckte Diskriminierungen. Letztere stellen zur Differenzierung auf neutrale Kriterien (z.B. Wohnsitz, Sprachkenntnisse) ab, die aber von Inländern regelmäßig leichter zu erfüllen sind als von Ausländern. Das Diskriminierungsverbot greift indes nicht, wenn die Differenzierung auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimen Zweck steht, den das nationale Recht verfolgt78. Sog. Inländerdiskriminierungen, d.h. die Schlechterstellung der eigenen Staatsangehörigen gegenüber EU-Ausländern79 fallen demgegenüber nicht in den Anwendungsbereich der Freiheiten – es fehlt am grenzüberschreitenden Sachverhaltselement. Etwas anderes gilt, wenn sich der eigene Staatsangehörige gegenüber seinem Heimatstaat in einer vergleichbaren Lage wie ein EU-Ausländer befindet80 (z.B. ein deutscher Arbeitnehmer verlangt die Anrechnung seiner in einem Mitgliedstaat abgeleisteten Tätigkeitszeit im öffentlichen Dienst bei seiner tarifären Einstufung nach Rückkehr in den Staatsdienst des Heimatlandes81).

75 EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99, Slg. 2002, S. I-787 – Bußverfahren gegen Portugaia Construções Lda. 76 Behrens, EuR 1992, 145. 77 ABl. Nr. L 158, v. 30.4.2004. Die Richtlinie hat u.a. die Richtlinien 68/360, 73/148 und 75/34, ABl. Nr. L 14, v. 17.2.1974, 10 ersetzt. 78 EuGH, Urt. v. 7.5.1998 – Rs. C-350/96, Slg. 1998, I-2521 – Clean Car Autoservice. 79 Beispiel: Bindung deutscher Unternehmen an das Reinheitsgebot für Bier, das für Unternehmen aus dem europäischen Ausland nicht gilt. 80 EuGH, Urt. v. 7.2.1979 – Rs. 115/78, Slg. 1978, 399 – Knoors. 81 Vgl. dazu den Fall EuGH, Urt. v. 15.1.1998 – Rs. C-15/96, Slg. 1998, I-47 – SchöningKougebetopoulou.

18 Henssler

Personenverkehrsfreiheiten

Rz. 28 Europ. Arbeitsrecht

Seit Mitte der 90er Jahre erstreckt der Europäische Gerichtshof alle Personen- 27 verkehrsfreiheiten – nicht nur die Dienstleistungsfreiheit82 – auf nichtdiskriminierende Behinderungen83. Die Personenverkehrsfreiheiten enthalten daher nicht nur ein Diskriminierungsverbot, sondern auch ein Beschränkungsverbot. Noch nicht abschließend geklärt ist die Reichweite dieses Beschränkungsverbots. Die Tendenz geht dahin, nichtdiskriminierende Maßnahmen nur zu verbieten, sofern es sich um Zugangshindernisse handelt, nicht hingegen bei bloßen Ausübungsregelungen84. Als ungeschriebene Ausnahme ist entsprechend der sog. Cassis-Formel85 anerkannt, dass nichtdiskriminierende86 Beeinträchtigungen der Personenverkehrsfreiheiten durch nichtwirtschaftliche87, zwingende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden können, sofern sie verhältnismäßig sind. Beispiele zwingender Gründe des Allgemeinwohls sind: Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit88, Arbeitnehmerschutz89, Verbraucher- und Umweltschutz90, Medienvielfalt91. Auch die geschriebenen Ausnahmen der Personenverkehrsfreiheiten sind ähn- 28 lich. Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit normiert Art. 45 Abs. 4 AEUV eine Bereichsausnahme zugunsten der öffentlichen Verwaltung, während nach Art. 51, 62 AEUV Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit keine Anwendung auf Tätigkeiten finden, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind. Die Begriffe sind als Ausnahmen von den Freiheiten eng auszulegen. Erforderlich ist jeweils die unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften92. Erfasst werden z.B. Polizeibeamte, Richter und Notare, nicht hingegen Rechtsanwälte93, Leh-

82 Diese wurde bereits seit dem Jahre 1974 weit ausgelegt, vgl. EuGH, Urt. v. 3.12.1974 – Rs. 33/74, Slg. 1974, 1299 – van Binsbergen. 83 Für Art. 49 AEUV: EuGH, Urt. v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard; für Art. 45 AEUV: EuGH, Urt. v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 – Bosman. 84 Für den freien Warenverkehr differenziert der EuGH zwischen verbotenen produktbezogenen Regelungen und zulässigen Verkaufsmodalitäten, vgl. EuGH, Urt. v. 15.1.1998 – verb. Rs. C-267 u. 268/91, Slg. 1993, I-6097 – Keck. 85 EuGH, Urt. v. 20.2.1979 – Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 – Cassis de Dijon. 86 In der Lit. wird neuerdings diskutiert, ob der EuGH die Cassis-Formel auch auf diskriminierende Maßnahmen ausdehnt, vgl. z.B. EuGH, Urt. v. 13.3.2001 – Rs. C-379/98, EuZW 2001, 242 – Preussen Elektra mit Anm. Ruge. 87 EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99, Slg. 2002, S. I-787 – Bußverfahren gegen Portugaia Construções Lda. 88 EuGH, Urt. v. 28.4.1998 – Rs. C-120/95, Slg. 1998, I-1831 – Decker/Caisse de Maladie. 89 EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99, Slg. 2002, S. I-787 – Bußverfahren gegen Portugaia Construções Lda. 90 EuGH, Urt. v. 20.9.1988 – Rs. 302/86, Slg. 1988, 4607 – Pfandflasche. 91 EuGH, Urt. v. 26.6.1997 – Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3709 – Vereinigte Familiapress/ Heinrich Bauer Verlag. 92 EuGH, Urt. v. 17.12.1980 – Rs. 149/79, Slg. 1980, 3881 – Öffentlicher Dienst. 93 EuGH, Urt. v. 21.6.1974 – Rs. 2/74, Slg. 1974, 631 – Reyners.

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rer oder Lokomotivführer94. Daneben sehen sowohl Art. 45 Abs. 3 AEUV als auch Art. 52 Abs. 1, 62 AEUV eng auszulegende Vorbehalte zugunsten der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit vor. Diese sog. Ordre-publicVorbehalte greifen lediglich dann ein, wenn sich die Anwesenheit oder das Verhalten eines Aufenthaltsberechtigten aus in seiner Person liegenden Gründen als eine tatsächliche und hinreichend schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt95. Eine Konkretisierung der Begriffe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit liefert die Richtlinie 2004/3896. 29 Auf der Grundlage der Art. 46 und 47 AEUV, Art. 50 und 53 AEUV und Art. 59 AEUV besteht die Möglichkeit zum Erlass von Sekundärrecht, von der die Gemeinschaftsorgane bereits regen Gebrauch gemacht haben. Am 7.9.2005 trat die Richtlinie 2005/36/EG97 in Kraft, die für alle reglementierten Berufe einheitliche Regelungen vorsieht. Sie wurde in Deutschland durch das Gesetz über die Anerkennung von Berufsqualifikationen der Heilberufe vom 2.12.2007 umgesetzt98.

2. Gleichbehandlung von Mann und Frau 30 Die Gleichbehandlung von Mann und Frau99 in der Europäischen Union ist – in Teilen – bereits in Art. 157 AEUV verankert, der durch zahlreiche, auf Grundlage von Art. 19 Abs. 1 AEUV erlassene Richtlinien ergänzt wird. Zu nennen sind insbesondere die Richtlinie 75/117/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen vom 10.2.1975100, die Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen vom 9.2.1976101, geändert durch die Richtlinie 2002/73/EG102, die Richt94 EuGH, Urt. v. 26.5.1982 – Rs. 149/79, Slg. 1982, 1845 – Kommission/Belgien („Öffentlicher Dienst“). 95 EuGH, Urt. v. 27.10.1977 – Rs. 30/77, Slg. 1977 – Bouchereau. 96 ABl. Nr. L 158, v. 30.4.2004. 97 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 7.9.2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. Nr. L 255, v. 30.9.2005, 22. 98 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen der Heilberufe v. 2.12.2007, BGBl. 2007, II-2686 v. 6.12.2007. 99 Hierzu z.B. Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2010, 129 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 16; Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 180 ff.; Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1989; Erfurter Kommentar/Schlachter, 10. Aufl. 2010, Art. 141 EGV Rz. 1 ff.; HWK/Tillmanns, 4. Aufl. 2010, Art. 157 AEUV Rz. 1 ff.; Wiedemann, in: Festschrift für Karl Heinrich Friauf, 1996, 135 ff. 100 ABl. Nr. L 204, v. 26.7.2006, 23. Die Richtlinie 75/117/EWG, ABl. Nr. L 45/1975, v. 19.2.1975, 19 wurde aufgehoben. 101 ABl. Nr. L 39, v. 14.2.1976, 40. 102 ABl. Nr. L 269, v. 5.10.2002, 15.

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linie 92/85/EWG des Rates vom 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz103 und die Richtlinie 97/80/EG vom 15.12.1997 über die Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts104. Durch die Richtlinie 2006/54/EG vom 5.7.2006 zur Verwirklichung des Grund- 31 satzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung)105 wurden die erwähnten Richtlinien 75/117/EWG, 76/207/EWG und 97/80/EG zum 15.8.2009 aufgehoben. Gleiches gilt für die Richtlinie 86/378/EWG106. Zentrales Ziel der „Gleichbehandlungsrichtlinie“ ist die Zusammenfassung der bisher auf verschiedene Richtlinien verteilten Vorschriften zur Gleichbehandlung von Mann und Frau107. Die EuGH-Rechtsprechung wird einbezogen. Im Übrigen enthält die Richtlinie größtenteils Klarstellungen. Aufgenommen wurden ferner kleinere inhaltliche Änderungen der bisherigen Rechtslage, die von den Mitgliedstaaten bis zum 15.8.2008 umzusetzen waren. Trotz der Kodifizierung dieser Richtlinien bleibt Art. 157 AEUV als primärrechtliche Regelung von Bedeutung. Art. 157 AEUV hat folgenden Wortlaut: „(1) Jeder Mitgliedstaat stellt die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicher. (2) Unter „Entgelt“ im Sinne dieses Artikels sind die üblichen Grund- oder Mindestlöhne und -gehälter sowie alle sonstigen Vergütungen zu verstehen, die der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhältnisses dem Arbeitnehmer unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt. Gleichheit des Arbeitsentgelts ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bedeutet, a) dass das Entgelt für eine gleiche nach Akkord bezahlte Arbeit aufgrund der gleichen Maßeinheit festgesetzt wird, b) dass für eine nach Zeit bezahlte Arbeit das Entgelt bei gleichem Arbeitsplatz gleich ist. (3) Das Europäische Parlament und der Rat beschließen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses Maßnahmen zur Gewährleistung der Anwendung des Grundsatzes der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen, einschließlich des Grundsatzes des gleichen Entgelts bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit. (4) Im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben hindert der Grundsatz der Gleichbehandlung die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Vergünstigungen beizubehalten oder zu beschließen.“ 103 ABl. Nr. L 348/1992, v. 28.11.1992, 1. Auf diese Richtlinie kann wegen ihres speziellen Charakters hier nur am Rande eingegangen werden. 104 ABl. Nr. L 14, v. 20.1.1998, 6. Dazu Schlachter, RdA 1998, 321. 105 ABl. Nr. L 204, v. 26.7.2006, 23. 106 Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit. 107 Vgl. Erwägungsgrund (1) der Richtlinie.

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32 Art. 157 AEUV liegt eine doppelte Zielsetzung zugrunde: einerseits die Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen durch soziales Dumping, andererseits die Gewährung eines sozialen Grundrechts108. Die Vorschrift ist unmittelbar anwendbar (zu den Folgen Rz. 36) und entfaltet horizontale Wirkung, d.h. sie verpflichtet nicht nur die Mitgliedstaaten und ihre Untergliederungen, sondern auch Tarifvertragsparteien und private Arbeitgeber109. Sie setzt im Gegensatz zu den Grundfreiheiten keinen grenzüberschreitenden Sachverhalt voraus. 33 Durch Art. 157 AEUV wird lediglich das Prinzip der Entgeltgleichheit festgeschrieben, die Gleichstellung im Hinblick auf sonstige Arbeitsbedingungen erfolgt allein durch das Sekundärrecht. Der Entgeltbegriff ist nach der Definition des Art. 157 Abs. 2 AEUV weit auszulegen. Er umfasst sämtliche Geld- und Sachleistungen, die der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern wenigstens mittelbar aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses gewährt110, also neben Lohn und Gehalt alle Zusatz- und Nebenleistungen wie z.B. Zulagen111, Reisekosten112, sowie Leistungen des Arbeitgebers nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder im Ruhestandsverhältnis113. Leistungen an Familienangehörige114 oder Hinterbliebene115 des Arbeitnehmers fallen genauso darunter wie Leistungen durch einen vom Arbeitgeber beauftragten Dritten (z.B. eine Pensionskasse116)117. Unerheblich ist, ob die Vergünstigung aufgrund vertraglicher Verpflichtung, freiwillig oder aufgrund gesetzlicher Vorschriften gewährt wird118. Demnach wird auch die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall119 und während Mutterschutzfristen120 sowie bei Teilnahme an Schulungs- und Bildungsveranstaltungen für Betriebsräte121 erfasst. Leistungen der staatlichen Sozialversicherungssysteme, etwa gesetzlich begründete Rentenversicherungsansprü-

108 EuGH, Urt. v. 8.4.1976 – Rs. 43/74, Slg. 1976, 455 – Defrenne II. 109 EuGH, Urt. v. 8.4.1976 – Rs. 43/74, Slg. 1976, 455 – Defrenne II; HWK/Tillmanns, 4. Aufl. 2010, Art. 157 AEUV Rz. 4. 110 EuGH, Urt. v. 4.6.1992 – Rs. C-360/90, Slg. 1992, I-3589 – Bötel; vgl. Geiger, 4. Aufl. 2004, Art. 141 EG Rz. 5. 111 EuGH, Urt. v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99, EuZW 2001, 568 – Susanna/Brunnhover/ Bank der österreichischen Postsparkasse AG. 112 EuGH, Urt. v. 9.2.1982, – Rs. 12/81, Slg. 1982, 359 – Garland/British Rail Engineering. 113 EuGH, Urt. v. 13.5.1986 – Rs. 170/84, Slg. 1986, 1607 – Bilka/Weber von Hartz; EuGH, Urt. v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88, Slg. 1990, I-1889 – Barber. 114 EuGH, Urt. v. 9.2.1982, – Rs. 12/81, Slg. 1982, 359 – Garland/British Rail Engineering. 115 EuGH, Urt. v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91, Slg. 1993, I-4879 – Ten Oevel; EuGH, Urt. v. 9.10.2001 – Rs. C-379/99 – Pensionskasse für die Angestellten der Barmer Ersatzkasse VvaG/Hans Menauer. 116 EuGH, Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91, Slg. 1994, I-4389 – Coloroll Pension Trustees. 117 Vgl. Schiek, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2007, 227 ff. 118 EuGH, Urt. v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88, Slg. 1990, I-1889 – Barber. 119 EuGH, Urt. v. 13.7.1989 – Rs. 171/88, Slg. 1989, 2743 – Rinner-Kühn. 120 EuGH, Urt. v. 13.2.1996 – C-342/93, Slg. 1996, I-475 – Gillespie. 121 EuGH, Urt. v. 4.6.1992 – Rs. C-360/90, Slg. 1992, I-3589 – Bötel.

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che gegen Sozialversicherungsträger, stehen dagegen außerhalb des durch Art. 157 AEUV geschützten Bereiches122. Gleiches Entgelt ist nach dem nunmehr ausdrücklichen Wortlaut des Art. 157 34 Abs. 1 AEUV nur bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit zu gewähren. Ob eine Arbeit gleichwertig ist, bemisst sich nach den vom EuGH entwickelten Arbeitsbewertungskriterien, anhand derer ein aufgestelltes Entgeltsystem auf seine Sachgerechtigkeit zu überprüfen ist. Nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54/EG muss, wenn zur Festlegung des Entgelts ein System beruflicher Einstufung verwendet wird, dieses System auf für männliche und weibliche Arbeitnehmer gemeinsamen Kriterien beruhen und so beschaffen sein, dass Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts ausgeschlossen werden. Allerdings braucht nicht jedes einzelne Merkmal eines Entgeltfindungssystems dem Grundsatz der Entgeltgleichheit zu entsprechen, solange die Gesamtheit aller Kriterien ein gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit gewährleistet123. Bei der Beurteilung der Gleichwertigkeit sind die Art der Arbeiten und die Voraussetzungen ihrer Verrichtung zu berücksichtigen124. Die Vergleichbarkeit des Entgelts setzt die Benennung einer Vergleichsperson des anderen Geschlechts voraus, die bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit mehr Entgelt erhält. Der EuGH erkennt als Vergleichsperson auch Vorgänger des Beschäftigten125 oder Personen an, die bei geringwertigerer Arbeit ein höheres Entgelt126 erhalten. Ein Verzicht auf den Vergleich ist möglich, wenn eine Frau durch ein geschlechtsbezogenes Kriterium benachteiligt wurde (z.B. Schwangerschaft), d.h. durch eine Situation, die einem Mann niemals zum Nachteil gereichen kann127. Verboten sind unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen aufgrund des 35 Geschlechts. Eine Diskriminierungsabsicht ist nicht erforderlich128. Während die Ungleichbehandlung bei der unmittelbaren Diskriminierung ausdrücklich an das Geschlecht anknüpft129, liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn ein geschlechtsneutrales Differenzierungskriterium sich faktisch zu Lasten eines Geschlechts auswirkt130. Art. 2 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2006/54/EG lässt es jedoch ausreichen, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften die potentiell benachteiligte Gruppe „in besonderer Weise benachteiligen können“ und verzichtet damit auf den Nachweis der Benachtei122 Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rz. 1098. 123 EuGH, Urt. v. 1.7.1986 – Rs. 237/85, Slg. 1986, 2101 – Rummler/Dato-Druck; abweichend EuGH, Urt. v. 17.10.1989 – Rs. 109/88, Slg. 1989, 3199 – Danfoss. In diese Richtung auch EuGH, Urt. v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99, EuZW 2001, 568 – Susanna Brunnhofer/Bank der österreichischen Postsparkasse AG: Eine Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern, die in dieselbe Tätigkeitsgruppe eingestuft worden sind, ist noch nicht zwingend eine durch Art. 157 AUEV untersagte Diskriminierung. 124 EuGH, Urt. v. 31.5.1995 – Rs. C-400/93, Slg. 1995, 1275 – Royal Copenhagen. 125 EuGH, Urt. v. 27.3.1980 – Rs. 129/79, Slg. 1980, 1275 – Wendy Smith. 126 EuGH, Urt. v. 4.2.1988 – Rs. 157/86, Slg. 1988, 673 – Mary Murphy. 127 EuGH, Urt. v. 8.11.1990 – Rs. C-177/88, Slg. 1990, I-3941 – Decker/Stichting; Coen, in: Lenz/Borchardt, 3. Aufl. 2003, Art. 141 EG, Rz. 18. 128 EuGH, Urt. v. 13.5.1986 – Rs. 170/84, Slg. 1986, 1607 – Bilka/Weber von Hartz. 129 EuGH, Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-128/93, Slg. 1994, I-4583 – Fisscher. 130 EuGH, Urt. v. 13.5.1986 – Rs. 170/84, Slg. 1986, 1607 – Bilka/Weber von Hartz.

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ligung. Eine mittelbare Diskriminierung kann aber sachlich gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven, geschlechtsunabhängigen Gründen beruht, für die von ihr verfolgten Ziele erforderlich ist und die Verhältnismäßigkeit zwischen Ziel und Benachteiligung gewahrt bleibt131. Eine mittelbare Diskriminierung von Frauen entsteht häufig bei der Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten, da typischerweise mehr Frauen als Männer teilzeitbeschäftigt sind132. Eine Diskriminierung kann ebenfalls vorliegen, wenn die Ursache der Ungleichbehandlung in einer Geschlechtsumwandlung des Arbeitnehmers zu finden ist133, nicht hingegen bei Ungleichbehandlungen aufgrund der sexuellen Orientierung134. Die Beweislast bei der Geltendmachung von Entgeltdiskriminierungen vor Gericht ist in Anlehnung an die bisherige Rechtsprechung des EuGH135 in Art. 19 der Richtlinie 2006/54/EG niedergelegt136. Der Arbeitnehmer hat zunächst Tatsachen glaubhaft zu machen, die das Vorliegen einer Diskriminierung vermuten lassen137. Anschließend obliegt es dem Arbeitgeber zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorliegt. 36 Rechtsfolge eines Verstoßes gegen die Entgeltgleichheit ist zunächst die Nichtigkeit der jeweiligen gesetzlichen oder kollektiv- bzw. individualvertraglichen Regelung. Daneben nimmt der EuGH für die Vergangenheit eine sog. Angleichung „nach oben“ vor, d.h. diskriminierte Personen haben Anspruch auf die Bezahlung, die der besser gestellten Vergleichsperson gewährt wird138. Für die Zukunft bleibt es dem Arbeitgeber indes unbenommen, seine Entgeltgestaltung insgesamt auf niedrigerem Niveau, aber unter Beachtung des Gleichheitssatzes umzugestalten139. 37 Die den Art. 157 AEUV konkretisierende Richtlinie 2006/54/EG erstreckt das Gleichbehandlungsgebot von Männern und Frauen über die Entgeltgleichheit hinaus auf den Zugang zur Beschäftigung einschließlich des beruflichen Aufstiegs und zur Berufsbildung (Art. 1 Abs. 2 lit. a), auf Arbeitsbedingungen einschließlich des Entgelts (Art. 1 Abs. 2 lit. b) sowie auf die betrieblichen Syste131 EuGH, Urt. v. 13.5.1986 – Rs. 170/84, Slg. 1986, 1607 – Bilka/Weber von Hartz. Aus jüngerer Zeit EuGH, Urt. v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99, EuZW 2001, 568 – Susanna Brunnhofer/Bank der österreichischen Postsparkasse AG: Keine Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen bei der Einstellung durch Faktoren, die erst nach dem Dienstantritt der Arbeitnehmer bekannt werden und erst während der Durchführung des Arbeitsvertrags beurteilt werden können, wie Unterschiede in der persönlichen Leistungsfähigkeit. 132 Beispiele: EuGH, Urt. v. 13.5.1986 – Rs. 170/84, Slg. 1986, 1607 – Bilka/Weber von Hartz; EuGH, Urt. v. 27.6.1990 – Rs. C-33/89, Slg. 1990, I-2591 – Kowalska; EuGH, Urt. v. 7.2.1991 – Rs. C-184/89, Slg. 1991, I-297 – Nimz. 133 EuGH, Urt. v. 30.4.1996 – Rs. C-13/94, Slg. 1996, I-2143 – P. S. 134 EuGH, Urt. v. 17.2.1998 – Rs. C-249/96, Slg. 1998, I-621 – Grant; beachte aber jetzt Art. 19 AEUV sowie Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27.11.2000. 135 EuGH, Urt. v. 17.10.1989 – Rs. 109/88, Slg. 1989, 3199 – Danfoss. 136 Zur Vorgängerregelung in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 97/80/EG vgl. Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 250 ff.; Schlachter, RdA 1998, 321. 137 Vgl. dazu aber auch EuGH, Urt. v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99, EuZW 2001, 568 – Susanna Brunnhofer/Bank der österreichischen Postsparkasse AG. 138 EuGH, 8.4.1976 – Rs. 43/76, Slg. 1976, 455 – Defrenne II. 139 EuGH, 28.9.1994 – Rs. C-408/92, Slg. 1994, I-4435 – Avdel Systems.

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me der sozialen Sicherheit (Art. 1 Abs. 2 lit. c). Art. 17 fordert die Mitgliedstaaten auf, die gerichtliche Klagemöglichkeit diskriminierter Arbeitnehmer sicherzustellen, Art. 24 verlangt, wegen Diskriminierung klagende Arbeitnehmer vor Entlassung zu schützen. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Sinne der Richtlinie wird nach Art. 4, 5 und 14 allgemein dahingehend definiert, dass keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts erfolgen darf. Die Begriffe „unmittelbare“ und „mittelbare Diskriminierung“ sind in Art. 2 näher erläutert. Gemäß Art. 18 haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass der durch die Diskriminierung entstandene Schaden tatsächlich und wirksam ersetzt oder eine Entschädigung gewährt wird. Bei der Bemessung der Höhe des Anspruchs soll der Präventionszweck berücksichtigt werden. Einstweilen frei.

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Nach der Rechtsprechung des EuGH verstößt ein grundsätzliches gesetzliches 39 Verbot der Nachtarbeit von Frauen ebenso gegen die Richtlinie wie ein grundsätzlicher Ausschluss weiblicher Arbeitnehmer vom Dienst an der Waffe140. Auch eine unterschiedliche Behandlung wegen einer Schwangerschaft stellt regelmäßig eine Diskriminierung wegen des Geschlechts dar141. Die in diesem Zusammenhang durch den EuGH aufgestellten Grundsätze sind besonders streng. In einem Urteil vom 4.10.2001 befand er, dass die Entlassung einer Arbeitnehmerin wegen ihrer Schwangerschaft selbst dann gegen die Richtlinien 76/207/EWG und 92/85/EWG (nun: Richtlinie 2006/54/EG) verstößt, wenn sie bei der Einstellung in ein befristetes Arbeitsverhältnis142 ihre Schwangerschaft nicht offenbarte und feststand, dass sie wegen ihrer Schwangerschaft während eines wesentlichen Teils der Vertragszeit nicht würde arbeiten können. Dies soll unabhängig von der Größe und den Einstellungsgepflogenheiten143 des Unternehmens gelten144. Zur Begründung verweist der Gerichtshof im Wesentlichen auf den Effet-utile-Grundsatz und den Wortlaut der Richtlinien, die nicht nach der Dauer des Arbeitsverhältnisses unterscheiden. Art. 157 Abs. 4 AEUV eröffnet die Möglichkeit zur positiven Frauenför- 40 derung145 (vgl. auch Erwägungsgrund 22 der Richtlinie 2006/54/EG). Dabei dürfen indes die durch den EuGH in den Urteilen Kalanke146 und Marschall147

140 EuGH, Urt. v. 11.1.2000 – Rs. C-285/98, Slg. 2000, I-69 – Kreil. Vgl. aber auch EuGH, Urt. v. 15.5.1986 – Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 – Johnston und EuGH, Urt. v. 26.10.1999 – Rs. C-273/97, Slg. 1999, I-7403 – Sidar. 141 EuGH, Urt. v. 8.11.1990 – Rs. C-177/88, Slg. 1990, I-3941 – Dekker. 142 Für die Einstellung in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis entschied der EuGH bereits zuvor in einem ähnlichen Sinne, vgl. EuGH, Urt. v. 3.2.2000 – Rs. C-207, 98, Slg. 2000, S. I-549 – Mahlburg. 143 Z.B. den Umstand, ob häufig Aushilfspersonal beschäftigt wird. 144 EuGH, Urt. v. 4.10.2001 – Rs. C-109/00, DB 2001, S. 2451 (m. Anm. Thüsing) – Tele Danmark A/S/Handels- og Kontorfunktionærernes Forbund i Danmark (HK) mit Nachweisen auf die vorangegangene Rechtsprechung des EuGH. 145 Dazu Steinmeyer, RdA 2001, 10, 17. 146 EuGH, Urt. v. 17.10.1995 – Rs. C-450/93, Slg. 1995, I-3051 – Kalanke. 147 EuGH, Urt. v. 11.11.1997 – Rs. C-409/95, Slg. 1997, I-6363 – Marschall.

Henssler

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 41

Gleichbehandlung von Mann und Frau

entwickelten Grundsätze nicht aus den Augen verloren werden148: Europarechtswidrig sind Vorschriften zur Beseitigung der Unterrepräsentation von Frauen auf Beförderungsstellen, denen zufolge unter mehreren gleich qualifizierten Stellenbewerbern den weiblichen Bewerbern automatisch der Vorzug einzuräumen ist. Zulässig sind demgegenüber Regelungen, die bei gleicher Qualifikation von Stellenbewerbern unterschiedlichen Geschlechts weibliche Bewerber bevorzugen, sofern nicht in der Person eines männlichen Bewerbers liegende Gründe überwiegen. 41 Weitere wichtige Grundsätze zur Gleichbehandlung hat der EuGH in den Urteilen von Colson und Kamann149 sowie Draempaehl150 aufgestellt: Art. 6 der Richtlinie 76/207/EWG verpflichtete die Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu ergreifen, die hinreichend wirksam sind, um das Ziel der Richtlinie zu erreichen, und dafür Sorge zu tragen, dass die Betroffenen sich vor den nationalen Gerichten tatsächlich auf diese Maßnahmen berufen können. Die Richtlinie schrieb allerdings keine bestimmte Sanktion vor. Entschied sich der Mitgliedstaat dafür, als Sanktion für den Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot eine Entschädigung zu gewähren, so musste diese jedenfalls in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen. Rein symbolische Entschädigungen (z.B. Ersatz des Vertrauensschadens) reichten nicht aus. Nunmehr sieht Art. 18 der Richtlinie 2006/54/EG eine Pflicht der Mitgliedstaaten vor, einen Anspruch des Betroffenen auf Schadensersatz oder Entschädigung zu schaffen, wobei dies „auf eine abschreckende und dem erlittenen Schaden angemessene Art und Weise geschehen muss“. Dabei darf ein solcher Ausgleich oder eine solche Entschädigung nur in den Fällen durch eine im Voraus festgelegte Höchstgrenze begrenzt werden, in denen der Arbeitgeber nachweisen kann, dass der einem Bewerber durch die Diskriminierung im Sinne dieser Richtlinie entstandene Schaden allein darin besteht, dass die Berücksichtigung seiner Bewerbung verweigert wurde. 42 Zur deutschen Umsetzung der Richtlinie 2000/73/EG, der Richtlinie 2004/113/EG sowie der Richtlinie 2006/54/EG dient das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14.8.2006151, das unter anderem Benachteiligungen wegen des Geschlechts verhindern und beseitigen soll (§ 1 AGG). Die §§ 611a, 611b und 612 Abs. 3 BGB sind im Zuge der Einführung des AGG gestrichen worden. Eine Erweiterung ergibt sich daraus, dass als Beschäftigte i.S. des AGG auch arbeitnehmerähnliche Personen gelten, wohingegen §§ 611a, 611b BGB sich nur auf Arbeitnehmer bezogen152. Erfasst werden von der Neuregelung, wie § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG ausdrücklich klarstellt, nicht nur benachteiligende vertragliche Abreden des Arbeitgebers, sondern auch kollektivrechtliche Vereinbarungen wie Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen. Die 148 So auch Coen, in: Lenz/Borchardt, 5. Aufl. 2010, Art. 157 AEUV Rz. 46 f.; Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, 5. Aufl. 2010, Art. 157 AEUV Rz. 13. 149 EuGH, Urt. v. 10.4.1984 – Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 – von Colson und Kamann. 150 EuGH, Urt. v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95, Slg. 1997, I-2195 – Draempaehl. 151 BGBl. I, 1897. Vgl. dazu Annuß, BB 2006, 1629; Schweibert/Willemsen, NJW 2006, 2583. 152 Richardi, NZA 2006, 881, 882.

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Gleichbehandlung sonstiger Gruppen

Rz. 45 Europ. Arbeitsrecht

bisherige Ausnahmeregelung des § 611a Abs. 1 Satz 2 BGB (Zulässigkeit einer unzulässigen Benachteiligung bei „unverzichtbarer Voraussetzung“) findet sich in veränderten Form nun in § 8 Abs. 1 AGG.

3. Gleichbehandlung sonstiger Gruppen Dem Ziel, einen weiterreichenden Diskriminierungsschutz in der Europäi- 43 schen Union zu gewährleisten, dienen zwei Richtlinien aus dem Jahre 2000, die zu einem kontroversen juristischen Diskurs zum europäischen Arbeitsrecht geführt hatten: die Richtlinie 2000/43/EG vom 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft153 und die Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf154. Die Richtlinien wurden auf Grundlage des Art. 13 EG (heute Art. 19 AEUV) erlassen155. Ihr ausdrücklich genannter Zweck ist es, einen allgemeinen Rahmen zur Be- 44 kämpfung der Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft (so Art. 1 Richtlinie 2000/43/EG), sowie der Diskriminierung wegen der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf (so Art. 1 Richtlinie 2000/78/EG) zu schaffen. Untersagt sind unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen, die im jeweiligen Art. 2 der Richtlinien näher definiert werden. Mittelbare Diskriminierungen können – entsprechend den allgemeinen europarechtlichen Grundsätzen – sachlich gerechtfertigt sein, sofern sie einem rechtmäßigen Ziel dienen und zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Sog. unerwünschte Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit den genannten Differenzierungskriterien stehen und bezwecken oder bewirken, dass die Würde der betreffenden Person verletzt und ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird, sind ebenfalls als Diskriminierung zu behandeln. Gleiches gilt für die Anweisung, eine Person zu diskriminieren. Das Diskriminierungsverbot richtet sich – ausweislich des jeweiligen Art. 3 45 der Richtlinien – an alle Personen im öffentlichen und privaten Bereich, in Bezug auf die Bedingungen für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, den Zugang zu allen Formen der Berufsberatung, Berufsausbildung, beruflichen Weiterbildung und Umschulung, für die Beschäftigungsund Arbeitsbedingungen, die Mitgliedschaft und Mitwirkung in einer Arbeitnehmer-, Arbeitgeber- oder einer Berufsorganisation, den Sozialschutz, soziale Vergünstigungen, die Bildung und den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich Wohnraum (vgl. Art. 3 der Richtlinien, wobei Richtlinie 153 ABl. Nr. L 180, v. 19.7.2000, 22, ber. ABl. Nr. L 199, v. 5.8.2000, 86. 154 ABl. Nr. L 303, v. 2.12.2000, 16. Vgl. zu den beiden Richtlinien aus der Literatur Bauer, NJW 2001, 2672; Nickel, NJW 2001, 2668; Thüsing, ZfA 2001, 397; Waddington/Bell, CMLR 2001, 587. 155 Vgl. Art. 16 Richtlinie 2000/43/EG und Art. 18 Richtlinie 2000/78/EG.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 46

Gleichbehandlung sonstiger Gruppen

2000/78/EG in Art. 3 Abs. 3, 4 für ihren Anwendungsbereich bestimmte Einschränkungen vorsieht). Die Richtlinien treffen daher in besonderer Weise den Arbeitssektor; vor allem Arbeitgeber müssen ihr Verhalten den Richtlinienerfordernissen anpassen. Dies gilt insbesondere für die Integration behinderter Arbeitnehmer. Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG sieht ausdrücklich vor, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen hat, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, die Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Der europäische Gesetzgeber trägt der verstärkten Inpflichtnahme der Akteure auf dem Arbeitsmarkt in Art. 11 Richtlinie 2000/43/EG und Art. 13 Richtlinie 2000/78/EG Rechnung: Danach treffen die Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Förderung des sozialen Dialogs zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern mit dem Ziel, die Verwirklichung des Gleichbehandlungsgrundsatzes durch Überwachung der betrieblichen Praxis, durch Tarifverträge, Verhaltenskodizes, Forschungsarbeiten oder durch einen Austausch von Erfahrungen und bewährten Lösungen voranzubringen. 46 Die jeweiligen Art. 4 beider Richtlinien sowie Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG weichen das Diskriminierungsverbot teilweise auf: Erstere ermöglichen es den Mitgliedstaaten, Ausnahmetatbestände festzulegen, die besondere berufliche Erfordernisse berücksichtigen. Dem Letzteren zufolge können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel (z.B. Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt etc.) gerechtfertigt und verhältnismäßig sind. Der Prüfungsmaßstab des EuGH ist uneinheitlich. Allein zu Fragen der Altersdiskriminierung hat der EuGH bereits acht Mal mit zum Teil ganz unterschiedlicher Kontrolldichte entschieden. Die Spannbreite reicht von einer bloßen Willkürprüfung bis hin zu einer Kohärenzkontrolle des nationalen Rechts156. 47 Art. 5 Richtlinie 2000/43/EG und Art. 7 Richtlinie 2000/78/EG lassen ähnlich wie Art. 157 Abs. 4 AEUV Maßnahmen zur positiven Förderung der benachteiligten Gruppen (sog. Affirmative action) zu. Im Übrigen stellen die Richtlinien lediglich Mindestanforderungen für den Diskriminierungsschutz in den Mitgliedstaaten auf, untersagen indes eine Absenkung des von den Mitgliedstaaten bereits garantierten Schutzniveaus. 48 Des Weiteren haben die Mitgliedstaaten nicht nur einen angemessenen Rechtsschutz diskriminierter Personen unter Hinzuziehung entsprechender Interessenverbände sicherzustellen, sondern auch die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um den Einzelnen vor Benachteiligungen in Reaktion auf seine Rechtsverfolgung – sog. Viktimisierung – zu schützen (Art. 7, 9 Richtlinie 2000/43/EG, Art. 9, 11 Richtlinie 2000/78/EG). Eine erleichterte Rechtsverfolgung soll auch durch die in der Richtlinie vorgeschriebene Beweislastverteilung ermöglicht werden: Die potenziell benachteiligte Person muss nur Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer Diskriminierung vermuten 156 Überblick bei Höpfner, ZfA 2010, 449.

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Individualarbeitsrecht

Rz. 51 Europ. Arbeitsrecht

lassen; dem Beklagten obliegt es dann, zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat. Abweichungen sind für Verfahren möglich bzw. vorgesehen, in denen der Amtsermittlungsgrundsatz gilt157. Ebenfalls der Durchsetzung der Richtlinienbestimmungen dienen die Art. 15 Richtlinie 2000/43/EG und Art. 17 Richtlinie 2000/78/EG, die die Mitgliedstaaten verpflichten, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen festzuschreiben und durchzusetzen. Auch die beiden letztgenannten Richtlinien wurden durch das AGG in natio- 49 nales Recht umgesetzt. Es enthält neben dem Verbot der Geschlechtsdiskriminierung ein Benachteiligungsverbot in Bezug auf Rasse, ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Identität (vgl. § 1 AGG). Für die Merkmale der Religion bzw. Weltanschauung und des Alters enthalten die §§ 9 und 10 AGG Sonderregelungen, z.B. für Religionsgemeinschaften als Arbeitgeber (§ 9 AGG) und im Hinblick auf beschäftigungsfördernde Maßnahmen (§ 10 Satz 3 Nr. 1 AGG).

4. Individualarbeitsrecht Das europäische Arbeitsrecht beeinflusst auch außerhalb des (klassischen) An- 50 tidiskriminierungsrechts die jeweiligen nationalen Individualarbeitsrechte der Mitgliedstaaten. Die europäischen Vorgaben in Richtlinienform bedürfen der Umsetzung in nationales Recht. Sie streben keine vollständige Rechtsvereinheitlichung an, sondern wollen die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf der Basis von Mindeststandards und vereinzelt der Koordinierung (Beispiel: Entsenderichtlinie) harmonisieren158. Der europarechtliche Ursprung der nationalen Gesetze darf nicht aus den Augen verloren werden, denn nationales Recht kann, wenn es gegen unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmungen verstößt, unanwendbar sein159. Außerdem ist es richtlinienkonform auszulegen160. Die wichtigsten Richtlinien auf dem Gebiet des Individualarbeitsrechts werden im Folgenden vorgestellt. 4.1 Befristung Der Rat hat bislang zwei Richtlinien erlassen, die sich mit befristeten Arbeits- 51 verhältnissen befassen: (1) die Richtlinie 91/383/EWG vom 25.7.1991 zur Ergänzung der Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von Arbeitnehmern mit befristetem Arbeitsverhältnis oder Leiharbeitsverhältnis161 und (2) die Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28.7.1999 157 Zur Beweislast vgl. Art. 8 Richtlinie 2000/43/EG und Art. 10 Richtlinie 2000/78/EG. 158 Vgl. Schiek, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2007, S. 30 ff. 159 EuGH, Urt. v. 19.1.1982 – Rs. 8/81, Slg. 1982, 53 – Becker. 160 EuGH, Urt. v. 10.4.1984 – Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 – von Colson und Kamann; zur richtlinienkonformen Auslegung ausf. Höpfner, Die systemkonformen Auslegung, 2008, S. 249 ff. 161 ABl. Nr. L 206, v. 29.7.1991, 19; zum Inhalt und zum Stand der Umsetzung auch Schüren, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, 1994, Rz. 492 ff. Vgl. außerdem Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 290 f.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 52

Individualarbeitsrecht

zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge162. 52 Dem Erlass der Richtlinie 91/383/EWG, die sich auf Art. 118a EWGV (jetzt Art. 153 AEUV) stützt, liegt der Befund zugrunde, dass Arbeitnehmer mit befristetem Arbeitsverhältnis oder Leiharbeitsverhältnis in einigen Bereichen generell in höherem Maße als andere Beschäftigte der Gefahr von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten ausgesetzt sind. Diese zusätzliche Gefährdung könne durch eine angemessene Unterrichtung und Unterweisung zu Beginn des Arbeitsverhältnisses verringert werden. Entsprechend gibt die Richtlinie den Mitgliedstaaten auf, die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit die o.g. Arbeitnehmer vor Aufnahme einer Tätigkeit über die Risiken, denen sie ausgesetzt sein können, unterrichtet werden (Art. 3, 7) und eine ausreichende, den besonderen Merkmalen des Arbeitsplatzes entsprechende Unterweisung erhalten (Art. 4). Über Art. 5 können die Mitgliedstaaten den Einsatz der o.g. Arbeitnehmer verbieten, sofern Arbeiten mit besonderen Gefahren für die Sicherheit oder Gesundheit der Arbeitnehmer verbunden sind; ansonsten haben sie in solchen Fällen eine angemessene besondere ärztliche Überwachung der Arbeitnehmer sicherzustellen. Art. 6 soll die Unterrichtung von Diensten, die mit Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Gefahrenverhütung beauftragt sind, vom Einsatz der o.g. Arbeitnehmer sicherstellen. Nach Art. 8 soll die Verantwortung des entleihenden Unternehmens für die Bedingungen der Arbeitsausführung normiert werden. 53 Die Richtlinie 1999/70/EG dient – gestützt auf Art. 155 Abs. 2 AEUV – der Durchführung einer zwischen UNICE, CEEP und EGB am 18.3.1999 geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (zu dieser Rechtsetzungsmöglichkeit Rz. 6). Sie selbst regelt lediglich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die zwischen den europäischen Sozialpartnern ausgehandelte Rahmenvereinbarung durchzuführen, welche die eigentlichen materiellen Vorschriften über befristete Arbeitsverhältnisse enthält. Die Vereinbarung bezweckt einerseits, die Qualität befristeter Arbeitsverhältnisse durch Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung zu verbessern; andererseits zielt sie darauf, einen Rahmen zu schaffen, der den Missbrauch durch aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge verhindert (§ 1). Dementsprechend sieht § 4 Nr. 1 vor, dass befristet beschäftigte Arbeitnehmer in ihren Beschäftigungsbedingungen nur, weil für sie ein befristeter Arbeitsvertrag gilt, gegenüber vergleichbaren Dauerbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden dürfen, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung wäre aus sachlichen Gründen gerechtfertigt. Auch gelten – vorbehaltlich sachlicher Gründe – für befristet beschäftigte Arbeitnehmer dieselben Betriebszugehörigkeitszeiten 162 ABl. Nr. L 175, v. 10.7.1999, 43, ber. ABl. Nr. L 244, v. 16.9.1999, 64; zu Entstehungsgeschichte und Inhalt Dieball, in: Buschmann/Dieball/Stevens-Bartol, Das Recht der Teilzeitarbeit, 2. Aufl. 2001, 193 ff.; Wank/Börgmann, RdA 1999, 383 ff. Vgl. außerdem Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2010, S. 113 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 18 Rz. 251; Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 291 ff. Zur Umsetzung der Richtlinie durch das deutsche Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) Bauer, BB 2001, 2473.

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Individualarbeitsrecht

Rz. 55 Europ. Arbeitsrecht

wie für Dauerbeschäftigte (§ 4 Nr. 4). Um Missbrauch durch aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge zu vermeiden, sollen sachliche Gründe festgelegt werden, die die Verlängerung solcher Verträge rechtfertigen; wahlweise kann zusätzlich oder stattdessen die insgesamt maximal zulässige Dauer aufeinander folgender Arbeitsverträge und/oder die zulässige Zahl der Verlängerungen solcher Verträge begrenzt werden (§ 5 Nr. 1). § 6 fordert eine Information der befristet Beschäftigten über in ihrem Unternehmen oder Betrieb frei werdende unbefristete Stellen, sowie ihren Zugang zu Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Eine der bedeutendsten EuGH-Entscheidungen für das Arbeitsrecht erging in 54 der Rechtssache Mangold zu § 14 Abs. 3 TzBfG163. Der Arbeitgeber hatte sich auf diese Vorschrift berufen, die eine sachgrundlose Befristung ab dem 58. Lebensjahr zuließ, wobei die Altersgrenze bis zum Ende des Jahres 2006 auf 52 Jahre herabgesetzt war. Der EuGH hält § 14 Abs. 3 TzBfG für europarechtswidrig. Zwar war schon vor der Entscheidung gesehen worden, dass die Vorschrift gegen Europarecht verstoßen könnte, das – wie gezeigt – auch eine Altersdiskriminierung verbietet. Ein Verstoß der nationalen Norm gegen eine Richtlinie führt jedoch nach bisherigem Verständnis im (sog. horizontalen) Verhältnis zwischen privatem Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht zur Unanwendbarkeit der nationalen Vorschrift164. Der EuGH kam demgegenüber zu dem aus deutscher Sicht überraschenden Ergebnis, das nationale Gericht habe § 14 Abs. 3 TzBfG unangewendet zu lassen. In dem zu entscheidenden Fall hatte dies die Unwirksamkeit der Befristung zur Folge. Allerdings hat der EuGH sein Urteil nicht allein auf die Richtlinie 1999/70/EG 55 oder die Richtlinie 2000/78/EG gestützt. Der EuGH argumentiert vielmehr mit dem „Verbot der Diskriminierung wegen des Alters“ als „allgemeinem Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“ und erhebt es damit zum Bestandteil des Primärrechts165. Für das nationale Recht sind daraus zwei Konsequenzen zu ziehen: Zum einen gilt das Verbot der Altersdiskriminierung unabhängig von den umzusetzenden Richtlinien. Zum anderen ergeben sich Konsequenzen – im Fall Mangold die Unwirksamkeit der Befristung – nicht allein im vertikalen Verhältnis zwischen Bürger und Staat, sondern auch horizontal, also unmittelbar zwischen Privaten. Auf Grundlage dieser Erwägungen führt der EuGH aus, eine Differenzierung nach dem Alter sei zwar nicht generell unzulässig, müsse aber im Verhältnis zum Ziel (hier: Beschäftigungsförderung) verhältnismäßig sein. Dies hat der EuGH bei § 14 Abs. 3 TzBfG verneint, weil die Vorschrift oh163 EuGH, Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, NJW 2005, 3695. Vgl. Bauer/Arnold, NJW 2006, 6; Dzida, DB 2006, 1897; Henssler/Strick, ZAP 2006, 199; Höpfner, ZfA 2010, 449; Preis, NZA 2006, 401; Reichold, ZESAR 2005, 474. 164 Hinzu kommt, dass die Umsetzungsfrist der Richtlinie zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht abgelaufen war. 165 Henssler/Strick, ZAP 2006, 199 weisen darauf hin, dass die „Erfindung“ primärrechtlicher Grundsätze „aus dem Nichts“ beim EuGH schon Tradition hat. So hat der EuGH bspw. das Recht des Arbeitnehmers auf freie Wahl des Arbeitgebers (EuGH, Urt. v. 16.12.1992 – Rs. C-132/91 u.a., Slg. 1992 I, 6577, 6609 – Katsikas) und den allgemeinen Gleichheitssatz (EuGH, Urt. v. 19.10.1977 – Rs. 117/76 verb. mit Rs. 16/77, Slg. 1977, 1753, 1770 – Ruckdeschel) als Grundsätze des Primärrechts eingeordnet.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 55a

Individualarbeitsrecht

ne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls eine Befristung bis zum Ausscheiden aus dem Arbeitsleben gestatte. Ein solcher Umstand könne beispielsweise die vorherige Arbeitslosigkeit eines Arbeitnehmers sein. Es reiche aber – wie es bei § 14 Abs. 3 TzBfG der Fall war – nicht aus, wenn sich dieser Zweck nur aus der Gesetzesbegründung, nicht aber aus der Norm selbst ergebe. 55a

Die Bedeutung der Mangold-Entscheidung geht über die Unanwendbarkeit vom § 14 Abs. 3 TzBfG hinaus. Das Urteil zwingt dazu, im gesamten Arbeitsrecht aufmerksam darauf zu achten, dass nationale Regelungen nicht altersdiskriminierend sind. Dies erweist sich als besonders schwierig, da das deutsche Arbeitsrecht häufig mit Altersdifferenzierung arbeitet (vgl. nur § 1 Abs. 3 KSchG; § 622 Abs. 3 BGB)166. Darüber hinaus kann nicht ausgeschlossen werden, dass der EuGH auch andere Diskriminierungsverbote (Religion, Weltanschauung, Behinderung, Herkunft etc.) zu Grundsätzen des Primärrechts erheben wird. Diesbezüglich ist bei der Rechtsanwendung besondere Vorsicht geboten.

55b

Auch Altersgrenzen in Tarif- oder Arbeitsverträgen stellen Höchstbefristungen des Arbeitsverhältnisses dar. In seinem Urteil vom 16.10.2007 (Palacios de la Villa)167 entschied der EuGH, dass das in der Richtlinie 2000/78/EG konkretisierte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die tarifliche Altersgrenzen zulässt, sofern die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu einem Zeitpunkt erfolgt, in dem der Arbeitnehmer Anspruch auf Bezug einer gesetzlichen Rente hat. Dies soll jedoch nur gelten, sofern derartige Regelungen durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Im fraglichen Fall betrachtete der EuGH die Beschäftigungsförderung und Senkung der Arbeitslosigkeit als legitimes Ziel und die entsprechende Altersgrenze als ein verhältnismäßiges Mittel. Die Mitgliedstaaten und die Sozialpartner verfügten insofern über einen weiten Ermessensspielraum. Mit dieser Entscheidung wurde im Ergebnis die Europarechtskonformität von § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG, der die Richtlinie 2000/78/EG umsetzt, bestätigt168. Das Palacios-Urteil ließ jedoch einige Fragen offen. Insbesondere blieb das Verhältnis zur Mangold-Entscheidung unklar169. Bei Mangold ging es um die Ungleichbehandlung durch den Gesetzgeber, der in Umsetzung europäischen Rechts tätig wurde. Bei Palacios lag hingegen eine Ungleichbehandlung durch den Arbeitgeber vor170. In seinem Urteil vom 19.1.2010 (Kücükdeveci)171 bekräftigte der EuGH nun die Herleitung des primärrechtlichen Verbots der Altersdiskriminierung in der Mangold-Entscheidung. Gleichwohl ist die Kontrolldichte, die der Gerichtshof bei der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen aufgrund des Alters praktiziert, nicht einheitlich. Sie reicht von einer

166 Vgl. auch Kokott, RdA 2006, Sonderbeilage Heft 6, 30 ff. 167 EuGH v. 16.10.2007 – C-411/05, NJW 2007, 3339 ff. (Palacios de la Villa). 168 So auch Reichold, ZESAR 2008, 49, 50; Temming, NZA 2007, 1193, 1193; offen gelassen von Bayreuther, DB 2007, 2425, 2426; a.A. Bertelsmann, AiB 2007, 689, 692. 169 Vgl. hierzu ausführlich Temming, NZA 2007, 1193, 1196 ff. 170 Vgl. Thüsing, RdA 2008, 51, 52. 171 EuGH, Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07, NJW 2010, 427 ff.

32 Henssler

Individualarbeitsrecht

Rz. 58 Europ. Arbeitsrecht

bloßen Willkürprüfung bis hin zu einer echten Kohärenzkontrolle des nationalen Rechts172. 4.2 Teilzeit Ebenfalls nach dem Rechtsetzungsverfahren des sozialen Dialogs erließ der 56 Rat am 15.12.1997 die Richtlinie 97/81/EG zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit173 (zum Rechtsetzungsverfahren Rz. 6). Da das Vereinigte Königreich aufgrund des Protokolls über die Sozialpolitik aus dem Jahre 1992 zunächst nicht Partei des Sozialabkommens war, auf dessen Grundlage (Art. 4 Abs. 2) die Richtlinie 97/81 erging, sich am sozialen Dialog vielmehr erst seit seiner Integration in den EGVertrag durch den Amsterdamer Vertrag beteiligt, wurde es erforderlich, die Richtlinie 97/81/EG mittels eines gesonderten Rechtsakts, der Richtlinie 98/23/EG des Rates vom 7.4.1998174, auf das Vereinigte Königreich zu erstrecken. Ziel der mit dem Erlass der Richtlinien durchgeführten Rahmenvereinbarung 57 ist es, Diskriminierungen von Teilzeitbeschäftigten zu beseitigen und die Qualität der Teilzeitarbeit zu verbessern. Außerdem soll die Entwicklung der Teilzeitarbeit gefördert und ein Beitrag zur flexiblen Organisation der Arbeitszeit geleistet werden (§ 1 Rahmenvereinbarung). Entsprechend normiert § 4 der Rahmenvereinbarung den Grundsatz der Nichtdiskriminierung. Teilzeitbeschäftigte dürfen in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil sie teilzeitbeschäftigt sind, gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung wäre aus objektiven Gründen gerechtfertigt. Es gilt der Pro-rata-temporisGrundsatz. Allerdings dürfen die Mitgliedstaaten und/oder Sozialpartner, wenn dies aus sachlichen Gründen gerechtfertigt ist, den Zugang zu besonderen Beschäftigungsbedingungen von einer bestimmten Betriebszugehörigkeitsdauer, der Arbeitszeit oder Lohn- und Gehaltsbedingungen abhängig machen (§ 4 Nr. 1, 2, 4 Rahmenvereinbarung). § 5 der Rahmenvereinbarung enthält Vorgaben zur Förderung der Teilzeitarbeit. Danach obliegt es den Mitgliedstaaten und Sozialpartnern, die einzelstaatlichen Vorschriften, welche die Teilzeitarbeit beschränken können, zu identifizieren, zu prüfen und ggf. zu beseitigen. Die Arbeitgeber sollen durch näher bestimmte Maßnahmen den Wechsel von Voll- zu Teilzeitarbeit und umgekehrt ermöglichen und erleichtern. 4.3 Arbeitnehmerüberlassung Die bereits dargestellte (Rz. 52) Richtlinie 91/383/EWG vom 25.6.1991 zur Er- 58 gänzung der Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von Arbeitnehmern mit befristetem Arbeitsverhältnis oder Leih172 Vgl. hierzu Höpfner, ZfA 2010, 449. 173 ABl. Nr. L 14, v. 20.1.1998, 9; abgedruckt auch in RdA 1997, 363 ff., ber. ABl. Nr. L 128, v. 30.4.1998, 71. Vgl. dazu auch Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2010, 109 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 18 Rz. 213. 174 ABl. Nr. L 131, v. 5.5.1998, 10.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 59

Individualarbeitsrecht

arbeitsverhältnis175 sieht Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von Leiharbeitern vor. Weitergehend regelt nunmehr die Richtlinie 2008/104/EG vom 19.11.2008 über Leiharbeit die Arbeitsbedingungen von Leiharbeitern. Sie ist bis zum 5.12.2011 umzusetzen. Die Richtlinie will ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Flexibilität und Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt schaffen und sowohl Arbeitnehmern als auch Arbeitgebern helfen, die durch die Globalisierung gebotenen Chancen zu nutzen (Erwägungsgrund 9). Die Grundausrichtung der Richtlinie gibt der Erwägungsgrund 14 vor: „Die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für Leiharbeitnehmer sollten mindestens denjenigen entsprechen, die für diese Arbeitnehmer gelten würden, wenn sie von dem entleihenden Unternehmen für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt würden.“ Dementsprechend kommt dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern mit regulären Arbeitnehmern (Art. 5 Abs. 1) zentrale Bedeutung zu. Die Mitgliedstaaten können nach Anhörung der Sozialpartner entweder selbst von dem Gleichbehandlungsgrundsatz abweichen (Art. 5 Abs. 2) oder den Sozialpartnern die Möglichkeit einräumen, die Arbeitsbedingungen von Leiharbeitnehmern in Tarifverträgen zu regeln (Art. 5 Abs. 2). Dabei muss aber der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern gewahrt bleiben. Nach Art. 5 Abs. 5 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, einem Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung entgegenzuwirken. Schließlich müssen Verstöße gegen die Richtlinie durch Leiharbeitsunternehmen und entleihende Unternehmen effektiv sanktioniert werden (Art. 10). 4.4 Entsendung von Arbeitnehmern 59 Am 16.12.1996 erließ die Europäische Gemeinschaft die Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (Entsenderichtlinie)176. Den Anlass zur Verabschiedung der Richtlinie gab der durch Arbeitnehmerentsendung entstandene Sozialkostenwettbewerb in der Baubranche. Nach Art. 6 Abs. 2 EVÜ177 richteten sich die Arbeitsverträge der entsandten Arbeitnehmer grundsätzlich nach deren Heimatrecht. Etwas anderes galt lediglich, wenn die Arbeitnehmer nur eingestellt wurden, um in einem anderen Staat zu arbeiten178. Diese Rechtslage führte dazu, dass Arbeitnehmer aus Niedriglohnländern gegen Zahlung geringer Entgelte in die Hochlohnländer entsandt wurden. Wettbewerber und Arbeitnehmer aus den Hochlohnländern gerieten dadurch in Auftragsnot und unter Kostendruck. Ziel der Entsenderichtlinie ist es, einen fairen Wettbewerb sowie Rechte der Arbeitnehmer zu garantieren179. Die Entsenderichtlinie trifft daher vom EVÜ abweichende Regelungen über das bei Entsendung von Arbeitnehmern anzuwendende Recht. Dies ist gem. Art. 20 EVÜ möglich. 175 ABl. Nr. L 206, v. 29.7.1991, 19. 176 ABl. Nr. L 18, v. 21.1.1997. Vgl. zur Entsenderichtlinie Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 295 ff.; Lunk, DB 2001, 1934 ff. 177 Römisches EWR-Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht v. 19.6.1980, BGBl. 1986 II, 810. 178 Zum Kollisionsrecht vgl. auch (8)-(11) der Begründungserwägung zur Richtlinie. 179 Vgl. (5) Begründungserwägung zur Richtlinie.

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Rz. 62 Europ. Arbeitsrecht

Art. 1 legt den Anwendungsbereich der Richtlinie fest. Sie gilt für Unterneh- 60 men mit Sitz in einem Mitgliedstaat, die im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen Arbeitnehmer in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats entsenden (Abs. 1)180, nicht hingegen für Schiffsbesatzungen von Unternehmen der Handelsmarine (Abs. 2). Entsandt ist nach Art. 2 Abs. 1 jeder Arbeitnehmer, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet. Art. 3 Abs. 1 verpflichtet die Mitgliedstaaten, dafür Sorge zu tragen, dass die Unternehmen die in dem Empfangsstaat geltenden Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen bezüglich folgender Regelungsgegenstände garantieren: Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten, bezahlten Mindestjahresurlaub, Mindestlohnsätze, Überstundensätze, Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften, Sicherheit, Gesundheitsschutz und Hygiene am Arbeitsplatz, Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Schwangeren und Wöchnerinnen, Kindern und Jugendlichen, Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie andere Nichtdiskriminierungsbestimmungen. Dies gilt nicht für Endmontage- und/oder Einbauarbeiten, die Bestandteil eines Liefervertrags sind, die für die Inbetriebnahme der gelieferten Güter unerlässlich sind und von Facharbeitern und/oder angelernten Arbeitern des Lieferunternehmens ausgeführt werden, wenn die Dauer der Entsendung acht Tage nicht übersteigt (Art. 3 Abs. 2)181. Die europarechtliche Zulässigkeit der Entsenderichtlinie wurde aus unter- 61 schiedlichen Gründen in Frage gestellt182: So wurden Zweifel angemeldet, ob Art. 64 Abs. 2, 74 AEUV die richtige Ermächtigungsgrundlage sei183, ob ein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip vorliege und ob die Richtlinie mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar sei. Bedenken eines generellen Verstoßes der Richtlinie gegen die Dienstleistungsfreiheit184 dürften aufgrund der Rechtsprechung des EuGH185 aber ausgeräumt sein. 4.5 Nachweis der Arbeitsbedingungen Am 14.10.1991 erließ der Rat die Richtlinie über die Pflicht des Arbeitgebers 62 zur Unterrichtung des Arbeitnehmers über die für seinen Arbeitsvertrag oder sein Arbeitsverhältnis geltenden Bedingungen (sog. Nachweisrichtlinie)186. 180 Nähere Bestimmung der unter die Richtlinie fallenden Maßnahmen in Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie. 181 Über Art. 3 Abs. 4 und 5 (1) können die Mitgliedstaaten in Teilbereichen abweichende Regelungen erlassen. 182 Kritisch auch Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 296 ff. 183 Steck, EuZW 1994, 140 ff. 184 Hierzu Bieback, RdA 2000, 207, 211. 185 EuGH v. 15.3.2001 – Rs. C-165/98, EuZW 2001, 315 ff.; EuGH v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99, ZIP 2002, 273. 186 RL 91/533/EWG, ABl. Nr. L 288, v. 18.10.1991, 32; hierzu Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2010, S. 104 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 18 Rz. 1 ff.; Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 265 ff.; Schaefer, Nachweisgesetz, 2000, S. 1 ff.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 63

Individualarbeitsrecht

Ziel der Richtlinie ist einerseits eine Angleichung der unterschiedlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken können. Andererseits soll sie auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte hinwirken187. Zugrunde liegt die Erkenntnis, dass eine mangelnde Kenntnis der Arbeitsbedingungen die Mobilität von Arbeitskräften be- und verhindert. Entsprechend sieht Art. 2 eine Informationspflicht des Arbeitgebers über die wesentlichen Punkte des Arbeitsvertrags vor; dazu gehören die Personalien der Parteien, der Arbeitsplatz, die Amtsbezeichnung des Arbeitnehmers, eine Beschreibung der Arbeit, der Zeitpunkt des Beginns und die Dauer des Arbeitsvertrags, Dauer des Jahresurlaubs, Kündigungsfristen, Arbeitsentgelt, Arbeitszeit und die Angabe geltender Tarifverträge. Die Unterrichtung hat spätestens zwei Monate nach der Arbeitsaufnahme schriftlich zu erfolgen (Art. 3). Art. 4 der Richtlinie fordert darüber hinaus eine Information der Arbeitnehmer, die ihre Arbeit länger als einen Monat in einem anderen Land als dem Mitgliedstaat ausüben müssen, dessen Rechtsvorschriften ihr Arbeitsvertrag unterliegt. Sie sind zu informieren über die Dauer der im Ausland ausgeübten Arbeit, die Währung, in der das Arbeitsentgelt ausgezahlt wird, die mit dem Auslandsaufenthalt verbundenen Vorteile in Geld und in Naturalien und ggf. die Bedingungen der Rückführung des Arbeitnehmers. Außerdem verlangt Art. 5 eine schriftliche Information über sämtliche Änderungen der mitteilungspflichtigen Tatsachen spätestens innerhalb eines Monats nach deren Wirksamwerden. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, den Arbeitnehmern zur Geltendmachung ihrer Rechte gerichtlichen Schutz zu gewähren (Art. 8). 63 Der Europäische Gerichtshof hatte sich in zwei grundlegenden Entscheidungen188 mit der Auslegung der Nachweisrichtlinie zu befassen. Dabei erhielt er die Gelegenheit, die Informationspflicht des Arbeitgebers nach Art. 2 der Richtlinie zu konkretisieren. Er urteilte, dass nationale Regelungen, die es dem Arbeitgeber erlauben, die Unterrichtung des Arbeitnehmers stets auf die bloße Bezeichnung seiner Tätigkeit zu beschränken, den Anforderungen des Art. 2 der Richtlinie nicht gerecht werden189. Aus Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie folge die Verpflichtung des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer von einer Vereinbarung in Kenntnis zu setzen, wonach der Arbeitnehmer auf bloße Anordnung des Arbeitgebers zur Leistung von Überstunden verpflichtet ist190. 64 Daneben setzte sich der Gerichtshof insbesondere mit den materiell-rechtlichen und prozessualen Folgen von Verstößen gegen die Informationspflicht bzw. Fehlern bei der Information auseinander. Die Richtlinie gebiete es nicht, Arbeitsvertragsbestimmungen, die nicht oder nicht hinreichend genau in einem dem Arbeitnehmer ausgehändigten Schriftstück aufgeführt sind, als un-

187 Vgl. die Begründungserwägungen zur Richtlinie. 188 EuGH, Urt. v. 4.12.1997 – verb. Rs. C-253/96 bis C-258/96, Slg. 1997, S. I-6907 – Kampelmann; EuGH, Urt. v. 8.2.2001 – Rs. C-350/99, JZ 2001, 1025 – Lange/Schünemann GmbH. 189 Vgl. EuGH, Urt. v. 4.12.1997 – verb. Rs. C-253/96 bis C-258/96, Slg. 1997, S. I-6907 – Kampelmann. 190 EuGH, Urt. v. 8.2.2001 – Rs. C-350/99, JZ 2001, 1025 – Lange/Schünemann GmbH.

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Rz. 66 Europ. Arbeitsrecht

wirksam zu betrachten191. Für den Fall der Nichterfüllung der in der Richtlinie vorgeschriebenen Unterrichtungspflicht durch den Arbeitgeber werde dem nationalen Gericht weder vorgeschrieben noch verboten, die Grundsätze des nationalen Rechts anzuwenden, die eine Beweisvereitelung annehmen, wenn eine Prozesspartei gesetzlichen Dokumentationspflichten nicht nachgekommen ist192. Machen die Arbeitnehmer geltend, sie seien über wesentliche Punkte ihres Arbeitsvertrags unrichtig unterrichtet worden, so spreche für die Richtigkeit der Unterrichtungsmitteilung eine ebenso starke Vermutung, wie sie im innerstaatlichen Recht einem solchen vom Arbeitgeber ausgestellten und dem Arbeitnehmer übermittelten Dokument zukommen würde. Der Beweis des Gegenteils sei jedoch zulässig. 4.6 Arbeitsentgelt bei Insolvenz des Arbeitgebers Am 20.10.1980 hat der Rat der Europäischen Gemeinschaften – gestützt auf 65 Art. 100 EGV (heute Art. 114 AEUV) – eine Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers erlassen (sog. Insolvenzrichtlinie, 80/987/EWG)193. Zugrunde lag der Befund, es seien Bestimmungen notwendig, die die Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers schützten und insbesondere die Zahlung ihrer nicht erfüllten Ansprüche unter Berücksichtigung der Notwendigkeit einer ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Union gewährleisteten. Zwischen den Mitgliedstaaten bestünden in Bezug auf den Umfang des Arbeitnehmerschutzes Unterschiede, die sich auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes unmittelbar auswirken könnten194. Die Insolvenzrichtlinie wurde durch die Richtlinie 2002/74/EG195 vom 23.9.2002 präzisiert und zum Teil ausgeweitet. Die Richtlinie gilt ausweislich ihres Art. 1 Abs. 1 für Ansprüche von Arbeit- 66 nehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber, die zahlungsunfähig sind. Gemäß Art. 2 Abs. 1 gilt ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig, wenn die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers beantragt und die Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder eines vergleichbaren Verfahrens beschlossen oder mangels Masse abgewiesen worden ist. Nach Art. 3 Abs. 1 haben die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit Garantieeinrichtungen die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche der Arbeitnehmer aus Arbeitsverhältnissen, die 191 EuGH, Urt. v. 8.2.2001 – Rs. C-350/99, JZ 2001, 1025 – Lange/Schünemann GmbH. 192 EuGH, Urt. v. 8.2.2001 – Rs. C-350/99, JZ 2001, 1025 – Lange/Schünemann GmbH. 193 ABl. Nr. L 283, v. 28.10.1980, 23; vgl. dazu Eichenhofer, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Stand 11/1999, D. III, Rz. 51 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 18 Rz. 170 ff.; Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 379 ff.; Schiek, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2009, S. 287 ff. 194 Vgl. Begründungserwägungen der Richtlinie. 195 Richtlinie 2002/74/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.9.2002 zur Änderung der Richtlinie 80/987/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. L 270, v. 8.10.2002, 10.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 67

Individualarbeitsrecht

das Arbeitsentgelt für den vor einem bestimmten Zeitpunkt liegenden Zeitraum196 betreffen, sicherstellen. Dabei bleibt es den Mitgliedstaaten überlassen, die Einzelheiten des Aufbaus, der Mittelaufbringung und der Arbeitsweise der Garantieeinrichtungen festzulegen. Sie haben lediglich die in Art. 5 näher umschriebenen Grundsätze zu beachten. Über Art. 7 und 8 erstreckt sich der zu schaffende Schutz der Arbeitnehmer im Fall einer Arbeitgeberinsolvenz auch auf die Sicherung der gesetzlichen Sozialleistungsansprüche trotz insolvenzbedingtem Ausbleibens der Sozialversicherungsbeiträge, sowie auf die Sicherung der Ansprüche aus betrieblicher Altersversorgung. Art. 8a und 8b sehen Regelungen für grenzübergreifende Fälle vor. 67 Die Insolvenzrichtlinie bildete den Anlass für das grundlegende FrancovichUrteil197 des Europäischen Gerichtshofs, dem folgender Sachverhalt zugrunde lag: Der italienische Staat setzte die Richtlinie nicht fristgerecht in nationales Recht um. Herr Francovich, dessen Arbeitgeber in Konkurs gefallen war und dem deshalb sein rückständiges Arbeitsentgelt nicht gezahlt wurde, klagte gegen die Italienische Republik auf die in der Richtlinie vorgesehenen Mindestgarantieleistungen, hilfsweise auf Schadensersatz. Im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens (jetzt Art. 267 AEUV) wurden dem EuGH Auslegungsfragen zur Insolvenzrichtlinie gestellt. Der EuGH entschied, dass die Richtlinie nicht unmittelbar anwendbar sei, weil es an ihrer hinreichenden Genauigkeit hinsichtlich des Schuldners der Garantieansprüche fehle198. Es entspreche aber einem Grundsatz des Unionsrechts, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet seien, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstünden, die diesem Staat zuzurechnen seien. Damit erkannte der EuGH erstmals einen Staatshaftungsanspruch gegen die Mitgliedstaaten wegen gesetzgeberischen Unterlassens an, den er in der Folgezeit weiterentwickelte. 68 Nach der Rechtsprechung des EuGH sind sowohl die Richtlinienbestimmungen über die Feststellung des Personenkreises, dem die Garantie zugutekommen soll, als auch diejenigen über den Inhalt der Garantie so genau und unbedingt, dass sich ein Einzelner vor einem nationalen Gericht auf eine in einer Richtlinie enthaltene Bestimmung berufen kann, auch wenn diese Bestimmung nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt wurde199. Macht der Mitgliedstaat sich unter Ausschöpfung des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums selbst zum Schuldner der nach der Richtlinie 80/987 garantierten Lohnforderungen, so ist die nicht umgesetzte Richtlinie auch insofern unmittelbar anwendbar200. 196 Dieser Zeitpunkt ist nach Wahl der Mitgliedstaaten der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit, die Kündigung des betr. Arbeitnehmers wegen der Zahlungsunfähigkeit oder alternativ der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder die Beendigung des Arbeitsvertrags des betr. Arbeitnehmers wegen der Zahlungsunfähigkeit. 197 EuGH, Urt. v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6 u. 9/90, Slg. 1991, I-5357 – Francovich; vertiefend HWK/Tillmanns, 4. Aufl. 2010, Vorb. AEUV Rz. 20. 198 Zu den Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen vgl. bereits oben Rz. 5. 199 Vgl. zuletzt EuGH, Urt. v. 18.10.2001 – Rs. C-441/99, n.v. – Riksskatteverket/Soghra Gharehveran. 200 Vgl. zuletzt EuGH, Urt. v. 18.10.2001 – Rs. C-441/99, n.v. – Riksskatteverket/Soghra Gharehveran.

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Rz. 70 Europ. Arbeitsrecht

4.7 Arbeitszeit Ebenfalls dem Schutz der Arbeitnehmer, aber auch der Schaffung einheitlicher 69 Wirtschaftsbedingungen im gesamten Unionsgebiet, diente die am 23.11.1993 erlassene Richtlinie 93/104/EG des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung201. Die Richtlinie wurde inzwischen aufgehoben und durch die Richtlinie 2003/88/EG vom 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ersetzt202. Die Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung; ihr Gegenstand sind die täglichen (Art. 3) und wöchentlichen (Art. 5) Mindestruhezeiten, der Mindestjahresurlaub (Art. 7)203, die Ruhepausen (Art. 4), und die wöchentliche Höchstarbeitszeit (Art. 6) sowie bestimmte Aspekte der Nacht- und der Schichtarbeit (Art. 8–11) und des Arbeitsrhythmus (Art. 13). Unter in den Art. 17 f. festgelegten Voraussetzungen können die Mitgliedstaaten bzw. die Tarifpartner von den Vorgaben der Richtlinie abweichen. Mit der Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG hatte sich der EuGH aufgrund einer 70 Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV) des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland (VK) zu befassen. In seiner Entscheidung vom 12.11.1996204 erklärte er Art. 5 Abs. 2, wonach die wöchentliche Ruhezeit den Sonntag grundsätzlich einschließt, für ungültig. Diese Vorschrift sei nicht von der für die Richtlinie gewählten Ermächtigungsgrundlage des Art. 118a EGV (heute Art. 153 AEUV) gedeckt. Nach Art. 118a EGV bemühen sich die Mitgliedstaaten, die Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt zu fördern, um die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen, und setzen sich die Harmonisierung der in diesem Bereich bestehenden Bedingungen bei gleichzeitigem Fortschritt zum Ziel. Der EuGH gelangte zu der Auffassung, dass zwischen Sonntagsarbeit und Gesundheitsschutz kein Zusammenhang bestehe. 201 ABl. Nr. L 307, v. 13.12.1993, 18. Dazu Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 18 Rz. 289 ff.; Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 277 ff. 202 ABl. Nr. L 299, v. 18.11.2003, 9; auch die vorher ergangene Änderungsrichtlinie 2003/34 wurde aufgehoben. 203 Da Art. 7 Abs. 1 der (alten) Richtlinie 93/104 lediglich eine Mindesturlaubslänge festlegte, befand der EuGH, dass staatliche Vorschriften, die einen längeren Jahresurlaub vorsehen, nicht gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoßen, selbst wenn sie diese Regelung auf entsandte Arbeitnehmer erstrecken, die von in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Dienstleistern entsandt wurden (vgl. EuGH, Urt. v. 25.10.2001 – verb. Rs. C-49/98, C-50/98, C-52/98 bis C-54/98 und C-68/98 bis C-71/98, BB 2001, 2648 – Finalarte Sociedade de Construção Civil Lda/Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft u.a.). Dagegen erlaubt es Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/104 einem Mitgliedstaat nicht, eine nationale Regelung zu erlassen, nach der ein Arbeitnehmer einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erst dann erwirbt, wenn er eine ununterbrochene Mindestbeschäftigungszeit von dreizehn Wochen bei demselben Arbeitgeber zurückgelegt hat (EuGH, Urt. v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99, EuZW 2001, 605 – Broadcasting, Entertainment, Cinematographic and Theatre Union). 204 EuGH, Urt. v. 12.11.1996 – Rs. C-84/94, Slg. 1994, I-5755 – VK/Rat; dazu Schiek, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2007, S. 294 ff.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 71

Individualarbeitsrecht

71 Großes Aufsehen hat der EuGH mit seiner Simap-Entscheidung205 erregt, in der er sich mit der Auslegung der Richtlinie 93/104/EG zu befassen hatte. Der EuGH urteilte, dass der Bereitschaftsdienst der Ärzte der Teams zur medizinischen Grundversorgung in Form persönlicher Anwesenheit in der Gesundheitseinrichtung die charakteristischen Merkmale des Begriffes der Arbeitszeit aufweise, denn es handele sich um eine Zeitspanne, während derer ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Vorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeite, dem Arbeitgeber zur Verfügung stehe und seine Tätigkeit ausübe oder Aufgaben wahrnehme. Die Verpflichtung der Ärzte, sich zur Erbringung ihrer beruflichen Leistungen am Arbeitsplatz aufzuhalten und verfügbar zu sein, sei als Bestandteil der Wahrnehmung ihrer Aufgaben anzusehen, also Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie, auch wenn die tatsächlich geleistete Arbeit von den Umständen abhänge. Das BAG hat daraufhin jedoch eine richtlinienkonforme Auslegung des Arbeitszeitgesetzes aus systematischen und historischen Gründen abgelehnt206. Im Urteil Jäger vom 9.9.2003 betonte der Gerichtshof, Bereitschaftsdienst sei Arbeitszeit207. In der Rechtssache Pfeiffer hat der EuGH bei einer erneuten Entscheidung über den deutschen Bereitschaftsdienst – in diesem Fall für einen Rettungsassistenten208 – eine richtlinienkonforme Auslegung nachdrücklich eingefordert. Zum 1.1.2004 hat der Gesetzgeber daraufhin das Arbeitszeitgesetz geändert209. Zweifelhaft bleibt, ob die derzeitige Regelung den europarechtlichen Anforderungen genügt210. Aktuelle Probleme ergeben sich für Tarifverträge, die mit den europarechtlichen Regelungen in Konflikt geraten. Diese sind ebenfalls richtlinienkonform auszulegen211. 72 Vom Bereitschaftsdienst ist nach Ansicht des EuGH die Rufbereitschaft zu unterscheiden: Wenn Ärzte in Teams zur medizinischen Grundversorgung ständig erreichbar sein müssten, ohne jedoch zur Anwesenheit in der Gesundheitseinrichtung verpflichtet zu sein, können sie über ihre Zeit verfügen und eigenen Interessen nachgehen; unter diesen Umständen sei nur die Zeit, die für die tatsächliche Erbringung von Leistungen der medizinischen Grundversorgung aufgewandt werde, als Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie anzusehen. 4.8 Arbeitnehmerdatenschutz 73 Regelungen, die ausschließlich den Datenschutz von Arbeitnehmern zum Gegenstand haben, sind auf europäischer Ebene bislang nicht erlassen worden.

205 EuGH, Urt. v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98, EuZW 2001, 53 – Simap. Dazu Litschen, NZA 2001, 1355 ff.; Rixen, EuZW 2001, 421 ff. und Schliemann, NZA 2006, 1009 ff. 206 BAG, Urt. v. 18.2.2003 – 1 ABR 2/02, AP Nr. 12 zu § 611 BGB Bereitschaftsdienst mit Anm. Henssler/Henke, SAE 2004, 275 ff. Zu den Grenzen richtlinienkonformer Auslegung vgl. Höpfner, JbJZRWiss 2009, 73; Höpfner, EuZW 2009, 159. 207 EuGH, Urt. v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02, AP Nr. 7 zu EWG Richtlinie 94/104. 208 EuGH, Urt. v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 u.a., AP Nr. 12 zu EWG-Richtlinie 93/104. 209 BGBl. 2003 I, S. 3002, 3005 f. 210 Vertiefend Schliemann, NZA 2004, 513; Schliemann, NZA 2006, 1009. 211 EuGH, Urt. v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, AP Nr. 12 zu EWG-Richtlinie 93/104; Schliemann, NZA 2006, 1009.

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Individualarbeitsrecht

Rz. 76 Europ. Arbeitsrecht

Zu beachten ist aber die durch das Ministerkomitee des Europarats am 74 18.1.1999 erlassene Empfehlung zum Schutz personenbezogener Daten für Beschäftigungszwecke212. Außerdem hat der Europarat bereits am 28.1.1981 das Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten (Konvention 108)213 verabschiedet, das völkerrechtlich verbindlich, aber nicht self-executing ist214. Die Europäische Gemeinschaft folgte am 24.10.1995 mit der sog. Datenschutz- 75 richtlinie, der Richtlinie 95/46/EG zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr215. Die Richtlinie lehnt sich im Wesentlichen an das deutsche Datenschutzrecht an, brachte aber folgende wesentliche Änderungen: Aufgabe der Trennung zwischen öffentlichem und nicht-öffentlichem Bereich, Ausweitung des Verarbeitungsbegriffs, Lösung vom Dateibegriff, Einführung einer Zweckbindung, Unterscheidung zwischen sensitiven und nicht-sensitiven Daten216. Mit ca. zweieinhalbjähriger Verspätung hat der Gesetzgeber die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht vollzogen217. 4.9 Betriebsübergang Von besonders großer praktischer Relevanz sind seit jeher die Richtlinien des 76 Rates zum Betriebsübergang, der nunmehr in der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen218 kodifiziert ist. Die Richtlinie löst aus Gründen der Klarheit und Übersichtlichkeit die Richtlinie 77/187/EWG vom 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben und Betriebsteilen219 und die Richtlinie 98/50/EG vom 29.6.1998 zur Änderung der Richtlinie 77/187/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unter-

212 Abgedruckt in RDV 1990, S. 41, vgl. MünchArbR/Blomeyer, § 99 Rz. 9. 213 Abgedruckt in Dammann/Simitis, Textsammlung Datenschutzrecht, 9. Aufl. 2005. 214 Vgl. MünchArbR/Blomeyer, 2. Aufl. 2000, § 99 Rz. 9 m.w.N. 215 ABl. Nr. L 281, v. 23.11.1995, 31; abgedr. auch in EuZW 1996, 557 ff., geänd. durch VO 1882/2003 v. 29.9.2003, ABl. Nr. L 284, v. 31.10.2003, 1; dazu Erfurter Kommentar/Wank, 10. Aufl. 2010, Einl. BDSG Rz. 11; Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 18 Rz. 972 ff.; Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 267 ff.; MünchArbR/Blomeyer, 2. Aufl. 2000, § 99 Rz. 9; Schild, EuZW 1996, 549 jeweils m.w.N. 216 Vgl. Erfurter Kommentar/Wank, Einl. BDSG Rz. 11; MünchArbR/Blomeyer, § 99, Rz. 9 jeweils m.w.N. 217 BGBl. 2001 I, S. 904; vgl. auch Erfurter Kommentar/Wank, BDSG, Einl. Rz. 11; Tinnefeld, NJW 2001, 3078 ff. 218 ABl. Nr. L 82, v. 22.3.2001, 16, ber. ABl. Nr. L 61, v. 2.3.2002, 66 und ABl. Nr. L 76, v. 19.3.2002, 15. 219 ABl. Nr. L 61, v. 5.3.1977, 26.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 77

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nehmen, Betrieben oder Betriebsteilen220 ab. Sie verfolgt eine doppelte Zielsetzung: Zum einen sollen die Arbeitnehmer bei einem Inhaberwechsel geschützt und insbesondere die Wahrnehmung ihrer Ansprüche gewährleistet werden. Zum anderen galt es, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Arbeitsschutz zu harmonisieren, um Hindernisse für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes abzubauen221. 77 Nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. a erstreckt sich der Anwendungsbereich der Richtlinie auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung222 oder durch Verschmelzung. Die privat- oder öffentlich-rechtliche Rechtsform des Unternehmens, sowie die Verfolgung eines Erwerbszwecks ist unerheblich (Art. 1 Abs. 1 Buchst. b). Art. 1 Abs. 1 Buchst. b definiert nunmehr in Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH223 als Übergang im Sinne der Richtlinie den Übergang einer ihre Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit. Der Begriff der Einheit bezieht sich damit auf eine organisierte Gesamtheit von Personen und Sachen zur dauerhaften Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeit. Ihre Identität, die im Wege einer Einzelfallbewertung zu ermitteln ist, folgt vor allem aus dem Personal, den Führungskräften, der Arbeitsorganisation, den Betriebsmethoden und den zur Verfügung stehenden Betriebsmitteln224. Die bloße Fortsetzung einer Tätigkeit durch einen anderen Rechtsträger (Funktionsnachfolge) genügt für einen Betriebs- oder Betriebsteilübergang nicht225. Das gilt auch nach der neuesten Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Klarenberg226. Zwar be220 ABl. Nr. L 201, v. 17.7.1998, 88; ber. ABl. Nr. L 290, v. 17.11.2000, 55. Dazu Eichenhofer, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Stand: 11/1999, D. III, Rz. 44 ff.; Franzen, RdA 1999, 361 ff.; Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2010, S. 236 ff.; Gaul, BB 1999, 526 ff., 582 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 18 Rz. 37 ff.; Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 363 ff.; Willemsen/Annuß, NJW 1999, 2073 ff. 221 Erwägungsgründe zur Richtlinie 77/187/EWG. 222 Nicht erforderlich ist ein Vertrag zwischen Inhaber und Erwerber; vgl. EuGH, Urt. v. 17.12.1987 – Rs. 287/86, Slg. 1987, 5465 – Landsorganisationen i Danmark for Tjenerforbundet i Danmark/Ny Mølle Kro; EuGH, Urt. v. 10.2.1988 – Rs. 324/86, Slg. 1988, 739 – Tellerup/Daddy’s Dance Hall; EuGH, Urt. v. 5.5.1988 – verb. Rs. 144 und 145/87, Slg. 1988, 2559 – Berg/Besselsen; Schiek, Europäisches Arbeitsrecht, 1997, S. 152. 223 So ausdrücklich der 4. Erwägungsgrund zur Richtlinie 98/59/EWG; vgl. EuGH, Urt. v. 19.5.1992 – Rs. C-29/91, Slg. 1992, I-3189 – Redmond Stichting; EuGH, Urt. v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92, Slg. 1992, I-1311– Christel Schmidt; EuGH, Urt. v. 11.3.1997 – verb. Rs. C-13/95 und C-172/94, Slg. 1997, I-1259 – Ayse Süzen; EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – C-51/00, BB 2002, 464 – Temco Service Industries SA/Samir Imzilyen mit Anm. Thüsing. Zum Betriebsbegriff Waas, ZfA 2001, 377 ff. 224 EuGH, Urt. v. 7.3.1996 – Rs. C-171/94, Slg. 1996, I-1253, Rz. 17 – Merckx und Neuhuys; Gaul, BB 1999, 526; ausführlich dazu HWK/Willemsen, 2. Aufl. 2006, § 613a BGB Rz. 88 ff. 225 EuGH, Urt. v. 11.3.1997 – verb. Rs. C-13/95 und C-172/94, Slg. 1997, I-1259 – Ayse Süzen. 226 EuGH, Urt. v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07, Slg. 2009, I-803, NJW 2009, 2029 – Klarenberg.

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Rz. 78 Europ. Arbeitsrecht

darf es weder eines Übergangs materieller Aktiva (Betriebsmittel) zur eigenwirtschaftlichen Nutzung227 (entgegen der früher h.M.228) noch der Beibehaltung der organisatorischen Eigenständigkeit beim Erwerber229. Jedoch muss die funktionelle Verknüpfung zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren aufrechterhalten bleiben230. Fälle der Auftragsnachfolge können, müssen aber nicht, Betriebsübergänge i.S. der Richtlinie 2001/23/EG sein231, selbst wenn der Auftragnehmer an fremden Geräten in fremden Räumen Dienstleistungen erbringt. Art. 1 Abs. 1 Buchst. c Satz 2 nimmt die Übertragung von Aufgaben im Zuge 77a einer Umstrukturierung von Verwaltungsbehörden oder bei der Übertragung von Verwaltungsaufgaben von einer Behörde auf eine andere ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Richtlinie aus. Über Art. 2 Abs. 1 erfolgt eine Definition der Begriffe „Veräußerer“, „Erwerber“, „Vertreter der Arbeitnehmer“ und „Arbeitnehmer“. Art. 2 Abs. 2 normiert, dass die Mitgliedstaaten befristete und Teilzeitarbeitsverhältnisse sowie Leiharbeitsverhältnisse bei einem Übergang des Verleihunternehmens nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließen dürfen. Der zweite Teil der Richtlinie (Art. 3–6) befasst sich mit den Ansprüchen und 78 sonstigen Rechten der Arbeitnehmer im Falle eines Betriebs- oder Unternehmensübergangs: Die individualvertraglichen Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnis gehen auf den Erwerber über (Art. 3 Abs. 1). Der Erwerber ist verpflichtet, die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrags bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrags in dem gleichen Maße aufrecht zu erhalten, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren (Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1). Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2 lässt eine Begrenzung der Aufrechterhaltung auf ein Jahr zu. Der Grundsatz des Rechtserhalts gilt allerdings – vorbehaltlich abweichender mitgliedstaatlicher Regelungen – nicht für Ansprüche auf betriebliche Alters-, Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung (Art. 3 Abs. 4 Buchst. a). Die Mitgliedstaaten sind aber verpflichtet, notwendige Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer zu treffen. Art. 3 Abs. 2 eröffnet die Möglichkeit, durch mitgliedstaatliche Maßnahmen umfangreiche Unterrichtungspflichten des Veräußerers gegenüber dem Erwerber betreffend die nach Art. 3 auf den Erwerber übergehenden Rechte und Pflichten festzuschreiben. Eine Kündigung wegen des Betriebs- oder Un227 EuGH, Urt. v. 15.12.2005 – Rs. C-232/04, NZA 2006, 29 ff. – Güney-Görres. Das BAG hat diese Vorgabe in seiner aktuellen Entscheidung zu einem Forschungsschiff als wirtschaftliche Einheit, Urt. v. 2.3.2006 – 8 AZR 147/05, NZA 2006, 1105 ff., aufgegriffen. Bestätigt durch BAG, Urt. v. 6.4.2006 – 8 AZR 249/04, NZA 2006, 1039 ff. (Bistrobewirtschaftung bei der Bahn); Urt. v. 13.6.2006 – 8 AZR 271/05, NZA 2006, 1101 ff. 228 Erfurter Kommentar/Preis, 10. Aufl. 2010, § 613a BGB Rz. 20; HWK/Willemsen, 4. Aufl. 2010, § 613a BGB Rz. 122. 229 EuGH, Urt. v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07, Slg. 2009, I-803, NJW 2009, 2029 – Klarenberg; dazu Willemsen, NZA 2009, 289. 230 Willemsen, NZA 2009, 289. 231 Henssler/Strick, ZAP 2006, 189, 196.

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ternehmens(teil)übergangs wird durch Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 untersagt. Die Bestimmung steht einer Kündigung aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen nicht entgegen232. Der bereits durch die Richtlinie 98/50/EG eingefügte Art. 5 sieht umfangreiche Regelungen für den Fall der Insolvenz des Veräußerers vor233. U.a. gelten danach die Art. 3 und 4 – vorbehaltlich abweichender Vorschriften der Mitgliedstaaten – nicht für Übergänge, bei denen gegen den Veräußerer unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle ein Insolvenzverfahren mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wurde234. 79 Besondere Probleme entstehen beim Betriebsübergang bekanntlich für Bezugnahmeklauseln235. Das LAG Düsseldorf236 war der Auffassung, die bisherige Rechtsprechung des BAG, dynamische Bezugnahmeklauseln bei Tarifbindung des Arbeitgebers in der Regel als Gleichstellungsabrede auszulegen237, verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG. Dieser fordere eine Erhaltung der Dynamik auch nach Betriebsübergang. Der EuGH ist dem nicht gefolgt. Die durch § 613a BGB umgesetzte Richtlinie gebiete es nicht, bloße Erwartungen und hypothetische Vergünstigungen des Arbeitnehmers zu schützen238. Der EuGH führt in diesem Zusammenhang aus, es könne die negative Koalitionsfreiheit des an sich tarifungebundenen Arbeitgebers tangieren, wenn er dauerhaft an fremde Tarifverträge gebunden sei. 79a

Dies ist deshalb besonders interessant, weil das BAG zeitgleich seine Rechtsprechung zur Auslegung arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln geändert hat. Danach sind nach dem 1.1.2002 vereinbarte dynamische Bezugnahmeklauseln im Zweifel nicht mehr als Gleichstellungsabrede, sondern als konstitutive Verweisungsklausel zu verstehen, die durch einen Verbandsaustritt des Arbeitgebers oder einen sonstigen Wegfall seiner Tarifgebundenheit nicht berührt werde239. Dem Arbeitnehmer bleibt damit die Dynamik erhalten. Vor diesem Hintergrund wurde die Frage aufgeworfen, ob die neue Rechtsprechung europarechtskonform ist240. Es verstoße gegen die europarechtlich garantierte und vom EuGH angesprochene negative Koalitionsfreiheit, wenn der Arbeitgeber ohne tarifrechtliche Bindung zur Anwendung künftiger Kollektivverträ-

232 Vgl. auch die Vorschriften des Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2, Abs. 2. 233 Dazu auch Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 3. 234 So auch zuvor bereits EuGH, Urt. v. 7.2.1985 – Rs. 135/83, Slg. 1985, 469 – Abels; EuGH, Urt. v. 7.2.1985 – Rs. 179/83, Slg. 1985, 511 – FNN/Niederlande; EuGH, Urt. v. 25.7.1991 – Rs. C-362/89, Slg. 1991, I-4105 – d’Urso u.a.; EuGH, Urt. v. 12.3.1998 – Rs. C-319/94, Slg. 1998, I-1061 – Dethier Equipement. 235 Vgl. HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, 4. Aufl. 2010, § 613a BGB Rz. 277 ff. 236 LAG Düsseldorf, Beschl. v. 8.10.2004 – 9 Sa 817/04, NZA-RR 2005, 148 ff. 237 Vgl. nur BAG, Urt. v. 27.11.2002 – 4 AZR 540/01, AP Nr. 29 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 238 EuGH, Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04, DB 2006, 673 ff. – Werhof. 239 BAG, Urt. v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607 ff.; BAG, Urt. v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965; zur Wahl des Stichtags vgl. Höpfner, NZA 2009, 420. 240 Meinel/Herms, DB 2006, 1429; Nicolai, DB 2006, 670; a.A. Sittard/Ulbrich, ZTR 2006, 458, 461.

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Individualarbeitsrecht

Rz. 82 Europ. Arbeitsrecht

ge gezwungen würde. Das BAG hat die unionsrechtlichen Bedenken gegen seine neue Rechtsprechung inzwischen mit ausführlicher Begründung verworfen241. Sowohl die Richtlinie als auch § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ordnen die Fortgeltung der individualrechtlichen Abreden beim Erwerber an. Es ist daher konsequent, wenn die schuldrechtliche Bindung, die der Veräußerer wirksam gegenüber seinen Arbeitnehmern eingegangen ist, auch beim Erwerber Wirkungen entfaltet242. Generell begegnet eine dynamische schuldrechtliche Bindung an Tarifverträge auch vor dem Hintergrund der negativen Koalitionsfreiheit keinen europa- und verfassungsrechtlichen Bedenken. Die den Arbeitnehmern aufgrund der Richtlinie verliehenen Rechte sind nach 80 der Rechtsprechung des EuGH im Grundsatz unverzichtbar. Dies gilt selbst dann, wenn eine vertragliche Vereinbarung dem Arbeitnehmer neben Nachteilen auch Vorteile bringt. Einvernehmliche Vertragsänderungen, die nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats zwischen Veräußerer und Beschäftigtem hätten vorgenommen werden können, sind aber zulässig243. Darüber hinaus hat der EuGH in der Rechtsache Katsikas entschieden, dass ein Übergang des Arbeitsverhältnisses auf den Erwerber bei einem Widerspruch des Arbeitnehmers dessen Persönlichkeitsrecht verletze. Was im Falle des Widerspruchs des Arbeitnehmers gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses mit dem Arbeitsverhältnis geschehe, sei von den Mitgliedstaaten zu entscheiden244. Über Art. 6 erstreckt sich der Erhalt von Arbeitnehmerrechten auch auf die be- 81 triebliche Arbeitnehmervertretung. Bleibt die Selbständigkeit des Betriebsoder Unternehmens(teils) beim Übergang erhalten, behält auch die Arbeitnehmervertretung grundsätzlich ihre Rechtsstellung und Funktion (Art 6 Abs. 1 Unterabs. 1; Ausn. Unterabs. 2 und 4245). Erlischt das Mandat der Arbeitnehmervertreter ausnahmsweise aufgrund des Übergangs, so unterliegen sie weiterhin den mitgliedstaatlich vorgesehenen Schutzmaßnahmen (Art. 6 Abs. 2)246. Art. 7 gewährt den Arbeitnehmern und ihren Vertretern umfassende Informations- und Konsultationsrechte. 4.10 Massenentlassung Zum Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen und zur Beseitigung 82 der insoweit unterschiedlichen Regelungen der Mitgliedstaaten, die sich auf den Gemeinsamen Markt unmittelbar auswirken können, hat der Rat am 17.2.1975 die Richtlinie 75/129/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen247 erlassen, die durch die Richtlinie 92/56/EWG des Rates vom 24.6.1992 zur Änderung der Rechtsvorschrif-

241 BAG, Urt. v. 23.9.2009 – 4 AZR 331/08, NJW 2010, 1831 ff. 242 Sittard/Ulbrich, ZTR 2006, 458, 461. 243 EuGH, Urt. v. 10.2.1988 – Rs. 324/86, Slg. 1988, 739 – Tellerup/Daddy’s Dance Hall. 244 EuGH, Urt. v. 16.12.1992 – Rs. C-132/91, Slg. 1992, I-6577 – Katsikas. 245 Hierzu Willemsen/Annuß, NJW 1999, 2073, 2076. 246 Vgl. zu Art. 5 Gaul, BB 1999, 582, 584 f. 247 ABl. Nr. L 48, v. 22.2.1975, 29.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 83

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ten der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen248 modifiziert wurde249. Beide Richtlinien wurden – vor allem aus Gründen der Übersichtlichkeit250 – durch die Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen251 abgelöst. 83 Art. 1 Abs. 1 lit. a definiert als Massenentlassungen solche Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus nicht in der Person der Arbeitnehmer liegenden Gründen vornimmt und die eine bestimmte, von Betriebsgröße und Entlassungszeitraum abhängige Zahl (mindestens zehn Arbeitnehmer in 30 Tagen) überschreiten. Den Entlassungen gleichgestellt werden Beendigungen des Arbeitsvertrags, die auf Veranlassung des Arbeitgebers aus nicht personenbedingten Gründen erfolgen, sofern die Zahl der Entlassungen fünf überschreitet. Den Begriff des Betriebs, der eine Bezugsgröße für die relevante Zahl der Entlassungen bildet, setzt der EuGH dem Beschäftigungsort gleich252. Beabsichtigt ein Arbeitgeber, Massenentlassungen vorzunehmen, so obliegen ihm in den Art. 2–4 näher umrissenen Informations- und Konsultationspflichten gegenüber den Arbeitnehmervertretern und der nach nationalem Recht zuständigen Behörde. Die Konsultationen erstrecken sich auf die Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden bzw. ihre Folgen durch soziale Begleitmaßnahmen abzufedern (Art. 2 Abs. 2, Art. 4 Abs. 2). Die beabsichtigten Massenentlassungen werden frühestens 30 Tage nach der Anzeige bei der zuständigen Behörde wirksam (Art. 4 Abs. 1). 84 In ständiger Rechtsprechung hatte das BAG unter „Entlassung“ i.S. von § 17 KSchG früher die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses verstanden253. Das Fehlen einer Massenentlassungsanzeige hatte danach keine Folgen für die Wirksamkeit der Kündigung, sondern hemmte nur die Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Der EuGH hat dagegen im Junk-Urteil vom 27.1.2005254 entschieden, die Richtlinie 98/59/EG sei dahingehend auszulegen, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis sei, das als Entlassung gelte. Der Arbeitgeber dürfe damit Massenentlassungen erst nach Ende des Konsultationsverfahrens und nach der Anzeige vornehmen. Aus der Richtlinienformulierung „beabsichtigte(n) Entlassung“ leitet der EuGH ab, die Entscheidung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses dürfe bei Einleitung des Konsultationsverfahrens noch nicht gefallen sein. Nach dem Urteil des EuGH ergibt sich folgendes Vorgehen: Zunächst wird der Betriebsrat informiert, spätestens zwei Wochen später kann die Anzeige an die 248 ABl. Nr. L 245, v. 26.8.1992, 3. 249 Vgl. zu diesen Richtlinien Eichenhofer, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Stand: 11/1999, D.III, Rz. 43; Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 18 Rz. 190 ff.; Valverde, RdA 1998, 216; Wißmann, RdA 1998, 221. 250 Vgl. Erwägungsgrund 1 zur Richtlinie 98/59/EG. 251 ABl. Nr. L 225, v. 12.8.1998, 16, ber. ABl. Nr. L 37, v. 12.2.2000, 35 und ABl. Nr. L 271, v. 15.10.2005, 55. 252 EuGH, Urt. v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93, Slg. 1995, I-4291 – Rockfon. 253 Zuletzt BAG, Urt. v. 13.4.2000 – 2 AZR 215/99, AP Nr. 13 zu § 17 KSchG 1969; Urt. v. 24.2.2005 – 2 AZR 207/04, AP Nr. 20 zu § 17 KSchG 1969. 254 EuGH, Urt. v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03, NJW 2005, 1099 ff.

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Rz. 84a Europ. Arbeitsrecht

Arbeitsagentur erfolgen und weitere 30 Tage später dürfen Kündigungen ausgesprochen werden255. Das BAG musste im Anschluss zwei Fragen beantworten: 1. Kann § 17 KSchG richtlinienkonform dahingehend ausgelegt werden, dass „Entlassung“ als Zugang der Kündigungserklärung zu verstehen ist? 2. Ist den von der neuen Auslegung betroffenen Arbeitgebern, die – wie bisher üblich – das Konsultations- und Anzeigeverfahren erst nach der Kündigung durchgeführt haben, Vertrauensschutz zu gewähren?

Der Zweite Senat des BAG hat in seiner Entscheidung vom 23.3.2006 beide Fragen bejaht256. Für die Praxis steht damit fest, dass unter „Entlassung“ i.S. von § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG der Ausspruch der Kündigung zu verstehen ist. Allerdings hat das BAG offen gelassen, ob eine verspätete Massenentlassungsanzeige nun zwingend zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung führt. Die Arbeitgeber, die in Kenntnis der ständigen Rechtsprechung und der Verwaltungspraxis der Arbeitsagenturen das Verfahren nach § 17 KSchG verspätet eingeleitet haben, schützt das BAG durch Gewährung von Vertrauensschutz bis zum 27.1.2005. Es sei eine unzumutbare Härte, wenn sich der Arbeitgeber auf die bisherige allgemein anerkannte Rechtsprechung und Behördenpraxis nicht verlassen dürfe257. Aktuell sind jedoch zwei weitere Fragen zum Verfahren der Massenentlassung 84a ungeklärt: 1. Darf der Arbeitgeber die beabsichtigten Massenentlassungen erst nach dem Ende der Konsultationen mit dem Betriebsrat gem. § 17 Abs. 3 Satz 2 und 3 KSchG der Bundesagentur für Arbeit anzeigen? 2. Zu welchem Zeitpunkt ist das Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG abgeschlossen?

Der Achte Senat des BAG hatte die erste Frage unter Hinweis auf § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG mit Urteil vom 21.5.2008 dahingehend entschieden, dass die Massenentlassungsanzeige an die Agentur für Arbeit auch ohne Stellungnahme des Betriebsrats wirksam ist, wenn diese nachgereicht wird und der Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Anzeigeerstattung unterrichtet worden ist258. Das BVerfG hob die Entscheidung auf, weil das BAG die Frage nicht im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens dem EuGH vorgelegt hatte259. Das BAG wird somit den EuGH anrufen müssen; der Ausgang ist offen. Die zweite Frage hatte das BAG dahingehend beantwortet, dass die Beratung nach § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG keine Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat über den Abschluss eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans voraussetze260. Die fehlende Vorlage an den EuGH in dieser Rechtsfrage hat 255 Vgl. Henssler/Strick, ZAP 2006, 189 f. 256 BAG v. 23.3.2006 – 2 AZR 343/05, BB 2006, 197 ff. 257 So auch LAG Köln, Urt. v. 10.5.2005 – 1 Sa 1510/04, BB 2005, 1860; LAG Hamm, Urt. v. 8.7.2005 – 7 Sa 512/05, NZA-RR 2005, 578; LAG Niedersachsen, Urt. v. 11.8.2005 – 7 Sa 1256/04, NZA-RR 2006, 16. 258 BAG v. 21.5.2008 – NZA 2008, 753. 259 BVerfG v. 25.2.2010 – 1 BvR 230/09, NJW 2010, 1268. 260 BAG v. 21.5.2008 – NZA 2008, 753.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 85

Individualarbeitsrecht

das BVerfG nicht beanstandet, da die Rechtslage im Unionsrecht eindeutig sei261. Die Rechtsfrage kann also als geklärt gelten. 4.11 Urlaub 85 Wie schon die Vorgängerrichtlinie 93/104/EG vom 23.11.1993262 sieht die Richtlinie 2003/88/EG263 vom 4.11.2003 in Art. 7 einen bezahlten Mindestjahresurlaub jedes Arbeitnehmers von vier Wochen vor. Die Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung des Urlaubs richten sich nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften. Die Umsetzung der Richtlinie in Deutschland erfolgte 1994 durch Änderung der gesetzlichen Mindesturlaubsdauer in § 3 Abs. 1 BUrlG von zuvor 18 auf 24 Werktage. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub ein „besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaften“264. Zudem sieht Art. 31 Abs. 2 der seit 1.12.2009 verbindlichen GR-Charta nun ein „Recht auf bezahlten Jahresurlaub“ vor. 85a

Gem. § 7 Abs. 3 BUrlG muss Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung auf das nächste Kalenderjahr ist nur zulässig, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Wichtigster Fall ist die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers. Doch selbst wenn dringende Gründe vorliegen, muss der Urlaub bis spätestens zum 31.3. des Folgejahres gewährt und genommen werden. Ansonsten verfällt er ersatzlos (arg. e contrario aus § 7 Abs. 4 BUrlG). Nach ständiger Rechtsprechung des BAG gelten diese Grundsätze auch, wenn es dem arbeitsunfähigen Arbeitnehmer wegen Langzeiterkrankung nicht möglich war, den Urlaub zu nehmen265. Nach Vorlage der 12. Kammer des LAG Düsseldorf entschied der EuGH in der Rechtssache Schultz-Hoff, dass Abs. 3 und 4 des § 7 BUrlG gegen Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verstoßen266. Der Urlaubsanspruch dürfe nicht nach Ablauf eines Übertragungszeitraums erlöschen, wenn der Arbeitnehmer während des gesamten Bezugszeitraums oder eines Teils davon krankgeschrieben gewesen sei und seine Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses fortgedauert habe.

85b

Das BAG hat daraufhin seine Rechtsprechung geändert und § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG richtlinienkonform dahingehend fortgebildet, dass gesetzliche Urlaubsansprüche nicht erlöschen, wenn Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder Übertragungszeitraums arbeitsunfähig erkrankt sind. Die für die 261 BVerfG v. 25.2.2010 – 1 BvR 230/09, NJW 2010, 1268. 262 Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23.11.1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, ABl. Nr. L 307, v. 13.12.1993, 18. 263 Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, ABl. Nr. L 299, v. 18.11.2003, 9. 264 EuGH, Urt. v. 10.9.2009 – Rs. C-277/08, Slg. 2009, I-8405 – Pereda; EuGH, Urt. v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06 und C-520/06, Slg. 2009, I-179 – Schultz-Hoff. 265 BAG v. 13.5.1982 – 6 AZR 360/80, BAGE 39, 53; BAG v. 21.6.2005 – 9 AZR 200/04, AP Nr. 11 zu § 55 InsO. 266 EuGH, Urt. v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06 und C-520/06, Slg. 2009, I-179 – SchultzHoff.

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Kollektives Arbeitsrecht

Rz. 86a Europ. Arbeitsrecht

teleologische Reduktion erforderliche Regelungslücke soll sich nach Auffassung des BAG daraus ergeben, dass aus der Gesetzgebungsgeschichte des BUrlG kein Anhaltspunkt für eine den Richtlinienzielen widersprechende Zielsetzung des deutschen Gesetzgebers hervorgehe. In Anbetracht der Tatsache, dass § 7 BUrlG aus dem Jahr 1963 stammt und zuletzt 1974, also fast 20 Jahre vor Inkrafttreten der ersten Arbeitszeitrichtlinie, geändert wurde, kann die auf den Umsetzungswillen des Gesetzgebers gestützte Begründung nicht überzeugen. Trotz berechtigter Kritik hält der Neunte Senat des BAG an seiner Rechtsprechung fest267. Vertrauensschutz gewährt er lediglich für Altfälle aus der Zeit vor Ablauf der Frist zur Umsetzung der ersten Arbeitszeitrichtlinie am 24.11.1996268.

5. Kollektives Arbeitsrecht Die Europäische Union hat auf dem Gebiet des kollektiven Arbeitsrechts nur 86 eine eingeschränkte Kompetenz. Gemäß Art. 153 Abs. 6 AEUV ist die EU nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht zuständig269. Nichtsdestotrotz nimmt das kollektive Arbeitsrecht einen immer größeren Stellenwert in Europa ein. Die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände der Mitgliedstaaten haben längst ihre Dachverbände auf europäischer Ebene gegründet. Die Wichtigsten sind die Union der Industrieund Arbeitgeberverbände Europas (UNICE), der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP) und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB). Die Zusammenarbeit der Sozialpartner fand seit 1985 in den Val Duchesse-Gesprächen ihre Grundlage und wird bei regelmäßigen Treffen seitdem fortgeführt. Regelrechte europäische Tarifverträge mit normativer Wirkung gibt es bislang allerdings noch nicht270. Der erste Schritt in diese Richtung wurde jedoch durch die Einführung des sozialen Dialogs unternommen (dazu Rz. 5). Das Arbeitskampfrecht bleibt durch die ausdrückliche Bestimmung des 86a Art. 153 Abs. 6 AEUV grundsätzlich den Mitgliedstaaten vorbehalten. Größere Rechtsetzungsaktivitäten hat die Europäische Union im Bereich der Arbeitnehmerbeteiligung vorgenommen. Gemäß Art. 153 Abs. 1 AEUV hat die EU die Regelungskompetenz zur Festsetzung von Mindestvorschriften durch Richtlinien zum Bereich „Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer“, wobei durch Abs. 3 klargestellt wird, dass die Regelung der Vertretung und der kollektiven Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschließlich der Mitbestimmung, einer einstimmigen Entscheidung des Rates bedarf. Im Rahmen dieses Kompetenzbereichs hat die Europäische Union Richtlinien zum Europäischen Betriebsrat, zur Arbeitnehmermitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft sowie zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer erlassen. 267 268 269 270

BAG v. 4.5.2010 – 9 AZR 183/09. BAG v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, NZA 2010, 810. Siehe aber Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 387 ff. Vgl. Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2010, 271 ff.; Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 390 ff.

Henssler

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 86b 86b

Kollektives Arbeitsrecht

Der EuGH hat die Bereichsausnahme des Art. 153 Abs. 6 AEUV jedoch durch die Urteile in den Rechtssachen Viking Line271 und Laval272 eingeschränkt. Danach können grenzüberschreitende Arbeitskämpfe gegen die europäischen Grundfreiheiten, insbesondere gegen Art. 49 und 56 AEUV, verstoßen. Der Gerichtshof kehrt das in Deutschland bekannte Regel-Ausnahme-Verhältnis um: Während Arbeitskämpfe nach Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich rechtmäßig sind und ihr Verbot einer rechtlichen Begründung bedarf, stehen auf europäischer Ebene die Grundfreiheiten im Vordergrund. Arbeitskämpfe, die in Grundfreiheiten des Arbeitgebers eingreifen, sind danach grundsätzlich rechtswidrig und bedürfen in jedem Einzelfall einer Rechtfertigung273. 5.1 Europäischer Betriebsrat

87 Der europäische Betriebsrat war lange Zeit das einzige Projekt im kollektiven Arbeitsrecht, das die Europäische Union erfolgreich abgeschlossen hat. Seit der Richtlinie 94/45/EG vom 22.9.1994 gibt es die Möglichkeit, Europäische Betriebsräte in europaweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen zu erzwingen274. Vorangegangen waren bereits freiwillige Vereinbarungen in multinationalen Unternehmensgruppen über die Beteiligung von Arbeitnehmern auf europäischer Ebene abseits der Vorgaben des jeweiligen nationalen Arbeitsrechts275. Auch die Richtlinie setzt zunächst auf eine freiwillige Vereinbarung in den Unternehmen. 88 Anwendbar sind die Regelungen der Richtlinie in europaweit operierenden Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen, die nach Art. 2 Abs. 1a mindestens 1000 Voll- oder Teilzeitbeschäftigte in mindestens zwei Mitgliedstaaten der

271 EuGH, Urt. v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, NZA 2008, 124 ff. (Viking Line). 272 EuGH, Urt. v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, NZA 2008, 159 ff. (Laval). 273 Dazu Henssler, ZfA 2010, 397, 402 ff. 274 Richtlinie 94/45 EG des Rates v. 22.9.1994 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, ABl. Nr. L 254, v. 30.9.1994, 64, geänd. durch Richtlinie 97/74/EG v. 15.12.1997, ABl. Nr. L 10, v. 16.1.1998, 22 und Richtlinie 2006/109/EG v. 22.9.1994, ABl. Nr. L 363, v. 20.12.2006, 416. Eine Vereinbarung der Sozialpartner über den Europäischen Betriebsrat im Rahmen des sozialen Dialogs war dagegen Ende März 1994 gescheitert. Siehe im Einzelnen zu der Richtlinie Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2010, 301 ff.; Gaul, NJW 1995, 228; Goos, NZA 1994, 776; Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 19 Rz. 22 ff.; Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 396 ff.; Schiek, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2007, 310 ff. Zur Umsetzung der Richtlinie im Vereinigten Königreich Kilian, RdA 2001, 166. 275 Europäische Betriebsräte gab es bereits vor Verabschiedung der Richtlinie z.B. bei der Airbus Industrie, Allianz, Bayer, BSN-Gervais-Danone, Bull, Continental, ElfAquitaine, Ford, Gilette, Grundig, Hoechst, Mercedes Benz, Norsk-Hydro, Renault, Rhône-Poulenc-Rorer, Thyssen, VW. Die Vereinbarungen wurden nach Inkrafttreten der Bestimmungen zum Europäischen Betriebsrat den neuen Voraussetzungen regelmäßig angepasst; vgl. u.a. Lorenz/Zumfelde, RdA 1998, 168.

50 Henssler

Kollektives Arbeitsrecht

Rz. 90 Europ. Arbeitsrecht

EU276 haben und in mindestens zwei Betrieben bzw. Unternehmen in verschiedenen Mitgliedstaaten jeweils mindestens 150 Arbeitnehmer beschäftigen277. Nationale Regelungen über die Arbeitnehmerbeteiligung und die Mitbestimmung werden durch die Richtlinie nicht verdrängt. Betriebsräte, die nach dem Recht der Mitgliedstaaten erforderlich sind, werden also durch die Entstehung zusätzlicher Europäischer Betriebsräte nicht betroffen. Auf Initiative der zentralen Unternehmensleitung oder auf schriftlichen An- 89 trag von mindestens 100 Arbeitnehmern aus mindestens zwei Betrieben oder Unternehmen in verschiedenen Mitgliedstaaten sind Verhandlungen zu führen über die Einrichtung von Verfahren über die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer bei grenzüberschreitenden Belangen. Die Arbeitnehmer werden dabei von einem besonderen, durch Art. 5 Abs. 2 näher definierten Verhandlungsgremium vertreten, das sich aus Arbeitnehmervertretern aus den beteiligten Mitgliedstaaten zusammensetzt. Kommen die zentrale Unternehmensleitung und das Verhandlungsgremium zu einer Einigung, so muss die Vereinbarung mindestens Bestimmungen über die betroffenen Unternehmen oder Betriebe, die Zusammensetzung des Europäischen Betriebsrats, die Befugnisse und das Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren, den Ort, die Häufigkeit und die Dauer der Sitzungen des Europäischen Betriebsrats, die für den Betriebsrat bereitzustellenden finanziellen und materiellen Mittel sowie über die Laufzeit der Vereinbarung enthalten. Gelangen die Verhandlungspartner nicht innerhalb von drei Jahren zu einer Ei- 90 nigung, kommen die subsidiären Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates zur Anwendung, in dem die zentrale Leitung ihren Sitz hat278. Für diese subsidiären Rechtsvorschriften trifft die Richtlinie in der Anlage gewisse Mindestbedingungen. Demnach ist der Europäische Betriebsrat, dessen Zusammensetzung im Einzelnen festgelegt ist, für Angelegenheiten zuständig, die das europaweit operierende Unternehmen bzw. die Gruppe insgesamt oder mindestens zwei der Betriebe in verschiedenen Mitgliedstaaten betreffen. Ausgenommen sind daher Ereignisse mit Bezug nur zu einem einzigen Mitgliedstaat. Einmal im Jahr hat die zentrale Leitung den Europäischen Betriebsrat über die grundlegenden wirtschaftlichen, finanziellen und personellen Bedingungen und Perspektiven zu unterrichten, anzuhören und diese Fragen mit ihm zu erörtern279. Treten außergewöhnliche Umstände ein, die erhebliche Auswirkungen auf die Interessen der Arbeitnehmer haben, insbesondere bei Verlegung oder Schließung von Unternehmen oder Betrieben oder bei Massenentlassungen, so hat der Europäische Betriebsrat das Recht, darüber unterrichtet und gehört zu werden. Obwohl der Europäische Betriebsrat in Anlehnung an das französische Modell der Betriebsverfassung nur Unterrichtungs- und Anhörungsrechte hat, dagegen keine echten Mitbestimmungsrechte, kann die276 Da die Regelung auch für den europäischen Wirtschaftsraum gilt, sind die Arbeitnehmer in den davon betroffenen Staaten mit einzubeziehen. 277 Die Unternehmensgruppe ist in Art. 2 Abs. 1b der Richtlinie näher definiert. 278 Ebenso wenn ein Beschluss über die Anwendung der subsidiären Rechtsvorschriften vorliegt oder wenn die Leitung die Aufnahme von Verhandlungen binnen sechs Monaten nach dem ersten Antrag verweigert. 279 Vgl. zum Umfang der Anhörungspflicht Gaul, NJW 1995, 228.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 91

Kollektives Arbeitsrecht

ses Arbeitnehmerorgan Einfluss auf die Entscheidung des europaweit operierenden Unternehmens ausüben280. 91 Im Einzelfall kann die fehlende Anhörung des Europäischen Betriebsrats sogar die Schließung von Betrieben vorläufig verhindern; so geschehen 1997 bei der geplanten Schließung des Renault-Werks Vilvoorde in Belgien. Französische Gerichte hatten die Fortführung der Schließung untersagt, solange der Europäische Betriebsrat der Renault-Gruppe nicht ordnungsgemäß unterrichtet und angehört wird281. Da sich das betroffene Werk in Belgien befand, die Schließungsentscheidung aber letztlich von Renault auf französischem Territorium getroffen wurde, lag eine Angelegenheit vor, die das europaweit operierende Unternehmen betraf. 92 Am 6.5.2009 trat die Richtlinie 2009/38/EG in Kraft282. Sie löst im Wege eines sog. „Recast“ (Neufassung) mit Ablauf der Umsetzungsfrist am 5.6.2011 die bisherigen Richtlinien 94/45/EG, 97/74/EG und 2006/109/EG ab. Bei der neuen Richtlinie handelt es sich nicht um eine grundlegende Reform. Sie enthält nur punktuelle Änderungen und erweitert die Rechte des Europäischen Betriebsrats behutsam. So definiert Art. 2 etwa die Begriffe „Unterrichtung“ und „Anhörung“ und konkretisiert den Zeitpunkt, zu dem die Unterrichtung bzw. Anhörung erfolgen muss283. 92a

Die Regelungen über den Europäischen Betriebsrat werden im Zuge der Fusionen der letzten Jahre immer mehr Unternehmen betreffen. Die Unternehmen sind gut beraten, rechtzeitig eine freiwillige Vereinbarung zu treffen, die ihnen die nötige Flexibilität sichert. 5.2 Arbeitnehmerbeteiligung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), der Europäischen Genossenschaft (SCE) und bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen

93 Seit dem 29.12.2004 ist es in Deutschland möglich, eine Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea – SE) zu gründen. Nach 30-jährigen Verhandlungen284 hat der Rat der Europäischen Union am 8.10.2001 die Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft verabschiedet285. Grund für die langen Verhandlungen war die Uneinigkeit der Mitgliedstaaten über die Form der Arbeitnehmerbeteiligung in der SE. Zu unterschied280 Kritisch Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, 404 ff. 281 TGI Nanterre v. 4.4.1997 und C. A. Versailles v. 7.5.1997, siehe dazu Lorenz/Zumfelde, RdA 1998, 168. 282 Richtlinie 2009/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6.5.2009 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, ABl. L 122, v. 16.5.2009, 28. 283 Vgl. J. Schubert, EuZW 2010, 687, 692. 284 Zur historischen Entwicklung siehe bei Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 19 Rz. 137 ff. 285 Verordnung (EG) 2157/2001 des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft, ABl. Nr. L 294, v. 10.11.2001, 1, geänd. VO 885/2004. v. 26.4.2004, ABl. Nr. L 168, v. 1.5.2004, 1 ff.

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Kollektives Arbeitsrecht

Rz. 95 Europ. Arbeitsrecht

lich sind die Beteiligungs- und Mitbestimmungsmodelle in den einzelnen Staaten der EU. Durch die gleichzeitig mit der Verordnung verabschiedete Richtlinie zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Aktiengesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer wurde im Anschluss an den Vertrag von Nizza endlich eine Einigung erzielt286. Der deutsche Gesetzgeber hat die Zweiteilung der europäischen Rechtsquellen aufgenommen. Das Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft287 führt in seinem Art. 1 das Gesetz zur Ausführung der SE-Verordnung über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE-Ausführungsgesetz – SEAG) sowie mit Art. 2 das Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SE-Beteiligungsgesetz – SEBG) ein. Die Richtlinie setzt in erster Linie ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips 94 auf freiwillige Vereinbarungen der Unternehmen mit den Arbeitnehmervertretern über die Einsetzung eines Vertretungsorgans und über dessen Anhörungs-, Unterrichtungs- und Mitbestimmungsrechte. Entsprechend der BetriebsratsRichtlinie ist nur bei Scheitern der Verhandlungen eine von den Mitgliedstaaten auszuarbeitende Auffangregelung anzuwenden. Dabei wird auch die bisherige Mitbestimmungssituation in den beteiligten Gesellschaften berücksichtigt. Ziel ist, die erworbenen Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer weitestgehend zu wahren und zu schützen. Als Überblick mag Folgendes genügen288: Unverzüglich nach Offenlegung der Pläne zur Gründung einer SE in Form der 95 Verschmelzung, der Gründung einer Holding- oder einer Tochtergesellschaft oder der Umwandlung haben die Leitungs- oder Verwaltungsorgane der beteiligten Gesellschaften die notwendigen Schritte zur Aufnahme von Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern einzuleiten (Art. 3 Abs. 1). Das Verhandlungsgremium, dessen Zusammensetzung im Einzelnen detailliert festgelegt ist, versucht dann innerhalb von sechs Monaten mit den zuständigen Organen der beteiligten Gesellschaften eine Vereinbarung über Zusammensetzung der Arbeitnehmervertretung, über Anhörungs- und Unterrichtungsbefugnisse und über die Mitbestimmung zu treffen (Art. 4 Abs. 2). Eine Verlängerung ist möglich (Art. 5 Abs. 2). Das Verhandlungsgremium beschließt mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder (Art. 3 Abs. 4). Akzeptiert das Verhandlungsgremium die Vereinbarung, kommt es zu keiner Anwendung der Auffangregelung (Art. 4 Abs. 3). Die Arbeitnehmerbeteiligung gründet fortan ausschließlich auf der Vereinbarung. Kommt es dagegen zu keiner Einigung, 286 Richtlinie 2001/86/EG des Rates v. 8.10.2001 zur Ergänzung des Status der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl. Nr. 294, v. 10.11.2001. Siehe dazu im Einzelnen Henssler, in: FS für Peter Ulmer, 2002, S. 193 ff.; Herfs-Röttgen, NZA 2001, 424; Jahn/Herfs-Röttgen, DB 2001, 631; Pluskat, EuZW 2001, 524; zur Umsetzung in Deutschland siehe Grobys, NZA 2005, 84; Henssler, in: GS für Meinhard Heinze, 2004, S. 333 ff.; Kallmeyer, ZIP 2004, 1442 ff.; Krause, BB 2005, 1221; Teichmann, ZIP 2002, 1109; Wollburg/Banerjea, ZIP 2005, 277 ff. sowie Henssler, in: Ulmer/Habersack/Henssler, MitbestR, 2. Aufl. 2006, Einl. SEBG. 287 SEEG v. 22.12.2004, BGBl. I, S 3675. 288 Zu den Einzelheiten Herfs-Röttgen, NZA 2001, 424; Henssler, in: Ulmer/Habersack/Henssler, MitbestR, 2. Aufl. 2006, Einl. SEBG.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 96

Kollektives Arbeitsrecht

gilt unter bestimmten Voraussetzungen die Auffangregelung des Mitgliedstaates, in dem die SE ihren Sitz haben wird. Will das Verhandlungsgremium einer Minderung von Mitbestimmungsrechten zustimmen, d.h. soll der Mitbestimmungsstandard unter den höchsten der beteiligten Gesellschaften fallen (Art. 3 Abs. 4 Satz 3), ist dafür grundsätzlich eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Die Hürde dieser besonderen Mehrheit entfällt, wenn die Mitbestimmung vor Gründung der SE nur eine Minderheit der Arbeitnehmer der beteiligten Gesellschaften erfasste. Bei einer Verschmelzungs-SE dürfen dies keine 25 % der Gesamtzahl der Arbeitnehmer sein, bei der Holding- oder Tochter-SE keine 50 %. Soll die SE durch eine Umwandlung gegründet werden, verbietet Art. 4 Abs. 6 der Richtlinie jede Absenkung des Mitbestimmungsstandards gegenüber dem status quo ante. 96 Jeder Mitgliedstaat ist verpflichtet, eine Auffangregelung zu schaffen, die den im Anhang der Richtlinie niedergelegten Bestimmungen genügt (Art. 7 Abs. 1). Diese Auffangregelung muss zunächst Wahl und Zusammensetzung des Vertretungsorgans festlegen. Weiter muss vorgesehen werden, dass das Vertretungsorgan mindestens einmal jährlich zusammentritt und vom Gesellschaftsorgan über transnationale Sachverhalte unterrichtet und angehört wird. Ein besonderes Unterrichtungsrecht besteht bei außergewöhnlichen Umständen, die erhebliche Auswirkungen auf die Interessen der Arbeitnehmer haben können, wie Verlegungen, Verlagerungen, Unternehmensschließungen. Die abschließende Entscheidung über die geplante Maßnahme verbleibt allerdings der Unternehmensführung. 97 Hinsichtlich der eigentlichen Mitbestimmung gilt die bisherige Mitbestimmungsregelung fort, sofern die Gründung der SE durch Umwandlung einer bislang mitbestimmten Gesellschaft vollzogen wird. Bei den anderen Gründungsformen hängt dies von der Zahl der Arbeitnehmer ab, die bislang in einem mitbestimmten Unternehmen gearbeitet haben. Dabei sind wieder die Schwellen von 25 bzw. 50 % zu berücksichtigen (vgl. Art. 7 Abs. 2). In der Auffangregelung ist festzulegen, dass die Arbeitnehmer der SE einen Teil der Mitglieder des Verwaltungs- oder Aufsichtsorgans bestellen. Diese Mitglieder sind vollberechtigte Mitglieder des Organs (Teil 3.b des Anhangs der Richtlinie). Zu einer solchen Form der Mitbestimmung muss es aber dann nicht kommen, wenn in keiner der beteiligten Gesellschaften Vorschriften über die Mitbestimmung existieren. 98 Angesichts der vielen Möglichkeiten, die den Verhandlungspartnern bzw. den Mitgliedstaaten überlassen sind, wird sich kaum ein einheitliches Arbeitnehmerbeteiligungsmodell in ganz Europa entwickeln. Die Effektivität der Beteiligung wird daher sehr von der individuellen Situation des einzelnen Unternehmens abhängen. 99 Die Regelung der Europäischen Gesellschaft dient als Vorbild für weitere EURechtsakte auf dem Gebiet des Gesellschafts- und Mitbestimmungsrechts289. 289 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union – Aktionsplan v. 21.5.2003, KOM (2003) 284 endg., S. 24.

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Kollektives Arbeitsrecht

Rz. 101 Europ. Arbeitsrecht

So wurde 2003 die Verordnung über das Statut der Europäischen Genossenschaft290 (Societas Cooperativa Europaea – SCE) und die dazu gehörende Richtlinie zur Beteiligung der Arbeitnehmer291 verabschiedet. Durch das SCE-Ausführungsgesetz und das SCE-Beteiligungsgesetz vom 14.8.2006 sind die europäischen Vorgaben in nationales Recht umgesetzt worden292. Aktuell versucht der europäische Gesetzgeber, eine europäische Kapitalgesellschaft für kleine und mittlere Unternehmen (Europäische Privatgesellschaft – SPE) zu schaffen. Das Vorhaben verzögert sich aber aufgrund des zum Teil erheblichen Widerstands einzelner Mitgliedstaaten. Nachdem die Europäische Gesellschaft (SE) und die Europäischen Genossen- 100 schaft (SCE) auf den Weg gebracht waren, trieb der Rat schließlich mit der am 26.10.2005 verabschiedeten Richtlinie 2005/56/EG293 die Rechtsangleichung bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen voran. Zwar kennen auch die SE und die SCE die Gründungsform der Verschmelzung. Während bei ihnen allerdings aufgrund der Verschmelzung neue supranationale Rechtsformen entstehen, kommt es bei der Verschmelzung im Sinne der neuen Richtlinie (nur) zur Gründung einer im Sitzstaat der entstehenden Gesellschaft bereits bekannten Rechtsform. Die europäischen Gesetzgebungsverfahren auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts weisen augenfällige Parallelen auf. Wie schon zuvor bei der SE war während des Gesetzgebungsverfahrens zur Verabschiedung der Richtlinie der Zankapfel erneut die Arbeitnehmerbeteiligung294. Mit der Einigung über die Mitbestimmung der SE lag allerdings ein Modell vor, nach dessen Vorbild auch eine Einigung über die Richtlinie 2005/56/EG möglich wurde. Gleichwohl enthält Art. 16 Richtlinie 2005/56/EG auch Abweichungen von der SE-Richtlinie. Sie beruhen darauf, dass aus der grenzüberschreitenden Verschmelzung keine europäische, sondern eine nationale Gesellschaft hervorgeht. Daher soll für die Verschmelzung soweit als möglich das nationale Recht gelten, damit die den Akteuren vertrauten Regelungen Anwendung finden295. Darüber hinaus haben die Erfahrungen mit der Umsetzung der SE-Richtlinie zu Korrekturen Anlass gegeben296. Bei der Umsetzung der Richtlinie 2005/56/EG hat der deutsche Gesetzgeber 101 die gesellschaftsrechtlichen Änderungen und die Arbeitnehmerbeteiligung separat geregelt. Zur Regelung einer grenzüberschreitenden Verschmelzung wurden in das Umwandlungsgesetz (UmwG) mit Wirkung vom 25.4.2007 die

290 Verordnung 1435/2003/EG v. 22.7.2003, ABl. L 207, v. 18.8.2003, 1 ff., im Folgenden: SCE-VO. 291 Richtlinie 2003/72/EG des Rates v. 22.7.2003 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Genossenschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl. L 207, v. 18.8.2003, 25 ff., im Folgenden: SCE-RL. 292 BGBl. I, S. 1911 und BGBl. I, S. 1911, 1917. 293 ABl. L 310, v. 25.11.2005, 1 ff. 294 Vgl. zur Entstehungsgeschichte: Heuschmid, AuR 2006, 184, 185; Nagel, NZG 2006, 97; Neye, ZIP 2005, 1893. 295 Vgl. Erwägungsgrund 3 Richtlinie 2005/56/EG. 296 Siehe insbesondere Art. 16 Abs. 4 Buchst. a Richtlinie 2005/56/EG.

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Europ. Arbeitsrecht Rz. 102

Kollektives Arbeitsrecht

§§ 122a bis 122l eingeführt297. Zudem ist am 29.12.2006 das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung (MgVG) in Kraft getreten298. 5.3 Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer 102

Neben den speziellen Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren im Rahmen von europäischem Betriebsrat und europäischer Aktiengesellschaft besteht eine allgemeine Unterrichtungs- und Anhörungspflicht auf Grundlage der Richtlinie 2002/14/EG vom 11.3.2002. Diese Richtlinie schafft keine eigenen Arbeitnehmervertretungsinstitutionen, gibt den Mitgliedstaaten aber auf, Regelungen für das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer zu treffen299. Im deutschen Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrecht sind diese Rechte bereits weitgehend gewährleistet300. Je nach Belieben des Mitgliedstaates betreffen die Regelungen Unternehmen mit mindestens 50 Arbeitnehmern oder aber Betriebe mit mindestens 20 Arbeitnehmern in einem Mitgliedstaat (Art. 3 Abs. 1). Die Richtlinie gilt damit für alle Unternehmen ab einer bestimmten Größe, unabhängig von ihrer europaweiten Verbreitung. Wie die Unterrichtung und Anhörung im Einzelnen abzulaufen hat, ist Sache der Mitgliedstaaten. Unterrichtung und Anhörung umfassen gemäß Art. 4 Abs. 2: die jüngste Entwicklung und die wahrscheinliche Weiterentwicklung der Tätigkeit und der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens oder des Betriebs; die Beschäftigungssituation, die Beschäftigungsstruktur und die wahrscheinliche Beschäftigungsentwicklung im Unternehmen oder Betrieb sowie ggf. geplante antizipative Maßnahmen, insbesondere bei einer Bedrohung für die Beschäftigung; Entscheidungen, die wesentliche Veränderungen der Arbeitsorganisation oder der Arbeitsverträge mit sich bringen können.

103

Für den Fall der Nichteinhaltung der Unterrichtungs- und Anhörungspflichten durch den Arbeitgeber oder durch die Arbeitnehmervertreter haben die Mitgliedstaaten gemäß Art. 8 geeignete Maßnahmen vorzusehen. Sie müssen insbesondere dafür sorgen, dass es geeignete Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gibt, mit deren Hilfe die Erfüllung der sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen durchgesetzt werden kann. Die Mitgliedstaaten haben zudem angemessene Sanktionen vorzusehen, die im Falle eines Verstoßes Anwendung finden. Diese Sanktionen müssen wirksam, angemessen und abschreckend sein. Die Mitgliedstaaten können über die Anforderungen der Richtlinie auch hinausgehen (Art. 4 Abs. 1). Ebenso können die Sozialpartner auch Verein-

297 Dazu Rubner, NJW-Spezial 2007, 219 f. eingehend Heckschen in: Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, Loseblatt, Stand: November 2009, Vor §§ 122a ff. UmwG. 298 Dazu etwa Habersack, ZHR 171 (2007), 613; Müller-Bonanni/Müntefering, BB 2009, 1699; Schubert, RdA 2007, 9; Henssler, ZHR 173 (2009), 222. 299 Vgl. dazu Deinert, NZA 1999, 800; Giesen, RdA 2000, 298; Hanau/Steinmeyer/ Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 19 Rz. 130 ff. 300 Vgl. ausführlich Spreer, Die Richtlinie 2002/14/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft, 2005 und Reichold, NZA 2003, 289 ff.

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Ausblick

Rz. 104 Europ. Arbeitsrecht

barungen über die Modalitäten des Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens treffen (Art. 5).

IV. Ausblick Die Entwicklung des europäischen Arbeitsrechts der letzten Jahrzehnte zeigt 104 eine stetige Zuständigkeitsverlagerung von den Mitgliedstaaten hin zur Europäischen Union. Für den deutschen Arbeitsrechtler ist die Bedeutung inzwischen immens. Im Gegensatz zur Situation in Deutschland ist der Einfluss der Sozialpartner auf das europäische Arbeitsrecht jedoch relativ gering. Lange Zeit hatten die Kommission und der Rat die maßgeblichen Initiativ- und Entscheidungsrollen inne. Erst in letzter Zeit hat sich dies durch die Einführung des sozialen Dialogs – wenn auch nur in Einzelfällen – gewandelt. In den vergangenen Jahren hat eine stärkere Einbindung der Sozialpartner bei der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung stattgefunden. Im Zentrum des europäischen Sozialmodells sollen der soziale Dialog und die Qualität der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern stehen301. Voraussetzung für den Erfolg dieser ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips stehenden Verlagerung der Kompetenzen auf die Sozialpartner ist die Bereitschaft der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen zur Mitwirkung. Sollten die Verhandlungen nicht zu konkreten Vereinbarungen führen, wird der soziale Dialog in Zukunft keine bedeutende Rolle im europäischen Arbeitsrecht spielen. Die Kommission und die Sozialpartner müssen tätig werden und ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen.

301 Mitteilung der Kommission, Der europäische soziale Dialog, Determinante für Modernisierung und Wandel, Vorschlag für einen Beschluss des Rates zu Einrichtung eines Tripartiten Sozialgipfels für Wachstum und Beschäftigung, KOM(2002) 341. Der erste Sozialgipfel hat bereits im Jahr 2003 stattgefunden.

Henssler

57

Europäisches IPR des Arbeitsrechts Axel Braun*/Kerstin Gröne**

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rz. 1

II. Die internationalen Zuständigkeiten der Gerichte . . . . . . . . . . . . .

5

III. Arbeitsvertragsrecht – Grundsätze des neuen europäischen IPR unter Einbeziehung des für Altfälle geltenden deutschen IPR . . . . 11 1. Bestehen eines Individualarbeitsvertrags i.S.d. Art. 8 Rom I-VO (Art. 30 EGBGB) . . . . . . . . . . . . . . . 14 2. Das Arbeitsvertragsstatut bei ausgeübtem Wahlrecht, Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Rom IVO (Art. 30 Abs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 1 EGBGB). . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3. Grenzen der Rechtswahl . . . . . . . . 3.1 Einschränkungen der Rechtswahl durch zwingende Vorschriften i.S.d. Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 27 Abs. 3 EGBGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Einschränkungen der Rechtswahl durch zwingende Vorschriften i.S.d. Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Einschränkungen der Rechtswahl durch zwingende Vorschriften i.S.d. Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) . . . . . . . . . . . . . 3.4 Einschränkung der Rechtswahl durch zwingende Vorschriften i.S.d. Art. 9 Rom IVO (Art. 34 EGBGB) . . . . . . . . 3.5 Weitere Einschränkungen der Rechtswahl . . . . . . . . . . . .

25

27

28

29

31 34

3.6

Kollisionsrechtswahl . . . . . .

Rz. 37

4. Objektive Anknüpfung . . . . . . . . . . 4.1 Erste Stufe: Anknüpfung nach Arbeitsort oder Niederlassung . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Gewöhnlicher Arbeitsort gem. Art. 8 Abs. 2 Satz 1 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB) . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Einstellende Niederlassung gem. Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Zweite Stufe: Engere Verbindung zu einem anderen Staat gem. Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Halbs. 2 EGBGB) . . . . . . . . . . 4.3 Wechsel des objektiven Arbeitsvertragsstatuts. . . . . . 4.4 Grenzen der objektiven Anknüpfung . . . . . . . . . . . . . .

40

5. Umfang des Arbeitsvertragsstatuts 5.1 Begründung des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Vertragsschließende Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Form des Arbeitsvertrags . . . 5.1.3 Befristung des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Teilzeit-Arbeitsverhältnisse . 5.1.5 Arbeitnehmerüberlassung . . 5.2 Inhalt des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Arbeitspflicht und arbeitnehmerseitige Nebenpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Diskriminierungsschutz. . . .

52

42

43

47

48 49 50

54 55 57 59 60 62 65

66 67

* Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Leiter der deutschlandweiten ServiceLine Arbeitsrecht der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH. Mitglied der EELA, National Correspondent des EELC, Mitglied der DFJV, DSJV und IBA. ** Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht, Mitglied der deutschlandweiten Service-Line Arbeitsrecht der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH.

Braun/Gröne

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Europäisches IPR

5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6

Arbeitnehmerhaftung. . . . . Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . Lohnzahlungspflicht . . . . . Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . 5.2.7 Arbeitsunfälle . . . . . . . . . . . 5.2.8 Urlaubsanspruch. . . . . . . . . 5.2.9 Feiertagsvergütung . . . . . . . 5.2.10 Arbeitsschutz/Arbeitssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.11 Arbeitnehmererfindungen . 5.2.12 Schutz besonderer Arbeitnehmergruppen . . . . . . . . . . 5.3 Wechsel des Arbeitgebers . 5.4 Beendigung des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Aufhebungsvertrag . . . . . . . 5.4.2 Kündigung . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Folgen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses . . . . . .

Schrifttum Rz. 68 69 70 72 73 74 75 76 78 79 81 84 85 86 87

IV. Kollektives Arbeitsrecht. . . . . . . . . 88 1. Betriebsverfassungsrecht . . . . . . . . 88

Rz. 1.1 Mitwirkung und Mitbestimmung des Betriebsrates . . 1.2 Errichtung eines Betriebsrates

89 92

2. Mitbestimmung in den Unternehmensorganen . . . . . . . . . . . . . . .

95

3. Tarifvertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Tariffähigkeit . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Inhalt der Tarifverträge . . . . . . 3.3 Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Tarifwirkungen . . . . . . . . . . . . . 3.5 Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags . . . . . .

96 101 102 103 104 105

V. Arbeitskampfrecht. . . . . . . . . . . . . . 106 1. Bestimmung des Arbeitskampfstatuts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2. Begriff der Arbeitskampfmaßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3. Arbeitskampfmaßnahme als unerlaubte Handlung und Reichweite des Arbeitskampfstatuts . . . . . . . . . 108

Schrifttum von Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht, Bd. 1, München 2003. von Bar, Internationales, Privatrecht, Bd. 2, München 1991. Birk, Das Arbeitskollisionsrecht der Bundesrepublik Deutschland, RdA 1984, 129 ff. Clausnitzer/Woopen, Internationale Vertragsgestaltung – Die neue EG-Verordnung für grenzüberschreitende Verträge (Rom I-VO), BB 2008, 1798 ff. Däubler/Küttner/Klebe/Wedde, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 12. Aufl., Frankfurt a.M. 2010. Däubler, Das neue Internationale Arbeitsrecht, RIW 1987, 249 ff. Deinert, Arbeitnehmerentsendung im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen innerhalb der Europäischen Union, RdA 1996, 339 ff. Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 11. Aufl., München 2011. Erman, Kommentar zum BGB, 12. Aufl., Band II, Köln 2008. Falder, Geschäftsführer bei Auslandsgesellschaften, NZA 2000, 868 ff. Ferrari/Leible, The Law Applicable to Contractual Obligations in Europe, München 2009. Fitting, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 25. Aufl., München 2010. Franzen, Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort?, DZWir 1996, 89 ff. Franzen, Vertragsstatut und zwingende Bestimmungen im internationales Arbeitsrecht, IPRax 2003, 239 ff. Gamillscheg, Ein Gesetz über das internationale Arbeitsrecht, ZfA 1983, 307 ff. Gerauer, Rechtliche Situation bei Fehlen einer Rechtswahl beim Auslandseinsatz, BB 1999, 2084 ff. Gitter, Probleme des Arbeitskampfes in supranationaler, internationaler und international-privatrechtlicher Sicht, ZfA 1971, 127 ff. Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, München 2002. Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 4. Aufl., Köln 2010. Hickl, Arbeitsverhältnisse mit Auslandsbezug, NZA 1987, Beilage 1, S. 10 ff. von Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht, IPR München 2005.

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Schrifttum

Europäisches IPR

Hönsch, Die Neuregelung des IPR aus arbeitsrechtlicher Sicht, NZA 1988, 113 ff. Jauernig, Kommentar zum BGB, 13. Aufl., München 2009. Joussen, Die arbeitsrechtliche Behandlung im Ausland tätiger Freiwilliger, NZA 2003, 1173 ff. Junker, Die Rom II-Verordnung: Neues Internationales Deliktsrecht auf europäischer Grundlage, NJW 2007, 3675 ff. Junker, Internationales Arbeitsrecht in der geplanten Rom I-Verordnung, RIW 2006, 401 ff. Junker, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht in Arbeitssachen – Eine Einführung für die Praxis, NZA 2005, 199 ff. Junker, Zwingendes ausländisches Recht und deutscher Tarifvertrag, IPRax 1994, 21 ff. Junker, Die zwingenden Bestimmungen im neuen internationalen Arbeitsrecht, IPRax 1989, 69 ff. juris Praxiskommentar BGB, 4., Aufl., Saarbrücken 2009, Bd. 6, Bandherausgeber Ludwig. Kolmhuber/Schreiner, Antidiskriminierung und Arbeitsrecht – das neue Gleichbehandlungsgesetz in der Praxis, Köln, 2006. Kronke, Das Arbeitsrecht im Gesetzesentwurf zur Neuregelung des IPR, DB 1984, 405 ff. Kraushaar, Die Auslandsberührung des deutschen Arbeitsrechts, BB 1989, 2124 ff. Lorenz, Das objektive Arbeitsstatut nach dem Gesetz zur Neuregelung des IPR, RdA 1989, 220 ff. Lorenz, Vom alten zum neuen internationalen Schuldvertragsrecht, IPRax 1987, 267 ff. Lorenz, Die Rechtswahlfreiheit im internationalen Schuldvertragsrecht, RIW 1987, 569 ff. Magnus, Englisches Kündigungsrecht auf deutschem Schiff – Probleme des internationalen See-Arbeitsrechts, IPRax, 1991, 383 ff. Magnus, Zweites Schiffsregister und Heuerstatut, IPRax 1990, 145 ff. Mallmann, Rechtswahlklauseln unter Ausschluss des IPR, NJW 2008, 2953 ff. Mankowski, Entwicklungen im IPR und IVZR 2004/2005, RIW 2005, 495 ff. Mauer, BAG EWiR Art. 30 EGBGB 1/04, 703 f. Mauer/Sadtler, Rom I und das internationale Arbeitsrecht, DB 2007, 1586 ff. Müller, Gerhard, Die rechtliche Behandlung abhängig fremdbestimmter Arbeit bei Berührung mit Deutschland und Italien, RdA 1973, 137 ff. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 2. Aufl., Bd. 1, München 2000, Herausgeber Richardi/Wlotzke. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 3. Aufl., Bd. 1, München 2009, Herausgeber Richardi/Wlotzke. Münchener Kommentar, 4. Aufl., München 2006, Bd. 10, Einführungsgesetz zum BGB, Red. Sonnenberger. Münchener Kommentar, 5. Aufl., München 2010, Bd. 10, Red. Sonnenberger. Musielak, Zivilprozessordnung, 7. Aufl., München 2009. Palandt, Kommentar zum BGB, 69. Aufl., München 2010. Reiserer, Allgemeiner Kündigungsschutz bei Arbeitsverhältnissen mit Auslandsbezug, NZA 1994, 673 ff. Richardi, Kommentar zum BetrVG, 12. Aufl., München 2010. Schlachter, Grenzüberschreitende Arbeitsverhältnisse, NZA 2000, 57 ff. Soergel, Kommentar zum BGB, Bd. 10, Einführungsgesetz zum BGB, 12. Aufl., Stuttgart, Berlin, Köln 1996. Staudinger, Kommentar zum BGB, Buch 2, Schuldrecht, §§ 611–615 – Dienstvertragsrecht 1, Neubearbeitung, Berlin 2005. Thüsing, Geklärtes und Ungeklärtes im internationalen Tarifrecht, BB 2004, 1333 ff. Thüsing, Günstigkeitsvergleich und Ausweichklausel in Art. 30 EGBGB, BB 2003, 898 ff. Thüsing, Rechtsfragen grenzüberschreitender Arbeitsverhältnisse – Grundlagen und Neuigkeiten des internationalen Arbeitsrechtes, NZA 2003, 1303 ff. Wiedenfels, Kollisionskonflikte bei einseitig zwingendem Arbeitsrecht, IPRax 2003, 317 ff.

Braun/Gröne

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Europäisches IPR Rz. 1

Einleitung

I. Einleitung 1

In Zeiten immer stärker werdender Globalisierung, in denen es für viele Firmen zum Usus gehört, in verschiedenen europäischen Ländern zu agieren, bleibt trotz der innerhalb der Europäischen Gemeinschaften gewährten vielfältigen wirtschaftlichen Freiheiten eine Frage stets aktuell: Welches Recht ist bei Sachverhalten mit „Auslandsberührung“ anwendbar? Das folgende Beispiel spiegelt den Firmenalltag wider: Ein deutsches Unternehmen entsendet einen deutschen Arbeitnehmer in seine in Frankreich gegründete Niederlassung. Gilt für die Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses und etwaige Rechtsstreitigkeiten nun deutsches oder französisches Arbeitsrecht?

2

Wurde ein Rechtsstreit bei Gericht anhängig, wendete das Gericht bisher zur Klärung der Frage des anwendbaren Rechts das IPR (Internationales Privatrecht) des jeweiligen Landes an, in dem der Rechtsstreit ausgetragen wurde. Die Bezeichnung „internationales“ Privatrecht war dabei irreführend. Denn es gab kein universelles, sondern nur nationales IPR.

3

Zielsetzung war seit langem ein universelles europäisches Kollisionsrecht zu schaffen, das die nationalen Kollisionsvorschriften ablöst. Im Jahr 2009 sind wesentliche Schritte in diese Richtung gemacht worden. So besteht mit Inkrafttreten der „Verordnung Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I-VO)“ zum 17.12.2009 mittlerweile in seinem Anwendungsbereich ein universelles, für alle Mitgliedstaaten geltendes IPR. Als EG-Verordnung wirkt die Rom I-VO nach Art. 249 Abs. 2 EG in den Mitgliedstaaten (mit Ausnahme von Dänemark) unmittelbar und bedarf daher keiner weiteren Umsetzung in das jeweilige nationale Recht. Folge ist, dass die bisher im deutschen IPR anwendbaren Vorschriften zur Regelung der vertraglichen Schuldverhältnisse, die Art. 27 bis 37 EGBGB, außer Kraft getreten sind. Damit ist insbesondere die zentrale Kollisionsnorm für Arbeitsverhältnisse, Art. 30 EGBGB, weggefallen. Die Rom I-VO ist nach Art. 28 Rom I-VO allerdings nur auf Verträge anwendbar, die nach dem 17.12.2009 geschlossen wurden und werden. Auf zeitlich vorher geschlossene Verträge findet wie bisher das jeweilige nationale Kollisionsrecht, in Deutschland also Art. 27 ff. EGBGB, Anwendung. Entscheidend ist allein die tatsächliche Einigung der Vertragsparteien. Etwaige Genehmigungsvorbehalte oder aufschiebende Bedingungen sind insoweit unerheblich1. Wesentliche inhaltliche Veränderungen bringt die Rom I-VO zum bisher geltenden deutschen IPR bei vertraglichen Schuldverhältnissen nicht. Dies ist darin begründet, dass innerhalb der EU bereits eine Vereinheitlichung durch das „Römische EWG-Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht“ (EVÜ) vom 19.6.1980, das am 1.4.1991 in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft trat, stattgefunden hatte. Die Regelungen des EVÜ wurden auch in das deutsche Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Ge1 Palandt/Thorn, Art. 28 Rom I-VO Rz. 2.

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Die internationalen Zuständigkeiten der Gerichte

Rz. 5 Europäisches IPR

setzbuch (EGBGB) inkorporiert. Aufgrund überwiegender Zufriedenheit mit den Kollisionsregeln des EVÜ wurden diese im Wesentlichen wiederum in die Rom I-VO überführt2. Für Dänemark gelten allerdings weiterhin die Regeln des EVÜ. Auch auf außervertraglicher Ebene wurde teilweise3 mit Inkrafttreten der 4 „Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom IIVO)“ zum 11.1.2009 europäisches Kollisionsrecht geschaffen. Unter den Begriff des außervertraglichen Schuldverhältnisses fallen nach Art. 2 Rom II-VO Ansprüche aus unerlaubter Handlung, ungerechtfertigter Bereicherung, Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) sowie aus vorvertraglicher Pflichtverletzung (c.i.c.). Aus arbeitsrechtlicher Sicht von besonderer Bedeutung sind dabei die als Unterfall der unerlaubten Handlung geregelten Schäden aufgrund von Arbeitskampfmaßnahmen in Art. 9 Rom II-VO. Hier sind einige Änderungen zum bisher auf Arbeitskampfmaßnahmen anwendbaren deutschen IPR (Art. 40 ff. EGBGB) eingetreten. Insgesamt findet die Rom II-VO nach Art. 31 Rom II-VO auf schadensbegründende Ereignisse Anwendung, die nach dem Inkrafttreten der Verordnung am 11.1.2009 eingetreten sind bzw. noch eintreten. Für zeitlich weiter zurückliegende Fälle greift weiterhin das jeweilige nationale Kollisionsrecht. Der Unternehmer/beratende Rechtsanwalt wird mit der Frage des anzuwendenden Rechts aber regelmäßig bereits vor Eintritt eines Schadens konfrontiert. Schon bei der Abfassung von Verträgen sollte vorab klar sein, welches Recht die Beziehungen der Vertragsparteien beherrscht. Hiervon hängt dann insbesondere auch die Reichweite der möglichen Rechtsgestaltung ab.

II. Die internationalen Zuständigkeiten der Gerichte Zur Ermittlung der internationalen Zuständigkeiten ist auf die geltenden EG- 5 Verordnungen und internationalen Abkommen zurückzugreifen. Diesbezüglich sind durch die Rom I und II-VO keine Veränderungen zur bisherigen Rechtslage eingetreten. Zum 1.3.2002 ist für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union die „EG-Verordnung 44/2001 vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen“ (EuGVO) in Kraft getreten. Nach Art. 68 Abs. 1 dieser Verordnung tritt diese im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten an die Stelle des Brüsseler Übereinkommens vom 27.9.1968 (EuGVÜ, EU-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen). Ursprünglich war das Königreich Dänemark von 2 Clausnitzer/Woopen, BB 2008, 1798. 3 Vgl. zum sachlichen Anwendungsbereich der Rom II-VO Art. 1 und 2: Die Rom II-VO gilt danach etwa nicht für Steuer- und Zollsachen oder bei außervertraglichen Schuldverhältnissen aus der Verletzung der Privatsphäre oder der Persönlichkeitsrechte. Insoweit greift weiterhin nationales Kollisionsrecht.

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Europäisches IPR Rz. 6

Die internationalen Zuständigkeiten der Gerichte

der Anwendung der EuGVO ausgenommen (Art. 1 Abs. 3 EuGVO). Aufgrund eines Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Dänemark, das zum 1.7.2007 in Kraft getreten ist, unterfällt nun mittlerweile auch Dänemark der EuGVO4. 6

Durch die EuGVO wurden inhaltlich die Regelungen und Begründungen der Zuständigkeiten der Gerichte, wie sie im EuGVÜ niedergelegt sind, im Wesentlichen übernommen. Von der Systematik her unterscheidet die EuGVO nicht mehr zwischen allgemeiner und besonderer Zuständigkeit, sondern regelt in einem gesonderten Abschnitt (Art. 18 bis 21 EuGVO) generell die Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge.

7

Klagen des Arbeitgebers gegen den Arbeitnehmer können nach Art. 20 Abs. 1 EuGVO grundsätzlich nur am Wohnsitz des Arbeitsnehmers erhoben werden. Demgegenüber hat der Arbeitnehmer bei Klagen gegen den Arbeitgeber ein Wahlrecht zwischen dem Gericht am Wohnsitz des Arbeitgebers (Art. 19 Nr. 1 EuGVO), demjenigen an dem Ort, an dem er seine Arbeit gewöhnlich verrichtet bzw. zuletzt gewöhnlich verrichtet hat (Art. 19 Nr. 2 lit. a EuGVO), oder wenn er seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat verrichtet hat, dem Gericht des Ortes, in dem sich die Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, befindet oder befand (Art. 19 Nr. 2 lit. b EuGVO). Indem Art. 19 Nr. 2 lit. a EuGVO auch die Zuständigkeit desjenigen Gerichts begründet, an dem der Arbeitnehmer in der Vergangenheit gewöhnlich seine Arbeit verrichtet hat, wurde das Wahlrecht des Arbeitnehmers gegenüber den Regelungen im EuGVÜ erweitert.

8

Verrichtet der Arbeitnehmer seine Tätigkeit in mehreren Vertragsstaaten, so kommt es nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) auf die engste Verknüpfung, nämlich denjenigen Ort an, welcher den tatsächlichen Mittelpunkt der Berufstätigkeit bildet5. Dies gilt auch, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Mitgliedsstaates an verschiedenen Arbeitsorten arbeitet6.

9

Eine Gerichtsstandsvereinbarung ist – wie bisher schon – nur dann möglich, wenn diese nach der Entstehung der Streitigkeit getroffen wird oder aber sie dem Arbeitnehmer die Befugnis einräumt, andere als die bereits durch die Verordnung vorgegebene Gerichte anzurufen (Art. 21 EuGVO).

10 Da der Anwendungsbereich des EuGVÜ – wie auch der der EuGVO – lediglich auf EG-Mitgliedstaaten beschränkt war, trat zum 16. September 1988 zur Intensivierung der Zusammenarbeit der EG- und EFTA- (Europäische Freihandelsassoziation) Staaten ein zum EuGVÜ nahezu übereinstimmendes „Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen“ (Luganer Ab4 Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark über die gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 19.10.2005 (ABl. EU Nr. L 299 S. 62). 5 So zum Brüsseler Übereinkommen: EuGH v. 9.1.1997, EuZW 1997, 143 ff.; EuGH v. 13.7.1993, IPRax 1997, 110. 6 BAG, Urt. v. 29.5.2002 – 5 AZR 141/01, NJW 2002, 3196.

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Arbeitsvertragsrecht – Grundsätze des europ. IPR

Rz. 12 Europäisches IPR

kommen – LugÜ) in Kraft. Das LugÜ greift zwischen den EFTA-Staaten Island, Norwegen und die Schweiz (nicht Liechtenstein) sowie im Verhältnis der EGMitgliedstaaten zu den EFTA-Staaten (Art. 54b LugÜ)7. Die das EuGVÜ ablösende EuGVO stimmte inhaltlich nicht vollständig mit dem LugÜ überein. Zur Beseitigung der inhaltlichen Differenzen zwischen EuGVO und LugÜ unterzeichneten daher die EG-Mitgliedstaaten, Dänemark sowie die LugÜ-Staaten Island, Schweiz und Norwegen am 30.10.2007 ein revidiertes Luganer-Übereinkommen, das den Vorschriften der EuGVO entspricht. Im Jahr 2009 wurde das Übereinkommen von den EG-Mitgliedstaaten, Dänemark und Norwegen ratifiziert, so dass es zwischen diesen Staaten zum 1.1.2010 in Kraft getreten ist. Island und die Schweiz haben das LugÜ bisher noch nicht ratifiziert. Für die Schweiz ist die Ratifizierung für den 1.1.2011 vorgesehen. Das revidierte LugÜ regelt im 5. Abschnitt die Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge in den Art. 18 bis 21. Inhaltlich kann auf die Ausführungen zur EuGVO verwiesen werden.

III. Arbeitsvertragsrecht – Grundsätze des neuen europäischen IPR unter Einbeziehung des für Altfälle geltenden deutschen IPR Das deutsche IPR – soweit es nach Inkrafttreten der Rom I und II-VO noch an- 11 wendbar ist (vgl. Rz. 2) – ist im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) geregelt. Bisher befassten sich die Art. 27 ff. EGBGB mit den vertraglichen Schuldverhältnissen, wobei spezielle Vorschriften für das Arbeitsrecht in den Art. 30–34 EGBGB enthalten waren. Nunmehr sind für alle Mitgliedstaaten universelle Kollisionsregeln für vertragliche Schuldverhältnisse in den Art. 1 ff. Rom I-VO normiert. Wesentliche Grundsätze des bisherigen deutschen IPR finden sich in den Vorschriften der Rom I-VO wieder. Die Rom I-VO basiert, wie zuvor das EGBGB, auf dem Grundsatz der Privat- 12 autonomie, d.h. der Vertragsfreiheit und damit dem Wahlrecht bezüglich des anzuwendenden Rechts8. Dies gilt auch für den Arbeitsvertrag: Die Parteien können auch hier eine Rechtswahl vornehmen (Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO/Art. 30 Abs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 1 EGBGB). Das Vertragsstatut (also das auf den Vertrag anzuwendende Recht) – und insoweit sowohl das subjektive infolge Rechtswahl, aber auch das objektive infolge objektiver Anknüpfung – beherrscht im Grundsatz das gesamte Vertragsverhältnis einschließlich des Zustandekommens, der Gültigkeit, der Inhalte der Ansprüche und des Erlöschens. Ausgenommen sind hiervon gesondert zu beantwortende Teilfragen wie die nach der Rechts-/Geschäftsfähigkeit (Art. 13 Rom I-VO/ Art. 7, 12 EGBGB), der Form (Art. 11 Rom I-VO/Art. 11 EGBGB), der Vertre-

7 Vgl. Musielak/Stadler, Vorbemerkung Rz. 10. 8 BAG v. 11.12.2003, AP Nr. 6 zu Art. 27 EGBGB.

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Europäisches IPR Rz. 13

Arbeitsvertragsrecht – Grundsätze des europ. IPR

tungsmacht und besonders anzuknüpfender zwingender Normen (Art. 3 Abs. 3, 4 und Art. 9 Rom I-VO/Art. 27 Abs. 3 und Art. 34 EGBGB). 13 Für die Beurteilung einer arbeitsrechtlichen Fallgestaltung muss daher in folgenden Schritten geprüft werden: Besteht ein Individualarbeitsvertrag i.S.d. Art. 8 Rom I-VO (Art. 30 EGBGB) (nachfolgend 1.)? Sodann ist zu klären, ob die Parteien von ihrem in Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 1 EGBGB) eingeräumten Wahlrecht Gebrauch gemacht haben (nachfolgend 2.). Ist dies geschehen, so stellt sich die Frage, für welche Rechtsfragen des Arbeitsvertragsrechts diese Grundsätze maßgeblich sind (nachfolgend 3.). Haben die Parteien keine Rechtswahl getroffen, ist zu prüfen, wessen Landesrecht gilt (objektive Anknüpfung, siehe nachfolgend 4.). Und schließlich ist zum Schluss zu untersuchen, wie weit der Umfang des Vertragsstatuts reicht (nachfolgend 5.).

1. Bestehen eines Individualarbeitsvertrags i.S.d. Art. 8 Rom I-VO (Art. 30 EGBGB) 14 Vor Anwendung der in Art. 8 Rom I-VO (Art. 30 EGBGB) enthaltenen Regeln muss die grundlegende Frage beantwortet werden, ob es sich überhaupt um eine Streitigkeit „aus einem Individualarbeitsvertrag“ handelt. Denn das internationale Arbeitsrecht ist sachlich nur auf Individualarbeitsverträge anwendbar. 15 Die Rom I-VO definiert den Begriff des „Individualarbeitsvertrages“ nicht. Die Grundlage für die Beurteilung, ob im konkreten Fall ein Arbeitsvertrag überhaupt vorliegt, war bis zum Inkrafttreten der Rom I-VO umstritten. Während teilweise darauf abgestellt wurde, dass das jeweilige Landesrecht für die Beurteilung maßgeblich sei, wurde nach anderer Ansicht der Begriff des Arbeitsverhältnisses nicht nach Ortsrecht, sondern autonom ausgelegt9. Autonom wurde dabei i.S.d. Art. 36 EGBGB verstanden, wonach der Begriff unabhängig von den Traditionen der Mitgliedstaaten im Sinne einer in allen Vertragsstaaten des EVÜ einheitlich geltenden Regelung interpretiert werden müsse. Für diese zuletzt genannte Ansicht sprach der Vereinheitlichungszweck des EVÜ, der auf eine inhaltliche Rechtsangleichung in der EU gerichtet war. Mit der Rom I-VO ist eine Rechtsvereinheitlichung herbeigeführt worden, so dass auch der Begriff des Individualarbeitsvertrags einheitlich ausgelegt werden muss10. Der EuGH ist für die Auslegung von Europarecht zuständig11. Nach seiner ständigen Rechtsprechung kommt es für die Beurteilung, ob es sich um ein Arbeitsverhältnis handelt, auf die persönliche Abhängigkeit bei einer weisungsgebundenen, entgeltlichen Dienstleistung an12. 9 Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 31 Rz. 23; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 20 Rz. 3. 10 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 17. 11 Mauer/Sadtler, DB 2007, 1586 (1587); HWK/Tillmanns, Rom I-VO Rz. 5, 9. 12 EuGH v. 3.7.1986, DVBl. 1986, 883; EuGH v. 23.3.2004, EuZW 2004, 507; EuGH v. 17.7.2008, EuZW 2008, 529 (530); EuGH v. 7.9.2004, EuZW 2005, 307 (308); MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 17; Schlachter, NZA 2000, 57 (58).

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Ist nach diesem Begriffsverständnis ein Individualarbeitsvertrag gegeben, muss 16 sodann – wie in allen Fällen, in denen eine Auslandsberührung der vertraglichen Beziehungen der Parteien festgestellt werden kann – das anzuwendende Recht (sog. Vertragsstatut) ermittelt werden13. Es werden jedoch nicht nur Arbeitsverhältnisse, die auf einen wirksamen Ar- 17 beitsvertrag gründen, nach der für Individualarbeitsverträge maßgeblichen Norm des Art. 8 Rom I-VO (Art. 30 EGBGB) beurteilt, sondern auch solche, die lediglich eine faktische Grundlage haben oder denen ein unwirksamer Vertrag zugrunde liegt14. Dies ergibt sich schon aus Art. 12 Abs. 1 lit. e Rom I-VO (Art. 32 Abs. 1 Nr. 5 EGBGB), dem zufolge auch die Folgen der Nichtigkeit eines Vertrags i.S.d. Art. 1 ff. Rom I-VO (Art. 27–30 EGBGB) nach dem auf diesen Vertrag anwendbaren Recht zu beurteilen sind15. Zwar weisen der bisherige Art. 30 EGBGB („Arbeitsverträge und Arbeitsverhältnisse von Einzelpersonen“) und Art. 8 Rom I-VO („Individualarbeitsverträge“) unterschiedliche Wortlaute auf, inhaltlich sind indes im Hinblick auf die Regelung unwirksamer bzw. faktischer Verträge keine Veränderungen eingetreten. Da ein maßgebliches Abgrenzungsmerkmal für die Anwendbarkeit des Art. 8 18 Rom I-VO (Art. 30 EGBGB) die Weisungsgebundenheit ist, fallen Verträge über Dienstleistungen, die in wirtschaftlicher oder sozialer Selbständigkeit und Unabhängigkeit erbracht werden, nicht unter Art. 8 Rom I-VO (Art. 30 EGBGB)16. Für sie bleibt es bei den allgemeinen Vorschriften der Art. 3, 4 Rom I-VO (Art. 27, 28 EGBGB)17. Demgegenüber werden die sog. Scheinselbständigen und ihre Vertragsverhältnisse von Art. 8 Rom I-VO (Art. 30 ff. EGBGB) erfasst; denn diese verrichten in Wirklichkeit abhängige Arbeit18. Nicht in den speziellen Anwendungsbereich der Vorschrift des Art. 8 Rom 19 I-VO (Art. 30 ff. EGBGB) fallen die Rechtsstreitigkeiten bezüglich der Vertragspflichten eines GmbH-Geschäftsführers. Mangels der regelmäßig fehlenden persönlichen Abhängigkeit des Geschäftsführers richtet sich die Beurteilung der vertraglichen Verpflichtungen und des diesbezüglich anzuwendenden Rechts nach Art. 3 ff. Rom I-VO (Art. 27 ff. EGBGB)19. Ausnahmsweise ist der Anwendungsbereich des Art. 8 Rom I-VO aber bei Fremdgeschäftsführern eröffnet: Hier fehlt die Organstellung gegenüber der anstellenden Gesellschaft

13 MünchKomm/Martiny, vor Art. 1 Rom I-VO Rz. 8. 14 von Bar, IPR Bd. 2, Rz. 446; Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 31 Rz. 23; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 21; Junker, RIW 2006, 401 (402); Schlachter, NZA 2000, 57 (58). 15 Junker, NZA 2005, 199 (204) noch zu Art. 32 Abs. 1 Nr. 5 EGBGB; MünchKomm/ Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 21. 16 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 19; Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 3. 17 von Bar, IPR Bd. 2, Rz. 446; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 19; Palandt/ Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 3, Art. 4 Rom I-VO Rz. 8; Schlachter, NZA 2000, 57 (58); Soergel/von Hoffmann, Art. 30 EGBGB Rz. 8. 18 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 19. 19 OLG Celle v. 12.1.2000, NZG 2000, 595.

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und es besteht die nötige persönliche Abhängigkeit und Weisungsgebundenheit im Verhältnis zu dieser20.

2. Das Arbeitsvertragsstatut bei ausgeübtem Wahlrecht, Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 1 EGBGB) 20 Die vertraglichen Schuldverhältnisse unterstehen hinsichtlich der Rechtswahl der Vertragsfreiheit (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Rom I-VO/Art. 27 Abs. 1 Satz 1 EGBGB). Sonderregelungen für das Arbeitsvertragsstatut, also das anzuwendende Recht im Bereich des Individualarbeitsrechts, enthält Art. 8 Rom I-VO (Art. 30 EGBGB). Diese Vorschrift schränkt das Grundprinzip der Vertragsfreiheit auf verschiedene Art und Weise ein und relativiert es hierdurch. Hintergrund dieser Einschränkungen ist der Umstand, dass der Gesetzgeber bei der Fassung des EVÜ und der Rom I-VO nicht von der Gleichwertigkeit des Schutzstandards der verschiedenen Arbeitsrechtsordnungen zugunsten der Arbeitnehmer ausgegangen ist. 21 Die Rechtswahl an sich ist nicht an die Einhaltung einer bestimmten Form oder an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden. Vielmehr ist neben der ausdrücklichen Rechtswahl auch eine stillschweigende Vereinbarung möglich, wie sich aus Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO (Art. 27 Abs. 1 Satz 2 EGBGB) ergibt, ebenso wie eine nachträgliche Rechtswahl – beispielsweise im Prozess – erfolgen kann21. Denn den Parteien steht es frei, eine ursprüngliche Wahl des anwendbaren Rechts später wieder zu ändern (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Rom I-VO/ Art. 27 Abs. 2 Satz 1 EGBGB)22. Eine Rechtswahl kann auch durch Formularvertrag erfolgen. Eine besondere Einbeziehungskontrolle zum Schutz der schwächeren Vertragspartei ist nicht erforderlich, da die Rom I-VO ein eigenständiges Schutzmodell bietet23. 22 Ebenfalls ist eine teilweise Rechtswahl nach Art. 3 Abs. 1 Satz 3 Rom I-VO (Art. 27 Abs. 1 Satz 3 EGBGB) für einzelne abtrennbare Komplexe zulässig24. Derartiges kann insbesondere dann Bedeutung erlangen, wenn sich vom Ar20 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 20. 21 BAG v. 27.8.1964, NJW 1965, 319; BAG v. 12.6.1986, NJW-RR 1988, 482; BAG v. 23.4.1998, NZA 1998, 995; Erman/Hohlock, BGB, Bd. II, Art. 30 EGBGB Rz. 8; Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 31 Rz. 38; Hönsch, NZA 1988, 113 (115); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 16; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 28; Palandt/Thorn, Art. 3 Rom I-VO Rz. 11; HWK/Tillmanns, Rom I-VO Rz. 15; Soergel/von Hoffmann, Art. 30 EGBGB Rz. 12. 22 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 28; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 16. 23 Vgl. noch zum EGBGB Thüsing, NZA 2003, 1303 (1304); Schlachter NZA 2000, 57 (59). 24 BAG v. 20.2.2004 – 3 AZR 301/03; BAG v. 19.6.1986, NJW 1987, 211; Erman/Hohloch, Art. 30 EGBGB Rz. 8; Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 31 Rz. 44; Hönsch, NZA 1988, 115; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 12.; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 29; Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 7; Soergel/von Hoffmann, Art. 30 EGBGB Rz. 12; HKW/Tillmanns, Rom I-VO Rz. 13.

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beitsverhältnis solche Fragen abspalten lassen, die im Hinblick auf institutionelle, sachliche oder zeitliche Aspekte relativ selbständig sind. Als Beispiel kommen etwa in Frage: Die Zusage und Durchführung einer betrieblichen Altersversorgung (Direktzusage, Unterstützungskasse, Pensionskasse, Direktversicherung), insbesondere bei gemeinsamen Versorgungswerken für ein Unternehmen, einen Konzern oder für eine Gruppe von selbständigen Unternehmen; das nachvertragliche Wettbewerbsverbot; die Abwicklung eines bereits aufgelösten Arbeitsverhältnisses25. Die häufig anzufindende Rechtswahl unter Ausschluss des IPR soll bezwe- 23 cken, dass das materielle Arbeitsrecht eines bestimmten Staates zur Anwendung kommt und Rückverweisungen oder Weiterverweisungen auf ein anderes Recht unbeachtlich sind. Dieser Zusatz ist aus europäischer Sicht überflüssig. Art. 20 Rom I-VO (Art. 35 EBGBG) bestimmt bereits gesetzlich, dass nur auf das materielle Recht verwiesen wird26. Die bestehende Vertragsfreiheit bedeutet letztlich, dass selbst ein „neutrales“ 24 Recht, also ein solches, zu dem kein näherer Bezug besteht, gewählt werden kann27.

3. Grenzen der Rechtswahl Die Rechtswahl findet insbesondere dort ihre Grenze, wo das internationale 25 Privatrecht die Geltung zwingender Vorschriften vorsieht. In der Rom I-VO finden sich diesbezüglich Vorschriften in Art. 3 Abs. 3 (Art. 27 Abs. 3 EGBGB), Art. 3 Abs. 4, Art. 8 Abs. 1 (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) und Art. 9 (Art. 34 EGBGB). Wie diese vier Vorschriften, die allesamt an unterschiedliche Umstände anknüpfen, zueinander stehen und gegeneinander abzugrenzen sind, ist in der Rom I-VO (wie auch schon im EGBGB) nicht geregelt28. Welche der Vorschriften zur Anwendung gelangt, richtet sich nach der Art der jeweils zwingenden Bestimmung. Eines ist dabei allen Vorschriften gemein: nach Art. 20 Rom I-VO (Art. 35 26 Abs. 1 EGBGB) beziehen sich die Verweisungsvorschriften stets nur auf die materiellen Vorschriften und nicht etwa auf Kollisionsnormen. Rück- und Weiterverweisung sind damit ausgeschlossen29. 3.1 Einschränkungen der Rechtswahl durch zwingende Vorschriften i.S.d. Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 27 Abs. 3 EGBGB) Die Rechtswahl im Rahmen vertraglicher Schuldverhältnisse findet eine erste Grenze in Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 27 Abs. 3 EGBGB) für den Fall, dass ei25 Vgl. MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 29. 26 Vgl. Junker, NZA 2005, 199 (205); Mallmann, NJW 2008, 2953 (2956); MünchKomm/ Martiny, Art. 20 Rom I-VO Rz. 1, 3. 27 Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 31 Rz. 50; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom IVO Rz. 25; Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 7. 28 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 104. 29 MünchKomm/Martiny Art. 20 Rom I-VO Rz. 3, 5; Soergel/von Hoffmann, Art. 35 EGBGB Rz. 8.

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ne Auslandsberührung gänzlich fehlt. Der allgemein für vertragliche Schuldverhältnisse geltende Art 3 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 27 Abs. 3 EGBGB) ordnet insoweit an, dass diejenigen inländischen Vorschriften zur Anwendung kommen, die die Parteien nicht abbedingen können (nach der Legaldefinition in Art. 27 Abs. 3 EGBGB „zwingende Vorschriften“ genannt). Hierbei handelt es sich generell um Rechte, über die die Parteien eines schuldrechtlichen Vertrags nicht disponieren können30. Diese Rechte müssen sich nicht zwangsläufig aus Gesetzen ergeben, sie können beispielsweise auch aus Gewohnheits-, Richterrecht oder Tarifnormen, soweit die Parteien tarifgebunden sind, stammen31. Die Vorschrift des Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 27 Abs. 3 EGBGB) tritt allerdings im Bereich des Arbeitsrechts regelmäßig gegenüber der dortigen speziellen Schutzvorschrift des Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) zurück: Art. 8 Rom I-VO (Art. 30 EGBGB) deckt dabei den Schutzbereich des Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 27 Abs. 3 EGBGB) grundsätzlich ab, indem er die Geltung der zwingenden Vorschriften des objektiven Vertragsstatuts, also des Rechts, das im Falle einer fehlenden Rechtswahl anzuwenden wäre, anordnet, allerdings nur, soweit die dortigen Regelungen günstiger sind32. 3.2 Einschränkungen der Rechtswahl durch zwingende Vorschriften i.S.d. Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO 28 Eine weitere, speziell für Binnenmarktsachverhalte normierte Einschränkung der Rechtswahl ist in Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO vorgesehen. Danach berührt die Wahl des Rechts eines Drittstaates nicht die Anwendung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, wenn alle Elemente eines Sachverhalts zum Zeitpunkt der Rechtswahl in einem oder mehreren Mitgliedstaaten belegen sind. Ein Drittstaat i.S.d. Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO ist ein Nichtmitgliedstaat der Rom I-VO, so dass auch der EU-Staat Dänemark als Drittstaat anzusehen ist33. Wie Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO, setzt auch Abs. 4 nichtdispositive Vorschriften, hier eines oder mehrerer Mitgliedstaaten, voraus, wobei darunter jedenfalls nicht europäisches Primärrecht fällt, da sich dieses ohnehin zwingend durchsetzt34. Bei der Anwendung nichtdispositiver Vorschriften des Gemeinschaftsrechts kann nach Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO auf die in dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts umgesetzte Form der Bestimmungen abgestellt werden. Dieser

30 MünchKomm/Martiny, Art. 3 Rom I-VO Rz. 89; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 27. 31 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 27; MünchKomm/Martiny, Art. 3 Rom I-VO Rz. 89. 32 Erman/Hohloch, BGB, Bd. II, Art. 30 EGBGB Rz. 8; a.A. wohl MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 111: Vorrang des Art. 3 Abs. 3 Rom I (Art. 27 Abs. 3 EGBGB), da diese Vorschrift aufgrund ihrer systematischen Stellung und ihrer Funktion bereits eine Rechtswahl blockiere, so dass kein Raum mehr für eine Korrektur der Rechtswahl durch Art. 8 Abs. 1 (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) bliebe. 33 MünchKomm/Martiny, Art. 3 Rom I-VO Rz. 98. 34 MünchKomm/Martiny, Art. 3 Rom I-VO Rz. 101.

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Rz. 30 Europäisches IPR

Halbsatz wurde eingefügt, da die Bestimmungen einer europäischen Richtlinie der (teilweise unterschiedlichen) einzelstaatlichen Umsetzung unterliegen35. Aufgrund seines speziellen Charakters ist die sog. Drittstaatenklausel des Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO auch auf Arbeitsverträge anwendbar, soweit es sich um einen Binnenmarktsachverhalt handelt36. 3.3 Einschränkungen der Rechtswahl durch zwingende Vorschriften i.S.d. Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) Eine Einschränkung der Rechtswahl erfolgt daneben durch Art. 8 Abs. 1 Satz 2 29 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB)37. Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) ist eine zwingende Schutzvorschrift für Arbeitnehmer. Für zwingende Vorschriften des objektiven Vertragsstatuts ordnet Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) einen Vorrang im Rahmen eines Günstigkeitsvergleichs an. Unter zwingenden Schutzvorschriften sind dabei solche nicht dispositiven Vorschriften zu verstehen, die die Rechtsstellung des schwächeren Vertragsteils verbessern, d.h. den Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber schützen wollen38. Gegenüberzustellen sind demnach die zwingenden Bestimmungen des objektiven Arbeitsstatutes, die dem Arbeitnehmer Schutz gewähren, und die Bestimmungen des gewählten Rechts, gleichgültig, ob letztere zwingend oder dispositiv sind39. Vorrang hat die jeweils für den Arbeitnehmer günstigere Regelung. Dadurch kommt es zu einer Durchmischung von aus- und inländischem Recht40. Zwingende Schutzvorschriften können sich nicht nur im gewöhnlichen Gesetzestext finden, sondern beispielsweise auch in Tarifverträgen41. Inhaltlich finden sich zwingende Regelungen unter anderem in Normen über Kündigungsschutz, Lohnzahlung und Urlaubsansprüche. Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) soll ein Minimum an 30 Schutz garantieren, indem die Geltung des Günstigkeitsprinzips angeordnet wird. Immer dann, wenn ohne die Geltung der zwingenden Bestimmungen eine für den Arbeitnehmer günstigere Regelung – nach dem gewählten Vertragsstatut – bestünde, ist diese vorrangig42. Die Abwägung erfolgt dabei stets in einem Vergleich der Ergebnisse, zu denen die betreffenden Rechtsordnungen im Einzelfall führen43. Ausgangspunkt für den anzustellenden Günstigkeitsver-

35 36 37 38 39 40 41 42

MünchKomm/Martiny, Art. 3 Rom I-VO Rz. 102. MünchKomm/Martiny, Art. 3 Rom I-VO Rz. 98, 103. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 20 ff. MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 34; Mankowski, RIW 2005, 495 (496). Junker, NZA 2005, 199 (2005); Thüsing BB 2003, 898 (899). Wiedenfels, IPRax 2003, 317 (318). MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 36. MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 38; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 25; Junker, RIW 2006, 401 (405); Junker, IPRax 1989, 69 (71 f.); Kronke, DB 1984, 404 (405); Lorenz, RIW 1987, 569 (577). 43 BAG v. 29.10.1992, IPRax 94, 123 (126); MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 40; Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 8; Kraushaar, BB 1989, 2121 (2122); Lorenz, RIW 1987, 569 (577).

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Arbeitsvertragsrecht – Grundsätze des europ. IPR

gleich ist das Begehren des Arbeitnehmers und dessen bestmöglicher Schutz44. Die Grenze ist jedoch dort erreicht, wo sich Vorzüge und Nachteile gegenseitig bedingen. Ist dies der Fall, so darf sich der Arbeitnehmer nicht nur auf die jeweiligen Einzelvorteile mehrerer Rechtsordnungen berufen, wenn deren Addition ein Ergebnis herbeiführen würde, das keiner der Rechtsordnungen bekannt ist. Insoweit ist grundsätzlich eine Kumulation der Vorteile mehrerer Rechte – Stichwort „Rosinentheorie“ – ausgeschlossen45. Es muss ein Gruppenvergleich stattfinden. Hierzu sind abgrenzbare Regelungskomplexe verschiedener Rechtsordnungen heranzuziehen, die funktional betrachtet die geltend gemachte Frage regeln46. 3.4 Einschränkung der Rechtswahl durch zwingende Vorschriften i.S.d. Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) 31 Die vierte Vorschrift, die den Vorrang zwingender Normen festlegt, ist Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB). Diese Vorschrift regelt den Vorrang solcher Normen, die ohne einen Günstigkeitsvergleich zwingend gelten. Das heißt also, dass selbst dann, wenn eine Rechtswahl zu für Arbeitnehmer günstigeren Regelungen führen würde, die weniger günstigen zwingenden Normen gelten47. Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) beschränkt sich dabei auf die Normen des Gerichtsortes, während Art. 8 Rom I-VO (Art. 30 EGBGB) die Schutzvorschriften des objektiven Vertragsstatuts durchsetzen will48. Es handelt sich hierbei um sog. international zwingende Normen oder Eingriffsnormen. 32 Führt die Anwendung der Art. 8 und 9 Rom I-VO (Art. 30 und 34 EGBGB) zu widersprüchlichen Ergebnissen, ist grundsätzlich ein Vorrang des Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) anzunehmen, da dieser einen Vorrang für Normen mit international zwingendem Charakter einräumt49. 33 Die praktische Frage, die sich stellt, ist, welche Regelungen des Arbeitsrechts Eingriffsnormen i.S.d. Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) sind. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO definiert Eingriffsnormen als zwingende Vorschriften, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe der Rom I-VO auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Dies deckt sich mit dem Begriffsverständnis, das auch schon im Rahmen des Art. 34 EGBGB für Eingriffs44 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 41; Soergel/von Hoffmann, Art. 30 EGBGB Rz. 33. 45 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 41; Thüsing, BB 2003, 898 (899). 46 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 26; Hanau/Steinmeyer/ Wank/Wank, § 31 Rz. 73. 47 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 43; a.A. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 51, wenn es für die Zielsetzung der Eingriffsnorm nicht erforderlich sei, den Arbeitnehmerschutz zurücktreten zu lassen. 48 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 43. 49 Lorenz, RIW 1987, 569 (580); MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 44; Wiedenfels, IPRax 2003, 317 (318); grundsätzlich zustimmend Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 51.

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normen galt50. Als Eingriffsnorm im Rahmen des Arbeitnehmerschutzes sind vor allem die Schutzvorschriften hinsichtlich der Begründung, der inhaltlichen Ausgestaltung und der Beendigung des Arbeitsverhältnisses von Interesse. 3.5 Weitere Einschränkungen der Rechtswahl Im Übrigen wird die Rechtswahl durch die Vorschriften des Art. 12 Abs. 2 34 Rom I-VO (Art. 32 Abs. 2 EGBGB) sowie den Grundsatz des ordre public (Art. 21 Rom I-VO/Art. 6 EGBGB) beschränkt. Art. 12 Abs. 2 Rom I-VO (Art. 32 Abs. 2 EGBGB) ordnet im Hinblick auf die 35 Art und Weise der Erfüllung die Geltung desjenigen Statusrechts an, in dem die Erfüllung des Vertrags erfolgt. In der Praxis hat die vormals geltende Vorschrift des Art. 32 Abs. 2 EGBGB für das Arbeitsverhältnis bisher keine besondere Rolle gespielt51. Grund hierfür mag sein, dass die auf Kaufverträge zugeschnittene Vorschrift den besonderen Situationen bei der Erfüllung arbeitsvertraglicher Pflichten, bei denen die Art und Weise der Erfüllung nicht ohne künstliche Aufspaltung abtrennbar ist, nicht gerecht wird52. Der in Art. 21 Rom I-VO (Art. 6 EGBGB) niedergelegte Grundsatz des ordre pu- 36 blic bildet die äußerste Grenze bei der Frage des anwendbaren Rechts. Da er aber nur dann Anwendung findet, wenn eine grundlegende Abweichung von dem Recht des Staates des angerufenen Gerichtes besteht, gelangt er in der Praxis nur ausnahmsweise zur Anwendung. Vorrangig greifen an dieser Stelle meist schon Art. 8 Abs. 1 bzw. Art. 9 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 bzw. Art. 34 EGBGB) mit ihrer Anordnung der Geltung zwingender Vorschriften53. Art. 21 Rom I-VO (Art. 6 EGBGB) will grundlegende inländische Wertvorstellungen verteidigen und Eingriffe in sie abwehren54, soweit sie nicht auf andere Weise, nämlich im Arbeitsrecht über Art. 8 und 9 Rom I-VO (Art. 30 und 34 EGBGB), durchgesetzt werden. 3.6 Kollisionsrechtswahl Bei der Möglichkeit der Rechtswahl ist zu unterscheiden zwischen der Wahl 37 eines materiellen Rechts und der Wahl eines ausländischen Kollisionsrechts. Während die Sachrechtswahl, also die Wahl eines bestimmten materiellen Rechts, der Konzeption der Art. 1 ff. Rom I-VO (Art. 27 ff. EGBGB) zugrunde liegt, stellt sich die Frage, ob den Parteien nach Art. 3 Rom I-VO (Art. 27 EGBGB) auch die Befugnis eingeräumt wurde, ein fremdes Kollisionsrecht, also das eines Drittstaates, zu wählen. Dies würde bedeuten, dass die Parteien – anstatt unmittelbar das Vertragsstatut zu bestimmen – ein fremdes Kollisionsrecht wählen könnten, nach dessen Vorschriften dann im Streitfalle das anzu-

50 51 52 53

Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 47 f. MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 112. MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 112. MünchKomm/Martiny, Art. 21 Rom I-VO Rz. 2; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 54. 54 MünchKomm/Martiny, Art. 21 Rom I-VO Rz. 2.

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wendende materielle Recht bestimmt wird. Die Beurteilung der Möglichkeit einer Kollisionsrechtswahl war vor Inkrafttreten der Rom I-VO umstritten. 38 Für die Möglichkeit einer Kollisionsrechtswahl wurde vorgebracht, dass Art. 35 Abs. 1 EGBGB auf Art. 15 EVÜ beruhte55. Art. 15 EVÜ schließe aber seinerseits die Möglichkeit einer Kollisionsrechtswahl nicht ausdrücklich aus, so dass bei Art. 15 EVÜ eine Kollisionsrechtswahl zulässig sei. Mit Hinweis auf Art. 36 EGBGB, der eine einheitliche Auslegung und Anwendung der den Vorschriften des EGBGB zugrunde liegenden Regelungen des Übereinkommens vom 19.6.1980 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (BGBl. 1986 II, S. 809) anordnete, müsse der für das EVÜ geltende Grundsatz auch für Art. 35 EGBGB gelten. 39 Art. 20 Rom I-VO übernimmt zwar im Wesentlichen den Wortlaut des Art. 15 EVÜ, indem festgelegt wird, dass die anzuwendenden Rechtsnormen nicht solche des IPR sind. Bedeutend ist allerdings der neu eingefügte Zusatz, wonach Abweichungen von diesem Grundsatz ausdrücklich in der Verordnung bestimmt sein müssen. Folglich dürfte eine Kollisionsrechtswahl nach der Rom I-VO nicht mehr möglich sein56.

4. Objektive Anknüpfung 40 Machen die Arbeitnehmer von ihrem nach Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 1 EGBGB) eingeräumten Recht, eine Rechtswahl vorzunehmen, keinen Gebrauch, bestimmt sich das anzuwendende Recht nach Art. 8 Abs. 2 bis 4 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 EGBGB) (sog. objektive Anknüpfung). Art. 8 Abs. 2 bis 4 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 EGBGB) ist damit eine Spezialvorschrift für Arbeitsverhältnisse gegenüber der ansonsten für Schuldverhältnisse anzuwendenden Vorschrift des Art. 4 Rom I-VO (Art. 28 EGBGB). 41 Die Anknüpfung erfolgt gemäß des Wortlauts des Art. 8 Abs. 2 bis 4 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 EGBGB) zweistufig: Zunächst ist in einer ersten Stufe nach Abs. 2 und 3 des Art. 8 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 und 2 EGBGB) über den gewöhnlichen Arbeitsort oder ansonsten über die einstellende Niederlassung das maßgebliche Recht zu ermitteln. Dabei stellt die Formulierung des Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO klar, dass vorrangig der gewöhnliche Arbeitsort nach Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB) für die Anknüpfung maßgeblich ist. Dieses Vorrangverhältnis bestand bereits bei Art. 30 Abs. 2 EGBGB, war jedoch weniger eindeutig formuliert. Sodann ist gem. Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 a.E. EGBGB) in einer zweiten Stufe festzustellen, ob nicht „aus der Gesamtheit der Umstände“ anzunehmen ist, dass „der Vertrag eine engere Verbindung zu einem anderen […] Staat aufweist“. Ist dies der Fall, so bildet das Recht dieses anderen Staates das Vertragsstatut. Zu der zweistufigen Prüfungsfolge bei Anwendung der Nr. 2 55 MünchKomm/Martiny in der Vorauflage (4. Aufl.), Art. 35 EGBGB Rz. 5; Soergel/von Hoffmann, Art. 35 EGBGB Rz. 7. 56 MünchKomm/Martiny, Art. 20 Rom I-VO Rz. 6.

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des Art. 30 Abs. 2 EGBGB (Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO) hatte das BAG wie folgt korrigierend klargestellt: Für Sachverhalte, in denen der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht nur in einem Staat ausübe, sei den Gesamtumständen (Art. 30 Abs. 2 a.E. EGBGB/Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO) höheres Gewicht als der alleinigen Tatsache des Ortes der einstellenden Niederlassung (Art. 30 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB/Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO) einzuräumen57. Diese Korrektur des Regelanknüpfungskriteriums der „einstellenden Niederlassung“ durch die Ausnahme der „engeren Verbindung“ ist überzeugend. Denn das Kriterium der „einstellenden Niederlassung“ ist leicht zu missbrauchen58. Inwieweit der EuGH in Zukunft diese Rechtsprechung zu Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO bestätigen wird, bleibt abzuwarten. 4.1 Erste Stufe: Anknüpfung nach Arbeitsort oder Niederlassung Die beiden Regeltatbestände des Art. 8 Abs. 2 und 3 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 42 Nr. 1 und 2 EGBGB) decken alle möglichen Anwendungsfälle ab: Entweder wird der Arbeitnehmer gewöhnlich in bzw. von ein und demselben Staat aus tätig, dann ist dessen Rechtsordnung maßgeblich (Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO/ Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB), oder er wird gewöhnlich in mehr als einem Land tätig, dann ist grundsätzlich die Rechtsordnung der einstellenden Niederlassung heranzuziehen (Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO/Art. 30 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB). 4.1.1 Gewöhnlicher Arbeitsort gem. Art. 8 Abs. 2 Satz 1 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB) Nach Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB) unterliegt der Ar- 43 beitsvertrag dem Recht des Staates, in bzw. von dem der Arbeitnehmer aus in Erfüllung des Vertrags gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, selbst wenn er vorübergehend in einen anderen Staat entsandt ist. Art. 8 Abs. 2 Satz 2 Rom I-VO verwendet zwar nicht, anders als noch Art. 30 Abs. 2 EGBGB, den Begriff der Entsendung. Vielmehr wird schlicht von der vorübergehenden Verrichtung der Arbeit in einem anderen Staat gesprochen. Eine inhaltliche Änderung ist an dieser Stelle nach bisher einhelliger Meinung aber nicht eingetreten59. Die gewöhnliche Verrichtung der Arbeit in ein und demselben Staat bringt damit dessen Recht auf den Arbeitsvertrag zur Anwendung. Es kommt auf den normalen Arbeitsplatz, also den Mittelpunkt der Berufstätigkeit, an60. Das bedeutet nichts anderes, als dass eine gelegentliche Auslandstätigkeit – vom Verrichtungsstaat aus gesehen – der Anwendung des Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB) nicht im Wege steht, also Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB) erst dann eingreift, wenn der auf mehrere Staaten bezogene grenzüberschreitende Arbeitseinsatz die Regel und nicht die Ausnah57 BAG v. 11.12.2003, EWiR Art. 30 EGBGB 1/04, 703. 58 Mauer zu BAG EWiR Art. 30 EGBGB 1/04, 703 (704). 59 Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 11; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 56 ff. 60 EuGH v. 9.1.1997, IPRax 99, 365; BAG v. 15.2.2005, NZA 2005, 1117 (1119); Gerauer, BB 1999, 2083; Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 10; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 30 f.

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me bildet, weil sich dann auch das Zentrum individualarbeitsrechtlicher Anbindung verschoben hat. Das Kriterium der vorübergehenden Verrichtung der Tätigkeit in einem anderen Staat bzw. Entsendung eines Arbeitnehmers in einen anderen Staat enthält deshalb nichts weiter als eine ausdrückliche Präzisierung des Begriffes „gewöhnlich“ in Art. 8 Abs. 2 Satz 1 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB). 44 Was genau unter dem Begriff „vorübergehende“ Tätigkeit/Entsendung zu verstehen ist, gibt das Gesetz nicht vor, so dass es auf die Umstände des Einzelfalles ankommt61. Zu unterscheiden sind räumliche („Arbeit in einem anderen Staat“ bzw. „Entsendung“) und zeitliche („vorübergehende“) Dimension62. Eine „Entsendung“ liegt bereits sprachlich nicht vor, wenn der Mitarbeiter ausschließlich für einen Auslandseinsatz eingestellt wird63. Vorbeschäftigung im Inland und Rückkehrabsicht sind damit zwingende Voraussetzungen64. Ist der Arbeitnehmer also vorher nicht im Inland beschäftigt gewesen, sondern gerade nur für den Auslandseinsatz angestellt worden, kann eine Korrektur zur Anwendung inländischen Rechts nur mittels Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 a.E. EGBGB) erfolgen65. Bezüglich des Tatbestandsmerkmals „vorübergehend“ kann zunächst vom Wortlaut her die Abgrenzung zur endgültigen Auslandstätigkeit gezogen werden66. Dabei ist nach Erwägungsgrund Nr. 36 der Rom I-VO zu berücksichtigen, dass der Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags mit dem ursprünglichen Arbeitgeber oder einem Arbeitgeber, der zur selben Unternehmensgruppe gehört, wie der ursprüngliche Arbeitgeber, nicht zwingend zur Versagung einer „vorübergehenden“ Auslandstätigkeit führt. Ferner soll nach Erwägungsgrund Nr. 36 der Rom I-VO die Rechtsordnung des Entsendestaates beibehalten werden, „wenn von dem Arbeitnehmer erwartet wird, dass er nach seinem Arbeitseinsatz im Ausland seine Arbeit im Herkunftstaat wieder aufnimmt“. Entscheidend ist daher, ob die Parteien die Rückkehr des Beschäftigten in diesen Staat der Vertragsdurchführung ernsthaft zugrunde legen67. Auf eine bestimmte Dauer einer etwaigen Befristung kann es deshalb allein nicht ankommen68. Eine Korrektur wird durch Art. 8 Abs. 4 61 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 31; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 57; Schlachter, NZA 2000, 57, 59. 62 Franzen, DZWir 1996, 89 (90). 63 Thüsing, NZA 2003, 1303 (1305). 64 Franzen, DZWir 1996, 89 (90); vgl. zur Rückkehrabsicht Erwägungsgrund Nr. 36 Satz 1 der Rom I-VO. 65 Schlachter, NZA 2000, 57 (60). 66 Junker/Wichmann, NZA 1996, 506; Kraushaar, BB 1989, 2124; Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 11; Soergel/von Hoffmann, Art. 30 EGBGB Rz. 39. 67 So auch schon zum EGBGB Deinert, RdA 1996, 339 (341); Lorenz, RdA 1989, 200 (223). 68 So aber noch verschiedene Ansichten zum EGBGB, vgl. Gamillscheg, ZfA 1983, 307 (333); Thüsing, NZA 2003, 1303 (1306); LAG Berlin v. 23.5.1977, BB 1977, 1302; Firsching/von Hoffmann, § 10 Rz. 81; Soergel/von Hoffmann, Art. 30 EGBGB Rz. 39.

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Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 a.E. EGBGB) für den Einzelfall gewährleistet. Denn danach kann bei langer Entsendedauer die Geltung des Rechts des Aufnahmestaates als maßgeblich erachtet werden, wenn eine engere Verbindung zu dessen Rechtsordnung besteht69. Auch das Bestehen „doppelter Arbeitsverhältnisse“ führt nicht zu einer ande- 45 ren Einschätzung und Bewertung im Rahmen des Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 EGBGB). Gemeint sind die Fälle, in denen im Rahmen einer Entsendung mit der Muttergesellschaft ein sog. Rumpf- oder Basisarbeitsvertrag bestehen bleibt; zusätzlich wird mit dem (Tochter-)Unternehmen in einem anderen Staat ein weiterer ergänzender Arbeitsvertrag abgeschlossen. Inhaltlich bezieht sich das zweite, aktuelle Arbeitsverhältnis in der Regel auf Lohn- und Urlaubsfragen, während dem Rumpfarbeitsverhältnis typischerweise etwa Grundsätze der Vergütung oder Betriebsrentenansprüche überlassen bleiben. Auch in dieser von international tätigen Konzernen häufig benutzten Vertragskonstellation kommt es auf die Frage an, wo der gewöhnliche Arbeitsort ist, ob also die Entsendung lediglich eine vorübergehende ist. Erwägungsgrund Nr. 36 legt für das Rumpfarbeitsverhältnis fest, dass der Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags mit einem Arbeitgeber, der zur selben Unternehmensgruppe gehört wie der ursprüngliche Arbeitgeber, nicht ausschließt, dass der Arbeitnehmer als seine Arbeit vorübergehend in einem anderen Staat verrichtend gilt. Ist der Arbeitnehmer daher nur vorübergehend zum (Tochter-)Unternehmen entsandt, ändert sich der gewöhnliche Arbeitsort nicht70. Akzessorisch bleibt auch für den Arbeitsvertrag mit dem (Tochter-)Unternehmen dieser Ort der maßgebliche, gewöhnliche Arbeitsort, sofern eine Rückkehr erwartet wird71. Demgegenüber wird für den Fall, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende Entsendung handelt – und damit eine Rückkehr nicht erwartet wird –, für den Arbeitsvertrag mit dem (Tochter-)Unternehmen regelmäßig das Recht des jeweiligen Arbeitsortes über Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB) zur Anwendung gelangen72. Bezüglich des Rumpf-/Basisarbeitsvertrags wird regelmäßig das Recht am Sitz der Muttergesellschaft maßgeblich sein, da, wenn nicht schon Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB) eingreift, regelmäßig insoweit jedoch eine engere Verbindung zum Staat des Sitzes der Muttergesellschaft im Sinne des Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Halbs. 2 EGBGB) besteht. Besonders problematisch waren nach bisheriger Rechtslage die Fälle zu beur- 46 teilen, in denen der Arbeitnehmer nicht gewöhnlich in einem Staat tätig war, aber seine in verschiedenen Staaten ausgeübte Tätigkeit von einem bestimmten Staat aus organisierte und nach Auslandsreisen auch dorthin zurückkehrte

69 70 71 72

Lorenz, RdA 1989, 220 (223); Schlachter, NZA 2000, 57 (60). MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 60; HKW/Tillmanns, Rom I-VO Rz. 22. MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 60; HWK/Tillmanns, Rom I-VO Rz. 22. Däubler, RIW 1987, 249 (254); MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 61; HKW/Tillmanns, Rom I-VO Rz. 23; Soergel/von Hoffmann, Art. 30 EGBGB Rz. 52.

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(insb. Flugpersonal, Reisebegleiter)73. Nach bisheriger Rechtsprechung des BAG konnte für diese Arbeitnehmer kein gewöhnlicher Arbeitsort i.S.d. Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB bestimmt werden74. Zugleich wurde die Zuordnung des Flugpersonals zu einer bestimmten Niederlassung der Fluggesellschaft als nicht ausreichend angesehen, um dort einen gewöhnlichen Arbeitsort i.S.d. Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB des Flugpersonals zu begründen75. Zudem wurde auch das Recht des Staates, in dem das Flugzeug registriert ist76, als nicht maßgeblich eingestuft, da das Flugzeug nur das „Arbeitsgerät“ der Flugzeugbesatzung sei, das sich in verschiedenen Staaten befinde. Folglich griff das BAG auf das Recht der einstellenden Niederlassung nach Art. 30 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB zurück77. In der Literatur wurde hingegen vertreten, das Recht des Staates anzuwenden, von dem aus das Flugpersonal für seine Tätigkeit in einem anderen Staat eingesetzt wird78. Diese Ansicht hat Eingang in die Fassung des Art. 8 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. Rom I-VO gefunden, indem auf das Recht abgestellt wird, „von dem aus“ der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet79. Nimmt beispielsweise das Flugpersonal einer Fluggesellschaft gewöhnlich seine Arbeit vom Frankfurter Flughafen aus auf, ist deutsches Recht anzuwenden. 4.1.2 Einstellende Niederlassung gem. Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB) 47 Verrichtet der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat, so kommt laut der Gesetzessystematik das Recht der Niederlassung zur Anwendung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat (Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO/Art. 30 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB). Dieser Grundsatz dient dem Parteiinteresse an der Stetigkeit der Rechtsbeziehungen, weil anderenfalls das anwendbare Recht dauernden Veränderungen unterworfen wäre80. Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB) setzt voraus, dass die Arbeit gewöhnlich und damit regelmäßig nicht in einem einzigen Staatsgebiet geleistet wird. Gegenüber Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB) besteht deshalb die Schwierigkeit der Abgrenzung des regelmäßigen vom unregelmäßigen Auslandseinsatz eines Arbeitnehmers. Die in Abs. 2 (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB) vorgesehene „vorübergehende Verrichtung der Arbeit in einem anderen Staat“ kann ja regelmäßig erfolgen, ohne dass damit ein endgültiger Arbeitseinsatz im Ausland verbunden ist. Soweit deshalb Sachverhalte sowohl unter Art. 8 Abs. 2 (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB) als auch Abs. 3 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB) subsumiert werden können, gebührt Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB) insoweit der Vorrang, als der 73 74 75 76 77 78 79

MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 52. BAG v. 12.12.2001, NZA 2002, 734 (736); BAG v. 13.11.2007, NZA 2008, 761 (764). BAG v. 12.12.2001, NZA 2002, 734 (736); BAG v. 13.11.2007, NZA 2008, 761 (764). Franzen, IPRax 2003, 239 (240). BAG v. 12.12.2001, NZA 2002, 734 (737); BAG v. 13.11.2007, NZA 2008, 761 (764). Gamillscheg, ZfA 1983, 307 (334); Däubler, RIW 1987, 249 (251). Ferrari/Leible/Mankowski, The Law Applicable to Contractual Obligations in Europe, S. 177 ff.; Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 10; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 52. 80 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 63.

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Arbeitseinsatz in einem anderen Staat als demjenigen erfolgt, in dem der Schwerpunkt der Arbeitsleistung liegt. Der regelmäßige, aber jedes Mal vorübergehende Arbeitseinsatz im Ausland ist ein Unterfall des Art. 8 Abs. 2 Rom IVO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB)81. Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB) erfasst hingegen nur solche Sachverhalte, in denen die Arbeitsleistung keinen territorialen Schwerpunkt in einem bestimmten Staat aufweist. Demnach unterfallen Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB) Arbeitseinsätze mit wechselnden, in unterschiedlichen Staaten befindlichen Verrichtungsorten, wenn sie untereinander keinen besonderen Schwerpunkt aufweisen82. Entgegen der sonst im Arbeitsrecht üblichen Terminologie verwendet Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB) nicht den Begriff des Betriebes, sondern den eher im Gesellschaftsrecht anzutreffenden Begriff der Niederlassung. Die Niederlassung im Sinne dieser Vorschrift umfasst nach allgemeinem Verständnis den Betrieb und geht noch darüber hinaus83. Die Niederlassung im Sinne dieser Vorschrift lässt sich definieren als eine organisatorische Einheit des Arbeitgebers, von wo aus er mit Hilfe von Arbeitnehmern aktiv wird84. Es genügt auch das Vorliegen eines Betriebsteiles, einer Betriebsstätte, also ein Ort, von dem aus der Arbeitgeber geschäftlich tätig wird und dazu Arbeitnehmer braucht85. Dementsprechend ist die rechtliche Selbständigkeit der einstellenden Niederlassung keine Voraussetzung. Maßgeblich ist vielmehr die organisatorische Einbindung und Betreuung (Vertragsverwaltung, Lohnzahlung usw.)86. 4.2 Zweite Stufe: Engere Verbindung zu einem anderen Staat gem. Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Halbs. 2 EGBGB) Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Halbs. 2 EGBGB) schafft in einer zwei- 48 ten Stufe im Rahmen der objektiven Anknüpfung eine Korrektur der Ergebnisse, die durch Subsumption unter die Regeltatbestände der Absätze 2 und 3 des Art. 8 Rom I-VO (Nr. 1 und 2 des Art. 30 Abs. 2 EGBGB) erlangt werden, wenn im konkreten Fall Einzelumstände auf eine engere Verbindung zu einer anderen Rechtsordnung hinweisen87. 81 So auch Birk in Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht in der Vorauflage (2. Aufl.), § 20 Rz. 43. 82 So auch Birk in Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht in der Vorauflage (2. Aufl.), § 20 Rz. 43. 83 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 34; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 64; HWK/Tillmanns, Rom I-VO Rz. 24. 84 Vgl. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 34; MünchKomm/ Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 64; Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 12. 85 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 34. 86 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 65; a.A. HWK/Tillmanns, Rom I-VO Rz. 24, der für die Einstellung allein den Abschluss des Arbeitsvertrags maßgeblich hält. 87 BAG v. 11.12.2003, EWiR Art. 30 EGBGB 1/04, 703; BAG v. 24.8.1989, DB 1990, 1667; NZA 1995, 1191; LAG Hessen, NZA 2000, 403; Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 13; Schlachter, NZA 2000, 57 (60).

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Für die Frage, ob eine engere Verbindung zu einem anderen Land besteht, ist laut der Gesetzesformulierung auf die „Gesamtheit der Umstände“ abzustellen. Die einzelnen Umstände müssen herangezogen und bewertet werden. Es kommt hierbei jede Art von Aspekten in Frage, welche die anderweitige Zuordnung des Arbeitsvertrags im konkreten Einzelfall rechtfertigt. Im Einzelfall kann auch ein einzelner abweichender Umstand ausreichen, um die Anknüpfung nach Art. 8 Abs. 2 bzw. Abs. 3 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 bzw. Nr. 2 EGBGB) umzustoßen88. Als Umstände kommen etwa in Betracht: Die gemeinsame Staatsangehörigkeit der Vertragsparteien89; die frühere lange Inlandstätigkeit des Arbeitnehmers; inländischer Sitz des Arbeitgebers90; inländischer Wohnsitz des Arbeitnehmers91; die Zugehörigkeit zu einem inländischen Ausbildungsprogramm des Arbeitgebers; die Aufrechterhaltung sozialer Vorteile im Bereich der betrieblichen Sozialleistung oder Sozialversicherung92; die gleiche Behandlung innerhalb bestimmter Arbeitnehmergruppen. Oft mag in solchen Fällen bereits eine stillschweigende Rechtswahl angenommen werden, so dass es auf Art. 8 Abs. 2 bis 4 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 EGBGB) schon insgesamt nicht mehr ankommt. Es gilt hier, die Umstände im Sinne des Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 letzter Halbs. EGBGB) und die Indizien für eine stillschweigende Rechtswahl, die sich in weiten Bereichen überschneiden, voneinander abzugrenzen93. Das BAG griff im Rahmen des Art. 30 Abs. 2 a.E. EGBGB insbesondere auf räumliche und persönliche Kriterien zurück: Neben Staatsangehörigkeit, Erfüllungsort und Sitz des Arbeitgebers wurde folgenden weiteren Kriterien Indizfunktion zugesprochen: Vertragssprache; Währung, in der die Vergütung ausgezahlt wird; Ort des Vertragsschlusses; Wohnsitz des Arbeitnehmers; die – unverbindliche – Wahl eines inländischen Gerichtsstandes in einer Gerichtsstandsklausel; Inbezugnahme eines deutschen Tarifvertrages94. Als zusätzliche, nicht bloß räumliche oder persönliche Kriterien für die Bestimmung der engeren Verbindung werden insbesondere genannt: Das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt des Schut-

88 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 36. 89 BAG v. 13.11.2007, NZA 2008, 761 (765); BAG v. 9.7.2003, EzA Art. 30 EGBGB Nr. 6; BAG v. 24.8.1989, AP Nr. 28 zu Internationales Privatrecht, ArbR m.w.N. unter II 3b bb; LAG Köln v. 26.4.2006 – 7 Sa 181/04; Clausnitzer/Woopen, BB 2008, 1798 (1804); MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 68; HWK/Tillmanns, Rom I-VO Rz. 25. 90 BAG v. 9.7.2003, EzA Art. 30 EGBGB Nr. 6; jurisPK-BGB/Sutschet, Art. 8 Rom I-VO Rz. 44; Münch/Komm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 69. 91 BAG v. 11.12.2003, EWiR Art. 30 EGBGB 1/04, 703; BAG v. 9.7.2003, EzA Art. 30 EGBGB Nr. 6; BAG v. 10.4.1975, AP Nr. 12 zu Internationales Recht, ArbR mit Anm. Beitzke; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 69. 92 Vgl. zur Unterwerfung des Vertrags unter ein Sozialversicherungssystem eines Staates BAG v. 11.12.2003, EWiR Art. 30 EGBGB 1/04, 703. 93 Thüsing, NZA 2003, 1303 (1305); vgl. zur Abgrenzung auch MünchKomm/Martiny, Art. 3 Rom I-VO Rz. 46. 94 BAG v. 11.12.2003, EWiR Art. 30 EGBGB 1/04, 703; BAG v. 9.7.2003, EzA Art. 30 EGBGB Nr. 6; BAG v. 12.12.2001, NZA 2002, 734; BAG v. 29.10.1992, IPRax 1994, 123 (128); BAG v. 24.8.1989, IPRax 1991, 406 (410); vgl. auch Hönsch, NZA 1988, 113 (114); Magnus, IPRax 1991, 383 (385); Thüsing, NZA 2003, 1303 (1304).

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zes durch seine heimische Rechtsordnung und das Interesse des Arbeitgebers an der gleichmäßigen Behandlung aller Beschäftigten95. 4.3 Wechsel des objektiven Arbeitsvertragsstatuts Das objektive Arbeitsvertragsstatut braucht für die gesamte Dauer des Arbeits- 49 verhältnisses nicht notwendig immer dasselbe zu sein96. Das auf das Arbeitsverhältnis anwendbare Recht kann sich durchaus ändern. Dies kann nicht nur dadurch geschehen, dass die Parteien ein anderes Recht wählen, sondern auch dadurch, dass sich die für die objektive Anknüpfung maßgeblichen Kriterien während der Dauer des Arbeitsverhältnisses ändern97. Fraglich kann sein, ob bei einem Wechsel des Arbeitgebers in multinationalen Unternehmen (z.B. zu einem Tochterunternehmen im gleichen Konzern) es zu einem Statutenwechsel kommt. Sofern der Vertrag materielle Änderungen erfährt und damit auch eine Veränderung des anwendbaren Rechts verbunden ist, liegt ein Statutenwechsel vor, sonst nicht98. Denn nach Erwägungsgrund Nr. 36 der Rom I-VO schließt allein der Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags mit dem ursprünglichen Arbeitgeber oder einem Arbeitgeber, der zur selben Unternehmensgruppe gehört wie der ursprüngliche Arbeitgeber, nicht aus, dass der Arbeitnehmer als seine Arbeit vorübergehend in einem anderen Staat verrichtend gilt (vgl. auch Rz. 44 ff.). 4.4 Grenzen der objektiven Anknüpfung Das objektive Vertragsstatut findet wie die Rechtswahl seine Grenzen in Art. 9 50 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) und damit in den international zwingenden Vorschriften des Rechts des angerufenen Gerichts (unter Geltung des Art. 34 EGBGB: des deutschen Rechts) sowie im Grundsatz des ordre public gem. Art. 21 Rom I-VO (Art. 6 EGBGB) als äußerste Grenze. Im Hinblick auf die Modalitäten der Erfüllung ist zudem Art. 12 Abs. 2 Rom I- 51 VO (Art. 32 Abs. 2 EGBGB) zu berücksichtigen.

5. Umfang des Arbeitsvertragsstatuts Die Reichweite des gewählten oder nach objektiven Gesichtspunkten ermittelten Arbeitsvertragsstatuts ist gesetzlich nicht umfassend geregelt. Art. 12 Abs. 1 Rom I-VO (Art. 32 Abs. 1 EGBGB) enthält nur eine beispielhafte Aufzählung von einigen wichtigen Fragen. Neben Art. 12 Abs. 1 Rom I-VO (Art. 32 Abs. 1 EGBGB) enthalten auch Art. 17, 18 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 Rom I-VO (Art. 32 Abs. 3 Satz 1 und Art. 31 Abs. 1 EGBGB) Regelungen über

95 Magnus, IPRax 1991, 383 (385); Soergel/von Hoffmann, Art. 30 EGBGB Rz. 49. 96 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 37; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 73; Thüsing, NZA 2003, 1303 (1305). 97 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 37. 98 So auch Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 20 Rz. 58.

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die Reichweite des Arbeitsvertragsstatuts99. So erstreckt Art. 10 Abs. 1 Rom I-VO (Art. 31 Abs. 1 EGBGB) das Vertragsstatut auf das Zustandekommen und die Wirksamkeit des Vertrags sowie seiner einzelnen Bestimmungen. Daneben ist das Vertragsstatut nach Art. 18 Abs. 1 Rom I-VO (Art. 32 Abs. 3 Satz 1 EGBGB) entscheidend für die Aufstellung gesetzlicher Vermutungen und die Verteilung der Beweislast. Das Vertragsstatut regelt allerdings nicht alle mit dem Vertrag zusammenhängenden Fragen. Ausdrücklich enthalten Art. 13 Rom I-VO (Art. 7 EGBGB) und Art. 11 Rom I-VO (Art. 11 EGBGB) eigene Kollisionsnormen für die Geschäftsfähigkeit der Vertragsparteien bzw. die Form des Vertrags. Weitere Sonderanknüpfungen finden über Art. 12 Abs. 2 und Art. 9 Rom I-VO (Art. 32 Abs. 2 und 34 EGBGB) statt. 53 Als Grundregel lässt sich jedoch festhalten, dass das Vertragsstatut generell für die Begründung, den Inhalt und die Beendigung des Arbeitsvertrags und der aus ihm folgenden Rechte und Pflichten gilt100. Hierunter fallen insbesondere Fragen der Vertragsauslegung, der Erfüllung, der Leistungsstörungen und des Erlöschens einschließlich der Ausschlussfristen und der Verjährung. Diese Grundregel kennt allerdings auch einige Ausnahmen, die insbesondere auf Überlegungen des Arbeitnehmerschutzes beruhen. 5.1 Begründung des Arbeitsverhältnisses 54 Wie sich aus Art. 10 Abs. 1 Rom I-VO (Art. 31 Abs. 1 EGBGB) grundsätzlich ergibt, unterliegt die Begründung des Arbeitsverhältnisses dem Arbeitsvertragsstatut. Nachfolgend sollen die bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses zusammentreffenden tatsächlichen und rechtlichen Umstände aufgeschlüsselt und näher beleuchtet werden. 5.1.1 Vertragsschließende Personen 55 Bezüglich der Personen an sich stellt sich die Frage des anwendbaren Rechts im Hinblick auf die Rechts- und Geschäftsfähigkeit. Die Rom I-VO regelt gemäß Art. 1 Abs. 2 lit. a unter ausdrücklicher Herausnahme von Art. 13 (Art. 12 EGBGB) nicht, welches Recht für die Bestimmung der Rechts- und Geschäftsfähigkeit einer Person maßgeblich ist. Insoweit ist daher weiterhin auf das EGBGB zurückzugreifen101. Das EGBGB unterwirft die Frage der Rechts- und der Geschäftsfähigkeit nicht dem Vertragsstatut. Diese wird von dem jeweiligen Heimatrecht der Vertragspartner entschieden, Art. 7 EGBGB. Es findet mithin eine Sonderanknüpfung statt102.

99 Vgl. zu der durch die Rom I-VO veränderten Systematik MünchKomm/Martiny, Art. 12 Rom I-VO Rz. 1 f. 100 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 41. 101 MünchKomm/Spellenberg, Art. 13 Rom I-VO Rz. 3. 102 Hönsch, NZA 1988, 113 (117 f.).

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Rz. 58 Europäisches IPR

Art. 7 Satz 1 EGBGB bezieht sich auch auf etwaige allgemeine Erweiterungen oder Einschränkungen der Geschäftsfähigkeit103. Ist der Arbeitnehmer etwa minderjähriger Deutscher, so besitzt er nach § 113 BGB u.U. die volle Geschäftsfähigkeit zum Abschluss eines Arbeitsvertrags. Zu einer Einschränkung des Minderjährigenschutzes nach dem Heimatrecht 56 führt Art. 13 Rom I-VO (Art. 12 Satz 1 EGBGB). Befinden sich beide Parteien in einem Staat, nach dessen Recht eine natürliche Person geschäftsfähig ist, so kann diese sich nur dann auf eine Geschäftsunfähigkeit nach ihrem Heimatrecht berufen, wenn die andere Vertragspartei die mangelnde Geschäftsfähigkeit kannte oder infolge von Fahrlässigkeit nicht kannte. 5.1.2 Form des Arbeitsvertrags Für die Fragen der Form einzelner Rechtshandlungen finden sich keine arbeits- 57 rechtlichen Sondervorschriften in der Rom I-VO (im 5. Abschnitt des EGBGB). Bezüglich der Form verweist der allgemein für Schuldverhältnisse geltende Art. 3 Abs. 5 Rom I-VO (Art. 27 Abs. 4 EGBGB) auf Art. 11 Rom I-VO (Art. 11 EGBGB). Nach dieser Vorschrift beantwortet sich die Frage, ob für ein Rechtsgeschäft eine Form und ggf. welche einzuhalten ist, aufgrund des Vertragsstatuts bzw. des Rechts des Staates, in welchem das Rechtsgeschäft vorgenommen wird. Es handelt sich mithin um eine alternative Anknüpfung104. Die alternative Zulassung der Geschäftsform und der Ortsform soll den Parteien die formgültige Vornahme ihres Rechtsgeschäftes erleichtern105. Die Anwendung der Regelung des Art. 11 Abs. 1 Rom I-VO (Art. 11 Abs. 1 58 EGBGB) ist gerade im Arbeitsrecht nicht unbedenklich. Gerade dort kann sich die durch die alternative Zulassung bezweckte Zurückdrängung der Formungültigkeit von Rechtsgeschäften (favor negotii) häufig zum Nachteil des Arbeitnehmers auswirken und deshalb mit dem Gedanken des Arbeitnehmerschutzes kollidieren106. Materiell an sich zwingende Formvorschriften werden gegenüber anderen Gültigkeitsvoraussetzungen abgewertet. Beispielhaft sind zu nennen: Die Schriftform von Kündigungen und Aufhebungsverträgen nach § 623 BGB und einer Befristungsabrede nach § 14 Abs. 4 TzBfG. Die Frage der Form spielt im Arbeitsrecht für eine beachtliche Zahl von Rechtsgeschäften bzw. Rechtshandlungen eine wichtige Rolle. Dem Arbeitnehmerschutz dienen insbesondere Formvorschriften bezüglich des Abschlusses atypischer Arbeitsverträge und bei Kündigungen von Arbeitsverträgen. Die Regelung des Art. 11 Abs. 1–3 Rom I-VO (Art. 11 Abs. 1–3 EGBGB) erschwert die Realisierung dieser in nationalen Arbeitsrechten durchgängig vorfindbaren 103 MünchKomm/Birk, Art. 7 EGBGB Rz. 29. 104 Lorenz, RdA 1989, 220 (226); Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 4; MünchKomm/ Spellenberg, Art. 11 Rom I-VO Rz. 17. 105 MünchKomm/Spellenberg, Art. 11 Rom I-VO Rz. 3. 106 So bereits Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 20 Rz. 67.

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Formerfordernisse, da der Arbeitgeber durch Beeinflussung des Vornahmeortes des Rechtsgeschäftes die ihn belastenden Vorschriften vermeiden kann. 5.1.3 Befristung des Arbeitsverhältnisses 59 Die Anknüpfung für Fragen, die die Zulässigkeit von Befristungen von Arbeitsverhältnissen (§ 14 TzBfG) betreffen, ist umstritten. Zum Teil wird eine uneingeschränkte Anknüpfung an das Arbeitsvertragsstatut und damit eine Grenzziehung lediglich beim deutschen ordre public vertreten107. Unter Hinweis auf die Arbeitnehmerschutzzwecke und die arbeitsmarktpolitisch bezweckte Wirkung wird diese Ansicht aber von anderen Literaturstimmen abgelehnt. Bei den Vorschriften zur Begrenzung befristeter Arbeitsverhältnisse handele es sich – soweit es um Sachgrundbefristungen nach § 14 Abs. 1 TzBfG gehe – um zwingende Arbeitnehmerschutzbestimmungen i.S.d. Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) mit der Folge, dass das nach Art. 8 Abs. 2–4 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 2 EGBGB) objektive Vertragsstatut zu berücksichtigen sei, bzw. sogar um international zwingende Vorschriften i.S.d. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB), soweit es sich um Zeitbefristungen nach § 14 Abs. 2 TzBfG handele. Letzteren werden insoweit Gemeinwohlinteressen wegen ihrer beschäftigungsfördernden Zielsetzung zugeschrieben108. 5.1.4 Teilzeit-Arbeitsverhältnisse 60 Die Begründung eines Neu-Arbeitsverhältnisses in Teilzeit obliegt grundsätzlich der Vertragsfreiheit und ist nicht reglementiert. Das Vertragsstatut gelangt deshalb i.d.R. uneingeschränkt zur Anwendung. Soweit jedoch beispielsweise im Hinblick auf die Arbeit auf Abruf oder das Job-Sharing besondere Schutzvorschriften bestehen (§§ 12 und 13 TzBfG), müssen diese als zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht über Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) beachtet werden109. 61 § 8 TzBfG, der den Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit in einem bestehenden Arbeitsverhältnis regelt, ist allerdings keine Eingriffsnorm i.S.d. Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB), die ohne Rücksicht auf das auf den Vertrag anzuwendende Recht den Sachverhalt regelt. Denn § 8 TzBfG dient in der Hauptsache dem Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, indem das Interesse des Arbeitnehmers an der Verringerung der Arbeitszeit mit dem des Arbeitgebers an der Beibehaltung der längeren Arbeitszeit abgewogen wird110. Nur mittelbar als Nebeneffekt liegen § 8 TzBfG auch öffentliche Gemeinwohlinteressen zugrunde, wie etwa der mit der Förderung von individuellen Teilzeitwünschen erhoffte Abbau der Arbeitslosigkeit111. Mittelbare, re-

107 108 109 110 111

MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 86. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 63. Vgl. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 64. BAG v. 13.11.2007, NZA 2008, 761 (767 f.). BT-Drucks. 14/4374.

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Rz. 65 Europäisches IPR

flexartige Gemeinwohlinteressen reichen aber für die Qualifizierung als Eingriffsnorm i.S.d. Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) nicht aus112. Die Vorschrift des § 8 TzBfG, dürfte vielmehr unter die zwingenden Arbeitnehmerschutzvorschriften i.S.d. Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) fallen. Bei Sachverhalten, die auf die Europäische Union begrenzt sind, erwachsen hieraus allerdings ohnehin bereits deshalb keine Probleme, weil Grundlage der deutschen Regelung die EU-Richtlinie 97/81 ist, die die Leitlinien für das gesetzgeberische Handeln bildet und vergleichbare Regelungen in den anderen EU-Staaten ebenfalls auffindbar sind. 5.1.5 Arbeitnehmerüberlassung Die Arbeitnehmerüberlassung ist in der Bundesrepublik Deutschland durch 62 das öffentlich-rechtlich angeordnete Genehmigungserfordernis reglementiert. Darüber hinaus ordnet § 10 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) an, dass für den Fall, dass eine Genehmigung fehlt, ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Entleiher und dem Leiharbeitnehmer als zustande gekommen gilt. Das AÜG kennzeichnet sich durch eine Verbindung öffentlich-rechtlicher mit 63 privatrechtlichen Fragen – wie auch ähnliche ausländische Regelungen – und lässt eine getrennte Anknüpfung als nicht sachgerecht erscheinen113. Deshalb ist kollisionsrechtlich einer der beiden Regelungsbereiche (öffentlich-rechtliche Fragestellungen – privatrechtliche Fragestellungen) dem anderen im Wege einer akzessorischen Anknüpfung unterzuordnen. Entscheidendes Gewicht kommt dabei dem öffentlich-rechtlichen Genehmigungserfordernis zu. Es entscheidet mithin das Recht des Ortes, wo die Arbeitskräfte vom Entleiher eingesetzt werden sollen (Art. 9 Rom I-VO/Art. 34 EGBGB)114. Die zwingende Geltung ergibt sich auch aus § 2 Nr. 4 Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG)115. Fazit ist also, dass auch ein ausländisches Zeitarbeitsunternehmen, das Ar- 64 beitskräfte für einen Einsatz in Deutschland verleihen will, einer Genehmigung nach dem AÜG bedarf. Ohne eine solche wird auch zugunsten eines ausländischen Leiharbeitnehmers ein Arbeitsverhältnis zum Entleiher gemäß § 10 AÜG fingiert. Dies gilt unabhängig davon, ob das Arbeitsverhältnis zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer nach dem etwa am ausländischen Sitz des Zeitarbeitnehmers geltenden Recht voll wirksam ist. In Deutschland kann das ausländische Recht jedenfalls keine Wirksamkeit entfalten. 5.2 Inhalt des Arbeitsverhältnisses Bezüglich Inhalt und Umfang der arbeitsvertraglichen Rechte und Pflichten 65 ordnet Art. 12 Abs. 1 Rom I-VO (Art. 32 Abs. 1 EGBGB) die Maßgeblichkeit 112 BAG v. 13.11.2007, NZA 2008, 761 (767 f.). 113 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk, in der Vorauflage (2. Aufl.), § 20 Rz. 138; a.A. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 103. 114 Deinert, RdA 1996, 339 (343); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 20 Rz. 138. 115 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 123.

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Arbeitsvertragsrecht – Grundsätze des europ. IPR

des Vertragsstatuts an116. Mithin gilt das Arbeitsvertragsstatut mit seinen Eingrenzungen durch das Günstigkeitsprinzip in Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) und den im Einzelfall vorrangigen Sonderanknüpfungen von Eingriffsnormen als zwingende Vorschriften gemäß Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB)117. 5.2.1 Arbeitspflicht und arbeitnehmerseitige Nebenpflichten 66 Die Arbeitspflicht, die durch das Direktionsrecht des Arbeitgebers konkretisiert wird, ergibt sich aus dem Arbeitsvertragsstatut118. Gleiches gilt auch für die arbeitsvertraglichen Nebenpflichten und insoweit insbesondere die Treuepflicht119. 5.2.2 Diskriminierungsschutz 67 Das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG) begründet Verhaltenspflichten, insbesondere Organisationspflichten des Arbeitgebers und regelt Ansprüche diskriminierter bzw. belästigter Arbeitnehmer bei Verstößen gegen das AGG. Zwar finden sich die im AGG genannten Regelungen in Grundzügen in sämtlichen Mitgliedstaaten der EU wieder. Aufgrund unterschiedlicher Umsetzung der zugrunde liegenden EU-Richtlinien120 und insbesondere der auch dem deutschen Gesetzgeber zuzuschreibenden Übererfüllung der Europäischen Vorschriften ist die Anknüpfung in grenzüberschreitenden Sachverhalten gleichwohl von Relevanz. Im Hinblick auf die sozialpolitischen Vorstellungen und Motive des Gesetzgebers zur Verbesserung des Schutzes der in Art. 3 GG manifestierten Rechte121, erscheint eine Anknüpfung über Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) sachgerecht122. Nur so kann auch ein einheitlicher und transparenter Schutz im einzelnen Betrieb sichergestellt werden. Dies gilt umso mehr, als im Rahmen der einzelnen Diskriminierungstatbestände auch Drittpersonen betroffen sein können, denen gegenüber es nicht darauf ankommen kann, ob der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in dem zugrunde liegenden Arbeitsvertrag ein ausländisches Recht gewählt haben. Für die hier vertretene Auffassung der Einordnung als international zwingende Vorschriften spricht auch § 2 Nr. 7 AEntG, der die zwingende Geltung bestehender Nichtdiskriminierungsvorschriften anordnet123. 116 Gamillscheg, ZfA 1983, 307 (358 ff.); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 41; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 89. 117 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 89. 118 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 90. 119 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 90; Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 5. 120 Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG, Rahmenrichtlinie Beschäftigung 2000/78/EG, Gleichstellungsrichtlinie Arbeitswelt 2002/73/EG (inzwischen als konsolidierte Neufassung durch RL 2006/54/EG), Gleichstellungsrichtlinie Massengeschäfte 2004/113/EG. 121 Vgl. BT-Drucks. 16/1780, Begründung A I. 122 ErfK/Schlachter, Vorbemerkung Rz. 6; Jauernig/Mansel, § 6 AGG Rz. 1. 123 Vgl. auch ErfK/Schlachter, Vorbemerkung Rz. 6.

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Rz. 71 Europäisches IPR

5.2.3 Arbeitnehmerhaftung Wie aus Art. 12 Abs. 1 lit. c Rom I-VO (Art. 32 Abs. 1 Nr. 3 EGBGB) hervor- 68 geht, ist das Vertragsstatut auch für die Fragen der Haftung des Arbeitnehmers für gegenüber dem Arbeitgeber verursachte Schäden maßgeblich124. Dies gilt auch für Abweichungen vom allgemeinen Zivilrecht aufgrund der Rechtsprechung zur Arbeitnehmerhaftung. Das Arbeitsvertragsstatut geht damit dem Deliktstatut vor125. 5.2.4 Arbeitszeit Grundsätzlich obliegt die Bestimmung der Arbeitszeit, also wie lange und 69 wann der Arbeitnehmer tätig werden muss, den Arbeitsvertragsparteien, weshalb bei internationalen Fallgestaltungen das Arbeitsvertragsstatut maßgeblich ist126. Die freie Bestimmbarkeit über die Arbeitszeit findet ihre Grenzen in Vorschriften zu Höchstarbeitszeit, Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonntagsarbeit, Ladenöffnungszeiten, Ruhezeiten, Pausen, Schichtarbeiten und Arbeitsbereitschaft. Bei diesen öffentlich-rechtlichen Regelungen handelt es sich um zwingende, nicht der Disposition der Arbeitsvertragsparteien unterliegende Vorschriften127. Es greift Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) mit der Folge, dass das Recht des tatsächlichen Arbeitsortes anzuwenden ist128. Für die Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten ergibt sich die zwingende Anordnung auch aus § 2 Nr. 3 AEntG129. 5.2.5 Lohnzahlungspflicht Wie einleitend erwähnt, richten sich auch die Pflichten des Arbeitgebers auf- 70 grund der Regelung des Art. 12 Rom I-VO (Art. 32 EGBGB) nach dem Arbeitsvertragsstatut. Dies gilt insbesondere auch für die Hauptpflicht des Arbeitgebers, die Lohn- 71 zahlungspflicht130. Zu den Fragen der Lohnzahlungspflicht gehört in diesem Rahmen insbesondere auch die Frage, ob Provisionsansprüche entstanden sind131. Begrenzt wird das Arbeitsvertragsstatut im Hinblick auf die Lohnzahlungspflicht durch solche zwingenden Regelungen (Art. 9 Rom I-VO/Art. 34 EGBGB), 124 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 68; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 90. 125 Birk, RdA 1984, 129 (133); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 68; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 90. 126 Deinert, RdA 1996, 339 (342); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 87. 127 BAG v. 12.12.1990, BB 1991, 1489 = DB 1991, 865; Deinert, RdA 1996, 339 (342). 128 Wie zuvor; LAG München v. 20.2.1986, NZA 1987, 206. 129 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 116. 130 Deinert, RdA 1996, 339 (343); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 70; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 92. 131 BAG, NJW 1985, 2910 = AP IPR-Arbeitsrecht Nr. 23 m. Anm. Beitzke = EwiR 1985, S. 659 m. Anm. Birk; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 92.

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Arbeitsvertragsrecht – Grundsätze des europ. IPR

die etwa die Lohngleichheit von Mann und Frau (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG, vgl. zum zwingenden Charakter der Vorschrift auch § 2 Nr. 7 AEntG)132, den Mindestlohn, Lohnstopp, Barzahlungsgebot betreffen. Fraglich ist hingegen die Einordnung der Vorschriften zur Regelung des Lohnrisikos, etwa bei Betriebsstörungen. Teilweise werden diese als zwingend i.S.d. Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) angesehen, mit der Folge, dass diesbezüglich nicht das Vertragsstatut, sondern das Recht des Betriebssitzes maßgeblich wäre133. Andere knüpfen an das Arbeitsvertragsstatut an, da dem Arbeitnehmer die Erbringung der Arbeitsleistung aufgrund der Betriebsstörungen unmöglich wird und somit die Rechtsfolgen der Nichterfüllung der vertraglichen Leistungspflicht des Arbeitnehmers in Rede stehen, die nach Art. 12 Abs. 1 lit. c Rom I-VO durch das Arbeitsvertragsstatut bestimmt werden134. Diese Ansicht überzeugt, da etwa die deutsche Vorschrift zum Betriebsrisiko, § 615 Satz 3 BGB, die den Ausgleich der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen nach Risikosphären regelt, keine öffentlichen Gemeinwohlinteressen verfolgt, so dass sie nicht als zwingende Regelung i.S.d. Art. 9 Rom I-VO eingestuft werden kann. 5.2.6 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall 72 Welches Recht hier eingreift, ist umstritten. Zum Teil wird vertreten, dass es über Art. 8 Rom I-VO (Art. 30 EGBGB) auf das Arbeitsvertragsstatut ankomme135. Die Gegenauffassung knüpft über Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) an das internationale Sozialversicherungsrecht an136. Letztere Auffassung ist überzeugend, so dass auf in Deutschland gelebte Arbeitsverhältnisse – auch bei ausländischem Arbeitsvertragsstatut – das deutsche Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) mit seinen Regelungen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall anzuwenden ist. Hierfür spricht, dass die inländische Regelung auch die Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherung und damit öffentliche Interessen bezweckt137. Denn ohne den gegen den Arbeitgeber gerichteten Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 EFZG könnte der Arbeitnehmer von der Krankenkasse die Zahlung von Krankengeld verlangen. Deren Verpflichtung ruht, solange der Versicherte Zahlungen vom Arbeitgeber erhält (§ 49 Abs. 1 SGB V)138. Für grenzüberschreitende Sachverhalte in der Europäischen Union bedeutet die akzessorische Anknüpfung des arbeitsvertraglichen Lohnfortzahlungsanspruchs an das Krankenversicherungsrecht damit eine Heranziehung der Kollisionsnormen aus den Art. 11 ff. der EG-Verordnung Nr. 883/2004 (Art. 13 ff. der EWG-Verordnung 1408/71 ablösend)139.

132 Zur Einordnung als international zwingende Vorschrift siehe oben Rz. 63. 133 So noch Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 20 Rz. 141. 134 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 80. 135 LAG Hessen v. 16.11.1999, IPRax 2001, 461. 136 BAG v. 12.12.2001, NZA 2002, 734; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 94; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 78. 137 BAG v. 12.12.2001, NZA 2002, 734; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 94; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 78. 138 BAG v. 12.12.2001, NZA 2002, 734. 139 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 78.

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5.2.7 Arbeitsunfälle Ebenfalls erfolgt die Anknüpfung über Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) an die 73 sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften in den Fällen, in denen der Arbeitnehmer einen Arbeitsunfall (einschließlich eines Wegeunfalles) erleidet oder an einer Berufskrankheit erkrankt. Denn in diesen Fällen wird der Arbeitgeber oder ein Arbeitskollege nach §§ 104 ff. Sozialgesetzbuch (SGB) III weitgehend von der zivilrechtlichen Haftung für Personenschäden gegenüber dem geschädigten Arbeitnehmer freigestellt. Diese Privilegierung des Arbeitgebers erfolgt durch sozialversicherungsrechtliche Vorschriften und beruht nicht auf dem Arbeitsrecht. Demnach erfolgt die Ablösung der arbeitsrechtlichen Haftung durch das Sozialrecht und bestimmt sich deshalb nach dem Statut der sozialen Unfallversicherung und eben nicht demjenigen des Arbeitsvertrags oder der unerlaubten Handlung140. 5.2.8 Urlaubsanspruch Der Urlaubsanspruch, also der Anspruch auf bezahlte Freizeit zum Zwecke der 74 Erholung, richtet sich grundsätzlich nach dem Arbeitsvertragsstatut141. Für die Anwendung besonderer Schutzvorschriften für besonders geschützte Arbeitnehmergruppen wie z.B. Jugendliche und schwerbehinderte Menschen (JArbSchG oder SGB IX) greift aber Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB). Zum Teil wird dies auch für den gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch vertreten142. Dies ist mit Blick auf die Regelung in § 2 Nr. 2 AEntG überzeugend. Auch der Anspruch auf Elternzeit (§ 15 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz, BEEG) ist als zwingend einzuordnen143. 5.2.9 Feiertagsvergütung Zwingende Vorschriften im Sinne des Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) ent- 75 halten auch die lokal wie international geltenden Regelungen zur Arbeitsbefreiung und Vergütungsfortzahlung an lokal geltenden Feiertagen. Mithin ist insoweit nicht das Arbeitsvertragsstatut maßgeblich, sondern das jeweilige Ortsrecht144. 5.2.10 Arbeitsschutz/Arbeitssicherheit Soweit nicht schon aufgrund der erlassenen EU-Richtlinie im Bereich des tech- 76 nischen Arbeitsschutzes einheitliche Regelungen in Europa bestehen, die die 140 BAG v. 30.10.1963, AP Nr. 8 zu IPR Arbeitsrecht (zur früheren Regelung der §§ 898, 899 RVO); BAG v. 7.11.2006, NJW 2007, 1754 (1756); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, §11 Rz. 69; MünchKomm/Junker, Art. 4 Rom II-VO Rz. 170. 141 Joussen, NZA 2003, 1173 (1175); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 90. 142 Deinert, RdA 1996, 339 (342 f.); a.A. MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 96. 143 LAG Frankfurt a.M. v. 16.11.1999, NZA-RR 2000, 401 (406); MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 96. 144 Deinert, RdA 1996, 339 (342); Thüsing, NZA 2003, 1303 (1309).

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Europäisches IPR Rz. 77

Arbeitsvertragsrecht – Grundsätze des europ. IPR

kollisionsrechtliche Problematik an praktischer Bedeutung verlieren lassen, ist für diesen öffentlich-rechtlich geregelten Bereich an die Vorschriften des tatsächlichen Arbeitsortes anzuknüpfen (Art. 9 Rom I-VO/Art. 34 EGBGB)145. 77 Als sozialrechtliche Normen richtet sich der Anwendungsbereich der Unfallverhütungsvorschriften der deutschen Berufsgenossenschaften nach den für die Unfallversicherung geltenden Vorschriften der Art. 11 ff. EG-Verordnung Nr. 883/2004 (zuvor Art. 13 ff. EWG-Verordnung 1408/71)146. 5.2.11 Arbeitnehmererfindungen 78 Macht der Arbeitnehmer Erfindungen, so richten sich die damit zusammenhängenden arbeitsrechtlichen Fragen wie beispielsweise, ob der Arbeitgeber diese Arbeitsergebnisse verwerten darf und ob er dem Arbeitnehmer eine zusätzliche Vergütung schuldet, grundsätzlich nach dem Arbeitsvertragsstatut147. Die zwingenden Regeln über die Arbeitnehmererfindungen sind Schutzvorschriften i.S.d. Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB)148. 5.2.12 Schutz besonderer Arbeitnehmergruppen 79 Bei den im Mutterschutzgesetz (MuSchG) geregelten Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für schwangere Frauen und Wöchnerinnen sowie den Schutzmaßnahmen betreffend Kinder und Jugendliche handelt es sich um sozialpolitisch motivierte und deshalb zwingende Vorschriften i.S.d. Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB). Dies ergibt sich auch aus § 2 Nr. 6 AEntG149. Diese Regelungen gelangen dann zur Anwendung, wenn der Arbeitsort in der Bundesrepublik Deutschland liegt150. Insbesondere der in § 14 Abs. 1 MuSchG geregelte Zuschuss zum Mutterschaftsgeld dient der Verwirklichung des Verfassungsgebotes nach Art. 6 Abs. 4 GG und ist demnach ein besonders wichtiges Gemeinschaftsgut151. 80 Bei den Vorschriften des Rechts für schwerbehinderte Menschen (SGB IX) handelt es sich ebenfalls um zwingende Vorschriften i.S.d. Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB), so dass sie anzuwenden sind, wenn der Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses im Inland liegt152. 145 Deinert, RdA 1996, 339 (343); Hönsch, NZA 1988, 113 (118); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 91. 146 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 91. 147 Ermann/Hohloch, Art. 30 EGBGB Rz. 26; Gamillscheg, ZfA 1983, 307 (362); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 95; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 97; Soergel/von Hoffmann, Art. 30 EGBGB Rz. 22. 148 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 95; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 97; Soergel/von Hoffmann, Art. 30 EGBGB Rz. 22. 149 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 116. 150 BAG v. 12.12.2001, NZA 2002, 734; Deinert, RdA 1996, 339 (343); Hickl, NZA Beilage 1/1987, 10 (16); Soergel/von Hoffmann, Art. 30 Rz. 23. 151 BAG v. 12.12.2001, NZA 2002, 734, IPrax 2003, 261; Hickl, NZA Beilage 1/1987, 10 (16); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 92. 152 BAG v. 10.12.1964, BAGE 17, 1 = IPRspr 1964–65 Nr. 69 (Kündigung); BAG v. 30.4.1987, NJW 1987, 2766; Deinert, RdA 1996, 339 (343); Gamillscheg, ZfA 1983, 307 (358); Hickl, NZA Beilage 1/1987, 10 (15); Hönsch, NZA 1988, 119; Münchener

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Arbeitsvertragsrecht – Grundsätze des europ. IPR

Rz. 85 Europäisches IPR

5.3 Wechsel des Arbeitgebers Der Wechsel des Arbeitgebers kann sich auf verschiedene Art und Weise vollziehen. Überwiegend vollziehen sich Arbeitgeberwechsel durch Fusionen verschiedener rechtlich selbständiger Gesellschaften oder aber im Wege eines Inhaberwechsels im Rahmen eines Betriebsübergangs gem. § 613a BGB.

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Vollzieht sich der Arbeitgeberwechsel im Wege einer gesellschaftsrechtlichen 82 Transaktion durch Neubildung einer Gesellschaft im Rahmen einer Fusion, tritt das Arbeitsvertragsstatut hinter dem Gesellschaftsstatut zurück153. Der gesetzlich angeordnete Vertragspartnerwechsel auf Arbeitgeberseite als 83 Rechtsfolge eines rechtsgeschäftlichen Übergangs des Betriebes oder eines Betriebsteiles, in welchem der Arbeitnehmer beschäftigt ist, basiert auf der EGRichtlinie 2001/23 (zuvor 77/187/EWG) und findet sich in Grundzügen in sämtlichen Mitgliedstaaten der EU. Erhebliche Unterschiede bestehen aber im Hinblick etwa auf die Rechtsfolgen eines Widerspruchs, der in vielen Rechtsordnungen als Kündigung seitens des Arbeitnehmers verstanden wird. Die Anknüpfung für die Frage des Arbeitgeberwechsels infolge Betriebsübergangs ist streitig. Das BAG vertritt die Auffassung, dass das Arbeitsvertragsstatut maßgeblich sei, wobei es sich bei § 613a BGB um eine zwingende Bestimmung i.S.d. Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) handele154. Vorzugswürdig erscheint demgegenüber die Auffassung, die über Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) an den Sitz des fraglichen Betriebes anknüpft, unabhängig davon, ob er ganz oder nur teilweise übergeht155. Gegen eine Anknüpfung an das Arbeitsvertragsstatut spricht, dass bei mehreren Arbeitnehmern die Frage des Arbeitgeberwechsels sinnvollerweise nur einheitlich beantwortet werden kann. 5.4 Beendigung des Arbeitsverhältnisses Es kommen verschiedene Gründe für die Beendigung eines Arbeitsvertrags in 84 Betracht: Neben der Kündigung und dem Aufhebungsvertrag sind dies u.a. noch der Fristablauf und der Tod des Arbeitnehmers. Gem. Art. 12 Abs. 1 lit. d Rom I-VO (Art. 32 Abs. 1 Nr. 4 EGBGB) bestimmen sich die Arten, nach denen das Vertragsverhältnis enden kann, nach dem Arbeitsvertragsstatut. 5.4.1 Aufhebungsvertrag Als actus contrarius zum Abschluss des Arbeitsvertrags ist bezüglich des Aufhebungsvertrags an das Arbeitsvertragsstatut anzuknüpfen156.

153 154 155 156

Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 94; Soergel/von Hoffmann, Art. 30 EGBGB Rz. 23. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 98. BAG v. 9.7.2003, AZR 593/02. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 20 Rz. 185. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 110.

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Europäisches IPR Rz. 86

Arbeitsvertragsrecht – Grundsätze des europ. IPR

5.4.2 Kündigung 86 Auch für die Frage des Bestehens einer Kündigung als Rechtsakt ist grundsätzlich das Arbeitsvertragsstatut maßgeblich (Art. 12 Abs. 1 lit. d Rom I-VO/ Art. 32 Abs. 1 Nr. 4 EGBGB)157. Inwieweit das Arbeitsvertragsstatut durch besondere internationale Vorschriften des Kündigungsschutzes durchbrochen wird, muss im Einzelfall beantwortet werden. So finden sich Reglementierungen des Kündigungsrechts in Regelungen über die Einhaltung von Vorverfahren, wozu auch die Anhörung des Betriebsrates nach § 102 Abs. 1 BetrVG oder die Zustimmung des Integrationsamtes bei schwerbehinderten Arbeitnehmern gehören, über die Einhaltung von bestimmten Kündigungsfristen bis hin zu Kündigungsverboten und Kündigungsbeschränkungen (wie etwa nach dem Kündigungsschutzgesetz [KSchG] oder tarifliche Alterssicherung). Für Kündigungsverbote etwa nach § 15 KSchG für Betriebsratsmitglieder oder § 9 MuSchG für Schwangere und junge Mütter wird vertreten, dass an Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) anzuknüpfen sei. Ihre Anwendbarkeit richte sich mithin grundsätzlich nach dem subjektiven Vertragsstatut, käme jedoch auch mittels eines Günstigkeitsvergleichs mit dem objektiven Vertragsstatut zur Anwendung158. Diese Anknüpfung ist gerade für § 15 KSchG nicht überzeugend, als dieses Gesetz aus ordnungspolitischen Gründen die Arbeitnehmervertreter am Arbeitsort – Betrieb – vor eventuell diskriminierenden Handlungen des Arbeitgebers schützen will. Aufgrund der sozial- und ordnungspolitischen Zwecksetzung dieser Vorschriften, aber auch aufgrund des dahinter stehenden Diskriminierungsschutzes ist an Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) anzuknüpfen159. Diese Auffassung wird gestützt durch die gesetzliche Regelung in § 2 Nr. 7 AEntG. Auch die besonderen Kündigungsschutzvorschriften für schwerbehinderte Menschen nach §§ 85 ff. SGB IX sollten vor diesem Hintergrund als zwingend i.S.d. Art. 9 Rom I-VO angesehen werden160. Die Anknüpfung bezüglich der Einhaltung von Kündigungsfristen erfolgt nach dem Arbeitsvertragsstatut. Längere Fristen des objektiven Arbeitsvertragsstatus verdrängen wiederum über das Günstigkeitsprinzip die Regelung des etwa gewählten ungünstigen Rechts161. Der Kündigungsschutz nach dem KSchG (mit Ausnahme von § 15 KSchG) und die darin gesehene Beschränkung der arbeitgeberseitigen ordentlichen Kündigung wird über Art. 8 Abs. 1 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) angeknüpft. Das deutsche KSchG gelangt mithin zur Anwendung, wenn es entweder dem subjektiven Arbeitsvertragsstatut unterliegt oder aber im Wege des Günstig157 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 111; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 100. 158 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 100 f. 159 BAG v. 24.8.1989, NZA 1990, 841; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 113. 160 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 113. 161 Gamillscheg, ZfA 1983, 307 (362); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 111; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 100.

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Arbeitsvertragsrecht – Grundsätze des europ. IPR

Rz. 86 Europäisches IPR

keitsvergleichs mittels des objektiven Arbeitsvertragsstatuts dem gewählten Recht vorgeht162. Die Einordnung des Kündigungsschutzes unter Art. 8 Abs. 1 Rom I-VO (Art. 30 Abs. 1 EGBGB) wird nicht einhellig vertreten. Birk163 knüpft bezüglich des allgemeinen Kündigungsschutzes an Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB) an. Nach der von ihm vertretenen Ansicht will das deutsche KSchG nur Regelungen für deutsche Betriebe treffen und nicht in ausländische Betriebe eingreifen. Er verweist diesbezüglich insbesondere auf Probleme, die sich ergeben, wenn in einem ausländischen Betrieb dort tätige Mitarbeiter im Rahmen einer betriebsbedingten Sozialauswahl herangezogen werden müssten. Die Ansicht überzeugt nicht. Bei den Vorschriften des KSchG handelt es sich nicht um international zwingende Normen. Da eine ausdrückliche gesetzliche Regelung fehlt, ist von dem Zweck des KSchG auszugehen, der nicht darin gesehen werden kann, auch zwingend Verträge mit Auslandsberührung gegen das Vertragsstatut zu erfassen. Kommt die Anwendung deutschen Kündigungsschutzrechts wegen Rechtswahl oder objektiver Anknüpfung in Betracht, muss im nächsten Schritt geprüft werden, ob die Tatbestandsvoraussetzungen zur Anwendung des KSchG erfüllt sind164. Der Gesetzgeber verwendet insofern in § 23 Abs. 1 KSchG mit dem Begriff des Betriebes einen feststehenden Rechtsbegriff, der durch das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) geprägt wurde und nur solche organisatorischen Einheiten meint, die auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland liegen165. Daher erfasst das KSchG nur Betriebe auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland166. Hierdurch wird sichergestellt, dass alleine Arbeitsverhältnisse inländischer Betriebe bei den Tatbestandsvoraussetzungen der einzelnen Vorschriften des ersten Abschnittes des KSchG berücksichtigt werden. Demzufolge muss der betroffene Arbeitnehmer in einem inländischen Betrieb eingegliedert sein; die geforderte Mindestzahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer in einem Betrieb muss im Inland erreicht sein; die Sozialauswahl beschränkt sich schließlich nur auf Mitarbeiter des inländischen Betriebs. Stets ist bei der Prüfung der Sozialwidrigkeit vorausgesetzt, dass gegenüber allen etwa angesprochenen Arbeitnehmern und gegenüber dem Arbeitgeber dasselbe, nämlich deutsches Arbeitsrecht und insbesondere das Recht des KSchG angewendet und auch durchgesetzt werden kann. Diese Voraussetzung sicherzustellen, ist nach Auffassung des BAG ein elementares Anliegen bei der Aus162 BAG v. 20.11.1997, NZA 1998, 813; LAG Frankfurt/M., IPRspr. 1992 Nr. 71; Magnus, IPRax 1990, 141 (145); MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 100; Reiserer, NZA 1994, 673 (677 ff.); Soergel/von Hoffmann, Art. 30 EGBGB Rz. 22. 163 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 20 Rz. 200. 164 Vgl. BAG v. 26.3.2009, AP § 23 KSchG 1969, Nr. 45; BAG v. 17.1.2008, AP § 23 KSchG 1969, Nr. 40; BAG v. 3.6.2004, AP § 23 KSchG 1969, Nr. 33; BAG v. 9.10.1997, NZA 1998, 141. 165 BAG v. 17.1.2008, AP § 23 KSchG 1969, Nr. 40. 166 BAG v. 26.3.2009, AP § 23 KSchG 1969, Nr. 45; BAG v. 17.1.2008, AP § 23 KSchG 1969, Nr. 40; BAG v. 3.6.2004, AP § 23 KSchG 1969, Nr. 33; BAG v. 9.10.1997, NZA 1998, 141.

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Europäisches IPR Rz. 87

Kollektives Arbeitsrecht

legung des Begriffs „Betrieb“ i.S.d. § 23 Abs. 1 KSchG. Andernfalls würden die Kohärenzen und Korrespondenzen des Kündigungsschutzrechts zerrissen167. Entsprechend ist auch der folgende grenzüberschreitende Sachverhalt zu beurteilen: Ein in Deutschland tätiger Mitarbeiter, auf den das deutsche KSchG anzuwenden ist, macht geltend, dass für die Festlegung der Betriebsgröße i.S.d. § 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 KSchG auch Mitarbeiter einzubeziehen seien, die im Ausland beschäftigt sind und einem Unternehmen angehören, das einen gemeinsamen Betrieb mit dem inländischen Betrieb(steil) bildet. Das BAG entschied mehrfach, erstmals mit Urteil vom 9.10.1997 zu diesem Sachverhalt, dass sich der räumliche Geltungsbereich des KSchG auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland beschränkt. Dies führe dazu, dass die geforderte Mindestzahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer in den Betrieben auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt sein müsse. Eine Heranziehung der Mitarbeiter im Ausland sei deshalb nicht möglich168. 5.4.3 Folgen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses 87 Das Arbeitsvertragsstatut ist maßgeblich für die Pflichten, die sich aus Anlass der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ergeben169. Hierzu gehören neben dem Anspruch des Arbeitnehmers auf Zeugniserteilung der Anspruch auf Freistellung zur Stellensuche wie auch die Verpflichtungen des Arbeitnehmers zur Herausgabe von Firmeneigentum.

IV. Kollektives Arbeitsrecht 1. Betriebsverfassungsrecht 88 Die wesentlichen Rechtsquellen des Betriebsverfassungsrechts, das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) und das Sprecherausschussgesetz (SprAuG), enthalten keine spezifischen Regelungen bezüglich ihrer Anwendbarkeit auf grenzüberschreitende Sachverhalte. Maßgebliche Bezugspunkte beider Gesetze sind die Begriffe des Betriebes und der Betriebszugehörigkeit. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG ist die Anwendung des BetrVG bzw. des SprAuG auf im Inland gelegene Betriebe begrenzt. Mithin greift das sog. Territorialitätsprinzip170. Keine Rolle spielt hingegen die Staatsangehörigkeit des Arbeitnehmers oder des Arbeitgebers171. 167 BAG v. 26.3.2009, AP § 23 KSchG 1969, Nr. 45. 168 BAG v. 26.3.2009, AP § 23 KSchG 1969, Nr. 45; BAG v. 17.1.2008, AP § 23 KSchG 1969, Nr. 40; BAG v. 9.10.1997, NZA 1998, 141; best. durch Urteil des BAG v. 11.12.2003, AP § 23 KSchG 1969, Nr. 33. 169 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 114. 170 BAG v. 30.4.1987, NZA 1988, 135; BAG v. 7.12.1989, NZA 1990, 658; BAG v. 22.3.2000, NZA 2000, 1119; BAG v. 20.2.2001, NZA 2001, 1033; LAG München v. 8.7.2009 – 11 TaBV 114/08; von Bar, IPR Bd. 2, Rz. 445; Falder, NZA 2000, 868; Hickl, NZA Beilage 1/1987, 10 (14); Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 5. 171 von Bar, IPR Bd. 2, Rz. 445.

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Kollektives Arbeitsrecht

Rz. 90 Europäisches IPR

1.1 Mitwirkung und Mitbestimmung des Betriebsrates Aufgrund der Geltung des Territorialitätsprinzips erfassen die Mitwirkungs- 89 und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates grundsätzlich allein solche Arbeitsverhältnisse, die dem Betrieb im Inland zuzuordnen sind. Unter Heranziehung der Grundsätze über die Ausstrahlung und die Einstrahlung gelangt deutsches Betriebsverfassungsrecht für Auslandsbeziehungen zur Anwendung bzw. ausländisches Betriebsverfassungsrecht für Arbeitsverhältnisse mit Inlandsbeziehung172. So kann das deutsche Betriebsverfassungsrecht bei Entsendungen von Arbeit- 90 nehmern ins Ausland zur Anwendung gelangen173. Solange das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers noch dem Betrieb im Inland zuzuordnen ist, dort also lokalisiert bleibt, hat der Betriebsrat nicht nur bezüglich der Entsendung selbst Beteiligungsrechte, sondern besitzt darüber hinaus auch ein Mitwirkungsrecht bei Kündigungen entsandter Arbeitnehmer174. Maßgeblich kommt es also auf die Zuordnung zum inländischen Betrieb an175. Bei der Prüfung, wann eine Ausstrahlung vorliegt, orientiert sich die Rechtsprechung in erster Linie an der Dauer der Auslandstätigkeit176. Arbeitnehmer, die vorübergehend ins Ausland entsandt werden, sind dem deutschen Betrieb zuzurechnen. Demgegenüber fehlt es an einer hinreichenden Beziehung zum Inland bei Arbeitnehmern, die dauernd im Ausland tätig sind. Dies gilt insbesondere für den Einsatz solcher Mitarbeiter, die nur für die Auslandstätigkeit eingestellt wurden und nie in inländischen Betrieben tätig waren177. Für die Abgrenzung der dauernden von der vorübergehenden Auslandstätigkeit gibt es nach herrschender Meinung keine absolute zeitliche Grenze178. Maßgeblich dürfte es darauf ankommen, dass eine Beziehung zum Inlandsbetrieb besteht, die es rechtfertigt, die Auslandstätigkeit als Ausstrahlung der im Inland entfalteten betrieblichen Aktivitäten zu behandeln179. Die Dauer der Auslandstätigkeit ist demzufolge lediglich ein – wichtiges – Indiz. Es muss eine persönliche tätigkeitsbezogene und rechtliche Bindung an den Inlandsbetrieb bestehen180. Es hat eine Gesamtwürdigung der Umstände zu erfolgen181.

172 Thüsing, NZA 2003, 1303 (1310); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/v. Hoyningen-Huene, § 211 Rz. 17, 21. 173 BAG v. 7.12.1999, NZA 1990, 658 (659); MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 130. 174 BAG v. 7.12.1999, NZA 1990, 658 (659); MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 130. 175 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 130; Richardi/Richardi, Einl. vor § 1 BetrVG Rz. 73 ff. 176 BAG v. 7.12.1989, DB 1990, 992. 177 BAG v. 7.12.1989, DB 1990, 992; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 131. 178 BAG v. 25.4.1978, DB 1978, 1840; Fitting, § 1 Rz. 24. 179 So auch BAG v. 7.12.1989, DB 1990, 992; BAG v. 20.2.2001, AP Nr. 23 zu § 101 BetrVG 1972. 180 So auch BAG v. 7.12.1989, DB 1990, 992; BAG v. 20.2.2001, AP Nr. 23 zu § 101 BetrVG 1972. 181 So auch BAG v. 7.12.1989, DB 1990, 992; BAG v. 20.2.2001, AP Nr. 23 zu § 101 BetrVG 1972.

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Europäisches IPR Rz. 91

Kollektives Arbeitsrecht

91 Gilt das BetrVG, so ist der Betriebsrat auch vor der Kündigung eines ausländischen Betriebsangehörigen mit ausländischem Arbeitsvertragsstatut gem. § 102 BetrVG anzuhören182. Unterbleibt die Anhörung, so ist die Kündigung nach dieser Vorschrift unwirksam. Hierbei handelt es sich um eine zwingende Vorschrift i.S.d. Art. 9 Rom I-VO (Art. 34 EGBGB), die sich gegenüber auch einem etwaigen ausländischen Arbeitsvertragsstatut durchsetzt. 1.2 Errichtung eines Betriebsrates 92 Für die Errichtung und die Größe betriebsverfassungsrechtlicher Institutionen stellt das BetrVG in § 1 Abs. 1 und § 9 auf eine bestimmte Zahl betriebsangehöriger Arbeitnehmer ab. Auch hier greift grundsätzlich das Territorialitätsprinzip ein. Bezüglich der im Ausland tätigen Arbeitnehmer des Inhabers des inländischen Betriebes gelten allerdings wiederum die unter Rz. 89 ff. erwähnten Kriterien der Ausstrahlung, wonach die organisatorische Zugehörigkeit zum inländischen Betrieb maßgeblich ist183. Gleiches gilt für die Beantwortung der Frage nach der Wahlberechtigung und der Wählbarkeit bei Betriebsratswahlen eines ins Ausland entsandten Mitarbeiters. Ein vorübergehend ins Ausland entsendeter Mitarbeiter verliert deshalb nicht sein aktives und passives Wahlrecht184. Wird ein entsendeter Mitarbeiter zum Betriebsrat gewählt, liegt regelmäßig eine (vorübergehende) Verhinderung vor, so dass für ihn ein Ersatzbetriebsratsmitglied gem. § 25 Abs. 1 BetrVG nachrückt185. 93 Für die Frage der Bildung eines Gesamtbetriebsrates muss differenziert werden. Nach § 47 Abs. 1 BetrVG besteht grundsätzlich die Pflicht, einen Gesamtbetriebsrat zu bilden, wenn in einem Unternehmen mehrere Betriebsräte existieren. Es stellt sich die Frage, ob diese gesetzliche Verpflichtung auch eingreift, wenn sich verschiedene Betriebe nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland befinden. Auch hier muss zur Beantwortung der das Betriebsverfassungsrecht beherrschende Territorialitätsgrundsatz herangezogen werden. Da sich die Verpflichtung zur Bildung eines Gesamtbetriebsrates aus dem deutschen BetrVG nur auf solche Betriebe beziehen kann, die im Inland bestehen, muss die Frage dahin gehend beantwortet werden, dass dann, wenn im Inland mehrere Betriebe bestehen, auch ein Gesamtbetriebsrat zu bilden ist186. Wenn sich nur ein Betrieb im Inland und im Ausland weitere Betriebe mit einer dem Betriebsrat vergleichbaren Arbeitnehmervertretung befinden, besteht eine solche Verpflich-

182 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 134. 183 Däubler/Kittner/Klebe/Schneider, § 9 BetrVG Rz. 12. 184 BAG v. 7.12.1989, DB 1990, 992; BAG v. 22.3.2000, AP Nr. 8 zu § 14 AÜG; Däubler/ Kittner/Klebe/Schneider, § 7 BetrVG Rz. 29; Richardi/Richardi, Einl. vor § 1 BetrVG Rz. 80; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 130; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 136. 185 Richardi/Richardi, Einleitung vor § 1 BetrVG Rz. 80; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 130. 186 Däubler/Kittner/Klebe/Schneider, § 9 BetrVG Rz. 12; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 128.

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Kollektives Arbeitsrecht

Rz. 95 Europäisches IPR

tung nicht, da ansonsten diese ausländischen Betriebe bzw. die dortigen Arbeitnehmervertretungen durch das deutsche Gesetz verpflichtet würden, ohne dass das Territorialitätsprinzip diese örtlich erfassen würde187. Der Territorialitätsgrundsatz gilt auch im Hinblick auf die Bildung von Kon- 94 zernbetriebsräten. Nach § 54 Abs. 1 BetrVG setzt die fakultative Errichtung eines Konzernbetriebsrates ebenfalls das Bestehen mindestens zweier inländischer Unternehmen voraus, in denen ein Gesamtbetriebsrat oder ein diesem gleichgestellter einzelner Betriebsrat besteht. Ausländische Unternehmen einer deutschen Konzernmutter werden hierbei nicht berücksichtigt188. Nach Überzeugung des BAG ist eine weitere Voraussetzung für die Bildung eines Konzernbetriebsrats, dass das herrschende Unternehmen seinen Sitz im Inland hat189. Bei einem ausländischen herrschenden Unternehmen ist die Bildung eines Konzernbetriebsrats nach § 54 Abs. 1 BetrVG daher in jedem Fall ausgeschlossen.

2. Mitbestimmung in den Unternehmensorganen Die Mitwirkung und Mitbestimmung nach dem BetrVG eröffnet den Arbeitneh- 95 mern eine Beteiligung an Entscheidungen auf der Ebene des Betriebes. Hingegen befasst sich die Unternehmensmitbestimmung mit den Fragen der Kontrolle von Unternehmensmacht, Demokratisierung der Unternehmen, Kooperation von Kapital und Arbeit, Abbau von Fremdbestimmungen und der Verbesserung des Arbeitnehmerschutzes. Auf dieser Ebene ordnen die deutschen Gesetze nicht die Gründung neuer eigener Organe der Arbeitnehmer an, sondern haben verschiedene Möglichkeiten entwickelt, Arbeitnehmervertreter unmittelbar in die Organe des Unternehmens zu entsenden, insbesondere in den Aufsichtsrat bei der Aktiengesellschaft. Die verschiedenen entwickelten Modelle (Montanmitbestimmung nach dem Montanmitbestimmungsgesetz von 1951, Mitbestimmung in Großunternehmen nach dem Mitbestimmungsgesetz von 1976, Drittelbeteiligungsgesetz) variieren je nach ihrer einschlägigen Rechtsgrundlage zwar in ihrem Umfang, dies hat jedoch auf die Anknüpfung selbst keinen Einfluss190. Kommt es für die Bestimmung auf die zahlenmäßige Größe einer Gesellschaft an, sind wiederum die Grundsätze über die Inlandszugehörigkeit zum Unternehmen inklusive der Ausstrahlungs- und Einstrahlungsregeln heranzuziehen191.

187 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 22 Rz. 15. 188 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 128. 189 BAG v. 14.2.2007, AP Nr. 13 zu § 54 BetrVG 1972. 190 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 22 Rz. 30. 191 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 22 Rz. 30; siehe auch oben Rz. 88 ff.

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Europäisches IPR Rz. 96

Kollektives Arbeitsrecht

Auf Gesellschaften ausländischen Rechts finden die vorgenannten Gesetze zur Unternehmensmitbestimmung keine Anwendung. Dies gilt unabhängig davon, ob diese Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz im Inhalt hat bzw. diesen dorthin verlegt192.

3. Tarifvertragsrecht 96 Unter dem Stichwort Tarifvertragsstatut wird die Frage behandelt, welches Recht auf einen Tarifvertrag anzuwenden ist193. Nach dem Tarifvertragsstatut richten sich demnach die Voraussetzungen für den Abschluss eines Tarifvertrags (z.B. Tariffähigkeit und Form), aber auch die Fragen nach der Bindung an einen Tarifvertrag und die Wirkung eines solchen (z.B. normative und obligatorische Wirkung, Günstigkeitsprinzip, Nachwirkungen etc.)194. Das Tarifvertragsstatut richtet sich nicht nach Art. 8 Rom I-VO (Art. 30 EGBGB). Denn diese Vorschrift regelt lediglich das auf Individualarbeitsverträge anwendbare Recht, nicht aber das auf Tarifverträge anzuwendende195. 97 Ob bezüglich des Tarifvertragsstatuts eine Rechtswahl erfolgen kann, ist umstritten. 98 Zum Teil wird eine Freiheit bezüglich der Wahl des Tarifvertragsstatuts komplett abgelehnt196. Die Wahl des Tarifvertragsstatuts sei nur dann zulässig, wenn dies ausdrücklich gesetzlich zugelassen sei. Dies sei aber bezüglich des Tarifvertragsgesetzes nicht der Fall. Es wird argumentiert, dass die Tarifvertragsparteien in eine bestimmte Arbeits- und Wirtschaftsverfassung eingebettet seien, aus der ihnen nicht erlaubt werden könne auszubrechen. Das zwingende Tarifrecht sei Ausfluss tragender Ideen und Vorstellungen über Gesellschaft, Staat und Verbände. Es unterliege nicht der Disposition. 99 Nach anderer Ansicht ist eine Rechtswahl nach Art. 3 f. Rom I-VO (Art. 27 ff. EGBGB) allgemein möglich197. Begründet wird diese Ansicht damit, dass der Tarifvertrag dem gesetzlichen Leitbild eines auf Konsens der Parteien beruhenden Vertrags i.S.d. Art. 3 Rom I-VO (Art. 27 EGBGB) durchaus entspreche. Es bestehe ein praktisches Bedürfnis für eine Rechtswahl gerade bei Einbeziehung überstaatlicher Verbandszusammenschlüsse wie Tarifverhandlungen, wie sie im Rahmen der EU diskutiert wird. 100

Eine Rechtswahl lasse sich in der Praxis regelmäßig in Form einer stillschweigenden Rechtswahl auffinden; dies geschehe regelmäßig durch Bezugnahme auf staatliche Rechtsvorschriften, auf denen der Tarifvertrag dann aufbaut198. 192 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 132. 193 Junker, IPRax 1994, 21 (22). 194 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 117 f.; MünchKomm/ Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 141. 195 MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 137. 196 Birk, RdA 1984, 129 (136); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 20 Rz. 9; Thüsing, NZA 2003, 1311. 197 Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 5; noch zu Art. 28 EGBGB Junker, IPRax 1994, 21 (22 f.). 198 Junker, IPRax 1994, 21 (22 f.).

98 Braun/Gröne

Kollektives Arbeitsrecht

Rz. 102 Europäisches IPR

Fehle es an einer Rechtswahl, müsse das maßgebliche Recht objektiv bestimmt werden. Hierzu sei auf die allgemeinen Grundsätze des Art. 4 Rom I-VO (Art. 28 EGBGB) zurückzugreifen199. Da weder die speziellen Anknüpfungen nach Art. 4 Abs. 1 Rom I-VO noch eine charakteristische Leistung i.S.d. Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO (Art. 28 Abs. 2 EGBGB) vorliegen, sei das Recht der „engsten Verbindung“ und damit die Generalklausel des Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 EGBGB) maßgeblich. Es müsse deshalb der Schwerpunkt des Vertragsverhältnisses festgestellt werden200. Hierzu könnten insbesondere der Verwaltungssitz der Tarifvertragsparteien und auch die von dem Tarifvertrag geregelten Arbeitsverhältnisse herangezogen werden201. 3.1 Tariffähigkeit Wer Partei eines Tarifvertrags sein kann (Tariffähigkeit), richtet sich nach der 101 Rechtsordnung, für die der Tarifvertrag geschlossen werden soll202. Sind Regelungsgegenstand des Tarifvertrags Arbeitsverhältnisse mit Schwerpunkt in der Bundesrepublik Deutschland, ist das deutsche Tarifvertragsgesetz (TVG) anzuwenden203. Nach § 2 Abs. 1 TVG sind dementsprechend Gewerkschaften, einzelne Arbeitgeber sowie Vereinigungen von Arbeitgebern tarifvertragsfähig. Soweit ausländische Arbeitnehmer- oder Arbeitgebervereinigungen Tarifverträge abschließen wollen, müssen sie die Anforderungen des TVG erfüllen und können sich nicht auf ihr Heimatrecht berufen204. 3.2 Inhalt der Tarifverträge Die Frage, was Inhalt eines Tarifvertrags sein kann, bestimmt sich nach dem 102 Tarifvertragsstatut205. Gegenstand tarifvertraglicher Regelungen können neben den üblichen Arbeitsbedingungen wie Lohn, Kündigung, Arbeitszeit, Urlaub etc. auch andere Gegenstände wie beispielsweise betriebliche Altersversorgung, betriebsverfassungsrechtliche Fragen oder soziale Zusatzleistungen sein. Fraglich ist, ob in einem Tarifvertrag eine Rechtswahl erfolgen kann und ob diese Rechtswahl für den Einzelarbeitsvertrag verbindlich ist. Hiergegen bestehen keine grundsätzlichen Bedenken206. Soweit nach dem Tarifvertragsstatut das deutsche Tarifvertragsrecht anzuwenden ist, greift die Vorschrift des § 4 199 Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 5; Junker, IPRax 1994, 21 (23); vgl. auch BAG v. 11.9.1991, MDR 1992, 270. 200 Palandt/Thorn, Art. 8 Rom I-VO Rz. 5; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 138; Junker, IPRax 1994, 21 (23); Schlachter, NZA 2000, 57 (64). 201 Junker, IPRax 1994, 21 (23); MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 138; Schlachter, NZA 2000, 57 (64). 202 Birk, RdA 1984, 129 (136); Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 117; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 139. 203 Müller, RdA 1973, 137 (146); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 117 f.; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 140. 204 Birk, RdA 1984, 129 (136); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 117. 205 Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 117. 206 Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 21 Rz. 38.

Braun/Gröne

99

Europäisches IPR Rz. 103

Kollektives Arbeitsrecht

Abs. 3 TVG, wonach diese tarifvertragliche Regelung durch eine günstigere individualvertragliche Regelung verdrängt werden kann. Steht also eine individuelle Rechtswahl entgegen, kommt es auf einen Günstigkeitsvergleich an. Keine Bedenken bestehen auch bezüglich einer Zulässigkeit der Verweisung auf Normen eines ausländischen Tätigkeitsortes durch einen Tarifvertrag207. 3.3 Tarifbindung 103

Über die Frage, ob eine Tarifbindung Voraussetzung einer Tarifwirkung ist, entscheidet das Tarifvertragsstatut208. Bildet also deutsches Recht das Tarifvertragsstatut, ist § 3 TVG einschlägig. Dieser bestimmt in Abs. 1, dass nur die Mitglieder der Tarifvertragsparteien an den Tarifvertrag gebunden sind. NichtMitglieder werden nach deutschem Tarifvertragsrecht nur im Wege der Allgemeinverbindlicherklärung erfasst, wenn sie nicht den Tarifvertrag durch Bezugnahme im Arbeitsvertrag zum Vertragsinhalt gemacht haben. 3.4 Tarifwirkungen

104

Auch die Frage der Wirkungen eines Tarifvertrags im Hinblick auf die Tarifvertragsparteien (obligatorische Wirkung) und aber auch auf die geregelten Einzelarbeitsverhältnisse (normative Wirkung) bestimmt sich nach dem Tarifvertragsstatut209. Soweit es also auf deutsches Arbeitsrecht ankommt, ist § 4 TVG, der die Wirkung der Tarifvertragsnormen regelt, maßgeblich. 3.5 Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags

105

Im Wege der Allgemeinverbindlicherklärung gelangen Tarifverträge über die normale Tarifgebundenheit hinaus auch auf solche Arbeitsverträge zur Anwendung, die in den fachlichen Regelungsbereich des jeweiligen Tarifvertrags fallen (§ 5 TVG). Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung ersetzt die fehlende Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien. Vergleichbare Formen der Allgemeinverbindlicherklärung durch staatlichen Hoheitsakt wie in Deutschland gibt es auch in den anderen europäischen Staaten. Der betreffende Hoheitsakt begründet als solcher nur Wirkungen im Erlassstaat. Das heißt jedoch, dass er auch etwa über die Regelungen der Ausstrahlung des Tarifvertrags oder aufgrund ausdrücklicher Regelung von Auslandssachverhalten im Tarifvertrag grenzüberschreitende Relevanz aufweisen kann210. Sonderregelungen enthält das AEntG. Soweit der Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags inhaltlich und fachlich nach §§ 4–6 AEntG eröffnet ist, gelten dessen Regelungen auch für Arbeitsverhältnisse, die einem ausländischen Arbeitsvertragsstatut unterliegen, sofern nur der Arbeitnehmer 207 Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 117. 208 BAG, IPRax 1994, 44; Birk, RdA 1984, 129 (136); Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 118. 209 Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 118; MünchKomm/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 141. 210 Vgl. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 124.

100 Braun/Gröne

Arbeitskampfrecht

Rz. 106 Europäisches IPR

im räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags beschäftigt wird (§ 3 AEntG)211. Bisher gilt das AEntG gemäß § 4 u.a. im Baugewerbe und in der Gebäudereinigung. Die Aufnahme weiterer Branchen steht jedoch in der politischen Diskussion.

V. Arbeitskampfrecht 1. Bestimmung des Arbeitskampfstatuts Nach der bisherigen Rechtslage richtete sich das Arbeitskampfstatut nach 106 dem Recht des Arbeitskampfortes, wobei Rechtsgrundlage Art. 40 Abs. 1 Satz 1 EGBGB war, der für unerlaubte Handlungen eine Anknüpfung an den Handlungsort vorsah212. Mit Wirkung zum 11.1.2009 wird das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht nun nach der Rom II-VO bestimmt. Nur noch für Altfälle, also schadensbegründende Ereignisse, die vor dem Inkrafttreten der Rom IIVO am 11.1.2009 eingetreten sind, bleibt das EGBGB maßgeblich (vgl. Art. 31 und 32 Rom II-VO). Im Gegensatz zur vorherigen Konzeption des EGBGB, sieht die Rom II-VO mit Art. 9 eine Sonderkollisionsnorm für Arbeitskampfmaßnahmen vor. Inhaltlich ist zunächst keine Änderung eingetreten, da sich das Arbeitskampfstatut weiterhin nach dem am Arbeitskampfort geltenden Recht richtet. Von der grundsätzlichen Anknüpfung an das Recht des Arbeitskampfortes wird nach Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO – wie bereits nach alter Rechtslage gemäß Art. 40 Abs. 2 EGBGB – eine zwingende und damit zuvor zu prüfende Ausnahme gemacht, wenn der Geschädigte und der Inanspruchgenommene zum Zeitpunkt des Schadenseintritts ihren gewöhnlichen Aufenthalt in demselben Staat haben. Dann ist das Recht dieses Staates anwendbar213. Im Unterschied zur Konzeption des EGBGB hat die Rom II-VO für die Bestimmung des Arbeitskampfstatuts drei zu berücksichtigende Änderungen herbeigeführt: Die in Art. 41 EGBGB bisher vorgesehene Ausweichklausel, die etwa eine akzessorische Anknüpfung an das Statut des erstreikten Tarifvertrags ermöglichte, ist für eine Arbeitskampfmaßnahme nach Art. 9 Rom II-VO nicht mehr normiert214. Nach alter Rechtslage wurde dem Geschädigten nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2, 3 EGBGB die Möglichkeit der Wahl des Rechts des Erfolgsortes gewährt. Die Option einer einseitigen Rechtswahl bietet Art. 9 Rom II-VO nicht mehr215. 211 Vgl. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 124. 212 Birk, RdA 1984, 129 (136 f.); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 21 Rz. 65; MünchKomm/Junker in der Vorauflage (4. Aufl.), Art. 40 EGBGB Rz. 143. 213 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 126. 214 MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II-VO Rz. 10. 215 MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II-VO Rz. 9.

Braun/Gröne

101

Europäisches IPR Rz. 107

Arbeitskampfrecht

Dafür ist Art. 14 Abs. 1 Satz 1 lit. b Rom II-VO zu entnehmen, dass – entgegen Art. 42 EGBGB – bezüglich des Arbeitkampfstatutes eine Rechtswahl beider Parteien zulässig ist216.

2. Begriff der Arbeitskampfmaßnahme 107

Nach dem Erwägungsgrund Nr. 27 der Rom II-VO unterliegt die exakte Definition des Begriffs der Arbeitskampfmaßnahme den innerstaatlichen Vorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten, da der Begriff von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ist. Infolge der in Art. 9 Rom II-VO vorgesehenen Anknüpfung an das Recht des Arbeitskampfortes, ist die von dem Recht dieses Staates vorgenommene Definition entscheidend217. Daher kann ein Arbeitskampf, der sich über das Gebiet eines Staates hinaus erstreckt, nicht schwerpunktmäßig angeknüpft und nur einer einzigen Rechtsordnung unterstellt werden218. Jede von einem Arbeitskampf betroffene Rechts- und Sozialordnung kann selbst über ihre rechtliche Reaktion auf eine solche Interessenauseinandersetzung befinden219. Soweit beispielsweise inländische Arbeitnehmer zugunsten im Ausland streikender Kollegen in einen Unterstützungs- oder Sympathiestreik treten, sind diese zwar im Hinblick auf ihre Eigenschaft als Haupt- und Nebenstreik voneinander abhängig, die rechtliche Beurteilung des im Inland stattfindenden „Teils“ beurteilt sich in seiner Rechtmäßigkeit aber allein nach inländischem Recht220. Nach deutschem Recht ist ein Arbeitskampf die von der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite bewirkte kollektive Druckausübung durch Störung der Arbeitsbeziehungen221.

3. Arbeitskampfmaßnahme als unerlaubte Handlung und Reichweite des Arbeitskampfstatuts 108

Der Anwendungsbereich des Art. 9 Rom II-VO ist nur dann eröffnet, wenn die Arbeitskampfmaßnahme ein außervertragliches Schuldverhältnis aus unerlaubter Handlung begründet. Führt hingegen eine Arbeitskampfmaßnahme zu anderen außervertraglichen Ansprüchen (Geschäftsführung ohne Auftrag,

216 MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II-VO Rz. 7, Art. 14 Rom II-VO Rz. 13. 217 MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II-VO Rz. 15. 218 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 21 Rz. 65; MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II-VO Rz. 15. 219 Birk, RdA 1984, 129 (136 f.); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 21 Rz. 65. 220 MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II-VO Rz. 29; so auch schon zur Rechtslage unter dem EGBGB: Birk, RdA 1984, 129 (136 f.); Gitter, ZfA 1971, 127 (148 f.); ZfA 1971, 127 (149); Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Birk in der Vorauflage (2. Aufl.), § 21 Rz. 66. 221 MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II-VO Rz. 19; Staudinger/Richardi, Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB Rz. 815.

102 Braun/Gröne

Arbeitskampfrecht

Rz. 108 Europäisches IPR

vorvertragliches Verschulden etc.), sind die Art. 10 ff. Rom II-VO maßgeblich222. Daher werden auch grundsätzlich vertragliche Schadensersatzansprüche, die aus einer Arbeitskampfmaßnahme resultieren, nicht von Art. 9 Rom II-VO, sondern weiterhin von Art. 3, 4 und 8 Rom I-VO bestimmt223. Dies gilt sowohl für Ansprüche im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als auch für solche zwischen den Tarifvertragsparteien selbst. Folge wäre, dass die vertraglichen Ansprüche einem anderen Recht unterliegen, als die gleichzeitig bestehenden, konkurrierenden deliktischen Ansprüche224. Zur Lösung dieser unbefriedigenden Situation wird in der Literatur vertreten, dass die vertraglichen Ansprüche akzessorisch an das Arbeitskampfstatut angeknüpft werden können225. Art. 15 Rom II-VO konkretisiert den sachlichen Geltungsbereich des für außervertragliche Schuldverhältnisse maßgeblichen Rechts mittels einer nicht abschließenden Auflistung. Das nach dem Arbeitskampfstatut anzuwendende Recht ist demnach insgesamt entscheidend für die Voraussetzungen und den Umfang der Haftung, Ausschlussgründe und Beschränkungen der Haftung, das Vorliegen, die Art und die Bemessung des Schadens, Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche, die Übertragbarkeit des Schadensersatzanspruchs, die anspruchsberechtigten Personen, die Haftung für Dritte sowie die verschiedenen Arten des Erlöschens von Schadensersatzpflichten226.

222 223 224 225

MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II-VO Rz. 11. MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II-VO Rz. 12. MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II-VO Rz. 13. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Oetker, § 11 Rz. 127; MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II-VO Rz. 13. 226 Junker, NJW 2007, 3675 ff.

Braun/Gröne

103

Sozialversicherungsrecht bei grenzüberschreitender Tätigkeit deutscher Arbeitnehmer Thorsten Koch*

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rz. 1

II. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

76 79 79 80 85

23

IV. Leistungsansprüche entsandter Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

25

1. Krankenversicherung . . . . . . . . . . .

87

2. Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . .

90

3. Rentenversicherung . . . . . . . . . . . .

91

31

4. Arbeitslosenversicherung . . . . . . .

93

32

V. Beschäftigung in einem Land mit bilateralem Abkommen . . . . .

94

36

1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

2. Sachlicher Geltungsbereich . . . . .

97

III. Entsendung innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes . . . . . 10 1. Regelungsgegenstand und Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2. Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Räumlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Persönlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Sachlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zuständigkeitsabgrenzung von Versicherungsverhältnissen. . . . . . 3.1 Grundsätze bei Arbeitnehmern . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Entsendung von Arbeitnehmern . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Voraussetzungen einer Entsendung . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Ausstellung einer Entsendebescheinigung . . . . . . . 3.3 Verlängerung der Entsendung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . 3.4 Ausnahmevereinbarung . . . 3.4.1 Voraussetzungen . . . . . . . . . 3.4.2 Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Mehrfachbeschäftigung . . . . 3.5.1 Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . .

Rz. 3.5.2 Antrag bei Mehrfachbeschäftigung . . . . . . . . . . . . 3.6 Übergangsregelung nach Art. 87 Abs. 8 VO Nr. 883/2004. . . . . . . . . . . . . 3.7 Sonderregelungen . . . . . . . . 3.7.1 Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.2 Selbständige . . . . . . . . . . . . . 3.7.3 Seeleute. . . . . . . . . . . . . . . . .

21

29

37

73

3. Persönlicher Geltungsbereich. . . . 100 43 51 51 54 54 58 61 61

4. Sozialversicherungsabkommen zwischen Deutschland und der Türkei als Beispiel . . . . . . . . . . . . . 101 Anlage 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Anlage 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Anlage 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

* Director/Rentenberater/Human Capital/International Social Security Services, Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Düsseldorf.

Koch

105

Sozialversicherungsrecht Rz. 1

Einleitung

I. Einleitung 1

Bei Beschäftigung von Arbeitnehmern im Ausland stellt sich für Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Frage, welches Sozialversicherungsrecht zur Anwendung kommt. Entscheidet sich also beispielsweise ein Arbeitgeber mit Sitz in Deutschland, Arbeitnehmer zu einer Tochtergesellschaft oder einer Betriebsstätte mit Sitz im Ausland zu entsenden, so sollte er über die sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze informiert sein, die aus einer solchen Entsendung folgen; dies nicht nur aus seiner arbeitsrechtlich vorgegebenen Fürsorgepflicht heraus, sondern auch zur Vermeidung möglicher Risiken im sozialversicherungsrechtlichen Bereich hinsichtlich der Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen sowie hinsichtlich des Bestehens von Ansprüchen auf Sozialleistungen.

2

Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt im Bereich des grenzüberschreitenden Einsatzes von Mitarbeitern innerhalb des Geltungsbereichs des Europäischen Wirtschaftsraumes. Die Abschnitte III bis V (Rz. 10–101) beschäftigen sich daher ausschließlich mit diesen Fällen, wobei sowohl bis zum 30.4.2010 geltendes Recht als auch vergleichend die Regelungen der seit dem 1.5.2010 geltenden Verordnung (EG) Nr. 883/20041 dargestellt werden. Zuvor werden jedoch in Abschnitt II (Rz. 3 ff.) kurz die sozialversicherungsrechtlichen Grundsätze nach nationalem deutschen Sozialversicherungsrecht aufgezeigt. Hierdurch soll ein Grundverständnis der möglichen Fragestellungen, die sich bei einem grenzüberschreitenden Arbeitnehmereinsatz ergeben können, erzielt werden.

II. Grundlagen 3

Der Anwendungsbereich der deutschen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit beschränkt sich nach dem so genannten Territorialitätsprinzip auf das Hoheitsgebiet Deutschlands. Das deutsche Sozialversicherungsrecht regelt in den Sozialgesetzbüchern (SGB) sowohl die Versicherungspflicht als auch die Leistungsansprüche der Versicherten.

4

Nach § 3 Abs. 1 SGB IV kommen die Vorschriften über soziale Sicherheit bei allen Personen zur Anwendung, die im Inland beschäftigt oder selbständig tätig sind. Dies hätte z.B. in Fällen der (kurzfristigen) Entsendung von Arbeitnehmern ins Ausland zur Folge, dass das deutsche Sozialversicherungsrecht vorübergehend nicht zur Anwendung kommen würde, was in Einzelfällen – so z.B. im Hinblick auf die Zurücklegung von Versicherungszeiten in der Rentenversicherung – zu Nachteilen beim Arbeitnehmer führen könnte. Daher ist in § 4 SGB IV der Tatbestand der so genannten Ausstrahlung bei Entsendungsfällen geregelt. Liegen die Voraussetzungen einer Ausstrahlung vor, so ist deutsches Sozialversicherungsrecht – vorbehaltlich über- und zwischenstaatlichen

1 EG-VO Nr. 883/2004 v. 29.4.2004, siehe ABl. EU Nr. L 166 v. 30.4.2004.

106 Koch

Grundlagen

Rz. 8 Sozialversicherungsrecht

Rechts – auch für die Dauer einer zeitlich befristeten Entsendung in das Ausland weiterhin anwendbar2. Eine Ausstrahlung im o.g. Sinne setzt voraus, dass es sich bei dem grenzüber- 5 schreitenden Einsatz von Arbeitnehmern um eine Entsendung eines Arbeitnehmers ins Ausland im Rahmen eines im Inland bestehenden Beschäftigungsverhältnisses handelt, deren Dauer zeitlich begrenzt ist. Eine Entsendung in diesem Sinne liegt nach deutschem Sozialversicherungs- 6 recht vor, wenn der Arbeitnehmer auf Weisung seines Arbeitgebers für einen im Voraus befristeten Zeitraum im Ausland für den deutschen Arbeitgeber tätig wird. Nicht unter die Tatbestandsvoraussetzungen einer Entsendung fallen hingegen Fälle, in denen der deutsche Arbeitgeber eine (ausländische) Ortskraft einstellt und diese im Ausland beschäftigt. Nicht entscheidend für eine Entsendung ist die Rechtsbeziehung, die zwischen inländischem und ausländischem Unternehmen besteht. So kann eine Entsendung sowohl innerhalb eines Konzerns stattfinden als auch zwischen nicht verbundenen Unternehmen. Das SGB IV sieht keine feste zeitliche Grenze der Befristung der Entsendung vor. Nach der früheren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts3 lag eine solche bei ca. zwei Jahren, wobei in Ausnahmefällen auch längere Entsendungen anerkannt wurden. Nach nunmehr gängiger Praxis liegt die Grenze im Einzelfall zwischen acht und zehn Jahren. Verlängerungen der Entsendung sind grundsätzlich (befristet) möglich, sofern sie von vorneherein geplant sind. Auch Unterbrechungen einer Entsendung sind grundsätzlich nicht schädlich für das Vorliegen einer Entsendung, sie dürfen allerdings einen Zeitraum von zwei Monaten nicht überschreiten. Liegen die Voraussetzungen einer Entsendung im Sinne des deutschen Sozial- 7 versicherungsrechts vor, so verbleibt der Arbeitnehmer im deutschen Sozialversicherungssystem mit allen hiermit in Zusammenhang stehenden Rechten und Pflichten. Ob im jeweiligen Einzelfall eine Sozialversicherungspflicht auch nach auslän- 8 dischem Recht entsteht, ist nach den jeweiligen Rechtsvorschriften des ausländischen Staates zu prüfen. Teilweise existieren dort ähnliche Vorschriften wie die im deutschen Sozialversicherungsrecht, so dass es in diesen Entsendungsfällen analog der deutschen Vorschriften zur so genannten Einstrahlung4 im ausländischen Staat nicht zu einer ausländischen Sozialversicherungspflicht kommen kann. 2 In § 6 SGB IV ist geregelt, dass innerstaatlich deutsches Recht nur in den Fällen zur Anwendung kommt, in denen weder über- bzw. zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht vorrangig Anwendung findet und nichts Abweichendes regelt. Überstaatliches Recht in diesem Sinne ist z.B. die VO (EWG) Nr. 1408/71, zwischenstaatliches (bilaterales) Recht in diesem Sinne sind die Sozialversicherungsabkommen, die Deutschland mit anderen Staaten geschlossen hat. 3 Vgl. BSG v. 18.4.1975 – 3-RA-1/75. 4 Eine so genannte Einstrahlung nach deutschem Sozialversicherungsrecht liegt grundsätzlich vor, wenn sich ein Arbeitnehmer im Rahmen seines im Ausland bestehenden Beschäftigungsverhältnisses auf Weisung seines ausländischen Arbeitgebers für einen im Voraus befristeten Zeitraum nach Deutschland begibt, um hier eine Beschäftigung für seinen ausländischen Arbeitgeber auszuüben.

Koch

107

Sozialversicherungsrecht Rz. 9 9

Entsendung innerhalb des EWR

Andernfalls kann es in Einzelfällen, in denen weder die nachfolgend unter Rz. 10 ff. dargestellte VO (EWG) Nr. 1408/71 bzw. seit dem 1.5.2010 die VO (EG) Nr. 883/2004 greift, noch ein Sozialversicherungsabkommen besteht bzw. dieses nicht alle Versicherungszweige umfasst, zu einer (partiellen) Doppelversicherung kommen. Ein Großteil der grenzüberschreitenden Arbeitseinsätze wird jedoch durch die nachfolgend dargestellte VO (EWG) Nr. 1408/71 bzw. VO (EG) Nr. 883/2004 oder durch die bestehenden deutschen Sozialversicherungsabkommen gedeckt, wodurch eine Doppelversicherung weitestgehend vermieden werden kann.

III. Entsendung innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes 1. Regelungsgegenstand und Grundprinzipien 10 Die VO (EWG) Nr. 1408/71 wurde zum 1.5.2010 grundsätzlich durch die VO (EG) Nr. 883/2004 abgelöst. Da sie in der Praxis aber derzeit in Bezug auf die EWR-Mitgliedstaaten, die Schweiz und für Drittstaatsangehörige weiterhin Anwendung findet und da die Regelungen der neuen Verordnung auf den entsprechenden Regelungen der VO (EWG) Nr. 1408/71 basieren, sind zunächst die Regelungen dieser Verordnung dargestellt. Soweit die neue Verordnung abweichende Regelungen beinhaltet, sind diese zu den einzelnen Vorschriften ergänzend dargestellt. Der Schwerpunkt der Verordnungen liegt in der Koordinierung der verschiedenen Sozialversicherungssysteme der einzelnen Mitgliedstaaten; daneben werden auch Leistungsansprüche koordiniert, um Benachteiligungen, z.B. beim Kindergeld, bei grenzüberschreitender Beschäftigung zu vermeiden. Als Ergebnis wird somit bei einer Tätigkeit, die in mehreren Staaten ausgeübt wird, vermieden, dass es zu einer doppelten bzw. mehrfachen Beitragslast kommt. Die Arbeitnehmer unterliegen grundsätzlich nur dem Sozialversicherungsrecht eines Mitgliedstaates, erwerben aber auch nur in einem Mitgliedstaat Leistungsansprüche. 11 Die VO (EWG) Nr. 1408/71 findet für folgende Staaten Anwendung: „alte“ Mitgliedstaaten

„neue“ Mitgliedstaaten

Länder mit Sonderstatus

Belgien

Estland

Island*

Dänemark

Lettland

Liechtenstein*

Deutschland

Litauen

Norwegen*

Finnland

Malta

Schweiz**

Frankreich

Polen

Griechenland

Tschechien

Großbritannien

Slowakei

Irland

Slowenien

Italien

Ungarn

Luxemburg

Zypern

108 Koch

Entsendung innerhalb des EWR

Rz. 17 Sozialversicherungsrecht

„alte“ Mitgliedstaaten

„neue“ Mitgliedstaaten

Niederlande

Bulgarien***

Österreich

Rumänien***

Länder mit Sonderstatus

Portugal Schweden Spanien * Island, Liechtenstein und Norwegen sind dem EWR beigetreten; die Verordnung ist auch bzgl. dieser Länder unmittelbar anwendbar. ** Über das so genannte Sektoralabkommen gilt die EWG-VO seit dem 1.6.2002 auch zwischen den „alten“ EU-Mitgliedstaaten und der Schweiz sowie mittlerweile ebenfalls zwischen den „neuen“ Mitgliedstaaten und der Schweiz5. *** Beitritt ab 1.1.2007.

Die VO (EG) Nr. 883/2004 findet derzeit nur für die „alten“ und „neuen“ Mitgliedstaaten Anwendung. Durch die Verordnungen sollen die folgenden vier Grundprinzipien umgesetzt 12 werden: – Prinzip der Vereinheitlichung

13

Die Verordnung hat als erstes das Prinzip der Vereinheitlichung zum Inhalt. Dies bedeutet, dass ein Arbeitnehmer zur gleichen Zeit nur dem Sozialversicherungsrechts eines Mitgliedstaates unterliegen soll. Hierdurch soll verhindert werden, dass ein Arbeitnehmer entweder gleichzeitig in mehreren Mitgliedstaaten sozialversicherungspflichtig wird oder gar ganz ohne Sozialversicherungsschutz dasteht. Bei grenzüberschreitender Tätigkeit von Arbeitnehmern oder Selbständigen 14 stellt sich immer die Frage, welches Sozialversicherungsrecht anwendbar wird. Nach der VO (EWG) Nr. 1408/71 sowie der seit dem 1.5.2010 geltenden VO (EG) Nr. 883/2004 gilt das Beschäftigungsstaatsprinzip, d.h. das Sozialversicherungsrecht des Mitgliedstaates, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige physisch tätig ist, kommt grundsätzlich allein zur Anwendung. Vom Beschäftigungsstaatsprinzip werden unter bestimmten Voraussetzungen 15 Ausnahmen u.a. für entsandte Arbeitnehmer oder Arbeitnehmer, die ihre Tätigkeit gewöhnlich in mehreren Mitgliedstaaten ausüben, gemacht. Für Selbständige greifen ähnliche Rechtsfolgen wie bei Arbeitnehmern.

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– Antidiskriminierungsprinzip

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Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaates wohnhaft sind und für die die Verordnungen greifen, dürfen nicht benachteiligt werden im Vergleich zu Staatsangehörigen des jeweiligen Beschäftigungsstaates. Das Diskriminierungsverbot erstreckt sich auf alle Bereiche, für die die Verordnungen gelten. Dies bedeutet, dass EU-Ausländer, die in dem entsprechenden Land tätig werden und für die die Sozialrechtsordnung dieses Landes zur Anwendung 5 Siehe ABl. EG Nr. L 114 v. 30.4.2002.

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Sozialversicherungsrecht Rz. 18

Entsendung innerhalb des EWR

kommt, unbeschränkten Zugang zu allen Versicherungsbereichen haben, die gleichen Leistungsrechte erwerben, aber auch die gleichen Beiträge leisten müssen wie Inländer. 18 – Prinzip des Leistungsexports Ein weiteres wichtiges Prinzip der Verordnungen ist das „Prinzip des Leistungsexports“. Hiernach ist eine Kürzung von Leistungsansprüchen nicht gerechtfertigt, wenn der Leistungsempfänger seinen Wohnsitz nicht in demselben Staat hat wie der zur Leistung verpflichtete Sozialversicherungsträger. Eine Einschränkung erfährt dieses Prinzip allerdings z.B. in Bezug auf die Arbeitslosenversicherung. Im Falle der Arbeitslosigkeit kann demnach der Anspruch auf Arbeitslosengeld bei Anwendung der VO (EWG) Nr. 1408/71 unter bestimmten Voraussetzungen nur für maximal drei Monate aufrechterhalten werden, danach muss der arbeitslose Arbeitnehmer wieder der Arbeitslosenvermittlung seines Heimatstaates zur Verfügung stehen, um weiterhin einen Leistungsanspruch zu haben. 19 – Prinzip der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten Nach dem Prinzip der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten werden länderübergreifend Versicherungszeiten aus verschiedenen Sozialversicherungssystemen der einzelnen Mitgliedstaaten zusammengerechnet. Hierdurch wird eine Benachteiligung gegenüber Arbeitnehmern verhindert, die ihr ganzes Beschäftigungsleben lang nur dem Sozialversicherungssystem eines Mitgliedsstaates unterliegen. Ohne diese Zusammenrechnung würden den betreffenden Arbeitnehmern ggf. Versicherungszeiten und damit Versicherungsansprüche verloren gehen, die sie im Laufe ihres Arbeitslebens in verschiedenen Mitgliedstaaten erdient haben, die aber aufgrund des in vielen Mitgliedstaaten bestehenden Erfordernisses der Erfüllung langjähriger Anwartschaften und des mehrfachen Wechsels des Arbeitsortes in verschiedenen Mitgliedstaaten ggf. verloren gehen würden. 20 Grundsätzlich finden diese Prinzipien seit dem 1.5.2010 auch in Bezug auf die seitdem Anwendung findende VO (EG) Nr. 883/2004 Anwendung. Die Durchführung der Regelungen der VO (EG) Nr. 883/2004 bestimmt sich durch die neue Durchführungsverordnung VO (EG) Nr. 987/20096.

2. Geltungsbereich 21 Der Geltungsbereich lässt sich in folgende drei Teilbereiche untergliedern: – räumlicher Geltungsbereich – persönlicher Geltungsbereich – sachlicher Geltungsbereich 22 Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass seit dem 1.5.2010 die VO (EG) Nr. 883/2004 die bestehende Verordnung abgelöst hat. Die bisherige Verordnung ist jedoch zunächst für bestimmte Personengruppen (Drittstaatsange6 Verordnung (EG) Nr. 987/2009 v. 30.10.2009 (ABl. EU Nr. L 284).

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Entsendung innerhalb des EWR

Rz. 26 Sozialversicherungsrecht

hörige) sowie in Bezug auf die Schweiz und die EWR-Mitgliedstaaten (Island, Liechtenstein, Norwegen) weiterhin anwendbar. 2.1 Räumlicher Geltungsbereich Nach der VO (EWG) Nr. 1408/71 umfasst der räumliche Geltungsbereich die 23 jeweiligen Hoheitsgebiete der Staaten, für die die Verordnung über soziale Sicherheit zur Anwendung kommt. Eine gesonderte Definition des Begriffs „Hoheitsgebiet“ im Sinne der Verordnung existiert nicht, vielmehr wird der räumliche Geltungsbereich je Staat separat aufgeführt7. Hinsichtlich der Staatsgebiete eines Mitgliedstaates, die nicht unter den Begriff des Hoheitsgebietes fallen, z.B. Andorra und Monaco, die nach der VO (EWG) Nr. 1408/71 für die Zwecke der Verordnung nicht zum Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates gehören, ist gesondert zu prüfen, ob für diese Teile ein bilaterales Abkommen über Soziale Sicherheit zwischen den jeweiligen Mitgliedstaaten existiert. Soweit also die VO (EWG) Nr. 1408/71 keine Anwendung findet, gelten ggf. existierende bilaterale Abkommen über Soziale Sicherheit, z.B. zwischen Deutschland und Frankreich, weiter, soweit diese Anwendung auf die vor genannten Hoheitsgebiete finden. Nach Artikel 90 Abs. 1 lit. b und c VO (EG) Nr. 883/2004 bleibt die VO (EWG) 24 Nr. 1408/71 anwendbar für die Zwecke der VO (EWG) Nr. 1661/85 zur Festlegung der technischen Anpassungen der Gemeinschaftsregelungen auf dem Gebiet der Wanderarbeitnehmer in Bezug auf Grönland, solange jene Verordnung nicht geändert oder aufgehoben ist. Ebenso gilt die VO (EWG) Nr. 1408/71 zunächst weiterhin in Bezug auf die EWR-Mitgliedstaaten Island, Liechtenstein und Norwegen sowie in Bezug auf die Schweiz. Ansonsten findet ab dem 1.5.2010 die VO (EG) Nr. 883/2004 Anwendung. 2.2 Persönlicher Geltungsbereich Der persönliche Geltungsbereich bestimmt, für welche Personenkreise die 25 EWG-VO Anwendung findet. Dies sind grundsätzlich Arbeitnehmer und Selbständige. Arbeitnehmer im Sinne der Verordnung sind Arbeitnehmer, die gegen Entgelt 26 beschäftigt sind und gegen ein oder mehrere Existenzrisiken gesetzlich pflichtversichert oder freiwillig versichert sind, und so genannte „Gleichgestellte“, die ebenfalls gegen ein oder mehrere Existenzrisiken versichert sind, unabhängig davon, ob es sich hierbei um eine Pflichtversicherung oder eine freiwillige Versicherung handelt8. 7 Vgl. unten Rz. 108, Anlage 1. 8 Nicht von der Verordnung erfasst waren in der Vergangenheit Arbeitnehmer und Selbständige, die nicht (freiwillig) gesetzlich, sondern ausschließlich über Sonderversorgungseinrichtungen, wie beispielsweise die Versorgungswerke für Steuerberater, Anwälte, Ärzte etc., versichert waren. Dies wurde mit Wirkung zum 1.5.2005 geändert, die Verordnung Nr. 1408/71 ist seit diesem Zeitpunkt auch auf diesen Personenkreis anwendbar. Dies gilt auch für die Anwendung der VO (EG) Nr. 883/2004 seit dem 1.5.2010.

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Sozialversicherungsrecht Rz. 27

Entsendung innerhalb des EWR

27 Zusätzliche Voraussetzung für die Anwendbarkeit der EWG-VO ist, dass es sich bei den in Rede stehenden Personen entweder um – Staatsangehörige eines EU-/EWR-Mitgliedsstaates – Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention oder um – Staatenlose handelt, die im Hoheitsgebiet eines der Mitgliedstaaten wohnen. Ebenfalls eingeschlossen sind deren Familienangehörige und Hinterbliebene, soweit diese ebenfalls dort wohnen. Seit dem 1.6.2003 werden auch Drittstaatsangehörige mit gewöhnlichem Aufenthalt bzw. rechtmäßigem Wohnsitz in einem EUMitgliedstaat erfasst. Dies gilt jedoch nicht hinsichtlich der Schweiz, Dänemark und für die drei EWR-Mitgliedstaaten. 28 Die VO (EG) Nr. 883/2004 gilt seit dem 1.5.2010 für – Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaates – Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention oder – Staatenlose, die im Hoheitsgebiet eines der Mitgliedstaaten wohnen. Ebenfalls eingeschlossen sind deren Familienangehörige und Hinterbliebene, soweit diese ebenfalls dort wohnen. Nach Artikel 90 Abs. 1 lit. a VO Nr. 883/2004 gilt die VO (EG) Nr. 883/2004 seit dem 1.5.2010 zunächst nicht für Drittstaatsangehörige, die innerhalb der EU-Mitgliedstaaten wohnen. Für Drittstaatsangehörige gelten somit zunächst die Regelungen der VO (EWG) Nr. 1408/71 weiter. 2.3 Sachlicher Geltungsbereich 29 Der sachliche Geltungsbereich der Verordnungen umfasst auf deutscher Seite die folgenden Versicherungsbereiche: – Krankenversicherung – Rentenversicherung – Unfallversicherung – Arbeitslosenversicherung – Pflegeversicherung – Familienbeihilfen. 30 Bei Anwendung der EG-VO Nr. 883/2004 ergeben sich hierzu grundsätzlich keine Änderungen in Bezug auf Deutschland.

3. Zuständigkeitsabgrenzung von Versicherungsverhältnissen 31 Sind die in Rz. 21 ff. genannten Voraussetzungen erfüllt, kommt die VO (EG) Nr. 883/2004 bzw. die VO (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung. Diese regeln verbindlich, unter welchen Voraussetzungen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates zur Anwendung kommen. Auf die nationalen Vorschriften, deren Inhalte und Anwendungsvoraussetzungen wiederum hat dies grundsätzlich 112 Koch

Entsendung innerhalb des EWR

Rz. 37 Sozialversicherungsrecht

keinen Einfluss. Diese liegen im Hoheitsrecht des jeweiligen Mitgliedstaates. Eine Aussage darüber, ob, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen ein Arbeitnehmer einem Versicherungszweig der sozialen Sicherheit unterliegt, wird allein durch das jeweils anwendbare Recht des Mitgliedstaates bestimmt. 3.1 Grundsätze bei Arbeitnehmern Nach der VO (EWG) Nr. 1408/71 gelten für Arbeitnehmer, auf die die Verord- 32 nung dem Grunde nach anwendbar ist, die Rechtsvorschriften nur eines einzelnen Mitgliedstaates. Sinn und Zweck dieser so genannten Kollisionsnorm ist es, zu verhindern, dass gleichzeitig die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zur Anwendung kommen. Ein Arbeitnehmer, der in einem Mitgliedstaat wohnt, aber in einem anderen 33 Mitgliedstaat (Vollzeit oder im Rahmen einer Teilzeitbeschäftigung) tätig ist, unterliegt demnach nur in dem Mitgliedstaat, in dem er arbeitet, den dortigen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit, unabhängig davon, wo der Arbeitgeber seinen Sitz innehat oder der Arbeitnehmer wohnt (Beschäftigungsstaatsprinzip). Dies gilt auch dann, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem der Arbeitnehmer tä- 34 tig wird, die Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit grundsätzlich nur in den Fällen anwendbar sind, wenn der Arbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat wohnt. Auch dann gilt das Recht des Staates, in dem der Arbeitnehmer tätig ist9. Diese Regelung gilt entsprechend auch bei Anwendung der VO (EG) Nr. 883/2004 seit dem 1.5.2010.

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3.2 Entsendung von Arbeitnehmern Von dem Beschäftigungsstaatprinzip kann abgewichen werden, wenn der Tat- 36 bestand der Entsendung i.S.v. Art. 14 Nr. 1 VO Nr. 1408/71 bzw. gem. Art. 12 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 gegeben ist. 3.2.1 Voraussetzungen einer Entsendung Eine Entsendung i.S.d. VO (EWG) Nr. 1408/71 liegt grundsätzlich dann vor, 37 wenn die folgenden Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: – Ein Arbeitnehmer wird im Gebiet eines Mitgliedstaates von einem Arbeitgeber, bei dem er im Lohn- und Gehaltsverhältnis steht, beschäftigt; – er wird von diesem auf seine Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaates entsandt; – die voraussichtliche Dauer der Entsendung überschreitet zwölf Monate nicht; – die Entsendung führt nicht zu einer Ablösung eines Arbeitnehmers, der zuvor zu der gleichen Stelle entsandt wurde. 9 EuGH v. 5.5.1977 – 102/76, Slg. 1977, 815 ff.

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Sozialversicherungsrecht Rz. 38

Entsendung innerhalb des EWR

38 In diesem Zusammenhang gilt Folgendes: Eine Entsendung bedingt eine physische Bewegung aus dem Inland in einen anderen Mitgliedstaat anlässlich der Arbeitsaufnahme in einem anderen Mitgliedstaat. Keine Entsendung i.S.d. EWG-VO liegt dagegen vor, wenn ein Unternehmen mit Sitz in einem der Mitgliedstaaten einen Arbeitnehmer mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat eben dort einstellt zur Verrichtung einer Tätigkeit für das Unternehmen (sog. Ortskräfte). Die Voraussetzungen einer Entsendung sind jedoch dann als erfüllt anzusehen, wenn ein Unternehmen einen Arbeitnehmer allein zu dem Zweck einstellt, um ihn in einen anderen Mitgliedstaat zu entsenden10. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Arbeitnehmer vor Beginn der Entsendung bereits dem deutschen Sozialversicherungsrecht nicht nur kurzfristig unterlegen haben muss. 39 Rechtlich schwierig zu lösen sind oft die in der Praxis häufig vorkommenden Fälle der Entsendung innerhalb eines Konzerns. Denn auch wenn die oben genannten Voraussetzungen im Hinblick auf das entsendende Unternehmen als erfüllt angesehen werden können, kommt es relativ oft vor, dass arbeitsrechtliche Hauptpflichten nicht nur gegenüber dem entsendenden Unternehmen, sondern auch gegenüber dem aufnehmenden Unternehmen bestehen. Wenn eine vollumfängliche arbeitsrechtliche Integration in das aufnehmende Unternehmen stattgefunden hat, liegen die Voraussetzungen für eine Entsendung i.S.d. VO (EWG) Nr. 1408/71 nicht vor. Entscheidendes Kriterium zur Beantwortung der Frage, zu welchem Unternehmen engere Beziehungen gegeben sind, sind u.a. die folgenden: – Welches Unternehmen zahlt das Arbeitsentgelt? – Gegenüber welchem Unternehmen hat der Arbeitnehmer einen arbeitsrechtlichen Anspruch auf Arbeitsentgelt? – Welches Unternehmen hat das Kündigungs- und Weisungsrecht? – Gegenüber wem hat der Arbeitnehmer Berichtspflichten zu erfüllen? Die Frage, welches Unternehmen wirtschaftlich die Gehaltskosten des Arbeitnehmers trägt und diese steuerlich als Betriebsaugaben geltend macht, ist für die Beurteilung der Voraussetzung einer Entsendung i.S.v. Art. 14 Abs. 1 lit. a VO Nr. 1408/71 nicht relevant. 40 Sind die Voraussetzungen für eine Entsendung erfüllt, unterliegt der entsandte Arbeitnehmer nach Art. 14 Nr. 1 lit. a VO Nr. 1408/71 weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem er gewöhnlich beschäftigt ist. D.h. er bleibt regelmäßig weiterhin in dem Mitgliedstaat sozialversichert, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat, bei dem der Arbeitnehmer weiterhin beschäftigt ist. Das Beschäftigungsverhältnis zum entsendenden Unternehmen besteht somit auch während der Entsendung fort. 41 Die Voraussetzungen für eine Entsendung i.S.v. Art. 12 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 entsprechen grundsätzlich den Voraussetzungen gemäß Art. 14 Nr. 1 lit. a VO Nr. 1408/71 (vgl. Rz. 37–40). Wesentlicher Unterschied ist, dass die Rechtsvorschriften des Heimatlandes weiterhin Anwendung finden, sofern die Dauer der 10 EuGH v. 5.12.1967 – 19/67, Slg. 1967, 462 ff.

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Entsendung innerhalb des EWR

Rz. 46 Sozialversicherungsrecht

Entsendung einen Zeitraum von 24 Monaten nicht überschreitet. Ergänzend liegt grundsätzlich nur dann eine Entsendung i.S.v. Art. 12 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 vor, soweit der Arbeitnehmer in der Regel bereits für mindestens einen Monat dem Sozialversicherungsrechts des Heimatlandes unterlegen hat. Ebenfalls wird eine Entsendung unterbrochen, wenn die Dauer der Unterbre- 42 chung weniger als zwei Monate beträgt. Beträgt die Unterbrechung mehr als zwei Monate, wird nach der neuen Verordnung seit dem 1.5.2010 eine neue Entsendung vorliegen. 3.2.2 Ausstellung einer Entsendebescheinigung Liegen die Voraussetzungen für eine Entsendung vor, so kann beim zuständi- 43 gen Sozialversicherungsträger ein Antrag auf Ausstellung einer Bescheinigung (Vordruck E 101)11 gestellt werden, in der bestätigt wird, dass weiterhin die Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit des Entsendelandes gelten. Aus deutscher Sicht ist der Vordruck E 101 für Mitglieder einer gesetzlichen Krankenversicherung durch die zuständige Krankenkasse, für Arbeitnehmer, die privat krankenversichert sind, durch einen Träger der Deutsche Rentenversicherung auszustellen. Für Arbeitnehmer, die aufgrund der Mitgliedschaft in einem Versorgungswerk von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit sind, wird der Vordruck E 101 von der Arbeitsgemeinschaft der Versorgungseinrichtungen in Berlin ausgestellt. Nach der seit dem 1.5.2010 geltenden VO (EG) Nr. 883/2004 wird der Vordruck 44 E 101 durch den neuen Vordruck A 112 abgelöst. Verlängert sich eine Entsendung, die vor dem 1.5.2010 begonnen hat und für die für einen Zeitraum von bis zu zwölf Monaten ein Vordruck E 101 nach Art. 14 Nr. 1 lit. a VO Nr. 1408/71 ausgestellt wurde, ab dem 1.5.2010 um höchstens weitere zwölf Monate, so ist auch in diesen Fällen ein Vordruck A 1 nach Art. 12 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 auszustellen. Die Zuständigkeit der jeweiligen Sozialversicherungsträger für die Ausstellung der Vordrucke A 1 ändert sich nicht. Zusätzlich ist für Arbeitnehmer, die gesetzlich krankenversichert sind, durch 45 die zuständige gesetzliche Krankenkasse eine sog. European Health Insurance Card/Europäische Krankenversicherungskarte (EHIC)13 auszustellen, mit der Arbeitnehmer zur Inanspruchnahme von Sachleistungen der Krankenversicherung im anderen Mitgliedstaat berechtigt werden, die nicht bis zur Rückkehr in den Heimatstaat aufgeschoben werden können. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass der Aufenthalt nur vorübergehend in das Ausland verlagert wird. Bei Verlagerung des Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat (gewöhnlicher 46 Aufenthalt) stellen die gesetzlichen Krankenkassen den Vordruck E 106 aus. Mit diesem Vordruck muss sich der Arbeitnehmer bei dem zuständigen Träger der Krankenversicherung im anderen Mitgliedstaat registrieren und erhält an11 Siehe Rz. 110, Anlage 2. 12 Siehe Rz. 111, Anlage 3. 13 Die Health Insurance Card ist seit dem 1.1.2006 verbindlich anzuwenden und hat die frühere Bescheinigung E 128 abgelöst.

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Sozialversicherungsrecht Rz. 47

Entsendung innerhalb des EWR

schließend Behandlungsausweise (z.B. Krankenversicherungskarten) nach dem jeweiligen nationalen Recht, die ihn berechtigen Sachleistungen wie ein in diesem Mitgliedstaat Versicherter nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates in Anspruch zu nehmen. 47 Nach der seit dem 1.5.2010 geltenden EG-VO 883/2004 ist bei vorübergehendem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat auch weiterhin die Europäische Krankenversicherungskarte (EHIC) auszustellen. In Fällen des gewöhnlichen Aufenthaltes wird der Vordruck E 106 durch einen neuen Vordruck S 1 ersetzt. 48 Bei Entsendung in die folgenden Länder sind zudem die zuständigen Stellen dieser Länder durch Übersendung einer Kopie der Bescheinigung E 101 bzw. A 1 zu unterrichten: – Belgien – Dänemark – Finnland – Frankreich – Niederlande – Österreich – Schweden. 49 In allen anderen Fällen ist eine solche Unterrichtung grundsätzlich nicht notwendig. Die Bescheinigung E 101 bzw. A 1 sollte aber aus Nachweiszwecken jeweils zu den Lohnunterlagen des Arbeitnehmers genommen werden. 50 Die neue VO (EG) Nr. 883/2004 sieht vor, dass Informationen zwischen den verschiedenen Sozialversicherungsträgern in allen EU-Mitgliedstaaten durch so genannte „structured electronic documents“ (SEDs) ausgetauscht werden. Neben der Unterrichtung hinsichtlich des anzuwendenden Sozialversicherungsrechts mit Vordruck A 1 muss auch der Arbeitgeber davon unterrichtet werden, dass für die Dauer der Entsendung in den anderen Mitgliedstaat Kontrollen durchgeführt werden können. 3.3 Verlängerung der Entsendung 3.3.1 Rechtsgrundlage 51 Wie bereits erwähnt, ist es nach Art. 14 Nr. 1 lit. b VO Nr. 1408/71 bis zum 30.4.2010 grundsätzlich möglich gewesen, eine Entsendung, die ursprünglich nur für zwölf Monate geplant war, sich aber aus unvorhergesehenen Gründen verlängert, um maximal zwölf weitere Monate zu verlängern (zu längeren Zeiträumen siehe Rz. 54 ff.). Seit dem 1.5.2010 enthält die VO (EG) Nr. 883/2004 durch die Ausdehnung der Entsendedauer von zwölf auf 24 Monate keine entsprechende Regelung mehr zur Verlängerung einer Entsendung. 52 In den Fällen, in denen die VO (EWG) Nr. 1408/71 auch nach dem 30.4.2010 noch Anwendung findet, ist die Verlängerung der Entsendung mit Vordruck 116 Koch

Entsendung innerhalb des EWR

Rz. 56 Sozialversicherungsrecht

E102 (vierfach) zu beantragen. Der Antrag ist nicht beim jeweils zuständigen deutschen Sozialversicherungsträger, sondern unmittelbar beim zuständigen ausländischen Sozialversicherungsträger zu stellen. Schwierigkeiten können so genannte Mehrfachentsendungen mit Unterbre- 53 chungen zwischen den Entsendungen bereiten. Die Möglichkeit, einen Arbeitnehmer mehrfach in ein und dasselbe Mitgliedsland entsenden zu können, wird man nicht von vorneherein negieren können; in diesen Fällen wird es maßgeblich darauf ankommen, wie viel Zeit zwischen den einzelnen Entsendungen liegt und ob in den Mehrfachentsendungen eine Umgehung der maximalen Entsendedauer zu sehen ist. 3.4 Ausnahmevereinbarung 3.4.1 Voraussetzungen Wenn die Voraussetzungen für eine Entsendung nicht vorliegen, also beispiels- 54 weise in dem Fall, in dem ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer von vornherein für einen Zeitraum von vier Jahren im Ausland einsetzen möchte, hätte dies grundsätzlich zur Folge, dass dieser Arbeitnehmer den Regelungen über soziale Sicherheit des Gastlandes und nicht mehr den deutschen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit unterliegt. Dies dürfte aber in einer Vielzahl von Fällen nicht im Interesse des Arbeitnehmers sein, da dieser in der Regel nach dem Auslandseinsatz wieder nach Deutschland zurückkehrt und ab diesem Zeitpunkt auch wieder den deutschen Sozialversicherungsvorschriften unterliegt. Sowohl die VO (EWG) Nr. 1408/71 als auch die VO (EG) Nr. 883/2004 sehen daher die Möglichkeit vor, dass unter bestimmten Voraussetzungen eine so genannte Ausnahmevereinbarung beantragt werden kann, die es dem Arbeitnehmer ermöglicht, unter bestimmten Voraussetzungen für einen bestimmten Zeitraum weiterhin in dem Sozialversicherungssystem seines Heimatlandes zu bleiben. Auch in Fällen, in denen eine Verlängerung einer bereits getroffenen Ausnahmevereinbarung ab dem 1.5.2010 beantragt wird, findet die VO (EG) Nr. 883/2004 Anwendung. Nach Art. 16 VO (EG) Nr. 883/2004 muss zum einen ein Interesse des Arbeit- 55 nehmers an Erteilung der Ausnahmevereinbarung gegeben sein. Dieses muss seitens des Arbeitnehmers in Form einer Einverständniserklärung dargelegt werden. Bei zeitlich begrenzten Auslandseinsätzen liegt das Interesse des Arbeitnehmers regelmäßig darin, zu vermeiden, dass in mehreren Ländern Rentenversicherungsansprüche erworben werden, die bei Eintritt in das Rentenalter bei unterschiedlichen (ausländischen) Sozialversicherungsträgern geltend gemacht werden müssen. Gerade bei ausländischen Sozialversicherungsträgern kann es in diesen Fällen zu oftmals langen Bearbeitungszeiten kommen. Durch Abschluss einer Ausnahmevereinbarung kann hingegen ein einheitlicher Versicherungsverlauf für die zeitlich befristete Dauer der Beschäftigung im Ausland gewährleistet werden. Zum anderen muss der Auslandseinsatz im Hinblick auf die Erteilung einer 56 Ausnahmevereinbarung zeitlich befristet sein. Eine konkrete Befristung lässt sich zwar aus Art. 16 VO (EG) Nr. 883/2004 nicht entnehmen, wird aber in der Koch

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Sozialversicherungsrecht Rz. 57

Entsendung innerhalb des EWR

Verwaltungspraxis von den Sozialversicherungsträgern grundsätzlich zwingend vorausgesetzt. In der Regel liegt diese Begrenzung bei fünf Jahren. Unter bestimmten Voraussetzungen gilt für bestimmte Mitgliedstaaten ggf. eine Höchstdauer von weniger als fünf Jahren (z.B. in Bezug auf Italien bei Bestehen eines lokalen italienischen Arbeitsvertrages höchstens vier Jahre und in Bezug auf die Tschechische Republik höchstens drei Jahre). Ist ein Auslandseinsatz nicht von vornherein zeitlich begrenzt, wird eine Ausnahmevereinbarung in diesem Fall wohl grundsätzlich nicht gewährt werden. 57 Eine weitere wesentliche Voraussetzung für die Beantragung einer Ausnahmevereinbarung ist die bestehende arbeitsrechtliche Anbindung an einen deutschen Arbeitgeber bereits vor Beginn der Entsendung bzw. Beschäftigung im Ausland sowie die weiter bestehende arbeitsrechtliche Anbindung an einen deutschen Arbeitgeber auch für die Dauer der Beschäftigung im Ausland. In diesem Zusammenhang ist es aus deutscher Sicht notwendig, dass das deutsche Beschäftigungsverhältnis zumindest in Form eines ruhenden Arbeitsvertrages für die Dauer der Beschäftigung im Ausland weiter besteht. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass es aus der Sicht der ausländischen Sozialversicherungsträger ggf. als nicht ausreichend für den Abschluss einer Ausnahmevereinbarung angesehen wird, sofern das Beschäftigungsverhältnis lediglich als ruhendes Beschäftigungsverhältnis für die Dauer der Beschäftigung im Ausland weiter besteht (dies gilt grundsätzlich in Bezug auf z.B. Belgien, Dänemark und Großbritannien). Nach Beendigung der Beschäftigung im Ausland muss der Arbeitnehmer grundsätzlich nach Deutschland zurückkehren und sein Beschäftigungsverhältnis für den deutschen Arbeitgeber fortsetzen. 3.4.2 Antrag 58 Liegen die Voraussetzungen für den Abschluss einer Ausnahmevereinbarung vor, so kann der Arbeitnehmer zusammen mit dem Arbeitgeber einen Antrag auf Abschluss einer Ausnahmevereinbarung zum Verbleib in der deutschen Sozialversicherung bei dem zuständigen Sozialversicherungsträger stellen14. 59 Für den Antrag gibt es grundsätzlich keine Formvorschriften, es sollten aber grundsätzlich die folgenden Angaben enthalten sein15: – Personalien inklusive Angaben zur Staatsangehörigkeit und der (bisherigen und neuen) Anschrift – Anschrift des Arbeitgebers und des Beschäftigungsortes im Ausland – Sozialversicherungsnummer des Arbeitnehmers – voraussichtlicher Zeitraum des Auslandseinsatzes

14 In Deutschland ist dies das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Das Bundesministerium hat jedoch die Zuständigkeit auf die Deutsche Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland, Postfach 200344, 53170 Bonn verlagert. 15 Die konkreten Anforderungen sind je Land unterschiedlich, Einzelheiten können der Internetseite der Deutschen Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland (www.dvka.de) entnommen werden.

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Entsendung innerhalb des EWR

Rz. 62 Sozialversicherungsrecht

– Angaben zum Auslandseinsatz selbst, wie z.B. Tätigkeitsstaat, Grund der Beschäftigung im Ausland, Funktion und Tätigkeitsbeschreibung, Darlegung der vertraglichen Grundlagen – Darlegung des besonderen Interesses des Arbeitnehmers bzgl. des Verbleibs in der deutschen Sozialversicherung – Zustimmungserklärung des Arbeitnehmers – Zusendung von Kopien bereits ausgestellter Entsendebescheinigungen, soweit vorhanden. In der Praxis kommt es insbesondere bei folgenden Fallkonstellationen zum Abschluss einer Ausnahmevereinbarung:

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– Eine befristete Entsendung wird von vorneherein für einen Zeitraum von mehr als zwölf Monate bzw. 24 Monate nach der seit dem 1.5.2010 geltenden VO (EG) Nr. 883/2004 geplant. – Eine Entsendung, die nach der bis zum 30.4.2010 geltenden VO (EWG) Nr. 1408/71 ursprünglich nur für einen Zwölfmonatszeitraum geplant war, wird verlängert und die Verlängerung beträgt mehr als zwölf Monate. In diesem Fall ist für den Zeitraum ab Verlängerung der Entsendung eine Ausnahmevereinbarung zu beantragen. – Eine Entsendung ab dem 1.5.2010, die ursprünglich höchstens 24 Monate betragen soll, wird verlängert und überschreitet den Zeitraum von 24 Monaten. Für den Zeitraum der Verlängerung ist eine Ausnahmevereinbarung zu beantragen. – In Fällen einer Entsendung, in denen die Voraussetzungen zum Verbleib in der deutschen Sozialversicherung nicht erfüllt sind (z.B. ruhender deutscher Arbeitsvertrag), kann über einen Antrag auf Abschluss einer Ausnahmevereinbarung die weitere Anwendung des deutschen Sozialversicherungsrechts beantragt werden. 3.5 Mehrfachbeschäftigung 3.5.1 Grundsatz Die VO (EWG) Nr. 1408/71 als auch die VO (EG) Nr. 883/2004 regeln nicht nur 61 Entsendungen in das Ausland, sondern auch Fälle, in denen Arbeitnehmer regelmäßig in mehr als einem Mitgliedstaat tätig sind. Auch in diesen Fällen ist der Arbeitnehmer nach den Grundsätzen der Verordnungen nur in einem Mitgliedstaat sozialversicherungspflichtig mit der Rechtsfolge, dass auf alle in den Mitgliedstaaten ausgeübten Beschäftigungen das Sozialversicherungsrecht nur eines Mitgliedstaates zur Anwendung kommt. Die Höhe der Beiträge sowie die Beitragsbemessungsgrundlage bestimmen sich somit allein nach dem Recht dieses Mitgliedstaates. Anders als bei der Entsendung von Arbeitnehmern wird bei den Fällen der 62 Mehrfachbeschäftigung in der VO (EWG) Nr. 1408/71 zwischen zwei Arbeitnehmergruppen unterschieden:

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Sozialversicherungsrecht Rz. 63

Entsendung innerhalb des EWR

63 – Arbeitnehmer, die Mitglied des fahrenden oder fliegenden Personals eines Unternehmens sind, das im internationalen Verkehrswesen die Beförderung von Personen oder Gütern im Schienen-, Straßen-, Luft- oder Binnenschifffahrtsverkehr durchführt. 64 Nach Art. 14 Nr. 2 lit. a VO Nr. 1408/71 ist für diese Arbeitnehmer grundsätzlich das Sozialversicherungsrecht des Mitgliedstaates anwendbar, in dem sich der Sitz des Arbeitgebers befindet. Ist der Arbeitnehmer jedoch bei einer (ausländischen) Betriebsstätte des Arbeitgebers beschäftigt, kommt das Sozialversicherungsrecht des Mitgliedstaates zur Anwendung, in dem die Betriebstätte liegt. Erfolgt die Beschäftigung des Arbeitnehmers hingegen überwiegend, d.h. in mehr als der Hälfte der Arbeitszeit, im Wohnsitzstaat, kommen die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates zur Anwendung. 65 Die Regelung umfasst nicht Arbeitnehmer, die zwar bei einem der genannten Arbeitgeber beschäftigt sind, aber lediglich ortsfest eingesetzt werden. Für diese Personengruppe gelten die nachfolgend genannten Regelungen. Ebenfalls nicht von dieser Regelung erfasst werden Arbeitgeber der Seeschifffahrt und deren Arbeitnehmer. Für diese gelten weitere Sonderregelungen, die in diesem Rahmen aufgrund ihres speziellen Charakters und ihrer relativen Seltenheit nicht weiter erörtert werden. 66 Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Regelung für Arbeitnehmer im internationalen Verkehrswesen in der seit dem 1.5.2010 geltenden VO (EG) Nr. 883/2004 ersatzlos gestrichen wurde und somit mit Ausnahme von bestimmten Fällen (vgl. Rz. 24 und 25) seitdem nur die allgemeine für alle Arbeitnehmer geltende Regelung der Mehrfachbeschäftigung Anwendung findet. 67 – Alle anderen Arbeitnehmer Für Arbeitnehmer, die nicht zu dem oben beschriebenen Personenkreis gehören, aber regelmäßig ihre Beschäftigung in mehreren Mitgliedstaaten ausüben, kommen grundsätzlich die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates zur Anwendung, wenn in diesem auch gewöhnlich bzw. regelmäßig eine Beschäftigung ausgeübt wird. 68 Der o.g. Grundsatz gilt unabhängig davon, ob der betreffende Arbeitnehmer für einen oder mehrere Arbeitgeber in verschiedenen Mitgliedstaaten tätig wird. 69 In den Fällen, in denen ein Arbeitnehmer zwar regelmäßig in mehreren Mitgliedstaaten, aber nicht im Wohnsitzstaat tätig wird, kommt das Recht des Mitgliedstaates zur Anwendung, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat. Hat der Arbeitnehmer in diesem Fall zwei oder mehr Arbeitgeber, die ihren Sitz in unterschiedlichen Mitgliedstaaten haben, so kommt wiederum das Recht des Wohnsitzstaates zur Anwendung. 70 In allen oben genannten Fällen der Mehrfachbeschäftigung kommt es auf das Kriterium der „gewöhnlichen Beschäftigung“ in einem oder mehreren Mitgliedstaaten an. Was als „gewöhnlich“ in diesem Sinne anzusehen ist, wird von jedem Mitgliedstaat etwas anders interpretiert. Nach der Rechtsprechung

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Entsendung innerhalb des EWR

Rz. 75 Sozialversicherungsrecht

des Europäischen Gerichtshofes16 zu dieser Thematik ist eine Beschäftigung dann „gewöhnlich“, wenn sie regelmäßig dort ausgeübt wird. Regelmäßig ist eine Tätigkeit nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dann, wenn sie dort mehrere Stunden pro Woche ausgeübt wird. Nach deutscher Verwaltungspraxis wird eine Tätigkeit dann als regelmäßig in diesem Sinne qualifiziert, wenn sie an mindestens einem Tag im Monat im Wohnsitzstaat (Deutschland) ausgeübt wird. Nach der seit dem 1.5.2010 geltenden Regelung in Art. 13 Abs. 1 VO 71 Nr. 883/2004 ist es zunächst ebenfalls notwendig, dass eine Beschäftigung gewöhnlich in mehreren Mitgliedstaaten ausgeübt wird. Damit jedoch insgesamt das Sozialversicherungsrecht des Wohnstaates Anwendung finden kann, ist es notwendig, dass ein wesentlicher Teil der Beschäftigung im Wohnstaat ausgeübt wird. Um festzustellen, ob ein wesentlicher Teil der Beschäftigung im Wohnstaat ausgeübt wird, werden nach Art. 14 Abs. 8 VO Nr. 987/2009 die Arbeitszeit und oder das Arbeitsentgelt herangezogen. Aus Sicht der deutschen Sozialversicherungsträger wird schwerpunktmäßig auf die Arbeitszeit abgestellt werden. Werden Beschäftigungen für mehrere Arbeitgeber mit Sitz in verschiedenen 72 Mitgliedstaaten ausgeübt, ist es wie nach bisher geltendem Recht lediglich erforderlich, dass die Beschäftigungen gewöhnlich in mehreren Mitgliedstaaten ausgeübt werden, damit insgesamt das Sozialversicherungsrecht des Wohnstaates Anwendung findet. 3.5.2 Antrag bei Mehrfachbeschäftigung In den Fällen der Mehrfachbeschäftigung, in denen die entsprechende Rege- 73 lung der VO (EWG) Nr. 1408/71 weiterhin Anwendung finden, stellt grundsätzlich der Arbeitgeber einen Antrag für seinen Arbeitnehmer auf Erteilung einer Bescheinigung über die anzuwendenden Rechtsvorschriften (E 101) bei der zuständigen Behörde des Mitgliedstaates, dessen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit insgesamt gelten. Bei gesetzlich krankenversicherten Arbeitnehmern ist dies aus deutscher Sicht 74 die jeweilige Krankenkasse des Arbeitnehmers, bei nicht gesetzlich krankenversicherten Arbeitnehmern ist dies der Rentenversicherungsträger (Deutsche Rentenversicherung Bund). Bei Mitgliedern eines Versorgungswerkes die Arbeitsgemeinschaft der Versorgungseinrichtungen in Berlin. In Fällen der Mehrfachbeschäftigung, in denen die entsprechende Regelung der 75 VO (EG) Nr. 883/2004 Anwendung findet, ist ein Antrag immer bei dem Sozialversicherungsträger des Wohnstaates zu stellen. Dies gilt auch in Fällen, in denen nicht das Recht des Wohnstaates, sondern das Recht des Staates, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat, Anwendung findet. Der Träger des Wohnstaates stellt zunächst eine vorläufige Bescheinigung A 1 aus und unterrichtet die Sozialversicherungsträger der anderen involvierten Mitgliedstaaten entspre16 Urteil des EUGH vom 16.2.1995, C-425/93, Amtsbl. der Europ. Gemeinsch. Nr. C 74/1995 S. 2.

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121

Sozialversicherungsrecht Rz. 76

Entsendung innerhalb des EWR

chend. Die vorläufige Festlegung erhält binnen von zwei Monaten endgültigen Charakter, sofern ein anderer Träger keine andere Auffassung vertritt. 3.6 Übergangsregelung nach Art. 87 Abs. 8 VO Nr. 883/2004 76 Gelten für einen Arbeitnehmer nach der VO (EG) Nr. 883/2004 die Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit eines anderen Mitgliedstaates als desjenigen Mitgliedstaates, welcher nach den Regelungen der VO (EWG) Nr. 1408/71 bestimmt wird, so bleibt das Sozialversicherungsrecht, welches nach der VO (EWG) Nr. 1408/71 bestimmt wird, so lange anwendbar, wie sich der vorherrschende Sachverhalt nicht ändert. Dies gilt jedoch höchstens für einen Zeitraum von zehn Jahren ab dem Geltungsbeginn der VO (EG) Nr. 883/2004, also höchstens bis zum 30.4.2020. 77 Finden sowohl nach den Regelungen der VO (EWG) Nr. 1408/71 als auch nach der VO (EG) Nr. 883/2004 die Rechtsvorschriften des selben Mitgliedstaates Anwendung findet, werden z.B. bei Verlängerung der Entsendung sowie in Fällen der Mehrfachbeschäftigung keine Vordrucke E 101 als Nachweis über das anzuwendende Sozialversicherungsrechts, sondern Vordrucke A 1 durch die zuständigen Sozialversicherungsträger ausgestellt. 78 Die Übergangsregelung bietet auf der anderen Seite ebenfalls die Möglichkeit, in die neue Verordnung zu optieren, wenn durch die Regelungen der neuen Verordnungen die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates Anwendung finden als nach den Regelungen der VO (EWG) Nr. 1408/71. In diesem Fall ist ein entsprechender Antrag, zu dem der Arbeitnehmer ebenfalls sein Einverständnis erklären muss, zu stellen, damit das nach der neuen Verordnung bestimmte Sozialversicherungsrecht Anwendung finden kann. Die Rechtsvorschriften nach der neuen Verordnung gelten für den betreffenden Arbeitnehmer ab dem ersten Tag des auf den Antrag folgenden Monats. 3.7 Sonderregelungen 3.7.1 Grundsatz 79 Die Verordnungen über soziale Sicherheit regeln nicht nur die sozialversicherungsrechtlichen Rahmenbedingungen für Arbeitnehmer mit Auslandsberührung innerhalb der Europäischen Union, sondern auch für andere Personengruppen, so z.B. von Selbständigen. Zudem enthalten die Verordnungen Regelungen über die bereits zuvor angesprochenen Sondergruppen. Dies sind u.a. Seeleute, die nicht als Binnenschiffer qualifizieren, Personen, die zum Geschäftspersonal der diplomatischen Vertretungen und konsularischen Dienststellen gehören, und so genannte Hilfskräfte der Europäischen Gemeinschaft. Im Folgenden wird lediglich kurz auf die Personengruppe der Selbständigen sowie der Seeleute eingegangen. 3.7.2 Selbständige 80 Für Selbständige gelten im Wesentlichen die zuvor genannten Grundsätze für Arbeitnehmer entsprechend. Dies bedeutet, dass auch Selbständige im Falle 122 Koch

Leistungsansprüche entsandter Arbeitnehmer

Rz. 86 Sozialversicherungsrecht

einer Entsendung beantragen können, nur in ihrem Heimatland der Sozialversicherung zu unterliegen, wenn sie die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen. Dies gilt auch für den Bereich der Mehrfachtätigkeit, wenn ein Selbständiger auch regelmäßig in seinem Wohnsitzstaat tätig wird. Ist der Selbständige neben seiner Tätigkeit als Selbständiger auch in einem Ar- 81 beitnehmerverhältnis tätig, gelten folgende Ausnahmeregelungen: Grundsätzlich gilt in diesen Fallkonstellationen für eine Person, die in einem 82 oder mehreren Mitgliedstaaten als Arbeitnehmer beschäftigt ist sowie in mehreren Mitgliedstaaten eine selbständige Tätigkeit ausübt, insgesamt das Sozialversicherungsrecht des Mitgliedstaates, in dem die Person als Arbeitnehmer tätig ist. Übt diese Person wiederum in ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmer mehrere Beschäftigungen in verschiedenen Mitgliedstaaten gleichzeitig aus, so ist der Staat, dessen Sozialversicherungssystem zur Anwendung kommt, in einem ersten Schritt nach den für Arbeitnehmer geltenden Regelungen zu ermitteln. In einem zweiten Schritt ist die Zuständigkeit nach den für selbständig Tätige geltenden Regelungen der Verordnungen zu ermitteln. Hierbei kann es in einigen Fällen dazu kommen, dass nach der VO (EWG) Nr. 1408/71 das Sozialversicherungsrecht zweier Staaten zur Anwendung kommt17. Nach der VO (EG) Nr. 883/2004 gilt in den unter Rz. 82 genannten Fällen aus- 83 schließlich das Sozialversicherungsrecht des Mitgliedstaates, in dem eine abhängige Beschäftigung ausgeübt wird. Fallkonstellationen, in denen das Recht mehrerer Mitgliedstaaten gleichzeitig Anwendung findet, gibt es nach den Regelungen der neuen Verordnung nicht mehr. Zudem besteht ebenfalls für Selbständige die Möglichkeit, die zuvor unter 84 Rz. 54 ff. dargestellte Ausnahmevereinbarung zu beantragen. 3.7.3 Seeleute Für Seeleute, die für ein Unternehmen der Seeschifffahrt tätig sind, gilt grund- 85 sätzlich das Sozialversicherungsrecht des Staates, unter dessen Flagge das Schiff fährt. Im Falle von Entsendungen bzw. Ausnahmevereinbarungen gelten grundsätzlich die zuvor genannten Regelungen für Arbeitnehmer entsprechend18.

IV. Leistungsansprüche entsandter Arbeitnehmer Neben der Frage der Zuordnung zu einem Rechtssystem der sozialen Sicher- 86 heit ist in einem zweiten Schritt die Frage zu beantworten, gegen wen, wie 17 Dies ist z.B. der Fall, wenn ein Arbeitnehmer, der in Deutschland unselbständig beschäftigt ist, eine selbständige Tätigkeit z.B. in Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden oder Spanien und ausübt und dort auch gleichzeitig seinen Wohnsitz hat. Im Falle einer selbständigen Tätigkeit z.B. in Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Lichtenstein oder Portugal gilt dies auch, wenn der Selbständige dort lediglich seine selbständige Tätigkeit ausübt, dort aber keinen Wohnsitz innehat. 18 Auf Besonderheiten wird in diesem Rahmen nicht näher eingegangen.

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123

Sozialversicherungsrecht Rz. 87

Leistungsansprüche entsandter Arbeitnehmer

und in welcher Höhe der Arbeitnehmer Ansprüche im Leistungsfall geltend machen kann bzw. sollte. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Verordnungen über soziale Sicherheit zwar die grundsätzliche Zuweisung zu einem System der sozialen Sicherheit regeln. Ob und inwieweit eine dortige Versicherung zum Tragen kommt und in welcher Höhe Leistungen der Sozialversicherung erbracht werden, bestimmt sich jedoch alleine nach dem Versicherungsrecht des jeweiligen Mitgliedstaates. Es kann daher dazu kommen, dass eine Reduzierung der Ansprüche im Vergleich zu den deutschen Ansprüchen eintritt. Nachfolgend wird kurz auf die Leistungsansprüche in den jeweiligen Versicherungszweigen eingegangen.

1. Krankenversicherung 87 Im Entsendungsfall hat ein Arbeitnehmer im anderen Mitgliedstaat nach deutschen Rechtsvorschriften grundsätzlich Anspruch auf Versicherungsleistungen entsprechend den in der deutschen Versicherung zugesagten Leistungen. Dies sind Sachleistungen und nicht Geldleistungen. Geldleistungen werden weiterhin durch die deutsche Krankenkasse erbracht. Sind dieselben Leistungen im Ausland also beispielsweise teurer als im Inland, so hat der Arbeitnehmer dennoch Anspruch auf Erstattung der gesamten Kosten. Der Anspruch besteht primär gegen den Arbeitgeber des entsandten Arbeitnehmers. Dieser muss ihm die im Ausland entstandenen Kosten nach Vorlage der Rechnungen erstatten. Die deutsche Krankenversicherung wiederum, die der Arbeitgeber in Anspruch nehmen kann, muss ihm nur den Teil der Kosten erstatten, die für dieselbe Leistung auch in Deutschland entstanden wären. Der Arbeitgeber ist demnach in Höhe des Differenzbetrages wirtschaftlich belastet. 88 Alternativ kann der entsandte Arbeitnehmer bei grenzüberschreitender Beschäftigung im Geltungsbereich der Verordnungen auch die so genannte Leistungsaushilfe in Anspruch nehmen. Als Nachweis dafür, dass der Arbeitnehmer versichert ist, stellt ihm die deutsche Krankenkasse einen Berechtigungsnachweis, die Europäische Krankenversicherungskarte (EHIC), aus. Dieses Verfahren kann jedoch dann nachteilig für den Arbeitnehmer sein, wenn es in dem jeweiligen Tätigkeitsstaat beispielsweise höhere Selbstbeteiligungen gibt als in seinem Heimatstaat. Je nach Staat ist es daher für den Arbeitnehmer vorteilhafter, anstelle der Leistungsaushilfe den Arbeitgeber direkt in Anspruch zu nehmen. Für familienversicherte Angehörige, die den Entsandten ins Ausland begleiten, muss der Arbeitgeber ebenfalls die Kosten für Sachleistungen der Krankenversicherung übernehmen. 89 Um somit eventuelle Mehrkosten, die dem Arbeitgeber durch die Entsendung von Arbeitnehmern ins Ausland entstehen können, zu vermeiden, ist es für den Arbeitgeber empfehlenswert, eine Auslandskrankenversicherung für seine entsandten Arbeitnehmer und deren familienversicherten Angehörigen, sofern sie ihn ins Ausland begleiten, abzuschließen.

124 Koch

Leistungsansprüche entsandter Arbeitnehmer

Rz. 93 Sozialversicherungsrecht

2. Pflegeversicherung Die Pflegeversicherung ist dem Risikobereich der Krankenversicherung im 90 Sinne der Verordnungen über soziale Sicherheit zuzuordnen. Die zur Krankenversicherung genannten Grundsätze gelten daher auch für die Pflegeversicherung mit einer Ausnahme. Der Arbeitgeber hat hinsichtlich der Pflegeversicherung keine Leistungspflicht. Der entsandte Arbeitnehmer ist daher im Pflegefall auf die Leistungsaushilfe angewiesen. In der Praxis wird dieser Fall jedoch kaum auftreten, da ein entsandter Arbeitnehmer im Pflegefall regelmäßig in sein Heimatland zurückkehren dürfte.

3. Rentenversicherung Anders als in der Kranken- und Pflegeversicherung gibt es im Bereich der Ren- 91 tenversicherung keine Leistungsaushilfe. Vielmehr ermittelt jeder Mitgliedstaat für sich die in diesem Staat erdienten Rentenansprüche. Die ausländischen Versicherungszeiten sind jedoch relevant für die Ermittlung, ob überhaupt Rentenansprüche bestehen. Für diesen Zweck werden die Versicherungszeiten in anderen Mitgliedstaaten zusammengerechnet. Nicht berücksichtigt werden in diesen Fällen Versicherungszeiten in Staaten, mit denen Deutschland entweder ein Sozialversicherungsabkommen geschlossen hat oder mit denen kein Sozialversicherungsabkommen besteht, also Versicherungszeiten aus Ländern, in denen die Verordnungen über soziale Sicherheit keine Anwendung finden. Die Höhe der in dem jeweiligen Staat entstandenen Rentenansprüche wird un- 92 ter Heranziehung der in diesem Staat jeweils erdienten Versicherungszeiten ermittelt. Eine „Gesamtrente“, die der Arbeitnehmer beispielsweise in seinem Heimatstaat geltend machen könnte, existiert grundsätzlich nicht. Eine Ausnahme hiervon bilden lediglich kurzfristige Beschäftigungen. Werden in diesen Fällen Mindestversicherungszeiten nicht erreicht, so werden diese Zeiten bei der Ermittlung der Versicherungsansprüche im Heimatland mitberücksichtigt.

4. Arbeitslosenversicherung Grundsätzlich ist derjenige Leistungsträger für die Erbringung von Arbeits- 93 losengeld zuständig, in dessen Staat der Arbeitslose unmittelbar vor der Arbeitslosigkeit gearbeitet hat und versichert war. Im Ausland zurückgelegte Versicherungszeiten müssen unter bestimmten Voraussetzungen wie eigene Versicherungszeiten berücksichtigt werden. Ein Weiterbezug von Arbeitslosengeld ist jedoch nur für maximal drei Monate für den Fall möglich, dass der Arbeitlose zur Arbeitssuche ins Ausland geht (so genannter Leistungsexport)19. In diesem Fall ist der Staat zur Zahlung des Arbeitslosengeldes verpflichtet, in dem sich der Arbeitslose aufhält. Der Heimatstaat muss diesem Staat die geleisteten Zahlungen jedoch erstatten. Die Dauer von 3 Monaten

19 Vgl. Niesel/Kretschmer, Sozialgesetzbuch Anh. A, Art. 69 EWG-VO 1408/71, Rz. 3.

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Sozialversicherungsrecht Rz. 94

Land mit bilateralem Abkommen

kann bei Anwendung der VO (EG) Nr. 883/2004 auf Antrag um weitere 3 Monate verlängert werden.

V. Beschäftigung in einem Land mit bilateralem Abkommen 1. Allgemeines 94 Deutschland hat auch mit zahlreichen (europäischen) Staaten, die nicht unter die EWG-VO Nr. 1408/71 bzw. die VO (EG) Nr. 883/2004 fallen, so z.B. mit Kroatien, Serbien, Mazedonien oder der Türkei, so genannte Sozialversicherungsabkommen geschlossen, um zu vermeiden, dass es bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten zu einer Mehrfachversicherung kommt. Diese bilateralen Abkommen werden zwischen zwei Staaten geschlossen und entfalten erst durch Umwandlung in nationales Recht Rechtskraft. Die Abkommen regeln im Wesentlichen, welches Sozialversicherungsrecht bei befristeter Entsendung eines Arbeitnehmers von einem Staat in den anderen Anwendung findet. Die Definition der Entsendung in den deutschen Sozialversicherungsabkommen entspricht dabei in etwa der Definition der Entsendung nach innerstaatlich deutschen Rechtsvorschriften (Ausstrahlung). D.h. ein Arbeitnehmer wird auf Rechnung eines Arbeitgebers des einen Vertragsstaates für eine befristete Zeit in das Territorium des anderen Vertragsstaates entsandt, um dort eine Tätigkeit für das entsendende Unternehmen auszuüben. Das Beschäftigungsverhältnis mit dem entsendenden Unternehmen besteht fort. Im Vergleich zu einer Entsendung nach innerstaatlich deutschen Rechtsvorschriften ist in den meisten Abkommen über Soziale Sicherheit konkret eine zeitliche Begrenzung einer Entsendung genannt. 95 In allen deutschen Abkommen ist zudem die Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmevereinbarung (analog den Regelungen in den Verordnungen über soziale Sicherheit) vorgesehen. Diese wird von der „Deutsche Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland“ erteilt. 96 Liegen die Voraussetzungen für eine Entsendung bzw. eine Ausnahmevereinbarung nicht vor, gilt grundsätzlich das Territorialitätsprinzip, d.h. der Arbeitnehmer ist in dem Staat sozialversicherungspflichtig, in dem er physisch tätig ist.

2. Sachlicher Geltungsbereich 97 Der sachliche Geltungsbereich ist insbesondere hinsichtlich der von den Abkommen erfassten Versicherungszweige relevant. Denn nicht alle Versicherungszweige sind von allen deutschen Abkommen erfasst. Hinsichtlich der Versicherungszweige, die nicht von einem Abkommen gedeckt sind, gilt es jeweils separat nach deutschem bzw. ausländischem Recht zu bestimmen, welches Sozialversicherungsrecht Anwendung findet, so dass es je nach Fallkonstellation zu einer Doppelversicherung kommen kann.

126 Koch

Land mit bilateralem Abkommen

Rz. 104 Sozialversicherungsrecht

In der Regel ist in den mit Deutschland geschlossenen Abkommen über Sozia- 98 le Sicherheit z.B. die erst im Jahr 1995 in Deutschland eingeführte Pflegeversicherung nicht erfasst. Hinsichtlich der nicht von den Abkommen erfassten Versicherungszweige ist 99 im jeweiligen Fall zu prüfen, ob weiterhin deutsche Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit im Hinblick auf eine Ausstrahlung i.S.v. § 4 SGB IV zur Anwendung kommen.

3. Persönlicher Geltungsbereich Der persönliche Anwendungsbereich der deutschen Sozialversicherungs- 100 abkommen ist grundsätzlich weiter als derjenige der Verordnungen über soziale Sicherheit, denn die Abkommen gelten abgesehen von Ausnahmen für alle Arbeitnehmer ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit.

4. Sozialversicherungsabkommen zwischen Deutschland und der Türkei als Beispiel Das Sozialversicherungsabkommen zwischen Deutschland und der Türkei 101 wurde am 30.4.1964 geschlossen und ist am 1.11.1965 in Kraft getreten20; es wurde am 28.5.1969 geändert21. Am 25.10.1972 ist ein Zwischenabkommen geschlossen worden, welches am 22.8.1975 mit Wirkung zum 1.1.1975 in Kraft getreten ist22. Zudem gibt es ein Zusatzabkommen vom 2.11.1984, welches am 1.4.1987 in Kraft getreten ist23. Hinsichtlich des sachlichen Geltungsbereiches umfasst das Abkommen aus 102 deutscher Sicht die Rechtsvorschriften über die gesetzliche Rentenversicherung. Ebenfalls umfasst sind die Rechtsvorschriften über die gesetzliche Krankenversicherung sowie Unfallversicherung. Nicht unmittelbar erfasst ist die Arbeitslosenversicherung, nicht erfasst ist die Pflegeversicherung. Unterliegt ein Arbeitnehmer jedoch nach dem Abkommen weiterhin dem deutschen Sozialversicherungsrecht, sind auch weiterhin Beiträge zur deutschen Arbeitslosen- und Pflegeversicherung zu entrichten. Aus türkischer Sicht umfasst das Abkommen die entsprechenden türkischen 103 Rechtsvorschriften. Das Abkommen mit der Türkei ist hinsichtlich des persönlichen Geltungs- 104 bereichs grundsätzlich an die Staatsangehörigkeit gebunden. Es findet jedoch auch auf Staatsangehöriger anderer Staaten Anwendung, wenn zwischen diesen und der Vertragspartei, deren Rechtsvorschriften jeweils anzuwenden sind, überstaatliches Recht oder andere zwischenstaatliche Verträge über soziale Sicherheit wirksam sind. Daneben findet das Abkommen Anwendung auf Staatenlose und Flüchtlinge. 20 21 22 23

BGBl. 1965 II, S. 1169. BGBl. 1972 II, S. 1. BGBl. 1975 II, S. 373. BGBl. 1986 II, S. 1038.

Koch

127

Sozialversicherungsrecht Rz. 105

Land mit bilateralem Abkommen

105

Für Entsendungen ist geregelt, dass weiterhin die Rechtsvorschriften des Entsendestaates anwendbar sind, wenn ein Arbeitnehmer vorübergehend im Rahmen seiner Beschäftigung für ein Unternehmen mit Sitz in Deutschland bzw. der Türkei in den jeweils anderen Staat entsandt wird. Eine zeitliche Befristung ist im Abkommen nicht explizit vorgesehen. In der Regel wird man bei Entsendungen mit einer Dauer von fünf Jahren davon ausgehen können, dass eine zeitliche Befristung vorliegt. Die Voraussetzungen einer Entsendung entsprechen daher von deutscher Seite grundsätzlich den Voraussetzungen für eine Ausstrahlung i.S.v. § 4 SGB IV (vgl. Rz. 4–6). Dies bedeutet, dass die Voraussetzungen für eine Entsendung u.a. dann nicht vorliegen, wenn die Gehaltskosten des entsandten Arbeitnehmers an eine ausländische Gesellschaft weiterbelastet werden und von dieser steuerlich als Betriebsausgaben geltend gemacht werden. Als Nachweis, dass das deutsche Sozialversicherungsrecht weiterhin Anwendung findet, ist durch die für den Arbeitnehmer zuständige Einzugsstelle eine Bescheinigung T/A 1 auszustellen. Für Arbeitnehmer, die nicht versicherungspflichtig in der Rentenversicherung sind, ist die Deutsche Rentenversicherung für die Ausstellung der Entsendebescheinigung T/A 1 zuständig.

106

Liegen zwar die Voraussetzungen für eine Entsendung im Sinne des Abkommens mit der Türkei nicht vor, der Arbeitnehmer ist jedoch für einen zeitlich befristeten Zeitraum im Rahmen eines zumindest in Form eines ruhenden Arbeitsvertrages bestehenden Beschäftigungsverhältnisses mit dem deutschen Arbeitgeber in die Türkei entsandt und kehrt anschließend wieder nach Deutschland zurück, so sieht das Abkommen dennoch die Möglichkeit vor, eine Ausnahmevereinbarung zum Verbleib in der deutschen Sozialversicherung zu beantragen. Diese muss gemeinsam durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber beantragt werden und ist aus deutscher Sicht an die Deutsche Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland, zu richten.

107

Auch wenn das deutsch-türkische Abkommen über Soziale Sicherheit die Pflegeversicherung nicht mit umfasst, sind nach dem Grundsatz „die Pflegeversicherung folgt der Krankenversicherung“ bei Anwendung des deutschen Sozialversicherungsrechts auch Beiträge zur Pflegeversicherung in Deutschland zu entrichten.

108

Weiterhin enthält das Abkommen u.a. Regelungen bzgl. der Berechtigung zur freiwilligen Versicherung, zu Beitragserstattungen, Rentenleistungen, zur Zusammenrechnung von Versicherungszeiten für den Rentenanspruch, zur Rentenberechnung, zu einem Kinderzuschuss sowie zu Rentenzahlungen an Berechtigte im Ausland24.

24 Zu Einzelheiten vgl. Broschüre der Bundesknappschaft, Stand 1.8.2004.

128 Koch

Rz. 109 Sozialversicherungsrecht

Anlage 1

Anlage 1 Mitgliedstaat

Gebietlicher Geltungsbereich

Belgien

Belgisches Hoheitsgebiet in Europa

Bulgarien

Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien

Dänemark

Dänemark, Grönland (ohne Färoer-Inseln)

109

Deutschland

Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland

Estland

Estisches Hoheitsgebiet in Europa

Finnland

Gebiet der Republik Finnland

Frankreich

Franz. Mutterland, überseeische Departements Martinique, Guadeloupe, Réunion, Französisch-Guayana, Saint-Pierre und Miquelon

Griechenland

Hoheitsgebiet der Republik Griechenland

Großbritannien

Hoheitsgebiet des Vereinten Königreichs von Großbritannien und Nordirland in Europa (England, Schottland, Wales, Nordirland, Gibraltar) ohne: britische Kanalinseln und Isle of Man

Irland

Gebiet der Republik Irland

Island

Gebiet der Republik Island

Italien

Gebiet der Republik Italien

Lettland

Lettisches Hoheitsgebiet in Europa

Liechtenstein

Hoheitsgebiet des Fürstentums Lichtenstein

Litauen

Litauisches Hoheitsgebiet in Europa

Luxemburg

Hoheitsgebiet des Großherzogtums Luxemburg

Malta

Maltesisches Hoheitsgebiet (Malta, Gozo, Comino, Cominotto, Filfla)

Niederlande

Hoheitsgebiet der Niederlande in Europa

Norwegen

Hoheitsgebiet des Königreichs Norwegen ohne: Gebiet Svalbard (Spitzbergen und die Bäreninsel)

Österreich

Bundesgebiet der Republik Österreich

Polen

Polnisches Hoheitsgebiet in Europa

Portugal

Portugiesischer Teil der iberischen Halbinsel, die Azoren (Corvo, Flores, Faial, Santa Maria), Madeira, Desertas, Selvagans, Porto Santo) ohne: Kapverdische Insel

Rumänien

Hoheitsgebiet Rumänien

Schweden

Hoheitsgebiet des Königreichs Schweden

Slowakei

Slowakisches Hoheitsgebiet in Europa

Slowenien

Slowenisches Hoheitsgebiet in Europa

Koch

129

Sozialversicherungsrecht Rz. 109

Anlage 1

Mitgliedstaat

Gebietlicher Geltungsbereich

Spanien

Spanischer Teil der Iberischen Halbinsel, die Balearen, die Kanarischen Inseln, die nordafrikanischen Provinzen Ceuta, Melilla ohne: Protektorat Tétuan

Tschechien

Hoheitsgebiet der Tschechischen Republik

Ungarn

Ungarisches Hoheitsgebiet in Europa

Zypern

Zypriotisches Hoheitsgebiet in Europa

130 Koch

Rz. 110 Sozialversicherungsrecht

Anlage 2

Anlage 2 110 Bitte .,Hi nweise" auf Seite 3 beachten ! ~ r-;;--1 (1)

EUROPÄISCHE GEMEINSCHAFTEN Verordnungen über soziale Sic herheit EWR ("I

~~

BESCHEINIGUNG ÜBER DIE ANZUWENDENDEN RECHTSVORSCHRIFTEN VO 1408171: At1. 13.2.d; Art. 14.1.a; Art. 14.2.a;Art.14.2.b;Art. 14a.1.a, 2und4; Arl. 14b.1, 2und 4;Art. 14c.a;Art.14e;Art 17 VO 574112: Art. 11.1; Art. 11a.1; Arl. 12a. 2.a, 5.cund 7.a; Art. 12b

11

D

Arbeitnehmer

0

Selbständiger

1.1

Name (2)

1.2

Vomame(n)

FrOhare Namen (2)

1.3

Geburtsdatum (3)

Staatsangehörigkeit

1.4

DNI (4)

Ständige Anschrift

Straße - - - - - - - - - - - - - - - - - - Haus-Nr. - - - - Postfach _ __ Ort - - - - - - - - - -- - - - - - -Postleitzahl Land _ _ __ 1.5

Versicherungs-Nr. (5)

D

Arbeitgeber

0

Selbständige Tätigkeit

2.1

Name des Arbeitgebers oder des Unternehmens

2.2

Kenn-Nummer (6)

2.3

Ist der Arbeitgeber ein Arbeitskrätlaverleihunternehmen

2.4

Anschrift

0

0

ja

nein

E-Mail - - - - -

Telefon-Nr. _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ Fax-Nr.

Straße Ort

Haus-Nr. - - - - - Postfach Postleitzahl land -----

Der oben genannte Versicherte 3.1

D 0

ist bei dem oben genannten Arbeitgeber beschäftigt ab dem - - - - - - - - - - - - - - - -

3.2

D

:ir::; dc: vo=,a:u:=:.,:::;c::h,::lic:;:h"m"',d";e=-'z;:e"-;1- - - - - - -- -- - -- - - - - - - - - --

3.3

0

13.4 3.5

übt eine selbständige Tätigkeit aus ab dem

entsa= nd"' ll"' e;=ne:-::s= e lb= s t"än ""' d;"ge "'"'T:::: ät"' ;gk"e' '"'•""" os"üb "' "'e-n - - - -

b~ - - - - - - - - - - -

zu I bei dem (den) nachgenannten L..ntemehmen

D

auf das I dem nachgenannte(n) Schiff

Name(n) des Unlemehmens/des ScMfs Anschrift(en) Straße _ _ _ _ _ __ _ _ _ __ __

Haus-Nr. -

- - - --

Ort

Postleitzahl - - - - -

~:aße - - - - - - - - - - - - - -

Haus-Nr. - - - - - -

Postfach - - - - Laod _ _ _ _ __

::ach _ _ _ __

Postleitzahl - - - - 3.6

Kenn-Nr. (6)

Q)

Koch

131

Sozialversicherungsrecht Rz. 110

Anlage 2

Wer zahlt das Arbeitsentgelt und den Sozialversicherungsbeitrag des entsandten Arbeitnehmers?

4.1

Der in Nr. 2 genannte Arbe~gebef'

4.2

Das in Nr. 3.4 genannte U'ltemehmen

4.3

Sonstiger

D D D . in diesem Fall bitte angeben

-------------------------------------------------------------- ""d Anschrift

Straße - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Haus-Nr. - - - - - - - - - - Ort - - - - - - - - - -- -- - - - - - - - - - - -- -- Postleitzahl - - - - - -- - - -

Postfach - - - - - - - - l and - - - - - - - - - --

Der oben Genannte unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des Landes

5.1

gemäß Artikel

D D D D

13.2.d 14.1.a 14a.4 14e

D 14.2.a D 14b.1 0 17

D D

D D

14.2.b 14b.2

14a1 .a

14b.4

D D

14a.2 14c.a

der Verordnung (EWG) Nr. 1408171

u

5.3

D••M0

*-

für die Dauer der Beschäftigung/selbständigen Tätigkeit (vgl. Sehre·0ibc: e-:n :d;:e-:., : -u-:: st:;: änc; d;:c ige cn:-;B;:c eh : -:ö,-,d"e.,.od"' e-, d::-c.-, .-: o-:n d::iec:,-., :--::c Behörde bezeichneten Stelle im Beschäftigungsland, wonach der Versicherte weiterhin den Rechtsvorschriften des Entsendestaats unterliegt, - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Az. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

f6l

Zuständiger Träger dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind

6.1

Nan>l

6.2

Anschrift

Kenn-Nr.(7)

Telefon-Nr. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Fax-Nr. - - - - - - - - - E-Mail _ _ __ Haus-Nr. Postfach Straße Ort 6.3

132 Koch

Postleitzahl

land ---------I

Stempel 6.4

Datum

6.5

Unterschnft

10.10.2006

Rz. 110 Sozialversicherungsrecht

Anlage 2

HINWEISE

Der Vord ruck Ist in Drucksc hrift auszutOllen. Er umfasst 4 Selt en , von denen keine, auch unausgefüllt, weggelassen werden darf. Der bezeichnete Träger des Mitgiiedstaats, dessen Rechtsvorschriften der Betreffende unterliegt, stellt die Bescheinigung auf Antrag des Arbeitnehmers/Selbständigen oder des Arbeitgebers aus und händigt sie dem Antragsteller aus. Bei einer Entsendung nach Belgien, in die Niederlande. nach Finnland. Schweden oder lsland hat der Träger auch eine Ausfertigung der Bescheinigung zu senden an: in Belgien: die staatliche Sozialversicherungsanstall (Office national de securite sociale/Rijksdienst voor sociaie zekertleid), Blilssel; für Selbständige an die staatliche Sozialversicherungsanstalt für Selbständige (Institut d'assurance sociales pour ies travailleurs ind9pendantSJRijksinstituut voor sociale verzekering der zeifstandigen), Brüssei; für Seeleute an die Hilfs- und Versorgungskasse für Seeleute f::aisse de secours et de prevoyance des marins.tiulp- en Voorzorgskas voor Zeevarenden), Antwerpen; in den Niederlanden an die Sozialversicherungsanstalt {Sodale Verzekeringsbank), Amstelveen: in Finnland an die Zentralanstalt für die Rentenversicherung (Eiäketurvakeskus). Helsinki; in Schweden an die Reichsversicherungsanstalt (Riksförsäkringsverket), Stockholm; in lsland an die Landessozialversicherungsanstalt {rryggingastofnun rikisins), Reykjavik. Hinweise für den Versicherten Bevor Sie sich zur Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat als den, in dem Sie versichert sind, begeben, lassen Sie sich von dem Träger der Kranken-IMunerschaflsversicherung je nach Fall einen Vordruck. E 111 oder E 106 ausstellen. Benötigen Sie oder benötigt ein Familienangehöriger Sachleistungen (z.B. ärztliche Behandlung, Arzneimittel, Krankenhausbehandiung) in dem land. in dem Sie arbeiten, müssen Sie ihn so schnell wie möglich dem zuständigen Träger der Kranken-/Munerschaftsversicherung an dem Ort Ihrer künftigen Beschäft.. gunglsetbständigen Tätigkeit vorlegen. Sind Sie im Besitz des Vordrucl