Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst [3. neu bearbeitete Auflage] 9783504386771

Das Handbuch stellt nach bewährtem Konzept auf der Grundlage des allgemeinen Arbeitsrechts die Besonderheiten des insbes

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Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst [3. neu bearbeitete Auflage]
 9783504386771

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Groeger

Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst

herausgegeben von

Axel Groeger

3., neu bearbeitete Auflage

2020

Bearbeiter der 3. Auflage Christian Betz-Rehm Fachanwalt für Arbeitsrecht, München Dr. Martin Brock Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln Dr. Detlef Grimm Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln Axel Groeger Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bonn Dr. Peter Hauck-Scholz Fachanwalt für Arbeitsrecht, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Marburg Prof. Dr. Heinz-Jürgen Kalb Vizepräsident des LAG a. D., Köln Honorarprofessor an der Universität Bonn Dr. Jörg Laber Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln Dr. Eberhard Natter Präsident des LAG Baden-Württemberg Dr. Nathalie Oberthür Fachanwältin für Arbeitsrecht, Fachanwältin für Sozialrecht, Köln Dr. Ronald Pahlen Vorsitzender Richter am LAG a. D., Berlin Vorsitzender der Einigungsstelle des Landes Berlin für Personalvertretungssachen

Gerhard Pfeiffer Vorsitzender Richter am LAG Baden-Württemberg Prof. Dr. Reinhard Richardi Präsident des Kirchlichen Arbeitsgerichtshofs der Deutschen Bischofskonferenz a. D., em. Universitätsprofessor, Regensburg Dr. Stefan Sasse Fachanwalt für Arbeitsrecht, Magdeburg Dr. Wienhold Schulte Fachanwalt für Arbeitsrecht, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Münster Karin Spelge Vorsitzende Richterin am BAG, Erfurt Dr. Marc Steffek Fachanwalt für Arbeitsrecht, Berlin Marion Strolka Fachanwältin für Arbeitsrecht, Lörrach Dr. Christian von Tiling Fachanwalt für Arbeitsrecht, Hamburg Dr. Jörg Vogel Fachanwalt für Arbeitsrecht, Freiburg Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Weber Universitätsprofessor, Würzburg Sebastian Witt Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bonn

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-42064-2 ©2020 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Mit der 3. Auflage des Handbuchs zum Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst wollen Verlag und Autoren den Nutzern möglichst praxistauglich anhand des typischen Verlaufs eines Arbeitsverhältnisses von dessen Begründung bis zur Beendigung die Besonderheiten dieses vornehmlich durch Tarifverträge geprägten branchenspezifischen Arbeitsrechts erläutern. Die hohe praktische Bedeutung zeigt sich schon daran, dass nach Angaben des Statistischen Bundesamts die Anzahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst seit einigen Jahren wieder steigt, nachdem Jahrzehnte zuvor Personaleinsparungen haushaltsrechtlich vorgegeben waren. Auch der Umstand, dass inzwischen auch Übernahmen von Betrieben in die öffentliche Verwaltung geplant werden, zeigt die wachsende Attraktivität des öffentlichen Dienstes. Die 3. Auflage berücksichtigt selbstverständlich die Entwicklungen in den vergangenen Jahren. Aus der Gesetzgebung sind insbesondere zu nennen das neue Datenschutzrecht (DSGVO und BDSG 2018), die Novelle zum WissZeitVG sowie das Geschäftsgeheimnisschutzgesetz und das Betriebsrentenstärkungsgesetz. Aus der Rechtsprechung des BAG die Entwicklungen im Befristungsrecht, insb. zum institutionellen Rechtsmissbrauch und zur sachgrundlosen Befristung; insbesondere aber auch die Rechtsprechung zum Urlaubsrecht (Voraussetzung für den Verfall von Urlaubsansprüchen, Abgeltung von Urlaubsansprüchen bei Tod des Anspruchsberechtigten, Urlaubsansprüche und Elternzeit und Ermittlung des Urlaubsanspruchs bei unterjähriger Veränderung der wöchentlichen Arbeitszeit). Die Änderungen im Eingruppierungsrecht, insb. Inkrafttreten der Entgeltordnung zum TVöD Bund und des Tarifvertrags EntgO Bund sowie der Entgeltordnung TVöD VKA wurden ebenso eingearbeitet wie die Rechtsprechung des EuGH sowie des BAG zum kirchlichen Arbeitsrecht. Auch bei dieser Auflage hat es Veränderungen im Autorenkreis gegeben. Das Kapitel zum Eingruppierungsrecht (§ 23), bislang von Frau VorsRiin BAG Prof. Dr. Anja Schlewing verantwortet, der ich hiermit herzlich danke, wurde dankenswerterweise übernommen von Herrn PräsLAG Baden-Württemberg Dr. Eberhard Natter und Herrn VorsRi LAG Gerhard Pfeiffer. Des Weiteren hat RA Sebastian Witt von Herrn RA Dr. Jörg Vogel das Kapitel Krankenhäuser (§ 37) übernommen. Verlagsseitig wurde diese Neuauflage betreut von Frau Sonja Behrens-Khaled und Frau Friederike Voss, denen ich hiermit für ihr nachhaltiges Engagement und ihre tatkräftige Unterstützung ebenfalls sehr herzlich danke. Nichts ist so gut, dass es nicht noch besser werden könnte, daher sind alle Autoren einschließlich des Herausgebers für Kritik und Anregungen dankbar. Anregungen und Hinweise nimmt der Verlag gerne unter [email protected] entgegen. Bonn im November 2019

Axel Groeger

VII

Aus dem Vorwort zur 1. Auflage (2010) (…) Das Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst gilt gemeinhin als schwer zugänglich. Das liegt zum einen an den Besonderheiten, durch die es sich vom allgemeinen Arbeitsrecht unterscheidet. Ferner hat das Tarifrecht für den öffentlichen Dienst, das über viele Jahre durch zahlreiche Tarifverträge umfangreich und unübersichtlich geworden war, den Zugang erschwert. Schließlich haben viele Privatisierungen und Umstrukturierungen innerhalb des öffentlichen Dienstes in den vergangenen Dekaden dazu geführt, dass die Grenze zwischen öffentlichem Dienst und privaten Arbeitgebern kaum und vor allem nicht allgemeingültig zu bestimmen ist. Die Praxis muss sich nicht nur mit dieser „Gemengelage“ abfinden, sondern hat sich darin zurechtzufinden. (…) Ziel des vorliegenden Buches ist es, allen, die mit arbeitsrechtlichen Fragestellungen im Bereich des öffentlichen Dienstes und der öffentlich-rechtlich organisierten Religionsgemeinschaften zu tun haben, Hilfestellung zu leisten, um Probleme zu erkennen und Lösungen zu finden. Dabei gilt es, zwei Ziele vor Augen zu haben: das Buch ist kein Kompaktkommentar für die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes, denn einerseits geht es inhaltlich darüber hinaus und andererseits sind für Detailfragen die großen Kommentare unverzichtbar. Allgemeine arbeitsrechtliche Fragen werden nur so weit dargestellt, wie es unerlässlich ist, um die Besonderheiten des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst verständlich zu machen und deutlich hervortreten zu lassen. Um diese Ziele zu erreichen und den Bedürfnissen der Praxis nach einem schnellen Zugriff Rechnung zu tragen, mussten die Ausführungen insgesamt auf das Wesentliche beschränkt werden. Dennoch wurde auf wissenschaftliche Gründlichkeit Wert gelegt und wurden zum Teil auch neue Ansätze herausgearbeitet. (…) Bonn, im Juni 2010

VIII

Axel Groeger

Inhaltsverzeichnis Ausführliche Inhaltsübersichten zu Beginn der einzelnen Kapitel. Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXI Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXI

§1 Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst (Weber/Groeger) . . . . . .

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3 5 13 14 46 73

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84 85 89 122 138

I. Verpflichtungen des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verpflichtungen des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158 177

I. II. III. IV. V. VI.

Definition des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . Arbeitgeber im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfassungsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . Haushaltsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . .

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§2 Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses (Hauck-Scholz/Pahlen) I. II. III. IV. V.

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenausschreibungen . . . . . . . . . . . . Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG Beteiligung des Personalrats . . . . . . . . . Rechtsschutz (Konkurrentenklage) . . . .

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§3 Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis (Grimm)

IX

Inhaltsverzeichnis

§4 Möglichkeiten der Vertragsgestaltung (Grimm)

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214 218 224 241

Tarifliche Gestaltungsmöglichkeiten und -vorgaben . Instrumente leistungsorientierten Entgelts . . . . . . . Methoden der Leistungsfeststellung und -bewertung Verteilung und Auszahlung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Besonderheiten im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

278 289

I. II. III. IV.

Gesetzliche und normative Vorgaben Rechts- und Inhaltskontrolle . . . . . Gestaltung von Standardklauseln . . Besondere Gestaltungen . . . . . . . .

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§5 Leistungsentgelt (Brock) I. II. III. IV.

§6 Direktionsrecht (Laber)

§7 Betriebliche Übung (Laber) I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Besonderheiten im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

312 317

§8 Entgeltfortzahlung (Grimm) I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bemessungsgrundlage für die Entgeltfortzahlung, § 21 TVöD . . . . . . . . . . . . . III. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, § 22 TVöD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

X

327 328 331

Inhaltsverzeichnis

§9 Arbeitnehmerhaftung (Grimm)

Seite

I. Begriff und Haftungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Haftung nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 10 Dienstliche Beurteilung (Grimm) . . . . . . .

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Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsgrundlage/Tarifliche Regelung (§ 3 Abs. 5 TVöD) . . . . . . . . Inhalt der Personalakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personalakten und Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einsichtsrecht in die Personalakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausübung des Einsichtsrechts durch einen Bevollmächtigten . . . . . Recht des Beschäftigten auf Auszüge und Kopien . . . . . . . . . . . . . Abmahnung und Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entfernung von Vorgängen aus der Personalakte . . . . . . . . . . . . . Datenschutzrechtlicher Anspruch auf Berichtigung der Personalakte Aufbewahrungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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353 355 356 358 359 363 363 365 366 370 372

I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einzelheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

375 378

I. II. III. IV. V. VI. VII.

Begriff und Zweck . . . . Rechtliche Einordnung Rechtsschutz . . . . . . . Beurteilungsarten . . . . Beurteilungsverfahren . Beurteilungsinhalt . . . . Besondere Regelungen .

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§ 11 Personalakte (Grimm) I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI.

§ 12 Beförderung (Laber)

XI

Inhaltsverzeichnis

§ 13 Arbeitnehmerschutz (Laber) I. II. III. IV. V. VI. VII.

Seite

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388 390 392 398 398 399 400

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dauer der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit Verteilung der Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ruhepausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flexible Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitszeitkonto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffnungsklausel, § 6 Abs. 4 TVöD . . . . . . . . . . . . . . . Sonderformen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teilzeitbeschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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403 406 410 412 414 418 423 428 448

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454 467 470 471 473 473

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchführung und Überwachung . . . . Pflichten des Arbeitgebers . . . . . . . . . Rechte und Pflichten des Arbeitnehmers Nichtraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . Sexuelle Belästigung und Mobbing . . . . Tarifvertragliche Besonderheiten . . . . .

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§ 14 Arbeitszeitrecht (Brock) I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.

§ 15 Urlaub (Grimm) I. II. III. IV. V. VI.

XII

Erholungsurlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsbefreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzurlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonderurlaub ohne Fortzahlung des Entgelts Kürzung des Urlaubs in der Elternzeit . . . . Sonstige Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 16 Beendigungsvereinbarungen (Schulte)

Seite

I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Aufklärungs- und Hinweispflichten beim Abschluss von Beendigungsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aufhebungsverträge mit öffentlichen Arbeitgebern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

477 478 486

§ 17 Kündigungen (Schulte) . . . .

498 498 524 526

I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erreichen der Altersgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Beendigung aufgrund Rentenleistungen, § 33 Abs. 2 TVöD/TV-L . . . . . . . . . .

529 529 533

I. II. III. IV.

Vorbemerkung . . . . . . . . . . Ordentliche Kündigung . . . . Außerordentliche Kündigung Änderungskündigung . . . . .

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§ 18 Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Kündigung (Schulte)

§ 19 Beteiligung des Personalrates (Pahlen) . . . .

535 541 546 577

I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Übersichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

587 598 625

I. II. III. IV.

Gegenstand der Beteiligung . . . . Art der Beteiligung . . . . . . . . . . Ausübung des Beteiligungsrechtes Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . .

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§ 20 Teilzeit (Laber)

XIII

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§ 21 Altersteilzeit (Laber)

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I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Altersteilzeit im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

630 636

§ 22 Befristetes Arbeitsverhältnis (Groeger) I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Befristung durch tarifvertragliche Altersgrenzen . . . . . . . . . . . . . . Die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . Die Vertretung als sachlicher Grund nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG Besondere tarifvertragliche Regelungen, § 30 TVöD/TV-L . . . . . . . . . . Besondere tarifvertragliche Regelungen, §§ 31, 32 TVöD/TV-L . . . . . . . Befristung nach dem WissZeitVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befristung nach dem ÄArbVtrG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besondere tarifvertragliche Regelungen, § 30 TV-Ärzte/§ 41 TV-L . . . . . Personalvertretungsrechtliche Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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673 673 680 706 713 718 723 729 731 731

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740

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741 749 772 782 785 796

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820 826 839

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§ 23 Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung (Natter/Pfeiffer) I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ein Überblick über die „alte“ und „neue“ Rechtslage bis zum Inkrafttreten der Entgeltordnungen zum TVöD und TV-L . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Grundsätze der Eingruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Höhergruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Herabgruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die wichtigsten Tätigkeitsmerkmale und Begriffe der Entgeltordnungen . . . VII. Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen . . . . . . . . . . . VIII. Die Beteiligung des Personalrats bei der Ein- und Umgruppierung und der korrigierenden Rückgruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Die Eingruppierung der Lehrerinnen und Lehrer im öffentlichen Dienst . . X. Die Eingruppierungsfeststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIV

Inhaltsverzeichnis

§ 24 Stufenzuordnung (Spelge)

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I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Stufenzuordnung anlässlich der Überleitung in das neue Tarifrecht – Altersdiskriminierung im BAT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Stufenzuordnung bei der Einstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Stufenzuordnung nach Höhergruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Stufenzuordnung nach Rückgruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verkürzung, Verlängerung und Hemmung der Stufenlaufzeit nach § 17 TVöD/TV-L . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Prozessuale Probleme bei Rechtsstreitigkeiten über die zutreffende Stufenzuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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858

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859 861 895 917

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919 920

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924

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931 935 965 970 982

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§ 25 Überleitungstarifverträge (Groeger)

§ 26 Grundlagen des Personalvertretungsrechts (Sasse) I. II. III. IV. V.

Verfassungsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . Beteiligte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit Art der Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katalog der Beteiligungsrechte . . . . . . . . . . . . .

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§ 27 Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten der Beschäftigung im öffentlichen Dienst (Oberthür) I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Besonderheiten in der Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung (Gesetzliche Rentenversicherung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Besonderheiten in der Versorgung bei Krankheit und Arbeitsunfähigkeit (Gesetzliche Krankenversicherung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Besonderheiten in der Versorgung bei Arbeitslosigkeit (Gesetzliche Arbeitslosenversicherung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XV

Inhaltsverzeichnis

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V. Besonderheiten in der Versorgung bei Pflegebedürftigkeit (Gesetzliche Pflegeversicherung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Besonderheiten der Unfallfürsorge (Gesetzliche Unfallversicherung) . . . . . . .

1052 1057

§ 28 Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst (Betz-Rehm) I. Stellung der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes im System der betrieblichen Altersversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Versorgungsträger und historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Überblick über die Rechtsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Beteiligungsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Pflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Die freiwillige Versicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Rechtsweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1065 1066 1076 1088 1093 1126 1195 1204

I. Strukturelle Änderungen der Arbeitsorganisation im öffentlichen Dienst . . . . II. Arbeitsrechtliche Fragen der Privatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1210 1242

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§ 29 Restrukturierung und Privatisierung (Steffek)

§ 30 Betriebsübergang (Steffek) I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kein Betriebsübergang bei behördeninterner Verlagerung hoheitlicher Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Voraussetzungen eines Betriebsübergangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kündigungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers und Rechtsfolgen . . . . . . . . . VI. Fortgeltung von Tarifverträgen gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB

XVI

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1251

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1252 1252

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1260 1260 1264

Inhaltsverzeichnis

§ 31 Hintergrund, Rechtsgrundlagen und Systematik berufsgruppenspezifischer Regelungen im öffentlichen Dienst (Vogel) I. Die Situation vor Inkrafttreten des TVöD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Berufsgruppenspezifische Regelungen der neuen Tarifverträge im öffentlichen Dienst (TVöD, TV-L) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Seite

1267 1269

§ 32 Verwaltung (Vogel) I. Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes – Besonderer Teil Verwaltung (TVöD-BT-V) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Sonderregelungen für die Beschäftigten der Länder (TV-L) . . . . . . . . . . . . . .

1273 1280

§ 33 Entsorgungsbetriebe (Vogel) I. Regelungen für Beschäftigte von Entsorgungsbetrieben (TVöD-BT-E) . . . . . . . II. Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1283 1283

§ 34 Flughäfen (Vogel) I. Regelungen für Beschäftigte der Verkehrsflughäfen (TVöD-BT-F) . . . . . . . . . . II. Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1287 1287

§ 35 Sparkassen (Vogel/Strolka) I. Rechtsgrundlagen/Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bankgeheimnis/Schweigepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1289 1290 1303

XVII

Inhaltsverzeichnis

§ 36 Hochschulen (Vogel)

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I. Grundgesetzliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anwendbarkeit arbeitsrechtlicher Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Tarifvertragliche Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1305 1306 1309

§ 37 Krankenhäuser (Vogel/Witt) I. Grundlagen und Besonderheiten von Arbeitsverhältnissen in Krankenhäusern . II. Berufs- und verfassungsrechtliche Aspekte der ärztlichen Tätigkeit im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Arbeitsrecht der nachgeordneten Krankenhausärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Arbeitsrechtliche Besonderheiten bei Chefärzten (leitenden Krankenhausärzten) V. Arbeitsrechtliche Besonderheiten nichtärztlicher Berufsgruppen im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Personalgestellung und Personaldienstleistungsverträge mit Krankenhäusern . .

1317 1321 1323 1346 1365 1367

§ 38 Bühnenarbeitsverhältnisse (Kalb) I. Arbeitsverträge mit künstlerischem Personal und Musikern auf der Grundlage des Normalvertrags Bühne und des Tarifvertrags für die Musiker in Kulturorchestern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Sonstige Arbeitsverhältnisse im Bühnenbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Bühnenschiedsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1369 1382 1383

§ 39 Arbeitskampf (von Tiling) I. II. III. IV. V. VI.

XVIII

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unzulässigkeit des Beamtenstreiks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Streikrecht der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst . . . . . Die Kampfmittel der Arbeitgeberseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beteiligungsrechte des Personalrats während des Arbeitskampfes Rechtsfolgen und Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1392 1392 1395 1407 1410 1411

Inhaltsverzeichnis

§ 40 Besonderheiten des kirchlichen Dienstes (Richardi)

Seite

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1416 1420 1425 1434 1444 1453 1463 1475 1480

I. Abgrenzung Arbeits-/Verwaltungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Urteils-/Beschlussverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1489 1494

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1495

I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.

Grundlagen des Verhältnisses von Staat und Kirche . . . . . . . . . Organisationsstruktur der Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gestaltungsformen des kirchlichen Dienstes . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten des kirchlichen Dienstes im Arbeitsvertragsrecht . Kirchliche Arbeitsvertragsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitarbeitervertretungsrecht der evangelischen Kirche . . . . . . . . Mitarbeitervertretungsrecht der katholischen Kirche . . . . . . . . . Strukturveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerichtsschutz bei Rechtsstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 41 Verfahrensrecht (Hauck-Scholz)

XIX

Abkürzungsverzeichnis aA ÄArbVtrG ABl. abl. ABM Abs. AE aE AEntG AEUV aF AFG AG AGB AGG AiB AKA AKA-MS AktG Alg II aM Anh. Anm. AnwBl. AO AP ArbG ArbGG AR-Blattei ArbPlSchG ArbRB ArbRGegw. ArbSchG ArbStättVO ArbuR ArbZG ARGG-Diakonie-EkD ARRG Art. ArztR ASiG AsylbLG ATV ATV-K

anderer Ansicht Gesetz über befristete Arbeitsverträge mit Ärzten in der Weiterbildung Amtsblatt ablehnend Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Absatz Arbeitsrechtliche Entscheidungen am Ende Arbeitnehmer-Entsendegesetz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Arbeitsförderungsgesetz Aktiengesellschaft; Amtsgericht Allgemeine Geschäftsbedingungen Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Arbeitsrecht im Betrieb (Zeitschrift) Arbeitsgemeinschaft kommunale und kirchliche Altersversorgung e.V. Mustersatzung der AKA Aktiengesetz Arbeitslosengeld II anderer Meinung Anhang Anmerkung Anwaltsblatt Abgabenordnung; Anordnung Arbeitsrechtliche Praxis Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Arbeitsrechtsblattei Arbeitsplatzschutzgesetz Der Arbeitsrechtsberater (Zeitschrift) Arbeitsrecht der Gegenwart Arbeitsschutzgesetz Verordnung über Arbeitsstätten Arbeit und Recht (Zeitschrift) Arbeitszeitgesetz Arbeitsrechtsregelungsgrundsätzegesetz der EkD Arbeitsrechtsregelungsgesetz Artikel Arztrecht (Zeitschrift) Arbeitssicherheitsgesetz Asylbewerberleistungsgesetz Tarifvertrag Altersversorgung Altersvorsorge-Tarifvertrag-Kommunal XXI

Abkürzungsverzeichnis

ATZG AuA AufenthG Aufl. AÜG AuR AVR AZO BA BaFin BAG BAGE BAnz. BArbBl. BAT/BAT-O BayObLG BB BBesG BBG BBiG Bd. Bdb. BDSG BeamtStG BeamtVG BEEG bej. BEM BeschFG BesG betr. BetrAV BetrAVG BetrR BetrVG BfA BFDG BfdH BFH BGB BGBl. BGH BGHZ BGleiG BHO BIMA XXII

Altersteilzeitgesetz Arbeit und Arbeitsrecht (Zeitschrift) Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet Auflage Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Arbeit und Recht (Zeitschrift) Arbeitsvertragsrichtlinien (Caritas, Diakonie) Arbeitszeitordnung Bundesagentur für Arbeit Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bundesarbeitsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bundesanzeiger Bundesarbeitsblatt Bundes-Angestelltentarifvertrag Bayerisches Oberstes Landesgericht Der Betriebs-Berater (Zeitschrift) Bundesbesoldungsgesetz Bundesbeamtengesetz/Beitragsbemessungsgrenze Berufsbildungsgesetz Band Brandenburg Bundesdatenschutzgesetz Beamtenstatusgesetz Beamtenversorgungsgesetz Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz bejahend betriebliches Eingliederungsmanagement Gesetz zur Förderung der Beschäftigung Besoldungsgesetz betreffend Betriebliche Altersversorgung (Zeitschrift) Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung Der Betriebsrat (Zeitschrift) Betriebsverfassungsgesetz Bundesversicherungsanstalt für Angestellte Bundesfreiwilligendienstgesetz Beauftragter für den Haushalt Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundesgleichstellungsgesetz Bundeshaushaltsordnung Bundesanstalt für Immobilienaufgaben

Abkürzungsverzeichnis

BKGG Bln.-Bbg. BlStSozArbR BLV BMF BMI BMT-G BNotO BOschG BPersVG BRAGO BR-Drucks. BRG BRRG BRTV-Bau BSchG BSchGO

BWVPr bzgl. bzw.

Bundeskindergeldgesetz Berlin-Brandenburg Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht Bundeslaufbahnverordnung Bundesministerium der Finanzen Bundesministerium des Inneren Bundesmanteltarifvertrag für Gemeindearbeiter Bundesnotarordnung Bühnenoberschiedsgericht Bundespersonalvertretungsgesetz Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte Bundesrats-Drucksache Betriebsrätegesetz Beamtenrechtsrahmengesetz Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe Bezirksschiedsgericht/Beschäftigtenschutzgesetz Bühnenschiedsgerichtsordnung – Tarifvertrag über die Bühnenschiedsgerichtsbarkeit Bundessozialgericht Bundessozialhilfegesetz beispielsweise Bundestag; Besonderer Teil Bundestags-Drucksache Buchstabe Bundesurlaubsgesetz Betrieb und Wirtschaft (Zeitschrift) Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverfassungsschutzgesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundesversorgungsgesetz Baden-Württemberg Die Gemeinde, Verbandszeitschrift des Gemeindetags Baden-Württemberg Baden-Württembergische Verwaltungspraxis (Zeitschrift) bezüglich beziehungsweise

can. cc. CCZ CIC

canon canones Corporate Compliance Zeitschrift Codex Iuris Canonici

DA DAngVers DB DGB

Durchführungsanweisung Die Angestelltenversicherung (Zeitschrift) Der Betrieb (Zeitschrift) Deutscher Gewerkschaftsbund

BSG BSHG bspw. BT BT-Drucks. Buchst. BUrlG BuW BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerfSchG BVerwG BVerwGE BVG BW BWGZ

XXIII

Abkürzungsverzeichnis

d.Gr. dh. Diss. DÖD DÖV DRiZ DRK Drucks. DVO

der Entscheidungsgründe das heißt Dissertation Der Öffentliche Dienst (Zeitschrift) Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsche Richterzeitung Deutsches Rotes Kreuz Drucksache Durchführungsverordnung

EBRG EFZG EGBGB EGV EhfG Einf. Einl. EKD EPÜ Erg.-Bd. ESC EStG etc. EU EuGH EuGRZ EuZW EV EWR EzA EzAÜG

Gesetz über Europäische Betriebsräte Entgeltfortzahlungsgesetz Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Entwicklungshelfergesetz Einführung Einleitung Evangelische Kirche in Deutschland Europäisches Patentübereinkommen Ergänzungsband Europäische Sozialcharta Einkommensteuergesetz et cetera Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Einigungsvertrag Europäischer Wirtschaftsraum Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht Entscheidungssammlung zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz

f., ff. FA FEVS Fn. FreizügG/EU FS

folgende(r); fortfolgende Fachanwalt Arbeitsrecht (Zeitschrift) Fürsorgerechtliche Entscheidungen der Verwaltungs- und Sozialgerichte Fußnote Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern Festschrift

GBl. GefStoffV gem. GemSOGB GenG GewArch GewO GG ggf.

Gesetzblatt Gefahrstoffverordnung gemäß Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Genossenschaftsgesetz Gewerbearchiv (Zeitschrift) Gewerbeordnung Grundgesetz gegebenenfalls

XXIV

Abkürzungsverzeichnis

GKG GmbH GmbHG GrOkathK GRCh GS GVBl. GVG GWR

Gerichtskostengesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH-Gesetz Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse Charta der Grundrechte der Europäischen Union Großer Senat Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht (Zeitschrift)

HAG Halbs. HATG HeimG HG HGB HGlG HGrG hM HRG HRGÄndG HwB-AR HwO HzA

Heimarbeitsgesetz Halbsatz Hausarbeitstagsgesetz (Ländergesetze) Heimgesetz Haushaltsgesetz Handelsgesetzbuch Hessisches Gleichberechtigungsgesetz Haushaltsgrundsätzegesetz herrschende Meinung Hochschulrahmengesetz Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes Handwörterbuch zum Arbeitsrecht Handwerksordnung Handbuch zum Arbeitsrecht

idR iE IfSG iHv ILO IM InsO IRWAZ iS iSd. iSv. iVm.

in der Regel im Einzelnen Infektionsschutzgesetz in Höhe von International Labour Organisation informeller Mitarbeiter Insolvenzordnung Individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit im Sinne im Sinne des/der im Sinne von in Verbindung mit

JArbSchG JAV JFDG jM JZ

Jugendarbeitsschutzgesetz Jugend- und Auszubildendenvertretung Jugendfreiwilligendienstegesetz Die Monatszeitschrift (juris) Juristenzeitung

KAGO Kap. KAPOVAZ KG

Kirchliche Arbeitsgerichtsordnung Kapitel Kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit Kammergericht; Kommanditgesellschaft XXV

Abkürzungsverzeichnis

KgaG KHEntgG KHG KirchE KO KODA KomBG KostO krit. KrW-/AbfG KSchG KSzW KWG

Kindergartengesetz Gesetz über die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen Krankenhausfinanzierungsgesetz Entscheidungen in Kirchensachen Konkursordnung Kommission zur Ordnung des diözesanen Arbeitsvertragsrechts Kommunalbeamtengesetz Kostenordnung kritisch Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz Kündigungsschutzgesetz Kölner Schrift zum Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) Kreditwesengesetz

LAG LAGE LFZG LG LGG LHO lit. LohnFG LPVG Ls. LSG LStR

Landesarbeitsgericht Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte Lohnfortzahlungsgesetz Landgericht Landesgleichstellungsgesetz Landeshaushaltsordnung Buchstabe Lohnfortzahlungsgesetz Landespersonalvertretungsgesetz Leitsatz Landessozialgericht Lohnsteuerrichtlinien

MAVO MBG MDR mE MfS MiArbG MitbestG MTArb/MTArb-O MTV MuSchG MV MVG mwN

Mitarbeitervertretungsordnung Mitbestimmungsgesetz Monatsschrift für Deutsches Recht (Zeitschrift) meines Erachtens Ministerium für Staatssicherheit Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer Manteltarifvertrag für Arbeiterinnen und Arbeiter des Bundes und der Länder Manteltarifvertrag Mutterschutzgesetz Mecklenburg-Vorpommern Mitarbeitervertretungsgesetz mit weiteren Nachweisen

NachwG Nds. nF NJ NJW NJW-RR

Nachweisgesetz Niedersachen, niedersächsisch neue Fassung Neue Justiz (Zeitschrift) Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) NJW-Rechtsprechungsreport (Zeitschrift)

XXVI

Abkürzungsverzeichnis

Nr. n.rkr. NRW nv. NV-Bühne NVwZ NZA NZA-RR NZS

Nummer nicht rechtskräftig Nordrhein-Westfalen nicht veröffentlicht Normalvertrag Bühne Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZA-Rechtsprechungsreport (Zeitschrift) Neue Zeitschrift für Sozialrecht

öAT OHG OLG OVG OWiG

Zeitschrift für das öffentliche Arbeits- und Tarifrecht Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten

ParlKSch PatG PEMG PersR PersV PersVG PflegeZG PflVG PMP PR PSVaG

Kündigungsschutz für Parlamentarier Patentgesetz Gesetz über das Personaleinsatzmanagement Der Personalrat (Zeitschrift) Die Personalvertretung (Zeitschrift) Personalvertretungsgesetz Pflegezeitgesetz Pflichtversicherungsgesetz Personalmengenplanung Personalrat Pensions-Sicherungs-Verein auf Gegenseitigkeit

RatSchTVAng RatSchTVArb

Tarifvertrag über den Rationalisierungsschutz für Angestellte Tarifvertrag über den Rationalisierungsschutz für Arbeiter des Bundes und der Länder Recht der Arbeit (Zeitschrift) Runderlass Rundschreiben Reichsgericht Reichsgesetzblatt Reichsgerichtsräte-Kommentar Rheinland-Pfalz Recht im Amt Recht der internationalen Wirtschaft (Zeitschrift) rechtskräftig Richtlinie Der Deutsche Rechtspfleger (Zeitschrift) Rechtspflegergesetz Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes Rechtsprechung Die Rentenversicherung (Zeitschrift) Reichsversicherungsordnung

RdA RdErl. Rdschr. RG RGBl. RGRK Rh.-Pf. RiA RIW rkr. RL Rpfleger RpflG RSpEinhG Rspr. rv RVO

XXVII

Abkürzungsverzeichnis

Rz. RzK

Randziffer Rechtsprechung zum Kündigungsrecht

S./s. s.a. Sa.-Anh. Sächs. SAE Schl.-Holst. SchlHA SchwarzArbG

Seite; siehe siehe auch Sachsen-Anhalt Sächsisches Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen (Zeitschrift) Schleswig-Holstein Schleswig-Holsteinische Anzeigen Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung Sozialgericht Sozialgesetzbuch Die Sozialgerichtsbarkeit (Zeitschrift) Sozialgerichtsgesetz Schleswig-Holstein Signaturgesetz Signaturverordnung siehe oben so genannte/r Gesetz über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren Die Sozialversicherung (Zeitschrift) Sprecherausschussgesetz (BAT) Sonderregelung (Bundesangestelltentarifvertrag)/ Soziales Recht (Zeitschrift) Strafgesetzbuch Strafprozessordnung ständige Rechtsprechung stellvertretend siehe unten Sozialversicherungsentgeltverordnung

SG SGB SGb SGG SH SigG SigV s.o. sog. SozPlG; SozplKonkG SozVers SprAuG SR StGB StPO st.Rspr. stv. s.u. SvEV TdL TOA TSG TV TV EntgO-L TVG TVK TV-L TVöD TVsA TVÜ TzBfG

Tarifgemeinschaft deutscher Länder Tarifordnung für Angestellte Transsexuellengesetz ATZ Tarifvertrag zur Regelung der Altersteilzeit Tarifvertrag über die Eingruppierung und die Entgeltordnung für Lehrkräfte der Länder Tarifvertragsgesetz Tarifvertrag für die Musiker in Kulturorchestern Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder Tarifvertrag öffentlicher Dienst Tarifvertrag zur sozialen Absicherung Tarifvertrag zur Überleitung Teilzeit- und Befristungsgesetz

u.a. uam.

und andere; unter anderem und andere mehr

XXVIII

Abkürzungsverzeichnis

UKlaG UmwG Urt. uU UVEG UVV UWG

Unterlassungsklagengesetz Umwandlungsgesetz Urteil unter Umständen Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz Unfallverhütungsvorschriften Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb

VAG VBG VBL VBLS VereinsG VergGr. VerglO VermBG VerPflG VersR vgl. VKA VO VOBl. VVaG VVBHO VVG VVRVG VwGO VwVfG

Versicherungsaufsichtsgesetz Unfallverhütungsvorschriften der Verwaltungsberufsgenossenschaften Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder Satzung der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder Vereinsgesetz Vergütungsgruppe Vergleichsordnung Gesetz zur Förderung der Vermögensbildung der Arbeitnehmer Verpflichtungsgesetz Versicherungsrecht (Zeitschrift) vergleiche Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände Verordnung Verordnungsblatt Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit Allgemeine Verwaltungsvorschriften zur Bundeshaushaltsordnung Gesetz über den Versicherungsvertrag RVG-Vergütungsverzeichnis Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz

WahlO; WO wg. WissR WissZeitVG WM wN WRV

Wahlordnung wegen Wissenschaftsrecht (Zeitschrift) Gesetz über befristete Arbeitsverträge in der Wissenschaft Wertpapier-Mitteilungen (Zeitschrift) weitere Nachweise Weimarer Reichsverfassung

ZAT zB ZBR ZDG ZESAR ZevKR ZfA ZfPR ZfS

Zeitschrift für Arbeitsrecht und Tarifpolitik in Kirche und Caritas zum Beispiel Zeitschrift für Beamtenrecht Zivildienstgesetz Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Personalvertretungsrecht Zentralblatt für Sozialversicherung, Sozialhilfe und Versorgung (Zeitschrift) Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht

ZGR

XXIX

Abkürzungsverzeichnis

ZHR ZIP ZMV ZPO ZRP zT ZTR zust. ZZP

XXX

Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Die Mitarbeitervertretung (Zeitschrift) Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik zum Teil Zeitschrift für Tarifrecht zustimmend Zeitschrift für Zivilprozess

Allgemeines Literaturverzeichnis Literaturhinweise zu Einzelproblemen finden sich jeweils am Anfang der einzelnen Kapitel.

Altvater/Baden/Baunack/Berg/Dierßen/Herget/Kröll/Lenders/Noll, Bundespersonalvertretungsgesetz, 10. Aufl. 2019 (zit. Altvater, BPersVG) Ambs/Feckler u.a., Gemeinschaftskommentar zum Arbeitsförderungsrecht, Loseblatt (zit. Bearbeiter in GK-SGB III) Annuß/Thüsing, Teilzeit- und Befristungsgesetz, 3. Aufl. 2012 APS siehe Ascheid/Preis/Schmidt Arnold/Gräfl/Imping, Teilzeit- und Befristungsgesetz, 4. Aufl. 2016 Ascheid, Urteils- und Beschlussverfahren im Arbeitsrecht, 2. Aufl. 1998 Ascheid/Bader/Dörner/Leinemann/Mikosch/Schütz/Vossen/Wenzel, Gemeinschaftskommentar zum Arbeitsgerichtsgesetz, Loseblatt (zit. GK-ArbGG/Bearbeiter) Ascheid/Preis/Schmidt, Großkommentar zum Kündigungsrecht, 5. Aufl. 2017 (zit. APS/Bearbeiter) Bader/Creutzfeldt/Friedrich, Arbeitsgerichtsgesetz, 5. Aufl. 2008 Bader/Fischermeier/Gallner u.a., KR – Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften, 12. Aufl. 2019 (zit. KR/Bearbeiter) Bauer/Krieger/Arnold, Arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge, 9. Aufl. 2014 Bauer/Lingemann/Diller/Haußmann, Anwalts-Formularbuch Arbeitsrecht, 6. Aufl. 2017 Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 77. Aufl. 2019 BeckOK TVöD siehe Bepler/Böhle/Pieper/Geyer Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, TVöD, Kommentar zum Tarifrecht der Beschäftigten im öffentlichen Dienst im Bereich des Bundes und der VKA, Loseblatt Bepler/Böhle/Meerkamp/Stöhr, TV-L, Tarifverträge der Länder, Kommentar, Loseblatt BK siehe Dolzer/Vogel/Graßhoff Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 3 Bände, 2016 (zit. NK-GA/Bearbeiter) Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr, BAT, Bundesangestelltentarifvertrag, Kommentar, Loseblatt Brand (Hrsg.), SGB III, Kommentar, 8. Aufl. 2018 Bredemeier/Neffke, TVöD/TV-L, 5. Aufl. 2017 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD – Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, Kommentar zum Tarif- und Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst, Loseblatt Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L, Tarif- und Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst der Länder, Kommentar, Loseblatt Bremecker/Hock, Haufe TVÖD-Lexikon Verwaltung, Loseblatt Burger, TVöD – TV-L, 4. Aufl. 2019 Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, BAT, Kommentar zum Bundesangestelltentarifvertrag, Loseblatt Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, Kommentar zum Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L), Loseblatt Conze/Karb/Wölk, Personalbuch Arbeits- und Tarifrecht öffentlicher Dienst, 5. Aufl. 2017

XXXI

Allgemeines Literaturverzeichnis

Dassau/Langenbrinck, TVöD, Schnelleinstieg ins neue Tarifrecht, 2. Aufl., 2006 (zit. Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg) Dassau/Wiesend-Rothbrust, BAT Kompaktkommentar, 4. Aufl. 2004 Dassau/Wiesend-Rothbrust, TVöD Kompaktkommentar, 5. Aufl. 2006 Däubler, Tarifvertragsgesetz, 4. Aufl. 2016 Däubler, Tarifvertragsrecht: ein Handbuch, 3. Aufl. 1993 Däubler/Deinert/Zwanziger, Kündigungsschutzrecht, 11. Aufl. 2019 Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath, Arbeitsrecht, Handkommentar, 4. Aufl. 2017 Däubler/Kittner/Klebe/Wedde (Hrsg.), BetrVG – Betriebsverfassungsgesetz mit Wahlordnung und EBR-Gesetz, 16. Aufl. 2018 (zit. DKK/Bearbeiter) DFL siehe Dornbusch/Fischermeier/Löwisch DKK siehe Däubler/Kittner/Klebe/Wedde DLW siehe Dörner/Luczak/Wildschütz/Baeck/Hoß Dolzer/Vogel/Graßhoff (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt (zit. BK/Bearbeiter) Dornbusch/Fischermeier/Löwisch (Hrsg.), AR – Arbeitsrecht, 9. Aufl. 2018 (zit. DFL/Bearbeiter) Dorndorf/Weller/Hauck/Kriebel/Höland/Neef, Heidelberger Kommentar zum Kündigungsschutzgesetz, 4. Aufl. 2001 Dörner/Luczak/Wildschütz/Baeck/Hoß, Handbuch des Arbeitsrechts, 14. Aufl. 2017 (zit. DLW/Bearbeiter) Dörring/Kutzki/Polzer (Hrsg.), TVöD-Kommentar, 2007 Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Band I (Präambel, Art. 1–19), 2. Aufl. 2004, Band II (Art. 20–82), 2. Aufl. 2006 Düwell, BetrVG, Handkommentar, 5. Aufl. 2018 Düwell/Lipke, Kommentar zum Arbeitsgerichtsgesetz, 5. Aufl. 2019 ErfK siehe Müller-Glöge/Preis/Schmidt Erman, Handkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 15. Aufl. 2017 Etzel, Betriebsverfassungsrecht, 8. Aufl. 2002 Fabricius (Hrsg.), Gemeinschaftskommentar zum Mitbestimmungsgesetz, Loseblatt Fiebig/Gallner/Mestwerdt/Nägele, Kündigungsschutzrecht, Handkommentar, 4. Aufl. 2012 (zit. HaKo/Bearbeiter) Fischer, Strafgesetzbuch, 66. Aufl. 2019 Fischer/Goeres/Gronimus, Personalvertretungsrecht des Bundes und der Länder, in: Fürst (Hrsg.), Gesamtkommentar Öffentliches Dienstrecht (GKÖD), Bd. V, Loseblatt Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, Betriebsverfassungsgesetz, 29. Aufl. 2018 (zit. Fitting) Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum Europäischen Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2020 Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 5. Aufl. 2007 Gagel (Hrsg.), SGB III-Arbeitsförderung, Loseblatt Galperin/Löwisch, Betriebsverfassungsgesetz, 6. Aufl. 1982 mit Nachtrag 1985 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I 1997, Bd. II 2008 Gaul, B., Das Arbeitsrecht der Betriebs- und Unternehmensspaltung Germelmann/Binkert, PersVG, 2. Aufl. 2002 Germelmann/Matthes/Prütting, Arbeitsgerichtsgesetz, 9. Aufl. 2017 Gitter/Schmitt, Sozialrecht, 5. Aufl. 2001 XXXII

Allgemeines Literaturverzeichnis

GK-ArbGG siehe Ascheid/Bader u.a. GK-BetrVG siehe Kraft/Wiese u.a. GKÖD siehe Fischer/Goeres/Gronimus GK-SGB III siehe Ambs/Feckler u.a. GK-SGB VI siehe Ruland/Försterling Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt Grunsky/Waas/Benecke/Greiner, Arbeitsgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2014 Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018 HaKo siehe Fiebig u.a. Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des Europäischen Arbeits- und Sozialrechts, 2002 Hauck/Haines, SGB VI – Gesetzliche Rentenversicherung, Loseblatt Hauck/Helml/Biebl, Arbeitsgerichtsgesetz, 4. Aufl. 2011 Hauck/Noftz, SGB III – Arbeitsförderung, Loseblatt Hennig/Henke/Schlegel/Teuerkauf/Estemann, SGB III – Arbeitsförderung, Kommentar mit Nebenrecht, Loseblatt Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 8. Aufl. 2018 (zit. HWK/Bearbeiter) Hess/Worzalla/Glock/Nicolai/Rose/Huke, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 10. Aufl. 2018 (zit. HSWG/Bearbeiter) Hindahl/Schart/Slawik/Vesper, Erläuterungen zum Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst – TVöD Heft 2 –, Loseblatt HSWG siehe Hess/Schlochauer/Worzalla/Glock/Nicolai Hümmerich/Boecken/Düwell, AnwaltKommentar Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2010 HWK siehe Henssler/Willemsen/Kalb HzA siehe Leinemann Igl/Welti, Sozialrecht, 8. Aufl. 2007 Ilbertz/Widmaier/Sommer, Bundespersonalvertretungsgesetz, 14. Aufl. 2018 Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, Tarifvertragsrecht, 2. Aufl. 2013 Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 15. Aufl. 2018 Kaiser/Dunkl/Hold/Kleinsorge, Entgeltfortzahlungsgesetz, 5. Aufl. 2000 Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, hrsg. von Leitherer, Loseblatt (zit. KassKomm/Bearbeiter) Kempen/Zachert, Tarifvertragsgesetz, 5. Aufl. 2014 Kittner/Zwanziger/Deinert/Heuschmid (Hrsg.), Arbeitsrecht, Handbuch für die Praxis, 10. Aufl. 2019 Klebe/Ratayczak/Heilmann/Spoo, Betriebsverfassungsgesetz, 20. Aufl. 2018 Kollmer/Klindt/Schucht, Arbeitsschutzgesetz, 3. Aufl. 2016 Korinth, Einstweiliger Rechtsschutz im Arbeitsgerichtsverfahren, 4. Aufl. 2019 KR siehe Etzel/Bader u.a. Kreikebohm, Sozialgesetzbuch Gesetzliche Rentenversicherung SGB VI, 5. Aufl. 2017 Kuner, Der neue TVöD – Allgemeiner Teil und TVÜ, 2006 Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L: Ansprüche und Verfahren im öffentlichen Dienst, 2007 Kuner, TVöD – Allgemeiner Teil und TVÜ, 2. Aufl. 2010 Küttner (Hrsg.), Personalbuch 2019, 26. Aufl. 2019

XXXIII

Allgemeines Literaturverzeichnis

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XXXIV

Allgemeines Literaturverzeichnis

Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018 Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 18. Aufl. 2019 (zit. Schaub/Bearbeiter, ArbRHdb) Schaub, Arbeitsrechtliches Formular- und Verfahrenshandbuch, 13. Aufl. 2019 Schiek, Europäisches Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2019 Schlachter/Heinig, Europäisches Arbeits-und Sozialrecht (EnzEuR Bd. 7), 2015 Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Grundgesetz, 14. Aufl. 2017 Schmitt, Entgeltfortzahlungsgesetz, 8. Aufl. 2018 Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 3: Rentenversicherungsrecht, 1999 Schüren/Hamann, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, 5. Aufl. 2018 Semler/Stengel, Umwandlungsgesetz, 4. Aufl. 2017 Sievers, Teilzeit- und Befristungsgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2018 Soergel, Bürgerliches Gesetzbuch, 13. Aufl. 1999 ff. Sowka/Bengelsdorf/Heise (Hrsg.), Kündigungsschutzgesetz, Kölner Praxiskommentar unter Berücksichtigung sozialrechtlicher Bezüge, 3. Aufl. 2004 Spiegelhalter, Beck’sches Personalhandbuch, Band I: Arbeitsrechtslexikon, Loseblatt Sponer/Steinherr, Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst – TVöD, Loseblatt Stahlhacke/Preis/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 11. Aufl. 2015 Staudacher/Hellman/Hartmann/Wenk, Teilzeitarbeit, 2003 Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 13. Bearb. 1993 ff.; Neubearb. 2000 ff. Stege/Weinspach/Schiefer, Betriebsverfassungsgesetz, 9. Aufl. 2002 Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 22. Aufl. 2002 ff. Thivessen/Kulok, TV-L, Schnelleinstieg in das neue Tarifrecht der Länder, 2006 Thomas/Putzo, ZPO, 40. Aufl. 2019 Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, 2007 Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2017 Tschöpe, Arbeitsrecht Handbuch, 11. Aufl. 2019 Ulber/Ulber, AÜG – Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, 2. Aufl. 2014 Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Gesetz, 12. Aufl. 2016 Uttlinger/Breier/Kiefer/Hoffmann/Dassau, BAT, Bundesangestelltentarifvertrag, Kommentar, Loseblatt Weber/Ehrich/Burmester/Fröhlich, Handbuch der arbeitsrechtlichen Aufhebungsverträge, 5. Aufl. 2009 Weber/Ehrich/Hörchens/Oberthür, Handbuch zum Betriebsverfassungsrecht, 2. Aufl. 2002 WHSS siehe Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt Wichmann/Langer, Öffentliches Dienstrecht, 8. Aufl. 2017 Wiedemann (Hrsg.), Tarifvertragsgesetz, 8. Aufl. 2019 Wieland, Recht der Firmentarifverträge, 1998 Wiese/Kreutz/Oetker/Raab/Weber/Franzen/Gutzeit/Jacobs, Gemeinschaftskommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 11. Aufl. 2018 (zit. GK-BetrVG/Bearbeiter) Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 5. Aufl. 2016 (zit. WHSS/Bearbeiter) Wlotzke/Preis/Kreft, Betriebsverfassungsgesetz, 4. Aufl. 2009 (zit. WPK/Bearbeiter) Zöller, Zivilprozessordnung, Kommentar, 33. Aufl. 2020

XXXV

§1 Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst I. Definition des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . .

1.1

1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.1

2. Abgrenzung zum Beamtenrecht . . .

1.4

3. Abgrenzung zum kirchlichen Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.7

II. Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.9

1. Arbeitnehmerbegriff und Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kriterien des Arbeitnehmerbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Leistung von Arbeit aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags . . . . . . . . . . . bb) Unselbständigkeit . . . . . . . . . (1) Unselbständigkeit und persönliche Abhängigkeit . . . . . (2) Einzelfragen . . . . . . . . . . . . .

d)

1.9 1.9 1.13 1.13 1.14 1.14 1.16

2. Einzelne Arbeitnehmergruppen . . . a) Arbeiter und Angestellte . . . . . . . b) Leitende Angestellte . . . . . . . . . . . c) Sonstige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.19 1.19 1.20 1.25

III. Arbeitgeber im öffentlichen Dienst

1.26

IV. Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.32

1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.32

2. Arten und Bedeutung . . . . . . . . . . . 1.34 a) Recht der Europäischen Union . . 1.34 aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . 1.34 bb) Primärrecht . . . . . . . . . . . . . 1.39 (1) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . 1.39 (2) Charta der Grundrechte der Europäischen Union . . . . . . . 1.45a cc) Sekundärrecht . . . . . . . . . . . 1.46 b) Verfassungsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.58 c) Gesetz, Rechtsverordnung und Dienstordnung . . . . . . . . . . . . . . 1.67 aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . 1.67 bb) Überblick über die arbeitsrechtlichen Gesetze . . . . . . . . 1.76

e)

f)

g)

cc) Richterliche Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . Tarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . (1) Zustandekommen . . . . . . . . . (2) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Bindung an den Tarifvertrag . (5) Verhältnis zu anderen Rechtsquellen des Arbeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bedeutung von Tarifverträgen im öffentlichen Dienst . . (1) Neugestaltung des Tarifrechts für Bund, Länder und Kommunen . . . . . . . . . . . . . (2) Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD), Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) und ergänzende Tarifverträge (a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . (b) Regelungskonzept . . . . . . . . . (c) Überleitungstarifverträge . . . Dienstvereinbarung . . . . . . . . . . . aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . bb) Zustandekommen und Beendigung . . . . . . . . . . . . . . cc) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Verhältnis zu anderen Rechtsquellen des Arbeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsvertrag und Allgemeine Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . aa) Individualarbeitsvertrag . . . . bb) Allgemeine Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Arbeitsvertragliche Einheitsregelungen . . . . . . . . . . . . . . (2) Gesamtzusage . . . . . . . . . . . . (3) Betriebliche Übung . . . . . . . . Direktionsrecht . . . . . . . . . . . . . .

1.80 1.84 1.84 1.84 1.88 1.93 1.96 1.107 1.108 1.108

1.109 1.109 1.113 1.117 1.118 1.118 1.120 1.124 1.125 1.128 1.131 1.131 1.136 1.137 1.138 1.139 1.144

V. Verfassungsrechtliche Grundlagen . 1.148 1. Gesetzgebungszuständigkeiten . . . . 1.148 a) Zuständigkeit für das Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.148

Weber/Groeger

1

§1

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

aa) Konkurrierende Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gesetzgeberische Freiräume für die Länder . . . . . . . . . . . cc) Abgrenzung vom bürgerlichen Recht . . . . . . . . . . . . . b) Zuständigkeiten für das öffentliche Dienstrecht . . . . . . . . . . . . . aa) Bundesbedienstete iwS . . . . . bb) Bedienstete anderer öffentlicher Rechtsträger . . . . . . . . cc) Folgerungen für das Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheit, Bindungen und Gestaltungsspielräume der Gesetzgeber . . a) Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gestaltungsverpflichtung des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bindungen an Grundrechte . . . . . aa) Art. 9 Abs. 3 GG – Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 3 Abs. 1 GG – Allgemeiner Gleichheitssatz . . . . . . . . d) Weitere verfassungsimmanente Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 33 Abs. 5 GG – Hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums . . . . . . . bb) Art. 20 Abs. 2 GG – Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . e) Organisationsformen des öffentlichen Dienstes . . . . . . . . . . . . . . aa) Errichtung und Schließung von Behörden . . . . . . . . . . . . bb) Gesetzliche Regelung der inneren Organisation . . . . . .

1.148 1.151 1.154 1.157 1.158 1.159 1.160 1.168 1.169

cc) Art. 33 Abs. 4 GG – Funktionsvorbehalt . . . . . . . . . . . . 1.202 dd) Einrichtung von Behörden . . 1.205 ee) Einrichtung von besonderen Rechtsverhältnissen . . . . . . . 1.209 3. Vertretung des Rechtsträgers und Zuständigkeit von Behörden . . . . . . a) Vertretung des Rechtsträgers . . . . aa) Rechtsgeschäftliche Handlungen –Beispiele . . . . . . . . . bb) Zurechenbarkeit des Handelns natürlicher Personen – Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . b) Zuständigkeit von Behörden . . . . c) Organe und leitende Angestellte im öffentlichen Dienst . . . . . . . . .

1.213 1.213 1.214 1.220 1.226 1.228

VI. Haushaltsrechtliche Grundlagen . . . 1.230 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.230

1.171 1.174

2. Grundlagen des Haushaltsrechts – der Haushaltskreislauf . . . . . . . . . . . 1.234

1.175

3. Die einzelnen Phasen des Haushaltskreislaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Aufstellungsverfahren . . . . . . aa) Die Personalbedarfsermittlung . . . . . . . . . . . . . . bb) Gebot linearer Stelleneinsparungen . . . . . . . . . . . . cc) Abgrenzung des Stellenplans von anderen Plänen . . . . . . . b) Haushaltsgesetz und Haushaltsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Haushaltsvollzug . . . . . . . . . . . . . d) Rechnungslegung und -prüfung; Finanzkontrolle . . . . . . . . . . . . . .

1.180 1.184 1.184 1.187 1.192 1.196

1.236 1.236 1.240 1.242 1.244 1.248 1.252 1.256

1.201

Schrifttum: Altvater/Baden/Baunack/Berg/Dierßen/Herget/Kröll/Lenders/Noll, Bundespersonalvertretungsgesetz, 10. Aufl. 2019; Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 2016; Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Kommentar, 5. Aufl. 2016; Däubler, Tarifvertragsgesetz, 4. Aufl. 2016; Fischer/Goeres/ Gronimus, Personalvertretungsrecht des Bundes und der Länder, in: Fürst (Hrsg.), Gesamtkommentar Öffentliches Dienstrecht, Bd. V, Loseblatt, 1974 ff.; Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2018 (zit. EUArbR/Bearbeiter); Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 5. Aufl. 2017; Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Loseblatt, Stand: Februar 2019; Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, 2002; Ilbertz/Widmaier/Sommer, Bundespersonalvertretungsgesetz, 14. Aufl. 2018; Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, Tarifvertragsrecht, 2. Aufl. 2013; Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2001; Lorenzen/Etzel/Gerhold/Schlatmann/Rehak/Faber/Griebeling/Hebeler/Ramm, Bundespersonalvertretungsgesetz, Loseblatt, 1975 ff.; Moll, Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2017; Müller/Preis, Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst, 7. Aufl. 2009; Pfohl, Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes, 2002; Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2019; Richardi/Dörner/Weber,

2

Weber/Groeger

Definition des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

Rz. 1.2 § 1

Personalvertretungsrecht, 5. Aufl. 2019; Schiek, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2007; Schlachter/ Heinig, Europäisches Arbeits-und Sozialrecht (EnzEuR Bd. 7), 2016; Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2017; Tschöpe, Arbeitsrecht Handbuch, 11. Aufl. 2019; Wichmann/Langer, Öffentliches Dienstrecht, 8. Aufl. 2017.

I. Definition des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst 1. Allgemeines Das Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst regelt die arbeitsrechtlichen Beziehungen von Arbeitnehmern mit juristischen Personen des öffentlichen Rechts, also Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Bezirke, Landkreise/Kreise, Gemeinden, kommunale Verbände) oder sonstigen Personen des öffentlichen Rechts (Anstalten, Stiftungen und Körperschaften)1. Es ist der privatrechtliche Teil des Rechts des öffentlichen Dienstes, welches in seiner Gesamtheit auch die öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisse von Beamten, Richtern und Soldaten betrifft (zur Abgrenzung s. Rz. 1.4 ff.)2.

1.1

Das Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst umfasst individual- und kollektivarbeitsrechtliche Regelungen und beruht auf den Grundsätzen des allgemeinen Arbeitsrechts. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst in gleicher Weise wie Beamte an der Erfüllung öffentlicher Aufgaben und Ziele mitwirken, häufig sogar trotz des unterschiedlichen Status identische Funktionen ausüben und bei ihrer Tätigkeit wie alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes den Grundsätzen des Haushaltsrechts unterworfen sind. Traditionell waren deshalb die Tarifverträge für den öffentlichen Dienst durch eine gewisse Annäherung von Arbeitnehmer- und Beamtenstatus geprägt, die zum Teil in ausdrücklichen Verweisungen auf das Beamtenrecht ihren Ausdruck fand (vgl. etwa §§ 11, 14 BAT)3. Die neueren Tarifverträge für den öffentlichen Dienst (vor allem TVöD und TV-L) sind insofern deutlich zurückhaltender und sollen gerade im Gegenteil eine Entflechtung der beiden Regelungsbereiche bewirken4. Gleichwohl sind auch heute noch die besonderen Interessen des öffentlichen Dienstes zu beachten. Hervorzuheben sind insofern etwa Art. 33 Abs. 2 GG, der bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses im öffentlichen Dienst Eignung, Befähigung und fachliche Leistung zum Maßstab macht, die bereits erwähnten Grundsätze des Haushaltsrechts oder auch die Sonderregelungen zur Gleichstellung der Geschlechter im öffentlichen Dienst. Die Zuordnung eines Arbeitsverhältnisses zum öffentlichen Dienst erfolgt nach formalen Kriterien (s. auch Rz. 1.30). Maßgeblich ist allein, dass der Arbeitgeber eine juristische Person des öffentlichen Rechts ist. Bedient sich der Staat privatrechtlicher Organisationsformen, so gelten die allgemeinen Regeln des Arbeitsrechts auch dann uneingeschränkt, wenn dabei öffentliche Aufgaben und Zielsetzungen verwirklicht werden5. Für den Bereich der Abgrenzung zwischen Personal- und Betriebsverfassungsrecht ergibt sich diese formale Betrachtungsweise aus § 130 BetrVG6.

1 2 3 4 5 6

Vgl. MünchArbR/Germelmann, § 154 Rz. 1 ff. Müller/Preis, Rz. 6. Pfohl, Rz. 12; Wichmann/Langer, Rz. 422. S. jedoch MünchArbR/Germelmann, § 154 Rz. 36 ff. Müller/Preis, Rz. 5; weiter MünchArbR/Germelmann, § 154 Rz. 1. Schaub/Koch, ArbRHdb, § 211 Rz. 20; ErfK/Kania, § 130 Rz. 2; ausführlich GK-BetrVG/Weber, § 130 BetrVG Rz. 2 ff.

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3

1.2

§ 1 Rz. 1.3

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

1.3 Zu beachten ist allerdings, dass in Fällen der Privatisierung Fortschreibungen bisheriger auf den öffentlichen Dienst zugeschnittener Schutzregelungen oder jedenfalls Übergangsmodelle zu beobachten sind (vgl. §§ 29 und 30). Auch aus der Perspektive des Unionsrechts ist eine rein formale Betrachtungsweise nicht in allen Bereichen tragfähig, da der EuGH Richtlinien die sog. vertikale Direktwirkung, also eine unmittelbare Wirkung im Verhältnis von Bürger und Staat, auch dann zuspricht, wenn der Staat sich in privatrechtlichen Handlungsformen bewegt (dazu näher Rz. 1.49 f.). 2. Abgrenzung zum Beamtenrecht

1.4 Die Bediensteten der juristischen Personen des öffentlichen Rechts können Beamte, Richter, Soldaten oder aber Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst sein. Beamte, Richter und Soldaten stehen in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis, ebenso Laufbahnbewerber im Vorbereitungsdienst. Im Gegensatz dazu beruht die Beschäftigung von Arbeitnehmern des öffentlichen Dienstes auf einem privatrechtlichen Vertragsverhältnis (näher Rz. 1.13 ff.). Dienstordnungsangestellte stehen ebenfalls in einem Arbeitsverhältnis, das jedoch einer Dienstordnung unterstellt ist7. Einige Hochschulgesetze sehen die Beschäftigung in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis besonderer Art vor8.

1.5 Das Beamtenverhältnis wird durch einen mitwirkungsbedürftigen Verwaltungsakt begründet: die Aushändigung einer Ernennungsurkunde bei gleichzeitiger, ggf. konkludenter Zustimmung des zu berufenden Beamten9. Begründung und Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses sind in Art. 33 GG, dem Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) und den Beamtengesetzen der Länder geregelt. Die Grundsätze des Arbeitsrechts und namentlich tarifvertragliche Regelungen finden keine Anwendung. Zu beachten ist allerdings, dass der EuGH Beamte grundsätzlich als Arbeitnehmer im Sinne der Gewährleistung der Freizügigkeit nach Art. 45 AEUV10, des Lohngleichheitsgebots nach Art. 157 AEUV11 und der Arbeitszeitrichtlinie12 bezeichnet hat (beachte aber Art. 45 Abs. 4 AEUV, dazu Rz. 1.40, 1.44). Der Gerichtshof beansprucht insofern das Recht, einen europäischen Arbeitnehmerbegriff zu definieren. Er überlässt die Definitionshoheit nur dann den nationalen Rechtsordnungen, wenn der jeweilige europäische Rechtsakt hinsichtlich des Arbeitnehmerbegriffs ausdrücklich auf das nationale Recht verweist (so zB in der Betriebsübergangsrichtlinie oder der Befristungsrichtlinie13). Der vom EuGH entwickelte europäische Arbeitnehmerbegriff ist weiter als der deutsche: Der Gerichtshof stellt nicht auf die öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Form des Beschäftigungsverhältnisses ab, sondern darauf, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen 7 8 9 10

Schaub/Linck, § 29 Rz. 15; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 115 ff. Vgl. dazu BAG v. 8.5.2018 – 9 AZR 531/17, ZTR 2018, 598. BVerwG v. 6.11.1969 – II C 110.67, BVerwGE 34, 168 (171); Müller/Preis, Rz. 8. EuGH v. 12.2.1974 – Rs. 152/73, Slg. 1974, I-0153 = AP EWG-Vertrag Art. 177 Nr. 6 (Rz. 5) (Sotgiu); v. 3.7.1986 – C-66/85, Slg. 1986, I-2121 (Rz. 16 f.) = NVwZ 1987, 41 (Lawrie-Blum); v. 31.5.1989 – C-344/87, Slg. 1989, I-1621 (Rz. 16) (Bettray); v. 24.3.1994 – C-71/93, Slg. 1994, I-1101 (Rz. 14) = NVwZ 1994, 991 (Van Poucke); v. 26.4.2007 – C-392/05, Slg. 2007, I-3505 (Rz. 68) (Alevizos); v. 22.6.2017 – C-20/16, ECLI:EU:C:2017:488 (Rz. 33 ff.) (Bechtel); vgl. auch EuGH v. 3.5.2012 – C-337/10, NVwZ 2012, 688 (Rz. 23) (Neidel). 11 EuGH v. 21.5.1985 – C-248/93, Slg. 1985, 1459 (Rz. 16) (Kommission/Bundesrepublik Deutschland); v. 2.10.1997 – C-1/95, Slg. 1997, I-5253 (Rz. 17 ff.) = NZA 1997, 1277 (Gerster). 12 EuGH v. 3.5.2012 – C-337/10, NVwZ 2012, 688 (Rz. 26) (Neidel); v. 20.7.2016 – C-341/15 (Maschek), NZA 2016, 1067; zu den Folgen für das deutsche Beamtenrecht Stiebert/Pötters, NVwZ 2012, 690 (691). 13 Zur Leiharbeitsrichtlinie vgl. darüber hinaus EuGH v. 17.11.2016 – C-216/15, ZTR 2017, 99.

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Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst

Rz. 1.9 § 1

anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält14. Für Richter ergeben sich die wesentlichen Inhalte des öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnisses aus Art. 92, 97 und 98 GG, aus §§ 1 bis 45a Deutsches Richtergesetz (DRiG) und den Richtergesetzen der Länder. Für Soldaten sind die Bestimmungen des Soldatengesetzes (SG) sowie Art. 35 Abs. 2 und 3, 87a GG maßgeblich.

1.6

3. Abgrenzung zum kirchlichen Arbeitsrecht Nach Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 5 WRV können Religionsgesellschaften Körperschaften des öffentlichen Rechts sein (näher § 40). Soweit dies der Fall ist, können Dienstverhältnisse im Bereich der evangelischen und katholischen Kirche öffentlich-rechtlich ausgestaltet15 werden. Das gilt vor allem, aber nicht nur, für geistliche Amtsträger. In der Praxis hat das kirchliche Beamtenverhältnis vor allem im Bereich der evangelischen Kirche Bedeutung.

1.7

Soweit kein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis begründet wird, ist die Basis eines Beschäftigungsverhältnisses mit einer kirchlichen Körperschaft des öffentlichen Rechts oder einer der Kirche zuzuordnenden Einrichtung ein privatrechtlicher Arbeitsvertrag16. Dieser unterliegt zunächst den Grundsätzen des staatlichen Arbeitsrechts. Das durch Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV gewährleistete Selbstbestimmungsrecht der Kirchen eröffnet diesen aber auch bei der Wahl privatrechtlicher Gestaltungsformen weitgehenden Freiraum, der von den Kirchen mit Blick auf das Leitbild einer Dienstgemeinschaft17 sowohl im Individual- als auch im Kollektivarbeitsrecht durchaus wahrgenommen wird (näher hierzu und zu den in jüngster Zeit zu beobachtenden Entwicklungen im Hinblick auf die Rechtsprechung des EMRK und des EuGH bei § 40).

1.8

II. Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst 1. Arbeitnehmerbegriff und Arbeitsverhältnis a) Grundlagen Im öffentlichen Dienst gilt der allgemeine Arbeitnehmerbegriff. Mit der Einführung des § 611a BGB im Jahr 2017 hat der Gesetzgeber die Kriterien des Arbeitnehmerbegriffs auf die Definition des Arbeitsvertrags bezogen. In der Sache soll die Vorschrift nach dem ausdrücklichen Bekunden des Gesetzgebers die langjährige Rechtsprechung des BAG lediglich auf eine normative Grundlage stellen, ohne aber inhaltlich neue Akzente zu setzen18. § 611a Abs. 1 Satz 1 BGB formuliert dementsprechend die zentrale Verpflichtung des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsvertrag als Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit im Dienste 14 Vgl. dazu Fuchs/Marhold, S. 39 ff.; Preis/Sagan/Ulber, EuArbR, Rz. 1.107 ff.; EUArbR/Steinmeyer, Art. 45 AEUV Rz. 10 ff.; Schlachter/Heinig/Terhechte, EnzEuR Bd. 7, § 1 Rz. 29 ff.; Thüsing, § 2 Rz. 12 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 14; ausführlich K. Ziegler, Arbeitnehmerbegriffe im Europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 144 ff., s. insb. S. 448 ff. 15 Ausführlich zu den Besonderheiten des kirchlichen Dienstes in § 40. 16 NK-GA/Groeger, Art. 140 GG Rz. 12, 46 ff. 17 NK-GA/Groeger, Art. 140 GG Rz. 131 ff. 18 BT-Drucks. 18/9232, S. 31 f., vgl. dementsprechend BAG v. 27.6.2017 – 9 AZR 851/16, NZA 2017, 1463 Rz. 17.

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1.9

§ 1 Rz. 1.9

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

eines anderen in persönlicher Abhängigkeit. Dieser Ansatz ist im Grundsatz im deutschen Arbeitsrecht seit Jahrzehnten geläufig und im vorliegenden Sachzusammenhang ungeachtet der Tatsache maßgeblich, dass auch der EuGH zu Art. 45 und 157 AEUV einen eigenen europäischen Arbeitnehmerbegriff formuliert hat und dabei namentlich auf das Erfordernis eines privatrechtlichen Vertrags verzichtet. Arbeitnehmer ist nach der Rechtsprechung des EuGH, wer während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält19. Der europäische Arbeitnehmerbegriff beansprucht aber Geltung nur für den Sachzusammenhang des Freizügigkeitsrechts und des Gebots der Entgeltgleichheit von Männern und Frauen sowie für Richtlinien, die hinsichtlich des Arbeitnehmerbegriffs nicht in das nationale Recht der Mitgliedstaaten verweisen20 (zB Arbeitszeitrichtlinie21), und das diese umsetzende deutsche Recht (zB Arbeitszeitund Urlaubsrecht). Für die Einordnung eines Beschäftigungsverhältnisses nach nationalem Arbeitsrecht enthält die Rechtsprechung des EuGH keine Vorgaben22.

1.10 Die Definition des deutschen Arbeitnehmerbegriffs knüpft an das Dienstvertragsrecht der §§ 611 ff. BGB an und enthält mit dem unmittelbar aus § 611a Abs. 1 BGB ableitbaren Erfordernis des privatrechtlichen Vertrags ein Unterscheidungsmerkmal zu öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnissen und mit dem der Unselbständigkeit das Differenzierungskriterium zwischen Arbeitsvertrag und freiem Dienstvertrag. Abgrenzungsfragen zwischen selbständiger und unselbständiger Tätigkeit ergeben sich zwar vor allem im Bereich der Privatwirtschaft, haben aber auch im Rahmen des öffentlichen Dienstes die Gerichte häufig beschäftigt. Namentlich im Medien- und im Bildungsbereich ist nicht selten problematisch, ob ein Arbeitsverhältnis oder lediglich ein Dienstverhältnis eines freien Mitarbeiters vorliegt (dazu Rz. 1.16 ff.). Die Abgrenzung ist von großer Bedeutung, da nur die Qualifikation als Arbeitnehmer den Zugang zum kompletten arbeitsrechtlichen Schutzsystem eröffnet.

1.11 Das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses ist zunächst anhand der vertraglichen Vereinbarungen der Beteiligten zu prüfen. Maßgeblich ist aber letztlich die einverständlich praktizierte tatsächliche Gestaltung des Beschäftigungsverhältnisses, namentlich auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis im Vertrag nicht als solches bezeichnet wird, vgl. § 611a Abs. 1 Satz 6 BGB23. Weitere methodische Hinweise zur Bestimmung der Arbeitnehmereigenschaft enthalten § 611a Abs. 1 Satz 4 und 5 BGB, die erneut auf die entsprechende Rechtsprechung des BAG Bezug nehmen. Nach Satz 4 hängt der Grad der persönlichen Abhängigkeit auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab. Das bezieht sich auf die Konkretisierung des nach wie vor maßgeblichen zentralen Kriteriums der Arbeitnehmereigenschaft und soll der Rechtsprechung auch weiterhin die Möglichkeit geben, die unterschiedliche Ausprägung der persönlichen Abhängigkeit bei unterschiedlichen Personen- und Berufsgruppen wie etwa Lehrkräften oder Mitarbeitern im Rundfunk-, Presse- oder Kunstbereich zu berücksichtigen24. Nach Satz 5

19 Vgl. ua. EuGH v. 6.11.2003 – C-413/01, Slg. 2003 I-13187 = NZA 2004, 87 (Ninni-Orasche); näher dazu Preis/Sagan/Sagan, EuArbR, Rz. 1.107 ff.; EUArbR/Steinmeyer, Art. 45 AEUV Rz. 10 ff.; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 18 ff. 20 Einzelheiten bei K. Ziegler, Arbeitnehmerbegriffe im Europäischen Arbeitsrecht, 2011, S. 283 ff. 21 EuGH v. 3.5.2012 – C-337/10, NVwZ 2012, 688 (Rz. 23) (Neidel). 22 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 20. 23 Vgl. etwa BAG v. 30.9.1998 – 5 AZR 563/97, NZA 1999, 374. 24 BT-Drucks. 18/9232, S. 32; vgl. ua. BAG v. 24.2.1992 – 5 AZR 384/91, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 61; v. 12.9.1996 – 5 AZR 104/95, AP BGB § 611 Lehrer, Dozenten Nr. 122; zur Kritik vgl. MünchArbR/Schneider, § 18 Rz. 39 mwN.

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Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst

Rz. 1.13 § 1

ist für die Feststellung, ob ein Arbeitsvertrag vorliegt, schließlich eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen25. Die Qualifikation eines Beschäftigungsverhältnisses als Arbeitsverhältnis oder selbständiges Dienstverhältnis kann inzident im Rahmen einer gerichtlichen Auseinandersetzung um Ansprüche aus dem Arbeitsvertrag, im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses oder aber auch im Wege der Feststellungsklage (Statusklage) erfolgen. Dabei ist eine reine Statusklage für die Vergangenheit mangels Feststellungsinteresses (§ 256 Abs. 1 ZPO) unzulässig, wenn sich aus der Feststellung keine Folgen für Gegenwart und Zukunft ergeben26. Begehrt ein Beschäftigter im Rahmen einer Statusklage die Feststellung seiner Arbeitnehmereigenschaft, wehrt er sich gegen die Kündigung eines „Arbeitsverhältnisses“ oder macht er arbeitsrechtliche Ansprüche geltend, so ist der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten eröffnet (vgl. § 2 Abs. 1 ArbGG), auch wenn das für die Bestimmung des Rechtswegs erforderliche Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses noch nicht feststeht27.

1.12

b) Kriterien des Arbeitnehmerbegriffs aa) Leistung von Arbeit aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags Arbeitnehmer ist nur, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags beschäftigt ist, § 611a Abs. 1 BGB. Keine Arbeitnehmer sind deshalb Beamte, Soldaten und Richter sowie in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis besonderer Art stehende Beschäftigte (dazu Rz. 1.4 ff.). Mit der Ernennung zum Beamten erlischt ein Arbeitsverhältnis und es lebt auch im Falle der späteren Rücknahme der Ernennung nicht wieder auf28. Lehrbeauftragte an Hochschulen29, Professorenvertreter30 oder durch Verwaltungsakt beauftragte Vertreter einer Lehrkraft für besondere Aufgaben31 sind nach der Rechtsprechung des BAG ebenfalls keine Arbeitnehmer, sondern werden in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis besonderer Art tätig32. Keine Arbeitnehmer sind ferner Strafgefangene, die in einer Justizvollzugsanstalt Arbeitsleistungen erbringen, da dies im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnisses erfolgt33. Keine Arbeitnehmer sind Asylbewerber, die Tätigkeiten nach § 5 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ausüben, vgl. § 5 Abs. 5 Satz 1 AsylbLG34. Die sog. 25 Vgl. ua. BAG v. 17.4.2013 – 10 AZR 272/12, NZA 2013, 903 Rz. 15. Zur Frage, welche Merkmale und Indizien in Zukunft in eine derartige Gesamtbetrachtung einzubeziehen sind vgl. MünchArbR/Schneider, § 18 Rz. 43 ff. 26 BAG v. 15.12.1999 – 5 AZR 457/98, NZA 2000, 775; v. 17.4.2002 – 5 AZR 458/00, NZA 2002, 760. 27 Vgl. ua. BAG v. 19.12.2000 – 5 AZB 16/00, NZA 2001, 285. 28 BAG v. 24.4.1997 – 2 AZR 241/96, NZA 1997, 1045. 29 BAG v. 15.4.1982 – 2 AZR 1111/79, DB 1982, 2707; v. 23.5.2001 – 5 AZR 370/99, NZA 2002, 168. 30 BAG v. 30.11.1984 – 7 AZR 511/83, AP BGB § 611 Lehrer, Dozenten Nr. 43; v. 25.2.2004 – 5 AZR 62/03, NZA 2004, 751; v. 13.7.2005 – 5 AZR 435/04, EzA § 611 BGB 2002 Arbeitnehmerbegriff Nr. 5. 31 BAG v. 18.7.2007 – 5 AZR 854/06, NZA-RR 2008, 103; vgl. auch BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 466/10, AP BGB § 611 Lehrer, Dozenten Nr. 188. 32 Ebenfalls kein Arbeitsverhältnis besteht mit einem nach Landeshochschulrecht bestellten Prorektor für studentische Angelegenheiten, solange nicht das Verhalten der Beteiligten hinreichenden Erklärungswert für den Abschluss eines Vertrags hat, vgl. BAG v. 9.4.2014 – 10 AZR 590/13, NZA-RR 2014, 522. 33 BAG v. 24.4.1969 – 5 AZR 438/68, DB 1969, 1514; v. 3.10.1978 – 6 ABR 46/76, DB 1979, 1186. 34 Vgl. HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 35.

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1.13

§ 1 Rz. 1.13

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

„Ein-Euro-Jobber“ üben ihre Tätigkeit nicht im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses aus, § 16d Abs. 7 Satz 2 Halbs. 1 SGB II. Es handelt sich vielmehr um ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis35. Für den Bundesfreiwilligendienst, der im Jahr 2011 den Zivildienst nach dem Zivildienstgesetz (ZDG) ersetzt hat (vgl. § 83 ZDG), gilt das Bundesfreiwilligendienstgesetz (BFDG), für den Jugendfreiwilligendienst gilt das Jugendfreiwilligendienstgesetz (JFDG). Beide Dienste begründen nach dem Willen des Gesetzgebers kein Arbeitsverhältnis, sondern beruhen auf einem Rechtsverhältnis eigener Art, für das allerdings partiell arbeits- und arbeitsschutzrechtliche Regelungen für anwendbar erklärt werden (§§ 8, 13 BFDG, § 13 JFDG)36. Keine Arbeitnehmer sind Entwicklungshelfer iSv. § 1 Abs. 1 Nr. 1 und § 4 Entwicklungshelfergesetz (EhfG)37. Im Verhältnis zu dem ausländischen Projektträger kann aber ein Arbeitsvertrag vereinbart werden38. Außerdem sind die Beschäftigungsbedingungen von Entwicklungshelfern weithin arbeitsrechtlichen Grundsätzen nachgebildet39. bb) Unselbständigkeit (1) Unselbständigkeit und persönliche Abhängigkeit

1.14 In Fortführung der ständigen Rechtsprechung des BAG40 ist auch nach § 611a BGB die persönliche Abhängigkeit das entscheidende Merkmal des Arbeitnehmerbegriffs und zugleich das maßgebliche Abgrenzungskriterium zum Dienstvertrag des Selbständigen. Damit hält der Gesetzgeber nicht nur daran fest, dass es nicht auf wirtschaftliche Abhängigkeit ankommt, sondern erteilt auch den Stimmen in der Literatur eine Absage, die den Arbeitnehmerbegriff stärker in Richtung auf die Schutzfunktion des Arbeitsrechts interpretieren wollten41. Der Arbeitnehmer sei, so die Verfechter dieser Ansicht, schutzbedürftig, da er anders als der Selbständige nicht selbst unternehmerische Chancen am Markt wahrnehme, sondern seine Arbeitskraft einem Arbeitgeber zur Verfügung stelle, der seinerseits darüber zur Verwirklichung seiner unternehmerischen Aktivitäten disponiere42. Die als arbeitsorganisatorische Einbindung des Arbeitnehmers verstandene persönliche Abhängigkeit indizierte freilich auch nach dieser Ansicht zugleich die Verlagerung der Disposition über die Arbeitskraft auf den Arbeitgeber und damit das Bedürfnis für die Anwendbarkeit des arbeitsrechtlichen Schutzsystems43.

35 BAG v. 8.11.2006 – 5 AZB 36/06, NZA 2007, 53 m. zust. Anm. Joussen, SAE 2007, 207; v. 17.1.2007 – 5 AZB 43/06, ArbRB 2007, 139 = NZA 2007, 644; v. 19.11.2008 – 10 AZR 658/07, NZA 2009, 269; vgl. auch Kirchlicher Arbeitsgerichtshof v. 30.11.2006 – M 01/06, zu § 34 MAVO, ZMV 2007, 79 einerseits, BVerwG 21.3.2007 – 6 P 4/06, ZTR 2007, 404 andererseits; zur Problematik vgl. auch Engels, NZA 2007, 8; von Koppenfels-Spies, NZS 2010, 2; Leuchten/Hund in Tschöpe, Teil 1 A Rz. 87; Schulze, NZA 2005, 1332; Zwanziger, AuR 2005, 8. 36 Vgl. dazu Leube, ZFSH/SGB 2012, 18; Leube, ZTR 2012, 207; Tiedemann, NZA 2012, 602; ausführlich Tiedemann, Bundesfreiwilligendienstgesetz, 2011; zu Helfern im freiwilligen sozialen Jahr BAG v. 12.2.1992 – 7 ABR 42/91, AP BetrVG 1972 § 5 Nr. 52. 37 BAG v. 27.4.1977 – 5 AZR 129/76, BB 1977, 1304. 38 HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 37. 39 Vgl. MünchArbR/Freitag, § 362 Rz. 143. 40 BAG v. 28.2.1962 – 4 AZR 141/61, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 1, seitdem ständige Rechtsprechung. 41 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 54; MünchArbR/Schneider, § 18 Rz. 16, 44 f. 42 Lieb, RdA 1974, 259; Wank, Arbeitnehmer und Selbständige, 1988, S. 128; Wank, RdA 1992, 91; Wank, RdA 1999, 271; Wiedemann, Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und Gemeinschaftsverhältnis, 1966, S. 15; Ch. Weber, Das aufgespaltene Arbeitsverhältnis, S. 259. 43 Ch. Weber, Das aufgespaltene Arbeitsverhältnis, S. 294 ff.

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Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst

Rz. 1.17 § 1

Die von der Rechtsprechung im Laufe der Zeit entwickelten konkretisierenden Kriterien des Oberbegriffs der persönlichen Abhängigkeit finden sich nunmehr in § 611a Abs. 1 Satz 1–3 BGB44. Kennzeichnend für die persönliche Abhängigkeit ist die Leistung weisungsabhängiger, fremdbestimmter Arbeit. Die Weisungsabhängigkeit bezieht § 611a Abs. 1 Satz 2 BGB auf Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit. Dabei lassen sich wirkliche Unterschiede zwischen einer Weisungsgebundenheit hinsichtlich Inhalt und Durchführung der Tätigkeit nicht ausmachen, so dass in der Sache kein Unterschied zur Umschreibung des Weisungsrechts nach § 106 GewO besteht45. Den schon bisher von der Rechtsprechung vorgenommenen Umkehrschluss zu § 84 Abs. 1 Satz 2 HGB46 hat der Gesetzgeber in § 611a Abs. 1 Satz 3 BGB aufgenommen, wo als ‚weisungsgebunden‘ bezeichnet wird, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten (fachliche Weisungsbindung) und seine Arbeitszeit (zeitliche Weisungsbindung) bestimmen kann47. Fremdbestimmung steht nach dem Wortlaut des § 611a Abs. 1 Satz 2 BGB in Alternative zur Weisungsabhängigkeit. Tatsächlich kann aber gerade auch Weisungsabhängigkeit Fremdbestimmung vermitteln. Eigenständige Bedeutung entfaltet das Merkmal der Fremdbestimmung aber insofern, als auch bei fehlender oder jedenfalls nicht signifikanter Weisungsgebundenheit die Einbindung in eine vom Arbeitgeber vorgegebene Organisation die vom Gesetz geforderte persönliche Abhängigkeit ergeben kann48.

1.15

(2) Einzelfragen Im öffentlichen Dienst ist die Frage der Arbeitnehmereigenschaft von Beschäftigten vor allem im Medienbereich bei öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten und im Bildungsbereich relevant geworden.

1.16

Bei öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten ist der Status von Mitarbeitern häufig umstritten49, da hier ein besonderes, nicht allein durch wirtschaftliche Gesichtspunkte motiviertes Bedürfnis nach der Beschäftigung freier Mitarbeiter festzustellen ist. Diesem Bedürfnis räumt das BVerfG mit Blick auf Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 GG einen hohen Rang ein und verlangt vom BAG, darauf bei der Einordnung von Beschäftigungsverhältnissen Rücksicht zu nehmen50. Das BAG tut dies, indem es zunächst zwischen programmgestaltenden und sonstigen Tätigkeiten im Medienbereich unterscheidet: Für sonstige Tätigkeiten, also betriebstechnische Aufgaben oder Verwaltungsaufgaben, geht das Gericht regelmäßig von einer Beschäftigung im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses aus51. Bei programmgestaltenden

1.17

44 Vgl. dazu etwa HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 47 ff. 45 Schaub/Linck, ArbRHdb, § 8 Rz. 23; MünchArbR/Schneider, § 18 Rz. 22 f.; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 27. 46 Vgl. etwa BAG v. 15.2.2012 – 10 AZR 301/10, NZA 2012, 731. 47 MünchArbR/Schneider, § 18 Rz. 24; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 28. 48 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 10, 41; MünchArbR/Schneider, § 18 Rz. 32 ff.; vgl. etwa BAG v. 28.2.1962 – 4 AZR 141/61, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 1; BAG v. 20.8.2003 – 5 AZR 610/02, ArbRB 2004, 38 = NZA 2004, 39. 49 Vgl. dazu Bruns, RdA 2008, 135; Leuchten/Hund in Tschöpe, Teil 1 A Rz. 41 ff.; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 70 ff.; MünchAnwaltsHandb. ArbR/Reiserer, § 6 Rz. 37 ff.; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 67 ff. (jeweils mwN). 50 BVerfG v. 13.1.1982 – 1 BR 848/77 ua., NJW 1982, 1477; v. 18.2.2000 – 1 BVR 491, 562/93 und 1 BVR 624/88, NZA 2000, 653; v. 22.8.2000 – 1 BvR 2121/94, NZA 2000, 1097. 51 BAG v. 20.7.1994 – 5 AZR 627/93, NZA 1995, 161; v. 30.11.1994 – 5 AZR 704/93, NZA 1995, 622; v. 11.3.1998 – 5 AZR 522/96, NZA 1998, 705; v. 22.4.1998 – 5 AZR 191/97, NZA 1998, 1275 (1276); vgl. auch BSG v. 26.9.2017 – B 1 KR 31/16 R, NZS 2018, 319 Rz. 16 ff.

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9

§ 1 Rz. 1.17

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

Tätigkeiten wendet das BAG im Grundsatz die allgemeinen Kriterien zur Bestimmung der Arbeitnehmereigenschaft auch weiterhin an und stellt vor allem auf das Erfordernis einer inhaltlichen Weisungsabhängigkeit, einer ständigen Dienstbereitschaft oder der Einbeziehung in vorgegebene Dienstpläne ab52. Den Vorgaben des BVerfG versucht die Rechtsprechung vor allem dadurch gerecht zu werden, dass die Anforderungen an die Befristung eines Arbeitsverhältnisses im Hinblick auf die Rundfunkfreiheit interpretiert werden53.

1.18 Im Bildungsbereich ist zunächst anerkannt, dass Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen regelmäßig als Arbeitnehmer einzuordnen sind54. Bei Lehrkräften an Abendgymnasien, Volkshochschulen und Musikschulen wendet das BAG die allgemeinen Kriterien an und stellt dementsprechend etwa auf die Intensität der organisatorischen Eingliederung des Dozenten in den Lehrbetrieb, die Einbindung in Vorgaben hinsichtlich der Unterrichtsgestaltung und der Arbeitszeit oder auch auf die Einbeziehung des Dozenten in Tätigkeiten außerhalb der eigentlichen Unterrichtserteilung (Fortbildungsverpflichtungen, Aufsichtsaufgaben) ab55. Soweit hier wie nicht selten nebenberufliche Tätigkeiten vorliegen, kann dies für das Fehlen einer persönlichen Abhängigkeit im Sinne des BAG sprechen, auch wenn im Allgemeinen unerheblich ist, ob eine Tätigkeit haupt- oder nebenberuflich ausgeübt wird56. Mehrere Senate des BAG gehen dabei von einer typisierenden Betrachtungsweise aus, die Lehrkräfte außerhalb schulischer Lehrgänge aufgrund der weniger starken Reglementierung eher als freie Mitarbeiter ansieht, während der 7. Senat stärker einzelfallbezogen entscheidet57. 52 BAG v. 23.4.1980 – 5 AZR 426/97, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 34; v. 13.1.1983 – 5 AZR 149/82, NJW 1984, 1985; v. 2.10.1990 – 4 AZR 106/90, NZA 1991, 239; v. 27.2.1991 – 5 AZR 107/90, EzA BGB § 611 Arbeitnehmerbegriff Nr. 43; v. 29.1.1992 – 7 ABR 25/91, NZA 1992, 835; v. 9.6.1993 – 5 AZR 123/92, NZA 1994, 169; v. 16.2.1994 – 5 AZR 402/93, NZA 1995, 21; v. 20.7.1994 – 5 AZR 627/93, NZA 1995, 161; v. 30.11.1994 – 5 AZR 704/93, NZA 1995, 622; v. 22.4.1998 – 5 AZR 191/97, NZA 1998, 1275; v. 22.4.1998 – 5 AZR 432/97, NZA 1998, 1336; v. 16.6.1998 – 5 AZN 154/98, NZA 1998, 839; v. 26.5.1999 – 5 AZR 469/98, NZA 1999, 983; v. 19.1.2000 – 5 AZR 644/98, NZA 2000, 1102; v. 20.9.2000 – 5 AZR 61/99, NZA 2001, 551; v. 9.2.2005 – 5 AZR 175/04, NZA 2005, 814; v. 8.11.2006 – 5 AZR 706/05, ArbRB 2007, 100 = NZA 2007, 321; v. 14.3.2007 – 5 AZR 499/06, ArbRB 2007, 196 = NZA-RR 2007, 424; v. 20.5.2009 – 5 AZR 31/08, ArbRB 2009, 262 = NZA-RR 2010, 172. 53 BAG v. 22.4.1998 – 5 AZR 342/97, NZA 1998, 1336; toleriert durch BVerfG v. 22.8.2000 – 1 BvR 2121/94, NZA 2000, 1097; s. auch BAG v. 20.8.2002 – 3 AZR 14/01, AP BetrAVG § 1 Überversorgung Nr. 9; v. 26.7.2006 – 7 AZR 495/05, ArbRB 2007, 38 = NZA 2007, 147; v. 24.10.2018 – 7 AZR 92/17, NZA 2019, 108 Rz. 12; vgl. dazu Bruns, RdA 2008, 135 ff.; MünchArbR/Pallasch, § 335 Rz. 12 ff.; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 67. 54 BAG v. 9.7.2003 – 5 AZR 595/02, ArbRB 2003, 363 = NZA-RR 2004, 9; v. 20.1.2010 – 5 AZR 106/09, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 120; Leuchten/Hund in Tschöpe, Teil 1 A Rz. 46 f.; ErfK/ Preis, § 611a Rz. 67; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 78 f. 55 BAG v. 30.10.1991 – 7 ABR 19/91, NZA 1992, 407; v. 13.11.1991 – 7 AZR 31/91, NZA 1992, 1125; v. 24.6.1992 – 5 AZR 384/91, NZA 1993, 174; v. 26.7.1995 – 5 AZR 22/94, NZA 1996, 477; v. 12.9.1996 – 5 AZR 104/95, NZA 1997, 600; v. 11.4.1997 – 5 AZB 33/93, NZA 1998, 499; v. 19.11.1997 – 5 AZR 21/97, NZA 1998, 595; v. 29.5.2002 – 5 AZR 161/01, NZA 2002, 1232; v. 9.7.2003 – 5 AZR 595/02, ArbRB 2003, 363 = NZA-RR 2004, 9; v. 9.3.2005 – 5 AZR 493/04, NZARR 2005, 560; v. 25.5.2005 – 5 AZR 347/04, ArbRB 2006, 7 = AP BGB § 611 Nr. 117 – Abhängigkeit; v. 17.1.2006 – 9 AZR 61/05, NZA-RR 2006, 616; v. 27.6.2017 – 9 AZR 851/16, NZA 2017, 1463; v. 17.10.2017 – 9 AZR 792/16, juris; v. 21.11.2017 – 9 AZR 117/17, NZA 2018, 448. 56 BAG v. 21.11.2017 – 9 AZR 117/17, NZA 2018, 448; vgl. dazu DLW/Dörner, Erster Teil, Kapitel 1, Rz. 54 f. 57 Vgl. etwa BAG v. 12.9.1996 – 5 AZR 104/95, NZA 1997, 600 (602); v. 19.11.1997 – 5 AZR 21/97, NZA 1998, 595 (597); v. 20.1.2010 – 5 AZR 106/09, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 120; v.

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Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst

Rz. 1.20 § 1

2. Einzelne Arbeitnehmergruppen a) Arbeiter und Angestellte Das Arbeitsrecht war lange durch die Aufteilung der Arbeitnehmer in die Gruppen der Arbeiter und der Angestellten geprägt. Die Unterscheidung, die sich etwa bei der Fortzahlung der Vergütung im Krankheitsfall, beim Kündigungsschutz, in Tarifverträgen oder im Bereich der Mitbestimmung manifestierte, hat heute rechtlich ihre Bedeutung verloren. Rechtspolitisch und verfassungsrechtlich motivierte Bestrebungen, die Differenzierung aufzugeben58, haben sich durchgesetzt. Nachdem zunächst die Unterschiede im Bereich der individualarbeitsrechtlichen Gesetze beseitigt worden waren59, ist im Jahr 2005 auch im Personalvertretungsrecht das Gruppenprinzip jedenfalls für die Unterscheidung von Arbeitern und Angestellten aufgegeben worden60. Auch in der Rentenversicherung ist die früher getrennte Zuständigkeit von Arbeiter- und Angestelltenversicherung (LVA bzw. BfA) mit Wirkung vom 1.1.2005 entfallen. Zuständig für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sind heute die Deutsche Rentenversicherung Bund, die Deutsche Rentenversicherung KnappschaftBahn-See bzw. die auf Landes- und Regionalebene angesiedelten Regionalträger (§§ 125 ff. SGB VI)61. Auch die Tarifvertragsparteien im Bereich des öffentlichen Dienstes sind mittlerweile auf diese Linie eingeschwenkt und haben die überkommene Differenzierung des BAT in den heute geltenden TVöD und TV-L aufgegeben. Im Bereich des öffentlichen Dienstes ist damit eine Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten obsolet, wie sie früher noch mit der Formel des manuell tätigen Arbeiters und des vorwiegend geistig tätigen Angestellten62 und später unter Berufung auf § 133 Abs. 2 SGB VI aF und den darin in Bezug genommenen Berufsgruppenkatalog63 sowie letztlich die Verkehrsanschauung64 vorgenommen wurde.

1.19

b) Leitende Angestellte Auch im öffentlichen Dienst gibt es den „leitenden Angestellten“, selbst wenn dessen praktische Bedeutung geringer ist als im privaten Sektor, da Leitungsfunktionen im öffentlichen Dienst tendenziell eher Beamten zugewiesen werden. Eine einheitliche Definition des leitenden Angestellten kennt das öffentliche Dienstrecht ebenso wenig wie das allgemeine Arbeitsrecht65. Maßgeblich ist vielmehr der Sachzusammenhang der einzelnen gesetzlichen

58 59 60 61 62 63 64 65

15.2.2012 – 10 AZR 301/10, NZA 2012, 731; v. 27.6.2017 – 9 AZR 851/16, NZA 2017, 1463; v. 17.10.2017 – 9 AZR 792/16, juris; v. 21.11.2017 – 9 AZR 117/17, NZA 2018, 448 einerseits, v. 30.10.1991 – 7 ABR 19/91, NZA 1992, 407 ff.; v. 13.11.1991 – 7 AZR 31/91, NZA 1992, 1125 ff. andererseits; vgl. dazu ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 68. Vgl. dazu Hromadka (Hrsg.), Gleichstellung von Arbeitnehmern und Angestellten, 1989; Hromadka, ZfA 1994, 251; Wank, Arbeiter und Angestellte, 1992; BVerfG v. 16.11.1982 – 1 BvL 16/75, 1 BvL 36/79, DB 1983, 450; v. 30.5.1990 – 1 BvL 2/83, DB 1990, 1565. Kündigungsfristengesetz v. 7.10.1993 (BGBl. I, 1668); Entgeltfortzahlungsgesetz v. 26.5.1994 (Art. 53–68 PflegeVG, BGBl. I, 1065–1070). Vgl. Art. 8 G. v. 14.9.2005 (BGBl. I, 2756). Zum Dienstrecht der sog. Dienstordnungsangestellten, die in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis zu dem jeweiligen Sozialversicherungsträger stehen, vgl. §§ 143 f. SGB VI, §§ 144 ff. SGB VII. BAG v. 30.9.1954 – 2 AZR 65/53, AP HGB § 59 Nr. 1 (Bl. 1 R). Vgl. die Rechtsverordnung des Reichsarbeitsministers v. 8.3.1924 (RGBl. I, 274), abgeändert am 4.2. und 15.7.1927 (RGBl. I, 58 und 222). Vgl. Müller/Preis, Rz. 43; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 119 ff. Schaub/Vogelsang, ArbRHdb, § 13 Rz. 1.

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1.20

§ 1 Rz. 1.20

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

Regelungen. Dabei taucht in den speziell auf den öffentlichen Dienst bezogenen Regelungen nicht einmal der Begriff des leitenden Beschäftigten auf. In der Sache beziehen sich namentlich die § 7, § 14 Abs. 3, § 19 Abs. 4 Satz 4, § 53 Abs. 3 Satz 2, § 77 Abs. 1 Satz 1, § 90 Nr. 4 BPersVG jedoch auf leitende Angestellte. Zu beachten sind daneben § 14 und § 17 Abs. 5 KSchG und § 18 Abs. 1 Nr. 1, 2 ArbZG66.

1.21 Nach § 1 Abs. 2 Buchst. a TVöD gilt der Tarifvertrag nicht für leitende Angestellte iSd. § 5 Abs. 3 BetrVG67, wenn ihre Arbeitsbedingungen besonders vereinbart sind, sowie ebenfalls nicht für Chefärztinnen/Chefärzte.

1.22 Im Personalvertretungsrecht schließen zunächst §§ 7, 14 Abs. 3 BPersVG und die entsprechenden landesrechtlichen Regelungen Dienststellenleiter sowie Beschäftigte, die zu selbständigen Entscheidungen in Personalangelegenheiten befugt sind, vom passiven Wahlrecht zur Personalvertretung aus68. Das aktive Wahlrecht ist allerdings jedenfalls auf Bundesebene nicht eingeschränkt69. Darüber hinaus schränkt § 77 Abs. 1 Satz 1 BPersVG die Mitbestimmungsrechte in Personalangelegenheiten für leitende Beschäftigte durch den Verweis auf § 14 Abs. 3 BPersVG ein und verlangt einen entsprechenden Antrag des Beschäftigten70. Eine eigene Vertretung leitender Beschäftigter im öffentlichen Dienst wie nach dem Sprecherausschussgesetz gibt es nicht, vgl. § 1 Abs. 3 Nr. 1 SprAuG.

1.23 Im Kündigungsrecht greift auch für den Bereich des öffentlichen Dienstes § 14 KSchG, der in Abs. 1 Nr. 1 die Anwendbarkeit des allgemeinen Kündigungsschutzes für Vertreter von juristischen Personen (auch des öffentlichen Rechts71) nach dem Ersten Abschnitt des KSchG insgesamt ausschließt und in Abs. 2 für leitende Angestellte besondere Bestimmungen für den Kündigungseinspruch nach § 3 KSchG und die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG trifft72.

1.24 Im Arbeitszeitrecht ist das ArbZG nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG nicht anwendbar auf Chefärzte und nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 ArbZG nicht auf Leiter von öffentlichen Dienststellen und deren Vertreter sowie Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst, die zu selbständigen Entscheidungen in Personalangelegenheiten befugt sind.

66 Zur Berücksichtigung der Sonderstellung leitender Angestellter in einzelnen Entscheidungen des BAG vgl. Schaub/Vogelsang, ArbRHdb, § 13 Rz. 7 ff. 67 Vgl. zu § 5 Abs. 3 BetrVG HWK/Gaul, § 5 BetrVG Rz. 48 ff.; ausf. GK-BetrVG/Raab, § 5 BetrVG Rz. 159 ff. 68 Näher zur Umschreibung des in § 14 Abs. 3 BPersVG angesprochenen Personenkreises: RDW/ Dörner, PersVR, § 14 Rz. 20 ff. 69 Vgl. RDW/Dörner, PersVR, § 13 Rz. 7, dort auch Rz. 51, 52 zum Ausschluss der Wahlberechtigung für die Dienststellenleitung in Rheinland-Pfalz und im Saarland. 70 Näher hierzu RDW/Kaiser, PersVR, § 77 Rz. 2 ff. 71 BAG v. 17.1.2002 – 2 AZR 719/00, ArbRB 2002, 224 = NZA 2002, 854; BGH v. 25.7.2002 – III ZR 207/01, NZA 2002, 1040; ErfK/Kiel, § 14 KSchG Rz. 3; HWK/Thies, § 14 KSchG Rz. 4; KR/ Rost, § 14 KSchG Rz. 11. 72 Zur Stellung des Chefarztes vgl. BAG v. 18.11.1999 – 2 AZR 903/98, NZA 2000, 427; in Bezug auf § 5 Abs. 3 BetrVG BAG v. 10.10.2007 – 7 ABR 61/08, AP BetrVG 1972 § 5 Nr. 72; v. 5.5.2010 – 7 ABR 97/08, ArbRB 2010, 305 = NZA 2010, 955.

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Arbeitgeber im öffentlichen Dienst

Rz. 1.30 § 1

c) Sonstige Zu Teilzeitbeschäftigten im öffentlichen Dienst s. § 14, Rz. 14.206 ff., § 20; zu befristeten Arbeitsverhältnissen s. § 22; zu sparten- und berufsgruppenspezifischen Besonderheiten im öffentlichen Dienst vgl. § 31 ff.

1.25

III. Arbeitgeber im öffentlichen Dienst Der Begriff Arbeitgeber wird allgemein mittelbar über den Arbeitnehmerbegriff definiert. Danach ist Arbeitgeber, wer Gläubiger des Anspruchs auf Arbeitsleistung und zugleich der jeweilige Schuldner des Arbeitsentgeltes gegenüber den Arbeitnehmern ist73. Die Grundlage für die Arbeitgeberposition bildet der Arbeitsvertrag74. Das gilt auch beim Vollzug von Verträgen, denen ein Abschlussmangel zugrunde liegt.

1.26

Eine juristische Person ist selbst Arbeitgeber. Ihre Organe üben die Arbeitgeberfunktionen nur aus75. Rechtlich durch den Arbeitsvertrag verpflichtet und berechtigt wird allein die juristische Person. Soweit man mit dem sog. „funktionellen Arbeitgeberbegriff“ auf die Wahrnehmung von Arbeitgeberfunktionen durch Organe juristischer Personen und sonstige Vertretungsberechtigte hinweist76, ist dies nur als Beschreibung der Ausübung von Arbeitgeberbefugnissen akzeptabel, nicht aber als rechtliche Grundlegung einer eigenen Arbeitgeberstellung der Organe juristischer Personen77.

1.27

Als Arbeitgeber im öffentlichen Dienst kommen zunächst Gebietskörperschaften in Betracht, also juristische Personen des öffentlichen Rechts, durch die Menschen, die sich in dem betreffenden Gebiet dauerhaft aufhalten, mitgliedschaftlich erfasst und unter einer hoheitlichen Leitung zu einer Einheit verbunden werden78. Gebietskörperschaften sind Bund, Länder, Bezirke, Landkreise/Kreise, Gemeinden und kommunale Verbände.

1.28

Sonstige juristische Personen des öffentlichen Rechts können Anstalten, Stiftungen und Nicht-Gebietskörperschaften wie Industrie- und Handelskammern, Ärzte- und Rechtsanwaltskammern, Landwirtschaftskammern, Ortskrankenkassen und Sparkassen sein.

1.29

Erfolgt die Beschäftigung bei einer juristischen Person des Privatrechts, so handelt es sich auch dann nicht um ein Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst, wenn sich der Staat lediglich privatrechtlicher Handlungsformen bedient: Die Zuordnung eines Arbeitsverhältnisses zum öffentlichen Dienst erfolgt nach formalen Kriterien. Dabei kann für den öffentlichen Dienst insgesamt auf die Abgrenzung zwischen Personal- und Betriebsverfassungsrecht abgestellt werden, wo aus § 130 BetrVG eine solche formale Betrachtungsweise abzuleiten ist79. Wird demnach ein Verkehrs- oder Energieversorgungsbetrieb in Form einer AG oder einer GmbH betrieben, dann sind die dort bestehenden Arbeitsverhältnisse nicht dem öffentlichen

1.30

73 BAG v. 16.10.1974 – 4 AZR 29/74, AP BGB § 705 Nr. 1; vgl. auch Schaub/Linck, ArbRHdb, § 16 Rz. 1. 74 Vgl. BAG v. 25.4.2001 – 7 AZR 376/00, ArbRB 2001, 7 = NZA 2001, 1384. 75 Überblick bei Löw, MDR 2008, 1251. 76 Vgl. Mehrhoff, Veränderung des Arbeitgeberbegriffs, 1984, S. 60 ff. 77 Vgl. ua. Heinze, ZfA 1976, 179 ff.; Konzen, ZfA 1982, 265; Schaub/Linck, ArbRHdb, § 16 Rz. 2. 78 Müller/Preis, Rz. 2. 79 Zu § 130 BetrVG vgl. BAG v. 7.11.1975 – 1 AZR 74/74, DB 1976, 248; HWK/Hohenstatt/Dzida, § 130 BetrVG Rz. 1 f.; ausführlich GK-BetrVG/Weber, § 130 BetrVG Rz. 2 ff.

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§ 1 Rz. 1.30

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

Dienst zuzurechnen, auch wenn etwa eine Gemeinde die Aktien bzw. Geschäftsanteile innehat. Betreibt umgekehrt die Kommune als Rechtsträger den gleichen Betrieb unmittelbar selbst als Eigen- oder Regiebetrieb, dann gehören die Arbeitsverhältnisse dem öffentlichen Dienst an.

1.31 Zu besonderen Gestaltungen im Zusammenhang mit Privatisierungsvorgängen vgl. § 29 und § 30.

IV. Rechtsquellen 1. Überblick

1.32 Zwar wird das Arbeitsverhältnis durch den Arbeitsvertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer begründet, es wird inhaltlich jedoch durch zahlreiche weitere in ihrer Art und Wirkung unterschiedliche Normen und Gestaltungsfaktoren beeinflusst. Die verschiedenen Rechtsgrundlagen stehen dabei in einer gewissen Rangfolge zueinander („arbeitsrechtliche Normenpyramide“), wobei grundsätzlich die ranghöhere die rangniedere Norm verdrängt. Von diesem Grundsatz gibt es allerdings wichtige Ausnahmen wie das Günstigkeitsprinzip oder die Dispositivität der höherrangigen Regelung.

1.33 An der Spitze der Rangfolge der Rechtsgrundlagen steht das Recht der EU, das Vorrang selbst gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht genießt (Rz. 1.35 ff.), welches seinerseits die oberste Rechtsquelle auf nationaler Ebene darstellt (Rz. 1.58 ff.)80. Der Verfassung untergeordnet sind Gesetze, die in aller Regel, da sie den Schutz des Arbeitnehmers bezwecken, zwingende Wirkung haben und damit den nachfolgenden Rechtsgrundlagen übergeordnet sind (Rz. 1.67 ff.). Für den Bereich des Arbeitsrechts ist dabei kennzeichnend, dass es bis heute kein einheitliches Arbeitsgesetzbuch gibt, sondern dass die Rechtsmaterie auf eine Fülle von Einzelgesetzen verteilt ist. Als arbeitsrechtliche Besonderheit folgen ferner die kollektivrechtlichen Gestaltungsmittel Tarifvertrag und Dienstvereinbarung, die mit ihren normativen Bestimmungen für die ihnen Unterworfenen wie Gesetze wirken, aber nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch die Tarif- und Dienststellenpartner autonom vereinbart werden (Rz. 1.84 ff., 1.118 ff.). Zentrales Gestaltungsmittel des Arbeitsverhältnisses ist schließlich der Arbeitsvertrag selbst, da er das Arbeitsverhältnis erst begründet und die Beschäftigung des Arbeitnehmers der Art nach festlegt (Rz. 1.131 ff.). Auf gleicher Ebene wie der Arbeitsvertrag stehen die Allgemeinen Arbeitsbedingungen wie Formulararbeitsvertrag, Gesamtzusage und betriebliche Übung. Sie werden nicht individuell mit dem einzelnen Arbeitnehmer ausgehandelt, sondern gelten kollektiv für alle Arbeitnehmer oder eine bestimmte Arbeitnehmergruppe (Rz. 1.137 ff.). Keine Rechtsquelle im engeren Sinne ist das Direktionsrecht des Arbeitgebers, welches die Arbeitspflicht des Arbeitnehmers in Ergänzung insbesondere zum Einzelarbeitsvertrag konkretisiert (Rz. 1.144 ff.). Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz schließlich bestimmt als subsidiärer Gestaltungsfaktor den Inhalt des Arbeitsverhältnisses nur dann mit, wenn der Arbeitgeber bei der kollektiven Gewährung von Leistungen einzelne Arbeitnehmer willkürlich gegenüber anderen benachteiligt.

80 Zum Recht der EMRK und zum Einfluss der Rechtsprechung des EGMR auf das Streikrecht und das kirchliche Arbeitsrecht s. § 39 sowie § 40.

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Rechtsquellen

Rz. 1.35 § 1

2. Arten und Bedeutung a) Recht der Europäischen Union aa) Allgemeines Das nationale Arbeitsrecht – auch das des öffentlichen Dienstes – wird zunehmend durch das europäische Arbeitsrecht beeinflusst. Von Bedeutung ist dabei vor allem das supranationale Arbeitsrecht der Europäischen Union. Das Unionsrecht ist zu unterscheiden vom Recht des Europarats, dessen Mitgliedstaaten völkerrechtliche Übereinkommen geschlossen haben, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt in Europa zu fördern81. Regelungen auf der Ebene des Europarats sind die Europäische Sozialcharta, die einen Katalog sozialer Grundrechte enthält, deren Wirkkraft in Deutschland allerdings bislang beschränkt bleibt82. Von größerer Bedeutung ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), namentlich durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)83. Zwar billigt das BVerfG der Konvention und auch der Rechtsprechung des EGMR keinen Anwendungsvorrang zu, berücksichtigt sie aber im Wege einer konventionsfreundlichen Auslegung84. In jüngerer Zeit ist auf diese Weise der Einfluss der EMRK auf das deutsche Arbeitsrecht gestiegen85.

1.34

Im Rahmen des Unionsrechts sind zunächst die Regelungen des EU-Vertrags und des AEUVertrags selbst (sog. primäres Unionsrecht, Rz. 1.39 ff.) sowie die aufgrund der Ermächtigungen im AEU-Vertrag ergehenden Verordnungen und Richtlinien iSd. Art. 288 AEUV (sog. sekundäres Unionsrecht, Rz. 1.46 ff.) zu unterscheiden. Das Unionsrecht hat Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht, auch vor dem Grundgesetz86. Nationales Recht, das mit dem Unionsrecht kollidiert, ist zwar nicht nichtig, aber nicht anwendbar87. Das BVerfG akzeptiert dies in Hinblick auf einen effektiven Grundrechtsschutz durch den EuGH in seiner „Solange-Rechtsprechung“88.

1.35

81 Umfassend J. Schubert, Arbeitsvölkerrecht, 2017; vgl. ferner MünchArbR/Oetker, § 12 Rz. 2 ff.; HWK/Tillmanns, Vorbem. AEUV Rz. 2-4. 82 Vgl. zur Diskussion etwa Brecht-Heitzmann/Khonsari, ZESAR 2017, 463; Knospe, ZESAR 2015, 449; Lörcher, AuR 2011, 107; Schlachter, SR 2013, 77. 83 Vgl. dazu Preis/Sagan/Fornasier, EuArbR, § 4; ferner Schlachter/Heinig/Krebber, EnzEuR (Bd. 7), § 2 Rz. 31 ff.; EuArbR/C. Schubert, Art. 1 EMRK Rz. 1 ff. 84 BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307; vgl. dazu Preis/Sagan/Fornasier, EuArbR, Rz. 4.26 ff.; EuArbR/C. Schubert, Art. 1 EMRK Rz. 87 ff.; vgl. auch J. Schubert, Arbeitsvölkerrecht, S. 70 ff. 85 Vgl. den Überblick bei Preis/Sagan/Fornasier, EuArbR, Rz. 4.38 ff.; MünchArbR/Oetker, § 12 Rz. 3 ff. 86 Vgl. dazu Calliess/Ruffert/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 1 AEUV Rz. 16 ff.; Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Nettesheim, EUV/AEUV, Art. 1 AEUV Rz. 71 ff. 87 Vgl. dazu Calliess/Ruffert/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 1 AEUV Rz. 18; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, EUV/AEUV, Art. 1 AEUV Rz. 79 ff. 88 BVerfG v. 29.5.1974 – 2 BvL 52/71, NJW 1974, 1697 (Solange I); v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, NJW 1987, 577 (Solange II); v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, NJW 1993, 3047 (Maastricht); v. 7.6.2000 – 2 BvL 1/97, NJW 2000, 3124 (Bananenmarktordnung). Vgl. zum Problemkreis weiterhin BVerfG v. 22.1.1997 – 2 BvR 1915/91, NJW 1997, 2871 (Tabak-Etikettierungsrichtlinie); v. 18.7.2005 – 2 BvR 2236/04, NJW 2005, 2289 (EU-Haftbefehl); sowie auch BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08 und 2 BvR 182/09, NJW 2009, 2267 (Lissabon); v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, ArbRB 2010, 273 = NZA 2010, 995 (Honeywell).

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§ 1 Rz. 1.36

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

1.36 Von Bedeutung für das europäische Arbeitsrecht sind weiterhin die am 9.12.1989 verabschiedete Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer89 sowie die am 7.12.2000 in Nizza proklamierte EU-Grundrechtecharta90. Die Gemeinschaftscharta enthält einen Katalog sozialer Grundrechte, unter anderem auf Freizügigkeit, Gleichbehandlung, gerechtes Entgelt, auf Anhörung und Mitwirkung der Arbeitnehmer, das Recht der Koalitionsfreiheit und auf Tarifverhandlungen91. Sie begründet aber keine einklagbaren Rechte von Individuen, sondern verbindet lediglich die Akzentuierung bereits existenter Grundrechtspositionen mit einem rechtspolitischen Forderungskatalog an die Kommission und die Mitgliedstaaten, den die Kommission als solchen durchaus angenommen hat. Auch die sozialen Gewährleistungsrechte in der EU-Grundrechtecharta92 entfalteten zunächst noch keine Bindungskraft für die Mitgliedstaaten oder gar deren Bürger. Das hat sich mit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags geändert. Zwar wird anders als im gescheiterten Verfassungsvertrag von 200493 die EU-Grundrechtecharta nicht mehr in den Vertragstext integriert, sie wird aber doch durch den Verweis in Art. 6 Abs. 1 EUV rechtsverbindlich und nimmt den Rang von Primärrecht ein (vgl. dazu Rz. 1.45a)94.

1.37 Zentraler Akteur im Bereich des europäischen Arbeitsrechts ist neben dem Gesetzgeber der EuGH. Er hat innerhalb der Union für eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu sorgen, Art. 251 ff. AEUV. Der EuGH ist unter anderem zuständig für Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Mitgliedstaaten, wenn diese etwa dem Gebot zur Umsetzung einer Richtlinie innerhalb der vorgegebenen Frist nicht oder nicht hinreichend nachkommen, Art. 258 ff. AEUV95. Das auch für den öffentlichen Dienst wichtige allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ist bspw. erst zustande gekommen, nachdem der EuGH mehrfach die fehlende Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien moniert hatte96. Wichtig für das Arbeitsrecht ist aber vor allem das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV97. Hier entscheidet der Gerichtshof unter anderem über die Auslegung von Richtlinien und wirkt so jedenfalls mittelbar auch auf das nationale Arbeitsrecht der Mitgliedstaaten ein, die bei ihrer Umsetzung an die Vorgaben der Richtlinie in ihrer Interpretation durch den EuGH gebunden sind. Jedes nationale Gericht ist zur Vorlage befugt, wenn über die Auslegung des Unionsrechts Unsicherheit besteht und das Gericht meint, Unionsrecht sei für die Entscheidung eines

89 KOM (89) 248 endg. Ergänzt wird die Sozialcharta durch das Aktionsprogramm der Kommission zu Anwendung der Gemeinschaftscharta vom 29.11.1989 (BR-Drucks. 717/89). 90 ABl. EG C 80 v. 10.3.2001, S. 1. 91 Vgl. zur Sozialcharta Heinze, FS Wlotzke, 1996, S. 669; Krimphove, Rz. 44 ff. 92 Zu den sozialen Grundrechten in der Charta vgl. Blank (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Grundrechtecharta, 2002; Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 13 Rz. 129. 93 Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl. EU C 310 v. 16.12.2004, S. 1. 94 Art. 6 Abs. 1 des Vertrags über die Europäische Union (konsolidierte Fassung, ABl. EU C 115/13 v. 9.8.2008); der Verweis richtet sich auf die Grundrechtecharta in ihrer angepassten Fassung (ABl. EU C 303/1 v. 14.12.2007). Allerdings haben Polen und das Vereinigte Königreich sowie später dann noch die Tschechische Republik Protokollvorbehalte erklärt (ABl. EU C 115/313 v. 9.8.2008); Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rats – Rat in Brüssel 29./30.10.2009, „KlausKlausel“ (15265/1/09 REV 1 Anlage I); dazu ausführlich Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf, EUV/ AEUV, Art. 6 EUV Rz. 23 ff. 95 Vgl. dazu etwa Calliess/Ruffert/Cremer, EUV/AEUV, Art. 258 AEUV Rz. 2 f.; Grabitz/Hilf/Nettesheim/U. Karpenstein, EUV/AEUV, Art. 258 AEUV Rz. 59. 96 EuGH v. 28.4.2005 – C-329/04, EuzW 2005, 444; v. 23.2.2006 – C-43/05, EuZW 2006, 216. 97 Vgl. dazu Preis/Sagan/Roloff, EuArbR, § 2; ferner Calliess/Ruffert/Wegener, EUV/AEUV, Art. 267 AEUV Rz. 1 ff.

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Rechtsquellen

Rz. 1.38 § 1

nationalen Streits erheblich98. Unter diesen Voraussetzungen ist ein nationales letztinstanzliches Gericht sogar zur Vorlage an den EuGH verpflichtet99. Der EuGH versteht sich nicht nur als Hüter der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts, 1.38 sondern als Motor des europäischen Einigungsprozesses. Oberstes Auslegungsprinzip ist die Verwirklichung der Ziele einer Richtlinie und damit letztlich der Harmonisierungsgedanke (sog. „effet utile“)100. Gerade im Arbeitsrecht, wo es nur lückenhafte Regelungen auf europäischer Ebene gibt, hat der EuGH den dadurch entstandenen Handlungsspielraum vielfach genutzt. Besonders wichtige Beispiele mit Bedeutung auch für den öffentlichen Dienst sind die Auslegung der Richtlinie zum Betriebsübergang101, der unterschiedlichen Gleichbehandlungsrichtlinien102, der Arbeitszeitrichtlinie103 und der Befristungsrichtlinie104. 98 Vgl. Calliess/Ruffert/Wegener, EUV/AEUV, Art. 267 AEUV Rz. 3, 19 ff. 99 Vgl. Calliess/Ruffert/Wegener, EUV/AEUV, Art. 267 AEUV Rz. 27 ff. 100 Vgl. dazu Preis/Sagan/Sagan, EuArbR Rz. 1.100 ff.; ferner Calliess/Ruffert/Wegener, EUV/AEUV, Art. 19 EUV Rz. 1616; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Mayer, EUV/AEUV, Art. 19 EUV Rz. 57 f. 101 EuGH v. 18.3.1986 – C-24/85, Slg. 1986, 1119 (Spijkers); v. 14.4.1994 – C-392/92, Slg. 1994, I-1311 = NZA 1994, 545 (Christel Schmitt); v. 11.3.1997 – C-13/95, Slg. 1997, I-1259 = NZA 1997, 433 (Ayse Süzen); v. 20.11.2003 – C-340/01, ArbRB 2004, 6 = Slg. 2003, I-14023 = NZA 2003, 1385 (Carlito Abler); v. 15.12.2005 – C-232, 233/04, Slg. 2005, I-11237 = NZA 2006, 29 (Güney-Görres); v. 12.2.2009 – C-466/07, Slg. 2009, I-0803 = NZA 2009, 251 (Klarenberg); v. 29.7.2010 – C-151/09, Slg. 2010, I-7591 = NZA 2010, 1014 (UGT-FSP); v. 21.10.2010 – C-242/09, ArbRB 2010, 358 = Slg 2010, I-10309 = NZA 2010, 1225 (Albron Catering); v. 20.1.2011 – C-463/09, Slg. 4 ff.2011, I-0095 = NZA 2011, 148 (CLECE); v. 18.7.2013 – C-426/11, ECLI:EU:C:2013:521 (Alemo-Herron); v. 11.9.2014 – C-328/13, ECLI:EU:C:2014:2197 (Österreichischer Gewerkschaftsbund); v. 27.4.2017 – C-680/15, ECLI:EU:C:2017:317 (Asklepios Kliniken); v. 19.10.2017 – C-200/16, ECLI:EU:C:2017:780 (Securitas); v. 7.8.2018 – C-472/16, ECLI:EU:C:2018:646 (Colino Sigüenza). 102 EuGH v. 10.4.1984 – C-14/83, Slg. 1984, 1891 = NJW 1984, 2021 (von Colson und Kamann); v. 13.5.1986 – C-170/84, Slg. 1986, 1607 = NZA 1986, 599 (Bilka); v. 17.5.1990 – C-262/88, Slg. I-1990, 1889 = NZA 1990, 775 (Barber); v. 8.11.1990 – C-177/88, Slg. 1990, 3941 = NZA 1991, 171 (Dekker); v. 17.10.1995 – C-450/93, Slg. 1995, I-3051 = NZA 1995, 1095 (Kalanke); v. 22.4.1997 – C-180/95, Slg. I-1997, 2195 = NZA 1997, 645 (Draempaehl); v. 3.2.2000 – C-207/98, Slg. 2000, 549 = NZA 2000, 255 (Mahlburg); v. 22.11.2005 – C-144/04, ArbRB 2006, 3 = Slg. 2005, I-9981 = NZA 2005, 1345 (Mangold); v. 19.1.2010 – C-555/07, ArbRB 2010, 35 = Slg. 2010, I-0365 = NJW 2010, 427 (Kücükdeveci); v. 8.9.2011 – C-297/10 und C-298/10, NZA 2011, 1100 (Hennigs); v. 19.4.2012 – C-415/10, ECLI:EU:C:2012:217 (Meister); v. 18.12.2014 – C-354/13, ECLI:EU:C:2014:2463 (FOA); v. 18.1.2018 – C-270/16, ECLI:EU:C:2018:17 (Ruiz Conejero); v. 15.1.2019 – C-258/17, ECLI:EU:C:2019:17 (E.B.). 103 EuGH v. 3.10.2000 – C-303/98, Slg. 2000, I-7963 = NZA 2000, 1227 (SIMAP); v. 9.9.2003 – C-151/02, ArbRB 2003, 296 = Slg. 2003, I-8389 = NZA 2003, 1019 (Jaeger); v. 5.10.2004 – C-397/01 bis C 403/01, Slg. 2004, I-8835 = NZA 2004, 1145 (Pfeiffer); v. 20.1.2009 – C-350/06, Slg. 2009, I-00179 = NZA 2009, 135 (Schultz-Hoff); v. 22.11.2011 – C-214/10, ArbRB 2011, 228 = NZA 2011, 1333 (KHS/Schulte); v. 3.12.2012 – C-337/10, NVwZ 2012, 688 (Neidel); v. 12.6.2014 – C-118/13, ECLI:EU:C:2014:1755 (Bollacke); v. 6.11.2018 – C-569/16, ECLI:EU:C:2018:871 (Bauer); v. 6.11.2018 – C-684/16, ECLI:EU:C:2018:874 (Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften); v. 6.11.2018 – C-619/16, ECLI:EU:C:2018:872 (Kreuziger); v. 14.5.2019 – C-55/18, ECLI:EU:C:2019:402 (CCOO). 104 Vgl. etwa EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04, ArbRB 2006, 258 = Slg. 2006, I-6057 = NJW 2006, 2465 (Adeneler); v. 23.4.2009 – C-378/07, C-379/07 und C-380/07, Slg. 2009, I-3071 = AP Richtlinie 99/70/EG Nr. 6 (Angelidaki); v. 26.1.2012 – C-586/10, ArbRB 2012, 35 = NZA 2012, 135 (Kücük); v. 13.3.2014 – C-190/13, ECLI:EU:C:2014:146 (Márquez Samohano); v. 14.9.2016 – C-184/15, ECLI:EU:C:2016:680 (Martínez Andrés, Castrejana López); v. 26.11.2014 – C-22/13,

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§ 1 Rz. 1.39

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

bb) Primärrecht (1) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)

1.39 Der AEU-Vertrag selbst enthält nur wenige arbeitsrechtliche Regelungen. Die ursprüngliche Konzeption der Gründungsverträge, nach der die Gemeinschaft primär eine Wirtschaftsgemeinschaft sein sollte, wirkt bis heute nach, auch wenn seit Mitte der siebziger Jahre die „soziale Dimension“ der Gemeinschaft zunehmend in den Blickpunkt des Interesses gerückt ist105. Von Bedeutung sind neben den Kompetenzgrundlagen für ein Tätigwerden des europäischen Gesetzgebers in Art. 19, 153, 157 Abs. 3 AEUV vor allem die Grundfreiheiten, die der Vertrag mit dem Ziel der Herstellung des Binnenmarkts garantiert (Rz. 1.40 ff.), sowie das Gebot der Entgeltgleichheit von Männern und Frauen nach Art. 157 AEUV (Rz. 1.45).

1.40 Unter den Grundfreiheiten kann für den Bereich des öffentlichen Dienstes vor allem die Freizügigkeit nach Art. 45 AEUV relevant werden, auch wenn Art. 45 Abs. 4 AEUV die Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung gerade aus dem Schutzbereich des Freizügigkeitsrechts ausnimmt (vgl. dazu Rz. 1.44).

1.41 Nach Art. 45 Abs. 1 und 2 AEUV können Beschäftigte aus einem Mitgliedstaat der EU ihren Arbeitsplatz frei im gesamten Unionsgebiet wählen und dürfen dabei weder gegenüber den jeweiligen inländischen Arbeitnehmern des Aufnahmestaates diskriminiert noch überhaupt in der Wahrnehmung von Arbeitnehmermobilität beschränkt werden106. Die weite Deutung des Schutzbereichs der Freizügigkeit im Sinne eines Beschränkungs- und nicht nur eines Diskriminierungsverbots beruht auf der Rechtsprechung des EuGH und entspricht der aktuellen allgemeinen Dogmatik der Grundfreiheiten107. Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten sind nur zulässig, sofern sie durch vertraglich vorgesehene Ausnahmen oder zwingende Gemeinwohlinteressen gerechtfertigt sind und dabei das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt bleibt108. Konkretisiert wird Art. 45 AEUV auf der Ebene des Sekundärrechts durch die Freizügigkeitsverordnung (VO 492/2011/EU109). Sie hat die bisherige VO 1612/68/EWG110 abgelöst.

1.42 Im Zusammenhang mit Art. 45 AEUV hat der EuGH einen weiten Arbeitnehmerbegriff entwickelt, der für das öffentliche Dienstrecht insofern von Bedeutung ist, als auch Beamte Arbeitnehmer sein können. Maßgeblich ist nach der Rechtsprechung des EuGH lediglich, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Ob das Beschäftigungsverhältnis öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich ausgestaltet ist, ist unerheblich111.

105 106

107 108 109 110 111

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ECLI:EU:C:2014:2401 (Mascolo ua.); v. 28.2.2018 – C-46/17, ECLI:EU:C:2018:131 (John); v. 7.3.2018 – C-494/16, ECLI:EU:C:2018:166 (Santoro); v. 25.10.2018 – C-331/17, ECLI:EU:C: 2018:859 (Sciotto). Zur Entwicklung vgl. Preis/Sagan/Sagan, EuArbR, Rz. 1.1 ff.; ferner Krimphove, Rz. 21 ff.; Schiek, S. 53 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank/Steinmeyer, § 11; Thüsing, § 1 Rz. 11 ff. Zur Arbeitnehmerfreizügigkeit vgl. Fuchs/Marhold, S. 35 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank/Hanau, § 15; Krimphove, S. 105 ff.; Runggaldier, Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer im EG-Vertrag, EAS B 2000; Schiek, S. 220 ff.; EuArbR/Steinmeyer, Art. 45 AEUV Rz. 1 ff.; Schlachter/Heinig/ Terhechte, EnzEur (Bd. 7), § 1; Thüsing, § 2. EuGH v. 15.12.1995 – C-415/93, Slg. 1995, 4921, 5069 = NZA 1996, 191 (Bosman). Vgl. dazu Calliess/Ruffert/Brechmann, EUV/AEUV, Art. 45 AEUV Rz. 50 ff. ABl. EU Nr. L 141 v. 27.5.2011, S. 1. ABl. EG Nr. L 257 v. 19.10.1968, S. 2. EuGH v. 21.5.1985 – C-248/83, Slg. 1985, 1459 (Rz. 16) (Kommission/Bundesrepublik Deutschland); v. 2.10.1997 – C-1/95, Slg. 1997, I-5253 (Rz. 17 ff.) = NZA 1997, 1277 (Gerster), außer-

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Rz. 1.44 § 1

Unter Berufung auf Art. 45 AEUV (und Art. 7 VO 1612/68/EWG112) hat der EuGH etwa nationale Regelungen über die Bewerbung für den öffentlichen Dienst oder den Zeitaufstieg in einer bestimmten Vergütungsgruppe verworfen, die in einem anderen Mitgliedstaat absolvierte Beschäftigungszeiten außer Betracht ließen113. Fremdsprachenlektoren aus EUMitgliedstaaten darf der Zugang zu regulären Beschäftigungsverhältnissen an Universitäten nicht im Verhältnis zu solchen aus dem Inland erschwert werden114. Andererseits hat der EuGH es zugelassen, dass unter bestimmten Voraussetzungen die Gewährung einer Beihilfe vom Erfordernis des Wohnorts im die Beihilfe gewährenden Mitgliedstaat abhängig gemacht wird115. Die Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen ist in einer Richtlinie geregelt (RL 2005/36/EG116). Nationale Regelungen über die Qualifikationsanforderungen bei nicht reglementierten Berufen, die außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie liegen, sind an Art. 45 AEUV zu messen117.

1.43

Allerdings ist zu beachten, dass Art. 45 Abs. 4 AEUV eine Bereichsausnahme für die öffentliche Verwaltung enthält118. Als Ausnahme von dem für den Binnenmarkt und die Entwicklung der Union zentralen Grundsatz der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist Art. 45 Abs. 4 AEUV jedoch eng auszulegen119. Der EuGH interpretiert deshalb den Begriff der öffentlichen Verwaltung funktionell, nicht institutionell120. Es kommt also nicht (wie bei der Zuordnung eines Beschäftigungsverhältnisses zum öffentlichen Dienst, dazu Rz. 1.2, 1.30) darauf an, dass der Arbeitgeber eine juristische Person des öffentlichen Rechts ist. Öffentliche Verwaltung nach Art. 45 Abs. 4 AEUV liegt nach der Rechtsprechung des EuGH vielmehr nur vor, wenn hoheitliches Handeln gegeben ist und es um Aufgaben geht, die auf die Wahrung der allgemei-

1.44

112 113 114

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dem v. 6.11.2003 – C-413/01, Slg. 2003, I-13187 = NZA 2004, 87 (Ninni-Orasche); v. 22.6.2016 – C-20/16, ECLI:EU:C:2017:488 (Rz. 33 ff.) (Bechtel); vgl. dazu Fuchs/Marhold, S. 39 ff.; EuArbR/Steinmeyer, Art. 45 AEUV Rz. 11; Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 14; Krimphove, Rz. 169 ff. Nunmehr Art. 7 VO 492/2011/EU. EuGH v. 15.1.1998 – C-15/96, Slg. 1998, I-47 = NZA 1998, 205 (Schöning – Kougebetopoulou); v. 12.5.2005 – C-278/03, Slg. 2005, I-3747 = EAS Teil C EG-Vertrag (1999) Art. 39 Nr. 14 (Kommission/Italien); v. 23.2.2006 – C-205/04, Slg. 2006, I-0031 (Kommission/Spanien). Vgl. EuGH v. 30.5.1989 – C-33/88, Slg. 1989, 1591 = NVwZ 1990, 851 (Allué I); v. 2.8.1993 – C-259/91 ua., Slg. 1993, I-4309 = JZ 1994, 94 (Allué II ua.); v. 20.10.1993 – C-272/92 ua., Slg. 1993, I-5185 = NZA 1994, 115 (Spotti); v. 26.6.2001 – C-212/99, Slg. 2001, I-4923 = NZA 2001, 1193 (Kommission/Italien). Vgl. EuGH v. 23.3.2004 – C-138/02, Sgl. 2004, I-2703 = EuZW 2004, 507 (Collins); vgl. aber EuGH v. 11.9.2008 – C-228/07, Slg. 2008, I-6989 = EAS Teil C VO (EWG) 1408/71 Art. 4 Nr. 36 (Petersen). ABl. EG Nr. L 255 v. 30.9.2005, S. 22. Vgl. EuGH v. 6.6.2000 – C-281/98, Slg. 2000, I-4139 = AP EG Art. 39 Nr. 3 (Angonese); vgl. auch Thüsing, § 2 Rz. 74 ff. Vgl. dazu Fuchs/Marhold, S. 51 ff.; Calliess/Ruffert/Brechmann, EUV/AEUV, Art. 45 AEUV Rz. 107 ff.; EuArbR/Steinmeyer, Art. 45 AEUV Rz. 126 ff.; Schlachter/Heinig/Terhechte, EnzEur (Bd. 7), § 1 Rz. 66; Thüsing § 2 Rz. 19. EuGH v. 12.2.1974 – C-152/73, Slg. 1974, 153 (Rz. 4) (Sotgiu); v. 3.7.1986 – C-66/85, Slg. 1986, 2121 (Rz. 26) = NVwZ 1987, 41 (Lawrie-Blum); v. 30.9.2003 – C-405/01, Slg. 2003, I-10391 = EAS Teil C EG-Vertrag (1999) Art. 39 Nr. 2 (Rz. 44) (Colegio de Oficiales); v. 10.9.2014 – C-270/13, ECLI:EU:C:2014:2185 (Rz. 43) (Haralambidis); Fuchs/Marhold, S. 36 f.; kritisch zu dem Argument, dass Ausnahmevorschriften eng auszulegen seien, Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 2. Aufl. 2010, § 11 Rz. 62 ff. Vgl. dazu Calliess/Ruffert/Brechmann, Art. 45 AEUV Rz. 111.

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§ 1 Rz. 1.44

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

nen Belange des Staates und anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind121. In der Tendenz gilt daher die Bereichsausnahme des Art. 45 Abs. 4 AEUV vor allem für die Justiz oder für die Verwaltung, sofern hier hoheitliche Tätigkeiten betroffen sind (und die damit verbundenen Befugnisse auch tatsächlich regelmäßig ausgeübt werden und nicht nur einen sehr geringen Teil der Tätigkeit ausmachen122). Im Bereich der Daseinsvorsorge hingegen bleibt es bei der Gewährleistung der Arbeitnehmerfreizügigkeit123. In diese Richtung geht die Rechtsprechung des EuGH bspw. für die Beschäftigten in den Versorgungssystemen für Wasser, Gas und Elektrizität, im Forschungs- und Bildungsbereich, im Gesundheits- und Verkehrswesen oder auch im Bereich von Post- und Fernmeldewesen sowie bei Rundfunk und Fernsehen124.

1.45 Von Bedeutung für den öffentlichen Dienst ist weiterhin das Gebot der Entgeltgleichheit von Männern und Frauen125, das in Gestalt des Art. 119 EWGV bereits in den Verträgen von Rom aus dem Jahr 1957 enthalten war (später Art. 141 EGV, nun Art. 157 AEUV). Für gleiche oder gleichwertige Arbeit ist gleiches Entgelt zu zahlen. Die Interpretation und Bedeutung dieser Regelung sind entscheidend durch die Rechtsprechung des EuGH geprägt. Das Gebot der Entgeltgleichheit hat unmittelbare Wirkung, so dass sich der Einzelne gegenüber staatlichen Behörden und vor den nationalen Gerichten darauf berufen kann126. Das betrifft nicht nur gesetzliche Regelungen, sondern auch Tarifverträge, Dienstvereinbarungen und Arbeitsverträge127. Der Entgeltbegriff ist weit: Unter Art. 157 AEUV fallen alle Zahlungen des Arbeitgebers, die im Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis geleistet werden, vgl. Art. 157 Abs. 2 AEUV, namentlich also auch freiwillige Leistungen und Leistungen im Zusammenhang mit einer Altersversorgung128. Ebenso wie im Bereich der Freizügigkeit (dazu Rz. 1.42) vertritt der EuGH auch bei Art. 157 AEUV einen weiten Arbeitnehmerbegriff, der Beamte einbe-

121 EuGH v. 17.12.1980 – C-149/79, Slg. 1980, 3881 (Rz. 10 f.) = NJW 1981, 2635 (Kommission/ Belgien); v. 3.6.1986 – C-307/84, Slg. 1986, 1725 (Rz. 12) (Kommission/Frankreich); v. 3.7.1986 – C-66/85, Slg. 1986, 2121 (Rz. 16) = NVwZ 1987, 41 (Lawrie-Blum); v. 16.6.1987 – C-225/85, Slg. 1987, 2625 (Rz. 9) = NVwZ 1989, 347 (Komission/Italien); v. 27.11.1991 – C-4/91, Sgl. 1991, I-5627 = NVwZ 1992, 1181 (Bleis); v. 2.7.1996 – C-473/93, Slg. 1996, I-3207 (Rz. 2) = NJW 1996, 3199 (Kommission/Luxemburg); v. 2.7.1996 – C-173/94, Slg. 1996, I-3265 (Rz. 2) = EuZW 1996, 768 (Kommission/Belgien); v. 2.7.1996 – C-290/94, Slg. 1996, I-3285 (Rz. 2) = EuZW 1997, 128 (Kommission/Griechenland); v. 30.9.2003 – C-405/01, Slg. 2003, I-10391 = EAS Teil C EG-Vertrag (1999) Art. 39 Nr. 2 (Rz. 39) (Colegio de Oficiales); v. 10.9.2014 – C-270/13, ECLI:EU:C:2014:2185 (Rz. 44) (Haralambidis); dazu und zur Kritik in der Literatur Calliess/Ruffert/Brechmann, EUV/AEUV, Art. 45 AEUV Rz. 109 ff. 122 EuGH v. 30.9.2003 – C-405/01, Slg. 2003, I-10391 = EAS Teil C EG-Vertrag (1999) Art. 39 Nr. 2 (Rz. 44) (Colegio de Oficiales); v. 30.9.2003 – C-47/02, Slg. 2003, I-10447 (Rz. 63) = DVBl 2004, 182 (Anker ua.); v. 10.9.2014 – C-270/13, ECLI:EU:C:2014:2185 (Rz. 58 f.) (Haralambidis). 123 Pfohl, Rz. 24; vgl. auch EuArbR/Steinmeyer, Art. 45 AEUV Rz. 134. 124 Vgl. die Zusammenstellungen bei Calliess/Ruffert/Brechmann, Art. 45 AEUV Rz. 108 sowie bei EuArbR/Steinmeyer, Art. 45 AEUV Rz. 137, jeweils mwN zur Rechtsprechung des EuGH. 125 Vgl. dazu, jeweils mwN, Fuchs/Marhold, S. 130 ff.; EuArbR/Franzen, Art. 157 AEUV Rz. 1 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 16; Krimphove, S. 186 ff.; Schiek, S. 227 ff.; Schlachter, Grundsatz des gleichen Entgelts nach Art. 119 EG-Vertrag und der Richtlinie 76/207/EWG, EAS B 4100. 126 EuGH v. 8.4.1976 – RC-43/75, Slg. 1976, 455 = NJW 1976, 2068 (Defrenne II); v. 17.5.1990 – C-262/88, Sgl. I 1990, 1889 = NZA 1990, 775 (Barber). 127 Vgl. EuGH v. 15.12.1994 – C-399/92 ua., Slg. 1994, I-5727 = NZA 1995, 218 (Stadt Lengerich/ Angelika Helmig, ua.). 128 Vgl. die Zusammenstellung bei EuArbR/Franzen, Art. 157 AEUV Rz. 19 mwN zur Rechtsprechung des EuGH sowie Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 157 AEUV Rz. 20 ff.

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Rz. 1.45a § 1

zieht129. Auch andere wesentliche Bausteine der Antidiskriminierungsdogmatik sind im Zusammenhang mit Art. 119 EWGV/Art. 141 EGV entwickelt oder weiterentwickelt worden, vor allem die Einbeziehung der Fälle mittelbarer Diskriminierung in den Schutzbereich des Lohngleichheitsgebots130. Untersagt sind also nicht nur Entgeltunterschiede, die unmittelbar an das Geschlecht anknüpfen, sondern auch Regelungen, die dem Anschein nach neutral sind, tatsächlich aber Frauen oder Männer in besonderer Weise benachteiligen können. Das klassische Beispiel ist das Teilzeitarbeitsverhältnis, das auch mit Bezug auf den öffentlichen Dienst die Gerichte mehrfach beschäftigt hat. Der europäische Gesetzgeber hat das Lohngleichheitsgebot schon früh in seine Richtliniengebung einbezogen131. Auf nationaler Ebene sind heute §§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 2, 7 AGG zu beachten. (2) Charta der Grundrechte der Europäischen Union Die EU-Grundrechtecharta ist Teil des europäischen Primärrechts (Art. 6 Abs. 1 EUV). Sie richtet sich zunächst an Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union sowie die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union, Art. 51 Abs. 1 GRCh132. Aufgrund der Rechtsprechung des EuGH entfaltet die EU-Grundrechtecharta allerdings in den letzten Jahren eine zunehmende Dynamik. In mehreren arbeitsrechtlichen Entscheidungen hat der EuGH bei der Interpretation von Richtlinien auf den europäischen Grundrechtskatalog Bezug genommen. Auf diese Weisung kommt der EU-Grundrechtecharta jedenfalls eine mittelbare Wirkung auch bei der Auslegung nationaler Umsetzungsregelungen zu133, zumal der EuGH es dem nationalen Richter auferlegt, nationales Recht unangewendet zu lassen, das der Charta entgegensteht134. Konkrete Auswirkungen hat diese Rechtsprechung zunächst im Bereich des Diskriminierungsverbots nach Art. 21 GRCh135 gehabt, der Rückgriff auf die EU-Grundrechtecharta betrifft aber etwa auch das Urlaubs-136 und das Ar129 EuGH v. 21.5.1985 – C-248/83, Slg. 1985, 1459 (Rz. 16) (Kommission/Bundesrepublik Deutschland); v. 2.10.1997 – C-1/95, Slg. 1997, I-5253 (Rz. 17 ff.) = NZA 1997, 1277 (Gerster); v. 13.1.2004 – C-256/01, Slg. 2004, I-873 (Rz. 66 f.) = EuZW 2004, 210 (Allonby); dazu EuArbR/ Franzen Art. 157 AEUV Rz. 13; Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 157 AEUV Rz. 14. 130 Vgl. ua. EuGH v. 31.3.1981 – C-96/80, Slg. 1981, 911 = NJW 1981, 2639 (Jenkins); v. 13.5.1986 – C-170/84, Slg. 1986, 1607 = NZA 1986, 599 (Bilka). 131 RL 75/117/EWG v. 10.2.1975 (ABl. EG Nr. L 45/19); vgl. heute Art. 7–13 RL 2006/54/EG v. 5.7.2006 (ABl. EG Nr. L 204/23). 132 Vgl. dazu u.a. Preis/Sagan/Pötters, EuArbR, Rz. 3.8 ff. 133 Zur Frage der Drittwirkung vgl. EuArbR/Mohr, Art. 21 GRCh Rz. 119; Preis/Sagan/Pötters, EuArbR, Rz. 3.25 ff.; Preis/Sagan/Sagan, EuArbR, Rz. 1.163 f.; EuArbR/C. Schubert, Art. 51 GRCh Rz. 33 ff. 134 Grundlegend EuGH v. 19.1.2010 – C-555/07, ArbRB 2010, 35 = Slg. 2010, I-0365 = NJW 2010, 427 (Kücükdeveci) im Anschluss an die vor Inkrafttreten der Grundrechtecharta ergangene Entscheidung Mangold v. 22.11.2005 – C-144/04, ArbRB 2006, 3 = Slg. 2005, I-9981 = NZA 2005, 1345. 135 Vgl. EuGH v. 19.1.2010 – C-555/07, ArbRB 2010, 35 = Slg. 2010, I-0365 = NJW 2010, 427 (Kücükdeveci); v. 19.4.2016 – C-441/14, ECLI:EU:C:2016:278 (Dansk Industri); v. 17.4.2018 – C-414/16, ECLI:EU:C:2018:257 (Egenberger); v. 11.9.2018 – C-68/17, ECLI:EU:C:2018:696 (IR). 136 EuGH v. 22.11.2011 – C-214/10, ArbRB 2011, 228 = NZA 2011, 1333 (KHS/Schulte); v. 3.5.2012 – C-337/10, NVwZ 2012, 688 (Rz. 40) (Neidel); v. 8.11.2012 – C-229/11, NZA 2012, 1273 (Heimann); v. 30.6.2016 – C-178/15, ECLI:EU:C2016:502 (Sobczyszyn); v. 6.11.2018 – C-569/16, ECLI:EU:C:2018:871 (Bauer); v. 6.11.2018 – C-684/16, ECLI:EU:C:2018:874 (Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften); v. 6.11.2018 – C-619/16, ECLI:EU:C:2018:872 (Kreuziger).

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1.45a

§ 1 Rz. 1.45a

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

beitszeitrecht (Art. 31 Abs. 2 GRCh)137 sowie den gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 47 GRCh)138. cc) Sekundärrecht

1.46 Die Umsetzung und Konkretisierung der Bestimmungen des AEU-Vertrags erfolgen durch sekundäres Unionsrecht. Verordnungen gelten unmittelbar, bedürfen also keines innerstaatlichen Umsetzungsakts, Art. 288 Abs. 2 AEUV. Im Bereich des Arbeitsrechts sind sie vor allem als Mittel zur Durchsetzung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer von Bedeutung, etwa durch Regelungen zum Aufenthaltsrecht, zur Erteilung einer Arbeitserlaubnis, aber auch zum Sozialund Sozialversicherungsrecht139.

1.47 Richtlinien hingegen regeln die jeweilige Materie nicht selbst mit unmittelbarer Wirkung, sondern sind an die Mitgliedstaaten gerichtet und verpflichten diese innerhalb einer bestimmten Frist zur Verwirklichung der in der Richtlinie vorgegebenen Ziele. Erst dann und dadurch wird der Richtlinieninhalt Teil der nationalen Rechtsordnung, Art. 288 Abs. 3 AEUV140.

1.48 Allerdings können sich nach ständiger Rechtsprechung des EuGH Bürger von EU-Mitgliedstaaten unmittelbar auf ihnen günstige Richtlinienbestimmungen berufen, sofern diese hinreichend konkret formuliert wurden („self-executing“) und der jeweilige nationale Gesetzgeber die in der Richtlinie gesetzte Frist zur Umsetzung in nationales Recht ergebnislos hat verstreichen lassen141. Diese unmittelbare Wirkung besteht aber nur im Verhältnis zum jeweiligen Mitgliedstaat, also in Form einer vertikalen Direktwirkung142. Eine sog. horizontale Wirkung, also in Rechtsverhältnissen zwischen einzelnen Bürgern, lehnt der EuGH ab143.

1.49 Für den öffentlichen Dienst ist diese Unterscheidung im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Zuordnung des Bereitschaftsdienstes zur Arbeitszeit relevant geworden. Nachdem der EuGH unter Berufung auf die RL 93/104/EG144 Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit qualifiziert hatte145 und im Gefolge dieser Rechtsprechung das deutsche Arbeitszeitrecht

137 EuGH v. 14.5.2019 – C-55/18, ECLI:EU:C:2019:402 (CCOO). 138 EuGH v. 17.4.2018 – C-414/16, ECLI:EU:C:2018:257 (Egenberger); v. 11.9.2018 – C-68/17, ECLI:EU:C:2018:696 (IR). 139 Vgl. dazu Coester/Denkhaus, Die Verordnungen zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer, EAS B 2100; Fuchs/Marhold, S. 38 f. 140 Vgl. dazu Hanau/Steinmeyer/Wank/Steinmeyer/Wank, § 10 Rz. 70 ff.; Krimphove, Rz. 96 ff.; Schiek, S. 91 ff.; umfassend Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, 2003, S. 85 ff. 141 Vgl. dazu Preis/Sagan/Sagan, EuArbR, Rz. 1.124 ff. 142 EuGH v. 4.12.1974 – C-41/74, Slg. 1974, 1337 (van Dyun); v. 14.7.1994 – C-91/92, Slg. 1994, I-3325 = NJW 1994, 2473 (Facini Dori); v. 5.10.2004 – C-397/01 bis C 403/01, Slg. 2004, I-8835 = NZA 2004, 1145 (Pfeiffer). 143 EuGH v. 26.2.1986 – C-152/84, Slg. 1986, 723 = NJW 1986, 2178 (Marshall); v. 14.7.1994 – C-91/92, Slg. 1994, I-3325 = NJW 1994, 2473 (Facini Dori); v. 5.10.2004 – C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835 = NZA 2004, 1145 (Pfeiffer); v. 15.4.2008 – C-286/06, ECLI:EU:C:2008:586 (Impact); v. 21.10.2010 – C-227/09, ECLI:EU:C:2010:624 (Accardo); v. 14.1.2012 – C-282/10, ECLI:EU:C:2012:33 (Dominguez); v. 15.1.2014 – C-176/12, ECLI:EU:C:2014:2 (Association de médiation sociale). 144 Arbeitszeitrichtlinie v. 23.11.1993 (ABl. EG Nr. L 307/18); RL 2003/88 v. 4.11.2003 (ABl. EG Nr. L 299/9). 145 EuGH v. 3.10.2000 – C-303/98, Slg. 2000, I-7963 = NZA 2000, 1227 (SIMAP).

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Rechtsquellen

Rz. 1.50 § 1

nicht als richtlinienkonform gewertet worden war146, stand zur Debatte, ob sich etwa Ärzte in einem deutschen Krankenhaus unmittelbar auf die Richtlinie berufen konnten oder nicht. Das BAG differenzierte mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH, verneinte die Frage in privaten Krankenhäusern oder ähnlichen Gesundheitseinrichtungen und -organisationen, bejahte sie aber für solche in staatlicher Trägerschaft (vertikale Direktwirkung)147. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass der EuGH die vertikale Direktwirkung nicht etwa nur dann zum Tragen kommen lässt, wenn der Staat als Hoheitsträger handelt, sondern auch dann, wenn er als Arbeitgeber auftritt, entweder unmittelbar bei Arbeitsverhältnissen mit dem Staat, aber auch, wie in den Krankenhausfällen, bei öffentlichen Unternehmen in Privatrechtsform und sogar bei bloßer Mehrheitsbeteiligung des Staates an einem privaten Unternehmen148. Zusätzlich wirken Richtlinien durch den vom EuGH propagierten Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung auf die Interpretation nationalen Rechts. In Umsetzung des Gebots der Unionstreue nach Art. 4 Abs. 3 AEUV ist das nationale Recht im Sinne einer größtmöglichen Wirksamkeit des unionsrechtlichen Regelungsziels auszulegen149. Wenn das nationale Recht Auslegungsspielräume lässt, dann ist eine Interpretation im Einklang mit den Vorgaben der Richtlinie geboten. Das gilt jedenfalls, wenn der Gesetzgeber bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist nicht tätig geworden ist150. Außerdem darf nicht der klare Wortlaut der je-

146 EuGH v. 9.9.2003 – C-151/02, Slg. 2003, I-8389 = ArbRB 2003, 296 = NZA 2003, 1019 (Jaeger); v. 5.10.2004 – C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835 = NZA 2004, 1145 (Pfeiffer); BAG v. 18.2.2003 – 1 ABR 2/02, ArbRB 2003, 196 = NZA 2003, 742. 147 BAG v. 18.2.2003 – 1 ABR 2/02, ArbRB 2003, 196 = NZA 2003, 742 (749 f.); vgl. auch LAG Niedersachsen v. 16.9.2003 – 9 Sa 650/02, NZA-RR 2004, 183. 148 EuGH v. 12.7.1990 – C-188/89, Slg. 1990, I-3313 = NJW 1991, 3086 (Foster); v. 14.9.2000 – C-343/98, Slg. I 2000, 6659 = NZA 2000, 1279 (Collino und Chiappero); v. 26.5.2005 – C-297/03, Slg. 2005, I-4305 = EAS Teil C RL 77/187/EWG Art. 3 Nr. 19 (Sozialhilfeverband Rohrbach); dazu ausführlich Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, 2003, S. 101 f., 126 ff. mwN. 149 Vgl. ua. EuGH v. 10.4.1984 – C-14/83, Slg. 1984, 1891 = NJW 1984, 2021 (von Colson und Kamann); v. 10.4.1984 – C-79/83, Slg. 1984, 1921 = AP BGB § 611a Nr. 2 (Harz); v. 8.11.1990 – C-177/88, Slg. 1990, 3941 = NZA 1991, 171 (Dekker); v. 13.11.1990 – C-106/89, Slg. 1990, I-4135 = EAS Teil C EG-Vertrag Art. 189 Nr. 8 (Marleasing); v. 14.7.1994 – C-91/92, Slg. 1994, I-3325 = NJW 1994, 2473 (Facini Dori); v. 5.10.2004 – C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835 = NZA 2004, 1145 (Pfeiffer); v. 4.7.2006 – C-212/04, ArbRB 2006, 258 = Slg. 2006, I-6057 = NZA 2006, 909 (Adeneler); v. 23.4.2009 – C-378/07, C-379/07 und C-380/07, Slg. 2009, I-3071 = AP Richtlinie 99/70/EG Nr. 6 (Angelidaki ua.); v. 10.3.2011 – C-109/09, ArbRB 2011, 130 = Slg. 2011, I-1309 = NZA 2011, 397 (Deutsche Lufthansa); vgl. dazu Riesenhuber/ Roth, Europäische Methodenlehre, 2. Aufl. 2010, § 14; Preis/Sagan/Sagan, EUArbR Rz. 1.142 ff.; umfassend Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, 2003, S. 171 ff. 150 EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04, ArbRB 2006, 258 = Slg. 2006, I-6057 = NZA 2006, 909 (Adeneler); dazu Hofmann, ZIP 2006, 2113; Junker/Aldea, EuZW 2007, 13, zur umstrittenen Rechtssache Mangold (EuGH v. 22.11.2005 – C-144/04, ArbRB 2006, 3 = Slg. 2005, I-9981 = NZA 2005, 1345) vgl. ua. Annuß, BB 2005, 325; Bauer/Arnold, NJW 2006, 6; Hailbronner, NZA 2006, 811; Preis, NZA 2006, 401; Reichold, ZESAR 2006, 55; Schiek, ArbuR 2006, 145; zur Folgeentscheidung Kücükdeveci (EuGH v. 19.1.2010 – C-555/07, ArbRB 2010, 35 = Slg. 2010, I-0365 = NJW 2010, 427) vgl. ua. Höpfner, ZfA 2010, 449; Joussen, ZESAR 2010, 185; Preis/Temming, NZA 2010, 185; Thüsing, ZIP 2010, 199; Waltermann, EuZA 2010, 541.

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1.50

§ 1 Rz. 1.50

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

weiligen Vorschrift entgegenstehen151. Das hatte nach Ansicht des BAG etwa einer richtlinienkonformen Auslegung des ArbZG im Sinne einer Einbeziehung des Bereitschaftsdienstes in die Arbeitszeit Grenzen gesetzt152. Heute zeigt sich das BAG allerdings gegenüber einer richtlinienkonformen Auslegungspraxis offener153 und verweist dafür auf die Vorgabe des EuGH, der von den nationalen Gerichten verlangt, das nationale Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, soweit wie möglich richtlinienkonform auszulegen und alles zu unternehmen, um die volle Wirksamkeit einer Richtlinie zu gewährleisten154.

1.51 Schließlich hat der EuGH in mehreren Fällen die Wirkung von Richtlinien durch einen Amtshaftungsanspruch verstärkt, der dem Bürger eines EU-Mitgliedstaats zustehen soll, wenn und soweit dieser Staat eine Richtlinie nicht oder unzureichend umgesetzt hat und dem Bürger deswegen ein Schaden entstanden ist155.

1.52 Inzwischen existieren Richtlinien zu fast allen Bereichen des Arbeitsrechts, auch wenn bis heute von einer flächendeckenden Regelungsbreite noch längst nicht gesprochen werden kann. Allerdings betreffen die arbeitsrechtlichen Richtlinien bedeutsame Gegenstände:

1.53 Im Bereich des technischen Arbeitsschutzrechts gibt es neben einer Rahmenrichtlinie156 eine Reihe konkretisierender Einzelrichtlinien mit Vorgaben zur Ausgestaltung des Arbeitsplatzes157. Hinzu kommen der soziale Arbeitsschutz (Mutterschutz158, Jugendarbeitsschutz159) sowie der Arbeitszeitschutz160.

1.54 Die Arbeitsbedingungen betreffen etwa Richtlinien zu transparenten und verlässlichen Arbeitsbedingungen161, zu Voraussetzungen für den Abschluss befristeter Arbeitsverhältnisse162, zum Verbot der Schlechterstellung von Teilzeit- gegenüber Vollzeitarbeitsverhältnissen163, zur Arbeitszeit164 und zur Leiharbeit165.

151 Vgl. etwa EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04, ArbRB 2006, 258 = Slg. 2006, I-6057 = NZA 2006, 909 (Adeneler); v. 23.4.2009 – C-378/07, C-379/07 und C-380/07, Slg. 2009, I-3071 = AP Richtlinie 99/70/EG Nr. 6 (Angelidaki ua.). 152 BAG v. 18.2.2003 – 1 ABR 2/02, ArbRB 2003, 196 = NZA 2003, 742 (747 ff.); Neufassung des Arbeitszeitgesetzes durch Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt v. 24.12.2003 (BGBl. I, 3002). 153 Vgl. BAG v. 23.3.2006 – 2 AZR 343/05, NZA 2006, 971. 154 St. Rspr. seit EuGH v. 5.10.2004 – C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835 Rz. 117 = NZA 2004, 1145 (Pfeiffer); v. 23.4.2009 – C-378/07, C-379/07 und C-380/07, Slg. 2009, I-3071 = AP Richtlinie 99/70/EG Nr. 6 (Angelidaki ua.). 155 EuGH v. 19.11.1991 – C-6/90, C-9/90, Slg. 1991, I-5357 = NJW 1992, 165 (Francovich I); v. 16.12.1993 – C-334/92, Slg. 1993, I-6911 = NJW 1994, 921 (Miret). 156 Richtlinie 89/391/EWG v. 12.6.1989 (ABl. EG Nr. L 183/1). 157 Vgl. ua. Richtlinie 89/654/EWG v. 30.11.1989 (Abl. EG Nr. L 393/1); 91/383/EWG v. 25.6.1991 (ABl. EG Nr. L 206/19); Richtlinie 92/85/EWG v. 19.10.1992 (ABl. EG Nr. L 348/1). 158 Richtlinie RL 92/85/EWG v. 19.10.1992 (ABl. EG Nr. L 348/1). 159 Richtlinie 94/33/EG v. 22.6.1994 (ABl. EG Nr. L 216/12). 160 Richtlinie 2003/88/EG v. 4.11.2003 (ABl. EG Nr. L 299/9). 161 Richtlinie 2019/1152 EG v. 11.7.2019 (ABl. EG Nr. L 186/105); vgl. dazu bisher Richtlinie 91/533/EWG v. 14.10.1991 (ABl. EG Nr. L 288/32). 162 Richtlinie 1999/70/EG v. 28.6.1999 (ABl. EG Nr. L 175/43). 163 Richtlinie 97/81/EG v. 15.12.1997 (ABl. EG Nr. L 14/9). 164 Richtlinie 2003/88/EG v. 4.11.2003 (ABl. EG Nr. L 299/9). 165 Richtlinie 2008/104/EG v. 19.11.2008 (ABl. EG Nr. L 327/9).

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Rechtsquellen

Rz. 1.55 § 1

Besonders groß ist die Regelungsdichte in Bezug auf die Antidiskriminierung. Zunächst dominierte hier die Gleichstellung von Frauen und Männern. Geregelt wurden Fragen des Zugangs zum Arbeitsverhältnis und der Gleichbehandlung bei den Arbeitsbedingungen, beim Entgelt und bei der betrieblichen Altersversorgung166. Heute hat die Antidiskriminierungsgesetzgebung auf der Basis von Art. 19 AEUV (früher: Art. 13 EGV) auch die Diskriminierung wegen ethnischer Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, der Behinderung sowie des Alters erfasst167. Neben Fragen der Lohngleichheit sind unter dem Einfluss des europäischen Rechts im öffentlichen Dienst vor allem Fragen des gleichen Zugangs zur Beschäftigung Gegenstand von Auseinandersetzungen gewesen. Hervorzuheben ist hier zunächst ein Urteil des EuGH, das Frauen grundsätzlich auch den Zugang zu Beschäftigungen in der Bundeswehr einschließlich bewaffneter Einheiten einräumt und das zu einer Neufassung von Art. 12a GG geführt hat168. Umstritten waren ferner Quotenregelungen, durch die verschiedene Landesgesetzgeber den Beschäftigtenanteil von Frauen im öffentlichen Dienst erhöhen möchten. Der EuGH akzeptiert solche Quotenregelungen nur, wenn sie sich nicht auf eine schematische Bevorzugung von Frauen bei gleicher Qualifikation beschränken, sondern eine einzelfallbezogene Beurteilung unter Berücksichtigung der persönlichen Situation aller Bewerber vorsehen169. Später standen Fragen der Altersdiskriminierung im Vordergrund. Für den öffentlichen Dienst sind etwa die Entscheidungen des EuGH zur automatischen Beendigung von Arbeitsverhältnissen aufgrund von Altersgrenzen170, zu Höchstaltersgrenzen bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst171 und zu nach dem Alter gestaffelten tariflichen Vergütungsgruppen172 von Interesse.

166 Richtlinie 76/207/EWG v. 9.2.1976 (ABl. EG Nr. L 39/40); Richtlinie 75/117/EWG v. 10.2.1975 (ABl. EG Nr. L 45/19); Richtlinie 86/378/EWG v. 24.7.1986 (ABl. EG Nr. L 225/40); Richtlinie 97/80/EG v. 15.12.1997 (ABl. EG Nr. L 14 v. 20.1.1998, S. 6). Diese Richtlinien sind nunmehr zusammengefasst in Richtlinie 2006/54/EG v. 5.7.2006 (ABl. EU Nr. L 204/23). 167 Richtlinie 2000/43/EG v. 29.6.2000 (ABl. EG Nr. L 180/22); Richtlinie 2000/78/EG v. 27.11.2000 (ABl. EG Nr. L 303/16). 168 EuGH v. 11.1.2000 – C-285/98, Slg. 2000, I-69 = NZA 2000, 137 (Kreil); vgl. aber auch EuGH v. 15.5.1986 – C-222/84, Slg. 1986, 1651 = AP EWG-Vertrag Art. 119 Nr. 18 (Johnston); v. 26.10.1999 – C-273/97, Slg. 1999, I-7403 = NZA 2000, 25 (Sirdar). 169 EuGH v. 17.10.1995 – C-450/93, Slg. 1995, I-3051 = NZA 1995, 1095 (Kalanke); v. 11.11.1997 – C-409/95, Slg. 1997, I-6363 = NZA 1997, 1337 (Marschall); v. 28.3.2000 – C-158/97, Slg. 2000, I-1875 = NZA 2000, 473 (Badeck); v. 6.7.2000 – C-407/98, Slg. 2000, I-5539 = NJW 2000, 2653 (Abrahamsson, Anderson/Fogelqvist); v. 19.3.2002 – C-476/99, ArbRB 2002, 137 = Slg. 2002, I-2891 = NJW 2002, 1859 (Lommers); vgl. dazu Fuchs/Marhold, S. 97 ff. 170 EuGH v. 16.10.2007 – C-411/05, ArbRB 2007, 350 = Slg. 2007, I-8531 = NJW 2007, 3339 (Palacios de la Villa); v. 5.3.2009 – C-388/07, ArbRB 2009, 97 = Slg. 2009, I-1569 = NZA 2009, 305 (Age Concern); v. 12.10.2010 – C-45/09, ArbRB 2010, 327 = Slg. 2010, I-939 = NZA 2010, 1167 (Rosenbladt); v. 18.11.2010 – C-250/09 und C-268/09, Slg. 2010 I-11869 = NJW 2011, 42 (Georgiev); v. 21.7.2011 – C-159/10, ArbRB 2011, 327 und 160/10, AP Richtlinie 2000/78/EG Nr. 21 (Fuchs/Köhler); v. 5.7.2012 – C-141/11, NZA 2012, 785 (Hörnfeldt); jeweils zu Altersgrenzen, die an das Regelrentenalter anknüpfen; vgl. demgegenüber zu Altersgrenzen, die an ein früheres Lebensalter anknüpfen EuGH v. 13.9.2011 – C-447/09, ArbRB 2011, 291 = NZA 2011, 1039 (Prigge). 171 EuGH v. 12.1.2010 – C-229/08, ArbRB 2010, 35 = Slg. 2010, I-0001 = NVwZ 2010, 244 (Wolf). 172 EuGH v. 8.9.2011 – C-297/10 und C-298/10, NZA 2011, 1100 (Hennigs).

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1.55

§ 1 Rz. 1.56

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

1.56 Von enormer praktischer Bedeutung für den Arbeitnehmerschutz sind schließlich Richtlinien zum Verfahren bei Massenentlassungen173 sowie zum Schutz der Arbeitnehmer bei Betriebsübergängen174.

1.57 Auch den Bereich des kollektiven Arbeitsrechts hat die europäische Gesetzgebung inzwischen erreicht175: Für den öffentlichen Dienst relevant ist hier allerdings bislang nur die im Jahr 2002 verabschiedete Rahmenrichtlinie zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer176, die von den Mitgliedstaaten die Schaffung zumindest rudimentärer Strukturen der Arbeitnehmerbeteiligung in Form von Information und Konsultation verlangt. Die Richtlinie gilt nach Art. 2 lit. a RL für öffentliche oder private Unternehmen, die eine wirtschaftliche Tätigkeit verfolgen177. Nach dem Maßstab des § 130 BetrVG greifen hier entweder das BetrVG oder das BPersVG bzw. die Landespersonalvertretungsgesetze. b) Verfassungsrechtliche Grundlagen

1.58 Im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung enthält das GG keinen eigenständigen Abschnitt über die Arbeits- und Sozialordnung. Auch eine bestimmte Wirtschaftsordnung ist nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht explizit vorgegeben178. Allerdings existieren für den Bereich des Arbeitsrechts im Allgemeinen und damit auch für den des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst durchaus verfassungsrechtliche Vorgaben, vor allem in Gestalt der Grundrechte. Das sind neben der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), das allgemeine Freiheitsrecht und daraus abgeleitet der Grundsatz der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG), der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG), die Religionsfreiheit (Art. 4 GG), die Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG), die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG), der Schutz der Familie (Art. 6 GG), die Garantie der Berufsfreiheit (Art. 12 GG), die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG). Von großer Bedeutung für Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst sind schließlich Art. 33 Abs. 2 und 5 GG.

1.59 Die Verfassungen der Länder sind für das öffentliche Dienstrecht nur insoweit relevant, als sie in Übereinstimmung mit Art. 1–18 GG Grundrechte gewährleisten. Ansonsten gilt nach Art. 31 GG der Grundsatz, dass Bundesrecht Landesrecht bricht.

1.60 Arbeitsrecht ist – sieht man von dem öffentlich-rechtlich ausgeformten Arbeitsschutzrecht ab – Privatrecht. Auch der öffentliche Arbeitgeber wird nicht hoheitlich tätig und ist deshalb im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses wie ein Privatrechtssubjekt zu behandeln179. Da Grundrechte in erster Linie als Abwehr- und Freiheitsrechte des Individuums im Verhältnis zum Staat konzipiert sind, bedarf ihre Wirkung in Privatrechtsverhältnissen einer eigenständigen Begründung (Drittwirkung der Grundrechte). Anderes gilt nur für die Koalitionsfreiheit, 173 Richtlinie 98/59/EG v. 20.7.1998 (ABl. EG Nr. L 225/16). 174 Richtlinie 2001/23/EG v. 12.3.2001 (ABl. EG Nr. L 82/16). 175 Richtlinie 94/45/EG v. 22.9.1994 (ABl. EG Nr. L 254/64); Richtlinie 2001/86/EG v. 8.10.2001 (ABl. EG Nr. L 294/22); Richtlinie 2003/72/EG v. 22.7.2003 (ABl. EU Nr. L 207/25); Richtlinie 2005/56/EG v. 26.10.2005 (ABl. EU Nr. L 310/1). 176 Richtlinie 2002/14/EG v. 11.3.2002 (ABl. EG Nr. L 80/29). 177 Vgl. dazu Schneider, PersV 2003, 50. 178 BVerfG v. 20.7.1954 – 1 BvR 459/52, NJW 1954, 1235; v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, ua., NJW 1979, 699. 179 Zur Rechtsprechung des EuGH im Zusammenhang mit der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien vgl. aber Rz. 1.48 f.

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Rechtsquellen

Rz. 1.64 § 1

bei der Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG explizit eine unmittelbare Drittwirkung festschreibt: Abreden, welche die positive oder negative Koalitionsfreiheit beeinträchtigen, sind nichtig. Das BAG ging früher noch davon aus, dass die Grundrechte als „Ordnungsgrundsätze für das soziale Leben“ die rechtlichen Beziehungen der Parteien des Arbeitsverhältnisses unmittelbar mitgestalten (sog. unmittelbare Drittwirkung)180.

1.61

Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist die Wirkung hingegen mittelbar181. Zwar sei Adressat der Grundrechte unmittelbar der Staat. Aber der Grundrechtsabschnitt enthalte eine objektive Wertentscheidung, die für alle Bereiche des Rechts – also auch das Privatrecht – Geltung beanspruche182. Die Grundrechte wirken demnach auf die Rechtsbeziehung der Privatrechtssubjekte mittelbar über die auslegungsfähigen und ausfüllungsbedürftigen Begriffe183 und die Generalklauseln des Privatrechts ein, also etwa über §§ 138, 242, 626 BGB, § 106 GewO. Das BAG ist inzwischen auf die Linie des BVerfG eingeschwenkt und argumentiert nun ebenfalls auf der Basis der mittelbaren Drittwirkung184.

1.62

In neuerer Zeit wird die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht zunehmend mit der Schutzfunktion der Grundrechte im Privatrecht begründet185. Danach erlegen die Grundrechte unmittelbar nur der staatlichen Gewalt Pflichten auf. Diese Pflichten umfassen allerdings auch Schutzpflichten gegenüber den Inhabern der Grundrechte. Gesetze, auch solche im Bereich des Privatrechts, müssen diesen Anforderungen gerecht werden und den Schutz von Grundrechten garantieren. Im Arbeitsrecht ist der Gesetzgeber diesem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag weitgehend nachgekommen. Das Arbeitsrecht präsentiert sich als umfassendes Arbeitnehmerschutzrecht. Aber nicht nur der Gesetzgeber, sondern die öffentliche Gewalt insgesamt (also auch die Justiz) ist dem Schutzgebot der Grundrechte unterworfen186. Sie hat in Privatrechtsverhältnissen sowohl die Privatautonomie als grundgesetzlich geschützt zu beachten, als auch dafür Sorge zu tragen, dass weniger durchsetzungsfähigen Privatrechtssubjekten der Grundrechtsschutz nicht entzogen wird, sog. „Untermaßverbot“187.

1.63

Im Arbeitsleben spielt die Schutzgebotslehre deshalb eine besondere Rolle, weil hier aufgrund einer gesetzgeberischen Prognose jedenfalls typischerweise von einem Ungleichgewicht der Verhandlungspositionen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer auszugehen ist188. Damit ist eine Grundvoraussetzung für ein Eingreifen der öffentlichen Gewalt zur Gewährleistung des

1.64

180 BAG v. 3.12.1954 – 1 AZR 249/56, AP KSchG § 13 Nr. 2 = DB 1955, 147; grundlegend Nipperdey, RdA 1950, 121; vgl. ferner Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, 1961; Gamillscheg, AcP 164 (1964), 386; Gamillscheg, Grundrechte im Arbeitsverhältnis (1989). 181 BVerfG v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/51, NJW 1958, 257 (sog. Lüth-Urteil); BVerfG v. 23.4.1986 – 2 BvR 487/80, NJW 1987, 827. 182 BVerfG v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/51, NJW 1958, 257. 183 Vgl. dazu BVerfG v. 31.5.2016 – 1 BvR 1585/13, GRUR 2016, 690. 184 Seit BAG GS v. 27.2.1985 – GS 1/84, DB 1985, 2197 (2199); angestoßen durch BAG v. 20.12.1984 – 2 AZR 436/83, NZA 1986, 21 (22). 185 BVerfG v. 7.2.1990 – 1 BvR 26/84, NZA 1990, 389; v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89, NJW 1994, 36; grundlegend Canaris, AcP 184 (1984), 201 ff.; vgl. ferner Badura, FS Molitor, 1988, S. 9; Bleckmann, DVBl. 1988, 938; Hermes, NJW 1990, 1764 ff.; Jarass, AöR 110 (1985), 378 ff.; Klein, NJW 1989, 1639 f.; Lerche, FS Steindorff, 1990, S. 903; Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993, S. 37 ff.; MünchArbR/Fischinger, § 7 Rz. 13 ff.; vgl. aus der verfassungsrechtlichen Kommentarliteratur vgl. Dreier/Dreier, GG, Vorb. Rz. 96 ff. 186 Canaris, AcP 184 (1984), 225 ff.; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 24 f. 187 Canaris, JuS 1989, 163; Canaris, AcP 184 (1984), 228 (245). 188 Hierzu Konzen, ZfA 1991, 388 (394).

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§ 1 Rz. 1.64

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

Grundrechtsschutzes gegeben. Schutzbedürftig sind hier insbesondere die Grundrechte aus Art. 1, 2, 3, 4 Abs. 1, 5 Abs. 1, 6 und 12 GG189.

1.65 Bei Tarifverträgen und Dienstvereinbarungen könnte zwar für eine unmittelbare Wirkung der Grundrechte sprechen, dass die Vertragsparteien hier Regelungen mit unmittelbarer und zwingender Wirkung für Dritte treffen (§ 4 Abs. 1 TVG, zur Dienstvereinbarung s. Rz. 1.125)190. Andererseits handelt es sich jedenfalls bei Tarifverträgen um privatrechtliche Verträge191. Dementsprechend befürworten einige Senate des BAG inzwischen eine mittelbare Drittwirkung und berufen sich zum Teil auch auf die Schutzgebotslehre192. Dienstvereinbarungen werden als öffentlich-rechtliche Verträge bezeichnet193, so dass sich hier eine unmittelbare Grundrechtswirkung eher begründen ließe194. In den praktischen Ergebnissen wird dies aber jedenfalls für Dienstvereinbarungen keine Rolle spielen.

1.66 Zur Bedeutung des Art. 33 Abs. 2 GG vgl. § 2, Rz. 2.16 ff. c) Gesetz, Rechtsverordnung und Dienstordnung aa) Grundlagen

1.67 Wichtige Gestaltungsfaktoren des Arbeitsverhältnisses sind Gesetze und Rechtsverordnungen. Das Arbeitsrecht fällt grundsätzlich in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG). Im Arbeitsrecht besteht aus Gründen der sozialen Gleichbehandlung das Bedürfnis nach einer bundeseinheitlichen Regelung. Dementsprechend sind die meisten arbeitsrechtlichen Gesetze Bundesgesetze. Ausnahmsweise landesgesetzlich geregelt ist zB das Recht des Bildungsurlaubes. Für die Rechtsverhältnisse der im Dienste des Bundes und der bundesunmittelbaren Körperschaften des öffentlichen Rechts stehenden Personen weist Art. 73 Abs. 1 Nr. 8 GG dem Bund sogar ausschließliche Gesetzgebungskompetenz zu. Die frühere Rahmenkompetenz nach Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 GG ist mit der Föderalismusreform gefallen, so dass es für Beschäftigte der Länder, Kommunen und nicht bundesunmittelbaren Körperschaften des öffentlichen Rechts in Zukunft bei der Regelung des Art. 74 GG verbleibt (vgl. auch Rz. 1.157 ff.).

189 Zu der zahlreichen Judikatur vgl. die Nachweise etwa bei MünchArbR/Fischinger, § 7 Rz. 40 ff. 190 So die frühere Rechtsprechung des BAG vgl. ua. BAG v. 15.1.1955 – 1 AZR 305/54, NJW 1955, 684; v. 20.4.1977 – 4 AZR 732/75, NJW 1977, 1742; Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl. 1977, Einl. Rz. 57; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964, S. 72 f.; Lerche, FS Steindorff, 1990, S. 906. 191 Vgl. stv. HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 15. 192 BAG v. 25.2.1998 – 7 AZR 641/96, NZA 1998, 715; v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, NZA 2001, 613; v. 24.4.2001 – 3 AZR 329/00, NZA 2002, 912; v. 27.5.2004 – 6 AZR 129/03, ArbRB 2004, 366 = NZA 2004, 1399; v. 18.3.2010 – 6 AZR 156/09, NZA 2010, 824 (827 f.); bislang offen gelassen vom BVerfG, vgl. BVerfG v. 30.5.1990 – 1 BvL 2/83 u.a., NZA 1990, 721 (723); Rechtsprechungsanalyse bei Gornik, NZA 2012, 1399 (1401 ff.); vgl. auch Boemke, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 613 ff.; Dreier/Dreier, GG, Art. 1 III Rz. 41; HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 15 f.; MünchArbR/ Fischinger, § 7 Rz. 24 f.; Waltermann, RdA 1990, 138; Wiedemann/Wiedemann, TVG, Einl. Rz. 261 ff.; Einzelfälle bei HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 17. 193 Vgl. stv. RDW/Weber, PersVR, § 73 Rz. 4. 194 Bei der Betriebsvereinbarung hat das BVerfG eine mittelbare Drittwirkung angenommen, vgl. BVerfG v. 23.4.1986 – 2 BvR 487/80, NJW 1987, 827.

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Rechtsquellen

Rz. 1.73 § 1

Seit dem 3.10.1990 gilt nach Art. 8 EinigungsV das Arbeitsrecht der Altbundesländer im Bereich der ehemaligen DDR unmittelbar, soweit keine besonderen Ausnahme- oder Überleitungsvorschriften bestehen195.

1.68

Bis heute fehlt trotz des entsprechenden Auftrags in Art. 30 Abs. 1 Nr. 1 EinigungsV eine 1.69 einheitliche Kodifikation des Arbeitsrechts196. Die entsprechenden gesetzlichen Vorschriften finden sich verstreut in vielen Einzelgesetzen wieder (Überblick bei Rz. 1.76 ff.). Im Jahr 2007 ist aus dem Kreis der Wissenschaft noch einmal ein Diskussionsentwurf zu einem Arbeitsvertragsgesetz vorgelegt worden197. Im Rang stehen Gesetze unter der Verfassung (zur Wirkung von primärem und sekundärem Unionsrecht Rz. 1.39 ff.; zur Grundrechtswirkung Rz. 1.60 ff.). Zwingende Gesetze gehen ihrerseits Tarifverträgen, Dienstvereinbarungen und dem Einzelarbeitsvertrag vor. Es gilt das Rangprinzip, jedenfalls im Verhältnis zu nachteiligen Regelungen durch die niederrangige Rechtsquelle. Günstigere Regelungen sind möglich, solange nicht ausnahmsweise das Gesetz beiderseitig zwingend ist (zB das Bundespersonalvertretungsrecht, vgl. § 3 BPersVG198). Das Günstigkeitsprinzip ist zwar ausdrücklich nur in § 4 Abs. 3 TVG für das Verhältnis von Tarifvertrag und Arbeitsvertrag niedergelegt (vgl. dazu Rz. 1.94). Vor dem Hintergrund, dass Arbeitsrecht weitgehend Arbeitnehmerschutzrecht ist, rechtfertigt sich aber eine generelle und auch den Bereich des öffentlichen Dienstes erfassende Anwendung des Günstigkeitsprinzips, wenn auf der Basis der an sich niederrangigen Rechtsquelle noch bessere Arbeitsbedingungen für den Arbeitnehmer bestehen als nach dem Mindestmaßstab des Gesetzes199.

1.70

Gesetze können jedoch auch tarifdispositiv sein. In diesem Fall sind Abweichungen zwar nicht durch Einzelarbeitsvertrag, wohl aber durch Tarifvertrag möglich, und zwar auch mit gegenüber dem Gesetz verschlechternder Wirkung. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass bei Tarifverträgen jedenfalls insgesamt ein die Interessen beider Seiten berücksichtigender Ausgleich zustande kommt, so dass es des gesetzlich vorgegebenen Mindestschutzes nicht bedarf (zB § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG, § 622 Abs. 4 Satz 1 BGB, § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG). Meist enthält das Gesetz in solchen Fällen dann eine Bestimmung, wonach die Dispositivität auch Regelungen auf der Basis einer einzelvertraglichen Inbezugnahme erfasst (vgl. zB § 13 Abs. 1 Satz 2 BUrlG, § 622 Abs. 4 Satz 2 BGB, § 4 Abs. 4 Satz 2 EFZG). Da im Falle der einzelvertraglichen Inbezugnahme sachlich eine identische Regelung wie im Tarifvertrag getroffen wird (vgl. Rz. 1.104 sowie § 4, Rz. 4.32 ff.), ist es gerechtfertigt, in diesem Ausnahmefall auch den Arbeitsvertrag von der Tarifdispositivität des Gesetzes profitieren zu lassen.

1.71

Das Gesetz kann schließlich auch schlechthin dispositiv sein oder nur ein Modell für den Fall vorgeben, dass die Parteien keine eigenständige Regelung getroffen haben (vgl. etwa § 612 BGB200).

1.72

Ob es sich um zwingendes oder um dispositives Recht handelt, wird, sofern das Gesetz nicht schon eine ausdrückliche Regelung enthält (§ 619 BGB, § 13 Abs. 1 Satz 3 BUrlG), durch

1.73

195 BGBl. II (1990), 885 ff., vgl. dazu Hanau/Langanke/Preis/Widlak (Hrsg.), Das Arbeitsrecht der neuen Bundesländer, 1991. 196 Vgl. dazu Leuchten/Hund in Tschöpe, Teil 1 A Rz. 1 ff. 197 Henssler/Preis, Diskussionsentwurf eines Arbeitsvertragsgesetzes (ArbVG) – Stand: November 2007, NZA – Beil. 1/2007 (zu Heft 21/2007). 198 Vgl. RDW/Richardi, PersVR, Einl. Rz. 92 f., § 3 Rz. 2 ff. 199 Vgl. BAG v. 3.10.1969 – 3 AZR 400/68, AP AZO § 15 Nr. 12; Müller/Preis, Rz. 25. 200 Vgl. zum Rechtscharakter des § 612 Abs. 1 BGB etwa HWK/Thüsing, § 612 BGB Rz. 3 ff.

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§ 1 Rz. 1.73

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

die Funktion der jeweiligen Regelungen bestimmt: Dispositivität reicht dort aus, wo das Gesetz fehlende vertragliche Bestimmungen nur ergänzen will (zB §§ 614201, 616 BGB202) oder ein gewisses Grundgefüge für das Arbeitsverhältnis vorgibt. Wenn die Norm jedoch entsprechend der eigentlichen Aufgabe des Arbeitsrechts notwendige Schutzfunktionen gegenüber dem Arbeitnehmer wahrnimmt, ist sie zwingend.

1.74 Die Rechtsverordnung steht im Rang unter dem formellen Gesetz und kann nur aufgrund einer den Anforderungen des Art. 80 GG genügenden Ermächtigungsnorm erlassen werden. Sie spielt im materiellen Arbeitsrecht keine bedeutsame Rolle, wohl aber im Arbeitsschutzrecht. Zu erwähnen sind bspw. die aufgrund von § 115 BPersVG erlassene Wahlordnung zum BPersVG203, die aufgrund von § 18 ArbSchG erlassene Arbeitsstättenverordnung204, welche Mindestvoraussetzungen für Arbeits- und Ruheräume enthält, oder die aufgrund der gleichen Ermächtigungsgrundlage erlassene Gefahrstoffverordnung über die Verwendung gefährlicher Arbeitsstoffe205. Die Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften sind keine Rechtsverordnungen, sondern autonomes Satzungsrecht.

1.75 Der Begriff der Dienstordnung wird unterschiedlich verwendet. Es kann sich dabei um einen besonderen Fall der Ausübung des Weisungsrechts des Arbeitgebers handeln, bei dem eine innerdienstliche, generelle Regelung für alle Mitarbeiter getroffen wird (dazu Rz. 1.144 ff.). Für die sog. Dienstordnungs-Angestellten, also Beschäftigte bei den Trägern der gesetzlichen Sozialversicherung, ergibt sich etwa für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung aus § 144 SGB VII, dass die Sozialversicherungsträger als juristische Personen des öffentlichen Rechts Dienstordnungen erlassen dürfen, in denen die Arbeitsbedingungen der Dienstordnungsangestellten ausgestaltet werden und die im Rang über Tarifverträgen stehen206. bb) Überblick über die arbeitsrechtlichen Gesetze

1.76 Individualrechtliche Schutzgesetze betreffen nicht nur den einzelnen Arbeitnehmer schlechthin, sondern manchmal auch nur einzelne schützenswerte Gruppen, wie etwa beim Jugendarbeitsschutz-, Mutterschutz-, Schwerbehinderten- oder Heimarbeitsgesetz. Sie schränken regelmäßig die im Arbeitsleben nicht voll funktionsfähige Vertragsfreiheit ein und begrenzen insbesondere die Inhalts- und Beendigungsfreiheit. Zum Teil begründen sie aber überhaupt erst Rechtspositionen.

1.77 Besonders zu erwähnen sind für den Bereich des öffentlichen Dienstes neben den Regelungen der §§ 611 ff. BGB und den gemäß § 6 Abs. 2 GewO inzwischen für alle Arbeitnehmer geltenden §§ 105–110 GewO etwa das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das Arbeitszeitgesetz, das Berufsbildungsgesetz, das Mutterschutzgesetz, das Bundeselterngeld- und Eltern-

201 Vgl. stv. HWK/Krause, § 614 BGB Rz. 4 f. 202 Vgl. BAG GS v. 17.12.1959 – GS 2/59, AP BGB § 616 Nr. 21 = NJW 1960, 738; v. 20.6.1995 – 3 AZR 857/94, NZA 1996, 383; aus der Literatur stv. HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 49 f. mwN. 203 Wahlordnung zum Bundespersonalvertretungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 1.12.1994 (BGBl. I, 3653), geändert durch Verordnung v. 28.9.2005 (BGBl. I, 2906). 204 Verordnung über Arbeitsstätten v. 12.8.2004 (BGBl. I, 2179), zuletzt geändert durch Art. 4 der Verordnung v. 19.7.2010 (BGBl. I, 960). 205 Verordnung zum Schutz vor Gefahrstoffen v. 26.11.2010 (BGBl. I, 1643), geändert durch Art. 2 des Gesetzes v. 28.7.2011 (BGBl. I, 1622). 206 Vgl. Müller/Preis, Rz. 129; Wiedemann/Wiedemann, § 1 TVG Rz. 116 ff.; ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 16; MünchArbR/Germelmann, § 156 Rz. 13.

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Rechtsquellen

Rz. 1.83 § 1

zeitgesetz, das Pflegezeitgesetz, das Bundesurlaubsgesetz, das Teilzeit- und Befristungsgesetz, das Entgeltfortzahlungsgesetz und das Kündigungsschutzgesetz. Um kollektivrechtliche Schutzgesetze handelt es sich beim Bundespersonalvertretungsgesetz und den Landespersonalvertretungsgesetzen sowie dem Tarifvertragsgesetz.

1.78

Die Arbeitsgerichtsbarkeit ist im Arbeitsgerichtsgesetz geregelt (zu verfahrensrechtlichen Fragen im öffentlichen Dienst vgl. § 41).

1.79

cc) Richterliche Rechtsfortbildung Der teilweise lückenhafte Charakter des Arbeitsrechts und die technische und gesellschaftliche Entwicklung in vielen Bereichen des Arbeitslebens veranlassen die Arbeitsgerichte nicht selten zu richterlicher Rechtsfortbildung207. Rechtsfortbildung liegt vor, wenn die Gerichte Gesetzeslücken ausfüllen oder eine fehlende gesetzliche Norm ersetzen (gesetzesimmanente und -übersteigende Rechtsfortbildung)208. Die rechtliche Legitimation ergibt sich aus Art. 20 Abs. 3 GG, ihre Grenzen aus Art. 97 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG (Gewaltenteilung)209.

1.80

Richterliche Rechtsfortbildung ist keine Rechtsquelle im engeren Sinne210. Sie entfaltet für die Instanzgerichte keine rechtliche, sondern allenfalls eine faktische Bindungswirkung und unterscheidet sich insofern entscheidend vom Gesetz.

1.81

Eine langjährige Rechtsprechung kann allerdings zu Gewohnheitsrecht erstarken, wenn sie eine tatsächliche, nicht bloß vorübergehende, gleichmäßige Übung darstellt und diese Übung auf der Überzeugung ihrer rechtlichen Verbindlichkeit beruht211.

1.82

Beispiel:

1.83

Beispiele richterlicher Rechtsfortbildung sind etwa der aus dem Persönlichkeitsrecht abgeleitete Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers im bestehenden Arbeitsverhältnis (§ 3, Rz. 3.46)212 und in dessen Gefolge der Weiterbeschäftigungsanspruch nach gerichtlich festgestellter Unwirksamkeit einer Kündigung213, ferner die Sonderregelungen zum innerbetrieblichen Schadensausgleich mit weiter-

207 Vgl. dazu Dieterich, RdA 1986, 2; Krey, JZ 1978, 361; Picker, JZ 1984, 153; Picker, JZ 1988, 1 (62); Preis, RdA 1989, 327; Th. Raiser, ZRP 1985, 111; Reuter, RdA 1985, 321; Rüthers, FS Molitor, 1988, S. 293. 208 Zu beiden Begriffen näher Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, S. 472 ff., 496 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 370 ff., 413 ff. 209 BVerfG v. 16.6.1959 – 1 BvR 71/57, NJW 1959, 1579; v. 14.2.1973 – 1 BvR 112/65, NJW 1973, 1221 (1225); v. 11.10.1978 – 1 BvR 84/74, NJW 1979, 305 (306); v. 19.10.1983 – 2 BvR 485/80, 2 BvR 486/80, NJW 1984, 475; v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, NJW 1985, 2395 (2402); v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809 (810); v. 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379 (1380); v. 15.5.1995 – 2 BvL 19/91, ua., NJW 1995, 1811 (1817 ff.); v. 8.10.1996 – 1 BvR 875/92, NJW 1997, 447 (448). 210 BAG v. 10.6.1980 – 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642; v. 10.6.1980 – 1 AZR 168/79, NJW 1980, 1653. 211 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 356 f., 433; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, Rz. 232. 212 Vgl. BAG v. 10.11.1955 – 2 AZR 591/54, AP BGB § 611 Nr. 2 Beschäftigungspflicht; dazu stv. Straube/Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 741 f.; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 321 ff. 213 Vgl. BAG GS v. 27.2.1985 – GS 1/84, DB 1985, 2197; dazu stv. Rolfs in Tschöpe, Teil 5 A Rz. 162 ff.

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§ 1 Rz. 1.83

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

gehender Haftungsprivilegierung des Arbeitnehmers (§ 9)214 oder die inzwischen durch § 615 Satz 3 BGB gesetzgeberisch anerkannte Verlagerung des Betriebsrisikos auf den Arbeitgeber bei Produktionsstörungen215. Schließlich wurde das Arbeitskampfrecht in Ableitung aus Art. 9 Abs. 3 GG ausschließlich durch das BVerfG und das BAG gestaltet216. Das BAG hatte auch das sog. Vorbeschäftigungsverbot bei der sachgrundlosen Befristung (§ 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG) im Rahmen einer „verfassungsorientierten Auslegung“ auf drei Jahre beschränkt217. Allerdings hat das BVerfG diese Rechtsfortbildung nicht akzeptiert, da der Gesetzgeber sich klar gegen eine solche zeitliche Begrenzung entschieden habe218.

d) Tarifvertrag aa) Allgemeines (1) Zustandekommen

1.84 Tarifverträge sind privatrechtliche Verträge kollektiven Rechts, die zwischen einer Gewerkschaft und einem Arbeitgeberverband (Verbandstarifvertrag) oder einem einzelnen Arbeitgeber (Firmentarifvertrag) abgeschlossen werden, § 2 Abs. 1 TVG.

1.85 Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen müssen beim Abschluss des Tarifvertrags alle Merkmale einer tariffähigen Koalition erfüllen, andernfalls ist der Tarifvertrag unwirksam219: Erforderlich ist ein freiwilliger privatrechtlicher Zusammenschluss mit körperschaftlicher Struktur zum Zweck der Wahrung der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Die Vereinigung muss durch ihre Gegnerfreiheit und ihre Gegnerunabhängigkeit gekennzeichnet sein: Sie darf nur entweder ein Arbeitnehmer- oder ein Arbeitgeberverband (und kein Harmonieverband) sein, und sie darf – insbesondere in finanzieller Hinsicht – nicht vom sozialen Gegenspieler abhängen. Erforderlich sind weiterhin die Unabhängigkeit von Staat, Kirche und Parteien sowie schließlich eine demokratische Binnenstruktur220. Zu diesen allgemeinen Merkmalen des Koalitionsbegriffs nach Art. 9 Abs. 3 GG kommen für die tariffähige Koalition noch die nach dem Satzungszweck zu ermittelnde Tarifwilligkeit221 und vor allem (auf Arbeitnehmerseite) das Erfordernis der Durchsetzungsfähigkeit („soziale Mächtigkeit“) hinzu, also eine hinreichende Organisationsstruktur, Mitgliederzahl und Finanzkraft, um im Arbeitskampf ggf. Druck ausüben zu können222. Auch Spitzenorganisationen können Partei eines Tarifvertrags sein, wenn der Abschluss von Tarifverträgen zu ih214 215 216 217 218 219 220 221 222

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Vgl. dazu HWK/Krause, § 619a BGB Rz. 11 ff. Vgl. dazu HWK/Krause, § 615 BGB Rz. 112 ff. Vgl. dazu stv. HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 164 ff. BAG v. 6.4.2011 – 7 AZR 716/09, ArbRB 2011, 130 = NZA 2011, 905; bestätigt durch BAG v. 21.9.2011 – 7 AZR 375/10, ArbRB 2012, 74 = NZA 2012, 255; kritisch hierzu in methodischer Hinsicht Höpfner, NZA 2011, 893; Krause, JA 2012, 468. BVerfG v. 6.6.2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774. Vgl. BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, ArbRB 2006, 298 = NZA 2006, 112 (Rz. 34); v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, ArbRB 2005, 271 = NZA 2005, 697 (Rz. 29); zur Tariffähigkeit als Wirksamkeitsvoraussetzung im Besonderen vgl. stv. HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 3. Zu den Merkmalen eines tariffähigen Verbandes vgl. Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 5 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 394 ff.; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 4 ff.; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 264 ff. BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 15. BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 10/99, NZA 2001, 160 (zum Interessenverband Bedienstete der technischen Überwachung); vgl. weiterhin BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, ArbRB 2005, 271 = NZA 2005, 317 (Rz. 29 ff.); v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, ArbRB 2006, 298 = NZA 2006, 112 (Rz. 34 ff.); zur Verfassungsmäßigkeit dieser Rechtsprechung vgl. BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, NJW 1982, 815; aus der Literatur ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 11 ff.; Löwisch/Rieble, § 2

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Rechtsquellen

Rz. 1.89 § 1

ren satzungsmäßigen Aufgaben gehört. Allerdings muss der Organisationsbereich mit dem der ihr angehörigen Koalitionen übereinstimmen223. Neben der Tariffähigkeit ist weitere Wirksamkeitsvoraussetzung für den Abschluss eines Tarifvertrags die Tarifzuständigkeit der vertragschließenden Tarifpartei nach Maßgabe der Verbandssatzung224. Auf dieser Grundlage wird der tarifliche Geltungsbereich des Tarifvertrags festgelegt225.

1.86

Tarifverträge bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform, §§ 1 Abs. 2 TVG, 125 Abs. 1 Satz 1 BGB. Der Arbeitgeber hat die für seinen Betrieb maßgeblichen Tarifverträge an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen, § 8 TVG. Dies ist allerdings keine Wirksamkeitsvoraussetzung226.

1.87

(2) Inhalt Die Regelungszuständigkeit der Tarifparteien und damit der mögliche Inhalt eines Tarifver- 1.88 trags ergeben sich zunächst aus Art. 9 Abs. 3 GG: Sie umfassen die „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“. Im Einzelnen bestimmt sich der Inhalt eines Tarifvertrags nach § 1 Abs. 1 TVG: Jeder Tarifvertrag enthält einen schuldrechtlichen sowie einen normativen Teil. Der schuldrechtliche Teil des Tarifvertrags regelt das Verhältnis der Tarifparteien zueinander und umfasst neben möglichen ausdrücklichen Regelungen (zB Schlichtungsvereinbarungen) auch ungeschriebene Rechte und Pflichten beider Tarifvertragsparteien (Friedenspflicht, Durchführungs- und Einwirkungspflicht)227. Der normative Teil eines Tarifvertrags regelt die Arbeitsbedingungen tarifgebundener Arbeitnehmer, ggf. aber auch betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen. Schuldrechtlicher und normativer Teil des Tarifvertrags unterscheiden sich außer durch ihren Regelungsgegenstand durch ihre Wirkung. Während der schuldrechtliche Teil nur das Verhältnis der beiden tarifschließenden Parteien betrifft und insofern mit der Wirkungsweise eines privatrechtlichen Vertrags übereinstimmt, reicht der normative Teil in seiner Rechtswirkung weiter: Er bindet im Geltungsbereich des Tarifvertrags die beiderseits Tarifgebundenen, dh. vor allem auch die Mitglieder der jeweiligen Verbände, vgl. dazu Rz. 1.93 ff., 1.96 ff. Innerhalb der Rechtsnormen des Tarifvertrags bilden die Inhaltsnormen die größte und wichtigste Gruppe. Inhaltsnormen sind etwa Regelungen über die Vergütungshöhe, den Zeitpunkt und die Art der Zahlung der Vergütung, über die Arbeitszeit oder den Urlaub (Beispiele aus dem TVöD: §§ 6 ff. zur Arbeitszeit, §§ 12 ff. zur Vergütung). Abschlussnormen sind Re-

223 224 225

226 227

TVG Rz. 35 ff.; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 474 ff.; Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Oetker, Tarifvertragsrecht, § 2 Rz. 86 ff.; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 12 ff. Dies hat das BAG im Fall der „Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen“ (CGZP) abgelehnt; vgl. BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, ArbRB 2011, 12 = NZA 2011, 289. Vgl. aus jüngerer Zeit BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, ArbRB 2006, 361 = NZA 2006, 1225 (Rz. 38); v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, ArbRB 2006, 106 = NZA 2006, 273 (Rz. 36 ff.); v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, ArbRB 2010, 11 = NZA 2009, 1424 (Rz. 24). BAG v. 22.11.1988 – 1 ABR 6/87, NZA 1989, 561; v. 12.11.1996, – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609; v. 14.12.1999 – 1 ABR 74/98, NZA 2000, 949; v. 29.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273; v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, ArbRB 2010, 11 = NZA 2009, 1424 (Rz. 24); vgl. dazu Ricken, Autonomie und tarifliche Rechtssetzung, 2006. Vgl. stv. HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 8. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 625 ff.; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 61 ff.; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 833 ff.; Däubler/Ahrendt, § 1 TVG Rz. 1146 ff., 1151 ff.

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1.89

§ 1 Rz. 1.89

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

gelungen über das Zustandekommen von Arbeitsverhältnissen, zB Formvorschriften oder Abschlussverbote und -gebote (Beispiel aus dem TVöD: Schriftformerfordernis nach § 2 Abs. 1). Beendigungsnormen betreffen alle mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zusammenhängenden Fragen, also vor allem die Kündigung (Beispiel aus dem TVöD: Kündigungsfristen nach § 34)228.

1.90 Betriebliche Normen229 sind Bestimmungen, die in der sozialen Wirklichkeit aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nur einheitlich für alle Arbeitnehmer des Betriebs gelten können230. Dabei werden auch die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer der Rechtssetzungsbefugnis der Tarifpartner unterworfen. Aus diesem Grund ist ihr Anwendungsbereich eng zu bestimmen. Beispiele sind Rauchverbote und Eingangs- oder Anwesenheitskontrollen, aber auch Regelungen über Arbeitsschutzeinrichtungen oder die Errichtung von Sozialeinrichtungen.

1.91 Betriebsverfassungsrechtliche Normen, die in § 1 und § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG ebenfalls genannt werden, spielen für den öffentlichen Dienst bislang keine Rolle231. Nach § 130 BetrVG kommt hier das Personalvertretungsrecht zur Anwendung (vgl. dazu Rz. 1.30). Dessen Regelungen sind nach Maßgabe des § 3 BPersVG und der entsprechenden landesrechtlichen Regelungen (vgl. § 97 BPersVG) zwingender Natur, so dass eine tarifliche Regelung nicht in Betracht kommt (vgl. Rz. 1.70). Allerdings könnten in Zukunft wegen des Wegfalls der Rahmenkompetenz nach Art. 75 Abs. 1 Satz 1 GG im Zuge der Föderalismusreform Landespersonalvertretungsrechte etwas anderes regeln. Einstweilen gelten nach der Übergangsregelung des Art. 125a GG die in Ausfüllung der Rahmenkompetenz erlassenen Regelungen, also hier §§ 94, 97 BPersVG, weiter, bis der Landesgesetzgeber von seiner neu gewonnenen Kompetenz Gebrauch macht232.

1.92 Darüber hinaus nennt § 4 Abs. 2 TVG noch Normen über Gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, die zB die Schaffung von Lohnausgleichskassen regeln und damit Aufgaben erfüllen, die über das einzelne Unternehmen hinausgehen. Im öffentlichen Dienst gibt es bislang keine derartigen Regelungen233. (3) Wirkung

1.93 Während der schuldrechtliche Teil eines Tarifvertrags nur das Verhältnis der Tarifparteien zueinander betrifft und wie jede schuldrechtliche Vereinbarung wirkt (Rz. 1.88), haben Inhalts-, Abschluss- und Beendigungsregelungen sowie betriebliche Regelungen nach Maßgabe von §§ 1 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG Rechtsnormcharakter. Im normativen Teil wirkt der Tarifvertrag unmittelbar und zwingend auf die ihm unterfallenden Arbeitsverhältnisse ein, dh. seine Regelungen gelten ohne weiteren Transformationsakt (unmittelbar) und unabdingbar (zwingend). 228 Vgl. dazu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 577 ff.; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 50; Däubler/Nebe, § 1 TVG Rz. 320 ff.; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 397 ff. 229 Vgl. dazu ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 45 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 588 ff.; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 51 f.; Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Krause, Tarifvertragsrecht, § 4 Rz. 44 ff.; Däubler/Nebe, § 1 TVG Rz. 347 ff.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 395 ff.; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 676 ff. 230 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850; v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, NZA 1998, 213. 231 Vgl. auch Müller/Preis, Rz. 121; Pfohl, Rz. 513. 232 Vgl. dazu RDW/Kersten, PersVR, § 94 Rz. 3 ff.; RDW/Richardi, PersVR, § 3 Rz. 11. 233 Müller/Preis, Rz. 122.

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Rechtsquellen

Rz. 1.98 § 1

Abweichungen sind nach § 4 Abs. 3 TVG nur wirksam, wenn sie durch den Tarifvertrag selbst gestattet werden (Öffnungsklausel) oder, im Falle einer individualvertraglichen Abweichung, für den Arbeitnehmer günstiger als die tarifliche Regelung sind (Günstigkeitsprinzip234). Für den Günstigkeitsvergleich stellt das BAG auf einen Sachgruppenvergleich ab, bei dem nur gleiche Regelungsbereiche miteinander verglichen werden235.

1.94

Flankiert wird die zwingende Wirkung durch § 4 Abs. 4 TVG: Ein Verzicht auf tarifliche Rechte ist nur durch einen von den Tarifparteien gebilligten Vergleich möglich, die Verwirkung tariflicher Rechte ist ausgeschlossen. Ausschlussfristen für deren Geltendmachung können nur im Tarifvertrag selbst vereinbart werden.

1.95

(4) Bindung an den Tarifvertrag Die normative Wirkung des Tarifvertrags erfasst ein Arbeitsverhältnis nur, wenn es in den vereinbarten Geltungsbereich des Tarifvertrags fällt und – jedenfalls bei Inhalts-, Abschluss und Beendigungsnormen – Arbeitnehmer und Arbeitgeber tarifgebunden sind, vgl. § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG.

1.96

Der räumliche Geltungsbereich betrifft beim Verbandstarifvertrag das gesamte Gebiet (Bund, Land, Landesteile, Kreise, einzelne Gemeinden), beim Firmentarifvertrag den Betrieb oder das Unternehmen.

1.97

Der zeitliche Geltungsbereich hängt von den Bestimmungen im Tarifvertrag über dessen Beendigung ab. In Betracht kommen Befristungsregelungen, bei einem unbefristeten Tarifvertrag dessen Kündigung oder eine einvernehmliche Aufhebung durch beide Tarifvertragsparteien. Eine Rückwirkung kommt nur nach Maßgabe der für Gesetze entwickelten Grundsätze in Betracht236. Tarifverträge wirken gemäß § 4 Abs. 5 TVG nach ihrem Ende nach, bis sie durch Einzelvereinbarung, Dienstvereinbarung oder einen neuen Tarifvertrag ersetzt werden237. Der nachwirkende Tarifvertrag verliert also seinen zwingenden Charakter. Darüber hinaus ist die Nachwirkung auch als solche abdingbar238. Im Nachwirkungszeitraum begründete Arbeitsverhältnisse werden von dem nachwirkenden Tarifvertrag nicht erfasst239.

1.98

234 Vgl. dazu Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 610 ff.; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 31 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 835 ff.; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 34 f.; Jacobs/Krause/Oetker/ Schubert/Jacobs, Tarifvertragsrecht, § 7 Rz. 16 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 253 ff.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 414 ff. 235 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; v. 24.9.2008 – 6 AZR 657/07, NZA-RR 2009, 221 (Rz. 29); v. 1.9.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (Rz. 60); v. 22.8.2018 – 5 AZR 551/17, NZA 2019, 51. 236 BAG 5.3.1957 – 1 AZR 420/56, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 1 = DB 1957, 431; BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 522/05, AiB 2007, 418; ausf. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 11 ff.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 283 ff. 237 Zur Nachwirkung Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 878 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 872 ff.; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 5 ff.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 341 ff.; bei betriebsverfassungsrechtlichen Normen kann im konkreten Fall eine zeitliche Begrenzung der Nachwirkung geboten sein; vgl. zu § 117 Abs. 2 BetrVG Weber/Gräf, RdA 2012, 95. 238 BAG v. 3.9.1986 – 5 AZR 319/85, NZA 1987, 178; v. 8.10.1997 – 4 AZR 87/96, NZA 1998, 492; v. 11.1.2011 – 1 AZR 310/09, AP BetrVG 1972 § 87 Lohngestaltung Nr. 137 (Rz. 14); HWK/ Henssler, § 4 TVG Rz. 5. 239 BAG v. 11.6.2002 – 1 AZR 390/01, ArbRB 2003, 7 = NZA 2003, 570; v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, ArbRB 2007, 76 = NZA 2007, 448 (Rz. 32); vgl. allerdings zur Rechtsprechung bei kollektiven Vergütungsordnungen Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 112 ff.

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§ 1 Rz. 1.99

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

1.99 Der betriebliche Geltungsbereich beschränkt die Geltung des Tarifvertrags auf bestimmte Arten von Betrieben. Tarifverträge erfassen grundsätzlich vollständig die Betriebe eines ganzen Wirtschaftszweiges240. Im öffentlichen Dienst gelten neben dem allgemeinen Teil des TVöD Spartentarifverträge (s. Rz. 1.113).

1.100 Der fachliche Geltungsbereich grenzt die Anwendbarkeit des Tarifvertrags nach der Art der Tätigkeit ab (zB § 1 Abs. 2 Buchst. n, p-s TVöD), der persönliche Geltungsbereich nach Merkmalen persönlicher Art (zB § 1 Abs. 2 Buchst. a, b TVöD)241.

1.101 Für Inhalts-, Abschluss- und Beendigungsnormen entfaltet ein Tarifvertrag seine Wirkung nur für tarifgebundene Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Tarifgebunden sind die Mitglieder der tarifschließenden Parteien, beim Firmentarifvertrag auch der einzelne Arbeitgeber, §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG. Für die Geltung betrieblicher Normen (dazu Rz. 1.90) lässt § 3 Abs. 2 TVG die einseitige Tarifgebundenheit des Arbeitgebers genügen.

1.102 Verbandsaustritt oder Verbandswechsel vor dem Ablauf des Tarifvertrags befreien den Arbeitgeber nicht von der Tarifwirkung, die Tarifgebundenheit bleibt nach § 3 Abs. 3 TVG bis zum Ablauf des Tarifvertrags bestehen (sog. Nachbindung)242.

1.103 Durch eine Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG kann die normative Wirkung eines Tarifvertrags unter bestimmten Voraussetzungen auch auf bisher nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer erstreckt werden. Im öffentlichen Dienst ist davon bisher nicht Gebrauch gemacht worden243.

1.104 Die Anwendung eines Tarifvertrags kann auch im Arbeitsvertrag vereinbart werden. Im öffentlichen Dienst ist eine solche Klausel üblich244. Auf diese Weise erstreckt sich der Inhalt eines Tarifvertrags auch auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer oder Arbeitgeber (einzelvertragliche Bezugnahme). Der Tarifvertrag gilt dann aber nur kraft Vereinbarung, nicht normativ. Dementsprechend unterliegt eine Änderung der Inbezugnahme auch den üblichen Regeln für die Änderung von Arbeitsverträgen (Änderungskündigung, Änderungsvertrag). Eine einzelvertragliche Inbezugnahme, die auch durch betriebliche Übung (zu dieser Rz. 1.139 ff. sowie ausführlich § 7, Rz. 7.33 ff.) entstehen kann, kann sich auf einen konkreten Tarifvertrag oder aber auf einen Tarifvertrag in seiner jeweils geltenden Fassung beziehen. Im zweiten Fall handelt es sich um eine dynamische Inbezugnahme245. Solche Klauseln wurden durch das BAG früher als sog. Gleichstellungsklauseln interpretiert, die dazu dienten, einheitliche Arbeitsbedingungen im Betrieb eines verbandsangehörigen Arbeitgebers si240 Vgl. näher Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 140 ff.; zum Problem Tarifeinheit im Betrieb s. Rz. 1.107. 241 Vgl. dazu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 758 f. 242 Vgl. dazu BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700; v. 7.11.2004 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748; v. 1.12.2004 – 4 AZR 55/04, ArbRB 2005, 206 = NZA 2005, 645; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 724 ff.; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 41 ff.; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 78 ff.; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 52 ff.; zur Problematik des sog. „Blitzaustritts“ bzw. „Blitzwechsels“ in eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung („OT-Mitgliedschaft“) s. etwa BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230. 243 Müller/Preis, Rz. 130; Wichmann/Langer, Rz. 452. 244 Müller/Preis, Rz. 114; Wichmann/Langer, Rz. 452. 245 Die Umstellung von BAT auf TVöD und TV-L mit den entsprechenden Ergänzungs- und Überleitungstarifverträgen erfasst in diesem Fall auch nicht tarifgebundene Arbeitnehmer, vgl. v. Steinau-Steinrück/Schmidt, NZA 2006, 518 (518 f.).

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Rechtsquellen

Rz. 1.107 § 1

cherzustellen. Dementsprechend verloren Inbezugnahmeklauseln mit einem Verbandsaustritt des Arbeitgebers ihren dynamischen Charakter246. Diese Rechtsprechung hat das BAG aufgegeben und hält unter Berufung auf allgemeine Auslegungsgrundsätze und insbesondere auch bei formularvertraglichen Inbezugnahmeklauseln an der dynamischen Wirkung einer Gleichstellungsklausel auch nach Verbandsaustritt fest, sofern sich nicht aus der Klausel eindeutig etwas anderes ergibt247. Für ältere Inbezugnahmeklauseln aus der Zeit vor Inkrafttreten der Schuldrechtsreform am 1.1.2002 gewährt das BAG aber Vertrauensschutz, sofern nicht später eine Änderung des Vertrags stattfand und somit ein „Neuvertrag“ vorliegt248 (zum Ganzen näher § 4, Rz. 4.32 ff.). Infolge der Ablösung des BAT durch den TVöD bzw. TVL (sog. Tarifsukzession; dazu noch Rz. 1.108 ff.) stellt sich in der Praxis häufig die Frage, wie mit arbeitsvertraglichen Klauseln umzugehen ist, die ausdrücklich auf den BAT Bezug nehmen. Das BAG geht im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung grundsätzlich von einer Erstreckung der Bezugnahmeklausel auf das nachfolgende Tarifwerk aus249. Eine Dienstvereinbarung kann keine allgemeine Inbezugnahmeklausel enthalten. Tarifvorbehalt (§ 75 Abs. 5 BPersVG) und Tarifvorrang (§ 75 Abs. 3 Einls. und § 76 Abs. 2 Einls. BPersVG) schließen dies aus (vgl. dazu noch Rz. 1.118, 1.124)250.

1.105

Beim Betriebsübergang gilt der Tarifvertrag nach § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB als Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwingend weiter251. Die zwingende Wirkung ist aber zeitlich begrenzt und kann durch einen Tarifvertrag wegfallen, dem der neue Betriebsinhaber unterworfen ist. Dynamische Bezugnahmeklauseln behalten ihre dynamische Wirkung beim Betriebsübergang, auch wenn der neue Arbeitgeber selbst nicht tarifgebunden ist252.

1.106

(5) Verhältnis zu anderen Rechtsquellen des Arbeitsrechts Zum Verhältnis von Tarifvertrag und Gesetz s. Rz. 1.70 f.; zum Verhältnis von Tarifvertrag und Dienstvereinbarung s. Rz. 1.128; zum Verhältnis von Tarifvertrag und Einzelarbeitsvertrag s. Rz. 1.94. Erfassen zwei unterschiedliche Tarifverträge, die sich nicht ergänzen oder ablösen sollen, ein Arbeitsverhältnis, kommt es zu einer Tarifkonkurrenz, die das BAG nach 246 BAG v. 21.8.2002 – 4 AZR 263/01, ArbRB 2003, 68 = NZA 2003, 442; v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207. 247 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, ArbRB 2006, 201 = NZA 2006, 607; v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, ArbRB 2007, 292 = NZA 2007, 965; vgl. zur Auslegung einer Inbezugnahmeklausel auch BAG v. 13.9.2006 – 4 AZR 803/05, ZTR 2007, 151. 248 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, ArbRB 2007, 292 = NZA 2007, 965; v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, ArbRB 2009, 140 = NZA 2009, 323; v. 21.10.2015 – 4 AZR 649/14 AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 134; v. 7.12.2016 – 4 AZR 414/14, NZA 2017, 597. 249 BAG v. 16.12.2009 – 5 AZR 888/08, NZA 2010, 401; v. 18.5.2011 – 5 AZR 213/09, AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 89; v. 18.4.2012 – 4 AZR 392/10, AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 112; v. 16.5.2012 – 4 AZR 290/10, NJOZ 2012, 2137; vgl. aber zu Besonderheiten bei Chefärzten, deren Arbeitsvertrag auf eine nicht einschlägige Vergütungsgruppe verweist, BAG v. 9.6.2010 – 5 AZR 696/09, NZA 2011, 109; vgl. zu Besonderheiten bei Unternehmensumstrukturierungen BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09, ArbRB 2011, 363 = NZA 2012, 100; zum Ganzen Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 600 ff. 250 Vgl. aber Müller/Preis, Rz. 117, die eine Inbezugnahme einzelner Klauseln des Tarifvertrags für zulässig erklären. 251 Statt aller HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 249 ff. 252 EuGH v. 18.7.2013 – C-426/11, ECLI:EU:C:2013:521 (Alemo-Herron); v. 27.4.2017 – C-680/15 C-681, ECLI:EU:C:2017:317 (Asklepios Kliniken); BAG v. 30.8.2017 – 4 AZR 95/14, NZA 2018, 855.

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1.107

§ 1 Rz. 1.107

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

dem Spezialitätsprinzip löst253. Das Gleiche galt bislang nach Ansicht des BAG auch dann, wenn in einem Betrieb mehrere Tarifverträge zur Anwendung kommen könnten (Tarifpluralität). Das BAG operierte früher mit dem Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb, um ein Nebeneinander mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb zu verhindern254, gab diese Rechtsprechung aber im Jahr 2010 unter Berufung auf die von Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Koalitionsfreiheit auf255. Aktuell war das Problem auch im öffentlichen Dienst, wo Spartengewerkschaften wie der Marburger Bund eigene Tarifverträge zu erkämpfen suchten. Nach weiteren Auseinandersetzungen zwischen der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer und der Deutschen Bahn AG hat der Gesetzgeber im Jahr 2015 eingegriffen (Tarifeinheitsgesetz). Die Einführung des § 4a TVG soll im Grundsatz eine Rückkehr zum Prinzip der Tarifeinheit bewirken. Nach der zentralen Regelung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG sind im Falle einer Tarifkollision nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt geschlossenen Tarifvertrags die meisten Mitglieder hat. Das BVerfG hält diese Regelung zwar im Grundsatz für verfassungskonform, verlangt aber Vorkehrungen, die sicherstellen, dass die Interessen der Berufsgruppen des Minderheitstarifvertrags im verdrängenden Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt werden256. Der Gesetzgeber hat darauf reagiert und in § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 TVG den Versuch unternommen, die Vorgaben des BVerfG umzusetzen257. bb) Bedeutung von Tarifverträgen im öffentlichen Dienst (1) Neugestaltung des Tarifrechts für Bund, Länder und Kommunen

1.108 Im öffentlichen Dienst wird der Inhalt der Beschäftigungsverhältnisse weitgehend durch Tarifverträge bestimmt, die entweder für die beiderseits Tarifgebundenen normativ gelten oder aber üblicherweise in den Arbeitsverträgen in Bezug genommen werden258. Nachdem über Jahrzehnte der Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) im Verbund mit einigen Ergänzungstarifverträgen maßgeblich war, ist mit der Tarifreform im öffentlichen Dienst in den Jahren 2005 und 2006 ein neues Tarifwerk in Kraft getreten259.

253 BAG v. 4.12.2002 – 10 AZR 113/02, NZA 2003, 432; v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, ArbRB 2005, 296 = NZA 2005, 1003; v. 8.10.2008 – 5 AZR 8/08, NZA 2009, 98; v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586; vgl. dazu Däubler/Zwanziger, § 4a TVG Rz. 24, 15; Wiedemann/Jacobs, § 4a TVG Rz. 481 f. 254 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736; v. 4.12.2002 – 10 AZR 113/02, NZA 2003, 632; dazu LAG Sachsen v. 2.11.2007 – 7 SaGa 19/07, NZA 2008, 59; Wiedemann/Jacobs, § 4a TVG Rz. 477 ff.; Däubler/Zwanziger, § 4a TVG Rz. 8, 27 f.; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, 1998; Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Jacobs, Tarifvertragsrecht, § 7 Rz. 194 ff. 255 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, ArbRB 2010, 303 = NZA 2010, 1068; v. 7.7.2010 – 5 AZR 537/08, AP GG Art. 9 Nr. 143; zuvor hatte der 4. Senat eine Divergenzanfrage an den 10. Senat gerichtet, der dieser zugestimmt hat, vgl. BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08, ArbRB 2010, 303 (A), NZA 2010, 645; v. 23.6.2010 – 10 AS 2/10, NZA 2010, 778. 256 BVerfG v. 11.7.2017 – 1 BvR 1571/15, NZA 2017, 915; vgl. dazu v. Steinau-Steinrück/Gooren, NZA 2017, 1149. 257 Art. 4 des Gesetzes v. 18.12.2018, BGBl. I 2018, 2651; vgl. dazu Giesen/Rixen, NZA 2019, 577; Hromadka, NZA 2019, 215; Klein, DB 2019, 545. 258 Vgl. etwa Müller/Preis, Rz. 130. 259 Überblick bei Müller/Preis, Rz. 130 ff.

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Rechtsquellen

Rz. 1.113 § 1

(2) Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD), Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) und ergänzende Tarifverträge (a) Überblick Für den Bereich des Bundes und der kommunalen Arbeitgeber gilt seit dem 1.10.2005 der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD)260. Seit 1.11.2006 ist für den Bereich der Länder der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) in Kraft261. Ausgenommen ist gegenwärtig Hessen, das nicht mehr der Tarifgemeinschaft deutscher Länder angehört262. Dort trat am 1.1.2010 der TV-H in Kraft263.

1.109

Ergänzende Tarifverträge betreffen Teilbereiche des öffentlichen Dienstes (Spartentarifverträge für den Bereich des Bundes und der kommunalen Arbeitgeber, vgl. Rz. 1.113), weiterhin besondere Regelungsbereiche (zB Tarifvertrag über das Leistungsentgelt für die Beschäftigten des Bundes [LeistungsTV-Bund], Tarifvertrag Entgeltumwandlung [TV-Entgelt-U-B/L]) sowie besondere Beschäftigtengruppen (zB Tarifverträge für die Kraftfahrer und Kraftfahrerinnen des Bundes [KraftfahrerTV-Bund] oder der Länder [Pkw-Fahrer-TV-L], Tarifvertrag Beschäftigte Ausland). Hinzu kommen Tarifverträge für Auszubildende des Öffentlichen Dienstes (vgl. ua. TVAöD, TVA-L BBiG).

1.110

Für TVöD und TV-L gibt es Überleitungstarifverträge zur Überleitung der Beschäftigungsverhältnisse aus den bisherigen Vergütungs- und Lohngruppen in die neue Entgeltstruktur (vgl. Rz. 1.117).

1.111

Tarifvertragsparteien auf Seiten der Arbeitnehmer sind bei den genannten Tarifverträgen vor 1.112 allem die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di (zugleich als Vertreterin für weitere Einzelgewerkschaften) sowie der dbb Beamtenbund und Tarifunion. Auf der Seite der Arbeitgeber agieren, je nach Vertrag, die Bundesrepublik Deutschland, die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VkA) als Spitzenverband iSd. § 2 Abs. 2 TVG sowie die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL). Einzelne Gewerkschaften wie etwa die Ärztegewerkschaft Marburger Bund haben eigenständige Tarifverträge auf Länder- und Kommunalebene abgeschlossen264. (b) Regelungskonzept Der TVöD besteht aus einem Allgemeinen Teil (TVöD AT), der für alle Beschäftigten mit Ausnahme des in § 1 Abs. 2 Buchst. a-t TVöD genannten Personenkreises gilt (zB leitende Angestellte, Auslandsbeschäftigte, Theaterpersonal) und einem Besonderen Teil, bei dem in eigenen Tarifverträgen Beschäftigungsbedingungen für die Sparten Verwaltung (BT-V), Krankenhäuser (BT-K), Pflege- und Betreuungseinrichtungen (BT-B), Sparkassen (BT-S), Flughäfen (BT-F) und Entsorger (BT-E) gesondert geregelt werden. Dabei übernimmt der TVöD BT-V für die anderen Spartentarifverträge eine Auffangfunktion, indem seine Regelungen vor260 Der Tarifvertrag sowie ergänzende Tarifverträge sind abrufbar auf www.bmi.bund.de unter der Themenrubrik Öffentlicher Dienst sowie, insbesondere für die Besonderen Teile des TVöD, unter www.vka.de. 261 Der Tarifvertrag sowie ergänzende Tarifverträge für die Länder sind abrufbar unter www.tdl-on line.de. Vgl. dazu Hoffmann, KommunalPraxis spezial 2006, 112; Zetl, ZMV 2006, 169; Zetl, ZMV 2006, 281. 262 Austritt zum 31.3.2004. 263 Abrufbar unter http://oeffentlicher-dienst.info/tv-h. 264 Die Tarifverträge sind abrufbar unter www.marburgerbund.de.

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1.113

§ 1 Rz. 1.113

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

behaltlich einer speziellen Bestimmung in einem anderen Spartentarifvertrag für alle in § 1 TVöD genannten Beschäftigten gelten, vgl. § 40 Abs. 1 Satz 1 BT-V.

1.114 Redaktionell sind für den Bereich der Kommunen die sechs Spartentarifverträge noch einmal mit dem Allgemeinen Teil zusammengefasst worden. An der für eine Kündigung oder auch die Friedenspflicht bedeutsamen rechtlichen Selbständigkeit der jeweiligen Verträge ändert sich dadurch aber nichts265.

1.115 Auf Länderebene ist die Struktur ähnlich, Allgemeiner und Besonderer Teil sind aber von vornherein im TV-L zusammengefasst. Hinzu treten Sonderregelungen für Beschäftigte an Hochschulen und Forschungseinrichtungen, für Ärztinnen und Ärzte sowie nichtärztliche Beschäftigte an Kliniken und in Zentren für Psychiatrie, für Lehrkräfte, Beschäftigte an Theatern und Bühnen, für Beschäftigte auf Schiffen, im Justizvollzugsdienst, im feuerwehrtechnischen Dienst und im forstlichen Außendienst und in landwirtschaftlichen Verwaltungen und Betrieben und im Kampfmittelbeseitigungsdienst (§§ 40 ff. TVL).

1.116 Inhaltlich ist zunächst die Aufgabe der überkommenen Unterscheidung von Angestelltenund Arbeitertarifverträgen (BAT, MTArb, BMT-GII266) von Bedeutung. Die aktuellen Tarifverträge gelten einheitlich für die Beschäftigten des Bundes, der Kommunen oder der Länder (vgl. etwa § 1 Abs. 1 TVöD). Zugleich ist eine deutliche Abkehr von der früheren engen Anlehnung an die gesetzlichen Regelungen für Beamte zu beobachten (Abkoppelung der Gehaltshöhe von persönlichen Faktoren wie Kinderzahl und Familienstand, Abschaffung von Bewährungs-, Zeit- und Tätigkeitsaufstiegen, Abschaffung beamtenähnlicher Loyalitätsanforderungen267). Wichtige Neuerungen betreffen Möglichkeiten flexibler Arbeitszeitregelungen (vgl. §§ 6 ff. TVöD) und leistungs- und erfahrungsorientierte Entgeltsysteme (vgl. § 18 TVöD); ausführlich dazu § 5. Im Entgeltbereich wird schrittweise die Angleichung der Vergütung von alten und neuen Bundesländern angestrebt und ist inzwischen etwa auf Bundesebene verwirklicht268. (c) Überleitungstarifverträge

1.117 Die heute geltenden Tarifverträge für den öffentlichen Dienst betreffen uneingeschränkt nach deren jeweiligem Inkrafttreten eingestellte Beschäftigte. Für Altbeschäftigte gelten Überleitungstarifverträge (TVÜ-Bund, TVÜ-VKA, TVÜ-Länder), die einerseits vor allem das Problem der Zuordnung der Vergütungs- und Lohngruppen zu den neuen Entgeltgruppen regeln (vgl. etwa §§ 4 ff. TVÜ-Bund iVm. Anlage 2 TVÜ Bund), zum anderen aber eine Reihe von Bestimmungen zur Besitzstandswahrung enthalten (vgl. etwa §§ 8 ff. TVÜ-Bund)269. Zum Schicksal arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln Rz. 1.104.

265 266 267 268 269

Vgl. Müller/Preis, Rz. 132. Zu diesen etwa noch Pfohl, Rz. 69 ff. Vgl. v. Steinau-Steinrück/Schmidt, NZA 2006, 518. Vgl. http://oeffentlicher-dienst.info/tvoed/. Vgl. dazu etwa Beckerle/Hock/Schlappenroth, TVöD – Die Überleitungstarifverträge, 2005; v. Steinau-Steinrück/Schmidt, NZA 2006, 518 (522 ff.); Zetl, ZMV 2005, 178; ausführlich dazu s. Vorauflage, Teil 9.

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Rechtsquellen

Rz. 1.123 § 1

e) Dienstvereinbarung aa) Grundlagen Die Dienstvereinbarung ist für den öffentlichen Dienst das der Betriebsvereinbarung entsprechende Regelungsinstrument. Im Unterschied zur Betriebsvereinbarung, die ein umfassendes Instrument zur Gestaltung des Arbeitslebens im Betrieb darstellt, räumt das Gesetz der Dienstvereinbarung nur einen begrenzten Anwendungsbereich ein. Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 BPersVG ist die Dienstvereinbarung nur in den Fällen zulässig, in denen dies vom Gesetz vorgesehen ist. Das ist nur in § 75 Abs. 3 und § 76 Abs. 2 BPersVG der Fall. Damit ist die Dienstvereinbarung lediglich eine Form für die Ausübung eines Mitbestimmungsrechts270.

1.118

Wie im Betriebsverfassungsrecht können zwar Dienststellenleiter und Personalrat auch Vereinbarungen treffen, die keine Dienstvereinbarung sind. Solche Dienstabsprachen, mit deren Hilfe auch das Mitbestimmungsrecht ausgeübt werden kann, wirken aber lediglich im Verhältnis zwischen Dienststelle und dem Personalrat, sie haben anders als die Dienstvereinbarung (Rz. 1.125) keine normative Wirkung271.

1.119

bb) Zustandekommen und Beendigung Die Dienstvereinbarung ist ebenso wie die Betriebsvereinbarung eine rechtsgeschäftliche Vereinbarung zwischen dem durch den Dienststellenleiter repräsentierten Träger der Dienststelle und dem Personalrat als dem Repräsentanten der Belegschaft, die nach den allgemeinen Regeln der Rechtsgeschäftslehre zustande kommt. Mit Rücksicht auf die Beteiligten spricht man von einem öffentlich-rechtlichen Vertrag272.

1.120

Die Dienstvereinbarung kann auch im Einigungsstellenverfahren zustande kommen, wenn in den Fällen des § 75 Abs. 3 BPersVG ein Spruch der Einigungsstelle vorliegt. Dieser ersetzt dann die fehlende Einigung zwischen Hauptpersonalrat und oberster Dienstbehörde und hat damit die Bedeutung einer Dienstvereinbarung273.

1.121

Die Dienstvereinbarung bedarf der Schriftform. Wird diese nicht gewahrt, kommt keine Dienstvereinbarung zustande. Die vom Gesetz angeordnete Bekanntmachung der Dienstvereinbarung etwa durch Hausmitteilung oder Aushang am Schwarzen Brett ist hingegen keine Wirksamkeitsvoraussetzung274.

1.122

Eine Dienstvereinbarung endet mit Ablauf der Zeit, für die sie eingegangen ist, ggf. auch bei Erreichung des mit der Dienstvereinbarung verfolgten Zwecks, ferner durch Aufhebungsoder Änderungsvereinbarung, schließlich durch Kündigung275. Ist in der Dienstvereinbarung eine Kündigungsfrist nicht vereinbart, so kann jeder Teil jederzeit ohne Einhaltung einer Frist kündigen. Eine Dreimonatsfrist wie in § 77 Abs. 5 BetrVG gibt es nicht276.

1.123

270 271 272 273

RDW/Weber, PersVR, § 73 Rz. 1 f. RDW/Weber, PersVR, § 73 Rz. 55. Altvater, § 73 BPersVG Rz. 2; Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 73 BPersVG Rz. 4. BVerwG v. 17.12.2003 – 6 P 7/03, ZTR 2004, 215; Altvater, § 73 BPersVG Rz. 8; Fischer/Goeres/ Gronimus, § 73 BPersVG Rz. 12a und § 71 BPersVG Rz. 25a; RDW/Weber, PersVR, § 73 Rz. 8. 274 RDW/Weber, PersVR, § 73 Rz. 15. 275 Zur Weitergeltung und Nachwirkung einer Dienstvereinbarung nach deren Ablauf vgl. RDW/ Weber, PersVR, § 73 Rz. 49 ff. 276 BAG v. 5.5.1988 – 6 AZR 521/85, DB 1989, 633; RDW/Weber, PersVR, § 73 Rz. 45.

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§ 1 Rz. 1.124

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

cc) Inhalt

1.124 Da eine Dienstvereinbarung nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen zulässig ist, kommen als ihr Inhalt nur die in § 75 Abs. 3, § 76 Abs. 2 BPersVG genannten Angelegenheiten in Betracht277. Voraussetzung ist weiter, dass die Mitbestimmung sich auf eine normative Regelung bezieht, also etwa nicht eine konkrete Einzelfallentscheidung bei der Auswahl von Kandidaten zu einer Fortbildungsveranstaltung nach § 75 Abs. 3 Nr. 7 BPersVG oder die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen einen Beschäftigten nach § 76 Abs. 2 Nr. 9 BPersVG278. dd) Wirkung

1.125 Zwar regelt das BPersVG anders als das BetrVG die Rechtswirkungen einer Dienstvereinbarung nicht ausdrücklich. Man ist sich aber einig, dass § 77 Abs. 4 BetrVG entsprechend anzuwenden ist279. Auch den Bestimmungen einer Dienstvereinbarung kommt deshalb normative Wirkung zu. Sie gelten demnach unmittelbar, dh. ohne weiteren Transformationsakt, und zwingend, so dass eine anderweitige (verschlechternde) individuelle Vereinbarung nicht getroffen werden kann.

1.126 Wie beim Tarifvertrag (§ 4 Abs. 4 TVG) und der Betriebsvereinbarung (§ 77 Abs. 4 BetrVG) ist eine unabdingbare Regelung für den Beschäftigten unverzichtbar. Wie dort ist auch hier ein Verzicht nur mit Zustimmung der zuständigen Personalvertretung zulässig280.

1.127 Die Dienstvereinbarung gilt grundsätzlich für die Dienststelle, für die sie vom zuständigen Personalrat und Dienststellenleiter abgeschlossen wurde, und erfasst grundsätzlich alle Beschäftigten in der entsprechenden Dienststelle. Dies gilt jedenfalls, solange nicht eine Beschränkung auf die Angehörigen einer Gruppe oder bestimmter Beschäftigungsarten vorgenommen wird. ee) Verhältnis zu anderen Rechtsquellen des Arbeitsrechts

1.128 Die Bedeutung der Dienstvereinbarung im öffentlichen Dienst wird abgesehen von der erwähnten Beschränkung auf gesetzlich vorgegebene Fälle noch dadurch reduziert, dass – insofern wie bei der Betriebsvereinbarung – eine Regelung nur zulässig ist, sofern nicht bereits die Tarifpartner von ihrer Regelungsbefugnis Gebrauch gemacht oder eine Öffnungsklausel vorgesehen haben (Tarifvorbehalt, § 75 Abs. 5 BPersVG281).

1.129 Im Verhältnis zum Individualarbeitsvertrag gilt das Günstigkeitsprinzip282, allerdings nur bei Arbeitnehmern. Bei Beamten gelten die gesetzlichen Bestimmungen283.

277 BVerwG v. 12.7.1984 – 6 P 14/83, ZBR 1985, 28; v. 30.3.2009 – 6 PB 29/08, NZA-RR 2009, 509; vgl. auch BAG v. 18.10.1994 – 1 AZR 503/93, NZA 1995, 1064; v. 10.10.2006 – 1 AZR 811/05, ArbRB 2007, 136 = NZA 2007, 637; RDW/Weber, PersVR, § 73 Rz. 1 f., 17 ff. 278 Vgl. RDW/Weber, PersVR, § 73 Rz. 18. 279 Müller/Preis, Rz. 248 ff. 280 RDW/Weber, PersVR, § 73 Rz. 23. 281 Vgl. dazu RDW/Kaiser, PersVR, § 75 Rz. 219 ff.; Müller/Preis, Rz. 27, 251; Pfohl, Rz. 650. 282 Vgl. Altvater, § 73 BPersVG Rz. 11; Fischer/Goeres/Gronimus, § 73 BPersVG Rz. 16; Lorenzen/ Rehak in Lorenzen/Etzel/Gerhold ua., § 73 BPersVG Rz. 27; RDW/Weber, PersVR, § 73 Rz. 24; Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 73 BPersVG Rz. 18. 283 RDW/Weber, PersVR, § 73 Rz. 24.

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Rz. 1.135 § 1

Unter mehreren konkurrierenden Dienstvereinbarungen haben nach der Bestimmung des § 73 Abs. 2 BPersVG die für einen größeren Bereich geltenden Vorrang gegenüber den Dienstvereinbarungen für einen kleineren Bereich. Das Gesetz löst das Konkurrenzproblem also anders als im Tarifvertragsrecht, wo die Tarifkonkurrenz nach dem Spezialitätsgrundsatz geregelt wird. Im Personalvertretungsrecht hingegen gilt das Ordnungsprinzip284.

1.130

f) Arbeitsvertrag und Allgemeine Arbeitsbedingungen aa) Individualarbeitsvertrag Durch den Arbeitsvertrag wird das Arbeitsverhältnis begründet. Aus ihm ergeben sich Art und Umfang der Beschäftigung des Arbeitnehmers. Der jetzt in § 611a BGB geregelte Arbeitsvertrag ist eine besondere Art des Dienstvertrags und damit ein schuldrechtlicher, gegenseitiger Vertrag, in dem sich ein Arbeitnehmer gegenüber seinem Arbeitgeber zur entgeltlichen, unselbständigen Arbeitsleistung verpflichtet. Arbeits- und Dienstvertrag sind mithilfe des Kriteriums der persönlichen Abhängigkeit voneinander abzugrenzen (s. Rz. 1.9 ff.).

1.131

Die Vertragsfreiheit ist im Arbeitsrecht aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes durch zahlreiche Abschluss- und Privilegierungsgebote einerseits sowie Abschluss-, Beschäftigungs- und Diskriminierungsverbote andererseits eingeschränkt (s. auch § 2, § 3). Im öffentlichen Dienst ist dabei zusätzlich zu den allgemeinen Regeln Art. 33 Abs. 2 GG zu beachten (näher § 2, Rz. 2.16 ff.).

1.132

Der Abschluss des Arbeitsvertrags erfolgt nach den allgemeinen zivilrechtlichen Regeln. Er ist grundsätzlich formfrei, es sei denn, in Gesetz oder Tarifvertrag sind Schriftformerfordernisse vorgesehen. Das betrifft etwa den befristeten Arbeitsvertrag, § 14 Abs. 4 TzBfG, bei dem allerdings zu beachten ist, dass eine Missachtung des Formerfordernisses nach § 16 TzBfG nicht etwa zur Unwirksamkeit des Arbeitsverhältnisses führt, sondern zur Unwirksamkeit der Befristung (näher § 22). Der Arbeitgeber hat den Arbeitnehmer nach Maßgabe der Regelungen des Nachweisgesetzes über die wesentlichen Regelungen des Arbeitsverhältnisses zu informieren. Bei der Einstellung des Arbeitnehmers ist der Personalrat nach § 75 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG zu beteiligen (ausführlich § 2, Rz. 2.79 ff.).

1.133

Durch den Arbeitsvertrag werden für beide Seiten die jeweiligen Haupt- und Nebenpflichten festgelegt. Der Arbeitnehmer verpflichtet sich zu persönlicher Arbeitsleistung (§ 611a Abs. 1, § 613 Satz 1 BGB, näher § 3, Rz. 3.1) und übernimmt gleichzeitig eine Reihe von Nebenleistungspflichten und Schutzpflichten (§ 3, Rz. 3.2 ff.). Der Arbeitgeber verpflichtet sich zur Zahlung der Vergütung, § 611a Abs. 2 BGB (§ 3, Rz. 3.45, § 5). Daneben obliegen ihm gesetzliche (§ 618 BGB) und aus § 241 Abs. 2 BGB (früher § 242 BGB) abgeleitete Schutzpflichten gegenüber dem Arbeitnehmer (§ 3, Rz. 3.47 ff.).

1.134

Leidet der Arbeitsvertrag an Mängeln, die zu seiner Nichtigkeit führen (insbesondere Anfech- 1.135 tung), ist das Arbeitsverhältnis aber durch Arbeitsleistung in Vollzug gesetzt, so wird es grundsätzlich nicht von Anfang an, sondern nur mit Wirkung für die Zukunft aufgelöst285. Ansonsten endet das Arbeitsverhältnis durch ordentliche oder außerordentliche Kündigung (zu den Besonderheiten im öffentlichen Dienst § 17), Zeitablauf (zur Zulässigkeit der Befristung von Arbeitsverhältnissen im öffentlichen Dienst § 22), Aufhebungsvertrag (dazu § 16) oder Tod des Arbeitnehmers. 284 RDW/Weber, PersVR, § 73 Rz. 36 f. 285 Vgl. dazu HWK/Thüsing, § 119 BGB Rz. 15 ff.

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§ 1 Rz. 1.136

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

bb) Allgemeine Arbeitsbedingungen

1.136 In der Praxis bedeutsam sind Sonderformen arbeitsvertraglicher Vereinbarungen mit kollektivrechtlichem Bezug. Sie gelten zwar für alle Beschäftigten des Arbeitgebers, kommen aber dennoch nach den Regeln des Vertragsrechts bzw. nach den Grundsätzen des Vertrauensschutzes zustande und sind deshalb als Gestaltungsfaktoren dem Arbeitsvertrag zuzuordnen. (1) Arbeitsvertragliche Einheitsregelungen

1.137 Häufig wird aus Gründen der Gleichbehandlung und Rationalisierung der Inhalt des Arbeitsvertrags nicht individuell ausgehandelt, sondern durch Verwendung von durch den Arbeitgeber vorformulierten Einheitsarbeitsverträgen einheitlich festgelegt. Seit der Schuldrechtsreform unterliegen Formulararbeitsbedingungen der AGB-Kontrolle nach §§ 305 ff. BGB, vgl. § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB (s. § 4, Rz. 4.15 ff.). (2) Gesamtzusage

1.138 Bei der sog. Gesamtzusage verspricht der Arbeitgeber, etwa durch Aushang am Schwarzen Brett, Rundschreiben oder mündliche Bekanntgabe, einseitig festgelegte Leistungen an alle Beschäftigten oder aber einen Teil von ihnen zu erbringen286. Das BAG betrachtet die Gesamtzusage als Vertragsangebot des Arbeitgebers, welches von den Arbeitnehmern stillschweigend nach § 151 BGB angenommen wird287. Da die Gesamtzusage dem Einzelarbeitsvertrag zugerechnet wird, kann der Arbeitgeber sie nicht einseitig ändern, sofern er sich dies nicht vorbehalten hat288. Es bleiben dann nur Änderungskündigung oder Änderungsvertrag. Eine auf einer Gesamtzusage beruhende Regelung kann nach der Rechtsprechung des BAG darüber hinaus allerdings auch durch eine Dienstvereinbarung zulasten der Arbeitnehmer abgelöst werden, solange nur nach Maßgabe eines kollektiven Günstigkeitsvergleichs die Dienstvereinbarung die Gesamtleistung des Arbeitgebers insgesamt nicht verringert, sondern lediglich umstrukturiert289. (3) Betriebliche Übung

1.139 Eine betriebliche Übung liegt vor, wenn der Arbeitgeber bestimmte Verhaltensweisen regelmäßig wiederholt, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, dass ihnen Leistungen oder Vergünstigungen auf Dauer gewährt werden sollen290. Praktisch bedeutsam sind auch hier Gratifikationen oder etwa die Gewährung und Vergütung arbeitsfreier Tage. Seine frühere Rechtsprechung, wonach auch den Arbeitnehmern ungünstige Übungen zur Verkürzung der

286 BAG v. 28.6.2006 – 10 AZR 385/05, NZA 2006, 1174 (Rz. 31); v. 1.11.2005 – 1 AZR 355/04, ArbRB 2006, 200 = PersV 2006, 274 (276); v. 23.9.2009 – 5 AZR 628/08, AP BGB § 157 Nr. 36 (Rz. 22); vgl. dazu Kolbe, ZfA 2011, 95; MünchArbR/Fischinger, § 8 Rz. 48 ff. 287 BAG v. 28.6.2006 – 10 AZR 385/05, NZA 2006, 1174 (Rz. 31); v. 23.9.2009 – 5 AZR 628/08, AP BGB § 157 Nr. 36 (Rz. 22). 288 BAG v. 14.6.1995 – 5 AZR 126/94, NZA 1995, 1194. 289 BAG GS v. 16.9.1986 – GS 1/82, NZA 1987, 168; vgl. aus jüngerer Zeit BAG v. 6.11.2007 – 1 AZR 862/06, ArbRB 2008, 169 = NZA 2008, 542; v. 21.4.2010 – 4 AZR 768/08, ArbRB 2010, 339 = BB 2010, 1998; vgl. dazu HWK/Gaul, § 77 BetrVG Rz. 62 ff.; Pfohl, Rz. 81. 290 Vgl. aus jüngerer Zeit etwa BAG v. 24.3.2010 – 10 AZR 43/09, NZA 2010, 759 (Rz. 16 f.); v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ArbRB 2012, 5 = NZA 2012, 81 (Rz. 12); v. 19.9.2018 – 5 AZR 439/17, NZA 2019, 106; Müller/Preis, Rz. 21 f.; Pfohl, Rz. 84 ff.; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 220 ff.; MünchArbR/Fischinger, § 8 Rz. 47, § 10 Rz. 1 f.; Waltermann, RdA 2006, 257.

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Rz. 1.143 § 1

Arbeitszeit oder zur Ausübung des Direktionsrechts möglich seien (sog. negative betriebliche Übung)291, hat das BAG aufgegeben292. Nach Ansicht des BAG beruht die rechtliche Wirkung der betrieblichen Übung auf einer stillschweigenden Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien. Das Angebot des Arbeitgebers ergibt sich aus dessen fortgesetztem gleichförmigem Verhalten, die Annahme der Arbeitnehmer aus der Entgegennahme günstiger oder aus der widerspruchslosen Hinnahme ungünstiger Regelungen293. Im Schrifttum verweist man für die Bindung des Arbeitgebers häufig auf das Vertrauen des Arbeitnehmers auf die Fortsetzung der bisherigen Übung294.

1.140

Ein Anspruch aus betrieblicher Übung setzt voraus, dass eine freiwillige Leistung wiederholt – bei gegenüber der Belegschaft gewährten Gratifikationen in der Regel mindestens in drei aufeinander folgenden Jahren295 – vorbehaltlos gewährt wird. Einen Vorbehalt muss der Arbeitgeber nicht zwingend ausdrücklich erklären, muss ihn aber deutlich zum Ausdruck bringen296.

1.141

Diese Grundsätze gelten im öffentlichen Dienst nach der Rechtsprechung des BAG nicht uneingeschränkt. Im öffentlichen Dienst kann ein Arbeitnehmer nicht ohne Weiteres auf einen entsprechenden Bindungswillen des Arbeitgebers vertrauen. Ein öffentlicher Arbeitgeber ist durch haushaltsrechtliche Vorgaben gebunden (näher dazu Rz. 1.230 ff.). Ein Arbeitnehmer muss damit rechnen, dass der Arbeitgeber im Zweifel nur Normen vollziehen und keine Leistungen gewähren will, zu denen er nicht verpflichtet ist297. Hinzu kommt im öffentlichen Dienst noch, dass dort häufig in Tarifverträgen konstitutive Schriftformklauseln bestehen, vgl. etwa § 2 Abs. 3 TVöD. Da die betriebliche Übung gerade nicht schriftlich fixiert ist, kann sie in solchen Fällen keine Ansprüche begründen298. Näher zu den Besonderheiten der betrieblichen Übung im öffentlichen Dienst § 7, Rz. 7.14 ff.

1.142

Eine einmal entstandene betriebliche Übung gilt, solange nicht für die Zukunft ein entspre- 1.143 chender Vorbehalt gemacht wird, auch für neu in den Betrieb eintretende Arbeitnehmer299.

291 Vgl. dazu Waltermann, RdA 2006, 257 (258 f.). 292 BAG v. 18.3.2009 – 10 AZR 281/08, ArbRB 2009, 191 = NZA 2009, 601; vgl. auch BAG v. 25.11.2009 – 10 AZR 779/08, ArbRB 2010, 74 = NZA 2010, 283. 293 Vertragstheorie, st. Rspr., aus jüngerer Zeit etwa BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ArbRB 2012, 5 = NZA 2012, 81 (Rz. 12); v. 19.9.2018 – 5 AZR 439/17, NZA 2019, 106 (Rz. 16); aus der Literatur ausführlich Waltermann, RdA 2006, 257 (259 ff.). 294 Vertrauenstheorie, vgl. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 388 ff., 405 ff.; Hanau, AcP 165 (1965), 260 ff.; Seiter, Die Betriebsübung, 1967, S. 89 f., 92; weitere Ansätze: Bepler, RdA 2004, 226; Bepler, RdA 2005, 323; Henssler, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 683. 295 Vgl. aus jüngerer Zeit etwa BAG v. 28.6.2006 – 10 AZR 385/05, NZA 2006, 1174 (Rz. 36). 296 Vgl. etwa BAG v. 16.2.2010 – 3 AZR 118/08, NZA 2011, 104 (Rz. 14); an die Wirksamkeit eines arbeitsvertraglichen Vorbehalts stellt das BAG inzwischen hohe Anforderungen; vgl. etwa BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ArbRB 2012, 5 = NZA 2012, 81; vgl. dazu Preis/Sagan, NZA 2012, 697; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 383. 297 BAG v. 18.9.2002 – 1 AZR 477/01, NZA 2003, 337; v. 1.11.2005 – 1 AZR 355/04, ArbRB 2006, 200 = PersV 2006, 274 (277); vgl. MünchArbR/Fischinger, § 10 Rz. 26; Waltermann, RdA 2006, 257 (267); ablehnend etwa ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 223. 298 Vgl. zB BAG v. 18.9.2002 – 1 AZR 477/01, NZA 2003, 337 (338); v. 15.3.2011 – 9 AZR 799/09, ArbRB 2011, 230 = AP TVöD § 26 Nr. 1; dazu MünchArbR/Fischinger, § 10 Rz. 27. 299 Vgl. etwa BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, ArbRB 2002, 292 = NZA 2002, 1096 (1097).

Weber

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§ 1 Rz. 1.143

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

Sie kann nur durch Änderungskündigung oder Änderungsvertrag beseitigt werden. Denkbar ist auch eine nachfolgende Dienstvereinbarung, für die, wenn sie verschlechternd wirkt, die Grundsätze des kollektiven Günstigkeitsvergleichs gelten (vgl. Rz. 1.138). g) Direktionsrecht

1.144 Durch das Direktionsrecht konkretisiert der Arbeitgeber die vom Arbeitnehmer zu erbringende Arbeit und ihre Modalitäten in Hinblick auf Art und Weise sowie Zeit und Ort300. Gesetzlich geregelt ist das Weisungsrecht in § 106 GewO, der nach § 6 GewO für alle Arbeitnehmer gilt. Auch § 611a Abs. 2 Satz 2 BGB konkretisiert die für die Arbeitnehmereigenschaft erforderliche persönliche Abhängigkeit über das Weisungsrecht (vgl. Rz. 1.15).

1.145 Da durch das Weisungsrecht die Leistungspflicht im Rahmen des Arbeitsvertrags konkretisiert wird, ergeben sich seine Grenzen in erster Linie aus dem Arbeitsvertrag selbst. Je genauer die Tätigkeit des Arbeitnehmers im Vertrag bereits umschrieben ist, desto weniger Spielraum verbleibt dem Arbeitgeber bei der Ausübung des Weisungsrechts. Weitere Grenzen ergeben sich aus dem Gesetz, insbesondere den Grundrechten, Arbeitsschutzgesetzen und dem Personalvertretungsrecht, sowie aus Tarifverträgen und Dienstvereinbarungen.

1.146 Da es sich bei der Ausübung des Weisungsrechts um eine einseitige Leistungsbestimmung des Arbeitgebers handelt, unterliegt sie einer Billigkeitskontrolle nach § 106 GewO, § 315 BGB301. Ist die vom Arbeitgeber geforderte Tätigkeit nicht mehr vom Weisungsrecht gedeckt, kann der Arbeitnehmer die Arbeit ohne nachteilige Folgen ablehnen302. Er muss auch einer unbilligen Weisung nicht bis zu einer gerichtlichen Entscheidung vorläufig folgen303. Es bedarf dann seitens des Arbeitgebers zur Durchsetzung seiner Anordnung entweder einer Änderungskündigung, oder er muss versuchen, eine einvernehmliche Vertragsänderung zu erreichen.

1.147 Ausführlich unter Berücksichtigung der Besonderheiten im öffentlichen Dienst § 6.

V. Verfassungsrechtliche Grundlagen Schrifttum: Dolzer/Vogel/Graßhoff (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt März 2013 (zit.: BK/Bearbeiter); Dornbusch/Fischermeier/Löwisch, Arbeitsrecht, 5. Aufl. 2013 (zit.: DFL/Bearbeiter); Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012; Sachs, GG, 6. Aufl. 2011 (zit.: Sachs/Bearbeiter); SchmidtBleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011.

300 Vgl. dazu Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 32 ff.; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 445 ff. 301 HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 115 ff. 302 Vgl. MünchArbR/Reichold, § 40 Rz. 31 f.; HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 116; jeweils mwN aus der bisherigen Rechtsprechung. 303 Vgl. BAG v. 18.10.2017 – 10 AZR 33/16, NZA 2017, 1452; anders noch BAG v. 22.2.2012 – 5 AZR 249/11, ArbRB 2012, 264 = NZA 2012, 858 (Rz. 24 ff.).

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Weber/Groeger

Verfassungsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.150 § 1

1. Gesetzgebungszuständigkeiten a) Zuständigkeit für das Arbeitsrecht aa) Konkurrierende Gesetzgebung Das Arbeitsrecht gehört seit Inkrafttreten des GG zu den Gegenständen der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG).

1.148

Die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz durch den Bund setzte nach der ursprünglichen Fassung des Art. 72 Abs. 2 GG lediglich voraus, dass ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung bestand. Die Anforderungen wurden 1994 erhöht, um den früheren Verlust von Gesetzgebungskompetenzen der Länder auszugleichen und die Kompetenzen der Länder zu stärken304. Seitdem durfte der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht nur noch Gebrauch machen, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich machte305. Durch die Föderalismusreform 2006 ist die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz in mehrere Unterarten aufgeteilt und gehören die Gegenstände des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG der sog. Kernoder Vorrangkompetenz an306. Danach ist die arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Gesetzgebung des Bundes seit dem 1.9.2006 von einer Erforderlichkeitsprüfung, wie sie Art. 72 Abs. 2 GG vorsieht, ausgenommen. Nach Auffassung von Bund und Ländern bedarf es in diesem Bereich keiner Prüfung der Erforderlichkeit bundesgesetzlicher Regelungen mehr307. Das mag damit zusammenhängen, dass das Arbeitsrecht seit der Weimarer Republik308 traditionell Bundesrecht ist309 und das Arbeitsrecht somit weniger durch föderative Vielfalt, sondern mehr durch bundesrechtliche Uniformität geprägt wird310.

1.149

Die Systematik des GG fordert eine strikte, dem Sinn der Kompetenznorm gerecht werdende Auslegung der Art. 70 ff. GG. Für die Zuweisung einer Gesetzgebungsmaterie an Bund oder Länder ist der in Betracht kommende Kompetenztitel anhand des Wortlauts, historisch, systematisch und mit Blick auf den Normzweck auszulegen. Das Gewicht insbesondere der historischen Interpretation ist dabei von der Struktur und Ausformung des Kompetenztitels abhängig. Hat der Verfassungsgeber eine normativ ausgeformte Materie vorgefunden und sie als solche nachvollziehend im Kompetenztitel benannt, ist davon auszugehen, dass die einfachgesetzliche Ausformung in der Regel den Zuweisungsgehalt auch der Kompetenznormen bestimmt311. Danach begründet Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine umfassende Kompetenz für die Regelung der Rechtsbeziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und erstreckt sich sowohl auf privatrechtliche als auch auf öffentlich-rechtliche Bestimmungen über abhängige Arbeitsverhältnisse312. Dies folgt aus der Entstehungsgeschichte, der, ebenso wie der Staats-

1.150

304 305 306 307 308 309 310 311 312

Jarass/Pieroth/Pieroth, Art. 72 GG Rz. 1. BVerfG v. 9.6.2004 – 1 BvR 636/02, NJW 2004, 2363 (Ladenschlussgesetz). Überblick bei Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf/Sannwald, Art. 72 GG Rz. 1 ff. BK/Axer, Art. 74 Nr. 12 GG Rz. 14. BK/Axer, Art. 74 Nr. 12 GG Rz. 4 f. Aufzählung bei Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf/Sannwald, Art. 74 GG Rz. 134. BK/Axer, Art. 74 Nr. 12 GG Rz. 13. BVerfG v. 14.1.2015 – 1 BvR 931/12, EzA Art. 12 GG Nr. 49 (Thür. LadenöffnungsG). BVerfG v. 24.10.2002 – 2 BvF 1/01, BGBl. I, 4410 (Altenpflegegesetz); vgl. Jarass/Pieroth/Pieroth, Art. 74 GG Rz. 28a.

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§ 1 Rz. 1.150

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

praxis, bei der Auslegung der Art. 70 ff. GG besondere Bedeutung zukommt313. Zwar ist danach das Arbeitsrecht heute weitgehend Bundesrecht, aber der Bund hat seine Gesetzgebungsbefugnis nicht vollständig ausgeschöpft und das Arbeitsrecht ist bislang nicht erschöpfend kodifiziert314. bb) Gesetzgeberische Freiräume für die Länder

1.151 Nach Art. 72 Abs. 1 GG haben die Länder im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat315. Die Frage, ob und inwieweit der Bund von seiner Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch gemacht hat, beantwortet sich aus dem jeweiligen Bundesgesetz selbst, aus dem hinter dem Gesetz stehenden Regelungszweck und aus der Gesetzgebungsgeschichte und den Gesetzesmaterialien. Das gilt auch bei einem absichtsvollen Regelungsverzicht, der im Gesetz selbst nicht unbedingt unmittelbaren Ausdruck finden muss316, oder einem beredten Schweigen des Gesetzes317. Ob der Bund von seiner Kompetenz abschließend Gebrauch gemacht hat, kann nur durch eine Gesamtwürdigung des betreffenden Normenkomplexes festgestellt werden318. Die Sperrwirkung für die Länder setzt voraus, dass der erschöpfende Gebrauch der Kompetenz durch den Bund hinreichend erkennbar ist. Bloße Wert- und Zielvorstellungen entfalten keine Sperrwirkung319.

1.152 Damit rechtfertigt das Bestehen eines Bundesgesetzes über einen bestimmten Gegenstand für sich allein noch nicht die Annahme, dass die Länder von eigener Gesetzgebung über denselben Gegenstand ausgeschlossen wären; denn das Bundesgesetz kann noch Bereiche übrig lassen, deren Regelung für die Gesetzgebung der Länder offen ist320. Maßgeblich ist, ob ein bestimmter Sachbereich umfassend und lückenlos geregelt ist bzw. nach dem aus der Gesetzgebungsgeschichte und den Materialien ablesbaren objektivierten Willen des Gesetzgebers abschließend geregelt werden sollte. Nur dann tritt die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG für Regelungen der Länder ein mit der Folge, dass sie unwirksam sind, unabhängig davon, ob sie den bundesrechtlichen Bestimmungen widersprechen oder sie nur ergänzen321. So hat der BayVerfGH die Regelungen des MindArbG und des AEntG als bundesgesetzlich abschließende Regelung der Materie Mindestarbeitsbedingungen angesehen322. Andererseits betrifft § 5 Abs. 1 Satz 3 BetrVG lediglich die betriebsverfassungsrechtliche Stellung von Arbeitnehmern des öffentlichen Dienstes, die in Betrieben privatrechtlich organisierter Unter313 BK/Axer, Art. 74 Nr. 12 GG Rz. 16; BVerfG v. 12.3.2008 – 2 BvF 4/03, DVBl 2008, 507 (Hess. PrivatrundfunkG); BAG v. 21.6.2006 – 7 AZR 234/05, AP § 57a HRG Nr. 5. 314 BVerfG v. 11.4.2000 – 1 BvL 2/00, AP § 26 ArbGG 1979 Nr. 2; Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Hopfauf/Sannwald, Art. 74 GG Rz. 141. 315 BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65 und 1 BvR 259/66, NJW 1975, 1265 (Arbeitnehmerkammern Bremen und Saarland). 316 ZB beim Unterlassen des Bundes zur Schaffung eines Arbeitsvertragsgesetzbuches, s. Gaul/Gaul, Aktuelles Arbeitsrecht, 2007, S. 363. 317 Jarass/Pieroth/Pieroth, Art. 72 GG Rz. 6. 318 Leibholz/Rinck, Art. 72 GG Rz. 24. 319 BVerfG v. 15.10.2014 – 2 BvR 920/14, NJW 2015, 44; v. 14.1.2015 – 1 BvR 931/12, EzA Art. 12 GG Nr. 49 (Thür. LadenschlussG); kritisch zum Konzept des absichtsvollen Regelungsverzichts des Bundes Barczak, ZG 2016, 154. 320 Jarass/Pieroth/Pieroth, Art. 72 GG Rz. 10. 321 BVerfG v. 29.3.2000 – 2 BvL 3/96, BGBl. I 2000, 1000 (AbfG NW 1988); Leibholz/Rinck, Art. 72 GG Rz. 21; Jarass/Pieroth/Pieroth, Art. 72 GG Rz. 11. 322 Bayerischer VerfGH v. 3.2.2009 – Vf. 111-IX-08, BayVBl. 2009, 300.

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Rz. 1.154 § 1

nehmen tätig sind, also eine Frage der Betriebsverfassung und keine Frage der Personalvertretung, die dem Personalvertretungsrecht zuzuordnen wäre323. Ähnliche Abgrenzungsfragen stellen sich dann, wenn die Länder in dem ihnen ausschließlich vorbehaltenen Bereichen Gesetze erlassen, die auch für die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern Auswirkungen haben. Als Beispiele sind das Gaststättenrecht mit Rauchverboten sowie das Ladenschlussrecht mit der Regelung von Sonnund Feiertagsarbeit zu nennen324. Beide Bereiche sind ausdrücklich in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG von der konkurrierenden Gesetzgebung ausgenommen. Maßgebend für die Verteilung der Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern in Art. 74 GG ist der Gegenstand des Gesetzes und nicht das vom Gesetzgeber in den Blick genommene Gemeinwohlziel. Wirkt daher der angestrebte Schutz aller vor den Gefahren des Passivrauchens in Gaststätten auch zugunsten der dort Beschäftigten, so berührt dies hinsichtlich der Arbeitnehmer nicht die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für den Arbeitsschutz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Auch wenn daher die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG nicht eingreift, muss der Landesgesetzgeber jedoch den Vorrang des Bundesrechts nach Art. 31 GG beachten, wenn Regelungen des Bundes- und des Landesrechts auf denselben Sachverhalt anwendbar sind und bei ihrer Anwendung zu verschiedenen Ergebnissen führen325. Die einzelnen Vorschriften eines Gesetzes dürfen nicht isoliert betrachtet werden; ausschlaggebend ist vielmehr der Regelungszusammenhang. Danach erscheinen die Bestimmungen des Ladenschlussgesetzes des Freistaats Sachsen über die Arbeitszeiten an Sonn- und Feiertagen mit den Bestimmungen über das grundsätzliche Verbot und die ausnahmsweise Zulässigkeit der Ladenöffnung an diesen Tagen als dem kompetenzbegründenden Schwerpunkt der Gesamtregelung derart eng verzahnt, dass sie als Teil dieser Gesamtregelung anzusehen sind326. Für die Beurteilung, ob eine Norm eine verfassungsrechtliche Kompetenzgrundlage hat, kommt es auf eine genaue Bestimmung der ihr bei objektivierter Sicht unterliegenden Zweckrichtung an. Die Schaffung oder selbständige Erweiterung von Eingriffsbefugnissen zur Verfolgung von Zwecken, die durch die jeweilige Kompetenz nicht gedeckt sind, kann durch die inhaltliche Nähe der Regelungsbereiche nicht gerechtfertigt werden327.

1.153

cc) Abgrenzung vom bürgerlichen Recht Da der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG auch für das bürgerliche Recht die konkurrierende Gesetzgebung hat, erkennt Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG das Arbeitsrecht als eine eigenständige Rechtsmaterie an. Kompetenzrechtlich steht das Arbeitsrecht selbständig neben dem bürgerlichen Recht328. Zwar enthält auch das BGB in den §§ 611a ff. einige wesentliche arbeitsrechtliche Regelungen, dennoch ist das Arbeitsrecht ganz überwiegend in Spezialgesetzen kodifiziert. Dies erklärt, warum das aus Art. 3, 55 und 218 EGBGB abgeleitete, für das bürgerliche Recht Geltung beanspruchende Kodifikationsprinzip329 für das Arbeitsrecht keine Bedeu-

323 BAG v. 15.8.2012 – 7 ABR 34/11, ArbRB 2013, 14 = ZTR 2013, 52; allg. zur Abgrenzung BVerfG v. 3.10.1957 – 2 BvL 7/56, BVerfGE 7, 120. 324 Löwisch, FS Otto, S. 317 ff. 325 BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a., BGBl. I 2008, 1686; BAG v. 19.5.2009 – 9 AZR 241/08, BAGE 131, 18 = ArbRB 2009, 257. 326 VerfGH Sachsen v. 21.6.2012 – Vf. 77-II-11, NVwZ-RR 2012, 873. 327 BVerfG v. 18.12.2018 – 1 BvR 142/15, NJW 2019, 827. 328 BK/Axer, Art. 74 Nr. 12 GG Rz. 17. 329 Vgl. MüKo BGB/Säcker, 3. Aufl. 1999, Art. 124 EGBGB Rz. 1; Staudinger/Merten, Vorbem. Art. 55–152 EGBGB Rz. 4.

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§ 1 Rz. 1.154

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

tung hat330. Nach diesem Prinzip besteht grundsätzlich die Vermutung der abschließenden Kodifizierung eines Rechtsbereichs durch den Bund und sind privatrechtliche Vorschriften der Länder schlechthin, also nicht nur soweit sie dem BGB widersprechen, außerhalb der ausdrücklichen Vorbehalte des EGBGB unzulässig. Mithin entfaltet das im BGB ohnehin nur bruchstückhaft geregelte Arbeitsvertragsrecht einschließlich der gemäß § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB auch auf Arbeitsverträge anwendbaren §§ 305 ff. BGB keine Sperrwirkung zu Lasten landesrechtlicher Gesetze. Folglich kann, soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat, nach Art. 72 Abs. 1 GG eines oder mehrere Länder auf dem Gebiet des Arbeitsrechts gesetzgeberisch tätig werden331.

1.155 Zum Beispiel waren die Länder nicht gehindert, Regelungen über die Wirksamkeit der Befristung von Arbeitsverträgen zu erlassen, durch die die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers eingeschränkt wurde332. Ob § 23 TzBfG, wonach besondere Regelungen über die Befristung von Arbeitsverträgen nach anderen gesetzlichen Vorschriften unberührt bleiben, neuen landesrechtlichen Regelungen entgegensteht, dürfte als offen anzusehen sein. Anders als Art. 1 Abs. 2 EGBGB lässt jedenfalls der Wortlaut von § 23 TzBfG den Erlass von (neuen) Regelungen gerade nicht zu333.

1.156 Auch das Kündigungsschutzrecht ist durch das KSchG und Regelungen zum besonderen Kündigungsschutz nicht abschließend kodifiziert. Den Ländern ist es daher nicht verwehrt, Personengruppen, bei denen sie einen weitergehenden Regelungsbedarf erkennen, einem besonderen Kündigungsschutz durch Landesgesetz zu unterstellen334. b) Zuständigkeiten für das öffentliche Dienstrecht

1.157 Neben der Abgrenzung des Arbeitsrechts iSv. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gegenüber dem bürgerlichen Recht ist auch die Abgrenzung gegenüber den Gesetzgebungszuständigkeiten für das öffentliche Dienstrecht erforderlich. aa) Bundesbedienstete iwS

1.158 Der Bund hat nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 8 GG die ausschließliche Gesetzgebung über die Rechtsverhältnisse der in seinem Dienst und im Dienst der bundesunmittelbaren Körperschaften335 des öffentlichen Rechts stehenden Personen. Die Gesetzgebungskompetenz erstreckt sich nicht lediglich auf Beamtenverhältnisse, sondern umfasst auch die Regelung arbeitsrechtlicher Aspekte336. Auf dieser Grundlage war der Bund legitimiert, im Gesetz zur

330 BVerfG v. 22.4.1958 – 2 BvL 32/56, 2 BvL 34/56, 2 BvL 35/56, NJW 1958, 1179; BK/Axer, Art. 74 Nr. 12 GG Rz. 17. 331 BVerfG v. 15.12.1987 – 1 BvR 563/95, AP Art. 12 GG Nr. 62 (BildungsurlaubsG NW); SchmidtBleibtreu/Hofmann/Hopfauf/Sannwald, Art. 72 GG Rz. 34. 332 BAG v. 20.2.2002 – 7 AZR 707/00, ArbRB 2002, 229 = AP § 72 LPVG NW Nr. 23. 333 Zur Bedeutung sog. „Unberührtklauseln“ s. Leibholz/Rinck, Art. 72 GG Rz. 47, sowie SchmidtBleibtreu/Hofmann/Hopfauf/Sannwald, Art. 72 GG Rz. 38 jeweils mwN. 334 BVerfG v. 11.4.2000 – 1 BvL 2/00, AP § 26 ArbGG 1979 Nr. 2; Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Hopfauf/Sannwald, Art. 74 GG Rz. 141 mwN. 335 Das Merkmal „Körperschaften“ ist extensiv auszulegen und umfasst auch bundesunmittelbare Anstalten und Stiftungen; vgl. BK/Höfling, Art. 73 Nr. 8 GG Rz. 39 ff. 336 BK/Höfling, Art. 73 Nr. 8 GG Rz. 7, zur Entstehungsgeschichte Rz. 2; Sachs/Degenhart, Art. 73 GG Rz. 43; Jarass/Pieroth/Pieroth, Art. 73 GG Rz. 28; aA Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf/

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Rz. 1.161 § 1

vorläufigen Regelung der Rechtsverhältnisse der im Dienst des Bundes stehenden Personen337 auch Regelungen für Arbeiter und Angestellte zu treffen (§§ 1, 3 Nr. 1 und 6). bb) Bedienstete anderer öffentlicher Rechtsträger Der Bund hatte darüber hinaus bis zum 31.8.2006 gemäß Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 GG auch das Recht, Rahmenvorschriften für die Gesetzgebung der Länder über die Rechtsverhältnisse der im öffentlichen Dienst der Länder, Gemeinden und sonstigen Körperschaften des öffentlichen Rechts stehenden Personen zu erlassen338. Ihm steht seit dem 1.9.2006 nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG nur noch das Recht zu, die Statusrechte und -pflichten der Beamten der Länder, Gemeinden und anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts sowie der Richter in den Ländern zu regeln339.

1.159

cc) Folgerungen für das Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes Art. 73 Abs. 1 Nr. 8 und Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 GG waren weitgehend spiegelbildlich konzipiert340. Zu den Rechtsverhältnissen der im öffentlichen Dienst stehenden Personen iSv. Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 GG gehörten daher nach allgemeiner Ansicht341 auch die Arbeitsverhältnisse der Arbeiter und Angestellten. Die ersatzlose Aufhebung der Rahmengesetzgebungskompetenz erfasst auch die Rahmengesetzgebungskompetenz für die Arbeitsverhältnisse der im öffentlichen Dienst der Länder, Gemeinden und sonstigen Körperschaften des öffentlichen Rechts stehenden Personen342. Sofern der Bund insoweit nicht eine geschriebene oder ungeschriebene343 Gesetzgebungskompetenz hat, steht sie nach Art. 70 Abs. 1 GG den Ländern zu.

1.160

Dem Wortlaut nach lässt sich eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Arbeitsverhältnisse der im öffentlichen Dienst der Länder, Gemeinden und sonstigen Körperschaften des öffentlichen Rechts stehenden Arbeitnehmer Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG unschwer entnehmen. Dabei bliebe aber die bei der Auslegung der Kompetenzbestimmungen wichtige Entstehungsgeschichte344 außer Betracht. Die für die freigewordenen Kompetenztitel des Art. 75 GG notwendige Umverteilung war Auslöser für eine umfassende Neuordnung der Kompetenzkataloge der konkurrierenden und der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes345. Da Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG den Bund nur noch zu Regelungen der Statusrechte von Beamten iSv. Art. 33 Abs. 4 GG346 und Richtern legitimiert, liegt darin eine Einschränkung der bisherigen Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Verhältnis zur früheren Rahmengesetzgebung nach Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 GG sowohl in personeller als auch in sachlich inhaltlicher Hinsicht, wobei der Bund jedoch in dem in dieser Hinsicht eingeschränkten Bereich nunmehr nicht

1.161

337 338 339 340 341 342 343 344 345 346

Sannwald, Art. 73 GG Rz. 108, der sich auf BVerfG v. 27.3.1979 – 2 BvL 2/77, BVerfGE 51, 43 (55) und 38, 281 (299) beruft. BGBl. I 1950, 207. Zu den Grenzen der Rahmengesetzgebungskompetenz allgemein s. BVerfG v. 27.7.2004 – 2 BvF 2/02, NJW 2004, 2803 Rz. 136 ff. (Juniorprofessur). Dazu Sachs/Degenhart, Art. 74 GG Rz. 112 ff.; Bochmann, ZBR 2007, 1. BK/Höfling, Art. 73 Nr. 8 GG Rz. 6. Dreier/Stettner, GG, 1998, Art. 75 GG Rz. 19; Bothe in: AK-GG, Art. 75 GG Rz. 5; v. Mangoldt/ Klein/Starck/Rozek, Art. 75 GG Rz. 30; von Münch/Kunig, 5. Aufl. 2003, Art. 75 GG Rz. 15; Maunz/Dürig/Maunz, Art. 75 GG Rz. 62. BK/Degenhart, Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG Rz. 14. Jarass/Pieroth/Pieroth, Art. 70 GG Rz. 5. Jarass/Pieroth/Pieroth, Art. 70 GG Rz. 6. Dazu allg. J. Ipsen, NJW 2006, 2801; Mayen, DRiZ 2007, 51. BK/Degenhart, Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG Rz. 15.

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§ 1 Rz. 1.161

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

mehr nur Rahmen-, sondern Vollregelungen schaffen kann347. Auch nach der systematischen Auslegung spricht der Vergleich von Art. 74 Abs. 1 Satz 1 Nr. 27 GG mit Art. 73 Abs. 1 Nr. 8 GG, wonach der Bund nach wie vor die Gesetzgebungskompetenz für alle Rechtsverhältnisse der in seinem Dienst stehenden Personen hat, dafür, dass das Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes der Länder in die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder verlagert worden ist348. Dass dem Bund nunmehr über Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG statt der früheren Rahmen- nunmehr sogar eine Vollgesetzgebungskompetenz für die Rechtsverhältnisse der im öffentlichen Dienst der Länder, Gemeinden und sonstigen öffentlichen Körperschaften stehenden Arbeitnehmer zustehen soll, ist aufgrund der Systematik und der Entstehungsgeschichte des heutigen Katalogs der Gesetzgebungskompetenzen fernliegend. Für das Personalvertretungsrecht, das von der in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ausdrücklich erwähnten Betriebsverfassung zu unterscheiden ist, ist der Entfall der Gesetzgebungskompetenz des Bundes nicht zweifelhaft349.

1.162 Gesetze, die nur für den von Art. 73 Abs. 1 Nr. 8 GG erfassten Personenkreis gelten, sind auch dann, wenn es sich um Gesetze des Privat- oder des Arbeitsrechts handelt, nicht auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 oder 12 GG zu stützen, sondern allein auf Art. 73 Abs. 1 Nr. 8 GG350. Kompetenzrechtlich ist also zwischen dem allgemeinen Arbeitsrecht und dem speziell auf die Belange des öffentlichen Dienstes zugeschnittenen Arbeitsrecht351 zu unterscheiden352. Dies gilt auch umgekehrt für die Einordnung eines unter eine Kompetenznorm zu subsumierenden Gesetzes. Insoweit ist danach zu fragen, ob es sich um ein allgemeines, für alle Arbeitnehmer geltendes Gesetz oder um ein den spezifischen Belangen des ganzen oder von bestimmten Teilen des öffentlichen Dienstes Rechnung tragendes Gesetz handelt353.

1.163 Diese Unterscheidung ist zwar in erster Linie für die Gesetzgebungspraxis entscheidend, sie hat aber auch Bedeutung für die Rechtsanwendung. Der Bund hat sich der Schaffung ge347 Sachs/Degenhart, Art. 74 GG Rz. 112. 348 Jarass/Pieroth/Pieroth, Art. 74 GG Rz. 28; so im Ergebnis auch BAG v. 31.5.2011 – 3 AZR 355/09, NZA-RR 2011, 553 zur Gesetzgebungszuständigkeit im Beamtenversorgungsrecht nach Außerkrafttreten des Art. 74a GG. 349 RDW/Richardi, Einl. Rz. 16. 350 Eindeutig v. Mangoldt/Klein/Pestalozza, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. 1996, Art. 74 GG Rz. 812, Art. 73 GG Rz. 522, Art. 75 GG Rz. 189; wohl auch BK/Höfling, Art. 73 Nr. 8 GG Rz. 7; BK/Axer, Art. 74 Nr. 12 GG Rz. 19, jeweils mwN; v. Mangoldt/Klein/Starck/Oeter, Art. 74 GG Rz. 113; aA (Vorrang von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12) v. Mangoldt/Klein/Starck/Heintzen, Art. 73 GG Rz. 79. 351 BK/Axer, Art. 74 Nr. 12 GG Rz. 19; Maunz/Dürig/Maunz, Art. 75 GG Rz. 62, Art. 74 GG Rz. 166; ebenso Isensee/Kirchhof/Rengeling, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1990, § 100 Rz. 264; Benda/Hesse/Heyde/Isensee, Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, § 32 Rz. 77, zieht daraus sogar den Schluss, dass der Gesetzgeber durch Art. 75 Nr. 1 GG gegenüber den Tarifvertragsparteien berechtigt ist, die Entscheidung über dienstrechtliche Angelegenheiten über ein ius evocandi an sich zu ziehen; einschränkend Adam, ZTR 2006, 185 ff. 352 DFL/Groeger/Hofmann, Art. 72, 74 GG Rz. 9; aA jedoch Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf/ Sannwald, Art. 73 GG Rz. 108, der ohne Berücksichtigung der Änderungen der Kompetenztitel durch die Föderalismusreform 2006 die Rechtsverhältnisse der Arbeiter und Angestellten des öffentlichen Dienstes des Bundes als nicht von Art. 73 Abs. 1 Nr. 8 erfasst ansieht und den vom BVerfG in BVerfGE 38, 281 (299) verwendeten Begriff des „öffentlichen Arbeitsrechts“ mit dem Begriff des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst gleichsetzt. 353 Jarass/Pieroth/Pieroth, Art. 70 GG Rz. 7; nach Ansicht des BAG soll Art. 75 Nr. 1 GG nur den „Teilbereich“ des Rechts erfasst haben, den „die nichtbeamteten Behördenbediensteten mit den Beamten gemeinsam haben“ BAG v. 28.11.1956 – GS 3/56, BAGE 3, 245 (249 f.).

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Verfassungsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.165 § 1

setzlicher Regelungen auf der Grundlage von Art. 73 Abs. 1 Nr. 8 GG für eigene Arbeitnehmer bislang weitgehend enthalten und das Feld den Tarifvertragsparteien überlassen. § 191 BBG bestimmte, dass die Rechtsverhältnisse der im Dienst des Bundes und bundesunmittelbarer Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts stehenden Angestellten und Arbeiter durch Tarifvertrag geregelt werden sollten. Diese vor dem Hintergrund von Art. 9 Abs. 3 GG (dazu Rz. 1.84 ff. und Rz. 1.176 ff.) deklaratorische Regelung war eine bewusste Abgrenzung gegenüber dem Gesetz zur vorläufigen Regelung der Rechtsverhältnisse der im Dienst des Bundes stehenden Personen, das sowohl für Beamte als auch für Arbeitnehmer des Bundes galt354. Der Bund war aber weder durch § 191 BBG noch ist er durch Art. 9 Abs. 3 GG daran gehindert, auf der Grundlage seiner Gesetzgebungskompetenz nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 8 GG spezielle gesetzliche Regelungen, zumindest für einzelne Bereiche des öffentlichen Dienstes, zu erlassen355. Diese können von allgemeinen arbeitsrechtlichen Bestimmungen abweichen356. Die Länder, für die insoweit nichts anderes gilt, haben bereits mehrfach von der ihnen zustehenden Gesetzgebungskompetenz für die Bediensteten des öffentlichen Dienstes Gebrauch gemacht357. § 168 UmwG ermöglicht den Ländern, in einem speziellen Privatisierungsgesetz die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Ausgliederung abweichend von den ansonsten zwingenden Regelungen des UmwG zu bestimmen358.

1.164

Nachdem der Bund seine Rahmengesetzgebungskompetenz insgesamt, also sowohl für das öffentliche Dienstrecht der Länder als auch für das Hochschulrecht, eingebüßt hat359 und die Länder auch insoweit eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz haben, als das GG dem Bund nicht punktuell Gesetzgebungszuständigkeiten verleiht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 und 33 GG), sind durch das WissZeitVG die Befristungsregelungen aus dem HRG herausgelöst und in diesem Bundesgesetz nicht lediglich als Rahmen-, sondern als Vollregelung verankert worden360. Dass ihm hierfür die Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zusteht, wird überwiegend, zumeist ohne nähere Begründung, bejaht; dagegen bestehen Bedenken361.

1.165

354 BGBl. I 1950, 207, §§ 1, 3 Nr. 1, 6; vgl. Battis, BBG, 3. Aufl. 2004, § 191 Rz. 2. 355 BAG v. 31.5.2011 – 3 AZR 355/09, NZA-RR 2011, 553. 356 So sieht bspw. das Förderbankenneustrukturierungsgesetz (BGBl. I 2003, S. 1657), mit dem die DtA ohne Abwicklung aufgelöst und das gesamte Vermögen ohne Abwicklung im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf die KfW übertragen worden ist, in § 4 Abs. 1 nur eine entsprechende Anwendung des § 613a Abs. 1–4 BGB, nicht aber der Abs. 5 und 6 vor. 357 BAG v. 8.5.2001 – 9 AZR 95/00, AP § 613a BGB Nr. 219; v. 28.9.2006 – 8 AZR 441/05, AP § 419 BGB Funktionsnachfolge Nr. 26; v. 10.5.2007 – 2 AZR 263/06, AP § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 165; § 10 des 2. Gesetzes zur Straffung der Behördenstruktur in NRW v. 30.10.2007, GVBl. NW 2007, 482, dazu VG Düsseldorf v. 16.11.2007 – 34 L 1750/07.PVL, juris. 358 WHSS/Willemsen, Kap. B Rz. 85a; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 193 kritisch demgegenüber Kamm/Trümner, ArbuR 2007, 336; Kirmse, NJW 2006, 3325 (Stiftungen des öffentlichen Rechts als Träger von Wissenschafts- und Kultureinrichtungen). 359 BVerfG v. 19.12.2017 – 1 BvL 3/14, BGBl. I 2018, 123 = NJW 2018, 361. 360 Kittner/Däubler/Zwanziger/Däubler, KSchR, Vorbem. WissZeitVG Rz. 5. 361 Vgl. BK/Degenhart, Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG Rz. 17; Jarass/Pieroth/Pieroth, Art. 74 GG Rz. 28; krit. auch Löwisch, NZA 2004, 1065 ff.; unklar jedoch DFL/Löwisch, Einl. WissZeitVG Rz. 1 und § 1 WissZeitVG Rz. 3; bejahend BAG v. 21.6.2006 – 7 AZR 234/05, AP § 57a HRG Nr. 5 für das vor Inkrafttreten der Föderalismusreform ergangene Gesetz zur Änderung dienst- und arbeitsrechtlicher Vorschriften im Hochschulbereich (HdaVÄndG) v. 27.12.2004, v. 30.3.1994 – 7 AZR 229/93, AP § 57a HRG Nr. 1 für das Hochschulrahmengesetz v. 14.6.1985; BAG v. 11.9.2013 – 7 AZR 843/11, BAGE 146, 48; Preis, WissZeitVG, 2008, Einl. Rz. 40 („kann niemand ernsthaft als unzulässigen Übergriff in landesrechtliche Kompetenzen begreifen“) und § 1 Rz. 7;

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§ 1 Rz. 1.166

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

1.166 Das WissZeitVG regelt die Rechtsverhältnisse des wissenschaftlichen und künstlerischen Personals von Einrichtungen, die weit überwiegend in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft stehen und damit dem öffentlichen Dienst im engeren Sinne (dazu Rz. 1.2, 1.28 ff.) angehören362. Es verdrängt nach § 1 Abs. 1 Satz 5 WissZeitVG die allgemeinen arbeitsrechtlichen Vorschriften und Grundsätze über befristete Arbeitsverträge, soweit diese den §§ 2 bis 6 widersprechen363. Diesen gegenüber ist es lex specialis. Nach Ansicht des BAG regelt das WissZeitVG seinen personellen Anwendungsbereich eigenständig und abschließend und ist es den Ländern verwehrt, Regelungen über andere Personalkategorien zu schaffen364. Das BAG geht in Übereinstimmung mit der ganz hM im Schrifttum unter Heranziehung der Gesetzesmaterialien davon aus, dass sich die Bestimmungen des HRG zu den Befristungsmöglichkeiten, die noch auf der Grundlage von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erlassen wurden und sich in der Praxis bewährt hätten, als Regelungen des „Sonderbefristungsrechts“ im Wesentlichen unverändert beibehalten bleiben sollten365.

1.167 Für die Einordnung eines Gesetzes kommt es auf den unmittelbaren oder den Hauptzweck, den Kern, das Spezifische bzw. Spezielle der Regelung an (vgl. Rz. 1.152 f.)366. Teilweise wird auf den Schwerpunkt der gesetzlichen Regelung abgestellt367. Kommt die Zugehörigkeit eines Regelungskomplexes, der aus unterschiedlichen Teilregelungen besteht, zu verschiedenen Kompetenzbereichen in Betracht, so ist aus dem Regelungszusammenhang zu erschließen, wo sie ihren kompetenzbegründenden Schwerpunkt haben. Dabei fällt insbesondere ins Gewicht, wie eng die fragliche Teilregelung mit dem Gegenstand der Gesamtregelung verbunden ist. Eine enge Verzahnung und ein dementsprechend geringer eigenständiger Regelungsgehalt der Teilregelung spricht regelmäßig für ihre Zugehörigkeit zum Kompetenzbereich der Gesamtregelung368. Allein dadurch, dass die §§ 3–5 WissZeitVG für das wissenschaftliches Personal, das nicht im Dienst eines Landes steht, die §§ 1, 2 und 6 für entsprechend anwendbar erklärt, erhält das WissZeitVG nicht den Charakter eines allgemeinen arbeitsrechtlichen Gesetzes. Vielmehr sprechen sowohl die Regelung dieser Materie außerhalb des TzBfG als auch die durch § 1 Abs. 1 Satz 5 WissZeitVG normierte Verdrängung der allgemeinen arbeitsrechtlichen Vorschriften und Grundsätze über befristete Arbeitsverträge und schließlich die Verweisungstechnik innerhalb des WissZeitVG dafür, dass es sich seinem Hauptzweck und vor allem seinem Inhalt nach um ein spezifisch den Belangen der nach Landesrecht staatlichen Hochschulen Rechnung tragendes Gesetz handelt369. Zwar handelt es sich um arbeitsrechtliche Regelungen, jedoch speziell für Einrichtungen des Bildungswesens, die nach der föde-

368 369

APS/Schmidt, § 1 WissZeitVG Rz. 33; ErfK/Müller-Glöge, § 1 WissZeitVG Rz. 2 f.; DFL/Schüren, § 23 TzBfG Rz. 10; Lindner, NVwZ 2007, 180; ArbG Freiburg v. 9.12.2008 – 3 Ca 379/08, ZTR 2009, 335; vgl. auch Dieterich/Preis, NZA 2004, 1240. Lindner, NVwZ 2007, 180, spricht von „wissenschaftsspezifische(m) Arbeitsrecht“. DFL/Löwisch, § 1 WissZeitVG Rz. 6, bezeichnet es treffend als „arbeitsrechtsfest“. BAG v. 1.6.2011 – 7 AZR 827/09, BAGE 138, 91; ebenso Preis, WissZeitVG, § 1 Rz. 7, 9 f., 22, deutlich im Vorwort: „Diese Personalkategorien müssen unter ein Bundesgesetz, das WissZeitVG, subsumiert werden. Wer dies für falsch hält, muss vertreten, dass auch die arbeitsrechtliche Bundeskompetenz nach Art. 74 Nr. 12 GG auf die Länder übertragen worden sei.“; krit. DFL/Löwisch, § 1 WissZeitVG Rz. 1 f. BAG v. 1.6.2011 – 7 AZR 827/09, BAGE 138, 91; BT-Drucks. 16/3438, S. 1 f. Jarass/Pieroth/Pieroth, Art. 70 GG Rz. 7 mwN auf die Rspr. d. BVerfG. Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf/Sannwald, Art. 70 GG Rz. 29 mwN auf die Rspr. des BVerfG. BVerfG v. 17.2.1998 – 1 BvF 1/91, NJW 1998, 1627. AA Kortstock, ZTR 2007, 2 (3 f.).

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362 363 364

365 366 367

Verfassungsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.168 § 1

ralen Struktur weit überwiegend Einrichtungen der Länder sind370. Das BVerfG stellt für die kompetenzrechtliche Zuordnung neben dem unmittelbaren Regelungsgegenstand und dem Normzweck auf die Wirkung und den Adressaten der zuzuordnenden Norm ab371. Eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs, die lediglich eine punktuelle Inanspruchnahme „fremder“ Gesetzgebungskompetenz erlaubt372, wird aus den genannten Gründen argumentativ kaum vertretbar sein373. Insoweit kommt es darauf an, ob der Bund nach Art. 125a Abs. 1 GG eine Änderungskompetenz für das als Bundesrecht fortgeltende HRG idF des HdaVÄndG hat374 und, bejahendenfalls, ob sich die Änderungen im zulässigen Rahmen halten375. Letzteres ist deswegen zweifelhaft, weil in den Kommentierungen einhellig betont wird, dass das WissZeitVG das bisherige Recht nicht unwesentlich376 bzw. gravierend377 geändert hat. Dass das BAG die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder für Regelungen über die Befristung von Arbeitsverträgen mit Professoren bejaht378, beruht auf der Prämisse der grundsätzlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes und wird mit einem bewussten Regelungsverzicht begründet. 2. Freiheit, Bindungen und Gestaltungsspielräume der Gesetzgeber Die Gesetzgebung ist nach Art. 20 Abs. 3 GG an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden. Die verfassungsmäßige Ordnung iSv. Art. 20 Abs. 3 GG umfasst lediglich die Gesamtheit der gültigen Bestimmungen des GG und ggf. der Landesverfassungen379 und ist daher abzugrenzen von dem in Art. 2 Abs. 1 GG verwandten Begriff, worunter der Inbegriff aller formell und materiell verfassungsmäßigen Rechtssätze, also die gesamte verfassungsmäßige Rechtsordnung verstanden wird380. Die Gesetzgebung ist bei der Ausübung ihrer Befugnis somit nicht an einfache Gesetze, die unter dem immanenten Vorbehalt ihrer auch rückwirkenden Änderung stehen, sondern nur an höherrangiges Recht gebunden381. Der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung spielt bei der Auslegung von Normen eine Rolle, er bindet aber nicht den Gesetzgeber, auch wenn Richtschnur seines Handelns sein sollte, Gesetze zu erlassen, die sich widerspruchsfrei in die bestehende Rechtsordnung einfügen. Die Landesgesetzgeber haben freilich auch Art. 31 GG zu beachten. 370 371 372 373 374 375 376 377 378

379 380 381

Dies übersehen Preis/Ulber, FS Otto, S. 391 (394 f.). BVerfG v. 12.3.2008 – 2 BvF 4/03, DVBl. 2008, 507. Jarass/Pieroth/Pieroth, Art. 70 GG Rz. 9 mwN zur Rspr. des BVerfG. Bejahend jedoch Lindner, NVwZ 2007, 180 für die „Aufhebungskompetenz des Bundes kraft zeitlichen Annexes“. Dazu einerseits Maunz/Dürig/Uhle, 2006, Art. 125a GG Rz. 27; andererseits Sachs/Degenhart, Art. 125a GG Rz. 7. Dazu Maunz/Dürig/Uhle, Art. 125a GG Rz. 28; zum insoweit nicht unmittelbar einschlägigen Art. 125a Abs. 2 GG vgl. BVerfG v. 9.6.2004 – 1 BvR 636/02, NJW 2004, 2363. ErfK/Müller-Glöge, § 1 WissZeitVG Rz. 3. DFL/Löwisch, Einl. WissZeitVG Rz. 1. BAG v. 11.9.2013 – 7 AZR 843/11, AP § 46 HRG Nr. 1; ebenso LAG Berlin-Brandenburg v. 24.8.2018 – 3 Sa 407/18, juris; a.A. Gronemeyer, RdA 2016, 24, die meint, dass aus § 1 Abs. 1 S.atz1 WissZeitVG die Anwendbarkeit des TzBfG für befristete Arbeitsverträge mit Professoren folge; dagegen jedoch BVerfG v. 15.11.2018 – 1 BvR 1572/17, NZA 2019, 302 im Anschluss an BAG v. 15.2.2017 – 7 AZR 143/15, NZA 2017, 1258, wonach die Gesetzgebungsbefugnis der Länder für die Befristung von Arbeitsverträgen mit Professoren aus Art. 72 Abs. 1 GG folgen soll. Sachs/Sachs, Art. 20 GG Rz. 101. Sachs/Murswiek, Art. 2 GG Rz. 89. Sachs/Siekmann, Art. 109 GG Rz. 100.

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1.168

§ 1 Rz. 1.169

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

a) Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers

1.169 Im Rahmen der Zuständigkeit (s. Rz. 1.149 ff.) ist die Gesetzgebung insoweit grundsätzlich frei, als für sie kein Vorbehalt der Verfassung gilt. Gesetzgebung besteht zwar auch, aber nicht nur im Vollzug oder der Umsetzung verfassungsrechtlicher – und gemeinschaftsrechtlicher – Vorgaben. Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Begrenzungen (Vorrang der Verfassung) und der Vorgaben des Unionsrechts ist die Gesetzgebung jedoch zu freier Gestaltung berufen, auch weil sie sich auf die demokratische Legitimation der Gesetzgebungsorgane stützen kann382.

1.170 Aus Art. 125a Abs. 2 Satz 2 GG folgt, dass es den Ländern verwehrt ist, bei Fortbestand einer bundesrechtlichen Regelung lediglich einzelne Vorschriften zu ändern. Die andernfalls entstehende Mischlage aus Bundes- und Landesrecht für ein und denselben Regelungsgegenstand im selben Anwendungsbereich wäre im bestehenden System der Gesetzgebung ein Fremdkörper383.Auch wenn die Länder im Rahmen des Art. 125b Abs. 1 Satz 3 GG von Bundesrecht abweichen wollen, müssen sie eine Neuregelung oder eine inhaltliche Regelung im unmittelbaren Zusammenhang mit bereits geltendem Landesrecht treffen. Rein redaktionelle Anpassungen genügen nicht384. b) Gestaltungsverpflichtung des Gesetzgebers

1.171 Andererseits kann der Gesetzgeber auch verpflichtet sein, von einer Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch zu machen.

1.172 Art. 125a Abs. 2 Satz 2 GG darf nicht dazu führen, dass eine sachlich gebotene oder politisch gewollte Neuregelung nur deshalb unterbleibt, weil der Bund sie nicht vornehmen darf, er aber nicht bereit ist, die Materie den Ländern durch Freigabe zur Regelung zu überlassen. Das in Art. 125a Abs. 2 Satz 2 GG dem Bund eingeräumte Ermessen ist unter Berücksichtigung des Grundsatzes bundes- und länderfreundlichen Verhaltens entsprechend eingeschränkt. Reicht die bloße Modifikation der Regelung aufgrund sachlicher Änderungen nicht mehr aus oder hält der Bund aus politischen Erwägungen eine Neukonzeption für erforderlich, so verengt sich der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers beim Fehlen der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG dahingehend, dass er die Länder zur Neuregelung zu ermächtigen hat385.

1.173 Der Staat als tariffähiger Arbeitgeber kann sich nicht ohne gesetzliche Regelung mit dem zwangsweise angeordneten Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen eines Mittels bedienen, das ihm nur als Hoheitsträger zu Gebote steht. Soll der Staat in seiner Eigenschaft als Arbeitgeber mit Hilfe des Beamtenrechts mit besonderen Kampfmitteln gegenüber den Gewerkschaften ausgestattet werden, so muss dies in einem offenen, durch entsprechende Verfahrensgarantien flankierten Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich geregelt werden386. 382 Sachs/Sachs, Art. 20 GG Rz. 99 unter Hinweis auf BVerfG v. 14.7.1998 – 1 BvR 1640/97, NJW 1998, 2515. 383 BVerfG v. 9.6.2004 – 1 BvR 636/02, NJW 2004, 2363; Jarass/Pieroth/Jarass, Art. 125a GG Rz. 8; aA Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf/Maiwald, Art. 125a GG Rz. 7 (Teilersetzung möglich). 384 BVerfG v. 19.12.2017 – 1 BvL 3/14, BGBl. I 2018, 253 = NJW 2018, 361. 385 BVerfG v. 9.6.2004 – 1 BvR 636/02, NJW 2004, 2363; Jarass/Pieroth/Jarass, Art. 125a GG Rz. 11. 386 BVerfG v. 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379; vgl. aber auch BVerfG v. 7.11.1994 – 2 BvR 1117/94 ua., AP Art. 9 GG Nr. 144.

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Verfassungsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.176 § 1

c) Bindungen an Grundrechte Zu den Bindungen des Gesetzgebers gehören vor allem die Grundrechte387, insbesondere 1.174 Art. 2 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3388 und Art. 12 Abs. 1 GG389. Sie schützen nicht nur vor unzulässigen Eingriffen, sondern können auch gesetzgeberische Maßnahmen gebieten390. Bei der Auslegung von Rechtsvorschriften ist die Schutzfunktion von Grundrechten zu berücksichtigen391. aa) Art. 9 Abs. 3 GG – Tarifautonomie Das Doppelgrundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG schützt zum einen den Einzelnen in seiner Frei- 1.175 heit, eine Vereinigung zur Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu gründen, ihr beizutreten oder sie zu verlassen. Geschützt ist zum anderen auch die Koalition selbst in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und ihren Betätigungen, sofern diese der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen392. Der Schutz erstreckt sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen und umfasst insbesondere die Tarifautonomie, die im Zentrum der den Koalitionen eingeräumten Möglichkeiten zur Verfolgung ihrer Zwecke steht. Der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG ist nicht etwa von vorneherein auf den Bereich des Unerlässlichen beschränkt. Der Grundrechtsschutz erstreckt sich vielmehr auf alle Verhaltensweisen, die koalitionsspezifisch sind. Ob eine koalitionsspezifische Betätigung für das Wahrnehmen der Koalitionsfreiheit unerlässlich ist, kann erst bei Einschränkungen dieser Freiheit Bedeutung erlangen393. Die Koalitionsfreiheit ist auch den Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst gewährleistet, und 1.176 zwar unabhängig davon, ob sie hoheitliche oder andere Aufgaben erfüllen. Art. 33 Abs. 4 GG steht dem nicht entgegen. Er sichert die Kontinuität hoheitlicher Funktionen des Staates, indem er als Regel vorsieht, dass ihre Ausübung Beamten übertragen wird, verbietet jedoch nicht generell, dafür auch Arbeitnehmer einzusetzen. Mit der grundrechtlichen Garantie der Tarifautonomie wird ein Freiraum gewährleistet, in dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können. Diese Freiheit findet ihren Grund in der historischen Erfahrung, dass auf diese Weise eher Ergebnisse erzielt werden, die den Interessen der widerstreitenden Gruppen und dem Gemeinwohl gerecht werden, als bei einer staatlichen Schlichtung. Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit kann sich unter diesen Umständen aber nicht darauf beschränken, den einzelnen Grundrechtsträger vor staatlichen Eingriffen in individuelle Handlungsmöglichkeiten zu schützen; es hat vielmehr darüber hinaus die Beziehung zwischen Trägern widerstreitender Interessen zum Gegenstand und schützt diese auch insoweit vor staatlicher Einflussnahme, als sie zum Austrag ihrer Interessengegensätze Kampfmittel mit beträchtlichen Auswirkungen auf den Gegner und die Allgemeinheit verwenden. Soweit es um das Verhältnis der Kampfparteien als gleichgeordnete 387 Oetker, RdA 2004, 8 ff. 388 BVerfG v. 29.2.2004 – 1 BvR 2582/03 ua., AP § 3 AEntG Nr. 2; v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, AP § 10 BUrlG Kur Nr. 2; v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, AP Art. 9 GG Nr. 88; s. auch Anm. von Ehmann/ Lambrich zu BAG v. 17.11.2000 – 1 AZR 175/00, AP § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt Nr. 14; ferner Waltermann, RdA 2007, 257. 389 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 1741/09, ArbRB 2011, 66 = BGBl. I 2011, 362. 390 Näher Sachs/Sachs, vor Art. 1 GG Rz. 35 ff.; Sachs/Murswiek, Art. 2 GG Rz. 24 ff. 391 BAG v. 28.6.2007 – 6 AZR 750/06, ArbRB 2007, 318 = AP § 307 BGB Nr. 27; v. 18.10.2006 – 7 AZR 419/05, ArbRB 2007, 73 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 1. 392 BVerfG v. 6.2.2007 – 1 BvR 978/05, NZA 2007, 394. 393 Zustimmend BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, ArbRB 2008, 81 = NZA 2007, 2038.

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§ 1 Rz. 1.176

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

Grundrechtsträger geht, muss die notwendige Ausformung des Arbeitskampfrechts durch die Rechtsordnung nicht zwingend durch gesetzliche Regelungen erfolgen. Für die Zulässigkeit des Einsatzes von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen ist hingegen eine gesetzliche Regelung zwingend erforderlich. Soll mit Hilfe des Beamtenrechts auch der Staat in seiner Eigenschaft als Arbeitgeber mit besonderen Kampfmitteln gegenüber den Gewerkschaften ausgestattet werden, so muss dies in einem offenen, durch entsprechende Verfahrensgarantien flankierten Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich geregelt werden394.

1.177 Art. 9 Abs. 3 GG verleiht den Tarifvertragsparteien in dem für tarifvertragliche Regelungen zugänglichen Bereich zwar ein Normsetzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol. Deshalb bleibt auch der Gesetzgeber befugt, das Arbeitsrecht zu regeln. Damit verbundene Beeinträchtigungen der Tarifautonomie sind verfassungsgemäß, wenn der Gesetzgeber mit ihnen den Schutz der Grundrechte Dritter oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Belange bezweckt und wenn sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren395.

1.178 Bspw. hat das Ziel, die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen, aufgrund des Sozialstaatsprinzips Verfassungsrang, weil der Abbau von Arbeitslosigkeit auch den zuvor Arbeitslosen ermöglicht, von ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG Gebrauch zu machen und sich durch Arbeit in ihrer Persönlichkeit zu entfalten und darüber Achtung und Selbstachtung zu erfahren396. Der Gesetzgeber darf auch die Ordnungsfunktion der Tarifverträge dadurch unterstützen, dass er Regelungen schafft, die bewirken, dass die von den Tarifparteien ausgehandelten Löhne und Gehälter auch für Nichtverbandsmitglieder zur Anwendung kommen. Indem den Tarifentgelten zu größerer Durchsetzungskraft verholfen wird, wird die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens durch Koalitionen abgestützt397.

1.179 Soweit der Gesetzgeber Gesetze erlässt, ist er vor dem Hintergrund des Art. 9 Abs. 3 GG selbstverständlich auch befugt, den Tarifvertragsparteien Regelungsspielräume entweder ganz zu belassen (zB § 191 BBG) oder zu eröffnen (zB § 22 Abs. 2 TzBfG) oder die Kontrolle tarifvertraglicher Regelungen zurückzunehmen (§ 310 Abs. 4 Satz 1 BGB). Daher ist auch § 1 Abs. 1 Satz 3 und 4 WissZeitVG, wonach durch Tarifvertrag für bestimmte Fachrichtungen und Forschungsbereiche von den in § 2 Abs. 1 WissZeitVG vorgesehenen Fristen abgewichen und die Anzahl der zulässigen Verlängerungen befristeter Arbeitsverträge festgelegt werden kann, verfassungsrechtlich unbedenklich, auch wenn damit genuin hochschulrechtliche Fragen berührt werden398. Umstritten ist, ob durch ein Gesetz die Vergütungen für Tarifbeschäftigte geregelt werden können oder ob damit in die Tarifautonomie eingegriffen wird399.

394 BVerfG v. 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379; zum Streikverbot für Beamte BVerfG v. 12.6.2018 – 2 BvR 1738/12 ua., ZTR 2018, 428. 395 BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, AP § 57a HRG Nr. 2; v. 29.12.2004 – 1 BvR 2283/03, 1 BvR 2504/03 und 1 BvR 2582/03, AP § 3 AEntG Nr. 2. 396 BVerfG v. 29.12.2004 – 1 BvR 2582/03, 1 BvR 2283/03, 1 BvR 2504/03, NZA 2005, 153 (154); v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, AP § 10 BUrlG Kur Nr. 2; s. auch die Anm. von Ehmann/Lambrich zu BAG v. 17.11.2000 – 1 AZR 175/00, AP § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt Nr. 14. 397 BVerfG v. 20.3.2007 – 1 BvR 1047/05, MDR 2007, 959. 398 Vgl. Löwisch, FS Otto, S. 317 (321 f.). 399 Zum Gesetz über Einkommensverbesserungen für Tarifbeschäftigte im öffentlichen Dienst des Landes Hessen (GEVerbTöD) v. 15.11.2007 (GVBl. I S. 751) s. Rieble/Leitmeier, ZTR 2008, 237 sowie Weiss/Schmidt, NZA 2008, 18.

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Verfassungsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.182 § 1

bb) Art. 3 Abs. 1 GG – Allgemeiner Gleichheitssatz Allein in der Tatsache, dass ein Landesgesetz von verwandten Regelungen in anderen Ländern oder des Bundes abweicht, liegt noch kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Wegen der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik Deutschland ist ein Landesgesetzgeber nur gehalten, in seinem Herrschaftsbereich den allgemeinen Gleichheitssatz zu wahren400. Eine Verpflichtung eines Bundeslandes, seine Arbeitnehmer mit vergleichbaren Arbeitnehmern anderer Bundesländer gleich zu behandeln, wird auch vom BAG abgelehnt401. Die Kompetenzverteilung als solche, die Ausdruck des Bundesstaatsprinzips ist, rechtfertigt unterschiedliche Regelungen, zumal Adressat des Art. 3 GG nur der jeweilige Normgeber in seinem Zuständigkeitsbereich ist402. Es besteht auch keine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers, § 613a BGB für vergleichbare Umstrukturierungen im Bereich des öffentlichen Dienstes zu übernehmen. Jedenfalls das Widerspruchsrecht des § 613a Abs. 6 BGB ist verfassungsrechtlich nicht geboten. Jedoch muss der Gesetzgeber das Grundrecht der Arbeitnehmer auf freie Wahl des Arbeitsplatzes bei einem ohne ihren Willen erfolgenden Arbeitgeberwechsel jedenfalls dann schützen, wenn der Wechsel des Arbeitgebers unmittelbar kraft Gesetzes aus der Beschäftigung bei einem öffentlichen Arbeitgeber zu einem privaten Arbeitgeber führt, oder wenn es sich lediglich um einen Zwischenschritt hin zu einer beabsichtigten und klar absehbaren Privatisierung des Arbeitgebers handelt403.

1.180

Darauf, dass die Länder über unterschiedliche Finanzkraft verfügen404, hat das BVerfG auch zur Rechtfertigung unterschiedlicher tariflicher Regelungen in den alten Bundesländern und im Beitrittsgebiet entscheidend abgestellt.

1.181

Der in § 1b Abs. 1 Satz 4 BetrAVG erwähnte und dem Privatrecht zuzuordnende405 arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ist demgegenüber, auch wenn seine Herleitung im Einzelnen unklar ist406, kein höherrangiges Recht. Auch er bindet den Träger eines Ordnungs- und Regelungsbereiches lediglich in dessen eigenem Zuständigkeitsbereich und enthält kein Gebot zur einheitlichen Behandlung von Arbeitnehmergruppen in unterschiedlichen Ordnungs- oder Regelungsbereichen. Ähnliche Sachverhalte in verschiedenen Ordnungs- und Regelungsbereichen brauchen auch unter der Geltung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht gleich geregelt zu werden407. Daraus folgt bspw., dass er im Verhältnis zwischen Beamten und Arbeitnehmern desselben Dienstherrn bzw. Arbeitgebers nicht anwendbar ist. Er gebietet auch nicht, dass Beamte und Angestellte, die die gleiche Tätigkeit ausüben, in gleicher Weise besoldet bzw. vergütet werden408.

1.182

400 BVerfG v. 26.10.2005 – 1 BvR 396/98, BGBl. I 2005, 3726; v. 30.5.1972 – 2 BvL 41/71, BVerfGE 33, 224. 401 BAG v. 15.11.2005 – 9 AZR 209/05, AP § 50 BAT Nr. 18; v. 29.1.1986 – 4 AZR 465/84, AP §§ 22, 23 BAT 1975 Nr. 115. 402 ErfK/Schmidt, Art. 3 GG Rz. 15 ff.; HWK/Hergenröder, 3. Aufl., Art. 3 GG Rz. 19. 403 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 1741/09, ArbRB 2011, 66 = BGBl. I 2011, 362. 404 BVerfG v. 9.8.2000 – 1 BvR 514/00, NJW 2000, 3555. 405 ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 572. 406 HWK/Thüsing, § 611 BGB Rz. 181; DFL/Kamanabrou, § 611 BGB Rz. 285. 407 DFL/Kamanabrou, § 611 BGB Rz. 303. 408 BAG v. 17.6.1993 – 6 AZR 620/92, AP § 2 BeschFG 1985 Nr. 32; v. 20.3.2002 – 4 AZR 90/01, AP §§ 22, 23 BAT 1975 Nr. 289; v. 3.4.2003 – 6 AZR 633/01, AP § 242 BGB Gleichbehandlung Nr. 185; v. 11.12.2012 – 3 AZR 611/10, juris.

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§ 1 Rz. 1.183

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

1.183 Mit dieser Rechtsprechung verträgt sich nicht die Entscheidung des Großen Senats des BAG, wonach Art. 75 Nr. 1 GG nur den „Teilbereich“ des Rechts erfasst habe, den „die nichtbeamteten Behördenbediensteten mit den Beamten gemeinsam haben“409. Ist es den Tarifvertragsparteien und dem Gesetzgeber einerseits gestattet, auf beamtenrechtliche Bestimmungen arbeitsrechtlich Bezug zu nehmen, so sind sie dazu andererseits nicht verpflichtet. Ferner sprechen bereits die unterschiedlichen Gesetzgebungszuständigkeiten dafür, dass das allgemeine Arbeitsrecht und das Arbeitsrecht des oder für Teile des öffentlichen Dienstes inhaltlich nicht gleich geregelt werden müssen. Ihnen ist die Möglichkeit eigenständiger gesetzlicher Regelungen für Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes immanent. Abweichungen vom allgemeinen Arbeitsrecht bedürfen lediglich einer verfassungsrechtlich haltbaren Rechtfertigung, bspw. dass sie durch Besonderheiten des öffentlichen Dienstes gerechtfertigt sind. Die Gesetzgeber von Bund und Ländern haben insoweit einen weiten Gestaltungsspielraum. Für die Gesetzgebung gilt kein Vorbehalt, sondern nur der Vorrang der Verfassung. Daraus folgt, dass speziell für den öffentlichen Dienst geltende arbeitsrechtliche Regelungen höherrangigem Recht entsprechen müssen. Soweit jedoch für die im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeitnehmer keine speziellen gesetzlichen Vorschriften gelten, gelten die auf der Grundlage von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erlassenen allgemeinen arbeitsrechtlichen Gesetze. d) Weitere verfassungsimmanente Bindungen aa) Art. 33 Abs. 5 GG – Hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums

1.184 Nach Art. 33 Abs. 5 GG ist das Recht des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln. Die auf den Kerngehalt der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums bezogene Pflicht versperrt dem Gesetzgeber den Weg für tiefgreifende strukturelle Veränderungen. Solange jedoch an den für das Erscheinungsbild und die Funktion des Berufsbeamtentums wesentlichen Regelungen keine strukturelle Veränderung vorgenommen wird, steht Art. 33 Abs. 5 GG einer Fortentwicklung des Beamtenrechts nicht entgegen. In der Pflicht zur Berücksichtigung ist vielmehr eine Entwicklungsoffenheit angelegt, die den Gesetzgeber in die Lage versetzt, die Ausgestaltung des Dienstrechts den jeweiligen Entwicklungen der Staatlichkeit anzupassen und das Beamtenrecht damit „in die Zeit“ zu stellen410.

1.185 Soweit sich der Dienstherr der Möglichkeit bedient, Bedienstete im Arbeitsverhältnis einzustellen, ist er diesen besonderen institutionellen Vorgaben nicht unterworfen, die das Grundgesetz mit der Einrichtung des Berufsbeamtentums verbindet411. Da Arbeitnehmer und Beamte unterschiedlichen Ordnungs- und Regelungsbereichen angehören und ihre Beschäftigungsverhältnisse derart wesentliche Unterschiede aufweisen, dass sie nicht miteinander verglichen werden können, besteht auch nicht mittelbar über den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz eine Verpflichtung zur Beachtung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums oder einfachgesetzlicher beamtenrechtlicher Regelungen412. Umgekehrt ist auch der Besoldungsgesetzgeber verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, bei Anpas-

409 BAG v. 28.11.1956 – GS 3/56, BAGE 3, 245 (249 f.). 410 BVerfG v. 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, BGBl. I, 2379; BAG v. 19.6.2012 – 3 AZR 558/10, NZA-RR 2013, 37. 411 BVerfG v. 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, BGBl. I, 2379. 412 BAG v. 15.11.2005 – 9 AZR 209/05, AP § 50 BAT Nr. 18; HWK/Thüsing, § 611 BGB Rz. 197; DFL/Kamanabrou, § 611 BGB Rz. 303; ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 600.

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Verfassungsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.188 § 1

sungen der Bezüge eine strikte Parallelität zu den Tarifergebnissen des öffentlichen Dienstes zu gewährleisten413. Das Recht des öffentlichen Dienstes iSv. Art. 33 Abs. 5 GG erfasst nach hM nicht das Recht der Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes414. Die Rechtsprechung des BVerfG hebt allerdings zur Begründung, warum der Gesetzgeber nicht verpflichtet ist, Beamte und Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes gleich zu behandeln, auf die nach derzeitigem Recht bestehenden Unterschiede ab415. Das lässt aber zumindest den Schluss zu, dass, solange auf der Ebene des einfachen Rechts diese Unterschiede bestehen, die Gesetzgeber auch weiterhin bei der gesetzlichen Regelung von Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes nicht an die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums gebunden sind.

1.186

bb) Art. 20 Abs. 2 GG – Demokratieprinzip Nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Als Ausübung von Staats- 1.187 gewalt, die demokratischer Legitimation bedarf, stellt sich jedenfalls alles amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter dar. Es kommt nicht darauf an, ob es unmittelbar nach außen wirkt oder nur behördenintern die Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Amtsaufgaben schafft. Will der Gesetzgeber die Beschäftigten an Entscheidungen über innerdienstliche Maßnahmen mit Rücksicht auf deren spezifische Interessen als Dienst- und Arbeitnehmer beteiligen, so sind ihm durch das Erfordernis hinreichender demokratischer Legitimation Grenzen gesetzt. Je weniger eine zu treffende Entscheidung typischerweise die verantwortliche Wahrnehmung des Amtsauftrages und je nachhaltiger sie die Interessen der Beschäftigten berührt, desto weiter kann die Beteiligung einer Personalvertretung reichen416. So verstieß die in § 62 Abs. 5 PersVG Sachsen-Anhalt (aF) festgelegte Bindungswirkung der Entscheidung der Einigungsstelle ohne Letztentscheidungsrecht des Leiters der obersten Dienstbehörde bei Kündigungen von Angestellten und Arbeitern gegen das Demokratieprinzip und war verfassungskonform auszulegen417. Außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung sowie der gemeindlichen Selbstverwaltung ist das Demokratiegebot des Art. 20 Abs. 2 GG offen für Formen der Organisation und Ausübung von Staatsgewalt, die vom Erfordernis lückenloser personeller demokratischer Legitimation aller Entscheidungsbefugten abweichen. Es erlaubt, für abgegrenzte Bereiche der Erledigung öffentlicher Aufgaben durch Gesetz besondere Organisationsformen der Selbstverwaltung zu schaffen. Verbindliches Handeln mit Entscheidungscharakter ist den Organen dieser Träger funktioneller Selbstverwaltung aus verfassungsrechtlicher Sicht allerdings nur gestattet, weil und soweit auch insoweit das Selbstbestimmungsrecht des Volkes gewahrt ist. Das erfordert, dass die Aufgaben und Handlungsbefugnisse der Organe in einem von der

413 BVerfG v. 24.9.2007 – 2 BvR 1673/03 ua., DVBl. 2007, 1435. 414 Sachs/Battis, Art. 33 GG Rz. 69, 50; gleichwohl hat sich der Bund beim Gesetz zur vorläufigen Regelung der Rechtsverhältnisse der im Dienst des Bundes stehenden Personen, BGBl. I 1950, 207 auf Art. 33 Abs. 5 GG gestützt. 415 BVerfG v. 24.9.2007 – 2 BvR 1673/03 ua., DVBl. 2007, 1435. 416 BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, BGBl. I, 1502; Jarass/Pieroth/Jarass, Art. 20 GG Rz. 9 ff. 417 BAG v. 21.6.2006 – 2 AZR 300/05, ArbRB 2007, 14 = AP § 62 LPVG Sachsen-Anhalt Nr. 1; vgl. auch BVerfG v. 20.7.2001 – 2 BvL 8/00, AP § 72 LPVG Brandenburg Nr. 1; BVerwG v. 24.4.2002 – 6 P 3/01, AP § 86 LPVG Hamburg Nr. 6; BAG v. 27.1.2011 – 2 AZR 744/09, AP § 79 LPVG Berlin Nr. 4; I. Schmidt, PersR 1996, 472; Battis, PersV 2005, 286; Flintrop/Leuze, PersV 2005, 298.

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1.188

§ 1 Rz. 1.188

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

Volksvertretung beschlossenen Gesetz ausreichend vorherbestimmt sind und ihre Wahrnehmung der Aufsicht personell demokratisch legitimierter Amtswalter unterliegt418.

1.189 Nach dem Beschluss des BVerfG vom 9.5.1972419 ist die Verleihung von Satzungsautonomie für juristische Personen des öffentlichen Rechts insbesondere deshalb gerechtfertigt, weil gesellschaftliche Gruppen die Regelung solcher Angelegenheiten, die sie selbst betreffen, in den für sie überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können und so der Abstand zwischen Normgeber und Normadressat verringert wird. Gleichzeitig aber setzt die Ordnung des GG der Verleihung und Ausübung von Satzungsgewalt Grenzen. Diese lassen sich nicht aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG herleiten. Diese Bestimmung trägt dem Umstand Rechnung, dass bei der Abgabe der Normsetzungsbefugnis an eine Stelle der bürokratisch-hierarchisch organisierten Exekutive die Gefahr bestehen kann, praktisch-effiziente Regelungen auf Kosten der Freiheit der Bürger durchzusetzen. Hiermit ist es allerdings nicht vergleichbar, wenn der Gesetzgeber innerhalb eines von vornherein durch Wesen und Aufgabenstellung der betreffenden Körperschaft begrenzten Bereichs einen bestimmten Kreis von Bürgern ermächtigt, durch demokratisch gebildete Organe ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln. Allerdings verlangt das Prinzip des Rechtsstaats und der Demokratie, dass sich der Gesetzgeber auch im Rahmen einer an sich zulässigen Autonomiegewährung seiner Rechtsetzungsbefugnis nicht völlig entäußert. Das gilt besonders, wenn der Akt der Autonomieverleihung auch zu Eingriffen in den Grundrechtsbereich ermächtigt. Diese sind nur wirksam, wenn sie ihrerseits mit höherrangigem Recht, vor allem mit dem GG, in Einklang stehen420.

1.190 Auch Sparkassen sind aufgrund ihres besonderen Status als öffentlich-rechtliche Anstalten und aufgrund des ihnen gesetzlich zugewiesenen öffentlichen Auftrages Teil der öffentlichen Verwaltung der Gemeinden und Gemeindeverbände und damit dem Demokratieprinzip unterworfen421. Eine unternehmerische Mitbestimmung der Beschäftigten von Sparkassen ist zwar zulässig und in nahezu allen Bundesländern eingeführt, jedoch nicht geboten422.

1.191 Art. 143b Abs. 3 GG lässt es zu, dass für die bei den privatisierten Unternehmen Deutsche Bundespost (Deutsche Post AG) und Bundesbahn (Deutsche Bahn AG) beschäftigten Beamten auf die sonst für den öffentlichen Dienst geforderte Kette demokratischer Legitimation verzichtet wird. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats und die Kompetenz der Einigungsstelle müssen deshalb nicht aus Rücksicht auf das Erfordernis einer solchen demokratischen Legitimation eingeschränkt werden423. e) Organisationsformen des öffentlichen Dienstes

1.192 Nach Art. 86 GG regelt die Bundesregierung, soweit der Bund die Gesetze durch bundeseigene Verwaltung oder durch bundesunmittelbare Körperschaften oder Anstalten des öffent418 BVerfG v. 5.12.2002 – 2 BvL 5/98 und 2 BvL 6/98, BGBl. I 2003, 853; Jarass/Pieroth/Jarass, Art. 20 GG Rz. 10a. 419 BVerfG v. 9.5.1972 – 1 BvR 518/62 und 1 BvR 308/64, BVerfGE 33, 125. 420 BVerfG v. 13.7.2004 – 1 BvR 1298/94 ua., BGBl. I 2004, 2931; zustimmend BAG v. 12.12.2006 – 1 AZR 96/06, ArbRB 2007, 104 = NZA 2007, 453. 421 VerfGH Nordrhein-Westfalen v. 15.9.1986 – VerfGH 17/85, AP Art. 20 GG Nr. 14. 422 Bayerischer VerfGH v. 14.2.2011 – Vf. 2-VII-10, ZIP 2011, 664. 423 BAG v. 10.12.2002 – 1 ABR 27/01, AP § 95 BetrVG 1972 Nr. 42; v. 12.8.1997 – 1 ABR 7/97, AP § 99 BetrVG 1972 Versetzung Nr. 15; v. 12.12.1995 – 1 ABR 23/95, AP § 99 BetrVG 1972 Versetzung Nr. 8.

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Verfassungsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.196 § 1

lichen Rechtes ausführt und das Gesetz nichts anderes bestimmt, die Einrichtung der Behörden. Der Begriff der Einrichtung erfasst sowohl die Errichtung als auch die sachliche, personelle und finanzielle Ausstattung424. Behörden oder bundesunmittelbare Körperschaften oder Anstalten können aber nach Art. 87 Abs. 3 GG auch durch Gesetz errichtet werden. Führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, so regeln sie grundsätzlich nach Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG die Einrichtung425 der Behörden. Es liegt allein in der Organisationshoheit der Länder, ob sie das Bundesgesetz im Rahmen der staatsunmittelbaren Verwaltung ausführen oder auf die Möglichkeit zurückgreifen, mit dem Gesetzesvollzug eine öffentlich-rechtliche Körperschaft zu beauftragen426. Wer innerhalb des Landes für die Organisation zuständig ist, richtet sich nach dem jeweiligen Landesrecht.

1.193

Art. 86 GG regelt nicht die Zulässigkeit bestimmter Organisations- und Verwaltungsformen. Er besagt nichts darüber, ob die angesprochenen Verwaltungstypen bundeseigener und mittelbarer Bundesverwaltung jeweils zulässig sind; er bietet keine Grundlage, um die Zulässigkeit sonstiger, nicht genannter Typen von Bundesverwaltung zu beurteilen427. Art. 84 GG enthält zur Ausübung der Organisationsgewalt durch die Länder keine Aussage. Maßgeblich ist das Landesrecht, das für die Regelung des Verwaltungsaufbaus und der Behördenzuständigkeiten überwiegend eine gesetzliche Regelung fordert428.

1.194

Soweit nicht der Gesetzgeber selbst Organisationsentscheidungen zu treffen hat429, stellt sich 1.195 im Bund wie in den Ländern die Frage, ob eine Organisationsentscheidung der Richtlinienkompetenz des Regierungschefs (Bundeskanzler/Ministerpräsident) unterfällt oder nach dem Kollegialprinzip in die Zuständigkeit der Regierung oder nach dem Ressortprinzip in die Zuständigkeit des einzelnen Ministers fällt430. aa) Errichtung und Schließung von Behörden Neben den bekannten Organisationsformen, also bundes- bzw. landesunmittelbaren und 1.196 kommunalen Behörden sowie Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, sind auch Verwaltungsgemeinschaften des öffentlichen Rechts als Organisationsform anerkannt. So betreiben die Landesrundfunkanstalten, das Deutschlandradio und das ZDF für die Abwicklung des Gebühreneinzugs als gemeinsames Rechenzentrum im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen nichtrechtsfähigen Verwaltungsgemeinschaft den Beitragsservice (früher: GEZ)431. Die Arbeitsverträge werden zwischen allen den Beitragsservice tragenden Rundfunkanstalten und den Mitarbeitern geschlossen432. Auf der Grundlage von Landesgesetzen können in einigen Ländern Gemeinden rechtsfähige Verwaltungsgemeinschaften als

424 AK-GG/Bull, Art. 86 GG Rz. 21, Art. 84 GG Rz. 7 ff.; Sachs/Sachs, Art. 86 GG Rz. 31. 425 Auch hier ist der Begriff weit zu verstehen, Sachs/Dittmann, Art. 84 GG Rz. 7; Epping/Hillgruber/Suerbaum, 41. Edition Stand 15.5.2019, Art. 84 GG Rz. 23 f. 426 BVerwG v. 21.7.2000 – 11 BN 3/00, NJW 2000, 3150. 427 Sachs/Sachs, Art. 86 GG Rz. 48. 428 Sachs/Dittmann, Art. 84 GG Rz. 4. 429 Vgl. zum Diskussionsstand BAG v. 24.6.2004 – 2 AZR 208/03, ZTR 2005, 160. 430 Beispiele: OVG Sachsen-Anhalt v. 30.7.2003 – 5 L 6/02, PersR 2003, 506; VG Berlin v. 27.8.2002 – 72 A 3/02, PersR 2003, 424. 431 BAG v. 3.9.1991 – 3 AZR 369/90, AP § 1 BetrAVG Überversorgung Nr. 3. 432 Hahn/Vesting/Ohliger, Beck’scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 2. Aufl. 2008, § 7 RGebStV Rz. 19.

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§ 1 Rz. 1.196

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Dienstherrenfähigkeit gründen433. Dadurch dürfen allerdings die identitätsbestimmenden Merkmale gemeindlicher Selbstverwaltung nicht beseitigt werden. Das ist dann nicht der Fall, wenn die Verwaltungsgemeinschaft keine der Mitgliedsgemeinde übergeordnete Organisationsstufe im Verwaltungsaufbau ist und die Aufgaben des eigenen Wirkungskreises der Gemeinden grundsätzlich nur in dem Sinne besorgt, dass sie als „Dienstleister“ im Namen und im Auftrag der Mitgliedsgemeinden tätig wird und dabei an die Beschlüsse und Weisungen der Organe der Mitgliedsgemeinden gebunden ist434. Folglich ist bei einer amtsangehörigen Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern, die noch eigene Arbeitnehmer beschäftigt, nach § 23 KSchG auf die Verhältnisse in der Gemeinde und nicht auf die Verhältnisse im Amt abzustellen435.

1.197 Die Verwaltungen des Bundes und die der Länder, zu denen auch die Kommunen gehören, sind organisatorisch und funktionell im Sinne von in sich geschlossenen Einheiten prinzipiell voneinander getrennt. Das GG schließt daher, von begrenzten Ausnahmen abgesehen, eine so genannte Mischverwaltung aus436. Kennzeichnendes Element einer Mischverwaltung ist die gemeinsame Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben437. Ob damit die Einrichtung von gemeinsamen Betrieben, an denen öffentliche Arbeitgeber als Träger beteiligt sind, ebenfalls unzulässig sind, bleibt abzuwarten. Nach bisheriger Rechtsprechung können an einem gemeinschaftlichen Betrieb sowohl eine juristische Person des Privatrechts als auch eine Körperschaft des öffentlichen Rechts beteiligt sein438. Vom gemeinsamen Betrieb ist ein Gemeinschaftsunternehmen zu unterscheiden439. Die in Art. 91e GG geregelte Mischverwaltung ist eine Ausnahme und kein verfassungswidriges Verfassungsrecht440.

1.198 Die für eine betriebsbedingte Kündigung erforderliche unternehmerische Entscheidung kann auch in einer Entscheidung des Gesetzgebers, einen Betrieb stillzulegen, liegen. Sie kann dann von den Gerichten nicht nachgeprüft werden; sie ist vielmehr als gegeben hinzunehmen441. Welche Auswirkungen dies auf die Rechtsprechung zur außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung tarifvertraglich ordentlich nicht mehr kündbarer Arbeitnehmer442 hat, wenn die unternehmerische Entscheidung unmittelbar durch ein Gesetz erfolgt, insbesondere ob auch der Gesetzgeber bereits bei Erstellung eines „unternehmerischen Konzepts“ die in Form von vereinbarten Kündigungsausschlüssen bestehenden arbeitsvertraglich übernommenen Garantien ebenso wie andere schuldrechtliche Bindungen berücksichtigen muss443 und ob die hinreichende Berücksichtigung der Überprüfung durch die Gerichte unterliegt, musste das BAG bislang nicht entscheiden. 433 Beispiele: BAG v. 23.11.2004 – 2 AZR 38/04, ArbRB 2005, 235 = AP § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl Nr. 70; v. 26.6.1997 – 8 AZR 426/95, AP § 613a BGB Nr. 165. 434 BVerfG v. 19.11.2002 – 2 BvR 329/97, DVBl. 2003, 919. 435 LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 25.10.2011 – 5 Sa 103/11, juris. 436 BVerfG v. 20.12.2007 – 2 BvR 2433/04 und 2 BvR 2434/04, BGBl. I 2008, 27; s. auch BVerfG v. 12.1.1983 – 2 BvL 23/81, BGBl. I, 451. 437 BVerfG v. 7.9.2010 – 2 BvF 1/09, BGBl. I 2010, 1401. 438 BAG v. 24.1.1996 – 7 ABR 10/95, AP § 1 BetrVG 1972 Gemeinsamer Betrieb Nr. 8; BVerwG v. 13.6.2001 – 6 P 8/00, AP § 1 BetrVG 1972 Gemeinsamer Betrieb Nr. 14. 439 BAG v. 9.6.2011 – 6 AZR 132/10, BAGE 138, 116 = ArbRB 2011, 297. 440 BVerfG v. 7.10.2014 – 2 BvR 1641/11, BVerfGE 137, 108; BAG v. 31.1.2019 – 8 AZR 410/13, juris. 441 BAG v. 10.5.2007 – 2 AZR 263/06, AP § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 165; v. 24.6.2004 – 2 AZR 208/03, ZTR 2005, 160. 442 BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 367/01, ArbRB 2003, 42 = AP § 55 BAT Nr. 4. 443 BAG v. 2.3.2006 – 2 AZR 64/05, AP § 2 KSchG 1969 Nr. 84.

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Verfassungsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.202 § 1

Restriktiver in dieser Hinsicht ist die Ansicht des BayVerfGH, wonach dem Gesetzgeber bei Organisationsakten regelmäßig ein weiter Ermessens- und Gestaltungsspielraum zusteht; mit Blick auf das Willkürverbot genügt es, dass sich für seine Entscheidung ein sachlich vertretbarer Grund von einigem Gewicht anführen lässt. Die Einsparung von Haushaltsmitteln in nicht vernachlässigbarem Umfang ist generell ein sachlich vertretbarer Grund von einigem Gewicht, der gesetzliche Regelungen rechtfertigen kann. Dabei sind Einzelmaßnahmen im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aller Sparmaßnahmen zu sehen444.

1.199

So kann durch Landesgesetz ein Zentrales Personalüberhangmanagement als Behörde und Dienststelle errichtet werden, zu dem Bedienstete, deren Beschäftigung durch den Wegfall von Aufgaben oder die Verlagerung von Aufgaben auf andere Dienstkräfte in ihrer Dienstbehörde nicht mehr möglich ist und die deswegen dem Personalüberhang zugeordnet sind, versetzt werden können, damit sie von dort entsprechend ihrem bisherigen statusrechtlichen Amt oder ihrer arbeitsvertraglichen Vereinbarung durch Vermittlung auf freie Stellen anderweitig eingesetzt werden445. Neben dem Land Berlin hat bspw. auch das Land NordrheinWestfalen eine organisatorisch verselbständigte Behörde für diese Aufgabe errichtet446.

1.200

bb) Gesetzliche Regelung der inneren Organisation Sofern durch Gesetz die innere Organisation von Behörden geregelt wird, sind auch diese Regelungen von den Arbeitsgerichten als gegeben hinzunehmen und unterliegen nicht der gerichtlichen Nachprüfung. Die Willkürkontrolle, der unternehmerische Entscheidungen der vollziehenden Gewalt kraft ihrer Bindung an Gesetz und Recht447 unterliegen448, ist insoweit auf eine verfassungsrechtliche Willkürkontrolle anhand der Maßstäbe des Art. 3 GG beschränkt mit der Folge, dass bei nachkonstitutionellem Recht den Fachgerichten keine Verwerfungskompetenz zusteht, sondern eine Vorlagepflicht nach Art. 100 GG besteht. Auch der Entscheidung des Stadtrats einer Gemeinde gebührt unter dem Gesichtspunkt des kommunalen Selbstverwaltungsrechts (Art. 28 Abs. 2 GG) besondere rechtliche Achtung. So bedingt der Beschluss, die Stelle einer Gleichstellungsbeauftragten wegfallen zu lassen und die nach der GO vorgeschriebene Funktion in Zukunft durch eine ehrenamtliche Kraft wahrnehmen zu lassen, eine Kündigung der Gleichstellungsbeauftragten iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG449.

1.201

cc) Art. 33 Abs. 4 GG – Funktionsvorbehalt Die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse ist als ständige Aufgabe gemäß Art 33 Abs. 4 GG in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, die in einem öffentlichrechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. Zum Gewährleistungsbereich des Art. 33 Abs. 4 GG gehören jene Aufgaben, deren Wahrnehmung die besonderen Verlässlichkeits-, Ste444 Bayerischer VerfGH v. 29.9.2005 – Vf.3-VII-05, Vf.7-VIII-05, NJW 2005, 3699; ähnlich in anderem Zusammenhang BAG v. 26.6.2008 – 2 AZR 139/07, ArbRB 2008, 329 = NZA 2008, 1182 (betriebsbedingte Änderungskündigung). 445 BVerwG v. 2.8.2005 – 6 P 11/04, ZTR 2005, 606; BAG v. 27.10.2005 – 6 AZR 123/05, AP § 256 ZPO 1977 Nr. 90; v. 15.8.2006 – 9 AZR 571/05, ArbRB 2007, 43 = AP § 84 LPVG Berlin Nr. 1; v. 13.3.2007 – 9 AZR 362/06, AP § 1 StPG Berlin Nr. 1. 446 Gesetz über das Personaleinsatzmanagement – PEMG NW v. 19.6.2007, GV NW 2007, 242; ausführlich Elmar Braun, Stellenpools und Personalvermittlungsstellen in der öffentlichen Verwaltung, 2009. 447 Jarass/Pieroth/Jarass, Art. 20 GG Rz. 38, Art. 1 Rz. 38; DFL/Kappenhagen, Art. 3 GG Rz. 17, 28 f. 448 Bspw. im Rahmen von § 8 TzBfG, BAG v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/02, NJW 2004, 386. 449 BAG v. 18.9.2008 – 2 AZR 560/07, NZA 2009, 142.

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1.202

§ 1 Rz. 1.202

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

tigkeits- und Rechtsstaatlichkeitsgarantien des Beamtentums erfordert450. Die Beurteilung einer Aufgabe als hoheitlich iSv. Art. 33 Abs. 4 GG bestimmt sich nicht nach der zuständigen Organisationseinheit, sondern nach ihrem Inhalt und dem Umfang des zur Verfügung stehenden ordnungsbehördlichen Instrumentariums451. Art. 33 Abs. 4 GG ist somit auch unabhängig von der öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Organisation des Aufgabenträgers anzuwenden452.

1.203 Der Funktionsvorbehalt begründet keine Individualrechte. Er dient nicht dem Schutz oder den Interessen des Einzelnen, sondern stellt lediglich ein Strukturprinzip für die Organisation des öffentlichen Dienstes sicher453. Art. 33 Abs. 4 GG sichert die Kontinuität hoheitlicher Funktionen des Staates, indem er als Regel vorsieht, dass ihre Ausübung Beamten übertragen wird, verbietet jedoch nicht generell, dafür auch Arbeitnehmer einzusetzen454. Ein Arbeitnehmer hat deswegen auch dann, wenn er auf seinem Dienstposten hoheitliche Befugnisse ausübt, keinen Anspruch auf Umwandlung des Dienstpostens in eine Beamtenstelle und Übernahme in ein Beamtenverhältnis455.

1.204 Der Funktionsvorbehalt schließt es andererseits auch nicht aus, die Wahrnehmung von Aufgaben, die die Ausübung hoheitlicher Befugnisse erfordert, auf eine juristische Person des Privatrechts zu übertragen456. Die Aufgaben zu bestimmen, die von Nichtbeamten wahrgenommen werden dürfen, ist Sache des Gesetzgebers. Dieser hat das verfassungsrechtlich gebotene Regel-Ausnahme-Verhältnis als eine Art „Wesensgehaltsgarantie für den Aufgabenbereich der Beamten“ zu beachten. Die funktionale Privatisierung von Hoheitsaufgaben muss deshalb durch sachliche Gründe gerechtfertigt sein, die das Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht in Frage stellen. Ob eine gesetzlich normierte Übertragung von Hoheitsaufgaben auf Private diesem Erfordernis genügt, ist entsprechend dem Zweck des Art. 33 Abs. 4 GG, die Kontinuität hoheitlicher Funktionen des Staates mittels des Prinzips ihrer Wahrnehmung durch Beamte zu sichern, im Wege der verhältnismäßigen Zuordnung des die Privatisierung rechtfertigenden Sachgrunds und der Intensität der damit verbundenen Beeinträchtigung des verfassungsrechtlich vorgegebenen Strukturprinzips zu beurteilen457. Dabei ist auch das Demokratieprinzip zu beachten (vgl. Rz. 1.187 f.)458. Die Möglichkeit der Ausübung von Dienstherrenbefugnissen durch Nichtbeamte ist, soweit Postnachfolgeunternehmen betroffen sind, bereits in Art. 143 Abs. 3 Satz 2 GG angelegt. Die Form der Überleitung von Beamten durch Beleihung eines Privaten mit Dienstherrenbefugnissen beinhaltet auch die Möglichkeit, dass Nichtbeamte Dienstherrenbefugnisse wahrnehmen459. dd) Einrichtung von Behörden

1.205 Es obliegt allein dem jeweiligen Haushaltsgesetzgeber, darüber zu bestimmen, wie viele Planstellen im öffentlichen Dienst geschaffen bzw. erhalten werden oder einzusparen sind. Dem 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459

BVerfG v. 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, BGBl. I 2007, 2379. BAG v. 11.8.1998 – 9 AZR 155/97 AP Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 45. BVerfG v. 18.1.2012 – 2 BvR 133/10, BVerfGE 130, 76. BAG v. 21.10.2003 – 3 AZR 84/03, ZTR 2004, 377. BVerfG v. 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379; v. 25.11.2011 – 2 BvR 2305/11, NVwZ 2012, 368. BVerwG v. 26.10.2000 – 2 C 31/99, ZTR 2001, 191. Zur Grundrechtsbindung vgl. Jarass/Pieroth/Jarass, Art. 1 GG Rz. 39 f. BVerwG v. 28.9.2005 – 7 BN 2/05, NVwZ 2006, 829. BVerfG v. 18.1.2012 – 2 BvR 133/10, BVerfGE 130, 76. BVerfG v. 2.5.2016 – 2 BvR 1137/14, ZTR 2016, 484.

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Verfassungsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.207 § 1

Haushaltsgesetzgeber kommt bei der Ausbringung von Planstellen im Haushaltsplan eine ausschließlich an den Bedürfnissen der Verwaltung orientierte organisatorische Gestaltungsfreiheit zu. Er entscheidet, in welchem Umfang und für welche Dauer Mittel für die Beschäftigung von Arbeitnehmern zur Verfügung gestellt werden. Nach dieser Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers richtet sich der Arbeitskräftebedarf im öffentlichen Dienst460. Der Haushaltsgesetzgeber entscheidet im Haushaltsplan bzw. in den Erläuterungen dazu nicht nur über die Anzahl der Planstellen/Stellen insgesamt, sondern auch über deren Verteilung auf einzelne Dienststellen461. Nur scheinbar abweichend davon vertritt das BAG die Ansicht, dass ein Mehrbedarf iSd. § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005, der die Befristung eines Arbeitsvertrages nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG rechtfertigen kann, dann nicht mehr vorliege, wenn der öffentliche Arbeitgeber zwar von einem dauerhaften Anstieg der Arbeitsmenge ausgeht, jedoch auf organisatorische Maßnahmen zur Anpassung der Stellenausstattung an den Bedarf, wie zB das Einwerben von neuen Stellen, die Verlagerung von Stellen von anderen Dienststellen oder die Umorganisation der Arbeitsabläufe verzichtet462. Wenn der öffentliche Arbeitgeber (als Verwaltung) – richtigerweise – berechtigt ist, Arbeitsverträge aus „haushaltsrechtlichen Gründen“ zu befristen, dann ist es die „Kehrseite derselben Medaille“, wenn das BAG damit die Erwartung verbindet, dass die Verwaltung auch von den – eingeschränkten – haushaltsrechtlichen Möglichkeiten Gebrauch macht, um einen dauerhaft höheren Arbeitskräftebedarf zu decken. Die Verwaltung hat innerhalb des Rahmens, der durch das Haushaltsgesetz gezogen wird, als vollziehende Gewalt zu entscheiden, ob und wie die Stellen besetzt werden sollen463. Die Schaffung und die Besetzung von Planstellen des öffentlichen Dienstes dienen grundsätzlich allein dem öffentlichen Interesse an einer bestmöglichen Erfüllung der öffentlichen Aufgaben. Sie erfolgen nicht in Wahrnehmung der Fürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber seinen Bediensteten. Planstellen werden im Haushaltsplan durch den Haushaltsgesetzgeber gemäß dessen organisatorischer Gestaltungsfreiheit entsprechend den Bedürfnissen der staatlichen Verwaltung ausgebracht464. Daher ist es der Verwaltung grundsätzlich auch verwehrt, eine Planstelle/Stelle von einer Dienststelle zu einer anderen zu verlagern. Nach § 50 Abs. 2 BHO darf eine Planstelle nur dann in eine andere Verwaltung umgesetzt werden, wenn dort ein unvorhergesehener und unabweisbarer vordringlicher Personalbedarf besteht, und auch dann nur mit Einwilligung des BMF. Das gilt nach § 50 Abs. 4 BHO für Stellen für Arbeitnehmer entsprechend465.

1.206

Nur soweit nicht bereits durch den Haushaltsgesetzgeber Festlegungen erfolgt sind, kommt dem Dienstherrn die gleiche Dispositionsfreiheit im Rahmen der Stellenplanbewirtschaftung zu466. Die rechtliche Bewertung von Dienstposten, ihre Zuordnung zu statusrechtlichen Ämtern einer bestimmten Besoldungsgruppe, erfolgt im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben des Besoldungs- und des Haushaltsrechts durch den Dienstherrn gemäß dessen organisatorischer Gestaltungsfreiheit467. Die Verpflichtung des Dienstherrn zur Auswahl nach Eignung,

1.207

460 BAG v. 7.7.1999 – 7 AZR 609/97, NZA 2000, 591. 461 BAG v. 24.1.2007 – 4 AZR 629/06, EzA Art. 33 GG Nr. 31; vgl. auch Niedersächsisches OVG v. 19.12.1995 – 5 M 7168/95, NdsVBl. 1996, 133. 462 BAG v. 18.4.2007 – 7 AZR 316/06, AP § 14 TzBfG Nr. 3. 463 BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, ArbRB 2003, 43 = AP Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 56. 464 BVerwG v. 22.7.1999 – 2 C 14/98, ZTR 1999, 576. 465 Vgl. auch § 50 Abs. 2 LHO NW, § 6 Abs. 7 PEMG NW, 8 Abs. 1 PEMG NW. 466 BAG v. 24.1.2007 – 4 AZR 629/06, EzA Art. 33 GG Nr. 31. 467 BVerwG v. 22.7.1999 – 2 C 14/98, ZTR 1999, 576.

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§ 1 Rz. 1.207

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

Befähigung und fachlicher Leistung gemäß Art. 33 Abs. 2 GG geht nicht so weit, dass Beförderungsstellen stets derjenigen Dienststelle zugewiesen werden müssen, an der die am besten bewerteten Bediensteten tätig sind. Eine „Vorwirkung“ des Anspruchs aus Art. 33 Abs. 2 GG auf den Inhalt einer Entscheidung der zuständigen Behörde im Rahmen der Personalbewirtschaftung gibt es nicht468.

1.208 Erst wenn nach vorangegangener Ausschreibung ein Dienstposten, der mit einer vom Haushaltsgesetzgeber geschaffenen Planstelle „hinterlegt“ ist, zu besetzen ist, hat der Dienstherr nach Art. 33 Abs. 2 GG die Entscheidung nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung vorzunehmen. Der Dienstherr darf daher auch ein eingeleitetes Bewerbungs- und Auswahlverfahren aus sachlichen Gründen jederzeit beenden und von einer ursprünglich geplanten Besetzung oder Beförderung absehen. Das für den Abbruch des Auswahlverfahrens maßgebliche organisations- und verwaltungspolitische Ermessen ist ein anderes als das bei einer Stellenbesetzung zu beachtende Auswahlermessen469. Deswegen ist die gerichtliche Kontrolle auf die Prüfung beschränkt, ob sich die Entscheidung zum Abbruch als willkürlich oder rechtsmissbräuchlich erweist, wenn der Dienstherr ein Auswahlverfahren für einen förderlichen Dienstposten abbricht, weil er den ausgeschriebenen Dienstposten nicht mehr mit dem ursprünglich festgelegten Zuschnitt und der ursprünglichen besoldungsrechtlichen Einstufung besetzen will470. Der sachliche Grund für den Abbruch muss jedenfalls dann, wenn er sich nicht evident aus dem Vorgang selbst ergibt, schriftlich dokumentiert werden. Ein Evidenzfall, der eine schriftliche Dokumentation des Abbruchgrundes entbehrlich macht, liegt nicht vor, wenn nach der Ausschreibung nur eine Bewerbung vorliegt und nicht zu erwarten ist, dass sich das Bewerberfeld erweitern könnte471. ee) Einrichtung von besonderen Rechtsverhältnissen

1.209 Die Bediensteten der juristischen Personen des öffentlichen Rechts sind in der Regel entweder Beamte, Richter, Soldaten, Zivildienstleistende oder aber Arbeitnehmer. Dem Staat steht es aber frei, besondere Rechtsverhältnisse zu regeln. Insbesondere im öffentlichen Dienst besteht kein numerus clausus der Rechtsformen zulässiger Dienstverhältnisse472. Ein Vorbereitungsdienst, dessen erfolgreiche Absolvierung Voraussetzung sowohl für den Staatsdienst im Beamtenverhältnis als auch für einen freien Beruf ist, kann allgemein so organisiert werden, dass er in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Verhältnis außerhalb des Beamtenverhältnisses abzuleisten ist473.

1.210 Lehrbeauftragte stehen nach Maßgabe der jeweiligen landesrechtlichen Vorschriften in einem öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnis eigener Art, das weder ein Beamtenverhältnis noch ein Dienst- oder Arbeitsverhältnis ist474.

468 BAG v. 24.1.2007 – 4 AZR 629/06, EzA Art. 33 GG Nr. 31. 469 BVerwG v. 22.7.1999 – 2 C 14/98, ZTR 1999, 576; BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, EzA Art. 33 GG Nr. 36; LAG Hamm v. 14.8.2003 – 11 Sa 1743/02, NZA-RR 2004, 335. 470 BVerwG v. 10.12.2018 – 2 VR 4/18, ZTR 2019, 243. 471 BAG v. 20.3.2018 – 9 AZR 249/17, AP Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 80. 472 BAG v. 8.5.2018 – 9 AZR 531/17, ZTR 2018, 598. 473 BVerfG v. 22.5.1975 – 2 BvL 13/73, AP Art. 33 Abs. 5 GG Nr. 2. 474 ZB § 43 HG NW v. 31.10.2006, GVBl. 2006, 474, § 56 Bbg. HG v. 18.12.2008, GVBl. I 318; aus der Rechtsprechung BAG v. 23.5.2001 – 5 AZR 370/99, ZTR 2002, 140; v. 8.5.2018 – 9 AZR 531/17, ZTR 2018, 598.

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Verfassungsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.215 § 1

In einigen Ländern sieht das Hochschulrecht die Beschäftigung nebenberuflicher Professoren oder Vertretungsprofessoren in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis eigener Art vor475.

1.211

Der 5. Senat des BAG ist in einer Entscheidung – ohne nähere Begründung – von einem durch 1.212 das Hochschulrecht vorgegebenen Typenzwang für das hauptberufliche Personal ausgegangen und hat lediglich dahingestellt sein lassen, ob dieser Typenzwang auch für nebenberufliche Vertreter gilt476. Jedenfalls würde die Rechtsnatur als öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis eigener Art einer Umdeutung in ein privatrechtliches Arbeitsverhältnis entgegenstehen. In Abkehr davon hat es der 10. Senat des BAG dahinstehen lassen, ob im Fall der Nichtigkeit der Begründung eines öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses, das im Übrigen nach den Regeln eines Arbeitsverhältnisses durchgeführt wurde, eine Umdeutung in ein Arbeitsverhältnis in Betracht kommt. Dies erscheint insbesondere dann denkbar, wenn die Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses dazu geeignet ist, sich zwingenden arbeitsrechtlichen Bestimmungen zu entziehen477. Vor diesem Hintergrund ist weniger fraglich, ob die Landesgesetzgeber aufgrund ihrer Gesetzgebungskompetenz sowohl für das Hochschulrecht als auch für die in ihrem Dienst stehenden Personen zur Schaffung neuer Typen berechtigt sind, sondern allenfalls, ob es sich dabei um wissenschaftliches Personal iSv. § 1 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG handelt478. 3. Vertretung des Rechtsträgers und Zuständigkeit von Behörden a) Vertretung des Rechtsträgers Nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland bestehen die Arbeitsverhältnisse der Ar- 1.213 beitnehmer des öffentlichen Dienstes nicht zur Behörde oder Dienststelle, sondern zum jeweiligen Träger öffentlicher Verwaltung479. Die Vielzahl möglicher Träger und ihre Vielgestaltigkeit sowie die nicht immer leicht zugänglichen Rechtsgrundlagen erfordern besondere Aufmerksamkeit, wenn es um die Vertretung des Rechtsträgers durch natürliche Personen und um die Frage geht, welches Handeln/Unterlassen natürlicher Personen dem Rechtsträger zugerechnet werden kann. aa) Rechtsgeschäftliche Handlungen –Beispiele Die Vertretungsregeln, insbesondere § 174 BGB, finden auch im öffentlichen Dienst Anwendung. Beruht die Vertretungsmacht nicht auf der Erteilung einer Vollmacht durch den Vertretenen, sondern auf gesetzlicher Grundlage, scheidet eine Zurückweisung nach § 174 BGB jedoch aus. Das Recht zur Zurückweisung besteht im Falle der organschaftlichen Vertretung grundsätzlich nicht480.

1.214

Der Ärztliche Direktor eines Universitätsklinikums in Bayern kann sowohl das Klinikum als Anstalt des öffentlichen Rechts als auch den Freistaat Bayern vertreten. Es liegt ein Fall der sog. Doppelvertretung vor481. Derartige Fälle sind insbesondere dann, wenn noch kein Ar-

1.215

475 ZB § 29 Nds. HG v. 26.2.2007, GVBl. 2007, 69; aus der Rechtsprechung BAG v. 25.2.2004 – 5 AZR 62/03, ZTR 2004, 499. 476 BAG v. 18.7.2007 – 5 AZR 854/06, AP § 611 BGB Lehrer, Dozenten Nr. 181. 477 BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 466/10, ZTR 2012, 187. 478 Ablehnend Preis/Ulber, FS Otto, S. 391 (397); aA DFL/Löwisch, § 1 WissZeitVG Rz. 1 f. 479 BAG v. 26.6.1997 – 8 AZR 426/95, AP § 613a BGB Nr. 165. 480 BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 82/06, ArbRB 2007, 134 = AP § 174 BGB Nr. 19. 481 BAG v. 19.4.2007 – 2 AZR 180/06, ArbRB 2007, 319 = AP § 174 BGB Nr. 20.

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§ 1 Rz. 1.215

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

beitsverhältnis besteht, also zB. bei Bewerbungen, besonders problematisch, wenn die handelnde Person nicht offenlegt, für welche juristische Person sie handelt482.

1.216 Die in § 104 Abs. 2 Satz 1 GO NW enthaltene Regelung, nach der die Bestellung und Abberufung von Prüfern des Rechnungsprüfungsamtes durch den Rat der Gemeinde zu erfolgen hat, stellt eine Einschränkung der dem Gemeindedirektor nach § 63 Abs. 1 (früher: § 54 Abs. 1 Satz 3) GemO NW zustehenden umfassenden gesetzlichen Vertretungsmacht in arbeits- und tarifrechtlichen Angelegenheiten von Arbeitern und Angestellten dar. Aufgrund dieser Einschränkung ist der Gemeindedirektor jedenfalls dann nicht vertretungsberechtigt, einseitige Rechtsgeschäfte im Namen der Gemeinde vorzunehmen, wenn diese darauf abzielen, einem angestellten Prüfer unter gleichzeitiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses die ihm vom Rat übertragene Funktion zu entziehen (zB durch Änderungs- bzw. Beendigungskündigung) und wenn das Rechtsgeschäft auf Gründe gestützt wird, die sachlich mit der Tätigkeit des Rechnungsprüfers in untrennbarem Zusammenhang stehen483.

1.217 Auch im Verfahren nach § 9 Abs. 4 BPersVG handelt für den Arbeitgeber derjenige, der ihn gerichtlich zu vertreten hat484. Der Leiter einer nachgeordneten Behörde ist dazu (nur dann) befugt, wenn der gesetzliche Vertreter seine Befugnisse auf diesen übertragen hat und die delegierenden Bestimmungen entweder veröffentlicht sind oder innerhalb der zweiwöchigen Antragsfrist dem Gericht vorgelegt werden485. Das Gestaltungsklagerecht nach § 58 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 NdsPersVG kann auch der zum ständigen Vertreter des Präsidenten bestimmte hauptamtliche Vizepräsident einer Hochschule ausüben486.

1.218 Die Einstellung und die Versetzung von Beamten in den Landesdienst bedürfen nach § 48 Abs. 1 LHO RP der Einwilligung des für Finanzen zuständigen Ministeriums, wenn der Bewerber ein von diesem Ministerium allgemein festzusetzendes Lebensjahr bereits vollendet hat487.

1.219 Der zuständige Minister ist nach hessischem Landesrecht für die Auswahl und Ernennung von Beamten sachlich nur zuständig, wenn dies gesetzlich bestimmt oder ihm die entsprechende Befugnis von der Landesregierung übertragen worden ist488. bb) Zurechenbarkeit des Handelns natürlicher Personen – Einzelfälle

1.220 Der Eintritt der in § 15 Abs. 5 TzBfG angeordneten Fiktion setzt voraus, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung bewusst und in der Bereitschaft fortsetzt, die Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis weiter zu erfüllen. Die Weiterarbeit des Arbeitnehmers muss mit Wissen des Arbeitgebers selbst oder eines zum Abschluss von Arbeitsverträgen berechtigten Vertreters erfolgen. Im Hochschulbereich ist Arbeitgeber iSd. § 15 Abs. 5 TzBfG grundsätzlich (s. aber § 3

482 S. BAG v. 11.6.2013 – 9 AZR 668/11, ZTR 2013, 556, das jedoch für die Konkurrentenklage zu Unrecht auf den potentiellen Vertragspartner und nicht auf die Hochschule, die das Bewerbungsauswahlverfahren durchzuführen hat, abgestellt hat. 483 BAG v. 15.3.1990 – 2 AZR 440/89, AP § 101 GO NW Nr. 1. 484 BVerwG v. 1.11.2005 – 6 P 3/05, AP § 9 BPersVG Nr. 17. 485 BVerwG v. 9.3.2017 – 5 P 5/15, Buchholz 250 § 9 BPersVG Nr. 51. 486 Niedersächsisches OVG v. 15.8.2007 – 18 LP 9/06, PersR 2008, 58. 487 OVG Rheinland-Pfalz v. 10.8.2007 – 2 A 10294/07, NVwZ 2008, 105. 488 VGH Hessen v. 28.8.1995 – 1 TG 1608/95, NVwZ-RR 1996, 339.

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Verfassungsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.224 § 1

WissZeitVG) nicht der Institutsleiter oder ein sonstiger Vorgesetzter des Arbeitnehmers, sondern allein die für die Universität zum Abschluss von Arbeitsverträgen berechtigte Stelle489. Schließen die Parteien nach Zustellung einer Befristungskontrollklage beim Arbeitgeber einen weiteren befristeten Arbeitsvertrag und treffen sie keine Vereinbarungen darüber, welche Auswirkungen der neue Vertragsschluss auf den bereits anhängigen Rechtsstreit haben soll, ist davon auszugehen, dass der neue Vertrag unter dem Vorbehalt abgeschlossen ist, dass er das Arbeitsverhältnis nur regeln soll, wenn nicht bereits aufgrund des vorangegangenen Arbeitsvertrags ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht. Dann ist auch für die in dem vorherigen Vertrag vereinbarte Befristung die gerichtliche Kontrolle weiterhin eröffnet. Dies gilt jedoch nicht, wenn der weitere befristete Arbeitsvertrag auf Seiten des Arbeitgebers von einer anderen Dienststelle abgeschlossen wird als der vorherige Vertrag und der Arbeitnehmer deshalb bei Vertragsschluss davon ausgehen muss, dass die Vertreter des Arbeitgebers von der Rechtshängigkeit der Befristungskontrollklage keine Kenntnis haben. Dann kann der Arbeitnehmer dem Vertragsangebot des Arbeitgebers nicht ohne Weiteres den zusätzlichen Inhalt entnehmen, dass dieser Vertrag für die künftige Rechtsbeziehung nur maßgeblich sein soll, wenn nicht bereits aufgrund des vorangegangenen Vertrags ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht. Er muss vielmehr wegen der ihm erkennbaren fehlenden Kenntnis der Vertreter des Arbeitgebers von der anhängigen Befristungskontrollklage davon ausgehen, dass diese ausschließlich den neuen Vertrag als Grundlage für die zukünftige Rechtsbeziehung ansehen490.

1.221

Die von einem schriftlichen Vertrag abweichende tatsächliche Durchführung eines Vertrages ist nur unter zwei Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen, rechtlich relevant und kann zur Einordnung des Vertrages als (unerlaubte) Arbeitnehmerüberlassung führen: bei einzelnen Vorgängen darf es sich nicht lediglich um untypische Einzelfälle, sondern muss es sich um beispielhafte Erscheinungsformen einer durchgehend geübten Vertragspraxis handeln; ferner muss diese abweichende Vertragspraxis den auf Seiten der Vertragspartner zum Vertragsabschluss berechtigten Personen bekannt gewesen und von ihnen zumindest geduldet worden sein491. Ob es sich um für den Abschluss von Arbeitnehmerüberlassungsverträgen berechtigte Personen handeln muss, hat das BAG bislang nicht ausdrücklich entschieden492.

1.222

Auch bei der Abgrenzung eines freien Dienstvertrages vom Arbeitsvertrag ist, wenn der Unternehmer nicht selbst tätig wird, die praktische Handhabung nur dann maßgebend, wenn ihm das Verhalten der unmittelbar Handelnden zugerechnet werden kann. Das ist zunächst dann der Fall, wenn zum Vertragsschluss berechtigte Personen die von den ausdrücklichen Vereinbarungen abweichende Handhabung kennen und zumindest billigen493. Allerdings sind auch insoweit die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze der Duldungs- und der Rechtsscheinvollmacht anzuwenden.

1.223

Auf die Zustimmung der für Personalangelegenheiten zuständigen Stelle eines öffentlichen Arbeitgebers kommt es auch bei der Eingruppierung eines Arbeitnehmers an, wenn diesem von den in seinem Arbeitsumfeld tätigen Kollegen und ggf. auch von seinem unmittelbaren Fachvorgesetzten höherwertige Tätigkeiten zugewiesen werden494. Die medizinische Verant-

1.224

489 490 491 492 493 494

BAG v. 11.7.2007 – 7 AZR 197/06, juris. BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 214/07, ArbRB 2009, 134 = NZA 2009, 35. BAG v. 6.8.2003 – 7 AZR 180/03, AP § 9 AÜG Nr. 6. BAG v. 16.4.2008 – 7 AZN 197/08 nv.; vgl. aber LAG Köln v. 13.12.2007 – 6 Sa 1347/07, nv. BAG v. 20.7.1994 – 5 AZR 627/93, AP § 611 BGB Abhängigkeit Nr. 73. BAG v. 26.3.1997 – 4 AZR 489/95, AP §§ 22, 23 BAT 1975 Nr. 223.

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§ 1 Rz. 1.224

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

wortung, die für eine Eingruppierung als Oberarzt (in die Entgeltgruppe Ä 3 in § 12 des Tarifvertrags für Ärztinnen und Ärzte an Universitätskliniken vom 30.10.2006 – TV-Ärzte) vorausgesetzt wird, setzt die Übertragung von Aufsichtsfunktionen über ärztliches und nichtärztliches Personal voraus. Die Übertragung der eingruppierungsrelevanten Aufgaben durch den Chefarzt muss sich der Krankenhausträger zurechnen lassen, wenn sie mit seiner Kenntnis erfolgt und der Arzt die Tätigkeit über einen erheblichen Zeitraum ausübt, so dass bei ihm ein schützenswertes Vertrauen entsteht495.

1.225 Für die Kenntnis von Umständen, die eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen, kommt es grundsätzlich auf die Mitglieder der Organe von juristischen Personen und Körperschaften als unmittelbar Kündigungsberechtigte sowie auf die Mitarbeiter, denen der Arbeitgeber das Recht zur außerordentlichen Kündigung übertragen hat, an. Die Kenntnis anderer Personen ist für die Frist des § 626 Abs. 2 BGB grundsätzlich unbeachtlich. Dies gilt auch dann, wenn den Mitarbeitern Aufsichtsfunktionen übertragen worden sind. Nur ausnahmsweise muss nach der Rechtsprechung des BAG der Arbeitgeber sich die Kenntnis auch anderer Personen nach Treu und Glauben zurechnen lassen. Diese Personen müssen allerdings eine herausgehobene Position und Funktion im Betrieb oder der Verwaltung haben und tatsächlich sowie rechtlich in der Lage sein, einen Sachverhalt – der Anhaltspunkte für eine außerordentliche Kündigung bietet – so umfassend klären zu können, dass mit ihrer Meldung der Kündigungsberechtigte ohne weitere Erhebungen und Ermittlungen seine (Kündigungs-) Entscheidung treffen kann. Dementsprechend muss der Mitarbeiter in einer ähnlich selbständigen Stellung sein wie ein gesetzlicher oder rechtsgeschäftlicher Stellvertreter des Arbeitgebers. Hinzu kommen muss weiter, dass die verspätet erlangte Kenntnis des Kündigungsberechtigten in diesen Fällen auf einer unsachgemäßen Organisation des Betriebs oder der Verwaltung beruht, obwohl eine andere betriebliche Organisation sachgemäß und zumutbar gewesen wäre. Beide Voraussetzungen – ähnlich selbständige Stellung und schuldhafter Organisationsmangel – müssen kumulativ vorliegen496. b) Zuständigkeit von Behörden

1.226 Wer eine Partei gesetzlich vertritt, ergibt sich aus dem materiellen Recht. Geht es um eine juristische Person des öffentlichen Rechts, ist auf die jeweils einschlägige Organisationsnorm abzustellen. Eine nicht ordnungsgemäße Vertretung führt zur Unzulässigkeit einer Klage497.

1.227 Die Landesregierung Niedersachsen ist in Eilverfahren, in denen um die ihr vorbehaltene Ernennung eines Beamten gestritten wird, zwar selbst Partei, ihre prozessuale Vertretung liegt aber bei dem Ministerium, in dessen Geschäftsbereich die Angelegenheit fällt498. c) Organe und leitende Angestellte im öffentlichen Dienst

1.228 § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG gilt auch für nicht beamtete organschaftliche Vertreter juristischer Personen des öffentlichen Rechts. Eine gegenständliche Beschränkung der gesetzlichen Vertretungsbefugnis steht der Anwendung dieser Vorschrift nicht entgegen. Das BAG hat daher den Werkleiter eines Eigenbetriebes einer bayerischen Gemeinde als Organ iSv. § 14 Abs. 1 Nr. 1

495 496 497 498

BAG v. 4.12.2009 – 4 AZR 495/08, ZTR 2010, 519. BAG v. 23.10.2008 – 2 AZR 388/07, AP § 626 BGB Nr. 217. BAG v. 3.12.2002 – 9 AZR 559/01, NJOZ 2004, 2042. Niedersächsisches OVG v. 26.10.2006 – 5 ME 254/06, ZBR 2007, 392.

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Haushaltsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.231 § 1

KSchG angesehen499. Jedoch vertritt der Erste Werkleiter des Eigenbetriebs einer brandenburgischen Gemeinde als Mitglied der Werkleitung nicht die Gemeinde als juristische Person iSv. § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG, sondern lediglich hinsichtlich der Angelegenheiten der von der juristischen Person gebildeten Untereinheit Eigenbetrieb, so dass der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten eröffnet ist500. Der zum ständigen Vertreter des Hauptgeschäftsführers bestellte Geschäftsführer einer Handwerkskammer ist ebenfalls Organvertreter iSv. § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG. Eine Befristung seines Anstellungsvertrags war daher, ohne Rücksicht darauf, ob ein Arbeitsverhältnis vorlag, jedenfalls vor Inkrafttreten des TzBfG ohne sachlichen Grund zulässig501.

1.229

VI. Haushaltsrechtliche Grundlagen Schrifttum: Heuer/Scheller, Kommentar zum Haushaltsrecht, Loseblatt, Stand Mai 2019 (zit. Heuer/ Bearbeiter); Dittrich, Kommentar zur Bundeshaushaltsordnung, Loseblatt, Stand Juni 2019.

1. Einleitung Das Haushaltsrecht ist Arbeitsrechtlern gemeinhin wenig vertraut. Das mag zum einen an der scheinbar „spröden“ Materie liegen. Nach dem schönen Bild des Saarbrücker Staatsrechtslehrers Gröpl drohen die haushaltsrechtlichen Begrifflichkeiten und Grundlagen als „unverdauliche Monolithen im Raum stehen zu bleiben, wenn sie nicht organisch zusammengefügt werden“502. Ein weiterer Grund für Arbeitsrechtler, sich mit dem Haushaltsrecht allenfalls sporadisch zu befassen, mag in der überkommenen Erkenntnis des Großen Senats des BAG liegen, dass das Haushaltsrecht nicht unmittelbar in die Rechte Dritter und damit in das Arbeitsverhältnis eingreifen kann503. Hiervon ausgehend hat das BAG immer wieder betont, dass haushaltsrechtliche Erwägungen für den auf den verschiedenen arbeitsrechtlichen Gesetzen beruhenden Arbeitnehmerschutz, von eng begrenzten Ausnahmen abgesehen, keine Rolle spielten504.

1.230

Ein Blick auf § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG genügt, um zu erkennen, dass das Haushaltsrecht für die Befristung von Arbeitsverträgen durchaus eine Rolle spielt (s. auch § 22). Betrachtet man überdies allein die Entscheidungen des BAG, die sich mit der Bedeutung des Haushaltsrechts für das Arbeitsrecht befassen505, wird deutlich, dass das Haushaltsrecht nicht nur bei der Befristung von Arbeitsverträgen relevant ist, sondern in ganz unterschiedlichem Zusammenhang – bei der Einstellung bzw. Beförderung506 und der Befristung des Arbeitsvertra-

1.231

499 BAG v. 17.1.2002 – 2 AZR 719/00, ArbRB 2002, 224 = AP § 14 KSchG 1969 Nr. 8; zust. LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 30.4.2008 – 2 Sa 236/07, ArbRB Online. 500 BAG v. 17.12.2008 – 5 AZB 69/08, ArbRB 2009, 68 = ZTR 2009, 160. 501 BGH v. 25.7.2002 – III ZR 207/01, NJW 2002, 3104. 502 BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 68. 503 BAG v. 28.11.1956 – GS 3/56, BAGE 3, 245. 504 BAG v. 29.8.1979 – 4 AZR 863/77, NJW 1980, 1766; für das Befristungsrecht auch heute so APS/ Backhaus, § 14 TzBfG Rz. 239. 505 In Juris waren am 17.8.2019 insgesamt 122 Entscheidungen des BAG seit 1971 zum Stichwort „Haushaltsrecht“ verzeichnet. 506 S. § 12, Rz. 12.6; BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 668/96, NZA 1998, 882.

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§ 1 Rz. 1.231

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

ges507 wie bei dessen Kündigung508 sowie im bestehenden Arbeitsverhältnis bei der Eingruppierung509, der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit510 und bei der Frage nach dem Bestehen einer betrieblichen Übung511 – eine sehr unterschiedliche Bedeutung für die Rechte und Pflichten der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes haben kann.

1.232 Höchstrichterlich nur teilweise geklärt ist die Bedeutung des Haushaltsrechts für sog. Zuwendungsempfänger512, die überwiegend außerhalb des öffentlichen Dienstes stehen. Hier spielt insbesondere die Bedeutung des sog. Besserstellungsverbots eine Rolle, zB bei den Mitbestimmungsrechten nach § 87 BetrVG513, bei der Dotierung von Sozialplänen514, bei der Wirksamkeit von Tarifverträgen515 und bei der Bezugnahme auf Tarifverträge516.

1.233 Öffentliches Haushaltsrecht ist nicht erst im gerichtlichen Verfahren nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG, wonach das Gericht des zulässigen Rechtsweges, also auch die Gerichte für Arbeitssachen, den Rechtsstreit unter allen rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden hat, zu beachten. Primärer Adressat des Haushaltsrechts ist die Exekutive, die durch ihre Bediensteten handelt, die zum großen Teil Arbeitnehmer sind und je nach ihren Arbeitsaufgaben Haushaltsrecht zu vollziehen haben und an die haushaltsrechtlichen Vorgaben gebunden sind. Ein Handbuch zum Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst wäre lückenhaft, wenn es die Sichtweise nicht in das Zentrum stellen oder gar ganz unberücksichtigt ließe, dass das Haushaltsrecht sowohl den mit dem Vollzug des Haushalts unmittelbar befassten Bediensteten517 als auch den Bediensteten von Aufsichtsbehörden518, aber auch Gerichten bei der Regelung der Geschäftsverteilung519 bindende Handlungs- und Unterlassungspflichten520 auferlegt, deren Verletzung arbeits- sowie disziplinar- und strafrechtliche Folgen nach sich ziehen kann. Diese Bindung vor allem der für den Haushaltsvollzug zuständigen Beschäftigten des öffentlichen 507 S. § 22; BAG v. 29.8.1979 – 4 AZR 863/77, NJW 1980, 1766. 508 S. § 17 Rz. 17.24 ff.; BAG v. 28.11.1956 – GS 3/56, BAGE 3, 245. 509 S. § 23; BAG v. 19.7.1978 – 4 AZR 31/77 u. 21.3.1984 – 4 AZR 76/82, AP §§ 22, 23 BAT 1975 Nr. 8, 89. 510 S. § 6 Rz. 6.59 ff.; BAG v. 2.5.1979 – 4 AZR 515/77, BAGE 32, 1. 511 S. § 7 Rz. 7.26 ff.; BAG v. 3.8.1982 – 3 AZR 503/79, BAGE 39, 271; v. 5.2.1986 – 5 AZR 632/84, NZA 1986, 605. 512 BAG v. 20.1.2004 – 9 AZR 43/03, AP § 242 BGB Betriebliche Übung Nr. 65; v. 5.4.2006 – 4 AZR 390/05, ArbRB 2007, 11 = AP § 1 AVR Diakonisches Werk Nr. 3; v. 25.4.2007 – 10 AZR 634/06, ArbRB 2007, 232 = NJW 2007, 2279; BVerwG v. 3.5.1999 – 3 B 91/98, Buchholz 11 Art. 140 GG Nr. 64. 513 BAG v. 27.1.1987 – 1 ABR 66/85, AP § 99 BetrVG 1972 Nr. 42; v. 1.2.1989 – 4 ABR 77/88, ZTR 1989, 325; LAG Berlin v. 4.4.2003 – 13 TaBV 68/03, ZTR 2003, 529; v. 6.6.2003 – 13 TaBV 68/03, juris. 514 S. LAG München v. 6.7.2004 – 6 TaBV 40/03, juris; nachgehend BAG v. 6.5.2006 – 1 ABR 63/04, AP § 81 ArbGG 1979 Nr. 61. 515 BAG v. 26.9.1984 – 4 AZR 343/83, AP § 1 TVG Nr. 21. 516 BAG v. 19.4.2011 – 3 AZR 154/09, BAGE 137/357; zur Abgrenzung von Zuwendungen und Entgelten aus einem öffentlichen Auftrag BAG v. 20.11.2018 – 9 AZR 327/18, NZA 2019, 535. 517 S. bspw. BGH v. 26.4.2006 – 2 StR 515/05, wistra 2006, 307; v. 9.12.2004 – 4 StR 294/04, wistra 2005, 178; v. 17.6.2003 – XI ZR 195/02, NJW 2003, 2451; v. 14.12.2000 – 5 StR 123/00, NJW 2001, 2411; jedoch auch BGH v. 29.8.2007 – 5 StR 103/07 (Vergütung bei Beratervertrag) NStZ 2008, 87; BGH v. 23.5.2002 – 1 StR 273/01, NJW 2002, 2801 (Drittmitteleinwerbung durch Ärztl. Direktor einer Abteilung einer Universitätsklinik). 518 S. BGH v. 12.12.2002 – III ZR 201/01, NJW 2003, 1318. 519 S. BGH v. 11.7.1985 – VII ZB 6/85, NJW 1985, 2337. 520 S. BGH v. 26.4.2007 – VII ZR 152/06, NJW 2007, 3277.

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Haushaltsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.236 § 1

Dienstes an das jeweilige Haushaltsrecht ist einer der Schlüssel für die Beantwortung der Frage, ob haushaltsrechtliche Bestimmungen die Rechte und Pflichten im Arbeitsverhältnis prägen können. Wenn und soweit Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in ihrer Tätigkeit Personal einstellen, versetzen, befördern und zu entlassen haben, sind sie bei Wahrnehmung dieser Aufgaben an das Haushaltsrecht gebunden. Eine Rechtsprechung, die über diese Personalmaßnahmen zu urteilen hat, ist gut beraten, die manchmal einer Fahrt zwischen Skylla und Charybdis vergleichbare Situation des rechtsanwendenden Beschäftigten des öffentlichen Dienstes im Blick zu behalten521. 2. Grundlagen des Haushaltsrechts – der Haushaltskreislauf Auf der Grundlage von Art. 109 Abs. 3 GG hat der Bund mit dem Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG) für Bund und Länder gemeinsam geltende Grundsätze für das Haushaltsrecht aufgestellt. Die Landesgesetzgeber sind an diese Grundsätze jedenfalls über Art. 31 GG gebunden. Ob auch der Bundesgesetzgeber an das HGrG gebunden ist, ist streitig522.

1.234

Die Jährlichkeit der staatlichen Haushaltswirtschaft wird dabei treffend als „rhythmisches Leitmotiv“ bezeichnet523. Damit ist gemeint, dass das Haushaltsverfahren jährlich bestimmte, immer wiederkehrende Entwicklungsstadien durchläuft. Dabei werden vier Stadien unterschieden. Nach der Aufstellung des Haushaltsplanentwurfs durch die Verwaltung folgen die parlamentarische Beratung mit der abschließenden Feststellung des Haushaltsplans durch das Haushaltsgesetz. Daran schließt sich der Vollzug des Haushalts durch die Verwaltung an. Am Ende der Haushaltsperiode erfolgt die Rechnungslegung und die darauf basierende Finanzkontrolle durch die parlamentarischen Gremien und durch die Rechnungshöfe von Bund oder Ländern bis hin zur Entlastung der Exekutive durch die Legislative524. Dieser sog. Haushaltskreislauf bestimmt nicht nur die Chronologie der immer, zumeist jährlich, wiederkehrenden Etappen der Haushaltswirtschaft, sondern spiegelt sich auch rechtssystematisch in der Gliederung des HGrG und der diesem inhaltlich weitgehend entsprechenden Haushaltsordnungen des Bundes und der Länder wider.

1.235

3. Die einzelnen Phasen des Haushaltskreislaufs a) Das Aufstellungsverfahren Da der Haushaltsplan nach Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG vor Beginn des ersten Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz festzustellen ist, sieht § 30 BHO vor, dass der Entwurf des Haushaltsgesetzes mit dem Entwurf des Haushaltsplans von der Bundesregierung in der Regel spätestens in der ersten Sitzungswoche des Bundestages nach dem 1. September in das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren einzubringen ist. Zuvor sind die Entwürfe nach § 29 Abs. 1 BHO von der Bundesregierung zu beschließen. Federführend für die Aufstellung der Entwürfe ist das Bundesministerium der Finanzen (BMF). Es prüft nach § 28 Abs. 1 BHO die Voranschläge und kann diese nach Benehmen mit den beteiligten Stellen ändern. Nur soweit es sich um Angelegenheiten von grundsätzlicher oder erheblicher finanzieller Bedeutung handelt, haben die Bundesminister das Recht, eine Beschlussfassung der Bundesregierung herbeizufüh521 522 523 524

S. auch Wolff, NJW 2012, 812. Sachs/Siekmann, Art. 109 GG Rz. 100 ff. BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 68. BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 68; Sachs/Siekmann, Art. 110 GG Rz. 4; Heuer/Domnach, Vorbem. zu Teil II BHO Rz. 1.

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1.236

§ 1 Rz. 1.236

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

ren; entscheidet die Bundesregierung gegen oder ohne die Stimme des BMF, steht diesem gemäß §§ 28 Abs. 2, 29 Abs. 2 BHO wiederum ein Widerspruchsrecht zu.

1.237 Während bislang die Erstellung der Voranschläge regelmäßig ein Jahr vor Beginn des betreffenden Haushaltsjahres durch das sog. Haushaltsführungsschreiben des BMF eingeleitet wurde, das eine Darstellung der allgemeinen haushaltspolitischen Ausgangslage enthielt und Hinweise für die Veranschlagung der Einnahmen und Ausgaben sowie für den Umfang des Personalhaushalts gab525, hat die Bundesregierung als eine Konsequenz der sog. Schuldenbremse (Art. 109 Abs. 3, 115 Abs. 2 GG) erstmals für die Aufstellung des Haushalts 2012 beschlossen, den Bundeshaushalt nicht mehr im sog. Bottom-Up-Verfahren, sondern im Top-Down-Verfahren aufzustellen. Danach erstellt zunächst das BMF den Entwurf eines Eckwertebeschlusses, mit dem der Konsolidierungsbedarf und die Plafonds für die Einzelpläne und grundsätzliche Festlegungen zum Personalhaushalt entwickelt werden. Nach einer Abstimmung der Einzelplanplafonds mit den Ressorts wird unter Berücksichtigung der Defizitobergrenze ein Eckwertebeschluss dem Bundeskabinett vorgelegt. Auf dieser Grundlage erstellen die Ressorts sodann die Anmeldungen einschließlich des Personalhaushalts526.

1.238 Die für den Einzelplan zuständigen Stellen sind nach dem Ressortprinzip die einzelnen Bundesminister, ferner der Bundespräsident, der Bundestag und Bundesrat sowie der Bundeskanzler527.

1.239 Nachdem die Bundesregierung den Entwurf des Haushaltsgesetzes und -plans im Bundestag eingebracht hat, stellt der Bundestag am Ende der üblichen drei Lesungen den Haushaltsplan durch Verabschiedung des Haushaltsgesetzes fest. Zuvor wird aber im Haushaltsausschuss, in dem seinerseits spiegelbildlich Berichterstatter der jeweiligen Fraktionen für ein Ressort zuständig sind, der Entwurf nochmals geprüft, auch wenn er in der wesentlichen Struktur nicht mehr verändert wird528. aa) Die Personalbedarfsermittlung

1.240 Nach VV Nr. 4.4.1 zu § 17 BHO dürfen Planstellen nur ausgebracht werden, soweit sie unter Anwendung angemessener Methoden der Personalbedarfsermittlung sachgerecht und nachvollziehbar begründet sind. Nach VV Nr. 4.4.3 zu § 17 BHO gilt dies auch für die Stellen von Arbeitnehmern. Im Übrigen muss der Bedarf der bislang genehmigten Planstellen und Stellen regelmäßig überprüft werden. Die VV Nr. 4.4.1 gilt ohne Differenzierungen für die gesamte Bundesverwaltung, also auch für oberste Bundesbehörden529. Entsprechend einem Beschluss des Rechnungsprüfungsausschusses des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 2004 verlangte das BMF in den jährlichen Haushaltsaufstellungsschreiben, dass den Voranschlägen Unterlagen beizufügen sind, die mindestens Angaben zu Ergebnissen, zur angewandten Methode, zum Umfang des untersuchten Bereichs sowie zur mit der Personalbedarfsermittlung beauftragten Stelle enthalten.

1.241 Die Verpflichtung zur Personalbedarfsermittlung beruht auf einem Bericht des Bundesrechnungshofes vom 19.12.1994, in dem erhebliche Defizite bei der Art der Personalbedarfs525 Heuer/Nägerl, § 1 BHO Rz. 23; Heuer/Domnach, § 27 BHO Rz. 2. 526 Ausführlich Heuer/Nägerl, § 1 BHO Rz. 26 ff.; s. auch die Haushaltstechnischen Richtlinien des Bundes (HRB) in juris. 527 Übersicht der Einzelpläne bei Heuer/Hugo, § 13 BHO Rz. 6 ff. 528 BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 71. 529 Dittrich, § 17 BHO Rz. 13.

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Haushaltsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.246 § 1

ermittlung in der Bundesverwaltung festgestellt worden waren530. Grundlagen und Verfahren für die Personalbedarfsermittlung sind in einem vom BMI herausgegebenen „Handbuch für Organisationsuntersuchungen und Personalbedarfsermittlung“531 dargestellt532. Da die Personalbedarfsermittlung im geistig-kreativen und politisch-konzeptionellen Bereich auf Schwierigkeiten stößt, ist für den Bereich der obersten Bundesbehörden die sog. Personalmengenplanung (PMP) entwickelt worden. bb) Gebot linearer Stelleneinsparungen Sämtliche Haushaltsgesetze des Bundes seit Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts bis zum Haushaltsgesetz 2014 enthielten das Gebot, Stellen linear einzusparen533. Angesichts dieser seit über 20 Jahren erfolgten linearen Stellenkürzungen sah sich die Praxis in einer Situation, in der eine Personalbedarfsermittlung in der Regel nur den durch die kontinuierlichen Stellenkürzungen entstandenen Fehlbedarf hätte bestätigen können, ohne dass eine realistische Chance auf Ausbringung neuer Stellen bestanden hätte. Der mit einer formalisierten Personalbedarfsermittlung verbundene Untersuchungsaufwand hätte in keinem angemessenen Verhältnis zu den gewonnenen Erkenntnissen gestanden, solange der ermittelte Bedarf durch pauschale Stellenkürzungen konterkariert worden wäre534.

1.242

Seit dem Haushaltsgesetz 2015 besteht ein derartiges haushaltsrechtliches Gebot zur linearen Stelleneinsparung nicht mehr.

1.243

cc) Abgrenzung des Stellenplans von anderen Plänen Die Organisations- und Stellenpläne, die von den einzelnen Ressorts mit den Voranschlägen übermittelt werden, sind von anderen Plänen zu unterscheiden.

1.244

Die im Haushaltsplan ausgebrachten Planstellen bilden den sog. Stellenplan. Er ist der vom 1.245 Parlament verbindlich festgelegte Handlungsspielraum der Verwaltung auf personellem Gebiet, den die Verwaltung grundsätzlich nicht überschreiten darf535. Nach § 17 Abs. 5 BHO sind Planstellen nach Besoldungsgruppen und Amtsbezeichnungen im Haushaltsplan auszubringen. Sie dürfen nur für Aufgaben eingerichtet werden, zu deren Wahrnehmung die Begründung eines Beamtenverhältnisses zulässig ist und die in der Regel Daueraufgaben sind. Andere Stellen als Planstellen sind gemäß § 17 Abs. 6 BHO in den Erläuterungen auszuweisen. Unter einem Organisationsplan einer Dienststelle (Behörde) versteht man im Allgemeinen eine innerbetriebliche Zuständigkeitsordnung. In ihr wird festgelegt, welche Aufgaben und welche Zuständigkeiten welchen einzelnen Behördenteilen als behördeninternen Verwaltungseinheiten zugewiesen werden. Er lässt grundsätzlich offen, welche Personen (Amtswalter) für die Erledigung welcher Aufgaben zuständig sind.

530 531 532 533 534 535

Dittrich, § 17 BHO Rz. 13.1. http://www.orghandbuch.de (Stand Februar 2018). Dittrich, § 17 BHO Rz. 13.2. § 22 Abs. 1 HG 1993, § 22 Abs. 1 HG 2013. Dittrich, § 17 BHO Rz. 13.5. Dittrich, § 17 BHO Rz. 11.2.

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1.246

§ 1 Rz. 1.247

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

1.247 Diese Festlegung ist Gegenstand des Geschäftsverteilungsplans. In ihm wird weiter konkretisierend festgelegt, welche Personen den behördenintern gebildeten Verwaltungseinheiten (im Sinne des Organisationsplanes) zugeordnet sind536. b) Haushaltsgesetz und Haushaltsplan

1.248 Nach Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG wird der Haushaltsplan durch das Haushaltsgesetz festgestellt. Hierdurch erhält er die parlamentarisch-demokratische Legitimationsfunktion537. Ferner kommt ihm eine Kontrollfunktion zu, da der Staat mit den ihm zukommenden Finanzmitteln treuhänderisch über fremdes Geld verfügt, das er zuvor zumeist durch Abgaben erhoben hat538.

1.249 Diese Norm bildet die Grundlage der für das parlamentarische Budgetrecht wesentlichen verfassungsrechtlichen Haushaltsgrundsätze der Vollständigkeit und Wahrheit, der Ausgeglichenheit und der Vorherigkeit des Haushaltsgesetzes iVm. dem Haushaltsplan. Der Grundsatz der Vollständigkeit einschließlich des in diesem Grundsatz aufgehobenen Grundsatzes der Wahrheit, nach dem alle zu erwartenden Einnahmen und alle Ausgaben, die der Bund voraussichtlich leisten wird, im Haushaltsplan anzuführen sind, zielt darauf ab, das gesamte staatliche Finanzvolumen der Budgetplanung und -entscheidung von Parlament und Regierung zu unterstellen und so das Haushaltsbewilligungsrecht als eines der wesentlichen Instrumente der parlamentarischen Regierungskontrolle wirksam auszugestalten539. Der wirksamen Ausgestaltung des parlamentarischen Budgetrechts dient auch das Gebot der Vorherigkeit gemäß Art. 110 Abs. 2 GG, wonach der Haushaltsplan vor Beginn des Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz festzustellen ist. Dieses Gebot zielt auf die Sicherung der Budgethoheit des Parlaments in zeitlicher Hinsicht und will insbesondere die Leitungsfunktion des Haushalts für das gesamte Haushaltsjahr gewährleisten. Alle am Gesetzgebungsverfahren mitwirkenden Verfassungsorgane sind verpflichtet, an der Erfüllung des Vorherigkeitsgebots mitzuwirken, auch die Regierung, der die ausschließliche haushaltsgesetzliche Initiativkompetenz zukommt. Diese Kompetenz umfasst das Recht und die Pflicht zur rechtzeitigen Einbringung; im Funktionsbereich der Regierung sind die aufwendigen Vorbereitungsarbeiten zu den Entwürfen der Einzelpläne und des Gesamthaushaltsplans zu leisten, deren rechtzeitiger Abschluss notwendige Voraussetzung für die rechtzeitige Feststellung durch das Haushaltsgesetz ist540.

1.250 Materiell bestimmt Art. 109 Abs. 2 GG, dass Bund und Länder bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen haben. Die Verpflichtungen, die die Bundesrepublik Deutschland aufgrund Art. 126 AEUV (ex Art. 104 EGV) zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin eingegangen ist („Stabilitäts- und Wachstumspakt“), findet in Art. 109 Abs. 5 GG Erwähnung und sind bei der Haushaltsaufstellung ebenfalls zu berücksichtigen541. Der Richter des BVerfG Landau hat in seiner abwei536 BVerwG v. 27.8.1997 – 6 P 10/95, BVerwGE 105, 161; vgl. auch BAG v. 5.2.1971 – 4 AZR 66/70, AP § 1 TVG Auslegung Nr. 120. 537 BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 43. 538 BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 41. 539 BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvF 1/04, DÖV 2007, 789. 540 BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvF 1/04, DÖV 2007, 789; VerfGH Nordrhein-Westfalen v. 31.10.2012 – 12/11, DVBl. 2013, 106. 541 Ausführlich BK/Rodi, Art. 109 GG Rz. 527 ff. (562 ff.); vgl. auch BVerfG v. 12.9.2012 – 2 BvR 1390/12, NJW 2012, 3145.

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Haushaltsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.253 § 1

chenden Auffassung zur Entscheidung des BVerfG zum Bundeshaushaltsgesetz 2004 und Nachtragshaushaltsgesetz 2004 die Ansicht vertreten, dass das Demokratieprinzip eine staatliche Verschuldung zwar nicht verbietet, jedoch gebietet, sie zu begrenzen, um die Handlungsspielräume künftiger Haushaltsgesetzgeber zu wahren. Die für den Regelfall vorgesehene Begrenzung der Neuverschuldung durch die öffentlichen Investitionsausgaben müsse daher gewährleisten, dass einer Belastung zukünftiger Generationen ein Ertrag bringender Vermögenszuwachs oder ein positiver Wachstumseffekt gegenübersteht542. Inzwischen ist durch die Art. 109 Abs. 3, 115 Abs. 2 GG die sog. Schuldenbremse in Kraft getreten. Das Haushaltsgesetz und der Haushaltsplan bilden eine Einheit. Es ist ein Parlamentsgesetz. Als formelles Gesetz steht es im Rang gleichrangig neben anderen formellen Gesetzen543. Eine Besonderheit liegt allein darin, dass seine Rechtsfolgen im organschaftlichen Rechtskreis zwischen Parlament und Regierung auftreten, es somit keine (echte) Außenwirkung entfaltet544. Im Verhältnis von Exekutive und Legislative ist es dennoch bindendes Recht, ebenso wie die mit dem Haushaltsvollzug befassten Beschäftigten des öffentlichen Dienstes an die haushaltsrechtlichen Bestimmungen gebunden sind. Haushaltsplan und Haushaltsgesetz sind aber auch für die Gerichte verbindlich; allerdings ist die Beschränkung auf den organschaftlichen Rechtskreis zu beachten545. Die fehlende echte Außenwirkung wird allgemein aus § 3 BHO abgeleitet, wonach durch den Haushaltsplan Ansprüche oder Verbindlichkeiten weder begründet noch aufgehoben werden.

1.251

c) Haushaltsvollzug Auf die Feststellung des Haushaltsplans durch das Haushaltsgesetz folgt seine Ausführung. Da- 1.252 bei „schwingt die Haushaltskompetenz gleich einem Pendel von der Legislative an die Exekutive zurück“546. Nach der Feststellung „verteilt“ zunächst das BMF die Einnahmen, Ausgaben, Verpflichtungsermächtigungen, Planstellen und andere Stellen auf die für den Einzelplan zuständigen Dienststellen547. Technisch erfolgt dies durch Übersendung von beglaubigten Abdrucken der jeweiligen Einzelpläne an die Ministerien548. Soweit diese die Bewirtschaftung nicht selbst vornehmen, übertragen sie die Bewirtschaftung durch Übersendung der entsprechenden Teile des Einzelplans in beglaubigter Form an die ihnen unterstehenden Ober-, Zentralund Mittelbehörden, die damit die entsprechenden Bewirtschaftungsbefugnisse erhalten (sog. Upside-down-Verfahren). Das Ausmaß der Delegation und Subdelegation bestimmt sich im Zweifel nach dem Grundsatz der Sachdienlichkeit549. Nach § 9 Abs. 1 BHO ist bei jeder Dienststelle, die Einnahmen oder Ausgaben bewirtschaftet, ein Beauftragter für den Haushalt (BfdH) zu bestellen, soweit nicht der Leiter der Dienststelle diese Aufgabe selbst wahrnimmt. Der Beauftragte soll dem Leiter der Dienststelle unmit-

542 BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvF 1/04, DÖV 2007, 789; zur Regelverschuldungsgrenze gem. Art. 83 Satz 2 LV NRW vgl. VerfGH Nordrhein-Westfalen v. 15.3.2011 – 20/10, NVwZ 2011, 805; v. 12.3.2013 – 7/11, NVwZ-RR 2013, 242. 543 BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 57. 544 Sachs/Siekmann, Art. 110 GG Rz. 24; zurückhaltend BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 55. 545 Sachs/Siekmann, Art. 110 GG Rz. 26. 546 BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 72. 547 Heuer/Domnach, § 9 BHO Rz. 6. 548 BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 72. 549 BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 72; Heuer/Domnach, § 9 BHO Rz. 6.

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1.253

§ 1 Rz. 1.253

Grundlagen des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst

telbar unterstellt sein550. Nach VV 1 zu § 9 BHO ist bei obersten Bundesbehörden die oder der Beauftragte für den Haushalt die Leiterin oder der Leiter des Haushaltsreferats. Dem BfdH obliegen die Ausführung des Haushaltsplans sowie die Aufstellung der Unterlagen für die Finanzplanung und der Unterlagen für den Entwurf des Haushaltsplans (Voranschläge). Er kann nach § 9 Abs. 2 BHO Aufgaben bei der Ausführung des Haushaltsplans übertragen.

1.254 Der BfdH ist nach VV Nr. 3.3.4 zu § 9 BHO ua. auch zuständig für die Führung der Stellenbesetzungsliste551. Nach VV Nr. 3.1.1 zu § 49 BHO führen die obersten Bundesbehörden und die nachgeordneten Dienststellen, denen Planstellen zur Bewirtschaftung zugewiesen sind, Nachweisungen zur Planstellenüberwachung, und zwar getrennt nach einzelnen Dienststellen. Darin sind nach VV Nr. 3.1.2 zu § 49 BHO einzutragen (1.) zu Beginn eines jeden Haushaltsjahres die der Dienststelle zur Bewirtschaftung zugewiesenen Planstellen getrennt nach den einzelnen Besoldungsgruppen, (2.) während des Haushaltsjahres laufend sämtliche Änderungen (zB. Zuweisungen, Einsparungen und Umsetzungen) der Zeitfolge nach. Außerdem sind die obersten Bundesbehörden und die nachgeordneten Dienststellen, denen Planstellen zur Bewirtschaftung zugewiesen sind, nach VV Nr. 3.2.1 zu § 49 BHO verpflichtet, Aufzeichnungen über die Besetzung der von ihnen selbst bewirtschafteten Planstellen zu führen. In diese Aufzeichnungen sind sämtliche Änderungen laufend aufzunehmen, so dass jederzeit die Zahl der besetzten bzw. der in Anspruch genommenen Planstellen und der freien Planstellen festgestellt werden kann. Nach Ziff IV. des BMF-Rundschreibens v. 2.1.1973 idF v. 8.10.1993552 sind für die Überwachung der Stellen die für die Überwachung von Planstellen geltenden Bestimmungen sinngemäß anzuwenden.

1.255 Das in vielen Behörden des Bundes und der Länder praktizierte553 System der sog. „Topfwirtschaft“ ist dadurch gekennzeichnet, dass Planstellen (Beförderungsstellen) nicht bindend bzw. abstrakt einem bestimmten Dienstposten und damit einer bestimmten Dienststelle zugeordnet sind, sondern je nach Beförderungsfall innerhalb des Gesamtbereichs in Anspruch genommen werden können554. In diesen Fällen kann die Rechtsprechung zu den Standardfällen der Planstellenbewirtschaftung nicht greifen555. Das BVerfG hält diese Dienstpostenbündelung (sog. Topfwirtschaft) nur insoweit für zulässig, wie dafür ein sachlicher Grund besteht. Ein solcher sachlicher Grund kann insbesondere dann angenommen werden, wenn der von der Dienstpostenbündelung betroffene Bereich Teil der sogenannten „Massenverwaltung“ ist, bei der Dienstposten idR. mit ständig wechselnden Aufgaben einhergehen. Der Dienstherr muss sich jedoch bewusst machen, welche Dienstposten von der Bündelung betroffen sind und welche Aufgaben in dieser Spannweite anfallen. Andernfalls besteht nicht die – für die Zulässigkeit einer Dienstpostenbündelung wiederum erforderliche – Möglichkeit einer angemessenen Leistungsbewertung556.

550 Zur Stellung des BfdH s. Heuer/Domnach, § 9 BHO Rz. 1–5. 551 Dittrich, § 49 BHO Rz. 9.1 und 9.2; Heuer/Flöer, § 49 BHO Rz. 9; BMF-Rundschreiben v. 2.1.1973 idF v. 8.10.1993, abgedruckt bei Heuer/Flöer, Anm. 8. 552 Abgedruckt bei Dittrich, § 49 BHO vor Rz. 1. 553 Vgl. die Nachweise auf die Rechtsprechung im Beschluss des Hessischen VGH v. 17.1.2008 – 1 TG 1899/07, juris; krit. BVerfG v. 7.3.2013 – 2 BvR 2582/12, NVwZ 2013, 1603. 554 OVG Nordrhein-Westfalen v. 6.9.2007 – 1 B 754/07, juris; OVG Berlin-Brandenburg v. 11.7.2007 – 62 PV 10.05, juris; OVG Rheinland-Pfalz v. 19.12.2002 – 5 A 11147/02, PersR 2003, 206. 555 BVerwG v. 7.7.2008 – 6 P 13/07, ZTR 2008, 574; v. 8.12.1999 – 6 P 10/98, AP § 76 BPersVG Nr. 13; v. 9.9.1999 – 6 P 5/98, BVerwGE 109, 295. 556 BVerfG v. 16.12.2015 – 2 BvR 1958/13, BGBl. I 2016, 244 = ZTR 2016, 170.

80

Groeger

Haushaltsrechtliche Grundlagen

Rz. 1.258 § 1

d) Rechnungslegung und -prüfung; Finanzkontrolle Nach Art. 114 Abs. 1 GG hat der BMF dem Bundestag und dem Bundesrat über alle Einnah- 1.256 men und Ausgaben sowie über das Vermögen und die Schulden im Laufe des nächsten Rechnungsjahres zur Entlastung der Bundesregierung Rechnung zu legen. Nach Art. 114 Abs. 2 GG prüft der Bundesrechnungshof die Rechnung sowie die Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung. Die sachlichen, räumlichen und inhaltlichen Grenzen der Prüfungstätigkeit des Bundesrechnungshofes können hier nicht dargestellt werden557. In § 90 Nr. 1 BHO erstreckt sich die Prüfung insbesondere darauf, ob das Haushaltsgesetz und der Haushaltsplan eingehalten worden sind. Nach § 96 Abs. 1 BHO teilt der Bundesrechnungshof das Prüfungsergebnis den zuständigen Dienststellen zur Äußerung innerhalb einer von ihm zu bestimmenden Frist mit. Er kann es auch anderen Dienststellen und dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages mitteilen, soweit er dies aus besonderen Gründen für erforderlich hält. Offen ist, ob der betroffene Bedienstete der geprüften Dienststelle, deren Verhalten negativ dargestellt ist, gegen die Prüfungsmitteilung vorgehen kann. Insoweit dürfte kein unmittelbarer Anspruch des Bediensteten gegenüber dem Bundesrechnungshof, sondern ein Recht, dass eine Stellungnahme des Bediensteten von der Dienststelle bei ihrer Stellungnahme berücksichtigt wird, in Betracht kommen558.

1.257

Nach § 97 Abs. 1 BHO fasst der Bundesrechnungshof das Ergebnis seiner Prüfung jährlich dem Bundestag und dem Bundesrat in Bemerkungen zusammen, die er den beiden Parlamenten und der Bundesregierung zuleitet. Darin ist insbesondere mitzuteilen, in welchen Fällen von Bedeutung die für die Haushalts- und Wirtschaftsführung geltenden Vorschriften und Grundsätze nicht beachtet worden sind und welche Maßnahmen für die Zukunft empfohlen werden. Gemäß § 98 BHO macht der Bundesrechnungshof der zuständigen Stelle unabhängig hiervon unverzüglich Mitteilung, wenn nach seiner Auffassung ein Schadensersatzanspruch geltend zu machen ist.

1.258

557 S. Heuer/v. Mutius/Nawrath, Art. 114 GG Rz. 28 ff. 558 Heuer/Nawrath/Doetschmann, § 96 BHO Rz. 14; s. aber BVerwG v. 27.2.2019 – 6 C 1/18, GewArch 2019, 292.

Groeger

81

§2 Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.1

II. Stellenausschreibungen . . . . . . . . . .

2.3

1. Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.3

2. Gesetzliche Regelungen der Ausschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.8

3. Tarifvertragliche Regelungen der Ausschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.15

III. Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.16

1. Rechtsanspruch auf Einstellung/ Beförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.16

2. Der Bewerbungsverfahrensanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.18 a) Öffentliches Amt . . . . . . . . . . . . . 2.19 b) Auswahlkriterien . . . . . . . . . . . . . 2.22 c) Umsetzungs-/Versetzungsbewerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.37 d) Grundlagen der Bewerberbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.39 e) Grenzen des Auswahlermessens des Dienstherrn . . . . . . . . . . . . . . 2.41 f) Bindung an die Rechtsauffassung des Gerichts bei Wiederholungsentscheidung des Dienstherrn . . . 2.47 g) „Erschöpfung“ und „Verwirkung“ des Bewerbungsverfahrensanspruches . . . . . . . . . . . . . . 2.48 h) Verfahrensanforderungen . . . . . . 2.54 aa) Stellenausschreibung . . . . . . 2.55a bb) Aufstellung eines Anforderungsprofils vor der Auswahlentscheidung . . . . . . . . . 2.56 cc) Benachrichtigung über das Auswahlergebnis und Wartepflicht des Dienstherrn . . . . . 2.60 dd) Dokumentationspflicht . . . . 2.64 ee) Zulässigkeit eines Abbruchs des Auswahlverfahrens . . . . . 2.65 ff) Gesetzliche Regelungen für besondere Bewerbergruppen 2.66 i) Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . 2.73 IV. Beteiligung des Personalrats . . . . . .

2.79

1. Gegenstand der Beteiligung . . . . . . a) Ausschreibung . . . . . . . . . . . . . . .

2.79 2.79

aa) Verpflichtung zur Ausschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grenzen der Ausschreibungspflicht . . . . . . . . . . . . . b) Einstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beispielsfälle . . . . . . . . . . . . . c) Eingruppierung . . . . . . . . . . . . . .

2.79 2.83 2.87 2.87 2.91 2.93

2. Art der Beteiligung . . . . . . . . . . . . . 2.95 a) Mitbestimmung/Mitwirkung . . . . 2.95 aa) Bedeutung der Organisations- und Personalhoheit . . . . 2.96 bb) Reichweite des Mitbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . 2.97 b) Entscheidungsvarianten . . . . . . . . 2.101 c) Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . 2.103 3. Ausübung des Beteiligungsrechts . . a) Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . bb) Beteiligte Personen . . . . . . . . cc) Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . dd) Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Vorlage von Unterlagen . . . . c) Stellungnahme des Gremiums . . . aa) Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Inhalt der Stellungnahme . . . d) Durchführung der Einstellung . . . aa) Wahrung der Rechte des Personalrats . . . . . . . . . . . . . bb) Verletzung der Rechte des Personalrats . . . . . . . . . . . . . cc) Vorläufige Durchführung der Maßnahme . . . . . . . . . . .

2.104 2.104 2.107 2.107 2.108 2.110 2.111 2.115 2.116 2.117 2.117 2.119 2.121 2.121 2.122 2.123

4. Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.126 a) Einigungsstelle . . . . . . . . . . . . . . . 2.126 b) Verwaltungsgericht . . . . . . . . . . . 2.127 V. Rechtsschutz (Konkurrentenklage) . 2.130 1. Hauptsacheverfahren . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Klageantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Prüfungsmaßstab und richterliche Kontrollbefugnis . . . . . . . . . d) Darlegungs- und Beweislast . . . . . e) Aktenbeiziehung . . . . . . . . . . . . .

2.130 2.130 2.134 2.141 2.142 2.147

Hauck-Scholz/Pahlen

83

§ 2 Rz. 2.1

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

f) Beteiligung des ausgewählten Bewerbers am Verfahren . . . . . . . 2.150 g) Bindung an die Rechtsauffassung des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.160 h) Erledigung der Hauptsache . . . . . 2.161 2. Einstweiliger Rechtsschutz . . . . . . . a) Verfassungsrechtliche Grundlage . b) Antragstellung . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfügungsanspruch . . . . . . . . . . d) Verfügungsgrund . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenanordnung? . . . . . . . . .

2.162 2.162 2.163 2.167 2.172 2.177

f) Entscheidung mit oder ohne mündliche Verhandlung . . . . . . . g) Beteiligung des ausgewählten Bewerbers am Verfahren . . . . . . . h) Verfahrensanforderungen aufgrund des Gebotes zur effektiven Rechtsschutzgewährung . . . . . . . . aa) Terminierung und vorbereitende Maßnahmen . . . . . . . . bb) Richterliche Kontrolldichte . .

2.178 2.181 2.184 2.184 2.185

Schrifttum: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz, 7. Aufl. 2017; Germelmann in Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. 2, 4. Aufl. 2018, § 154 Rz. 46 ff.; Schoch/Schneider/ Bier, VwGO, Loseblatt; Zimmerling, Arbeitsrechtliche Konkurrentenklage und Eingruppierungsklage im öffentlichen Dienst, 1999.

I. Überblick 2.1 Gilt im Arbeitsrecht – wie allgemein im Privatrecht – der Grundsatz der Privatautonomie, zu dem vor allem das Prinzip der Vertragsfreiheit gehört, so erfährt dieses Prinzip für das Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes erhebliche Einschränkungen. Zur Vertragsfreiheit im Allgemeinen gehört auch die Vertragsabschlussfreiheit, also das Recht, nach Belieben und ohne jede Begründungspflicht ein Arbeitsverhältnis mit derjenigen Person zu begründen, die sich der private Arbeitgeber – gleich nach welchen Kriterien – ausgesucht hat. Allerdings ist auch die Willkür des nicht-öffentlichen Arbeitgebers aufgrund der neueren Gesetzgebung zur Vermeidung der Geschlechterdiskriminierung, zur Verbesserung der Chancen von behinderten Arbeitnehmern und schließlich zum allgemeinen Diskriminierungsverbot auf der Grundlage des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) nicht mehr schrankenlos. Alle diese Regelungen sind gesetzliche Ausprägungen des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes und des grundrechtlichen Gleichbehandlungsprinzips1. Der Einzug dieser Prinzipien in das Privatrecht dokumentiert eindrucksvoll die wertprägende Kraft der Grundrechte des GG, deren Wirkungsmacht nicht zuletzt der Rechtsprechung des BVerfG zu verdanken ist. War es doch das BVerfG, das die zunächst in der Lehre entwickelte Dogmatik von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte in seine Rechtsprechung übernommen und später mit der Lehre von den Schutzpflichten weiterentwickelt hat2 (s. Rz. 1.63, 1.174).

2.2 Gesetzgebung und Rechtsprechung haben dem öffentlichen Arbeitgeber zusätzlich zu den genannten Regelungen weitere Pflichten bereits bei Anbahnung und Abschluss eines Arbeitsvertrages auferlegt. Das beginnt mit der Frage, ob der Arbeitgeber seine Absicht, eine Einstellung vorzunehmen, gegenüber der Öffentlichkeit bekannt geben muss (Ausschreibung)3. Dem schließt sich die weitere Frage an, ob er rechtlich verpflichtet ist, das Auswahlverfahren in einer bestimmten Weise zu gestalten, jedenfalls wenn sich schwerbehinderte Personen be1 Zur Abgrenzung dieser beiden inhaltlich weitestgehend identischen Rechtsprinzipien und ihrer Anwendbarkeit auf das Arbeitsverhältnis vgl. ErfK/Schmidt, Art. 3 GG Rz. 29. 2 Vgl. hierzu Sachs/Sachs, vor Art. 1 GG Rz. 32 ff., Sachs/Höfling, Art. 1 GG Rz. 116, mit Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur. 3 ErfK/Schlachter, § 11 AGG Rz. 1; ErfK/Kania, § 93 BetrVG Rz. 2.

84

Hauck-Scholz

Stellenausschreibungen

Rz. 2.4 § 2

worben haben (§ 82 SGB IX) oder wenn eine Stelle in einem Bereich zu besetzen ist, in dem Frauen unterrepräsentiert sind. Der weitestgehende Eingriff in die Entscheidungsmacht des öffentlichen Arbeitgebers erfolgt allerdings durch Art. 33 Abs. 2 GG, der den öffentlichen Arbeitgeber durch die Vorgabe von Auswahlkriterien für die Besetzung einer Stelle im öffentlichen Dienst bindet. Hier hatte die Rechtsprechung die Frage zu klären, ob dieses grundrechtsgleiche Recht4 nicht nur bei der Besetzung von Beamtenstellen, sondern auch bei Stellen für Angestellte und Arbeiter zu beachten ist5. Weitere Besonderheiten ergeben sich durch die bundes- und landesgesetzlichen Regelungen zur Beteiligung von Personalräten am Einstellungsverfahren.

II. Stellenausschreibungen 1. Grundsätze Eine allgemeine Ausschreibungspflicht von zu besetzenden Stellen kennt das Arbeitsrecht nicht (siehe auch Rz. 12.6). Im Geltungsbereich des Betriebsverfassungsrechts kann der Betriebsrat gemäß § 93 BetrVG die Ausschreibung von Arbeitsplätzen innerhalb des Betriebs verlangen6. Daneben gibt es lediglich Bestimmungen, welchen Anforderungen eine Stellenausschreibung genügen muss, wenn sich der Arbeitgeber dafür entscheidet, die Stelle auf der Grundlage einer Ausschreibung zu besetzen. Zu nennen ist in erster Linie § 11 AGG. Hiernach darf ein Arbeitsplatz nicht unter Verstoß gegen § 7 Abs. 1 AGG ausgeschrieben werden. § 7 Abs. 1 AGG enthält das allgemeine Benachteiligungsverbot aus Gründen der Rasse, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität (§ 1 AGG).

2.3

Es ist umstritten, ob für den Bereich des öffentlichen Dienstes eine allgemeine Ausschreibungspflicht besteht. Die Befürworter einer allgemeinen Ausschreibungspflicht entnehmen diese unmittelbar Art. 33 Abs. 2 GG7. Sie berufen sich dabei auf das Prinzip, dass die Effektivierung grundrechtlicher Positionen auch eine entsprechende Verfahrensgestaltung erfor-

2.4

4 So § 90 BVerfGG, der die Verfassungsbeschwerde nicht nur für die Grundrechte der Art. 1 bis 19 GG, sondern auch für weitere Rechte außerhalb des Grundrechtskatalogs, so auch Art. 33 GG, ermöglicht. 5 Hingegen gilt Art. 33 Abs. 2 GG nicht gegenüber Hochschulen in kirchlicher Trägerschaft mit dem vom Staat verliehenen Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (BAG v. 12.10.2010 – 9 AZR 554/09, ArbRB 2011, 132 = NZA-RR 2011, 216 (218 Rz. 44 ff.)). 6 Eine so weit gehende Regelung findet sich im Personalvertretungsrecht des Bundes und der Länder, das auf die öffentlichen Arbeitgeber anwendbar ist, nicht. § 75 Abs. 3 Nr. 14 BPersVG bestimmt lediglich, dass die Personalvertretung mitzubestimmen hat, wenn der Arbeitgeber von der Ausschreibung von Dienstposten, die besetzt werden sollen, absehen möchte. Dies setzt aber eine nach anderen Bestimmungen begründete Ausschreibungspflicht für den öffentlichen Arbeitgeber voraus (vgl. BVerwG v. 13.10.1978 – 6 P 6/78, BVerwGE 56, 324). Diese Rechtsprechung hat das BVerwG in der Folgezeit dahingehend modifiziert, dass das Mitbestimmungsrecht jedenfalls dann zur Anwendung kommt, wenn der Dienststellenleiter von einer dienststelleninternen Ausschreibung, ohne zu einer solchen verpflichtet zu sein, absehen möchte (vgl. BVerwG v. 8.3.1988 – 6 P 32/85, BVerwGE 79, 101; v. 29.1.1996 – 6 P 38.93, PersR 1996, 239). Diese Rechtsprechung hat das BVerwG aber wieder aufgegeben, vgl. BVerwG v. 14.1.2010 – 6 P 10.09, BVerwGE 136, 29 = NVwZ-RR 2010, 405 = PersR 2010, 322. 7 OVG Sachsen v. 11.4.2001 – 3 BS 83/01, ZBR 2001, 372 und v. 11.4.2001 – 3 BS 84/01, ZBR 2001, 368; Bremischer StGH v. 22.12.1992 – St 5/91, DÖV 1993, 300 = NVwZ-RR 1993, 417, gestützt auf Art. 128 Bremische Landesverfassung, der mit dem Wortlaut des Art. 33 Abs. 2 GG weitgehend

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85

§ 2 Rz. 2.4

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

dert8. Wenn der gleiche Zugang zu jedem öffentlichen Amt effektiv gewährleistet werden soll, ist die Information der Öffentlichkeit über eine zu besetzende Stelle geboten, weil nur so interessierte Personen die Möglichkeit einer Bewerbung erhalten, die Voraussetzung für den Zugang zu der zu besetzenden Stelle ist.

2.5 Die gegenteilige Auffassung wird vor allem vom BVerwG9 vertreten. Dieses lehnt in seiner Entscheidung vom 16.10.197510 die vorstehende Argumentation mit dem Hinweis ab, dass die Art und Weise der Gewährleistung des gleichen Zugangs zu jedem öffentlichen Amt dem Gesetzgeber obliege. Äußerungen des BVerfG zur Problematik gibt es nach seiner Entscheidung vom 18.6.198611 nicht mehr. Es spricht jedoch sehr viel dafür, dass das BVerwG heute an seiner Rechtsprechung nicht mehr festhalten wird, weil das BVerfG, wenn auch in anderen Zusammenhängen, seine Rechtsprechung zum Prinzip der effektiven Rechtsdurchsetzung als Bestandteil des Grundrechtsschutzes, wozu auch Organisation und Verfahren als Mittel der Grundrechtsverwirklichung gehören, weiter ausgebaut hat12. Außerdem gilt für die Einstellung bzw. Beförderung von Beamten im Bundesdienst der inzwischen novellierte § 8 BBG, wonach zu besetzende Stellen auszuschreiben sind, bei der Besetzung durch Einstellung sogar öffentlich13.

2.6 Lässt sich aus Art. 33 Abs. 2 GG eine allgemeine Ausschreibungspflicht „öffentlicher Ämter“ ableiten, dann gilt dies auch für Stellen, die durch Angestellte (oder früher: Arbeiter14) besetzt werden sollen. Denn auch diese sind „öffentliche Ämter“15. (Zu den Ausnahmen zur Ausschreibungspflicht s. Rz. 12.6 sowie Rz. 2.37)

2.7 Allerdings lässt sich Art. 33 Abs. 2 GG nicht mit der notwendigen Präzision entnehmen, wie eine Ausschreibung im Einzelnen zu erfolgen hat, insbesondere welchen regionalen Bezug sie haben muss16. Denn dies hängt von der Art der zu besetzenden Stelle, den wahrzunehmen-

8

9

10 11 12 13 14 15 16

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übereinstimmt; Sachs/Battis, Art. 33 GG Rz. 40 mwN; Höfling, ZBR 1999, 73 (74) mit zahlreichen Nachweisen zur älteren Literatur. Ähnlich bereits das BVerfG v. 18.6.1986 – 1 BvR 787/80, BVerfGE 73, 280 (286), das bei der Besetzung von Notarstellen aus Art. 12 Abs. 1 GG das Gebot einer dem Grundrechtsschutz angemessenen Verfahrensgestaltung und hieraus eine Pflicht des Gesetzgebers zur Gewährleistung der Ausschreibung von Notarstellen abgeleitet hat. BVerwGE 49, 232 (243); 56, 324 (327). Ihr ist die überwiegende verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung gefolgt, in der Regel durch bloßen Verweis auf die Entscheidungen des BVerwG, vgl. zB OVG Münster v. 11.9.2006 – 6 B 1739/06, NVwZ-RR 2007, 178; ebenso OVG Rheinland-Pfalz v. 29.3.2018 – 2 B 10272/18, NVwZ-RR 2018, 664 = DVBl. 2018, 1291. AA offenbar OVG Münster v. 27.4.2017 – 1 A 1664/15, juris Rz. 60. BVerwGE 49, 232 (243). BVerfG v. 18.6.1986 – 1 BvR 787/80, BVerfGE 73, 280 (286). BVerfG v. 13.11.1979 – 1 BvR 1022/78, BVerfGE 52, 380 (389 f.); 53, 30 (65); 56, 216 (236); 63, 131 (143);65, 76 (94); 69, 315 (355); 73, 280 (296). Grundlegend Hesse, EuGRZ 1978, 427 (434 ff.); weitere Nachweise bei Sachs/Sachs, GG, vor Art. 1 Rz. 34. S. auch Höfling, ZBR 1999, 73. Auch im Landesbeamtenrecht finden sich Regelungen zur Ausschreibungspflicht, z.B. § 11 SächsBG. Das neue Tarifrecht für den öffentlichen Dienst (TVöD und TV-L) hat die Unterscheidung zwischen Angestellten und Arbeitern aufgehoben. BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 445/96, BAGE 87, 165 = NZA 1998, 884; v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = ZTR 2003, 146; v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, NZA 2009, 901 = ZTR 2009, 502. Höfling, ZBR 1999, 73 (75).

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Stellenausschreibungen

Rz. 2.10 § 2

den Aufgaben sowie dem anzusprechenden Bewerberkreis ab – Umstände, die nur für den Einzelfall Bedeutung haben. Insofern ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, die Ausschreibungspflicht näher zu konkretisieren, wie dies teilweise geschehen ist. Fehlt eine konkretisierende gesetzliche Regelung, bleibt es der Rechtsprechung im Einzelfall überlassen, die Anforderungen an die Erfüllung der Ausschreibungspflicht festzulegen17. Dies kann dazu führen, dass das Unterlassen einer Ausschreibung nicht zu beanstanden ist, wenn nämlich wegen des sehr speziellen Anforderungsprofils der Stelle der potenzielle Bewerberkreis sehr eingeschränkt ist und sich der Dienstherr stattdessen darauf beschränkt, die potenziellen Stellenbewerber von der zu besetzenden Stelle direkt zu informieren, sofern ihm diese bekannt sind18. Stets aber ist ein sachlicher Grund für das Unterlassen der öffentlichen Ausschreibung erforderlich19. 2. Gesetzliche Regelungen der Ausschreibung Die bekanntesten gesetzlichen Regelungen der Stellenausschreibung, nämlich § 11 AGG und § 93 BetrVG, sind in ihrem Anwendungsbereich nicht auf den öffentlichen Dienst beschränkt, so dass insoweit auf das hierzu vorliegende Schrifttum und die ergangene Rechtsprechung verwiesen werden kann20.

2.8

Ebenso wenig interessieren für den vorliegenden Zusammenhang beamtenrechtliche Re- 2.9 gelungen der Ausschreibung, die es in den Beamtengesetzen und Laufbahnverordnungen des Bundes (§ 8 Abs. 1 BBG; § 4 BLV) und der Länder21 gibt, es sei denn, der öffentliche Arbeitgeber will eine Stelle ohne Bindung an den Beamtenstatus, also ggf. mit einem Beamten oder einem Angestellten besetzen. Denn in einem solchen Fall kann sich auch ein nichtbeamteter Bewerber auf die beamtenrechtlichen Regelungen zur Ausschreibung berufen. Für den Bereich der Bundesverwaltung ist neben § 8 BBG auf die Bestimmung des § 6 Abs. 2 BGleiG hinzuweisen, der die Ausschreibung als Sollbestimmung vorsieht, wenn Frauen in dem betreffenden Bereich unterrepräsentiert sind. In einem solchen Falle soll die Ausschreibung öffentlich erfolgen, wenn mit einer hausinternen oder dienststellenübergreifenden Ausschreibung eine Erhöhung der Zahl der Bewerberinnen nicht erreicht werden kann. § 8 Abs. 2 BBG, der nach der Rechtsprechung des BVerwG so ausgelegt wird, dass die Ausschreibungspflicht für Beförderungsämter nicht besteht22, soll gemäß § 6 Abs. 2 Satz 3 BGleiG anwendbar sein. Wie sich aus § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 BGleiG ergibt, gelten die Regelungen über die Ausschreibungspflicht für alle Beschäftigten, also auch für Angestellte.

17 AA offenbar Höfling, ZBR 1999, 73 (75) für Beförderungsämter. 18 Der Bremische StGH fordert für das Absehen von einer Ausschreibung eine entsprechende gesetzliche Regelung (Bremischer StGH v. 22.12.1992 – St 5/91, DÖV 1993, 300 = NVwZ-RR 1993, 417). Wie hier OVG Sachsen v. 11.4.2001 – 3 BS 83/01, ZBR 2001, 372 und v. 11.4.2001 – 3 BS 84/01, ZBR 2001, 368, das von einer einzelfallangemessenen Ausschreibungspflicht spricht. 19 OVG Sachsen v. 11.4.2001 – 3 BS 83/01, ZBR 2001, 372 und v. 11.4.2001 – 3 BS 84/01, ZBR 2001, 368. 20 ErfK/Schlachter, § 11 AGG Rz. 1; ErfK/Kania, § 93 BetrVG Rz. 2, jeweils mwN. 21 Das Statusrecht für Landesbeamte, das bundesgesetzlich durch das Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) vom 17.6.2008 (BGBl. I, S. 1010) neu geregelt worden ist, kennt keine Ausschreibungspflicht mehr; diese ist den ergänzenden Beamtengesetzen der Länder vorbehalten (vgl. zB § 8 Abs. 2 HBG, § 11 SächsBG, § 11 LBG Rh.Pf.). 22 BVerwGE 49, 232 (235 ff.).

Hauck-Scholz

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2.10

§ 2 Rz. 2.11

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

2.11 Bezüglich des Inhalts der Stellenausschreibung bestimmt § 6 Abs. 1 BGleiG, dass die Dienststelle einen Arbeitsplatz weder nur für Männer noch nur für Frauen ausschreiben darf. Außerdem müssen gemäß § 6 Abs. 3 BGleiG Arbeitsplatzausschreibungen mit den Anforderungen der zu besetzenden Arbeitsplätze übereinstimmen und im Hinblick auf mögliche zukünftige Funktionen der Bewerberinnen und Bewerber auch das vorausgesetzte Anforderungs- und Qualifikationsprofil der Laufbahn oder der Funktionsbereiche enthalten. Aus dieser gesetzlichen Regelung lässt sich zum einen das Verbot einer auf eine bestimmte Person bezogenen Ausschreibung23 und zum anderen das Gebot ableiten, dass das Anforderungsprofil der zu besetzenden Stelle bereits zum Zeitpunkt der Ausschreibung feststehen muss24. Außerdem sind die Arbeitsplätze auch in Teilzeit auszuschreiben, soweit zwingende dienstliche Belange nicht entgegenstehen25. Eine Verpflichtung zur Stellenausschreibung als Teilzeitarbeitsplatz ergibt sich aus § 7 Abs. 1 TzBfG26. Voraussetzung ist hier allerdings, dass der Arbeitgeber die Stelle im Ausschreibungswege besetzen will. Entscheidet er sich gegen eine Stellenausschreibung, kommt § 7 Abs. 1 TzBfG nicht zur Anwendung. Nur in den Fällen, in denen der Arbeitgeber nicht frei zwischen Ausschreibung oder Nichtausschreibung wählen kann, in denen also für den Arbeitgeber eine Ausschreibungspflicht besteht, somit vorrangig für den Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes, kommt die Bestimmung des § 7 Abs. 1 TzBfG demgemäß zum Tragen.

2.12 Ähnliche Regelungen enthalten die landesrechtlichen Gleichstellungsgesetze. So bestimmt § 8 Abs. 1 HGlG, dass zu besetzende Personalstellen „grundsätzlich“ in allen Bereichen auszuschreiben sind, in denen Frauen unterrepräsentiert sind. Jedoch haben sich Art und Inhalt der Ausschreibung ausschließlich an den Anforderungen der zu besetzenden Personalstelle zu orientieren. Außerdem soll in der Ausschreibung darauf hingewiesen werden, dass die Bewerbung von Frauen besonders erwünscht ist. Soll hiervon abgewichen werden, ist die Zustimmung der Frauenbeauftragten erforderlich, § 8 Abs. 3 HGlG.

2.13 Eine gesetzliche Pflicht zur öffentlichen Ausschreibung besteht auch für Hochschullehrerstellen27; dies ergibt sich aus § 130 Abs. 4 BBG (für die Hochschulen des Bundes) sowie den Landeshochschulgesetzen. Beispielhaft soll auf § 85 Abs. 1 ThürHG und auf § 63 Abs. 1 HHG 23 Das BAG v. 12.9.2006 – 9 AZR 807/05, ArbRB 2007, 131 = NZA 2007, 507 (510), stellt auf die für die zu besetzende Stelle bestehenden Ausbildungs- und Prüfungsvoraussetzungen ab und verlangt in seinem Leitsatz 2 zu dieser Entscheidung, dass der öffentliche Arbeitgeber das Anforderungsprofil ausschließlich nach objektiven Kriterien festzulegen hat; es leitet dieses Erfordernis aus dem Bewerbungsverfahrensanspruch ab (s. Orientierungssatz 4 zu dieser Entscheidung). 24 Ebenso Hessischer VGH v. 19.9.2000 – 1 TG 2902/00, NVwZ-RR 2001, 255 = ZBR 2001, 413, der dieses Erfordernis jedoch aus dem Bewerbungsverfahrensanspruch herleitet. Vgl. auch BVerfG v. 8.10.2007 – 2 BvR 1846/07, 1853/07, 2 BvQ 32, 33/07, NVwZ 2008, 69; in dieser Entscheidung hebt das BVerfG die Bedeutung des Anforderungsprofils der Stelle hervor und legt fest, dass seine Rechtmäßigkeit der gerichtlichen Kontrolle unterliegt, „weil mit der Festlegung des Anforderungsprofils ein wesentlicher Teil der Auswahlentscheidung vorweggenommen wird.“ Für die Besetzung von Stellen des öffentlichen Dienstes durch Arbeitnehmer leitet das BAG aus dem Bewerbungsverfahrensanspruch lediglich das Erfordernis ab, vor der Auswahlentscheidung ein Anforderungsprofil für die zu besetzende Stelle festzulegen, fordert aber nicht, dass dies bereits mit der Ausschreibung erfolgen müsste, vgl. BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, AP GG Art. 33 Nr. 59. 25 Entsprechende Regelungen finden sich in den Gleichstellungsgesetzen der Länder, zB § 8 HGlG, § 8 Chancengleichheitsgesetz BW, § 8 LGG NRW. 26 Zu den stark eingeschränkten Realisierungsmöglichkeiten dieses gesetzlichen Gebotes vgl. ErfK/ Preis, § 7 TzBfG Rz. 2 bis 4 mwN. 27 Eine weitergehende Ausschreibungspflicht bestimmt § 94 BerlHG, der regelhaft mit Ausnahmevorbehalt die öffentliche Ausschreibung für alle Stellen für hauptberufliches wissenschaftliches Personal vorschreibt.

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.16 § 2

hingewiesen werden. In beiden Bestimmungen wird nicht nur die öffentliche Ausschreibung, sondern sogar eine internationale Ausschreibung gefordert. Ein Absehen von Ausschreibung soll im Einzelfall möglich sein, wenn ein Professor oder eine Professorin der betreffenden Hochschule einen Ruf einer anderen Hochschule auf eine höherwertige Stelle erhalten hat oder wenn eine Juniorprofessorin oder ein Juniorprofessor der betreffenden Hochschule als Professorin oder Professor berufen werden soll. Da Hochschullehrerstellen auch mit Angestellten besetzt werden können, gelten die betreffenden Regelungen auch in diesem Falle. Weitere spezifische gesetzlich geregelte Ausschreibungspflichten, zB für Richterstellen28, spielen im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle, weil Richterstellen nicht mit Angestellten besetzt werden dürfen.

2.14

3. Tarifvertragliche Regelungen der Ausschreibung

2.15

Solche Regelungen bestehen nicht. Sie finden sich weder im TVöD noch im TVL.

III. Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG 1. Rechtsanspruch auf Einstellung/Beförderung Ein Rechtsanspruch auf Einstellung in den öffentlichen Dienst sowie auf Beförderung oder Höhergruppierung innerhalb des öffentlichen Dienstes lässt sich weder aus Art. 33 Abs. 229 noch aus Art. 12 Abs. 1 GG30 herleiten. Art. 33 Abs. 2 GG begründet einen Anspruch auf Einstellung bzw. Beförderung nur, wenn sich nach den Verhältnissen im Einzelfall jede andere Entscheidung als rechtswidrig oder ermessensfehlerhaft darstellt und mithin die Berücksichtigung dieses Bewerbers die einzig rechtmäßige Entscheidung darstellt, weil er absolut und im Verhältnis zu den Mitbewerbern der in jeder Hinsicht am besten geeignete ist31. Dasselbe gilt für den Fall, dass sich das Bewerberfeld zum Zeitpunkt der Auswahlentscheidung auf eine einzige Person reduziert hat und diese die Anforderungen der Stelle auch nach Auffassung des Arbeitgebers erfüllt. Eine Neuausschreibung der Stelle „zur Verbreiterung des Bewerberfeldes“ und der damit verbundene Abbruch des Auswahlverfahrens sind in einem solchen Fall unzulässig32. Ebenso wenig folgt aus Art. 33 Abs. 2 GG ein Anspruch auf Einrichtung oder Besetzung von Dienstposten im öffentlichen Dienst33.

28 Die betreffenden Regelungen finden sich in den Landesrichtergesetzen, vgl. zB § 3 LRiG BadenWürttemberg, § 2 LRiG Rh.-Pf., § 19 LRiG Schl.-Holst. 29 BVerfGE 39, 334 (354); BVerwG v. 20.10.1983 – 2 C 11/82, BVerwGE 68, 109 (110); 75, 133 (135). 30 Nach Auffassung des BVerfG begründet Art. 12 Abs. 1 GG keine weitergehenden Ansprüche als Art. 33 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 7, 377, 398; 17, 371, 377; 73, 30, 1, 315). 31 BAG v. 5.3.1996 – 1 AZR 590/92 (A), BAGE 82, 211 = NZA 1996, 751 = AP Nr. 226 zu Art. 3 GG; v. 2.12.1997 – 9 AZR 668/96, AP Nr. 41 zu Art. 33 Abs. 2 GG; v. 20.3.2003 – 8 AZR 77/02, AP Nr. 23 zu § 565 ZPO); v. 27.7.2005 – 7 AZR 508/04, AP Nr. 63 zu Art. 33 GG; v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, NZA 2009, 901 = ZTR 2009, 502; v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, BAGE 161, 157 = NZA 2018, 515 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 79. 32 BAG v. 20.3.2018 – 9 AZR 249/17, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 80. Ähnlich BVerfG v. 25.1.2017 – 2 BvR 2076/16, NVwZ 2017, 472 Rz. 27. 33 BVerwG v. 25.4.1996 – 2 C 21/95, BVerwGE 101, 112 (114); Sachs/Battis, Art. 33 GG Rz. 21.

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2.16

§ 2 Rz. 2.16

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

Von der materiellen Rechtslage ist die Frage zu unterscheiden, unter welchen Umständen und wem – Arbeitgeber oder Bewerber – die Darlegungs- und Beweislast für den Anspruch auf Einstellung bzw. Beförderung/Höhergruppierung obliegt (hierzu s. Rz. 2.76).

2.17 Art. 33 Abs. 2 GG gewährt jedoch jedem Deutschen ein grundrechtsgleiches Recht auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung. Daraus folgt der Anspruch eines Bewerbers um ein öffentliches Amt auf eine ermessens- und beurteilungsfehlerfreie Entscheidung über seine Bewerbung34. Dieser Anspruch wird auch Bewerbungsverfahrensanspruch genannt35. Seine Verletzung ist Voraussetzung für den Anspruch des unterlegenen Bewerbers auf erneute Entscheidung über seine Bewerbung36 und auf Unterlassung anderweitiger Stellenbesetzung durch den Dienstherrn bzw. öffentlichen Arbeitgeber37. 2. Der Bewerbungsverfahrensanspruch

2.18 Rechtsgrundlage für den Bewerbungsverfahrensanspruch ist Art. 33 Abs. 2 GG. Die Beamtengesetze des Bundes und der Länder enthalten vergleichbare Regelungen (vgl. § 9 BeamtStG, § 9 BBG). Sie sind jedoch auf Beschäftigungsverhältnisse von Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst nicht, auch nicht analog, anwendbar. Etwas anderes gilt für die Regelungen der Eignungsauswahl in den Gleichstellungsgesetzen von Bund und Ländern, die auf Beschäftigungsverhältnisse des öffentlichen Dienstes aller Art anwendbar sind (vgl. § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 BGleiG; § 3 Abs. 2, § 4 Abs. 1 HGlG). a) Öffentliches Amt

2.19 Öffentliche Ämter iSd. Art. 33 Abs. 2 GG sind nicht nur Beamtenstellen, sondern auch solche Stellen, die von Arbeitnehmern besetzt werden können38. Dies gilt auch für die Stellen für Arbeitnehmer, die in einer privatrechtlichen Organisation zu besetzen sind, wenn die Organisation im Alleineigentum der öffentlichen Hand steht oder – bei gemischtwirtschaftlichen Unter34 BVerfGE 39, 334 (354); BVerwG v. 25.8.1988 – 2 C 51/86, BVerwGE 80, 123 (124); 101, 112 (115); v. 17.8.2005 – 2 C 37.04, 124, 99 (102); BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 445/96, BAGE 87, 165 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 40; v. 2.12.1997 – 9 AZR 668/96, BAGE 87, 165 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 41. 35 BVerfG v. 24.9.2002 – 2 BvR 857/02, ZBR 2002, 427 = NVwZ 2003, 200; BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 445/96, BAGE 87, 165 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 40; v. 23.1.2007 – 9 AZR 492/06, NZA 2007, 1450 = ZTR 2007, 462 = AP ZPO 1977 § 233 Nr. 83; BVerwG v. 21.8.2003 – 2 C 14.02, BVerwGE 118, 370 (372) = ZBR 2004, 101 = NJW 2004, 870 = DVBl. 2004, 317. 36 BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 668/96, BAGE 87, 165 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 41; v. 11.8.1998 – 9 AZR 155/97, AP GG Art. 33 Nr. 45. Weitere Voraussetzung ist, dass die Stelle noch nicht anderweit endgültig besetzt ist; zu dieser Voraussetzung vgl. insb. BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56 = ZTR 2003, 146. 37 BAG v. 22.6.1999 – 9 AZR 541/98, AP GG Art. 33 Nr. 49; v. 5.11.2002 – 9 AZR 451/01, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 57. Den Unterlassungsanspruch leitet das BAG unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BVerfG aus dem Prinzip der Gewährung effektiven Rechtsschutzes ab, das eine analoge Anwendung des § 1004 BGB gebiete. Wie der Unterlassungsanspruch aus § 1004 BGB im Allgemeinen, setzt auch der Unterlassungsanspruch in analoger Anwendung des § 1004 BGB eine Begehungs- bzw. Wiederholungsgefahr voraus. 38 BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 445/96, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 40; v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56 = ZTR 2003, 146; v. 19.2.2003 – 7 AZR 67/02, ArbRB 2003, 208 = AP GG Art. 33 Nr. 58.

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.20 § 2

nehmen – von der öffentlichen Hand beherrscht wird und wenn sie öffentliche Aufgaben wahrnimmt bzw. (nach Meinung des BVerfG) staatliche Gewalt ausübt. Denn diese Organisationen unterliegen unmittelbarer Grundrechtsbindung einschließlich der Bindung an grundrechtsgleiche Rechte wie eben jenes aus Art. 33 Abs. 2 GG39. Will der Arbeitgeber ein bestimmtes Stundendeputat zur Erhöhung der Arbeitszeit von bei ihm Beschäftigten ohne eine damit verbundene Übertragung höherwertiger Tätigkeiten vergeben, so betrifft dies nicht den Zugang zu einem öffentlichen Amt im Sinne von Art. 33 Abs. 2 GG40. Das BAG leitet diesen Rechtssatz aus einer Abgrenzung des Bewerbungsverfahrensanspruches von der Organisationsfreiheit des öffentlichen Arbeitgebers ab (s. dazu Rz. 2.37 und 2.57). Vergäbe der Arbeitgeber die Stelle im Wege der Umsetzung oder Versetzung an bereits bei ihm beschäftigte und mit gleichwertigen Tätigkeiten befasste Arbeitnehmer, sei das Auswahlverfahren nicht den Grundsätzen des Art. 33 Abs. 2 GG unterworfen. Bei einer Erhöhung der Arbeitszeit ohne eine damit verbundene Übertragung höherwertiger Tätigkeiten gehe es um eine statusneutrale Modifikation der Beschäftigungsbedingungen des Arbeitnehmers, für die seine Eignung, Befähigung und fachliche Leistung bereits in einem vorausgegangenen Auswahlverfahren überprüft worden seien41. Arbeitgeber – und damit im Prozess passivlegitimiert – ist derjenige Rechtsträger, der die Personalhoheit hat, also mit dem der künftige Arbeitsvertrag abzuschließen ist (Anstellungskörperschaft)42. Auf die Beschäftigungsstelle kommt es nicht an, es sei denn, dass diese zugleich Anstellungskörperschaft ist.

2.19a

Ist eine freie Stelle, insbesondere eine Beförderungsstelle, zu besetzen, kann sich das Problem ergeben, dass sich für sie sowohl Arbeitnehmer als auch Beamte bewerben. Vielfach versuchen öffentliche Arbeitgeber das Problem dadurch zu umgehen, dass sie im Ausschreibungstext eine Beschränkung des Bewerberkreises nur auf Arbeitnehmer oder nur auf Beamte vornehmen. Eine Einschränkung des Bewerberkreises auf Beamte durch die Ausschreibung oder die Ausgestaltung des Auswahlverfahrens ist jedoch unzulässig, es sei denn, der Aufgabenbereich der zu besetzenden Stelle bezieht sich auf hoheitliche Funktionen iSd. Art. 33 Abs. 4 GG (Funktionsvorbehalt)43. Es ist allerdings umstritten, wie der Begriff der „hoheitsrechtlichen Befugnisse“ iSd. Art. 33 Abs. 4 GG auszulegen ist. Eine extensive Interpretation umfasst die gesamte obrigkeitliche Tätigkeit des Staates zuzüglich aller Funktionen öffentlicher Verwaltung, einschließlich der Leistungsverwaltung, ausgenommen die reine Fiskalverwaltung, die privatrechtlichen Beschaffungsgeschäfte der öffentlichen Verwaltung, die erwerbswirtschaftli-

2.20

39 BAG v. 12.4.2016 – 9 AZR 673/14, BAGE 155, 29 = NZA 2016, 1279 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 78, unter Berufung auf BVerfG v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06, BVerfGE 128, 226 (244 ff.). 40 BAG v. 12.4.2016 – 9 AZR 673/14, BAGE 155, 29 = NZA 2016, 1279 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 78; v. 17.10.2017 – 9 AZR 192/17, BAGE 160, 280 = NZA 2018, 174 = AP TzBfG § 9 Nr. 9; v. 27.2.2018 – 9 AZR 167/17, NJW 2018, 2431 = NZA 2018, 444 Rz. 30. 41 BAG v. 12.4.2016 – 9 AZR 673/14, BAGE 155, 29 = NZA 2016, 1279 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 78; v. 17.10.2017 – 9 AZR 192/17, BAGE 160, 280 = NZA 2018, 174 = AP TzBfG § 9 Nr. 9 Rz. 23. 42 BAG v. 11.6.2013 – 9 AZR 558/11, NZA-RR 2014, 52 (Kunsthochschule). Ebenso BAG v. 19.5.2015 – 9 AZR 837/13, NZA 2015, 1074 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 77 (Jobcenter); bestätigt durch BVerfG v. 8.11.2016 – 1 BvR 2317/15, NZA 2017, 111. 43 BAG v. 11.8.1998 – 9 AZR 155/97, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 45; v. 18.9.2001 – 9 AZR 410/00, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 52; v. 5.11.2002 – 9 AZR 451/01, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 57.

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§ 2 Rz. 2.20

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

che Betätigung der öffentlichen Hand sowie rein mechanische Hilfsgeschäfte44. Die Gegenmeinung beschränkt die hoheitliche Tätigkeit auf die Wahrnehmung obrigkeitlicher Funktionen des Staates45. Indem das BAG bei seiner Interpretation des Funktionsvorbehalts auf den Inhalt der staatlichen Aufgabe und den Umfang des zur Verfügung stehenden ordnungsbehördlichen Instrumentariums abstellt46, scheint es mehr der engeren Auslegung des Funktionsvorbehalts des Art. 33 Abs. 4 GG zuzuneigen. Allerdings darf der Dienstherr auch Stellen, die dem Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG unterliegen, mit Arbeitnehmern statt mit Beamten besetzen47, er muss es aber nicht.

2.21 Auch wenn Arbeitnehmer nur unter den genannten Voraussetzungen vom Zugang zu einem öffentlichen Amt in Konkurrenz mit Beamtenbewerbern ausgeschlossen werden können, stellt sich das weitere Problem, wie sie zu vergüten sind, wenn die Stelle nur als Beamtenstelle unter Angabe einer bestimmten Besoldungsgruppe ausgeschrieben ist. Denn die Kriterien für die Einstufung von Beamten und die Eingruppierung von Angestellten sind unterschiedlich. In der Praxis hat man sich mit einer analogen Anwendung des § 11 Satz 2 BAT/BAT-O beholfen, der eine „Umsetzungstabelle“ für beamtenrechtliche Besoldungsgruppen in tarifrechtliche Vergütungsgruppen enthält. Allerdings ist diese Regelung mit Inkrafttreten des TVöD bzw. TV-L entfallen, so dass insoweit eine Lücke entstanden ist48. Im vorliegenden Zusammenhang ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Frage nach dem Zugang zu einem öffentlichen Amt von der Frage nach der Besoldung bzw. Vergütung des ausgewählten Bewerbers zu trennen ist. Die in einer Ausschreibung angegebene Besoldungs- bzw. Vergütungsgruppe spielt allenfalls eine Rolle für das Anforderungsprofil der Stelle, indem sich von ihr Indizien für die notwendige Qualifikation eines Bewerbers ableiten lassen49. b) Auswahlkriterien

2.22 Gemäß Art. 33 Abs. 2 GG hat die Bewerberauswahl nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung zu erfolgen (s. auch § 9 BeamtStG, § 11 Abs. 1 HGlG).

2.23 Dabei ist davon auszugehen, dass der Begriff der Befähigung auf die Vorbildung nach Maßgabe des Laufbahnrechtes, aber auch auf fachrelevantes Allgemeinwissen, Lebenserfahrung und Begabung abstellt, der Begriff der fachlichen Leistung auf die berufliche Erfahrung, die Bewährung in der jeweiligen Berufssparte, auf das fachliche Wissen und fachliche Können, und der Begriff der Eignung auf die Person selbst mit ihren körperlichen, geistigen, seelischen

44 Sachs/Battis, Art. 33 GG Rz. 55 mwN. 45 Sachs/Battis, Art. 33 GG Rz. 56 mwN. 46 BAG v. 11.8.1998 – 9 AZR 155/97, AP GG Art. 33 Nr. 45; v. 5.11.2002 – 9 AZR 451/01, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 57. 47 BAG v. 11.8.1998 – 9 AZR 155/97, AP GG Art. 33 Nr. 45. 48 Diese Lücke besteht jedoch nicht für angestellte Lehrkräfte, da die Richtlinien der Tarifgemeinschaft deutscher Länder über die Eingruppierung der im Angestelltenverhältnis beschäftigten Lehrkräfte fortgelten; diese knüpften aber bezüglich der Eingruppierung an die Einstufung entsprechender Beamter an und enthielten ihrerseits eine entsprechende „Umsetzungstabelle“. Inzwischen wurde das Eingruppierungsrecht der Lehrkräfte tarifiert; eine – abgespeckte – „Umsetzungstabelle“ findet sich in der Anlage zum TV EntgO-L an verschiedenen Stellen. 49 Das BAG hat aber zu Recht betont, dass ein bloßer Hinweis auf die vorgesehene Vergütungsgruppe nicht ausreicht, wenn sich die konkreten Anforderungen der zu besetzenden Stelle aus ihr nicht feststellen lassen, vgl. v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, AP GG Art. 33 Nr. 59.

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.24 § 2

und charakterlichen Eigenschaften50. Diese drei Kriterien werden zusammenfassend als Leistungsprinzip bezeichnet51. Die Geltung dieses Grundsatzes wird durch Art. 33 Abs. 2 GG unbeschränkt und vorbehaltlos 2.24 gewährleistet52. Die Vorschrift dient zum einen dem öffentlichen Interesse an der bestmöglichen Besetzung der Stellen des öffentlichen Dienstes; dessen fachliches Niveau und rechtliche Integrität sollen gerade durch die ungeschmälerte Anwendung des Leistungsgrundsatzes gewährleistet werden. Zum anderen trägt Art. 33 Abs. 2 GG dem berechtigten Interesse der Beamten (und Arbeitnehmer) an einem angemessenen beruflichen Fortkommen dadurch Rechnung, dass er grundrechtsgleiche Rechte auf ermessens- und beurteilungsfehlerfreie Einbeziehung in die Bewerberauswahl begründet53. Art. 33 Abs. 2 GG gibt somit die entscheidenden Beurteilungsgesichtspunkte für die Bewerberauswahl zur Besetzung von öffentlichen Ämtern abschließend vor54. Die von Art. 33 Abs. 2 GG erfassten Auswahlentscheidungen können grundsätzlich nur auf Gesichtspunkte gestützt werden, die unmittelbar Eignung, Befähigung und fachliche Leistung der Bewerber betreffen. Anderen Gesichtspunkten darf nur Bedeutung beigemessen werden, wenn sich aus dem Vergleich anhand von unmittelbar leistungsbezogenen Gesichtspunkten kein Vorsprung von Bewerbern ergibt55. Eine gleiche Eignung von konkurrierenden Bewerbern ist also Voraussetzung für die Anwendung sog. Hilfskriterien. 50 BAG v. 5.3.1996 – 1 AZR 590/92 (A), BAGE 82, 211 = AP Nr. 226 zu Art. 3 GG; v. 29.10.1998 – 7 AZR 676/96, AP BPersVG § 46 Nr. 22; BVerwG v. 28.10.2004 – 2 C 23/03, BVerwGE 122, 147 (150); v. 17.8.2005 – 2 C 37/04, BVerwGE 124, 99 (102); BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 838/01 ua., NJW 2004, 1935 (1936). Das LAG Hamm v. 9.10.2008 – 17 Sa 927/08, LAGE § 1 WissZeitVG Nr. 1, hält zu Unrecht die Befristbarkeit des Beschäftigungsverhältnisses für ein Eignungskriterium. 51 BVerwG v. 28.10.2004 – 2 C 23.03, BVerwGE 122, 147 (149); Sachs/Battis, Art. 33 GG Rz. 27 mwN. 52 BVerfG v. 2.4.1996 – 2 BvR 169/93, NVwZ 1997, 54 (55); BVerwG v. 28.10.2004 – 2 C 23.03, BVerwGE 122, 147 (149); BAG v. 6.5.2014 – 9 AZR 724/12, BAGE 148, 123 = NZA 2015, 446 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 75; v. 10.2.2015 – 9 AZR 554/13, NZA-RR 2015, 441 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 76; v. 17.10.2017 – 9 AZR 192/17, BAGE 160, 280 = NZA 2018, 174 = AP TzBfG § 9 Nr. 9; v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, BAGE 161, 157 = NZA 2018, 515 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 79. 53 BVerfG v. 24.9.2002 – 2 BvR 857/02, NVwZ 2003, 200 (201); v. 8.10.2007 – 2 BvR 1846/07, 1853/07, 2 BvQ 32/07, 33/07, NVwZ 2008, 69; BVerwG v. 25.8.1988 – 2 C 51/86, BVerwGE 80, 123 (124); v. 25.4.1996 – 2 C 21/95, BVerwGE 101, 112 (114); v. 28.10.2004 – 2 C 23/03, BVerwGE 122, 147 (149); v. 17.8.2005 – 2 C 37.04, BVerwGE 124, 99 (102); BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, BAGE 130, 107 = NZA 2009, 901 = ZTR 2009, 502; v. 6.5.2014 – 9 AZR 724/12, BAGE 148, 123 = NZA 2015, 446 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 75; v. 10.2.2015 – 9 AZR 554/13, NZA-RR 2015, 441 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 76; v. 17.10.2017 – 9 AZR 192/17, BAGE 160, 280 = NZA 2018, 174 = AP TzBfG § 9 Nr. 9; v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, BAGE 161, 157 = NZA 2018, 515 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 79. 54 BVerfG v. 8.10.2007 – 2 BvR 1846/07, 1853/07, 2 BvQ 32/07, 33/07, NVwZ 2008, 69; BVerwG v. 28.10.2004 – 2 C 23.03, BVerwGE 122, 147 (149); v. 17.8.2005 – 2 C 37.04, BVerwGE 124, 99 (102). Allerdings darf ein Bewerber, der aufgrund einer tarifvertraglichen Altersgrenze (zur Wirksamkeit solcher Altersgrenzenregelungen vgl. BAG v. 8.12.2010 – 7 AZR 438/09, NZA 2011, 586 = BAGE 136, 270) ausgeschieden ist und der sich am Verfahren um die Wiederbesetzung seiner Stelle beteiligt, mit den sozialpolitischen Gründen für die Altersgrenzenregelung abgelehnt werden (LAG Köln v. 27.6.2012 – NZA-RR 2013, 50 (52)). 55 BVerfG v. 8.10.2007 – 2 BvR 1846/07, 1853/07, 2 BvQ 32/07, 33/07, NVwZ 2008, 69; BVerwG v. 28.10.2004 – 2 C 23.03, BVerwGE 122, 147 (149); v. 17.8.2005 – 2 C 37.04, BVerwGE 124, 99 (102).

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§ 2 Rz. 2.25

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

2.25 Was gleiche Eignung konkret bedeutet, kann nur nach den Gegebenheiten des Einzelfalls beurteilt werden. Hierfür ist insbesondere maßgeblich, auf welcher Grundlage die Eignung der Bewerber ermittelt wurde. Beruht das Eignungsurteil des Dienstherrn bspw. auf einem Vergleich dienstlicher Beurteilungen der konkurrierenden Bewerber und schließen diese mit einer Gesamtnote ab, kann von gleicher Eignung der Bewerber nur gesprochen werden, wenn die Gesamtnote identisch ist, vom selben Beurteiler stammt und die konkurrierenden Bewerber auch gleichartige Dienstposten bzw. statusmäßige Ämter innehaben56. Werden Bewerber im Rahmen einer dienstlichen Beurteilung mit derselben Gesamtnote beurteilt, so sind aus den Einzelkriterien abgeleitete Durchschnittsnoten von 2,46 und 2,56 nach Auffassung des BAG als gleiche Bewertung anzusehen57. Gleiche Eignung hat das BAG auch für den Fall angenommen, dass die Note eines Bewerbers, der ein höheres Amt innehat, eine Notenstufe niedriger liegt als die Note des Bewerbers mit dem niedrigeren Amt58. Ordnet ein Beurteilungssystem anstelle verbaler Binnendifferenzierung den Gesamtnoten einen Bereich jeweils mehrerer Punktwerte zu, sollen hierdurch nach der maßgeblichen Einschätzung des Dienstherrn messbare und beachtliche Bewertungsunterschiede zum Ausdruck gebracht werden. Dies ist gerade der Sinn des statt verbaler Differenzierungen gewählten Punktsystems, das Abstufungen innerhalb des vergebenen Gesamturteils zum Zwecke eines Leistungsvergleichs ermöglichen soll59.

2.26 Betrachtet man den Trend in der Rechtsprechung, ist festzustellen, dass die Anforderungen an eine rechtmäßige Auswahlentscheidung – nicht zuletzt aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG – immer strenger geworden sind. Infolgedessen wird auch bei der Feststellung, ob eine gleiche Eignung der konkurrierenden Bewerber vorliegt, mit einem zunehmend strengeren Maßstab gemessen und die frühere Rechtsprechung, die dazu neigte, das Wort „gleich“ mit „im Wesentlichen gleich“ zu interpretieren, stillschweigend modifiziert60. 56 Anschaulich zur Bandbreite anzustellender Erwägungen BVerfG v. 17.2.2017 – 2 BvR 1558/16, NVwZ 2017, 1133. 57 BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 307/02, BAGE 104, 264 = NZA 2003, 1036 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 60. 58 BAG v. 7.9.2004 – 9 AZR 573/03, BAGE 112, 13 = AP GG Art. 33 Nr. 61 = NZA 2005, 879; differenzierend BVerfG v. 20.3.2007 – 2 BvR 2470/06, NZA 2007, 607 = NVwZ 2007, 691 = ZBR 2008, 35. In seiner Entscheidung hat das BAG auch das Abstellen auf das Ergebnis eines Vorstellungsgespräches, das seinerseits mit Hilfe einer Punkteskala bewertet wurde, im Falle dienstlich gleich beurteilter Konkurrenten gebilligt. 59 BVerwG v. 27.2.2003 – 2 C 16/02, NVwZ 2003, 1397 = ZBR 2003, 420. Im Übrigen hat das BVerwG verbalen Zusätzen bei der Gesamtnote enge Grenzen gesetzt: Sie sind nur zulässig, wenn sie einheitlich verwendet werden und einen eindeutigen Aussagegehalt haben, die auch für den Beurteilten zweifelsfrei erkennbar Zwischenstufen innerhalb einer Gesamtnote bezeichnet. Zusätze wie „uneingeschränkt“ oder „insgesamt“ hat das BVerwG verworfen und sie als rechtswidrig und unbeachtlich bezeichnet. 60 Vgl. einerseits BVerwG v. 25.8.1988 – 2 C 51.86, BVerwGE 80, 123 (126), andererseits BVerwG v. 21.8.2003 – 2 C 14.02, BVerwGE 118, 370 (377), wo im Gegensatz zur früheren Entscheidung die Anwendung des Hilfskriteriums Lebens- oder Dienstalter erst zugelassen wird, wenn auch eine Heranziehung zurückliegender dienstlicher Beurteilungen als Grundlage für eine Nachzeichnung der Leistungsentwicklung der konkurrierenden Bewerber zu keinem Eignungsvorsprung eines der Bewerber führt. Dies wird ungeachtet des Gebotes, den Leistungsvergleich auf eine aktuelle Beurteilung zu stützen, damit begründet, dass ältere Beurteilungen bei einem Vergleich von Bewerbern bedeutsame Rückschlüsse und Prognosen über die künftige Bewährung in einem Beförderungsamt ermöglichen. Das kommt namentlich dann in Betracht, wenn frühere Beurteilungen positive oder negative Aussagen über Charaktereigenschaften, Kenntnisse, Fähigkeiten, Verwendungen und Leistungen sowie deren voraussichtliche weitere Entwicklung enthalten. Der-

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.30 § 2

Die starke, sich aus dem Verfassungsrecht ergebende Bindung des Dienstherrn bzw. öffentlichen Arbeitgebers an leistungsbezogene Auswahlkriterien hat die frühere beliebte Praxis, sich insbesondere am Dienst- oder Lebensalter der Bewerber für eine Beförderung zu orientieren, stark eingeschränkt. Das Dienst- oder Lebensalter eines Bewerbers ist kein unmittelbar leistungsbezogener Gesichtspunkt, auch wenn eine gewisse Vermutung dafür spricht, dass ein dienstälterer Bewerber über eine umfassendere Berufserfahrung verfügt. Es gibt jedoch keinen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass von einem höheren Dienstalter auf einen höheren Leistungsstand und bessere Bewährungsvoraussetzungen geschlossen werden kann. Dementsprechend ist die Berücksichtigung des Dienstalters bei der Besetzung von Beförderungsstellen nur im Falle eines Leistungsgleichstands mit Art. 33 Abs. 2 GG vereinbar61.

2.27

Im Falle gleicher Eignung konkurrierender Bewerber räumt die Rechtsprechung dem Dienstherrn bzw. Arbeitgeber ein Ermessen bei der Frage ein, nach welchen weiteren Kriterien (Hilfskriterien) er seine Auswahlentscheidung trifft. Dieses Ermessen ist jedoch bei bestimmten Fallkonstellationen gesetzlich begrenzt. So bestimmt § 8 Satz 1 BGleiG62, dass in unterrepräsentierten Bereichen Frauen bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen, Einstellung, Anstellung und beruflichem Aufstieg bei Vorliegen von gleicher Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung, die der Gesetzgeber mit „Qualifikation“ legaldefiniert, bevorzugt zu berücksichtigen sind, sofern nicht in der Person eines Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen63. § 9 TzBfG begründet den Anspruch eines teilzeitbeschäftigten Mitarbeiters auf bevorzugte Berücksichtigung bei der Besetzung eines entsprechend freien Arbeitsplatzes, wenn er dem Arbeitgeber den Wunsch nach einer Verlängerung seiner vertraglich vereinbarten Arbeitszeit angezeigt hat, gleiche Eignung vorliegt und dringende betriebliche Gründe oder Arbeitszeitwünsche anderer teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer nicht entgegenstehen64.

2.28

Weitere Einschränkungen des Auswahlermessens des Arbeitgebers ergeben sich aus dem hochschulrechtlichen sog. Hausberufungsverbot bei der Besetzung von Professorenstellen65.

2.29

§ 9 Abs. 1 Satz 2 BGleiG enthält das Gebot, Dienstalter, Lebensalter und den Zeitpunkt der letzten Beförderung nur insoweit zu berücksichtigen, als ihnen für die Eignung, Leistung und

2.30

61 62 63

64 65

artige Äußerungen, insbesondere über erkennbare positive oder negative Entwicklungstendenzen, können vor allem bei gleichwertigen aktuellen Beurteilungen von Bewerbern den Ausschlag geben (BVerwG v. 19.12.2002 – 2 C 31/01, NVwZ 2003, 1398 = ZBR 2003, 359; v. 27.2.2003 – 2 C 16/02, NVwZ 2003, 1397 = ZBR 2003, 420). BVerwG v. 28.10.2004 – 2 C 23.03, BVerwGE 122, 147 (151); v. 17.8.2005 – 2 C 37.04, BVerwGE 124, 99 (103). Vergleichbare Regelungen enthalten die Gleichstellungsgesetze der Länder; vgl. zB § 7 Abs. 2 LGG NW, § 8 Abs. 4 LGG Rh.-Pf. Mit dieser Regelung wurde den Bedenken gegen eine uneingeschränkte Bevorzugung von Frauen bei gleicher Eignung mit konkurrierenden Männern Rechnung getragen. Vgl. BAG v. 5.3.1996 – 1 AZR 590/92 (A), BAGE 82, 211 = NZA 1996, 751 = NJW 1996, 2529 = AP GG Art. 3 Nr. 226; v. 2.12.1997 – 9 AZR 668/96, BAGE 87, 171 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 41; v. 21.1.2003 – 9 AZR 307/02, BAGE 104, 264 = AP GG Art. 33 Nr. 60. Vgl. hierzu BAG v. 8.5.2007 – 9 AZR 874/06, ArbRB 2007, 322 = NZA 2007, 1349 = NJW 2007, 3664; v. 17.10.2017 – 9 AZR 192/17, BAGE 160, 280 = NZA 2018, 174 = AP TzBfG § 9 Nr. 9. So bestimmt zB § 63 Abs. 4 HHG, dass Mitglieder der eigenen Hochschule bei der Berufung auf eine Professur, die auch im Angestelltenverhältnis besetzt werden kann, nur in begründeten Ausnahmefällen berücksichtigt werden können. Ähnliche Regelungen enthalten auch die anderen Hochschulgesetze der Länder. Offenkundig liegt dem Hausberufungsverbot eine besondere Ausprägung des Leistungsprinzips zugrunde; darin findet es seine Legitimation, aber auch seine verfassungsrechtliche Grenze. Auf weitere Einzelheiten ist hier nicht einzugehen.

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§ 2 Rz. 2.30

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

Befähigung der Bewerberinnen und Bewerber Bedeutung zukommt. Spezifische, durch Betreuungs- und Pflegeaufgaben erworbene Erfahrungen und Fähigkeiten sind zu berücksichtigen, soweit sie für die Ausübung der jeweiligen Tätigkeit von Bedeutung sind. Außerdem benennt § 9 Abs. 2 BGleiG eine Reihe verbotener Auswahlkriterien wie geringere aktive Dienstoder Beschäftigungsjahre, die Einkommenssituation des Ehepartners oder zeitliche Belastungen durch die Betreuung von Kindern66.

2.31 Eine weitreichende Beschränkung des Auswahlermessens des Arbeitgebers ergibt sich auch aus den Regelungen des AGG, gleichgültig ob es sich um eine bereits eingestellte Person oder um die Bewerberin oder den Bewerber auf eine zu besetzende Stelle handelt67. § 7 AGG definiert ein umfassendes Benachteiligungsverbot, das – wegen der Legaldefinition des „Beschäftigten“ in § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG – auch für die Einstellungssituation gilt. Das Benachteiligungsverbot umfasst den gesamten Katalog des § 1 AGG einschließlich des Verbots der mittelbaren Diskriminierung (§ 3 Abs. 2 AGG). Ausnahmen zum strengen Benachteiligungsverbot ergeben sich aus den §§ 8 bis 10 AGG. Die Regelungen des AGG begrenzen nicht nur das Auswahlermessen des Arbeitgebers, sondern auch die Vorgehensweise des Arbeitgebers beim Auswahlverfahren. Eine Verletzung des Benachteiligungsverbots nach dem AGG begründet einen immateriellen Schadensersatzanspruch nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG, allerdings auf den Nichteinstellungsfall beschränkt (zum materiellen Schadensersatzanspruch gem. § 15 Abs. 1 AGG vgl. Rz. 2.78).

2.32 Eine Einschränkung des Arbeitgeberermessens kann auch durch Richtlinien bzw. Verwaltungsvorschriften des Arbeitgebers erfolgen, sofern diese ihrerseits mit höherrangigem Recht vereinbar sind68. Hierzu gehören bspw. die Richtlinien zur Eingliederung und Förderung von Schwerbehinderten, die alle öffentlich-rechtlichen Gebietskörperschaften für ihren Bereich erlassen haben. Dort findet sich vielfach die Regelung, dass Schwerbehinderte bei der Besetzung freier Arbeitsplätze oder Dienstposten bei gleicher Eignung bevorzugt zu berücksichtigen sind69.

2.33 Art. 33 Abs. 2 GG hindert den Dienstherrn, ein Mindestdienstalter für Beförderungsmöglichkeiten und die damit verbundene Wartezeit aus anderen als unmittelbar leistungsbezogenen Gesichtspunkten vorzuschreiben. Werden Beförderungsmöglichkeiten innerhalb einer Laufbahn von einem Mindestdienstalter abhängig gemacht, so erlangt dieses Merkmal einen Stellenwert, der weit über den ihm von Art. 33 Abs. 2 GG zugewiesenen Rang eines ergänzenden Hilfskriteriums hinausgeht. Denn durch eine altersbedingte Wartezeit, die keine Bewährungszeit darstellt, wird eine Vorauswahl der für eine Beförderung laufbahnrechtlich in Betracht kommenden Beamten nach dem Anciennitätsgrundsatz getroffen. Dadurch werden Beamte, die nicht das erforderliche Dienstalter aufweisen, ungeachtet des Leistungsstands von 66 Ähnliche Regelungen enthalten die Gleichstellungsgesetze der Länder; vgl. zB § 11 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und 3 HGlG. 67 Dies ergibt sich aus der Legaldefintion des „Beschäftigten“ in § 6 Abs. 1 AGG. Nach § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG sind Beschäftigte auch Bewerberinnen und Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis. 68 BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 492/06, AP ZPO 1997 § 233 Nr. 83 = NZA 2007, 1450 = NJW 2007, 3742. 69 Schwerbehinderung ist ein in der Person eines Bewerbers liegender Grund, der gem. § 8 Abs. 1 Satz 4 BGleiG zu berücksichtigen ist. Das Benachteiligungsverbot für Behinderte ist grundrechtlich geschützt (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG); s. hierzu BVerwG v. 21.6.2007 – 2 A 6/06, Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 35; BVerfG v. 10.12.2008 – 2 BvR 2571/07, NVwZ 2009, 389 = ZBR 2009, 125.

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.36 § 2

Beförderungen ausgeschlossen. Die Beschränkung des Leistungswettbewerbs auf einen nach Dienstalter zusammengestellten Bewerberkreis trägt dem von Art. 33 Abs. 2 GG geforderten unbeschränkten und vorbehaltlosen Geltungsanspruch des Leistungsgrundsatzes nicht Rechnung70. Diese Grundsätze gelten entsprechend für die Besetzung von Stellen des öffentlichen Dienstes durch Arbeitnehmer.

2.34

Soweit solche Wartezeiten mit dem Gesichtspunkt begründet werden, sie würden der Siche- 2.35 rung einer angemessenen Altersstruktur der Bediensteten dienen, handelt es sich um einen nicht leistungsbezogenen Auswahlgesichtspunkt. Solchen Gesichtspunkten darf nur Bedeutung beigemessen werden, wenn ihnen ebenfalls Verfassungsrang eingeräumt ist71. Soweit es nicht um die Abwendung einer unmittelbar drohenden Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung geht, also nur um Fragen des optimierenden Ausgleichs mit anderen verfassungsgeschützten Interessen, bedarf es zudem einer gesetzlichen Grundlage. Diese muss ihrerseits dem Zweck des Art. 33 Abs. 2 GG Rechnung tragen, dh. ernsthaften Gefährdungen der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes vorbeugen72. Das personalpolitische Interesse an ausgewogenen Altersstrukturen hat keinen verfassungsrechtlichen Stellenwert, der eine Einschränkung des Leistungsgrundsatzes bei der Besetzung der Beförderungsämter einer Laufbahn rechtfertigen könnte. Ein ausgewogener Altersaufbau in den einzelnen Laufbahnen wird zwar in aller Regel personalpolitisch wünschenswert sein; er gehört jedoch nicht zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums, die durch Art. 33 Abs. 5 GG geschützt werden. Insbesondere besteht ein entscheidender Unterschied zu Höchstaltersgrenzen, etwa für die Einstellung in den öffentlichen Dienst oder für die Übernahme in ein Dienstverhältnis anderer Art. Solche Altersgrenzen sind geeignet, den Leistungsgrundsatz einzuschränken, weil sie im Lebenszeitprinzip als einem von Art. 33 Abs. 5 GG erfassten Strukturprinzip angelegt sind. Ihr Zweck besteht vor allem darin, in Anbetracht der Dauerhaftigkeit des Beamtenverhältnisses ein angemessenes Verhältnis von Arbeitsleistung und Ansprüchen auf Versorgung während des Ruhestandes sicherzustellen73. Auch die Einstufung des Dienstpostens, den der Beamte oder Arbeitnehmer im Zeitpunkt 2.36 der Auswahlentscheidung innehat, stellt kein leistungsbezogenes Auswahlkriterium dar. Zwar sind bei der Beurteilung des Leistungsvermögens eines Beamten oder Arbeitnehmers und seiner voraussichtlichen Bewährung in einem höheren Amt die Anforderungen in den Blick zu nehmen, die sein Dienstposten stellt. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass Inhaber höherwertiger Dienstposten leistungsstärker sind als Inhaber niedriger bewerteter Dienstposten. Die unterschiedliche Einstufung der Dienstposten von Bewerbern rechtfer-

70 BVerwG v. 28.10.2004 – 2 C 23/03, BVerwGE 122, 147 (152). Abweichend BAG v. 12.10.2010 – 9 AZR 518/09, ArbRB 2011, 103 = NZA 2011, 306, Rz. 19. 71 BVerfG v. 8.10.2007 – 2 BvR 1846/07, 1853/07, 2 BvQ 32/07, 33/07, NVwZ 2008, 69; BVerwG v. 28.10.2004 – 2 C 23/03, BVerwGE 122, 147 (150); v. 17.8.2005 – 2 C 37/04, BVerwGE 124, 99 (102). 72 BVerfG v. 2.4.1996 – 2 BvR 169/93, NVwZ 1997, 54 (55); BVerwG v. 28.10.2004 – 2 C 23/03, BVerwGE 122, 147 (150); v. 17.8.2005 – 2 C 37/04, BVerwGE 124, 99 (102). 73 BVerwG v. 28.10.2004 – 2 C 23/03, BVerwGE 122, 147 (153). Solche Erwägungen sind aber auf Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst nicht übertragbar. Denn deren Altersversorgung beruht auf Beiträgen zur Rentenversicherung und zur Zusatzversorgung (VBL), zu denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gleichen Anteilen Beiträge leisten. Daher spielen Altersgrenzen für Arbeitnehmer in der Praxis auch keine Rolle.

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§ 2 Rz. 2.36

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

tigt nicht, von einem Leistungsvergleich zwischen ihnen abzusehen74. Demzufolge steht die Beförderung des Inhabers eines höherwertigen Dienstpostens ohne Bewerberauswahl allenfalls dann mit Art. 33 Abs. 2 GG in Einklang, wenn der Beförderungsdienstposten seinerseits zuvor aufgrund einer Bewerberauswahl in Anwendung des Leistungsgrundsatzes vergeben worden ist. Nur wenn den Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG bereits bei der Besetzung des Dienstpostens genügt worden ist, kann der ausgewählte Beamte oder Arbeitnehmer nach erfolgreichem Abschluss einer Bewährungszeit ohne nochmalige Bewerberauswahl befördert oder höher gruppiert werden75. c) Umsetzungs-/Versetzungsbewerber

2.37 Art. 33 Abs. 2 GG ist auch in den Fällen anzuwenden, wenn mit der Stellenbesetzung für den Bewerber keine höhere Vergütung verbunden ist, allerdings nur dann, wenn der Versetzungsbewerber nach öffentlicher Ausschreibung vom Dienstherrn ohne Einschränkung am Auswahlverfahren beteiligt wird76, was eine unbeschränkte Ausschreibung der Stelle voraussetzt. Denn aus der Organisationsfreiheit des Dienstherrn folgt sein Recht, zwischen Umsetzung, Versetzung und Beförderung zu wählen. Die Ausübung dieses Rechts steht im pflichtgemäßen Ermessen des Dienstherrn77 (s. auch Rz. 12.6). Das BAG hat zu dieser Frage ursprünglich eine andere Auffassung vertreten, nämlich die, dass die Grundsätze des Art. 33 Abs. 2 GG einschränkungslos auch dann anzuwenden sind, wenn der Bewerber bereits die Vergütung erhält, die mit der zu besetzenden Stelle verbunden ist78. Nachdem das BVerwG allerdings moniert hatte, dass das BAG von der Rechtsprechung des BVerwG abgewichen ist, ohne das nach § 10 RSpEinhG iVm. § 11 Abs. 2 VwGO gebotene Verfahren eingeleitet zu haben79, hat das BAG seine Rechtsprechung geändert und sich der Rechtsprechung des BVerwG angeschlossen80.

2.38 Entschließt sich der Dienstherr im Rahmen seines Organisationsermessens für ein Auswahlverfahren, an dem sowohl Beförderungsbewerber als auch „reine“ Umsetzungs- oder Versetzungsbewerber unterschiedslos teilnehmen dürfen, beschränkt er durch diese „Organisationsgrundentscheidung“ seine Freiheit, die Stellen durch Versetzungen oder Umsetzungen zu besetzen, und ist aus Gründen der Gleichbehandlung gehalten, die sich aus Art. 33 Abs. 2 GG ergebenden Auswahlkriterien nicht nur auf die Beförderungsbewerber, sondern auf sämtliche Bewerber anzuwenden. Ein unter den Bedingungen des Art. 33 Abs. 2 GG in Gang gesetztes Auswahlverfahren darf nachträglichen Einschränkungen nur aus Gründen unterworfen wer-

74 BVerwG v. 17.8.2005 – 2 C 37.04, BVerwGE 124, 99 (103). 75 BVerwG v. 16.8.2001 – 2 A 3.00, BVerwGE 115, 58 (60); v. 17.8.2005 – 2 C 37.04, BVerwGE 124, 99 (103). 76 BVerwG v. 26.1.1994 – 6 P 21.92, BVerwGE 95, 73, 84; Hessischer VGH v. 23.4.1996 – 1 TG 298/96, NVwZ-RR 1998, 121; BAG v. 12.4.2016 – 9 AZR 673/14, BAGE 155, 29 = NZA 2016, 1279; v. 17.10.2017 – 9 AZR 192/17, BAGE 160, 280 = NZA 2018, 174 = AP TzBfG § 9 Nr. 9. 77 BVerfG v. 28.2.2007 – 2 BvR 2494/06, ZBR 2008, 94 (95); st. Rspr. des BVerwG, s. zB BVerwG v. 25.11.2004 – 2 C 17.03, BVerwGE 122, 237 (240); v. 26.1.2012 – 2 A 7.09, BVerwGE 141, 361 = NVwZ 2012, 1477; BAG v. 12.4.2016 – 9 AZR 673/14, BAGE 155, 29 = NZA 2016, 1279. 78 BAG v. 11.8.1998 – 9 AZR 155/97, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 45 = NZA 1999, 767; v. 5.11.2002 – 9 AZR 451/01, BAGE 103, 212 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 57 = NZA 2003, 798. 79 BVerwG v. 25.11.2004 – 2 C 17.03, BVerwGE 122, 237 (240). 80 BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 492/06, BAGE 121, 67 = AP ZPO 1997 § 233 Nr. 83 = NZA 2007, 1450 = NJW 2007, 3742.

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.39 § 2

den, die den Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG gerecht werden81. Solche Anforderungen müssen wie Art. 33 Abs. 2 GG Verfassungsrang haben82. Hierzu gehört zB die Infragestellung der Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. Ein verstärkter Personalbedarf bei einer einzelnen Dienststelle stellt die Funktionsfähigkeit des Verwaltungsbereichs in aller Regel jedoch nicht in Frage83, womit der häufigste Grund für eine Abordnung oder Versetzung bzw. deren Ablehnung ausgeschlossen ist. Dies hat zur Folge, dass dem Bewerbungsverfahrensanspruch des Versetzungsbewerbers keine dienstlichen Interessen des Arbeitgebers im Hinblick auf eine Unabkömmlichkeit vom bisherigen Dienstposten entgegengehalten werden kann (negatives Versetzungsermessen). Denn mit der Zulassung von Versetzungsbewerbern zu einem Auswahlverfahren hat der Arbeitgeber seine Organisationsfreiheit beschränkt, so dass auch Versetzungsbewerber am Leistungsgrundsatz zu messen sind84. d) Grundlagen der Bewerberbewertung Eine Auswahl nach den Kriterien von Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung setzt als Entscheidungsgrundlage eine Bewertung der Bewerber im Hinblick auf ihre Eignung für die zu besetzende Stelle voraus. Diese kann durch dienstliche Beurteilungen85, Zeugnisse86 oder aktuelle Leistungsberichte vorgenommen werden (ausführlich zur dienstlichen Beurteilung vgl. § 10). Nur auf dieser Grundlage ist es dem Arbeitgeber möglich, eine Auswahlentscheidung zu treffen, die den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG gerecht wird. Der Leistungsvergleich unter den konkurrierenden Bewerbern muss aber nicht über dienstliche Beurteilungen erfolgen, es sei denn, dass die Erstellung dienstlicher Beurteilungen verfahrensmäßig vorgeschrieben ist87. Die Bestenauslese und Chancengleichheit sämtlicher Be81 BVerfG v. 28.2.2007 – 2 BvR 2494/06, ZBR 2008, 94 (95); BVerwG v. 25.11.2004 – 2 C 17.03, BVerwGE 122, 237 (242); v. 26.1.2012 – 2 C 7.09, BVerwGE 141, 361 = NVwZ 2012, 1477 (1479, Rz. 32). 82 BVerfG v. 8.10.2007 – 2 BvR 1846/07, 1853/07, 2 BvQ 32/07, 33/07, NVwZ 2008, 69; BVerwG v. 25.11.2004 – 2 C 17.03, BVerwGE 122, 147 (150); v. 17.8.2005 – 2 C 37.04, BVerwGE 124, 99 (102). 83 BVerwG v. 25.11.2004 – 2 C 17.03, BVerwGE 122, 237 (243). 84 BVerfG v. 28.2.2007 – 2 BvR 2494/06, ZBR 2008, 94 (95); BVerwG v. 25.11.2004 – 2 C 17.03, BVerwGE 122, 237 (243). 85 Allgemein zur gerichtlichen Überprüfung dienstlicher Beurteilungen (von Beamten) BVerfG v. 29.5.2002 – 2 BvR 723/99, NJW 2003, 127 = ZTR 2002, 451. Werden Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst „dienstlich beurteilt“ und sind sie mit dieser Beurteilung nicht einverstanden, haben sie beim Vorliegen von Beurteilungsfehlern einen Anspruch auf Neuvornahme der Beurteilung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts analog der arbeitsrechtlichen Konkurrentenklage, BAG v. 24.1.2007 – 4 AZR 629/06, AP BAG § 2 SR 2l Nr. 20; v. 18.8.2009 – 9 AZR 617/08, ArbRB 2010, 3 = NZA 2010, 115, oder auf Entfernung aus der Personalakte, BAG v. 18.11.2008 – 9 AZR 865/07, ArbRB 2009, 135 = NZA 2009, 206. 86 Zur Notwendigkeit der Vorlage eines Arbeitszeugnisses bei externen Bewerbern aus der Privatwirtschaft vgl. Hessischer VGH v. 26.11.2008 – 1 B 1870/08, LKRZ 2009, 110. 87 Bei Beamten ist dies regelmäßig der Fall. Für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes gibt es das Instrument der dienstlichen Beurteilung nicht. Die „dienstliche Beurteilung“ eines Arbeitnehmers kommt daher nur in Betracht, wenn sie etwa durch Auswahlrichtlinien des öffentlichen Arbeitgebers vorgeschrieben ist. In einem solchen Fall sind die für die dienstliche Beurteilung für Beamte entwickelten Grundsätze auch auf Angestellte anwendbar, BAG v. 24.1.2007 – 4 AZR 629/06, BAGE 121, 91 = NZA-RR 2007, 608. Fehlt es an einer dienstlichen Beurteilung eines Beamten zum Zeitpunkt der Auswahlentscheidung, so ist der Dienstherr an der beabsichtigten Auswahlentscheidung dennoch nicht gehindert. Er ist jedoch verpflichtet, die eignungs-, leistungs- und befähigungsrelevanten Merkmale des Bewerbers zu ermitteln; auch dabei ist – wie bei der dienstlichen Beurteilung

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99

2.39

§ 2 Rz. 2.39

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

werber verlangen allerdings ein Mindestmaß an verfahrensrechtlichen Vorkehrungen. Dazu gehören für die Bewertung der Leistungen ein einheitlicher Bewertungsmaßstab sowie ein möglichst gemeinsamer Stichtag für die Durchführung der Bewertung88. Ferner muss der Leistungsvergleich zeitnah zur Auswahlentscheidung erfolgen, so dass noch eine sachgerechte Prognoseentscheidung, wer von den Bewerbern für die künftigen Aufgaben am besten geeignet sein wird, getroffen werden kann89.

2.40 Im Rahmen seines Auswahlermessens darf der öffentliche Arbeitgeber nach eigenem Ermessen das durchzuführende Auswahlverfahren ausgestalten. Dazu gehört auch das Recht zur Vorauswahl, wodurch der Teilnehmerkreis für die Endauswahl begrenzt wird. Dies gilt jedoch nur, wenn auch für die Vorauswahl eignungsbezogene Kriterien zugrunde gelegt werden90. e) Grenzen des Auswahlermessens des Dienstherrn

2.41 Aus der Organisationsfreiheit des Dienstherrn folgt sein Recht, auf die Schaffung von Planstellen durch den Haushaltsgesetzgeber hinzuwirken und diese zu besetzen; hieraus erwachsen einem Stellenbewerber keine einklagbaren individuellen Rechte. Vielmehr dient die Schaffung und Besetzung von Planstellen des öffentlichen Dienstes allein dem öffentlichen Interesse an einer bestmöglichen Erfüllung der öffentlichen Aufgaben91. Die gleiche Dispositionsfreiheit (Ermessen) kommt dem Dienstherrn bzw. öffentlichen Arbeitgeber im Rahmen der Stellenbewirtschaftung zu. Dazu gehört insbesondere die Bewertung von Dienstposten,

88 89

90 91

– die originäre, durch die Gerichte nicht ersetzbare Beurteilungskompetenz des Dienstherrn zu beachten (BVerwG v. 21.8.2003 – 2 C 14/02, BVerwGE 118, 370 (378)). Vgl. auch Hessischer VGH v. 26.11.2008 – 1 B 1870/08, LKRZ 2009, 110. Auch Vorstellungsgespräche kommen als Entscheidungsgrundlage, sei es in Ergänzung zu vorliegenden dienstlichen Beurteilungen (so BAG v. 7.9.2004 – 9 AZR 537/03, BAGE 112, 13 = AP GG Art. 33 Nr. 61 = NZA 2005, 879, 881), sei es mangels vorliegender dienstlicher Beurteilungen (so LAG Niedersachsen v. 26.11.2014 – 2 Sa 924/14, NZA-RR 2015, 159 (162)) in Betracht. Allerdings gelten hier strenge Regeln zur Gewährleistung der Gleichbehandlung der Bewerber (neben der Aufstellung eines schriftlichen Anforderungsprofils ein einheitlich gehandhabter Fragen- und Bewertungsbogen, zwingende Beiziehung der Personalakten der Bewerber, Protokollierung des Vorstellungsgespräches). BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, BAGE 104, 295 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 59; BVerfG v. 9.8.2016 – 2 BvR 1287/16, NVwZ 2017, 46; BVerwG v. 18.7.2001 – 2 C 41.00, DRiZ 2003, 49. BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, BAGE 104, 295 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 59; v. 7.9.2004 – 9 AZR 537/03, BAGE 112, 13 = AP GG Art. 33 Nr. 61 = NZA 2005, 879; v. 14.8.2007 – 9 AZR 1086/06, PersR 2008, 158. Das BAG hat den Aktualitätsbezug bisher dahin konkretisiert, dass eine Regelbeurteilung aus dem Vorjahr ausreicht. In seiner Entscheidung vom 14.8.2007 hat es Eignungsfeststellungen, die achtzehn Monate zurücklagen, noch als aktuell bezeichnet. Vgl. aber Hessischer VGH v. 28.3.2006 – 1 UE 981/05, ZBR, 2007, 271 = NVwZ-RR 2007, 42 („Der für die Auswahlentscheidung erforderliche aktuelle Leistungsvergleich setzt voraus, dass der der letzten Beurteilung zugrunde liegende Beurteilungszeitraum nicht länger als zwölf Monate zurückliegt“; gemeint ist: „vor der Auswahlentscheidung“.); ähnlich Niedersächsisches OVG v. 14.1.2008 – 5 ME 317/07, juris. Andere Oberverwaltungsgerichte stellen weniger strenge Anforderungen an das Aktualitätsgebot (VGH Baden-Württemberg, NVwZ-RR 2004, 120; OVG Koblenz, ZBR 1994, 83; Bayerischer VGH, BayVBl. 2004, 664; OVG Nordrhein-Westfalen, NVwZ-RR 2003, 373). BAG v. 14.8.2007 – 9 AZR 1086/06, PersR 2008, 158 (160). BVerwG v. 25.4.1996 – 2 C 21/95, BVerwGE 101, 112 (114); dieser Rechtsprechung hat sich das BAG angeschlossen (s. BAG v. 24.1.2007 – 4 AZR 629/06, BAGE 121, 91 = NZA-RR 2007, 608).

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.41b § 2

also ihre Zuordnung zu statusrechtlichen Ämtern einer Besoldungsgruppe oder Stellen einer bestimmten Vergütungsgruppe92. Nach der Novellierung des § 18 BBesG und der entsprechenden Regelungen der Landesbesol- 2.41a dungsgesetze hat das Erfordernis einer Dienstpostenbewertung als Voraussetzung für eine rechtmäßige Auswahlentscheidung an Bedeutung verloren. Denn nunmehr ist es zulässig, dass eine Funktion bis zu drei Ämtern einer Laufbahngruppe zugeordnet wird (sog. Dienstpostenbündelung). Das BVerfG93 hat diese Regelung unter bestimmten Voraussetzungen für verfassungsmäßig erachtet und dabei auch auf den Zusammenhang mit der Leistungsbewertung, die möglich bleiben muss, hingewiesen. Als Ausdruck der Organisationsfreiheit sieht das LAG Hamm94 die Entscheidung des Dienst- 2.41b herrn an, eine Stelle nur befristet zu besetzen. Die „Befristungsfähigkeit“ eines Bewerbers soll zudem ein Eignungskriterium sein und zur Folge haben, dass der Bewerber seine Befristungsfähigkeit gegenüber dem Arbeitgeber darzulegen hat. Das Problem stellt sich in den Fällen, in denen es um die Besetzung einer befristeten Stelle mit sachgrundloser Befristungsmöglichkeit, aber mit Höchstbefristungsdauer geht. Betroffen sind hier Bewerber, die zum Bewerbungszeitpunkt die Höchstbefristungsdauer bereits erreicht haben. Das LAG Hamm verkennt hierbei, dass die verbindliche Einrichtung nur befristet besetzbarer Stellen allein dem Haushaltsgesetzgeber vorbehalten ist, nicht jedoch der Exekutive. Die gesetzlichen Bestimmungen, die die Befristung von Arbeitsverhältnissen zulassen, sind arbeitsrechtliche (Schutz-) Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer, jedoch keine Ermächtigung des Arbeitgebers zu organisatorischen Regelungen. Sie setzen daher eine haushaltsrechtliche Festlegung für eine nur befristete Stellenbesetzung voraus. Fehlt es hieran, findet Art. 33 Abs. 2 GG mit der Folge uneingeschränkte Anwendung, dass die Befristbarkeit der Stellenbesetzung in der Person des Bewerbers jedenfalls kein Eignungskriterium ist. Der Fall löst sich über die Vertragsabschlussfreiheit des Arbeitgebers (zu deren Grenzen vgl. Rz. 2.28–2.36) und die Beantwortung der Frage, ob dieser rechtlich gezwungen werden kann, einen Arbeitnehmer auf einer befristeten Stelle einzustellen, der nur noch unbefristet beschäftigt werden kann. Erst wenn sich der Dienstherr zur Besetzung einer Stelle entschließt, wofür ihm ebenfalls ein Ermessen zusteht, unterliegt er den Bindungen des Art. 33 Abs. 2 GG95. Ebenso folgt aus der Organisationsfreiheit des Dienstherrn das Recht, zwischen Umsetzung, Versetzung und Beförderung zu wählen. Die Ausübung dieses Rechts steht im pflichtgemäßen Ermessen des Dienstherrn (s. auch Rz. 2.37)96. 92 BVerwG v. 25.4.1996 – 2 C 21/95, BVerwGE 101, 112 (114). Dies gilt allerdings nicht für die Aufstellung des Anforderungsprofils der zu besetzenden Stelle (s. Rz. 2.57). Die Bedeutung der Dienstpostenbewertung gem. § 18 BBesG als Voraussetzung für eine rechtmäßige Auswahlentscheidung zur Besetzung von Beamtenstellen betont das BVerwG v. 30.6.2011 – 2 C 19/10, BVerwGE 140, 83 = ZTR 2011, 636 = NVwZ 2011, 1270 m. Anm. von v. Roetteken, jurisRR-ArbR 4/2012 Anm. 5. 93 BVerfG v. 16.12.2015 – 2 BvR 1958/13, BVerfGE 141, 56 = NVwZ 2016, 682. 94 LAG Hamm v. 9.10.2008 – 17 Sa 927/08, LAGE § 1 WissZeitVG Nr. 1. 95 BVerwG v. 25.4.1996 – 2 C 21/95, BVerwGE 101, 112 (114). Die vom BVerwG ebenfalls vertretene Auffassung, dass die Durchführung einer Stellenausschreibung den Dienstherrn nicht zwinge, den Dienstposten mit einem Auswahlbewerber zu besetzen, dürfte nach der Entscheidung des BVerfG v. 28.2.2007 – 2 BvR 2494/06, ZBR 2008, 94, so nicht mehr aufrechterhalten werden können. Denn das BVerfG hat aus der besonderen Verfahrensabhängigkeit des Bewerbungsverfahrensanspruches abgeleitet, dass die konkrete Stellenausschreibung nicht nur als bloße Probe-Ausschreibung zur Sichtung von Bewerbern verwendet werden dürfe. 96 BVerwG v. 25.11.2004 – 2 C 17/03, BVerwGE 122, 237 (240) mwN.

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101

§ 2 Rz. 2.42

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

2.42 Bei der Feststellung der Qualifikation eines Bewerbers nach den Kriterien des Art. 33 Abs. 2 GG steht dem öffentlichen Arbeitgeber ein weiter Beurteilungsspielraum97 zu. Die gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle hat sich darauf zu beschränken, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat oder ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat98. Ist das der Fall, können die Gerichte die angegriffene Entscheidung nicht durch eine eigene Beurteilung ersetzen99. In diesem Rahmen unterliegt die Gewichtung der einzelnen Qualifikationsmerkmale dem Beurteilungsspielraum des Arbeitgebers. Es liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen, welchen einzelnen sachlichen Umständen bei der Auswahlentscheidung eine größere Bedeutung beigemessen wird und in welcher Weise der Grundsatz des gleichen Zugangs zu jedem öffentlichen Amt verwirklicht werden soll, sofern nicht das Prinzip selbst in Frage gestellt wird. Eine Selbstbindung des Dienstherrn durch rechtmäßige Verwaltungsvorschriften ist zulässig; die Verwaltungsvorschriften binden dann auch den Dienstherrn gegenüber dem Bewerber. Dieser hat einen Anspruch darauf, innerhalb einer so gesteuerten Einstellungspraxis gleichmäßig nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung berücksichtigt zu werden100.

2.43 Maßgeblicher Zeitpunkt für die – eingeschränkte – Rechtskontrolle der Auswahlentscheidung des Dienstherrn durch das Gericht ist der Zeitpunkt der Auswahlentscheidung101.

2.44 Die strenge Bindung an das Leistungsprinzip als Grundlage für eine Eignungsauswahl beschränkt das Ermessen des Dienstherrn bei der Auswahl von Hilfskriterien (s. Rz. 2.28 ff.). So sind ältere Beurteilungen als Erkenntnisquelle, die über Eignung, Befähigung und fachliche Leistung Aufschluss geben, vor Hilfskriterien heranzuziehen102. Dies wird ungeachtet des Ge-

97 In der Verwaltungsrechtslehre wird zwischen Ermessen und Beurteilungsspielraum unterschieden. Die Einräumung von Ermessen durch eine Rechtsnorm stellt eine Handlungsermächtigung an die Verwaltung dar, die die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale der betreffenden Rechtsnorm voraussetzt. Liegen diese vor, bewirkt das der Verwaltung eingeräumte Ermessen, dass sie entscheiden darf, ob sie die Rechtsfolge eintreten lassen will oder nicht. Der Beurteilungsspielraum, der der Verwaltung eingeräumt wird, bezieht sich dagegen auf sog. unbestimmte Rechtsbegriffe, die es sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenseite einer Rechtsnorm geben kann. Die Einräumung eines Beurteilungsspielraums durch die Rechtsprechung bezieht sich in der Regel auf komplexe Regelungsmaterien, bei denen der Verwaltung die größere Sachkunde zuerkannt wird, und beschränkt die sog. richterliche Kontrolldichte (vgl. Hoffmann-Riem in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts I, 2006, § 10 Rz. 83 ff. (90 ff.) mit zahlreichen Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur). 98 BAG v. 7.9.2004 – 9 AZR 537/03, BAGE 112, 13 = AP GG Art. 33 Nr. 61 = NZA 2005, 879; v. 19.2.2008 – 9 AZR 70/07, NZA 2008, 1016; BVerwG v. 19.12.2002 – 2 C 31/01, NVwZ 2003, 1398 = ZBR 2003, 359. 99 BVerfG v. 29.5.2002 – 2 BvR 723/99, NJW 2003, 127 = NVwZ 2002, 1368, speziell für die dienstliche Beurteilung; BAG v. 5.3.1996 – 1 AZR 590/92 (A), AP GG Art. 3 Nr. 226 = NZA 1996, 751 = NJW 1996, 2529 = BAGE 82, 211; v. 21.1.2003 – 9 AZR 307/02, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 60; v. 19.2.2003 – 7 AZR 67/02, ArbRB 2003, 208 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 58; v. 7.9.2004 – 9 AZR 537/03, BAGE 112, 13 = AP GG Art. 33 Nr. 61 = NZA 2005, 879. 100 BAG v. 19.2.2003 – 7 AZR 67/02, ArbRB 2003, 208 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 58. 101 BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 226/05, AP BAT-O § 24 Nr. 6; v. 19.2.2008 – 9 AZR 70/07, NZA 2008, 1016. 102 BVerwG v. 19.12.2002 – 2 C 31/01, NVwZ 2003, 1398 = ZBR 2003, 359; v. 27.2.2003 – 2 C 16/02, NVwZ 2003, 1397 = ZBR 2003, 420; v. 21.8.2003 – 2 C 14/02, BVerwGE 118, 370 (377).

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.46a § 2

botes, den Leistungsvergleich auf eine aktuelle Beurteilung zu stützen, damit begründet, dass ältere Beurteilungen bei einem Vergleich von Bewerbern bedeutsame Rückschlüsse und Prognosen über die künftige Bewährung in einem Beförderungsamt ermöglichen. Das kommt namentlich dann in Betracht, wenn frühere Beurteilungen positive oder negative Aussagen über Charaktereigenschaften, Kenntnisse, Fähigkeiten, Verwendungen und Leistungen sowie deren voraussichtliche weitere Entwicklung enthalten. Derartige Äußerungen, insbesondere über erkennbare positive oder negative Entwicklungstendenzen, können vor allem bei gleichwertigen aktuellen Beurteilungen von Bewerbern den Ausschlag geben103. Eine Einschränkung des Auswahlermessens des Dienstherrn bzw. öffentlichen Arbeitgebers ergibt sich aus den Gleichstellungsgesetzen von Bund und Ländern bezüglich des Vorrangs von Frauen bei gleicher Eignung mit einem männlichen Mitbewerber sowie hinsichtlich der bevorzugten Berücksichtigung von Schwerbehinderten bei gleicher Eignung mit nicht behinderten Mitbewerbern (Rz. 2.28 und 2.32).

2.45

Wird die Auswahlentscheidung in Verwaltungsbereichen und bei der Besetzung von Stellen getroffen, in denen zum Anforderungsprofil der Stelle eine besondere Sach- und Fachkunde gehört, ist eine entsprechende Sach- und Fachkunde von denjenigen Personen zu fordern, die an der Auswahlentscheidung beteiligt sind104.

2.45a

Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte hat inzwischen ungeachtet des anerkannten Beurteilungsspielraums des Dienstherrn hohe Anforderungen an eine einwandfreie Auswahlentscheidung herausgearbeitet. Mit dem Kriterium des „Gebotes rationaler Abwägung“ und dem Anspruch, effektiven Rechtsschutz gewähren zu wollen, wird eine minutiöse schriftliche Darlegung der maßgeblichen Auswahlgründe durch den Dienstherrn verlangt (zur „Dokumentationspflicht“ Rz. 2.64). Dabei spielt der Akteninhalt, insbesondere die sog. Auswahlakte, eine maßgebliche Rolle, die vor allem daraufhin überprüft wird, ob sie alles enthält, was von der Rechtsprechung für eine fehlerfreie Auswahlentscheidung verlangt wird, und ob das, was in der Akte enthalten ist, den Anforderungen genügt. Andere Oberverwaltungsgerichte sind bei der Handhabung der Anforderungen aus Art. 33 Abs. 2 GG weniger streng. Das BAG bewegt sich auf einer mittleren Linie, versucht seine Rechtsprechung aber an die des BVerfG und des BVerwG anzupassen. Das BVerfG und das BVerwG haben ihre Rechtsprechung eher an dem vom Hessischen VGH entwickelten strengen Maßstab orientiert105.

2.46

Checkliste für eine rechtmäßige Auswahlentscheidung:

2.46a

l Ist eine besetzbare Planstelle vorhanden? l Aufstellung eines Anforderungsprofils der zu besetzenden Stelle l Verpflichtung zur Stellenausschreibung, gegebenenfalls zur öffentlichen Ausschreibung

103 BVerwG v. 19.12.2002 – 2 C 31/01, NVwZ 2003, 1398 = ZBR 2003, 359; v. 27.2.2003 – 2 C 16/02, NVwZ 2003, 1397 = ZBR 2003, 420; v. 21.8.2003 – 2 C 14/02, BVerwGE 118, 370 (377). 104 LAG Niedersachsen v. 26.11.2014 – 2 Sa 924/14, NZA-RR 2015, 159, 163. 105 Als Warnschuss an den Hessischen VGH, von seiner bisherigen Linie nicht abzuweichen, kann der Kammerbeschluss des BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178 = ZTR 2007, 707, aufgefasst werden, mit dem eine Eilentscheidung des Hessischen VGH mit der Begründung aufgehoben wurde, seine Rechtsprechung, wonach Auswahlerwägungen auch erstmals im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens dargelegt werden dürften, sei mit Art. 33 Abs. 2 GG unvereinbar.

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§ 2 Rz. 2.46a

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

l Ausschreibung ohne Verletzung des AGG l Sichtung der fristgerecht eingegangenen Bewerbungen l Vorauswahl unter den Bewerbern mit Dokumentation der Gründe, warum Bewerber vom weiteren Verfahren ausgeschlossen werden l Einholung dienstlicher Beurteilungen, Zeugnisse oder aktueller Leistungsberichte über die Bewerber l Anforderungen an die Auswahlentscheidung l Überprüfung der Erfüllung der Kriterien des Anforderungsprofils l Ggf. Gewichtung der Kriterien des Anforderungsprofils l Wertender Vergleich zwischen den Bewerbern bzgl. Erfüllung der Kriterien des Anforderungsprofils unter Einbeziehung der dienstlichen Beurteilungen, Zeugnisse oder aktueller Leistungsberichte und dessen schriftliche Niederlegung (Dokumentation) l Erstellung eines schriftlichen Auswahlberichts über sämtliche Stufen des Auswahlverfahrens mit Entscheidungsvorschlag und dessen Begründung l Auswahlentscheidung des Dienststellenleiters oder seines Vertreters im Amt auf der Grundlage des Auswahlberichts mit kurzer Begründung l Information der unterlegenen Bewerber über das Ergebnis des Auswahlverfahrens unter Offenlegung der wesentlichen Entscheidungsgründe l Abwarten von zwei Wochen, ob der unterlegene Bewerber mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die Auswahlentscheidung vorgeht l Weiteres Zuwarten nach letztinstanzlicher Entscheidung im Eilverfahren, ob der unterlegene Bewerber Verfassungsbeschwerde einlegt l Abbruch des Verfahrens und Neuausschreibung der Stelle, falls im gerichtlichen Verfahren Fehler des Auswahlverfahrens festgestellt werden. f) Bindung an die Rechtsauffassung des Gerichts bei Wiederholungsentscheidung des Dienstherrn

2.47 Dem nicht ausgewählten Bewerber steht ein Anspruch auf eine erneute Auswahlentscheidung und Beurteilung seiner Bewerbung zu, wenn sich die getroffene Auswahlentscheidung als rechtsfehlerhaft erweist und die ausgeschriebene Beförderungsstelle noch nicht besetzt ist. Bei dieser erneut zu treffenden Auswahlentscheidung ist der Arbeitgeber an die Rechtsauffassung des Gerichtes gebunden, so dass er verpflichtet ist, die vom Gericht festgestellten Auswahlfehler zu unterlassen106. Dies ergibt sich für Verwaltungsprozesse aus § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO. Der Zivilprozess und das arbeitsgerichtliche Verfahren kennen aber keine entsprechende Rechtsnorm. Das BAG hat seine Lehre von der Bindung an die Rechtsauffassung

106 BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 668/96, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 41; v. 5.11.2002 – 9 AZR 451/01, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 57; v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 59.

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.48 § 2

des Gerichts bei der Konkurrentenklage nicht näher begründet107. Vom Ergebnis her ist sie jedoch zu begrüßen. Die dogmatische Ableitung macht aber Schwierigkeiten108. g) „Erschöpfung“ und „Verwirkung“ des Bewerbungsverfahrensanspruches Mit der endgültigen Besetzung einer Stelle kann vom übergangenen Bewerber keine neue Auswahlentscheidung wegen Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Auswahlentscheidung mehr verlangt werden. Der Bewerbungsverfahrensanspruch geht mit der endgültigen Besetzung der streitbefangenen Stelle unter, er „erschöpft“ sich109. Ein Rechtsstreit zur Durchsetzung des Bewerbungsverfahrensanspruches des unterlegenen Bewerbers erledigt sich in der Hauptsache110, weil Beförderung und Besetzung der Stelle nicht mehr rückgängig gemacht werden dürfen. Dies ergibt sich bei Beamten unmittelbar aus den beamtenrechtlichen Bestimmungen über die Ernennung, die nämlich auch im Falle ihrer Rechtswidrigkeit – etwa wegen Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruches des unterlegenen Mitkonkurrenten – rechtswirksam bleibt und nicht angefochten werden kann111. Den Grundsatz der Ämterstabilität hat das 107 Die Verurteilung zur Erstellung einer neuen dienstlichen Beurteilung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts hat das BAG mit der Begründung für zulässig erachtet, dass der Arbeitgeber verpflichtet sei, die vom Gericht festgestellten Fehler zu unterlassen. Der dem Arbeitnehmer zustehende – materiell-rechtliche – Anspruch auf fehlerfreie Beurteilung sei erst dann erfüllt, wenn die gesamte dienstliche Beurteilung rechtlich nicht zu beanstanden sei (BAG v. 18.8.2009 – 9 AZR 617/08, ArbRB 2010, 3 = NZA 2010, 119). 108 Das vom BAG erzielte Ergebnis kann nicht mit der Rechtskraft der vorangegangenen gerichtlichen Entscheidung begründet werden. Denn in Rechtskraft erwächst die Entscheidung über den Streitgegenstand (vgl. statt vieler Zöller/Vollkommer, vor § 322 ZPO Rz. 31). Dieser wird aber durch den Anspruch des Klägers auf Wiederholung der Entscheidung über seine Bewerbung bestimmt. Hingegen betreffen die in der gerichtlichen Entscheidung getroffenen konkreten Feststellungen zur Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruchs lediglich Vorfragen, die bekanntlich nicht zum Streitgegenstand gehören (Zöller/Vollkommer, vor § 322 ZPO Rz. 34), so dass gerichtliche Entscheidungen insoweit nicht in Rechtskraft erwachsen. Will der Kläger eine Bindung des Dienstherrn an die gerichtliche Entscheidung über die Gründe, warum die Auswahlentscheidung rechtswidrig war, erreichen, so muss er dies ausdrücklich – etwa in Form eines entsprechenden Feststellungsantrags – mit beantragen. Denn materiell-rechtlich dürfte die Bindung an die Rechtsauffassung des Gerichts ohne weiteres aus dem Bewerbungsverfahrensanspruch herleitbar sein. Dasselbe Ergebnis lässt sich über eine Zwischenfeststellungsklage gem. § 256 Abs. 2 ZPO erzielen (vgl. BAG v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, MDR 2008, 576). 109 BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56 = NZA 2003, 324 = ZTR 2003, 146; v. 27.7.2005 – 7 AZR 508/04, BAGE 115, 296 = NZA 2005, 1243 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 63; v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, BAGE 124, 80 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 64; v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, NZA 2009, 901 = ZTR 2009, 502. 110 BVerwG v. 21.8.2003 – 2 C 14.02, BVerwGE 118, 370; st. Rspr. Dem folgt auch das BVerfG in st. Rspr.; vgl. BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178 = ZTR 2007, 707. 111 Grundsatz der Ämterstabilität. Vgl. §§ 11 und 12 BeamtStG, §§ 12 bis 15 BBG, die so ausgelegt werden, dass nur die dort genannten Nichtigkeitsgründe bzw. Gründe für die Rücknahme einer Ernennung zu einer Beendigung eines Beamtenverhältnisses führen können. Andere Gründe, die eine Beamtenernennung rechtswidrig machen können, sind in den genannten Bestimmungen nicht aufgezählt. Damit hat sich das BVerwG der Rechtsprechung des BAG (BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56 = NZA 2003, 324 = ZTR 2003, 146; v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, BAGE 124, 80 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 64; v. 12.10.2010 – 9 AZR 554/09, ArbRB 2011, 132 = NZA-RR 2011, 216 = AP Nr. 73 zu Art. 33 Abs. 2 GG) angeschlossen.

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2.48

§ 2 Rz. 2.48

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

BVerwG112 aus Gründen effektiver Rechtsschutzgewährung jedoch relativiert, wenn der Dienstherr den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz vereitelt hat. Vereitelung liegt vor bei Verletzung der Mitteilungspflicht über das Ergebnis des Auswahlverfahrens, bei Verletzung der Wartepflicht bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung im Eilverfahren sowie bei Verstoß gegen eine gerichtliche einstweilige Untersagungsanordnung. Das BVerwG löst die damit drohende Verletzung des sogenannten Planstellenprinzips (§ 28 Abs. 1 HGrG), die durch Doppelbesetzung der streitbefangenen Stelle droht, indem es in Fällen der hier besprochenen Art dem unterlegenen Bewerber zwecks Nachholung des vom Dienstherrn vereitelten Rechtsschutzes die Möglichkeit der Anfechtungsklage gegen die Ernennung des ausgewählten Bewerbers einräumt113. Bei Erfolg dieser Klage wird die Ernennung des ausgewählten Bewerbers durch das Gericht aufgehoben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

2.48a Das Prinzip der Ämterstabilität kennt das Arbeitsrecht nicht. Arbeitnehmer sind kündbar, versetzbar und umsetzbar. Dennoch vertritt das BAG in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass auch Stellen von Arbeitnehmern in der Weise besetzt werden können, dass dies zum Untergang des Bewerbungsverfahrensanspruches des unterlegenen Mitbewerbers führt114. Nach Auffassung des BAG ist ein öffentliches Amt dann besetzt, wenn dem ausgewählten Bewerber eine gesicherte Rechtsposition eingeräumt ist, die der Ausgestaltung des Amtes entspricht115, also durch Abschluss eines entsprechenden Arbeitsvertrages. Dies soll auch dann gelten, wenn die Auswahlentscheidung rechtswidrig war und der Bewerbungsverfahrensanspruch des unterlegenen Bewerbers dadurch verletzt worden ist. 112 BVerwG v. 4.11.2010 – 2 C 16/09, BVerwGE 138, 102 = NJW 2011, 695 = NVwZ 2011, 358. Schon vorher hat das BVerwG die Klage auf Neubescheidung über die Bewerbung trotz endgültiger Vergabe der Planstelle aus Gründen effektiver Rechtsschutzgewährung für zulässig erachtet und den Einwand aus dem Haushaltsrecht (Planstellenprinzip) mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass erforderlichenfalls eine weitere Planstelle zu schaffen sei (BVerwG v. 21.8.2003 – 2 C 14.02, BVerwGE 118, 370 (375)). Geht es um die Besetzung eines funktionsbezogenen Leitungsamtes (z.B. die Stelle des Präsidenten eines Oberlandesgerichtes) stößt dieser Ansatz jedoch an seine Grenze, sodass dem BVerwG nichts weiter übrig blieb, als die beamtenrechtliche Konkurrentenklage durch Anfechtung der Ernennung des ausgewählten Bewerbers grundsätzlich anzuerkennen. 113 Sog. echte beamtenrechtliche Konkurrentenklage; vgl. hierzu Schenke, NVwZ 2011, 321 mwN). Eine vergleichbare Möglichkeit gibt es nur im Insolvenzrecht (§§ 129 ff. InsO). 114 BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56 = NZA 2003, 324 = ZTR 2003, 146; v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, BAGE 124, 80 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 64; v. 12.10.2010 – 9 AZR 554/09, ArbRB 2011, 132 = NZA-RR 2011, 216 = AP Nr. 73 zu Art. 33 Abs. 2 GG. 115 Welcher Art diese Rechtsposition ist (vertraglicher Art oder nicht widerrufbare oder bindende Zusage des Dienstherrn), hat das BAG nicht näher dargelegt. Im konkreten Fall hat es unter anderem ausgeführt, dass die Übertragung der höherwertigen Tätigkeit auf den ausgewählten Bewerber nur noch im Rahmen billigen Ermessens nach § 315 BGB rückgängig gemacht werden könne; dies lässt auf eine einseitig bindende Zusage des Dienstherrn schließen, die aber doch – wenn auch nur eingeschränkt, nämlich im Rahmen billigen Ermessens – änderbar ist. Ergänzend hat das BAG darauf hingewiesen, dass der Dienstherr zusätzlich verpflichtet sei, dem ausgewählten Bewerber die höhere Vergütung einzuräumen. Dem könnte sich der Dienstherr nicht entziehen, ohne sich widersprüchlich zu verhalten (BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56 = NZA 2003, 324 = ZTR 2003, 146). An anderer Stelle spricht das BAG von vorvertraglichen Bindungen des Dienstherrn. Im Urteil vom 12.10.2010 – 9 AZR 554/09, ArbRB 2011, 132 = NZA-RR 2011, 216 = AP Nr. 73 zu Art. 33 Abs. 2 GG, wird die gesicherte Rechtsposition im Abschluss eines Vertrages mit dem ausgewählten Bewerber gesehen, der der ausgeschriebenen Stelle entsprach.

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.51 § 2

Bei seinen Überlegungen berücksichtigt das BAG nicht, dass die rechtlichen Beziehungen zwischen dem Dienstherrn und dem ausgewählten Bewerber schuldrechtlicher Art und daher nicht geeignet sind, die verfassungsrechtlichen Ansprüche des unterlegenen Bewerbers gegen den Dienstherrn aus Art. 33 Abs. 2 GG, also eines anderen Rechtsverhältnisses, im Falle einer rechtswidrigen Auswahlentscheidung in Frage zu stellen. Der grundlegende Unterschied zwischen einem Angestelltenarbeitsverhältnis und dem Beamtenverhältnis kommt hier zum Tragen; denn die Erledigung der Hauptsache nach Aushändigung einer beamtenrechtlichen Ernennungsurkunde ist eine beamtenrechtliche und keine arbeitsrechtliche Spezifik. Insofern ist die Situation mit derjenigen vergleichbar, in der der Arbeitgeber die durch Kündigung freigemachte Stelle vor rechtskräftigem Abschluss des Kündigungsschutzprozesses anderweit besetzt. Hier kann sich der Arbeitgeber auf die Tatsache der inzwischen besetzten Stelle gegenüber dem Wiedereinstellungsbegehren des gekündigten Arbeitnehmers nach gewonnenem Kündigungsschutzprozess nicht berufen. Dies gilt auch für den Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes116.

2.49

Soweit das BAG zusätzlich darauf abhebt, dass das öffentliche Interesse an einer effizienten Verwaltung sowie das Gebot der Herstellung praktischer Konkordanz mit dem Demokratieund Rechtsstaatsprinzip einer Realisierung des Bewerbungsverfahrensanspruches des unterlegenen Bewerbers entgegenstünden, ist darüber die Rechtsprechung des BVerwG und des BVerfG hinweggegangen117. Diese haben das öffentliche Interesse an der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung als Schranke des Art. 33 Abs. 2 GG nur für den Fall anerkannt, dass es um die Abwendung einer unmittelbar drohenden Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung geht; andere Formen der Gefährdung der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung können Art. 33 Abs. 2 GG nur auf gesetzlicher Grundlage einschränken118.

2.50

Nach Auffassung des BAG setzt eine Realisierung des Bewerbungsverfahrensanspruches des unterlegenen Bewerbers im Falle einer rechtswidrigen Auswahlentscheidung und nach endgültiger Besetzung der Stelle voraus, dass ein Anspruch darauf besteht, dass die fehlerhaft besetzte Stelle wieder „freigemacht“ wird. Allein wegen des Umstandes, dass die in Art. 33 Abs. 2 GG genannten Kriterien objektiv fehlerhaft angewandt worden sind, besteht nach Auffassung des BAG noch kein Anspruch darauf, eine Stellenbesetzung rückgängig zu machen. Ein Freimachen der Stelle komme nur in Betracht, wenn dem übergangenen Bewerber die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes genommen worden sei119. In allen anderen Fällen

2.51

116 Zusätzlich beruft sich das BAG auf haushaltsrechtliche Gründe: Es obliege allein dem Haushaltsgesetzgeber, wie viele Planstellen geschaffen werden; dies schließe eine Doppelbesetzung aus (BAG v. 12.10.2010 – 9 AZR 554/09, ArbRB 2011, 132 = NZA-RR 2011, 216 = AP Nr. 73 zu Art. 33 Abs. 2 GG). Aber dieses Argument hat schon das BVerwG (BVerwG v. 21.8.2003 – 2 C 14.02, BVerwGE 118, 370 (375)) nicht gelten lassen und ist auch dem vom BAG zugelassenen Ausnahmefall (Vereitelung des Rechtsschutzes) entgegenzuhalten, so dass dessen Überzeugungskraft stark geschwächt wird. Außerdem gilt aufgrund des § 3 Abs. 2 i.V.m. § 28 Abs. 2 HGrG der bekannte Grundsatz, dass Arbeitsrecht Haushaltsrecht bricht (im Ergebnis ebenso BAG v. 17.5.2017 – 7 AZR 420/15, BAGE 159, 125 = NZA 2017, 1600 = NJW 2017, 3737). 117 BVerfG v. 8.10.2007 – 2 BvR 1846/07, 1853/07, 2 BvQ 32/07, 33/07, NVwZ 2008, 69; BVerwGE 122, 147 (150); 124, 99 (102). 118 BVerfG v. 2.4.1996 – 2 BvR 169/93, NVwZ 1997, 54 (55); BVerwGE 122, 147 (150); 124, 99 (102). 119 BAG v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, BAGE 124, 80 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 64; v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, NZA 2009, 901 = ZTR 2009, 502; LAG Schleswig-Holstein v. 8.6.2016 – 3 Sa 9/16, NZA-RR 2017, 159 (Ls.) = öAT 2017, 16.

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§ 2 Rz. 2.51

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

würde ein Freimachen der Stelle dazu führen, dass der ausgewählte Bewerber auf eine andere Stelle gesetzt werden müsste, ohne dass zur Besetzung dieser Stelle die Kriterien des Art. 33 Abs. 2 GG beachtet wären120. Dieses Argument ist – auch nach der Rechtsprechung des BAG (s. Rz. 2.37 und 2.57 mwN) – unzutreffend, weil es sich um einen sogenannten Unterbringungsfall handelt. Beim Unterbringungsfall liegen zwingende dienstliche Gründe dafür vor, den Stelleninhaber auf eine andere Stelle umzusetzen bzw. zu versetzen. Von dieser Möglichkeit macht der Arbeitgeber stets in Ausübung seiner Organisationsgewalt Gebrauch (s. Rz. 2.37).

2.52 Das Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes, das vor allem in der Möglichkeit des unterlegenen Bewerbers besteht, in einem gerichtlichen (Eil-)Verfahren überprüfen zu lassen, ob er durch die Auswahlentscheidung in seinem Recht auf fehlerfreie Auswahl verletzt worden ist121, ist Ausprägung der Verfahrensabhängigkeit des Bewerbungsverfahrensanspruches (dazu Rz. 2.54), nicht aber dessen Voraussetzung oder Schranke. Tritt daher – richtigerweise – nach Besetzung der streitbefangenen Stelle mit einem Angestellten keine Erledigung der Hauptsache ein, dann geht der Bewerbungsverfahrensanspruch des unterlegenen Bewerbers auch nicht etwa deswegen unter, weil dieser vorher vergeblich um Eilrechtsschutz nachgesucht hatte. Auch wenn – wegen der Verfahrensabhängigkeit des Bewerbungsverfahrensanspruches – nach Auffassung des BVerfG die Auswahlentscheidung des Arbeitgebers im gerichtlichen Eilverfahren genauso umfassend nachgeprüft werden muss wie in einem Hauptsacheverfahren, bestehen dennoch substantielle Verfahrensunterschiede zwischen der einstweiligen Verfügung und dem Hauptsacheprozess; man denke nur an die Unterschiede beim Zeugenbeweis.

2.53 Der objektiv rechtswidrig handelnde öffentliche Arbeitgeber verdient daher keinen weitergehenden Schutz dagegen, vor den Folgen seines Tuns bewahrt zu werden, als der private Arbeitgeber. Immerhin gesteht das BAG dem unterlegenen Bewerber nach endgültiger Besetzung der Stelle einen Schadensersatzanspruch zu, so dass – auch nach Auffassung des BAG – die 120 BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56 = ZTR 2003, 146. Das BAG hat an seiner Rechtsprechung festgehalten (v. 19.2.2008 – 9 AZR 70/07, NZA 2008, 1016 (1018)), obwohl es seine Rechtsprechung, wonach sich auch sog. Versetzungsbewerber auf den Bewerbungsverfahrensanspruch aus Art. 33 Abs. 2 GG berufen dürfen, aufgegeben hat (vgl. BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 492/06, AP ZPO 1997 § 233 Nr. 83 = NZA 2007, 1450 = NJW 2007, 3742); zum anderen hat das BVerfG (v. 24.9.2007 – 2 BvR 1586/07, NVwZ 2008, 70 (71)) im Falle eines Konkurrentenschutzverfahrens um eine Beamtenstelle unter Bezugnahme auf die Entscheidung des BVerwG v. 21.8.2003 (BVerwG v. 21.8.2003 – 2 C 14.02, BVerwGE 118, 370 (374)) klargestellt, dass eine Verfolgung des Bewerbungsverfahrensanspruches im Hauptsacheverfahren möglich bleibt, wenn der unterlegene Bewerber vom Ausgang der Stellenbesetzung erst nach der Ernennung des Mitbewerbers erfährt oder wenn sich der Dienstherr mit der Ernennung des Konkurrenten über eine einstweilige Anordnung des Gerichts hinweggesetzt hat. Mit diesen Beispielsfällen ist gleichzustellen, wenn der Dienstherr den unterlegenen Bewerber zwar vor der Ernennung des ausgewählten Bewerbers über das Ergebnis des Auswahlverfahrens unterrichtet, dies aber ohne Mitteilung der wesentlichen Auswahlgründe bzw. ohne Berücksichtigung einer angemessenen Überlegungsfrist (ca. zwei Wochen) tut oder die Beschwerdefrist im Eilverfahren bzw. die Frist für die Einlegung der Verfassungsbeschwerde nach erfolglosem Eilverfahren nicht abwartet (ebenso BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, NZA 2009, 901 = ZTR 2009, 502; LAG Schleswig-Holstein v. 8.6.2016 – 3 Sa 9/16, NZA-RR 2017, 159 (Ls.) = öAT 2017, 16). So auch das BVerwG (v. 4.11.2010 – 2 C 16/09, BVerwGE 138, 102 = NJW 2011, 695), jedoch mit der Maßgabe, dass in diesen Fällen die Ernennung des ausgewählten Bewerbers nur mit der Anfechtungsklage angegriffen werden kann. 121 BVerfG v. 8.10.2007 – 2 BvR 1846/07, 1853/07, 2 BvQ 32/07, 33/07, NVwZ 2008, 69.

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.53b § 2

Haftung des öffentlichen Arbeitgebers nicht gänzlich entfällt. Warum dann aber nicht auch der Primärrechtsschutz erhalten bleibt, kann wohl nur damit erklärt werden, dass das BAG in seiner Rechtsprechung darum bemüht ist, die arbeitsrechtliche Konkurrentenklage mit der beamtenrechtlichen Konkurrentenklage auf Gleichstand zu bringen122. Die Eröffnung der Anfechtungsklage gegen die Ernennung des ausgewählten Bewerbers durch das BVerwG in Fällen der Vereitelung des Rechtsschutzes durch den Dienstherrn hat gerade gegen Dienstherrn, die ihre verfahrensmäßigen Pflichten wie insbesondere eine Benachrichtigung über das Auswahlergebnis gegenüber dem konkurrierenden Bewerber systematisch verletzen, zu neuen Rechtsschutzmöglichkeiten verholfen. Besetzt der Dienstherr Beförderungsstellen ohne – wenigstens betriebsinterne – Ausschreibung, kann es sein, dass der nicht berücksichtigte Bewerber von dem Auswahlverfahren eher durch Zufall oder sehr spät erfährt. Erfolgt die Kenntnisnahme sogar später als ein Jahr nach der Stellenbesetzung mit dem ausgewählten Bewerber, hat dieser sich in aller Regel darauf eingerichtet, die Stelle endgültig behalten zu dürfen. Wird nach einem solch langen Zeitraum eine Anfechtungsklage zugelassen, prallen die Interessen der beteiligten Bewerber aufeinander: Der ausgewählte Bewerber macht für sich Vertrauensschutz geltend, der übergangene Bewerber beruft sich auf effektiven Rechtsschutz. Diesen Konflikt hat das BVerwG123 zugunsten des ausgewählten Bewerbers mithilfe des Rechtsinstituts der Verwirkung entschieden.

2.53a

Die Entscheidung kann bestenfalls als „Notbehelf“ gegenüber der Untätigkeit des Gesetzgebers gewertet werden, die Anforderungen, die sich aus Art. 33 Abs. 2 GG ergeben, durch eigenständige verfahrensmäßige Regelungen auszuformen124. Denn der als verwirkbar bezeichnete Bewerbungsverfahrensanspruch richtet sich nicht gegen den Vertrauensschutz beanspruchenden ausgewählten Bewerber, sondern gegen den Dienstherrn. Da dieser aber – auch nach Auffassung des BVerwG – durch Verletzung der Benachrichtigungspflicht seine verfassungsrechtlichen Pflichten gegenüber dem übergangenen Bewerber verletzt hat, kann dem Dienstherrn, wenn er sich auf Verwirkung beruft, unzulässige Rechtsausübung mit Recht entgegengehalten werden. Hätte in einem solchen Fall die Anfechtungsklage des übergangenen Bewerbers Erfolg, bliebe dem ausgewählten Bewerber ein Schadensersatzanspruch gegen den Dienstherrn. Ein solcher Anspruch steht dem übergangenen Bewerber trotz der Pflichtverletzungen des Dienstherrn nicht zu, wenn der Bewerbungsverfahrensanspruch verwirkt ist. Denn ein verwirkter Anspruch kann nicht Rechtsgrundlage für einen Schadensersatzanspruch sein (zum Schadensersatzanspruch vgl. Rz. 2.73 ff.). Diesen Aspekt hat das BVerwG nicht bedacht. Das Rechtsinstitut der Verwirkung ist bei der geschilderten Interessenlage und bei den ungleichen Möglichkeiten der Durchsetzung nachfolgender Schadensersatzansprüche als Konfliktlösungsmittel untauglich, wenn man bedenkt, dass es in Wahrheit um die möglichst schnelle Schaffung von Rechtsfrieden unter allen an einem Auswahlverfahren beteiligten Personen und Institutionen geht. Gesetzliche verfahrensmäßige Regelungen könnten hierfür förderlich sein und bewirken, dass sich die Rechtsprechung bei einem Konkurrentenrechtsstreit auf die eigentliche Fragestellung beschränken kann, ob nämlich die getroffene Auswahlentscheidung –

2.53b

122 Dies stößt jedoch auf Grenzen, weil die Einstellung des ausgewählten Bewerbers im Arbeitsrecht nicht mit einer Anfechtungsklage angegriffen werden kann. 123 BVerwG v. 30.8.2018 – 2 C 10/17, NVwZ 2018, 1866 (mit instruktiver Anmerkung von Stuttmann) = DÖV 2019, 114. Zur Anwendbarkeit des Rechtsinstituts der Verwirkung im Beamtenrecht allgemein vgl. BVerwG v. 6.6.2014 – 2 B 75/13 mit weiteren Nachweisen in Rz. 15 (BeckRS 2014, 54392). 124 Hierzu auch Kenntner, NVwZ 2017, 417.

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§ 2 Rz. 2.53b

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

oder der Abbruch des Auswahlverfahrens – inhaltlich mit den Anforderungen aus Art. 33 Abs. 2 GG vereinbar ist.

2.53c Für den öffentlichen Arbeitgeber stellt sich die Rechtslage jedoch anders dar. Für diesen gilt das Prinzip der Ämterstabilität für Beamte nicht. Daher kann es auch keine Durchbrechung dieses Prinzips durch Zulassung einer Anfechtungsklage geben. Die Anfechtung des Arbeitsverhältnisses mit dem ausgewählten Bewerber durch den übergangenen Bewerber scheidet in jedem Falle aus. Sein Vertrauen auf den Fortbestand des rechtswidrig erlangten Arbeitsplatzes ist von geringerem Gewicht als das Vertrauen eines Beamten, für den das Prinzip der Ämterstabilität streitet. Denn dieses Prinzip ist gesetzlich abgesichert, während es eine entsprechende Absicherung im Arbeitsrecht nicht gibt. Auch gilt dort das Planstellenprinzip nicht, sodass es sachgerecht ist, dem rechtswidrig handelnden Arbeitgeber die volle Last der Wiedergutmachung seines Handelns gegenüber den konkurrierenden Bewerbern aufzuerlegen. Für eine Verwirkung des Bewerbungsverfahrensanspruches ist daher kein Raum. Dafür spricht schließlich, dass in diesen Fällen die Bestimmung des § 134 BGB anwendbar sein dürfte, wenn man Art. 33 Abs. 2 GG das auch gegenüber dem öffentlichen Arbeitgeber unmittelbar wirkende Verbot entnimmt, den verfahrensfehlerhaft oder wegen Verletzung des Leistungsprinzips rechtwidrig ausgewählten Bewerber einzustellen oder zu befördern. Dann wäre die zum Abschluss des Arbeitsvertrages mit dem ausgewählten Bewerber führende Willenserklärung des öffentlichen Arbeitgebers nichtig, sodass es an der gesicherten Rechtsposition im Sinne der Rechtsprechung des BAG fehlt. h) Verfahrensanforderungen

2.54 Anders als der private unterliegt der öffentliche Arbeitgeber bei der Besetzung einer freien Stelle bestimmten Verfahrensregeln, die von der Rechtsprechung insbesondere des BVerfG entwickelt und zur Sicherung des Bewerbungsverfahrensanspruches aus dem Prinzip effektiver Rechtsschutzgewährung125 abgeleitet werden126. Das BVerfG spricht geradezu von der Verfahrensabhängigkeit des sich aus Art. 33 Abs. 2 GG ergebenden subjektiven Rechts127 und leitet hieraus Vorwirkungen für das Stellenbesetzungsverfahren ab. Das dem gerichtlichen Rechtsschutzverfahren vorgelagerte Verwaltungsverfahren dürfe nicht so ausgestaltet sein, dass es den gerichtlichen Rechtsschutz vereitele oder unzumutbar erschwere128. Die Verfahrensabhängigkeit des Bewerbungsverfahrensanspruches erfordere eine angemessene Gestaltung des Auswahlverfahrens, um eine Durchsetzung der in Art. 33 Abs. 2 GG gewährleisteten Rechte sicherstellen zu können129. Dies wird damit begründet, dass durch die Gestaltung

125 Das Prinzip effektiver Rechtsschutzgewährung wird vom BVerfG bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten aus Art. 19 Abs. 4 GG (BVerfG v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91, BVerfGE 93, 1) und bei privatrechtlichen bzw. arbeitsrechtlichen Streitigkeiten aus Art. 2 Abs. 1 iVm. dem Rechtsstaatsprinzip gem. Art. 20 Abs. 3 GG (BVerfGE 85, 373) abgeleitet (vgl. auch BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56 = ZTR 2003, 146). 126 Höfling, ZBR 1999, 73 (75). 127 BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178. 128 BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178; BVerwGE 118, 370 (374). 129 BVerfG v. 28.2.2007 – 2 BvR 2494/06, ZBR 2008, 94 (95); BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, AP GG Art. 33 Nr. 59.

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.57 § 2

des Auswahlverfahrens unmittelbar Einfluss auf den Bewerberkreis und damit auf das Ergebnis der Auswahlentscheidung genommen werde130. Regelungen für das Auswahlverfahren sind teils aus der Verfassung abgeleitetes Rechtsprechungsrecht (nachfolgend Rz. 2.56–2.65), teils vom Gesetzgeber erlassene Rechtsnormen (nachfolgend Rz. 2.66–2.72).

2.55

aa) Stellenausschreibung Zumindest in den Fällen, in denen eine – betriebsinterne oder öffentliche – Ausschreibung der Stelle rechtlich vorgeschrieben ist, stellt die Verletzung dieser Pflicht eine Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruches dar131. Zur Ausschreibungspflicht vgl. II.2., Rz. 2.8 ff.

2.55a

bb) Aufstellung eines Anforderungsprofils vor der Auswahlentscheidung Schon das Auswahlverfahren muss eine materiell-rechtlich korrekte Entscheidung über die 2.56 Bewerbungen nach dem Bestenausleseprinzip gewährleisten. Dies wird nicht zuletzt durch die Ausgestaltung des Auswahlverfahrens bewirkt132. Daher ist vor der Besetzung einer Stelle zwingend ein Anforderungsprofil der zu besetzenden Stelle festzulegen. Denn dieses bestimmt den Auswahlmaßstab für die anschließend zu treffende Auswahlentscheidung133. Das Anforderungsprofil allein ermöglicht eine sachgerechte Prognose über die Eignung der Bewerber für die zu besetzende Stelle; es konkretisiert die Leistungskriterien für die Auswahl. Mit der Festlegung des Anforderungsprofils wird ein wesentlicher Teil der Auswahlentscheidung vorweggenommen134. Das BAG ist dieser Rechtsauffassung des BVerfG in seinen früheren Entscheidungen gefolgt. In seiner späteren Rechtsprechung hat das BAG den obligatorischen Charakter des Anforderungsprofils dahingehend relativiert, dass es dem Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes im Rahmen seiner Organisationsgewalt freistehe, das Anforderungsprofil aufzustellen135. Dabei hat das BAG die Grenzen der Organisationsgewalt des Arbeitgebers, die Art. 33 Abs. 2 GG setzt, verkannt. Obwohl die Einrichtung und Besetzung von Stellen des öffentlichen Dienstes grundsätzlich allein dem öffentlichen Interesse an einer bestmöglichen Erfüllung der öffentlichen Aufgaben dienen und ein subjektives Recht eines Bewerbers auf Ausbringung einer bestimmten Planstelle nicht besteht136, wird das organisatorische Ermessen des Dienstherrn, wie er einen Dienstposten zuschneiden will und welche Anforderungen demgemäß der Bewerberauswahl zugrunde zu legen sind, durch Art. 33 Abs. 2 GG begrenzt. Eine Einengung des Kreises der nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung zu vergleichenden Bewerber um ein öffent-

130 BVerfG v. 28.2.2007 – 2 BvR 2494/06, ZBR 2008, 94 (95). 131 OVG Nordrhein-Westfalen v. 27.4.2017 – 1 A 1664/15, juris. 132 BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, BAGE 104, 295 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 59; v. 19.2.2008 – 9 AZR 70/07, BAGE 126, 26 = NZA 2008, 1016 (1018). 133 BVerfG v. 8.10.2007 – 2 BvR 1846/07, 1853/07, 2 BvQ 32/07, 33/07, NVwZ 2008, 69; v. 26.11.2010 – 2 BvR 2435/10, NVwZ 2011, 746. 134 BVerfG v. 8.10.2007 – 2 BvR 1846/07, 1853/07, 2 BvQ 32/07, 33/07, NVwZ 2008, 69 (70) mwN aus der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte. 135 BAG v. 12.10.2010 – 9 AZR 518/09, BAGE 136, 36 = ArbRB 2011, 103 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 72 = NZA 2011, 306; v. 6.5.2014 – 9 AZR 724/12, BAGE 48, 123 = NZA 2015, 446; v. 10.2.2015 – 9 AZR 724/12, NZA-RR 2015, 441 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 76. 136 BVerwG v. 25.4.1996 – 2 C 21/95, BVerwGE 101, 112 (114); 115, 58 (59); dem folgt BAG v. 24.1.2007 – 4 AZR 629/06, BAGE 121, 91 = NZA-RR 2007, 608.

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2.57

§ 2 Rz. 2.57

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

liches Amt kann deshalb nur aufgrund sachlicher Erwägungen erfolgen137. Es unterliegt der gerichtlichen Kontrolle, ob ein rechtmäßiges Anforderungsprofil aufgestellt wurde138.

2.58 Das Anforderungsprofil muss so dokumentiert sein, dass die Auswahlentscheidung nach den Kriterien des Art. 33 Abs. 2 GG überprüft werden kann139. Dies folgt aus dem Gebot effektiver Rechtsschutzgewährung (Justizgewährungsanspruch), das für die Zivil- und Arbeitsgerichtsbarkeit aus Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird140. Dieses Gebot hat auch Vorwirkungen auf das Verwaltungsverfahren vor einer Auswahlentscheidung. Denn dieses darf nicht so ausgestaltet sein, dass es den gerichtlichen Rechtsschutz vereitelt oder unzumutbar erschwert141. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich beim Zugang zum öffentlichen Dienst um die Besetzung einer Arbeitnehmer- oder einer Beamtenstelle handelt.

2.59 Es ist streitig, zu welchem Zeitpunkt während eines Auswahlverfahrens das Anforderungsprofil aufgestellt werden muss. Das BAG vertritt die Auffassung, dass das Anforderungsprofil nicht zeitgleich mit der Stellenausschreibung erstellt werden muss142. Insbesondere muss das Anforderungsprofil noch nicht zum Zeitpunkt der Stellenausschreibung vorliegen143. Maßgeblich sei allein dessen Festlegung und Dokumentation vor der Auswahlentscheidung. Demgegenüber vertritt der Hessische Verwaltungsgerichtshof144 die Auffassung, dass das Anforderungsprofil der Stelle bereits zum Zeitpunkt der Ausschreibung vorliegen muss. Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Denn sie verhindert Missbrauch. Der Arbeitgeber hätte andernfalls erleichterte Möglichkeiten, das Anforderungsprofil mit den Qualifikationsmerkmalen des von ihm favorisierten Bewerbers in Einklang zu bringen.

137 BVerfG v. 8.10.2007 – 2 BvR 1846/07, 1853/07, 2 BvQ 32/07, 33/07, NVwZ 2008, 69 (70), st. Rspr. BAG v. 6.5.2014 – 9 AZR 724/12, BAGE 48, 123 = NZA 2015, 446; v. 10.2.2015 – 9 AZR 724/12, NZA-RR 2015, 441 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 76. Zutreffend hat das BAG gefordert, dass das Anforderungsprofil im Hinblick auf die Anforderungen der zu besetzenden Stelle sachlich nachvollziehbar sein müsse. Die bloße Bezugnahme auf die für den künftigen Stelleninhaber vorgesehene Eingruppierung genüge nicht. S. auch BAG v. 12.9.2006 – 9 AZR 807/05, BAGE 119, 262 = NZA 2007, 507. 138 BVerfG v. 8.10.2007 – 2 BvR 1846/07, 1853/07, 2 BvQ 32/07, 33/07, NVwZ 2008, 69 (70). Als sachwidrig wurde zB ein Anforderungsprofil angesehen, wenn ihm eine Leistungsbeschreibung zugeordnet wurde, die den Anforderungen an den Dienstposten nicht entspricht, sondern den Zweck verfolgt, „Alleinstellungsmerkmale“ für einen bevorzugten Bewerber zu schaffen (BVerwG v. 26.1.2012 – 2 A 7/09, BVerwGE 141, 361 = NVwZ 2012, 1477 (1478 Rz. 18)). 139 BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, BAGE 104, 295 =AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 59; v. 7.9.2004 – 9 AZR 537/03, BAGE 112, 13 = NZA 2005, 879; Hessischer VGH v. 26.10.1993 – 1 TG 1585/93, ZBR 1994, 347 (348); Schleswig-Holsteinisches OVG v. 2.12.1996 – 3 M 94/96, NVwZ-RR 1997, 373 (374); OVG Rheinland-Pfalz v. 14.3.1994 – 13 B 10166/94, DÖD 1994, 294. 140 BVerfG v. 12.2.1992 – 1 BvL 1/89, BVerfGE 85, 337; BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = NZA 2003, 324 = AP Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 56. 141 BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178; v. 25.11.2015 – 2 BvR 1461/15, NJW 2016, 309 = NVwZ-RR 2016, 187 Rz. 14. 142 BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, BAGE 104, 295 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 59; v. 7.9.2004 – 9 AZR 537/03, BAGE 112, 13 = NZA 2005, 879. 143 Hessischer VGH v. 17.6.1997 – 1 TG 2183/97, ZTR 1997, 526. 144 Hessischer VGH v. 19.9.2000 – 1 TG 2902/00, NVwZ-RR 2001, 255 = ZBR 2001, 413.

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.62 § 2

cc) Benachrichtigung über das Auswahlergebnis und Wartepflicht des Dienstherrn Der Dienstherr bzw. Arbeitgeber ist verpflichtet, nach Abschluss eines Auswahlverfahrens den 2.60 unterlegenen Bewerber so rechtzeitig über das Ergebnis zu informieren und dieses zu erläutern, dass er noch im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine vermeintliche Beeinträchtigung seiner Rechte vorgehen kann145. Dies wird aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes146 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG abgeleitet. Insbesondere das BVerfG betont in ständiger Rechtsprechung die Verfahrensabhängigkeit des Bewerbungsverfahrensanspruches, die auch Vorwirkungen auf das Verwaltungsverfahren hat. Dieses darf nicht so ausgestaltet sein, dass es den gerichtlichen Rechtsschutz vereitelt oder unzumutbar erschwert. Dies wäre aber der Fall, wenn der unterlegene Mitbewerber erst nach der Ernennung des Mitbewerbers vom Ausgang des Stellenbesetzungsverfahrens erführe. Bei der Besetzung von Hochschullehrerstellen, die in der Regel in einem mehrstufigen Berufungsverfahren erfolgt, ist zweifelhaft, wann spätestens die Benachrichtigung zu erfolgen hat. Davon hängt auch ab, wer für die Erfüllung der Benachrichtigungspflicht zuständig ist. Dieser Zeitpunkt ist gegeben, wenn das Verwaltungsverfahren (Stellenbesetzungsverfahren) bis auf die Ernennung (den Abschluss des Dienstvertrages) vollständig abgeschlossen ist147. Dieser Zeitpunkt liegt nach dem Abschluss der Berufungsverhandlungen, die zwischen dem ausgewählten Bewerber und dem Dienstherrn (Arbeitgeber) geführt werden. Daher obliegt die Erfüllung der Benachrichtigungspflicht der für die Ernennung (den Abschluss des Dienstvertrages) zuständigen Stelle148.

2.61

Zur Erfüllung der Benachrichtigungspflicht gehört es, dem unterlegenen Bewerber den Namen des ausgewählten Bewerbers sowie die wesentlichen Auswahlgründe mitzuteilen149. In der Praxis hat sich bisher nicht durchgesetzt, dass die Erfüllung der Benachrichtigungspflicht auch die Gewährung von Akteneinsicht in die das Auswahlverfahren betreffenden Vorgänge, zu denen auch die Personalakten der konkurrierenden Bewerber gehören, umfasst150. Eine

2.62

145 BVerfG v. 19.9.1989 – 2 BvR 1576/88, NJW 1990, 501, und v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178; BVerwG v. 25.8.1988 – 2 C 62/85, BVerwGE 80, 127 (129); v. 21.8.2003 – 2 C 14/02, 118, 370 (374); BAG v. 22.6.1999 – 9 AZR 541/98, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 49; v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 2 Nr. 56 = ZTR 2003, 146; v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, NZA 2009, 901 (904, Rz. 40); LAG Schleswig-Holstein v. 8.6.2016 – 3 Sa 9/16, NZA-RR 2017, 159 (Ls.). 146 Art. 19 Abs. 4 GG, soweit es um hoheitliche Maßnahmen wie Beamtenernennungen geht, bzw. Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG, soweit es um privatrechtliche bzw. arbeitsrechtliche Entscheidungen geht, die von den Zivilgerichten bzw. Arbeitsgerichten zu überprüfen sind. 147 OVG Nordrhein-Westfalen v. 3.4.2008 – 6 B 159/08, ZBR 2009, 60 = WissR 2008, 173. 148 Dies war früher stets das zuständige Ministerium. Nach der neueren Hochschulgesetzgebung kann dies der Rektor oder der Präsident der Hochschule sein, wenn diese Dienstherrnfähigkeit bzw. Arbeitgeberfähigkeit besitzt, vgl. zB § 3 Abs. 2 TUD-Gesetz, § 88 HHG; § 2 Abs. 3 HG NW. 149 BVerfG v. 19.9.1989 – 2 BvR 1576/88, NJW 1990, 501; BGHZ 129, 226; LAG Schleswig-Holstein v. 8.6.2016 – 3 Sa 9/16, NZA-RR 2017, 159 (Ls.) = BeckRS 2016, 74179 Rz. 40. 150 Vgl. Hessischer VGH v. 17.10.1993 – 1 TJ 1705/93, NVwZ 1994, 398 = DÖV 1994, 127 = DVBl. 1994, 592, der jedoch zum Akteneinsichtsrecht im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (§§ 99, 100 VwGO) ergangen ist und dieses aus Gründen des Datenschutzes beschränkt. Das BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178 = ZTR 2007, 707, vertritt offenbar von Verfassungs wegen die Auffassung, dass zur Benachrichtigungspflicht auch die Gewährung von Akteneinsicht gegenüber dem unterlegenen Bewerber gehört, damit dieser sachgerecht darüber befinden

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113

§ 2 Rz. 2.62

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

vollständige Akteneinsicht einschließlich der Erlaubnis, Aktenauszüge durch Herstellung von Kopien zur Weitergabe an den anwaltlichen Vertreter zu erstellen, wird in der Praxis in der Regel unter Hinweis auf die Datenschutzrechte des ausgewählten Bewerbers verweigert. Eine Durchsetzung des Akteneinsichtsanspruchs würde daher ein weiteres Eilverfahren erfordern und damit die Sicherung des Bewerbungsverfahrensanspruches des unterlegenen Bewerbers auf einen Nebenschauplatz verschieben.

2.63 Das Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes führt zu der Verpflichtung, vor der endgültigen Stellenbesetzung einen ausreichenden Zeitraum abzuwarten, um dem Mitbewerber die Möglichkeit zu geben, Eilantrag, Beschwerde oder Verfassungsbeschwerde151 zu erheben, weil nur so die Möglichkeit der Gewährung effektiven Rechtsschutzes besteht152. Ähnliche Erwägungen hat das BAG in seiner Grundsatzentscheidung vom 28.5.2002153 angestellt154. Auch nach Stellung eines Eilantrages ist der Dienstherr verpflichtet, bis zum Abschluss des Eilverfahrens jede Maßnahme zu unterlassen, die geeignet ist, vollendete Tatsachen zu schaffen155.

151

152 153 154

155

114

kann, ob er die Entscheidung des Dienstherrn hinnehmen soll oder ob Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen den Anspruch auf faire und chancengleiche Behandlung seiner Bewerbung bestehen und er daher gerichtlichen Eilrechtsschutz in Anspruch nehmen will. BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, BAGE 130, 107 = NZA 2009, 901 = ZTR 2009, 502 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 70. Die Ausdehnung des Zeitraums der Wartepflicht auch auf die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde, für die eine Frist von einem Monat besteht, ist neu und könnte geradezu als Einladung an unterlegene Bewerber gewertet werden, nach erfolglosem Eilverfahren durch zwei Instanzen noch eine Verfassungsbeschwerde zu versuchen und dadurch den Vollzug der Auswahlentscheidung durch den Dienstherrn noch weiter hinauszuschieben. Dies hat das BVerfG offenbar bemerkt und mit Beschluss v. 24.9.2007 – 2 BvR 1586/07, NVwZ 2008, 70, diese Möglichkeit unter Hinweis auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und die neuere Rechtsprechung des BVerwG zur Nichterledigung der Hauptsache trotz Urkundenaushändigung in bestimmten Fällen (BVerwG v. 21.8.2003 – 2 C 14/02, BVerwGE 118, 370) versperrt. St. Rspr., so BVerfG v. 9.7.2009 – 2 BvR 706/09, NVwZ 2009, 1430; v. 2.12.2010 – 2 BvR 1067/10, ZBR 2011, 197. Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde folgt jetzt aber vor allem aus den Gründen der Entscheidung des BVerwG v. 4.11.2010 – 2 C 16/09, BVerwGE 138, 102 = NJW 2011, 695. BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178 = ZTR 2007, 707; BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, NZA 2009, 901 = ZTR 2009, 502. BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56 = ZTR 2003, 146; v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, MDR 2008, 576. Die später ergangene Rechtsprechung des BVerwG (BVerwG v. 21.8.2003 – 2 C 14/02, BVerwGE 118, 370), die das BVerfG bestätigt hat (BVerfG v. 24.9.2007 – 2 BvR 1586/07, NVwZ 2008, 70), konnte das BAG in seiner Entscheidung vom 28.5.2002 nicht mehr berücksichtigen. Es hat seine Rechtsprechung zur Versagung eines Neubescheidungsanspruches nach – wenigstens teilweise gewährtem einstweiligem Rechtsschutz – bereits korrigiert (v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, MDR 2008, 576). In dem vom BAG entschiedenen Fall hatte der Arbeitgeber seiner Wartepflicht bis zur endgültigen Besetzung der streitbefangenen Stelle nicht genügt; nach der Entscheidung des BVerfG (BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178) besteht diese nämlich, um dem unterlegenen Bewerber die Möglichkeit zu geben, Eilantrag, Beschwerde oder Verfassungsbeschwerde zu erheben, wozu auch eine angemessene Überlegungsfrist gehört. BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56 = ZTR 2003, 146; v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, NZA 2009, 901 = ZTR 2009, 502; Hessischer VGH v. 31.3.1994 – 1 TG 479/94, NVwZ 1994, 1231 = ZBR 1995, 310; v. 18.2.1991 – 1 TG 85/91, NVwZ-RR 1992, 34 = DÖD 1992, 211 = ArbuR 1992, 123.

Hauck-Scholz

Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.65 § 2

dd) Dokumentationspflicht Der Leistungsvergleich und die wesentlichen Auswahlerwägungen sind wegen des Prinzips des effektiven Rechtsschutzes schriftlich zu dokumentieren156. Nur durch eine schriftliche Fixierung der wesentlichen Auswahlerwägungen wird der abgelehnte Bewerber in die Lage versetzt, sachgerecht darüber befinden zu können, ob er die Entscheidung des Dienstherrn hinnehmen soll oder ob Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen den Anspruch auf faire und chancengleiche Behandlung seiner Bewerbung bestehen und er daher gerichtlichen Eilrechtsschutz in Anspruch nehmen will157. Die Verletzung der Dokumentationspflicht stellt einen nicht heilbaren erheblichen Verfahrensmangel dar158.

2.64

Zur Dokumentationspflicht speziell bei dienstlichen Beurteilungen s. § 10, Rz. 10.15. ee) Zulässigkeit eines Abbruchs des Auswahlverfahrens Vielfältige Gründe können dafür sprechen, dass der öffentliche Arbeitgeber ein begonnenes 2.65 Auswahlverfahren sei es vor, sei es nach einer gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Auswahlentscheidung abbricht. Dies darf er nur aus sachlichen Gründen tun, will er nicht den Bewerbungsverfahrensanspruch der Bewerber verletzen159. Dies wird vom BVerwG mit der Organisationsfreiheit des Dienstherrn begründet: Als eine aus dem Organisationsrecht des Dienstherrn erwachsende verwaltungspolitische Entscheidung berühre der Abbruch des Auswahlverfahrens grundsätzlich nicht die Rechtsstellung von Bewerbern. Das für den Abbruch des Auswahlverfahrens maßgebliche organisations- und verwaltungspolitische Ermessen sei ein anderes als das bei einer Stellenbesetzung zu beachtende Auswahlermessen160. Diese Begründung kann angesichts der neuen Rechtsprechung des BVerfG keine Geltung mehr beanspruchen. Da der Entscheidung über den Abbruch eines Auswahlverfahrens die Entscheidung des Dienstherrn bzw. öffentlichen Arbeitgebers vorausging, eine freie Stelle zu besetzen, ist der Bewerbungsverfahrensanspruch der Bewerber entstanden, wodurch die Organisationsfreiheit des Dienstherrn beschränkt wird161. Daraus ergeben sich für die Ermessensausübung und die Ermessenskontrolle andere Kriterien, als wenn es sich um eine uneingeschränkte organisationspolitische Entscheidung des Dienstherrn handeln würde. Wie bei jeder Ermessensausübung hat diese den Zweck der Ermessenseinräumung zu beachten (§ 114 156 BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178; BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, BAGE 104, 295 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 59; v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, MDR 2008, 576; v. 17.8.2010 – 9 AZR 347/09, BAGE 135, 213 = NJW 2010, 3595 = NZA 2011, 516 = juris Rz. 26; Thüringer LAG v. 13.1.1997 – 8 Sa 232/96, AP ArbGG 1979 § 62 Nr. 10 = NZA-RR 1997, 234; LAG Schleswig-Holstein v. 8.6.2016 – 3 Sa 9/16, NZA-RR 2017, 159 (Ls.) = BeckRS 2016, 74179 Rz. 42, 47; Bayerischer VGH v. 21.1.2005 – 3 CE 04.2899, BayVBl. 2006, 91; Hessischer VGH v. 17.6.1997 – 1 TG 2183/97, ZTR 1997, 526 (527). 157 BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178; LAG Schleswig-Holstein v. 8.6.2016 – 3 Sa 9/16, NZA-RR 2017, 159 (Ls.) = BeckRS 2016, 74179 Rz. 43, 48. 158 BAG v. 17.8.2010 – 9 AZR 347/09, BAGE 135, 213 = NJW 2010, 3595 = NZA 2011, 516 = juris Rz. 27 f.; LAG Schleswig-Holstein v. 8.6.2016 – 3 Sa 9/16, NZA-RR 2017, 159 (Ls.) = BeckRS 2016, 74179 Rz. 42. 159 BVerfG v. 28.2.2007 – 2 BvR 2494/06, ZBR 2008, 94; BVerwG v. 25.4.1996 – 2 C 21/95, BVerwGE 101, 112 (115); BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, BAGE 130, 107 = NZA 2009, 901 = ZTR 2009, 502 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 70. 160 BVerwG v. 25.4.1996 – 2 C 21/95, BVerwGE 101, 112 (115). 161 BVerfG v. 28.2.2007 – 2 BvR 2494/06, BVerfGE 10, 355 (357) = ZBR 2008, 94; aA BVerfG v. 19.12.2008 – 2 BvR 627/08, NVwZ-RR 2009, 344; das BVerfG beruft sich dabei auf die vorzitierte Entscheidung vom 28.2.2007, übersieht aber die dortige einschränkende Bezugnahme auf Art. 33 Abs. 2 GG bei einer Abbruchsentscheidung.

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§ 2 Rz. 2.65

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

Satz 1 VwGO). Somit ist die Ermessensausübung an die Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG gebunden, so dass nur solche Ermessenserwägungen relevant sein können, die sich darauf beziehen, dem Leistungsprinzip Geltung zu verschaffen162.

2.65a Dennoch kann der Abbruch eines Auswahlverfahrens unter bestimmten Voraussetzungen auch durch die Organisationsgewalt des Dienstherrn/Arbeitgebers gerechtfertigt sein, weil dieser darüber zu entscheiden hat, ob und wann er welche Statusämter zur Besetzung bereithält. Beispielsweise ist ein Abbruch zulässig, wenn der Dienstherr/Arbeitgeber die Stelle, die Gegenstand des Auswahlverfahrens ist, nicht mehr besetzen will. Gleiches gilt für den Fall, dass sich der Dienstherr/Arbeitgeber entschlossen hat, die Stelle neu zuzuschneiden163. Als Abbruchsgründe, die durch Art. 33 Abs. 2 GG gerechtfertigt sind, kommen vor allem Verfahrensmängel im bisherigen Auswahlverfahren in Betracht. Dazu können auch Ausschreibungsmängel gehören164. Der Arbeitgeber bewegt sich dabei auf der sicheren Seite, wenn er eine rechtskräftige Entscheidung im Konkurrentenschutzeilverfahren, in der ihm solche Verfahrensfehler bescheinigt werden, zum Anlass für den Abbruch des Verfahrens nimmt165. Der zulässige Abbruch bewirkt, dass der Bewerbungsverfahrensanspruch des Bewerbers untergeht166. Als Abbruch ist auch die Neuausschreibung der Stelle anzusehen167. Im Falle des Abbruches eines Auswahlverfahrens sind die Bewerber hiervon rechtzeitig in geeigneter Form zu unterrichten, um ihnen Gelegenheit zu geben, ggf. gegen den Abbruch Rechtsschutz zu erwirken. In einem solchen Fall kann der Bewerber nur Fortführung des abgebrochenen Stellenbesetzungsverfahrens verlangen168, nicht jedoch – wie in der Regel – Wiederholung des Stellenbesetzungsverfahrens unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Durch den Abbruch wird die Einbeziehung in das Auswahlverfahren als Bestandteil

162 So auch BVerwG v. 26.1.2012 – 2 A 7/09, BVerwGE 141, 361 = NVwZ 2012, 1477 (1479, Rz. 27); v. 29.11.2012 – 2 C 6/11, BVerwGE 145, 185 = NVwZ 2013, 955 = ZBR 2013, 246; v. 3.12.2014 – 2 A 3/13, BVerwGE 151, 14 = NVwZ 2015, 1066 = ZBR 2015, 196, Rz. 17 ff. Die frühere großzügigere Rechtsprechung des BVerwG ist daher überholt. Das BAG v. 12.4.2016 – 9 AZR 673/14, BAGE 155, 29 = NZA 2016, 1279, argumentierte bisher noch unspezifisch mit dem „sachlichen Grund“, ohne die Vorgaben aus Art. 33 Abs. 2 GG zu erwähnen. Nunmehr hat es sich der Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG angeschlossen (BAG v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, BAGE 161, 157 = NZA 2018, 515 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 79). 163 BVerwG v. 29.11.2012 – 2 C 6/11, BVerwGE 145, 185 = NvwZ 2013, 955 = ZBR 2013, 246; BAG v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, BAGE 161, 157 = NZA 2018, 515 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 79 Rz. 35. 164 BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, BAGE 130, 107 = NZA 2009, 901 = ZTR 2009, 502 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 70. Das BAG nennt die Ausschreibung einer Stelle zur unbefristeten Besetzung, obwohl nur eine befristete Stelle zur Verfügung steht, oder die Ausschreibung einer Stelle auch für Angestellte, obwohl sie tatsächlich Beamten vorbehalten ist. 165 BVerfG v. 24.9.2015 – 2 BvR 1686/15, NVwZ 2016, 237; BAG v. 17.8.2010 – 9 AZR 347/09, BAGE 135, 213 = NJW 2010, 3595 = NZA 2011, 516 = juris Rz. 24. 166 BAG v. 17.8.2010 – 9 AZR 347/09, BAGE 135, 213 = NJW 2010, 3595 = NZA 2011, 516 = juris Rz. 21; v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, BAGE 161, 157 =NZA 2018, 515 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 79, Rz. 34. 167 BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, BAGE 130, 107 = NZA 2009, 901 = ZTR 2009, 502 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 70. 168 BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, BAGE 130, 107 = NZA 2009, 901 = ZTR 2009, 502 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 70.

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.68 § 2

des Bewerbungsverfahrensanspruchs infrage gestellt169. Außerdem ist der Abbruchsgrund schriftlich zu dokumentieren170. ff) Gesetzliche Regelungen für besondere Bewerbergruppen Für Schwerbehinderte und unterrepräsentierte Frauen hat der Gesetzgeber bestimmte Anforderungen für das Stellenbesetzungsverfahren festgelegt.

2.66

Zum Schutz und zur Förderung von Schwerbehinderten im Stellenbesetzungsverfahren begründet § 81 SGB IX für jeden Arbeitgeber bestimmte Pflichten, insbesondere zur frühzeitigen Einschaltung der Agentur für Arbeit zwecks Vermittlung schwerbehinderter Menschen, zur frühzeitigen Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung über eingegangene Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen, zur Erörterung der Einstellungsentscheidung des Arbeitgebers mit der Schwerbehindertenvertretung und zur Unterrichtung aller Beteiligten durch den Arbeitgeber über die getroffene Entscheidung unter Darlegung der Gründe.

2.67

Für öffentliche Arbeitgeber begründet § 82 SGB IX darüber hinaus besondere Pflichten. Sie haben in jedem Fall einer zu besetzenden freien Stelle diese Tatsache der Agentur für Arbeit zu melden. Haben sich schwerbehinderte Menschen für eine solche Stelle beworben oder sind sie von der Agentur für Arbeit vorgeschlagen worden, muss sie der öffentliche Arbeitgeber zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Eine Einladung ist nur entbehrlich, wenn die fachliche Eignung des schwerbehinderten Menschen offensichtlich fehlt. Das bedeutet, dass der öffentliche Arbeitgeber einem schwerbehinderten Bewerber die Chance eines Vorstellungsgesprächs gewähren muss, wenn seine fachliche Eignung zwar zweifelhaft, aber nicht offensichtlich ausgeschlossen ist171. Bereits die Verletzung der Meldepflicht gegenüber der Agentur für Arbeit begründet die Vermutung einer Benachteiligung wegen Schwerbehinderung iSd. §§ 1, 7, 22 AGG172. Dasselbe gilt für die Verletzung der Pflicht zur Einladung zum Vorstellungsgespräch173 und die Nichtbeteiligung der Schwerbehindertenvertretung174. In einem solchen

2.68

169 BVerwG v. 26.1.2012 – 2 A 7/09, BVerwGE 141, 361 = NVwZ 2012, 1477 (1479, Rz. 28). 170 BVerfG v. 28.11.2011 – 2 BvR 1181/11, ArbRB 2012, 239 = NVwZ 2012, 366; BAG v. 20.3.2018 – 9 AZR 249/17, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 80. 171 BAG v. 12.9.2006 – 9 AZR 807/05, ArbRB 2007, 131 = NZA 2007, 507 (510), noch zu § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 3 SGB IX aF; v. 21.7.2009 – 9 AZR 431/08, ArbRB 2009, 322 = NJW 2009, 3319 = NZA 2009, 1087. Maßstab ist das Anforderungsprofil der Stelle gem. Stellenausschreibung. 172 BAG v. 12.9.2006 – 9 AZR 807/05, ArbRB 2007, 131 = NZA 2007, 507 (510). 173 BAG v. 12.9.2006 – 9 AZR 807/05, ArbRB 2007, 131 = NZA 2007, 507 (510). 174 BAG v. 15.2.2005 – 9 AZR 635/03, ArbRB 2005, 262 = NZA 2006, 870 (872). Im Ergebnis hat das BAG jedoch den geltend gemachten Schadensersatzanspruch mit der Erwägung zurückgewiesen, dass der Arbeitgeber die Vermutung der Benachteiligung wegen Schwerbehinderung mit der Tatsache entkräftet habe, dass die nicht ausgewählte Klägerin das Anforderungsprofil der Stelle nicht erfüllt habe (fehlende Schreibmaschinenkenntnisse). Dies überzeugt nicht; denn der Schadensersatzanspruch wird auch für den Fall zuerkannt, dass der schwerbehinderte Bewerber auch bei beanstandungsfreier Auswahl nicht ausgewählt worden wäre. Anspruchsbegründendes Tatbestandsmerkmal ist allein die Verletzung der Verfahrensvorschriften zum Schutze der schwerbehinderten Bewerber. Schon dies stellt die Benachteiligung dar, weil die weniger günstige Behandlung des schwerbehinderten Bewerbers, als sie das Gesetz zur Herstellung gleicher Bewerbungschancen gegenüber anderen Bewerbern für erforderlich hält (positive Diskriminierung), die Bewerbungschancen eines schwerbehinderten Bewerbers mindert und ihn hierdurch benachteiligt (so BAG v. 12.9.2006 – 9 AZR 807/05, ArbRB 2007, 131 = NZA 2007, 507 (510) für den Fall der unterlassenen Einladung zum Vorstellungsgespräch). Ob dann noch

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§ 2 Rz. 2.68

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

Fall steht dem schwerbehinderten Menschen zumindest ein Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens im Umfang von bis zu drei Monatsgehältern der zu besetzenden Stelle gemäß § 15 Abs. 2 AGG zu.

2.69 Geht es um eine Stellenbesetzung in Bereichen, in denen Frauen im öffentlichen Dienst unterrepräsentiert sind, gibt es ebenfalls gesetzliche Regelungen, die darauf abzielen, die Bewerbungschancen von Frauen gegenüber Männern zu verbessern. So regelt § 6 Abs. 2 BGleiG in differenzierter Form die Pflicht zur Stellenausschreibung. § 7 Abs. 3 BGleiG bestimmt allgemein, dass Auswahlkommissionen zu gleichen Teilen mit Frauen und Männern zu besetzen sind. Wenn dies aus triftigen Gründen nicht möglich ist, sind die Gründe aktenkundig zu machen. Es handelt sich hierbei um eine typische Verfahrensvorschrift, deren Einhaltung im Konkurrentenschutzeilverfahren zu überprüfen ist und zur Fehlerhaftigkeit der getroffenen Auswahlentscheidung führt, wenn unterlassen wurde, die geltend gemachten triftigen Gründe aktenkundig zu machen, oder aber wenn diese vom Gericht nicht anerkannt werden.

2.70 § 7 Abs. 1 BGleiG legt fest, dass zu Vorstellungsgesprächen oder besonderen Auswahlverfahren mindestens ebenso viele Frauen wie Männer einzuladen sind, die die in der Ausschreibung vorgegebene Qualifikation aufweisen, sofern Bewerbungen von Frauen in ausreichender Zahl vorliegen.

2.71 § 7 Abs. 2 BGleiG bestimmt, dass in Vorstellungs- und Auswahlgesprächen Fragen nach dem Familienstand, einer bestehenden oder geplanten Schwangerschaft sowie der Sicherstellung der Betreuung von Kindern, behinderten oder pflegebedürftigen Angehörigen neben der Berufstätigkeit unzulässig sind.

2.72 Ähnliche Regelungen enthalten die landesrechtlichen Gleichstellungsgesetze. So regelt § 9 HGlG in Bereichen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind, eine generelle Ausschreibungspflicht für alle Personalstellen (Beamte und Angestellte), von der nur mit Zustimmung der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten abgewichen werden kann. § 10 Abs. 1 HGlG bestimmt, dass in Bereichen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind, ebenso viele Frauen wie Männer oder alle Bewerberinnen zum Vorstellungsgespräch einzuladen sind, wenn sie die gesetzlich oder sonst vorgesehenen Voraussetzungen für die Besetzung der Personalstelle oder des zu vergebenden Amtes erfüllen. Gemäß § 10 Abs. 2 HGlG sind Fragen nach einer bestehenden oder geplanten Schwangerschaft und danach, wie die Betreuung von Kindern neben der Berufstätigkeit gewährleistet werden kann, unzulässig. i) Schadensersatz

2.73 S. auch § 23, Rz. 23.114 ff. Ist die streitbefangene Stelle endgültig anderweitig vergeben, soll dem zu Unrecht abgelehnten Bewerber ein Schadensersatzanspruch zustehen können175. Dies setzt allerdings voraus, dass ihm ohne den Auswahlfehler die Stelle hätte übertragen werden eine Berufung auf § 8 AGG möglich ist, wovon offenbar das BAG ausgeht, dürfte jedenfalls bei unterlassener Einladung zum Vorstellungsgespräch zu verneinen sein, weil § 82 Satz 3 SGB IX abschließend regelt, wann die Einladung zum Vorstellungsgespräch entbehrlich ist (aA offenbar BAG v. 21.7.2009 – 9 AZR 431/08, ArbRB 2009, 322 = NJW 2009, 3319 = NZA 2009, 1087, das aber für den Entschädigungsanspruch ausreichend sein lässt, dass die Behinderung mitursächlich für die Entscheidung des Arbeitgebers war). 175 Zum Schadensersatzanspruch eines unterlegenen Bewerbers um eine Beamtenstelle vgl. Leppin, NVwZ 2007, 1241.

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Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.73a § 2

müssen176. Aus welcher Rechtsgrundlage sich dieser Schadensersatzanspruch ergibt, war der Rechtsprechung des BAG nicht eindeutig zu entnehmen177. Die von ihm selbst zitierte Entscheidung des BGH178 prüfte den Anspruch unter dem Gesichtspunkt der Amtshaftung und bürdete dem Arbeitgeber wegen der fehlenden Informationen über die Auswahlgründe die Darlegungs- und Beweislast dafür auf, dass die Behauptung des Klägers, er hätte am besten abgeschnitten, unzutreffend sei179. Das BVerwG, das aufgrund der Bestimmung des Art. 34 Satz 3 GG für Amtshaftungsansprüche nicht zuständig ist, entnimmt die Anspruchsgrundlage für einen Schadensersatzanspruch wegen entgangener Beförderung unmittelbar aus dem Beamtenverhältnis180, neuerdings unmittelbar aus Art. 33 Abs. 2 GG181. Dieser Schadensersatzanspruch entspricht hinsichtlich seiner Anspruchsvoraussetzungen vollständig dem Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB iVm. Art. 34 GG. Demgemäß muss der Dienstherr den Bewerbungsverfahrensanspruch des unterlegenen Bewerbers schuldhaft verletzt haben; diesem wäre die Stelle ohne den Rechtsverstoß voraussichtlich übertragen worden. Hierzu muss das Gericht den hypothetischen Kausalverlauf ermitteln. Dazu gehört, festzustellen, welche Handlungsalternativen der Dienstherr erwogen und warum er sich für den konkret eingeschlagenen fehlerhaften Weg entschieden hat. Das Gericht muss auch beurteilen, welchem Bewerber der Dienstherr den Vorzug gegeben hätte, wenn er eine rechtmäßige Alternative verfolgt hätte182. Ferner darf es der unterlegene Bewerber nicht schuldhaft unterlassen haben, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwehren183. Im Falle eines Abbruchs des Auswahl176 BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 445/96, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 40; v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56 = ZTR 2003, 146; v. 20.3.2003 – 8 AZR 77/02, AP ZPO § 565 Nr. 23 = NZA 2004, 344; v. 12.10.2010 – 9 AZR 554/09, ArbRB 2011, 132 = NZA-RR 2011, 216 (220 Rz. 68); v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, BAGE 161, 157 = NZA 2018, 515 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 79. Geringere Anforderungen stellt das BVerwG an den hypothetischen Kausalverlauf: Danach muss die Übertragung des angestrebten Amtes ernsthaft möglich gewesen sein (BVerwG v. 26.1.2012 – 2 A 7/09, BVerwGE 141, 361 = NVwZ 2012, 1477 (1480 Rz. 45)); ebenso BVerfG v. 13.1.2010 – 2 BvR 811/09, BayVBl. 2010, 303. Das BAG wird daher seine Rechtsprechung bei der Beurteilung von Schadensersatzansprüchen wegen Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruches präzisieren müssen. 177 Vgl. aber BAG v. 19.2.2008 – 9 AZR 70/07, BAGE 126, 26 = NZA 2008, 1016. 178 BGH v. 6.4.1995 – III ZR 183/94, BGHZ 129, 226 = NJW 1995, 2344. 179 Im Streitfall war die Stelle ohne vorherige Benachrichtigung des abgelehnten Bewerbers besetzt worden. 180 BVerwG v. 25.8.1988 – 2 C 51/86, BVerwGE 80, 123 (124); v. 28.5.1998 – 2 C 29/97, BVerwGE 107, 29 (31); v. 17.8.2005 – 2 C 37/04, BVerwGE 124, 99 (102) = NVwZ 2006, 212; v. 26.1.2012 – 2 A 7/09, BVerwGE 141, 361 = NVwZ 2012, 1477. 181 BVerwG v. 25.2.2010 – 2 C 22/09, BVerwGE 136, 140 = NJW 2010, 3592. 182 BVerwG v. 26.1.2012 – 2 A 7/09, BVerwGE 141, 361 = NVwZ 2012, 1477 (1480 Rz. 42). 183 Nach Auffassung des BVerwG gehört dazu, gegen die Ablehnung Widerspruch einzulegen und ggf. Klage zu erheben, BVerwG v. 28.5.1998 – 2 C 22.97, BVerwGE 107, 29 (32); v. 3.12.1998 – 2 C 22.97, NVwZ 1999, 542 = ZTR 1999, 199; (zusätzlich wird die Stellung eines Eilantrags für erforderlich gehalten); v. 4.11.2010 – 2 C 16/09, BVerwGE 138, 102 (109); v. 9.12.1999 – 2 C 38.98, DVBl. 2000, 208; v. 18.4.2002 – 2 C 19.01, NVwZ-RR 2002, 620 = ZBR 2003, 137 (zumindest ist eine Bewerbung trotz offenen Streits über die Rechtmäßigkeit einer dienstlichen Beurteilung erforderlich). Im Falle der Rechtsschutzvereitelung durch den Dienstherrn kann dem Bewerber die Unterlassung, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden, nicht angelastet werden (BVerwG v. 26.1.2012 – 2 A 7/09, BVerwGE 141, 361 = NVwZ 2012, 1477) Bei längerer Untätigkeit des übergangenen Bewerbers wird – auch im Falle einer Rechtsschutzvereitelung durch den Dienstherrn – mit dem Institut der Verwirkung gearbeitet (BVerwG v.

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2.73a

§ 2 Rz. 2.73a

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

verfahrens ist das gebotene und alternativlose Rechtsmittel der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung/einstweiligen Verfügung, gerichtet auf Fortführung des begonnen Auswahlverfahrens, der binnen eines Monats nach Zugang der Abbruchmitteilung bei Gericht gestellt werden muss. Andernfalls wird die Möglichkeit der Hauptsacheklage verwirkt184. Selbst im Falle einer Rechtsschutzvereitelung vor allem wegen Verletzung der Benachrichtigungspflicht (über das Ergebnis oder den Abbruch des Auswahlverfahrens) wendet das BVerwG den Rechtsgedanken aus § 839 Abs. 3 BGB verschärft dahingehend an, dass den Bewerber eine Erkundigungs- und Rügeobliegenheit nach dem Stand einer „Beförderungsrunde“ trifft und er sodann eine einstweilige Anordnung als nicht mehr nur möglichen, sondern als obligatorischen Rechtsbehelf des Primärrechtsschutzes beantragen muss, um den Schaden der Nichtberücksichtigung im Auswahlverfahren abzuwehren185.

2.74 Ob der auf Geld gerichtete Schadensersatzanspruch aus dem Arbeitsvertrag oder aus Deliktsrecht herzuleiten ist, hat das BAG offen gelassen186. Es hat jedoch als Anspruchsgrundlage für den deliktischen Schadensersatzanspruch auch § 823 Abs. 2 BGB iVm. Art. 33 Abs. 2 GG (als Schutzgesetz) herangezogen187, was dazu führt, dass der Rechtsweg auch insoweit zu den Arbeitsgerichten eröffnet ist, jedenfalls dann, wenn das ursprüngliche Ziel des unterlegenen Bewerbers auf die Erreichung einer Angestelltenstelle oder auf Höhergruppierung auf einer solchen gerichtet war. Das LAG Berlin hat als Anspruchsgrundlage die positive Forderungsverletzung wegen Verletzung des Beförderungsanspruches genannt188.

2.75 Nach der Schuldrechtsreform handelt es sich um einen Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung von Nebenpflichten gemäß § 280 Abs. 1 iVm. § 283 BGB. Der Bewerbungsverfahrensanspruch des Art. 33 Abs. 2 GG sowie alle damit im Zusammenhang stehenden Handlungs- und Unterlassungspflichten des öffentlichen Arbeitgebers lassen sich bei einem bestehenden Arbeitsverhältnis als Nebenpflichten aus dem Arbeitsverhältnis darstellen. Besonders deutlich wird dies bei der Benachrichtigungspflicht über das Ergebnis des Auswahlverfahrens und der Wartepflicht zur Ermöglichung der Beantragung von einstweiligem Rechtsschutz (einschließlich Einlegung einer Verfassungsbeschwerde).

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187 188

120

30.8.2018 – 2 C 10/17, NVwZ 2018, 1866 mit instruktiver Anmerkung von Stuttmann = DÖV 2019, 114). Die Möglichkeit, die Ernennung des ausgewählten Bewerbers anzufechten, verwirkt nach dieser Entscheidung ein Jahr nach Ernennung. Dadurch entfällt dann auch der Schadensersatzanspruch. BVerwG v. 3.12.2014 – 2 A 3/13, BVerwGE 151, 14 = NVwZ 2015, 1066 = ZBR 2015, 196; BAG v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, BAGE 161, 157 = NZA 2018, 515 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 79, das die Übernahme der Rechtsprechung des BVerwG in das Arbeitsrecht mit dem Prinzip der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit begründet, weil sich vielfach Arbeitnehmer und Beamte zeitgleich um dasselbe öffentliche Amt bewerben. BVerwG v. 15.6.2018 – 2 C 19/17, NVwZ 2018, 1637 = DÖV 2019, 35. BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 77/02, AP ZPO § 565 Nr. 23 = NZA 2004, 344. Das war im konkret entschiedenen Fall auch möglich, weil das BAG von einer schuldhaften Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruches des Klägers ausgegangen ist. Im Urt. v. 19.2.2008 – 9 AZR 70/07, BAGE 126, 26 = NZA 2008, 1016 hat das BAG sowohl den vertraglichen als auch den deliktischen Schadensersatzanspruch für möglich gehalten. Auch das BVerwG leitet den öffentlichrechtlichen Schadensersatzanspruch des unterlegenen (Beamten-)Bewerbers unmittelbar aus einer Verletzung des Leistungsprinzips des Art. 33 Abs. 2 GG ab, vgl. BVerwG v. 25.8.1988 – 2 C 51/86, BVerwGE 80, 123 (125); v. 28.5.1998 – 2 C 29/97, BVerwGE 107, 29 (31). BAG v. 19.2.2008 – 9 AZR 70/07, BAGE 126, 26 = NZA 2008, 1016. LAG Berlin v. 15.2.2002 – 6 Sa 2099/01, AP SchwbG 1986 § 26 Nr. 4 = NZA-RR 2003, 110; das LAG Brandenburg v. 3.11.2005 – 9 Sa 379/05 leitet den Anspruch aus § 280 Abs. 1 BGB ab.

Hauck-Scholz

Auswahlentscheidung, Art. 33 Abs. 2 GG

Rz. 2.77 § 2

In Betracht kommt auch ein Schadensersatzanspruch gemäß § 241 Abs. 2 iVm. § 311 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB, wenn der Bewerbungsverfahrensanspruch eines externen Bewerbers verletzt wird. Die dogmatische Begründung des Schadensersatzanspruches wegen Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruches ist wegen der unterschiedlichen Tatbestandsvoraussetzungen und der sich daraus ergebenden Darlegungs- und Beweislast bedeutsam.

2.76

Zwar erfordern sowohl der vertragliche als auch der Schadensersatzanspruch wegen Amtspflichtverletzung Verschulden auf Seiten des Arbeitgebers, dieses ist jedoch beim vertraglichen Schadensersatzanspruch seitens des Geschädigten nicht darzulegen; vielmehr hat sich der öffentliche Arbeitgeber gemäß § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB zu entlasten. Wird dagegen Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung oder gemäß § 241 Abs. 2 i.V.m. § 311 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB durch einen externen Bewerber beansprucht, hat der Gläubiger das Verschulden des Schuldners wie auch die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen darzulegen. Dabei kommt ihm allerdings zugute, dass er für Vorgänge aus dem Verantwortungs- und Verfügungsbereich des Dienstherrn/Arbeitgebers, die seinem Einblick entzogen sind, nicht darlegungs- und beweispflichtig ist. Vielmehr liegt die Darlegungslast beim Dienstherrn/Arbeitgeber. Im Falle der Nichterweislichkeit dieser Tatsachen findet eine Umkehr der Beweislast statt189. Dies hat große praktische Bedeutung auch für die Frage, ob der Geschädigte im Auswahlverfahren am besten abgeschnitten hätte. Denn die Auswahlentscheidung liegt auch in diesem Fall in der Sphäre des Dienstherrn/Arbeitgebers, über die der Geschädigte in der Regel keine Kenntnis hat. Der Geschädigte wird daher in der Regel nur die Rechtsbehauptung aufstellen können, dass er im Auswahlverfahren, wenn dieses ordnungsgemäß durchgeführt worden wäre, am besten abgeschnitten hätte. Es obliegt dann dem Dienstherrn/Arbeitgeber, darzulegen und ggf. zu beweisen, dass und warum der hypothetische Kausalverlauf zu keiner für den Bewerber günstigen Entscheidung geführt hätte. Lassen sich die vom Dienstherrn/Arbeitgeber aufgestellten Tatsachenbehauptungen nicht nachweisen, findet die bereits erwähnte Umkehr der Beweislast zulasten des Dienstherrn statt. Für den hypothetischen Kausalverlauf genügt es, dass eine positive Auswahlentscheidung zugunsten des Bewerbers ernsthaft möglich gewesen wäre190. Wegen der Haftungsüberleitung durch Art. 34 GG findet die Bestimmung des § 831 BGB jedoch keine Anwendung, so dass die haftende Anstellungskörperschaft ebenso für ihre Bediensteten einzustehen hat wie der öffentliche Arbeitgeber im Rahmen des Vertragsverhältnisses gemäß § 278 BGB. Die unterschiedliche Anspruchsgrundlage hat auch Auswirkungen auf den einzuschlagenden Rechtsweg. Wegen Art. 34 Satz 3 GG besteht für Amtshaftungsansprüche eine ausschließliche Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte, während der vertragliche Anspruch als Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis oder wegen Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses vor die Arbeitsgerichte gehört. Nichts anderes gilt für den auf § 823 Abs. 2 BGB iVm. Art. 33 Abs. 2 GG gestützten Schadensersatzanspruch, sofern das Begehren des unterlegenen Bewerbers darauf gerichtet war, auf einer Angestelltenstelle eingestellt oder auf einer solchen höher gruppiert zu werden (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. c, d ArbGG). Strebt der unterlegene Bewerber hin189 BGH v. 6.4.1995 – III ZR 183/94, BGHZ 129, 226 (234); BVerwG v. 21.8.2003 – 2 C 14/02, BVerwGE 118, 370 (378 f.) = NJW 2004, 870 = ZBR 2004, 101; v. 17.8.2005 – 2 C 37/04, BVerwGE 124, 99 = NVwZ 2006, 212; v. 26.1.2012 – 2 A 7/09, BVerwGE 141, 361 = NVwZ 2012, 1477. 190 BVerwG v. 17.8.2005 – 2 C 37/04, BVerwGE 124, 99 = NVwZ 2006, 212; v. 26.1.2012 – 2 A 7/09, BVerwGE 141, 361 = NVwZ 2012, 1477.

Hauck-Scholz

121

2.77

§ 2 Rz. 2.77

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

gegen Schadensersatz wegen unterlassener Einstellung in das Beamtenverhältnis an, bleibt ihm nur der Amtshaftungsanspruch und der Weg zu den ordentlichen Gerichten, weil er sich nicht auf eine quasi-vertragliche öffentlich-rechtliche Rechtsposition im Sinne der Rechtsprechung des BVerwG191 berufen kann, weil diese das Bestehen eines Beamtenverhältnisses voraussetzt.

2.78 Einen Schadensersatzanspruch eigener Art enthält § 15 Abs. 1 AGG, der zum Zuge kommt, wenn die Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruches des unterlegenen Bewerbers in einer Verletzung des Benachteiligungsverbots besteht (hierzu Rz. 2.28, 2.32, 2.68). Aufgrund dieses Schadensersatzanspruches steht dem unterlegenen Bewerber ein Anspruch auf entgangenen Verdienst zu192. Außerdem stellt § 15 Abs. 6 AGG klar, dass die Verletzung des Benachteiligungsverbots keinen Anspruch auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses begründet193. Im Gegensatz zum Amtshaftungsanspruch, zu dem die Obliegenheit des unterlegenen Bewerbers gehört, den drohenden Schaden durch die Einlegung von Rechtsbehelfen abzuwehren194, hat die Fristenregelung des § 15 Abs. 4 AGG zur Folge, dass der unterlegene Bewerber binnen zwei Monaten nach Zugang der Ablehnung den Schadensersatzanspruch gegenüber dem Arbeitgeber schriftlich geltend machen muss. Für die Klageerhebung gilt gemäß § 61b ArbGG eine Frist von drei Monaten nach schriftlicher Geltendmachung der Entschädigungsansprüche aus § 15 AGG. Im Übrigen bleiben gemäß § 15 Abs. 5 AGG Ansprüche gegen den Arbeitgeber, die sich aus anderen Rechtsvorschriften ergeben, unberührt. Dies ist wegen der einschränkenden Rechtsfolgen des § 15 Abs. 6 AGG von nicht unerheblicher praktischer Bedeutung.

IV. Beteiligung des Personalrats 1. Gegenstand der Beteiligung a) Ausschreibung aa) Verpflichtung zur Ausschreibung

2.79 Der erste Schritt auf dem Weg zur Besetzung eines freien Arbeitsplatzes ist regelmäßig die Ausschreibung der zu besetzenden Stelle (vgl. Rz. 2.3 ff.). Arbeitgeber des öffentlichen Diens191 BVerwG v. 25.8.1988 – 2 C 51/86, BVerwGE 80, 123 (125). 192 BAG v. 19.8.2010 – 8 AZR 530/09, NZA 2010, 1412 = AP AGG § 15 Nr. 5; zu weiteren Einzelheiten vgl. ErfK/Schlachter, § 15 AGG Rz. 4. 193 Der damit gesetzlich geregelte Ausschluss der Naturalrestitution erstreckt sich nicht nur auf die Einstellungs-, sondern auch auf die Beförderungs-/Höhergruppierungssituation. 194 Dazu gehört auch das gerichtliche Eilverfahren, das sich zur Durchsetzung des Bewerbungsverfahrensanspruches im Falle des Angriffs auf die zugunsten eines anderen Bewerbers getroffene Auswahlentscheidung oder im Falle eines Abbruchs des Auswahlverfahrens aufdrängt. Im Falle des Abbruchs des Auswahlverfahrens verlangt die Rechtsprechung bei Vermeidung der Verwirkung die Einhaltung einer Monatsfrist für die Einleitung des Eilverfahrens (BVerwG v. 3.12.2014 – 2 A 3/13, BVerwGE 151, 14 = NVwZ 2015, 1066 = ZBR 2015, 196; BAG v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, BAGE 161, 157 = NZA 2018, 515 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 79). Ein Hauptsacheverfahren gegen die Ernennung eines ausgewählten Bewerbers muss selbst bei Verletzung der Benachrichtigungspflicht über das Ergebnis des Auswahlverfahrens binnen Jahresfrist eingeleitet werden. Andernfalls verwirken nach Auffassung des BVerwG (BVerwG v. 30.8.2018 – 2 C 10/17, NVwZ 2018, 1866 mit instruktiver Anmerkung von Stuttmann = DÖV 2019, 114) sowohl der Bewerbungsverfahrensanspruch als auch die prozessuale Möglichkeit einer nachgehenden Anfechtungsklage.

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Hauck-Scholz/Pahlen

Beteiligung des Personalrats

Rz. 2.83 § 2

tes sind dazu gesetzlich verpflichtet, wobei zwischen interner und externer Ausschreibung zu unterscheiden ist. Die Verpflichtung zur internen Ausschreibung folgt meist unmittelbar aus dem jeweils zu beachtenden Personalvertretungsrecht (Ausnahmen: Bayern, Saarland, Sachsen und SachsenAnhalt), das entweder eine ausdrückliche entsprechende Verpflichtung beinhaltet (zB § 90 Nr. 6 PersVG Bln) oder ihr Bestehen jedenfalls zwingend voraussetzt. Wollte man es nämlich der freien Entschließung der Verwaltung überlassen, ob sie freie Stellen ausschreibt, fehlte es an einer gesicherten Grundlage für eine Einflussnahme des Personalrats auf die Ausschreibung zur Besetzung vorgesehener Stellen. Für den Anwendungsbereich des BPersVG (§ 75 Abs. 3 Nr. 14) hat das BVerwG diese bisher von ihm vertretene Ansicht allerdings aufgegeben, weil es inzwischen eine ausreichende Anzahl einfachgesetzlicher Ausschreibungsgebote gibt, die ein Festhalten an der bisherigen Rechtsprechung entbehrlich macht. Es reicht aus, die Mitbestimmung an außerhalb des BPersVG liegenden Regelungen anzubinden und den Personalrat zu ermächtigen, eine Abweichung von der regelmäßigen Ausschreibung auf ihre Recht- und Zweckmäßigkeit zu prüfen195. Diese liegt auch vor, wenn der Dienststellenleiter von einer sonst befolgten Praxis der Ausschreibung abweicht196. Will der Dienststellenleiter diese entweder generell oder im Einzelfall ändern, muss er den Personalrat im Wege der Mitbestimmung beteiligen197.

2.80

Angesichts des Regelungszwecks der Bestimmungen des Personalvertretungsrechts, die für einen angemessenen Ausgleich der Interessen der Dienststellenleitung und der dort Beschäftigten sorgen sollen, bedarf es einerseits keiner über diese Vorschriften hinausgehenden besonderen Regelungen, um die Pflicht zur internen Ausschreibung zu begründen198, andererseits folgt daraus gleichzeitig, dass eine Verpflichtung zur externen Ausschreibung dem Personalvertretungsrecht nicht zu entnehmen ist.

2.81

Rechtsvorschriften, die dem Arbeitgeber eine solche Verpflichtung auferlegen, haben keinen unmittelbaren Bezug zu den Beschäftigten der Dienststelle, sondern konkretisieren lediglich das Verfassungsgebot des Art. 33 Abs. 2 GG, nach dem jedem Deutschen nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung ein gleicher Zugang zu jedem öffentlichen Amt gewährleistet sein muss199. Dies hat gleichzeitig aber auch zur Folge, dass von einer in einer anderen gesetzlichen Bestimmung (zB § 8 Abs. 1 Satz 2 BBG) vorgesehenen Pflicht zur externen Ausschreibung auch dann nicht abgesehen werden darf, wenn der Personalrat seine Zustimmung dazu erteilt hat200.

2.82

bb) Grenzen der Ausschreibungspflicht Die Beteiligung des Personalrats an der Ausschreibung findet ihre Rechtfertigung darin, dass die Auswahl des Mitarbeiters, mit dem die freie Stelle besetzt wird, üblicherweise das berufliche Fortkommen oder sonstige berufliche Belange und Vorstellungen der anderen Beschäftigten der Dienststelle berühren wird, so dass ein kollektives Interesse an der Sicherung der 195 196 197 198

BVerwG v. 14.1.2010 – 6 P 10/09, BVerwGE 136, 29; v. 4.5.2012 – 6 PB 1/12, PersV 2012, 328. BVerwG v. 14.1.2010 – 6 P 10/09, BVerwGE 136, 29. BVerwG v. 4.2.2014 – 6 PB 36/13, PersV 2014, 138. BVerwG v. 8.3.1988 – 6 P 32/85, BVerwGE 79, 101 unter Aufgabe der früheren Rechtsprechung, zB BVerwG v. 13.10.1978 – 6 P 6/78, BVerwGE 56, 324; so auch RDW/Kaiser, Personalvertretungsrecht, § 75 BPersVG Rz. 485; aA Fischer/Goeres/Gronimus, § 75 BPersVG Rz. 106 (106c). 199 BVerwG v. 8.3.1988 – 6 P 32/85, BVerwGE 79, 101. 200 RDW/Kaiser, Personalvertretungsrecht, § 75 BPersVG Rz. 485.

Pahlen

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2.83

§ 2 Rz. 2.83

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

Möglichkeit der Bewerbung für jeden interessierten Mitarbeiter besteht. Dies kann bei entsprechendem Aufbau der Verwaltung die Zuständigkeit des Gesamtpersonalrats zur Folge haben201.

2.84 Die Ausschreibungspflicht besteht auch, wenn es sich um Stellen außerhalb der Beschäftigungsdienststelle handelt, etwa im Falle einer Abordnung zu einer anderen Dienststelle, bei einer Zuweisung zu einer zwischenstaatlichen Einrichtung oder einem Privatunternehmen, sofern der Dienststelle die Auswahlentscheidung zukommt202. Betroffen sind davon nicht nur die Modalitäten der Ausschreibung, sondern vor allem die Entscheidung darüber, ob eine dienststelleninterne Ausschreibung erfolgen soll. Sie bestimmt nämlich darüber, ob eine offene Konkurrenz ermöglicht oder die Stelle auf andere Weise vergeben werden soll. Das Interesse der Beschäftigten im Zusammenhang mit der Besetzung einer freien Stelle lässt sich daher nur dann gleichmäßig und zweckentsprechend sichern, wenn es nicht der freien Entscheidung des Arbeitgebers des öffentlichen Dienstes überlassen bleibt, ob er eine zu besetzende Stelle ausschreibt und erst danach ein Beteiligungsrecht des Personalrats entsteht, oder ob ihn zur Vermeidung des weitgehenden Leerlaufens des Beteiligungsrechts des Personalrats eine unmittelbare Verpflichtung zur internen Stellenausschreibung trifft. Soweit das BVerfG dazu in seiner Entscheidung zum Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holstein203 kritische Anmerkungen gemacht und ein bloßes Empfehlungsrecht der Einigungsstelle angenommen hat, entspricht dies nicht der Bedeutung dieses Mitbestimmungstatbestandes. Hier käme eher eine analoge Anwendung des § 69 Abs. 4 Satz 3 BPersVG im Einzelfall in Betracht204. Die Beteiligung der Personalräte an Stellenausschreibungen ist im BPersVG und den Landespersonalvertretungsgesetzen ganz unterschiedlich ausgestaltet.In einigen Ländern (zB in Bayern) fehlt eine solche Regelung völlig, in anderen (zB in Berlin) ist sie als Mitwirkung ausgeformt oder hat die Qualität eines Mitbestimmungsrechts, das im Falle der Durchführung des Einigungsverfahrens allerdings lediglich zu einer Empfehlung der Einigungsstelle führen kann205.

2.85 Aus dieser Zweckbestimmung folgt gleichzeitig aber auch die Grenze der Ausschreibungsverpflichtung. Mit Rücksicht auf die weitgehende Freiheit der Gestaltung der Organisation und des Personaleinsatzes durch die Dienststellenleitung besteht eine Pflicht zur Ausschreibung zB nicht, wenn die beabsichtigte Maßnahme von ihrem Anlass her darauf gerichtet ist, einen oder mehrere Beschäftigte generell mit anderen Aufgaben zu betrauen, das Aufgabenspektrum zu vergrößern oder es einzuschränken. Auch muss stets eine dienststelleninterne Auswahl unter verschiedenen persönlich und fachlich geeigneten Kandidaten dem Grunde nach möglich sein206. Ist dies der Fall, steht dem Personalrat auch ein Initiativrecht zu207.

2.86 Allerdings hat der Dienststellenleiter aufgrund seiner Organisations- und Personalhoheit die Befugnis, mitbestimmungsfrei festzulegen, welchen Anforderungen der künftige Stellen-

201 BVerwG v. 5.10.2011 – 6 P 18/10, NZA-RR 2012, 165. 202 RDW/Kaiser, Personalvertretungsrecht, § 75 BPersVG Rz. 489; Lorenzen/Rehak, § 75 BPersVG Rz. 629; Altvater/Berg, § 75 BPersVG Rz. 236. 203 BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, BVerfGE 93, 37. 204 RDW/Kaiser, Personalvertretungsrecht, § 75 BPersVG Rz. 486. 205 RDW/Kaiser, Personalvertretungsrecht, § 75 BPersVG Rz. 495. 206 BVerwG v. 29.1.1996 – 6 P 38/93, NZA-RR 1996, 398. 207 BVerwG v. 8.3.1988 – 6 P 32/85, BVerwGE 79, 101; aA RDW/Kaiser, Personalvertretungsrecht, § 75 BPersVG Rz. 492.

124

Pahlen

Beteiligung des Personalrats

Rz. 2.90 § 2

inhaber genügen muss208. Dies kann im Einzelfall, wenn es nämlich nicht mehrere diesen Anforderungen genügende Bewerber gibt, zum Wegfall der grundsätzlich bestehenden Pflicht zur internen Stellenausschreibung führen209. Bedarf das Absehen von einer Ausschreibung nicht der Zustimmung des Personalrats, berechtigt die grundsätzlich anzuerkennende Organisations- und Personalhoheit den Dienststellenleiter andererseits aber auch nicht, die Besetzung bestimmter Positionen generell von der Verpflichtung zur Ausschreibung auszunehmen210. b) Einstellung aa) Begriff Einstellung ist die Eingliederung einer neuen Dienstkraft in die Dienststelle, dh. die Zuweisung eines Arbeitsplatzes iS eines konkreten Arbeitsbereichs211. Sie muss in einer Weise in die Organisation einer Dienststelle einbezogen werden, dass die Interessen der Belegschaft iSd. § 77 Abs. 2 BPersVG betroffen werden können212.

2.87

Die Eingliederung erfolgt zunächst durch die tatsächliche Aufnahme der vorgesehenen Tätigkeit im Rahmen der Arbeitsorganisation der Dienststelle; darüber hinaus bedarf es jedoch auch einer rechtlichen Verknüpfung, die sowohl ein mit entsprechenden Schutzpflichten verbundenes Weisungsrecht der Dienststelle als auch die mit entsprechenden Schutzrechten verbundene Weisungsgebundenheit der Dienstkraft entstehen lässt. Dies erfolgt gegenüber Arbeitnehmern des öffentlichen Dienstes üblicherweise durch den Abschluss eines Arbeitsvertrages, allerdings sind auch mehrseitige Konstruktionen vorstellbar213.

2.88

Fallen abweichend vom Regelfall der tatsächliche Einsatz der Dienstkraft in der Dienststelle und der Abschluss des Arbeitsvertrages zeitlich auseinander, setzt das Mitbestimmungsrecht des Personalrats bereits bei der zeitlich ersten Maßnahme ein, um es nicht leer laufen zu lassen214, auch wenn Abschluss und Inhalt des Arbeitsvertrages sich eigentlich dem Mitbestimmungsrecht des Personalrats entziehen215 und es auch nicht auf die Wirksamkeit des Arbeitsvertrages ankommt, sofern wenigstens ein rechtliches Band existiert, aus dem Weisungsrecht und Weisungsgebundenheit entstehen216.

2.89

Dieser Gedanke rechtfertigt auch die Vorverlegung des Einsetzens des Mitbestimmungsrechts des Personalrats auf noch vor den genannten Hauptkonstellationen gelegene Zeitpunkte217. Dies gilt etwa für die Erteilung von Einstellungszusagen, trifft aber auch auf vorbereitende

2.90

208 BVerwG v. 5.9.1990 – 6 P27.87, ZTR 1991, 36; v. 29.1.1996 – 6 P 38/93, NZA-RR 1996, 398; RDW/Kaiser, Personalvertretungsrecht, § 75 Rz. 490; Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 173. 209 BVerwG v. 8.3.1988 – 6 P 32/85, BVerwGE 79, 101; v. 29.1.1996 – 6 P 38/93, NZA-RR 1996, 398; RDW/Kaiser, Personalvertretungsrecht, § 75 BPersVG Rz. 491; Fischer/Goeres/Gronimus, § 75 BPersVG Rz. 106a; Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 173a. 210 BVerwG v. 29.1.1996 – 6 P 38/93, NZA-RR 1996, 398. 211 BVerwG v. 25.9.1995 – 6 P 44/93, BVerwGE 99, 230. 212 BVerwG v. 18.6.2002 – 6 P 12/01, PersR 2002, 467. 213 BVerwG v. 12.4.2006 – 6 PB 1/06, NZA-RR 2006, 389. 214 Germelmann/Binkert/Germelmann, PersVG Berlin, § 87 Rz. 13; ähnlich BVerwG v. 26.1.2000 – 6 P 2/99, BVerwGE 110, 287. 215 BVerwG v. 3.2.1993 – 6 P 28/91, BVerwGE 92, 47. 216 BVerwG v. 3.2.1993 – 6 P 28/91, BVerwGE 92, 47; v. 20.5.1992 – 6 P 4/90, BVerwGE 90, 194. 217 Germelmann/Binkert/Germelmann, PersVG Berlin, § 87 Rz. 14.

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§ 2 Rz. 2.90

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

Maßnahmen zB bei der dem tatsächlichen Einsatz vorausgehenden Schaffung von Arbeitsgelegenheiten für Sozialhilfeempfänger zu218. bb) Beispielsfälle

2.91 Nach diesen Maßstäben sind als Einstellung angesehen worden – die Aufnahme eines Leiharbeitnehmers in eine Dienststelle zur Arbeitsleistung219; – der Einsatz einer Honorarkraft als Musiklehrer, wenn diese Arbeitnehmer ist220; – die Aufnahme der Tätigkeit einer Pflegekraft aufgrund eines mit der DRK-Schwesternschaft abgeschlossenen Gestellungsvertrages221; – die Schaffung von Arbeitsgelegenheiten für Sozialhilfeempfänger222; – die nicht nur vorübergehende und geringfügige Aufstockung eines Teil-Zeitarbeitsverhältnisses223; – die vertragslose Weiterbeschäftigung eines Mitarbeiters nach Beendigung eines befristeten Arbeitsverhältnisses224; – die Aufnahme der Tätigkeit des Mitarbeiters einer Drittfirma in der Dienststelle, wenn dies als Arbeitnehmerüberlassung anzusehen ist225; – die Versetzung226; – die nicht nur vorübergehende Umwandlung eines Teilzeitarbeitsverhältnisses in ein Vollzeitarbeitsverhältnis227; – der Einsatz von ABM-Kräften in einer Dienststelle des Bundes, wenn im Anschluss an die Eignungsbeurteilung dieser Dienststelle ein Arbeitsverhältnis mit einem Bundesland begründet wird, dessen Zweck die Ermöglichung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in der Einrichtung des Bundes ist228; – die Entfristung eines Arbeitsverhältnisses229;

218 BVerwG v. 26.1.2000 – 6 P 2/99, BVerwGE 110, 287. 219 BVerwG v. 20.5.1992 – 6 P 4/90, BVerwGE 90, 194 (wegen § 14 Abs. 4 AÜG auch bei kurzzeitigem Einsatz im Anwendungsbereich des BPersVG, BVerwG v. 7.4.2010 – 6 P 6/09, BVerwG 136, 271; iÜ nach Maßgabe des jeweils anzuwendenden LPersVG, vgl. BVerwG v. 25.4.2012 – 6 PB 24/11, PersR 2012, 324: keine Einstellung iSv. § 87 Nr. 1 PersVG Berlin, da kein Einsatz von mehr als zwei Monaten geplant war, BVerwG v. 27.11.1991 – 6 P 15/90, PersR 1992, 198). 220 BVerwG v. 12.4.2006 – 6 PB 1/06, NZA-RR 2006, 550. 221 BVerwG v. 18.6.2002 – 6 P 12/01, NZA-RR 2003, 340. 222 BVerwG v. 26.1.2000 – 6 P 2/99, BVerwGE 110, 287. 223 BVerwG v. 23.3.1999 – 6 P 10/97, BVerwGE 108, 347. 224 BVerwG v. 15.11.1995 – 6 P 2/94, PersR 1996, 278. 225 BVerwG v. 6.9.1995 – 6 P 9/93, BVerwGE 99, 214. 226 BVerwG v. 16.9.1994 – 6 P 33/93, PersR 1995, 20. 227 BVerwG v. 21.7.1994 – 6 PB 8/94, PersR 1994, 419; v. 23.3.1999 – 6 P 10/97, BVerwGE 108, 347. 228 BVerwG v. 15.3.1994 – 6 P 24/92, PersR 1994, 288. 229 BVerwG v. 2.6.1993 – 6 P 3/92, BVerwGE 92, 295.

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Beteiligung des Personalrats

Rz. 2.92 § 2

– der Einsatz von „Ein-Euro-Kräften“, sofern sie der Weisungsbefugnis des Dienststellenleiters unterliegen230; – die Verlängerung eines beendeten Arbeitsverhältnisses231; – die Übernahme eines Auszubildenden in ein Arbeitsverhältnis232; – die Aufnahme von Abrufkräften in eine Liste bei der Vereinbarung von Rahmenverträgen, jedoch nicht der Einsatz im Einzelfall233; – der Einsatz von einer gemeinnützigen Organisation bereitgestellter „Fellows“ innerhalb und außerhalb des Unterrichts an Brennpunktschulen234; – die Reaktivierung eines Beamten bei der Deutschen Post AG, dessen Beamtenverhältnis aufgrund einer Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit geendet hatte235, – der Einsatz von MAE-Kräften, die von einem privaten Dritten vermittelt und angeleitet werden, wenn die Dienststelle nicht selbst Maßnahmenträger ist236.

2.92

Keine Einstellung stellt dagegen dar: – die Weiterbeschäftigung eines gekündigten Arbeitnehmers nach zwischenzeitlicher Beseitigung der Rechtswirkungen der Kündigung durch Abschluss eines gerichtlichen Vergleichs237; – der Einsatz von Mitarbeitern eines externen Krankentransportunternehmens in einem Krankenhaus aufgrund eines Werkvertrages238; – die Abordnung eines Angestellten239; – die Umwandlung eines Vollzeitarbeitsverhältnisses in ein Teilzeitarbeitsverhältnis240; – der Einsatz von Reinigungskräften in einem Krankenhaus aufgrund eines Dienstleistungsvertrages mit einem Reinigungsunternehmen241; – die Beschäftigung eines Religionslehrers an einer staatlichen Schule auf der Grundlage eines mit der Kirche geschlossenen Gestellungsvertrages242;

230 BVerwG v. 21.3.2007 – 6 P 4.06, PersR 2007, 301; v. 21.3.2007 – 6 P 8.06, PersR 2007, 309; Hessischer VGH v. 22.6.2006 – 22 TL 2779/05, PersR 2006, 433; aA OVG Rheinland-Pfalz v. 17.5.2006 – 5 A 11752/05, PersR 2006, 431; Eichenhofer, RdA 2008, 32. 231 RDW/Kaiser, Personalvertretungsrecht, § 75 BPersVG Rz. 13. 232 LAG Hamm v. 14.7.1982 – 12 TaBV 27/82, DB 1982, 2303. 233 BVerwG v. 3.2.1993 – 6 P 28/91, BVerwGE 92, 47. 234 OVG Berlin-Brandenburg v. 15.9.2011 – OVG 60 PV 2/11, nv. 235 BAG v. 15.8.2012 – 7 ABR 6/11, PersV 2013, 145. 236 BVerwG v. 2.5.2014 – 6 PB 11/14, PersV 2014, 337; Klimpe-Auerbach, jurisPR-ArbR 36/2014 Anm. 5. 237 BVerwG v. 25.8.1988 – 6 P 36/85, ZTR 1989, 39. 238 BVerwG v. 13.4.2004 – 6 PB 2/04, ZTR 2004, 383; v. 8.1.2003 – 6 P 8/02, PersR 2004, 148. 239 BVerwG v. 29.1.2003 – 6 P 19/01, NZA-RR 2003, 503. 240 BVerwG v. 12.6.2001 – 6 P 11/00, NZA 2001, 1091. 241 BVerwG v. 4.9.1995 – 6 P 32/93, PersR 1995, 525. 242 BVerwG v. 23.8.1993 – 6 P 14/92, ZTR 1994, 37.

Pahlen

127

§ 2 Rz. 2.92

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

– die kurzzeitige Ferienvertretung durch Schüler oder Studenten243; – die Wiederaufnahme der Tätigkeit im Anschluss an einen die Beendigungswirkung einer Kündigung beseitigenden Vergleich, nicht jedoch bei rechtskräftiger Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses244; – ein Statuswechsel245; – der Einsatz eines Strafgefangenen in einem Krankenhaus auf Weisung der Anstaltsleitung mit dem Ziel der Resozialisierung246, – die Weiterbeschäftigung eines Mitglieds der Jugend- und Auszubildendenvertretung gemäß § 9 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 BPersVG247. c) Eingruppierung

2.93 Als Eingruppierung wird die Zuordnung einer Dienstkraft zu einem nach Tätigkeitsmerkmalen festgelegten Vergütungssystem verstanden248. Sie erfasst auch die Stufenzuordnung nach § 16 Abs. 2, 3 und 5 TV-L bzw. TVöD-Bund und setzt im Falle deren Anerkennung förderlicher Zeiten nicht voraus, dass der Personalrat ordnungsgemäß an der Aufstellung der dafür maßgeblichen Grundsätze beteiligt wurde249. Sie ist als „Ersteingruppierung“ notwendiger Bestandteil der Einstellung250, so dass etwa das PersVG Berlin anders als das BPersVG (§ 75 Abs. 1 Nr. 2) insoweit keinen ausdrücklich normierten Mitbestimmungstatbestand enthält. Dessen bedarf es auch nicht, wie sich daraus ergibt, dass § 75 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG durch das BVerwG lediglich „klarstellende“ Bedeutung beigemessen wurde251. In § 78 Abs. 2 Nr. 1 NdsPersVG sind Einstellung und Eingruppierung aus diesem Grunde zu einem gemeinsamen Tatbestand zusammengefasst worden252.

2.94 Die Eingruppierung ist kein Akt rechtlicher Gestaltung, es handelt sich vielmehr um die strikte Anwendung vorgegebener Regelungen253. Dies können Rechtsnormen, Tarifverträge oder auch interne Verwaltungsrichtlinien sein, die über den Gleichbehandlungsgrundsatz verbindlich werden können254. Die Mitbestimmung erschöpft sich in einer an dieselben rechtlichen

243 Bis zu zwei Monaten: BVerwG v. 27.11.1991 – 6 P 15/90, PersR 1992, 198; bis zu drei Monaten: in Anlehnung an § 75 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG RDW/Kaiser, Personalvertretungsrecht, § 75 BPersVG Rz. 11. 244 BVerwG v. 25.8.1988 – 6 P 36/85, PersR 1988, 298. 245 Begründung eines Arbeitsverhältnisses eines Beamten im Wege der sog. Insichbeurlaubung, BAG v. 10.12.2002 – 1 ABR 27/01, BAGE 104, 187; RDW/Kaiser, Personalvertretungsrecht, § 75 BPersVG Rz. 10. 246 BVerwG v. 14.8.2013 – 6 P 8/12, nv. 247 BVerwG v. 26.5.2015 – 5 P 9/14, NZA-RR 2015, 424; Fleuß, jurisPR-BVerwG 17/2015 Anm. 1. 248 BVerwG v. 21.3.2005 – 6 PB 8/04, NZA-RR 2005, 447; v. 8.12.1999 – 6 P 3/98, NZA-RR 2000, 234; BVerwG v. 22.9.2011 – 6 PB 15/11, PersV 2012, 28. 249 BVerwG v. 22.9.2011 – 6 PB 15/11, PersR 2011, 532; v. 7.3.2011 – 6 P 15/10, PersR 2011, 210. 250 OVG Berlin v. 23.6.1999 – 60 PV 3.99, PersR 2000, 249. 251 BVerwG v. 18.12.1979 – 6 P 15/79, PersV 1981, 290. 252 BVerwG v. 8.12.1999 – 6 P 3/98, NZA-RR 2000, 234; v. 18.12.1979 – 6 P 15/79, PersV 1981, 290. 253 BVerwG v. 21.3.2005 – 6 PB 8/04, NZA-RR 2005, 447. 254 BVerwG v. 14.6.1995 – 6 P 43/93, PersR 1995, 428; v. 13.2.1976 – 7 P 4.75, BVerwGE 50, 186; v. 13.12.1976 – 7 P 9.74, BVerwGE 50, 176.

128

Pahlen

Beteiligung des Personalrats

Rz. 2.97 § 2

Vorgaben gebundenen Kontrolle der Rechtmäßigkeit der beabsichtigten Eingruppierung255. Der Personalrat hat also nicht die Möglichkeit, rechtliche Gestaltungsspielräume zu nutzen, seine Aufgabe besteht allein darin, denselben Sachverhalt wie die Dienststelle auf der Grundlage derselben rechtlichen bzw. tariflichen Vorgaben zu beurteilen. Ihm kommt damit die Befugnis zu, prüfend darüber zu wachen, ob die beabsichtigte Eingruppierung mit dem anzuwendenden Tarifrecht in Übereinstimmung steht. Gleichzeitig hat er damit auch die Möglichkeit, darauf zu achten, dass das Tarifgefüge innerhalb der Dienststelle gewahrt wird und damit der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz verwirklicht wird. Es geht dabei im Wesentlichen um die Sicherung der dienststelleninternen Vergütungsgerechtigkeit256. Haben die Urheber einer Vergütungsordnung eine Stelle mit bindender Wirkung für den Arbeitgeber in ihr abstraktes Vergütungsschema eingereiht, ist daran auch die Beschäftigtenvertretung gebunden257. Der Personalrat hat nicht das Recht, die Aufstellung einer neuen oder die Änderung einer vorhandenen Vergütungsstruktur zu verlangen258. 2. Art der Beteiligung a) Mitbestimmung/Mitwirkung Umfang und Intensität des dem Personalrat im Zusammenhang mit der Einstellung eines Arbeitnehmers zukommenden Beteiligungsrechts sind einerseits von dem jeweils betroffenen Teilakt als auch der im Einzelfall zu beachtenden Regelung abhängig.

2.95

aa) Bedeutung der Organisations- und Personalhoheit Während sich die Beteiligung des Personalrats an der Stellenausschreibung mit Rücksicht auf die der Dienststelle zukommende Organisations- und Personalhoheit allein auf ein der Wahrung der Transparenz des Besetzungsverfahrens und der Herstellung von Chancengleichheit bei der Stellenbesetzung dienendes Mitwirkungsrecht beschränkt, das zudem wegen des Erfordernisses der möglichen Konkurrenz von mindestens zwei Bewerbern auch nicht bei jeder Stellenbesetzung realisiert werden kann259, gilt dies für die weiteren Phasen des Gesamtvorganges „Einstellung“ nicht. Insoweit besteht ein Mitbestimmungsrecht des Personalrats, das jedoch ebenfalls Beschränkungen unterliegt.

2.96

bb) Reichweite des Mitbestimmungsrechts Der Personalrat ist nicht der Interessenvertreter der für eine Einstellung in Betracht kommenden Dienstkraft. Ihm kommt vielmehr die Aufgabe zu, die kollektiven Belange der Angehörigen der Dienststelle zu wahren. Dies hat zur Folge, dass er seine Zustimmung zu der beabsichtigten Einstellung nicht etwa mit Blick auf die dem Bewerber angebotenen Vertragsbedingungen verweigern kann. Dies folgt im Bereich des Bundes und einiger Länder bereits daraus, dass das jeweils einschlägige Personalvertretungsgesetz nur einen beschränkten Katalog von Zustimmungsverweigerungsgründen enthält, ergibt sich im Übrigen (zB für den Bereich des PersVG Berlin) aus der Rollenverteilung zwischen Dienststelle und Personalrat.

255 BVerwG v. 14.6.1995 – 6 P 43/93, PersR 1995, 428; v. 12.9.1983 – 6 P 1/82, PersV 1985, 163. 256 BVerwG v. 14.6.1995 – 6 P 43/93, PersR 1995, 428; BAG v. 3.12.1985 – 4 ABR 60/85, BAGE 50, 258. 257 BAG v. 3.5.2006 – 1 ABR 2/05, DB 2006, 27 (46). 258 BVerwG v. 14.6.1995 – 6 P 43/93, PersR 1995, 428. 259 BVerwG v. 29.1.1996 – 6 P 38/93, NZA-RR 1996, 398; v. 5.9.1990 – 6 P 27.87, ZTR 1991, 36.

Pahlen

129

2.97

§ 2 Rz. 2.98

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

2.98 Diesem kommt der Sache nach allein ein Recht zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme zu260. Denn der Einstellungsbehörde kommt von Verfassungs wegen ein weiter Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu, in den die Personalvertretungen nicht eindringen können. Die Beurteilung der fachlichen Eignung und Leistung steht allein dem Dienststellenleiter zu261. Dies hat zur Folge, dass der Personalrat keine Gegenvorstellungen geltend machen kann, sondern zur Verweigerung der beantragten Zustimmung nur berechtigt ist, wenn der Dienststellenleiter bei seiner Auswahlentscheidung gesetzliche Bestimmungen nicht beachtet oder das ihm zukommende Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat, indem er etwa von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Maßstäbe nicht beachtet oder sachfremde Erwägungen angestellt hat262. Keinen tauglichen Zustimmungsverweigerungsgrund stellt dabei allerdings der Hinweis auf die faktische Einbuße an Beförderungschancen der bereits in der Dienststelle beschäftigten Mitarbeiter dar263, jedoch können nicht an die Eignungsbeurteilung anknüpfende sonstige Bedenken durchaus erhoben werden264. So kann die Zustimmungsverweigerung etwa darauf gestützt warden, dass der Dienststellenleiter ohne Zustimmung des Personalrats von der Ausschreibung der zu besetzenden Stelle abgesehen hat265. Allerdings setzt das voraus, dass das einschlägige Landespersonalvertretungsgesetz dazu ein Beteiligungsrecht enthält266.

2.99 Einschränkungen des Mitbestimmungsrechts des Personalrats können sich jedoch aus den jeweils zu beachtenden Personalvertretungsgesetzen ergeben. So schließt zB § 65 Abs. 3 Nr. 2 Alt. 2 NdsPersVG die Mitbestimmung des Personalrats für Beschäftigte aus, die in Personalangelegenheiten der Dienststelle entscheiden, dh. stellenplan- bzw. geschäftsordnungsmäßig die Befugnis besitzen, in Personalangelegenheiten in eigener Verantwortung endgültig zu entscheiden267.§ 81 Satz 1 PersVRP sieht dagegen eine Beteiligung des Personalrats in personellen Angelegenheiten von Bediensteten mit überwiegend wissenschaftlicher Tätigkeit nur auf deren Antrag vor, wobei auf den hochschulrechtlichen Status der Betroffenen abgestellt wird268. Selbst die bis zur Föderalismusreform 2006 als Rahmenvorschrift zu beachtende Regelung des § 104 BPersVG verpflichtete die Länder lediglich dazu, einen Kernbestand echter Mitbestimmungsfälle vorzusehen269. Dies hatte zur Folge, dass etwa der Ausschluss des Mitbestimmungsrechts des Personalrats bei der unmittelbar nach Abschluss der Ausbildung erfolgenden Einstellung von Lehrern nach § 67 Abs. 6 des SächsPersVG rechtlich nicht zu beanstanden war270. Dieser Gedanke traf auch auf den Ausschluss des Mitbestimmungsrechts bei der Besetzung von Stellen leitender Angestellter von Körperschaften des öffentlichen Rechts ohne Gebietshoheit nach § 84 Abs. 1 Satz 1 MBG SH271 bzw. die Reduzierung des Mitbestimmungsrechts des Personalrats auf den Fall einer entsprechenden Antragstellung durch den für die Besetzung einer leitenden Position vorgesehenen Bewerber gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 260 Vgl. BVerwG v. 7.11.2006 – 6 PB 15/06, PersV 2007, 151; v. 24.2.2006 – 6 P 4/05, PersR 2006, 255. 261 BVerwG v. 27.9.1993 – 6 P 4/93, BVerwGE 94, 178; v. 20.6.1986 – 6 P 4/83, BVerwGE 74, 273. 262 Germelmann/Binkert/Germelmann, PersVG Berlin, § 87 Rz. 37. 263 BVerwG v. 23.9.1992 – 6 P 24.91, PersR 1993, 24. 264 BVerwG v. 27.9.1993 – 6 P 4/93, BVerwGE 94, 178. 265 BVerwG v. 29.1.1996 – 6 P 38/93, NZA-RR 1996, 398. 266 Verneint für Rheinland-Pfalz von VG Mainz v. 21.7.2015 – 5 K 166/15 MZ, juris; Löbig, jurisPRArbR 38/2015 Anm. 4. 267 BVerwG v. 17.5.2010 – 6 P 7/09, PersV 2010, 544. 268 BVerwG v. 14.8.2012 – 6 PB 9/12, PersR 2012, 470. 269 BVerwG v. 28.7.2006 – 6 P 3/06, ZTR 2006, 675. 270 BVerwG v. 7.11.2006 – 6 PB 15/06. 271 BVerwG v. 22.3.2006 – 6 P 10/05, NZA-RR 2006, 255.

130

Pahlen

Beteiligung des Personalrats

Rz. 2.103 § 2

BPersVG272, seinen Ausschluss bei der Besetzung von Schulleiterpositionen gemäß § 13 Abs. 3 Nr. 2 PersVG Berlin273, auch derjenigen der Stellvertreter bei Übertragung der Befugnis zur Erstellung dienstlicher Beurteilungen274 sowie von Stellen mit künstlerischem Charakter zu, wobei dies auch für den Referenten für Öffentlichkeitsarbeit eines Kulturorchesters nach § 72 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 Nr. 3 NW PersVG275 oder bei entsprechender Vertragsgestaltung gemäß § 95 BaWü PersVG sogar den Bühneninspektor eines Schauspielhauses galt276. Das Mitbestimmungsrecht des Personalrats bei der Eingruppierung ist ebenfalls nicht umfassend. Es beinhaltet keine Gestaltungsmöglichkeiten, sondern beschränkt sich auf ein bloßes Mitbeurteilungsrecht (s. Rz. 2.94).

2.100

b) Entscheidungsvarianten Die dem Personalrat zukommenden Entscheidungsmöglichkeiten orientieren sich am Umfang des ihm jeweils zukommenden Beteiligungsrechts. Handelt es sich wie bei der Beteiligung an der Ausschreibung nach § 90 Nr. 6 PersVG Bln lediglich um ein Mitwirkungsrecht, ist die Angelegenheit in der im jeweiligen Personalvertretungsgesetz geregelten Weise zu behandeln, dh. nach Information und Anhörung des Personalrats hat die Dienststelle im Anschluss an form- und fristgerecht erhobene Einwendungen des Personalrats die Möglichkeit, selbst abschließend zu entscheiden.

2.101

In den Fällen der echten Mitbestimmung kommt der Dienststelle dagegen kein Alleinentscheidungsrecht zu.

2.102

c) Konfliktlösung Anders als im Fall der bloßen Mitwirkung entscheidet bei Meinungsverschiedenheiten im 2.103 Bereich der Mitbestimmung die Einigungsstelle. Dies setzt die Ordnungsgemäßheit ihrer Anrufung durch den Personalrat voraus, die nach dem im Einzelfall anzuwendenden Personalvertretungsgesetz an unterschiedliche Voraussetzungen im Hinblick auf die Wahrung von Fristen und Förmlichkeiten geknüpft ist. Bestehen insoweit keine Bedenken, entscheidet die Einigungsstelle im Rahmen der gestellten Anträge, ohne jedoch unmittelbar an sie gebunden zu sein. Dabei hat sie die im Einzelfall für den Umfang des Mitbestimmungsrechts geltenden Beschränkungen zu beachten (s. Rz. 2.93). Zudem ist ihr Votum mit Rücksicht auf das Demokratieprinzip (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 iVm. Art. 20 Abs. 2 GG) nicht bindend277. Ihr kommt kein verbindliches Letztentscheidungsrecht zu. Entscheidungen, die im Einzelfall wegen ihrer Auswirkungen auf das Gemeinwesen wesentlicher Bestandteil der Regierungsgewalt sind, dürfen der Willensbildung der Verwaltung nicht entzogen werden. Dies ist der Fall, wenn die Maßnahme hinsichtlich der Aufgabenerfüllung gegenüber dem Bürger wesentliche Auswirkungen hat278.

272 273 274 275 276 277 278

BVerwG v. 20.3.2002 – 6 P 6/01, PersR 2002, 302. BVerwG v. 22.6.2005 – 6 P 2/05, PersR 2005, 464. BVerwG v. 22.6.2005 – 6 P 8/04, PersR 2005, 414. BVerwG v. 7.10.2003 – 6 P 4/03, PersR 2004, 30. BVerwG v. 7.12.1994 – 6 P 2/92, BVerwGE 97, 159. BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, BVerfGE 93, 37. BVerwG v. 4.6.2010 – 6 PB 4/10, PersV 2010, 377.

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§ 2 Rz. 2.104

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

3. Ausübung des Beteiligungsrechts a) Zuständigkeit

2.104 Die Zuständigkeit für die Wahrnehmung von Beteiligungsrechten liegt jeweils bei dem Personalrat der Dienststelle, von der eine bestimmte Maßnahme beabsichtigt wird. Im Falle einer Einstellung ist also im Regelfall der Personalrat der Dienststelle zu beteiligen, in die der künftige Mitarbeiter eingegliedert werden soll.

2.105 Eine Ausnahme gilt für den Fall, dass die Auswahlentscheidung nicht von der Einstellungsbehörde getroffen wird. Trifft also in einem solchen Fall die Mittelbehörde die für die Einstellung maßgebliche Entscheidung, ist die Stufenvertretung zu beteiligen279.

2.106 Die Wahrnehmung der Rechte obliegt dem Gremium. Es handelt sich dabei nicht um ein laufendes Geschäft, das wirksam durch den Vorsitzenden oder den Vorstand des Personalrats erledigt werden könnte280. b) Unterrichtung aa) Allgemeines

2.107 Der erste Schritt zur Beteiligung des Personalrats ist stets dessen Information. Dies gilt für die Mitwirkung im Rahmen der Stellenausschreibung ebenso wie die Mitbestimmung bei der Einstellung im engeren Sinne einschließlich der erstmaligen Eingruppierung. Die Unterrichtungspflicht ist spiegelbildlicher Bestandteil des dem Personalrat jeweils zukommenden konkreten Beteiligungsrechts, findet seine Grundlage aber auch in dem allgemeinen Informationsanspruch, der in der Regel im jeweils anzuwendenden Personalvertretungsgesetz konkret normiert ist, jedenfalls aber aus dem Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit abzuleiten ist. Einer besonderen Aufforderung des Personalrats bedarf es nicht. Es handelt sich um eine der Dienststelle gesetzlich zugewiesene Aufgabe, deren Erfüllung zu ihren originären Verpflichtungen gehört. bb) Beteiligte Personen

2.108 Die Unterrichtung erfolgt durch die Dienststelle. Ihre Ausführung obliegt deren Leiter bzw. dessen Stellvertreter. Soweit dies im Einzelfall gesetzlich zugelassen ist, kann auch eine Vertretung durch eine andere Dienstkraft erfolgen281. Dabei wird allerdings vorausgesetzt, dass dieser entweder allgemein oder jedenfalls im konkreten Fall dieselben personalvertretungsrechtlichen Entscheidungsbefugnisse übertragen werden, die an sich dem Dienststellenleiter zukommen und sie diese auch tatsächlich wahrnimmt282.

2.109 Die Unterrichtungspflicht besteht gegenüber dem Personalrat. Zur Entgegennahme der Erklärung ist im Rahmen der laufenden Geschäfte jedenfalls dessen Vorstand berechtigt. Ob dies auch für den Vorsitzenden gilt, wie dies zB in § 26 Abs. 3 Satz 2 BetrVG vorgesehen ist, richtet 279 BVerwG v. 13.9.2002 – 6 P 4/02, PersR 2002, 515; v. 8.10.1980 – 6 P 16.79, BVerwGE 61, 51; abl. Wolber, RiA 1983, 212 für den Fall, dass bei einem einstufig gegliederten Sozialversicherungsträger wegen der Verselbständigung von Dienststellen ein Gesamtpersonalrat gebildet werden muss. 280 Germelmann/Binkert/Germelmann, PersVG Berlin, § 87 Rz. 6. 281 BVerwG v. 6.4.1989 – 2 C 26/88, PersV 1989, 531; OVG Mecklenburg-Vorpommern v. 14.12.1998 – 2 L 204/98, ZBR 2000, 102. 282 OVG Berlin v. 12.5.1998 – 60 PV 1.96, PersR 1999, 231.

132

Pahlen

Beteiligung des Personalrats

Rz. 2.114 § 2

sich nach der jeweiligen Regelung des einschlägigen Personalvertretungsgesetzes. Ist eine solche Kompetenzzuweisung nicht ausdrücklich erfolgt, geht eine dem Vorsitzenden erteilte Information erst dann beim Personalrat ein, wenn sie in den Machtbereich des Vorstands gelangt ist. Allerdings kann die Geschäftsordnung des Personalrats eine abweichende Regelung vorsehen283. cc) Zeitpunkt Die Unterrichtung des Personalrats hat bereits nach allgemeinen Grundsätzen so früh zu erfolgen, dass eine Willensbildung innerhalb des Gremiums noch möglich ist und die Entscheidung der Dienststelle zu diesem Zeitpunkt noch beeinflusst werden kann (s. Rz. 2.83).

2.110

dd) Umfang Die Information muss so umfassend erfolgen, dass der Personalrat auf ihrer Grundlage zur Wahrnehmung seiner gesetzlichen Befugnisse in der Lage ist. Er hat einen Anspruch auf Überlassung aller Informationen, die der Dienststelle zur Verfügung stehen. Es sind also die Personalien aller Bewerber mitzuteilen. Eine Vorauswahl ist unzulässig. Die Dienststelle hat dem Personalrat daher die Unterlagen sämtlicher Bewerber zu übermitteln. Dies schließt auch jene ein, die nach Ansicht der Dienststellenleitung für die beabsichtigte Einstellung nicht in Betracht kommen, und gilt auch für die Fälle, in denen eine Ausschreibung der Stelle nicht stattgefunden hat284.

2.111

Allerdings betrifft dies nur (noch) aktuelle Bewerbungen, so dass im Falle der Rücknahme durch den Bewerber oder der bereits erfolgten Zurückweisung einer Bewerbung durch die Dienststelle eine Unterrichtung grundsätzlich nicht erforderlich ist. Jedoch darf dies nicht dazu führen, dass das Mitbestimmungsrecht des Personalrats unterlaufen wird. Diese Ausnahme betrifft daher nur die Fallkonstellationen, in denen ein Bezug zu der aktuellen Stellenbesetzung ausgeschlossen werden kann. Dies ist etwa der Fall, wenn die Ablehnung bereits zu einem Zeitpunkt erfolgte, zu dem eine Stelle, von der die Bewerbung betroffen sein könnte, noch gar nicht vorhanden war285.

2.112

Die Mitteilungspflicht der Dienststelle umfasst neben der Angabe der Personalien der Bewerber sämtliche persönlichen Daten und Tatsachen, die für die Einstellung von Bedeutung sein können. Da der Personalrat einen Anspruch auf Informationen besitzt, die der Dienststelle vorliegen, beschränkt sich die Unterrichtungspflicht auch nur auf der Dienststelle bekannte Umstände. Dies gilt allerdings nicht, wenn der Bewerber der Dienststelle die Weitergabe konkret bezeichneter Daten an den Personalrat untersagt hat. Zu den erforderlichen Informationen gehören auch solche persönlichen Umstände (zB Schwerbehinderteneigenschaft, Schwangerschaft, Vorstrafen), die für die Besetzung der Stelle von Bedeutung sein können286.

2.113

Ein Anspruch auf Teilnahme an einem Vorstellungsgespräch lässt sich daraus allerdings nicht ableiten; denn dies ist erst Teil des Willensbildungsprozesses der Einstellungsbehörde, an dem der Personalrat nicht beteiligt ist. Etwas anderes gilt nur, wenn in dem jeweils anwend-

2.114

283 284 285 286

Germelmann/Binkert/Germelmann, PersVG Berlin, § 29 Rz. 46. BVerwG v. 11.2.1981 – 6 P 44/79, BVerwGE 61, 325. Germelmann/Binkert/Germelmann, PersVG Berlin, § 87 Rz. 38. Germelmann/Binkert/Germelmann, PersVG Berlin, § 87 Rz. 40.

Pahlen

133

§ 2 Rz. 2.114

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

baren Personalvertretungsgesetz dazu eine besondere Regelung vorhanden ist287. Die Rechtslage ist in den einzelnen Ländern insoweit sehr unterschiedlich288. Allerdings besteht auch kein rechtliches Hindernis an der Teilnahme eines Personalratsmitgliedes an einem solchen Gespräch, wenn der Dienststellenleiter dies gestattet hat oder eine entsprechende Vereinbarung getroffen wurde289. ee) Grenzen

2.115 Die Grenzen des Informationsanspruchs des Personalrats werden einerseits durch seine Zuständigkeit, andererseits aber auch durch einen etwaigen Rechtsmissbrauch gezogen. Allgemeine Schwierigkeiten wie etwa ein besonderer Verwaltungs- oder Kostenaufwand oder sonstige tatsächliche Probleme spielen demgegenüber keine Rolle, entscheidend ist die mit dem Unterrichtungsanspruch verfolgte Sicherung der sachgerechten Wahrnehmung der Rechte des Personalrats290. Grundsätzliche datenschutzrechtliche Beschränkungen bestehen nicht; denn der Personalrat ist nicht Dritter iSd. BDSG, sondern selbst Teil der speichernden Stelle291. Die Zulässigkeit der Einbeziehung des Personalrats richtet sich danach, ob der Umgang mit Arbeitnehmerdaten zur Erfüllung der personalvertretungsrechtlichen Aufgaben erforderlich ist. Dies ist im Rahmen eines Einstellungsvorgangs nicht zu bezweifeln (§ 68 BPersVG, § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG nF a.E.). Andererseits steht dem Personalrat ein dauerhafter Online-Zugriff auf elektronisch gespeicherte Arbeitnehmerdaten mangels Erforderlichkeit nicht zu.292 ff) Vorlage von Unterlagen

2.116 Auch die Verpflichtung zur Vorlage von Unterlagen ist am Normzweck ausgerichtet. Um dem Personalrat die Möglichkeit der Prüfung zu geben, welche sonstigen Mitarbeiter ggf. als Mitbewerber in Betracht kämen, und ihm damit die Möglichkeit zur Geltendmachung eines Zustimmungsverweigerungsrechts gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 2 BPersVG zu geben, hat der Personalrat293 sogar einen Anspruch auf dauerhafte Überlassung von Stellenplan und Personalbedarfsberechnungen294. Außerdem sind ihm die üblichen Bewerbungsunterlagen wie Bewerbungsschreiben, Personalfragebögen, Zeugnisse, Lebenslauf, ggf. auch das Ergebnis einer psychologischen Eignungsuntersuchung einschließlich der Testunterlagen zur Verfügung zu stellen295. c) Stellungnahme des Gremiums aa) Form

2.117 Hat die Dienststelle ihrer Informationsverpflichtung – ggf. nach Aufforderung zu ergänzender Begründung des Antrages – genügt, entscheidet der Personalrat über den Antrag der 287 BVerwG v. 2.6.1993 – 6 P 23/91, PersR 1993, 444; v. 21.12.2001 – 6 P 1/01, PersR 2002, 168; v. 27.9.2018 – 5 P 1/17, NZA-RR 2019, 165. 288 Janssen, jurisPR-ArbR 3/2019 Anm. 5. 289 Germelmann/Binkert/Germelmann, PersVG Berlin, § 87 Rz. 43. 290 BVerwG v. 16.10.1964 – VII P 7.63, BVerwGE 19, 325. 291 BAG v. 14.1.2014 – 1 ABR 54/12, NZA 2014, 738; Germelmann/Binkert/Germelmann, PersVG Berlin, § 73 Rz. 13. 292 BVerwG v. 19.3.2014 – 6 P 1/13, NZA-RR 2014, 387; ErfK/Franzen, § 26 BDSG Rz. 50. 293 Ruge/Krömer/Pawlak/Rabe v. Pappenheim, Lexikon Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst, 1. Aufl. 2019, 1. Bewerbermanagement. 294 BVerwG v. 23.1.2002 – 6 P 5/01, PersR 2002, 201. 295 VGH Baden-Württemberg v. 2.3.1982 – 15 S 1235/81, ZBR 1983, 137 (Ls.).

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Pahlen

Beteiligung des Personalrats

Rz. 2.122 § 2

Dienststelle durch Beschluss. Es handelt sich nicht um ein laufendes Geschäft, so dass eine Entscheidung des Gremiums in einer ordnungsgemäß einberufenen und durchgeführten Sitzung erforderlich ist. Die Stellungnahme bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform. Erforderlich ist die Unterschrift des Vorsitzenden bzw. des Stellvertreters, ggf. auch die eines der Gruppe der betroffenen angehörenden weiteren Vorstandsmitglieds.

2.118

bb) Inhalt der Stellungnahme Die Stellungnahme kann entweder zustimmend oder ablehnend erfolgen, sie kann aber auch eine Modifizierung des Antrags enthalten. In diesem Fall ist sie als Ablehnung zu werten. Erfolgt keine ausdrückliche Stellungnahme, wird nach Ablauf einer in dem jeweiligen Personalvertretungsgesetz normierten Frist die Zustimmung des Personalrats fingiert.

2.119

Eine den Eintritt der Fiktionswirkung verhindernde ablehnende Stellungnahme (einschließlich der Annahme in abändernder Form) bedarf der Begründung. Sie muss entweder die Erfüllung eines in dem jeweiligen PersVG näher bezeichneten Zustimmungsverweigerungsgrundes möglich erscheinen lassen oder aber bei einer weitergehenden Gesetzesfassung (wie etwa in § 79 PersVG Berlin) einen sachbezogenen Ablehnungsgrund enthalten. Dies ist dann nicht mehr der Fall, wenn der geltend gemachte Zustimmungsverweigerungsgrund sich dem Mitbestimmungstatbestand „Einstellung“ nicht mehr zuordnen lässt und daher rechtsmissbräuchlich ist296. Dies betrifft zB den Fall, dass der Personalrat seine Zustimmung mit der Begründung verweigert, dass der Arbeitsvertrag auf einer anderen als der von der Dienststelle angebotenen tarifvertraglichen Grundlage abgeschlossen werden müsste. Angesprochen ist damit nicht der Bereich „Eingliederung“, für den eine Zuständigkeit des Gremiums besteht, sondern die der Mitbestimmung des Personalrats entzogene privatautonome Gestaltung des Inhalts des Arbeitsvertrags297.

2.120

d) Durchführung der Einstellung aa) Wahrung der Rechte des Personalrats Hat der Personalrat dem Einstellungsantrag der Dienststelle zugestimmt oder ist mit Rücksicht auf das Fehlen einer (ordnungsgemäßen) Zustimmungsverweigerung die Zustimmungsfiktion eingetreten, kann die Einstellung durchgeführt werden.

2.121

bb) Verletzung der Rechte des Personalrats Liegt eine form- und fristgerecht erhobene Zustimmungsverweigerung vor, richtet sich das 2.122 weitere Vorgehen nach den Regelungen des jeweils anwendbaren PersVG. Regelmäßig bedarf es in einem solchen Fall weiterer Verhandlungen der Beteiligten im Rahmen eines Einigungsgesprächs. Führt dies zu einer Einigung, darf die Dienststelle nunmehr die beabsichtigte Einstellung durchführen. Bleibt die Einigungsverhandlung dagegen erfolglos, kann die Dienststelle an ihrer Entscheidung festhalten oder aber von ihr absehen. Bleibt die Verwaltung bei ihrer Entscheidung, kann der Personalrat dagegen unter nach dem jeweils anwendbaren Personalvertretungsgesetz unterschiedlichen Voraussetzungen die Einigungsstelle anrufen. In Betracht kommt ggf. auch die Einleitung eines Beschlussverfahrens vor dem Verwaltungsgericht. 296 BVerwG v. 27.9.1993 – 6 P 4/93, BVerwGE 94, 178. 297 BVerwG v. 15.11.1995 – 6 P 53/93, PersR 1996, 155.

Pahlen

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§ 2 Rz. 2.123

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

cc) Vorläufige Durchführung der Maßnahme

2.123 Ob die Dienststelle auch ohne das Vorliegen der Zustimmung des zuständigen Personalrats zur vorläufigen Durchführung der Einstellung berechtigt ist, richtet sich ebenfalls nach dem Inhalt des jeweils anwendbaren PersVG. Während § 69 Abs. 5 BPersVG der Dienststelle in Eilfällen das Recht zur vorläufigen Regelung überträgt, ist dies in anderen Personalvertretungsgesetzen (zB im PersVG Berlin) nicht der Fall. Hier dürfte eine Einstellung nicht vorgenommen werden.

2.124 Nach der Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung ist die vorherige Zustimmung des Personalrats Wirksamkeitsvoraussetzung für die jeweilige Maßnahme. Dies hat allerdings nicht zur Folge, dass ein vom Dienststellenleiter und der Dienstkraft abgeschlossener Arbeitsvertrag nichtig wäre, jedoch darf der Arbeitnehmer nicht beschäftigt werden, solange nicht die Zustimmung des Personalrats vorliegt298.

2.125 Eine abschließende Stellungnahme des BVerwG zu dieser Frage liegt noch nicht vor. Es hat allerdings in einer früheren Entscheidung die Frage aufgeworfen, ob nicht die Bindung der öffentlichen Verwaltung an das Haushaltsrecht und der Grundrechtsschutz des eingestellten Bewerbers es nahe legen, in einem solchen Fall ein Gebot zur Beendigung des wegen fehlerhafter Beteiligung des Personalrats kündbaren Beschäftigungsverhältnisses anzunehmen, wobei dieses Beendigungsgebot erst eingreifen und ein Kündigungsgrund auch erst dann entstehen soll, wenn sich der Standpunkt des Personalrats beim Abschluss des fortgeführten Beteiligungsverfahrens durchsetzt299. 4. Streitigkeiten a) Einigungsstelle

2.126 Hat das nach ordnungsgemäß erfolgter Zustimmungsverweigerung durch den Personalrat durchgeführte Einigungsgespräch nicht zu einer Lösung des Problems geführt und hat der Dienststellenleiter an seiner Einstellungsentscheidung festgehalten, kann der Personalrat nunmehr unter in den verschiedenen Personalvertretungsgesetzen unterschiedlich geregelten Voraussetzungen die Einigungsstelle anrufen (s. Rz. 2.122), der allerdings keine Letztentscheidungsbefugnis zukommt300. b) Verwaltungsgericht

2.127 Hat der Dienststellenleiter nach Auffassung des Personalrats bei der Einstellung eines Bewerbers sein Mitbestimmungsrecht verletzt, kann er dies im Beschlussverfahren, das nach den Regelungen des ArbGG durchgeführt wird, bei dem Verwaltungsgericht geltend machen.

2.128 Nach der früher hM war er dabei auf einen Antrag zur Feststellung der Verletzung seiner Rechte beschränkt. Das dafür erforderliche Interesse ergab sich aus den oben (Rz. 2.124) dar298 BAG v. 2.7.1980 – 5 AZR 1241/79, NJW 1981, 703. 299 BVerwG v. 7.12.1994 – 6 P 35/92, PersR 1995, 296 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BAG zum allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch, BAG v. 27.2.1985 – GS 1/84, BAGE 48, 122; vgl. auch Hantl-Unthan, „Einzelvertragliche Rechtsfolgen der kollektivrechtswidrig durchgeführten Arbeitnehmereinstellung im öffentlichen Dienst“, 1993, S. 279 ff. 300 BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, BVerfGE 93, 37 (73); v. 20.7.2001 – 2 BvL 8/00, NZA-RR 2002, 334.

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Beteiligung des Personalrats

Rz. 2.129 § 2

gestellten Folgen einer solchen Entscheidung für die tatsächliche Beschäftigung bzw. den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses des unter Verstoß gegen die Rechte des Personalrats eingestellten Arbeitnehmers. Nach der rechtskräftigen Feststellung der Verletzung des Mitbestimmungsrechts des Personalrats bei der Einstellung musste der Dienststellenleiter mit Rücksicht auf eine ihn nach Art. 20 Abs. 3 GG treffende öffentlich-rechtliche Verpflichtung die mitbestimmungswidrig durchgeführte Maßnahme rückgängig machen. Kam er dieser Pflicht nicht nach, konnte er im Wege der Dienstaufsicht dazu gezwungen werden301. Vorausgesetzt wurde auch hier, dass die Maßnahme noch rückgängig gemacht werden konnte; denn anderenfalls liefe das Beteiligungsrecht des Personalrats ins Leere302. Darüber hinausgehend hat das BVerwG allerdings in jüngeren Entscheidungen angenommen, 2.129 dass die Dienststelle objektiv-rechtlich verpflichtet sei, eine unter Missachtung der Mitbestimmungsrechte des Personalrats getroffene und in Vollzug gesetzte Maßnahme rückgängig zu machen, soweit dies rechtlich und tatsächlich möglich sei. In einem solchen Fall habe der Personalrat einen gerichtlich durchsetzbaren verfahrensrechtlichen Anspruch auf Nachholung des Mitwirkungsverfahrens303. Dieser kann auch im Wege der einstweiligen Anordnung durchgesetzt werden, durch die der Dienststellenleiter verpflichtet wird, das Beteiligungsverfahren einzuleiten oder fortzusetzen304; denn das personalvertretungsrechtliche Beschlussverfahren ist als objektives Verfahren ausgestaltet, das nicht dazu dient, der Personalvertretung die Durchsetzung subjektiver Rechte zu ermöglichen305. Ein darauf gerichteter Anspruch auch im Hauptsacheverfahren begegnet damit keinen Bedenken mehr306. Dagegen sind Verpflichtungs- oder Unterlassungsanträge unzulässig; denn der Sinn und Zweck der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften bestehen darin, dem Personalrat bestimmte Beteiligungsrechte zu sichern, nicht jedoch darin, ihm einen Anspruch auf ein konkretes Verhalten des Dienststellenleiters zu vermitteln307. Ein subjektiver Anspruch auf Rückgängigmachung einer unter Verstoß gegen ein Mitbestimmungsrecht des Personalrats durchgeführten Maßnahme bedarf dagegen einer besonderen Grundlage. Für das PersVG des Landes Brandenburg ist das Bestehen eines solchen Rechts vom BVerwG verneint worden308, während etwa § 63 NdsPersVG eine dies ausdrücklich anordnende Regelung enthält. Soweit die vergleichbare Vorschrift des § 58 MBG SH für verfassungswidrig erklärt wurde, beruhte dies darauf, dass es sich dabei um eine Annexregelung zu einer ingesamt verfassungswidrigen Norm handelte309. Gegebenenfalls kommt daneben auch ein Unterlassungsanspruch in Betracht310. Aller301 BVerwG v. 20.1.1993 – 6 P 18/90, PersR 1993, 307. 302 RDW/Kaiser, Personalvertretungsrecht, § 75 BPersVG Rz. 228. 303 BVerwG v. 4.6.1993 – 6 P 33/91, PersV 1994, 467; v. 16.9.1994 – 6 P 32/92, BVerwGE 96, 355; v. 9.11.1998 – 6 P 1/98, PersR 1999, 125; v. 23.8.2007 – 6 P 7/06, PersR 2007, 476; v. 28.8.2008 – 6 PB 19/08, PersR 2008, 458. 304 BVerwG v. 27.7.1990 – 6 PB 12/89, PersR 1990, 297; so auch OVG Berlin v. 18.7.1991 – Bv. Bln 9/91, PersR 1991, 422; OVG Niedersachsen v. 24.2.1993 – 18 M 6302/92, PersR 1994, 30; OVG Sachsen-Anhalt v. 26.5.1999 – A 5 S 5/99, PersR 2000, 163; aA OVG Nordrhein-Westfalen v. 6.9.1994 – 1 B 1548/94.PVB, PersR 1994, 571. 305 BVerwG v. 19.7.1994 – 6 P 33/92, PersR 1995, 128; OVG Berlin-Brandenburg v. 26.2.2009 – 62 PV 1.09, juris; s. auch Germelmann/Binkert/Germelmann, PersVG Berlin, 3. Aufl., § 79 Rz. 91 f.; krit. Schaub/Anuschek/Koch, ArbRHdb, § 268 Rz. 71a. 306 BVerwG v. 11.5.2011 – 6 P 4/10, PersV 2011, 343; Edenfeld, PersV 2001, 298; Neumann in jurisPR-BVerwG 18/2011 Anm. 5. 307 VGH Baden-Württemberg v. 2.7.2002 – PL 15 S 2497/01, NZA-RR 2003, 447 m. zahlr. w. N. 308 BVerwG v. 3.7.2013 – 6 PB 10/13, PersR 2013, 516. 309 BVerwG v. 11.5.2011 – 6 P 4/10, PersV 2011, 343; Edenfeld, PersV 2001, 298. 310 OVG Rheinland-Pfalz v. 22.6.1995 – 5 B 11743/95, PersR 1995, 348.

Pahlen

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§ 2 Rz. 2.129

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

dings ist mit der Begründung eines solchen subjektiven Rechts des Personalrats noch keine unmittelbare Aussage über die Zulässigkeit von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen im Innenverhältnis zwischen Personalrat und Dienststelle verbunden311.

V. Rechtsschutz (Konkurrentenklage) 1. Hauptsacheverfahren a) Allgemeines

2.130 Mit dem Begriff der „Konkurrentenklage“ wird das prozessuale Vorgehen einer Person bezeichnet, die mit ihrer Bewerbung um eine Stelle im öffentlichen Dienst, sei es im Beamtenverhältnis, sei es im Arbeitsverhältnis, erfolglos war. Hierzu gehören auch diejenigen Fälle, bei denen es um die Höhergruppierung/Beförderung einer bereits eingestellten Person geht. All diese Fallgestaltungen haben gemeinsam, dass dem unterlegenen Bewerber eine andere Person, nämlich der „Dritte“, vorgezogen wurde. Dieser Dritte ist insofern faktisch am Rechtsverhältnis beteiligt, als zwischen ihm und dem unterlegenen Bewerber eine „Alles-oder-nichts“Beziehung besteht. Die betreffende (Beförderungs-)Stelle kann nur einer von beiden erhalten; gerichtliche Entscheidungen zugunsten des einen stellen sich zugleich als Entscheidungen zulasten des anderen dar. Dies gilt jedenfalls für alle diejenigen Fälle, in denen mit der endgültigen Vergabe der streitbefangenen Stelle die Möglichkeit des unterlegenen Bewerbers entfällt, die betreffende Stelle selbst zu erhalten, selbst wenn die Vergabeentscheidung rechtswidrig war. Ein weiterer Anwendungsfall der Konkurrentenklage ist der Abbruch des Auswahlverfahrens durch den Arbeitgeber. In diesem Fall erlischt der Bewerbungsverfahrensanspruch nicht durch rechtsbeständige Vergabe der streitbefangenen Stelle an den ausgewählten Bewerber, sondern dadurch, dass der Arbeitgeber das Auswahlverfahren nicht fortsetzt, sondern abbricht.

2.131 Diese besondere Konstellation führt dazu, dass im Mittelpunkt der Gewährung von effektivem Rechtsschutz das Eilverfahren (Rz. 2.162 ff.) steht, weil nur durch eine für den unterlegenen Bewerber positive einstweilige Verfügung bzw. einstweilige Anordnung das Eintreten vollendeter Tatsachen im Hinblick auf die weitere Verfügbarkeit der streitbefangenen Stelle verhindert werden kann. Es bedurfte allerdings erst der Rechtsprechung des BVerfG, um die verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsfolgen im Hinblick auf die Gewährung von effektivem Rechtsschutz für das gerichtliche Eilverfahren zu ziehen312.

2.132 Die arbeitsrechtliche Konkurrentenklage spielt im Gegensatz zur beamtenrechtlichen Konkurrentenklage nach wie vor eine untergeordnete Rolle, obwohl sie vom BAG bereits seit längerer Zeit anerkannt ist. In letzter Zeit ist aber eine Zunahme von Verfahren zu verzeichnen, was sich nicht zuletzt an der Zunahme untergerichtlicher Entscheidungen zeigt313. Die 311 BVerwG v. 11.5.2011 – 6 P 4/10, PersV 2011, 343. 312 BVerfG v. 20.2.1998 – 1 BvR 661/94, BVerfGE 97, 298 (315); v. 24.9.2002 – 2 BvR 857/02, ZBR 2002, 427 = NVwZ 2003, 200; v. 29.7.2003 – 2 BvR 311/03, NVwZ 2004, 95 = ZBR 2004, 45; v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178 = Recht im Amt 2008, 26; BVerwG v. 21.8.2003 – 2 C 14.02, BVerwGE 118, 370 (373) = ZBR 2004, 101 = NJW 2004, 870 = DVBl. 2004, 317. 313 Vgl. zB LAG Hamm v. 21.7.2011 – 17 Sa 722/11, juris; LAG Schleswig-Holstein v. 16.8.2011 – 1 SaGa 8a/11, NZA-RR 2012, 49; LAG Köln v. 22.12.2011 – 13 SaGa 10/11, juris; LAG BerlinBrandenburg v. 28.6.2012 – 25 SaGa 863/12, juris; LAG Rheinland-Pfalz v. 27.9.2012 – 10 SaGa 6/12, juris.

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Pahlen/Hauck-Scholz

Rechtsschutz (Konkurrentenklage)

Rz. 2.133 § 2

Dominanz der Konkurrentenklage zur Besetzung von Beamtenstellen mag daher rühren, dass die Möglichkeit der Konkurrentenklage auch für Arbeitnehmerstellen noch nicht ins allgemeine Bewusstsein gelangt ist. Wie die beamtenrechtliche so wirft auch die arbeitsrechtliche Konkurrentenklage Probleme 2.133 auf, wenn man sie aus der Sicht des Dienstherrn bzw. des öffentlichen Arbeitgebers oder des ausgewählten Konkurrenten betrachtet314. Da die Auswahlentscheidung während einer Konkurrentenklage, sei es als Hauptsacheklage, sei es als Verfahren der einstweiligen Verfügung, nicht vollzogen werden darf, bleibt die zu besetzende Stelle bis zum rechtskräftigen Abschluss des Konkurrentenverfahrens (und ggf. eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens) vakant und zwingt den öffentlichen Arbeitgeber, die vorhandene Arbeit mit dem vorhandenen Personal zu bewältigen. Die von der Rechtsprechung, insbesondere vom BVerfG entwickelten, immer strengeren Anforderungen an eine rechtmäßige Auswahlentscheidung tun ein übriges. Auswahlentscheidungen sind im hohen Maße fehlerträchtig, so dass sich die Stellenvakanz aufgrund des Ergebnisses eines gerichtlichen Konkurrentenverfahrens nicht unerheblich verlängern kann. Der Ausbau des Schadensersatzanspruches aus Art. 33 Abs. 2 GG in den Fällen, in denen eine rechtswidrige Auswahlentscheidung verfrüht umgesetzt wurde, nimmt wegen der erheblichen finanziellen Folgen dem öffentlichen Arbeitgeber die Motivation, die Stellenvakanz vorzeitig zu beenden und durch diese Maßnahme seine Personalprobleme zu lösen. Hat es der öffentliche Arbeitgeber noch selbst in der Hand, die aufgezeigten Probleme und Nachteile durch sorgfältig getroffene und begründete Auswahlentscheidungen315 zu vermeiden, ist der ausgewählte Bewerber zum Warten verurteilt und davon abhängig, wie erfolgreich der öffentliche Arbeitgeber seine Auswahlentscheidung im gerichtlichen Verfahren verteidigt. Hat der öffentliche Arbeitgeber seine Auswahlentscheidung zur Unzeit vollzogen, droht dem ausgewählten Bewerber sogar, dass er seine Stelle wieder verliert. War mit der Stellenbesetzung ein Arbeitgeberwechsel verbunden, droht dem ausgewählten Bewerber nicht nur der Verlust der neuen Stelle, sondern auch die Unmöglichkeit, auf seine alte Stelle zurückzukehren, wenn er diese anlässlich des Arbeitgeberwechsels gekündigt hat. Schadensersatzansprüche gegen den neuen Arbeitgeber sind wenig Erfolg versprechend, beruht doch die Rechtsposition des ausgewählten Bewerbers auf einem rechts-, ja sogar verfassungswidrigen Verhalten des öffentlichen Arbeitgebers. Praxistipp: Ausgewählten Bewerbern wird empfohlen, sich vom öffentlichen Arbeitgeber unter Hinweis auf die notwendige Kündigung des bisherigen Arbeitsverhältnisses bei einem anderen Arbeitgeber schriftlich bestätigen zu lassen, dass gegen die Auswahlentscheidung keine Konkurrentenklage erhoben wurde. Ist die angeforderte Erklärung des öffentlichen Dienstherrn falsch, haftet dieser für den durch die Kündigung ausgelösten Arbeitsplatzverlust des ausgewählten Bewerbers bei seinem früheren Arbeitgeber. Erfordert die Umsetzung der Auswahlentscheidung keinen Arbeitgeberwechsel, sollte sich der ausgewählte Bewerber ein Rückkehrrecht an seinen früheren Arbeitsplatz schriftlich bestätigen lassen. Bevor die beiden beschriebenen Erklärungen des öffentlichen Arbeitgebers nicht vorliegen, ist von einem Antritt der neuen Stelle abzuraten.

314 Zur beamtenrechtlichen Konkurrentenklage vgl. statt vieler Schenke, NVwZ 2011, 321 (326 sub IV 1); Herrmann, NJW 2011, 653. Die Problematik liegt bei der arbeitsrechtlichen Konkurrentenklage nicht grundsätzlich anders. 315 Daran mangelt es vielfach, was durch die Vielzahl erfolgreicher gerichtlicher Eilverfahren und Hauptsacheverfahren belegt wird.

Hauck-Scholz

139

§ 2 Rz. 2.134

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

b) Klageantrag

2.134 Der angestrebte Rechtsschutz orientiert sich am klägerischen Begehren, das wiederum im Klageantrag seinen Ausdruck findet. Welche Klageanträge sinnvoll und zulässig sind, bestimmt sich nach dem materiellen Recht.

2.135 Wenn Ziel der Konkurrentenklage ist, die streitbefangene Stelle übertragen zu bekommen, setzt dies einen entsprechenden Rechtsanspruch voraus (Rz. 2.16). Dessen Voraussetzungen werden aber in den seltensten Fällen vorliegen.

2.136 Wenn der unterlegene Bewerber davon ausgeht, dass die zu seinen Lasten getroffene Auswahlentscheidung rechtswidrig ist, er aber wegen des weiten Beurteilungsspielraums des Arbeitgebers nicht sicher sein kann, dass die einzig rechtmäßige Entscheidung in seiner Auswahl besteht, wird er sinnvollerweise anstreben, seinen Bewerbungsverfahrensanspruch durchzusetzen, der darin besteht, dass der Bewerber um ein öffentliches Amt eine ermessens- und beurteilungsfehlerfreie Entscheidung über seine Bewerbung verlangen kann. Daraus leitet sich konkret der Anspruch des unterlegenen Bewerbers auf eine erneute Entscheidung über seine Bewerbung sowie auf Unterlassung anderweitiger Stellenbesetzung durch den Arbeitgeber bis zu einer rechtsfehlerfreien neuen Entscheidung ab (Rz. 2.17).

2.137 Die Durchsetzung eines solchen Begehrens erfordert eine Leistungsklage mit dem Antrag auf Verurteilung des Dienstherrn, über die Bewerbung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden316.

2.138 Ein Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit der Auswahlentscheidung ist zulässig317. Dagegen bedarf die angegriffene Auswahlentscheidung für den Fall ihrer Rechtswidrigkeit – anders als nach § 113 Abs. 5 VwGO – keiner Aufhebung. Vielmehr genügt ein Antrag auf Verurteilung des Dienstherrn, über die Bewerbung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden318. Mit diesem Antrag soll der Dienstherr zu einer Neuauswahl unter den Bewerbern bzw. einer Wiederholung der Auswahlentscheidung verpflichtet werden319.

2.139 Das BAG hat es für zulässig erachtet, einen Antrag auf Verurteilung des Dienstherrn zu stellen, die getroffene Auswahlentscheidung zur Besetzung der streitbefangenen Stelle unter Beachtung der Kriterien des Art. 33 Abs. 2 GG nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung ermessensfehlerfrei unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu wiederholen und über die Bewerbung des Klägers entsprechend Art. 33 Abs. 2 GG nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung zu entscheiden und es zu unterlassen, bei Meidung eines Ordnungsgeldes bis zu 500.000 DM oder Ordnungshaft, die streitbefangene Stelle mit einem Konkurrenten des Klägers zu besetzen und/oder die Aufgaben des 316 BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 59. 317 BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 59; v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, BAGE 124, 80 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 64; die Zulässigkeit der Feststellungsklage wird aus § 256 Abs. 2 ZPO (Zwischenfeststellungsklage) hergeleitet. Jedoch hat das BAG in der letztgenannten Entscheidung klargestellt, dass nur die Feststellung der Rechtswidrigkeit, nicht aber der Unwirksamkeit der Auswahlentscheidung verlangt werden könne, weil es sich um einen Realakt handele. 318 BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 59. 319 BAG v. 22.6.1999 – 9 AZR 541/98, BAGE 92, 112 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 49 = NZA 2000, 606; v. 5.3.1996 – 1 AZR 590/92 (A), BAGE 82, 211 = AP Nr. 226 zu Art. 3 GG; v. 2.12.1997 – 9 AZR 668/96, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 41; v. 2.12.1997 – 9 AZR 445/96, AP GG Art. 33 Nr. 40.

140

Hauck-Scholz

Rechtsschutz (Konkurrentenklage)

Rz. 2.141 § 2

Dienstpostens an den Konkurrenten zu übertragen, bevor nicht eine erneute Auswahlentscheidung erfolgt ist und ein Zeitraum von zwei Wochen nach Mitteilung an den Kläger über das Auswahlergebnis vergangen ist320.

Ebenfalls hat das BAG einen Antrag auf Übertragung der streitbefangenen Stelle als hinreichend bestimmt angesehen. Er bringe nämlich zum Ausdruck, dass der Kläger seine tatsächliche Beschäftigung auf der ausgeschriebenen Stelle anstrebe. Der Klageantrag umfasse damit die vom Arbeitgeber zu schaffenden rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen einschließlich der ggf. erforderlichen Vertragsänderung321. Im Falle einer Neueinstellung gehört dazu insbesondere der Abschluss eines Arbeitsvertrages. Diesem Anliegen des Bewerbers kann etwa durch folgenden Antrag entsprochen werden:

2.140

Der öffentliche Arbeitgeber wird verurteilt, das Angebot des Bewerbers auf Abschluss (Änderung) eines Vertrages anzunehmen, wonach er als [stichwortartige Beschreibung der angestrebten Stelle] zu beschäftigen und zu vergüten ist322.

Hat der Arbeitgeber das Stellenbesetzungsverfahren abgebrochen (s. Rz. 2.65) und will sich ein Bewerber gegen die Abbruchentscheidung wehren, muss er auf Verurteilung zur Fortführung des Stellenbesetzungsverfahrens klagen323.

2.140a

Der Antrag könnte lauten: Der öffentliche Arbeitgeber wird verurteilt, das Auswahlverfahren zur Besetzung der Stelle [die Stelle anhand des Ausschreibungstextes genau beschreiben!] bei Vermeidung eines vom Gericht festzusetzenden Zwangsgeldes für jeden Fall der Nichtbefolgung bis zu 25.000 Euro fortzusetzen.

Inzwischen hat sich allerdings die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Verfolgung dieses Rechtsschutzzieles im Hauptsacheverfahren nicht zielführend ist. Denn der Arbeitgeber wird durch die Erhebung einer solchen Klage nicht daran gehindert, die Konsequenzen aus den abgebrochenen Auswahlverfahren zu ziehen, die er für erforderlich hält, z.B. die Stelle neu auszuschreiben. Daher sind BVerwG und BAG324 übereinstimmend der Auffassung, dass der geeignete Rechtsbehelf gegen einen aus der Sicht des übergangenen Bewerbers rechtswidrigen Abbruch des Verfahrens ausschließlich die einstweilige Anordnung bzw. die einstweilige Verfügung ist (näher dazu Rz. 2.162 ff.). c) Prüfungsmaßstab und richterliche Kontrollbefugnis Klassische Fehler des öffentlichen Arbeitgebers bei Auswahlentscheidungen können in der Verletzung der Ausschreibungspflicht (s. Rz. 2.4 ff.), in einem grundlosen Abbruch eines Auswahlverfahrens (s. Rz. 2.65), in der Missachtung der Mitwirkungsbefugnisse der Personalvertretung325, der Verwehrung der Einsicht in die Personalakte (s. Rz. 2.62), der Verletzung des Leistungsprinzips (s. Rz. 2.23), dem Fehlen eines Anforderungsprofils (s. Rz. 2.56) sowie im

320 BAG v. 5.11.2002 – 9 AZR 451/01, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 57 = NZA 2003, 798. 321 BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 668/96, BAGE 87, 171 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 41 = NZA 1998, 882; v. 11.6.2013 – 9 AZR 668/11, NZA-RR 2014, 52, Rz. 14. 322 BAG v. 20.3.2018 – 9 AZR 249/17, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 80. 323 BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, NZA 2009, 901 = ZTR 2009, 502. 324 BVerwG v. 3.12.2014 – 2 A 3/13, BVerwGE 151, 14 = NVwZ 2015, 1066 = ZBR 2015, 196 Rz. 22; BAG v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, BAGE 161, 157 = NZA 2018, 515 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 79, Rz. 39. 325 Thüringer LAG v. 13.1.1997 – 8 Sa 232/96, AP ArbGG 1979 § 62 Nr. 10 = NZA-RR 1997, 234.

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§ 2 Rz. 2.141

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

Fehlen einer schriftlichen Niederlegung der maßgeblichen Auswahlerwägungen bestehen (s. Rz. 2.64). d) Darlegungs- und Beweislast

2.142 Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Kläger die Darlegungslast für seine Behauptung, sein Bewerbungsverfahrensanspruch sei verletzt326. Er kennt aber in der Regel die Einzelheiten des Ablaufs des Auswahlverfahrens und die Auswahlerwägungen des Arbeitgebers nicht. Hält der Arbeitgeber diese Gründe zurück, kommt der Kläger in eine ausweglose Situation327. Die Rechtsprechung hilft in vergleichbaren Fällen mit einem Auskunftsanspruch, gestützt auf § 242 BGB328. Voraussetzung hierfür ist, dass der Anspruchsberechtigte in entschuldbarer Weise über Bestehen und Umfang seines Rechts im Ungewissen ist, während der Verpflichtete unschwer Auskunft erteilen kann329. Außerdem kann ein solcher Auskunftsanspruch nur dann gewährt werden, wenn auch die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast einer Korrektur bedarf330. So liegt es aber hier: aus verfassungsrechtlichen Gründen, nämlich zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG, ist eine Modifikation der Darlegungslast geboten331. Ohne eine solche Korrektur würde nämlich allein aus Gründen des gerichtlichen Verfahrensrechtes (Darlegungs- und Beweislast) der Bewerbungsverfahrensanspruch des klagenden Bewerbers nicht durchsetzbar sein. Das eigentliche Anliegen des Klägers, nämlich eine Überprüfung der getroffenen Auswahlentscheidung zu erreichen, würde an einer ihm nicht erfüllbaren Darlegungslast, warum nämlich die getroffene Auswahlentscheidung rechtsfehlerhaft ist, scheitern. Wegen dieses Zusammenhanges zwischen materiellem Recht und Verfahrensrecht würde die Gewährleistung aus Art. 33 Abs. 2 GG leer laufen. Grundrechtsschutz ist auch durch die Gestaltung von Verfahren, und zwar sowohl des Verwaltungsverfahrens als auch des gerichtlichen Verfahrens, zu bewirken. Denn die Grundrechte beeinflussen nicht nur das gesamte materielle Recht, sondern auch das Verfahrensrecht, soweit dieses für einen effektiven Grundrechtsschutz Bedeutung hat332.

2.143 Es liegt eine vergleichbare Problemlage wie bei der abgestuften Darlegungs- und Beweislast bei einer Sozialauswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG vor333. Kommt der Arbeitgeber daher 326 Allgemein zum den Zivilprozess und das arbeitsgerichtliche Verfahren beherrschenden Beibringungsgrundsatz Zöller/Greger, vor § 128 ZPO Rz. 10. 327 Vgl. Kuhla, FS Raue, 2006, S. 173 (185). 328 Thüringer LAG v. 13.1.1997 – 8 Sa 232/96, AP ArbGG 1979 § 62 Nr. 10 = NZA-RR 1997, 234 mwN. 329 BAG v. 18.1.1996 – 6 AZR 314/95, AP Nr. 25 zu § 242 BGB Auskunftspflicht = EzA § 242 BGB Auskunftspflicht, Entsch. 5. 330 Vgl. BAG v. 7.9.1995 – 8 AZR 828/93, AP Nr. 24 zu § 242 BGB Auskunftspflicht = EzA § 242 BGB, Auskunftspflicht, Entsch. 4. 331 Thüringer LAG v. 13.1.1997 – 8 Sa 232/96, AP ArbGG 1979 § 62 Nr. 10 = NZA-RR 1997, 234. Zu den Beweiserleichterungen beim Schadensersatzanspruch wegen Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruches s. Rz. 2.76. 332 BVerfG v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, BVerfGE 84, 34 (45 f.), st. Rspr.; Höfling, ZBR 1999, 73 (74). 333 So auch Thüringer LAG v. 13.1.1997 – 8 Sa 232/96, AP ArbGG 1979 § 62 Nr. 10 = NZA-RR 1997, 234; LAG Nürnberg v. 6.12.2005 – 7 Sa 192/05, NZA-RR 2006, 273 (276). Vgl. ferner Laber, ArbRB 2006, 221 (223). Die von Zimmerling, S. 28 (Rz. 46), vorgenommene Differenzierung zwischen verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Fehlern verkennt, dass es bei allen Fehlerarten um dasselbe Problem geht, nämlich die mehr oder minder vorhandene Kenntnis

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Rechtsschutz (Konkurrentenklage)

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trotz Aufforderung durch den Arbeitnehmer seiner Mitteilungspflicht nicht nach, so ist der Vortrag des Arbeitnehmers im Hinblick auf die Fehlerhaftigkeit der Auswahlentscheidung nach den Grundsätzen der abgestuften Darlegungs- und Beweislast gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als unstreitig anzusehen334. Dieses im Zivilprozess und im arbeitsgerichtlichen Verfahren wohlbekannte Prinzip ist aus den angeführten verfassungsrechtlichen Gründen auf die Konkurrentenklage übertragbar. Daraus ergeben sich gewisse Besonderheiten für das Gericht im Hinblick auf die Aufklärung des Sachverhalts: Bereits § 56 Abs. 1 Satz 1 ArbGG legt als Soll-Bestimmung die Pflicht des Vorsitzenden fest, die streitige Verhandlung so vorzubereiten, dass sie möglichst in einem Termin zu Ende geführt werden kann. Hierzu gehört gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ArbGG, den Parteien die Ergänzung oder Erläuterung ihrer vorbereitenden Schriftsätze aufzugeben und ihnen insbesondere eine Frist zur Erklärung über bestimmte klärungsbedürftige Punkte zu setzen. Als Schranke dieser Aufklärungspflicht allgemein gilt das Verbot der Amtsermittlung335. Grundlage für Aufklärungsaktivitäten des Vorsitzenden muss daher stets ein Sachvortrag der Parteien sein, der ergänzungs- bzw. erläuterungsbedürftig ist. Dieser Grundsatz bedarf jedoch bei der Konkurrentenklage einiger Modifikationen. Dabei ist zwischen Hauptsacheverfahren und gerichtlichem Eilverfahren (Rz. 2.162 ff.) zu differenzieren.

2.144

Der Konkurrentenkläger, der sich gegen eine für ihn nachteilige Auswahlentscheidung wendet, muss mindestens vortragen, dass und warum die getroffene Auswahlentscheidung rechtswidrig ist und dass bei einer rechtsfehlerfreien Auswahlentscheidung nicht ausgeschlossen werden kann, dass er ausgewählt worden wäre. Sodann muss er darlegen, dass ihm mangels Kenntnis der Auswahlgründe und insbesondere mangels Kenntnis der Akten des Beklagten über das Auswahlverfahren ein konkreterer Sachvortrag derzeit nicht möglich ist. Ein solcher Sachvortrag erfordert seitens des Gerichts im Rahmen des § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ArbGG wegen der nunmehr dem Beklagten obliegenden Darlegungslast, konkret zum Auswahlverfahren und den Auswahlgründen vorzutragen, keine weiteren Aktivitäten (§ 138 Abs. 3 ZPO). In der Praxis der Arbeitsgerichte kommt es jedoch häufig vor, dass die Erwiderung des Dienstherrn lediglich in pauschaler Weise dahingehend erfolgt, die getroffene Auswahlentscheidung sei nicht zu beanstanden, weil der Dienstherr im Rahmen seines Auswahlermessens den bestgeeigneten Bewerber bezüglich der streitbefangenen Stelle ausgewählt habe. Ein solch pauschaler Sachvortrag genügt nicht den Anforderungen, weil ohne Offenlegung der Auswahlgründe in substantiierter und belegter Form eine gerichtliche Überprüfung der Frage der Rechtmäßigkeit der getroffenen Auswahlentscheidung und damit effektiver Rechtsschutz nicht möglich ist. Auf eine solche Überprüfung hat der Kläger jedoch einen Rechtsanspruch. Demgemäß ist336 der beklagte Dienstherr durch das Gericht aufzufordern, die notwendige Substantiierung vorzunehmen und insbesondere den Sachvortrag zu belegen. Die wichtigsten Unterlagen in diesem Zusammenhang sind die Akten, die anlässlich des Auswahlverfahrens entstanden sind, sowie die Personalakten der konkurrierenden Bewerber. Unterlässt der beklagte Dienstherr, der gerichtlichen Auflage bezüglich der Substantiierung seines Verteidigungsvorbringens nachzukommen, ist das Vorbringen des Klägers als unstreitig der ge-

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des Klägers über zumeist interne Vorgänge beim beklagten Arbeitgeber. Somit kann eine Differenzierung nur danach erfolgen, wie viele Informationen der Kläger zu den einzelnen Gesichtspunkten besitzt. 334 Thüringer LAG v. 13.1.1997 – 8 Sa 232/96, AP ArbGG 1979 § 62 Nr. 10 = NZA-RR 1997, 234; Kuhla, FS Raue, 2006, S. 173 (185). 335 Vgl. Germelmann/Matthes/Prütting/Schleusener, § 56 ArbGG Rz. 7. 336 Auch wenn § 56 Abs. 1 Satz 1 ArbGG nur eine Soll-Bestimmung ist.

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§ 2 Rz. 2.145

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

richtlichen Entscheidung zugrunde zu legen (§ 138 Abs. 3 ZPO)337. Trägt der beklagte Dienstherr zwar vor, werden aber seine Bewertungen, die zur Auswahlentscheidung geführt haben, nicht oder nur teilweise durch Tatsachen untersetzt, darf sich das Gericht damit nicht begnügen. Entweder das Gericht präzisiert seine Auflage gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ArbGG im Hinblick auf die fehlenden Tatsachenbehauptungen des Dienstherrn oder aber es wendet § 138 Abs. 3 ZPO zulasten des Dienstherrn an.

2.146 Um den Dienstherrn nachdrücklich auf seine Substantiierungspflicht hinzuweisen, empfiehlt es sich, schon mit dem ersten Auflagenbeschluss gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ArbGG auf die Möglichkeit der Anwendung des § 138 Abs. 3 ZPO hinzuweisen. Dies erscheint schon im Hinblick auf § 139 Abs. 2 und 3 ZPO (Hinweispflicht des Gerichts) ratsam, zumal eine Verletzung dieser Hinweispflichten ein rechtsmittelfähiger Verfahrensfehler ist. e) Aktenbeiziehung

2.147 Ungeachtet des zivilprozessualen Beibringungsgrundsatzes, der auch im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren gilt, bestimmt § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 ArbGG, dass der Kammervorsitzende, soweit es sachdienlich erscheint, von den Parteien die Vorlegung von Urkunden338 und von Behörden die Mitteilung von Urkunden und die Erteilung amtlicher Auskünfte verlangen soll. Durch seinen Charakter als Soll-Bestimmung unterscheidet sich diese Rechtsnorm von § 142 ZPO, der die entsprechenden Befugnisse lediglich als Kann-Bestimmung ausgestaltet hat.

2.148 § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 ArbGG ist im Lichte des Gebotes effektiver Rechtsschutzgewährung bei Konkurrentenklagen (Rz. 2.131) extensiv auszulegen, sofern der Kläger seinen Bewerbungsverfahrensanspruch einschließlich seines Anspruches auf Auskunftserteilung über die wesentlichen Auswahlgründe schlüssig vorgetragen und auf die vorzulegenden Akten Bezug genommen hat339. Denn damit hat er, soweit möglich, seiner Darlegungslast genügt. Die Aktenbeiziehung gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 ArbGG dient dann der Effektivierung der Dispositionsmaxime in Richtung auf eine Konzentration und Beschleunigung des Prozesses.

2.149 Soweit es um Personalakten, insbesondere des am Verfahren nicht ohne Weiteres beteiligten ausgewählten Bewerbers, geht, kann an dem Urteil des BAG vom 20.2.1975340 für die Konkurrentenklage nicht festgehalten werden, wonach die Aktenvorlage – offenbar stets – an die Zu337 Vgl. auch Thüringer LAG v. 13.1.1997 – 8 Sa 232/96, AP ArbGG 1979 § 62 Nr. 10 = NZA-RR 1997, 234. 338 Urkunden sind auch Akten, insbesondere auch Personalakten, vgl. Germelmann/Matthes/Prütting/Schleusener, § 56 ArbGG Rz. 13. 339 Vgl. Germelmann/Matthes/Prütting/Schleusener, § 56 ArbGG Rz. 9; Zöller/Greger, § 142 ZPO Rz. 2. Ob auch bei Konkurrentenklagen für die Aufforderung zur Aktenvorlage durch den öffentlichen Dienstherrn verlangt werden kann, dass dieser zuvor den Sachvortrag des Klägers in erheblicher Weise bestritten hat (so aber Schleusener, aaO), dürfte zweifelhaft sein. Denn angesichts des Umstandes, dass der Kläger in der Regel die maßgeblichen Gründe für die getroffene Auswahlentscheidung nicht kennt, wird dessen Sachvortrag zunächst nur in der Behauptung bestehen können, die Auswahlentscheidung sei rechtsfehlerhaft getroffen und er, der Kläger, sei der am besten geeignete Bewerber. Das Gericht kann in solchen Fällen unterstellen, dass der beklagte Dienstherr einen solchen Sachvortrag bestreitet, sonst hätte er die angegriffene Auswahlentscheidung von vornherein zugunsten des Klägers treffen können. 340 BAG v. 20.2.1975 – 2 AZR 534/73, JZ 1975, 737.

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Rechtsschutz (Konkurrentenklage)

Rz. 2.151 § 2

stimmung des Betroffenen gebunden ist341. Wer sich an einem Auswahlverfahren um ein öffentliches Amt iSd. Art. 33 Abs. 2 GG beteiligt, muss wissen, dass der übergangene Bewerber einen Rechtsanspruch auf richterliche Kontrolle der getroffenen Auswahlentscheidung hat. Dadurch wird das Persönlichkeitsrecht aller Beteiligten insofern beschränkt, als zum Zwecke effektiver Rechtsschutzgewährung und zur Erfüllung des Justizgewährungsanspruches durch das Gericht die Akteneinsicht geboten ist. Das Recht der Akteneinsicht steht aufgrund des Grundsatzes der Parteiöffentlichkeit auch dem konkurrierenden Bewerber (Kläger) zu. Jedoch kann es geboten sein, vergleichbar der Praxis des Hessischen VGH342, die Akteneinsicht nur dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mit der Auflage zu gewähren, dem Kläger selbst die Akteneinsicht nur in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten ohne die Möglichkeit, eigene Kopien zu fertigen, zu gestatten343. f) Beteiligung des ausgewählten Bewerbers am Verfahren Im Gegensatz zum Verwaltungsprozess kennen der Zivilprozess und das arbeitsgerichtliche 2.150 Verfahren das Rechtsinstitut der Beiladung344 nicht. In der Regel hat jedoch der ausgewählte Bewerber ein nicht unerhebliches Interesse am Ausgang der Konkurrentenklage, droht ihm doch, dass der Arbeitgeber verpflichtet wird, die zu seinen Gunsten getroffene Auswahlentscheidung neu zu treffen und bis dahin nicht zu vollziehen. Zwar ist der ausgewählte Bewerber am Rechtsverhältnis, das zwischen dem unterlegenen Bewerber und dem Arbeitgeber aufgrund der Bewerbung des unterlegenen Bewerbers entstanden ist, nicht beteiligt. Jedoch wird der Gegenstand der Konkurrentenklage, nämlich die zu besetzende Stelle, von beiden Konkurrenten beansprucht, obwohl die Stelle nur einmal besetzt werden kann. Hinzu kommt, dass beide Bewerber gleichermaßen den Bewerbungsverfahrensanspruch aus Art. 33 Abs. 2 GG sowie den Anspruch auf effektive Rechtsschutzgewährung für sich beanspruchen können. Der beklagte Arbeitgeber hat das Interesse, dass die zwischen ihm und dem unterlegenen Bewerber ergangene Gerichtsentscheidung ungeachtet der Bestimmung des § 325 ZPO auch im Verhältnis zum ausgewählten Bewerber verbindlich ist. Denn nur dann ist er gegen widersprechende Entscheidungen, die einerseits der unterlegene Bewerber, andererseits der ausgewählte Bewerber gegen ihn erstreiten, geschützt. Das Institut der Beiladung gemäß § 65 VwGO wird sowohl den Interessen des ausgewählten Bewerbers als auch des Arbeitgebers gerecht. Denn der beizuladende ausgewählte Bewer341 Das ergibt sich schon aus dem neugefassten § 142 Abs. 2 ZPO, der allein auf Zumutbarkeit für den Dritten abstellt. Die Anwendbarkeit des § 142 Abs. 2 ZPO im arbeitsgerichtlichen Verfahren betont Germelmann/Matthes/Prütting/Schleusener, § 56 ArbGG Rz. 8. 342 Hessischer VGH v. 7.10.1993 – 1 TJ 1705/93, NVwZ 1994, 398 = DÖV 1994, 127 = DVBl. 1994, 592. 343 Hierin könnte eine Einschränkung der Rechtsstellung eines Klägers gesehen werden, der sich nicht anwaltlich vertreten lassen möchte, wofür auch Kostengründe – gerade im Hinblick auf die Bestimmung des § 12a ArbGG – sprechen können. Jedoch müssen solche Gesichtspunkte hinter den Anforderungen des Datenschutzes zurücktreten, zumal eine „arme Partei“ die Möglichkeit hat, Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts zu erhalten. 344 Diese ist in § 65 VwGO geregelt. Hiernach kann das Gericht von Amts wegen oder auf Antrag andere Personen, deren rechtliche Interessen durch die Entscheidung berührt werden, beiladen. Gem. § 66 VwGO kann der Beigeladene innerhalb der Anträge eines Beteiligten selbständig Angriffs- und Verteidigungsmittel geltend machen und alle Verfahrenshandlungen wirksam vornehmen. Stellt der Beigeladene im Verfahren Sachanträge, nimmt er am Kostenrisiko teil. Ihm können daher die Kosten des Rechtsstreits ganz oder teilweise auferlegt werden, soweit das Gericht seinen Sachanträgen nicht entspricht.

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§ 2 Rz. 2.151

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

ber hat alle prozessualen Handlungsmöglichkeiten wie eine Partei, so dass er selbst Einfluss auf den Ausgang der Konkurrentenklage nehmen kann. Die ergangene Gerichtsentscheidung bindet gemäß § 121 Nr. 1, § 63 Nr. 3, § 65 VwGO auch den Beigeladenen.

2.152 Konkurrenzbeziehungen solcher Art sind dem Zivilrecht grundsätzlich fremd. Dies mag erklären, warum ZPO und ArbGG die Beteiligungsmöglichkeiten von Dritten am Rechtsstreit nur rudimentär ausgebaut haben. Insbesondere ist nicht vorgesehen, dass ein Dritter von Amts wegen am Rechtsstreit beteiligt wird. Stets ist vielmehr die Initiative entweder des Dritten oder einer der Parteien erforderlich. Die Möglichkeit, eine solche Initiative zu ergreifen, setzt daher als Minimum die Kenntnis von diesem Rechtsstreit voraus.

2.153 Diese Kenntnis ist jedenfalls beim beklagten Arbeitgeber gegeben, so dass dieser die Möglichkeit hat, im Falle einer Konkurrentenklage dem von ihm ausgewählten Bewerber gemäß § 72 ZPO den Streit zu verkünden. Ein solches Vorgehen ist jedenfalls dann sinnvoll, wenn der Dienstherr erreichen will, dass das Prozessergebnis auch gegenüber dem ausgewählten Bewerber wirkt. Denn nach § 74 Abs. 1 und 2 ZPO entsprechen die Wirkungen einer Streitverkündung den Wirkungen einer Nebenintervention. Diese bestehen aber gemäß § 68 ZPO darin, dass der Nebenintervenient im Verhältnis zur Hauptpartei mit der Behauptung nicht gehört wird, dass der Rechtsstreit, wie er dem Richter vorgelegen hat, unrichtig entschieden sei. Damit wird eine rechtskraftähnliche Bindungswirkung im Folgeprozess an das im Hauptprozess ergangene Urteil erreicht345. Diese geht sogar noch weiter als eine reine Rechtskraftwirkung, weil sie sich nicht nur auf den Entscheidungstenor bezieht, sondern auch auf die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der Entscheidung.

2.154 Voraussetzung für eine Streitverkündung gemäß § 72 ZPO durch den Arbeitgeber ist, dass dieser im Falle seines Unterliegens im Konkurrentenrechtsstreit einen Schadensersatzanspruch des ausgewählten Bewerbers besorgt. Da der ausgewählte Bewerber – ebenso wie der unterlegene Bewerber – in der Regel vom Ergebnis der Auswahlentscheidung unterrichtet wird, entsteht beim ausgewählten Bewerber aufgrund dieser Unterrichtung die Erwartung, dass er die streitbefangene Stelle alsbald erhält. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass der ausgewählte Bewerber, wenn seine Erwartung enttäuscht wird, entweder eine Klage auf Übertragung der streitbefangenen Stelle auf sich oder auf Schadensersatz gegen den Arbeitgeber erhebt. Dies genügt, um die Zulässigkeit der Streitverkündung durch den Arbeitgeber zu bejahen346.

2.155 Kenntnis von der Rechtshängigkeit einer Konkurrentenklage hat der ausgewählte Bewerber in der Regel nicht. Dieser kann daher nicht von der Möglichkeit der Streithilfe auf Seiten des beklagten Dienstherrn durch Nebenintervention gemäß §§ 66 ff. ZPO Gebrauch machen. Da die in § 68 ZPO geregelten Rechtsfolgen einer Nebenintervention nur zuungunsten des Nebenintervenienten wirken, jedoch keine Rechtskrafterstreckung iSd. § 325 ZPO darstellen, kann der ausgewählte Bewerber im Falle einer Nebenintervention keinen Vorteil bei Abweisung der vom unterlegenen Bewerber geführten Konkurrentenklage im Hinblick auf die Besetzung der streitbefangenen Stelle mit seiner Person ziehen. Der Dienstherr hat in einem solchen Falle immer noch die Möglichkeit, aus sachlichen Gründen das Auswahlverfahren abzubrechen und die streitbefangene Stelle entweder gar nicht oder erst nach Durchführung eines neuen Auswahlverfahrens zu besetzen. 345 Zöller/Althammer, § 68 ZPO Rz. 1 und 9. 346 Vgl. Walker, Verfahrensrechtliche Aspekte der arbeitsrechtlichen Konkurrentenklage, FS Söllner, 1999, S. 1231 (1246).

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Rechtsschutz (Konkurrentenklage)

Rz. 2.158 § 2

Bei dieser Sachlage wird sich der ausgewählte Bewerber eher gegen die Möglichkeit, sich am Rechtsstreit zu beteiligen, entscheiden. Dagegen kann es durchaus im Interesse des Arbeitgebers liegen, dem ausgewählten Bewerber den Streit zu verkünden, insbesondere dann, wenn er befürchtet, im Konkurrentenrechtsstreit zu unterliegen.

2.156

Vor diesem Hintergrund ist die praktische Bedeutung einer Beteiligung des ausgewählten Bewerbers am Rechtsstreit gering347.

2.157

Das BVerfG verlangt, dass das Gericht den von einer Entscheidung betroffenen Dritten im Falle der streitgenössischen Nebenintervention zumindest von der Klageerhebung in Kenntnis zu setzen hat und stützt dies auf Art. 103 Abs. 1 GG348. Eine notwendige Beiladung im Sinne einer Information des Dritten über die anhängige Klage und die Möglichkeit der Nebenintervention von Amts wegen wird bejaht, wenn dem Dritten im Falle seines Beitritts die Stellung als streitgenössischer Nebenintervenient iSd. § 69 ZPO zukäme349. Ob diese Fallgestaltung bei einer Konkurrentenklage vorliegt, hängt im Wesentlichen davon ab, ob die Entscheidung über die Konkurrentenklage auch Rechtskraftwirkung, zumindest aber Tatbestandswirkung gegenüber dem ausgewählten Bewerber hat. Begehrt der Kläger eine Neubescheidung seiner Bewerbung, berührt dies den ausgewählten Bewerber nur mittelbar. Denn eine solche Entscheidung lässt die zu seinen Gunsten bereits getroffene Auswahlentscheidung unberührt; die vom unterlegenen Bewerber erstrittene Entscheidung auf Wiederholung der Auswahlentscheidung entfaltet ihm gegenüber keine Rechtskraft350. Geht man allerdings davon aus, dass der Arbeitgeber mit einer – rechtswidrigen – Vergabe der zu besetzenden Stelle an den ausgewählten Bewerber gegen ein gesetzliches Verbot gemäß § 134 BGB verstoßen hat (s. Rz. 2.53), wirkt sich dies unmittelbar auf den Bestand des gerade erst begründeten (oder veränderten) Arbeitsverhältnisses aus: Die Willenserklärung des Arbeitgebers ist nichtig, sodass der angestrebte Vertragsschluss nicht zustande kommt. Ebenso sieht es aus, wenn der unterlegene Bewerber die Feststellung begehrt, dass die getroffene Auswahlentscheidung rechtswidrig war. Denn wird einem solchen Feststellungsbegehren stattgegeben, ist der Dienstherr zwar – wegen seiner Bindung an Recht und Gesetz gemäß Art. 20 Abs. 3 GG – gezwungen, die zugunsten des ausgewählten Bewerbers ergangene positive Auswahlentscheidung aufzuheben. Dies ist aber eine Folge des materiellen (Verfassungs-) Rechts351, nicht aber ein Fall der Rechtskrafterstreckung. Die Pflicht zur Aufhebung der Auswahlentscheidung wirkt sich aber auch auf die Willenserklärung des Arbeitgebers bezüglich des Arbeitsvertrages mit dem ausgewähl-

2.158

347 Dies wird durch die Rechtsprechung zur arbeitsrechtlichen Konkurrentenklage bestätigt. Denn die Beteiligung des ausgewählten Bewerbers am Rechtsstreit im Falle einer Konkurrentenklage ist die seltene Ausnahme. 348 BVerfG v. 9.2.1982 – 1 BvR 191/81, BVerfGE 60, 7 (14 ff.). Den Entscheidungsgründen kann entnommen werden, dass der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs grundsätzlich demjenigen zusteht, der durch die gerichtliche Entscheidung unmittelbar in seinen Rechten beeinträchtigt wird. Das kann nach Auffassung des BVerfG auch derjenige sein, dem gegenüber die richterliche Entscheidung materiell-rechtlich wirkt (BVerfGE 60, 7 (13)). 349 Zöller/Althammer, vor § 64 ZPO Rz. 2. 350 Sofern der Arbeitgeber die Tatsache der von ihm verlorenen Konkurrentenklage zum Anlass nimmt, die Mitteilung über die getroffene Auswahlentscheidung gegenüber dem ausgewählten Bewerber zu widerrufen, handelt es sich um eine vorsorgliche Maßnahme, nicht aber um einen Fall der Rechtskrafterstreckung, wie er für den Fall der streitgenössischen Nebenintervention gem. § 69 ZPO Voraussetzung wäre. Wie hier Walker, FS Söllner, 1999, S. 1231 (1245). 351 Wenn nur das anzuwendende materielle Recht oder Gründe der Logik die einheitliche Entscheidung erzwingen, liegt keine notwendige Streitgenossenschaft iSd. § 62 ZPO – dem Gegenstück zu § 69 ZPO – vor; Zöller/Althammer, § 62 ZPO Rz. 9 mwN.

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§ 2 Rz. 2.158

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

ten Bewerber aus, da sie wegen § 134 BGB nichtig ist. Ebenso liegt der Fall, wenn der Konkurrentenkläger die Unterlassung der Besetzung der streitbefangenen Stelle mit dem ausgewählten Bewerber verlangt. Die Unterlassungsverpflichtung richtet sich allein gegen den Arbeitgeber; der ausgewählte Bewerber ist zwar vom Ergebnis der Unterlassungsklage unmittelbar betroffen, nicht aber Adressat der Unterlassungsverpflichtung. Dies ist im Konkurrentenstreit, der vor dem Verwaltungsgericht geführt wird, anders352; denn gemäß § 65 Abs. 2 VwGO setzt der Fall der notwendigen Beiladung nur voraus, dass die Entscheidung gegenüber dem Dritten nur einheitlich ergehen kann, während die Rechtskrafterstreckung gemäß § 121 VwGO nicht Voraussetzung, sondern Rechtsfolge der Beiladung ist.

2.159 In der Literatur zur Konkurrentenklage wird eine zumindest analoge Anwendung des § 69 ZPO und die Pflicht des Gerichts befürwortet, den ausgewählten Bewerber über die anhängige Konkurrentenklage zu informieren353. g) Bindung an die Rechtsauffassung des Gerichts

2.160 Richtet sich die Konkurrentenklage auf eine Wiederholung der getroffenen Auswahlentscheidung durch den Arbeitgeber, so hat dieser bei seiner Wiederholungsentscheidung die Rechtsauffassung des Gerichts zu beachten. Näheres hierzu s. Rz. 2.47. h) Erledigung der Hauptsache

2.161 Wird die Konkurrentenklage zu einem Zeitpunkt erhoben, zu dem die streitbefangene Stelle dem Konkurrenten bereits endgültig übertragen wurde, ist diese unzulässig. Denn die Hauptsache, um die es geht, war zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits erledigt. Näheres hierzu s. Rz. 2.48 ff. 2. Einstweiliger Rechtsschutz a) Verfassungsrechtliche Grundlage

2.162 Der Bewerbungsverfahrensanspruch bedarf der Sicherung durch eine gerichtliche Eilentscheidung, weil mit einer Besetzung der streitbefangenen Stelle dem unterlegenen Bewerber primärer Rechtsschutz in der Hauptsache wegen deren Erledigung versagt ist (Rz. 2.48). Daher erfordert das Verfassungsgebot wirksamen Rechtsschutzes354, dass einem abgelehnten Bewerber nach Abschluss des Auswahlverfahrens vor der Besetzung der Stelle mit dem aus352 Schoch/Schneider/Bier/Bier, § 65 VwGO Rz. 26; BVerwG v. 4.11.2010 – 2 C 16/09, BVerwGE 138, 102 = NJW 2011, 695. Das BVerwG bezeichnet die Auswahlentscheidung bei einem beamtenrechtlichen Konkurrentenstreit als Verwaltungsakt mit Drittwirkung, der in die Rechte der unterlegenen Bewerber eingreift und somit für diese anfechtbar ist. Im Ergebnis ebenso, wenn auch mit anderer dogmatischer Begründung BVerwG v. 21.8.2003 – 2 C 14/02, BVerwGE 118, 370 (374 ff.) = NJW 2004, 870 = ZBR 2004, 101. Demgegenüber bezeichnet das BAG die Auswahlentscheidung als Realakt, weil sie noch keine Rechtsfolge herbeiführt, sondern erst der rechtsgeschäftlichen Umsetzung bedarf (BAG v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 64). 353 Zimmerling, S. 39 (Rz. 64, 71); Zimmerling, Recht im Amt 2002, 165 (172); Walker, FS Söllner, 1999, S. 1231 (1243); Kuhla, FS Raue, 2006, S. 173 (185 f.). 354 Das Prinzip effektiver Rechtsschutzgewährung wird vom BVerfG bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten aus Art. 19 Abs. 4 GG (BVerfG v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91, BVerfGE 93, 1) und bei privatrechtlichen bzw. arbeitsrechtlichen Streitigkeiten aus Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechts-

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Rechtsschutz (Konkurrentenklage)

Rz. 2.164 § 2

gewählten Bewerber die Möglichkeit gewährt wird, vorläufigen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen355. Ausfluss des Verfassungsgebotes des wirksamen Rechtsschutzes sind auch die dem Dienstherrn obliegende Benachrichtigungspflicht gegenüber dem unterlegenen Bewerber über die von ihm getroffene Auswahlentscheidung unter Bekanntgabe der maßgeblichen Auswahlgründe sowie das Gebot an den Dienstherrn, vor Ablauf einer angemessenen Wartefrist die Besetzung der Stelle mit dem ausgewählten Bewerber zu unterlassen (Rz. 2.60 ff.). b) Antragstellung Entsprechend dem Ziel des Eilverfahrens, die Erfüllbarkeit des Bewerbungsverfahrens- 2.163 anspruches zu sichern, kann die einstweilige Verfügung darauf gerichtet werden, dem Dienstherrn die Besetzung der streitbefangenen Stelle bei Vermeidung eines Ordnungsgeldes bis zum Abschluss eines neu durchzuführenden Auswahlverfahrens zu verbieten356. Da es sein kann, dass der Konkurrentenrechtsstreit auch im Hauptsacheverfahren geführt wird bzw. wegen §§ 936, 926 ZPO geführt werden muss357, kann es vorkommen, dass die Hauptsacheklage früher rechtskräftig entschieden ist als ein neu durchzuführendes Auswahlverfahren. Dann ist der maßgebliche Zeitpunkt für das Ende der Stellenblockade der frühere Zeitpunkt, nämlich der rechtskräftige Abschluss des beim Gericht anhängigen Auswahlverfahrens. Denn ist dieses für den Konkurrentenkläger erfolgreich verlaufen, hat er nunmehr einen Titel aus dem Hauptsacheverfahren zur Durchsetzung seines Bewerbungsverfahrensanspruches gegen den Dienstherrn. Die einstweilige Verfügung verliert mit Rechtskraft der Hauptsacheentscheidung ihre Wirkung. Dies gilt erst recht, wenn der Konkurrentenkläger das Hauptsacheverfahren verloren hat. Aus diesem Grund ist es erforderlich, dass der Konkurrentenkläger seinen Eilantrag auf Unterlassung der Stellenbesetzung dahingehend begrenzt, dass die Unterlassungspflicht spätestens mit Rechtskraft der Hauptsacheklage endet.

2.164

Der Antrag könnte daher folgenden Wortlaut haben: Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Verfügung aufgegeben, die Besetzung (der streitbefangenen Stelle) bei Vermeidung eines Ordnungsgeldes bis zu 250.000 Euro für den Fall der Zuwiderhandlung bis zum Abschluss eines neu durchzuführenden Auswahlverfahrens, spätestens bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Hauptsacheklage zu unterlassen. staatsprinzip des Grundgesetzes (ständige Rechtsprechung, z.B. BVerfG v. 2.3.1993 – 1 BvR 249/92, BVerfGE 88, 118 (123)) abgeleitet. 355 BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178 = Recht im Amt 2008, 26, st. Rspr.; BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56; v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, NZA 2009, 901 (904, Rz. 40); BVerwG v. 21.8.2003 – 2 C 14.02, BVerwGE 118, 370 (372) = ZBR 2004, 101 = NJW 2004, 870 = DVBl. 2004, 317; v. 4.11.2010 – 2 C 16/09, BVerwGE 138, 102 = NJW 2011, 695. Nicht nur als Möglichkeit des Bewerbers wird der einstweilige Rechtsschutz angeführt, sondern sogar als allein möglicher Primärrechtsschutz, wenn er sich gegen den Abbruch des Auswahlverfahrens wehren will (BVerwG v. 3.12.2014 – 2 A 3/13, BVerwGE 151, 14 = NVwZ 2015, 1066 = ZBR 2015, 196; BAG v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, BAGE 161, 157 = NZA 2018, 515 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 79). Praeter legem verlangt das BVerwG, a.a.O., zusätzlich die Wahrung einer Monatsfrist, die mit Zugang der Mitteilung über den Abbruchgrund in Lauf gesetzt wird. Das BAG, a.a.O., folgt dieser Rechtsprechung. Beide Gerichte bezeichnen den Anspruch auf Rechtsschutz nach Ablauf der Monatsfrist als verwirkt. 356 Thüringer LAG v. 13.1.1997 – 8 Sa 232/96, AP ArbGG 1979 § 62 Nr. 10 = NZA-RR 1997, 234. 357 BAG v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 64. Allerdings erwartet das BAG von einem öffentlichen Arbeitgeber die Befolgung eines gerichtlichen Unterlassungsgebots, auch wenn der zugrunde liegende Titel nicht mehr vollstreckbar ist.

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§ 2 Rz. 2.164a

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

2.164a Praxistipp: In der Praxis kann es vorkommen, dass der Rechtsstreit um die Besetzung einer Stelle im öffentlichen Dienst noch nicht abgeschlossen ist, etwa weil der Arbeitgeber die neue Entscheidung über die Vergabe der zu besetzenden Stelle, zu der er verurteilt worden ist, noch nicht getroffen hat. Parallel hierzu schreibt er die Stelle neu aus, weil er die Konsequenzen aus dem fehlerhaften ersten Auswahlverfahren ziehen möchte. Damit bricht er das erste Auswahlverfahren zulässigerweise ab (s. Rz. 2.65). Um eine Zwangsvollstreckung aus dem Neubescheidungsurteil zu vermeiden, muss der Arbeitgeber Vollstreckungsgegenklage gemäß § 767 ZPO erheben. Ungeachtet dessen kann er das nunmehr zweite Auswahlverfahren zügig vorantreiben. Damit der unterlegene Bewerber aus dem ersten Auswahlverfahren nicht leer ausgeht, muss dieser eine einstweilige Verfügung, gerichtet auf Fortsetzung des ersten Auswahlverfahrens beantragen und sich zusätzlich auf die erneut ausgeschriebene Stelle bewerben. Diese Bewerbung wird häufig vergessen; diese Unterlassung hat insbesondere dann Folgen, wenn das Eilverfahren gegen die Neuausschreibung der Stelle erfolglos bleiben sollte, etwa weil das Arbeitsgericht die Neuausschreibung für zulässig erachtet358.

2.165 Wird, was in der öffentlichen Verwaltung nicht selten vorkommt, eine Auswahlentscheidung getroffen, mit der mehrere Stellen gleichzeitig besetzt werden sollen, stellt sich die Frage, ob der unterlegene Bewerber mit der einstweiligen Verfügung erreichen kann, dass sämtliche zu besetzenden Stellen bis zu einer neu zu treffenden Auswahlentscheidung blockiert werden. Hierbei ist zu differenzieren, ob das Anforderungsprofil der zu besetzenden Stellen – mehr oder minder – identisch ist oder nicht. Ist es nämlich identisch, wird der Dienstherr unter den konkurrierenden Bewerbern eine Reihung vornehmen, die dazu führt, dass sich für den unterlegenen Bewerber und Antragsteller im Eilverfahren die Konkurrenzsituation zu den ihm vorgezogenen Bewerbern unterschiedlich stellt. Zwar kann der Antragsteller im Eilverfahren von den zu besetzenden Stellen nur eine für sich beanspruchen. Dies ändert aber nichts daran, dass er zu mehreren Konkurrenten im Wettbewerb steht, so dass von vornherein nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden kann, wie die rechtmäßige Reihung unter allen Konkurrenten aussieht. Wenn sich der Antragsteller im Eilverfahren daher dazu entschließt, sämtliche der zu besetzenden Stellen zu blockieren, wird dem aus Rechtsgründen nichts entgegenzuhalten sein359. Es ist dann Sache des Antragstellers, ob er aus prozesstaktischen oder Kosten-Gründen sein Rechtsschutzbegehren auf weniger als alle zu besetzenden Stellen beschränkt.

2.166 Bezieht sich die Stellenbesetzungsaktion auf Stellen mit unterschiedlichem Anforderungsprofil, hängt die Möglichkeit der Blockade sämtlicher Stellen davon ab, ob sich der Antragsteller für sämtliche dieser Stellen beworben hat und er im Eilverfahren davon ausgeht, dass er das Anforderungsprofil dieser Stellen erfüllt. Demgemäß wird er sich zuvor auch bei der Bewerbung verhalten haben. Verfolgt er auch in diesem Falle die Blockade sämtlicher Stellen, wird er zu berücksichtigen haben, dass die Konkurrenz mit den übrigen Bewerbern jeweils auf eine konkrete Stelle bezogen ist, da der Dienstherr wegen des unterschiedlichen Anforderungsprofils der Stellen nicht in der Lage ist, alle Bewerber in eine Rangfolge zu bringen, sondern gezwungen ist, seine Auswahlentscheidung jeweils stellenbezogen unter den konkurrierenden Bewerbern um die betreffende Stelle zu treffen. In Wahrheit wird bei dieser Fallkonstellation 358 Ein ähnlicher Sachverhalt lag der Entscheidung des BAG v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, BAGE 161, 157 = NZA 2018, 515 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 79, zugrunde. Auch dort hatte der übergangene Bewerber unterlassen, gegen den Abbruch des Auswahlverfahrens einstweiligen Rechtsschutz zu beantragen, und sich auf die Neuausschreibung zu bewerben. Dadurch ging er seines geltend gemachten Schadensersatzanspruchs in Anwendung des Rechtsgedankens aus § 839 Abs. 3 BGB verlustig. 359 So auch Zimmerling, S. 33 (Rz. 54) mwN. AA BVerwG v. 10.11.1993 – 2 ER 301/93, ZBR 1994, 52 (53), hierzu differenzierend Schnellenbach, ZBR 1997, 169 (179). Vgl. auch Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Rz. 1351.

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Rechtsschutz (Konkurrentenklage)

Rz. 2.171 § 2

nicht eine einheitliche Auswahlentscheidung unter allen Bewerbern getroffen, sondern es geht um mehrere parallele Auswahlentscheidungen zur Besetzung mehrerer unterschiedlicher Stellen. c) Verfügungsanspruch Verfügungsanspruch ist der Bewerbungsverfahrensanspruch des unterlegenen Bewerbers 2.167 (Rz. 2.18). Die zur Sicherung dieses Anspruchs beantragte einstweilige Verfügung ist der klassische Fall einer Sicherungsverfügung iSd. § 62 Abs. 2 ArbGG iVm. § 935 ZPO. Das Begehren, die Stelle nicht zu besetzen, lässt sich sowohl prozessual mit der Bestimmung des § 938 Abs. 2 ZPO als auch materiell-rechtlich begründen, weil aus Art. 33 Abs. 2 GG der entsprechende Unterlassungsanspruch des nicht ausgewählten Bewerbers abgeleitet wird360. Sollte der unterlegene Bewerber das Ziel verfolgen, dass ihm die streitbefangene Stelle übertragen wird, wäre die entsprechende einstweilige Verfügung als Leistungsverfügung zu qualifizieren, da sie zur vorläufigen Befriedigung des Verfügungsklägers führen würde. Abgesehen davon, dass hierfür ein Verfügungsanspruch in den seltensten Fällen vorliegen dürfte (Rz. 2.16), gelten hierfür besonders strenge Anforderungen für den Verfügungsgrund361. Diese Form der einstweiligen Verfügung spielt daher in der Praxis keine Rolle.

2.168

Die Anforderungen an die Darlegung und Glaubhaftmachung des Verfügungsanspruches dürfen nicht überspannt werden. Dies folgt aus der Verfahrensabhängigkeit des sich aus Art. 33 Abs. 2 GG ergebenden subjektiven Rechtes362.

2.169

Das BVerfG leitet aus der Verfahrensabhängigkeit des sich aus Art. 33 Abs. 2 GG ergebenden subjektiven Rechtes des übergangenen Bewerbers die Pflicht der Gerichte ab, den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes gerade im Eilverfahren besondere Rechnung zu tragen. Art. 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch eine tatsächliche wirksame gerichtliche Kontrolle. Droht dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über den Randbereich hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist – erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptverfahren geltend gemachten Anspruchs – einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, wenn nicht ausnahmsweise gewichtige Gründe entgegenstehen. Hierbei muss das Gericht das Verfahrensrecht in einer Weise auslegen und anwenden, die dem Gebot effektiven Rechtsschutzes Rechnung trägt363.

2.170

Richtet sich das Hauptsacheverfahren in der Regel auf eine Neubescheidung der Bewerbung des unterlegenen Bewerbers, nicht jedoch auf eine Übertragung der streitbefangenen Stelle auf den unterlegenen Bewerber, können die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines An-

2.171

360 BAG v. 22.6.1999 – 9 AZR 541/98, AP GG Art. 33 Nr. 49; v. 5.11.2002 – 9 AZR 451/01, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 57. 361 Vgl. Zöller/Vollkommer, § 940 ZPO Rz. 6. 362 BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, BVerfGK 11, 398 = NVwZ 2007, 1178 = Recht im Amt 2008, 26. 363 BVerfG v. 20.2.1998 – 1 BvR 661/94, BVerfGE 97, 298 (315); v. 24.9.2002 – 2 BvR 857/02, ZBR 2002, 427 = NVwZ 2003, 200; v. 29.7.2003 – 2 BvR 311/03, NVwZ 2004, 95 = ZBR 2004, 45; v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178 = Recht im Amt 2008, 26; BVerwG v. 21.8.2003 – 2 C 14.02, BVerwGE 118, 370 (373) = ZBR 2004, 101 = NJW 2004, 870 = DVBl. 2004, 317.

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§ 2 Rz. 2.171

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

ordnungsanspruches (Verfügungsanspruches) mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG nicht über das hinausgehen, was für ein Obsiegen des unterlegenen Bewerbers im Hauptsacheverfahren gefordert werden könnte. Daher ist es unzulässig, die Eilentscheidung davon abhängig zu machen, dass der Antragsteller glaubhaft macht, dass er in einem erneuten Auswahlverfahren bei Vermeidung des unterstellten Fehlers anstelle eines ausgewählten Mitbewerbers zum Zuge kommt364. Ebenso ist dem im Auswahlverfahren unterlegenen Bewerber schon dann einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, wenn er glaubhaft macht, dass seine Aussichten, in einem zweiten rechtmäßigen Auswahlverfahren ausgewählt zu werden, offen sind, dh., wenn seine Auswahl möglich erscheint365. Gleichermaßen werden die Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruches (Verfügungsanspruches) im Eilrechtsschutzverfahren überspannt, wenn dem unterlegenen Bewerber abverlangt wird, bei einer insgesamt zu beanstandenden Beurteilungspraxis (wegen unzureichend differenzierter Beurteilungen bezüglich einer ganzen Gruppe von Bewerbern) darüber hinaus weitere Gesichtspunkte aufzuzeigen, aus denen sich die Fehlerhaftigkeit der dem Auswahlverfahren zugrunde liegenden Beurteilungspraxis ergibt366. Der gerichtliche Rechtsschutz des Antragstellers wird auch dadurch unzumutbar erschwert, dass der Dienstherr erstmals im gerichtlichen Eilverfahren die Gründe für seine Auswahlentscheidung darlegt. Denn der Antragsteller kann die hierfür notwendigen Erkenntnisse lediglich aufgrund einer schriftlichen Fixierung der wesentlichen Auswahlerwägungen des Dienstherrn gewinnen; dabei ist er auf Akteneinsicht angewiesen. Nur diese Erkenntnisse erlauben ihm die Entscheidung, ob er die Auswahlentscheidung des Dienstherrn hinnehmen soll oder ob Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen den Anspruch auf faire und chancengleiche Behandlung seiner Bewerbung bestehen, so dass er gerichtlichen Eilrechtsschutz in Anspruch nehmen will. Würde dem Dienstherrn gestattet, seine Auswahlerwägungen erstmals im Rahmen des gerichtlichen Eilverfahrens darzulegen, würden die Rechtsschutzmöglichkeiten des unterlegenen Bewerbers in unzumutbarer Weise gemindert. Dieser müsste nämlich gerichtlichen Eilrechtsschutz gleichsam „ins Blaue hinein“ in Anspruch nehmen367. d) Verfügungsgrund

2.172 Der Verfügungsgrund besteht in der Eilbedürftigkeit der Angelegenheit, nämlich in der Besorgnis, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Bewerbungsverfahrensanspruches des unterlegenen Bewerbers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.

2.173 Diese Besorgnis ist stets gegeben, wenn durch endgültige Besetzung der streitbefangenen Stelle die „Erschöpfung“ des Bewerbungsverfahrensanspruches des unterlegenen Bewerbers droht368.

2.174 Problematisch für das Vorliegen eines Verfügungsgrundes sind nicht endgültige Besetzungen der Stelle, etwa durch Abordnung. Gemäß Protokollerklärung Nr. 1 zu § 4 Abs. 1 TV-L und zu § 4 Abs. 1 TVöD ist eine Abordnung die vom Arbeitgeber veranlasste vorübergehende Beschäftigung bei einer anderen Dienststelle oder einem anderen Betrieb desselben 364 365 366 367 368

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BVerfG v. 24.9.2002 – 2 BvR 857/02, ZBR 2002, 427 = NVwZ 2003, 200. BVerfG v. 24.9.2002 – 2 BvR 857/02, ZBR 2002, 427 = NVwZ 2003, 200. BVerfG v. 29.7.2003 – 2 BvR 311/03, NVwZ 2004, 95 = ZBR 2004, 45. BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178 = Recht im Amt 2008, 26. BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56 = NZA 2003, 324 = ZTR 2003, 146; v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, MDR 2008, 576.

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Rechtsschutz (Konkurrentenklage)

Rz. 2.176 § 2

oder eines anderen Arbeitgebers unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhältnisses. Abordnungen im Zusammenhang mit Stellenbesetzungsverfahren werden insbesondere zum Zwecke der Erprobung des ausgewählten Bewerbers ausgesprochen. Entsprechendes gilt für Umsetzungen, die innerhalb derselben Dienststelle oder desselben Betriebs vorgenommen werden, wenn sie vorübergehend erfolgen. Da diese jederzeit rückgängig gemacht werden können, bestehen Zweifel an der Notwendigkeit der einstweiligen Verfügung, also am Verfügungsgrund. Die beamtenrechtliche Rechtsprechung hat teilweise die Auffassung vertreten, der Anordnungsgrund gemäß § 123 VwGO bestehe in einem solchen Fall nicht; ein eventueller Erfahrungsvorsprung durch Innehabung der Beförderungsstelle dürfe bei einer eventuellen Wiederholung der Auswahlentscheidung nicht berücksichtigt werden. Nunmehr hat das BVerwG369 klargestellt, dass auch bei Umsetzungen der Anordnungsgrund bestehe, weil der Erfahrungsvorsprung des ausgewählten Bewerbers diesem nicht genommen werden könne, denn eine dienstliche Beurteilung müsse sich auf den im Beurteilungszeitraum tatsächlich vorhandenen Leistungsstand beziehen370. Der rechte Zeitpunkt für die Stellung des Eilantrages kann im Hinblick auf den Verfügungs- 2.175 grund dann problematisch sein, wenn ein Bewerber über das Ergebnis seiner Bewerbung noch keine Nachricht erhalten, jedoch den Eindruck aufgrund mehr oder minder präziser Informationen gewonnen hat, die Stellenbesetzung stünde unmittelbar bevor. Beantragt er in dieser ungewissen Situation den Erlass der einstweiligen Verfügung, kann ihm drohen, dass das Arbeitsgericht den Verfügungsgrund verneint, weil der Arbeitgeber etwa darlegt, er habe noch keine Auswahlentscheidung getroffen, oder aber, er sei sich zwar schon schlüssig, müsse aber noch die Personalvertretung beteiligen371. In beiden Fällen kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Bewerber noch ausgewählt wird, so dass er durch eine solche Entscheidung keinen Nachteil erleiden würde. Dann würde es aber am Verfügungsgrund fehlen. Eine solche Ungewissheit kann dadurch vermieden werden, dass der Arbeitgeber unter Fristsetzung aufgefordert wird, die verfassungsrechtliche Benachrichtigungspflicht (Rz. 2.60) anzuerkennen. Denn gibt der Arbeitgeber ein solches Anerkenntnis nicht ab oder reagiert er innerhalb der gesetzten Frist nicht, ist Eilbedürftigkeit gegeben, weil der Bewerber nunmehr jederzeit damit rechnen muss, dass der Arbeitgeber zum Nachteil des Bewerbers vollendete Tatsachen schafft. Bei dieser Vorgehensweise ist der Bewerber sogar für den Fall geschützt, dass der Arbeitgeber trotz Zusage die Benachrichtigung über das Ergebnis des Auswahlverfahrens gegenüber dem Bewerber unterlässt. Denn in einem solchen Fall „erschöpft“ sich der Bewer369 BVerwG v. 11.5.2009 – 2 VR 1/09, ZBR 2009, 411 = DRiZ 2009, 263; v. 4.11.2010 – 2 C 16/09, BVerwGE 138, 192. Diese Rechtsprechung hat das BVerwG in einem erstinstanzlichen gerichtlichen Eilverfahren dahingehend modifiziert, dass die vom Beamten erbrachten Leistungen einer dienstlichen Beurteilung nicht entzogen werden können, dass aber der Dienstherr diese Leistungen, die auf einem rechtswidrig erlangten Dienstposten erbracht wurden, dem konkurrierenden Bewerber nicht entgegengehalten werden dürfen, andernfalls würden dem Beamten ungerechtfertigte Vorteile verschafft, die mit Art. 33 Abs. 2 GG nicht vereinbar seien (BVerwG v. 10.5.2016 – 2 VR 2/15, BVerwGE 155, 152 = NVwZ 2016, 1650). 370 Ebenso Hessischer VGH v. 26.11.2008 – 1 B 1870/08, LKRZ 2009, 110, für die Konkurrenzsituation zwischen einem (unterlegenen) Beamten und einer (ausgewählten) Angestellten, für die eine tarifliche Probezeit bestanden hätte. 371 BAG v. 22.6.1999 – 9 AZR 541/98, BAGE 92, 112 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 49 = NZA 2000, 606, das zu einer entsprechenden Abwägung in einem Hauptsacheverfahren kam, weil gem. § 1004 BGB, der vom BAG als Anspruchsgrundlage für das Unterlassungsbegehren des Klägers angesehen wurde, noch kein Fall der „Störung“ (Begehungsgefahr) vorläge, da das personalvertretungsrechtliche Beteiligungsverfahren noch nicht abgeschlossen war.

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2.176

§ 2 Rz. 2.176

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

bungsverfahrensanspruch nicht, weil der Arbeitgeber mit seiner Vorgehensweise die Erwirkung von einstweiligem Rechtsschutz rechtswidrig vereitelt hat (Rz. 2.51). e) Zwischenanordnung?

2.177 Nach Einreichung des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gilt materiell-rechtlich bereits das Gebot für den Dienstherrn, bis zum Abschluss des gerichtlichen Eilverfahrens jede Maßnahme zu unterlassen, die geeignet ist, vollendete Tatsachen zu schaffen372. Auf der Grundlage des § 56 Abs. 1 ArbGG ist es im Sinne effektiver Rechtsschutzgewährung geboten, dass der Vorsitzende des Gerichts nach Eingang eines Eilantrags die Gegenseite auf diese Rechtslage mit der Auflage hinweist, vor Abschluss des gerichtlichen Eilverfahrens von der Schaffung vollendeter Tatsachen, insbesondere durch Stellenbesetzung, Abstand zu nehmen373. Dies gilt vor allem für den Fall, dass über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung erst aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden wird, sei es, weil keine Dringlichkeit iSd. § 62 Abs. 2 Satz 2 ArbGG besteht, sei es, weil die mündliche Verhandlung zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes geboten erscheint. In der Praxis wird durch diese Zwischenverfügung die notwendige Zeit für die erforderliche Sachaufklärung und die Entscheidung über den Eilantrag aufgrund mündlicher Verhandlung gewonnen. Reagiert eine Behörde auf die zweckmäßigerweise mündlich vorab ergehende Zwischenverfügung zögerlich, wird hierdurch in jedem Fall die Eilbedürftigkeit iSd. § 62 Abs. 2 Satz 2 ArbGG begründet, so dass über die beantragte einstweilige Verfügung ohne mündliche Verhandlung und damit durch den Vorsitzenden allein (§ 53 Abs. 1 ArbGG) zu entscheiden ist. Eine Gewährung rechtlichen Gehörs, die sich bei einer Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung von selbst ergibt, kann die Gegenseite dann nicht beanspruchen. Sie ist vielmehr auf die Einlegung des Widerspruchs gemäß §§ 936, 924 ZPO angewiesen, falls der Eilantrag des unterlegenen Bewerbers Erfolg hat. f) Entscheidung mit oder ohne mündliche Verhandlung

2.178 Wie im Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Verfügung nach der ZPO (Umkehrschluss aus § 937 Abs. 2) ist die mündliche Verhandlung im arbeitsgerichtlichen Eilverfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung obligatorisch, wie sich im Umkehrschluss aus § 62 Abs. 2 Satz 2 ArbGG ergibt. In beiden Fällen kann nur bei Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung entschieden werden. Das Erfordernis der Dringlichkeit stellt eine Steigerung gegenüber der Eilbedürftigkeit dar, die bereits vorliegen muss, damit ein Verfügungsgrund besteht. Maßstab ist, ob eine innerhalb kürzester Frist terminierte mündliche Verhandlung noch abgewartet werden kann, bevor entschieden wird374. Da für die mündliche Verhandlung Kammerbesetzung erforderlich ist, kann sich die Dringlichkeit iSd. § 62 Abs. 2 Satz 2 ArbGG auch daraus ergeben, dass ein ehrenamtlicher Richter zum beabsichtigten Termin nicht herangezogen werden kann. Bei der Beurteilung, ob ein dringender Fall vorliegt, ist stets zu beachten, ob bis zur mündlichen Verhandlung das Ereignis einzutreten droht, das durch die einstweilige Ver372 BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56 = NZA 2003, 324 = ZTR 2003, 146. Für das beamtenrechtliche Eilverfahren vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Rz. 1344 mwN und BVerwG v. 4.11.2010 – 2 C 16/09, BVerwGE 138, 102 = NJW 2011, 695, Rz. 36. 373 Dies ist im verwaltungsgerichtlichen Konkurrentenschutzeilverfahren gängige Praxis. Zimmerling, Recht im Amt 2002, 165 (169), bezeichnet dies als „Hängebeschluss“. 374 Zöller/Vollkommer, § 937 ZPO Rz. 2; Germelmann/Matthes/Prütting/Schleusener, § 62 ArbGG Rz. 83.

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Rechtsschutz (Konkurrentenklage)

Rz. 2.183 § 2

fügung abgewehrt werden soll. Aus diesem Grund ist es nicht nur aus Gründen effektiver Rechtsschutzgewährung, sondern auch zur Klärung der Frage, ob ein dringender Fall vorliegt, geboten, dass der Vorsitzende beim Antragsgegner anruft, um ihn auf seine Unterlassungspflicht hinsichtlich der Stellenbesetzung hinzuweisen (Rz. 2.177). Wird in diesem Telefonat das Bestehen der Unterlassungspflicht nicht anerkannt oder werden Ausflüchte gemacht, droht jederzeit die Gefahr vollendeter Tatsachen, so dass ein dringender Fall anzunehmen ist. Wird die mündliche Verhandlung anberaumt, entfällt wegen der Eigenart des Eilverfahrens die Notwendigkeit der Durchführung einer Güteverhandlung375.

2.179

Wird über den Eilantrag ohne mündliche Verhandlung entschieden, was nur bei Dringlichkeit 2.180 iSd. § 62 Abs. 2 Satz 2 ArbGG zulässig ist, verbietet die Enge des Zeitrahmens in der Regel, dem Antragsgegner vor der Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren376. Diesem ist es jedoch unbenommen, aufgrund der Information über den eingegangenen Eilantrag bei Gericht vorsorglich eine Schutzschrift zur Abwehr des Eilantrages bei Gericht zu hinterlegen. Rechtliches Gehör erhält der Dienstherr somit erst, wenn ihm die gerichtliche Eilentscheidung zugestellt wird. Es wird durch Einlegung des Widerspruchs gegen die Eilentscheidung gemäß §§ 936, 924 Abs. 1 ZPO ausgeübt. g) Beteiligung des ausgewählten Bewerbers am Verfahren Die Möglichkeit der Streitverkündung und der Nebenintervention besteht auch im gerichtlichen Eilverfahren (zum Hauptsacheverfahren s. Rz. 2.150 ff.). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Realisierung dieser prozessualen Möglichkeiten vielfach aus Zeitgründen scheitert. Wird über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, so wird die Zeitspanne zwischen Antragseinreichung und Verhandlungstermin sehr kurz sein. Erst mit der Ladung und der damit verbundenen Zustellung der Antragsschrift erhält der Arbeitgeber Kenntnis vom Eilverfahren; erst von da an kann er sich um die Formalien der Streitverkündung (§ 73 ZPO) kümmern. Da die Streitverkündung erst mit Zustellung der Streitverkündungsschrift des Arbeitgebers an den Antragsteller wirksam wird, diese aber vom Gericht zu veranlassen ist, wird in aller Regel eine wirksame Streitverkündung erst zustande kommen, wenn der Termin zur mündlichen Verhandlung über den Eilantrag bereits verstrichen ist.

2.181

Auch eine gerichtliche Benachrichtigung des ausgewählten Bewerbers über den eingegangenen Eilantrag und die Terminsladung werden diesen kaum befähigen, selbst wenn er wollte, von der Möglichkeit der Nebenintervention Gebrauch zu machen.

2.182

Wird wegen der Dringlichkeit der Sache ohne mündliche Verhandlung entschieden, ist der Zeitrahmen noch enger, so dass weder eine Streitverkündung noch eine Nebenintervention in Betracht kommen.

2.183

375 Germelmann/Matthes/Prütting/Germelmann, § 62 ArbGG Rz. 84; § 54 ArbGG Rz. 54 mwN. 376 Germelmann/Matthes/Prütting/Germelmann, § 62 ArbGG Rz. 86, fordert die Gewährung rechtlichen Gehörs, schränkt dies aber auf die Fälle ein, in denen dies möglich ist.

Hauck-Scholz

155

§ 2 Rz. 2.184

Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses

h) Verfahrensanforderungen aufgrund des Gebotes zur effektiven Rechtsschutzgewährung aa) Terminierung und vorbereitende Maßnahmen

2.184 Da einstweilige Verfügungen im arbeitsgerichtlichen Verfahren nur bei Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung ergehen dürfen (§ 62 Abs. 2 Satz 2 ArbGG), ist in den übrigen Fällen schnellstens zu terminieren; außerdem sind vorbereitende Maßnahmen gemäß § 56 Abs. 1 ArbGG (etwa Aufforderung der Gegenseite, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu unterlassen, Rz. 2.177, oder Aktenbeiziehung, Rz. 2.147 ff.) zu treffen. Wird ohne mündliche Verhandlung entschieden, entscheidet das Gericht durch den Vorsitzenden allein (§ 53 Abs. 1 ArbGG). bb) Richterliche Kontrolldichte

2.185 Für die Erlangung vorläufigen Rechtsschutzes reicht es aus, wenn der dem Antrag zugrunde liegende Anspruch glaubhaft gemacht wird. Damit ist dem antragstellenden Bewerber unter – gegenüber einem Hauptsacheverfahren – erleichterten Bedingungen möglich, eine für ihn günstige Entscheidung zu erwirken377. Andererseits genügt eine bloß summarische Prüfung der Auswahlentscheidung durch das Arbeitsgericht, etwa ob die vom Dienstherrn ohne Aktenvorlage dargelegten Auswahlerwägungen des Dienstherrn plausibel erscheinen, den Anforderungen nicht, wenn der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung abgelehnt werden soll. Vielmehr gilt die aus dem Gebot effektiver Rechtsschutzgewährung abgeleitete Forderung nach einer eingehenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des im Hauptverfahren geltend gemachten Anspruches auch schon im gerichtlichen Eilverfahren378. Ist dies aus tatsächlichen Gründen, etwa wegen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsaufklärung oder Notwendigkeit einer Beweisaufnahme nicht möglich, was zB bei strittigen dienstlichen Beurteilungen der Fall sein kann, ist das Gericht dann nur in der Lage, eine eingeschränkte Sachprüfung vorzunehmen. Umgekehrt kann der Antragsteller nur die Tatsachen darlegen, von denen er Kenntnis hat, nicht aber solche, die allein dem Dienstherrn bekannt sind. Dann gebietet effektive Rechtsschutzgewährung aber, dass die Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Verfügungsanspruches entsprechend zu reduzieren sind, so dass im Zweifel die einstweilige Verfügung zu ergehen hat, um die nur im Hauptsacheverfahren mögliche umfassende Prüfung der tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte des Streitfalles zu ermöglichen379. Näher hierzu Rz. 2.22 ff. und 2.41 ff. und Rz. 2.167 ff.

377 BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, BAGE 101, 153 = ArbRB 2003, 43 = AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 56. 378 BVerfG v. 24.9.2002 – 2 BvR 857/02, ZBR 2002, 427 = NVwZ 2003, 200; v. 29.7.2003 – 2 BvR 311/03, BVerfGK 1, 292 = NVwZ 2004, 95 = ZBR 2004, 45, m. Anm. Otte, ZBR 2004, 46, und Kühling, NVwZ 2004, 656; v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, NVwZ 2007, 1178 = Recht im Amt 2008, 26. 379 Unter dem Gesichtspunkt effektiver Rechtsschutzgewährung lässt das BVerfG sogar Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das BVerfG noch vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde zu, sofern eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde nicht offensichtlich unbegründet ist und weil die Folgenabwägung regelmäßig ergibt, dass sich die ohne Erlass der einstweiligen Anordnung ergebende Stellenbesetzung auch bei einer erneuten Durchführung des Auswahlverfahrens nicht mehr korrigieren ließe, während bei späterer Erfolglosigkeit der Verfassungsbeschwerde der Dienstherr nur die vorübergehende Vakanz der Stelle in Kauf nehmen müsste; BVerfG v. 18.12.2003 – 2 BvQ 70/03, NVwZ 2004, 1109; v. 7.2.2007 – 2 BvQ 62/06, BayVBl. 2007, 368.

156

Hauck-Scholz

§3 Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis I. Verpflichtungen des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.1

1. Verpflichtung zur Arbeitsleistung . .

3.1

2. Nebenpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriff und Bedeutung . . . . . bb) Geltungsdauer . . . . . . . . . . . cc) Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Rechtsfolgen der Verletzung von Nebenpflichten . . . . . . . b) Einzelne Nebenpflichten der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Belohnungen und Geschenke . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verschwiegenheitspflicht . . . . cc) Nebentätigkeit . . . . . . . . . . . (1) Schriftliche Anzeige entgeltlicher Nebentätigkeit mit Verbotsvorbehalt . . . . . . . . . . (2) Geltung der allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsätze . dd) Wettbewerbsverbot während des Arbeitsverhältnisses . . . . ee) Abwerbung . . . . . . . . . . . . . . ff) Schutz der betrieblichen Ordnung und der Betriebsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Informationspflichten . . . . . . hh) Loyalitätspflicht . . . . . . . . . . ii) Nachweis der Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . jj) Außerdienstliches Verhalten .

3.2 3.2 3.2 3.3 3.4

3.46 3.47

5. Weiterbildung und Qualifizierung . 3.123

3.48 3.50

6. Gleichbehandlung und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz . . . . . . . . . 3.124

3.5 3.6 3.6 3.19 3.25 3.26 3.28 3.30 3.34 3.35 3.36 3.37 3.42 3.43 3.45

1. Pflicht zur Zahlung des Arbeitsentgelts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.45

3. Fürsorgepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutz von Leben und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutz wirtschaftlicher Interessen c) Schutz des Persönlichkeitsrechts des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . .

3.55

4. Beschäftigtendatenschutz . . . . . . . . . a) System der Normierung in der DSGVO und im BDSG . . . . . . . . . b) Persönlicher Geltungsbereich . . . . c) Sachlicher Geltungsbereich . . . . . . d) Datenschutzrechtliche Pflichten der DSGVO . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Datenschutzrechtlich verantwortliche Stelle . . . . . . . . . . . bb) Einhaltung der datenschutzrechtlichen Grundsätze des Art. 5 DSGVO . . . . . . . . . . . . cc) Materielle Voraussetzung der Datenverarbeitung nach § 26 BDSG und Art. 6 DSGVO . . . dd) Organisationsaufgaben des Verantwortlichen . . . . . . . . . . e) Individualansprüche der Beschäftigten . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . bb) Europarechtlicher Auskunftsanspruch nach Art. 15 DSGVO . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Einsichtsrecht in Personalakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Berichtigung, Löschung, Widerspruch und Sperrung . . ee) Datenübertragbarkeit . . . . . . ff) Schadensersatzansprüche . . . gg) Unterlassungsansprüche . . . . f) Beschäftigtendatenschutzrechtliche Pflichten von Betriebs- und Personalrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Teil des Arbeitgebers/Dienststelle oder Dritter iSd. Art. 4 Nr. 10 DSGVO . . . . . . bb) Datenverarbeitung durch den Betriebsrat/Personalrat . .

II. Verpflichtungen des Arbeitgebers . .

2. Beschäftigungspflicht und Betätigungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . .

d) Präventive Maßnahmen zum Gesundheitsschutz (insb. BEM) . .

3.60 3.61 3.66 3.67 3.72 3.73 3.77 3.79 3.82 3.88 3.89 3.92 3.97 3.98 3.103 3.104 3.108 3.109 3.110 3.115

3.51

Grimm

157

§ 3 Rz. 3.1

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

Schrifttum: Bauschke, Geschäftsgeheimnisse mit Bezug zum Whistleblowing – Gesetzliche Neuregelung, öAT 2019, 133; Braun, Das Nebentätigkeitsrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst, ZTR 2004, 69; Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD – Das neue Tarifrecht im öffentlichen Dienst, 2005; Brötzmann, Die Nebenpflichten im Arbeitsverhältnis, öAT 2017, 73; Dau/Düwell/Joussen, SGB IX, 5. Aufl. 2018; Grimm/Freh, Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen der Verletzung des Arbeitnehmer-Persönlichkeitsrechts, ArbRB 2012, 151; Hey, Cybermobbing – Welche Pflichten treffen den Arbeitgeber?, BB 2013, 2805; Korinth, Die – nicht krankheitsbedingte – personenbedingte Kündigung, ArbRB 2019, 220; Landschaftsverband Rheinland, Handlungsempfehlungen zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement, 7. Aufl. 2018; Lunk, Grundlagen des betrieblichen Eingliederungsmanagements, NJW 2019, 2349; Moderegger, Keine Scheu vor dem Betrieblichen Eingliederungsmanagement, ArbRB 2013, 315; Müller, Anordnungen und Regelungen zum Arbeits- und Dienstverhalten der Beschäftigten, öAT 2016, 93; Müller, Alkohol- und Drogenverbote im Arbeitsverhältnis und arbeitsrechtliche Konsequenzen des Missbrauchs, NZA 2019, 1264; Müller, Der Missbrauch von Alkohol und (sonstigen) Drogen im Arbeitsverhältnis, NJOZ 2019, 1105; Reich, Die Beteiligung des Personalrats bei Nutzung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements für Beamte, PersV 2011, 182; Reichold in Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, § 94, Schutz der Arbeitnehmerpersönlichkeit; Reinecke, Herausgabe von Schmiergeldern im öffentlichen Dienst, ZTR 2007, 414; Reinhard, Betriebliches Eingliederungsmanagement als Spielwiese der betrieblichen Mitbestimmung, ArbRB 2013, 251; Sasse, Eine aktuelle Bestandsaufnahme der Rechtsprechung und Literatur zum Alkohol im Arbeitsverhältnis, NZA-RR 2019, 513; Schlenzka, Prinzipienwechsel im Nebentätigkeitsrecht des öffentlichen Dienstes durch den TVöD, PersR 2006, 63; Schmiedl, Mitarbeiterabwerbung durch Kollegen während des laufenden Arbeitsverhältnisses, BB 2003, 1120; Stiller, Neues Nebentätigkeitsrecht nach dem TVöD, ZfPR 2006, 61; Tamm, TVöD und BAT: Was hat sich geändert und was bleibt?, PersV 2006, 44; Weber/Weber, Zur Dogmatik eines allgemeinen Beschäftigungsanspruchs im Arbeitsverhältnis, RdA 2007, 344; Wiese, Internet und Meinungsfreiheit des Arbeitgebers, Arbeitnehmers und Betriebsrats, NZA 2012, 1. Speziell zum Beschäftigtendatenschutz: Brink/Joos, Datenschutzrechtliche Verantwortlichkeit der betrieblichen und behördlichen Beschäftigtenvertretungen, NZA 2019, 1395; Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht, 28. Edition 2019; Däubler/Wedde/Weichert/Sommer, EU-Datenschutz-Grundverordnung und BDSG-neu, 2018 (zitiert: DWWS/Bearbeiter); Ehmann/Selmayr, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Aufl. 2018; Gola, DS-GVO, 2. Aufl. 2018; Gola/Heckmann, BDSG, 13. Aufl. 2019; Grimm in Tschöpe, Arbeitsrecht Handbuch, Beschäftigtendatenschutz und Social Media, Teil 6 F; Hitzelberger-Kijima, Die Betroffenenrechte von Arbeitnehmern nach der Datenschutzgrundverordnung, öAT 2019, 140; Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, 2. Aufl. 2018; LBfDI Baden-Württemberg, Der Ratgeber – Beschäftigtendatenschutz, 2. Aufl. 2018; Paal/Pauly, Datenschutz-Grundverordnung Bundesdatenschutzgesetz, 2. Aufl. 2018; Plath, DSGVO/BDSG, 3. Aufl. 2018; Schulte/Welge, Der datenschutzrechtliche Kopieanspruch im Arbeitsrecht, NZA 2019, 1110; Sydow, Europäische Datenschutzgrundverordnung, 2. Aufl. 2018; Simitis/Hornung/Spiecker, Datenschutzrecht – DSGVO mit BDSG, 2019; Taeger/Gabel, DSGVO-BDSG, 3. Aufl. 2019; Thüsing, Beschäftigtendatenschutz und Compliance, 2. Aufl. 2014; Weth/Herberger/Wächter, Daten- und Persönlichkeitsschutz im Arbeitsverhältnis, 2. Aufl. 2019.

I. Verpflichtungen des Arbeitnehmers 1. Verpflichtung zur Arbeitsleistung

3.1 Seit dem 1.4.2017 ist der Arbeitsvertrag in § 611a BGB gesetzlich geregelt1. Hauptpflicht des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsvertrag iSd. § 611a Abs. 1 BGB ist die Pflicht zu weisungsgebundener und fremdbestimmter Arbeit, die der Arbeitnehmer im Zweifel in Person zu erbringen hat, § 613 Satz 1 BGB. Der Inhalt dieser Pflicht wird hinsichtlich Durchführung, 1 Gesetz v. 21.2.2017, BGBl. I, S. 258.

158

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitnehmers

Rz. 3.4 § 3

Ort und Zeit der Arbeitsleistung maßgeblich durch das Weisungsrecht des Arbeitgebers (so der seit 1.4.2017 geltende § 611a Abs. 1 Satz 2 BGB) und das aus § 106 GewO folgende Direktionsrecht des Arbeitgebers bestimmt (s. hierzu § 6). 2. Nebenpflichten a) Grundlagen aa) Begriff und Bedeutung In jedem Schuldverhältnis werden die Hauptleistungspflichten durch eine Vielzahl von Nebenpflichten ergänzt, welche auch die Parteien eines Arbeitsverhältnisses zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Vertragspartners und zum Schutz und zur Förderung des Vertragszwecks verpflichten2. Nebenpflichten stehen insofern nicht isoliert neben den Hauptleistungspflichten, sondern dienen der Förderung, Vorbereitung und Sicherung des Leistungserfolgs und der Erhaltung der Leistungsmöglichkeit3. Rechtsgrundlagen dieser Nebenpflichten sind das in § 242 BGB verankerte Prinzip von Treu und Glauben und die seit der Schuldrechtsreform in § 241 Abs. 2 BGB ausdrücklich normierte Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils4.

3.2

bb) Geltungsdauer Diese Nebenpflichten entstehen bereits vorvertraglich mit der Vertragsanbahnung (§ 311 Abs. 2, § 241 Abs. 2 BGB) und können auch nach Beendigung des Schuldverhältnisses als nachvertragliche Pflichten fortwirken5. So ist in § 3 Abs. 1 TVöD eine Nachwirkung der Verschwiegenheitspflicht über das Vertragsende hinaus ausdrücklich normiert.

3.3

cc) Umfang Aufgrund der Natur des Arbeitsverhältnisses als Dauerschuldverhältnis mit einer besonderen 3.4 persönlichen Bindung der Vertragspartner6 sind die Nebenpflichten im Arbeitsrecht besonders ausgeprägt. Auf Seiten des Arbeitnehmers wird dieses Bündel von Nebenpflichten in ständiger Rechtsprechung unter dem Begriff der „arbeitsrechtlichen Treuepflicht“ zusammengefasst, die den Arbeitnehmer verpflichtet, sich aufgrund seines Arbeitsvertrages für die Interessen des Arbeitgebers und das Gedeihen des Betriebs einzusetzen und alles zu unterlassen, was dem Arbeitgeber oder dem Betrieb abträglich ist7. Das BAG konkretisiert dies dahingehend, dass der Arbeitnehmer seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis so zu erfüllen und die im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehenden Interessen des Arbeitgebers so zu wahren hat, wie dies von ihm unter Berücksichtigung seiner Stellung im Betrieb, seiner eigenen Interessen und der Interessen der anderen Arbeitnehmer des Betriebs nach Treu und Glauben billigerweise verlangt werden kann, wobei sich der konkrete Inhalt aus dem jeweiligen Arbeitsverhältnis ergebe8. 2 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 707; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 500. 3 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 708. 4 BAG v. 2.11.2016 – 10 AZR 596/15, NZA 2017, 183; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 707; Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 179 f. 5 Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 183 f.; Palandt/Grüneberg, § 241 BGB Rz. 7. 6 BAG v. 7.9.1995 – 8 AZR 828/93, NZA 1996, 637 (638). 7 Seit BAG v. 17.10.1969 – 3 AZR 442/68, DB 1970, 497; kritisch zu dieser sehr weiten Formulierung ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 709. 8 BAG v. 2.3.2006 – 2 AZR 53/05, NZA-RR 2006, 636 (638).

Grimm

159

§ 3 Rz. 3.5

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

dd) Rechtsfolgen der Verletzung von Nebenpflichten

3.5 Neben den typischen arbeitsrechtlichen Sanktionen der Abmahnung, der verhaltensbedingten ordentlichen und uU auch außerordentlichen Kündigung kommen bei Nebenpflichtverletzungen des Arbeitnehmers Schadensersatzansprüche nach den allgemeinen Regelungen der §§ 280 ff. oder §§ 823 ff. BGB in Betracht. Bei entsprechender arbeitsvertraglicher Regelung können Nebenpflichtverletzungen auch zur Verwirkung einer Vertragsstrafe führen (s. Rz. 4.80). Gerade im öffentlichen Dienst ist die Verletzung einiger Nebenpflichten zusätzlich durch das StGB mit Strafe bedroht, worauf im Rahmen der Erläuterung einzelner Nebenpflichten näher eingegangen wird. b) Einzelne Nebenpflichten der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes aa) Belohnungen und Geschenke

3.6 Das allgemein im Arbeitsrecht geltende Verbot der Annahme von Schmiergeldern9 ist im öffentlichen Dienst durch § 3 Abs. 2 TVöD bzw. § 3 Abs. 3 TV-L konkretisiert. Zweck dieser Tarifnormen ist die Sicherstellung der durch Korruption bedrohten Integrität des öffentlichen Dienstes10.

3.7 Nach § 3 Abs. 2 Satz 1 TVöD bzw. § 3 Abs. 3 Satz 1 TV-L dürfen Beschäftigte Belohnungen, Geschenke, Provisionen oder sonstige Vergünstigungen in Bezug auf ihre Tätigkeit nicht annehmen. Ausnahmen von diesem Verbot sind nach Satz 2 nur mit Zustimmung des Arbeitgebers möglich. Satz 3 statuiert darüber hinaus eine Pflicht der Beschäftigten, bereits das Angebot derartiger Vergünstigungen dem Arbeitgeber unverzüglich anzuzeigen.

3.8 Ein „Bezug“ zur Tätigkeit besteht, wenn objektiv ein sachlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen Vergünstigung und Tätigkeit besteht. Ob dies von den Beteiligten subjektiv beabsichtigt wird, ist hingegen unbeachtlich11. Kann nach den Umständen des Falls kein anderer Grund gefunden werden als der, dass dem Zuwendungsempfänger bestimmte Dienstleistungen obliegen, hat die Zuwendung ihre Grundlage im dienstlichen Bereich und damit einen Bezug zur dienstlichen Tätigkeit12.

3.9 Während die Vorgängervorschrift § 10 BAT lediglich die Annahme von „Belohnungen“ und „Geschenken“ untersagte, wurde das Verbot auf „Provisionen“ und „sonstige Vergünstigungen“ erweitert.

3.10 Oberbegriff ist nunmehr die „sonstige Vergünstigung“, worunter jede Art von Zuwendungen, also alle materiellen oder immateriellen Vorteile zu verstehen sind, die dem Beschäftigten unmittelbar oder nur mittelbar zugutekommen13. „Belohnung“ ist entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch ein positiver Anreiz, der ein erwünschtes Verhalten hervor-

9 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 722; Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 236. 10 BAG v. 15.11.2001 – 2 AZR 605/00, AP Nr. 175 zu § 626 BGB; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 22; Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Stier, § 3 TVöD-AT Rz. 14; Brötzmann, öAT 2017, 73 (74). 11 BAG v. 17.6.2003 – 2 AZR 62/02, ZTR 2004, 25; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 518; Bredemeier/ Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 26. 12 BayObLG v. 15.11.1995 – 1 Z BR 59/95, NJW 1995, 3260; Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 26. 13 Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 23; Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 15 f.

160

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitnehmers

Rz. 3.12 § 3

rufen soll14. Auch eine Belohnung kann sowohl materieller als auch immaterieller Art sein15. „Geschenk“ ist jede freiwillige unentgeltliche Zuwendung mit Vermögenswert ohne Erwartung einer Gegenleistung und erfasst nicht nur Schenkungen iSd. §§ 516 ff. BGB16. Unter einer „Provision“ können in Anlehnung an § 87 HGB nach dem Umfang vergütungspflichtiger Geschäfte bemessene Zahlungen als Gegenleistung für erbrachte Dienste verstanden werden17. Nach dieser Verschärfung der Vorschriften durch den weiten Auffangtatbestand und Oberbegriff „sonstige Vergünstigungen“ ist zweifelhaft geworden, ob noch tatbestandliche Ausnahmen für kleinere Zuwendungen möglich sind. Das BAG hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2003 zu einer mit § 10 BAT vergleichbaren Tarifvorschrift kleinere Aufmerksamkeiten, die sich im Rahmen sozial üblicher Dankbarkeitsgesten halten und deren Zurückweisung als Unhöflichkeit oder Pedanterie erschiene, aus den Begriffen „Belohnung“ und „Geschenk“ ausgenommen18. Daran wird man nach Einbeziehung des Begriffs „sonstige Vergünstigungen“, der gerade keinerlei Wertgrenze impliziert und ein möglichst breites Spektrum von Zuwendungen erfassen soll19, nicht mehr festhalten können20. Solange sich die Vergünstigung im Rahmen der vom BAG gesteckten Grenzen des Üblichen hält und ersichtlich nicht zum Zwecke einer Begünstigung gewährt wird, wird man aber zumindest auf arbeitsvertraglicher Ebene idR von einer stillschweigenden Zustimmung des Dienstherren ausgehen können21. Kennt der Arbeitgeber bestimmte „Bräuche“ und duldet diese, wird darin eine Zustimmung liegen. Empfehlenswert ist eine solche Praxis der Duldung durch Zustimmung nicht, weil klare Regelungen das Ansehen des öffentlichen Arbeitgebers schützen und die Arbeitnehmer vor unbeabsichtigten Verfehlungen bewahren22.

3.11

In Anlehnung an das Rundschreiben des BMI zum Verbot der Annahme von Belohnungen und Geschenken in der Bundesverwaltung vom 8.11.200423 darf eine Wertgrenze von 25 Euro nicht überschritten werden. Neben solchen geringwertigen Sachzuwendungen (zB Werbekalender oder -kugelschreiber) kann auch bei geringfügigen Dienstleistungen (zB Abholen vom Bahnhof, kostenlose Bewirtung bei dienstlichen Anlässen) von einer stillschweigenden Zustimmung ausgegangen werden24.

3.11a

Teilweise wird angenommen, die Zustimmung zur Annahme von Vergünstigungen könne vom Arbeitgeber nur vor deren Annahme und nur ausdrücklich erteilt werden25. Dem ist je-

3.12

14 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Stier, § 3 TVöD-AT Rz. 16; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 25. 15 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Stier, § 3 TVöD-AT Rz. 16; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 25. 16 BAG v. 17.4.1984 – 3 AZR 97/82, AP Nr. 1 zu § 10 BAT; Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 26. 17 Baumbach/Hopt, § 87 HGB Rz. 2. 18 BAG v. 17.6.2003 – 2 AZR 62/02, ZTR 2004, 25. 19 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 28. 20 Dörring/Kutzki/Polzer, § 3 TVöD Rz. 10. 21 Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, S. 25; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 31. 22 Darauf weist Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 28, zutreffend hin. 23 Bei Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD, Anhang 1, S. 84. 24 Vgl. Rundschreiben des BMI v. 8.11.2004; ausführlich zu unterschiedlichen Fallgruppen Reiff, CCZ 2018, 194 ff.; Bömer, GWR 2011, 28 ff. 25 Dörring/Kutzki/Polzer, § 3 TVöD Rz. 13.

Grimm

161

§ 3 Rz. 3.12

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

doch entgegenzuhalten, dass für die Zustimmung als Willenserklärung in § 3 TVöD gerade keine besondere Form angeordnet ist, so dass sie nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen auch konkludent erteilt werden kann26. Der Begriff „Zustimmung“ umfasst sowohl die vorherige Einwilligung (§ 183 BGB) als auch die nachträgliche Genehmigung (§ 184 BGB)27.

3.13 Überschreitet die Vergünstigung die oben genannten Grenzen, ziehen Verstöße gegen das Schmiergeldverbot Konsequenzen nach sich. Fortgesetzte Verstöße gegen § 3 Abs. 2 TVöD rechtfertigen nicht nur eine verhaltensbedingte ordentliche Kündigung, sondern können auch einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB darstellen28. Bei mehrfachen Verstößen wird dann auch die notwendige umfassende Interessenabwägung nur in besonderen Ausnahmefällen zur Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung führen29. Im Einzelfall kann selbst die Annahme einer nur geringwertigen Vergünstigung (Montagestunde für 36,90 DM statt 44,00 DM30) eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen31. Da die Annahme von Schmiergeldern den Vertrauensbereich betrifft, ist auch eine vorherige Abmahnung grundsätzlich entbehrlich32.

3.14 Arbeitnehmer sind nach § 3 Abs. 2 Satz 3 TVöD zwingend verpflichtet, den Arbeitgeber zu unterrichten, wenn Vergünstigungen nach § 3 Abs. 2 TVöD angeboten werden33. Ein Verstoß gegen diese Anzeigepflicht kann eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen. So hat das ArbG Paderborn die außerordentliche Kündigung eines im öffentlichen Dienst beschäftigten Technikers nicht wegen der Annahme von Werbegeschenken, sondern wegen der beharrlichen Verletzung seiner Anzeigepflicht aus § 10 Abs. 2 BAT bestätigt34.

3.15 Auch der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes kann die erlangte Vergünstigung gemäß § 687 Abs. 2 Satz 1, § 681 Satz 2, § 667 BGB herausverlangen35.

26 Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 28. 27 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 31; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 519; vgl. Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 29. 28 Zu § 10 BAT: BAG v. 15.11.2001 – 2 AZR 605/00, AP Nr. 175 zu § 626 BGB; v. 17.6.2003 – 2 AZR 62/02, ZTR 2004, 25; LAG Schleswig-Holstein v. 14.12.2008 – 6 Sa 272/08, NZA-RR 2009, 397 zu § 3 Abs. 2 TVöD. Auf damit einhergehende Amtspflichtverletzungen kommt es nicht an. 29 BAG v. 17.3.2005 – 2 AZR 245/04, ArbRB 2006, 7 = NZA 2006, 101 (104); LAG Hessen v. 3.11.2006 – 3 Sa 287/05, juris Rz. 37 ff. Rechtsprechungsübersicht: Steinkühler/Kunze, RdA 2009, 367 ff. 30 LAG Hamburg v. 26.9.1990 – 4 Sa 77/88, LAGE Nr. 58 zu § 626 BGB. 31 S. auch LAG Düsseldorf v. 23.2.2011 – 12 Sa 1454/10, LAGE Nr. 32 zu § 626 BGB 2002 zur außerordentlichen Kündigung eines städtischen Friedhofsleiters wegen der Entgegennahme von „Trinkgeldern“ iHv. jährlich 155 Euro für die Pflege einer privaten Grabstätte. 32 BAG v. 21.6.2001 – 2 AZR 30/00, ArbRB 2002, 9 = ZTR 2002, 45. Ähnlich verhält es sich im Falle der Entgegennahme von Leistungen des eigenen Unternehmens von erheblichem wirtschaftlichen Wert, wenn der Arbeitnehmer weiß, dass er hierauf keinen Anspruch hat und dadurch die ihm obliegende Wahrnehmung der Vermögensinteressen seines Arbeitgebers verletzt, LAG BadenWürttemberg v. 11.7.2013 – 3 Sa 129/12, AuA 2014, 252 (außerordentliche Kündigung des Chefs von Mercedes-Benz USA). 33 Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 32. 34 ArbG Paderborn v. 27.3.2003 – 1 Ca 91/03, juris Rz. 31 ff. 35 LAG Berlin v. 30.11.2004 – 3 Sa 1634/04, LAGReport 2005, 289; LAG Niedersachsen v. 14.9.2005 – 15 Sa 1610/03, LAGE Nr. 2 zu § 667 BGB 2002; Müller/Preis, Rz. 552; Reinecke, Herausgabe von Schmiergeldern im öffentlichen Dienst, ZTR 2007, 414 (416); HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 520.

162

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitnehmers

Rz. 3.18 § 3

Neben den arbeitsrechtlichen Konsequenzen sind Vorteilsannahme und Bestechlichkeit in 3.16 §§ 331, 332 StGB mit Strafe bedroht. Bei diesen Tatbeständen handelt es sich um Sonderdelikte, die nur von Amtsträgern und von für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten begangen werden können. Beide Begriffe werden in § 11 Abs. 1 Nr. 2 und 4 StGB legaldefiniert. Für „Nicht-Amtsträger“ gilt § 299 StGB36. Amtsträger sind nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht nur Beamte (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a StGB), sondern auch Personen, die dazu bestellt sind, bei einer Behörde oder bei einer sonstigen Stelle oder in deren Auftrag Aufgaben der öffentlichen Verwaltung unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung gewählten Organisationsform wahrzunehmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB)37. Die „Bestellung“ bedarf keines förmlichen Bestellungsaktes, sondern setzt nur voraus, dass der Betreffende über den Einzelfall hinaus mit der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben betraut und in die behördliche Organisation eingebunden wird38. Entscheidend ist eine funktionale Betrachtung; es ist also zu fragen, ob der Bestellte Aufgaben öffentlicher Verwaltung wahrnimmt, wozu nicht nur die Bereiche der Eingriffs- und Leistungsverwaltung, sondern auch die fiskalische Verwaltung und die Aufgaben der Daseinsvorsorge gehören39. „Unbeschadet der Organisationsform“ bedeutet, dass auch juristische Personen des Privatrechts „sonstige Stellen“ sein können, wobei die ständige Rechtsprechung bei diesen verlangt, dass sie bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben derart staatlicher Steuerung unterliegen, dass sie sich als ein verlängerter Arm des Staates darstellen40. Der BGH hat deshalb den Geschäftsführer einer Fernwärme-GmbH, die sich in städtischem Alleinbesitz befindet, als Amtsträger eingeordnet41, während die Frankfurter Flughafen-AG trotz Anteilseignerschaft der öffentlichen Hand nicht als „sonstige Stelle“ angesehen wurde42.

3.17

Viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes werden deshalb schon unter den Amtsträgerbegriff fallen, ohne dass eine Verpflichtung nach dem Verpflichtungsgesetz v. 2.3.197443 notwendig ist. Dem Verpflichtungsgesetz unterliegen nur Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, die – ohne selbst Amtsträger zu sein – bei einer Behörde oder bei einer sonstigen Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 VerpflG), oder bei einem Verband, einem Betrieb oder Unternehmen, die für eine Behörde oder sonstige Stelle Aufgaben der öffentlichen Verwaltung ausführen (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 VerpflG), beschäftigt oder für sie tätig sind. Wer bei diesen Stellen selbst Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, ist bereits Amtsträger iSd. § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB und bedarf daher keiner Verpflichtung nach § 1 VerpflG. Für die förmliche Verpflichtung verbleibt damit ein Anwendungsbereich zB für Schreibkräfte, Boten, Auszubildende, Praktikanten, Putzfrauen oder Bundesfreiwilligendienstleistende44, wenn sie bei oben genannten Stellen beschäftigt oder für diese tätig sind. Da

3.18

36 Zu den Kündigungsvoraussetzungen wegen Straftaten nach § 299 StGB s. Häcker, ArbRB 2010, 216. 37 Durch § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB werden auch europäische Amtsträger erfasst, Gesetz v. 20.11.2015, BGBl I S. 2025, BT-Drucks. 18/4350, 18/6389; Fischer, § 11 StGB Rz. 24. 38 BGH v. 15.5.1997 – 1 StR 233/96, NJW 1997, 3034 (3036 f.); v. 29.8.2007 – 5 StR 103/07, NStZ 2008, 87; Fischer, § 331 StGB Rz. 4a. 39 BGH v. 10.3.1983 – 4 StR 375/82, NJW 1983, 2509 (2510); v. 19.1.1992 – 5 StR 338/91, NJW 1992, 847 (848); Fischer, § 11 StGB Rz. 22. 40 BGH v. 14.11.2003 – 2 StR 164/03, NJW 2004, 693 (693); v. 18.4.2007 – 5 StR 506/06, NJW 2007, 2932 (2933); Fischer, § 11 StGB Rz. 22a und § 331 StGB Rz. 4b. 41 BGH v. 14.11.2003 – 2 StR 164/03, NJW 2004, 693. 42 BGH v. 3.3.1999 – 2 StR 437/98, NJW 1999, 2378. 43 BGBl. I 469, 547; III 453-17. 44 Vgl. Fischer, § 11 StGB Rz. 25; aber anders Müller/Preis, Rz. 550.

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163

§ 3 Rz. 3.18

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

die Abgrenzung aber schwierig sein kann, empfiehlt es sich für die oben genannten, mit Aufgaben der öffentlichen Verwaltung betrauten Stellen, Beschäftigte im Zweifel auf die gewissenhafte Erfüllung ihrer Obliegenheiten zu verpflichten. Die Verpflichtung wird mündlich und unter Hinweis auf die strafrechtlichen Folgen einer Pflichtverletzung vorgenommen, § 1 Abs. 2 VerpflG. Über die Verpflichtung ist nach Abs. 3 eine vom Verpflichteten unterzeichnete Niederschrift aufzunehmen. Die Zuständigkeit für die Verpflichtung richtet sich nach Landesrecht45. bb) Verschwiegenheitspflicht

3.19 Die Verpflichtung, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse nicht zu offenbaren, ist Inhalt jedes Arbeitsverhältnisses und Ausfluss der arbeitsrechtlichen Treuepflicht46. Insofern hat die in § 3 Abs. 1 TVöD und § 3 Abs. 2 TV-L normierte Geheimhaltungspflicht lediglich deklaratorische Bedeutung47.

3.20 Nach § 3 Abs. 1 TVöD und § 3 Abs. 2 TV-L haben die Beschäftigten über Angelegenheiten, deren Geheimhaltung durch gesetzliche Vorschriften vorgesehen oder vom Arbeitgeber angeordnet ist, auch über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hinaus Verschwiegenheit zu wahren. § 46 Satz 2 TVöD BT-S konkretisiert die Verschwiegenheitspflicht für Beschäftigte der Sparkassen für das Bankgeheimnis, das so auch ohne Anordnung des Arbeitgebers zu beachten ist. Nicht abschließend geklärt ist, ob Arbeitnehmer auch an die Verschwiegenheitspflicht gebunden sind, wenn der Arbeitgeber gegen geltendes Recht verstößt48.

3.21 Das in der Vorgängervorschrift in § 9 Abs. 2 und 3 BAT enthaltene ausdrückliche Verbot, Schriftstücke, Zeichnungen, bildliche Darstellungen usw. zu kopieren und auf Verlangen des Arbeitgebers herauszugeben, gilt auch ohne Normierung im TVöD als allgemeine arbeitsvertragliche Nebenpflicht, dienstliche Schriftstücke nur im dienstlichen, nicht jedoch im privaten Interesse zu verwenden. Zur Klarstellung kann diese Pflicht mit einer Formulierung in Anlehnung an § 9 Abs. 2, 3 BAT ausdrücklich in den Arbeitsvertrag aufgenommen werden49.

3.22 Zu den gesetzlichen Geheimhaltungsvorschriften zählt neben § 23 GeschGehG, § 10 BPersVG, § 35 SGB I (Sozialgeheimnis) und § 30 AO (Steuergeheimnis) insbesondere das allgemeine Datengeheimnis, aus dem für den öffentlichen Dienst ein Verbot der Weitergabe von Einzelangaben persönlicher und sachlicher Verhältnisse von Bürgern folgt. Zu beachten ist, dass die Qualifikation als Geschäftsgeheimnis nach § 2 Nr. 1 Buchst. b GeschGehG voraussetzt, dass „angemessene Geheimhaltungsmaßnahmen“ getroffen worden sind50. Der Geheimnisschutz

45 In NRW zB nach § 1 der Verpflichtungsgesetzverordnung NRW (VerpflichtG VO NRW). 46 BAG v. 25.8.1966 – 5 AZR 525/65, AP Nr. 1 zu § 611 BGB Schweigepflicht; v. 15.12.1987 – 3 AZR 474/86, NZA 1988, 502 (503 f.); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 710; Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 250; ausführlich vgl. Müller, öAT 2012, 102 ff. Zum Konflikt von Meinungsfreiheit und Internet einerseits und Verschwiegenheitspflicht für Arbeitnehmer, Betriebs- und Personalrat andererseits Wiese, NZA 2012, 1 ff. 47 Tamm, PersV 2006, 44 (51). 48 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 716; zur Thematik „Whistleblowing“ und Geheimnisschutz sowie Ausnahmen vom Vertraulichkeitsgrundsatz s. Bauschke, öAT 2019, 133 (134 f.); Groß/Platzer, NZA 2017, 1097 ff. u. Conze/Karb/Wölk/Conze, Rz. 2697 ff. 49 Kuner, TVöD, Rz. 234. 50 Dazu Maaßen, GRUR 2019, 352 ff. sowie Bauschke, öAT 2019, 133 ff.

164

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Rz. 3.27 § 3

Verpflichtungen des Arbeitnehmers

muss organisiert werden51. Die Folgen dieser Neuregelung durch das am 26.4.2019 in Kraft getretene Geschäftsgeheimnisgesetz betreffen zumindest auch die Unternehmen der öffentlichen Hand. Prozessuale Folge der Verschwiegenheitspflicht ist nach überwiegender Auffassung, dass Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in gerichtlichen Prozessen (§ 376 ZPO, § 54 StPO, § 118 SGG, § 98 VwGO) für Aussagen hinsichtlich solcher Angelegenheiten, die der Verschwiegenheitspflicht unterliegen, eine Aussagegenehmigung des Arbeitgebers benötigen52. Hierfür spricht nicht nur der Wortlaut der genannten Vorschriften, der „andere Personen des öffentlichen Dienstes“ ausdrücklich mit einbezieht, sondern auch der Schutz der als Zeugen aussagenden Bediensteten vor den empfindlichen Konsequenzen der Verletzung ihrer Verschwiegenheitspflicht.

3.23

Neben den typischen arbeitsvertraglichen Folgen ist die Verletzung der Verschwiegenheits- 3.24 pflicht nämlich durch § 23 GeschGehG und § 353b StGB auch strafrechtlich sanktioniert, wobei es sich bei letzterer Vorschrift auch hier um ein Sonderdelikt für Amtsträger und die nach dem VerpflG für den öffentlichen Dienst besonders verpflichteten Beschäftigten handelt. cc) Nebentätigkeit Während § 11 BAT53 für die Nebentätigkeit von Angestellten im öffentlichen Dienst noch auf die für Beamte geltenden Bestimmungen verwies, ist das Nebentätigkeitsrecht der Beschäftigten im Rahmen des TVöD und des TV-L nunmehr vollständig vom Beamtenrecht abgekoppelt.

3.25

(1) Schriftliche Anzeige entgeltlicher Nebentätigkeit mit Verbotsvorbehalt § 99 BBG und die entsprechenden Vorschriften der Landesbeamtengesetze sehen für die Nebentätigkeit von Beamten einen Genehmigungsvorbehalt vor. Im öffentlichen Dienst besteht nunmehr gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 TVöD bzw. § 3 Abs. 4 Satz 1 TV-L lediglich eine schriftliche Anzeigepflicht für Nebentätigkeiten, die zudem auf entgeltliche Nebentätigkeiten beschränkt ist. Dem Arbeitgeber bleibt aber vorbehalten, die Nebentätigkeit zu untersagen oder mit Auflagen zu versehen, wenn diese geeignet ist, die Erfüllung der arbeitsvertraglichen Pflichten der Beschäftigten oder berechtigte Interessen des Arbeitgebers zu beeinträchtigen, § 3 Abs. 3 Satz 2 TVöD bzw. § 3 Abs. 4 Satz 2 TV-L. Bei einer unzulässigen Ausdehnung der Nebentätigkeit ist eine fristlose Kündigung durch den Arbeitgeber möglich54.

3.26

Nur der TV-L sieht in § 3 Abs. 4 Satz 3 für Nebentätigkeiten im öffentlichen Dienst noch die 3.27 Möglichkeit vor, eine Ablieferungspflicht zur Auflage zu machen. Aufgrund einer solchen Auflage kann der Arbeitgeber einen Teil der vom Beschäftigten im öffentlichen Dienst erzielten Nebentätigkeitsvergütung herausverlangen. Solche Ablieferungspflichten für Nebentätigkeits51 Zu den zu treffenden Maßnahmen Maaßen, GRUR 2019, 352 (357). 52 LG Göttingen v. 22.10.2002 – 10 T 57/02, NJW-RR 2003, 117 (117 f.); Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 376 ZPO Rz. 5; Zöller/Greger, § 376 ZPO Rz. 8; Müller/Preis, Rz. 551; Burger/ Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 8; aA aber BayObLG v. 21.3.1990 – BReg.1a Z 1/90, NJW 1990, 1857 (1857 f.). 53 Zu § 11 BAT: Braun, ZTR 2004, 69. 54 Eine außerordentliche Kündigung wegen Überschreitung der Grenzen einer erteilten Nebentätigkeitsgenehmigung und Verstoß gegen das Verbot der Annahme von Vergünstigungen (§ 3 Abs. 3 TV-L) bejahend LAG Hamm v. 14.3.2019 – 11 Sa 980/18, PM des Justizministerium NRW v. 14.3.2019.

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165

§ 3 Rz. 3.27

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

vergütungen im öffentlichen Dienst sind nach der Rechtsprechung des BAG mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar55. (2) Geltung der allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsätze

3.28 Damit entsprechen die tarifvertraglichen Regelungen den allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsätzen zur Zulässigkeit von Nebentätigkeiten. Auch außerhalb des öffentlichen Dienstes sind Nebentätigkeiten im Hinblick auf das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG grundsätzlich zulässig und können vom Arbeitgeber nur unter Darlegung eines berechtigten Interesses untersagt werden56.

3.29 Ein solches berechtigtes Interesse an der Untersagung der Nebentätigkeit besteht insbesondere in folgenden Fallgruppen: – bei Nebentätigkeiten, durch die die vertraglich vereinbarte Arbeitsleistung in Mitleidenschaft gezogen wird57; – bei Nebentätigkeiten im Urlaub unter Verstoß gegen § 8 BUrlG58; – bei Verletzung von Vorschriften des Arbeitszeitrechts, wenn durch die Nebentätigkeit die tägliche Höchstarbeitszeit überschritten wird59; – bei Verletzung berechtigter Interessen des Arbeitgebers durch Konkurrenztätigkeit60; – bei Verstoß gegen vertragliche Wettbewerbsverbote61; – bei Nebentätigkeiten, die die Wahrnehmung des Arbeitgebers in der Öffentlichkeit beeinträchtigen können, zB wenn ein bei der Caritas beschäftigter Krankenpfleger einer Nebenbeschäftigung als Leichenbestatter nachgeht62. dd) Wettbewerbsverbot während des Arbeitsverhältnisses

3.30 In vielen Bereichen des öffentlichen Dienstes, insbesondere im Kernbereich der Verwaltung, ist das Wettbewerbsverbot mangels privater Konkurrenz für den öffentlichen Arbeitgeber naturgemäß von geringer Bedeutung. Im Bereich der Daseinsvorsorge, als früher klassischer Domäne der öffentlichen Hand, entwickelt sich u.a. als Folge der Subsidiaritätsklauseln in den Gemeindeordnungen der Länder (zB § 107 Abs. 3 GO NRW) eine zunehmende Kon55 BAG v. 25.7.1996 – 6 AZR 683/95, NZA 1997, 320 (321 f.); vgl. zum Beamtenrecht BVerfG v. 8.12.2006 – 2 BvR 385/05, NVwZ-RR 2007, 185 (185 f.); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 728. 56 BAG v. 11.12.2001 – 9 AZR 464/00, ArbRB 2002, 223 = NZA 2002, 965 (967); v. 26.6.2001 – 9 AZR 343/00, ArbRB 2002, 3 = NZA 2002, 98; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 724 f.; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 522 und 526. 57 BAG v. 18.1.1996 – 6 AZR 314/95, NZA 1997, 41 (42); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 725; Schaub/ Linck, ArbRHdb, § 42 Rz. 5. 58 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 727; Schaub/Linck, ArbRHdb, § 42 Rz. 9, § 104 Rz. 62 ff. 59 LAG Rheinland-Pfalz v. 30.1.1997 – 5 Sa 1055/96, NZA-RR 1997, 324 (Ls.); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 727; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 527 zur allgemeinen Erlaubnispflicht des Teilzeitbeschäftigten im öffentlichen Dienst. 60 BAG v. 28.2.2002 – 6 AZR 33/01, ZTR 2002, 429; LAG Schleswig-Holstein v. 19.12.2006 – 5 Sa 288/06, NZA-RR 2007, 240 (242); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 727; Schaub/Linck, ArbRHdb, § 42 Rz. 8. 61 BAG v. 13.5.2015 – 2 ABR 38/14, NZA 2015, 117; v. 23.10.2014 – 2 AZR 644/13, NZA 2015, 499. 62 BAG v. 28.2.2002 – 6 AZR 357/01, DB 2002, 1560.

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Grimm

Verpflichtungen des Arbeitnehmers

Rz. 3.35 § 3

kurrenz durch private Anbieter, u.a. private Krankenhäuser63, Kindergärten und Schulen, so dass das allgemeine arbeitsrechtliche Wettbewerbsverbot auch im öffentlichen Dienst zunehmend an Bedeutung gewinnt. Das Wettbewerbsverbot wird aus § 60 HGB abgeleitet, der unmittelbar nur Handlungsgehilfen iSd. HGB Konkurrenztätigkeiten zum Nachteil ihres Prinzipals untersagt. Der Rechtsgedanke der Vorschrift ist aber auf alle Arten von Arbeitsverhältnissen übertragbar, da eine Konkurrenztätigkeit des Arbeitnehmers nicht mit den sich aus § 241 Abs. 2, § 242 BGB ergebenden Pflichten zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers vereinbar ist64.

3.31

Im bestehenden Arbeitsverhältnis verbietet das Wettbewerbsverbot dem Arbeitnehmer, ohne die Zustimmung des Arbeitgebers in dessen Marktbereich im eigenen Namen und Interesse Dritten Leistungen anzubieten65. Die Interessenwahrungspflicht gegenüber dem Arbeitgeber verbietet jegliche Konkurrenztätigkeit unabhängig von der gewählten Rechtsform66. Ein Verstoß gegen das Wettbewerbsverbot kann neben kündigungsrechtlichen Folgen zu Schadensersatzansprüchen und einem Eintrittsrecht des Arbeitgebers nach § 61 HGB führen.

3.32

Das Wettbewerbsverbot endet grundsätzlich mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wenn nicht ausdrücklich und formgerecht ein nachvertragliches Wettbewerbsverbot gemäß §§ 74 ff. HGB, § 110 Satz 2 GewO vereinbart wird (s. hierzu Rz. 4.78).

3.33

ee) Abwerbung Als weitere Ausprägung des Wettbewerbsverbots stellt auch die Einwirkung auf andere Arbeitskollegen mit dem Ziel, diese zur Aufgabe ihres bisherigen Arbeitsverhältnisses und zur Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses mit dem Abwerbenden oder einem Dritten zu veranlassen, eine Nebenpflichtverletzung dar67.

3.34

ff) Schutz der betrieblichen Ordnung und der Betriebsmittel Auch im öffentlichen Dienst obliegt es den Beschäftigten als allgemeine Nebenpflicht, die betriebliche Ordnung des Arbeitgebers zu wahren68. Zur betrieblichen Ordnung können bspw. ein Rauch- und Alkoholverbot im Betrieb zählen69. Dies kann der Arbeitgeber – unter Beach-

63 Einem Arzt (Leitender Oberarzt für Anästhesie) kann nach § 3 Abs. 3 TVöD bzw. § 3 Abs. 4 TV-L die Nebentätigkeit in einem anderen – 20 Kilometer entfernten – Krankenhaus als Anästhesist in Rufbereitschaft untersagt werden, weil die Tarifnormen in Überstimmung mit § 60 HGB auch die Unterstützung eines Wettbewerbers „im selben Marktbereich“ durch Eingehung eines Arbeitsverhältnisses verbieten, LAG Rheinland-Pfalz v. 19.5.2010 – 8 Sa 2/10 (juris). 64 BAG v. 17.10.1969 – 3 AZR 442/68, DB 1970, 497; v. 16.8.1990 – 2 AZR 113/90, NZA 1991, 141 (142); v. 25.4.1991 – 2 AZR 624/90, NZA 1992, 212 (213); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 720; HWK/ Thüsing, § 611a BGB Rz. 511; Preis/Stoffels, Arbeitsvertrag, II W 10 Rz. 2 ff. 65 BAG v. 16.6.1976 – 3 AZR 73/75, NJW 1977, 646 (646); v. 16.8.1990 – 2 AZR 113/90, NZA 1991, 141 (142). 66 BAG v. 16.8.1990 – 2 AZR 113/90, NZA 1991, 141 (142); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 720; HWK/ Thüsing, § 611a BGB Rz. 514. 67 BAG v. 30.1.1963 – 2 AZR 319/62, NJW 1963, 1420 (1420 f.); LAG Baden-Württemberg v. 28.3.2002 – 20 Sa 75/01, juris Rz. 15; ErfK/Niemann, § 626 BGB Rz. 62; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 541; Schaub/Linck, ArbRHdb, § 53 Rz. 11: umfassend Schmiedl, BB 2003, 1120 ff. 68 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 738. 69 Dazu ausführlich Müller, NZA 2019, 1264 ff.; ders. NJOZ 2019, 1105 ff.; zu den kündigungsrechtlichen Folgen Sasse, NZA-RR 2019, 513 (516 ff.).

Grimm

167

3.35

§ 3 Rz. 3.35

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

tung der Mitbestimmungsrechte von Betriebs- und Personalrat – auch nach § 106 Satz 2 GewO einseitig anordnen70. Dabei ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten71.

3.35a Arbeitnehmer unterliegen zudem nach § 241 Abs. 2 BGB der arbeitsvertraglichen Nebenpflicht, sich nicht durch den Konsum von Drogen oder Alkohol vor oder während der Arbeitszeit in einen Zustand zu versetzen, aufgrund dessen sie zur ordnungsgemäßen Erfüllung der Arbeitspflicht und der arbeitsvertraglichen Nebenpflicht nicht mehr in der Lage sind (sog. ungeschriebenes relatives Drogenverbot)72. Daneben sind gesetzliche Drogenverbote (beispielsweise § 4a Abs. 1 Satz 1 LuftVG), tarifvertragliche Drogenverbote (§ 18 Tarifvertrag für Lokführer von Schienenverkehrsunternehmen) sowie die Unfallverhütungsvorschrift des § 15 Abs. 2 DGUV Vorschrift 1 zu beachten73. Grundsätzlich besteht im Hinblick auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit keine Verpflichtung des Arbeitnehmers, an verdachtsunabhängigen Alkohol- bzw. Drogenkontrollen mitzuwirken74. Anderes gilt nur bei Einverständnis des Arbeitnehmers oder einer arbeitsvertraglichen Verpflichtung, insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber wegen der Art oder Gefährlichkeit der Tätigkeit ein berechtigtes Interesse daran hat75. Einer anlassbezogenen Alkoholuntersuchung muss sich der Arbeitnehmer nur unterziehen, wenn hinreichende tatsächliche – und dokumentierte – Anhaltspunkte bzw. Umstände bestehen, „… die bei vernünftiger, lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründen, bei dem betreffenden Arbeitnehmer könne eine Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit vorliegen.“76. Eine Untersuchungspflicht besteht, wenn infolge einer Abhängigkeit besondere Gefahren für Leib und Leben oder kostspielige Wirtschaftsgüter des Arbeitgebers bestehen, was im sicherheitsrelevanten Bereich idR der Fall ist77.

3.35b § 3 Abs. 4 TVöD berechtigt den Arbeitgeber „bei begründeter Veranlassung“ zu einer Untersuchung, ob der Arbeitnehmer zur Leistung der arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit in der Lage ist. Eine solche Veranlassung liegt nach Auffassung des BAG auch vor, wenn berechtigte Zweifel an der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers bestehen78. Die Kosten der Untersuchung, die auch außerhalb des sicherheitsrelevanten Bereichs erfolgen kann79, trägt der Arbeitgeber. 70 Müller, NJOZ 2019, 1105 (1107, 1109); Sasse, NZA-RR 2019, 513 (515). 71 Zu den Abwägungskriterien Sasse, NZA-RR 2019, 513 (515). 72 Müller, NZA 2019, 1264 (1265), der auch darauf hinweist, dass hierzu – anders als im Straßenverkehr nach § 24a StVG – keine fest definierten (Promille-) Grenzen bestehen, um festzustellen, ob ein kündigungsrelevanter Drogenmissbrauch vorliegt. Entscheidend sind die Verträglichkeit und die Tätigkeit. Bei Tätigkeiten im sicherheitsrelevanten Bereich (zu den – weitgehenden – Fallgruppen Müller, NJOZ 2019, 1105 (1108)) ist bereits ein geringfügiger Drogenkonsum pflichtwidrig. 73 Eine Übersicht findet sich bei Müller, NJOZ 2019, 1105 (1106 f.). 74 Müller, NJOZ 2019, 1105 (1109). 75 Diller/Powietzka, NZA 2001, 1227 (1232); Müller, NJOZ 2019, 1105 (1109 f.); Sasse, NZA-RR 2019, 513 (515). 76 BAG v. 12.8.1999 – 2 AZR 55/99, NZA 1999, 1209; Müller, NJOZ 2019, 1105 (1110), beide auch zu den kündigungsrechtlichen Folgen. 77 Müller, NJOZ 2019, 1105 (1110). 78 BAG v. 25.1.2018 – 2 AZR 382/17 NZA 2018, 845 (847 f.); folgend Müller, NJOZ 2019, 1105 (1111) mwN. Solche Zweifel können insb. beruhen auf einer vorliegenden ärztlichen Bescheinigung, lang andauernder Erkrankung, auffälligen Verhaltensverstößen, häufiger Verkehrsverstöße eines Kraftfahrers und Minderleistungen des Arbeitnehmers. 79 Müller, NJOZ 2019, 1105 (1111).

168

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitnehmers

Rz. 3.37 § 3

Es besteht ferner die arbeitsvertragliche Nebenpflicht, in Bezug auf Arbeitskollegen Rücksicht zu üben und Störungen des Betriebsfriedens durch Mobbing zu unterlassen80.

3.35c

Ausgehend von der in § 241 Abs. 2 BGB statuierten Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechtsgüter des Vertragspartners bestehen zudem Schutzpflichten des Arbeitnehmers für die Betriebsmittel des Arbeitgebers: Fehler an Maschinen und sonstigen Betriebsmitteln müssen dem Arbeitgeber angezeigt werden81. Im Rahmen des Möglichen besteht ferner die Pflicht des Arbeitnehmers, Schäden vom Arbeitgeber abzuwenden82. gg) Informationspflichten Zu den Nebenpflichten zählen auch Auskunftspflichten, die nach § 242 BGB entstehen, wenn der Arbeitgeber in entschuldbarer Weise über Bestehen und Umfang seines Rechts im Ungewissen ist, während der Arbeitnehmer unschwer Auskunft erteilen kann83. Die wichtigste Informations- und Nachweispflicht ist für den Fall der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers in § 5 EFZG ausdrücklich geregelt84.

3.36

Nach §§ 2 und 3 des Vergütungsoffenlegungsgesetzes des Landes NRW (VergütungsOG NW)85 müssen öffentlich-rechtliche Unternehmen und Unternehmen, an denen ein öffentlich-rechtliches Unternehmen unmittelbar oder mittelbar mehrheitlich beteiligt ist, die im Geschäftsjahr gewährten Bezüge der Geschäftsführung (Vorstand bei der AG bzw. Geschäftsführer bei der GmbH), Aufsichtsräte, Beiräte und ähnlichen Einrichtungen unter Namensnennung im Jahresabschluss offenlegen. Bei Aufsichts- und Beiräten gilt dies auch hinsichtlich der Vorteile für persönlich erbrachte Leistungen, insbesondere Beratungs- und Vermittlungsleistungen (§ 2 Abs. 2 VergütungsOG NW). Für die genannten Organe besteht eine vertragliche Nebenpflicht, der Offenlegung zuzustimmen. Unabhängig davon sollte diese bei Geschäftsführungsmitgliedern in den Anstellungsvertrag und bei Aufsichts- bzw. Beiräten in die jeweiligen Satzungen aufgenommen werden. hh) Loyalitätspflicht Die Rücksichtnahmepflichten aus § 241 Abs. 2, § 242 BGB verpflichten den Arbeitnehmer in jedem Arbeitsverhältnis zu einem Mindestmaß an Loyalität gegenüber seinem Arbeitgeber86.

80 81 82 83

HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 507. ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 742. ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 744; Schaub/Linck, ArbRHdb, § 53 Rz. 38. BAG v. 7.9.1995 – 8 AZR 828/93, NZA 96, 637 (638); v. 18.1.1996 – 6 AZR 314/95, NZA 1997, 41 (42); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 736. 84 Zur Informationspflicht bei Untersuchungshaft des Arbeitnehmers s. BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 517/14, NZA 2015, 1180. 85 GV.NRW 2009, S. 950, mit Änderung durch GV.NRW 2014, S. 624 abrufbar unter https:// recht.nrw.de. 86 BAG v. 13.10.1977 – 2 AZR 387/76, DB 1978, 641; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 734; Schaub/Linck, ArbRHdb, § 53 Rz. 6 (30 ff.). Eine öffentliche Fachhochschule muss es dementsprechend nicht dulden, dass eine angestellte Professorin wegen der Nichtgewährung von Korrekturassistenten durch einen „Spendenaufruf“ in der Betriebsöffentlichkeit der Hochschulleitung Schikane und Machtmissbrauch vorwirft und die Frage aufwirft, ob der Dekan krank oder überfordert sei und nach Gutsherrenart regieren wolle, LAG Düsseldorf v. 23.1.2019 – 7 Sa 370/18, NZA-RR 2019, 310 (314).

Grimm

169

3.37

§ 3 Rz. 3.38

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

3.38 Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 BAT hatten sich die Angestellten so zu verhalten, wie es von Angehörigen des öffentlichen Dienstes erwartet wird. Diese Vorschrift wurde in der Rechtsprechung u.a. als Schranke für gegen den Arbeitgeber gerichtete rufschädigende Meinungsäußerungen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst herangezogen, indem § 8 Abs. 1 Satz 1 BAT als die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG einschränkendes allgemeines Gesetz iSd. Art. 5 Abs. 2 GG angewandt wurde87. Die Rechtsprechung wertete das Tragen einer Anti-Atomkraft-Plakette während des Schuldienstes88 und den gegen den Dienstvorgesetzten gerichteten Vorwurf der „Rechtsbeugung“89 auch unter Berücksichtigung der Meinungsfreiheit als Verstoß gegen die Pflicht aus § 8 Abs. 1 Satz 1 BAT. § 8 Abs. 1 Satz 1 BAT ist im TVöD ersatzlos weggefallen. Die Nachfolgeregelung in § 41 Abs. 1 Satz 1 TVöD BT-V und § 3 Abs. 1 Satz 1 TV-L verlangt nun nur noch eine gewissenhafte und ordnungsgemäße Ausführung der arbeitsvertraglich geschuldeten Leistung, also eine arbeitsrechtliche Selbstverständlichkeit90. Der Wegfall des § 8 Abs. 1 Satz 1 BAT führt aber in der Sache zu keinen Änderungen, da rufschädigende Meinungsäußerungen in jedem Arbeitsverhältnis die aus § 241 Abs. 2 BGB folgende Pflicht zur Rücksichtnahme verletzen können, wobei im Einzelfall eine Abwägung mit dem Grundrecht des Arbeitnehmers auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG stattfinden muss91. Eine Abwägung ist nur bei bewusst unwahren Tatsachenbehauptungen, Schmähkritik und Formalbeleidigungen entbehrlich, da solche Äußerungen von vornherein nicht in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallen92. Das Recht der freien Meinungsäußerung findet seine Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG), wozu nach dem BAG auch die Grundregeln über das Arbeitsverhältnis gehören93, insbesondere auch das Pflichtengebot, sich so zu verhalten, dass der Betriebsfrieden nicht ernstlich und schwer gefährdet wird und dass die Zusammenarbeit im Betrieb mit den übrigen Arbeitnehmern, aber auch mit dem Arbeitgeber, für diese zumutbar bleibt94. Auch die aus § 241 Abs. 2 BGB folgende Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen Vertragspartners ist also allgemeines Gesetz iSd. Art. 5 Abs. 2 GG95.

3.39 Als weitere Ausprägung der Loyalitätspflicht enthielt § 8 Abs. 1 Satz 2 BAT für alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes eine politische Treuepflicht. Eine vergleichbare Regelung ist nun nur noch in § 3 Abs. 1 Satz 2 TV-L für die Beschäftigten der Länder und in § 41 Abs. 1 Satz 2 TVöD BT-V für die Beschäftigten der Verwaltung enthalten, wobei die politi87 BVerfG v. 16.10.1998 – 1 BvR 1685/92, NZA 1999, 77 (78); BAG v. 2.3.1982 – 1 AZR 694/79, NJW 1982, 2888 (2890); v. 6.11.2003 – 2 AZR 177/02, ZTR 2004, 261; Kissel, NZA 1998, 145 (146). 88 BAG v. 2.3.1982 – 1 AZR 694/79, NJW 1982, 2888. 89 BAG v. 6.11.2003 – 2 AZR 177/02, ZTR 2004, 261. 90 Bredemeier/Neffke/Pielok, § 41 TVöD-BT-V Rz. 2. 91 HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 533. Zum Meinungsstand Rieble/Wiebauer, ZfA 2010, 63 ff. mwN. 92 BAG v. 11.8.1982 – 5 AZR 1089/79, NJW 1983, 1220 (1220); v. 17.2.2000 – 2 AZR 927/98, juris Rz. 13; v. 6.11.2003 – 2 AZR 177/02, ZTR 2004, 261; v. 12.1.2006 – 2 AZR 21/05, ArbRB 2007, 71 = NZA 2006, 917 (921). 93 BAG v. 3.12.1954 – 1 AZR 150/54, NJW 1955, 606 (607); v. 28.9.1972 – 2 AZR 469/71, NJW 1973, 77 (78); v. 11.8.1982 – 5 AZR 1089/79, NJW 1983, 1220 (1220); HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 534; Staudinger/Richardi, § 611 BGB Rz. 673. 94 BAG v. 3.12.1954 – 1 AZR 150/54, NJW 1955, 606 (607); HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 534; Staudinger/Richardi, § 611 BGB Rz. 673. 95 BAG v. 24.6.2004 – 2 AZR 63/03, ArbRB 2005, 102 = NZA 2005, 158 (161); v. 24.11.2005 – 2 AZR 584/04, ArbRB 2006, 165 = NZA 2006, 650 (653); v. 12.1.2006 – 2 AZR 21/05, ArbRB 2007, 71 = NZA 2006, 917 (921); Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 243.

170

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitnehmers

Rz. 3.41 § 3

sche Treuepflicht im Anwendungsbereich des TVöD BT-V zusätzlich auf Beschäftigte des Bundes und solcher Arbeitgeber beschränkt ist, in deren Aufgabenbereichen auch hoheitliche Tätigkeiten wahrgenommen werden96. Allerdings – dies ist im Hinblick auf AfD-nahe Beschäftigte des öffentlichen Dienstes relevant – ist die parteipolitische Orientierung für sich genommen kein Kündigungsgrund oder Grund für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach §§ 9, 10 KSchG97. Die Auffassungen über die Bedeutung des Begriffs „hoheitlich“ bzw. hoheitsrechtlich iSd. Art. 33 Abs. 4 GG gehen aber weit auseinander, insbesondere darüber, ob neben dem Kern der Eingriffsverwaltung auch die Daseinsvorsorge hierzu zählt98. Man wird der Formulierung eine Begrenzung der Treuepflicht auf den klassischen Bereich der Eingriffsverwaltung entnehmen können99, da die Einschränkung funktionslos wäre, wenn die Tarifvertragsparteien unter „hoheitlich“ die Wahrnehmung aller öffentlichen Aufgaben verstanden hätten.

3.40

Die freiheitlich demokratische Grundordnung ist eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien zählen mindestens die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung der Opposition100. Im Unterschied zum Beamtenrecht (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 2 BeamtStG) wird von den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes dabei kein aktives Eintreten für die freiheitlich demokratische Grundordnung verlangt.

3.41

Die konkret aus der politischen Treuepflicht abzuleitenden Anforderungen sind vielmehr nach der vom Beschäftigten im Einzelfall ausgeübten Funktion und dem konkreten Aufgabengebiet abzustufen101. Nach dieser sog. Funktionstheorie stellt das BAG zB bei einem angestellten Lehrer höhere Anforderungen an die Verfassungstreue als bei einem bei der Post beschäftigen Fernmeldehandwerker102. Zweifel an der Verfassungstreue können sich insbesondere aus der Mitgliedschaft und Betätigung in einer verfassungsfeindlichen Partei oder in einer Organisation ergeben, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt103. Daneben kann aber zB auch die 96 Dazu BAG v. 6.9.2012 – 2 AZR 372/11, NZA-RR 2013, 441 = ArbRB 2013, 102 (Grimm). Die Abgrenzung wird nach Arbeitgeber und nicht nach Dienststellen bzw. Arbeitsbereichen vorgenommen, weshalb auch Arbeitsbereiche einer Kommunalverwaltung, in denen keine hoheitlichen Aufgaben anfallen, erfasst sind, Bredemeier/Neffke/Pielok, § 41 TVöD-BT-V Rz. 3. 97 So LAG Düsseldorf v. 23.1.2019 – 7 Sa 370/18, NZA-RR 2019, 310 (316). 98 S. hierzu Dreier/Brosius-Gersdorf, Art. 33 GG Rz. 152 f. 99 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD-V Rz. 14. 100 BVerfG v. 23.10.1952 – 1 BvB 1/51, BVerfGE 2, 1 (12 f.). 101 BAG v. 6.6.1984 – 7 AZR 456/82, NJW 1985, 507 (508); Bredemeier/Neffke/Pielok, § 41 TVöDBT-V Rz. 4; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD-V Rz. 22; Müller/Preis, Rz. 543. 102 Vgl. zB BAG v. 31.3.1976 – 5 AZR 104/74, NJW 1976, 1708 (1709 f.) zu den gesteigerten Anforderungen an die Verfassungstreue von Lehrern und BAG v. 20.7.1989 – 2 AZR 114/87, NJW 1990, 597 (599) zur nur „einfachen politischen Loyalitätsobliegenheit“ eines Fernmeldehandwerkers. 103 BAG v. 20.7.1977 – 4 AZR 142/76, NJW 1978, 69 (71 f.); v. 2.7.1980 – 5 AZR 1241/79, NJW 1981, 703; v. 12.3.1985 – 7 AZR 20/83, NJW 1987, 1100 (1101); Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD-V Rz. 26.

Grimm

171

§ 3 Rz. 3.41

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

Verbreitung einer menschenfeindlichen Witzesammlung über ein dienstliches Mailsystem104 oder die Billigung der Terroranschläge vom 11.9.2001 in einer Pressemitteilung105 die politische Treuepflicht verletzen. Auch die politische Treuepflicht stellt sich insofern als Schranke der durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Meinungsfreiheit der Beschäftigten dar.

3.41a Die sich in der Verächtlichmachung zentraler Identifikationsprinzipien der Bundesrepublik Deutschland (wie Rechtsstaat, Demokratie, Verantwortung für die deutsche Vergangenheit) äußernde rechtsextremistische politische Betätigung eines angestellten Lehrers kann – auch wenn sie außerdienstlich erfolgt – nach zutreffender Ansicht des ArbG Berlin106 sowohl einen personenbedingten als auch einen außerordentlichen Kündigungsgrund darstellen, wenn diese von einem Beseitigungswunsch und der Verunglimpfung des Staates, der Verfassung und ihrer Organe geprägt ist. An der persönlichen Eignung für den öffentlichen Dienst fehlt es, wenn nicht einmal ein „Mindestmaß an Bekenntnis zum Grundgesetz und seiner Werte“ besteht107. Der gekündigte Lehrer betrieb den YouTube-Kanal „Der Volkslehrer“ und äußerte sich auch dort. Gemäß Art. 33 Abs. 2 GG muss sich im Einstellungsverfahren die Auswahlentscheidung für tariflich Beschäftigte an der Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung der Bewerber orientieren. Das beinhaltet auch die charakterliche Eignung. Das LAG Berlin-Brandenburg108 hat entschieden, dass Tätowierungen dann einen Eignungsmangel in Bezug auf die Erfüllung der Repräsentanz- und Neutralitätsfunktion im öffentlichen Dienst begründen können, wenn sich aus ihrem Inhalt eine Straftat ergibt oder ihr Inhalt für den Bürger als Betrachter direkt Zweifel an der geforderten Gewähr des Bewerbers begründen, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten. Im Einstellungsverfahren genügen diese objektiv begründeten Zweifel109. Anders ist dies bei der Entfernung aus dem Dienst. Dort muss die

104 Es handelte sich um Judenwitze, Ausländerwitze und sexistische Frauenwitze, LAG Köln v. 10.8.1999 – 13 Sa 220/99, PersR 2000, 137. 105 LAG Schleswig-Holstein v. 6.8.2002 – 2 Sa 150/02, NZA-RR 2004, 351. 106 ArbG Berlin v. 16.1.2019 – 60 Ca 7170/18, NZA-RR 2019, 414 (416 ff.) mit umfassender Auswertung der Rspr. Die Berufung ist beim LAG Berlin-Brandenburg unter 16 Sa 1170/19 anhängig. Zustimmend Sura, NZA-RR 2019, 421 (423), zugleich mit Überblick zur Rechtsprechung bei Kündigungen wegen rechtsextremistischen und rassistischen außerdienstlichen Betätigungen (gegliedert in die Fallgruppen 1. Mitglied-/Anhängerschaft, 2. politische Aktivität und 3. Äußerungen). Instruktiv zur verhaltens- und personenbedingten Kündigung aufgrund (extremer) politischer Äußerungen in sozialen Netzwerken Dzida/Förster, BB 2017, 757 ff. 107 ArbG Berlin v. 16.1.2019 – 60 Ca 7170/18, NZA-RR 2019, 414 (416). 108 LAG Berlin-Brandenburg v. 25.4.2019 – 5 Ta 730/19, BB 2019, 1780 = ZTR 2019, 520 f. (beim BAG unter 9 AZB 23/19 anhängig). Der Bewerber für den zentralen Objektschutz der Polizei hatte einen roten Stern auf den Hinterkopf, Totenköpfe auf dem Handrücken und dem äußeren Unterarm, einen Revolver auf dem inneren Oberarm, Revolverpatronen auf dem inneren Oberund Unterarm, unter dem Revolver den Schriftzug „Romeo und Julia“ und das Wort „omerta“ auf dem inneren Unterarm tätowiert. Der daraus zu entnehmende objektive Aussagegehalt der Tätowierungen begründet Zweifel an der politischen Treuepflicht, die wiederum im Rahmen des Beurteilungsermessens zulässigerweise einen Eignungsmangel begründen. 109 Holighaus, öAT 2019, 192 weist zu Recht auf die tatsächlichen Schwierigkeiten hin, aus dem objektiven Inhalt von Tätowierungen Zweifel an der Verfassungstreue abzuleiten. Der Fall LAG Berlin-Brandenburg v. 25.4.2019 – 5 Ta 730/19, BB 2019, 1780 = ZTR 2019, 520 f. = öAT 2019, 192 dürfte vom Sachverhalt her noch ein einfach gelagerter Fall sein.

172

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitnehmers

Rz. 3.43 § 3

Verletzung der Amtspflicht (§ 33 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG) nachgewiesen werden, dass der Beamte jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten werde110. Das ArbG Köln hat den Einstellungsanspruch eines auf (Wieder-) Einstellung beim Bundessprachenamt klagenden Sprachlehrers, der bei einer früheren – 14 Jahre zurückliegenden – befristeten Tätigkeit im Rahmen einer Besprechung mit anderen Sprachlehrern einem Kollegen den Hitlergruß gezeigt und zu ihm gesagt hatte „Jawohl, mein Führer“, abgelehnt111. Die Verwendung nationalsozialistischer Kennzeichen und Äußerungen habe das Fehlen der Einstellungsvoraussetzung der persönlichen und charakterlichen Eignung zur Folge. Da es sich bei dem 14 Jahre zurückliegenden Sachverhalt um ein Dienstvergehen gehandelt habe, dass grundsätzlich auch die Entlassung aus dem Dienst gerechtfertigt hätte112, könne er die bei der Tätigkeit als Sprachlehrer für Soldaten notwendige Vorbildfunktion nicht mehr ausüben. Der Personalrat habe sich auch zu Recht auf den Zustimmungsverweigerungsgrund des § 77 Abs. 2 Nr. 3 BPersVG berufen113.

3.41b

ii) Nachweis der Leistungsfähigkeit Nach § 3 Abs. 5 Satz 1 TV-L (inhaltlich gleich der vormalige § 7 Abs. 2 BAT) ist der Arbeitgeber berechtigt, bei „begründeter Veranlassung“ den Arbeitnehmer zu verpflichten, durch eine ärztliche Bescheinigung nachweisen zu lassen, dass er zur Leistung der arbeitsvertraglich geschuldeten Leistung in der Lage ist. Diese Untersuchung kann auch durch einen Betriebs-, Personal- oder Amtsarzt erfolgen, § 3 Abs. 5 Satz 2 TV-L. In Übereinstimmung mit der zu § 7 Abs. 2 BAT ergangenen Rechtsprechung stellt die Weigerung des Beschäftigten, an der zulässig angeordneten amtsärztlichen Untersuchung nach § 3 Abs. 5 Satz 2 TV-L mitzuwirken, eine Verletzung einer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht dar, die nach entsprechender Beharrlichkeit und nach einschlägiger Abmahnung eine Kündigung rechtfertigen kann. Zur Verpflichtung des Beschäftigten zählt auch die notwendige Schweigepflichtentbindungserklärung114.

3.42

jj) Außerdienstliches Verhalten Die politische Treuepflicht gilt auch im außerdienstlichen Bereich, wobei Verstöße erst eine Kündigung rechtfertigen, wenn sie in den dienstlichen Bereich hineinwirken und entweder die allgemeine Aufgabenstellung des öffentlichen Arbeitgebers oder das konkrete Arbeitsgebiet des Arbeitnehmers berühren115. Dabei ist von jedem Arbeitnehmer ein solches Maß an politischer Loyalität zu fordern, das für die funktionsgerechte Verrichtung seiner Tätigkeit unverzichtbar ist. Auch wenn diesen nach seiner Stellung und seinem Aufgabenkreis nur eine „einfache“ politische Treuepflicht trifft, darf er – sowohl dienstlich als auch außerdienstlich – 110 BVerwG v. 17.11.2017 – 2 C 25/17, NJW 2018, 1185 (1187 f.) mit kritischer Anmerkung von Urban, NJW 2018, 1193 zur Entlassung eines Polizeikommissars wegen Tätowierungen mit verfassungsfeindlichem Inhalt und Posieren mit Hakenkreuzfahne. Der Verstoß gegen die Verfassungstreuepflicht setzt weder ein öffentlich sichtbares noch ein strafbares Verhalten des Beamten voraus. 111 ArbG Köln v. 22.8.2018 – 2 Ca 3458/18, juris Rz. 26, wonach Eignungsmängel auch schon unterhalb des Strafbarkeitstatbestandes des § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB bestehen. 112 Dazu beruft sich ArbG Köln v. 22.8.2018 – 2 Ca 3458/18, juris Rz. 25 auf BVerwG v. 17.11.2017 – 2 C 25/17, NJW 2018, 1185 (1187 f.) und OVG Schleswig-Holstein v. 19.10.2015 – 2 LB 25/14, juris: Entlassung eines Soldaten wegen Hitlergruß. 113 ArbG Köln v. 22.8.2018 – 2 Ca 3458/18, juris Rz. 33 ff. 114 LAG Schleswig-Holstein v. 12.5.2009 – 5 Sa 458/08 Rz. 41 ff. mwN, AuA 2010, 116. 115 BAG v. 6.6.1984 – 7 AZR 456/82, NJW 1985, 507 (508); v. 20.7.1989 – 2 AZR 114/87, NJW 1990, 597 (597 f.).

Grimm

173

3.43

§ 3 Rz. 3.43

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

nicht darauf ausgehen, den Staat, die Verfassung oder deren Organe zu beseitigen, zu beschimpfen oder verächtlich zu machen116. Die Verbreitung ausländerfeindlicher Flugblätter kann im Hinblick auf § 41 Satz 2 TVöD BT-V (Pflicht zur politischen Zurückhaltung und Verfassungstreue bei Bundesbeschäftigten und denen anderer Arbeitgeber, in deren Aufgabenbereichen auch hoheitliche Tätigkeiten wahrgenommen werden) geeignet sein, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen117. Unterlässt es ein Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst, gegen den die Staatsanwaltschaft Anklage wegen einer im Privatleben stattgefundenen Volksverhetzung und Beleidigung erhoben hat, den Arbeitgeber über dieses Ermittlungsverfahren zu unterrichten, dann rechtfertigt dies – selbst wenn eine solche Mitteilungspflicht bestehen würde, was das BAG offenlässt118 – keine außerordentliche Kündigung. Zunächst ist der Arbeitnehmer abzumahnen oder auf die entsprechende Pflicht hinzuweisen, weshalb eine Kündigung ohne Abmahnung unverhältnismäßig ist119.

3.43a Eine Zurschaustellung rechtsextremer Gesinnung kann im öffentlichen Dienst – anders als in der Privatwirtschaft (Volkswagen AG) in dem vom LAG Niedersachen120 entschiedenen Fall – einen Eignungsmangel und damit „an sich“ einen Grund zur personenbedingten Kündigung darstellen121 (s. auch Rz. 3.41 ff.). Dazu kann die Weiterleitung eines Links mit Inhalten, die zur Bekämpfung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufrufen, wegen des Multiplikationseffekts genügen122. Ein gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtetes und einen Eignungsmangel darstellendes Weltbild kann auch aus einer Vielzahl von Aussagen und Handlungen abgeleitet werden, die in der Gesamtheit – und mit Blick auf

116 BAG v. 6.9.2012 – 2 AZR 372/11, ZTR 2013, 261 (263) = ArbRB 2013, 102 m. Anm. Grimm. Aktuell zu extremistischem Verhalten von Steinau-Steinrück/Burmann, NJW-Spezial 2018, 626 ff. sowie Dzida/Förster, BB 2017, 757 (758 ff.) zur Kündigungsrelevanz extremer politischer Äußerungen in sozialen Netzwerken. 117 BAG v. 14.2.1996 – 2 AZR 274/95, DB 1996, 2134; Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 219; zu Einzelfällen Rinck in Tschöpe, Teil 3 G Rz. 43. 118 BAG v. 27.6.2019 – 2 AZR 28/19, NZA 2019, 1343 (1344). 119 BAG v. 27.6.2019 – 2 AZR 28/19, NZA 2019, 1343 (1344). Ob der im IT-Sicherheitsdienst eines LKA beschäftigte Arbeitnehmer im sicherheitsrelevanten Bereich tätig war, hatte das beklagte Land in den Tatsacheninstanzen nicht vorgetragen. Die Vorinstanz LAG Thüringen v. 14.11.2018 – 6 Sa 204/18, öAT 2019, 193 hatte eine ordentliche – nicht jedoch die außerordentliche – Kündigung „an sich“ bejaht, weil es sich nur um eine einzige fremdenfeindliche Äußerung mit abfälligen Äußerungen über Moslems auf Facebook gehandelt hatte. Allerdings war der Personalrat weder zur ordentlichen Kündigung – sondern ausschließlich zur außerordentlichen Kündigung – angehört noch der Arbeitnehmer vorher abgemahnt worden, weshalb die ordentliche Kündigung nach § 108 Abs. 2 BPersVG, § 78 Abs. 4 ThürPersVG unwirksam war. 120 Durch die Zurschaustellung der Reichskriegsflagge in einer Großraumdiskothek aus einer Gruppe heraus, LAG Niedersachsen v. 21.3.2019 – 13 Sa 371/18, ArbR 2019, 338. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist durch BAG v. 11.7.2019 – 2 AZN 597/19 verworfen worden. 121 Dazu und zur Drei-Stufen-Prüfung hinsichtlich einer Kündigung (1. Mangel hinsichtlich Eignung oder Fähigkeit, 2. Prognose hinsichtlich konkreter Störungen des Arbeitsverhältnisse und 3. abschließende Interessenabwägung) Korinth, ArbRB 2019, 220 (221). Zur personenbedingten Kündigung im öffentlichen Dienst aufgrund (extremer) politischer Äußerungen in sozialen Netzwerken, die Zweifel an der Verfassungstreue begründen, instruktiv Dzida/Förster, BB 2017, 757 (760 f.). 122 LAG Baden-Württemberg v. 26.1.2011 – 19 Sa 67/10, nachfolgend auch BAG v. 6.9.2012 – 2 AZR 372/11, NZA-RR 2013, 441; Dzida/Förster, BB 2017, 757 (761).

174

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitnehmers

Rz. 3.43b § 3

die Verfestigung123 – die personenbedingte Kündigung wegen Eignungsmangels begründen124. Relevant für die Interessenabwägung ist neben der Dauer des Arbeitsverhältnisses auch das Verhalten nach der Tat. Zu berücksichtigen sind eine Entschuldigung, echte und gezeigte Reue, Entfernung der streitgegenständlichen und kündigungsrelevanten Äußerungen und insgesamt, ob dies nach Aufforderung oder proaktiv erfolgte125. Das ArbG Berlin126 hat eine außerordentliche Kündigung eines (zivilen) Mitarbeiters der Bundeswehr wegen auch in den sozialen Medien dokumentierter Verbindungen und Mitgliedschaften zur rechtsextremen Szene als gerechtfertigt angesehen, wobei im Hinblick auf die Beschäftigungszeit von 30 Jahren eine soziale Auslaufrist eingehalten werden musste. Veröffentlicht ein Arbeitnehmer auf einer rechtsradikalen Facebook-Seite unter seinem Namen und in seiner Straßenbahnuniform hetzerische Äußerungen und Bildmontagen über Ausländer, rechtfertigt dies die außerordentliche Kündigung durch die im Eigentum einer Stadt stehende Straßenbahngesellschaft127. Ansonsten sind außerdienstliche Verhaltenspflichten auch im öffentlichen Dienst unter Berücksichtigung des Persönlichkeitsrechts des Arbeitnehmers aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG nur zurückhaltend anzuerkennen128. Die Verpflichtungen des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber enden grundsätzlich dort, wo sein privater Bereich beginnt129. Unter Geltung des BAT wurde für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes aus § 8 Abs. 1 Satz 1 BAT bzw. § 8 Abs. 8 MTArb noch eine besondere Pflicht zu achtungswürdigem Verhalten abgeleitet, die auch auf den außerdienstlichen Bereich ausstrahlte und die Beschäftigten u.a. auch zu einer anständigen, das Ansehen des öffentlichen Dienstes nicht beeinträchtigenden privaten Lebensführung verpflichten sollte130. Trotzdem konnte der Angestellte des öffentlichen Dienstes sein Privatleben frei gestalten, sofern er nur nicht grob gegen seine Pflichten zu achtungswürdigem Verhalten verstieß131. Mit dem ersatzlosen Wegfall des § 8 Abs. 1 Satz 1 BAT in TVöD und TV-L ist nunmehr jeder Anknüpfungspunkt dafür entfallen, an Angestellte des öffentlichen Dienstes besondere außerdienstliche Verhaltensanforderungen zu stellen. Auch in diesem Bereich ist also eine Abkehr vom Beamtenrecht festzustellen, die dazu führt, dass an das

123 Fuhlrott/Oltmanns, NZA 2016, 785; Dzida/Förster, BB 2017, 757 (760). 124 ArbG Mannheim v. 19.5.2015 – 7 Ca 254/14, juris; folgend Dzida/Förster, BB 2017, 757 (761). 125 ArbG Mannheim v. 19.2.2016 – 6 Ca 190/15, NZA-RR 2016, 254; Dzida/Förster, BB 2017, 757 (760). 126 ArbG Berlin v. 17.7.2019 – 60 Ca 455/19 (PM 19/19 des LAG Berlin-Brandenburg v. 17.7.2019), n.rkr. 127 LAG Sachsen v. 27.2.2018 – 1 Sa 515/17, NZA-RR-2018, 244 (246); zustimmend ErfK/Niemann, § 626 BGB Rz. 82. 128 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 730; Schaub/Linck, ArbRHdb, § 53 Rz. 7; Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 219. 129 BAG v. 23.6.1994 – 2 AZR 617/93, NZA 1994, 1082 (1082); Schaub/Linck, ArbRHdb, § 53 Rz. 7; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 530. 130 BAG v. 20.11.1997 – 2 AZR 643/96, NZA 1998, 323 (324); v. 8.6.2000 – 2 AZR 638/99, NZA 2000, 1282 (1285); v. 6.11.2003 – 2 AZR 177/02, ZTR 2004, 261. 131 BAG v. 20.11.1997 – 2 AZR 643/96, NZA 1998, 323 (324); LAG Rheinland-Pfalz v. 7.10.2004 – 4 Sa 491/04, ZTR 2006, 154 (155).

Grimm

175

3.43b

§ 3 Rz. 3.43b

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

außerdienstliche Verhalten der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes nur noch die gleichen Anforderungen wie an Arbeitnehmer der Privatwirtschaft zu stellen sind132.

3.44 Dass dies in der Sache idR zu keinen großen Änderungen führen wird, zeigt eine Entscheidung des BAG vom 2.3.2006133, welche die außerordentliche Kündigung eines Beschäftigten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen wegen eines Skiurlaubs bei bestehender Arbeitsunfähigkeit auf die Verletzung der Rücksichtnahmepflichten aus § 241 Abs. 2 BGB stützte, ohne wie die Vorinstanz134 dabei auf besondere Pflichten zu „achtungswürdigem Verhalten“ abzustellen. So wird auch nach Wegfall des § 8 Abs. 1 Satz 1 BAT ein vorsätzliches Tötungsdelikt eines Angestellten des öffentlichen Dienstes eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen, wenn wie in einem vom BAG zur alten Rechtslage entschiedenen Fall135 der Angestellte einer Behörde auch Außenkontakte wahrnimmt und deshalb durch die außerdienstliche Straftat das Ansehen der Behörde gefährdet wird.

3.44a Eine zur verhaltensbedingten Kündigung berechtigende Verletzung der aus § 241 Abs. 2 BGB folgenden Rücksichtnahmepflicht ist nach Ansicht des BAG auch dann anzunehmen, wenn ein Angestellter seinen Arbeitgeber in der Öffentlichkeit dadurch mit von ihm begangenen Straftaten (Zuhälterei) in Verbindung bringt, dass er seine angeblich zu geringe Vergütung als Tatmotiv nennt und diesen damit für sein strafbares Tun „mitverantwortlich“ macht. Ein Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes, der in besonderem Maße an Recht und Gesetz gebunden sei und in dieser Hinsicht einer besonders kritischen Beobachtung durch die Öffentlichkeit unterliege, hat ein berechtigtes und gesteigertes Interesse daran, in keinerlei – und sei es auch nur abwegigen – Zusammenhang mit Straftaten seiner Bediensteten in Verbindung gebracht zu werden136. Eine Kündigung wegen der Verletzung außerdienstlicher Verhaltenspflichten ist – als personenbedingte Kündigung – gerechtfertigt, wenn der Beschäftigte im öffentlichen Dienst repräsentative Funktionen wahrnimmt oder hinsichtlich seiner Person ein besonderes Maß an Vertrauenswürdigkeit vorausgesetzt wird137. Insbesondere gilt dies, wenn der Arbeitnehmer mit hoheitlichen Aufgaben betraut ist (s. Rz. 3.40). Dann können außerdienstlich begangene Straftaten zu einem Eignungsmangel – und damit zu einem personenbedingten Kündigungsgrund – führen, selbst wenn es an einem unmittelbaren Bezug zum Arbeitsverhältnis fehlt138. Das gilt zB bei Betäubungsmitteldelikten eines Sachbearbeiters der Arbeitsagentur139, bei einer Steuerhinterziehung eines Angestellten der Finanzverwaltung140 oder bei Betäubungsmitteldelikten eines Polizisten im Objektschutz141.

132 BAG v. 10.9.2009 – 2 AZR 257/08, ArbRB 2010, 108 = NZA 2010, 220 (221); Bredemeier/Neffke/ Gerretz, § 3 TVöD Rz. 10; Tamm, PersV 2006, 44 (51); Korinth, ArbRB 2019, 220 (222). 133 BAG v. 2.3.2006 – 2 AZR 53/05, NZA-RR 2006, 636. 134 LAG Rheinland-Pfalz v. 7.10.2004 – 4 Sa 491/04, ZTR 2006, 154. 135 BAG v. 8.6.2000 – 2 AZR 638/99, NZA 2000, 1282. 136 BAG v. 28.10.2010 – 2 AZR 293/09, NZA 2011, 112 (114) = ArbRB 2011, 70 m. Anm. Grimm.; zustimmend ErfK/Niemann, § 626 BGB Rz. 82a. 137 Wie zB bei einem Fraktionsreferenten ua. für Bildung, der während seiner Zeit als Abgeordneter Betrugsstraftaten begangen hatte, LAG Berlin-Brandenburg v. 19.2.2019 – 7 Sa 2068/18, juris; dazu Korinth, ArbRB 2019, 220 (222). 138 Detailliert Korinth, ArbRB 2019, 220 (222) mwN. 139 Es handelte sich um Rauschgifthandel, BAG v. 20.6.2014 – 2 AZR 684/13, NZA 2014, 1197. 140 BAG v. 21.6.2001 – 2 AZR 325/00, NZA 2002, 1030. 141 BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 583/12, NZA 2013, 1345.

176

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.47 § 3

Tätowierungen können Negativauswahlkriterium im Einstellungsverfahren sein und einen Eignungsmangel begründen, wenn sich aus ihrem Inhalt eine Straftat ergibt oder ihr Inhalt für den Bürger als Betrachter direkt Zweifel an der geforderten Gewähr des Bewerbers begründen, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten142.

II. Verpflichtungen des Arbeitgebers 1. Pflicht zur Zahlung des Arbeitsentgelts Im Gegenseitigkeitsverhältnis zur Arbeitspflicht des Arbeitnehmers steht die Vergütungspflicht als Hauptpflicht des Arbeitgebers, § 611a Abs. 2 BGB. Hier stellen sich im öffentlichen Dienst insbesondere Fragen der Eingruppierung, für die auf die Darstellung in § 23 verwiesen wird.

3.45

2. Beschäftigungspflicht und Betätigungsanspruch Wie sonst auch besteht im öffentlichen Dienst nicht nur ein Beschäftigungsrecht, sondern auch eine Beschäftigungspflicht für den Arbeitgeber, die aus §§ 611a, 613 iVm. 242 BGB iVm. Art. 1, 2 Abs. 1 GG abgeleitet wird143. Grundlage der Beschäftigungspflicht ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers (Art. 1, 2 Abs. 1 GG), der aufgrund der Bedeutung der Arbeit für die Persönlichkeitsentfaltung grundsätzlich ein schutzwürdiges Beschäftigungsinteresse hat. Die Beschäftigungspflicht kann aber hinter überwiegende schutzwürdige Interessen des Arbeitgebers zurücktreten, insbesondere bei Wegfall der Vertrauensgrundlage, fehlender Einsatzmöglichkeit, Gefahr des Geheimnisverrats, unzumutbarer wirtschaftlicher Belastung und bei sonstigen Gründen, die eine fristlose Kündigung rechtfertigen würden144. Selbst in solchen Fällen einer berechtigten einseitigen Suspendierung behält der Arbeitnehmer jedoch seinen Vergütungsanspruch145. Zur Frage, inwieweit ein Freistellungs- bzw. Suspendierungsrecht des Arbeitgebers vertraglich vereinbart werden kann, s. Rz. 4.62 ff.

3.46

3. Fürsorgepflicht Unter dem Begriff der Fürsorgepflicht werden die den Arbeitgeber treffenden Schutz- und Rücksichtspflichten aus § 241 Abs. 2, § 242 BGB zusammengefasst.

142 LAG Berlin-Brandenburg v. 25.4.2019 – 5 Ta 730/19, BB 2019, 1780 (Ls.): letztere Alternative liegt vor, wenn der Bewerber für den Objektschutz der Berliner Polizei sichtbare Tätowierungen trägt, die das Wort „omerta“ sowie Revolverpatronen und Totenköpfe abbilden. 143 St. Rspr. seit BAG v. 10.11.1955 – 2 AZR 591/54, BAGE 2, 221; v. 27.2.1985 – GS 1/84, NZA 1985, 702 (703); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 563; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 321 ff.; kritisch Weber/Weber, RdA 2007, 344 ff. 144 BAG v. 10.11.1955 – 2 AZR 591/54, BAGE 2, 221; v. 9.4.2014 – 10 AZR 637/13, NZA 2014, 719; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 563; Straube/Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 741. 145 BAG v. 4.6.1964 – 2 AZR 310/63, NJW 1964, 1918 (1920); v. 18.9.2001 – 9 AZR 307/00, ArbRB 2002, 68 = NZA 2002, 268 (270); HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 327; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 567.

Grimm

177

3.47

§ 3 Rz. 3.48

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

a) Schutz von Leben und Gesundheit

3.48 Die Nebenpflicht des Arbeitgebers zum Schutz von Leben und Gesundheit des Arbeitnehmers wird dabei durch § 618 BGB und zahlreiche Arbeitsschutzgesetze (ua. Arbeitsschutzgesetz, Arbeitsstättenverordnung, Arbeitssicherheitsgesetz) konkretisiert146. Zunehmend an Bedeutung gewinnt der Schutz vor psychischen Belastungen und Stress. Die entsprechende Verpflichtung des Arbeitgebers wird zum Teil aus der Generalklausel des § 3 Abs. 1 ArbSchG hergeleitet147. Das BAG entnimmt § 618 BGB die Pflicht, einer gesundheitsgefährdenden Überarbeitung des Arbeitnehmers entgegenzuwirken148. Die Zuteilung der Arbeit hat sich demnach an der Leistungsfähigkeit eines durchschnittlichen Arbeitnehmers zu orientieren, außer es sind Umstände bekannt, die eine Leistungsminderung des konkreten Arbeitnehmers begründen149. Nach § 5 Abs. 3 Nr. 6 ArbSchG sind auch psychische Belastungen bei der Arbeit im Rahmen von Gefährdungsbeurteilungen zu berücksichtigen, um die erforderlichen Schutzmaßnahmen zu ermitteln150. Ferner wird in § 4 Nr. 1 ArbSchG der Begriff der Gesundheitsgefährdung klarstellend als „physische und psychische“ definiert. Durch beide Maßnahmen soll das Bewusstsein der Arbeitgeber für psychische Belastungen bei der Arbeit geschärft werden151. Beide Änderungen sind materiell-rechtlich überflüssig, da sich entsprechende Verpflichtungen schon zuvor aus dem ArbSchG ergeben hatten152. Allerdings ist die Ausnahmeregelung für Kleinbetriebe (§ 6 Abs. 1 Satz 3, 4 ArbSchG), die bei Betrieben mit zehn oder weniger Beschäftigten keine Pflicht zur Dokumentation der Gefährdungsbeurteilung angeordnet hatte, gestrichen worden153.

3.49 Bei Verstößen gegen die Schutzpflichten des § 618 Abs. 1 BGB hat der Arbeitnehmer ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 273 Abs. 1 BGB und behält auch bei Ausübung dieses Zurückbehaltungsrechts seinen Vergütungsanspruch aus § 615 BGB154. Die Verletzung der Pflichten aus § 618 Abs. 1 BGB kann darüber hinaus zu Schadensersatzansprüchen aus § 280 Abs. 1 und § 823 BGB führen, wobei § 618 BGB nach hM kein Schutzgesetz iSd. § 823 Abs. 2 BGB ist155. Zu beachten ist in diesem Bereich ein möglicher Haftungsausschluss durch § 104 SGB VII.

146 Zu betrieblichen Grippeschutzimpfungen s. BAG v. 21.12.2017 – 8 AZR 853/16, NJW 2018, 1835. 147 Kohte in Kollmer/Klindt, ArbSchG, § 3 Rz. 17; Sasse, BB 2013, 1717 (1718). 148 BAG v. 13.3.1967 – 2 AZR 133/66, NJW 1967, 1631 (1632); ErfK/Wank, § 618 BGB Rz. 13; Sasse, BB 2013, 1717 (1718). 149 ErfK/Wank, § 618 BGB Rz. 13; MüKo BGB/Henssler, § 618 BGB Rz. 47. 150 Eingehend Grimm/Heppner, ArbRB 2016, 180 ff. 151 BT-Drucks. 17/12297, S. 27 und 67. § 5 Abs. 3 ArbSchG wurde um „6. psychische Belastungen bei der Arbeit“ ergänzt. 152 Gaul, AktuellAR 2013, 3. 153 Entsprechend Art. 9 Abs. 2 RL 89/391/EWG besteht also ab dem ersten Beschäftigten die Dokumentationspflicht. 154 ErfK/Wank, § 618 BGB Rz. 25 ff.; HWK/Krause, § 618 BGB Rz. 30 und 33. 155 Vgl. zum Streitstand HWK/Krause, § 618 BGB Rz. 39 mwN.

178

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.52 § 3

b) Schutz wirtschaftlicher Interessen Den Arbeitgeber treffen darüber hinaus Obhuts- und Verwahrungspflichten hinsichtlich der von den Beschäftigten in die Dienststelle eingebrachten Vermögensgegenstände. Es gelten die auch sonst üblichen Grundsätze156.

3.50

c) Schutz des Persönlichkeitsrechts des Arbeitnehmers Auch der Persönlichkeitsschutz des Arbeitnehmers zählt zu den Nebenpflichten des Arbeit- 3.51 gebers nach § 241 Abs. 2 BGB157. Ausprägungen sind der allgemeine Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers, die Wahrung der Privatsphäre des Arbeitnehmers158, der Schutz der Arbeitnehmer vor einer schrankenlosen Überwachung159, der Datenschutz sowie die Begrenzung von Fragerechten und Offenbarungspflichten sowohl im Bewerbungsverfahren als auch im laufenden Arbeitsverhältnis160. Relevant ist ferner der Schutz vor Diskriminierung und Belästigung im Arbeitsverhältnis, der in den §§ 6–18 AGG gesetzlich normiert ist. Zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers gehört auch die Freiheitssphäre des Arbeitnehmers (Art. 2 Abs. 1, Art. 4, Art. 5 Abs. 3, Art. 6 GG)161. Ob eine Verletzung des Arbeitnehmer-Persönlichkeitsrechts vorliegt oder ob der Eingriff durch gleichwertige und schutzwürdige Interessen des Arbeitgebers gerechtfertigt ist, ist im Rahmen einer einzelfallbezogenen Güter- und Interessenabwägung festzustellen162. Dabei sind insbesondere Intensität (Art, Schwere, Dauer), Mittel und Zweck der Beeinträchtigung zu berücksichtigen163. Ferner können das Abhängigkeitsverhältnis des Arbeitnehmers zum Arbeitgeber und seine existenzielle Bindung an den Arbeitsplatz eine Rolle spielen164. Interessen Dritter (anderer Arbeitnehmer) sind nur insoweit beachtlich, als die jeweilige Maßnahme diese tatsächlich betrifft165 oder eine entsprechende gesetzliche Regelung besteht (zB im PersVG)166. Das BAG hat Persönlichkeitsrechtsverletzungen etwa anerkannt bei Zugänglichmachung einer Personalakte für Dritte ohne Wissen des Betroffenen167, bei geschlechtsspezifischer Benachteiligung im Einstellungsverfahren168, bei heimlichem Mithören von Telefongesprächen

156 Im Einzelnen Straube/Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 827 ff. 157 BAG v. 16.5.2007 – 8 AZR 709/06, ArbRB 2007, 320 = NZA 2007, 1154 (1160); HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 411 ff.; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 619; ausführlich zu Grundlagen, einzelnen Schutzgütern und Einwirkungen Dritter MünchArbR/Reichold, § 94 Rz. 1 ff. 158 BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 546/12, ZTR 2014, 109 zur Verwertbarkeit von Beweismitteln nach der Durchsuchung des Schranks eines Arbeitsnehmers. 159 MünchArbR/Reichold, § 94 Rz. 7 f. 160 HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 418 mwN zu Persönlichkeitsrechtsverletzungen, die durch die Rspr. anerkannt wurden; MünchArbR/Reichold, § 94 Rz. 13 f., 18. 161 MünchArbR/Reichold, § 94 Rz. 23. 162 BAG v. 15.7.1987 – 5 AZR 215/86, NZA 1988, 53 (54); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 621; MünchArbR/Reichold, § 94 Rz. 5. 163 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 621; MünchArbR/Reichold, § 94 Rz. 5. 164 MünchArbR/Reichold, § 94 Rz. 5. 165 ZB im Falle einer umfangreichen Videoüberwachung, dazu Grimm/Schiefer, RdA 2009, 329 ff. sowie BAG v. 21.6.2012 – 2 AZR 153/11, ArbRB 2012, 295 = NZA 2012, 1025. 166 MünchArbR/Reichold, § 94 Rz. 5. 167 BAG v. 18.12.1984 – 3 AZR 389/83, NZA 1985, 811. 168 BAG v. 14.3.1989 – 8 AZR 447/87, NZA 1990, 21.

Grimm

179

3.52

§ 3 Rz. 3.52

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

durch den Arbeitgeber169 und bei ehrverletzenden Berichten über Tatsachen aus der Intimsphäre einer Arbeitnehmerin170.

3.53 Der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmer auch vor Verletzungen seines Persönlichkeitsrechts durch andere Beschäftigte, insbesondere durch das sog. Mobbing (vgl. § 3 Abs. 3 AGG), schützen und die hierzu notwendigen organisatorischen Maßnahmen ergreifen171. Gleiches gilt für Beleidigungen durch Vorgesetzte172.

3.54 Rechtsfolge der widerrechtlichen Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Arbeitnehmers ist ein quasi-negatorischer Beseitigungsanspruch analog §§ 12, 862, 1004 BGB173 und ein Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB, wenn dadurch kausal ein Schaden entstanden ist174. Bei Amtsträgern kommt § 839 BGB in Betracht175. Auch aus § 628 Abs. 2 BGB kann ein Anspruch folgen, wenn der Arbeitnehmer durch das Arbeitgeberhandeln zur außerordentlichen Kündigung veranlasst worden ist176. Bei Datenschutzverstößen ist Art. 82 DSGVO als Anspruchsgrundlage zu beachten177. Im Ausnahmefall kann der Arbeitnehmer bei Verletzungen, die keine Gesundheitsschädigung darstellen, auch den Ersatz immaterieller Schäden (also bei besonders schweren Persönlichkeitsverletzungen Zahlung eines Schmerzensgeldes) verlangen, wobei der Anspruch direkt aus § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet wird und voraussetzt, dass die Persönlichkeitsrechtsverletzung nach der Schwere, dem Verschuldensgrad und dem Beweggrund des Handelns eine Genugtuung in Geld notwendig macht und ein Ausgleich in anderer Weise unmöglich ist178. d) Präventive Maßnahmen zum Gesundheitsschutz (insb. BEM)

3.55 Zu den präventiven Maßnahmen zum Gesundheitsschutz zählt das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) nach § 167 Abs. 2 SGB IX, das einer Gefährdung der Arbeitsverhältnisse sowohl behinderter als auch nicht behinderter Menschen vorbeugen soll179. Ein 169 BAG v. 29.10.1997 – 5 AZR 508/96, NZA 1998, 307. 170 BAG v. 18.2.1999 – 8 AZR 735/97, NZA 1999, 645. 171 BAG v. 16.5.2007 – 8 AZR 709/06, ArbRB 2007, 320 = NZA 2007, 1154 (1161); HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 412; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 623; Schaub/Linck, ArbRHdb, § 36 Rz. 58; zu den besonderen Problemen des „Cybermobbings“ s. Hey, BB 2013, 2805 ff. und zu „HateSpeech“ s. Bredemeier, öAT 2018, 220 ff. Zu den Arbeitgeberpflichten beim „Stalking“ Göpfert/ Siegrist, NZA 2007, 473. 172 Scheibenwischergeste gegenüber Schulleiterin vor dem gesamten Lehrerkollegium: OLG Koblenz v. 1.6.2005 – 1 U 1161/04, OLGR Koblenz 2005, 745; weitere Fälle bei Grimm/Freh, ArbRB 2012, 151 (153 f.). 173 MünchArbR/Reichold, § 94 Rz. 28. 174 Zur Anwendung bei Datenschutzverstößen Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 192 f. 175 OLG Koblenz v. 1.6.2005 – 1 U 1161/04, OLGR Koblenz 2005, 745. 176 MünchArbR/Reichold, § 94 Rz. 29. 177 Dazu Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 188 ff. 178 Zu Anspruchsgrundlagen und Fallgruppen MünchArbR/Reichold, § 94 Rz. 30; Grimm/Freh, ArbRB 2012, 151 ff. 179 BAG v. 12.7.2007 – 2 AZR 716/06, NZA 2008, 173; Darstellung bei Rinck in Tschöpe, Teil 3 E Rz. 83b ff.; Düwell in LPK-SGB IX, § 167 Rz. 32 ff. sowie Rz. 116 ff. zu den Rechtsfolgen und Rz. 131 ff. zu den Besonderheiten bei Beamten; Notzon, öAT 2017, 28 ff. u. öAT 2017, 52 ff., zu aktuellen Rechtsfragen; Beck, NZA 2017, 81 ff. Zur ordnungsgemäßen Beteiligung des Betriebsrats Wortmann, ArbRB 2018, 304 ff. Für die Praxis sehr hilfreich Landschaftsverband Rheinland, Handlungsempfehlungen zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement, 7. Aufl. 2018 (https:// publi.lvr.de/publi/PDF/309-BEM_LWL_LVR_2018.pdf, abgerufen am 12.9.2019).

180

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.56 § 3

BEM ist gemäß § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX durchzuführen, wenn ein Beschäftigter innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt ist. Ausreichend ist, dass die krankheitsbedingten Fehlzeiten insgesamt, ggf. in mehreren Abschnitten, mehr als sechs Wochen betragen haben180. Inhalt des BEM ist die Klärung der Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Es ist strikt abzugrenzen von den Handlungen des Arbeitgebers bei Leistungsmängeln im Arbeitsverhältnis181. Einzubeziehen sind der Personalrat und ggf. die Schwerbehindertenvertretung. Soweit erforderlich soll der Werks- oder Betriebsarzt hinzugezogen werden, § 167 Abs. 2 Satz 2 SGB IX. Die Durchführung eines BEM stellt keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Aus- 3.56 spruch einer Kündigung dar182. Vielmehr konkretisiert § 167 Abs. 2 SGB IX den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz183. Dementsprechend führt das Fehlen eines BEM nicht per se zur Unwirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung184. Auf diesem Wege können jedoch mildere Mittel wie die Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder die Weiterbeschäftigung zu geänderten Arbeitsbedingungen auf einem anderen Arbeitsplatz erkannt und entwickelt werden185. Die fehlende Durchführung eines BEM kann sich somit auf die Darlegungs- und Beweislast im Kündigungsschutzprozess auswirken. Denn in diesem Fall darf sich der Arbeitgeber nicht darauf beschränken, pauschal vorzutragen, er kenne keine alternativen Einsatzmöglichkeiten für den erkrankten Arbeitnehmer und es gebe keine leidensgerechten Arbeitsplätze, die dieser trotz seiner Erkrankung ausfüllen könne186. Er muss vielmehr von sich aus denkbare oder vom Arbeitnehmer (außergerichtlich) bereits genannte Alternativen würdigen und im Einzelnen darlegen, aus welchen Gründen sowohl eine Anpassung des bisherigen Arbeitsplatzes als auch eine Beschäftigung auf einem leidensgerechten Arbeitsplatz ausscheiden187. Insofern obliegt es dem Arbeitgeber, die Initiative zur Durchführung des BEM zu ergreifen188. Ist durch den Arbeitgeber nachgewiesen, dass der Arbeitnehmer am BEM ohnehin nicht teilgenommen hätte, soll die Interessenabwägung nicht zu Lasten des Ar-

180 BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 170/10, ArbRB 2011, 195 = NZA 2011, 993. 181 Dazu und zu sog. Low-Performern Anton-Dyck/Böhm, ArbRB 2013, 212 ff. 182 Ausführlich zu rechtlichen Problemen der krankheitsbedingten Kündigung unter Berücksichtigung des BEM-Verfahrens s. Betz-Rehm/Kanne, ZTR 2016, 239 ff.; Bissels, DB 2018, 145 ff. 183 BAG v. 12.7.2007 – 2 AZR 716/06, ArbRB 2008, 75 = NZA 2008, 173 (176); v. 10.12.2009 – 2 AZR 400/08, ArbRB 2010, 105 = NZA 2010, 398 (399); Übersicht bei Tschöpe, NZA 2008, 398 ff. 184 BAG v. 12.7.2007 – 2 AZR 716/06, ArbRB 2008, 75 = NZA 2008, 173 (175); HWK/Thies, § 167 SGB IX Rz. 19 f.; ErfK/Niemann, § 626 BGB Rz. 48a. 185 BAG v. 12.7.2007 – 2 AZR 716/06, ArbRB 2008, 75 = NZA 2008, 173 (176); v. 10.12.2009 – 2 AZR 400/08, ArbRB 2010, 105 = NZA 2010, 398 (399). 186 BAG v. 12.7.2007 – 2 AZR 716/06, ArbRB 2008, 75 = NZA 2008, 173 (177); v. 10.12.2009 – 2 AZR 400/08, ArbRB 2010, 105 = NZA 2010, 398 (399); v. 24.3.2011 – 2 AZR 170/10, ArbRB 2011, 195 = NZA 2011, 993 (994). 187 BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 755/13, NZA 2015, 612; v. 10.12.2009 – 2 AZR 400/08, ArbRB 2010, 105 = NZA 2010, 398 (399); v. 24.3.2011 – 2 AZR 170/10, ArbRB 2011, 195 = NZA 2011, 993 (994). 188 BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 755/13, NZA 2015, 612; ErfK/Niemann, § 626 BGB Rz. 48b; ausführlich zur neuen Rspr. des BAG Betz-Rehm/Kanne, ZTR 2016, 239 (234 f.).

Grimm

181

§ 3 Rz. 3.56

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

beitgebers erfolgen189. Darauf kann man sich nur zur Not berufen, das BEM-Verfahren sollte immer durchgeführt werden190.

3.57 Gemäß § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ist das BEM mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person durchzuführen. Dies gilt auch dann, wenn die zuständige Interessenvertretung gemäß § 167 Abs. 2 Satz 6 SGB IX die Einleitung eines BEM angeregt hat191. Der Beschäftigte ist zuvor auf die Ziele des BEM sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen, § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX. Ein wirksames BEM setzt die Einhaltung gewisser Formalien, die schon für die Einladung gelten, voraus192. Mängel der Einladung haben ein fehlerhaftes BEM zur Folge193. Maßstab für die Belehrung und Einwilligung ist Art. 4 Nr. 11, Art. 6, Art. 7 DSGVO194. Die Zustimmung des Arbeitnehmers zur Teilnahme am BEM umfasst wegen der strikten Zweckbindung auch nicht konkludent den Umgang mit seinen Gesundheitsdaten, bei denen es sich um besonders sensitive Daten handelt (Art. 9 Abs. 1 DSGVO, § 26 Abs. 3 Satz 1 BDSG), oder deren Weitergabe an andere Stellen195. Die Datenverarbeitung ist auf das zur Durchführung des BEM Erforderliche zu begrenzen196. Der betroffene Arbeitnehmer ist nach Art. 13, 14 DSGVO über die Datenverarbeitung im Einzelnen zu unterrichten197. Sicherer Weg ist, eine (informierte) Einwilligung zur Datenverarbeitung im BEM nach § 26 Abs. 3 Satz 2 iVm. § 26 Abs. 2 BDSG einzuholen198. BAG199 und BVerwG200 gewähren dem Betriebs- bzw. Personalrat201 auch ohne diesbezügliche Einwilligung der betroffenen Arbeitnehmer einen Anspruch auf Mitteilung, welche Arbeitnehmer für die Durchführung eines BEM in Betracht kommen202. Will der Arbeitgeber die gewonnenen Daten später zur Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung heranziehen, stellt dies eine Zweckänderung dar, die nur nach Maßgabe des § 26 Abs. 3 BDSG iVm. Art. 9 DSGVO – und damit fast nie – zulässig ist203.

189 LAG Berlin-Brandenburg v. 27.2.2019 – 17 Sa 1605/18, DB 2019, 1741 m. Anm. Edenfeld – die BEM-Einladung sei in diesen Fällen eine „bloße Förmelei“. 190 Zutreffend Edenfeld, DB 2019, 174. 191 Düwell in LPK-SGB IX, § 167 Rz. 65; a.A. Reich, PersV 2011, 182 (184). 192 Instruktiv dazu Lunk, NJW 2019, 2349 (2350) mwN. 193 LAG Schleswig-Holstein v. 22.9.2015 – 1 Sa 48a/15, NZA-RR 2016, 250 (252); Sasse/Schönfeld, RdA 2016, 346 (351); Lunk, NJW 2019, 2349 (2350). 194 Ausführlich zu datenschutzrechtlichen Fragen Düwell in LPK-SGB IX, § 167 Rz. 89 ff. 195 Deinert, NZA 2010, 969 (973); Grimm/Strauf, Anm. zu BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 170/10, ZD 2011, 133 (134); Reinhard, ArbRB 2013, 251 (253). 196 Im Einzelnen Lunk, NJW 2019, 2349 (2352) mwN. 197 Dazu Lunk, NJW 2019, 2349 (2352). 198 Lunk, NJW 2019, 2349 (2352), weil damit das Risiko falscher datenschutzrechtlicher Bewertungen auf Arbeitgeberseite bei der Erforderlichkeitsprüfung vermieden wird. Zur Ausgestaltung und Notwendigkeit der Einwilligung Oberthür, ArbRB 2018, 301 (302). 199 BAG v. 7.2.2012 – 1 ABR 46/10, ArbRB 2012, 205 = AP Nr. 4 zu § 84 SGB IX m. Anm. Kort. 200 BVerwG v. 23.6.2010 – 6 P 8/09, NZA-RR 2010, 554. 201 Zu Umfang und Grenzen des Gestaltungsspielraums der Betriebsparteien Reinhard, ArbRB 2013, 251 ff. 202 Lunk, NJW 2019, 2349 (2353) mwN. A.A. etwa Bayerischer VerfGH v. 30.4.2009 – 17 P 08.3389, VGHE BY, 62, 41-51; Streitdarstellung bei Grimm/Strauf, Anm. zu BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 170/10, ArbRB 2011, 195 = ZD 2011, 133 (134 f.). 203 Deinert, NZA 2010, 969 (973); Grimm/Strauf, Anm. zu BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 170/10, ZD 2011, 133 (134); Moderegger, ArbRB 2013, 315 (317).

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Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.60 § 3

Gegenüber schwerbehinderten Arbeitnehmern trifft den Arbeitgeber eine gesteigerte Für- 3.58 sorgepflicht204. Dies ergibt sich aus § 167 Abs. 1 SGB IX, der dem Arbeitgeber eine aktive Rolle für die Eingliederung und gegen die Ausgliederung schwerbehinderter Arbeitnehmer zuweist205. Danach hat der Arbeitgeber bei Eintreten personen-, verhaltens- oder betriebsbedingter Schwierigkeiten, die das Arbeitsverhältnis gefährden können, möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung, den Personalrat und das Integrationsamt einzuschalten, um alle Möglichkeiten zur Beseitigung dieser Schwierigkeiten zu erörtern und das Arbeitsverhältnis dadurch möglichst dauerhaft fortsetzen zu können. Das Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX ist ebenfalls keine formelle Wirksamkeits- 3.59 voraussetzung für eine Kündigung. Auch diese Vorschrift stellt vielmehr eine Konkretisierung des dem gesamten Kündigungsschutzrecht innewohnenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar206. Demnach kann eine Kündigung wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sozial ungerechtfertigt sein, wenn sich bei ordnungsgemäßer Durchführung des Präventionsverfahrens Möglichkeiten ergeben hätten, den Ausspruch einer Kündigung zu vermeiden207. Hat das Integrationsamt nach eingehender Prüfung gemäß § 168 SGB IX seine Zustimmung zu der Kündigung erteilt, kann jedoch nur bei Vorliegen besonderer Anhaltspunkte davon ausgegangen werden, dass das Präventionsverfahren die Kündigung hätte verhindern können208. Nach Auffassung des BAG ist vor Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung gegenüber schwerbehinderten Menschen und ihnen gleichgestellten Personen ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen209. 4. Beschäftigtendatenschutz Beschäftigtendatenschutz210 – einfachgesetzlich vermittelt durch die Regelungen der DSGVO sowie des BDSG – ist angewandter Schutz des Persönlichkeitsrechts der Arbeitnehmer und sonstigen Beschäftigten durch Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten. Das in Art. 2 Abs. 1 iVm. Art 1 Abs. 1 GG gewährleistete Persönlichkeitsrecht schließt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, d.h. die Befugnis des Einzelnen, grds. selbst über die Preisgabe und Verwertung seiner persönlichen Daten zu bestimmen, ein211. Der Schutz personenbezogener Daten ist auch durch Art. 8 GrCh gewährleistet212.

204 BAG v. 4.10.2005 – 9 AZR 632/04, ArbRB 2006, 140 = NZA 2006, 442 (445); v. 10.5.2005 – 9 AZR 230/04, ArbRB 2006, 4 = NZA 2006. 155 (159). 205 BAG v. 4.10.2005 – 9 AZR 632/04, ArbRB 2006, 140 = NZA 2006, 442 (445); Düwell in LPKSGB IX, § 167 Rz. 8 ff. 206 BAG v. 7.12.2006 – 2 AZR 182/06, ArbRB 2007, 169 = NZA 2007, 617 (619 f.); v. 28.6.2007 – 6 AZR 750/06, ArbRB 2007, 318 = NZA 2007, 1049 (1053); HWK/Thies, § 167 SGB IX Rz. 8. 207 HWK/Thies, § 167 SGB IX Rz. 8. 208 BAG v. 7.12.2006 – 2 AZR 182/06, ArbRB 2007, 169 = NZA 2007, 617 (620); HWK/Thies, § 167 SGB IX Rz. 8; ErfK/Rolfs, § 167 SGB IX Rz. 3. 209 BAG v. 25.1.2018 – 2 AZR 382/17, NZA 2018, 845; ErfK/Niemann, § 626 BGB Rz. 48a. 210 Ausführliche Darstellungen zu Systematik und Inhalt von DSGVO und BDSG bei Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 1-422; HWK/Lembke, Vorb. DSGVO, Rz. 1 ff. 211 BVerfG v. 15.12.193 – 1 BvR 209/83 ua., NJW 1984, 419. 212 Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 3.

Grimm

183

3.60

§ 3 Rz. 3.61

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

a) System der Normierung in der DSGVO und im BDSG

3.61 Die EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) hat zum 25.5.2018 Geltung erlangt und ist seither die wichtigste Rechtsquelle des deutschen Datenschutzrechts. Die DSGVO regelt alle Bereiche des Datenschutzrechts umfassend und schließt den Beschäftigungsdatenschutz ein. Als EU-Verordnung findet sie gegenüber Privatpersonen und Unternehmen unmittelbare und zwingende Anwendung (Art. 288 AEUV). Sie regelt formelle und verfahrensmäßige Schutzvorschriften und definiert die materiellrechtlichen Verarbeitungsvoraussetzungen. Der Schutz des Persönlichkeitsrechts der Beschäftigten erfolgt – und das ist im Hinblick auf die Datenverarbeitung durch IT folgerichtig – auch und vor allem durch technisch- organisatorische Maßnahmen, was Art. 32 Abs. 1 DSGVO als grundsätzliche Vorgabe herausstellt.

3.62 Im Ausgangspunkt genießt die DSGVO Anwendungsvorrang gegenüber nationalen Gesetzen (Art. 288 AEUV). Allerdings enthält die DSGVO eine Vielzahl von Öffnungsklauseln, in deren Rahmen der nationale Gesetzgeber konkretisierende Regelungen erlassen darf. Inhaltlich bildet das BDSG seit dem 25.5.2018 kein geschlossenes Regelungssystem mehr ab, sondern enthält eine Ansammlung von Einzelregelungen, welche die DSGVO im Rahmen der Öffnungsklauseln konkretisieren oder ergänzen. Die Öffnungsklausel des Art. 88 Abs. 1 DSGVO gewährt dem nationalen Normgeber im Beschäftigungskontext erhebliche Gestaltungsspielräume und gibt ihm die Möglichkeit, konkretisierende Sonderregelungen zu treffen. Zulässig sind nationale Regelungen, die im Verhältnis zur DSGVO einen spezifischeren Regelungsinhalt aufweisen und angemessene und besondere Maßnahmen zur Wahrung der menschlichen Würde, der berechtigten Interessen und der Grundrechte der betroffenen Personen vorsehen (Art. 88 Abs. 2 DSGVO)213. Das hat zur Folge, dass das durch die DSGVO vermittelte Schutzniveau durch deutsche spezifische Vorschriften zum Beschäftigtendatenschutz überschritten214 und (geringfügig) unterschritten (sehr str.)215, aber nicht insgesamt abbedungen werden darf. Soweit die Bestimmungen des BDSG Öffnungsklauseln der DSGVO ausfüllen, gehen sie der DSGVO als speziellere Regelungen vor. Im Lichte der Wertungen der DSGVO sind sie dabei europarechtskonform auszulegen216.

3.63 Für den Beschäftigtendatenschutz sind die materiellen Anforderungen an die Rechtfertigung der Datenverarbeitung nach § 26 BDSG217, die Organisationspflichten und Individualrechte der Beschäftigten sowie die Bestimmungen zum Datenschutzbeauftragten nach §§ 38, 6 BDSG von zentraler Bedeutung. Die Öffnungsklausel des Art. 88 DSGVO darf auch durch Kollektivvereinbarungen – dh. Betriebsvereinbarungen, Dienstvereinbarungen und Tarifverträge – ausgefüllt werden, sofern deren Regelungsinhalt die vorgegebenen Anforderungen erfüllt. Diese Vorgabe hat § 26 Abs. 2 213 Dazu Paal/Pauly/Pauly, Art. 88 DSGVO Rz. 3 ff.; Düwell/Brink, NZA 2016, 655; Tiedemann, ArbRB 2016, 334 (336). 214 Paal/Pauly/Pauly, Art, 88 DSGVO Rz. 4; Kühling/Buchner/Maschmann, Art. 88 DSGVO Rz. 30, 31; Tiedemann, ArbRB 2016, 334; Wybitul, NZA 2017, 413. 215 Wie hier HWK/Lembke, Art. 88 DSGVO Rz. 8; BeckOK Datenschutzrecht/Riesenhuber, Art. 88 DSGVO Rz. 75; aA Gola/Pötters, Art. 88 DSGVO Rz. 26; Wybitul, NZA 2017, 413. 216 HWK/Lembke, Art. 88 DSGVO Rz. 5. 217 BDSG v. 30.6.2017, BGBl. I. S. 2097. Zu § 26 BDSG die detaillierte Darstellung bei Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 2, Rz. 65-121.

184

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.65 § 3

Satz 1 BDSG umgesetzt und den Verhandlungspartnern dabei die Einhaltung der spezifischen Schutzmaßnahmen des Art. 88 Abs. 2 DSGVO aufgegeben. Im Hinblick auf die Vorgaben des § 75 BetrVG, § 67 BPersVG bzw. der Regelung in den Landespersonalvertretungsgesetzen der Länder218 dürfte insoweit keine inhaltliche Neuerung bestehen. Grundsätzlich ist nach der DSGVO die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbe- 3.64 zogener Daten (wie Gesundheit, Schwangerschaft, Rasse und ethnische Herkunft, Gewerkschaftszugehörigkeit, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, genetische oder biometrische Daten, Sexualleben und sexuelle Orientierung) nach Art. 9 Abs. 1 DSGVO untersagt. Art. 9 Abs. 2 lit. b DSGVO enthält eine Öffnungsklausel, die für den Beschäftigtendatenschutz in § 26 Abs. 3 BDSG ausgeübt ist. was aus § 26 Abs. 3 Satz 3 iVm. § 22 Abs. 2 BDSG folgt219. Die Verarbeitung ist zulässig, wenn sie zur Ausübung von Rechten oder zur Erfüllung rechtlicher Pflichten aus dem Arbeitsrecht, dem Recht der sozialen Sicherheit und des Sozialschutzes erforderlich ist und kein Grund zu der Annahme besteht, dass das schutzwürdige Interesse der betroffenen Person an dem Ausschluss der Verarbeitung überwiegt. Die Rechtfertigungsanforderungen für eine Verarbeitung sind im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung also erhöht220. Nach § 26 Abs. 3 Satz 3 iVm. § 22 Abs. 2 BDSG müssen im Falle einer Verarbeitung zudem angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Interessen der betroffenen Person implementiert werden. Beispielhaft aufgezählt werden u.a. technisch-organisatorische Maßnahmen (TOM), Vorkehrungen, mit denen nachträglich überprüft und festgestellt werden kann, wer Daten eingegeben, verändert oder entfernt hat, die Sensibilisierung der an Verarbeitungsvorgängen Beteiligten, die Beschränkung des Zugangs zu den Daten auf einen bestimmten Kreis von Personen, Pseudonymisierung und Verschlüsselung. Schließlich ist auf die verschärfte Sanktionierung hinzuweisen: Die DSGVO erhöht in Art. 83 DSGVO die Bußgeldrahmen gegenüber der früheren Rechtslage auf etwa das Sechzigfache (!). Im Oktober 2019 haben die Datenschutzbehörden in Deutschland ein Konzept zur Bußgeldzumessung in Verfahren gegen Unternehmen beschlossen221. Ob Bußgelder gegen Behörden festgelegt werden dürfen, kann gemäß Art. 83 Abs. 7 DSGVO jeder Mitgliedsstaat festlegen. Deutschland hat von dieser Ermächtigung keinen Gebrauch gemacht, sondern dies ausdrücklich ausgeschlossen (§ 43 Abs. 3 BDSG). Allerdings besteht die Möglichkeit, dass gegen Mitarbeiter von Behörden oder öffentlichen Stellen, die gegen die DSGVO verstoßen, Geldbußen verhängt werden können. In der Praxis wird gegenwärtig davon noch selten Gebrauch gemacht222.

218 Nachweise bei Altvater/Altvater, § 67 BPersVG Rz. 39. Zu § 62 LPersVG NW: Laber/Pagenkopf/ Lenders, Landespersonalvertretungsgesetz Nordrhein-Westfalen, 2017, § 62 Rz. 18 ff. 219 BAG v. 9.4.2019 – 1 ABR 51/17, NZA 2019, 1055 (1057 f.). 220 Notwendig ist eine umfassende Interessenabwägung, Wybitul, NZA 2017, 413 (417); s. auch BeckOK Datenschutzrecht/Albers/Veit, Art. 9 DSGVO Rz. 48; Kühling/Buchner/Weichert, Art. 9 DSGVO Rz. 46. 221 Konzept der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder zur Bußgeldzumessung in Verfahren gegen Unternehmen v. 14.10.2019, abgerufen am 25.10.2019 unter https://www.datenschutzkonferenz-online.de/media/ah/20191016_bu%C3%9Fgeldkonzept.pdf. 222 Plath/Becker, Art. 83 DSGVO Rz. 24.

Grimm

185

3.65

§ 3 Rz. 3.66

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

b) Persönlicher Geltungsbereich

3.66 Der Begriff des Beschäftigten – und damit der persönliche Anwendungsbereich – wird in § 26 Abs. 8 Satz 1 BDSG legaldefiniert und erfasst insbesondere Arbeitnehmer (einschließlich der leitenden Angestellten und Leiharbeitnehmer), Auszubildende, Bundesfreiwilligendienstleistende, Beamte, Richter, Soldaten und Zivildienstleistende. Das BDSG gilt auch für Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis und für ausgeschiedene Beschäftigte (§ 26 Abs. 8 Satz 2 BDSG). Für Vorstände, Geschäftsführer und andere Organmitglieder gilt die Vorschrift nicht223, wobei aber für diese der durch die DSGVO vermittelte europäische Datenschutz gilt. c) Sachlicher Geltungsbereich

3.67 Die DSGVO gilt sachlich für die automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen (Art. 1 Abs. 1 DSGVO).

3.68 Personenbezogene Daten sind alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen (Art. 4 Nr. 1 DSGVO). Diese Person wird als „betroffene Person“ bezeichnet. Ein innerer Zusammenhang zum Arbeitsverhältnis ist nicht notwendig. Sind die Daten iSd. § 3 Abs. 6 BDSG „anonymisiert“, liegen keine personenbezogenen Daten vor224. Anonymisiert sind Daten, wenn der Personenbezug des Datums so weit entfernt wurde, dass eine Identifizierung der betroffenen Person ausgeschlossen ist (Erwägungsgrund 26 DSGVO)225. An eine Anonymisierung sind unter der DSGVO hohe Anforderungen zu stellen. Ist der Personenbezug unter Hinzuziehung zusätzlicher Informationen mit einigem Aufwand noch herstellbar, liegt lediglich eine sog. „Pseudonymisierung“ und damit weiterhin ein personenbezogenes Datum vor (Art. 4 Nr. 5 DSGVO). Pseudonymisierte personenbezogene Daten sind allerdings in aller Regel weniger schutzbedürftig, da unbefugte Verwender sie nicht zuordnen könnten.

3.69 Eine Verarbeitung ist jeder ausgeführte Vorgang im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten (Art. 4 Nr. 2 DSGVO). Beispielhaft nennt die DSGVO das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung. Eine Datenverarbeitung fällt nur dann in den Anwendungsbereich der DSGVO, wenn sie zumindest teilweise automatisiert erfolgt oder sich auf personenbezogene Daten bezieht, die in einem Dateisystem gespeichert werden sollen oder dies bereits sind (Art. 2 Abs. 1 DSGVO). Beide Fallgruppen sind sehr weit zu verstehen: Der Begriff der Automatisierung erfasst jeden Einsatz von Datenverarbeitungsanlagen226. Ein Dateisystem ist jede strukturierte Sammlung personenbezogener Daten, die nach bestimmten Kriterien zugänglich sind, unabhängig davon, ob diese Sammlung zentral, dezentral oder nach funktionalen oder geografischen Ge-

223 224 225 226

186

Kühling/Buchner/Maschmann, § 26 BDSG Rz. 7. HWK/Lembke, Vorb. DSGVO Rz. 20. Simitis/Hornung/Spiecker/Hansen, Art. 4 Nr. 5 DSGVO Rz. 23. Kühling/Buchner/Kühling/Raab, Art. 2 DSGVO Rz. 15; Paal/Pauly/Ernst, Art. 2 DSGVO Rz. 5, 6.

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.72 § 3

sichtspunkten geordnet geführt wird (Art. 4 Nr. 6 DSGVO). Damit werden nahezu sämtliche elektronisch gespeicherten personenbezogenen Daten durch die DSGVO erfasst227. Die Personalakte unterliegt ohnehin dem Anwendungsbereich der DSGVO, wenn sie in elektronischer Form geführt wird. Papierakten fallen nach Erwägungsgrund 15 Satz 3 DSGVO zwar nur dann in den Anwendungsbereich der DSGVO, wenn sie nach bestimmten Kriterien geordnet sind. Dies ist jedoch bereits der Fall, wenn sie nach Personen sortiert sind, sodass auch die Papier-Personalakte idR erfasst ist228.

3.70

§ 26 BDSG geht mit seinem gegenständlichen Anwendungsbereich über die DSGVO hinaus, und zwar sowohl bei seiner Legitimations- als auch bei seiner Verbotswirkung. Nach § 26 Abs. 2 BDSG erstreckt sich § 26 Abs. 1 BDSG als präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt auf jegliche Art der Verwendung von Beschäftigtendaten, unabhängig davon, ob Daten automatisiert oder dateigebunden verarbeitet werden. § 26 Abs. 1 BDSG erfasst damit auch die nicht automatisierte und nicht wenigstens strukturierte Datenerhebung und -verarbeitung und damit zB den bloßen unstrukturierten „Merkzettel“ des Personalverantwortlichen. Erfasst ist jegliche Handlung des Arbeitgebers (= datenschutzrechtlich Verantwortlichen), die eine Erhebung, Nutzung oder Verarbeitung von Beschäftigtendaten darstellt229. Auch wenn die Norm als nicht sachgerecht kritisiert wird230, erfasst sie zB die Frage eines Vorgesetzten an den Mitarbeiter, wo sich ein Kollege aufhält, oder die Kontrolle von Mitarbeitern, also tatsächliches Handeln, unabhängig davon, ob dies zu einer Speicherung (zB in einer „Kladde“ des Meisters oder auf Merkzetteln) führt. Erfasst sind auch die Befragung von Mitarbeitern oder eines früheren Arbeitgebers oder der Erkenntnisgewinn durch Spindkontrollen231, Taschen- und Torkontrollen sowie Beobachtungen des Wach- oder Sicherheitspersonals232. Auch die bloße Beobachtung durch einen Vorgesetzten, die der Beschaffung von Daten über den Betroffenen dient, ist Datenerhebung nach § 26 Abs. 2 BDSG. Damit bedarf jede Informationsbeschaffung in Bezug auf einen Beschäftigten der Rechtfertigung.

3.71

In der Literatur wird das im Ergebnis für zulässig gehalten: Teilweise wird § 26 Abs. 2 BDSG als nationale Sondervorschrift außerhalb des Anwendungsbereichs der DSGVO eingestuft, die parallel zur DSGVO Anwendung finden könnte233. Andere Stimmen sehen in der Regelung eine nach Art. 88 DSGVO zulässige Ausnahmevorschrift234. d) Datenschutzrechtliche Pflichten der DSGVO Die DSGVO kennt im Wesentlichen drei Gruppen von datenschutzrechtlichen Rahmenbedin- 3.72 gungen, die bei der Verarbeitung personenbezogener Daten beachtet werden müssen. Adressat der datenschutzrechtlichen Organisations- und Handlungspflichten ist der Verantwortliche nach Art. 4 Nr. 7 DSGVO. Der Begriff bestimmt zum einen, welche Stelle die datenschutz-

227 228 229 230 231 232 233 234

Plath/Plath, Art. 2 DSGVO Rz. 7; Ehmann/Selmayr/Zerdick, Art. 2 DSGVO Rz. 3. Paal/Pauly/Ernst, Art. 2 DSGVO Rz. 10. HWK/Lembke, Art. 88 DSGVO Rz. 20; Franzen, RdA 2010, 257 (258). Franzen, RdA 2010, 257 (258); HWK/Lembke, Art. 88 DSGVO Rz. 21. BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 546/12, NZA 2014, 143 Rz. 24 zur heimlichen Spindkontrolle. ErfK/Franzen, § 26 BDSG Rz. 3. Maschmann, DB 2016, 2480 (2481). Düwell/Brink, NZA 2016, 665 (667).

Grimm

187

§ 3 Rz. 3.72

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

rechtlichen Organisationspflichten erfüllen muss235. Zum anderen legt der Begriff des Verantwortlichen fest, auf welche Datenverarbeitungsvorgänge sich diese datenschutzrechtlichen Pflichten beziehen. Dies sind sämtliche Datenverarbeitungsvorgänge, die dem Herrschaftsbereich des Verantwortlichen deshalb zuzurechnen sind, weil sie seinem tatsächlichen Einfluss unterliegen236. aa) Datenschutzrechtlich verantwortliche Stelle

3.73 Die Pflichten der DSGVO und des BDSG treffen den datenschutzrechtlich „Verantwortlichen“. „Verantwortlicher“ ist jede Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet (Art. 4 Nr. 7 DSGVO). Unter der DSGVO ist nicht erforderlich, dass diese Stelle eine natürliche oder juristische Person ist237. Umstritten ist deshalb, ob der Betriebsrat – diese Erwägungen gelten entsprechend für den Personalrat – eigenständiger Verantwortlicher oder bloß unselbständiger Teil des verantwortlichen Arbeitgebers bzw. der Dienststelle ist238. Dies kann – muss aber nicht – relevant für die Frage sein, ob der Betriebs- bzw. Personalrat oder der Arbeitgeber Adressat der datenschutzrechtlichen Verantwortlichkeit gem. Art. 24 DSGVO und damit auch für Bußgelder ist239.

3.74 Legen zwei oder mehrere Verantwortliche gemeinsam die Zwecke und Mittel zur Verarbeitung fest, so sind sie gemeinsam Verantwortliche (Art. 26 Abs. 1 Satz 1 DSGVO). Voraussetzung ist, dass alle Beteiligten bei der Festlegung dieser Zwecke zu einem maßgeblichen Teil mitentscheiden240. Das Institut der gemeinsamen Verantwortlichen wurde durch die DSGVO neu eingeführt. Die zuvor in Deutschland oft verwandte sog. „Funktionsübertragung“ ist rechtlich unzulässig und kann nicht mehr eingesetzt werden241. Gemeinsam Verantwortliche müssen in einer transparenten Vereinbarung in Textform242 festlegen, wer von ihnen welche datenschutzrechtlichen Verpflichtungen erfüllt (Art. 26 Abs. 1 Satz 2, 3 und Abs. 2 DSGVO).

3.75 Von einem gemeinsam Verantwortlichen ist der Auftragsverarbeiter abzugrenzen. Auftragsverarbeiter ist eine fremde Stelle, die Daten im Auftrag, dh. auf Weisung243 des Verantwortlichen, verarbeitet (Art. 28 Abs. 1 DSGVO). Dabei müssen sich die Weisungen des Verantwortlichen auf die Datenverarbeitungstätigkeit selbst beziehen, die idR (anders als bei 235 Kühling/Buchner/Kühling/Buchner, Art. 4 Nr. 7 DSGVO Rz. 6; Simitis/Hornung/Spiecker/Petri, Art. 4 Nr. 7 DSGVO Rz. 20. 236 BeckOK Datenschutzrecht/Schild, Art. 4 DSGVO Rz. 93b. 237 Kort, ZD 2017, 319, 323; Wybitul, NZA 2017, 413, 414; Simitis/Hornung/Spiecker/Petri, Art. 4 Nr. 7 DSGVO Rz. 16. 238 Offengelassen von BAG v. 9.4.2019 – 1 ABR 51/17, NZA 2019, 1055 (1058); zum Meinungsstand Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 123 ff.; Brink/Joos, NZA 2019, 1395 (1396) mwN. 239 Für eine analoge Anwendung der (bußgeldausschließenden) Regelung für Behörden sprechen sich Brink/Joos, NZA 2019, 1395 (1398) aus. 240 Schreiber, ZD 2019, 55; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 26 DSGVO Rz. 12; LBfDI Baden-Württemberg: Der Ratgeber – Beschäftigtendatenschutz, S. 40. 241 Schreiber, ZD 2019, 55 (56); Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 5. 242 Gola/Piltz, Art. 26 DSGVO Rz. 13. 243 Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 3; BeckOK Datenschutzrecht/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 18.

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Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.78 § 3

sonstigen Subunternehmern) als Hauptleistung im Mittelpunkt der Vertragsbeziehung steht244. Anders als ein gemeinsam Verantwortlicher entscheidet der Auftragsverarbeiter bei der Festlegung der Zwecke der Datenverarbeitung nicht maßgeblich mit, sondern führt lediglich Weisungen des verantwortlichen Auftraggebers aus. Lässt ein Arbeitgeber Personaldaten durch einen Auftragsverarbeiter verarbeiten, bleibt er „Herr der Daten“ und Verantwortlicher iSd. Art. 4 Nr. 7 DSGVO. Er ist damit für die Einhaltung der Datenschutzvorschriften durch den Auftragsverarbeiter verantwortlich (vgl. Art. 24 DSGVO). Der Verantwortliche und der Aufragsverarbeiter müssen ihre Beziehung durch einen schriftlichen (Art. 28 Abs. 9 DSGVO) Vertrag regeln, in dem sich der Auftraggeber den in Art. 28 Abs. 3 DSGVO enumerativ aufgeführten Garantien und Ansprüchen des Verantwortlichen unterwirft. Dritter ist jede gegenüber dem Verantwortlichen selbständige Stelle, die weder gemeinsam Verantwortlicher noch Auftragsverarbeiter ist (vgl. Art. 4 Nr. 10 DSGVO). Ein Dritter verarbeitet personenbezogene Daten nach Zwecken und mit Mitteln, die er eigenständig und ohne Abstimmung mit dem Verantwortlichen festlegt. Wenn der Verantwortliche personenbezogene Daten an einen Dritten übermittelt, entäußert er sich also seiner Herrschaftsmacht über diese personenbezogenen Daten. Bei der Datenübermittlung an Dritte bestehen daher erhöhte Anforderungen.

3.76

bb) Einhaltung der datenschutzrechtlichen Grundsätze des Art. 5 DSGVO Bei der Datenverarbeitung sind die datenschutzrechtlichen Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten nach Art. 5 Abs. 1 DSGVO, welche als Pflichten unmittelbare Geltung245 beanspruchen, zu beachten. Die Verpflichtung zur Einhaltung durch den Arbeitgeber wiederholt § 26 Abs. 5 BDSG.

3.77

Personenbezogene Daten sind rechtmäßig, nach Treu und Glauben und transparent zu verarbeiten (Art. 5 Abs. 1 lit. a DSGVO). Ihre Verwendung unterliegt der Zweckbindung (Art. 5 Abs. 1 lit. b DSGVO). Insbesondere die Menge der verarbeiteten Daten ist nach dem Grundsatz der Datenminimierung zu begrenzen (Art. 5 Abs. 1 lit. c DSGVO). Inhaltlich müssen erhobene Daten richtig sein (Art. 5 Abs. 1 lit. d DSGVO). Für erhobene Daten muss zudem eine zeitliche Begrenzung der Speicherung bestehen (Art. 5 Abs. 1 lit. e DSGVO). Nach den Grundsätzen der Integrität und Vertraulichkeit sind personenbezogene Daten zudem mit technischen und organisatorischen Maßnahmen gegen unbefugte Verarbeitung, Verlust und Zerstörung zu schützen (Art. 5 Abs. 1 lit. f DSGVO). Eine grundsätzliche Pflicht, personenbezogene Daten vorrangig bei der betroffenen Person selbst zu erheben, (sog. „Direkterhebung“) ist in der DSGVO nicht mehr ausdrücklich normiert (anders noch § 4 Abs. 2 BDSG aF). Da es für die betroffene Person allerdings idR transparenter (vgl. Art. 5 Abs. 1 lit. a DSGVO) ist, wenn personenbezogene Daten direkt von ihr bezogen werden, kann der Verantwortliche nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Direkterhebung verpflichtet sein246. Der Verantwortliche ist für die Einhaltung sämtlicher Grundsätze gegenüber den Datenschutzbehörden rechenschafts- und nachweispflichtig (Art. 5 Abs. 2 DSGVO).

244 Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 7. 245 Kühling/Buchner/Buchner/Petri, Art. 5 DSGVO Rz. 1. 246 LBfDI Baden-Württemberg: Der Ratgeber – Beschäftigtendatenschutz, S. 30; BeckOK Datenschutzrecht/Riesenhuber, § 26 BDSG Rz. 68.

Grimm

189

3.78

§ 3 Rz. 3.79

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

cc) Materielle Voraussetzung der Datenverarbeitung nach § 26 BDSG und Art. 6 DSGVO

3.79 Eine Verarbeitung personenbezogener Daten, dh. insbesondere das Erheben, Speichern, Verändern, das Auslesen, das Abfragen, Verwenden und Übermitteln personenbezogener Daten, ist materiell-rechtlich nur zulässig, soweit die DSGVO selbst (zB in Art. 6 DSGVO) oder eine andere Rechtsvorschrift (zB § 26 Abs. 1 BDSG) dies erlaubt oder anordnet oder der Betroffene wirksam eingewilligt hat. Die Zulässigkeit muss bezogen auf jedes personenbezogene Datum und alle Phasen der Datenverarbeitung festgestellt werden247. Denkbar ist daher, dass eine Erhebung der Daten erlaubt, die Verarbeitung aber unzulässig ist. Es handelt sich um ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt248. Das Risiko der Zulässigkeit – und das damit einhergehende Bewertungsrisiko – trägt die datenverarbeitende Stelle, im Arbeitsverhältnis also im Regelfall der Arbeitgeber.

3.80 Spiegelbildlich zu diesem umfassenden Verbot enthält die DSGVO weit gefasste gesetzliche Erlaubnistatbestände, die nach weich formulierten Wertungskriterien auf der Grundlage unbestimmter Rechtsbegriffe definiert sind. Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO lässt beispielsweise alle Datenverarbeitungen zu, die zur Erfüllung eines Vertrages, dessen Vertragspartei die betroffene Person ist, „erforderlich“ sind. Nach Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO ist jede Verarbeitung zulässig, die zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich ist, sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen.

3.81 Im deutschen Beschäftigtendatenschutz steht der Erlaubnistatbestand des § 26 Abs. 1 BDSG, der im Wesentlichen dem bis zum 24.5.2018 geltenden § 32 Abs. 1 BDSG entspricht, im Vordergrund249. Für die Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses dürfen Beschäftigtendaten verarbeitet werden, wenn dies für die Entscheidung über die Begründung des Beschäftigtenverhältnisses oder nach Begründung für die Durchführung oder Beendigung oder zur Ausübung oder Erfüllung von sich aus Betriebs- oder Dienstvereinbarungen und Tarifverträgen ergebenden Pflichten erforderlich ist (§ 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG). Hinsichtlich der Aufdeckung von Straftaten gilt die Sondervorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BDSG, die dokumentierte Anhaltspunkte für eine Straftat und eine umfassende Interessenabwägung nach Verhältnismäßigkeitskriterien voraussetzt. Ob und in welcher Form sich Datenverarbeitungen rechtfertigen lassen, hängt in den meisten Fällen von einer einzelfallbezogenen250 Interessenabwägung ab, bei der erhebliche Wertungsspielräume bestehen. Daneben kommen die Einwilligung251 des Beschäftigten, die auf der Grundlage des Art. 6 Abs. 1 lit. a DSGVO in § 26 Abs. 2 BDSG erstmals für den Beschäftigtendatenschutz ausdrücklich geregelt ist und nach der Neuregelung nicht nur schriftlich, sondern auch elektronisch er-

247 Gola/Schulz, Art. 6 DSGVO Rz. 18. 248 Kühling/Buchner/Buchner/Petri, Art. 6 DSGVO Rz. 11; Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 54 ff. 249 Zu den maßgeblichen Abwägungskriterien – auch unter Berücksichtigung einer Dauerüberwachung und heimlicher Überwachungen nach § 26 Abs. 1 Satz 2 BDSG – und mit Prüfungsschema Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 65–101. 250 Zu „Datenerhebungen von A-Z“ und „Social Media und Web 2.0“ Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 198–363 und 364–422. 251 Dazu Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 102 ff.

190

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.83 § 3

folgen kann (§ 26 Abs. 2 Satz 3 BDSG252), sowie Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge253 (§ 26 Abs. 4 BDSG, Art. 88 DSGVO) als Erlaubnistatbestände in Betracht. dd) Organisationsaufgaben des Verantwortlichen Gemäß Art. 13, 14 DSGVO müssen alle Beschäftigten (§ 26 Abs. 8 BDSG) über Verarbeitungstätigkeiten informiert werden, die ihre personenbezogenen Daten betreffen. Die Information muss vor oder (spätestens) bei Erhebung der personenbezogenen Daten erfolgen254, dh. spätestens ab Aufnahme der Arbeitstätigkeit. Es ist nicht praktikabel, bei jedem Datenerhebungsvorgang gesondert zu informieren. Stattdessen empfiehlt es sich für Arbeitgeber, umfassende Informationsschreiben zu erstellen, welche die nach Art. 13, 14 DSGVO vorgeschriebenen Informationspflichten vorab für sämtliche Datenverarbeitungsvorgänge erfüllen, die im Verlauf des Beschäftigungsverhältnisses in Betracht kommen255. Diese Informationsschreiben sollte der Arbeitgeber an neu einzustellende Arbeitnehmer als „Beipackzettel“256 zum Arbeitsvertrag übergeben und an die Altbelegschaft in alljährlich aktualisierten Fassungen als Rundmail257 übermitteln. Wie detailliert die Information erfolgen muss, ist noch ungeklärt. Die überwiegende Auffassung in der Literatur verlangt vollständige und so detaillierte Angaben, dass sich der betroffene Mitarbeiter ein Bild machen kann, mit welchen Datenverwendungen zu rechnen ist258. Nur eine Mindermeinung hält formelhafte Wendungen für ausreichend259. Will der Arbeitgeber den sicheren Weg gehen, sollte er das Informationsschreiben anhand seines Verzeichnisses der Verarbeitungstätigkeiten nach Art. 30 DSGVO formulieren und für jeden dort aufgeführten Datenverarbeitungsprozess, der Beschäftigtendaten betrifft, Datenkategorien, Zweck, Rechtsgrundlage, Mitteilungspflichten bzw. Quellen, Empfänger und Löschfrist benennen260. Im Informationsschreiben müssen die Beschäftigten außerdem über ihre Rechte nach Art. 15 ff. DSGVO belehrt werden. Für den Bewerbungsprozess müssen gesonderte Unterrichtungsschreiben erstellt werden261.

3.82

Das „Recht auf Vergessenwerden“ war eines der zentralen Motive für die Schaffung der DSGVO. Besteht kein hinreichender Aufbewahrungsanlass, muss der Verantwortliche die personenbezogenen Daten nach Art. 17 Abs. 1 DSGVO von sich aus löschen, dh. unabhängig davon, ob der Betroffene einen Löschungsanspruch geltend gemacht hat oder nicht262. Um dieser Löschpflicht gerecht zu werden, ist es unerlässlich, dass Verantwortliche Löschkonzepte mit standardisierten Löschfristen entwerfen und auf deren Grundlage automatisierte

3.83

252 Was die Einholung der Einwilligung erleichtert: s. BT-Drucks. 19/11181, S. 8, 19 v. 26.6.2019 und BR-Drucks. 380/19 mit Zustimmung des Bundesrates v. 20.9.2019 zu dem vom Bundestag am 27.6.2019 verabschiedeten 2. DSAnpUG. 253 Dazu Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 111 ff. 254 Kühling/Buchner/Bäcker, Art. 13 DSGVO Rz. 78. 255 Kritisch zur Information „auf Vorrat“ Gola/Franck, Art. 13 DSGVO Rz. 12. 256 Begriff nach Kamps/Bonanni, ArbRB 2017, 119 (122). 257 Nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 DSGVO kann die Übermittlung „gegebenenfalls auch elektronisch“ erfolgen. 258 Kühling/Buchner/Bäcker, Art. 13 DSGVO Rz. 25; Ehmann/Selmayr/Knyrim, Art. 13 DSGVO Rz. 37; Sydow/Ingold, Art. 13 DSGVO Rz. 15; Gola/Franck, Art. 13 DSGVO Rz. 12. 259 So Schaffland/Wiltfang/Schaffland/Holthaus, Art. 13 DSGVO Rz. 11. „Schlagworte“ sollen ausreichen nach Plath/Kamlah, Art. 13 DSGVO Rz. 11. 260 Ausführliches Muster bei Grimm/Kühne, ArbRB 2018, 185. 261 Muster bei Grimm/Kühne, ArbRB 2018, 245. 262 Plath/Kamlah, Art. 17 DSGVO Rz. 6; Paal/Pauly/Paal, Art. 17 DSGVO Rz. 20; Gola/Nolte/Werkmeister, Art. 17 DSGVO Rz. 9; kritisch Kühling/Buchner/Herbst, Art. 17 DSGVO Rz. 8 ff.

Grimm

191

§ 3 Rz. 3.83

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

Löschroutinen für elektronisch gespeicherte personenbezogene Daten implementieren (vgl. auch Art. 5 Abs. 1 lit. e DSGVO)263. Werden die Akten elektronisch geführt, lässt sich die Löschpflicht bezüglich Beschäftigtendaten auf der Grundlage des allgemeinen Löschkonzepts264 technisch bei der jeweils verwandten Software implementieren. Eine „Leitlinie zur Entwicklung eines Löschkonzepts mit Ableitung von Löschfristen für personenbezogene Daten“ enthält DIN 66398 (Stand Mai 2016). Die Löschfristen müssen sowohl im Verzeichnis der Verarbeitungstätigkeiten (Art. 30 Abs. 1 Satz 2 lit. f DSGVO) als auch in der Datenschutzinformation an die Beschäftigten (Art. 13 Abs. 2 lit. a, Art. 14 Abs. 2 lit. a DSGVO) angegeben werden. Wie lange die Löschfristen maximal bemessen werden dürfen, richtet sich nach Art. 17 Abs. 1 und Abs. 3 DSGVO. Löschfristen bestehen nicht erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses, sondern auch schon im laufenden Arbeitsverhältnis265. Bewerberdaten sind nach Erfüllung des Zwecks – Durchführung des Bewerbungsverfahrens – zu löschen. Der Umstand, dass das Arbeitsverhältnis beendet wurde, erzwingt noch nicht bei sämtlichen Beschäftigtendaten die Löschung. Zwar sind die Beschäftigtendaten bei Ausscheiden des Arbeitnehmers idR nicht mehr für denjenigen Zweck notwendig, für den sie ursprünglich erhoben wurden (vgl. Art. 17 Abs. 1 lit. a DSGVO). Allerdings dürfen Beschäftigtendaten nach Art. 17 Abs. 3 lit. a und lit. e DSGVO weiterhin gespeichert werden, wenn hierzu eine öffentlichrechtliche Verpflichtung besteht oder wenn sie noch für eine etwaige Verteidigung gegen Rechtsansprüche erforderlich werden könnten. Öffentlich-rechtliche Aufbewahrungspflichten ergeben sich vor allem aus § 147 AO, § 257 HGB und § 28f SGB IV. Zur Verteidigung gegen Rechtsansprüche ist die Aufbewahrung von Unterlagen insbesondere dann erforderlich, wenn aus dem Beschäftigungsverhältnis prinzipiell Klagen drohen. Da automatisierte Löschroutinen nur generalisiert eingerichtet werden können, muss der Arbeitgeber das Klagerisiko ebenso abstrakt generalisiert bewerten266. Dazu bietet sich eine Orientierung an den arbeitsvertraglichen Verjährungsfristen an. Die Löschung muss ohne Rückholmöglichkeit erfolgen. Da einmal gelöschte personenbezogene Daten unwiederbringlich verloren sind, muss davor gewarnt werden, Löschfristen zu kurz zu bemessen. Beschäftigtendaten sollten erst dann gelöscht werden, wenn die Verjährungsfristen für alle denkbaren Ansprüche des Arbeitnehmers abgelaufen sind, für deren Prüfung und Abwehr die Beschäftigtendaten ggf. noch erforderlich werden könnten. Arbeitsvertragliche Ansprüche verjähren grundsätzlich innerhalb der regelmäßigen Verjährungsfrist, dh. drei Jahre nach Schluss des Jahres der Anspruchsentstehung (§§ 195, 199 Abs. 1 BGB). Sollte allerdings eine betriebliche Altersversorgung bestehen, muss für die insoweit relevanten Unterlagen eine deutlich längere Verjährungsfrist beachtet werden (vgl. § 18a BetrAVG). Werden personenbezogene Daten unter Verletzung von Löschpflichten zu lange gespeichert, ergibt sich hieraus kein prozessuales Beweisverwertungsverbot. Die per263 So auch Dzida, BB 2018, 2677 (2680). 264 Eine Übersicht über mögliche Löschfristen für die verschiedenen Kategorien von Beschäftigtendaten geben Grimm/Kühne, ArbRB 2018, 144; zustimmend Dzida, BB 2018, 2677 (2681). Zu Speicherdauer und Löschfristen auch Haußmann/Karwatzki/Ernst, DB 2018, 2697; Faas/ Henseler, BB 2018, 2292. 265 Dzida, BB 2018, 2677 (2680). 266 Kühling/Buchner/Maschmann, § 26 BDSG Rz. 56, bezweifelt, ob bereits die abstrakte Möglichkeit eines Rechtsstreites die Speicherung rechtfertigt und spricht sich für eine einzelfallbezogene Bewertung aus. Dies lässt sich nicht praktikabel umsetzen. Die Regelungsstruktur der DSGVO zeigt, dass für einheitliche Datenverarbeitungsvorgänge – auch zum Zwecke der Transparenz – grundsätzlich einheitliche Löschfristen definiert werden sollen und eine einzelfallbezogene Bewertung gerade nicht verlangt wird (vgl. nur Art. 13 Abs. 2 lit. a, Art. 14 Abs. 2 lit. a, Art. 21 DSGVO; Art. 30 Abs. 1 Satz 1 lit. f DSGVO), wie hier auch Dzida, BB 2018, 2677 (2680); Plath/Kamlah, Art. 17 DSGVO Rz. 6 u. 20.

192

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.85 § 3

sonenbezogenen Daten können als Sachvortrag und Beweismittel in einen Prozess eingeführt werden267. Beschäftigt der Verantwortliche 250 oder mehr Mitarbeiter (Art. 30 Abs. 5 DSGVO)268, muss er sämtliche Datenverarbeitungstätigkeiten, die er praktiziert, in einem schriftlich zu führenden Verzeichnis aller Verarbeitungstätigkeiten tabellarisch dokumentieren (Art. 30 Abs. 1 DSGVO). Dabei sind zu jeder Verarbeitungstätigkeit die in Art. 30 Abs. 1 Satz 2 DSGVO enumerativ aufgeführten Angaben aufzunehmen, namentlich Zwecke, betroffene Personen, Datenkategorien, Empfängerkategorien, Löschfristen, etwaige Schutzmaßnahmen und eine etwaige Übermittlung in das Ausland. Das Verzeichnis der Verarbeitungstätigkeiten ist als Ausgangspunkt jeder datenschutzrechtlichen Überprüfung durch Datenschutzbehörden gedacht (Erwägungsgrund 82 DSGVO)269. Fehlen in der Dokumentation wesentliche Verarbeitungstätigkeiten, liegt darin ein Verstoß gegen die DSGVO.

3.84

Nach Art. 35 Abs. 1 DSGVO muss der datenschutzrechtlich verantwortliche Arbeitgeber ei- 3.85 ne Datenschutz-Folgenabschätzung vornehmen, wenn infolge einer von ihm verwendeten Form der Datenverarbeitung für die „Rechte und Freiheiten“ natürlicher Personen ein hohes Risiko besteht. Dies kann zB aufgrund der Verwendung neuartiger Technologien der Fall sein. Auch derart eingriffsintensive Formen der Datenverarbeitung können zulässig sein, wenn sie in ihrer konkreten Ausgestaltung durch ausreichend gewichtige Interessen des verarbeitenden Unternehmens gerechtfertigt sind. Es drohen Bußgelder, wenn die DatenschutzFolgenabschätzung vor der Einführung der Technik nicht vorgenommen wurde (Art. 83 Abs. 4 lit. a DSGVO). Die Datenschutz-Folgenabschätzung ist eine mehrstufige Prüfung, bei welcher die geplanten Verarbeitungsvorgänge inhaltlich beschrieben, ihre Notwendigkeit sowie ihre Risiken bewertet und für erkannte Risiken Abhilfemaßnahmen entworfen werden (Art. 35 Abs. 7 DSGVO). Sämtliche Prüfungsschritte sind schriftlich zu dokumentieren270. Arbeitgeber müssen den Datenschutzbehörden entsprechende Dokumentationen vorlegen können, wenn sie datenschutz-folgenabschätzungspflichtige Datenverarbeitungsvorgänge praktizieren. Stellt das Unternehmen bei der Datenschutz-Folgenabschätzung ein hohes Risiko fest, muss es nach Art. 36 DSGVO die Datenschutzbehörde konsultieren, bevor es die Datenverarbeitung einführt. Auf Grundlage von Art. 35 Abs. 4 DSGVO haben die Datenschutzbehörden übereinstimmende Positiv-Listen veröffentlicht, die (nicht abschließend) Fälle aufzählen, in denen sie eine Datenschutz-Folgenabschätzung für erforderlich halten271. Im Bereich des Beschäftigtendatenschutzes beachtlich sind – automatisierte Aufenthaltsbestimmungen von Mitarbeitern, zB durch GPS-Tracking, – automatisiertes Scoring, zB die automatisierte Bewertung der Leistung und des Entwicklungspotentials von Mitarbeitern anhand elektronisch erfasster Kennzahlen,

267 BAG v. 23.8.2018 – 2 AZR 133/18, NZA 2018, 1329 Rz. 35. 268 Die Verpflichtung soll auch für kleinere Unternehmen bzw. öffentliche Arbeitgeber bereits dann gelten, wenn sie besondere Kategorien personenbezogener Daten iSd. Art. 9 DSGVO verarbeiten (Art. 30 Abs. 5 Halbs. 2 DSGVO). Dies wäre aber streng genommen bei jedem Arbeitgeber der Fall, da im Zusammenhang mit der Abführung der Kirchensteuer durch die Lohnbuchung stets personenbezogene Daten verarbeitet werden, aus denen die religiöse Überzeugung hervorgeht. 269 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 30 DSGVO Rz. 12. 270 Kühling/Buchner/Jandt, Art. 2 DSGVO Rz. 51. 271 Vgl. Kühling/Buchner/Kühling/Sackmann, § 38 BDSG Rz. 11.

Grimm

193

§ 3 Rz. 3.85

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

– automatisierte Aufzeichnungen von Aspekten des Arbeitsverhaltens in derart großem Umfang, dass sich hieraus Verhaltensprofile erstellen lassen, zB im Rahmen eines „DataLoss-Prevention“-Systems (DLP), und – systematische Auswertung des Verhaltens der Mitarbeiter anhand von Monitoring und Login-Daten.

3.86 Nach Art. 32 DSGVO muss der Verantwortliche geeignete „technische und organisatorische Maßnahmen“ (sog. TOM) ergreifen, um Datenverarbeitungen, die gegen die DSGVO verstoßen, zu verhindern. In der Gesamtschau muss er unter verhältnismäßiger Abwägung mit den Implementierungskosten ein dem Risiko angemessenes Schutzniveau gewährleisten. Ziel ist es dabei, sowohl einem unbefugten Zugriff durch Außenstehende als auch der unbefugten Verarbeitung durch das eigene Personal des Verantwortlichen (Art. 32 Abs. 4 DSGVO) entgegenzuwirken. Um dies zu erreichen, sollten Arbeitgeber geeignete technische Maßnahmen der IT-Sicherheit272 umsetzen, bauliche Zugangshindernisse schaffen273 und ihre eigenen Mitarbeiter anhand von Datenschutzrichtlinien ordnungsgemäß anweisen und überwachen274.

3.87 Nicht-öffentliche Stellen, die in der Regel mindestens 20 Personen ständig mit der automatisierten Verarbeitung personenbezogener Daten beschäftigen, müssen in Deutschland einen Datenschutzbeauftragten275 bestellen (§ 38 Abs. 1 Satz 1 BDSG iVm. Art. 37 Abs. 4 DSGVO)276. Da der Begriff der automatisierten Verarbeitung weit gefasst ist (Rz. 3.69 f.), betrifft dies alle Unternehmen mit mindestens 20 Büroarbeitsplätzen277, wobei Bundestag und Bundesrat (letzterer am 20.9.2019) im Gesetzgebungsverfahren 2019 eine Anhebung des Schwellenwertes von zehn auf 20 Personen durchgeführt haben278. Der Datenschutzbeauftragte kann Beschäftigter des Unternehmens sein (sog. „interner Datenschutzbeauftragter“) oder aufgrund eines Dienstvertrages (sog. „externer Datenschutzbeauftragter“) tätig werden (Art. 37 Abs. 6 DSGVO). Er muss die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderliche Fachkunde und Zuverlässigkeit besitzen (Art. 37 Abs. 4 DSGVO). Dies sind Kenntnisse im Datenschutzrecht, hinreichende Kenntnis über die Techniken der Datenverarbeitung und Verständnis der betrieblichen Abläufe279. Er kann auch nebenamtlich tätig sein. Hauptaufgabe ist gemäß Art. 39 Abs. 1 lit. a DSGVO, auf die Einhaltung der DSGVO, des BDSG und anderer Datenschutzvorschriften hinzuwirken. Dazu kommt dem Datenschutzbeauftragten eine Kontrollfunktion zu (Art. 39 Abs. 1 lit. b DSGVO). Er ist in die Programmerstellung und Architektur des IT-Systems so frühzeitig einzuschalten, dass er noch eine Möglichkeit zur Einflussnahme hat (Art. 38 Abs. 1 DSGVO).

272 273 274 275

276 277 278 279

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Kühling/Buchner/Jandt, Art. 32 DSGVO Rz. 15, 16. Paal/Pauly/Martini, Art. 32 DSGVO Rz. 29. Kühling/Buchner/Jandt, § 32 DSGVO Rz. 38. Dazu Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 45 ff. Instruktiv zu allen Fragen im Zusammenhang mit Aufgaben, persönlichen und fachlichen Voraussetzungen sowie Verantwortlichkeit und rechtlichem Schutz: https://www.ldi.nrw.de/mainmenu_Datenschutz/submenu_Datenschutzbeauftragte/Inhalt/ Datenschutzbeauftragte_nach_der_DS-GVO_und_der_JI-RL/Inhalt/FAQ_zum_Datenschutzbeauf tragten/FAQ_ein_Dokument.pdf (Stand 08/2019). 2. DSAnpUG-EU, dazu BR-Drucks. 430/18 sowie BT-Drucks. 19, 11181, 8. Der Bundesrat hat dem vom Bundestag am 27.6.2019 verabschiedeten Gesetz am 20.9.2019 zugestimmt, BRDrucks. 380/19. Kühling/Buchner/Kühling/Sackmann, § 38 BDSG Rz. 11. Ausschussempfehlung v. 26.6.2019, BT-Drucks. 19/11181, S. 7; BR-Drucks. 380/19. MünchArb/Reichold, § 96 Rz. 98.

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.90 § 3

Kraft Gesetzes übernimmt der Datenschutzbeauftragte die Sonderverantwortlichkeit für die Integrität des von ihm übernommenen Verantwortungsbereichs und hat nach zutreffender Auffassung keine Garantenstellung iSd. § 13 StGB inne280. Allerdings hat die DSGVO die Zuständigkeiten erweitert, so dass dieses Ergebnis nicht gesichert ist281. Eine Garantenstellung kann sich nach hM im Einzelfall aus der Übernahme besonderer datenschutzrechtlicher Verantwortung ergeben282. Ist der datenschutzrechtlich Verantwortliche eine öffentliche Stelle, kann unter Berücksichtigung von Größe und Organisationsstruktur ein einziger Beauftragter für mehrere Behörden oder öffentliche Stellen bestellt werden (Art. 37 Abs. 3 DSGVO)283. e) Individualansprüche der Beschäftigten Datenschutzverstöße sind mit einem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht verbunden, was auch vor dem 25.5.2018 Individualansprüche der Beschäftigten zur Folge haben konnte284. Daneben sehen die Art. 12, 15 ff. DSGVO einen Katalog besonderer Rechte der betroffenen Person vor, die seit dem 25.5.2018 im Vordergrund stehen.

3.88

aa) Grundsätze Die Ansprüche nach Art. 15 ff. DSGVO beschränken sich gemäß Art. 2 Abs. 1 DSGVO auf personenbezogene Daten, die automatisiert verarbeitet oder in Dateisystemen (dh. strukturiert geführten Sammlungen) gespeichert werden (vgl. Rz. 3.69); § 26 Abs. 2 BDSG findet keine Anwendung285. Will der Arbeitnehmer diese Ansprüche mit Blick auf eine Personalakte geltend machen, muss er darlegen, dass sie automatisiert oder als strukturiertes Aktengefüge geführt wird; letzteres hält das BAG nicht für selbstverständlich286.

3.89

Die Ansprüche nach Art. 15 ff. DSGVO können nicht nur durch die betroffene Person selbst im Klagewege, sondern zusätzlich durch aufsichtsbehördliche Sanktionen, namentlich Bußgelder (Art. 83 Abs. 5 lit. b DSGVO) und Verwaltungsanordnungen (Art. 58 Abs. 2 lit. g DSGVO) durchgesetzt werden. Damit es nicht zu einem Verstoß gegen die DSGVO kommt, muss der Arbeitgeber dem Begehren unverzüglich und jedenfalls innerhalb eines Monats nachkommen und selbst dann, wenn er nicht abhilft, zumindest über die Hintergründe informieren (Art. 12 Abs. 3 Satz 1 DSGVO). Diese Frist (zB zur Erfüllung eines Auskunftsanspruch nach Art. 15 DSGVO) kann nur dann um weitere zwei Monate verlängert werden, wenn dies unter Berücksichtigung der Komplexität und der Anzahl von Anträgen erforderlich ist und der Arbeitgeber die betroffene Person innerhalb eines Monats nach Eingang des Antrages unter Angabe von Gründen über die Frist280 Niklas/Faas, NZA 2017, 1091 (1095 f.) mwN.; aA Kühling/Buchner/Bergt, Art. 37 DSGVO Rz. 55, der darauf hinweist. 281 Instruktiv Conrad/Streitz in: Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 3. Aufl. 2019, § 33 Rz. 152 ff. 282 Niklas/Faas, NZA 2017, 1091 (1096) mwN. 283 Im Einzelnen zu den Gestaltungsmöglichkeiten Plath/Kamlah, Art. 37 DSGVO Rz. 38. 284 Zur unzulässigen Videoüberwachung Grimm/Schiefer, RdA 2009, 329 (343 f.). 285 So unter der alten Rechtslage schon BAG v. 16.11.2010 – 9 AZR 573/09, NZA 2011, 453; aA Riesenhuber, NZA 2014, 753 (755). 286 BAG v. 16.11.2010 – 9 AZR 573/09, NZA 2011, 453; aA Riesenhuber, NZA 2014, 753 (754).

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195

3.90

§ 3 Rz. 3.90

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

verlängerung unterrichtet (Art. 12 Abs. 3 Satz 2 und 3 DSGVO). Wird der Verantwortliche auf den Antrag der betroffenen Person hin nicht tätig, so unterrichtet er die betroffene Person ohne Verzögerung, spätestens aber innerhalb eines Monats nach Eingang des Antrags über die Gründe hierfür und über die Möglichkeit, bei einer Aufsichtsbehörde Beschwerde oder einen gerichtlichen Rechtsbehelf einzulegen (Art. 12 Abs. 4 DSGVO). Die Kommunikation mit dem Betroffenen erfolgt schriftlich oder in anderer Form (Art. 12 Abs. 3 Satz 2 DSGVO) und in der Praxis meist per E-Mail. Arbeitgeber sollten nachvollziehbare betriebliche Regelungen und Zuständigkeiten schaffen, um die Ansprüche nach Art. 15 ff. DSGVO jederzeit kurzfristig und ausreichend erfüllen zu können287.

3.91 Wenn die Betroffenen die Reaktion für unzureichend halten, können sie jederzeit Beschwerde bei der Aufsichtsbehörde erheben, ohne dabei ein Prozesskostenrisiko eingehen zu müssen (Art. 77 DSGVO). Die Aufsichtsbehörden sind dann verpflichtet, aktiv tätig zu werden und den Gegenstand der Beschwerde in angemessenem Umfang zu untersuchen und den Beschwerdeführer über den Stand der Untersuchung zu unterrichten (Art. 57 Abs. 1 lit. f, Art. 77 Abs. 2 und Erwägungsgrund 141 DSGVO)288. Auf Beschwerden und eine sich anschließende Anhörung (§ 40 Abs. 4 BDSG) durch die Aufsichtsbehörde sollten Arbeitgeber also vorbereitet sein. Nur bei offenkundig unbegründeten oder – insbesondere im Fall von häufiger Wiederholung – exzessiven Anträgen einer betroffenen Person kann der Arbeitgeber bzw. das Unternehmen deren Behandlung verweigern oder vorab ein angemessenes Entgelt verlangen (Art. 12 Abs. 5 DSGVO). Der Arbeitgeber muss den Nachweis für den offenkundig unbegründeten oder exzessiven Charakter des Antrags zu erbringen, insbesondere wenn es zu einer Untersuchung der Aufsichtsbehörde kommt. Bei der Berufung hierauf ist deshalb Zurückhaltung geboten. Für Ansprüche in Bezug auf Daten, die zum Zwecke eines Beschäftigungsverhältnisses erhoben, verarbeitet oder genutzt wurden, ist selbst nach dessen Beendigung der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten eröffnet (§ 2 Abs. 1 Nr. 4 lit. a ArbGG)289. bb) Europarechtlicher Auskunftsanspruch nach Art. 15 DSGVO

3.92 Die betroffene Person kann nach Art. 15 DSGVO Auskunft über die sie betreffenden, verarbeiteten, personenbezogenen Daten verlangen. Dieser Auskunftsanspruch gilt auch im Verhältnis Arbeitnehmer – Arbeitgeber290. Art. 15 Abs. 1 lit. a-h DSGVO enthält den umfangreichen Katalog der zu erteilenden Informationen. Die Auskunft ist im ersten Schritt darauf gerichtet, ob der Verantwortliche überhaupt personenbezogene Daten der betroffenen Person verarbeitet (Art. 15 Abs. 1 Halbs. 1 DSGVO). Sollte der Auskunftsanspruch gerichtlich geltend gemacht werden, muss für weitergehende Auskünfte dargelegt werden, dass dies der Fall ist291. Insoweit bietet sich also eine Stufenklage (§ 254 ZPO) an. Maßgeblich für die Frist zur Erfüllung der Auskunftsverpflichtung ist Art. 12 Abs. 3 DSGVO. Danach ist die Auskunft unverzüglich, in jedem Fall innerhalb eines Monats zu erteilen. Eine

287 288 289 290 291

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Dzida, BB 2018, 2677 (2679). Paal/Pauly/Körffer, Art. 77 DSGVO Rz. 5. BAG v. 3.2.2014 – 10 AZB 77/13, NZA 2014, 391. Dzida, BB 2018, 2677 (2679). Hessisches LAG v. 29.1.2013 – 13 Sa 263/12, ZD 2013, 392 Rz. 103.

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.94 § 3

Verlängerung um zwei weitere Monate ist zulässig, wenn dies im Hinblick auf die Komplexität und die Anzahl von Anträgen erforderlich ist292. Verarbeitet der Verantwortliche personenbezogene Daten, hat die betroffene Person im zweiten Schritt Anspruch auf Information über Verarbeitungszwecke, verarbeitete Datenkategorien, Empfänger, Speicherdauer, Datenherkunft sowie ihre weitergehenden Rechte. Diese in Art. 15 Abs. 1 Halbs. 2 DSGVO genannten Auskunftsinhalte gehen nicht über die ohnehin bestehenden Informationspflichten nach Art. 13, 14 DSGVO hinaus, sondern bleiben hinter diesen sogar zurück293. Der Arbeitgeber kann den Auskunftsanspruch deshalb prinzipiell durch Vorlage seines allgemeinen datenschutzrechtlichen Informationsschreibens für Beschäftigte erfüllen, das er allerdings ggf. aktualisieren oder ergänzen muss, soweit sich seit der Datenerhebung Veränderungen ergeben haben oder das Informationsschreiben Mängel aufweist294.

3.93

Bedeutender ist dagegen, dass der Arbeitgeber nach Art. 15 Abs. 3 Satz 1 DSGVO Kopien der personenbezogenen Daten zur Verfügung stellen muss, die Gegenstand der Verarbeitung sind295. Bei wörtlichem Verständnis der Vorschrift wären jedwede personenbezogenen Daten zu der betroffenen Person erfasst, die innerhalb der Organisation des Verantwortlichen irgendwo iSd. Art. 2 Abs. 1 DSGVO automatisiert verarbeitet oder in Datensystemen gespeichert werden. Der Anspruch geht über die Personalakte und deren Inhalt (dazu unter Rz. 11.18) hinaus.

3.94

Streng genommen müsste der Arbeitgeber dann zB jede E-Mail mit dem Namen der betroffenen Person herausgeben, die sich bei irgendeinem Beschäftigten im dienstlichen E-MailPostfach befände. Zu einem auf Art. 15 Abs. 1 Satz 1 DSGVO gestützten Auskunftsanspruch eines Arbeitnehmers hat das LAG Baden-Württemberg296 herausgestellt, dass das Recht auf Auskunft und Kopie nach Art. 15 Abs. 1 und 3 DSGVO weit auszulegen sei. Es umfasse alle personenbezogenen Leistungs- und Verhaltensdaten, die Gegenstand der Datenverarbeitung (Art. 4 Nr. 2 DSGVO) der verantwortlichen Stelle (vgl. Art. 4 Nr. 7 DSGVO) „Arbeitgeber“ seien. Nach Art. 15 Abs. 3 DSGVO müssen auf Antrag auch Kopien zur Verfügung gestellt werden. Das umfasse auch alle Vermerke in einer Ermittlungsakte, in der nach Hinweisen anderer Beschäftigter ein Pflichtverstoß des klagenden Arbeitnehmers festgestellt worden war297.

292 293 294 295

Dzida, BB 2018, 2677 (2679). Kühling/Buchner/Bäcker, Art. 15 Rz. 10 DSGVO. Kühling/Buchner/Bäcker, Art. 15 Rz. 15 DSGVO. Zu den Vorgehensweisen des Arbeitgebers beim Kopieverlangen des Arbeitnehmers instruktiv Schulte/Welge, NZA 2019, 1110 (1115). 296 LAG Baden-Württemberg v. 20.12.2018 – 17 Sa 11/18, NZA-RR 2019, 242 (250) m. krit. Besprechung Wybitul/Brams, NZA 2019, 672 ff.; Braun, ArbRB 2019, 134. 297 Ausdrücklich im Hinblick auf Vermerke und Gesprächsnotizen aus dem Versicherungsverhältnis: OLG Köln v. 26.7.2019 – 20 U 75/18, ZD 2019, 462; der Datenauskunftsanspruch gegen eine Versicherung gehe über die Stammdaten hinaus und gewähre faktisch ein dem US-amerikanischen „discovery“ angenähertes Auskunftsrecht natürlicher Personen zu den über sie vorhandenen personenbezogenen Daten, welche die Versicherung mit Bezug auf die Person des Versicherungsnehmers gespeichert, genutzt und verarbeitet hat.

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§ 3 Rz. 3.95

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

3.95 Mit Blick auf die noch nicht entschiedene Revision beim BAG298 diskutiert die Literatur einen gestuften Lösungsansatz299. Deshalb kann der Arbeitgeber zunächst verlangen, dass der Beschäftigte präzisiert bzw. konkretisiert, auf welche Information oder welche Verarbeitungsvorgänge sich sein Auskunftsersuchen konkret bezieht, bevor er dem Auskunftsersuchen nachkommt (vgl. Erwägungsgrund 63 Satz 7 DSGVO)300. Dies folgt analog § 275 Abs. 2 BGB aus dem auch europarechtlich anerkannten Grundsatz von Treu und Glauben301. Nimmt der Beschäftigte trotz Aufforderung keine Präzisierung vor, wird die Auskunftspflicht auf solche personenbezogenen Daten zu beschränken sein, welche für die Leitungsorganisation des Verantwortlichen unter vertretbarem Aufwand zentral zugänglich sind, dh. ohne dass sie dafür aufwendige interne Ermittlungen betreiben muss (also insbesondere die Personalakte, die Akte der Lohnbuchhaltung und die Arbeitszeitaufzeichnungen)302. Aus Erwägungsgrund 63 Satz 7 DSGVO folgt auch, dass nicht „große Mengen an Informationen“ herausgegeben werden müssen. Auch der Einwand unzumutbaren Aufwandes (Art. 14 Abs. 5 lit. b DSGVO) steht einem so weit gefassten Verständnis des Anspruchs entgegen303. Das wird im Ergebnis dazu führen, dass Datenkopien in zusammengefasster Form, nicht aber von der gesamten Akte verlangt werden können304. Auch besteht kein Anspruch auf Zurverfügungstellung bereits bekannter Daten bzw. Unterlagen305. Unternehmen und Behörden können sich dem so verstandenen Datenauskunftsanspruch gegenüber nicht mit dem Argument verteidigen, dessen Erfüllung sei wegen der begrenzten zur Verfügung stehenden personellen und IT-technischen Ressourcen unzumutbar306.

298 BAG – 5 AZR 66/19, das auch die Frage des „Ob“ der Einsicht zu klären hat, weil der Kläger Informationen über die Person einen Hinweisgebers (= Whistleblowers) in Bezug auf sein Fehlverhalten verlangt hatte. 299 Wybitul/Brams, NZA 2019, 672 (676); Lentz, ArbRB 2019, 150 (152); Hitzelberger-Kijima, öAT 2019, 140 (142). 300 Zikesch/Sörup, ZD 2019, 239 (240); bei Bewerbern dürfte das aber nicht der Fall sein, da der Arbeitgeber nur über eine überschaubare Menge an Informationen verfügt, Dzida, BB 2018, 2677 (2679). Für das Versicherungsrecht hat dies das LG Köln v. 19.6.2019 – 26 S 13/18, ArbRB 2019, 306 (Grimm) zu Recht entwickelt und ist über den Wortlaut des Art. 15 Abs. 1 Halbs. 1 lit. a DSGVO hinausgegangen. 301 Gola/Franck, Art. 15 DSGVO Rz. 38. 302 Ähnlich Hitzelberger-Kijima, öAT 2019, 140 (142). Auch der Hess. Landesdatenschutzbeauftragte verneint im Regelfall den Anspruch auf Kopien, vgl. Seite 81 f. des 47. Tätigkeitsberichts des HBfDI v. 24.6.2019 mit einer Checkliste zur Bearbeitung auf S. 85 (abgerufen am 29.7.2019 unter https://datenschutz.hessen.de/sites/datenschutz.hessen.de/files/2018_47_TB.pdf). 303 Zu Recht Grau/Seidensticker, EWiR 2019, 443 (444); ähnlich Hitzelberger-Kijima, öAT 2019, 140 (141). 304 So auch LG Köln v. 18.3.2019 – 26 O 25/18, ArbRB 2019, 206 (Grimm); Grau/Seidensticker, EWiR 2019, 443 (444). 305 LG Köln v. 18.3.2019 – 26 O 25/18, ArbRB 2019, 206 (Grimm): Es bestehe kein Anspruch auf nochmalige Übersendung bereits bekannten Schriftverkehrs. Der Anspruch diene nicht der erleichterten Buchführung des Betroffenen. 306 Zum Versicherungsunternehmen: OLG Köln v. 27.7.2019 – 20 U 75/18, ZD 2019, 462 (463): „Es ist Sache der Beklagten, die sich der elektronischen Datenverarbeitung bedient, diese im Einklang mit der Rechtsordnung zu organisieren und insb. dafür Sorge zu tragen, dass dem Datenschutz und den sich hieraus ergebenden Rechten Dritter Rechnung getragen wird.“

198

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.96 § 3

Die Auskunft kann verweigert werden, soweit hierdurch Rechte und Freiheiten anderer Personen (Art. 15 Abs. 4 DSGVO), Berufsgeheimnisse307 oder ein sonstiges überwiegendes Geheimhaltungsbedürfnis (§ 29 Abs. 1 Satz 2 BDSG)308 beeinträchtigt würden. Denkbar ist es, den Auskunftsanspruch nach Art. 15 DSGVO durch Betriebs- oder Dienstvereinbarungen einzuschränken, etwa um in den Fällen umfangreicher Anfragen die Funktionsfähigkeit der Personalabteilung zu erhalten oder den Whistleblowerschutz sicherzustellen309. Eine Präzisierungsobliegenheit für den Beschäftigten ist ebenso denkbar wie eine Anpassung (= Verlängerung) der Monatsfrist für die Beantwortung nach Art. 12 Abs. 3 Satz 1 DSGVO, um die Funktionsfähigkeit der Personalabteilung sicherzustellen310. Notwendig ist aber im Hinblick auf die Begrenzung der Öffnungsklausel, dass das Schutzniveau des Art. 88 Abs. 2 DSGVO eingehalten wird und Auskunftsverweigerungen nicht ausnahmslos ausgeschlossen werden311. Schwierig ist die Erfüllung des Auskunftsanspruchs, wenn dieser mit dem Ziel geltend gemacht wird, die Identität eines Whistleblowers zu erfahren. Das ist im Ausgangspunkt ein zulässiges Auskunftsziel312. Der Schutz von Informanten kann ein an sich anerkennenswertes Geheimhaltungsinteresse darstellen313. Allerdings lässt auch das LAG Baden-Württemberg314 eine Auskunftsverweigerung nur dann zu, wenn in Bezug auf konkrete Daten vom Arbeitgeber dargelegt und beweisen wird, dass überwiegende berechtigte Interessen Dritter an der Geheimhaltung dieser Daten bestehen. Dann erfolgt eine auf den konkreten Umständen des Einzelfalls beruhende Güterabwägung zwischen dem arbeitgeberseitigen Geheimhaltungsinteresse einerseits und dem arbeitnehmerseitigen Auskunftsinteresse andererseits315. Aus Arbeitgebersicht bedingt dies einen substantiierten Sachvortrag, damit das überprüfende Gericht das Erfordernis des Informantenschutzes in Compliance-Systemen bewerten kann316. Dazu müssen nicht schon die personenbezogenen Daten als solche preisgegeben werden. Erforderlich ist nach Ansicht des LAG Baden-Württemberg317 jedoch die Darlegung, auf welche genauen Informationen (Sachverhalt/Vorfall/Thema in zeitlicher und örtlicher bzw. sachlicher Eingrenzung nebst handelnden Personen) sich das überwiegende Interesse an der

307 Gola/Franck, Art. 15 DSGVO Rz. 36, 37. 308 § 29 Abs. 1 Satz 2 BDSG wird teilweise für europarechtswidrig und unanwendbar gehalten, so Gola/Franck, Art. 15 DSGVO Rz. 48. 309 Zu solchen Möglichkeiten Wünschelbaum, BB 2019, 2102 ff.; Grimm, ArbRB 2019, 306 (307). Zurückhaltend dazu im Hinblick auf Art. 23 DSGVO, der eine Einschränkung der Rechte der Betroffenen nach den Art. 12 ff. DSGVO (nur) durch formelles Gesetz und nicht durch sonstige Normen wie Kollektivvereinbarungen vorsehe: Schulte/Welge, NZA 2019, 1110 (1115). 310 Wünschelbaum, BB 2019, 2102 (2106) weist zu Recht darauf hin, dass ausnahmslose Auskunftsverweigerungen Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO widersprechen und entsprechende Gestaltungen in Kollektivvereinbarungen unzulässig wären. 311 Wünschelbaum, BB 2019, 2102 (2106); Grimm, ArbRB 2019, 306 (307). 312 LAG Baden-Württemberg v. 20.12.2018 – 17 Sa 11/18, NZA-RR 2019, 242 (250); Dzida, BB 2018, 2677 (2680). 313 LAG Baden-Württemberg v. 20.12.2018 – 17 Sa 11/18, NZA-RR 2019, 242 (250). 314 LAG Baden-Württemberg v. 20.12.2018 – 17 Sa 11/18, NZA-RR 2019, 242 (251). 315 LAG Baden-Württemberg v. 20.12.2018 – 17 Sa 11/18, NZA-RR 2019, 242 (250). 316 Braun, ArbRB 2019, 134 (135); Lentz, ArbRB 2019, 150 (153). 317 LAG Baden-Württemberg v. 20.12.2018 – 17 Sa 11/18, NZA-RR 2019, 242 (251). Fuhlrott, NZARR 2019, 242 (252) weist darauf hin, dass aus der Darstellung des Hinderungsgrundes die Informationen oft zu entnehmen sind.

Grimm

199

3.96

§ 3 Rz. 3.96

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

Geheimhaltung beziehen soll. Geheimnisschutz wird aber wohl im Zuge laufender Ermittlungen bestehen318. cc) Einsichtsrecht in Personalakte

3.97 Nach § 83 Abs. 1 BetrVG und § 26 Abs. 2 SprAuG steht Arbeitnehmern (und leitenden Angestellten) das Recht zur Einsichtnahme in die Personalakte319 zu320. Der Anspruch folgt auch aus § 241 Abs. 2 BGB321. Vom Begriff der Personalakte erfasst werden alle Unterlagen über den einzelnen Arbeitnehmer, die das Arbeitsverhältnis angehen und in innerem Zusammenhang stehen322. Gestattet der Arbeitgeber, Kopien aus der Personalakte zu fertigen, ist es dem Arbeitnehmer nicht gestattet, einen Rechtsanwalt zur Einsichtnahme hinzuzuziehen323. Das Einsichtsrecht in die Personalakte besteht auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses324. Das Einsichtsrecht ist auch bei der „Suche“ nach Hinweisgebern (Whistleblowern) nicht zur Sicherung von deren Interessen eingeschränkt325. Sichert der Arbeitgeber bei Hinweisen aus der Belegschaft über betriebliches bzw. dienstliches Fehlverhalten anderer Beschäftigter den Hinweisgebern Anonymität zu, ist der Arbeitgeber nicht befugt, die die Person des Hinweisgebers offenbarenden Daten zu offenbaren oder Rückschlüsse auf die Person des Hinweisgebers zuzulassen326. Auch wenn die Führung von Geheimakten im Rahmen der Personalaktenführung unzulässig ist327, kann der Arbeitgeber bei Zusicherung der Anonymität des Hinweisgebers nur den Teil des Hinweises zur Personalakte im materiellen Sinn nehmen, der die Person des Hinweisgebers nicht offenbart oder Rückschlüsse auf die Person zulässt328. Unterlässt dies der Arbeitgeber, kann deshalb nicht der Anspruch auf Einsicht verweigert werden329. Die Anwendungsbereiche des Einsichtnahmerechts und des Auskunftsanspruchs nach Art. 15 DSGVO sind nicht identisch330. Das Einsichtsrecht hat keinen Ausnahmekatalog und bezieht sich auf Einsicht in die Originalakte, nicht bloß in Kopien. Der Auskunftsanspruch hingegen ist weiter, denn er erfasst auch sich nicht aus der Personalakte ergebende Informationen. Auch wenn ein konkretes Interesse an der Einsichtnahme nicht mehr notwendig ist331, darf der Anspruch nicht in unangemessen kurzen Zeitabständen geltend gemacht werden332. 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332

200

So zu Recht Grau/Seidensticker, EWiR 2019, 443 (444). Zu den Arbeitnehmerrechten in Bezug auf die Personalakte Müller, DB 2011, 2604. Vergleichbare Rechte enthalten § 110 Abs. 1 BBG und § 3 Abs. 5 Satz 1 TVöD. GK-BetrVG/Franzen, vor § 81 BetrVG Rz. 13 ff. BAG v. 7.5.1980 – 4 AZR 214/78, ArbuR 1981, 124 Ls. 1; Fitting, § 83 BetrVG Rz. 3; WPK/Preis, § 83 BetrVG Rz. 3 mwN. BAG v. 12.7.2016 – 9 AZR 791/14, NZA 2016, 1344 (1345). Ob das allgemein gilt, hat das BAG offengelassen. BAG v. 16.11.2010 – 9 AZR 573/09, NZA 2011, 453; exemplarisch für die Abmahnung Kleinebrink, DB 2012, 1508 (1511 f.). LAG Baden-Württemberg v. 20.12.2018 – 17 Sa 11/18, NZA-RR 2019, 242 (249). LAG Baden-Württemberg v. 20.12.2018 – 17 Sa 11/18, NZA-RR 2019, 242 (249). GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 7; LAG Baden-Württemberg v. 20.12.2018 – 17 Sa 11/18, NZA-RR 2019, 242 (249). LAG Baden-Württemberg v. 20.12.2018 – 17 Sa 11/18, NZA-RR 2019, 242 (249) unter Bezug auf Klasen/Schäfer, DB 2012, 1384 (1385). Dies geschieht durch Unkenntlichmachung: „Schwärzung“ oder sonstige technische Vorgaben. LAG Baden-Württemberg v. 20.12.2018 – 17 Sa 11/18, NZA-RR 2019, 242 (249). Ausführlich MünchArbR/Reichold, § 96 Rz. 74. BAG v. 16.11.2010 – 9 AZR 573/09, NZA 2011, 453. Müller, DB 2011, 2604 (2407).

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.101 § 3

dd) Berichtigung, Löschung, Widerspruch und Sperrung Nach Art. 16 DSGVO haben Beschäftigte einen Anspruch gegen den Arbeitgeber, dass dieser unrichtig gespeicherte Daten berichtigt (zum Berichtigungsanspruch in der Personalakte Rz. 11.28 ff.)333. Zudem sind unrichtige Daten nach Art. 5 Abs. 1 lit. d DSGVO autonom – also ohne Aufforderung des Betroffenen – zu korrigieren oder zu löschen334. Unter Berücksichtigung der Zwecke der Verarbeitung hat die betroffene Person zudem das Recht, die Vervollständigung unvollständiger personenbezogener Daten – auch mittels einer ergänzenden Erklärung – zu verlangen. Dabei kann nicht jede beliebige Vervollständigung des Datensatzes verlangt werden, sondern nur diejenigen Informationen sind zu ergänzen, die im Hinblick auf den Verarbeitungszweck notwendig sind, um ein zutreffendes Bild der betroffenen Person zu zeichnen335.

3.98

Nach Art. 17 DSGVO kann die betroffene Person die Löschung der zu ihr gespeicherten per- 3.99 sonenbezogenen Daten verlangen, sofern die Speicherung der Daten nicht durch ihre Verarbeitung (Art. 17 Abs. 1 DSGVO) oder aus anderen Gründen (Art. 17 Abs. 3 DSGVO) gerechtfertigt ist. Der Löschanspruch der betroffenen Person reicht allerdings nicht weiter, als die ohnehin bestehende Pflicht der Verantwortlichen, solche personenbezogenen Daten von sich aus zu löschen336. Der Beschäftigte kann hiervon abweichend die Löschung von eigentlich löschpflichtigen personenbezogenen Daten ablehnen und lediglich verlangen, dass der Verantwortliche deren Verarbeitung einschränkt (Art. 18 Abs. 1 lit. b DSGVO). Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses soll nach Auffassung des LAG Sachsen-Anhalt337 aufgrund entfallener Erforderlichkeit der Speicherung grundsätzlich ein auf Art. 17 Abs. 1 DSGVO gestützter Anspruch auf Entfernung einer Abmahnung bestehen, was der Rspr. des BAG vor Geltung der DSGVO so nicht entspricht338. Die Berichtigungs- und Löschungsansprüche nach Art. 16, 17 DSGVO decken sich mit dem aus der arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht abgeleiteten Anspruch, unrichtige Tatsachenbehauptungen aus der Personalakte zu entfernen oder zu berichtigen339.

3.100

Kann die betroffene Person auf außergewöhnliche Gründe verweisen, die sich aus ihrer besonderen persönlichen Situation ergeben, hat sie nach Art. 21 DSGVO das Recht zum Widerspruch. Der Verantwortliche darf die personenbezogenen Daten nach Ausübung des Widerspruchsrechts nur dann noch verarbeiten, wenn zwingende schutzwürdige Gründe bestehen, welche die vorgebrachten besonderen Interessen der betroffenen Person im Einzelfall überwiegen. Andernfalls muss der Verantwortliche die personenbezogenen Daten gemäß Art. 17 Abs. 1 lit. c DSGVO löschen.

3.101

333 Zum Anspruch auf Änderung (= Berichtigung) des Vornamens in die weibliche Form nach Geschlechtsanpassung nach § 1 TSG s. OVG Hamburg v. 27.5.2019 – 5 Bf 225/18.Z, ZD-Aktuell 2019, 06801 (m. zust. Anm. Gerjets). 334 Gola/Pötters, Art. 5 DSGVO Rz. 24; BeckOK Datenschutzrecht/Schantz, Art. 5 DSGVO Rz. 28. 335 Simitis/Hornung/Spiecker/Dix, Art. 16 DSGVO Rz. 18. 336 Gola/Nolte/Werkmeister, Art. 17 DSGVO Rz. 9; Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 34 ff. 337 LAG Sachsen-Anhalt v. 23.11.2018 – 5 Sa 7/17, NZA-RR 2019, 355 m. Anm. Rütz/Sturm, DB 2019, 1452. 338 Zur unentschiedenen Rspr. Möllenkamp, NZA-RR 2019, 355 (357). 339 Vgl. BAG v. 8.5.2001 – 9 AZR 208/00, EzA § 611 BGB Fürsorgepflicht Nr. 60. Zur Abmahnung: Müller, DB 2011, 2604 (2408).

Grimm

201

§ 3 Rz. 3.101

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

Für die Dauer, während der der Verantwortliche die Richtigkeit personenbezogener Daten oder die Voraussetzungen eines Widerspruchs prüft, kann die betroffene Person die Einschränkung der Verarbeitung gemäß Art. 18 DSGVO verlangen. Ein Anspruch auf Einschränkung der Verarbeitung besteht auch dann, wenn der Verantwortliche die personenbezogenen Daten nur aus demjenigen Grund aufbewahrt, um sie zu einem späteren Zeitpunkt ggf. zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen zu nutzen. Wurde die Verarbeitung eingeschränkt, dürfen personenbezogene Daten nur noch aus besonderen, in Art. 18 Abs. 2 DSGVO genannten Gründen verarbeitet werden. Bevor der Verantwortliche die Einschränkung aufhebt, ist die betroffene Person nach Art. 18 Abs. 3 DSGVO zu unterrichten. Der Verantwortliche ist nach Art. 19 Satz 1 DSGVO verpflichtet, etwaige Empfänger, denen die von Maßnahmen nach Art. 16, Art. 17 oder Art. 18 DSGVO betroffenen Daten offengelegt wurden, über die Berichtigung, Löschung und Einschränkung zu informieren, es sei denn, dies ist unmöglich oder bedeutet einen unverhältnismäßigen Aufwand. Die betroffene Person kann verlangen, dass ihr diese Empfänger mitgeteilt werden (Art. 19 Satz 2 DSGVO).

3.102 Relevant ist schließlich das sich auf die Personalakte beziehende, besondere Gegendarstellungsrecht nach § 83 Abs. 2 BetrVG bzw. § 26 Abs. 2 Satz 4 SprAuG. Anders als der Anspruch auf Vervollständigung personenbezogener Daten durch eigene Erklärungen nach Art. 15 Satz 2 DSGVO bezieht sich das Gegendarstellungsrecht auch auf Werturteile340. Wie das Recht zur Einsichtnahme ist auch das Gegendarstellungsrecht als Ableitung aus dem Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers dem Arbeitsvertragsrecht (§ 241 Abs. 2 BGB) zuzuordnen und gilt deshalb über das BetrVG hinaus341. Ein Bezug zu einem bestimmten Element der Personalakte ist nicht notwendig, der Arbeitnehmer kann seine Personalakte auch schlicht ergänzen342. Der Arbeitgeber hat dabei nur ein formelles Prüfungsrecht, ob die Erklärung überhaupt Bestandteil der Personalakte sein kann343. ee) Datenübertragbarkeit

3.103 Der Beschäftigte hat nach Art. 20 Abs. 1 DSGVO einen Anspruch darauf, die ihn betreffenden personenbezogenen Daten, die er einem Verantwortlichen bereitgestellt hat, in einem strukturierten, gängigen und maschinenlesbaren Format zu erhalten. Der Anspruch setzt voraus, dass die Verarbeitung aufgrund einer Einwilligung oder zur Erfüllung eines Vertrages (zB des Arbeitsvertrages) erfolgt und mithilfe automatisierter Verfahren (dh. durch EDV344) durchgeführt wird. Der Arbeitgeber ist hingegen nicht verpflichtet, in Papierform geführte Akten einzuscannen. Welche personenbezogenen Daten als durch die betroffene Person „bereitgestellt“ gelten und dem Anwendungsbereich unterfallen, ist umstritten345. In jedem Fall erfasst sind die bei Eingehung des Beschäftigungsverhältnisses übermittelten Stammdaten346. Der Beschäftigte ist auch berechtigt, die zur Verfügung gestellten elektronischen Daten einem anderen Verantwortlichen zu übermitteln und kann verlangen, dass der Arbeitgeber sie selbst direkt an einen anderen Verantwortlichen übermittelt (Art. 20 Abs. 2 DSGVO), dh. dass sich – zB bei einem Arbeitgeberwechsel – der alte Arbeitgeber zum Zwecke der Daten340 341 342 343 344 345 346

202

Richardi/Thüsing, § 83 BetrVG Rz. 39, 41. WPK/Preis, Vor § 81 ff. BetrVG Rz. 2 f. GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 33 mwN; WPK/Preis, § 83 BetrVG Rz. 14. HM, vgl. GK-BetrVG/Franzen, § 83 Rz. 34 mwN; WPK/Preis, § 83 BetrVG Rz. 14. Kühling/Buchner/Herbst, Art. 20 DSGVO Rz. 13. Eingehend mwN Plath/Kamlah, Art. 20 DSGVO Rz. 6 f. Plath/Kamlah, Art. 20 DSGVO Rz. 6.

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Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.104 § 3

übermittlung direkt mit dem neuen Arbeitgeber in Verbindung setzt. Dies erscheint allerdings wenig praxisgerecht. ff) Schadensersatzansprüche Materielle Schäden durch Datenschutzverletzungen im Arbeitsverhältnis sind selten347. Bedeutung erlangt immer mehr der Ersatz immaterieller Schäden348. Nach Art. 82 DSGVO kann jede Person, der wegen eines Datenschutzverstoßes ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, Schadenersatz von dem Verantwortlichen oder dessen Auftragsverarbeiter verlangen. Haftungsgrund ist jeder Verstoß gegen die DSGVO. Als Verstoß gegen die DSGVO gelten auch Verstöße gegen die auf Grundlagen der DSGVO ergangenen mitgliedstaatlichen Datenschutzbestimmungen (Erwägungsgrund 145 Satz 5 DSGVO)349, also zB § 26 BDSG und einschlägige Kollektivvereinbarungen350. Der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter kann sich von der Haftung befreien, wenn er nachweist, dass er in keinerlei Hinsicht für den Umstand, durch den der Schaden eingetreten ist, verantwortlich ist (Art. 83 Abs. 3 DSGVO). An der Verantwortlichkeit fehlt es, wenn den Verantwortlichen kein Verschulden trifft351. Ungeklärt ist, unter welchen Voraussetzungen dem Verantwortlichen Datenschutzverstöße seiner Mitarbeiter zugerechnet werden352. Die Bedeutung des Art. 82 DSGVO wird in erster Linie in der ausdrücklichen Anerkennung eines ersatzfähigen immateriellen Schadens gesehen. In der Vergangenheit wurden Ansprüche nach richterrechtlicher Rechtsfortbildung nur in Fällen „schwerwiegender“ Persönlichkeitsrechtsverletzungen353 und dann auch nur in vergleichsweise überschaubarer Höhe354 zugesprochen. In der Literatur wird damit gerechnet, dass die Rechtsprechung die Schmerzensgeldansprüche nunmehr ausweitet und der Höhe nach deutlich anhebt355. Art und Inhalt des Schadens muss die betroffene Person beweisen, welche Ersatz fordert356. 347 Denkbar wäre dies beispielsweise, wenn ein Arbeitnehmer eine Stelle nicht erhält, nachdem unrichtige Daten an eine einstellungsbefugte Stelle weitergegeben worden waren. 348 Bespiele bei Grimm/Freh, ArbRB 2012, 151 (153 f.). 349 Plath/Becker, Art. 82 DSGVO Rz. 4; Kühling/Buchner/Bergt, Art. 82 DSGVO Rz. 24. 350 Der Schadensersatzanspruch nach § 83 BDSG gilt nur für Verstöße gegen den dritten Teil des BDSG und ist für den Beschäftigtendatenschutz irrelevant, Plath/Becker, § 83 BDSG Rz. 1; Paal/ Pauly/Frenzel, § 83 BDSG Rz. 2. 351 Kühling/Buchner/Bergt, Art. 82 DSGVO Rz. 80; Gola/Gola/Piltz, Art. 82 DSGVO Rz. 18. 352 Für eine generelle Zurechnung Gola/Gola/Piltz, Art. 82 DSGVO Rz. 18; für die Anwendbarkeit der Exkulpationsmöglichkeiten des § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB hingegen Plath/Becker, Art. 82 DSGVO Rz. 5b. 353 BAG v. 19.2.2015 – 8 AZR 1007/13, NZA 2015, 994; v. 18.12.1984 – 3 AZR 389/83, NZA 1985, 811. 354 Das BAG hatte 2015 wegen einer rechtswidrigen Videoobservation durch einen Detektiv ein Schmerzensgeld von 1.000 Euro festgesetzt, BAG v. 19.2.2015 – 8 AZR 1007/13, NZA 2015, 994. Gegen einen Arbeitgeber, der seinen Betriebsratsvorsitzenden über 20 Arbeitstage beschatten ließ und einer Detektei dafür ein Honorar von 40.000 Euro zahlte, setzte das LAG RheinlandPfalz (v. 27.4.2017 – 5 Sa 449/16, ArbR 2017, 367) ein Schmerzensgeld von 10.000 Euro fest. In einem Fall einer schwerwiegenden und „hartnäckigen“ Verletzung des informationellen Selbstbestimmungsrechts und einer schweren Persönlichkeitsverletzung durch eine dreimonatige Videoüberwachung hat das Hessische LAG v. 25.2.2010 – 7 Sa 1586/09, ArbRB 2011, 138 (Jacobi) den Arbeitgeber zu einer Entschädigung von 7.000 Euro verurteilt, nachdem die Vorinstanz noch 15.000 Euro zugesprochen hatte. 355 Dzida, BB 2018, 2677 (2678); Plath/Becker, § 83 BDSG Rz. 4c; Kühling/Buchner/Bergt, Art. 82 DSGVO Rz. 18; Schantz, NJW 2016, 1841 (1847). 356 Kühling/Buchner/Bergt, Art. 82 DSGVO Rz. 20.

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3.104

§ 3 Rz. 3.105

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

3.105 Die öffentlich-rechtlichen Pflichten des Arbeitgebers bestimmen zugleich dessen arbeitsvertragliche Nebenpflichten357. Damit stellt ein Verstoß gegen die DSGVO und § 26 BDSG auch eine Vertragsverletzung des Arbeitgebers dar. Führt der nach § 276 Abs. 1 BGB schuldhafte Verstoß des Arbeitgebers zu einem Schaden nach den §§ 249 ff. BGB, so hat er diesen nach § 280 Abs. 1 Satz 1, § 241 Abs. 2 BGB zu ersetzen. Der Anspruch besteht neben Ansprüchen aus Art. 82 DSGVO358. Über § 278 Satz 1 BGB haftet der Arbeitgeber auch für Erfüllungsgehilfen, wovon auch der Datenschutzbeauftragte erfasst wird359. Das Verschulden wird nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB widerlegbar vermutet. Die Beweislast für die haftungsbegründende Kausalität liegt bei der betroffenen Person360.

3.106 Besteht kein Arbeitsvertragsverhältnis, jedoch bereits ein vorvertragliches Schuldverhältnis, gelten nach § 311 Abs. 2 BGB die Pflichten nach § 241 Abs. 2 BGB. Entsprechend kann ein Schadensersatzanspruch auf § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 311 Abs. 2 BGB (culpa in contrahendo) gestützt werden361.

3.107 In Betracht kommen kann auch eine Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB, wenn durch den Datenschutzverstoß das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen verletzt wird362. Möglich ist auch ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit der Verletzung eines Schutzgesetzes. Das setzt voraus, dass die Norm nach Inhalt und Zweck nicht nur dem Schutz des öffentlichen Interesses, sondern auch dem Schutz von individuellen Rechtsgütern und Interessen dient363. Bei Bestimmungen über die Verarbeitung personenbezogener Daten wird dies meist der Fall sein364. Die ausschließlich den Datenschutzbeauftragten betreffenden Regelungen wie die Art. 37 ff. DSGVO bezwecken keinen Individualschutz365. gg) Unterlassungsansprüche

3.108 Aus Art. 79 Abs. 1 DSGVO ergibt sich ein Unterlassungsanspruch gegen die verordnungswidrige Verarbeitung personenbezogener Daten366. Während die Rechte der betroffenen Person auf Löschung (Art. 17 DSGVO), Einschränkung (Art. 18 DSGVO) und Widerspruch (Art. 21 DSGVO) gegen die Verarbeitung bestimmter personenbezogener Daten gerichtet sind, kann sich die betroffene Person auf diese Weise auch gegen eine bestimmte Art und Weise der Verarbeitung wehren. Daneben können dem betroffenen Beschäftigten entsprechend §§ 12, 862, 1004 BGB analog Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche zustehen367. Voraussetzung hierfür ist ein rechtswidriger Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowie Wiederholungsgefahr, auf ein 357 MünchArbR/Reichold, § 96 Rz. 89. 358 Gola/Gola/Piltz, Art. 82 DSGVO Rz. 21; MünchArbR/Reichold, § 96 Rz. 89. 359 Da der Datenschutzbeauftragte aber lediglich beratende Funktion hat, ist kaum denkbar, dass seine Tätigkeit einen kausalen Schaden verursacht, s. DWWS/Däubler, Art. 39 DSGVO Rz. 9. 360 Thüsing/Pötters, Beschäftigtendatenschutz und Compliance, § 21 Rz. 12. 361 MünchArbR/Reichold, § 96 Rz. 89. 362 Etwa BGH v. 22.5.1984 – 6 ZR 105/82, NJW 1984, 1886; Thüsing/Pötters, Beschäftigtendatenschutz und Compliance, § 21 Rz. 17 mwN. 363 Etwa BGH v. 14.5.2005 – VI ZR 185/04, NJW 2005, 2923 (2924); vgl. MüKo BGB/Wagner, § 823 BGB Rz. 405. 364 DWWS/Sommer, Art. 82 DSGVO Rz. 45; für die §§ 4, 6, 26 ff., 33 ff. BDSG: MünchArbR/Reichold, § 96 Rz. 89. 365 Thüsing/Pötters, Beschäftigtendatenschutz und Compliance, § 21 Rz. 19. 366 Plath/Becker, Art. 79 DSGVO Rz. 2; aA Sydow/Kreße, Art. 79 DSGVO Rz. 10 ff. 367 MünchArbR/Reichold, § 96 Rz. 91; Kock/Francke, NZA 2009, 646 (651).

204

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Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.111 § 3

Verschulden kommt es jedoch nicht an368. Da dieser Anspruch jedoch richterrechtlich aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleitet wird, hat er in erster Linie lückenfüllenden Charakter369. f) Beschäftigtendatenschutzrechtliche Pflichten von Betriebs- und Personalrat Die Tätigkeit des Betriebsrats und des Personalrats wurde nach bisheriger Auffassung nicht vom Datenschutzbeauftragten kontrolliert, weil dies mit der vom BetrVG vorgesehenen Unabhängigkeit des Betriebs- bzw. Personalrats vom Arbeitgeber als unvereinbar galt370. Inwieweit sich dies unter Geltung der DSGVO ändern wird, ist sehr umstritten371.

3.109

aa) Teil des Arbeitgebers/Dienststelle oder Dritter iSd. Art. 4 Nr. 10 DSGVO Bevor die DSGVO Geltung erlangte, wurden Arbeitnehmervertretungen innerhalb des Unternehmens bzw. der Dienststelle nicht als Dritte, sondern als unselbständiger Teil der verantwortlichen Stelle angesehen. Andererseits verantworteten sie die Einhaltung des Datenschutzes selbst und unterlagen nicht der Kontrolle des Datenschutzbeauftragten372. Die Zugehörigkeit des Betriebs- bzw. Personalrats zur verantwortlichen Stelle folgte daher, dass im nichtöffentlichen Bereich Stellen im Sinne des BDSG nur natürliche und juristische Personen, Gesellschaften und andere Personenvereinigungen des privaten Rechts sein konnten, nicht aber teilrechtsfähige Organe (vgl. § 2 Abs. 4 BDSG aF).

3.110

Mit Geltungserlangung der DSGVO kann an dieser Begründung nicht mehr ohne weiteres festgehalten werden. Gemäß Art. 4 Nr. 7 DSGVO kann nicht bloß eine natürliche oder juristische Person, sondern ebenso eine „andere Stelle“ Verantwortlicher sein373, und damit auch ein teilrechtsfähiges Organ374 wie der Betriebs- bzw. Personalrat. Der Umstand, dass der Arbeitgeber die Datenverarbeitungstätigkeiten des Betriebs- bzw. Personalrats nicht kontrollieren kann und darf – insbesondere unterliegt der Betriebs- bzw. Personalrat nicht der Überwachung des Datenschutzbeauftragten des Arbeitgebers375 – spricht entscheidend dagegen, die Datenverarbeitungstätigkeiten der Verantwortungssphäre des Arbeitgebers zuzurechnen. Der europarechtliche Effektivitätsgrundsatz ließe es zudem nicht zu, Datenschutzverstöße in der Betriebs- bzw. Personalratssphäre gar keinem Verantwortlichen zuzuschreiben und sie damit als eine Art „höhere Gewalt“ sanktionsfrei zu stellen. Die besseren Gründe sprächen vielmehr dafür, dass in jedem Fall der Betriebsrat als Dritter (Art. 4 Nr. 10 DSGVO) und damit als eigenständiger Verantwortlicher (Art. 4 Nr. 7 DSGVO) anzusehen ist376.

3.111

368 369 370 371 372 373 374 375 376

MünchArbR/Reichold, § 96 Rz. 91. EAS/Franzen, Datenschutz im Arbeitsverhältnis B 5300, Rz. 106. So BAG v. 11.11.1997 – 1 ABR 21/97, NZA 1998, 385 (388); dagegen zB Kort, ZD 2017, 3 (6). Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 123 ff. mwN. BAG v. 11.11.1997 – 1 ABR 21/97, NZA 1998, 385 (386); v. 12.8.2009 – 7 ABR 15/08, NZA 2009, 1218 (1221); v. 18.7.2012 – 7 ABR 23/11, NZA 2013, 49 (52 f.); Brink/Joos, NZA 2019, 1395 (1396) mwN. Kort, ZD 2017, 319 (323); Wybitul, NZA 2017, 413 (414); Simitis/Hornung/Spiecker/Petri, Art. 4 Nr. 7 DSGVO Rz. 16. BGH v. 25.10.2012 – III ZR 266/11, AP BetrVG 1972 § 40 Nr. 110, Rz. 16. BAG v. 11.11.1997 – 1 ABR 21/97, NZA 1998, 385 Ls. 2. LAG Sachsen-Anhalt v. 18.12.2018 – 4 TaBV 19/17, NZA-RR 2019, 256 (259); Kleinebrink, DB 2018, 2566; Kort, ZD 2017, 319 (323); Wybitul, NZA 2017, 413 (414); Gola/Gola, Art. 4 DSGVO Rz. 56. Unsicher Althoff, ArbRAktuell 2018, 414. Dagegen Plath/Stamer/Kuhnke, § 26 BDSG Rz. 154; Sydow/Raschauer, Art. 4 DSGVO Rz. 131; Kühling/Buchner/Hartung, Art 4 Nr. 7

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§ 3 Rz. 3.111a

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

3.111a Hinsichtlich der datenschutzrechtlichen Stellung der Personalräte gilt wegen des öffentlichrechtlichen Charakters des Personalvertretungsrechts – das LPersVG gehört zum öffentlichen Dienstrecht, was sich auch in der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte zeigt377 – das jeweilige Landesdatenschutzgesetz378. Wegen des starken Näheverhältnisses zur öffentlichen Hand kann der Personalrat nicht in gleichem Maß über Zwecke und Mittel der Datenverarbeitung unabhängig entscheiden wie ein Betriebsrat379 und ist auch sonst datenschutzrechtlich „Teil der Dienststelle“380. Anders ist dies in Thüringen: Dort hat gem. § 80 Abs. 1 Satz 2 ThürPersVG der Personalrat einen Datenschutzbeauftragten zu bestellen und ist auch Adressat von Informations- und Auskunftsrechten nach Art. 14 und 15 DSGVO381. Zudem ist der Personalrat in Thüringen auch zur Führung von Verarbeitungsverzeichnissen nach Art. 30 DSGVO verpflichtet382. Ohne eine solche gesetzliche Regelung ist der Personalrat im Regelfall nicht Verantwortlicher nach Art. 4 Ziff. 7 DSGVO, außer er handelt im Hinblick auf die Organisation der Datenverarbeitung völlig selbstständig383.

3.112 Ob sich diese Sicht durchsetzt, bleibt abzuwarten. Konsequenz wäre, dass der Betriebs- bzw. Personalrat die Arbeitnehmer und Beschäftigten über seine Datenverarbeitungstätigkeit gemäß Art. 13, 14 DSGVO informieren, Auskunfts- und andere Individualansprüche der Beschäftigten nach Art. 15 DSGVO erfüllen und Bußgeldsanktionen nach Art. 83 DSGVO384 fürchten müsste. Er müsste ein Verarbeitungsverzeichnis anlegen, die Zweckbindung bei der Datenverarbeitung beachten und alle weiteren nach der DSGVO gebotenen technischen und organisatorischen Maßnahmen (TOM) ergreifen, ggf. sogar einen eigenen Datenschutzbeauftragen bestellen385. Andere nehmen an, dass der Betriebs- bzw. Personalrat zwar weiterhin Teil des Arbeitgebers als Verantwortlicher bleibt, allerdings mit Geltungserlangung der DSGVO der Kontrolle des Datenschutzbeauftragten des Arbeitgebers unterliegt386.

377 378 379 380

381 382 383 384 385 386

206

DSGVO Rz. 11 sowie aus der Rspr. LAG Niedersachsen v. 22.10.2018 – 12 TaBV 23/18, NZA-RR 2019, 92 (93) sowie LAG Hessen v. 10.12.2018 – 16 TaBV 130/18, NZA-RR 2019, 196 (198). Leuze in Leuze/Wörz/Bieler, LPersVG BW, Einl. LPersVG (novelliert) Rz. 3 mwN; Brink/Joos, NZA 2019, 1395 (1399). Brink/Joos, NZA 2019, 1395 (1399). So der Landesdatenschutzbeauftragte Baden-Württembergs in Brink/Joos, NZA 2019, 1395 (1398). So für Baden-Württemberg Brink/Joos, NZA 2019, 1395 (1398) unter Bezugnahme auf Käßner in Rooschütz/Bader, LPersVG BW, 15. Aufl. 2015, § 67 Rz. 2. Auch der Bayerische Landesbeauftrage für den Datenschutz sieht dies so, wie es der „Aktuellen Kurzinformation Nr. 23 vom 8.7.2019 des BayLfD“ zu entnehmen ist: Bei einer eigenen Verantwortlichkeit drohe eine Zersplitterung der datenschutzrechtlichen Verantwortlichkeit im Bereich der öffentlichen Verwaltung. Möglicherweise müsse dann auch die Schwerbehindertenvertretung etc. als verantwortliche Stelle iSd Art. 4 Nr. 7 DSGVO angesehen werden. Brink/Joos, NZA 2019, 1395 (1399); Meinhold, NZA 2019, 670 (671). Brink/Joos, NZA 2019, 1395 (1399); Meinhold, NZA 2019, 670 (671). So zutreffend Brink/Joos, NZA 2019, 1395 (1399). Insoweit stellt sich allerdings das Problem der Vermögenslosigkeit des Betriebsrates/Personalrats. Sinnvollerweise wären Bußgelder gemäß § 9 Abs. 1 Alt. 2 OWiG gegen das einzelne Betriebsratsmitglied zu verhängen, ähnlich Kleinebrink, DB 2018, 2566 (2570). Kort, ZD 2017, 3 (5). Beispielsweise Kort, ZD 2017, 3 (6).

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.116 § 3

Bislang (Stand: Juli 2019) haben sich nicht einmal die Aufsichtsbehörden auf eine Linie festgelegt387. Um sich vor dem Hintergrund dieser unsicheren Rechtslage abzusichern, können die Betriebsparteien eine freiwillige Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung abschließen, welche die datenschutzrechtliche Rollenverteilung und Verantwortlichkeit festlegt388.

3.113

Das BAG hat in einem Beschluss v. 9.4.2019389 offengelassen, ob der Betriebsrat (entspre- 3.114 chendes gilt für den Personalrat) Dritter iSv. Art. 4 Nr. 10 DSGVO ist. Die Offenlegung personenbezogener Daten durch Übermittlung, also die gezielte Weitergabe von Daten an einen Empfänger, der seinerseits im Hinblick auf Art. 4 Nr. 9 DSGVO kein Dritter sein müsse390, stelle eine Verarbeitung gemäß Art. 4 Abs. 2 DSGVO dar. Das sei anders als unter der bis zum 25.5.2018 geltenden Rechtslage. Dann unterfiele die von einem Betriebs- bzw. Personalrat nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG begehrte und nach § 26 Abs. 3 Satz 1 BDSG in Abweichung von Art. 9 Abs. 1 DSGVO zulässige Unterrichtung über Schwangerschaften der Beschäftigten dem Geltungsbereich der DSGVO. Danach sind vom Betriebs- bzw. Personalrat bei der Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten (wie Gesundheit, Schwangerschaft, Rasse und ethnische Herkunft, Gewerkschaftszugehörigkeit, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, genetische oder biometrische Daten, Sexualleben und sexuelle Orientierung) nach Art. 9 Abs. 1 DSGVO angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Interessen des betroffenen Beschäftigten vorzusehen, was aus Art. 26 Abs. 3 Satz 3 iVm. Art. 22 Abs. 2 BDSG folge391. bb) Datenverarbeitung durch den Betriebsrat/Personalrat Die DSGVO und das BDSG sowie der Beschäftigtendatenschutz gehören zu den Gesetzen iSd. § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG bzw. der Personalvertretungsgesetzes des Bundes (§ 68 Abs. 1 BPersVG) und der Länder (zB § 64 Ziff. 2 LPersVG NW), deren Einhaltung und Durchführung der Betriebs- bzw. Personalrat zu überwachen hat392.

3.115

Der Betriebs- bzw. Personalrat kontrolliert darüber hinaus die Einhaltung aller anderen datenschutzrechtlichen Rechtsvorschriften, wie etwa das Einsichtsrecht des Arbeitnehmers nach § 83 BetrVG, die von der Rechtsprechung entwickelten Grenzen des „Fragerechts“ des Arbeitgebers im Vertragsanbahnungsverhältnis sowie die in Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen enthaltenen Vorschriften393. Nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG hat der Betriebsrat und nach § 68 Abs. 2 Satz 1 BPersVG bzw. § 65 Abs. 1 LPersVG NW der Personalrat das Recht zur umfassenden und rechtzeitigen Unterrichtung durch den Arbeitgeber und kann auf Verlangen jederzeit die zur Durchführung dieser Aufgabe erforderlichen Unterlagen zur Verfügung gestellt bekommen (§ 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 BetrVG bzw. § 68 Abs. 2 Satz 2 BPersVG und § 65 Abs. 1 LPersVG NW). 387 Dazu auch Brams/Möhle, ZD 2018, 570 (571). 388 Dazu die Diskussion unter Beteiligung des Bayerischen Landesdatenschutzbeauftragten in ZD 2019, 1 (3). 389 BAG v. 9.4.2019 – 1 ABR 51/17, NZA 2019, 1055 (1058). 390 Das BAG bezieht sich auf Kühling/Buchner/Hartung, Art 4 Nr. 2 DSGVO Rz. 29; Simitis/Hornung/Spiecker/Roßnagel, Art. 4 Nr. 2 DSGVO Rz. 26 mwN; aA DWWS/Weichert, Art. 4 DSGVO Rz. 47, 94. 391 BAG v. 9.4.2019 – 1 ABR 51/17, NZA 2019, 1055 (1057 f.). 392 Grundlegend BAG v. 11.11.1997 – 1 ABR 21/97 Rz. 29; v. 20.12.1995 – 7 ABR 8/95, NZA 1996, 945 (946); zusammenfassend Dzida/Schütt, ArbRB 2012, 21. 393 EAS/Franzen, Datenschutz im Arbeitsverhältnis, B 5300 Rz. 75.

Grimm

207

3.116

§ 3 Rz. 3.117

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

3.117 Gibt der Arbeitgeber Beschäftigtendaten an den Betriebs- bzw. Personalrat weiter, um dessen Auskunftsanspruch nach § 80 Abs. 2 BetrVG bzw. § 68 Abs. 2 Satz 2 BPersVG und § 65 Abs. 1 LPersVG NW zu erfüllen, liegt eine Datenverarbeitung vor394. Diese Datenverarbeitung erfolgt zur Erfüllung der sich aus einem Gesetz ergebenden Rechte der Interessenvertretung und ist deshalb idR nach § 26 Abs. 1 Satz 1, Abs. 6 BDSG gerechtfertigt. Anders als noch vor Geltungserlangung der DSGVO395 kann § 80 Abs. 2 BetrVG aber kein genereller Anwendungsvorrang gegenüber dem BDSG eingeräumt werden, da das BDSG höherrangiges Europarecht nach Maßgabe von Art. 88 Abs. 2 DSGVO konkretisiert. Der Auskunftsanspruch des Betriebs- bzw. Personalrats kann deshalb nach den Maßstäben der Erforderlichkeit iSv. Art. 6 Abs. 1 lit. c und Abs. 3 DSGVO bzw. § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG einzuschränken sein. Unter der alten Rechtslage war die Rechtsprechung sehr großzügig und hat dem aus § 80 BetrVG bzw. dem Personalvertretungsrecht abgeleiteten Informationsinteresse des Betriebs- bzw. Personalrats nahezu immer Vorrang eingeräumt396.

3.118 Ob und inwieweit die Rechtsprechung mit Geltungserlangung der DSGVO strengere Anforderungen an die Erforderlichkeit stellt, bleibt abzuwarten397. Jedenfalls bei besonders sensiblen persönlichen Daten, beispielsweise Schwangerschaften von Beschäftigten, ist eine Einschränkung geboten398. Das BAG399 hat bei der Übermittlung der Namen schwangerer Beschäftigter an den Betriebsrat, also bei der Übermittlung besonderer Kategorien von personenbezogenen Daten iSv. Art. 9 Abs. 1 DSGVO, datenschutzrechtliche, spezifische Schutzmaßnahmen nach § 26 Abs. 3 Satz 3 iVm. § 22 Abs. 2 BDSG vom Betriebsrat verlangt, bevor der im Grunde bestehende allgemeine Auskunftsanspruch nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG erfüllt werden kann und den Rechtsstreit zurückverwiesen, damit die Vorinstanz400 aufklären kann, ob diese bestehen. Hierzu können Maßnahmen der Datensicherheit wie der Verschluss der Daten, die Gewähr begrenzter Zugriffsmöglichkeiten oder deren Beschränkung auf einzelne Betriebsratsmitglieder sowie die Datenlöschung nach Beendigung der Überwachungsaufgabe gehören. Fehlen solche Schutzmaßnahmen oder sind sie unzulänglich, schließt dies den Unterrichtungsanspruch nach § 80 Abs. 2 BetrVG aus401. Der Widerspruch der betroffenen Arbeitnehmerinnen bezüglich der Information über ihre Schwangerschaft an den Betriebsrat steht auch nach dem ab 25.5.2018 geltenden Datenschutzrecht dem Unterrichtungsanspruch des Betriebsrats (bzw. Personalrats) nicht entgegen402. Nach Ansicht des OVG Nordrhein-Westfalen hat der Personalrat nach § 65 Abs. 1 Satz 1 LPersVG NW keinen Anspruch darauf, ohne Einwilligung der Beschäftigten (§ 26 Abs. 2 394 BAG v. 9.4.2019 – 1 ABR 51/17, NZA 2019, 1055 (1058), wonach es sich um die gezielte Offenlegung durch Übermittlung an den Betriebsrat handelt, der kein Dritter sein müsse, was aus Art. 4 Nr. 9 DSGVO folge. 395 Unter der alten Rechtslage hatte das BAG § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG einen Geltungsvorrang gegenüber dem BDSG eingeräumt, BAG v. 17.3.1983 – 6 ABR 33/80, AP Nr. 18 zu § 80 BetrVG 1972; v. 14.1.2014 – 1 ABR 54/12, NZA 2014, 738. 396 BAG v. 7.2.2012 – 1 ABR 46/10, NZA 2012, 744; LAG Köln v. 28.6.2011 – 12 TaBV 1/11, ZD 2011, 183 (184); Kort, ZD 2017, 3 (5) mwN. 397 Dahingehend Kort, ZD 2017, 3 (5) mwN. 398 VG Münster v. 11.3.2016 – 22 K 660/15.PVL, öAT 2016, 196; ähnlich Kort, ZD 2017, 3 (5). 399 BAG v. 9.4.2019 – 1 ABR 51/17, NZA 2019, 1055 (1060). 400 LAG München v. 27.9.2017 – 11 TaBV 36/17, ZD 2018, 226 (227), das den Anspruch (noch) voraussetzungslos bejaht hatte. 401 So ausdrücklich BAG v. 9.4.2019 – 1 ABR 51/17, NZA 2019, 1055 (1060). 402 BAG v. 9.4.2019 – 1 ABR 51/17, NZA 2019, 1055 (1060).

208

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.121 § 3

BDSG) durch die Dienststelle über Schwangerschaften der Beschäftigten, für die keine Gefährdungsbeurteilung nach der Verordnung zum Schutze der Mütter am Arbeitsplatz durchgeführt wird, unterrichtet zu werden403. Einen Anspruch auf Mitteilung privater Kontaktdaten lehnt das OVG Nordrhein-Westfalen zu Recht ab404.

3.119

Zum Auskunftsanspruch nach § 80 Abs. 2 BetrVG bzw. § 68 Abs. 2 BPersVG besteht kein 3.120 spiegelbildliches Zugriffsrecht, sodass sich der Betriebs- bzw. Personalrat personenbezogene Daten nicht eigenmächtig beschaffen darf405. Den Auskunftsanspruch kann er nur auf dem Rechtsweg durchsetzen. Ob der Betriebs- bzw. Personalrat einen Online-Zugriff auf die Datenverarbeitungsverfahren des Arbeitgebers und damit auch Beschäftigtendaten haben darf, ist sehr zweifelhaft406 und mit Blick auf § 75 Abs. 2 Satz 1 BetrVG zu verneinen. Auch im Personalvertretungsrecht besteht kein solcher Anspruch, weil damit das zu konkretisierende Informationsrecht überschritten wird407. Erst Recht nach Inkrafttreten der DSGVO scheidet eine eigene Personaldatenbank von Betriebsräten aus408. Außerhalb eines aufgabenbezogenen Informationsrechts des Betriebs- bzw. Personalrats, das er konkret darlegen muss409, und dann, wenn der Datenzugriff auf eine vollständige oder partielle Einsichtnahme in die (elektronische) Personalakte hinausläuft, ist eine konkrete, zweckbezogene und informierte Einwilligung der betroffenen Beschäftigten nach § 26 Abs. 2 BDSG erforderlich410. Hat der Betriebs- bzw. Personalrat nur ein Einsichtnahmerecht in Unterlagen, ist eine auf Dauer angelegte Datenspeicherung unzulässig411. Unzulässig ist der Aufbau von parallelen Personalinformationssystemen, ebenso wie eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung gegen § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG verstößt412.

403 OVG Nordrhein-Westfalen v. 1.6.2017 – 20 A 696/16.PVL, NZA-RR 2017, 679; zustimmend Stück, ZD 2019, 346 (349). Mit Wirkung ab dem 1.1.2018 ist die Pflicht zur Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen bei schwangeren Arbeitnehmerinnen erweitert worden (vgl. § 9 Abs. 1, § 10 Abs. 2 Satz 2 und § 11 MuSchG), so dass die Entscheidung nicht mehr ohne weiteres auf die aktuelle Rechtslage übertragbar ist. 404 OVG Nordrhein-Westfalen v. 3.4.2017 – 20 A 628/16.PVL, ZD 2017, 401. 405 LAG Berlin-Brandenburg v. 15.5.2014 – 18 TaBV 828/12, ZD 2015, 591 unterwirft eigenmächtig beschaffte personenbezogene Daten sogar einem Beweisverwertungsverbot. 406 Kort, ZD 2015, 3; Kort, NZA 2010, 1038. Aus der Rspr.: LAG Hamburg v. 26.11.2009 – 7 TaBV 2/09, jurisPR-ArbR 42/2010 Nr. 2 (dazu Wunder, NZA 2010, 1109). 407 Niedersächsisches OVG v. 21.12.2010 – 18 LP 14/06, PersR 2011, 218; Laber/Pagenkopf/Lenders, Landespersonalvertretungsgesetz Nordrhein-Westfalen, 2017, § 65 Rz. 20. 408 Kleinebrink, DB 2018, 2566 (2569) unter Hinweis auf Kort, NZA 2010, 1267 (1270) zur früheren Rechtslage. 409 Kort, ZD 2015, 3 (4). Dem Betriebsrat steht kein betriebsübergreifendes Einsichtsrecht in die Bruttolohnlisten anderer Betriebe des Unternehmens zu, um ins Blaue hinein Entgeltdiskriminierungen zu erforschen, BAG v. 26.9.2017 – 1 ABR 27/16, NZA 2018, 108 Rz. 17; anders noch LAG Schleswig-Holstein v. 9.2.2016 – 1 TaBV 43/15, NZA-RR 2016, 356. 410 So Kort, NZA 2010, 1267 (1272); Kort, ZD 2015, 3 (6). 411 Plath/Stamer/Kuhnke, § 26 BDSG Rz. 157. 412 Kort, ZD 2015, 3 (5).

Grimm

209

3.121

§ 3 Rz. 3.121

Gegenseitige Grundpflichten im laufenden Arbeitsverhältnis

Ist eine eigene Datenverarbeitung (ausnahmsweise) zulässig, hat der Betriebs- bzw. Personalrat die technischen und organisatorischen Datenschutzmaßnahmen des BDSG durchzuführen413. In Thüringen regelt dies § 80 Abs. 1 Satz 2 ThürPersVG414.

3.122 Betriebsrats- bzw. Personalratsmitglieder unterliegen der Geheimhaltungspflicht nach § 79 BetrVG bzw. § 10 Abs. 1 BPersVG sowie § 9 Abs. 1 LPersVG NW. Die Weitergabe von Beschäftigtendaten an Gewerkschaften ist nach § 26 BDSG unzulässig415. 5. Weiterbildung und Qualifizierung

3.123 § 5 TVöD und TV-L enthalten eine Vorschrift zur Qualifizierung der Beschäftigten, die jedoch gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 TVöD ausdrücklich keinen Rechtsanspruch auf Weiterbildungsmaßnahmen einräumt und insofern den Charakter einer reinen Rahmenvorschrift hat416. Auch aus der arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht lassen sich keine Qualifizierungsansprüche ableiten417. Notwendig sind daher Detailregelungen in freiwilligen Betriebs- oder Dienstvereinbarungen. Ein Anspruch besteht lediglich auf ein regelmäßiges Gespräch über den Qualifizierungsbedarf, § 5 Abs. 4 TVöD. Ein solches Gespräch sollte jährlich stattfinden und im Rahmen eines Ergebnisprotokolls dokumentiert werden418. 6. Gleichbehandlung und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

3.124 Zu den Nebenpflichten des Arbeitgebers zählt schließlich auch die Beachtung des allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes und die Einhaltung der Vorgaben des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)419. Für den Arbeitgeber folgt dies aus § 241 Abs. 2 BGB, § 17 AGG und für die Betriebsparteien aus § 75 Abs. 2 BetrVG bzw. den personalvertretungsrechtlichen Normen (bspw. § 67 Abs. 1 Satz 1 BPersVG bzw. §§ 62, 64 Nr. 10 LPersVG NW). Zu beachten ist ferner das Gesetz zur Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen (EntGTranspG), das auch für Beamte, Richter und Soldaten gilt (§ 2 Abs. 1, 5 Abs. 2 EntgTranspG)420. Das AGG bleibt bei Entgeltdiskriminierungen aufgrund des Geschlechts weiterhin anwendbar (§ 2 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG). Tarifgebundene Arbeitgeber (§ 5 Abs. 4 EntgTranspG) und tarifanwendende Arbeitgeber (§ 5 Abs. 5 EntgTranspG) genießen Privilegierungen421.

413 414 415 416 417 418 419 420

421

210

Zu Recht Kort, ZD 2015, 3 (6); im Einzelnen Brink/Joos, NZA 2019, 1395 (1397 ff.) mwN. Dazu Brink/Joos, NZA 2019, 1395 (1398) mwN. Plath/Stamer/Kuhnke, § 26 BDSG Rz. 158. Kuner, TVöD, Rz. 195; Müller, öAT 2010, 198 ff., ausführlich Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 5 TVöD Rz. 1 ff. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 5 TVöD Rz. 37. Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Berends, § 5 TVöD-AT Rz. 12. MünchArbR/Reichold, § 94 Rz. 25; dazu detailliert Straube in Tschöpe, Teil 1 F Rz. 1 ff. BGBl. I 2017, 2152 ff.; dazu BT-Drucks. 18/11133. Aus der Lit. Straube in Tschöpe, Teil 1 F Rz. 1175 ff.; Grimm/Freh, KSzW 2017, 89 ff. sowie speziell zum Auskunftsanspruch nach §§ 10 ff. EntgTranspG Grimm/Freh, ArbRB 2017, 182 ff. und zur Berichtspflicht des Arbeitgebers nach § 21 EntgTranspG Grimm/Freh, ArbRB 2017, 311 ff. Dazu Grimm/Freh, KSzW 2017, 89 (90, 97, 99).

Grimm

Verpflichtungen des Arbeitgebers

Rz. 3.124b § 3

Der Arbeitgeber muss auch auf außenstehende Dritte einwirken, Persönlichkeitsverletzungen der bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer zu unterlassen, sofern sich die Dritten innerhalb seiner Organisationsgewalt bzw. Einwirkungssphäre befinden und er auf diese kraft Hausrecht oder Vertrages Einfluss hat422.

3.124a

Der aktiven Förderung der Gleichstellung der Geschlechter dienen die Gleichstellungsgesetze des Bundes423 und der Länder424.

3.124b

422 MünchArbR/Reichold, § 94 Rz. 25. 423 Bundesgleichstellungsgesetz (BGleiG) v. 24.4.2015 (BGBl. I S. 642, 643), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes v. 23.12.2016 (BGBl. I S. 3191). 424 Wie zB das Gesetz zur Gleichstellung von Frauen und Männern für das Land Nordrhein-Westfalen (Landesgleichstellungsgesetz – LGG) v. 9.11.1999, zuletzt geändert durch Gesetz v. 23.1.2018 (GV. NRW S. 90).

Grimm

211

§4 Möglichkeiten der Vertragsgestaltung I. Gesetzliche und normative Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7. Urlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.53

4.1

8. Beendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.54

1. Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Arbeitsvertrag, § 2 Abs. 1 TVöD . b) Nebenabreden, § 2 Abs. 3 TVöD .

4.1 4.2 4.4

9. Freistellung und Folgen . . . . . . . . . . .

4.62

10. Ausschlussfristen . . . . . . . . . . . . . . . .

4.66

2. Notwendiger Inhalt (NachwG) . . . . .

4.7

11. Schriftformklausel . . . . . . . . . . . . . . .

4.69

3. Grenzen der Gestaltungsmacht . . . . .

4.9

12. Salvatorische Klausel . . . . . . . . . . . . .

4.73

II. Rechts- und Inhaltskontrolle . . . . .

4.13

IV. Besondere Gestaltungen . . . . . . . . .

4.74

1. Zwingendes Gesetzesrecht . . . . . . . .

4.14

1. Befristung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.74

2. Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB a) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . b) Allgemeine Geschäftsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Allgemeine Grundsätze . . . . . . . . d) Klauselkontrolle nach §§ 307 ff. BGB . . . . . . . . . . . . . . . e) Folgen der Unwirksamkeit . . . . . .

4.15 4.16

2. Überstunden, Mehrarbeit und Vergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.77

3. Nachvertragliches Wettbewerbsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.78

4. Schutz von Know-how und Betriebsgeheimnissen . . . . . . . . . . . .

4.79

5. Vertragsstrafen . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.80

3. Checkliste zur Inhaltskontrolle . . . . .

4.31

6. Internet- und E-Mail-Nutzung . . . . .

4.81

III. Gestaltung von Standardklauseln . .

4.32

7. Dienstwagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.82

1. Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . . .

4.32

2. Beginn und Probezeit . . . . . . . . . . . .

4.46

8. Rückzahlung von Aus- und Fortbildungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.83

3. Tätigkeit und Versetzung . . . . . . . . .

4.49

4. Wohnsitzklauseln . . . . . . . . . . . . . . .

4.50

5. Arbeitszeit und Vergütung . . . . . . . .

4.51

9. Änderungsvorbehalte . . . . . . . . . . . . 4.92 a) Widerrufsvorbehalt . . . . . . . . . . . 4.93 b) Freiwilligkeitsvorbehalt . . . . . . . . 4.97 c) Anrechnungsvorbehalt . . . . . . . . . 4.100

6. Dienstverhinderung und Arbeitsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.52

10. Tarifvertrags- und Betriebs-/Dienstvereinbarungsöffnungsklauseln . . . . . 4.101

4.17 4.20 4.23 4.30

Schrifttum: Behrendt/Gaumann/Liebermann, Zulässigkeit arbeitsvertraglicher Verweisungen auf das Beamtenrecht, ZTR 2007, 522; Bieder, Die Betriebsübung im öffentlichen Dienst, RdA 2013, 274; Brock, Schwierigkeiten mit der Rentnerbeschäftigung – Zum Verhältnis des § 33 V TVöD zu § 41 S. 3 SGB VI, öAT 2016, 67; Creutzfeldt, Die konkludente Vereinbarung einer „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ von Arbeitsverträgen, NZA 2018, 111; Däubler/Bonin/Deinert, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2014; Dimsic, Rückzahlung von Fortbildungskosten, RdA 2016, 106; Fieberg, TVöD – ohne Tarifwechselklausel ade – oder doch nicht?, NZA 2005, 122; Gaenslen/Zons, Rückzahlungsklauseln bei Fortbildungsverträgen – Berufliche Bildung für ewige Betriebstreue? Gestaltung Rückzahlungsvereinbarungen in Fortbildungsverträgen, öAT 2017, 92; Groeger, Arbeit im Rentenalter – Flexicurity durch kleine Schritte oder Paradigmenwechsel?, ZTR 2015, 115; Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, 2. Aufl. 2016; Henssler/Seidensticker, Ergänzende Auslegung einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel auf den BAT, RdA 2011, 247; Hromadka, Die ablösende Betriebsvereinbarung ist wieder da!, NZA 2013, 1061; Hromadka, Was bleibt vom vertraglichen Freiwilligkeitsvorbehalt?, DB 2012, 1037; Hümmerich/Mäßen, TVöD – ohne Tarifwechselklausel ade!, NZA 2005, 961; Kroll, Rechtliche Wege der (Weiter-)Beschäftigung von Altersrentnern, ZTR 2016, 179; Leder, Aktuelles zur Flexi-

Grimm

213

§ 4 Rz. 4.1

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

bilisierung von Arbeitsbedingungen, RdA 2010, 93; Lembke, Die Gestaltung von Vergütungsvereinbarungen, NJW 2010, 257, 321; Lunk/Leder, Der Arbeitsvertrag – Einzelne Vertragsklauseln, NJW 2015, 3766; Maul-Sartori, Die neue Arbeitsbedingungenrichtlinie, NZA 2019, 1162; Möller/Welkoborsky, Bezugnahmeklausel bei Wechsel vom BAT zum TVöD, NZA 2006, 2382; Müller/Preis, Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst, 7. Aufl. 2009; Naber/Schulte, Transparenz von Ausschlussfristen – neuere Rechtsprechung und rechtssichernde Gestaltung, BB 2019, 501; Niemann, Vertragsbruch: Strafabreden in Formulararbeitsverträgen, RdA 2013, 92; Oberthür, Neue Vorgaben für die arbeitsvertragliche Probezeit, ArbRB 2019, 317; C. Picker, Die betriebliche Übung im öffentlichen Dienst, ZTR 2012, 195; Preis, Probleme der Bezugnahme auf Allgemeine Arbeitsbedingungen und Betriebsvereinbarungen, NZA 2010, 361; Preis/Sagan, Der Freiwilligkeitsvorbehalt im Fadenkreuz der Rechtsgeschäftslehre – Chronik eines angekündigten Todes, NZA 2012, 697; Rasche, Die vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit, öAT 2017, 4; Reinecke, Weisungsrecht, Arbeitsvertrag und Arbeitsvertragskontrolle – Rechtsprechung des BAG nach der Schuldrechtsreform, NZA-RR 2013, 393; Rieble/Schul, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Betriebsvereinbarungen, RdA 2006, 339; Schmidt, Die Beteiligung des Arbeitnehmers an den Kosten der beruflichen Bildung, NZA 2004, 1002; Stoffels, Neues zu Widerrufsvorbehalten in Arbeitsverträgen, NZA 2017, 1217; Stoffels, Grundfragen der Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen, ZfA 2009, 861; Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, 2007; Werthebach, Tarifreform im öffentlichen Dienst – Zur Erheblichkeit einer Tarifwechselklausel, NZA 2005, 1224; Wedde, Internet und E-Mail am Arbeitsplatz, PersR 2007, 107; Wulfers/Hecht, Altersdiskriminierung durch Tarifbestimmungen – Eine Analyse des TVöD und TV-L, ZTR 2007, 475.

I. Gesetzliche und normative Vorgaben 1. Form

4.1 Die Schriftformerfordernisse des früheren § 4 BAT sind in § 2 TVöD/TV-L geregelt. Gemäß § 2 Abs. 1 TVöD/TV-L wird der Arbeitsvertrag schriftlich geschlossen. Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 TVöD/TV-L sind Nebenabreden nur wirksam, wenn sie schriftlich vereinbart werden. a) Arbeitsvertrag, § 2 Abs. 1 TVöD

4.2 § 2 Abs. 1 TVöD wirft die Frage auf, ob nach dem Willen der Tarifvertragsparteien das Zustandekommen des Arbeitsverhältnisses von der schriftlichen Fixierung des Arbeitsvertrags1 abhängig sein soll. Tarifvertragliche Formvorschriften können sowohl konstitutive oder aber lediglich beweissichernde, also deklaratorische Bedeutung haben2. Vergleicht man die Formulierung in § 2 Abs. 1 TVöD mit der des § 2 Abs. 3 TVöD, der die Wirksamkeit von Nebenabreden ausdrücklich von der Einhaltung der Schriftform abhängig macht, wird die lediglich deklaratorische Natur des Schriftformerfordernisses in Absatz 1 deutlich3. Der Arbeitsvertrag kann also auch im öffentlichen Dienst wirksam mündlich abgeschlossen und später formlos ergänzt oder geändert werden, da auch spätere Änderungen des Arbeitsvertrages unter § 2 1 Seit dem 1.4.2017 ist der Arbeitsvertrag in § 611a BGB gesetzlich geregelt, Gesetz v. 21.2.2017, BGBl. I, S. 258. 2 BAG v. 7.7.1955 – 2 AZR 27/53, BAGE 2, 58; v. 24.6.1981 – 7 AZR 198/79, DB 1982, 1576 (1576); ErfK/Preis, §§ 125–127 BGB Rz. 32; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 187; Schaub/Linck, ArbRHdb, § 32 Rz. 47. 3 BAG v. 9.2.1972 – 4 AZR 149/71, AP Nr. 1 zu § 4 BAT; v. 6.9.1972 – 4 AZR 422/71, AP Nr. 2 zu § 4 BAT; v. 26.8.1997 – 9 AZR 761/95, NZA 1998, 548 (549); v. 27.7.2005 – 7 AZR 486/04, ArbRB 2006, 40 = NZA 2006, 40 (43) (noch zu § 4 BAT); LAG Rheinland-Pfalz v. 23.5.2013 – 10 Sa 25/13, juris Rz. 31 (zu § 2 Abs. 1 TVöD); Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 2 TVöD/TV-L Rz. 10; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 2 TVöD Rz. 158; Müller/Preis, Rz. 312.

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Gesetzliche und normative Vorgaben

Rz. 4.6 § 4

Abs. 1 TVöD fallen, sofern es sich nicht um Nebenabreden iSd. § 2 Abs. 3 TVöD handelt (zur Abgrenzung s. Rz. 4.6). Kommunale Arbeitgeber haben daneben kommunalrechtliche Vorschriften zu beachten, die wie zB § 64 Abs. 1 GO NRW für Erklärungen, welche die Gemeinde verpflichten, die Schriftform voraussetzen. Vorschriften dieser Art werden jedoch wegen Art. 55 EGBGB nicht als Formvorschriften mit der Nichtigkeitsfolge des § 125 Satz 1 BGB, sondern als Zuständigkeits- und Vertretungsregeln ausgelegt, so dass die Wirksamkeit nicht formentsprechender Arbeitsverträge dann gemäß § 177 BGB von einer Genehmigung abhängig ist4.

4.3

b) Nebenabreden, § 2 Abs. 3 TVöD Dagegen ist für Nebenabreden nach der eindeutigen Formulierung des § 2 Abs. 3 Satz 1 TVöD/TV-L die Einhaltung der Schriftform konstitutiv, so dass mündliche Nebenabreden gemäß § 125 BGB nichtig sind5. Die Nichtigkeitsfolge ergibt sich bei beiderseitiger Tarifgebundenheit wegen der normativen Wirkung des Tarifvertrags aus § 125 Satz 1 BGB und bei einzelvertraglicher Bezugnahme auf den TVöD aus § 125 Satz 2 BGB6. Die Formnichtigkeit kann nur in Ausnahmefällen durch den Einwand unzulässiger Rechtsausübung iSd. § 242 BGB durchbrochen werden, wenn das Ergebnis der Formnichtigkeit für die Parteien schlechthin untragbar ist7.

4.4

In beiden Konstellationen stellt sich die Frage, ob der Formzwang durch einzelvertragliche Abreden, uU auch stillschweigend durch betriebliche Übung, aufgehoben werden kann. Soweit § 2 Abs. 3 TVöD im tarifgebundenen Arbeitsverhältnis als gesetzliche Formvorschrift iSd. § 125 Satz 1 BGB gilt8, ist eine einzelvertragliche Aufhebung des Formzwangs auch unter Heranziehung des Günstigkeitsprinzips (§ 4 Abs. 3 TVG) nicht möglich, da das Günstigkeitsprinzip der Natur der Sache nach nicht auf tarifvertragliche Formvorschriften anwendbar ist9. Aber auch bei nur einzelvertraglicher Bezugnahme auf den TVöD kann dieser rechtsgeschäftlich begründete Formzwang iSd. § 125 Satz 2 BGB im öffentlichen Dienst nicht durch formlose betriebliche Übung aufgehoben werden, da es gerade der Sinn des Schriftformerfordernisses ist, abweichende betriebliche Übungen zu verhindern10 (ausführlicher Rz. 4.72; § 7 zur betrieblichen Übung als solcher).

4.5

Wegen der unterschiedlichen Rechtsfolgen von Formverstößen ist die Abgrenzung der Anwendungsbereiche von § 2 Abs. 1 und Abs. 3 TVöD besonders relevant. Nach der Rechtsprechung des BAG zur Vorgängervorschrift in § 4 BAT sind Nebenabreden nur solche Vereinbarungen, die sich nicht auf die gegenseitigen Hauptpflichten aus dem Arbeitsvertrag, dh. auf

4.6

4 BAG v. 6.8.1970 – 2 AZR 427/69, AP Nr. 7 zu § 125 BGB; BGH v. 10.5.2001 – III ZR 111/99, NJW 2001, 2626 (2626); ErfK/Preis, §§ 125–127 BGB Rz. 4. 5 BAG v. 9.2.1972 – 4 AZR 149/71, AP Nr. 1 zu § 4 BAT, Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 2 TVöD Rz. 158; Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 2 TVöD/TV-L Rz. 19; Müller/Preis, Rz. 313. 6 Vgl. ErfK/Preis, §§ 125–127 BGB Rz. 6, 11. 7 BAG v. 15.11.1957 – 1 AZR 189/57, AP Nr. 2 zu § 125 BGB; v. 27.3.1987 – 7 AZR 527/85, AP Nr. 29 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; zu einzelnen Fallgruppen s. ErfK/Preis, §§ 125–127 Rz. 53 ff. 8 BAG v. 9.12.1981 – 4 AZR 312/79, DB 1982, 112; v. 28.10.1987 – 5 AZR 518/85, NZA 1988, 425. 9 BAG v. 28.1.1981 – 4 AZR 869/78, AP Nr. 3 zu TV Arbeiter Bundespost; ErfK/Preis, §§ 125–127 BGB Rz. 36. 10 BAG v. 27.3.1987 – 7 AZR 527/85, AP Nr. 29 zu § 242 BGB Betriebliche Übung (Ls. 2).

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§ 4 Rz. 4.6

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

die Erbringung der Arbeitsleistung und das Arbeitsentgelt, beziehen11. Dieser Kern des Arbeitsverhältnisses wird vielmehr von § 2 Abs. 1 TVöD erfasst, so dass zB die Zusage einer übertarifvertraglichen Vergütung auch mündlich wirksam vereinbart werden kann12. Auch die Vereinbarung einer Schicht- und Wechselschichtzulage13 oder einer übertariflichen Ballungsraumzulage14 ist als Hauptabrede formfrei wirksam. Formbedürftige Nebenabreden sind zB die Vereinbarung eines Fahrtkostenersatzes15, eines Essenszuschusses16 oder einer Trennungsentschädigung17. 2. Notwendiger Inhalt (NachwG)

4.7 Neben der tarifvertraglichen Vorschrift ist der Arbeitgeber auch nach dem NachwG, das die Nachweisrichtlinie RL 91/533/EWG umsetzt, zur schriftlichen Fixierung der Arbeitsbedingungen verpflichtet. Die vom Arbeitgeber gemäß § 2 Abs. 1 NachwG anzufertigende und auszuhändigende Niederschrift hat zwar keine konstitutive Bedeutung18. Bei Verletzung der Nachweispflicht drohen aber Schadensersatzansprüche aus §§ 280, 286 BGB. Hinsichtlich nicht nachgewiesener Arbeitsbedingungen greift zwar nach hM keine Beweislastumkehr, aber eine Beweiserleichterung für den Arbeitnehmer nach den Grundsätzen der Beweisvereitelung19.

4.8 Den Nachweispflichten kann gemäß § 2 Abs. 4 NachwG bereits im schriftlichen Arbeitsvertrag nachgekommen werden, wenn dieser die nach § 2 Abs. 1–3 NachwG notwendigen Angaben enthält. Der Mindestinhalt des Arbeitsvertrages ergibt sich somit aus dem Katalog des § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1–10 NachwG20. Der Pflicht zur Aufnahme einer kurzen Charakterisierung oder Beschreibung der vom Arbeitnehmer zu leistenden Tätigkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 NachwG) kann der Arbeitgeber im öffentlichen Dienst regelmäßig durch eine Arbeitsplatzoder Stellenbeschreibung nachkommen, wobei nach der Rechtsprechung des BAG hierfür die Stellenausschreibung genügen kann und die Angabe des Eingruppierungsmerkmals nicht erforderlich ist. Ungeachtet der komplexen Tarifstruktur bedarf es keiner präzisen Eingruppierung nach Vergütungs- und Tätigkeitsmerkmalen21. Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG muss der Arbeitsvertrag einen in allgemeiner Form gehaltenen Hinweis auf die auf das Ar11 BAG v. 9.2.1972 – 4 AZR 149/71, AP Nr. 1 zu § 4 BAT; v. 18.5.1977 – 4 AZR 47/76, AP Nr. 4 zu § 4 BAT; v. 7.5.1986 – 4 AZR 556/83, AP Nr. 12 zu § 4 BAT; v. 27.7.2005 – 7 AZR 486/04, ArbRB 2006, 40 = NZA 2006, 40 (43); Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 2 TVöD Rz. 196; Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 2 TVöD/TV-L Rz. 20; Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II S 30 Rz. 5, Müller/ Preis, Rz. 313. 12 BAG v. 9.9.1981 – 4 AZN 213/81, AP Nr. 7 zu § 4 BAT. 13 BAG v. 3.8.1982 – 3 AZR 503/79, BAGE 39, 271. 14 BAG v. 25.7.1996 – 6 AZR 179/95, NZA 1997, 620 (621 f.). 15 BAG v. 9.2.1972 – 4 AZR 149/71, AP Nr. 1 zu § 4 BAT. 16 BAG v. 7.12.1977 – 4 AZR 383/76, AP Nr. 5 zu § 4 BAT. 17 BAG v. 7.9.1982 – 3 AZR 5/80, BB 1983, 1032 (1033). 18 ErfK/Preis, Einf. NachwG Rz. 7; Schaub/Linck, ArbRHdb, § 32 Rz. 36. 19 LAG Rheinland-Pfalz v. 1.6.2012 – 9 Sa 279/11, juris; HWK/Kliemt, Vorb. NachwG Rz. 44; ErfK/ Preis, Einf. NachwG Rz. 22 f.; Schaub/Linck, ArbRHdb, § 32 Rz. 45. 20 § 2 Abs. 1a Satz 2 Nr. 1-7 NachwG normiert den Mindestinhalt eines Praktikumsvertrages, s. dazu auch ErfK/Preis, § 1 NachwG Rz. 8, § 2 NachwG Rz. 27a f.; Grimm/Freh, ArbRB 2015, 208 (210 f.). 21 BAG v. 8.6.2005 – 4 AZR 406/04, NZA 2006, 53 (55), Müller/Preis, Rz. 303; Breier/Dassau/Kiefer/ Lang/Langenbrinck, § 2 TVöD Rz. 161; aA aber für den öffentlichen Dienst ErfK/Preis, § 2 NachwG Rz. 16.

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Gesetzliche und normative Vorgaben

Rz. 4.10 § 4

beitsverhältnis anzuwendenden Tarifverträge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen enthalten. Hierfür reicht die Formel „Im Übrigen finden auf das Arbeitsverhältnis die einschlägigen Tarifverträge sowie Betriebsvereinbarungen Anwendung.“22 Nach der Rechtsprechung des BAG23 und der herrschenden Literaturmeinung24 wird durch diesen Hinweis der Inhalt dieser Kollektivvereinbarungen auch dann hinreichend nachgewiesen, wenn diese selbst „wesentliche Vertragsbedingungen“ iSd. § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG – insbesondere Ausschlussfristen – enthalten. Da diese Auffassung nicht unumstritten ist25, empfiehlt es sich, über den Mindestkatalog des § 2 Abs. 1 Satz 2 NachwG hinaus auch die für die Durchführung des Arbeitsverhältnisses relevantesten Regelungen des TVöD/TV-L bzw. einschlägiger Betriebsvereinbarungen in den Arbeitsvertrag ausdrücklich aufzunehmen. Dies gilt jedenfalls für solche Bestimmungen, bei denen eine Verletzung des NachwG zu Schadensersatzpflichten führen könnte, namentlich für die Ausschlussfrist aus § 37 TVöD/TV-L. Die Europäische Union hat am 31.7.2019 die Richtlinie RL 2019/1152/EU26 über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in Kraft gesetzt, die von den Mitgliedstaaten bis zum 1.8.2022 umgesetzt werden muss27. Dies kann zu verschiedenen Auswirkungen, wie zB einer Begrenzung der Dauer der Probezeit in befristeten Arbeitsverhältnissen nach Art. 8 Abs. 2 RL 2019/1152/EU, führen28.

4.8a

3. Grenzen der Gestaltungsmacht Die Möglichkeiten zur Vertragsgestaltung finden ihre Grenze, soweit höherrangige Rechts- 4.9 quellen eine abweichende Gestaltung ausschließen (vgl. § 105 GewO). Diese höherrangigen Rechtsquellen sind in absteigender Reihenfolge das Recht der Europäischen Union, das Grundgesetz, das nationale Gesetzesrecht, untergesetzliche Normen, Tarifverträge sowie Betriebs- und Dienstvereinbarungen (s. § 1). Als Besonderheit des öffentlichen Dienstes ist der vertragsgestalterische Handlungsspielraum 4.10 öffentlicher Arbeitgeber insbesondere im Vergütungsbereich zusätzlich durch deren Bindung an das Haushaltsrecht eingeschränkt (vgl. auch § 1, Rz. 1.230 ff.). Die haushaltsrechtlichen Vorgaben treten im öffentlichen Dienst an die Stelle der in der Privatwirtschaft maßgeblichen unternehmerischen Entscheidung, welche Aufgaben in welchem Zeitraum und in welchem Umfang durch die Beschäftigung von Arbeitnehmern erfüllt werden sollen29. Der öffentliche Arbeitgeber hat insbesondere die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (zB § 7 BHO) zu beachten. Die vom Arbeitgeber zu wahrenden haushaltsrechtlichen Vorgaben greifen jedoch nicht unmittelbar in den Inhalt des Arbeitsverhältnisses ein, sondern wirken 22 ErfK/Preis, § 2 NachwG Rz. 23. 23 BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, ArbRB 2002, 228 = NZA 2002, 800 (802 f.); v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, ArbRB 2002, 292 = NZA 2002, 1096 (1098); v. 29.5.2002 – 5 AZR 105/01, ArbRB 2002, 292 = ZTR 2003, 87. 24 HWK/Kliemt, § 2 NachwG Rz. 41 f. mwN. 25 ErfK/Preis, § 2 NachwG Rz. 25 f. mwN; kritisch auch Bepler, ZTR 2001, 241 (243 ff.). 26 ABl. 2019 L 186, S. 105; Überblick bei Maul-Sartori, NZA 2019, 1161 ff. 27 Oberthür, ArbRB 2019, 317 (319 f.). 28 Oberthür, ArbRB 2019, 317 (319), die auf Erwägungsgrund 28 der RL 2019/1152/EU hinweist. So soll bei einer Befristung von sechs Monaten nach Ansicht des Europäischen Parlaments die Probezeit 25 % betragen, mithin höchstens 1,5 Monate, vgl. Maul-Sartori, NZA 2019, 1161 (1167). 29 BAG v. 27.1.1988 – 7 AZR 292/87, AP Nr. 116 zu § 620 BGB; v. 7.7.1999 – 7 AZR 609/97, NZA 2000, 591 (592).

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§ 4 Rz. 4.10

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

grundsätzlich nur verwaltungsintern30. Dass im Bereich des öffentlichen Dienstes in vielen Fällen das Haushaltsrecht günstigeren einzelarbeitsvertraglichen Vereinbarungen entgegensteht, ändert an deren arbeitsrechtlicher Zulässigkeit also unmittelbar nichts31.

4.11 Mittelbar hat das Haushaltsrecht dennoch Einfluss auf den Inhalt der Arbeitsverhältnisse, u.a. indem die Bindung an das Haushaltsrecht als ausreichender sachlicher Grund für eine Befristung angesehen wird32 oder die Grundsätze der betrieblichen Übung im öffentlichen Dienst nur eingeschränkt wirken, da Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes aufgrund des Haushaltsrechts erkennbar grundsätzlich nur Leistungen gewähren wollen, die sie nach haushaltsrechtlichen Grundsätzen auch gewähren dürfen33.

4.12 Ebenfalls nur verwaltungsintern wirken die im öffentlichen Dienst anzutreffenden Verwaltungsvorschriften, wie zB Eingruppierungsrichtlinien und Vergütungserlasse. Sie gestalten weder unmittelbar den Inhalt des Arbeitsverhältnisses, noch können sie Rechte oder Pflichten für die Beschäftigten begründen, außer die Geltung des Erlasses ist zwischen den Parteien arbeitsvertraglich vereinbart34. Arbeitsvertraglich in Bezug genommene Erlasse unterliegen nach früherer Rechtsprechung des BAG einer Billigkeitskontrolle35 und einer Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB36.

II. Rechts- und Inhaltskontrolle 4.13 Die in der Praxis wichtigsten Schranken für die Vertragsgestaltung ergeben sich aus dem zwingenden Gesetzesrecht und der Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB. 1. Zwingendes Gesetzesrecht

4.14 Eine Vertragsinhaltskontrolle erfolgte vor Einbeziehung des Arbeitsrechts in den Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB über die Generalklauseln des BGB. Auch jetzt ergeben sich zwingende Grenzen für die Vertragsgestaltung u.a. aus dem Verbot der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB), dem Maßregelungsverbot (§ 612a BGB) und insbesondere aus § 134 BGB iVm. den zahlreichen arbeitsrechtlichen Verbotsgesetzen (zB im JArbSchG, MuSchG, BUrlG, ArbZG).

30 BAG v. 5.2.1986 – 5 AZR 632/84, NZA 1986, 605 (606); v. 27.1.1988 – 7 AZR 292/87, AP Nr. 116 zu § 620 BGB; v. 7.7.1999 – 7 AZR 609/97, NZA 2000, 591 (592). 31 Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 2 TVöD/TV-L Rz. 2. 32 So schon vor Inkrafttreten des TzBfG BAG v. 7.7.1999 – 7 AZR 609/97, NZA 2000, 591 (592); v. 24.10.2001 – 7 AZR 542/00, ArbRB 2002, 99 = NZA 2002, 443 (443 f.); danach zu § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TzBfG bestätigt durch BAG v. 16.10.2008 – 7 AZR 360/07, NZA 2009, 676 (678), dazu Linsenmaier, RdA 2012, 193. Zur Missbrauchskontrolle bei mehreren Haushaltsbefristungen BAG v. 13.2.2013 – 7 AZR 225/11, ArbRB 2013, 171 = NZA 2013, 777 (781 f.). 33 BAG v. 5.2.1986 – 5 AZR 632/84, NZA 1986, 605 (606); v. 18.9.2002 – 1 AZR 477/01, NZA 2003, 337 (338); v. 15.5.2012 – 3 AZR 610/11, ArbRB 2012, 327 = NZA 2012, 1279 (1289). 34 BAG v. 25.11.1970 – 4 AZR 69/69, BAGE 23, 83; v. 29.1.1975 – 4 AZR 196/74, AP Nr. 3 zu § 18 MTB II; v. 21.7.1993 – 4 AZR 489/92, ZTR 1994, 204; v. 12.12.2002 – 8 AZR 37/02, ZTR 2003, 403; Sponer/Steinherr, § 2 TV-L Rz. 652. 35 BAG v. 11.2.1987 – 4 AZR 145/86, ZTR 1987, 144. 36 Sponer/Steinherr, § 2 TV-L Rz. 666; noch offen gelassen von BAG v. 5.7.2006 – 4 AZR 555/05, ZTR 2007, 192 (196).

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Rechts- und Inhaltskontrolle

Rz. 4.19 § 4

2. Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB Seit der Schuldrechtsreform sind die §§ 305 ff. BGB in den Mittelpunkt der Vertragskontrolle gerückt.

4.15

a) Anwendungsbereich Gemäß § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB sind die §§ 305 ff. BGB auf Arbeitsverträge anwendbar, wo- 4.16 bei die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen sind. Tarifverträge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen unterliegen dagegen nach § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB keiner Inhaltskontrolle. Inwieweit das auch für einzelvertraglich in Bezug genommene Tarifverträge gilt, wird unter Rz. 4.35 erörtert. b) Allgemeine Geschäftsbedingungen Allgemeine Geschäftsbedingungen sind nach der Legaldefinition des § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB alle für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingungen, die eine Vertragspartei (Verwender) der anderen Vertragspartei bei Abschluss des Vertrages stellt. Von einer „Vielzahl“ kann erst ab mindestens drei beabsichtigten Verwendungen gesprochen werden37. Laut BAG kann sich aus dem Inhalt und der äußeren Gestaltung der in einem Vertrag verwendeten Bedingungen aber ein vom Verwender zu widerlegender Anschein dafür ergeben, dass diese zur Mehrfachverwendung vorformuliert sind38.

4.17

Im Arbeitsrecht wird der Anwendungsbereich der AGB-Kontrolle zusätzlich durch § 310 Abs. 3 BGB erweitert, da auch der Arbeitnehmer Verbraucher iSd. § 13 BGB ist39. Dies hat zum einen die Vermutung des § 310 Abs. 3 Nr. 1 BGB zur Folge, dass die Allgemeinen Geschäftsbedingungen vom Arbeitgeber als Verwender gestellt wurden, wenn sie nicht vom Arbeitnehmer in den Vertrag eingeführt wurden. Außerdem finden gemäß § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB die wichtigsten Vorschriften der Inhaltskontrolle auch schon dann Anwendung, wenn die vorformulierten Vertragsbedingungen nur zur einmaligen Verwendung bestimmt sind und der Arbeitnehmer aufgrund der Vorformulierung auf ihren Inhalt keinen Einfluss nehmen konnte.

4.18

Allgemeine Geschäftsbedingungen liegen gemäß § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB nicht vor, soweit die Vertragsbedingungen zwischen den Parteien im Einzelnen ausgehandelt sind. Vom „Aushandeln“ einer Klausel kann erst die Rede sein, wenn der Arbeitgeber den gesetzesfremden Kern der Klausel deutlich und ernsthaft zur Disposition des Arbeitnehmers gestellt und diesem die Möglichkeit eingeräumt hat, den Inhalt der fraglichen Klausel zu beeinflussen40.

4.19

37 BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, ArbRB 2005, 325 = NZA 2005, 1111 (1116); v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, ArbRB 2006, 200 = NZA 2006, 746 (747). 38 BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, ArbRB 2006, 200 = NZA 2006, 746 (747); v. 14.8.2007 – 8 AZR 937/06, NZA 2008, 170 (171). 39 BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, ArbRB 2005, 325 = NZA 2005, 1111 (1115 f.); v. 18.5.2010 – 3 AZR 373/08, NZA 2010, 935 (937); HWK/Roloff, § 310 BGB Rz. 1; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 182; Palandt/Grüneberg, § 13 BGB Rz. 3; aA MüKo BGB/Basedow, § 310 BGB Rz. 55 mwN. 40 BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, NJW 2016, 1230; v. 3.11.1999 – VIII ZR 269/98, NJW 2000, 1110 (1111 f.); BAG v. 27.7.2005 – 7 AZR 486/04, ArbRB 2006, 40 = NZA 2006, 40 (44); v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, ArbRB 2006, 200 = NZA 2006, 746 (748); ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 24.

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§ 4 Rz. 4.19

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

Das wird nur im Ausnahmefall (etwa bei Führungskräften) der Fall sein und ist vom Arbeitgeber darzulegen und zu beweisen. c) Allgemeine Grundsätze

4.20 Da die speziellen Einbeziehungsvorschriften des § 305 Abs. 2 und 3 BGB im Arbeitsrecht wegen § 310 Abs. 4 Satz 2 aE BGB nicht anwendbar sind, werden die vorformulierten Klauseln nach den allgemeinen Grundsätzen der §§ 145 ff. BGB durch übereinstimmende Willenserklärungen Vertragsbestandteil.

4.21 Bei der Gestaltung von Formulararbeitsverträgen ist auf das Verbot überraschender Klauseln gemäß § 305c BGB zu achten. Überraschenden Charakter haben solche Vertragsklauseln, die von den Erwartungen des Vertragspartners deutlich abweichen und mit denen dieser den Umständen nach vernünftigerweise nicht zu rechnen braucht41. Die Erwartungen werden dabei von den Begleitumständen des Vertragsschlusses bestimmt. Hierzu zählen u.a. der Gang und der Inhalt der Vertragsverhandlungen einerseits sowie der äußere Zuschnitt des Vertrags andererseits42. So sind zB Ausschlussfristen in Arbeitsverträgen üblich und damit generell nicht überraschend43, können aber im Einzelfall als Überraschungsklausel iSd. § 305c Abs. 1 BGB zu werten sein, wenn sie im Formulararbeitsvertrag an unerwarteter Stelle (ggf. unter irreführenden Überschriften) versteckt werden44.

4.22 Ferner gilt auch für Formulararbeitsverträge der Vorrang der Individualabrede gemäß § 305b BGB45. d) Klauselkontrolle nach §§ 307 ff. BGB

4.23 Der Prüfungsumfang der Inhaltskontrolle wird durch § 307 Abs. 3 BGB begrenzt. Eine Inhaltskontrolle nach §§ 307, 308, 309 BGB findet demnach nur bei Klauseln statt, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder ergänzende Regelungen vereinbart werden. Also nicht bei nur den Gesetzeswortlaut wiederholenden, sog. deklaratorischen Klauseln, und insbesondere nicht bei Leistungsbeschreibungen und Entgeltregelungen. In Arbeitsverträgen unterliegen insbesondere die Tätigkeitsbeschreibung und die Entgelthöhe keiner Angemessenheitskontrolle, sondern gemäß § 307 Abs. 3 Satz 2 BGB lediglich der Transparenzkontrolle des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB46. Voll kontrollfähig sind dagegen sog. Preisnebenabreden, die sich zwar mittelbar auf den Preis auswirken, an deren Stelle aber bei Unwirksamkeit der Klausel ei-

41 BAG v. 15.2.2007 – 6 AZR 286/06, ArbRB 2007, 196 = NZA 2007, 614 (616); v. 8.8.2007 – 7 AZR 605/06, DB 2008, 133 (133 f.); ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 29. 42 BAG v. 15.2.2007 – 6 AZR 286/06, ArbRB 2007, 196 = NZA 2007, 614 (616); v. 8.8.2007 – 7 AZR 605/06, DB 2008, 133 (134). 43 BAG v. 19.3.2014 – 5 AZR 252/12, NZA 2014, 1076; v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, ArbRB 2005, 325 = NZA 2005, 1111 (1113); v. 28.9.2005 – 5 AZR 52/05, ArbRB 2006, 70 = NZA 2006, 149 (151). Zu Einzelfällen HWK/Roloff, § 305c BGB Rz. 4 mwN. 44 BAG v. 29.11.1995 – 5 AZR 447/94, NZA 1996, 702 (703); v. 31.8.2005 – 5 AZR 545/04, ArbRB 2006, 38 = NZA 2006, 324 (326). 45 Clemenz/Kreft/Krause/Clemenz, § 305b BGB Rz. 1 ff. 46 BAG v. 31.8.2005 – 5 AZR 545/04, ArbRB 2006, 38 = NZA 2006, 324 (328); v. 14.3.2007 – 5 AZR 630/06, ArbRB 2007, 195 = NZA 2008, 45 (47).

220

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Rechts- und Inhaltskontrolle

Rz. 4.28 § 4

ne dispositive gesetzliche Regelung treten kann47. Kontrollfähig sind so u.a. Klauseln zu Verzugszinsen48, die Befristung einzelner Arbeitsbedingungen49 und einseitige Leistungsbestimmungsrechte im Bereich der Hauptleistungspflichten50. Die Inhaltskontrolle beginnt mit einer objektiven Auslegung der vorformulierten Vertragsbedingungen. Objektive Auslegung bedeutet, dass eine AGB-Klausel nach objektiven Maßstäben, losgelöst von der zufälligen Gestaltung des Einzelfalls und den individuellen Vorstellungen der Vertragsparteien unter Beachtung ihres wirtschaftlichen Zwecks und der gewählten Ausdrucksweise zu ermitteln ist51. Wegen der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB, nach der Zweifel bei der Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen zu Lasten des Verwenders gehen, müssen mehrdeutig vorformulierte Arbeitsbedingungen in ihrer arbeitnehmerfeindlichsten Auslegung der Inhaltskontrolle unterworfen werden52.

4.24

Die Inhaltskontrolle erfolgt dann zunächst anhand der Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit in § 309 BGB und den Klauselverboten mit Wertungsmöglichkeit in § 308 BGB. Hierbei sind die Besonderheiten des Arbeitsrechts iSd. § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB zu berücksichtigen, so dass zB das Vertragsstrafenverbot des § 309 Nr. 6 BGB auf Arbeitsverträge keine Anwendung findet53.

4.25

Hält die vorformulierte Vertragsbedingung den besonderen Klauselverboten stand, ist sie der Angemessenheitsprüfung des § 307 Abs. 1 und Abs. 2 BGB zu unterziehen. Maßstab ist zunächst eine typisierende und generalisierende Wertung. Wegen der Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers kann sich die Unangemessenheit einer Klausel aber gemäß § 310 Abs. 3 Nr. 3 BGB auch aus den konkret individuellen Umständen des Vertragsschlusses ergeben54. Hierzu zählen u.a. persönliche Eigenschaften des Vertragspartners, die sich auf die Verhandlungsstärke auswirken, Besonderheiten der konkreten Abschlusssituationen, wie zB Überrumpelung oder Belehrung, und untypische Sonderinteressen eines Vertragspartners55.

4.26

Nach § 307 Abs. 2 BGB liegt bei einer Abweichung von wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB) und bei der vertragsgefährdenden Einschränkung von wesentlichen Rechten oder Pflichten (§ 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB) im Zweifel eine unangemessene Benachteiligung vor.

4.27

Greifen diese Regelbeispiele nicht ein, ist eine Klausel entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligend iSd. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB, wenn der Arbeitneh-

4.28

47 BGH v. 7.5.1991 – XI ZR 244/90, BGHZ 114, 330 (333); v. 30.11.1995 – XI ZR 80/93, BGHZ 124, 254 (256); v. 12.5.2004 – VIII ZR 159/03, NJW-RR 2004, 1206 (1206); MüKo BGB/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 17; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 40. 48 BGH v. 31.1.1985 – III ZR 105/83, NJW 1986, 376 (377). 49 BAG v. 27.7.2005 – 7 AZR 486/04, ArbRB 2006, 40 = NZA 2006, 40 (45). 50 BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465 (467); ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 40. 51 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 31; MüKo BGB/Basedow, § 305c BGB Rz. 22; Ulmer/Brandner/ Hensen/P. Ulmer/C. Schäfer, § 305c BGB Rz. 73. 52 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 31; MüKo BGB/Basedow, § 305c BGB Rz. 35; Ulmer/Brandner/ Hensen/P. Ulmer/C. Schäfer, § 305c BGB Rz. 91. 53 BAG v. 4.3.2004 – 8 AZR 196/03, NZA 2004, 728 (729 ff.); v. 28.5.2009 – 8 AZR 896/07, ArbRB 2010, 5 = NZA 2009, 1337 (1340). 54 BAG v. 31.8.2005 – 5 AZR 545/04, ArbRB 2006, 38 = NZA 2006, 324 (328); ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 42. 55 BAG v. 31.8.2005 – 5 AZR 545/04, ArbRB 2006, 38 = NZA 2006, 324 (328); ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 42.

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221

§ 4 Rz. 4.28

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

mer durch die Klausel in seinen rechtlich anerkannten Interessen beeinträchtigt wird, ohne dass dies durch begründete und billigenswerte Interessen des Arbeitgebers gerechtfertigt ist oder durch gleichwertige Vorteile ausgeglichen wird56. So hängt zB die Wirksamkeit der im öffentlichen Dienst üblichen Rückzahlungsklauseln für Fortbildungskosten vom Ergebnis einer Abwägung der widerstreitenden Interessen ab: Der Arbeitgeber verfolgt mit solchen Klauseln das Ziel, die vom Beschäftigten erworbene Qualifikation möglichst langfristig nutzen zu können, damit sich seine Investition amortisiert. Dieses grundsätzlich berechtigte Interesse ist abzuwägen mit dem durch Art. 12 GG geschützten Interesse des Arbeitnehmers, seinen Arbeitsplatz ohne Belastung mit einer Erstattungspflicht frei wählen zu können57. Zu den hieraus folgenden Wirksamkeitsvoraussetzungen für Rückzahlungsklauseln s. Rz. 4.83 ff.

4.29 Die Unangemessenheit einer Klausel kann sich gemäß § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist, sog. Transparenzgebot. So muss zB eine Rückzahlungsklausel zumindest rahmenmäßig bestimmen, zu welchen Bedingungen in Bezug auf Inhalt, Ort, zeitlichen Umfang und die Vergütung die künftige Berufstätigkeit beim „Darlehensgeber“ (also dem Arbeitgeber) erfolgen soll, damit der Arbeitnehmer weiß, welches Vertragsangebot er annehmen muss, um die Rückzahlungspflicht abzuwenden58. e) Folgen der Unwirksamkeit

4.30 Die Unwirksamkeit einzelner Klauseln berührt nicht die Wirksamkeit des Arbeitsvertrags im Übrigen, § 306 Abs. 1 BGB. An die Stelle unwirksamer Klauseln tritt das dispositive Gesetzesrecht, § 306 Abs. 2 BGB. Hieraus folgt auch für das Arbeitsrecht ein grundsätzliches Verbot geltungserhaltender Reduktion, so dass die durch eine unwirksame Klausel entstandene Lücke nur ausnahmsweise über den Weg ergänzender Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB gefüllt werden kann59. Von der verbotenen geltungserhaltenden Reduktion zu unterscheiden ist die Möglichkeit, Teile einer Klausel im Wege der sprachlichen und inhaltlichen Trennung aufrechtzuerhalten, wenn nach Streichung der unwirksamen Passagen eine Regelung verbleibt, die aus sich heraus weiterhin verständlich und sinnhaft ist, sog. „blue pencil“Test60. Folgt die Intransparenz einer vertraglichen Regelung gerade aus der Kombination zweier Klauselteile, kann die Klausel jedoch nicht durch Streichung eines Teils transparent gemacht werden61.

56 BAG v. 4.3.2004 – 8 AZR 196/03, NZA 2004, 727 (732); v. 8.8.2007 – 7 AZR 855/06, ArbRB 2008, 71 = NZA 2008, 229 (230). 57 BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 610/05, NZA 2006, 1042 (1044); v. 5.6.2007 – 9 AZR 604/06, ArbRB 2007, 347 = NZA-RR 2008, 107 (108 f.); LAG Schleswig-Holstein v. 23.5.2007 – 3 Sa 28/07, NZARR 2007, 514 (516); Thüsing, AGB-Kontrolle, Rz. 333 f. 58 BAG v. 18.3.2008 – 9 AZR 186/07, ArbRB 2008, 360 = NZA 2008, 1004 (1007). 59 BAG v. 5.3.2004 – 8 AZR 196/03, NZA 2004, 727 (734); v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, ArbRB 2005, 325 = NZA 2005, 1111 (1114 f.); v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, ArbRB 2007, 35 = NZA 2007, 87 (90); ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 104. 60 BAG v. 21.4.2016 – 8 AZR 474/14, NZA 2016, 1409; v. 27.1.2016 – 5 AZR 277/14, NZA 2016, 679; v. 21.4.2005 – 8 AZR 425/04, NZA 2005, 1053 (1056); v. 12.3.2008 – 10 AZR 152/07, ArbRB 2008, 231 = NZA 2008, 699 (701); v. 16.5.2012 – 5 AZR 251/11, ArbRB 2012, 264 = NZA 2012, 971 (974); ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 103; Clemenz/Kreft/Krause/Schlewing, § 306 BGB Rz. 21 ff., 72. 61 BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ArbRB 2012, 5 = NZA 2012, 81 (83); ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 103.

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Rechts- und Inhaltskontrolle

Rz. 4.31 § 4

3. Checkliste zur Inhaltskontrolle

4.31

1. Anwendung der §§ 305 ff. BGB im Arbeitsrecht: § 310 Abs. 4 BGB – Anwendung auf Arbeitsverträge unter Berücksichtigung der arbeitsrechtlichen Besonderheiten – keine Anwendung auf normativ wirkende Tarifverträge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen, aber ggf. Anwendung bei einzelvertraglicher Bezugnahme! 2. Vorliegen allgemeiner Geschäftsbedingungen: § 305 Abs. 1 BGB, § 310 Abs. 3 Nr. 1, 2 BGB – vorformulierte Vertragsbedingungen, § 305 Abs. 1 BGB – vom Unternehmer „gestellt“ fi wird vermutet gemäß § 310 Abs. 3 Nr. 1 BGB – auch wenn nur zur einmaligen Verwendung bestimmt, § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB – kein Aushandeln im Einzelnen, § 305 Abs. 3 Satz 3 BGB 3. Wirksame Einbeziehung in den Vertrag? – § 305 Abs. 2 BGB nicht anwendbar wegen § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB fi allgemeine Regeln 4. Keine Überraschungsklausel? (§ 305c BGB) 5. Keine Verdrängung durch Individualabrede? (§ 305b BGB) 6. Inhaltskontrolle, §§ 307 ff. BGB a) Prüfungsumfang? fi § 307 Abs. 3 BGB – nur Transparenzgebot bei gesetzeswiederholenden Klauseln und Preisabreden b) Prüfungsgegenstand: Objektive und kundenfeindlichste Auslegung der Klausel, § 305c Abs. 2 BGB c) Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit, § 309 BGB d) Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit, § 308 BGB e) Unangemessene Benachteiligung gemäß § 307 Abs. 1 BGB? – hierbei Berücksichtigung der den Vertragsschluss begleitenden Umstände, § 310 Abs. 3 Nr. 3 BGB – Verstoß gegen Transparenzgebot, § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB? – im Zweifel unangemessene Benachteiligung, wenn – Abweichung von wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB – Gefährdung des Vertragszwecks durch Einschränkung von Rechten und Pflichten, § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB – Interessenabwägung, § 307 Abs. 1 BGB

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§ 4 Rz. 4.31

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

7. Rechtsfolgen: § 306 BGB – grundsätzlich Unwirksamkeit der Klausel ohne geltungserhaltende Reduktion – aber Klausel möglicherweise sinnvoll teilbar, „blue-pencil“-Test – Aufrechterhaltung des Vertrags im Übrigen

III. Gestaltung von Standardklauseln 1. Bezugnahmeklausel

4.32 Die einzelvertragliche Verweisung auf einen Tarifvertrag hat in tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen während der ohnehin unmittelbaren und zwingenden Geltung des Tarifvertrags gemäß § 4 Abs. 1 TVG lediglich deklaratorische Bedeutung und erfüllt die Nachweispflicht aus § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG. Relevanter ist die Möglichkeit, durch Verweisungsklauseln die Anwendung tarifvertraglicher Normen auch gegenüber nicht gewerkschaftsangehörigen Beschäftigten auf schuldrechtlicher Ebene zu ermöglichen, um gerade im öffentlichen Dienst einheitliche Arbeitsbedingungen herbeizuführen. Hierbei werden verschiedene Arten von Verweisungsklauseln unterschieden:

4.33 Mit einer im öffentlichen Dienst unüblichen rein statischen Verweisungsklausel wird die Anwendung eines bestimmten Tarifvertrages in der zurzeit der Bezugnahme geltenden Fassung vereinbart. Unter den sog. dynamischen Verweisungsklauseln werden die sog. kleine dynamische Verweisung als Bezugnahme auf einen bestimmten Tarifvertrag in seiner jeweiligen Fassung und die große dynamische Verweisung als Bezugnahme auf die jeweilige Fassung des jeweils einschlägigen Tarifvertrags unterschieden62. Letztere wird auch als Tarifwechselklausel bezeichnet, da durch die große dynamische Verweisung erreicht werden soll, dass ein etwaiger Tarifwechsel des Arbeitgebers auch gegenüber den Nichtgewerkschaftsmitgliedern schuldrechtliche Wirkung entfaltet63.

4.34 Erfolgt in einem vorformulierten Arbeitsvertrag eine Bezugnahme auf Tarifverträge, unterliegt die Bezugnahmeklausel selbst der Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB. Bezugnahmeklauseln auf die Tarifwerke des öffentlichen Dienstes sind nicht überraschend iSd. § 305c Abs. 1 BGB, sondern entsprechen geradezu der Erwartung der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeitnehmer64. Dagegen wäre eine Verweisung auf einen branchenfremden- oder ortsfremden Tarifvertrag wohl nach § 305c Abs. 1 BGB unwirksam65. Von besonderer Bedeutung ist auch die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB, die dazu führt, dass eine zweifelhafte Tragweite der Verweisung zu Lasten des Arbeitgebers geht66.

62 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 36; Thüsing, AGB-Kontrolle, Rz. 178 ff.; Wisskirchen/Block in Tschöpe, Teil 1 D Rz. 131 ff. 63 BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, ArbRB 2003, 104 = NZA 2003, 390 (391 f.); Hanau, NZA 2005, 489 (492); Olbertz, BB 2007, 2737 (2737). 64 BAG v. 28.6.2007 – 6 AZR 750/06, ArbRB 2007, 318 = NZA 2007, 1049 (1050). 65 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 30; Däubler/Bonin/Deinert/Däubler, § 305c BGB Rz. 22; Wisskirchen/Block in Tschöpe, Teil 1 D Rz. 30. 66 BAG v. 9.11.2005 – 5 AZR 128/05, ArbRB 2006, 80 = NZA 2006, 202 (203 f.); v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, ArbRB 2006, 201 = NZA 2006, 607 (610).

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Gestaltung von Standardklauseln

Rz. 4.35 § 4

Der in Bezug genommene Tarifvertrag unterliegt dagegen schon wegen § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB grundsätzlich keiner Inhaltskontrolle. Außerdem findet eine Inhaltskontrolle gemäß § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB nur bei einer Abweichung von Rechtsvorschriften statt, denen nach § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB Tarifverträge gleichstehen. Die Verweisung im Arbeitsvertrag führt jedoch nicht zu einer Abweichung von dem Tarifvertrag, sondern zu dessen Anwendung67. Die Inhaltskontrolle ist damit jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn der Arbeitsvertrag eine Globalverweisung auf den einschlägigen Tarifvertrag enthält, da in diesem Fall für den einbezogenen Tarifvertrag die gleiche Richtigkeitsvermutung greift wie für den normativ geltenden Tarifvertrag selbst68. In der Literatur wird die Meinung vertreten, dass auch ein per Globalverweisung einbezogener Tarifvertrag wegen des Verweises in § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB auf § 307 Abs. 3 BGB einer Transparenzkontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB zu unterziehen ist69. Das BAG hat dagegen zutreffend entschieden, dass wegen der Gefahr einer mittelbaren Tarifzensur jedenfalls dann keine Transparenzkontrolle des einbezogenen Tarifvertrages stattfinde, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden ist70. Die Richtigkeitsgewähr greift nicht mehr, wenn branchenfremde Tarifverträge71 oder nur einzelne Regelungen eines Tarifvertrags72 in Bezug genommen werden. Die derart in Bezug genommenen Tarifvorschriften unterliegen einer unbegrenzten Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB73. Umstritten ist die Behandlung von Bezugnahmen auf bestimmte Regelungskomplexe eines Tarifvertrags, sog. Teilverweisungen. Handelt es sich bei den in Bezug genommenen Regelungen um einen zusammenhängenden und abgrenzbaren Sachbereich, wird man mit dem BAG74 und Teilen der Literatur75 davon ausgehen können, dass diese in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen und damit keiner Inhaltskontrolle zu unterziehen sind76. Oftmals wird die Streitfrage allerdings dahinstehen können, da ein in sich ausgewogener Regelungskomplex auch der Inhaltskontrolle standhalten wird77. Nimmt der Arbeitsvertrag auf ein einseitig vom Arbeitgeber vorgegebenes Regelungswerk (zB auf eine „Arbeits- und Sozialordnung“) Bezug und erklärt gleichzeitig deren „jeweils gültige Fassung“ (auch nur „bis zur Vereinbarung einer jeweils neuen Fassung“) zum Bestandteil des Arbeitsvertrags, liegt hierin ein einseitiges Vertragsänderungsrecht des Arbeitgebers gemäß § 308 Nr. 4 BGB. Dieses ist unwirksam, wenn nicht die Vereinbarung der Änderung oder Abweichung unter Berücksichtigung der Interessen des Verwenders für den anderen Vertragsteil zumutbar ist. Dies ist nur dann der Fall, wenn für die Änderung ein triftiger und in der Än-

67 BAG v. 28.6.2007 – 6 AZR 750/06, ArbRB 2007, 318 = NZA 2007, 1049 (1051). 68 BAG v. 28.6.2007 – 6 AZR 750/06, ArbRB 2007, 318 = NZA 2007, 1049 (1051); v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593 (594); v. 13.7.2010 – 9 AZR 264/09, juris Rz. 50; HWK/Roloff, § 307 BGB Rz. 14; Däubler/Bonin/Deinert/Däubler, § 310 BGB Rz. 44. 69 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 15; Witt, NZA 2004, 135 (138); Stoffels, ZfA 2009, 861 (888 f.). 70 BAG v. 28.6.2007 – 6 AZR 750/06, ArbRB 2007, 318 = NZA 2007, 1049 (1051); zustimmend Ernst, NZA 2007, 1405 (1406); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 18. 71 BAG v. 25.4.2007 – 10 AZR 634/06, ArbRB 2007, 232 = NZA 2007, 875 (877). 72 BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593 (594). 73 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 14 und Rz. 16; HWK/Roloff, § 307 BGB Rz. 14. 74 Vgl. BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593 (594); v. 15.7.2009 – 5 AZR 867/08, ArbRB 2010, 7 = ZTR 2010, 35 (37). 75 S. etwa Bayreuther, RdA 2003, 81 (91); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 18; Clemenz/Kreft/Krause/ Klumpp, § 307 BGB Rz. 164. 76 AA etwa ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 18 f.; Däubler/Bonin/Deinert/Däubler, § 310 BGB Rz. 52; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 501 f. 77 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 18; Däubler/Bonin/Deinert/Däubler, § 310 BGB Rz. 53.

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225

4.35

§ 4 Rz. 4.35

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

derungsklausel detailliert beschriebener Grund vorliegt78. Ein einseitig vorbehaltener Abänderungsvorbehalt, der nahezu alle Bedingungen des Arbeitsverhältnisses bis auf Arbeitszeit und Arbeitsgrundvergütung einer möglichen Änderung unterstellt, benachteiligt unangemessen79.

4.36 Die BAT-Musterverträge enthielten folgende dynamische Verweisungsklausel: „Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich nach dem BAT und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der für den Bereich des Bundes/TdL/VKA jeweils geltenden Fassung“80.

Die Verwendung einer solch weiten Verweisungsklausel kann für den Arbeitgeber zu nicht beabsichtigten Wirkungen führen, wie ein Urteil des BAG v. 12.12.200681 zeigt. Wegen der Bezugnahme auf „ergänzende Tarifverträge“ wurden der Klägerin im entschiedenen Fall Ansprüche aus dem den BAT ergänzenden Versorgungstarifvertrag zugesprochen, obwohl beim Vertragsschluss über eine Zusatzversorgung nicht gesprochen worden war.

4.37 Die Verweisung auf die den BAT „ersetzenden Tarifverträge“ führt für Altverträge, die unter Geltung des BAT mit oben genannter Bezugnahmeklausel geschlossen wurden, zur unproblematischen Ablösung des BAT durch den TVöD82. Umstritten sind jedoch die Fälle, in denen eine Bezugnahme auf die „den BAT ersetzenden Tarifverträge“ fehlt. Von einer eindeutig statischen Verweisung auf den BAT ist der TVöD jedenfalls nicht erfasst83. Ob auch eine kleine dynamische Bezugnahme der Form „Es gilt der BAT in seiner jeweiligen Fassung.“ ausreicht, hängt von der Frage ab, ob es sich beim Übergang vom BAT zum TVöD um einen Tarifwechsel gehandelt hat, der lediglich von einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel erfasst würde84, oder ob der TVöD als Fortschreibung bzw. Nachfolgewerk des BAT betrachtet werden kann (Tarifsukzession)85. Mit dem BAG86 und der hM in der Literatur ist von einem Fall der Tarifsukzession auszugehen. Die dadurch entstandene nachträgliche Regelungslücke ist im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung zu schließen. Dabei ist zu unterstellen, dass sich die Parteien aufgrund der dynamisch ausgestalteten Bezugnahme auf das im Arbeitsvertrag benannte tarifliche Regelungswerk (BAT) für die Zukunft der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes anvertraut haben und daher für den Fall der Tarifsukzession

78 Zum Widerrufsvorbehalt: BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465 (467 f.). 79 BAG v. 11.2.2009 – 10 AZR 222/08, ArbRB 2009, 132 = NZA 2009, 428 (431 f.), dazu Lembke, NJW 2010, 321 (322). 80 Musterarbeitsvertrag basierend auf dem Beschluss des Arbeitgeberkreises der BAT-Kommission aus dem Jahr 1981, abgedruckt in Uttlinger/Breier/Kiefer/Hoffmann/Dassau, BAT, Stand Juni 2007, § 4 Anh. 1.1. 81 BAG v. 12.12.2006 – 3 AZR 388/05, ZTR 2007, 537. 82 BAG v. 22.4.2009 – 4 ABR 14/08, ArbRB 2010, 14 = NZA 2009, 1286 (1288 f.); Däubler/Bonin/ Deinert/Däubler, § 305c BGB Rz. 45b; dazu auch Greiner, NZA 2009, 877. 83 Däubler/Bonin/Deinert/Däubler, § 305c BGB Rz. 45c. 84 Thüsing, AGB-Kontrolle, Rz. 210; Hümmerich/Mäßen, NZA 2005, 961 (965); v. Steinau-Steinrück, NJW-Spezial 2005, 561 f. 85 Fieberg, NZA 2005, 1226 ff.; Werthebach, NZA 2005, 1224 ff.; Möller/Welkoborsky, NZA 2006, 1382 (1384); Greiner, NZA 2009, 877 (878); Henssler/Seidensticker, RdA 2011, 247 (248); Henssler/Moll/Bepler/Henssler, Der Tarifvertrag, Teil 10 Rz. 78. 86 BAG v. 16.12.2009 – 5 AZR 888/08, NZA 2010, 401 (402); v. 19.5.2010 – 4 AZR 796/08, ArbRB 2010, 272 = NZA 2010, 1183 (1184); v. 18.5.2011 – 5 AZR 213/09, ZTR 2011, 564 (565); v. 24.8.2011 – 4 AZR 683/09, juris Rz. 21.

226

Grimm

Gestaltung von Standardklauseln

Rz. 4.41 § 4

redlicherweise die Geltung des TVöD als das nachfolgende tarifliche Regelungswerk vereinbart hätten87. In der Übergangsphase zwischen dem BAT und dem TVöD/TV-L wurde außerdem die Frage 4.38 aufgeworfen, ob dynamische Verweisungen auf beamtenrechtliche Regelungen in Arbeitsverträgen des öffentlichen Dienstes hinreichend transparent bzw. zulässig sind. Das BAG hat dies sowohl für Verweisungen auf die Arbeitszeitregelungen des Beamtenrechts88 als auch für Verweisungen auf das Urlaubs- und Zuwendungsrecht der Beamten bejaht89. Da Preisabreden iSd. § 307 Abs. 3 BGB betroffen waren, überprüfte das BAG die Verweisungen nur anhand von § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB. Das BAG sieht trotz der Dynamik der Verweisungen keinen Verstoß gegen das Transparenzgebot, da dynamische Verweisungen im Arbeitsrecht üblich seien90. Nach Inkrafttreten des TVöD enthält der Musterarbeitsvertrag des Bundesministeriums des Inneren91 folgende Bezugnahmeklausel:

4.39

„Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) einschließlich der besonderen Regelungen für die Verwaltung (TVöD – Besonderer Teil Verwaltung), dem Tarifvertrag zur Überleitung der Beschäftigten des Bundes in den TVöD und zur Regelung des Übergangsrechts (TVÜ-Bund) und die diese ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträge in der für den Bereich des Bundes jeweils geltenden Fassung.“

Das BAG hat in seiner früheren Rechtsprechung solche dynamischen Klauseln idR als Gleichstellungsabrede ausgelegt92. Mit einer solchen Verweisung wolle der Arbeitgeber die Arbeitnehmer ungeachtet ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit in die Tarifbindung bringen. Dies sollte zur Folge haben, dass im Falle einer Änderung oder Beendigung der tariflichen Bindung des Arbeitgebers die dynamische Entwicklung wie bei den tarifgebundenen Arbeitnehmern (vgl. § 4 Abs. 5 TVG) enden sollte und trotz dynamischer Bezugnahme auf den Tarifvertrag in der „jeweiligen Fassung“ dieser ab diesem Zeitpunkt nur noch statisch fortwirken sollte.

4.40

Diese Rechtsprechung hat das BAG angesichts der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB 4.41 aufgegeben. Wird die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers an den im Arbeitsvertrag genannten Tarifvertrag nicht erkennbar zur auflösenden Bedingung der Vereinbarung gemacht, werden dynamische Verweisungsklauseln durch einen Verbandsaustritt des Arbeitgebers oder einen sonstigen Wegfall seiner Tarifgebundenheit nicht berührt. Enthält die Klausel keine der genannten Einschränkungen liegt eine „unbedingte zeitdynamische Verweisung“ vor. Vertrauensschutz gewährt das BAG dabei nur bis zum 31.12.200193. 87 BAG v. 16.12.2009 – 5 AZR 888/08, NZA 2010, 401 (402 f.); v. 19.5.2010 – 4 AZR 796/08, ArbRB 2010, 272 = NZA 2010, 1183 (1184 ff.) mit Hinweisen dazu, welcher Tarifvertrag (Bundes-, Landes- oder Kommunaltarifvertrag) die Lücke schließt; v. 18.5.2011 – 5 AZR 213/09, ZTR 2011, 564 (565 f.); v. 24.8.2011 – 4 AZR 683/09, juris Rz. 21 ff. 88 BAG v. 14.3.2007 – 5 AZR 630/06, ArbRB 2007, 195 = NZA 2008, 45 (47 f.). 89 BAG v. 3.4.2007 – 9 AZR 867/06, ArbRB 2007, 295 = NZA 2007, 1045 (1047 f.); vgl. Stoffels, ZfA 2009, 861 (886 f.); Greiner, NZA 2009, 877 (881) mwN zur Unanwendbarkeit von § 305c Abs. 2 BGB bei ergänzender Vertragsauslegung. 90 Zustimmend Behrendt/Gaumann/Liebermann, ZTR 2007, 522 ff. 91 Abrufbar im Internet unter https://www.bmi.bund.de/DE/themen/oeffentlicher-dienst/tvoed/ar beitsvertragsmuster/arbeitsvertragsmuster-node.html, zuletzt abgerufen am 29.7.2019. 92 BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, ArbRB 2002, 162 = NZA 2002, 634 (635 ff.); v. 21.8.2002 – 4 AZR 263/01, ArbRB 2003, 68 = NZA 2003, 442 (443 ff.); ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 37. 93 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, ArbRB 2006, 201 = NZA 2006, 607 (608 ff.); v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, ArbRB 2007, 292 = NZA 2007, 965 (967 ff.); v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, ArbRB

Grimm

227

§ 4 Rz. 4.42

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

4.42 Es empfiehlt sich angesichts der Rechtsprechungsänderung auch für öffentliche Arbeitgeber, die sich einen Verbandsaustritt vorbehalten wollen, den Gleichstellungszweck nunmehr durch eine auflösende Bedingung ausdrücklich in der Verweisungsklausel zu ergänzen, um eine zeitlich unbeschränkte Bindung an die laufende Tarifentwicklung zu vermeiden. Hierzu wären die üblichen Bezugnahmeklauseln um folgenden Absatz zu ergänzen: „2. Entfällt die Tarifbindung des Arbeitgebers oder besteht eine Tarifbindung nach einem Verbandsaustritt nur noch gemäß § 3 Abs. 3 TVG, gelten die zu diesem Zeitpunkt gemäß Absatz 1 anwendbaren Tarifverträge statisch in der zuletzt gültigen Fassung fort, soweit sie nicht durch andere Abmachungen ersetzt werden94.“

4.43 Können Privatisierungsabsichten nicht ausgeschlossen werden, ist es im Rahmen vorsorgender Vertragsgestaltung angezeigt, einen künftigen Betriebs(teil)übergang bei der Klauselgestaltung zu berücksichtigen. Um eine dynamische Weitergeltung des in Bezug genommenen Tarifvertrags bei einem neuen Arbeitgeber zu verhindern, bietet sich folgende Formulierung als Absatz 3 an: „3. Absatz 2 gilt entsprechend im Falle eines Betriebs- oder Betriebsteilübergangs, wenn der neue Arbeitgeber nicht tarifgebunden ist. Für den Fall, dass der neue Arbeitgeber tarifgebunden ist, finden die jeweils für die Mehrheit der bei dem neuen Arbeitgeber beschäftigten Arbeitnehmer geltenden Tarifverträge Anwendung. Dies können auch nur für das Unternehmen geltende Tarifverträge sein95.“

4.44–4.45

Einstweilen frei.

2. Beginn und Probezeit

4.46 Zu Beweiszwecken für den Lauf von Fristen, die an die Beschäftigungsdauer anknüpfen, sollte der Zeitpunkt des Beginns des Arbeitsverhältnisses in den Arbeitsvertrag aufgenommen werden: „Das Arbeitsverhältnis beginnt zum …“

4.47 Eine Probezeitvereinbarung mit der Folge einer auf zwei Wochen verkürzten Kündigungsfrist (§ 622 Abs. 3 BGB) ist bereits in § 2 Abs. 4 Satz 1 TVöD enthalten, so dass die Aufnahme in den Arbeitsvertrag idR nur zur Klarstellung notwendig ist. Hierbei kann die in § 2 Abs. 4 Satz 1 TVöD vorgesehene Probezeit von sechs Monaten auch verkürzt werden. „Die ersten … Monate der Beschäftigung gelten als Probezeit. Hierfür gilt § 2 Abs. 4 Satz 1 TVöD.“

Andererseits begründet selbst der ausdrückliche Verzicht auf eine Probezeit in den ersten sechs Monaten keinen Kündigungsschutz96. Anders ist das nur (ausnahmsweise), wenn besondere Umstände bestehen, aus denen der Verzicht auf die kündigungsrechtliche Wartezeit gem. § 1 Abs. 1 KSchG abgeleitet werden kann97.

94 95 96 97

2009, 140 = NZA 2009, 323 (324 ff.); v. 22.4.2009 – 4 ABR 14/08, ArbRB 2010, 14 = NZA 2009, 1286 (1288). Vgl. Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 99; Liebers/Reiserer/Heinz, Formularbuch des Fachanwalts Arbeitsrecht, B.I.3 Rz. 68. Preis/Greiner, NZA 2007, 1074 (1079); zu dynamischen Bezugnahmeklauseln beim Betriebsübergang s. Eylert/Schinz, RdA 2017, 140 ff. ArbG Hamburg v. 22.8.2012 – 27 Ca 45/12, ArbRB 2012, 109 (Melz); Oberthür, ArbRB 2019, 317. LAG Köln v. 15.12.2006 – 9 Ta 467/06; Oberthür, ArbRB 2019, 317.

228

Grimm

Gestaltung von Standardklauseln

Rz. 4.47c § 4

Mit Blick auf die zwingende Regelung der Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes nach sechs Monaten gem. § 1 Abs. 1 KSchG und der zeitlichen Begrenzung einer kurzen Kündigungsfrist von zwei Wochen auf sechs Monate (§ 622 Abs. 3 BGB) ist eine Verlängerung der Probezeit in dem Sinne, dass es keiner Begründung zur Kündigung bedarf, unzulässig98. Auch scheidet, weil (unmittelbar) zuvor ein Arbeitsverhältnis bestanden hatte, eine sachgrundlose Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG aus99. Eine Sachgrundbefristung zur Erprobung (§ 14 Abs. 1 Nr. 5 TzBfG) ist generell schwer begründbar, orientiert sich in der Dauer idR an der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG100 und unterliegt der richterlichen Kontrolle, weshalb auch damit eine Verlängerung der Probezeit nicht begründbar sein wird101.

4.47a

Alternative Gestaltungsmöglichkeiten sind:

4.47b

Die erste Alternative ist der Ausspruch einer Kündigung mit einer länger bemessenen Kündigungsfrist, um den Arbeitnehmer weiter zu erproben. Während der Kündigung besteht noch kein Kündigungsschutz, der Beendigungszeitraum liegt aber im zeitlichen Geltungsbereich des KSchG. Von einer der Befristungskontrolle unterliegenden nachträglichen Befristung ist auszugehen, wenn der von den Parteien gewählte Beendigungszeitraum die Kündigungsfrist des § 622 Abs. 3 BGB um ein „Vielfaches überschreitet“102. Eine Frist von vier Monaten stellt noch eine „überschaubare“ Kündigungsfrist im Sinne der Rechtsprechung des BAG103 dar und sollte in der Praxis nicht überschritten werden104. Denkbar ist als weitere Alternative der Abschluss eines Aufhebungsvertrages mit längerer Beendigungsfrist. In Bezug auf das Eingreifen der Befristungskontrolle nach § 14 TzBfG kommt es allerdings nicht auf die Vertragsbezeichnung „Aufhebungsvertrag“ an, sondern auf den Regelungsgehalt der getroffenen Vereinbarung105. Ist ein Aufhebungsvertrag nicht auf die Beendigung, sondern auf die befristete Fortsetzung des Arbeitsvertrags gerichtet, weil beispielsweise die zweiwöchige Kündigungsfrist des § 622 Abs. 3 BGB oder die vertraglich vereinbarte Kündigungsfrist um ein Vielfaches überschritten wird, und fehlt es an für den Aufhebungsvertrag typischen Regelungen (wie zB Abfindung, Freistellung, Urlaubsregelung, Erteilung eines Zeugnisses usw.), bedarf der Aufhebungsvertrag idR zur Wirksamkeit eines sachlichen Grundes gem. § 14 Abs. 1 TzBfG106, der sich nur selten finden wird. Aus diesem Grunde sollte der Beendigungszeitraum des Aufhebungsvertrages nicht länger als drei, längstens vier Monate (bei einem Abschluss des Aufhebungsvertrages in der sechsmonatigen „Probezeit“) vereinbart werden. Dann handelt es sich auch beim Abschluss eines 98 Oberthür, ArbRB 2019, 317 (318). 99 HWK/Rennpferdt, § 14 TzBfG Rz. 97. 100 HWK/Rennpferdt, § 14 TzBfG Rz. 94, die auch auf die Maßgeblichkeit tariflicher Regelungen hinweist. Bei besonderen Tätigkeiten, wie beispielweise Orchestermusikern, lässt der relevante Tarifvertrag (§ 3 Abs. 2 TVK) eine Erprobung von bis zu 18 Monaten zu, BAG v. 25.10.2017 – 7 AZR 712/15, NZA 2018, 180 (181). 101 Typisierend betrachtet reicht eine Erprobungszeit von sechs Monaten, Oberthür, ArbRB 2019, 317 (318). 102 BAG v. 14.12.2016 – 7 AZR 49/15, NZA 2017, 634 (635); HWK/Rennpferdt, § 14 TzBfG Rz. 11. 103 BAG v. 7.3.2002 – 2 AZR 93/01, DB 2002, 1997 (1998); LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 26.6.2014 – 5 Sa 222/13, FA 2015, 49; zust. HWK/Bittner, § 622 BGB Rz. 27; Weth in: jurisPKBGB Bd. 2, 8. Aufl. 2017, § 622 BGB Rz. 14. 104 So auch Oberthür, ArbRB 2019, 317 (319) mwN. 105 BAG v. 14.12.2016 – 7 AZR 49/15, NZA 2017, 634 (635). 106 HWK/Kliemt, Anhang § 9 KSchG, Aufhebungsverträge Rz. 1; HWK/Rennpferdt, § 14 TzBfG Rz. 11.

Grimm

229

4.47c

§ 4 Rz. 4.47c

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

Aufhebungsvertrages noch um eine „überschaubare“ Beendigungsfrist107. Wichtig ist zudem, dass dem Arbeitnehmer für den Fall seiner Bewährung die Wiedereinstellung zugesagt wird108. Das impliziert die Unterrichtung über die Nicht-Bewährung und die weitere Bewährungschance und ist im Übrigen auch bei Wahl der ersten Alternative (Kündigung mit längstens viermonatiger Frist) zu beachten.

4.47d Weiterhin kann die Kündigung mit einem nachfolgenden Aufhebungsvertrag, der dann als „Abwicklungsvertrag“ bezeichnet wird, kombiniert werden, sofern die materiellen Voraussetzungen, nämlich ein maximal viermonatiger Beendigungszeitraum, Information über die Nichtbewährung sowie eine weitere Bewährungschance bzw. entsprechende Wiedereinstellungszusage und die Vereinbarung typischer Aufhebungsvertragselemente, eingehalten sind.

4.48 Soll der Arbeitsantritt erst weit nach Vertragsschluss liegen, kann es dem Interesse des Arbeitgebers entsprechen, für diesen Zeitraum die ordentliche Kündbarkeit des Arbeitsverhältnisses auszuschließen: „Vor Beginn des Arbeitsverhältnisses ist die ordentliche Kündigung ausgeschlossen.“109

3. Tätigkeit und Versetzung

4.49 Um der Nachweispflicht des § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 NachwG zu genügen, sollte der Arbeitsvertrag eine Tätigkeitsbeschreibung enthalten. Hierbei ist neben den Folgen der Tätigkeitsbeschreibung für die Eingruppierung zu beachten, dass das Direktionsrecht des Arbeitgebers umso stärker eingeschränkt wird, je konkreter die Tätigkeitsbeschreibung gefasst wird110. Da fast alle Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes unmittelbar oder über eine Bezugnahmeklausel den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes unterliegen, erübrigen sich idR wegen der Regelung in § 4 TVöD/TV-L vertragliche Regelungen111 zu Versetzungsmöglichkeiten (s. hierzu § 6). Zur tarifvertraglichen Versetzungsregelung des § 4 Abs. 1 TV-BA hat das BAG112 entschieden, dass eine Auswahlentscheidung anlässlich der Durchführung von Versetzungen trotz Vorliegen dienstlicher Gründe im Einzelfall nicht billigem Ermessen iSv. § 106 GewO, § 315 BGB entspricht, wenn der Arbeitgeber nur Beschäftigte in die Auswahl einbezieht, deren Arbeitsverhältnisse zunächst nach § 14 Abs. 1 Nr. 7 TzBfG befristet waren und später entfristet wurden (sog. Entfristungsüberhang). Nach § 14 Abs. 1 TVöD findet bei der nur vorübergehenden Übertragung einer höher bewerteten Tätigkeit eine sog. doppelte Billigkeitskontrolle statt113. 107 BAG v. 7.3.2002 – 2 AZR 93/01, DB 2002, 1997 (1998); Preis/Rolfs, II A 100 Rz. 83. 108 Für die Kündigungsalternative durch BAG v. 7.3.2002 – 2 AZR 93/01, DB 2002, 1997 (1998) entwickelt; HWK/Kliemt, Anhang § 9 KSchG Rz. 34; Preis/Rolfs, II A 100 Rz. 83. 109 Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II K 10 Rz. 40. 110 BAG v. 20.1.2010 – 7 AZR 542/08, AP Nr. 68 zu § 14 TzBfG; Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II D 30 Rz. 5. 111 Umfassend zur Vertragsinhaltskontrolle und Überprüfung der Ausübung des Arbeitgeberermessens bei Weisungen (§ 106 GewO, § 315 BGB) im Rahmen der zweistufigen Kontrolle Reinecke, NZA-RR 2013, 393. 112 BAG v. 10.7.2013 – 10 AZR 915/12, NZA 2013, 1142 (1144 ff.) zu „dienstlichen“ Gründen als Voraussetzung der Ausübung des Versetzungsrechts und zur unzulässigen Begrenzung der Auswahlentscheidung. 113 Zunächst ist zu prüfen, ob die Tätigkeit überhaupt übertragen werden darf, und in einem zweiten Schritt, ob die nur vorübergehende Übertragung ausreichend begründet ist, Reinecke, NZARR 2013, 393 (398); ausführlich zur Gesamtproblematik s. Rasche, öAT 2017, 4 ff.

230

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Gestaltung von Standardklauseln

Rz. 4.53 § 4

4. Wohnsitzklauseln Während Beamte gemäß § 72 BBG angewiesen werden können, ihre Wohnung innerhalb einer bestimmten Entfernung von ihrer Dienststelle zu nehmen, kann eine solche Pflicht bei Angestellten des öffentlichen Dienstes nur vertraglich vereinbart werden. Da durch eine solche Wohnsitzklausel die Grundrechte des Beschäftigten aus Art. 6 und Art. 11 GG betroffen sind114, sollte die Klausel im Hinblick auf eine Angemessenheitskontrolle nach § 307 Abs. 1 BGB die Zumutbarkeitsgrenze für den Arbeitnehmer ausdrücklich berücksichtigen:

4.50

„Der Beschäftigte ist verpflichtet, seinen Hauptwohnsitz am Dienstort … oder dessen unmittelbarer Umgebung zu nehmen. Dies gilt nicht, wenn überwiegende persönliche Gründe dies nicht zulassen und die Erfüllung der dienstlichen Aufgaben hierdurch nicht gefährdet wird115.“

5. Arbeitszeit und Vergütung Aufgrund der Regelungen in §§ 6–11 TVöD zur Arbeitszeit und der Bedeutung von Betriebsund Dienstvereinbarungen in diesem Regelungsbereich genügt idR ein Verweis auf diese Bestimmungen und aus Klarstellungsgründen eine Angabe zur Arbeitszeit:

4.51

„Die tägliche/wöchentliche/monatliche Arbeitszeitdauer richtet sich nach den für den Betrieb/die Dienststelle geltenden tariflichen und betrieblichen Bestimmungen in der jeweils gültigen Fassung. Sie beträgt zurzeit … Stunden täglich/wöchentlich/monatlich116.“

Zu den Möglichkeiten moderner und flexibler Vergütungs- und Arbeitszeitgestaltung sei im Übrigen auf § 5 verwiesen. 6. Dienstverhinderung und Arbeitsunfähigkeit Für die Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit enthält das EFZG Sonderregelungen, von denen zuungunsten des Arbeitnehmers nicht einzelvertraglich abgewichen werden kann, § 12 EFZG.

4.52

Die Regelung des § 616 BGB wird bereits durch § 29 TVöD abbedungen, so dass auch hier kein besonderer Gestaltungsbedarf besteht. 7. Urlaub Auch der Urlaubsanspruch wird durch das BUrlG und die §§ 26 ff. TVöD (dazu unter Rz. 15.1 ff.) geregelt und ist einer Disposition der Vertragsparteien so weitgehend entzogen. Um den Nachweispflichten des § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 NachwG zu genügen, kann folgende Regelung in den Arbeitsvertrag aufgenommen werden: „Herr/Frau … erhält kalenderjährlich einen Erholungsurlaub von … Kalender-/Arbeitstagen. Der Urlaub wird in Abstimmung mit der Dienststelle festgelegt. Im Übrigen gelten die gesetzlichen/tariflichen Bestimmungen117.“

114 115 116 117

Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II D 30 Rz. 250 ff. Vgl. Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II D 30 Rz. 247. Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II A 90 Rz. 5. Vgl. Preis/Stoffels, Arbeitsvertrag, II U 20 Rz. 2.

Grimm

231

4.53

§ 4 Rz. 4.54

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

8. Beendigung

4.54 In tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen ist keine Abweichung zuungunsten der Arbeitnehmer von den in § 34 TVöD geregelten Kündigungsfristen möglich. Auch sonst sind arbeitsvertraglichen Verkürzungen der gesetzlichen Kündigungsfristen durch § 622 Abs. 4 und 5 BGB engste Grenzen gesetzt.

4.55 Relevanter für die Vertragsgestaltung ist daher die Frage nach einer automatischen Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei Erreichen einer Altersgrenze. Der TVöD und der TV-L enthalten in § 33 Abs. 1 Buchst. a eine Regelung, wonach das Arbeitsverhältnis ohne Kündigung mit Ablauf des Monats endet, in dem der/die Beschäftigte das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen einer abschlagsfreien Regelaltersrente vollendet hat.

4.56 Durch das am 1.1.2008 in Kraft getretene RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz wird die Regelaltersgrenze für die gesetzliche Rentenversicherung seit dem Jahr 2012 schrittweise auf die Vollendung des 67. Lebensjahres angehoben, vgl. § 35 und § 235 SGB VI. In diesem Zusammenhang wurde auch § 41 Satz 2 SGB VI angepasst. Nach dieser Vorschrift gilt eine Vereinbarung, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, zu dem der Arbeitnehmer vor Erreichen der Regelaltersgrenze eine Rente wegen Alters beantragen kann, dem Arbeitnehmer gegenüber als auf das Erreichen der Regelaltersgrenze abgeschlossen, es sei denn, dass die Vereinbarung innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen oder von dem Arbeitnehmer innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt bestätigt worden ist. Unter einer „Vereinbarung“ iSv. Satz 2 sind nur einzelvertragliche Vereinbarungen zu fassen118.

4.57 Eine Weiterbeschäftigung über die Altersgrenze hinaus ist nach § 33 Abs. 5 Satz 1 TVöD auf der Grundlage eines neuen schriftlichen Arbeitsvertrages möglich, wobei das Schriftformerfordernis wie bei § 2 Abs. 1 TVöD deklaratorischer Natur ist119. Das Arbeitsverhältnis kann jederzeit mit einer Frist von vier Wochen zum Monatsende gekündigt werden, sofern nichts anderes vereinbart ist (§ 33 Abs. 5 Satz 2 TVöD). Anders als nach § 60 Abs. 2 BAT/BAT-O ist ein Arbeitsvertrag zur Weiterbeschäftigung über die Altersgrenze hinaus außerhalb des TVöD grundsätzlich unzulässig120. Zum Teil wird die Auffassung vertreten121, dass ohne Tarifbindung ein solcher Arbeitsvertrag auch ohne Berücksichtigung des TVöD gestaltbar ist und bei fehlender Tarifbindung nur einzelne Bestimmungen aus dem TVöD vereinbart werden können. Praktisch wird dies selten vorkommen, weil nahezu alle Kommunal- bzw. Haushaltsgesetze eine Orientierung am TVöD verlangen122. Denkbar ist ferner die Vereinbarung einer Sachgrundbefristung gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG, wegen des Vorbeschäftigungsverbots hingegen keine sachgrundlose Befristung gemäß § 14 Abs. 2 TzBfG. Notwendig ist immer eine nach § 41 Satz 2 SGB VI wirksam vereinbarte neue Altersgrenze, die als Befristung der Schriftform gem. § 14 Abs. 4 TzBfG bedarf. Bei Orientierung am TVöD richtet sich die Vergütung nach der Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe, die der Tätigkeit des Arbeitnehmers entspricht.

118 BAG v. 4.11.2015 – 7 AZR 851/13, NZA 2016, 634; ErfK/Rolfs, § 41 SGB VI Rz. 13. 119 Burger/Dick, § 33 TVöD/TV-L Rz. 8; Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Kuner, § 33 TVöD-AT Rz. 4. 120 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Kuner, § 33 TVöD-AT Rz. 3; aA Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, § 33, 175 ohne nähere Begründung. 121 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Kuner, § 33 TVöD-AT Rz. 3. 122 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Kuner, § 33 TVöD-AT Rz. 3.

232

Grimm

Gestaltung von Standardklauseln

Rz. 4.58 § 4

Neben § 33 Abs. 5 TVöD bietet der 2014 neu eingefügte § 41 Satz 3 SGB VI eine weitere Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung über das Erreichen der Regelaltersgrenze hinaus123. § 41 Satz 3 SGB VI ist unionsrechtskonform124 und verfassungsrechtlich unbedenklich125. Voraussetzung für eine Verlängerung des Arbeitsverhältnisses über das Erreichen der Regelaltersgrenze hinaus ist eine Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Diese Vereinbarung muss schriftlich126 und spätestens am letzten Tag des noch laufenden Arbeitsverhältnisses geschlossen werden127. Ein Sachgrund gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG ist nicht erforderlich128. Fraglich ist derzeit, ob durch die Vereinbarung bislang geltende Arbeitsbedingungen, wie beispielsweise eine Anhebung oder Absenkung der Arbeitszeit, wirksam geändert werden können129. Das BAG hat diese Frage jüngst offen gelassen130. Der Praxis ist anzuraten, andere Arbeitsbedingungen zeitlich deutlich vor oder nach einer Vereinbarung nach § 41 Satz 3 SGB VI vertraglich abzuändern131.

4.57a

Kollektiv- und individualvertraglich vereinbarte Altersgrenzen, die an das gesetzliche Ren- 4.58 teneintrittsalter anknüpfen, werden für verfassungsrechtlich unbedenklich und sachlich gerechtfertigt gehalten132. Altersgrenzen beruhen auf der anerkannten Lebenserfahrung, dass die Gefahr einer Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter größer wird und vermeiden so Auseinandersetzungen über den Fortbestand der Leistungskraft des Arbeitnehmers133. Zudem dienen sie einer verlässlichen Personalplanung und Nachwuchsförderung134. Bei der im Rahmen von Art. 12 GG und der Befristungskontrolle gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG vorzunehmenden Abwägung der wechselseitigen Interessen räumt das BAG dem Interesse des Arbeitgebers an einer kalkulierbaren Personalplanung den Vorrang vor

123 Ausführlich zum Verhältnis des § 33 Abs. 5 TVöD zu § 41 Satz 3 SGB VI s. Brock, öAT 2016, 67 ff. 124 EuGH v. 28.2.2018 – C-46/17, NZA 2018, 355; Brock, öAT 2016, 67 (67); Giesen, ZfA 2014, 217 (235); Greiner, RdA 2018, 65 ff.; aA Waltermann, NJW 2018, 193 (196 f.); Waltermann, RdA 2015, 343 (348). 125 ErfK/Rolfs, § 41 SGB VI Rz. 22. 126 ErfK/Rolfs, § 41 SGB VI Rz. 23; Giesen, ZfA 2014, 217 (222), Waltermann, RdA 2015, 343 (347). 127 ErfK/Rolfs, § 41 SGB VI Rz. 23; Grimm, ArbRB 2015, 92 (94). 128 BAG v. 19.12.2018 – 7 AZR 70/17, NZA 2019, 523. 129 Bejahung unter Heranziehung der Unterschiede zu § 14 Abs. 2 TzBfG s. Groeger, ZTR 2015, 115 (120) sowie Grimm, ArbRB 2015, 92 (95), der bis zur rechtlichen Klärung von Änderungen abrät. Verneinend Kroll ZTR 2016, 179 (181); Kleinebrink, DB 2014, 1490 (1493). 130 BAG v. 19.12.2018 – 7 AZR 70/17, NZA 2019, 523. 131 Groeger, ZTR 2015, 115 (120); Kleinebrink, DB 2014, 1490 (1493). 132 BAG v. 25.3.1971 – 2 AZR 185/70, NJW 1971, 1629; v. 20.11.1987 – 2 AZR 284/86, NZA 1988, 617; v. 11.6.1997 – 7 AZR 186/96, NZA 1997, 1290; v. 19.11.2003 – 7 AZR 296/03, ArbRB 2004, 101 = NZA 2004, 1336; v. 27.7.2005 – 7 AZR 443/04, ArbRB 2006, 38 = NZA 2006, 37. 133 BAG v. 25.3.1971 – 2 AZR 185/70, NJW 1971, 1629 (1631); v. 20.11.1987 – 2 AZR 284/86, NZA 1988, 617 (619); EuGH v. 21.7.2011 – C-159/10, C-160/10 (Fuchs/Köhler), ArbRB 2011, 327 = AP Nr. 21 zu Richtlinie 2000/78/EG; EuGH v. 5.7.2017 – C-190/16, EuZW 2017, 729 (Fries), zu starren Altersgrenzen von Berufspiloten bis zum Alter von 65 Jahren; ErfK/MüllerGlöge, § 14 TzBfG Rz. 56a. 134 BAG v. 20.11.1987 – 2 AZR 284/86, NZA 1988, 617 (619); v. 11.6.1997 – 7 AZR 186/96, NZA 1997, 1290 (1292); v. 27.7.2005 – 7 AZR 443/04, ArbRB 2006, 38 = NZA 2006, 37 (39); v. 8.12.2010 – 7 AZR 438/09, ArbRB 2011, 198 = NZA 2011, 586 (589); EuGH v. 21.7.2011 – C-159/10, C-160/10 (Fuchs/Köhler), ArbRB 2011, 327 = AP Nr. 21 zu Richtlinie 2000/78/EG; ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 56a.

Grimm

233

§ 4 Rz. 4.58

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

dem Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers ein, allerdings nur, wenn der Arbeitnehmer durch den Bezug einer gesetzlichen Altersrente wirtschaftlich abgesichert ist135.

4.59 Die Zulässigkeit tarifvertraglicher, in Betriebsvereinbarungen enthaltener und einzelvertraglicher Altersgrenzen ist auch an § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG zu messen. Hierin ist ein Rechtfertigungsgrund für die mit Altersgrenzenvereinbarungen verbundene Ungleichbehandlung wegen des Alters enthalten.

4.60 Die Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Vorschrift mit der EG-Richtlinie 2000/78/EG dürften spätestens durch das „Rosenbladt“-Urteil des EuGH136 ausgeräumt sein137. Laut EuGH steht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG einer nationalen Regelung wie § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG nicht entgegen, soweit diese zum einen objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik gerechtfertigt ist und zum anderen die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind138. Die automatische Beendigung der Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten, die die das Alter und die Beitragszahlung betreffenden Voraussetzungen für den Bezug einer Altersrente erfüllen, sei seit langem Teil des Arbeitsrechts zahlreicher Mitgliedstaaten und in den Beziehungen des Arbeitslebens weithin üblich. Dieser Mechanismus beruhe auf einem Ausgleich zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen, demografischen und/oder haushaltsbezogenen Erwägungen139. An das Urteil des EuGH in der Sache Rosenbladt anknüpfend hat das BAG mit Urteil vom 8.12.2010140 § 33 Abs. 1 lit. a TVöD (in der bis zum 30.6.2008 geltenden Fassung) für wirksam erklärt. Dieser sah vor, dass das Arbeitsverhältnis auch ohne Kündigung mit Ablauf des Monats endete, in dem die/der Beschäftigte das 65. Lebensjahr vollendet hatte. Die Tarifvertragsparteien verfolgten mit dieser Altersgrenze legitime Ziele, da es ihnen erkennbar darum gehe, im Bereich des öffentlichen Dienstes für eine zuverlässige, langfristige Personalplanung zu sorgen, eine ausgewogene Altersstruktur zu erhalten, den Nachwuchs zu fördern, Arbeitsplätze für junge Bewerber frei zu machen, Aufstiegschancen zu eröffnen und damit Leistungs- und Motivationsanreize für die bereits Beschäftigten zu schaffen141. Altersgrenzen, nach denen das Arbeitsverhältnis mit Erreichen der Regelaltersgrenze endet, können auch in Betriebsvereinbarungen vereinbart werden. Grenzen der Regelungskompetenz sind § 75 Abs. 1 BetrVG142 und § 10 Satz 3 Nr. 3 AGG. Soweit die Arbeitsvertragsparteien die Verschlechterung der einzelvertraglichen Regelungen durch eine Betriebs- oder Personalvereinbarung ausdrücklich oder konkludent143 zugelassen haben (sog. Betriebsvereinbarungsoffenheit), gehen die Altersgrenzenregelungen einer Betriebsvereinbarung einer

135 BAG v. 11.6.1997 – 7 AZR 186/96, NZA 1997, 1290 (1292); v. 27.7.2005 – 7 AZR 443/04, ArbRB 2006, 38 = NZA 2006, 37 (39); v. 8.12.2010 – 7 AZR 438/09, ArbRB 2011, 198 = NZA 2011, 586 (589). 136 EuGH v. 12.10.2010 – C-45/09, (Rosenbladt), ArbRB 2010, 327 = NZA 2010, 1167; schon zuvor EuGH v. 16.10.2007 – C-411/05, (Palacios de la Villa), ArbRB 2007, 350 = NZA 2007, 1219. 137 Vgl. ErfK/Schlachter, § 10 AGG Rz. 12 mwN. 138 EuGH v. 12.10.2010 – C-45/09, (Rosenbladt), ArbRB 2010, 327 = NZA 2010, 1167 (1169 f.). 139 EuGH v. 12.10.2010 – C-45/09 (Rosenbladt), ArbRB 2010, 327 = NZA 2010, 1167 (1169). 140 BAG v. 8.12.2010 – 7 AZR 438/09, ArbRB 2011, 198 = NZA 2011, 586. 141 BAG v. 8.12.2010 – 7 AZR 438/09, ArbRB 2011, 198 = NZA 2011, 586 (592). 142 Zur Inhaltskontrolle von Betriebsvereinbarungen Preis/Ulber, RdA 2013, 211 (216). 143 So auch der 5. Senat, BAG v. 25.5.2016 – 5 AZR 135/16, BAGE 155, 202; dazu HWK/Roloff, Anh. §§ 305-310 BGB Rz. 20; Creutzfeldt, NZA 2018, 1111 ff.

234

Grimm

Gestaltung von Standardklauseln

Rz. 4.63 § 4

arbeitsvertraglichen Regelung auch dann vor, wenn letztere günstiger ist (und bspw. keine Altersgrenze enthält)144. Individualarbeitsrechtlich stellt die Vereinbarung einer Altersgrenze einen Fall der Höchstbefristung145 dar und ist daher am TzBfG zu messen, so dass sie gemäß § 14 Abs. 4 TzBfG zwingend der Schriftform bedarf. Ob diese Form auch durch bloße Bezugnahme auf den Tarifvertrag gewahrt werden kann, ist umstritten146, so dass die tarifliche Altersgrenze ausdrücklich im Arbeitsvertrag fixiert werden sollte. Wegen § 15 Abs. 3 TzBfG sollte in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit der ordentlichen Kündbarkeit trotz Befristung vereinbart werden. Aufgrund der schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters in den kommenden Jahren, sollte statt einer starren Altersgrenze besser eine flexible, auf die gesetzliche Regelaltersgrenze verweisende Formulierung gewählt werden.

4.61

„Ohne dass es einer Kündigung bedarf, endet das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des Monats, in dem der Arbeitnehmer die für ihn maßgebliche Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht.“

9. Freistellung und Folgen Die Freistellung kollidiert mit dem aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitenden Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers (s. § 3, Rz. 3.46). Da dieser dispositiv ist, sind bei einem konkreten Anlass getroffene Vereinbarungen zur Suspendierung des Arbeitnehmers bei Fortzahlung der Vergütung unproblematisch möglich147. Dagegen ist noch nicht höchstrichterlich entschieden, ob auch eine vorformulierte antizipierte Freistellungsklausel einer Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB standhält148. Da eine Freistellungsklausel die Beschäftigungspflicht als wesentliche Pflicht des Arbeitsverhältnisses iSd. § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB abbedingt, stellt sie nach überwiegender Auffassung nur dann keine unangemessene Benachteiligung iSd. § 307 Abs. 1 BGB dar, wenn sie durch überwiegende schutzwürdige Interessen des Arbeitgebers gerechtfertigt ist. Die Freistellungsbefugnis muss daher auf das Vorliegen sachlicher Gründe beschränkt sein149.

4.62

Ein solches berechtigtes Interesse des Arbeitgebers besteht jedenfalls in den Fällen, in denen die Rechtsprechung des BAG auch ein einseitiges Suspendierungsrecht des Arbeitgebers anerkannt hat, insbesondere also bei Wegfall der Vertrauensgrundlage, fehlender Einsatzmöglichkeit, Gefahr des Geheimnisverrats, unzumutbarer wirtschaftlicher Belastung und bei sons-

4.63

144 BAG v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, ArbRB 2013, 271 = NZA 2013, 916; kritisch BAG v. 11.4.2018 – 4 AZR 119/17, NZA 2018, 1273 sowie Creutzfeldt, NZA 2018, 1111 (1118 f.); Preis/Ulber, RdA 2013, 211 (216, 224 f.). 145 BAG v. 14.8.2002 – 7 AZR 469/01, NZA 2003, 1397 (1397); v. 19.11.2003 – 7 AZR 296/03, ArbRB 2004, 101 = NZA 2004, 1336 (1337); v. 27.7.2005 – 7 AZR 443/04, ArbRB 2006, 38 = NZA 2006, 37 (39); v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302 (1304); ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 56; HWK/Rennpferdt, § 14 TzBfG Rz. 63. 146 Dafür: ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 119; dagegen: Preis/Rolfs, Arbeitsvertrag, II A 20 Rz. 2, 35 ff., Preis/Gotthardt, NZA 2000, 348 (358 f.). 147 Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II F 10 Rz. 7; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 329; vgl. ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 568. 148 Dazu ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 568 mwN aus Literatur und Rechtsprechung. 149 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 568; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 329; Hunold, NZA-RR 2006, 113 (118); s. auch Wisskirchen/Block in Tschöpe, Teil 1 D Rz. 107 ff.

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235

§ 4 Rz. 4.63

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

tigen Gründen, die eine fristlose Kündigung rechtfertigen würden150. Im ungekündigten Arbeitsverhältnis sollte die Freistellungsbefugnis daher auf solche Gründe beschränkt werden: „Der Arbeitgeber ist berechtigt, den/die Beschäftigte/n unter Fortzahlung der Bezüge vorübergehend von der Arbeit freizustellen, wenn ein sachlicher Grund, insbesondere ein grober Vertragsverstoß, der die Vertrauensgrundlage beeinträchtigt (zB Geheimnisverrat, Konkurrenztätigkeit), gegeben ist151.“

4.64 Die Interessenlage ändert sich im gekündigten Arbeitsverhältnis, da nach der Rechtsprechung des BAG ein Weiterbeschäftigungsanspruch nur bei offensichtlicher Unwirksamkeit der Kündigung bzw. nach gewonnenem erstinstanzlichem Kündigungsschutzprozess besteht152. Umstritten ist, ob im gekündigten Arbeitsverhältnis vor Ablauf der Kündigungsfrist ein berechtigtes Freistellungsinteresse des Arbeitgebers generell zu bejahen ist153 oder ob zu diesem Zeitpunkt eine Suspendierung einen über die Kündigung hinausgehenden sachlichen Grund erfordert und dies in die Klauselgestaltung aufzunehmen ist154. Für Letzteres spricht das Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses und damit auch des allgemeinen Beschäftigungsanspruchs des Arbeitnehmers155. Es handele sich um eine Kardinalspflicht des Arbeitgebers (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 und 2 BGB), die nicht durch Formularvertrag abbedungen werden könne156. Das LAG Hamm157 sieht die Vereinbarung einer Freistellungsbefugnis im Anstellungsvertrag von Mitarbeitern in herausgehobener und leitender Stellung – im konkreten Fall handelte es sich um einen Chefarzt – als wirksam an. Da höchstrichterliche Rechtsprechung noch fehlt, kann es zweckmäßig sein, die Freistellungsbefugnis von sachlichen Gründen abhängig zu machen: „Der Arbeitgeber ist berechtigt, den/die Beschäftigte/n mit Ausspruch einer Kündigung – gleich von welcher Seite – unter Fortzahlung der Bezüge von der Arbeitsleistung freizustellen, wenn ein sachlicher Grund, insbesondere ein grober Vertragsverstoß, der die Vertrauensgrundlage beeinträchtigt (zB Geheimnisverrat, Konkurrenztätigkeit), gegeben ist. Die Freistellung erfolgt unter Anrechnung auf den Erholungsurlaub, soweit dem nicht die Arbeitsunfähigkeit (§ 9 BUrlG) oder sonstige schutzwürdige Belange des/der Beschäftigten entgegenstehen158.“

4.65 Das BSG hat festgestellt, dass das sozialversicherungsrechtliche Beschäftigungsverhältnis während einer unwiderruflichen Freistellung bis zur rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses fortdauert159. Die Sozialversicherungsträger haben sich dem ab dem 1.7.2009 angeschlossen. Die zuvor bestehende Ungewissheit ist damit beseitigt. 150 BAG GS v. 27.2.1985 – GS 1/84, NZA 1985, 702; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 563; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 326. 151 Vgl. Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II F 10 Rz. 15. 152 BAG GS v. 27.2.1985 – GS 1/84, NJW 1985, 2968. 153 LAG München v. 7.5.2003 – 5 Sa 297/03, LAGE Nr. 2 zu § 307 BGB 2002; ArbG Düsseldorf v. 9.6.1993 – 9 Ga 28/93, NZA 1994, 559; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 330; Bauer, NZA 2007, 409 (412). 154 LAG München v. 19.8.1992 – 5 Ta 185/92, NZA 1993, 1130 (1131); ArbG Frankfurt v. 19.11.2003 – 2 Ga 251/03, NZA-RR 2004, 409 (410); ArbG Berlin v. 4.2.2005 – 9 Ga 1155/05, juris Rz. 30 ff.; ArbG Stuttgart v. 18.3.2005 – 26 Ga 4/05, juris Rz. 35; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 570; Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II F 10 Rz. 21. 155 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 570 mwN. LAG Hamm v. 13.2.2015 – 18 SaGa 1/15, NZA-RR 2015, 460 zu Mitarbeitern mit herausragender, leitender Stellung. 156 So LAG Hessen v. 14.3.2011 – 16 Sa 1677/10, NZA-RR 2011, 419 (421); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 570. 157 LAG Hamm v. 13.2.2015 – 18 SaGa 1/15, NZA-RR 2015, 460. 158 Vgl. Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II F 10 Rz. 29. 159 BSG v. 24.9.2008 – B 12 KR 27/07 R, NZA-RR 2009, 269 (271), v. 24.9.2008 – B 12 KR 22/07, NZA-RR 2009, 272 (273 f.); Rolfs/Witschen, NZA 2011, 881 ff.

236

Grimm

Gestaltung von Standardklauseln

Rz. 4.68 § 4

10. Ausschlussfristen Ausschlussfristen dienen der im Arbeitsleben besonders gebotenen raschen Klärung von Ansprüchen und der Bereinigung offener Streitpunkte160.

4.66

Vorformulierte Ausschlussfristen in Einzelarbeitsverträgen stellen nach der Rechtsprechung grundsätzlich keine unangemessene Benachteiligung iSd. § 307 Abs. 1 BGB dar, wenn die Ausschlussfrist nicht einseitig nur für den Arbeitnehmer gilt161, sofern sie drei Monate nicht unterschreitet162 und sie nicht allein auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses statt auf die Fälligkeit des Anspruchs abstellt163. Auch zweistufige Ausschlussfristen, welche die Obliegenheit begründen, Ansprüche auch fristgerecht gerichtlich geltend zu machen, sind zulässig, sofern die Frist für die zweite Stufe mindestens drei Monate beträgt164. Die Ausschlussfrist berechnet sich nach §§ 187, 188 BGB sowie § 193 BGB165. Darüber hinaus findet § 203 Satz 1 BGB entsprechende Anwendung166. Dies bedeutet, dass bei außergerichtlichen Vergleichsverhandlungen über einen konkreten Anspruch zwischen zwei Parteien der Ablauf der Ausschlussfrist für die Verhandlungsdauer gehemmt wird167. Zu einer Anwendung des § 203 Satz 2 BGB (Verjährungseintritt frühestens drei Monate nach dem Ende der Hemmung) kommt es dagegen nicht168.

4.67

Im Urteil vom 18.9.2018169 rückt das BAG von seiner großzügigen Rechtsprechung bezogen auf die Wirksamkeit von Ausschlussklauseln ab. Das BAG sieht eine vorformulierte Klausel als unwirksam an, wenn diese sämtliche beiderseitigen Ansprüche zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausschließt, ohne unverzichtbare Ansprüche (wie bspw. den gesetzlichen Mindestlohn170) davon auszuklammern171.

4.67a

In den meisten Arbeitsverhältnissen des öffentlichen Dienstes gilt aufgrund Tarifbindung oder infolge einer Bezugnahmeklausel die einstufige sechsmonatige Ausschlussfrist des § 37

4.68

160 BAG v. 16.3.2016 – 4 AZR 421/15, NZA 2016, 1154; v. 10.2.2015 – 3 AZR 65/14, juris; v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, ArbRB 2005, 325 = NZA 2005, 1111 (1113); Naber/Schulte, BB 2019, 501 (501). 161 BAG v. 31.8.2005 – 5 AZR 545/04, ArbRB 2006, 38 = NZA 2006, 324 (326). 162 BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, ArbRB 2005, 325 = NZA 2005, 1111 (1114); v. 28.9.2005 – 5 AZR 52/05, ArbRB 2006, 70 = NZA 2006, 149 (152 f.). 163 BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 511/05, ArbRB 2006, 197 = NJW 2006, 2205. 164 BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, ArbRB 2005, 325 = NZA 2005, 1111 (1114). 165 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Bepler, § 37 TVöD-AT Rz. 49, 50. 166 BAG v. 20.6.2018 – 5 AZR 262/17, NZA 2018, 1402; dazu kritisch Naber/Schulte, NZA 2018, 1526 ff. 167 Str. ist weiterhin, ob auch die übrigen Hemmungsvorschriften der §§ 205 ff. BGB entsprechende Anwendung finden, bejahend Reinecke, RdA 2001, 358. 168 BAG v. 20.6.2018 – 5 AZR 262/17, NZA 2018, 1402. 169 BAG v. 18.9.2018 – 9 AZR 162/18, NZA 2018, 1619; dazu Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Bepler, § 37 TVöD-AT Rz. 5d; Lingemann/Chakrabarti, NJW 2019, 978 ff.; Seiwerth, NZA 2019, 17 ff.; Naber/Schulte, BB 2019, 501 ff.; Fuhlrott, ArbRAktuell 2018, 269 ff. mit Formulierungsvorschlag. 170 Neben dem Mindestlohnanspruch kommen auch Haftungsansprüche wie solche aus § 202 Abs. 1, § 276 Abs. 3 BGB in Betracht, vgl. Naber/Schulte, BB 2019, 501 (501) mit einer Auflistung weiterer möglicher Ansprüche. 171 Im Einzelnen zu Ausschlussfristen bzgl. Mindestlohn Grimm in Tschöpe, Teil 6 E Rz. 112 ff.

Grimm

237

§ 4 Rz. 4.68

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

TVöD/TV-L172. Diese tarifliche Regelung nimmt Mindestlohnansprüche nicht aus. Eine Inhaltskontrolle von Tarifverträgen findet gemäß § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB allerdings nicht statt, weshalb die Ausschlussfrist mit Ausnahme der Ansprüche auf Mindestlohn wirksam bleibt173. Findet der TVöD zumindest aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme Anwendung, muss die Ausschlussklausel nicht im Arbeitsvertrag wiedergegeben werden. Angesichts der unterschiedlichen rechtlichen Anforderungen an individualvertragliche und tarifliche Ausschlussklauseln wäre dies auch nicht sinnvoll. Findet der TVöD ausnahmsweise keine Anwendung, kann auf die nachfolgende zweistufige Ausschlussklausel zurückgegriffen werden, die dem aktuellen Stand der Rechtsprechung entspricht: (1) Alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, verfallen, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei in Textform (§ 126b BGB) geltend gemacht werden. Die Nichteinhaltung dieser Ausschlussfrist führt zum Verlust des Anspruchs. (2) Lehnt die Gegenpartei den Anspruch ab oder erklärt sie sich nicht innerhalb von zwei Wochen nach der Geltendmachung des Anspruchs in Textform (§ 126b BGB), so verfällt dieser, wenn er nicht innerhalb von drei Monaten nach der Ablehnung oder dem Ablauf der Erklärungsfrist gerichtlich geltend gemacht wird. Die Nichteinhaltung dieser Ausschlussfrist führt zum Verlust des Anspruchs. (3) Die Ausschlussfristen der Absätze 1 und 2 gelten nicht – für die Haftung aufgrund Vorsatzes, – für Schäden aus der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit, – für Ansprüche des Arbeitnehmers, die kraft Gesetzes dieser Ausschlussfrist entzogen sind (z.B. AEntG, MiLoG, BetrVG, TVG)174.

11. Schriftformklausel

4.69 In den Musterarbeitsverträgen für den öffentlichen Dienst wird mittlerweile ganz von Schriftformklauseln abgesehen175. Grund dafür ist ein Urteil des BAG vom 20.5.2008176. Der Anstellungsvertrag des Klägers enthielt folgende Klausel: „Änderungen und Ergänzungen dieses Vertrages sind, auch wenn sie bereits mündlich getroffen wurden, nur wirksam, wenn sie schriftlich festgelegt und von beiden Parteien unterzeichnet worden sind. Dies gilt auch für den Verzicht auf das Schriftformerfordernis.“

Der 9. Senat hielt diese sog. doppelte Schriftformklausel wegen Verstoßes gegen § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB für unwirksam, da sie beim Arbeitnehmer den Eindruck erwecken könne, jede spätere vom Vertrag abweichende mündliche Abrede sei gemäß § 125 Satz 2 BGB nichtig. Dies entspreche jedoch nicht der wahren Rechtslage, da gemäß § 305b BGB individuelle Vertragsabreden Vorrang vor Allgemeinen Geschäftsbedingungen haben. Diese Irreführung des Vertragspartners benachteilige diesen unangemessen177. 172 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Bepler, § 37 TVöD-AT Rz. 1 ff.; Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 37 TVöD/TV-L Rz. 1 ff. 173 BAG v. 20.6.2018 – 5 AZR 377/17, NZA 2018, 1494 (1496); ErfK/Franzen, § 3 MiLoG Rz. 3a; Grimm in Tschöpe, Teil 6 E Rz. 113; Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Bepler, § 37 TVöD-AT Rz. 5a. 174 Roloff, FS Willemsen, 2018, 407 (416) schlägt diese Formulierung des Absatzes 3 vor, auf die das BAG verweist, BAG v. 18.9.2018 – 9 AZR 162/18, NZA 2018, 1619 (1623). 175 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Bd. 6, Vertragsmuster VKA, Vorbem. 1.3. 176 BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07, ArbRB 2008, 327 = NZA 2008, 1233. 177 BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07, BAG ArbRB 2008, 327 = NZA 2008, 1233 (1237); LAG Schleswig-Holstein v. 23.5.2013 – 5 Sa 375/12, LAGE BGB 2002 § 307 Nr. 35.

238

Grimm

Gestaltung von Standardklauseln

Rz. 4.71 § 4

Um keine Individualabrede iSv. § 305b BGB soll es sich allerdings bei einer betrieblichen Übung handeln. Diese entstehe „kollektivrechtlich“ durch ein einseitiges Verhalten des Arbeitgebers gegenüber allen Arbeitnehmern und stelle daher keine individuell ausgehandelte Verpflichtung dar178. Doppelte Schriftformklauseln sollen also nach wie vor das Entstehen einer betrieblichen Übung verhindern können179. Sie dürfen jedoch nicht zu weit gefasst sein, da sie dann wegen des Verbotes der geltungserhaltenden Reduktion insgesamt unwirksam sind180. Wirksam dürfte folgende doppelte Schriftformklausel sein:

4.70

„Änderungen und Ergänzungen dieses Arbeitsvertrages sowie die Änderung oder Aufhebung dieser Schriftformklausel bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform, es sei denn, sie beruhen auf einer individuellen Vereinbarung der Vertragsparteien. Dies bedeutet, dass keine Ansprüche aufgrund betrieblicher Übung entstehen können181.“

Neben der Verhinderung von Ansprüchen aufgrund betrieblicher Übung haben derartige Klauseln lediglich noch appellativen Charakter182. Aber auch im Zusammenhang mit betrieblichen Übungen sind sie im öffentlichen Dienst nur selten von Bedeutung, da die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur betrieblichen Übung in diesem Bereich nicht uneingeschränkt gelten183: Da öffentliche Arbeitgeber an Anweisungen vorgesetzter Dienststellen, Verwaltungsrichtlinien, Verordnungen und gesetzliche Regelungen, insbesondere an die Festlegungen des Haushaltsplans gebunden sind, müssen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes grundsätzlich davon ausgehen, ihr Arbeitgeber wolle nur Leistungen gewähren, zu denen er rechtlich verpflichtet ist, sog. Grundsatz des Normvollzugs. Selbst bei langjähriger Gewährung überobligatorischer Vergünstigungen kann der Arbeitnehmer idR nicht darauf vertrauen, dass die Vergünstigung Vertragsinhalt geworden ist und auf unbestimmte Zeit weitergelten werde184. Handelt der Normgeber selbst, kann aber auch im öffentlichen Dienst eine betriebliche Übung entstehen185. Gleiches gilt, wenn der Arbeitgeber im Hinblick auf die bei ihm bestehenden Arbeitsverhältnisse keinen näheren staatlichen Festlegungen unterliegt, die Regeln für die Beschäftigung seiner Mitarbeiter autonom aufstellt und nicht an Weisungen

178 BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07, ArbRB 2008, 327 = NZA 2008, 1233 (1236); so zuvor schon BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 302/02, NZA 2003, 1145 (1147 f.); zustimmend etwa Ulrici, BB 2005, 1902 (1903); Lingemann/Gotham, NJW 2009, 268 (269); aA Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II S 30 Rz. 13; Roloff, NZA 2004, 1191 (1196 f.). 179 So ausdrücklich BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07, ArbRB 2008, 327 = NZA 2008, 1233 (1234 f.); ebenso BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 302/02, NZA 2003, 1145 (1147). 180 So auch in BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07, ArbRB 2008, 327 = NZA 2008, 1233 (1237). 181 Vgl. Bloching/Ortolf, NJW 2009, 3393 (3397); Lunk/Leder, AnwaltFormulare ArbR, § 1a Rz. 1299. 182 Vgl. Lunk/Leder, AnwaltFormulare ArbR, § 1a Rz. 1291 f.; Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II S 30 Rz. 15. 183 Ausführlich zu den Besonderheiten der betrieblichen Übung im öffentlichen Dienst s. Laber, öAT 2016, 131 ff.; Bieder, RdA 2013, 274 ff. 184 BAG v. 3.8.1982 – 3 AZR 503/79, AP Nr. 12 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; v. 10.4.1985 – 7 AZR 36/83, NZA 1986, 604 (605); v. 11.10.1995 – 5 AZR 802/94, NZA 1996, 718 (729); v. 18.9.2002 – 1 AZR 477/01, NZA 2003, 337 (338); v. 29.9.2004 – 5 AZR 528/03, NZA-RR 2005, 501 (503); v. 15.5.2012 – 3 AZR 610/11, ArbRB 2012, 327 = NZA 2012, 1279 (1289); HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 386; Straube/Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 889; Breier/Dassau/Kiefer/ Lang/Langenbrinck, § 2 TVöD Rz. 120; aA etwa Preis/Genenger, JbArbR 2010, 93 (118); ErfK/ Preis, § 611a BGB Rz. 220e und 226; Reiter, ZfA 2006, 361 (375); Bieder, RdA 2013, 274 (278 ff.). 185 LAG Hessen v. 18.6.2001 – 13 Sa 1105/00, PersR 2002, 132.

Grimm

239

4.71

§ 4 Rz. 4.71

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

vorgesetzter Dienststellen und Behörden gebunden ist186. Die genannten Einschränkungen gelten auch nicht für private Arbeitgeber, die das öffentliche Dienstrecht lediglich kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme anwenden187, wohl jedoch für kommunale Eigengesellschaften188. Bei einem Wechsel einer Eigengesellschaft in eine privatrechtliche Rechtsform hält das LAG Schleswig-Holstein die Grundsätze zur betrieblichen Übung im öffentlichen Dienst für anwendbar, sofern weiterhin eine öffentliche Aufgabe erfüllt wird und eine Bindung an Haushaltsvorgaben besteht, weil der einzige Gesellschafter der neu gegründeten GmbH ein Kreis ist189.

4.72 Zu beachten ist schließlich, dass die Entstehung einer betrieblichen Übung im Geltungsbereich des TVöD wegen des Schriftformerfordernisses für Nebenabreden in § 2 Abs. 3 Satz 1 TVöD jedenfalls nicht für Sachverhalte in Betracht kommt, die im Wege einer Nebenabrede vereinbart werden190. Tarifvertragliche Vorschriften als gesetzliche Formvorschriften nach Art. 2 EGBGB können von den Arbeitsvertragsparteien auch nicht aufgehoben werden191. 12. Salvatorische Klausel

4.73 Salvatorische Klauseln sollen für den Fall einzelner unwirksamer Klauseln die Gesamtnichtigkeit des Vertrags verhindern (sog. Teilnichtigkeitsklauseln) und unwirksame Vertragsbestimmungen auf das wirksame Maß zurückzuführen (durch sog. Ersetzungs-, Reduktionsund gesetzesverweisende Klauseln). Solche Klauseln sind in individuell ausgehandelten Arbeitsverträgen unproblematisch zulässig192. In vorformulierten Arbeitsverträgen ist zu differenzieren: Teilnichtigkeitsklauseln mit dem Regelungsgehalt, dass „die etwaige Unwirksamkeit einzelner Bestimmungen des Vertrags die Wirksamkeit des übrigen Vertrags unberührt lässt“, sind zwar wirksam, aber überflüssig, da dies ohnehin der Rechtslage des § 306 Abs. 1 BGB entspricht193. Die übrigen Arten salvatorischer Klauseln, nämlich Ersetzungs-, Reduktions- und gesetzesverweisende Klauseln, mit denen das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion des § 306 Abs. 2 BGB umgangen werden soll, sind dagegen gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam194.

186 BAG v. 16.7.1996 – 3 AZR 352/95, NZA 1997, 664 (666); folgend LAG München v. 31.5.2011 – 9 Sa 1003/10, juris Rz. 163 f., v. 19.7.2011 – 9 Sa 207/11, juris Rz. 234 f. sowie v. 11.8.2011 – 2 Sa 736/10, juris Rz. 121 f.; kritisch Dütz in FS Wiese (1998), 85 (92). 187 Sächsisches LAG v. 6.3.2002 – 2 Sa 248/01, juris Rz. 12 ff. 188 BAG v. 23.6.1988 – 6 AZR 137/86, NZA 1989, 55 (56); LAG Hamm v. 16.4.1996 – 6 Sa 1127/95, BB 1996, 1775 (1776); offen gelassen von BAG v. 18.9.2002 – 1 AZR 477/01, NZA 2003, 337 (338). 189 LAG Schleswig-Holstein v. 3.4.2001 – 1 Sa 646b/00, NZA-RR 2001, 488 (490). 190 BAG v. 13.7.2010 – 9 AZR 264/09, AP Nr. 1 zu § 2 TVöD; Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 2 TVöD/TV-L Rz. 13. 191 HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 386. 192 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 95. 193 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 95. 194 BAG v. 22.3.2017 – 10 AZR 448/15, NZA 2017, 845; v. 28.5.2013 – 3 AZR 103/12, NZA 2013, 1419; v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, ArbRB 2005, 325 = NZA 2005, 1111 (1115); ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 95; HWK/Roloff, Anh. §§ 305–310 BGB Rz. 42.

240

Grimm

Besondere Gestaltungen

Rz. 4.78 § 4

IV. Besondere Gestaltungen 1. Befristung Die Befristung des Arbeitsverhältnisses bedarf nach § 14 Abs. 4 TzBfG der Schriftform. Bei einer kalendermäßigen Befristung ist die Angabe eines eventuell vorhandenen Sachgrundes iSd. § 14 Abs. 1 TzBfG entbehrlich und auch nicht anzuraten195.

4.74

„Frau/Herr … wird ab dem … als … eingestellt. Das Arbeitsverhältnis ist bis zum … befristet196.“

Bei der Zweckbefristung muss die Befristungsklausel den Befristungszweck dagegen genau bezeichnen:

4.75

„Frau/Herr … wird ab dem … als … eingestellt. Das Arbeitsverhältnis ist bis zum Erreichen folgenden Zweckes „…“, längstens bis zum … befristet197.“

Wegen § 15 Abs. 3 TzBfG sollte zusätzlich die ordentliche Kündbarkeit während der Befristungsdauer vereinbart werden:

4.76

„Das Arbeitsverhältnis kann jederzeit vor dem in … vereinbarten Beendigungszeitpunkt gemäß § 34 Abs. 1 TVöD ordentlich gekündigt werden. Das Recht zur außerordentlichen Kündigung (§ 626 BGB) bleibt unberührt198.“

Wegen der Einzelheiten wird auf § 22 verwiesen. 2. Überstunden, Mehrarbeit und Vergütung Nach § 6 Abs. 5 TVöD/TV-L sind die Beschäftigten im Rahmen betrieblicher/dienstlicher 4.77 Notwendigkeiten u.a. zur Leistung von Überstunden (s. § 7 Abs. 7 TVöD) und Mehrarbeit (s. § 7 Abs. 6 TVöD) verpflichtet. Dies gilt für Teilzeitbeschäftigte jedoch nur bei einer entsprechenden arbeitsvertraglichen Vereinbarung oder ihrer Zustimmung. Deshalb sollten jedenfalls Arbeitsverträge mit Teilzeitbeschäftigten folgende Klausel enthalten: „Die/Der Beschäftigte verpflichtet sich, im Rahmen begründeter betrieblicher/dienstlicher Notwendigkeiten zur Ableistung von Bereitschaftsdienst, Rufbereitschaft, Überstunden und Mehrarbeit199.“

3. Nachvertragliches Wettbewerbsverbot Ein nachvertragliches Wettbewerbsverbot kann nur durch einen gegenseitigen Vertrag vereinbart werden200. Die Voraussetzungen einer solchen Vereinbarung ergeben sich aus §§ 74–75d HGB, die gemäß § 6 Abs. 2, § 110 GewO auf alle Arbeitnehmer anwendbar sind. 195 Preis/Rolfs, Arbeitsvertrag, II B 10 Rz. 10. 196 Vgl. Mustervertrag Bund, abgedruckt in Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Bd. 6, E 2.1.2, § 1. 197 Vgl. Mustervertrag Bund, abgedruckt in Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Bd. 6, E 2.1.2, § 1; s. auch die Beispiele bei Preis/Rolfs, Arbeitsvertrag, II B 10 Rz. 115. 198 Vgl. Mustervertrag VKA, abgedruckt in Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Bd. 6, E 1.1.3, § 5. 199 Vgl. § 1 Abs. 2 Mustervertrag VKA, abgedruckt in Breier/Dassau/Kiefer/Lange/Langenbrinck, TVöD, Bd. 6, E 1.1.2.1. 200 BAG v. 23.11.2004 – 9 AZR 595/03, ArbRB 2005, 234 = NZA 2005, 411 (412). Zur Nichtigkeit eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbotes wegen Verstoßes gegen § 74 Abs. 2 HGB mangels Gewährung einer Karenzentschädigung BAG v. 22.3.2017 – 10 AZR 448/15, NJW 2017, 2363.

Grimm

241

4.78

§ 4 Rz. 4.78

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

Die Vereinbarung bedarf wegen § 74 Abs. 1 HGB zwingend der Schriftform. Gemäß § 75d HGB kann von den genannten Vorschriften nicht zuungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden. Da die Rechtsfolgen so weitgehend der Disposition entzogen sind, ist bei der Gestaltung der Wettbewerbsverbotsklausel die Aufmerksamkeit vor allem auf eine genaue Beschreibung des gegenständlichen, räumlichen und zeitlichen Geltungsbereichs zu richten. „1. Herr/Frau … verpflichtet sich, für die Dauer von … nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht auf folgenden Gebieten in selbständiger oder unselbständiger Form tätig zu werden: … Der örtliche Geltungsbereich des Verbots erstreckt sich auf … 2. Für die Dauer des Verbots erhält Herr/Frau … als Entschädigung …, mindestens jedoch 50 % der zuletzt gewährten vertragsmäßigen Leistungen. 3. Im Übrigen finden auf diese Wettbewerbsklausel die §§ 74–75c HGB Anwendung. 4. Herr/Frau … bestätigt, eine von beiden Parteien unterzeichnete Ausfertigung dieser Wettbewerbsabrede erhalten zu haben201.“

4. Schutz von Know-how und Betriebsgeheimnissen

4.79 Nach § 3 Abs. 1 TVöD bzw. § 3 Abs. 2 TV-L haben die Beschäftigten über Angelegenheiten, deren Geheimhaltung durch gesetzliche Vorschriften vorgesehen oder vom Arbeitgeber angeordnet ist, Verschwiegenheit zu wahren. Besteht ein besonderes Bedürfnis nach dem Schutz von Know-how und Betriebsgeheimnissen, kann der Arbeitgeber im Arbeitsvertrag hierzu Anordnungen treffen. Dies alleine genügt seit dem Inkrafttreten des Geschäftsgeheimnisgesetzes (GeschGehG) am 26.4.2019 nicht mehr, da die Qualifikation als Geschäftsgeheimnis nach § 2 Nr. 1 Buchst. b GeschGehG voraussetzt, dass „angemessene Geheimhaltungsmaßnahmen“ getroffen worden sind202. Der Geheimnisschutz muss deshalb im Unternehmen bzw. der Dienststelle organisiert werden203. Der strafrechtliche Schutz erfolgt nun durch § 23 GeschGehG, der an die Stelle der §§ 17 und 18 UWG getreten ist. „1. Die/der Beschäftigte hat über Angelegenheiten, deren Geheimhaltung durch gesetzliche Vorschriften vorgesehen oder vom Arbeitgeber angeordnet worden ist, Verschwiegenheit zu wahren; dies gilt auch über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hinaus. 2. Die Verschwiegenheit wird insbesondere für folgende Betriebsgeheimnisse angeordnet: …“

5. Vertragsstrafen

4.80 Vertragsstrafen dienen dazu, den Beschäftigten zur ordnungsgemäßen Erfüllung seines Arbeitsvertrages anzuhalten. Nachdem das BAG vorformulierte Vertragsstrafen wegen der „im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten“ iSd. § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB nicht schon an § 309 Nr. 6 BGB scheitern lässt204, bleiben Vertragsstrafen auch nach der Schuldrechtsreform ein wichtiges Instrument der Vertragsgestaltung, unterliegen aber der Inhaltskontrolle nach § 307

201 202 203 204

242

Zur Gestaltung Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, 8. Aufl. 2019 und Lunk/Grimm, Anwaltformulare ArbR, § 1b Rz. 846 ff. Vgl. Preis/Stoffels, Arbeitsvertrag, II W 10 Rz. 107, ausführliches Muster Rz. 105. Zum GeschGehG Maaßen, GRUR 2019, 352 ff. sowie Bauschke, öAT 2019, 133 ff. Zu den zu treffenden Maßnahmen detailliert Maaßen, GRUR 2019, 352 (357). BAG v. 24.8.2017 – 8 AZR 378/16, NZA 2018, 100; v. 23.1.2014 – 8 AZR 130/13, NZA 2014, 777; v. 4.3.2004 – 8 AZR 196/03, NZA 2004, 727 (728 ff.); v. 25.9.2008 – 8 AZR 717/07, NZA 2009, 370 (374); v. 19.8.2010 – 8 AZR 645/09, AP Nr. 49 zu § 307 BGB.

Grimm

Besondere Gestaltungen

Rz. 4.80a § 4

BGB. Sie sind deshalb insbesondere wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB unwirksam, wenn sie zu unbestimmt formuliert sind. Vertragsstrafenvereinbarungen genügen den Bestimmtheitsanforderungen nur, wenn die auslösende Pflichtverletzung so klar bestimmt ist, dass sich der Versprechende in seinem Verhalten darauf einstellen kann und die zu leistende Strafe auch ihrer Höhe nach klar und bestimmt ist205. Die Vertragsstrafe darf den Arbeitnehmer auch im Übrigen nicht unangemessen benachtei- 4.80a ligen (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB). Dies setzt zunächst voraus, dass der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse an der Vertragsstrafenvereinbarung hat. Letzteres kann fehlen, wenn das sanktionierte Verhalten nur zu einem völlig unerheblichen Schaden führen würde oder der Schaden einfach nachweisbar wäre206. An einem berechtigten Interesse fehlt es auch dann, wenn erkennbar ist, dass die Vertragsstrafe in erster Linie zur bloßen Schöpfung neuer, vom Sachinteresse des Verwenders losgelöster Geldforderungen eingesetzt wird207. Eine unangemessene Benachteiligung kann sich ferner aus einer unangemessenen Höhe der Vertragsstrafe ergeben. Das beurteilt das BAG anhand einer Interessenabwägung. Dabei geht es von einer typisierenden Betrachtungsweise im Zeitpunkt des Vertragsschlusses aus, die sowohl den jeweiligen Gegenstand, der dem Vertragsstrafenversprechen zugrunde liegt, als auch die jeweilige Arbeitnehmergruppe, die von der Verwendung der AGB betroffen ist, berücksichtigt. So ergeben sich etwa bei der Verletzung eines Wettbewerbsverbotes andere Folgen als bei der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer. Auch die finanzielle Leistungsfähigkeit der jeweiligen Arbeitnehmergruppe ist von Bedeutung208. Eine generelle Höchstgrenze in Höhe eines Bruttomonatsgehaltes erkennt das BAG demzufolge nicht an. Vielmehr kann je nach dem Grund der Vertragsstrafe und den typischerweise für den Arbeitgeber eintretenden Folgen bei Nichtbeachtung der durch die Vertragsstrafe gesicherten Verpflichtung auch eine höhere Vertragsstrafe angemessen sein209. In Fällen der vorzeitigen, vertragswidrigen Lossagung vom Arbeitsverhältnis durch den Arbeitnehmer stellt das BAG zur Feststellung der Angemessenheit der Vertragsstrafe maßgeblich auf die geltende Kündigungsfrist und die für diesen Zeitraum zu zahlende Vergütung ab, da diese das wirtschaftliche Interesse des Arbeitgebers an der Arbeitskraft des Arbeitnehmers widerspiegeln210. So ist die Festsetzung einer Vertragsstrafe in Höhe eines Monatsgehalts unangemessen, wenn diese auch verwirkt sein soll, wenn der Arbeitnehmer sich innerhalb der Probezeit rechtmäßig mit einer Kündigungsfrist von zwei Wochen vom Arbeitsvertrag lösen könnte211. Eine Vertragsstrafe, die höher ist als die Arbeitsvergütung, die für die Zeit zwischen einer vorzeitigen tatsächlichen Beendigung und dem rechtlich zulässigen Beendigungszeitpunkt zu zahlen wäre, ist nur ausnahmsweise dann angemessen iSv. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB, wenn das Sanktionsinteresse des Arbeitgebers den Wert der Arbeitsleistung, der sich in der Arbeitsvergütung bis

205 BAG v. 21.4.2005 – 8 AZR 425/04, NZA 2005, 1053 (1055); v. 14.8.2007 – 8 AZR 973/06, ArbRB 2008, 72 = NZA 2008, 170 (171 f.); HWK/Roloff, Anh. §§ 305-310 BGB Rz. 52; ErfK/Müller-Glöge, §§ 339–345 BGB Rz. 12; Stoffels, ZfA 2009, 861 (884 f.). 206 Preis/Stoffels, Arbeitsvertrag, II V 30 Rz. 26, HWK/Roloff, Anh. §§ 305-310 BGB Rz. 50. 207 BAG v. 18.12.2008 – 8 AZR 81/08, NZA-RR 2009, 519 (524); v. 19.8.2010 – 8 AZR 645/09, AP Nr. 49 zu § 307 BGB. 208 BAG v. 25.9.2008 – 8 AZR 717/07, NZA 2009, 370 (376). 209 BAG v. 25.9.2008 – 8 AZR 717/07, NZA 2009, 370 (376). 210 BAG v. 19.8.2010 – 8 AZR 645/09, AP Nr. 49 zu § 307 BGB; v. 23.9.2010 – 8 AZR 897/08, ArbRB 2011, 40 = NZA 2011, 89 (91). 211 BAG v. 23.9.2010 – 8 AZR 897/08, ArbRB 2011, 40 = NZA 2011, 89 (91 f.).

Grimm

243

§ 4 Rz. 4.80a

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

zur vertraglich zulässigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses dokumentiert, aufgrund besonderer Umstände typischerweise und generell übersteigt212.

4.80b Neben den Fällen des Vertragsbruchs, der Verletzung der Arbeitspflicht und des Wettbewerbsverbots kann insbesondere die Einhaltung der im öffentlichen Dienst besonders wichtigen Verschwiegenheitspflicht durch eine Vertragsstrafenabrede abgesichert werden. Hierbei ist besonders auf die Bestimmtheit der Regelung zu achten: Nach der Rechtsprechung des BAG verstößt eine Klausel, nach der der Arbeitgeber „für jeden Fall der Zuwiderhandlung eine Vertragsstrafe in Höhe von zwei durchschnittlichen Brutto-Monatseinkommen verlangen kann“ und im Fall einer „dauerhaften Verletzung der Verschwiegenheitspflicht oder des Wettbewerbsverbots jeder angebrochene Monat als erneute Verletzungshandlung“ gilt, gegen das Transparenzgebot213. Mit Rücksicht auf diese Rechtsprechung sollte die Formulierung einer Vertragsstrafe als Sanktion für die Verletzung der Verschwiegenheitspflicht möglichst einfach gehalten und für jeden einzelnen Verstoß eine genau bestimmte Strafhöhe angegeben werden. Um bei mehrfachen Verstößen eine unangemessene Strafhöhe durch Kumulation der Vertragsstrafen zu vermeiden, sollte die Klausel eine Obergrenze von einem Brutto-Monatsgehalt enthalten. „Verstößt die/der Arbeitnehmer/in gegen seine Verschwiegenheitspflicht aus § 3 Abs. 1 TVöD/§ 3 Abs. 2 TV-L, so gilt für jeden Fall der Zuwiderhandlung eine Vertragsstrafe von … Euro als vereinbart. Bei mehrfachen Verstößen beträgt die Vertragsstrafe maximal ein Brutto-Monatsgehalt.“

6. Internet- und E-Mail-Nutzung

4.81 Auch ohne ausdrückliche vertragliche Vereinbarung bzw. sonst durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung erfolgende Gestattung verletzt der Arbeitnehmer durch private Internetnutzung seine Hauptleistungspflicht zur Arbeitsleistung214. Um in einem späteren Prozess den Einwand des Arbeitnehmers auszuschließen, der Arbeitgeber habe die private Nutzung genehmigt oder widerspruchslos geduldet, empfiehlt es sich, im Arbeitsvertrag ein Verbot privater Internetnutzung ausdrücklich auszusprechen215: „Die Nutzung des betrieblichen Internetanschlusses sowie die Nutzung des E-Mail-Systems darf ausschließlich für dienstliche Zwecke erfolgen. Eine private Nutzung durch den Arbeitnehmer ist nicht gestattet.“

7. Dienstwagen

4.82 Soll dem Beschäftigten ein Dienstwagen gestellt werden, bedarf dies wie in privaten Arbeitsverhältnissen einer gesonderten Vereinbarung mit Regelungen u.a. zur Privatnutzung durch den Beschäftigten, zu Herausgabeansprüchen des Arbeitgebers und zu Haftungsfragen216. 212 BAG v. 24.8.2017 – 8 AZR 378/16, NZA 2018, 100; v. 17.3.2016 – 8 AZR 665/14, NZA 2016, 945; v. 18.12.2008 – 8 AZR 81/08, NZA-RR 2009, 519 (524); v. 19.8.2010 – 8 AZR 645/09, AP Nr. 49 zu § 307 BGB; v. 23.9.2010 – 8 AZR 897/08, ArbRB 2011, 40 = NZA 2011, 89 (91). 213 BAG v. 14.8.2007 – 8 AZR 973/06, ArbRB 2008, 72 = NZA 2008, 170 (171 f.). 214 BAG v. 7.7.2005 – 2 AZR 581/04, ArbRB 2006, 99 = NZA 2006, 98 (99 f.); v. 27.4.2006 – 2 AZR 386/05, ArbRB 2006, 292 = NZA 2006, 977 (978); v. 31.5.2007 – 2 AZR 200/06, NZA 2007, 922 (924); Wedde, PersR 2007, 107. Zur dienstlichen und privaten Nutzung von Telekommunikationseinrichtungen Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 230 ff. 215 Zu den datenschutzrechtlichen Anforderungen vgl. Brink/Schwab, ArbRAktuell 2018, 111 ff. 216 S. hierzu ausführlich das Muster von Lingemann in Bauer/Lingemann/Diller/Haußmann, Kap. 12.22, S. 528 ff.

244

Grimm

Besondere Gestaltungen

Rz. 4.86 § 4

8. Rückzahlung von Aus- und Fortbildungskosten Rückzahlungsklauseln sollen verhindern, dass ein Arbeitnehmer, dessen Aus- oder Fortbildung vom Arbeitgeber finanziell gefördert wurde, nach Ausbildungsende das Beschäftigungsverhältnis beendet, bevor sich für den alten Arbeitgeber die Investition amortisieren konnte. In Berufsausbildungsverhältnissen sind Rückzahlungsvereinbarungen für Ausbildungskosten gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 1 BBiG immer unwirksam. Sonst unterliegen sie als vorformulierte Vertragsbedingung der Inhaltskontrolle des § 307 BGB.

4.83

Eine Erstattungspflicht für Aus- und Fortbildungskosten benachteiligt den Arbeitnehmer nicht unangemessen iSd. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB, wenn die Rückzahlungsverpflichtung einem billigenswerten Interesse des Arbeitgebers entspricht und der Arbeitnehmer mit der Fortbildungsmaßnahme eine angemessene Gegenleistung erhält217.

4.84

Ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers setzt zunächst voraus, dass er Aufwendungen 4.85 erbracht hat, die über seine arbeitsvertraglichen Pflichten hinausgehen218. Ein legitimes Interesse an der Rückforderung solcher Aufwendungen hat der Arbeitgeber nur, wenn die vorzeitige Lösung des Arbeitsverhältnisses der Sphäre des Arbeitnehmers zuzurechnen ist219. Der die Rückzahlungspflicht auslösende Tatbestand darf daher nicht so weit gefasst sein, dass jedes Ausscheiden des Arbeitnehmers innerhalb der Bindungsfrist ohne Berücksichtigung der Gründe für das Ausscheiden die Rückzahlungspflicht auslöst220. Der Arbeitnehmer wird durch solche Rückzahlungsklauseln unangemessen benachteiligt, weil er es nicht selbst in der Hand hat, der Rückzahlungspflicht durch eigene Betriebstreue zu entgehen. Eine Rückzahlungsklausel, die auch für den Fall greift, dass die Gründe für die vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausschließlich dem Verantwortungs- und Risikobereich des Arbeitgebers zuzurechnen sind, ist deshalb unwirksam221. Gleiches gilt für Klauseln, die die Belastung mit einer Rückzahlungspflicht für jeden Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Eigenkündigung vorsehen, da diese Formulierung auch Konstellationen erfasst, in denen die Kündigung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber (mit)veranlasst worden ist222. Auf Seiten des Arbeitnehmers hängt die Zumutbarkeit einer Kostenbeteiligung davon ab, ob er durch die Aus- bzw. Fortbildung einen geldwerten Vorteil erlangt223. Der geldwerte Vorteil kann sich zB daraus ergeben, dass der Beschäftigte durch die Ausbildung überhaupt erst 217 BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 610/05, NZA 2006, 1042 (1044); v. 5.6.2007 – 9 AZR 604/06, ArbRB 2007, 347 = NZA-RR 2008, 107 (108); v. 19.1.2011 – 3 AZR 621/08, ArbRB 2011, 195 = NZA 2012, 85 (90). 218 Schmidt, NZA 2004, 1002 (1004 f.); Düwell/Ebeling, DB 2008, 406 (407 f.). 219 BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 610/05, NZA 2006, 1042 (1044); Düwell/Ebeling, DB 2008, 406 (408); Schmidt, NZA 2004, 1002 (1005). 220 BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 610/05, NZA 2006, 1042 (1044); v. 23.1.2007 – 9 AZR 482/06, NZA 2007, 748 (749 f.); v. 19.1.2011 – 3 AZR 621/08, ArbRB 2011, 195 = NZA 2012, 85 (89). 221 BAG v. 24.6.2004 – 6 AZR 383/03, ArbRB 2004, 296 = NZA 2004, 1035 (1036); v. 11.4.2006 – 9 AZR 610/05, NZA 2006, 1042 (1044 f.); v. 23.1.2007 – 9 AZR 482/06, NZA 2007, 748 (749 f.); Düwell/Ebeling, DB 2008, 406 (408 f.). 222 BAG v. 13.12.2011 – 3 AZR 791/09, NZA 2012, 738 (739); v. 28.5.2013 – 3 AZR 103/12, ZTR 2013, 576 (577); LAG Schleswig-Holstein v. 17.9.2014 – 6 Sa 106/124, juris; Dimsic, RdA 2016, 106 (107). 223 BAG v. 21.11.2001 – 5 AZR 158/00, ArbRB 2002, 66 = NZA 2002, 551 (552 f.); v. 11.4.2006 – 9 AZR 610/05, NZA 2006, 1042 (1044); v. 19.1.2011 – 3 AZR 621/08, ArbRB 2011, 195 = NZA 2012, 85 (90); Düwell/Ebeling, DB 2008, 406 (408); Schmidt, NZA 2004, 1002 (1004); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 439.

Grimm

245

4.86

§ 4 Rz. 4.86

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

in die Lage versetzt wird, das Arbeitsverhältnis anzutreten, dem Arbeitnehmer durch die Qualifizierung der Aufstieg in eine höhere Tarifgruppe eröffnet wird oder ihm durch die Fortbildung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder bei seinem bisherigen Arbeitgeber berufliche Möglichkeiten eröffnet werden, die ihm zuvor verschlossen waren224. Auch wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist die Rückzahlungspflicht aber nur zumutbar, wenn sie bereits vor Beginn der Aus- bzw. Fortbildungsmaßnahme vereinbart wird und nicht erst unter Druck während der Ausbildung erzwungen wird225.

4.87 Auf einer zweiten Stufe ist die Angemessenheit der Rückzahlungsmodalitäten zu überprüfen226. Hierbei muss insbesondere die Bindungsdauer im Verhältnis zur Ausbildungsdauer, die sich nach der Maßnahme als solcher ohne Verpflichtung zur Arbeitsleistung unter Fortzahlung der Bezüge bemisst, angemessen sein227. Das BAG hat Regelwerte228 entwickelt: Ausbildungsdauer , 1 Monat

, 2 Monate

, 4 Monate

, 6–12 Monate

. 24 Monate

Bindungsdauer

, 12 Monate

, 24 Monate

, 36 Monate

, 60 Monate

, 6 Monate

4.88 Diese Grenzen sind jedoch nicht starr zu verstehen229. So kann im Einzelfall auch eine längere Bindungsdauer gerechtfertigt sein, wenn der Arbeitgeber ganz erhebliche Mittel aufwendet oder die Teilnahme an der Fortbildung dem Arbeitnehmer überdurchschnittlich große Vorteile bringt230. Ein mitentscheidender Gesichtspunkt für die Zumutbarkeitsprüfung ist außerdem, ob der Rückzahlungsbetrag zeitanteilig zur Bindungsdauer gestaffelt wird231 Nach der Rechtsprechung des BAG ist die Bindungsdauer unangemessen, wenn der Arbeitgeber die durch die Fortbildung erlangte weitere Qualifikation des Arbeitnehmers nicht nutzen kann oder will232. Schließlich darf die Rückzahlungspflicht auch nicht unangemessen hoch sein.

224 BAG v. 16.3.1994 – 5 AZR 339/92, NZA 1994, 937 (940); v. 21.11.2001 – 5 AZR 158/00, ArbRB 2002, 66 = NZA 2002, 551 (553); v. 19.2.2004 – 6 AZR 552/02, ArbRB 2004, 264 = AP Nr. 33 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 225 BAG v. 19.3.1980 – 5 AZR 362/78, AP Nr. 5 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe; v. 21.11.2002 – 6 AZR 77/01, EzA Nr. 2 zu § 611 BGB 2002 Ausbildungsbeihilfe; ArbG Krefeld v. 1.8.2007 – 3 Ca 1125/07, NZA-RR 2008, 15 (16); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 437; Düwell/Ebeling, DB 2008, 406 (407); aA Thüsing, AGB-Kontrolle, Rz. 350; Hoffmann, NZA-RR 2015, 337 (338). 226 Düwell/Ebeling, DB 2008, 406 (409); vgl. Schmidt, NZA 2004, 1002 (1005). 227 BAG v. 23.2.1983 – 5 AZR 531/80, DB 1983, 1210 (1211); v. 5.6.2007 – 9 AZR 604/06, ArbRB 2007, 347 = NZA-RR 2008, 107 (109); Düwell/Ebeling, DB 2008, 406 (409); Schmidt, NZA 2004, 1002 (1005). 228 BAG v. 14.1.2009 – 3 AZR 900/07, ArbRB 2009, 195 = NZA 2009, 666 (668); v. 15.9.2009 – 3 AZR 173/08, ArbRB 2010, 41 = NZA 2010, 342 (344 f.); v. 19.1.2011 – 3 AZR 621/08, ArbRB 2011, 195 = NZA 2012, 85 (89); Dimsic, RdA 2016, 106 (108); Schmidt, NZA 2004, 1002 (1005); Düwell/Ebeling, DB 2008, 406 (409). 229 BAG v. 5.6.2007 – 9 AZR 604/06, ArbRB 2007, 347 = NZA-RR 2008, 107 (109); v. 14.1.2009 – 3 AZR 900/07, ArbRB 2009, 195 = NZA 2009, 666 (668); v. 19.1.2011 – 3 AZR 621/08, ArbRB 2011, 195 = NZA 2012, 85 (89). 230 BAG v. 5.12.2002 – 6 AZR 539/01, ArbRB 2003, 165 = NZA 2003, 559 (560); v. 21.7.2005 – 6 AZR 452/04, ArbRB 2006, 72 = NZA 2006, 542 (544); v. 14.1.2009 – 3 AZR 900/07, ArbRB 2009, 195 = NZA 2009, 666 (668). 231 BAG v. 10.5.2016 – 9 AZR 434/15, ArbRAktuell 2016, 530; v. 23.4.1986 – 5 AZR 159/85, NZA 1986, 741 (742); Schmidt, NZA 2004, 1002 (1006). 232 BAG v. 18.3.2014 – 9 AZR 545/12, NZA 2014, 957.

246

Grimm

Besondere Gestaltungen

Rz. 4.91 § 4

Äußerste Grenze sind die vom Arbeitgeber tatsächlich getätigten Aufwendungen233. Um dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB zu genügen, muss der Arbeitnehmer erkennen können, in welcher Größenordnung eine Rückzahlung auf ihn zukommen kann234. Dafür muss der Arbeitgeber die einzelnen Positionen, wie zB Lehrgangsgebühren und Fahrtkosten, genau und abschließend bezeichnen235. Dem Arbeitgeber dürfen keine ungerechtfertigten Beurteilungs- und Gestaltungsspielräume entstehen, damit der Arbeitnehmer das Zahlungsrisiko abschätzen kann236. Um diesen Vorgaben zu genügen, kann die Rückzahlungsklausel im Fall einer berufsbezogenen Fortbildung z.B. wie folgt gefasst werden:

4.89

„(1) Der Arbeitnehmer verpflichtet sich zur Rückzahlung der vom Arbeitgeber getragenen Fortbildungskosten, bestehend aus [z.B.: der für die Zeit der Freistellung gezahlten Vergütung, Schulungskosten, Prüfungsgebühren, Reise- und Übernachtungskosten], insgesamt jedoch maximal … Euro, wenn er das Arbeitsverhältnis aus einem nicht von dem Arbeitgeber zu vertretenden Grund kündigt oder wenn das Arbeitsverhältnis seitens des Arbeitgebers aus einem von dem Arbeitnehmer zu vertretenden Grund beendet wird. (2) Für jeden vollen Tätigkeitsmonat nach Beendigung der Fortbildungsmaßnahme verringert sich der Rückzahlungsbetrag um [z.B.: 1/24]. (3) Die Rückzahlungsverpflichtung des Arbeitnehmers besteht auch dann, wenn dieser die Fortbildung vorzeitig ohne wichtigen Grund abbricht oder das Fortbildungsziel schuldhaft nicht erreicht. Absatz 2 findet in diesen Fällen keine Anwendung. Ein Abbruch der Fortbildung innerhalb einer Überlegungsfrist von [… Wochen/Monaten] nach Beginn der Fortbildung ist unschädlich. (4) Der Rückzahlungsbetrag ist in den Fällen des Absatzes 1 zum Zeitpunkt des Ausscheidens des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis in voller Höhe fällig und kann gegen pfändbare finanzielle Ansprüche des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis aufgerechnet werden. In den Fällen des Absatzes 2 ist der Rückzahlungsbetrag mit dem endgültigen Abbruch der Fortbildung fällig.“237

Ist eine Rückzahlungsklausel unwirksam gestaltet, kommt weder eine geltungserhaltende Reduktion noch eine Aufrechterhaltung der Rückzahlungspflicht im Wege ergänzender Vertragsauslegung in Frage238. Der Arbeitgeber kann die Erstattung der aufgewandten Ausbildungskosten auch nicht nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung (§§ 812 ff. BGB) verlangen, weil die spezifische Rechtsprechung des BAG dem Bereicherungsrecht vorgeht239.

4.90

Die Rückzahlungsklausel ist idR in einem separaten Fort- bzw. Ausbildungsvertrag enthalten240. Bei dessen Gestaltung ist zu berücksichtigen, dass die Rückzahlungsvereinbarung die

4.91

233 BAG v. 16.3.1994 – 5 AZR 339/92, NZA 1994, 937 (941); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 441; Düwell/Ebeling, DB 2008, 406 (409). 234 LAG Schleswig-Holstein v. 23.5.2007 – 3 Sa 28/07, NZA-RR 2007, 514 (517). 235 BAG v. 6.8.2013 – 9 AZR 442/12, NZA 2013, 1361; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 436; Gaenslen/ Zons, öAT 2017, 92 (93); Dimsic, RdA 2016, 106 (107). 236 BAG v. 6.8.2013 – 9 AZR 442/12, NZA 2013, 1361. 237 Vgl. Liebers/Hahn, Formularbuch des Fachanwalts Arbeitsrecht, F.I.7 Rz. 83; zur Klauselgestaltung bei dualen Studiengängen s. Grimm/Freh, ArbRB 2015, 316. 238 BAG v. 6.8.2013 – 9 AZR 442/12, NZA 2013, 1361; v. 11.4.2006 – 9 AZR 610/05, NZA 2006, 1042 (1045 f.); v. 23.1.2007 – 9 AZR 482/06, NZA 2007, 748 (750 f.); Gaenslen/Zons, öAT 2017, 92 (94). Zur Bindungsdauer Lakies, BB 2004, 1903 (1908). 239 BAG v. 28.5.2013 – 3 AZR 103/12, ZTR 2013, 576 (578); Gaenslen/Zons, öAT 2017, 92 (94); Günther, öAT 2014, 137 (140). 240 Muster bei Lingemann in Bauer/Lingemann/Diller/Haußmann, Kap. 8.6. S. 363 ff.

Grimm

247

§ 4 Rz. 4.91

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

ausdrückliche Verpflichtung enthalten muss, den Arbeitnehmer nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung weiterzubeschäftigen, damit dieser die Möglichkeit hat, die Ausbildungskosten durch eigene Betriebstreue abzugelten241. Um dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB zu genügen, muss der Vertrag deshalb auch Angaben über Inhalt, Ort, den zeitlichen Umfang und die Vergütung der nach der Ausbildung geschuldeten arbeitsvertraglichen Tätigkeit enthalten242. 9. Änderungsvorbehalte

4.92 Unter dem Stichwort der Änderungsvorbehalte stellt sich die Frage, wie sich ein Arbeitgeber die nachträgliche einseitige Änderung der Vertragsbedingungen vorbehalten kann. Soweit es um Änderungen des Inhalts der Arbeitsleistung durch sog. Versetzungsklauseln geht, sei auf § 6, Rz. 6.42 ff., verwiesen. Das Ziel, einzelne Entgeltbestandteile für den Arbeitgeber disponibel zu gestalten, wird in der Praxis mit Widerrufs-, Freiwilligkeits- und Verrechnungsvorbehalten verfolgt. Fragen der Inhaltskontrolle stellen sich nach § 310 Abs. 4 BGB bei der Gestaltung durch Dienst- oder Betriebsvereinbarung nicht. a) Widerrufsvorbehalt

4.93 Durch die Vereinbarung eines Widerrufsvorbehalts behält sich der Arbeitgeber vor, die Gewährung einer Leistung (zB die Zahlung übertariflicher Zulagen oder die Überlassung eines Dienstwagens) durch einseitige Ausübung seines Widerrufsrechts zu beenden.

4.94 Da vorformulierte Widerrufsklauseln als einseitige Leistungsbestimmungsrechte vom Grundsatz „pacta sunt servanda“ abweichen, unterliegen sie gemäß § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB einer uneingeschränkten Inhaltskontrolle243. Die Wirksamkeit von Widerrufsklauseln ist vorrangig an § 308 Nr. 4 BGB zu messen, wonach die Vereinbarung eines Rechts des Verwenders, die versprochene Leistung zu ändern oder von ihr abzuweichen, unwirksam ist, wenn nicht die Vereinbarung der Änderung oder Abweichung unter Berücksichtigung der Interessen des Verwenders für den anderen Vertragsteil zumutbar ist. Die Zumutbarkeit des Widerrufs setzt insbesondere voraus, dass der Widerruf nicht grundlos erfolgt244. Hieraus und aus dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB leitet das BAG als formelle Grundvoraussetzung für die Wirksamkeit von Widerrufsklauseln ab, dass Voraussetzungen und Umfang der vorbehaltenen Änderungen in der Klausel hinreichend konkret zum Ausdruck kommen. Die widerrufliche Leistung ist nach Art und Höhe eindeutig zu bestimmen, damit der Arbeitnehmer erkennen kann, was ggf. „auf ihn zukommt“245. Während es früher ausreichte, bei 241 LAG Schleswig-Holstein v. 23.5.2007 – 3 Sa 28/07, NZA-RR 2007, 514 (517); BAG v. 18.3.2008 – 9 AZR 186/07, ArbRB 2008, 360 = NZA 2008, 1004 (1006 f.). 242 LAG Schleswig-Holstein v. 23.5.2007 – 3 Sa 28/07, NZA-RR 2007, 514 (517); LAG Baden-Württemberg v. 15.2.2007 – 3 Sa 46/06, juris Rz. 30 ff.; bestätigt durch BAG v. 18.3.2008 – 9 AZR 186/07, ArbRB 2008, 360 = NZA 2008, 1004 (1007 f.); Gaenslen/Zons, öAT 2017, 92 (93). 243 BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465 (467); v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, ArbRB 2007, 35 = NZA 2007, 87 (88 f.); zu Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats vgl. Stoffels, NZA 2017, 1217 (1221 ff.). 244 BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465 (467); v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, ArbRB 2007, 35 = NZA 2007, 87 (89). 245 BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465 (468); v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, ArbRB 2007, 35 = NZA 2007, 87 (89). Zur Intransparenz der Formulierung „wirtschaftliche Situation des Unternehmens“ LAG Köln v. 17.5.2015 – 7 Sa 1069/14, BeckRS 2016, 65188.

248

Grimm

Besondere Gestaltungen

Rz. 4.96 § 4

den Widerrufsgründen zumindest die Richtung anzugeben, aus der der Widerruf möglich sein soll (zB wirtschaftliche Gründe, Leistung oder Verhalten des Arbeitnehmers)246, verlangt der 9. Senat nunmehr einen konkret bezeichneten Widerrufsgrund247. Als wirtschaftliche Gründe erkennt er etwa ein verstärktes Gewinnstreben, den Ausgleich wirtschaftlicher Verluste, wirtschaftliche Notlagen248, Kostensenkungsmaßnahmen oder den Wegfall des Interesses, bestimmte Arbeitnehmergruppen durch die Überlassung eines Dienstwagens an das Unternehmen zu binden, an249. Im öffentlichen Dienst kommen als Widerrufsgründe Umstrukturierungen, veränderte Beschlussfassungen der Vertretungsorgane der (Gebiets-)Körperschaften oder Haushaltsvorgaben in Betracht. Widerrufsvorbehalte sind ferner unzumutbar iSd. § 308 Nr. 4 BGB und damit unwirksam, 4.95 wenn sie in den „Kernbereich des Arbeitsvertrages“ eingreifen250. Das BAG differenziert dabei zwischen synallagmatischen (zB übertarifliche Zulagen, Leistungszulagen, Dienstwagen251) und nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis stehenden Entgeltbestandteilen (zB Fahrkostenerstattung, Jubiläumszahlungen, Leistungen zur Honorierung der Betriebstreue, Weihnachtsgratifikation ohne Entgeltcharakter252): Danach ist die Vereinbarung eines Widerrufsvorbehalts nur zulässig, soweit der im Gegenseitigkeitsverhältnis stehende widerrufliche Teil des Gesamtverdienstes unter 25 % liegt und der Tariflohn nicht unterschritten wird. Handelt es sich bei der widerruflichen Leistung nicht um eine Gegenleistung, sondern um Ersatz für Aufwendungen, die an sich der Arbeitnehmer selbst tragen muss, erhöht sich der widerrufliche Teil auf bis zu 30 % der Gesamtvergütung253. „Der Arbeitgeber ist berechtigt, die Sonderzahlung X mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen, wenn die Umsatzentwicklung des Unternehmens im vergangenen Jahr um mehr als X % zurückgegangen ist. Dies gilt jedoch nur insoweit, als hierdurch die Gesamtvergütung um weniger als 25 % vermindert und der Tariflohn des Arbeitnehmers nicht unterschritten wird254.“

Hält die Widerrufsklausel dieser Inhaltskontrolle stand, ist auf einer zweiten Stufe die Ausübung des Widerrufsrechts einer Billigkeitskontrolle nach § 315 BGB auch anhand des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu unterziehen255. Keine Vergleichbarkeit der Arbeitnehmergruppen liegt vor, wenn der Widerruf durch den Arbeitgeber nicht gegenüber Arbeitnehmern erklärt wird, die durch (Alt-) Verträge ohne (wirksame) Widerrufsvorbehalte gebun-

246 BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465 (468); v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, ArbRB 2007, 35 = NZA 2007, 87 (89); Leder, RdA 2010, 93 (96 f.). 247 BAG v. 13.4.2010 – 9 AZR 113/09, ArbRB 2010, 295 = NZA-RR 2010, 457 (459); unverändert hingegen der 5. Senat, BAG v. 21.3.2012 – 5 AZR 651/10, ArbRB 2012, 199 = NZA 2012, 616 (617). 248 BAG v. 24.1.2017 – 1 AZR 774/14, NZA 2017, 777. 249 BAG v. 13.4.2010 – 9 AZR 113/09, ArbRB 2010, 295 = NZA-RR 2010, 457 (460). 250 BAG v. 24.1.2017 – 1 AZR 774/14, NZA 2017, 777; v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465 (467); v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, ArbRB 2007, 35 = NZA 2007, 87 (89); ausführlich s. Stoffels, NZA 2017, 1217 (1219). 251 Däubler/Bonin/Deinert/Bonin, § 308 BGB Rz. 41. 252 Däubler/Bonin/Deinert/Bonin, § 308 BGB Rz. 45. 253 BAG v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, ArbRB 2007, 35 = NZA 2007, 87 (89). 254 Grimm/Freh, ArbRB 2011, 285 (287). 255 BAG v. 24.1.2017 – 1 AZR 772/14, NZA 2017, 931; v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465 (469); v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, ArbRB 2007, 35 = NZA 2007, 87 (90); HWK/Roloff, Anh. §§ 305-310 BGB Rz. 57; Däubler/Bonin/Deinert/Bonin, § 308 BGB Rz. 46; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 62; Stoffels, NZA 2017, 1217 (1221).

Grimm

249

4.96

§ 4 Rz. 4.96

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

den sind256. Diese Prüfung erstreckt sich auch darauf, ob die geltend gemachten Gründe wirklich vorliegen257. Hierbei kann sich im öffentlichen Dienst die Billigkeit aus dem Gebot wirtschaftlicher und sparsamer Verwaltung von Haushaltsmitteln ergeben, insbesondere wenn die bisherige Verwaltung der Mittel vom Rechnungshof kritisiert wird258. b) Freiwilligkeitsvorbehalt

4.97 Im Unterschied zum Widerrufsvorbehalt soll durch einen Freiwilligkeitsvorbehalt die Entstehung eines Rechtsanspruchs auf die vom Arbeitgeber gewährte Leistung verhindert werden259. Freiwilligkeitsvorbehalte unterliegen zunächst der Transparenzkontrolle des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB. So liegt ein Verstoß gegen § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB vor, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einerseits eine Sonderleistung oder Gratifikation zusagt und in derselben oder einer anderen Klausel einen Rechtsanspruch auf die Bonuszahlung ausschließt und diese als „freiwillig“ bezeichnet260. Die Begründung des Entgeltanspruchs kann sich dabei schon aus einer Formulierung ergeben, nach der vom Arbeitgeber ein Bonus oder eine Gratifikation „gezahlt wird“ oder der Arbeitnehmer einen Bonus oder eine Gratifikation „erhält“261. Fehlerhaft ist zudem, Widerrufs- und Freiwilligkeitsvorbehalte – zB durch die Formulierung „freiwillig und jederzeit widerruflich“ – zu vermengen. In einer solchen Kombination liegt nach Ansicht des BAG regelmäßig ein zur Unwirksamkeit der Klausel führender Verstoß gegen das Transparenzgebot262. Bei einem Freiwilligkeitsvorbehalt entstehe schon gar kein Anspruch auf die Leistung, während sich der Arbeitgeber bei einem Widerrufsvorbehalt lediglich vorbehalte, eine versprochene Leistung einseitig zu ändern263. Daher werde schon nach dem Vertragstext auch für einen um Verständnis bemühten Vertragspartner nicht deutlich, ob nun jegliche zukünftige Bindung ausgeschlossen oder lediglich eine Möglichkeit eröffnet werden solle, sich später wieder von einer vertraglichen Bindung loszusagen264. Da sich die Unwirksamkeit der vertraglichen Regelung gerade aus der Kombination zweier Klauselteile ergibt, scheidet eine teilweise Aufrechterhaltung der Klausel in diesen Fällen grundsätzlich aus265. Widersprüchlich und deshalb unklar ist nach Ansicht des BAG auch die folgende Klausel: „Sämtliche Sonderzahlungen sind freiwillige Zuwendungen, für die kein Rechtsanspruch be256 BAG v. 24.1.2017 – 1 AZR 772/14, NZA 2017, 931; Stoffels, NZA 2017, 1217 (1221). 257 BAG v. 24.1.2017 – 1 AZR 772/14, NZA 2017, 931; v. 15.8.2000 – 1 AZR 458/99, juris; ErfK/ Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 62; Däubler/Bonin/Deinert/Bonin, § 308 BGB Rz. 46. 258 Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II V 70 Rz. 27. 259 Lunk/Leder, NJW 2015, 3766 (3767). 260 BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 825/06, ArbRB 2008, 38 = NZA 2008, 40 (41 f.); v. 30.7.2008 – 10 AZR 606/07, ArbRB 2008, 327 = NZA 2008, 1173 (1178 f.); v. 10.12.2008 – 10 AZR 1/08, NZARR 2009, 576 (577). 261 BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 825/06, ArbRB 2008, 38 = NZA 2008, 40 (42); v. 30.7.2008 – 10 AZR 606/07, ArbRB 2008, 327 = NZA 2008, 1173 (1179); v. 10.12.2008 – 10 AZR 1/08, NZA-RR 2009, 576 (577). 262 BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ArbRB 2012, 5 = NZA 2012, 81 (83); noch offengelassen in BAG v. 8.12.2010 – 10 AZR 671/09, NZA 2011, 628 (631), dazu Grimm/Freh, ArbRB 2011, 285. 263 BAG v. 8.12.2010 – 10 AZR 671/09, ArbRB 2011, 163 = NZA 2011, 628 (631); v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ArbRB 2012, 5 = NZA 2012, 81 (83). 264 BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ArbRB 2012, 5 = NZA 2012, 81 (83). 265 BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ArbRB 2012, 5 = NZA 2012, 81 (83); zustimmend Hromadka, DB 2012, 1037 (1038).

250

Grimm

Besondere Gestaltungen

Rz. 4.99 § 4

steht (zB Weihnachtsgratifikation und Urlaubsgeld richten sich nach den Bestimmungen des BAT)“266. Allerdings war hier die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB anzuwenden, da sich die Klausel nicht inhaltlich widerspricht, sondern lediglich mehrere Auslegungsmöglichkeiten zulässt267. Der Klammerzusatz kann entweder als beispielhafte Aufzählung von Sonderzahlungen oder aber dahingehend verstanden werden, dass Sonderzahlungen zwar grundsätzlich als freiwillige Leistungen anzusehen sind, Weihnachtsgratifikation und Urlaubsgeld jedoch nach den Bestimmungen des BAT gezahlt werden. Daneben können Freiwilligkeitsvorbehalte unangemessen benachteiligend iSd. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB sein. Nach der Rechtsprechung des BAG stellen Freiwilligkeitsvorbehalte für im Gegenseitigkeitsverhältnis stehende Entgeltbestandteile eine unangemessene Benachteiligung iSd. § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB dar, da der Ausschluss jedes Rechtsanspruchs bei laufendem Arbeitsentgelt dem Prinzip der Vertragsbindung widerspricht. Freiwilligkeitsvorbehalte im Bereich synallagmatischer Leistungen sollen damit unabhängig von ihrem Umfang unwirksam sein, also auch dann, wenn es sich bei den unter Vorbehalt stehenden Leistungen nicht um die eigentliche Grundvergütung, sondern um eine zusätzliche Abgeltung der Arbeitsleistung in Form einer Zulage oder sonstiger laufender Leistungen handelt268.

4.98

Nach dem Urteil des 10. Senats vom 14.9.2011 ist sehr sorgsam zu erwägen, ob pauschale 4.99 Freiwilligkeitsvorbehalte überhaupt noch in den Arbeitsvertrag aufgenommen werden sollten. Ein vertraglicher Freiwilligkeitsvorbehalt, der alle zukünftigen Leistungen unabhängig von ihrer Art und ihrem Entstehungsgrund erfassen soll, stellt eine unangemessene Benachteiligung der Arbeitnehmer iSd. § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 BGB dar; dies nicht nur, weil er unzulässigerweise laufende Leistungen miteinbeziehe (s.o.), sondern weil er sowohl gegen den in § 305b BGB bestimmten Vorrang der Individualabrede als auch gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass vertragliche Regelungen einzuhalten sind, verstoße269. Außerdem hat der Senat „Bedenken“ geäußert, „ob ein solcher vertraglicher Vorbehalt dauerhaft den Erklärungswert einer ohne jeden Vorbehalt und ohne den Hinweis auf die vertragliche Regelung erfolgten Zahlung so erschüttern kann, dass der Arbeitnehmer das spätere konkludente Verhalten des Arbeitgebers entgegen seinem gewöhnlichen Erklärungswert nicht als Angebot zur dauerhaften Leistungserbringung verstehen kann“270. Für den Fall einer mehr als 20 Jahre lang erfolgten vorbehaltlosen Zahlung einer zusätzlichen Vergütung („13. Monatsgehalt“) hält er es jedenfalls für „zweifelhaft“. Allerdings ist der Senat hierbei offenbar von einer konkludenten Individualvereinbarung nur im Verhältnis der Parteien ausgegangen, da ein vertraglicher Freiwilligkeitsvorbehalt Ansprüche aufgrund betrieblicher Übung nach wie vor verhindern können soll271. Dem liegt die schon im Zusammenhang mit doppelten Schriftformklauseln 266 BAG v. 20.1.2010 – 10 AZR 914/08, ArbRB 2010, 140 = NZA 2010, 445 (446). 267 BAG v. 20.1.2010 – 10 AZR 914/08, ArbRB 2010, 140 = NZA 2010, 445 (446); s. auch BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 825/06, ArbRB 2008, 38 = NZA 2008, 40; Lembke, NJW 2010, 257 (262) mwN. 268 BAG v. 25.4.2007 – 5 AZR 627/06, ArbRB 2007, 258 = NZA 2007, 853 (854); so auch der 10. Senat, BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ArbRB 2012, 5 = NZA 2012, 81 (84 f.); anders noch BAG v. 30.7.2008 – 10 AZR 606/07, ArbRB 2008, 327 = NZA 2008, 1173 (1175 ff.) und v. 18.3.2009 – 10 AZR 289/08, ArbRB 2009, 192 = NZA 2009, 535 (536 f.). 269 BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ArbRB 2012, 5 = NZA 2012, 81 (84); Preis/Deutzmann, NZA-Beilage 2017, 101 (106). 270 BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ArbRB 2012, 5 = NZA 2012, 81 (84); zustimmend Preis/Sagan, NZA 2012, 697 (699 ff.); kritisch Hromadka, DB 2012, 1037 (1040 f.); Bauer/von Medem, NZA 2012, 894; Hunold, DB 2012, 1096 (1096 f.). 271 BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ArbRB 2012, 5 = NZA 2012, 81 (84).

Grimm

251

§ 4 Rz. 4.99

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

vom 9. Senat geäußerte Auffassung zugrunde, dass betriebliche Übungen nicht als Individualabrede iSv. § 305b BGB anzusehen sind, sondern „kollektivrechtlich“ durch ein einseitiges Verhalten des Arbeitgebers gegenüber allen Arbeitnehmern entstehen272. Pauschale Freiwilligkeitsvorbehalte in Arbeitsverträgen halten einer gerichtlichen Wirksamkeitskontrolle nur noch dann stand, wenn sie klarstellen, dass weder laufende Leistungen noch Individualabreden iSv. § 305b BGB erfasst sein sollen273. Dann können sie das Entstehen von Ansprüchen aufgrund betrieblicher Übung verhindern. Um jedes Risiko zu vermeiden, sollte jedoch (auch) bei der jeweiligen konkreten Leistungsgewährung klar und verständlich darauf hingewiesen werden, dass aus der Leistung keine Ansprüche für die Zukunft hergeleitet werden können. c) Anrechnungsvorbehalt

4.100 Mit einer Anrechnungsklausel soll eine Tariflohnerhöhung auf eine arbeitsvertraglich vereinbarte übertarifliche Zulage angerechnet werden. Solche Anrechnungsklauseln sind anders zu behandeln als Widerrufsvorbehalte, insbesondere müssen keine näher bestimmten Anrechnungsgründe angegeben werden274. Sofern die von der Anrechnung betroffene Leistung keinen besonderen Zweck verfolgt, ist sie als Bruttolohnabrede wegen § 307 Abs. 3 BGB nur am Transparenzgebot zu messen275. Schon die Formulierungen „anrechenbare betriebliche Ausgleichszulage“ oder „übertarifliche Zulage“ sieht das BAG als hinreichend klar und verständlich an276. Sofern sich die Anrechnungsklausel auf zweckbestimmte Leistungen, zB Funktions-, Erschwernis- oder Leistungszulagen, bezieht, hält sie jedenfalls einer Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 1, § 308 Nr. 4 BGB stand, weil sich die von dem Arbeitgeber vertraglich zugesagte Gesamtgegenleistung für die vom Arbeitgeber erbrachte Arbeitsleistung nicht verringert277. Die Anrechnung unterliegt dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG, wenn sich dadurch die bisherigen Verteilungsrelationen ändern und innerhalb des vom Arbeitgeber mitbestimmungsfrei vorgegebenen Dotierungsrahmens ein Gestaltungsspielraum verbleibt278.

272 BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 302/02, NZA 2003, 1145 (1147 f.); v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07, ArbRB 2008, 327 = NZA 2008, 1233 (1236); Preis/Sagan, NZA 2012, 697 (702). 273 Bauer/von Medem, NZA 2012, 894 (895); Formulierungsbeispiel bei Preis/Sagan, NZA 2012, 697 (704). 274 BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, ArbRB 2006, 200 = NZA 2006, 746 (748 f.); Wisskirchen/Block in Tschöpe, Teil 1 D Rz. 85. 275 BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 540/05, NZA 2006, 688 (689); v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, ArbRB 2006, 200 = NZA 2006, 746 (748); v. 27.8.2008 – 5 AZR 820/07, ArbRB 2009, 2 = NZA 2009, 49 (52); Däubler/Bonin/Deinert/Bonin, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 49. 276 BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, ArbRB 2006, 200 = NZA 2006, 746 (749); v. 27.8.2008 – 5 AZR 820/07, ArbRB 2009, 2 = NZA 2009, 49 (52); Däubler/Bonin/Deinert/Bonin, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 50; Lembke, NJW 2010, 321 (324); kritisch hierzu Preis/Roloff, ZfA 2007, 43 (76). 277 BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, ArbRB 2006, 200 = NZA 2006, 746 (748); Däubler/Bonin/Deinert/Bonin, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 49; Wisskirchen/Block in Tschöpe, Teil 1 D Rz. 86; Hromadka/ Schmitt-Rolfes, NJW 2007, 1777 (1782). 278 BAG v. 1.6.2006 – 5 AZR 363/05, NZA 2006, 746 (749); v. 27.8.2008 – 5 AZR 820/07, ArbRB 2009, 2 = NZA 2009, 49 (52).

252

Grimm

Besondere Gestaltungen

Rz. 4.103 § 4

10. Tarifvertrags- und Betriebs-/Dienstvereinbarungsöffnungsklauseln Im Hinblick auf das arbeitgeberseitige Flexibilisierungsinteresse stellt sich die Frage, ob und inwieweit individualvertragliche Regelungen zur Disposition der Betriebs- oder Tarifvertragsparteien gestellt werden können. Da grundsätzlich das Günstigkeitsprinzip sowohl für Tarifverträge (§ 4 Abs. 3 TVG) als auch Betriebsvereinbarungen279 gilt, ist dies dann von Bedeutung, wenn der Arbeitsvertrag für die Arbeitsbedingungen verschlechternder Betriebs-/ Dienstvereinbarungen und Tarifverträge geöffnet werden soll. Günstigere Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge gehen der individualvertraglichen Regelung ohnehin vor.

4.101

Die betriebsvereinbarungsoffene Gestaltung des Arbeitsvertrags ist seit einer Entscheidung des Großen Senats des BAG vom 16.9.1986 anerkannt280.

4.102

Unproblematisch möglich ist es, im Arbeitsvertrag einzelne Bereiche ungeregelt zu lassen und schlicht auf die geltenden Betriebsvereinbarungen zu verweisen. Diese sind dann – mit ihren uU verschlechternden Änderungen – allein für den Inhalt des Arbeitsverhältnisses maßgeblich, ohne dass es auf das Günstigkeitsprinzip ankäme. Ein Beispiel hierfür bildet die unter Rz. 4.51 vorgeschlagene Klausel zur Arbeitszeit. Die Angabe der zurzeit im Betrieb geltenden Dauer der Arbeitszeit ist erkennbar lediglich deklaratorischer Natur, ohne aber einzelvertragliche Ansprüche zu begründen. Gleiches gilt für eine lediglich deklaratorische Angabe der derzeitigen Lage der Arbeitszeit unter Verweis auf die betrieblichen Bestimmungen281. Hierbei ist im Hinblick auf das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB und die Unklarheitenregel des § 305c Abs 2 BGB lediglich auf eine möglichst deutliche Formulierung zu achten. Schwieriger ist es, einzelvertragliche Regelungen (auch in Form von vertraglichen Einheits- 4.103 regelungen und Gesamtzusagen) unter den Vorbehalt einer Änderung durch eine spätere Betriebsvereinbarung zu stellen. Bereits nach der älteren Rechtsprechung konnte ein solcher Vorbehalt auch konkludent erklärt werden. ZB sollte bei einer Gesamtzusage bereits der Hinweis genügen, dass die Gewährung der freiwilligen Leistung „im Einvernehmen mit dem Gesamtbetriebsrat beschlossen“ wurde282. Auch die Formulierung „Die allgemeinen Arbeitsbedingungen und -vergütungen unterliegen den gesetzlichen Bestimmungen sowie Betriebsvereinbarungen.“ wurde von der Rechtsprechung als betriebsvereinbarungsoffene Gestaltung ausgelegt283. In einem Urteil vom 5.3.2013284 hat das BAG eine konkludente Betriebsvereinbarungsoffenheit angenommen, wenn der Vertragsgegenstand – hier Altersgrenze! – in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten ist und einen kollektiven Bezug hat. Diese Recht-

279 BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, NZA 1987, 168 (171); v. 7.11.1989 – Gs 3/85, NZA 1990, 816 (819); v. 3.6.2003 – 1 AZR 349/02, NZA 2003, 1155 (1159); HWK/Gaul, § 77 BetrVG Rz. 59; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 68. 280 BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, NZA 1987, 168 (171 f.); v. 24.8.2004 – 1 AZR 419/03, ArbRB 2005, 42 = NZA 2005, 51 (53). Dazu Preis/Ulber, RdA 2013, 211 (224 f.). 281 BAG v. 23.6.1992 – 1 AZR 57/92, NZA 1993, 89 (90 f.); v. 15.9.2009 – 9 AZR 757/08, ArbRB 2009, 350 = NJW 2010, 394 (396); HWK/Gaul, § 77 BetrVG Rz. 68. 282 BAG v. 10.12.2002 – 3 AZR 92/02, NZA 2004, 271 (273). 283 BAG v. 20.11.1987 – 2 AZR 284/86, NZA 1988, 617 (620); krit. Preis/Ulber, RdA 2013, 211 (225). 284 BAG v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, NZA 2013, 916 = ArbRB 2013, 271 (Grimm).

Grimm

253

§ 4 Rz. 4.103

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

sprechung hat das BAG trotz erheblicher Kritik in der Literatur285 mittlerweile mehrfach bestätigt286. Sie ist aber jedenfalls nicht auf Tarifverträge übertragbar287.

4.104 Auch im Übrigen hat das BAG seine Rechtsprechung zur Betriebsvereinbarungsoffenheit in den letzten Jahren konkretisiert. Betriebsvereinbarungsoffenheit sei anzunehmen, wenn die betreffenden Regelungen auf einen längeren und unbestimmten Zeitraum angelegt sind288. Auch vertragliche Vereinbarungen, die nicht mit dem jeweiligen Arbeitnehmer geschlossen werden – insbesondere Gesamtzusagen und betriebliche Übungen – sind grds. betriebsvereinbarungsoffen289. Dagegen bleibt auch mit der neuen Rspr. des BAG die Möglichkeit, mittels einer Betriebsvereinbarung eine arbeitsvertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag abzuändern, ausgeschlossen290.

4.105 Angesichts der Unklarheitenregelung in § 305c Abs. 2 BGB und des Transparenzgebots in § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB wird trotz der vom BAG seit dem Urteil vom 5.3.2013 vertretenen Rechtsauffassung eine ausdrückliche und klare Regelung der Betriebsvereinbarungsoffenheit zu fordern sein291, für die folgende Formulierung vorgeschlagen wird: „Die Parteien sind sich darüber einig, dass die mit dem Betriebsrat bereits abgeschlossenen und in Zukunft abzuschließenden Betriebsvereinbarungen den Regelungen in diesem Vertrag oder anderen einzelvertraglichen Absprachen auch dann vorgehen, wenn die vertragliche Regelung im Einzelfall günstiger ist. Dies gilt nicht für die Regelungen in den §§ … dieses Vertrages292.“

4.106 Eine solche Klausel kann für im Einzelnen ausgehandelte vertragliche Regelungen wegen des Vorrangs der Individualabrede (§ 305b BGB) keine Betriebsvereinbarungsoffenheit bewirken293. § 308 Nr. 4 BGB dürfte der Wirksamkeit nicht entgegenstehen, da kein einseitiges „Recht des Verwenders“ zur Änderung von Arbeitsbedingungen eingeräumt wird, sondern Betriebsvereinbarungen gemeinsam von Arbeitgeber und Betriebsrat ausgehandelt werden294. Überwiegend wird in einer so vorformulierten betriebsvereinbarungsoffenen Gestaltung keine 285 S. etwa ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 19b; Creutzfeldt, NZA 2018, 1111 ff.; Waltermann, RdA 2016, 296; Preis/Ulber, NZA 2014, 6. 286 BAG v. 21.8.2013 – 5 AZR 581/11, NZA 2014, 271; v. 25.5.2016 – 5 AZR 135/16, NZA 2016, 1327; v. 21.2.2017 – 3 AZR 542/15, NZA 2017, 944; v. 24.10.2017 – 1 AZR 846/15, ZTR 2018, 221; kritisch der 4. Senat, BAG v. 11.4.2018 – 4 AZR 119/17, NZA 2018, 1273; zuletzt und unter Auseinandersetzung mit der in der Literatur geäußerten Kritik BAG v. 30.1.2019 – 5 AZR 450/17, NZA 2019, 1065. 287 BAG v. 16.5.2018 – 4 AZR 219/15, NZA 2018, 1489, mangels „automatischer“ normativer Geltung von Tarifverträgen ohne beiderseitige Tarifgebundenheit nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG. 288 BAG v. 10.3.2015 – 3 AZR 56/14, NZA 2015, 1215; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 83. 289 BAG v. 24.10.2017 – 1 AZR 846/15, ZTR 2018, 221; v. 17.2.2015 – 1 AZR 599/13, AP Nr 65 zu § 77 BetrVG; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 83. 290 BAG v. 11.4.2018 – 4 AZR 119/17, NZA 2018, 1273. 291 BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 483/08, ArbRB 2009, 325 = NZA 2009, 1105 (1107); Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II O 10 Rz. 5; HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 599; HWK/Gaul, § 77 BetrVG Rz. 68; Preis/Ulber, RdA 2013, 211 (224 f.). 292 Vgl. Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II O 10 Rz. 3; Stück, DB 2006, 782 (783); HWK/Thüsing, § 611a BGB Rz. 599; Gaul/Süßbrich/Kulejewski, ArbRB 2004, 346 (350). Das LAG Köln (Urteil v. 22.4.2008 – 9 Sa 1445/07, AE 2009, 111) hält eine derartige Klausel indes wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot für unwirksam, da aus ihr nicht hervorgehe, welchen Regelungsinhalt eine spätere Betriebsvereinbarung haben soll. 293 Rieble/Schul, RdA 2006, 339 (340). 294 Gaul/Süßbrich/Kulejewski, ArbRB 2004, 346 (350).

254

Grimm

Besondere Gestaltungen

Rz. 4.109 § 4

unangemessene Benachteiligung iSd. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB gesehen295, da für Betriebsvereinbarungen die in § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB zum Ausdruck kommende Richtigkeitsgewähr gilt296. Die betriebsvereinbarungsoffene Ausgestaltung vertraglicher Ansprüche gehöre zu den Besonderheiten des Arbeitsrechts iSd. § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB297. Die Öffnung des Arbeitsvertrages für verschlechternde Betriebsvereinbarungen ermöglicht 4.107 einen Eingriff in bestehende arbeitsvertragliche Positionen und bedeutet so eine Durchbrechung des als arbeitsrechtliches Grundprinzip anerkannten Günstigkeitsprinzips und tangiert das Prinzip „pacta sunt servanda“. Diese Abweichung von Grundgedanken der gesetzlichen Regelung (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB) wird in vielen Regelungsbereichen, etwa bei der betrieblichen Altersversorgung, durch ein überwiegendes Bedürfnis des Arbeitgebers nach einer kollektiven Regelung zu rechtfertigen sein. In Anlehnung an die sog. Kernbereichsrechtsprechung des BAG zu Widerrufsvorbehalten (s. Rz. 4.95) ist problematisch, wenn sich eine generalklauselartige Betriebsvereinbarungsoffenheit auch auf die essentialia negotii des Arbeitsverhältnisses bezieht298. Die oben genannte Klausel sieht daher vor, zumindest die wesentlichen Bestimmungen des Arbeitsvertrags aus deren Anwendungsbereich auszunehmen299. Als sicherster Weg bietet es sich an, statt oder neben einer Generalklausel die Betriebsvereinbarungsoffenheit für einzelne Arbeitsbedingungen, insbesondere bei Gesamtzusagen, ausdrücklich zu regeln300. Die tarifvertragsoffene Gestaltung des Arbeitsvertrags ist bislang kaum in den Blickpunkt von Rechtsprechung und Literatur geraten. Auch hier ist zu differenzieren:

4.108

Wird in einem Lehreranstellungsverhältnis auf den Tarifvertrag für angestellte Lehrkräfte verwiesen, ist die im Formulararbeitsvertrag enthaltene Angabe der Pflichtstundenzahl von 24,5 Stunden lediglich von deklaratorischer Bedeutung und begründet laut BAG keine eigenständigen vertraglichen Ansprüche auf eine bestimmte Stundenzahl301. Mangels arbeitsvertraglicher Regelung kommt es hier schon zu keiner Kollision mit dem Günstigkeitsprinzip. Mit einer Tarifvertragsöffnungsklausel302 soll dagegen erreicht werden, dass später anwendbare Tarifverträge den vorher getroffenen arbeitsvertraglichen Absprachen auch dann vorgehen sollen, wenn sie im Einzelfall für den Arbeitnehmer ungünstiger sind. Da auch für Tarifverträge die in § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB bestätigte Richtigkeitsgewähr gilt, wird auch dies für zulässig gehalten303. Dynamische Verweisungsklauseln unterliegen dem Bestimmtheitsgebot, was nicht notwendigerweise die Bestimmtheit der das Vertragsverhältnis regelnden jetzigen und zukünftigen Normen verlangt, aber zumindest deren Bestimmbarkeit, was aus der typischen Zukunftsgerichtetheit des Arbeitsverhältnisses folgt. Eine dynamische Verweisungsklausel genügt dem Bestimmtheitsgebot, wenn sie bei Vertragsschluss den jeweils an-

295 Worzalla, NZA 2006, Beil. 3, 122 (131); Rieble/Schul, RdA 2006, 339 (340); Mues, ArbRB 2003, 57 (58). 296 Worzalla, NZA 2006, Beil. 3, 122 (131). 297 Mues, ArbRB 2003, 57 (58). 298 Gaul/Süßbrich/Kulejewski, ArbRB 2004, 346 (350). 299 Gaul/Süßbrich/Kulejewski, ArbRB 2004, 346 (350). 300 Beispiel bei Worzalla, NZA 2006, Beil. 3, 122 (132). 301 BAG v. 12.9.2006 – 9 AZR 675/05, NZA 2007, 218 (220). 302 Henssler/Moll/Bepler/Henssler, Der Tarifvertrag, Teil 10 Rz. 36 f.; Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II O 10 Rz. 12. 303 Worzalla, NZA 2006, Beil. 3, 122 (132).

Grimm

255

4.109

§ 4 Rz. 4.109

Möglichkeiten der Vertragsgestaltung

wendbaren Tarifvertrag bestimmbar festlegt304. Bei Globalverweisungen auf den sachlich und örtlich einschlägigen Tarifvertrag findet nach nahezu einhelliger Ansicht keine Inhaltskontrolle nach den §§ 305 ff. BGB statt, weil die Tarifvertragsparteien einen angemessenen Interessenausgleich geschaffen haben305. Bei Einzelverweisungen greift diese Angemessenheitsvermutung nicht306. Ob dann, wenn auf ganze Regelungskomplexe verwiesen wird (also eine Teilverweisung vorliegt), eine Angemessenheitskontrolle stattzufinden hat, ist umstritten307.

304 BAG v. 16.2.2010 – 3 AZR 181/08, NZA 2011, 42; Henssler/Moll/Bepler/Henssler, Der Tarifvertrag, Teil 10 Rz. 39. 305 Henssler/Moll/Bepler/Henssler, Der Tarifvertrag, Teil 10 Rz. 42; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 13 f. 306 BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593; Henssler/Moll/Bepler/Henssler, Der Tarifvertrag, Teil 10 Rz. 43. 307 Mit Einschränkungen dafür ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 17 f., dagegen Henssler/Moll/Bepler/Henssler, Der Tarifvertrag, Teil 10 Rz. 45; s. auch Rz. 4.35.

256

Grimm

§5 Leistungsentgelt I. Tarifliche Gestaltungsmöglichkeiten und -vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3. Erfolgsprämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.27 5.1

1. Gemeinsame Rahmenvorgaben . . . . . 5.3 a) Ermittlung des Gesamtvolumens . . 5.4 b) Ausschüttungspflicht . . . . . . . . . . . 5.8 c) Übergangsvorschriften . . . . . . . . . 5.10 d) Sozialer Schutz . . . . . . . . . . . . . . . 5.11 2. Ausgestaltung und betriebliche Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) § 18 TVöD-VKA . . . . . . . . . . . . . . b) § 18 TVöD-Bund und LeistungsTV-Bund . . . . . . . . . . . . . . . . c) § 18 TV-L und landesbezirkliche Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.14 5.14 5.19 5.23

II. Instrumente leistungsorientierten Entgelts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.24 1. Leistungsprämie . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.25

III. Methoden der Leistungsfeststellung und -bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.30 1. Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.31 2. Zielvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schriftform . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Freiwilligkeit der Zielvereinbarung d) Zielfindung und -formulierung . . . e) Zielanpassung . . . . . . . . . . . . . . . . f) Feststellung der Zielerreichung . . .

5.32 5.32 5.34 5.35 5.39 5.43 5.44

3. Systematische Leistungsbewertung . . . 5.47 4. Ertragsorientierte Leistungsbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.52 5. Kombinationsmodelle . . . . . . . . . . . . . 5.53 IV. Verteilung und Auszahlung . . . . . . . . 5.54

2. Befristete Leistungszulagen . . . . . . . . . 5.26 Schrifttum: Adam/Bauer/Bettenhausen/Dahl/Dahlem/von Dassel/Herbert/Heymann/Hindahl/Litschen/Schmidtke, Tarifrecht der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, Aktualisierung 2018 (zit. KomTVöD/Bearbeiter); Annuß, Arbeitsrechtliche Aspekte von Zielvereinbarungen in der Praxis, NZA 2007, 290; Feiter, Nachsteuerungs- und Optimierungsprozesse bei der leistungsorientierten Bezahlung im kommunalen öffentlichen Dienst, ZTR 2016, 14; Gaul/Rauf, Bonusanspruch trotz unterlassener Zielvereinbarung oder: Von den Risiken arbeitgeberseitiger Untätigkeit, DB 2008, 869; Geißler/Meyer-Lang, Das undifferenzierte Leistungsentgelt im Anwendungsbereich des TVöD-VKA, öAT 2017, 227; Hanebeck/Beyer, Die Reform der Leistungsbezahlung beim Bund, ZTR 2014, 127; Hinrichs, Die praktische Umsetzung von Zielvereinbarungen im öffentlichen Dienst, PersR 2009, 56; HitzelbergerKijima, Implementierung des betrieblichen Systems zum Leistungsentgelt bei Fehlen einer Arbeitnehmervertretung, öAT 2012, 3; Hock, TVöD: Die Umsetzung des Leistungsentgelts im kommunalen Bereich – Teil I, ZTR 2006, 350; Hock, TVöD: Die Umsetzung des Leistungsentgelts im kommunalen Bereich – Teil II, ZTR 2006, 410; Horcher, Inhaltskontrolle von Zielvereinbarungen, BB 2007, 2065; Hornauer, Dämon Leistungsentgelt im öffentlichen Dienst, PersV 2010, 12; Kersten, Das Leistungsentgelt nach § 18 TVöD bei Fehlen einer Dienstvereinbarung, ZTR 2009, 240; Kuner, Leistungsorientierte Bezahlung im TVöD und TV-L, 2. Aufl. 2013; Langenbrinck, Positiver Umsetzungsschub für das Leistungsentgelt nach § 18 TVöD (VKA), ZTR 2012, 479; Leist, Einführung in den Leistungs-Tarifvertrag des Bundes – Teil I, ZTR 2007, 58; Leist, Einführung in den Leistungs-Tarifvertrag des Bundes – Teil II, ZTR 2007, 114; Litschen/Treuter, Leistungsbewertung 4.0 oder zurück in die Zukunft des § 18 TVöD, ZTR 2017, 397; Litschen, Das Demokratieschwert über der „Gießkanne“ in der leistungsorientierten Bezahlung, öAT 2017, 221; Litschen, LoB Praxisprobleme – Logik und Leistung, ZTR 2009, 298; Litschen/Kratz/Weiß/Zempel, Leistungsorientierte Bezahlung im öffentlichen Dienst, 2006; Pelzer, Arbeitsrechtliche Zielvereinbarungen, 2008; Richter, 1. Personalkongress für den öffentlichen Dienst, ZTR 2008, 28; Riesenhuber/v. Steinau-Steinrück, Zielvereinbarungen, NZA 2005, 785; Rob, Leistungsorientierte Bezahlung – Stufenaufstieg und Leistungsentgelte nach TVöD-VKA und TV-L, PersV 2007, 353; Seel, Leistungsentgelt gem. § 18 TVöD (VKA) – Anforderungen an eine Dienst-/Betriebsvereinbarung und rechtliche Folgen einer unterbliebenen Vereinbarung, öAT 2012,

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257

§ 5 Rz. 5.1

Leistungsentgelt

221; v. Roetteken, Dienstvereinbarungen zur Einführung von Leistungsentgelten im Bereich des Bundes, ZTR 2006, 573; Vesper/Falter, „LOB“ bewirkt mehr als Tadel! – Leistungsorientierte Bezahlung nach einem Jahr TVöD, ZTR 2008, 2.

I. Tarifliche Gestaltungsmöglichkeiten und -vorgaben 5.1 Ein Kernziel der Tarifreform im öffentlichen Dienst war die Einführung leistungsorientierter Regelungsinstrumente. Dieser Grundgedanke führte neben den Regelungen zum leistungsabhängigen Stufenaufstieg (§ 17 Abs. 2 TVöD), zur Führung auf Probe (§ 31 TVöD) und Führung auf Zeit (§ 32 TVöD) zur Einführung eines leistungsorientierten Entgelts durch § 18 TVöD1. Das erklärte Ziel dieses Vergütungsinstruments ist die Verbesserung der öffentlichen Dienstleistung und die Stärkung von Motivation, Eigenverantwortung und Führungskompetenz (vgl. § 18 Abs. 1 TVöD-VKA und die Präambel des LeistungsTV-Bund)2.

5.2 Die Tarifnormen zur Einführung des leistungsorientierten Entgelts unterscheiden sich in ihrer Regelungsdichte: Für die Kommunen enthält § 18 TVöD-VKA eine tarifvertragliche Regelung des Leistungsentgelts, die unmittelbar eine Umsetzung auf Ebene der Dienststellen und Betriebe ermöglicht. Dagegen handelt es sich bei § 18 TVöD-Bund um eine bloße Rahmenvorschrift, die zu ihrer Umsetzung den Abschluss weiterer Tarifverträge erfordert. Der LeistungsTV Bund regelt eng und detailliert die Vorgaben für die betriebliche Umsetzung. Für den TV-L wurden entsprechende Tarifverträge nie geschlossen; der § 18 TVöD entsprechende § 18 TV-L wurde mittlerweile wieder gestrichen. 1. Gemeinsame Rahmenvorgaben

5.3 Die in § 18 TVöD-Bund bzw. -VKA enthaltenen Rahmenvorgaben zur Einführung des neuen Entgeltbausteins sind weitgehend identisch. a) Ermittlung des Gesamtvolumens

5.4 Das Startvolumen für das Leistungsentgelt betrug zunächst einheitlich 1 % der ständigen Monatsentgelte des Vorjahres aller unter den Geltungsbereich der tariflichen Regelungen fallenden Beschäftigten beim jeweiligen Arbeitgeber (§ 18 Abs. 2 TVöD-Bund, § 18 Abs. 3 TVöD-VKA aF). Die Tarifvertragsparteien im VKA-Bereich haben § 18 Abs. 3 TVöD-VKA durch § 1 Nr. 6 ÄndTV Nr. 5 v. 27.2.2010 geändert und die Erhöhung des für das Leistungsentgelt zur Verfügung stehenden Gesamtvolumens bis zur Vereinbarung eines höheren Vomhundertsatzes wie folgt gestaffelt: – ab dem 1. Januar 2010 1,25 % – ab dem 1. Januar 2011 1,50 % – ab dem 1. Januar 2012 1,75 % – ab dem 1. Januar 2013 2,00 %

1 Dazu Hanebeck/Beyer, ZTR 2014, 127 ff. 2 Eine Zwischenbilanz ziehen Schmidt/Müller, PersR 2013, 109 in einer Zusammenfassung der Studie des Forschungsinstituts für Arbeit, Technik und Kultur der Universität Tübingen zur Umsetzung des § 18 TVöD-VKA in den Kommunen.

258

Brock

Rz. 5.8 § 5

Tarifliche Gestaltungsmöglichkeiten und -vorgaben

Im Bundesbereich ist es hingegen bei 1 % geblieben. Maßgeblich ist eine konkrete Berechnungsweise: Das gesamte tatsächlich im letzten Jahr ausgezahlte TVöD-Entgelt des Unternehmens bzw. der Dienststelle abzüglich der nicht zu berücksichtigenden Entgeltbestandteile ist zugrunde zu legen3. Zum ständigen Monatsentgelt zählen nach den weitgehend übereinstimmenden Protokollerklärungen:

5.5

– das Tabellenentgelt (ohne Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitgebers und dessen Kosten für die betriebliche Altersversorgung) – die in Monatsbeträgen festgelegten Zulagen einschließlich Besitzstandszulagen – das Entgelt im Krankheitsfall und bei Urlaub, soweit im betreffenden Kalenderjahr ausgezahlt

5.6

Nicht einbezogen werden hingegen – Abfindungen, Aufwandsentschädigungen, Auslandsdienstbezüge – Einmalzahlungen und Jahressonderzahlungen – Leistungsentgelte – Strukturausgleiche – unständige Entgeltbestandteile4 – Entgelte der außertariflichen Beschäftigten

Als Zielgröße für das leistungsabhängige Entgelt wird ohne Festlegung eines Zeitplans ein Ge- 5.7 samtvolumen in Höhe von 8 % der Entgeltsumme angestrebt. Die Finanzierung des Startvolumens erfolgte für die Arbeitgeberseite zunächst kostenneutral durch Einsparungen bei der Jahressonderzahlung und durch wegfallende Kinderzuschläge5. Die Erhöhung des Volumens soll über rückfließende Besitzstände und gesonderte Dotierungen in künftigen Tarifrunden erfolgen6. In der 2010 neugefassten Protokollerklärung Nr. 2 zu § 18 Abs. 3 TVöD-Bund bzw. § 18 Abs. 4 TVöD-VKA haben sich die Tarifvertragsparteien noch einmal zur weiteren Stärkung der Leistungsorientierung im öffentlichen Dienst bekannt. Die Länder haben das Projekt weitgehend beendet und § 18 TV-L gestrichen. b) Ausschüttungspflicht Alle tariflichen Regelungen verpflichten den Arbeitgeber zur jährlichen Auszahlung von 5.8 Leistungsentgelten (§ 18 Abs. 2 Satz 2 TVöD-Bund, § 18 Abs. 3 Satz 2 TVöD-VKA) als zusatzversorgungspflichtiges Entgelt (§ 18 Abs. 4 TVöD-Bund, § 18 Abs. 8 TVöD-VKA). Die

3 Hock, ZTR 2006, 350 (353); Litschen/Kratz/Weiß/Zempel, S. 153 f. 4 Abweichend von der Protokollerklärung zu § 18 Abs. 2 Satz 1 TVöD-Bund sieht die Protokollerklärung zu § 18 Abs. 3 Satz 1 TVöD-VKA vor, dass unständige Entgeltbestandteile betrieblich einbezogen werden können. Voraussetzung ist allerdings eine dahingehende Vereinbarung der Betriebsparteien, Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 18 TVöD-AT (VKA) Rz. 18. 5 Sponer/Steinherr, § 18 TVöD-Bund Rz. 11. 6 Niederschriftserklärungen zu § 18 Abs. 2 TVöD-Bund, § 18 Abs. 3 TVöD-VKA.

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259

§ 5 Rz. 5.8

Leistungsentgelt

Ausschüttungspflicht ist die Konsequenz daraus, dass das Leistungsentgelt überwiegend durch die Umwidmung bisher fixer Entgeltbestandteile finanziert wird7.

5.9 Anders als der gestrichene § 18 TV-L sieht der TVöD darüber hinaus auch eine Pflicht zur zweckentsprechenden Verwendung des Budgets vor (§ 18 Abs. 2 Satz 2 TVöD-Bund und § 18 Abs. 3 Satz 2 TVöD-VKA). Aufgrund dieser Zweckbindung wäre im Geltungsbereich des TVöD eine Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung, die eine undifferenzierte pauschalierende Auszahlung des Gesamtvolumens nach dem sog. „Gießkannenprinzip“ vorsähe, wegen Verstoßes gegen den Tarifvertrag unwirksam (§ 77 Abs. 3 BetrVG bzw. entsprechende Vorschriften der Personalvertretungsgesetze)8. Dagegen ließ § 18 Abs. 4 Satz 3 TV-L zu, dass die landesbezirklichen Tarifverträge zur Umsetzung des § 18 TV-L auch eine gleichmäßig verteilte Ausschüttung des Gesamtvolumens auf die Beschäftigten vorsehen können. c) Übergangsvorschriften

5.10 Die Unterschiede in der Zweckbindung werden auch in den Übergangsvorschriften zur Einführung des leistungsorientierten Entgelts deutlich: Sowohl für den Bund als auch für die VKA ermöglichen TVöD und LeistungsTV-Bund für die Übergangsphase bis zur betrieblichen Umsetzung von Leistungsentgeltsystemen noch eine pauschalierende, leistungsunabhängige Verteilung des für Leistungsentgelte zur Verfügung stehenden Gesamtvolumens. Während im Jahr 2007 aber noch 12 % eines Monatsgehalts ausgezahlt wurden, erhalten die Beschäftigten seit dem Jahr 2008 nur noch 6 % eines Monatsgehalts, falls in ihrem Bereich noch kein Leistungsentgelt eingeführt wurde, wobei der Rest des Gesamtvolumens dann jeweils in das Folgejahr übertragen wird (Protokollerklärung Nr. 1 zu § 18 Abs. 4 TVöD-VKA; Protokollerklärung Nr. 1 zu § 18 Abs. 3 TVöD-Bund und § 16 LeistungsTV-Bund). Auf diese Weise wird die verspätete Einführung leistungsorientierter Bezahlung sanktioniert und ein Anreiz zur Umsetzung der tarifvertraglichen Rahmenvorgaben gesetzt9. Anders dagegen § 18 TV-L, der keine zweckgebundene Verwendung der Mittel vorschrieb und durch die Übergangsregelung in § 18 Abs. 5 TV-L eine dauerhaft pauschalierte Auszahlung in Höhe von 12 % des Monatseinkommens ohne Sanktionierung durch Leistungskürzung gestattete. Das BAG hat mittlerweile klargestellt, dass die Protokollerklärung Nr. 1 zu § 18 Abs. 4 TVöD (VKA) dahingehend auszulegen ist, dass, wenn in Dienststellen bzw. Betrieben mit Personaloder Betriebsrat eine Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung fehlt, lediglich 6 % eines Monatstabellenentgelts als „undifferenziertes Leistungsentgelt“ auszuzahlen sind und nicht das höhere Gesamtvolumen, das für das Leistungsentgelt zur Verfügung steht. Der nicht ausgezahlte Teil geht den Arbeitnehmern nicht verloren, sondern wird jeweils auf die Folgejahre übertragen10 – mit der Folge, dass sich über die Jahre hohe Beträge ansammeln können, wenn die Betriebsparteien nicht aktiv werden. Das BAG führt aus, das „undifferenzierte Leistungsentgelt“ 7 Rob, PersV 2007, 353 (356). 8 Rundschreiben der VKA v. 13.6.2007 – R 164/07 betr. Leistungsentgelt nach § 18 TVöD, abgedruckt bei Sponer/Steinherr, Vorbemerkung zu § 18 TVöD-VKA, S. 30 ff. (30); KomTVöD/v. Dassel, § 18 TVöD-VKA Rz. 11; Vesper/Feiter, ZTR 2008, 2 (6); dazu auch LAG Berlin-Brandenburg v. 9.4.2014 – 15 Sa 2097/13, ZTR 2014, 421; Litschen/Treuter, ZTR 2017, 397 f.; Geißler/MeyerLang, öAT 2017 227 (230); Litschen, öAT 2017, 221 (222). 9 KomTVöD/v. Dassel, § 18 TVöD-VKA Rz. 24; Hock, ZTR 2006, 350 (354); Kuner, Leistungsorientierte Bezahlung, Rz. 212 (217); Kersten, ZTR 2009, 240. 10 BAG v. 16.5.2012 – 10 AZR 202/11, NZA-RR 2012, 497; zustimmend Litschen/Treuter, ZTR 397 (397); Feiter, ZTR 2016, 14 (16); Langenbrinck, ZTR 2012, 479 (481 ff.); Winand, ZTR 2013, 239 (240); Windeln, ArbRB 2012, 269 (270); aA ArbG Bremen-Bremerhaven v. 23.9.2010 – 5 Ca

260

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Tarifliche Gestaltungsmöglichkeiten und -vorgaben

Rz. 5.14 § 5

stelle lediglich ein Surrogat für den fehlenden originären Leistungsentgeltanspruch dar, das sich daher nicht an dem gemäß § 18 Abs. 3 TVöD (VKA) zur Verfügung stehenden Gesamtvolumen für das Leistungsentgelt orientiere. Das Ziel, den Einigungsdruck auf betrieblicher Ebene zu erhöhen, werde verfehlt, wenn ab dem Jahr 2009 auch bei Nichteinigung der Betriebsparteien 12 % des jeweiligen Tabellenentgelts undifferenziert und leistungsunabhängig gezahlt würden11. Offen gelassen hat das BAG, was gilt, wenn in der Dienststelle bzw. dem Betrieb kein Personal- oder Betriebsrat besteht; das BAG deutet aber Zweifel an, ob in diesem Falle von der Pflicht, das Gesamtvolumen zuzuzahlen, ausgegangen werden könne (vgl. Rz. 5.15). Allerdings ist der Zweck der Übergangsvorschrift auf den Fall beschränkt, dass keine Ausgestaltung erfolgt. Eine weggefallene oder unwirksame Ausgestaltung – etwa da lediglich eine pauschale und nicht nach der individuellen Leistung differenzierte Zahlung vorgesehen ist– führt nicht dazu, dass die Übergangsvorschriften Anwendung finden12. d) Sozialer Schutz Die Protokollerklärungen zu § 18 TVöD enthalten flankierende soziale Schutzvorschriften. 5.11 Nr. 1 der Erklärung verbietet arbeitsrechtliche Maßnahmen, die allein an die Nichterfüllung der Voraussetzungen für die Gewährung eines Leistungsentgelts anknüpfen. Zugleich wird klargestellt, dass arbeitsrechtliche Maßnahmen nicht allein durch die Teilnahme an einer Zielvereinbarung oder durch die Gewährung eines Leistungsentgelts ausgeschlossen sind. Die Beschäftigten sollen so durch die Einführung des Leistungsentgelts arbeitsrechtlich weder schlechter noch besser gestellt werden13. Allein die Verfehlung eines vereinbarten Ziels kann weder eine Abmahnung noch eine Kündi- 5.12 gung rechtfertigen. Verletzt ein Beschäftigter aber darüber hinaus seine arbeitsvertraglichen Pflichten durch vorwerfbare Schlecht- oder Minderleistung, gelten die von der Rechtsprechung des BAG aufgestellten Grundsätze zur Kündigung wegen Minderleistung, wonach eine verhaltensbedingte Kündigung insbesondere bei längerfristiger und deutlicher Überschreitung der durchschnittlichen Fehlerquote gerechtfertigt sein kann14. Nr. 2 der Protokollerklärung bestimmt, dass Leistungsgeminderte nicht grundsätzlich aus Leistungsentgelten ausgenommen werden dürfen und ihre jeweiligen Leistungsminderungen angemessen zu berücksichtigen sind.

5.13

2. Ausgestaltung und betriebliche Umsetzung a) § 18 TVöD-VKA § 18 TVöD-VKA enthält in den Absätzen 4–7 konkrete tarifliche Vorgaben für die Ausgestaltung eines leistungsorientierten Entgeltsystems. Absatz 4 legt das Instrumentarium in Form von Leistungsprämien, Erfolgsprämien und Leistungszulagen fest (s. dazu Rz. 5.24 ff.). Als

11 12 13 14

5142/10, PersR 2011, 170; LAG Bremen v. 24.8.2011 – 2 Sa 367/10, juris; Dannenberg, PersR 2011, 465. BAG v. 16.5.2012 – 10 AZR 202/11, ArbRB 2012, 269 = NZA-RR 2012, 497 (498 f.); dazu ausführlich Langenbrinck, ZTR 2012, 479 (481 ff.). Litschen, öAT 2017, 221 (222). Kuner, Leistungsorientierte Bezahlung, Rz. 336. BAG v. 17.1.2008 – 2 AZR 536/06, ArbRB 2008, 233 = NZA 2008, 693.

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261

5.14

§ 5 Rz. 5.14

Leistungsentgelt

Methoden zur Feststellung und Bewertung von Leistungen werden Zielvereinbarungen und die systematische Leistungsbewertung in Absatz 5 vorgegeben (hierzu Rz. 5.30 ff.). Eine konkretere Ausgestaltung des Leistungsentgeltsystems kann nur in den einzelnen Dienststellen und Betrieben durch Betriebsvereinbarung oder einvernehmliche Dienstvereinbarung erfolgen, für deren Inhalt Absatz 6 inhaltliche Vorgaben macht. Eine einvernehmliche Dienstvereinbarung liegt nur ohne Entscheidung der Einigungsstelle vor (§ 38 Abs. 3 TVöD); die Einschaltung der Einigungsstelle als bloße Vermittlungsinstanz ist möglich. Für eine Regelung durch Betriebsvereinbarung wird Einvernehmlichkeit dagegen nicht vorausgesetzt. Die Ausgestaltung des betrieblichen Leistungsentgeltsystems kann gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10, Abs. 2 BetrVG (Lohngestaltung) als mitbestimmungspflichtig über die Einigungsstelle erzwungen werden15.

5.15 In Betrieben und Dienststellen, in denen kein Betriebs- oder Personalrat besteht, hat der Arbeitgeber selbst die Ausschüttung der Leistungsentgelte sicherzustellen, solange eine betriebliche Kommission iSv. § 18 Abs. 7 TVöD-VKA nicht besteht16. Er darf dazu ein eigenes System entwickeln17 und kann die Grundsätze der leistungsorientierten Bezahlung etwa durch Einführung einer entsprechenden Richtlinie regeln18. Jedenfalls aber muss die Ausschüttung der Leistungsentgelte in dem in der Protokollerklärung zu Abs. 4 Nr. 1 genannten Umfang gewährleistet sein. Überwiegend wird davon ausgegangen, dass bei Fehlen einer speziellen Regelung nicht nur 6 % des jeweiligen Septembertabellenentgelts, sondern die gesamten für Leistungsentgelte zur Verfügung stehenden Volumina auszuzahlen sind19.

5.16 Eine Betriebs- oder Dienstvereinbarung muss nach § 18 Abs. 6 Satz 3 TVöD-VKA insbesondere Regelungen zu folgenden Aspekten enthalten: – Verfahren der Einführung von leistungs- und/oder erfolgsorientierten Entgelten – zulässige Kriterien für Zielvereinbarungen – Ziele zur Sicherung und Verbesserung der Effektivität und Effizienz, insbesondere für Mehrwertsteigerungen (zB Verbesserung der Wirtschaftlichkeit, der Dienstleistungsqualität, der Kunden-/Bürgerorientierung) – Auswahl der Formen von Leistungsentgelten, der Methoden sowie Kriterien der systematischen Leistungsbewertung und der aufgabenbezogenen Bewertung (messbar, zählbar oder anderweitig objektivierbar), ggf. differenziert nach Arbeitsbereichen, uU Zielerreichungsgrade – Anpassung von Zielvereinbarungen bei wesentlichen Änderungen von Geschäftsgrundlagen

15 Kuner, Leistungsorientierte Bezahlung, Rz. 231; Burger/Spengler, § 18 TVöD Rz. 21; ArbG Bremen-Bremerhaven v. 23.9.2010 – 5 Ca 5142/10, PersR 2011, 170; aA Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/ Poschke, § 18 (VKA) TVöD-AT Rz. 29; Seel, öAT 2012, 221 (223 f.). 16 Protokollerklärung zu § 18 Abs. 6 TVöD-VKA. 17 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 18 (VKA) TVöD-AT Rz. 27. 18 Litschen/Kratz/Weiß/Zempel, S. 249; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, § 18 (VKA) Rz. 104; zu Möglichkeiten der Umsetzung s. Hitzelberger-Kijima, öAT 2012, 3 (3 f.). 19 ArbG Bremen-Bremerhaven v. 23.9.2010 – 5 Ca 5142/10, PersR 2011, 170; Windeln, ArbRB 2012, 269 (270); Hitzelberger-Kijima, öAT 2012, 3; Dannenberg, PersR 2013, 98 (99); aA Breier/Dassau/ Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, § 18 (VKA) Rz. 104; ausdrücklich offen gelassen von BAG v. 16.5.2012 – 10 AZR 202/11, ArbRB 2012, 269 = NZA-RR 2012, 497 (499).

262

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Tarifliche Gestaltungsmöglichkeiten und -vorgaben

Rz. 5.20 § 5

– Vereinbarung von Verteilungsgrundsätzen – Überprüfung und Verteilung des zur Verfügung stehenden Finanzvolumens, ggf. Begrenzung individueller Leistungsentgelte aus umgewidmeten Entgelt – Dokumentation und Umgang mit Auswertungen über Leistungsbewertungen20 Zur Konfliktlösung bei Beschwerden und Mängeln des Systems und seiner Anwendung sieht 5.17 § 18 Abs. 7 TVöD-VKA die Einrichtung einer paritätisch besetzten betrieblichen Kommission vor, deren Mitglieder je zur Hälfte vom Arbeitgeber und vom Betriebs-/Personalrat benannt werden sollen. Zweckmäßigerweise wird die Bildung dieser Kommission in der Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung zur Einführung des Leistungsentgelts mitgeregelt. Hauptaufgabe der Kommission ist die Beratung über Beschwerden der Beschäftigten, wobei die Letztentscheidungsbefugnis über solche Beschwerden aber beim Arbeitgeber verbleibt. Eine vom Kommissionsvorschlag abweichende Entscheidung des Arbeitgebers ist gemäß § 18 Abs. 7 Satz 4 TVöD-VKA zu begründen und einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich. Durch die Einrichtung der betrieblichen Kommission werden die Rechte der betrieblichen Mitbestimmung nicht berührt, § 18 Abs. 7 Satz 6 TVöD-VKA. Die betriebliche Kommission und der Betriebs-/Personalrat sind voneinander unabhängige, nebeneinander stehende Organe. Der Betriebs-/Personalrat behält neben der Kommission seine Funktion als allgemeine Beschwerdestelle nach § 85 BetrVG bzw. § 68 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG, wobei deren Einschaltung in Leistungsentgeltfragen aber keine Vorteile im Vergleich zum Beschwerdeverfahren vor der betrieblichen Kommission bietet21.

5.18

b) § 18 TVöD-Bund und LeistungsTV-Bund Im Bereich des Bundes wurde das Leistungsentgelt durch den aufgrund von § 18 Abs. 3 TVöD-Bund vereinbarten Tarifvertrag über das Leistungsentgelt der Beschäftigten des Bundes (LeistungsTV-Bund) umgesetzt, der am 1.1.2007 in Kraft getreten ist.

5.19

Der LeistungsTV-Bund enthält im Vergleich zu § 18 TVöD-VKA detaillierte Vorgaben zur Ausgestaltung des Leistungsentgeltsystems, die bei der Gestaltung von Dienstvereinbarungen im kommunalen Bereich als Vorbild dienen können. Wie im TVöD-VKA sind als Instrumente der Leistungsfeststellung die Zielvereinbarung und die systematische Leistungsbewertung geregelt (§§ 3–7 LeistungsTV-Bund). Als Formen des Leistungsentgelts sind lediglich die Leistungsprämie und die Leistungszulage vorgesehen, § 8 Abs. 1 LeistungsTV-Bund. Im Unterschied zum Bereich des VKA sind Regelungen zur Aufteilung des Entgeltvolumens und zur Berechnung der individuellen Leistungsentgelte in den §§ 9 und 10 LeistungsTVBund enthalten. Wie im kommunalen Bereich sieht § 14 LeistungsTV-Bund die Einrichtung einer paritätisch besetzten Kommission als Beschwerde- und Kontrollinstanz vor, wobei das Beschwerdeverfahren in § 13 näher ausgestaltet wird: Nach § 13 Abs. 1 LeistungsTV-Bund muss ein Beschäftigter binnen drei Wochen das Ergebnis der Leistungsfeststellung schriftlich und begründet bei der zuständigen Personalstelle beanstanden. Diese Frist ist nicht als Ausschlussfrist zu qualifizieren, da der Formulierung – im Unterschied zu echten Ausschlussfristen wie in § 37 TVöD – nicht zu entnehmen ist, dass mit Ablauf der Beschwerdefrist alle weiteren Rechtsbehelfe wegen einer beanstandeten Leistungsfeststellung ausgeschlossen sein

5.20

20 Muster einer Dienstvereinbarung bei Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Bd. 6, E 3.1. 21 Kuner, Leistungsorientierte Bezahlung, Rz. 320 f.

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263

§ 5 Rz. 5.20

Leistungsentgelt

sollen22. Wird der Beschwerde nicht abgeholfen, wird sie der paritätischen Kommission zur Beratung zugeleitet, wobei der Arbeitgeber seine Letztentscheidungsbefugnis auch hier behält. § 13 Abs. 3 LeistungsTV-Bund eröffnet die zusätzliche Möglichkeit, per Dienstvereinbarung ein gestuftes Verfahren einzuführen, bei dem vor Einschaltung der paritätischen Kommission noch ein Abhilfeversuch unter Einbeziehung der nächsthöheren Führungskraft und/oder einem Mitglied der Personalvertretung vorgeschaltet wird.

5.21 Auf Bundesebene bleibt aber für die konkrete Umsetzung in ein betriebliches Entgeltsystem der Abschluss einer einvernehmlichen Dienstvereinbarung oder einvernehmlichen Betriebsvereinbarung23 erforderlich, § 2 Satz 2 LeistungsTV-Bund. Im Unterschied zur VKARegelung müssen sowohl Dienst- als auch Betriebsvereinbarungen einvernehmlich, also ohne Spruch der Einigungsstelle (§ 38 Abs. 3 TVöD) zustande kommen.

5.22 Nach § 15 LeistungsTV-Bund muss die Vereinbarung folgende Aspekte regeln: – Beginn und Ende des maßgeblichen Leistungs- und Feststellungszeitraums – Ausgestaltung von und mögliche konkrete Anforderungen an Zielvereinbarungen – das Bewertungssystem der systematischen Leistungsbewertung einschließlich der Gewichtung der Kriterien – die Punktwerte der Stufen der Leistungsbewertung bzw. der Zielerreichungsgrade – die Anzahl der Stufen der systematischen Leistungsbewertung, die Anzahl der Zielerreichungsgrade und die Zuordnung von Normalleistung und voller Zielerreichung zu einer Stufe – das Berechnungsverfahren für das jeweilige Leistungsentgelt einschließlich einer etwaigen Obergrenze für das individuelle Leistungsentgelt – eine ggf. von der Aufteilung nach Entgeltgruppen abweichende Aufteilung des Leistungsentgeltvolumens – die Leistungsfeststellung im Fall eines Arbeitsplatzwechsels oder eines Wechsels der Führungskraft – die statistische Erfassung der Ergebnisse von Leistungsfeststellung und Leistungsentgelt – ein etwaiges gestuftes Verfahren vor Eröffnung der Beschwerde zur Paritätischen Kommission – die Anzahl der Mitglieder der Paritätischen Kommission – ggf. die Bildung einer Paritätischen Kommission in dem jeweiligen Verwaltungsteil24

22 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Boegl, § 13 LeistungsTV-Bund Rz. 12; aA Durchführungshinweise des BMI v. 11.12.2006 zum LeistungsTV-Bund, abgedruckt in Sponer/Steinherr als Anhang Nr. 1 zu § 18 TVöD-Bund, S. 75, allerdings durch BMI Rundschreiben v. 20.2.2014 – D 5 – 31002/12 Nr 10, S. 2 aufgehoben. 23 Ausführlich zu Dienstvereinbarungen zur Umsetzung des LeistungsTV-Bund: v. Roetteken, ZTR 2006, 573. 24 Vgl. als Umsetzungsbeispiele die Muster-Dienstvereinbarung von Boegl/Winter in Bepler/Böhle/ Pieper/Geyer, § 15 LeistungsTV-Bund Rz. 3, und die Rahmen-Dienstvereinbarung des BMI v. 20.12.2006, abgedruckt in: Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Boegl, § 15 LeistungsTV-Bund Rz. 4.

264

Brock

Instrumente leistungsorientierten Entgelts

Rz. 5.27 § 5

c) § 18 TV-L und landesbezirkliche Tarifverträge Auch § 18 TV-L behielt in Abs. 4 Satz 1 die nähere Ausgestaltung des Leistungsentgelts landesbezirklichen Tarifverträgen vor. Die oben angesprochene Sanktionslosigkeit einer pauschalierten, nicht nach Leistung differenzierenden Auszahlung hat dazu geführt, dass in keinem Bundesland entsprechende Tarifverträge vereinbart wurden und zunächst überwiegend die Erfahrungen auf Bundesebene abgewartet wurden25. Durch § 2 Abs. 7 des Änderungstarifvertrags Nr. 2 vom 1.3.2009 wurde § 18 TV-L gestrichen und das ohnehin halbherzige Experiment einer verpflichtenden leistungsorientierten Vergütung im Bereich der Länder beendet. Im Drittmittelbereich bleiben freiwillige Regelungen gemäß § 40 Nr. 6 TV-L möglich. Das freiwerdende Entgeltvolumen wurde bei der Erhöhung des Tabellenentgelts berücksichtigt.

5.23

II. Instrumente leistungsorientierten Entgelts Die Tarifverträge zur leistungsorientierten Bezahlung sehen drei Möglichkeiten zur Gewährung des Leistungsentgelts vor: Leistungsprämien, Leistungszulagen und Erfolgsprämien.

5.24

1. Leistungsprämie Der Begriff der Leistungsprämie ist exemplarisch in § 18 Abs. 4 Satz 2 TVöD-VKA als in der Regel einmalige Zahlung definiert, die im Allgemeinen auf der Grundlage einer Zielvereinbarung erfolgt. Sie kann nach Satz 3 aber auch in zeitlicher Abfolge, also wiederholt gezahlt werden. In der Praxis stellt sie das Hauptinstrument des Leistungsentgelts dar, da sie zur Motivationssteigerung besser geeignet ist als eine laufend gezahlte Leistungszulage26.

5.25

2. Befristete Leistungszulagen Leistungszulagen sind gemäß § 18 Abs. 4 Satz 4 TVöD-VKA und § 8 Abs. 1 Satz 2 LeistungsTV-Bund zeitlich befristete, widerrufliche, in der Regel monatliche Zahlungen. Solange das als Leistungsentgelt auszuschüttende Gesamtvolumen gering ist, fehlt solchen monatlichen Leistungszulagen fast jede Motivationswirkung. Aus diesen Gründen ist die Leistungsprämie laut Niederschrifterklärung zu § 8 Abs. 1 Satz 1 LeistungsTV-Bund bis auf weiteres die einzige Leistungsentgeltform im Bereich des Bundes27.

5.26

3. Erfolgsprämien Nach § 18 Abs. 4 Satz 3 TVöD-VKA kann auch eine Erfolgsprämie in Abhängigkeit von einem bestimmten wirtschaftlichen Erfolg neben dem gemäß Absatz 3 vereinbarten Startvolumen gezahlt werden. Diese Formulierung wird teils so verstanden, dass es sich lediglich um eine zusätzliche Möglichkeit leistungsorientierter Bezahlung handele, mit deren Wahl der Arbeitgeber in der Startphase aber nicht seine Ausschüttungspflicht aus § 18 Abs. 3 Satz 2 TVöD-VKA erfüllen könne28. § 18 Abs. 4 Satz 1 TVöD-VKA zeigt jedoch, dass es sich bei der Erfolgsprämie um eine zur Leistungsprämie und -zulage gleichwertige Form des Leistungsent25 26 27 28

Richter, ZTR 2008, 28 (29). Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Winter, § 8 LeistungsTV-Bund Rz. 2; Leist, ZTR 2006, 58 (57). Niederschriftserklärung zu § 8 Abs. 1 Satz 1 LeistungsTV-Bund. Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Poschke, § 18 (VKA) TVöD-AT Rz. 24; Kuner, Leistungsorientierte Bezahlung, Rz. 268.

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5.27

§ 5 Rz. 5.27

Leistungsentgelt

gelts handelt. Angesichts dieser Gleichstellung der Erfolgsprämie mit anderen Formen des Leistungsentgelts wäre von den Tarifvertragsparteien zu erwarten gewesen, dass sie eine evtl. vorhandene Absicht, Erfolgsprämien in der Startphase nur „on top“ zu gewähren, deutlicher in § 18 Abs. 4 Satz 3 TVöD-VKA zum Ausdruck gebracht hätten. Ohne eine Einschränkung kann die Formulierung „kann“ aber lediglich als Option des Arbeitgebers verstanden werden, Erfolgsprämien auch unter Überschreitung des 1 %-Volumens auszuschütten, um in der Anfangsphase leistungsorientierter Bezahlung mit geringem Startvolumen in wirtschaftlich arbeitenden Bereichen bereits zusätzliche Leistungsanreize schaffen zu können. Die Möglichkeit, Erfolgsprämien auch als Instrument zur Auszahlung des Gesamtvolumens heranzuziehen, wird dadurch aber nicht verschlossen29.

5.28 Da wirtschaftlicher Erfolg und die Erzielung von Gewinn in vielen Bereichen des öffentlichen Dienstes, insbesondere in der klassischen Verwaltung, nicht im Vordergrund stehen, ist der Anwendungsbereich der Erfolgsprämie in der Praxis begrenzt; sie wird in der Regel nur für Arbeitgeber in privater Rechtsform in Betracht gezogen30. Aber auch in der Kommunalverwaltung kann in bestimmten Bereichen der Einsatz von Erfolgsprämien sinnvoll sein und wird zB im Vollstreckungsbereich auch praktiziert31.

5.29 Im LeistungsTV-Bund ist die Erfolgsprämie nicht erwähnt. Dennoch steht einer Vereinbarung durch Dienstvereinbarung nichts im Wege: Eine Dienstvereinbarung über Erfolgsprämien verstieße weder gegen § 18 TVöD-Bund noch gegen den LeistungsTV-Bund, da diese Erfolgsprämien nicht ausschließen. Erfolgsprämien genügen im Bereich des Bundes aber nicht der geforderten zweckentsprechenden Verwendung des Gesamtvolumens, weshalb in der Dienstvereinbarung festzulegen wäre, dass Erfolgsprämien nicht das Gesamtvolumen nach § 18 Abs. 3 TVöD schmälern, sondern zusätzlich gewährt werden32.

III. Methoden der Leistungsfeststellung und -bewertung 5.30 Kernproblem eines jeden Leistungsentgeltsystems ist die Einführung eines von den Mitarbeitern akzeptierten betrieblichen Systems zur Feststellung und Bewertung der erbrachten Leistungen. 1. Leistung

5.31 Grundlegende Differenzen gibt es bereits zu der Frage, was überhaupt unter einer „Leistung“ in einem leistungsorientierten Entgeltsystem zu verstehen ist. Die Arbeitgeberseite vertritt zT die Auffassung, dass ein Leistungsentgelt erst bei erheblich über dem Durchschnitt liegenden Leistungen auszuschütten sei33. Gegen diese Auffassung spricht ein Vergleich mit § 17 Abs. 2 TVöD, der für einen leistungsabhängigen Stufenaufstieg ausdrücklich „erheblich über dem

29 Rundschreiben der VKA v. 13.6.2007 – R 164/07 betr. Leistungsentgelt nach § 18 TVöD, abgedruckt bei Sponer/Steinherr, Vorbemerkung zu § 18 TVöD-VKA, S. 30 ff. (40); KomTVöD/v. Dassel, § 18 TVöD-VKA Rz. 66. 30 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Poschke, § 18 (VKA) TVöD-AT Rz. 25; Rob, PersV 2007, 353 (355). 31 Vesper/Falter, ZTR 2008, 2 (13). 32 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Winter, § 2 LeistungsTV-Bund Rz. 3. 33 Rundschreiben der VKA v. 15.5.2006 – R 144/2006 betr. Leistungsentgelt nach § 18 TVöD, abgedruckt in Sponer/Steinherr, Vorbemerkung zu § 18 TVöD-VKA, S. 6.1 ff. (13 f.).

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Methoden der Leistungsfeststellung und -bewertung

Rz. 5.34 § 5

Durchschnitt“ liegende Leistungen verlangt34; § 18 TVöD stellt solche Anforderungen gerade nicht35. Es wird auch darauf hingewiesen, dass die Einführung leistungsorientierter Bezahlung über die Umwidmung bisher fester Vergütungsbestandteile gegenfinanziert wurde: Wenn auf diese Weise das Gesamtbudget von allen Beschäftigten finanziert werde, sei es nicht gerechtfertigt – und nicht durchsetzbar –, große Teile der Beschäftigten inklusive der „Normalleistenden“ vom Leistungsentgelt auszuschließen36. Auch unter Einbeziehung der Normalleistenden könne eine ausreichende Leistungsdifferenzierung durch ein ausdifferenziertes System von Zielerreichungsgraden und Leistungsstufen erreicht werden. Ob durch die sich auf diese Weise ergebende Nivellierung wirksame Leistungsanreize gesetzt werden können, ist allerdings zweifelhaft. Allerdings dürfen die Vertragsparteien nicht auf jede Differenzierung des Entgelts nach der individuellen Leistung verzichten; eine solche Regelung wäre unwirksam37. Nicht abschließend geklärt ist, ob nach § 18 Abs. 6 Satz 2 TVöD (VKA) die Bildung von Gruppenoder „Summen-Zielen“ vorzusehen möglich ist oder ob nur echte, individuelle Leistungsziele möglich sind; jedenfalls muss der einzelne Beschäftigte eine realistische Einflussmöglichkeit haben, auf die Erreichung eines Gruppenziels hinzuwirken38. 2. Zielvereinbarung a) Begriff Die Zielvereinbarung ist eine freiwillige Abrede zwischen der Führungskraft und einzelnen Beschäftigten oder auch Beschäftigungsgruppen über objektivierbare Leistungsziele und die Bedingungen ihrer Erfüllung (§ 18 Abs. 5 Satz 2 TVöD-VKA).

5.32

Im Vergleich zur systematischen Leistungsbewertung bietet eine Zielvereinbarung die Vorteile größerer Objektivität, Transparenz und Motivation39. Zudem handelt es sich aus Sicht des Arbeitgebers um ein effektives Steuerungs- und Führungsinstrument40. Selbstbeeinflusste Ziele haben erfahrungsgemäß eine höhere Motivationswirkung als einseitige Zielvorgaben durch den Arbeitgeber41.

5.33

b) Schriftform § 4 LeistungsTV-Bund verlangt für die Zielvereinbarung die Schriftform. Da § 4 Abs. 1 Satz 1 LeistungsTV-Bund – im Unterschied zum Schriftformerfordernis für Nebenabreden in § 2 Abs. 3 TVöD – die Wirksamkeit der Zielvereinbarung nicht ausdrücklich von der Einhaltung 34 Im Tarifbereich der VKA beginnt nach einer Herabgruppierung die Stufenlaufzeit neu, BAG v. 1.6.2017 – 6 AZR 741/15, NZA 2018, 56. 35 Kuner, Leistungsorientierte Bezahlung, Rz. 255; Hock, ZTR 2006, 350 (352); Rob, PersV 2007, 353 (359). Für Abkehr von der Normalleistung als Bewertungsmaßstab Litschen, ZTR 2009, 298 (299). 36 Kuner, Leistungsorientierte Bezahlung, Rz. 256; Hock, ZTR 2006, 350 (352); Rob, PersV 2007, 353 (360). 37 Litschen, öAT 2017, 221 (222); Kuner, öAT 2014, 173. 38 LAG Berlin-Brandenburg v. 24.3.2017 – 6 Sa 1848/16, juris. 39 Hock, ZTR 2006, 409 (410); aA Rob, PersV 2007, 353 (357). 40 Hock, ZTR 2006, 409 (411); Vesper/Feiter, ZTR 2008, 2 (9); Hinrichs, PersR 2009, 56. 41 Auch eine Studie des Forschungsinstituts für Arbeit, Technik und Kultur der Universität Tübingen zur Umsetzung des § 18 TVöD-VKA kommt zu dem Ergebnis, dass Zielvereinbarungen der systematischen Leistungsbewertung in mehrerer Hinsicht überlegen sind, dazu Schmidt/Müller, PersR 2013, 109.

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267

5.34

§ 5 Rz. 5.34

Leistungsentgelt

der Schriftform abhängig macht, ist davon auszugehen, dass es sich lediglich um ein sog. deklaratorisches Schriftformerfordernis handelt, dessen Verletzung nicht zur Nichtigkeit der Zielvereinbarung gemäß § 125 Satz 1 BGB führt42. Um eine klare Grundlage für die spätere Leistungsbeurteilung zu schaffen, ist die schriftliche Fixierung der Zielvereinbarung jedoch sinnvoll. c) Freiwilligkeit der Zielvereinbarung

5.35 Zur Freiwilligkeitskomponente stellt die entsprechende Niederschriftserklärung klar, dass die Vereinbarung aus Motivationsgründen freiwillig ist, dies aber die Verständigung auf zum Teil vorgegebene oder übergeordnete Ziele, zB bei der Umsetzung gesetzlicher Vorgaben, nicht ausschließt.

5.36 Die Natur der Zielvereinbarung als freiwillige Absprache schließt individuelle Ansprüche auf den Abschluss einer Zielvereinbarung aus. Für den Bereich des Bundes ist dieser Anspruchsausschluss ausdrücklich in § 4 Abs. 3 Satz 1 LeistungsTV-Bund normiert. Nach dieser Vorschrift besteht lediglich ein Anspruch sowohl der Beschäftigten als auch der Führungskraft auf Führung eines Zielvereinbarungsgesprächs. Im Bereich der VKA ergibt sich dieser Anspruch auf Führung von Zielvereinbarungsgesprächen auch ohne ausdrückliche Normierung aus einer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht, wenn das betriebliche System Zielvereinbarungen als Instrument der Leistungsfeststellung vorsieht.

5.37 Nur der LeistungsTV-Bund regelt die Folgen einer unterbliebenen Zielvereinbarung. Nach § 4 Abs. 3 LeistungsTV-Bund erfolgt die Leistungsfeststellung dann im Wege einer systematischen Leistungsbewertung. Das heißt, dass die Dienstvereinbarung auf jeden Fall ein Verfahren der systematischen Leistungsbewertung enthalten muss43. Ein Rückgriff auf die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung zum Vergütungsanspruch trotz unterbliebener Zielvereinbarung44 wird so entbehrlich45.

5.38 Im Bereich der VKA verlieren die Beschäftigten ihren Anspruch auf Leistungsentgelt grundsätzlich nicht, wenn keine Einigung über eine Zielvereinbarung zustande kommt46. Es ist deshalb sinnvoll, in der Dienst-/Betriebsvereinbarung ein System zur systematischen Leistungsbewertung zumindest als Auffangposition aufzunehmen, auf das für den Fall der Nichteinigung über Zielvereinbarungen zurückgegriffen werden kann. Zudem empfiehlt es sich, in der Betriebs-/Dienstvereinbarung für den Fall von Verständigungsschwierigkeiten über den Inhalt der Zielvereinbarung ein betriebliches Konfliktmanagement vorzusehen, um das Zustandekommen von Zielvereinbarungen zu unterstützen; zB für den Fall der Nichteinigung eine Vermittlung durch höhere Führungskräfte oder die betriebliche Kommission47. Weigert sich der Beschäftigte von vornherein, eine Zielvereinbarung abzuschließen, verliert er seinen 42 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Boegl, § 4 LeistungsTV-Bund Rz. 7. 43 v. Roetteken, ZTR 2006, 573 (574). 44 Bisher nach hM unter Heranziehung des Rechtsgedankens des § 162 Abs. 1 BGB, so ua. LAG Köln v. 23.5.2002 – 7 Sa 71/02, DB 2003, 451; nun Einordnung als Schadensersatzanspruch aus §§ 280, 283 BGB, BAG v. 12.12.2007 – 10 AZR 97/07, ArbRB 2008, 102 = NZA 2008, 409, dazu Gaul/ Rauf, DB 2008, 869 ff. 45 Leist, ZTR 2007, 58 (64). 46 BAG v. 12.12.2007 – 10 AZR 97/07, ArbRB 2008, 102 = NZA 2008, 409 (411) mwN; aA Kuner, Leistungsorientierte Bezahlung, Rz. 584. 47 Hock, ZTR 2006, 409 (413).

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Methoden der Leistungsfeststellung und -bewertung

Rz. 5.41 § 5

Anspruch auf das Leistungsentgelt48. Verweigert der Arbeitgeber den Beschäftigten hingegen den Abschluss einer Zielvereinbarung, können diese wegen der entgangenen Vergütung ggf. Schadensersatzansprüche aus §§ 280, 283 BGB geltend machen49. d) Zielfindung und -formulierung Am Anfang jeder Zielvereinbarung steht die Zielfindung, für die folgende Grundsätze50 empfohlen werden:

5.39

1. Der Zielfindungsprozess erfolgt idealerweise durch Ableitung individueller Ziele aus Oberzielen des Unternehmens bzw. der Verwaltungseinheit, sog. Top-down-Prozess51. 2. Aus Gründen der Übersicht und Transparenz ist eine Beschränkung auf maximal fünf Ziele pro Bewertungszeitraum sinnvoll52. § 4 Abs. 2 Satz 2 LeistungsTV-Bund legt diese Zahl für den Bund ausdrücklich als Obergrenze fest. 3. Ziele müssen hinreichend konkret einen bestimmten Endzustand bzw. ein abrechenbares Ergebnis vorgeben53. Es sollte auch darauf geachtet werden, dass die Zielerreichung hinreichend klar festgestellt werden kann. 4. Die vereinbarten Ziele müssen beeinflussbar und in der regelmäßigen Arbeitszeit erreichbar sein (§ 18 Abs. 6 Satz 2 TVöD-VKA). 5. Motivationspsychologisch empfohlen wird die Orientierung am sog. SMART-Prinzip54: S

specific (spezifisch)

M measurable (messbar) A

achievable (erreichbar)

R

realistic (realisierbar)

T

timely (zeitlich begrenzt)

Diese Vorgaben finden sich in anderer Formulierung auch in § 4 Abs. 1 LeistungsTV-Bund wieder, wonach die Leistungsziele eindeutig, konkret und – auch in zeitlicher Hinsicht – präzise zu bestimmen sind und zudem realistisch, messbar und nachvollziehbar sein müssen.

5.40

Die präzise Formulierung der Zielvereinbarung hat auch unter dem Blickwinkel einer möglichen Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB Bedeutung. Dass eine Zielvereinbarung „freiwillig“ ist, bedeutet noch nicht, dass sie iSd. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB zwischen den Vertragsparteien im Einzelfall ausgehandelt ist, was eine Inhaltskontrolle ausschließen würde. In der Praxis wird es vielmehr der Regelfall sein, dass der Arbeitgeber das Ziel in einem Zielverein-

5.41

48 Hock, ZTR 2006, 409 (413); Sponer/Steinherr, § 18 TVöD-VKA Rz. 38; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/ Langenbrinck, TVöD, § 18 (VKA) Rz. 31. 49 BAG v. 12.12.2007 – 10 AZR 97/07, ArbRB 2008, 102 = NZA 2008, 409; v. 10.12.2008 – 10 AZR 889/07, ArbRB 2009, 100 = NZA 2009, 256. 50 Ausführlich Litschen/Kratz/Weiß/Zempel, S. 75 ff. 51 Hock, ZTR 2006, 409 (411); Litschen/Kratz/Weiß/Zempel, S. 77 f. 52 Hock, ZTR 2006, 409 (412); Litschen/Kratz/Weiß/Zempel, S. 75 f. 53 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Poschke, § 18 (VKA) TVöD-AT Rz. 14 f. mit Beispielen. 54 Litschen/Kratz/Weiß/Zempel, S. 77 f.; Hock, ZTR 2006, 409 (412).

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§ 5 Rz. 5.41

Leistungsentgelt

barungsformular vorformuliert. Widerspricht der Arbeitnehmer dem Zielvorschlag des Arbeitgebers nicht, liegt deshalb noch kein „Aushandeln“ iSd. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB vor55. Eine inhaltliche Kontrolle der Angemessenheit der Zielsetzung anhand von § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB findet dennoch nicht statt, da die Zielvereinbarung als Preisabrede gemäß § 307 Abs. 3 Satz 2 BGB nur eingeschränkt kontrollfähig ist. Die Zielvereinbarung bleibt aber am Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB zu messen56. Außerdem gilt die Auslegungsregel des § 305 Abs. 2 BGB, wonach Unklarheiten bei der Auslegung zu Lasten des Verwenders, also des Arbeitgebers gehen57.

5.42 Die Vereinbarung konkreter Ziele unterliegt grundsätzlich nicht der Mitbestimmung. Nur wenn der Arbeitgeber für Zielvereinbarungen allgemein geltende Kriterien heranzieht, besteht ein Mitbestimmungsrecht des Personalrats gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 4 BPersVG (bzw. nach den entsprechenden Landesvorschriften) oder des Betriebsrats gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG58. e) Zielanpassung

5.43 Ändern sich während des Bewertungszeitraums die Rahmenbedingungen, zB durch einen Arbeitsplatz- oder Tätigkeitswechsel, kann sich die Notwendigkeit ergeben, die Zielvereinbarung entsprechend zu korrigieren. Im LeistungsTV-Bund ist bei relevanten Änderungen ein Anspruch auf Führung eines Zielanpassungsgespräches vorgesehen, § 4 Abs. 5 Satz 2 LeistungsTV-Bund. Im Kommunalbereich sind Regelungen zur Anpassung von Zielvereinbarungen bei wesentlichen Änderungen der Geschäftsgrundlagen in der Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung zu treffen (§ 18 Abs. 6 Satz 3 TVöD-VKA). Aufgrund der allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften kann sich eine Pflicht der Arbeitsvertragsparteien zur Zielkorrektur aus § 313 BGB ergeben. f) Feststellung der Zielerreichung

5.44 Nach Ablauf des Leistungs- und Feststellungszeitraums, dessen Beginn und Ende in der Dienstvereinbarung zu regeln sind, erfolgen die Feststellung und Bewertung der Leistung anhand eines Abgleichs der Zielerreichung mit den in der Vereinbarung bestimmten Zielen (§ 18 Abs. 5 Satz 1 TVöD-VKA und § 4 Abs. 6 LeistungsTV-Bund). Um den Grad der Zielerreichung messbar zu machen, bietet sich bei quantitativen Zielen eine prozentuale Abstufung, in der Regel aber eine mehrstufige, mindestens zweistufige, Skala an. Der LeistungsTV-Bund enthält hierzu in § 4 Abs. 2 Satz 3 die Vorgabe, dass für jedes Ziel bis zu 5 Zielerreichungsgrade festzulegen sind.

55 Horcher, BB 2007, 2065 (2066). 56 BAG v. 12.12.2007 – 10 AZR 97/07, ArbRB 2008, 102 = NZA 2008, 409 (411); HWK/Roloff, Anhang §§ 305–310 BGB Rz. 58; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 505; Riesenhuber/v. Steinau-Steinrück, NZA 2005, 785 (791); Annuß, NZA 2007, 290; Horcher, BB 2007, 2065 (2066). 57 HWK/Roloff, Anhang §§ 305–310 BGB Rz. 58; Horcher, BB 2007, 2065 (2066). 58 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Poschke, § 18 (VKA) TVöD-AT Rz. 16; ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 100.

270

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Methoden der Leistungsfeststellung und -bewertung

Rz. 5.49 § 5

5.45

Eine solche fünfstufige Skala kann folgendermaßen aussehen: Stufe 1

Ziel nicht erreicht.

0 Punkte

Stufe 2

Ziel teilweise erreicht.

1 Punkt

Stufe 3

Ziel voll erreicht.

2 Punkte

Stufe 4

Ziel übererreicht.

3 Punkte

Stufe 5

Ziel deutlich übererreicht.

4 Punkte

Werden mehrere Ziele vereinbart, ist ihre Gewichtung untereinander festzulegen. Um nach Ablauf des Bewertungszeitraums Streit über den Grad der Zielerreichung zu vermeiden, sind die einzelnen Stufen der Zielerreichung im Zielvereinbarungsformular zu verbalisieren:

5.46

Ziel: Zügigere Bearbeitung eingehender Anträge Stufe 5

Bearbeitung innerhalb von 3 Tagen

Stufe 4

Bearbeitung innerhalb einer Woche

Stufe 3

Bearbeitung innerhalb von zwei Wochen

Stufe 2

Bearbeitung innerhalb eines Monats

Stufe 1

Bearbeitungsdauer . 1 Monat

3. Systematische Leistungsbewertung Unter systematischer Leistungsbewertung ist die auf einem betrieblich vereinbarten System beruhende Feststellung der erbrachten Leistung nach möglichst messbaren oder anderweitig objektivierbaren Kriterien oder durch aufgabenbezogene Bewertung zu verstehen, § 18 Abs. 5 Satz 3 TVöD-VKA. Diese Leistungsbewertung ist von der aus dem Laufbahnrecht der Beamten entliehenen Regelbeurteilung zu trennen59.

5.47

Die Systematisierung erfolgt durch Festlegung von Leistungskriterien und Leistungsstufen und schließt so eine freie und willkürliche Leistungsbeurteilung aus. § 5 Abs. 2 Satz 4 LeistungsTV-Bund enthält die Vorgabe, dass die Leistungskriterien aus den Merkmalen Adressatenorientierung, Arbeitsqualität (einschließlich zB Arbeitsweise und Prioritätensetzung), Arbeitsquantität, Führungsverhalten, Wirtschaftlichkeit und Zusammenarbeit zu konkretisieren sind.

5.48

Eine Dienstvereinbarung kann zB folgende konkrete Kriterien festlegen:

5.49

– Kundenorientierung – Fachliche Kompetenz/konzeptionelles Handeln – Quantität/Arbeitsmenge/Präsenz/Tempo/Vollständigkeit – Qualität/Fehlerfreiheit/Außenwirkung 59 Niederschrifterklärung zu § 18 Abs. 5 Satz 3 TVöD-VKA und Protokollerklärung zu § 5 LeistungTV-Bund.

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271

§ 5 Rz. 5.49

Leistungsentgelt

– Initiative/Erfolgsorientierung/Selbständigkeit/Engagement/Einsatzbereitschaft – Flexibilität/vielseitige Verwendbarkeit – Teamorientierung/Kooperation/Zusammenarbeit/interne Kommunikation – Organisation/Planung/Selbstkontrolle/Arbeitssorgfalt – Wirtschaftlichkeit/kostenbewusstes Handeln60

5.50 Die Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung kann einen solchen Kriterienkatalog nur als Leitfaden festlegen – eine individuelle Anpassung an die konkreten Aufgaben des einzelnen Arbeitsplatzes bleibt unverzichtbar. Hierbei sind die Kriterien auch nach ihrer Bedeutung für den jeweiligen Arbeitsplatz unterschiedlich zu gewichten.

5.51 Zur Messung der Leistung sind Bewertungsstufen festzulegen61. Um das Bewertungsverfahren objektiver und für die Beschäftigten transparenter zu gestalten, sollten die Bewertungskriterien operationalisiert werden, indem die Bewertungsstufen jedes Kriteriums durch konkrete Beschreibungen präzisiert werden, nicht zuletzt auch, um Streit bei der Leistungsbeurteilung zu vermeiden62. Eine solche Operationalisierung kann beim Merkmal Arbeitsqualität zB wie folgt aussehen63: Stufe 1

Erledigt die Arbeiten mit nicht mehr ausreichender Qualität, die zu sehr vielen Beanstandungen führt. Die Arbeitsausführung ist qualitativ unzureichend und liegt unter der erwarteten Leistung.

Stufe 2

Erledigt alle Arbeiten mit noch ausreichender Qualität, die aber zu häufigen Beanstandungen führt. Die Arbeitsausführung ist qualitativ ausreichend, liegt manchmal jedoch unter der erwarteten Leistung.

Stufe 3

Erledigt alle Arbeiten mit zu erwartender Qualität, die nur gelegentlich zu Beanstandungen führt. Die Arbeitsausführung entspricht qualitativ der erwarteten Leistung.

Stufe 4

Erledigt alle Arbeiten mit überdurchschnittlicher Qualität, die selten zu Beanstandungen führt. Die Arbeitsausführung liegt qualitativ über der erwarteten Leistung.

Stufe 5

Erledigt alle Arbeiten mit ständig weit überdurchschnittlicher Qualität, die äußerst selten zu Beanstandungen führt. Die Arbeitsausführung ist qualitativ hervorragend.

4. Ertragsorientierte Leistungsbewertung

5.52 Erfolgsprämien werden aufgrund einer ertragsorientierten Leistungsbewertung vergeben. Dies ergibt sich aus § 18 Abs. 4 Satz 3 TVöD-VKA, wonach die Erfolgsprämie in Abhängigkeit von einem bestimmten wirtschaftlichen Erfolg gezahlt wird. Die Protokollerklärung zu Absatz 4

60 Rundschreiben der VKA v. 13.6.2007 – R 164/07 betr. Leistungsentgelt nach § 18 TVöD, abgedruckt bei Sponer/Steinherr, Vorbemerkung zu § 18 TVöD-VKA, S. 30 ff. (35). 61 Beispiele für Skalen bei Hock, ZTR 2006, 409 (415). 62 Litschen/Kratz/Weiß/Zempel, S. 123 ff.; Beispiele bei Hock, ZTR 2006, 409 (415); Vesper/Feiter, ZTR 2008, 2 (9). 63 Anlage zum Rundschreiben der VKA v. 13.6.2007 – R 164/07 betr. Leistungsentgelt nach § 18 TVöD, abgedruckt in Sponer/Steinherr, Vorbemerkung zu § 18 TVöD-VKA, S. 30 ff. (45).

272

Brock

Rz. 5.53 § 5

Methoden der Leistungsfeststellung und -bewertung

Satz 4 bestimmt, dass die wirtschaftlichen Unternehmensziele von der Verwaltungs-/Unternehmensführung zu Beginn des Wirtschaftsjahres festgelegt werden und der wirtschaftliche Erfolg später auf der Gesamtebene der Verwaltung/des Betriebes festgestellt wird. Diese Erklärung nimmt zwar Satz 4 – und damit eigentlich die Leistungszulage – in Bezug, macht aber nur im Zusammenhang mit der in Satz 3 geregelten Erfolgsprämie Sinn, weshalb von einem Redaktionsversehen auszugehen ist64. Als Messgröße für die Erreichung der wirtschaftlichen Unternehmensziele können Umsatz, Gewinn oder EBIT (earnings before interest and taxes) herangezogen werden65. 5. Kombinationsmodelle Die Leistungsfeststellung kann auch anhand eines kombinierten Einsatzes mehrerer Methoden erfolgen, insbesondere bietet sich eine Verbindung von Zielvereinbarungen mit einer systematischen Leistungsbewertung an. § 6 LeistungsTV-Bund sieht eine solche Verbindung ausdrücklich vor. Ein Kombinationsmodell ist gerade für die Einführungsphase sinnvoll, um zunächst Erfahrungen mit Zielvereinbarungen sammeln, aber auch auf eine systematische Leistungsbewertung zurückgreifen zu können66. In einem kombinierten Formular können hierzu einzelne Ziele und Leistungsbeurteilungsmerkmale mit ihrer jeweiligen Gewichtung festgelegt werden. Die Kombination der Instrumente führt so zu einer einheitlichen Gesamtleistungsfeststellung, die folgendermaßen67 aussehen kann: Ziele/Beurteilungskriterien

Festgestellte Zielerreichung/Beurteilung

Ziele

70 %

Teilnahme an Seminar zur Einführung neuer Beurteilungssysteme

5%

Entwicklung eines neuen Beurteilungsmodells

20 %

Aushandlung einer Beurteilungsrichtlinie mit dem Personalrat bis zum 1.5.2006

35 %

Teamgefühl in der Projektgruppe stärken

10 %

Zwischensumme

70 %

nicht erreicht

teilweise erreicht

erreicht

etwas übertroffen

deutlich übertroffen

0

2,5

5

7,5

10

Punkte

x

25

x

200

x

87,5

x

75 387,5

64 Hock, ZTR 2006, 350 (356). 65 Dörring/Kutzki/Polzer, § 18 TVöD-VKA. 66 Hock, ZTR 2006, 409 (417); kritisch zu Kombinationsmodellen aber Rob, PersV 2007, 353 (361). 67 Leitfaden Leistungsbewertung des BMI (Stand 24.1.2006), abgedruckt bei Sponer/Steinherr als Anhang Nr. 2 zu § 18 TVöD-Bund, S. 23 f.

Brock

273

5.53

§ 5 Rz. 5.53

Leistungsentgelt

Ziele/Beurteilungskriterien

Festgestellte Zielerreichung/Beurteilung

Leistungsbeurteilung

30 %

Arbeitssorgfalt (Zuverlässigkeit, Termineinhaltung, Konsequenz im Handeln)

10 %

Engagement (Zielstrebigkeit, innovative Beiträge, Lernbereitschaft)

10 %

Kommunikationsverhalten (Darstellungsfähigkeit, Motivationsfähigkeit)

5%

Beitrag zum Gesamtergebnis (Verantwortungsbewusstsein, Teamgeist, Hilfsbereitschaft)

5%

Zwischensumme

30 %

Ergebnis für 2006

nicht erreicht

teilweise erreicht

erreicht

etwas übertroffen

deutlich übertroffen

0

2,5

5

7,5

10

x

Punkte

25

x

x

x

100

37,5

25

187,5 575

IV. Verteilung und Auszahlung 5.54 Steht das zur Verfügung stehende Gesamtbudget fest und wurden die Leistungen der Beschäftigten von den Vorgesetzten bewertet, stellt sich die Frage nach der Verteilung des Budgets.

5.55 In der Dienst- bzw. Betriebsvereinbarung ist zunächst die Entscheidung zu treffen, ob das Gesamtvolumen in Teilbudgets nach Abteilungen, Fachbereichen oder Beschäftigungsgruppen aufzuteilen ist68. § 10 Abs. 2 LeistungsTV-Bund sieht eine grundsätzliche Aufteilung nach Entgeltgruppen vor, um sicherzustellen, dass jeder Entgeltgruppe ein Teilvolumen von derzeit 1 Prozent der ständigen monatlichen Entgelte des Vorjahres der Beschäftigten dieser Entgeltgruppe auch tatsächlich zur Verfügung steht69; eine Dienstvereinbarung kann auf eine Trennung nach Entgeltgruppen verzichten, Entgeltgruppen oder eine Aufteilung nach organisatorischen Gesichtspunkten vorsehen.

5.56 Die Höhe des individuellen Leistungsentgelts wird durch die Festlegung eines Punktwertes ermittelt. Der Punktwert wird errechnet, indem das Gesamtvolumen bzw. das Teilbudget durch die im Rahmen der Leistungsbewertung erreichten Punkte der erfassten Beschäftigten geteilt wird. Der so errechnete Eurobetrag pro Punkt ergibt multipliziert mit der individuellen Punktzahl das individuell auszuzahlende Leistungsentgelt. Wurde das Gesamtvolumen nicht schon nach Entgeltgruppen aufgeteilt, kann das so errechnete Ergebnis noch durch einen Entgeltfaktor korrigiert werden, wodurch die Prämie an die relative Höhe des tarifli-

68 Kuner, Leistungsorientierte Bezahlung, S. 206 ff.; Litschen/Kratz/Weiß/Zempel, S. 157 ff.; Hock, ZTR 2006, 350 (354); Litschen, ZTR 2009, 298 (230). 69 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Winter, § 10 LeistungsTV-Bund Rz. 5.

274

Brock

Verteilung und Auszahlung

Rz. 5.60 § 5

chen Gehalts angeglichen wird70. Zudem kann gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 LeistungsTV-Bund eine Obergrenze für das individuelle Leistungsentgelt festgelegt werden, das individuelle Leistungsentgelt also „gedeckelt“ werden. Da diese Berechnung im Einzelfall vergleichsweise komplizierter ist, ist jedoch die im LeistungsTV-Bund vorgegebene Aufteilung des Budgets nach Entgeltgruppen vorzuziehen, wenn die Größe der Dienststelle bzw. des Betriebes eine solche Aufteilung zulässt. Speziell in diesen Vorgaben verbergen sich auch grundlegende Probleme des Systems. Effektiv wird das System der Leistungsbeurteilung nur dann, wenn tatsächlich deutliche Leistungsdifferenzierungen zwischen den Beschäftigten festgestellt werden, da sich nur dann eine signifikant höhere Vergütung guter Mitarbeiter ergibt. Wegen der zwingenden Vorgabe, dass das feststehende und grundsätzlich nicht erhöhbare Volumen ganz ausgeschüttet werden muss, sind Einkommenssteigerungen eines Beschäftigten nur möglich auf Kosten anderer Mitarbeiter. Solange alle Beschäftigten gleich oder ähnlich beurteilt werden, ist es für die Höhe der leistungsorientierten Vergütung sogar unerheblich, ob die Mitarbeiter einheitlich schlecht oder gut beurteilt werden. Wenn alle Mitarbeiter nur die Mindestpunktzahl erreichen ist die Höhe der leistungsabhängigen Vergütung genau gleich, als wenn alle die Höchstpunktzahl erreicht hätten: in beiden Fällen bleiben die Anteile der Mitarbeiter am Gesamttopf gleich. Eine deutliche Einkommensdifferenzierung kann nur durch konsequentes Ausschöpfen der Bewertungsskala erreicht werden – eine Konsequenz, die, häufig auch im Hinblick auf mögliche Konflikte, gescheut wird.

5.57

Spezielle Verteilungsprobleme stellen sich bei bestimmten Beschäftigungsgruppen und unterjährigen Veränderungen des Beschäftigungsverhältnisses:

5.58

Bei Teilzeitbeschäftigten gilt der Grundsatz des § 24 Abs. 2 TVöD, wonach Teilzeitbeschäftigte 5.59 Entgelt nur in dem Umfang erhalten, der dem Anteil ihrer individuell vereinbarten durchschnittlichen Arbeitszeit an der regelmäßigen Arbeitszeit vergleichbarer Vollzeitbeschäftigter entspricht. Während nach § 18 Abs. 4 Satz 7 TVöD-VKA durch Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung von dieser Regel abgewichen werden kann, ist die proportionale Kürzung des Leistungsentgelts Teilzeitbeschäftigter durch § 11 Abs. 6 Satz 2 LeistungsTV-Bund zwingend ausgestaltet. Hierin liegt keine unzulässige Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter iSd. § 4 Abs. 1 TzBfG, da Leistungsentgelt erbrachte Leistungen honoriert und deshalb die Bemessung des Leistungsentgelts in Abhängigkeit vom Umfang der erbrachten Leistungen nicht zu beanstanden ist71. Für den Kommunalbereich sind, da § 18 TVöD-VKA zu unterjährigen Veränderungen des Arbeitsverhältnisses und besonderen Situationen, wie zB längerer Krankheit, schweigt, Regelungen in der Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung zu treffen. Im Bereich des Bundes enthält § 11 LeistungsTV-Bund bereits nähere Vorgaben: Bestand kein durchgehender Entgeltanspruch während des gesamten Beurteilungszeitraums, ist das Leistungsentgelt für jeden Kalendermonat, in dem kein Entgeltanspruch bestand, um ein Zwölftel zu kürzen, § 11 Abs. 2 Satz 2 LeistungsTV-Bund. Die Untergrenze für eine Leistungsfeststellung zieht § 11 Abs. 1 bei einer Tätigkeit von weniger als zwei Kalendermonaten. Eine solche Karenzzeit ist sinnvoll, da bei einer zu kurzen Beschäftigungsdauer keine sachgerechte Leistungsfeststellung mehr möglich ist72. 70 Hierzu Hock, ZTR 2006, 409 (414) mit Berechnungsbeispielen; zu alternativen Berechnungsmethoden Litschen/Kratz/Weiß/Zempel, S. 177 ff. 71 v. Roetteken, ZTR 2006, 573 (577 f.). 72 Leist, ZTR 2007, 114 (115).

Brock

275

5.60

§ 5 Rz. 5.61

Leistungsentgelt

5.61 § 11 Abs. 3 LeistungsTV-Bund schließt den Anspruch auf Leistungsentgelt für den Fall aus, dass das Arbeitsverhältnis aus einem Grund beendet wird, den der Beschäftigte durch eigenes Verschulden verursacht hat. Da der Fall der berechtigten Eigenkündigung nicht von der Ausschlussnorm erfasst ist, liegt hierin keine nach §§ 622 Abs. 6, 134 BGB unzulässige Kündigungserschwerung.

5.62 Für einen Wechsel des Arbeitsplatzes oder der Führungskraft innerhalb des Beurteilungszeitraums regelt § 11 Abs. 4 LeistungsTV-Bund einen grundsätzlichen Anspruch auf ein Zwischenergebnis zur Feststellung der bisherigen Leistungen.

5.63 § 11 Abs. 5 LeistungsTV-Bund regelt die Teilnahme von Beschäftigten am Leistungsentgelt, die nach dem Bundesgleichstellungsgesetz, dem Bundespersonalvertretungsgesetz oder dem SGB IX teilweise von der Arbeit freigestellt sind. Wegen der Gleichstellung von Personalvertretungsrecht und Betriebsverfassungsrecht in § 17 LeistungsTV-Bund fallen auch nach dem Betriebsverfassungsgesetz freigestellte Beschäftigte unter diese Regelung73. Die besondere Problematik dieser Beschäftigungsgruppe besteht darin, dass einerseits mit zunehmender Freistellungszeit eine Leistungsfeststellung unmöglich wird, andererseits aber ein Ausschluss vom Leistungsentgelt nicht mit den Benachteiligungsverboten ua. für Personalräte in § 8 BPersVG und Betriebsräte in § 78 BetrVG zu vereinbaren wäre. Auf diese Benachteiligungs- und Begünstigungsverbote nimmt die Protokollerklärung zu § 11 Abs. 5 LeistungsTV-Bund Bezug, wonach bei teilweise freigestellten Beschäftigten sicherzustellen ist, dass sie wegen ihrer Tätigkeit weder benachteiligt noch begünstigt werden. Der LeistungsTV-Bund löst diesen Konflikt auf, indem ab einem Freistellungsanteil von 75 % ohne Leistungsfeststellung ein Leistungsentgelt in Höhe des Durchschnittsbetrages der Beschäftigten ihrer jeweiligen Entgeltgruppe ausgeschüttet wird (§ 11 Abs. 5 Satz 1 LeistungsTV-Bund). Bei Freistellungszeiten unter 50 % unterliegen auch die teilweise freigestellten Beschäftigten der Leistungsfeststellung (Satz 2). Grundlage hierfür ist die Leistung in den nicht freigestellten Zeiten, wobei nach Satz 3 dieses Ergebnis auf den freigestellten Anteil der Arbeitsleistung für die Berechnung des Leistungsentgelts zu übertragen ist. Bei einer Freistellung zwischen 50–75 % wird den Beschäftigten durch Satz 4 ein Wahlrecht zwischen einem pauschalierten Leistungsentgelt nach Satz 1 oder einer Leistungsfeststellung nach Satz 2 eingeräumt.

5.64 Der Wirksamkeit dieser Regelung wird entgegengehalten, sie führe wegen der Möglichkeit eines pauschalierten Leistungsentgelts ohne Leistungsfeststellung zu einer verbotenen Begünstigung von Betriebs- und Personalräten unter Verstoß gegen die Begünstigungsverbote in § 8 BPersVG und § 78 BetrVG74. Diese Normen verbieten jedoch nur Begünstigungen, die wegen der Amtstätigkeit und nicht aus sachlichen Erwägungen erfolgen75. Die Tarifnorm ist aber von der sachlichen und durch die Benachteiligungsverbote gerade gebotenen Erwägung geleitet, eine Benachteiligung beim Leistungsentgelt durch Freistellungszeiten für die ehrenamtliche Amtstätigkeit zu vermeiden. Das Abstellen auf ein pauschaliertes Durchschnitts-Leistungsentgelt führt nicht zu einer Übervorteilung von Betriebs- und Personalratsmitgliedern, sondern stellt lediglich einen Nachteilsausgleich dar. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass diesen Beschäftigten gleichzeitig die Möglichkeit genommen wird, im Wege der Leistungsfeststellung ein überdurchschnittliches Leistungsentgelt zu erzielen. Insofern führt § 11 Abs. 5 LeistungsTV-Bund einen sachgerechten und nicht zu beanstandenden Ausgleich herbei.

73 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Boegl, § 11 LeistungsTV-Bund Rz. 18. 74 Kuner, Leistungsorientierte Bezahlung, Rz. 370 ff. 75 Wlotzke/Preis/Kreft/Preis, § 78 BetrVG Rz. 17.

276

Brock

§6 Direktionsrecht I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6.1

1. Definition und Rechtsgrundlagen . . .

6.1

2. Abgrenzung zur Vertragsänderung . .

6.6

3. Inhalt und Grenzen des Direktionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erweiterungen und Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Tarifvertrag und Dienst- oder Betriebsvereinbarung . . . . . . . bb) Einzelvertragliche Klauseln . . . cc) Zwingende Normen des Arbeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . dd) Richtlinien und Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . ee) Konkretisierung aufgrund tatsächlicher Tätigkeit oder betrieblicher Übung . . . . . . . . ff) „Billiges Ermessen“ iSv. § 315 Abs. 3 BGB (Ausübungskontrolle) . . . . . . . . . . . . . . . .

6.8 6.8 6.13 6.14 6.18 6.21 6.22 6.23 6.28

4. Anspruch auf Ausübung des Direktionsrechts (Fürsorgepflicht) . . . . . . . 6.31 5. Rechtsfolgen der Ausübung des Direktionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtmäßige Weisung . . . . . . . . . . b) Rechtswidrige Weisung . . . . . . . . . c) Gerichtliche Besonderheiten . . . . .

6.32 6.32 6.33 6.34

II. Besonderheiten im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.37 1. Änderung des Arbeitsplatzes . . . . . . . a) Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Versetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Abordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6.37 6.38 6.42 6.45

d) Zuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.47 e) Personalgestellung . . . . . . . . . . . . . 6.49 f) Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.52 2. Änderung des Arbeitsortes . . . . . . . . 6.53 3. Zuweisung anderer Tätigkeiten . . . . . a) Zuweisung von Tätigkeiten innerhalb derselben Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zuweisung von Tätigkeiten einer niedrigeren Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zuweisung von Tätigkeiten einer höheren Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Streik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Nebenarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Änderung der Arbeitszeit (Tätigkeitsumfang) . . . . . . . . . . . . . . . a) Arbeitsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anordnung von Überstunden und Mehrarbeit . . . . . . . . . . . . bb) Verkürzung der Arbeitszeit und Anordnung von Kurzarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Arbeitszeitverteilung . . . . . . . . . . . c) Bereitschaftsarbeit . . . . . . . . . . . . . 5. Änderungen und Weisungen bezüglich Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . a) Kleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Frisur, Schmuck, Tätowierungen . . c) Medien (Radio, Internetnutzung) . d) Verhaltensrichtlinien, Rauch- und Alkoholverbote und Ähnliches . . . . e) Residenzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . .

6.55 6.55 6.57 6.59 6.67 6.68 6.69 6.70 6.70 6.71 6.74 6.76 6.80 6.87 6.88 6.89 6.90 6.91 6.92

Schrifttum: Monographien/Kommentare: Birk, Die arbeitsrechtliche Leistungsmacht, 1973; Boemke, Gewerbeordnung, Kommentar zu §§ 105–110, 2003; Bredemeier/Neffke, BAT/BAT-O, 2. Aufl. 2003; Brunhöber, Das Weisungsrecht im Arbeitsverhältnis, 2005; Conze/Karb, Personalbuch Arbeits- und Tarifrecht öffentlicher Dienst, 5. Aufl. 2017; Geoff/Weizenegger, TVöD/TV-L, 3. Aufl., 2007; Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, 2007; Kuner, Der neue TVöD, 2. Aufl. 2010; Küttner, Personalbuch 2019, 26. Aufl. 2019; Müller/Preis, Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst, 7. Aufl. 2009; Söllner, Einseitige Leistungsbestimmung im Arbeitsrecht, 1966; Sponer/Steinherr, Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, Stand 2017; von Hoyningen-Huene, Die Billigkeit im Arbeitsrecht, 1978.

Laber

277

§ 6 Rz. 6.1

Direktionsrecht

Aufsätze: Beyer-Delhey, Das Direktionsrecht des Arbeitgebers im öffentlichen Dienst, ZTR 1990, 411; Borgmann/Faas, Das Weisungsrecht zur betrieblichen Ordnung nach § 106 S. 2 GewO, NZA 2004, 241; Conze, Das Direktionsrecht des öffentlichen Arbeitgebers in der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte (Teil I und II), ZTR 1999, 400; Gussone, Rechtfertigung und Beendigung der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit nach § 24 BAT, ZTR 2003, 54; Hennige, Rechtliche Folgewirkungen schlüssigen Verhaltens der Arbeitsvertragsparteien, NZA 1999, 281; Hromadka, Das Leistungsbestimmungsrecht des Arbeitgebers, DB 1995, 1609; Hromadka, Das allgemeine Weisungsrecht, DB 1995, 2601; Hromadka, Vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit, RdA 2003, 237; Hunold, Die Rechtsprechung zum Direktionsrecht des Arbeitgebers, NZA-RR 2001, 337; Hunold, AGB-Kontrolle einer Versetzungsklausel, NZA 2007, 19; Konow, Die Übertragung niedriger gelöhnter Beschäftigungen ohne Änderungskündigung, NZA 1987, 117; Kliemt, Der neue Teilzeitanspruch – Die gesetzliche Neuregelung der Teilzeitarbeit ab dem 1.1.2001, NZA 2001, 63; Laber, Das Direktionsrecht des Arbeitgebers im öffentlichen Dienst, ArbRB 2006, 364; Lakies, Das Weisungsrecht des Arbeitgebers (§ 106 GewO) – Inhalt und Grenzen, BB 2003, 364; Meyer, Neue Fragen einer Kündigung bei Widerspruch gegen „Betriebsübergang“, NZA 2005, 9; Plander, Die Personalgestellung zum Erwerber beim Betriebsübergang als Reaktion auf den Widerspruch von Arbeitnehmern am Beispiel kommunaler Privatisierungen, NZA 2002, 69; Plüm, Die tarifliche Erweiterung von Leistungsbestimmungsrechten des Arbeitgebers, DB 1992, 735; Preis/Greiner, Die Personalgestellung nach § 4 Abs. 3 TVöD – eine innovative Stärkung der Binnenflexibilität im Arbeitsverhältnis, ZTR 2006, 290; Richter, Die Änderung von Arbeitsbedingungen kraft des Direktionsrechts des Arbeitgebers und Beachtung der Beteiligung des Betriebsrats, DB 1989, 2378 und 2430; Rost, Die „Erweiterung des Direktionsrechts“ durch Tarifvertrag, Festschrift Dieterich, 1999, S. 505; Thau, Direktionsrecht des Arbeitgebers – Arbeitsort, Anmerkung zu BAG v. 7.12.2000 – 6 AZR 444/99, SAE 2002, 56; von Steinau-Steinrück/Schmidt, Überblick zum TVöD: „Ein Weiter so im neuen Gewand“?, NZA 2006, 518; Wellenhofer-Klein, Der rauchfreie Arbeitsplatz – Was bringt die Änderung der Arbeitsstättenverordnung?, RdA 2003, 155.

I. Grundlagen 1. Definition und Rechtsgrundlagen

6.1 In § 106 GewO, der mit Wirkung ab dem 1.1.2003 eingeführt wurde, sind erstmals die Grundsätze des arbeitsrechtlichen Direktionsrechts kodifiziert worden. Danach kann der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrags oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. Das auf dem Arbeitsvertrag beruhende Direktions- oder Weisungsrecht1 ist der wesentliche Bestandteil eines jeden Arbeitsverhältnisses. Es ist das wichtigste Kriterium für die Abgrenzung zwischen abhängiger Tätigkeit im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses und einer selbständigen Tätigkeit2. Durch seine bloße Nichtausübung wird das Arbeitsverhältnis jedoch noch nicht zu einem freien Dienstverhältnis3.

6.2 Das Direktionsrecht bestimmt maßgeblich die Reichweite des Kündigungsschutzes nach dem KSchG4. Gesetzliche Regelungen, Tarifverträge, Dienst- und Betriebsvereinbarungen sowie 1 Teilweise werden diese Begriffe nicht synonym verwendet, sondern das Direktionsrecht als Unterfall eines allgemeinen Weisungsrechts angesehen, vgl. Richter, DB 1989, 2378 (2379). 2 Hromadka, DB 1995, 2601; Küttner/Griese, Weisungsrecht Rz. 1; Thau, SAE 2002, 56. 3 BAG v. 12.9.1996 – 5 AZR 1066/94, BAGE 84, 108 = NZA 1997, 194; v. 25.1.2007 – 5 AZB 49/06, NJW 2007, 1485. 4 BAG v. 2.3.2006 – 2 AZR 23/05, ArbRB 2006, 332 = DB 2006, 1906; HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 11.

278

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Grundlagen

Rz. 6.7 § 6

der Einzelarbeitsvertrag sind vorrangig, so dass eine zulässige Ausübung des Direktionsrechts nur in diesen Grenzen möglich ist5. Die Ausübung des Direktionsrechts ist eine einseitige vertragliche Leistungsbestimmung iSd. § 315 BGB6 und muss im Rahmen billigen Ermessens erfolgen. Sie kann durch die Arbeitsgerichte kontrolliert werden. Durch die Ausübung des Direktionsrechts konkretisiert der Arbeitgeber die im Arbeitsvertrag zumeist nur rahmenmäßig umschriebene Leistungspflicht des Arbeitnehmers im Hinblick auf die Art, den Ort und die Zeit der Tätigkeit. Es bezieht sich ausschließlich auf Verpflichtungen aus dem Arbeitsvertrag7. Sind solche nicht gegeben, ist auch für die Ausübung des Direktionsrechtes kein Raum. Das Direktionsrecht setzt keinen entgegenstehenden Willen des Arbeitnehmers voraus; es wird auch dann zulässig ausgeübt, wenn es im Einvernehmen mit dem Arbeitnehmer erfolgt8. Das Einverständnis führt nicht automatisch zu einer Änderung des Arbeitsvertrages.

6.3

Es ist zwischen allgemeinem und besonderem Direktionsrecht zu unterscheiden. Unter allgemeinem Direktionsrecht wird die Möglichkeit des Arbeitgebers verstanden, die vertraglich nur rahmenmäßig bestimmte Leistungspflicht des Arbeitnehmers zu konkretisieren. Das besondere oder erweiterte Direktionsrecht dagegen ist das einzel- oder tarifvertraglich ausdrücklich vereinbarte Recht, dem Arbeitnehmer Leistungspflichten aufzuerlegen, die nicht mehr von der vertraglich geschuldeten Leistung abgedeckt sind9. Im öffentlichen Dienstrecht sehen die Tarifverträge ein solches besonderes Direktionsrecht vor, zB § 12 BAT/BAT-O, § 4 TVöD, § 4 TV-L.

6.4

Dem Arbeitgeber steht bei der Ausübung seines Direktionsrechts regelmäßig ein weiter Ermessensspielraum zur einseitigen Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu10. Aufgrund seiner arbeitsvertraglichen Gehorsams- und Treuepflicht muss der Arbeitnehmer seinen Weisungen Folge leisten. Die Gehorsamspflicht wurde in § 8 Abs. 2 Satz 1 BAT/BAT-O noch gesondert erwähnt, die Norm hatte jedoch nur deklaratorischen Charakter. Im TVöD und TV-L wurde auf eine entsprechende Regelung verzichtet.

6.5

2. Abgrenzung zur Vertragsänderung Das allgemeine Direktionsrecht des Arbeitgebers konkretisiert nur die im Arbeitsvertrag enthaltenen Rahmenarbeitsbedingungen. Der Umfang der beiderseitigen Hauptleistungspflichten (also Vergütungs- und Arbeitspflicht) ist nicht von ihm erfasst, da diese zum Kernbereich des Arbeitsverhältnisses gehören. Sie können lediglich durch Gesetz, Kollektivregelung oder Einzelarbeitsvertrag gestaltet werden11.

6.6

Soll daher eine Änderung von Hauptleistungspflichten vorgenommen werden, so bedarf es insoweit des Abschlusses eines Änderungsvertrages. Die Vertragsänderung kann allerdings auch konkludent vereinbart werden oder sich aus einer betrieblichen Übung ergeben. Ist eine einvernehmliche Änderung nicht möglich, muss der Arbeitgeber eine Änderungskündi-

6.7

5 6 7 8 9 10 11

HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 5. HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 6. BAG v. 23.1.1992 – 6 AZR 87/90, NZA 1992, 114. BAG v. 23.6.1993 – 5 AZR 337/92, NZA 1993, 1127. Hromadka, DB 1995, 2601 (2606). BAG v. 27.3.1980 – 2 AZR 506/78, BAGE 33, 71 = BB 1980, 1267. BAG v. 12.12.1984 – 7 AZR 509/83, BAGE 47, 314 = NZA 1985, 321; HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 13.

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279

§ 6 Rz. 6.7

Direktionsrecht

gung aussprechen, deren Wirksamkeit sich im Falle der Anwendbarkeit des KSchG nach den §§ 2, 1 KSchG richtet. So führt zB die Bestellung eines Arbeitnehmers zum betrieblichen Datenschutzbeauftragten zu einer Erweiterung des Arbeitsvertrages und kann daher nicht einseitig im Wege des Direktionsrechts vorgenommen werden. Das hat zur Folge, dass auch die Abberufung nicht vom Direktionsrecht gedeckt ist, sondern durch eine in diesem Fall zulässige Teilkündigung erfolgen muss12. Wird die Bestellung freilich wirksam nach § 6 Abs. 4 Satz 1 BDSG widerrufen, ist die Tätigkeit des Beauftragten für den Datenschutz nicht mehr Bestandteil der vertraglich geschuldeten Leistung. Es bedarf dann keiner Teilkündigung mehr13. 3. Inhalt und Grenzen des Direktionsrechts a) Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung

6.8 Wie erläutert können vor allem Arbeitsinhalt, Arbeitsort und Arbeitszeit durch das Direktionsrecht des Arbeitgebers konkretisiert werden. Darüber hinaus kann der Arbeitgeber die Arbeitsbedingungen durch Ausübung seines Direktionsrechtes verändern und gemäß § 106 Satz 2 GewO auch die Ordnung und das Verhalten der Arbeitnehmer im Betrieb sowie in der Dienststelle einseitig regeln (vgl. hierzu Rz. 6.87 ff.). Das außerdienstliche Verhalten des Arbeitnehmers unterliegt dagegen nicht dem Direktionsrecht14.

6.9 Der genaue Arbeitsinhalt wird regelmäßig im Arbeitsvertrag festgehalten, jedoch nicht abschließend beschrieben. Für den Umfang des Direktionsrechts lässt sich der Grundsatz aufstellen: Je enger die Leistungspflichten im Arbeitsvertrag festgelegt sind, desto enger sind auch die Grenzen des Direktionsrechts15. Besteht eine vertraglich detaillierte Tätigkeitsbeschreibung, so kann das Tätigkeitsfeld nicht durch einseitige Weisungen ohne Versetzung oder Umsetzung geändert werden16. Entscheidend für Umfang und Inhalt der Arbeitspflicht ist dabei immer die Beschreibung im Arbeitsvertrag (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 NachwG) und nicht etwa eine Stellenausschreibung, auf die sich der Arbeitnehmer beworben hat und die in der Regel konkreter ist als der Arbeitsvertrag. Dies gilt insbesondere im öffentlichen Dienst, wo zumeist nur schlagwortartig der Inhalt der Arbeitspflicht benannt wird („Sachbearbeiter“, „Angestellter“) und für den Umfang des Direktionsrechts die tatsächliche Eingruppierung maßgeblich ist (vgl. ausführlich hierzu Rz. 6.55 ff.). Wird die Stellenausschreibung allerdings kraft Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien zum Vertragsinhalt, so bestimmt sie den Inhalt des Direktionsrechts des Arbeitgebers natürlich mit17. Ist die Arbeitspflicht dagegen vertraglich nicht auf eine genau bestimmte Tätigkeit begrenzt, kann der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer kraft Direktionsrechts jede Tätigkeit übertragen, die dessen Vergütungsgruppe entspricht18.

6.10 Die Art der Arbeit kann ferner dem Direktionsrecht des Arbeitgebers entgegenstehen. So widerspricht es der Verantwortung einer leitenden Tätigkeit, wenn insoweit Weisungsabhän12 BAG v. 13.3.2007 – 9 AZR 612/05, ArbRB 2007, 163 = DB 2007, 1198. 13 BAG v. 29.9.2010 – 10 AZR 588/09, EzA BDSG § 4f Nr. 2; v. 23.3.2011 – 10 AZR 562/09, ArbRB 2011, 258. 14 BAG v. 18.7.2006 – 1 AZR 578/05, ArbRB 2007, 36 = NZA 2007, 462; HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 47; MünchArbR/Moll, § 33 Rz. 60. 15 HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 12; Küttner/Griese, Weisungsrecht Rz. 7; MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 14. 16 BAG v. 2.4.1996 – 1 AZR 743/95, NZA 1997, 112. 17 Zutreffend insoweit ArbG Suhl v. 8.5.2009 – 3 Ca 1877/08, BeckRS 2011, 65639. 18 Ständige Rechtsprechung, vgl. BAG v. 12.4.1973 – 2 AZR 291/72, PersV 1973, 371; v. 17.8.2011 – 10 AZR 322/10, AP GewO § 106 Nr. 13.

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Grundlagen

Rz. 6.14 § 6

gigkeit bestünde19. Ebenso kann einem Arzt keine bestimmte Behandlungsmethode vorgeschrieben werden20. Betriebsärzte, Datenschutzbeauftragte (§ 6 Abs. 3 Satz 1 BDSG) sowie Fachkräfte für Arbeitssicherheit sind im Bereich der Arbeitssicherheit ebenfalls weisungsfrei (§ 8 Abs. 1 Satz 1 ASiG). Wenn sich der Ort der Arbeitsleistung nicht explizit aus dem Arbeitsvertrag ergibt, ist als stillschweigend vereinbarter Arbeitsort der Sitz der Dienststelle bzw. des Betriebes anzusehen. Der Arbeitnehmer ist grundsätzlich nicht verpflichtet, seine Arbeit an einem anderen Ort als dem vereinbarten Arbeitsort zu verrichten. Das allgemeine Direktionsrecht umfasst somit kein Recht zur Versetzung21. Zu den Unterschieden im öffentlichen Dienst s. Rz. 6.37 ff.

6.11

Hinsichtlich der Arbeitszeit muss zwischen dem durch das Direktionsrecht nur sehr eingeschränkt veränderbaren Arbeitsumfang und der Arbeitszeitverteilung unterschieden werden. Die Lage der Arbeitszeit kann grundsätzlich vom Arbeitgeber im Rahmen seines Direktionsrechts bestimmt werden22 (vgl. zu den Besonderheiten im öffentlichen Dienst Rz. 6.70 ff.).

6.12

b) Erweiterungen und Einschränkungen Das allgemeine Direktionsrecht kann tarif- oder einzelvertraglich erweitert oder eingeschränkt werden (sog. besonderes Direktionsrecht). Im Falle einer Erweiterung ist zum einen immer die Wirksamkeit der Erweiterung zu überprüfen und zum anderen, ob die konkrete Ausübung des erweiterten Direktionsrechts billigem Ermessen entspricht.

6.13

aa) Tarifvertrag und Dienst- oder Betriebsvereinbarung Aufgrund Art. 9 Abs. 3 GG ist eine Erweiterung des Direktionsrechts durch tarifvertragliche Regelungen grundsätzlich zulässig23. In der Praxis häufig anzutreffen sind Klauseln, die es dem Arbeitgeber ermöglichen, den Arbeitnehmer an anderen Orten einzusetzen und ihm andere Tätigkeiten zuzuweisen. Eine tarifvertragliche Erweiterung unterliegt gemäß § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB nicht der Inhaltskontrolle24, muss allerdings mit den Wertungen des § 2 KSchG in Einklang stehen25. Die Einzelheiten des Verhältnisses tarifvertraglicher Erweiterungsklauseln zu § 2 KSchG sind umstritten. Das BAG legt in seiner Rechtsprechung26 einen recht weiten Maßstab an. Bei der Konkretisierung des verfassungsrechtlich zu schützenden Kernbereichs des Arbeitsverhältnisses soll den Tarifvertragsparteien eine Einschätzungsprärogative zukommen, einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Arbeitnehmers an einem unveränderten Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses und dem Interesse des Arbeit-

19 20 21 22 23

ErfK/Preis, § 106 GewO Rz. 9. Schaub/Linck, ArbRHdb § 45 Rz. 33. Müller/Preis, Rz. 462. HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 38. Vgl. BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, BAGE 112, 64 = NZA 2005, 475; v. 2.3.2006 – 2 AZR 23/05, ArbRB 2006, 332 = DB 2006, 1906. 24 BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, BAGE 112, 64 = NZA 2005, 475; Preis/Greiner, ZTR 2006, 290 (293). 25 BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, BAGE 112, 64 = NZA 2005, 475; LAG Hamm v. 15.3.2006 – 2 Sa 1821/04, NZA-RR 2006, 581; aA Plüm, DB 1992, 735 (738 ff.), der die Klauseln nur an Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 GG messen will. 26 BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, BAGE 112, 64 = NZA 2005, 475; krit. LAG Düsseldorf v. 17.3.1995 – 17 Sa 1981/94, DB 1995, 2224.

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6.14

§ 6 Rz. 6.14

Direktionsrecht

gebers an einer flexiblen Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu finden27. Die entsprechenden Tarifnormen sind daher zulässig, wenn die Ausübung des Direktionsrechts an konkrete, gerichtlich kontrollierbare Erfordernisse gebunden ist und eine mit der Ausübung des Direktionsrechts verbundene Entgeltminderung gemildert wird28. Ferner erfolgt stets noch eine Ausübungskontrolle im Einzelfall anhand § 106 GewO29.

6.15 Beispiele für zulässige tarifvertragliche Erweiterungen im öffentlichen Dienst finden sich in § 4 TVöD, § 4 TV-L bzw. § 12 BAT/BAT-O für die Änderung des Arbeitsplatzes und -ortes, in § 15 Abs. 2 BAT/BAT-O für die Änderung der Arbeitszeit30 oder in § 27 Abs. 3 BMT-G II für die Zuweisung einer anderen Tätigkeit31.

6.16 Regeln Tarifverträge und Dienst- oder Betriebsvereinbarungen die Arbeitspflicht des Arbeitnehmers – zB Arbeitszeitfragen –, ist das Direktionsrecht des Arbeitgebers entsprechend eingeschränkt. Weisungen des Arbeitgebers dürfen nicht gegen diese Kollektivvereinbarungen verstoßen32.

6.17 Die tarifvertraglichen Schriftformerfordernisse für Nebenabreden (vgl. § 2 Abs. 3 TVöD bzw. TV-L) sind indes keine Einschränkungen des Direktionsrechts, weil das Direktionsrecht eine einseitige Konkretisierung der Leistungspflicht und keine Abrede darstellt. bb) Einzelvertragliche Klauseln

6.18 In der Praxis finden sich häufig Versetzungs- und Umsetzungsklauseln in den Arbeitsverträgen, mit denen einzelvertraglich das Direktionsrecht hinsichtlich Art, Inhalt und Ort der Tätigkeit erweitert wird. Sie unterliegen keinen grundsätzlichen Bedenken, sondern sind als angemessenes Mittel anerkannt, um auf notwendige Änderungen im Arbeitsverhältnis zu reagieren, zumal ansonsten eine Änderungskündigung oder sogar eine betriebsbedingte Beendigungskündigung erforderlich wäre33.

6.19 Allerdings muss stets eine Inhaltskontrolle nach den §§ 305 ff. BGB vorgenommen werden, die indes wegen der Besonderheiten des Kündigungsschutzrechts nur eingeschränkt ist34. Prüfungsmaßstab für derartige Klauseln ist § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB und nicht etwa § 308 Nr. 4 BGB35. Als unbedenklich können Klauseln angesehen werden, die den Arbeitgeber berechtigen, dem Arbeitnehmer unter Wahrung seiner Interessen eine andere zumutbare und gleichwertige Arbeit zuzuweisen, die seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entspricht36. Zulässig ist daher etwa folgende Klausel: „Der Arbeitgeber behält sich unter Wahrung der Interessen des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin die Zuweisung eines anderen, zumutbaren, gleichwertigen Arbeitsplatzes unter Beibehaltung der vertraglichen Vergütung vor.“ Derartige Klauseln – auch 27 BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, BAGE 112, 64 = NZA 2005, 475. 28 Vgl. BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, BAGE 112, 64 = NZA 2005, 475. 29 BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, BAGE 112, 64 = NZA 2005, 475; Preis/Greiner, ZTR 2006, 290 (293); Rost, FS Dieterich, S. 505 (517). 30 BAG v. 17.3.1988 – 6 AZR 268/85, BAGE 58, 19 = DB 1988, 1855; v. 26.3.1988 – 6 AZR 537/96, NZA 1998, 1177. 31 BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, BAGE 112, 64 = NZA 2005, 475. 32 Vgl. BAG v. 6.4.1989 – 6 AZR 622/87, AP Nr. 2 zu § 2 BAT SR 2r. 33 BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 557/05, ArbRB 2006, 323 = NZA 2006, 1149. 34 Vgl. BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 557/05, ArbRB 2006, 323 = NZA 2006, 1149; Lingemann, NZA 2002, 181 (191); Schnitker/Grau, BB 2002, 2120 (2125). 35 BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 557/05, ArbRB 2006, 323 = NZA 2006, 1149. 36 LAG Berlin v. 24.9.2004 – 6 Sa 1116/04, MDR 2005, 402.

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Grundlagen

Rz. 6.21 § 6

wenn sie keine Gründe für die Änderung enthalten – sind mit den wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, vereinbar, da bereits § 106 GewO ein weitgehendes Bestimmungsrecht enthält37. Klauseln, die jedoch eine Umgehung des Kündigungsschutzrechts oder einen Eingriff in den Kernbereich des Arbeitsverhältnisses darstellen, werden wegen Verstoßes gegen § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam sein38. Das bedeutet, dass insbesondere Klauseln unangemessen sind, die es dem Arbeitgeber ermöglichen, das Entgelt zu kürzen oder dem Arbeitnehmer geringwertigere Arbeiten zuzuweisen39. Einzelvertraglich kann das Direktionsrecht des Arbeitgebers ebenfalls eingeschränkt werden. Ein Beispiel hierfür ist die Vereinbarung mit Teilzeitbeschäftigten über die Verteilung und konkrete Lage der Arbeitszeit. Die zeitliche Lage von von vornherein vertraglich festgelegten, ggf. auch nur praktizierten Arbeitszeiten darf der Arbeitgeber regelmäßig nicht kraft Direktionsrechtes einseitig verändern. Vielmehr ist er insoweit auf das Einverständnis des Arbeitnehmers oder den Ausspruch einer wirksamen Änderungskündigung angewiesen. Eine hiervon abweichende Regelung ist vertraglich explizit zu vereinbaren, dh., der Arbeitgeber muss sich die anderweitige Verteilung der Arbeitszeit im Vertrag ausdrücklich vorbehalten. Das gilt auch dann, wenn er den Arbeitnehmer über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus zur Arbeit heranziehen will.

6.20

cc) Zwingende Normen des Arbeitsrechts Der Arbeitnehmer muss selbstverständlich keine gesetzes- oder sittenwidrigen Weisungen – auch nicht vorläufig40 – befolgen, da diese nach § 134 BGB bzw. § 138 BGB nichtig sind41. Wichtig sind in diesem Zusammenhang vor allem die zwingenden Normen des Arbeits-, insbesondere des Arbeitsschutzrechts42. Der Verstoß des Arbeitnehmers gegen derartige Weisungen kann mithin arbeitsrechtlich keine wirksamen Sanktionen des Arbeitgebers nach sich ziehen. Unzulässig sind somit Weisungen, die gegen Arbeitnehmerschutzvorschriften verstoßen. Beispiele hierfür sind Arbeitszeitgrenzen, Unfallverhütungsvorschriften, Beschäftigungsverbote und Strafgesetze. Unwirksam sind aber auch Weisungen, mit denen § 2 KSchG umgangen werden soll43, die gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz, gegen § 4 TzBfG verstoßen oder die eine diskriminierende Maßnahme iSd. AGG darstellen. Die Weisung darf ferner keine unzulässige Maßregel nach § 612a BGB darstellen44.

37 BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 557/05, ArbRB 2006, 323 = NZA 2006, 1149; Hunold, NZA 2007, 19 (21). 38 LAG Brandenburg v. 24.6.2004 – 1 Sa 108/04, ArbuR 2004, 475 (Ls.); Küttner/Poeche, Versetzung Rz. 4. 39 BAG v. 25.8.2010 – 10 AZR 275/09, ArbRB 2010, 361 = NZA 2010, 1355; Küttner/Poeche, Versetzung Rz. 4, 8; vgl. auch LAG Köln v. 9.1.2007 – 9 Sa 1099/06, NZA-RR 2007, 343. 40 BAG v. 14.09.2017 – 5 AS 7/17, NZA 2017, 1452. 41 BAG v. 20.12.1984, 2 AZR 436/83, BAGE 47, 363 = NZA 1986, 21. 42 Allerdings können Arbeitsschutzvorschriften auch zu einer Erweiterung führen: So kann der Arbeitgeber bei einem mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverbot auch eine Ersatztätigkeit zuweisen, die nicht vom Vertrag gedeckt ist; vgl. BAG v. 15.11.2000 – 5 AZR 365/99, BAGE 96, 228 = NZA 2001, 386; HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 22. 43 BAG v. 12.12.1984 – 7 AZR 509/83, BAGE 47, 314 = NZA 1985, 321; LAG Düsseldorf v. 17.3.1995 – 17 Sa 1981/94, DB 1995, 2224. 44 LAG Thüringen v. 10.3.2005 – 1 Sa 578/03.

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6.21

§ 6 Rz. 6.22

Direktionsrecht

dd) Richtlinien und Verwaltungsvorschriften

6.22 Im öffentlichen Dienstrecht kann überdies der Arbeitgeber durch Richtlinien, Erlasse und andere Verwaltungsvorschriften bei der Ausübung seines Ermessens gebunden sein, so dass er bei der Ausübung seines Direktionsrechtes nur nach diesen allgemeinen Regeln vorgehen darf45. Beispiele für eine derartige Selbstbindung sind etwa Richtlinien, die bestimmte Auswahlkriterien bei Versetzungen oder Abordnungen vorsehen46, Verordnungen/Erlasse über den Umfang einer Lehrerverpflichtung47 oder die Verwaltungsvorschrift des Justizministeriums des Landes Baden-Württemberg über den Wechsel- und Bereitschaftsdienst im Justizvollzug48. ee) Konkretisierung aufgrund tatsächlicher Tätigkeit oder betrieblicher Übung

6.23 Die im Arbeitsvertrag nur rahmenmäßig umschriebenen Arbeitspflichten können sich im Laufe der Zeit auf bestimmte Arbeitsinhalte, -plätze oder -bedingungen konkretisieren. Dies kann durch die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit oder eine betriebliche Übung erfolgen49. Im öffentlichen Dienst ist das Entstehen einer das Direktionsrecht beeinflussenden betrieblichen Übung aufgrund der tarifvertraglichen Schriftformklausel (zB § 2 Abs. 3 TVöD bzw. TV-L) sowie des Grundsatzes des Normvollzugs jedoch nur ausnahmsweise möglich (vgl. zu den Einzelheiten § 7, Rz. 7.14). Die Konkretisierung führt insoweit zu einer konkludenten Änderung des Arbeitsvertrages und mithin zu einer Beschränkung des Direktionsrechtes des Arbeitgebers50.

6.24 Eine Konkretisierung aufgrund der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit tritt jedoch nicht allein durch bloßen Zeitablauf ein. So soll selbst nach einer 25-jährigen Beschäftigung auf einem bestimmten Arbeitsplatz eine Umsetzung des Arbeitnehmers vom Direktionsrecht noch gedeckt sein51. Im Bereich des öffentlichen Dienstes ist dieser Grundsatz von besonderer Bedeutung, da andernfalls ein sachgerechtes Umsetzen langjährig Beschäftigter vor dem Hintergrund des Ausschlusses der Möglichkeit zur ordentlichen Kündigung dieser Beschäftigten (vgl. § 34 Abs. 2 TVöD bzw. TV-L) selbst durch Änderungskündigungen nicht möglich wäre52.

6.25 Um von einer Konkretisierung ausgehen zu können, müssen daher besondere Umstände hinzutreten, aus denen sich ergibt, dass der Arbeitnehmer nicht in anderer Weise eingesetzt werden soll53. Die Darlegungs- und Beweislast für diese besonderen Umstände trifft den Arbeit45 BAG v. 11.10.1995 – 5 AZR 1009/94, NZA-RR 1996, 313; v. 13.3.2007 – 9 AZR 417/06; LAG Berlin v. 14.12.1998 – 9 Sa 95/98, ZTR 1999, 223; LAG Köln v. 13.6.2000 – 13 (2) Sa 480/00, ZTR 2001, 36; Preis, Arbeitsvertrag, II D 30 Rz. 19. 46 Vgl. BAG v. 13.3.2007 – 9 AZR 417/06, NZA-RR 2007, 549. 47 BAG v. 14.10.2004 – 6 AZR 472/03, ZTR 2005, 330. 48 V. 19.3.1997, Justiz 1997, 164. 49 LAG Berlin v. 1.3.1999 – 9 Sa 133/98 u. 135/98, BB 1999, 800; Müller/Preis, Rz. 458; aA bzgl. betrieblicher Übung HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 60; Hennige, NZA 1999, 281 (287). 50 BAG v. 27.3.1980 – 2 AZR 506/78, EzA § 611 BGB Direktionsrecht Nr. 2; BAG v. 11.2.1998 – 5 AZR 472/97, NZA 1998, 647; HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 66. 51 BAG v. 17.8.2011 – 10 AZR 202/10, ArbRB 2012, 78 = NZA 2012, 265; LAG Hessen v. 12.12.2002 – 5 Sa 688/02, NZA-RR 2003, 545; vgl. auch LAG Rheinland-Pfalz v. 5.7.1996 – 10 Sa 165/96, NZA 1997, 1113 (13-jährige Beschäftigung). 52 Vgl. Conze, Rz. 1448. 53 BAG v. 7.12.2000 – 6 AZR 444/99, NZA 2001, 780; v. 29.9.2004 – 5 AZR 559/03, ArbRB 2005, 43 = ZTR 2005, 274; LAG Schleswig-Holstein v. 2.5.2007 – 6 Sa 504706; Berger-Delhey, ZTR 1990, 411 (413).

284

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Grundlagen

Rz. 6.28 § 6

nehmer54. Eine das Direktionsrecht einschränkende Konkretisierung liegt vor, wenn der Arbeitnehmer aufgrund besonderer Umstände darauf vertrauen darf, dass es eine einseitige Einwirkung auf seinen Arbeitsbereich nicht mehr geben wird55. Als Beispiele solcher besonderen Umstände lassen sich etwa die Ausbildung, die Beförderung, die Gewöhnung an einen bestimmten Rechtszustand, die Übertragung von Führungsaufgaben oder eine Zusage des Arbeitgebers nennen. Ist das Direktionsrecht – wie etwa im öffentlichen Dienst durch § 4 TVöD bzw. TV-L – tarifvertraglich erweitert, wird insoweit jedoch eine Konkretisierung ausgeschlossen sein. Die vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit führt ebenfalls nicht automatisch zu einer Konkretisierung des Arbeitsvertrags. Auch die langjährige Nichtausübung des Direktionsrechts lässt einen das Direktionsrecht einschränkenden Vertrauenstatbestand nicht entstehen56. Insbesondere entsteht dadurch keine betriebliche Übung. Die langjährige Ausübung einer bestimmten Tätigkeit kann indes bei der im Rahmen der Ausübungskontrolle (vgl. Rz. 6.28 ff.) erforderlichen Interessenabwägung zugunsten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden, etwa bei der Frage der Zumutbarkeit eines Ortswechsels im Zusammenhang mit einer Versetzung57.

6.26

Der Arbeitgeber kann sich durch Erklärungen gegenüber dem Arbeitnehmer binden und sein Direktionsrecht insoweit einschränken. Wenn er zB dem Arbeitnehmer höherwertige Aufgaben vorläufig überträgt und die dauerhafte Übertragung nur von der fachlichen Bewährung abhängig macht, darf er sie ihm später nicht aus anderen Gründen entziehen58. Die jahrelange Anordnung von Überstunden bindet den Arbeitgeber jedoch nicht dahingehend, auch in Zukunft ein bestimmtes Maß an Überstunden anzuordnen59. Ebenso wenig ist der Arbeitgeber in seinem Direktionsrecht eingeschränkt, nur weil der Arbeitnehmer auf seinem bisherigen Arbeitsplatz die Möglichkeit auf Zusatzeinnahmen hatte60.

6.27

ff) „Billiges Ermessen“ iSv. § 315 Abs. 3 BGB (Ausübungskontrolle) § 106 GewO legt fest, dass das Direktionsrecht nur nach billigem Ermessen ausgeübt werden 6.28 darf. Das bedeutet, dass die Grenzen des § 315 Abs. 3 BGB eingehalten werden müssen. Die Ausübung des Direktionsrechts entspricht dann billigem Ermessen, wenn im jeweiligen konkreten Einzelfall die wesentlichen Umstände des Falles abgewogen und die Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer angemessen berücksichtigt wurden61. Ob die Grenzen des billigen Ermessens eingehalten wurden, ist gerichtlich voll überprüfbar (sog. Ausübungs-

54 BAG v. 11.2.1998 – 5 AZR 472/97, NZA 1998, 647. 55 BAG v. 27.3.1980 – 2 AZR 506/78, EzA § 611 BGB Direktionsrecht Nr. 2; v. 11.2.1998 – 5 AZR 472/97, NZA 1998, 647. 56 BAG v. 11.10.1995 – 5 AZR 802/94, NZA 1996, 718; v. 7.12.2000 – 6 AZR 444/99, NZA 2001, 780; LAG Berlin v. 1.3.1999 – 9 Sa 133/98 u. 135/98, BB 1999, 800; LAG Düsseldorf v. 23.10.1991 – 4 Sa 789/91, LAGE § 611 BGB Direktionsrecht Nr. 10. 57 LAG Köln v. 14.2.1997 – 11 Sa 1002/96, NZA-RR 1997, 391. 58 BAG v. 17.12.1997 – 5 AZR 332/96, BAGE 87, 311 = NZA 1998, 555. 59 LAG Köln v. 5.2.1999 – 6 Sa 1252/98, NZA-RR 1999, 517. 60 LAG Rheinland-Pfalz v. 5.7.1996 – 10 Sa 165/96, NZA 1997, 1113. 61 BAG v. 25.10.1989 – 2 AZR 633/88, NZA 1990, 561; v. 19.5.1992 – 1 AZR 418/91, NZA 1992, 978; v. 24.4.1996 – 5 AZR 1031/94, NZA 1996, 1088; v. 21.1.2004 – 6 AZR 583/02, BAGE 109, 207 = NZA 2005, 61.

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§ 6 Rz. 6.28

Direktionsrecht

kontrolle)62. Es ist dabei die Interessenlage der Parteien im Zeitpunkt der Ausübung des Direktionsrechts maßgeblich63.

6.29 Die vom Arbeitgeber bei der Ausübung seines Direktionsrechts zu berücksichtigenden Interessen sind vielfältig. Von besonderem Gewicht in der Praxis sind: – Berücksichtigung der Grundrechte (Gewissensfreiheit64, Religionsfreiheit65, Wissenschaftsfreiheit, Kunstfreiheit66, körperliche Unversehrtheit, allgemeines Persönlichkeitsrecht etc.) – Berücksichtigung familiärer Belange (insbesondere Pflege von Angehörigen und Kindererziehung, §§ 1626, 1627 BGB)67; – Berücksichtigung gesundheitlicher Belange (Fürsorgepflicht) und Behinderungen des Arbeitnehmers (vgl. § 106 Satz 3 GewO, § 81 Abs. 4 SGB IX)68; – bei Wechsel des Arbeitsplatzes oder Dienstortes Berücksichtigung der zurückzulegenden Entfernung und Reisemöglichkeiten69.

6.30 Der Arbeitgeber muss eine Gewissensentscheidung des Arbeitnehmers respektieren; er darf sie nur auf seine Plausibilität prüfen70. Dies gilt allerdings nicht, wenn der Arbeitnehmer schon bei Vertragsabschluss damit rechnen musste, dass ihm Tätigkeiten übertragen werden können, die zu einem Gewissenskonflikt führen71. In den neuen Spartentarifverträgen des öffentlichen Dienstes ist vorgesehen, für derartige Konfliktfälle Schlichtungskommissionen einzusetzen oder Ombudspersonen zu ernennen, die Empfehlungen zur Konfliktlösung aussprechen sollen (zB § 3 Abs. 8 TV Ärzte). 4. Anspruch auf Ausübung des Direktionsrechts (Fürsorgepflicht)

6.31 Da das Direktionsrecht nur nach billigem Ermessen ausgeübt werden darf, muss der Arbeitgeber auch bei der Ausübung seine Fürsorgepflicht hinreichend beachten. Das kann bedeuten, dass er zum Schutz seiner Arbeitnehmer sogar zu einer ganz bestimmten Ausübung des Direktionsrechts gegenüber dem Arbeitnehmer oder anderen Arbeitnehmern verpflichtet ist. In Betracht kommt ein Anspruch auf Umsetzung oder Versetzung, etwa wenn der Arbeitnehmer aus in seiner Person liegenden Gründen die vertraglich vereinbarte Arbeit nicht er-

62 BAG v. 25.10.1989 – 2 AZR 633/88, NZA 1990, 561; v. 19.5.1992 – 1 AZR 418/91, NZA 1992, 978. 63 BAG v. 21.1.2004 – 6 AZR 583/02, BAGE 109, 207 = NZA 2005, 61; LAG Hessen v. 19.12.2005 – 16 Sa 423/05. 64 BAG v. 20.12.1984, 2 AZR 436/83, BAGE 47, 363 = NZA 1986, 21; v. 24.5.1989 – 2 AZR 285/88, BAGE 62, 59 = NZA 1990, 144. 65 BAG v. 10.10.2002 – 2 AZR 472/01, BAGE 103, 111 = ArbRB 2003, 131 = NZA 2003, 483. 66 Vgl. BAG v. 13.6.2007 – 5 AZR 564/06, NZA 2007, 974. 67 BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 567/03, ArbRB 2005, 70 = ZTR 2005, 208; LAG Hamm v. 28.7.2003 – 8 Sa 1493/02, ArbRB online 2004, 173; LAG Nürnberg v. 8.3.1999 – 6 Sa 259/97, NZA 2000, 263; LAG Rheinland-Pfalz v. 19.1.2005 – 10 Sa 820/04, DB 2005, 1522. 68 Vgl. LAG Köln v. 28.6.2006 – 7 Sa 1506/05, ArbuR 2007, 143. 69 Als Maßstab kommen die Zumutbarkeitsregelungen des § 121 Abs. 4 Satz 2 und 3 SGB III in Betracht. 70 BVerfG v. 24.4.1985 – 2 BvF 2/83, NJW 1985, 1519; MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 27. 71 BAG v. 20.12.1984 – 2 AZR 436/83, NZA 1986, 21.

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Grundlagen

Rz. 6.33 § 6

bringen kann und dem Arbeitgeber die Übertragung anderer Aufgaben zumutbar ist72. Beispiele hierfür sind gesundheitliche Gründe73, Gewissensgründe oder der vorübergehende Verlust des Führerscheins74. Möglich ist auch, dass sich aus Tarifverträgen, Dienst- oder Betriebsvereinbarungen Ansprüche auf Umsetzung oder Versetzung ergeben75 (zB § 3 TV-Rationalisierungsschutz). Bei Schwerbehinderten ist überdies der Beschäftigungsanspruch nach § 81 Abs. 4 SGB IX zu beachten76. Ferner können Weisungen bei Streitigkeiten oder Spannungen zwischen den Arbeitnehmern geboten sein (vgl. § 12 Abs. 3 iVm. § 7 Abs. 1 AGG)77. Es besteht aber aufgrund der Fürsorgepflicht keine generelle Verpflichtung für den Arbeitgeber, einen anderen Arbeitsplatz freizumachen oder einen weiteren Arbeitsplatz zu schaffen78. Auch muss der öffentlich-rechtliche Arbeitgeber nicht ohne weiteres prüfen, ob eine Versetzung landes- oder bundesweit in eine andere Dienststelle möglich ist79. 5. Rechtsfolgen der Ausübung des Direktionsrechts a) Rechtmäßige Weisung Folgt der Arbeitnehmer einer rechtmäßigen Weisung nicht, liegt darin eine Nicht- oder 6.32 Schlechterfüllung der Arbeitspflicht. Er verliert dann seinen Lohnanspruch, weil er nicht gearbeitet hat und auch nicht seine Arbeitsleistung wie geschuldet angeboten hat80. Der Arbeitgeber kann den Arbeitnehmer abmahnen und bei wiederholter Nichtbefolgung einer Weisung eine ordentliche Kündigung aussprechen. Voraussetzung ist jedoch eine schuldhafte Verletzung der Arbeitspflicht. Bei beharrlicher Arbeitsverweigerung kann auch eine außerordentliche Kündigung gerechtfertigt sein81. Ferner besteht die Möglichkeit von Schadensersatzansprüchen82. Dieses Risiko kann der Arbeitnehmer nur umgehen, wenn er der Weisung trotz seiner Bedenken entsprechend § 2 KSchG unter Vorbehalt nachkommt und den Umfang seiner Arbeitspflicht durch eine Feststellungsklage (Rz. 6.35) gerichtlich klären lässt83. b) Rechtswidrige Weisung Überschreitet der Arbeitgeber sein Direktionsrecht oder ist die Weisung aus anderen Gründen – etwa wegen Missachtung der Mitbestimmung (vgl. hierzu § 26) – rechtswidrig, entfällt auch insoweit die Gehorsams- und Arbeitspflicht des Arbeitnehmers. Er ist dann berechtigt, die 72 BAG v. 19.5.2010 – 5 AZR 162/09, ArbRB 2010, 297 = NZA 2010, 1119. 73 Vgl. LAG Köln v. 19.12.2001 – 7 (12) Sa 1376/00, MDR 2002, 765; v. 7.11.2006 – 9 Sa 888/06, BeckRS 2007, 41751. 74 Vgl. BAG v. 18.12.1986 – 2 AZR 34/86, NZA 1987, 377. 75 Küttner/Poeche, Versetzung Rz. 10, 11. 76 BAG v. 14.3.2006 – 9 AZR 411/05, ArbRB 2006, 261 = NZA 2006, 1214; LAG Niedersachsen v. 1.7.2003 – 13 Sa 1853/02. 77 HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 50; LAG Schleswig-Holstein v. 2.5.2007 – 6 Sa 504/06, NZA-RR 2007, 402. 78 BAG v. 10.5.2005 – 9 AZR 230/04, ArbRB 2006, 4; LAG Köln v. 7.11.2006 – 9 Sa 888/06; zur Freikündigungspflicht vgl. BAG v. 18.5.2006 – 2 AZR 207/05, BB 2007, 668. 79 LAG Köln v. 7.11.2006 – 9 Sa 888/06, BeckRS 2007, 41751. 80 Sächsisches LAG v. 30.1.2007 – 7 Sa 77/06, BeckRS 2009, 57426; Küttner/Griese, Weisungsrecht Rz. 21. 81 BAG v. 12.4.1973 – 2 AZR 291/72, DB 1973, 1904; LAG Baden-Württemberg v. 14.11.2006 – 1 Sa 1/06, BeckRS 2011, 65861. 82 Berger-Delhey, ZTR 1990, 411 (418); Küttner/Griese, Weisungsrecht Rz. 21. 83 Richter, DB 1989, 2430; ErfK/Preis, § 106 GewO Rz. 12.

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6.33

§ 6 Rz. 6.33

Direktionsrecht

ihm nach Art, Zeit und Ort zugewiesenen Arbeiten abzulehnen, ohne dass deshalb eine Abmahnung oder gar eine Kündigung ausgesprochen werden darf84. Eine vollständige Einstellung der Arbeit (§ 273 BGB) ist nur zulässig, wenn der Arbeitnehmer zuvor auf die Unzumutbarkeit der Arbeit hingewiesen hat. Weist der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer dann gleichwohl keine andere Arbeit zu, so dass dieser nicht beschäftigt werden kann, behält der Arbeitnehmer seinen Entgeltanspruch, da sich der Arbeitgeber in Annahmeverzug gemäß § 615 BGB befindet85. Das Risiko der Einschätzung, ob die Weisung unbillig war oder nicht, trägt trotz der Rechtsprechungsänderung des BAG86 aber weiterhin der Arbeitnehmer87. Dies gilt selbst dann, wenn bspw. die Zuweisung eines Arbeitsplatzes den Vorgaben von § 618 Abs. 1 BGB in Verbindung mit den öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutznormen nicht vollumfänglich genügt, es sich dabei aber bloß um geringfügige oder kurzzeitige Verstöße handelt, die keinen nachhaltigen Schaden bewirken können. Dann kann es dem Arbeitnehmer zumutbar sein, auch eine solche Weisung zumindest vorläufig zu befolgen88. c) Gerichtliche Besonderheiten

6.34 Besteht Streit über die Ausübung des Direktionsrechts, also über die Zulässigkeit einer Weisung des Arbeitgebers, kann der Arbeitnehmer Zahlungsklage erheben, sofern er wegen der Nichtbefolgung der Weisung nicht die volle Vergütung erhalten hat. Ferner kann er im Wege der Leistungsklage (§ 315 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 1 BGB) verlangen, dass eine der Billigkeit entsprechende Weisung durch das Arbeitsgericht ausgesprochen wird89.

6.35 Der Arbeitnehmer kann aber auch Feststellungsklage erheben. Dem steht bei Arbeitgebern des öffentlichen Dienstes nicht der Vorrang der Leistungsklage entgegen, da anzunehmen ist, dass diese auch einem Feststellungsurteil Folge leisten90. Unerheblich ist auch, dass nach § 256 ZPO nur auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses geklagt werden kann, weil bloße Elemente oder Vorfragen eines Rechtsverhältnisses nicht als zulässige Streitgegenstände eines Feststellungsbegehrens angesehen werden. Denn eine Feststellungsklage muss sich nicht notwendig auf das Rechtsverhältnis im Ganzen erstrecken, sondern kann auch nur einzelne Beziehungen oder Folgen aus einem Rechtsverhältnis betreffen, wie bestimmte Ansprüche oder Verpflichtungen oder den Umfang einer Leistungspflicht91. Bei Streitigkeiten über den Umfang des Direktionsrechts besteht immer eine tatsächliche und rechtliche Ungewissheit über den Umfang der Arbeitspflicht, die durch die ideelle Rechtskraftwirkung eines Feststellungsurteils beseitigt werden kann92. Die Feststellungsklage muss nicht

84 BAG v. 24.5.1989 – 2 AZR 285/88, BAGE 62, 59 = NZA 1990, 144; v. 25.10.1989 – 2 AZR 633/88, NZA 1990, 561; LAG Baden-Württemberg v. 31.3.2006 – 2 Sa 117/05, AuA 2006, 362; Küttner/ Griese, Weisungsrecht Rz. 20. 85 Vgl. BAG v. 3.12.1980 – 5 AZR 477/78, BB 1981, 1399; LAG Hessen v. 4.12.2006 – 17 Sa 452/06, NZA-RR 2007, 186; Küttner/Griese, Weisungsrecht Rz. 20. 86 BAG v. 14.09.2017 – 5 AS 7/17, NZA 2017, 1452. 87 Siebert/Teubert, öAT 2019, 8 (10). 88 BAG v. 28.6.2018 – 2 AZR 436/17, NZA 2018, 1259. 89 Vgl. hierzu Richter, DB 1989, 2430. 90 Vgl. BAG v. 14.3.2007 – 5 AZR 630/06, ArbRB 2007, 195 = NZA 2008, 45. 91 BAG v. 18.11.1968 – 3 AZR 255/67, NJW 1969, 680; v. 19.6.1985 – 5 AZR 57/84, AP Nr. 11 zu § 4 BAT; LAG Berlin v. 1.3.1999 – 9 Sa 133/98 u. 135/98, BB 1999, 800. 92 LAG Berlin v. 1.3.1999 – 9 Sa 133/98 u. 135/98, BB 1999, 800.

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Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 6.38 § 6

– auch nicht analog – innerhalb der Dreiwochenfrist des § 4 KSchG erhoben werden93. In Betracht kommt jedoch eine Verwirkung, wenn der Arbeitnehmer die Weisung nicht zeitnah angreift, sondern ihr über längere Zeit widerspruchslos nachkommt94. Ob zumindest in Ausnahmefällen sogar die Untersagung einer – beabsichtigten – Erteilung einer – rechtswidrigen – Weisung im Wege einer einstweiligen Verfügung in Betracht kommt, ist umstritten95. Ein entsprechender Antrag wird regelmäßig am fehlenden Verfügungsanspruch scheitern, weil der Arbeitnehmer bei einer rechtswidrigen Weisung die Arbeit verweigern kann. In Betracht kommt jedoch zumindest bei offensichtlich rechtswidrigen Weisungen, dass der Arbeitnehmer seinen Anspruch auf Beschäftigung zu den bisherigen Bedingungen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes geltend macht.

6.36

II. Besonderheiten im öffentlichen Dienst 1. Änderung des Arbeitsplatzes Durch § 4 TVöD, § 4 TV-L wird das Direktionsrecht des öffentlich-rechtlichen Arbeitgebers insoweit erweitert, als dass er den Arbeitsplatz des Arbeitnehmers ändern kann. Dem Arbeitgeber stehen dazu verschiedene rechtliche Instrumentarien zur Verfügung: Umsetzung, Versetzung, Abordnung, Zuweisung und Personalgestellung96.

6.37

a) Umsetzung Die Umsetzung bezieht sich auf den Wechsel des konkreten Arbeitsplatzes und der konkreten Tätigkeit innerhalb des Betriebes bzw. der betreffenden Dienststelle97 und kann auf Dauer oder vorübergehend erfolgen98. Eine gesetzliche oder tarifvertragliche Begriffsbestimmung der Umsetzung gibt es nicht. Der Begriff hat seine nähere Bestimmung durch die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte im Beamtenrecht erfahren. Die erste gesetzliche Regelung, die den Begriff „Umsetzung“ verwendet und an ihre Rechtsfolgen anknüpft, ist – soweit ersichtlich – das BPersVG vom 15.3.197499. Nach der Rechtsprechung des BVerwG ist Umsetzung die Zuweisung eines anderen Dienstpostens (funktionelles Amt im konkreten Sinne) innerhalb derselben Behörde100. Diese Begriffsbestimmung gilt auch im vorliegenden Zusammenhang. Sie stellt für das Vorliegen einer Umsetzung darauf ab, ob dem Beschäftigten der durch Geschäftsverteilung, Zuweisung, Bestellung, Beauftragung oder entsprechende Anordnung über93 Richter, DB 1989, 2430. 94 Vgl. BAG v. 12.12.2006 – 9 AZR 747/06, NZA 2007, 396 = DB 2007, 579 (mehr als zwei Jahre); LAG Nürnberg v. 20.7.2005 – 9 (6) Sa 120/03, NZA-RR 2006, 162 (jahrelanges Untätigbleiben); ArbG Berlin v. 9.11.2005 – 7 Ca 10394/05, LAGE § 242 BGB 2002 Prozessverwirkung (mehr als zwei Jahre); aA Richter, DB 1989, 2430, der hinsichtlich des Zeitmoments die Dreiwochenfrist des § 4 KSchG heranziehen will. 95 Befürwortend: Küttner/Griese, Weisungsrecht Rz. 20; vgl. auch Sächsisches LAG v. 8.3.1996 – 3 Sa 77/96, NZA-RR 1997, 4; abl.: LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 29.6.2006 – 1 Sa 51/06; LAG München v. 1.12.2004 – 5 Sa 913/04, NZA-RR 2005, 354. 96 Vgl. Laber, ArbRB 2006, 364; Sponer/Steinherr, § 4 TVöD Rz. 1 ff. 97 LAG Berlin v. 14.12.1998 – 9 Sa 95/98, ZTR 1999, 223; LAG Brandenburg v. 2.6.2006 – 5 Sa 653/05, NZA-RR 2007, 448; Sponer/Steinherr, § 4 TVöD Rz. 11. 98 Conze/Karb, Rz. 3303. 99 BGBl. I 1974, 693. 100 BVerwG v. 4.5.1972 – II C 13.71, BVerwGE 40, 104; v. 22.5.1980 – 2 C 30/78, BVerwGE 60, 144.

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6.38

§ 6 Rz. 6.38

Direktionsrecht

tragene bisherige dienstliche Aufgabenbereich entzogen und ein neuer zugewiesen worden ist101.

6.39 Die Umsetzung unterscheidet sich von sonstigen Änderungen des zugewiesenen Aufgabenbereichs dadurch, dass eine „Abberufung“ von dem bisherigen Dienstposten mit der „Zuweisung“ eines anderen Dienstpostens einhergeht102. Fällt ein Teil der Aufgabenstellung weg oder wird diese ersetzt, so liegt eine Umsetzung im Sinne einer prägenden Änderung der Gesamttätigkeit dann vor, wenn die Änderungen den überwiegenden Teil des Aufgabengebietes umfassen, die Summe der ansonsten einzeln betrachtet nicht die Umsetzung begründenden Umstände insgesamt das Bild einer neuen Tätigkeit beschreiben. Ein solcher Fall ist dann gegeben, wenn räumlicher Wechsel, Vorgesetztenwechsel und teilweise Tätigkeitsänderung zusammenkommen103. Eine Umsetzung liegt dagegen nicht vor, wenn unter Beibehaltung des bisherigen Dienstpostens lediglich ein Teil des bisherigen Aufgabenbereiches entzogen wird104 oder ein zusätzlicher Arbeitsbereich übertragen wird105.

6.40 Ist die Umsetzung somit tarifvertraglich nicht geregelt (insbesondere von § 4 TVöD, § 4 TV-L nicht erfasst), so ist sie gleichwohl aufgrund des Direktionsrechts des Arbeitgebers grundsätzlich einseitig zulässig, soweit die neue Tätigkeit von der bisherigen Entgeltgruppe abgedeckt ist106 (zu den Einzelheiten der Zuweisung einer anderen Tätigkeit s. Rz. 6.55 ff.). Besondere Gründe für eine Umsetzung müssen nicht vorliegen, sie muss jedoch billigem Ermessen iSd. § 315 Abs. 3 BGB entsprechen. Erfolgt eine Umsetzung im Rahmen einer umfassenden Umorganisation, liegt in aller Regel ein sachlicher Grund für die Umsetzung vor107. In Ausnahmefällen kann eine Umsetzung aufgrund der Konkretisierung der geschuldeten Tätigkeit nicht mehr möglich sein (zu den Einzelheiten der Konkretisierung s. Rz. 6.23).

6.41 Will der Arbeitgeber durch Umsetzung Spannungen zwischen Arbeitnehmern verhindern oder beseitigen, ist dies von seinem Direktionsrecht gedeckt. Er ist nicht verpflichtet, zunächst eine Abmahnung auszusprechen108. Eine Abmahnung stellt nämlich idR wegen der damit verbundenen Dokumentation und Kündigungsandrohung kein milderes Mittel dar109. Der Arbeitgeber ist auch nicht verpflichtet, abschließend die Ursachen der Spannungen zu ergründen und anschließend nur den „Schuldigen“ umzusetzen110. Vielmehr steht es ihm grundsätzlich frei, wie er auf Konfliktlagen reagiert111. Deshalb kann auch die Umsetzung von mehreren Arbeitnehmern zur Konfliktlösung und Sicherung des Betriebsfriedens billigem Ermessen entsprechen112. Allerdings darf die Umsetzung keine nach § 612a BGB unzulässige Maßregelung sein113. 101 BVerwG v. 3.4.1984 – 6 P 3.83, Schütz BeamtR ES/A II 4.3 Nr 3; OVG Münster v. 10.4.1984 – CL 22/83, ZBR 1984, 339; v. 8.5.1984 – CL 38/82, RiA 1984, 283. 102 BVerwG v. 9.11.1984 – 7 C 5/84, NVwZ 1985, 264; OVG Münster v. 26.6.1984 – CL 29/83, ZBR 1985, 118. 103 VG Aachen v. 28.8.1997 – 16 K 1038/97. PVL, PersR 1998, 116. 104 OVG Münster v. 8.5.1984 – CL 38/82, RiA 1984, 284. 105 OVG Münster v. 2.10.1984 – CL 16/83. 106 Conze/Karb, Rz. 3305. 107 Vgl. LAG Brandenburg v. 2.6.2006 – 5 Sa 653/05, NZA-RR 2007, 448. 108 BAG v. 24.4.1996 – 5 AZR 1031/94, NZA 1996, 1088. 109 BAG v. 24.4.1996 – 5 AZR 1031/94, NZA 1996, 1088. 110 LAG Schleswig-Holstein v. 2.5.2007 – 6 Sa 504/06, NZA-RR 2007, 402. 111 BAG v. 24.4.1996 – 5 AZR 1031/94, NZA 1996, 1088. 112 LAG Schleswig-Holstein v. 2.5.2007 – 6 Sa 504/06, NZA-RR 2007, 402. 113 LAG Thüringen v. 10.3.2005 – 1 Sa 578/03, BeckRS 2011, 66082.

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Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 6.44 § 6

b) Versetzung Unter einer Versetzung ist die Zuweisung einer auf Dauer bestimmten Beschäftigung bei einer anderen Dienststelle oder einem anderen Betrieb desselben Arbeitgebers unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhältnisses zu verstehen114. Im Unterschied zur Umsetzung erfolgt ein Wechsel der Dienststelle (Behördenwechsel). Der Entzug eines Tätigkeitsbereichs stellt daher noch keine Versetzung im tarifrechtlichen Sinne dar. Ebenso ist der Wechsel des Einsatzortes keine Versetzung, soweit damit kein Wechsel der Dienststelle verbunden ist (zur Änderung des Arbeitsortes s. Rz. 6.53). Auch eine bloße Zuordnung von Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst zu sog. Stellenpools, dh. zu besonderen Dienststellen im Rahmen eines zentralen Personalmanagements für den Fall von Personalüberhangsituationen, stellt so lange keine Versetzung dar, wie der Arbeitnehmer auf seinem bisherigen Arbeitsplatz verbleibt und ihm keine andere Tätigkeit zugewiesen wird115. Allerdings muss auch hier im Einzelfall die Ermessensentscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit gemäß § 315 Abs. 3 BGB überprüft werden.

6.42

Eine Versetzung ist nur möglich, wenn dienstliche oder betriebliche Gründe vorliegen (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVöD bzw. TV-L). Dies ist der Fall, wenn die ordnungsgemäße Aufgabenerledigung in der Verwaltung unter Beachtung des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit den Einsatz des Arbeitnehmers bei der anderen Dienststelle erfordert116. Dienstliche oder betriebliche Gründe können bei Organisationsänderungen vorliegen, aber sich auch aus der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers ergeben117, zB bei Ausübung einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit nach negativer Sicherheitsüberprüfung118. In letzterem Falle kann jedoch die erforderliche Interessenabwägung ergeben, dass vor der Versetzung zunächst eine Abmahnung mit einem Hinweis auf die drohende Versetzung ausgesprochen werden muss119. Das Vorliegen der dienstlichen oder betrieblichen Gründe als tatbestandliche Voraussetzung ist gerichtlich voll überprüfbar120. Eine Zustimmung des Arbeitnehmers ist nicht erforderlich.

6.43

Die für eine Versetzung regelmäßig erforderliche personelle Auswahlentscheidung ist ferner 6.44 auf ihre Billigkeit hin zu überprüfen (Ausübungskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB). Die Entscheidung entspricht billigem Ermessen, wenn das Interesse des Arbeitgebers an der ordnungsgemäßen Erfüllung öffentlicher Aufgaben das Interesse des Arbeitnehmers an der Beibehaltung seines Arbeitsplatzes überwiegt121. Ist mit einer Versetzung ein dauerhafter Ortswechsel verbunden, sind zugunsten des Arbeitnehmers bei der Abwägung vor allem die betroffenen sozia-

114 Vgl. Protokollerklärung Nr. 2 zu § 4 Abs. 1 TVöD; BAG v. 15.8.2006 – 9 AZR 571/06, PersR 2007, 164; v. 13.3.2007 – 9 AZR 417/06, NZA-RR 2007, 549; LAG Rheinland-Pfalz v. 14.1.2013 – 5 Sa 435/12, BeckRS 2013, 66647; Sponer/Steinherr, § 4 TVöD Rz. 12. 115 Vgl. BAG v. 15.8.2006 – 9 AZR 571/05, ArbRB 2007, 43 = PersR 2007, 164; v. 15.8.2006 – 9 AZR 656/05, NJOZ 2007, 1166; v. 13.3.2007 – 9 AZR 417/06, NZA-RR 2007, 549. 116 BAG v. 11.6.1992 – 6 AZR 218/91, ZTR 1993, 201; LAG Brandenburg v. 6.4.2006 – 9 Sa 41/06; Sponer/Steinherr, § 4 TVöD Rz. 25. 117 BAG v. 21.6.1978 – 4 AZR 816/76, RiA 1979, 35; v. 30.10.1985 – 7 AZR 216/83, NZA 1986, 713; Bredemeier/Neffke/Cerff/Weizenegger, BAT/BAT-O, § 12 Rz. 5; Conze/Karb, Rz. 3470; Sponer/ Steinherr, § 4 TVöD Rz. 30. 118 LAG Köln v. 8.7.2010 – 13 Sa 152/10, BeckRS 2010, 74298. 119 BAG v. 30.10.1985 – 7 AZR 216/83, NZA 1986, 713; Bredemeier/Neffke/Cerff/Weizenegger, BAT/ BAT-O, § 12 Rz. 10. 120 BAG v. 21.1.2004 – 6 AZR 583/02, BAGE 109, 207 = NZA 2005, 61. 121 BAG v. 30.10.1985 – 7 AZR 216/83, NZA 1986, 213; LAG Brandenburg v. 6.4.2006 – 9 Sa 41/06, BeckRS 2006, 43247.

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§ 6 Rz. 6.44

Direktionsrecht

len Belange wie schulpflichtige Kinder, Familienstand, Berufstätigkeit des Ehepartners, Immobilieneigentum oder Dauer der Betriebszugehörigkeit zu berücksichtigen122. Es gelten aber nicht dieselben strengen Grundsätze wie bei der Sozialauswahl im Rahmen einer betriebsbedingten Kündigung (§ 1 Abs. 3 KSchG)123. Ratsam ist es dennoch, die Auswahlentscheidungen sorgfältig, etwa durch Fragebögen, vorzubereiten und die Ermessenserwägungen hinreichend zu dokumentieren124. Im Rahmen der Ermessensausübung sind zudem eventuell bestehende verwaltungsinterne Richtlinien und Erlasse zu beachten, die die Versetzungsmöglichkeiten einschränken125. c) Abordnung

6.45 Unter einer Abordnung ist die Zuweisung einer vorübergehenden Beschäftigung bei einer anderen Dienststelle oder einem anderen Betrieb desselben oder eines anderen Arbeitgebers unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhältnisses zu verstehen126. Wird der Arbeitnehmer im Rahmen einer Abordnung bei einem anderen Arbeitgeber eingesetzt, ist es erforderlich, dass bei diesem der allgemeine Teil des TVöD/TV-L Anwendung findet127. Im Übrigen entsprechen die Voraussetzungen für eine Abordnung denen für eine Versetzung (vgl. § 4 Abs. 1 TVöD bzw. TV-L), so dass auf die dortigen Ausführungen verwiesen werden kann (s. Rz. 6.42 ff.)128.

6.46 In der Praxis erfolgt die Abordnung zumeist als Vorstufe für eine Versetzung (Abordnung mit dem Ziel der Versetzung). Sie hat somit vielfach den Charakter einer Erprobung129. Vor einer länger als drei Monate andauernden Abordnung ist der Beschäftigte anzuhören (§ 4 Abs. 1 Satz 2 TVöD bzw. TV-L). Die gleichwohl nicht durchgeführte Anhörung führt allerdings nicht zur Nichtigkeit der Abordnung. Der Arbeitgeber verletzt jedoch eine Tarifpflicht. Er haftet für den dadurch eingetretenen Schaden, soweit er schuldhaft die Anhörung unterlassen hat130. Diese ist nachzuholen, wenn die Abordnung auf über drei Monate verlängert wird. Es gibt keine Mindest- oder Höchstdauer einer Abordnung131. Möglich sind auch Teilabordnungen,

122 LAG Berlin v. 14.12.1998 – 9 Sa 95/98, ZTR 1999, 223. 123 BAG v. 21.1.2004 – 6 AZR 583/02, BAGE 109, 207 = NZA 2005, 61; LAG Brandenburg v. 6.4.2006 – 9 Sa 41/06, BeckRS 2006, 43247. 124 Vgl. LAG Brandenburg v. 6.4.2006 – 9 Sa 41/06, BeckRS 2006, 43247. 125 Vgl. Niedersächsisches OVG v. 19.10.2006 – 5 ME 165/06 zu den Richtlinien zur gleichberechtigten und selbstbestimmten Teilhabe schwerbehinderter und ihnen gleichgestellter Menschen am Berufsleben im öffentlichen Dienst des Landes Niedersachsen; LAG Hamm v. 8.3.2007 – 15 (11) Sa 1580/06 zum entsprechenden Runderlass in NRW. 126 BAG v. 24.1.1973 – 4 AZR 104/72, BAGE 25, 12; v. 11.6.1992 – 6 AZR 218/91, ZTR 1993, 201; v. 19.10.2000 – 6 AZR 206/99, ZTR 2001, 470; Conze/Karb, Rz. 64; Sponer/Steinherr, § 4 TVöD Rz. 48; vgl. auch Protokollerklärung Nr. 1 zu § 4 Abs. 1 TVöD. 127 Dies ergibt sich aus einem Umkehrschluss aus der Protokollerklärung zu § 4 Abs. 2 TVöD bzw. TV-L; vgl. Preis/Greiner, ZTR 2006, 290 (291); so auch Conze/Karb, Rz. 64; Sponer/Steinherr, § 4 TVöD Rz. 50. 128 Eine Ausnahme ist § 12 Abs. 3 BAT/BAT-O, wonach für eine Abordnung während der Probezeit die Zustimmung des Arbeitnehmers erforderlich ist. 129 Conze/Karb, Rz. 67. 130 Sponer/Steinherr, § 4 TVöD Rz. 79. 131 BAG v. 11.6.1992 – 6 AZR 218/91, ZTR 1993, 201; Bredemeier/Neffke/Cerff/Weizenegger, BAT/ BAT-O, § 12 Rz. 3.

292

Laber

Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 6.49 § 6

dh., der Arbeitnehmer soll nur einen Teil seiner Arbeitszeit bei einer anderen Dienststelle oder einem anderen Betrieb verbringen132. d) Zuweisung Nach der Protokollerklärung zu § 4 Abs. 2 TVöD wird als Zuweisung die – unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhältnisses – vorübergehende Beschäftigung bei einem Dritten im In- und Ausland, bei dem der Allgemeine Teil des TVöD nicht zur Anwendung kommt, verstanden. Dies sind vor allem zwischenstaatliche Organisationen, wie die EU-Kommission oder das Europäische Marken- und Patentamt. Erforderlich ist ein dienstliches, betriebliches oder öffentliches Interesse an der Zuweisung. Außerdem muss es sich um eine mindestens gleichwertige Tätigkeit handeln133, so dass auch mindestens die gleiche Vergütung gezahlt werden muss134. Nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 2 TVöD bzw. TV-L ist es nicht wie nach § 12 Abs. 2 Satz 1 BAT/BAT-O erforderlich, dass es sich bei der zugewiesenen Einrichtung um eine öffentlich-rechtliche Einrichtung handelt. Vielmehr ist auch eine Zuweisung zu einer privatrechtlich organisierten Gesellschaft nunmehr zulässig135.

6.47

Im Gegensatz zu den anderen Maßnahmen des Personaleinsatzes kann die Zuweisung – unabhängig von ihrer Dauer – ausschließlich mit Zustimmung des Arbeitnehmers vorgenommen werden. Der Arbeitnehmer darf allerdings die Zustimmung nur aus wichtigem Grund verweigern. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn die Zuweisung – ähnlich wie in § 626 BGB – unzumutbar für den Arbeitnehmer ist136. Ein Beispiel hierfür ist die Betreuung minderjähriger Kinder oder pflegebedürftiger Angehöriger137. Die notwendige Zustimmung ändert aber nichts daran, dass es sich bei der Zuweisung um eine Ausübung des Direktionsrechts handelt, die der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Zu beachten ist, dass das Direktionsrecht nach erfolgter Zuweisung ausschließlich von der aufnehmenden Stelle ausgeübt wird138.

6.48

e) Personalgestellung Die Personalgestellung als Erweiterung des Direktionsrechts ist im öffentlichen Tarifrecht in § 4 Abs. 3 TVöD bzw. TV-L verankert. Darunter ist die unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhältnisses auf Dauer angelegte Beschäftigung bei einem (privaten) Dritten zu verstehen139. Eine Zustimmung des betroffenen Beschäftigten ist nicht nötig140. Seit der am 1.4.2017 in Kraft getretenen Reform des AÜG gilt für die in Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes vorgesehenen Personalgestellungen die Privilegierung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 lit. b AÜG. Die Herausnahme aus dem Anwendungsbereich des AÜG trägt dem Umstand Rechnung, dass eine Personalgestellung funktional als eine besondere Form der Aufgabenver132 BAG v. 11.6.1992 – 6 AZR 218/91, ZTR 1993, 201; zur Bestimmung des Dienstortes bei einer Teilabordnung vgl. BAG v. 26.10.2006 – 6 AZR 235/06, NZA 2007, 1072. 133 Conze/Karb, Rz. 3598; Müller/Preis, Rz. 471; Sponer/Steinherr, § 4 TVöD Rz. 118. 134 Kuner, Der neue TVöD, Rz. 191. 135 Conze/Karb, Rz. 3606; Kuner, Der neue TVöD, Rz. 191; Sponer/Steinherr, § 4 TVöD Rz. 113. 136 Conze/Karb, Rz. 3598; Müller/Preis, Rz. 471; Sponer/Steinherr, § 4 TVöD Rz. 122. 137 Laber, ArbRB 2006, 364 (366); Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 603. 138 Müller/Preis, Rz. 471. 139 Vgl. Protokollerklärung zu § 4 Abs. 3 TVöD. 140 Conze/Karb, Rz. 2400; Dassau/Langenbrinck, S. 61; von Steinau-Steinrück/Schmidt, NZA 2006, 518 (521).

Laber

293

6.49

§ 6 Rz. 6.49

Direktionsrecht

lagerung anzusehen ist und im Bestandsschutzinteresse der von der Aufgabenverlagerung betroffenen Arbeitnehmer erfolgt141. Die Regelung betrifft nur die aufgrund eines Tarifvertrags des öffentlichen Dienstes vorgenommenen Personalgestellungen. Unabhängig hiervon findet das AÜG keine Anwendung, wenn Personalgestellungen gesetzlich vorgesehen sind und Arbeitnehmer aufgrund dieser spezialgesetzlichen Regelung von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts einer anderen juristischen Person zur Verfügung gestellt bzw. zugewiesen werden142. Der Ausnahmetatbestand ist jedoch einiger Kritik ausgesetzt. Die Privilegierung öffentlichrechtlicher Arbeitgeber wird mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG zum einen als teilweise verfassungswidrig angesehen143. Darüber hinaus wird die Vereinbarkeit der Privilegierung mit der unionsrechtlichen Leiharbeitsrichtlinie angezweifelt144. Die Personalgestellung erlangt insbesondere bei Privatisierungen, die keinen Betriebsübergang iSd. § 613a BGB darstellen, Bedeutung145. Aber auch im Falle eines Betriebsübergangs kann die Personalgestellung dann eine Rolle spielen, wenn ein Arbeitnehmer dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses nach § 613a Abs. 6 BGB widersprochen hat146. Im Falle des wirksamen Widerspruchs geht das Arbeitsverhältnis nicht gemäß § 613a Abs. 1 BGB über, sondern verbleibt beim öffentlichen Arbeitgeber. Sofern dieser mangels Arbeitsplatzes nunmehr keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit hat, kann jetzt § 4 Abs. 3 TVöD bzw. TV-L helfen: Der öffentliche Arbeitgeber kann verlangen, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung bei dem Erwerberbetrieb im Rahmen der Personalgestellung erbringt. Des Ausspruchs einer im öffentlichen Dienst nur schwierig sozial zu rechtfertigenden betriebsbedingten Kündigung bedarf es dann nicht147.

6.50 Es besteht jedoch keine Pflicht zur Personalgestellung, um den Ausspruch von Kündigungen zu vermeiden148. Liegen die sonstigen Voraussetzungen des § 1 KSchG in Bezug auf eine betriebsbedingte Kündigung vor, so steht die Möglichkeit der Personalgestellung nicht der sozialen Rechtfertigung einer solchen Kündigung entgegen. Insbesondere ist der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung nicht gehalten, die Personalgestellung als ein gegenüber der Kündigung „milderes Mittel“ vorzunehmen149. Dies folgt unmittelbar aus dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Buchst. b KSchG und der daraus resultierenden Verpflichtung des Arbeitgebers, vor Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung zu prüfen, ob – unternehmensbezogen – eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in dem Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens besteht. Bei der Möglichkeit der Personalgestellung nach § 4 Abs. 3 TVöD bzw. TV-L wird dagegen gerade auf den Einsatz des Arbeitnehmers in einem anderen 141 142 143 144 145

146

147 148 149

294

Vgl. BT-Drucks. 18/9232, 22. Thüsing/Waas, AÜG, § 1 Rz. 245; BT-Drucks. 18/9232, 23. Seel, öAT 2016, 27 (28). Wank, RdA 2017, 100 (103). Vgl. zB Gesetz über das Personal der Bundeswertpapierverwaltung v. 12.7.2006, in Kraft getreten am 1.8.2006 (BGBl. I 2006, 1466); vgl. auch Plander, NZA 2002, 69. Möglich ist jedoch auch, dass es gerade durch eine Personalgestellung zu einem Betriebsübergang nach § 613a BGB kommt, vgl. hierzu Preis/Greiner, ZTR 2006, 290 (294). Das Widerspruchsrecht kann bei einem (landes-)gesetzlich geregelten Übergang von Arbeitsverhältnissen von einem Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes zu einem anderen Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes ausgeschlossen werden, vgl. BAG v. 28.9.2006 – 8 AZR 441/05, AP Nr. 26 zu § 419 BGB; v. 28.9.2006 – 8 AZR 124/05, NZA 2006, 848. Kuner, Der neue TVöD, Rz. 194; Preis/Greiner, ZTR 2006, 290 (294 f.). Conze/Karb, Rz. 2402. So aber wohl: Plander, NZA 2002, 69 (75); dagegen Meyer, NZA 2005, 9 (11 f.).

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Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 6.52 § 6

Unternehmen abgestellt. Von daher kann richtigerweise die Personalgestellung nicht als Möglichkeit der Weiterbeschäftigung iSv. § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Buchst. b KSchG und damit auch nicht als „milderes Mittel“ angesehen werden. Die Modalitäten der Personalgestellung regeln der Arbeitgeber und der Dritte vertraglich. 6.51 Dies kann in Form eines Dienst-, Werk- oder Geschäftsbesorgungsvertrages erfolgen; möglich ist auch der Abschluss eines Arbeitnehmerüberlassungsvertrages. Zur Personalgestellung ist es nicht erforderlich, dass die beteiligten Unternehmen einen Gemeinschaftsbetrieb gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 BetrVG gründen150. Außerhalb des Anwendungsbereichs des TVöD bzw. TV-L ist eine Personalgestellung nur einvernehmlich mit dem Arbeitnehmer möglich. Ein besonderer Fall der Personalgestellung liegt auch vor, soweit das Eigentum an Liegenschaften des Bundes auf die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA) übertragen wird und im Zusammenhang damit das technische Betriebspersonal im Wege der Personalgestellung künftig bei der BIMA tätig ist151. f) Übersicht

6.52

Überblick Personaleinsatz nach dem TVöD: Umsetzung

Versetzung

Abordnung

Zuweisung

Personalgestellung

Dauer

Dauerhaft oder vorübergehend

Dauerhaft

Vorübergehend

Vorübergehend

Dauerhaft

Veränderung des Ortes der Dienststelle/Betrieb

Nein

Ja

Ja

IdR ja

Möglich

Betriebsinhaber

Derselbe

Derselbe

Derselbe oder Dritter (wenn TVöD zur Anwendung kommt)

Dritter (bei dem Dritter TVöD nicht zur Anwendung kommt, jedoch mindestens gleiche Vergütung)

Dienstlich/ betrieblich

Dienstlich/ betrieblich

Dienstliches, betriebliches oder öffentliches Interesse

Dauerhafte Verlagerung der dem Arbeitnehmer obliegenden Aufgabe auf einen Dritten

Grund

Zustimmung Arbeitnehmer

Nein

Nein, aber Anhörung

Nein, aber Anhörung, wenn voraussichtlich mehr als drei Monate

Ja, aber Verweigerung nur aus wichtigem Grund möglich

Nein

Kontrolle

§ 106 GewO (billiges Ermessen)

§ 106 GewO (billiges Ermessen)

§ 106 GewO (billiges Ermessen)

§ 106 GewO (billiges Ermessen)

§ 106 GewO (billiges Ermessen)

150 BAG v. 16.4.2008 – 7 ABR 4/07, ArbRB 2008, 301 = NZA-RR 2008, 583 (für den Fall der Übertragung des Regiebetriebs „Städtische Bühnen“ auf eine GmbH). 151 Zutreffend Conze/Karb, Rz. 2202.

Laber

295

§ 6 Rz. 6.52

Direktionsrecht

Mitbestimmung (Personalvertretung – Bund)

Umsetzung

Versetzung

Abordnung

Zuweisung

Personalgestellung

Ja, bei Wechsel des Dienstortes/ § 75 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 BPersVG)

Ja, § 75 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG (sowohl der abgebenden als auch der aufnehmenden Stelle)

Ja, bei mehr als drei Monaten (§ 75 Abs. 1 Nr. 4 BPersVG, sowohl der abgebenden wie der aufnehmenden Stelle)

Ja, bei mehr als drei Monaten (§ 75 Abs. 1 Nr. 4a BPersVG, abgebende Stelle)

Nein, nur Informationsrecht

2. Änderung des Arbeitsortes

6.53 Bei Arbeitnehmern des öffentlichen Dienstes ist Dienstort die politische Gemeinde, in der der Arbeitnehmer tatsächlich regelmäßig seinen Dienst leistet152. Nicht entscheidend ist die – nach § 2 Nr. 4 NachwG erforderliche – Nennung des Dienstortes im Arbeitsvertrag. Denn die Bezeichnung des Dienstortes bezieht sich regelmäßig nur auf die erste Dienststelle, hat jedoch nicht zur Folge, dass sich der Arbeitgeber – genauso wie bei der Tätigkeitsbeschreibung – dauerhaft seines Direktionsrechts begeben will153, es sei denn, es liegt eine eindeutige und klare Absprache oder Zusage bezüglich des Dienstortes vor154. Eine Festlegung, Konkretisierung oder Änderung des Dienstortes durch den Arbeitgeber im Rahmen seines Direktionsrechts ist somit möglich.

6.54 Der Dienstort kann sich nicht nur im Falle einer Änderung des Arbeitsplatzes, dh. als Folge einer Versetzung, Zuweisung etc. verändern, sondern auch bei einer Verlagerung der gesamten Dienststelle an einen anderen Ort. Eine Versetzung im eigentlichen Sinne liegt im letztgenannten Falle nicht vor, da durch die gesamte räumliche Verlegung der organisatorischen Einheit, zu der der Arbeitnehmer gehört, der Arbeitsplatz des Arbeitnehmers in Beziehung zum betrieblichen Umfeld ansonsten unverändert bleibt155, so dass kein Fall des § 4 Abs. 1 TVöD bzw. TV-L vorliegt. Der Sachverhalt ist jedoch zumindest arbeitsvertraglich mit einer Versetzung vergleichbar156. Ob der Arbeitnehmer in diesen Fällen einer Weisung nachkommen muss, der Verlagerung zu folgen (Folgepflicht), ist dennoch umstritten. Die Rechtsprechung sieht eine derartige Weisung als grundsätzlich vom Direktionsrecht des Arbeitgebers umfasst an, solange ihre Befolgung nicht unzumutbar sei. Wenn der Arbeitnehmer seine arbeitsvertraglichen Pflichten nur am neuen Dienstort wahrnehmen könne, sei eine entsprechende Weisung rechtmäßig, selbst wenn die Dienststelle an einen entfernten Ort verlegt werde157. Dem ist zuzustimmen. Denn durch die Entscheidung des Arbeitgebers zur Verlagerung der Dienststelle, die gerichtlich nicht überprüfbar ist, fällt der Arbeitsplatz am alten Dienstort weg. Somit besteht ein dienstliches bzw. betriebliches Interesse an der Weisung. Es kann daher 152 BAG v. 1.12.1994 – 6 AZR 354/94, ZTR 1995, 414 (bzgl. Reisekosten); HWK/Thüsing, § 611 BGB Rz. 334. 153 BAG v. 26.6.2002 – 6 AZR 50/00; v. 24.1.2004 – 6 AZR 583/02, BAGE 109, 207 = NZA 2005, 61; Laber, ArbRB 2006, 364 (365). 154 Laber, ArbRB 2006, 364 (365); Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 426. 155 LAG Berlin v. 14.12.1998 – 9 Sa 95/98, ZTR 1999, 223; LAG Köln v. 30.1.1995 – 3 Sa 1200/94, ZTR 1995, 280; vgl. auch BGH v. 27.6.2006 – 1 ABR 35/05, NZA 2006, 1289. 156 LAG Berlin v. 14.12.1998 – 9 Sa 95/98, ZTR 1999, 223; Scheuring/Süsterhenn, ZTR 1991, 487 (491). 157 LAG Köln v. 30.1.1995 – 3 Sa 1200/94, ZTR 1995, 280; v. 4.11.2005 – 11 (13) Sa 722/05: für den Fall der Verlegung der Dienststelle der KBV von Köln nach Berlin.

296

Laber

Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 6.56 § 6

auch nicht entgegengehalten werden, dass eine Folgepflicht tarifvertraglich nicht geregelt und es für einen Arbeitnehmer in aller Regel unzumutbar ist, seinen bisherigen Lebenskreis zu verlassen158. Möglich und ratsam ist es, den Umfang und die Voraussetzungen einer Folgepflicht im Arbeitsvertrag insbesondere dann zu regeln, wenn eine Verlagerung des Dienstsitzes bereits bei Einstellung des Arbeitnehmers geplant ist. 3. Zuweisung anderer Tätigkeiten a) Zuweisung von Tätigkeiten innerhalb derselben Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe Nach den im öffentlichen Dienst üblichen Arbeitsverträgen wird der Angestellte regelmäßig nicht für eine bestimmte Tätigkeit eingestellt, sondern für einen allgemein umschriebenen Aufgabenbereich, der lediglich durch die Nennung der Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe bezeichnet ist159. Dass sich uU der Arbeitnehmer für eine bestimmte – genau ausgeschriebene – Stelle beworben hat und eingestellt wurde, ist in aller Regel unerheblich160. Das Direktionsrecht des Arbeitgebers im öffentlichen Dienst erstreckt sich somit bei einer Vertragsgestaltung, die den vertraglichen Aufgabenbereich allein durch eine allgemeine Tätigkeitsbezeichnung und die Nennung der Vergütungsgruppe beschreibt, grundsätzlich auf solche Tätigkeiten des allgemein umschriebenen Aufgabenbereichs, die die Merkmale der Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe – und nicht nur der jeweiligen Fallgruppe – erfüllen, in die der Angestellte eingestuft ist. Dem Arbeitnehmer können andere, dem allgemein umschriebenen Aufgabenbereich zuzuordnende Tätigkeiten nur zugewiesen werden, soweit sie den Merkmalen dieser Vergütungsgruppe entsprechen161. Der arbeitsvertragliche Aufgabenbereich kann aber auch detailliert und verbindlich im Arbeitsvertrag festgeschrieben werden, so dass das Direktionsrecht insoweit nicht mehr ausgeübt werden kann162.

6.55

Eine Zuweisung von anderen Tätigkeiten innerhalb derselben Vergütungsgruppe ist auch dann zulässig, wenn dadurch eine Aufstiegsmöglichkeit entfällt163. Eine fehlende Aufstiegsmöglichkeit ist jedoch im Rahmen der Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB zu berücksichtigen164. Die Ausübung des Direktionsrechts bedarf in diesem Fall zudem einer besonderen Begründung165. Entsprechendes dürfte in Zukunft auch gelten, wenn durch die

6.56

158 So jedoch Conze, ZTR 1999, 400 (405, Fn. 19); Müller/Preis, Rz. 463; Scheuring/Süsterhenn, ZTR 1991, 487 (490); Schwidden, RiA 1995, 53 (56); vgl. auch Hromadka, DB 1995, 2601 (2604); ebenso für den Fall außerhalb des öffentlichen Dienstes LAG Hessen v. 14.6.2007 – 11 Sa 296/06. 159 BAG v. 23.6.1993 – 5 AZR 337/92, NZA 1993, 1127; v. 29.10.1997 – 5 AZR 455/96, ZTR 1998, 187. 160 Vgl. BAG v. 24.4.1996 – 5 AZR 1032/94, PersR 1997, 179; LAG Köln v. 5.2.1999 – 11 Sa 1025/98, ZTR 1998, 378. 161 Ständige Rechtsprechung seit BAG v. 12.4.1973 – 2 AZR 291/72, DB 1973, 1904; v. 12.1.2011 – 7 AZR 194/09, ArbRB 2011, 199 = NZA 2011, 507; v. 17.8.2011 – 10 AZR 322/10, AP GewO § 106 Nr. 13. 162 Vgl. für einen solchen Fall: LAG Köln v. 1.2.1996 – 6 (11) Sa 865/95, ZTR 1999, 444 (Kurzwiedergabe). 163 BAG v. 30.8.1995 – 1 AZR 47/95, NZA 1996, 440; v. 24.4.1996 – 4 AZR 976/94, NZA 1997, 104; v. 29.10.1997 – 5 AZR 455/96, ZTR 1998, 187; v. 30.5.2001 – 4 AZR 270/00, BAGE 98, 48 = DB 2002, 182; v. 21.11.2002 – 6 AZR 82/01, BAGE 104, 16 = ArbRB 2003, 167 = DB 2003, 160. 164 BAG v. 23.6.1993 – 5 AZR 337/92, NZA 1993, 1127; v. 10.1.1996 – 5 AZR 951/94; Bredemeier/ Neffke/Cerff/Weizenegger, BAT/BAT-O, § 12 Rz. 8. 165 BAG v. 23.6.1993 – 5 AZR 337/92, NZA 1993, 1127.

Laber

297

§ 6 Rz. 6.56

Direktionsrecht

Zuweisung einer anderen Tätigkeit dem Arbeitnehmer die Möglichkeit auf eine Leistungszulage oder Leistungsprämie genommen wird. b) Zuweisung von Tätigkeiten einer niedrigeren Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe

6.57 Der Arbeitgeber darf dem Arbeitnehmer grundsätzlich keine geringwertigeren Tätigkeiten zuweisen166. Das Arbeitsverhältnis muss vielmehr einen gewissen Bestandsschutz gegen eine inhaltliche Änderung der Tätigkeit erfahren167. Geringwertigkeit liegt immer vor, wenn die Arbeiten in eine niedrigere Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe fallen. Der Wegfall von Zulagen (zB Erschwerniszuschläge) oder Wegegeldern führt dagegen nicht zwangsläufig zu einer geringwertigeren Arbeit168. Die Gleichwertigkeit wird jedoch nicht allein durch die Anwendung eines tariflichen Vergütungs- bzw. Entgeltgruppensystems hergestellt, sondern bestimmt sich vielmehr auch aus dem sich daraus ergebenden Sozialbild169. So stellen eine deutliche Verkleinerung des bisherigen Aufgaben- und Verantwortungsbereichs oder eine hierarchische Herabstufung in der Regel eine unzulässige Zuweisung geringwertigerer Tätigkeiten dar170. Auch der Entzug einer Vorgesetztenfunktion kann, wenn sie zu den Tätigkeitsmerkmalen der Vergütungsgruppe gehört, zu einer geringwertigeren Tätigkeit führen171. Das bedeutet, dass die Zuweisung einer geringwertigeren Tätigkeit auch dann vorliegt, wenn dem Arbeitnehmer dennoch die höhere Vergütung weitergezahlt wird172. Die Grenzen des Direktionsrechts überschreitet auch die Übertragung einer Tätigkeit, die geringwertigere Qualifikationsmerkmale erfüllt und nur im Wege des Bewährungsaufstiegs nach BAT/BAT-O die Eingruppierung in die ursprünglich maßgebende Vergütungsgruppe ermöglicht173. Voraussetzung für die einseitige Zuweisung einer anderweitigen Tätigkeit ist somit regelmäßig, dass sie als gleichwertig anzusehen ist174. Ist dies nicht der Fall, so ist in diesen Fällen eine einvernehmliche Änderung des Arbeitsvertrags oder eine Änderungskündigung175 erforderlich, will der Arbeitgeber die Änderung der Tätigkeit gegenüber dem Arbeitnehmer durchsetzen.

166 BAG v. 8.10.1962 – 2 AZR 550/61, DB 1962, 1074; v. 29.10.1997 – 5 AZR 455/96, ZTR 1998, 187. 167 BAG v. 30.8.1995 – 1 AZR 47/95, NZA 1996, 440; LAG Köln v. 20.1.2006 – 11 Sa 1142/05, ZTR 2006, 312 (Ls.). 168 Berger-Delhey, ZTR 1990, 411 (415); Bredemeier/Neffke/Cerff/Weizenegger, BAT/BAT-O, § 12 Rz. 8. 169 BAG v. 24.4.1996 – 4 AZR 976/94, NZA 1997, 104; LAG Köln v. 20.1.2006 – 11 Sa 1142/05, ZTR 2006, 312 (Ls.); HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 17; Preis, Arbeitsvertrag, II D 30 Rz. 47. 170 LAG Hamm v. 9.1.1997 – 17 Sa 1554/96, NZA-RR 1997, 337 (Ls.); HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 98. 171 Vgl. BAG v. 24.4.1996 – 4 AZR 976/94, NZA 1997, 104; LAG Hamm v. 9.1.1997 – 17 Sa 1554/96, ZTR 1997, 279; LAG Köln v. 5.2.1999 – 11 Sa 1025/98, ZTR 1998, 378. 172 BAG v. 14.12.1961 – 5 AZR 180/61, BB 1962, 297; v. 12.12.1984 – 7 AZR 509/83, BAGE 47, 314 = NZA 1985, 321; v. 30.8.1995 – 1 AZR 47/95, NZA 1996, 440; v. 29.10.1997 – 5 AZR 455/96, ZTR 1998, 18; v. 17.8.2011 – 10 AZR 322/10, AP GewO § 106 Nr. 13; Berger-Delhey, ZTR 1990, 411 (414). 173 BAG v. 30.8.1995 – 1 AZR 47/95, NZA 1996, 440; v. 24.4.1996 – 4 AZR 976/94, NZA 1997, 104; v. 29.10.1997 – 5 AZR 455/96, ZTR 1998, 187; v. 17.8.2011 – 10 AZR 322/10, AP GewO § 106 Nr. 13. 174 BAG v. 24.4.1996 – 4 AZR 976/94, NZA 1997, 104; v. 17.8.2011 – 10 AZR 322/10, AP GewO § 106 Nr. 13. 175 Müller/Preis, Rz. 461.

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Laber

Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 6.60 § 6

Von dem Grundsatz, dass dem Arbeitnehmer keine geringwertigere Tätigkeit zugewiesen werden darf, kann indessen tarifvertraglich abgewichen werden. Ein Beispiel hierfür ist § 27 Abs. 3 BMT, wonach die Einweisung des Arbeiters in eine niedrigere Lohngruppe zulässig ist, wenn Arbeitsmangel oder ein an anderer Stelle dringend notwendiger Bedarf aus dienstlichen oder betrieblichen Gründen eine vorübergehende Personalumbesetzung erforderlich machen176. Das tarifvertraglich erweiterte Direktionsrecht kann wiederum einzelvertraglich ausgeschlossen oder eingeschränkt werden. Im öffentlichen Dienst kann jedoch ein eingeschränkter Umfang des tariflichen Direktionsrechts nur dann bejaht werden, wenn der Vertrag von den im öffentlichen Dienst üblichen Musterverträgen abweicht und eindeutige Absprachen zum Direktionsrecht enthält177. Denn ein Bewerber um eine Stelle des öffentlichen Dienstes hat regelmäßig davon auszugehen, dass Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes grundsätzlich verpflichtet sind, jede ihnen zugewiesene Tätigkeit zu verrichten, die den Merkmalen ihrer Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe entspricht, soweit ihnen diese Tätigkeit billigerweise zugemutet werden kann178.

6.58

c) Zuweisung von Tätigkeiten einer höheren Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe Die vorübergehende Zuweisung einer höherwertigen Tätigkeit179 ist grundsätzlich zulässig, wie sich aus den Zulageregelungen der § 14 TVöD bzw. TV-L oder § 24 BAT ergibt180. Sie ist vom Direktionsrecht gedeckt und stellt somit keine Änderung des Arbeitsvertrages dar. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG181 setzen die Tarifvertragsparteien die Zulässigkeit derartiger Zuweisungen als ungeschriebene Regel voraus. Die vorübergehende Zuweisung ist jedoch nur eine Ausnahme von dem Grundsatz der dauerhaften Übertragung einer Tätigkeit mit der entsprechenden Vergütung182. Eine dauerhafte Zuweisung ist deshalb unzulässig183; in diesem Fall erfolgt aufgrund der Tarifautomatik eine Höhergruppierung. Dabei ist zu beachten, dass eine dauernde Zuweisung auch durch konkludentes Handeln möglich ist184. So kann eine zunächst vorübergehend übertragene Tätigkeit zur „auszuübenden Tätigkeit“ des Angestellten werden, nach der sich seine Vergütung richtet, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer ausdrücklich oder konkludent zu verstehen gibt, dass er die ursprünglich nur vorübergehende Übertragung nunmehr als eine dauerhafte ansehen soll.

6.59

Fraglich ist mithin, ab wann eine zulässige vorübergehende bzw. wann eine dauernde Zu- 6.60 weisung mit der damit verbundenen Höhergruppierung vorliegt. Eine starre zeitliche Grenze für eine vorübergehende Übertragung gibt es nicht185. 176 BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, BAGE 112, 64 = NZA 2005, 475. 177 BAG v. 26.6.2002 – 6 AZR 50/00; v. 21.1.2004 – 6 AZR 583/02, BAGE 109, 207 = NZA 2005, 61; v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, BAGE 112, 64 = NZA 2005, 475; v 2.3.2006 – 2 AZR 23/05, ArbRB 2006, 332 = DB 2006, 1906. 178 BAG v. 21.1.2004 – 6 AZR 583/02, BAGE 109, 207 = NZA 2005, 61. 179 Die teilweise gebräuchliche Bezeichnung „vorübergehende Höhergruppierung“ ist nicht zutreffend, weil eine andere Eingruppierung gerade nicht stattfindet, sondern eine Zulage gezahlt wird. 180 Sponer/Steinherr, § 14 TVöD Rz. 8; Gussone, ZTR 2003, 54. 181 Zuletzt BAG v. 16.4.2015 – 6 AZR 242/14, NZA-RR 2015, 532; v. 4.7.2012 – 4 AZR 759/10, ZTR 2013, 24. 182 BAG v. 2.5.1979 – 4 AZR 515/77, BAGE 32, 1; Gussone, ZTR 2003, 54. 183 Sponer/Steinherr, § 14 TVöD Rz. 53. 184 BAG v. 26.3.1997 – 4 AZR 627/95, ZTR 1997, 465. 185 BAG v. 10.2.1988 – 4 AZR 585/87, DB 1998, 1121; v. 14.12.2005 – 4 AZR 474/04, NZA-RR 2006, 388.

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299

§ 6 Rz. 6.61

Direktionsrecht

6.61 Nach früherer Rechtsprechung des BAG186 galt eine vorübergehend übertragene Tätigkeit als auf Dauer übertragen, wenn die Gestaltungsmöglichkeit der vorübergehenden Zuweisung rechtsmissbräuchlich verwendet worden war. Rechtsmissbrauch lag vor, wenn die vorübergehende Übertragung nicht durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt war, zB weil aufgrund der Dauer der Zuweisung kein Fall einer Erprobung vorlag. Es wurde also die vorübergehende Zuweisung einer Befristung gleichgesetzt. Fehlte es an einer sachlichen Rechtfertigung, war der Angestellte vom Beginn der Übertragung der höherwertigen Tätigkeit an so zu behandeln, als sei ihm diese auf Dauer zugewiesen. Dabei wurde aber keine rückschauende Betrachtung vorgenommen, sondern es wurde auf den bei der Übertragung ausdrücklich oder stillschweigend zum Ausdruck gebrachten Willen abgestellt187. Der sachliche Grund für die Zuweisung musste ferner für die gesamte Dauer der Zuweisung vorliegen188.

6.62 Diese Rechtsprechung hat das BAG nunmehr aufgegeben. Es wird nicht mehr geprüft, ob ein sachlicher Grund für die Zuweisung für die gesamte Dauer vorliegt. Die vorübergehende Zuweisung wird vielmehr ausdrücklich dem Direktionsrecht zugeordnet189, so dass die Übertragung der höherwertigen Tätigkeit billigem Ermessen entsprechen muss. Allerdings ist nach der Rechtsprechung eine doppelte Billigkeitsprüfung vorzunehmen190. Das bedeutet, dass die Ausübung des Direktionsrechts in zwei Stufen geprüft wird: Zunächst muss auf einer ersten Stufe die Tätigkeitsübertragung „an sich“ billigem Ermessen entsprechen, dh., es muss ein sachlicher Grund, wie etwa eine Vertretung, für die Zuweisung vorliegen. Auf einer zweiten Stufe erfolgt dann eine Überprüfung der zeitlichen Begrenzung der Übertragung auf ihre Billigkeit. Das Interesse des Arbeitnehmers, die höherwertige Tätigkeit auf Dauer zu behalten und das Interesse des Arbeitgebers, die Tätigkeit nicht auf Dauer zu übertragen, sind dabei gegeneinander abzuwägen191.

6.63 Häufig erfolgt die vorübergehende Zuweisung einer höherwertigen Tätigkeit aus haushaltsrechtlichen Überlegungen oder zu Erprobungszwecken. Wird eine höherwertige Tätigkeit zu Vertretungszwecken (zB in Fällen von Elternzeit, Urlaub, Krankheit oder Abordnung gemäß § 4 Abs. 1 TVöD bzw. TV-L) zugewiesen, so ist dies unter Geltung des TVöD bzw. des TV-L ein Unterfall der vorübergehenden Übertragung192. Eine Differenzierung wie in § 24 BAT/BAT-O, wonach die Zulage für die Ausübung einer höherwertigen Tätigkeit zu Vertretungszwecken im Gegensatz zu anderen Gründen erst dann gezahlt wurde, wenn die Vertretung länger als drei Monate gedauert hat, ist nicht mehr vorgesehen. Der Anspruch auf die Zulage nach § 14 TVöD bzw. TV-L entsteht rückwirkend vom Beginn der Übertragung immer dann, wenn der Arbeitnehmer die Tätigkeit einen Monat lang ausgeübt hat193.

186 187 188 189 190 191 192 193

300

BAG v. 26.3.1997 – 4 AZR 604/95, ZTR 1997, 413. BAG v. 10.2.1988 – 4 AZR 585/87, DB 1998, 1121. BAG v. 10.2.1988 – 4 AZR 585/87, DB 1998, 1121. BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, ArbRB 2002, 363 = ZTR 2003, 76; v. 14.12.2005 – 4 AZR 474/04, NZA-RR 2006, 388; aA Gussone, ZTR 2003, 54 (55 f.), wonach die vorübergehende Übertragung eine inhaltliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses ist. BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, BAGE 101, 91 = ArbRB 2002, 363 = NZA 2003, 159; seitdem ständige Rechtsprechung, vgl. BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 474/04, NZA-RR 2006, 388. BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, BAGE 101, 91 = ArbRB 2002, 363 = NZA 2003, 159; v. 17.1.2006 – 9 AZR 226/05, AP BAT § 24 Nr. 6; LAG Köln v. 7.7.2003 – 5 (3) Sa 401/03, ZTR 2004, 155; abl. Hromadka, RdA 2003, 237 ff. Vgl. Niederschriftserklärung Nr. 6 zu § 14 TVöD; Sponer/Steinherr, § 14 TVöD Rz. 60. Zur Übergangsregelung vgl. § 10 TVÜ-Bund und TVÜ-L.

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Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 6.66 § 6

Die vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit zu Erprobungszwecken ist grundsätzlich zulässig194. Für Erprobungszeiten von mehr als sechs Monaten ist jedoch eine besondere Begründung erforderlich. Sie sind nur dann gerechtfertigt, wenn es sich um besondere Aufgaben handelt oder sonstige Gründe vorliegen, die eine längerfristige Erprobung rechtfertigen195. Erfolgt eine vorübergehende Übertragung mit Hilfe von Haushaltsmitteln, die durch die Beurlaubung oder Teilzeitbeschäftigung anderer Arbeitnehmer frei werden, liegt eine ermessensfehlerfreie Entscheidung nur vor, wenn im Zeitpunkt der Übertragung für den Arbeitgeber damit zu rechnen war, dass die Haushaltsmittel nach Ablauf des Übertragungszeitraums nicht mehr zur Verfügung stehen196.

6.64

Eine Übertragung zu Vertretungszwecken liegt vor, wenn der eigentliche Arbeitsplatzinhaber vorübergehend die ihm dauerhaft übertragene Tätigkeit nicht wahrnehmen kann, die Stelle darf also nicht vakant sein197. Die Billigkeit einer solchen Vertretungsanordnung für die Dauer der Verhinderung des Vertretenen folgt schon aus dem Übertragungsgrund. Denn nach Rückkehr des vertretenen Arbeitnehmers auf seinen Arbeitsplatz besteht kein Bedürfnis mehr für die Beschäftigung des Vertreters auf diesem Arbeitsplatz. Die vertretungsweise Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit entspricht somit regelmäßig billigem Ermessen198. Zu prüfen ist daher in der Regel nur noch die Billigkeit der zeitlichen Begrenzung. Zulässig kann auch eine befristete Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit sein, weil der Dienstposten für einen sich im Vorbereitungsdienst befindlichen Beamtenanwärter freigehalten werden soll199.

6.65

Wird einem Arbeitnehmer dieselbe höherwertige Tätigkeit mehrfach oder mehrmals nacheinander übertragen, so ist jeder Übertragungsakt auf seine Billigkeit hin zu überprüfen200. Liegt derselbe Grund für die Übertragung vor, erhöhen sich auch die Anforderungen an die Begründung201. Entspricht ein Übertragungsakt nicht billigem Ermessen, kann die Übertragung entsprechend § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB kraft richterlicher Entscheidung als auf Dauer erfolgt angesehen werden; auf die zeitlich nachfolgenden vorübergehenden Übertragungen kommt es dann nicht mehr an202.

6.66

194 BAG v. 18.6.1997 – 4 AZR 728/95, ZTR 1998, 87; v. 17.4.2002 – 4 AZR 142/01; Sponer/Steinherr, § 14 TVöD Rz. 33. Vgl. auch § 31 TVöD/TV-L, wonach die vorübergehende Übertragung einer Führungsposition zum Zweck der Erprobung möglich ist. 195 BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 142/01, BeckRS 2002, 31049147; v. 12.6.2002 – 4 AZR 431/01, ZTR 2003, 82; v. 15.5.2002 – 4 AZR 184/01, BeckRS 2002, 31049171; LAG Köln v. 7.7.2003 – 5 (3) Sa 401/03, ZTR 2004, 155. 196 BAG v. 2.5.1979 – 4 AZR 515/77, AP BAT § 24 Nr. 4; v. 15.5.2002 – 4 AZR 407/01; LAG Köln v. 17.7.2003 – 5 (3) Sa 401/03, ZTR 2004, 155. 197 BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, BAGE 101, 91 = ArbRB 2002, 363 = NZA 2003, 159; v. 15.5.2002 – 4 AZR 433/01, ZTR 2003, 880. 198 BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, BAGE 101, 91 = ArbRB 2002, 363 = NZA 2003, 159; v. 15.5.2002 – 4 AZR 408/01, ZTR 2003, 81. 199 Vgl. BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, BAGE 101, 91 = ArbRB 2002, 363 = NZA 2003, 159; v. 15.5.2002 – 4 AZR 184/01, BeckRS 2002, 31049171. 200 BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, BAGE 101, 91 = ArbRB 2002, 363 = NZA 2003, 159. 201 BAG v. 15.5.2002 – 4 AZR 433/01, ZTR 2003, 880. 202 BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, BAGE 101, 91 = ArbRB 2002, 363 = NZA 2003, 159; v. 15.5.2002 – 4 AZR 433/01, ZTR 2003, 880; LAG Köln v. 7.7.2003 – 5 (3) Sa 401/03, ZTR 2004, 155.

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301

§ 6 Rz. 6.67

Direktionsrecht

d) Notfälle

6.67 In Notfällen darf der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer Arbeiten zuweisen, die nicht der Festlegung im Arbeitsvertrag entsprechen, insbesondere auch Tätigkeiten, die in eine niedrigere Vergütungsgruppe fallen. Dies ist Folge der allgemeinen Treuepflicht des Arbeitnehmers, Schaden vom Arbeitgeber bzw. dessen Betrieb oder Dienststelle abzuwenden203. Der genaue Umfang kann einzel- oder tarifvertraglich festgelegt werden (vgl. zB § 9 Abs. 2 BMT-G-O oder § 8 Abs. 3 MTArb)204. Ein Notfall liegt vor, wenn der Arbeitgeber durch organisatorische Maßnahmen die Situation nicht hätte verhindern können205. Zu Notfällen können daher uU auch Urlaub und Erkrankung anderer Arbeitnehmer zählen, wenn dies für den Arbeitgeber nicht vorhersehbar war206. e) Streik

6.68 Im Falle eines Streiks besteht – ähnlich wie bei Notfällen – für den Arbeitgeber das Bedürfnis, den nicht streikenden Arbeitnehmern andere Tätigkeiten zuzuweisen. Der Arbeitgeber darf allerdings den Arbeitnehmer keine direkte Streikarbeit, also die Arbeit der streikenden Arbeitnehmer, verrichten lassen, da dies gegen die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 verstößt207 (vgl. auch § 11 Abs. 5 AÜG), es sei denn, es handelt sich um reine Notstands- und Erhaltungsarbeiten208. Die Zuweisung indirekter Streikarbeit, also von Tätigkeiten, die nur mittelbar von dem Streik betroffen sind, ist dagegen vom Direktionsrecht gedeckt209. f) Nebenarbeiten

6.69 Der Arbeitgeber ist berechtigt, die Ausführung von Nebenarbeiten, wie zB die Reinigung und Pflege der Arbeitsmittel, Durchführung von Klassenfahrten usw. anzuordnen, wenn die Nebenarbeiten in unmittelbarem Zusammenhang mit der vertraglich geschuldeten Leistung stehen210 oder nur eine untergeordnete Bedeutung haben211. Zulässig ist ungeachtet des damit verbundenen Haftungsrisikos auch die Anordnung, dass der Arbeitnehmer auf Dienstreisen einen Dienstwagen fahren und Arbeitskollegen mitnehmen muss212. Der Arbeitgeber darf im Rahmen seines Direktionsrechtes den Arbeitnehmer auch anweisen, Tätigkeitsberichte und Zeitaufstellungen („Time-sheets“) anzufertigen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die korrekte Eingruppierung213 oder Leistung des Arbeitnehmers im Vergleich zu anderen Arbeit203 LAG Baden-Württemberg v. 31.3.2006 – 2 Sa 117/05, AuA 2006, 362; ArbG Leipzig v. 4.2.2004 – 7 Ca 6866/02, DB 2003, 365; HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 21. 204 HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 21. 205 Vgl. LAG Baden-Württemberg v. 31.3.2006 – 2 Sa 117/05, AuA 2006, 362; Berger-Delhey, ZTR 1990, 411 (415); Hromadka, DB 1995, 2601 (2602). 206 Berger-Delhey, ZTR 1990, 411 (415); Müller/Preis, Rz. 459; Richter, DB 1989, 2378 (2380). 207 BAG v. 10.9.1985 – 1 AZR 262/84, AP GG Art. 9 Nr. 86; Küttner/Griese, Weisungsrecht Rz. 18; Müller/Preis, Rz. 460; ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 175. 208 BAG v. 31.1.1995 – 1 AZR 142/94, DB 1995, 1817; Berger-Delhey, ZTR 1990, 411 (416); Müller/ Preis, Rz. 460. 209 Berger-Delhey, ZTR 1990, 411 (416); ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 175. 210 LAG Baden-Württemberg v. 31.3.2006 – 2 Sa 117/05, AuA 2006, 362; Hromadka, DB 1995, 2601 (2602). 211 LAG Baden-Württemberg v. 31.3.2006 – 2 Sa 117/05, AuA 2006, 362; HWK/Thüsing, § 611 BGB Rz. 297; Hromadka, DB 1995, 2601 (2603). 212 BAG v. 29.8.1991 – 6 AZR 593/88, NZA 1992, 67. 213 BAG v. 19.4.2007 – 2 AZR 78/06, AP BGB § 611 Direktionsrecht Nr. 77.

302

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Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 6.71 § 6

nehmern festgestellt werden soll. Ein Lehrer an einer allgemeinbildenden Schule ist zur Unterrichtsvorbereitung, Korrektur von Klassenarbeiten, Beteiligung an der Abnahme von mündlichen Prüfungen, Teilnahme an Lehrerkonferenzen, uU auch zur Abhaltung von Schulsprechstunden und Durchführung von Pausenaufsichten sowie Schulreisen verpflichtet214. 4. Änderung der Arbeitszeit (Tätigkeitsumfang) a) Arbeitsumfang Der Umfang der geschuldeten Arbeitsleistung, also ihr regelmäßiger zeitlicher Rahmen, ist 6.70 grundsätzlich nur gesetzlich, kollektiv- oder einzelvertraglich gestaltbar. Innerhalb des festgelegten Umfangs konkretisiert das Direktionsrecht den Arbeitsumfang215. Sind zB bei angestellten Lehrern im öffentlichen Dienst die Pflichtstundenzahlen oder Regelunterrichtsstunden im Arbeitsvertrag ausgewiesen, bedeutet dies regelmäßig nicht, dass eine Erhöhung der Pflichtstundenzahl durch den Dienstherrn nicht möglich ist. Denn tarifvertraglich (§ 44 Nr. 2 TV-L) ist aufgrund der Verweisung auf die jeweiligen landesbeamtenrechtlichen Regelungen vorgesehen, dass eine Veränderung im Wege des Direktionsrechts möglich ist, solange unter Abwägung aller Umstände die zeitliche Inanspruchnahme der Lehrkräfte unter Berücksichtigung der Pflichtstunden sowie außerhalb des Unterrichts zu erbringender Leistungen nach dem Maßstab der jährlichen Gesamtarbeitszeit die für Beamte allgemein gesetzlich festgelegte regelmäßige Arbeitszeit nicht übersteigt216. Die in den (Muster-) Arbeitsverträgen des öffentlichen Dienstes vorgesehene Ausweisung der Pflichtstundenzahl hat – sofern keine einzelvertraglichen Besonderheiten vorliegen – nur deklaratorischen Charakter217. aa) Anordnung von Überstunden und Mehrarbeit Die Anordnung von Überstunden (§ 7 Abs. 7 TVöD bzw. 7 TV-L) unterliegt ebenfalls dem Direktionsrecht, wobei das Mitbestimmungsrecht des Personalrats nach § 75 Abs. 3 Nr. 1 BPersVG bzw. den entsprechenden landesgesetzlichen Bestimmungen zu beachten ist218. Denn Arbeitnehmer sind gemäß § 6 Abs. 5 TVöD bzw. TV-L zur Leistung von Überstunden verpflichtet, soweit begründete dienstliche bzw. betriebliche Belange vorliegen. Außerdem muss die Anordnung billigem Ermessen entsprechen. Dh., der Arbeitgeber muss die beruflichen Fähigkeiten, die Leistungsfähigkeit und die persönliche Situation des Arbeitnehmers berücksichtigen und diese gegen die dienstlichen bzw. betrieblichen Belange abwägen219. Die Anordnung von Überstunden ist nur dann ermessensfehlerfrei, wenn unter Anwendung des Rechtsgedankens des § 12 Abs. 2 TzBfG eine angemessene Ankündigungsfrist eingehalten wurde. Eine Überstundenanordnung für den laufenden Arbeitstag entspricht danach nur bei deutlich überwiegenden betrieblichen oder dienstlichen Interessen billigem Ermessen220. Au214 BAG v. 9.7.2003 – 5 AZR 595/02, ArbRB 2003, 363 = AP BGB § 611 Lehrer, Dozenten Nr. 158. 215 BAG v. 23.6.2009 – 2 AZR 606/08, ArbRB 2009, 287 = AP GewO § 106 Nr. 3; HWK/Thüsing, § 611 BGB Rz. 293; Hromadka, DB 1995, 2601 (2604). 216 BAG v. 15.12.2005 – 6 AZR 227/05, ZTR 2006, 583; v. 12.9.2006 – 9 AZR 675/05, BAGE 119, 248 = NZA 2007, 218; vgl. auch LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 22.8.2006 – 3 Sa 513/05, juris. 217 BAG v. 12.9.2006 – 9 AZR 675/05, BAGE 119, 248 = NZA 2007, 218. 218 Vgl. BVerwG v. 30.6.2005 – 6 P 9.04, BVerwGE 124, 34 = NZA-RR 2005, 665. 219 Conze/Karb, Rz. 3273; HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 79. 220 ArbG Frankfurt am Main v. 26.11.1988 – 2 Ca 4267/98, NZA-RR 1999, 357 (zu § 4 Abs. 2 BeschFG); ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 663.

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303

6.71

§ 6 Rz. 6.71

Direktionsrecht

ßerdem ist es erforderlich, dass die Überstunden möglichst gleich auf alle Arbeitnehmer verteilt werden.

6.72 Gemäß § 47 TVöD-BT-V-Bund, § 8 Abs. 2 Satz 1 TV-L (vgl. auch § 19 Abs. 4 MTArb/ MTArb-O) sind Überstunden vorrangig durch Freizeit auszugleichen. Der Arbeitgeber kann den Freizeitausgleich im Rahmen seines Direktionsrechtes anordnen221.

6.73 Im Geltungsbereich des BAT/BAT-O war umstritten, ob Teilzeitbeschäftigte aufgrund des Direktionsrechts nach § 106 GewO zur Mehrarbeit verpflichtet sind. Mehrarbeit im tariflichen Sinne sind die Arbeitsstunden, die Teilzeitbeschäftigte über die vereinbarte regelmäßige, also die verringerte Arbeitszeit hinaus bis zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten leisten (vgl. § 7 Abs. 6 TVöD bzw. TV-L). Nach hM ergibt sich aus §§ 15 ff. BAT eine Verpflichtung zur Leistung von Mehrarbeit, es sei denn, dies wurde im Arbeitsvertrag ausdrücklich ausgeschlossen222. Die Rechtslage hat sich mit der Geltung des TVöD bzw. TV-L geändert. Das Direktionsrecht des Arbeitgebers ist durch § 6 Abs. 5 TVöD bzw. TV-L eingeschränkt223. Teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer sind nun grundsätzlich nicht mehr zur Mehrarbeit verpflichtet, es sei denn, es besteht eine schriftliche arbeitsvertragliche Regelung oder der Beschäftigte hat mündlich oder schriftlich zugestimmt. Das bedeutet, dass im Geltungsbereich des TVöD bzw. TV-L nunmehr keine einseitige Anordnung von Mehrarbeit möglich ist, solange nicht eine ausdrückliche arbeitsvertragliche Regelung zur Mehrarbeitsverpflichtung vorliegt224. Aus Arbeitgebersicht sollten daher neue Arbeitsverträge für Teilzeitbeschäftigte entsprechende Klauseln enthalten. Die Einteilung eines schwerbehinderten Menschen zu Mehrarbeit überschreitet regelmäßig das billige Ermessen, da schwerbehinderte Menschen nach § 124 SGB IX nicht zur Mehrarbeit verpflichtet sind225. bb) Verkürzung der Arbeitszeit und Anordnung von Kurzarbeit

6.74 Da durch die einseitige Anordnung von Kurzarbeit die Vergütung gekürzt wird, ist dies vom Direktionsrecht nicht gedeckt226. Erforderlich ist vielmehr eine individuelle oder kollektive Vereinbarung oder eine Änderungskündigung227. Aus demselben Grunde kann auch tarifvertraglich das Direktionsrecht nicht dergestalt erweitert werden, dass der Arbeitgeber einseitig ohne gerichtlich kontrollierbare Voraussetzungen Kurzarbeit anordnen kann228.

6.75 Ebenfalls unzulässig ist eine arbeitsvertragliche Vereinbarung, die den Arbeitgeber bei arbeitszeitabhängiger Vergütung berechtigen soll, die zunächst festgelegte Arbeitszeit später einseitig nach Bedarf zu reduzieren229. Dies stellt eine objektive Umgehung von zwingenden Vorschriften des Kündigungs- und Kündigungsschutzrechts (§ 2 KSchG iVm. § 1 Abs. 2 und Abs. 3 221 Vgl. BAG v. 20.7.1989 – 6 AZR 774/87, ZTR 1990, 155. 222 Bredemeier/Neffke/Cerff/Weizenegger, BAT/BAT-O, § 17 Rz. 24, 25; Kuner, Der neue TVöD, Rz. 219. 223 Conze/Karb, Rz. 2964; Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 613; Müller/Preis, Rz. 484. 224 Conze/Karb, Rz. 2964; Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 613; Müller/Preis, Rz. 484. 225 LAG Hamm v. 30.3.2006 – 8 Sa 1992/04, ArbuR 2006, 293 (Ls.); vgl. auch BAG v. 21.11.2006 – 9 AZR 176/06, NZA 2007, 446. 226 BAG v. 10.10.2006 – 1 AZR 811/05, ArbRB 2007, 136 = NZA 2007, 637; Berger-Delhey, ZTR 1990, 411 (416 f.); Küttner/Kreitner, Kurzarbeit Rz. 2. 227 Küttner/Kreitner, Kurzarbeit Rz. 2 ff. 228 BAG v. 27.1.1994 – 6 AZR 541/93, BAGE 75, 327 = NZA 1995, 134; v. 18.10.1994 – 1 AZR 503/93, NZA 1995, 1964. 229 BAG v. 31.1.1985 – 2 AZR 393/83, EzBAT Nr. 3 zu § 8 BAT Direktionsrecht.

304

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Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 6.79 § 6

KSchG, § 622 Abs. 1 und Abs. 5 BGB) dar und ist daher nach § 134 BGB nichtig230. Zulässig sind dagegen tarifvertragliche Erweiterungen, die bei Bestehen einer von den Tarifvertragsparteien festgelegten Normalarbeitszeit dem Arbeitgeber das Recht geben, einseitig innerhalb eines tariflich festgelegten Rahmens die Arbeitszeit über die tarifliche Normalarbeitszeit hinaus zu erhöhen und wieder entsprechend zu ermäßigen231. b) Arbeitszeitverteilung Wenn im Arbeitsvertrag nur die Dauer der Arbeitszeit rahmenmäßig bestimmt ist, kann der Arbeitgeber die Lage der täglichen Arbeitszeit unter Beachtung der Mitwirkungsrechte des Personalrats einseitig festsetzen und verändern232. Dazu gehört nicht nur die Bestimmung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit sowie die Einteilung der Pausen, sondern auch die Einführung von Schichtarbeit sowie die Aufstellung von Dienstplänen oder die Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf die Arbeitstage. Gerade bei der Verteilung der Arbeitszeit sind jedoch familiäre Belange, insbesondere die Personensorgepflichten des Arbeitnehmers (§§ 1626, 1627 BGB) im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen233. Im öffentlichen Dienst ergibt sich dies zusätzlich aus den verschiedenen Gleichstellungs- und Frauenfördergesetzen des Bundes und der Länder (zB § 16 BGleiG, § 13 LGG NRW).

6.76

Bei angestellten Lehrkräften stellen auch die Pflichtunterrichtsstunden eine Konkretisierung der Arbeitszeit dar. Werden also die Pflichtunterrichtsstunden erhöht, wird somit in der Regel nicht zugleich die Arbeitszeit erhöht, sondern nur das Verhältnis von den messbaren Pflichtunterrichtsstunden zu der nicht konkret messbaren außerunterrichtlichen Tätigkeit festgelegt und konkretisiert234. Für eine Erhöhung des Regelstundenmaßes muss somit keine Änderungskündigung ausgesprochen werden, da sie unter das Direktionsrecht fällt.

6.77

Eine besondere Einschränkung des Direktionsrechts bezüglich der Arbeitszeitverteilung besteht für Teilzeitbeschäftigte. Nach § 8 Abs. 5 Satz 4 TzBfG kann der Arbeitgeber die mit dem Teilzeitbeschäftigten kraft Fiktion nach § 8 Abs. 5 Satz 3 TzBfG oder einvernehmlich nach § 8 Abs. 3 Satz 2 festgelegte Verteilung der Arbeitszeit einseitig unter Wahrung einer einmonatigen Ankündigungsfrist formfrei ändern, wenn das betriebliche Interesse daran das Interesse des Arbeitnehmers an der Beibehaltung der bisherigen Verteilung der Arbeitszeiten erheblich überwiegt. Es handelt sich um eine gesetzliche Konkretisierung des Direktionsrechts235.

6.78

Ferner hat der Arbeitgeber nach § 11 Abs. 1 Satz 4 TVöD bzw. TV-L bei der Gestaltung der Arbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten die besondere persönliche Situation des Arbeitnehmers

6.79

230 BAG v. 12.12.1984 – 7 AZR 509/83, BAGE 47, 314 = NZA 1985, 321; v. 31.1.1985 – 2 AZR 393/83, EzBAT Nr. 3 zu § 8 BAT Direktionsrecht. 231 BAG v. 26.6.1985 – 4 AZR 585/83, BAGE 49, 125 = DB 1986, 132. 232 BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 567/03, ArbRB 2005, 70 = NZA 2005, 559; LAG Berlin v. 1.3.1999 – 9 Sa 133/98 und 135/98, BB 1999, 800; LAG Düsseldorf v. 23.10.1991 – 4 Sa 789/91, LAGE § 611 BGB Direktionsrecht Nr. 10; LAG Nürnberg v. 8.3.1999 – 6 Sa 259/97, NZA 2000, 263; HWK/ Thüsing, § 611 BGB Rz. 312; Hromadka, DB 1995, 2601 (2603). 233 Vgl. LAG Rheinland-Pfalz v. 19.1.2005 – 10 Sa 820/04, DB 2005, 1522; v. 14.12.2005 – 10 Sa 721/05, BeckRS 2006, 41253; HWK/Thüsing, § 611 BGB Rz. 312. 234 BAG v. 23.5.2001 – 5 AZR 545/99, NZA 2001, 1259; v. 14.10.2004 – 6 AZR 472/03, ZTR 2005, 330; LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 22.8.2006 – 3 Sa 513/05. 235 AA Kliemt, NZA 2001, 63 (66).

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305

§ 6 Rz. 6.79

Direktionsrecht

zu berücksichtigen236. Dies kann zur Folge haben, dass eine personelle Auswahlentscheidung gegen den Willen eines Arbeitnehmers, dessen Interessen weniger schutzwürdig sind, erforderlich ist. Für diese Entscheidung sind jedoch nicht dieselben Grundsätze wie zur sozialen Auswahl im Rahmen einer betriebsbedingten Kündigung anwendbar237. Selbst bei überwiegendem Interesse des betroffenen Arbeitnehmers gegenüber dem Interesse eines anderen Arbeitnehmers kann die Weisung an Erstgenannten erfolgen, wenn andere Aspekte – zB die Vermeidung einer absehbaren Beeinträchtigung des Betriebsfriedens – hierfür sprechen. Die Instanzrechtsprechung geht zT sogar so weit, dass sie den Arbeitgeber verpflichtet, bei der Bestimmung der Arbeitszeit im Rahmen seines Direktionsrechts keine betrieblich nicht zwingenden Anordnungen zu treffen, die der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zuwiderlaufen238. c) Bereitschaftsarbeit

6.80 Es existieren verschiedene Formen der Bereitschaftsarbeit. Der BAT/BAT-O differenzierte in § 15 BAT/BAT-O zwischen Arbeitsbereitschaft, Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft. Der TVöD bzw. der TV-L unterscheidet zwischen Bereitschaftszeit (§ 9 TVöD bzw. TV-L), Bereitschaftsdienst (§ 7 Abs. 3 TVöD bzw. TV-L) und Rufbereitschaft (§ 7 Abs. 4 TVöD bzw. TV-L). Die neue Bereitschaftszeit entspricht im Wesentlichen der Arbeitsbereitschaft nach BAT.

6.81 Arbeitsbereitschaft iSd. § 15 Abs. 2 BAT/BAT-O lag vor, wenn der Arbeitnehmer während seiner regelmäßigen Arbeitszeit die vertraglich geschuldete Arbeit erbrachte, sie jedoch nicht in vollem Umfang in Anspruch genommen wurde. Der Arbeitnehmer bestimmt seinen Einsatzzeitpunkt selbst, befindet sich aber am Arbeitsplatz239. Ein Beispiel ist das Wachpersonal, das sich im Kontrollraum aufhält. Nach der Rechtsprechung handelt es sich bei der Arbeitsbereitschaft um Zeiten „wacher Achtsamkeit im Zustand der Entspannung“240. Sie beansprucht den Arbeitnehmer erheblich weniger und ermöglicht einen Entspannungszustand241. Nach § 15 Abs. 2 BAT/BAT-O konnte die regelmäßige Arbeitszeit verlängert werden, wenn in die reguläre Arbeitszeit regelmäßig eine Arbeitsbereitschaft von gewisser Dauer fiel. Die Verlängerung der Arbeitszeit musste die Grenzen billigen Ermessens einhalten. Das bedeutete, dass Umfang, Dauer, Häufigkeit oder auch die soziale Situation des Arbeitnehmers berücksichtigt werden mussten.

6.82 Die Arbeitsbereitschaft gibt es im TVöD/TV-L nicht mehr. Nach § 9 Abs. 1 TVöD bzw. TV-L ist eine einseitige Anordnung der an ihre Stelle getretenen Bereitschaftszeit durch den öffentlichen Arbeitgeber nicht mehr möglich. Erforderlich ist vielmehr eine Dienstoder Betriebsvereinbarung (§ 9 Abs. 2 TVöD bzw. TV-L bzw. § 9 Abs. 3 TVöD-VKA). Aus-

236 237 238 239

BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 567/03, BAGE 112, 80 = ArbRB 2005, 70 = NZA 2005, 359. BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 567/03, BAGE 112, 80 = ArbRB 2005, 70 = NZA 2005, 359. Vgl. etwa ArbG Hamburg v. 4.12.1995 – 21 Ca 290/95, AuR 1998, 297 f. Vgl. nun auch die Definition in § 9 Abs. 1 Satz 1 TVöD bzw. TV-L: Bereitschaftszeiten sind die Zeiten, in denen sich die/der Beschäftigte am Arbeitsplatz oder einer anderen vom Arbeitgeber bestimmten Stelle zur Verfügung halten muss, um im Bedarfsfall die Arbeit selbständig, ggf. auch auf Anordnung, aufzunehmen und in denen die Zeiten ohne Arbeitsleistung überwiegen. 240 BAG v. 28.1.1981 – 4 AZR 892/78, DB 1981, 1195; v. 12.2.1986 – 7 AZR 358/84, BAGE 51, 131 = DB 1987, 995; v. 25.10.1989 – 2 AZR 633/88, NZA 1990, 561. 241 Conze/Karb, Rz. 404.

306

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Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 6.86 § 6

nahmen sind geregelt im Anhang zu § 9 TVöD für Hausmeister, den Rettungsdienst und Beschäftigte in Leitstellen. Bereitschaftsdienst liegt gemäß § 7 Abs. 3 TVöD bzw. TV-L vor, wenn der Arbeitnehmer 6.83 sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufhalten muss, um im Bedarfsfall die Arbeit unverzüglich in vollem Umfang aufzunehmen. Der Einsatzzeitpunkt wird im Gegensatz zur Arbeitsbereitschaft durch den Arbeitgeber bestimmt und kann sich auch direkt an die Regelarbeitszeit anschließen, wobei in diesem Fall eine Abgrenzung zur Anordnung von Überstunden erforderlich ist242. Der Arbeitnehmer kann im Falle von Bereitschaftsdienst die Zeit bis zur Anforderung durch den Arbeitgeber auch schlafend verbringen243. Gemäß § 6 Abs. 5 TVöD bzw. TV-L kann der Arbeitgeber den Bereitschaftsdienst einseitig anordnen, bei Teilzeitbeschäftigten jedoch nur mit deren Zustimmung. Die Ausübung dieses erweiterten Direktionsrechtes muss wiederum billigem Ermessen nach § 106 GewO entsprechen244. In § 15 Abs. 6a BAT/BAT-O war zusätzlich noch vorgesehen, dass der Arbeitgeber Bereitschaftsdienst nur anordnen durfte, wenn zu erwarten war, dass zwar Arbeit anfiel, aber erfahrungsgemäß die Zeit ohne Arbeitsleistung überwog245. Für den in der Praxis bedeutsamen Bereitschaftsdienst in Krankenhäusern gilt diese Einschränkung weiterhin (§ 45 Abs. 1 TVöD BT-K, §§ 41, 42 Nr. 4 TV-L).

6.84

Vom Bereitschaftsdienst ist die Rufbereitschaft zu unterscheiden: Rufbereitschaft leisten Beschäftigte, die sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufhalten, um auf Abruf die Arbeit aufzunehmen. Der Arbeitnehmer darf also seinen Aufenthaltsort bestimmen, muss aber immer erreichbar und einsetzbar sein. Will der Arbeitgeber die Erreichbar- und Einsetzbarkeit durch eine Entfernungs- und Zeitgrenze sicherstellen, liegt dagegen die Anordnung von Bereitschaftsdienst vor246. Nach § 15 Abs. 6b BAT/BAT-O durfte der Arbeitgeber Rufbereitschaft nur anordnen, wenn erfahrungsgemäß in Ausnahmefällen Arbeit anfiel. Diese Einschränkung ist im TVöD bzw. TV-L nicht mehr enthalten247. Nach § 6 Abs. 5 TVöD bzw. TV-L kann auch die Rufbereitschaft vom Arbeitgeber einseitig angeordnet werden, bei Teilzeitbeschäftigten jedoch ebenfalls nur mit deren Zustimmung. Auch die Anordnung der Rufbereitschaft muss immer billigem Ermessen entsprechen248.

6.85

Die Möglichkeit der Anordnung von Rufbereitschaft, Arbeitsbereitschaft oder Bereitschafts- 6.86 dienst bedeutet nicht zugleich eine Verpflichtung zur Anordnung, selbst wenn jahrelang von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde und der Arbeitnehmer durch die Rücknahme der Anordnung finanzielle Nachteile erleidet249.

242 243 244 245 246

LAG Schleswig-Holstein v. 25.7.2006 – 5 Sa 60/06, SchlHA 2007, 195. Laber/Legerlotz, ArbRB 2001, 84. Conze/Karb, Rz. 946; Kuner, Der neue TVöD, Rz. 222. Vgl. hierzu LAG Schleswig-Holstein v. 25.7.2006 – 5 Sa 60/06, SchlHA 2007, 195. BAG v. 19.12.1991 – 6 AZR 592/89, NZA 1992, 560; v. 31.1.2002 – 6 AZR 214/00, ZTR 2002, 432; Conze/Karb, Rz. 2641. 247 Für die Rufbereitschaft in Krankenhäusern gilt diese Einschränkung jedoch weiterhin, vgl. § 45 Abs. 8 Satz 1 TVöD BT-K, §§ 41, 42 Nr. 4 TV-L. 248 Kuner, Der neue TVöD, Rz. 220. 249 BAG v. 4.12.1986 – 6 AZR 226/84, BeckRS 1986, 30719498; v. 24.11.1993 – 5 AZR 206/93, ZTR 1994, 166; LAG Hamm v. 20.10.1998 – 7 Sa 1286/98, BeckRS 1998, 31015601.

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307

§ 6 Rz. 6.87

Direktionsrecht

5. Änderungen und Weisungen bezüglich Arbeitsbedingungen

6.87 Das Direktionsrecht ist grundsätzlich umfassend im Hinblick auf Fragen der betrieblichen Ordnung (vgl. § 106 Satz 2 GewO). Allerdings ist in diesen Fragen stets der Personal- bzw. Betriebsrat zu beteiligen, soweit es nicht mehr um konkrete arbeitsbezogene Einzelanweisungen, sondern um allgemeine Maßnahmen der dienstlichen oder betrieblichen Ordnung geht. Beispiele sind: Rauchverbote, Kleiderordnungen, Privatnutzung von Telefon und Internet, Ethikrichtlinien oder Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen. a) Kleidung

6.88 Grundsätzlich kann auch der öffentliche Arbeitgeber aus Gründen des Arbeitsschutzes, aus hygienischen Gründen oder aus Gründen des einheitlichen Auftritts im Wege des Direktionsrechts Kleiderordnungen erlassen oder Dienstkleidung250 vorschreiben. Macht der Arbeitgeber hiervon Gebrauch, sind jedoch ggf. Umkleideräume gemäß § 34 ArbStättVO einzurichten, andernfalls hat der Arbeitnehmer ein Leistungsverweigerungsrecht251. Der Arbeitgeber kann ferner grundsätzlich einzelne Arbeitnehmer anweisen, aus betrieblichen Gründen bestimmte Kleidungsstücke zu tragen oder nicht zu tragen. Dabei sind im Rahmen der Billigkeitsprüfung immer die Grundrechte des Arbeitnehmers sowie die Maßgaben des AGG zu berücksichtigen252. Besonders problematisch sind daher Kleiderordnungen oder Anweisungen, die religiöse Kleidung betreffen253. b) Frisur, Schmuck, Tätowierungen

6.89 Weisungen zum äußeren Erscheinungsbild eines Arbeitnehmers sind grundsätzlich unzulässig, da sie zumeist über das Arbeitsverhältnis hinaus Wirkung entfalten und damit in die Privatsphäre einwirken254. Eine Weisung kann jedoch ausnahmsweise dann rechtmäßig sein, wenn betriebliche Gründe vorliegen (insbesondere Arbeitssicherheit). Im Rahmen der Billigkeitsprüfung im Einzelfall sind jedoch stets die Grundrechte des Arbeitnehmers zu berücksichtigen255. c) Medien (Radio, Internetnutzung)

6.90 Der Arbeitgeber kann im Rahmen seines Direktionsrechtes auch Verhaltens- und Kontrollregelungen zur Benutzung von Medien zu privaten Zwecken während der Arbeitszeit aufstellen256. Dabei hat der Arbeitgeber auch die Möglichkeit, etwa die Internetnutzung durch sog. Keylogger zu überwachen. Dies gilt aber nur, sofern der Arbeitgeber einem Verdacht einer 250 ArbG Karlsruhe v. 10.10.2003 – 1 Ca 266/03, ArbuR 2004, 433 (Ls.); zur Dienstkleidung vgl. auch § 67 BAT/BAT-O, § 71 MTArb/MTArb-O. 251 ArbG Karlsruhe v. 10.10.2003 – 1 Ca 266/03, ArbuR 2004, 433 (Ls.). 252 HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 46; vgl. hierzu Thüsing, JZ 2006, 223. 253 Vgl. BAG v. 10.10.2002 – 2 AZR 472/01, BAGE 103, 111 = ArbRB 2003, 131 = NZA 2003, 483; Adam, RiA 2002, 212; Thüsing, JZ 2006, 223. 254 Vgl. für eine beamtenrechtliche Weisung bezüglich der Haarlänge bei uniformierten Polizeibeamten BVerwG v. 2.3.2006 – 2 C 3/05, ZTR 2006, 448. Vgl. zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis wegen Tätowierung mit verfassungsfeindlichem Inhalt BVerwG v. 17.11.2017 – 2 C 25.17, NJW 2018, 1185. 255 HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 46. 256 HWK/Lembke, § 106 GewO Rz. 46.

308

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Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 6.92 § 6

Straftat oder einer anderen schweren Pflichtverletzung nachgehen möchte. „Ins Blaue hinein“ ist eine solche Überwachung unzulässig257. Ein arbeitnehmerseitiger Verstoß gegen derartige Regeln kann auch dann sogar eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen, wenn der Arbeitnehmer im Übrigen ordnungsgemäß und beanstandungsfrei gearbeitet hat258. d) Verhaltensrichtlinien, Rauch- und Alkoholverbote und Ähnliches Verhaltensrichtlinien259 können im Wege des Direktionsrechts einseitig erlassen werden, jedoch nur, wenn sie die allgemein beschriebenen Haupt- und Nebenpflichten der Beschäftigten im Hinblick auf Inhalt, Art und Weise konkretisieren, diese Pflichten jedoch nicht erweitern260. Aus der Treuepflicht des Arbeitnehmers ergibt sich, dass etwa Verbote, Bestechungsgelder oder Geschenke anzunehmen, vom Direktionsrecht ebenso gedeckt sind wie Weisungen, die sich aus dem Straßenverkehrsrecht261, zB auf Einhaltung der Höchstgeschwindigkeit, oder dem Arbeitsschutzrecht ergeben, wie zB die Einführung eines Rauchverbots nach § 5 Abs. 1 ArbStättVO262. Die einseitige Anordnung eines Alkoholverbots dürfte dagegen unzulässig sein, es sei denn, dies ist aus Gründen der Arbeitssicherheit geboten263. Da das außerdienstliche Verhalten vom Direktionsrecht des Arbeitgebers grundsätzlich nicht erfasst ist, sind Richtlinien, die sich auf den privaten Bereich beziehen, unwirksam, es sei denn, sie haben unmittelbaren Bezug zum Arbeitsverhältnis264, was insbesondere bei Tendenzbetrieben der Fall sein kann.

6.91

e) Residenzpflicht Da sich die Weisungsbefugnis nicht auf außerdienstliches Verhalten erstreckt, kann der (öffentliche) Arbeitgeber seine Arbeitnehmer auch nicht anweisen, ihren Wohnsitz in der Nähe der Dienststelle zu nehmen265. Eine Residenzpflicht besteht somit nicht, kann aber arbeitsvertraglich verbunden mit einer widerruflich ausgestalteten Zuweisung einer Dienstwohnung vereinbart werden266.

257 258 259 260 261 262 263 264 265 266

BAG v. 27.7.2017 – 2 AZR 681/16, NZA 2017, 1327. BAG v. 27.4.2006 – 2 AZR 386/05, ArbRB 2006, 292 = NZA 2006, 969. Auch Verhaltenskodex oder Ethikrichtlinien genannt. Vgl. Kock, MDR 2005, 673. Vgl. LAG Köln v. 4.9.2006 – 14 Sa 635/06, LAGE § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 93. Vgl. Schmieding, ZTR 2004, 12 (15); Wellenhofer-Klein, RdA 2003, 155 (160). Vgl. LAG München v. 23.10.1975 – 5 Sa 590/75, BB 1976, 465; Hromadka, DB 1995, 2601 (2605). Hromadka, DB 1995, 2601 (2606). Hromadka, DB 1995, 2601 (2606). Vgl. hierzu LAG Köln v. 3.11.1999 – 13 (9) Sa 683/98, MDR 1999, 877.

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309

6.92

§7 Betriebliche Übung I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.1

1. Dogmatische Grundlagen und Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.1

2. Gegenstand, Voraussetzungen und Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.5

3. Änderungs- und Aufhebungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.12 II. Besonderheiten im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.14 1. Einschränkung durch Tarifverträge . 7.15 2. Einschränkung durch „Normvollzug“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Betriebliche Übung bei Vergütungsanpassung . . . . . . .

7.21 7.21 7.25

bb) Betriebliche Übung bei Bindung des Arbeitgebers an haushaltsrechtliche Vorgaben . 7.26 3. Betriebliche Übung durch Verordnungen, Richtlinien, Erlasse oder Selbstbindung der Verwaltung . . . . . . 7.29 4. Zusammenarbeit mit Beamten und Berücksichtigung des Beamtenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.32 5. Fallgruppen der betrieblichen Übung im öffentlichen Dienst . . . . . . a) Anspruch auf Freistellung . . . . . . . b) Arbeitszeitregelungen . . . . . . . . . . . c) Anspruch auf Genehmigung einer Nebentätigkeit . . . . . . . . . . . . d) Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . .

7.33 7.33 7.34 7.35 7.36

7.25

Schrifttum: Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971; Bredemeier/Neffke, BAT/ BAT-O, 2. Aufl. 2003; Maties, Die gegenläufige betriebliche Übung, 2003; Mengel, Betriebliche Übungen und ihre rechtsgestaltenden oder rechtsvollziehenden Funktionen, 1966; Pfohl, Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes, 2002; Seiter, Die Betriebsübung, 1967; Sponer/Steinherr, Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, Kommentar, Loseblatt; Thannheiser, Dienstvereinbarungen und Initiativrechte im öffentlichen Dienst, 2003. Aufsätze: Backhaus, Die arbeitnehmerbegünstigende betriebliche Übung in der Rechtsprechung des BAG, ArbuR 1983, 65; Bepler, Betriebliche Übungen, RdA 2004, 226; Bepler, Die „zweifelhafte Rechtsquelle“ der betrieblichen Übung – Beharrungen und Entwicklungen, RdA 2005, 323; Bolck, Überblick zur Betrieblichen Übung insbesondere im öffentlichen Dienst, ZTR 1990, 229; Hennige, Rechtliche Fortwirkungen schlüssigen Verhaltens der Arbeitsvertragsparteien, NZA 1999, 281; Henssler, Tarifbindung durch betriebliche Übung, Festschrift 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 683; Hromadka, Zur betrieblichen Übung, NZA 1984, 241; Kettler, Das BAG und die „umgekehrte“ betriebliche Übung, NZA 1998, 435; Kettler, Vertrauenstatbestände im Arbeitsrecht, NZA 2001, 928; Laber, Besonderheiten der betrieblichen Übung im öffentlichen Dienst, öAT 2016, 131; Pauly, Aktuelle Probleme der Betriebsübung, MDR 1997, 213; Picker, Die betriebliche Übung im öffentlichen Dienst, ZTR 2012, 195; Reinecke, Betriebliche Übung in der betrieblichen Altersversorgung, BB 2005, 1625; Reiter, Die Bindung des Arbeitgebers bei irrtümlichen oder bewussten überobligatorischen Leistungen – Betriebliche Übung und allgemeine Rechtsgeschäftslehre, ZfA 2006, 361; Ricken, Betriebliche Übung und Vertragskontrolle im Arbeitsrecht, DB 2006, 1372; Schwarz-Seeberger, Betriebliche Übung, ZMV 2003, 167; Singer, Neue Entwicklungen im Recht der Betriebsübung – Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Vertragstheorie und zur Privilegierung öffentlicher Arbeitgeber, ZfA 1993, 487; Tappe/Koplin, Die „negative betriebliche Übung“, DB 1998, 2114; Thannheiser, Betriebliche Übung – Gesamtzusage – Regelungsabsprache, AiB 2001, 529; Thüsing, Vom Ende einer betrieblichen Übung, NZA 2005, 718; Ulrici, Betriebliche Übung und AGB-Kontrolle, BB 2005, 1902; Waltermann, Die betriebliche Übung, RdA 2006, 257; Waltermann, Anspruch auf private Internetnutzung durch betriebliche Übung?, NZA 2007, 529.

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311

§ 7 Rz. 7.1

Betriebliche Übung

I. Grundlagen 1. Dogmatische Grundlagen und Definition

7.1 Die dogmatischen Grundlagen des Rechtsinstituts der betrieblichen Übung, seine Voraussetzungen, sein Umfang und die Rechtsfolgen sind seit jeher Gegenstand breiter Diskussionen im arbeitsrechtlichen Schrifttum1. Gleichwohl kann man aber inzwischen von einer gewohnheitsrechtlichen Anerkennung ausgehen2. Ausdrücklich als Anspruchsgrundlage gesetzlich genannt wird die betriebliche Übung in § 1b Abs. 1 Satz 4 BetrAVG.

7.2 Das BAG definiert die betriebliche Übung in ständiger Rechtsprechung als die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers, aus denen seine Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer zukünftig gewährt werden3. Das Verhalten des Arbeitgebers ist als Vertragsangebot zu werten, das von den Arbeitnehmern stillschweigend (§ 151 BGB) angenommen wird. Aus dem tatsächlichen Verhalten erwachsen somit vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordene Leistung oder Vergünstigung (Vertragstheorie)4. Es besteht daher kein Anspruch auf betriebliche Übung, sondern nur aus betrieblicher Übung5.

7.3 Unerheblich ist es für die Begründung eines solchen Anspruchs durch betriebliche Übung, ob der Arbeitgeber mit Verpflichtungswillen handelt oder ob ihm ein solcher Wille fehlt. Es kommt allein darauf an, ob der Arbeitnehmer aus dem Erklärungsverhalten des Arbeitgebers unter Berücksichtigung von Treu und Glauben (§ 242 BGB) sowie aller Begleitumstände gemäß §§ 133, 157 BGB auf eine rechtsgeschäftliche Bindung des Arbeitgebers schließen durfte6. Hierin liegt der Unterschied gegenüber der Gesamtzusage, bei der ein ausdrücklicher Erklärungstatbestand, zusätzliche Leistungen erbringen zu wollen, vorliegt7. Eine Gesamtzusage geht – selbst wenn sie zB wegen Formmangels unwirksam ist – einer betrieblichen Übung vor8.

7.4 Diese dogmatische Begründung der betrieblichen Übung wird von Teilen des Schrifttums abgelehnt. Sie sehen in der betrieblichen Übung vielmehr einen Fall der Vertrauenshaftung des Arbeitgebers (Vertrauenstheorie)9: Der Arbeitgeber müsse auch zukünftig für gewährte Leis1 Vgl. ausführlich Reiter, ZfA 2006, 361 (364 ff.); Seiter, Die Betriebsübung; Singer, ZfA 1993, 487 ff.; Schaub/Koch, ArbRHdb, § 110 Rz. 2 ff.; zur historischen Entwicklung Bepler, RdA 2005, 323 (324); Bepler, RdA 2004, 226 (227 f.); Waltermann, RdA 2006, 257 ff. 2 Vgl. ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 220. 3 Ständige Rspr. BAG v. 16.1.2002 – 5 AZR 715/00, ArbRB 2002, 163 = NZA 2002, 632; v. 28.6.2006 – 10 AZR 385/05, NZA 2006, 1174; v. 21.6.2011 – 9 AZR 203/10, ArbRB 2011, 363 = NZA 2011, 1338. 4 Vgl. nur BAG v. 4.9.1985 – 7 AZR 262/83, BAGE 49, 290 = NZA 1986, 521; v. 28.6.2006 – 10 AZR 385/05, NZA 2006, 1174; Küttner/Kreitner, Betriebliche Übung Rz. 3; Waltermann, RdA 2006, 257 (263 f.). 5 Schaub/Koch, ArbRHdb, § 110 Rz. 8. 6 BAG v. 4.9.1985 – 7 AZR 262/83, BAGE 49, 290 = NZA 1986, 521; v. 28.6.2006 – 10 AZR 385/05, NZA 2006, 1174; BAG v. 1.4.2009 – 10 AZR 393/08, ArbRB 2009, 231 = AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 84. 7 BAG v. 28.6.2006 – 10 AZR 385/05, NZA 2006, 1174; v. 15.7.2008 – 3 AZR 61/07, NZA-RR 2009, 324 und Picker, ZTR 2012, 195. 8 BAG v. 6.3.1984 – 3 AZR 1048/79, BeckRS 1984, 04438. 9 Hromadka, NZA 1984, 241 (243); Seiter, Betriebsübung, S. 92 ff.; Singer, ZfA 1993, 487 ff.; zu den verschiedenen Meinungen MünchArbR/Richardi, § 8 Rz. 5 ff.

312

Laber

Grundlagen

Rz. 7.6 § 7

tungen einstehen, wenn aus seinem wiederholten, die Arbeitnehmer begünstigenden Tun in der Vergangenheit ein schützenswertes Vertrauen bei den Arbeitnehmern erzeugt worden ist und das Abbrechen dieser Übung mit dem bisherigen Verhalten in einer gegen Treu und Glauben verstoßenden Weise in Widerspruch stehen würde. Diese Lehre gerät freilich in Schwierigkeiten, wenn sie die bindende Wirkung einer den Arbeitnehmer benachteiligenden betrieblichen Übung erklären soll. Auch insoweit nimmt sie an, von Verwirkungstatbeständen einmal abgesehen, auf die ausdrückliche oder konkludente Unterwerfung durch den Arbeitnehmer nicht verzichten zu können. Damit aber muss sie im Grundsatz zur Vertragstheorie zurückkehren, der deshalb der Vorzug einzuräumen ist. 2. Gegenstand, Voraussetzungen und Rechtsfolgen Eine betriebliche Übung ist für jeden Gegenstand möglich, der arbeitsvertraglich in einer 7.5 so allgemeinen Form geregelt werden kann10. Praxisrelevant sind zumeist zusätzliche Sozialleistungen wie Weihnachts- und Urlaubsgelder, Zulagen11, Zuschüsse, Betriebsrenten12, aber auch Arbeitsbefreiungen13 oder die kostenlose Beförderung zum Arbeitsplatz14. An die Begleitumstände, aus denen sich ein individueller Bindungswille des Arbeitgebers herleiten lässt, werden allerdings je nach Gegenstand unterschiedliche Maßstäbe gestellt. So ist der Bindungswille in der Wechselbeziehung von Leistung und Gegenleistung (etwa bei Zuwendungen aus bestimmten Anlässen) eher zu bejahen als bei Regelungsgegenständen, die ihrem Schwerpunkt nach der Betriebsorganisation zuzuordnen sind, da diese regelmäßig auf kollektiver Ebene oder durch Ausübung des Direktionsrechts geregelt werden15. Denkbar sind indes auch für den Arbeitnehmer ungünstige betriebliche Übungen, etwa solche, die die betriebliche Ordnung betreffen16. Ein Beispiel ist etwa die Abgeltung von Überstunden durch Freizeitausgleich.

7.6

Ein Anspruch aus betrieblicher Übung besteht folglich, wenn 1. eine zusätzliche Leistung 2. ohne vertragliche Grundlage 3. mehrmalig in gleicher Art und Weise gewährt wird und 4. ein schützenswertes Vertrauen des Arbeitnehmers bezüglich des Verpflichtungswillens des Arbeitgebers besteht.

10 BAG v. 21.1.1997 – 1 AZR 52/96, NZA 1997, 1009; Küttner/Kreitner, Betriebliche Übung, Rz. 8. 11 Vgl. BAG v. 26.5.1993 – 4 AZR 130/93, BAGE 73, 191 = NZA 1994, 88; v. 7.5.1986 – 4 AZR 556/83, BAGE 52, 33. 12 Vgl. BAG v. 16.7.1996 – 3 AZR 352/95, NZA 1997, 664; v. 23.8.2011 – 3 AZR 650/09, NZA 2012, 37. 13 Vgl. BAG v. 14.9.1994 – 5 AZR 679/93, NZA 1995, 419. 14 Vgl. BAG v. 18.9.2002 – 1 AZR 477/01, BAGE 102, 351 = NZA 2003, 337. 15 BAG v. 21.1.1997 – 1 AZR 52/96, NZA 1997, 1009; LAG Berlin v. 1.3.1999 – 9 Sa 133/98 u. 135/98, BB 1999, 800. 16 LAG Schleswig-Holstein v. 15.7.1999 – 4 Sa 530/98; Küttner/Kreitner, Betriebliche Übung Rz. 8; Schaub/Koch, ArbRHdb, § 110 Rz. 18.

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313

§ 7 Rz. 7.7

Betriebliche Übung

7.7 Entstehen kann ein Anspruch aus einer betrieblichen Übung nur, wenn es an einer anderen kollektiv- oder individualrechtlichen Grundlage für die Leistungsgewährung fehlt17. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass auch der reine Normvollzug eine vertragliche Grundlage für die Gewährung der Leistung darstellt und somit keinen Raum für einen Anspruch aus betrieblicher Übung lässt18. Von einem derartigen Normvollzug ist auszugehen, soweit der Arbeitgeber erkennbar zur Erfüllung einer tatsächlich bestehenden oder nur angenommenen Verbindlichkeit leistet19. Kein bloßer Tarifvollzug liegt jedoch vor, sobald Ermessenspielraum für den Arbeitgeber besteht, ob und wie er die zusätzliche Leistung gewährt20.

7.8 Es gibt keine allgemeine Regel, wie oft und wie lange der Arbeitgeber eine Leistung gewähren muss, damit eine betriebliche Übung entstehen kann21. Bei jährlich an die gesamte Belegschaft ohne Vorbehalt geleisteten Gratifikationen kann eine dreimalige vorbehaltlose Gewährung einen Anspruch aus betrieblicher Übung begründen22. Zu beachten ist, dass es nicht ausreicht, wenn die Leistungen zwar in mehreren Jahren nacheinander, jedoch in unterschiedlicher Höhe gewährt werden23. Bei anderen Leistungen ist die Art, Dauer, Intensität und das Verhältnis der Anwendungsfälle zur Belegschaftsstärke maßgeblich. Je weniger wichtig die zusätzlichen Leistungen sind, desto höher sind die Anforderungen für das Entstehen einer betrieblichen Übung24. Eine praktizierte betriebliche Übung kann grundsätzlich auch für neu eingestellte Arbeitnehmer gelten25, unabhängig davon, ob sie günstig oder ungünstig ist26. Gegenüber neu eintretenden Arbeitnehmern kann der Arbeitgeber allerdings durch eindeutige einseitige Erklärung eine begünstigende betriebliche Übung beseitigen27.

7.9 Ansprüche aus betrieblicher Übung entstehen nicht, wenn der Arbeitgeber trotz dreimaliger Zahlung oder Leistung einen ausdrücklichen Freiwilligkeitsvorbehalt erklärt28. Weist der Arbeitgeber bei Gewährung einer Leistung ausdrücklich darauf hin, dass auch im Falle einer wiederholten Zahlung kein Rechtsanspruch für die Zukunft begründet werden soll, hindert dies nach derzeitiger Rechtsprechung das Entstehen einer betrieblichen Übung auf eben die17 BAG v. 28.7.1988 – 6 AZR 349/87, BAGE 59, 177; v. 24.11.2004 – 10 AZR 202/04, ArbRB 2005, 100 = NZA 2005, 349; v. 28.6.2005 – 1 AZR 213/04, ArbRB 2006, 11 = NZA 2005, 1431; Schaub/ Ahrendt, ArbRHdb, § 110 Rz. 15. 18 BAG v. 22.1.2002 – 3 AZR 554/00, ArbRB 2002, 295 = NZA 2002, 1224; v. 28.6.2005 – 1 AZR 213/04, ArbRB 2006, 11 = NZA 2005, 1431. 19 BAG v. 1.11.2005 – 1 AZR 355/04, ArbRB 2006, 200 = ZTR 2006, 445. 20 Vgl. BAG v. 9.2.2005 – 5 AZR 164/04, ZTR 2005, 419. 21 BAG v. 28.7.2004 – 10 AZR 19/04, ArbRB 2004, 301 = NZA 2004, 1152; v. 28.6.2006 – 10 AZR 385/05, NZA 2006, 1174; v. 28.5.2008 – 10 AZR 274/07, NZA 2008, 941; Hromadka, NZA 1984, 2141 (244); Schaub/Koch, ArbRHdb, § 110 Rz. 11. 22 BAG v. 23.4.1963 – 3 AZR 173/62, BAGE 14, 174 = BB 1963, 938; v. 28.2.1996 – 10 AZR 516/95, NJW 1996, 3166; v. 1.4.2009 – 10 AZR 393/08, ArbRB 2009, 231; v. 24.3.2010 – 10 AZR 43/09, NZA 2010, 759. 23 BAG v. 28.2.1996 – 10 AZR 516/95, NJW 1996, 3166; v. 24.3.2010 – 10 AZR 43/09, NZA 2010, 759. 24 BAG v. 28.7.2004 – 10 AZR 19/04, ArbRB 2004, 301 = NZA 2004, 1152; v. 28.6.2006 – 10 AZR 385/05, NZA 2006, 1174; LAG Hamm v. 7.6.2006 – 18 Sa 1485/05, BeckRS 2006, 44016. 25 BAG v. 27.6.2001 – 10 AZR 488/00, ArbRB 2001, 37 = EzA § 242 BGB Betriebliche Übung Nr. 44; v. 14.11.2001 – 10 AZR 152/01, NZA 2002, 527 (Ls.); v. 28.6.2006 – 10 AZR 385/05, NZA 2006, 1174; Waltermann, RdA 2006, 257 (265). 26 Schaub/Ahrendt, ArbRHdb, § 110 Rz. 25. 27 BAG v. 14.11.2001 – 10 AZR 152/01, NJOZ 2002, 1076. 28 BAG v. 5.6.1996 – 10 AZR 883/95, NJW 1997, 213 = NZA 1996, 1028.

314

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Grundlagen

Rz. 7.12 § 7

se Zahlung29. Der Vorbehalt muss klar und unmissverständlich geäußert werden, so dass den Anforderungen des Bestimmtheits- und Transparenzgebots der §§ 305c, 307 Abs. 1 Satz 2 BGB Genüge getan ist30. Beispiele sind Formulierungen wie „freiwillig ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“ oder „kein Rechtsanspruch für die Zukunft“. Der Vorbehalt muss ferner bei jeder Leistungsgewährung wiederholt werden31. Andernfalls besteht die Gefahr, dass eine bindende betriebliche Übung in der Zeit nach dem letzten Vorbehalt entsteht32. Das BAG sieht allerdings in Freiwilligkeitsvorbehalten zur laufenden Vergütung generell eine den Arbeitnehmer unangemessen benachteiligende Lösung des Synallagmas zwischen Arbeit und Vergütung mit der Folge, dass ein Freiwilligkeitsvorbehalt bei der laufenden Vergütung eine Anspruchsentstehung im Wege der betrieblichen Übung nicht rechtswirksam verhindern kann33. Eine betriebliche Übung kann sich mangels Vertrauenstatbestand auch dann nicht entwickeln, wenn der Arbeitgeber ausdrücklich darauf hinweist, dass die konkrete Regelung nur für das laufende Jahr gilt34. Ferner darf ein Arbeitnehmer nicht auf einen Verpflichtungswillen schließen, wenn der Arbeitgeber sich bei der Gewährung der Leistung erkennbar irrtümlich auf eine vertragliche Grundlage stützt (zB einen Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung falsch anwendet)35. Soweit der Arbeitnehmer allerdings den Irrtum des Arbeitgebers nicht erkennt, kann ihm aus der rechtsgrundlosen Gewährung der Leistung im Wege der betrieblichen Übung ein Anspruch entstehen36.

7.10

Die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen eines Anspruchs aus betrieblicher Übung liegt beim Arbeitnehmer37. Dh., dass der Arbeitnehmer zumindest vergleichbare Fälle benennen muss, in denen der Arbeitgeber die Leistungen gewährt hat. Das BAG hat die Benennung von sechs vergleichbaren Fällen für ausreichend erachtet38. Nun obliegt es dem Arbeitgeber, seine tatsächliche Praxis offenzulegen und ggf. den Anschein einer betrieblichen Übung zu erschüttern39.

7.11

3. Änderungs- und Aufhebungsmöglichkeiten Da Ansprüche aus einer betrieblichen Übung vertragliche Ansprüche sind, können sie jedenfalls einvernehmlich durch Änderungsvertrag oder durch Änderungskündigung beseitigt

29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ArbRB 2012, 5 = NZA 2012, 81. Küttner/Kania, Änderungsvorbehalte, Rz. 11; Schaub/Ahrendt, ArbRHdb, § 110 Rz. 18. Küttner/Kania, Änderungsvorbehalte, Rz. 11. MünchArbR/Richardi, § 8 Rz. 24. BAG v. 25.4.2007 – 5 AZR 627/06, ArbRB 2007, 258 = NZA 2007, 853; v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ArbRB 2012, 5 = NZA 2012, 81. BAG v. 6.9.1994 – 9 AZR 672/92, NZA 1995, 418; LAG Köln v. 4.11.1992 – 7 Sa 801/92, DB 1993, 331. BAG v. 3.6.1984 – 3 AZR 340/80, NZA 1984, 256; v. 7.5.1986 – 4 AZR 556/83, BAGE 52, 33; v. 25.7.2001 – 10 AZR 785/00, EzA § 611 BGB Schichtdienst Nr. 2; v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, BAGE 103, 141 = ArbRB 2003, 104 = NZA 2003, 390; Waltermann, RdA 2006, 257 (266). BAG v. 26.5.1993 – 4 AZR 130/93, NZA 1994, 88. BAG v. 16.3.1993 – 3 AZR 350/92; LAG Schleswig-Holstein v. 30.3.2000 – 4 Sa 450/99, DB 2000, 1769; Schaub/Koch, § 110 Rz. 22. BAG v. 16.3.1993 – 3 AZR 350/92, BeckRS 2009, 55072. BAG v. 16.7.1996 – 3 AZR 352/95, NZA 1997, 664.

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7.12

§ 7 Rz. 7.12

Betriebliche Übung

werden40. Das BAG hat bis vor wenigen Jahren überdies auch eine Aufhebung durch „negative betriebliche Übung“ oder „gegenläufige betriebliche Übung“ für möglich erachtet41, wenn sich die Veränderung unmittelbar auswirkt und der Arbeitnehmer in Kenntnis dieser Auswirkungen weiterarbeitet, obwohl nach der Verkehrssitte unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ein ausdrücklicher Widerspruch zu erwarten gewesen wäre42. Dies sollte etwa der Fall sein, wenn sich durch die Nichtgewährung der Leistung unmittelbar die Vergütung des Arbeitnehmers verringert. Mit Urteil vom 18.3.2009 hat das BAG allerdings seine bisherige Rechtsprechung ausdrücklich aufgegeben und unter Berufung auf § 308 Nr. 5 BGB festgehalten, dass eine dreimalige widerspruchslose Annahme einer vom Arbeitgeber unter dem Vorbehalt der Freiwilligkeit gezahlten Gratifikation nicht mehr den Verlust eines vertraglichen Anspruchs auf die Gratifikation bewirken kann43. Ferner kann eine betriebliche Übung durch eine nachfolgende Dienst- oder Betriebsvereinbarung abgelöst werden, jedoch nur wenn diese für den Arbeitnehmer günstiger ist44. Anders als die endgültige Ablösung dauert die verdrängende Wirkung hier aber nur so lange, wie die Dienst- oder Betriebsvereinbarung besteht. Danach leben die individualrechtlichen Ansprüche aus der betrieblichen Übung wieder auf45. Eine Ablösung durch verschlechternde Dienstoder Betriebsvereinbarung ist dagegen wegen des sog. Günstigkeitsprinzips nicht zulässig46.

7.13 Falls der Arbeitgeber freiwillige Leistungen unter dem Vorbehalt des Widerrufs erbracht hat, kann er die durch betriebliche Übung entstandene Verpflichtung für die Zukunft auch einseitig widerrufen. Das Entstehen einer Rechtsbindung wird hierdurch freilich nicht ausgeschlossen. Der Widerruf unterliegt als einseitiges Recht jedoch der gerichtlichen Billigkeitskontrolle nach § 315 BGB47. Ferner muss der Arbeitgeber im Hinblick auf § 308 Nr. 4 BGB den Widerrufsvorbehalt dahingehend präzisieren, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang er sein Widerrufsrecht ausüben will48. Unwirksam ist etwa eine Klausel, wonach der Arbeitgeber übertarifliche Leistungen jederzeit unbeschränkt widerrufen kann. Unwirksam ist ein Widerrufsvorbehalt auch dann, wenn der im Gegenseitigkeitsverhältnis stehende widerrufliche Teil mehr als 25 % des Gesamtverdienstes beträgt oder die tarifliche Vergütung unter40 BAG v. 14.8.1996 – 10 AZR 69/96, BB 1996, 2445; LAG Hamm v. 13.9.2004 – 8 Sa 721/04, ArbRB 2005, 167 = NZA-RR 2005, 237; Schaub/Koch, ArbRHdb, § 110 Rz. 26; Bepler, RdA 2005, 323 (325); Waltermann, RdA 2006, 257 (267); für die Möglichkeit einer Anfechtung bei irrtümlicher Leistungsgewährung Houben, BB 2006, 2301 ff.; Reiter, ZfA 2006, 361 (378 ff.). 41 BAG v. 26.3.1997 – 10 AZR 612/96, NJW 1998, 475 = NZA 1997, 1007; v. 4.5.1999 – 10 AZR 290/98, BAGE 91, 283 = NZA 1999, 1162; abl.: Thüsing, NZA 2005, 718 (719); Waltermann, RdA 2006, 257 (268 f.). 42 BAG v. 24.11.2004 – 10 AZR 202/04, ArbRB 2005, 100 = NZA 2005, 349; LAG Köln v. 29.5.2006 – 14 (12) Sa 56/06, NZA-RR 2006, 633; ArbG Ludwigshafen v. 12.7.2006 – 8 Ca 1303/06, NZARR 2007, 13. 43 BAG v. 18.3.2009 – 10 AZR 281/08, ArbRB 2009, 191 = DB 2009, 1186; bestätigt in BAG v. 25.11.2009 – 10 AZR 779/08, ArbRB 2010, 74 = NZA 2010, 283; ebenso v. 16.2.2010 – 3 AZR 118/08, NZA 2011, 104. 44 BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, BAGE 53, 42 = NZA 1987, 168; v. 16.11.2011 – 10 AZR 60/11, NZA 2012, 349; Schaub/Ahrendt, ArbRHdb, § 110 Rz. 33; kritisch Bepler, RdA 2005, 323 (328); Waltermann, RdA 2006, 257 (267 f.). 45 BAG v. 28.3.2000 – 1 AZR 366/99, NZA 2001, 49; aA Merten/Schwartz, DB 2001, 646 (647). 46 BAG v. 19.2.2008 – 3 AZR 61/06, NZA-RR 2008, 597; Küttner/Kreitner, Betriebliche Übung, Rz. 11; Schaub/Koch, § 110 Rz. 30. 47 BAG v. 12.1.1994 – 5 AZR 41/93, NZA 1994, 694; Freitag, NZA 2002, 294 (295). 48 Vgl. BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465; BAG v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, ArbRB 2007, 35 = NZA 2007, 87 = NJW 2007, 536; Waltermann, RdA 2006, 257 (268).

316

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Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 7.15 § 7

schritten wird. Sollen darüber hinaus Zahlungen des Arbeitgebers für Aufwendungen, also nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis stehende Leistungen, widerrufen werden können, erhöht sich die Grenze auf bis zu 30 % des Gesamtverdienstes49.

II. Besonderheiten im öffentlichen Dienst Die skizzierten Grundsätze zur betrieblichen Übung gelten nach der ständigen Rechtsprechung des BAG für Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst nur sehr eingeschränkt50. Es kann sogar der Grundsatz aufgestellt werden, dass im öffentlichen Dienst Ansprüche aus betrieblicher Übung nicht entstehen können, da es zumeist an einem schützenswerten Vertrauen des Arbeitnehmers auf den Verpflichtungswillen des öffentlichen Arbeitgebers fehlt. Dies beruht zum einen auf der tarifvertraglichen Schriftformklausel für Nebenabreden (s. Rz. 7.15 ff.) und zum anderen auf haushaltsrechtlichen Gründen, dem sog. Grundsatz des Normvollzugs (s. Rz. 7.21 ff.). Beide Hürden dürften nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen zu überwinden sein51.

7.14

1. Einschränkung durch Tarifverträge In den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes ist zwingend die Schriftform für Nebenabreden vorgeschrieben (zB § 2 Abs. 3 TVöD bzw. TV-L). Das konstitutive Schriftformerfordernis schließt das Entstehen von – vertraglichen – Ansprüchen aus betrieblicher Übung somit grundsätzlich aus52. Denn diese Schriftformklauseln haben Rechtsnormcharakter. Ihre Nichtbeachtung führt gemäß § 126 BGB zur Nichtigkeit des betreffenden Rechtsgeschäfts gemäß § 125 Satz 1 BGB53. Eine betriebliche Übung kann insoweit nicht entstehen. Soweit teilweise davon ausgegangen wird, dass ein solches Schriftformgebot dann durch betriebliche Übung abbedungen werden kann, wenn der Tarifvertrag nicht normativ, sondern nur kraft vertraglicher Inbezugnahme gilt54, vermag dies nicht zu überzeugen. Die Tarifvertragsbestimmungen gelten nämlich im öffentlichen Dienst in den meisten Fällen nur schuldrechtlich durch bloße vertragliche Bezugnahme. Könnte das Schriftformerfordernis nur bei normativer Wirkung das Entstehen einer betrieblichen Übung verhindern, würde der Normzweck des tarifvertraglichen Schriftformgebots daher vereitelt. Dies würde erkennbar auch dem Sinn der Bezugnahme zuwiderlaufen, eine unterschiedliche Rechtsstellung der tarifgebundenen und der nicht gebundenen Arbeitnehmer zu verhindern55. Dieser Zweck ist im Rahmen einer normativen Auslegung der vertraglichen Bezugnahmeklausel zu berücksichtigen. Deshalb wird das Entstehen einer betrieblichen Übung durch ein tarifvertragliches Schriftformgebot auch dann verhindert, wenn das Tarifwerk insgesamt in Bezug genommen wird56. Das Schriftformerfordernis schließt jedoch nur betriebliche Übungen aus, die als Nebenabreden iSd. tarifvertragli49 50 51 52 53 54 55 56

BAG v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, ArbRB 2007, 35 = NZA 2007, 87 = NJW 2007, 536. Vgl. ausführlich dazu Picker, ZTR 2012, 195 (202 ff.). Vgl. BAG v. 9.7.1985 – 1 AZR 631/80, DB 1986, 230. BAG v. 13.11.1986 – 6 AZR 567/83, AP Nr. 27 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; BAG v. 26.1.1989 – 6 AZR 566/86, ZTR 1989, 318; v. 18.9.2002 – 1 AZR 477/01, BAGE 102, 351 = NZA 2003, 337; Picker, ZTR 2012, 195 (203); Müller/Preis, Rz. 22. BAG v. 18.5.1977 – 4 AZR 47/76, BAGE 29, 182 = DB 1977, 2145; v. 18.9.2002 – 1 AZR 477/01, BAGE 102, 351 = NZA 2003, 337. ErfK/Preis, § 127 BGB Rz. 42. BAG v. 27.3.1987 – 7 AZR 527/85, NZA 1987, 778. BAG v. 27.3.1987 – 7 AZR 527/85, NZA 1987, 778; MünchArbR/Richardi, § 8 Rz. 28.

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317

7.15

§ 7 Rz. 7.15

Betriebliche Übung

chen Normen anzusehen sind. Für andere Abreden gilt das nur deklaratorisch wirkende tarifvertragliche Schriftformerfordernis der § 2 Abs. 1 TVöD bzw. TV-L. Letzteres kann das Entstehen einer betrieblichen Übung nicht verhindern57.

7.16 Was unter einer Nebenabrede zu verstehen ist, wird von den Senaten des BAG unterschiedlich definiert. Nach dem ersten, vierten und neunten Senat sind Nebenabreden solche Vereinbarungen, die nicht unmittelbar die gegenseitigen Hauptrechte und -pflichten aus dem Arbeitsvertrag betreffen58. Sie regeln Gegenstände, die für ein Arbeitsverhältnis weder wesensnotwendig noch von besonderer Bedeutung sind, sondern sekundären, außergewöhnlichen Charakter haben59. Danach sind insbesondere Vereinbarungen über das Arbeitsentgelt keine Nebenabreden; sie können also auch mündlich oder konkludent abgeschlossen werden60. Beispiele für Nebenabreden sind dagegen Vereinbarungen über Erschwerniszulagen61, Fahrtkostenersatz, Trennungsentschädigungen62, Verpflegungs- oder Essenszuschüsse, Arbeitsfreistellungen63, kostenlose Beförderung zum Arbeitsplatz64 oder kostenlose Parkplatznutzung65.

7.17 Nach Auffassung des dritten Senats liegt dagegen dann eine Nebenabrede vor, wenn es sich um eine außertarifliche Leistung handelt66. Denn der Zweck der tariflichen Schriftformklauseln sei die Sicherung der Einheitlichkeit der Arbeitsbedingungen des öffentlichen Dienstes. Es solle verhindert werden, dass irreguläre, vom Normensystem abweichende Absprachen einer dienstaufsichtlichen Überprüfung verborgen bleiben67. Diese Definition widerspricht freilich dem Wortlaut der tariflichen Schriftformklausel. „Nebenabrede“ bedeutet nach dem allgemeinen und juristischen Sprachgebrauch, wie etwa auch an dem Begriff der „Nebenforderung“ erkennbar ist, nicht Über- oder Außertariflichkeit, sondern Unwesentlichkeit im Vergleich zum eigentlichen Vertrag, in dem die für die Parteien wesentlichen, gegenseitigen Pflichten festgelegt sind. Von daher ist die Definition des ersten, vierten und neunten Senats des BAG vorzugswürdig.

7.18 Sind die tarifvertraglichen Schriftformklauseln ausnahmsweise nicht anwendbar, war bis vor kurzem im Falle einer in einem Arbeitsvertrag enthaltenen Schriftformklausel die Rechtsprechung des BAG zu beachten, wonach die Entstehung einer betrieblichen Übung grundsätzlich nur durch eine „doppelte Schriftformklausel“ verhindert werden kann68. Bei einer doppel57 Picker, ZTR 2012, 195 (204); Schaub/Koch, § 110 Rz. 16. 58 BAG v. 7.5.1986 – 4 AZR 556/83, BAGE 52, 33; v. 28.1.1987 – 4 AZR 147/86, BAGE 55, 18; v. 18.9.2002 – 1 AZR 477/01, BAGE 102, 351 = NZA 2003, 337; v. 4.6.2008 – 4 AZR 421/07, NZA 2008, 1360; v. 15.3.2011 – 9 AZR 799/09, ArbRB 2011, 230 = ZTR 2011, 503; ebenso LAG Köln v. 8.8.2003 – 11 Sa 238/03, ZTR 2004, 314 (Ls.); oder Bredemeier/Neffke/Cerff/Weizenegger, BAT/ BAT-O, § 4 Rz. 25. 59 BAG v. 7.5.1986 – 4 AZR 556/83, BAGE 52, 33. 60 BAG v. 28.1.1997 – 4 AZR 147/86, BAGE 55, 18; v. 4.6.2008 – 4 AZR 421/07, NZA 2008, 1360. 61 BAG v. 7.5.1986 – 4 AZR 556/83, BAGE 52, 33. 62 BAG v. 28.1.1981 – 4 AZR 869/78, BAGE 35, 7. 63 LAG Köln v. 8.3.2003 – 11 Sa 238/03, ZTR 2004, 314. 64 BAG v. 18.9.2002 – 1 AZR 477/01, BAGE 102, 351 = NZA 2003, 337. 65 LAG Schleswig-Holstein v. 3.4.2001 – 1 Sa 646b/00, NZA-RR 2001, 488. 66 BAG v. 7.9.1982 – 3 AZR 5/80, BAGE 40, 126 = BB 1983, 1032; v. 8.3.1983 – 3 AZR 284/80. 67 BAG v. 7.9.1982 – 3 AZR 5/80, BAGE 40, 126 = BB 1983, 1032; v. 16.7.1996 – 3 AZR 352/95, NZA 1997, 664. 68 BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 302/02, BAGE 106, 345 = NZA 2003, 1145; v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07, ArbRB 2008, 327 = AP Nr. 35 zu § 307 BGB; Melot de Beauregard, BB 2003, 2467 (2468).

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Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 7.21 § 7

ten Schriftformklausel bedürfen nicht nur Vertragsänderungen der Schriftform, sondern es wird zusätzlich festgelegt, dass mündliche Vereinbarungen über die Aufhebung der Schriftform nichtig sind. Dadurch wird deutlich, dass die Vertragsparteien auf die Wirksamkeit der Schriftformklausel besonderen Wert legen. Der 9. Senat des BAG hat nunmehr jedoch entschieden, dass eine zu weit gefasste doppelte Schriftformklausel in AGB-Verträgen irreführend sei und deshalb den Arbeitnehmer unangemessen iSv. § 307 Abs. 1 BGB benachteilige. Aufgrund des Verbots geltungserhaltender Reduktion (§ 306 Abs. 2 BGB) sind doppelte Schriftformklauseln in AGB-Arbeitsverträgen deshalb insgesamt unwirksam und stehen dem Anspruch aus betrieblicher Übung nicht mehr entgegen69. Wird im Arbeitsvertrag explizit auf einen Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes vollständig verwiesen, gilt auch dessen tarifvertragliche Schriftformklausel70. Zwar kann diese von den Parteien explizit oder konkludent abbedungen werden. Dies setzt indes einen entsprechenden eindeutigen Willen des öffentlichen Arbeitgebers voraus. Allein in der stillschweigenden Gewährung einer übertariflichen Leistung kann dieser nicht gesehen werden. Denn durch die uneingeschränkte Verweisung auf den Tarifvertrag wird deutlich, dass keine Verpflichtungen außerhalb des Tarifvertrags begründet werden sollen71.

7.19

In Ausnahmefällen kann die Berufung auf das Schriftformerfordernis durch den öffentlichen Arbeitgeber allerdings rechtsmissbräuchlich sein72, etwa wenn der Arbeitgeber gegenüber dem Kläger oder Dritten zum Ausdruck gebracht hat, für die Wirksamkeit der Nebenabrede komme es auf die Einhaltung der Formvorschrift nicht an73, oder er zB in Einstellungsgesprächen explizit auf die zusätzliche Leistung hingewiesen hat74. Rechtsmissbrauch liegt aber noch nicht vor, wenn aufgrund einer formnichtigen Vereinbarung über einen längeren Zeitraum hinweg Leistungen erbracht wurden. Denn wenn eine tarifliche Vorschrift vorsieht, dass die Wirksamkeit eines Vertrages oder einer Nebenabrede zu einem Vertrag von der Einhaltung einer bestimmten Form abhängig ist, gebietet es die Rechtssicherheit, diese Vorschrift nicht ohne zwingenden Grund zu missachten75. Im Falle des Rechtsmissbrauchs hindert somit das Schriftformerfordernis nicht das Entstehen einer betrieblichen Übung, soweit die übrigen Voraussetzungen (s. Rz. 7.6) vorliegen und auch nicht der im öffentlichen Dienst zu beachtende Grundsatz des Normvollzugs (Rz. 7.21 ff.) eingreift.

7.20

2. Einschränkung durch „Normvollzug“ a) Grundsatz Im öffentlichen Dienst ist das Entstehen einer betrieblichen Übung durch den Grundsatz des Normvollzugs nach ständiger Rechtsprechung des BAG stark eingeschränkt. Das bedeu69 70 71 72

BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07, ArbRB 2008, 327 = AP Nr. 35 zu § 307 BGB. Vgl. BAG v. 9.12.1981 – 4 AZR 312/79, BAGE 37, 228 = DB 1982, 1417. BAG v. 9.12.1981 – 4 AZR 312/79, BAGE 37, 228 = DB 1982, 1417. BAG v. 7.9.1982 – 3 AZR 5/80, BAGE 40, 126 = BB 1983, 1032; v. 18.9.2002 – 1 AZR 477/01, BAGE 102, 351 = NZA 2003, 337. 73 BAG v. 7.5.1986 – 4 AZR 556/83, BAGE 52, 33; v. 18.9.2002 – 1 AZR 477/01, BAGE 102, 351 = NZA 2003, 337; LAG Köln v. 8.8.2003 – 11 Sa 238/03, ZTR 2004, 314 (Ls.). 74 BAG v. 16.7.1996 – 3 AZR 352/95, NZA 1997, 664. 75 BAG v. 7.9.1982 – 3 AZR 5/80, BAGE 40, 126 = BB 1983, 1032; v. 18.9.2002 – 1 AZR 477/01, BAGE 102, 351 = NZA 2003, 337; kritisch hierzu Singer, ZfA 1993, 487 (508).

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7.21

§ 7 Rz. 7.21

Betriebliche Übung

tet, dass der Arbeitgeber im öffentlichen Dienst bei der Gewährung von Leistungen im Zweifel nur die von ihm zu beachtenden gesetzlichen und tarifvertraglichen Normen vollziehen will. Denn die öffentlichen Arbeitgeber sind durch Anweisungen vorgesetzter Dienststellen, Verwaltungsrichtlinien, Verordnungen und gesetzliche Regelungen, insbesondere aber auch durch die Festlegungen des Haushaltsplans gebunden. Sie sind daher gehalten, die Mindestbestimmungen des Tarifrechts nicht zu überschreiten und die Haushaltsvorgaben bei der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse einzuhalten76.

7.22 Aus diesem Grunde muss der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst grundsätzlich davon ausgehen, dass ihm nur die Leistungen gewährt werden sollen, zu denen der Arbeitgeber auch verpflichtet ist77. Selbst bei langjährigen Leistungen wird deshalb ein Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes nicht ohne besondere Anhaltspunkte annehmen dürfen, die Gewährung von übertariflichen Vergünstigungen sei Vertragsbestandteil geworden und werde unbefristet fortgesetzt78. Er darf vielmehr nur auf eine korrekte Anwendung der aktuell geltenden rechtlichen Regelungen vertrauen und muss davon ausgehen, dass eine fehlerhafte Rechtsanwendung korrigiert wird79.

7.23 Liegen jedoch zusätzliche Anhaltspunkte wie schriftliche Bestätigungen oder sonstige Verlautbarungen vor, kommt eine betriebliche Übung ausnahmsweise auch im öffentlichen Dienst in Betracht80. So ist etwa eine betriebliche Übung möglich, wenn der Arbeitgeber als Normgeber selbst gehandelt hat (zB durch unmittelbar von der Landesregierung erlassene Richtlinien)81 oder zusätzliche Leistungen im Rahmen der Tarifregelungen erbringt82. Letzteres hat der sechste Senat des BAG etwa für den Fall angenommen, dass Schulräume mit Zustimmung des Schulträgers durch außerschulische Veranstaltungen über die tarifliche Arbeitszeit hinaus belegt werden. Hier habe ein tarifgebundener Schulhausmeister aufgrund betrieblicher Übung Anspruch darauf, während dieser Zeit Bereitschaftsdienst gegen Zahlung der tariflichen Vergütung zu leisten83.

7.24 Die Flexibilisierung des öffentlichen Dienstrechts durch die Möglichkeit der Anreizsetzung mittels Leistungsentgelten wird an dieser Sonderstellung des öffentlichen Dienstes nichts ändern. Zum einen sind der Umfang und die Ausgestaltung der Leistungsentgelte tarifvertraglich der Höhe nach begrenzt, und zum anderen ist die Leistungszulage tarifvertraglich (vgl. § 18 Abs. 4 TVöD-VKA, § 8 Abs. 1 LeistungsTV-Bund) als widerrufliche Leistung definiert, 76 BAG v. 23.6.1988 – 6 AZR 137/86, BAGE 59, 73 = NZA 1989, 55; v. 29.9.2004 – 5 AZR 528/03, BAGE 112, 112 = ZTR 2005, 97; Schaub/Koch, § 110 Rz. 13. 77 BAG v. 18.8.1988 – 6 AZR 361/86, BAGE 59, 224 = ZTR 1999, 116; v. 24.3.1993 – 5 AZR 16/92, BAGE 73, 1 = NZA 1993, 749; v. 9.2.2005 – 5 AZR 164/04, ZTR 2005, 419; Waltermann, RdA 2006, 257 (267); abl. Reiter, ZfA 2006, 361 (375); Singer, ZfA 1993, 487 (498 ff.). 78 BAG v. 23.6.1988 – 6 AZR 137/86, BAGE 59, 73 = NZA 1989, 55; v. 24.3.1993 – 5 AZR 16/92, BAGE 73, 1 = NZA 1993, 749; v. 29.9.2004 – 5 AZR 528/03, BAGE 112, 112 = ZTR 2005, 97; Schaub/Koch, § 110 Rz. 13. 79 Vgl. BAG v. 14.9.1994 – 5 AZR 679/93, NZA 1995, 419; v. 29.9.2004 – 5 AZR 528/03, BAGE 112, 112 = ZTR 2005, 97. 80 BAG v. 15.3.2006 – 4 AZR 75/05; Dütz, FS Wiese, S. 85 (90); Pfohl, Rz. 86; Waltermann, RdA 2006, 257 (275). 81 LAG Frankfurt am Main v. 18.6.2001 – 13 Sa 1105/00, PersR 2002, 132; HWK/Thüsing, § 611 BGB Rz. 232. 82 BAG v. 13.11.1986 – 6 AZR 567/83, AP Nr. 27 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; v. 26.1.1989 – 6 AZR 566/86, ZTR 1989, 318; Laber, öAT 2016 131 (133). 83 BAG v. 26.1.1989 – 6 AZR 566/86, ZTR 1989, 318.

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Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 7.27 § 7

so dass ein eventuell entstandener Vertrauenstatbestand jederzeit beseitigt werden kann. Kollektivrechtliche Regelungen, die einen Widerrufsvorbehalt enthalten, unterliegen im Übrigen gemäß § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB nicht der Inhaltskontrolle nach den §§ 305 ff. BGB, sondern nur der Ausübungskontrolle gemäß § 315 Abs. 3 BGB84. b) Ausnahmen aa) Betriebliche Übung bei Vergütungsanpassung Von den vorgenannten Grundsätzen zum Normvollzug hat das BAG in einer Entscheidung aus dem Jahre 1986 eine Ausnahme gemacht. Danach soll eine betriebliche Übung auch im öffentlichen Dienst dann möglich sein, wenn es sich nicht um freiwillige Zusatzleistungen, sondern um die als angemessen angesehene Vergütung als Gegenleistung für erwartete Arbeitsleistung handelt85. Der entschiedene Fall betraf eine regelmäßig wiederholte Anpassung einer vereinbarten Pauschalvergütung für eine wissenschaftliche Hilfskraft jeweils entsprechend und zeitgleich mit der Erhöhung der Beamtenbesoldung. Auf diese in der Literatur86 überwiegend ablehnend aufgenommene Differenzierung ist das BAG in späteren Entscheidungen indes nicht mehr zurückgekommen, so dass fraglich ist, ob man die Entscheidung über den Einzelfall hinaus verallgemeinern kann.

7.25

bb) Betriebliche Übung bei Bindung des Arbeitgebers an haushaltsrechtliche Vorgaben Da das BAG die Einschränkung der betrieblichen Übung im öffentlichen Dienst durch den Grundsatz des Normvollzugs vor allem mit der Bindung an haushaltsrechtliche Vorgaben begründet, stellt sich die Frage, ob die Beschränkung der betrieblichen Übung nicht für alle Arbeitgeber gelten muss, die an haushaltsrechtliche Vorgaben gebunden sind, also bspw. auch für privatrechtlich organisierte Zuwendungsempfänger. Des Weiteren ist fraglich, ob der Grundsatz des Normvollzugs auch für privatwirtschaftliche Betätigungen und Eigengesellschaften der öffentlichen Arbeitgeber gelten kann, die mit Gewinnerzielungsabsicht wirtschaftlich tätig sind.

7.26

Die Rechtsprechung ist hierzu etwas unklar. Für kommunale Eigengesellschaften sollen die für den öffentlichen Dienst geltenden Einschränkungen ebenfalls gelten87. Auch der Wechsel in eine privatrechtliche Rechtsform soll hieran nichts ändern88. Teilweise wird ferner angenommen, dass sogar auf Träger der freien Wohlfahrtspflege und der kirchlichen Einrichtungen die dargestellten Einschränkungen der betrieblichen Übung im öffentlichen Dienst übertragbar sein sollen, weil sich diese Einrichtungen über Kostenerstattungen der öffentlichen Hand oder der Sozialversicherungsträger finanzieren und sich die Kostenerstattung

7.27

84 BAG v. 1.2.2006 – 5 AZR 187/05, ArbRB 2006, 170 = NZA 2006, 563 = NJW 2006, 2060. 85 BAG v. 5.2.1986 – 5 AZR 632/84, BAGE 51, 113 = NZA 1986, 605. 86 Vgl. Kort, AR-Blattei öffentlicher Dienst, Entsch. 317; Scheuring, AP Nr. 21 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; zustimmend Sponer/Steinherr/Steinherr, § 2 TVöD Rz. 688. 87 BAG v. 14.1.1988 – 6 AZR 347/85, ZTR 1989, 35; v. 23.6.1988 – 6 AZR 137/86, BAGE 59, 73 = NZA 1989, 55; LAG Hamm v. 16.4.1996 – 6 Sa 1127/95, BB 1996, 1775; Dassau/Langenbrinck, § 2 TVöD Rz. 39; Dütz, FS Wiese, S. 85 (92); Bepler, RdA 2004, 226 (231); zweifelnd auch BAG v. 18.9.2002 – 1 AZR 477/01, BAGE 102, 351 = NZA 2003, 337. 88 LAG Schleswig-Holstein v. 3.4.2001 – 1 Sa 646b/00, NZA-RR 2001, 488 (hier: gGmbH); Dassau/ Langenbrinck, § 11 TVöD Rz. 39 (Mitgliedschaft im kommunalen Arbeitgeberverband); HWK/ Thüsing, § 611 BGB Rz. 232; aA Waltermann, RdA 2006, 257 (267).

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§ 7 Rz. 7.27

Betriebliche Übung

nach den tariflichen Regeln richtet89. Das BAG hat dies indes in früheren Entscheidungen für Arbeitnehmer des Diakonischen Werks90 und des Caritasverbandes91 abgelehnt, da diese in der Gestaltung der vertraglichen Beziehungen zu ihren Arbeitnehmern freier seien und nicht den gleichen strengen haushaltsrechtlichen Überwachungsbestimmungen unterlägen.

7.28 Letztlich dürfte immer entscheidend sein, ob der Arbeitgeber tatsächlich einer umfassenden Bindung an haushaltsrechtliche Vorgaben und einer entsprechenden Überwachung unterliegt. Nur in diesem Fall ist die Einschränkung der betrieblichen Übung durch den Grundsatz des Normvollzugs gerechtfertigt. Die bloße Finanzierung eines Arbeitgebers durch die öffentliche Hand kann dagegen noch nicht ausreichend sein, sondern nur dann, wenn dem öffentlichen Dienstherrn auch keine anderen, von haushalts- und tarifrechtlichen Bindungen befreite Budgets zur Verfügung stehen92. Nicht entscheidend ist ferner die Anwendung des Tarifrechts. So gelten für private Arbeitgeber, die das öffentliche Dienstrecht kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme anwenden, die allgemeinen Grundsätze zur betrieblichen Übung93. 3. Betriebliche Übung durch Verordnungen, Richtlinien, Erlasse oder Selbstbindung der Verwaltung

7.29 Anhaltspunkte für einen Bindungswillen des öffentlichen Arbeitgebers können sich auch aus der Anwendung von Verordnungen, Richtlinien, Erlassen und Verwaltungsanweisungen ergeben. Dabei muss jedoch zum einen auf die rechtliche Qualität der Regelung geachtet werden und zum anderen darauf, ob und wie ihre Anwendung nach außen tritt.

7.30 So ist die Anwendung von Richtlinien oder Verwaltungsanweisungen bei der internen Willensbildung allein nicht ausreichend, vielmehr muss durch das Verhalten nach außen – zB durch Hinweise auf das Bestehen dieser Regelungen – erkennbar werden, dass ein Einverständnis des Arbeitgebers mit dem Entstehen arbeitsvertraglicher Rechte vorliegt94. ZB kann ein öffentlicher Arbeitgeber einen erforderlichen Bindungswillen bekunden, wenn er eine nichttarifliche Regelung mit Erlasscharakter gegenüber seinen Arbeitnehmern ohne Vorbehalt und Einschränkung über lange Zeit generell anwendet95. Nicht ausreichend soll es dagegen sein, wenn vom öffentlichen Arbeitgeber nur verwaltungsinterne tarifliche Richtlinien zur Eingruppierung befolgt werden96.

7.31 Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG kommt dem öffentlich-rechtlichen Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung im Rahmen von privatrechtlichen Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und öffentlichen Arbeitgebern keine anspruchsbegründende Wirkung zu97. Auf diesen Grundsatz kann somit keine betriebliche Übung gestützt werden. Ebenso wie für 89 Vgl. LAG Düsseldorf v. 27.11.2002 – 12 Sa 1071/02, ZTR 2003, 195; ebenso Dütz, FS Wiese, S. 85 (94); HWK/Thüsing, § 611 BGB Rz. 232. 90 BAG v. 26.5.1993 – 4 AZR 130/93, BAGE 73, 191 = NZA 1004, 88. 91 BAG v. 28.10.1987 – 5 AZR 518/85, NZA 1988, 425. 92 Vgl. Schaub/Koch, § 110 Rz. 14; aA Dütz, FS Wiese, S. 85 (92). Beispiele hierfür sind zB die Forschungsinstituten zur Verfügung stehenden Drittmittel. 93 LAG Sachsen v. 6.3.2002 – 2 Sa 248/01, ZTR 2002, 598 (Ls.) für Kreisverband des DRK; HWK/ Thüsing, § 611 BGB Rz. 232. 94 BAG v. 28.1.1987 – 4 AZR 147/86, BAGE 55, 18. 95 BAG v. 10.2.1988 – 4 AZR 577/87, BAGE 57, 282. 96 BAG v. 28.1.1987 – 4 AZR 147/86, BAGE 55, 18. 97 BAG v. 10.2.1988 – 4 AZR 577/87, BAGE 57, 282; v. 11.10.1995 – 5 AZR 1009/94, NZA-RR 1996, 313.

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Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 7.33 § 7

die unmittelbare Anwendung von Erlassen und Verordnungen ist auch für die Anwendung dieses, dem Verwaltungsrecht angehörenden Grundsatzes insoweit kein Raum. Gleichwohl kann sich natürlich die Verwaltung durch den Erlass von Verwaltungsvorschriften oder durch sonstige Erklärungen binden98. 4. Zusammenarbeit mit Beamten und Berücksichtigung des Beamtenrechts Eine weitere Einschränkung für das Entstehen einer betrieblichen Übung im öffentlichen Dienst ergibt sich bei einer Zusammenarbeit von Angestellten mit Beamten. Erfolgt eine gemeinsame Beschäftigung von Angestellten und Beamten und sind die Angestellten denselben Regelungen unterworfen wie die Beamten, kann eine betriebliche Übung grundsätzlich nicht entgegen den Beamtenregelungen entstehen. Dies gilt aus Gründen der Gleichbehandlung insbesondere dann, wenn sich die vom Arbeitgeber gewährten Leistungen als Vollzug von Regelungen darstellen, die für Beamte und Arbeitnehmer einheitlich gelten sollen99. Das bedeutet, dass Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes bei zusätzlichen Leistungen nicht besser gestellt werden dürfen als Beamte. Übt der öffentliche Arbeitgeber sein Ermessen gegenüber den Beamten dahingehend aus, eine zusätzliche Leistung in Zukunft nicht mehr zu gewähren, gilt dies auch für die Arbeitnehmer. Derartige Leistungen stehen also mit anderen Worten von Anfang an unter einem entsprechenden Änderungsvorbehalt100. Soweit es deshalb etwa für eine jahrelang gewährte Arbeitsbefreiung von Arbeitnehmern und Beamten einer staatlichen Dienststelle an ihren Geburtstagen ab 12.00 Uhr keine förmliche Rechtsgrundlage gibt, kann der öffentliche Arbeitgeber die Übung wieder einstellen, wenn auch den Beamten keine Freistellung mehr gewährt wird101.

7.32

5. Fallgruppen der betrieblichen Übung im öffentlichen Dienst a) Anspruch auf Freistellung In den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes finden sich abschließende Regelungen für Freistellungen aufgrund privater Anlässe des Arbeitnehmers (vgl. § 33 MTArb/MTArb-O, § 29 TVöD bzw. TV-L)102. Darüber hinausgehende Dienstbefreiungen aufgrund einer betrieblichen Übung scheiden aus den erörterten Gründen im öffentlichen Dienst aus. Etwas anderes gilt auch nicht für Freistellungen aufgrund der regionalen Brauchtumspflege (zB Freistellung an Rosenmontag)103. Außerdem kann in aller Regel kein Vertrauen auf eine dauerhafte, uneingeschränkte Dienstbefreiung entstehen, wenn die Dienstbefreiung jedes Jahr aufs Neue gesondert angeordnet wird104. 98 BAG v. 11.10.1995 – 5 AZR 1009/94, NZA-RR 1996, 313; v. 17.12.1997 – 5 AZR 332/96, BAGE 87, 310 = NZA 1988, 555. 99 BAG v. 10.4.1985 – 7 AZR 36/83, BAGE 49, 31 = NZA 1986, 604; v. 14.9.1994 – 5 AZR 679/93, NZA 1995, 419; Pfohl, Rz. 86; Müller/Preis, Rz. 22. 100 BAG v. 10.4.1985 – 7 AZR 36/83, BAGE 49, 31 = NZA 1986, 604. 101 BAG v. 14.9.1994 – 5 AZR 679/93, NZA 1995, 419 im Anschluss an BAG v. 28.7.1988 – 6 AZR 349/87, AP Nr. 1 zu § 5 TV Arb Bundespost. 102 BAG v. 28.7.1988 – 6 AZR 349/87, BAGE 59, 177; v. 14.9.1994 – 5 AZR 679/93, NZA 1995, 419 (für § 52 BAT). 103 BAG v. 24.3.1993 – 5 AZR 16/92, BAGE 73, 1 = NZA 1993, 749; LAG Köln v. 5.12.1991 – 10 Sa 609/01, LAGE § 242 BGB Betriebliche Übung Nr. 12; v. 8.8.2003 – 11 Sa 238/03, ZTR 2004, 314. 104 BAG v. 24.3.1993 – 5 AZR 16/92, BAGE 73, 1 = NZA 1993, 749; v. 12.1.1994 – 5 AZR 41/93, NZA 1994, 694; v. 6.9.1994 – 9 AZR 672/94, NZA 1995, 418.

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7.33

§ 7 Rz. 7.34

Betriebliche Übung

b) Arbeitszeitregelungen

7.34 Auch hinsichtlich einer betrieblichen Übung, die die Lage oder den Umfang der Arbeitszeit betrifft, ist die Rechtsprechung im öffentlichen Dienstrecht sehr restriktiv. Hinzu kommt der allgemeine Grundsatz bei Arbeitszeitregelungen, dass je mehr eine Regelung auf das Funktionieren des Betriebes in seiner Gesamtheit bezogen ist, desto weniger die Arbeitnehmer annehmen können, dass sich der Arbeitgeber mit einem bestimmten Verhalten ihnen gegenüber individualrechtlich binden will105. Eine langjährige unveränderte Beibehaltung einer Arbeitszeitregelung führt deshalb nicht dazu, dass diese Arbeitszeit durch betriebliche Übung Vertragsbestandteil bleibt106. Auch soll bspw. eine langjährige Übung, wonach ein Teil der Arbeitszeit außerhalb des Dienstgebäudes abgeleistet werden darf, den Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes nicht daran hindern, vom Arbeitnehmer zu verlangen, in Zukunft die gesamte Arbeitszeit im Dienstgebäude zu verbringen107. Denn ein Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes wird regelmäßig nicht damit rechnen können, dass der Arbeitgeber hinsichtlich eines nicht unerheblichen Teils der Arbeitszeit dauerhaft auf sein Weisungsrecht verzichtet, selbst wenn es viele Jahre nicht ausgeübt wurde. Ohne besondere Anhaltspunkte darf der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes daher auch bei langjährigem Verzicht des Arbeitgebers auf Ausübung seines Direktionsrechts nicht darauf vertrauen, die Übung sei Vertragsinhalt geworden und bestehe unbefristet weiter108. Entsprechendes gilt auch für die Frage von Anwesenheitspflichten, also den Ort der Arbeitsleistung109. c) Anspruch auf Genehmigung einer Nebentätigkeit

7.35 Dieselbe restriktive Haltung vertritt die Rechtsprechung auch im Hinblick auf einen möglichen Anspruch auf Genehmigung einer Nebentätigkeit aufgrund betrieblicher Übung im Bereich des öffentlichen Dienstes110. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass nach § 3 Abs. 3 TVöD bzw. TV-L Nebentätigkeiten vom Arbeitnehmer nur noch anzuzeigen sind. Der Arbeitgeber kann diese dann untersagen oder mit Auflagen versehen, wenn sie geeignet sind, die Erfüllung der arbeitsvertraglichen Pflichten oder die berechtigten Interessen des Arbeitgebers zu beeinträchtigen. d) Arbeitsbedingungen

7.36 Eine betriebliche Übung bezüglich der Arbeitsbedingungen wird nur ausnahmsweise anzunehmen sein, da die Arbeitsbedingungen zumeist auf kollektiver Ebene geregelt oder durch die Ausübung des Direktionsrechts festgelegt werden111. Zwar mag auch etwa in Bezug auf die Festlegung eines betrieblichen Schichtsystems eine betriebliche Übung grundsätzlich möglich sein. Gleichwohl ist der fragliche Gegenstand (also zB das betriebliche Schichtsystem) für die Bewertung, ob die Arbeitnehmer aus einem bestimmten Verhalten des Arbeitgebers auf einen entsprechenden individuellen Bindungswillen schließen dürfen, von Bedeutung. Ist dieser Bindungswille in der Wechselbeziehung von Leistung und Gegenleistung, etwa der Gewäh105 106 107 108 109 110 111

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BAG v. 21.1.1997 – 1 AZR 52/96, NZA 1997, 1009. BAG v. 23.6.1992 – 1 AZR 57/92, NZA 1993, 89. BAG v. 11.10.1995 – 5 AZR 802/94, NJW 1996, 1770 = NZA 1996, 718. BAG v. 11.10.1995 – 5 AZR 802/94, NJW 1996, 1770 = NZA 1996, 718. BAG v. 11.10.1995 – 5 AZR 802/94, NJW 1996, 1770 = NZA 1996, 718. Vgl. BAG v. 24.6.1999 – 6 AZR 605/97, ZTR 2000, 220. BAG v. 21.1.1997 – 1 AZR 572/96, NZA 1997, 1009; LAG Berlin v. 1.3.1999 – 9 Sa 133/98 u. 135/98, BB 1999, 800.

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Besonderheiten im öffentlichen Dienst

Rz. 7.37 § 7

rung von Zulagen oder Arbeitsbefreiung aus bestimmten Anlässen, noch leicht vorstellbar, so wird er nur ausnahmsweise anzunehmen sein, wenn ein Gegenstand betroffen ist, der seinen Schwerpunkt nach der Organisation des Betriebs zuzurechnen ist und daher üblicherweise auf kollektiver Ebene oder durch Ausübung des Direktionsrechts geregelt wird. Je mehr eine Regelung auf das Funktionieren des Betriebs in seiner Gesamtheit bezogen ist, desto weniger können die Arbeitnehmer annehmen, der Arbeitgeber wolle sich mit einem bestimmten Verhalten ihnen gegenüber individualrechtlich binden112. In neuerer Zeit spielt die private Nutzung der vom Arbeitgeber zu dienstlichen Zwecken zur 7.37 Verfügung gestellten Telekommunikationsmittel und hier insbesondere das private Telefonieren und die private Nutzung des Internets113 eine Rolle. Wenn der Arbeitgeber die private Nutzung der zur Verfügung gestellten Telekommunikationsmittel nicht untersagt, kann hierin eine stillschweigende Duldung erblickt werden, die sich schließlich zu einer betrieblichen Übung verstärken kann114. Dies setzt allerdings voraus, dass dem Arbeitgeber bekannt ist, dass und in welchem Umfang die Arbeitnehmer die Kommunikationsmittel privat nutzen115. Zu der Frage, ab welchem Zeitpunkt eine betriebliche Übung hinsichtlich der Privatnutzung von Telefon, Internet etc. entstehen soll, liegt bislang keine höchstrichterliche Rechtsprechung vor. Für die Telefonnutzung wird in der Literatur mindestens ein Zeitraum von sechs Monaten gefordert116, für die Internetnutzung sogar ein solcher bis zu einem Jahr117. Zu beachten ist außerdem, dass eine betriebliche Übung die Gleichartigkeit der Vergünstigung voraussetzt. Eine langjährige Duldung privater Telefonate bedeutet daher noch nicht, dass davon auch die private Nutzung des Internets erfasst ist118. Da die Gestattung der privaten Nutzung von Telefon, Internet etc. letztlich wie eine Sonderzahlung einen geldwerten Vorteil darstellt119, gelten im öffentlichen Dienst insoweit die dargelegten Einschränkungen über das Entstehen einer betrieblichen Übung120. Checkliste für Ansprüche aus betrieblicher Übung im öffentlichen Dienst I.

Gewährung einer zusätzlichen Leistung

II. Ohne rechtliche Grundlage III. Mehrfache bzw. langjährige Gewährung IV. In gleicher Art und Weise

112 BAG v. 21.1.1997 – 1 AZR 572/96, NZA 1997, 1009. 113 Vgl. hierzu Barton, NZA 2006, 460; Beckschulze, DB 2007, 1526; Waltermann, NZA 2007, 529; vgl. auch BAG v. 27.4.2006 – 2 AZR 386/05, ArbRB 2006, 292 = NZA 2006, 177; v. 31.5.2007 – 2 AZR 200/06, NZA 2007, 922. 114 Ablehnend Waltermann, NZA 2007, 529 ff. 115 Beckschulze, DB 2007, 1526; Schaub/Koch, § 110 Rz. 11; aA Barton, NZA 2006, 460 (461): Auch bei fehlender Kontrolle und Unterbindung der privaten Nutzung kann eine betriebliche Übung entstehen. 116 Barton, NZA 2006, 460 (461). 117 Kramer, NZA 2004, 457 (459). 118 Küttner/Kreitner, Telefonnutzung, Rz. 4. 119 Barton, NZA 2006, 460 (461). 120 Waltermann, NZA 2007, 529 (533).

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325

§ 7 Rz. 7.37

Betriebliche Übung

V. Schützenswertes Vertrauen in den Verpflichtungswillen 1. Kein Freiwilligkeitsvorbehalt 2. Kein Eingreifen von Schriftformklauseln a) Tarifvertragliche Schriftformklausel aa) Anwendbarkeit des Tarifvertrags durch Tarifbindung, bb) Anwendbarkeit durch einzelvertragliche Bezugnahme (Bezugnahmeklausel bzw. Gleichstellungsabrede121), b) Einzelvertragliche Schriftformklausel (doppelte Schriftformklausel) c) Nebenabrede d) Formmangel nach § 242 BGB unbeachtlich? 3. Keine Beschränkung durch Grundsatz des Normvollzugs a) Kein an Haushaltsrecht gebundener Arbeitgeber (str.) oder b) Vorliegen zusätzlicher Anhaltspunkte (zB besonderes Herausstellen der Leistung)

121 Vgl. zur Auslegung von Bezugnahmeklauseln und der Änderung der Rechtsprechung zu Gleichstellungsabreden BAG v. 24.11.2004 – 10 AZR 202/04, ArbRB 2005, 100 = NZA 2005, 349 sowie zum anderen BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571; v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, BAGE 122, 74 = ArbRB 2007, 292 = AP Nr. 53 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag.

326

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§8 Entgeltfortzahlung I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8.1

II. Bemessungsgrundlage für die Entgeltfortzahlung, § 21 TVöD . . . . . . .

8.3

1. Anwendung des Lohnausfallprinzips .

8.5

2. Anwendung des Referenzprinzips . . . .

8.6

a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wegfall des § 71 BAT und Bestandsschutz in § 13 TVÜ . . . . . . . c) Anspruch auf Krankengeldzuschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Mehrfacherkrankungen . . . . . . . . .

8.20 8.21 8.22 8.24

III. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, § 22 TVöD . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.17

4. Anzeige- und Nachweispflichten . . . . . 8.25

1. Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.17

6. Leistungsverweigerungsrechte . . . . . . . 8.27

2. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.18

7. Tarifliche Ausschlussfristen bei Rückzahlungsanspruch des Arbeitgebers . . . 8.28

3. Dauer des Anspruchs . . . . . . . . . . . . . 8.20

5. Forderungsübergang bei Dritthaftung 8.26

Schrifttum: Bremecker/Hock/Klapproth/Kley: TVöD – Das neue Tarifrecht im öffentlichen Dienst, 2005; Müller, Krankmeldung und Lohnfortzahlung im öffentlichen Dienst, öAT 2011, 100; Preis, Individualarbeitsrecht – Lehrbuch für Studium und Praxis, 5. Aufl. 2017; Wedde/Kunz, Entgeltfortzahlungsgesetz, 5. Aufl. 2019.

I. Grundlagen § 616 BGB ist die Grundlage für die Entgeltfortzahlung in Fällen, in denen der Arbeitnehmer ohne eigenes Verschulden von der Erbringung der Arbeitsleistung abgehalten wird. Nach § 616 Satz 1 BGB wird der Arbeitnehmer seines Anspruchs auf Entgelt nicht verlustig, wenn er aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, für eine verhältnismäßig kurze Zeit an der Ausübung seiner Tätigkeit gehindert wird1. Für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit ergibt sich der Anspruch auf Entgeltfortzahlung aus § 3 EFZG.

8.1

Nach § 12 EFZG kann von den zwingenden Vorschriften des EFZG nicht zuungunsten der 8.2 Beschäftigten abgewichen werden. Allein in Bezug auf die Bemessungsgrundlage des EFZG sind Abweichungen durch Tarifvertrag erlaubt, § 4 Abs. 4 EFZG2. Dabei umfasst der Begriff der Bemessungsgrundlage nicht nur die Berechnungsmethode, sondern auch die Entgeltbestandteile, die der Berechnung zugrunde zu legen sind3. In §§ 21, 22 TVöD sind die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (§ 22 TVöD) und die Bemessungsgrundlage für die Entgeltfortzahlung im Bereich des öffentlichen Dienstes geregelt. Für die Auslegung bedeutsam sind auch die jeweiligen Protokollerklärungen.

1 Ausführlich zu § 616 BGB Grimm in Tschöpe, Teil 2 B Rz. 81 ff. 2 Durch eine tarifliche Regelung nach § 4 Abs. 4 EFZG kann eine über- oder außertarifliche Vergütung nicht von der Entgeltzahlung im Krankheitsfall ausgenommen werden, BAG v. 27.4.2016 – 5 AZR 229/15, BAGE 155, 70. 3 BAG v. 26.9.2001 – 5 AZR 539/00, NZA 2002, 387 (389).

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§ 8 Rz. 8.3

Entgeltfortzahlung

II. Bemessungsgrundlage für die Entgeltfortzahlung, § 21 TVöD 8.3 § 21 TVöD sieht vor, dass in den Fällen, in denen eine Freistellung von der Arbeit aufgrund von Weihnachten oder Silvester (§ 6 Abs. 3 Satz 1 TVöD), Krankheit (§ 22 Abs. 1 TVöD), Erholungsurlaub (§ 26 TVöD), Zusatzurlaub (§ 27 TVöD) oder einer Arbeitsbefreiung nach § 29 TVöD stattfindet, das Tabellenentgelt und die sonstigen in den Monatsbeträgen festgelegten Entgeltbestandteile weitergezahlt werden. Das Entgelt ist der Lohn des Beschäftigten, soweit er ihn als Gegenleistung für die Arbeit erhält4. Dieser wird in seiner vollen Höhe fortgezahlt, wenn die Voraussetzungen für eine Entgeltfortzahlung vorliegen. Fortzuzahlen sind auch die vermögenswirksamen Leistungen, § 23 Abs. 1 Satz 4 TVöD.

8.4 Bei der Bestimmung der Bemessungsgrundlage ist eine Kombination aus dem Lohnausfallund dem Referenzprinzip gewählt worden5. Beim Lohnausfallprinzip richtet sich die Vergütung des Beschäftigten nach dem, was er verdient hätte, wenn die Arbeit nicht ausgefallen wäre, er also gearbeitet hätte6. Beim Referenzprinzip dagegen wird ein arbeitstäglicher Durchschnittswert gebildet, auf dessen Grundlage das Entgelt fortgezahlt wird7. Die beiden Entgeltbestandteile werden zusammengerechnet und der daraus gebildete Gesamtwert ist das fortzuzahlende Entgelt. 1. Anwendung des Lohnausfallprinzips

8.5 Auf das Tabellenentgelt nach § 15 TVöD sowie alle in Monatsbeträgen festgelegten („ständigen“) Entgeltbestandteile findet das Lohnausfallprinzip Anwendung8. Zu den in Monatsbeträgen festgelegten Entgeltbestandteilen zählen etwa die Besitzstandszulagen nach den §§ 9, 10, 11 TVÜ-VKA bzw. TVÜ-Bund, der Strukturausgleich nach § 12 TVÜ-VKA bzw. TVÜBund sowie Techniker-, Meister- und Programmiererzulagen nach der Protokollerklärung zu § 5 Abs. 2 Satz 3 TVÜ-VKA bzw. TVÜ-Bund9. Auch der Anspruch auf die Zulage für ständige Wechselschichtarbeit gemäß § 8 Abs. 5 Satz 1 TVöD soll nach einer Entscheidung des BAG fortbestehen, wenn der Beschäftigte nur deshalb nicht in der Wechselschicht arbeiten kann, weil er gemäß § 21 Satz 1 TVöD unter Fortzahlung der Bezüge von der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt ist10. Umstritten ist, ob es sich bei der Zulage für die vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit nach § 14 TVöD11 um einen „in Monatsbeträgen festgelegten Entgeltbestandteil“ iSv. § 21 Satz 1 TVöD handelt. Dagegen spricht, dass die Zula-

4 5 6 7 8 9 10 11

Grimm in Tschöpe, Teil 2 B Rz. 143. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 21 TVöD Rz. 9. Grimm in Tschöpe, Teil 2 B Rz. 139. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 21 TVöD Rz. 9; Bredemeier/Neffke/Pielok, § 21 TVöDAT Rz. 5. Bredemeier/Neffke/Pielok, § 21 TVöD-AT Rz. 4. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 21 TVöD Rz. 10; Burger/Clausen, § 21 TVöD/TV-L Rz. 4. BAG v. 24.3.2010 – 10 AZR 58/09, NZA 2010, 958 (959 ff.); Bredemeier/Neffke/Pielok, § 21 TVöD-AT Rz. 4. Durch ÄndTV Nr. 14 zum TVöD v. 7.2.2017 wurde die Bemessung der persönlichen Zulagenhöhe bei der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit mit Wirkung zum 1.3.2018 neu geregelt. Es greift nun in § 14 Abs. 3 TVöD eine einheitliche Bemessung unter Aufgabe der früheren Unterscheidung nach der Eingruppierung in die Entgeltgruppen 1 bis 8.

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Bemessungsgrundlage für die Entgeltfortzahlung, § 21 TVöD

Rz. 8.7 § 8

ge entgegen der früheren Regelung in § 24 BAT nicht für volle Monate gezahlt, sondern taggenau berechnet wird12. Das Entgelt wird in der Höhe weitergezahlt, in der es dem Beschäftigten ohne das die Fortzahlung auslösende Ereignis zugestanden hätte. Stufenerhöhungen nach § 17 TVöD etwa werden also auch dann berechnet, wenn der Beginn des Monats, ab dem dem Arbeitnehmer die jeweilige Erhöhung zusteht, in den Entgeltfortzahlungszeitraum fällt13. Umgekehrt verringert sich das Entgelt zB bei Wegfall einer Zulage14. Zahltag für das im Rahmen der Entgeltfortzahlung zu zahlende Tabellenentgelt und die in Monatsbeträgen festgelegten Entgeltbestandteile ist gemäß § 24 Abs. 1 Satz 2 TVöD der letzte Tag des laufenden Kalendermonats. 2. Anwendung des Referenzprinzips Zusätzlich zu den ständigen festen Bezügen besteht das fortzuzahlende Entgelt aus unständigen Bezügen. Diese sind nicht in Monatsbeträgen festgelegt, sondern nach Stunden- oder Tagessätzen bemessen. Ferner werden sie nur für Zeiträume gezahlt, in denen die anspruchsbegründende Arbeit tatsächlich geleistet wird15. Zu den unständigen Entgeltbestandteilen zählen bspw. Zeitzuschläge nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b–f TVöD, Erschwernis- und Gefahrenzuschläge nach § 19 TVöD, Bereitschaftsdienstentgelte nach § 9 TVöD bzw. § 46 BT-K, Rufbereitschaftsentgelte nach § 8 Abs. 3 TVöD sowie Zulagen für nicht ständige Wechselschicht- und Schichtarbeit nach § 8 Abs. 5 und 6 TVöD16. Ausdrücklich von der Berechnung ausgenommen sind gemäß § 21 Abs. 1 Satz 3 TVöD das zusätzliche Entgelt für nicht im Dienstplan vorgesehene Mehrarbeits- und Überstunden17, Leistungsentgelte (§ 18 TVöD), Jahressonderzahlungen (§ 20 TVöD) sowie besondere Zahlungen nach § 23 TVöD.

8.6

Die unständigen Entgeltbestandteile werden nach dem Referenzprinzip fortgezahlt, soweit sie dem Beschäftigten „für den Berechnungszeitraum zugestanden haben“18. Es kommt also nur darauf an, ob und in welcher Höhe in dem Referenzzeitraum Ansprüche auf unstete Entgeltbestandteile entstanden sind, nicht hingegen darauf, ob diese in dem Zeitraum auch fällig waren19. Es wird ein Tagesdurchschnittswert gebildet. Dieser Teil des fortzuzahlenden Entgelts wird gemäß § 24 Abs. 1 Satz 4 TVöD erst am Zahltag des zweiten Kalendermonats, der auf seine Entstehung folgt, fällig. Als Basis für die Berechnung des Durchschnittswerts werden gemäß § 21 Satz 2 TVöD die letzten drei vollen Kalendermonate herangezogen (Berechnungszeitraum). Ein voller Kalendermonat liegt immer dann vor, wenn das Arbeitsverhältnis an allen Tagen des Kalender12 Dörring/Kutzki/Polzer, § 21 TVöD-AT Rz. 9; Burger/Clausen, § 21 TVöD/TV-L Rz. 5; aA ohne nähere Begründung Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 14 TVöD Rz. 99, § 21 TVöD Rz. 10; Bredemeier/Neffke/Pielok, § 14 TVöD-AT Rz. 15; BeckOK TVöD/Steuernagel, § 21 TVöD Rz. 5. 13 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 21 TVöD Rz. 15. 14 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 21 TVöD Rz. 15; Bredemeier/Neffke/Pielok, § 21 TVöD-AT Rz. 4. 15 Bredemeier/Neffke/Pielok, § 21 TVöD-AT Rz. 7. 16 Burger/Clausen, § 21 TVöD/TV-L Rz. 9. 17 Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass im Dienstplan vorgesehene Mehrarbeits- und Überstunden mit in die Berechnung einfließen. 18 Vgl. Satz 1 der Protokollerklärung Nr. 2 zu § 21 Satz 2 und 3 TVöD. 19 BAG v. 23.2.2010 – 9 AZR 52/09, ZTR 2010, 367 (368 f.); dazu Burger/Clausen, § 21 TVöD/TV-L Rz. 19 ff.; Bredemeier/Neffke/Pielok, § 21 TVöD-AT Rz. 5.

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8.7

§ 8 Rz. 8.7

Entgeltfortzahlung

monats rechtlich bestanden hat. Ob tatsächlich Entgelt gezahlt wurde, ist irrelevant20. Falls das Arbeitsverhältnis weniger als drei Monate Bestand hatte, sind bei der Berechnung die vollen Monate zugrunde zu legen, an denen das Arbeitsverhältnis Bestand hatte21. Die Protokollerklärung Nr. 3 zu § 21 Satz 2 und 3 TVöD (ÄndTV Nr. 14 vom 7.2.2017) bestimmt für die Konstellation, dass das Arbeitsverhältnis noch keinen vollen Kalendermonat bestanden hat, dass der Tagesdurchschnitt nach den konkreten individuellen Daten in diesem konkreten Teilmonat zu ermitteln ist. Die bis dahin bestehende Tariflücke wurde geschlossen22. Maßgeblicher Zeitpunkt für den Beginn der Berechnung ist immer der Beginn des Umstandes, der die Entgeltfortzahlung auslöst23.

8.8 Nachdem die für den maßgeblichen Berechnungszeitraum zustehenden unständigen Entgeltbestandteile ermittelt und addiert worden sind, ist der Tagessatz festzustellen. Gemäß Satz 1 der Protokollerklärung Nr. 2 zu § 21 Satz 2 und 3 TVöD beträgt bei einer „Fünftagewoche“ der Tagessatz regelmäßig 1/65 aus der Summe der zu berücksichtigenden Entgeltbestandteile, die für den Berechnungszeitraum zugestanden haben (s.o.). Dabei wird davon ausgegangen, dass der Faktor 65 den Arbeitstagen jener drei Monate entspricht, indem man 13 Wochen × 5 Arbeitstage = 65 zugrunde legt24. Pro Tag, den das Entgelt fortgezahlt wird, erhält der Beschäftigte also 1/65 der summierten Entgeltbestandteile aus den letzten drei Monaten. Bei einer abweichenden Verteilung der Durchschnittsarbeitszeit ist der Tagesdurchschnitt entsprechend zu berechnen. Bei einer „Sechstagewoche“ etwa beträgt er 1/78 und bei einer „Viertagewoche“ 1/4225. Auf die tatsächliche Anzahl der Arbeitstage in diesem Zeitraum kommt es nicht an26.

8.9 Für den Fall, dass die Entgeltfortzahlung nach einer allgemeinen Entgeltanpassung (= tarifliche Änderung der maßgeblichen Entgeltbestandteile27) erfolgt, ist nach der Protokollerklärung Nr. 3 zu § 21 Satz 2 und 3 TVöD die/der Beschäftigte so zu stellen, als ob die Entgeltanpassung bereits mit Beginn des Berechnungszeitraums eingetreten wäre. Tritt also vor Beginn bzw. während des Entgeltfortzahlungszeitraumes eine Tariferhöhung in Kraft, findet diese im gesamten Berechnungszeitraum Berücksichtigung28. Da sich die Protokollerklärung Nr. 3 nur auf allgemeine Entgeltanpassungen bezieht, sind individuelle Entgelterhöhungen nach dem Ende des Berechnungszeitraums bei der Berechnung des Tagesdurchschnitts nicht mehr zu berücksichtigen29.

8.10–8.16

Einstweilen frei.

20 Burger/Clausen, § 21 TVöD/TV-L Rz. 14 unter Hinweis auf Satz 1 der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 21 Satz 2 und 3 TVöD. 21 Satz 2 der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 21 Satz 2 und 3 TVöD. 22 Berechnungsbeispiel in BeckOK TVöD/Steuernagel, § 21 TVöD Rz. 25.1. 23 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 21 TVöD Rz. 17. 24 Bredemeier/Neffke/Pielok, § 21 TVöD-AT Rz. 13. 25 Bredemeier/Neffke/Pielok, § 21 TVöD-AT Rz. 14. 26 Bredemeier/Neffke/Pielok, § 21 TVöD-AT Rz. 15. 27 Bredemeier/Neffke/Pielok, § 21 TVöD-AT Rz. 22. 28 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 21 TVöD Rz. 25 und Bredemeier/Neffke/Pielok, § 21 TVöD-AT Rz. 22, jeweils mit Beispielen. 29 Burger/Clausen, § 21 TVöD/TV-L Rz. 36 f.; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 21 TVöD Rz. 26.

330

Grimm

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, § 22 TVöD

Rz. 8.19 § 8

III. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, § 22 TVöD 1. Rechtsgrundlage Für den Fall, dass ein Beschäftigter krankheitsbedingt an der Erbringung der Arbeitsleistung verhindert ist, ist sein Anspruch auf Entgeltfortzahlung in § 22 TVöD geregelt. Die Norm hat § 37 BAT ersetzt. Bezüglich der Bemessungsgrundlage verweist § 22 Abs. 1 Satz 1 TVöD auf § 21 TVöD. An der Höhe des Entgelts im Krankheitsfall ändert sich somit nichts im Vergleich zu anderen Fällen der Entgeltfortzahlung. Das EFZG wird angewendet, wenn der TVöD keine Anwendung findet oder die Vorschriften des EFZG im Einzelfall für den Beschäftigten günstiger sind30.

8.17

2. Voraussetzungen Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung ist, dass der Beschäftigte ohne eigenes Verschulden arbeitsunfähig erkrankt ist31. Krankheit ist jeder regelwidrige körperliche oder geistige Zustand, der einer Heilbehandlung bedarf, gleichgültig auf welcher Ursache er beruht32. Zwischen der Krankheit und der Arbeitsunfähigkeit muss Kausalität vorliegen. Die Krankheit muss alleinige Ursache für den Ausfall der Arbeitsleistung sein33. Nicht jeder regelwidrige Zustand führt zu einem Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Arbeitsunfähigkeit liegt nach der Rechtsprechung nur dann vor, wenn das Krankheitsgeschehen den Arbeitnehmer entweder außer Stand setzt, die ihm nach dem konkreten Inhalt des Arbeitsverhältnisses obliegende Arbeit zu verrichten oder wenn er die Arbeit nur unter der Gefahr fortsetzen könnte, in absehbar naher Zeit seinen Zustand zu verschlimmern34. Dies beurteilt sich nach objektiven medizinischen Kriterien35. Arbeitsunfähigkeit liegt auch dann vor, wenn der Arbeitnehmer seine vertragliche geschuldete Leistung nur (zeitlich oder inhaltlich) teilweise erbringen kann36. Den Arbeitnehmer trifft die Darlegungs- und Beweislast für die Arbeitsunfähigkeit als solche sowie für deren Beginn und Ende37.

8.18

Weitere Voraussetzung ist, dass der Beschäftigte die Krankheit nicht schuldhaft verursacht hat, § 22 Abs. 1 Satz 1 TVöD, der die Voraussetzung aus § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG aufnimmt. Die Protokollerklärung zu § 22 Abs. 1 Satz 1 TVöD stellt klar, dass nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit als Verschulden des Beschäftigten bei der Herbeiführung der Krankheit ange-

8.19

30 Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 115. 31 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 8; Bredemeier/Neffke/Pielok, § 22 TVöDAT Rz. 4; Verneinung einer Krankheit, wenn eine Arbeitnehmerin eine In-vitro-Fertilisation durchführen lässt und der alleinige Anlass dafür die Zeugungsunfähigkeit des Partners ist, BAG v. 26.10.2016 – 5 AZR 167/16, NZA 2017, 240. 32 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 15; HWK/Schliemann/Vogelsang, § 3 EFZG Rz. 34. 33 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 29 ff. mit Beispielen. 34 BAG v. 14.1.1972 – 5 AZR 264/71, AP Nr. 12 zu § 1 LohnFG; v. 9.1.1985 – 5 AZR 415/82, NZA 1985, 562 (562 f.). 35 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 19; HWK/Schliemann/Vogelsang, § 3 EFZG Rz. 34; Liebscher, öAT 2017, 249 zur Alkoholabhängigkeit. 36 BAG v. 20.3.1985 – 5 AZR 260/82, juris Rz. 14 f.; Bredemeier/Neffke/Pielok, § 22 TVöD-AT Rz. 5; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 21 ff. 37 BAG v. 25.5.2016 – 5 AZR 318/15, ZTR 2016, 534 mwN; zur Darlegungs- und Beweislast bei einer zwischenzeitlichen Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit LAG Köln v. 15.11.2016 – 12 453/16, ZTR 2017, 313.

Grimm

331

§ 8 Rz. 8.19

Entgeltfortzahlung

sehen werden. Insoweit gilt – wie bei § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG – nicht der Maßstab des § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB38. Vorsatz liegt vor, wenn der Beschäftigte die Krankheit bewusst herbeiführt. Grob fahrlässig handelt der Beschäftigte dann, wenn er gegen das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse gebotene Verhalten in gröblicher Weise verstößt39. Von der tradierten Annahme, Alkoholabhängigkeit als weitverbreitetste Suchtkrankheit sei in der Regel selbstverschuldet iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG, hat sich die Rspr. gelöst40. Mit Urteil vom 18.3.2015 hat das BAG – unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung41 – entschieden, dass das Entstehen einer Alkoholabhängigkeit nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Erkenntnisse nicht als schuldhaft iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG angesehen werden kann42. Im Falle eines Rückfalls nach einer erfolgreich durchgeführten Therapie wird die Multikausalität der Alkoholabhängigkeit sich häufig in den Ursachen des Rückfalls widerspiegeln und deshalb ein schuldhaftes Verhalten im entgeltfortzahlungsrechtlichen Sinn nicht festzustellen sein. Da es jedoch keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt, die in diesem Fall ein Verschulden im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG generell ausschließen, kann nach Ansicht des BAG nur ein fachmedizinisches Gutachten oder die Vernehmung des Arztes als sachverständiger Zeuge Aufschluss über die willentliche Herbeiführung des Rückfalls geben43. Das Verschulden einer Arbeitnehmerin muss hingegen verneint werden, wenn im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation, die nach allgemein anerkannten medizinischen Standards von einem Arzt oder auf ärztliche Anordnung vorgenommen wird, eine zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankung auftritt, mit deren Eintritt nicht gerechnet werden musste44. Die Darlegungs- und Beweislast für dieses Verschulden liegt beim Arbeitgeber, es sei denn, die Umstände sind so, dass nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit des Beschäftigten geschlossen werden kann45. Der Arbeitnehmer ist verpflichtet, an der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken, sonst kann ihm bei plausibler Geschehensschilderung durch den Arbeitgeber der Einwand des Selbstverschuldens nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG entgegengehalten werden46. Hinsichtlich der weiteren Voraussetzungen einer Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ergeben sich keine Besonderheiten47.

38 HWK/Schliemann/Vogelsang, § 3 EFZG Rz. 51. 39 BAG v. 23.11.1971 – 1 AZR 388/70, NJW 1972, 703 (704); v. 30.3.1988 – 5 AZR 42/87, NJW 1988, 2323 (2324); HWK/Schliemann/Vogelsang, § 3 EFZG Rz. 55 zu Einzelfällen; Müller, öAT 2011, 100 (101), Fallgruppen der Verschuldensrechtsprechung; Liebscher, öAT 2017, 249 (251). 40 So plastisch HWK/Schliemann/Vogelsang, § 3 EFZG Rz. 62. 41 BAG v. 7.8.1991 – 5 AZR 410/90, NZA 1992, 69 bzw. BAG v. 1.6.1983 – 5 AZR 536/80, NJW 1983, 2659. 42 BAG v. 18.3.2015 – 10 AZR 99/14, NZA 2015, 801 (803); zust. HWK/Schliemann/Vogelsang, § 3 EFZG Rz. 62. 43 BAG v. 18.3.2015 – 10 AZR 99/14, NZA 2015, 801 (804 f.); ausführlich Brose, RdA 2015, 198 ff. 44 BAG v. 26.10.2016 – 5 AZR 167/16, NZA 2017, 240 m. Anm. Sasse, ArbRB 2017, 37; Grimm in Tschöpe, Teil 2 B Rz. 118a. 45 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 38. 46 BAG v. 18.3.2015 – 10 AZR 99/14, NZA 2015, 801 (805); HWK/Schliemann/Vogelsang, § 3 EFZG, Rz. 62, 72. Klagt eine Krankenkasse aus übergegangenem Recht, muss diese die Krankenunterlagen vorlegen, ErfK/Reinhard, § 3 EFZG Rz. 32. 47 Zu Einzelheiten: Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 39 ff.; ErfK/Reinhard, § 3 EFZG Rz. 25 ff.; HWK/Schliemann/Vogelsang, § 3 EFZG Rz. 55 ff.

332

Grimm

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, § 22 TVöD

Rz. 8.22 § 8

3. Dauer des Anspruchs a) Grundsatz Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 TVöD besteht der Anspruch auf Entgeltfortzahlung über einen Zeitraum von sechs Wochen und gilt grds. für jede neue krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit48. Der Anspruch besteht vom ersten Tag der Inkraftsetzung des Arbeitsverhältnisses an49. Damit ist der TVöD günstiger als § 3 Abs. 3 EFZG, der eine vierwöchige Wartefrist für den Anspruch auf Entgeltfortzahlung voraussetzt. Nach sechs Wochen kann nur noch ein Anspruch auf die Zahlung von Krankengeldzuschuss geltend gemacht werden. Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung besteht nur bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses, § 22 Abs. 4 Satz 1 TVöD.

8.20

b) Wegfall des § 71 BAT und Bestandsschutz in § 13 TVÜ § 71 BAT war eine Übergangsregelung für die Krankenbezüge und betraf alle Angestellten, de- 8.21 ren Arbeitsverhältnis zu einem öffentlichen Arbeitgeber vor dem 1.7.1994 begründet wurde und danach weiterhin Bestand hatte. Er gewährte über die Dauer von sechs Wochen hinaus einen Anspruch auf Zahlung von Krankenbezügen, jeweils abhängig von der Beschäftigungsdauer50. Mit dem Erlass des TVöD ist diese Regelung ersatzlos weggefallen. § 13 TVÜ-VKA bzw. TVÜ-Bund regelt einen Ausgleich für die unter § 71 BAT fallenden Angestellten. Nach Ablauf der sechswöchigen Frist wird zusätzlich zu dem Nettokrankengeld der Unterschied zwischen Krankengeld und Nettolohn an die Beschäftigten ausgezahlt. Infolge der Heranziehung des Nettokrankengeldes als Berechnungsgrundlage übernimmt der Arbeitgeber die auf das Krankengeld entfallenden Arbeitnehmeranteile der Sozialversicherung51. Das Nettogehalt ist nach der Regelung des § 13 Abs. 1 TVÜ im Ergebnis das gleiche wie nach § 71 BAT. c) Anspruch auf Krankengeldzuschuss Nach Ablauf der sechswöchigen Entgeltfortzahlungsfrist besteht ein Anspruch auf Kran- 8.22 kengeldzuschuss gemäß § 22 Abs. 2 Satz 1 TVöD, und zwar in Höhe des Unterschiedsbetrags zwischen den tatsächlichen Barleistungen des Sozialversicherungsträgers und dem Nettoentgelt. Gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 SGB V betragen die Leistungen des Sozialversicherungsträgers 70 % des regelmäßigen Arbeitsentgelts, so dass die restlichen 30 % des Arbeitsentgelts vom Arbeitgeber als Krankengeldzuschuss gezahlt werden. Voraussetzung für den Anspruch auf Krankengeldzuschuss ist, dass tatsächlich Krankengeld gezahlt wird52. Krankengeld wird immer dann gezahlt, wenn ein Versicherter aufgrund einer Krankheit arbeitsunfähig geworden ist, § 44 Abs. 1 SGB V. Weitere Voraussetzung ist, dass das Arbeitsverhältnis mindestens ein Jahr Bestand hatte, anderenfalls besteht kein Anspruch auf einen Krankengeldzuschuss, § 22 Abs. 3 Satz 1 TVöD53.

48 Bredemeier/Neffke/Pielok, § 22 TVöD-AT Rz. 9. 49 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 133; Burger/Clausen, § 22 TVöD-AT/ TV-L Rz. 43. 50 Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 125; Bredemeier/Neffke/Pielok, § 22 TVöD-AT Rz. 42. 51 Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 126. 52 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 155. 53 Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 122; Burger/Clausen, § 22 TVöD/TV-L Rz. 57; Bredemeier/Neffke/Pielok, § 22 TVöD-AT Rz. 45.

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§ 8 Rz. 8.23

Entgeltfortzahlung

8.23 Die Dauer des Anspruchs auf Zahlung des Krankengeldzuschusses richtet sich gemäß § 22 Abs. 3 Satz 1 TVöD nach der Dauer des Beschäftigungsverhältnisses. Bei einer ununterbrochenen Arbeitsunfähigkeit und einer Beschäftigungsdauer von mehr als einem Jahr besteht ein Anspruch auf Krankengeldzuschuss bis zum Ende der 13. Krankheitswoche (= idR also sieben Wochen) und bei einer Beschäftigungsdauer von mehr als drei Jahren bis zum Ende der 39. Krankheitswoche (= idR also 33 Wochen). Für die Berechnung der Bezugszeiten ist vom Beginn der Arbeitsunfähigkeit auszugehen und nicht vom Beginn der Auszahlung des Krankengeldzuschusses. Allerdings bestimmt § 22 Abs. 3 Satz 2 TVöD, dass bei Überschreitung einer der in Satz 1 genannten Grenzen erst während der Arbeitsunfähigkeit die dann erreichte Beschäftigungszeit maßgeblich ist54. Der Anspruch auf Zahlung des Krankengeldzuschusses endet bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder ab dem Zeitpunkt, ab dem der Beschäftigte eine Rente oder vergleichbare Versorgungsleistung bezieht (§ 22 Abs. 4 TVöD). Der Krankengeldzuschuss ist steuerpflichtiger Arbeitslohn55. § 22 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 1 TVöD sieht für Entgeltfortzahlung und Krankengeldzuschuss zusammen eine Jahreshöchstgrenze vor, die der des Anspruchs auf Krankengeldzuschuss in § 22 Abs. 3 Satz 1 TVöD entspricht (13 bzw. 39 Wochen). Allerdings soll bei jeder neuen Erkrankung zumindest der Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 22 Abs. 1 TVöD entstehen, § 22 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 2 TVöD. Dies kann im Einzelfall zu einer Überschreitung der Höchstgrenze führen56. d) Mehrfacherkrankungen

8.24 Im Fall von Mehrfacherkrankungen eines Arbeitnehmers sind verschiedene Konstellationen zu unterscheiden. Grundsätzlich gilt, dass jede neue krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung für einen Zeitraum von sechs Wochen begründet57. Erforderlich ist, dass der Arbeitnehmer zwischen der ersten und der zweiten Erkrankung tatsächlich gearbeitet hat oder er zwischen den beiden Krankheiten zwar arbeitsfähig war, aber nicht arbeiten konnte, weil er nur für wenige, außerhalb seiner Arbeitszeit liegende Stunden arbeitsfähig war58. Tritt während einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit eine neue Krankheit hinzu, die ebenfalls zur Arbeitsunfähigkeit führt, liegt eine Erkrankung im Sinne der Entgeltfortzahlung vor und der Entgeltfortzahlungsanspruch bleibt auf sechs Wochen begrenzt („Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalles“)59 Nach einer Entscheidung des BAG vom 10.9.2014 ist der „Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalles“ nicht anwendbar, wenn eine Maßnahme der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation nach § 9 Abs. 1 EFZG mit einer Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit gemäß § 3 Abs. 1 EFZG zusammenfällt60. Beruht eine Krankheit auf derselben medizinischen Ursache wie eine vorangegangene, nicht behobene Erkrankung („Grundleiden“), liegt eine sog. Wiederholungs- bzw. Fortsetzungs54 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 162 f. 55 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 158 ff. mit Hinweisen zur steuer- und sozialversicherungsrechtlichen Behandlung. 56 S. Bredemeier/Neffke/Pielok, § 22 TVöD-AT Rz. 45 mit Berechnungsbeispielen. 57 Bredemeier/Neffke/Pielok, § 22 TVöD-AT Rz. 9; Müller, öAT 2011, 100 (101). 58 BAG v. 2.12.1981 – 5 AZR 89/80, AP Nr. 48 zu § 1 LohnFG; HWK/Schliemann/Vogelsang, § 3 EFZG Rz. 92. 59 BAG v. 2.12.1981 – 5 AZR 89/80, AP Nr. 48 zu § 1 LohnFG; v. 25.5.2016 – 5 AZR 318/15, ZTR 2016, 534 (535); LAG Niedersachsen v. 26.9.2018 – 7 Sa 336/18, dazu Laskawa/Lomb, DB 2019, 249. 60 BAG v. 10.9.2014 – 10 AZR 651/12, NZA 2014, 1139; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 114.

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Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, § 22 TVöD

Rz. 8.25 § 8

erkrankung vor61. Der Entgeltfortzahlungsanspruch besteht dann grds. für alle auf dem Grundleiden beruhenden Arbeitsunfähigkeitszeiten zusammen für sechs Wochen62. Ein neuer Anspruch entsteht gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG nur dann, wenn der Arbeitnehmer vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig war oder seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit eine Frist von zwölf Monaten abgelaufen ist. Für das Vorliegen einer Wiederholungs-/Fortsetzungserkrankung liegt die Beweislast beim Arbeitgeber63. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber in aller Regel die Ursachen der Arbeitsunfähigkeit nicht kennt. Ist daher der Arbeitnehmer länger als sechs Wochen arbeitsunfähig, muss er darlegen, dass keine Fortsetzungserkrankung vorliegt, indem er zB eine entsprechende ärztliche Bescheinigung vorlegt. Bestreitet sodann der Arbeitgeber das Vorliegen einer neuen Krankheit, obliegt dem Arbeitnehmer die Darlegung solcher Tatsachen, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung vorgelegen64. Er hat dabei den Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden65. Zweifel gehen allerdings zulasten des Arbeitgebers66. Umstritten ist, ob sich die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht nur auf das Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung bezieht67 oder auch die Krankheitsbefunde mitumfasst68. Solange der Arbeitnehmer die Mitwirkung ablehnt, kann der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung verweigern69. Die Krankenkassen bedürfen bei der Beantwortung der Frage der Fortsetzungserkrankung nach § 69 Abs. 4 SGB X nicht der Entbindung von der Schweigepflicht70. 4. Anzeige- und Nachweispflichten Hinsichtlich der Anzeige- und Nachweispflichten gilt im Geltungsbereich des TVöD § 5 Abs. 1 EFZG. Den Beschäftigten trifft die Verpflichtung, seine Erkrankung unverzüglich anzuzeigen71. Im Bereich des öffentlichen Dienstes gelten keinerlei Besonderheiten72. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang jedoch auf ein Urteil des BAG vom 14.11.201273. Der 5. Senat hat entschieden, dass die Ausübung des in § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG normierten Rechts des 61 Bredemeier/Neffke/Pielok, § 22 TVöD-AT Rz. 14; HWK/Schliemann/Vogelsang, § 3 EFZG Rz. 96 ff. 62 Bredemeier/Neffke/Pielok, § 22 TVöD-AT Rz. 15; Müller, öAT 2011, 100 (101 f.). 63 BAG v. 4.12.1985 – 5 AZR 656/84, NZA 1986, 289 (289 f.); v. 10.9.2015 – 10 AZR 651/12, BAGE 149, 101; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 131. 64 BAG v. 26.10.2016 – 5 AZR 167/16, NZA 2017, 240. 65 BAG v. 13.7.2005 – 5 AZR 389/04, BB 2005, 2642; HWK/Schliemann/Vogelsang, § 3 EFZG Rz. 111. 66 BAG v. 26.10.2016 – 5 AZR 167/16, NZA 2017, 240; v. 10.9.2014 – 10 AZR 651/12, MDR 2014, 1452; v. 13.7.2005 – 5 AZR 389/04, AP Nr. 25 zu § 3 EntgeltFG. 67 Schmitt/Schmitt, § 3 EFZG Rz. 312; Wedde/Wedde, § 3 EFZG Rz. 73. 68 Sasse, ArbRB 2018, 314 (316); ähnlich Schuster, ArbRAktuell 2014, 536. 69 HWK/Schliemann/Vogelsang, § 3 EFZG Rz. 111. 70 HWK/Schliemann/Vogelsang, § 3 EFZG Rz. 111. Der Aussagegehalt dieser Bewertung ist oft dürftig. 71 BAG v. 13.8.1989 – 2 AZR 13/89, NZA 1990, 433 (433 f.). 72 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 94 ff.; Schulte/Karlsfeld, ArbRB 2011, 341 ff.; zu Reaktionsmöglichkeiten des Arbeitgebers beim Verdacht einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit s. Hilgenstock, ArbRB 2013, 184 ff. 73 BAG v. 14.11.2012 – 5 AZR 886/11, NZA 2013, 322; so auch LAG Köln v. 14.9.2011 – 3 Sa 597/11, ArbRB 2012, 79.

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8.25

§ 8 Rz. 8.25

Entgeltfortzahlung

Arbeitgebers, von dem erkrankten Arbeitnehmer die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits am ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit zu verlangen, keiner Billigkeitskontrolle unterliegt. Dies entbindet den Arbeitgeber jedoch nicht von der Pflicht, die allgemeinen Rechtsausübungsschranken einzuhalten. Das Verlangen darf also insbesondere nicht schikanös oder willkürlich sein und weder gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz noch gegen Diskriminierungsverbote verstoßen74. 5. Forderungsübergang bei Dritthaftung

8.26 Im TVöD existiert keine Regelung über einen Forderungsübergang bei einer Dritthaftung. § 38 BAT ist ersatzlos weggefallen, es gelten die gesetzlichen Regelungen der §§ 6, 7 EFZG75. Nach § 6 Abs. 1 EFZG geht ein auf Ersatz des Dienstausfalls gerichteter Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers gegen Dritte auf den Arbeitgeber über76. Für Einschränkungen des Anspruchsübergangs gelten die allgemeinen Regeln (zB § 116 SGB X, § 86 VVG, § 105 SGB VII). 6. Leistungsverweigerungsrechte

8.27 Trotz des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung hat der Arbeitgeber nach § 7 EFZG ein Leistungsverweigerungsrecht, zB in Fällen, in denen der Beschäftigte seine Obliegenheiten verletzt, wie durch Nichtanzeige einer Erkrankung (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG) oder Verhinderung des Übergangs eines Schadensersatzanspruchs gegen Dritte auf den Arbeitgeber (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 EFZG)77. Die Beweislast für die Pflichtverletzung liegt beim Arbeitgeber. Der Arbeitnehmer muss dann darlegen und beweisen, dass er die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat78. 7. Tarifliche Ausschlussfristen bei Rückzahlungsanspruch des Arbeitgebers

8.28 Hat der Arbeitgeber das Entgelt irrtümlich fortgezahlt, obwohl rechtlich keine Verpflichtung dazu bestand, zB bei einer Fortsetzungserkrankung, besteht ein Rückzahlungsanspruch gegen den Beschäftigten79. Die Ausschlussfrist des § 37 TVöD beginnt erst nach Kenntnis des Arbeitgebers von der Fortsetzungserkrankung; dabei besteht für den Arbeitgeber eine Erkundigungspflicht bei Krankenkasse oder Arzt, wenn objektive Anhaltspunkte auf eine Fortsetzungserkrankung des Beschäftigten hindeuten80.

74 BAG v. 14.11.2012 – 5 AZR 886/11, NZA 2013, 322 (323). 75 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 214. 76 Vgl. ausführlich mwN: Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 214 ff.; ErfK/ Reinhard, § 6 EFZG Rz. 1 ff.; HWK/Schliemann/Vogelsang, § 6 EFZG Rz. 1 ff. 77 Ausführlich mwN: Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 251 ff.; ErfK/Reinhard, § 7 EFZG Rz. 1 ff. 78 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 258; ErfK/Reinhard, § 7 EFZG Rz. 18; HWK/Schliemann/Vogelsang, § 7 EFZG Rz. 19. 79 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 22 TVöD Rz. 132. 80 BAG v. 19.3.1986 – 5 AZR 86/85, NJW 1986, 2902 (2903).

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§9 Arbeitnehmerhaftung I. Begriff und Haftungsgrundsätze . . . . . . 9.1

II. Haftung nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2

Schrifttum: Bachmann, Die Beschränkung der Organhaftung nach den Grundsätzen des Arbeitsrechts, ZIP 2017, 841; Busemann, Zwischen Arbeitsrecht und Beamtenrecht: die Schadenshaftung der Tarifbeschäftigten des öffentlichen Dienstes, ZTR 2015, 619; Deinert, Unfallversicherungsregress und innerbetrieblicher Schadensausgleich, RdA 2013, 146; Fischinger/Hofer, Die beschränkte Arbeitnehmerhaftung im Lichte der Rechtsschuldbefreiung, NZA 2017, 349; Fischinger, Haftungsbeschränkung im Bürgerlichen Recht, 2015; Hanau, Altes und Neues zur arbeitsrechtlichen Haftungsbeschränkung, ZfA 2018, 65; Krause, Die Haftung des Arbeitnehmers für Mankoschäden – Bilanz und Perspektiven, RdA 2013, 129; Otto/Schwarze/Krause, Die Haftung des Arbeitnehmers (insb. § 14 Besonderheiten der Haftung im öffentlichen Dienst), 4. Aufl. 2014; Pallasch, Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung für betriebliche Tätigkeiten, RdA 2013, 338; Preis, Individualarbeitsrecht – Lehrbuch für Studium und Praxis, 5. Aufl. 2017; Schwab, Die Schadenshaftung im Arbeitsverhältnis – Eine Übersicht, NZA-RR 2006, 449; Schwab, Haftung im Arbeitsverhältnis, NZA-RR 2016, 173; Schwab, Die Mankohaftung des Arbeitnehmers, NZA-RR 2017, 7; Schwarze, Das Fehlverhalten des Arbeitnehmers beim Ersatz von Eigenschäden, RdA 2013, 140.

I. Begriff und Haftungsgrundsätze Arbeitnehmerhaftung ist die Haftung des Arbeitnehmers für Schäden, die im Bereich des Arbeitsverhältnisses während der Ausübung der geschuldeten (dh betrieblichen bzw. dienstlichen) Tätigkeit entstanden sind. Die Haftung der Beschäftigten kann sich sowohl auf Sachund Vermögensschäden an Rechtsgütern des Arbeitgebers1 als auch auf Schäden an Rechtsgütern von Arbeitskollegen und Dritten beziehen2. Daneben existieren Haftungsregelungen für Personenschäden3 und die sog. Mankohaftung4. Der einheitliche Haftungstatbestand des § 280 Abs. 1 BGB gilt auch im Bereich der Arbeitnehmerhaftung5. Abweichend von § 280 Abs. 1 BGB trägt die Darlegungs- und Beweislast der Arbeitgeber gemäß § 619a BGB6. Der Arbeitgeber muss sich das pflichtwidrige Unterlassen einer Hilfsperson über § 619a BGB zurechnen lassen7. Ein Arbeitnehmer haftet grundsätzlich für Vorsatz und Fahrlässigkeit (§ 276 Abs. 1 Satz 1 BGB). Andererseits wäre eine vollständige Haftung (Prinzip der Totalreparation) unbillig, da der Arbeitnehmer häufig Arbeitsmaterial von hohem Wert zur Verfügung gestellt

1 HWK/Krause, § 619a BGB Rz. 11 ff.; Schwab, NZA-RR 2006, 449 (450 ff.); Fuhlrott in Tschöpe, Teil 2 I Rz. 1 ff. 2 HWK/Krause, § 619a BGB Rz. 57 ff.; ErfK/Preis, § 619a BGB Rz. 9 ff., 22, 23 ff.; Fuhlrott in Tschöpe, Teil 2 I Rz. 64 ff. 3 ErfK/Preis, § 619a BGB Rz. 22; Fuhlrott in Tschöpe, Teil 2 I Rz. 74 ff. 4 HWK/Krause, § 619a BGB Rz. 47 ff.; Krause, RdA 2013, 129 ff.; Otto/Schwarze/Krause/Krause, § 13 Rz. 1 ff.; Schwab, NZA-RR 2017, 7 (7 ff.). 5 Preis, Individualarbeitsrecht, § 53 I; Fuhlrott in Tschöpe, Teil 2 I Rz. 1. 6 Nach Busemann, ZTR 2015, 619 (625) gilt § 619a BGB auch iRv. § 3 Abs. 7 TVöD und § 3 Abs. 7 TV-L. 7 BAG v. 21.5.2015 – 8 AZR 116/14, NZA 2015, 1517.

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9.1

§ 9 Rz. 9.1

Arbeitnehmerhaftung

bekommt und die Haftung existenzbedrohend werden könnte8. Der Arbeitgeber muss sich die Betriebsgefahr zurechnen lassen, da er kraft seiner Organisationsgewalt Arbeitsablauf und Arbeitsbedingungen des Arbeitnehmers steuert9. Infolgedessen wird die Verteilung des Schadens nach dem jeweiligen Grad des dem Arbeitnehmer zur Last fallenden Verschuldens anhand einer Abwägung ermittelt10. Dabei muss sich nach der Rechtsprechung des BAG11 bei der Haftung das Verschulden im Bezugspunkt auch auf den Schaden und nicht nur auf die Pflichtverletzung beziehen, was insbesondere bei einem vorsätzlichen Verstoß gegen Weisungen des Arbeitgebers relevant wird12. Bei der Schadensverteilung differenziert das BAG abweichend von der sonst üblichen Terminologie nach grober Fahrlässigkeit13, mittlerer Fahrlässigkeit und leichtester Fahrlässigkeit14. Hinsichtlich der Haftung bei der Schädigung von Kollegen ist die aus §§ 823 Abs. 1 bzw. Abs. 2 BGB folgende Haftung durch die §§ 105, 106 SGB VII überlagert15. Auch kann ein Freistellungsanspruch des schädigenden Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber aus §§ 426 Abs. 1, 670 BGB bestehen16. Auszubildende haften nach den gleichen Grundsätzen wie andere Arbeitnehmer ohne Rücksicht auf ihr Alter, wenn sie durch ihr Verhalten bei einem anderen Beschäftigten desselben Betriebs einen Schaden verursachen17.

II. Haftung nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit 9.2 Nach § 14 BAT bestand eine Haftungsbeschränkung, die die vom BAG entwickelten Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung verdrängte. Danach sollten für die Haftung der unter den BAT fallenden Angestellten die für die Beamten geltenden Vorschriften Anwendung finden. Die Haftung für die Angestellten des Bundes bestimmte sich nach § 78 Abs. 1 Satz 1 BBG, der eine Haftung lediglich für eine vorsätzliche oder grob fahrlässige Schädigung des Dienstherren vorsah. Für alle anderen Angestellten dagegen richtete sich die Haftung nach der Rahmengesetzgebung des ehemaligen § 46 Abs. 1 Satz 1 BRRG, der ebenfalls nur eine Haftung für eine vor-

8 ErfK/Preis, § 619a BGB Rz. 9; Otto/Schwarze/Krause/Otto, § 1 Rz. 7. 9 BAG v. 27.9.1994 – GS 1/89 (A), NZA 1994, 1083 (1085); ErfK/Preis, § 619a BGB Rz. 10; Otto/ Schwarze/Krause/Otto, § 1 Rz. 7. 10 ErfK/Preis, § 619a BGB Rz. 13; Preis, Individualarbeitsrecht, § 52 I. 11 BAG v. 18.4.2002 – 8 AZR 348/01, ArbRB 2002, 327 = NZA 2003, 37; v. 28.10.2010 – 8 AZR 418/09, ArbRB 2011, 135 = NZA 2011, 345; v. 18.1.2007 – 8 AZR 250/06, NZA 2007, 1230 (Wertpapierfall); v. 28.10.2010 – 8 AZR 418/09, ZTR 2011, 313 = NZA 2011, 345 (MRT-Fall); Deutsch, RdA 1996, 1 (3); Busemann, ZTR 2015, 619 (622) mwN; kritisch: Otto/Schwarze/Krause/Schwarze, § 9 Rz. 6 ff. 12 Gegen die Rspr. des BAG HWK/Krause, § 619a BGB Rz. 28, der das Verschulden mit Blick auf den Wortlaut des § 619a BGB zutreffend nur auf die Pflichtverletzung bezieht. Sonst droht angesichts des Freistellungsanspruchs des Arbeitnehmers die Verlagerung des Schadens auf den Arbeitgeber; Busemann, ZTR 2015, 619 (622) zum beamtenrechtlichen Bezugspunkt. 13 Bspw. ablehnend LAG Düsseldorf v. 29.8.2017 – 14 Sa 334/17, MMR 2018, 192 (Spoofing-Fall) und bejahend LAG Berlin-Brandenburg v. 28.2.2017 – 4 Sa 793/17, NZA-RR 2017, 532 ausführlich zur Frage der Haftungserleichterung für Tarifbeschäftigte, die von § 3 Abs. 7 TVöD und § 3 Abs. 7 TV-L erfasst werden. 14 Im Einzelnen HWK/Krause, § 619a BGB Rz. 29 ff.; ErfK/Preis, § 619a BGB Rz. 13 ff. 15 HWK/Giesen, § 105 SGB VII Rz. 2 f. zum in § 105 Abs. 1 Satz SGB VII privilegierten „betrieblich Tätigen“; Otto/Schwarze/Krause/Schwarze, § 9 Rz. 1 ff.; Hanau, ZFA 2018, 65 (70 ff.). 16 HWK/Giesen, § 105 SGB VII Rz. 1 mwN; ErfK/Preis, § 619a BGB Rz. 26. 17 BAG v. 19.3.2015 – 8 AZR 67/14, BB 2015, 2041.

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Haftung nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit

Rz. 9.3 § 9

sätzliche oder grob fahrlässige Schädigung vorsah18. Anwendungsvoraussetzung war, dass der Arbeitgeber überhaupt Beamte beschäftigte. War dies nicht der Fall, wurden gemäß § 69 BAT die Vorschriften angewendet, die für die Beamten in den Gemeinden des Landes galten, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hatte19. Mit Inkrafttreten des TVöD ist § 14 BAT außer Kraft getreten. Der TVöD enthielt vom 9.3 1.5.2005 bis 30.6.2008 keine Regelung über die Haftungsbeschränkung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Das Recht der Haftungsbeschränkung war vom Beamtenrecht abgekoppelt20. Für die Praxis hatte dies allerdings kaum Auswirkungen, die Rechtslage änderte sich nur geringfügig. Nach den arbeitsrechtlichen Grundsätzen haftet der Arbeitnehmer nicht für leichte Fahrlässigkeit und nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit in voller Höhe21. Lediglich bei mittlerer Fahrlässigkeit konnte es zu Unterschieden kommen, da in diesen Fällen zusätzlich zu der allgemeinen Haftungsbeschränkung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit eine Quotelungsregelung hinzutritt22. Anders ist die Rechtslage schon seit dem 1.5.2005 für Beschäftigte in den Landesverwaltungen. § 3 Abs. 7 TV-L regelt seit jeher, dass für die Beschäftigten, die unter den TV-L fallen, die für die Beamten geltenden Haftungsregelungen gültig sind. Dies hatte früher zur Folge, dass § 78 Abs. 1 BBG aF Anwendung fand und der Arbeitnehmer nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit haftete. Daher fand bei den Beschäftigten der Landesverwaltungen eine Quotelung der Haftung bei mittlerer Fahrlässigkeit nicht statt. Das gleiche ergibt sich heute aus § 3 Abs. 7 TV-L iVm. § 48 BeamtStG. Durch den § 4 Nr. 3b ÄnderungsTV Nr. 2 vom 31.3.2008 wurde mit Wirkung zum 1.7.2008 der Rechtszustand vor Inkrafttreten des TVöD wiederhergestellt. Für die Arbeitnehmer im kommunalen Bereich ist die Schadenshaftung bei dienstlich oder betrieblich veranlassten Tätigkeiten gemäß § 3 Abs. 6 TVöD auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt23. § 3 Abs. 7 TVöD verweist für die Arbeitnehmer des Bundes auf die für die Beamtinnen und Beamten des Bundes geltenden Bestimmungen und damit auf § 75 Abs. 1 BBG (= § 78 Abs. 1 BBG in der bis zum 5.2.2009 geltenden Fassung). Im öffentlichen Dienst haften Arbeitnehmer also nur für Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit24.

18 19 20 21

Dassau/Wiesend-Rothbrust, BAT, A I 1, § 14 BAT Rz. 4. Dassau/Wiesend-Rothbrust, BAT, A I 1, § 14 BAT Rz. 2. Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg, F 7. Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg, F 7; ErfK/Preis, § 619a BGB Rz. 13; Fuhlrott in Tschöpe, Teil 2 I Rz. 19. 22 Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg, F 7; Busemann, ZTR 2015, 619 (620). 23 Busemann, ZTR 2015, 619 (629 f.): Die Frage des Bezugspunkts des Verschuldens, der Beweislast und der Haftungserleichterung bei grober Fahrlässigkeit sei nach allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsätzen zu lösen. Der Grund dafür sei die fehlende Anlehnung an das Beamtenrecht in § 3 Abs. 6 TVöD. 24 Zur Außenhaftung im öffentlichen Dienst: Otto/Schwarze/Krause/Otto, § 20 Rz. 1 ff.

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§ 10 Dienstliche Beurteilung I. Begriff und Zweck . . . . . . . . . . . . .

10.1

2. Beurteilungsrichtlinien . . . . . . . . . . 10.16

II. Rechtliche Einordnung . . . . . . . . .

10.6

3. Durchführung der Beurteilung . . . . 10.18

III. Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10.7

4. Begründung und Gegendarstellung . 10.21

IV. Beurteilungsarten . . . . . . . . . . . . . . 10.10

5. Beteiligung der Personalvertretung . 10.22

1. Regelbeurteilung . . . . . . . . . . . . . . . 10.11

VI. Beurteilungsinhalt . . . . . . . . . . . . . 10.24

2. Befähigungsbeurteilung . . . . . . . . . . 10.12

VII. Besondere Regelungen . . . . . . . . . . 10.26

3. Anlassbeurteilung . . . . . . . . . . . . . . 10.13

1. Schwerbehinderte . . . . . . . . . . . . . . 10.26

V. Beurteilungsverfahren . . . . . . . . . . 10.14

2. Dienstkräfte im Mutterschutz . . . . . 10.27

1. Dokumentationsgebot . . . . . . . . . . . 10.15

3. Dienstkräfte in Elternzeit . . . . . . . . . 10.28

Schrifttum: Bieler/Lorse, Die dienstliche Beurteilung, 5. Aufl. 2012; Preis, Individualarbeitsrecht – Lehrbuch für Studium und Praxis, 5. Aufl. 2017; Vogel, Fragen der dienstlichen Beurteilung von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, öAT 2011, 195.

I. Begriff und Zweck TVöD und BPersVG enthalten keine Definition des Begriffs der dienstlichen Beurteilung. Dienstliche Beurteilung ist eine Bewertung des Arbeitnehmers, die im Zusammenhang mit seiner laufenden dienstlichen Tätigkeit erfolgt und vom Arbeitgeber nach objektivierten einheitlichen Kriterien vorgenommen wird1. Davon abzugrenzen sind analytische Arbeitsplatzbewertungen, Beurteilungsformulare, Führungsrichtlinien zur Ausführung der Beurteilungen, Funktionsbeschreibungen oder technische Leistungskontrollen2. Ein Arbeitszeugnis wird bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses erstellt und enthält Aussagen über Art und Dauer der Tätigkeit, bei einem qualifizierten Arbeitszeugnis darüber hinaus Angaben über Leistung und Verhalten im Arbeitsverhältnis, vgl. § 109 GewO. Hingegen erfolgt die dienstliche Beurteilung während des laufenden Arbeitsverhältnisses und wird ggf. gegen den Willen des Arbeitnehmers ausgestellt3. Die dienstliche Beurteilung ist Bestandteil der Personalakte4.

10.1

Führungsrichtlinien legen regelmäßig fest, in welcher Weise Mitarbeiter allgemein ihre Arbeitsaufgaben und Führungskräfte ihre Führungsaufgaben zu erledigen haben. Sie legen keine Maßstäbe für die Bewertung des Verhaltens oder der Leistung des Beschäftigten fest und sind daher keine allgemeinen Beurteilungsgrundsätze5.

10.2

Die Beurteilung von Beschäftigten stellt keinen Eingriff in deren Persönlichkeitsrechte dar. Nach der Rechtsprechung des BAG ist die Beurteilung von Arbeitnehmern zulässig, soweit

10.3

1 2 3 4

Ausführlich zu dienstlichen Beurteilungen von Frauen Lorse, DÖV 2017, 455 ff. Marquardt in Tschöpe, Teil 4 A Rz. 700 mwN. BAG v. 19.8.1992 – 7 AZR 262/91, NZA 1993, 222 (222). BVerwG v. 20.3.1959 – VII P 11.58, BVerwGE 8, 219 (220); RDW/Gräfl, § 68 PersVG Rz. 107; MünchArbR/Reichold, § 95 Rz. 9. 5 BAG v. 23.10.1984 – 1 ABR 2/83, NZA 1985, 224 (227); GK-BetrVG/Raab, § 94 BetrVG Rz. 61.

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§ 10 Rz. 10.3

Dienstliche Beurteilung

sich diese auf Eignung, Befähigung und fachliche Leistung beschränkt6. Diese Merkmale sind nicht nur für den Zugang zum öffentlichen Dienst (Art. 33 Abs. 2 GG) wesentlich7, sondern auch für den beruflichen Werdegang des Einzelnen, denn nur nach diesen Maßstäben können die einzelnen Beschäftigten sinnvoll miteinander verglichen werden8.

10.4 In der Privatwirtschaft9 sind eine ständige Bewertung von Arbeitnehmern und die Vereinbarung von Zielvorgaben üblich. Im öffentlichen Dienst müssen Beschäftigte bewertet werden, um die Qualität der Arbeit zu sichern und eine Bilanz der Leistungsfähigkeit der Beschäftigten zu ziehen. Auch für Beförderungen sind Bewertungen unerlässlich. Zudem erleichtern sie die Personalplanung und den sachgerechten Einsatz der Arbeitnehmer10. In größeren Dienststellen, in denen die Vorgesetzten wechseln, ist die Erteilung qualifizierter Zeugnisse ohne Beurteilungen nahezu unmöglich11. Beurteilungen sind ein Instrument der Personalführung12.

10.5 Im Bereich der dienstlichen Beurteilungen zeigt sich die Nähe zum Beamtenrecht. Der fünfte Abschnitt der Bundeslaufbahnverordnung (BLV) regelt die dienstlichen Beurteilungen. In § 48 Abs. 1 BLV ist festgelegt, dass eine Regelbeurteilung von Eignung und Leistung mindestens alle drei Jahre erfolgen muss oder immer dann, wenn die dienstlichen oder persönlichen Verhältnisse eine Beurteilung erfordern. Auch hinsichtlich des Inhalts besteht eine Parallele zwischen Beamten und Angestellten. Gemäß § 49 Abs. 1 und 2 BLV bezieht sich die Beurteilung auf die fachliche Leistung, die Arbeitsergebnisse sowie das Arbeits- und Führungsverhalten. Dies sind im Kern die gleichen Kriterien, die bei der Erstellung von Beurteilungsrichtlinien und demzufolge bei der Beurteilung von Angestellten im öffentlichen Dienst beachtet werden müssen13. Die Beurteilung schließt mit einem Gesamturteil und einem Verwendungsvorschlag.

II. Rechtliche Einordnung 10.6 Eine dienstliche Beurteilung stellt weder für Beamte noch für sonstige Beschäftigte im öffentlichen Dienst einen Verwaltungsakt dar14. Sie entfaltet weder bestimmte unmittelbare Rechtswirkungen noch verlangt sie Unanfechtbarkeit, wie dies den Verwaltungsakt kennzeichnet. Anders als beim Verwaltungsakt bleibt auch nach längerer Zeit noch eine Überprüfung

6 BAG v. 28.3.1979 – 5 AZR 80/77, AP Nr. 3 zu § 75 BPersVG; bestätigt durch BAG v. 10.3.1982 – 5 AZR 927/79, AP Nr. 1 zu § 13 BAT; Wiese, ZfA 1971, 273 (307). 7 Zu den Rechtsproblemen iRd. Art. 33 Abs. 2 GG Hauck-Scholz, öAT 2017, 111. 8 BAG v. 28.3.1979 – 5 AZR 80/77, AP Nr. 3 zu § 75 BPersVG; bestätigt durch BAG v. 10.3.1982 – 5 AZR 927/79, AP Nr. 1 zu § 13 BAT; Vogel, öAT 2011, 195 (195). 9 Zur Vertragsgestaltung Grimm/Windeln, Zielvereinbarungen, 2. Aufl. 2011, S. 8 ff. (mit Mustern). 10 BAG v. 28.3.1979 – 5 AZR 80/77, AP Nr. 3 zu § 75 BPersVG; ErfK/Müller-Glöge, § 109 GewO Rz. 49. 11 ErfK/Müller-Glöge, § 109 GewO Rz. 49a. 12 Vgl. bspw. Punkt 4. des Erlasses für die Beurteilungsrichtlinien im BMI v. 1.3.2000. 13 BAG v. 28.3.1979 – 5 AZR 80/77, AP Nr. 3 zu § 75 BPersVG; RDW/Kaiser, § 75 PersVG Rz. 403. 14 BVerwG v. 17.3.2016 – 2 A 4.15, NVwZ 2016, 1648 (1648); ebenso bereits BVerwG v. 9.11.1967 – II C 107.64, BVerwGE 28, 191 (191 ff.); Bieler/Lorse, Beurteilung, Rz. 247 mwN.

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Rechtsschutz

Rz. 10.8 § 10

der dienstlichen Beurteilung möglich15, etwa durch gerichtliches Urteil, aber auch durch niedrigschwelligere Möglichkeiten wie eine Gegendarstellung zur Personalakte oder eine Dienstoder Fachaufsichtsbeschwerde16. Das Recht auf Überprüfung kann jedoch verwirken17. Die Ablehnung eines Antrags auf Änderung einer dienstlichen Beurteilung oder deren Gewährung kann in Form eines Verwaltungsakts ergehen18. Eine nachträgliche Aufhebung einer dienstlichen Beurteilung von Amts wegen greift in die schutzwürdige Position des Art. 33 Abs. 2 GG des Beamten ein und ist damit nur unter den Voraussetzungen des § 48 VwVfG analog möglich19.

III. Rechtsschutz Die Beurteilung darf weder willkürlich noch nach sachfremden Kriterien erfolgen20. Sie muss in einem Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehen21. Allein der Dienstherr oder der für ihn handelnde jeweilige Vorgesetzte soll ein persönlichkeitsbedingtes Werturteil darüber abgeben, ob und inwieweit der Beamte bzw. Beschäftigte den – ebenfalls vom Dienstherrn zu bestimmenden – fachlichen und persönlichen Anforderungen des konkreten Amtes und der Laufbahn entspricht. Insgesamt hat der Beschäftigte Anspruch darauf, dass der Arbeitgeber bei der Beurteilung Rücksicht auf seine berechtigten Interessen nimmt22. Die Beurteilung darf dadurch jedoch nicht sachlich unrichtig werden, denn eine an sich sachlich richtige Beurteilung kann nicht wegen Interessen des Beschäftigten unterbleiben23.

10.7

Rechtsstreitigkeiten erfolgen in Form einer Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage24. Dies gilt 10.8 für Beamte, ihnen steht der Weg vor das Verwaltungsgericht offen25. Aufgrund der privatrechtlichen Natur der Rechtsbeziehung bei nicht verbeamteten Beschäftigten ist der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten eröffnet26. Der Arbeitnehmer hat einen Anspruch auf Entfernung einer dienstlichen Beurteilung aus der Personalakte aus §§ 611, 241 Abs. 2 BGB, wenn diese fehlerhaft zustande gekommen ist und sich Fehler im Beurteilungsverfahren auf das Beurteilungsergebnis auswirken können27. Der Verwaltungsrechtsweg zwischen einem Ange15 BVerwG v. 9.11.1967 – II C 107.64, BVerwGE 28, 191 (192 f.); v. 11.3.1983 – 6 P 23/80, BVerwGE 67, 58 (61); v. 13.1.1987 – 2 B 40/86, NVwZ 1987, 893; s. dazu VGH Baden-Württemberg v. 4.6.2009 – 4 S 213/09, NVwZ-RR 2009, 967 und Vogel, öAT 2011, 195 (197). 16 Bieler/Lorse, Beurteilung, Rz. 248. 17 VGH Baden-Württemberg v. 4.6.2009 – 4 S 213/09, NVwZ-RR 2009, 967 und Vogel, öAT 2011, 195 (197). 18 BVerwG v. 9.11.1967 – II C 107.64, BVerwGE 28, 191 (193). 19 BVerwG v. 17.3.2016 – 2 A 4.15, NVwZ 2016, 1648 (1648). 20 ErfK/Müller-Glöge, § 109 GewO Rz. 49; MünchArbR/Reichold, § 95 Rz. 9. 21 MünchArbR/Reichold, § 95 Rz. 9. 22 BAG v. 28.3.1979 – 5 AZR 80/77, AP Nr. 3 zu § 75 BPersVG; GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 17. 23 ErfK/Müller-Glöge, § 109 GewO Rz. 49a. 24 BVerwG v. 13.5.1965 – II C 146.62, BVerwGE 21, 127 (129); v. 9.11.1967 – II C 107.64, BVerwGE 28, 191 (193). 25 Kopp/Schenke, § 40 VwGO Rz. 75. 26 BAG v. 23.9.1954 – 2 AZR 31/53, AP Nr. 1 zu § 3 TOA; Vogel, öAT 2011, 195 (198). 27 LAG Rheinland-Pfalz v. 22.8.2018 – 7 Sa 71/18, öAT 2019, 18 bei verfahrensfehlerhafter Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung sowie ArbG Siegburg v. 18.9.2019 – 3 Ca 985/19, juris für den Fall der Beurteilung durch einen – nur kommissarisch betrauten – Konkurrenten um eine Beförderungsstelle als Teamleiter.

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§ 10 Rz. 10.8

Dienstliche Beurteilung

stellten im öffentlichen Dienst und seinem Arbeitgeber ist eröffnet, wenn der Angestellte die Übertragung einer Beförderung an einen verbeamteten Kollegen verhindern möchte28.

10.9 Da dem Arbeitgeber bei der dienstlichen Beurteilung ein Beurteilungsspielraum zusteht, kann diese nur darauf kontrolliert werden, ob der Arbeitgeber allgemeine Beurteilungsmaßstäbe beachtet, alle wesentlichen Umstände berücksichtigt und ein fehlerfreies Verfahren eingehalten hat29. Verfahrensfehlerhaft ist es zB, wenn die Beurteilung durch einen Mitbewerber erfolgt, weil im Hinblick auf die eigene Bewerbung eine unbefangene Beurteilung nicht möglich ist30. In Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerwG31 hat sich die Rechtmäßigkeitskontrolle darauf zu beschränken, ob der Arbeitgeber den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen verkannt hat, ob er von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften und Richtlinien über dienstliche Beurteilungen verstoßen hat32. Die Kontrolldichte richtet sich nach der Begründung. Da Art. 33 Abs. 2 GG dem öffentlichen Arbeitgeber mit den Begriffen „Eignung, Befähigung und fachliche Leistung“ einen nur eingeschränkter gerichtlicher Kontrolle unterliegenden Beurteilungsspielraum eröffnet, besteht für dienstliche Beurteilungen mit Prognosecharakter nur eine begrenzte Kontrollbefugnis33. Werden konkrete Einzelvorkommnisse benannt, kann der Sachverhalt überprüft werden. Stützt sich die Beurteilung auf allgemein gehaltene Tatsachenbehauptungen, hat der öffentliche Arbeitgeber diese zu konkretisieren, also zu plausibilisieren. Das Gericht kontrolliert uneingeschränkt, ob der Arbeitgeber von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist. Dabei ist zu beachten, dass der Arbeitgeber zur Erstellung der Beurteilung auch Aussagen von sachkundigen Mitarbeitern, die über Arbeitsleistungen, Fähigkeiten und Eignung des zu Beurteilenden Auskunft geben können, verwerten darf bzw. muss34. So fehlt einer dienstlichen Beurteilung die Aussagekraft für einen Leistungsvergleich mehrerer Bewerber, wenn der Arbeitgeber bzw. der für die Erstellung Zuständige keine Beiträge Dritter eingeholt hat, obwohl er die dienstliche Tätigkeit des beurteilten Bewerbers nicht aus eigener Anschauung kennt35. Stützt der Arbeitgeber die dienstliche Beurteilung auf reine Werturteile, muss der Arbeitgeber keine einzelnen Tatsachen vortragen und beweisen, die den Werturteilen zugrunde liegen. Reine Werturteile beruhen nicht auf konkreten einzelnen Vorgängen und lassen auch aus dem Zusammenhang nicht in einer dem Beweis zugänglichen Weise erkennen, ob und auf welcher Tatsachengrundlage sie beruhen. Beruhen die Werturteile hingegen auf einem Tatsachenkern (zB „Bereitschaft zur Teamarbeit“), muss dieser Tatsachenkern zumindest nachvollziehbar begründet werden36. Das BAG spricht von der „Plausibilisierungslast“ des öffentlichen 28 Kopp/Schenke, § 40 VwGO Rz. 49c. 29 BAG v. 8.5.2001 – 9 AZR 208/00, EzA § 611 BGB Fürsorgepflicht Nr. 60; v. 18.11.2008 – 9 AZR 865/07, ArbRB 2009, 135 = NZA 2009, 206 (208); v. 18.8.2009 – 9 AZR 617/08, ArbRB 2010, 3 = NZA 2010, 115 (118). 30 ArbG Siegburg v. 18.9.2019 – 3 Ca 985/19, juris. 31 S. etwa BVerwG v. 11.12.2008 – 2 A 7/08, ZTR 2009, 393 (394). 32 BAG v. 18.8.2009 – 9 AZR 617/08, NZA 2010, 115 (118) = ArbRB 2010, 3 (Groeger); MünchArbR/Reichold, § 95 Rz. 28. 33 BVerfG v. 29.5.2002 – 2 BvR 723/99, NVwZ 2002, 1368 (1368). 34 Vogel, öAT 2011, 195 (196). 35 BVerwG v. 4.11.2010 – 2 C 16/09, NVwZ 2011, 358 (363); Vogel, öAT 2011, 195 (196). 36 BAG v. 18.8.2009 – 9 AZR 617/08, NZA 2010, 115 (119) = ArbRB 2010, 3 (Groeger).

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Beurteilungsarten

Rz. 10.11 § 10

Arbeitgebers. Auch hier wird im Hinblick auf die Tatsachenbehauptungen voll überprüft, ob der Arbeitgeber von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist. Der Arbeitgeber hat die Darlegungs- und Beweislast für die ordnungsgemäße Erfüllung des Anspruchs auf fehlerfreie Ausübung des ihm eingeräumten Beurteilungsrechts37. Hat sich der Arbeitgeber auf reine Werturteile beschränkt, kann der Arbeitnehmer entsprechend der Verwaltungspraxis nach deren Bekanntgabe durch den Arbeitgeber deren Konkretisierung durch (plausible) Tatsachen aus seinem Persönlichkeitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG) iVm. Art. 19 Abs. 4 GG herausverlangen38. Die gerichtliche Kontrolle geht nicht so weit, dass ein Gericht die fachliche oder persönliche Beurteilung vollständig nachvollzieht oder durch eine eigene Beurteilung mit einem bestimmten Ergebnis ersetzt. Dies gilt auch beim Nachweis eines Verfahrensfehlers39 (wie bspw. nicht erfolgter Anhörung, vgl. § 3 Abs. 6 Satz 4 TV-L). Der Arbeitnehmer hat bei einer fehlerhaften Beurteilung in der Regel Anspruch auf die Erteilung einer neuen dienstlichen Beurteilung, was bei der Antragstellung beachtet werden muss40. Der Beschäftigte kann den Anspruch auf Neuvornahme der dienstlichen Beurteilung mit einem der verwaltungsgerichtlichen „Bescheidungsklage“ (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) nachgebildeten Antrag auf Neuvornahme der dienstlichen Beurteilung zu erreichen versuchen. Dies entspricht der „Neubescheidung“ im Verwaltungsprozess. Es bedarf nicht der Aufhebung des belastenden Verwaltungsaktes (bzw. der dienstlichen Beurteilung), sondern lediglich der Wiederholung der der Auswahlentscheidung zugrunde liegenden dienstlichen Beurteilung mit der Maßgabe der Beachtung des Rechtsstandpunktes des Gerichtes, somit unter Ausschluss der gerügten und vom Gericht als fehlerhaft angesehenen Punkte41.

10.9a

IV. Beurteilungsarten 10.10

Abhängig vom Zweck sind mehrere Arten von Beurteilungen festzustellen. 1. Regelbeurteilung Die in der Praxis häufigste Art der Beurteilung ist die Regelbeurteilung, die in regelmäßigen definierten Abständen vorgenommen wird. Bei der Zweckbeurteilung besteht die Gefahr einer am Zweck zukünftiger Personalentscheidungen orientierten Beurteilung, etwa um einen Beschäftigten „wegzuloben“42. Die Regelbeurteilung soll ein objektives und von einem längeren Zeitraum abgeleitetes Bild der Arbeitsleistung liefern43. Die Beschäftigten werden – ohne inneren Zusammenhang mit einer unmittelbar bevorstehenden Personalmaßnahme – 37 BVerwG v. 2.3.2017 – 2 C 21.16, NJW 2017, 10; BAG v. 18.8.2009 – 9 AZR 617/08, ArbRB 2010, 3 = NZA 2010, 115 (119) mwN. Der Arbeitgeber kann sich auf Indizien stützen, wobei diese wie etwa Äußerungen anderer in Bezug auf Teamfähigkeit oder ähnliche Wertungen mit Tatsachenkern nicht in die Beurteilung selbst aufgenommen sein müssen. 38 BAG v. 18.8.2009 – 9 AZR 617/08, NZA 2010, 115 (119) = ArbRB 2010, 3 (Groeger). 39 BVerfG v. 22.5.1975 – 2 BvL 13/73, BVerfGE 39, 334 (354); BVerwG v. 26.6.1980 – 2 C 8/78, BVerwGE 60, 245 (246); BAG v. 24.1.2007 – 4 AZR 629/06, NZA-RR 2007, 608 (614); Vogel, öAT 2011, 195 (197). 40 BAG v. 24.1.2007 – 4 AZR 629/06, NZA-RR 2007, 608 (614). Zu Ausnahmen MünchArbR/Reichold, § 95 Rz. 27 aE, 28 mwN. 41 BAG v. 7.9.2004 – 9 AZR 537/03, NZA 2005, 879; v. 18.8.2009 – 9 AZR 617/09, NZA 2010, 115. 42 BAG v. 10.3.1982 – 5 AZR 927/79, AP Nr. 1 zu § 13 BAT. 43 BAG v. 10.3.1982 – 5 AZR 927/79, AP Nr. 1 zu § 13 BAT.

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10.11

§ 10 Rz. 10.11

Dienstliche Beurteilung

nach Leistung und Befähigung im Zeitraum seit der letzten Bewertung beurteilt44. Die Häufigkeit der Beurteilungen wird in den Beurteilungsrichtlinien der zuständigen Stelle festgelegt. Ein Zeitintervall von drei Jahren ist üblich45. Die Bewertung erfolgt üblicherweise auf Formblättern, die einheitlich gestaltet sind und in die die erreichten Werte in den verschiedenen Kategorien eingefügt werden. Diese formalisierte Methode ist zweckmäßig, da für den Beurteilenden ein einheitliches Schema vorgegeben ist und er die Beschäftigten nicht nach unterschiedlichen Kriterien beurteilen und behandeln kann46.

10.11a Zu beachten ist, dass eine Leistungsbewertung im Rahmen des leistungsabhängigen Stufenaufstiegs nach § 17 Abs. 2 TVöD nicht durch eine dienstliche Regelbeurteilung vorgenommen werden kann47. Eine Verkürzung oder Verlängerung der Stufenlaufzeit ist ebenfalls nicht durch eine Zielvereinbarung oder eine systematische Leistungsbewertung nach § 18 TVöD vorzunehmen, sondern anhand einer individuellen Einzelfallbetrachtung48. Berücksichtigt werden dadurch nicht nur erbrachte Leistungen des Beschäftigten, sondern auch weitere Aspekte der beruflichen Entwicklung49. 2. Befähigungsbeurteilung

10.12 Bei der Befähigungsbeurteilung werden die am Arbeitsplatz gezeigten Befähigungen und persönlichen Merkmale nach ihrem Ausprägungsgrad dargestellt und Potentiale bewertet. Teilweise werden auch die Ausdrücke „Potentialbeurteilung“ oder „Verwendungsbeurteilung“ benutzt. Dazu werden Merkmale wie Auffassungsgabe, Denk- und Urteilsfähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Verhandlungsgeschick, Ideenreichtum, organisatorische Fähigkeiten, Leistungsbereitschaft, Genauigkeit, Lernfähigkeit und -bereitschaft, die Fähigkeit zur Führung von Mitarbeitern und ähnliche Kriterien bewertet50. Die Bewertung findet nicht zwingend nach einem einheitlichen Schema statt, allerdings wird häufig die Bewertung in einer Skala von A (Merkmal besonders stark ausgeprägt) bis D (Merkmal schwächer ausgeprägt) verwendet51. Die Befähigungsbeurteilung kann herangezogen werden, wenn mehrere Kandidaten für eine Beförderung eine gleichwertige Leistungsbeurteilung haben. Derjenige mit einer besseren Befähigungsbeurteilung ist für die Beförderung vorzumerken52.

44 Schnellenbach/Fiebig in: Münchener Anwaltshandbuch Verwaltungsrecht, § 5 Rz. 150. 45 BAG v. 10.3.1982 – 5 AZR 927/79, AP Nr. 1 zu § 13 BAT; Bieler/Lorse, Beurteilung, Rz. 78; vgl. Punkt 3.1.1. des Erlasses für die Beurteilungsrichtlinien im BMI v. 1.3.2000; § 48 Abs. 1 BLV. 46 BAG v. 10.3.1982 – 5 AZR 927/79, AP Nr. 1 zu § 13 BAT. 47 Burger/Spengler/Dick, § 17 TVöD Rz. 6; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 17 TVöD Rz. 17; Gaumann, öAT 2010, 195 (196); Zur Thematik der Leistungsfeststellung und -bewertung vgl. Teil 3 C Rz. 30 ff. 48 Burger/Spengler/Dick, § 17 TVöD Rz. 6; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 17 TVöD Rz. 17. 49 Bspw. die (regelmäßige) Übernahme von Sonderaufgaben oder die Bewährung des Beschäftigten in verschiedenen Aufgabenbereichen. 50 Vgl. BVerwG v. 13.5.1965 – II C 146.62, BVerwGE 21, 127; Bieler/Lorse, Beurteilung, Rz. 169 ff.; vgl. bspw. Anlage IV Befähigungsbeurteilung des Erlasses für die Beurteilungsrichtlinien im BMI v. 1.3.2000. 51 Vgl. Punkt 5.2.2. des Erlasses für die Beurteilungsrichtlinien im BMI v. 1.3.2000. 52 VG Schleswig-Holstein v. 31.1.2005 – 11 B 55/04, juris.

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Beurteilungsverfahren

Rz. 10.16 § 10

3. Anlassbeurteilung Die Anlassbeurteilung (bzw. Bedarfsbeurteilung) wird außerhalb der normalen Regelbeurteilung erstellt. Sie wird bei einem besonderen äußeren Anlass erstellt, der eine erneute Beurteilung notwendig macht, wie bspw. die Versetzung an eine andere Stelle oder der Ablauf der laufbahnrechtlichen Probezeit (vgl. § 28 Abs. 4 BLV) oder wenn es aus dienstlichen oder laufbahntechnischen Gründen notwendig ist53. Die Regelbeurteilung entfällt bei einer Anlassbeurteilung54.

10.13

V. Beurteilungsverfahren Für das Verfahren der Beurteilung bestehen keine zwingenden Regelungen; es existieren aber einheitliche Schemata. Die Beurteilungsrichtlinien sehen zunächst ein Gespräch zwischen Vorgesetztem und dem zu bewertenden Beschäftigten vor, um die Bewertung vorzubereiten, die gegenseitige Sicht der Dinge vorzutragen und Verbesserungsvorschläge unterbreiten zu können. Danach erfolgt die Bewertung durch einen Erst- und Zweitbewertenden. Diese Bewertung wird Teil der Personalakte.

10.14

1. Dokumentationsgebot Da das Dokumentationsgebot für die Transparenz der Auswahlentscheidung im Rahmen einer Befähigungsbeurteilung unverzichtbar ist55, muss ein unterlegener Bewerber aus einer Dokumentation der Auswahlbewertung ableitbare Kenntnis über die Entscheidungsgrundlage haben. Dies ist nicht der Fall und macht die Auswahlentscheidung des Auswahlausschusses anlässlich einer Konkurrentenklage nach Art. 33 Abs. 2 GG iVm. Art. 19 Abs. 4 GG nicht verwertbar, wenn die Leistungsbewertungen und Auswahlerwägungen nachträglich – ggf. im Prozess – dokumentiert werden56.

10.15

2. Beurteilungsrichtlinien Regelmäßig werden zur genauen Bestimmung der inhaltlichen Kriterien Beurteilungsrichtlinien erstellt. Eine Beurteilungsrichtlinie ist eine allgemeine Regelung, die die Bewertung des Verhaltens oder der Leistung der Arbeitnehmer objektiviert und an einheitlichen Kriterien ausrichtet57. § 94 Abs. 2 Alt. 2 BetrVG räumt dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht bei der Aufstellung allgemeiner Beurteilungsgrundsätze ein. § 75 Abs. 3 Nr. 9 BPersVG räumt der Personalvertretung dieses Recht bei der Aufstellung und Änderung ein58. Es handelt sich um ein Zustimmungsrecht. Ein Initiativrecht, welches – ggf. nach Anrufung der Einigungsstelle – 53 Schnellenbach/Fiebig in: Münchener Anwaltshandbuch Verwaltungsrecht, § 5 Rz. 150; Bieler/Lorse, Beurteilung, Rz. 80. 54 BAG v. 10.3.1982 – 5 AZR 927/79, AP Nr. 1 zu § 13 BAT. 55 BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, AP Nr. 59 zu Art. 33 Abs. 2 GG; v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, ZTR 2008, 339 (342 f.). 56 BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, AP Nr. 59 zu Art. 33 Abs. 2 GG; v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, ZTR 2008, 339 (342 f.). 57 BVerwG v. 11.12.1991 – 6 P 20/89, AP Nr. 4 zu § 79 LPVG Baden-Württemberg; v. 15.2.1980 – 6 P 84/78, PersV 1980, 241; zum BetrVG: BAG v. 18.4.2000 – 1 ABR 22/99, NZA 2000, 1176 (1178); v. 23.10.1984 – 1 ABR 2/83, NZA 1985, 224 (227); RDW/Kaiser, § 75 PersVG Rz. 401. 58 Ausführlich zu Umfang und Mitbestimmungsverfahren RDW/Kaiser, § 75 PersVG Rz. 402 ff.

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10.16

§ 10 Rz. 10.16

Dienstliche Beurteilung

die Einführung erzwingen könnte, besteht nicht59. Auch für die inhaltliche Gestaltung von Beurteilungsschemata besteht ein Mitbestimmungsrecht60. Ein § 75 Abs. 3 Nr. 9 BPersVG entsprechendes Mitbestimmungsrecht besteht nur in einigen Bundesländern61. In Assessment-Centern werden systematisch Verhaltensleistungen und -defizite der Beschäftigten identifiziert, daher besteht auch bei der Einführung und der inhaltlichen Ausgestaltung ein Mitbestimmungsrecht62. Hinsichtlich der Beurteilungen der einzelnen Beschäftigten besteht für Personal- und Betriebsrat kein Mitbestimmungs- und Teilnahmerecht63. Findet das Beurteilungsverfahren unter Nutzung technischer Überwachungseinrichtungen statt, kommt daneben ein Mitbestimmungsrecht gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG bzw. § 75 Abs. 3 Nr. 17 BPersVG in Betracht. Erfolgt die Beurteilung im Rahmen einer leistungsbezogenen Vergütung, ist die Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG bzw. § 75 Abs. 3 Nr. 4 BPersVG zu beachten. Arbeitsplatzbewertungen sowie Stellen- und Funktionsbeschreibungen enthalten mangels Personenbezuges keine Beurteilungsgrundsätze iSd. § 75 Abs. 3 Nr. 9 BPersVG64. Auch die bloße, allerdings einheitlich gehandhabte Beurteilungspraxis ist keine Beurteilungsrichtlinie, selbst dann wenn der Dienstvorgesetzte die Möglichkeiten einer Binnendifferenzierung aus Gleichbehandlungsgründen nutzt und für Hervorhebungen oder Abschwächungen wiederkehrende Formulierungen verwendet65. Das gilt auch bei einer Abstimmung in einer Dienststelle über einheitliche Tätigkeitsbeschreibungen und wesentliche Leistungsmerkmale, solange der Dienststellenleiter keine Vorgaben hierzu macht66. Bei Beurteilungsrichtlinien für Beamte bestimmt der Personalrat nach § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BPersVG mit, wobei auch hier – ebenso wie bei Arbeitnehmern67 – kein Recht des Personalrats auf Schaffung solcher Richtlinien und auf Teilnahme an den Beurteilungsgesprächen besteht68.

10.17 Inhalte der Beurteilungsrichtlinie können sein: die Art, nach der Qualität und Quantität des Arbeitsergebnisses ermittelt und bewertet werden, mit Hilfe welcher Leistungsprofile die Eignung von Beschäftigten für bestimmte Aufgaben ermittelt werden und welche Kriterien in die dienstliche Beurteilung einfließen, die Häufigkeit der Bewertungen, der zu bewertende Personenkreis, die Form der Bewertung und das Verfahren69. Bei der konkreten Einschät59 RDW/Kaiser, § 75 PersVG Rz. 407; Richardi/Thüsing, § 94 BetrVG Rz. 66. 60 Däubler/Kittner/Klebe/Wedde/Klebe, § 94 BetrVG Rz. 33; Richardi/Thüsing, § 94 BetrVG Rz. 67; HWK/Ricken, § 94 BetrVG Rz. 8; GK-BetrVG/Raab, § 94 BetrVG Rz. 57. 61 Zur Abstufung der Mitbestimmung in Bezug auf a) eine Empfehlung der Einigungsstelle (wie zB in NW nach §§ 72 Abs. 4 Satz 1 Nr. 15, 66 Abs. 7 Satz 3 LPVG NW), b) eine Mitbestimmung mit Evokationsrecht der obersten Dienstbehörde und c) eine uneingeschränkte Mitbestimmung RDW/Kaiser, § 75 BPersVG Rz. 409 mwN. 62 Däubler/Kittner/Klebe/Wedde/Klebe, § 94 BetrVG Rz. 10; Richardi/Thüsing, § 94 BetrVG Rz. 68; GK-BetrVG/Raab, § 94 BetrVG Rz. 58. 63 RDW/Kaiser, § 75 PersVG Rz. 406; GK-BetrVG/Raab, § 94 BetrVG Rz. 57; Vogel, öAT 2011, 195 (198). 64 RDW/Kaiser, § 75 PersVG Rz. 401. 65 Zu § 72 Abs. 4 Abs. 1 Nr. 15 LPersVG NW Welkoborsky/Herget, § 72 LPersVG Rz. 154 sowie RDW/Kaiser, § 75 PersVG Rz. 406 unter Bezugnahme auf OVG Münster v. 7.12.1998 – 6 B 2305/98, PersR 1999, 500. 66 RDW/Kaiser, § 75 PersVG Rz. 406; Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 147. 67 RDW/Kaiser, § 75 PersVG Rz. 406. 68 Dazu und zu den Länderregelungen RDW/Kersten, § 76 BPersVG Rz. 127 ff., 132. 69 Vgl. bspw. die Richtlinien für die dienstliche Beurteilung und die Leistungsfeststellung der Beamtinnen und Beamten im Geschäftsbereich des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat v. 16.5.2014 – Az. 22 - P 1150 - 019 - 17 821/14, veröffentlicht im Amts-

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Beurteilungsverfahren

Rz. 10.20 § 10

zung des Beschäftigten besteht dabei ein Ermessensspielraum des Beurteilenden. Es besteht kein Bundes- oder Landesrecht, welches die Art der Notengewinnung festlegt70. Bei Abfassen eines Beurteilungsbeitrages über fünf Jahre nach Ablauf des zu beurteilenden Zeitraums kann von einer „unverzüglichen“ Erstellung des Beurteilungsbeitrages entsprechend den Beurteilungsrichtlinien nach zutreffender Auffassung des OVG Greifswald71 nicht mehr ausgegangen werden, weshalb infolge dieses Verfahrensfehlers die Anlassbeurteilung auf einer fehlerhaften Grundlage beruht und ihrerseits verfahrensfehlerhaft ist. 3. Durchführung der Beurteilung Der Beurteilende ist verpflichtet, die Beurteilungsrichtlinie zu beachten. Aus dem Gleichheitsgebot heraus besteht die Pflicht, alle amtsweit zu bewertenden Personen nach den gleichen Maßstäben zu beurteilen72. Diese sog. Maßstabsverbindlichkeit gilt auch, wenn sich die Person von Erst- und Zweitbeurteiler aus organisatorischen oder persönlichen Gründen ändert73. Vergleichsgruppen sollen hinreichend groß und homogen sein74. Beschäftigte sollen nicht nur von einem einzelnen Vorgesetzten beurteilt werden. Für gewöhnlich ist ein Zweitbeurteilender vorgesehen75. Aus den beiden vorliegenden Einzelbewertungen bildet sich die abschließende Gesamtnote. Das BVerwG hat entschieden, dass eine dienstliche Beurteilung eines Beamten auch von nur einem Beurteiler angefertigt werden kann, der die Leistung im betreffenden Beurteilungszeitraum nicht aus eigener Anschauung kennt. Voraussetzung dafür ist jedoch die Etablierung eines Beurteilungssystems, welches sicherstellt, dass der Beurteilende über hinreichende Kenntnis von den wesentlichen Tatsachen der Beurteilung verfügt76.

10.18

Bei der Notenvergabe bestehen oftmals Quotierungen innerhalb der Beurteilungsrichtlinien, die vorsehen, dass die Bestnoten nur zu einem gewissen Prozentsatz vergeben werden dürfen. So dürfen zB oftmals maximal 10 % der Beschäftigten die Notenstufe 1 erhalten (in der Praxis werden zT nur 5 % vergeben) und maximal 20 % der Beschäftigten die Notenstufe 277. Für Beamte folgt dies aus § 50 Abs. 2 BLV. Die meisten Beurteilungsrichtlinien orientieren sich an dieser Vorgabe.

10.19

Vor der endgültigen Bewertung durch die beurteilende Person soll neben dem regelmäßigen Personalführungsgespräch auch ein gesondertes Gespräch vor der Beurteilung stattfinden78. Rechtlich besteht nach § 3 Abs. 5 TVöD keine solche Verpflichtung, wohl aber nach § 3 Abs. 6 Satz 4 TV-L. Die Zuständigkeit hierfür wird zweckmäßigerweise in der Beurteilungsrichtlinie festgelegt. In den Personalführungsgesprächen soll zwischen Vorgesetztem und Beschäftigtem offen und vertrauensvoll über die Bilanz des Beurteilungszeitraums, die Arbeitsbedingungen, die Zusammenarbeit aus Sicht des Beschäftigten, seine Leistung aus Sicht des Vorgesetzten, über Maßnahmen zur Förderung des Beschäftigten und sonstige mögliche künf-

10.20

70 71 72 73 74 75 76 77 78

blatt des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen, FMBl. 2014, S. 91, abrufbar unter http:// www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayVwV287348, zuletzt abgerufen am 29.7.2019. BVerwG v. 24.11.2005 – 2 C 34/04, BVerwGE 124, 356 (362). OVG Greifswald v. 20.2.2019 – 2 M 68/18, juris Rz. 15 ff. VG Wiesbaden v. 23.4.2007 – 8 E 544/05, juris Rz. 42. BVerwG v. 21.12.2016 – 2 VR 1.16, BVerwGE 157, 168. BVerwG v. 24.11.2005 – 2 C 34/04, BVerwGE 124, 356 (361). Vgl. bspw. Punkt 4.1 des Erlasses für die Beurteilungsrichtlinien im BMI v. 1.3.2000. BVerwG v. 2.3.2017 – 2 C 21.16, BVerwGE 157, 366. Vgl. bspw. Punkt 5.4.1 des Erlasses für die Beurteilungsrichtlinien im BMI v. 1.3.2000. Vgl. § 50 Abs. 3 Satz 1 BLV.

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§ 10 Rz. 10.20

Dienstliche Beurteilung

tige Aufgaben und Ziele gesprochen werden79. Das Gespräch dient dazu, dem Bewertenden einen Blick auf die Sicht des Beschäftigten zu ermöglichen und einen genauen Eindruck vor der dann stattfindenden Bewertung zu geben. Durch die Unterlassung eines solchen Gesprächs wird die Beurteilung nicht unwirksam. Die formell rechtmäßige Eröffnung des Beurteilungsverfahrens heilt den Formfehler des unterlassenen Personalführungsgesprächs, soweit die Beurteilungsrichtlinie nicht Gegenteiliges anordnet80. Nach Erstellung der Beurteilung wird dem Beschäftigten in der Regel eine Kopie der Beurteilung ausgehändigt und mit ihm erörtert. 4. Begründung und Gegendarstellung

10.21 Auf Verlangen des Beschäftigten ist die Beurteilung zu begründen81. Dienstliche Beurteilungen sollen ein objektives, sachlich richtiges Bild von der Person, von der Tätigkeit und von den Leistungen des Beschäftigten enthalten82. Der Anspruch auf Aufnahme einer Gegendarstellung zu den Akten besteht, wenn der Beschäftigte mit seiner Beurteilung und der damit einhergehenden Begründung der Bewertung nicht einverstanden ist83 (vgl. dazu § 11, Rz. 11.20). 5. Beteiligung der Personalvertretung

10.22 Gemäß § 68 Abs. 2 Satz 4 BPersVG besteht ein Einsichtsrecht der Personalvertretung in die dienstliche Beurteilung, soweit der Beschäftigte beantragt, diese der Personalvertretung zur Kenntnis zu bringen. Dadurch kann sich der Beschäftigte der Unterstützung des Personalrats bei einer Gegendarstellung versichern, ohne zugleich den Mitgliedern der Personalvertretung die gesamte Personalakte offenlegen zu müssen84. Es kommt nach § 68 Abs. 2 Satz 4 BPersVG nicht darauf an, ob die dienstliche Beurteilung zur Personalakte genommen wurde, das Einsichtsrecht besteht bei dienstlichen Beurteilungen jeder Art85. Der Einblick in die Beurteilung steht nicht einem bestimmten, vom Beschäftigten ausgesuchten Personalratsmitglied zu, sondern erstreckt sich auf den Personalrat als Organ in der Gesamtheit seiner Mitglieder86. Ein Recht auf Einsicht in Beurteilungsentwürfe besteht nicht87.

10.23 Das Einsichtsrecht schließt nicht ein, dass der Personalrat an einem Beurteilungsgespräch teilnimmt, selbst wenn der Beschäftigte dies wünscht88. Einzelne Landespersonalvertretungs-

79 Vgl. bspw. Anlage 4 zu Punkt 6.2 des Erlasses für die Beurteilungsrichtlinien im BMI vom 1.3.2000. 80 OVG Rheinland-Pfalz v. 19.6.1991 – 2 A 12437/90, NVwZ-RR 1992, 370 (370). 81 BAG v. 28.3.1979 – 5 AZR 80/77, AP Nr. 3 zu § 75 BPersVG. 82 BAG v. 19.8.1992 – 7 AZR 262/91, NZA 1993, 222 (223); v. 10.3.1982 – 5 AZR 927/79, AP Nr. 1 zu § 13 BAT. 83 Rinck in Tschöpe, Teil 3 E Rz. 182; Wlotzke/Preis/Kreft/Preis, § 83 BetrVG Rz. 14; MünchArbR/ Reichold, § 95 Rz. 22, der auf § 3 Abs. 5 TVöD und § 3 Abs. 6 TV-L hinweist. 84 RDW/Gräfl, § 68 PersVG Rz. 107; Altvater, § 68 BPersVG Rz. 42. 85 RDW/Gräfl, § 68 PersVG Rz. 108; Altvater, § 68 BPersVG Rz. 41. 86 BVerwG v. 11.3.1983 – 6 P 23/80, BVerwGE 67, 58 (59); Altvater, § 68 BPersVG Rz. 42; RDW/ Gräfl, § 68 PersVG Rz. 110. 87 RDW/Gräfl, § 68 PersVG Rz. 111; BT-Drucks. 7/176, 33. 88 BVerwG v. 11.3.1983 – 6 P 23/80, BVerwGE 67, 58 (60).

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Besondere Regelungen

Rz. 10.26 § 10

gesetze (zB § 71 Abs. 4 LPersVG BW, § 69 Abs. 3 Satz 6 LPersVG Rh.-Pf.) ermöglichen jedoch auf Verlangen des Beschäftigten eine Teilnahme des Personalrats an Beurteilungsgesprächen89.

VI. Beurteilungsinhalt Einheitliche Vorgaben hinsichtlich des Inhalts der Beurteilung existieren nicht. Personalangaben, wie Name, Geburtsdatum, Organisationseinheit und Funktion des zu Bewertenden, sind immer enthalten. Auch der Beurteilende wird angegeben und es wird darauf hingewiesen, ob und wann ein Gespräch zwischen Beurteilendem und zu Beurteilendem stattgefunden hat. Ferner müssen die einzelnen Bewertungspunkte der Leistungs- und Befähigungsbewertung enthalten sein. Die Bewertung beinhaltet häufig eine Tätigkeitsbeschreibung des Beschäftigten90.

10.24

Eine Tätigkeit im Personalrat darf nicht in einer Regelbeurteilung benannt werden, da der Beschäftigte nicht nach Merkmalen beurteilt werden darf, die in keinem Zusammenhang mit der im Arbeitsvertrag vereinbarten Leistung stehen, und sich anderenfalls berufliche Nachteile ergeben könnten91. Anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht kommen, zB bei ausdrücklichem Wunsch des Personalratsmitglieds auf Erwähnung seiner Personalratstätigkeit92.

10.25

VII. Besondere Regelungen 1. Schwerbehinderte Der Beschäftigte darf die Schwerbehindertenvertretung bei der Einsicht in die Personalakte und dementsprechend auch bei der Einsicht in die dort vorhandenen Beurteilungen hinzuziehen, § 178 Abs. 3 Satz 1 SGB IX. Es besteht kein eigenes Einsichtsrecht und auch kein Recht der Schwerbehindertenvertretung zur eigenen Stellungnahme. Auch besteht kein eigenes Klagerecht. In der Praxis treffen die Beurteilungsrichtlinien Sonderregelungen. So soll die bevorstehende Beurteilung eines schwerbehinderten Menschen der Schwerbehindertenvertretung mitgeteilt und ein Gespräch über die Auswirkungen der Behinderungen auf Leistung und Befähigung geführt werden, sofern der Betroffene damit einverstanden ist93. Oftmals sehen die Richtlinien ferner vor, dass die Schwerbehindertenvertretung vor Erstellung der Beurteilung anzuhören ist, wenn der schwerbehinderte Arbeitnehmer dies wünscht94. Die dienstliche (Anlass-) Beurteilung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers ist aus dessen Personalakte zu entfernen, wenn sie gegen eine solche Richtlinie verstößt oder sie ohne hinreichende Befassung mit der Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung erstellt wird95. 89 Vgl. Altvater, § 68 BPersVG Rz. 58 f. mwN. 90 Vgl. bspw. Anlage 3 (Beurteilungsbogen) des Erlasses für die Beurteilungsrichtlinien im BMI v. 1.3.2000. 91 BAG v. 19.8.1992 – 7 AZR 262/91, NZA 1993, 222 (223 f.). 92 Altvater, § 46 BPersVG Rz. 10. 93 Vgl. Punkt 8.1 des Erlasses für die Beurteilungsrichtlinien im BMI v. 1.3.2000. 94 LAG Rheinland-Pfalz v. 22.8.2018 – 7 Sa 71/18, öAT 2019, 18 (m. Anm. Hauck-Scholz). 95 LAG Rheinland-Pfalz v. 22.8.2018 – 7 Sa 71/18, öAT 2019, 18 (zustimmend Hauck-Scholz): Der Arbeitgeber hatte die zunächst unterlassene Anhörung der Schwerbehindertenvertretung nach-

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10.26

§ 10 Rz. 10.26

Dienstliche Beurteilung

Zudem ist eine Minderung der Arbeits- und Verwendungsfähigkeit aufgrund der Behinderung zu berücksichtigen. Für Beamte folgt dies aus § 5 Abs. 3 BLV. Dabei ist nur die geminderte Quantität der Arbeit zu berücksichtigen, die Qualität muss wie bei allen anderen Beschäftigten beurteilt werden96. Aus der Schwerbehinderung leitet sich kein genereller Anspruch auf bevorzugte Behandlung ab97. 2. Dienstkräfte im Mutterschutz

10.27 Beschäftigte im Mutterschutz sind im Zeitraum der Beurteilung häufig weniger anwesend und oft weniger leistungsfähig als nicht im Mutterschutz befindliche vergleichbare Beschäftigte. Neben dem MuSchG schützt auch § 3 Abs. 1 Satz 2 AGG die werdende Mutter vor Benachteiligungen98. Bei Beamten wird dieser Schutz durch die Verordnung über den Mutterschutz für Beamtinnen gewährleistet99. Bei einer dienstlichen Beurteilung muss die Schwangerschaft Beachtung finden und darf keinesfalls negativ ins Gewicht fallen. Eine Beurteilung darf nicht schlechter ausfallen, wenn die Arbeitsleistung im Verhältnis zur Zeit vor der Schwangerschaft quantitativ geringer geworden ist. Die Qualität der Arbeit kann dagegen regulär beurteilt werden. 3. Dienstkräfte in Elternzeit

10.28 Für Beschäftigte in Elternzeit besteht die gleiche Problemstellung wie beim Mutterschutz. Allerdings enthält das BEEG keine Vorschrift bezüglich dienstlicher Beurteilungen. Einer Frau darf wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft kein Nachteil entstehen. Auch ein erziehender Beschäftigter, der sich in Elternzeit befindet, darf bei einer Beförderung nicht ungleich zu den Kollegen behandelt werden, weil die dienstliche Beurteilung aufgrund der Elternzeit nicht erstellt werden konnte100. Konnte eine Beurteilung mangels Anwesenheit nicht erstellt werden, ist es üblich und rechtmäßig, die Beurteilung trotzdem anzufertigen und vom Leistungsstandard der vorherigen Beurteilung auszugehen101, um so die Laufbahn fiktiv fortzuführen102.

96 97 98 99 100 101 102

352

geholt, sich aber mit relevanten Inhalten sachlich nicht befasst. Der Beurteilung muss zu entnehmen sein, dass sich der Arbeitgeber mit der Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung „in allen Punkten befasst“ hat. BVerwG v. 25.2.1988 – 2 C 72/85, BVerwGE 79, 86 (87 f.); ebenso OVG des Saarlandes v. 24.2.2017 – 1 A 94/16, dazu Ehmann, jurisPR-ArbR 24/2017, Anm. 3; kritisch Bieler/Lorse, Beurteilung, Rz. 233. BVerwG v. 5.8.1983 – 2 B 89/82, juris Rz. 7. Leuchten/Ritz in Tschöpe, Teil 6 C Rz. 24. BGBl. I 1997, 986. OVG Nordrhein Westfalen v. 4.4.2007 – 6 B 57/07, ZBR 2007, 421 (422). OVG Nordrhein Westfalen v. 4.4.2007 – 6 B 57/07, ZBR 2007, 421 (422). OVG Nordrhein Westfalen v. 24.10.2006 – 6 B 1794/06, juris; für freigestellte Personalratsmitglieder BVerwG v. 7.11.1991 – 1 WB 160/90, BVerwGE 93, 188.

Grimm

§ 11 Personalakte I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11.1

II. Rechtsgrundlage/Tarifliche Regelung (§ 3 Abs. 5 TVöD) . . . . .

VII. Recht des Beschäftigten auf Auszüge und Kopien . . . . . . . . . . . 11.17

11.5

VIII. Abmahnung und Beschwerden . . . 11.19

III. Inhalt der Personalakte . . . . . . . .

11.6

IV. Personalakten und Datenschutz . .

11.8

1. Anhörung vor Aufnahme einer Abmahnung in die Personalakte . . . 11.19

V. Einsichtsrecht in die Personalakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11.9

1. Einsichtsrecht im bestehenden Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . .

IX. Entfernung von Vorgängen aus der Personalakte . . . . . . . . . . . . . . 11.22

11.9

X. Datenschutzrechtlicher Anspruch auf Berichtigung der Personalakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.28

2. Recht auf Gegendarstellung . . . . . . 11.20

2. Einsichtsrecht nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . 11.14 VI. Ausübung des Einsichtsrechts durch einen Bevollmächtigten . . . 11.15

XI. Aufbewahrungspflichten . . . . . . . . 11.33

Schrifttum: Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD – Das neue Tarifrecht im öffentlichen Dienst, 2005; Däubler, Gläserne Belegschaften?, 7. Aufl. 2017; Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, 7. Aufl. 2016; Herfs-Röttgen, Rechtsfragen rund um die Personalakte, NZA 2013, 478; Hitzelberger-Kijima, Die elektronische Personalakte, öAT 2016, 87; Laber/Pagenkopf, Landespersonalvertretungsgesetz Nordrhein-Westfalen, 2017; Lankes/Nebeling, Das neue BDSG und die Personalakte 2.0 – ein Recht auf Vergessen?, DB 2017, 2542; Müller, Die Personalakte in der Arbeitsrechtspraxis, DB 2011, 2604; Müller, Die Personalakte im öffentlichen Dienst, öAT 2014, 200; Reichold, in Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, 4. Aufl. 2018, § 95 zur Personalakte; Schulte/Welge, Der datenschutzrechtliche Kopieanspruch im Arbeitsrecht, NZA 2019, 1110; Schulze/Ratzesberger, Einsichtnahme in die Personalakte und die Hinzuziehung Dritter, ArbRAktuell 2017, 63; Thüsing, Arbeitnehmerdatenschutz und Compliance, 2. Aufl. 2014.

I. Begriff Grundsätzlich ist kein Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, Personalakten zu führen1. Auch § 3 Abs. 5 TVöD erschöpft sich in der Regelung des Rechts der Beschäftigten auf Einsicht in ihre vollständigen Personalakten. Ein eigenständiges Personalaktenrecht haben die Tarifparteien des öffentlichen Dienstes nicht geregelt2. Der TVöD enthält auch keine eigene Definition des Personalaktenbegriffs. Auf die Bezeichnung als Personalakte kommt es nicht an3. Es gilt der allgemeine materielle Begriff der Personalakte. Darunter werden alle Urkunden, Schriftstücke und sonstigen Vorgänge zusammengefasst, die sich auf die persönlichen und dienstlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers beziehen und im inneren Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis stehen4. Sie sollen ein möglichst vollständiges, wahrheitsgemäßes und 1 2 3 4

Straube/Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 780. Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 57. Straube/Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 780. BAG v. 16.11.2010 – 9 AZR 573/09, ArbRB 2011, 101 = NZA 2011, 453 (454); v. 19.7.2012 – 2 AZR 782/11, NZA 2013, 91; Fitting, § 83 BetrVG Rz. 5; Straube/Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 780;

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353

11.1

§ 11 Rz. 11.1

Personalakte

sorgfältiges Bild über die persönlichen und dienstlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers geben5. Formelle Personalakten sind „diejenigen Schriftstücke und Unterlagen, die der Arbeitgeber als Personalakten führt oder diesen als Bei-, Neben- oder Sonderakten zuordnet“6. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, alle Personalakten im materiellen Sinn auch zu den formellen Personalakten zu nehmen7. Nicht zur Personalakte gehören Unterlagen, die zwar den Arbeitnehmer betreffen, aber in keinem inneren Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehen8. Personalakten können frühestens mit der Einstellung eines Arbeitnehmers entstehen. Dabei sind Bewerbungsunterlagen möglicher Inhalt der Personalakte, allerdings nicht vor der Einstellung9. Grundprinzipien der Personalaktenführung sind die Grundsätze der Transparenz, der Richtigkeit, der Zuverlässigkeit und der Vertraulichkeit10.

11.2 Abzugrenzen sind Personalakten von Aufzeichnungen im Rahmen der sog. Betriebsdatenerfassung (als Bearbeiter eines Werkstücks oder eines Vorgangs wird der Mitarbeiter registriert). Auch Vorüberlegungen zu Stellenbesetzungen oder Zeugnissen oder zu Ermittlungen oder Prozessakten sind keine Personaldaten, sondern entsprechend dem Beamtenrecht als Sachaktendaten zu bezeichnen.

11.3 Das Personalaktenrecht (unter Heranziehung insbesondere des § 26 BDSG11, der europäischen DSGVO und der Länderdatenschutzgesetze) sucht das Spannungsfeld zwischen dem Schutz des Arbeitnehmerpersönlichkeitsrechts und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung einerseits und den Interessen des Dienstherrn andererseits zu gewährleisten. Im öffentlichen Dienst und im Beamtenrecht sind die Vorschriften über die Personalaktenführung den Vorgaben der Rechtsprechung angepasst.

11.4 Die beamtenrechtlichen Vorschriften konnten bislang bei der Anwendung der tarifvertraglichen Regelungen im öffentlichen Dienst zumindest als Auslegungshilfe herangezogen werden12. Nachdem die Tarifvertragsparteien des TVöD bewusst Abstand von einer Orientierung am Beamtenrecht genommen haben, gilt dies nur noch sehr eingeschränkt13. Rechtsgrundlage für das Führen von Personalakten von Beamten und die damit verbundene Datenverarbeitung sind die §§ 106 ff. BBG, die im Jahr 2019 durch das 2. DSAnpUG neu geregelt worden sind14.

5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Wlotzke/Preis/Kreft/Preis, § 83 BetrVG Rz. 3; Beispiele bei Müller, DB 2011, 2604 (2604) und Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 148. BAG v. 9.2.1977 – 5 AZR 2/76, AP Nr. 83 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht mwN. BAG v. 7.5.1980 – 4 AZR 214/78, AuR 1981, 124; Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 62. BAG v. 7.5.1980 – 4 AZR 214/78, AuR 1981, 124 (125 f.); Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 62. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 153; Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 63; Beispiele bei Müller, DB 2011, 2604 (2604 f.). Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 143. Ausführlich Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 126 ff. Entspricht im Wesentlichen § 32 BDSG aF, zur Regelungsstruktur Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 65 ff. Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 57; Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 49; s. auch Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 138 f. Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 57; Bepler/Böhle/Meerkamp/Stöhr/Stier, § 3 TVöD-AT Rz. 54 f. 2. DSAnpUG: BT-Drucks. 19/11181 und BR-Drucks. 380/19 mit Zustimmung des Bundesrats v. 20.9.2019 zu dem vom Bundestag am 27.6.2019 verabschiedeten 2. DSAnpUG. Die Materialien finden sich in BR-Drucks. 430/18, S. 16 ff. und 247 ff.

354

Grimm

Rechtsgrundlage/Tarifliche Regelung (§ 3 Abs. 5 TVöD)

Rz. 11.5 § 11

Nach dem beamtenrechtlichen Personalaktenbegriff gehören zur Personalakte „alle Unterlagen, die die Beamtin oder den Beamten betreffen, soweit sie mit dem Dienstverhältnis in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang stehen (Personalaktendaten)“ (§ 106 Abs. 1 Satz 3 BBG, § 50 Satz 2 BeamtStG). Ziel ist, ein möglichst lückenloses Bild der Entstehung und Entwicklung des Dienstverhältnisses zu vermitteln15. Die Gliederung16 der Personalakten der Beamten in Grundakten und Teilakten, die bei der für einen bestimmten Aufgabenbereich zuständigen Behörde geführt werden, gibt § 106 Abs. 2 Satz 1 BBG vor. Nebenakten, die Unterlagen enthalten, die sich in der Grundakte oder in der Teilakte befinden, dürfen nur geführt werden, wenn die Beschäftigungsbehörde von der personalverwaltenden Behörde abweicht oder mehrere personalverwaltende Behörden zuständig sind, wobei sich der Inhaltsumfang an der Erforderlichkeit für die Aufgabenerfüllung orientiert (§ 106 Abs. 2 Satz 3 BBG). In die Grundakte ist ein vollständiges Verzeichnis aller Teil- und Nebenakten aufzunehmen, § 106 Abs. 2 Satz 4 BBG. Wird die Personalakte weder vollständig in Schriftform noch vollständig elektronisch geführt, muss sich aus dem Verzeichnis ergeben, welche Teile der Personalakte in welcher Form geführt werden (§ 106 Abs. 2 Satz 5 BBG)17.

II. Rechtsgrundlage/Tarifliche Regelung (§ 3 Abs. 5 TVöD) Das Recht der Personalakten ist in § 3 Abs. 5 TVöD geregelt. Details zur Personalaktenführung enthält die Vorschrift nicht, sondern lediglich eine Kodifizierung der Einsichtnahme und damit die Konkretisierung einer Nebenpflicht des Arbeitgebers, die sich aus seiner allgemeinen Fürsorgepflicht ergibt18. Im Wesentlichen entspricht die neue Vorschrift der alten Regelung des § 13 Abs. 1 BAT sowie der dazugehörigen Protokollnotiz19. Wie schon zuvor kann die Einsicht auch durch einen schriftlich Bevollmächtigten ausgeübt werden20 (dazu Rz. 11.15). Weggefallen ist die ausdrückliche Regelung zum Anhörungsrecht des Arbeitnehmers vor der Eintragung nachteiliger Vorgänge in die Personalakte, § 13 Abs. 2 BAT, wie zB vor einer Abmahnung (s. aber Rz. 11.19)21. Im Übrigen richtet sich das Recht der Personalakten im Geltungsbereich des TVöD nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen. Insbesondere ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Grundsätze der Vertraulichkeit, der Offenheit, der Vollständigkeit und der Wahrheit zu wahren22. Von zunehmender Bedeutung

15 BVerwG v. 31.1.1990 – 2 C 5.78, BVerwGE 59, 355. BVerwG v. 20.2.1989 – 2 B 129.88, NJW 1989, 1942 weist darauf hin, dass der Dienstherr den Kreis der mit Personalakten Beschäftigten so eng wie möglich zu halten hat, um den mit der Personalaktenführung verbundenen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG iVm. Art. 1 Abs. 1 GG) zu rechtfertigen. Personaldaten sind der Privatsphäre und nicht der absolut geschützten Intimsphäre zuzuordnen, weil sie mit der Offenlegung gegenüber dem Dienstherren den unantastbaren Innenraum des Menschen (dazu Maunz/Dürig/di Fabio, 85. EL November 2018, Art. 2 Abs. 1 GG Rz. 158 f. mwN.) verlassen haben. 16 Dazu Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 114 ff. 17 Eingefügt durch das 2. DSAnpUG, BR-Drucks. 430/18, S. 17. 18 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 133. 19 Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 29; Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 56. 20 Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg, F 4. 21 Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 30. 22 Vgl. BAG v. 25.4.1972 – 1 AZR 322/71, AP Nr. 9 zu § 611 BGB Öffentlicher Dienst; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 145 ff.; Fitting, § 83 BetrVG Rz. 1; HWK/Sittard,

Grimm

355

11.5

§ 11 Rz. 11.5

Personalakte

sind ferner die Regelungen des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) und der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO)23 s. dazu Rz. 3.60 ff. und Rz. 11.8.

III. Inhalt der Personalakte 11.6 Im TVöD ist weder eine Pflicht zur Führung von Personalakten geregelt, noch bestehen Regelungen über den Inhalt der Personalakten24. Bezüglich der Form sind die Arbeitgeber frei; sie können sie sowohl schriftlich als auch elektronisch führen25, eine Paginierung ist nicht zwingend erforderlich26. Auch kann der Arbeitnehmer grundsätzlich nicht verlangen, dass der Arbeitgeber der Personalakte ein (vom Arbeitnehmer gefertigtes) Inhaltsverzeichnis beifügt27. Der Inhalt der Personalakten bestimmt sich nach intern geltenden Vorschriften in Form von Personalaktenrichtlinien28. Auch frühere Vorgänge (zB Bewerbungsunterlagen) können nach Einstellung Gegenstand der Personalakte werden29. Für den Umfang einer vollständigen Personalakte ist der beamtenrechtliche „materielle“ Personalaktenbegriff entscheidend: Der Inhalt eines Vorgangs zählt und nicht die Art der Registrierung oder Aufbewahrung30. Unterschieden wird zwischen Vorgängen, die den Beamten in seinem Dienstverhältnis betreffen und deswegen zu den Personalakten genommen werden müssen, und solchen, die den Beamten persönlich betreffen und bei seiner Dienstbehörde entstanden oder ihr zugegangen sind31. Auch hier gelten für die Führung der Personalakten die allgemeinen Grundsätze, insbesondere die der Vollständigkeit, Richtigkeit32, Offenheit und Vertraulichkeit33.

11.7 Nach dem Grundsatz der Vollständigkeit sind sämtliche den Arbeitnehmer betreffenden Vorgänge aufzunehmen, die in einem Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehen und die Aufschluss über seine persönlichen und dienstlichen Verhältnisse geben34. Die Personalakte kann sämtliche Schriftstücke enthalten von der Bewerbung bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses, so wie zB Bewerbung, Arbeitsvertrag, Lichtbild, Zeugnisse, Personalfragebogen, dienstliche Beurteilungen, Dokumente über familiäre Veränderungen, Abmahnungen und Beurlaubungen, Krankheitsbescheinigungen, Urlaubsanträge und -bewilligungen, Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft, Fehlzeiten, Kündigungsschreiben, Schlusszeugnis, Unter-

23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

§ 83 BetrVG Rz. 3; Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 126 ff.; HerfsRöttgen, NZA 2013, 478 (479 f.). Verordnung EU 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der RL 95/46/EG. Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 49; Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 59; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 141. HWK/Sittard, § 83 BetrVG Rz. 5; GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 14; Herfs-Röttgen, NZA 2013, 478 (481); ausführlich Hitzelberger-Kijima, öAT 2016, 87. BAG v. 16.10.2007 – 9 AZR 110/07, ArbRB 2008, 134 = NZA 2008, 367 (368 f.). Müller, DB 2011, 2604 (2605). Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 50; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 142. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 143. BAG v. 7.5.1980 – 4 AZR 214/78, ArbuR 1981, 124 (125 f.). BVerwG v. 31.1.1980 – 2 C 5/78, NJW 1980, 2145 (2145). Dazu OVG Hamburg v. 27.5.2019 – 5 Bf 225/18.Z, ZD-Aktuell 2019, 06801 (m. Anm. Gerjets). Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 145 ff. BAG v. 25.2.1959 – 4 AZR 549/57, AP Nr. 6 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht; v. 25.4.1972 – 1 AZR 322/71, NJW 1972, 2016; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 145.

356

Grimm

Inhalt der Personalakte

Rz. 11.7b § 11

lagen über die betriebliche Altersversorgung, die private Telefon- und Faxnummer sowie die private E-Mail-Adresse35. Dienstliche Beurteilungen sind in die Personalakte aufzunehmen36. Nach dem Grundsatz der Offenheit dürfen keinerlei Geheim- oder Sonderakten bestehen. Beiakten sind Teil der Personalakte37, ähnlich § 106 Abs. 2 und Abs. 3 BBG für das Beamtenrecht. Persönliche, von einem Vorgesetzten in einer privaten Unterlage für den Eigengebrauch und nicht als Materialsammlung für dienstliche Zwecke erstellte Beurteilungen stellen keine Personalakten im Rechtssinne dar38. Die Personalakten enthalten Daten, die das Persönlichkeitsrecht des Beschäftigten beeinträch- 11.7a tigen können und sind daher vertraulich zu behandeln und müssen vor der Einsicht durch Dritte geschützt werden39, wie dies das Beamtenrecht in § 107 Abs. 1 BBG anordnet. Auch in § 50 Satz 3 BeamtStG wird die besondere Vertraulichkeit der Personalakten betont und in § 50 Satz 4 BeamtStG der Zugang auf die Beschäftigten der Personalverwaltung beschränkt. Beschäftigte haben einen Anspruch auf Schutz vor unbefugter zufälliger Kenntnisnahme durch Einschränkung des Kreises der Zugangsberechtigten. Dazu kann die im Beamtenrecht geltende Vorgabe des § 107 Abs. 1 BBG nutzbar gemacht werden, nach dem nur mit der Verwaltung von Personalangelegenheiten beauftragte Beschäftigte Zugang haben dürfen und dies auch nur, soweit dies zu Zwecken der Personalverwaltung oder der Personalwirtschaft erforderlich ist40. Beim Verstoß des Arbeitgebers gegen diese Grundsätze hat der Beschäftigte einen aus den §§ 12, 862, 1004 BGB folgenden Anspruch auf Schutz durch anderweitige Maßnahmen, wie zB Aufbewahrung in einem verschlossenen Umschlag41. Neben der Einhaltung der Grundsätze ordnungsgemäßer Archivierung42 empfiehlt sich die Einrichtung eines Schutzstufenkonzepts nach Maßgabe der Sensibilität und der den Daten innewohnenden Risiken hinsichtlich einer Persönlichkeitsverletzung43. Ohnehin gilt für Personalakten die Pflicht zur Schaffung geeigneter Schutzvorkehrungen, wie sie aus § 64 Abs. 1 BDSG iVm. Art. 32 DSGVO (= § 9 BDSG aF) folgen44. Die Anforderungen an die spezifischen Schutzmaßnahmen sind nach § 26 Abs. 3 BDSG und § 22 Abs. 2 BDSG höher, wenn es sich um die Verarbeitung besonderer Kategorien per-

35 Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen v. 30.12.2002 – 1 A 1483/00. PVL, PersV 2003, 191; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 148; Fitting, § 83 BetrVG Rz. 4; HWK/Sittard, § 83 BetrVG Rz. 3. 36 MünchArbR/Reichold, § 95 Rz. 9, dort auch zur Rücksichtnahmepflicht. 37 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 146; Fitting, § 83 BetrVG Rz. 5; GKBetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 5. 38 BVerwG v. 19.10.2006 – 1 D 14/04, NVwZ-RR 2006, 556; Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 125. 39 BAG v. 18.12.1984 – 3 AZR 389/83, NZA 1985, 811 (811 f.); Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 147; Zerbe in Tschöpe, Teil 4 A Rz. 416; GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 18; Wlotzke/Preis/Kreft/Preis, § 83 BetrVG Rz. 6. 40 Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz Rz. 149 f. 41 BAG v. 12.9.2006 – 9 AZR 271/06, ArbRB 2007, 97 = NZA 2007, 269 (272). 42 Dazu Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 176. 43 Zu einem solchen auf der Grundlage eines Vorschlages des Hamburgischen Datenschutzbeauftragten Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 161. 44 Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 160 f., zu Besonderheiten bei digitalisierten Personalakten dort bei Rz. 162 ff.

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357

11.7b

§ 11 Rz. 11.7b

Personalakte

sonenbezogener Daten handelt45. Um solche besonders sensitiven Daten handelt es sich zB bei Daten über die rassische oder ethnische Herkunft, Informationen über religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, Gewerkschaftszugehörigkeit, politische Meinungen, Gesundheitsdaten, Krankheitszeitenaufzeichnungen, genetischen und biometrischen Daten oder weitere in Art. 9 Abs. 1 DSGVO benannte Daten, für die an sich ein grundsätzliches Verarbeitungsverbot gilt, von dem bei Einwilligung des Betroffenen (Art. 9 Abs. 2 lit. a DSGVO) oder bei einer Verarbeitung zu Zwecken des Arbeitsrechts, der sozialen Sicherheit und des Sozialschutzes (Art. 9 Abs. 2 lit. b DSGVO) abgewichen werden kann46. Die unzulässige Offenlegung kann Schadensersatzansprüche, in gravierenden Fällen auch eine Entschädigung für den immateriellen Schaden infolge einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Beschäftigten zur Folge haben47, dazu auch Rz. 3.104 zum Anspruch aus Art. 82 DSGVO.

11.7c Nicht in die Personalakte aufzunehmen sind Umstände, die in keinem Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehen. Dies können bspw. sein: Akten über ein gerichtliches Verfahren mit dem Arbeitnehmer, Prüfungsakten (mit Ausnahme des Prüfungszeugnisses), Vorgänge über politische oder weltanschauliche Überzeugungen des Beschäftigten (zu letzteren s. Art. 9 Abs. 1 DSGVO)48. Das religiöse Bekenntnis kann dagegen schon aus steuerlichen Gründen Teil der Personalakte sein49. Es handelt sich dabei um ein besonderes persönliches Datum iSv. Art. 9 Abs. 1 DSGVO (sog. sensitive Daten), hinsichtlich dessen ein grundsätzliches Verarbeitungsverbot nach der DSGVO besteht. Die Verarbeitung darf aufgrund der Öffnungsklausel des § 26 Abs. 3 BDSG nur zu den dort genannten Zwecken der Erfüllung von zwingenden Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis, Recht der sozialen Sicherheit und Sozialschutz erfolgen. Dazu gehört die Kirchensteuerabführung. Zudem sind die besonderen Schutzmaßnahmen nach § 22 Abs. 2 BDSG vorzunehmen50.

IV. Personalakten und Datenschutz 11.8 Bei der Führung der Personalakten sind seit dem 25.5.2018 das neu gefasste BDSG und die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) zu beachten51. Der Beschäftigte soll durch den Umgang mit seinen personenbezogenen Daten nicht in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt werden, Art. 1 DSGVO. Eine Personalakte unterfällt dem Anwendungsbereich der DSGVO. Nach Art. 4 Nr. 6 DSGVO ist ein „Dateisystem“ jede strukturierte Sammlung personenbezogener Daten, die nach bestimmten Kriterien zugänglich sind, unabhängig davon, ob diese Sammlung zentral, dezentral 45 BAG v. 12.9.2006 – 9 AZR 271/06, ArbRB 2007, 97 = NZA 2007, 269 (272); Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 152; DWWS/Wedde, § 26 BDSG Rz. 246. 46 Ausführlich DWWS/Wedde, § 26 BDSG Rz. 235 ff. 47 Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz Rz. 159; Grimm/Freh, ArbRB 2012, 151 ff. zu den Anspruchsgrundlagen nach § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG (Persönlichkeitsrecht); Entschädigungsanspruch mangels Schwere der Verletzung abgelehnt in BAG v. 18.12.1984 – 3 AZR 389/83, NZA 1985, 811. 48 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 150 ff.; Fitting, § 83 BetrVG Rz. 6. 49 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 154. 50 DWWS/Wedde, § 26 BDSG Rz. 246. 51 Dazu Grimm/Göbel, jM 2018, 278 ff.

358

Grimm

Einsichtsrecht in die Personalakte

Rz. 11.9 § 11

oder nach funktionalen oder geografischen Gesichtspunkten geordnet geführt wird. Unter Personalakten im formellen Sinn sind diejenigen Schriftstücke und Unterlagen zu verstehen, die der Arbeitgeber als „Personalakte“ führt und die diesen als Bei-, Neben- oder Sonderakten zugeordnet sind. Derartige Aktenbestände sind äußerlich erkennbar in Ordnern, Heftern oder Blattsammlungen geführt, entsprechend gekennzeichnet und nach der Art ihrer Registrierung oder Aufbewahrung als zueinander gehörend bestimmbar. In der Personalakte werden personenbezogene Daten strukturiert gesammelt und nach bestimmten Kriterien zugänglich gemacht, weshalb die Personalakte dem sachlichen Anwendungsbereich der DSGVO und des BDSG unterfällt52. Zu beachten sind deshalb bei der Personalaktenführung organisatorische Pflichten des Arbeitgebers nach der DSGVO (dazu Rz. 3.72), Einhaltung der datenschutzrechtlichen Grundsätze (dazu Rz. 3.77), die Rechtfertigung der Datenverarbeitung nach § 26 Abs. 1 und 3 BDSG oder durch Einwilligung nach § 26 Abs. 2 BDSG oder durch Dienst- oder Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge gemäß § 26 Abs. 4 BDSG (dazu Rz. 3.79) und Veränderungen, die den Datenschutz bei der Ausübung der Mitbestimmungsrechte von Betriebs- und Personalräten (dazu Rz. 3.109.) betreffen. Zudem haben Beschäftigte vielfältige Individualansprüche (dazu Rz. 3.88). Personalaktenrechtlich ist der Auskunftsanspruch aus Art. 15 Abs. 3 DSGVO von besonderer Relevanz (dazu Rz. 3.92 ff.)

11.8a

V. Einsichtsrecht in die Personalakte 1. Einsichtsrecht im bestehenden Arbeitsverhältnis Beschäftigte haben ein Recht auf vollständige Einsicht in ihre Personalakte, § 3 Abs. 5 Satz 1 TVöD. Dies umfasst das Recht, Auszüge und Kopien aus der Akte anzufertigen und zu behalten, § 3 Abs. 5 Satz 3 TVöD. Ein Recht auf vollständige Kopie und Bereithaltung dieser Kopie zur Abholung besteht dagegen nicht und ist auch nicht aus § 3 Abs. 5 TVöD ableitbar53. Gestattet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer, Kopien der in der Personalakte befindlichen Schriftstücke anzufertigen, besteht kein Recht des Arbeitnehmers, bei der Einsichtnahme einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen. Durch die Möglichkeit, Kopien anzufertigen, berücksichtigt der Arbeitgeber das Transparenzinteresse des Arbeitnehmers in ausreichendem Maße54. Aus dem Grundsatz der Vollständigkeit folgt, dass vor Einsicht durch den Beschäftigten die Personalakte vollständig sein muss und nichts daraus entfernt werden darf55. Der Beschäftigte ist jederzeit zum Einblick in seine Personalakte berechtigt56. Hier folgt der TVöD den beamtenrechtlichen Vorschriften des § 110 Abs. 1 BBG, der ein Recht auf Akteneinsicht gewährt. Daneben kann das Recht auf Einsicht in die Personalakte im Geltungsbereich des BetrVG aus § 83 Abs. 1 BetrVG abgeleitet werden57. Der Beschäftigte muss einen Antrag beim zuständigen Behördenleiter stellen. Dieser entscheidet über den genauen Ort und die genaue Zeit der Ak52 So LAG Sachsen-Anhalt v. 23.11.2018 – 5 Sa 7/17, NZA-RR 2019, 355 m. Anm. Rütz/Sturm, DB 2019, 1452; Gola/Gola, DS-GVO, 2. Aufl. 2018, Art. 4 DS-GVO Rz. 43-47. 53 LAG Hessen v. 9.5.2014 – 14 Sa 903/14, ZTR 2015, 445 (Leitsatz und Gründe). 54 BAG v. 12.7.2016 – 9 AZR 791/14, ZTR 2016, 709; Schulze/Ratzesberger, ArbRAktuell 2017, 63 (63). 55 Vgl. BAG v. 16.10.2007 – 9 AZR 110/07, ArbRB 2008, 134 = NZA 2008, 367; Müller, öAT 2014, 200 (201). 56 Zerbe in Tschöpe, Teil 4 A Rz. 417; GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 22. 57 Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 128.

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359

11.9

§ 11 Rz. 11.9

Personalakte

teneinsicht, was regelmäßig nur während der Dienststunden der Fall sein wird58, ähnlich § 110 Abs. 3 Satz 1 BBG. Es besteht kein Anspruch des Beschäftigten auf Überlassung der Personalakten59. Allerdings ist auf Verlangen ein Ausdruck der automatisiert gespeicherten Personalaktendaten zu überlassen (§ 110 Abs. 3 Satz 3 BBG). Der Beschäftigte kann sein Recht zur Akteneinsicht wiederholt ausüben, allerdings nur bis zur Grenze der Rechtsmissbräuchlichkeit60. Sind die Personalakten verschlüsselt, müssen sie dem Beschäftigten erläutert werden61. Der Behörde dürfen keine Kosten für die Einsichtnahme entstehen, wie bspw. Versandkosten62. Das Recht zur Akteneinsicht schließt nicht die Einsicht in Prozessakten ein, die einen Rechtsstreit mit dem Arbeitgeber betreffen63.

11.10 Gegenstand der Personalakten können auch ärztliche oder ähnliche persönliche Gutachten (zB von Sachverständigen) über den Beschäftigten sein. Nur unter besonderen Umständen, etwa wenn der Beschäftigte durch den Inhalt des Gutachtens Schaden nehmen könnte, ist aufgrund der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers das Gutachten gesondert aufzubewahren und dem Beschäftigten nicht zugänglich zu machen64. Soweit eine nachteilige Entscheidung auf ein dem Beschäftigten nicht zugängliches Gutachten gestützt wird, ist ihm Gelegenheit zur Entkräftung des Gutachtens zu geben65. Hierzu ist einem beauftragten Rechtsanwalt, Vertreter einer Gewerkschaft oder einem sonstigen schriftlich Bevollmächtigten Einsicht in das Gutachten zu gewähren66.

11.11 Der TVöD trifft keine Regelung bezüglich der Einsichtsmöglichkeiten Dritter in die Personalakten. Diesen sind aufgrund des Grundsatzes der Vertraulichkeit äußerst enge Grenzen gezogen67. Im Beamtenrecht ist, abgesehen von Sonderfällen, wie der Abwehr einer erheblichen Beeinträchtigung des Allgemeinwohls oder dem Schutz berechtigter höherrangiger Interessen Dritter, die Zustimmung des Beamten einzuholen, § 111 Abs. 2 Satz 1 BBG. Zwischen einzelnen Behörden besteht die Möglichkeit der Weitergabe von Informationen im Wege der Amtshilfe, Art. 35 Abs. 1 GG. Ohne Einwilligung sind Auskünfte im Rahmen der Personalverwaltung nach Maßgabe des § 111 Abs. 1 BBG und § 111b BBG, der im Zuge des 2. DSAnpUG den bisherigen § 111 Abs. 2 BBG sinngemäß übernimmt68, möglich. Aufgrund der Verschwiegenheitspflicht und der besonderen Sensibilität der Personalakten muss die aktenführende Behörde sorgsam prüfen, ob sie zur Weitergabe der Informationen berechtigt ist69. Die Berechtigung besteht nicht, wenn einer auskunftsfordernden Behörde an-

58 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 159; Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 58; Fitting, § 83 BetrVG Rz. 12; GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 22 f. 59 BAG v. 16.11.2010 – 9 AZR 573/09, ArbRB 2011, 101 = NZA 2011, 453 (457); Wlotzke/Preis/ Kreft/Preis, § 83 BetrVG Rz. 7. 60 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 159; Zerbe in Tschöpe, Teil 4 A Rz. 417; GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 22. 61 GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 23; Fitting, § 83 BetrVG Rz. 10. 62 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 160. 63 BAG v. 8.4.1992 – 5 AZR 101/91, RDV 1993, 171; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 161; Fitting, § 83 BetrVG Rz. 6; GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 8. 64 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 157. 65 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 158. 66 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 158. 67 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 170. 68 ZB. bei der Aufgabenübertragung, BR-Drucks. 430/18, S. 16, 248 f. 69 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 172.

360

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Einsichtsrecht in die Personalakte

Rz. 11.12 § 11

dere Erkenntnisquellen zur Verfügung stehen70. Personalakten können komplett oder in Teilen innerhalb einer Behörde oder Dienststelle zur Verfügung gestellt werden, wenn sich die dienstliche Notwendigkeit ergibt (etwa bei Versetzungen, Zuweisungen oÄ)71. Auf Anordnung erfolgt eine Weitergabe der Personalakten an Gerichte, an die Finanzverwaltung zur Steuerprüfung oder an die Rechnungsprüfungsbehörden, § 95 Abs. 1 BHO72. Das Justizmitteilungsgesetz (JuMiG) begründet keine Mitteilungspflichten des Arbeitgebers, sondern nur Mitteilungsbefugnisse. Personalvertretung, Betriebsrat oder Gewerkschaften haben kein eigenes Einsichtnahmerecht73. Zu ihrer Aufgabenerfüllung steht ihnen ein Informationsanspruch gegenüber dem Dienststellenleiter zu, wenn der Inhalt der Personalakten für die Beschlussfassung der Personalvertretung entscheidend ist und dies mit der in § 68 Abs. 2 Satz 4 BPersVG angeordneten Pflicht zur eingeschränkten und vertraulichen Nutzung vereinbar ist74. Nach § 83 Abs. 1 Satz 2 BetrVG kann der Arbeitnehmer bei seiner Einsicht ein (nach § 83 Abs. 1 Satz 3 BetrVG zur Vertraulichkeit verpflichtetes) Mitglied des Betriebsrats hinzuziehen. Entsprechendes ordnet § 68 Abs. 2 Satz 2 BPersVG an75. Personalakten oder Sammlungen von Personalakten dürfen nur mit Zustimmung des Beschäftigten und zudem nur von den von ihm bestimmten Mitgliedern des Personalrats eingesehen werden, § 65 Abs. 3 Satz 1 LPersVG NW76. Die Bevollmächtigung iSv. § 164 ff. BGB muss sich auf einen konkreten Einzelfall beziehen77. Den Ort der Einsichtnahme bestimmt die Dienststelle78. Auch scheidet eine Überlassung der Personalakte an das bevollmächtigte Personalratsmitglied aus79. Diese Beschränkungen gelten nicht für listenmäßig aufgeführte Personaldaten, die regelmäßig Entscheidungsgrundlage in beteiligungspflichtigen Angelegenheiten sind80. Beurteilungen sind gegenüber der Mitarbeitervertretung besonders geschützt. Von Beurteilungen ist dem Personalrat selbst dann, wenn diese Grundlage mitbestimmungspflichtiger personeller Einzelmaßnahmen sind, nur die abschließende Bewertung bekannt zu geben (zB Art. 69 Abs. 2 Satz 4 BayPersVG). Nur wenn der Beschäftigte es wünscht, ist der Personalrat bei der Erstellung von Beurteilungen zu beteiligen (vgl. § 68 Abs. 2 Satz 3 BPersVG)81. Nach § 65 Abs. 3 Satz 2 LPersVG NW, der sich auf sämtliche Beurteilungen (Regel- und Anlassbeurteilungen) bezieht, sind dienstliche Beurteilungen auf Verlangen des Beschäftigten dem Per-

70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80

81

Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 172. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 173. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 175 ff. mwN. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 180; GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 30; Wlotzke/Preis/Kreft/Preis, § 83 BetrVG Rz. 13. BVerwG v. 26.1.1994 – 6 P 21/92, BVerwGE 95, 73. Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 2140. Laber/Pagenkopf/Lenders, Landespersonalvertretungsgesetz Nordrhein-Westfalen, § 65 Rz. 58. Laber/Pagenkopf/Lenders, Landespersonalvertretungsgesetz Nordrhein-Westfalen, § 65 Rz. 51. Laber/Pagenkopf/Lenders, Landespersonalvertretungsgesetz Nordrhein-Westfalen, § 65 Rz. 52. Laber/Pagenkopf/Lenders, Landespersonalvertretungsgesetz Nordrhein-Westfalen, § 65 Rz. 52. Das sind zB Name, Vorname, Geburtsjahr, Hinweis auf Ausbildung, Eintritt in den Vorbereitungsdienst und Ernennungsdaten, Abteilungs- und Dezernatszugehörigkeit, Beurlaubung und Ermäßigung der Arbeitszeit (von-bis), bei Arbeitnehmern zusätzlich Datum der letzten Eingruppierung, Vergütungs- bzw. Lohngruppe und Fallgruppe, feste Zulagen, vgl. Laber/Pagenkopf/Lenders, Landespersonalvertretungsgesetz Nordrhein-Westfalen, § 65 Rz. 56. Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 2142.

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361

11.12

§ 11 Rz. 11.12

Personalakte

sonalrat zur Kenntnis zu bringen82. Dabei kann der Beschäftigte die Kenntnisnahme nicht auf bestimmte Personalratsmitglieder beschränken83.

11.13 Privatpersonen (zB private Arbeitgeber, bei denen sich der Arbeitnehmer bewirbt) besitzen kein Recht auf Einsichtnahme in Personalakten anderer84. Macht der Arbeitgeber die Personalakten dennoch ohne Wissen des Beschäftigten anderen zugänglich, liegt eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts vor85. Ein Anspruch auf Schmerzensgeld erwächst hieraus üblicherweise nicht, sondern nur, wenn ausnahmsweise aufgrund der Schwere der Verletzung ein unabwendbares Bedürfnis anzuerkennen ist86. Dem Gleichstellungsbeauftragten steht gemäß § 30 Abs. 3 BGleiG ein Einsichtsrecht in die entscheidungsrelevanten Teile von Personalakten zu, soweit die Kenntnis des Akteninhalts zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich ist. Der Schwerbehindertenbeauftragte hat kein eigenes Recht zur Einsichtnahme, er kann lediglich durch den Beschäftigten hinzugezogen werden, § 178 Abs. 3 Satz 1 SGB IX. 2. Einsichtsrecht nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses

11.14 Für ausgeschiedene Beschäftigte besteht ein Anspruch auf Einsicht in die Personalakte aus der nachwirkenden arbeitgeberseitigen Schutz- und Rücksichtnahmepflicht gemäß § 241 Abs. 2 BGB iVm. dem aus Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG folgenden Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung87. Die Darlegung eines konkreten berechtigten Interesses durch den Arbeitnehmer fordert das BAG nicht mehr. Unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung88 hat es festgestellt, dass der nachwirkende, vertraglich ausgelöste Schutz des Persönlichkeitsrechts bereits in § 26 Abs. 1 Satz 1 iVm. Abs. 8 Satz 2 BDSG (§ 32 Abs. 1 Satz 1 iVm. Abs. 2 und § 3 Abs. 11 Nr. 7 Alt. 2 BDSG aF) ein hinreichend normiertes Interesse findet, sich über den personenbezogenen Datenbestand zu informieren89. Die Einsichtnahme ist ein höchstpersönliches Recht, erlischt im Falle des Todes und geht nicht auf die Hinterbliebenen über90. Machen diese ein berechtigtes Interesse glaubhaft und stehen dienstliche Belange nicht entgegen, können ihnen jedoch ausnahmsweise Auskünfte erteilt oder Auszüge bzw. Kopien aus den Personalakten ausgehändigt werden91. Hierfür ist weitere Voraussetzung, dass die Personalakte noch existiert; es besteht grundsätzlich keine Aufbewahrungspflicht für die Personalakten ausgeschiedener Beschäftigter92 (vgl. aber für das Beamtenrecht § 113 Abs. 1 Satz 1 BBG: fünf Jahre; zum Auskunftsanspruch nach Beendigung des Beamtenverhältnisses § 110 Abs. 1 Satz 2 BBG).

82 Laber/Pagenkopf/Lenders, Landespersonalvertretungsgesetz Nordrhein-Westfalen, § 65 Rz. 58. 83 BVerwG v. 11.3.1983 – 6 P 23/80, PersV 1984, 317; Laber/Pagenkopf/Lenders, Landespersonalvertretungsgesetz Nordrhein-Westfalen, § 65 Rz. 59. 84 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 186; Fitting, § 83 BetrVG Rz. 9. 85 BAG v. 18.12.1984 – 3 AZR 389/83, NZA 1985, 811 (811 f.). 86 BAG v. 18.12.1984 – 3 AZR 389/83, NZA 1985, 811 (812); BGH v. 26.1.1971 – VI ZR 95/70, NJW 1971, 698 (700); BAG v. 21.2.1979 – 5 AZR 568/77, NZA 1979, 2532. 87 BAG v. 16.11.2010 – 9 AZR 573/09, ArbRB 2011, 101 = NZA 2011, 453 (455); Thüringer LAG v. 28.5.2014 – 6 Sa 213/13, öAT 2014, 257. 88 S. etwa BAG v. 11.5.1994 – 5 AZR 660/93, EzBAT § 13 BAT Nr. 30. 89 BAG v. 16.11.2010 – 9 AZR 573/09, ArbRB 2011, 101 = NZA 2011, 453 (456 f.). 90 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 168. 91 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 168. 92 Fitting, § 83 BetrVG Rz. 8; GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 21.

362

Grimm

Recht des Beschäftigten auf Auszüge und Kopien

Rz. 11.17 § 11

Der Arbeitnehmer hat einen Anspruch auf Einsichtnahme in den Räumlichkeiten des Arbeitgebers und zwar im alleinigen Beisein seines Prozessbevollmächtigten93. Darüber hinaus lässt sich aus § 3 Abs. 5 TVöD kein Anspruch eines ehemals Beschäftigten darauf herleiten, dass der Arbeitgeber eine vollständige Kopie seiner Personalakte anfertigt und zur Abholung bereithält94.

VI. Ausübung des Einsichtsrechts durch einen Bevollmächtigten Der Beschäftigte kann zur Einsichtnahme einen Vertrauten bevollmächtigen, § 3 Abs. 5 Satz 2 TVöD. Dies war schon zuvor in § 13 Abs. 1 Satz 2 BAT geregelt. Detailliertere Regelungen sind im TVöD mangels praktischer Bedeutung entfallen95. Für Beamte gilt eine entsprechende Regelung in § 110 Abs. 3 Satz 1 BBG, sofern keine dienstlichen Gründe entgegenstehen96.

11.15

Notwendig ist eine schriftliche Bevollmächtigung, die keiner Begründung bedarf97. Die Voll- 11.16 macht kann nur für eine (konkrete) einmalige Einsicht erteilt werden; die Erteilung einer Dauervollmacht ist nicht zulässig98. Die schriftliche Vollmacht ist zu den Personalakten zu nehmen99. Sie kann nur an eine natürliche Person erteilt werden100. Personalakten können auch von einem vom Beschäftigten bestimmten Mitglied der Personalvertretung eingesehen werden, § 68 Abs. 2 Satz 3 BPersVG bzw. § 65 Abs. 3 Satz 1 LPersVG NW (s. Rz. 11.12). Durch die Einsichtnahme erlangte Kenntnisse des Personalratsmitglieds fallen unter dessen Schweigepflicht (§ 10 BPersVG). Nach § 83 Abs. 1 Satz 2 BetrVG kann der Arbeitnehmer ein Mitglied des Betriebsrats bei der Einsicht hinzuziehen101. Für die Schweigepflicht gilt § 83 Abs. 1 Satz 3 BetrVG. Schwerbehinderte und diesen gleichgestellte Beschäftigte (vgl. § 151 Abs. 3 SGB IX) können die Schwerbehindertenvertretung bei der Einsicht in die Personalakte hinzuziehen, § 178 Abs. 3 Satz 1 SGB IX.

VII. Recht des Beschäftigten auf Auszüge und Kopien § 3 Abs. 5 Satz 3 TVöD gewährt dem Beschäftigten das Recht, Auszüge und Kopien aus seiner Personalakte zu erhalten, soweit dies zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich ist. Der Arbeitgeber entscheidet, in welchem Umfang der Akteninhalt zur Verfügung gestellt wird. Dabei kann und soll kein vollständiges Duplikat der Personalakte angefertigt werden102. Die Anfertigung von Kopien kann verweigert werden, wenn anderen Personen durch die Verwendung

93 94 95 96 97 98 99 100 101 102

Thüringer LAG v. 28.5.2014 – 6 Sa 213/13, öAT 2014, 257. LAG Hessen v. 9.5.2014 – 14 Sa 903/13, ZTR 2015, 445. Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg, F 4. Die Norm entspricht dem bis Herbst 2019 geltenden § 110 Abs. 2 BBG, vgl. BR-Drucks. 430/18, S. 247. Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 69. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 164; Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 61. Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 69. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 164; Bepler/Böhle/Meerkamp/Stöhr/ Stier, § 3 TVöD-AT Rz. 69. Dazu Kleinebrink, DB 2012, 1508 (1511 f.). Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 166; Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 62.

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363

11.17

§ 11 Rz. 11.17

Personalakte

des Materials Nachteile entstehen können103. Für Beamte gilt ähnliches, soweit keine dienstlichen Gründe entgegenstehen (§ 110 Abs. 3 Satz 1 BBG)104.

11.18 Ein Recht auf vollständige Kopie und Bereithaltung einer Kopie der Personalakte zur Abholung besteht dagegen nicht und ist auch nicht aus § 3 Abs. 5 TVöD ableitbar105 (so auch in Rz. 11.9). Art. 15 Abs. 1 Satz 1 DSGVO gibt dem Beschäftigten einen datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruch (dazu ausführlich unter Rz. 3.92, 3.94 f.). Dazu hat das LAG Baden-Württemberg106 die Auffassung vertreten, dass das Recht auf Auskunft und Kopie nach Art. 15 Abs. 1 und 3 DSGVO weit auszulegen sei. Es umfasse alle personenbezogenen Leistungs- und Verhaltensdaten, die Gegenstand der Datenverarbeitung (Art. 4 Nr. 2 DSGVO) der verantwortlichen Stelle (vgl. Art. 4 Nr. 7 DSGVO) „Arbeitgeber“ seien. Nach Art. 15 Abs. 3 DSGVO müssen auf Antrag auch Kopien zur Verfügung gestellt werden107. Das umfasse ua. auch alle Vermerke in einer Ermittlungsakte, in der nach Hinweisen anderer Beschäftigter ein Pflichtverstoß des klagenden Arbeitnehmers festgestellt worden war108. Man darf gespannt sein, wie das BAG109 in der Revisionsinstanz die Interessenabwägung vornehmen wird, zumal auch einige Datenschutzbeauftragte einen so weitgehenden Anspruch verneinen110.

11.18a Gesetzliche Einschränkungen des Kopieanspruchs ergeben sich zB aus Art. 15 Abs. 4 DSGVO (Schutz der Rechte und Freiheiten anderer Personen). Nach Art. 15 Abs. 4 DSGVO entfällt der Kopieanspruch aber nicht vollständig, weil die Kopie nur an der konkreten Stelle einzuschränken ist, an der sich die Kollisionslage ergibt111. Ferner kann der Einwand des Rechtsmissbrauchs, der in Art. 12 Abs. 5 Satz 2 lit. b DSGVO näher geregelt ist112, erhoben werden. Regelbeispiel ist die häufige Wiederholung, wobei Erwägungsgrund 63 Satz 1 DSGVO die Ausübung des Kopieanspruchs „in angemessenen Abständen“ ausdrücklich zulässt113. Nach Erwägungsgrund 63 Satz 7 DSGVO kann der Arbeitgeber ferner die Präzisierung verlangen, auf welche Informationen sich der Anspruch bezieht, um zu prüfen, ob ein inhaltlicher Exzess vorliegt. Rechtsmissbräuchlich ist ein Kopieanspruch, wenn er genutzt wird, um in Vergleichsverhandlungen „Druck aufzubauen“114.

103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114

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Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 166. Zur Neuregelung des 2. DSAnpUG BR-Drucks. 430/18, S. 247. LAG Hessen v. 9.5.2014 – 14 Sa 903/14, ZTR 2015, 445 (Leitsatz und Gründe). LAG Baden-Württemberg v. 20.12.2018 – 17 Sa 11/18, NZA-RR 2019, 242 (250) m. krit. Besprechung Wybitul/Brams, NZA 2019, 672 ff.; Braun, ArbRB 2019, 134. Zur Vorgehensweise des Arbeitgebers beim Kopieverlangen des Arbeitnehmers: Schulte/Welge, NZA 2019, 1110 (1115). Zum Schutz der Anonymität der Hinweisgeber (sog. Whistleblower) ausführlich unter Rz. 3.97. Anhängig unter BAG – 5 AZR 66/19. So zB der Hess. Landesdatenschutzbeauftragte, S. 81 f. des 47. Tätigkeitsberichts des HBfDI v. 24.6.2019 (abgerufen am 6.8.2019 unter https://datenschutz.hessen.de/sites/datenschutz.hessen. de/files/2018_47_TB.pdf). Schulte/Welge, NZA 2019, 1110 (1113). Die Einschränkung ist durch Unkenntlichmachung, Schwärzung oder andere Mittel vorzunehmen (Kühling/Buchner/Bäcker, Art. 15 DSGVO Rz. 42). Zu den Argumentationen Schulte/Welge, NZA 2019, 1110 (1112 f., 1113 f.). Schulte/Welge, NZA 2019, 1110 (1114); König, CR 2019, 295 (297). So zu Recht unter Hinweis auf Forderungen in Vergleichsverhandlungen Schulte/Welge, NZA 2019, 1110 (1114 f.). Methodisch kann der Kopieanspruch aber – weil die DSGVO in der Nor-

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Abmahnung und Beschwerden

Rz. 11.19 § 11

In der Literatur wird überdies vertreten, dass der Kopieanspruch nach Art. 15 Abs. 3 DSGVO entweder arbeitsvertraglich oder durch Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen nach Art. 88 DSGVO115 eingeschränkt werden kann116. Geregelt werden könnte der Gegenstand des Kopieverlangens, die zeitlichen Abstände, das Medium der Kopie, etwaiges Entgelt bei wiederholten Anträgen und Ausschlusstatbestände, wie zB ein zum Zeitpunkt des Kopieverlangens anhängiges Arbeitsgerichtsverfahren117.

VIII. Abmahnung und Beschwerden 1. Anhörung vor Aufnahme einer Abmahnung in die Personalakte Nach § 13 Abs. 2 BAT (vgl. auch § 11a Abs. 2 BMT-G, § 13a MTArb) mussten Angestellte über 11.19 Beschwerden und Behauptungen tatsächlicher Art, die für sie ungünstig waren oder nachteilig hätten werden können, vor Aufnahme in die Personalakten gehört werden. Dementsprechend hatte auch vor der Aufnahme einer Abmahnung eine Anhörung des betroffenen Beschäftigten zu erfolgen, anderenfalls war die Abmahnung unwirksam118. Mit dem TVöD ist dieses Wirksamkeitserfordernis ersatzlos weggefallen (s. aber § 3 Abs. 6 Satz 4 TV-L und § 109 BBG für das Beamtenverhältnis). Aus dem aus der arbeitgeberseitigen Fürsorgepflicht abzuleitenden Grundsatz der Offenheit und des Vertrauens, der eine Nebenpflicht nach § 241 Abs. 2 BGB darstellt, ergibt sich jedoch unabhängig vom Bestehen entsprechender tariflicher Regelungen ein Anspruch auf rechtliches Gehör des Arbeitnehmers119. Das daraus folgende Recht auf Anhörung erstreckt sich ebenfalls auf alle Beschwerden und Behauptungen, die für den Beschäftigten ungünstig sind oder später einmal von Nachteil werden können120, ähnlich § 69 Abs. 2 Satz 6 BPersVG. Auch nach Wegfall von § 13 Abs. 2 BAT ist der Arbeitnehmer also vor Aufnahme einer Abmahnung in die Personalakte anzuhören121. Das Anhörungsrecht bezieht sich hingegen nicht auf dienstliche Beurteilungen und sonstige Werturteile zur Person des Arbeitnehmers, es sei denn, diese stehen in untrennbarem Zusammenhang mit aufzunehmenden

115

116 117 118 119 120 121

menhierarchie dem § 242 BGB vorgeht – nur im Wege der teleologischen Reduktion eingeschränkt werden, Härting, CR 2019, 219 (223). Gegen die Regelungsmöglichkeit durch Kollektivvereinbarungen spricht, dass Individualansprüche der Beschäftigten wie das Kopieverlangen des Art. 15 Abs. 4 DSGVO nach der ausdrücklichen Regelung des Art. 23 DSGVO nur durch formelles Gesetz und nicht durch sonstige Normen, wie zB Betriebs- oder Dienstvereinbarungen und Tarifverträge, eingeschränkt werden können, so unter Hinweis auf Kühling/Buchner/Bäcker, Art. 23 DSGVO Rz. 35 f. und Paal/Pauly/Paal, Art. 23 DSGVO Rz. 15a wohl zu Recht Schulte/Welge, NZA 2019, 1110 (1115). Schulte/Welge, NZA 2019, 1110 (1114 f.) mwN. So Schulte/Welge, NZA 2019, 1110 (1115). Zur Regelung im BAT: Dassau/Wiesend-Rothbrust, BAT, A I 1, § 13 Rz. 18 ff. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 188; ArbG Frankfurt (Oder) v. 7.4.1999 – 6 Ca 61/99, NZA-RR 1999, 467 (468); Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 919 f. mwN; Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 67. Vgl. zu § 13 Abs. 2 BAT: BAG v. 16.11.1989 – 6 AZR 64/88, NZA 1990, 477; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 190; Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 67. ArbG Frankfurt (Oder) v. 7.4.1999 – 6 Ca 61/99, NZA-RR 1999, 467 (468); Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 920; Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 67; aA Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg, F 4; offen lassend Bredemeier/Neffke/Gerretz, § 3 TVöD Rz. 58; Straube/Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 782.

Grimm

365

§ 11 Rz. 11.19

Personalakte

Tatsachenbehauptungen122. Andere Bestimmungen, wie zB § 82 Abs. 1 Satz 1 BetrVG (allgemeines Anhörungs- und Vorschlagsrecht des Arbeitnehmers), bleiben unangetastet123. 2. Recht auf Gegendarstellung

11.20 Eine Gegendarstellung des Beschäftigten (früher § 13 Abs. 2 Satz 2 BAT) zu einem Vorgang ist zu den Personalakten zu nehmen124. Dieses Recht folgt aus § 83 Abs. 2 BetrVG und ist zur Gewährleistung des Persönlichkeitsrechtsschutzes notwendig. Unrichtige oder abwertende Angaben über die Person des Arbeitnehmers werden durch dessen Gegenerklärung jedoch nicht neutralisiert125. Auch folgt aus § 83 Abs. 2 BetrVG kein Anspruch des Arbeitnehmers auf Berichtigung oder Entfernung unrichtiger bzw. unzulässiger Teile der Personalakte126. Die Gegendarstellung ist auch dann in die Personalakte zu übernehmen, wenn der Arbeitgeber der Ansicht ist, dass sie falsch sei oder nicht in der Personalakte aufbewahrt werden müsse127. Allerdings muss nichts in die Personalakte aufgenommen werden, was nicht Inhalt einer Personalakte sein kann, dh. Vorgänge, die nicht im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis oder der Personalführung des Beschäftigten stehen128.

11.21 Eine bestimmte Form ist für die Gegendarstellung nicht vorgegeben, sie richtet sich nach dem jeweils geltenden System und der dabei gehandhabten Ordnung129. Die Gegendarstellung muss in räumlichem Zusammenhang zu dem bestrittenen Vorgang so aufgenommen werden, dass die Akte aus Rede und Gegenrede besteht und jeder Einsichtnehmende sich ein eigenes Bild machen kann. Dies gilt auch, wenn eine Klage auf Entfernung des Vorgangs zuvor abgewiesen worden ist130.

IX. Entfernung von Vorgängen aus der Personalakte 11.22 Auch in Bezug auf das Recht des Beschäftigten auf Entfernung von Vorgängen aus der Personalakte hat sich durch den Wegfall des BAT keine Änderung ergeben, es gelten die üblichen Grundsätze131.

11.23 Der Arbeitgeber ist berechtigt, sämtliche Vorgänge – auch soweit sie negativ sind – in die Personalakte aufzunehmen. Dabei ist der Grundsatz der Vollständigkeit der Personalakte gegen die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers abzuwägen132. Ausgenommen sind falsche Behauptun122 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 189; Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 67. 123 Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 30; Bepler/Böhle/Meerkamp/Stöhr/Stier, § 3 TVöDAT Rz. 55. 124 Straube/Rasche in Tschöpe, Teil 2 A Rz. 782; Wlotzke/Preis/Kreft/Preis, § 83 BetrVG Rz. 14. 125 BAG v. 27.11.1985 – 5 AZR 101/84, NZA 1986, 227 (228); HWK/Sittard, § 83 BetrVG Rz. 9; Zerbe in Tschöpe, Teil 4 A Rz. 422. 126 GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 35. 127 Fitting, § 83 BetrVG Rz. 14; Wlotzke/Preis/Kreft/Preis, § 83 BetrVG Rz. 14. 128 GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 34; Müller, DB 2011, 2604 (2608). 129 GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 32. 130 BVerfG v. 16.10.1998 – 1 BvR 1685/92, NZA 1999, 77 (78). 131 Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 29. 132 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 193; Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 71.

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Entfernung von Vorgängen aus der Personalakte

Rz. 11.24 § 11

gen, unrichtige dienstliche Beurteilungen und in Ausnahmefällen auch Vorgänge über ein dienstliches Fehlverhalten, denen ein weit überwiegendes Interesse des Beschäftigten entgegensteht133. Falls solche Vorgänge in die Personalakte aufgenommen werden, kann durch Leistungsklage sowohl die Unterlassung der Aufnahme als auch die Entfernung oder Vernichtung der Eintragungen oder die Vornahme von Änderungen oder Ergänzungen erzwungen werden134. Die Beweislast liegt grundsätzlich beim Arbeitnehmer. Wehrt sich der Arbeitnehmer gegen eine unrichtige dienstliche Beurteilung, muss der Arbeitgeber seine Beurteilung zunächst durch die Darlegung von Tatsachen begründen. Der Arbeitnehmer muss daraufhin die Tatsachen darlegen, die seiner Meinung nach bei der Beurteilung ungerechtfertigterweise nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt wurden135. Die dienstliche (Anlass-) Beurteilung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers ist aus dessen Personalakte zu entfernen, wenn sie gegen eine Richtlinie des Arbeitgebers, nach der die Schwerbehindertenvertretung auf Verlangen des Arbeitnehmers vor Erstellung der dienstlichen Beurteilung anzuhören ist, verstößt oder ohne hinreichende Befassung mit der Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung erstellt wird136. Der Anspruch auf Entfernung einer dienstlichen Beurteilung aus der Personalakte unterfällt nicht tariflichen Ausschluss- bzw. Verfallfristen (etwa § 37 TVL), die sich auf „Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis“ beziehen137. Das gilt auch für arbeitsvertraglich vereinbarte Ausschluss- bzw. Verfallfristen. Die Aufnahme von Informationen über Strafverfahren in die Personalakte ist zulässig, falls dies für eine Kündigung oder eine Aufsichtsmaßnahme erforderlich ist. Anderenfalls ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Unterlagen an das Gericht zurückzusenden138. In Privatklageverfahren nach §§ 374 ff. StPO ist eine Übermittlung durch das Gericht nicht geboten. Der Arbeitgeber darf eine solche Information nicht aufnehmen139. Sofern der Arbeitgeber die Unterlagen behalten darf, sind sie nicht in die Personalakte zu übernehmen, wenn die Verurteilung ein strafbares Verhalten im außerdienstlichen Bereich betrifft und das Vergehen nicht in das vom Bundeszentralregister auszustellende Führungszeugnis aufzunehmen ist und der Beschäftigte den der Verurteilung zugrunde liegenden Sachverhalt nicht nach § 53 BZRG zu offenbaren braucht140. Ist ein solches Urteil in den Personalakten, muss es dem Beschäftigten ausgehändigt oder entfernt und vernichtet werden141. Im Beamtenrecht sind Mitteilungen in

133 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 193. 134 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 194; GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 35. 135 BAG v. 28.3.1979 – 5 AZR 80/77, AP Nr. 3 zu § 75 BPersVG. 136 LAG Rheinland-Pfalz v. 22.8.2018 – 7 Sa 71/18, öAT 2019, 18 (m. zust. Anm. Hauck-Scholz): Der Arbeitgeber hatte die zunächst unterlassene Anhörung der Schwerbehindertenvertretung nachgeholt, sich aber mit relevanten Inhalten sachlich nicht befasst. 137 So LAG Rheinland-Pfalz v. 22.8.2018 – 7 Sa 71/18, öAT 2019, 18 (m. Anm. Hauck-Scholz) unter Bezugnahme auf die Rspr. des BAG v. 14.12.1994 – 5 AZR 137/94, NZA 1995, 676 (677) zu Abmahnungen. 138 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 197. 139 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 197. 140 BAG v. 9.2.1977 – 5 AZR 2/76, NJW 1978, 124 (Ls. 1); Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 198. 141 BAG v. 9.2.1977 – 5 AZR 2/76, NJW 1978, 124 (Ls. 2); Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 198 mit Hinweis auf die Grundsätze der BAT-Kommission.

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11.24

§ 11 Rz. 11.24

Personalakte

Strafsachen, die nicht Teil einer Disziplinarakte sind, mit Zustimmung des Beamten nach zwei Jahren zu entfernen und zu vernichten, § 112 Abs. 2 BBG. Besonders praxisrelevant ist der Anspruch des Beschäftigten auf Entfernung einer Abmahnung aus seiner Personalakte. Die Rechtsprechung leitet diesen aus einer entsprechenden Anwendung der §§ 242, 1004 BGB her142. Die in einer Abmahnung enthaltene missbilligende Äußerung des Arbeitgebers sei geeignet, den Arbeitnehmer in seinem beruflichen Fortkommen und seinem Persönlichkeitsrecht zu beeinträchtigen143. Der Arbeitnehmer kann die Beseitigung der Beeinträchtigung demnach verlangen, wenn die Abmahnung – formell nicht ordnungsgemäß zustande gekommen ist, – unrichtige Tatsachenbehauptungen enthält, – auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Verhaltens des Arbeitnehmers beruht, – den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt, – statt eines konkret bezeichneten Fehlverhaltes nur pauschale Vorwürfe enthält oder wenn kein schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers am Verbleib der (zu Recht erteilten) Abmahnung in der Personalakte mehr besteht144. Der Anspruch auf Entfernung im Gesamten besteht auch, wenn mehrere Vorwürfe zusammengefasst werden, die nur teilweise zutreffen145. Daher empfiehlt sich die Trennung verschiedener Vorwürfe. Angesichts des Fortdauerns der persönlichkeitsrechtlichen Störung greift eine tarifliche Ausschlussfrist nicht146. Allerdings kann der Anspruch nach den allgemeinen Grundsätzen verwirken147.

11.24a Bis zum 25.5.2018 galt, dass dem Arbeitnehmer nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Entfernungsanspruch nur ausnahmsweise zustand. Dies setzte voraus, dass objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Abmahnung dem Arbeitnehmer weiterhin schaden kann148. Dies ist im öffentlichen Dienst insbesondere dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer vor einem Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes steht, da eine Einstellung oftmals von einer Zustimmung des Arbeitnehmers zur Einsichtnahme in die bisherige Personalakte abhängig gemacht wird149. Mit Blick auf den Löschungsanspruch des Arbeitnehmers nach Art. 17 Abs. 1 DSGVO bejaht das LAG Sachsen-Anhalt zu Recht den Anspruch auf Entfernung aus der Personalakte, die nach Art. 4 Nr. 6 DSGVO ein „Dateisystem“ sei, auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses150. Die mit der Abmahnung verfolgten Zwecke (Rü142 BAG v. 27.11.2008 – 2 AZR 675/07, ArbRB 2009, 163 = NZA 2009, 842 (843); v. 23.6.2009 – 2 AZR 606/08, ArbRB 2009, 287 = NZA 2009, 1011 (1011); v. 12.8.2010 – 2 AZR 593/09, ArbRB 2011, 68 = NZA-RR 2011, 162 (163). 143 BAG v. 27.11.2008 – 2 AZR 675/07, ArbRB 2009, 163 = NZA 2009, 842 (843); v. 23.6.2009 – 2 AZR 606/08, ArbRB 2009, 287 = NZA 2009, 1011 (1012). 144 Zusammenfassend BAG v. 27.11.2008 – 2 AZR 675/07, ArbRB 2009, 163 = NZA 2009, 842 (843) mwN. 145 BAG v. 13.3.1991 – 5 AZR 133/90, NZA 1991, 768 (768). 146 BAG v. 14.12.1994 – 5 AZR 137/94, NZA 1995, 676 (676 f.). 147 BAG v. 14.12.1994 – 5 AZR 137/94, NZA 1995, 676 (678); Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 71. 148 BAG v. 14.9.1994 – 5 AZR 632/93, NZA 1995, 220 (221). 149 Burger/Howald, § 3 TVöD/TV-L Rz. 75. 150 LAG Sachsen-Anhalt v. 23.11.2018 – 5 Sa 7/17, NZA-RR 2019, 355 m. Anm. Rütz/Sturm, DB 2019, 1452.

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Entfernung von Vorgängen aus der Personalakte

Rz. 11.26 § 11

ge und Dokumentationsfunktion) könnten nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis nicht mehr verfolgt werden. Der Verbleib in der Personalakte sei nicht mehr erforderlich, weshalb aus Art. 17 Abs. 1 DSGVO ein Löschungsanspruch des Arbeitnehmers folge. Objektiver Anhaltspunkte für einen Schaden des Arbeitnehmers bei Verbleib der Abmahnung in der Personalakte, wie das BAG sie bisher für einen Abmahnungsentfernungsanspruch nach §§ 242, 104 Abs. 1 Satz 1 BGB vorausgesetzt hatte, bedarf es daher nach Geltung der DSGVO damit wohl nicht mehr. Wenn eine Abmahnung oder sonstige Eintragung in der Personalakte auf unrichtigen Tatsachen beruht, also materiell unrichtig ist, gebietet die allgemeine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers die unverzügliche Entfernung151. Bei Beamten folgt die Pflicht zur unverzüglichen Entfernung und Vernichtung von unrichtigen oder unbegründeten Beschwerden, Behauptungen oder Bewertungen aus § 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BBG. Daneben gilt der datenschutzrechtliche Berichtigungsanspruch des § 16 DSGVO (§ 35 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF)152, sofern der Beschäftigte die Unrichtigkeit von Eintragungen in die Personalakte darlegen und auch beweisen kann153. Fristgebunden ist der Berichtigungsanspruch nicht154.

11.25

Ein Anspruch auf Entfernung einer Eintragung oder Abmahnung, die auf einer wahren Sachverhaltsdarstellung beruht, kann nur dann bestehen, wenn diese für die weitere Beurteilung des Beschäftigten überflüssig geworden ist und diese ihn in seiner beruflichen Entwicklungsmöglichkeit fortwirkend beeinträchtigen kann155. Dabei reicht es nicht aus, dass die Abmahnung nach einer längeren Zeit einwandfreier Führung ihre Warnfunktion verloren hat. Vielmehr darf der Arbeitgeber auch kein berechtigtes Interesse mehr an der Dokumentation der gerügten Pflichtverletzung haben. Das der Abmahnung zugrunde liegende Verhalten des Arbeitnehmers muss für das Arbeitsverhältnis in jeder Hinsicht rechtlich bedeutungslos geworden sein. Es darf also nicht etwa für eine zukünftige Versetzung, Beförderung oder auch Kündigung von Bedeutung sein können156. Ob dies der Fall ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. So kann ein lange zurückliegender und nicht schwerwiegender Pflichtenverstoß seine Bedeutung mit der Zeit gänzlich verlieren, während eine Pflichtverletzung im Vertrauensbereich eine erhebliche Zeit bedeutsam sein kann157.

11.26

Die Grundsätze über die Entfernung von Abmahnungen aus der Personalakte gelten gleichermaßen für schriftliche Rügen, Verwarnungen, Ermahnungen und andere Schreiben, die zu den Personalakten genommen werden und die weitere berufliche Entwicklung eines Arbeitnehmers nachteilig beeinflussen können158. 151 BAG v. 5.8.1992 – 5 AZR 531/91, NZA 1993, 838 (838); v. 13.10.1988 – 6 AZR 144/85, NZA 1989, 716 (717); Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 3 TVöD Rz. 209. 152 Beachte auch den eingeschränkten Berichtigungsanspruch nach § 28 Abs. 3 BDSG bei der Datenverarbeitung zu Archivzwecken im öffentlichen Interesse. 153 Anschaulich Brink, juris-PR-ArbR 36/2013, Nr. 3. 154 Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 1362 zu zeitlichen Begrenzungen. 155 BAG v. 13.4.1988 – 5 AZR 537/86, NZA 1988, 654 (Ls.); v. 30.5.1996 – 6 AZR 537/95, NZA 1997, 145 (148); v. 19.7.2012 – 2 AZR 782/11, ArbRB 2013, 37 = NZA 2013, 91 (92). 156 BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 782/11, ArbRB 2013, 37 = NZA 2013, 91 (92 f.). 157 BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 782/11, ArbRB 2013, 37 = NZA 2013, 91 (93). 158 Das kann auch eine mit „Ermahnung“ überschriebene Gesprächsnotiz sein: LAG Hamm v. 25.9.2009 – 19 Sa 383/09, juris Rz. 57; folgend ArbG Ulm v. 14.3.2017 – 5 Ca 328/15, juris Rz. 89. Maßgeblich ist nicht die Bezeichnung, sondern der Inhalt der Äußerung und ob sie nach Form und Inhalt geeignet ist, die Rechtsstellung des Arbeitnehmers zu beeinträchtigen.

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§ 11 Rz. 11.27

Personalakte

11.27 Im Beamtenrecht sind nach der Regelentfernungspflicht des § 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BBG auf Antrag des Beamten nach einer Frist von zwei Jahren nachteilige Behauptungen, Beschwerden und Bewertungen aus der Personalakte zu entfernen und zu vernichten, falls nicht die Tilgungsvorschriften des einschlägigen Disziplinarrechts Anwendung finden. Dies gilt nicht für dienstliche Beurteilungen (§ 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Halbs. 2 BBG). Erneute Sachverhalte unterbrechen die Frist (§ 112 Abs. 1 Satz 2 und 3 BBG). Das Ende der Aufbewahrungsfrist definiert sonst § 113 BBG.

X. Datenschutzrechtlicher Anspruch auf Berichtigung der Personalakte 11.28 Auf Personalakten, die personenbezogene Daten iSv. Art. 4 Nr. 1 DSGVO enthalten und die automatisiert verarbeitet werden159, findet der datenschutzrechtliche Berichtigungsanspruch des Art. 16 DSGVO Anwendung160. Nur dann, wenn die Personalakten nicht digitalisiert und auch nicht zur Speicherung in einer Datei vorgesehen sind, was (nur) bei der Führung als „Zettelkasten“ in Papier der Fall sein kann, ist Art. 16 DSGVO nach Art. 2 Abs. 1 DSGVO nicht anwendbar161. Da als Dateibezug die Sortierung nach Namen genügt, werden jedoch papiergeführte Personalakten nahezu immer vom Anwendungsbereich der DSGVO erfasst, was aus Art. 2 Abs. 1 2. Alt. DSGVO folgt162. Die Anwendung des Datenschutzrechts auf Personalakten ist technologieneutral, wie auch Erwägungsgrund 15 DSGVO verdeutlicht163.

11.29 Der Berichtigungsanspruch gibt dem betroffenen Arbeitnehmer ein Individualrecht. Das Berichtigungsverlangen muss gegen den Verantwortlichen – also gegen den öffentlichen Arbeitgeber bzw. Dienstherrn – gerichtet werden und den Arbeitnehmer selbst betreffende Daten betreffen. Für die Form gilt § 12 Abs. 3 Satz 4 DSGVO, so dass der Antrag auch elektronisch gestellt werden kann. Das Berichtigungsverlangen ist unverzüglich zu erfüllen, wobei dazu nicht die Ein-Wochen-Frist des § 121 BGB gilt. Dem Verantwortlichen ist eine angemessene Frist zur Prüfung der Berichtigungsverlangen zuzusprechen (dies folgt auch aus Art. 18 Abs. 1 lit. a DSGVO)164. Das Berichtigungsverlangen kann nicht nur in Bezug auf „unrichtige personenbezogene Daten“, sondern auch in Bezug auf nicht vollständige personenbezogene Daten gestellt werden (Art. 16 Satz 2 DSGVO).

11.30 Hat sich eine Beschäftigte im öffentlichen Dienst, die mit männlichem Geschlecht und männlichem Vornamen geboren worden war, einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen und gem. § 1 TSG den Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit geändert, kann sie aus Art. 16 Satz 1 DSGVO nicht die Anpassung aller – auch vor der Geschlechtsangleichung gefertigten – Schriftstücke in der über sie geführten Personalakte an ihren jetzigen Vornamen sowie an das weibliche Geschlecht verlangen.

159 160 161 162 163 164

370

Plath/Stamer/Kuhnke, § 26 BDSG Rz. 9. OVG Hamburg v. 27.5.2019 – 5 Bf 225/18.Z, ZD-Aktuell 2019, 06801 (m. zust. Anm. Gerjets). Plath/Plath, Art. 2 DSGVO Rz. 14 zu losen Zettelsammlungen und Post-It-Notizen. Plath/Plath, Art. 2 DSGVO Rz. 14 mwN. Plath/Plath, Art. 2 DSGVO Rz. 7 mwN. Plath/Kamlah, Art. 16 DSGVO Rz. 9, der auch auf die Notwendigkeit zusätzlicher Recherchen hinweist. Daher erscheint die von Paal/Pauly/Pauly, Art. 16 DSGVO Rz. 17, vorgeschlagene Frist von zwei Wochen zu kurz.

Grimm

Datenschutzrechtlicher Anspruch auf Berichtigung der Personalakte

Rz. 11.32 § 11

Da bei der Personalaktenführung die Grundsätze der Vollständigkeit und Richtigkeit der Personalakten gelten, kommt es bei der Abbildung des öffentlichen Dienstverhältnisses auf den jeweiligen historischen Kontext an. Nachträgliche Veränderungen der Wirklichkeit, wie die Änderungen der Vornamen und der Geschlechtszugehörigkeit, machen die über einen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes gespeicherten personenbezogenen Daten nicht falsch. Der öffentliche Dienstherr hat die Personalakten auf dem Stand zu halten, der zum jeweiligen Zeitpunkt – also bei Eintritt in den öffentlichen Dienst und vor der geschlechtsangleichenden Operation – richtig war, um ein möglichst lückenloses Bild der Entstehung und Entwicklung des Dienstverhältnisses als historischem Geschehen dokumentieren zu können165. Eine aus den Personalakten nicht erkennbare Anpassung würde zudem gegen den datenschutzrechtlichen Grundsatz der Datenrichtigkeit (Art. 5 Abs. 1 lit. d DSGVO) verstoßen, weil der historische Geschehensablauf dokumentiert werden muss166. Ein Anspruch auf Anpassung bzw. Änderung der Personalakte ergibt sich auch nicht aus § 5 TSG. § 5 Abs. 1 Satz 1 TSG setzt voraus, dass der frühere (Vor)Name erhalten bleibt, um ihn – bei besonderen Gründen des öffentlichen Interesses oder bei rechtlichen Interessen – zu offenbaren167. In Bezug auf die Sicherstellung des Offenbarungsverbotes gem. § 5 TSG sind jedoch besondere Schutzmaßnahmen – wie etwa die Anlegung einer besonders unzugänglichen Sonderakte zu dem Vorgang nach § 1 TSG – zu treffen. Entsprechendes gilt auch im Hinblick auf die Prüfung des besonderen öffentlichen Interesses bei der Einzelfallprüfung in Bezug auf eine Offenbarung, was ein personell eng gehaltenes Entscheidergremium bedingt (need-to-knowPrinzip)168.

11.31

Für die Richtigkeit der Daten in Personalakten kommt es – auch im Hinblick auf andere medizinische Daten, die sich im Nachhinein als unrichtig darstellen, aber ursprünglich den medizinischen Sachstand entsprachen169 – also darauf an, ob sie zum Zeitpunkt der Erhebung zutreffend waren170. Nachträgliche Änderungen machen ein Datum dann nicht unrichtig, wenn es gerade auf den historischen Zeitpunkt bzw. die Darstellung des Zeitablaufs im Arbeitsbzw. Dienstverhältis ankommt171.

11.32

165 OVG Hamburg v. 27.5.2019 – 5 Bf 225/18.Z, ZD-Aktuell 2019, 06801. Das OVG weist auf die gleichlautende Rechtsprechung zum Melderegister (OVG Berlin-Brandenburg v. 24.9.2015 – OVG 5 N 3.13, NJW 2015, 3531: kein Anspruch aus § 5 Abs. 1 TSG auf rückwirkende Änderung des Melderegisters und zum Handelsregister, BGH v. 3.2.2015 – II ZB 12/14, NJW 2015, 2116, hin. 166 Simitis/Hornung/Spiecker/Roßnagel, Datenschutzrecht, 1. Aufl. 2019, Art. 5 DSGVO Rz. 141 ff., folgend OVG Hamburg v. 27.5.2019 – 5 Bf 225/18.Z, ZD-Aktuell 2019, 06801. 167 OVG Hamburg v. 27.5.2019 – 5 Bf 225/18.Z, ZD-Aktuell 2019, 06801, das zutreffend auch darauf hinweist, dass besondere Schutzmaßnahmen im Hinblick auf die Prüfung des besonderen öffentlichen Interesses bei der Einzelfallprüfung der Einsichtnahme geboten sind. 168 Zu Schutzmaßnahmen abstrakt Gerjets, ZD-Aktuell 2019, 06801. 169 Simitis/Hornung/Spiecker/Dix, Datenschutzrecht, 1. Aufl. 2019, Art. 16 DSGVO Rz. 9. 170 Gerjets, ZD-Aktuell 2019, 06801. 171 Simitis/Hornung/Spiecker/Roßnagel, Datenschutzrecht, 1. Aufl. 2019, Art. 5 DSGVO Rz. 141; Gerjets, ZD-Aktuell 2019, 06801.

Grimm

371

§ 11 Rz. 11.33

Personalakte

XI. Aufbewahrungspflichten 11.33 Allgemeine Personalunterlagen hat der Arbeitgeber zumindest solange aufzubewahren, wie der Arbeitnehmer Ansprüche nach den allgemeinen Verjährungs- und Ausschlussfristen geltend machen kann172. Daneben bestehen spezielle gesetzliche Aufbewahrungspflichten, etwa nach § 257 HGB, § 147 Abs. 3 AO und § 41 Abs. 1 Satz 9 EStG173. Für Personalakten von Beamten gilt die fünfjährige Aufbewahrungspflicht des § 113 Abs. 1 Satz 1 BBG nach ihrem Abschluss, wobei § 113 Abs. 1 Satz 2 BBG den Zeitpunkt des Abschlusses näher definiert174. Danach sind die Personalakten zu vernichten, § 113 Abs. 4 BBG175.

11.34 Im Übrigen muss der Arbeitgeber die berechtigten Interessen des Arbeitnehmers, insbesondere dessen Persönlichkeitsrecht berücksichtigen176. So besteht grundsätzlich eine Aufbewahrungspflicht hinsichtlich etwaiger Gegendarstellungen oder anderer Erklärungen des Arbeitnehmers nach § 83 Abs. 2 BetrVG bis zur Erledigung der jeweiligen Angelegenheit177. Gleiches gilt für Stellungnahmen des Arbeitnehmers zu Abmahnungen, solange die Abmahnung selbst noch in der Personalakte vorhanden ist178. Da auch die Aufbewahrung von in Papierform existierender Personalakten infolge § 26 Abs. 7 BDSG (§ 32 Abs. 2 BDSG aF) anhand der Maßstäbe des BDSG zu messen ist, ist der bisherige Maßstab eines „berechtigten Arbeitgeberinteresses“ zur Rechtfertigung einer Aufbewahrung nicht mehr gültig.

11.35 Der Arbeitgeber kann die weitere Aufbewahrung – als Speicherung eine Verarbeitung (der Begriff wird definiert in Art. 4 Nr. 2 DSGVO) von Daten – nur noch nach § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG (§ 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF) rechtfertigen, was deren Erforderlichkeit für die Abwicklung des laufenden oder beendeten Arbeitsverhältnisses voraussetzt. Das können zB die Aufbewahrungspflichten, die Teilnahme des Arbeitnehmers an der betrieblichen Altersversorgung oder die noch fehlende Erfüllung des Zeugnisanspruchs sein. Die Befugnis zur Speicherung (dh. Aufbewahrung) besteht nur solange und soweit das auch nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses erforderlich ist179.

11.36 Existieren solche rechtfertigenden Gründe nicht, ist der Arbeitgeber unmittelbar nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BDSG iVm. Art. 17 Abs. 1 lit. a DSGVO zur Löschung verpflichtet. Danach muss die verarbeitende Stelle alle personenbezogenen Daten löschen, deren Verarbeitungszweck – die Durchführung des Beschäftigungsverhältnisses – weggefallen ist180. Soweit keine gesetzlichen Aufbewahrungspflichten bestehen, trifft den Arbeitgeber keine Verpflichtung, Personal-

172 Herfs-Röttgen, NZA 2013, 478 (480). 173 Herfs-Röttgen, NZA 2013, 478 (480); ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 625. 174 Für spezielle Unterlagen, z.B. über Beihilfen, Umzugskosten und Urlaub, gelten besondere Fristen aus § 113 Abs. 2 BBG. Für Versorgungs- und Altersgeldakten ist § 113 Abs. 3 BBG zu beachten. 175 Gola/Pötters/Wronka, Handbuch Arbeitnehmerdatenschutz, Rz. 1402. 176 MünchArbR/Reichold, § 95 Rz. 16; Müller, DB 2011, 2604 (2608); GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 20. 177 MünchArbR/Reichold, § 95 Rz. 16; Müller, DB 2011, 2604 (2608); GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 20. 178 Müller, DB 2011, 2604 (2608). 179 Brink, juris-PR-ArbR 36/2013, Nr. 3. 180 Brink in Wolff/Brink, Datenschutzrecht, 2013, § 35 BDSG Rz. 39 ff. und zum neuen Recht Grimm in Tschöpe, Teil 6 F Rz. 34 ff.

372

Grimm

Aufbewahrungspflichten

Rz. 11.36 § 11

unterlagen des Arbeitnehmers nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufzubewahren181. Auch an einem berechtigten Interesse des Arbeitnehmers an der Aufbewahrung bzw. einer Rechtfertigung nach § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG (§ 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF) wird es dann regelmäßig mangeln182. Dies bedingt die Erstellung eines automatisierten Löschkonzepts183 (dazu ausführlich unter Rz. 3.83).

181 Richardi/Thüsing, § 83 BetrVG Rz. 31; GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 21; ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 625. 182 MünchArbR/Reichold, § 95 Rz. 16; GK-BetrVG/Franzen, § 83 BetrVG Rz. 21, der darauf hinweist, dass eine Aufbewahrungspflicht ausnahmsweise aus den §§ 241 Abs. 2, 242 BGB folgen kann. 183 Übersicht zu Löschpflichten und -fristen in Bezug auf die Personalakte bei Grimm/Kühne, ArbRB 2018, 144.

Grimm

373

§ 12 Beförderung I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12.1

1. Beförderung – Aufstieg – Tarifautomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12.1

2. Tarifvertragliche Entwicklung . . . . .

12.3

3. Bewerbung auf andere Stellen . . . . .

12.6

II. Einzelheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12.8

1. Stufenaufstieg nach TVöD/TV-L . . . 12.8 a) Leistungsbewertung . . . . . . . . . . . 12.10 b) Tätigkeitsunterbrechungen . . . . . 12.19

c) Stufenzuordnung bis zum 28.2.2017 am Beispiel der VKA . . aa) Höhergruppierungen . . . . . . bb) Herabgruppierungen . . . . . . . d) Stufenzuordnung am Beispiel der VKA ab dem 1.3.2017 . . . . . . . . . . aa) Höhergruppierungen . . . . . . bb) Herabgruppierungen . . . . . . .

12.21 12.22 12.24 12.25 12.25 12.29

2. Beschwerdekommission nach TVöD/TV-L . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.31 3. Gerichtliche Kontrolle . . . . . . . . . . . 12.34

Schrifttum: Annuß, Arbeitsrechtliche Aspekte von Zielvereinbarungen in der Praxis, NZA 2007, 290; Böhle, Kommunales Personal- und Organisationsmanagement, 1. Aufl. 2017; Bredemeier/Neffke, BAT/ BAT-O, 2. Aufl. 2003; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, Kommentar zum TV-L, Loseblatt; Conze/ Karb/Wölk, Personalbuch Arbeits- und Tarifrecht öffentlicher Dienst, 5. Aufl. 2017; Dassau/Langenbrinck, Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD), Loseblatt, Stand Mai 2019; Dörring/Kutzki, TVöD-Kommentar, 2007; Hock/Klapproth, Eingruppierung, Höhergruppierung und Stufenzuordnung im TVöD, ZTR 2006, 118; Hümmerich, Zielvereinbarungen in der Praxis, NJW 2006, 2294; Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, 2007; Laber, Fallstricke bei der arbeitsrechtlichen Konkurrentenklage, ArbRB 2006, 221; Roggenkamp, Die Leistungselemente des TVöD – Werden Beschäftigte künftig nach Leistung sortiert?, PersR 2006, 48; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 17. Auflage 2017; Sonntag/ Bauer/Bockholt, Die Eingruppierung im öffentlichen Dienst, 9. Aufl. 2007; Thivessen/Kulok, TV-L 2009, 2. Aufl. 2009; Tschöpe, Arbeitsrecht Handbuch, 11. Aufl. 2019; von Steinau-Steinrück/Schmidt, Überblick zum TVöD: „Ein Weiter so im neuen Gewand“?, NZA 2006, 518.

I. Grundlagen 1. Beförderung – Aufstieg – Tarifautomatik Die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes enthalten keine dem Beamtenrecht vergleichbaren 12.1 Regelungen über Laufbahn und Beförderungsmöglichkeiten. Um jedoch auch den Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst eine berufliche Perspektive und eine höhere Vergütung zu gewährleisten, wurden von den Tarifparteien Regelungen zur Höhergruppierung vereinbart. Zur besseren Abgrenzung gegenüber dem Beamtenrecht sollte nicht von „Beförderung“ gesprochen werden, sondern vielmehr der Begriff „Aufstieg“ verwendet werden. Im Gegensatz zur Beförderung ist hierzu kein konstitutiver Akt erforderlich, sondern die höhere Eingruppierung und damit der Anspruch auf die höhere Vergütung erfolgen, sobald die tarifvertraglichen Voraussetzungen auf Dauer vorliegen (Tarifautomatik)1. Es ist jedoch möglich, dass der öffentlich-rechtliche Arbeitgeber eine Höhergruppierung der Angestellten entsprechend den Beförderungsregelungen bei Beamten vorsieht. Die Höhergruppierung erfolgt dann nicht im Wege der Tarifautomatik, sondern hat konstitutive Wirkung. Für diese „Beförderungen“ ist ei1 BAG v. 30.5.1990 – 4 AZR 74/90, NZA 1990, 899; v. 14.11.2007 – 4 AZR 945/06, NZA-RR 2008, 358.

Laber

375

§ 12 Rz. 12.1

Beförderung

ne Bestenauslese (Art. 33 Abs. 2 GG) entsprechend den beamtenrechtlichen Grundsätzen erforderlich, sobald mehr Bewerber als Planstellen vorhanden sind. Ein Anspruch auf Schaffung von Planstellen besteht nicht, sondern nur auf ermessensfehlerfreie Entscheidung2.

12.2 Die Zuordnung der Tätigkeit eines Arbeitnehmers zu einer Vergütungsgruppe durch den Arbeitgeber hat aber im Regelfall nur deklaratorische Bedeutung3. Selbst wenn die Eingruppierung sowie die dazugehörige Fallgruppe im Arbeitsvertrag angegeben sind und der Arbeitnehmer entsprechend vergütet wird, kann der öffentlich-rechtliche Arbeitgeber später aufgrund neuer Erkenntnisse zum Tarifwerk oder der Anforderungen am Arbeitsplatz hiervon abweichen und die Vergütung zukünftig aus der nunmehr für zutreffend erachteten Vergütungsgruppe vornehmen4. Der Begriff der Höhergruppierung darf daher nicht mit einer Beförderung oder einem Aufstieg gleichgesetzt werden. Eine Höhergruppierung kann zum einen durch Zuweisung einer anderen, dh. höherwertigen Tätigkeit durch den Arbeitgeber, die Ausübung einer höherwertigen Tätigkeit ohne Zutun des Arbeitgebers (Hineinwachsen in eine höherwertige Tätigkeit) oder durch die Erfüllung der Aufstiegskriterien erfolgen5. Ergibt sich allerdings – was in der Praxis nur in seltenen Ausnahmefällen vorliegt – aus dem Arbeitsvertrag, dass die dort angeführte Vergütungsgruppe ohne Rücksicht auf die tatsächlich zugrundeliegenden tariflichen Bestimmungen des TVöD/TV-L als fest vereinbart gilt, so erwächst dem Arbeitnehmer insoweit gegenüber seinem öffentlichen Arbeitgeber ein durchsetzbarer vertraglicher Anspruch auf Vergütung nach der vertraglichen Vergütungsgruppe. Dafür müssen freilich deutlich sichtbar weitere Umstände vorliegen6. Wollten zB beide Vertragsparteien übereinstimmend eine übertarifliche Vergütung des Arbeitnehmers für seine Tätigkeit vereinbaren oder lässt sich die Tätigkeit des Arbeitnehmers nicht dem Eingruppierungssystem des TVöD/TV-L zuordnen, ist die Vereinbarung der konkreten Vergütungsgruppe ausnahmsweise als konstitutive Regelung anzusehen, weil insoweit eine „deklaratorische“ Angabe im Arbeitsvertrag nicht ausreichend ist7. Im öffentlichen Dienst wird davon im Zweifel aber eher nicht auszugehen sein, da die Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes grundsätzlich keine übertarifliche Vergütung, sondern allenfalls das gewähren wollen, was dem Arbeitnehmer nach den einschlägigen Tarifwerken tatsächlich zusteht8. 2. Tarifvertragliche Entwicklung

12.3 Vor Inkrafttreten des TVöD und des TV-L war das öffentliche Dienstrecht gekennzeichnet durch komplizierte, unübersichtliche und teilweise schwer verständliche tarifvertragliche Aufstiegsmöglichkeiten. So gab es unter Geltung des BAT/BAT-O zuletzt je nach Eingruppierung und Tätigkeit Bewährungs-, Fallgruppen- und Tätigkeitsaufstiege (§§ 23a und 23b BAT), bei denen Zeitablauf und/oder eine bestimmte Bewährungszeit erforderlich waren. Daneben

2 3 4 5 6

BAG v. 23.2.2000 – 10 AZR 1/99, BAGE 94, 11 = NZA 2001, 680. BAG v. 23.9.1954 – 2 AZR 31/53, BAGE 1, 85; v. 25.1.2006 – 4 AZR 613/04, DB 2006, 2584. BAG v. 8.10.1997 – 4 AZR 167/96, NZA-RR 1998, 231. Vgl. Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 749 f. BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 184/08, NZA-RR 2009, 651; v. 1.7.2009 – 4 AZR 234/08, NZA-RR 2010, 80. Solche Umstände wurden im Fall des BAG v. 12.3.2008 – 4 AZR 67/07, ZTR 2008, 604 bejaht. 7 BAG v. 16.2.2000 – 4 AZR 62/99, NZA-RR 2001, 216; v. 12.3.2008 – 4 AZR 67/07, ZTR 2008, 604. 8 BAG v. 16.2.2000 – 4 AZR 62/99, NZA-RR 2001, 216; v. 21.2.2007 – 4 AZR 187/06, ZTR 2007, 677.

376

Laber

Grundlagen

Rz. 12.7 § 12

wurde noch nach Bund und Ländern auf der einen Seite und dem kommunalen Bereich auf der anderen Seite differenziert. Diese Rechtslage findet sich im neuen Tarifrecht laut § 17 Abs. 5 Satz 1 TVÜ-Bund/VKA bzw. TV-L nicht mehr, da die Vergütung nunmehr ausschließlich an die tätigkeitsbezogene Berufserfahrung sowie die Leistung der Arbeitnehmer anknüpft. Bewährungs-, Fallgruppenund Tätigkeitsaufstieg gibt es seit dem 1.10.2005 (TVöD)/1.11.2006 (TV-L) nicht mehr. Bereits unter der Geltung des BAT hatte das BAG entschieden, dass die Tarifvertragsparteien nicht gehindert sind, Eingruppierungsmerkmale auch zum Nachteil der Arbeitnehmer abzuändern. Der Wegfall des Bewährungsaufstiegs durch die neuen Tarifwerke des öffentlichen Dienstes ist nicht verfassungswidrig, da die Arbeitnehmer durch die zurückgelegte Bewährungszeit keinen Besitzstand und keine Anwartschaft als aufschiebend bedingten Anspruch auf höhere Vergütung erworben haben9. TVöD und TV-L sehen nur noch Stufenaufstiege in der jeweiligen Entgeltgruppe – unabhängig von den früheren Lebensaltersstufen – vor.

12.4

Da das neue Tarifrecht mit seiner kompletten Systemumstellung im Bereich der Vergütung und der Aufstiegsmöglichkeiten in Besitzstände der Angestellten eingreift, dh. bereits absolvierte Bewährungszeiten entfallen lässt, wurden in den Überleitungstarifverträgen TVÜ-Bund und TVÜ-L gesonderte, wiederum recht komplizierte Überleitungsvorschriften geschaffen.

12.5

3. Bewerbung auf andere Stellen Vom tarifvertraglichen Aufstieg ist die Bewerbung auf eine andere (ggf. höherwertige) Stelle durch den Arbeitnehmer abzugrenzen (Beförderungsbewerbung). Es handelt sich hierbei um einen Antrag auf Zuweisung eines anderen Arbeitsplatzes ggf. verbunden mit einer Höhergruppierung. Bei der Entscheidung über solche Anträge muss Art. 33 Abs. 2 GG beachtet werden, der für alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes gilt, so dass jeder Bewerber ein subjektives Recht auf chancengleiche Teilnahme am Bewerbungsverfahren hat (Bewerbungsverfahrensanspruch)10. Der öffentliche Arbeitgeber ist aber nicht verpflichtet, stets alle offenen Stellen auszuschreiben und nach den Kriterien der Bestenauslese zu besetzen. Vielmehr hat er aufgrund seiner Organisationsfreiheit das Recht, zwischen Umsetzungen, Versetzungen und Beförderungen zu wählen11 (vgl. auch § 2, Rz. 2.37). Nur soweit es um den beruflichen Aufstieg von Bewerbern mit der Rangordnung nach niedrigeren Vergütungsgruppen geht, ist zwingend eine Auswahl nach den Maßstäben des Art. 33 Abs. 2 GG geboten12. Wie er seine Organisationsfreiheit nutzt, steht im pflichtgemäßen Ermessen des öffentlichen Arbeitgebers13 (zu den Einzelheiten der allgemeinen Ausschreibungspflicht vgl. Rz. 2.3 ff.).

12.6

Aus dem Bewerbungsverfahrensanspruch kann ein Anspruch auf Übertragung eines bestimmten Amtes erwachsen, wenn sich nach den Verhältnissen im Einzelfall jede andere Entscheidung als rechtswidrig oder ermessensfehlerhaft darstellt und mithin die Berücksichtigung des einen Bewerbers die einzig rechtmäßige Entscheidung ist, weil er absolut im Ver-

12.7

9 BAG v. 14.6.1995 – 4 AZR 250/94, DB 1995, 2613. 10 BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 668/96, BAGE 87, 171 = NZA 1988, 882; v. 5.11.2002 – 9 AZR 451/01, BAGE 103, 212 = NZA 2003, 798; v. 23.1.2007 – 9 AZR 492/06; vgl. hierzu Laber, ArbRB 2006, 221. 11 BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 492/06, NZA 2007, 1450. 12 BVerwG v. 16.8.2001 – 2 A 3.00, BVerwGE 115, 58; BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 492/06, NZA 2007, 1450. 13 BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 226/05, AP Nr. 6 zu § 24 BAT.

Laber

377

§ 12 Rz. 12.7

Beförderung

hältnis zu den Mitbewerbern der in jeder Hinsicht am besten geeignete ist14 (zu den Einzelheiten vgl. § 2, Rz. 2.18 ff.).

II. Einzelheiten 1. Stufenaufstieg nach TVöD/TV-L

12.8 Die neuen Tarifverträge TVöD und TV-L sehen einen sog. Stufenaufstieg vor15. Für jede der jeweils 15 Entgeltgruppen des TVöD und des TV-L existieren fünf bzw. sechs Stufen (zwei Grundentgeltstufen und drei bzw. vier Entwicklungs- bzw. Erfahrungsstufen), die nach bestimmten Beschäftigungszeiten ohne Berücksichtigung des Lebensalters erreicht werden können16. Wird die nötige Zeit für den Stufenaufstieg während des Kalendermonats vollendet, wirkt dies – wie schon im alten Tarifrecht – auf den Beginn des Monats zurück (§ 17 Abs. 1 TVöD bzw. TV-L). Der Arbeitnehmer bezieht daher das höhere Tabellenentgelt bereits vom Beginn des jeweiligen Monats. Die Verweildauer in den Stufen variiert zwischen einem und fünf Jahren, kann indes auch verkürzt oder verlängert werden. Das Lebensalter wird nicht berücksichtigt, entscheidend sind nur die Berufserfahrung, die sich regelmäßig in der Beschäftigungszeit widerspiegelt, und die Leistung. Ein Aufstieg ist also nur innerhalb der Entgeltgruppe möglich, es sei denn, die Tätigkeit ändert sich derart, dass eine andere – höhere – Eingruppierung erforderlich ist. Ein Aufstieg in eine andere Entgeltgruppe durch Zeitablauf und/oder Bewährung findet – anders als noch im BAT – nicht mehr statt. Ein höheres Entgelt kann aber auch ohne Aufstieg durch die neu eingeführten Leistungszulagen und Leistungsprämien erreicht werden.

12.9 Im Bereich des TVöD-Bund erfolgt die Höher- und Herabgruppierung stufengleich17. Dazu wurde 2014 ein neuer Abs. 5 in § 17 TVöD eingefügt. Die Beschäftigten des Bundes erhalten danach im Falle der Höhergruppierung das Entgelt derselben Stufe in der höheren Entgeltgruppe. Dies gilt auch für die Fälle, in denen ein Beschäftigter mehr als eine Entgeltgruppe aufsteigt18. Auch bei Herabgruppierungen erfolgt die Stufenzuordnung der Beschäftigten des Bundes stufengleich, wobei die bisherige Stufenlaufzeit in der niedrigeren Entgeltgruppe ohne Veränderung fortgesetzt wird. a) Leistungsbewertung

12.10 Der TVöD bzw. TV-L sieht je nach Entgeltgruppe fünf oder sechs Entgeltstufen vor. Stufe 1 gilt in der Regel für die Beschäftigten ohne Berufserfahrung. Nach einem Jahr Tätigkeit steigt der Arbeitnehmer in Stufe 2 und nach weiteren zwei Jahren in Stufe 3 der jeweiligen Entgeltgruppe auf. Die weiteren Aufstiege (also das Erreichen der Stufen 4–6) sind nach weiteren drei, vier und ggf. fünf Jahren vorgesehen, soweit der Arbeitnehmer eine durchschnittliche Leis14 BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 668/96, BAGE 87, 171 = NZA 1988, 882; v. 5.11.2002 – 9 AZR 451/01, BAGE 103, 212 = NZA 2003, 798. 15 Vgl. hierzu das Rundschreiben des BMI v. 8.12.2005 – D II 2 – 220 210 – 2/0 (GMBl. 2006, 86) sowie VKA-Rundschreiben v. 5.1.2006 – Nr. 6/2006. 16 Vgl. die Übersichten zum TVöD bzw. TVöD-VKA bei Kuner, Der neue TVöD, ÜB 56 und 57; Conze/Karb/Wölk, Rz. 2833 ff. 17 Sponer/Steinherr, § 17 TVöD Rz. 84. 18 Sponer/Steinherr, § 17 TVöD Rz. 84.

378

Laber

Einzelheiten

Rz. 12.14 § 12

tung erbringt. Denn ab dem Aufstieg in Stufe 3 erfolgt erstmals die Berücksichtigung der individuellen Leistung (leistungsbezogener Stufenaufstieg, § 17 Abs. 2 TVöD bzw. TV-L). Ist diese erheblich über dem Durchschnitt, kann die Verweildauer verkürzt werden, liegt sie erheblich unter dem Durchschnitt kann sie verlängert werden. Der Arbeitgeber ist in einem solchen Fall gemäß § 17 Abs. 2 Satz 3 TVöD/TV-L verpflichtet, jährlich zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Verlängerung noch vorliegen. Beschwert sich der Arbeitnehmer gegen eine solche Verlängerung, so hat sich eine betriebliche Kommission in beratender Funktion mit der Beschwerde auseinanderzusetzen (vgl. im Einzelnen Rz. 12.31 ff.). Der Arbeitgeber entscheidet auf Vorschlag der Kommission, ob und inwieweit der Beschwerde abgeholfen wird. Auch bei einer überdurchschnittlichen Leistung besteht also kein Anspruch auf eine Verkürzung, sondern nur auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung19. Grenzen für die Verkürzung und die Verlängerung sind nicht vorgesehen, so dass ein dauerhaftes „Einfrieren“ auf einer Stufe möglich ist20. In diesem Fall stellt sich aber die Frage, ob aufgrund der dauerhaften unterdurchschnittlichen Leistung das Arbeitsverhältnis nicht besser beendet werden sollte.

12.11

Fraglich ist allerdings, ob die Stufenlaufzeit auf Null verkürzt werden kann, so dass sogar ein Überspringen von Stufen möglich wäre. Dies wird man verneinen müssen, da die Verkürzung begrifflich immer noch eine bestimmte, wenn auch möglicherweise geringe Laufzeit in einer Stufe voraussetzt21. Verkürzungen um mehr als die Hälfte der regulären Laufzeit sind demnach zwar zulässig, werden aber in der Praxis nur selten vorkommen. Ebenfalls nicht möglich ist eine gleichzeitige Verkürzung der Laufzeit der nächsten Stufe22.

12.12

Die Leistungsbewertung muss anhand vorgegebener Ziele erfolgen. Das setzt die Schaffung allgemeiner Beurteilungskriterien voraus, was allerdings der Mitbestimmung des Betriebsoder Personalrats unterliegt. Im Gegensatz zur Gewährung der Leistungsprämien und -zulagen ist jedoch kein betriebliches Beurteilungssystem zu vereinbaren23.

12.13

Fraglich ist, wann eine erheblich über bzw. unter dem Durchschnitt liegende Leistung vorliegt. Dies muss für jeden Einzelfall im Wege einer Gesamtbetrachtung der gesamten Arbeitsleistung gesondert festgestellt werden24. Es müssen also nicht nur die erbrachten Leistungen qualitativ und quantitativ bewertet, sondern beispielsweise auch eine Bewährung in unterschiedlichen Aufgabengebieten oder die Übernahme von Sonderaufgaben berücksichtigt werden. Beruht etwa die Leistungsminderung auf einem anerkannten Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit, ist diese Ursache bei der Leistungsbewertung in „geeigneter Weise“25 zu berücksichtigen. Ferner muss eine Benachteiligung Teilzeitbeschäftigter bei der Leistungsbewertung ausgeschlossen werden.

12.14

19 AA Dörring/Kutzki/Polzer, TVöD, § 17 AT Rz. 9. 20 Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 735; einschränkend Dörring/Kutzki/Polzer, TVöD, § 17 AT Rz. 11, wonach aus der jährlichen Pflicht zur Überprüfung folge, dass – wenn auch mehrfach – eine Verlängerung um jeweils ein Jahr möglich sei. 21 AA Kuner, Der neue TVöD, Rz. 269; Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L Rz. 735; wie hier Dörring/Kutzki/Polzer, TVöD, § 17 AT Rz. 7. 22 Dörring/Kutzki/Polzer, TVöD, § 17 AT Rz. 7. 23 Conze/Karb/Wölk, Rz. 2523; Dassau/Langenbrinck, S. 76; Thivessen/Kulok, S. 87. 24 Conze/Karb/Wölk, Rz. 2523; Dörring/Kutzki/Polzer, TVöD, § 17 AT Rz. 4. 25 Protokollerklärung zu § 17 Abs. 2 Satz 2 TVöD.

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379

§ 12 Rz. 12.15

Beförderung

12.15 Erst wenn eine erheblich über- bzw. unterdurchschnittliche Leistung vorliegt, erfolgt die Entscheidung, ob und wenn ja in welchem Umfang die Verlängerung bzw. Verkürzung der Stufenlaufzeit erfolgt. Diese Entscheidung ist eine Leistungsbestimmung iSd. § 315 BGB. Sie muss daher billigem Ermessen entsprechen, es müssen also die wesentlichen Umstände des Falles abgewogen und die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt werden. Dazu gehört etwa die – zu prognostizierende – positive Entwicklung des Arbeitnehmers, da ein Stufenaufstieg eine dauerhafte finanzielle Verbesserung zur Folge hat. Zu bedenken ist ferner, dass der Arbeitnehmer bei einer Verkürzung der Stufenlaufzeit früher in die Endstufe der jeweiligen Entgeltgruppe gelangt. Es ist daher abzuwägen, ob die überdurchschnittliche Leistung nicht auch durch eine Leistungsbezahlung abgegolten werden kann.

12.16 Aufgrund der damit verbundenen Prognoseunsicherheiten sowie des Begründungs- und Dokumentationsaufwands kann davon ausgegangen werden, dass die Arbeitgeber von den Möglichkeiten der Verkürzung und – insbesondere vor dem Hintergrund der bisherigen Beurteilungen im öffentlichen Dienst – der Verlängerung der Stufenlaufzeit nur in besonderen Fällen Gebrauch machen werden. Außerdem wird nur in seltenen Fällen eine dauerhafte erheblich über- oder unterdurchschnittliche Leistung vorliegen.

12.17 Die Entscheidung des Arbeitgebers über die Verkürzung oder Verlängerung der Stufenlaufzeit unterliegt nicht der Mitbestimmung des Betriebs- bzw. Personalrats26, ist aber voll gerichtlich überprüfbar. Zu empfehlen ist daher stets eine genaue schriftliche Dokumentation der Entscheidung. Dies gilt auch für die gemäß § 17 Abs. 2 Satz 3 TVöD bzw. TV-L vorzunehmende jährliche Überprüfung, ob die Voraussetzungen für die Verlängerung noch vorliegen.

12.18 Problematisch ist das Verhältnis zwischen dem Leistungsentgelt27 nach § 18 TVöD28 und dem leistungsbezogenen Stufenaufstieg. Nach den Protokollerklärungen der Tarifvertragsparteien zu § 17 Abs. 2 TVöD sollen die beiden Instrumente „unterschiedlichen Zielen“, die Verkürzung der Stufenlaufzeit insbesondere dem „Anliegen der Personalentwicklung“ dienen und daher unabhängig nebeneinander stehen29. Die Zahlung eines Leistungsentgelts soll damit nicht automatisch die Verkürzung der Stufenlaufzeit und umgekehrt intendieren30. Eine doppelte „Belohnung“ durch Leistungsentgelt und Verkürzung des Stufenaufstiegs ist theoretisch möglich, wird in der Praxis wohl aber nicht vorkommen. Ferner schließt die Möglichkeit der unbegrenzten Verlängerung der Stufenlaufzeit nicht weitere arbeitsrechtliche Maßnahmen, also Abmahnung und ggf. sogar Kündigung, wegen unterdurchschnittlicher Leistungen des Arbeitnehmers aus31. b) Tätigkeitsunterbrechungen

12.19 Grundsätzlich muss die Stufenlaufzeit ununterbrochen zurückgelegt werden (vgl. § 16 Abs. 4 Satz 1 TVöD bzw. § 16 Abs. 3 Satz 1 TV-L). Wie auch im BAT/BAT-O haben die Tarifvertragsparteien jedoch abschließend festgelegt, welche Unterbrechungen für den Aufstieg unschäd26 Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 736; Kuner, Der neue TVöD, Rz. 270; Conze/Karb/Wölk, Rz. 2523. 27 Vgl. dazu Conze/Karb/Wölk, Rz. 2233 ff. 28 In der Tarifrunde 2009/2010 ist es zur Aufgabe des Leistungsentgelts auf Landesebene gekommen, indem § 18 TV-L mit Wirkung ab 1.1.2009 ersatzlos gestrichen worden ist. 29 Krit. hierzu Dörring/Kutzki/Polzer, TVöD, § 17 AT Rz. 4. 30 Vgl. Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 737. 31 Kuner, Der neue TVöD, Rz. 271; Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 742.

380

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Einzelheiten

Rz. 12.23 § 12

lich sind. Nach § 17 Abs. 3 TVöD/TV-L sind dies Schutzfristen nach dem MuSchG, Zeiten der Arbeitsunfähigkeit bis zu 39 Wochen (§ 22 TVöD/TV-L), Zeiten bezahlten Urlaubs sowie Sonderurlaubs, wenn der Arbeitgeber vor Antritt schriftlich ein dienstliches bzw. betriebliches Interesse anerkannt hat, sonstige Unterbrechungen von weniger als einem Monat im Kalenderjahr sowie Zeiten der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit. Andere Unterbrechungen bis zu einer Dauer von drei Jahren sowie eine Elternzeit von bis zu fünf Jahren hemmen nach dem TVöD (§ 17 Abs. 3 TVöD) die Stufenlaufzeit, werden also nicht angerechnet. Schädlich sind gemäß § 17 Abs. 3 Satz 3 TVöD/TV-L alle anderen Unterbrechungen, also Unterbrechungen von mehr als drei Jahren bzw. eine Elternzeit von mehr als fünf Jahren. Derartige Unterbrechungen führen sogar dazu, dass der Arbeitnehmer mit der Arbeitsaufnahme in die Entgeltstufe eingeordnet wird, die der vor der Unterbrechung erreichten Stufe vorangeht, jedoch mindestens in die Stufe bei einer Neueinstellung. Der TV-L weicht in diesem Bereich vom TVöD ab, da er zB die zeitlichen Einschränkungen nicht enthält.

12.20

c) Stufenzuordnung bis zum 28.2.2017 am Beispiel der VKA Bis zum 28.2.2017 erfolgte die Stufenzuordnung bei Höhergruppierungen (s. Rz. 12.22) im Bereich der VKA betragsgemäß. Anders als nach heutiger Rechtslage (s. Rz. 12.25) wurden Lebensalters- und Lohnstufen bei einer Höhergruppierung nicht mitgenommen. Maßgeblich für die Höhergruppierung war damit allein das bisherige Tabellenentgelt des Beschäftigten.

12.21

Für Herabgruppierungen galt bereits nach alter Rechtslage eine stufengleiche Zuordnung (vgl. Rz. 12.25). aa) Höhergruppierungen Bis zum 28.2.2017 wurden Beschäftigte in ihrer neuen Entgeltgruppe derjenigen Stufe zugeordnet, in der sie mindestens ihr bisheriges Tabellenentgelt erhielten. So lautete § 17 Abs. 4 Satz 1 TVöD aF:

12.22

Bei einer Eingruppierung in eine höhere Entgeltgruppe werden die Beschäftigten im Bereich der VKA derjenigen Stufe zugeordnet, in der sie mindestens ihr bisheriges Tabellenentgelt erhalten, mindestens jedoch der Stufe 2.

Damit die Beschäftigten bei einer Höhergruppierung einen Mindestgewinn erzielten, regelte § 17 Abs. 4 Satz 2 den sog. Garantiebetrag32. Wenn der Unterschiedsbetrag zwischen altem und neuem Tabellenentgelt einen bestimmten, von der jeweiligen Entgeltgruppe abhängigen Betrag unterschritt, hatten Beschäftigte einen Anspruch auf den Garantiebetrag, der ebenfalls je nach Entgeltgruppe variierte. Der Garantiebetrag trat dann an die Stelle des niedrigeren Unterschiedsbetrages, der sich aus dem Vergleich des alten und des neuen Tabellenentgeltes ergab33. Für Beschäftigte, die bei der Überleitung in den TVöD eine individuelle Endstufe erhalten haben, also einen Betrag oberhalb des Betrages der jeweiligen Endstufe, galt der § 6 Abs. 4 Satz 2 TVÜ-VKA aF. Demnach erhielten die Beschäftigten in der höheren Entgeltgruppe mindestens den Betrag, der ihren bisherigen individuellen Endstufen entsprach.

32 Sponer/Steinherr, § 17 TVöD Rz. 62. 33 Sponer/Steinherr, § 17 TVöD Rz. 63.

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381

12.23

§ 12 Rz. 12.24

Beförderung

bb) Herabgruppierungen

12.24 Die Stufenzuordnung bei Herabgruppierungen erfolgte bereits vor dem 1.3.2017 stufengleich. Insoweit kann auf die Ausführungen unter e) verwiesen werden. d) Stufenzuordnung am Beispiel der VKA ab dem 1.3.2017 aa) Höhergruppierungen

12.25 Wie für den Bereich des Bundes schon seit dem 1.3.2014 gilt seit dem 1.3.2017 die sog. stufengleiche Höhergruppierung auch im Bereich des TVöD-VKA. Bei Höhergruppierungen ab dem 1.3.2017 sind die Beschäftigten in der höheren Entgeltgruppe daher der gleichen Stufe zugeordnet, die sie in ihrer Ausgangsentgeltgruppe erreicht hatten (zB von Entgeltgruppe 6 Stufe 3 nach Entgeltgruppe 7 Stufe 3). Anders als bei Höhergruppierungen bis zum 28.2.2017 ist der Stufenbetrag in der Ausgangsentgeltgruppe unbeachtlich34.

12.26 Durch die stufengleiche Höhergruppierung wird verhindert, dass Beschäftigte im Falle der Höhergruppierung in der Aufstiegsentgeltgruppe einer niedrigeren Stufe als in der Ausgangsentgeltgruppe zugeordnet sind35. Die Stichtagsregelung, wonach das nur für Höhergruppierungen gilt, die nach dem 1.3.2017 erfolgten, stellt nach Ansicht des LAG Niedersachsen keine Benachteiligung jener Beschäftigten dar, die vor dem Stichtag höhergruppiert wurden. Die Stichtagsregelung führe weder zu einem gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluss von Beschäftigten, die vor dem 1.3.2017 höhergruppiert wurden und deren Stufenzuweisung betragsmäßig erfolgte, noch verstoße die stichtagsbezogene Neuregelung gegen das Verbot der Altersdiskriminierung36.

12.27 Die bisherige Regelung für Höhergruppierungen über mehr als eine Entgeltgruppe ist entfallen, da auch in diesen Fällen die Stufenzuordnung in der höheren Entgeltgruppe in die in der Ausgangsentgeltgruppe erreichte Stufe erfolgt. Bei solchen „Sprunghöhergruppierungen“ wird die Zuordnung zu den Stufen so vorgenommen, als ob faktisch eine Eingruppierung in jede der einzelnen Entgeltgruppen erfolgt wäre37.

12.28 Bei Höhergruppierungen aus einer individuellen Endstufe ist noch immer § 6 Abs. 4 TVÜVKA einschlägig38. Die Norm wurde jedoch zum 1.3.2017 angepasst und lautet nun: „…3Bei einer Höhergruppierung aus einer individuellen Endstufe werden die Beschäftigten entsprechend § 17 Abs. 4 TVöD der Endstufe der höheren Entgeltgruppe zugeordnet. 4Beträgt das Tabellenentgelt nach Satz 3 weniger als die Summe aus dem Entgelt der bisherigen individuellen Endstufe und 2 Prozent der Endstufe der höheren Entgeltgruppe, wird die/der Beschäftigte in der höheren Entgeltgruppe erneut einer individuellen Endstufe zugeordnet. 5Das Entgelt der neuen individuellen Endstufe wird dabei festgesetzt auf die Summe aus dem Entgelt der bisherigen individuellen Endstufe und 2 Prozent des Tabellenentgelts der Endstufe der höheren Entgeltgruppe. 6Der Betrag der individuellen Endstufe verändert sich um denselben Prozentsatz bzw. in demselben Umfang wie die höchste Stufe der jeweiligen Entgeltgruppe.“

34 35 36 37 38

Böhle, § 23 Rz. 66. Böhle, § 23 Rz. 67. LAG Niedersachsen v. 9.1.2019 – 17 Sa 625/18 E, öAT 2019, 82. Sponer/Steinherr, § 17 TVöD Rz. 48. Böhle, § 23 Rz. 73.

382

Laber

Einzelheiten

Rz. 12.31 § 12

Zunächst erfolgt also eine Höhergruppierung nach Satz 3, wonach die Beschäftigten der Endstufe der höheren Entgeltgruppe zugeordnet werden. Sollte dieses Tabellenentgelt niedriger sein als der in Satz 4 zu errechnende Betrag, werden die Beschäftigten erneut einer individuellen Endstufe zugeordnet. Die neue individuelle Endstufe wird dann nach Satz 5 berechnet39. bb) Herabgruppierungen Auch die Herabgruppierung erfolgt stufengleich. Wenn in der niedrigeren Entgeltgruppe keine gleiche Stufe tarifiert ist, erfolgt die Zuordnung in die nächstniedrigere Stufe40.

12.29

Eine Herabgruppierung aus einer individuellen Endstufe ist von den Tarifvertragsparteien nicht geregelt worden. Für den TV-L hat das BAG jedoch entschieden, dass dann eine Zuordnung zur regulären Entgeltstufe der niedrigeren Entgeltgruppe zu erfolgen hat41. Die Frage, ob bei einer Herabgruppierung die Stufenlaufzeit, die der Beschäftigte in der höheren Entgeltgruppe erreicht hatte, in der niedrigeren Entgeltgruppe angerechnet wird, hat das BAG zwischenzeitlich für den TVöD-VKA geklärt. Demnach kommt es zu keiner Anrechnung der Stufenlaufzeit42. Ausgehend von der Tarifsystematik, wonach gemäß § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD-VKA für einen Stufenaufstieg eine ununterbrochene Tätigkeit „innerhalb derselben Entgeltgruppe“ bei demselben Arbeitgeber erforderlich ist, wird also die Berufserfahrung in der neuen Entgeltgruppe auch bei einer Herabgruppierung „auf Null gesetzt“43.

12.30

2. Beschwerdekommission nach TVöD/TV-L Ist der Arbeitnehmer mit einer Verlängerung der Stufenlaufzeit nicht einverstanden, kann er sich an die gemäß § 17 Abs. 2 Satz 4 TVöD bzw. TV-L einzurichtende Beschwerdekommission wenden, um sich gegen die Verlängerung der Stufenlaufzeit zu wehren. Diese Kommission setzt sich aus paritätisch von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite benannten – also nicht gewählten – Mitgliedern, die dem Betrieb bzw. der Dienststelle angehören müssen, zusammen (§ 17 Abs. 2 Satz 5 TVöD bzw. TV-L)44. Eine feste Amtszeit für die Beschwerdekommission ist nicht vorgesehen. Nach dem Wortlaut der Vorschrift handelt es sich hierbei nicht um ein obligatorisches Vorverfahren, so dass der Arbeitnehmer auch direkt gerichtlich gegen die Entscheidung des Arbeitgebers vorgehen kann45. Eine Beschwerdefrist ist nicht vorgesehen; in Betracht kommt allerdings die Anwendung der Ausschlussfrist des § 37 TVöD bzw. TV-L. Für Beschwerden über die Ablehnung einer Verkürzung der Laufzeit ist die Kommission nicht zuständig, jedoch für die Beschwerden gegen Ergebnisse der jährlichen Überprüfungen. Zu be-

39 40 41 42 43 44

Vgl. auch Sponer/Steinherr, § 17 TVöD Rz. 47. Sponer/Steinherr, § 17 TVöD Rz. 51. BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 753/12, NJOZ 2015, 70. BAG v. 1.6.2017 – 6 AZR 741/15, AP TVöD § 16 Nr. 4. Sponer/Steinherr, § 17 TVöD Rz. 55; BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 211/11, NZA-RR 2013, 105. Die VKA hat in ihrem Rundschreiben v. 5.1.2006 – R 6/2006 empfohlen, dass Kommissionen – je nach Betriebsgröße – mit nicht mehr als insgesamt vier bis acht Mitgliedern gebildet werden sollten, um deren Entscheidungsfähigkeit zu sichern. 45 Ebenso die Beschwerde nach § 13 LeistungsTV-Bund gegen eine Leistungsfeststellung, vgl. Leist, ZTR 2007, 114 (116).

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383

12.31

§ 12 Rz. 12.31

Beförderung

achten ist ferner, dass die Kommission nicht bei der endgültigen Entscheidung über die leistungsbezogene Stufenzuordnung mitwirkt46.

12.32 Die Beschwerdekommission berät über die „schriftlich begründeten“ Beschwerden47 und unterbreitet dem Arbeitgeber einen Vorschlag, ob und inwieweit der Beschwerde abgeholfen werden soll48. Auch wenn dies tarifvertraglich nicht vorgeschrieben ist, sollten Arbeitnehmer und Vorgesetzter zuvor angehört werden49. Die endgültige Entscheidung verbleibt indes beim Arbeitgeber (Letztentscheidungsrecht). Dieser entscheidet, ob und wenn ja in welchem Umfang der Beschwerde abgeholfen werden soll (§ 17 Abs. 2 Satz 6 TVöD bzw. TV-L). Will der Arbeitgeber dem Vorschlag der Kommission nicht folgen, sollte er seine Entscheidung schriftlich gegenüber der Kommission und dem Arbeitnehmer begründen.

12.33 Die allgemeinen Beschwerderechte des Arbeitnehmers (vgl. zB § 68 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG) bleiben von der Möglichkeit, die Beschwerdekommission anzurufen, unberührt50. 3. Gerichtliche Kontrolle

12.34 Der Arbeitnehmer kann die Entscheidung des Arbeitgebers, seine Stufenlaufzeit zu verlängern, gerichtlich überprüfen lassen. In Betracht kommt zum einen eine Klage auf Feststellung, dass die Verlängerung der Stufenlaufzeit unwirksam ist, und zum anderen im Falle des Ablaufs der regulären Stufenlaufzeit – aufgrund der Tarifautomatik – eine Klage auf Zahlung der Differenz zur höheren Entgeltstufe51.

12.35 Die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen einer Verlängerung und eine ermessensfehlerfreie Entscheidung liegt beim Arbeitgeber. Man wird insoweit auf die von der Rechtsprechung52 entwickelte Darlegungs- und Beweislastverteilung zum Zeugnisberichtigungsanspruch zurückgreifen können53. Dem Vorschlag der paritätischen Kommission wird man dabei keine Indizwirkung beimessen können54. Sowohl die Leistungsbewertung als auch die Ermessensentscheidung über die Verlängerung sind gerichtlich voll nachprüfbar. Aufgrund dessen sollten die Gründe für eine Verlängerung der Stufenlaufzeit über einen längeren Zeitraum eindeutig und aktenkundig sein.

12.36 Es besteht tarifvertraglich kein Anspruch auf eine Verkürzung der Stufenlaufzeit, sondern nur auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung. Der Arbeitnehmer, der die Verkürzung der

46 Vgl. Protokollerklärung zu § 17 Abs. 2 Satz 6: „Die Mitwirkung der Kommission erfasst nicht die Entscheidung über leistungsbezogene Stufenzuordnung.“ 47 Dem Wortlaut nach kann also die Beschwerde mündlich eingelegt werden, muss dann jedoch schriftlich begründet werden. 48 Nach Dörring/Kutzki/Polzer, TVöD, § 17 AT Rz. 13, können bei Nichteinigung der Kommission auch zwei Vorschläge vorgelegt werden. 49 Dörring/Kutzki/Polzer, TVöD, § 17 AT Rz. 13. 50 Kuner, Der neue TVöD, Rz. 270. 51 Vgl. Dörring/Kutzki/Polzer, TVöD, § 17 AT Rz. 14. 52 Vgl. BAG v. 14.10.2003 – 9 AZR 12/03, BAGE 108, 86 = NZA 2004, 843. 53 Auch für den vergleichbaren Fall von Streitigkeiten über die Leistungsbewertung bei arbeitsrechtlichen Zielvereinbarungen wird auf die Darlegungs- und Beweislastverteilung bei Zeugnisstreitigkeiten verwiesen, vgl. nur Annuß, NZA 2007, 290 (294); Hümmerich, NJW 2006, 2294 (2296); Mauer, NZA 2004, 540. 54 AA Dörring/Kutzki/Polzer, TVöD, § 17 AT Rz. 14.

384

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Einzelheiten

Rz. 12.36 § 12

Stufenlaufzeit begehrt, müsste also zunächst darlegen und beweisen, dass seine Leistungen erheblich über dem Durchschnitt lagen. Schon dies wird – wie beim Zeugnisberichtigungsanspruch – nur in Ausnahmefällen gelingen. Außerdem müsste die Entscheidung des Arbeitgebers, die Stufenlaufzeit nicht zu verkürzen, ermessensfehlerhaft sein. Klagen, mit denen eine Verkürzung der tarifvertraglichen Stufenlaufzeit begehrt wird, dürften daher regelmäßig erfolglos bleiben.

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385

§ 13 Arbeitnehmerschutz I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13.1

1. Definition und Inhalt . . . . . . . . . . .

13.1

2. Der Arbeitsschutz im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

a) Betriebsärzte und Sicherheitsingenieure . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.25 b) Sonstige Beauftragte . . . . . . . . . . 13.29

13.7

II. Durchführung und Überwachung .

13.9

4. Unterrichtungs- und Anhörungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.35

1. Staatlicher Arbeitsschutz . . . . . . . . .

13.9

5. Fürsorgepflicht des Dienstherrn . . . 13.36

2. Autonomer Arbeitsschutz . . . . . . . . 13.12

IV. Rechte und Pflichten des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.38

III. Pflichten des Arbeitgebers . . . . . . . 13.17

V. Nichtraucherschutz . . . . . . . . . . . . 13.40

1. Organisatorische Pflichten . . . . . . . 13.18

VI. Sexuelle Belästigung und Mobbing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.44

2. Bekanntmachungs- und Aushangpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.23

VII. Tarifvertragliche Besonderheiten . . 13.45

3. Bestellung von Beauftragten und anderen Fachkräften . . . . . . . . . . . . 13.25 Schrifttum: Anzinger/Bieneck, Kommentar zum Arbeitssicherheitsgesetz, 1998; Asmuß, Arbeitssicherheit im öffentlichen Dienst, BWVPr 1981, 90; Asmuß, Arbeitssicherheit im öffentlichen Dienst – Die Verantwortung der Führungskräfte, BWVPr 1993, 29; Asmuß, Arbeitssicherheit und Unfallverhütung im öffentlichen Dienst, DÖD 2001, 49; Aufhäuser/Brunhöber/Igel, Arbeitssicherheitsgesetz – Handkommentar, 4. Aufl. 2010; Bauschke, Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und seine Auswirkungen auf den öffentlichen Dienst – 1. Teil, RiA 2006, 241; 2. Teil, RiA 2007, 1; Becker/Franke/ Molkenthin, Sozialgesetzbuch VII, Lehr- und Praxiskommentar, 5. Aufl. 2018; Buchholz, Arbeitsschutz im öffentlichen Dienst, ZTR 1991, 455; Elsner, Arbeitssicherheitsgesetz und Betriebsärzte im öffentlichen Dienst, PersR 1990, 59; Faber, Die arbeitsschutzrechtlichen Grundpflichten, 2004; Gach/ Julis, Beschwerdestelle und -verfahren nach § 13 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, BB 2007, 773; Gola/Klug, Neuregelungen zur Bestellung betrieblicher Datenschutzbeauftragter, NJW 2007, 118; Graßl/Zakrzewski, Arbeitssicherheit und Unfallverhütung im öffentlichen Dienst, DÖD 2001, 49; Grobys, Organisationsmaßnahmen des Arbeitgebers nach dem neuen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, NJW 2006, 2950; Heilmann/Aufhauser, Arbeitsschutzgesetz, 2. Aufl. 2005; Kollmer, Die Bedeutung des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) für Beamtentum und öffentlichen Dienst, ZBR 1997, 265; Kollmer, Fachkraft für Arbeitssicherheit, AR-Blattei SD 210.2; Kollmer, Arbeitsschutzgesetz, 2005; Kollmer, Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV), 4. Aufl. 2019; Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, 2007; Leube, Gesetzlicher Unfallversicherungsschutz bei Tätigkeiten im Ausland, ZTR 2006, 301; Mayer, Arbeitsrecht öffentlicher Dienst, 2000; Müller/Preis, Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst, 7. Aufl. 2009; Müller-Glöge/Preis/Schmidt, Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 19. Aufl. 2019; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 17. Aufl. 2017; Schmieding, Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz, ZTR 2004, 12; Schoof, Grundlagen für den Arbeitsschutz, AiB 2005, 511; Schwede, Aufsichtspersonen, Sicherheitsbeauftragte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit, AiB 1998, 664; Simitis/Hornung/Spiecker, Datenschutzrecht (DSGVO mit BDSG), 2019; Wank, Kommentar zum technischen Arbeitsschutz, 1999; Wlotzke, Das neue Arbeitsschutzgesetz – zeitgemäßes Grundlagengesetz für den betrieblichen Arbeitsschutz, NZA 1996, 1017.

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387

§ 13 Rz. 13.1

Arbeitnehmerschutz

I. Grundlagen 1. Definition und Inhalt

13.1 Grundsätzlich dient das gesamte Arbeitsrecht – und somit auch das Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst – dem Schutz der Arbeitnehmer1. Als Arbeitsschutzrecht oder Arbeitnehmerschutzrecht im engeren Sinne werden die Normen verstanden, deren Einhaltung behördlicher Aufsicht unterliegt und die durch Strafen und Bußgelder gesichert sind2. Das Arbeitsschutzrecht ist Teil des öffentlichen Rechts bzw. Sozialrechts3, allerdings auch privatrechtlich in der arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht des Arbeitgebers (§ 618 BGB) verankert4 und konkretisiert diese (Grundsatz der Doppelwirkung)5. Es hat somit immer auch reflexartig Auswirkungen auf das privatrechtliche Arbeitsverhältnis6: So sind vertragliche Regelungen, die gegen arbeitsschutzrechtliche Vorschriften verstoßen, gemäß § 134 BGB nichtig. Weisungen des Arbeitgebers, die arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften widersprechen, sind nicht vom Direktionsrecht gedeckt und deshalb unbeachtlich7. Der Arbeitnehmer kann seine Arbeitsleistung zurückbehalten (§ 273 BGB), wenn der Arbeitgeber die Arbeitsschutzvorschriften nicht einhält8.

13.2 Arbeitsschutzvorschriften sind ferner regelmäßig Schutzgesetze iSd. § 823 Abs. 2 BGB9. Möglich ist eine Konkretisierung oder Erweiterung der arbeitsschutzrechtlichen Regelungen durch Arbeitsvertrag, Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen und Tarifvertrag zugunsten des Arbeitnehmers10.

13.3 Das Arbeitsschutzrecht ist grundsätzlich als duales System ausgestaltet11: Die Normsetzung und Überwachung erfolgen nicht nur durch die staatlichen Organe, sondern auch autonom durch die Unfallversicherungsträger. Im öffentlichen Dienst ist dieses System indes überwunden (s. Rz. 13.12 ff.). Überwachungsfunktionen treffen daneben auch die Betriebs- und Personalräte.

13.4 Eine genaue Einteilung des Arbeitsschutzrechts ist aufgrund des Umfangs und der Vielgestaltigkeit in diesem Rahmen nicht möglich. Grob einteilen lässt sich der Arbeitsschutz nach Bereichen, Inhalten, Zielgruppen und dem jeweiligen Träger des Arbeitsschutzes (s. Übersicht). Übersicht: Einteilung Arbeitsschutzrecht I.

Einteilung nach Bereichen 1. Technischer Arbeitsschutz (Gefahren- und Gesundheitsschutz) a) Betrieblicher Arbeitsschutz (insbesondere ArbSchG, ASiG)

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Schaub/Vogelsang, ArbRHdB, § 151 Rz. 1; Kuner, § 21 Rz. 957. Schaub/Vogelsang, ArbRHdb, § 151 Rz. 2. Schaub/Vogelsang, ArbRHdb, § 151 Rz. 3; Kuner, § 21 Rz. 957. Müller/Preis, Rz. 665. Müller/Preis, Rz. 665 ff.; Schaub/Vogelsang, ArbRHdb, § 151 Rz. 5; Kuner, Rz. 957. MünchArbR/Kothe, § 291 Rz. 1; Schaub/Vogelsang, ArbRHdb, § 151 Rz. 5. Kuner, Rz. 958; Müller/Preis, Rz. 666. Mayer, S. 216; Schaub/Vogelsang, ArbRHdb, § 151 Rz. 5. Schaub/Vogelsang, ArbRHdb, § 151 Rz. 5; Kuner, Rz. 958. MünchArbR/Kothe, § 291; Schaub/Vogelsang, ArbRHdb, § 151 Rz. 6. Schaub/Vogelsang, ArbRHdb, § 151 Rz. 4.

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Grundlagen

Rz. 13.5 § 13

b) Vorgreifender produktbezogener Arbeitsschutz für technische Erzeugnisse und gefährliche Stoffe (zB Gesetz über technische Arbeitsmittel – GSG) 2. Medizinischer Arbeitsschutz (gesunde Arbeitsumgebung) 3. Sozialer oder personenbezogener Arbeitsschutz (insbesondere für besondere Arbeitnehmergruppen) a) Mutterschutz (MuSchG) b) Schwerbehindertenschutz (SGB IX) c) Jugendarbeit (JArbSchG) d) Heimarbeit e) Bildschirm- und Telearbeit f) Schutz vor Benachteiligung und Diskriminierung (AGG; GleiG, Frauenfördergesetze der Länder, BeschäftigtenschutzG, BundesgremienbesetzungsG) II. Einteilung nach Inhalt 1. Betriebs- oder Gefahrenschutz 2. Arbeitszeitschutz 3. Entgeltschutz 4. Datenschutz III. Einteilung nach Zielgruppen 1. Frauen- und Mutterschutz 2. Jugendarbeitsschutz 3. Schwerbehindertenschutz 4. Heimarbeiterschutz IV. Einteilung nach dem Träger des Arbeitsschutzes 1. Staatliche Behörden 2. Unfallversicherungsträger (Berufsgenossenschaften/Unfallkassen) 3. Privater Arbeitsschutz (Beteiligung des Betriebs- und Personalrats) Das Arbeitsschutzrecht ist in allen Bereichen stark geprägt durch europäisches Recht12. Eine Vielzahl von EU-Richtlinien sind durch Gesetze und Rechtsverordnungen in das nationale Recht umgesetzt worden. So ist das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG)13 das Ergebnis der Umsetzung der sog. Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie (89/391/EWG)14. Das ArbSchG regelt die wesentlichen Verpflichtungen von Arbeitgebern bezüglich des Arbeitsschutzes. Es wird ergänzt durch Ausführungsverordnungen, wie etwa die Bildschirmarbeitsverordnung (Bildsch12 Vgl. hierzu MünchArbR/Kothe, § 291 Rz. 4 ff.; Schaub/Vogelsang, ArbRHdb, § 151 Rz. 10 f. 13 Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (BGBl. I 1996, 1246). 14 ABl. L 183 v. 29.6.1989, 1.

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389

13.5

§ 13 Rz. 13.5

Arbeitnehmerschutz

ArbVO), die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättVO), die Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung15, die Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV) und die Baustellenverordnung. Diese können wiederum durch Richtlinien, wie zB bis 31.12.2012 die Arbeitsstätten-Richtlinien (ASR) und seit 1.1.2013 nur noch die Technischen Regeln für Arbeitsstätten (ASR), konkretisiert sein. Weitere wichtige Gesetze für den Bereich des technischen Arbeitsschutzes sind das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) hinsichtlich der Organisation der Arbeitssicherheit sowie das SGB VII inklusive der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV)16.

13.6 Das gesamte Arbeitsschutzrecht ist geprägt durch den Grundsatz „Prävention vor Restitution“. Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz sollen möglichst verhindert werden, so dass es erst gar nicht zu Schädigungen der Arbeitnehmer kommt. 2. Der Arbeitsschutz im öffentlichen Dienst

13.7 Der Arbeitsschutz im öffentlichen Dienst war bis zum Inkrafttreten des Arbeitsschutzgesetzes am 21.8.1996 schwächer als in der Privatwirtschaft17. Verordnungen zum Arbeitsschutz galten oftmals explizit nicht für den öffentlichen Dienst.

13.8 Das Arbeitsschutzgesetz gilt gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 ArbSchG sowohl in der Privatwirtschaft als auch im öffentlichen Dienst, sowohl für Arbeitnehmer als auch für Beamte und Richter18. Ebenso finden die Ausführungsverordnungen sowie Richtlinien Anwendung, so dass nunmehr der Arbeitsschutz im öffentlichen Dienst dem in der Privatwirtschaft im Wesentlichen gleichgestellt ist. Gemäß § 20 Abs. 2 ArbSchG sind für die Bundeswehr, die Polizei, den Zivil- und Katastrophenschutz, den Zoll sowie den Nachrichtendienst Einschränkungen durch Rechtsverordnungen möglich, soweit öffentliche Belange dies zwingend erfordern. In den Rechtsverordnungen muss festgelegt sein, wie Sicherheit und Gesundheit auf andere Weise gewährleistet werden. Sind in der Rechtsverordnung keine alternativen Schutzmaßnahmen geregelt, bleibt es bei den Regelungen des ArbSchG19. Für die Geschäftsbereiche des Bundesministeriums des Innern sowie des Bundesministeriums der Verteidigung bestehen Verordnungen, die die Anwendung des ArbSchG modifizieren.

II. Durchführung und Überwachung 1. Staatlicher Arbeitsschutz

13.9 Für die Überwachung, Beratung und Durchsetzung des Arbeitsschutzes sind grundsätzlich die Arbeitsschutzbehörden der Bundesländer zuständig. Je nach Land sind dies als untere Aufsichtsbehörden die Gewerbeaufsichtsämter oder die Staatlichen Ämter für Arbeitsschutz. Ihre Befugnisse sind in § 22 ArbSchG geregelt. Die zuständigen Behörden haben das Recht, vom Arbeitgeber umfassend Auskunft zu verlangen. Ferner dürfen sie die Betriebsstätten, Geschäfts- und Betriebsräume betreten, besichtigen und prüfen. Auch die Betriebsanlagen, Schutzausrüstungen uÄ dürfen kontrolliert werden. Überdies besteht ein Einsichtsrecht in geschäftliche Unterlagen. Nach § 22 Abs. 3 ArbSchG können die zuständigen Behörden unter 15 16 17 18 19

BGBl. I 2007, 261. Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) v. 31.10.1997, BGBl. I 1997, 2623. Mayer, S. 213; vgl. Buchholz, ZTR 1991, 455. ErfK/Wank, § 1 ArbSchG Rz. 3. Vgl. NK-ArbR/A. Otto, § 20 ArbSchG Rz. 2.

390

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Durchführung und Überwachung

Rz. 13.13 § 13

Fristsetzung, soweit nicht Gefahr im Verzug ist, im Einzelfall anordnen, welche Maßnahmen der Arbeitgeber und die verantwortlichen Personen zur Abwendung einer besonderen Gefahr für Leben und Gesundheit der Beschäftigten zu treffen haben. Sie können ferner die Arbeit oder die Verwendung oder den Betrieb der von der Anordnung betroffenen Arbeitsmittel untersagen, wenn die Anordnung für sofort vollziehbar erklärt wird. Hinzuweisen ist noch auf umfangreiche Meldepflichten an andere Behörden gemäß § 23 ArbSchG, falls die zuständigen Behörden im Rahmen ihrer Überwachung Verstöße gegen andere Gesetze feststellen (zB Steuergesetze, AÜG, AufenthG). Gemäß § 22 Abs. 3 Satz 4 ArbSchG sollen Maßnahmen der zuständigen Behörde im Bereich des öffentlichen Dienstes, die den Dienstbetrieb wesentlich beeinträchtigen, stets nur im Einvernehmen mit der obersten Bundes- oder Landesbehörde oder dem Hauptverwaltungsbeamten der Gemeinde getroffen werden.

13.10

Die Überwachung der Einhaltung des Arbeitsschutzes im öffentlichen Dienst erfolgt im Rah- 13.11 men einer hierarchischen Binnenkontrolle durch die Behörde selbst. Für den Bund ist indes § 21 Abs. 5 ArbSchG zu berücksichtigen, wonach für die Betriebe und Verwaltungen des Bundes die Zentralstelle für Arbeitsschutz beim Bundesministerium des Innern die für die Durchführung, dh. Überwachung20, des Arbeitsschutzes zuständige Behörde ist. 2. Autonomer Arbeitsschutz Im Bereich des betrieblichen Arbeitsschutzes erfolgt eine Überwachung sowohl durch staatliche Behörden als auch durch die Berufsgenossenschaften21. Für den öffentlichen Dienst ist zu beachten, dass nicht die Berufsgenossenschaften, sondern die jeweiligen Unfallkassen bzw. -versicherungen zuständig sind (§§ 125–129a SGB VII). Eine Zuständigkeitsübersicht sowie die Anschriften aller öffentlich-rechtlichen Unfallkassen findet sich auf der Homepage des Bundesverbands der Unfallkassen22. Alle öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber sind zugleich Pflichtmitglieder der zuständigen Unfallkassen.

13.12

Die Berufsgenossenschaften bzw. Unfallkassen und -versicherungen können als Körperschaften des öffentlichen Rechts gemäß § 15 SGB VII Unfallverhütungsvorschriften als autonomes Verbandsrecht erlassen. Dies ist eine Besonderheit des dualen Systems. Die Unfallverhütungsvorschriften bedürfen der Genehmigung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (§ 15 Abs. 4 SGB VII) bzw. ggf. der zuständigen obersten Landesbehörde und sind dem Arbeitgeber bekannt zu machen, der wiederum die Arbeitnehmer darüber informieren muss (§ 15 Abs. 5 SGB VII). Die Unfallverhütungsvorschriften sind für die Mitglieder und die dort versicherten Arbeitnehmer verbindlich23. Zum Teil wird zudem in den staatlichen Arbeitsschutzvorschriften (zB § 3 Abs. 1 Nr. 1 ArbStättV) auf die einschlägigen Unfallverhütungsvor-

13.13

20 Vgl. BVerwG v. 14.10.2002 – 6 P 7/01, NZA-RR 2003, 273. 21 Diese teilen sich auf in die Gewerblichen und die Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften. Die Pflicht zur Abführung von Beiträgen ist europarechtlich unbedenklich, vgl. BSG v. 11.11.2003 – B 2 U 16/03 R, BSGE 91, 263 = NZS 2004, 490; v. 9.5.2006 – B 2 U34/05 R, BeckRS 2006, 44168. 22 www.unfallkassen.de; insgesamt gibt es derzeit 38 Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand, daneben noch zehn Träger der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und 26 gewerbliche Berufsgenossenschaften. 23 LPK-SGB VII/Zakrzewski, § 15 SGB VII Rz. 10.

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391

§ 13 Rz. 13.13

Arbeitnehmerschutz

schriften verwiesen. Die Unfallverhütungsvorschriften sind keine Schutzgesetze iSv. § 823 Abs. 2 BGB24.

13.14 Im öffentlichen Dienst ist im Bereich der Unfallkasse des Bundes das autonome Verbandsrecht beschränkt (§ 115 SGB VII): Für die unmittelbare Bundes- bzw. Landesverwaltung werden die Unfallverhütungsvorschriften durch Verwaltungsvorschriften geregelt25. Regelungsgeber ist das Bundesministerium des Innern (Zentralstelle für Arbeitsschutz beim BMI); die Unfallkasse des Bundes hat nur unterstützende und beratende Funktion. Für die mittelbare Verwaltung (zB auf Bundesebene die Bundesagentur für Arbeit) werden von den Unfallkassen im Wesentlichen inhaltsgleiche Unfallverhütungsvorschriften erlassen26.

13.15 Die Unfallverhütungsvorschriften werden durch Durchführungsanweisungen ergänzt und konkretisiert. Die jeweiligen Unfallverhütungsvorschriften sind für die Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindlich, sie haben normativen Charakter27. Steht der Arbeitnehmer unter dem Schutz der Unfallversicherung, scheidet nach § 104 SGB VII eine Haftung des Arbeitgebers für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten aus28.

13.16 Die Überwachung der Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften obliegt grundsätzlich den Technischen Aufsichtsdiensten des jeweils zuständigen Unfallversicherungsträgers. Die Unfallversicherungsträger sowie die staatlichen Aufsichtsbehörden sind gesetzlich zur Zusammenarbeit sowie zum Informations- und Erfahrungsaustausch verpflichtet (vgl. § 20 SGB VII).

III. Pflichten des Arbeitgebers 13.17 Die den Arbeitgeber treffenden Pflichten im Bereich des Arbeitsschutzes sind insbesondere im ArbSchG (§§ 3–14 ArbSchG) geregelt. Hinzu kommt die allgemeine arbeitsvertragliche Pflicht zum Arbeitsschutz (§§ 618, 619 BGB, § 62 HGB) sowie zur Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften. 1. Organisatorische Pflichten

13.18 Dem Arbeitgeber obliegt nach § 3 Abs. 1 ArbSchG unter Berücksichtigung der Mitbestimmung der Arbeitnehmervertretung (vgl. § 75 Abs. 3 Nr. 11 BPersVG, § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG) die Pflicht, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu treffen, getroffene Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen und ggf. anzupassen. Ferner hat er die Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz anzustreben. Für die Erfüllung dieser Pflichten hat der Arbeitgeber für die erforderliche Organisation und finanzielle Ausstattung zu sorgen (§ 3 Abs. 2 ArbSchG) und die in § 4 ArbSchG aufgeführten allgemeinen Grundsätze zu beachten. Diese Grundsätze sind insbesondere:

24 Differenzierend MünchArbR/Wlotzke, § 207 Rz. 36. 25 ZB 1. Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Regelung der Unfallverhütung im Bundesdienst (1. AVU-Bund). 26 ZB Bundesunternehmen-Unfallverhütungsverordnung (BUV) v. 6.4.2006 (BGBl. I 2006, 1114). 27 LPK-SGB VII/Zakrzewski, § 15 SGB VII Rz. 10. 28 Kuner, Rz. 966.

392

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Pflichten des Arbeitgebers

Rz. 13.22 § 13

– Gestaltung der Arbeit so, dass eine Gefährdung für Leben und Gesundheit möglichst vermieden bzw. gering gehalten wird; – Bekämpfung der Gefahren an ihrer Quelle; – Berücksichtigung des Standes der Technik, der Arbeitsmedizin, Hygiene und sonstiger arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse bei Maßnahmen des Arbeitsschutzes; – Nachrangigkeit von individuellen Schutzmaßnahmen. Wenn der Arbeitgeber die ihn nach den verschiedenen arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften treffenden Pflichten nicht persönlich zu erfüllen in der Lage ist, kann und ggf. muss er diese an Bevollmächtigte delegieren29.

13.19

Erforderlich ist ferner eine Gefährdungsbeurteilung bezüglich der Arbeitsbedingungen (§ 5 ArbSchG) und deren Dokumentation (§ 6 ArbSchG). Diese Gefährdungsermittlung ist das zentrale Element des Arbeitsschutzgesetzes30. Deshalb steht dem Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber auch ein arbeitsvertraglicher Anspruch aus § 618 BGB iVm. § 5 Abs. 1 ArbSchG auf Durchführung der Gefährdungsermittlung zu31. Nach der Rechtsprechung des BAG32 hat der Betriebsrat ein umfassendes Mitbestimmungsrecht sowohl bei der Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG iVm. § 3 BildschirmarbeitsVO als auch bei der Ausgestaltung der Unterweisung gemäß § 12 ArbSchG. Nach der Verwaltungsgerichtsrechtsprechung gilt dies allerdings nicht für Personalräte: Danach ist die Gefährdungsbeurteilung keine Maßnahme, die der Mitbestimmung der Personalvertretung nach § 75 Abs. 3 Nr. 11 BPersVG unterliegt33.

13.20

Überdies muss der Arbeitgeber die Arbeitnehmer während der Arbeitszeit regelmäßig ausreichend und angemessen über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit informieren und unterweisen (§ 12 ArbSchG; Unterweisungspflicht). Diese Pflicht bezieht sich einerseits auf bestehende Gefährdungen und andererseits auf die getroffenen und einzuhaltenden Arbeitsschutzmaßnahmen. Sie darf sich nicht nur allgemein auf Fragen des Gesundheitsschutzes erstrecken, sondern hat aufgabenbereichsbezogen zu erfolgen. Der Arbeitgeber muss auch kontrollieren, ob die Arbeitnehmer die Unterweisungen verstanden haben und umsetzen (zB durch Fragebögen oder Checklisten). Ändern sich Aufgaben oder Gefährdungsgrad, muss eine Unterweisung ggf. wiederholt werden (vgl. § 12 Abs. 1 Satz 4 ArbSchG)34.

13.21

Der Arbeitgeber kann diese Aufgaben und Pflichten auf geeignete Mitarbeiter (zB die Fachkräfte für Arbeitssicherheit, vgl. §§ 5 ff. ASiG) übertragen (§§ 7, 13 Abs. 2 ArbSchG). Er bleibt aber in jedem Fall verpflichtet, die Erfüllung der übertragenen Aufgaben zu kontrollieren.

13.22

29 30 31 32

S. hierzu Wilrich, DB 2009, 1294. LAG Schleswig-Holstein v. 26.10.2006 – 4 TaBV 29/06, BeckRS 2006, 44774. BAG v. 12.8.2008 – 9 AZR 1117/06, NZA 2009, 102. BAG v. 8.6.2004 – 1 ABR 13/03, ArbRB 2004, 336 = AP § 87 BetrVG 1972 Gesundheitsschutz Nr. 13. 33 BVerwG v. 5.3.2012 – 6 PB 25/11, PersV 2012, 307; OVG Münster v. 25.8.2011 – 16 A 1361/10.PVB, PersV 2012, 185 m. Anm. Gerdom, öAT 2011, 285. 34 Schaub/Vogelsang, ArbRHdb, § 154 Rz. 10.

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§ 13 Rz. 13.23

Arbeitnehmerschutz

2. Bekanntmachungs- und Aushangpflichten

13.23 Die Arbeitsschutz- und Sicherheitsvorschriften sowie die einschlägigen Vorschriften zur Unfallverhütung sind vom Arbeitgeber im Betrieb auszuhängen oder auszulegen35. Der Aushang der Gesetze muss vom Arbeitnehmer in zumutbarer Weise eingesehen werden können. Die Gesetze müssen in ihrer jeweils aktuellen Fassung und ohne Kontrollmöglichkeit durch den Arbeitgeber vom Arbeitnehmer ausgehängt werden. Verstöße gegen die Aushangpflicht können zu Schadensersatzansprüchen gegen den Arbeitgeber führen. Zumeist stellt eine Verletzung der Aushangpflicht auch eine Ordnungswidrigkeit dar.

13.24 § 12 Abs. 1 bis 5 AGG normiert darüber hinaus auch eine Pflicht zur Bekanntmachung des AGG in allgemeiner Form und zum Ergreifen der „erforderlichen Maßnahmen zur Vorbeugung von Diskriminierungen“36. Dazu gehört insbesondere auch die Schulungspflicht der Mitarbeiter bezüglich der Pflichten nach dem AGG. Diese Pflichten treffen uneingeschränkt auch die Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes37. Bereits das frühere Beschäftigtenschutzgesetz (BSchG) sah in § 2 Abs. 1 vergleichbare Pflichten zum Schutz vor sexueller Belästigung vor (vgl. Rz. 13.44). 3. Bestellung von Beauftragten und anderen Fachkräften a) Betriebsärzte und Sicherheitsingenieure

13.25 Um den Arbeitsschutz effektiv umzusetzen und einzuhalten, hat der Arbeitgeber zu seiner Unterstützung Sicherheitsfachkräfte und Betriebsärzte zu bestellen. Einzelheiten finden sich im Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (ASiG). Die Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und Fachkräfte für Arbeitssicherheit (FASI) sind bei der Anwendung ihrer arbeitsmedizinischen und sicherheitstechnischen Fachkunde nicht weisungsgebunden (§ 8 Abs. 1 ASiG). Diese fachliche Weisungsfreiheit wird organisatorisch dadurch abgesichert, dass Betriebsärzte und Sicherheitsfachkräfte unmittelbar dem Leiter des Betriebs zu unterstellen sind (§ 8 Abs. 2 ASiG; Modell einer sicherheitstechnischen Stabsstelle). Der zum Betriebsarzt oder zur Sicherheitsfachkraft bestellte Arbeitnehmer kann die Weisungsfreiheit und die organisationsrechtliche Stellung individualrechtlich gegen den Arbeitgeber durchsetzen38. Trotz der Bestellung von Betriebsärzten und Sicherheitsfachkräften verbleibt die Verantwortung für die Durchführung von Arbeitsschutzpflichten allein beim Arbeitgeber.

13.26 Nach § 16 ASiG ist im öffentlichen Dienst für alle Bediensteten (Arbeitnehmer sowie Bundesund Landesbeamte) ein den Grundsätzen des ASiG gleichwertiger arbeitsmedizinischer und sicherheitstechnischer Arbeitsschutz zu gewährleisten (Gleichwertigkeitsklausel). Mit der Vorschrift soll unabhängig von unterschiedlichen Gesetzgebungskompetenzen ein umfassender Arbeitsschutz garantiert werden39.

13.27 Öffentlicher Dienst iSd. § 16 ASiG sind – wie in § 130 BetrVG – alle Verwaltungen und Betriebe des Bundes, der Länder, der Gemeinden und der sonstigen Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts. Hierzu zählen auch die Eigenbetriebe der öffentlichen 35 36 37 38 39

Vgl. Biebrach-Nagel, Aushangpflichtige Arbeitsgesetze, 18. Aufl. 2007. Vgl. Grobys, NJW 2006, 2950. Zu den Auswirkungen des AGG auf den öffentlichen Dienst vgl. Bauschke, RiA 2006, 241 ff. LAG Köln v. 3.4.2003 – 10 (1) Sa 1231/02, NZA-RR 2004, 319. Vgl. im Einzelnen Anzinger/Bieneck, § 16 ASiG Rz. 1 ff.

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Pflichten des Arbeitgebers

Rz. 13.31 § 13

Hand sowie Gerichte40. Betriebe in privater Rechtsform dagegen unterliegen dem ASiG direkt41. Die Anwendung eines für den öffentlichen Dienst geltenden Tarifvertrags ist für die Frage der – direkten – Anwendung des ASiG unerheblich. Die erforderliche Gleichwertigkeit wird dadurch erreicht, dass die Grundsätze des ASiG, dh. die §§ 1 bis 11 und 19, übernommen werden. Auch der öffentliche Arbeitgeber muss unter Beachtung der Mitbestimmung (vgl. § 9 ASiG, § 75 Abs. 3 Nr. 10 BPersVG, § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG) somit die erforderlichen Betriebsärzte und Sicherheitsbeauftragten bestellen. Für den Bereich der Bundesverwaltung ist insoweit die „Richtlinie für den betriebsärztlichen und sicherheitstechnischen Dienst in den Verwaltungen und Betrieben des Bundes“42 maßgeblich; in den Bundesländern existieren entsprechende Richtlinien. In den Richtlinien ist festgelegt, dass jeweils die zuständige oberste Dienstbehörde für die Organisation des arbeitsmedizinischen und sicherheitstechnischen Arbeitsschutzes verantwortlich und wer Leiter der Behörde und damit Arbeitgeber iSd. ASiG ist. Die arbeitsmedizinische Betreuung wird in der Regel durch den personalärztlichen Dienst durchgeführt43.

13.28

b) Sonstige Beauftragte In arbeitsschutzrechtlichen Spezialgesetzen finden sich weitere zu bestellende Fachkräfte. Ein Beispiel ist der – im öffentlichen Dienst etwa in Krankenhäusern bedeutsame – nach § 31 Abs. 1, 2 Strahlenschutzverordnung (StrSchV) erforderliche Strahlenschutzbeauftragte oder der nach § 1 Abs. 2 5. BImschV ggf. zu bestellende Störfallbeauftragte.

13.29

Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, die notwendigen Sicherheitsfachkräfte als Arbeitnehmer zu beschäftigen. Möglich ist auch die Beauftragung Externer (Freiberufler oder überbetriebliche Dienste). Die Bestellung von Arbeitnehmern als Sicherheitsfachkräfte etc. kann nicht durch einseitige Ausübung des Direktionsrechts erfolgen, sondern stellt eine Erweiterung des Arbeitsvertragsinhaltes dar. Das bedeutet, dass auch eine Abberufung oder ein Widerruf nicht im Wege des Direktionsrechts, sondern nur durch einvernehmliche Änderung des Arbeitsvertrages oder durch Teilkündigung erfolgen kann44. Eine Teilkündigung ist in diesem Fall ausnahmsweise zulässig, wenn die Bestellung zur Sicherheitsfachkraft etc. nicht in einem inneren Zusammenhang mit den sonstigen Rechten und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis steht, sondern isoliert vom Arbeitsverhältnis zustande gekommen ist, so dass das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung durch den Wegfall der Aufgabe unverändert bleibt. Mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses endet aufgrund der Akzessorietät des Amtes zugleich auch die Tätigkeit als Sicherheitsfachkraft etc.45.

13.30

Unabhängig davon sind nach § 22 SGB VII in Unternehmen mit regelmäßig mehr als 20 Beschäftigten Sicherheitsbeauftragte zu bestellen. Die Anzahl der zu bestellenden Sicherheitsbeauftragten bestimmt sich nach den Unfallverhütungsvorschriften und ist abhängig vom Gefährdungsgrad. Die Sicherheitsbeauftragten haben nur unterstützende Funktion bei der

13.31

40 41 42 43 44

Anzinger/Bieneck, § 16 ASiG Rz. 9 ff. Anzinger/Bieneck, § 16 ASiG Rz. 10. GMBl. 1978, 114; abgedruckt bei Aufhauser/Brunhöber/Igl, Arbeitssicherheitsgesetz. Mayer, S. 214. BAG v. 13.3.2007 – 9 AZR 612/05, ArbRB 2007, 163 = DB 2007, 1198 (für den betrieblichen Datenschutzbeauftragten). 45 Vgl. LAG Niedersachsen v. 16.6.2003 – 8 Sa 1968/02, NZA-RR 2004, 354; offen gelassen von BAG v. 13.3.2007 – 9 AZR 612/05, ArbRB 2007, 163 = DB 2007, 1198.

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§ 13 Rz. 13.31

Arbeitnehmerschutz

Durchführung der Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, sind jedoch keine für die Unfallverhütung verantwortliche Personen46. Sie haben sich vor allem von dem Vorhandensein und der ordnungsgemäßen Benutzung der Schutzeinrichtungen und persönlichen Schutzausrüstungen zu überzeugen. Außerdem sollen sie auf Unfall- und Gesundheitsgefahren für die Beschäftigten aufmerksam machen (§ 22 Abs. 2 SGB VII). Sie sind auch zu bestellen, wenn bereits Sicherheitsfachleute nach dem ASiG vorhanden sind47.

13.32 Ferner sind nach § 10 Abs. 2 ArbSchG Beschäftigte zu benennen, zu unterrichten und auszurüsten, die Aufgaben der ersten Hilfe, der Brandbekämpfung und der Evakuierung übernehmen.

13.33 Hinzuweisen ist des Weiteren noch auf den betrieblichen Datenschutzbeauftragten, der nach Art. 37 Abs. 1 lit. a DSGVO von öffentlichen Arbeitgebern, die personenbezogene Daten automatisiert erheben, verarbeiten oder nutzen, zu bestellen ist48. In § 2 BDSG nF findet sich eine Definition, wer zu den öffentlichen Stellen zählt. Sofern sich Behörden zur Erfüllung ihrer öffentlich-rechtlichen Aufgaben einer natürlichen oder juristischen Person des Privatrechts bedienen, gelten diese nach § 2 Abs. 3 BDSD nF ebenfalls als öffentliche Stellen49. Behörden und öffentliche Stellen können sowohl einen internen als auch einen externen Datenschutzbeauftragten bestellen, da Art. 37 Abs. 6 DSGVO auch für Behörden gilt. Die öffentlichen Stellen bzw. Behörden müssen aber – sofern einschlägig – die Pflicht zur Ausschreibung dieser Position einhalten. Die Vergaberechtsregeln sind auch bei dem Auswahlverfahren für einen externen Datenschutzbeauftragten zu beachten50. Eine Ausnahme von der Pflicht zur Ernennung eines Datenschutzbeauftragten besteht nach Art. 37 Abs. 1 lit. a DSGVO für Gerichte, die im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit handeln. Diese Ausnahme wurde zur Sicherstellung der Unabhängigkeit der Gerichte eingeführt, so dass sie in diesem Bereich keinen Kontrollen durch einen Datenschutzbeauftragten unterliegen. Jenseits der justiziellen Tätigkeit – also im Bereich der Justizverwaltung – besteht dagegen sehr wohl auch für die Justizbehörde die Pflicht, einen Datenschutzbeauftragten zu benennen. Allerdings ist der Bereich der justiziellen Tätigkeit seinen Kontroll- und Beratungsaufgaben entzogen51.

13.34 Nach § 13 Abs. 1 AGG hat der Arbeitgeber schließlich eine Beschwerdestelle zu benennen, an die sich die Beschäftigten wenden können, wenn sie sich wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligt fühlen52. Das bedeutet nicht, dass der Arbeitgeber einen Beauftragten für Beschwerdeverfahren zu ernennen oder eine institutionalisierte Stelle im Betrieb oder der Dienststelle einzurichten hat53. Die Beschwerdestelle muss die Beschwerden von Arbeitnehmern prüfen. Sie muss sich in der Dienststelle bzw. in dem Betrieb befinden, so dass zB eine dienststellen- bzw. betriebsübergreifende telefonische „Hotline“ nicht ausreicht. Im öffentlichen Dienst wird die Beschwerdestelle auch bei den nach den diversen Gleichstellungs- bzw. 46 47 48 49 50 51 52 53

Schaub/Vogelsang, ArbRHdb, § 152 Rz. 5; § 154 Rz. 53. Schaub/Vogelsang, ArbRHdb, § 154 Rz. 53. Vgl. hierzu Laue/Kremer, Das neue Datenschutzrecht in der betrieblichen Praxis, Rz. 8. Simitis/Hornung/Spiecker/Drewes, Art. 37 DSGVO Rz. 8. Simitis/Hornung/Spiecker/Drewes, Art. 37 DSGVO Rz. 9. Simitis/Hornung/Spiecker/Drewes, Art. 37 DSGVO Rz. 10. Vgl. Gach/Julis, BB 2007, 773. Nägele/Frahm, ArbRB 2007, 140 (141).

396

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Pflichten des Arbeitgebers

Rz. 13.37 § 13

Frauenfördergesetzen des Bundes und der Bundesländer oder Gemeindeordnungen zu bestellenden Gleichstellungsbeauftragten eingerichtet werden können54. 4. Unterrichtungs- und Anhörungspflicht Nach § 14 ArbSchG sind die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes vor Beginn der Beschäftigung und bei Veränderungen in ihren Arbeitsbereichen über Gefahren für Sicherheit und Gesundheit, denen sie bei der Arbeit ausgesetzt sein können, zu unterrichten. So ist zB der öffentliche Arbeitgeber verpflichtet, eine Berufsschullehrerin, die mit drogenabhängigen Schülern arbeitet, die in großem Umfang mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert sind, über die Gefahr einer Ansteckung aufzuklären55. Fehlt ein Betriebs- oder Personalrat, sind sie zudem zu allen Maßnahmen, die Auswirkungen auf ihre Sicherheit und Gesundheit haben können, anzuhören (§ 14 Abs. 2 ArbSchG). Verletzt der Arbeitgeber diese Pflicht, kann dem Arbeitnehmer ein Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 1 BGB und § 618 Abs. 3 BGB iVm. § 842 BGB erwachsen56.

13.35

5. Fürsorgepflicht des Dienstherrn Die Fürsorgepflicht ist Teil der Treuebindungen im Arbeitsverhältnis. Eine arbeitsschutzrechtliche Ausprägung der Fürsorgepflicht ist in §§ 618, 619 BGB sowie § 62 HGB enthalten. Der Arbeitgeber ist – auch außerhalb des Anwendungsbereichs des ArbSchG, der ArbStättVO oder des ASiG – zwingend verpflichtet, die Arbeitnehmer durch Gestaltung der Arbeitsplätze gegen Gefahren für Leben und Gesundheit zu schützen, ohne dass bestimmte Maßnahmen vorgeschrieben sind. Der Arbeitnehmer hat über § 618 BGB einen einklagbaren Erfüllungsanspruch auf Herstellung eines arbeitsschutzkonformen Zustandes57. Dieser Erfüllungsanspruch bezieht sich aber nur auf solche Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften, die ihrem Inhalt nach unmittelbar den Schutz des Arbeitnehmers bezwecken. Dies ist durch Auslegung der maßgeblichen Arbeitsschutznorm zu ermitteln58. Reine Ordnungs- und Organisationsvorschriften, die nur das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Staat bzw. Unfallversicherungsträgern betreffen, begründen keinen Erfüllungsanspruch59.

13.36

Die Fürsorgepflicht wird durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und damit durch die 13.37 Zumutbarkeit der Schutzmaßnahmen für den Arbeitgeber begrenzt60. Ferner erfolgt eine Einschränkung durch den Grundsatz der Eigenverantwortung des Arbeitnehmers und das allgemeine Lebensrisiko. So besteht keine Pflicht für den Arbeitgeber, einen Arbeitnehmer vor einem ohne weiteres als selbstgefährdend einsehbaren Verhalten zu bewahren. Der Arbeitgeber ist daher nicht zB verpflichtet, den Arbeitnehmer an Alkoholkonsum bei dienstlichen oder betrieblichen Veranstaltungen zu hindern.

54 55 56 57 58 59 60

Vgl. Bauschke, RiA 2007, 1. BAG v. 14.12.2006 – 8 AZR 628/05, ArbRB 2007, 97 = NZA 2007, 262. BAG v. 14.12.2006 – 8 AZR 628/05, ArbRB 2007, 97 = NZA 2007, 262. BAG v. 12.8.2008 – 9 AZR 1117/06, NZA 2009, 102. ErfK/Wank, § 618 BGB Rz. 24. BAG v. 12.8.2008 – 9 AZR 1117/06, NZA 2009, 102. Göpfert/Siegrist, NJW 2006, 2806 (2808).

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397

§ 13 Rz. 13.38

Arbeitnehmerschutz

IV. Rechte und Pflichten des Arbeitnehmers 13.38 Die Beachtung der Arbeitsschutzvorschriften durch den Arbeitnehmer ist eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht (§§ 15–17 ArbSchG). Nach § 15 ArbSchG müssen die Arbeitnehmer technische Arbeitsmittel bestimmungsgemäß nutzen und Schutzvorrichtungen und -kleidung gebrauchen. Ferner besteht nach § 16 ASiG eine Melde- und Unterstützungspflicht, wenn von Arbeitnehmern Mängel an Produktionseinrichtungen oder Sicherheitsmaßnahmen erkannt werden. Die Verletzung dieser arbeitsvertraglichen Nebenpflicht kann nach erfolgtem Ausspruch einer Abmahnung sogar eine Kündigung rechtfertigen.

13.39 Mit diesen Pflichten korrespondiert das in § 17 ArbSchG geregelte Vorschlagsrecht des Arbeitnehmers zu allen Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes sowie das Recht zur Beschwerde und Anzeige, falls der Arbeitgeber keine ausreichenden Mittel bereitstellt, um Sicherheit und Gesundheitsschutz zu gewährleisten.

V. Nichtraucherschutz 13.40 Nach langjährigen Diskussionen sind in Deutschland – wie bereits in verschiedenen anderen europäischen Ländern – sowohl für Einrichtungen des Bundes61 als auch der Bundesländer62 Nichtraucherschutzgesetze eingeführt worden. Das BVerfG hatte sich zwischenzeitlich mit den gesetzlichen Regelungen der Länder Berlin und Baden-Württemberg bzgl. des Rauchverbots in Gaststätten zu befassen. Dabei hat es festgestellt, dass ein generelles Rauchverbot in Gaststätten grds. zulässig ist. Die überprüften Gesetze, welche Ausnahmen für Gaststätten mit abgetrennten Raucherräumen vorsehen, seien demgegenüber mit der Berufsfreiheit der Gastwirte unvereinbar, da sie Einraumgaststätten (sog. „Eckkneipen“) unzulässig beeinträchtigen63. Aufgrund dieser Entscheidung mussten auch Vorschriften in Nichtraucherschutzgesetzen anderer Länder, die ebenfalls die o.g. Ausnahmen enthielten, nachgebessert werden64.

13.41 Bislang erfolgte am Arbeitsplatz ein Schutz des nichtrauchenden Beschäftigten über die ArbStättV sowie subsidiär über § 618 BGB65. Nach § 5 Abs. 1 ArbStättV hat der Arbeitgeber die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die nichtrauchenden Beschäftigten in Arbeitsstätten wirksam vor den Gesundheitsgefahren durch Tabakrauch geschützt sind. Hierzu hat er nach § 5 ArbSchG durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind. Dies wird im Bereich der öffentlichen Arbeitgeber durch entsprechende Erlasse sichergestellt66.

61 Vgl. das zum 1.9.2007 in Kraft getretene Bundesnichtraucherschutzgesetz (BGBl. I 2007, 1595), wonach das Rauchen in Einrichtungen des Bundes, in Verkehrsmitteln des öffentlichen Personenverkehrs und in Bahnhöfen mit Ausnahme von besonders gekennzeichneten Räumen verboten ist. 62 Seit 1.7.2008 gelten Nichtraucher-Schutzgesetze in allen Bundesländern, vgl. das NichtraucherSchutzgesetz NRW unter www.nichtraucherschutz.nrw.de. 63 BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07, BVerfGE 121, 317. 64 S. nur den zum 30.6.2009 geänderten § 4 NiSchG NRW; abrufbar unter www.nichtraucher schutz.nrw.de. 65 Vgl. zum Verhältnis der Normen Wellenhofer-Klein, RdA 2003, 155 (157 f.). 66 Vgl. etwa für NRW den RundErlass des Ministeriums für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie v. 12.12.2003 – MBl.NW 2004, 75.

398

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Sexuelle Belästigung und Mobbing

Rz. 13.44 § 13

Die Wahl der Mittel zum Schutz vor Gesundheitsgefahren durch Tabakrauch steht aufgrund der unternehmerischen Gestaltungsfreiheit im Ermessen des Arbeitgebers; die ArbStättV sieht insoweit keine konkreten Maßnahmen vor67. Der Arbeitgeber kann somit gestützt auf § 5 Abs. 1 ArbStättV ein Rauchverbot erlassen68, wobei jedoch der Betriebs- oder Personalrat eine Mitbestimmungsbefugnis hat (§ 75 Abs. 3 Nr. 11 BPersVG, § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG). Unter Umständen besteht darüber hinaus ein Anspruch des Arbeitnehmers auf Vornahme bestimmter Maßnahmen (insbesondere auf Erlass eines Rauchverbots am Arbeitsplatz). So sieht § 5 Abs. 1 ArbStättV vor, dass in Arbeitsräumen unter Berücksichtigung der angewandten Arbeitsverfahren und der körperlichen Beanspruchung der Arbeitnehmer während der Arbeitszeit genügend gesundheitlich zuträgliche Atemluft vorhanden sein muss. Nach hM kann daher im Falle von überdurchschnittlicher Rauchbelastung und Gesundheitsbeeinträchtigungen der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber den Erlass eines Rauchverbots verlangen69. Zudem kann sich auch aus der arbeitsrechtlichen Fürsorgepflicht des Arbeitgebers nach § 618 Abs. 1 BGB ein Anspruch auf zusätzliche Schutzmaßnahmen, die über die nach der ArbStättV erforderlichen Maßnahmen hinausgehen, ergeben70. Nach Art. 2 des Gesetzes zum Schutz vor den Gefahren des Passivrauchens71 wurde zum 1.9.2007 § 5 Abs. 1 ArbStättV dahingehend ergänzt, dass der Arbeitgeber, soweit erforderlich, ein allgemeines oder auf einzelne Bereiche der Arbeitsstätte beschränktes Rauchverbot zu erlassen hat. Das Ermessen des Arbeitgebers wird somit eingeschränkt.

13.42

Ein Rechtsanspruch auf einen tabakrauchfreien Arbeitsplatz auch außerhalb der Dienstzeiten besteht allerdings nicht72. Bei Arbeitsplätzen mit Publikumsverkehr ist des Weiteren noch § 5 Abs. 2 ArbStättV zu beachten. Für derartige Arbeitsplätze kann der Arbeitnehmer keine Maßnahmen zum Schutz seiner Gesundheit verlangen, die zu einer Veränderung oder zu einem faktischen Verbot der unternehmerischen Tätigkeit führen73. Nach § 5 Abs. 2 ArbStättV hat der Arbeitgeber nicht rauchende Beschäftigte in Arbeitsstätten mit Publikumsverkehr daher nur insoweit vor den Gesundheitsgefahren durch Passivrauchen zu schützen, als die Natur des Betriebs und die Art der Beschäftigung es zulassen. Dies kann dazu führen, dass er nur verpflichtet ist, die Belastung durch Passivrauchen zu minimieren, nicht aber sie gänzlich auszuschließen74.

13.43

VI. Sexuelle Belästigung und Mobbing Auch im öffentlichen Dienst besteht die Gefahr von sexueller Belästigung, Diskriminierung oder Mobbing am Arbeitsplatz. Für alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes galt bereits das Gesetz zum Schutz der Beschäftigten vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz (Beschäftigtenschutzgesetz vom 24.6.1994 – BSchG)75, das am 18.8.2006 vom Allgemeinen Gleichbe67 Schmieding, ZTR 2004, 12 (13); Wellenhofer-Klein, RdA 2003, 155 (159). 68 Schmieding, ZTR 2004, 12 (13). 69 BAG v. 19.5.2009 – 9 AZR 241/08, ArbRB 2009, 257 = NZA 2009, 775; Küttner/Reinecke, Nichtraucherschutz Rz. 1; Wellenhofer-Klein, RdA 2003, 155 (157 f.); vgl. auch Bergwitz, NZA-RR 2004, 169. 70 Vgl. BAG v. 17.2.1998 – 9 AZR 84/97, BAGE 88, 63 = NZA 1998, 1231. 71 BGBl. I 2007, 1595 (1596). 72 LAG Berlin v. 18.3.2005 – 6 Sa 2585/04, BB 2005, 1576 (Ls.). 73 ArbG Berlin v. 20.9.2006 – 29 Ca 7261/06, AE 2007, 38. 74 BAG v. 10.5.2016 – 9 AZR 347/15, NJW 2017, 285. 75 BGBl. I 1994, 1406 (1412).

Laber

399

13.44

§ 13 Rz. 13.44

Arbeitnehmerschutz

handlungsgesetz (AGG) abgelöst worden ist. Nach § 12 Abs. 1 AGG müssen der Arbeitgeber und der Dienstvorgesetzte präventive Schutzmaßnahmen gegen sexuelle Belästigung iSv. § 3 Abs. 4 AGG (zuvor § 2 Abs. 2 Satz 1 BSchG) sowie Mobbing anbieten. Hierunter fallen insbesondere Informations- und Fortbildungsveranstaltungen (§ 12 Abs. 2 AGG). Neben diesen präventiven Maßnahmen muss der Arbeitgeber auch geeignete repressive Maßnahmen, wie Versetzung, Abmahnung oder – uU sogar fristlose – Kündigungen76 (§ 12 Abs. 3 AGG) zur Ahndung von sexueller Belästigung oder Mobbing ergreifen. Einen selbständigen Kündigungsgrund schafft § 12 Abs. 3 AGG jedoch nicht; die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der einschlägigen Kündigungsgrundlagen sind also weiterhin zu beachten77. Im öffentlichen Dienst kommen darüber hinaus auch Reaktionen wie Verlängerung der Stufenlaufzeit oder Kürzung einer Leistungsprämie in Betracht78.

VII. Tarifvertragliche Besonderheiten 13.45 Sowohl TVöD als auch TV-L sehen keine Regelungen zum Arbeitsschutz vor. Die im BAT/ BAT-O in § 66 enthaltene Vorschrift über Schutzkleidung wurde nicht übernommen.

76 Vgl. LAG Schleswig-Holstein v. 27.9.2006 – 3 Sa 163/06, EzA-SD Nr. 25, 8 (Ls.). 77 ErfK/Schlachter, § 12 AGG Rz. 3. 78 Vgl. Bauschke, RiA 2007, 1.

400

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§ 14 Arbeitszeitrecht I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.1

1. Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . a) Arbeitsschutzvorschriften . . . . b) Tarifverträge und Ziele der Tarifreform . . . . . . . . . . . . . . . c) Betriebs- und Dienstvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Arbeitsvertrag . . . . . . . . . . . . .

14.1 14.1

2. Arbeitszeitbegriff . . . . . . . . . . . .

14.10

II. Dauer der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit . . . . .

14.16

14.3 14.6 14.8

a) Verpflichtung zur Errichtung bei Arbeitszeitkorridor oder Rahmenzeit, § 10 Abs. 1 TVöD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhalt der Betriebs- oder Dienstvereinbarung . . . . . . . . .

14.75

2. Buchbare Zeiten . . . . . . . . . . . . .

14.82

3. Arbeitsunfähigkeit während eines gewährten Zeitausgleichs . . .

14.85

14.68

4. Langzeitkonten . . . . . . . . . . . . . .

14.88 14.91

1. Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.19

VII. Öffnungsklausel, § 6 Abs. 4 TVöD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. VKA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.20

1. Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . .

14.94

3. Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.23

2. Betriebs- und Dienstvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.96

3. Abweichung nur bei dringenden betrieblichen Gründen . . . . . . . .

14.99

4. Berechnung der monatlichen Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.27

5. Abweichende arbeitsvertragliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.28

III. Verteilung der Arbeitszeit . . . . .

14.30

4. Die Abweichungsmöglichkeiten im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . 14.101

1. Ausgleichszeitraum . . . . . . . . . . .

14.30

VIII. Sonderformen der Arbeit . . . . . . 14.114

2. Verteilung auf Wochentage . . . . .

14.34

IV. Ruhepausen . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.39

1. Verpflichtung zu Sonderformen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.114

1. Regelung im ArbZG . . . . . . . . . .

14.39

2. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.40

3. Arbeitszeitrechtliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.43

V. Flexible Arbeitszeit . . . . . . . . . . .

14.44

1. Feste Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . .

14.45

2. Dienstpläne und schwankende Arbeitszeiten . . . . . . . . . . . . . . . .

14.47

3. Gleitzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.50

4. Arbeitszeitkorridor . . . . . . . . . . .

14.55

5. Rahmenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.62

6. Vertrauensarbeitszeit . . . . . . . . .

14.67

VI. Arbeitszeitkonto . . . . . . . . . . . . .

14.68

1. Einrichtung des Arbeitszeitkontos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.68

2. Einzelne Sonderformen . . . . . . . a) Sonn- und Feiertagsarbeit . . . . aa) Arbeitsschutzrechtliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . bb) Entgeltfortzahlung an Feiertagen . . . . . . . . . . . . cc) Dienstplangestaltung an Feiertagen . . . . . . . . . . . . dd) Sonderregelung für Vorfesttage . . . . . . . . . . . . b) Nachtarbeit . . . . . . . . . . . . . . . c) Wechselschichtarbeit . . . . . . . . aa) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . bb) Folgen . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sonderregelungen . . . . . . d) Schichtarbeit . . . . . . . . . . . . . . e) Mehrarbeit . . . . . . . . . . . . . . . f) Überstunden . . . . . . . . . . . . . . aa) Regelfall, § 7 Abs. 7 TVöD . . . . . . . . . . . . . . . .

Brock

14.116 14.116 14.116 14.118 14.121 14.124 14.125 14.127 14.127 14.131 14.132 14.134 14.137 14.139 14.139

401

§ 14

Arbeitszeitrecht

bb) Abweichende Überstundenregelungen, § 7 Abs. 8 TVöD . . . . . . . . . . . . . . . 14.144 g) Bereitschaftsdienst . . . . . . . . . 14.149 h) Rufbereitschaft . . . . . . . . . . . . 14.154 3. Ausgleich für Sonderformen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zeitzuschläge, § 8 Abs. 1 TVöD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mehrarbeit, § 8 Abs. 2 TVöD . c) Rufbereitschaft, § 8 Abs. 3 TVöD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bereitschaftsdienst, § 8 Abs. 4 TVöD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Schichtzulagen, § 8 Abs. 5, 6 TVöD . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14.160 14.161 14.170 14.174

a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Geltungsbereich . . . . . . . . . . . c) Faktorisierung der Bereitschaftszeiten, § 9 Abs. 1 Satz 2 TVöD . . . . . . . . . . . . . . d) Mitbestimmung . . . . . . . . . . . aa) VKA, § 9 Abs. 2 TVöD . . . bb) Bund, § 9 Abs. 3 TVöD . . e) Sondervorschriften für Hausmeister und Beschäftigte im Rettungsdienst und in Leitstellen im Anhang zu § 9 TVöD . .

14.193 14.195 14.197 14.198 14.198 14.200

14.201

IX. Teilzeitbeschäftigung . . . . . . . . . 14.206 14.180 14.181

4. Sonderregelungen für den Bereitschaftsdienst und die Rufbereitschaft in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen . . . . . . 14.184 a) Bereitschaftsdienst . . . . . . . . . 14.185 b) Rufbereitschaft . . . . . . . . . . . . 14.191 5. Sonderregelung für Bereitschaftszeiten, § 9 TVöD . . . . . . . 14.193

1. Tarifrechtlicher Teilzeitanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Änderungen von § 15b BAT zu § 11 TVöD . . . . . . . . . . . . . b) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . c) Befristung der Teilzeittätigkeit .

14.207 14.207 14.209 14.211

2. Vergleichsentgeltermittlung für Teilzeitbeschäftigte . . . . . . . . 14.212 3. Brückenteilzeit . . . . . . . . . . . . . . 14.216

Schrifttum: Anzinger/Koberski, Arbeitszeitgesetz, 4. Aufl. 2014; Baeck/Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 3. Aufl. 2014; Bayreuther, Rufbereitschaft als Arbeitszeit?, NZA 2018, 348; Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, TVöD, 45. Aufl. 2019; Bredemeier/Neffke, TVöD/TV-L, 5. Aufl. 2017; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, Tarif- und Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst, Aktualisierung 2018; Compensis, Vertrauensarbeitszeit – arbeitnehmerbestimmte Arbeitszeit (auch) im Arbeitgeberinteresse, NJW 2007, 3089; Feldhoff, Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung – zum Verhältnis der rechtlichen Grundlagen der §§ 8 TzBfG, 15 BErzGG und 15b BAT/11 TVöD im Kontext der aktuellen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, ZTR 2006, 58; Frank, Regelungsbedarf und Haftungsfallen in Wertkontenmodellen, NZA 2008, 152; Gerdom, Reisezeiten im Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes, öAT 2011, 103; Günther, Schicht- und Wechselschichtarbeitszeit im TVöD/TV-L, öAT 2016, 156; Günther, Aktuelle Probleme im Arbeitszeitsystem des öffentlichen Dienstes, öAT 2015, 133; Hahn, Reisezeiten, Umkleidezeiten und Waschzeiten als Arbeitszeit im arbeitsrechtlichen, tariflichen, betriebsverfassungsrechtlichen und personalvertretungsrechtlichen Sinne, öAT 2017, 202; Hahn, Folgen aus dem EuGH – Urteil zu überlangen Arbeitszeiten im Feuerwehrdienst, öAT 2011, 126; Hahn, Flexibilisierungsmöglichkeiten bei Arbeitszeit und Arbeitsentgelt nach TVöD/TV-L, öAT 2010, 54; Hahn, Arbeitszeitkonten und Arbeitszeitflexibilisierung im öffentlichen Dienst, öAT 2013, 177; Heins/Leder, Die arbeitsrechtliche Behandlung von Wegezeiten bei Dienstreisen, NZA 2007, 249; Henssler/Lunk, Leitende Angestellte und das Arbeitszeitrecht – Betrachtungen de lege lata und de lege ferenda, NZA 2016, 1425; Hock/Kramer/Schwerdle, Ausgewählte Fragen zur Anwendung des TVöD in der Praxis, ZTR 2006, 622; Jacobs/ Krause/Oetker/Schubert, Tarifvertragsrecht, 2. Aufl. 2013; Kawick, Zur Auslegung einer Zusatzvereinbarung zum Arbeitsvertrag über die Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit, ZTR 2009, 564; Kunze, Abschluss und Beendigung von Dienstvereinbarungen, PersV 1998, 510; Litschen, Gleitzeit, Rahmenzeit, Mitbestimmung und Weisungsrecht – eine Klarstellung, ZTR 2012, 423; Müller, Wechselschichtarbeit im öffentlichen Dienst, öAT 2010, 123; Neumann/Biebl, Arbeitszeitgesetz, 16. Aufl. 2012; Peter, Anteilige Schicht- bzw. Wechselschichtzulage für Teilzeitbeschäftigte, ZTR 2007, 646; Pieper, Arbeitsaufnahme aus der Rufbereitschaft – Anmerkung zum Urteil des BAG v. 31.1.2002 – 6 AZR 214/00, ZTR 2002, 420; Preis, Innovative Arbeitsformen, 2005; Preis/Schwarz, Reform des Teil-

402

Brock

Grundlagen

Rz. 14.4 § 14

zeitarbeitsrechts, NJW 2018, 3673; Reinartz, Tarifvertraglicher Teilzeitanspruch im öffentlichen Dienst, öAT 2012, 6; Schliemann, Arbeitszeitgesetz, 4. Aufl. 2018; Schmitt, Entgeltfortzahlungsgesetz, Aufwendungsausgleichsgesetzt, 8. Aufl. 2018; Seel, Arbeitszeitkorridore – Eine kostenneutrale Möglichkeit zur Arbeitszeitflexibilisierung, öAT 2012, 129; Siebert, Keine Überstundenzuschläge nach TVöD für geplante Überstunden im Falle von Arbeitsunfähigkeit oder Urlaub, öAT 2019, 107; Sponer/Steinherr, Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst Bund/Kommunen, 123. Aktualisierung 2019; Stöhr/Stolzenberg, Dienstreisen: Arbeitszeitrechtliche Behandlung und Vergütung, NZA 2019, 505; von Roetteken, Arbeitszeitmitbestimmung im Geltungsbereich des TVöD, PersR 2006, 96; Wahlers, BAG entscheidet über strittige Fragen zur Arbeitszeit im TVöD und TV-L, ZTR 2009, 465; Zwanziger, Das BAG und das ArbZG – Aktuelle Tendenzen, DB 2007, 1356.

I. Grundlagen 1. Rechtsgrundlagen a) Arbeitsschutzvorschriften Für das Arbeitszeitrecht ist das Ineinandergreifen einer Vielzahl von Rechtsgrundlagen typisch. Die Grenzen für die Ausgestaltung von Arbeitszeitmodellen ergeben sich aus dem ArbZG und ergänzenden Arbeitsschutzvorschriften; diese werden durch die europäische Arbeitszeitrichtlinie1 geprägt. Das ArbZG wird ergänzt durch Sondervorschriften im MuSchG und im JArbSchG. Im öffentlichen Dienst sind die Schutzvorschriften des ArbZG auf alle Arbeitnehmer mit Ausnahme der leitenden Angestellten (§ 18 ArbZG)2 anwendbar; ausgeschlossen sind die Leiter öffentlicher Dienststellen und deren Vertreter sowie Arbeitnehmer, die zu selbständigen Entscheidungen in Personalangelegenheiten befugt sind, § 18 Abs. 1 Nr. 2 ArbZG.

14.1

Zweck des ArbZG sind neben dem Schutz der Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und seelischen Erhebung die Gewährleistung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeitszeitgestaltung und die Verbesserung der Rahmenbedingungen für flexible Arbeitszeiten, § 1 ArbZG.

14.2

b) Tarifverträge und Ziele der Tarifreform Die Ausgestaltung von Arbeitszeitmodellen ist dagegen klassische Domäne der Tarifvertragsund Betriebsparteien. Die Neuregelung der arbeitszeitrechtlichen Vorschriften war ein Kernpunkt der Tarifreform im öffentlichen Dienst. Bei der Verhandlung des TVöD versuchten die Arbeitgeber eine Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts zu erreichen. Die Bedeutung des Themas wird dadurch illustriert, dass Differenzen beim Thema Arbeitszeit – insbesondere die fehlgeschlagene Einigung über eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit – zum Zerbrechen der Tarifgemeinschaft der Länder mit Bund und VKA führte. Im Ergebnis lehnt sich der schließlich verhandelte TV-L an den TVöD an, weist aber zahlreiche Besonderheiten auf.

14.3

Der TVöD erlaubt eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung als der BAT: Ausgleichszeiträume wur- 14.4 den verlängert, die Arbeitszeit kann regulär auf sechs statt auf fünf Tage verteilt werden. Abweichungen vom ArbZG werden auf Basis von § 7 Abs. 1 und 2 sowie § 12 ArbZG umfassend ermöglicht. 1 Richtlinie 2003/88/EG v. 4.11.2003, ABl Nr. L 299/9, abgedruckt in Baeck/Deutsch, Anhang A.1. 2 Dazu Henssler/Lunk, NZA 2016, 1425.

Brock

403

§ 14 Rz. 14.5

Arbeitszeitrecht

14.5 Kernstück der neuen Regelungen sind die Einführung von Arbeitszeitkorridor und Rahmenzeit gemäß § 6 Abs. 6 und 7 TVöD. Diese Arbeitszeitgestaltungen ermöglichen es, zusammen mit einem Arbeitszeitkonto die Arbeitszeit der Beschäftigten im Wege des Direktionsrechts flexibel an die Bedürfnisse des Betriebs oder der Dienststelle anzupassen; sie gehen damit weit über die bisherigen Gleitzeitmodelle hinaus. Durch die neuen Regelungsmöglichkeiten können vor allem teure Überstundenzuschläge vermieden werden. c) Betriebs- und Dienstvereinbarungen

14.6 Die Vorgaben der Tarifverträge werden auf Ebene der einzelnen Dienststelle durch Betriebsbzw. Dienstvereinbarung in betriebliche Arbeitszeitmodelle umgesetzt. Die hierfür grundlegenden Mitbestimmungsrechte ergeben sich für Personalräte aus § 75 Abs. 3 Nr. 1 BPersVG (Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit und Pausen sowie Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage) und § 75 Abs. 4 BPersVG (Grundsätze für die Aufstellung der Dienstpläne, insbesondere für die Anordnung von Dienstbereitschaft, Mehrarbeit und Überstunden). Entsprechende Regelungen finden sich auch in den Landespersonalvertretungsgesetzen, etwa in § 72 Abs. 4 Nr. 1 und 2 LPersVG NRW.

14.7 Im Anwendungsbereich des BetrVG sind § 87 Abs. 1 Nr. 2 (Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen sowie Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage) und Nr. 3 (vorübergehende Verkürzung oder Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit) einschlägig. d) Arbeitsvertrag

14.8 Da Arbeitszeitmodelle einer betriebseinheitlichen Regelung bedürfen, tritt die Bedeutung individualvertraglicher Absprachen zur Arbeitszeit vergleichsweise in den Hintergrund. Die arbeitsvertraglichen Arbeitszeitregelungen beschränken sich deshalb häufig auf einen Verweis auf die für das Arbeitsverhältnis geltenden tariflichen und betrieblichen Regelungen. Vereinbaren die Parteien eines Arbeitsvertrags die zum Zeitpunkt des Abschlusses des Arbeitsvertrags im Betrieb geltende Regelung über Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit und deren Verteilung, liegt darin gerade keine individuelle Arbeitszeitvereinbarung, die gegenüber einer späteren Veränderung der betrieblichen Arbeitszeit durch Betriebsvereinbarung Bestand hätte3.

14.9 Auch das grundsätzlich bestehende Direktionsrecht des Arbeitgebers tritt in der Praxis aufgrund der Mitbestimmungstatbestände der Personalvertretungsgesetze und des BetrVG hinter die mitbestimmten betrieblichen Regeln zurück. 2. Arbeitszeitbegriff

14.10 Arbeitsschutzrechtlich ist die Arbeitszeit in § 2 Abs. 1 ArbZG als Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen definiert. Vergütungsrechtlich ist der Begriff der „regelmäßigen Arbeitszeit“ in § 6 TVöD/TV-L maßgeblich, um festzulegen, welche Arbeitsleistung der Beschäftigte zu erbringen hat, um einen Anspruch auf das volle tarifliche Tabellenentgelt zu erhalten4. 3 BAG v. 23.6.1992 – 1 AZR 57/92, NZA 1993, 89. 4 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 3.

404

Brock

Grundlagen

Rz. 14.13 § 14

Anders als noch der BAT in § 15 Abs. 7 enthält der TVöD keine Regelung mehr zu Beginn und Ende der Arbeitszeit. Es gelten die allgemeinen Regeln. Die Arbeitszeit beginnt mit der Arbeitsaufnahme oder zumindest damit, dass der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber die geschuldete Arbeitsleistung vertragsgemäß anbietet, so dass der Arbeitgeber in der Lage ist, die Arbeitskraft des Arbeitnehmers zu verwerten5. Die Arbeitszeit ist beendet, wenn der Arbeitnehmer die Arbeit einstellt oder seine Arbeitskraft nicht mehr vertragsgemäß anbietet6.

14.11

Wegezeiten von der Wohnung zur Betriebsstätte zählen damit nicht zur Arbeitszeit7. Gleiches gilt grundsätzlich für Umkleide- und Waschzeiten8 sowie sonstige Vorbereitungszeiten. Umkleidezeiten können allerdings dann zu vergüten sein, wenn das Tragen von Dienstkleidung lediglich fremdnützig oder bereits aus arbeitsschutzrechtlichen Gründen erforderlich ist9. Ruhepausen sind nicht als Arbeitszeit zu werten10; eine Ausnahme gilt nur gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 TVöD für die Wechselschichtarbeit.

14.12

Häufiger Streitpunkt ist die Behandlung der Wegezeiten bei Dienstreisen. Entscheidend war bislang, in welchem Umfang der Arbeitnehmer in dieser Zeit beansprucht wird11. Auf Basis dieser „Beanspruchungstheorie“ hatte das BAG entschieden, dass Wegezeiten im Rahmen von Dienstreisen jedenfalls dann nicht als Arbeitszeit iSd. § 2 Abs. 1 ArbZG zählen, wenn der Arbeitgeber lediglich die Benutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels vorgibt, dem Arbeitnehmer aber überlassen bleibt, wie er die Zeit nutzt12. Bislang nicht abschließend geklärt war die Einordnung von Wegezeiten, die ein Arbeitnehmer am Steuer eines selbst gelenkten Fahrzeugs aufwendet13. Richtigerweise liegt, wenn der Arbeitgeber die Nutzung des Kraftfahrzeugs vorgibt, eine dem Arbeitgeber zuzurechnende Wegezeit des Arbeitnehmers vor; eine selbstgewählte Nutzung des KFZ durch den Arbeitnehmer, wenn der Arbeitgeber die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ermöglicht, kann dem Arbeitgeber jedoch nicht zugerechnet werden. Für Außendienstmitarbeiter entschied der EuGH mit Urteil vom 10.9.2015, dass Fahr-

14.13

5 Baeck/Deutsch, § 2 ArbZG Rz. 9. 6 Baeck/Deutsch, § 2 ArbZG Rz. 9. 7 BAG v. 26.8.1960 – 1 AZR 421/58, AP Nr. 2 zu § 611 BGB Wegezeit; Baeck/Deutsch, § 2 ArbZG Rz. 9; wohl hingegen Wege im Betrieb und von dort zu außerhalb gelegenen Arbeitsstätten BAG v. 25.4.2018 – 5 AZR 424/17, NZA 2018, 1211; Neumann/Biebl, § 2 ArbZG Rz. 14 mwN; ausführlich zur Gesamtproblematik s. Hahn, öAT 2017, 202 ff. 8 BAG v. 11.10.2000 – 5 AZR 122/99, NZA 2001, 458; s. auch BAG v. 18.5.2011 – 5 AZR 181/10, ArbRB 2011, 264 = EzA § 611 BGB 2002 Mehrarbeit Nr. 2 für Umkleide- und Desinfektionszeiten von unter den TVöD-K fallenden Krankenpflegern. Das An- und Ablegen der Polizeiuniform hat der VGH Baden-Württemberg nicht als vergütungspflichtige Arbeitszeit angesehen (Urteil v. 28.7.2011 – 4 S 1676/10, NVwZ-RR 2012, 117), das OVG NRW hat es im November 2016 hingegen als Arbeitszeit anerkannt (OVG Nordrhein-Westfalen v. 3.11.2016 – 6 A 2151/14, BeckRS 2016, 112739). 9 BAG v. 6.9.2017 – 5 AZR 382/16, NZA 2018, 180; v. 26.10.2016 – 5 AZR 168/16, NZA 2017, 323; v. 13.12.2016 – 9 AZR 574/15, ZTR 2017, 242; v. 17.11.2015 – 1 ABR 76/13, NZA 2016, 247; v. 11.10.2000 – 5 AZR 122/99, NZA 2001, 458; v. 10.11.2009 – 1 ABR 54/08, ArbRB 2010, 78 = NZA-RR 2010, 301; v. 19.9.2012 – 5 AZR 678/11, ArbRB 2013, 10 = NZA-RR 2013, 63; LAG Köln v. 1.7.2016 – 7 Sa 840/16, ArbR 2017, 625. 10 Hahn, öAT 2017, 202 (202 f.). 11 Baeck/Deutsch, § 2 ArbZG Rz. 73; Hahn, öAT 2017, 202 (203 f.); vgl. aber nun BAG v. 17.10.2018 – 5 AZR 553/17, NZA 2019, 159, das jedenfalls für die Vergütungspflicht Dienstreisen vollständig als Arbeitszeit bewertet; hierzu Stöhr/Stolzenberg, NZA 2019, 505 (506). 12 BAG v. 11.7.2006 – 9 AZR 519/05, ArbRB 2007, 67 = NZA 2007, 155. 13 Baeck/Deutsch, § 2 ArbZG Rz. 76 mwN; Heins/Leder, NZA 2007, 249 (250); Gerdom, öAT 2011, 103 (104); Stöhr/Stolzenberg, NZA 2019, 505 (507).

Brock

405

§ 14 Rz. 14.13

Arbeitszeitrecht

ten, die ein Arbeitnehmer ohne einen festen oder einen gewöhnlichen Arbeitsort zwischen seinem Wohnort und dem ersten und dem letzten Kunden zurücklegt, als Arbeitszeit einzustufen sind14.

14.14 Von diesen arbeitsschutzrechtlichen Regeln wird für die Frage der Vergütungspflicht teilweise abgewichen15. § 44 Abs. 2 TVöD BT-V bestimmt für den Verwaltungsbereich, dass bei Dienstreisen grundsätzlich nur die Zeit der dienstlichen Inanspruchnahme am auswärtigen Geschäftsort als Arbeitszeit (Satz 1) zu werten ist. Zugunsten der Beschäftigten wird nach Satz 2 aber für jeden Tag einschließlich der Reisetage mindestens die auf ihn entfallende regelmäßige, durchschnittliche oder dienstplanmäßige Arbeitszeit berücksichtigt, wenn diese bei Nichtberücksichtigung der Reisezeit nicht erreicht würde. Überschreiten nicht anrechenbare Reisezeiten insgesamt 15 Stunden im Monat, besteht nach Satz 3 zudem die Möglichkeit, auf Antrag 25 % dieser überschreitenden Zeiten bei fester Arbeitszeit als Freizeitausgleich zu gewähren oder bei gleitender Arbeitszeit im Rahmen der jeweils geltenden Vorschriften auf die Arbeitszeit anzurechnen. Eine gleich lautende Regelung enthält § 6 Abs. 11 TV-L. Ein Anspruch auf Abgeltung dieses Freizeitausgleichs besteht bei fester Arbeitszeit im laufenden Arbeitsverhältnis nicht; Reisezeiten sind keine „Arbeitsstunden“ iSv. § 8 Abs. 2 TVöD bzw. § 8 Abs. 4 TV-L16.

14.15 Die Vereinbarkeit dieser Regeln mit höherrangigem Recht, insbesondere dem allgemeinen Gleichheitssatz, hat das BAG für die ähnliche Regelung in § 17 Abs. 2 BAT bejaht17. Der pauschalierte Ausgleich sei im Rahmen der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien, ob und in welchem Umfang sie eine Beeinträchtigung der Freizeit bei einer Regelung der vergütungspflichtigen Arbeitszeit berücksichtigen wollen, sachlich gerechtfertigt18. Dies wurde zuletzt bestätigt, allerdings mit der Einschränkung, dass jedenfalls der Mindestlohnanspruch für geleistete Arbeit nicht unterschritten werden dürfe19.

II. Dauer der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit 14.16 Die in § 6 TVöD geregelte regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit ist nicht identisch mit der tatsächlich vom Arbeitnehmer in der Woche zu erbringenden Arbeitszeit. Die Arbeitszeit kann flexibel auf die Wochen verteilt werden. Die tarifvertraglich festgelegte Dauer der Arbeitszeit muss erst – als Ergebnis einer Ausgleichsrechnung – in einem Ausgleichszeitraum von bis zu einem Jahr erreicht werden, § 6 Abs. 2 Satz 1 TVöD/TV-L20. Sie bestimmt als Rechengröße, welche Arbeitsleistung der Arbeitnehmer als Gegenleistung für das Entgelt zu erbringen hat. Die tatsächlich zu erbringende Arbeitszeit kann in ihrer Dauer schwanken.

14.17 Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit kann damit in der einzelnen Woche sowohl überals auch unterschritten werden. Höchstgrenzen ergeben sich aus den zwingenden Vorgaben von maximal sechs Arbeitstagen in der Woche und der täglichen Höchstarbeitszeit von re14 15 16 17 18 19 20

EuGH v. 10.9.2015 – C-266/14, NJW 2016, 145; Hahn, öAT 2017, 202 (204). Heins/Leder, NZA 2007, 249 (250). BAG v. 14.12.2010 – 9 AZR 686/09, NZA 2011, 760; Gerdom, öAT 2011, 103 (104 f.). BAG v. 11.7.2006 – 9 AZR 519/05, ArbRB 2007, 67 = NZA 2007, 155. BAG v. 11.7.2006 – 9 AZR 519/05, ArbRB 2007, 67 = NZA 2007, 155. BAG v. 17.10.2018 – 5 AZR 553/17, NZA 2019, 159. LAG Nürnberg v. 24.1.2017 – 6 SA 270/16, juris; Bei Beschäftigten, die ständig Wechselschichtoder Schichtarbeit zu leisten haben, kann gem. § 6 Abs. 2 Satz 2 TVöD/TV-L ein längerer Zeitraum zugrunde gelegt werden.

406

Brock

Dauer der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit

Rz. 14.20 § 14

gulär acht, mit Ausgleich zehn Stunden: 48 Stunden für die wöchentliche Arbeitszeit, die lediglich, wenn ein Ausgleich erfolgt, auf bis zu 60 Stunden erhöht werden kann21. Beschäftigte öffentlicher Arbeitgeber – sowohl Beamte als auch Arbeitnehmer – haben einen Anspruch auf Einhaltung der durchschnittlichen Wochenhöchstarbeitszeit unmittelbar aus Art. 6 Buchst. b der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und können bei dessen Verletzung Entschädigungsansprüche vor den nationalen Gerichten geltend machen22. Angesichts dessen hat die viel beachtete Entscheidung des EuGH vom 14.5.2019, nach der Arbeitgeber verpflichtet sind, die täglich geleistete Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer durch ein objektives, verlässliches und zugängliches System zu erfassen, um das in Art. 31 Abs. 2 GRCh verbürgte Recht des Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten gewährleisten zu können23, im öffentlichen Dienst nur geringere Bedeutung. Das Grundrecht wird durch Art. 3, 5 und 6 Buchst. b der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG präzisiert. Bei der aus der Arbeitszeitrichtlinie folgenden Verpflichtung, die „erforderlichen Maßnahmen“ zu ergreifen, um die Rechte der Arbeitnehmer sicherstellen zu können, steht den Mitgliedstaaten ein gewisser Umsetzungsspielraum zu24. Die Reaktion des deutschen Gesetzgebers auf das Urteil des EuGH – und die Folgen für den öffentlichen Dienst – bleiben abzuwarten25. Die vorgegebene regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit bedarf der betrieblichen Umsetzung in ein konkretes Arbeitszeitmodell. Die verschiedenen Modelle, die zur Verfügung stehen, werden ab Rz. 14.44 ff. dargestellt. Die tarifliche Bestimmung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit behält ihre arbeitnehmerschützende Bedeutung auch dann, wenn bei verschiedensten Arbeitszeitmodellen die tatsächliche Arbeitszeitverteilung ungleichmäßig wird: Mehr als tariflich festgelegt muss ein Arbeitnehmer auf den Ausgleichszeitraum bezogen für sein Entgelt nicht arbeiten. Wenn er tatsächlich mehr gearbeitet hat – etwa aufgrund von Überstunden – muss diese zusätzliche Arbeit grundsätzlich auch zusätzlich vergütet werden.

14.18

1. Bund Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt gemäß § 6 Abs. 1 Buchst. a TVöD für die Beschäftigten im Bund zurzeit 39 Stunden.

14.19

2. VKA Für die Arbeitnehmer im Bereich der VKA im Tarifgebiet West beträgt die Wochenarbeitszeit nach der TVöD-Tarifrunde 2008 nunmehr einheitlich – mit Ausnahme der Altersteilzeitbeschäftigten – 39 Stunden, im Tarifgebiet Ost durchschnittlich 40 Stunden. Die Möglichkeit, dass sich die Tarifvertragsparteien auf landesbezirklicher Ebene darauf einigen, die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit auf bis zu 40 Stunden zu verlängern, wurde gestrichen. Die

21 Baeck/Deutsch, § 3 ArbZG Rz. 22, 25. 22 EuGH v. 25.11.2010 – C-429/09, ArbRB 2011, 3 = NZA 2011, 53 („Fuß“); dazu Hahn, öAT 2011, 126. 23 EuGH v. 14.5.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683; Ulber, NZA 2019, 677; Fuhlrott/Garden, ArbRAktuell 2019, 263. 24 EuGH v. 14.5.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683. 25 Zu den aufgeworfenen Fragestellungen durch das Urteil vgl. Fuhlrott/Garden, ArbRAktuell 2019, 263.

Brock

407

14.20

§ 14 Rz. 14.20

Arbeitszeitrecht

Öffnungsklausel in § 6 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b TVöD entfällt26. Von der Möglichkeit, landesbezirkliche Regelungen zu vereinbaren, war in einigen Ländern Gebrauch gemacht worden.

14.21 Der Arbeitszeit-TV Baden-Württemberg vom 5.4.200627, der Arbeitszeit-TV Niedersachsen vom 28.3.200628 und der Tarifvertrag Arbeitszeit für Schleswig-Holstein29 erhöhten die regelmäßige Wochenarbeitszeit auf grundsätzlich 39 Stunden, sahen dabei aber zahlreiche soziale Ausnahmen für bestimmte Beschäftigungsgruppen vor.

14.22 Stärker erhöht wurde die Arbeitszeit in Hamburg durch den Änderungstarifvertrag Arbeitszeit vom 1.3.2006. Gestaffelt nach Entgeltgruppen und Lebensalter wurde die Regelwochenarbeitszeit grundsätzlich auf bis zu 40 Stunden erhöht: – für die Entgeltgruppen I bis IX bis 49 Jahre auf 39 Stunden, – für die Entgeltgruppen X und XI bis 55 Jahre auf 39,5 Stunden und – für die Entgeltgruppen XII bis XV Ü auf 40 Stunden. 3. Länder

14.23 Die Dauer der regelmäßigen Arbeitszeit war besonders umstritten im Bereich der Länder. Hier konnte erst nach einem längeren Arbeitskampf eine Lösung gefunden werden. Die Arbeitgeber der Länder im öffentlichen Dienst waren nicht bereit, auf die Verlängerung der Arbeitszeiten zu verzichten. Sie hatten nach der Kündigung der Arbeitszeitregelung des BAT und dem Austritt der Tarifgemeinschaft Deutscher Länder aus den Tarifverhandlungen zum TVöD ihren Mitgliedern empfohlen, bei Neu- und Wiedereinstellungen, Verlängerungen, aber auch Höhergruppierungen etc. neue Arbeitsverträge mit höheren Arbeitszeiten zu vereinbaren.

14.24 Schließlich haben sich die Tarifvertragsparteien auf eine länderspezifische Regelung geeinigt. Gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a TV-L wird die durchschnittliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit für jedes Bundesland im Tarifgebiet West auf der Grundlage der festgestellten tatsächlichen durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit im Februar 2006 ohne Überstunden und Mehrarbeit (tariflich und arbeitszeitlich vereinbarte Arbeitszeit) berechnet. Das führt für die einzelnen Bundesländer zu abweichenden Ergebnissen. Inoffiziell, also nicht als Bestandteil des Tarifvertrags, haben die Tarifvertragsparteien folgendes Ergebnis ihrer Berechnungen mitgeteilt: Baden-Württemberg

39 Stunden, 30 Minuten

Bayern

40 Stunden, 06 Minuten

Bremen

39 Stunden, 12 Minuten

Hamburg

39 Stunden, 0 Minuten

26 Tarifeinigung v. 31.3.2008, abgedruckt in ZTR 2008, 194. 27 Arbeitszeit-TV BW, abgedruckt in Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Anhang 1.1. zu § 6 TVöD. 28 Arbeitszeit-TV Nds., abgedruckt in Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Anhang 1.2. zu § 6 TVöD. 29 TV-ArbZ Schl.-Holst., abgedruckt in Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Anhang 1.3. zu § 6 TVöD.

408

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Dauer der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit

Niedersachsen

39 Stunden, 48 Minuten

Nordrhein-Westfalen

39 Stunden, 50 Minuten

Rheinland-Pfalz

39 Stunden, 0 Minuten

Saarland

39 Stunden, 30 Minuten

Schleswig-Holstein

38 Stunden, 42 Minuten

Rz. 14.27 § 14

Von den Arbeitszeiten im Tarifgebiet West gibt es allerdings zahlreiche Ausnahmen mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden gemäß § 6 Abs. 1 Buchst. b TV-L. Es sind dies:

14.25

„aa) Beschäftigte, die ständig Wechselschicht oder Schichtarbeit leisten, bb) Beschäftigte an Universitätskliniken, Landeskrankenhäusern, sonstigen Krankenhäusern und psychiatrischen Einrichtungen, mit Ausnahme der Ärztinnen und Ärzte nach Buchst. d), cc) Beschäftigte in Straßenmeistereien, Autobahnmeistereien, Kfz-Werkstätten, Theatern und Bühnen, Hafenbetrieben, Schleusen und Küstenschutz, dd) Beschäftigte in Einrichtungen für schwerbehinderte Menschen (Schulen, Heime) und in heilpädagogischen Einrichtungen, ee) Beschäftigte, für die der TVöD gilt oder auf deren Arbeitsverhältnis vor der Einbeziehung in den TV-L der TVöD angewandt wurde, ff) Beschäftigte in Kindertagesstätten in Bremen, gg) Beschäftigte, für die durch landesbezirkliche Vereinbarung eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 38,5 Stunden festgelegt wurde.“ In den neuen Bundesländern beträgt die Arbeitszeit einheitlich 40 Stunden, § 6 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c TV-L.

14.26

In Hessen gilt seit dem 1.1.2010 der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst des Landes Hessen (TV-H), der in § 6 Abs. 1 Buchst. a TV-H eine durchschnittliche regelmäßige Arbeitszeit von 40 Stunden vorsieht und von 38,5 Stunden für einige Sonderfälle, insbesondere Beschäftigte, die ständig Schicht- oder Wechselschichtarbeit leisten, sowie Beschäftigte im Bereich der Straßen- und Autobahnmeistereien, der Theater (mit Ausnahme des künstlerischen Personals) sowie der Beschäftigten in Einrichtungen für schwerbehinderte Menschen.

14.26a

In Berlin gilt seit dem 1.10.2010 der TV-L in einer landesspezifischen Fassung; die durch- 14.26b schnittliche regelmäßige Arbeitszeit für das Tarifgebiet West beträgt 38,5 Stunden und ab dem 1.8.2011 39 Stunden; die Arbeitszeit von 38,5 Stunden gilt für die in § 6 Abs. 1 Buchst. b TV-L genannten Beschäftigten; auch für das Tarifgebiet Ost gibt es keine Ausnahme vom Standard des TV-L mit 40 Stunden wöchentlicher Arbeitszeit gemäß § 6 Abs. 1 Buchst. c TV-L 4. Berechnung der monatlichen Arbeitszeit Für viele Arbeitszeitmodelle ist es in der Praxis erforderlich, nicht nur die regelmäßige wöchentliche, sondern auch die regelmäßige monatliche Arbeitszeit festzustellen. Diese BerechBrock

409

14.27

§ 14 Rz. 14.27

Arbeitszeitrecht

nung kann weiterhin vorgenommen werden auf Grundlage der Überlegungen zum BAT: Aus der Division der Kalendertage im Jahr (365,25) mit der Zahl der Kalendertage pro Woche und der Zahl der Monate je Kalenderjahr (7 × 12 = 84) ergibt sich der Faktor 4,348, mit dem die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit in die regelmäßige monatliche Arbeitszeit umgerechnet werden kann: 39 Stunden wöchentlich entsprechen damit einer monatlichen regelmäßigen Arbeitszeit von 169,57 Stunden30. 5. Abweichende arbeitsvertragliche Regelungen

14.28 Auch im Bereich des öffentlichen Dienstes entdecken viele Arbeitgeber zunehmend die Möglichkeiten einzelvertraglicher Vereinbarung der Arbeitszeit. Unproblematisch ist hier – in Form der Teilzeitarbeit – die Verringerung der wöchentlichen regelmäßigen Arbeitszeit bei entsprechender Verminderung des Entgelts. Im Zentrum des Interesses steht die Frage, ob der Arbeitgeber mit den Arbeitnehmern auch längere Arbeitszeiten als die im Tarifvertrag vorgesehenen vereinbaren kann. Das ist jedenfalls zu verneinen, wenn sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer tarifgebunden sind: dann gilt der Inhalt des Tarifvertrags gemäß § 4 Abs. 1 TVG beiderseitig zwingend. Das in § 4 Abs. 3 TVG normierte Günstigkeitsprinzip ermöglicht dem Arbeitgeber wegen des anzustellenden Sachgruppenvergleichs regelmäßig keine einzelvertragliche Abweichung von der tariflich festgelegten Höchstarbeitszeit: Weder ein höheres Entgelt31 noch andere Zusagen des Arbeitgebers, etwa eine Arbeitsplatzgarantie im Falle betrieblicher Bündnisse für Arbeit32, können eine negative Abweichung von den tariflichen Arbeitszeitregelungen ausgleichen, da es an einem objektiven Sachzusammenhang zur Arbeitszeit fehlt.

14.29 Im Falle fehlender Tarifbindung bleibt jedoch die Vereinbarung vom TVöD abweichender Arbeitszeitregelungen zulässig.

III. Verteilung der Arbeitszeit 1. Ausgleichszeitraum

14.30 Die Gestaltung von Arbeitszeitmodellen wird durch den TVöD flexibilisiert, indem der Ausgleichszeitraum des BAT von 26 Wochen in § 6 Abs. 2 Satz 1 TVöD/TV-L auf ein Jahr verlängert wird. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit muss innerhalb dieses Jahreszeitraums erreicht werden. Für Beschäftigte, die ständig Wechselschicht- oder Schichtarbeit zu leisten haben, kann sogar ein noch längerer Zeitraum zugrunde gelegt werden (§ 6 Abs. 2 Satz 2 TVöD). § 6 Abs. 2 TV-L ermöglicht darüber hinaus einen längeren Ausgleichszeitraum auch für Sabbatjahrmodelle.

14.31 Dieser Ausgleichszeitraum ist länger als der in § 3 ArbZG vorgesehene Ausgleich innerhalb von sechs Kalendermonaten bzw. 24 Wochen. Die tarifvertragliche Verlängerung des Ausgleichszeitraums ist jedoch aufgrund der in § 7 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ArbZG enthaltenen Öff30 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 29 f. 31 LAG Baden-Württemberg v. 14.6.1989 – 9 Sa 145/88, DB 1989, 2028; Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, Tarifvertragsrecht, § 7 Rz. 61 ff. mwN. 32 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887 (Burda); Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, Tarifvertragsrecht, § 7 Rz. 67 mwN; für die Behandlung von Altfällen nach § 15 Abs. 3 BAT, § 14 Abs. 3 BMT-G und § 15 Abs. 3 MTArb vgl. Karwick, ZTR 2009, 560 ff.

410

Brock

Verteilung der Arbeitszeit

Rz. 14.35 § 14

nungsklausel zulässig. Eine noch weitergehende Verlängerung können Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung auf Basis des § 6 Abs. 4 TVöD in einer Betriebs-/Dienstvereinbarung regeln. Der Ausgleichszeitraum von einem Jahr ist nicht identisch mit dem Kalenderjahr, sondern 14.32 kann flexibel bestimmt werden33. In die Durchschnittsberechnung für eine Woche sind sowohl die vorangegangenen als auch die darauf folgenden 51 Wochen einzubeziehen34. Hierbei ist es grundsätzlich auch nicht erforderlich, dass der Beginn des Ausgleichszeitraums von vornherein feststeht. Die entgegenstehende Ansicht35, die auf den Wortlaut von § 6 Abs. 6 Satz 2 TVöD verweist, übersieht, dass dies eine Sonderregelung ist, die lediglich für die Rahmenzeit bzw. den Arbeitszeitkorridor von Bedeutung ist. Für Arbeitszeitgestaltungen außerhalb dieser Zeit, etwa Schicht- oder Wechselschichtarbeitsmodelle, besteht das Erfordernis einer vorherigen Festlegung des Ausgleichszeitraums nicht. Es reicht aus, wenn innerhalb eines Zeitraums von einem Jahr ein Arbeitszeitausgleich erfolgt. Für die Berechnung des Ausgleichs hat der Arbeitgeber die vom Arbeitnehmer aufgrund fester Arbeitszeit, nach Dienstplan, im Rahmen von Gleitzeitmodellen oder nach dem Schichtplan geleisteten Arbeitsstunden zu addieren und der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit gegenüberzustellen. Diese laufende Saldierung, die im Jahreszeitraum ausgeglichen sein muss, darf nicht mit dem in § 10 TVöD geregelten Arbeitszeitkonto verwechselt werden. Arbeitszeitausgleich und Arbeitszeitkonto sind strikt zu trennen. Das Arbeitszeitkonto ist bewusst arbeitnehmerfreundlich ausgestaltet, um einen Ausgleich von Arbeitszeit, die über den wöchentlichen Regelwert hinausgeht und bisher vom Arbeitgeber nicht ausgeglichen wurde, zu ermöglichen: Das Recht des Arbeitnehmers, einen Arbeitszeitausgleich zu verlangen, wird gestärkt; das Recht des Arbeitgebers, einseitig – auch gegen den Willen des Arbeitnehmers – einen Arbeitszeitausgleich anzuordnen, wird eingeschränkt. Für den laufenden Ausgleich der Arbeitszeit im Rahmen des § 6 Abs. 2 TVöD gelten die einschränkenden Regelungen des Arbeitszeitkontos des § 10 TVöD dagegen nicht. Der Ausgleich gemäß § 6 Abs. 2 TVöD beschränkt sich auf eine schlichte Saldierung der geschuldeten Arbeitszeit mit der tatsächlich geleisteten.

14.33

2. Verteilung auf Wochentage In Abweichung vom ArbZG, das grundsätzlich von einer Sechstagewoche ausgeht, legen 14.34 TVöD und TV-L in § 6 Abs. 1 Satz 3 eine Fünftagewoche fest. Grundsätzlich sollen zwei Tage in der Woche arbeitsfrei bleiben. Innerhalb dieses Rahmens geben die Tarifverträge allerdings weitreichende Möglichkeiten: Es wird insbesondere nicht festgelegt, welche Arbeitstage frei sein können. Soweit dies arbeitszeitrechtlich durch §§ 9–11 ArbZG gedeckt ist (s. hierzu Rz. 14.116), kann auch der Sonntag als regelmäßiger Arbeitstag ausgestaltet werden. Der Bezugsrahmen „Woche“ ist auch nicht identisch mit der Kalenderwoche: Es ist lediglich ein flexibel festzulegender Siebentageszeitraum. Da jeder dieser Zeiträume einzeln betrachtet 33 Durchführungshinweise des BMI v. 22.12.2005, abgedruckt in Sponer/Steinherr, TVöD, Vorbemerkung zu § 6, S. 12 ff. (13); Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 83.1; Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 6 TVöD-AT Rz. 6. 34 Vgl. BAG v. 30.3.2000 – 6 AZR 680/98, NZA 2001, 111 und v. 12.12.2012 – 5 AZR 918/11, juris für einen Ausgleichszeitraum von 26 Wochen; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 83.1. 35 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 6 TVöD-AT Rz. 6.

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411

14.35

§ 14 Rz. 14.35

Arbeitszeitrecht

werden muss, kann sich sogar die Notwendigkeit einer Arbeitsleistung von zehn Tagen am Stück ergeben36: Wenn die freien Tage in der ersten Woche am Anfang und in der zweiten Woche jeweils am Ende des Siebentageseitraums liegen, wird in der Zwischenzeit ununterbrochen gearbeitet. Ein Verstoß gegen den TVöD liegt darin nicht: Bezogen auf die maßgeblichen Siebentageszeiträume gab es jeweils die geforderten zwei arbeitsfreien Tage.

14.36 Grundsätzlich hat der Arbeitgeber hinsichtlich der Verteilung der Arbeitszeit auf die Arbeitstage ein Direktionsrecht; in der Praxis wird dieses regelmäßig durch die Mitbestimmungsrechte von Personal- und Betriebsrat überlagert (vgl. § 87 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BetrVG, § 75 Abs. 3 Satz Nr. 1 BPersVG und die entsprechenden Regelungen in den Landespersonalvertretungsgesetzen).

14.37 Aus „notwendigen betrieblichen/dienstlichen Gründen“ kann die Arbeitszeit gemäß § 6 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2 TVöD sogar auf sechs Tage in der Woche verteilt werden. Über das Gewicht, das die betrieblichen Gründe haben müssen, besteht noch keine Einigkeit. Während einige darauf hinweisen, dass der TVöD keine „dringenden“ betrieblichen Gründe verlange, und daher vor übersteigerten Anforderungen warnen37, weisen andere auf den Sprachgebrauch des § 6 TVöD hin, der ausdrücklich zwischen „betrieblichen Gründen“ und „notwendigen betrieblichen Gründen“ differenziere, und ziehen hieraus den Schluss, dass sich die Gründe „unabweisbar“ aus dem Dienst- und Arbeitsablauf ergeben müssen. Bloße Zweckmäßigkeit genüge nicht38.

14.38 Hier wird man tatsächlich akzeptieren müssen, dass die „notwendigen“ betrieblichen/dienstlichen Gründe schwerwiegender sein müssen als die „einfachen“ betrieblichen Gründe, wie sie etwa § 6 Abs. 3 TVöD nennt. Der Wortlaut des TVöD, der für die Erforderlichkeitsstufen eine Vielzahl von Differenzierungen kennt, ist für die Praxis allerdings nur bedingt hilfreich. Allzu feine Differenzierungen zwischen „einfachen“, „notwendigen“ und „dringenden“ betrieblichen Gründen werden regelmäßig durch die Einschätzungsprärogative von Arbeitnehmervertretung und Arbeitgeber überlagert.

IV. Ruhepausen 1. Regelung im ArbZG

14.39 Die Ruhepausenregelung in § 4 ArbZG gibt vor, dass die Arbeit durch im Voraus feststehende Ruhepausen zu unterbrechen ist: 30 Minuten bei einer Arbeitszeit von über sechs Stunden und 45 Minuten bei einer Arbeitszeit von mehr als neun Stunden. Die Mindestdauer der einzelnen Ruhepause beträgt 15 Minuten. Hiervon kann jedoch gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 2 ArbZG iVm. § 6 Abs. 4 TVöD in Schichtbetrieben und Verkehrsbetrieben abgewichen werden: Die Gesamtdauer der Ruhepausen kann auch auf Kurzpausen von weniger als 15 Minuten Länge aufgeteilt werden, wenn diese zumindest von „angemessener Dauer“ sind. Zur Lage der Pausen gibt § 4 ArbZG lediglich vor, dass Arbeitnehmer nicht länger als sechs Stunden hintereinander ohne Ruhepause beschäftigt werden dürfen.

36 Unter Berücksichtigung der Regelung in § 6 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2 TVöD, die eine Ausweitung auf sechs Tage erlaubt, sind sogar zwölf Tage am Stück möglich. 37 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 60. 38 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 6 TVöD-AT Rz. 5; Bredemeier/Neffke, TVöD/TV-L, § 6 Rz. 35.

412

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Ruhepausen

Rz. 14.43 § 14

2. Begriff Der Begriff der Pause ist im TVöD und TV-L nicht eigens geregelt. Es gelten die von Recht- 14.40 sprechung zu § 4 ArbZG entwickelten Maßstäbe. Pause ist eine Unterbrechung der Arbeitszeit von bestimmter Dauer, in der der Arbeitnehmer keine Arbeit zu leisten hat, sondern sich erholen kann. Grundsätzlich muss der Arbeitnehmer frei darüber entscheiden können, wo und wie er diese Zeit verbringt39. Allerdings kann das Recht des Arbeitnehmers, den Betrieb oder Arbeitsplatz zu verlassen, eingeschränkt werden40. Die Unterbrechung der Arbeit setzt begriffsnotwendig die Freistellung des Arbeitnehmers von seiner Dienstverpflichtung voraus41. Nicht nur Vollarbeit, sondern auch die Arbeitsbereitschaft oder die Anordnung von Bereitschaftsdienst sind mit einer Arbeitspause unvereinbar42. Anders zu beurteilen ist lediglich die Anordnung von Rufbereitschaft, die nicht zur Arbeitszeit zählt43. § 4 ArbZG verlangt, dass die Ruhepausen im Voraus feststehen. Das setzt voraus, dass dem Arbeitnehmer deren Dauer zuvor bekannt ist. Andernfalls kann er sich nicht auf die Pause einrichten und müsste sich durchgehend zur Arbeit bereithalten44. Es genügt, wenn der Arbeitgeber einen zeitlichen Rahmen vorgibt, innerhalb dessen der Beschäftigte seine Pause nehmen kann45. Eine vom Arbeitgeber spontan gewährte Arbeitsunterbrechung kann nicht als Pause iSv. § 4 ArbZG angesehen werden46.

14.41

Ebenfalls keine Pausen im arbeitszeitrechtlichen Sinne sind Betriebspausen, also Unterbre- 14.42 chungen der Arbeit aus technischen, organisatorischen oder sonstigen betriebsbedingten Gründen. Es ist allerdings zulässig, eine Ruhepause so zu legen, dass sie mit einer Betriebspause zusammenfällt. 3. Arbeitszeitrechtliche Einordnung Grundsätzlich sind Pausen keine Arbeitszeit und daher vom Arbeitgeber nicht zu vergüten. Für Wechselschichtarbeit iSd. § 7 Abs. 1 Satz 1 TVöD bestimmt § 6 Abs. 1 Satz 2 TVöD eine Ausnahme: Die Pausen werden bezahlt. Diese Regelung gilt allerdings nicht für Krankenhäuser, Pflege- und Betreuungseinrichtungen sowie Flughäfen (§ 48 Abs. 1 TVöD BT-K; § 41 Buchst. a BT-F).

39 BAG v. 29.10.2002 – 1 AZR 603/01, ArbRB 2003, 168 = NZA 2003, 1212; Baeck/Deutsch, § 4 ArbZG Rz. 9. 40 BAG v. 21.8.1990 – 1 AZR 567/89, NZA 1991, 154; Baeck/Deutsch, § 4 ArbZG Rz. 12. 41 BAG v. 23.6.1988 – 6 AZR 137/86, NZA 1989, 55; v. 23.9.1992 – 4 AZR 562/91, NZA 1993, 752. 42 BAG v. 5.5.1988 – 6 AZR 658/85, NZA 1989, 138; v. 23.9.1992 – 4 AZR 562/91, NZA 1993, 752; v. 29.10.2002 – 1 AZR 603/01, ArbRB 2003, 168 = NZA 2003, 1212; Baeck/Deutsch, § 4 ArbZG Rz. 11; Neumann/Biebl, § 4 ArbZG Rz. 2. 43 Baeck/Deutsch, § 4 ArbZG Rz. 11; ErfK/Wank, § 4 ArbZG Rz. 1; Neumann/Biebl, § 4 ArbZG Rz. 2. 44 BAG v. 29.10.2002 – 1 AZR 603/01, ArbRB 2003, 168 = NZA 2003, 1212. 45 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 44; Neumann/Biebl, § 4 ArbZG Rz. 3. 46 BAG v. 25.2.2015 – 5 AZR 886/12, BAGE 151, 45; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 37.

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14.43

§ 14 Rz. 14.44

Arbeitszeitrecht

V. Flexible Arbeitszeit 14.44 Der TVöD gibt kein bestimmtes Arbeitszeitmodell vor. Die konkrete Ausgestaltung der Arbeitszeit bleibt dem Betrieb bzw. der Dienststelle vorbehalten. Die Möglichkeiten der betrieblichen Umsetzung reichen hierbei von festen Arbeitszeiten bis zur Nutzung der neu eingeführten flexiblen Möglichkeiten der Rahmenzeit bzw. des Arbeitszeitkorridors47. 1. Feste Arbeitszeit

14.45 Ohne weiteres möglich ist weiterhin die Einführung einer festen Arbeitszeit, etwa indem die wöchentlich vorgegebene Arbeitszeit gleichmäßig auf die Wochentage verteilt wird48. Dieses Arbeitszeitmodell ist einfach, aber unflexibel: Unvorhergesehene Schwankungen des Arbeitsanfalls können lediglich durch teure, weil zuschlagspflichtige Überstunden aufgefangen werden. Umgekehrt haben auch die Arbeitnehmer keine Möglichkeit, von den vorgegebenen festen Arbeitszeiten abzuweichen: Im Ergebnis eine für beide Seiten wenig befriedigende Lösung.

14.46 Auch die feste Arbeitszeit als einfachstes Arbeitszeitmodell schließt Mitbestimmungsrechte nicht aus: Die feste Arbeitszeit kann der Arbeitgeber daher nicht einseitig vorgeben, sondern muss sie mit der Arbeitnehmervertretung vereinbaren. Diese kann – auch im Rahmen des ihr zustehenden Initiativrechts – daher versuchen, den Arbeitgeber zu einem flexibleren und moderneren Arbeitszeitmodell zu bewegen. 2. Dienstpläne und schwankende Arbeitszeiten

14.47 Typisch für den öffentlichen Dienst ist die Festlegung der Arbeitszeit in Dienstplänen, die im Voraus für jeden Arbeitnehmer festlegen, wann und in welchem Umfang gearbeitet wird. Die im Dienstplan festgelegte Arbeitszeit kann von der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit abweichen; diese muss erst durch den Arbeitszeitausgleich gemäß § 6 Abs. 2 TVöD erreicht werden. Der Arbeitgeber kann in den Dienstplänen flexibel auf den betrieblichen Bedarf bzw. den Bedarf in der Dienststelle reagieren. Allerdings bedeuten die Dienstpläne für den Arbeitgeber eine (Selbst-)Bindung: Eine flexible und kurzfristige Änderung der Dienstpläne ist nicht mehr möglich. Wenn der Arbeitgeber die Arbeitnehmer dazu verpflichten möchte, über das im Dienstplan Vorgesehene hinaus zu arbeiten, liegen tatbestandlich Überstunden vor, die die tarifvertraglich vorgesehenen Ausgleichspflichten nach sich ziehen können.

14.48 Auch Dienstplanregelungen sind grundsätzlich mitbestimmt. In Betrieben der Privatwirtschaft unterliegen die Dienstpläne grundsätzlich gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG der vollen Mitbestimmung des Betriebsrats. Dieser kann zwar dem Arbeitgeber eine einseitige Bestimmung ermöglichen, indem er sich auf Regelungen für die Gestaltung der Dienstpläne beschränkt, verpflichtet ist der Betriebsrat hierzu jedoch nicht.

14.49 Grundsätzlich Gleiches gilt im Bereich der Personalvertretungsgesetze. Diese sind allerdings teilweise etwas arbeitgeberfreundlicher: § 75 Abs. 4 BPersVG bestimmt, dass sich das Beteiligungsrecht des Personalrats in Betrieben mit häufigen kurzfristigen Schwankungen der Ar47 Zu den im TVöD nicht normierten flexiblen Arbeitsmodellen der Telearbeit und des Home-Office im öffentlichen Dienst s. Hahn, öAT 2017, 202 ff. 48 Die verpflichtende Teilnahme an der Zeiterfassung stellt keine (konkludente) Vereinbarung einer festen Arbeitszeit dar. So entschied das LAG Nürnberg am Beispiel von Chefärzten mit Urteil v. 24.8.2016 – 2 Sa 201/16 öAT 2017, 103, dazu Litschen, öAT 2017, 103.

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Flexible Arbeitszeit

Rz. 14.54 § 14

beitszeit nicht mehr auf den einzelnen Dienstplan erstreckt, sondern lediglich auf die Aufstellung von Rahmengrundsätzen. 3. Gleitzeit Die bislang vorgestellten Arbeitszeitmodelle waren dadurch geprägt, dass die Arbeitszeit ein- 14.50 seitig vom Arbeitgeber vorgegeben wird. In der Praxis bewährt haben sich jedoch auch Gleitzeitmodelle, die die Lage der Arbeitszeit zumindest teilweise in die Bestimmung der Arbeitnehmer legen. Die Gleitzeit hat im TVöD keine eigene Regelung erfahren. Eine Protokollerklärung zu § 6 stellt aber klar, dass Gleitzeitregelungen unabhängig von den Vorgaben zu Arbeitszeitkorridor und Rahmenzeit in § 6 Abs. 6 und 7 möglich bleiben. Nach Satz 2 der Protokollerklärung darf in Gleitzeitregelungen nicht von der Öffnungsklausel in § 6 Abs. 4 TVöD, die Abweichungen von den Vorgaben des ArbZG erlaubt, Gebrauch gemacht werden. Auch Gleitzeitmodelle unterliegen der Mitbestimmung des Betriebsrats bzw. Personalrats nach den allgemeinen Regelungen; mitbestimmungsfrei ist allerdings die tägliche Dauer und Lage der Arbeitszeit, soweit sie autonom vom Arbeitnehmer bestimmt wird. Gleitzeitmodelle geben den Beschäftigten eine hohe Arbeitszeitsouveränität. Sie haben das Recht, zu bestimmen, wann sie die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung erbringen. Erforderlich ist es lediglich, dass im Ausgleichszeitraum gemäß § 6 Abs. 2 TVöD die regelmäßige betriebliche Arbeitszeit erreicht wird. „Reine“ Gleitzeitmodelle, die die Arbeitszeit vollständig der Bestimmung durch den Arbeitnehmer überantworten, sind allerdings selten. Im Regelfall werden sog. „Kernzeiten“ bestimmt, in denen die Arbeitnehmer auf jeden Fall im Betrieb anwesend sein müssen. Es liegt damit eine Kombination der festen Arbeitszeit während der Kernzeiten und einer flexiblen durch den Arbeitnehmer bestimmten Gleitzeit vor.

14.51

Häufig sehen die betrieblichen Regelungen auch Steuerungshilfen für den Umfang der Ar- 14.52 beitszeit vor: So werden Schwankungsbreiten vereinbart für den maximalen Aufbau von Plusund Minusstunden. Solche Regelungen sind erforderlich, um ein Funktionieren der Gleitzeitregelung tatsächlich zu ermöglichen. Eine vernünftige Arbeitszeitregelung für den Betrieb sind Gleitzeitregelungen nur, wenn tatsächlich die Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit dem jeweiligen Arbeitsbedarf anpassen. Ein nicht seltenes Phänomen ist es jedoch auch, dass Arbeitnehmer bewusst und unabhängig vom betrieblichen Bedarf arbeiten, um zusätzliche freie Tage zu erlangen. Diese nicht immer produktive Mehrarbeit ist für den Arbeitgeber nicht sinnvoll. Hier helfen in der Praxis häufig Kappungsgrenzen für ein maximales Arbeitszeitguthaben, die ein „Ansparen“ größerer Arbeitszeitguthaben über längere Zeiträume ausschließen. Bewährt haben sich aber auch sog. Ampelregelungen, die die Dispositionsrechte der Arbeitnehmer vom Stand des Arbeitszeitkontos abhängig machen. Bei der Gestaltung von Gleitzeitmodellen ist es auch regelmäßig sinnvoll, die Störfälle wie Krankheit und Urlaub zu regeln. Notwendig sind regelmäßig auch koordinierende Regelungen, wie der Abbau der Mehrarbeit geschehen kann. Hier können die Regelungen des Arbeitszeitkontos in § 10 TVöD eine Orientierung geben. Die Einrichtung eines den Vorgaben des § 10 TVöD entsprechenden Arbeitszeitkontos ist bei Gleitzeitmodellen aber nicht zwingend (s. Rz. 14.68 ff.).

14.53

Regeln sollten Gleitzeitregelungen auch das Entstehen von Überstunden. Bei Gleitzeit kön- 14.54 nen Überstunden nur dann entstehen, wenn der Arbeitnehmer ausnahmsweise auf Anordnung des Arbeitgebers tätig wird. Mehrarbeitszeiten im Rahmen der Arbeitszeitsouveränität

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415

§ 14 Rz. 14.54

Arbeitszeitrecht

des Arbeitnehmers sind dagegen keine Überstunden, für die daher auch keine Überstundenzuschläge zu zahlen sind49. 4. Arbeitszeitkorridor

14.55 Die bislang vorgestellten Arbeitszeitmodelle erlaubten kurzfristige arbeitgeberseitige Anordnungen zur Arbeitszeit regelmäßig als grundsätzlich zuschlagspflichtige Überstunden. Kurzfristige Arbeitszeitflexibilität musste über teure Zuschläge erkauft werden. Hier schaffen Arbeitszeitkorridor und Rahmenzeit Abhilfe.

14.56 Die Regelung zum Arbeitszeitkorridor in § 6 Abs. 6 TVöD erlaubt, durch Betriebs-/Dienstvereinbarung einen wöchentlichen Arbeitszeitkorridor von bis zu 45 Stunden einzurichten. Der Wert von 45 Stunden ist eine Höchstgrenze, die die Betriebsparteien unterschreiten können. Der Wert des Arbeitszeitkorridors liegt in der Überstundenregelung gemäß § 7 Abs. 8 Buchst. a TVöD: Überstunden sind lediglich die Arbeitsstunden, die bei der Festlegung eines Arbeitszeitkorridors über die vereinbarte Obergrenze (maximal 45 Stunden) hinaus angeordnet werden. Innerhalb des Arbeitszeitkorridors von bis zu 45 Stunden kann der Arbeitgeber die Arbeitszeit flexibel anordnen, ohne dringende dienstliche Bedürfnisse darlegen oder Überstundenzuschläge zahlen zu müssen50.

14.57 Die innerhalb des Korridors geleisteten zusätzlichen Arbeitsstunden müssen im Rahmen des nach § 6 Abs. 2 Satz 1 TVöD festgelegten Ausgleichszeitraums ausgeglichen werden. § 10 Abs. 1 Satz 3 TVöD verlangt die Einrichtung eines Arbeitszeitkontos, um den Arbeitnehmern die Disposition über das sich nach dem Jahreszeitraum ergebende Arbeitszeitguthaben und (auf Wunsch) über Überstunden und Überstundenzuschläge zu geben.

14.58 Ein Arbeitszeitkorridor ist mitbestimmungspflichtig51 und kann nur durch Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung eingerichtet werden; eine bloße Einigung (Regelungsabrede) genügt nicht52. Erforderlich ist eine freiwillige Vereinbarung, so dass die Einführung eines Arbeitszeitkorridors durch die Einigungsstelle nicht erzwungen werden kann. Lediglich, soweit Gegenstände, die der erzwingbaren Mitbestimmung gemäß § 87 Abs. 1 BetrVG unterliegen, betroffen sind, kann die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt werden. Das betrifft gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG den Beginn und das Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen sowie die Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage53. Auf Grundlage dieser punktuellen Regelungsmöglichkeiten kann ein Arbeitszeitkorridor aber nicht durchgesetzt werden; insbesondere die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit als solche unterliegt nicht der erzwingbaren Mitbestimmung und ist damit der Regelung durch einen Spruch der Einigungsstelle entzogen54.

49 Sponer/Steinherr, § 6 TVöD Rz. 201; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 153 f. 50 OVG Berlin-Brandenburg v. 23.4.2009 – OVG 62 PV 4.07, PersR 2009, 372. 51 S. OVG Berlin-Brandenburg v. 23.4.2009 – OVG 62 PV 4.07, PersR 2009, 372 zu § 75 Abs. 3 Nr. 1 BPersVG. 52 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 6 TVöD-AT Rz. 41. 53 Burger/Burger, TVöD/TV-L, § 6 Rz. 82; Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 6 TVöD-AT Rz. 41. 54 ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 25a.

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Flexible Arbeitszeit

Rz. 14.63 § 14

Auch Dienstvereinbarungen über den Arbeitszeitkorridor können nicht in der Einigungsstelle durchgesetzt werden55. Das ergibt sich zumindest mittelbar aus § 6 Abs. 9 TVöD, der eine „einvernehmliche“ Dienstvereinbarung fordert; für solche schließt § 38 Abs. 3 TVöD-AT eine Entscheidung durch die Einigungsstelle aus.

14.59

In diesem Falle ist es allerdings regelmäßig möglich, die fehlende Zustimmung des Personalrats durch den in § 6 Abs. 9 TVöD genannten landesbezirklichen Tarifvertrag zu umgehen56, wenn der Arbeitgeber, was regelmäßig der Fall ist, in den maßgeblichen Regelungsgegenständen das Letztentscheidungsrecht hat.

14.60

Die bloße Vereinbarung des Arbeitszeitkorridors als solcher lässt die weitere Mitbestimmung des Betriebs- bzw. Personalrats noch nicht entfallen. Die weiten Direktionsrechte, die die Regelung zum Arbeitszeitkorridor in § 6 Abs. 6 TVöD dem Arbeitgeber gibt, betreffen die individualrechtliche Rechtslage und lassen die folgenden Beteiligungsrechte von Betriebs- und Personalrat zunächst unberührt: Die Arbeitnehmervertretung bestimmt daher über die Arbeitszeitbestimmungen des Arbeitgebers mit, die die Rahmenvorgaben des Arbeitszeitkorridors in konkrete Arbeitszeiten für die Arbeitnehmer umsetzen. Praktikabel ist ein Arbeitszeitkorridor daher regelmäßig nur dann, wenn entweder von Gesetzes wegen diese Beteiligungsrechte auf die Festlegung von Rahmenregeln beschränkt sind (vgl. § 75 Abs. 4 BPersVG) oder die Arbeitnehmervertretung ihr Mitbestimmungsrecht ausübt, indem sie dem Arbeitgeber die Gestaltung der Arbeitszeit in einem vorgegebenen Rahmen überlässt.

14.61

5. Rahmenzeit Ähnliche Wirkungen wie der Arbeitszeitkorridor hat auch die in § 6 Abs. 7 TVöD geregelte Rahmenzeit: Bei der Rahmenzeit wird in der Zeit von 6 Uhr bis 20 Uhr eine tägliche Rahmenzeit von bis zu zwölf Stunden eingeführt. Die innerhalb dieser täglichen Rahmenzeit geleisteten zusätzlichen Arbeitsstunden werden im Rahmen des nach § 6 Abs. 2 Satz 1 TVöD festgelegten Zeitraums ausgeglichen. Gemäß § 7 Abs. 8 Buchst. b TVöD sind zuschlagspflichtige Überstunden nur die Arbeitsstunden, die außerhalb der Rahmenzeit auf Anordnung des Arbeitgebers geleistet worden sind.

14.62

Auch hier liegt der Unterschied zur Gleitzeit darin, dass bei der Rahmenzeit das Direktionsrecht des Arbeitgebers in vollem Umfang erhalten bleibt: Der Arbeitgeber kann innerhalb des in der Betriebsvereinbarung festgesetzten Rahmens die Arbeitszeiten einseitig vorgeben57. Die Vereinbarung muss den Arbeitszeitrahmen von höchstens zwölf Stunden festlegen, die Vereinbarung einer kürzeren Rahmenzeit ist möglich. Nicht möglich wären dagegen Vereinbarungen, die als Zeitrahmen den vollen Zeitraum von 6 Uhr bis 20 Uhr vorsehen, da in diesem Fall die Höchstdauer von zwölf Stunden überschritten würde. Nicht zulässig wäre auch ein zwölfstündiger Rahmen von 9 Uhr bis 21 Uhr. Der vom TVöD festgelegte Höchstrahmen ist zwingend.

14.63

55 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 173, § 10 TVöD Rz. 14.1; Bepler/Böhle/ Pieper/Geyer, § 6 TVöD-AT Rz. 42; Burger/Burger, TVöD/TV-L, § 6 Rz. 83; Sponer/Steinherr, TVöD, § 6 Rz. 199; Litschen, ZTR 2012, 423 (425). 56 Burger/Burger, TVÖD/TV-L, § 6 Rz. 83. 57 Bredemeier/Neffke, TVöD/TV-L, § 6 Rz. 83; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 144.

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§ 14 Rz. 14.64

Arbeitszeitrecht

14.64 Weiteres fest vorgeschriebenes Element der Vereinbarung ist die Einführung eines Arbeitszeitkontos gemäß § 10 Abs. 1 Satz 3 TVöD.

14.65 Auch die Einführung einer Rahmenzeit ist nur durch Betriebs- und Dienstvereinbarung möglich, die Ausführungen zum Arbeitszeitkorridor gelten entsprechend.

14.66 Rahmenarbeitszeit und Arbeitszeitkorridor dürfen nicht miteinander kombiniert werden, § 6 Abs. 8 TVöD. Es ist auch nicht möglich, Arbeitszeitkorridor und Rahmenarbeitszeiten zu kombinieren mit Schichtarbeitsmodellen, insbesondere der Wechselschichtarbeit. Eine Kombination mit Gleitzeitmodellen ist jedoch möglich58: Gleitzeit bedeutet lediglich einen partiellen Verzicht des Arbeitgebers auf sein Direktionsrecht. 6. Vertrauensarbeitszeit

14.67 Verwandt mit der Gleitzeit ist die sog. Vertrauensarbeitszeit. Auch hier erhält der Arbeitnehmer eine hohe Arbeitszeitsouveränität; zusätzlich wird darauf verzichtet, die Arbeitszeiten überhaupt zu erfassen. Die Arbeitszeitkontrolle erfolgt nur noch eigenverantwortlich durch den Arbeitnehmer59. In der Praxis werden solche Modelle von Arbeitnehmervertretern häufig kritisiert als eine Maßnahme zur Erhöhung der Arbeitszeit: Gerade in Verbindung mit hohem Arbeitsdruck führe der Verzicht auf die Zeitkontrolle regelmäßig zu einer eher höheren als niedrigeren Arbeitsbelastung der Arbeitnehmer. Zu beachten ist außerdem, dass auch Vertrauensarbeitszeitmodelle nicht auf die gesetzlich vorgegebenen Aufzeichnungen verzichten dürfen: Soweit Aufzeichnungen des Arbeitgebers über die Arbeitszeit gemäß § 16 Abs. 2 ArbZG oder zur Erfüllung des Auskunftsanspruchs des Betriebsrats nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG60 notwendig sind, gilt dies auch bei Vertrauensarbeitszeit; zu beachten ist auch die europarechtlich erforderliche Aufzeichnung von Arbeitszeiten61.

VI. Arbeitszeitkonto 1. Einrichtung des Arbeitszeitkontos a) Verpflichtung zur Errichtung bei Arbeitszeitkorridor oder Rahmenzeit, § 10 Abs. 1 TVöD

14.68 Die Einführung eines Arbeitszeitkontos gemäß § 10 TVÖD wird zwingend vorgeschrieben für den Fall des Arbeitszeitkorridors und der Rahmenzeit.

14.69 Die Bedeutung der Regelungen des § 10 TVöD ist noch nicht abschließend geklärt. Entscheidende Frage ist, ob die Vorgaben des § 10 TVöD die Ausgestaltung jeder Arbeitszeitsaldierung durch Kontierung – also eines Arbeitszeitkontos im untechnischen Sinne – betreffen, mithin auch solcher, die der Saldierung der Arbeitszeit im Rahmen des § 6 Abs. 2 TVöD dienen, oder ob das Arbeitszeitkonto lediglich eine spezielle Ausprägung im Rahmen der neu geschaffenen Flexibilisierungsmöglichkeiten ist. Die Unterschiede werden insbesondere für den Fall der Gleitzeit diskutiert: Gleitzeitvereinbarungen setzen zwingend die Einrichtung von Ausgleichs58 Vgl. Protokollerklärung zu § 6 TVöD; zur praktischen Umsetzung s. Litschen, ZTR 2012, 423 (425 ff.). 59 Preis/Necati, Innovative Arbeitsformen, S. 333 f.; Compensis, NJW 2007, 3089. 60 BAG v. 6.5.2003 – 1 ABR 13/02, NZA 2003, 1348. 61 EuGH v. 14.5.2019 – C-55/18 – „CCOO“, NJW 2019, 1861 ff.

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Arbeitszeitkonto

Rz. 14.73 § 14

berechnungen voraus, die die Dauer der schwankenden wöchentlichen Arbeitszeit im Durchschnitt eines Ausgleichszeitraums an die tariflich geregelte regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit angleichen. Falls diese den Einschränkungen des § 10 TVöD unterworfen werden müssten62, wäre die Möglichkeit zur Vereinbarung von Gleitzeitmodellen eingeschränkt, etwa durch die zwingend vorgegebene Höchstarbeitszeitschuld von 40 Stunden. Ansatzpunkt für ein richtiges Verständnis des § 10 TVöD muss dessen enge Verknüpfung zu den neu geschaffenen Sonderformen der Arbeitszeitmodelle Arbeitszeitkorridor und Rahmenzeit sein: Diese belasten durch sehr weitreichende Direktionsrechte des Arbeitgebers die Arbeitnehmer stärker, als dies bei den bisher üblichen Formen der Arbeitszeitgestaltung der Fall war. Daher war es konsequent, als Kompensation, zumindest für vom Arbeitnehmer erarbeitete Guthaben, Regelungen, die dem Arbeitnehmer eine höhere Arbeitszeitsouveränität einräumen, einzuführen. Diese höhere Arbeitszeitsouveränität des Arbeitnehmers, der das auf dem Konto angesammelte Arbeitszeitguthaben in Freizeit erhalten muss, so dass ausgeschlossen ist, dass der Arbeitgeber Minderarbeit des Arbeitnehmers mit einem Guthaben auf dem Arbeitszeitkonto saldieren kann, unterscheidet das Arbeitszeitkonto des § 10 TVöD von anderen Formen des Arbeitszeitausgleichs.

14.70

Die zwingende Geltung der Voraussetzungen des § 10 TVöD ist daher zu beschränken auf die in § 10 Abs. 1 Satz 3 TVöD genannten Fälle des Arbeitszeitkorridors und der Rahmenzeit63.

14.71

Für die übrigen Arbeitszeitmodelle – feste Arbeitszeiten, vom Arbeitgeber vorgegebene schwankende Arbeitszeiten, Schichtarbeitsmodelle, Gleitzeitmodelle – können Arbeitszeitkonten gemäß § 10 TVöD fakultativ eingeführt werden; dies ist jedoch nicht zwingend. Insbesondere setzt eine Flexibilisierung der Arbeitszeit, die einen Arbeitszeitausgleich gemäß § 6 Abs. 2 TVöD erfordert, nicht zwingend die Einführung eines Arbeitszeitkontos iSd. § 10 TVöD voraus. Der Arbeitszeitausgleich in § 6 Abs. 2 TVöD ist dem Arbeitszeitkonto vorgelagert, wie sich insbesondere an der Regelung in § 10 Abs. 3 Satz 1 TVöD zeigt:

14.72

„Auf das Arbeitszeitkonto können Zeiten, die bei Anwendung des nach § 6 Abs. 2 TVöD festgelegten Zeitraums als Zeitguthaben oder als Zeitschuld bestehen bleiben, nicht durch Freizeit ausgeglichene Zeiten nach § 8 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 2 sowie in Zeit umgewandelte Zuschläge nach § 8 Abs. 1 Satz 4 gebucht werden.“

Das zeigt, dass die Ausgleichsberechnung nach § 6 Abs. 2 TVöD zu trennen ist von der des Arbeitszeitkontos gemäß § 10 TVöD: Das Arbeitszeitkonto ist der Regelung zum Arbeitszeitausgleich nachgeordnet und soll lediglich dem Ausgleich der dort angesammelten Zeiten dienen. Ebenso bleiben Gleitzeitregelungen ohne die Einschränkungen des § 10 TVöD möglich, es sei denn, die konkrete Ausgestaltung des Gleitzeitkontos führt dazu, dass tatsächlich ein Arbeitszeitkorridor oder eine Rahmenzeit vorliegen – dann wird das Arbeitszeitkonto gemäß § 10 TVöD obligatorisch. Dass hier zu differenzieren ist, zeigt die Protokollerklärung zu § 6 TVöD, die festhält, dass Gleitzeitregelungen unabhängig von den Vorgaben zu Arbeitszeitkorridor und Rahmenzeit möglich sind.

62 So Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 10 TVöD-AT, Einleitung; Burger/Spengler, TVöD/TV-L, § 10 Rz. 3; aA Bredemeier/Neffke, TVöD/TV-L, § 10 Rz. 2; zur nur fakultativen Verbindung von Gleitzeitkonto und Arbeitszeitkonto gem. § 10 TVöD Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 6 TVöD-AT Rz. 48. 63 Durchführungshinweise des BMI zum Abschnitt II v. 22.12.2005, abgedruckt in Sponer/Steinherr, TVöD, Vorbemerkung zu Abschnitt II.

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14.73

§ 14 Rz. 14.74

Arbeitszeitrecht

14.74 Das Arbeitszeitkonto sichert daher zugunsten der Arbeitnehmer die Einhaltung der Ausgleichspflichten: Zeiten, die nicht innerhalb des allgemeinen Zeitausgleichs ausgeglichen werden können, werden danach auf das Arbeitszeitkonto umgebucht, so dass für sie besondere – erleichterte – Regelungen für den Ausgleich gelten. Auch hier ist die Vereinbarung eines Arbeitszeitkontos bei Gleitzeitmodellen und anderen Arbeitszeitmodellen als Arbeitszeitkorridor und Rahmenzeit freiwillig: Die Parteien können auch eine andere Form des Zeitausgleichs vereinbaren. So verstanden, schränken auch die Grenzen für Zeitschulden gemäß § 10 Abs. 5 Buchst. a TVöD Flexibilisierungsvereinbarungen nicht weiter ein: Während des laufenden Ausgleichs gemäß § 6 Abs. 2 TVöD können auch größere Zeitschulden aufgebaut werden. Beschränkt ist lediglich die Anzahl der auf dem Arbeitszeitkonto angesammelten Minusstunden.

14.74a Da die Regelungen in § 10 TVöD nach der hier vertreten Ansicht nicht auf jede Saldierung von Mehr- und Minderarbeit zwingend anwendbar sind, eröffnen sich der Praxis auch Gestaltungsspielräume: Eine Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung zur Gleitzeit kann daher auch vorsehen, dass nur ein Teil des angesparten Arbeitszeitguthabens in den nächsten Abrechnungszeitraum übertragen werden darf („Kappungsgrenze“). Eine solche Kappungsgrenze ist aber nur in einer Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung möglich, die kein Arbeitszeitkonto gemäß § 10 TVöD regelt, sondern eine anderweitige Saldierung von Arbeitszeitguthaben und -schulden. So hat das LAG Schleswig-Holstein die Regelung in einer Dienstvereinbarung, wonach bei einem monatlich übertragbaren Guthaben von 80 Stunden am Ende des Abrechnungsjahres nur 40 Stunden in das nächste Abrechnungsjahr übertragen werden dürfen, für den Fall bestätigt, dass der Arbeitnehmer seine vertraglich geschuldete Arbeitszeit weitestgehend frei und eigenverantwortlich gestalten kann. Der Kappung des Arbeitszeitkontingents stehe dann auch nicht entgegen, dass der Beschäftigte dieses aufgrund einer unvorhergesehenen und langanhaltenden Erkrankung nicht abbauen konnte. Insbesondere scheide eine Berufung auf die Urlaubsrechtsprechung des EuGH aus64. Allein der Arbeitnehmer, dem die Arbeitszeitflexibilisierung zugutekommt, trägt demnach das Risiko, ein Arbeitszeitguthaben nicht abbauen zu können65. b) Inhalt der Betriebs- oder Dienstvereinbarung

14.75 Ein Arbeitszeitkonto gemäß § 10 TVöD kann ausschließlich durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung eingerichtet werden. In Betrieben bzw. Verwaltungen, in denen ein Personalvertretungsgesetz Anwendung findet, kann eine Regelung über das Arbeitszeitkonto aber auch in einem landesbezirklichen Tarifvertrag getroffen werden, wenn eine Dienstvereinbarung nicht einvernehmlich zustande kommt und der Arbeitgeber ein Letztentscheidungsrecht hat. § 10 Abs. 1 Satz 2 TVöD entspricht der Regelung in § 6 Abs. 9 TVöD. Auch hier kann die Betriebsbzw. Dienstvereinbarung also grundsätzlich nicht in der Einigungsstelle durchgesetzt werden66.

14.76 Zwingender Inhalt der Betriebs-/Dienstvereinbarung ist die Festlegung des Personenkreises, für den das Arbeitszeitkonto eingerichtet werden soll. Möglich ist gemäß § 10 Abs. 2 TVöD sowohl eine Einrichtung für den ganzen Betrieb als auch für Teile des Betriebs. Nicht differenziert werden kann jedoch hinsichtlich der Beschäftigten, die den Regelungen des Arbeits64 LAG Schleswig-Holstein v. 12.1.2012 – 5 Sa 269/11, öAT 2012, 93. 65 S. auch VG Meiningen v. 21.9.2009 – 1 K 249/06 Me, juris zu einer Arbeitszeitverordnung im Beamtenrecht. 66 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 10 TVöD Rz. 14.1; Burger/Spengler, TVöD/TV-L, § 10 Rz. 9; aA v. Roetteken, PersR 2006, 96 (100).

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Arbeitszeitkonto

Rz. 14.80 § 14

zeitkontos unterfallen: Dieses gilt zwingend für alle Beschäftigten in dem Betrieb oder Betriebsteil, für den es eingerichtet ist. Gemäß § 10 Abs. 5 Buchst. a TVöD ist in der Betriebs- oder Dienstvereinbarung die höchst- 14.77 mögliche Zeitschuld und das höchstmögliche Zeitguthaben festzulegen. Der TVöD nennt eine Höchstgrenze von 40 Minusstunden, eine geringere Zeitschuld kann vereinbart werden. Nicht möglich ist es allerdings, eine Zeitschuld von mehr als 40 Stunden zu vereinbaren. Beim höchstmöglichen Zeitguthaben gibt es keine Grenzen: Ein „Vielfaches“ von 40 Stunden kann jeder Betrag über 40 Stunden sein. Der Wert von 40 Stunden ist daher als minimaler Betrag für ein Zeitguthaben zu verstehen: andernfalls würde die mit dem Konto bezweckte Arbeitszeitflexibilität und -souveränität des Arbeitnehmers wieder zusammenschrumpfen. Kappungsgrenzen, die die Anzahl der übertragbaren Stunden – bei Verfall der die Kappungsgrenze übersteigenden Stunden – beschränken, können für Arbeitszeitkonten iSv. § 10 TVöD nicht vereinbart werden67.

14.77a

Gemäß § 10 Abs. 5 Buchst. b TVöD sind nach dem Umfang des beantragten Freizeitausgleichs gestaffelte Fristen für das Abbuchen von Zeitguthaben und den Abbau von Zeitschulden durch die/den Beschäftigten vorzusehen. Die Regelung muss so verstanden werden, dass der Arbeitnehmer grundsätzlich einen Anspruch auf die Gewährung der von ihm vorgearbeiteten freien Zeit hat. Der Arbeitgeber ist zumindest im Rahmen des § 315 BGB verpflichtet, nach billigem Ermessen über den Antrag des Arbeitnehmers zu entscheiden. Allerdings werden Gründe des Betriebsablaufs bzw. Abbauwünsche anderer Arbeitnehmer den Arbeitgeber berechtigen, einen Arbeitszeitausgleich zu verweigern.

14.78

Aus § 10 Abs. 5 Buchst. c TVöD folgt, dass die Tarifvertragsparteien auch den Arbeitgeber für grundsätzlich berechtigt halten, einseitige Abbuchungen vom Arbeitszeitkonto vorzusehen. Dies soll allerdings nicht uneingeschränkt gelten, sondern lediglich in dem Rahmen, für den es in einer Betriebs-/Dienstvereinbarung vorgesehen ist. Als Beispiel nennt der Tarifvertrag die Anordnung von Arbeitszeitausgleich an Brückentagen; andere denkbare Beispiele sind Brauchtumstage. Eine schlichte Saldierung von angefallenen Minusstunden mit dem auf dem Arbeitszeitkonto angesammelten Arbeitszeitguthaben des Arbeitnehmers ist dagegen nicht möglich: Das Arbeitszeitkonto sichert dem Arbeitnehmer gerade eine weitgehende Arbeitszeitsouveränität, die das Arbeitszeitguthaben der Disposition durch den Arbeitgeber – vom Sonderfall des § 10 Abs. 5 Buchst. c TVöD abgesehen – entzieht. Und auch in diesem Sonderfall wird nicht das Recht des Arbeitnehmers auf Gewährung von Freizeit beschränkt, sondern lediglich seine freie Disposition über die Lage dieser Freizeit.

14.79

Schließlich muss gemäß § 10 Abs. 5 Buchst. d TVöD geregelt werden, was Folge eines kurzfristigen Widerrufs des bereits genehmigten Zeitausgleichs durch den Arbeitgeber ist. Der Inhalt der Regelung hängt von der übrigen Ausgestaltung der Betriebs-/Dienstvereinbarung ab. Denkbar ist etwa, einen Teil der kurzfristig widerrufenen Arbeitszeit als zusätzliche Arbeitszeitgutschrift vorzusehen; besondere Regelungen sind auch erforderlich für Verfallsoder Kappungsgrenzen: Hier sollte ein Verfall der Ansprüche dann nicht eintreten, wenn der Arbeitnehmer aufgrund des kurzfristigen Widerrufs des Arbeitgebers für diesen keine Verantwortung trägt.

14.80

67 Burger/Spengler, TVÖD/TV-L, § 10 Rz. 23.

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§ 14 Rz. 14.81

Arbeitszeitrecht

14.81 Der Wortlaut des Tarifvertrags deutet darauf hin, dass dieser grundsätzlich davon ausgeht, dass der Arbeitgeber ein generell bestehendes Widerrufsrecht hat. Anderenfalls hätte es nahe gelegen, als Regelungsgegenstand auch das grundsätzliche Bestehen des arbeitgeberseitigen Widerrufsrechts aufzunehmen. Allerdings ist es, wenn ein Widerrufsrecht erforderlich ist, aufgrund abweichender Stimmen in der Literatur68 sinnvoll, eine ausdrückliche Regelung in der Betriebs-/Dienstvereinbarung zu treffen. 2. Buchbare Zeiten

14.82 Im Sinne des Grundgedankens des Arbeitszeitkontos, dem Arbeitnehmer eine größere Arbeitszeitsouveränität zu geben, hat dieser auch das Recht, selbst und individuell für sich zu entscheiden, welche Zeiten auf das Arbeitszeitkonto gebucht werden. Damit bestimmt der Arbeitnehmer, welchen zeitlichen Umfang das Arbeitszeitkonto insgesamt haben kann. Allerdings geht der Arbeitnehmer durch seine Entscheidung eine Selbstbindung ein: Gemäß § 10 Abs. 3 Satz 3 TVöD muss sich der Beschäftigte im Voraus für einen in der Betriebs-/Dienstvereinbarung festgelegten Zeitraum entscheiden, welche Zeiten auf das Arbeitszeitkonto gebucht werden sollen.

14.83 Als auf jeden Fall buchbar vorgegeben werden den Betriebsparteien folgende Zeiten: – Zeiten, die bei Anwendung des nach § 6 Abs. 2 TVöD festgelegten Zeitraums als Zeitguthaben oder Zeitschuld bestehen bleiben – nicht durch Freizeit ausgeglichene Zeiten nach § 8 Abs. 1 Satz 5 TVöD (Überstunden) und in Zeit umgewandelte Zuschläge nach § 8 Abs. 1 Satz 4 TVöD

14.84 Weitere Zuschläge für Rufbereitschafts- bzw. Bereitschaftsdienstentgelte können allein aufgrund des TVöD nicht auf das Konto gebucht werden; allerdings können die Parteien im Betrieb bzw. in der Dienststelle durch Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung regeln, dass auch diese Zuschläge auf das Arbeitszeitkonto gebucht werden können. 3. Arbeitsunfähigkeit während eines gewährten Zeitausgleichs

14.85 § 9 BUrlG nachgebildet ist die Regelung in § 10 Abs. 4 TVöD: Erkrankt der Arbeitnehmer während eines Zeitausgleichs, wird das Zeitguthaben auf dem Arbeitszeitkonto dann nicht gemindert, wenn er die Arbeitsunfähigkeit unverzüglich anzeigt und durch ärztliches Attest nachweist. Ohne eine solche Regelung müsste eine Nachgewährung des Arbeitszeitausgleichs nicht erfolgen69.

14.86 In einer Protokollerklärung haben die Tarifpartner zugleich klargestellt, dass die punktuelle Übernahme einer Regelung aus dem BUrlG nicht dazu führen soll, dass weitere Regelungen des BUrlG – etwa über Abgeltung und Ähnliches – auf das Arbeitszeitkonto Anwendung finden sollen: „Durch diese Regelung werden aus dem Urlaubsrecht entlehnte Ansprüche nicht begründet.“

68 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 10 TVöD-AT Rz. 33. 69 BAG v. 11.9.2003 – 6 AZR 374/02, NZA 2004, 738.

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Öffnungsklausel, § 6 Abs. 4 TVöD

Rz. 14.93 § 14

Durch diese Erklärung sollen insbesondere die Übertragung von Freizeitausgleichsansprüchen entsprechend § 7 Abs. 3 BUrlG und die Entstehung von Abgeltungsansprüchen entsprechend § 7 Abs. 4 BUrlG verhindert werden70.

14.87

4. Langzeitkonten Ein Langzeitarbeitszeitkonto dient dazu, für den Arbeitnehmer Arbeitszeitguthaben anzusammeln, um sich für einen längeren Zeitraum aus der Arbeitswelt zurückzuziehen (Sabbatical) oder in einen vorgezogenen Ruhestand zu gehen.

14.88

Zu dem gemäß § 10 Abs. 6 TVöD optional einzurichtenden Langzeitkonto macht der Tarif- 14.89 vertrag keine näheren inhaltlichen Vorgaben71; es sind allerdings die Regelungen über Wertguthabenvereinbarungen in §§ 7b SGB IV ff. zu beachten. Das Langzeitkonto bedarf der ausdrücklichen Einzelvereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer; der Betriebsrat/Personalrat ist zu beteiligen. In den Fällen, in denen ohnehin ein Mitbestimmungsrecht gemäß § 87 Abs. 1 BetrVG/§ 75 Abs. 2 BPersVG besteht, ist diese Beteiligung selbstverständlich; in den übrigen Fällen kann der Betriebsrat lediglich verlangen, informiert zu werden. Man wird dem Betriebsrat auch das Recht geben müssen, den Arbeitnehmer zu der beabsichtigten Regelung zu beraten. Das Vorliegen eines kollektiven Tatbestandes, der das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats/Personalrats auslöst, wird allerdings nur ausgeschlossen, wenn wirklich eine nur auf einen Einzelfall individuell zugeschnittene Regelung vorliegt72. Unter der Voraussetzung der Insolvenzfähigkeit des Arbeitgebers verlangt § 10 Abs. 6 Satz 2 TVöD außerdem eine Regelung zur Insolvenzsicherung. Näheres regelt § 7e SGB IV, der allerdings gemäß § 7e Abs. 9 SGB IV nicht anwendbar ist, wenn über das Vermögen des Arbeitgebers die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht zulässig ist.

14.90

VII. Öffnungsklausel, § 6 Abs. 4 TVöD Um die gewünschte Flexibilisierung der Arbeitszeit umsetzen zu können, hat der TVöD für Arbeitnehmervertretung und Arbeitgeber umfangreiche Möglichkeiten geschaffen, im Rahmen der §§ 7 und 12 ArbZG von den Regelungen des ArbZG abzuweichen.

14.91

Der TVöD selbst macht von diesen Öffnungsklauseln an einigen Stellen unmittelbaren Gebrauch. So wird zB die Verlängerung des Ausgleichszeitraums auf ein Jahr in § 6 Abs. 2 Satz 1 TVöD durch § 7 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ArbZG ermöglicht. Weitere unmittelbare tarifliche Sonderregelungen finden sich in den besonderen Teilen des TVöD, etwa im Bereich der Pflege und der Krankenhäuser. Schließlich ist auch die Protokollerklärung zu § 6 Abs. 4 TVöD, wonach infolge kontinuierlichen Schichtbetriebs an Sonn- und Feiertagen die zusätzliche Arbeitszeit auf bis zu 12 Stunden verlängert werden kann, wenn dadurch zusätzliche freie Schichten an Sonn- und Feiertagen erreicht werden, eine unmittelbare Öffnung.

14.92

Im Übrigen delegiert der TVöD aber durch die Öffnungsklausel in § 6 Abs. 4 TVöD die Regelungsbefugnis an die Parteien im Betrieb bzw. in der Dienststelle. Um sicherzustellen, dass von den hierdurch ermöglichten Ausnahmen vom ArbZG nicht leichtfertig Gebrauch

14.93

70 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 10 TVöD-AT Rz. 22. 71 Dazu Hahn, öAT 2013, 177 (179). 72 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 10 TVöD-AT Rz. 37.

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§ 14 Rz. 14.93

Arbeitszeitrecht

gemacht wird, beschränkt der TVöD die Abweichungsmöglichkeiten allerdings auf dringende betriebliche bzw. dienstliche Gründe. Eine entsprechende Regelung haben die Länder in § 6 Abs. 4 TV-L gefunden. 1. Tarifbindung

14.94 Die im TVöD enthaltenen unmittelbaren Abweichungen vom ArbZG – wie zB die Verlängerung des Ausgleichszeitraums – gelten als sog. Betriebsnormen iSd. § 3 Abs. 2 TVG auch gegenüber nicht tarifgebundenen Beschäftigten, wenn nur der Arbeitgeber tarifgebunden ist73. Aber auch nicht tarifgebundene Arbeitgeber im Geltungsbereich des TVöD können über § 7 Abs. 3 Satz 1 ArbZG von der Öffnungsklausel Gebrauch machen, indem sie die Geltung der abweichenden tarifvertraglichen Regelungen durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung mit dem Betriebs- oder Personalrat vereinbaren oder, falls ein solcher nicht besteht, durch schriftliche Vereinbarung mit dem Arbeitnehmer übernehmen.

14.95 Die tarifvertragliche Regelung in § 6 Abs. 4 TVöD gilt dagegen zunächst nur im Verhältnis zwischen beiderseits tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Durch die notwendige Übernahme der eigentlichen Regelung in eine Betriebsvereinbarung stellt der TVöD allerdings sicher, dass in Betrieben tarifgebundener Arbeitgeber alle Arbeitnehmer, also auch die nicht tarifgebundenen, von den Regelungen erfasst und somit einheitliche Arbeitszeitmodelle geschaffen werden können. Nicht tarifgebundenen Arbeitgebern im Geltungsbereich des TVöD und TV-L wird durch § 7 Abs. 3 Satz 2 ArbZG ermöglicht, ebenfalls von der tarifvertraglichen Öffnungsklausel Gebrauch zu machen und vom ArbZG abweichende Regelungen in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung zu treffen. 2. Betriebs- und Dienstvereinbarung

14.96 § 6 Abs. 4 TVöD verlangt den Abschluss einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung im formellen Sinne. Andere Regelungsformen der Betriebspartner, etwa über Regelungsabreden oder Dienstabsprachen reichen nicht aus. Der TVöD möchte gerade auch die normative Wirkung der Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung für die Arbeitnehmer sicherstellen. Eine wirksame Abweichung vom ArbZG setzt damit auch die Einhaltung sämtlicher Formvorschriften des Betriebsverfassungs- bzw. Personalvertretungsrechts voraus, also auch der ordnungsgemäßen Beschlussfassung der Arbeitnehmervertretung oder der Schriftform. Eine aus formellen Gründen nichtige Betriebsvereinbarung ermöglicht keine Abweichung vom ArbZG. Folge sind dann Arbeitszeitverstöße des Arbeitgebers.

14.97 Die Frage, ob die betrieblichen Regelungen erzwingbar sind, richtet sich nach den allgemeinen Regeln. Die bloße Nutzung der tarifvertraglichen Abweichungsmöglichkeiten ist kein Fall der erzwingbaren Mitbestimmung, so dass der Arbeitgeber die Abweichungen auch nicht über die Einigungsstelle erzwingen kann. Etwas anderes gilt dann, wenn die Abweichungen vom ArbZG Teil eines Regelungsgegenstandes sind, der der erzwingbaren Mitbestimmung unterliegt. Dies wird im Hinblick auf die weite Mitbestimmung bei Lage und Gestaltung der Arbeitszeiten gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG, § 75 Abs. 3 Nr. 1 BPersVG relativ häufig der Fall sein74. In diesem Fall kann auch eine Einigungsstelle die Regelungen festlegen, die auf Grundlage von § 6 Abs. 4 TVöD von Vorschriften des ArbZG abweichen. Im Bereich des Personalver73 Baeck/Deutsch, § 7 ArbZG Rz. 23; Neumann/Biebl, § 7 ArbZG Rz. 3. 74 Vgl. Baeck/Deutsch, § 7 ArbZG Rz. 40; Neumann/Biebl, § 7 ArbZG Rz. 5.

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Öffnungsklausel, § 6 Abs. 4 TVöD

Rz. 14.102 § 14

tretungsgesetzes ist jedoch § 6 Abs. 9 TVöD zu beachten: In einem Betrieb oder einer Verwaltung, für die ein Personalvertretungsgesetz Anwendung findet, kann eine Regelung nach § 6 Abs. 4 TVöD für den Fall, dass eine Dienstvereinbarung nicht einvernehmlich zustande kommt und der Arbeitgeber ein Letztentscheidungsrecht hat, in einem landesbezirklichen Tarifvertrag bzw. für den Bund in einem Tarifvertrag auf Bundesebene getroffen werden (s. zu § 6 Abs. 9 TVöD bereits Rz. 14.59 ff.). Die Abweichung vom ArbZG ist nur durch eine geltende, nicht aber durch eine beendete Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung möglich. Nach dem Ende einer Betriebsvereinbarung durch Fristablauf oder Kündigung ist eine weitere Abweichung nur möglich, wenn die Betriebsvereinbarung zumindest nachwirkt. Das ist gesetzlich der Fall bei erzwingbarer Mitbestimmung gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG, der im BPersVG entsprechende Anwendung findet75. Eine Nachwirkung der Betriebsvereinbarung kann jedoch auch einvernehmlich vereinbart werden, was – zumindest aus Arbeitgebersicht – bei den angesprochenen Regelungsgegenständen regelmäßig sinnvoll ist, um Störungen des Betriebsablaufs zu vermeiden.

14.98

3. Abweichung nur bei dringenden betrieblichen Gründen In der Gestaltung der Betriebsvereinbarung sind die Betriebsparteien nicht völlig frei: Sie müssen zum einen die Vorgaben des ArbZG umsetzen und sich innerhalb der vom Gesetz für eine Abweichung gezogenen Grenzen halten. Hinzu kommt, dass der TVöD die Abweichungsmöglichkeit beschränkt auf „dringende betriebliche oder dienstliche Gründe“. Damit stellt der Tarifvertrag klar, dass die Abweichung vom ArbZG nicht leichtfertig und ohne einen wichtigen Grund erfolgen soll. Eine nähere Konkretisierung der Regelung durch die Gerichte fehlt noch. Man wird den Betriebspartnern hier einen weiten Einschätzungsspielraum lassen müssen76.

14.99

Dieser geht jedoch nicht so weit, dass die tariflichen Vorgaben außer Acht gelassen werden 14.100 könnten. Es muss jeweils gute und gewichtige Gründe aus dem Betriebsablauf geben, die die Abweichung vom TVöD rechtfertigen. Der Inhalt der Betriebs- oder Dienstvereinbarung muss dann auch von diesen Gründen geprägt sein: Wenn lediglich in einer Abteilung betriebliche Voraussetzungen die Abweichung von Vorschriften des ArbZG rechtfertigen, ist es nicht möglich, diese Regelung auf den gesamten Betrieb auszudehnen. Die Bindung an dringende betriebliche bzw. dienstliche Gründe zwingt die Betriebspartner damit auch zu sorgfältigen und ausgewogenen Regelungen: Je pauschaler eine Regelung ist, desto weniger kann angenommen werden, dass sie durch dringende betriebliche oder dienstliche Gründe gerechtfertigt ist. 4. Die Abweichungsmöglichkeiten im Einzelnen § 6 Abs. 4 TVöD lässt in Verbindung mit § 7 ArbZG und § 12 ArbZG zahlreiche Abweichungen von den Vorschriften des ArbZG zu:

14.101

Gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a ArbZG kann abweichend von §§ 3 und 6 Abs. 2 ArbZG die Arbeitszeit über zehn Stunden werktäglich hinaus verlängert werden, wenn in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft oder Bereitschaftsdienst fällt. Die Verlängerung der Arbeitszeit kann bis zu maximal 24 Stunden erfolgen. Im Anschluss an diese Arbeitszeit muss allerdings zwingend die gesetzlich vorgesehene elf- bzw. zehnstündige

14.102

75 Richardi/Dörner/Weber/Weber, § 73 BPersVG Rz. 50 ff.; aA Kunze, PersV 1998, 510 (513). 76 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 122.

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§ 14 Rz. 14.102

Arbeitszeitrecht

Ruhezeit gewährt werden. Voraussetzung ist weiterhin, dass regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft oder Bereitschaftsdienst anfällt. Das setzt voraus, dass Zeiten der Arbeitsbereitschaft nicht nur ausnahmsweise, sondern normalerweise anfallen und sich laufend, wenn auch in ungleichmäßigen Abständen mit Zeiten der Vollarbeit abwechseln77. Es reicht, wenn erfahrungsgemäß mit einem Wechsel zu rechnen ist78.

14.103 Hinsichtlich des erheblichen Umfangs soll es eine feste zahlenmäßige Grenze nicht geben. Abzustellen ist auf die Umstände des Einzelfalls. Allerdings werden häufig 25–30 % Arbeitsbereitschaft oder Bereitschaftsdienst als Untergrenze gesehen79, wobei für den Bereitschaftsdienst auch eine niedrigere Untergrenze von 20 % für vertretbar gehalten wird80.

14.104 Gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 2 ArbZG kann die Gesamtdauer der Ruhepausen in Schichtbetrieben und Verkehrsbetrieben auf kurze Pausen von angemessener Dauer aufgeteilt werden. Abweichend von § 4 Satz 2 ArbZG können Ruhepausen 15 Minuten unterschreiten, wenn die Gesamtdauer der gesetzlich vorgeschriebenen Pausen insgesamt erreicht wird. Voraussetzung für die Kürzungsmöglichkeit ist, dass ein Verkehrs- oder Schichtbetrieb vorliegt. Die Regelung reagiert auf die Besonderheiten dieser Beschäftigungsformen und möchte lediglich verhindern, dass der Arbeitsablauf durch zu lange Pausen, etwa bei Fließbandstillstandszeiten, gestört wird.

14.105 Gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 3 ArbZG kann die durch § 5 ArbZG vorgegebene Ruhezeit von elf bzw. zehn Stunden um bis zu zwei Stunden – also mindestens auf neun Stunden – gekürzt werden, wenn die Art der Arbeit dies erfordert und die Kürzung innerhalb eines festzulegenden Ausgleichszeitraums ausgeglichen wird.

14.106 Ähnliche Abweichungen wie in § 7 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG für die Regelarbeitszeit gemäß § 3 ArbZG erlaubt § 7 Abs. 1 Nr. 4 ArbZG für die Arbeitszeit der Nachtarbeiter, die in § 6 Abs. 2 ArbZG gesondert geregelt ist. Den Tarifpartnern wird zudem ermöglicht, den gesetzlichen Beginn des Nachtzeitraums von 23 Uhr auf die Zeit zwischen 22 Uhr und 24 Uhr festzulegen (§ 7 Abs. 1 Nr. 5 ArbZG).

14.107 Gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 1 ArbZG kann abweichend von § 5 Abs. 1 ArbZG die Ruhezeit bei Rufbereitschaft den Besonderheiten des Dienstes angepasst werden: Das umfasst nicht nur die Kürzung der Ruhezeit, sondern generell auch die Anpassung der Ruhezeit. So wird für zulässig gehalten, dass die Betriebsparteien auf das Kriterium der ununterbrochenen Ruhezeit verzichten und Zeiträume vor und nach einer Unterbrechung durch Inanspruchnahme addieren81. Den allgemeinen Gedanken des § 5 Abs. 3 ArbZG, dass die Ruhezeit zumindest die Hälfte der gesetzlichen Ruhezeit von 5 1/2 Stunden betragen muss, müssen auch die Betriebspartner einhalten. Das BAG hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1982 sogar eine Tarifnorm, die eine Ruhezeit von weniger als sechs Stunden vorsah, für unvereinbar mit der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG gehalten82.

77 Baeck/Deutsch, § 7 ArbZG Rz. 49. 78 Baeck/Deutsch, § 7 ArbZG Rz. 49; Neumann/Biebl, § 7 ArbZG Rz. 18. 79 ErfK/Wank, § 7 ArbZG Rz. 6; Baeck/Deutsch, § 7 Rz. 51; Sponer/Steinherr, § 6 TVöD Rz. 163; Neumann/Biebl, § 7 ArbZG Rz. 18 mwN. 80 Baeck/Deutsch, § 7 ArbZG Rz. 53. 81 Baeck/Deutsch, § 7 ArbZG Rz. 87. 82 BAG v. 24.2.1982 – 4 AZR 223/80, NJW 1982, 2140.

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Öffnungsklausel, § 6 Abs. 4 TVöD

Rz. 14.112 § 14

Für den öffentlichen Dienst weniger relevant sind die auf die Besonderheiten der Landwirtschaft zugeschnittenen Regelungen in § 7 Abs. 2 Nr. 2 ArbZG. Bedeutender sind die in § 7 Abs. 2 Nr. 3 ArbZG vorgesehenen Abweichungsmöglichkeiten für die Behandlung, Pflege und Betreuung von Personen: Möglich sind Veränderungen bei werktäglicher Arbeitszeit, Ruhepausen, Ruhezeiten und der Bemessung der täglichen Arbeitszeit für Nachtarbeitnehmer. Bei der Gestaltung dieser Bedingungen sind aber die Sonderregelungen in den Besonderen Teilen des TVöD für Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser zu beachten (s. Rz. 14.184 ff.).

14.108

Gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 4 ArbZG kann von den Regelungen über werktägliche Arbeitszeit, Ruhepausen und Ruhezeiten in Verwaltungen und Betrieben des Bundes, der Länder, der Gemeinden und sonstigen Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sowie bei anderen Arbeitgebern, die der Tarifbindung eines für den öffentlichen Dienst geltenden oder eines im Wesentlichen inhaltsgleichen Tarifvertrages unterliegen, abgewichen werden, um der Eigenart der Tätigkeit bei diesen Stellen zu entsprechen.

14.109

Die Abweichungsmöglichkeiten in § 7 Abs. 2 ArbZG stehen unter der weiteren Voraussetzung, dass der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer durch einen entsprechenden Zeitausgleich gewährleistet wird. Dieser entsprechende Zeitausgleich muss in der Betriebs- oder Dienstvereinbarung selbst enthalten sein. Beim Ausgleich ist insbesondere auch § 7 Abs. 8 ArbZG zu beachten.

14.110

Eine dauerhafte ausgleichslose Verlängerung der Arbeitszeit auf über 48 Stunden wöchentlich 14.111 hinaus ist auf der Grundlage der Sonderregelung in § 7 Abs. 2a ArbZG möglich. Dies setzt voraus, dass regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft oder Bereitschaftsdienst geleistet wird. Zudem muss die Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung durch besondere Regelungen sicherstellen, dass die Gesundheit der Arbeitnehmer nicht gefährdet wird. Die Regelung soll auch nach der Entscheidung des EuGH zur Einordnung des Bereitschaftsdienstes als Arbeitszeit83 insbesondere im Bereich medizinischer Versorgung und Pflege weiter flexible Arbeitszeiten ermöglichen84. Gemäß § 7 Abs. 7 ArbZG steht die Verlängerung der Arbeitszeit auf Grundlage von § 7 Abs. 2a ArbZG unter dem Vorbehalt einer schriftlichen und widerruflichen Einwilligung des Arbeitnehmers. Die allgemeine Öffnungsklausel in § 6 Abs. 4 TVöD nimmt diese Sonderregelung nicht in Bezug85. Eine Öffnungsklausel für diese sog. Opt-out-Regelung ist in § 45 Abs. 4 TVöD BT-B und BT-K für den Pflege- und Krankenhausbereich geregelt, wodurch eine maximale durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 58 Stunden ermöglicht wird; durch den mit Wirkung vom 1.7.2008 geltenden Anhang zu § 6 TVöD (VKA) wurde eine Möglichkeit des Opt-out auch für Cheffahrerinnen und Cheffahrer im kommunalen Dienst eröffnet. Für die Arbeitstätigkeit an Sonn- und Feiertagen eröffnet § 6 Abs. 4 TVöD iVm. § 12 ArbZG weitere Abweichungsmöglichkeiten: Statt der gesetzlichen mindestens 15 beschäftigungsfreien Sonntage kann diese Zahl auf mindestens zehn, in Sonderbereichen (Rundfunk, Theaterbetriebe, Orchester sowie Schaustellungen) auf mindestens acht und in Filmtheatern und in der Tierhaltung auf mindestens sechs Sonntage im Jahr verringert werden, § 12 Satz 1 Nr. 1 ArbZG.

83 EuGH v. 9.9.2003 – C-151/02, ArbRB 2003, 296 = NZA 2003, 1019 (Jäger). 84 Baeck/Deutsch, § 7 ArbZG Rz. 107 mwN. 85 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 119.

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14.112

§ 14 Rz. 14.113

Arbeitszeitrecht

14.113 Die Möglichkeit, gemäß § 12 Satz 1 Nr. 2 ArbZG den Wegfall von Ersatzruhetagen für auf Werktage fallende Feiertage zu vereinbaren oder Arbeitnehmer innerhalb eines festzulegenden Ausgleichszeitraums beschäftigungsfrei zu stellen, wird durch die abschließende Regelung in § 6 Abs. 3 TVöD überlagert. § 12 Satz 1 Nr. 4 ArbZG erlaubt es schließlich, die Arbeit an Sonn- und Feiertagen in Schichtbetrieben auf maximal 12 Stunden zu verlängern, um auf diese Weise zusätzliche freie Schichten an Sonn- und Feiertagen zu erreichen. Eine entsprechende Regelung sieht die Protokollerklärung zu § 6 Abs. 4 TVöD vor.

VIII. Sonderformen der Arbeit 1. Verpflichtung zu Sonderformen der Arbeit

14.114 Im Rahmen betrieblicher bzw. dienstlicher Notwendigkeiten, also wenn die Anordnung zur Erledigung der Arbeitsaufgaben des Betriebs bzw. der Dienststelle erforderlich ist, verpflichtet § 6 Abs. 5 TVöD/TV-L die Beschäftigten zur Leistung von Sonntags-, Feiertags-, Nacht-, Wechselschicht- und Schichtarbeit sowie zu Bereitschaftsdienst, Rufbereitschaft, Überstunden und Mehrarbeit. Bis auf die Sonn- und Feiertagsarbeit werden diese Begriffe in § 7 TVöD als Sonderformen der Arbeit definiert86.

14.115 Teilzeitarbeitnehmer haben Bereitschaftsdienst, Rufbereitschaft, Überstunden und Mehrarbeit nur abzuleisten, wenn dies entweder im Arbeitsvertrag vorgesehen ist oder der Beschäftigte diesen Sonderformen zugestimmt hat. Diese Zustimmung ist nicht formbedürftig und kann auch konkludent erfolgen, zB indem der Beschäftigte einer Aufforderung seines Arbeitgebers zur Leistung dieser Sonderformen der Arbeit nachkommt87. Klarstellende arbeitsvertragliche Klauseln sind empfehlenswert88. 2. Einzelne Sonderformen a) Sonn- und Feiertagsarbeit aa) Arbeitsschutzrechtliche Grenzen

14.116 Der Verpflichtung zur Leistung von Sonn- und Feiertagsarbeit sind durch die §§ 9–11 ArbZG arbeitsschutzrechtliche Grenzen gesetzt. Gemäß § 9 Abs. 1 ArbZG dürfen Arbeitnehmer an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen von 0 bis 24 Uhr grundsätzlich nicht beschäftigt werden. Ausnahmen sind gemäß § 10 ArbZG nur möglich, sofern die Arbeiten nicht an Werktagen vorgenommen werden können89.

14.116a Weitere Ausnahmen von dem Beschäftigungsverbot des § 9 Abs. 1 ArbZG können gemäß § 13 Abs. 1 und 2 ArbZG durch Rechtsverordnung der Bundesregierung bzw. Landesregierungen geregelt werden. Ob und inwieweit diese Vorschrift eine ausreichende Verordnungsermächtigung enthält, ist nach einem Urteil des Hessischen VGH vom 12.9.2013 allerdings fraglich. Der VGH hat einige Bestimmungen der hessischen Bedarfsgewerbeverordnung, die ua. die Be86 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 139. 87 Durchführungshinweise des BMI v. 22.12.2005, abgedruckt bei Sponer/Steinherr, Vorbemerkung zu § 6 TVöD, S. 12 ff. (15). 88 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 143.1. 89 Samstage sind als Werktage iSd. TVöD-K anzusehen, BAG v. 20.9.2017 – 6 AZR 143/16, NZA 2018, 110.

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Sonderformen der Arbeit

Rz. 14.121 § 14

schäftigung von Personal in sog. Callcentern (zB im Versandhandel, Reisegewerbe oder beim Online-Banking) und Betrieben der Getränkewirtschaft ganzjährig für jeweils bis zu acht Stunden gestatten, für unwirksam erklärt. Die gestaffelte Verordnungsermächtigung in § 13 ArbZG lasse derart tiefgreifende Ausnahmen vom Gebot der Sonn- und Feiertagsruhe nicht zu. Nach der Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG müsse der Gesetzgeber bei Eingriffen in Grundrechte alle wesentlichen Grundentscheidungen selbst treffen und dürfe diese nicht der Exekutive überlassen. Betroffen sei nicht nur das Grundrecht auf Religionsfreiheit, sondern auch die Gewährleistung anderer Grundrechte wie etwa der Koalitionsfreiheit90. Nach § 11 ArbZG ist für Sonn- und Feiertagsarbeit ein zeitlicher Ausgleich zu schaffen. Mindestens 15 Sonntage im Jahr müssen beschäftigungsfrei bleiben. Durch Sonn- und Feiertagsarbeit dürfen die Höchstarbeitszeiten und Ausgleichszeiträume nicht überschritten werden; Ersatzruhetage müssen gemäß § 11 Abs. 3 ArbZG gewährt werden. Abweichungen sind hier in Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen möglich auf Basis von § 6 Abs. 4 TVöD, § 12 ArbZG (s. Rz. 14.112 f.).

14.117

bb) Entgeltfortzahlung an Feiertagen Wird an Feiertagen, wie in § 9 ArbZG vorgesehen, nicht gearbeitet, gilt die Regelung zur Entgeltfortzahlung in § 2 Abs. 1 EFZG. Der Arbeitgeber hat dem Arbeitnehmer das Arbeitsentgelt zu zahlen, das er ohne den Arbeitsausfall erhalten hätte. Dieser Anspruch gilt nur für die gesetzlich festgelegten Feiertage, nicht jedoch für andere kirchliche Feier- oder Gedenktage oder regionale Brauchtumstage, wie etwa Rosenmontag. An diesen Tagen besteht grundsätzlich Arbeitspflicht. Etwas anderes kann sich lediglich auf vertraglicher Grundlage, etwa auf Basis einer betrieblichen Übung, ergeben91.

14.118

Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch ist, dass die Arbeitszeit am gesetzlichen Feiertag wegen des Feiertages ausgefallen ist. Hat der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet, gibt es keinen Entgeltfortzahlungsanspruch, sondern lediglich den normalen Entgeltanspruch und den in § 8 TVöD geregelten Feiertagszuschlag.

14.119

Der Feiertag muss zudem für den Arbeitsausfall kausal sein, was nicht der Fall ist bei Krank- 14.120 heit und Urlaub am Feiertag. Die Kollision zwischen Krankheit und Feiertag löst § 4 Abs. 2 EFZG: Der Arbeitgeber bleibt dem Grunde nach zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 EFZG verpflichtet, deren Höhe sich aber nach § 2 EFZG bemisst. Die Kollision von Feiertagen mit dem Urlaub des Arbeitnehmers löst § 3 Abs. 2 BUrlG: Feiertage dürfen nicht auf den Urlaub angerechnet werden, es besteht Anspruch auf Feiertagsentlohnung. Etwas anderes gilt nur, wenn zB aufgrund von Wechselschichtarbeit auch am Feiertag Arbeitspflicht bestanden hätte. Die Arbeit fällt in dieser Konstellation nicht „wegen“ des Feiertags, sondern wegen des Urlaubs aus92. cc) Dienstplangestaltung an Feiertagen Bei Dienstplanarbeit hing es bislang von den Zufälligkeiten des Dienstplans ab, ob der Arbeitnehmer an dem Feiertag dienstplanmäßig arbeiten musste oder nicht. Dies führte zu Unstimmigkeiten. Nach der bisherigen Rechtslage arbeiteten die Arbeitnehmer, die das Glück hatten, 90 Hessischer VGH v. 12.9.2013 – 8 C 1776/12.N, NVwZ 2014, 35. 91 Vgl. BAG v. 24.3.1993 – 5 AZR 16/92, NZA 1993, 749; v. 12.1.1994 – 5 AZR 41/93, NZA 1994, 694. 92 Schmitt/Küfner, § 2 EFZG Rz. 57.

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14.121

§ 14 Rz. 14.121

Arbeitszeitrecht

dass ihre dienstplanmäßige Arbeitszeit auf den Feiertag fiel, weniger als ihre Kollegen, die nach dem Dienstplan am Feiertag ohnehin frei gehabt hätten. § 6 Abs. 3 Satz 3 TVöD sollte eine Korrektur schaffen93: Die regelmäßige Arbeitszeit vermindert sich für jeden gesetzlichen Feiertag um die dienstplanmäßig ausgefallenen Stunden. Gleiches gilt für den 24.12. und 31.12., wenn sie auf einen Werktag fallen. Dieser Auslegung wurde in der Vergangenheit allerdings nicht immer gefolgt und die Kürzung der Arbeitszeit auf die Arbeitnehmer beschränkt, die am Feiertag dienstplanmäßig arbeiten mussten94. Zur Begründung wurde insbesondere auf die Sonderregelungen in § 49 BT-K und BT-B verwiesen, die die generelle Arbeitszeitverkürzung klar regelten und den Umkehrschluss auf die Rechtslage nach dem TVöD zuließen. Überzeugend war das angesichts des dokumentierten Ziels der Regelung nicht95. Diesen Auffassungen hat das BAG mit Urteil vom 8.12.2010 daher auch eine klare Absage erteilt96. Die Regelung diene dem Ziel, auch die Arbeitnehmer, die alleine wegen der Dienstplangestaltung am Feiertag ohnehin frei hatten, ersatzweise in den Genuss einer dem Feiertag gleichwertigen bezahlten Freizeit kommen zu lassen.

14.122 Voraussetzung für den Anspruch auf Verkürzung der regelmäßigen Arbeitszeit ist, dass Dienstplanarbeit geleistet wird. Der Arbeitnehmer muss an wechselnden Tagen in der Woche zur Arbeit verpflichtet sein97. Die Protokollerklärung zu § 6 Abs. 3 Satz 3 TVöD hält fest, dass die Verminderung der regelmäßigen Arbeitszeit die Beschäftigten betrifft, die wegen des Dienstplans am Feiertag frei haben und deshalb ohne diese Regelung nacharbeiten müssten. Der Dienstplan muss die alleinige Ursache für den Arbeitsausfall sein und nicht etwa die Tatsache, dass der Arbeitgeber die Feiertage bei der Dienstplangestaltung gezielt ausspart. § 6 Abs. 3 Satz 3 TVöD ist jedoch auch bei einer nur teilweisen dienstplanmäßigen Freistellung an einem gesetzlichen Wochenfeiertag anzuwenden98. Durch die Verkürzung der regelmäßigen Arbeitszeit werden diese Arbeitnehmer so gestellt, wie ihre Kollegen, die am Feiertag zu dienstplanmäßiger Arbeit verpflichtet gewesen wären und aus diesem Grund Entgeltfortzahlung erhalten99. Für alle Arbeitnehmer erfolgt so, unabhängig von den Zufälligkeiten des Dienstplans, eine Minderung der regelmäßigen Arbeitszeit. Die Höhe der Minderung ist im Einzelfall zu bestimmen und richtet sich danach, wie viele Stunden der betreffende Arbeitnehmer hätte arbeiten müssen, wenn er dienstplanmäßig zur Feiertagsarbeit herangezogen worden wäre100.

14.123 § 49 TVöD BT-K und BT-B enthalten teilweise abweichende Regelungen für die Sonn- und Feiertagsarbeit.

93 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 6 TVöD-AT Rz. 10a; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 96; Gerlach/Manzke, NJOZ 2019, 81 ff.; Günther, öAT 2015, 133 (135). 94 LAG München v. 13.12.2007 – 2 Sa 590/07, ZMV 2008, 334; LAG Nürnberg v. 26.8.2009 – 3 Sa 625/08, openJur 2012, 102604; LAG Düsseldorf v. 13.12.2009 – 2 Sa 590/07, juris. 95 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 10 TVöD Rz. 10a; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 96. 96 BAG v. 8.12.2010 – 5 AZR 667/09, ArbRB 2011, 104 = NZA 2011, 927. 97 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 97. 98 BAG v. 24.9.2015 – 6 AZR 510/14, NZA-RR 2016, 45, dazu Günther, öAT 2016, 156 (157 f.). 99 BAG v. 8.12.2010 – 5 AZR 667/09, ArbRB 2011, 104 = NZA 2011, 927; folgend BAG v. 27.3.2014 – 6 AZR 621/12, ZTR 2014, 409; v. 24.9.2015 – 6 AZR 510/14, NZA-RR 2016, 45. 100 BAG v. 8.12.2010 – 5 AZR 667/09, ArbRB 2011, 104 = NZA 2011, 927; s. auch LAG Hamm v. 24.5.2012 – 11 Sa 1750/11, juris als Berechnungsbeispiel.

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Sonderformen der Arbeit

Rz. 14.126 § 14

dd) Sonderregelung für Vorfesttage Die sog. Vorfesttage am 24.12. und 31.12. werden gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 TVöD den Feiertagen im Wesentlichen gleichgestellt. Für die bisherigen weiteren Vorfesttage des BAT – Ostersamstag und der Tag vor Pfingstsonntag – gelten keine Sonderregelungen mehr. An den Vorfesttagen sind die Arbeitnehmer ganztägig von der Arbeit unter Fortzahlung des Entgelts freigestellt, sofern die dienstlichen oder betrieblichen Verhältnisse die Freistellung zulassen. Die Arbeitsbefreiung kann versagt werden, wenn die Art der zu erbringenden Dienstleistung die Anwesenheit von Arbeitnehmern erfordert (zB bei Verkehrsbetrieben) oder Notfall- bzw. unvorhergesehene Terminarbeiten stattfinden müssen101. In diesen Fällen erfolgt gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 TVöD ein Freizeitausgleich innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten.

14.124

b) Nachtarbeit § 7 Abs. 5 TVöD definiert Nachtarbeit als die Arbeit zwischen 21 Uhr und 6 Uhr. Im Vergleich zur Vorgängerregelung in § 15 Abs. 8 Unterabs. 5 BAT wurde der Beginn der Nachtarbeitszeit von 20 Uhr um eine Stunde hinausgeschoben. Zu einer Nachtschicht wird Nachtarbeit erst, wenn innerhalb einer Arbeitsschicht mindestens zwei Stunden Nachtarbeit geleistet werden, § 7 Abs. 1 Satz 3 TVöD. Durch diese zeitliche Festlegung ist die frühere Rechtsprechung des BAG überholt, wonach es für das Vorliegen einer Nachtschicht darauf ankommen sollte, ob ein wesentlicher Teil der Schicht während der Nachtarbeitszeit iSd. § 15 Abs. 8 Unterabs. 5 BAT abgeleistet wurde102.

14.125

Bei der Anordnung von Nachtarbeit sind die arbeitsschutzrechtlichen Grenzen des § 6 ArbZG 14.126 zu beachten: Nach Abs. 1 ist die Arbeitszeit von Nachtarbeitnehmern nach den gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Arbeit festzulegen. Nach Abs. 2 darf die werktägliche Arbeitszeit von Nachtarbeitnehmern grundsätzlich acht Stunden nicht überschreiten. Eine nach § 3 ArbZG mögliche Verlängerung auf bis zu zehn Stunden ist nur zulässig, wenn sie binnen eines verkürzten Ausgleichszeitraums von einem Kalendermonat103 bzw. vier Wochen wieder ausgeglichen wird. § 6 Abs. 3 ArbZG gibt Nachtarbeitern einen Anspruch auf Durchführung einer arbeitsmedizinischen Untersuchung auf Kosten des Arbeitgebers. Unter den Voraussetzungen des § 6 Abs. 4 ArbZG besteht ein Anspruch auf Umsetzung auf einen Tagesarbeitsplatz104. Der durch § 6 Abs. 5 ArbZG geforderte Ausgleich für Nachtarbeit wird im Anwendungsbereich des TVöD durch den in § 8 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b TVöD geregelten Nachtzuschlag realisiert.

101 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 6 TVöD Rz. 108. 102 BAG v. 7.9.1994 – 10 AZR 766/93, NZA 1995, 586. 103 Zum Teil wird angenommen, der Begriff „Kalendermonat“ meine tatsächlich „Zeitmonate“ iSv. § 188 BGB, Schliemann, § 6 ArbZG Rz. 31, § 3 ArbZG Rz. 32 ff.; folgend Neumann/Biebl, § 6 ArbZG Rz. 12. Ausgehend von dem eindeutigen Gesetzeswortlaut ist jedoch mit Baeck/Deutsch, § 6 ArbZG Rz. 31, § 3 ArbZG Rz. 28 und Anzinger/Koberski, § 6 ArbZG Rz. 33, § 3 ArbZG Rz. 29 davon auszugehen, dass der Kalendermonat (beginnend mit dem ersten und endend mit dem letzten im Kalender ablesbaren Tag des betreffenden Monats) als Ausgleichszeitraum gelten soll. 104 BAG v. 9.4.2014 – 10 AZR 637/13, NZA 2014, 719 zum Anspruch einer Krankenschwester auf einen Tagarbeitsplatz bei drohender Gesundheitsschädigung im Nachtschichtdienst.

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§ 14 Rz. 14.127

Arbeitszeitrecht

c) Wechselschichtarbeit aa) Begriff

14.127 Wechselschichtarbeit ist nach § 7 Abs. 1 Satz 1 TVöD die Arbeit nach einem Schichtplan, der einen regelmäßigen Wechsel der täglichen Arbeitszeit in Wechselschichten vorsieht, bei denen Beschäftigte durchschnittlich längstens nach Ablauf eines Monats erneut zur Nachtschicht herangezogen werden. Die Arbeitszeit der Beschäftigten verschiebt sich nach einem vorher festgelegten Schichtplan – in Bezug auf die Wochentage, an denen zu arbeiten ist, und/ oder im Hinblick auf die zeitliche Lage an diesen Tagen (Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht)105.

14.128 Ein Schichtsystem wird zum Wechselschichtsystem, wenn die Beschäftigten mindestens einmal im Monat tatsächlich auch zur Nachtschicht herangezogen werden. Die Einteilung zur Nachtschicht an mehreren Tagen hintereinander ist wie bei § 15 Abs. 8 Unterabs. 5 BAT nicht erforderlich106. Die verschiedenen Schichten müssen weder in einem annähernd gleichen Umfang geleistet werden107, noch muss die Arbeitszeit des einzelnen Arbeitnehmers tatsächlich einem regelmäßigen Wechsel unterliegen, wenn nur der Schichtplan einen solchen Wechsel vorsieht108.

14.129 Die Zahlung einer Wechselschichtzulage setzt allerdings voraus, dass der Angestellte abwechselnd nach dem Schichtplan in allen Schichtarten eingesetzt wird109.

14.130 Wechselschichten definiert § 7 Abs. 1 Satz 2 TVöD als wechselnde Arbeitsschichten, in denen ununterbrochen bei Tag und Nacht, werktags, sonntags und feiertags gearbeitet wird. Entscheidend ist, ob im Arbeitsbereich des zu beurteilenden Angestellten ununterbrochen gearbeitet wird, die Arbeit also niemals stillsteht; auf den einzelnen Angestellten kommt es nicht an. Unter Arbeit in diesem Sinne versteht die Rechtsprechung nur die volle Arbeitsleistung. Insbesondere die Anordnung von Bereitschaftsdiensten und Arbeitsbereitschaft reicht hierfür nicht aus110. Da auf die Organisationseinheit abzustellen ist, steht zwar die Anordnung von Bereitschaftsdienst für einzelne Arbeitnehmer der Annahme von Wechselschichten nicht entgegen, wenn während des Bereitschaftsdienstes für andere Arbeitnehmer gleichzeitig Vollarbeit angeordnet ist111. Dagegen liegt nach Ansicht des BAG bei feststehenden Bereitschaftsdienstanteilen im Betriebsablauf keine Wechselschichtarbeit vor112.

105 106 107 108 109 110 111 112

432

Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 7 TVöD Rz. 4. BAG v. 19.10.1989 – 6 AZR 111/88, ZTR 1990, 200. BAG v. 13.10.1993 – 10 AZR 294/92, NZA 1994, 805. Vgl. BAG v. 9.12.1998 – 10 AZR 207/98, NZA 1999, 998; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 7 TVöD Rz. 6. BAG v. 24.9.2008 – 10 AZR 140/08, ArbRB 2009, 4 = NZA-RR 2009, 107; v. 13.6.2012 – 10 AZR 351/11, NZA 2012, 1301. BAG v. 24.9.2008 – 10 AZR 669/07, NZA 2009, 45; v. 5.2.1997 – 10 AZR 639/96, NZA 1997, 1179 zu § 33a Abs. 1 BAT. BAG v. 24.9.2008 – 10 AZR 669/07, NZA 2009, 45; v. 18.5.2011 – 10 AZR 255/10, ZTR 2011, 724; v. 5.2.1997 – 10 AZR 639/96, NZA 1997, 1179 zu § 33a Abs. 1 BAT. BAG v. 13.1.2016 – 10 AZR 792/14, ZTR 2016, 306; dazu kritisch Burger/Burger TVÖD/TV-L, § 7 Rz. 3; Günther, öAT 2016, 156 (157).

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Sonderformen der Arbeit

Rz. 14.135a § 14

bb) Folgen Die Einordnung einer Tätigkeit als Wechselschichtarbeit hat neben dem Anspruch auf Zahlung einer Wechselschichtzulage weitere Folgen. § 6 Abs. 2 Satz 2 TVöD ermöglicht bei dieser Arbeitsform einen längeren Ausgleichszeitraum als ein Jahr. Wechselschichtarbeit kann gemäß § 6 Abs. 8 TVöD nicht mit den Arbeitszeitmodellen Arbeitszeitkorridor und Rahmenzeit verbunden werden. Zum Ausgleich der mit Wechselschicht verbundenen besonderen Belastungen werden neben der Wechselschichtzulage eine günstigere Pausenregelung in § 6 Abs. 1 Satz 2 TVöD und ein Anspruch auf Zusatzurlaub in § 27 TVöD gewährt.

14.131

cc) Sonderregelungen Die Besonderen Teile des TVöD enthalten zT abweichende Sonderregelungen für die Wechselschichtarbeit:

14.132

Nach § 48 Abs. 2 TVöD BT-B und BT-K liegt Wechselschicht im Pflege- und Krankenhausbereich erst dann vor, wenn die Beschäftigten längstens nach Ablauf eines Monats zu mindestens zwei Nachtschichten herangezogen werden. Laut Niederschriftserklärung ist hierfür aber nicht zwingend erforderlich, dass die beiden Nachtdienste unmittelbar aufeinander folgend geleistet werden. Die günstigere Pausenregelung des § 6 Abs. 1 Satz 2 TVöD gilt im Krankenhaus- und Pflegebereich nicht. § 41 TVöD BT-F ermöglicht Flughäfen, die gleichen Regelungen zur Wechselschicht wie im Pflege- und Krankenhausbereich durch den Abschluss landesbezirklicher Tarifverträge einzuführen.

14.133

d) Schichtarbeit Schichtarbeit wird in § 7 Abs. 2 TVöD als Arbeit nach einem Schichtplan definiert, der einen 14.134 regelmäßigen Wechsel des Beginns der täglichen Arbeitszeit um mindestens zwei Stunden in Zeitabschnitten von längstens einem Monat vorsieht, und die innerhalb einer Zeitspanne von mindestens 13 Stunden geleistet wird. Die Arbeit nach Schichtplan muss im Unterschied zur Wechselschichtarbeit keine Arbeit rund um die Uhr an allen Kalendertagen vorsehen. Arbeitsunterbrechungen zwischen den verschiedenen Schichten sind also unschädlich113. § 7 Abs. 2 TVöD setzt nicht voraus, dass der Arbeitnehmer immer gleichmäßig in allen Schichten eingesetzt wird. Ausreichend ist vielmehr, wenn mindestens einmal im Monat ein Schichtwechsel, also ein Wechsel des Beginns der täglichen Arbeitszeit um mindestens zwei Stunden, stattfindet114. Zwischen dem Beginn der einen Schicht und dem Beginn der anderen Schicht darf nicht mehr als ein Zeitmonat liegen115. Bei einem Wechsel der Schichten in einem längeren Turnus als einem Monat liegt daher keine Schichtarbeit im Sinne des TVöD vor.

14.135

Keine Schichtarbeit sind als solche sog. „geteilte Dienste“, bei denen der Arbeitnehmer täglich zum gleichen Zeitpunkt die Arbeit aufnimmt und, nach einer Arbeitsunterbrechung, am selben Tag weitere Arbeitsleistungen erbringt. An jedem Tag kann die Arbeit nur einmal begon-

14.135a

113 BAG v. 2.10.1996 – 10 AZR 232/96, NZA 1997, 504; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 7 TVöD Rz. 13. 114 Vgl. BAG v. 13.10.1993 – 10 AZR 294/92, NZA 1994, 805; v. 22.3.1995 – 10 AZR 167/94, ZTR 1995, 407 zu § 33a BAT; bestätigt für § 7 TVöD durch LAG Baden-Württemberg v. 30.1.2008 – 10 Sa 66/07, juris; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 7 TVöD Rz. 15. 115 BAG v. 13.6.2012 – 10 AZR 351/11, NZA 2012, 1301 mwN.

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§ 14 Rz. 14.135a

Arbeitszeitrecht

nen werden, so dass der Arbeitnehmer nach der Arbeitsunterbrechung die tägliche Arbeitszeit fortgesetzt und nicht erneut beginnt116. Ein Schichtsystem läge hier daher nur dann vor, wenn der Beginn der täglichen Arbeitszeit um mindestens zwei Stunden in Zeitabschnitten von längstens einem Monat wechselt.

14.135b Es ist für das Vorliegen von Schichtarbeit nicht erforderlich, dass der Schichtplan vom Arbeitgeber aufgestellt wurde, wenn der Arbeitnehmer aufgrund der vom Arbeitgeber geschaffenen zeitlichen Vorgaben tatsächlich (ggf. selbst organisiert) Schichtarbeit leistet117.

14.136 Weitere Voraussetzung für das Vorliegen von Schichtarbeit ist eine Zeitspanne von 13 Stunden, innerhalb derer Arbeit geleistet wird. Es reicht aus, dass die Zeitspanne zwischen dem frühesten Beginnzeitpunkt und dem spätesten Endzeitpunkt einmal im Monat erreicht wird – und das nicht notwendigerweise an einem Wochentag118. Die Mindestzeitspanne kann auch durch die Kombination verschiedener Wochentage erreicht werden. Ein Schichtbeginn Samstags um 7 Uhr (mit Ende der Arbeit um 11:30) und ein Schichtende Montags 20 Uhr (bei einem Beginn um 11:30 Uhr) reichen aus119. e) Mehrarbeit

14.137 Mehrarbeit sind gemäß § 7 Abs. 6 TVöD die Arbeitsstunden, die Teilzeitbeschäftigte über die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus bis zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1 TVöD) leisten.

14.138 Zuschlagspflichtige Überstunden leistet nach dem Text des Tarifvertrags ein Teilzeitbeschäftigter erst, sobald die regelmäßige Arbeitszeit Vollzeitbeschäftigter überschritten wird. Für Mehrarbeit bis zu dieser Grenze soll gemäß § 8 Abs. 2 TVöD nur das Stundenentgelt ohne Zuschläge gezahlt werden. Darin liegt – anders als dies zuvor gesehen wurde120. – aus Sicht des BAG eine unzulässige Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter. Es sei nicht auf die Gesamtvergütung abzustellen, sondern auf den individuellen Entgeltbestandteil der Mehrarbeitszuschläge: der pro-rata-temporis-Grundsatz des § 4 Abs. 1 TzBfG erfordere, dass die für den Zuschlag erforderliche Stundenzahl proportional zur individuellen Arbeitszeit verringert werde121. Überzeugend ist das nicht; die Praxis wird sich auf die geänderte Rechtsprechung und die Unwirksamkeit des § 8 Abs. 2 TVöD einzustellen haben122. f) Überstunden aa) Regelfall, § 7 Abs. 7 TVöD

14.139 Überstunden sind die auf Anordnung des Arbeitgebers geleisteten Arbeitsstunden, die über die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten für die Woche dienst116 BAG v. 12.12.2012 – 10 AZR 354/11, ZTR 2013, 248. 117 BAG v. 8.7.2009 – 10 AZR 589/08, ZTR 2009, 576; v. 24.3.2010 – 10 AZR 570/09, ZTR 2010, 407; v. 12.12.2012 – 10 AZR 354/11, ZTR 2013, 248. 118 LAG Baden-Württemberg v. 30.1.2008 – 10 Sa 66/07, openJur 2012, 60320. 119 BAG v. 21.10.2009 – 10 AZR 70/09, ZTR 2010, 77; v. 13.6.2012 – 10 AZR 351/11, NZA 2012, 1301. 120 Vgl. EuGH v. 15.12.1994 – C-399/92, NZA 1995, 218; BAG v. 25.7.1996 – 6 AZR 138/94, ZTR 1997, 84; v. 23.4.1998 – 6 AZR 558/96, juris. 121 BAG v. 19.12.2018 – 10 AZR 231/18, NZA 2019, 790; v. 23.3.2017 – 6 AZR 161/16, juris. 122 AA LAG Nürnberg v. 30.4.2019 – 7 Sa 346/18, IWW 210165.

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Sonderformen der Arbeit

Rz. 14.144 § 14

planmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden, § 7 Abs. 7 TVöD. Im Dienstplan angeordnete Arbeitszeiten können keine Überstunden sein123. Die Anordnung kann auch konkludent erfolgen. Das Erfordernis einer Anordnung des Arbeitgebers schließt hingegen Überstundenzuschläge für aus eigenem Antrieb geleistete Arbeit aus. Wenn der Arbeitgeber allerdings die Überarbeit kennt und sie duldet, liegen bereits Überstunden vor124.

14.140

Zudem müssen die dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden überschritten werden. Maßgeblich ist nicht die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 TVöD, sondern die für den Arbeitnehmer individuell für die jeweilige Woche festgelegte Arbeitszeit. Diese wird nur bei festen Arbeitszeitmodellen mit der Arbeitszeit gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 TVöD übereinstimmen. Sieht der Dienstplan vor, dass in einer Woche nur 34 Stunden zu arbeiten sind, kann bereits die 35. Arbeitsstunde Überstunde sein; sieht der Dienstplan 40 Stunden vor, kann erst die 41. Arbeitsstunde eine Überstunde sein125.

14.141

Zeitguthaben bei einem Gleitzeitmodell sind grundsätzlich nicht „angeordnete“ Überstun- 14.142 den, sondern freiwillige Mehrarbeit126. Innerhalb eines Gleitzeitrahmens entstehen zuschlagspflichtige Überstunden daher nur bei ausdrücklicher Anordnung127. Dass ein ggf. höherer Gleitzeitrahmen besteht, ist hingegen unerheblich: freiwillige Mehrarbeit im Rahmen der Gleitzeit ist, auch im Hinblick auf die Belastung des Arbeitnehmers, etwas grundlegend anderes als eine durch Arbeitgeberweisung erzwungene Überstunde128. Angeordnete Überarbeit wird nur zur Überstunde, wenn sie nicht innerhalb der folgenden 14.143 Kalenderwoche ausgeglichen wird. Wird an einem Mittwoch Überarbeit geleistet, können diese Stunden bis zum Sonntag der Folgewoche noch ausgeglichen werden, um die Zahlung von Überstundenzuschlägen zu vermeiden. Der in § 6 Abs. 2 Satz 2 TVöD vorgesehene Ausgleichszeitraum von bis zu einem Jahr für die Berechnung des Durchschnitts der regelmäßigen Arbeitszeit wird hierdurch nicht tangiert. Beide Ausgleichszeiträume sind entsprechend ihrem unterschiedlichen Zweck voneinander getrennt zu betrachten. bb) Abweichende Überstundenregelungen, § 7 Abs. 8 TVöD Für zahlreiche Arbeitszeitmodelle enthält § 7 Abs. 8 TVöD Modifikationen zur Überstundenregelung. Dies betrifft vor allem die flexiblen Formen der Arbeitszeit, die die Entstehung von Überstunden und die damit verbundene Verpflichtung zur Zahlung von Zeitzuschlägen möglichst vermeiden sollen: Im Falle der Festlegung eines Arbeitszeitkorridors sind nur die Arbeitsstunden Überstunden, die über 45 Stunden oder über die vereinbarte Obergrenze hinaus geleistet werden. Bei Einführung einer täglichen Rahmenzeit handelt es sich nur bei Arbeitsstunden außerhalb der Rahmenzeit um Überstunden.

123 BAG v. 21.12.2016 – 5 AZR 362/16, NZA-RR 2017, 233 zur Darlegungs- und Beweislast des Arbeitsnehmers bei Leistung von Überstunden. 124 BAG v. 28.11.1973 – 4 AZR 62/73, BAGE 25, 419; v. 24.10.1990 – 6 AZR 37/89, NZA 1991, 378; v. 6.10.1994 – 6 AZR 266/94, ZTR 1995, 118. 125 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 7 TVöD-AT Rz. 37. 126 LAG Köln v. 4.11.1992 – 2 Sa 809/92, EzBAT § 17 BAT Nr. 16. 127 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 7 TVöD Rz. 81. 128 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 7 TVöD-AT Rz. 38.

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14.144

§ 14 Rz. 14.145

Arbeitszeitrecht

14.145 Erhebliche Auslegungsschwierigkeiten bereitete demgegenüber die Regelung in § 7 Abs. 8 Buchst. c TVöD zu Überstunden bei Wechselschicht- und Schichtarbeit. Die Norm wird teilweise für schlicht „unverständlich“ gehalten129, das BAG hielt sie für immerhin noch so auslegungsfähig, dass das Gebot der Normenklarheit nicht verletzt würde; es schlug in der einschlägigen Entscheidung aber zugleich eine im Wortlaut vom Text des TVöD abweichende, korrigierende „Lesart“, die allein Sinn ergebe, vor130.

14.146 Durch das BAG geklärt ist damit, dass im Schichtplan selbst ausgewiesene und erbrachte Stunden nur dann Überstunden sind, wenn die regelmäßige Arbeitszeit bezogen auf die gesamte Dauer des Schichtplanturnus überschritten wird; da die Überstunden bereits direkte Folge des Schichtplans selbst sind, handelt es sich gewissermaßen um „eingeplante“ Überstunden. Schichtplanturnus ist dabei nicht der regelmäßige Schichtumlauf, nach dem eine im Schichtplan festgelegte Schichtfolge erneut durchlaufen wird, sondern die längere Periode, für die der Schichtplan, der mehrere Durchläufe des jeweiligen Schichtumlaufs vorsehen kann, gilt131.

14.147 Noch nicht abschließend geklärt ist dagegen die Behandlung zusätzlicher, nicht im Schichtplan festgesetzter Stunden; streitig ist hier, ob die Entstehung von Überstunden verhindert werden kann, indem diese nach allgemeinen Regeln ausgeglichen werden132, oder ob eine solche Ausgleichsmöglichkeit nicht besteht133. Ohne Ausgleichsmöglichkeit entstünde eine zuschlagspflichtige Überstunde bereits dann, wenn die tägliche Arbeitszeit, die im Schichtplan festgelegt sei, überschritten wird.

14.148 Das BAG neigt, ohne die nicht entscheidungserhebliche Frage abschließend zu entscheiden, dazu, eine Ausgleichsmöglichkeit zu verneinen, und verweist auf die besondere Erschwernis für die Wechselschichtarbeiter134. Allerdings zeigt das BAG zugleich den Arbeitgebern die Alternative auf, abweichend vom ursprünglichen Schichtplan Arbeitsstunden in einer Schichtplanänderung anzuordnen: wenn, bezogen auf die gesamte Laufzeit des Schichtplans, die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit nicht überschritten wird, liegen dann keine Überstunden vor135. Diese Möglichkeit der Flexibilisierung durch nachträgliche Schichtplanänderungen kann ein brauchbarer Ersatz für die vom BAG verneinte Ausgleichsmöglichkeit sein. g) Bereitschaftsdienst

14.149 Bereitschaftsdienst leisten Beschäftigte, die sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufhalten, um im Bedarfsfall die Arbeit aufzunehmen, § 7 Abs. 3 TVöD.

14.150 Nachdem der Bereitschaftsdienst im ArbZG und in ständiger Rechtsprechung jahrzehntelang als Ruhezeit eingestuft worden war136, führte die Rechtsprechung des EuGH zu einem 129 Burger/Burger; TVÖD/TV-L, § 7 Rz. 106. 130 BAG v. 25.4.2013 – 6 AZR 800/11, ZTR 2013, 437; hierzu Seel, öAT 2014, 109 ff.; Steinigen, ZTR 2013, 427. 131 BAG v. 25.4.2013 – 6 AZR 800/11, ZTR 2013, 437. 132 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 7 TVöD Rz. 90. 133 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 7 TVöD-AT Rz. 48b. 134 BAG v. 25.4.2013 – 6 AZR 800/11, ZTR 2013, 437; aA Steinigen, ZTR 2013, 427 (429) sowie nachfolgend Seel, öAT 2014, 109 (110). 135 BAG v. 25.4.2013 – 6 AZR 800/11, ZTR 2013, 437 Rz. 28. 136 § 5 Abs. 3 ArbZG aF; BAG v. 30.1.1996 – 3 AZR 1030/94, NZA 1996, 1164.

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Sonderformen der Arbeit

Rz. 14.155 § 14

Wandel mit erheblichen Folgen für das Arbeitszeitrecht insgesamt und immensen Auswirkungen für die Praxis insbesondere in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Der EuGH bewertete den Bereitschaftsdienst in vollem Umfang als Arbeitszeit im Sinne der Arbeitszeitrichtlinie der Europäischen Union. Der Bereitschaftsdienst stelle keine Ruhezeit dar, auch wenn es den Betroffenen in Zeiten, in denen sie nicht in Anspruch genommen werden, gestattet sei, sich an der Arbeitsstelle auszuruhen137. Nachdem sich das BAG diesem Rechtsprechungswandel anschloss138, wurde das ArbZG neu gefasst, so dass seit dem 1.1.2004 Bereitschaftsdienste nicht mehr als Ruhezeit gelten, sondern voll zur Arbeitszeit iSd. § 2 ArbZG zählen139. Die Anordnung von Bereitschaftsdienst durch den Arbeitgeber unterliegt der Billigkeitskontrolle nach § 315 BGB. Im Unterschied zur Vorgängerregelung in § 15 Abs. 6a BAT sind im TVöD-AT keine weiteren, das Anordnungsrecht einschränkenden Voraussetzungen mehr vorgesehen.

14.151

Zwischen der regelmäßigen Arbeitszeit und einem Bereitschaftsdienst muss keine Zäsur liegen. Ist für einen Angestellten rechtswirksam Bereitschaftsdienst im Anschluss an die Regelarbeitszeit angeordnet, kann der Arbeitgeber, wenn über den Ablauf der Regelarbeitszeit hinausgehend noch Arbeit anfällt, den bereits festgelegten Bereitschaftsdienst in Anspruch nehmen und ist nicht darauf angewiesen, insoweit Überstunden anzuordnen140.

14.152

Da die Einführung von Bereitschaftsdiensten außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit zu vorü- 14.153 bergehenden Verlängerungen der betriebsüblichen Arbeitszeit führt, ist die Anordnung von Bereitschaftsdienst mitbestimmungspflichtig nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG141. Entsprechendes gilt für die Personalvertretungsgesetze142. h) Rufbereitschaft Rufbereitschaft leisten Beschäftigte, die sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufhalten, um auf Abruf die Arbeit aufzunehmen, § 7 Abs. 4 Satz 1 TVöD. Nach Satz 2 der Vorschrift wird Rufbereitschaft nicht dadurch ausgeschlossen, dass Beschäftigte vom Arbeitgeber mit einem Mobiltelefon oder einem vergleichbaren technischen Hilfsmittel ausgestattet sind.

14.154

Unterschied zum Bereitschaftsdienst ist, dass bei der Rufbereitschaft der Aufenthaltsort des 14.155 Arbeitnehmers nicht durch eine Anordnung des Arbeitgebers beschränkt ist und nicht durch den Arbeitgeber vorgegeben werden kann. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Beschäftigte ihn völlig frei wählen könnte. Er darf sich nicht in einer Entfernung zum Arbeitsort aufhalten, die dem Zweck der Rufbereitschaft zuwiderliefe143. Sein Aufenthaltsort muss gewährleisten, dass innerhalb eines vertretbaren Zeitraums die Arbeit tatsächlich aufgenommen werden kann. 137 EuGH v. 3.10.2000 – C-303/98, NZA 2000, 1227 (SIMAP); v. 9.9.2003 – C-151/02, ArbRB 2003, 296 = NZA 2003, 1019 (Jäger). 138 BAG v. 18.2.2003 – 1 ABR 2/02, ArbRB 2003, 196 = NZA 2003, 742. 139 BAG v. 16.12.2009 – 5 AZR 157/09, NZA 2010, 505. 140 BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 799/06, ArbRB 2008, 5 = NZA 2007, 1108. 141 BAG v. 29.2.2000 – 1 ABR 15/99, NZA 2000, 1243. 142 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 7 TVöD Rz. 26. 143 BAG v. 19.12.1991 – 6 AZR 592/89, NZA 1992, 560; v. 31.1.2002 – 6 AZR 214/00, ZTR 2002, 432.

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§ 14 Rz. 14.156

Arbeitszeitrecht

14.156 Gibt der Arbeitgeber für diesen Zeitraum Höchstzeiten vor, kann hierin allerdings eine so starke mittelbare Beschränkung des Aufenthaltsortes liegen, dass die Anordnung des Arbeitgebers nicht mehr als Rufbereitschaft aufgefasst werden kann, sondern als Bereitschaftsdienst. Eine solche Beschränkung des Aufenthaltsortes hat das BAG bei Höchstzeiten von zehn Minuten144 bzw. 20 Minuten145 angenommen. Die Grenze dürfte wohl bei einer Zeitvorgabe von 30 Minuten liegen146.

14.157 Anders als der Bereitschaftsdienst ist die Rufbereitschaft auch unter Berücksichtigung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie grundsätzlich keine Arbeitszeit iSd. ArbZG. Arbeitszeit sind lediglich die Zeiten der tatsächlichen Inanspruchnahme während des Rufbereitschaftsdienstes, in denen der Arbeitnehmer Vollarbeit leistet147. Anders verhält es sich nach Ansicht des EuGH für den Fall, dass ein Arbeitnehmer nicht nur verpflichtet ist, für den Arbeitgeber verfügbar zu sein, sondern der Arbeitnehmer auch verpflichtet ist, auf Zuruf des Arbeitgebers innerhalb einer bestimmten Zeitvorgabe am Arbeitsplatz einzutreffen148. Unter diesen Voraussetzungen kann Rufbereitschaft als Arbeitszeit zu qualifizieren sein149. Entscheidend für die Einstufung als Arbeitszeit ist immer der konkrete Einzelfall150.

14.158 Ist ein Beschäftigter im Anschluss an die regelmäßige Arbeitszeit laut Dienstplan zur Rufbereitschaft eingeteilt und bestimmt der Arbeitgeber, dass die Arbeit im unmittelbaren Anschluss an die Beendigung der Regelarbeitszeit fortzusetzen ist, liegt hierin die Anordnung von Überstunden. Die Anordnung des Arbeitgebers stellt sich dann als Änderung des Dienstplans, nicht aber als Abruf zur Aufnahme der Arbeit dar151. Hieran ändert sich durch die oben unter Rz. 14.152 zitierte gegenteilige Entscheidung des BAG152 zur Abgrenzung von Bereitschaftsdienst und Überstunden nichts. Denn im Unterschied zum Bereitschaftsdienst kann der Angestellte während der Rufbereitschaft seinen Aufenthaltsort grundsätzlich frei wählen. Diese Voraussetzung liegt aber nicht vor, wenn der Arbeitgeber die Fortsetzung der Arbeit und damit den weiteren Aufenthalt am Arbeitsplatz anordnet153.

14.159 Die Anordnungsbefugnis für Rufbereitschaft unterliegt im Allgemeinen Teil des TVöD keinen besonderen Beschränkungen, sondern muss sich lediglich im Rahmen der Billigkeit bewegen. Auch die Rufbereitschaft unterliegt der Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG (vorübergehende Verkürzung oder Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit)154 und des Personalrats gemäß § 75 Abs. 4 BPersVG (Grundsätze für die Aufstellung

144 BAG v. 19.12.1991 – 6 AZR 592/89, NZA 1992, 560. 145 BAG v. 31.1.2002 – 6 AZR 214/00, ZTR 2002, 432: zustimmend Pieper, ZTR 2002, 420; s. auch LAG Rheinland-Pfalz v. 20.9.2012 – 11 Sa 81/12, ZTR 2013, 19: 15–20 Minuten. 146 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 7 TVöD Rz. 49; Bepler/Böhle Pieper/Geyer, § 7 TVöDAT Rz. 20; Pieper, ZTR 2002, 420 (422). 147 Baeck/Deutsch, § 2 ArbZG Rz. 52, 54. 148 EuGH v. 21.2.2018 – C-518/15, NZA 2018, 293, die Entscheidung betraf einen belgischen Feuerwehrmann, der innerhalb von acht Minuten seinen Arbeitsplatz erreichen musste; dazu Bayreuther, NZA 2018, 348 ff. 149 EuGH v. 21.2.2018 – C-518/15, NZA 2018, 293; Bayreuther, NZA 2018, 348 (349). 150 Bayreuther, NZA 2018, 348 (349). 151 BAG v. 26.11.1992 – 6 AZR 455/91, NZA 1993, 659. 152 BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 799/06, ArbRB 2008, 5 = NZA 2007, 1108. 153 BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 799/06, ArbRB 2008, 5 = NZA 2007, 1108. 154 BAG v. 21.12.1982 – 1 ABR 14/81, DB 1983, 611.

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Sonderformen der Arbeit

Rz. 14.162 § 14

von Dienstplänen)155 bzw. den entsprechenden Vorschriften der Landespersonalvertretungsgesetze. 3. Ausgleich für Sonderformen der Arbeit

14.160

Den Ausgleich für geleistete Sonderformen der Arbeit regeln § 8 TVöD/TV-L. a) Zeitzuschläge, § 8 Abs. 1 TVöD Für die Leistung von Überstunden, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit sowie die Arbeit an Vorfesttagen und an Samstagen sieht § 8 Abs. 1 TVöD einen Ausgleich durch Zeitzuschläge vor. Diese Zuschläge treten neben das Tabellenentgelt für die tatsächliche Arbeitsleistung. Von der Zuschlagspflicht ausgenommen sind demnach Zeiten der Entgeltfortzahlung ohne Arbeitsleistung nach § 6 Abs. 3 Satz 1, § 22 Abs. 1, §§ 26, 27 und 29 TVöD, nicht hingegen innerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit liegende Bereitschaftszeiten156. Leisten Beschäftigte Rufbereitschaftsdienst, ist nur für die während der Rufbereitschaft anfallende Arbeitsleistung ein Zeitzuschlag zu zahlen157.

14.161

Die Zuschläge betragen je Stunde einen bestimmten Prozentsatz des auf eine Stunde entfallenden Anteils des Tabellenentgelts der Stufe 3 der jeweiligen Entgeltgruppe. § 8 Abs. 1 Satz 2 TVöD und TV-L sehen dafür folgende Prozentsätze vor:

14.161a

Überstunden bis Entgeltgruppe 9

30 %

Überstunden ab Entgeltgruppe 10

15 %

Nachtarbeit

20 %

Sonntagsarbeit

25 %

Feiertagsarbeit ohne Freizeitausgleich

135 %

Feiertagsarbeit mit Freizeitausgleich

35 %

Arbeit am 24. Dezember und am 31. Dezember jeweils ab 6 Uhr

35 %

Arbeit an Samstagen von 13 bis 21 Uhr, soweit diese nicht im Rahmen von Wechselschicht- oder Schichtarbeit anfällt

20 %

Die Besonderen Teile des TVöD enthalten zT Abweichungen. So bestimmt § 50 TVöD BT-K, dass für Beschäftigte iSd. § 38 Abs. 5 Satz 1 TVöD, also für Angestellte, der Zuschlag für Nachtarbeit nur 15 % des auf eine Stunde entfallenden Anteils des Tabellenentgelts158 und für Arbeit an Samstagen von 13 bis 21 Uhr nur 0,64 Euro je Stunde beträgt. Für Arbeiter bleibt es dagegen bei der allgemeinen Regelung. Diese unterschiedliche Behandlung von Arbeitern und

155 156 157 158

BAG v. 31.1.2001 – 1 ABR 36/00, NZA 2001, 741. BAG v. 28.7.2010 – 5 AZR 342/09, NZA-RR 2011, 28. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 8 TVöD Rz. 5. Bis zum 31.12.2009 war im Tarifgebiet West gem. § 50 Buchst. a TVöD BT-K aF ein Zuschlag iHv. 1,28 Euro zu zahlen (im Tarifgebiet Ost zuletzt 1,24 Euro).

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439

14.162

§ 14 Rz. 14.162

Arbeitszeitrecht

Angestellten ist gemessen an der bisherigen Rechtsprechung zur Gleichbehandlung dieser Beschäftigungsgruppen159 sachlich kaum zu rechtfertigen160.

14.163 Bemessungsgrundlage bei den dynamisch ausgestalteten Zuschlägen ist immer Stufe 3 der jeweiligen Entgeltgruppe des Beschäftigten, unabhängig davon, in welcher Stufe sich der Beschäftigte tatsächlich befindet. Dass Zeitzuschläge „je Stunde“ gezahlt werden, bedeutet nicht, dass nur volle Stunden eine Zuschlagspflicht auslösen. Ist die tatsächliche Arbeitsleistung geringer als eine volle Zeitstunde, werden die Zuschläge anteilig bezahlt161.

14.164 Für die Feiertagsarbeit hängt die Zuschlagshöhe davon ab, ob ein Freizeitausgleich gewährt wird. Die Protokollerklärung zu § 8 Abs. 1 Satz 2 Buchst. d TVöD trifft nur eine rudimentäre Regelung zum Freizeitausgleich. Er muss nicht besonders im Dienstplan ausgewiesen und bezeichnet werden. Falls kein Freizeitausgleich gewährt wird, werden als Entgelt einschließlich des Zeitzuschlags und des auf den Feiertag entfallenden Tabellenentgelts höchstens 235 % gezahlt162.

14.165 Für Überstunden sieht der TVöD dagegen grundsätzlich keinen Freizeitausgleich vor. Neben den Überstundenzuschlag tritt hier das Entgelt für die tatsächliche Arbeitsleistung163. Dieses bemisst sich nach der Protokollerklärung zu § 8 Abs. 1 Satz 1 TVöD nach der jeweiligen Entgeltgruppe und der individuellen Stufe, höchstens aber nach Stufe 4. Auf Wunsch des Beschäftigten kann aber über § 8 Abs. 1 Satz 4, 5 TVöD auch ein Freizeitausgleich gewählt werden, wenn ein Arbeitszeitkonto gemäß § 10 TVöD eingerichtet ist und die betrieblichen Verhältnisse dies zulassen.

14.166 Eine andere Regelung trifft der TV-L in § 8 Abs. 2: Überstunden sind grundsätzlich durch entsprechende Freizeit auszugleichen. Für die Zeit des Freizeitausgleichs werden dann das Tabellenentgelt sowie die sonstigen, in Monatsbeträgen festgelegten Entgeltbestandteile weitergezahlt. Wenn kein Arbeitszeitkonto eingerichtet ist oder wenn der Beschäftigte keine Faktorisierung geltend macht, erhält er für Überstunden, die nicht bis zum Ende des dritten Kalendermonats – möglichst aber schon bis zum Ende des nächsten Kalendermonats – nach deren Entstehen mit Freizeit ausgeglichen worden sind, je Stunde 100 % des auf die Stunde entfallenden Anteils des Tabellenentgelts der jeweiligen Entgeltgruppe und Stufe, höchstens jedoch nach der Stufe 4. Der Anspruch auf den Zeitzuschlag besteht nach § 8 Abs. 2 Satz 3 TV-L unabhängig von dieser Regelung.

14.167 Das Zusammentreffen mehrerer Zeitzuschläge regelt § 8 Abs. 1 Satz 3 TVöD. Zuschläge für Sonntags-, Feiertags-, Vorfest- und Samstagsarbeit (§ 8 Abs. 1 Satz 2 Buchst. c-f) können nicht kumuliert werden. Es wird immer nur der höchste Zeitzuschlag gezahlt. Andere Zeitzuschläge, zB beim Zusammentreffen von Nachtarbeit mit Überstunden, werden zusammengerechnet164. 159 Vgl. ua. BVerfG v. 16.11.1982 – 1 BvL 16/75, 1 BvL 36/79, DB 1983, 450; BAG v. 12.10.2005 – 10 AZR 640/04, NZA 2004, 1418 (Weihnachtsgeld). 160 Hock/Kramer/Schwerdle, ZTR 2006, 622 (638). 161 Rundschreiben des BMI v. 22.12.2005, abgedruckt bei Sponer/Steinherr, Vorbemerkung zu § 8 TVöD, S. 28.1; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 8 TVöD Rz. 9. 162 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 8 TVöD-AT Rz. 3. 163 Im Falle von Arbeitsunfähigkeit oder Urlaub werden keine Überstundenzuschläge nach TVöD für geplante Überstunden gezahlt, LAG Nürnberg v. 19.12.2018 – 2 Sa 341/18, IWW 208152; dazu Siebert, öAT 2019, 107. 164 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 8 TVöD Rz. 19 f. mit Beispielen.

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Sonderformen der Arbeit

Rz. 14.174 § 14

§ 8 Abs. 1 Satz 4 TVöD/TV-L ermöglicht den Beschäftigten, Zeitzuschläge in Zeit umzuwandeln und auf einem Arbeitszeitkonto gemäß § 10 TVöD gutzuschreiben. Die Zeitgutschrift ist entsprechend dem jeweiligen Prozentsatz einer Stunde festzusetzen, so dass zB ein 25 %iger Zuschlag in 15 Minuten umzurechnen ist. Diese Umwandlung in Freizeitausgleich hat drei Voraussetzungen:

14.168

– Sie muss dem Wunsch des Beschäftigten entsprechen, – ein Arbeitszeitkonto muss eingerichtet sein und – die betrieblichen/dienstlichen Verhältnisse müssen die Umwandlung zulassen.

14.169

Satz 5 erstreckt diese Umwandlungsmöglichkeit auch auf das Überstundenentgelt. b) Mehrarbeit, § 8 Abs. 2 TVöD

§ 8 Abs. 2 TVöD regelt den Ausgleich von Mehrarbeit, also von Arbeitsstunden, die keine 14.170 Überstunden iSd. § 7 Abs. 7 und 8 TVöD sind. Das betrifft vor allem solche Arbeitsstunden, die nicht gemäß § 6 Abs. 2 TVöD im Ausgleichszeitraum durch Freizeit ausgeglichen wurden. Die geleistete Mehrarbeit geht für die Beschäftigten nicht verloren, sondern wird vergütet: Die Beschäftigten erhalten je Stunde 100 % des auf eine Stunde entfallenden Anteils des Tabellenentgelts ihrer jeweiligen Entgeltgruppe und Stufe. Bedeutung hat die Norm auch für Mehrarbeit Teilzeitbeschäftigter (vgl. § 7 Abs. 6 TVöD): Da Überstunden erst vorliegen, wenn die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten überschritten wird, sind die über die individuelle Arbeitszeit hinausgehenden Arbeitsstunden bis zur regelmäßigen Wochenarbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten nicht gemäß § 8 Abs. 1 TVöD zuschlagspflichtige Überstunden. Die Arbeitszeit wird ohne Zuschläge gemäß § 8 Abs. 2 TVöD bezahlt.

14.171

Nicht anwendbar ist § 8 Abs. 2 TVöD nach der Protokollerklärung zu § 8 Abs. 2 TVöD auf 14.172 Arbeitsstunden, die im Rahmen von Gleitzeitmodellen anfallen, es sei denn, diese wurden angeordnet. Dies trägt den Besonderheiten der Gleitzeit Rechnung, bei der idR ohne Anordnung des Arbeitgebers ein Guthaben an Arbeitsstunden angesammelt wird. Entsprechend hat der Beschäftigte selbst darüber zu wachen, dass die angesammelten Stunden abgebaut werden. Ohne Anordnung der Mehrarbeit erhält er deshalb weder eine Vergütung für Mehrarbeit noch Überstundenzuschläge.

14.173

§ 8 Abs. 4 TV-L enthält eine identische Regelung für die Länder. c) Rufbereitschaft, § 8 Abs. 3 TVöD Die Leistung von Rufbereitschaft wird gemäß § 8 Abs. 3 Satz 1 TVöD durch eine tägliche Pauschale in Abhängigkeit von der Entgeltgruppe ausgeglichen. Diese beträgt – für die Tage von Montag bis Freitag das Zweifache – für Samstage, Sonn- und Feiertage das Vierfache des tariflichen Stundenentgelts nach Maßgabe der Entgelttabelle (zur nur stundenweise Rufbereitschaft s. Rz. 14.178).

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14.174

§ 14 Rz. 14.175

Arbeitszeitrecht

14.175 Für die Bemessung der Pauschale ist nach § 8 Abs. 3 Satz 3 TVöD der Tag maßgeblich, an dem die Rufbereitschaft beginnt. Bei einer Freitags beginnenden Rufbereitschaft wird also auch dann nur das zweifache Stundenentgelt gezahlt, wenn die Bereitschaft bis Samstag andauert. Ergänzend bestimmt die Protokollerklärung zu § 8 Abs. 3 TVöD, dass zur Ermittlung der Tage einer Rufbereitschaft, für die eine Pauschale gezahlt wird, auf den Tag des Beginns der Rufbereitschaft abzustellen ist. Für angebrochene Folgetage wird deshalb keine Pauschale gezahlt165. In der Niederschriftserklärung wird dies durch folgendes Beispiel erläutert: „Beginnt eine Wochenendrufbereitschaft am Freitag um 15 Uhr und endet am Montag um 7 Uhr, so erhalten die Beschäftigten folgende Pauschalen: Zwei Stunden für Freitag, je vier Stunden für Samstag und Sonntag, keine Pauschale für Montag. Sie erhalten somit zehn Stundenentgelte.“

14.176 Kommt es innerhalb einer Rufbereitschaft zum Abruf von Arbeit, wird diese gemäß § 8 Abs. 3 Satz 4 TVöD gesondert vergütet: Für die Arbeitsleistung innerhalb der Rufbereitschaft einschließlich der hierfür erforderlichen Wegezeiten166 wird jede angefangene Stunde auf eine volle Stunde gerundet und mit dem Entgelt für Überstunden sowie etwaiger Zeitzuschläge nach § 8 Abs. 1 TVöD bezahlt. Bei mehreren Arbeitseinsätzen innerhalb einer Rufbereitschaft ist dem Wortlaut entsprechend jede Inanspruchnahme isoliert zu betrachten und zu runden167. Zwei je eineinhalbstündige Einsätze können daher nicht zunächst aufaddiert werden, um auf diese Weise die Rundung zu vermeiden168. Etwas anderes gilt gemäß § 8 Abs. 3 Satz 5 TVöD, der durch Änderungstarifvertrag vom 31.3.2008 eingefügt wurde, wenn die Arbeitsleistung am Aufenthaltsort gemäß § 7 Abs. 4 TVöD erbracht wird, etwa per Telefon oder E-Mail: In diesem Fall wird, anders als bei § 8 Abs. 3 Satz 4 TVöD erst addiert und dann gerundet. Aus zwei eineinhalbstündigen Einsätzen wird eine Arbeitszeit von drei Stunden und nicht, wie bei der vorherigen Rundung gemäß Satz 4, von vier Stunden169.

14.177 § 8 Abs. 3 Satz 6 TVöD räumt den Beschäftigten die Möglichkeit ein, die Vergütung für die Rufbereitschaft in Zeit auf ein Arbeitszeitkonto gemäß § 10 TVöD zu buchen, wenn ein solches betrieblich eingerichtet ist und die Betriebs-/Dienstvereinbarung die Buchung dieser Kontingente freigegeben hat (§ 10 Abs. 3 Satz 2 TVöD).

14.178 Für eine nur stundenweise Rufbereitschaft, die keine tägliche Pauschale zulässt, treffen die Sätze 7–9 des § 8 Abs. 3 TVöD eine Sonderregelung. Die tägliche Pauschale nach Satz 1 wird nur für eine ununterbrochene Rufbereitschaft von mehr als zwölf Stunden gezahlt. Unter dieser Grenze wird die stundenweise Rufbereitschaft nach Satz 8 vergütet, indem für jede Stunde der Rufbereitschaft 12,5 % des tariflichen Stundenentgelts nach Maßgabe der Entgelttabelle gezahlt werden.

14.179 § 8 Abs. 5 TV-L trifft eine weitgehend identische Regelung für die Rufbereitschaft. Als wichtigste Abweichung wurde hier die Rundungsvorschrift für Arbeitseinsätze während der Rufbereitschaft aber wie folgt konkretisiert: Bei Einsätzen außerhalb des Aufenthaltsortes wird 165 Sponer/Steinherr, § 8 TVöD Rz. 89. 166 BAG v. 20.8.2014 – 10 AZR 937/13, ZTR 2015, 20 zu § 11 Abs. 3 TV-Ärzte/VKA; Burger/Spengler, § 8 TVöD Rz. 30. 167 LAG Rheinland-Pfalz v. 14.6.2007 – 11 Sa 57/07, ZTR 2007, 548; LAG München v. 21.2.2008 – 4 Sa 942/07, juris; Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 8 TVöD-AT Rz. 12; Hock/Kramer/Schwerdle, ZTR 2006, 622 (630). 168 So aber LAG Nürnberg v. 26.7.2007 – 7 Sa 891/06, ZTR 2007, 549; aA BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 259/08, ZTR 2009, 22; Sponer/Steinherr, § 8 TVöD Rz. 95 mit Berechnungsbeispielen. 169 Vgl. Wahlers, ZTR 2009, 465 (470).

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Sonderformen der Arbeit

Rz. 14.183 § 14

die Zeit jeder einzelnen Inanspruchnahme innerhalb der Rufbereitschaft einschließlich der hierfür erforderlichen Wegezeiten auf eine volle Stunde gerundet und mit dem Entgelt für Überstunden sowie etwaiger Zeitzuschläge nach Absatz 1 gezahlt (Satz 5). Wird die Arbeitsleistung innerhalb der Rufbereitschaft dagegen am Aufenthaltsort telefonisch oder mittels technischer Einrichtungen erbracht, wird abweichend von Satz 5 die Summe dieser Arbeitsleistungen am Ende des Rufbereitschaftsdienstes auf die nächsten vollen 30 oder 60 Minuten gerundet und mit dem Entgelt für Überstunden sowie etwaiger Zeitzuschläge nach Absatz 1 bezahlt. Dauert die Rufbereitschaft länger als 24 Stunden, erfolgt die Aufrundung nach jeweils 24 Stunden. d) Bereitschaftsdienst, § 8 Abs. 4 TVöD Das Entgelt für Bereitschaftsdienste überlassen § 8 Abs. 4 TVöD und § 8 Abs. 6 TV-L einer Regelung durch gesonderte Tarifverträge. Bis zum Inkrafttreten solcher Regelungen gelten zunächst die bisher in dem jeweiligen Betrieb/der jeweiligen Verwaltung/Dienststelle geltenden Bestimmungen fort.

14.180

e) Schichtzulagen, § 8 Abs. 5 u. 6 TVöD Die besondere Belastung durch Wechselschicht- und Schichtarbeit wird gemäß § 8 Abs. 5 und 6 TVöD durch Zulagen ausgeglichen. Im TV-L findet sich eine gleichlautende Regelung in § 8 Abs. 7 und 8. Für Beschäftigte, die ständig diese Arbeitsformen leisten, betragen die Zulagen

14.181

– 105 Euro monatlich bei ständiger Wechselschichtarbeit – 40 Euro monatlich bei ständiger Schichtarbeit. Wird nicht ständig Wechselschicht- bzw. Schichtarbeit geleistet, wird stattdessen eine Zulage in Höhe von 0,63 Euro (Wechselschichtarbeit) bzw. von 0,24 Euro (Schichtarbeit) pro Stunde gezahlt.

14.182

Vom Vorliegen „ständiger“ Wechselschicht- bzw. Schichtarbeit ist erst auszugehen, wenn der Beschäftigte „dauernd“ bzw. „fast ausschließlich“ in Schicht bzw. Wechselschicht arbeitet170. Nicht ständige Wechselschicht- bzw. Schichtarbeit leisten Beschäftigte hingegen dann, wenn ihnen diese Art von Tätigkeit lediglich vertretungsweise (etwa als „Springer“) oder gelegentlich zugewiesen wird171. Das BAG verlangte zur Vorgängerregelung im BATeine Heranziehung zur (Wechsel-)Schichtarbeit für einen Zeitraum von mindestens zehn aufeinanderfolgenden Wochen172. Nachdem mit der Tarifreform der Anknüpfungspunkt des BAG für einen Zehnwochenzeitraum in § 33a Abs. 1 BAT entfallen ist, wird man wegen der Monatsbezogenheit der Pauschale nun mindestens einen Zeitraum von zwei Monaten Schicht- bzw. Wechselschichtarbeit verlangen müssen173. Eine Unterbrechung durch Arbeitsbefreiung, Freizeitaus-

14.183

170 BAG v. 16.8.2000 – 10 AZR 512/99, ZTR 2001, 28 und v. 20.4.2005 – 10 AZR 302/04, AP Nr. 3 zu § 24 BMT-G II zum BAT; das BAG hat diese Rechtsprechung auch für den Geltungsbereich des TVöD bestätigt: BAG v. 24.3.2010 – 10 AZR 58/09, NZA 2010, 958; Breier/Dassau/Kiefer/ Lang/Langenbrinck, § 8 TVöD Rz. 50.1; Sponer/Steinherr, § 8 TVöD Rz. 114 ff. 171 BAG v. 24.3.2010 – 10 AZR 58/09, NZA 2010, 958; v. 13.6.2012 – 10 AZR 351/11, NZA 2012, 1301. 172 BAG v. 16.8.2000 – 10 AZR 512/99, ZTR 2001, 28. 173 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 8 TVöD Rz. 51; Hock/Kramer/Schwerdle, ZTR 2006, 622 (635); aA Sponer/Steinherr, § 8 TVöD Rz. 118 f.

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§ 14 Rz. 14.183

Arbeitszeitrecht

gleich, bezahlten Urlaub oder Arbeitsunfähigkeit in den Grenzen des § 22 TVöD ist laut Protokollerklärung zu § 27 TVöD für das Vorliegen ständiger Wechselschichtarbeit unschädlich.

14.183a Anspruch auf die Zulagen haben die Beschäftigten nur dann, wenn sie Wechselschicht- bzw. Schichtarbeit „leisten“. Dies gilt sowohl für die ständige (§ 8 Abs. 5 Satz 1 TVöD) als auch für die nicht ständige (§ 8 Abs. 5 Satz 2 TVöD) (Wechsel-)Schichtarbeit. Voraussetzung ist die tatsächliche Erbringung der Arbeitsleistung in jeder der verschiedenen Schichtarten, wobei weder eine gleichmäßige Verteilung der verschiedenen Schichtarten noch die Ableistung einer Mindestanzahl bestimmter Schichten erforderlich ist174. Der tatsächlichen Erbringung der Arbeitsleistung steht es gleich, wenn die Leistung der tariflich geforderten Schichten nur deshalb nicht erfolgt ist, weil der Beschäftigte wegen Krankheit (§ 22 Abs. 1 TVöD), Erholungsurlaub (§ 26 TVöD), Zusatzurlaub (§ 27 TVöD), Arbeitsbefreiung (§ 29 TVöD) oder wegen des Vorliegens der Voraussetzungen des § 6 Abs. 3 Satz 1 TVöD unter Fortzahlung der Bezüge gemäß § 21 TVöD von der Arbeitsleistung befreit ist. Dann reicht es aus, dass er die erforderlichen Schichten ohne die Freistellung geleistet hätte175. Zur umstrittenen Frage, ob Schichtzulagen bei Teilzeitbeschäftigten anteilig zu kürzen sind, s. Rz. 14.214. 4. Sonderregelungen für den Bereitschaftsdienst und die Rufbereitschaft in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen

14.184 Wegen der besonderen praktischen Bedeutung von Bereitschaftsdiensten und Rufbereitschaften für den Betrieb von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen enthalten die weitgehend identischen Vorschriften in §§ 45–47 TVöD BT-K und BT-B für diese Arbeitsformen Sonderregelungen. Diese Besonderen Teile sind arbeitgeberseitig nur abgeschlossen worden im Bereich der VKA, nicht aber vom Bund. a) Bereitschaftsdienst

14.185 Die Besonderen Teile enthalten in § 45 Abs. 1 Satz 1 eine mit dem Allgemeinen Teil des TVöD identische Definition des Bereitschaftsdienstes. Während die Anordnungsbefugnis dort aber unbeschränkt ist, darf der Arbeitgeber im Anwendungsbereich des BT-K und BT-B Bereitschaftsdienst nur anordnen, wenn zu erwarten ist, dass zwar Arbeit anfällt, erfahrungsgemäß aber die Zeit ohne Arbeitsleistung überwiegt, § 45 Abs. 1 Satz 2 TVöD BT-K/BT-B. Die arbeitsfreie Zeit überwiegt, wenn die Arbeitsleistung unter 50 % liegt176.

14.186 § 45 Abs. 2 TVöD BT-K/BT-B macht von der durch § 7 Abs. 1 ArbZG eröffneten Möglichkeit Gebrauch, die tägliche Arbeitszeit auf maximal 16 Stunden täglich zu verlängern. Voraussetzung dafür ist, dass mindestens die acht Stunden überschreitende Zeit im Rahmen von Bereitschaftsdienst geleistet wird. Der Umfang einer möglichen Verlängerung richtet sich nach den 174 BAG v. 13.6.2012 – 10 AZR 351/11, NZA 2012, 1301 mwN. 175 Für die ständige Wechselschichtzulage: BAG v. 24.3.2010 – 10 AZR 58/09, NZA 2010, 958; v. 24.3.2010 – 10 AZR 152/09, DB 2010, 1407; für die ständige Schichtzulage: BAG v. 24.3.2010 – 10 AZR 570/09, ZTR 2010, 407; ebenso für den Anspruch auf Zusatzurlaub gem. § 27 TVöD: BAG v. 17.11.2009 – 9 AZR 923/08, ZTR 2010, 311; anders noch für die Wechselschichtzulage BAG v. 24.9.2008 – 10 AZR 140/08, ArbRB 2009, 4 = NZA-RR 2009, 107 in einem obiter dictum. 176 BAG v. 24.9.2008 – 10 AZR 669/07, NZA 2009, 45; Bredemeier/Neffke, TVöD/TV-L, § 45 TVöDBT-K Rz. 1.

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Sonderformen der Arbeit

Rz. 14.192 § 14

in § 46 Abs. 2 TVöD BT-K/BT-B geregelten Belastungsstufen und damit der durchschnittlichen Inanspruchnahme während des Bereitschaftsdienstes. § 46 Abs. 3 TVöD BT-K/BT-B enthält eine Öffnungsklausel und ermöglicht so weitere Ab- 14.187 weichungen vom ArbZG durch Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung oder landesbezirkliche Tarifverträge. Voraussetzung für solche Vereinbarungen ist aber die Prüfung alternativer Arbeitszeitmodelle, eine Belastungsanalyse gemäß § 5 ArbSchG und ggf. daraus resultierende Maßnahmen zur Gewährleistung des Gesundheitsschutzes. Unter den gleichen Voraussetzungen können die Betriebsparteien gemäß § 46 Abs. 4 TVöD 14.188 BT-K/BT-B von der Abweichungsmöglichkeit in § 7 Abs. 2a ArbZG Gebrauch machen und die Arbeitszeit auch ohne Ausgleich auf bis zu 58 Stunden erhöhen, sog. „Opt-out-Regelung“. Dies ist nach § 7 Abs. 7 ArbZG aber abhängig von einer schriftlichen Einwilligung des Arbeitnehmers. Wegen Zweifeln an der Europarechtmäßigkeit des § 7 Abs. 2a ArbZG177 haben die Tarifvertragsparteien in § 47 ein Sonderkündigungsrecht für die Regelungen zum Bereitschaftsdienst und zur Rufbereitschaft für den Fall materiell-rechtlicher Änderungen des ArbZG vereinbart. Neben diesen speziellen Abweichungsmöglichkeiten der Spartentarifverträge bleibt auch die allgemeine Öffnungsklausel in § 6 Abs. 4 TVöD anwendbar, wie § 45 Abs. 9 TVöD BT-K/ BT-B klarstellt.

14.189

In § 46 enthalten die Tarifverträge eine eigene Regelung für das Bereitschaftsdienstentgelt. Gemäß § 46 Abs. 1 TVöD BT-K wird zur Entgeltberechnung nach dem Maß der während des Bereitschaftsdienstes erfahrungsgemäß durchschnittlich anfallenden Arbeitsleistungen die Zeit des Bereitschaftsdienstes einschließlich der geleisteten Arbeit nur teilweise als Arbeitszeit gewertet. Je nach Stufe werden 60–90 % als Arbeitszeit gewertet und vergütet. Diese Bewertung hat weder Einfluss auf die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit noch auf die arbeitszeitrechtliche Behandlung des Bereitschaftsdienstes, sondern ist lediglich Grundlage für die Entgeltberechnung. Die Stufenzuweisung erfolgt nach § 46 Abs. 2 Satz 1 TVöD BT-K grundsätzlich durch die Betriebsparteien, nur bei Ärzten wird hierzu eine Nebenabrede im Arbeitsvertrag getroffen. Alternativ zur Auszahlung besteht wiederum die Möglichkeit, das Bereitschaftsdienstentgelt in Freizeit abzugelten. Abweichende Regelungen zum Bereitschaftsdienstentgelt treffen § 46 TVöD BT-B und die §§ 41–43 TV-L.

14.190

b) Rufbereitschaft Im Vergleich zum Allgemeinen Teil des TVöD schränkt § 45 Abs. 8 TVöD BT-K/BT-B auch die Anordnungsbefugnis des Arbeitgebers für Rufbereitschaften ein. Rufbereitschaft darf nur angeordnet werden, wenn erfahrungsgemäß lediglich in Ausnahmefällen Arbeit anfällt. § 45 Abs. 8 Satz 2 TVöD BT-K/BT-B enthält eine unmittelbare Abweichung vom ArbZG auf der Grundlage von § 7 Abs. 2 Nr. 3 ArbZG: Danach darf durch tatsächliche Arbeitsleistung innerhalb der Rufbereitschaft die tägliche Arbeitszeit von zehn Stunden überschritten werden.

14.191

Die Vergütung der Rufbereitschaft richtet sich nach der allgemeinen Regelung in § 8 Abs. 3 TVöD.

14.192

177 ErfK/Wank, § 7 ArbZG Rz. 18; Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 45 TVöD-BT-K Rz. 43; BAG v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081 mwN.

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§ 14 Rz. 14.193

Arbeitszeitrecht

5. Sonderregelung für Bereitschaftszeiten, § 9 TVöD a) Begriff

14.193 Neben die außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit stattfindenden Rufbereitschaften und Bereitschaftsdienste treten die während der regelmäßigen Arbeitszeit anfallenden Bereitschaftszeiten gemäß § 9 TVöD/TV-L. Bereitschaftszeiten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 TVöD sind Zeiten, in denen sich der Beschäftigte am Arbeitsplatz oder einer anderen vom Arbeitgeber bestimmten Stelle zur Verfügung halten muss, um im Bedarfsfall die Arbeit selbständig, ggf. auch auf Anordnung, aufzunehmen, und in denen die Zeiten ohne Arbeitsleistung überwiegen, der Anteil der Arbeitsleistung an der Arbeitszeit also 49 % nicht überschreitet178. Durch diese Tarifnorm wurde der früher im BAT verwandte Begriff der Arbeitsbereitschaft neu geregelt. Unter Arbeitsbereitschaft wird in Abgrenzung zur Vollarbeit ein Zustand „wacher Achtsamkeit im Zustand der Entspannung“179 verstanden. Typische Beispiele sind die Tätigkeiten von Hausmeistern und von Beschäftigten im Rettungsdienst (vgl. hierzu die Sonderregelung für diese Berufsgruppen im Anhang zu § 9 TVöD), die während ihrer Arbeitszeit nur zeitweilig aktiv in Anspruch genommen werden, sich überwiegend aber lediglich für Arbeitseinsätze bereithalten. Bereitschaftszeiten sind mit dem gesetzlichen Mindestlohn zu vergüten180.

14.194 Im Unterschied zu Bereitschaftszeiten muss ein Arbeitnehmer in Bereitschaftsdienst oder Rufbereitschaft nicht von sich aus tätig werden, sondern wird aus der Bereitschaft durch Dritte zur Arbeitsleistung aufgefordert, weshalb dort auch kein Zustand „wacher Aufmerksamkeit“ erforderlich ist181. b) Geltungsbereich

14.195 Diese Sonderregelungen für Bereitschaftszeiten sind nur auf Beschäftigte anwendbar, in deren Tätigkeit „regelmäßig“ und „in nicht unerheblichem Umfang“ Bereitschaftszeiten fallen (§ 9 Abs. 1 Satz 2 TVöD). § 9 Abs. 1 Satz 3 TVöD setzt ergänzend voraus, dass es sich um eine nicht nur vorübergehend angelegte Organisationsmaßnahme handeln muss, bei der regelmäßig und in nicht unerheblichem Umfang Bereitschaftszeiten anfallen: Die Organisation des Betriebs bzw. der Dienststelle muss auf Dauer so angelegt sein, dass regelmäßig und in nicht unerheblichem Umfang Bereitschaftszeiten anfallen182.

14.196 Zur Bestimmung der Begriffe „regelmäßig“ und „in nicht unerheblichem Umfang“ kann an die zu § 7 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a ArbZG entwickelte Auslegung angeknüpft werden. „Regelmäßig“ sind Bereitschaftszeiten, wenn sie nicht nur ausnahmsweise, sondern immer wieder anfallen und sich laufend mit Zeiten der Vollarbeit abwechseln183. Ein erheblicher Umfang der Bereitschaftszeiten kann ab einem Anteil von 25 % an der Gesamtarbeitszeit vorliegen. In der Vergütungsordnung zum BAT sollte der Umfang einer Tätigkeit „nicht unerheblich“ sein,

178 Bredemeier/Neffke, TVöD/TV-L, § 9 Rz. 9. 179 BAG v. 12.2.1986 – 7 AZR 358/84, DB 1987, 995; v. 10.1.1991 – 6 AZR 352/89, NZA 1991, 516. 180 BAG v. 29.6.2016 – 5 AZR 716/15, NZA 2016, 1332; Burger/Spengler, TVöD/TV-L, § 9 TVöD Rz. 14. 181 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 7 TVöD Rz. 28 und § 9 TVöD Rz. 4; Bepler/Böhle/ Pieper/Geyer, § 9 TVöD-AT Rz. 14. 182 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 9 TVöD Rz. 16. 183 Baeck/Deutsch, § 7 ArbZG Rz. 49; ErfK/Wank, § 7 ArbZG Rz. 4.

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Sonderformen der Arbeit

Rz. 14.200 § 14

wenn er etwa ein Viertel der Gesamttätigkeit ausmacht184. Bezugsgröße ist hierbei nicht die regelmäßige Arbeitszeit iSd. § 6 TVöD, sondern die bereits nach § 9 TVöD verlängerte Arbeitszeit des Beschäftigten185. c) Faktorisierung der Bereitschaftszeiten, § 9 Abs. 1 Satz 2 TVöD Die geringere Belastung durch Bereitschaftszeiten wird gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a TVöD ausgeglichen, indem diese Zeiten faktorisiert und nur zur Hälfte als tarifliche Arbeitszeit gewertet werden. Das gilt dann unabhängig vom tatsächlichen Umfang der Arbeitsleistung in der Bereitschaftszeit und hat zur Folge, dass sich die Anwesenheitszeiten des Beschäftigten entsprechend verlängern. Die Bereitschaftszeiten werden innerhalb von Beginn und Ende der regelmäßigen täglichen Arbeitszeit nicht gesondert ausgewiesen (§ 9 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b TVöD). Die Summe aus den faktorisierten Bereitschaftszeiten und der Vollarbeitszeit darf allerdings die Arbeitszeit nach § 6 Abs. 1 TVöD nicht überschreiten und die Summe aus Vollarbeits- und Bereitschaftszeiten durchschnittlich 48 Stunden wöchentlich nicht überschreiten, um Verstöße gegen § 3 ArbZG zu vermeiden186.

14.197

d) Mitbestimmung aa) VKA, § 9 Abs. 2 TVöD Anwendbar ist die Faktorisierungsmöglichkeit im Bereich der VKA und im Geltungsbereich eines Personalvertretungsgesetzes nur, wenn eine einvernehmliche Dienstvereinbarung dies vorsieht, § 9 Abs. 2 Satz 1 TVöD. Das Freiwilligkeitserfordernis schließt gemäß § 38 Abs. 3 TVöD die Entscheidung durch die Einigungsstelle aus. § 6 Abs. 9 TVöD entsprechend, kann alternativ eine Regelung in landesbezirklichen Tarifverträgen getroffen werden, wenn eine einvernehmliche Dienstvereinbarung nicht zustande kommt und der Arbeitgeber ein Letztentscheidungsrecht hat. Gleiches gilt gemäß § 9 Abs. 2 TV-L für die Länder.

14.198

Im Geltungsbereich des BetrVG gilt das Mitbestimmungsrecht des § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG187. Freiwilligkeit ist nicht erforderlich, die Einigungsstelle kann entscheiden188.

14.199

bb) Bund, § 9 Abs. 3 TVöD Im Bereich des Bundes gilt die Bereitschaftszeitenregelung, wenn betrieblich Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit unter Einschluss der Bereitschaftszeiten für diese Beschäftigungsgruppen festgelegt werden. Beginn und Ende der Arbeitszeit werden regelmäßig durch Dienstvereinbarung festgelegt (§ 75 Abs. 3 Nr. 1 BPersVG), die auch durch die Einigungsstelle erzwungen werden können. Eine einvernehmliche Dienstvereinbarung ist nicht Voraussetzung189. 184 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 9 TVöD Rz. 7; Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 9 TVöDAT Rz. 26 (20–25 %); ErfK/Wank, § 7 ArbZG Rz. 6 (30 %); Neumann/Biebl, § 7 ArbZG Rz. 18 (30 %). 185 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 9 TVöD Rz. 8; Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 9 TVöDAT Rz. 26. 186 Zur Berechnung, zur Darlegungslast und zur Vergütung von Überstunden vgl. LAG SchleswigHolstein v. 25.9.2008 – 4 Sa 382/07, juris. 187 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 9 TVöD Rz. 18. 188 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 9 TVöD Rz. 92 f. 189 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, § 9 TVöD Rz. 96 f.

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447

14.200

§ 14 Rz. 14.201

Arbeitszeitrecht

e) Sondervorschriften für Hausmeister und Beschäftigte im Rettungsdienst und in Leitstellen im Anhang zu § 9 TVöD

14.201 Für die Bereitschaftszeiten von Hausmeistern und Beschäftigten im Rettungsdienst und in Leitstellen trifft der Anhang zu § 9 TVöD Sonderregelungen. Der TV-L trifft für diese Beschäftigungsgruppen eine ähnliche Regelung als Absatz 3 des § 9 TV-L.

14.202 Diesen Sonderregelungen ist gemeinsam, dass sie unmittelbar geltendes Recht sind und keiner Umsetzung durch Dienst- und Betriebsvereinbarungen bedürfen. Außerdem gilt der Ausschluss der Bereitschaftszeitenregelung bei Wechselschicht- und Schichtarbeit nach der Protokollerklärung zu § 9 nicht für diese Arbeitnehmer190. Hier können also trotz Schicht- und Wechselschichtarbeit Bereitschaftszeiten faktorisiert werden.

14.203 Die Regelung für Hausmeister beschränkt sich auf diese beiden Funktionen und enthält inhaltlich keine Abweichung gegenüber der Grundregelung in § 9 Abs. 1 TVöD.

14.204 Für die Beschäftigten im Rettungsdienst und in den Leitstellen wird zusätzlich die zulässige tägliche Höchstarbeitszeit auf zwölf Stunden zuzüglich der gesetzlichen Pausen verlängert191. Hierdurch wird von der Öffnungsklausel in § 7 Abs. 1 Buchst. a ArbZG Gebrauch gemacht.

14.205 Die veränderte arbeitszeitrechtliche und tarifrechtliche Einordnung von Bereitschaftszeiten hat die Frage neu aufgeworfen, ob in Rettungswachen Wechselschichtarbeit iSd. § 7 Abs. 1 TVöD geleistet wird. Wechselschichten liegen nach dieser Definition nur vor, wenn im Betrieb ununterbrochen gearbeitet wird. Das BAG hat unter Arbeit in diesem Sinne bisher nur die volle Arbeitsleistung verstanden. Es sollte nicht ausreichen, wenn im Organisationsbereich des Beschäftigten zu bestimmten Zeiten ausschließlich Bereitschaftsdienste oder Arbeitsbereitschaft geleistet werden192, wie es in Rettungswachen häufig der Fall ist. Für Bereitschaftszeiten iSd. Anhangs zu § 9 Abschn. B TVöD entscheidet das BAG aber anders und bejaht die Wechselschichtarbeit193.

IX. Teilzeitbeschäftigung 14.206 Die Teilzeitbeschäftigung richtet sich auch im öffentlichen Dienst nach dem TzBfG. Die wichtigste Regelung der Tarifverträge zur Teilzeit ist der in § 11 TVöD/TV-L eingeräumte Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit, der neben den allgemeinen Teilzeitanspruch aus § 8 TzBfG tritt. 1. Tarifrechtlicher Teilzeitanspruch a) Änderungen von § 15b BAT zu § 11 TVöD

14.207 § 11 TVöD entspricht weitgehend der Vorgängerregelung in § 15b BAT. § 11 TVöD gibt nun auch bereits teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern einen Anspruch auf (weitere) Verringerung

190 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Anhang zu § 9 Rz. 1, 2. 191 BAG v. 20.11.2018 – 9 AZR 327/18, NZA 2019, 535. 192 BAG v. 5.2.1997 – 10 AZR 639/96, NZA 1997, 1179 zu § 33a Abs. 1 BAT; grds. bestätigend auch für den TVöD BAG v. 24.9.2008 – 10 AZR 669/07, NZA 2009, 45. 193 BAG v. 24.9.2008 – 10 AZR 669/07, NZA 2009, 45.

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Teilzeitbeschäftigung

Rz. 14.211 § 14

der Arbeitszeit194, während die Vorgängerregelung ihrem Wortlaut nach nur Vollzeitbeschäftigten diese Möglichkeit einräumte. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 TVöD hat der Arbeitgeber bei der Gestaltung der Arbeitszeit im Rahmen der dienstlichen bzw. betrieblichen Möglichkeiten der besonderen persönlichen Situation des Beschäftigten Rechnung zu tragen. Zu beachten ist, dass § 11 Abs. 1 TVöD keine Verpflichtung des Arbeitsgebers normiert, den Arbeitsvertrag hinsichtlich der Arbeitszeitverteilung abzuändern195. § 11 TVöD tritt in seiner Reichweite regelmäßig hinter den allgemeinen gesetzlichen Teilzeitanspruch gemäß § 8 TzBfG zurück. Nur in seltenen Fällen geht § 11 TVöD über den gesetzlichen Anspruch hinaus196; der tarifliche Teilzeitanspruch ist nicht wartezeitgebunden und er kann befristet werden197. Das Ablehnungsrecht des Arbeitgebers wird auf „dringende“ betriebliche Gründe beschränkt; der Unterschied wird durch die strengen Prüfungsmaßstäbe der Arbeitsgerichte zu § 8 TzBfG verwischt.

14.208

b) Voraussetzungen Der Teilzeitanspruch setzt nach § 11 Abs. 1 Satz 1 TVöD voraus, dass der Beschäftigte mindestens ein Kind unter 18 Jahren oder einen nach ärztlichem Gutachten pflegebedürftigen Angehörigen tatsächlich betreut oder pflegt und dringende dienstliche bzw. betriebliche Belange nicht entgegenstehen. Liegt keine dieser Sondersituationen vor, kann der Beschäftigte nach § 11 Abs. 2 TVöD nur verlangen, dass der Arbeitgeber mit ihm die Möglichkeit einer Teilzeitbeschäftigung erörtert.

14.209

Beruht das Teilzeitverlangen auf einer Betreuungssituation iSd. § 11 Abs. 1 Satz 1 TVöD, ist die Ablehnung des Teilzeitverlangens die Ausnahme. Im Streitfall trägt der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast für die „dringenden dienstlichen bzw. betrieblichen Belange“, die er dem Teilzeitbegehren entgegenhält. Die Prüfung des dringenden Belanges orientiert sich an der Rechtsprechung des BAG zu § 8 TzBfG198.

14.210

c) Befristung der Teilzeittätigkeit Auf Antrag ist die Teilzeitbeschäftigung auf bis zu fünf Jahre zu befristen, § 11 Abs. 1 Satz 2 TVöD. § 11 Abs. 1 Satz 3 TVöD ermöglicht für diesen Fall eine Verlängerung, wenn spätestens sechs Monate vor Ablauf der Teilzeitbeschäftigung ein entsprechender Antrag gestellt wird. Die Befristung entspricht dem Interesse des Arbeitnehmers, sich eine Rückkehr in die Vollbeschäftigung offen zu halten. Ohne eine Befristungsabrede hat der Beschäftigte lediglich den in § 11 Abs. 3 TVöD eingeräumten Anspruch, bei späterer Besetzung eines Vollzeitarbeitsplatzes bei gleicher Eignung im Rahmen der dienstlichen bzw. betrieblichen Möglichkeiten bevorzugt berücksichtigt zu werden.

194 BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, ArbRB 2004, 7 = ZTR 2004, 143. 195 BAG v. 16.12.2014 – 9 AZR 915/13, ZTR 2015, 327; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 11 TVöD Rz. 32.1; Burger/Nollert-Borasio, § 11 TVöD Rz. 1. 196 Feldhoff, ZTR 2006, 58 (62 f.). 197 BAG v. 16.12.2014 – 9 AZR 915/13, ZTR 2015, 327; v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, ArbRB 2004, 7 = ZTR 2004, 143; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 11 TVöD Rz. 11. 198 BAG v. 18.5.2004 – 9 AZR 319/03, ArbRB 2004, 361 = NZA 2005, 108; v. 16.10.2007 – 9 AZR 321/06, ArbRB 2008, 38 = ZTR 2008, 166; v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/02, NZA 2003, 1392; v. 21.6.2004 – 9 AZR 409/04, NZA 2006, 316.

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14.211

§ 14 Rz. 14.212

Arbeitszeitrecht

2. Vergleichsentgeltermittlung für Teilzeitbeschäftigte

14.212 Die Vergütung Teilzeitbeschäftigter wird in § 24 Abs. 2 TVöD geregelt: Soweit tarifvertraglich nichts anderes geregelt ist, erhalten Teilzeitbeschäftigte das Tabellenentgelt und alle sonstigen Entgeltbestandteile in dem Umfang, der dem Anteil ihrer individuell vereinbarten durchschnittlichen Arbeitszeit an der regelmäßigen Arbeitszeit vergleichbarer Vollzeitbeschäftigter entspricht. Für die Berechnung der zeitratierlichen Kürzung des Entgelts wird das Vollzeitentgelt durch die regelmäßige Arbeitszeit in Wochenstunden dividiert und anschließend mit der individuellen Arbeitszeit des Teilzeitbeschäftigten in Wochenstunden multipliziert199. Ein Teilzeitbeschäftigter mit 50 % der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit erhält demgemäß nur 50 % des Tabellenentgelts und grundsätzlich aller sonstigen Entgeltbestandteile. Die ratierliche Kürzung gilt auch für tarifliche Zusatzleistungen wie Urlaubsgeld, Zuwendungen oder vermögenswirksame Leistung200.

14.213 Gegen den Wortlaut der Tarifnorm, welche die anteilige Kürzung – nur vorbehaltlich anderweitiger tariflicher Regelungen – auf sämtliche Vergütungsbestandteile erstreckt, muss aufgrund des Diskriminierungsverbots gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG eine Leistungskürzung für solche Entgeltbestandteile Teilzeitbeschäftigter ausscheiden, bei denen die Dauer der Arbeitszeit für die Leistungsbemessung keine Rolle spielt. Denn dann fehlen sachliche Gründe für eine Kürzung des jeweiligen Vergütungsbestandteils. Dies gilt zB für Reisekosten201.

14.214 Lebhaft umstritten ist, ob auch eine anteilige Kürzung der Wechselschichtzulage eine unzulässige Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter ist. Das BAG hielt die anteilige Kürzung der Wechselschichtzulage gemäß § 33a Abs. 1 BAT für einen Verstoß gegen § 2 Abs. 1 BeschFG202. Diese Rechtsprechung wurde teilweise fortgeführt, so dass Teilzeitbeschäftigte auch nach Inkrafttreten des TVöD einen Anspruch auf die volle Wechselschichtzulage hatten203: Die Wechselschichtzulage stelle pauschalierend und arbeitszeitunabhängig auf die besonderen Belastungen durch die Wechselschicht ab; diese Belastungen träfen auch Teilzeitbeschäftigte voll und nicht nur teilweise. Eine Kürzung verstoße gegen das Diskriminierungsverbot. Dem hat sich das BAG nicht angeschlossen und eine zeitanteilige Kürzung der Wechselschichtzulage für zulässig gehalten. Die Wechselschichtzulage ist allerdings, wie auch die Stundenzulage bei nicht ständiger Wechselschichtarbeit in § 8 Abs. 6 Satz 2 TVöD zeigt, als arbeitszeitabhängige Leistung ausgestaltet, so dass die arbeitszeitabhängige Kürzung sachlich gerechtfertigt ist204.

14.215 Nach dem Urteil des BAG vom 19.12.2018 haben Teilzeitbeschäftigte bereits dann einen Anspruch auf tarifliche Mehrarbeitszuschläge, wenn die geleistete Arbeitszeit die Teilzeitquote übersteigt. Nicht erforderlich ist das Überschreiten der Wochenarbeitszeit eines Vollzeit-

199 200 201 202 203

Bredemeier/Neffke, TVöD/TV-L, § 24 Rz. 12. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 11 TVöD Rz. 137. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 11 TVöD Rz. 137. BAG v. 23.6.1993 – 10 AZR 127/92, NZA 1994, 41. LAG Düsseldorf v. 15.5.2007 – 8 Sa 405/07, ZTR 2007, 615; LAG Schleswig-Holstein v. 30.5.2007 – 5 Sa 59/07, juris; LAG Bremen v. 17.7.2007 – 1 Sa 49/07, ZTR 2007, 614; LAG Düsseldorf v. 2.8.2007 – 5 Sa 682/07, juris; LAG Niedersachsen v. 9.10.2007 – 5 Sa 446/07, juris; LAG Bremen v. 29.1.2008 – 1 Sa 138/07, juris. 204 BAG v. 24.9.2008 – 10 AZR 634/07, ArbRB 2009, 3 = ZTR 2009, 18; ebenso schon zuvor LAG Hamm v. 10.5.2007 – 17 Sa 1890/06, ZTR 2007, 543; LAG Berlin-Brandenburg v. 22.6.2007 – 8 Sa 788/07, ZTR 2007, 615; LAG Hessen v. 28.8.2007 – 1 Sa 1872/06, juris; LAG Köln v. 19.11.2007 – 14 Sa 715/07, juris; s. auch Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 8 TVöD Rz. 54 ff.

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Teilzeitbeschäftigung

Rz. 14.217 § 14

beschäftigten205. Begründet wird dieses Ergebnis mit dem Benachteiligungsverbot aus § 4 Abs. 1 TzBfG, der eine Abweichung vom Pro-rata-temporis-Grundsatz zulasten eines Teilzeitbeschäftigten ohne das Vorliegen eines sachlichen Grundes verbietet206. Teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer haben einen Anspruch auf ein Arbeitsentgelt (oder eine andere teilbare geldwerte Leistung) mindestens in dem Umfang, der ihrem Anteil an der Arbeitszeit eines vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten entspricht. Es darf nur zu einer quantitativ und nicht zu einer qualitativ abweichenden Vergütung eines Teilzeitbeschäftigten kommen207. Mit dieser Entscheidung gibt der 10. Senat seine bis dahin gegenläufige Rechtsprechung auf208 und schließt sich dem Urteil des 6. Senats vom 23.3.2017 an209 (vgl. auch Rz. 14.138). 3. Brückenteilzeit Mit Wirkung zum 1.1.2019 ist § 9a TzBfG in Kraft getreten210. Damit wurde ein allgemeiner 14.216 gesetzlicher Anspruch auf Brückenteilzeit, der neben den Anspruch aus § 8 TzBfG auf zeitlich nicht begrenzte Teilzeitarbeit tritt, in die bestehenden Befristungsregelungen integriert211. Im Unterschied zu § 8 TzBfG ist der Anspruch auf Brückenteilzeit auf eine zeitlich begrenzte Verringerung der Arbeitszeit gerichtet212. Ein bestimmter Sachgrund muss für den Anspruch aus § 9a TzBfG nicht vorliegen213. Der Anspruch auf Brückenteilzeit setzt voraus, dass das Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate besteht (§ 9a Abs. 1 Satz 1 TzBfG), der gewünschte Zeitraum der Brückenteilzeit mindestens ein und maximal fünf Jahre beträgt (§ 9a Abs. 1 Satz 2), der Arbeitgeber regelmäßig mehr als 45 Arbeitnehmer beschäftigt (§ 9a Abs. 1 Satz 3 TzBfG) und der Arbeitnehmer den Antrag in Textform mindestens drei Monate vor dem Wunschbeginn der Teilzeit gegenüber dem Arbeitgeber stellt (§ 9a Abs. 3 TzBfG). Stehen dem Verlangen des Arbeitnehmers betriebliche Gründe entgegen, kann der Antrag durch den Arbeitgeber abgelehnt werden (§ 9a Abs. 2 TzBfG)214. Der Anspruch auf Brückenteilzeit besteht auch in den Fällen, in denen der besondere befristete Teilzeitanspruch aus § 11 Abs. 1 Satz 1 TVöD nicht gegeben ist und wird daher auch im öffentlichen Dienst von erheblicher Bedeutung sein. Insbesondere führt die Einführung der Brückenteilzeit zu einer Besserstellung der Beschäftigten gegenüber der Regelung des § 11

205 BAG v. 19.12.2018 – 10 AZR 231/18, NZA 2019, 790; dazu Litschen, öAT 2019, 89 ff.; Schuster, ArbRAktuell 2019, 12 ff.; Bayer, GWR 2019, 200 ff. 206 BAG v. 19.12.2018 – 10 AZR 231/18, NZA 2019, 790; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 11 TVöD Rz. 144. 207 BAG v. 19.12.2018 – 10 AZR 231/18, NZA 2019, 790; ebenso bereits BAG v. 23.3.2017 – 6 AZR 161/16, BAGE 158, 360 sowie v. 23.2.2011 – 10 AZR 299/10, NZA 2011, 1384. 208 BAG v. 26.4.2017 – 10 AZR 589/15, NJW 2017, 3321; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 11 TVöD Rz. 145. 209 BAG v. 23.3.2017 – 6 AZR 161/16, BAGE 158, 360; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 11 TVöD Rz. 144. 210 Gesetz v. 11.12.2018 (BGBl. I S. 2384). 211 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 11 TVöD Rz. 68. 212 Benkert, NJW-Spezial 2019, 50 (50); Preis/Schwarz, NJW 2018, 3673 (3675). 213 Damit unterscheidet sich der Anspruch auf Brückenteilzeit von den Teilzeitansprüchen aus BEEG, PflegeZG und FPfZG, s. dazu Benkert, NJW-Spezial 2019, 50 (50); Preis/Schwarz, NJW 2018, 3673 (3675). 214 Ausführlich Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 11 TVöD Rz. 70 ff.; Preis/Schwarz, NJW 2018, 3673 ff.

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14.217

§ 14 Rz. 14.217

Arbeitszeitrecht

Abs. 3 TVöD. Nach § 11 Abs. 3 TVöD sollen frühere Vollzeitbeschäftigte, die auf eigenen Wunsch eine nicht befristete Teilzeitbeschäftigung mit ihrem Arbeitgeber vereinbaren, bei späterer Besetzung eines Vollzeitarbeitsplatzes bei gleicher Eignung im Rahmen der dienstlichen bzw. betrieblichen Möglichkeiten bevorzugt berücksichtigt werden. Dagegen kehren die Beschäftigten nach Ablauf der vereinbarten Brückenteilzeit automatisch und ohne weitere Erklärung zu der ursprünglich vereinbarten (Vollzeit-) Arbeitszeit zurück215.

215 Benkert, NJW-Spezial 2019, 50 (50).

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§ 15 Urlaub I. Erholungsurlaub . . . . . . . . . . . . . .

15.1

III. Zusatzurlaub . . . . . . . . . . . . . . . . .

15.27

IV. Sonderurlaub ohne Fortzahlung des Entgelts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15.33

1. Berechnung der Urlaubsdauer . . . .

15.3

2. Begriff des Arbeitstages . . . . . . . . . .

15.13

3. Geltendmachung . . . . . . . . . . . . . .

15.14

4. Urlaubsübertragung . . . . . . . . . . . .

15.15

V. Kürzung des Urlaubs in der Elternzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.34a VI. Sonstige Regelungen . . . . . . . . . . .

15.35

15.17

1. Bildungsurlaub . . . . . . . . . . . . . . . .

15.35

15.17

2. Urlaub und Krankengeld bei Erkrankung des Kindes . . . . . . . . . .

15.36

3. Pflegezeitgesetz . . . . . . . . . . . . . . . .

15.37

4. Familienpflegezeitgesetz . . . . . . . . .

15.40

5. Verfall des Urlaubs bei Dauererkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfall des gesetzlichen Mindesturlaubs . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfall des tariflichen Mehrurlaubs . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15.18

6. Urlaubsabgeltung . . . . . . . . . . . . . .

15.19

II. Arbeitsbefreiung . . . . . . . . . . . . . .

15.20

Schrifttum: Bayreuther, Der EuGH und der urlaubsrechtliche Schadensersatzanspruch, NZA 2018, 24; Bayreuther, Urlaubsrecht – finalisiert, NZA 2019, 945; Bonanni/Niklas, Die neue Hinweispflicht des Arbeitgebers auf bestehende Urlaubsansprüche, ArbRB 2019, 208; Bredemeier, Sonderurlaub im öffentlichen Dienst: Einführung und Probleme in der Praxis, § 28 TVöD/TV-L, öAT 2016, 182; Conze, Zum Erholungsurlaub für Beamte und Tarifbeschäftigte des öffentlichen Dienstes – eine vergleichende Betrachtung, ZTR 2013, 363; Conze, Zum Anspruch auf Urlaubsabgeltung bei Tarifbeschäftigten des öffentlichen Dienstes – unter besonderer Einbeziehung der aktuellen Rechtsprechung, öAT 2013, 111; Geyer, Haftung des Arbeitgebers wegen des Verfalls von Urlaub, ZTR 2016, 629; Glatzel, Aktuelle Rechtsprechung zum Urlaubsrecht, NZA-RR 2019, 401; Göttling/Neumann, Das neue Familienpflegezeitgesetz, NZA 2012, 119; Greger, Übertragung und Abgeltung von Urlaub bei Krankheit, ZTR 2009, 346; Hamacher, Von der Kunst, den Urlaubsanspruch zu erfüllen, NZA 2018, 487; Hock/ Hock, Irrungen und Wirrungen des Urlaubsrechts aufgrund der Rechtsprechung des EuGH und BAG und deren Umsetzung in der Praxis, ZTR 2015, 253; Korinth, Urlaub vom Urlaub oder wie zuviel Urlaub zu gar keinem Urlaub führen kann, ZTR 2014, 691; Kuner, Urlaub bei Wechsel in eine Teilzeittätigkeit mit weniger Wochenarbeitstagen, öAT 2015, 76; Mehrens/Witschen, Der unionsrechtliche Urlaubsanspruch und seine Auswirkungen auf das nationale Recht – Ein Zwischenbericht, EuZA 2019, 326; Neumann/Fenski/Kühn, Bundesurlaubsgesetz, 11. Aufl. 2016; Oberthür/Becker, Streitfall „Pflege“ – Ausgewählte Problemstellungen des Pflegezeitgesetzes, ArbRB 2009, 77; Oberthür, Die neue Familienpflegezeit – Chancen und Risiken der Arbeitszeitreduzierung zur Pflege eines Angehörigen, ArbRB 2011, 376; Picker, Urlaub trotz Dauererkrankung: Die Schultz-Hoff-Entscheidung des EuGH und ihre Folgen, ZTR 2009, 230; Powietzka, Verfall und Vererblichkeit von Urlaubsansprüchen – Neuregelung des Urlaubsrechts durch den EuGH, BB 2019, 52; Preis/Nehring, Das Pflegezeitgesetz, NZA 2008, 729; Reinhard, Je älter, desto erholungsbedürftiger? – Die Altersdiskriminierung in der Urlaubsrechtsprechung, ArbRB 2012, 342; Rudkowski, Urlaub als Grundrecht des Arbeitnehmers, NJW 2019, 476; Schiefer/Worzalla, Familienpflegezeitgesetz, DB 2012, 516; Schubert, Der Erholungsurlaub zwischen Arbeitsschutz und Entgelt – Kürzung oder Umrechnung des Urlaubsanspruchs und deren Folgen, NZA 2013, 1105; Schwerdle, Die neue Familienpflegezeit – arbeits- und sozialrechtliche Auswirkungen, ZTR 2012, 3; Thüsing/Denzer/Beden, Entstehen von Urlaubsansprüchen in der Freistellungsphase bei Altersteilzeit im Blockmodell, DB 2019, 1445.

Grimm

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§ 15 Rz. 15.1

Urlaub

I. Erholungsurlaub 15.1 Durch Tarifvertrag kann von den Regelungen des BUrlG abgewichen werden (§ 13 BUrlG); ausgenommen sind die Regelungen der §§ 1, 2 und 3 Abs. 1 BUrlG. Der Anspruch auf bezahlten Urlaub ist unabdingbar, eine Ausnahme für Tarifbeschäftigte ist nicht zulässig. Vom gesetzlichen Mindesturlaub von 24 Werktagen gemäß § 3 Abs. 1 BUrlG kann nicht zulasten, sondern nur zugunsten der Beschäftigten abgewichen werden1. Daneben gelten § 19 JArbSchG, § 24 MuSchG, § 17 BEEG und § 4 ArbPlSchG. Die Regelungen zu Urlaub und Arbeitsbefreiung befinden sich in §§ 26–29 TVöD.

15.2 Vor Inkrafttreten des TVöD galt eine Unterteilung nach Vergütungsgruppen. Diese ist entfallen, die Anpassung betrifft alle Beschäftigten einheitlich. Das Recht des Erholungsurlaubs ist dem Recht des BUrlG angepasst worden2. 1. Berechnung der Urlaubsdauer

15.3 Bis zum 31.12.2013 hing die Staffelung der Urlaubsdauer von zwei verschiedenen Bemessungsfaktoren ab, dem Lebensalter (§ 26 Abs. 1 Satz 2 TVöD aF) und der Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit (§ 26 Abs. 1 Satz 4 TVöD aF). Mit Urteil vom 20.3.2012 hat das BAG die Differenzierung der Urlaubsdauer nach dem erreichten Lebensalter wegen Verstoßes gegen das Verbot der Altersdiskriminierung in § 7 Abs. 1 iVm. § 1 AGG für unwirksam erklärt3. Ab dem 1.1.2014 bemisst sich die Höhe der Urlaubstage nun nicht mehr nach dem Lebensalter, sondern ausschließlich nach der Arbeitszeit. Alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes haben bei einer 5-Tage-Woche einen Anspruch auf 30 Urlaubstage4. Der TV-L enthält in § 26 Abs. 1 Satz 2 seit dem 1.1.2013 keine Staffelung mehr. Vielmehr beträgt auch der Urlaubsanspruch für alle Beschäftigte der Länder einheitlich 30 Tage in jedem Kalenderjahr.

15.4 Einziger Bemessungsfaktor ist die Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit, § 26 Abs. 1 Satz 3 TVöD. Der TVöD bemisst die Dauer des Urlaubs nach der Verteilung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit auf fünf Kalendertage in der Woche. Dabei ist unerheblich, an welchen Kalendertagen die Arbeit geleistet wird, es zählt allein die regelmäßige Arbeitszeit5. Gemäß § 26 Abs. 1 Satz 3 TVöD erhöht oder vermindert sich der Urlaubsanspruch entsprechend, wenn eine andere Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit vorliegt. Für Beschäftigte, die weniger als fünf Tage in der Woche arbeiten, vermindert sich der Urlaubsanspruch für jeden Arbeitstag, den sie im Verhältnis zu dem in der 5-Tage-Woche arbeitenden Mitarbeiter zusätzlich arbeitsfrei haben, im gleichen Verhältnis; für Beschäftigte, die an mehr als fünf Tagen arbeiten, erhöht er sich entsprechend. Die durchschnittliche Dauer der täglichen Arbeitszeit ist dabei unbeachtlich. Daher haben Teilzeitbeschäftigte den gleichen Urlaubsanspruch 1 Burger/Nollert-Borasio, § 26 TVöD/TV-L Rz. 3. 2 Conze/Karb/Wölk, Urlaub Rz. 3335. 3 BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10, NZA 2012, 803; v. 12.4.2016 – 9 AZR 659/14, NZA 2016, 1167; dazu Reinhard, ArbRB 2012, 342 ff.; vgl. auch BAG v. 18.10.2016 – 9 AZR 123/16, ZTR 2017, 164, zur Unwirksamkeit einer Tarifnorm, die Arbeitnehmer benachteiligte, die das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. 4 Gemäß § 9 TVAöD BT-BBiG/BT-Pflege/TVA-L u. § 10 TVPöD haben Auszubildende und Praktikanten bei einer 5-Tage-Woche nunmehr einen Anspruch auf 30 Urlaubstage. 5 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 26 TVöD Rz. 169.

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Erholungsurlaub

Rz. 15.7 § 15

wie Vollzeitbeschäftigte6. Der in § 48 Abs. 4 BAT geregelte Berechnungsfaktor von 1/260 ist weggefallen7. Zur Berechnung des zustehenden Urlaubs für den Fall, dass eine kürzere oder längere regelmäßige Arbeitszeit als fünf Tage in der Woche vorliegt, ist folgende Formel anzuwenden: Die dem Beschäftigten bei Zugrundelegung einer Fünftagewoche nach § 26 Abs. 1 Satz 2 TVöD zustehende Anzahl an Urlaubstagen ist durch fünf zu teilen und mit der Anzahl der tatsächlich zu leistenden Arbeitstage pro Woche zu multiplizieren8.

15.5

Besonderheiten ergeben sich, wenn ein Beschäftigter im laufenden Kalenderjahr von einem Vollzeit- in ein Teilzeitarbeitsverhältnis mit weniger als fünf Arbeitstagen pro Woche wechselt. Konnte der Beschäftigte den während seiner Vollzeitbeschäftigung erworbenen Urlaub vor dem Übergang in die Teilzeitbeschäftigung tatsächlich nicht mehr nehmen, darf dieser Urlaub – nach Ansicht des EuGH – nicht im Verhältnis zu der Zahl der Wochenarbeitstage eines Vollzeitbeschäftigten gekürzt werden9. Entgegen der früheren Rechtsprechung des BAG10 kommt es damit nicht mehr auf den Beschäftigungsumfang bei Realisierung des Urlaubsanspruchs an. Vielmehr bleibt der vor dem Übergang in das Teilzeitarbeitsverhältnis erworbene Urlaubsanspruch in vollem Umfang erhalten. Dies gilt allerdings nur dann, wenn der Beschäftigte an der Ausübung des Urlaubsanspruchs vor der Arbeitszeitänderung gehindert war; im Übrigen bleibt eine Umrechnung möglich11.

15.6

Das BAG hat 2015 seine alte Rechtsprechung aufgegeben und sich der Auffassung des EuGH angeschlossen. § 26 Abs. 1 TVöD sei wegen Verstoßes gegen das Verbot der Diskriminierung von Teilzeitkräften unwirksam, soweit die Norm zu einer Minderung der Urlaubstage führe, die während der Vollzeittätigkeit erworben wurden12.

15.7

§ 26 Abs. 1 Satz 4 TVöD aF (nunmehr § 26 Abs. 1 Satz 3 TVöD) ordnet die Umrechnung von Urlaubsansprüchen für den Fall an, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung abweichend vom tariflich vorgesehenen Normalfall nicht in der Fünftagewoche leistet. 2017 hatte das BAG dazu entschieden, dass bei einem unterjährigen Wechsel der Arbeitszeitverteilung § 26 Abs. 1 Satz 4 TVöD aF (nunmehr § 26 Abs. 1 Satz 3 TVöD) nicht dahingehend ausgelegt werden könne, dass der kalenderjährig bestimmte Urlaubsanspruch in Zeitabschnitte fragmentiert und damit als Summe mehrerer (Teil-) Urlaubsansprüche zu berechnen ist13. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es, die Gleichwertigkeit der Urlaubsdauer unabhängig von der Anzahl der wöchentlichen Arbeitstage sicherzustellen14. Der für die Be6 Burger/Nollert-Borasio, § 26 TVöD/TV-L Rz. 17; Bredemeier/Neffke/Cerff, § 26 TVöD/TV-L Rz. 21. 7 Burger/Nollert-Borasio, § 26 TVöD/TV-L Rz. 18. 8 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 26 TVöD Rz. 170.6 ff. mit mehreren Berechnungsbeispielen; Bredemeier/Neffke/Cerff, § 26 TVöD/TV-L Rz. 24; Burger/Nollert-Borasio, § 26 TVöD/ TV-L Rz. 14, jeweils mit Berechnungsbeispielen. 9 EuGH v. 13.6.2013 – C-415/12, ArbRB 2013, 230 (Brandes), NZA 2013, 775; s. auch schon EuGH v. 22.4.2010 – C-486/08, ArbRB 2010, 199 (Tirol), NZA 2010, 557. 10 BAG v. 28.4.1998 – 9 AZR 314/97, NZA 1999, 156 (157). 11 S. zum Ganzen Dassau/Wulfers, ZTR 2013, 476, und Schubert, NZA 2013, 1105. 12 BAG v. 10.2.2015 – 9 AZR 53/14, NZA 2015, 1005 (1006); Bredemeier/Neffke/Cerff, § 26 TVöD/ TV-L Rz. 24b; Kuner, öAT 2015, 76. 13 BAG v. 14.3.2017 – 9 AZR 7/16, NZA-RR 2017, 376 (377); dazu Niklas, ArbRAktuell 2018, 220 (222). 14 BAG v. 14.3.2017 – 9 AZR 7/16, NZA-RR 2017, 376 (377).

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§ 15 Rz. 15.7

Urlaub

rechnung maßgebliche Zeitpunkt sei derjenige, zu dem der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer Urlaub gewährt15. Ändere sich die Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht, bevor der Arbeitnehmer den gesamten Urlaub in Anspruch genommen hat, sei der verbleibende Urlaubsanspruch unter Berücksichtigung des bereits vom Arbeitgeber gewährten Urlaubs zu berechnen. Von dieser Rechtsprechung hat sich der 9. Senat des BAG in seinem Urteil vom 19.3.2019 ausdrücklich distanziert16. Er schwenkt auf die Linie des EuGH um17. Nach der Rechtsprechung des EuGH18 darf die Verringerung des Beschäftigungsumfangs (Teilzeit) nicht dazu führen, dass der von einem Arbeitnehmer vor der Verringerung erworbene und nach der Verringerung angetretene Jahresurlaub mit einem reduzierten Urlaubsentgelt vergütet wird. Deshalb sind § 26 Abs. 1 Satz 1 und § 21 Satz 1 TV-L wegen der mittelbaren Benachteiligung von Teilzeitkräften (§ 4 Abs. 1 Satz TzBfG) nichtig, soweit sie das Urlaubsentgelt eines Arbeitnehmers, der nach der Verringerung seiner wöchentlichen Regelarbeitszeit seinen Urlaub antritt, auch in den Fällen nach dem Entgeltausfallprinzip bemessen, in denen der Urlaub aus der Zeit vor der Arbeitsreduzierung stammt19. Nach der neuen Rechtsprechung des BAG vom 19.3.2019, die sich auf § 26 TV-L bezieht, gilt bei unterjährigem Wechsel der Arbeitstage folgende Berechnungsmethode: – Wechselt die Anzahl der Arbeitstage unterjährig, ist der gesetzliche Urlaubsanspruch für das betreffende Kalenderjahr unter Berücksichtigung der einzelnen Zeiträume der Beschäftigung und der auf sie entfallenden Wochentage mit Arbeitspflicht umzurechnen20. – Unter Umständen muss daher die Urlaubsdauer im Kalenderjahr mehrfach berechnet werden21. – Bei der Berechnung ist grundsätzlich auf die für das gesamte Urlaubsjahr arbeitsvertraglich vorgesehene Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage abzustellen und nicht auf die zum Zeitpunkt der Urlaubsgewährung geltende Arbeitszeitregelung22. – Damit wird für jeden Zeitabschnitt der arbeitsvertragliche oder tarifvertragliche Mehrurlaub im Verhältnis der konkret vereinbarten Wochenarbeitstage berechnet23.

15.8 Wenn bei der Berechnung von Urlaubsansprüchen ein Bruchteil verbleibt, der mindestens einen halben Urlaubstag ergibt, ist auf einen vollen Urlaubstag aufzurunden, § 26 Abs. 1

15 BAG v. 14.3.2017 – 9 AZR 7/16, NZA-RR 2017, 376 (377). 16 BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 406/17, NZA 2019, 1435 (1437) = ZTR 2019, 553 (554): „Soweit der Senat demgegenüber bisher angenommen hat, dass der auf Zeiträume eines unbezahlten Sonderurlaubs entfallende Urlaubsanspruch nach Maßgabe der ausgesetzten Arbeitszeit zu berechnen sei … und im Falle des unterjährigen Wechsels der Arbeitszeitverteilung der kalenderjährig bestimmte Urlaubsanspruch nicht in Zeitabschnitte unterteilt werden könne (BAG v. 14.3.2017 – 9 AZR 7/16 Rz. 14), wird daran nicht festgehalten.“ 17 Arnold, FD-ArbR 2019, 420949. 18 EuGH v. 22.4.2010 – C-486/08 (Zentralbetriebsrat der Krankenhäuser Tirols), NZA 2010, 557 (559); dazu Glatzel, NZA-RR 2019, 401 (405). 19 BAG v. 20.3.2018 – 9 AZR 486/17, NZA 2018, 851 (852 f.); dazu Glatzel, NZA-RR 2019, 401 (405). 20 BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 406/17, NZA 2019, 1435 (1438) = ZTR 2019, 553 (555). 21 BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 406/17, NZA 2019, 1435 (1438) = ZTR 2019, 553 (555). 22 BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 406/17, NZA 2019, 1435 (1437) = ZTR 2019, 553 (554). 23 BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 406/17, NZA 2019, 1435 (1438 f.) = ZTR 2019, 553 (555); Arnold, FDArbR 2019, 420949.

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Erholungsurlaub

Rz. 15.10 § 15

Satz 5 TVöD. Dies entspricht einer Fortführung der Vorschrift des § 48 Abs. 4 UnterAbs. 5 BAT24. Hat das Arbeitsverhältnis im selben Jahr begonnen, in dem auch der Urlaub genommen 15.9 werden soll, sieht § 26 Abs. 2 Buchst. b TVöD eine eigene Regelung vor: Der Beschäftigte hat Anspruch auf jeweils ein Zwölftel des Gesamturlaubs pro vollem Beschäftigungsmonat. Dabei bleibt § 5 BUrlG unberührt. § 26 Abs. 2 Buchst. b TVöD geht wie die Vorgängerregelung in § 48 Abs. 5 BAT zugunsten der Beschäftigten weiter als die gesetzliche Regelung des § 5 BUrlG25. § 5 BUrlG sieht in Abs. 1 Buchst. a bis c nur bestimmte Fälle vor, in denen eine Zwölftelung erfolgen kann. Diese sind: Die Nichterfüllung einer Wartezeit, § 5 Abs. 1 Buchst. a BUrlG, das Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis vor Erfüllung der Wartezeit, § 5 Abs. 1 Buchst. b BUrlG oder das Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis nach erfüllter Wartezeit in der ersten Hälfte eines Kalenderjahres, § 5 Abs. 1 Buchst. c BUrlG. Von § 5 Abs. 1 Buchst. a BUrlG werden nur Neueinstellungen ab dem 1. Juli des Kalenderjahres erfasst, denn der ab diesem Zeitpunkt in das Arbeitsverhältnis Eintretende kann in dem laufenden Urlaubsjahr die Wartezeit nicht mehr erfüllen26. Dagegen sieht § 26 Abs. 2 Buchst. b TVöD in jedem Fall eine Zwölftelung des Urlaubsanspruchs vor, also auch dann, wenn der Arbeitnehmer vor dem 1. Juli eingestellt wird und die Wartezeit des § 4 BUrlG dementsprechend problemlos erfüllen kann27. In dieser und in anderen Konstellationen kann die Anwendung der Vorschriften des BUrlG für den Beschäftigten günstiger sein, da die im TVöD stets vorgesehene Zwölftelung zu Teilansprüchen führen kann, die hinter den Ansprüchen des BUrlG zurückbleiben28. Ein Abweichen von den gesetzlichen Regelungen ist jedoch nur möglich, solange der unabdingbare gesetzliche Mindesturlaub (§ 3 Abs. 1 BUrlG) unberührt bleibt29. Ob dies der Fall ist, ist anhand einer Vergleichsberechnung festzustellen30. In folgenden Konstellationen ist eine Vergleichsberechnung notwendig: (1) Das Arbeitsverhältnis beginnt in der ersten Hälfte des Urlaubsjahres: Gemäß § 26 Abs. 2 Buchst. b TVöD findet eine Zwölftelung des Urlaubsanspruches statt. Nach § 4 BUrlG wird der volle Urlaubsanspruch erstmalig nach sechsmonatigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses erworben. Zu zwölfteln ist der Urlaub nach § 5 Abs. 1 Buchst. a BUrlG nur für die Zeiten eines Jahres, für die wegen Nichterfüllung der Wartezeit kein voller Urlaubsanspruch erworben werden kann. Das ist bei Tätigkeitsaufnahme nach dem 1.7. eines Jahres der Fall31. Bei Tätigkeitsaufnahme in der ersten Jahreshälfte wird der volle Urlaubsanspruch erworben; er 24 Fritz, ZTR 2006, 2 (3). Ohne die tarifvertragliche Regelung wäre dies nicht der Fall, Glatzel, NZARR 2019, 401 (404). 25 Conze/Karb/Wölk, Urlaub Rz. 3403; Fritz, ZTR 2006, 2 (3). 26 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 26 TVöD Rz. 122. 27 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 26 TVöD Rz. 128; Wird ein Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 1.7. eines Jahres begründet, kann der Arbeitnehmer in diesem Jahr nach § 4 BUrlG keinen Vollurlaubsanspruch erwerben, BAG v. 17.11.2015 – 9 AZR 179/15, ZTR 2016, 309. 28 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 26 TVöD Rz. 132. 29 BAG v. 24.10.2000 – 9 AZR 610/99, NZA 2001, 663 (664); v. 9.8.2016 – 9 AZR 51/16, ZTR 2016, 695; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 26 TVöD Rz. 131; Burger/Nollert-Borasio, § 26 TVöD/TV-L Rz. 21; Bredemeier/Neffke/Cerff, § 26 TVöD/TV-L Rz. 29b. 30 Burger/Nollert-Borasio, § 26 TVöD/TV-L Rz. 21; Bredemeier/Neffke/Cerff, § 26 TVöD/TV-L Rz. 29b. 31 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 26 TVöD Rz. 127; Conze/Karb/Wölk, Urlaub Rz. 3406.

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15.10

§ 15 Rz. 15.10

Urlaub

wird also nicht nach § 5 Abs. 1 BUrlG gezwölftelt. In diesen Fällen können je nach Eintrittsdatum die Regelungen des BUrlG für den Arbeitnehmer günstiger und damit vorrangig anzuwenden sein.

15.11 (2) Das Arbeitsverhältnis endet in der zweiten Hälfte des Urlaubsjahres nach erfüllter Wartezeit: Der TVöD sieht für diesen Fall in § 26 Abs. 2 Buchst. b TVöD eine Zwölftelung der Urlaubsansprüche vor. Gemäß §§ 4, 5 Abs. 1 Buchst. c BUrlG wird der volle gesetzliche Urlaubsanspruch erworben. Die Vergleichsberechnung ergibt, dass die gesetzliche Mindesturlaubsdauer des § 3 Abs. 1 BUrlG günstiger sein kann als die Regelung des § 26 Abs. 2 Buchst. b TVöD32. Der günstigere gesetzliche Urlaubsanspruch verdrängt den Anspruch aus dem TVöD.

15.12 (3) Das Arbeitsverhältnis ruht: Beim ruhenden Arbeitsverhältnis sieht § 26 Abs. 2 Buchst. c TVöD vor, die Dauer des Erholungsurlaubs für jeden vollen Kalendermonat um ein Zwölftel zu verringern. Diese tarifliche Ausgestaltung ist zulässig, weil sie den den §§ 1, 3 BUrlG zugrunde liegenden Proportionalitätsgrundsatz nachbildet33. Entgegen der Rspr. des BAG aus dem Jahr 201434 kann der Arbeitgeber nunmehr auch den gesetzlichen Urlaub bei einem vereinbarten unbezahlten Sonderurlaub kürzen35. Der Umfang des dem Arbeitnehmer zustehenden Jahresurlaubs ist proportional zu der Anzahl der Tage zu berechnen, an denen der Arbeitnehmer im Urlaubsjahr seine Arbeitsleistung erbringt. Ist die Arbeitsleistung nicht über das gesamte Kalenderjahr gleichmäßig verteilt36, wird jahresbezogen die für den Arbeitnehmer maßgebliche Anzahl der Arbeitstage mit der Anzahl der Werktage in das Verhältnis gesetzt37. Bei dieser – weiterhin jahresbezogenen – Betrachtung wird also die Anzahl der in den einzelnen Zeitabschnitten vorgesehenen Arbeitstage berücksichtigt. Die Umrechnung des nach § 3 Abs. 1 BUrlG in Werktagen bemessenen Urlaubs wird auch vorgenommen, wenn die arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflichten durch Sonderurlaub suspendiert sind. Dabei ist der Zeitraum des Sonderurlaubs (etwa in einem

32 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 26 TVöD Rz. 133; Conze/Karb/Wölk, Urlaub Rz. 3409. 33 Das gilt auch für den Sonderurlaub: BAG v. 21.5.2019 – 9 AZR 259/18, NZA 2019, 1365 (1366). Ein Sabbatical führt also nicht zum Entstehen von Urlaubsansprüchen. 34 BAG v. 6.5.2014 – 9 AZR 678/12, ZTR 2014, 329. 35 BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 315/17, BB 2019, 2493 (2493) (m. Anm. Ley) = NZA-RR 2019, 565 (Fuhlrott); BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 406/17, NZA 2019, 1435 (1439) = ZTR 2019, 553 (554 f.); zustimmend Bayreuther, NZA 2019, 945 (949); Thüsing/Denzer/Beden, DB 2019, 1445 (1447). 36 Zur Berechnungsweise des gesetzlichen Urlaubs bei gleichmäßiger Verteilung der Arbeitszeit auf weniger oder mehr als sechs Wochentage: BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 406/17, NZA 2019, 1435 (1438) = ZTR 2019, 553 (555); ErfK/Gallner, § 3 BUrlG Rz. 8: die in § 3 Abs. 1 BUrlG genannten 24 Werktage werden durch die Zahl 6 geteilt und mit der Anzahl der für den Arbeitnehmer maßgeblichen Arbeitstage einer Woche multipliziert. Bei der Ausfüllung der Formel zählen gesetzliche Feiertage als Tage mit Arbeitspflicht, vgl. BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 406/17, NZA 2019, 1435 (1439) = ZTR 2019, 553 (556). 37 Bezogen auf die jeweilige Zeit lautet die Berechnungsformel für den gesetzlichen Urlaub: 24 Werktage × Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht geteilt durch 312 Werktage, so BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 406/17, NZA 2019, 1435 (1439) = ZTR 2019, 553 (556). Das BAG geht für die Sechstagewoche von 312 und für die Fünftagewoche von 260 möglichen Arbeitstagen im Jahr aus (BAG v. 5.9.2002 – 9 AZR 244/01, NZA 2003, 726 (729); v. 19.3.2019 – 9 AZR 406/17, NZA 2019, 1435 (1438) = ZTR 2019, 553 (556)).

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Erholungsurlaub

Rz. 15.14 § 15

„Sabbatical“) bei der Berechnung des Urlaubsanspruchs mit „null“ Arbeitstagen in Ansatz zu bringen38. 2. Begriff des Arbeitstages Der Urlaubsanspruch des § 26 Abs. 1 TVöD bemisst sich nach Arbeitstagen. Was ein Arbeits- 15.13 tag ist, wird (anders als in § 48 Abs. 4 BAT und § 26 Abs. 1 Satz 3 TV-L) im TVöD nicht definiert. Es können jedoch die bisher geltenden Vorschriften zugrunde gelegt werden39. Danach sind Arbeitstage alle Kalendertage, an denen der Beschäftigte dienstplanmäßig oder betriebsüblich zu arbeiten hat oder zu arbeiten hätte40. Als Arbeitstag zählen also auch Tage, an denen für den Beschäftigten an sich eine Arbeitspflicht bestünde, dieser jedoch aufgrund eines von ihm nicht zu vertretenden Grundes (bspw. wegen unverschuldeter Arbeitsunfähigkeit) von der Erbringung der Arbeitsleistung befreit ist41. Hatten Beschäftigte (bspw. aufgrund Schichtdienst) nach altem Recht an einem Feiertag Arbeit zu leisten, wurde ihnen durch die Ausnahmeregelung in § 48 Abs. 4 Satz 1 BAT kein Urlaubstag angerechnet, der Tag galt nicht als Arbeitstag42. Mit Abschluss des TVöD ist diese Regelung weggefallen43. Praktisch ist dies von geringer Bedeutung, da nach § 11 Abs. 3 ArbZG für einen Sonn- oder Feiertag44, an dem gearbeitet wird, ein Ausgleichstag zu gewähren ist45. 3. Geltendmachung Dem Beschäftigten obliegt es, seinen fälligen Urlaub geltend zu machen46. Der Arbeitgeber als Schuldner der Urlaubsgewährung hat nach § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG die Pflicht, Wünsche des Beschäftigten bezüglich der Lage des Urlaubs zu berücksichtigen, wenn nicht dringende betriebliche Belange oder unter sozialen Gesichtspunkten vorrangige Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer entgegenstehen. Nach den Protokollerklärungen zu § 26 Abs. 1 Satz 5 TVöD bzw. § 26 Abs. 1 Satz 6 TV-L soll der Urlaub grundsätzlich zusammenhängend gewährt werden, wobei ein Urlaubsteil von zwei Wochen angestrebt werden soll, vgl. auch § 7 Abs. 2 BUrlG. Im Übrigen gelten die Vorschriften des BUrlG zur genauen Festlegung der Lage des Erholungsurlaubs, insbesondere bei Erkrankungen, Feiertagen, Urlaubsansprüchen, Arbeitgeberwechseln, Teilurlauben und zur Urlaubsabgeltung bei Kündigung. Die Ablehnung eines Urlaubsantrages durch den Arbeitgeber ohne eine hinreichende Begründung kann zu einer Schadensersatzpflicht gegenüber dem Beschäftigten führen. Ein begründeter Schadensersatzanspruch hat allerdings grundsätzlich nur die Gewährung von Ersatzurlaub zum Inhalt, § 249 Abs. 1 BGB. Ein Anspruch, welcher auf die Gewährung von Schadensersatz in Geld nach § 251 38 So BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 315/17, BB 2019, 2493 (2493); v. 19.3.2019 – 9 AZR 406/17, NZA 2019, 1435 (1439) = ZTR 2019, 553 (556); v. 21.5.2019 – 9 AZR 259/18, NZA 2019, 1365 (1366), Rz. 13 für § 26 Abs. 2 Buchst. c TV-L. 39 Bredemeier/Neffke/Cerff, § 26 TVöD/TV-L Rz. 22; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 26 TVöD Rz. 158 ff. 40 Bredemeier/Neffke/Cerff, § 26 TVöD/TV-L Rz. 22. 41 Bredemeier/Neffke/Cerff, § 26 TVöD/TV-L Rz. 22; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 26 TVöD Rz. 161. 42 Fritz, ZTR 2006, 2 (3). 43 Fritz, ZTR 2006, 2 (3). 44 BAG v. 15.1.2013 – 9 AZR 430/11, ZTR 2013, 312; zum Schichtdienst: BAG v. 19.1.2016 – 9 AZR 608/14, NZA 2016, 1488. 45 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 26 TVöD Rz. 160; Fritz, ZTR 2006, 2 (3). 46 Burger/Nollert-Borasio, § 26 TVöD/TV-L Rz. 28.

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§ 15 Rz. 15.14

Urlaub

Abs. 1 BGB gerichtet ist, ist vor der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses nach dem Urteil des BAG vom 16.5.2017 nicht zulässig47. Die gerichtliche Durchsetzung eines abgelehnten Urlaubsantrags kann vor den Arbeitsgerichten geltend gemacht werden. Allerdings ist die Geltendmachung von zukünftigen Urlaubsgewährungen nach § 259 ZPO nur bei einem bereits entstandenen Urlaubsanspruch möglich48. 4. Urlaubsübertragung

15.15 Wenn der Beschäftigte den ihm zustehenden Urlaub nicht geltend macht, erlischt der Anspruch auf Urlaub grundsätzlich am Ende des Kalenderjahres49. Der TVöD trifft anders als § 47 Abs. 7 BAT keine eigenständige Regelung darüber, ob eine Übertragung des Urlaubs in das Folgejahr möglich ist50. Gemäß § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG ist eine Übertragung möglich, wenn dringende betriebliche Gründe oder Gründe in der Person des Arbeitnehmers dies rechtfertigen51. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es keinen zwingenden Anspruch auf Übertragung des Urlaubs in das nächste Jahr gibt52. Falls keine Gründe vorliegen, die eine Übertragung der Urlaubsansprüche in das nächste Jahr rechtfertigen, verfällt der Urlaubsanspruch ersatzlos53. Ermöglichen dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe eine Übertragung des Urlaubs in das nächste Jahr iSd. § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG, wird die Regelung des § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG durch § 26 Abs. 2 Buchst. a TVöD modifiziert. Danach genügt es, wenn der Urlaub bis zum 31. März angetreten wird (§ 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG: „genommen“), die vollständige Abwicklung kann dann in den nächsten Monat hineinreichen54. Ist die Urlaubsinanspruchnahme kurz vor dem 31. März wegen bis zu diesem Zeitpunkt andauernder Verhinderung aus Gründen der Arbeitsunfähigkeit oder aus betrieblichen/dienstlichen Gründen nicht möglich, findet eine weitere Übertragung statt mit einer Frist bis zum 31. Mai. Wird hingegen der Urlaub bis zum 31. März angetreten und tritt dann ein urlaubsverhinderndes Ereignis (zB Krankheit) ein, gilt dieser Aufschub nicht und der Urlaub verfällt, weil die Tarifvertragsparteien eine bis zum 31. März andauernde Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitsverhinderung vorausgesetzt haben55. Sowohl beim Bund als auch in einigen Bundesländern bestehen indes Regelungen, die vorsehen, dass die Übertragungsfristen des Beamtenrechts Anwendung finden56. So gilt für 47 BAG v. 16.5.2017 – 9 AZR 572/16, NZA 2017, 1056; zur unzureichenden Begründung einer Urlaubsablehnung aufgrund einer Prognoseentscheidung der Urlaubsjahresplanung der vergangenen Jahre LAG Köln v. 8.7.2015 – 11 SaGa 11/15, ArbR 2016, 48. 48 BAG v. 27.6.2017 – 9 AZR 120/16, NZA 2017, 1215; v. 22.10.2014 – 5 AZR 731/12, BAGE 149, 343. 49 BAG v. 28.11.1990 – 8 AZR 570/89, NZA 1991, 423; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 26 TVöD Rz. 100, 700 ff.; Conze/Karb/Wölk, Urlaub Rz. 3361. 50 Fritz, ZTR 2006, 2 (4). 51 Dazu Neumann/Fenski/Kühn, § 7 BUrlG Rz. 81 ff. 52 BAG v. 23.1.1996 – 9 AZR 901/94, BB 1996, 964; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 26 TVöD Rz. 702; Fritz, ZTR 2006, 2 (4). 53 BAG v. 23.1.1996 – 9 AZR 901/94, BB 1996, 964; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 26 TVöD Rz. 700. 54 Burger/Nollert-Borasio, § 26 TVöD/TV-L Rz. 46. 55 BAG v. 19.3.1996 – 9 AZR 67/95, NZA 1996, 942; Bredemeier/Neffke/Cerff, § 26 TVöD/TV-L Rz. 38. 56 Conze, ZTR 2013, 363 (365).

460

Grimm

Erholungsurlaub

Rz. 15.16a § 15

Beamte des Bundes § 7 der Erholungsurlaubsverordnung (EUrlV), nach dessen Abs. 2 der Urlaub auch ohne Vorliegen besonderer Gründe – vorbehaltlich des Abs. 3 – bis zum Ende des Folgejahres genommen werden kann57. Auch für die Tarifbeschäftigten des Landes NRW gilt in entsprechender Anwendung des § 19 Abs. 2 der Freistellungs- und Urlaubsverordnung NRW (FrUrlV NRW) ein Übertragungszeitraum von 15 Monaten58. In Niedersachsen und Hessen müssen die Tarifbeschäftigten ihren Erholungsurlaub entsprechend den beamtenrechtlichen Vorschriften spätestens bis zum 30. September des Folgejahres antreten59. Die Übertragung des Urlaubs bedarf keiner Form und auch keiner Mitwirkung des Beschäftigten. Sie vollzieht sich von selbst und wird dem Urlaub des nachfolgenden Jahres „hinzugerechnet“60.

15.16

Nach einem Vorlagebeschluss des BAG61 stellte der EuGH am 6.11.2018 fest, dass ein automatischer Verfall von Urlaubsansprüchen zum Jahresende gegen vorrangiges Europarecht verstößt. § 7 Abs. 3 BUrlG sei mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie mit Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta nicht zu vereinbaren62. In einer Serie von Urteilen hat sich das BAG am 19.2.2019 der Rechtsprechung des EuGH angeschlossen63. Danach muss der Arbeitgeber einem Arbeitnehmer auch weiterhin nicht von sich aus Urlaub gewähren. Allerdings kommt dem Arbeitgeber die Initiativlast für die Umsetzung eines Urlaubsanspruchs zu. Dies hat zur Folge, dass der Arbeitgeber seine Arbeitnehmer auf den möglichen Verfall des Urlaubsanspruches mit Ablauf eines bestimmten (Übertragungs-) Zeitraums ausdrücklich hinweisen muss. Erst die Erfüllung dieser Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers versetzt den Arbeitnehmer in die Lage, seinen Urlaub auch tatsächlich zu nehmen. Nur dies führt zur Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG auf das Kalenderjahr. Der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmer aber weiterhin nicht zwingen, Urlaub in Anspruch zu nehmen, was der EuGH klargestellt hat64.

57 Erholungsurlaubsverordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.11.2004 (BGBl. I S. 2831), die zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 3.12.2015 (BGBl. I S. 2163) geändert worden ist. 58 Gemäß § 19 Abs. 2 FrUrlV NRW bleibt nach § 20a FrUrlV NRW eine Urlaubsansparung möglich. 59 Näher dazu Conze, ZTR 2013, 363 (365). 60 BAG v. 9.8.1994 – 9 AZR 384/92, NZA 1995, 174 (175). 61 BAG v. 13.12.2016 – 9 AZR 541/15 (A), NZA 2017, 271; dazu Mehrens/Witschen, EuZA 2019, 326 (330). 62 EuGH v. 6.11.2018 – C-619/16 (Kreuzinger), NZA 2018, 1612 (1616) = MDR 2018, 1445; v. 6.11.2018 – C-684/16 (Max-Planck-Gesellschaft), NZA 2018, 1474; dazu ausführlich Powietzka, BB 2019, 52 (54 ff.); Rudkowski, NJW 2019, 476 ff.; bereits ähnlich EuGH v. 29.11.2017 – C-214/16 (King), NZA 2017, 1591, unter Verweis auf EuGH v. 12.6.2014 – C-118/13 (Bollacke), NZA 2014, 651; dazu Bayreuther, NZA 2018, 24 (25 f.). 63 BAG v. 19.2.2019 – 9 AZR 423/16, NZA 2019, 977 und BAG v. 19.2.2019 – 9 AZR 541/15, NZA 2019, 992, dazu Arnold, ArbRAktuell 2019, 119; BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 881/16, DB 2019, 2191 (Laskawy/Lomb); bereits zuvor LAG Berlin-Brandenburg v. 12.6.2014 – 21 Sa 221/14, BB 2014, 2554; LAG München v. 6.5.2015 – 8 Sa 982/14, ZTR 2016, 35; LAG Köln v. 22.4.2016 – 4 Sa 1095/15, NZA-RR 2016, 466. 64 EuGH v. 6.11.2018 – C-619/16 (Kreuzinger), MDR 2018, 1445 = NZA 2018, 1612; v. 6.11.2018 – C-684/16 (Max-Planck-Gesellschaft), NZA 2018, 1474; Bonanni/Niklas, ArbRB 2019, 208 (211). Dies hatte das LAG Berlin-Brandenburg v. 12.6.2014 – 21 Sa 221/14, NZA-RR 2014, 631 anders gesehen.

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15.16a

§ 15 Rz. 15.16b

Urlaub

15.16b Möchte ein Arbeitgeber in Zukunft von einem sicheren Verfall der Urlaubsansprüche ausgehen können, muss er eine konkrete und transparente Mitteilung gegenüber seinen Arbeitnehmern tätigen65. Hierfür genügt die Textform66. Sie kann also zB per E-Mail erfolgen67. Abstrakte Angaben, etwa im Arbeitsvertrag, in einem Merkblatt bzw. Rundschreiben an alle Arbeitnehmer oder in einer Betriebsvereinbarung erfüllen die Anforderungen an eine konkrete und transparente Unterrichtung nicht. Eine Erklärung, mit der der Arbeitgeber einen Urlaubsantrag genehmigt, ist regelmäßig allein auf die Erfüllung des Urlaubsanspruchs gerichtet. Die Angaben zu „vorhandenen“ und „verbleibenden“ Urlaubstagen in einem Formular zur Beantragung von Urlaub haben grds. allein eine Hinweis- und Dokumentationsfunktion, und damit nicht den Charakter einer Mitteilung im Sinne einer Urlaubsaufforderung oder einer Willenserklärung im Sinne eines deklaratorischen oder konstitutiven Schuldanerkenntnisses68.

15.16c Die Unterrichtung muss mindestens einmal jährlich so erfolgen, dass die Arbeitnehmer genügend Zeit haben, über den Urlaub zu disponieren69. Die Initiativlast gilt auch für den übertragenden Urlaub aus vorangegangenen Kalenderjahren gemäß § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG70 und den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Arbeitnehmer nach § 208 SGB IX71. Das zukünftige uneingeschränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Urlaubsjahren lässt sich nach Auffassung des BAG dadurch verhindern, dass die Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus den zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachgeholt werden72. Deshalb muss der Arbeitgeber die noch offenen Urlaubsansprüche aus den vorangegangenen Kalenderjahren ermitteln73. Dabei sind – folgend dem Vorschlag von Bayreuther74 – die nachfolgenden Inhalte75 aufzunehmen: 65 Arnold, ArbRAktuell 2019, 119; Powietzka, BB 2019, 52 (56). 66 So Bayreuther, NZA 2019, 945; Bonanni/Niklas, ArbRB 2019, 208 (210). 67 Bei der Übersendung per E-Mail sollte diese mit „Wichtig“ markiert und mit einer Lesebestätigung versehen werden. Geht diese nicht ein, sollte eine Zugangsbestätigung eingeholt werden. Ohne E-Mail-Anschluss des Arbeitnehmers muss der Zugang nach den üblichen Regelungen sichergestellt werden. 68 BAG v. 21.5.2019 – 9 AZR 579/16, BB 2019, 2611 bei Rz. 42 der Gründe. 69 Bayreuther, NZA 2019, 945 (946). 70 So konsequent das LAG Köln v. 9.4.2019 – 4 Sa 242/18, NZA-RR 2019, 455; zustimmend Rudkowski, NZA-RR 2019, (455); Bonanni/Niklas, ArbRB 2019, 208 (210). Offen ist noch, wie weit in die Vergangenheit Urlaubsansprüche aus vergangenen Jahren geltend gemacht werden können, Korff, EWiR 2019, 539 (540). Da es sich um einen Geldanspruch handelt, gelten Verjährungsund Verfallfristen, wobei hier die Frage des Kenntnisbeginns relevant ist. Dazu wird man auf die Rechtsprechung des EuGH (v. 6.11.2018 – C-619/16 [Kreuzinger], NZA 2018, 1612 (1616); v. 6.11.2018 – C-684/16 [Max-Planck-Gesellschaft], NZA 2018, 1474) bzw. (aller-)spätestens des BAG v. 19.2.2019 – 9 AZR 541/15, NZA 2019, 982 abzustellen haben. 71 LAG Niedersachsen v. 16.1.2019 – 2 Sa 567/18, ArbRB 2019, 169; Bonanni/Niklas, ArbRB 2019, 208 (210). 72 Will man dies wegen der Menge des konkret bestehenden Urlaubs nicht mehr in diesem Jahr, sollte das spätestens zu Beginn des neuen Jahres (also im nächsten Jahr: 2020) nachgeholt werden. 73 Zutreffend Rudkowski, NZA-RR 2019, (455). 74 Bayreuther, NZA 2019, 945 ff. 75 Eine Musterformulierung aus der Praxis des Verfassers findet sich unter https://www.arbrb.de/ blog/2019/08/07/urlaub-richtig-gemacht-2-teil-das-musterschreiben/, abgerufen am 5.9.2019.

462

Grimm

Erholungsurlaub

Rz. 15.17 § 15

– Eine individualisierte Information über die Zahl der dem Arbeitnehmer zustehenden Urlaubstage für ein bestimmtes – das laufende – Kalenderjahr, – die Aufforderung, den Urlaub so rechtzeitig zu beantragen, dass er noch im laufenden Urlaubsjahr bzw. einem arbeits- oder tarifvertraglichen Übertragungszeitraum genommen werden kann, – ein unmissverständlicher – „klarer“ – Hinweis darauf, dass der Urlaub ersatzlos entfällt, wenn er innerhalb des Bezugszeitraums nicht genommen wird und – die Mitteilung sollte zu Beginn des Kalenderjahres erfolgen (das BAG schlägt dies vor). Hat ein Arbeitnehmer im Jahresverlauf über seinen Urlaub nicht disponiert, muss eine weitere Unterrichtung erfolgen. Idealerweise sollte eine weitere Unterrichtung zu Beginn des dritten Quartals erfolgen76. Stellt der Arbeitgeber den Bestand des Arbeitsverhältnisses durch Ausspruch einer Kündigung in Abrede, bedarf es zur Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten einer Erklärung, er sei bereit, dem Arbeitnehmer auch im gekündigten Arbeitsverhältnis bezahlten Urlaub zu gewähren77.

15.16d

Zwar ist die Rspr. von EuGH und BAG nur auf die „gemäß Unionsrecht zustehenden Urlaubstage“ anwendbar. Das Hinweiserfordernis gilt also zunächst hinsichtlich des gesetzlichen Mindesturlaubs78. Allerdings wendet das BAG die Grundsätze für den gesetzlichen Urlaub dann auf den arbeits- oder tarifvertraglichen Urlaub an, wenn nichts anderes von den Tarif- oder Arbeitsvertragsparteien ausdrücklich und mit eigenständigem Regelungswillen vereinbart ist79. Die Mittteilung sollte sich daher auch – deutlich – auf den vertraglichen Urlaub erstrecken80. Die Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes haben die Mitwirkungsobliegenheiten der Arbeitsvertragsparteien nicht von den gesetzlichen Vorgaben abweichend geregelt, so dass die dargestellten Grundsätze für den tariflichen Mehrurlaub des TVöD wie TV-L gleichermaßen gelten81.

15.16e

5. Verfall des Urlaubs bei Dauererkrankung a) Verfall des gesetzlichen Mindesturlaubs Das BAG hat am 24.3.2009 – infolge der Entscheidung des EuGH in der Sache „SchultzHoff“82 – unter ausdrücklicher Aufgabe der bisherigen Auslegung von § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG festgestellt, dass Ansprüche auf Abgeltung des gesetzlichen Teil- oder Vollurlaubs nicht erlöschen, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungs76 So zutreffend Bayreuther, NZA 2019, 945 (946). 77 BAG v. 19.2.2019 – 9 AZR 321/16, NZA 2019, 1043 (1046) = DB 2019, 2247 (Weber). 78 OVG Nordrhein-Westfalen v. 18.3.2019 – 6 A 2122/17, juris Rz. 96 f. = FD-ArbR 2019, 415856; Bonanni/Niklas, ArbRB 2019, 208 (211). 79 BAG v. 19.2.2019 – 9 AZR 423/16, NZA 2019, 977 (982); Bayreuther, NZA 2019, 945 (948). Daher sollte der Arbeitsvertrag – wenn keine günstigere tarifvertragliche Regelung getroffen ist – „deutlich“ regeln, dass der vertragliche Mehrurlaub zum Kalenderjahr verfällt, unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten entsprochen hat. 80 Bayreuther, NZA 2019, 945 (948). 81 Für den TVöD: BAG v. 19.2.2019 – 9 AZR 541/15, NZA 2019, 982 (984); für den TV-L BAG v. 21.5.2019 – 9 AZR 259/18, NZA 2019, 1365 (1367), Rz. 21. 82 EuGH v. 20.1.2009 – C 350/06 (Schultz-Hoff), ArbRB 2009, 30 = NZA 2009, 135.

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15.17

§ 15 Rz. 15.17

Urlaub

zeitraums arbeitsunfähig erkrankt ist und deshalb seinen Urlaub nicht nehmen kann83. Mit Urteil vom 24.11.2011 („KHS“) hat der EuGH seine Rechtsprechung präzisiert und entschieden, dass es grundsätzlich zulässig ist, ein Ansammeln von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub aufgrund einer mehrere Bezugszeiträume währenden Arbeitsunfähigkeit einzuschränken und einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten als zulässig erachtet84. Daran hat das BAG angeknüpft und § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG dahingehend ausgelegt, dass gesetzliche Urlaubsansprüche generell nicht vor Ablauf eines Zeitraums von 15 Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahres erlöschen, wenn der Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen an seiner Arbeitsleistung gehindert war. Gesetzliche Urlaubsansprüche gehen in diesen Fällen also stets erst mit Ablauf des 31. März des zweiten Folgejahres unter85. § 26 Abs. 2 Buchst. a TVöD und die ggf. entsprechend anzuwendenden beamtenrechtlichen Übertragungsfristen gelten insoweit nicht86. Nach der Rechtsprechung des BAG ist der Schwerbehindertenzusatzurlaub nach § 125 SGB IX aF (nun in § 208 SGB IX geregelt) an das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubsanspruchs gebunden, so dass das Vorgesagte für diesen Urlaubsanspruch entsprechend gilt87. Nach – zutreffender – Auffassung des LAG Hamm88 besteht bei langfristig erkrankten Arbeitnehmern keine Belehrungspflicht entsprechend der in Rz. 15.16 dargestellten Rspr. des BAG dahingehend, dass Urlaubsansprüche bei Nichtinanspruchnahme bis zum 31.12. des Kalenderjahres oder bis zum 31.3. des Folgejahres im Fall der Übertragung erlöschen. Diese Pflicht besteht erst wieder nach Wiedergenesung, bezogen auf die dann (noch) bestehenden konkreten Ansprüche des Arbeitnehmers. Eine solche Belehrung wäre falsch, da im Falle der Krankheit der 15-monatige Übertragungszeitraum89, nach dem der Urlaubsanspruch in jedem Fall erlischt, gilt. Zumindest ist die Unterrichtung inkonkret, da nicht feststeht, zu welchem Zeitpunkt welche Urlaubsansprüche bestehen. Zudem kann der Arbeitgeber wegen der Erkrankung gar nicht auf die Urlaubsinanspruchnahme hinwirken. b) Verfall des tariflichen Mehrurlaubs

15.18 Das BAG hat klargestellt, dass die richtlinienkonforme Fortbildung des § 7 Abs. 3 und Abs. 4 BUrlG nur die gesetzlichen Mindesturlaubsansprüche betrifft90. Zwar sei grundsätzlich von einem „Gleichlauf“ der gesetzlichen und übergesetzlichen tarifvertraglichen Ansprüche auszugehen. Bei Vorliegen deutlicher Anhaltspunkte könne jedoch auch ein abweichender Rege83 84 85 86 87 88

BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, ArbRB 2009, 159 = NZA 2009, 538. EuGH v. 22.11.2011 – C-214/10, ArbRB 2011, 228 (KHS), NZA 2011, 1333. BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, ArbRB 2013, 4 = NZA 2012, 1216 (1221). Conze, ZTR 2013, 363 (366). BAG v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, ArbRB 2010, 103 = NZA 2010, 810 (816 f.) mwN. LAG Hamm v. 24.7.2019 – 5 Sa 676/19, ArbRB 2019, 298 (Grimm) = öAT 2019, 215 (Lützeler), Revision anhängig unter BAG – 9 AZR 401/19. Im konkreten Fall wären die Urlaubsansprüche aus 2017 auch bei einer Belehrung erloschen, da auch nach den hier anwendbaren § 1 Abs. 5 Satz 5 AVR Caritas die Ansprüche der seit 2017 dauererkrankten Klägerin nach Ablauf von 15 Monaten erloschen waren. 89 BAG v. 11.6.2013 – 9 AZR 855/11, AP Nr. 67 zu § 7 BUrlG = öAT 2013, 232 (Lützeler). 90 BAG v. 4.5.2010 – 9 AZR 183/09, ArbRB 2010, 263 = NZA 2010, 1011 (1012 f.); v. 12.4.2011 – 9 AZR 80/10, ArbRB 2011, 296 = NZA 2011, 1050 (1052); v. 22.5.2012 – 9 AZR 618/10, ArbRB 2012, 298 = NZA 2012, 987 (988); so auch EuGH v. 3.5.2012 – C-337/10 (Neidel), ZTR 2012, 365 (367).

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Erholungsurlaub

Rz. 15.19 § 15

lungswille der Tarifvertragsparteien angenommen werden91. Mit Urteil vom 22.5.2012 hat der 9. Senat entschieden, die Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes der Länder hätten mit § 26 Abs. 2 Buchst. a TV-L ein eigenständiges, vom BUrlG abweichendes Fristenregime geschaffen. Dies ergebe sich zum einen aus der Regelung in Satz 1 der Vorschrift, wonach bereits der Urlaubsantritt innerhalb der ersten drei Monate des Folgejahres ausreicht und zum anderen aus der Übertragungsfristverlängerung bis zum 31. Mai bei Arbeitsunfähigkeit oder Bestehen betrieblicher/dienstlicher Gründe in Satz 292. Da der TV-L und der TVöD insoweit inhaltsgleiche Bestimmungen enthalten, gilt diese Rechtsprechung auch für den Geltungsbereich des TVöD. Abweichungen ergeben sich für die Tarifbeschäftigten des Bundes und die einiger Bundesländer darüber hinaus auch aus der Anwendbarkeit der jeweils geltenden beamtenrechtlichen Regelungen zur Urlaubsübertragung93 (s. Rz. 15.15). Damit verfällt der tarifliche Mehrurlaub auch bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit bereits mit Ablauf der jeweils geltenden tarifvertraglichen bzw. beamtenrechtlichen Übertragungsfrist, während der gesetzliche Mindesturlaub stets erst nach Ablauf von 15 Monaten verfällt94. 6. Urlaubsabgeltung Nachdem die tarifliche Regelung in § 51 BAT ersatzlos gestrichen worden ist, richtet sich die Abgeltung von Urlaubsansprüchen aufgrund des grundsätzlichen Verweises in § 26 Abs. 2 TVöD/TV-L nunmehr nach § 7 Abs. 4 BUrlG95. Das gilt sowohl für den gesetzlichen Mindesturlaub als auch für den tariflichen Mehrurlaub96. Nach § 7 Abs. 4 BUrlG sind Urlaubszeiten, die wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden können, abzugelten. Zeichnet sich die baldige Beendigung des Arbeitsverhältnisses ab, ist die tatsächliche Gewährung des (verbleibenden) Urlaubs grundsätzlich vorrangig; eine Abgeltung soll die Ausnahme sein97. Der noch bestehende und nicht erfüllte Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers wandelt sich mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses in den Abgeltungsanspruch um, ohne dass es weiterer Handlungen des Arbeitnehmers oder Arbeitgebers bedarf98. Ein Abgeltungsanspruch entsteht nicht, wenn der Arbeitnehmer mit dem Ende des Übertragungszeitraums ausscheidet und der nicht genommene Urlaub wegen Fristablaufs erlischt99. Verlangt ein Arbeitnehmer die Abgeltung von nicht genommenem Urlaub, der aus mehreren Kalenderjahren stammt, bildet das Abgeltungsverlangen hinsichtlich eines jeden einzelnen Urlaubsjahres einen eigenen Streitgegenstand. Bei einem Anspruch des Arbeitnehmers auf Urlaub, der weniger als einen Tag beträgt, ist der Anspruch nicht auf volle Urlaubstage auf- oder abzurunden. Vielmehr bleibt es bei einem Anspruch auf einen bruchteiligen Urlaub100.

91 BAG v. 12.4.2011 – 9 AZR 80/10, ArbRB 2011, 296 = NZA 2011, 1050 (1050); v. 22.5.2012 – 9 AZR 618/10, ArbRB 2012, 298 = NZA 2012, 987 (988). 92 BAG v. 22.5.2012 – 9 AZR 618/10, ArbRB 2012, 298 = NZA 2012, 987 (988). 93 Conze, ZTR 2013, 363 (366). 94 Conze, ZTR 2013, 363 (366). 95 Conze, öAT 2013, 111 (111); Bredemeier/Neffke/Cerff, § 26 TVöD/TV-L Rz. 48. 96 BAG v. 22.5.2012 – 9 AZR 618/10, ArbRB 2012, 298 = NZA 2012, 987 (989). 97 Conze, ZTR 2013, 363 (370); Conze, öAT 2013, 111 (111); Bredemeier/Neffke/Cerff, § 26 TVöD/ TV-L Rz. 48. 98 BAG v. 20.1.1998 – 9 AZR 812/96, NZA 1998, 816 (816); v. 19.8.2003 – 9 AZR 619/02, AP Nr. 29 zu § 7 BUrlG; ErfK/Gallner, § 7 BUrlG Rz. 71. 99 BAG v. 12.3.2013 – 9 AZR 292/11, ZTR 2013, 316. 100 BAG v. 23.1.2018 – 9 AZR 200/17, NZA 2018, 653.

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465

15.19

§ 15 Rz. 15.19a

Urlaub

15.19a Auf die Art der Beendigung kommt es für die Entstehung des Abgeltungsanspruchs grundsätzlich nicht an („wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses“)101. Altersteilzeitarbeitsverhältnisse enden zum vereinbarten Endtermin und nicht bereits mit dem Übergang von der Arbeits- in die Freistellungsphase102. Art. 7 Abs. 2 RL 2003/88 verlangt nicht, dass das Ruhen des Arbeitsverhältnisses bei befristeter Erwerbsminderungsrente dessen Beendigung gleichzustellen ist, weshalb kein Anspruch auf Urlaubsabgeltung in diesem Fall besteht103.

15.19b Der Urlaubsabgeltungsanspruch ist nach der neueren Rechtsprechung des BAG ein reiner Geldanspruch104. Er entsteht mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und wird gemäß § 271 BGB sofort fällig105. Nach der Rechtsprechung des BAG ist er vererblich, wenn das Arbeitsverhältnis vor dem Tod des Arbeitnehmers aus anderen Gründen als dem Tod endet106. Endet dagegen das Arbeitsverhältnis mit dem Tod des Arbeitnehmers, sollte sich der (Rest-) Urlaubsanspruch – nach alter BAG-Rechtsprechung – nicht in einen vererbbaren Abgeltungsanspruch iSv. § 7 Abs. 4 BUrlG umwandeln, sondern erlöschen107. Im Widerspruch zu dieser Rechtsprechung ist der EuGH der Auffassung, dass den Erben eines Arbeitnehmers, welcher während des bestehenden Arbeitsverhältnisses verstirbt, ein Abgeltungsanspruch für die noch nicht genommenen Urlaubstage zusteht108.

15.19c Das BAG109 hat seine Rechtsprechung im Wege richtlinienkonformer Auslegung geändert: Verstirbt der Arbeitnehmer während des Arbeitsverhältnisses und endet dieses dadurch, haben die Erben nach § 1922 Abs. 1 BGB iVm. § 7 Abs. 4 BUrlG einen Anspruch auf Abgeltung des vom verstorbenen Arbeitnehmer nicht genommenen Urlaubs.§ 7 Abs. 4 BUrlG differenziere nicht danach, warum das Arbeitsverhältnis geendet habe. Im bestehenden Arbeitsverhältnis sei ist die Vergütungskomponente des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub fest mit dem Freistellungsanspruch verbunden. Ende das Arbeitsverhältnis, erlösche allein der Freistellungsanspruch. Die Vergütungskomponente werde durch § 7 Abs. 4 BUrlG als spezialgesetzliche Regelung des Leistungsstörungsrechts in der Gestalt des Abgeltungsanspruchs selbstständig aufrechterhalten110.

15.19d Für den Schwerbehindertenzusatzurlaub nach § 208 SGB IX gelten dieselben Regeln wie für den gesetzlichen Mindesturlaub, an dessen Schicksal er gebunden ist. Auch der Zusatz-

101 ErfK/Gallner, § 7 BUrlG Rz. 72; EuGH v. 20.7.2016 – C 341/15 (Maschek), NZA 2016, 1067; zum Urlaubsabgeltungsanspruch eines Polizeibeamten bei Eintritt in den Ruhestand BVerwG v. 31.1.2013 – 2 C 10/12, ZTR 2013, 349 = ArbRB 2013, 274 (Groeger). 102 BAG v. 10.5.2005 – 9 AZR 196/04, AP Nr. 88 zu § 7 Abgeltung; v. 16.10.2012 – 9 AZR 234/11, NZA 2013, 575 (577). 103 LAG Berlin-Brandenburg v. 16.5.2019 – 5 Sa 1709/18, BB 2019, 2164. 104 BAG v. 4.5.2010 – 9 AZR 183/09, ArbRB 2010, 263 = NZA 2010, 1011 (1013); v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, ArbRB 2012, 3 = NZA 2011, 1421 (1423); v. 13.12.2011 – 9 AZR 399/10, ArbRB 2012, 170 = NZA 2012, 514 (515); v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, ArbRB 2012, 294 = NZA 2012, 1087 (1088). 105 BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, ArbRB 2012, 3 = NZA 2011, 1421 (1424). 106 BAG v. 22.9.2015 – 9 AZR 170/14, ZTR 2016, 89; Powietzka, BB 2019, 52 (57). 107 BAG v. 20.9.2011 – 9 AZR 416/10, BAGE 139, 168; s. dazu auch Gooren/Rudkowski, NJW 2017, 1149. 108 EuGH v. 6.11.2018 – C-569/16 und C-570/16 (Stadt Wuppertal u. Willmeroth), NZA 2018, 1467; Powietzka, BB 2019, 52 (58). 109 BAG v. 22.1.2019 – 9 AZR 45/16, NZA 2019, 829 (831 f.). 110 BAG v. 22.1.2019 – 9 AZR 45/16, NZA 2019, 829 (831 f.); Bayreuther, NZA 2019, 945 (948).

466

Grimm

Arbeitsbefreiung

Rz. 15.20 § 15

urlaub ist daher abzugelten, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Übertragungszeitraums arbeitsunfähig ist111. Das gilt auch für einen vertraglichen Mehrurlaubsanspruch, wenn nicht ausdrücklich vereinbart ist, dass der vertragliche Mehrurlaub nicht vererbbar ist112. Arbeitsvertragsparteien können Urlaubsansprüche, soweit diese vier Wochen übersteigen, regeln, ohne an die Vorgaben des BUrlG oder der RL 2003/88/EG gebunden zu sein. Die Vertragsfreiheit erlaubt die Regelung, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen der Anspruch auf Abgeltung des arbeitsvertraglichen Mehrurlaubs in die Erbmasse fällt und deshalb den Erben des verstorbenen Arbeitnehmers zusteht. Durch Auslegung des Arbeitsvertrags wird ermittelt, ob und wie die Parteien von ihrer Gestaltungsbefugnis Gebrauch gemacht haben113.

15.19e

Die vom BAG entwickelten Grundsätze gelten auch für den tariflichen Mehrurlaub, wenn die Tarifvertragsparteien dem Tarifvertrag kein vom BUrlG abweichendes, eigenständiges Verständnis über den Urlaubsbegriff zugrunde gelegt, kein vollständiges Erlöschen des tariflichen Urlaubsanspruchs bei Tod des Arbeitnehmers während des Arbeitsverhältnisses angeordnet oder die Vererbbarkeit des tariflichen Mehrurlaubs nicht ausgeschlossen haben. § 26 TVöD enthält keine insoweit vom BUrlG abweichenden Regelungen, weshalb Erben Anspruch auf Urlaubsabgeltung für den Tarifurlaub nach § 26 TVöD haben114. Da sich der Abgeltungsanspruch nach dem Rechtsprechungswechsel nicht mehr von anderen Geldforderungen unterscheidet, unterliegt er auch der tariflichen Ausschlussfrist des § 37 Abs. 1 Satz 1 TVöD/TV-L115. Im Hinblick auf den Grundsatz der Universalsukzession (§ 1922 Abs. 1 BGB) muss der Erbe die tarifliche Ausschlussfrist beachten, obwohl er nicht in einem Arbeitsverhältnis zum Arbeitgeber stand und selbst nicht tarifgebunden ist116. Die Frist beginnt mit Fälligkeit des Abgeltungsanspruchs, also mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses117. Dies ist bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Tod der Todestag118. Die Geltendmachung ist zudem an die allgemeine Verjährung des § 195 BGB gebunden119.

15.19f

Der Arbeitnehmer kann – nach Aufgabe der Surrogationstheorie – auch wirksam auf den bereits entstandenen Abgeltungsanspruch verzichten120.

II. Arbeitsbefreiung Für den Wunsch eines Beschäftigten nach Arbeitsbefreiung gilt § 29 TVöD ergänzend neben den gesetzlichen Normen. Dabei haben sich die Tarifvertragsparteien an der früheren Regelung des § 52 BAT orientiert121.

111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121

BAG v. 22.1.2019 – 9 AZR 45/16, NZA 2019, 829 (831); Bayreuther, NZA 2019, 945 (949). BAG v. 22.1.2019 – 9 AZR 45/16, NZA 2019, 829 (831 f.); Bayreuther, NZA 2019, 945 (949). BAG v. 22.1.2019 – 9 AZR 328/16, NZA 2019, 835 (836). Ausdrücklich BAG v. 22.1.2019 – 9 AZR 45/16, NZA 2019, 829 (832). Vgl. BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, ArbRB 2012, 3 = NZA 2011, 1421 (1422 ff.); Conze, ZTR 2013, 363 (371); Bayreuther, NZA 2019, 945 (951). BAG v. 22.1.2019 – 9 AZR 149/17, NZA 2019, 985 (987). Conze, öAT 2013, 111 (112). BAG v. 22.1.2019 – 9 AZR 45/16, NZA 2019, 829 (832). So zu Recht Bayreuther, NZA 2019, 945 (951). BAG v. 14.5.2013 – 9 AZR 844/11, BAGE 145, 107. Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 153; Fritz, ZTR 2006, 2 (6).

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467

15.20

§ 15 Rz. 15.21

Urlaub

15.21 Gemäß § 616 BGB besteht ein Anspruch auf Befreiung von der Arbeit, wenn der Arbeitnehmer durch einen Grund, den er nicht zu vertreten hat, vorübergehend an der Verrichtung seiner Tätigkeit gehindert wird. Diese Vorschrift ist dispositives Recht122 und durch § 29 TVöD in zulässiger Weise abbedungen123. Die Tatbestände zur Arbeitsbefreiung iSd. § 616 BGB sind damit abschließend in § 29 TVöD geregelt124. Unterschiedlich gegenüber § 52 BAT sind die Fortzahlung des Entgelts nach der Bemessungsgrundlage des § 21 TVöD (§ 29 Abs. 1 Satz 1 TVöD), die Freistellung von der Arbeit bei Niederkunft der Lebenspartnerin im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a TVöD) sowie die Erweiterung der Arbeitsbefreiung für gewerkschaftliche Zwecke in § 29 Abs. 4 TVöD um die Landesfachbereichsvorstände. Daneben wurde die Dauer der Arbeitsbefreiung angehoben125.

15.22 Der Anspruch auf Freistellung von der Arbeit besteht nicht zwingend am Tag des Ereignisses selbst, muss aber im zeitlichen Zusammenhang genommen werden126. Es besteht kein Selbstbestimmungsrecht des Beschäftigten; der Vorgesetzte muss also die Befreiung von der Arbeit genehmigen.

15.23 § 29 Abs. 2 TVöD bietet keinen eigenständigen Grund für eine Befreiung von der Arbeit, sondern regelt die Entgeltfortzahlung für den Fall, dass ein Beschäftigter seinen staatsbürgerlichen Pflichten nachkommen muss. Das Entgelt wird fortgezahlt, wenn die Arbeitsbefreiung gesetzlich vorgeschrieben ist und der Beschäftigte keinen anderweitigen Anspruch auf Ersatz des Entgelts hat, § 29 Abs. 1 Satz 1 TVöD. Nicht alle Pflichten können als verbindliche staatsbürgerliche Pflichten im Sinne dieser Vorschrift verstanden werden. Pflichten nach dem Recht eines fremden Staates sowie Ehrenämter scheiden von vornherein aus127. Nur allgemeine Pflichten, die grundsätzlich jeden Staatsbürger treffen können, sind staatsbürgerliche Pflichten128. Sie können sich mittelbar aus den jeweils einschlägigen Verfahrensgesetzen ergeben, wie zB für Schöffen aus §§ 31 bis 56 GVG129. Die Mitgliedschaft in einem Gemeinderat oder in anderen Gremien einer kommunalen Gebietskörperschaft stellt nicht die Erfüllung einer staatsbürgerlichen Pflicht dar130. Gleiches gilt für dienstlich oder privat veranlasste Termine bei Ämtern, Behörden oder Gerichten. Wenn der Beschäftigte amtliche oder gerichtliche Termine in eigener Sache wahrnimmt, kann er jedoch idR eine unbezahlte Freistellung gemäß § 29 Abs. 3 Satz 2 TVöD verlangen131. Im Grundsatz ist der Beschäftigte jedoch angehalten, seine (eigenen) Pflichten außerhalb der Arbeitszeit zu verrichten132. Bei einer Ladung als Zeu-

122 BAG v. 18.1.2001 – 6 AZR 492/99, NZA 2002, 47 (48). 123 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 4. 124 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 4; Bredemeier/Neffke/Cerff, § 26 TVöD/ TV-L Rz. 3. 125 Fritz, ZTR 2006, 2 (6). 126 Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 153. 127 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 52. 128 BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 62/80, AP Nr. 60 zu § 616 BGB; Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 154. 129 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 54. Nach BAG v. 22.1.2009 – 6 AZR 78/08, ArbRB 2009, 161 = NZA 2009, 735 besteht der Anspruch nur für die in die Kernarbeitszeit fallende Tätigkeit, nicht für die Gleitzeit. 130 Burger/Nollert-Borasio, § 29 TVöD/TV-L Rz. 17. 131 Burger/Nollert-Borasio, § 29 TVöD/TV-L Rz. 17. 132 Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 154.

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Arbeitsbefreiung

Rz. 15.26 § 15

ge in einer Angelegenheit Dritter liegt die Erfüllung einer staatsbürgerlichen Pflicht vor, da kein eigenes Interesse verfolgt wird und ein Zwang zum Erscheinen besteht133. § 29 Abs. 3 Satz 1 TVöD ist eine Generalklausel, mit der in sonstigen dringenden Fällen eine Arbeitsbefreiung unter Entgeltfortzahlung für die Dauer von bis zu drei Tagen gewährt werden kann. Eine unbezahlte Freistellung ist „in begründeten Fällen“ für eine längere Zeit möglich, § 29 Abs. 3 Satz 2 TVöD. „Kurzfristig“ iSv. § 29 Abs. 3 Satz 2 ist in Anlehnung an die zum BAT geltenden Grundsätze ein Zeitraum von bis zu 14 Tagen134. Zu den „begründeten Fällen“ können nach der Protokollerklärung zu Abs. 3 Satz 2 auch solche Anlässe gehören, für die nach Abs. 1 kein Anspruch auf Arbeitsbefreiung besteht. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass Abs. 3 Satz 1 die in Abs. 1 genannten Freistellungsanlässe und -zeiträume nicht erweitern oder ergänzen kann, sondern für die von dieser restriktiven Regelung nicht genannten Tatbestände der Freistellung aus persönlichen Gründen allein die Möglichkeit einer unbezahlten Freistellung geschaffen werden sollte135.

15.24

Ein Anspruch auf Arbeitsbefreiung besteht nicht. Der Arbeitgeber hat nach billigem Ermessen (§ 315 BGB) zu entscheiden, wobei er abzuwägen hat, wie dringlich der Anlass ist und ob die Angelegenheit auch außerhalb der Arbeitszeit erledigt werden kann136. Gewerkschaftsvertretern sind für die Teilnahme an Tagungen bis zu acht Tage Arbeitsbefreiung pro Jahr unter Fortzahlung des Entgelts zu gewähren, § 29 Abs. 4 Satz 1 TVöD. Nur bei dringenden entgegenstehenden betrieblichen oder dienstlichen Gründen kann der Arbeitgeber seine Zustimmung versagen. Als Tagung kann nicht jede gewerkschaftliche Aktivität verstanden werden. Nur Zusammenkünfte, die satzungsgemäß vorgesehenen Handlungen dienen, bspw. Beschlussfassungen, sind angemessen137. Die im TVöD verwandten Begriffe bezüglich der Organisationsstrukturen beziehen sich auf die Organstruktur von ver.di, können aber sinngemäß auf entsprechende Organe anderer Gewerkschaften angewandt werden138.

15.25

Zur Teilnahme an Tarifverhandlungen mit dem Bund, der VKA oder den Mitgliedsverbänden der VKA kann eine unbegrenzte Freistellung von der Arbeit unter voller Entgeltfortzahlung verlangt werden, § 29 Abs. 4 Satz 2 TVöD. Dies schließt Reisezeiten ein. Voraussetzung ist, dass eine – zweckmäßigerweise durch Einladungsschreiben nachgewiesene – Anforderung der jeweiligen Organisation erfolgt139. Im Gegensatz zu § 29 Abs. 4 Satz 1 TVöD sind in § 29 Abs. 4 Satz 2 TVöD die entgegenstehenden dienstlichen Belange nicht erwähnt, weshalb eine Versagung der Freistellung nur schwer möglich sein wird140. Für die Teilnahme an Sitzungen von Prüfungs- und Berufsbildungsausschüssen nach dem BBiG sowie für eine Tätigkeit in Organen von Sozialversicherungsträgern kann gemäß § 29 133 BAG v. 13.12.2001 – 6 AZR 30/01, ArbRB 2002, 260 = NZA 2002, 1105 (1105 f.); Breier/Dassau/ Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 57. 134 Burger/Nollert-Borasio, § 29 TVöD/TV-L Rz. 23. 135 Burger/Nollert-Borasio, § 29 TVöD/TV-L Rz. 19. Insbesondere sollten durch § 29 Abs. 3 Satz 1 TVöD nicht die Arbeitsbefreiungstatbestände wieder eingeführt werden, die mit der Tarifänderung vom 17.7.1996 aus den Abs. 1 und 2 der Vorgängerregelung des § 29 TVöD gestrichen worden waren, Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 69.3. 136 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 70.2. 137 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 82; Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 155. 138 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 80, 80.3. 139 BeckOK TVöD, Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Müller, § 29 TVöD-AT Rz. 27. 140 BeckOK TVöD, Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Müller, § 29 TVöD-AT Rz. 27.

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15.26

§ 15 Rz. 15.26

Urlaub

Abs. 5 TVöD eine Befreiung von der Arbeit unter voller Entgeltfortzahlung gewährt werden. Der Beschäftigte hat zwar keinen Anspruch auf die Freistellung; allerdings kann die Freistellung (nur) verweigert werden, falls zwingende betriebliche oder dienstliche Gründe im Wege stehen. Mit dem Begriff der „Organe der Selbstverwaltungsträger“ sind die Selbstverwaltungsorgane der Sozialversicherungsträger gemeint, bspw. nennt § 31 SGB IV die Vertreterversammlung und den Vorstand141. Nicht erfasst sind Beiräte oder Widerspruchsausschüsse (zB §§ 86, 186 SGB IX)142.

III. Zusatzurlaub 15.27 § 27 TVöD nebst Sonderregelungen in besonderen Teilen des TVöD gewährt Beschäftigten, die ihre Arbeit in Schichtdiensten ableisten, zusätzlichen Urlaub. Im TVöD ist der in § 49 BAT enthaltene Verweis auf das Beamtenrecht entfallen und ein Zusatzurlaub für Nachtarbeit nicht mehr geregelt, außer für Beschäftigte in Krankenhäusern, § 55 TVöD BT-K143. Die Dauer des Zusatzurlaubs bemisst sich nach der Arbeitsleistung des laufenden Jahres und nicht mehr nach den Stundensalden des Vorjahres144.

15.28 Der Zusatzurlaub orientiert sich an Art und Dauer der geleisteten Schichtarbeit, § 27 Abs. 1 Buchst. a und b TVöD. Danach wird je ein Arbeitstag Zusatzurlaub gewährt für zwei ununterbrochene Monate Wechselschichtdienst oder vier zusammenhängende Monate Schichtarbeit. Wechselschichtarbeit ist in § 7 Abs. 1 Satz 1 TVöD und Schichtarbeit in § 7 Abs. 2 TVöD definiert. Schichtarbeit ist nach Ansicht der Tarifvertragsparteien nur halb so belastend wie Wechselschichtarbeit145.

15.29 Beschäftigte des Bundes, denen eine Zulage nach § 8 Abs. 5 Satz 2 TVöD oder Abs. 6 Satz 2 TVöD zusteht, erhalten für den Fall, dass sie keine ständige Wechselschicht- oder Schichtarbeit leisten, einen Arbeitstag Zusatzurlaub für je drei Monate im Jahr, in denen sie überwiegend Wechselschichtarbeit geleistet haben, oder für fünf Monate im Jahr, in denen sie überwiegend Schichtarbeit geleistet haben, § 27 Abs. 2 Buchst. a, b TVöD. Die Beschäftigten leisten keine ständige Schicht-/Wechselschichtarbeit, wenn sie nicht an allen Tagen dienstplanmäßig im Schichtturnus eingesetzt wurden146. Überwiegend im Schicht-/Wechselschichtdienst sind sie eingesetzt worden, wenn die Hälfte der Arbeit im Schicht- oder Wechselschichtdienst geleistet wurde147.

15.30 Im kommunalen Bereich existiert keine einheitliche Regelung. Beschäftigte, die annähernd so stark wie die in der Bundesregelung genannten Beschäftigten belastet werden, sollen Zusatzurlaubstage erhalten, § 27 Abs. 3 TVöD. Dies soll durch Betriebs- oder Dienstvereinbarungen vereinbart werden, da Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf Ortsebene am besten über die dort vorherrschenden Belastungen informiert sind und dementsprechend angemessen entscheiden können148.

141 142 143 144 145 146 147 148

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Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 89. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 91. Burger/Nollert-Borasio, § 27 TVöD/TV-L Rz. 1. Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg, L 4; Fritz, ZTR 2006, 2 (4). Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 147. Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 148. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 27 TVöD Rz. 25. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 27 TVöD Rz. 26.

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Sonderurlaub ohne Fortzahlung des Entgelts

Rz. 15.33 § 15

Der Zusatzurlaub kann nicht uneingeschränkt gewährt werden. Gemäß § 27 Abs. 4 Satz 1 15.31 TVöD darf der Urlaub maximal sechs Kalendertage im Jahr betragen, auch wenn ein höherer Anspruch erworben wurde. Überschreitet die Summe von Erholungsurlaub und Zusatzurlaub die in § 27 Abs. 4 Satz 2 TVöD genannte Anzahl von 35 Arbeitstagen im Kalenderjahr, verfällt der restliche Urlaubsanspruch149. Der zusätzliche Urlaubsanspruch für Schwerbehinderte nach § 208 SGB IX ist ausdrücklich von der Maximalurlaubsregelung ausgeschlossen, § 27 Abs. 4 Satz 1 TVöD. Beschäftigten, die das 50. Lebensjahr vollendet haben, steht nach § 27 Abs. 4 Satz 4 TVöD ein Anspruch auf einen weiteren Tag Urlaub zu. Für die Berechnung der Urlaubsdauer ist das Lebensjahr maßgebend, das im Laufe des Kalenderjahres vollendet wird, § 27 Abs. 4 Satz 4 Halbs. 2 TVöD. Für den Zusatzurlaub gelten – abgesehen von der Zwölftelregelung in § 26 Abs. 2 Buchst. b TVöD – die gleichen Regelungen wie für den Erholungsurlaub150.

15.32

Zur Entstehung von Ersatzurlaubsansprüchen für den Anspruch auf Zusatzurlaub gemäß § 27 TVöD kommt es nur dann, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub rechtzeitig vor seinem Untergang beim Arbeitgeber verlangt und dieser dadurch in Verzug gesetzt wird. Diese Geltendmachung ist als Voraussetzung für das Entstehen eines Anspruchs auf Ersatzzusatzurlaub auch bei einer endgültigen und ernsthaften Weigerung des Arbeitgebers zur Anspruchserfüllung erforderlich. Der Schuldnerverzug setzt einen vollwirksamen und durchsetzbaren Anspruch voraus, welcher nicht gemäß § 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB entbehrlich wird151.

IV. Sonderurlaub ohne Fortzahlung des Entgelts Bei Vorliegen wichtiger persönlicher Gründe kann der Beschäftigte auf Antrag Sonderurlaub 15.33 ohne Fortzahlung des Entgelts erhalten (§ 28 TVöD), sofern er das Vorliegen des wichtigen Grundes darlegt und auf Verlangen des Arbeitgebers glaubhaft macht152. Der TVöD definiert den Begriff „wichtiger Grund“ nicht. Hauptgründe für die Inanspruchnahme von Sonderurlaub sind zB die Erfüllung familiärer Pflichten153 (auch Pflege, vgl. Rz. 15.36 f.), Berufsausbildung und Fortbildung154. Die Rechtsprechung sieht einen wichtigen Grund in der Aufnahme eines Studiums155 oder der Erreichung eines berufsqualifizierenden Abschlusses156. Die Qualifizierung muss nicht im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit stehen157. Auch die Ableistung eines freiwilligen sozialen Jahres und die Beurlaubung zur Übernahme von Aufgaben der Entwicklungshilfe sollen einen solchen Grund darstellen158. Ein Rechtsanspruch

149 Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 149. 150 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 27 TVöD Rz. 31; Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 149. 151 BAG v. 23.11.2017 – 6 AZR 43/16, ZTR 2018, 197. 152 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 28 TVöD Rz. 1; ausführlich Bredemeier, öAT 2016, 182 ff. 153 LAG Hessen v. 14.12.1990 – 13 SaGa 1248/90, ZTR 1991, 424 hatte den Wunsch einer Arbeitnehmerin, ihre im Ausland lebenden Kinder dort zu betreuen, nicht als genügend angesehen; dazu Bredemeier/Neffke/Cerff, § 28 TVöD/TV-L Rz. 8. 154 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 28 TVöD Rz. 18 ff. 155 BAG v. 25.1.1994 – 9 AZR 540/91, ZTR 1994, 247. 156 BAG v. 9.6.1998 – 9 AZR 63/97, ZTR 1999, 35. 157 BAG v. 30.10.2001 – 9 AZR 426/00, ArbRB 2002, 159 = ZTR 2002, 337. 158 Bredemeier/Neffke/Cerff, § 28 TVöD/TV-L Rz. 10.

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§ 15 Rz. 15.33

Urlaub

auf Erteilung des Urlaubs besteht nicht159. Der Arbeitgeber muss die Entscheidung über die Gewährung und die Dauer des Sonderurlaubs nach billigem Ermessen treffen. Dabei sind die Belange des Beschäftigten gegen die des Arbeitgebers abzuwägen (§ 315 BGB)160. Liegt ein wichtiger Grund vor, ist der Entscheidungsspielraum des Arbeitgebers eingeengt161. Während des Sonderurlaubs ruhen die wechselseitigen Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis162. Darüber und über etwaige Folgen für die Zusatzversorgung ist der Arbeitnehmer vor Bescheidung des Antrags durch den Arbeitgeber zu unterrichten. Eine Dokumentation in der Personalakte ist zweckmäßig.

15.34 Mit Urteil vom 6.5.2014 hatte das BAG entschieden, dass auch während eines vereinbarten (unbezahlten) Sonderurlaubs gesetzliche Urlaubsansprüche entstehen, welche nicht gemäß § 26 Abs. 2 Buchst. c TVöD gekürzt werden dürfen163. An dieser viel kritisierten Rechtsprechung164 hält das BAG seit dem 19.3.2019 zu Recht nicht mehr fest165. Danach werden Zeiten des unbezahlten Sonderurlaubs (beispielsweise in einem Sabbatical im gesamten Kalenderjahr166) bei der Berechnung des gesetzlichen Mindesturlaubs nicht berücksichtigt. Begründet wird dieses Ergebnis insbesondere mit dem Ruhen der wechselseitigen Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis im Zeitraum des gewährten Sonderurlaubs167. Erstreckt sich der Sonderurlaub nur auf einen Teil des Kalenderjahres, muss der Urlaubsanspruch nach Zeitabschnitten berechnet werden168. Der Zeittraum des Sonderurlaubs ist bei der Berechnung des Urlaubsanspruchs mit „null“ Arbeitstagen in Ansatz zu bringen (s. zur Berechnung Rz. 15.12). Das gilt auch für Sonderurlaub nach der tariflichen Regelung des § 26 Abs. 2 Buchst. c TVöD169. Diese Grundsätze gelten auch für die Freistellungsphase der Altersteilzeit im Blockmodell, weshalb kein Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub entsteht170. 159 BAG v. 6.5.2014 – 9 AZR 678/12, ZTR 2014, 534; Dassau/Langenbrinck, TVöD, S. 144; Fritz, ZTR 2006, 2 (6). 160 Vgl. BAG v. 30.10.2001 – 9 AZR 426/00, ArbRB 2002, 159 = ZTR 2002, 337; Bremecker/Hock/ Klapproth/Kley, TVöD, S. 150; Bredemeier, öAT 2016, 182 (183). 161 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 28 TVöD Rz. 143 f. 162 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 28 TVöD Rz. 172; Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, TVöD, S. 151, Bredemeier, öAT 2016, 182 (183). 163 BAG v. 6.5.2014 – 9 AZR 678/12, ZTR 2014, 534; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 28 TVöD Rz. 2, 174. 164 Beispielsweise Korinth, ZTR 2014, 691 (693 f.). 165 BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 315/17, BB 2019, 2493 (2493); BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 406/17, NZA 2019, 1435 (1439) = ZTR 2019, 553 (556); zustimmend Thüsing/Denzer/Beden, DB 2019, 1445 (1447). 166 Bayreuther, NZA 2019, 945 (949). 167 Der Urlaubsanspruch beruht also auf der Prämisse, dass der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat. Durchbrochen werden kann dieser Grundsatz nur durch Tarifverträge (§ 13 BUrlG) oder Gesetze (wie bei der Entgeltfortzahlung) oder nach europäischem Recht (Beschäftigungsverbote wg Mutterschutz, EuGH v. 18.3.2004 – C-342/01, NZA 2004, 535; zur Krankheit: EuGH v. 20.1.2009 – C-350/06 bzw. C-520/06, NZA 2009, 135), zutreffend Sura DB 2019, 2135. 168 BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 315/17, BB 2019, 2493 (2493). 169 Für § 26 Abs. 2 Buchst. c TV-L ausdrücklich: BAG v. 21.5.2019 – 9 AZR 259/18, NZA 2019, 1365 (1366). 170 BAG v. 24.9.2019 – 9 AZR 481/18, ArbRAktuell 2019, 508 (Arnold), Vorinstanz: LAG Düsseldorf v. 13.7.2018 – 6 Sa 272/18, NZA-RR 2018, 648 (649) m. Anm. Glatzel; LAG Köln v. 13.12.2018 – 7 Sa 269/18, ZTR 2019, 517; Bayreuther, NZA 2019, 945 (949); Thüsing/Denzer/Beden, DB 2019, 1445 (1450); aA Hamann, RdA 2019, 137 (146).

472

Grimm

Sonstige Regelungen

Rz. 15.35 § 15

V. Kürzung des Urlaubs in der Elternzeit Der gesetzliche Urlaubsanspruch nach §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG besteht im Ausgangspunkt auch für den Zeitraum der Elternzeit. Das Fristenregime des § 7 Abs. 3 BEEG findet während der Elternzeit keine Anwendung, weil die gesetzlichen Sonderregelungen in § 17 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 BEEG insoweit vorgehen.

15.34a

Der Urlaub kann jedoch vom Arbeitgeber nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG gekürzt werden. Diese Vorschrift steht im Einklang mit dem Unionsrecht (Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG bzw. § 5 Nr. 2 der überarbeiteten Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub im Anhang der RL 2010/18/EU)171. Die Kürzung erfolgt durch eine empfangsbedürftige rechtsgeschäftliche Erklärung. Diese kann standardmäßig mit der Elternzeitbewilligung erfolgen172. Es genügt (zur Not), dass – abweichend vom Urlaubsverlangen des Arbeitnehmers – nur der gekürzte Urlaub gewährt wird173. Es empfiehlt sich gleichwohl dringend eine ausdrückliche Erklärung, deren Zugang nachgewiesen werden kann. Eine konkludente Kürzung liegt nicht darin, dass die Entgeltabrechnung eine bestimmte – gekürzte – Zahl von Urlaubstagen ausweist, da es sich bei der Entgeltabrechnung lediglich um eine Wissenserklärung handelt174.

15.34b

Die Abgabe der Kürzungserklärung ist nicht vor der Erklärung des Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin über die Inanspruchnahme aufgrund einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung zulässig175. Sie besteht bis längstens zu Beendigung des Arbeitsverhältnisses176. Die Kürzung kann also frühestens erfolgen, wenn der Arbeitnehmer erklärt, Elternzeit in Anspruch zu nehmen177.

VI. Sonstige Regelungen 1. Bildungsurlaub Ein Anspruch auf Bildungsurlaub ergibt sich aus dem TVöD nicht. Zu beachten sind die Landesgesetze zum Bildungsurlaub178, mit denen den Beschäftigten die Teilnahme an Ver-

171 So zunächst der EuGH v. 4.10.2018 – C. 12/17, NZA 2019, 1323 (1324); folgend BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 495/17, NZA 2019, 1136 (1138), auch mit praktischen Hinweisen zur ordnungsgemäßen Kürzungserklärung; zustimmend Bayreuther, NZA 2019, 945 (949). 172 Zutreffend Butz/Bodendieck, DB 2019, 2014. 173 BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 362/18, NZA 2019, 1141 (1142) = DB 2019, 2301 (Wißler/Fahron). 174 BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 495/17, NZA 2019, 1136 (1138); folgend Schewiola, ArbRB 2019, 264 (265). 175 BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 495/17, NZA 2019, 1136 (1138). AA noch ErfK/Gallner, § 17 BEEG Rz. 4. 176 BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 495/17, NZA 2019, 1136 (1138); ErfK/Gallner, § 17 BEEG Rz. 13, weil dann nach Aufgabe der Surrogatstheorie ein reiner Urlaubsabgeltungsanspruch besteht. 177 BAG v. 19.3.2019 – 9 AZR 495/17, NZA 2019, 1136 (1138) = ArbRB 2019, 264 (Schewiola); offengelassen noch von Marquardt/Radina, ArbRB 2018, 220 (221). Anders noch LAG Hamm v. 23.1.2019 – 5 Sa 951/18, ArbR 2019, 471 zu Ziff. I § 1 Abs. 6 Satz 5 der Anlage 14 zu den AVR, wonach sich der Urlaubsanspruch für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit ohne Teilzeitbeschäftigung und eines Sonderurlaubs (automatisch) jeweils um ein Zwölftel mindert. 178 S. die Übersicht bei Zerbe in Tschöpe, Teil 2 C Rz. 19.

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473

15.35

§ 15 Rz. 15.35

Urlaub

anstaltungen der politischen Bildung und der beruflichen Weiterbildung ermöglicht werden soll179. Die Veranstaltungen müssen zur politischen oder beruflichen Weiterbildung geeignet und für jedermann zugänglich sein180. Die Voraussetzungen sind unterschiedlich ausgestaltet. Für die Dauer der Veranstaltung ist das Entgelt fortzuzahlen181. 2. Urlaub und Krankengeld bei Erkrankung des Kindes

15.36 Bei schwerer Erkrankung eines Kindes, das das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, gewährt § 29 Abs. 1 Buchst. e Doppelbuchst. bb TVöD einen Urlaubsanspruch von bis zu vier Arbeitstagen im Kalenderjahr. Eine Erkrankung ist schwer, wenn die Pflege des erkrankten Kindes durch nahe Angehörige unerlässlich ist182. Voraussetzung ist, dass ein Arzt die Pflegebedürftigkeit und die Notwendigkeit der Anwesenheit des Beschäftigten zur vorläufigen Pflege bescheinigt183. Der Anspruch entfällt, wenn im laufenden Kalenderjahr ein Anspruch nach § 45 SGB V besteht oder bestanden hat184. Nach § 45 Abs. 3 Satz 1 iVm. § 45 Abs. 1 SGB V haben gesetzlich Krankenversicherte einen Anspruch auf unbezahlte Freistellung von der Arbeitsleistung für den Zeitraum, in dem sie ihr erkranktes Kind pflegen und Krankengeld beziehen. § 45 Abs. 2 SGB V begrenzt den Krankengeldanspruch in Abs. 1 auf zehn Arbeitstage pro Kind, bei alleinerziehenden Eltern auf 20 Tage185. Auch Arbeitnehmer, die nicht gesetzlich krankenversichert sind, haben nach § 45 Abs. 5 SGB V einen Anspruch auf unbezahlte Freistellung nach § 45 Abs. 3, 4 SGB V. Für in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Beschäftigte, deren Kinder nach § 10 Abs. 5 SGB V familienversichert sind, ist der Anspruch nach § 45 Abs. 3, 4 SGB V vorrangig. Da er einen längeren Zeitraum umfasst, kommt der tarifliche Anspruch in der Regel nicht zur Anwendung186. Für nicht gesetzlich versicherte Beschäftigte besteht ein unbezahlter Freistellungsanspruch in dem in § 45 SGB V geregelten Maß und daneben ein tariflich bezahlter Freistellungsanspruch gemäß § 29 Abs. 1 Buchst. e Doppelbuchst. bb TVöD187. Die Ansprüche werden nicht addiert. Ist der tarifliche Anspruch auf bezahlte Freistellung verbraucht, besteht danach der Anspruch auf unbezahlte Freistellung gemäß § 45 SGB V188.

179 Conze/Karb/Wölk, Bildungsurlaub Rz. 1143; zum Anspruch auf Bildungsurlaub für einen Yoga Kurs: LAG Berlin-Brandenburg v. 11.4.2019 – 10 Sa 2076/18, NZA-RR 2019, 409. 180 Zu den Begrifflichkeiten Zerbe in Tschöpe, Teil 2 C Rz. 21 f. 181 BVerfG v. 15.12.1987 – 1 BvR 563/85, 1 BvR 582/85, 1 BvL 974/86, 1 BvL 3/86, NZA 1988, 355; Conze/Karb/Wölk, Bildungsurlaub Rz. 1146. 182 BAG v. 11.8.1982 – 5 AZR 1082/79, AP Nr. 1 zu § 33 MTL II. 183 Burger/Nollert-Borasio, § 29 TVöD/TV-L Rz. 9; Bredemeier/Neffke/Cerff, § 29 TVöD/TV-L Rz. 22. 184 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 34. 185 Seit dem 1.1.2015 finden sich in § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB V Angaben zur Berechnung des Krankengeldes nach § 45 Abs. 1 SGB V. 186 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 37. 187 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 37; BAG v. 8.4.2014 – 9 AZR 878/12, ZTR 2014, 715. 188 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 29 TVöD Rz. 37.

474

Grimm

Sonstige Regelungen

Rz. 15.40 § 15

3. Pflegezeitgesetz Mit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes am 1.7.2008 gewährt das Pflegezeitgesetz (PflegeZG)189 für die Pflege von nahen Angehörigen einen unabdingbaren Anspruch auf Freistellung von der Arbeit und Kündigungsschutz beginnend mit der Ankündigung, höchstens jedoch zwölf Wochen vor dem angekündigten Termin, bis zur Beendigung der Pflegezeit (§ 5 Abs. 1 PflegeZG). Eine Kündigung ist nur in besonderen Fällen mit Genehmigung der zuständigen obersten Landesbehörde zulässig (§ 5 Abs. 2 PflegeZG).

15.37

Gemäß § 2 Abs. 1 PflegeZG haben Beschäftigte das Recht, der Arbeit bis zu zehn Tage fernzubleiben, sofern dies erforderlich ist, um einen akut pflegebedürftigen nahen Angehörigen iSd. § 7 Abs. 3 PflegeZG zu versorgen oder seine Versorgung in dieser Zeit sicherzustellen. Es besteht lediglich eine Unterrichtungspflicht des Beschäftigten, eine Zustimmung des Arbeitgebers ist nicht erforderlich, § 2 Abs. 2 PflegeZG. Für Beschäftigte in Einrichtungen mit mehr als 15 Beschäftigten besteht gemäß § 3 Abs. 1 PflegeZG ein Anspruch auf vollständige oder teilweise Freistellung von der Arbeit, wenn sie einen nahen Angehörigen in häuslicher Umgebung pflegen und dies nachweisen können, § 3 Abs. 2 PflegeZG. Die Freistellung kann bis zu einer Höchstgrenze von sechs Monaten pro Angehörigem erfolgen (§ 4 Abs. 1 PflegeZG) oder vier Wochen, nachdem die häusliche Pflege beendet wurde (§ 4 Abs. 2 PflegeZG) und muss dem Arbeitgeber spätestens zehn Arbeitstage vor Beginn der Freistellung schriftlich angezeigt werden, § 3 Abs. 3 PflegeZG.

15.38

Eine Entgeltfortzahlung während der Pflegezeit erfolgt nicht. § 2 Abs. 3 Satz 1 PflegeZG macht die Entgeltfortzahlung von bestehenden tariflichen, betrieblichen oder individualvertraglichen Vereinbarungen abhängig. Seit dem 1.1.2015 ist ein Anspruch des Beschäftigten auf Gewährung von Pflegeunterstützungsgeld unter den Voraussetzungen des § 44a Abs. 3 SGB XI möglich, § 2 Abs. 3 Satz 2 PflegeZG. Für den Fall der schweren Erkrankung eines in demselben Haushalt lebenden Angehörigen oder eines Kindes, das das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, gewährt § 29 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e Doppelbuchst. aa und bb für einen bzw. vier Tage im Kalenderjahr einen bezahlten Freistellungsanspruch. Dieser soll allerdings nicht die Pflege des Erkrankten durch den Angehörigen gewährleisten, sondern vielmehr zur Überbrückung des Zeitraums dienen, bis die Pflege durch eine andere Person sichergestellt ist190, vgl. auch § 29 Abs. 1 Satz 2 TVöD. Die Pflege minderjähriger Kinder oder sonstiger pflegebedürftiger Angehöriger ist darüber hinaus – entsprechend der Vorgängerregelung in § 50 Abs. 1 BAT – ein wichtiger Grund für Sonderurlaub iSd. § 28 TVöD, der keine Entgeltfortzahlung gewährt191.

15.39

4. Familienpflegezeitgesetz Ergänzt wird das PflegeZG durch das am 1.1.2012 in Kraft getretene Familienpflegezeitgesetz (FPfZG)192. Ziel des Gesetzes ist die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und familiärer Pflege, § 1 FPfZG. Es ermöglicht eine Verringerung der wöchentlichen Arbeitszeit des Beschäftigten zur häuslichen Pflege eines pflegebedürftigen nahen Angehörigen um mindestens 15 Stunden, und zwar für eine Dauer von längstens 24 Monaten bei gleichzeitiger Aufsto189 Zum Gesetz: Oberthür/Becker, ArbRB 2009, 77 ff.; Preis/Weber, NZA 2008, 82 ff.; Preis/Nehring, NZA 2008, 729 ff. 190 Bredemeier/Neffke/Cerff, § 29 TVöD/TV-L Rz. 14. 191 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 28 TVöD Rz. 24 ff. 192 BGBl. v. 13.12.2011, BGBl. I, S. 2564.

Grimm

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15.40

§ 15 Rz. 15.40

Urlaub

ckung des Arbeitsentgelts durch den Arbeitgeber, § 2 Abs. 1 FPfZG. Ein Rechtsanspruch des Beschäftigten auf die Familienpflegezeit besteht nicht. Erforderlich ist eine schriftliche Vereinbarung mit dem Arbeitgeber, vgl. § 2a Abs. 2 Satz 1 FPfZG. Sind die Voraussetzungen der Familienpflegezeit gegeben und stehen keine betrieblichen Gründe entgegen, ist der Arbeitgeber zum Abschluss der Vereinbarung verpflichtet193.

15.41 Die während der Familienpflegezeit durch die Verringerung der Arbeitszeit entsprechend verringerte Vergütung wird vom Arbeitgeber durch die Hälfte der Differenz zwischen der bisherigen Bruttovergütung und dem Entgelt, das nach der Verringerung zu zahlen wäre, aufgestockt. Ein Beschäftigter, der seine Arbeitszeit halbiert, erhält demnach 75 % seiner bisherigen Vergütung, wobei das regelmäßige Arbeitsentgelt der letzten zwölf Monate maßgeblich ist194. Die Aufstockungsleistung kann der Beschäftigte entweder durch ein bereits bestehendes Wertguthaben iSv. § 7b SGB IV oder dadurch ausgleichen, dass er in einer sich der Familienpflegezeit anschließenden „Nachpflegezeit“ bei voller Arbeitszeit weiterhin nur die verringerte Vergütung erhält oder aber die fehlenden Arbeitszeiten nachholt195. Bei Einhaltung der Vorgaben des FPfZG hat der Arbeitgeber zur Finanzierung der Aufstockungsleistungen gegenüber dem Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben Anspruch auf ein in monatlichen Raten zu zahlendes zinsloses Darlehen, vgl. § 3 Abs. 1 FPfZG196.

15.42 Während der Inanspruchnahme der Familienpflegezeit bzw. Nachpflegezeit genießt der Beschäftigte gemäß § 2 Abs. 3 FPfZG iVm. § 5 PflegeZG Sonderkündigungsschutz.

193 Grimm in Tschöpe, Teil 2 D Rz. 93. 194 Grimm in Tschöpe, Teil 2 D Rz. 99; zur genauen Berechnung s. Schiefer/Worzalla, DB 2012, 516 (519 f.). 195 Oberthür, ArbRB 2011, 376 (377). 196 Grimm in Tschöpe, Teil 2 D Rz. 99.

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§ 16 Beendigungsvereinbarungen I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . .

16.1

4. Abdingbarkeit der Hinweispflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.30

II. Aufklärungs- und Hinweispflichten beim Abschluss von Beendigungsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . .

16.4

1. Keine allgemeine Hinweispflicht . .

16.6

2. Voraussetzungen der Hinweispflicht auf einzelne Konsequenzen . 16.7 a) Sozialrechtliche Folgen . . . . . . . . 16.9 b) Steuerrechtliche Folgen . . . . . . . . 16.12 c) Leistungen aus öffentlich-rechtlichen Zusatzversorgungskassen . 16.13 3. Rechtsfolgen bei Verletzung von Aufklärungs- und Hinweispflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gemäß § 119 BGB, Inhaltsoder Erklärungsirrtum . . . . . bb) Gemäß § 123 BGB, Täuschung/Drohung . . . . . . . . .

b) Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . 16.26

16.20 16.21 16.22

III. Aufhebungsverträge mit öffentlichen Arbeitgebern . . . . . . . . . . . . . 16.41 1. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . 16.46 2. Beteiligung des Personalrates . . . . . 16.54 3. Inhalt und Musterformulierungen . a) Beendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Freistellung . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Urlaub und Urlaubsabgeltung . . . e) Wettbewerbsverbot . . . . . . . . . . . f) Zeugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Ansprüche aus Zusatzversorgung h) Ausgleichsklausel . . . . . . . . . . . . .

16.56 16.60 16.64 16.69 16.82 16.83 16.86 16.88 16.93

16.24

Schrifttum: Bauer/Krieger/Arnold, Arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge, 9. Aufl. 2014; Bauer/Lingemann/Diller/Haußmann, Anwalts-Formularbuch Arbeitsrecht, 6. Auflage 2017; Fuhlrott, Geänderte Dienstanweisung der Agentur für Arbeit – Sperrzeitneutrale Aufhebungsverträge, NZA 2017, 225; Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht, 8. Aufl. 2018; Tschöpe, Arbeitsrecht Handbuch, 11. Aufl. 2019; Weber/Ehrich/Burmester, Handbuch der arbeitsrechtlichen Aufhebungsverträge, 5. Aufl. 2009.

I. Vorbemerkung Auch im öffentlichen Dienst werden arbeitsrechtliche Konflikte um den Ausspruch einer Kündigung oder sonstige Beendigungstatbestände häufig einvernehmlich gelöst. Deshalb können der öffentliche Arbeitgeber und der bei ihm beschäftigte Arbeitnehmer einen Auflösungsvertrag oder Aufhebungsvertrag abschließen ebenso wie einen Abwicklungsvertrag, also Beendigungsvereinbarungen abschließen1.

16.1

Anlass und Inhalt solcher Verträge sind mit denen im privaten Arbeitsrecht vergleichbar, in den meisten Punkten auch identisch. Deshalb soll an dieser Stelle darauf verzichtet werden, das Zustandekommen, die inhaltlichen Fragen, die Beseitigung solcher Verträge und deren Rechtsfolgen in materieller wie prozessualer Hinsicht darzustellen2.

16.2

1 Zur Prägung des Begriffs durch das BAG vgl. BAG v. 27.11.2003 – 2 AZR 135/02, NZA 2004, 597; LAG Rheinland-Pfalz v. 22.1.2014 – 7 Sa 431/13, ArbRB online; vgl. zur Begriffsbestimmung auch Bauer/Krieger/Arnold, A II Rz. 20 mit grafischer Übersicht über die „Phänomenologie“. 2 Vgl. zu diesen Fragen grundlegend Bauer/Krieger/Arnold, A II. Rz. 5 ff., C III. Rz. 8 ff., G II. Rz. 2 ff. und III. Rz. 31 ff. sowie H I. und II. Rz. 1, 9 ff. mwN (insbesondere zu den Rechtsfolgen in steuer-

Schulte

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§ 16 Rz. 16.3

Beendigungsvereinbarungen

16.3 Im Folgenden sollen nur zwei Probleme dargestellt werden, zum einen zur Beachtung von Aufklärungs- und Hinweispflichten beim Abschluss von Beendigungsvereinbarungen, zum anderen zu Sondervorschriften, die für Aufhebungsverträge mit öffentlichen Arbeitgebern gelten, und schließlich werden hierzu Musterformulierungen vorgestellt.

II. Aufklärungs- und Hinweispflichten beim Abschluss von Beendigungsvereinbarungen 16.4 Der Arbeitgeber hat nicht nur während des Arbeitsverhältnisses, sondern grundsätzlich auch im Rahmen von Vereinbarungen über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Fürsorgepflicht zu beachten. Allerdings trifft ihn die Pflicht, Arbeitnehmer vor dem Abschluss von Aufhebungsverträgen zu warnen, nicht von vornherein und grundsätzlich, sondern nur im Ausnahmefall3.

16.5 Es müssen besondere Umstände vorliegen, aus denen sich die Verpflichtung des Arbeitgebers ergibt, Arbeitnehmer beim Abschluss solcher Beendigungsvereinbarungen auf nachteilige Folgen hinzuweisen. Auch für den öffentlichen Arbeitgeber gilt, was jeder Arbeitgeber zu beachten hat, der Beendigungsvereinbarungen mit Arbeitnehmern abschließt4. 1. Keine allgemeine Hinweispflicht

16.6 Wenn auch keine grundsätzliche Verpflichtung besteht, Hinweise und Ratschläge zu erteilen, so ist der Arbeitgeber, insbesondere im öffentlichen Dienst, jedoch verpflichtet, Anfragen des Arbeitnehmers zu den Folgen der einvernehmlichen Vertragsauflösung richtig zu beantworten. Das gilt natürlich insbesondere für Zusatzversorgungsansprüche (vgl. zur Betriebsrente allg. § 28, Rz. 28.171 ff.)5. Vom BAG wohl abschließend geklärt ist mittlerweile auch die Frage, ob Arbeitnehmern ein gesetzliches Widerrufsrecht – mit entsprechender Widerrufsbelehrungspflicht des Arbeitgebers – gemäß §§ 312, 355 BGB beim Abschluss von Auflösungsvereinbarungen zustehe. Jedenfalls für die Fälle, in denen Auflösungsvereinbarungen am Arbeitsplatz abgeschlossen werden, hat das das BAG verneint, ein Widerrufsrecht nach § 312 BGB besteht nicht6. Zwar trifft den Arbeitgeber gemäß § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB III die Pflicht, Arbeitnehmer vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses „frühzeitig über die Notwendigkeit eigener Aktivitäten …“ zu informieren. Aus der Formulierung als Soll-Vorschrift hat das BAG jedoch entnommen, dass Arbeitgeber sich nicht schadensersatzpflichtig machen, wenn sie den nach der zitierten Vorschrift gebotenen Hinweis an die Arbeitnehmer unterlassen7. Darüber hinaus besteht keine Hinweispflicht des Arbeitgebers darüber, dass es schwieriger ist,

3 4 5 6 7

licher und sozialrechtlicher Hinsicht); ferner Weber/Erich/Burmester, Teil 3 Rz. 1 ff., Teil 4 und 5, jew. Rz. 1 ff. (zu sozialrechtlichen und steuerlichen Rechtsfolgen), jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen. Vgl. dazu auch Tschöpe/Schulte, Teil 3 C Rz. 49. Vgl. BAG v. 10.3.1988 – 8 AZR 420/85, NZA 1988, 837. Vgl. BAG v. 17.10.2000 – 3 AZR 605/99, DB 2001, 286 (391); so auch schon BAG v. 13.11.1984 – 3 AZR 255/84, BAGE 47, 169; zu diesem Komplex vgl. auch Reufels, ArbRB 2001, 26 (27). Vgl. BAG v. 27.11.2003 – 2 AZR 135/03, NZA 2004, 597 (Bestätigung des LAG Brandenburg v. 30.10.2002 – 7 Sa 386/02, NZA 2004, 503); ebenso für einen überwiegend zuhause tätigen Arbeitnehmer vgl. BAG v. 22.4.2004 – 2 AZR 281/03, ArbRB 2004, 299 = NZA 2004, 1295. Vgl. BAG v. 29.9.2005 – 8 AZR 571/04, NZA 2005, 1406; aA Schulte, ArbRB 2004, 26; vgl. auch Gaul, BB 2003, 2457 (2459 li. Sp.).

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Aufklärungs- und Hinweispflichten

Rz. 16.9 § 16

sich von einem Aufhebungsvertrag zu lösen, als gegen eine fristlose Kündigung vorzugehen8. Denn eine Hinweispflicht kann sich nur auf die arbeits- und sozialrechtlichen Folgen eines Aufhebungsvertrags beziehen9. So ist der öffentliche Arbeitgeber auch nicht verpflichtet, Arbeitnehmer darauf hinzuweisen, dass Zusatzversorgungsleistungen erst ab Antragstellung bei der Zusatzversorgungskasse gezahlt werden. Vielmehr kann von Beschäftigten erwartet werden, dass sie sich selbst über das Erfordernis rechtzeitiger Antragstellung informieren, weil es sich dabei um eine „Selbstverständlichkeit“ des Rentenrechts handelt10. 2. Voraussetzungen der Hinweispflicht auf einzelne Konsequenzen Nur ausnahmsweise sind Arbeitgeber, auch der öffentliche, verpflichtet, Arbeitnehmer auf nachteilige Folgen einer Auflösungsvereinbarung hinzuweisen. Zunächst wird vorausgesetzt, dass die Initiative zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber ausgeht. Das allein reicht nicht aus, für den Arbeitgeber muss auch erkennbar sein, dass der Arbeitnehmer eine Aufklärung über die Rechtsfolgen erwartet und redlicherweise erwarten darf. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Arbeitgeber den Eindruck erweckt, er werde bei der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch die Interessen des Arbeitnehmers wahren11.

16.7

Wann das der Fall ist, hängt vom Einzelfall ab. Das kann auch dazu führen, dass ausnahmsweise der Arbeitgeber verpflichtet sein kann, ungefragt den Arbeitnehmer auf ihn drohende Versorgungsschäden aufmerksam zu machen12. Es müssen aber besondere Umstände vorliegen, um eine solche Pflicht auszulösen, zB bei dem betrieblichen Interesse eines Arbeitgebers, ein Arbeitsverhältnis vorzeitig zu beenden. Dann muss er den Arbeitnehmer vor unbedachten nachteiligen Folgen des vorzeitigen Ausscheidens, insbesondere bei der Versorgung, bewahren13. Tritt der Arbeitnehmer dagegen an den Arbeitgeber heran mit dem Wunsch, das Arbeitsverhältnis aufzulösen, kann ihm kein Vorwurf gemacht werden, wenn er davon ausgeht, dass sich sein Vertragspartner zuvor über alle Folgen der abzuschließenden Auflösungsvereinbarung informiert hat. Nachteilige Folgen können sich mit Blick auf das Sozialrecht, auf steuerrechtliche Vorschriften und – insbesondere mit Blick auf die finanzielle Bedeutung – auf die Konsequenzen für Leistungen aus Versorgungswerken ergeben.

16.8

a) Sozialrechtliche Folgen Sozialrechtliche Konsequenzen drohen in zweifacher Hinsicht. Zunächst kommt eine Sperrzeit gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III in Betracht, wenn das Arbeitsverhältnis vom Arbeitnehmer einvernehmlich gelöst wird. Dadurch führt er in aller Regel vorsätzlich die Arbeitslosigkeit herbei. Es reicht aus, dass der Arbeitnehmer an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses mitgewirkt hat. Fehlt es, wie ganz häufig, an einem wichtigen Grund für die Beendi-

8 9 10 11

LAG Berlin-Brandenburg v. 5.11.2010 – 6 Sa 1442/10, nv. Vgl. BAG v. 13.11.1996 – 10 AZR 340/96, BB 1997, 1362. Vgl. LAG Köln v. 11.1.2017 – 11 Sa 351/16, ArbRB online. Vgl. den Orientierungssatz der Entscheidung des 2. Senats des BAG v. 21.2.2002 – 2 AZR 749/00, ArbRB 2002, 325 = NZA 2002, 1416. 12 Vgl. BAG v. 3.7.1990 – 3 AZR 382/89, NZA 1990, 971. 13 Vgl. BAG v. 3.7.1990 – 3 AZR 382/89, NZA 1990, 971 (972 li. Sp.).

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479

16.9

§ 16 Rz. 16.9

Beendigungsvereinbarungen

gung des Arbeitsverhältnisses14, geht die Rechtsprechung des BSG davon aus, dass Arbeitnehmer vorsätzlich ihre Arbeitslosigkeit durch einvernehmliche Aufhebung des Arbeitsvertrages herbeigeführt haben. Dann tritt eine Sperrzeit in aller Regel von drei Monaten ein. Einen solchen wichtigen Grund hat die Rechtsprechung aber angenommen, wenn statt des Auflösungsvertrages dem Arbeitnehmer ansonsten eine rechtmäßige Arbeitgeberkündigung aus nicht verhaltensbedingten Gründen zum gleichen Zeitpunkt gedroht hat15. Dabei spielt es keine Rolle, ob zunächst eine Kündigung ausgesprochen und dann ein Abwicklungsvertrag abgeschlossen oder gleich die Auflösung durch Vertrag vereinbart wird16.

16.10 Darüber hinaus kommt der Ruhenstatbestand des § 143a SGB III in Betracht, wenn die Kündigungsfristen mit der Auflösung des Arbeitsvertrages verkürzt werden. In diesem Fall ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld zumindest zum Teil, die Entlassungsentschädigung wird dann auf das Arbeitslosengeld angerechnet für den Zeitraum, der der ordentlichen Kündigungsfrist entspricht17.

16.11 Nach den soeben dargelegten Grundsätzen hat der Arbeitgeber im Normalfall keinen Hinweis auf diese Folgen zu geben. Nur wenn er selbst den Auflösungsvertrag vorschlägt, ggf. sogar mit verkürzter Auflösungsfrist, wird ihm aufgrund seiner überlegenen Sachkunde ein Hinweis abverlangt. Das gilt aber auch nur dann, wenn er erkennt oder erkennen kann, dass der Arbeitnehmer keine rechtliche Beratung in Anspruch nimmt, sondern erkennbar darauf vertraut, dass der Arbeitgeber ihn auf evtl. Nachteile hinweisen wird18. Den öffentlichen Arbeitgeber trifft auch an dieser Stelle keine gesteigerte Hinweispflicht. b) Steuerrechtliche Folgen

16.12 Wer einen Aufhebungs- oder Abwicklungsvertrag mit dem Arbeitgeber abschließt, weiß als Arbeitnehmer in aller Regel, dass dadurch Steuern ausgelöst werden, insbesondere Einkommensteuern. In aller Regel trifft den Arbeitgeber deshalb keine Pflicht, über steuerliche Folgen etwaiger Abwicklungszahlungen zu informieren19. c) Leistungen aus öffentlich-rechtlichen Zusatzversorgungskassen

16.13 Beendigungsvereinbarungen enthalten mit Blick auf Leistungen aus öffentlich-rechtlichen Zusatzversorgungskassen mitunter Regelungen, die – meistens unbemerkt und ohne übereinstimmenden Regelungswillen – Altersversorgungsleistungen durch vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausschließen oder erheblich mindern.

14 Vgl. dazu die Beispiele bei Weber/Ehrich/Burmester/Fröhlich/Fröhlich, Teil 6 Rz. 128 ff. mwN zur Rspr.; zur Beweislastverteilung vgl. Rz. 131. 15 BSG v. 12.7.2006 – B 11a AL 47/05 R, NJW 2006, 3514 ff. unter Hinweis auf BSGE 95, 232; vgl. weitere Nachweise auch bei Tschöpe/Schulte, Teil 3 C Rz. 75/76. 16 Vgl. BSG v. 18.12.2003 – B 11 AL 35/03 R, NZA 2004, 661; bestätigt durch BSG v. 17.11.2005 – B 11a/11 AL 69/04 R, ArbRB 2006, 74; vgl. ferner Bauer, NZA 2004, 640 (642). 17 Vgl. auch Tschöpe/Schulte, Teil 3 C Rz. 71a zur Kürzungstabelle. 18 Vgl. LAG Berlin v. 13.1.2006 – 13 Sa 1957/05, DB 2006, 1120 (Ls.). 19 Vgl. auch LAG Berlin v. 18.1.1999 – 9 Sa 107/98, NZA-RR 1999, 179; Schulte, ArbRB 2004, 26 (28 re.Sp.); vgl. auch Bauer/Lingemann/Diller/Haußmann/Lingemann, Anwalts-Formularbuch Arbeitsrecht, Kap. 23 I 1 b, Rz. 7.

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Aufklärungs- und Hinweispflichten

Rz. 16.18 § 16

Insbesondere zu diesen Problemen und gerade für Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst sind zahlreiche Entscheidungen ergangen: Zunächst gelten die allgemeinen, soeben dargelegten Grundsätze auch hier, also müssen die vom Arbeitgeber erteilten Auskünfte richtig und vollständig sein. Allerdings beschränken sich die arbeitsvertraglichen Nebenpflichten des Arbeitgebers nicht darauf, den Arbeitnehmern keine falschen Auskünfte zu erteilen. Vielmehr treffen den Arbeitgeber gerade in Fällen, in denen eine Zusatzversorgung besteht, intensivere Belehrungspflichten, wenn er im betrieblichen Interesse den Abschluss eines Aufhebungsvertrages vorschlägt. Dabei sind, wie immer, alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen20. Die Initiative muss nicht immer vom Arbeitgeber ausgehen, es reicht aus, gerade im öffentlichen Dienst, dass das vorzeitige Ausscheiden der oder des Beschäftigten im betrieblichen Interesse liegt.

16.14

So hat das BAG in einem Fall entschieden21, dass die Belehrungspflicht des öffentlichen Arbeitgebers auch dann besteht, wenn die Mitarbeiterin selbst mitgeteilt hat, dass sie aus gesundheitlichen Gründen „in den Ruhestand gehen“ wolle. In einem solchen Fall kann auf Arbeitnehmerseite davon ausgegangen werden, dass der Arbeitgeber über mögliche versorgungsrechtliche Nachteile beim vorzeitigen Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis aufklärt. Mit dem Angebot auf Abschluss eines Aufhebungsvertrages schafft der Arbeitgeber dann eine „außergewöhnliche Gefahrenquelle“22.

16.15

Endet das Arbeitsverhältnis vor Eintritt des Versorgungsfalls, so besteht für Beschäftigte, die bei den Zusatzversorgungskassen des öffentlichen Dienstes versichert sind, die Gefahr, dass statt einer Versorgungsrente lediglich eine Versicherungsrente gezahlt werden muss – mit erheblichen Einbußen. Ist deshalb für den Arbeitgeber erkennbar, dass diese nachteilige Folge für den Beschäftigten eintritt, muss er entweder auf dieses spezifische Risiko hinweisen und über den drohenden atypischen Rentennachteil von erheblichem Gewicht aufklären. Stattdessen kann er aber auch vor Abschluss des Vertrages den Arbeitnehmer an die Zusatzversorgungskasse verweisen. Allerdings muss der Arbeitgeber dann den Beschäftigten so beraten, dass er sich bei der Zusatzversorgungskasse sachgerecht erkundigen kann23.

16.16

Die Zusatzversorgungen im öffentlichen Dienst sind kompliziert geregelt. In der Regel fehlt Beschäftigten die Möglichkeit, dieses komplexe System zu durchschauen. Deshalb kann sich der Arbeitgeber nicht auf einen allgemeinen Hinweis auf mögliche Vermögensnachteile beschränken. Auch die bloße Verweisung an die Zusatzversorgungskasse ohne weiteren Hinweis reicht nicht aus. Das gilt auch, wenn eine Bedenkzeit eingeräumt worden ist24.

16.17

Beim Abschluss von Aufhebungsverträgen reicht es unter den genannten Voraussetzungen nicht aus, dass der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes seiner Hinweispflicht durch Aushändigung der von der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) zur Verfügung gestellten Druckschriften nachkommt25. Wenn Auskünfte erteilt werden, müssen sie nicht nur

16.18

20 21 22 23

Vgl. BAG v. 13.11.1984 – 3 AZR 255/84, BAGE 47, 169 (173). Vgl. BAG v. 17.10.2000 – 3 AZR 605/99, NZA 2001, 206. Vgl. BAG v. 17.10.2000 – 3 AZR 605/99, NZA 2001, 206 unter II. 2. b) bb) der Gründe. Vgl. BAG v. 17.10.2000 – 3 AZR 605/99, NZA 2001, 206 unter II. 2. c) der Gründe und Hinweis auf BAG v. 13.11.1984 – 3 AZR 255/84, BAGE 47, 169 (174) und v. 10.3.1988 – 8 AZR 420/85, NZA 1988, 837 zu II. 2. a) der Gründe. 24 Vgl. BAG v. 17.10.2000 – 3 AZR 605/99, NZA 2001, 206 unter II. 2. c) der Gründe; vgl. auch LAG Niedersachsen v. 8.11.2002 – 3 Sa 1477/01 B, ArbRB online. 25 Vgl. dazu auch BAG v. 23.9.2003 – 3 AZR 658/02, ArbRB 2004, 68; nach Ansicht des 3. Senats reicht ein solcher Hinweis allerdings aus, wenn das Arbeitsverhältnis krankheitsbedingt gekündigt

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§ 16 Rz. 16.18

Beendigungsvereinbarungen

richtig, sondern auch vollständig sein. So kann ein Anspruch aus positiver Vertragsverletzung entstehen, wenn beim Abschluss eines Aufhebungsvertrages der öffentliche Arbeitgeber zwar darauf hinweist, dass bestimmte Nachteile, zB die Nichterfüllung der Voraussetzungen der Übergangsversorgung, eintreten, auf andere, vermeidbare Nachteile jedoch nicht hinweist26. Dabei hat sich der öffentliche Arbeitgeber die Unkenntnis der Mitarbeiter, die den Auflösungsvertrag vorgeschlagen und eine richtige Teilauskunft erteilt haben, die aber eben nicht vollständig war, zurechnen zu lassen. Wenn die Kenntnisse nicht vorhanden sind, müssen sie den mit dem Abschluss des Vertrages befassten Mitarbeitern verschafft werden (zB die erforderlichen Kenntnisse der VBL-Satzung und -Verwaltungspraxis). Wichtig ist dabei, dass nicht nur die Vorschriften selbst, sondern auch die daran ausgerichtete Verwaltungspraxis des Versorgungsträgers berücksichtigt wird.

16.19 Abschließend ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass im öffentlichen Dienst also eine intensivere Hinweis- und Aufklärungspflicht gegenüber den Beschäftigten besteht, und zwar nicht erst dann, wenn der öffentliche Arbeitgeber auf den Beschäftigten zugeht, sondern schon dann, wenn die vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses im dienstlichen Interesse liegt. Die Auskünfte müssen nicht nur richtig, sondern auch vollständig sein27. 3. Rechtsfolgen bei Verletzung von Aufklärungs- und Hinweispflichten

16.20 Wenn Aufklärungs- und Hinweispflichten beim Abschluss einer Beendigungsvereinbarung vom Arbeitgeber verletzt werden, stehen auf Arbeitnehmerseite zwei grundsätzliche Möglichkeiten zu Gebote. Will der Arbeitnehmer sich nicht an die vereinbarte Beendigung des Arbeitsverhältnisses binden lassen, sondern es fortsetzen, kommt die Beseitigung der Vereinbarung in Frage. Als Rechtsfolge kommt aber auch Schadensersatz in Betracht, wenn das Arbeitsverhältnis beendet bleiben soll. a) Anfechtung

16.21 Die Lösung von einer getroffenen Vereinbarung kann durch Anfechtung gemäß §§ 119 ff. BGB erfolgen. Dabei sind folgende Grundsätze zu beachten: aa) Gemäß § 119 BGB, Inhalts- oder Erklärungsirrtum

16.22 Die Anfechtung gemäß § 119 Abs. 1 BGB setzt voraus, dass sich der Erklärende bei Abgabe seiner Erklärung nicht über den Inhalt im Klaren ist, die Erklärung mit solchem Inhalt, wie sie tatsächlich abgegeben wurde, nicht abgeben wollte oder sich darüber geirrt hat, dass er überhaupt eine rechtsgeschäftliche Erklärung abgegeben hat, die nicht abgegeben werden sollte.

worden ist und der Arbeitnehmer die Kündigung hätte angreifen können, dies aber nicht getan hat. 26 Vgl. den Fall des LAG Niedersachsen v. 16.5.2001 – 6 Sa 1093/99 B, ArbRB online; vgl. aber auch LAG Rheinland-Pfalz v. 7.9.2006 – 6 Sa 238/06, ArbRB online: Keine Verletzung der Auskunftspflicht des Arbeitgebers bei Altersteilzeitvereinbarung, wenn nachteilige Folgen für die Zusatzversorgung eintreten, wenn Arbeitgeber kein Vertrauen weckt, dass sich jemand anderes von Arbeitgeberseite um den Komplex der Zusatzleistungen der VBL kümmern wird. 27 Vgl. BAG v. 15.12.2016 – 6 AZR 578/15, NZA 2017, 528: Schadensersatz für Erteilung falscher Auskunft über tarifliche Ausschlussfristen.

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Aufklärungs- und Hinweispflichten

Rz. 16.26 § 16

Die Fälle des Inhalts- oder Erklärungsirrtums28 haben in der Regel nichts mit der Verletzung einer Aufklärungs- oder Hinweispflicht zu tun. Der Irrtum über die Folgen einer Willenserklärung kann nicht über § 119 BGB beseitigt werden. Wer sich jedoch über die Rechtsfolgen einer im Übrigen irrtumsfreien Willenserklärung irrt, insbesondere bei den Folgen einer Beendigungsvereinbarung, kann nicht gemäß § 119 Abs. 1 BGB anfechten29. Dann hat sich der Vertragspartner auf Arbeitnehmerseite gerade nicht über die Tatsache, dass überhaupt eine rechtsgeschäftliche Erklärung abgegeben wurde, oder über den Inhalt der Erklärung – einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisse – geirrt, sondern über die durch die einvernehmliche Beendigung ausgelösten Folgen.

16.23

bb) Gemäß § 123 BGB, Täuschung/Drohung Ein solcher Irrtum ist dann nur noch über § 123 BGB relevant, wenn der Arbeitgeber entweder die Arbeitnehmerseite bewusst getäuscht, also zB über die eintretenden Rechtsfolgen falsche Angaben gemacht hat, oder den Vertragsschluss durch Drohung herbeigeführt hat30.

16.24

Bei einem Verstoß gegen die Aufklärungs- und Hinweispflicht wird, von Ausnahmen abge- 16.25 sehen, der Arbeitgeber sich entweder darüber irren, dass er zur Aufklärung verpflichtet ist, oder sich selbst über die Folgen für die Arbeitnehmerseite keine Gedanken machen oder bewusst keine Hinweise und Aufklärung geben, weil er befürchtet, dass die Arbeitnehmerseite dann nicht zum Abschluss der Beendigungsvereinbarung bereit ist. Nur im letzten Fall kommt eine Anfechtung gemäß § 123 Abs. 1 BGB in Frage, weil die Arglist zwar keine Absicht, jedoch Vorsatz erfordert und der Handelnde die Unrichtigkeit seiner Angaben kennen und für möglich halten musste. Ferner muss er wissen, dass der andere Teil durch die Täuschung zur Abgabe der Willenserklärung bestimmt wird, die er sonst bei wahrheitsgemäßer Aufklärung über die Folgen nicht oder nur zu anderen Bedingungen abgeschlossen hätte31. Auch hier genügt bedingter Vorsatz. Es reicht aus, dass der Arbeitgeber die Vorstellung hat, dass die fehlende Aufklärung möglicherweise für den Entschluss, die Beendigungsvereinbarung abzuschließen, von Bedeutung sein würde32. Es ist nicht erforderlich, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer schädigen will33. Die Anfechtbarkeit wegen § 123 Abs. 1 BGB wird grundsätzlich nicht durch das Einräumen einer Bedenkzeit beseitigt34. b) Schadensersatz Kann der Aufhebungsvertrag nicht durch Anfechtung beseitigt werden, sind Beschäftigte bei der Verletzung der Hinweispflichten als vertragliche Nebenpflichten auf einen Schadensersatzanspruch beschränkt35. Naturalrestitution ist ausgeschlossen; es bleibt nur ein Anspruch auf 28 29 30 31 32 33 34 35

Vgl. umfassend MüKo BGB/Kramer, § 119 BGB Rz. 48 ff., 57 ff. Vgl. umfassend MüKo BGB/Kramer, § 119 BGB Rz. 86 ff. Vgl. HWK/Thüsing, § 123 BGB Rz. 42 ff. mwN. Vgl. den instruktiven Fall des LAG Düsseldorf v. 10.7.2001 – 8 Sa 515/01, ArbRB online; OLG Hamm v. 26.11.1993 – 20 U 214/93, NJW-RR 1995, 286; vgl. ferner Palandt/Ellenberger, § 123 BGB Rz. 11 mwN. Vgl. LAG Düsseldorf v. 10.7.2001 – 8 Sa 515/01, ArbRB online; BGH v. 28.4.1971 – VIII ZR 258/69, NJW 1971, 1795 (2000). Vgl. BGH v. 21.6.1974 – V ZR 15/73, NJW 1974, 1505. Vgl. BAG v. 28.11.2007 – 6 AZR 1108/06, ArbRB 2008, 105 = BB 2008, 564; so auch HWK/Thüsing, § 123 BGB Rz. 43. Vgl. BAG v. 10.3.1988 – 8 AZR 420/85, NZA 1988, 837; ferner v. 14.2.1996 – 2 AZR 234/95, NZA 1996, 811; Bauer, I Rz. 156 mwN.

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16.26

§ 16 Rz. 16.26

Beendigungsvereinbarungen

Geldersatz. Arbeitnehmer können deshalb auch nicht die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses verlangen36. Zu ersetzen ist daher der Vermögensschaden, der durch den Abschluss des Aufhebungsvertrages entweder in sozialrechtlicher, steuerlicher oder versorgungsrechtlicher Hinsicht entstanden ist. Dabei sind natürlich auch evtl. finanzielle Vorteile durch den Abschluss des Aufhebungsvertrages zu berücksichtigen.

16.27 Im Einzelfall muss deshalb jeweils geprüft werden, welcher Schaden konkret eingetreten ist. Das kann mitunter zu Schwierigkeiten führen, vor allem wenn sozialrechtliche Fragen im Rahmen eines Arbeitsgerichtsprozesses geprüft und entschieden werden müssen.

16.28 Vereinbaren die Vertragsparteien eine Abfindungssumme, die sich – auch – an der Höhe des Arbeitslosengeldes bis zum Rentenbezug orientiert, bleibt eine spätere Minderung des Arbeitslosengeldes durch eine nachträglich eintretende Gesetzesänderung rechtlich ohne Belang. Ein solcher Differenzschaden kann auch nicht über den Wegfall der Geschäftsgrundlage, § 313 BGB, vom Arbeitgeber nach Abschluss des Vertrages ersetzt verlangt werden37.

16.29 Ein etwaiges Mitverschulden muss sich der Arbeitnehmer zurechnen lassen. So ist er insbesondere verpflichtet, im Zusammenhang mit dem drohenden Eintritt eines Schadens Rechtsmittel einzulegen, sofern sie Aussicht auf Erfolg versprechen und zumutbar sind38. 4. Abdingbarkeit der Hinweispflichten

16.30 Wer sich als Arbeitgeber mit der Absicht, die Risiken einer Kündigung zu vermeiden, mit dem Vorschlag eines Aufhebungsvertrages an den Arbeitnehmer wendet, muss sich im Klaren darüber sein, dass auch dieser Weg der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses Risiken birgt. Denen kann vorgebeugt werden mit deutlichen Hinweisen im Aufhebungsvertrag über die möglichen Nachteile, die der Arbeitnehmer beim Abschluss eines solchen Vertrages erleiden könnte. Er läuft dann nur Gefahr, dass der Arbeitnehmer angesichts der Risiken, über die er aufgeklärt wird, den Aufhebungsvertrag nicht abschließen wird.

16.31 Deshalb stellt sich die Frage, ob dieser Zwiespalt auf Arbeitgeberseite nicht mit einer Vereinbarung darüber beseitigt werden kann, dass die Hinweispflicht im Zusammenhang mit dem Aufhebungsvertrag abbedungen wird39. Das rechtliche Ergebnis kann zB durch einen Verzicht auf Hinweise des Arbeitgebers im Zusammenhang mit möglichen Konsequenzen der Beendigungsvereinbarung geregelt werden. Der Verzicht als vertragliche Abrede bedarf einer klaren vertraglichen Formulierung, am besten im Aufhebungsvertrag. Er wird auch allgemein als zulässig angesehen40. Eine Musterformulierung könnte wie folgt aussehen: „Frau/Herr … verzichtet auf Hinweise zu den rechtlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen, die sich aus diesem Aufhebungs-/Abwicklungsvertrag für sie/ihn ergeben könnten. Sie/Er bestätigt, sich vor Abschluss dieses Vertrages informiert zu haben.“ 36 Vgl. BAG v. 10.3.1988 – 8 AZR 420/85, NZA 1988, 837; LAG Düsseldorf v. 22.6.2001 – 14 Sa 491/01, NZA-RR 2002, 12 (14); vgl. ferner Weber/Ehrich/Burmester/Fröhlich/Ehrich, Teil 1 Rz. 116 mwN. zur Mindermeinung in Fn. 4. 37 Vgl. BAG v. 8.9.1998 – 9 AZR 255/97, BB 1999, 1066; für einen vergleichbaren Fall BAG v. 25.6.2002 – 9 AZR 155/01, ArbRB 2002, 358 = BB 2002, 2605; vgl. ausführlich auch Weber/ Ehrich/Burmester/Fröhlich/Ehrich, Teil 1 Rz. 118 mwN in Fn. 6. 38 Vgl. BAG v. 12.12.2002 – 8 AZR 497/01, NZA 2003, 687. 39 Vgl. dazu auch Nägele, BB 1992, 1274 (1278). 40 Vgl. Hümmerich, § 3 Rz. 102; Weber/Ehrich/Burmester/Fröhlich/Ehrich, Teil 1 Rz. 120; Bauer, I Rz. 159 mwN; vgl. auch Schulte, ArbRB 2004, 26 (28/29).

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Aufklärungs- und Hinweispflichten

Rz. 16.38 § 16

Arbeitgeber, auch öffentliche, müssen wissen, dass sie sich auf eine solche Formulierung nicht verlassen können, wenn sie Arbeitnehmer beim Abschluss eines solchen Vertrages überrumpeln. Dann hilft der Hinweis oder der Verzicht in einer solchen Klausel nichts.

16.32

Eine weitere Unsicherheit ergibt sich für die Arbeitgeberseite aus der Tatsache, dass die Arbeitsgerichte alle Klauseln, die der Arbeitgeber verwendet, der Prüfung unterziehen, ob es sich um AGB handeln könnte. Wird eine solche Klausel also im Zusammenhang mit Aufhebungsverträgen verwendet, findet eine AGB-Kontrolle nach § 307 Abs. 2 BGB statt. Beim Abschluss vorformulierter Vertragsbedingungen gelten Arbeitnehmer als Verbraucher iSd. § 13 BGB41. Auch Aufhebungsverträge unterliegen der AGB-Kontrolle, auch wenn für sie das gesetzliche Widerrufsrecht des § 312 Abs. 1 BGB nicht gilt42.

16.33

Das BAG wendet die §§ 306, 307 BGB gemäß § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB selbst dann an, wenn die vorformulierten Vertragsbedingungen nur zur einmaligen Verwendung bestimmt sind und der Verbraucher aufgrund der Vorformulierung auf den Inhalt keinen Einfluss nehmen konnte43. Die Frage ist deshalb, ob eine solche Klausel der Inhaltskontrolle gemäß § 307 BGB standhält.

16.34

Die Rechtsprechung hat sich bisher mit dieser Frage noch nicht befassen müssen. Die Entscheidungen sind zu Anrechnungs-, Freiwilligkeits-, und Widerrufsvorbehalten ergangen44. Grundlegend stellt sich die Frage, ob eine solche Klausel eine unangemessene Benachteiligung des Arbeitnehmers bewirkt. Unbestreitbar findet dadurch eine Risikoverlagerung statt bezüglich der geschilderten möglichen Folgen, die ein Aufhebungs-/Abwicklungsvertrag für den Arbeitnehmer haben kann.

16.35

Wird der Arbeitnehmer nicht überrumpelt, kann er also frei entscheiden, ob er den Auf- 16.36 hebungsvertrag abschließen will oder nicht und lässt ihm der Arbeitgeber ausreichend Zeit, ist der Inhalt der Klausel mE nicht zu beanstanden. Mit Verzicht auf die Hinweispflicht wird zum einen keine Kardinalpflicht abbedungen, also eine Pflicht, die sich aus der Natur des Vertrages ergibt. Auch der Vertragszweck wird dadurch nicht gefährdet. Mit der Verzichtserklärung wird auch die Hauptleistungspflicht des Arbeitgebers nicht zum Erlöschen gebracht45. Hier geht es um die Abbedingung einer Nebenpflicht, so dass § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB als konkretes gesetzliches Beispiel einer unangemessenen Benachteiligung des Verbraucher-Arbeitnehmers nicht eingreifen kann46.

16.37

Auch ein Verstoß gegen das Transparenzgebot liegt mE nicht vor. Der Arbeitgeber weist ja gerade darauf hin, dass es eine Hinweis- und Aufklärungspflicht geben kann. Er macht deut-

16.38

41 Vgl. BVerfG v. 23.11.2006 – 1 BvR 1909/06, ArbRB 2007, 67 = NZA 2007, 85 mit Verweis auf BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, ArbRB 2005, 325 = NJW 2005, 3305; vgl. auch HWK/Gotthardt, § 310 BGB Rz. 2 mwN in Fn. 1, auch zur – überholten – Gegenmeinung. 42 Vgl. dazu BAG v. 27.11.2003 – 2 AZR 135/03, NZA 2004, 597; v. 27.11.2003 – 2 AZR 177/03, BB 2004, 1858; vgl. dazu auch Tschöpe/Schulte, Teil 3 C Rz. 52a. 43 Vgl. BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, ArbRB 2005, 325 = NJW 2005, 3305, ausdrücklich bestätigt von BVerfG v. 23.11.2006 – 1 BvR 1909/06, ArbRB 2007, 67 = NZA 2007, 85 unter 2. b) aa) (1) der Beschlussbegründung. 44 Vgl. zB zum Widerruf übertariflicher Leistungen und AGB-Kontrolle BAG v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, ArbRB 2007, 35 = NZA 2007, 87; zum Freiwilligkeitsvorbehalt BAG v. 25.4.2007 – 5 AZR 627/06, ArbRB 2007, 258 = NZA 2007, 853. 45 Vgl. für einen solchen Fall BAG v. 28.9.2005 – 5 AZR 52/05, BB 2006, 327. 46 Vgl. dazu auch ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 43.

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§ 16 Rz. 16.38

Beendigungsvereinbarungen

lich, dass er sie nicht erfüllt und veranlasst den Arbeitnehmer, auf die Erfüllung dieser Pflicht zu verzichten. Es geht um eine konkrete Pflicht im Zusammenhang mit dem Abschluss des Aufhebungs-/Abwicklungsvertrages. Für den Arbeitnehmer ist erkennbar, dass Nachteile entstehen könnten. Er muss sich also selbst erkundigen, ob und welche Nachteile entstehen können. Der Arbeitgeber lässt sich mit dieser Klausel nicht in die Pflicht nehmen47.

16.39 Noch transparenter wäre allerdings, über mögliche Nachteile konkret aufzuklären und aufzunehmen, dass auf weitere Hinweise verzichtet wird, also eine modifizierte Verzichtsklausel zu verwenden.

16.40 Wer anwaltlich beraten ist, insbesondere fachanwaltlich, braucht natürlich keine weitere Aufklärung. Von einem solchen Berater kann erwartet werden, dass er über alle Folgen aufklärt48.

III. Aufhebungsverträge mit öffentlichen Arbeitgebern 16.41 Das Arbeitsverhältnis kann auch im öffentlichen Dienst einvernehmlich beendet werden. So ist sogar in tariflichen Regelungen, zB § 58 BAT, der Auflösungsvertrag ausdrücklich erwähnt und findet sich auch im Text des § 33 Abs. 1 Buchst. b TVöD-AT wieder. An der Zulässigkeit solcher Vereinbarungen kann deshalb kein Zweifel bestehen.

16.42 Auch Abwicklungsverträge können im öffentlichen Dienst abgeschlossen werden. Sie unterscheiden sich vom Aufhebungs- oder Auflösungsvertrag dadurch, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch eine Kündigung, die dem Abwicklungsvertrag vorangeht, stattfindet und der Vertrag selbst nur die Abwicklung der mit der Beendigung verbundenen Regelungsgegenstände erfasst49.

16.43 Vereinbarungen über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses können natürlich auch noch nach Ausspruch einer Kündigung während des Kündigungsrechtsstreits getroffen werden. Sie sind dann nicht nur materiell-rechtlich als Vergleich gemäß § 779 BGB anzusehen, sondern auch gleichzeitig Prozesshandlung, haben also eine Doppelnatur50.

16.44 Im Folgenden sollen nur die besonderen Voraussetzungen einer solchen Vereinbarung im öffentlichen Dienst angesprochen werden51.

16.45 Einstweilen frei. 47 Vgl. dazu allgemein auch ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 44 mwN: Transparenz begründet keine allgemeine Rechtsbelehrungspflicht des Verwenders; vgl. auch Palandt/Grüneberg, § 307 BGB Rz. 55 u. 69 zu einer allg. Abfindungsklausel. 48 Vgl. dazu auch LAG Berlin v. 13.1.2006 – 13 Sa 1957/05, ArbRB online (Beratung durch einen Fachanwalt für Arbeitsrecht). 49 Vgl. wg. der Abgrenzung der Begriffe und der sich daraus ergebenden Rechtsfolgen auch Schaub/ Linck, ArbR-Hdb., § 122 Rz. 45 mwN. 50 Allg. M.: vgl. zB BAG v. 15.5.1997 – 2 AZR 43/96, DB 1997, 1984; BGH v. 14.5.1987 – III ZR 267/85, NJW 1988, 65; vgl. auch Tschöpe/Schulte, Teil 3 C Rz. 15. 51 Vgl. zu Auflösungsvereinbarungen im Übrigen grundlegend Bauer/Krieger/Arnold, A (Allg. Bemerkungen), C (Inhalt) und L (Checkliste und Muster), ferner Tschöpe/Schulte, Teil 3 C.; ferner Weber/Ehrich/Burmester/Fröhlich/Ehrich, Handbuch der arbeitsrechtlichen Aufhebungsverträge, 5. Aufl. 2009, u.a. Teil 1 zu den arbeitsrechtlichen Grundlagen der Beendigung und Teil 2 zu Inhalt und Auslegung von Aufhebungsverträgen.

486

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Aufhebungsverträge mit öffentlichen Arbeitgebern

Rz. 16.51 § 16

1. Voraussetzungen Auch im öffentlichen Dienst gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit mit der Folge, dass grundsätzlich Auflösungsvereinbarungen zwischen dem – öffentlichen – Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer abgeschlossen werden können52. Daher kommen – anders als bei einer Kündigung – der allgemeine bzw. besondere Kündigungsschutz bei einem Auflösungsvertrag grundsätzlich nicht zum Tragen. Nur im Einzelfall schränkt die Rechtsprechung den Gestaltungsspielraum der Parteien ein, wenn durch einen Aufhebungsvertrag der zwingende Kündigungsschutz umgangen wird53, so zB durch die Vereinbarung einer aufschiebenden Bedingung, dass das Arbeitsverhältnis mit dem Eintritt oder Nichteintritt eines bestimmten Ereignisses enden soll54.

16.46

Eine Besonderheit besteht gemäß § 5 Abs. 3 RatSchTVAng, der aber nicht die Zulässigkeit des Auflösungsvertrages regelt, sondern in einem solchen Fall55 einen besonderen Wiedereinstellungsanspruch gibt, sofern ein geeigneter Arbeitsplatz für den ausgeschiedenen Arbeitnehmer zur Verfügung steht (vgl. dazu Rz. 17.56 und 17.57).

16.47

Für den Abschluss eines Aufhebungsvertrages im öffentlichen Dienst, seine Beseitigung und Rechtsfolgen in materieller wie prozessualer Hinsicht gelten weitgehend die für Aufhebungsverträge im Bereich des privaten Arbeitsrechts geltenden Grundsätze, insbesondere §§ 104 ff., 145 ff. BGB56.

16.48

Auch im öffentlichen Arbeitsverhältnis gilt für Auflösungsverträge der Formzwang des § 623 BGB. War in § 58 BAT für den Auflösungsvertrag keine Form vorgesehen, so gilt § 623 BGB zwingend für Auflösungsverträge auch in diesem Bereich. Zwar sieht die „Nachfolgeregelung“ in § 33 Abs. 1 Buchst. b TVöD, gleichlautend auch § 33 Abs. 1 Buchst. b TV-L, keine Schriftform vor, es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass die zwingende gesetzliche Vorschrift die tariflichen Vorschriften überlagert. Diese ordnen die Schriftform nicht an, weil das ohnehin überflüssig wäre.

16.49

Wie die Schriftform erfüllt wird, regelt § 126 BGB. Die §§ 126a und 126b BGB sind nicht anwendbar, die elektronische Form ist ausgeschlossen. Der Vertrag muss vollständig in einer einheitlichen Urkunde zusammengefasst und von beiden Parteien auf einer Urkunde unterzeichnet sein. Deshalb reicht es nicht aus, dass die Parteien jeweils persönlich unterzeichnete Erklärungen austauschen57.

16.50

Allerdings genügt gemäß § 126 Abs. 2 Satz 2 BGB, dass jede Partei eine vollständige Fassung der Urkunde bekommt, die von der anderen Seite unterzeichnet ist. Dabei muss darauf geachtet werden, dass der inhaltliche Zusammenhang des Textes durch körperliche Verbindung oder fortlaufende Paginierung, Nummerierung der einzelnen Vertragsbestimmungen oder sonstige inhaltliche zwingende Merkmale geschieht. Auch wenn auf Anlagen verwiesen

16.51

52 Vgl. allg. BAG v. 12.1.2000 – 7 AZR 48/99, NZA 2000, 718. 53 Vgl. zB BAG v. 12.1.2000 – 7 AZR 48/99, NZA 2000, 718; v. 7.3.2002 – 2 AZR 93/01, ArbRB 2002, 258; zur arbeitsgerichtlichen Befristungskontrolle bei Umwandlungs-Aufhebungsverträgen vgl. BAG v. 12.1.2000 – 7 AZR 48/99, NZA 2000, 718. 54 BAG v. 19.12.1974 – 2 AZR 565/73, BB 1975, 651; v. 9.7.1981 – 2 AZR 788/78, BB 1982, 368. 55 Dies betrifft maßgeblich Auflösungsverträge, die geschlossen werden, wenn der Arbeitnehmer in den Fällen des § 3 Abs. 4 und 5 RatSchTV zu einem anderen öffentlichen Arbeitgeber wechselt. 56 Vgl. auch Bepler/Böhle/Meerkamp/Stöhr, § 33 TVöD-AT Rz. 11; Bauer, NZA 2002, 169 f. 57 Vgl. ErfK/Müller-Glöge, § 623 BGB Rz. 23; Bauer/Krieger/Arnold, Teil A II, Rz. 21 mwN.

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487

§ 16 Rz. 16.51

Beendigungsvereinbarungen

wird, zB Zeugnistexte, müssen sie körperlich mit der Auflösungsvereinbarung verbunden sein oder sie müssen gesondert unterzeichnet werden, denn die Form muss für alle Teile des Auflösungsvertrages eingehalten werden, er stellt eine Gesamtheit dar58.

16.52 Auch ein Vorvertrag der Parteien über die Aufhebung ihres Arbeitsverhältnisses muss der Schriftform des § 623 BGB genügen, anderenfalls wäre er nach § 125 Satz 1 BGB nichtig59.

16.53 Der Formmangel kann von jeder Partei gerügt werden, ohne dass – im Regelfall – der Einwand des § 242 BGB greifen könnte60. Die Form hat nicht nur Nachweisfunktion, sondern dient auch dem Übereilungsschutz61. 2. Beteiligung des Personalrates

16.54 In Nordrhein-Westfalen hat die Personalvertretung gemäß § 74 Abs. 2 Satz 1 LPVG NW vor Abschluss eines Aufhebungs- oder Beendigungsvertrages ein Anhörungsrecht. Eine ohne Anhörung des Personalrats abgeschlossene Aufhebungs- oder Beendigungsvereinbarung war gemäß § 74 Abs. 3 LPVG unwirksam62. Weder im Bereich des Bundes noch der anderen Bundesländer ist ein solches Beteiligungsrecht vorgesehen. Dies galt nur im Falle einer Kündigung und entspricht insoweit der Regelung in § 102 Abs. 1 BetrVG. Allerdings gilt die Pflicht, Gründe anzugeben, nur beim Ausspruch einer Kündigung. Dies wird auch in § 74 Abs. 2 Satz 2 LPVG NW klargestellt, wonach nur bei einer beabsichtigten Abmahnung oder Kündigung die Gründe vollständig anzugeben sind. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Ausführungen in § 19, Rz. 19.1 verwiesen.

16.55 Im Übrigen gilt sowohl auf Bundes- wie auf Landesebene, dass vor Abschluss eines Aufhebungs- oder Beendigungsvertrages die Personalvertretung nicht zu beteiligen ist. 3. Inhalt und Musterformulierungen

16.56 Aufgrund ihrer Privatautonomie können die Parteien eines Auflösungsvertrages dessen Inhalt selbst festlegen. Grenzen ergeben sich aus der Inhalts- und Billigkeitskontrolle entsprechend den §§ 305 ff. BGB. Denn gemäß § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB sind nicht nur Arbeitsverträge, sondern auch Aufhebungsverträge63 im Rahmen der Besonderheiten des Arbeitsrechts zu überprüfen. Besonderes Augenmerk ist dabei auf § 305 Abs. 1 BGB im Hinblick auf überraschende Klauseln, auf die Unklarheitenregel des § 305 Abs. 2 BGB und auf das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB zu legen. Bezüglich der Hauptleistungspflichten findet aber eine Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB nicht statt64. Mithin sind die Beendigung als solche, die 58 Vgl. Staudinger/Oetker, § 623 BGB Rz. 62. 59 BAG v. 17.12.2009 – 6 AZR 242/09, ArbRB 2010, 70 = NZA 2010, 273. 60 Vgl. hierzu und zu Ausnahmen BAG v. 16.9.2004 – 2 AZR 659/03, ArbRB 2005, 68 = NZA 2005, 162. 61 Vgl. BAG v. 17.12.2009 – 6 AZR 242/09, ArbRB 2010, 70 = NZA 2010, 273; v. 16.9.2004 – 2 AZR 659/03, ArbRB 2005, 68 = NZA 2005, 169 f. 62 Vgl. zur früheren Fassung des § 72a Abs. 3 LPVG NW Cecior/Dietz/Vallendar, § 72a LPVG Rz. 52; inzwischen Cecior/Vallendar/Lechtermann/Klein, Das Personalvertretungsrecht in NordrheinWestfalen, Loseblattkommentar. 63 ErfK/Müller-Glöge, § 620 BGB Rz. 14 mwN. 64 BAG v. 27.11.2003 – 2 AZR 135/02, BAGR 2004, 220 (225), mit Verweis auf LAG Hamm v. 1.4.2003 – 19 Sa 1901/02, ArbRB 2003, 264 = NZA-RR 2003, 401 (402).

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Aufhebungsverträge mit öffentlichen Arbeitgebern

Rz. 16.63 § 16

Abfindungsvereinbarung und der Verzicht auf konkrete Ansprüche nicht auf Angemessenheit zu überprüfen65. Welche Fragen einer Regelung bedürfen, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles.

16.57

Die wesentlichen Regelungsgegenstände und übliche Formulierungen ergeben sich aus den nachfolgenden Formulierungsbeispielen. Der Auflösungsvertrag wird regelmäßig durch eine Eingangsformulierung eingeleitet.

16.58

Formulierungsbeispiel:

16.59

„Die (genaue Bezeichnung des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers) treffen zur einvernehmlichen Auflösung des zwischen ihnen begründeten Arbeitsverhältnisses folgende Vereinbarungen:“

a) Beendigung Da dem Auflösungsvertrag keine Kündigung vorausgeht, sondern der Auflösungsvertrag selbst das Arbeitsverhältnis auflöst, muss der Vertrag zunächst den Zeitpunkt nennen, zu dem das Arbeitsverhältnis beendet werden soll66.

16.60

Auf Arbeitnehmerseite wird darauf zu achten sein, dass in der Regel bei einer einvernehmlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses „betriebliche Gründe“ angegeben werden. Das gilt insbesondere dann, wenn an sich verhaltens- oder personenbedingte Gründe vom Arbeitgeber geltend gemacht werden. Wenn tatsächlich betriebsbedingte Gründe vorliegen können, also der Arbeitsplatz wegfällt, sollte das auch als Bezeichnung des Beendigungshintergrunds in die Formulierung aufgenommen werden.

16.61

Mit dieser Formulierung haben Arbeitgeber unter Umständen Schwierigkeiten, weil betriebsbedingte Beendigungen des Arbeitsverhältnisses, wenn eine tarifliche Regelung besteht, zB im RatSchTV, einen Abfindungsanspruch auslösen können. Wegen der normativen Wirkung tariflicher Vorschriften sollte man diesen, auf den ersten Blick eher nebensächlichen, Gesichtspunkt auf jeden Fall im Auge behalten, insbesondere natürlich auf Arbeitgeberseite. Denn auf tarifliche Ansprüche kann nur mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien verzichtet werden. Das gilt selbstverständlich auch für den konkludenten Verzicht.

16.62

Zur Regelung des Tatbestands der Beendigung empfiehlt sich deshalb folgende Formulierung:

16.63

„Die Parteien sind sich darüber einig, dass das zwischen ihnen begründete Arbeitsverhältnis aus dringenden betrieblichen Gründen mit Ablauf des … sein Ende finden wird/gefunden hat67.

65 Vgl. ErfK/Müller-Glöge, § 620 BGB Rz. 14; s. auch Bauer, NZA 2002, 169 (172). 66 Überschreitet der von den Parteien gewählte Beendigungszeitpunkt die jeweilige Kündigungsfrist um ein Vielfaches, kann unter Umständen eine befristete Fortsetzung des Dauerarbeitsverhältnisses vorliegen, vgl. BAG v. 15.2.2007 – 6 AZR 286/06, ArbRB 2007, 196 = DB 2007, 1816, mit der Folge, dass ein Sachgrund für diese Befristung vorliegen muss. 67 Vgl. Tschöpe/Schulte, Teil 3 C Rz. 48.

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489

§ 16 Rz. 16.64

Beendigungsvereinbarungen

b) Abfindung

16.64 Auch in Auflösungsverträgen im öffentlichen Dienst können Abfindungen vereinbart werden68. Anders als in der Privatwirtschaft sind Abfindungen im öffentlichen Dienst auch an den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit auszurichten, ggf. wird das durch den Rechnungsprüfungshof überprüft.

16.65 Wird der Aufhebungsvertrag im Zusammenhang mit einer Rationalisierungsmaßnahme im Sinne des Tarifvertrages über den Rationalisierungsschutz für Angestellte vom 9.1.1987 (RatSchTV Ang) abgeschlossen, ist die Abfindungshöhe an § 7 RatSchTV zu messen. Im Anwendungsbereich des Tarifvertrages gilt diese Vorschrift selbst dann, wenn der Arbeitnehmer von sich aus den Abschluss eines Auflösungsvertrages anbietet69.

16.66 Im Übrigen gelten im öffentlichen Dienst keine Sonderregelungen. Die Abfindung ist nicht steuerfrei, sondern wie Arbeitsentgelt zu versteuern70.

16.67 Die Abfindung wegen der Beendigung eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses stellt kein beitragspflichtiges Arbeitsentgelt dar71. Das kann man zur Klarstellung in den Vertragstext aufnehmen, die Fachleute in den jeweiligen Personalabteilungen wissen das aber, so dass in der Praxis solche Formulierungen weder erforderlich sind noch im Regelfall verwendet werden.

16.68 Nach inzwischen wohl als gesichert anzusehender Rechtsprechung ist der Abfindungsanspruch vererblich, wenn die Parteien nichts anderes vereinbart haben, auch schon vor Beendigung des Arbeitsvertrages72. Das ist allerdings nur für den gerichtlichen Vergleich entschieden worden, der materiellrechtlich in der Regel ein Abwicklungsvertrag ist. Für den Auflösungsvertrag ist das nicht so eindeutig entschieden, deshalb sollte in den Text immer eine Klarstellung zur Fälligkeit, zur Entstehung des Anspruchs und zur Vererblichkeit aufgenommen werden. Daraus ergibt sich folgender Formulierungsvorschlag: Die Arbeitgeberin zahlt an Frau/Herrn … eine Abfindung entsprechend den §§ 9, 10 KSchG (§ 7 RatSchTV Ang) in Höhe von … Euro. Der Anspruch entsteht mit Abschluss dieser Vereinbarung und ist fällig zum Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Der Anspruch ist mithin vererblich.

c) Freistellung

16.69 Hat ein Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis gekündigt, kann er selbstverständlich bis zum Ablauf der Kündigungsfrist auch die Arbeitskraft in Anspruch nehmen. In vielen Fällen gibt es aber gute Gründe, darauf zu verzichten und eine Freistellung zu vereinbaren, die nicht nur den Interessen des Arbeitnehmers dient. 68 BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 357/10, NZA 2012, 205: dort zu den Folgen bei Nichtzahlung, § 323 Abs. 1 BGB. 69 LAG Hamm v. 5.10.2000 – 17 Sa 1093/00, ArbRB online. 70 Vgl. zur steuerlichen Optimierung auch Bauer/Krieger/Arnold, G Rz. 31 ff.; ferner HWK/Fischer, § 38 EstG Rz. 67 „Entlassungsabfindungen“ unter Hinweis auf die sog. „Fünftelungsregelung“, § 34 Abs. 1 EStG. 71 Vgl. BSG v. 21.2.1990 – 12 RK 20/88, NZA 1990, 751. 72 Vgl. BAG v. 22.5.2003 – 2 AZR 250/02, NZA 2004, 1352; weitere Nachweise bei Tschöpe/Schulte, Teil 3 C Rz. 33 mwN, mit Formulierungsbespiel in Rz. 33a.

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Aufhebungsverträge mit öffentlichen Arbeitgebern

Rz. 16.75 § 16

Bei einer betriebsbedingten Kündigung kann der Beschäftigungsbedarf schon vor Ablauf 16.70 der Kündigungsfrist wegfallen, zB weil es den Arbeitsplatz nicht mehr gibt. Bei einer verhaltensbedingten Kündigung, deren Gründe für eine fristlose Kündigung nicht „gereicht“ haben, könnte der Arbeitgeber gleichwohl ein erhebliches Interesse daran haben, den Arbeitnehmer nicht mehr zu sehen. Umgekehrt haben Arbeitnehmer mitunter triftige, insbesondere emotionale Gründe, ihr bisheriges Arbeitsumfeld zu meiden, wenn sie sich mit dem Arbeitgeber auf eine Beendigung verständigt haben. Das gilt insbesondere, wenn nicht betriebsbedingte Gründe vorliegen und das Arbeitsverhältnis schwer gestört ist. Auf Arbeitnehmerseite besteht dann häufig auch ein Bedürfnis, vor weiteren Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber und möglicherweise auch dem Risiko einer fristlosen Kündigung geschützt zu werden. Außerdem können sie sich in der bezahlten Freizeit intensiv um ein Anschlussbeschäftigungsverhältnis kümmern.

16.71

Auf beiden Seiten gibt es jedoch Risiken, die erkannt und durch entsprechende Regelungen berücksichtigt und entschärft werden sollten.

16.72

Insbesondere aufgrund der Rechtsprechung des BAG sind sowohl die einseitige Freistellung von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung als auch die Vereinbarung über eine Freistellung mit komplexen Folgeproblemen behaftet. So ist sowohl im Fall der einseitigen wie der vereinbarten Freistellung vor allem zu prüfen und deshalb auch zu regeln, ob die Freistellung unwiderruflich oder widerruflich sein soll. Stellt der Arbeitgeber den Arbeitnehmer ohne jede weitere Erklärung von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung frei, ist im Zweifel anzunehmen, dass dies widerruflich geschieht73; wird dabei angefügt, dass mit der Freistellung offene Urlaubsansprüche sowie noch nicht abgegoltene Zeitguthaben angerechnet werden, ist die Freistellung widerruflich erklärt74.

16.73

In der Vergangenheit aufgetretene Probleme zum Umfang der Sozialversicherungspflicht in 16.74 dieser Freistellungsphase sind durch die Rechtsprechung des BSG75 beseitigt worden. Die Freistellung von der Arbeitsverpflichtung beseitigt nicht ein Beschäftigungsverhältnis in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht, sofern die Vergütung weiter gezahlt wird. Zwar setze die Versicherungspflicht eine Beschäftigung iSd. § 7 Abs. 1 SGB VI voraus. Deshalb fordere das Gesetz auch den tatsächlichen Vollzug eines Beschäftigungsverhältnisses durch tatsächliche Erbringung der versprochenen Dienste. Dieser „Vollzug“ könne aber ausnahmsweise auch durch andere Umstände ersetzt werden, zB, wenn das rechtliche Band durch besondere vertragliche Abrede durch einseitige Befreiung von einer Leistungspflicht, die an sich weiterbesteht, gelockert wird. Unter Hinweis auf die Durchbrechungen der Beschäftigung an zahlreichen Stellen im Arbeitsrecht, etwa im Bereich der Entgeltfortzahlung bei Krankheit, bei Urlaubsgewährung und im Fall des Annahmeverzugs, halte der Gesetzgeber den Fortbestand der Sozialversicherungspflicht auch ohne ausdrückliche Anordnung für selbstverständlich. Des73 Vgl. BAG v. 14.3.2006 – 9 AZR 11/05, ArbRB 2006, 291 = NZA 2006, 1008; ferner BAG v. 30.5.2006 – 1 AZR 25/05, NZA 2006, 1122. 74 So auch Bauer, NZA 2007, 409; vgl. auch Ebert/Schar, Freistellungsvereinbarungen im Aufhebungs-/Abwicklungsvertrag, ArbRB 2003, 215 (216 re. Sp.). 75 BSG v. 24.9.2008 – B 12 KR 27/07 R, NJW-Spezial 2009, 242; anders noch BSG v. 21.8.1997 – 12 BK 63/97, nv.: Keine Fortdauer des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nach gerichtlichem Vergleich, mit dem der Arbeitnehmer bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres unter Fortzahlung der Bezüge über lange Zeit hinweg unwiderruflich freigestellt wurde; vgl. dazu auch Bauer/Krieger, DB 2005, 2242 (2243) zur bisherigen rechtlichen Situation.

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491

16.75

§ 16 Rz. 16.75

Beendigungsvereinbarungen

halb könne nichts anderes bei einer einvernehmlich vereinbarten Freistellung gelten, sofern am vertraglichen Band festhalten und die Freistellung lediglich als Ersatz für die Arbeitspflicht betrachtet werde. Ausdrücklich wird festgehalten, dass das auch dann gelte, wenn die Rückkehr des Arbeitnehmers an den Arbeitsplatz nach der Freistellung nicht beabsichtigt sei. Deshalb sei auch in solchen Fällen eine Beschäftigung im beitragsrechtlichen Sinne nicht ausgeschlossen.

16.76 Auch nach der Entscheidung des 12. Senats des BSG hatten die GKV-Spitzenverbände der Deutschen Rentenversicherung Bund und der Bundesagentur für Arbeit noch in Frage gestellt, ob die Versicherungspflicht fortbestehe76; inzwischen kann die fortbestehende Versicherungspflicht jedoch als gesichert gelten mit Ausnahme der Unfallversicherung. Das erscheint sinnvoll, denn die Dispositionsbefugnis des Arbeitgebers ist bei einer solchen unwiderruflichen Freistellung endgültig entfallen und deshalb liegt auch kein zu versicherndes Risiko mehr vor77. Dasselbe wird für die sog. Aktivphase der Altersteilzeit zu gelten haben, wenn auch für diese Zeit eine unwiderrufliche Freistellung vereinbart wird.

16.77 Auf Arbeitgeberseite hat die unwiderrufliche Freistellung erhebliche nachteilige Folgen. Nach Ansicht des BAG78 beseitigt die unwiderrufliche Freistellung den Annahmeverzug des Arbeitgebers in Bezug auf die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers mit der Folge, dass eine Anrechnung des Zwischenverdienstes des Arbeitnehmers gemäß § 615 Satz 2 BGB nicht stattfindet. Die Anrechnung setze Annahmeverzug voraus, der gerade nicht vorliege79. Darüber hinaus verzichtet der Arbeitgeber in einem solchen Fall auf das während des Arbeitsverhältnisses bestehende Wettbewerbsverbot gemäß § 60 HGB80. Von nur geringerem Vorteil ist die unwiderrufliche Freistellung im Hinblick auf einen etwa noch bestehenden Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers. Dieser wird durch die unwiderrufliche Freistellung erteilt81.

16.78 Wird dagegen – ohne weitere Regelungen aufzunehmen – der Arbeitnehmer widerruflich von der Arbeitsverpflichtung befreit, kann damit der Urlaubsanspruch nicht erfüllt werden. Der Arbeitgeber behält sich dann vor, den Arbeitnehmer jederzeit wieder einzusetzen. Wenn er nicht gleichzeitig mit der widerruflichen Freistellung den Zeitraum, in dem der Urlaub genommen werden soll, exakt bestimmt, kann der Arbeitnehmer nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses Urlaubsabgeltung verlangen82.

16.79 Die Freistellung im öffentlichen Dienst muss also den allgemeinen Risiken Rechnung tragen, ebenso wie im privaten Arbeitsverhältnis. Es kommt aber noch hinzu, dass eine Freistellung, die einen einseitigen Verzicht auf die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers bedeutet, mit den Grundsätzen der sparsamen Haushaltsführung kollidieren kann. Der öffentliche Arbeitgeber ist bei einer solchen Gestaltung verpflichtet, die Vergütung weiterzuzahlen, ohne dass er dafür eine Gegenleistung erhält. Erstreckt sich die Freistellung über einen längeren Zeitraum – möglich ist aufgrund der tariflichen Kündigungsfristen des § 34 TVöD bei 76 Vgl. dazu Fuhlrott, NZA 2017, 225. 77 Vgl. dazu auch Küttner/Schlegel, Freistellung von der Arbeit, Rz. 47-49 mwN. 78 BAG v. 19.3.2002 – 9 AZR 16/01, ArbRB 2003, 133 = NZA 2002, 1055; bestätigt durch BAG v. 6.9.2006 – 5 AZR 703/05, ArbRB 2007, 6 = NZA 2007, 36. 79 AA Bauer, NZA 2007, 409, (411 re. Sp. unter II. 1. aE). 80 Vgl. BAG v. 6.9.2006 – 5 AZR 703/05, ArbRB 2007, 6 = NZA 2007, 36 f. 81 Vgl. auch Bauer, NZA 2007, 409 mwN. 82 Vgl. dazu auch Tschöpe/Schulte, Teil 3 C Rz. 35; Bauer, NZA 2007, 409 (410).

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Aufhebungsverträge mit öffentlichen Arbeitgebern

Rz. 16.82 § 16

Ausschöpfen der längsten Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Kalendervierteljahr nahezu ein Dreivierteljahr –, muss deshalb der öffentliche Arbeitgeber besonders sorgfältig prüfen, ob haushaltsrechtlich eine Freistellung in Betracht kommen kann. Er muss abwägen, ob die Weiterbeschäftigung in der konkreten Situation mehr Schaden bringen kann oder Nutzen bedeutet, auf den zu Unrecht verzichtet würde. Diese Frage wird auch nicht isoliert zu entscheiden sein, weil bei Beendigungsvereinbarungen in aller Regel ein „Gesamtpaket geschnürt“ wird, das sich zusammensetzt aus allen dem Arbeitnehmer gewährten wirtschaftlichen Vorteilen, also neben der Abfindung auch die finanzierte Kündigungszeit oder andere Leistungen als Gegenleistung für die Preisgabe des Arbeitsverhältnisses. Die Überlegungen des öffentlichen Arbeitgebers sollten daher in jedem Fall dokumentiert und zur Personalakte festgehalten werden. Das hilft bei einer evtl. Beanstandung der Rechnungsprüfer. Zu regeln ist während der Freistellung auch die Frage, welche Vergütung fortgezahlt wird. Im Gegensatz zur Privatwirtschaft, wo variable Vergütungen gezahlt werden und das Regelungsbedürfnis höher ist, wird es allerdings solche Vergütungsgestaltungen im öffentlichen Dienst so gut wie nicht geben. Auch Dienstwagen, die zur privaten Nutzung zur Verfügung gestellt werden, die in der Freistellungsphase dann ausschließlich privat genutzt würden, sind kein Problem im öffentlichen Arbeitsverhältnis83.

16.80

Man wird deshalb folgende Standardformulierung wählen können:

16.81

Formulierungsvorschlag bei unwiderruflicher Freistellung, Anrechnung des Zwischenverdienstes: „Frau/Herr … wird unter Fortzahlung aller Vergütungsbestandteile bis zum …, dem vereinbarten Ende des Arbeitsverhältnisses, von jeglicher Verpflichtung zur Arbeitsleistung unwiderruflich freigestellt, wobei zwischen den Parteien Einigkeit besteht, dass sich Frau/Herr … in dieser Zeit erzielten Zwischenverdienst anrechnen lassen muss. In der Zeit vom … bis zum … wird Frau/Herrn … Urlaub/ Freizeitausgleich für Mehrarbeit gewährt. Formulierungsvorschlag bei widerruflicher Freistellung: „Frau/Herr … wird unter Fortzahlung aller Vergütungsbestandteile bis zum …, dem vereinbarten Ende des Arbeitsverhältnisses, von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung widerruflich freigestellt. Die Parteien sind sich aber einig, dass in der Zeit vom … bis zum … Frau/Herrn … Urlaub/Freizeitausgleich für Mehrarbeit gewährt wird.“

d) Urlaub und Urlaubsabgeltung Hinsichtlich der Behandlung von Urlaubsansprüchen bestehen keine Unterschiede zu Aufhebungsverträgen in der Privatwirtschaft. Formulierungsvorschlag: Die Parteien sind sich darüber einig, dass Frau/Herr … noch einen Resturlaubsanspruch in Höhe von … Tagen hat, davon … Tage aus dem Vorjahr. Ferner besteht Einvernehmen, dass dieser Urlaub in der Zeit vom … bis … genommen wird.

83 Vgl. dazu ausführlich auch Ebert/Schar, ArbRB 2003, 215 f.

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16.82

§ 16 Rz. 16.83

Beendigungsvereinbarungen

e) Wettbewerbsverbot

16.83 Die Vereinbarung eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbotes dürfte in weiten Bereichen des öffentlichen Dienstes nicht geboten sein, da aufgrund der Eigenart der von der öffentlichen Verwaltung und sonstigen von öffentlichen Stellen angebotenen Dienstleistungen, die von dem konkreten Arbeitnehmer erbracht werden, keine echte Wettbewerbssituation auftreten kann. Dies betrifft insbesondere Bereiche, die allein der öffentlichen Verwaltung bzw. öffentlichen Hand vorbehalten sind.

16.84 In anderen Bereichen, dh. bei Dienstleistungen und Tätigkeiten, die auch auf privatwirtschaftlicher Grundlage erbracht werden können, man denke etwa an Lehrkräfte oder das Personal von Universitätskliniken, wird ebenfalls in der Regel die Vereinbarung eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbotes ausscheiden, da dem öffentlichen Arbeitgeber kein wichtiger Grund iSd. § 74a HGB zusteht. Denn zum einen ist die Berufsausübung regelmäßig durch Rechtsvorschriften reglementiert. Regelmäßig wird keine Gefahr der Weitergabe von Betriebsgeheimnissen bestehen. Ebenso wenig wird ein Einbruch im Kunden- bzw. Lieferantenkreis zu befürchten sein.

16.85 In Ausnahmefällen, in denen doch ein Wettbewerbsverbot in Betracht kommen kann, empfiehlt sich, je nachdem, ob es bestehen bleiben oder aufgehoben werden soll, folgender Formulierungsvorschlag: Die Parteien sind sich darüber einig, dass das zwischen ihnen vereinbarte nachvertragliche Wettbewerbsverbot unverändert gilt und wirksam ist/mit sofortiger Wirkung aufgehoben wird und keinerlei wechselseitige Verpflichtungen mehr auslöst.

f) Zeugnis

16.86 Gegenstand der Verhandlungen und auch der Vereinbarungen in der Beendigungsvereinbarung ist regelmäßig auch der Zeugnisanspruch des Beschäftigten. Der gesetzlich normierte Anspruch aus § 109 GewO besteht sowohl auf Erteilung eines Zwischenzeugnisses als auch eines Endzeugnisses.

16.87 Regelmäßig ist das Arbeitsverhältnis noch nicht beendet, wenn ein Aufhebungsvertrag abgeschlossen wird. Deshalb kommt auch ein Zwischenzeugnis in Betracht. Um weiteren Streit zu vermeiden, ist beiden Seiten anzuraten, sich, wenn eben möglich, bereits vor Abschluss der Beendigungsvereinbarung über den Text des Zwischenzeugnisses als auch des Endzeugnisses zu einigen. Das Zeugnis kann dann als Anlage im Entwurf dem Vertragstext beigefügt werden. Dabei ist auf die feste Verbindung zum Vertragstext zu achten (Klammern oder Ösen, möglich ist auch die Unterzeichnung auf der Anlage). Formulierungsvorschlag: Der Arbeitgeber erteilt Frau/Herrn … ein qualifiziertes Zwischenzeugnis und – am Ende des Arbeitsverhältnisses – ein Zeugnis nach den in der Anlage beigefügten Entwürfen.

g) Ansprüche aus Zusatzversorgung

16.88 Den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes wird ein eigenes System der betrieblichen Altersversorgung angeboten. Es ist – aufgrund der Nähe zur Beamtenschaft – historisch gewachsen und beruht maßgeblich auf Altersvorsorge-Tarifverträgen.

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Aufhebungsverträge mit öffentlichen Arbeitgebern

Rz. 16.95 § 16

Bis 2002 erhielten Beschäftigte des öffentlichen Dienstes eine Zusatzversorgungs-Rente, durch 16.89 die die gesetzliche Rente zu einer sog. „Gesamtversorgung“ aufgestockt wurde. Versorgungsträger sind die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) sowie weitere Versorgungskassen im kommunalen und kirchlichen Bereich, die unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft kommunale und kirchliche Altersversorgung e.V. zusammengefasst sind. Um die Finanzierbarkeit der Zusatzversorgung langfristig sicherzustellen, wurde das bisherige „Gesamtversorgungs-System“ zum 1.1.2002 auf ein „Punktesystem“ umgestellt. Danach erhalten Leistungsberechtigte künftig neben der gesetzlichen Rente nur noch eine Zusatzrente, die allein auf dem Ertrag eingezahlter Beiträge basiert („kapitalgedeckte“ Zusatzrente).

16.90

Die Regelungen des BetrAVG gelten nach der Sonderregelung des § 18 BetrAVG für Leistungsempfänger der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes nur beschränkt.

16.91

Ob zu den anwendbaren Regelungen auch das Abfindungsverbot des § 3 BetrAVG gehört, lässt sich aus dem Gesetzestext nicht erschließen. Aus § 22 des Tarifvertrages über die betriebliche Altersversorgung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (ATV) ergibt sich jedoch, dass nach Sinn und Zweck des Abfindungsverbots des § 3 BetrAVG dies auch für die öffentlichen Versorgungsträger gelten muss. Denn nur Kleinst-Betriebsrenten dürfen nach der Vorschrift des § 22 ATV abgefunden werden. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass außerhalb dieser Ausnahme das Abfindungsverbot gilt. Ob das unmittelbar aus § 3 BetrAVG folgt oder aus dem Gesamtzusammenhang der Regelung, mag für die Praxis dahinstehen.

16.92

h) Ausgleichsklausel Um mit dem Aufhebungsvertrag einen Schlussstrich unter das Arbeitsverhältnis zu ziehen, 16.93 sollte über eine abschließende Ausgleichsklausel (Abgeltungs-, Erledigungsklausel) nachgedacht werden. Mit einer solchen Formulierung können und sollen sämtliche sonstigen (wechselseitigen, insbesondere finanziellen) Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis erledigt werden, die in der Aufhebungsvereinbarung nicht besonders geregelt worden sind. Nach der Rechtsprechung des BAG können grundsätzlich alle verzichtbaren Ansprüche von 16.94 einer Ausgleichsklausel erfasst werden, wenn es um das Erlöschen etwaiger Ansprüche geht, die schon entstanden sind84. Dazu zählen dann auch unbekannte Ansprüche, dh. solche, die die Parteien nicht kennen konnten oder an die eine oder beide Parteien nicht gedacht haben, und auch Ansprüche, die zwar entstanden, aber noch nicht fällig sind. Ohne besondere Vereinbarung sind von einer Abgeltungsklausel aber nicht künftige Ansprüche erfasst, die also im Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch gar nicht entstanden waren85. Zu beachten ist weiterhin, dass Ausgleichsklauseln als Teil eines Aufhebungsvertrags Nebenabreden und deshalb nicht kontrollfrei sind86. Soweit die Parteien frei disponieren können, etwa über Schadensersatzansprüche bzw. Ur- 16.95 laubs- oder Urlaubsabgeltungsansprüche, ergeben sich dieselben Probleme wie in der Privat84 BAG v. 27.5.2015 – 5 AZR 137/14, ArbRB 2015, 263 (Schewiola) = NZA 2015, 1125; v. 23.9.2003 – 1 AZR 576/02, ArbRB 2004, 104 = NZA 2004, 440. 85 Küttner/Schmidt, Ausgleichsquittung, Rz. 9 mwN. 86 Insbesondere Ausgleichsklauseln, die einseitig nur Ansprüche des Arbeitnehmers erfassen und dafür keine entsprechende Gegenleistung gewähren, sind unangemessen benachteiligend iSv. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB, BAG v. 21.6.2011 – 9 AZR 203/10, ArbRB 2011, 363 = NZA 2011, 1338.

Schulte

495

§ 16 Rz. 16.95

Beendigungsvereinbarungen

wirtschaft87. Daher sollte zunächst die Anspruchssituation vollständig geklärt werden, soweit dies möglich ist, und auf dieser Basis die Ausgleichsklausel formuliert werden. Soweit solche Ansprüche noch nicht ermittelbar sind, insbesondere dann, wenn das Arbeitsverhältnis – nach Abschluss der Aufhebungsvereinbarung – zunächst noch fortbesteht, ist zu überlegen, solche Ansprüche von der Ausgleichsklausel auszunehmen. Formulierungsvorschlag: Die Parteien sind sich darüber einig, dass mit Abschluss dieser Vereinbarung alle wechselseitigen Ansprüche aus dem beendeten Arbeitsverhältnis ausgeglichen und abgegolten sind und keine Tatsachen vorliegen, die weitergehende Ansprüche rechtfertigen könnten, insbesondere der Urlaub tatsächlich gewährt worden ist (zusätzlich bei evtl. noch bestehendem Arbeitsverhältnis: Mit dieser Vereinbarung sind nicht solche Ansprüche erfasst, die aus solchen Umständen sich ergeben können, die erst in der Zukunft liegen).

87 Vgl. hierzu ausführlich Tschöpe/Schulte, Teil 3 C Rz. 47.

496

Schulte

§ 17 Kündigungen

17.5

f) Abfindungsregelung, § 7 RatSchTV . . . . . . . . . . . . . . .

17.62

17.6

6. Mitwirkung der Personalvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17.64

I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . .

17.1

II. Ordentliche Kündigung . . . . . . . . 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . a) Betriebsgröße, § 23 Abs. 1 KSchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dienststelle und Verwaltung . . . c) Wartezeit, § 1 Abs. 1 KSchG . . .

17.6 17.8 17.9

2. Kündigungserklärung . . . . . . . . . .

17.11

3. Vertretungsmacht . . . . . . . . . . . . . a) Vertretungsmacht und Entscheidungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . b) Vertretung und Vollmacht, § 174 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . .

17.13

4. Besonderheiten der betriebsbedingten Kündigung . . . . . . . . . . a) Dringendes betriebliches Erfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . aa) „Unternehmerentscheidung“ des öffentlichen Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . bb) Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . cc) Bedeutung eines „kw-Vermerkes“ . . . . . . . . . dd) Darlegungslast . . . . . . . . . . b) Keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . c) Besonderheiten der Sozialauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Dienststellenweite Auswahl bb) Vergleichbarkeit . . . . . . . . . cc) Auswahlrichtlinien, zB § 76 Abs. 2 Nr. 8 BPersVG . 5. Rationalisierung und Kündigungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anwendungsbereich . . . . . . . . . b) Begriff der Rationalisierungsmaßnahme, § 1 RatSchTV . . . . . c) Unterrichtungspflichten, § 2 RatSchTV . . . . . . . . . . . . . . d) Arbeitsplatzsicherung, §§ 3, 4 RatSchTV . . . . . . . . . . . . e) Besonderer Kündigungsschutz, § 5 RatSchTV . . . . . . . . . . . . . .

17.15 17.17 17.22 17.23 17.24 17.25 17.30 17.31 17.33 17.40 17.41 17.43 17.45 17.49 17.50

7. Besonderheiten bei personenbedingter und verhaltensbedingter Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Personenbedingte Kündigung . . aa) Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit . . . . bb) Politische, religiöse oder weltanschauliche Betätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhaltensbedingte Kündigung . aa) Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit . . . . bb) Politische, religiöse oder weltanschauliche Betätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bürgerunfreundliches Verhalten . . . . . . . . . . . . . . dd) Straftaten . . . . . . . . . . . . . . ee) Abmahnung . . . . . . . . . . . .

17.67 17.68 17.71 17.74 17.77 17.79 17.80 17.84 17.85 17.87

8. Kündigungsfristen . . . . . . . . . . . . . 17.90 a) Kündigungsfristen des § 34 TVöD . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.91 b) Unkündbarkeit, § 34 Abs. 2 TVöD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.94 c) Beschäftigungszeiten, § 34 Abs. 3 TVöD . . . . . . . . . . . 17.97 aa) Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber . . . . . . . 17.98 bb) Unterbrechungszeiten . . . . . 17.102 cc) Beschäftigungszeiten bei anderen Arbeitgebern . . . . . 17.103 9. Ausschluss und Einschränkung der ordentlichen Kündigung . . . . . 17.107 III. Außerordentliche Kündigung . . . . 17.112

17.52

1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.112

17.56

2. Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit . . . . . . . . . . . . 17.114

17.57

3. Einzelfälle zum wichtigen Grund . 17.115

17.58

4. Erklärungsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . 17.116 IV. Änderungskündigung . . . . . . . . . . 17.117

Schulte

497

§ 17 Rz. 17.1

Kündigungen

Schrifttum: Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, TVöD, Stand: 1.6.2019, zit.: BeckOK TVöD/Bearbeiter, § …, Rz. …; Sponer/Steinherr, Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, Loseblatt; Mues/Eisenbeis/Laber, Handbuch Kündigungsrecht, 2. Aufl. 2010; Stahlhacke/Preis/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 11. Aufl. 2015.

I. Vorbemerkung 17.1 Für eine Kündigung eines Arbeitsverhältnisses im öffentlichen Dienst gelten wie in der Privatwirtschaft §§ 620 ff. BGB, §§ 1 ff. KSchG sowie der spezialgesetzlich geregelte Kündigungsschutz; auch der Arbeitsvertrag kann ergänzende Regelungen enthalten, insbesondere zur Einhaltung der Fristen für eine ordentliche Kündigung.

17.2 Besonderheiten ergeben sich aus den nur für den öffentlichen Dienst geltenden personalvertretungsrechtlichen Vorschriften des Bundes und der Länder. Darüber hinaus gelten entweder unmittelbar, weil beide Parteien des Arbeitsverhältnisses jeweils der tarifvertragschließenden Vereinigung angehören, oder aufgrund individualrechtlicher Abrede die Vorschriften von Tarifverträgen, die nur für den öffentlichen Dienst gelten, insbesondere die Vorschriften des TVöD, des TV-L oder anderer Tarifwerke, die den BAT abgelöst haben, einschließlich aller Zusatz- und Sonderregelungen.

17.3 Natürlich gelten auch, was häufig übersehen wird, alle Regeln des BGB, die sich mit Rechtsgeschäften befassen, also auch der allgemeine Teil, zB § 174 BGB (vgl. dazu auch Rz. 17.17 ff.).

17.4 Die Darstellung beschränkt sich auf die Besonderheiten, die für Arbeitsverhältnisse mit öffentlichen Arbeitgebern zu beachten sind. Dabei ist auch im öffentlichen Dienst zwischen ordentlichen und außerordentlichen, Beendigungs- und Änderungskündigungen zu unterscheiden.

II. Ordentliche Kündigung 17.5 Die ordentliche, fristgerechte Kündigung steht im öffentlichen Dienst zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses ebenso zur Verfügung wie die außerordentliche, fristlose Kündigung oder eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist. Für die ordentliche Kündigung im öffentlichen Dienst gelten die allgemeinen Regelungen mit einigen Besonderheiten. 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes a) Betriebsgröße, § 23 Abs. 1 KSchG

17.6 Gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 KSchG gelten die §§ 1–16 KSchG für Betriebe und Verwaltungen des privaten und des öffentlichen Rechts. Ungeachtet der konkreten Rechtsform im Einzelfall findet das KSchG somit auch bei Kündigungen u.a. im öffentlichen Dienst1 Anwendung.

17.7 Bei Anwendung des § 23 Abs. 1 KSchG auf Arbeitsverhältnisse mit öffentlichen Arbeitgebern kommt es nicht entscheidend auf die begriffliche Differenzierung zwischen „Betrieb“ 1 BAG v. 23.4.1998 – 2 AZR 489/97, NZA 1998, 995.

498

Schulte

Ordentliche Kündigung

Rz. 17.10 § 17

bzw. „Verwaltung“ „des öffentlichen Rechts“ an. Sofern man überhaupt auf den Begriff des „Betriebs des öffentlichen Rechts“ abstellen will, sind davon Betriebe erfasst, deren Inhaber und unmittelbarer Betreiber eine Person des öffentlichen Rechts ist. Maßgeblich ist also die Organisationsform. Erfasst sind Eigen- bzw. Regiebetriebe, nicht aber Betriebe einer juristischen Person des Privatrechts, selbst wenn daran ausschließlich eine Person des öffentlichen Rechts beteiligt ist2. b) Dienststelle und Verwaltung Das BAG stellt aber grundsätzlich auf den Begriff „Verwaltung“, nicht auf den Begriff „Betrieb“ ab3. Das ergibt sich aus § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG. Der Begriff „Betrieb“ wird für die Privatwirtschaft in Anlehnung an das Betriebsverfassungsrecht definiert. Für den Bereich der öffentlichen Verwaltung wäre – in Anlehnung an das Personalvertretungsrecht – auf den Begriff der „Dienststelle“ abzustellen4. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG ist es mit dem Sinn und Zweck der Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG nicht vereinbar, den Kündigungsschutz auf dem Umweg über einen personalvertretungsrechtlichen Dienststellenbegriff zu entziehen5. § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG beruht auf der mittelstandspolitischen Erwägung, Kleinunternehmer zu schützen6. Im Bereich der öffentlichen Verwaltung fällt dieser Schutzzweck fort. Es besteht kein Grund, Kleinsteinheiten wegen unbilliger Härten des KSchG aus dessen Anwendungsbereich herauszunehmen. Deshalb stellt das BAG nicht auf einzelne Teile (nachgeordnete Dienststellen) ab, sondern allein auf die Verwaltung als solche, dh. die organisatorische Einheit, in der mehrere Dienststellen zu einer administrativen Hierarchie zusammengefasst werden7. Damit gelten §§ 1 ff. KSchG auch dann, wenn in der einzelnen Dienststelle weniger als 5 bzw. 10 Arbeitnehmer beschäftigt sind.

17.8

c) Wartezeit, § 1 Abs. 1 KSchG Bei § 1 Abs. 1 KSchG ist zu beachten, dass die Wartezeit nicht mit der Beschäftigungszeit iSd. § 34 Abs. 3 TVöD identisch ist. Maßgeblich ist also nicht die Zeit der ununterbrochenen tatsächlichen Beschäftigung iSd. § 34 TVöD (dazu Rz. 17.97), sondern die Zeit, in der das Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber ohne Unterbrechung rechtlichen Bestand hatte.

17.9

Daher sind bei einem anderen Dienstherrn bzw. einer anderen Gemeinde zurückgelegte Beschäftigungszeiten nicht auf die Wartezeit iSd. § 1 Abs. 1 KSchG anrechenbar8.

17.10

Allerdings können Zeiten eines früheren Arbeitsverhältnisses mit demselben Arbeitgeber nach § 1 Abs. 1 KSchG (und auch nach § 90 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX) anzurechnen sein, wenn sie mit dem neuen Arbeitsverhältnis in engem Zusammenhang stehen9. Rechtliche Unterbre-

2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. APS/Moll, § 23 KSchG Rz. 22 mwN. BAG v. 23.4.1998 – 2 AZR 489/97, NZA 1998, 995. BAG v. 25.9.1956 – 3 AZR 102/54, BAGE 3, 155 (157). Vgl. bereits BAG v. 2.1.1984 – 2 AZR 593/82, nv. BAG v. 19.4.1990 – 2 AZR 487/89, BAGE 64, 315 (322). BAG v. 23.4.1998 – 2 AZR 489/97, NZA 1998, 995. BAG v. 1.7.1999 – 2 AZR 926/98, NZA 2000, 437. BAG v. 20.8.1998 – 2 AZR 76/98, BB 1998, 2480.

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§ 17 Rz. 17.10

Kündigungen

chungen schaden also zB nicht bei Lehrern, deren Arbeitsverhältnisse vom Land während der Schulferienzeiten, in denen keine Arbeitsleistung anfällt, nicht fortgeführt werden10. 2. Kündigungserklärung

17.11 Die Kündigungserklärung bedarf auch im öffentlichen Dienst gemäß § 623 BGB der Schriftform. Sie ist nur gemäß § 126 BGB erfüllt durch eigenhändige Unterschrift des Kündigenden unter die schriftlich formulierte Kündigung. Sie muss klar und eindeutig den Willen zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses formulieren und dabei selbstverständlich auch unterscheiden zwischen ordentlicher und außerordentlicher Kündigung.

17.12 Soweit in den älteren Tarifwerken, zB § 57 Satz 1 BAT, für Kündigungen die Schriftform angeordnet war, hatte das historische Gründe, denn der Text dieser älteren Tarifwerke ist entstanden, als § 623 BGB noch nicht galt. Man war sich allgemein einig11, dass die zwingende gesetzliche Schriftform die Übernahme einer eigenen tariflichen Norm für die Form der Kündigung entbehrlich macht. Weder der TVöD noch der TV-L oder andere vergleichbare ablösende Tarifwerke enthalten deshalb eine dem § 57 Satz 1 BAT entsprechende Norm. 3. Vertretung bei der Kündigungserklärung

17.13 Zum Ausspruch der Kündigung ist auch bei einem öffentlichen Arbeitgeber das vertretungsberechtigte Organ berufen. Ist der öffentliche Arbeitgeber in privater Rechtsform (zB Stadtwerke-GmbH) organisiert, richtet sich die Vertretungsbefugnis nach den gesellschaftsrechtlichen Vorgaben12 (zB GmbH-Geschäftsführer).

17.14 Öffentliche Arbeitgeber sind überwiegend Körperschaften des öffentlichen Rechts, Bund, Länder und Gemeinden, Landkreise und sonstige Selbstverwaltungskörperschaften. Hier sind regelmäßig besondere landesrechtliche Vorschriften bzw. Satzungsregelungen über die Vertretungsmacht zu beachten. So ist zB in NRW gemäß § 63 GO NW der Bürgermeister gesetzlicher Vertreter der Gemeinde, allgemeiner Vertreter des Bürgermeisters ist gemäß § 68 GO NW der erste Beigeordnete. a) Vertretungsmacht und Entscheidungsbefugnis

17.15 Von der Vertretungsbefugnis ist die Frage der Entscheidungsbefugnis strikt zu trennen. So regelt zB § 74 Abs. 2 GO NW, dass der Bürgermeister die arbeitsrechtlichen Entscheidungen trifft, sofern die Hauptsatzung keine andere Regelung vorsieht. Dabei ist zu beachten, dass die Außenvertretungsmacht (zB des Bürgermeisters) grundsätzlich nicht durch die interne Willensbildung in gemeindlichen Gremien bzw. die interne Entscheidungszuständigkeit (zB des Rates) eingeschränkt wird, sofern die Vertretungsmacht des Außenvertretungsberechtigten nicht aufgrund besonderer Bestimmungen beschränkt ist13.

10 11 12 13

BAG v. 19.6.2007 – 2 AZR 94/06, ArbRB 2007, 324. Palandt/Weidenkaff, § 623 BGB Rz. 1. Vgl. APS/Preis, Grundlagen, D Rz. 92. So etwa früher § 54 Abs. 3 Satz 2 GO NRW aF, wonach neben der Unterschrift des Gemeindedirektors eine weitere Unterschrift eines vertretungsberechtigten Beamten erforderlich war – dazu BAG v. 26.3.1986 – 7 AZR 585/84, NJW 1987, 1038.

500

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Ordentliche Kündigung

Rz. 17.19 § 17

Außerdem ist zu beachten, dass die Kündigungsbefugnis nicht notwendigerweise mit der Einstellungsbefugnis zusammenfällt14. Denn auch der öffentliche Arbeitgeber ist darin frei, wie er die Erledigung von Personalangelegenheiten in seiner Verwaltung organisiert15. Das entscheidungsbefugte Organ kann seine Befugnis zur Entscheidung über die Kündigung uU auch auf eine andere Person übertragen. Außerdem kann das zum Ausspruch der Kündigung (außenvertretungs-)berechtigte Organ die Vertretungsbefugnis auf andere übertragen, vgl. zB § 74 Abs. 3 GO NW16.

17.16

b) Vertretung und Vollmacht, § 174 BGB Vertretungsmacht im Innenverhältnis ist zu unterscheiden vom Nachweis dieser Vertre- 17.17 tungsbefugnis im Außenverhältnis, also der Vollmacht. Dem öffentlichen Arbeitgeber wird die Erklärung eines Dritten nur dann zugerechnet, wenn dieser vom vertretungsberechtigten Organ bevollmächtigt worden ist. Liegt die Vollmacht beim Ausspruch der Kündigung nicht vor, ist die Kündigung unwirksam. Die Erklärung kann zwar später genehmigt werden, aber nicht mit Wirkung ex tunc (wichtig für Fristen, aber insbesondere bei der außerordentlichen Kündigung wegen der 14-Tage-Frist des § 626 Abs. 2 BGB). Ergibt sich bereits aus der Formulierung der Kündigung selbst oder aus der Unterschrift („im Auftrag“), dass keine Vertretererklärung abgegeben werden sollte, findet eine Zurechnung ohnehin nicht statt, die Kündigung ist unwirksam.

17.18

Losgelöst davon ist die Frage zu prüfen, ob es im Außenverhältnis der Vorlage einer Voll- 17.19 macht bedarf. Diese Frage regelt § 174 BGB, der auch für Kündigungen im Bereich des öffentlichen Dienstes gilt17. Die Vorschrift regelt die Fälle rechtsgeschäftlicher Vertretung. Der gesetzliche oder organschaftliche Vertreter muss seine Vollmacht nicht nachweisen18. In dem schon angeführten Beispiel des Bürgermeisters als zB nach § 63 GO NW gesetzlichem Vertreter der Gemeinde folgt das unmittelbar aus dem Gesetz. Er ist auch gemäß § 74 Abs. 1 GO NW in arbeitsrechtlichen Fragen entscheidungsbefugt, kann aber seine Unterschriftsbefugnis gemäß § 74 Abs. 3 Satz 2 GO NW auf eine andere Person übertragen. Gleiche Vorschriften finden sich sinngemäß in den Gemeindeordnungen der anderen Länder. Aufgrund dieser rechtsgeschäftlichen Vertretungsmacht ist § 174 BGB zu beachten19. Ob dieser rechtsgeschäftliche Vertreter eine Vollmacht des Bürgermeisters der Kündigung beifügen muss, um der Zurückweisung gemäß § 174 Satz 1 BGB zu entgehen, hängt davon ab, ob diese Kündigungsbefugnis iSd. § 174 Satz 2 BGB allgemein bekannt gemacht worden ist. Das kann grundsätzlich schon dadurch erfolgen, dass der Arbeitgeber den Kündigenden in eine Stelle beruft, die üblicherweise mit dem Kündigungsrecht verbunden ist, also zB durch die Bestellung einer Leiterin der

14 BAG v. 30.5.1972 – 2 AZR 298/71, NJW 1972, 1877. 15 BAG v. 7.11.2002 – 2 AZR 493/01, BAGR 2003, 158. 16 Bei dieser Norm handelt es sich nicht um eine Form-, sondern um eine Vertretungsvorschrift, vgl. LAG Hamm v. 10.7.1991 – 2 SA 588/90, LAGE § 174 BGB Nr. 4; vgl. auch MüKoBGB/Einsele, § 125 BGB Rz. 30, 31. 17 BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 82/06, ArbRB 2007, 134 = DB 2007, 919; v. 29.6.1989 – 2 AZR 482/88, BB 1989, 2256; vgl. dazu auch LAG Schleswig-Holstein v. 25.4.2013 – 5 Sa 309/12, ArbRB online. 18 BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 82/06, ArbRB 2007, 134 = DB 2007, 919. 19 LAG Hamm v. 26.4.2007 – 17 Sa 1914/06, ArbRB online.

Schulte

501

§ 17 Rz. 17.19

Kündigungen

Personalabteilung20. Ohne weitere Begleitregelungen ist ein Referatsleiter innerhalb einer Personalabteilung nicht als Bevollmächtigter des Arbeitgebers anzusehen21. Im öffentlichen Dienst reicht es nicht aus, wenn lediglich intern eine Verwaltungsregelung praktiziert, aber nicht bekanntgemacht worden ist22. Etwas anderes gilt dagegen, wenn diese Regelung in einer öffentlich bekanntgemachten Satzung steht oder in einem Erlass, mit dem eine bestimmte Funktion mit der Kündigungsbefugnis verbunden wird23. Ist das nicht geschehen, muss eine Einzelvollmacht vorgelegt werden. Geschieht das nicht, ist die Kündigung unwirksam, wenn aus diesem Grund der Kündigungsempfänger die Kündigung unverzüglich zurückweist.

17.20 Aber auch ohne ausdrückliche Bekanntmachung kann die Vorlage einer Vollmacht entbehrlich sein, wenn die Kündigung von einer Person ausgesprochen wurde, die eine Stellung bekleidet, mit der das Kündigungsrecht verbunden zu sein pflegt24. Dann wird vermutet, dass der (öffentliche) Arbeitgeber die Arbeitnehmer von der Kündigungsvollmacht iSd. § 174 Abs. 2 BGB in Kenntnis gesetzt hat25. Bei einem Personalabteilungsleiter kann daher in der Regel von dessen Kündigungsbefugnis ausgegangen werden, nicht aber ohne Weiteres auch bei einem Referatsleiter innerhalb der Personalabteilung26. Aufgrund des Organisationsrechts des öffentlichen Arbeitgebers kann zB eine Behörde über eine große Personalabteilung verfügen, die allerdings nur für Grundsatzfragen zuständig ist, während die Federführung in Personalfragen den Leitern der einzelnen Abteilungen vorbehalten ist27. Außerdem können aufgrund der internen Geschäftsverteilung die Zuständigkeiten für Einstellungen und Kündigungen auseinanderfallen28. Das BAG macht deutlich, dass es keine Erfahrungssätze gibt und dass es maßgeblich auf die jeweiligen Umstände des konkreten Falles ankommt29.

17.21 Bei Gesamtvertretung ist § 174 BGB bezogen auf jeden einzelnen Gesamtvertreter isoliert zu prüfen30.

20 Vgl. dazu auch LAG Hamm v. 10.3.2016 – 15 Sa 451/15, ArbRB online: Auch bei Personalleitern reicht die bloße Übertragung der Funktion nicht aus, wenn dies aufgrund der Stellung im Betrieb nicht ersichtlich und auch sonst keine Bekanntmachung erfolgt ist, unter Verweis auf BAG v. 20.8.1997 – 2 AZR 518/96, AP BGB § 620 Kündigungserklärung Nr. 11; Veröffentlichung der Organisationsstruktur im Internet zur Person der Kündigungsberechtigten reicht aus: LAG BadenWürttemberg v. 11.2.2016 – 16 Sa 43/15, ArbRB online. 21 BAG v. 20.8.1997 – 2 AZR 518/96, NZA 1997, 1343 ff. 22 Vgl. BAG v. 29.6.1989 – 2 AZR 482/88, AP Nr. 7 zu § 174 BGB; so auch LAG Schleswig-Holstein v. 25.4.2013 – 5 Sa 309/12, ArbRB online unter I. 2. b) aa) der Entscheidungsgründe. 23 Vgl. BAG v. 14.4.2011 – 6 AZR 727/09, AP Nr. 21 zu § 174 BGB; LAG Schleswig-Holstein v. 25.4.2013 – 5 Sa 309/12, ArbRB online. 24 Vgl. zB LAG Berlin v. 28.6.2006 – 15 Sa 632/06, BB 2007, 163. 25 BAG v. 29.6.1989 – 2 AZR 482/88, BB 1989, 2256; LAG Berlin v. 28.6.2006 – 15 Sa 632/06, BB 2007, 163. 26 BAG v. 20.8.1997 – 2 AZR 518/96, NZA 1997, 1343. 27 BAG v. 7.11.2002 – 2 AZR 493/01, NZA 2003, 520. 28 LAG Köln v. 17.3.2006 – 4 Sa 85/05, ArbRB online. 29 Vgl. bereits BAG v. 30.5.1972 – 2 AZR 298/71, NJW 1972, 1877; LAG Berlin v. 28.6.2006 – 15 Sa 632/06, BB 2007, 163; BAG v. 20.8.1997 – 2 AZR 518/96, NZA 1997, 1343. 30 Vgl. LAG Berlin v. 28.6.2006 – 15 Sa 632/06, BB 2007, 163.

502

Schulte

Ordentliche Kündigung

Rz. 17.25 § 17

4. Besonderheiten der betriebsbedingten Kündigung Arbeitnehmer sind in einem Arbeitsverhältnis mit öffentlichen Arbeitgebern vor Kündigungen grundsätzlich genauso geschützt wie in der privaten Wirtschaft31. Neben personen- oder verhaltensbedingten Kündigungen (dazu Rz. 17.67 ff.) kommen insbesondere auch betriebsbedingte Kündigungen in Betracht. Da für den Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen auch für öffentliche Arbeitgeber Anlass gegeben sein kann32, insbesondere in Zeiten knapper Haushaltsmittel und mit Blick auf Umstrukturierungen und Umorganisationen, von denen auch die Strukturen der öffentlichen Verwaltungen nicht verschont bleiben33, sollen deren Besonderheiten im Folgenden dargestellt werden.

17.22

a) Dringendes betriebliches Erfordernis Jede betriebsbedingte Kündigung setzt ein dringendes betriebliches Erfordernis iSd. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG voraus, dh. den Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit auf einem konkreten Arbeitsplatz. Der Wegfall des Arbeitsplatzes kann sowohl auf außerhalb der Verwaltung oder des öffentlichen Unternehmens liegenden Umständen beruhen, den außerbetrieblichen Gründen in der Privatwirtschaft vergleichbar, als auch auf „innerbetrieblichen“, also Entwicklungen, die innerhalb der öffentlichen Verwaltung oder des öffentlichen Unternehmens liegen.

17.23

aa) „Unternehmerentscheidung“ des öffentlichen Arbeitgebers Wie in der Privatwirtschaft auch ist letztlich nicht entscheidend, wodurch ein Arbeitsplatz wegfällt, ob durch externe oder interne Ursachen. Maßgebend ist vielmehr, dass aufgrund externer oder interner Ursachen eine Entscheidung zu treffen ist, die zum Wegfall des Arbeitsplatzes und damit der Beschäftigungsmöglichkeit führt. Im öffentlichen Dienstrecht gilt also Ähnliches wie im privaten Arbeitsrecht für die sog. Unternehmerentscheidung. Anlass dafür können im öffentlichen Dienst externe Ursachen sein, insbesondere gesetzliche Vorgaben, die zu einer Veränderung der Aufgabenverteilung führen können, zB die Verlagerung von Aufgaben auf andere Körperschaften oder Unternehmen. Der Gesetzgeber, also Bundestag, Landtag oder auch der Gemeinderat können Vorgaben schaffen, die zum völligen Wegfall einer bislang von der öffentlichen Verwaltung wahrgenommenen Aufgabe führen können. Die insoweit von der Rechtsprechung des BAG entwickelten Grundsätze für die sog. Unternehmerentscheidung lassen sich auch für öffentliche Unternehmen dienstbar machen, zB wenn aufgrund administrativer Erlasse oder durch normative Bestimmungen des Haushaltsplans Aufgaben nicht mehr finanziert werden können und dadurch Beschäftigungsmöglichkeiten entfallen34.

17.24

bb) Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit Allerdings reichen allgemeine Kürzungen, die der Haushaltsplan bzw. ein Erlass für nachgeordnete Verwaltungsstellen und Behörden anordnet, nicht aus, um ein dringendes betriebliches Erfordernis iSd. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG zu begründen35. Notwendig sind konkrete Stellenstreichungen; die zu streichende Stelle muss nach sachlichen Merkmalen konkret be31 Vgl. Lingemann/Grothe, NZA 1999, 1072. 32 Stahlhacke/Preis/Vossen/Preis, Rz. 987. 33 Zur betriebsbedingten Kündigung im öffentlichen Dienst: Lingemann/Grothe, NZA 1999, 1072. 34 Ausführlich dazu Lakies, NZA 1997, 745. 35 BAG GS v. 28.11.1956 – GS 3/56, BAGE 3, 245.

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17.25

§ 17 Rz. 17.25

Kündigungen

zeichnet sein, es bedarf also – wie im Bereich der Privatwirtschaft – einer konkreten innerbetrieblichen Umsetzung36. Gleiches gilt, wenn Drittmittel wegfallen. Nicht der Drittmittelentzug, sondern erst die darauffolgende Entscheidung der Verwaltungsspitze führt zum Wegfall von Arbeitsplätzen37. So kann die betriebsbedingte Kündigung einer Zivilangestellten bei den Streitkräften des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland auf die Schließung einer Beschäftigungseinheit gestützt werden, die zum Wegfall der dort Beschäftigten führt, wenn die gesetzliche Weiterbeschäftigungsobliegenheit der Stationierungsstreitkräfte nach § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b KSchG nicht erfüllt werden kann, weil auch in einem Umkreis von nicht mehr als 30 km vom Dienstort entfernt kein freier Arbeitsplatz besteht38. Fällt der Beschäftigungsbedarf für eine Lehrkraft ohne Lehrbefähigung aufgrund einer Entscheidung des öffentlichen Arbeitgebers weg, den Unterricht an Schulen nach Möglichkeit durch Lehrer mit staatlicher Lehrbefähigung erteilen zu lassen, ist die darauf gestützte ordentliche Kündigung aus betriebsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt39.

17.26 Wurde eine hoheitliche Aufgabe bisher im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses wahrgenommen, soll sie jedoch künftig in eine Beamtenstelle umgewandelt werden, kann dies nur unter engen Voraussetzungen eine betriebsbedingte Kündigung rechtfertigen. Sofern der bisherige Stelleninhaber das Anforderungsprofil der neu geschaffenen Beamtenstelle erfüllt und es bei der Aufgabe nicht gerade auf den Beamtenstatus ankommt, kann allein der Hinweis auf Art. 33 Abs. 4 GG eine betriebsbedingte Kündigung des bisherigen Stelleninhabers nicht rechtfertigen40. Der öffentliche Arbeitgeber kann den bisherigen Stelleninhaber entweder zum Beamten ernennen oder ihn auf dieser Stelle im Arbeitsverhältnis weiterbeschäftigen41. Das BAG stellt dabei auf die zur Umwidmung einer Stelle in eine Beförderungsstelle entwickelten Grundsätze ab42. Erfüllt dagegen der bisherige Stelleninhaber weder die Voraussetzungen für die Übernahme in ein Beamtenverhältnis noch das Anforderungsprofil der in eine Planstelle im Beamtenverhältnis umgewidmeten Position, kann ein dringendes betriebliches Erfordernis iSd. § 1 Abs. 2 KSchG vorliegen43.

17.27 Insbesondere hat der öffentliche Arbeitgeber keine Möglichkeit, die neu geschaffene Beamtenstelle zu besetzen und nachher geltend zu machen, für den bisherigen Stelleninhaber tatsächlich keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr zu haben – dieser Fall ist mit einer unzulässigen Austauschkündigung vergleichbar44.

17.27a Das arbeitsrechtliche Beschäftigungsverhältnis mit einem Beamten, der beurlaubt ist (Deutsche Post), kann nicht außerordentlich iSd. § 626 Abs. 1 BGB gekündigt werden mit der Begründung, die Beurlaubung ende, denn auch nach Beendigung der Beurlaubung ist ein Arbeitnehmer rechtlich wie tatsächlich in der Lage, seine Dienste im Rahmen eines Arbeitsver36 37 38 39 40 41 42

BAG GS v. 28.11.1956 – GS 3/56, BAGE 3, 245. Vgl. Stahlhacke/Preis/Vossen/Preis, Rz. 990. Vgl. BAG v. 26.1.2017 – 2 AZR 61/16, NZA 2017, 1139 ff. BAG v. 22.10.2015 – 2 AZR 582/14, ArbRB 2016, 40. BAG v. 21.9.2000 – 2 AZR 440/99, NZA 2001, 255. Vgl. BAG v. 21.9.2000 – 2 AZR 440/99, NZA 2001, 255. Vgl. dazu BAG v. 10.11.1994 – 2 AZR 242/94, BB 1995, 1907; v. 5.10.1995 – 2 AZR 269/95, BAGE, 8186. 43 BAG v. 21.9.2000 – 2 AZR 440/99, amtl. Leitsatz 1, NZA 2001, 255. 44 BAG v. 21.9.2000 – 2 AZR 440/99, NZA 2001, 255.

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Ordentliche Kündigung

Rz. 17.31 § 17

hältnisses anzubieten und zu erbringen45. Was für die außerordentliche Kündigung gilt, muss erst recht für eine ordentliche Kündigung gelten (die in manchen Fällen wegen tariflicher Schutzbestimmungen ausgeschlossen ist). Wird eine Körperschaft des öffentlichen Rechts aufgelöst, kann dies ebenfalls zum Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit und damit zu einer betriebsbedingten Kündigung führen46.

17.28

Auch Rationalisierungsmaßnahmen können zum Wegfall eines Beschäftigungsbedürfnisses auf konkreten Stellen führen, insbesondere durch den Einsatz der EDV, die in den letzten Jahren nur nach und nach Einzug auch in öffentliche Verwaltungen und Unternehmen gefunden hat, zB die Einführung eines elektronischen Handelsregisters.

17.29

cc) Bedeutung eines „kw-Vermerkes“ Der „kw-Vermerk“, dh. die Angabe „künftig wegfallend“, wird bei Planstellen im Haushaltsplan angebracht und bedeutet, dass die Stelle noch nicht gestrichen ist, aber der Wegfall in Aussicht genommen ist. Allein dieser Vermerk rechtfertigt noch nicht den Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen, kann aber unter weiteren Voraussetzungen die Kündigung aus besonderen betrieblichen Gründen sozial rechtfertigen47. Der „kw-Vermerk“ setzt zunächst eine ausdrückliche Entscheidung der öffentlichen Verwaltung voraus48. Er ist nur beachtlich, wenn er bei einer nach sachlichen Merkmalen genau bestimmten Stelle angebracht ist49. Ist aus den dem Haushalt zugrunde liegenden Erwägungen erkennbar, dass das „Ob“ und das „Wie“ der Umsetzung noch einer Entscheidung der Verwaltung bedürfen, liegt noch nicht der Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit vor. Deshalb kann allein gestützt auf den Vermerk keine betriebsbedingte Kündigung ausgesprochen werden, die Beschäftigung ist nämlich noch nicht weggefallen50. Dass darüber hinaus der Vermerk datiert sein muss, also eine bestimmte oder bestimmbare Frist zu enthalten hat51, scheint nach neuerer Rechtsprechung des BAG52 nicht mehr erforderlich zu sein.

17.30

dd) Darlegungslast Auch der öffentliche Arbeitgeber hat alle Voraussetzungen einer betriebsbedingten Kündigung darzulegen und – im Streitfall – zu beweisen. Das gilt für alle Umstände der Kündigung. Dabei ist allein auf die Verhältnisse der jeweiligen Dienststelle abzustellen, wie das für den Betrieb in der Privatwirtschaft gilt53. Ist zB ein Dienstkräfte-Überhang der Anlass für die Kündigung, so muss der öffentliche Arbeitgeber im Einzelnen die tatsächlichen Grundlagen darlegen, warum das Beschäftigungsbedürfnis wegfällt und in welchem Umfang, also wie viele Arbeitnehmer nicht mehr beschäftigt werden können54. Wie in der Privatwirtschaft auch, kommt es für die Beurteilung der Kündigung auf den Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung an und auf die Verhältnisse bei Ablauf der Kündigungsfrist. Die Arbeitsgerichte kontrol45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

Vgl. LAG Hamm v. 13.11.2014 – 15 Sa 1531/13 ArbRB online. BAG v. 10.5.2007 – 2 AZR 263/06, ArbRB online. BAG v. 23.11.2004 – 2 AZR 38/04, ArbRB 2005, 235 = NZA 2005, 986. Vgl. BAG v. 16.1.1987 – 7 AZR 487/85, NZA 1988, 279. Vgl. BAG v. 19.3.1998 – 8 AZR 626/96, NZA 1990, 90. BAG v. 19.3.1998 – 8 AZR 626/96, NZA 1999, 90; v. 16.1.1987 – 7 AZR 487/85, NZA 1988, 279. BAG v. 6.1.1978 – 4 AZR 84/77, EzA § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 9. Vgl. zB BAG v. 23.11.2004 – 2 AZR 38/04, ArbRB 2005, 235 = NZA 2005, 986. BAG v. 20.4.1994 – 10 AZR 323/93, NZA 1995, 489. BAG v. 15.6.1989 – 2 AZR 600/88, NZA 1990, 65.

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17.31

§ 17 Rz. 17.31

Kündigungen

lieren nur sehr beschränkt die Zweckmäßigkeit der Entscheidung im Hinblick darauf, ob sie offenbar unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist55.

17.32 Bei Kündigungen infolge von Streichungen konkreter Stellen im Haushaltsplan bzw. eines „kw-Vermerkes“ braucht der öffentliche Arbeitgeber grundsätzlich nicht zur organisatorischen Umsetzbarkeit im Einzelnen vorzutragen, sofern keine Anhaltspunkte für einen Missbrauch des Kündigungsrechts vorliegen; ebensowenig kommt es in solchen Fällen auf eine Veränderung des tatsächlichen Beschäftigungsbedarfs an56. Stellenstreichungen im Haushaltsplan bzw. die Anbringung von „kw-Vermerken“ sind im Übrigen auch gerichtlich nicht nachprüfbar und als gegeben hinzunehmen57. b) Keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit

17.33 Auch in Betrieben und Verwaltungen des öffentlichen Rechts ist eine Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b KSchG nur dann sozial gerechtfertigt, wenn es dem öffentlichen Arbeitgeber nicht möglich oder nicht zumutbar ist, den Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz weiter zu beschäftigen58 (zu den Beschränkungen, die im Geltungsbereich des RatSchTVAng zu beachten sind, Rz. 17.58 ff.).

17.34 Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten, die einer Kündigung entgegenstehen, unterliegen für den Bereich des öffentlichen Dienstes gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b KSchG einer räumlichen Beschränkung59. Anders als in der Privatwirtschaft (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Buchst. b KSchG) erfolgt keine unternehmensbezogene Betrachtung, so dass freie Stellen außerhalb des in § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b KSchG genannten Bereiches der sozialen Rechtfertigung einer Kündigung eines Arbeitnehmers des öffentlichen Dienstes nicht entgegenstehen60.

17.35 Eine Weiterbeschäftigung muss sowohl dem Arbeitnehmer als auch dem Arbeitgeber objektiv möglich und zumutbar sein61. Frei ist ein Arbeitsplatz dann, wenn er zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung vorhanden und unbesetzt ist bzw. voraussichtlich bis zum Ablauf der Kündigungsfrist frei wird62. Vergleichbar sind Arbeitsplätze, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer allein aufgrund seines Direktionsrechts, dh. ohne Veränderung des Arbeitsvertrages, auf dem in Bezug genommenen Arbeitsplatz weiterbeschäftigen kann63.

17.36 Eine anderweitige Weiterbeschäftigungsmöglichkeit besteht gemäß § 1 Abs. 2 Satz 3 KSchG auch dann, wenn der Arbeitnehmer zu geänderten (schlechteren) Bedingungen weiterbeschäftigt werden kann und der Arbeitnehmer damit einverstanden ist (Vorrang der Änderungs- vor der Beendigungskündigung). Da das KSchG das Arbeitsverhältnis nur in seinem bisherigen Bestand schützt, besteht im Falle des § 1 Abs. 2 Satz 3 KSchG kein Anspruch auf ei55 Vgl. auch BAG v. 7.10.2004 – 2 AZR 122/04, NZA 2005, 352. 56 BAG v. 23.11.2004 – 2 AZR 38/04, ArbRB 2005, 235 = NZA 2005, 986. 57 BAG v. 10.5.2007 – 2 AZR 263/06, ArbRB online; v. 23.11.2000 – 2 AZR 617/99, NZA 2001, 500. 58 Vgl. BAG v. 2.2.2006 – 2 AZR 38/05, NZA 2007, 352; zur räumlichen Beschränkung auf das Einzugsgebiet vgl. LAG Köln v. 23.2.1996 – 11 (13) Sa 888/95, PersR 1996, 328. 59 LAG Köln v. 23.2.1996 – 11 (13) Sa 888/95, PersR 1996, 328. 60 Vgl. LAG Köln v. 23.10.1996 – 11 (13) Sa 888/95, PersR 1996, 328. 61 BAG v. 23.11.2004 – 2 AZR 38/04, ArbRB 2005, 235 = NZA 2005, 986. 62 BAG v. 2.2.2006 – 2 AZR 38/05, NZA 2007, 352. 63 BAG v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, NZA 1991, 181.

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Ordentliche Kündigung

Rz. 17.42 § 17

ne Beschäftigung zu besseren Bedingungen, etwa auf Weiterbeschäftigung auf einer freien Beförderungsstelle64. Auf Seiten des Arbeitnehmers setzt die Weiterbeschäftigungspflicht voraus, dass dieser über die für den neuen Arbeitsplatz erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse verfügt65.

17.37

Sofern eine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit erst nach Ablauf der Kündigungsfrist entsteht, hat der Arbeitnehmer grundsätzlich keinen Anspruch auf Wiedereinstellung66. Sofern allerdings die Kündigung im Zusammenhang mit einer Rationalisierungsmaßnahme ausgesprochen wurde, kann sich ein Weiterbeschäftigungsanspruch auch nach Ablauf der Kündigungsfrist ergeben, vgl. § 5 Abs. 3 RatSchTVAng vorliegen (dazu Rz. 17.61).

17.38

Auch im öffentlichen Dienst hat grundsätzlich der Arbeitgeber gemäß § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die fehlende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit darzulegen und zu beweisen. Allerdings gelten auch hier die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast67.

17.39

c) Besonderheiten der Sozialauswahl Auch im öffentlichen Dienst muss der Arbeitgeber die Grundsätze der Sozialauswahl iSd. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG beachten, durch die die dringenden betrieblichen Gründe personell konkretisiert werden68. Der Arbeitgeber darf nur dem Arbeitnehmer kündigen, der nach seinen Sozialdaten gegenüber vergleichbaren Arbeitnehmern den geringsten Schutz hat.

17.40

aa) Dienststellenweite Auswahl Die Sozialauswahl erfolgt im öffentlichen Dienst nicht betriebsbezogen, sondern dienststellenbezogen. Im Unterschied zu § 23 KSchG wird damit nicht auf die Verwaltung als organisatorische Einheit abgestellt, sondern auf die einzelne Dienststelle. Das BAG stellt dabei auf den personalvertretungsrechtlichen Dienststellenbegriff ab69.

17.41

Dienststellen iSd. Personalvertretungsrechts sind organisatorische Einheiten innerhalb eines Verwaltungsorganismus, die mit einem selbständigen Aufgabenbereich und einer bestimmten organisatorischen Selbständigkeit ausgestattet sind70. Regelmäßig kommt es also auf alle Beschäftigten an, auf die sich die Kündigungsbefugnis des Dienststellenleiters erstreckt. Besonderheiten können sich dann ergeben, wenn sich eine Dienststelle auf ein größeres räumliches Gebiet erstreckt; hier kann sich die Sozialauswahl wegen dieser räumlichen Gegebenheiten auf einzelne Teile der Dienststelle beschränken71.

17.42

64 65 66 67 68 69

BAG v. 23.11.2004 – 2 AZR 38/04, ArbRB 2005, 235 = NZA 2005, 986 mwN. BAG v. 2.2.2006 – 2 AZR 38/05, NZA 2007, 352. BAG v. 6.8.1997 – 7 AZR 557/96, NZA 1998, 254. Vgl. BAG v. 24.3.1983 – 2 AZR 21/82, DB 1983, 1822. BAG v. 7.2.1985 – 2 AZR 91/84, NZA 1986, 260. Vgl. zB LAG Köln v. 23.10.1996 – 11 (13) Sa 888/95, PersR 1996, 328; BAG v. 22.5.1986 – 2 AZR 612/85, NZA 1987, 125. 70 Vgl. BVerwG v. 3.7.1990 – 6 P 10.87, AP Nr. 2 zu § 76 BPersVG bezüglich des personalvertretungsrechtlichen Begriffs. 71 Vgl. Lingemann/Grothe, NZA 1999, 1072 (1075).

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§ 17 Rz. 17.42

Kündigungen

So sind zB staatliche Gymnasien in Bayern eigene Dienststellen iSv. Art. 6 Abs. 1 BayPVG72. Deshalb beschränkt sich die Sozialauswahl auf die „Einsatzschule“, also die Dienststelle iSd. Personalvertretungsrechts73. bb) Vergleichbarkeit

17.43 Innerhalb einer Dienststelle sind nur vergleichbare Arbeitnehmer in die Sozialauswahl einzubeziehen. Auch im öffentlichen Dienst bestimmt sich die Vergleichbarkeit primär nach arbeitsplatzbezogenen Merkmalen, dh. nach der bisher ausgeübten Tätigkeit74. Ebenso wie in der Privatwirtschaft kommt es allein auf eine „horizontale Vergleichbarkeit“ an; die Sozialauswahl findet innerhalb derselben Hierarchiestufe statt75. Der öffentliche Arbeitgeber darf das Stellenprofil schärfen und zB bei Lehrkräften differenzieren zwischen solchen, die eine Lehrbefähigung haben und denen ohne Lehrbefähigung76.

17.44 Als Kriterium für eine Einstufung in eine Hierarchie kann auch die tarifliche Eingruppierung in Betracht kommen77. Unter der Geltung des BAT, als noch ein Bewährungsaufstieg möglich war, konnte auch die Tätigkeit einer Fallgruppe der niedrigeren Vergütungsgruppe für den Vergleich maßgeblich sein78. Mit dieser Besonderheit beschränkte sich die Sozialauswahl idR auf Beschäftigte mit derselben Vergütungsgruppe79. Nach dem TVöD, der nahezu überall den BAT und die Vergütungsgruppen-Systematik abgelöst hat, sind sowohl die Fallgruppen als auch der Bewährungsaufstieg ersatzlos entfallen. Im Übrigen kommt es bei der Vergleichbarkeit auf die Austauschbarkeit der Beschäftigten an, ausgerichtet an den Kriterien Berufsausbildung und berufliche Erfahrung. Grundsätzlich sind Beschäftigte vergleichbar, wenn sie auf einen anderen Arbeitsplatz umgesetzt oder versetzt werden können80. cc) Auswahlrichtlinien

17.45 Sofern der öffentliche Arbeitgeber mit dem zuständigen Personalrat, gleich ob im Bund oder in einem der Bundesländer, Auswahlrichtlinien vereinbart hat, zB gemäß § 76 Abs. 2 Nr. 8 BPersVG, wird der Arbeitgeber bei der schwierigen Aufgabe der Sozialauswahl wesentlich entlastet. Allerdings muss er sich auch an die vereinbarten Auswahlkriterien zwingend halten, er hat sich also bei der Auswahlentscheidung hinsichtlich der Kriterien festgelegt. Das gilt auch für das Verhältnis der Auswahlkriterien zueinander.

17.46 Der Vorteil der Auswahlrichtlinien ergibt sich aus § 1 Abs. 4 KSchG: Hält sich der Arbeitgeber an die vereinbarten Vorgaben, kann die Auswahlentscheidung nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Grob fehlerhaft ist die Sozialauswahl und die ihr zugrunde liegende Bewertung anhand der Auswahlrichtlinien nur dann, wenn die Abwägung jede Ausgewogenheit ver-

72 Vgl. BAG v. 22.10.2015 – 2 AZR 582/14, ArbRB 2016, 40 (OS 4). 73 Vgl. BAG v. 22.10.2015 – 2 AZR 582/14, ArbRB 2016, 14 (amtl. LS 2). 74 BAG v. 2.2.2006 – 2 AZR 38/05, NZA 2007, 352; s. auch BAG v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, NZA 1991, 181. 75 BAG v. 5.5.1994 – 2 AZR 917/93, NZA 1994, 1023. 76 BAG v. 22.10.2015 – 2 AZR 582/14, ArbRB 2016, 40 (OS 2). 77 BAG v. 2.2.2006 – 2 AZR 38/05, NZA 2007, 352, unter Hinweis auf BAG v. 25.4.1985 – 2 AZR 140/84. 78 BAG v. 2.2.2006 – 2 AZR 38/05, NZA 2007, 352. 79 BAG v. 23.11.2004 – 2 AZR 38/04, ArbRB 2005, 235 = NZA 2005, 986. 80 BAG v. 23.11.2004 – 2 AZR 38/04, ArbRB 2005, 235 = NZA 2005, 986.

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Ordentliche Kündigung

Rz. 17.51 § 17

missen lässt oder einzelne Kriterien entweder unzureichend oder überproportional berücksichtigt werden81. Der beschränkten Überprüfung unterliegt nur die Gewichtung der Sozialkriterien, nicht aber „die soziale Auswahl“ schlechthin82. In vollem Umfang ist daher überprüfbar, welche Arbeitnehmer im Rahmen der Sozialauswahl aufgrund ihrer Vergleichbarkeit zu berücksichtigen sind oder nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG aus der Sozialauswahl herausgenommen werden dürfen83.

17.47

Eine erhebliche Entlastung entsteht auch dadurch, dass zunächst der Arbeitnehmer darlegen und beweisen muss, dass die Sozialauswahl grob fehlerhaft ist.

17.48

5. Rationalisierung und Kündigungsschutz Öffentliche Arbeitgeber sind im Anwendungsbereich des Tarifvertrages über den Rationalisierungsschutz für Angestellte (RatSchTV Ang) vom 9.1.1987 (im Folgenden RatSchTV) erheblichen Einschränkungen unterworfen beim Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung. Dieser Tarifvertrag enthält Schutzbestimmungen, soweit Rationalisierungsmaßnahmen zum Wegfall des Arbeitsplatzes führen. Die Regelungen sehen ein abgestuftes Prüfschema vor. Zunächst hat der Arbeitgeber nach einer anderweitigen Beschäftigung zu suchen und diese anzubieten. Wenn das nicht möglich ist, sind die Folgen einer solchen Maßnahme zu mildern. Arbeitgeber haben besondere Hinweis- und Unterrichtungspflichten gemäß § 2 RatSchTV zu erfüllen, gemäß §§ 3 und 4 RatSchTV Arbeitsplätze zu sichern, Fortbildung und Umschulung anzubieten und darüber hinaus einen besonderen Kündigungsschutz zu berücksichtigen, § 5 RatSchTV. Wenn alle anderen Maßnahmen nicht in Betracht kommen, wird der Arbeitgeber zur Zahlung einer Abfindung verpflichtet, § 7 RatSchTV.

17.49

a) Anwendungsbereich Der RatSchTV gilt unmittelbar im Geltungsbereich des BAT (BAT-O), dh. in den Ländern, die 17.50 in denen diese Tarifverträge noch gelten (Hessen, Berlin). Er gilt aber auch im Geltungsbereich der neuen Tarifverträge weiter, und zwar im Bereich des TVöD-Bund (nach Anlage 1 TVÜBund Teil C), im Bereich des TV-L (nach Anlage 1 TVÜ-Länder Teil C) und im Geltungsbereich des TVöD (VKA) im Bereich der Kommunen (nach der Protokollerklärung zu § 36 TVöD so lange, bis die Tarifvertragsparteien über die Weitergeltung neu entschieden haben). Darüber hinaus eröffnet das BAG einen weiteren Anwendungsbereich. Es hat die Grundsätze des RatSchTV auch im Fall einer (außerordentlichen) betriebsbedingten Kündigung eines ordentlich unkündbaren Arbeitnehmers angewandt84. Diese Rechtsprechung bezieht sich zwar auf Arbeitnehmer, die gemäß §§ 53 Abs. 3, 55 BAT (BAT-O) nach 15-jähiger Beschäftigungszeit und mit Vollendung des 40. Lebensjahres unkündbar sind. Die neuen Tarifverträge sehen in § 34 Abs. 2 TVöD bzw. TV-L aber eine identische Regelung vor. Einzelheiten 81 BAG v. 2.12.1999 – 2 AZR 757/98, NZA 2000, 531; v. 5.12.2002 – 2 AZR 697/01, BB 2004, 1229; v. 18.10.2006 – 2 AZR 473/05, NZA 2007, 504; LAG Niedersachsen v. 28.5.2004 – 10 Sa 2180/03, ArbRB 2005, 110; s. auch KR/Rachor, § 1 KSchG Rz. 697 mwN: „offenere“ Regelungstechnik. 82 So aber noch Löwisch, BB 1999, 102. 83 Vgl. Tschöpe/Rinck, Teil 3 E Rz. 285 ff. mwN auch zu Gegenansichten. 84 Vgl. zB BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 367/01, ArbRB 2003, 42; v. 24.6.2004 – 2 AZR 215/03, ArbRB 2005, 198.

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17.51

§ 17 Rz. 17.51

Kündigungen

werden im Zusammenhang mit dem Ausschluss der ordentlichen Kündigung (Rz. 17.111.) dargestellt. b) Begriff der Rationalisierungsmaßnahme, § 1 RatSchTV

17.52 Eine Rationalisierungsmaßnahme liegt gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 RatSchTV vor bei einer vom Arbeitgeber veranlassten erheblichen Änderung der Arbeitstechnik oder einer wesentlichen Änderung der Arbeitsorganisation mit dem Ziel einer rationelleren Arbeitsweise85. Die Erheblichkeit bzw. Wesentlichkeit einer Änderung richtet sich nach den Auswirkungen einer Maßnahme86. Maßnahmen, denen Ursachen außerhalb der Verwaltung oder des Betriebs zugrunde liegen, etwa ein voraussichtlich nicht nur kurzfristiger Nachfragerückgang bzw. eine von außen verursachte Beschränkung der Aufgaben bzw. der Wegfall zweckgebundener Drittmittel, gelten nicht iSd. § 1 Abs. 1 RatSchTV als „vom Arbeitgeber veranlasst“87.

17.53 Welche Maßnahmen als Rationalisierung gelten, hängt vom konkreten Einzelfall ab. § 1 Abs. 1 Satz 2 RatSchTV enthält einen Katalog von Kriterien, die aber nicht abschließend geregelt sind88. Dazu zählen insbesondere die Stilllegung bzw. Auflösung des Betriebes/der Verwaltung, die Zusammenlegung oder Verlegung von Betrieben/Verwaltungen, die Ausgliederung von Teilen eines Betriebes/einer Verwaltung, die Verlagerung von Aufgaben oder die Einführung anderer Arbeitsmethoden bzw. Fertigungsverfahren. Aus § 1 Abs. 2 RatSchTV wird deutlich, dass nicht notwendig der Betrieb bzw. die Verwaltung im Ganzen betroffen sein muss, sondern auch nur ein Teil eines Betriebes oder einer Verwaltung erfasst sein kann.

17.54 Wesentliche Voraussetzung ist ferner, dass die Maßnahme für Beschäftigte zu einem Wechsel der Beschäftigung89 oder zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führt90. Die Beendigung kann durch Auflösungsvertrag oder Beendigungskündigung erfolgen. Auch im Fall einer Änderungskündigung können die besonderen Vorschriften des RatSchTV zu beachten sein, wenn sie zu einem Wechsel der Beschäftigung iSd. § 1 RatSchTV führt, also Arbeitnehmer zu wesentlich veränderten Bedingungen an ihrem bisherigen oder an einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden können91. Obwohl § 1 RatSchTV von „Arbeitnehmern“ spricht, kann eine Maßnahme iSd. § 1 RatSchTV bereits dann vorliegen, wenn nur ein einziger Arbeitnehmer betroffen ist92.

17.55 Zu beachten ist, dass § 1 Abs. 2 und 3 RatSchTV bestimmte Maßnahmen aus dem Anwendungsbereich des Tarifvertrages ausnimmt. Diese Fälle haben keine kündigungsrechtliche Relevanz. So fällt der Betriebsübergang iSd. § 613a BGB nicht unter den Tarifvertrag. Folgt auf einen Betriebsübergang allerdings eine betriebsbedingte Kündigung durch den alten Arbeitgeber bzw. den Übernehmer, dürfte der RatSchTV jedoch anwendbar sein. 85 Zum Ziel rationellerer Arbeitsweise und zur Änderung der Arbeitsorganisation BAG v. 29.3.2001 – 6 AZR 652/99, ArbRB online mwN; zur Änderung der Arbeitstechnik Böhm/Spiertz/Sponer/ Steinherr, BAT, § 1 TV Rationalisierung 1.1 S. 11. 86 Vgl. 1. Protokollnotiz zu § 1 Abs. 1 RatSchTV Ang. 87 Vgl. hierzu Protokollnotiz Nr. 2 zu § 1 Abs. 1; Sponer/Steinherr, TVöD, § 1 TV Rationalisierung 1.1 S. 8. 88 BAG v. 29.3.2001 – 6 AZR 652/99, ArbRB online. 89 S. dazu BAG v. 29.3.2001, 6 AZR 652/99, nv.; v. 19.10.2000 – 6 AZR 291/99, NZA 2002, 339. 90 Zum ursächlichen Zusammenhang Sponer/Steinherr, TVöD, § 1 TV Rationalisierung 1.1 S. 14. 91 BAG v. 29.3.2001, 6 AZR 652/99, nv. 92 Vgl. dazu Protokollnotiz 1 zu § 1 Abs. 1. Die weiteren Einzelheiten bei der Begriffsbestimmung sollen hier nicht vertieft werden.

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Ordentliche Kündigung

Rz. 17.59 § 17

c) Unterrichtungspflichten, § 2 RatSchTV Liegt eine Rationalisierungsmaßnahme iSd. § 1 RatSchTV vor, treffen den Arbeitgeber zunächst Unterrichtungspflichten nach § 2 RatSchTV. Neben den bestehenden Beteiligungsrechten nach dem BetrVG bzw. dem Personalvertretungsrecht (vgl. § 2 Abs. 2 RatSchTV) hat der Arbeitgeber die zuständige Personalvertretung zu informieren, außerdem die von der Maßnahme voraussichtlich betroffenen Arbeitnehmer.

17.56

d) Arbeitsplatzsicherung, §§ 3, 4 RatSchTV Zum Kernbereich des Tarifvertrages gehört die Arbeitsplatzsicherung iSd. §§ 3 und 4 RatSchTV. Nach § 3 Abs. 1 RatSchTV ist der Arbeitgeber den betroffenen Arbeitnehmern zur Arbeitsplatzsicherung verpflichtet, erforderlichenfalls in Verbindung mit Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen iSd. § 4 RatSchTV. Der Arbeitgeber hat dem Beschäftigten gemäß § 3 Abs. 2 RatSchTV in erster Linie einen mindestens gleichwertigen Arbeitsplatz anzubieten. Sofern dies nicht möglich ist, hat er ihm gemäß § 3 Abs. 3 RatSchTV einen anderen Arbeitsplatz anzubieten und die spätere Bewerbung des Beschäftigten um einen gleichwertigen Arbeitsplatz im Rahmen der Auswahl unter gleichgeeigneten Bewerbern bevorzugt zu berücksichtigen. Sofern auch das nicht möglich ist, hat sich der Arbeitgeber gemäß § 3 Abs. 4 und 5 RatSchTV für den betroffenen Beschäftigten um einen Arbeitsplatz bei einem anderen Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes zu bemühen. Der Arbeitnehmer ist gemäß § 3 Abs. 6 RatSchTV verpflichtet, einen vom Arbeitgeber angebotenen, zumutbaren Arbeitsplatz anzunehmen93.

17.57

e) Besonderer Kündigungsschutz, § 5 RatSchTV Die kündigungsrechtliche Relevanz der Arbeitsplatzsicherung iSd. § 3 RatSchTV zeigt sich in § 5 RatSchTV. Diese Norm sieht einen besonderen Kündigungsschutz vor, der auf den Regelungen der Arbeitsplatzsicherung iSd. §§ 3 und 4 RatSchTV aufbaut.

17.58

Gemäß § 5 Abs. 2 RatSchTV darf eine Beendigungskündigung nur ausgesprochen werden, 17.59 wenn dem Arbeitnehmer ein Arbeitsplatz nach § 3 Abs. 2 bis 5 RatSchTV nicht angeboten werden kann oder der Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz entgegen § 3 Abs. 6 RatSchTV nicht annimmt94. In diesem Fall gilt eine besondere Kündigungsfrist von drei Monaten zum Schluss eines Kalendervierteljahres, sofern sich aus § 53 Abs. 2 BAT – bzw. nun aus den neuen Tarifverträgen, vgl. zB § 34 TVöD – keine längeren Kündigungsfristen ergeben. Bei ordentlich unkündbaren Arbeitnehmern (§ 53 BAT, § 34 Abs. 2 TVöD) gelten gemäß § 5 Abs. 2 RatSchTV noch strengere Maßstäbe: Eine (außerordentliche) Kündigung im Zusammenhang mit einer Rationalisierungsmaßnahme ist nur zulässig, wenn der Arbeitnehmer seiner Verpflichtung iSd. § 3 Abs. 6 RatSchTV zuwider einen gleichwertigen Arbeitsplatz bei demselben Arbeitgeber nicht annimmt. Hier ist eine Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Schluss eines Kalendervierteljahres zu beachten.

93 Zu den Folgen bei Ablehnung eines angebotenen und zumutbaren Arbeitsplatzes BAG v. 15.11.2001 – 6 AZR 629/00, NZA 2002, 928. 94 Vgl. LAG Hamm v. 31.5.2007 – 17 Sa 1857/06, ArbRB online zur Anwendung von §§ 5, 3 RatSchTV Ang bei einer durch gesetzliche Vorgaben veranlassten Umstrukturierung, die zu einer betriebsbedingten Kündigung eines Angestellten im öffentlichen Dienst führt.

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§ 17 Rz. 17.60

Kündigungen

17.60 § 5 Abs. 1 RatSchTV regelt einen besonderen Kündigungsschutz für Arbeitnehmer, die gemäß § 3 RatSchTV eine andere Tätigkeit übernommen haben. Ihnen darf während der ersten neun Monate dieser Tätigkeit weder aus betriebsbedingten Gründen noch wegen mangelnder Einarbeitung gekündigt werden. Sofern der Arbeitnehmer an einer Fortbildung oder Umschulung teilgenommen und die neue Tätigkeit bereits währenddessen ausgeübt hat, verlängert sich der besondere Kündigungsschutz auf zwölf Monate.

17.61 Gemäß § 5 Abs. 3 RatSchTV setzt sich der besondere Kündigungsschutz auch über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus fort. Denn nach dieser Norm soll ein Arbeitnehmer (später) auf Antrag bevorzugt wieder eingestellt werden, wenn ein für ihn geeigneter Arbeitsplatz zur Verfügung steht, nachdem er zuvor aufgrund einer Kündigung durch den Arbeitgeber aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden ist. Damit weicht § 5 Abs. 3 RatSchTV von dem Grundsatz ab, dass eine Weiterbeschäftigungspflicht des Arbeitgebers grundsätzlich mit Ablauf der Kündigungsfrist endet. f) Abfindungsregelung, § 7 RatSchTV

17.62 Wie schon angedeutet, enthält § 7 RatSchTV unter den dort genannten Voraussetzungen eine eigene Regelung über die Verpflichtung des Arbeitgebers, dem Beschäftigten eine Abfindung zu zahlen. Natürlich setzt das voraus, dass eine Rationalisierungsmaßnahme iSd. § 1 Abs. 1 RatSchTV durchgeführt werden soll. Die Mindestregelungen in § 7 RatSchTV greifen allerdings nur dann ein, wenn die Auflösung „auf Veranlassung des Arbeitgebers“ erfolgt. Natürlich kann es auch zu einer Beendigungsvereinbarung kommen, wenn der Beschäftigte zustimmt. Die „Veranlassung“ durch den Arbeitgeber ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich der Arbeitnehmer freiwillig meldet. Auch dann erfolgt das Ausscheiden „auf Veranlassung des Arbeitgebers“95.

17.63 Die Abfindungshöhe ergibt sich aus der Tabelle des § 7 Abs. 1 RatSchTV und ist abhängig von der Beschäftigungszeit (iSd. §§ 19 BAT bzw. BAT-O und § 34 Abs. 3 TVöD bzw. TV-L) und vom Lebensalter des Arbeitnehmers. Fällig ist der Anspruch erst dann, wenn endgültig feststeht, dass der Arbeitnehmer ausgeschieden ist, insbesondere nach Ablauf der Klagefrist der §§ 4, 7 KSchG bzw. ab Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung. § 10 RatSchTV sieht die Anrechnung von Leistungen vor, die dem Arbeitnehmer nach anderen gesetzlichen Bestimmungen bzw. durch vertragliche Vereinbarung zu Abfindungszwecken gezahlt werden. Nicht angerechnet wird aber das Arbeitslosengeld, weil es Lohnersatzfunktion hat und nicht – wie eine Abfindung – dazu dient, den Arbeitnehmer für den Verlust seines Arbeitsplatzes im öffentlichen Dienst zu entschädigen96. 6. Mitwirkung der Personalvertretung

17.64 Auch im Bereich des öffentlichen Dienstes ist bei einer Kündigung die zuständige Mitarbeitervertretung – soweit vorhanden – zu beteiligen. Wie sich auch aus § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 KSchG ergibt, finden das BPersVG sowie die Personalvertretungsgesetze der Länder Anwendung. Die Beteiligung der Mitarbeitervertretung im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft haben zwar viele Gemeinsamkeiten, weisen jedoch auch wichtige Unterschiede auf. Wegen der teilweisen Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Anhörung des 95 LAG Hamm v. 5.10.2000 – 17 Sa 1093/00, ArbRB online. 96 BAG v. 20.2.1997 – 6 AZR 760/95, NZA 1997, 834; aA zB Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr, BAT, § 10 TV Rationalisierung 1.1 S. 62.

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Ordentliche Kündigung

Rz. 17.67 § 17

Betriebsrats gemäß § 102 BetrVG folgt die nachfolgende Darstellung im Wesentlichen den Regelungen des BPersVG. Dem sind die Ländervorschriften weitgehend angepasst, zuletzt die Vorschriften in NRW nach einer weitreichenden Novellierung des Landespersonalvertretungsgesetzes NW97. Auf Bundesebene ist eine ordentliche Kündigung gemäß § 79 iVm. § 72 BPersVG vor ihrem Ausspruch mit dem Ziel einer Verständigung rechtzeitig und eingehend mit dem Personalrat zu erörtern. Eine Kündigung ist gemäß § 79 Abs. 4 BPersVG unwirksam, wenn der Personalrat nicht beteiligt wurde, aber auch dann, wenn der Personalrat nicht richtig beteiligt wurde98. Beteiligungsmängel, die allein in den Verantwortungsbereich der Personalvertretung fallen, berühren die Wirksamkeit der Kündigung nicht99.

17.65

Dieses zwingende Mitwirkungsrecht100 besteht nur bei der ordentlichen Kündigung iSd. § 622 BGB101. Beteiligungsrechtlich stehen der ordentlichen Kündigung die Kündigung eines Berufsausbildungsverhältnisses während der Probezeit nach § 22 Abs. 1 BBiG102 sowie eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist bei tariflich nicht mehr ordentlich kündbaren Arbeitnehmern103 gleich. Vor Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung ist gemäß § 79 Abs. 3 BPersVG der Personalrat hingegen nur anzuhören. Da die Beteiligungsrechte unterschiedlich ausgestaltet sind, scheidet eine Umdeutung einer fristlosen in eine ordentliche Kündigung aus104. Daher muss zwingend vor Ausspruch einer fristlosen Kündigung der Personalrat auch hinsichtlich einer „vorsorglichen ordentlichen Kündigung“ beteiligt werden105. Zu beachten sind jedoch auch Ausnahmen vom Beteiligungsrecht des Personalrats, zB bei Kündigungen von Beschäftigtengruppen, die in § 77 Abs. 1 Satz 2 BPersVG genannt sind, § 79 Abs. 1 Satz 2 BPersVG (weitere Einzelheiten zum Mitbestimmungsverfahren s. § 19, Rz. 19.18).

17.66

7. Besonderheiten bei personenbedingter und verhaltensbedingter Kündigung Neben der betriebsbedingten Kündigung kommt natürlich auch im öffentlichen Dienst eine personenbedingte oder verhaltensbedingte Kündigung in Betracht. Diese unterliegen den allgemeinen Beschränkungen des Kündigungsschutzes gemäß § 1 Abs. 2 KSchG in der Konkretisierung, wie sie die Rechtsprechung des BAG schon seit Jahrzehnten entwickelt, verfeinert, manchmal aber auch verändert.

97 Vgl. Änderung des LPVG v. 9.10.2007, GVBl. NRW v. 16.10.2007, 394 ff. 98 St. Rspr. und einhellige Meinung in der Literatur; zB Fischer/Goeres/Gronimus in Fürst, GKÖD V K, § 72 BPersVG Rz. 23; vgl. auch zu den Anforderungen der Personalratsanhörung bei Probezeitkündigung BAG v. 23.4.2009 – 6 AZR 516/08, ArbRB 2009, 323 = NZA 2009, 959. 99 Stahlhacke/Preis/Vossen/Preis, Rz. 466. 100 Anders als gem. § 102 Abs. 6 BetrVG kann das Beteiligungsrecht nach §§ 73, 97 BPersVG nicht einvernehmlich erweitert werden. 101 Bei außerordentlicher Kündigung besteht gem. § 79 Abs. 3 BPersVG nur ein Anhörungsrecht. 102 Vgl. dazu auch BAG v. 19.11.2009 – 6 AZR 800/08, ArbRB 2010, 73 = NZA 2010, 278. 103 BAG v. 5.2.1998 – 2 AZR 227/97, NZA 1998, 771. 104 BAG v. 3.12.1981 – 2 AZR 679/79, nv. 105 BAG v. 23.4.1998 – 8 AZR 622/96, nv.

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17.67

§ 17 Rz. 17.68

Kündigungen

a) Personenbedingte Kündigung

17.68 Die Fälle der personenbedingten Kündigung werden auch im öffentlichen Dienst in erster Linie durch krankheitsbedingte Fehlzeiten der Arbeitnehmer ausgelöst106. Eine Besonderheit gegenüber der Privatwirtschaft ergibt sich daraus, dass die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes, zB § 7 BAT und § 3 Abs. 4 TVöD, den öffentlichen Arbeitgeber bei begründeter Veranlassung berechtigen, den Arbeitnehmer zur Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung zu verpflichten. Er kann damit eine Untersuchung des Arbeitnehmers in die Wege leiten, um die Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers zu überprüfen. Das Untersuchungsergebnis kann Grundlage einer krankheitsbedingten Kündigung sein107.

17.69 Keine personenbedingte Kündigung in Form der krankheitsbedingten Kündigung ist auszusprechen, wenn der Beschäftigte seine ihm obliegende Mitwirkungspflicht verletzt und sich schuldhaft dem berechtigten Verlangen nach ärztlicher Begutachtung entzieht, die der Klärung seiner Berufs- oder Erwerbsfähigkeit dienen soll. In diesem Fall kann allerdings der öffentliche Arbeitgeber eine ordentliche verhaltensbedingte Kündigung aussprechen, in besonders krassen Fällen sogar – selbstverständlich nur nach vorangegangener Abmahnung – eine außerordentliche Kündigung (vgl. dazu Rz. 17.112 ff.).

17.70 Aber nicht nur krankheitsbedingte Gründe, sondern auch solche, die die Eignung des Arbeitnehmers im Übrigen betreffen können, kommen in Betracht. So hat das BAG sogar eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist aus personenbedingten Gründen für zulässig erachtet bei einem Mitarbeiter, der wegen einer zu verbüßenden siebeneinhalbjährigen Strafhaft langjährig an der Leistung der Arbeit verhindert war108. Auch hier gilt, dass eine ordentliche Kündigung erst recht zulässig sein muss. Einem Erzieher in einem Kinderhort kann verhaltensbedingt nicht außerordentlich gekündigt werden, weil er Anhänger der NPD und Hooligan in der Fanszene eines Fußballvereins ist, auch wenn er zahlreiche Aktivitäten unternimmt wie die Teilnahme an NPD-Kundgebungen, NPD-Grillfesten und auch sonst Nazi-Symbole verwendet, wenn sich das nicht unmittelbar auf seine Erziehertätigkeit auswirkt. Dagegen kommt eine personenbedingte Kündigung deswegen in Betracht, weil er aufgrund seiner offenkundig zur Schau gestellten Gewaltbereitschaft, auch in öffentlichen und veröffentlichten Bildern etc., eine Einstellung zeigt, die ihn als Erzieher untauglich macht109. aa) Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit

17.71 Der Einigungsvertrag enthält besondere Regelungen für den Ausspruch von ordentlichen Kündigungen und außerordentlichen Kündigungen wegen einer früheren Tätigkeit für das MfS der DDR110. Diese Regelungen sind mit Ablauf des 31.12.1993 nicht mehr gültig. Da 106 Zu Fallgruppen und Prüfungsaufbau s. Tschöpe/Rinck, Teil 3 E Rz. 81 ff. 107 Vgl. zu den Voraussetzungen, die denen der Privatwirtschaft entsprechen: APS/Dörner, § 1 KSchG Rz. 135 f., insb. zur dreistufigen Überprüfung Rz. 138 f. 108 Vgl. BAG v. 22.10.2015 – 2 AZR 381/14, NZA 2016, 482 (dort auch zur Zustimmungsfiktion des § 91 Abs. 3 Satz 2 SGB IX bei einer außerordentlichen Kündigung mit notwendiger Auslauffrist). 109 LAG Baden-Württemberg v. 11.2.2016 – 16 Sa 43/15, 3. LS und unter II. 6. d. Entscheidungsgründe, ArbRB online. 110 Kapitel XVIII Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Nr. 2 der Anlage I zum Einigungsvertrag.

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Ordentliche Kündigung

Rz. 17.74 § 17

auch heute noch bekannt werden kann – wie aktuelle Fälle zeigen –, dass eine frühere Tätigkeit für das MfS, insbesondere als informeller Mitarbeiter (IM), stattgefunden hat, gibt es nach wie vor ein Regelungsbedürfnis, darauf auch im Arbeitsverhältnis zu reagieren. Deshalb ist man sich einig, dass hier eine Kündigung möglich sein muss, allerdings wegen der Sonderregelungen im Einigungsvertrag keine ordentliche verhaltensbedingte Kündigung mehr. In Betracht kommt jedoch eine personenbedingte Kündigung. Dabei stellt das BAG darauf ab, ob der Arbeitnehmer trotz der früheren Tätigkeit für das MfS noch für eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst geeignet ist oder nicht111. Die frühere Tätigkeit selbst löst das Kündigungsrecht noch nicht aus. Es kommt vielmehr im Rahmen einer Prognoseentscheidung darauf an, ob die Eignung für die besonderen Anforderungen des öffentlichen Dienstes vorliegt. Dabei stellt das BAG auf sämtliche Umstände des konkreten Einzelfalls ab. Zunächst ist der Grad der persönlichen Verstrickung des Betroffenen zu klären. Ferner werden die Art, Dauer und Intensität der Tätigkeit für das MfS zu berücksichtigen sein. Außerdem kommt es auf den Zeitpunkt an und auf den Grund für die Aufnahme der MfS-Tätigkeit. Maßgeblich ist aber nicht nur die Vergangenheit, sondern auch, welche Befugnisse der Arbeitnehmer in der jetzigen Position im Arbeitsverhältnis hat und wie sich seine frühere Tätigkeit, nachdem sie bekannt geworden ist, auf das Ansehen und das Vertrauen der Bürger in die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung auswirkt. Je größer das Maß der Verstrickung ist, desto weniger zumutbar kann die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers als Angehöriger des öffentlichen Dienstes sein112.

17.72

Allerdings berücksichtigt das BAG auch den zwischenzeitlich aufgelaufenen Zeitraum. Hat 17.73 der Beschäftigte seit der Tätigkeit im öffentlichen Dienst beanstandungsfrei gearbeitet und lässt seine Tätigkeit auf eine Bewährung, innere Distanz oder Abkehr von früheren Einstellungen und Taten schließen, kann dies seine Kündigung ausschließen113. Insbesondere auch aus verfassungsrechtlichen Gründen kann es deshalb geboten sein, Tätigkeiten für das MfS, die vor dem Jahr 1970 bereits abgeschlossen waren, als untaugliches Indiz für die mangelnde Eignung für den öffentlichen Dienst zu betrachten114. Allerdings kann eine auch längere, beanstandungsfreie Tätigkeit entwertet werden und eine ordentliche personenbedingte Kündigung wegen früherer Stasi-Tätigkeit in Betracht kommen, wenn der Arbeitnehmer in berechtigtem Aufklärungsinteresse gestellte Fragen des Arbeitgebers nach einer Stasi-Tätigkeit oder der Abgabe einer sog. Verpflichtungserklärung falsch beantwortet. Dann kommt nicht nur eine personenbedingte, sondern unter Umständen auch eine ordentliche verhaltensbedingte Kündigung in Betracht115 bb) Politische, religiöse oder weltanschauliche Betätigung Immer wieder haben sich die Arbeitsgerichte auch mit Kündigungsgründen auseinandersetzen müssen, bei denen politische, religiöse oder weltanschauliche Aspekte eine Rolle gespielt haben. Die Frage ist in solchen Fällen immer, ob diese Aspekte eine personenbedingte oder 111 112 113 114 115

BAG v. 27.4.2006 – 2 AZR 426/05, NZA 2007, 288. BAG v. 11.6.1992 – 8 AZR 474/91, NZA 1993, 361. Vgl. BAG v. 27.4.2006 – 2 AZR 426/05, NZA 2007, 288. BVerfG v. 19.3.1998 – 1 BvR 264/97, nv. Vgl. LAG Berlin-Brandenburg v. 16.10.2017 – 5 Sa 462/17, NZA-RR 2018, 139: Kündigung wg. Interessenabwägung unwirksam, 27-jährige unbeanstandete Tätigkeit einerseits, bewusst unwahr beantwortete, berechtigte Fragen des beklagten Landes unter Berücksichtigung weitgehender Kenntnis des Arbeitgebers von der Verpflichtungserklärung, vgl. insb. LS 2.

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17.74

§ 17 Rz. 17.74

Kündigungen

eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen können. Da hier der grundrechtlich relevante Bereich betroffen ist, insbesondere in Form der Meinungs-, Religions- oder Weltanschauungsfreiheit gemäß Art. 4, 5 GG116, muss hier besonders sorgfältig differenziert werden. Eine personenbedingte Kündigung kommt nur unter Eignungsaspekten in Betracht. Aus den Gründen muss sich ergeben, dass der Arbeitnehmer unter Berücksichtigung der Aufgabenstellung in der konkret wahrzunehmenden arbeitsvertraglichen Funktion nicht geeignet erscheint117. Kann bei der Entscheidung, ob jemand in den öffentlichen Dienst eingestellt wird, die allgemeine Eignung anhand abstrakter Merkmale bestimmt werden, bedarf die Prognoseentscheidung im Zusammenhang mit einer Kündigung der Prüfung konkreter Umstände, aus denen sich ergibt, dass der Arbeitnehmer nicht die zur Wahrnehmung der ihm übertragenen Aufgaben erforderliche Eignung besitzt.

17.75 So sind zB Eignungsmängel indiziert bei konkreten, begründeten Zweifeln an der Verfassungstreue des Arbeitnehmers, wie sie sich zB ergeben, wenn ein Arbeitnehmer nicht nur Mitglied einer verfassungsfeindlichen Organisation oder Partei ist, sondern auch aktiv für sie eintritt118.

17.76 Deshalb kann die Zugehörigkeit zB zur Scientology-Organisation für sich allein eine Kündigung nicht rechtfertigen119. Hinzutreten muss noch ein konkretes Verhalten des Arbeitnehmers, das der besonderen Zurückhaltung widerspricht, die Beschäftigte im öffentlichen Dienst mit Blick auf politische, religiöse oder weltanschauliche Betätigungen üben müssen. So ist es mit der konkreten Tätigkeit eines Arbeitnehmers im öffentlichen Dienst nicht vereinbar, wenn versucht wird, im Dienst für solch eine Organisation zu werben. b) Verhaltensbedingte Kündigung

17.77 In der Praxis weitaus wichtiger sind die verhaltensbedingten Gründe, die zu einer ordentlichen Kündigung führen können. Natürlich gilt auch im öffentlichen Dienst der Grundsatz, dass eine verhaltensbedingte Kündigung auf der Grundlage unterschiedlichster Störungen des Arbeitsverhältnisses ebenso in Betracht kommt wie in der Privatwirtschaft. Das KSchG nennt keine Definition des Begriffs des verhaltensbedingten Grundes. Grundvoraussetzung ist eine Vertragsverletzung. Diese muss zunächst auf der ersten Stufe an sich geeignet sein, das Arbeitsverhältnis zu beeinträchtigen. Auf der zweiten Stufe findet eine Interessenabwägung statt, welche Interessen angesichts des Verhaltens des Arbeitnehmers schützenswerter sind, die des Arbeitgebers oder des Arbeitnehmers120.

17.78 Im öffentlichen Dienst gibt es besondere Interessenlagen, die auch auf die verhaltensbedingten Gründe durchschlagen und im Folgenden beleuchtet werden sollen. aa) Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit

17.79 Die Möglichkeit, wegen der Tätigkeit für das MfS der DDR eine verhaltensbedingte ordentliche Kündigung auszusprechen, ist aus den oben genannten Gründen abgeschnitten. Wird also erst heute eine frühere Tätigkeit für das MfS bekannt, müssen die strengen Anforderungen für eine außerordentliche Kündigung erfüllt sein (wegen der Möglichkeit der personen116 117 118 119 120

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Vgl. zB BAG v. 14.2.1996 – 2 AZR 274/95, NZA 1996, 873. Instruktiv BAG v. 6.6.1984 – 7 AZR 456/82, DB 1985, 341. KR/Griebeling, § 1 KSchG Rz. 306. LAG Berlin v. 11.6.1997 – 13 Sa 19/97, DB 1997, 2542. Vgl. zu den Einzelheiten Mues/Eisenbeis/Laber, Teil 4 Rz. 68 f.

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Ordentliche Kündigung

Rz. 17.83 § 17

bedingten ordentlichen Kündigung s. Rz. 17.71 ff.) Eine verhaltensbedingte Kündigung kommt grundsätzlich „an sich“ in Betracht, wenn Arbeitnehmer berechtigte Fragen nach einer früheren Stasi-Tätigkeit hartnäckig unbeantwortet lassen121. Im Einigungsvertrag122 findet sich zwar für den Sonderfall einer früheren Beschäftigung für das MfS im Verhältnis zum öffentlichen Arbeitgeber die Befristung für die ordentliche Kündigung bis zum 31.12.1993. Diese zeitliche Beschränkung greift jedoch nicht, wenn der Schwerpunkt des Vorwurfs nicht auf der Stasi-Tätigkeit an sich, sondern darauf beruht, dass berechtigte Fragen des Arbeitgebers unbeantwortet bleiben. bb) Politische, religiöse oder weltanschauliche Betätigung Diese Aspekte sind bereits mit Blick auf die Eignung für den öffentlichen Dienst und im Zu- 17.80 sammenhang mit einer personenbedingten Kündigung betrachtet worden. Solche Aspekte sind insbesondere bei einer außerdienstlichen Tätigkeit zu beachten. Führt die politische, religiöse oder weltanschauliche Betätigung zu einer konkreten Beeinträchtigung des Arbeitsverhältnisses, etwa wenn ein Lehrer antisemitische Witze erzählt123, so kommt auch eine verhaltensbedingte Kündigung in Betracht. Hierbei sind besondere Verhaltenspflichten für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes zu beachten, wie die in § 3 Abs. 1 Satz 2 TV-L (zuvor § 8 Abs. 1 Satz 2 BAT) tariflich normierte besondere politische Loyalitätspflicht124. Außerdienstliches Verhalten wird dann relevant, wenn es in die Dienststelle hineinwirkt und entweder die allgemeine Aufgabenstellung des Dienstes berührt oder jedenfalls das konkrete Aufgabengebiet des Arbeitnehmers125. So hat ein Arbeitnehmer provozierende parteipolitische Betätigungen, zB durch Herausgabe eines Flugblattes, zu unterlassen126. Liest ein Schichtleiter im allgemeinen Ordnungsdienst eines Bundeslandes im Pausenraum offen Hitlers Werk „Mein Kampf“, das auf dem Einband das Hakenkreuz präsentiert, rechtfertigt ein solches Verhalten auch die verhaltensbedingte Kündigung ohne Abmahnung127.

17.81

Grundsätzlich kommen sowohl im Leistungsbereich als auch im Bereich der betrieblichen oder dienststellenbezogenen Verbundenheit aller Mitarbeiter, im personellen Vertrauensbereich oder im Unternehmensbereich oder im behördlichen Aufgabenbereich Verhaltensweisen als kündigungsrelevant in Betracht, auch wenn sie außerdienstlich stattfinden128.

17.82

So hat der 2. Senat des BAG129 eine ordentliche Kündigung eines Arbeitnehmers des öffentlichen Dienstes für wirksam gehalten, der als Mitglied der NPD, beschäftigt im Versandzentrum für die Planung, Steuerung und Überwachung von Druckaufträgen der Finanzverwaltung eines Landes in seiner Freizeit unter Ausnutzung des Zugriffs auf personenbedingte, dem Steuergeheimnis unterliegende Daten des Steuerpflichtigen einen „Newsletter mit Informationen zu Treffen und Veranstaltungen eines NPD-Kreisverbandes und der JN“ verbreitete. Darin war zum 17. Juni zu Demonstrationen und einer „Revolution“ aufgerufen worden mit der Be-

17.83

121 122 123 124 125 126 127 128 129

LAG Berlin-Brandenburg v. 16.10.2017 – 5 Sa 462/17, NZA-RR 2018, 139. S. Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 der Anlage I zum Einigungsvertrag. BAG v. 5.11.1992 – 2 AZR 287/92, AuR 1993, 124. Vgl. BAG v. 12.5.2011 – 2 AZR 479/09, ArbRB 2012, 6 = NZA-RR 2012, 43, Rz. 24 ff. mwN. BAG v. 6.6.1984 – 7 AZR 456/82, NJW 1985, 507 zur Mitgliedschaft in der DKP; zur Verbreitung ausländerfeindlicher Pamphlete s. BAG v. 14.2.1996 – 2 AZR 274/95, NZA 1996, 873. BAG v. 15.12.1977 – 3 AZR 184/76, EzA § 626 BGB nF Nr. 61. LAG Berlin-Brandenburg v. 25.9.2017 – 10 Sa 899/17, EzA-SD 2018, 5. Vgl. BAG v. 20.7.1989 – 2 AZR 114/87, NZA 1990, 614. BAG v. 6.9.2012 – 2 AZR 372/11, NZA 2013, 1448.

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§ 17 Rz. 17.83

Kündigungen

merkung „Volk steh auf, kämpf dich frei“ (wegen der weiteren Einzelheiten ist auf die Entscheidung zu verweisen). Das BAG hat aus dem Gesamtkontext den Aufruf des Verfassers für einen gewaltsamen Umsturz entnommen und dies als Verstoß gegen die Pflicht zur Verfassungstreue als Kündigungsgrund ausreichen lassen. In vielen Fällen kommt eine außerordentliche Kündigung in Betracht (vgl. dazu weitere Beispiele und Nachweise in Rz. 17.115). cc) Bürgerunfreundliches Verhalten

17.84 Der Servicegedanke hat auch im öffentlichen Dienst, insbesondere in den dienstleistungsorientierten Verwaltungszweigen, Eingang gefunden. Sind die arbeitsvertraglichen Pflichten auch im Umgang mit den ratsuchenden oder zu betreuenden Bürgern wahrzunehmen, sind Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst nicht nur verpflichtet, sachlich und fachlich kompetent zu handeln, sondern auch gegenüber den Bürgern freundlich, hilfsbereit und zuvorkommend aufzutreten. Diese Verpflichtungen ergeben sich zum einen aus dem Leitbild einer bürgerfreundlichen Verwaltung, sie obliegen aber auch jedem Mitarbeiter als allgemeine vertragliche Nebenpflicht. So kann eine hartnäckige Verletzung dieser Pflichten, also bürgerunfreundliches Verhalten, nach vorheriger Abmahnung auch die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses im öffentlichen Dienst rechtfertigen130. In vielen Fällen kommt auch hier eine außerordentliche Kündigung in Betracht (vgl. dazu weitere Beispiele und Nachweise in Rz. 17.115). dd) Straftaten

17.85 Bei Straftaten gelten grundsätzlich dieselben Grundsätze wie in der Privatwirtschaft131. Allerdings gelten im öffentlichen Dienst besondere Treuepflichten. Schon bislang war in § 8 Abs. 1 Satz 1 BAT gefordert, dass die Arbeitnehmer sich so zu verhalten haben, wie es von Angehörigen des öffentlichen Dienstes erwartet werde. In den Neuregelungen des § 41 Satz 2 TVöDBT-V wird gefordert, die geschuldete Leistung gewissenhaft und ordnungsgemäß auszuführen. Ferner haben sich die Beschäftigten des Bundes und anderer Arbeitgeber, in deren Aufgabenbereichen hoheitliche Tätigkeiten wahrgenommen werden, sich durch ihr gesamtes Verhalten zur freiheitlich demokratischen Grundordnung iSd. GG zu bekennen.

17.86 An diesen Maßstäben ist das Verhalten zu messen und insbesondere außerdienstlich begangene Straftaten. Diese sind Kündigungsgrund, wenn sie bereits durch die Tat selbst ein erhebliches Gewicht haben, zB bei einem vorsätzlichen Tötungsdelikt132, oder wenn sie in unmittelbarem Widerspruch zu den Aufgaben des öffentlichen Arbeitgebers stehen, zB im Fall der Steuerhinterziehung eines Finanzbeamten133. In den sonstigen Fällen muss die außerdienstliche Straftat im Bezug zur dienstlichen Tätigkeit stehen, zB wenn der Arbeitnehmer die Straftat unter Nutzung von Betriebsmitteln oder betrieblichen Einrichtungen begeht134. Dabei reicht es aus, dass die Straftat an sich geeignet ist, das Ansehen in der Öffentlichkeit zu schädigen; es bedarf nicht des Nachweises einer konkreten Schädigung135.

130 131 132 133 134

ArbG Iserlohn v. 24.1.2007 – 1 Ca 1692/06, nv. Vgl. Mues/Eisenbeis/Laber, Teil 4 Rz. 270 f. BAG v. 8.6.2000 – 2 AZR 638/99, NZA 2000, 1282. BAG v. 21.6.2001 – 2 AZR 325/00, ArbRB 2001, 104 = NZA 2002, 1030. BAG v. 10.9.2009 – 2 AZR 257/08, ArbRB 2010, 108 = NZA 2010, 220; v. 28.10.2010 – 2 AZR 293/09, ArbRB 2011, 70 = DB 2011, 307. 135 Vgl. LAG Nürnberg v. 11.8.2017 – 6 Sa 76/17, EzA-SD 2018, 4: außerdienstliche politische Betätigung bei steuerbarem Verhalten zunächst abmahnen, vgl. LS 3; ferner schon BAG v. 8.6.2000 – 2 AZR 638/99, NZA 2000, 1282.

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Ordentliche Kündigung

Rz. 17.89 § 17

Eine ordentliche Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen ohne Abmahnung kommt auch dann in Betracht, wenn sich ein Lehrer wegen sexuellen Missbrauchs einer minderjährigen Schülerin strafbar gemacht hat (§ 176 StGB)136. In vielen Fällen kommt auch hier eine außerordentliche Kündigung in Betracht (vgl. dazu weitere Beispiele und Nachweise in Rz. 17.115). ee) Abmahnung Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geschuldet ist auch im öffentlichen Dienst, dass grundsätzlich vor Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung eine einschlägige Abmahnung erfolgen muss. Das gilt auch bei der Verletzung der Pflicht, sich politisch zurückzuhalten und verfassungstreu zu bleiben137. Abmahnungen sind wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes immer dann erforderlich, wenn ein steuerbares Verhalten des Arbeitnehmers vorliegt138. Dagegen ist die Abmahnung entbehrlich, wenn der Arbeitnehmer aufgrund der Belehrung zu Beginn des Arbeitsverhältnisses über Grundsätze aufgeklärt ist, aus denen er entnehmen kann, dass eine Hinnahme eines bestimmten Verhaltens erkennbar ausgeschlossen ist139. Manipuliert ein Arbeitnehmer zu dem Zweck, Pflichtverstöße zu verschleiern, die Akten, um eine korrekte Aufgabenerfüllung vorzutäuschen, kann das auch ohne vorangegangene Abmahnung geeignet sein, die ordentliche Kündigung eines langjährigen Arbeitsverhältnisses sozial zu rechtfertigen140.

17.87

Soweit und solange der BAT galt, waren die Beschäftigten gemäß § 13 Abs. 2 BAT vor Aufnahme der Abmahnung in die Personalakte anzuhören. Eine ohne Anhörung zur Personalakte genommene Abmahnung ist, soweit der BAT noch gilt, formell fehlerhaft. Beschäftigte können notfalls durch arbeitsgerichtliche Klage durchsetzen, dass sie aus der Personalakte wieder entfernt wird. Materiell bleibt die Abmahnung jedoch wirksam, die Warnfunktion bleibt unabhängig von den formellen Unvollkommenheiten erhalten. Im Wiederholungsfall kann die auf das abgemahnte wiederholte Verhalten gestützte Kündigung wirksam sein141. Der Dienstherr kann also nach Anhörung die Abmahnung – ggf. zusammen mit der Stellungnahme des Beschäftigten – zur Personalakte nehmen. Soweit der TVöD gilt, ist das Anhörungsrecht ersatzlos entfallen.

17.88

Hier gelten die allgemeinen Grundsätze auch im öffentlichen Recht mit der Maßgabe, dass es Fälle geben kann, in denen das Verhalten so gravierend ist, dass der öffentliche Arbeitgeber nicht zuvor eine Abmahnung aussprechen muss142. So hat der öffentliche Arbeitgeber jedem Anzeichen von Korruption entgegenzutreten, damit nach außen und nach innen der Eindruck

17.89

136 Vgl. LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 7.3.2017 – 5 Sa 79/16, ArbRB online. 137 Vgl. dazu BAG v. 14.2.1996 – 2 AZR 274/95, NZA 1996, 873. 138 Vgl. LAG Hamm v. 10.3.2016 – 15 Sa 451/15 LS 2, ArbRB online: Änderung der Falldokumentation durch einen Dipl.-Sozialarbeiter im sozial-psychiatrischen Dienst; vgl. auch BAG v. 8.5.2014 – 2 AZR 249/14, NZA 2014, 1258 und BAG v. 21.11.2013 – 2 AZR 797/11, NZA 2014, 243: Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes; BAG v. 25.10.2012 – 2 AZR 495/11, NZA 2013, 319: Vorrang der Abmahnung. 139 Vgl. LAG Rheinland-Pfalz v. 2.6.2016 – 5 Sa 354/15, EzA-SD 2016, 5, unter II. 5. e) aa) der Entscheidungsgründe: Abmahnungsfreie ordentliche Kündigung eines Justizwachtmeisters wegen Weitergabe von Inhalten einer Ermittlungsakte an Dritte; unter Hinweis auf BAG v. 25.10.2012 – 2 AZR 495/11 Rz. 15 mwN. 140 Vgl. BAG v. 23.1.2014 – 2 AZR 638/13, NZA 2014, 965. 141 Vgl. BAG v. 19.2.2009 – 2 AZR 603/07, ArbRB 2009, 322 = DB 2009, 1822, 1823. 142 Vgl. BAG v. 8.6.2000 – 2 AZR 638/99, NZA 2000, 1282, amtlicher Leitsatz 3.

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§ 17 Rz. 17.89

Kündigungen

vermieden wird, hier werde Nachsicht geübt, indem zB der korrupte Mitarbeiter mit einer Abmahnung „davonkommt“, und der Arbeitgeber trete nicht energisch genug mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen schon den Anfängen eines solchen Verhaltens entgegen. Hier kann also die Abmahnung entbehrlich sein143. 8. Kündigungsfristen

17.90 Soweit nichts anderes vereinbart ist, gelten auch im öffentlichen Dienst im Arbeitsverhältnis die gesetzlichen Kündigungsfristen des § 622 BGB einschließlich der verlängerten Kündigungsfristen für die Arbeitgeberkündigung. Während individualrechtliche Abweichungen zulasten der Arbeitnehmer nur in den sehr engen Grenzen des § 622 Abs. 5 BGB zulässig, im Übrigen aber unzulässig sind, kann durch tarifliche Regelungen von den gesetzlichen Kündigungsfristen abgewichen werden. a) Kündigungsfristen des § 34 TVöD

17.91 Das Tarifrecht für den öffentlichen Dienst enthält zB in § 34 TVöD eigene Kündigungsfristen. Diese Regelung löst die bisherigen Tarifnormen (zB §§ 53 ff. BAT/BAT-O) ab, orientiert sich aber an den bisherigen Regelungen.

17.92 Wie bisher differenziert § 34 TVöD zwischen Kündigungen während der ersten sechs Monate, für die eine abgekürzte Kündigungsfrist von zwei Wochen zum Monatsschluss gilt, und Kündigungen von Arbeitsverhältnissen, die länger als sechs Monate bestehen. Für diese Arbeitsverhältnisse sieht § 34 TVöD gegenüber § 622 Abs. 2 BGB zum einen längere Kündigungsfristen vor. Zudem wird bei Beschäftigungszeiten von mehr als einem Jahr nicht auf das Monatsende abgestellt, sondern auf den Schluss eines Kalendervierteljahres. Abweichend von der gesetzlichen Regelung in § 622 Abs. 2 BGB, wonach die verlängerten Fristen nur für die Arbeitgeberkündigung gelten, sind Arbeitnehmer bei einer Eigenkündigung, wie der Arbeitgeber auch, an die verlängerten Kündigungsfristen des § 34 TVöD (§ 53 BAT) gebunden144.

17.93 Der in der Vergangenheit dem Wortlaut des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB nach bestehende Unterschied zu § 34 TVöD spielt keine Rolle mehr. Die Diskussion über die Europarechtswidrigkeit und auch Verfassungswidrigkeit des Mindestalters von 25 Jahren bei der Berechnung längerer Kündigungsfristen145 hat der Gesetzgeber inzwischen mit Wirkung vom 1.1.2019 beseitigt. Deshalb gilt einheitlich, dass auch die Zeiten vor Vollendung des 25. Lebensjahres zu berücksichtigen sind. Das galt schon für alle nach dem 2.12.2006 zugegangenen Kündigungen146. b) Unkündbarkeit, § 34 Abs. 2 TVöD

17.94 Der bisher in § 53 Abs. 3, § 54 BAT vorgesehene Ausschluss der ordentlichen Kündigung für Beschäftigte, die das 40. Lebensjahr vollendet und eine Beschäftigungszeit von mehr als 15 Jahren erfüllt haben, ist nur noch für das Tarifgebiet West von § 34 Abs. 2 TVöD auf143 S. LAG Hamm v. 26.4.2007 – 17 Sa 1914/06, ArbRB online. 144 Vgl. BAG v. 20.12.1990 – 2 AZR 412/90, BB 1991, 1199. 145 EuGH v. 19.1.2010 – C-555/07 – Kücükdeveci, BB 2010, 507; BVerfG v. 18.11.2008 – 1 BvL 4/08, EzA-SD 15/2009, 15; vgl. auch BAG v. 1.9.2010 – 5 AZR 700/09, DB 2010, 2620. 146 Vgl. Tschöpe/Schulte/Lingscheid, Teil 3 D Rz. 148 mwN in Fn. 4; zur inzwischen überholten Diskussion vgl. auch die Vorauflage, Rz. 93 mwN.

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Ordentliche Kündigung

Rz. 17.99 § 17

genommen worden. Für das Tarifgebiet Ost gilt also dieser Sonderkündigungsschutz der älteren und langjährig Beschäftigten künftig nicht mehr, wobei es auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung ankommt, nicht aber auf das Ende der Kündigungsfrist147. Allerdings gilt für Beschäftigte, die nach den bis zum 30.9.2005 geltenden Tarifregelungen, etwa § 53 Abs. 3, § 55 BAT/BAT-O, unkündbar waren, diese Unkündbarkeit gemäß § 34 Abs. 2 Satz 2 TVöD fort. Soweit § 34 Abs. 2 TVöD gilt, kommt also nur noch eine außerordentliche Kündigung in Betracht.

17.95

Schon bisher war es möglich, auch sog. unkündbaren Mitarbeitern unter besonderen und engen Voraussetzungen außerordentlich aus betriebsbedingten Gründen zu kündigen, allerdings nur mit sozialer Auslauffrist in Höhe der längsten in Betracht kommenden tariflichen Kündigungsfrist148.

17.96

c) Beschäftigungszeiten, § 34 Abs. 3 TVöD Sowohl für die Dauer der Kündigungsfrist als auch für die Frage, ob das Arbeitsverhältnis or- 17.97 dentlich nicht mehr kündbar ist, ist die Beschäftigungszeit maßgeblich. Dieser Begriff ist bisher in § 19 BAT/BAT-O definiert worden. Nach den bisher geltenden Tarifnormen wurde zwischen „Beschäftigungszeit“ und „Dienstzeit“ unterschieden. Nach den Neuregelungen des § 34 Abs. 3 Satz 1 TVöD gilt als Beschäftigungszeit die bei demselben Arbeitgeber im Arbeitsverhältnis zurückgelegte Zeit, auch wenn sie unterbrochen ist. Aufgegeben sind damit die sog. anrechnungsschädlichen Tatsachen, wie zB Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf Wunsch oder aus dem Verschulden des Beschäftigten, vgl. § 19 Abs. 1 Satz 2 BAT. Darauf wird nach der Neuregelung verzichtet. Beschäftigungszeiten bei einem anderen Arbeitgeber, der ebenfalls vom Geltungsbereich des TVöD erfasst wird, werden bei dem anderen Arbeitgeber gemäß § 34 Abs. 3 Satz 3 TVöD anerkannt. Das gilt gemäß Satz 4 auch bei einem Wechsel von einem anderen öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber. Im Einzelnen gilt Folgendes: aa) Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber Beschäftigungszeit ist die bei demselben Arbeitgeber im Arbeitsverhältnis zurückgelegte Zeit. Dieser Begriff ist nicht mit dem Begriff der Betriebszugehörigkeit iSd. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG gleichzusetzen149. Unter dem Begriff „derselbe Arbeitgeber“ ist die juristische Person zu verstehen, die als Arbeitgeberin den Arbeitsvertrag abgeschlossen hat, zB die Bundesrepublik Deutschland, eine Gebietskörperschaft oder sonstige rechtlich selbständige Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts sowie ein in privater Rechtsform geführtes Unternehmen (zB eine Stadtwerke GmbH oder AG). Wenn ein Arbeitnehmer bei seinem Arbeitgeber die Dienststelle wechselt, bleibt das Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber bestehen.

17.98

Als Beschäftigungszeiten gelten die Zeiten, die in einem Arbeitsverhältnis zurückgelegt worden sind. Auch die Zeiten einer Beschäftigung im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bei einer Gemeinde sind bei Ermittlung der Beschäftigungszeiten iSd. § 34 Abs. 3 TVöD in

17.99

147 BAG v. 16.10.1987 – 7 AZR 204/87, BB 1988, 1393. 148 Vgl. zB BAG v. 18.10.2000, 2 AZR 627/99, BB 2001, 418 f.; v. 8.4.2003, 2 AZR 355/02, NZA 2003, 856 f.; vgl. ferner BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 367/01, ArbRB 2003, 42; zum Prüfungsmaßstab einer außerordentlichen Kündigung ohne Auslauffrist s. BAG v. 13.4.2000 – 2 AZR 259/99, NZA 2001, 277. 149 Vgl. BAG v. 6.2.2003 – 2 AZR 623/01, NZA 2003, 1295.

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§ 17 Rz. 17.99

Kündigungen

einem späteren Arbeitsverhältnis zu berücksichtigen. Nicht zu den Beschäftigungszeiten zählen Ausbildungszeiten nach dem Tarifvertrag für Auszubildende im öffentlichen Dienst, weil sie nicht im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses erbracht werden. Sofern Ausbildungszeiten in einem Arbeitsverhältnis geleistet werden, sind sie dagegen bei der Berechnung der Beschäftigungszeit zu berücksichtigen. Gleiches gilt dann auch für die Zeit eines Praktikantenverhältnisses.

17.100 Bei der Berechnung der Beschäftigungszeit sind auch Zeiten der geringfügigen Beschäftigung mit zu berücksichtigen – entgegen § 4 Abs. 1 des 77. Tarifvertrags zur Änderung des BAT vom 29.10.2001. Diese Vorschrift ist nämlich unwirksam150. Diese Bestimmung, nach der differenziert wird zwischen den Zeiten geringfügiger Beschäftigung iSd. § 8 SGB IV (sog. 400-EuroKräfte), die vor oder nach dem 31.12.2001 zurückgelegt worden sind, verstößt nach Ansicht des BAG gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Die Tarifregelung führe zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Benachteiligung Teilzeitbeschäftigter. Es sei auch kein sachlicher Grund erkennbar, der rechtfertigen könne, die vor dem 1.1.2002 liegenden Zeiten geringfügiger Beschäftigung nicht zu berücksichtigen.

17.101 Außerdem werden Zeiten in einem früheren Beamtenverhältnis nicht als Beschäftigungszeit berücksichtigt, da § 34 Abs. 3 TVöD – anders als § 19 Abs. 3 BAT – eine Sonderregelung für diese Fälle nicht mehr vorsieht. Für die Berechnung der Beschäftigungszeit kommt es maßgeblich nur auf den rechtlichen Bestand des Arbeitsverhältnisses an, unabhängig von dem zeitlichen Umfang der Beschäftigung. Außerdem zählen auch Zeiten, in denen bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis keine Arbeitsleistungen vom Arbeitnehmer erbracht werden, als Beschäftigungszeit iSd. Tarifnorm151. Dies betrifft etwa Zeiten eines Beschäftigungsverbotes nach dem MuSchG, einer dauernden Arbeitsunfähigkeit oder eines Erholungsurlaubs sowie etwa einer Freistellung aufgrund von Elternzeit bzw. Zeiten eines Grundwehrdienstes oder einer Wehrübung. Gemäß § 34 Abs. 3 Satz 2 TVöD bleiben Zeiten eines Sonderurlaubs iSd. § 28 TVöD bei der Berechnung der Beschäftigungszeit allerdings grundsätzlich außer Ansatz, sofern der Arbeitgeber nicht vor Antritt des Sonderurlaubs schriftlich ein dienstliches oder betriebliches Interesse anerkannt hat. bb) Unterbrechungszeiten

17.102 Eine Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses bei demselben Arbeitgeber ist für die Berechnung der Beschäftigungszeiten unschädlich. Von einer Unterbrechung spricht man dann, wenn das Arbeitsverhältnis zwischenzeitlich beendet worden ist und später neu begründet wurde, egal ob es sich dabei um einen kürzeren oder längeren Zeitraum handelt. Das gilt unabhängig davon, ob die Unterbrechung auf Wunsch des Arbeitnehmers oder aufgrund dessen Verschulden – im Gegensatz zur bisherigen Regelung – erfolgt ist. Die Dauer der Unterbrechung, dh. der Zeitraum zwischen dem ersten und dem nächsten Arbeitsverhältnis, findet bei der Berechnung der Beschäftigungszeit jedoch keine Berücksichtigung, da insofern keine Zeiten in einem Arbeitsverhältnis zurückgelegt worden sind. cc) Beschäftigungszeiten bei anderen Arbeitgebern

17.103 Beim Wechsel des Arbeitgebers kommen grundsätzlich drei Fallgestaltungen in Betracht.

150 Vgl. BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 746/06, ArbRB 2007, 263 = NZA 2007, 881. 151 BAG v. 25.10.2001 – 6 AZR 718/00, ArbRB 2002, 135 = NZA 2002, 1052.

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Ordentliche Kündigung

Rz. 17.110 § 17

Findet der Wechsel von einem privaten Arbeitgeber zum öffentlichen Arbeitgeber statt, kann eine Beschäftigungszeit in dem privaten Arbeitsverhältnis nicht berücksichtigt werden.

17.104

Der Wechsel kann auch zwischen Arbeitgebern erfolgen, die vom Geltungsbereich des TVöD erfasst werden, § 34 Abs. 3 Satz 3 TVöD. Dann werden die bei dem anderen, bisherigen Arbeitgeber zurückgelegten Zeiten als Beschäftigungszeit bei dem neuen Arbeitgeber anerkannt. Das setzt jedoch voraus, dass die beiden Arbeitsverhältnisse unmittelbar aufeinanderfolgen. Nur dann können die Beschäftigungszeiten zusammengerechnet werden152.

17.105

Dasselbe gilt, wenn der Wechsel von einem anderen öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber stattgefunden hat, also auch dann, wenn der bisherige Arbeitgeber den TVöD nicht angewandt hat oder keine Tarifbindung bestand oder der Arbeitsvertrag mit dem Arbeitnehmer, der gewechselt hat, dieses Tarifwerk nicht in Bezug genommen hatte. Der Wechsel soll jedenfalls bei einem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber zur Zusammenrechnung führen. Diese Regelung hat auch Sinn vor dem Hintergrund, dass nach § 34 Abs. 3 Satz 3 TVöD der Arbeitgeber kein öffentlich-rechtlicher sein muss, sondern nur vom Geltungsbereich des Tarifvertrages erfasst werden musste. Mithin kommen auch öffentliche Unternehmen in Privatrechtsform, zB Stadtwerke GmbH, als frühere Arbeitgeber in Betracht.

17.106

9. Ausschluss und Einschränkung der ordentlichen Kündigung Das Recht zur ordentlichen Kündigung kann sowohl durch gesetzliche Bestimmungen, zB § 15 KSchG, durch Individualarbeitsvertrag oder durch tarifliche Regelungen ausgeschlossen sein.

17.107

Im öffentlichen Dienst gibt es von jeher den Schutz vor ordentlicher Kündigung für Beschäf- 17.108 tigte, die eine Beschäftigungszeit von 15 Jahren zurückgelegt und das 40. Lebensjahr vollendet haben, § 53 Abs. 3 BAT/BAT-O, wobei schon darauf hingewiesen wurde (Rz. 17.94 ff.), dass nach den Vorschriften des TVöD nicht alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ordentlich „unkündbar“ sind, sondern nur diejenigen im Tarifgebiet West, abgesehen vom Bestandsschutz, § 34 Abs. 2 Satz 1 TvÖD-AT. Darüber hinaus kann durch für den jeweiligen konkreten Fall getroffene Rationalisierungsschutzabkommen, aber insbesondere auch aus § 5 RatSchTV das Recht zur ordentlichen Kündigung zum Teil erheblich eingeschränkt werden. Die Anwendung weiterer Tarifverträge im Bereich VKA ist in § 36 TVöD-AT geregelt, hier konkret in § 36 Abs. 1 Buchst. b TVöD-V etc.

17.109

Beschäftigte, die eine Beschäftigungszeit von 15 Jahren zurückgelegt und das 40. Lebensjahr vollendet haben, sind im Tarifgebiet West vor einer ordentlichen Kündigung geschützt, nur die Kündigung aus wichtigem Grund ist zulässig, § 34 Abs. 2 Satz 1 TVöD. Als wichtiger Grund kommen dabei alle, auch betriebsbedingte, Gründe in Betracht153. Damit ist auch eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist unter den auch im privaten Arbeitsverhältnis geltenden Voraussetzungen zulässig154.

17.110

152 Vgl. BeckOK TVöD/Eylert, § 34 TVöD-AT Rz. 76-78. 153 BAG v. 27.11.2008 – 2 AZR 757/07, ArbRB 2009, 166 = NZA 2009, 481 zur außerordentlichen, betriebsbedingten Änderungskündigung eines ordentlich unkündbaren Arbeitnehmers im öffentlichen Dienst; BeckOK TVöD/Eylert, § 34 TVöD-AT Rz. 57 ff.; damit ist auch die früher in § 55 Abs. 2 BAT für solche Fälle vorgesehene Beschränkung auf eine Änderungskündigung mit Herabgruppierung um max. eine Vergütungsgruppe obsolet. 154 So BeckOK TVöD/Eylert, § 34 TVöD-AT Rz. 57 ff.

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§ 17 Rz. 17.111

Kündigungen

17.111 Als Beschäftigungszeit gilt dabei – im Unterschied zur ordentlichen Kündigung! – nur die bei demselben Arbeitgeber zurückgelegte; vorherige Beschäftigungszeiten bei anderen, auch vom Geltungsbereich des TVöD erfassten Arbeitgebern werden nicht berücksichtigt155. Das ergibt sich nach Auffassung des BAG eindeutig aus dem Wortlaut der Tarifvorschrift, die in § 34 Abs. 2 Satz 1 lediglich auf Abs. 3 Satz 1 und 2 TVöD verweist, aber nicht auf Satz 3 und 4, die die Beschäftigungszeiten bei einem früheren Arbeitgeber regeln. Diese sind von der Bezugnahme ausdrücklich ausgeschlossen mit der Folge, dass der Ausschluss der ordentlichen Kündigung nur nach 15-jähriger Beschäftigungszeit bei demselben Arbeitgeber eintritt.

III. Außerordentliche Kündigung 1. Grundlagen

17.112 Auch im öffentlichen Dienst kann, wie in jedem Arbeitsverhältnis, die Kündigung außerordentlich erfolgen, entweder fristgerecht oder mit sozialer Auslauffrist.

17.113 Nur eine redaktionelle Besonderheit fand sich bisher geregelt in § 54 BAT/BAT-O. Diese Tarifnorm stimmt inhaltlich und fast wörtlich mit § 626 BGB überein. Die außerordentliche Kündigung setzt immer einen wichtigen Grund voraus, § 626 Abs. 1 BGB. In § 54 BAT ist von einer „fristlosen“ Kündigung die Rede, während § 626 Abs. 1 BGB formuliert, dass die Kündigung „ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist“ ausgesprochen werden kann. Diese semantische Differenzierung hat inhaltlich keine Auswirkungen, die Tarifnorm hatte deshalb bislang nur deklaratorische Bedeutung. Die den BAT ablösenden Tarifwerke des TVöD, des TV-L etc. sehen deshalb keine eigenständige, dem § 54 BAT entsprechende Regelung mehr vor. Einheitlich richten sich deshalb die Voraussetzungen für eine Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 BGB. 2. Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit

17.114 Im schon zitierten Einigungsvertrag (Rz. 17.79 im Zusammenhang mit der ordentlichen Kündigung) findet sich die Beschränkung nur für die ordentliche Kündigung, nicht für die außerordentliche. Insoweit kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an und die entscheidende Frage, ob aufgrund der früheren Tätigkeit für das MfS in der aktuellen Situation die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für den Arbeitgeber unzumutbar ist. 3. Einzelfälle zum wichtigen Grund

17.115 Im öffentlichen Dienst gelten für außerordentliche Kündigungen dieselben Maßstäbe wie in der Privatwirtschaft auch156. Dazu können folgende Beispielsfälle der Instanzrechtsprechung Hilfe bei der Einschätzung des wichtigen Grundes bieten, sowohl verhaltens- wie personenbedingt: – Wegen dauerhafter Arbeitsunfähigkeit kommt eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist dann in Betracht, wenn einem Beschäftigten dauerhaft unmöglich ist, 155 Vgl. BAG v. 22.2.2018 – 6 AZR 137/17, ArbRB 2018, 164 (Windeln). 156 Vgl. dazu auch Tschöpe/Rinck, Teil 3 F, insb. Rz. 12 ff. und Teil 3 G zu Einzelfällen (Kündigungen von A–Z).

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Außerordentliche Kündigung

Rz. 17.115 § 17

seine bisherige Tätigkeit auszuüben und im gesamten Zuständigkeitsbereich des Arbeitgebers zum Kündigungszeitpunkt und in absehbarer Zeit keine Möglichkeiten zur anderweitigen Beschäftigung bestehen157. – Die außerordentliche Kündigung einer Krankenschwester im Intensivbereich wegen einer Alkoholerkrankung ist zwar grundsätzlich als wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB geeignet, setzt aber voraus, dass der Arbeitnehmer bei einem Rückfall nicht mehr therapiebereit ist. Dann komme eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist aus personenbedingten Gründen nicht in Betracht158. – An sich als wichtiger Grund geeignet ist auch das Brennen und Kopieren privat beschaffter Musik-CDs oder Film-DVDs durch einen IT-Verantwortlichen bei einem OLG während der Arbeitszeit unter Verwendung des dienstlichen Computers159. – Die unrichtige eidesstattliche Versicherung eines bei einer Stadt beschäftigten Müllwerkers, die er in einem Unterhaltsprozess abgegeben hat, steht nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeiten und kann die außerordentliche Kündigung nicht rechtfertigen, wenn der Vorwurf nur darauf beruht, dass die kommunale Gebietskörperschaft und Arbeitgeberin einen auf sie als zuständige Trägerin der Sozialhilfe übergegangenen Unterhaltsanspruch geltend gemacht hat160. – Veröffentlicht ein Straßenbahnfahrer einer im Eigentum einer Stadt stehenden Straßenbahngesellschaft auf einer rechtsradikalen Facebook-Seite unter seinem Namen und in Straßenbahnuniform ein Foto mit einer meckernden Ziege mit der Sprechblase „Achmet, ich bin schwanger“, kann das die fristlose Kündigung rechtfertigen161. – Kündigt ein Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos wegen der Bekleidung hoher Ämter in der NPD, die er zunächst nur zum Anlass einer ordentlichen Kündigung gemacht hatte, ohne eine Änderung des Sachverhalts, kann die außerordentliche, fristlose Kündigung unzumutbar sein. Hier bedarf es weiterer Darlegungen, warum sich der Sachverhalt gegenüber der ersten Kündigungsentscheidung verändert hat162. – Als wichtiger Grund ist der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete, vom Arbeitgeber nur schwer zu kontrollierende Arbeitszeit korrekt zu dokumentieren. Der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes kann sich auch nicht darauf berufen, dass sein Vorgesetzter gebilligt habe, dass er monatlich fiktive Überstunden geltend gemacht habe, die aus Sicht des Arbeitnehmers und seines Vorgesetzten dem Wert zu Unrecht versagter Erschwerniszuschläge entsprochen habe. In solch einem Fall ist der Ausspruch einer Abmahnung entbehrlich163. 157 Vgl. LAG Rheinland-Pfalz v. 11.7.2017 – 8 Sa 23/17, EzA-SD 2018, 3. 158 LAG München v. 12.3.2014 – 5 Sa 789/13, ArbRB online: Krankenschwester eines kommunalen Krankenhauses im Intensivbereich, außerordentliche Kündigung kommt nur in eng begrenzten Fällen in Betracht, grundsätzlich auch, wenn eine ordentliche Kündigung tarifvertraglich ausgeschlossen ist, unter Verweis auf BAG v. 20.12.2012 – 2 AZR 32/11 Rz. 14, ArbRB 2013, 140 und v. 21.6.2012 – 2 AZR 343/11 Rz. 19, ArbRB 2013, 7. 159 Vgl. BAG v. 16.7.2015 – 2 AZR 85/15, ArbRB 2016, 70/71; vgl. dazu auch das Berufungsurteil LAG Sachsen-Anhalt v. 19.12.2014 – 4 Sa 10/14, NZA 2015, 7. 160 Vgl. LAG Düsseldorf v. 25.11.2016 – 10 Sa 628/16, ArbRB online. 161 Vgl. Sächsisches LAG v. 27.2.2018 – 1 Sa 515/17, ArbRB online. 162 Vgl. Hessisches LAG v. 26.2.2016 – 14 Sa 1772/14, ArbRB online unter Verweis auf BAG v. 14.11.1980 – 7 AZR 755/78. 163 Vgl. LAG Baden-Württemberg v. 29.5.2018 – 19 Sa 61/17, EzA-SD 2018, 4.

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§ 17 Rz. 17.115

Kündigungen

– Die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses einer Hauptgeschäftsführerin einer Rechtsanwaltskammer wegen jahrelanger, erheblicher Nutzung der Ressourcen der Arbeitgeberin für ihre grundsätzlich erlaubte anwaltliche Nebentätigkeit ist ohne vorherige Abmahnung unwirksam164. 4. Erklärungsfrist

17.116 Neben dem wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB hängt die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung auch davon ab, ob sie innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis vom Kündigungsgrund ausgesprochen worden ist, § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB. Nach Ablauf dieser Frist ist das Kündigungsrecht verwirkt165.

IV. Änderungskündigung 17.117 Von den Möglichkeiten der Änderungskündigung, auch in taktischer Hinsicht, wird in der Privatwirtschaft immer noch sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht, weil die Vorbereitung einer solchen Variante des Kündigungsrechts komplizierter ist – oder so empfunden wird – als bei einer Beendigungskündigung. Die Rechtsprechung des BAG hat die Voraussetzungen auch nicht gerade vereinfacht, wie die zahlreichen Entscheidungen auch der Instanzgerichte zeigen166. Das BAG hat die Rechtsprechung sogar noch verschärft, indem bis auf wenige Ausnahmefälle (Personalleiter soll Stelle als Pförtner angeboten werden) auch dann, wenn Arbeitnehmer das Angebot schon im Vorfeld der Änderungskündigung abgelehnt haben, gleichwohl im Rahmen der Änderungskündigung das Angebot zu wiederholen sei167.

17.118 Der öffentliche Dienst macht noch weniger Gebrauch von den Möglichkeiten der Änderungskündigung, obwohl gerade hier häufig Veranlassung dazu bestünde, wenn ein Arbeitnehmer zB in einer Führungsposition nicht mehr benötigt wird oder tauglich ist, aber auf einem anderen, freien Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden könnte. So kommt eine fristgerechte Änderungskündigung aus verhaltensbedingten Gründen in Betracht, wenn ein Fahrdienstleiter im öffentlichen Personennahverkehr einen als defekt gemeldeten Bus nicht umgehend aus dem Verkehr zieht und nach einer Abmahnung einen gleichartigen Verstoß begeht. In einem solchen Fall kann mit einer Änderungskündigung das Arbeitsverhältnis als Fahrdienstleiter gekündigt werden verbunden mit einem Angebot, als Busfahrer weiterbeschäftigt zu werden168. Die Möglichkeiten, die Änderungskündigung zur Entgeltreduzierung einzusetzen, wird dem öffentlichen Dienst weitgehend verwehrt bleiben169.

164 Vgl. LAG Düsseldorf v. 21.6.2017 – 4 Sa 869/16, AnwBl. 2018, 42. 165 BAG v. 2.2.2006 – 2 AZR 57/05, ArbRB 2006, 198. 166 Vgl. zB LAG Rheinland-Pfalz v. 13.11.2007 – 1 Sa 914/06 zum „vorfristigen“ Änderungsangebot; LAG Schleswig-Holstein v. 30.1.2007 – 5 Sa 357/06; v. 21.2.2007 – 3 Sa 349/06 ArbRB online. 167 BAG v. 11.10.2006 – 5 AZR 754/05, ArbRB 2007, 72 = NZA 2007, 1392. 168 Vgl. LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 7.11.2017 – 5 Sa 87/17, EzA-SD 2018, 3. 169 Vgl. zur – ebenfalls nur beschränkten – Möglichkeit in der Privatwirtschaft: BAG v. 23.6.2005 – 2 AZR 642/04, DB 2006, 285 = NZA 2006, 92; ebenso BAG v. 12.1.2006 – 2 AZR 126/05, ArbRB 2006, 194 = DB 2006, 1114 ff. mwN in Fn. 4; vgl. dazu auch LAG Schleswig-Holstein v. 30.1.2007 – 5 Sa 357/06 und v. 21.2.2007 – 3 Sa 349/06 ArbRB online.

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Änderungskündigung

Rz. 17.118 § 17

Auch im öffentlichen Dienst kommt neben der ordentlichen Änderungskündigung auch die außerordentliche in Betracht. Natürlich gilt auch hier, dass besonders strenge Anforderungen an den wichtigen Grund zu stellen sind, insbesondere dann, wenn es um den Leistungsbereich geht170. Die Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst unterliegen insoweit keinen Sonderregelungen, deshalb soll an dieser Stelle auf eine weitergehende Darstellung verzichtet werden171.

170 Vgl. LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 12.9.2017 – 5 Sa 258/16, EzA-SD 2018, 5. 171 Vgl. zur Änderungskündigung allgemein etwa HWK/Molkenbur, § 2 KSchG; KR/Rost, § 2 KSchG; Tschöpe/Schulte, Teil 3 A Rz. 49 ff.

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527

§ 18 Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Kündigung I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . .

18.1

II. Erreichen der Altersgrenze . . . . . . .

18.2

1. Arbeitsvertragliche Vereinbarungen .

18.3

2. Tarifliche Regelungen im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit der Regelungen . . . .

18.7 18.7

b) Ausscheiden ohne Kündigung gemäß § 33 Abs. 1 Buchst. a TVöD/TV-L . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.10 III. Beendigung aufgrund Rentenleistungen, § 33 Abs. 2 TVöD/TV-L . . . 18.13

Schrifttum: Auer, Neues zu Umfang und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung, NJW 2007, 1106; Bepler/Böhle/Pieper/Russ, TVöD Kommentar, Loseblatt, Stand: 1.6.2019, zit. BeckOK TVöD/Bearbeiter; Grimm/Brock, Neue Regelaltersgrenze in der Rentenversicherung und Altersgrenzenvereinbarungen, ArbRB 2007, 210; Grimm/Brock, Sachgrundlose Befristung der Arbeitsverhältnisse älterer Menschen in § 14 Abs. 3 TzBfG, ArbRB 2007, 154; Persch, Die Befristung des unbefristeten Arbeitsverhältnisses durch Altersgrenzen, NZA 2010, 77 ff.; Preis, Verbot der Altersdiskriminierung als Gemeinschaftsgrundrecht – Der Fall „Mangold“ und die Folgen, NZA 2006, 401; Walker, Die nachträgliche Altersbefristung auf einen Zeitpunkt vor Erreichen der Regelaltersrente, NZA 2017, 1417.

I. Vorbemerkung Neben der Beendigung aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung oder einer wirksamen Kündigung kommt als dritte Möglichkeit der Beendigung der Eintritt einer auflösenden Bedingung oder Ablauf einer wirksamen Befristung in Frage (vgl. im Einzelnen zur wirksamen Befristung § 22)1.

18.1

II. Erreichen der Altersgrenze Es gibt keine allgemeine Altersgrenze, also keine gesetzliche Regelung, wonach ein Arbeitsverhältnis regelmäßig oder spätestens endet, wenn ein bestimmtes Lebensalter erreicht ist. Ferner gibt es keine allgemeine Lebenserfahrung, dass Menschen ab Erreichen eines bestimmten Alters generell nicht mehr in der Lage sind, aufgrund sog. altersbedingten Leistungsabfalls ihre vertraglichen Aufgaben zu erfüllen. So verschieden das Leistungsvermögen der Menschen, so unterschiedlich sind auch die jeweiligen beruflichen Anforderungen. Gleichwohl ist ein Bedürfnis nicht zu verkennen, Beschäftigungsverhältnisse auch gegen den Willen der Beschäftigten unter generalisierenden, nicht mehr auf den Einzelfall abstellenden Bedingungen aufgrund des erreichten Lebensalters zu beenden. Deshalb finden sich durchweg Regelungen in Arbeitsverträgen, aber auch in tariflichen Vorschriften, dass ab einem bestimmten Lebensalter unter der Voraussetzung, dass das Altersrisiko auch finanziell abgesichert ist, das Arbeitsverhältnis

1 Vgl. dazu Tschöpe/Schmalenberg/Sasse, Teil 1 E Rz. 134 f.; vgl. auch ErfK/Müller-Glöge, § 21 TzBfG Rz. 3, dort auch über die Bedingungen, unter denen eine auflösende Bedingung vereinbart werden kann: gleiche Bedingungen wie bei Befristungen mit Sachgrund mit Verweis auf BAG v. 4.12.2002 – 7 AZR 492/01, ArbRB 2003, 136 = NZA 2003, 611; aA APS/Backhaus, § 21 TzBfG Rz. 12; Staudinger/Preis, § 620 BGB Rz. 198.

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529

18.2

§ 18 Rz. 18.2

Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Kündigung

„automatisch“ endet. Im Folgenden werden die Voraussetzungen und die Zulässigkeit solcher Regelungen betrachtet. 1. Arbeitsvertragliche Vereinbarungen

18.3 Auch außerhalb des öffentlichen Dienstes finden sich Regelungen über Altersgrenzen in arbeitsvertraglichen Vereinbarungen. Diese sind von der Rechtsprechung innerhalb der allgemeinen gesetzlichen Schranken für zulässig erachtet worden2.

18.4 Nachdem das BAG zunächst in einer derartigen Abrede die Vereinbarung einer auflösenden Bedingung gesehen hat3, geht der inzwischen zuständige 7. Senat des BAG dogmatisch einen anderen Weg und nimmt eine Befristung an4. Auf diese befristeten Arbeitsverträge findet § 14 Abs. 1 Ziff. 6 TzBfG Anwendung, das Erreichen einer Altersgrenze muss mithin ein sachlicher Grund für die Befristung sein5. Ein sachlicher Grund scheidet immer dann aus, wenn mit einer solchen Vereinbarung im Arbeitsvertrag das KSchG umgangen wird. Der sachliche Grund für die Vereinbarung einer Altersgrenze wird – unter engen, sogleich darzustellenden Voraussetzungen – in einer ausgewogenen Altersstruktur gesehen6. Ferner wird auf eine finanzielle Absicherung der Arbeitnehmer durch den Bezug der gesetzlichen Altersrente mit Erreichen des 67. Lebensjahres abgestellt7. Wegen der – nicht im konkreten Einzelfall festzustellenden – allgemeinen Gefahr einer Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter insbesondere nach Vollendung des 67. Lebensjahres kommt deshalb ein sachlicher Grund für die Befristung auch nach der Rechtsprechung des BVerfG in Frage, und dies entspricht damit wohl allgemeiner Auffassung8. Auch ein Verstoß gegen § 10 Nr. 5 AGG steht einer arbeitsvertraglichen Regelung nicht entgegen, wonach das Ende des Arbeitsverhältnisses mit dem Eintritt in die Regelrente erreicht ist9. Dafür spricht auch die Neufassung des § 41 Satz 2 SGB VI. Als Sachgrund selbst kommt sie jedoch nicht in Betracht10.

18.5 Eine Vereinbarung über die Befristung auf ein bestimmtes Lebensalter in einem Formulararbeitsvertrag kann eine überraschende Klausel und damit unwirksam gemäß § 305c BGB sein. Das kommt aber nur in Betracht, wenn sie „versteckt“ wird11. Das ist allerdings nicht schon dann der Fall, wenn sie drucktechnisch nicht hervorgehoben wird. Denn es ist in vielen Bereichen und Unternehmen üblich, das Ende des Arbeitsverhältnisses zu vereinbaren, wenn ein bestimmtes Lebensalter erreicht wird. Sie ist nicht außergewöhnlich; vielmehr muss damit gerechnet werden, allerdings nur dann, wenn sie in eine Regelung aufgenommen wird, die schon in der Überschrift und im Regelungszusammenhang die Beendigung des Arbeitsverhältnisses betrifft12. Der Inhalt der Regelung bietet dann keine weiteren Probleme13. 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Vgl. grundlegend BAG GS v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, 816. Vgl. BAG v. 20.12.1984 – 2 AZR 3/84, DB 1986, 281. Vgl. BAG v. 14.8.2002 – 7 AZR 469/01, DB 2003, 394. Vgl. auch APS/Backhaus, § 14 TzBfG Rz. 111 ff. Vgl. BVerfG v. 30.3.1999 – 1 BvR 1814/94, NZA 1999, 816. Vgl. EuGH v. 5.7.2012 – C-141/11 – Hörnfeldt, ArbRB 2012, 262 m. Anm. v. Müller-Mundt; BAG v. 19.11.2003 – 7 AZR 296/03, ArbRB 2004, 101 = DB 2004, 829; ferner v. 27.7.2005 – 7 AZR 443/04, ArbRB 2006, 38 = NZA 2006, 37. Vgl. ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 56. ErfK/Schlachter, § 10 AGG Rz. 11; vgl. auch Persch, NZA 2010, 77 ff. Vgl. BAG v. 19.11.2003 – 7 AZR 296/03, ArbRB 2004, 101 = NZA 2004, 1336. Vgl. LAG Düsseldorf v. 6.5.2010 – 13 Sa 70/10, n.v. Vgl. LAG Niedersachsen v. 20.6.2007 – 15 Sa 1257/06, ArbRB online. Vgl. auch das Formulierungsbeispiel bei Tschöpe/Schmalenberg/Sasse, Teil 1 E Rz. 87.

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Erreichen der Altersgrenze

Rz. 18.9 § 18

Durch das Rentenversicherungs-Altersgrenzenanpassungsgesetz14 wurde schrittweise ab 18.6 2012 über einen Zeitraum von 12 Jahren hinweg das gesetzliche Renteneintrittsalter jeweils um einen Monat heraufgesetzt und ab 2024 bis einschließlich 2029 um jeweils zwei Monate pro Jahr. Am Ende dieser Entwicklung wird das frühere Renteneintrittsalter von 65 Jahren auf dann 67 Jahre erhöht sein. Für Verträge, die jetzt noch das Ende des Arbeitsverhältnisses mit Vollendung des 65. Lebensjahres vorsehen, gilt aufgrund der gesetzlichen Fiktion des § 41 Satz 2 SGB VI automatisch die jeweilige Regelaltersgrenze, es sei denn, dass die Vereinbarung innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen oder von dem Arbeitnehmer innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt bestätigt worden ist15. Auch § 10 Nr. 5 AGG steht einer einzelvertraglichen Regelung nicht entgegen, die das Ende des Arbeitsverhältnisses mit dem Eintritt in das Rentenalter vorsieht, also mit dem Bezug der Regelrente16. 2. Tarifliche Regelungen im öffentlichen Dienst a) Zulässigkeit der Regelungen Ganz allgemein gelten im Arbeitsrecht für tarifliche Regelungen in vielen Bereichen größere 18.7 Spielräume als bei Individualabreden, auch im Befristungsrecht, zB in § 14 Abs. 2 Satz 3 und 4, § 22 Abs. 2 TzBfG. Wenn also Individualabreden möglich sind, muss das erst recht für tarifvertragliche Regelungen gelten. Enthalten tarifliche Vorschriften deshalb Bestimmungen über das Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis ohne Ausspruch einer Kündigung allein wegen der Vollendung eines bestimmten Lebensalters oder des Anspruchs auf Rentenleistungen, wie insbesondere in § 33 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 TVöD/TV-L, so kann ein Verstoß gegen die Vorschriften des AGG, insbesondere gegen § 10 Nr. 5 AGG nicht festgestellt werden17.

18.8

Zu denken ist auch an einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht und insbesondere gegen 18.9 Art. 6 Abs. 1 der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG des Europäischen Rates vom 27.11.2000. Der EuGH hat in der bekannten „Mangold“-Entscheidung18 die Regelung des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG aF als Verstoß gegen einen in dieser Entscheidung entwickelten allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz betrachtet und es mithin als unzulässig angesehen, befristete Arbeitsverträge mit Arbeitnehmern, die das 52. Lebensjahr vollendet haben, gestützt auf diese Vorschrift abzuschließen. Dieser nicht in der Richtlinie 2000/78/EG selbst verankerte Gleichbehandlungsgrundsatz in Beschäftigung und Beruf verlange von den nationalen Gerichten, dass sie diesem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts entgegenstehende gesetzliche Regelungen unangewendet lassen (vgl. Erwägungssatz 77). Dagegen hat der EuGH in der „Palacios“-Entscheidung19 gerade den hier interessierenden Fall einer tariflichen Regelung, die Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Kündigung wegen Eintritts in das Rentenalter, als wirksam betrachtet. Die Ungleichbehandlung wegen des Alters hält der EuGH in dieser Entscheidung für gerechtfertigt iSd. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der genannten Richtlinie. In der 14. Begründungserwägung stellt der EuGH 14 15 16 17 18 19

BGBl. I 2004, 554. Vgl. Walker, NZA 2017, 1417 ff., 1419 (li.Sp.); ferner Grimm/Brock, ArbRB 2007, 210. Vgl. BAG v. 27.7.2005 – 7 AZR 443/04, NZA 2006, 37; ErfK/Schlachter, § 10 AGG Rz. 11. BeckOK TVöD/Kuner, § 33 TVöD-AT Rz. 5. EuGH v. 22.11.2005 – C-144/04, ArbRB 2006, 3 = NZA 2005, 1345. EuGH v. 16.10.2007 – C-411/05, ArbRB 2007, 350 = DB 2007, 2427 ff.

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531

§ 18 Rz. 18.9

Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Kündigung

klar, dass die Richtlinie nicht auf rentenrechtliche Vorschriften der Mitgliedstaaten anwendbar ist. Es liege also eine Ungleichbehandlung, aber keine verbotene Diskriminierung vor. Die Maßnahme sei objektiv und angemessen und erforderlich. Beschäftigungspolitik und Arbeitsmarktlage gehörten zu den Zielen, die in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie ausdrücklich genannt seien. Außerdem stelle nach Art. 2 Abs. 1 EU-Vertrag und Art. 2 EG-Vertrag die Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus eines der Ziele dar, die sowohl von der EU als auch von der Gemeinschaft verfolgt würden. Solche tariflichen Regelungen sind mithin zulässig. b) Ausscheiden ohne Kündigung gemäß § 33 Abs. 1 Buchst. a TVöD/TV-L

18.10 Nach § 33 Abs. 1 Buchst. a TVöD/§ 33 Abs. 1a TV-L endet das Arbeitsverhältnis ohne Kündigung mit Ablauf des Monats, in dem der Beschäftigte das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen der Regelaltersgrenze vollendet hat. Damit haben die Tarifvertragsparteien auf die Anhebung der Regelaltersgrenze reagiert. § 33 Abs. 1a TVöD aF sah noch die Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Kündigung mit Ablauf des Monats, in dem der Beschäftigte das 65. Lebensjahr vollendet hat, vor20.

18.11 Nach der tariflichen Vorschrift ist eine Beschäftigung über die Altersgrenze hinaus zwar zulässig, bedarf jedoch nach § 33 Abs. 5 Satz 1 TVöD eines neuen schriftlichen Arbeitsvertrages. Fraglich ist der Gestaltungsspielraum, der bei der Verabredung der vertraglichen Regelungen besteht. Nach § 60 Abs. 2 BAT war ausdrücklich vorgesehen, in diesem neuen Arbeitsvertrag die Vorschriften des BAT ganz oder teilweise auszuschließen und abzuändern. Es gibt keinen vernünftigen Grund, anzunehmen, dass bei einem Wechsel zum TVöD diese grundsätzlich bestehende Möglichkeit, einzelne Bestimmungen aus dem TVöD außerhalb des normativen Geltungsbereichs auszuwählen, ausgeschlossen sein sollte. Auch außerhalb der Tarifbindung kann man also einzelne Bestimmungen vereinbaren21.

18.12 Der neue Arbeitsvertrag ist schriftlich abzufassen, aber auch mündlich wirksam. Auch ein befristeter Arbeitsvertrag ist wieder möglich. Dafür gelten im Regelungsbereich des TVöD die Vorschriften des § 30 TVöD. Vorsicht ist allerdings geboten bei einer erneuten Befristung, die grundsätzlich nur mit Sachgrund zulässig wäre. Inwieweit man sich auf die Neuregelung des § 14 Abs. 3 TzBfG verlassen kann, ist noch nicht endgültig geklärt. Da die Rechtsprechung des BAG in der Befristungsmöglichkeit des § 14 Abs. 3 TzBfG eine Befristung ohne Sachgrund im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG sieht, wird das im Falle einer erstmaligen Anwendung zwischen denselben Arbeitsvertragsparteien als mit Unions- und Verfassungsrecht vereinbar und wirksam angesehen.22. Das Arbeitsverhältnis kann dann jederzeit mit einer Frist von vier Wochen zum Monatsschluss gekündigt werden, soweit im Arbeitsvertrag nichts anderes geregelt ist. Hier enthält § 33 Abs. 5 Satz 2 TVöD hinsichtlich der Kündigungsfrist eine Öffnungsklausel23.

20 Vgl. BeckOK TVöD/Kuner, § 33 TVöD-AT Rz. 1a. 21 So auch BeckOK TVöD/Kuner, § 33 TVöD-AT Rz. 3. 22 Vgl. BAG v. 28.5.2014 – 7 AZR 360/12, NZA 2015, 1131; so auch ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 110b; BeckOK TVöD/Kuner, § 33 TVöD-AT Rz. 4. 23 Vgl. auch BeckOK TVöD/Kuner, § 33 TVöD-AT Rz. 4a.

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Schulte

Beendigung aufgrund Rentenleistungen, § 33 Abs. 2 TVöD/TV-L

Rz. 18.19 § 18

III. Beendigung aufgrund Rentenleistungen, § 33 Abs. 2 TVöD/TV-L Unabhängig vom Erreichen eines bestimmten Regelalters sieht § 33 Abs. 2 TVöD – gleichlautend mit § 33 Abs. 2 TV-L – die Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor, indem der Beschäftigte den Bescheid eines Rentenversicherungsträgers (Rentenbescheid) zugestellt bekommt. Unbeachtlich ist dabei, ob volle oder teilweise Erwerbsminderung besteht.

18.13

Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbsfähig zu sein, § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI. Voll erwerbsunfähig sind Versicherte, die deswegen auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbsfähig zu sein, § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI.

18.14

Das Arbeitsverhältnis endet ohne weiteres („automatisch“) mit Ablauf des Monats, in dem der Rentenbescheid zugestellt wird. Beginnt die Rente erst nach der Zustellung des Rentenbescheids, endet das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des dem Rentenbeginn vorausgehenden Tages, § 33 Abs. 2 Satz 3 TVöD.

18.15

Durch § 33 Abs. 2 Satz 2 TVöD wird dem Beschäftigten auferlegt, den Arbeitgeber unverzüglich von der Zustellung des Rentenbescheids zu unterrichten. Anderenfalls liegt eine vertragliche, zum Schadensersatz verpflichtende Pflichtverletzung iSd. § 280 BGB vor.

18.16

Das Arbeitsverhältnis ruht gemäß § 33 Abs. 3 TVöD nicht im Falle teilweiser Erwerbsminderung, wenn der Beschäftigte nach seinem vom Rentenversicherungsträger festgestellten Leistungsvermögen auf seinem bisherigen oder einem anderen geeigneten und freien Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden könnte. Das gilt allerdings nur dann, wenn nicht dringende dienstliche bzw. betriebliche Gründe entgegenstehen und der Beschäftigte innerhalb von zwei Wochen nach Zugang des Rentenbescheids seine Weiterbeschäftigung schriftlich beantragt. Das gilt unabhängig davon, ob der Rentenbescheid rechtskräftig wird oder nicht24.

18.17

In § 33 Abs. 4 TVöD ist der Fall geregelt, dass der Beschäftigte schuldhaft den Rentenantrag verzögert oder Altersrente nach §§ 236, 236a SGB VI bezieht oder nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert ist. In diesen Fällen tritt an die Stelle des Rentenbescheids das Gutachten eines Amtsarztes oder eines nach § 3 Abs. 4 Satz 2 TVöD bestimmten Arztes. Das Arbeitsverhältnis endet in diesem Fall mit Ablauf des Monats, in dem das Gutachten dem Beschäftigten bekannt gegeben wird. In diesen Fällen endet also abweichend von § 33 Abs. 2 Satz 1 TVöD das Arbeitsverhältnis mit Bekanntgabe des ärztlichen Gutachtens. Eine förmliche Zustellung des Gutachtens ist dabei nicht erforderlich25.

18.18

Besonderheiten gelten für schwerbehinderte Menschen.

18.19

Zunächst können schwerbehinderte Menschen gemäß § 164 Abs. 5 Satz 3 SGB IX eine behinderungsgerechte Teilzeitbeschäftigung auch dann verlangen, wenn sie die Zwei-WochenFrist des § 33 Abs. 3 TVöD versäumt und keine Weiterbeschäftigung verlangt haben, wenn die kürzere Arbeitszeit wegen Art oder Schwere der Behinderung notwendig ist. Wer eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bezieht, die befristet ist, kann dennoch während 24 Vgl. BAG v. 27.7.2016 – 7 AZR 276/14, 4. OS, NZA 2017, 206; BeckOK TVöD/Kuner, § 33 TVöDAT Rz. 8. 25 Vgl. BeckOK TVöD/Kuner, § 33 TVöD-AT Rz. 9 (aE).

Schulte

533

§ 18 Rz. 18.19

Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Kündigung

des Ruhens des Arbeitsverhältnisses nach § 241 Abs. 2 BGB vom Arbeitgeber verlangen, dass er die Möglichkeit einer Beschäftigung unter Berücksichtigung des verbliebenen Leistungsvermögens prüft26. Für schwerbehinderte Menschen soll deshalb auch die 14-Tage-Frist des § 33 Abs. 3 TVöD nicht gelten. Dies muss dann auch für solche Fälle gelten, in denen eine unbefristete Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, und konsequenterweise auch bei voller Erwerbsminderung, gewährt wird. Auch in solchen Fällen tritt bei Beschäftigten, die weniger als drei Stunden täglich arbeiten, trotz der vom Rentenversicherungsträger festgestellten vollen Erwerbsminderung die Beendigung des Arbeitsverhältnis nicht ein, wenn sie vom Arbeitgeber entsprechend den Frist- und Formerfordernissen des § 33 Abs. 3 TVöD/TV-L die Weiterbeschäftigung verlangen27.

26 BAG v. 17.3.2016 – 6 AZR 221/15, NZA 2016, 1220. 27 Vgl. BAG v. 27.7.2016 – 7 AZR 276/14, NZA 2017, 206.

534

Schulte

§ 19 Beteiligung des Personalrates I. Gegenstand der Beteiligung . . . . .

19.1

1. Aufhebungsvertrag . . . . . . . . . . . .

19.1

2. Abwicklungsvertrag . . . . . . . . . . . .

19.2

3. Befristung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19.3

4. Bedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19.6

5. Anfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19.8

6. Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19.9

II. Art der Beteiligung . . . . . . . . . . . .

19.10

1. Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . b) Intensität des Mitbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . aa) Bedeutung des Anwendungsbereichs . . . . . . . . . . . bb) Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . .

19.10 19.10

2. Mitwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . b) Reichweite des Mitwirkungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . .

19.17 19.17

3. Anhörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19.23

19.12 19.14 19.15 19.16

19.18 19.22

III. Ausübung des Beteiligungsrechtes

19.25

1. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .

19.25

2. Unterrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beteiligte Personen . . . . . . . . . . aa) Vertreter des Arbeitgebers . bb) Vertretung des Personalrats c) Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Umfang der Beteiligung . . . . . . . aa) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . bb) Unterrichtung im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . .

19.32 19.32 19.35 19.36 19.48 19.58 19.65 19.65 19.74

(1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (a)

Bezeichnung der Person . . . Sozialdaten . . . . . . . . . . . . . Beschäftigungsdauer . . . . . . Kündigungsart . . . . . . . . . . Kündigungsfrist . . . . . . . . . Kündigungstermin . . . . . . . Kündigungsgrund . . . . . . . . Fehlender Kündigungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Betriebsbedingte Kündigung . . . . . . . . . . . . . (c) Personenbedingte Kündigung . . . . . . . . . . . . . (d) Verhaltensbedingte Kündigung . . . . . . . . . . . . . (e) Verdachtskündigung . . . . . . (f) Wiederholungskündigung . (g) Änderungskündigung . . . . . (h) Vorsorgliche Kündigung . . . (i) Teilkündigung . . . . . . . . . . . (j) Nachschieben von Kündigungsgründen im Kündigungsschutzprozess . . . . . . . e) Vorlage von Unterlagen . . . . . . .

19.75 19.76 19.78 19.79 19.83 19.84 19.85 19.85 19.86 19.93 19.94 19.98 19.99 19.100 19.101 19.103 19.104 19.108

3. Stellungnahme des Gremiums . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übermittlung der Erklärung . . . c) Zeitpunkt der Stellungnahme . . d) Inhalt der Stellungnahme . . . . .

19.111 19.111 19.113 19.114 19.118

4. Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anhörung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mitwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . .

19.120 19.120 19.121 19.128

IV. Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.131 1. Einigungsstelle . . . . . . . . . . . . . . . . 19.131 2. Verwaltungsgericht . . . . . . . . . . . . 19.132 3. Arbeitsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . 19.147

I. Gegenstand der Beteiligung 1. Aufhebungsvertrag Eine Beteiligung des Personalrates an dem Abschluss eines Aufhebungsvertrages ist weder im BPersVG noch in den meisten Landespersonalvertretungsgesetzen vorgesehen. Es handelt Pahlen

535

19.1

§ 19 Rz. 19.1

Beteiligung des Personalrates

sich dabei um einen Akt privatautonomer Rechtsgestaltung1. Der Abschluss eines solchen Vertrages ist Ausdruck der freien Entscheidung des Arbeitnehmers darüber, ob er an seinem Dauerarbeitsverhältnis festhalten will oder dem Aufhebungsangebot des Arbeitgebers zustimmt2. Für eine solche Vereinbarung ist eine kollektivrechtliche Begleitung im Bund und fast allen Ländern gesetzlich nicht angeordnet. Eine Ausnahme gilt lediglich für das Land Nordrhein-Westfalen. Hier galt bis zum 16.10.2007 § 72a LPVG NW, der für den Fall des Abschlusses eines Aufhebungs- oder Beendigungsvertrags ein Anhörungsrecht des Personalrats vorsah. Eine ohne Anhörung des Personalrats abgeschlossene Vereinbarung war nach § 72 Abs. 3 LPVG NW unwirksam3. Nach einem politischen Wechsel im Anschluss an eine Landtagswahl wurde die Beteiligung des Personalrats mit Wirkung zum 17.10.2007 lediglich auf den Fall der Kündigung beschränkt (§ 74 LPVG NW), so dass sich die Rechtslage in Nordrhein-Westfalen im Hinblick auf die Beteiligung des Personalrats beim Abschluss von Aufhebungsverträgen nicht von jener im Bund bzw. den übrigen Bundesländern unterschied. Mit der Novelle 2011 hat der Landesgesetzgeber dann jedoch mit Wirkung zum 16.7.2011 den alten Rechtszustand wiederhergestellt. § 74 Abs. 2 LPVG NW vom 5.7.2011 (GV.NRW S. 348) sieht vor, dass der Personalrat u.a. bei Aufhebungs- oder Beendigungsverträgen anzuhören ist, während Abs. 3 der Norm ausdrücklich anordnet, dass eine solche ohne Beteiligung des Personalrats abgeschlossene Vereinbarung unwirksam ist. Dies hat zunächst zur Folge, dass dem Personalrat die wesentlichen Bedingungen des Aufhebungsvertrags mitzuteilen sind. Da das Anhörungsverfahren im Gesetz nicht näher ausgestaltet ist, wird auch empfohlen, den Aufhebungsvertrag erst nach Ablauf der für die Anhörung zu einer Kündigung vorgesehenen Fristen zu unterzeichnen4. Der mit der vorgenannten Ausnahme geltende allgemeine Grundsatz der fehlenden kollektiv-rechtlichen Begleitung des Abschlusses von Aufhebungsverträgen gilt iÜ auch für die Beteiligung der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen gemäß § 178 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB IX5. Unzulässig wäre es insoweit auch, angesichts des Fehlens eines explizit im Gesetz enthaltenen Mitbestimmungs- oder Mitwirkungstatbestandes „Abschluss von Aufhebungsverträgen“ einen anderen Tatbestand erweiternd auslegen oder analog anwenden zu wollen. Solche Überlegungen6 können allein rechtspolitisch verstanden werden7. Die im BPersVG bzw. den Landespersonalvertretungsgesetzen enthaltenen Mitbestimmungs- und Mitwirkungstatbestände sind jeweils einzeln und abschließend aufgeführt. Sie werden weder aus einer abstrakt formulierten Generalklausel abgeleitet, noch kommt den einzelnen Tatbeständen lediglich die Funktion von Regelbeispielen zu, die sinnhaft ergänzt werden könnten8. Dies schließt es auch aus, einen Aufhebungsvertrag und den Abschluss einer nachträglichen Befristungsabrede gleich zu behandeln, für die eine Beteiligung des Personalrates in einzelnen Landesper-

1 LAG Hamm v. 19.7.2002 – 10 TaBV 42/02, NZA-RR 2002, 642; KR/Spilger, AufhebungsV Rz. 1, 45; aA Keppeler, ArbuR 1996, 265 f. 2 BAG v. 30.9.1993 – 2 AZR 268/93, BAGE 74, 281; v. 12.1.2000 – 7 AZR 48/99, NZA 2000, 718; v. 28.6.2005 – 1 ABR 25/04, BAGE 115, 165 = ArbRB 2006, 43; v. 14.3.2012 – 7 ABR 67/10, EzA § 95 SGB IX Nr. 4. 3 LAG Hamm v. 4.7.1996 – 17 Sa 2246/95, BB 1996, 2692. 4 Hitzelberger-Kijima, öAT 2013, 48, 50. 5 BAG v. 14.3.2012 – 7 ABR 67/10, EzA § 95 SGB IX Nr. 4; aA von Roetteken, jurisPR-ArbR 29/2012 Anm. 2. 6 Vgl. für § 102 BetrVG Keppeler, ArbuR 1996, 263. 7 APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 33. 8 BVerwG v. 12.6.2001 – 6 P 11.00, BVerwGE 114, 308; BAG v. 25.1.2005 – 1 ABR 59/03, ArbRB 2005, 238 = NZA 2005, 945.

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Gegenstand der Beteiligung

Rz. 19.4 § 19

sonalvertretungsgesetzen vorgesehen ist. Der Aufhebungsvertrag ist nämlich primär auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und nicht dessen befristete Fortsetzung ausgerichtet9. 2. Abwicklungsvertrag Im Ergebnis nichts anderes gilt für den Abwicklungsvertrag. Dieser setzt allerdings zunächst 19.2 den Ausspruch einer arbeitgeberseitigen Kündigung voraus, nach deren Zugang die Arbeitsvertragsparteien sodann die Modalitäten der Abwicklung des Arbeitsverhältnisses regeln. Üblicherweise erklärt der Arbeitnehmer im Abwicklungsvertrag seinen Verzicht auf das Recht, die Kündigung gerichtlich überprüfen zu lassen, oder er sagt zu, die Darlegung der Kündigungsgründe durch den Arbeitgeber nicht substantiiert angreifen zu wollen, während der Arbeitgeber im Gegenzug die Zahlung einer Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes verspricht10. Der Unterschied zum Aufhebungsvertrag besteht darin, dass dort der Vertrag selbst zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führt, während beim Abwicklungsvertrag die Ursache für das Ende der Rechtsbeziehungen der Parteien nach wie vor die vom Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung ist. Dies hat zur Folge, dass eine etwa erfolgende Anfechtung oder die Nichtigkeit der Abwicklungsvereinbarung nicht automatisch den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zur Folge haben. Vielmehr muss in diesem Fall die Kündigung gesondert angegriffen werden11. Soweit für den Fall einer Vorabsprache die Auffassung vertreten wurde, es bedürfe wegen des Fehlens des Kündigungsentschlusses des Arbeitgebers in diesem Fall nicht der vorherigen Beteiligung der Personalvertretung12, ist das BAG dem nicht gefolgt. Auch bei dieser Konstellation stellt die Kündigung nämlich kein Scheingeschäft dar. Dies wäre nur der Fall, wenn ihr keine Beendigungswirkung zukommen sollte. Gerade dies ist aber im Gegensatz zur Aufhebungsvereinbarung bei dieser Variante nicht beabsichtigt13. 3. Befristung Obwohl auch die Vereinbarung einer Befristungsabrede zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führt, sind die Mitbestimmungs- bzw. Mitwirkungsrechte des Personalrates an der Kündigung darauf nicht anwendbar14. Die entsprechenden Vorschriften lassen sich weder erweiternd auslegen noch analog anwenden, wie aus der Konstruktion der gesetzlichen Beteiligungstatbestände zu schließen ist (s. Rz. 19.1). Dies gilt auch für die sog. Nichtverlängerungsmitteilung. Sie ist regelmäßig nur Ausdruck der Rechtsauffassung des Arbeitgebers, nach der das Arbeitsverhältnis infolge der vereinbarten Befristung enden wird und bedarf grundsätzlich keiner Beteiligung der Personalvertretung15. Dies gilt jedenfalls so lange, wie zwischen den Parteien kein Streit über die Wirksamkeit der Befristungsabrede besteht16.

19.3

Jedoch kommt eine Beteiligung des Personalrates durchaus in Betracht, wenn dies wie zB in § 72 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PersVG NW oder in § 63 Abs. 1 Nr. 4 PersVG Brandenburg ausdrücklich angeordnet ist. Befristungsabreden fallen nicht in die „Allzuständigkeit“ des Per-

19.4

9 10 11 12 13 14 15

ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 15; BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 357/10, NZA 2012, 205. Hümmerich, BB 1999, 1868. APS/Rolfs, AufhebVtr Rz. 27. APS/Koch, 3. Aufl., § 102 BetrVG Rz. 33. BAG v. 28.6.2005 – 1 ABR 25/04, BAGE 115, 165 = ArbRB 2006, 43. KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 BPersVG Rz. 14. Ausnahme: § 52 Abs. 1 Nr. 1, § 65 Abs. 1 BremPersVG; BAG v. 28.10.1986 – 1 ABR 16/85, BAGE 53, 237; v. 21.5.1981 – 2 AZR 1117/78, BAGE 35, 309. 16 BAG v. 26.4.1979 – 2 AZR 431/77, DB 1979, 1991.

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§ 19 Rz. 19.4

Beteiligung des Personalrates

sonalrats (zB nach § 2 Abs. 1, § 51 Abs. 1 Satz 1 MBG SH oder § 52 Abs. 1, § 63 Abs. 2, § 65 Abs. 3, § 66 Abs. 3 LPVG Bremen)17. Nach diesen Vorschriften hat der Personalrat bei der Befristung von Arbeitsverhältnissen mitzubestimmen. Eine mitbestimmungspflichtige Maßnahme kann nach § 66 Abs. 1 LPVG NW bzw. § 66 Abs. 1 PersVG Brandenburg allerdings nur mit vorheriger Zustimmung des Personalrates getroffen werden18, so dass eine ohne Zustimmung des Personalrates vereinbarte Befristung unwirksam ist19 Dies gilt auch für den Abschluss eines befristeten Folgevertrags durch gerichtlichen Vergleich20. Die Zustimmung muss auch bereits im Zeitpunkt des Abschlusses des befristeten Arbeitsvertrages vorliegen. Eine nachträgliche Zustimmung reicht nicht aus21.

19.5 Notwendige Voraussetzung für die Wahrnehmung des Mitbestimmungsrechts und damit die Ordnungsgemäßheit des Mitbestimmungsverfahrens ist eine ausreichende Information des Personalrates über die wesentlichen Umstände des Einzelfalles. Erforderlich ist daher stets die Angabe sowohl des Befristungsgrundes als auch der Befristungsdauer. Denn nur so kann der Personalrat sein Mitbestimmungsrecht gesetzesgemäß wahrnehmen. Er soll nämlich prüfen, ob die beabsichtigte Befristung nach den Grundsätzen der arbeitsgerichtlichen Befristungskontrolle wirksam ist. Daneben soll er selbst für den Fall des Vorliegens eines ausreichenden sachlichen Grundes darauf Einfluss nehmen können, ob im Einzelfall im Interesse des beteiligten Arbeitnehmers von einer Befristung entweder insgesamt abgesehen oder unter Berücksichtigung der für den Arbeitnehmer vorgesehenen Arbeitsaufgabe oder der vom Arbeitgeber genannten Befristungsgründe nicht möglicherweise eine längere Vertragslaufzeit vereinbart werden kann22. 4. Bedingung

19.6 Ebenso wie die in einem Arbeitsvertrag enthaltene Befristungsabrede zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen kann, ist dies die mögliche Konsequenz der Vereinbarung einer auflösenden Bedingung. Zu denken ist insoweit an Altersgrenzen oder den Eintritt eines Rentenfalls. Auch hier kommt mit Rücksicht auf die enge Fassung der gesetzlichen Mitbestimmungstatbestände eine Anwendung der die Beteiligung des Personalrates an Kündigungen regelnden Vorschriften nicht in Betracht (s. Rz. 19.1). Anders als dies für die Befristung von Arbeitsverhältnissen gilt, enthalten aber auch einzelne Landespersonalvertretungsgesetze keine Sondervorschriften für die Beteiligung von Personalräten am Zustandekommen von auflösenden Bedingungen. Trotz der durchaus vorhandenen Ähnlichkeiten im Hinblick auf die Prüfung der Wirksamkeit solcher Vereinbarungen und die in § 21 TzBfG angeordnete entsprechende Anwendung einer Reihe für Befristungen geltender Vorschriften hat dies jedoch nicht zur Folge, dass die für die Beteiligung des Personalrates am Zustandekommen befristeter Arbeitsverträge geltenden Bestimmungen auch auf die Vereinbarung auflösender Bedingungen 17 BAG v. 6.10.2010 – 7 AZR 397/09, ArbRB 2011, 102 = NZA 2011, 1155; BVerwG v. 17.8.1989 – 6 P 11/87, BVerwGE 82, 288; aA RDW/Kaiser, § 75 Rz. 29; Plander, PersR 2006, 54. 18 BAG v. 9.6.1999 – 7 AZR 170/98, AP Nr. 2 zu § 63 LPVG Brandenburg; v. 8.7.1998 – 7 AZR 308/97, AP Nr. 18 zu § 72 LPVG NW. 19 BAG v. 9.6.1999 – 7 AZR 170/98, AP Nr. 2 zu § 63 LPVG Brandenburg; v. 8.7.1998 – 7 AZR 308/97, AP Nr. 18 zu § 72 LPVG NW; BAG v. 14.6.2017 – 7 AZR 608/15, NZA 2018, 385. 20 BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 214/07, NZA 2009, 35. 21 BAG v. 13.6.2007 – 7 AZR 287/06, AP Nr. 7 zu § 17 TzBfG; v. 20.2.2002 – 7 AZR 707/00, ArbRB 2002, 229 = AP Nr. 73 zu § 72 LPVG NW. 22 BAG v. 13.6.2007 – 7 AZR 287/06, AP Nr. 7 zu § 17 TzBfG; v. 27.9.2000 – 7 AZR 412/99, AP Nr. 1 zu § 61 LPVG Brandenburg; v. 9.6.1999 – 7 AZR 170/98, AP Nr. 2 zu § 63 LPVG Brandenburg.

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Gegenstand der Beteiligung

Rz. 19.9 § 19

zur Anwendung kämen. Angesichts des grundsätzlich bestehenden strukturellen Unterschiedes zwischen der Befristung und der auflösenden Bedingung von Arbeitsverhältnissen kommt eine Anwendung der Vorschriften des § 66 Abs. 1 LPVG NW bzw. des § 66 Abs. 1 PersVG Brandenburg nicht in Betracht (s. Rz. 19.1). Soweit das BAG in einer die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses wegen Bezugs einer Rente (§ 59 Abs. 1 und 3 BAT) betreffenden Entscheidung die mögliche Beteiligung des Personalrates thematisiert und insoweit das Antragsrecht des Arbeitnehmers nach § 63 Abs. 2 PersVG Brandenburg erwähnt hat, betraf dies nicht den Gesichtspunkt der möglicherweise fehlenden Wirksamkeit der durch arbeitsvertragliche Bezugnahme auf den BAT vereinbarten auflösenden Bedingung, sondern lediglich den Gesichtspunkt der Überraschung des Arbeitnehmers und den Umfang der Informations- und Beratungspflichten des Arbeitgebers23.

19.7

5. Anfechtung Liegen die Voraussetzungen der §§ 119, 123 BGB vor, kann die für das Zustandekommen 19.8 des Arbeitsverhältnisses erforderliche Willenserklärung eines Vertragspartners angefochten werden. Die Anfechtung führt grundsätzlich zur rückwirkenden Nichtigkeit der angefochtenen Willenserklärung (§ 142 BGB), jedoch kann ein bereits in Vollzug gesetztes Arbeitsverhältnis im Allgemeinen nicht mit Rückwirkung angefochten werden. Maßgeblich ist insoweit der Zeitpunkt der letzten Arbeitsleistung24. Haben die Arbeitsvertragsparteien bis zum Zeitpunkt der Anfechtung die ihnen obliegenden Hauptleistungen jeweils erfüllt, kann die Erklärung der Anfechtung in ihrer rechtlichen Auswirkung dem Ausspruch einer außerordentlichen fristlosen Kündigung gleichkommen. Umgekehrt kann auch eine iE unwirksame fristlose Kündigung ein Arbeitsverhältnis außer Funktion setzen, so dass eine Anfechtung ggf. auf diesen Zeitpunkt zurückwirkt25. Im Einzelfall ist daher durch Auslegung zu ermitteln, ob möglicherweise trotz anders lautender formeller Bezeichnung eine Anfechtungserklärung abgegeben oder eine außerordentliche fristlose Kündigung ausgesprochen werden sollte26. Auf die Beteiligung des Personalrates kommt es jeweils nur an, wenn eine Kündigung ausgesprochen wurde. Zum Katalog der Mitbestimmungs- bzw. Mitwirkungstatbestände gehört die Abgabe einer Anfechtungserklärung nicht. Sie ist daher unabhängig von der Beteiligung des Personalrates. 6. Kündigung Einer der Hauptanwendungsfälle für die Wahrnehmung von Rechten durch Personalräte ist die Beteiligung an der Kündigung. Unabhängig von der näheren Ausgestaltung des jeweils zu beachtenden Verfahrens sieht § 108 Abs. 2 BPersVG zwingend die Unwirksamkeit einer ohne die vorgeschriebene Beteiligung des Personalrates ausgesprochenen Kündigung vor27. Dies gilt allerdings nur insoweit, als gesetzlich eine Beteiligung des Personalrates an der Kündigung von Arbeitsverhältnissen angeordnet ist. § 108 Abs. 2 BPersVG zwingt den Landesgesetzgeber nämlich nicht, eine Mitwirkung des Personalrates an Kündigungen durch den Arbeitgeber 23 BAG v. 1.12.2004 – 7 AZR 135/04, NZA 2006, 211. 24 BAG v. 3.12.1998 – 2 AZR 754/97, NZA 1999, 584; v. 12.5.2011 – 2 AZR 479/09, ArbRB 2012, 6 = ZTR 2011, 739. 25 BAG v. 16.9.1982 – 2 AZR 228/80, BAGE 41, 54; v. 12.5.2011 – 2 AZR 479/09, ArbRB 2012, 6 = ZTR 2011, 739. 26 BGH v. 27.2.1975 – II ZR 77/73, NJW 1975, 1700; KR/Fischermeier, § 626 BGB Rz. 46. 27 BVerfG v. 27.3.1979 – 2 BvL 2/77, BVerfGE 51, 43; BAG v. 28.1.2010, PersR 2010, 305.

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19.9

§ 19 Rz. 19.9

Beteiligung des Personalrates

überhaupt vorzusehen28. Er hat auch die Kompetenz, eine Beteiligung des Personalrates an Kündigungen für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern nicht vorzusehen29 oder die Intensität der Beteiligungsrechte des Personalrates zu reduzieren, zB nur ein Anhörungsrecht einzuräumen30. Er kann auch vorsehen, dass die Ausübung des Mitbestimmungsrechts durch den Personalrat einen entsprechenden Antrag des betroffenen Arbeitnehmers voraussetzt, wobei den Arbeitgeber eine Hinweispflicht treffen kann31. Auch kann ein Mitbestimmungsrecht des Personalrats durch den Abschluss eines Tarifvertrags ausgeschlossen werden, soweit das PersVG einen Tarifvorbehalt vorsieht (zB § 74 Abs. 2 PersVG TH)32. Mit Rücksicht auf die Rahmenvorschrift des § 108 Abs. 2 BPersVG ist es dem Landesgesetzgeber jedoch nicht möglich, für den Fall der Verletzung der Beteiligungsrechte des Personalrates, die sich daran knüpfende Folge der Unwirksamkeit der Kündigung auszuschließen33. Dies gilt auch nach der Föderalismusreform 2006. Eine Abweichung von § 108 BPersVG scheidet aus, denn die Grundlage dieser Regelung findet sich in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG34. Mit den vorgenannten Einschränkungen besteht das Beteiligungsrecht des Personalrates bei Kündigungen umfassend. Es erfasst außerordentliche fristlose Kündigungen, solche mit (sozialer) Auslauffrist sowie ordentliche Kündigungen, gilt auch für Änderungskündigungen sowie die Kündigung von ruhenden Arbeitsverhältnissen35 und kann sogar auf die Beendigung oder Einschränkung der Tätigkeit von arbeitnehmerähnlichen Personen iSv. § 12a TVG bei einem Rundfunksender erstreckt werden36. Es erfasst auch den Fall, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer mündlich übereingekommen sind, dass zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber eine Kündigung ausgesprochen und dann ein Abwicklungsvertrag geschlossen werden soll. Die Kündigung ist in einem solchen Fall nämlich kein Scheingeschäft; denn mit ihr wird die Beendigung des Arbeitsverhältnisses angestrebt. Auch in einem solchen Fall ist die Beteiligung der Arbeitnehmervertretung erforderlich37. Allerdings ist eine Beteiligung des Personalrats bei einer (zulässigen) Kündigung vor Dienstantritt nicht erforderlich; denn es fehlt an der erforderlichen Eingliederung des betroffenen Arbeitnehmers in die Dienststelle bzw. den Betrieb38.

28 BVerfG v. 27.3.1979 – 2 BvL 2/77, BVerfGE 51, 43; BAG v. 9.5.1980 – 7 AZR 376/78, AP Nr. 2 zu § 108 BPersVG m. zust. Anm. Richardi. 29 BAG v. 16.3.2000 – 2 AZR 138/99, NZA 2001, 739; v. 7.12.2000 – 2 AZR 532/99, NZA 2001, 846; v. 24.6.2004 – 2 AZR 208/03, PersR 2005, 160; v. 22.4.2010 – 6 AZR 828/08, PersV 2010, 384; v. 29.9.2011 – 2 AZR 451/10, PersR 2012, 90; LAG Hamm v. 17.11.1988 – 17 Sa 598/88, DB 1989, 983 (Ls.). 30 BAG v. 13.12.1996 – 2 AZR 402/95, AP Nr. 1 zu § 67 LPVG Sachsen-Anhalt; v. 16.12.1981 – 2 AZR 1107/78, nv. 31 Eine vertragliche Nebenpflicht bejahend: BAG v. 6.3.2003 – 2 AZR 50/02, PersR 2004, 187; eine aus der Fürsorgepflicht abgeleitete Verpflichtung verneinend: BAG v. 26.8.1993 – 2 AZR 376/93, PersR 1994, 36. 32 BAG v. 19.6.2012 – 1 AZR 137/11, ZTR 2012, 663. 33 BAG v. 16.3.2000 – 2 AZR 138/99, NZA 2001, 739; KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 BPersVG Rz. 71. 34 BVerfG v. 27.3.1979 – 2 BvL 2/77, PersV 1979, 328; RDW/Kersten, § 108 Rz. 4; Altvater, PersR 2007, 280; aA Biermann/Kammradt, PersR 2006, 444. 35 BAG v. 9.9.2010 – 2 AZR 493/09, PersV 2011, 236. 36 BVerwG v. 17.12.2012 – 6 P 6/12, PersR 2013, 220. 37 BAG v. 28.6.2005 – 1 ABR 25/04, BAGE 115, 165 = ArbRB 2006, 43; ErfK/Kania, § 102 BetrVG Rz. 1; aA APS/Koch, 3. Aufl., § 102 BetrVG Rz. 33. 38 BAG v. 21.3.1996 – 2 AZR 559/95, NZA 1996, 974.

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Art der Beteiligung

Rz. 19.11 § 19

II. Art der Beteiligung 1. Mitbestimmung a) Allgemeines Während sich die Beteiligung des Personalrates an einer vom Arbeitgeber beabsichtigten Kündigung im Anwendungsbereich des Bundespersonalvertretungsgesetzes auf ein Mitwirkungsrecht beschränkt, gewähren einige Landespersonalvertretungsgesetze dem jeweiligen Personalrat ein Mitbestimmungsrecht. Soweit dies umfassend ausgestaltet ist und der Einigungsstelle das Letztentscheidungsrecht zugebilligt wird, ist dies außerordentlich problematisch.

19.10

Jedes amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter bedarf nämlich als Ausübung von Staats- 19.11 gewalt demokratischer Legitimation39. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es unmittelbar nach außen wirkt oder nur innerhalb der Verwaltung die Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Amtsaufgaben schafft. Dem Anliegen des Gesetzgebers, die Beschäftigten mit Rücksicht auf deren spezielle Interessen als Dienst- oder Arbeitnehmer an Entscheidungen über innerdienstliche Maßnahmen zu beteiligen, kann nicht uneingeschränkt gefolgt werden. Es wird durch das Erfordernis demokratischer Legitimation begrenzt. Die Mitbestimmung darf sich daher nur auf innerdienstliche Maßnahmen erstrecken und nur so weit gehen, wie die spezifischen, im Beschäftigungsverhältnis angelegten Interessen der Angehörigen der Dienststelle sie rechtfertigen. Insoweit gibt der Schutzzweck des Anliegens eine Grenze vor. Darüber hinaus erfordert das Demokratieprinzip für die Ausübung von Staatsgewalt, soweit es sich um eine für die Erfüllung des Amtsauftrages bedeutsame Entscheidung handelt, dass die Letztentscheidung bei einem dem Parlament verantwortlichen Verantwortungsträger liegt, sog. Verantwortungsgrenze. Da diese Voraussetzung u.a. wegen der Übertragung des Letztentscheidungsrechts auf die Einigungsstelle nicht erfüllt war, hat das BVerfG40 die umfassende Beteiligung der Personalvertretungen nach dem Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holstein in Form der Mitbestimmung mit Entscheidungsrecht der unabhängigen Einigungsstelle für mit Art. 28 Abs. 1 Satz 1 iVm. Art. 20 Abs. 2 GG unvereinbar erklärt und dies ausdrücklich auch auf in das Grundverhältnis eingreifende Entscheidungen mit arbeitsrechtlicher Wirkung im Bereich der Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes bezogen. Diesem gedanklichen Ansatz folgend hatte bereits der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen41 eine Änderung des Sparkassengesetzes Nordrhein-Westfalen für nichtig erklärt, nach der die dem Verwaltungsrat der Sparkasse angehörenden Dienstkräfte nicht mehr durch die Vertretung des Gewährsträgers, sondern durch die Dienstkräfte der Sparkasse gewählt werden sollten, und der Staatsgerichtshof des Landes Hessen42 eine Änderung des Hessischen Personalvertretungsgesetzes für mit der Landesverfassung unvereinbar und nichtig erklärt43. Entsprechendes gilt für die Beurteilung vergleichbarer Regelungen des Personalvertretungsgesetzes RheinlandPfalz 1992 durch den Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz44. 39 BVerfG v. 31.10.1991 – 2 BvF 3/89, BVerfGE 83, 60. 40 BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, BVerfGE 93, 37. 41 VerfGH Nordrhein-Westfalen v. 15.9.1986 – 17/85, PersV 1987, 103; zust. Sachs, JuS 1988, 68; Strehler, PersV 1995, 342; aA Nagel/Abel, ArbuR 1987, 15; Wendeling-Schröder, ArbuR 1987, 381. 42 StGH Hessen v. 30.4.1986 – P.St. 1023, PersV 1986, 227; kritisch: Battis, CR 1987, 866; Püttner, DÖV 1988, 357. 43 So auch LAG Hessen v. 6.5.2003 – 1/2 Sa 1665/02, RzK III 2b Nr. 25. 44 VerfGH Rheinland-Pfalz v. 18.4.1994 – VGH N 1/93, VGH N 2/93, Personalrat 1994, 269; vgl. auch Kisker, PersV 1994, 289.

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§ 19 Rz. 19.12

Beteiligung des Personalrates

b) Intensität des Mitbestimmungsrechts

19.12 Für die Beurteilung der Vereinbarkeit von personalvertretungsrechtlichen Regelungen mit höherrangigem Recht kommt es nicht auf die Reichweite der dem Personalrat danach zustehenden Rechte an, wie sich aus der vom BVerfG gebilligten Allzuständigkeit des Personalrates ableiten lässt45. Maßgeblich ist allein deren Intensität, die nach der Entscheidung des BVerfG zum Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holstein46 je nach Anwendungsfall in unterschiedlicher Form zulässig ist.

19.13 Diese Rechtsprechung hat ein kritisches Echo gefunden. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass ohne zwingenden Grund aus einem Verfassungsprinzip Ableitungen vorgenommen worden seien, die eigentlich dem einfachen Gesetzgeber zugestanden hätten. Außerdem werde ein lange akzeptiertes und praktiziertes System als verfassungswidrig eingestuft. Gleichzeitig werde wegen der Verengung des Blickwinkels auf den Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation vernachlässigt, dass es sich im Bereich des öffentlichen Dienstrechtes im Wesentlichen um bloßen Gesetzesvollzug handele, ohne dass wesentliche Ermessensspielräume genutzt werden könnten47. c) Konfliktlösung

19.14 Für die Lösung des danach bestehenden Konfliktes zwischen dem Prinzip der personellen demokratischen Legitimation und den Interessen der Arbeitnehmer an einer wirksamen Vertretung ihrer Interessen gibt es verschiedene Ansatzpunkte. aa) Bedeutung des Anwendungsbereichs

19.15 So ist es zB keineswegs zwingend, die vom BVerfG entwickelten Grundsätze umfassend auf alle Bereiche des öffentlichen Dienstes auszudehnen. Außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung und der gemeindlichen Selbstverwaltung ist das Demokratiegebot des Art. 20 Abs. 2 GG nämlich offen für Formen der Organisation und Ausübung von Staatsgewalt, die von dem Erfordernis umfassender personeller demokratischer Legitimation aller Entscheidungsbefugten abweichen. Es gestattet, für abgegrenzte Bereiche der Erledigung öffentlich-rechtlicher Aufgaben durch Gesetz besonderen Organisationsformen eine Selbstverwaltung zu schaffen48. Aus dieser die Wasserverbände in Nordrhein-Westfalen betreffenden Entscheidung wird gefolgert, dass dies auch für die öffentlich-rechtlichen Sozialversicherungen und die Körperschaften der „verkammerten“ freien Berufe (Ärzte, Rechtsanwälte, Notare usw.) gelten müsse, vor allem dann, wenn die Besetzung der Verwaltungsräte nicht durch die Regierung sondern durch die Wahl eines Gremiums erfolgt, das nicht im Sinne des BVerfG demokratisch legitimiert ist49. Ähnlich zu betrachten könnten danach auch solche „staatsfernen“ Bereiche sein, die wie etwa Schulen und Hochschulen nicht unmittelbar Staatsgewalt ausüben, sondern nur mit Rücksicht auf die Gewährleistung effektiven Grundrechtsschutzes öffentlich-rechtlich organisiert sind50. Hier kommt es allein auf die Sicherung des Tendenzschutzes im Verhältnis zu

45 46 47 48

Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 3, K § 104 Rz. 19. BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, BVerfGE 93, 37. Battis/Kersten, PersV 1999, 530; Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 3, K § 104 Rz. 20. BVerfG v. 5.12.2002 – 2 BvL 5/98, 2 BvL 6/98, BVerfGE 107, 59 auf Vorlagebeschlüsse des BVerwG v. 17.12.1997 – 6 C 1.97, NVwZ 1999, 870 sowie v. 17.12.1999 – 6 C 2.97, BVerwGE 106, 64. 49 Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 3, K § 104 Rz. 22. 50 Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 3, K § 104 Rz. 22.

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Art der Beteiligung

Rz. 19.17 § 19

den Rechten der Personalvertretungen an, die auch ohne deren wesentlichen Ausschluss möglich ist51. bb) Verfassungskonforme Auslegung Im Bereich der unmittelbaren Staatsverwaltung kann eine Konfliktlösung auch in der Ausschöpfung der Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung des jeweils anzuwendenden Personalvertretungsgesetzes liegen52. Insoweit kommt zB die Ausweitung eines im Gesetz grundsätzlich angelegten Evokationsrechtes der Verwaltung in Betracht, wie das BVerfG53 auf einen Vorlagebeschluss des LAG Brandenburg54 ausgeführt hat. Diesem Ansatz folgt auch das BAG55, während das BVerwG bei Gesetzen aus der Zeit vor dem 24.5.1995 (Entscheidung des BVerfG zum Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holstein) vom Vorliegen einer „planwidrigen Lücke“ ausgeht, die durch eine Herabsetzung einer unzulässigen Beteiligungsregelung auf das jeweils noch zulässige Maß geschlossen werden kann56, so dass jedenfalls in Angelegenheiten, die den Status der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes betreffen57, nicht vom Vorliegen einer abschließenden Entscheidung der Einigungsstelle, sondern lediglich von deren Empfehlung auszugehen ist58. Einen abweichenden Ansatz verfolgt dagegen das OVG Berlin-Brandenburg. Es schränkt die Mitbestimmung des Personalrats auf eine bloße Rechtskontrolle ohne Spielraum für außerrechtliche Erwägungen und ohne Handlungsspielraum in einem der Verwaltungsspitze zugeordneten Verantwortungsbereich ein und hält die Verfassungsmäßigkeit eines in dieser Weise strukturierten Mitbestimmungsrechts für gegeben, wenn die in dessen Wahrnehmung erfolgende Entscheidung der Einigungsstelle der gerichtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle unterworfen ist59. Dieser Sichtweise haben sich sowohl das BVerwG in seinem die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde gegen diese Entscheidung zurückweisenden Beschluss60 als auch das BAG in seinem eine im Rahmen dieses Verfahrens ausgesprochene Kündigung betreffenden Urteil61 angeschlossen.

19.16

2. Mitwirkung a) Allgemeines Wie bereits im Rahmen der Erörterungen zum Umfang des Mitbestimmungsrechts des Personalrates bei vom Arbeitgeber beabsichtigter Kündigung ausgeführt wurde (s. Rz. 19.10 f.), bestehen nach der Rechtsprechung des BVerfG62 einerseits keine Bedenken gegenüber der Allzuständigkeit des Personalrates (s. Rz. 19.12), während der Gesetzgeber mit Ausnahme der Einräumung eines (freien) Letztentscheidungsrechts zugunsten einer unabhängigen Eini51 BVerwG v. 22.4.1998 – 6 P 4.97, PersR 1998, 461; v. 12.8.2002 – 6 P 17.01, PersV 2003, 192; OVG Sachsen-Anhalt v. 2.4.2004 – 5 L 10/03, PersR 2004, 320. 52 BAG v. 27.1.2011 – 2 AZR 744/09, PersV 2011, 392. 53 BVerfG v. 20.7.2001 – 2 BvL 8/00, Personalrat 2002, 198. 54 LAG Brandenburg v. 29.9.1999 – 7 Sa 60/98, nv. 55 BAG v. 21.6.2006 – 2 AZR 300/05, ArbRB 2007, 14 = PersV 2007, 181. 56 BVerwG v. 24.4.2002 – 6 P 3.01, BVerwGE 116, 260; v. 18.6.2002 – 6 P 12.01, PersV 2003, 241. 57 BVerwG v. 3.12.2001 – 6 P 12.00, PersR 2002, 163; v. 19.5.2003 – 6 P 16.02, PersR 2003, 314. 58 BVerwG v. 20.3.2002 – 6 P 6.01, PersR 2002, 306; v. 18.6.2002 – 6 P 12.01, NZA-RR 2003, 223; OVG Nordrhein-Westfalen v. 9.6.2006 – 1 A 1492/05. PL, PersV 2007, 18. 59 OVG Berlin-Brandenburg. v. 12.1.2009 – 60 PV 1.09, nv. 60 BVerwG v. 4.6.2010 – 6 PB 4/10, PersV 2010, 377. 61 BAG v. 27.1.2011 – 2 AZR 744/09, PersV 2011, 392. 62 BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, BVerfGE 93, 37.

Pahlen

543

19.17

§ 19 Rz. 19.17

Beteiligung des Personalrates

gungsstelle in der Ausgestaltung der Beteiligungsrechte des Personalrates (auch an Kündigungen) völlig frei ist. Dies schließt auch die Möglichkeit ein, dem Personalrat ein Mitwirkungsrecht einzuräumen. Davon ist im BPersVG für den Ausspruch ordentlicher Kündigungen modellhaft Gebrauch gemacht worden. b) Reichweite des Mitwirkungsrechts

19.18 Das Mitwirkungsrecht nach dem BPersVG ist in dessen § 72 näher beschrieben. Nach Absatz 1 der Vorschrift ist die beabsichtigte Maßnahme, soweit der Personalrat an ihr mitwirkt, vor deren Durchführung mit dem Ziel einer Verständigung rechtzeitig und eingehend mit ihm zu erörtern. Diese Regelung gilt nach § 72 Abs. 1 Satz 1 BPersVG auch für vom Arbeitgeber beabsichtigte ordentliche Kündigungen, sofern nicht der Personenkreis des § 77 Abs. 1 Satz 2 BPersVG betroffen ist (s. Rz. 19.9) In einem solchen Fall kann der Personalrat aus im Gesetz konkret benannten Gründen Einwendungen erheben (s. Rz. 19.121). Hat er dies nicht binnen zehn Arbeitstagen nach seiner Information durch den Arbeitgeber getan oder hält er bei der anschließenden Erörterung mit dem Dienststellenleiter seine Einwendungen nicht aufrecht, gilt die Maßnahme nach § 72 Abs. 2 Satz 1 BPersVG als gebilligt. Liegen diese Ausnahmen nicht vor und entspricht die Dienststelle den Einwendungen des Personalrates nicht oder nicht in vollem Umfang, teilt sie ihm ihre Entscheidung unter Angabe der Gründe schriftlich mit. Binnen drei Arbeitstagen nach dem Zugang dieser Erklärung kann der Personalrat einer nachgeordneten Dienststelle die Angelegenheit sodann auf dem Dienstweg der übergeordneten Dienststelle, bei der eine Stufenvertretung besteht, mit dem Antrag auf Entscheidung vorlegen. Diese entscheidet dann nach Verhandlung mit der bei ihr bestehenden Stufenvertretung. In diesem Fall ist die beabsichtigte Maßnahme (ordentliche Kündigung) nach Abs. 5 der Vorschrift auszusetzen. Wird die Kündigung gleichwohl ausgesprochen, ist sie nach § 79 Abs. 4 BPersVG unwirksam63. Eine vorläufige Regelung darf nämlich keinen Zustand herbeiführen, der nicht mehr rückgängig zu machen wäre64. Dies wäre jedoch bei einem Ausspruch der Kündigung der Fall. Damit wird nämlich von einem Gestaltungsrecht Gebrauch gemacht, das zum Zeitpunkt des Zugangs der Erklärung rechtsgestaltend wirkt und daher nicht mehr widerrufen oder zurückgenommen werden kann65. Eine vorläufige Regelung kann in einem solchen Fall daher nur in der Suspendierung des betroffenen Arbeitnehmers bestehen.

19.19 Die Beteiligung des Personalrates beschränkt sich im Falle der gesetzlich angeordneten Mitwirkung auf ein Unterrichtungs- und Erörterungsrecht, wobei die Rechtzeitigkeit und der Umfang der Information von wesentlicher Bedeutung sind. Nähere Bestimmungen dazu enthält § 68 Abs. 2 Sätze 1 und 2 BPersVG. Rechtzeitig ist eine Unterrichtung, wenn die gesamte Personalvertretung die Möglichkeit hat, die ihr mitgeteilten rechtlichen und tatsächlichen Umstände vor der Erörterung und Beschlussfassung im Gremium zu verarbeiten und die erteilten Informationen bei ihrer Willensbildung zu berücksichtigen66. Ist die Beteiligung des Personalrates mit der Einhaltung einer Frist verbunden, beginnt die Äußerungsfrist erst, wenn die für die Meinungs- und Willensbildung erforderlichen Informationen erteilt und die not-

63 Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 3, K § 72 Rz. 20. 64 Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 3, K § 69 Rz. 36; Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 69 BPersVG Rz. 36a. 65 KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 14. 66 Altvater/Herget, § 68 BPersVG Rz. 30; Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 3, K § 68 Rz. 28; Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 68 BPersVG Rz. 34; Lorenzen/Gerhold, § 68 BPersVG Rz. 40.

544

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Art der Beteiligung

Rz. 19.24 § 19

wendigen Unterlagen überreicht wurden67. Außerdem muss die Information umfassend sein. Dem Personalrat sind die rechtlichen und tatsächlichen Umstände mitzuteilen, die ihn in die Lage versetzen, eine sachgerechte Entscheidung zu treffen. Dabei ist nicht auf die konkret beteiligte, sondern eine objektive, verständig würdigende Personalvertretung abzustellen68. Eine den Anforderungen des Gesetzes entsprechende Information erfordert zudem regelmäßig auch die Vorlage der notwendigen Unterlagen69.

19.20

Die nach dem BPersVG auf die Mitwirkung des Personalrats beschränkte Beteiligung an der 19.21 vom Arbeitgeber beabsichtigten Kündigung eines Arbeitsverhältnisses kann weder durch Tarifvertrag noch durch Dienstvereinbarung erweitert werden. Abweichend von § 102 Abs. 6 BetrVG sieht das BPersVG die Möglichkeit einer solchen Erweiterung der Rechte des Personalrats nicht vor. Dies schließt eine Erweiterung durch landesgesetzliche Regelungen allerdings nicht aus. Eine solche wäre in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich zulässig und bei der Prüfung der Wirksamkeit einer Kündigung zu beachten70. c) Konfliktlösung Anders als im Bereich der Mitbestimmung ist im Rahmen des Mitwirkungsverfahrens eine Letztentscheidung der Einigungsstelle nicht vorgesehen. Der Personalrat verfügt bei dieser Konstruktion lediglich über die Möglichkeit, den Konflikt durch rechtzeitigen, formgerechten und zu begründenden Antrag auf die nächste Stufe zu heben und eine Entscheidung der übergeordneten Dienststelle herbeizuführen, die die bei ihr gebildete Stufenvertretung daran zu beteiligen hat.

19.22

3. Anhörung Bei der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung eines Arbeitsverhältnisses beschränkt sich die Beteiligung des Personalrats nach dem BPersVG auf ein bloßes Anhörungsrecht (§ 79 Abs. 3 Satz 1 BPersVG). Die Dienststelle hat die beabsichtigte Maßnahme zu begründen. Sofern ein Personalrat Bedenken hat, sind diese unter Angabe von Gründen unverzüglich, spätestens aber innerhalb von drei Arbeitstagen nach der Information mitzuteilen.

19.23

Dies gilt allerdings nur für die außerordentliche fristlose Kündigung aus wichtigem Grund, nicht jedoch für eine gegenüber einem ordentlich unkündbaren Arbeitnehmer ausgesprochene außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist. Hier ist der Personalrat nach den für die ordentliche Kündigung geltenden Regelungen zu beteiligen. Auch in einem solchen Falle ist dem Arbeitnehmer nämlich der Schutzstandard zu gewähren, der ihm gegenüber einer ordentlichen Kündigung zur Verfügung gestanden hätte71. Entsprechendes gilt für den

19.24

67 68 69 70 71

BVerwG v. 8.11.1989 – 6 P 7.87, BVerwGE 84, 58; v. 10.8.1987 – 6 P 22.84, BVerwGE 78, 65. BVerwG v. 26.1.1994 – 6 P 21.92, PersR 1994, 213. Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 3, K § 68 Rz. 29. KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 4. BAG v. 12.1.2006 – 2 AZR 242/05, ArbRB 2006, 171 = ZTR 2006, 338; v. 15.11.2001 – 2 AZR 605/00, BAGE 99, 301; v. 18.1.2001 – 2 AZR 616/99, PersR 2001, 435; aA LAG Hessen v. 8.3.2001 – 12 Sa 251/00, RzK III 2b Nr. 21.

Pahlen

545

§ 19 Rz. 19.24

Beteiligung des Personalrates

Fall der Umdeutung einer außerordentlichen fristlosen Kündigung in eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist72.

III. Ausübung des Beteiligungsrechtes 1. Zuständigkeit

19.25 Nach § 108 Abs. 2 BPersVG ist die durch den Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung unwirksam, wenn die Personalvertretung nicht beteiligt worden ist. Ohne dass dies in dem Zusammenhang mit der Regelung des Verfahrens über die Mitbestimmung der Personalvertretung bei der außerordentlichen Kündigung von Organmitgliedern in Absatz 1 der Norm ausdrücklich im Text der Regelung hervorgehoben wäre, ist damit aber auch bei der Beteiligung iSd. Abs. 2 die „zuständige“ Personalvertretung gemeint73. Eine Beteiligung des Gesamtpersonalrats kommt in Betracht, wenn eine Angelegenheit sowohl Beschäftigte der (Stamm-)Dienststelle als auch eines personalvertretungsrechtlich verselbständigten Teils einer Dienstelle oder einen Beschäftigten in zwei Dienststellen betrifft74. Zuständig ist grundsätzlich der Personalrat der Dienststelle, die über die Kündigung zu entscheiden hat75. Ein Beteiligungsverfahren kann nur gegenüber der zuständigen Personalvertretung wirksam eingeleitet werden76, deren Bestimmung im Einzelfall problematisch sein kann. So ist etwa bei der beabsichtigten Kündigung eines von einem öffentlichen Arbeitgeber zu einer in der Form einer GmbH betriebenen Arbeitsgemeinschaft nicht der dort gebildete Betriebsrat nach § 102 BetrVG anzuhören, sondern der beim Arbeitgeber errichtete Personalrat zu beteiligen77. Problematisch kann aber auch die Bestimmung der Ebene sein, auf der die Beteiligung zu erfolgen hat. So ist zB im Anwendungsbereich des LPVG Bayern bei der Kündigung eines Krankenhausarztes, dessen Arbeitgeber der Landkreis und dessen Dienststelle das Krankenhaus ist, der Gesamtpersonalrat zu beteiligen78. Bei der beabsichtigten Kündigung eines bei den Stationierungsstreitkräften beschäftigten Arbeitnehmers, der nach Auflösung seiner bisherigen Dienststelle noch keiner anderen Dienststelle zugeordnet wurde, ist in entsprechender Anwendung des § 82 Abs. 1 BPersVG die Stufenvertretung zu beteiligen79. Die Beteiligung der unzuständigen Personalvertretung hat wie bei jedem anderen Fehler bei der Durchführung des Beteiligungsverfahrens80 die Unwirksamkeit einer auf ihrer Grundlage ausgesprochenen Kündigung zur Folge81. 72 BAG v. 18.10.2000 – 2 AZR 627/99, BAGE 96, 65; KR/Etzel, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 67. 73 BAG v. 25.11.2010 – 2 AZR 171/09, PersV 2011, 388; v. 28.1.2010 – 2 AZR 50/09, ArbRB 2010, 236 = EzA BPersVG § 108 Nr. 4. 74 BVerwG v. 29.8.2005 – 6 PB 6/05, nv.; v. 20.8.2003 – 6 C 5/03, PersR 2004, 150; BAG v. 25.11.2010 – 2 AZR 171/09, PersV 2011, 388. 75 BAG v. 20.1.2000 – 2 ABR 19/99, ZTR 2001, 89. 76 BAG v. 6.8.1991 – 1 AZR 573/90, ZTR 1992, 128. 77 BAG v. 9.6.2011 – 6 AZR 132/10, ArbRB 2011, 297 = PersR 2011, 396; Boemke, jurisPR-ArbR 39/2011 Anm. 1. 78 BAG v. 18.10.1990 – 2 AZR 157/90, RzK III 2b Nr. 18. 79 BAG v. 14.12.1994 – 7 AZR 14/94, PersR 1995, 308; vgl. auch BAG v. 26.10.1995 – 2 AZR 629/94, PersR 1996, 78; v. 22.8.1996 – 2 AZR 5/96, BAGE 84, 29; v. 19.4.2007 – 2 AZR 180/06, ArbRB 2007, 319 = NZA-RR 2007, 571. 80 BAG v. 13.3.2008 – 2 AZR 88/07, EzA § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 73. 81 BAG v. 3.2.1982 – 7 AZR 791/79, AP Nr. 1 zu Art. 77 LPVG Bayern; Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 3, K § 79 Rz. 5e; Altvater, § 79 BPersVG Rz. 28.

546

Pahlen

Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.29 § 19

Die damit für die Beurteilung der Wirksamkeit einer Kündigung bedeutsame Frage der Zu- 19.26 ständigkeit ist unter ganz verschiedenen Aspekten zu prüfen. Sie kann unter dem Blickwinkel des persönlichen, örtlichen und zeitlichen Geltungsbereichs gestellt werden, aber auch die funktionale und organisatorische Seite des Problems betreffen. Grundlage der Zuständigkeit eines Personalrates ist zunächst ganz banal die Tatsache seiner 19.27 Existenz. Wurde ein Personalrat nicht gebildet, ist seine Amtszeit abgelaufen, hat er sein Amt infolge einer Änderung der Rechtsform des Trägers (Privatisierung) verloren82, war die Wahl nichtig oder ist er sonst nicht funktionsfähig83, braucht er nicht beteiligt zu werden84. In diesem Fall kann der Arbeitgeber eine von ihm beabsichtigte Kündigung ohne die Notwendigkeit der Einhaltung des Beteiligungsverfahrens gleich welcher Ausprägung unmittelbar aussprechen85. Dies betrifft nicht nur die Fälle, in denen eine Personalvertretung nicht gebildet wurde, sondern auch jene, in denen die Amtszeit des Gremiums bereits abgelaufen war. Allerdings lebt die Notwendigkeit der Beteiligung der Personalvertretung wieder auf, wenn die bisher amtierende Personalvertretung von einer anderen abgelöst wurde. In diesem Fall ist das nunmehr im Amt befindliche Gremium zu beteiligen86. In Angelegenheiten, in denen eine übergeordnete Dienststelle zur Entscheidung befugt ist, ist an Stelle des Personalrats die bei der zuständigen Dienststelle gebildete Stufenvertretung zu beteiligen87. Maßgebend ist nicht, welcher Dienststelle der betroffene Arbeitnehmer angehört, sondern allein, welche Dienststelle die Entscheidung mit Außenwirkung treffen kann. Die Entscheidungskompetenz der Dienststelle ihrerseits ergibt sich aus den Gesetzen, Rechtsverordnungen, Verwaltungsvorschriften und Einzelverfügungen. Trifft danach eine übergeordnete Dienststelle die Entscheidung, ist die bei ihr bestehende Stufenvertretung zu beteiligen. Das gilt auch, wenn die übergeordnete Dienststelle eine Angelegenheit in zulässiger Weise an sich zieht88.

19.28

Für den Fall der Auflösung einer Dienststelle ohne Zuordnung des bisher dort beschäftigten Arbeitnehmers zu einer neuen Dienststelle ist grundsätzlich die bei der obersten Dienstbehörde gebildete Stufenvertretung zu beteiligen89. Dies gilt auch, wenn für die Kündigung ausnahmsweise nicht die oberste Dienstbehörde, sondern eine andere Dienststelle zuständig ist, bei der der Arbeitnehmer jedoch nicht beschäftigt ist. Ist aufgrund entsprechender Vorschriften die Entscheidungsbefugnis für Kündigungen wegen Auflösung einer Dienststelle auf eine andere Dienststelle übertragen worden, durch deren Personalrat der zu kündigende Arbeitnehmer aber nicht repräsentiert wird, so ist bei der Kündigung die Stufenvertretung zu beteiligen90. Der jeweilige Personalrat repräsentiert nur die Beschäftigten, die zu der Dienststelle gehören, bei der er gebildet worden ist. Bei Stufenvertretungen kommt es auf den Geschäftsbereich der Behörde an. Der Grundsatz der Repräsentation, aus dem die Legitimation des Personalrats folgt, schließt eine Beteiligung eines Personalrats an Maßnahmen aus, die Beschäf-

19.29

82 BAG v. 27.1.2011 – 2 AZR 825/09, BAGE 137, 54 = ArbRB 2011, 197. 83 BAG v. 23.8.1984 – 6 AZR 520/82, NZA 1985, 566; Lorenzen/Griebeling, § 47 BPersVG Rz. 20 ff. 84 RDW/Benecke, § 79 Rz. 26; Lorenzen/Griebeling, § 79 BPersVG Rz. 9. 85 KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 10. 86 BAG v. 28.9.1983 – 7 AZR 266/82, BAGE 44, 164. 87 BAG v. 18.10.1990 – 2 AZR 157/90, RzK III 2a Nr. 18. 88 BAG v. 14.12.1994 – 7 ABR 14/94, NZA 1996, 222; v. 22.8.1996 – 2 AZR 5/96, NZA 1997, 170. 89 BAG v. 19.4.2007 – 2 AZR 180/06, ArbRB 2007, 319 = NZA-RR 2007, 571. 90 BAG v. 26.10.1995 – 2 AZR 629/94, PersR 1996, 78; v. 22.8.1996 – 2 AZR 5/96, NZA 1997, 170.

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§ 19 Rz. 19.29

Beteiligung des Personalrates

tigte einer Dienststelle betreffen, die zu ihm nicht wahlberechtigt waren91. Wahlberechtigt sind nur die in eine Dienststelle tatsächlich eingegliederten Beschäftigten. Dies entspricht dem Repräsentationsprinzip.

19.30 Dies hat zur Folge, dass der „Hauspersonalrat“ der übergeordneten Dienststelle zuständig ist, wenn es sich um die Kündigung eines Beschäftigten dieser Einrichtung handelt. Dagegen ist der Gesamtpersonalrat zu beteiligen, wenn der Leiter der Hauptdienststelle für eine Kündigung zuständig ist, die Beschäftigte einer verselbständigten Dienststelle oder mehrerer verselbständigter Dienststellen betrifft92.

19.31 Diese Grundsätze sind insbesondere auch bei der Kündigung von Mandatsträgern zu beachten. Hier ist die Personalvertretung zu beteiligen, der das Mitglied angehört oder zugeordnet ist. Bei Mitgliedern von Wahlvorständen oder Wahlbewerbern kommt es auf die Personalvertretung an, deren Wahl sie vorbereiten oder an der sie sich beteiligen93. Dies kann auch diejenige eines verselbständigten Dienststellenteils sein. Gehört ein Mitglied des Gesamtpersonalrats einer solchen Dienststelle an, ist für dessen Kündigung allerdings nicht der Personalrat der unselbständigen Dienststelle, sondern der Gesamtpersonalrat zuständig94. 2. Unterrichtung a) Allgemeines

19.32 Bereits nach der Grundregelegung des Auskunftsrechts in § 68 Abs. 2 BPersVG steht der Personalvertretung kein allumfassendes Informationsrecht zu, um dadurch eine allgemeine Kontrolle der Tätigkeit der Dienststelle vorzunehmen; denn die Personalvertretung ist kein Kontrollorgan, dem es obliegt, die Aufgabenerfüllung und den inneren Betrieb der Dienststelle allgemein zu überwachen95. Ein Informationsanspruch der Personalvertretung besteht nur in dem Maße, wie sie Auskünfte von Seiten der Dienststelle benötigt, um die ihr obliegenden allgemeinen Aufgaben erfüllen und ihre Beteiligungsrechte uneingeschränkt wahrnehmen zu können. Das in § 68 Abs. 2 Satz 1 BPersVG geregelte Unterrichtungsrecht setzt also voraus, dass die Personalvertretung eine Aufgabe zu erfüllen hat, die es erfordert, sie über einen bestimmten Sachverhalt zu unterrichten96. Die Information muss ebenso wie die Vorlage von Unterlagen in untrennbarer Beziehung zu den Aufgaben der Personalvertretung und ihrer Wahrnehmung stehen, dh. zur Erledigung einer bestimmten und konkreten Aufgabe erforderlich sein97. Der Unterrichtungsanspruch der Personalvertretung besteht nur insoweit, als sie die Informationen benötigt, um ihre Beteiligungsrechte rechtzeitig und uneingeschränkt wahrnehmen zu können98.

19.33 An diesen Grundsätzen sind auch der Umfang und die Modalitäten des Unterrichtungsanspruchs des Personalrats im Zusammenhang mit einer vom Arbeitgeber beabsichtigten Kündigung zu messen. Die Beteiligung der jeweils zuständigen Personalvertretung ist im 91 92 93 94 95 96 97 98

BAG v. 31.8.1989 – 2 AZR 453/88, PersR 1990, 46. BVerwG v. 29.8.2005 – 6 PB 6.05, ZfPR 2006, 116. Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 3, K § 108 Rz. 4. OVG Lüneburg v. 12.10.1976 – P L 13/76, PersV 1980, 71; Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 3, K § 108 Rz. 4. BVerwG v. 27.2.1985 – 6 P 9.84, PersR 1985, 124; v. 21.9.1984 – 6 P 24.83, ZBR 1985, 58. BVerwG v. 21.2.1980 – 6 P 77.78, PersV 1980, 278. BVerwG v. 11.2.1981 – 6 P 44.79, BVerwGE 61, 325; v. 29.8.1990 – 6 P 30.87, PersV 1991, 78. BVerwG v. 27.2.1985 – 6 P 9.84, PersR 1985, 124; v. 12.10.2006 – 2 B 31.06, nv.

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Pahlen

Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.36 § 19

BPersVG und in einzelnen Landespersonalvertretungsgesetzen ganz unterschiedlich geregelt. Insbesondere bestehen Differenzen bei der Frage der Intensität des dem jeweiligen Personalrat im Einzelfall zustehenden Beteiligungsrechts. Unabhängig davon, ob das Beteiligungsrecht zum Mitbestimmungsrecht erstarkt ist oder sich auf ein bloßes Anhörungsrecht beschränkt, ist in jedem Fall jedoch eine ordnungsgemäße Information des Personalrats über die Umstände erforderlich, die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der beabsichtigten Kündigung wesentlich sind99. Die Beteiligung des Personalrats dient unabhängig von der Intensität ihrer Ausgestaltung hier vor allem dem Zweck, ihm Gelegenheit zu geben, seine Überlegungen zur Kündigungsabsicht des Arbeitgebers vorzubringen und auf den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers vor dessen Umsetzung Einfluss zu nehmen100. Eine dem Normzweck entsprechende Unterrichtung des Personalrats muss ihn daher in die Lage versetzen, seine gesetzliche Aufgabe auch tatsächlich wahrzunehmen. Dies hat zur Folge, dass eine Kündigung nicht nur unwirksam ist, wenn der Arbeitgeber gekündigt hat, ohne den Personalrat überhaupt zu beteiligen, sondern auch dann, wenn er ihn nicht richtig beteiligt, zB nicht ausreichend informiert hat.

19.34

b) Beteiligte Personen Die Unterrichtung des Personalrats über die beabsichtigte Kündigung und die dafür maßgeblichen Umstände erfolgt durch den Arbeitgeber. Die Vertretung der Beteiligten an diesem Verfahren ist gesetzlich näher geregelt.

19.35

aa) Vertreter des Arbeitgebers Nach § 7 Satz 1 BPersVG handelt für die Dienststelle ihr Leiter. Diese Regelung bringt den das Personalvertretungsrecht beherrschenden Partnerschaftsgedanken zum Ausdruck, nach dem Gesprächspartner der Personalvertretung der Leiter der jeweiligen Dienststelle ist101. Leiter der Dienststelle ist der nach der Organisation der Dienststelle leitende Beschäftigte102, unabhängig von seinem Status. Das Personalvertretungsrecht enthält insoweit keine eigene Regelung, sondern folgt der Organisation der Verwaltung103. Entscheidend für die Beurteilung der Frage, wer Leiter der Dienststelle ist, sind die Verantwortung für die Durchführung und Beaufsichtigung des Dienstbetriebes sowie die Zuständigkeit für die Entscheidung und Umsetzung von Maßnahmen, die vor ihrem Erlass der Beteiligung des Personalrats unterliegen104. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn der Leiter einer nachgeordneten Dienststelle im Einzelfall auf Weisung der vorgesetzten Dienststelle handelt. Auch in einem solchen Fall verbleibt es bei seiner Zuständigkeit. Es ist nämlich nach wie vor seine Aufgabe, die Maßnahme vorzubereiten, die Entscheidung zu treffen und umzusetzen105. Sind nach § 6 Abs. 3 BPersVG Nebenstellen oder Teile einer Dienststelle durch Beschluss der Beschäftigten personalvertretungsrechtlich verselbständigt, ist ihr Leiter auch Dienststellenleiter im Sinne des Gesetzes. Ob er über ausreichende Befugnisse verfügt, um gegenüber dem Personalrat die Aufgabe der Dienststelle wahrnehmen zu können, ist dabei unerheblich106. Eine Änderung des 99 100 101 102 103 104 105 106

KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 BPersVG Rz. 15. KR/Rinck, §§ 72, 79, § 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 16. BVerwG v. 29.8.2005 – 6 PB 6.05, ZfPR 2006, 116 (Ls.). BVerwG v. 26.8.1987 – 6 P 11.86, PersV 1988, 488. RDW/Benecke, § 7 Rz. 4. Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 7 Rz. 6a. BVerwG v. 13.12.1974 – 7 P 4.73, PersV 1975, 178; v. 24.9.1985 – 6 P 21.83, PersV 1988, 353. BVerwG v. 29.5.1991 – 6 P 12.89, BVerwGE 88, 233; RDW/Benecke, § 7 Rz. 7.

Pahlen

549

19.36

§ 19 Rz. 19.36

Beteiligung des Personalrates

Status des Dienststellenleiters tritt auch nicht ein, wenn eine nicht personalratsfähige Dienststelle einer benachbarten Dienststelle zugeordnet wird. Die gemeinsame Personalvertretung ist in einem solchen Fall von dem jeweils zuständigen Dienststellenleiter zu beteiligen. Der Leiter einer Behörde der Mittelstufe hat eine Doppelfunktion. Im örtlichen Bereich dieser Behörde ist er Dienststellenleiter, während ihm gegenüber dem Bezirkspersonalrat in Angelegenheiten der nachgeordneten Dienststellen die Entscheidungsbefugnis zukommt107. In Dienststellen mit einer kollektiven Führung, wie dies bei bundesunmittelbaren juristischen Personen, Körperschaften, Stiftungen und Anstalten der Fall ist, kommt die Funktion des Dienststellenleiters iSv. § 7 Satz 1 BPersVG der mit der Geschäftsleitung beauftragten Person zu. Dies kann auch ein Beschäftigter sein, der diesem Gremium nicht angehört, wie aus § 88 Nr. 2 BPersVG folgt108.

19.37 Nach § 7 Satz 2 BPersVG kann sich der Dienststellenleiter im Falle seiner Verhinderung von seinem ständigen Vertreter vertreten lassen. Diese Einschränkung gilt für die meisten Landespersonalvertretungsgesetze allerdings nicht. In dieser Hinsicht enthält das BPersVG keine Rahmenbestimmungen109. In den einzelnen Landespersonalvertretungsgesetzen sind durchaus abweichende Regelungen vorstellbar und auch vorhanden. Beispielhaft sei erwähnt § 9 Abs. 1 PersVG Berlin. Auch hier handelt nach Abs. 1 Satz 1 für die Dienststelle ihr Leiter. Er kann sich jedoch vertreten lassen, sofern seinem Vertreter die gleiche Entscheidungsbefugnis zusteht. Der Leiter der Dienststelle kann selbst entscheiden, von wem er vertreten werden soll. Die Vertretung kann allgemein geregelt werden, kann sich allerdings auch nur auf einen ganz bestimmten Bereich beschränken. Insoweit kommen in Betracht Personalangelegenheiten, soziale Angelegenheiten, Angelegenheiten eines Arbeitsschutzes und Ähnliches. Eine Beauftragung ist aber auch möglich für einen bestimmten Einzelfall110. Die Vertretungsbefugnis muss dem Personalrat mitgeteilt werden. Abweichend von § 7 Satz 4 BPersVG ist dessen Zustimmung nicht erforderlich. Eine bestimmte Form muss dabei nicht gewahrt werden. Allerdings sollte auch hier eine schriftliche Erklärung erfolgen, damit spätere Unklarheiten nicht zur Rechtsunsicherheit führen111.

19.38 Neben der nicht an den Fall der Verhinderung gebundenen Vertretung kommt auch eine Beauftragung in Betracht, die an die jeweilige Verwaltungsorganisation angepasst ist112.

19.39 Die Vertretungsregelung des § 7 Satz 2 BPersVG gilt umfassend. Sie ist anzuwenden, wenn die Verhinderung auf Abwesenheit infolge Urlaubs, Arbeitsunfähigkeit oder sonstiger Dienstgeschäfte beruht, also eine tatsächliche Ursache hat, gilt aber auch für die Fälle rechtlicher Verhinderung, zB wegen Interessenkollision. Es kommt nicht darauf an, ob die Verhinderung dauerhaft oder nur vorübergehend ist. Entscheidend ist, dass der Dienststellenleiter eine Aufgabe nicht wahrnehmen kann113. Zwar steht die Entscheidung der Frage, ob ein Verhinderungsfall vorliegt, in seinem pflichtgemäßen Ermessen114, jedoch steht die „Verhinderung“ nicht zu seiner Disposition115; andererseits musste er aber auch nicht vorrangig mit dem Personalrat Terminabsprachen treffen. Im Falle der Kollision mit anderen Aufgaben kann er frei 107 108 109 110 111 112 113 114 115

550

Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 7 Rz. 8. Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 7 Rz. 10, § 88 Rz. 9; aA RDW/Benecke, § 7 Rz. 5. RDW/Benecke, § 7 Rz. 10, 19. OVG Berlin v. 12.5.1998 – 60 PV 1.96, PersR 1999, 29. Germelmann/Binkert/Germelmann, PersVG Berlin, 3. Aufl., § 9 Rz. 5. RDW/Benecke, § 7 Rz. 19. RDW/Benecke, § 7 Rz. 10. KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 BPersVG Rz. 18. BAG v. 31.3.1983 – 2 AZR 384/81, BAGE 44, 37.

Pahlen

Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.43 § 19

entscheiden, welchen der anstehenden Termine er wahrnehmen möchte und bei welcher Gelegenheit er sich vertreten lassen will116. Er muss seine Verhinderung nicht näher begründen, allerdings hat der Personalrat einen Anspruch auf Mitteilung des Grundes der Verhinderung117. Eine unbeschränkte Vertretung kommt nicht in Betracht, sie wäre mit dem Zweck des § 7 BPersVG nicht vereinbar118. Ständiger Vertreter des Dienststellenleiters ist derjenige, der nach der Organisation der Dienststelle, der Geschäftsverteilung oder ihren Statuten in allen die Dienststelle betreffenden Angelegenheiten die Dienststelle rechtswirksam vertreten kann. Er muss für den Fall der Vertretung über dieselben Befugnisse verfügen wie der Dienststellenleiter119. Weitergehende Vertretungsmöglichkeiten bestehen nur nach § 7 Satz 3 und 4 BPersVG und betreffen allein die darin ausdrücklich genannten Behörden.

19.40

Bei obersten Dienstbehörden kann der Dienststellenleiter auch den Leiter der Abteilung für Personal und Verwaltungsangelegenheiten zu seinem Vertreter bestimmen. Sind diese Bereiche getrennt organisiert, kann eine Vertretung für den jeweiligen Bereich erfolgen120. Eine bestimmte Form muss dabei nicht gewahrt werden121. Diese Befugnis geht allerdings nicht so weit, dass im Falle von dessen Verhinderung nunmehr automatisch der jeweilige Vertreter des Abteilungsleiters diese Aufgaben wahrnehmen dürfte122. Es handelt sich dabei nämlich um eine Ausnahmeregelung, die grundsätzlich eng auszulegen ist. Vor allem aber würde bei einer so weiten Interpretation nicht hinreichend gewürdigt, dass in den Fällen des § 7 Satz 4 BPersVG die Vertretung des Dienststellenleiters ausdrücklich von der Zustimmung des Personalrats abhängig gemacht wird123.

19.41

Macht der Dienststellenleiter von dieser Befugnis Gebrauch, schließt dies die gesetzlich angeordnete Vertretungsbefugnis des ständigen Vertreters jedoch nicht aus. Beide Möglichkeiten bestehen nebeneinander. Es kommt im Verhältnis zueinander nicht auf den Eintritt eines weiteren Verhinderungsfalles an. Eine Ausnahme gilt allerdings für den Fall, dass sich der Dienststellenleiter die Entscheidung eines Einzelfalles ausdrücklich vorbehalten hat. Hier kann eine Vertretung nach § 7 Satz 3 BPersVG nicht erfolgen, weil der Beauftragte nicht über die vergleichbare Befugnis des Dienststellenleiters verfügt. In einem solchen Fall kommt nur die Vertretung durch den ständigen Vertreter in Betracht124. In jedem Falle aber muss eine Verhinderung des Dienststellenleiters vorliegen125.

19.42

Bei Bundesoberbehörden ohne nachgeordnete Dienststellen und bei Behörden der Mittelstufe kann der Dienststellenleiter auf derselben rechtlichen Grundlage (§ 7 Satz 3 BPersVG)

19.43

116 117 118 119 120 121 122 123 124 125

KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 BPersVG Rz. 18. BAG v. 31.3.1983 – 2 AZR 384/81, BAGE 44, 37. Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 7 Rz. 12a. Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 7 Rz. 13. RDW/Benecke, § 7 Rz. 13; Altvater/Baden, § 7 BPersVG Rz. 5; Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 7 Rz. 16. BVerwG v. 6.9.2005 – 6 PB 12.05, PersV 2006, 96. BAG v. 29.10.1998 – 2 AZR 61/98, BAGE 90, 91 = AP Nr. 13 zu § 79 BPersVG m. zust. Anm. Ilbertz; RDW/Benecke, § 7 Rz. 13. BAG v. 29.10.1998 – 2 AZR 61/98, BAGE 90, 91 = AP Nr. 13 zu § 79 BPersVG m. zust. Anm. Ilbertz. Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 7 Rz. 16. Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 7 Rz. 14.

Pahlen

551

§ 19 Rz. 19.43

Beteiligung des Personalrates

den jeweils entsprechenden Abteilungsleiter (Personal/Verwaltung) zu seinem Vertreter bestimmen. Die voranstehenden Ausführungen gelten hier entsprechend.

19.44 § 7 Satz 4 BPersVG eröffnet in den zuvor genannten Bereichen126 eine darüber hinausgehende Vertretungsmöglichkeit, die allerdings auch an das Vorliegen eines Vertretungsfalles geknüpft ist127. Mit Zustimmung des Personalrats, die allerdings jederzeit widerruflich ist, nicht in einem Einigungsverfahren erzwungen werden kann und auch von der jeweiligen Amtszeit des Personalrats abhängig ist, kann der Dienststellenleiter über die in § 7 Satz 3 BPersVG genannten Erweiterungen der Vertretungsbefugnisse hinaus noch weitere Beauftragte bestellen. Dies ist nicht an die Erfüllung besonderer Voraussetzungen gebunden, kann für eine bestimmte Angelegenheit oder für mehrere Angelegenheiten erfolgen und ist auch für künftige Fälle gleicher Art vorstellbar128. Sie ist nicht formgebunden, muss jedoch eindeutig erfolgen129.

19.45 Jenseits der zuvor erörterten Fälle kann sich der Dienststellenleiter im Rahmen des Beteiligungsverfahrens (zB bei dessen Einleitung, einer in seinem Verlauf erforderlich werdenden Erörterung oder bei der abschließenden Entscheidung) nicht von einem anderen Bediensteten vertreten lassen130. Allerdings kann er einem anderen Bediensteten die Durchführung von Vorverhandlungen oder Vorbesprechungen mit dem Personalrat übertragen. Ebenso kann er ihn damit beauftragen, dem Personalrat als „Vertreter in der Erklärung“, also als Bote, eine bestimmte Erklärung zu übermitteln131. Umgekehrt kann ein solcher Bediensteter aber auch als Empfangsbote des Dienststellenleiters für Erklärungen des Personalrats fungieren132.

19.46 Wird das Beteiligungsverfahren unter Verstoß gegen die gesetzlich angeordnete Vertretungsregelung eingeleitet oder durchgeführt, kann dies Konsequenzen für die Wirksamkeit der beabsichtigten Personalmaßnahme (hier: der Kündigung) haben. Wird das Anhörungsverfahren des Personalrats von einem Vertreter eingeleitet, der unabhängig von einer Verhinderung des Dienststellenleiters ihn nicht nach den gesetzlichen Bestimmungen vertreten konnte, kann dies zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Die gesetzlichen Vertretungsregelungen sollen sicherstellen, dass dem Personalrat nicht ständig wechselnde Verhandlungspartner gegenübertreten, deren (Entscheidungs-) Kompetenzen fraglich sein können. Der Leiter der Dienststelle soll im Interesse des sozialen Friedens veranlasst werden, sich nicht nur mit den Aufgaben der Dienststelle nach außen, sondern auch mit den internen Problemen seiner Mitarbeiter zu beschäftigen, zumal bei Einschaltung der Behördenspitze möglicherweise raschere und sachgerechtere Lösungen gefunden werden können. Personalentscheidungen sollen nicht nur routinemäßig von einem Sachbearbeiter erledigt werden133.

126 RDW/Benecke, § 7 Rz. 16; Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 7 BPersVG Rz. 15; Lorenzen/Hebeler, § 7 BPersVG Rz. 21; Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 7 Rz. 17a; weiter: Altvater/Baden, § 7 BPersVG Rz. 6. 127 BAG v. 26.10.1995 – 2 AZR 743/94, PersV 1998, 199; RDW/Benecke, § 7 Rz. 16; Altvater/Baden, § 7 BPersVG Rz. 6. 128 RDW/Benecke, § 7 Rz. 16; Altvater/Baden, § 7 BPersVG Rz. 6; Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 7 BPersVG Rz. 15. 129 Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 7 Rz. 17a. 130 BAG v. 26.10.1995 – 2 AZR 734/94, PersV 1998, 199. 131 BAG v. 27.2.1987 – 7 AZR 682/85, BAGE 54, 215. 132 BAG v. 18.10.1990 – 2 AZR 157/90, RzK III 2a Nr. 18. 133 BAG v. 26.10.1995 – 2 AZR 743/94, AP BPersVG § 79 Nr. 8.

552

Pahlen

Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.51 § 19

Zwar führt ein solcher Fehler entgegen der früheren Rechtsprechung des BAG134 nicht mehr 19.47 zwangsläufig zur Unwirksamkeit der Kündigung, jedoch ist dies auch im Verhältnis zum betroffenen Arbeitnehmer von Bedeutung, wenn der Personalrat den Mangel in der Vertretung (das Fehlen eines Verhinderungsfalles) im Rahmen des Beteiligungsverfahrens rügt135. Hat der Personalrat diese Beanstandung vor der Abgabe seiner abschließenden Stellungnahme im Rahmen des Beteiligungsverfahrens erhoben, kann der betroffene Arbeitnehmer sich darauf auch in dem von ihm geführten Kündigungsschutzverfahren berufen. Den Arbeitgeber trifft in diesem Fall die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines Verhinderungsfalls. Kommt er ihr nicht ausreichend nach, ist die Kündigung allein wegen dieses Mangels unwirksam, § 108 Abs. 2 BPersVG136. bb) Vertretung des Personalrats Anders als dies in § 26 Abs. 2 Satz 2 BetrVG geregelt ist, enthält § 32 BPersVG (wie im Übrigen auch viele Landespersonalvertretungsgesetze) keine ausdrückliche Vorschrift über die Passivvertretung des Gremiums, also die Befugnis zur Entgegennahme von an den Personalrat gerichteten Erklärungen. Jedoch wird aus der Regelung des § 32 Abs. 3 Satz 1 BPersVG bzw. gleich lautenden Bestimmungen einer ganzen Reihe von Landespersonalvertretungsgesetzen, nach denen der Vorsitzende den Personalrat im Rahmen der gefassten Beschlüsse vertritt, abgeleitet, dass dieser auch über eine ausreichende Legitimation für die Entgegennahme von an das Gremium gerichteten Erklärungen verfügt137.

19.48

Im Falle seiner zeitweiligen Verhinderung tritt an die Stelle des Vorsitzenden der vom Personalrat bestimmte Vertreter. Dies erfolgt nach Maßgabe einer von dem Gremium bestimmten Reihenfolge. Für den verhinderten Vorsitzenden rückt ein Stellvertreter in das Amt ein. Eine Aufteilung der Befugnisse des Vorsitzenden nach Sachgebieten unter mehreren Stellvertretern ist nicht zulässig138. Vertritt der Vorsitzende den Personalrat gemeinsam mit einem anderen Vorstandsmitglied, kann die Erklärung gegenüber jedem von beiden wirksam abgegeben werden139.

19.49

Darüber hinaus kann der Personalrat in einem konkreten Verfahren auch eines seiner Mitglieder mit der Vertretung des Gremiums betrauen. In diesem Falle können Erklärungen rechtswirksam auch gegenüber diesem abgegeben werden. Geeigneter Adressat bleibt aber auch dann stets der Vorsitzende140.

19.50

Erfolgt eine Erklärung des Dienststellenleiters gegenüber einem nicht befugten Mitglied des 19.51 Personalrats, wird dieses lediglich als Erklärungsbote des Arbeitgebers tätig. Die Erklärung wird in einem solchen Fall daher erst dann rechtswirksam, wenn sie einem empfangsberech-

134 ZB BAG v. 31.3.1983 – 2 AZR 384/81, BAGE 44, 37. 135 BAG v. 26.10.1995 – 2 AZR 743/94, PersV 1998, 199 im Anschluss an BVerwG v. 26.8.1987 – 6 P 11.86, BVerwGE 78, 72; BAG v. 19.4.2007 – 2 AZR 180/06, ArbRB 2007, 319 = NZA-RR 2007, 571; v. 25.11.2010 – 2 AZR 801/09, ArbRB 2011, 167 = PersR 2011, 268. 136 KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 BPersVG Rz. 20. 137 Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 32 Rz. 43; RDW/Jacobs, § 32 Rz. 81; KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 BPersVG Rz. 21. 138 Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 32 Rz. 48, 31; RDW/Jacobs, § 32 Rz. 90. 139 KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 BPersVG Rz. 21; aA RDW/Jacobs, § 32 Rz. 81. 140 Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 32 Rz. 52; KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 BPersVG Rz. 21.

Pahlen

553

§ 19 Rz. 19.51

Beteiligung des Personalrates

tigten Vertreter des Gremiums zugeht141. Das Übermittlungsrisiko trägt der Arbeitgeber. Eine Hinweispflicht des Personalrats besteht nicht142.

19.52 Das Vorliegen einer zeitweiligen Verhinderung erfasst auch die Fälle der Vakanz und bestimmt sich im Übrigen nach den für die Auslegung des § 31 Abs. 1 Satz 2 BPersVG entwickelten Grundsätzen. Es kommt danach also auf das objektive Vorliegen einer Verhinderung an143. Der Vorsitzende kann sich daher nicht aus rein subjektiven Gründen für verhindert erklären144. Dies gilt auch für Konstellationen, in denen objektiv ein Hindernis vorliegt, dies jedoch absichtlich herbeigeführt wird, um einen Vertretungsfall zu schaffen145.

19.53 Als Fälle objektiver zeitweiliger Verhinderung kommen insbesondere in Betracht146: – Niederlegen des Vorsitzes – Ausscheiden aus dem Personalrat – Abberufung aus dem Amt – Krankheit – Urlaub – Ausschluss wegen persönlicher Betroffenheit – zeitweilige Abwesenheit infolge von Dienstgeschäften – Teilnahme an einer Schulungsveranstaltung – Dienstreise – Abordnung unterhalb der Frist von drei Monaten (vgl. § 13 Abs. 2 Satz 1 BPersVG) – Grundwehrdienst – Zivildienst – Teilnahme an einer Wehrübung – Elternzeit – Montage – Lehrgang – Verkehrsstörung

141 142 143 144

BAG v. 16.10.1991 – 2 AZR 156/91, RzK III 3 Nr. 7. KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 BPersVG Rz. 23; KR/Rinck, § 102 BetrVG Rz. 121. BVerwG v. 24.10.1975 – VII P 14.73, BVerwGE 49, 271. BAG v. 5.9.1986 – 7 AZR 175/85, PersR 1987, 223; RDW/Jacobs, § 31 Rz. 8; Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 31 Rz. 19; Lorenzen/Schlatmann, § 31 BPersVG Rz. 5. 145 BAG v. 5.9.1986 – 7 AZR 175/85, PersR 1987, 223; Bayerischer VGH v. 14.9.1988 – 17 P 88.02465, ZBR 1989, 213; RDW/Jacobs, § 31 Rz. 8. 146 BAG v. 5.9.1986 – 7 AZR 175/85, PersR 1987, 223; Bayerischer VGH v. 14.9.1988 – 17 P 88.02465, ZBR 1989, 213; RDW/Jacobs, § 31 Rz. 8; Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 32 Rz. 20 sowie § 31 Rz. 14 ff.

554

Pahlen

Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.59 § 19

– schlechte Witterung – Arzttermin147 Eine Beschränkung der Verhinderung auf einzelne Tagesordnungspunkte kommt nicht in Betracht; denn die zur objektiven Verhinderung führende Unzumutbarkeit betrifft die Sitzungsteilnahme insgesamt148.

19.54

Eine bestimmte Dauer der Verhinderung ist nicht erforderlich. Allerdings erfüllt die ganz kurzzeitige Verhinderung der Wahrnehmung der Dienstgeschäfte nicht die Voraussetzungen für eine „Verhinderung“149.

19.55

Als Fälle zeitweiliger Verhinderung sind daher nicht anzusehen150:

19.56

– kurzfristige Unterbrechung einer Sitzung infolge der Wahrnehmung von Dienstgeschäften – vorübergehende Abwesenheit wegen eines Telefongesprächs – Unpässlichkeit oder plötzliches Unwohlsein – Personalratssprechstunde Ob der Vertreter für die Wahrnehmung der Amtsgeschäfte tatsächlich zur Verfügung steht, ist für die Beurteilung des Vorliegens eines Vertretungsfalls unbeachtlich151.

19.57

c) Zeitpunkt Eine Kündigung ist nicht nur unwirksam, wenn der Arbeitgeber gekündigt hat, ohne den Personalrat überhaupt zu beteiligen, sondern auch dann, wenn er ihn nicht richtig beteiligt hat152. Die Beteiligung des Personalrats dient vor allem dem Zweck, ihm Gelegenheit zu geben, seine Überlegungen zur Kündigungsabsicht des Arbeitgebers vorzubringen und auf den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers vor dessen Umsetzung Einfluss zu nehmen (s. Rz. 19.34). Diesem Regelungszweck entspricht die Verpflichtung des Arbeitgebers, den Personalrat über seine Kündigungsabsicht zeitnah so zu informieren, dass dieser sich für seine Stellungnahme von der Person des Arbeitnehmers und den Kündigungsgründen ein eigenes Bild machen und überlegen kann, ob und wie er dazu Stellung nehmen will153.

19.58

Erforderlich ist zunächst, dass der Arbeitgeber durch den Dienststellenleiter oder eine andere dazu berechtigte Person (s. Rz. 19.36 ff.) den Personalrat über seine Kündigungsabsicht informiert und dabei deutlich macht, dass er das Beteiligungsverfahren einleiten will. Unklarheiten über den vom Arbeitgeber mit seiner Mitteilung an den Personalrat verbundenen Zweck gehen zu Lasten des Arbeitgebers154.

19.59

147 Zweifelhaft: BAG v. 8.9.2011 – 2 AZR 388/10, ArbRB 2012, 111 = NZA 2012, 40. 148 BVerwG v. 24.10.1975 – VII P 14.73, BVerwGE 49, 271; RDW/Jacobs, § 31 Rz. 11. 149 BAG v. 8.9.2011 – 2 AZR 388/10, ArbRB 2012, 111 = NZA 2012, 400; RDW/Jacobs, § 31 Rz. 13. 150 Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 31 Rz. 20; RDW/Jacobs, § 31 Rz. 13. 151 BVerwG v. 24.10.1975 – VII P 14.73, BVerwGE 49, 271; RDW/Jacobs, § 31 Rz. 14. 152 RDW/Benecke, § 79 Rz. 140. 153 BAG v. 19.4.2007 – 2 AZR 180/06, ArbRB 2007, 319 = NZA-RR 2007, 571. 154 KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 15.

Pahlen

555

§ 19 Rz. 19.60

Beteiligung des Personalrates

19.60 Die damit eingeleitete Beteiligung des Personalrats muss rechtzeitig erfolgen. Sie muss in jedem Falle der Verwirklichung des Kündigungsentschlusses vorangehen. Dies ist nicht erst dann der Fall, wenn die Kündigung dem Adressaten zugegangen ist155. Maßgeblich ist vielmehr der Zeitpunkt, zu dem das Kündigungsschreiben den Machtbereich des Arbeitgebers verlassen hat156. Diese Voraussetzung ist regelmäßig erfüllt, wenn das Kündigungsschreiben zur Post aufgegeben wird157. Ist dies erfolgt und hat der Arbeitgeber damit seinen Kündigungsentschluss realisiert, gilt die Kündigung also als erklärt, kann selbst eine vom Personalrat nachträglich erteilte Zustimmung die aus der Fehlerhaftigkeit seiner Beteiligung folgende Unwirksamkeit der Maßnahme nicht mehr heilen158. Allerdings kann diese im Falle einer Wiederholungskündigung die erneute Beteiligung des Personalrats entbehrlich machen159.

19.61 Obwohl die Beteiligung des Personalrats dem Zweck dient, vor der Realisierung einer Maßnahme noch auf die Willensbildung des Arbeitgebers einwirken zu können, kommt es für die Beurteilung der Ordnungsgemäßheit der Durchführung des Beteiligungsverfahrens nicht darauf an, ob der Arbeitgeber zu diesem Zeitpunkt bereits zum Ausspruch der Kündigung entschlossen war. Daher kann eine Anhörung des Personalrats wirksam auch erfolgen, wenn sie vor einem die Kündigungsentscheidung beinhaltenden Beschluss des Gemeinderats erfolgte160. Solange die Kündigungserklärung nämlich den Machtbereich des Arbeitgebers nicht verlassen hat, besteht weiterhin die Möglichkeit, auf seine Willensbildung Einfluss zu nehmen, ihn also durch den Austausch von Argumenten zu einer Revision seiner Entscheidung zu veranlassen161. Angesichts dessen ist es auch nicht zu beanstanden, wenn der Arbeitgeber – wie dies in der Praxis des öffentlichen Dienstes ganz üblich ist – dem Personalrat den Entwurf oder sogar das bereits unterzeichnete Original des Kündigungsschreibens vorlegt162.

19.62 Folgt aus dem Bestehen der Kündigungsabsicht des Arbeitgebers damit nicht nur nicht die Fehlerhaftigkeit des Beteiligungsverfahrens, ist diese vielmehr sogar Voraussetzung für dessen Ordnungsgemäßheit. Erforderlich ist nämlich ein zum Zeitpunkt der Einleitung des Beteiligungsverfahrens vorhandener aktueller Kündigungsentschluss des Arbeitgebers. Es ist also nicht ausreichend, wenn der Arbeitgeber nur die Möglichkeit des Ausspruchs einer Kündigung für den Fall in Erwägung zieht, dass ein in der Zukunft liegendes Ereignis eintritt.

19.63 Kommt es aus Sicht des Arbeitgebers für den Ausspruch der Kündigung erst auf das tatsächliche Eintreten eines bestimmten Ereignisses und nicht bereits auf das Drohen seines Eintritts an, käme der Beteiligung des Personalrats lediglich der Charakter der Einholung einer gutachterlichen Stellungnahmen zu, die im Gesetz jedoch nicht vorgesehen ist163. Will der Arbeitgeber nach der Ankündigung des Arbeitnehmers, sich für den Fall der Nichtgewährung von Urlaub krankschreiben zu lassen, eine von ihm beabsichtigte Kündigung nicht al155 So aber Reiter, NZA 2007, 954. 156 BAG v. 28.9.1978 – 2 AZR 2/77, BAGE 31, 83; v. 28.2.1974 – 2 AZR 455/73, BAGE 26, 27; APS/ Koch, § 102 BetrVG Rz. 61. 157 BAG v. 13.11.1975 – 2 AZR 610/74, BAGE 27, 331; abw. für den Fall der Beauftragung eines Kurierdienstes sowie der dem Arbeitgeber eingeräumten Möglichkeit, den Zugang des Schreibens zu verhindern, BAG v. 8.4.2003 – 2 AZR 515/02, RzK III 1a Nr. 114. 158 BAG v. 28.2.1974 – 2 AZR 455/73, BAGE 26, 27. 159 APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 61. 160 BAG v. 21.2.2013 – 2 AZR 433/12, BB 2013, 1716; aA Bader, jurisPR – ArbR 34/2013 Anm. 3. 161 BAG v. 28.9.1978 – 2 AZR 2/77, BAGE 31, 83; v. 28.2.1974 – 2 AZR 455/73, BAGE 26, 27; v. 13.12.2012 – 6 AZR 348/11, NZA 2013, 669. 162 APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 62. 163 BAG v. 19.1.1983 – 7 AZR 514/80, DB 1983, 1153; v. 22.9.1983 – 2 AZR 136/82, nv.

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Pahlen

Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.66 § 19

lein auf die Drohung des Arbeitnehmers, sondern erst auf den Gesamtkomplex des Geschehens unter Einschluss der Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung stützen, kann das Beteiligungsverfahren wirksam erst eingeleitet werden, wenn die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auch tatsächlich vorgelegt wurde164. Nichts anderes gilt im Ergebnis für die sog. Vorratskündigung. In diesem Falle lagen zu einem bestimmten Zeitpunkt Gründe vor, die aus Sicht des Arbeitgebers den Ausspruch einer Kündigung rechtfertigten und von ihm auch zum Anlass der Einleitung des Beteiligungsverfahrens genommen wurden. Jedoch erfolgte der Ausspruch der darauf gestützten Kündigung nicht zeitnah, sondern erst nach dem Ablauf eines erheblichen Zeitraums. In einem solchen Fall kann aber durch das Hinzutreten von Umständen, ggf. aber auch durch den bloßen Zeitablauf, der den Kündigungsgrund in einem anderen Licht erscheinen lässt, eine Änderung der Sachlage eingetreten sein, die eine erneute Beteiligung des Personalrats erfordert165. Davon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen der Arbeitgeber nach der Durchführung des Beteiligungsverfahrens wegen der Notwendigkeit der Einholung der Zustimmung einer Erlaubnisbehörde (zB des Integrationsamtes vor der beabsichtigten Kündigung eines schwerbehinderten Menschen) nicht willkürlich mit dem Ausspruch der Kündigung zugewartet hat166.

19.64

d) Umfang der Beteiligung aa) Grundsatz Die Rechtsfolge einer im Einzelfall unterbliebenen oder fehlerhaften Beteiligung des Personalrats ergibt sich aus § 108 Abs. 2 BPersVG. Nach dieser Vorschrift ist eine durch den Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung unwirksam, wenn die Personalvertretung nicht beteiligt worden ist. Für die Anhörung des Personalrats gelten dieselben Grundsätze wie für die Anhörung des Betriebsrats nach § 102 BetrVG.

19.65

Dies betrifft mit Rücksicht auf Sinn und Zweck der Beteiligung des Personalrats auch die Fälle, in denen in dem jeweils anzuwendenden LPVG die Verpflichtung des Arbeitgebers zur näheren Information über die Kündigungsgründe nicht ausdrücklich normiert ist167. Von Bedeutung ist dies auch, wenn das Arbeitsverhältnis zB wegen seiner geringen Dauer (noch) nicht dem KSchG unterliegt168. In einem solchen Fall ist die Substantiierungspflicht allerdings nicht an den objektiven Merkmalen des zu diesem Zeitpunkt noch nicht anwendbaren § 1 KSchG zu messen, sondern allein an den Umständen, aus denen der Arbeitgeber subjektiv seinen Kündigungsentschluss herleitet. Dies folgt aus dem Grundsatz der subjektiven Determination und gilt auch dann, wenn dem subjektiven Werturteil nach Zeit, Ort und Umständen konkretisierbare Tatsachenelemente zugrunde liegen169. Dieser Maßstab ist auch auf die Beteiligung des Personalrats anzuwenden und ist damit bestimmend für Art und Qualität seiner Unterrichtung durch die Dienststelle.

164 165 166 167

APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 63. BAG v. 26.5.1977 – 2 AZR 201/76, DB 1977, 2455. BAG v. 20.1.2000 – 2 AZR 378/99, BAGE 93, 255. BAG v. 4.3.1981 – 7 AZR 104/79, BAGE 35, 118 = AP Nr. 1 zu § 77 LPVG Baden-Württemberg m. zust. Anm. G. Hueck. 168 BAG v. 18.5.1994 – 2 AZR 920/93, BAGE 77, 13; v. 3.12.1998 – 2 AZR 234/98, NZA 1999, 477. 169 BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 121/12, NZA 2013, 1412.

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557

19.66

§ 19 Rz. 19.67

Beteiligung des Personalrates

19.67 Eine Kündigung ist danach nicht erst dann unwirksam, wenn eine Unterrichtung der Arbeitnehmervertretung vollständig unterblieben ist, sondern bereits dann, wenn der Arbeitgeber seiner Unterrichtungspflicht nicht richtig, insbesondere nicht ausführlich genug nachkommt170.

19.68 Der Arbeitgeber hat der Arbeitnehmervertretung daher grundsätzlich – die Personalien des zu kündigenden Arbeitnehmers, – die Beschäftigungsdauer, – die Kündigungsart, – die Kündigungsfrist, – den Kündigungstermin sowie – die Kündigungsgründe mitzuteilen171.

19.69 Das Anhörungsverfahren hat nämlich über die reine Unterrichtung hinaus den Sinn, der Arbeitnehmervertretung Gelegenheit zu geben, dem Arbeitgeber ihre Überlegungen zu der Kündigungsabsicht zur Kenntnis zu bringen. Die Anhörung soll in dafür geeigneten Fällen dazu beitragen, dass es gar nicht zum Ausspruch einer Kündigung kommt172. Aus diesem Sinn und Zweck der Anhörung folgt für den Arbeitgeber die Verpflichtung, die Gründe für seine Kündigungsabsicht derart mitzuteilen, dass er dem Personalrat eine nähere Umschreibung des für die Kündigung maßgeblichen Sachverhalts gibt. Die erforderliche Kennzeichnung des Sachverhalts muss so umfassend sein, dass der Personalrat ohne eigene Nachforschungen in der Lage ist, selbst die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe zu prüfen und sich ein Bild zu machen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, welchen Kenntnistand der Personalrat hat. War etwa bei einer Verdachtskündigung der Vorsitzende des Personalrats bei der Anhörung des betroffenen Arbeitnehmers anwesend, ist sein Wissen dem Personalrat zuzurechnen173. Die Information muss so erteilt werden, dass der Personalrat eine verantwortliche Stellungnahme abgeben kann174. Der Arbeitgeber genügt daher der ihm nach dem Gesetz obliegenden Mitteilungspflicht nicht, wenn er den Kündigungssachverhalt nur pauschal, schlagwort- oder stichwortartig umschreibt oder lediglich ein Werturteil abgibt, ohne die für seine Bewertung maßgeblichen Tatsachen mitzuteilen175. In einem solchen Fall muss dem Personalrat der Sachverhalt so dargestellt werden, dass dieser nachvollziehen kann, wie der Arbeitgeber zu der negativen Bewertung der Leistung, der Eignung oder des Verhaltens des Arbeitnehmers gekommen ist176. Andererseits ist die Anhörung des Personalrates aber auch nicht bereits deshalb unwirksam, weil der Arbeitgeber bei der Mitteilung des Kündigungsgrundes die Schil170 BAG v. 16.9.1993 – 2 AZR 267/93, BAGE 74, 185; v. 17.2.2000 – 2 AZR 913/98, BAGE 93, 366. 171 BAG v. 30.10.1987 – 7 AZR 138/87, RzK III 2a Nr. 11. 172 BAG v. 2.11.1983 – 7 AZR 65/82, BAGE 44, 201; v. 6.11.2003 – 2 AZR 690/02, BAGE 108, 269 = ArbRB 2004, 132. 173 BAG v. 18.11.1999 – 2 AZR 852/98, PersR 2000, 175. 174 BAG v. 22.9.1994 – 2 AZR 31/94, BAGE 78, 39; v. 15.11.1995 – 2 AZR 974/94, NZA 1996, 419. 175 BAG v. 2.11.1983 – 7 AZR 65/82, BAGE 44, 201; v. 22.9.2001 – 2 AZR 236/00, BAGE 99, 167 = ArbRB 2002, 197. 176 BAG v. 26.1.1995 – 2 AZR 649/94, NZA 1995, 517.

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Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.73 § 19

derung von Tatsachen unterlässt, die lediglich den Sachverhalt erläutern, ohne selbst den Kündigungsgrund darzustellen177. Allerdings sind an die Mitteilungspflichten des Arbeitgebers im Anhörungsverfahren nicht 19.70 dieselben Anforderungen zu stellen wie an seine Darlegungslast im Kündigungsschutzverfahren. Dies folgt aus Sinn und Zweck des Anhörungsverfahrens. Die Beteiligung der Personalvertretung führt nicht zur faktischen Notwendigkeit der Durchführung von zwei Kündigungsschutzverfahren. Damit wird vielmehr das Ziel verfolgt, bereits im Vorfeld der Kündigung auf die Willensbildung des Arbeitgebers Einfluss nehmen zu können178. Dies ist bereits erreicht, wenn der Arbeitgeber dem Personalrat die für seinen Kündigungsentschluss maßgeblichen Umstände dem Grunde nach dargestellt hat179. Wollte man insoweit höhere Anforderungen stellen, käme es regelmäßig zu einer Überforderung des Arbeitgebers, der zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung nähere Kenntnis von den das Kündigungsschutzverfahren beherrschenden Grundsätzen nicht haben wird. Hinzu kommt, dass die Darlegungsverpflichtung des Arbeitgebers sich im Laufe dieses Verfahrens in Abhängigkeit von den Einlassungen des Arbeitnehmers entwickelt, so dass im Vorfeld nicht abzuschätzen ist, welche Intensität der Vortrag des Arbeitgebers schließlich wird haben müssen180.

19.71

Zudem gilt der Grundsatz der subjektiven Determination, nach dem die Arbeitnehmervertretung immer dann ordnungsgemäß angehört worden ist, wenn der Arbeitgeber die aus seiner Sicht für die Kündigung maßgeblichen Gründe mitgeteilt hat181. Beschränkt der Arbeitgeber seinen Vortrag und teilt er der Personalvertretung für die Beurteilung der Kündigung objektiv bedeutsame Umstände nicht mit, weil er die Kündigung darauf nicht stützen will oder weil er sie für nicht wesentlich hält, ändert dies nichts an der Ordnungsgemäßheit der Anhörung. Die Konsequenz eines solchen Verhaltens besteht darin, dass der Arbeitgeber die dem Personalrat im Rahmen der Unterrichtung vorenthaltenen (objektiv für die Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung wesentlichen) Tatsachen im Kündigungsschutzprozess nicht verwerten kann. Es hat dann mittelbar die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge, wenn der dem Personalrat mitgeteilte Sachverhalt zur Begründung der Kündigung nicht ausreicht182. Dies gilt jedenfalls für solche Umstände, die nicht lediglich der Erläuterung dienen, sondern selbst die Bedeutung eines Kündigungsgrundes besitzen183.

19.72

Diese Privilegierung des Arbeitgebers führt nach dem Grundsatz der vertrauensvollen Zu- 19.73 sammenarbeit jedoch nicht dazu, dass dieser der Personalvertretung die für seinen Kündigungsentschluss maßgeblichen Umstände bewusst und gewollt nur unvollständig oder un177 BAG v. 18.12.1980 – 2 AZR 1006/78, BAGE 34, 309; v. 11.4.1985 – 2 AZR 239/84, BAGE 49, 39. 178 BAG v. 31.1.1996 – 2 AZR 181/95, nv.; v. 22.9.1994 – 2 AZR 31/94, BAGE 78, 39; APS/Koch, § 102 Betr VG Rz. 90. 179 BAG v. 11.7.1991 – 2 AZR 119/91, NZA 1993, 38. 180 BAG v. 7.11.1996 – 2 AZR 720/95, RzK III 1b Nr. 26; APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 105. 181 BAG v. 17.2.2000 – 2 AZR 913/98, BAGE 93, 366; v. 21.6.2001 – 2 AZR 30/00, ArbRB 2002, 9 = PersR 2002, 261; v. 6.11.2003 – 2 AZR 690/02, BAGE 108, 269 = ArbRB 2004, 132; v. 24.6.2004 – 2 AZR 461/03, ArbRB 2004, 367 = NZA 2004, 1330; v. 13.3.2008 – 2 AZR 88/07, EzA § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 73. 182 BAG v. 27.9.2001 – 2 AZR 236/00, BAGE 99, 167 = ArbRB 2002, 197; v. 10.2.2002 – 2 AZR 240/01, BAGE 103, 100. 183 BAG v. 22.9.1994 – 2 AZR 31/94, BAGE 78, 39.

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§ 19 Rz. 19.73

Beteiligung des Personalrates

richtig vortragen dürfte184. In einem solchen Fall ist die Personalvertretung nämlich nicht in der Lage, sich über die Kündigungsgründe klar zu werden und eine sachgemäße Stellungnahme abzugeben. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Personalvertretung die gegen die Kündigung sprechenden und den Arbeitnehmer entlastenden Informationen vorenthalten werden185. Hat der Arbeitgeber daher Kenntnis von solchen Umständen, muss er dem Personalrat diese auch mitteilen. Dabei handelt es sich insbesondere um das Vorhandensein einer Gegendarstellung in der Personalakte des abgemahnten und nunmehr von einer Kündigung bedrohten Arbeitnehmers, von Entlastungszeugen, von entlastenden Informationen Dritter sowie um Erkenntnisse, die näheren Aufschluss über die Beweggründe des Arbeitnehmers geben und Ansatzpunkt für eine andere Bewertung seines vom Arbeitgeber als Kündigungsgrund angesehenen Verhaltens sein können. Allerdings wirkt sich der Grundsatz der subjektiven Determination insoweit aus, als diese Umstände dann nicht mitgeteilt werden müssen, wenn der Arbeitgeber sie selbst für unwesentlich hält186. Das BAG187 hat dies sogar auf den Fall ausgedehnt, dass der Arbeitgeber aus seiner Sicht erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit eines Entlastungszeugen hatte. Jedenfalls aber ist der Arbeitgeber zu näheren Nachforschungen über den Wahrheitsgehalt von Mitteilungen nicht verpflichtet188. Beschränkt er sich in einem solchen Fall auf die Übermittlung der aus der Steuerkarte ersichtlichen Angaben, ist jedoch von diesem Umstand Mitteilung zu machen189. Ob die der Personalvertretung vom Arbeitgeber mitgeteilten Tatsachen zutreffend sind oder sich später im Verfahren als unzutreffend erweisen, ist unwesentlich. Die Anhörung ist nur dann fehlerhaft, wenn der Arbeitgeber die Personalvertretung bewusst hat täuschen wollen190. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn der Arbeitgeber bei der Erteilung der Information selbst einem Irrtum unterlegen oder ein Übermittlungsfehler eingetreten ist191. bb) Unterrichtung im Einzelnen

19.74 Der Umfang der dem Personalrat im Einzelfall danach mitzuteilenden Tatsachen richtet sich dem zuvor erörterten Zweck seiner Beteiligung entsprechend nach Art und Anlass der vom Arbeitgeber beabsichtigten Kündigung. (1) Bezeichnung der Person

19.75 In jedem Fall erforderlich ist die Bezeichnung des von der beabsichtigten Kündigung betroffenen Arbeitnehmers. Der Arbeitgeber ist daher grundsätzlich verpflichtet, dem Betriebsrat den Namen und den Vornamen des Arbeitnehmers mitzuteilen192. Eine Ausnahme davon kommt allenfalls dann in Betracht, wenn der Arbeitgeber beabsichtigt, zum gleichen Zeitpunkt sämtli184 BAG v. 7.11.2002 – 2 AZR 599/01, ArbRB 2003, 111 = AP Nr. 40 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit; v. 13.5.2004 – 2 AZR 329/03, BAGE 110, 331 = ArbRB 2004, 303; v. 9.6.2011 – 2 AZR 284/10, EzA § 626 BGB 2002 Nr. 37. 185 BAG v. 31.8.1989 – 2 AZR 453/88, PersR 1990, 46; v. 22.9.1994 – 2 AZR 31/94, BAGE 78, 39. 186 BAG v. 27.2.1997 – 2 AZR 37/96, nv. 187 BAG v. 22.9.1994 – 2 AZR 31/94, BAGE 78, 39. 188 LAG Baden-Württemberg v. 9.11.1990 – 15 Sa 86/90, DB 1991, 554; LAG Schleswig-Holstein v. 1.4.1998 – 5 Sa 236/98, LAGE § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 30. 189 BAG v. 24.11.2005 – 2 AZR 514/04, ArbRB 2006, 166 = NZA 2006, 665. 190 BAG v. 2.11.1989 – 2 AZR 366/89, RzK III 1b Nr. 13; v. 7.11.2002 – 2 AZR 599/01, ArbRB 2003, 111 = AP Nr. 40 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit; LAG Schleswig-Holstein v. 30.10.2002 – 5 Sa 345/02, NZA-RR 2003, 310. 191 BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 417/14, NZA 2015, 1083; APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 90; abw. ArbG Frankfurt v. 29.1.2002 – 5 Ca 3549/01, AuA 2002, 566. 192 APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 93; KR/Rinck, § 102 BetrVG Rz. 58.

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Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.79 § 19

che Arbeitnehmer einer Einrichtung zu entlassen und dem Personalrat dies mitteilt193. Nicht erforderlich ist dagegen die Mitteilung der Anschrift194. Dagegen kann in größeren Betrieben die Mitteilung weiterer Informationen zur Kennzeichnung des betroffenen Arbeitnehmers (Angabe der Personalnummer, Kennzeichnung des Arbeitsbereichs bzw. der Beschäftigungsabteilung) notwendig sein, um der Gefahr einer Verwechslung vorzubeugen195. Wenn dies für die Beurteilung des Kündigungssachverhalts bedeutsam ist, kann auch die Angabe der Staatsangehörigkeit notwendig sein196. (2) Sozialdaten Neben den Angaben zur Person des betroffenen Arbeitnehmers sind regelmäßig auch weite- 19.76 re Angaben zu seinem sozialen Status erforderlich. Dies betrifft vor allem das Lebensalter und die Dauer der Betriebszugehörigkeit, die für die Berechnung der Länge der Kündigungsfrist von wesentlicher Bedeutung sind und ohne deren Kenntnis der Betriebsrat zu einer sachgerechten Stellungnahme nicht in der Lage ist. Diese Angaben sind auch erforderlich, wenn der Arbeitgeber sie bei seiner Kündigungsentscheidung nicht berücksichtigt hat. Insoweit ist der Grundsatz der subjektiven Determination wegen der zentralen Bedeutung dieser Angaben hier nur nachrangig relevant197. Eine Rückausnahme von diesem Grundsatz gilt allerdings für den Sonderfall, dass für den Arbeitgeber bei seiner Entscheidung angesichts der Schwere des Kündigungsvorwurfs die Sozialdaten des betroffenen Arbeitnehmers völlig unwesentlich waren und der Betriebsrat das Lebensalter die Dauer der Betriebszugehörigkeit zumindest in groben Umrissen kannte und so zu einer angemessenen eigenen Beurteilung der Kündigungsabsicht in der Lage war198. Zu den Sozialdaten, deren Angabe je nach Sachverhaltsgestaltung erforderlich sein kann, gehören der Familienstand, die Unterhaltspflichten sowie eine ggf. bestehende Schwerbehinderung des Arbeitnehmers. Im Rahmen der Unterrichtung der Arbeitnehmervertretung sind sie allerdings nur insoweit von Bedeutung, als sie Einfluss auf die Kündigungsentscheidung des Arbeitgebers haben können.

19.77

(3) Beschäftigungsdauer Nähere Angaben zur Beschäftigungsdauer sind bereits wegen ihrer Bedeutung für die Berechnung der Kündigungsfrist grundsätzlich erforderlich199. Darauf kann nur ausnahmsweise verzichtet werden (s.o. Rz. 19.65 ff.).

19.78

(4) Kündigungsart Unabdingbar ist auch eine Information der Personalvertretung über die Art der vom Arbeitgeber beabsichtigten Kündigung. Er hat insbesondere mitzuteilen, ob das Arbeitsverhältnis außerordentlich, ggf. mit Auslauffrist, oder ordentlich gekündigt werden soll. Nur in diesem Fall kann sie nämlich die Bedeutung und Auswirkung der beabsichtigten Kündigung 193 LAG Hamm v. 6.4.1990 – 4 Sa 1902/94, LAGE § 102 BetrVG 1972 Nr. 52. 194 LAG Hamm v. 27.2.1992 – 4 (9) Sa 1437/90, LAGE § 1 KSchG Personenbedingte Kündigung Nr. 10; BAG v. 23.9.1992 – 2 AZR 150/92, EEK II/213. 195 BAG v. 16.9.1993 – 2 AZR 267/93, BAGE 74, 185; APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 93. 196 BAG v. 10.10.2002 – 2 AZR 472/01, BAGE 103, 111 = ArbRB 2003, 131. 197 BAG v. 15.12.1994 – 2 AZR 327/94, NZA 1995, 521; v. 21.6.2001 – 2 AZR 30/00, ArbRB 2002, 9 = PersR 2002, 261; APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 93. 198 BAG v. 15.11.1995 – 2 AZR 974/94, NZA 1996, 419. 199 BAG v. 15.12.1994 – 2 AZR 327/94, NZA 1995, 521.

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561

19.79

§ 19 Rz. 19.79

Beteiligung des Personalrates

beurteilen, eine inhaltliche Stellungnahme dazu abgeben und ggf. mögliche Alternativen aufzeigen200. Will der Arbeitgeber, der eine außerordentliche Kündigung beabsichtigt, sicherstellen, dass für den Fall der Unwirksamkeit dieser Kündigung die von ihm vorsorglich erklärte oder in eine solche umgedeutete ordentliche Kündigung nicht an der fehlenden Unterrichtung der Personalvertretung scheitert, muss er deutlich darauf hinweisen, dass die geplante außerordentliche Kündigung hilfsweise als ordentliche Kündigung erklärt werden soll. Die Beteiligung allein an der außerordentlichen Kündigung ersetzt nicht die an einer ordentlichen Kündigung. Eine gleichwohl ausgesprochene ordentliche Kündigung ist unwirksam, § 108 Abs. 2 BPersVG201.

19.80 Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt allerdings für den Fall, dass die Personalvertretung, die lediglich über eine beabsichtigte außerordentliche Kündigung unterrichtet wurde, dieser ausdrücklich und vorbehaltlos zugestimmt hat und auch aus sonstigen Umständen nicht zu ersehen ist, dass sie für den Fall der Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung gegenüber der dann verbleibenden ordentlichen Kündigung Bedenken geäußert hätte. In diesem Falle ist die ordentliche Kündigung jedenfalls nicht nach § 108 Abs. 2 BPersVG unwirksam202.

19.81 Beabsichtigt der Arbeitgeber die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines vertraglich oder tariflich unkündbaren Arbeitnehmers, hat er klarzustellen, ob er eine außerordentliche Kündigung (möglicherweise unter Einräumung einer Auslauffrist) oder eine ordentliche Kündigung aussprechen möchte. Bleibt dies unklar oder ergibt sich die Art der beabsichtigten Kündigung nicht zumindest hinreichend deutlich aus den Umständen, fehlt es an der ordnungsgemäßen Bezeichnung der Kündigungsart mit der Folge, dass die Beteiligung der Personalvertretung fehlerhaft ist203. Das gilt auch im Fall der beabsichtigten Kündigung eines „unkündbaren“ Arbeitnehmers, wenn der Arbeitgeber ohne jede Erläuterung eine nach der objektiven Rechtslage nur mögliche außerordentliche Kündigung unter Einhaltung einer Frist aussprechen will204. Zu beachten ist in dieser Hinsicht, dass nach der Rechtsprechung des BAG die Personalratsbeteiligung bei einer außerordentlichen Kündigung mit notwendiger Auslauffrist gegenüber einem ordentlich unkündbaren Arbeitnehmer wie bei einer ordentlichen Kündigung erfolgen muss205. Der Zweck des besonderen tariflichen Kündigungsschutzes würde nämlich verfehlt, wenn der kollektivrechtliche Schutz bei einer solchen außerordentlichen Kündigung geringer wäre als bei einer fristgerechten Kündigung206. Dies hat zur Folge, dass der Arbeitgeber zur Vermeidung von Rechtsnachteilen bei der Kennzeichnung der Kündigungsart gegenüber der Personalvertretung besonders sorgfältig sein muss. Er kann nämlich eine außerordentliche Kündigung, eine außerordentliche Kündigung mit einer verkürzten Kündigungsfrist oder eine außerordentliche Kündigung mit einer der ordentlichen Kündigung entsprechenden Kündigungsfrist erklären, an denen die Personalvertretung in unterschiedlicher Weise beteiligt werden muss207.

200 201 202 203 204 205

APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 99. Altvater/Baden, § 79 BPersVG Rz. 16. BAG v. 16.3.1978 – 2 AZR 424/76, BAGE 30, 176; APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 99. APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 99a; DKK/Bachner, § 102 BetrVG Rz. 114. BAG v. 29.8.1991 – 2 AZR 59/91, NZA 1992, 416. BAG v. 5.2.1998 – 2 AZR 227/97, BAGE 88, 10 = AP Nr. 143 zu § 626 BGB m. zust. Anm. Höland. 206 BAG v. 18.10.2000 – 2 AZR 627/99, BAGE 96, 65. 207 APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 99a.

562

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Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.84 § 19

Will der Arbeitgeber lediglich eine Änderungskündigung aussprechen, gehört zur ordnungsgemäßen Unterrichtung der Personalvertretung auch die Mitteilung des Inhalts des Änderungsangebotes208. Hatte er zuvor eine Beteiligung an einer ursprünglich beabsichtigten Beendigungskündigung durchgeführt und will nunmehr nur eine Änderungskündigung aussprechen, muss er das Beteiligungsverfahren wiederholen209. Aber auch wenn er nach einer ursprünglich beabsichtigten Änderungskündigung eine Beendigungskündigung aussprechen möchte, muss das Beteiligungsverfahren erneut durchgeführt werden210. Auch wenn die Personalvertretung dabei inzident auch zu einer ursprünglich beabsichtigt gewesenen Beendigungskündigung angehört wurde, besteht doch die Möglichkeit, dass sie sich wegen des mit der Kündigung verbundenen Änderungsangebotes dazu hat bewegen lassen, keinen Widerspruch gegen die beabsichtigte Kündigung zu erheben211.

19.82

(5) Kündigungsfrist Beabsichtigt der Arbeitgeber den Ausspruch einer ordentlichen Kündigung, hat er der Personalvertretung grundsätzlich auch die Kündigungsfrist mitzuteilen, die er der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zugrunde legen will. Diese Angabe ist erforderlich, weil die Personalvertretung sie als Element der Interessenabwägung benötigt. Außerdem kann so nachgeprüft werden, ob zu dem mitgeteilten Beendigungszeitpunkt die vom Arbeitgeber angegebenen Kündigungsgründe auch tatsächlich vorliegen212. Allerdings ist es unschädlich, wenn die objektiv anzuwendende Kündigungsfrist von den subjektiven Vorstellungen des Arbeitgebers abweicht. Auch insoweit gilt der Grundsatz der subjektiven Determination213. Eine nähere Angabe zur Dauer der Kündigungsfrist ist weiterhin dann entbehrlich, wenn sie der Personalvertretung bereits bekannt ist. Entsprechendes gilt, wenn sie aus anderer Quelle bereits hinreichende Kenntnis erlangt hat. Dies kann zB der Fall sein, wenn im Betrieb eine einheitliche Kündigungsfrist zur Anwendung kommt und der Arbeitgeber die zur Berechnung notwendigen Daten bereits mitgeteilt hat. Auf die Dauer der Frist kommt es auch dann nicht an, wenn der Arbeitgeber der Personalvertretung den für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorgesehenen Termin angegeben hat214.

19.83

(6) Kündigungstermin Dessen konkrete Benennung ist allerdings im Regelfall keine Voraussetzung für die Ordnungs- 19.84 gemäßheit der Information des Personalrats und damit die Wirksamkeit der Kündigung. Der Kündigungstermin hängt wesentlich vom Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung ab und wird gerade im öffentlichen Dienst von der kaum absehbaren Dauer des Beteiligungsverfahrens beeinflusst215. Im Regelfall reicht es aus, wenn die für den zu kündigenden Arbeitnehmer geltende Kündigungsfrist feststeht und der Arbeitgeber klarstellt, dass die Kündigung in naher Zukunft erfolgen soll. Für eine ordnungsgemäße Beteiligung des Personalrats reicht 208 BAG v. 10.3.1982 – 4 AZR 158/79, BAGE 38, 106; v. 19.5.1993 – 2 AZR 584/92, BAGE 73, 151. 209 BAG v. 27.5.1982 – 2 AZR 96/80, DB 1984, 620. 210 BAG v. 30.11.1988 – 2 AZR 197/89, NZA 1990, 529. 211 APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 100. 212 BAG v. 29.3.1990 – 2 AZR 420/89, NZA 1990, 894; v. 16.9.1993 – 2 AZR 267/93, BAGE 74, 185; v. 15.12.1994 – 2 AZR 327/94, NZA 1995, 521; APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 101. 213 BAG v. 15.12.1994 – 2 AZR 327/94, NZA 1995, 521; v. 9.9.2010 – 2 AZR 493/09, PersV 2011, 236. 214 BAG v. 15.12.1994 – 2 AZR 327/94, NZA 1995, 521; APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 102. 215 BAG v. 13.3.2008 – 2 AZR 88/07, EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 73.

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563

§ 19 Rz. 19.84

Beteiligung des Personalrates

es aus, wenn er das ungefähre Vertragsende und die zwischen dem Ausspruch der Kündigung und dem Entlassungstermin liegende Zeitspanne ungefähr abschätzen kann. Die Angabe des bei Berücksichtigung der einschlägigen Kündigungsfrist nächsten Kündigungstermins ist lediglich als Hinweis darauf zu verstehen, dass zeitnah gekündigt werden soll216. Etwas anderes gilt nur für den Fall, dass die Kündigung nicht alsbald ausgesprochen werden soll217. (7) Kündigungsgrund (a) Fehlender Kündigungsschutz

19.85 Zwar ist der Arbeitgeber zur Beteiligung der Personalvertretung auch bei Kündigungen während der Wartezeit verpflichtet218, jedoch werden in diesem Fall an die Mitteilung der Kündigungsgründe nur reduzierte Anforderungen gestellt. Maßgeblich ist auch hier der Grundsatz der subjektiven Determination. Nicht ausreichend ist es allerdings, wenn der Arbeitgeber als Kündigungsgrund lediglich „Trennung in der Probezeit“ angibt219. Er muss ihm bekannte und konkretisierbare Kündigungsgründe vielmehr substantiiert benennen. Hat er allerdings keine auf Tatsachen gestützte und demgemäß durch die Mitteilung dieser Tatsachen konkretisierbaren Kündigungsgründe, so genügt es, wenn er dem Personalrat seine subjektiven Wertungen mitteilt, die ihn zur Kündigung veranlassen220. (b) Betriebsbedingte Kündigung

19.86 Beabsichtigt der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes den Ausspruch einer Kündigung aus dringenden betrieblichen Gründen, sind dem Personalrat die dafür maßgeblichen Gründe näher darzulegen. Es reicht nicht aus, wenn sich der Dienststellenleiter allgemein auf eine von ihm getroffene unternehmerische Entscheidung oder etwa auf den Wunsch nach Einsparungen als Motiv für die Durchführung der geplanten Maßnahme beruft. Erforderlich ist vielmehr, dass er im Falle einer auf außerbetriebliche Gründe gestützten Kündigung die dafür maßgeblichen Tatsachen wie Auftragsmangel oder Umsatzrückgang sowie die daraus folgenden Auswirkungen auf die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung des betroffenen Arbeitnehmers konkret darstellt. Will er die Kündigung auf innerbetriebliche Gründe wie etwa eine Umstellung der Produktion, Rationalisierungsmaßnahmen oder die Umverteilung von Arbeitsaufgaben stützen, muss er diese sowie ebenfalls die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung erläutern. Im Falle einer beabsichtigten Stilllegung des gesamten Betriebes reicht die Mitteilung des dafür vorgesehenen Datums aus, soll diese etappenweise erfolgen, bedarf es darüber hinaus allerdings einer näheren Darstellung der Art und Weise der Einschränkung der Produktion bzw. der Dienstleistung sowie der Kennzeichnung der insoweit noch zeitweilig verbleibenden Arbeitnehmer221.

19.87 Besteht aus Sicht des Arbeitgebers keine Möglichkeit, den zu kündigenden Arbeitnehmer auf einem anderen Arbeitsplatz weiterzubeschäftigen, genügt er seiner Unterrichtungsver216 BAG v. 27.4.2006 – 2 AZR 426/05, EzA § 1 KSchG Personenbedingte Kündigung Nr. 19; die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde durch Beschluss des BVerfG v. 9.11.2006 – 1 BvR 2337/06, BVerfGK 9, 430, nicht zur Entscheidung angenommen. 217 BAG v. 7.10.1993 – 2 AZR 423/93, RzK III 1d Nr. 8; v. 11.9.1997 – 8 AZR 4/96, PersR 1998, 39. 218 BAG v. 16.9.2004 – 2 AZR 511/03, ArbRB 2005, 36 = AP Nr. 142 zu § 102 BetrVG 1972. 219 BAG v. 24.8.1983 – 7 AZR 475/81, nv. 220 BAG v. 3.12.1998 – 2 AZR 234/98, NZA 1999, 42; v. 16.9.2004 – 2 AZR 511/03, ArbRB 2005, 36 = AP Nr. 142 zu § 102 BetrVG 1972. 221 BAG v. 14.8.1986 – 2 AZR 683/85, RzK I 8b Nr. 8; DKK/Bachner, § 102 BetrVG Rz. 101.

564

Pahlen

Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.91 § 19

pflichtung in der Regel bereits mit dem ausdrücklichen oder konkludenten Hinweis auf die fehlende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit, wobei in der Mitteilung der Kündigungsabsicht regelmäßig der Hinweis auf das Fehlen einer solchen Möglichkeit liegt222. Hat jedoch der Personalrat entweder im Beteiligungsverfahren oder bereits zuvor Auskunft über eine etwaige Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf einem konkreten, kürzlich frei gewordenen Arbeitsplatz verlangt, muss der Dienststellenleiter näher begründen, weshalb dies nicht in Betracht kommt. Der pauschale Hinweis auf das Fehlen einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit reicht in einem solchen Fall nicht aus223. Hatte der Dienststellenleiter den Personalrat zunächst objektiv falsch unterrichtet und rügt der Personalrat dies innerhalb der ihm zur Verfügung stehenden Frist zur Stellungnahme, ist der Dienststellenleiter verpflichtet, ergänzend mitzuteilen, weshalb aus seiner Sicht eine Weiterbeschäftigung gleichwohl ausscheidet. Unterlässt er dies und kommt es zum Ausspruch der Kündigung, ist diese gemäß § 79 Abs. 4 BPersVG bzw. § 108 Abs. 2 BPersVG unwirksam224. Kommt es für die Beurteilung der sozialen Rechtfertigung der beabsichtigen Kündigung auf 19.88 eine soziale Auswahl unter mehreren Arbeitnehmern an, hat der Arbeitgeber den Personalrat unaufgefordert die Kriterien für die Auswahl des von der beabsichtigten Kündigung betroffenen Arbeitnehmers mitzuteilen. Dies betrifft sowohl den abstrakten Auswahlmaßstab als auch die Benennung der in die Auswahl einbezogenen Arbeitnehmer einschließlich der insoweit relevanten Sozialdaten225. Diese Mitteilungspflicht ist erfüllt, wenn der Arbeitgeber alle aus seiner Sicht maßgeblichen Auswahlerwägungen mitgeteilt hat. Ob er damit den gesetzlichen Anforderungen genügt hat, ist zunächst unbeachtlich. Es kommt nicht darauf an, ob er auf ungeeignete Kriterien abgestellt hat oder es noch weiterer Konkretisierung bedarf226.

19.89

Hält der Arbeitgeber eine Sozialauswahl für nicht erforderlich, wie dies etwa

19.90

– im Zusammenhang mit dem Widerspruch eines Arbeitnehmers bei einem Betriebsübergang – bei einer Betriebsstilllegung – im Falle des Fehlens vergleichbarer Arbeitnehmer der Fall sein kann, steht dies der Ordnungsgemäßheit der Beteiligung des Personalrats nicht entgegen227. Entscheiden dagegen Leistungsgesichtspunkte über das Ergebnis einer aus Sicht des Arbeitgebers erforderlichen Auswahl, müssen dem Personalrat die insoweit maßgeblichen Tatsachen mitgeteilt werden228. 222 BAG v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, NZA 1991, 181. 223 BAG v. 17.2.2000 – 2 AZR 913/98, NZA 2000, 761; Altvater/Dierßen, § 79 BPersVG Rz. 18; ErfK/ Kania, § 102 BetrVG Rz. 9. 224 BAG v. 6.7.1979 – 2 AZR 810/76, BAGE 30, 370; v. 17.2.2000 – 2 AZR 913/98, NZA 2000, 761; Altvater/Dierßen, § 79 BPersVG Rz. 18. 225 BAG v. 22.5.2003 – 2 AZR 326/02, ZTR 2003, 521; v. 26.10.1995 – 2 AZR 1026/94, NZA 1996, 703; ErfK/Kania, § 102 BetrVG Rz. 9. 226 BAG v. 30.6.1988 – 2 AZR 49/88, RzK III 1b Nr. 12. 227 BAG v. 24.2.2000 – 8 AZR 167/99, NZA 2000, 764; v. 22.3.2001 – 8 AZR 565/00, ArbRB 2002, 6 = NZA 2002, 1349; ErfK/Kania, § 102 BetrVG Rz. 9. 228 LAG Berlin v. 20.8.1996 – 12 Sa 54/96, LAGE § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl Nr. 19.

Pahlen

565

19.91

§ 19 Rz. 19.92

Beteiligung des Personalrates

19.92 Da die Pflicht des Arbeitgebers zur Begründung einer von ihm beabsichtigen Kündigung im Verhältnis zur Arbeitnehmervertretung nicht über seine Darlegungspflicht im Kündigungsschutzprozess hinausgeht, kann er sich im Verhältnis zu dieser zunächst auf die Darstellung der für ihn subjektiv maßgeblichen Auswahlgesichtspunkte beschränken. Auf eine entsprechende Rüge des Arbeitnehmers im Kündigungsschutzprozess hin darf er für die soziale Auswahl objektiv erhebliche Umstände, die er ursprünglich nicht mitgeteilt hat, weil er sie übersehen oder zu Unrecht für unerheblich gehalten hat, nachträglich in das Verfahren einführen, ohne dass dies etwa zur Unwirksamkeit der Kündigung wegen fehlerhafter Beteiligung der Arbeitnehmervertretung führte oder insoweit ein Verwertungsverbot eintreten würde. Die nachträgliche Ergänzung seines Vortrages stellt lediglich eine Konkretisierung des bisherigen Vorbringens und kein unzulässiges Nachschieben eines neuen Kündigungssachverhaltes dar229. (c) Personenbedingte Kündigung

19.93 Hauptanwendungsfall der Kündigung aus personenbedingten Gründen ist die Kündigung wegen Krankheit230. Hier hat der Arbeitgeber die Arbeitnehmervertretung vor einer von ihm beabsichtigten Kündigung sowohl über Dauer und Umfang der Krankheitszeiten des betroffenen Arbeitnehmers als auch die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu informieren. Daraus folgt für den Fall einer beabsichtigten Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen, dass dem Personalrat regelmäßig die einzelnen Ausfallzeiten der letzten Jahre mitzuteilen sind, auf die der Arbeitgeber seine Prognose stützen möchte, dass auch in Zukunft mit Krankheitszeiten in entsprechendem Umfang zu rechnen ist. Entsprechendes gilt für die entstandenen Entgeltfortzahlungskosten, sofern der Arbeitgeber daraus die für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen ableiten möchte231. Dieser Grundsatz gilt allerdings nicht ausnahmslos. Im Einzelfall können allgemeine Angaben ausreichen. Hat ein Arbeitnehmer seit Beginn des Arbeitsverhältnisses fortlaufend in jedem Jahr überdurchschnittliche Krankheitszeiten aufzuweisen und damit entsprechend hohe Entgeltfortzahlungskosten verursacht, kann es für die Beurteilung des Personalrats ausreichend sein, wenn der Arbeitgeber lediglich nach Jahren gestaffelte Angaben zum Umfang der Ausfallzeiten und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Belastungen macht. Kann der Personalrat aus dem Unterrichtungsschreiben ableiten, dass eine negative Prognose im Hinblick auf künftig zu erwartende Fehlzeiten beabsichtigt ist und damit auch nicht mehr hinnehmbare betriebliche Beeinträchtigungen in Form damit einhergehender erheblicher Entgeltfortzahlungskosten zu erwarten sind, reicht dies aus232. Wird die Kündigung auf die lange Dauer der Arbeitsunfähigkeit gestützt, sind dem Personalrat die Grundlage für die entsprechende Prognose sowie ebenfalls die damit verbundenen Belastungen des Arbeitgebers näher darzustellen233. Letzteres ist entbehrlich, wenn es sich um eine Kündigung wegen dauernder Arbeitsunfähigkeit handelt234.

229 BAG v. 7.11.1996 – 2 AZR 720/95, RzK III 1b Nr. 26. 230 Altvater/Dierßen, § 79 BPersVG Rz. 18. 231 BAG v. 7.11.2002 – 2 AZR 599/01, ArbRB 2003, 111 = AP Nr. 40 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit; APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 121. 232 BAG v. 7.11.2002 – 2 AZR 493/01, PersV 2003, 387. 233 Altvater/Dierßen, § 79 BPersVG Rz. 18. 234 BAG v. 30.11.1986 – 2 AZR 668/84, NZA 1987, 555.

566

Pahlen

Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.98 § 19

(d) Verhaltensbedingte Kündigung Im Falle einer beabsichtigten Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen hat der Dienststellenleiter dem Personalrat die für seinen Kündigungsentschluss maßgeblichen Vorfälle genau zu bezeichnen und ihm auch mitzuteilen, ob und ggf. wann der Arbeitnehmer zuvor bereits erfolglos abgemahnt wurde235. Hat der Arbeitnehmer dazu eine Gegendarstellung abgegeben, muss der Personalrat auch darüber informiert werden236. Die Unterrichtung des Personalrats ist fehlerhaft, wenn ihm nicht mitgeteilt wird, dass der einzige in Betracht kommende unmittelbare Zeuge den von einem Zeugen vom Hörensagen erhobenen Vorwurf eines schweren Pflichtenverstoßes nicht bestätigt hat237.

19.94

Die ordnungsgemäße Information des Personalrats erfordert auch eine Mitteilung darüber, dass eine Weiterbeschäftigung auf einem freien anderen Arbeitsplatz nicht möglich ist. Dass ein solcher Arbeitsplatz nicht zur Verfügung steht, liegt regelmäßig bereits in dem Kündigungsantrag des Dienststellenleiters. Wegen der Einzelheiten kann auf die vorstehenden Ausführungen (s.o. Rz. 19.87) verwiesen werden.

19.95

Über diese Information hinaus hat der Dienststellenleiter dem Personalrat im Allgemeinen auch Informationen über das Lebensalter und die Betriebszugehörigkeit sowie einen möglichen Sonderkündigungsschutz des betroffenen Arbeitnehmers zu geben238. Diese persönlichen Daten betreffen zwar regelmäßig nicht unmittelbar das beanstandete Verhalten des Arbeitnehmers und dessen Pflichtverletzung. Jedoch darf der öffentliche Arbeitgeber dem Personalrat keine wesentlichen persönlichen Umstände des Arbeitnehmers vorenthalten, die sich im Rahmen der Interessenabwägung möglicherweise entscheidend zu dessen Gunsten auswirken könnten239.

19.96

Etwas anderes gilt nur dann, wenn es dem öffentlichen Arbeitgeber wegen der Bedeutung des Kündigungsvorwurfs auf die exakten Daten ersichtlich nicht ankommt, die Personalvertretung die ungefähren Daten kennt und sie deshalb die Kündigungsabsicht des Arbeitgebers ausreichend beurteilen kann. Unter diesen Umständen folgt aus der fehlenden oder erheblich fehlerhaften Mitteilung der Daten des zu kündigenden Arbeitnehmers nicht die Unwirksamkeit einer vom Arbeitgeber anschließend ausgesprochenen Kündigung240.

19.97

(e) Verdachtskündigung Auch im Falle einer Verdachtskündigung241 ist der Arbeitgeber verpflichtet, gegenüber dem Personalrat seine Kündigungsabsicht näher zu begründen und den für seine Kündigungsabsicht maßgeblichen Sachverhalt im Einzelnen zu schildern. Dies muss bei einer Verdachts235 Altvater/Dierßen, § 79 BPersVG Rz. 18. 236 BAG v. 31.8.1989 – 2 AZR 453/88, AP Nr. 1 zu § 77 LPVG Schleswig-Holstein; v. 17.2.1994 – 2 AZR 673/93, RzK II 2 Nr. 7. 237 BAG v. 2.11.1983 – 7 AZR 65/82, BAGE 44, 201. 238 BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 280/04, ArbRB 2006, 135 = NZA 2006, 431. 239 BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 280/04, ArbRB 2006, 135 = NZA 2006, 431; v. 21.6.2001 – 2 AZR 30/00, ArbRB 2002, 9 = PersR 2002, 261; v. 13.3.2008 – 2 AZR 88/07, EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 73. 240 Vgl. BAG v. 15.11.1995 – 2 AZR 974/94, NZA 1996, 419; v. 6.10.2005 – 2 AZR 280/04, ArbRB 2006, 135 = NZA 2006, 431, sowie v. 13.3.2008 – 2 AZR 88/07, EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 73. 241 BAG v. 25.11.2010 – 2 AZR 801/09, ArbRB 2011, 167 = PersR 2011, 268; v. 24.5.2012 – 2 AZR 206/11, NZA 2013, 137.

Pahlen

567

19.98

§ 19 Rz. 19.98

Beteiligung des Personalrates

kündigung wie bei jeder anderen Kündigung in einer Weise geschehen und so umfassend sein, dass der Personalrat ohne eigene Nachforschungen in die Lage versetzt wird, sich ein Bild von dem Kündigungssachverhalt zu machen und eine fundierte Entscheidung über die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe zu treffen. Diesen Anforderungen ist genügt, wenn der Arbeitgeber dem Personalrat die Tatsachen mitteilt, aus denen er seinen Verdacht ableitet und ihm gleichzeitig erklärt, die Kündigung solle wegen des dringenden Verdachts der darin liegenden schweren Pflichtverletzung erfolgen242. Im Regelfall wird die erforderliche Kenntnis des Personalrats bereits dadurch gewährleistet sein, dass der Personalratsvorsitzende üblicherweise an der Anhörung des betroffenen Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber teilgenommen hat243. (f) Wiederholungskündigung

19.99 Kündigt ein Arbeitgeber wegen des Auftauchens von Zweifeln an der Wirksamkeit einer Kündigung, die zum Beispiel aus Mängeln der Vertretungsmacht oder der Ordnungsgemäßheit der Beteiligung der Mitarbeitervertretung244 resultieren kann, vorsorglich ein weiteres Mal, spricht er also eine „Wiederholungskündigung“ aus, leitet er einen neuen Kündigungsvorgang ein. Hat für den Arbeitgeber ein Bevollmächtigter ohne Hinweis auf das bestehende Vertretungsverhältnis die Kündigung ausgesprochen, ist dieser Vorgang abgeschlossen, sobald die Kündigungserklärung dem Empfänger zugegangen ist245. Soll die Kündigung erneut ausgesprochen werden, muss die Arbeitnehmervertretung dazu erneut beteiligt werden. Diese zur Anwendung des § 102 BetrVG entwickelten Grundsätze246 sind sinngemäß auf die Beteiligung des Personalrats an Wiederholungskündigungen zu übertragen. Es gibt keinen Grund, in dieser Hinsicht zwischen der Anhörung des Betriebsrates nach dem BetrVG und der Beteiligung des Personalrats nach den Bestimmungen des jeweils einschlägigen Personalvertretungsrechts einen Unterschied zu machen247. Dies hat zur Folge, dass eine ohne erneute Beteiligung des zuständigen Personalrats erklärte Wiederholungskündigung gemäß § 79 Abs. 4 bzw. § 108 Abs. 2 BPersVG unwirksam ist. (g) Änderungskündigung

19.100 Die ordnungsgemäße Beteiligung des Personalrats an einer vom Arbeitgeber beabsichtigten Änderungskündigung setzt zunächst dessen Unterrichtung über den jeweils maßgeblichen Kündigungsgrund voraus. Insoweit kann auf die voranstehenden Ausführungen verwiesen werden. Im Falle der Änderungskündigung kommt hinzu, dass die Arbeitnehmervertretung sowohl über den Inhalt des Änderungsangebotes als auch den Zeitpunkt informiert wird, zu dem die Änderung der Arbeitsbedingungen eintreten soll. Nur wenn sie die angebotenen neuen Arbeitsbedingungen kennt, kann sie nämlich die Tragweite der Kündigung für den betroffenen Arbeitnehmer bewerten und insbesondere prüfen, ob der Kündigung ggf. widersprochen werden soll248. Dieser Gedanke gilt insbesondere auch für die Unterrichtung über den 242 BAG v. 28.11.2007 – 5 AZR 952/06, NZA-RR 2008, 344. 243 BAG v. 18.11.1999 – 2 AZR 856/98, PersR 2000, 175; v. 27.6.1985 – 2 AZR 412/84, BAGE 49, 136. 244 BAG v. 25.3.2004 – 2 AZR 399/03, ArbRB 2004, 333 = EzA BGB 2002 § 626 Unkündbarkeit Nr. 4; v. 20.12.2012 – 2 AZR 867/11, ArbRB 2013, 199 = DB 2013, 1422. 245 BAG v. 6.2.1997 – 2 AZR 192/96, EzA § 102 BetrVG 1972 Nr. 95. 246 BAG v. 31.1.1996 – 2 AZR 273/95, NZA 1996, 649. 247 BAG v. 5.9.2002 – 2 AZR 523/01, PersR 2003, 108. 248 BAG v. 10.3.1982 – 4 AZR 158/79, NJW 1982, 2839; v. 30.11.1989 – 2 AZR 197/89, NZA 1990, 529.

568

Pahlen

Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.106 § 19

Kündigungstermin und die Dauer der Kündigungsfrist249, weil sich daraus zB Konsequenzen für den Arbeitnehmer ggf. treffende Verluste im Hinblick auf Sonderleistungen (Weihnachtsgeld uÄ) ergeben können250. Wird die Arbeitnehmervertretung nicht ausreichend über diese Umstände informiert, ist die Kündigung unwirksam. Diese für die Anhörung des Betriebsrats nach § 102 BetrVG entwickelten Grundsätze gelten für die Beteiligung des Personalrats entsprechend251. (h) Vorsorgliche Kündigung Zu beteiligen ist der Personalrat auch an einer sog. vorsorglichen Kündigung. Dabei handelt es sich um eine Kündigung, bei der sich der Arbeitgeber ihre Rücknahme, dh. die Erklärung, sich künftig auf die Beendigungswirkung der Kündigung nicht mehr berufen zu wollen, für den Fall vorbehält, dass sich bestimmte neue tatsächliche Umstände ergeben sollten. Dies gilt etwa für den Fall, dass eine Kündigung nur unter der Voraussetzung ausgesprochen wird, dass eine bereits erklärte Kündigung oder eine andere Form der Beendigung des Arbeitsverhältnisses unwirksam sein sollten252. Insoweit gelten je nach Art des im Einzelfall angeführten Kündigungsgrundes die voranstehenden Ausführungen für die Beteiligung des Personalrats.

19.101

Nicht erforderlich ist dies allerdings dann, wenn eine bereits ausgesprochene Kündigung dem Empfänger nicht zugegangen war253 oder die zuvor bereits ausgesprochene Kündigung allein aus formellen Gründen für unwirksam erklärt wurde254.

19.102

(i) Teilkündigung Unabhängig von der Frage, ob eine Teilkündigung ausnahmsweise zulässig ist oder diese generell nicht in Betracht kommt, ist die Beteiligung des Personalrats vor deren Ausspruch nicht erforderlich; denn es geht dabei nicht um die mögliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses255.

19.103

(j) Nachschieben von Kündigungsgründen im Kündigungsschutzprozess Will der Arbeitgeber in einem nach Ausspruch der Kündigung vom Arbeitnehmer eingeleiteten Kündigungsschutzverfahren Tatsachen geltend machen, die nicht bereits Gegenstand der Beteiligung des Personalrats waren, sind unterschiedliche Konstellationen möglich.

19.104

Grundsätzlich ist der Arbeitgeber materiell-rechtlich nicht gehindert, Kündigungsgründe, die zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung bereits vorlagen, ihm jedoch nicht bekannt waren, im Kündigungsschutzprozess uneingeschränkt nachzuschieben256.

19.105

Besteht allerdings eine Personalvertretung, ist dies nicht zulässig. Diese Gründe dürfen im Kündigungsschutzverfahren nicht berücksichtigt werden257. Es entspricht nämlich Sinn und

19.106

249 250 251 252 253 254 255 256

BAG v. 7.10.1993 – 2 AZR 423/93, RzK III 1d Nr. 8. BAG v. 29.3.1990 – 2 AZR 420/89, NZA 1990, 894. BAG v. 5.2.1981 – 2 AZR 1135/78, PersV 1983, 73; Altvater/Dierßen, § 79 BPersVG Rz. 15. BAG v. 3.4.2008 – 2 AZR 965/06, NZA 2008, 807. BAG v. 6.2.1997 – 2 AZR 192/96, EzA § 102 BetrVG 1972 Nr. 95. BAG v. 25.3.2004 – 2 AZR 399/03, ArbRB 2004, 333 = NZA 2004, 1216. Lorenzen/Griebeling, § 79 BPersVG Rz. 19. BAG v. 18.1.1980 – 7 AZR 260/78, AP Nr. 1 zu § 626 BGB Nachschieben von Kündigungsgründen; APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 169. 257 Lorenzen/Griebeling, § 79 BPersVG Rz. 154.

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§ 19 Rz. 19.106

Beteiligung des Personalrates

Zweck des Beteiligungsverfahrens, das der Personalvertretung die Gelegenheit geben soll, auf den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers einzuwirken. Solche Kündigungsgründe sind daher nur dann im Kündigungsschutzverfahren verwertbar, wenn diese im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung dem Arbeitgeber noch nicht bekannt waren, seinen Kündigungsentschluss also auch nicht beeinflussen konnten, und die Personalvertretung nachträglich in der jeweils gesetzlich vorgesehenen Weise beteiligt worden ist258. Davon kann allenfalls abgesehen werden, wenn es sich lediglich um eine Konkretisierung des bisherigen Kündigungsvorwurfs und nicht um einen neuen Kündigungsgrund handelt259.

19.107 Hatte der Arbeitgeber ihm zum Zeitpunkt der Kündigung bekannte Umstände nicht zum Gegenstand seiner Kündigungsentscheidung gemacht, will er diese jedoch im Kündigungsschutzverfahren nachschieben und geben erst diese dem Kündigungsvorwurf das maßgebliche Gewicht, muss er vor einer prozessualen Verwertung dieser Tatsachen zunächst einen inzwischen gewählten Personalrat beteiligen; denn dies steht im Ergebnis dem Ausspruch einer neuen Kündigung gleich260. Dies gilt erst recht für Umstände, die zwar bereits zum Zeitpunkt der Kündigung vorlagen, von deren Existenz der Arbeitgeber jedoch erst nachträglich erfahren hat und die dem bisherigen Kündigungsvorwurf erst das notwendige Gewicht verleihen. Auch dies steht einem neuen Kündigungsentschluss gleich, so dass ein erst später gewählter Personalrat nunmehr zu beteiligen ist261. e) Vorlage von Unterlagen

19.108 Ob im Rahmen der Beteiligung des Personalrats an der beabsichtigten Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Beschäftigten eine Verpflichtung der Dienststelle zur Vorlage von Urkunden besteht, ist einerseits abhängig von der Frage, ob das jeweils anzuwendende Personalvertretungsrecht die Vorlage von Unterlagen überhaupt vorsieht, andererseits wird dies auch beeinflusst von der Ausgestaltung des Einzelfalls.

19.109 Dies lässt sich beispielhaft an den einschlägigen Regelungen des BPersVG demonstrieren. § 79 Abs. 1 Satz 1 BPersVG sieht lediglich vor, dass der Personalrat bei der ordentlichen Kündigung durch den Arbeitgeber mitwirkt, während Absatz 3 Satz 1 der Regelung anordnet, dass er vor außerordentlichen Kündigungen anzuhören ist. Nähere Regelungen zur Ausgestaltung der Unterrichtungspflicht der Dienststelle enthält die Vorschrift nicht. Allerdings enthält das 5. Kapitel des BPersVG (Beteiligung des Personalrats) im 1. Abschnitt die Vorschrift des § 68 (Allgemeine Aufgaben), der auch bei der Anwendung der Regelungen des 3. Abschnitts (Angelegenheiten, in denen der Personalrat zu beteiligen ist), also auch des § 79 BPersVG, zu beachten ist. § 68 BPersVG beschreibt in seinem Absatz 1 zunächst die allgemeinen Aufgaben des Personalrats und ordnet in Absatz 2 Satz 1 an, dass die Personalvertretung zur Durchführung der Aufgaben rechtzeitig und umfassend zu informieren ist. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind ihr die hierfür erforderlichen Unterlagen vorzulegen. Diese Regelung ist auch bei der Beteiligung des Personalrats an einer von der Dienststelle beabsichtigten Kündigung des 258 Vgl. für § 102 BetrVG BAG v. 11.4.1985 – 2 AZR 239/84, BAGE 49, 39; v. 18.12.1980 – 2 AZR 1006/78, BAGE 34, 309; ErfK/Kania, § 102 BetrVG Rz. 27; Altvater/Dierßen, § 79 BPersVG Rz. 26; APS/Koch, § 102 BetrVG Rz. 169. 259 BAG v. 11.4.1985 – 2 AZR 239/84, BAGE 49, 39; v. 18.12.1980 – 2 AZR 1006/78, BAGE 34, 309. 260 BAG v. 11.5.1995 – 2 AZR 794/94, nv., abw. BAG v. 20.1.1994 – 8 AZR 613/92, nv. sowie v. 26.5.1993 – 8 AZR 248/93, nv. 261 BAG v. 11.5.1995 – 2 AZR 794/94, nv.

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Pahlen

Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.112 § 19

Arbeitsverhältnisses eines Beschäftigten des öffentlichen Dienstes zu beachten. Dies hat zur Folge, dass dem Personalrat auch bei der Beteiligung an einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung, die sich lediglich auf ein Anhörungsrecht beschränkt, die für die sachgemäße Ausübung dieses Rechtes erforderlichen Unterlagen vorzulegen sind262. Welche dies sind, ergibt sich aus dem jeweiligen Beteiligungsrecht. Umfang und Ausgestaltung der Vorlageverpflichtung richten sich nach dem Maßstab der Erforderlichkeit263. Dies kann auf die bloße Möglichkeit der Einsichtnahme in Unterlagen beschränkt sein, kann sich jedoch auch auf deren weitgehende oder sogar dauerhafte Überlassung ausdehnen264. Handelt es sich um Unterlagen, die persönliche Daten des Beschäftigten enthalten (zB die Personalakten), kommt mit Rücksicht auf den Schutz des Persönlichkeitsrechts regelmäßig nur die Einsichtnahme in der Dienststelle durch die Mitglieder des Personalrats in Betracht265, wobei dies ohnehin nur mit Zustimmung des betroffenen Arbeitnehmers möglich ist266. Demgegenüber ist eine wiederholt benötigte Unterlage (zB eine Personalbedarfsberechnung) dem Vorsitzenden des Personalrats in Kopie dauerhaft zu überlassen267. Dies kann zB im Rahmen der Beurteilung der sozialen Rechtfertigung einer betriebsbedingten Kündigung wegen Wegfalls des Arbeitsplatzes infolge inner- oder außerbetrieblicher Gründe der Fall sein.

19.110

3. Stellungnahme des Gremiums a) Allgemeines Mit der Information des Personalrats über die beabsichtigte Kündigung, deren nähere Begründung und ggf. der Bitte um Erteilung der erforderlichen Zustimmung zu der in Aussicht genommenen Maßnahme hat die Dienststelle den ihr obliegenden ersten Schritt im Rahmen des Beteiligungsverfahrens absolviert. Nunmehr obliegt es dem Personalrat, darauf in der nach dem jeweils einschlägigen Personalvertretungsrecht vorgesehenen Art und Weise zu reagieren. In Betracht kommen

19.111

– die Erteilung der Zustimmung – das Unterlassen jeglicher Stellungnahme – die Äußerung des Wunsches nach Erörterung der Angelegenheit – die Erhebung von Einwänden – die Erhebung eines Widerspruchs – die Verweigerung der Zustimmung. Die damit in Betracht kommenden möglichen Formen der Stellungnahmen können ganz unterschiedliche Rechtsfolgen auslösen, die nachfolgend im Einzelnen dargestellt werden.

262 263 264 265

RDW/Benecke, § 78 Rz. 133. BVerwG v. 4.9.1990 – 6 P 28.87, PersR 1990, 329; RDW/Gräfl, § 68 Rz. 76 f. BVerwG v. 23.1.2002 – 6 P 5.01, PersR 2002, 201; RDW/Gräfl, § 68 Rz. 78. Vgl. für die Einsichtnahme in Bruttolohn- und Gehaltslisten BVerwG v. 27.2.1985 – 6 P 9.84, PersR 1985, 124; RDW/Gräfl, § 68 Rz. 79. 266 Lorenzen/Griebeling, § 79 BPersVG Rz. 45. 267 BVerwG v. 23.1.2002 – 6 P 5.01, PersR 2002, 201; RDW/Gräfl, § 68 Rz. 79; aA Lenze, ZTR 2002, 558.

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571

19.112

§ 19 Rz. 19.113

Beteiligung des Personalrates

b) Übermittlung der Erklärung

19.113 Der Personalrat entscheidet über seine Stellungnahme zu der vom Arbeitgeber beabsichtigten Kündigung nach pflichtgemäßem Ermessen. Die Übermittlung der Erklärung erfolgt nach den für die Vertretung des Personalrats jeweils maßgeblichen Regelungen, dh. üblicherweise durch eine Erklärung des Vorsitzenden268. Ob eine Vertretung möglich ist, richtet sich nach den Regelungen des jeweils anwendbaren Personalvertretungsgesetzes. Von Bedeutung ist in jedem Falle die Berücksichtigung des Gruppenprinzips. Wenn der Vorsitzende nicht der Gruppe des zu kündigenden Arbeitnehmers zuzurechnen ist, vertritt er lediglich gemeinsam mit dem dieser Gruppe angehörenden Mitglied des Vorstands des Personalrats269. Ist eine solche Erklärung in einer Gruppenangelegenheit nicht vom Vorsitzenden gemeinsam mit dem Gruppenvertreter abgegeben worden, ist sie unwirksam und für den Arbeitgeber ohne Bedeutung270. Ob dem Personalrat bei seiner Willensbildung ein Fehler unterlaufen ist, berührt dagegen allein dessen Sphäre und ist für die Beurteilung der Ordnungsgemäßheit des Beteiligungsverfahrens unbeachtlich. Dies gilt auch für die Einhaltung des gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrens in Gruppenangelegenheiten271 sowie eine ggf. unterlassene Anhörung des betroffenen Arbeitnehmers durch den Personalrat272. c) Zeitpunkt der Stellungnahme

19.114 Unabhängig von der Art der Beteiligung des Personalrats (Anhörung, Mitwirkung, Mitbestimmung) steht ihm nach dem jeweils in Betracht kommenden Personalvertretungsgesetz eine bestimmte Frist zur Stellungnahme zur Verfügung.

19.115 Äußert er sich vor deren Ablauf, kommt es für die rechtliche Bewertung der sich daran knüpfenden Konsequenzen darauf an, ob die Stellungnahme abschließend war. Ist dies der Fall, tritt das Verfahren in eine jeweils neue Phase (zu den Konsequenzen s. Rz. 19.120 ff.)

19.116 Lässt sich dies nicht bejahen, muss der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes in jedem Falle den Ablauf der dem Personalrat nach dem jeweils einschlägigen Personalvertretungsgesetz zukommenden Frist abwarten. Eine zuvor erklärte Kündigung wäre in jedem Fall rechtsunwirksam, § 108 Abs. 2 BPersVG.

19.117 An den Ablauf der dem Personalrat zustehenden Frist zur Stellungnahme ist üblicherweise eine Zustimmungsfiktion geknüpft. Äußert er sich also nicht fristgemäß in der jeweils vorgesehenen Art und Weise, gilt seine Zustimmung als erteilt. Die Fristenregelungen sind dabei sehr unterschiedlich ausgestaltet. Die Frist kann bis zu zwei Wochen betragen (zB § 79 Abs. 2 Satz 3 PersVG Berlin), sich aber auch nur auf drei Arbeitstage beschränken. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Landesgesetzgebers sind außerordentlich weit.

268 KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 44. 269 BVerwG v. 21.4.1990 – 6 P 8.90, PersV 1992, 434; RDW/Jacobs, § 32 Rz. 78; KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 44. 270 BAG v. 13.10.1982 – 7 AZR 617/80, PersV 1991, 479. 271 BAG v. 19.5.1982 – 2 AZR 454/81, nv. 272 BAG v. 3.2.1982 – 7 AZR 907/79, BAGE 37, 387.

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Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.121 § 19

d) Inhalt der Stellungnahme Die Stellungnahme des Personalrats zu dem Kündigungsbegehren des Dienststellenleiters kann ganz unterschiedlich ausfallen.

19.118

Er kann entweder die ihm zustehende Frist einfach verstreichen lassen, Bedenken oder Einwendungen erheben, der beabsichtigten Kündigung widersprechen oder aber auch seine Zustimmung zu der beabsichtigten Maßnahme erteilen. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen richten sich nach der Ausgestaltung der Beteiligungsrechte des Personalrats nach dem im Einzelfall anwendbaren Personalvertretungsgesetz.

19.119

4. Konsequenzen a) Anhörung Kommt dem Personalrat wie etwa bei der beabsichtigten fristlosen Entlassung eines Arbeit- 19.120 nehmers im Anwendungsbereich des BPersVG nach dessen § 79 Abs. 3 Satz 1 lediglich ein Anhörungsrecht zu, kann der Dienststellenleiter die fristlose Kündigung aussprechen, wenn der Personalrat der Maßnahme zugestimmt oder seine Bedenken unter Angabe der Gründe schriftlich mitgeteilt hat. Trotz der Verpflichtung des Personalrats zu unverzüglicher Äußerung von Bedenken muss der Dienststellenleiter regelmäßig den Ablauf der Drei-Tage-Frist abwarten, wenn der Personalrat nicht ausdrücklich schriftlich Stellung genommen hat273. Eine Verlängerung der Frist ist gemäß § 73 BPersVG nicht möglich (s.a. Rz. 19.121)274. Wird die Kündigung vor Ablauf der Frist erklärt, ist sie in jedem Falle unwirksam275. Selbst die nachträgliche Zustimmung des Personalrats ändert daran nichts276. b) Mitwirkung Nach § 79 Abs. 1 Satz 1 BPersVG ist das Beteiligungsrecht des Personalrats bei der ordentlichen Kündigung im Bereich des BPersVG als Mitwirkungsrecht ausgestaltet. Die näheren Einzelheiten ergeben sich dann aus § 72 BPersVG. Dies bedeutet im Einzelnen, dass dem Personalrat eine mit Rücksicht auf § 73 BPersVG durch eine Vereinbarung zwischen Dienststellenleiter und Personalrat nicht verkürzbare oder verlängerbare277 Äußerungsfrist von zehn Arbeitstagen zur Verfügung steht. Äußert er sich während dieser Frist nicht oder hält er bei einer Erörterung mit dem Dienststellenleiter, die allerdings nicht zu einer Verlängerung oder Hemmung der Äußerungsfrist führt278, deren Durchführung jedoch Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung ist279, seine Einwendungen nicht aufrecht, gilt die beabsichtigte Maßnahme als gebilligt280. Dies gilt auch für den Fall, dass der Personalrat eine Erörterung verlangt, dann 273 RDW/Benecke, § 79 Rz. 139. 274 RDW/Benecke, § 79 Rz. 137; Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 3, K § 79 Rz. 22; aA Lorenzen/Griebeling, § 79 BPersVG Rz. 61, 131. 275 BAG v. 13.11.1975 – 2 AZR 610/74, AP Nr. 7 zu § 102 BetrVG 1972. 276 BAG v. 28.2.1974 – 2 AZR 455/73, AP Nr. 2 zu § 102 BetrVG 1972. 277 BAG v. 22.5.1985 – 4 AZR 42/83, NZA 1986, 187; VGH Baden-Württemberg v. 12.4.1983 – 15 S 74/82, ZBR 1984, 216; aA BAG v. 14.1.1993 – 2 AZR 387/92, Pers1993, 406; Bacher, PersR 1988, 68; vermittelnd im Sinne einer Dispositionsbefugnis des Dienststellenleiters BVerwG v. 9.12.1992 – 6 P 16.91, PersR 1993, 212. 278 BVerwG v. 27.1.1995 – 6 P 22.92, BVerwGE 97, 349. 279 BAG v. 20.1.2000 – 2 AZR 65/99, PersR 2000, 214. 280 APS/Koch, § 79 BPersVG Rz. 31.

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19.121

§ 19 Rz. 19.121

Beteiligung des Personalrates

jedoch innerhalb der Frist eine inhaltliche Stellungnahme nicht mehr abgegeben oder diese nicht begründet hat281. In einem solchen Fall bedarf es der Durchführung des zweiten Verfahrensabschnitts nicht282. Entspricht die Dienststelle den Einwendungen des Personalrats nicht oder nicht vollumfänglich, teilt sie ihm ihre Entscheidung unter Angabe der Gründe schriftlich mit. In diesem Falle kann der Personalrat einer nachgeordneten Dienststelle die Angelegenheit binnen drei Arbeitstagen nach Zugang dieser Mitteilung auf dem Dienstweg den übergeordneten Dienststellen, bei denen Stufenvertretungen bestehen, mit dem Antrag auf eine Entscheidung vorlegen. Dies setzt sowohl die Wahrung der Schriftform als auch eine nähere Begründung des Antrags voraus. Ist dies nicht der Fall, ist der Antrag unzulässig; denn für die übergeordnete Dienststelle ist dann nicht klar, mit welchen Einwendungen sie sich befassen soll283.

19.122 Sind diese Voraussetzungen erfüllt, entscheidet der Leiter der übergeordneten Dienststelle nach Verhandlung mit der dort bestehenden Stufenvertretung (Bezirkspersonalrat oder Hauptpersonalrat). Dies gilt allerdings nur für den Fall, dass die Stufenvertretung die Einwendung aufrechterhält. Diese entscheidet autonom, muss jedoch dem in der ersten Stufe beteiligten Personalrat Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Dies hat eine Verdoppelung der Fristen auf insgesamt zwanzig Arbeitstage zur Folge284.

19.123 Eine Bindung an die Entscheidung des örtlichen Personalrats besteht nicht. Die Stufenvertretung und der Leiter der vorgesetzten Dienststelle können ein abweichendes Ergebnis vereinbaren. Stimmt die Stufenvertretung zu oder gilt die Zustimmung als erteilt, kann die Kündigung erklärt werden285. Erhebt die Stufenvertretung allerdings frist- und formgerecht Einwendungen gegen die von der übergeordneten Behörde erklärte Kündigungsabsicht, will der Dienststellenleiter jedoch daran festhalten, hat er dies der Stufenvertretung unter Angabe der für seine Entscheidung maßgeblichen Gründe schriftlich mitzuteilen. Das Verfahren ist damit abgeschlossen, sofern es sich dabei um die oberste Dienstbehörde handelt. Die Kündigung kann nunmehr ausgesprochen werden286. Erfolgte die ablehnende Stellungnahme dagegen durch den Bezirkspersonalrat, kann dieser innerhalb einer Frist von sechs287 Arbeitstagen schriftlich und auf dem Dienstweg die Entscheidung der obersten Dienstbehörde beantragen. Darüber sollen zwischengeschaltete Dienststellen, bei denen keine Stufenvertretung besteht, informiert werden. Sie haben allerdings keine Möglichkeit, das Verfahren zu beeinflussen288. Die voranstehenden Ausführungen gelten für diesen Verfahrensabschnitt entsprechend289.

19.124 Unabhängig davon können der Dienststellenleiter und der örtliche Personalrat auch nach der Anrufung der übergeordneten Dienststelle weiterhin versuchen, eine Einigung zu erzielen. Kommt diese vor dem Abschluss des Stufenverfahrens zustande, wird dieses gegenstandslos290. 281 RDW/Weber, § 72, Rz. 30; Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 3, K § 72 Rz. 15. 282 BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 828/08, PersV 2010, 384; BVerwG v. 27.1.1995 – 6 P 22/92, BVerwGE 97, 349. 283 KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG, Rz. 49. 284 KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 50. 285 KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 51. 286 KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 52. 287 Abw. RDW/Weber, § 72 Rz. 49. 288 OVG Nordrhein-Westfalen v. 13.5.1981 – CB 15/80, PersV 1983, 292. 289 KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 53. 290 Altvater/Berg, § 72 BPersVG Rz. 39 und § 72 BPersVG Rz. 19.

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Ausübung des Beteiligungsrechtes

Rz. 19.127 § 19

Unabhängig davon bleiben die Einwendungen aufrechterhalten, wenn der Dienststellenleiter den Einwendungen nicht entsprochen hat, der Personalrat abweichend von den voranstehenden Ausführungen nicht die übergeordnete Dienststelle angerufen hat und der Dienststellenleiter daraufhin mit Rücksicht auf den Eintritt der Zustimmungsfiktion die Kündigung ausspricht291.

19.125

Genügen die vom Personalrat erhobenen Einwendungen den Anforderungen des § 79 Abs. 1 Satz 2 BPersVG, hat er also beanstandet, dass

19.126

1. bei der Auswahl des zu kündigenden Arbeitnehmers soziale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt worden sind, 2. die Kündigung gegen eine Richtlinie iSd. § 76 Abs. 2 Nr. 8 BPersVG verstößt, 3. der zu kündigende Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz in derselben Dienststelle oder in einer anderen Dienststelle desselben Verwaltungszweiges an demselben Dienstort einschließlich seines Einzugsgebietes weiterbeschäftigt werden kann, 4. die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers nach zumutbaren Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen möglich ist oder 5. die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers unter geänderten Vertragsbedingungen möglich ist und der Arbeitnehmer sein Einverständnis hiermit erklärt hat, hat dies unmittelbaren Einfluss auf die kündigungsrechtliche Situation des betroffenen Arbeitnehmers in dem von ihm ggf. angestrengten Kündigungsschutzverfahren. Es handelt sich dabei nämlich um Widerspruchsgründe iSv. § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b KSchG292, bei denen nur geprüft werden muss, ob ein Widerspruchsgrund tatsächlich vorliegt, um sodann zur Feststellung der fehlenden sozialen Rechtfertigung der Kündigung zu kommen293. Dies gilt allerdings nicht, wenn Voraussetzung für die Wirksamkeit der Kündigung die Erteilung der Zustimmung des Personalrats ist und die Einigungsstelle sie ersetzt hat294. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Einwendungen in der gesetzlichen Form vorgebracht wurden. Sie müssen also schriftlich erhoben und begründet werden. Die Wahrung der Schriftform iSd. § 126 Abs. 1 BGB ist nicht erforderlich; denn es handelt sich bei dem Widerspruch des Personalrats nicht um eine Willenserklärung, sondern um eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung295. Auch ein Telefax reicht daher aus. Ob dies auch für eine Mail gilt, war lange umstritten. Grundsätzlich kann die Schriftform durch die elektronische Form ersetzt werden (§ 126 Abs. 3 BGB). In einem solchen Fall muss der Aussteller der Erklärung seinen Namen hinzufügen und das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur entsprechend den Vorschriften des § 126a BGB versehen. Allerdings ist der Anforderung der Schriftlichkeit iSv. § 99 Abs. 3 Satz 1 BetrVG genügt, wenn die Textform des § 126b BGB gewahrt wird296. Dies kann auf den hier vorliegenden Fall übertragen werden. Der Widerspruch muss darüber hinaus näher begründet werden. Es ist eine dem Einzelfall angepasste Begründung erforderlich297. Die Aufzählung der Widerspruchsgründe iSd. § 79 BPersVG ist 291 292 293 294 295 296 297

KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 BPersVG Rz. 58 f. KR/Rinck §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 59. RDW/Benecke, § 79 Rz. 112 f. BAG v. 6.6.1984 – 7 AZR 451/82, NZA 1985, 93. Vgl. für § 99 BetrVG BAG v. 9.12.2008 – 1 ABR 79/07, NZA 2009, 627. BAG v. 10.3.2009 – 1 ABR 93/07, ArbRB 2009, 198 = NZA 2009, 622. RDW/Benecke, § 79 Rz. 61.

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19.127

§ 19 Rz. 19.127

Beteiligung des Personalrates

nicht abschließend. Der Personalrat kann seine Einwendungen auch auf andere Umstände stützen298. Auch solche Einwendungen führen dazu, dass das Stufenverfahren durchgeführt werden muss299. Der Unterschied zu den zuvor erörterten Einwendungen besteht lediglich darin, dass sich kündigungsschutzrechtliche Vorteile nach § 1 Abs. 2 KSchG aus Einwendungen dieser Kategorie nicht ableiten lassen. c) Mitbestimmung

19.128 Ist die Beteiligung des Personalrats nach dem jeweils einschlägigen Personalvertretungsrecht als Mitbestimmung ausgestaltet, bedarf es zur Wirksamkeit des Ausspruchs der Kündigung der Zustimmung des Personalrats bzw. dessen wirksamer Ersetzung300. Dies ist allerdings nur dann erforderlich, wenn der Personalrat seine Zustimmung aus einem beachtlichen Grund verweigert hat. Dabei sind zwei unterschiedliche Fallgestaltungen vorstellbar. Einerseits werden die Fälle erfasst, in denen die Zustimmung nur aus einem Grunde verweigert werden kann, der katalogartig im Gesetz aufgezählt ist. In anderen Fällen, in denen eine solche Bindung an bestimmte Widerspruchsgründe nicht vorgesehen ist, kann der Personalrat seine Zustimmungsverweigerung nicht auf jeden von ihm für sinnvoll erachteten Grund stützen. Maßgeblich ist nämlich, ob sich der von ihm genannte Grund dem Inhalt des Mitbestimmungstatbestandes sowie dem Sinn und Zweck des Mitbestimmungserfordernisses zuordnen lässt301. Ist dies nicht der Fall, erweist sich das Verhalten des Personalrats als nicht vom Recht geschützt. Dies ist der Fall, wenn sich der Personalrat bei einer Probezeitkündigung lediglich auf Bedenken gegenüber der Eignungsbeurteilung durch die Einstellungsbehörde stützt302 oder die Betriebsvertretung die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung des von der Kündigung betroffenen Arbeitnehmers auf einem freien Arbeitsplatz einwendet, dessen Besetzung mit einem Angehörigen des zivilen Gefolges beabsichtigt ist303. Es kann nicht die Verpflichtung der Dienststelle auslösen, das Einigungsverfahren einzuleiten. Vielmehr gilt die beabsichtigte Maßnahme dann nach Ablauf der gesetzlichen Äußerungsfrist als gebilligt304. Dies gilt erst recht, wenn der Personalrat während der ihm eingeräumten Frist überhaupt keine Stellungnahme abgegeben hat305. Allerdings tritt diese Fiktion erst ein, wenn die Äußerungsfrist abgelaufen ist. Dies gilt selbst für den Fall, dass der Personalratsvorsitzende vor diesem Zeitpunkt erklärt hat, das Gremium werde sich zum Antrag auf Erteilung der Zustimmung zu einer beabsichtigten Kündigung nicht äußern und ihr weder zustimmen noch sie ablehnen; mit einer weiteren Stellungnahme sei nicht zu rechnen. Diese Erklärung bewirkt nicht den vorzeitigen Eintritt der Zustimmungsfiktion306.

298 APS/Koch, § 79 BPersVG Rz. 32; einschränkend: BVerwG v. 30.11.1994 – 6 P 11.93, PersR 1995, 130. 299 BAG v. 6.8.2002 – 1 ABR 47/01, PersR 2003, 41. 300 BAG v. 27.1.2011 – 2 AZR 744/09, PersV 2011, 392. 301 BAG v. 19.6.2007 – 2 AZR 58/06, PersR 2007, 429; BVerwG v. 28.10.2002 – 6 P 13.01, PersV 2003, 225; LAG Berlin v. 17.8.1987 – 9 Sa 44/87, PersV 1989, 229. 302 BVerwG v. 30.11.1994 – 6 P 11.93, PersR 1995, 130; ähnlich LAG Hessen v. 10.6.1999 – 12 Sa 1090/98, RzK III 2b Nr. 41. 303 BAG v. 27.2.1997 – 2 AZR 361/96, RzK III 2a Nr. 37. 304 BVerwG v. 30.4.2001 – 6 P 9.00, PersV 2001, 411; BAG v. 19.6.2007 – 2 AZR 58/06, PersR 2007, 429; v. 19.11.2009 – 6 AZR 800/08, ArbRB 2010, 73 = NZA 2010, 278; v. 28.1.2010 – 2 ANZ 50/09, PersR 2010, 305. 305 BVerwG v. 13.8.2009 – 6 PD 20/09, PersR 2009, 407. 306 BAG v. 28.1.2010 – 2 AZR 50/09, ArbRB 2010, 236 = PersR 2010, 305.

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Streitigkeiten

Rz. 19.131 § 19

Ist diesen Anforderungen genügt, entscheidet nach einer Einigungsverhandlung, die üblicherweise unter Beteiligung des Hauptpersonalrats durchgeführt wird, der Leiter der Dienstbehörde darüber, ob an der beabsichtigten Entscheidung festgehalten wird. Ist dies der Fall, kann der Personalrat durch einen gesonderten Beschluss fristgebunden den Antrag beim Hauptpersonalrat auf Durchführung des Einigungsstellenverfahrens stellen. Schließt sich der Hauptpersonalrat diesem Begehren an und reicht seinen entsprechenden Antrag innerhalb der im jeweiligen Landespersonalvertretungsgesetz vorgesehenen Frist rechtzeitig bei der Einigungsstelle ein, entscheidet diese durch Beschluss (zur Möglichkeit des Rechtsschutzes s. Rz. 19.131 f.).

19.129

Nach Ersetzung der Zustimmung durch Beschluss der Einigungsstelle hat der Dienststellenleiter die Kündigung unverzüglich auszusprechen, um die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB zu wahren. Der Rechtsgedanke des § 174 Abs. 5 SGB IX findet auf diese Sachverhaltskonstellation entsprechende Anwendung307.

19.130

IV. Streitigkeiten 1. Einigungsstelle Soweit im Einzelfall in dem konkret anzuwendenden Personalvertretungsrecht die Beteiligung des Personalrats an der beabsichtigten Kündigung eines Arbeitnehmers des öffentlichen Dienstes als Mitbestimmungsrecht ausgestaltet hat, entscheidet im Falle der Nichteinigung der Beteiligten darüber die Einigungsstelle308. Ob deren Beschluss nur empfehlenden Charakter besitzt309 oder bindend ist310 oder jedenfalls mit Rücksicht auf ein im Landespersonalvertretungsgesetz angelegtes Evokationsrecht verfassungsrechtlichen Bedenken nicht begegnet311, ist bislang nicht abschließend entschieden worden. Das BVerfG hat eine Vorlage des LAG Brandenburg wegen der Nichtberücksichtigung der Evokationsmöglichkeit als unzulässig angesehen312. Ob daraus grundsätzlich abzuleiten ist, dass Entscheidungen der Einigungsstelle regelmäßig nur als Empfehlungen anzusehen sind313, erscheint allerdings zweifelhaft314. Dem jeweiligen Landesgesetzgeber kommt bei der Gestaltung der Beteiligungsrechte des Personalrats nämlich ein weiter Gestaltungsspielraum zu315. Über die Möglichkeit der Aufhebung der Entscheidung der Einigungsstelle (Evokation) hinaus kommt nämlich auch eine Anfechtung des Beschlusses vor dem Verwaltungsgericht als Rechtsschutzmöglichkeit in Betracht316 (s. Rz. 19.16). Im Hinblick auf die Rechtslage nach dem PersVG Berlin, das dem Personalrat ein sehr weitgehendes Mitbestimmungsrecht u.a. im Bereich der Kündigung einräumt, liegt inzwischen eine gefestigte Rechtsprechung von BVerwG und BAG vor. Die außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund unterliegt nach § 87 Nr. 8 PersVG Berlin der vollen Mit307 BAG v. 8.6.2000 – 2 AZR 375/99, PersR 2001, 212 für die Vorgängerregelung des § 21 Abs. 5 SchwbG 1986. 308 Krit. Huster, PersV 2008, 414. 309 BVerwG v. 18.6.2002 – 6 P 12.01, PersR 2002, 467; OVG Nordrhein-Westfalen v. 12.3.2007 – 1 A 4523/05.PVL, PersV 2007, 481. 310 LAG Köln v. 13.3.2006 – 14 (10) Sa 17/06, PersV 2007, 479. 311 Vgl. VG Berlin v. 17.5.2005 – 62 A 4.05, nv. 312 BVerfG v. 20.7.2001 – 2 BvL 8/00, PersV 2001, 557. 313 BVerwG v. 30.6.2005 – 6 P 9.04, PersV 2006, 24. 314 RDW/Kersten, § 104 Rz. 31. 315 RDW/Kersten, § 104 Rz. 27, 31; Altvater/Altvater, § 104 BPersVG Rz. 31. 316 BVerwG v. 19.12.1990 – 6 P 24.88, PersR 1991, 135; OVG Berlin-Brandenburg. v. 12.11.2009 – 60 PV 1.09, nv.

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19.131

§ 19 Rz. 19.131

Beteiligung des Personalrates

bestimmung des Personalrats, deren Ausübung jedoch unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Grundsätze in einer dem Demokratieprinzip genügenden Weise auszuüben ist317. Zwar kann die Aufsichtsbehörde gemäß § 81 Abs. 2 Satz 1 PersVG Berlin bei den in § 87 Nr. 8 PersVG genannten Angelegenheiten binnen eines Monats nach Zustellung des Beschlusses der Einigungsstelle die Entscheidung des Senats von Berlin beantragen. Dies gilt jedoch bei Kündigungsangelegenheiten nur im Falle von Arbeitnehmern, die unmittelbar in einem Beschäftigungsverhältnis zum Land Berlin stehen sowie in ihrer Tätigkeit zeitlich überwiegend hoheitsrechtliche Befugnisse im Sinne von Art. 33 Abs. 4 GG ausüben.

19.131a Die Entscheidung darüber, ob eine beabsichtigte Kündigung ausgesprochen wird, darf nicht der Einigungsstelle zur Alleinentscheidung übertragen werden, weil die Entscheidung über eine Kündigung als personelle Einzelmaßnahme wegen des Demokratiegebots aus Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 2 GG nur eine Stelle treffen darf, die Parlament und Regierung verantwortlich ist. Die Einigungsstelle ist in diesem Sinne nicht hinreichend demokratisch legitimiert. Wird allerdings der Einigungsstelle kein eigener Bewertungs- und Beurteilungsspielraum zuerkannt und unterliegt der Beschluss der Einigungsstelle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zugleich der vollen gerichtlichen Überprüfung, genügt § 83 Abs. 3 Satz 3 PersVG Berlin i.V.m. § 79 Abs. 1, § 87 Nr. 8 PersVG Berlin den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Demokratieprinzips. Denn die Letztentscheidung verbleibt dann bei der Dienststelle mit der verfassungsrechtlich zulässigen Möglichkeit einer doppelten gerichtlichen Prüfung der Kündigungsentscheidung in Form der kollektiv-rechtlichen Prüfung im personalvertretungsrechtlichen Einigungsstellen- und Beschlussverfahren einerseits und der individualrechtlichen Prüfung im arbeitsgerichtlichen Erkenntnisverfahren andererseits. Die mit dem gerichtlichen Überprüfungsverfahren einhergehenden Einschränkungen bei der Erfüllung des Amtsauftrags sind nach Auffassung des BAG hinzunehmen318.

19.131b Die Entscheidung der Einigungsstelle hat, um verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen, strikt rechtsgebunden zu sein, darf sich „maximal“ auf die Prüfung erstrecken, ob ein wichtiger Grund für den Ausspruch der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung vorliegt, die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt wurde und ob die Dienststelle bei der Ausübung ihres Entschließungsermessens den Gleichbehandlungsgrundsatz beachtet hat319.

19.131c Das Prüfprogramm der Einigungsstelle – und in der Folge auch der Verwaltungsgerichte im personalvertretungsrechtlichen Beschlussverfahren – ist jedoch darüber hinaus auch noch aus personalvertretungsrechtlichen Gründen eingeschränkt. Im Einigungsstellenverfahren wird nicht über die Rechtmäßigkeit der beabsichtigen Maßnahme entschieden – dies ist im Falle einer außerordentlichen Kündigung ggf. dem arbeitsgerichtlichen Kündigungsschutzverfahren vorbehalten – sondern allein darüber, ob die Einwendungen des Personalrats gegen die beteiligungspflichtige Maßnahme der Dienststelle berechtigt sind oder nicht. Da im Berliner Personalvertretungsgesetz mögliche Zustimmungsverweigerungsgründe nicht abschließend geregelt sind, kann der Personalrat seine Zustimmung zu einer solchen Maßnahme grundsätzlich aus allen Gründen verweigern, die sich inhaltlich dem Mitbestimmungstatbestand „Kündigung“ zuordnen lassen (vgl. § 79 Abs. 2 Satz 3 PersVG Berlin). Diese Gründe sind die Grundlage der gegenseitigen Befugnisse und Pflichten von Personalrat und Dienststelle im Mitbestimmungsverfahren einschließlich des Einigungsstellenverfahrens. Letzteres hat somit nur die Berechtigung der vom Personalrat vorgebrachten Einwendungen zum Ge317 OVG Berlin-Brandenburg v. 17.10.2013 – 60 PV 9.13, PersV 2014, 139. 318 BAG v. 27.1.2011 – 2 AZR 744/09, AP Nr. 4 zu § 79 PersVG Berlin. 319 BVerwG v. 4.6.2010 – 6 PB 4.10, PersV 2010, 377.

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Streitigkeiten

Rz. 19.133 § 19

genstand320. Im Mitbestimmungsverfahren einschließlich des Verfahrens der Einigungsstelle ist daher allein die Frage zu prüfen, ob die vom Personalrat vorgebrachten Einwendungen nach der gegebenen Begründung berechtigt sind oder nicht. Die Einigungsstelle ist dagegen nicht befugt, vorgebrachte, sich jedoch als unberechtigt herausstellende Einwände der Personalvertretung durch eigene, von ihr als berechtigt angesehene Einwände zu ersetzen321. Diese Grundsätze gelten sinngemäß auch für die Beteiligung des Personalrats an einer von der Dienststelle beabsichtigten ordentlichen Kündigung. 2. Verwaltungsgericht Nach § 106 BPersVG, von dessen Regelungen die Länder anders als bisher322 nach der Föderalismusreform 2006 abweichen können323, sind zur gerichtlichen Entscheidung die Verwaltungsgerichte berufen. Sie entscheiden nach den Bestimmungen des arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahrens gemäß § 83 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG ua. über die Zuständigkeit der Personalvertretungen. Dabei handelt es sich um eine Generalklausel für alle Streitigkeiten, die sich aus der Tätigkeit des Personalrats und der anderen insoweit in Betracht kommenden Gremien ergeben können324. Dies erfasst auch Streitigkeiten über die Zuständigkeit der Einigungsstelle, über den Umfang der Bindungswirkung ihrer Entscheidungen sowie die Rechtmäßigkeit ihrer Tätigkeit325. Dies eröffnet zudem die Möglichkeit, die Entscheidung der Einigungsstelle auch auf ihre Rechtmäßigkeit, nicht allerdings ihre Zweckmäßigkeit, überprüfen zu können326.

19.132

Darüber hinaus entscheidet das Verwaltungsgericht unmittelbar im Zusammenhang mit der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Mitgliedes des Personalrats im Bereich des Bundes, der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sowie der Gerichte des Bundes aus wichtigem Grund, wenn das Gremium seine nach § 15 KSchG iVm. § 47 Abs. 1 Satz 2 BPersVG erforderliche Zustimmung dazu verweigert oder sich nicht binnen drei Arbeitstagen nach Eingang des Antrages geäußert hat. Dies gilt auch für die außerordentliche Änderungskündigung327 einschließlich der Massenänderungskündigung328. Darin liegt keine unzulässige Begünstigung der Personalratsmitglieder. § 15 KSchG stellt gegenüber § 8 BPersVG eine Spezialregelung dar329. Nicht zu

19.133

320 BVerwG v. 19.12.1990 – 6 P 24.88, PersV 1991, 277. 321 OVG Berlin-Brandenburg v. 12.11.2009 – OVG 60 PV 1.09, juris; BVerwG v. 4.6.2010 – 6 PB 4/10, PersV 2010, 377. 322 RDW/Treber, § 83 Rz. 142. 323 RDW/Kersten, § 106 Rz. 1; § 94 Rz. 5; Rothländer, PersR 2007, 57; aA Altvater, PersR 2007, 279. 324 BVerwG v. 15.3.1968 – VII P 22.66, PersV 1968, 190. 325 BVerwG v. 21.10.1984 – 6 P 24.81, PersV 1985, 432; v. 19.12.1990 – 6 P 24.88, PersR 1991, 133; Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin v. 25.1.2001 – 89/00, juris. 326 BVerwG v. 28.6.2000 – 6 P 1.00, PersR 2000, 507; v. 24.5.2006 – 6 PB 16.05, nv.; RDW/Treber, § 83 Rz. 29; Germelmann/Binkert/Germelmann, PersVG Berlin, 3. Aufl., § 83 Rz. 46; § 91 Rz. 20 ff. 327 VGH Baden-Württemberg v. 16.7.2002 – PB 15 S 259/02, nv.; OVG Schleswig-Holstein v. 2.12.1994 – 11 L 2/94, PersV 1997, 520; Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 47 Rz. 7; Ilbertz/ Widmaier/Sommer, § 47 BPersVG Rz. 6; RDW/Treber, § 47 Rz. 14. 328 BAG v. 7.10.2004 – 2 AZR 81/04, NZA 2005, 318; RDW/Treber, § 47 Rz. 14; aA GK-BetrVG/ Raab, § 103 BetrVG Rz. 30. 329 BAG v. 29.1.1981 – 2 AZR 778/78, BAGE 35, 17.

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579

§ 19 Rz. 19.133

Beteiligung des Personalrates

übertragen ist dies jedoch auf die außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist330, während dieser Gedanke bei der Umdeutung einer außerordentlichen in eine ordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist wiederum zu berücksichtigen ist331.

19.134 Der persönliche Anwendungsbereich von § 47 BPersVG ist durch Bezugnahmen im BPersVG auch auf Mitglieder der Stufenvertretungen (§ 54 Abs. 1), des Gesamtpersonalrats (§ 56), der Jugend- und Auszubildendenvertretung (§ 62 Satz 2), der Bezirks-, Haupt- und Gesamt-Jugend- und Auszubildendenvertretung (§ 64 Abs. 1 und 2) sowie auf die Mitglieder des Wahlvorstands332 und Wahlbewerber (§ 24 Abs. 1 Satz 3, § 53 Abs. 3 Satz 1, § 62 Satz 3 BPersVG) ausgedehnt333. Mangels einer entsprechenden Bezugnahme gilt dies jedoch nicht für die Mitglieder der Vertretung der nicht ständig Beschäftigten iSd. § 65 BPersVG334. Für die Beschäftigten des Bundesnachrichtendienstes ist die Mitbestimmung als Beteiligungsform generell ausgeschlossen. Alle Mitbestimmungstatbestände gelten hier lediglich als Mitwirkungstatbestände (§ 86 Nr. 9 BPersVG). Kraft besonderer gesetzlicher Verweisung gilt dieser besondere Schutz jedoch auch für Mitglieder der Schwerbehindertenvertretung (§ 179 Abs. 3 SGB IX), der Gesamt-, Bezirks- und Hauptschwerbehindertenvertretung (§ 180 Abs. 7 SGB IX) sowie gemäß § 177 Abs. 6 Satz 2, § 180 Abs. 7 SGB IX auch den Wahlvorstand und die Wahlbewerber für diese Vertretungen335. Über Art. 56 Abs. 9 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut idF des Änderungsabkommens vom 18.5.1994336 iVm. § 70 Abs. 1 Soldatengesetz findet das BPersVG in der durch Gesetz vom 16.1.1991337 geänderten Fassung auch auf die Betriebsvertretungen bei den Stationierungskräften Anwendung338, so dass bei einer beabsichtigten außerordentlichen339 Kündigung ebenfalls die Zustimmung der Betriebsvertretung erforderlich ist340. Damit gilt u.a. für die bei den amerikanischen341 bzw. belgischen342 Streitkräften beschäftigten Arbeitnehmer das BPersVG. Die deutsche Gerichtsbarkeit ist nach Abs. 9 des Unterzeichnungsprotokolls zu Art. 56 ZA-NATO-Truppenstatut für Verfahren unter Beteiligung der Betriebsvertretung und der Bundesrepublik Deutschland als Prozessstandschafter der jeweiligen Truppe eröffnet343.

330 BAG v. 12.1.2006 – 2 AZR 242/05, ArbRB 2006, 171 = ZTR 2006, 338; KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 68; aA LAG Hessen v. 8.3.2001 – 12 Sa 251/00, ZTR 2001, 532 (Ls.); RDW/Treber, § 47 Rz. 14. 331 BAG v. 18.10.2000 – 2 AZR 627/99, PersR 2001, 125; v. 15.11.2001 – 2 AZR 605/00, ZTR 2002, 339; v. 5.2.1998 – 2 AZR 227/97, BAGE 88, 10; KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 68. 332 Str. für Bewerber für den Wahlvorstand: dafür KR/Rinck, §§ 47, 108 BPersVG Rz. 2; dagegen RDW/Treber, § 47 Rz. 8. 333 RDW/Treber, § 47 Rz. 8. 334 APS/Linck, § 15 KSchG Rz. 46; KR/Rinck, §§ 47, 108 Abs. 1 BPersVG Rz. 5. 335 OVG des Saarlandes v. 18.1.2006 – 1 W 18/05, AS RP – SL 33, 57; RDW/Treber, § 47 Rz. 9; APS/ Linck, § 15 KSchG Rz. 153; KR/Rinck, §§ 47, 108 Abs. 1 BPersVG Rz. 3. 336 BGBl. II, 3710. 337 BGBl. I, 47. 338 BAG v. 7.7.1999 – 7 ABR 4/98, PersR 1999, 541; KR/Weigand/Kreutzberg-Kowalczyk, Art. 56 NATO-ZusAbk Rz. 41. 339 Nicht jedoch bei einer ordentlichen Kündigung: BAG v. 30.3.1994 – 7 ABR 46/93, AP Nr. 1 zu § 47 BPersVG. 340 BAG v. 22.9.2005 – 2 AZR 54/04, NZA 2006, 557. 341 BAG v. 14.12.1994 – 7 ABR 14/94, AP Nr. 1 zu § 82 BPersVG. 342 BAG v. 20.1.2000 – 2 ABR 19/99, ZTR 2001, 89. 343 BAG v. 7.11.2000 – 1 ABR 55/99, PersR 2001, 347.

580

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Streitigkeiten

Rz. 19.140 § 19

Für Ersatzmitglieder gelten diese Regelungen während der Dauer der Mitgliedschaft im Gremium344. Nach der Beendigung des Vertretungsfalls besteht nur nachwirkender Kündigungsschutz iSv. § 15 Abs. 2 Satz 2 KSchG, jedoch bedarf es in einem solchen Fall nicht der Zustimmung des Personalrats345.

19.135

In den Verwaltungen und Betrieben der Länder, Gemeinden, Gemeindeverbände und sonstigen nicht bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sowie den Gerichten der Länder wird der Schutz der Mitglieder der Personalvertretungen (Personalräte, Bezirkspersonalräte, Gesamtpersonalräte, der Jugend- und Auszubildendenvertretungen, der Wahlvorstände, der Wahlbewerber sowie der Schwerbehindertenvertretungen und deren Wahlvorstände und Wahlbewerber) durch § 108 Abs. 1 BPersVG, ggf. iVm. § 96 Abs. 3, § 97 Abs. 7, § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB IX, gewährleistet346.

19.136

Soweit die Landespersonalvertretungsgesetze dieser Vorschrift entsprechende Regelungen 19.137 enthalten, haben diese lediglich deklaratorischen Charakter347. Es handelt sich um unmittelbar geltendes Bundesrecht. Die Gesetzgebungskompetenz folgt aus Art. 74 Nr. 12 GG348, so dass die Föderalismusreform 2006 insoweit keine Auswirkungen mit sich gebracht hat349. Eine Reduzierung des Schutzniveaus ist als Abweichung vom zwingenden gesetzlichen Standard unwirksam, eine Erweiterung des Kündigungsschutzes durch landesgesetzliche Regelungen ist dagegen zulässig350. Für die Antragstellung, die Beschlussfassung des Personalrats und die Verlautbarung der Entscheidung des Gremiums gelten die allgemeinen Voraussetzungen.

19.138

Die fehlende Zustimmung des Personalrats ist ggf. durch das Verwaltungsgericht zu ersetzen. In jedem Fall erforderlich ist die Wahrung der zweiwöchigen Frist des § 626 Abs. 2 BGB durch den Arbeitgeber. Erforderlich ist daher der Eingang des Antrags auf Ersetzung der verweigerten Zustimmung des Personalrats zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Amtsträgers innerhalb von zwei Wochen seit der Kenntnis des Kündigungsberechtigten von den für die Kündigung maßgeblichen Tatsachen sowie dessen anschließende unverzügliche Zustellung beim Antragsgegner351. Für das Verfahren gelten die Bestimmungen über das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren gemäß § 83 Abs. 2 BPersVG entsprechend352. Zur Antragstellung berechtigt ist der Leiter der Dienststelle, die für den Ausspruch der Kündigung zuständig ist353.

19.139

Im Bereich der Kommunen kann die Bestimmung des zur Einleitung des Verfahrens Befugten problematisch sein. Sie richtet sich nach den jeweils einschlägigen örtlichen Regelungen,

19.140

344 345 346 347 348 349 350 351

VG Braunschweig v. 27.11.2001 – 10 A 8/01, NZA-RR 2002, 279; RDW/Treber, § 47 Rz. 11. BVerwG v. 8.12.1986 – 6 P 20.84, PersR 1987, 1107; RDW/Treber, § 47 Rz. 11. KR/Rinck, §§ 47, 108 Abs. 1 BPersVG Rz. 3. BVerwG v. 30.4.1998 – 6 P 5.97, PersR 1998, 466. BVerfG v. 27.3.1979 – 2 BvL 2/77, PersV 1979, 328. RDW/Treber, § 83 Rz. 92. BVerwG v. 30.4.1998 – 6 P 5.97, PersR 1998, 466. BAG v. 27.3.1991 – 2 AZR 418/90, RzK II 1a Nr. 5; KR/Rinck, §§ 47, 108 Abs. 1 BPersVG Rz. 11. 352 RDW/Treber, § 47 Rz. 37. 353 BVerwG v. 3.5.1999 – 6 P 2.98, PersR 1999, 494; RDW/Treber, § 47 Rz. 39; aA Fischer/Goeres/ Gronimus, Teil 2, K § 47 Rz. 15: stets der Leiter der Beschäftigungsbehörde.

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581

§ 19 Rz. 19.140

Beteiligung des Personalrates

zB einer Satzung354. Zuständig für die Erteilung der Zustimmung und damit auch Beteiligter des Verfahrens ist auf der anderen Seite jeweils die Personalvertretung, der der betroffene Arbeitnehmer angehört; denn es geht um die Sicherung der Kontinuität der Arbeit des jeweiligen Gremiums355. Liegt die Zuständigkeit für den Ausspruch der beabsichtigten Kündigung nicht beim Leiter der Beschäftigungsbehörde, sondern bei der vorgesetzten Dienststelle oder sogar der Hauptdienststelle, ist nicht die dort bestehende Personalvertretung (Stufenvertretung oder Gesamtpersonalrat) zuständig; zu beteiligen ist vielmehr wegen des Grundsatzes der Kontinuität der örtliche Personalrat356. Gehört der Betroffene mehreren Personalvertretungen an, ist die Zustimmung sämtlicher Gremien einzuholen bzw. zu ersetzen357. Handelt es sich wie im Falle der beabsichtigten Kündigung eines Wahlvorstandsmitglieds nicht um ein Mitglied der Personalvertretung, ist der Personalrat der Dienststelle zu beteiligen, der der betroffene Arbeitnehmer angehört358.

19.141 In dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht ist der betroffene Arbeitnehmer Beteiligter (§ 47 Abs. 1 Satz 2, bzw. § 108 Abs. 1 Satz 3 BPersVG).

19.142 In dieses Verfahren kann der Dienststellenleiter – anders als bei Kündigungsschutzverfahren – unbeschränkt weitere Kündigungsgründe einführen, sofern er zuvor den zuständigen Personalrat ordnungsgemäß beteiligt hat359. Anders als dort geht es nämlich nicht um die Beurteilung der Wirksamkeit einer bereits erklärten Kündigung. Vielmehr sollen erst die Voraussetzungen für deren Ausspruch geschaffen werden360. Ist dies nicht erfolgt, kann die Kündigung im anschließend geführten Kündigungsrechtsstreit nicht auf diesen Umstand gestützt werden361. Ob dies die Einhaltung der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB voraussetzt, ist umstritten362.

19.143 Hält das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen für den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung für gegeben, ersetzt es die verweigerte Zustimmung durch Beschluss. Gegen diese Entscheidung ist die Beschwerde zum OVG oder zum VGH gegeben (§ 83 Abs. 2 iVm § 87 ArbGG). Gegen dessen Entscheidung ist die Rechtsbeschwerde nach § 92 ArbGG statthaft, wenn sie durch das Beschwerdegericht oder auf eine Nichtzulassungsbeschwerde nach § 92a ArbGG durch das BVerwG zugelassen wurde. Das beteiligte Personalratsmitglied kann die statthaften Rechtsmittel unabhängig davon einlegen, ob der Personalrat die Entscheidung angegriffen hat. Insoweit besteht eine Parallele zu dem Verfahren nach § 103 BetrVG363.

354 VG Frankfurt v. 28.8.2000 – 23 L 1910/00(V), PersV 2001, 123. 355 BVerwG v. 9.7.1980 – 6 P 43.79, PersV 1981, 370; v. 30.4.1998 – 6 P 5.97, PersR 1998, 466; Sächsisches LAG v. 14.10.1992 – 2 Sa 102/92, PersR 1993, 279; KR/Rinck, §§ 47, 108 Abs. 1 BPersVG Rz. 7. 356 KR/Rinck, §§ 47, 108 Abs. 1 BPersVG Rz. 7. 357 BVerwG v. 30.4.1998 – 6 P 5.97, PersR 1998, 466; v. 8.12.1986 – 6 P 20.84, PersR 1987, 110; RDW/Treber, § 47 Rz. 19; KR/Rinck, §§ 47, 108 Abs. 1 BPersVG Rz. 7. 358 RDW/Treber, § 47 Rz. 19; KR/Rinck, §§ 47, 108 Abs. 1 BPersVG Rz. 8. 359 RDW/Treber, § 47 Rz. 45, vgl. für § 103 BetrVG BAG v. 23.4.2008 – 2 ABR 71/07, NZA 2008, 1081; KR/Rinck, § 103 BetrVG Rz. 122; GK-BetrVG/Raab, § 103 BetrVG Rz. 31. 360 BAG v. 22.8.1974 – 2 ABR 17/74, BAGE 26, 219; RDW/Treber, § 47 Rz. 45. 361 BVerwG v. 28.1.1998 – 6 P 2.97, PersR 1998, 345; RDW/Treber, § 47 Rz. 45. 362 Dafür: RDW/Treber, § 47 Rz. 46; Lorenzen/Griebeling, § 47 BPersVG Rz. 90; aA BAG v. 22.8.1974 – 2 ABR 17/74, BAGE 26, 219. 363 BAG v. 10.12.1992 – 2 ABR 32/92, NZA 1993, 501.

582

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Streitigkeiten

Rz. 19.146 § 19

In Dienststellen ohne Personalrat ist § 47 BPersVG nach seinem Schutzgedanken entsprechend anzuwenden. Beabsichtigt der Dienststellenleiter also etwa die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Wahlvorstandsmitglieds oder ist ein bereits bestehender Personalrat funktionsunfähig, wie dies bei der beabsichtigten Kündigung des einzig verbliebenen Personalratsmitglieds im Falle des Fehlens eines Ersatzmitglieds möglich sein kann, muss der Dienststellenleiter das Zustimmungsersetzungsverfahren unmittelbar ohne vorherige Beteiligung des Personalrats einleiten364.

19.144

Ist die verweigerte Zustimmung des Personalrats im verwaltungsgerichtlichen Verfahren rechtskräftig ersetzt worden, hat dies im folgenden Kündigungsschutzverfahren präjudizielle Bedeutung. Damit steht zwischen den Parteien bindend fest, dass die außerordentliche Kündigung zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung begründet war. Dem betroffenen Arbeitnehmer ist es verwehrt, im Kündigungsschutzverfahren Tatsachen geltend zu machen, die er bereits im Zustimmungsersetzungsverfahren hätte vorbringen können365. Daraus wird die Praxisempfehlung abgeleitet, wegen der im Beschlussverfahren und im Urteilsverfahren unterschiedlichen Prozessmaximen lieber eine nachträgliche Erteilung der Zustimmung durch den Personalrat hinzunehmen als möglicherweise später mit weiterem Vortrag präkludiert zu sein366. Diese Einschränkung gilt allerdings nicht für nachträglich entstandene Mängel der Kündigung oder fehlende Kündigungsvoraussetzungen, die nicht Gegenstand des Zustimmungsersetzungsverfahrens waren, zB die fehlende Zustimmung des Integrationsamtes nach § 85 SGB IX oder der Arbeitsschutzbehörde nach § 9 MuSchG367.

19.145

Die Kündigungserklärung darf erst nach formeller Rechtskraft des Beschlusses über die Zu- 19.146 stimmungsersetzung durch den Dienststellenleiter abgegeben werden. Eine zuvor erklärte Kündigung ist nicht nur schwebend unwirksam, sondern unheilbar nichtig368. Eine Ausnahme davon gilt für Fälle, in denen sich ein Rechtsmittel oder ein Rechtsbehelf gegen den die Zustimmung ersetzenden Beschluss als offensichtlich aussichtslos darstellt. Unter dieser Voraussetzung kann die Kündigung schon vor Eintritt der formellen Rechtskraft der die Zustimmung des Personalrats ersetzenden gerichtlichen Entscheidung erfolgen369. Wird die Kündigung zuvor ausgesprochen, ist das nicht abgeschlossene Zustimmungsverfahren gegenstandslos. Es bedarf dann der Einleitung eines erneuten Zustimmungsersetzungsverfahrens370. Dies wird im Regelfall allerdings wegen des zwischenzeitlichen Verstreichens der Frist des § 626 Abs. 2 BGB wenig Aussicht auf Erfolg haben.

364 OVG Sachsen-Anhalt v. 5.5.2004 – SA 5 L 6/03, PersR 2005, 84; RDW/Treber, § 47 Rz. 33; Fischer/Goeres/Gronimus, Teil 2, K § 47 Rz. 25; Lorenzen/Griebeling, § 47 BPersVG Rz. 21. 365 Präklusion, BAG v. 15.8.2002 – 2 AZR 214/01, ArbRB 2003, 72 = NZA 2003, 432; v. 11.5.2000 – 2 AZR 276/99, PersR 2000, 466; BVerwG v. 15.10.2002 – 6 PB 7.02, PersR 2003, 74; Lorenzen/ Griebeling, § 47 BPersVG Rz. 104; RDW/Treber, § 47 Rz. 60. 366 Altvater/Kröll, § 47 BPersVG Rz. 50. 367 BAG v. 11.5.2000 – 2 AZR 276/99, PersR 2000, 466. 368 BAG v. 9.7.1998 – 2 AZR 142/98, NZA 1998, 1273; RDW/Treber, § 47 Rz. 54. 369 BAG v. 24.11.2011 – 2 AZR 480/10, PersV 2012, 258. 370 BAG v. 9.7.1998 – 2 AZR 142/98, NZA 1998, 1273; v. 24.10.1996 – 2 AZR 3/96, NZA 1997, 371; LAG Hamm v. 4.8.2000 – 10 TaBV 7/00, LAGE § 103 BetrVG 1972 Nr. 17; kritisch: Diller, NZA 2004, 579.

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§ 19 Rz. 19.147

Beteiligung des Personalrates

3. Arbeitsgericht

19.147 Nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b ArbGG entscheiden die Gerichte für Arbeitssachen im Rahmen ihrer ausschließlichen Zuständigkeit über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses. Dies erfasst auch Kündigungsrechtsstreite371.

19.148 In diesem Rahmen ist auf eine entsprechende Rüge des Arbeitnehmers372 die Ordnungsgemäßheit der Beteiligung des Personalrats als eine der für die Wirksamkeit der Kündigung gemäß § 79 Abs. 4, § 108 Abs. 2 BPersVG maßgeblichen Fragen zu prüfen.

19.149 Diese Kompetenz entfällt allerdings, wenn diese Frage mit Tatbestandswirkung bereits im verwaltungsgerichtlichen Verfahren entschieden wurde. Ist nämlich in einem personalvertretungsrechtlichen Beschlussverfahren rechtskräftig festgestellt worden, dass eine personelle Einzelmaßnahme, zB eine vom Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung, nicht der Zustimmung des Personalrats bedurfte, wirkt dies gleichzeitig auch gegenüber dem betroffenen Arbeitnehmer, selbst wenn dieser an dem Beschlussverfahren nicht beteiligt war. In dem nachfolgenden Individualverfahren über die Wirksamkeit der vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung kann der Arbeitnehmer sich nicht darauf berufen, dass die kollektivrechtliche Streitigkeit, auf die es in seinem Individualprozess als Vorfrage ankommt, unrichtig entschieden worden sei373. Wie der einzelne Arbeitnehmer die Zustimmung des Personalrats zu einer personellen Maßnahme des Arbeitgebers oder auch die Freigabe der Entscheidung des Arbeitgebers durch das bloße Verstreichenlassen der gesetzlichen Äußerungsfristen hinzunehmen hat, weil er auf die Zustimmungsverweigerung oder überhaupt das Tätigwerden des Personalrats keinen materiell-rechtlichen Anspruch hat, muss er das rechtskräftige Ergebnis eines abgeschlossenen Beschlussverfahrens über das Nichtbestehen oder Bestehen eines entsprechenden Beteiligungsrechts gegen sich gelten lassen374. Soweit der 6. Senat des BAG in einer älteren Entscheidung375 eine davon abweichende Auffassung vertreten hat, ist daran nicht weiter festgehalten worden376. Dies gilt insbesondere auch für Kündigungsrechtsstreitigkeiten377.

371 Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, 9. Aufl., § 2 ArbGG Rz. 66. 372 BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 206/11, NZA 2013, 137. 373 BAG v. 3.7.1996 – 2 AZR 813/95, BAGE 83, 267; v. 23.11.2000 – 2 AZR 547/99, PersR 2001, 262. 374 BAG v. 23.11.2000 – 2 AZR 547/99, PersR 2001, 262; Fastrich, SAE 1992, 13. 375 BAG v. 15.1.1987 – 6 AZR 589/84, AP Nr. 21 zu § 75 BPersVG. 376 BAG v. 10.3.1998 – 1 AZR 658/97, NZA 1998, 1242. 377 BAG v. 23.11.2000 – 2 AZR 547/99, PersR 2001, 262.

584

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§ 20 Teilzeit I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20.1

1. Bedeutung und Definition . . . . . .

20.1

2. Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . a) Gesetzliche Grundlagen (TzBfG und Sonderregelungen) . . . . . . . aa) Allgemeiner Teilzeitanspruch . . . . . . . . . . . . . . bb) Sonderregelungen über Teilzeit . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Altersteilzeit . . . . . . . . . . . . (2) Teilzeit in der Elternzeit (§ 15 Abs. 4–7 BEEG) . . . . . (3) Teilzeitanspruch Schwerbehinderter (§ 164 Abs. 5 Satz 3 SGB IX) . . . . . . . . . . (4) Bundesgleichstellungsgesetz und landesgesetzliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . (5) Pflegezeitgesetz . . . . . . . . . . b) Tarifvertragliche Regelungen (§ 11 TVöD bzw. TV-L) . . . . . .

20.4

20.13

3. Diskriminierungsverbote . . . . . . . a) Vergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Teilzeitarbeit und Beförderung . c) Beihilfeberechtigung . . . . . . . . . d) Zusatzversorgung . . . . . . . . . . .

20.15 20.19 20.23 20.24 20.25

4. Ausschreibungs- und Informationspflicht (§ 7 TzBfG) . . . . . . . . . .

20.26

5. Sonderformen der Teilzeitarbeit . . a) Arbeit auf Abruf (§ 12 TzBfG) . . b) Arbeitsplatzteilung (§ 13 TzBfG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Teilzeitanspruch nach § 8 TzBfG . a) Anspruchsvoraussetzungen . . . . b) Antrag auf befristete Verringerung der Arbeitszeit . . . . . . . . . . c) Erörterung und Zustimmungsfiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ablehnung des Teilzeitarbeitsverlangens nach § 8 Abs. 4 Satz 1 TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . e) Prozessuale Geltendmachung und Durchsetzung . . . . . . . . . . .

20.4 20.5 20.7 20.8 20.9 20.10 20.11 20.12

20.28 20.29 20.30 20.31 20.31 20.31 20.36 20.37 20.40 20.52

f) Erneute Verringerung nach § 8 Abs. 6 TzBfG . . . . . . . . . . . . g) Änderungsrecht des Arbeitgebers nach § 8 Abs. 5 Satz 4 TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Verlängerungsanspruch nach § 9 TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Befristete Verringerung der Arbeitszeit, „Brückenteilzeit“ nach § 9a TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . a) Anspruchsvoraussetzungen . . . . b) Antrag und Zustimmungsfiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ablehnung der Brückenteilzeit durch den Arbeitgeber . . . . . . . . d) Die Zumutbarkeitsregelung des § 9a Abs. 2 Satz 2 TzBfG . . . . . . e) Erneuter Antrag und Sperrzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20.57 20.59 20.60

20.66 20.66 20.70 20.71 20.72 20.73

3. Teilzeitanspruch nach § 15 Abs. 4–7 BEEG . . . . . . . . . . . . a) Anspruchsvoraussetzungen . . . . b) Ablehnung des Teilzeitarbeitsverlangens . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Prozessuale Geltendmachung und Durchsetzung . . . . . . . . . . . d) Geltendmachung des Teilzeitanspruchs in der Elternzeit . . . .

20.90

4. Teilzeitanspruch Schwerbehinderter nach § 164 Abs. 5 Satz 3 SGB IX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20.92

20.74 20.76 20.84 20.87

5. Teilzeitansprüche aus Gleichstellungs- bzw. Frauenfördergesetzen . 20.95 a) Bundesgleichstellungsgesetz (BGleiG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.96 b) Landesgesetzliche Regelungen . . 20.100 6. Tarifvertragliche Regelungen (§ 11 TVöD/TV-L) . . . . . . . . . . . . . a) Anspruchsvoraussetzungen . . . . b) Antrag auf befristete Verringerung der Arbeitszeit . . . . . . . . . . c) Ablehnung des Teilzeitarbeitsverlangens . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Prozessuale Geltendmachung und Durchsetzung . . . . . . . . . . . e) Verlängerung . . . . . . . . . . . . . . .

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20.104 20.104 20.111 20.114 20.116 20.118

585

§ 20

Teilzeit

III. Übersichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.119 1. Übersicht über die Voraussetzungen/Rechtsfolgen der einzelnen Ansprüche auf Teilzeitarbeit von Beschäftigten im öffentlichen Dienst (Bund): . . . . . . . . . . . . . . . . 20.119

2. Übersicht Frauenförderbzw. Gleichstellungsgesetze in den Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . 20.120

Schrifttum: Monographien und Kommentare: Annuß/Thüsing, Kommentar zum Teilzeit- und Befristungsgesetz, 3. Aufl 2012; Arnold/Gräfl/Imping, TzBfG – Teilzeit- und Befristungsgesetz, 4. Aufl. 2016; Boecken/Joussen, Teilzeit- und Befristungsgesetz, 6. Aufl. 2019; Buschmann/Dieball/Stevens-Bartol, Das Recht der Teilzeitarbeit, 2. Aufl. 2001; Laux/Schlachter, Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG), 2. Aufl. 2011; von Roetteken, Bundesgleichstellungsgesetz – BGleiG – Kommentar mit Entscheidungssammlung, Loseblatt; Rolfs, Teilzeit- und Befristungsgesetz, 2002; Schiek/Buhr/Dieball/Fritsche/Klein-Sonnefeld/Malzahn/Wankel, Frauengleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder – Kommentar für die Praxis zum Frauenfördergesetz für den Bundesdienst und zu den Frauenfördergesetzen, Gleichstellungsgesetzen und Gleichberechtigungsgesetzen der Länder, mit Beschäftigungsschutzgesetz, 2. Aufl. 2002; Sievers, TzBfG Kommentar zum Teilzeit- und Befristungsgesetz, 6. Aufl. 2018; Zwanziger/Winkelmann, Teilzeitarbeit, 2007. Aufsätze: Bayreuther, Die neue Brückenteilzeit und andere Änderungen im TzBfG, NZA 2018, 1577; Berger-Delhey, Aktuelle Fragen zum Anspruch auf Teilzeitarbeit, ZTR 2001, 453; Brors, Teilzeitarbeit neben Elternzeit, RdA 2005, 51; Dessau, Das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge, ZTR 2001, 64; Falkenberg, Teilzeitarbeit, insbesondere im öffentlichen Dienst, ZTR 1990, 97; Feldhoff, Gleichbehandlung von vollzeitbeschäftigten und teilzeitbeschäftigten Lehrern – neue Facetten eines alten Themas, ZTR 2005, 62; Feldhoff, Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung – Zum Verhältnis der rechtlichen Grundlagen der §§ 8 TzBfG, 15 BErzGG und § 15b BAT/11 TVöD im Kontext der aktuellen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, ZTR 2006, 58; Feuerborn, Teilzeitanspruch, Verteilungswunsch und Ersatzeinstellung, SAE 2006, 1; Grobys, Auswirkungen einer nachträglichen Arbeitszeitreduzierung auf das Arbeitsentgelt und andere Vertragsbestandteile, DB 2001, 758; Grobys/Bram, Die prozessuale Durchsetzung des Teilzeitanspruchs, NZA 2001, 1175; Gruber, Gewährt § 8 TzBfG einen Anspruch auf eine zeitlich befristete Arbeitszeitverringerung?, DB 2007, 804; Hamann, Der Anspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit, BB Beilage 2005, Nr. 6, 2; Hanau, Offene Fragen zum Teilzeitgesetz, NZA 2001, 1168; Hanau, Die „betrieblichen Gründe“ des § 8 Abs. 4 S. 1 TzBfG im Lichte aktueller Entscheidungen des BAG, RdA 2005, 301; Hanau, Neue Altersteilzeit, NZA 2009, 225; Heyn/Meinel, Anspruch auf Teilzeitarbeit – Neue Entwicklungen in der Rechtsprechung, RdA 2005, 311; Hromadka, Das neue Teilzeit- und Befristungsgesetz, NJW 2001, 400; Hunold, Die neueste Rechtsprechung zu § 8 TzBfG, NZA-RR 2004, 225; Joussen, Elternzeit und Verringerung der Arbeitszeit, NZA 2005, 336; Kaiser, Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung wegen Kindererziehung gemäß § 15b Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a BAT, ZTR 1996, 107; Kliemt, Der neue Teilzeitanspruch, NZA 2001, 63; Kolmhuber, Die gerichtliche Durchsetzung des Anspruchs auf Verringerung der Arbeitszeit nach § 15 Abs. 7 BErzGG, FA 2006, 357; Leßmann, Der Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit im neuen Bundeserziehungsgeldgesetz, DB 2001, 94; Lorenz, Fünf Jahre § 8 TzBfG – BAG-Rechtsprechungs-Update, NZA-RR 2006, 281; Mues, Teilzeitverlangen des Arbeitnehmers nach § 8 TzBfG, ArbRB 2002, 15; Oberthür, Antragstellung auf Elternzeit und Teilzeitarbeit unter Berücksichtigung der neuesten BAG-Rechtsprechung, ArbRB 2005, 189; Preis/Gotthardt, Das Teilzeit- und Befristungsgesetz, DB 2001, 145; Range-Ditz, Rechtsprechungs-Update zu § 8 TzBfG, ArbRB 2002, 374; Range-Ditz, Never-ending Story – § 8 TzBfG, ArbRB 2003, 274; Reinecke, Teilzeitarbeit während der Elternzeit – Erfahrungen mit neuem Recht – gelöste und ungelöste Fragen, Festschrift für Wolfgang Leinemann 2006, 191; Riesenhuber, Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung nach § 15b BAT, NZA 1995, 56; Rolfs, Das neue Recht der Teilzeitarbeit, RdA 2001, 129; Rudolf/Rudolf, Zum Verhältnis der Teilzeitansprüche nach § 15 BErzGG, § 8 TzBfG, NZA 2002, 602; Schunder, Der Teilzeitanspruch und seine strategische Bewältigung in der anwaltlichen Praxis, Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im Deutschen Anwaltverein 2006, 171; Sowka, Bundeserziehungsgeldgesetz – Änderungen zur Elternzeit

586

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Grundlagen

Rz. 20.3 § 20

ab 1.1.2004, NZA 2004, 82; Sowka, Teilzeitanspruch auch während laufender Elternzeit, SAE 2006, 125; Straub, Der Teilzeitanspruch – Wunsch und Wirklichkeit, Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im Deutschen Anwaltverein 2006, 183; Tiedemann, Die gerichtliche Durchsetzung des Teilzeitanspruchs nach § 8 TzBfG mittels Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, ArbRB 2006, 284; Thüsing, Teilzeit- und Befristungsgesetz – Oder: Von der Schwierigkeit eines Kompromisses zwischen Beschäftigungsförderung und Arbeitnehmerschutz, ZfA 2004, 67; Wiesner, Arbeit nach Maß, RiA 2001, 116; Ziemann, Gerichtliche Durchsetzung des Anspruchs auf Verringerung der Arbeitszeit, ArbRB 2002, 30.

I. Grundlagen 1. Bedeutung und Definition Die Teilzeitarbeit hat in den vergangenen Jahren stetig – nicht zuletzt aufgrund gesetzlicher Neuregelungen – an Bedeutung gewonnen1. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren 2017 etwa 10.6 Millionen Arbeitnehmer teilzeitbeschäftigt, das sind etwa ein Viertel aller Arbeitnehmer. Teilzeitarbeit wird zwar ganz überwiegend – fast zu 90 % – von Frauen beansprucht, aber auch die Teilzeitquote bei den männlichen Arbeitnehmern nimmt kontinuierlich zu.

20.1

Im öffentlichen Dienst sind die Quoten noch etwas höher. Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten an allen Beschäftigten steigt hier seit Jahren kontinuierlich an. Während im Jahre 1998 erst 22 % der Beschäftigten in Teilzeit tätig waren, stieg deren Anteil 2006 auf 30 % bis 2017 auf mehr als 32 %2. Unter den weiblichen Beschäftigten im öffentlichen Dienst liegt der Anteil der Teilzeitbeschäftigten im Vergleich zu ihren Kollegen noch deutlich höher: Während 2017 84,56 % der Frauen einer Teilzeitbeschäftigung nachgingen, waren es bei den Männern nur 15,44 %3. Eine allgemeine Legaldefinition der Teilzeitbeschäftigung findet sich in § 2 Abs. 1 Satz 1 TzBfG. Danach ist ein Arbeitnehmer, dessen regelmäßige Wochenarbeitszeit kürzer ist als die eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers, teilzeitbeschäftigt. Wann Arbeitnehmer vergleichbar sind, richtet sich nach § 2 Abs. 1 Satz 3 und 4 TzBfG. Auch geringfügig Beschäftigte gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV sind Teilzeitbeschäftigte (vgl. § 2 Abs. 2 TzBfG). Die kurzzeitigen oder zeitgeringfügigen Beschäftigten iSd. § 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV dagegen sind nicht ohne weiteres zu den Teilzeitbeschäftigten zu zählen.

20.2

Teilzeitarbeit kann äußerst vielseitig gestaltet werden4. In der Praxis tauchen im Wesentlichen folgende Formen von Teilzeitarbeit auf:

20.3

– Reduzierte tägliche Arbeitszeit, – Gleitzeitregelungen, – Anpassung der Arbeitszeit an den Arbeitsanfall gemäß § 12 TzBfG (Arbeit auf Abruf), – Job-Sharing (Arbeitsplatzteilung) gemäß § 13 TzBfG, 1 2 3 4

Zur gesellschafts- und rechtspolitischen Entwicklung Straub, FS AG Arbeitsrecht, S. 184 ff. Vgl. dbb Beamtentum und Tarifunion, Zahlen, Daten, Fakten 2019. Stand 6/2017. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales stellt unter www.bmas.bund.de insgesamt sieben verschiedene Modelle vor.

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587

§ 20 Rz. 20.3

Teilzeit

– Arbeitszeitkonten (Monats- oder Jahresarbeitszeitkonten), – Sabbatical oder Sabbatjahr5. 2. Rechtliche Grundlagen a) Gesetzliche Grundlagen (TzBfG und Sonderregelungen)

20.4 Im öffentlichen Dienst bestehen für Arbeitnehmer verschiedene – gesetzliche und tarifvertragliche – Anspruchsgrundlagen für die Verringerung der Arbeitszeit, die in der Regel nebeneinander anwendbar sind. Sie haben teilweise gleiche, teilweise aber auch unterschiedliche Voraussetzungen und Rechtsfolgen, so dass sich sowohl für die Arbeitgeber als auch für die Beschäftigten ein recht unübersichtliches und mitunter verwirrendes Bild ergibt. Da der Arbeitnehmer sein Begehren, seine Arbeitszeit reduzieren zu wollen, nicht auf eine bestimmte Anspruchsgrundlage stützen muss6, hat der Arbeitgeber einen unklaren Antrag ggf. auszulegen und anhand der verschiedenen in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen zu prüfen. Auf welche Anspruchsgrundlage der Arbeitnehmer sein Arbeitszeitreduzierungsbegehren stützt, ist insoweit in den gebotenen Verhandlungen zu klären, ggf. auch aus den objektiven Daten wie Zeitpunkt des Verlangens oder dem Umfang der Reduzierung und deren Dauer. Nur so ist es dem Arbeitgeber möglich zu klären, welche der in den verschiedenen gesetzlichen oder tarifvertraglichen Bestimmungen an unterschiedliche Voraussetzungen gebundene Einwände er erfolgversprechend erheben kann. aa) Allgemeiner Teilzeitanspruch

20.5 Mit dem am 1.1.2001 in Kraft getretenen § 8 TzBfG wurde erstmals ein allgemeiner Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung für Arbeitnehmer der Privatwirtschaft sowie des öffentlichen und kirchlichen Dienstes normiert7, ohne dass besondere familiäre oder sonstige Gründe für die Teilzeitarbeit vorliegen müssen. Im Gegensatz zu weiten Teilen des TzBfG stellt der allgemeine Teilzeitanspruch keine Umsetzung europarechtlicher Vorgaben der Teilzeitarbeit-Richtlinie8 dar, die keinen erzwingbaren Teilzeitanspruch des Arbeitnehmers vorsieht9, sondern beruht auf der Annahme des Gesetzgebers, dass durch eine vermehrte Teilzeitbeschäftigung die Arbeitslosigkeit verringert werden kann10. Verfassungsrechtlich – insbesondere im Hinblick auf Art. 12 GG – ist der Anspruch unbedenklich11.

5 Vgl. hierzu Hock, Die Umsetzung des Sabbatjahrmodells im BAT-Arbeitsverhältnis, ZTR 1999, 97. 6 ErfK/Dörner, § 15 BEEG Rz. 19. 7 Für Beamte gilt § 72a BBG bzw. die jeweiligen Vorschriften der Landesbeamtengesetze, für Richter § 48a DRiG. 8 Richtlinie 97/81/EG des Rates vom 15.12.1997 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit, ABl. EG Nr. L 14 v. 20.1.1998, S. 9, ber. ABl. EG Nr. L 128 v. 30.4.1998, S. 71. 9 Annuß/Thüsing/Mengel, § 8 TzBfG Rz. 1; ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 1; Hromadka, NJW 2001, 400; Rolfs, RdA 2001, 129 (132). 10 BT-Drucks. 14/4374, S. 1 (11); ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 1; Rolfs, RdA 2001, 129 (132); kritisch hierzu Hromadka, NJW 2001, 400 (402). 11 BAG v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/02, BAGE 105, 107 = NZA 2003, 1392.

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Grundlagen

Rz. 20.9 § 20

Seit Januar 2019 gilt zudem die in § 9a TzBfG normierte „Brückenteilzeit“. Arbeitnehmer, die länger als sechs Monate in Betrieben mit in der Regel mehr als 45 Beschäftigten arbeiten, können vom Arbeitgeber verlangen, nach einer bestimmten Zeit der Teilzeitbeschäftigung wieder in die Vollzeitbeschäftigung zurückzukehren. Die Voraussetzungen entsprechen im Wesentlichen denen des unbefristeten Teilzeitantrages. Daher muss der Arbeitnehmer den Arbeitgeber drei Monate im Voraus in Textform über die begehrte Verringerung der Arbeitszeit informieren. Bei einer Betriebsgröße von 46 bis 200 Beschäftigten gilt zugunsten des Arbeitgebers eine Zumutbarkeitsgrenze. Daher kann er den Antrag auf die Brückenteilzeit nicht nur aus betrieblichen Gründen ablehnen, sondern auch dann, wenn die Quote derjenigen, die bereits die Brückenteilzeit in Anspruch genommen haben, die in § 9a Abs. 2 Satz 2 Nr. 1–11 TzBfG genannten Zahlen übersteigt (s. Rz. 20.66 ff.).

20.6

bb) Sonderregelungen über Teilzeit Nach § 23 TzBfG bleiben die besonderen gesetzlichen Regelungen über die Teilzeitarbeit vom 20.7 TzBfG unberührt. Diese besonderen gesetzlichen Regelungen verdrängen somit nicht den allgemeinen Teilzeitanspruch, sondern stehen neben ihm. Zu den Sonderregelungen über Teilzeit gehören im Bereich des öffentlichen Dienstes die Teilzeitansprüche nach dem Altersteilzeitgesetz (ATZG) in Verbindung mit dem Tarifvertrag Altersteilzeit, dem Bundeselterngeldund Elternzeitgesetz (BEEG), dem SGB IX, den verschiedenen Frauenförder- bzw. Gleichstellungsgesetzen des Bundes und der Länder und dem Pflegezeitgesetz (PflegeZG). (1) Altersteilzeit Altersteilzeit ist eine Sonderform der Teilzeit, die unter anderem im ATZG geregelt ist. Das 20.8 ATZG sieht eine staatliche Förderung für diejenigen Altersteilzeitverhältnisse vor, die bis zum 31.12.2009 abgeschlossen wurden. Die Altersteilzeit soll älteren Arbeitnehmern einen gleitenden Übergang in die Altersrente oder ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ermöglichen. Da die Erstattung der Aufstockungsbeiträge nur für vor dem 1.1.2010 begonnene Altersteilzeitarbeitsverhältnisse möglich ist, ist die von der Bundesagentur geförderte Altersteilzeit ein Auslaufmodell; die Förderung konnte sich nur noch bis 2015 erstrecken12. Eine Verlängerung der Regelung wurde zwar zunächst erwogen, dann jedoch unter Hinweis auf die weitere Eindämmung der faktischen Frühverrentung politisch nicht gewollt13. Das ATZG bleibt aber auch für nach dem 1.1.2010 beginnende Altersteilzeitarbeitsverhältnisse mit Ausnahme der Vorschriften zur Förderung durch die Bundesagentur für Arbeit weiterhin anwendbar (vgl. § 1 Abs. 3 Satz 3 ATZG). Zu den Einzelheiten des Altersteilzeitrechts im öffentlichen Dienst s. § 21. (2) Teilzeit in der Elternzeit (§ 15 Abs. 4–7 BEEG) Mit dem 1.1.2007 ist § 15 Abs. 4–7 BEEG in Kraft getreten. Nach dieser Vorschrift haben El- 20.9 tern während ihrer Elternzeit einen Anspruch auf Verringerung ihrer Arbeitszeit14. Auch dieser Anspruch gilt für alle Arbeitnehmer der Privatwirtschaft sowie des öffentlichen und kirchlichen Dienstes. Die Ansprüche aus § 8 TzBfG und § 15 Abs. 4–7 BEEG stehen grundsätzlich 12 Vgl. Hanau, NZA 2009, 225. 13 Koalitionsvertrag CDU/CSU, FDP vom 27.10.2009. 14 Zum 1.1.2007 wurde das BErzGG durch das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz – BEEG (BGBl. I 2006, 2748) abgelöst. Das BEEG ist für alle Kinder anwendbar, die nach dem 1.1.2007 geboren wurden. Die Regelungen über den Teilzeitanspruch (§ 15 Abs. 4-7 BEEG) sind jedoch inhaltlich im Wesentlichen unverändert geblieben. Inhaltliche Änderungen sind in den Fußnoten vermerkt.

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589

§ 20 Rz. 20.9

Teilzeit

unabhängig nebeneinander, so dass der Arbeitnehmer, der die Anspruchsvoraussetzungen beider Normen erfüllt, wählen kann, auf welche Anspruchsgrundlage er sein Teilzeitbegehren stützen will15.Dabei sind jedoch die unterschiedlichen Anspruchsvoraussetzungen und Rechtsfolgen zu berücksichtigen. Zu den Einzelheiten des Teilzeitanspruchs in der Elternzeit vgl. Rz. 20.66 ff. (3) Teilzeitanspruch Schwerbehinderter (§ 164 Abs. 5 Satz 3 SGB IX)

20.10 Schwerbehinderte Menschen (§ 2 Abs. 2 SGB IX) und diesen gleichgestellte behinderte Menschen (§ 2 Abs. 3 SGB IX) haben gemäß § 164 Abs. 5 Satz 3 SGB IX16 einen Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung, wenn die kürzere Arbeitszeit wegen der Art und Schwere der Behinderung notwendig und soweit seine Erfüllung für den Arbeitgeber zumutbar oder nicht mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden ist oder soweit der Arbeitszeitverkürzung die staatlichen oder berufsgenossenschaftlichen Arbeitsschutzvorschriften oder beamtenrechtliche Vorschriften nicht entgegenstehen. Zu den Einzelheiten s. Rz. 20.83 ff. (4) Bundesgleichstellungsgesetz und landesgesetzliche Regelungen

20.11 Neben dem allgemeinen Teilzeitanspruch und den spezialgesetzlichen Ansprüchen gemäß § 15 BEEG sowie gemäß § 164 Abs. 5 SGB IX besteht für Arbeitnehmer der Bundesverwaltung17 noch ein Anspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit nach § 16 Abs. 1 Bundesgleichstellungsgesetz (BGleiG)18. Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes in den Bundesländern und teilweise auch in den Kommunen können Ansprüche auf Teilzeitarbeit zumeist auch aufgrund landesgesetzlicher Frauenförder- bzw. Gleichstellungsgesetze geltend machen. Auch diese gesetzlichen Regelungen finden neben dem allgemeinen Teilzeitanspruch aus dem TzBfG Anwendung. Zu den Einzelheiten s. Rz. 20.86 ff. sowie die Übersicht in Rz. 20.109. (5) Pflegezeitgesetz

20.12 Mit dem am 1.7.2008 als Art. 3 des Pflege-WeiterentwicklungsG in Kraft getretenen PflegeZG sollen die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden, um Beschäftigten die Pflege und Sterbebegleitung naher Angehöriger in häuslicher Umgebung zu ermöglichen19. § 3 PflegeZG sieht für die berechtigten Beschäftigten einen Teilzeitanspruch (und einen Anspruch auf vollständige Freistellung von der Arbeitspflicht) vor. Der Anspruch ist § 15 Abs. 4–7 BEEG erkennbar nachgebildet. In Ergänzung dazu ist zum 1.1.2012 das Familienpflegezeitgesetz (FPfZG)20 eingeführt worden. Es ermöglicht Beschäftigten mit Zustimmung ihres Arbeitgebers ihre Arbeitszeit unter Aufstockung des bisherigen Entgelts über einen Zeitraum von maximal zwei Jahren auf bis zu 15 Stunden wöchentlich zu reduzieren, um einen nahen Angehörigen zu pflegen (§ 2 Abs. 1 FPfZG).

15 ErfK/Dörner, § 15 BEEG Rz. 19; Hanau, NZA 2001, 1168 (1172); HWK/Schmalenberg, § 8 TzBfG Rz. 2; Meinel/Heyn/Herms, § 23 TzBfG Rz. 7; aA Kliemt, NZA 2001, 63 (71); Feldhoff, ZTR 2006, 58 (61): § 15 BErzGG/BEEG ist lex specialis; vgl. ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 57, der im Zweifel von einem Antrag nach § 15 BErzGG/BEEG ausgeht, weil dieser wegen der Rückkehrmöglichkeit günstiger für den Antragsteller sei. 16 In Kraft seit dem 1.7.2001 (BGBl. I, 1046); zuvor § 14 Abs. 4 SchwbG. 17 Zum genauen personellen Geltungsbereich vgl. § 3 BGleiG. 18 Zur Entstehungsgeschichte des BGleiG vgl. Scheuring, ZTR 2002, 314. 19 BR-Drucks. 718/07, S. 217 und 219. 20 BGBl. 2012 I, 2564.

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Grundlagen

Rz. 20.15 § 20

b) Tarifvertragliche Regelungen (§ 11 TVöD bzw. TV-L) Tarifvertragliche Regelungen über Teilzeitarbeit im öffentlichen Dienst finden sich in § 11 TVöD bzw. TV-L, die sich weitgehend entsprechen21. Über den Inhalt von § 15b BAT/BAT-O hinausgehend wurde in § 11 Abs. 1 Satz 4 TVöD bzw. TV-L eingefügt, dass der Arbeitgeber bei der Gestaltung der Arbeitszeit der besonderen persönlichen Situation im Rahmen der dienstlichen bzw. betrieblichen Möglichkeiten Rechnung zu tragen hat. Außerdem wurde auf die unzulässige, weil diskriminierende Beschränkung auf Vollzeitbeschäftigte nach § 15b Abs. 1 BAT/BAT-O22 verzichtet, so dass sich nunmehr auch ein Teilzeitbeschäftigter auf § 11 TVöD bzw. TV-L berufen kann, um eine weitere Verringerung seiner Arbeitszeit zu erreichen, sofern nur die Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 TVöD bzw. TV-L vorliegen. Nach dem Wortlaut der tarifvertraglichen Anspruchsgrundlagen in§ 11 Abs. 1 TVöD bzw. TV-L „soll“ mit Beschäftigten auf Antrag die Verringerung der Arbeitszeit vereinbart werden, wenn sie mindestens ein minderjähriges Kind oder „einen nach ärztlichem Gutachten pflegebedürftigen sonstigen Angehörigen“ tatsächlich betreuen oder pflegen und dringende dienstliche bzw. betriebliche Belange nicht entgegenstehen. Die Regelungen wurden und werden trotz der „SollFormulierung“ gleichwohl stets so interpretiert, dass Beschäftigte einen Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit haben23.

20.13

Auch die tariflichen Regelungen stehen grundsätzlich neben dem allgemeinen Teilzeitan- 20.14 spruch nach § 8 Abs. 4 TzBfG und können vom Arbeitnehmer parallel angeführt werden24. Es besteht kein Vorrangverhältnis, jedoch ist § 22 Abs. 1 TzBfG zu beachten. Danach kann von den Vorschriften des TzBfG nicht – auch nicht tarifvertraglich – zuungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden, es sei denn, es ist durch Öffnungsklauseln im TzBfG etwas anderes bestimmt (zB § 8 Abs. 4 Satz 3 TzBfG hinsichtlich der möglichen Ablehnungsgründe). Das bedeutet, dass die tarifvertraglichen Regelungen nur dann neben § 8 TzBfG Anwendung finden, wenn sie für den Arbeitnehmer günstiger sind (Günstigkeitsprinzip). § 11 TVöD/TV-L ist eine solche günstigere Regelung25. Denn anders als § 8 TzBfG sieht die tarifliche Regelung keine sechsmonatige Wartezeit für den Arbeitnehmer vor und gilt zudem auch im Kleinbetrieb, der weniger als 15 Arbeitnehmer beschäftigt. Auch muss der Arbeitnehmer nach § 11 TVöD/TV-L nicht darauf achten, dass sein letztes Arbeitszeitverringerungsverlangen zwei Jahre zurückliegt. 3. Diskriminierungsverbote Nach § 4 Abs. 1 TzBfG darf der Arbeitgeber einen teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer wegen 20.15 der Teilzeitarbeit ohne sachlichen Grund nicht schlechter behandeln als einen vergleichbaren

21 Inhaltsgleiche Regelungen finden sich in § 15 MTArb/MTArb-O, § 14 BMT-G II sowie für den kirchlichen Dienst § 15b BAT-KF, § 29a Abs. 1 AVR Diakonie, § 1a Anlage 5 AVR Caritas. 22 Vgl. BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, BAGE 105, 248 = ArbRB 2004, 7 = DB 2004, 319. 23 BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, BAGE 105, 248 = ArbRB 2004, 7 = DB 2004, 319; v. 18.5.2004 – 9 AZR 319/03, BAGE 110, 356 = ArbRB 2004, 361 = NZA 2005, 108; Kaiser, ZTR 1996, 107; Dessau, ZTR 2001, 64 (66). 24 BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, BAGE 105, 248 = ArbRB 2004, 7 = DB 2004, 319; vgl. auch BAG v. 20.7.2004 – 9 AZR 626/03, BAGE 111, 260 = ArbRB 2004, 328 = NZA 2004, 1090; Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 562. 25 BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, BAGE 105, 248 = ArbRB 2004, 7 = DB 2004, 319.

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§ 20 Rz. 20.15

Teilzeit

vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer. Es handelt sich um einen gesetzlich geregelten Sonderfall des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG26. Das bedeutet etwa, dass ein Arbeitgeber einen teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer in gleicher Weise zu Wochenend-, Feiertags- oder Nacharbeit heranziehen kann wie vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer27. Bei der Berechnung von Beschäftigungszeiten sind die Zeiten geringfügiger Beschäftigung zu berücksichtigen. Eine tarifliche Regelung, die bestimmte Zeiten geringfügiger Beschäftigung nicht einbezieht, ist eine sachlich nicht gerechtfertigte Benachteiligung Teilzeitbeschäftigter, so dass ein Verstoß gegen § 4 Abs. 1 TzBfG iVm. Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt28. Arbeitsentgelt oder andere teilbare geldwerte Leistungen sind einem teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer mindestens in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil seiner Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht (Prorata-temporis-Grundsatz). Die Vorschrift stellt eine Konkretisierung der arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungspflicht dar29 und ist ein Kernstück des Teilzeitarbeitsrechts30. Das Benachteiligungsverbot des § 4 TzBfG gilt aufgrund § 22 TzBfG auch für Tarifverträge31 sowie für spezialgesetzliche Teilzeitarbeitsverhältnisse wie etwa die Altersteilzeit.

20.16 Ferner darf nach § 5 TzBfG der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer nicht wegen der Inanspruchnahme von Teilzeitarbeit benachteiligen, zB indem er bestimmte Vergünstigungen nur vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern gewährt. Nach § 11 Satz 1 TzBfG darf ein Arbeitgeber ein Arbeitsverhältnis wegen der Weigerung des Arbeitnehmers, von einem Vollzeit- in ein Teilzeitarbeitsverhältnis oder umgekehrt zu wechseln, nicht kündigen. Beide Vorschriften sind eine Konkretisierung des allgemeinen Maßregelungsverbots des § 612a BGB.

20.17 In den diversen Gleichstellungs- bzw. Frauenfördergesetzen des Bundes und der Länder finden sich für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ebenfalls Vorschriften zur Gleichbehandlung von Voll- und Teilzeitbeschäftigten, die teilweise über das Verbot des § 4 TzBfG hinausgehen. So ist zB nach § 18 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGleiG eine unterschiedliche Behandlung von Teilzeitbeschäftigten gegenüber Vollzeitbeschäftigten nur zulässig, wenn zwingende sachliche Gründe dies rechtfertigen. An die Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung werden also noch höhere Anforderungen als bei § 4 Abs. 1 TzBfG gestellt.

20.18 Die gesetzlichen Diskriminierungsverbote werden ferner durch das Verbot der mittelbaren Diskriminierung gemäß Art. 157 AEUV ergänzt, da aufgrund des überdurchschnittlichen Frauenanteils eine Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten zugleich auch eine Benachteiligung von Frauen darstellen kann32.

26 BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 746/06, ArbRB 2007, 263 = DB 2007, 1596; ErfK/Preis, § 4 TzBfG Rz. 8. 27 Vgl. BAG v. 1.12.1994 – 6 AZR 501/94, BAGE 78, 369 = NZA 1995, 590; ArbG Dortmund v. 22.3.2006 – 8 Ca 5508/05, GesR 2006, 367. 28 BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 746/06, ArbRB 2007, 263 = DB 2007, 1596. 29 ErfK/Preis, § 4 TzBfG Rz. 8; vgl. zum Ganzen auch Biermann, Die Gleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten bei entgeltlichen Ansprüchen, 2000. 30 Rolfs, RdA 2001, 129 (130). 31 BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, BAGE 105, 248 = ArbRB 2004, 7 = DB 2004, 319; v. 25.4.2007 – 6 AZR 746/06, ArbRB 2007, 263 = DB 2007, 1596; LAG Hamm v. 10.5.2007 – 17 Sa 1890/06, BeckRS 2007, 46002. 32 Feldhoff, ZTR 2005, 62.

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Grundlagen

Rz. 20.20 § 20

a) Vergütung Die vertragliche Vergütung des teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmers reduziert sich bei einer Verringerung der Arbeitszeit höchstens entsprechend im Verhältnis zur bisherigen Arbeitszeit (Pro-rata-temporis-Prinzip, § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG). Dieses Prinzip ist auch in § 24 Abs. 2 TVöD/TV-L festgelegt. Es stellt eine Konkretisierung des allgemeinen Diskriminierungsverbotes des § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG dar, so dass eine Kürzung, die über die entsprechende Verringerung der Arbeitszeit hinausgeht, nur im Falle eines sachlichen Grundes möglich ist33.

20.19

Zu beachten sind auch die eventuell einschlägigen weitergehenden Diskriminierungsverbote im BGleiG bzw. in den entsprechenden Landesgesetzen. Problematisch kann insoweit die Behandlung von Zuschlägen, Zuwendungen und sonstigen Arbeitgeberleistungen sein. Entscheidend ist immer der Sinn und Zweck der Arbeitgeberleistung34. Wenn diese als Gegenleistung für Betriebstreue anzusehen ist (wie zB Weihnachtsgeld oder Jubiläumszuwendungen), darf keine Kürzung erfolgen35. Aufwandsentschädigungen werden ebenfalls nicht gekürzt. Kein Maßstab sind im öffentlichen Dienst entsprechende beamtenrechtliche Regelungen. Entscheidend ist der Vergleich zu angestellten Vollzeitkräften, nicht zu teilzeitbeschäftigten Beamten36. Gewährt deshalb ein Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes seinen Angestellten Beihilfen im Krankheits-, Geburts- oder Todesfall, so ist er verpflichtet, diese auch dann an unterhälftig teilzeitbeschäftigte Angestellte zu erbringen, wenn er sie unterhälftig teilzeitbeschäftigten Beamten verwehrt37. Sind Teilzeitbeschäftigte über die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus bis zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten tätig, liegt Mehrarbeit vor. Diese ist explizit in § 7 Abs. 6 TVöD/TV-L geregelt. Überstunden sind die auf Anordnung des Arbeitgebers geleisteten Arbeitsstunden, die über die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten für die Woche dienstplanmäßig bzw. die betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden (vgl. § 7 Abs. 7 TVöD/TV-L). Überstunden sind daher sowohl bei Vollzeitbeschäftigten als auch bei Teilzeitbeschäftigten möglich. Dagegen kann Mehrarbeit nur bei Teilzeitbeschäftigten angeordnet werden. Mehrarbeit ist also nicht mit Überstunden gleichzusetzen, so dass auch keine Überstundenzuschläge gezahlt werden müssen. Hierin liegt kein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot, weil die Teilzeitbeschäftigten ebenso wie Vollzeitbeschäftigte behandelt werden38. Nach § 8 Abs. 2 TVöD/TV-L wird für Mehrarbeit 100 % des auf eine Stunde entfallenden Anteils des Tabellenentgelts der jeweiligen Entgeltgruppe und Stufe gezahlt. Nach § 8 Abs. 1 TVöD/TV-L werden die Zeitzuschläge für Überstunden, Nachtarbeit etc. Teilzeitbeschäftigten in derselben Höhe wie Vollzeitbeschäftigten gezahlt. Steht einem teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer eine pauschale Zulage wegen ständiger Schicht- oder Wechselschichtarbeit nach § 8 Abs. 5 bzw. 6 TVöD zu, darf diese aufgrund des Diskriminierungsverbots nach § 4 Abs. 1 TzBfG nicht auf einen der Arbeitszeit des Beschäftig33 BAG v. 5.11.2003 – 5 AZR 8/03, NZA 2005, 222; ErfK/Preis, § 4 TzBfG Rz. 12; Küttner/Poeche, Teilzeitbeschäftigung Rz. 9; aA Sievers, § 4 TzBfG Rz. 22. 34 Grobys, DB 2001, 758 (759); Feldhoff, ZTR 2005, 62 (67). 35 Für Weihnachtsgratifikationen BAG v. 17.6.2015 – 10 AZR 187/14, NZA-RR 2015, 530; vgl. § 23 Abs. 2 Satz 2 TVöD bzw. TV-L; Einzelfälle bei ErfK/Preis, § 4 TzBfG Rz. 59 f. mwN; Küttner/ Poeche, Teilzeitbeschäftigung Rz. 112. 36 ErfK/Preis, § 4 TzBfG Rz. 58. 37 BAG v. 17.6.1993 – 6 AZR 620/92, ZTR 1994, 297; v. 25.9.1997 – 6 AZR 65/96, ZTR 1998, 129. 38 BAG v. 25.7.1996 – 6 AZR 138/94, BAGE 83, 327 = NZA 1997, 774; Rolfs, RdA 2001, 129 (131); vgl. jedoch auch EuGH v. 6.12.207 – C-300/06, juris.

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20.20

§ 20 Rz. 20.20

Teilzeit

ten entsprechenden Anteil nach § 24 Abs. 2 TVöD/TV-L gekürzt werden39. Eine unzulässige Diskriminierung liegt ebenfalls vor, wenn für Mehrarbeit im Rahmen eines Teilzeitarbeitsverhältnisses eine geringere Vergütung als die für eine vergleichbare Vollzeitkraft vorgesehen ist, wie dies bei Mehrarbeiten teilzeitbeschäftigter Lehrer in den Sonderregelungen zum BAT für angestellte Lehrkräfte vorgesehen ist40.

20.21 Problematisch ist die Beurteilung leistungsorientierter Vergütungen, wie das Leistungsentgelt nach § 18 TVöD, die ebenfalls von § 4 TzBfG erfasst sind. Bei der Ausgestaltung von Beurteilungs- und Vergütungssystemen muss darauf geachtet werden, dass auch für Teilzeitbeschäftigte die vereinbarten Ziele trotz der verringerten Arbeitszeit erreichbar sind. Im Anwendungsbereich des TVöD wird dies durch § 11 Abs. 6 LeistungsTV geregelt, wonach sich die Leistungsanforderungen für das Leistungsentgelt nach § 18 TVöD auf die individuell vereinbarte, dh. reduzierte, durchschnittliche Arbeitszeit des Arbeitnehmers beziehen. Die Bemessung richtet sich dann nach § 24 Abs. 2 TVöD. Teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer erhalten das Leistungsentgelt somit in dem Umfang, der dem Anteil ihrer individuell vereinbarten durchschnittlichen Arbeitszeit vergleichbarer Vollzeitbeschäftigter entspricht41.

20.22 Für unteilbare Sachleistungen wie Dienstwagen oder Dienstwohnungen gibt es keine einheitliche Lösung; ein entschädigungsloser Wegfall kommt jedoch in aller Regel nicht in Betracht. Möglich ist die Beibehaltung der Sachleistung ohne oder mit Kostenanteil oder eine Abgeltung durch den Arbeitgeber42. b) Teilzeitarbeit und Beförderung

20.23 Auch bei der Beförderung von Teilzeitbeschäftigten besteht immer die Gefahr, dass eine Verletzung des Diskriminierungsverbots des § 4 Abs. 1 TzBfG vorliegt, wenn für Teilzeitbeschäftigte andere Kriterien für die Beförderung zugrunde gelegt werden als für Vollzeitbeschäftigte. Im öffentlichen Dienst sind dabei zusätzlich noch die im BGleiG bzw. den entsprechenden Landesgesetzen verankerten Diskriminierungsverbote Teilzeitbeschäftigter zu berücksichtigen. So darf sich zB gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 BGleiG die familienbedingte Beurlaubung nicht nachteilig auf die Beförderungsreihenfolge und die Möglichkeit einer Höhergruppierung oder Höherreihung auswirken. Grundsätzlich ist eine Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten gegenüber Vollzeitbeschäftigten beim Aufstieg in eine höhere Lohngruppe daher allenfalls dann zulässig, wenn die für den Aufstieg erforderliche Bewährungszeit das steigende Erfahrungswissen honorieren soll und bei ihrem Ablauf Vollzeitbeschäftigte über ein nicht unwesentlich größeres Wissen verfügen als vergleichbare Teilzeitbeschäftigte43. Im TVöD/TV-L ist in § 17 Abs. 3 Satz 4 ausdrücklich geregelt, dass beim Stufenaufstieg Beschäftigungszeiten mit verringerter Arbeitszeit auf die Stufenlaufzeit voll angerechnet werden. Beim leistungsorientierten Stufenaufstieg nach 39 LAG Düsseldorf v. 15.5.2007 – 8 Sa 405/07; LAG Schleswig-Holstein v. 27.3.2007 – 5 Sa 557/06; vgl. auch BAG v. 23.6.1993 – 10 AZR 127/92, BAGE 73, 307 = NZA 1994, 41 für § 34 BAT; aA LAG Hamm v. 10.5.2007 – 17 Sa 1890/06, BeckRS 2007, 46002; ArbG München v. 7.12.2006 – 11 Ca 9706/06, ZTR 2007, 144 (Ls.); Dassau/Wiesend-Rothbrust, TVöD, § 8 Rz. 61. 40 BAG v. 22.8.2001 – 5 AZR 108/00, BAGE 98, 368; v. 25.5.2005 – 5 AZR 566/04, NZA 2005, 981; Feldhoff, ZTR 2005, 62. 41 Leist, ZTR 2007, 114 (116). 42 Annuß/Thüsing/Mengel, § 8 TzBfG Rz. 216 ff. 43 BAG v. 2.12.1992 – 4 AZR 152/92, BAGE 72, 64 = NZA 1993, 367; anders noch BAG v. 14.9.1988 – 4 AZR 351/88, BAGE 59, 306.

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Grundlagen

Rz. 20.25 § 20

§ 17 Abs. 2 TVöD/TV-L darf die Teilzeitbeschäftigung bei der Leistungsbeurteilung für die Verkürzung oder Verlängerung der Stufenlaufzeit ebenfalls keine Rolle spielen. Eine Teilzeitbeschäftigung hat somit keine Auswirkungen auf die Aufstiegsmöglichkeiten des Arbeitnehmers. c) Beihilfeberechtigung Nach § 40 BAT/BAT-O44 wurde Beschäftigten im öffentlichen Dienst Beihilfe in Krankheits-, Geburts- und Todesfällen nach den beim Arbeitgeber jeweils geltenden Bestimmungen, dh. den jeweils geltenden Beihilfeverordnungen und -vorschriften, gewährt, um Beamte und Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes gleichzustellen. Dieser Anspruch stand aufgrund des Diskriminierungsverbots des § 4 TzBfG bzw. früher § 2 Abs. 1 BeschFG auch teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern zu, deren Arbeitszeit weniger als die Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit betrug, selbst wenn den unterhälftig teilzeitbeschäftigten Beamten nach den Beihilfevorschriften keine Beihilfe gewährt wurde. Auch ein entsprechender Ausschluss der Beihilfe für Beamte in der jeweiligen Beihilfevorschrift rechtfertigt nämlich eine Ungleichbehandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten nicht, da sich Arbeits- und Beamtenverhältnisse so wesentlich voneinander unterscheiden, dass sie nicht miteinander verglichen werden können45.

20.24

Nach § 40 Satz 2 BAT/BAT-O wurde der Beihilfeanspruch Teilzeitbeschäftigter anteilig nach der Dauer ihrer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit gekürzt. Das BAG sah diese Kürzung als zulässig an, da die Beihilfe nach dem Willen der Tarifvertragsparteien einen anlassbezogenen, zusätzlich zur laufenden Vergütung zu zahlenden Zuschuss zum Arbeitsentgelt darstellte46. Für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes, die nach dem 31.7.1998 eingestellt wurden, besteht indes regelmäßig keine Beihilfeberechtigung mehr, da ab dem 1.8.1998 die tarifvertraglichen Beihilfevorschriften einzelvertraglich ausgeschlossen wurden. TVöD und TV-L enthalten daher auch keine Beihilfevorschriften mehr47, so dass die dargestellte Problematik nur noch für Altarbeitnehmer gilt, die vor dem 31.7.1998 ein Arbeitsverhältnis mit einem öffentlichen Arbeitgeber begründet haben. d) Zusatzversorgung Auch im Bereich der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst dürfen teilzeitbeschäftigte 20.25 Arbeitnehmer nicht benachteiligt werden. Problematisch ist vor diesem Hintergrund ein vollständiger Ausschluss von geringfügig Beschäftigten iSd. § 8 SGB IV in Altersvorsorgetarifverträgen, da auch geringfügig Beschäftigte aufgrund von § 2 Abs. 2 TzBfG vom Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 1 TzBfG erfasst sind. Das BAG hat zumindest für die Rechtslage bis zum 31.3.1999 den Ausschluss von geringfügig Beschäftigten aufgrund der von den Tarifvertragsparteien gewählten Verzahnung der Zusatzversorgung mit dem Rentenversicherungsrecht als gerechtfertigt angesehen, weil geringfügig Beschäftigte bis zu diesem Zeitpunkt auch 44 Vgl. auch § 46 MTArb/MTArb-O. 45 BAG v. 17.6.1993 – 6 AZR 620/92, BAGE 73, 262 = NZA 1994, 764; v. 25.9.1997 – 6 AZR 65/96, BAGE 86, 326 = NZA 1998, 151; ErfK/Preis, § 4 TzBfG Rz. 58. 46 BAG v. 25.2.1999 – 6 AZR 488/97, ZTR 1999, 522; v. 19.2.1998 – 6 AZR 460/96, BB 1998, 2420; ErfK/Preis, § 4 TzBfG Rz. 58. 47 Für Altfälle (Einstellung vor dem 1.8.1998) vgl. zB die Besitzstandsregelung in Protokollerklärung zu § 13 TVÜ-Bund.

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§ 20 Rz. 20.25

Teilzeit

nicht der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht unterlagen48. Ob diese Argumentation einen Ausschluss geringfügig Beschäftigter auch noch nach der Neuregelung der sog. „Minijobs“ zum 1.4.2003 rechtfertigt, erscheint indes zweifelhaft49. 4. Ausschreibungs- und Informationspflicht (§ 7 TzBfG)

20.26 Nach § 7 Abs. 1 TzBfG hat der Arbeitgeber einen Arbeitsplatz, den er öffentlich oder innerhalb des Betriebes bzw. der Dienststelle ausschreibt, auch als Teilzeitarbeitsplatz auszuschreiben, wenn sich der Arbeitsplatz hierfür eignet. Aus der Vorschrift ergibt sich nicht die Verpflichtung für den Arbeitgeber, Arbeitsplätze überhaupt auszuschreiben50. Eine derartige Verpflichtung kann sich aber aus den Gleichstellungs- bzw. Frauenfördergesetzen des Bundes oder der Länder ergeben (zB § 6 Abs. 2 BGleiG). Die Beurteilung der Eignung obliegt nach zutreffender Auffassung als unternehmerische Entscheidung ausschließlich dem Arbeitgeber51. Maßgeblich für § 7 Abs. 1 TzBfG ist die objektive Eignung des Arbeitsplatzes für eine Teilzeitarbeit. Diese ist zu bejahen, wenn der Arbeitnehmer, der den Arbeitsplatz besetzen würde, einen Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit nach § 8 TzBfG hätte52. Sind dagegen die am zu besetzenden Arbeitsplatz zu erfüllenden Anforderungen sowie die Tätigkeiten und Aufgaben nur durch eine Vollzeitbeschäftigung zu erbringen und können sie nicht auf mehrere Arbeitnehmer aufgeteilt werden, so ist der Arbeitsplatz nicht für eine Teilzeitbeschäftigung geeignet. Auch Gründe der Organisation, des Arbeitsablaufes oder der Sicherheit im Betrieb bzw. der Dienststelle können einer Eignung als Teilzeitarbeitsplatz entgegenstehen. § 7 Abs. 1 TzBfG sieht keine Sanktionen vor, falls der Arbeitgeber seine Ausschreibungspflicht verletzt hat. Sofern deshalb nicht in der Besetzung als Vollzeitarbeitsplatz eine unzulässige Diskriminierung gemäß § 7 AGG liegt, besteht kein Anspruch für an einem Teilzeitarbeitsplatz Interessierte53. Zur Stellenausschreibung im öffentlichen Dienst s. § 2, Rz. 2.3 ff.

20.27 Weiterhin hat gemäß § 7 Abs. 2 TzBfG der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer, der ihm den Wunsch nach einer Veränderung von Dauer, dh. Verringerung oder Verlängerung, oder Lage seiner vertraglich vereinbarten Arbeitszeit angezeigt hat, über entsprechende Arbeitsplätze zu informieren, die im Betrieb oder Unternehmen besetzt werden sollen. Der Arbeitnehmer ist persönlich über geeignete Arbeitsplätze zu informieren; allgemeine Bekanntmachungen (zB am Schwarzen Brett oder Intranet) reichen nicht aus54. Mit den zu erteilenden Informationen soll der Wechsel von Vollzeit in Teilzeit und umgekehrt erleichtert werden. Da es hauptsächlich um die Veränderung der Dauer, nicht dagegen der Verteilung der Arbeitszeit geht, besteht keine Informationspflicht des Arbeitgebers gegenüber Teilzeitbeschäftigten, die lediglich eine Veränderung der Lage ihrer individuellen Arbeitszeit anstreben55. Die Informationspflicht 48 BAG v. 27.2.1996 – 3 AZR 886/94, BAGE 82, 193 = NZA 1996, 992; v. 22.2.2000 – 3 AZR 845/98, NZA 2000, 659; aA ErfK/Preis, § 4 TzBfG Rz. 56. 49 Verneinend LAG München v. 13.1.2016 – 10 Sa 544/15, BeckRS 2016, 68611; vgl. ErfK/Preis, § 4 TzBfG Rz. 56; Thüsing, ZfA 2002, 249 (266). 50 Sievers, § 7 TzBfG Rz. 2; HWK/Schmalenberg, § 7 TzBfG Rz. 3. 51 Kliemt, NZA 2001, 63 (68); Preis/Gotthard, DB 2001, 2001, 145 (150); ErfK/Preis, § 7 TzBfG Rz. 2; aA Meinel/Heyn/Herms, § 7 TzBfG Rz. 10; Buschmann/Dieball/Stevens-Bartol, § 7 TzBfG Rz. 4. 52 HWK/Schmalenberg, § 7 TzBfG Rz. 4; Meinel/Heyn/Herms, § 7 TzBfG Rz. 10; Sievers, § 7 TzBfG Rz. 6. 53 HWK/Schmalenberg, § 7 TzBfG Rz. 6. 54 Sievers, § 7 TzBfG Rz. 19. 55 ErfK/Preis, § 7 TzBfG Rz. 6; Hanau, NZA 2001, 1168.

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Grundlagen

Rz. 20.29 § 20

des Arbeitgebers aus § 7 Abs. 2 TzBfG bezieht sich nicht nur auf den Betrieb, in dem der Arbeitnehmer beschäftigt ist, sondern auf das gesamte Unternehmen. Die erforderlichen Informationen können formlos erteilt werden56; dies muss unverzüglich erfolgen. Der Verstoß des Arbeitgebers gegen § 7 Abs. 2 TzBfG kann zu einem Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers nach § 280 Abs. 1 BGB iVm. § 251 Abs. 1, § 252 BGB führen57. Voraussetzung dafür ist, dass der Arbeitnehmer sich bei erfolgter Information auf die freie Stelle beworben hätte und er darlegen und beweisen kann, dass er die Stelle tatsächlich hätte erhalten müssen58. Letzteres wird in der Praxis regelmäßig nicht möglich sein. 5. Sonderformen der Teilzeitarbeit Das TzBfG regelt explizit zwei Sonderformen der Teilzeitarbeit: Zum einen die Abrufarbeit gemäß § 12 TzBfG und zum anderen die Arbeitsplatzteilung (Job-Sharing) gemäß § 13 TzBfG.

20.28

a) Arbeit auf Abruf (§ 12 TzBfG) Nach § 12 Abs. 1 TzBfG können Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbaren, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat. Diese sog. Arbeit auf Abruf ist auch als KAPOVAZ (kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit) bekannt. § 12 TzBfG ist nur auf Teilzeitbeschäftigte, nicht auf Vollzeitbeschäftigte anwendbar59. Vollzeitbeschäftigte unterliegen bei Vereinbarung von Abrufarbeit dem Schutz durch die §§ 307 ff. BGB; einer Regelung wie der des § 12 TzBfG bedarf es daher nicht. Die Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer muss eine bestimmte Dauer der wöchentlichen und täglichen Arbeitszeit festlegen. Unterbleibt das, so gilt nach § 12 Abs. 1 Satz 3 TzBfG eine wöchentliche Arbeitszeit von 20 Stunden als vereinbart. Darüber hinaus hat der Arbeitgeber die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers jeweils für mindestens drei aufeinander folgende Stunden in Anspruch zu nehmen (§ 12 Abs. 1 Satz 4 TzBfG). Arbeitet der Arbeitnehmer aufgrund des Arbeitsanfalls mehr als vereinbart, liegt Mehrarbeit bzw. liegen Überstunden vor. Eine Vereinbarung iSd. § 12 Abs. 1 TzBfG liegt auch vor, wenn lediglich eine Mindestarbeitszeit vereinbart wurde60. Allerdings darf die einseitig vom Arbeitgeber abrufbare Arbeit wegen § 307 BGB nicht mehr als 25 % der vereinbarten wöchentlichen Mindestarbeitszeit betragen61. Möglich ist aber auch die Vereinbarung einer Höchstarbeitszeit oder einer bestimmten Bandbreite (zB zwischen 20 und 35 Stunden wöchentlich). Der Arbeitnehmer kann die Arbeit auf Abruf verweigern, wenn der Arbeitgeber ihm die Lage seiner Arbeitszeit nicht jeweils mindestens vier Tage im Voraus mitteilt. Kommt der Arbeitgeber seiner Verpflichtung, die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers rechtzeitig abzurufen, nicht nach, gerät er in Annahmeverzug und muss weiterhin die vereinbarte Vergütung zahlen62. 56 Kliemt, NZA 2001, 63 (68). 57 Meinel/Heyn/Herms, § 7 TzBfG Rz. 26; Hanau, NZA 2001, 1168 (1169); HWK/Schmalenberg, § 7 TzBfG Rz. 12; ErfK/Preis, § 7 TzBfG Rz. 8. 58 HWK/Schmalenberg, § 7 TzBfG Rz. 12; ErfK/Preis, § 7 TzBfG Rz. 8. 59 Str. Meinel/Heym/Herms, § 12 TzBfG Rz. 7; Schaub/Linck, ArbRHdb, § 43 Rz. 10; Arnold/Gräfl/ Imping/Arnold, § 12 TzBfG Rz. 13; ErfK/Preis, § 12 TzBfG Rz. 4; MüKo TzBfG/Müller-Glöge, § 12 TzBfG Rz. 3; Sievers, § 12 TzBfG Rz. 5; aA Rolfs, § 12 TzBfG Rz. 3; Annuß/Thüsing/Jacobs, § 12 TzBfG Rz. 5; Buschmann/Dieball/Stevens-Bartol, § 12 TzBfG Rz. 28. 60 BAG v. 7.12.2005 – 5 AZR 535/04, ArbRB 2006, 132 = NZA 2006, 423; Sievers, § 12 TzBfG Rz. 14. 61 BAG v. 7.12.2005 – 5 AZR 535/04, ArbRB 2006, 132 = NZA 2006, 423; LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 6.4.2006 – 1 Sa 37/06, juris; Schaub/Linck, ArbRHdb, § 43 Rz. 13. 62 Vgl. Sievers, § 12 TzBfG Rz. 37 f.

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20.29

§ 20 Rz. 20.30

Teilzeit

b) Arbeitsplatzteilung (§ 13 TzBfG)

20.30 Arbeitgeber und Arbeitnehmer können auch vereinbaren, dass sich mehrere Arbeitnehmer die Arbeitszeit an einem Arbeitsplatz teilen (Job-Sharing). Die Arbeitnehmer verfügen im Rahmen dieses Modells über getrennte (Teilzeit-) Arbeitsverträge, die sie jeweils mit dem Arbeitgeber abschließen. Zwischen den Arbeitnehmern besteht keinerlei vertragliche Abrede63. Die Besonderheit der Arbeitsplatzteilung liegt in der Zeitsouveränität der Arbeitnehmer, da sie untereinander die Lage der Arbeitszeit festlegen. Können sich die Arbeitnehmer auf eine bestimmte Verteilung der Arbeitszeit untereinander nicht einigen, kann der Arbeitgeber die Lage der Arbeitszeit im Wege seines Direktionsrechtes festlegen64. Das Job-Sharing begründet kein Gesamtschuldverhältnis nach § 421 BGB auf Seiten der Arbeitnehmer. Vielmehr schuldet jeder Partner nur seine Teilleistung und die Besetzung des Arbeitsplatzes in der von ihm zu erbringenden Arbeitszeit65. Im Verhinderungsfalle eines Arbeitnehmers ist der Partner auf dem betreffenden Arbeitsplatz gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 TzBfG zur Vertretung verpflichtet, soweit er dem im Einzelfall zugestimmt hat. Das Ausscheiden eines Partners allein rechtfertigt nach § 13 Abs. 2 Satz 1 TzBfG noch nicht die Kündigung der übrigen Partner.

II. Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst 1. Teilzeitanspruch nach § 8 TzBfG a) Anspruchsvoraussetzungen

20.31 Den allgemeinen Teilzeitanspruch nach § 8 TzBfG kann jeder Arbeitnehmer geltend machen, also auch ein leitender Angestellter, ein befristet eingestellter Beschäftigter oder ein bereits in Teilzeit beschäftigter Arbeitnehmer, sofern nur das Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate bestanden hat. Entscheidend ist das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses mit demselben Arbeitgeber; es kommt also nicht auf die Betriebszugehörigkeit an, was auch § 8 Abs. 7 TzBfG belegt. Dh., dass wegen der dreimonatigen Antragsfrist nach § 8 Abs. 2 Satz 1 TzBfG frühestens nach einer Beschäftigung von neun Monaten und einem Tag die Arbeitszeit reduziert werden kann66. Ruht das Arbeitsverhältnis, sind die wechselseitigen Hauptleistungspflichten suspendiert, so dass der Teilzeitanspruch zumindest vorübergehend nicht durchgesetzt werden kann67.

20.32 Das nach § 8 Abs. 7 TzBfG außerdem erforderliche Überschreiten des Schwellenwertes einer Beschäftigung von in der Regel mehr als 15 Arbeitnehmern beim Arbeitgeber ist im öffentlichen Dienst in den meisten Fällen gegeben, da sich dieser Wert auf den Dienstherrn und nicht auf den Betrieb bezieht.

20.33 § 8 TzBfG gibt weder eine Mindest- noch eine Maximalreduzierung vor, so dass auch minimale Arbeitszeitreduzierungen denkbar sind. 63 Sievers, § 13 TzBfG Rz. 5; ErfK/Preis, § 13 TzBfG Rz. 2. 64 Sievers, § 13 TzBfG Rz. 8; MüKo TzBfG/Müller-Glöge, § 13 TzBfG Rz. 3; ErfK/Preis, § 13 TzBfG Rz. 3. 65 Arnold/Gräfl/Imping/Arnold, § 13 TzBfG Rz. 12; ErfK/Preis, § 13 TzBfG Rz. 7; Schaub/Linck, ArbRHdb, § 43 Rz. 23. 66 Hromadka, NJW 2001, 400 (402); Kliemt, NZA 2001, 63 (64); Rolfs, § 8 TzBfG Rz. 10; Sievers, § 8 TzBfG Rz. 41; aA Annuß/Thüsing/Mengel, § 8 TzBfG Rz. 33 (neun Monate). 67 BAG v. 14.10.2003 – 9 AZR 100/03, BAGE 108, 77 = NZA 2004, 614; Lorenz, NZA-RR 2006, 281 (282).

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Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst

Rz. 20.35 § 20

Ausreichend ist ein formloser Antrag des Arbeitnehmers, der jedoch eindeutig formuliert sein muss, da es sich um ein Angebot iSd. § 145 BGB handelt. Der Antrag muss vom Arbeitgeber mit einem bloßen „Ja“ angenommen werden können. Das bedeutet, dass ein Antrag, der lediglich eine Zeitspanne enthält, nicht ausreichend ist68. Nicht erforderlich ist, dass der Antrag als solcher nach § 8 TzBfG bezeichnet ist. Aufgrund von § 22 TzBfG kann Schriftform für den Antrag weder einzel- noch tarifvertraglich erzwungen werden. Nach § 8 Abs. 2 Satz 1 TzBfG muss der Arbeitnehmer sein Teilzeitverlangen mindestens drei Monate vor dem gewünschten Beginn ankündigen. Nach der Rechtsprechung des BAG führt ein verspätet gestellter Antrag nicht zur Unwirksamkeit, sondern ist so auszulegen, dass er sich hilfsweise auf den Zeitpunkt bezieht, zu dem der Arbeitnehmer die Verringerung frühestens verlangen kann69. Es wird also nur der Zeitpunkt des Vollzugs verschoben. Allerdings tritt dann nicht die Zustimmungs-Fiktion des § 8 Abs. 5 Satz 2 und Satz 3 TzBfG ein70. Erörtert der Arbeitgeber trotz Fristversäumnis das Teilzeitarbeitsverlangen mit dem Arbeitnehmer, kann hierin ein wirksamer Verzicht auf die gesetzliche Frist gesehen werden71.

20.34

Dem Arbeitnehmer steht als Annex zu seinem Begehren auf Reduzierung der Arbeitszeit ein Anspruch auf eine bestimmte Arbeitszeitverteilung zu. Ob nur eine bestimmte wöchentliche Verteilung der Arbeitszeit oder aber auch eine Verteilung in Blöcken (zB Arbeit nur in bestimmten Wochen oder Monaten) begehrt werden kann, ist umstritten72. Diesen Anspruch kann der Arbeitnehmer neben dem Anspruch auf Arbeitszeitverkürzung geltend machen; er kann die Verteilung jedoch auch dem Direktionsrecht des Arbeitgebers überlassen und nur den Anspruch auf Verringerung isoliert geltend machen73. Isoliert kann der Antrag auf eine bestimmte Verteilung der Arbeitszeit dagegen wirksam nicht gestellt werden74. Er kann ausschließlich in Zusammenhang mit dem Begehren auf Verringerung der Arbeitszeit gestellt werden. Daraus folgt, dass eine Änderung der Verteilung der Arbeitszeit nicht in Betracht kommt, wenn der Arbeitnehmer die Verringerung der Arbeitszeit nicht durchsetzen kann. Der Annexanspruch auf eine bestimmte Arbeitszeitverteilung ist eine Besonderheit des Teilzeitanspruchs nach § 8 TzBfG. Alle anderen gesetzlichen oder tarifvertraglichen Ansprüche auf Teilzeitarbeit sehen nur einen Anspruch auf Verringerung, nicht jedoch auf eine bestimmte Verteilung der Arbeitszeit vor.

20.35

68 BAG v. 18.5.2004 – 9 AZR 319/03, BAGE 110, 356 = ArbRB 2004, 361 = NZA 2005, 108; LAG Niedersachsen v. 11.4.2003 – 10 Sa 1746/03, ArbRB online 2003, 321. 69 BAG v. 20.7.2004 – 9 AZR 626/03, BAGE 111, 260 = ArbRB 2004, 328 = NZA 2004, 1090; v. 13.11.2007 – 9 AZR 36/07, ArbRB 2008, 109 = EzA§ 8 TzBfG Nr. 20; Rolfs, § 8 TzBfG Tz. 12; aA Annuß/Thüsing/Mengel, § 8 TzBfG Rz. 35; Preis/Gotthardt, DB 2001, 145. 70 BAG v. 20.7.2004 – 9 AZR 626/03, BAGE 111, 260 = ArbRB 2004, 328 = NZA 2004, 1090. 71 BAG v. 14.10.2003 – 9 AZR 636/02, BAGE 108, 103 = ArbRB 2004, 168 = NZA 2004, 975. 72 Bejahend LAG Düsseldorf v. 1.3.2002 – 18 (4) Sa 1269/01, DB 2002, 1222; Rolfs, § 8 TzBfG Rz. 14; abl. LAG Düsseldorf v. 17.5.2006 – 12 Sa 175/06, DB 2006, 1282; LAG Köln v. 23.11.2009 – 5 Sa 601/09, ArbRB online; Hanau, NZA 2001, 1168 (1170). 73 BAG v. 18.5.2004 – 9 AZR 319/03, BAGE 110, 356 = ArbRB 2004, 361 = NZA 2005, 108; v. 23.11.2004 – 9 AZR 644/03, BAGE 113, 11 = ArbRB 2005, 230 = NZA 2005, 769; v. 21.6.2005 – 9 AZR 409/04, ArbRB 2006, 69 = NZA 2006, 316; Annuß/Thüsing/Mengel, § 8 TzBfG Rz. 61, 63; ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 14. 74 Zutreffend Sievers, § 8 TzBfG Rz. 9.

Laber

599

§ 20 Rz. 20.36

Teilzeit

b) Antrag auf befristete Verringerung der Arbeitszeit

20.36 § 8 TzBfG ermöglicht es nicht, eine befristete Verringerung der Arbeitszeit geltend zu machen75. Legt ein Arbeitnehmer Wert auf eine befristete Reduzierung der Arbeitszeit, sollte er daher – soweit die Voraussetzungen vorliegen – seinen Antrag auf eine andere Anspruchsgrundlage stützen, etwa auf den neuen § 9a TzBfG. Eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer hierauf hinzuweisen, besteht nicht76. Eine befristete Reduzierung der Arbeitszeit ist allerdings einvernehmlich möglich77. c) Erörterung und Zustimmungsfiktion

20.37 § 8 Abs. 3 TzBfG statuiert zunächst eine Verhandlungs- oder Erörterungsobliegenheit. Dem Arbeitgeber obliegt es, mit dem Arbeitnehmer die geplante Verringerung und Verteilung der Arbeitszeit zu erörtern und zu einer Einigung zu gelangen (Konsensprinzip). Der Arbeitnehmer muss spätestens im Rahmen der Erörterung sein Begehren, eine bestimmte Verteilung der Arbeitszeit zu erreichen, geltend machen. Ein „Nachschieben“ des Verteilungswunsches ist nicht möglich78. Das Erörterungsverfahren muss jedoch nur durchgeführt werden, wenn der Arbeitnehmer einen von § 8 TzBfG erfassten Verringerungsanspruch geltend macht79. Unmittelbare Sanktionen sieht das Gesetz bei einem Verstoß gegen die Erörterungsobliegenheit nicht vor. Insbesondere die Zustimmungsfiktion des § 8 Abs. 5 TzBfG greift nicht ein. Eine Verletzung der Erörterungsobliegenheit hat allerdings zur Folge, dass der Arbeitgeber später gegen das Vorbringen des Arbeitnehmers keine Einwendungen vorbringen kann, die nicht schon in einer Verhandlung hätten entgegengehalten werden können80.

20.38 Einigen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Verringerung und Verteilung der Arbeitszeit, kann von dieser Vereinbarung im Hinblick auf die Verringerung der Arbeitszeit nur einvernehmlich oder durch Änderungskündigung abgewichen werden. Die Arbeitszeitverteilung kann jedoch unter den Voraussetzungen des § 8 Abs. 5 Satz 4 TzBfG vom Arbeitgeber geändert werden (s. Rz. 20.59).

20.39 Kommt es im Rahmen der Erörterung nach § 8 Abs. 3 TzBfG nicht zu einer Einigung, bestimmt der Gesetzgeber eine Pflicht des Arbeitgebers zur Zustimmung zur Verringerung der Arbeitszeit und Verteilung entsprechend den Wünschen des Arbeitnehmers, es sei denn, betriebliche Gründe stehen dem entgegen. Den Arbeitgeber trifft somit eine Pflicht zur Abgabe einer Willenserklärung. Kommt er dieser Pflicht nicht oder nur verspätet nach, wird die Zustimmung zur Vertragsänderung gemäß § 8 Abs. 5 Satz 2, 3 TzBfG fingiert. 75 BAG v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/02, BAGE 105, 107 = NZA 2003, 1392; v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, BAGE 105, 248 = DB 2004, 319; v. 12.9.2006 – 9 AZR 686/05, NZA 2007, 253; HWK/ Schmalenberg, § 8 TzBfG Rz. 16; Lorenz, NZA-RR 2006, 821; Meinel/Heyn/Herms, § 8 TzBfG Rz. 29; aA Buschmann/Dieball/Stevens-Bartol, § 8 TzBfG Rz. 21; Gruber, DB 2007, 804 (805); Mues, ArbRB 2002, 15 (17). 76 BAG v. 12.9.2006 – 9 AZR 686/05, ArbRB 2007, 100 = NZA 2007, 253. 77 Vgl. ArbG Leipzig v. 15.3.2006 – 10 Ga 9/06, AE 2007, 42. 78 BAG v. 23.11.2004 – 9 AZR 644/03, BAGE 113, 11 = ArbRB 2005, 230 = NZA 2005, 769; v. 24.6.2008 – 9 AZR 514/07, ArbRB 2008, 361 = EzA § 8 TzBfG Nr. 22. 79 BAG v. 12.9.2006 – 9 AZR 686/05, ArbRB 2007, 100 = NZA 2007, 253. 80 BAG v. 18.2.2003 – 9 AZR 356/02, BAGE 105, 133 = ArbRB 2003, 260 = NJW 2003, 2771 = NZA 2003, 911; v. 12.9.2006 – 9 AZR 686/05, ArbRB 2007, 100 = NZA 2007, 253 = NJW 2007, 1613; ArbG Hamburg v. 13.10.2006 – 27 Ca 53/06; Meinel/Heyn/Herms, § 8 TzBfG Rz. 46; Straub, FS AG Arbeitsrecht, S. 171 (173); aA ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 15; Mengel, BB 2003, 1847.

600

Laber

Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst

Rz. 20.42 § 20

d) Ablehnung des Teilzeitarbeitsverlangens nach § 8 Abs. 4 Satz 1 TzBfG Der Arbeitgeber kann die gesetzliche Fiktion des § 8 Abs. 5 Satz 2, 3 TzBfG nur verhindern, indem er spätestens bis einen Monat vor dem vom Arbeitnehmer gewünschten Beginn der Teilzeitarbeit das Verlangen schriftlich (§ 126 BGB) ablehnt. Bis zum Ablauf der dem Arbeitgeber eingeräumten Überlegungsfrist ist der Arbeitnehmer an seinen Antrag – auch hinsichtlich einer gewünschten Arbeitszeitverteilung – gebunden. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitgeber die vorgeschriebene Erörterung mit dem Arbeitnehmer unterlässt, da § 8 Abs. 5 Satz 1 TzBfG als lex specialis gegenüber den §§ 145 ff. BGB anzusehen ist81.

20.40

Die Ablehnung kann sich auf die beabsichtigte Verringerung der Arbeitszeit und/oder ihre 20.41 gewünschte Verteilung beziehen. Auch wenn nur die gewünschte Verteilung abgelehnt wird, wird zugleich auch der Antrag auf Verringerung abgelehnt; eine Aufteilung der Ansprüche durch den Arbeitgeber ist nicht möglich82. Vielmehr kann das Angebot des Arbeitnehmers gemäß § 150 Abs. 2 BGB nur einheitlich angenommen oder abgelehnt werden. Die Ablehnungsentscheidung muss nicht begründet werden. Lehnt der Arbeitgeber den Antrag des Arbeitnehmers zu Recht ab, kann der Arbeitnehmer einen erneuten Verringerungsanspruch nach § 8 TzBfG erst nach Ablauf einer Sperrfrist von zwei Jahren (§ 8 Abs. 6 TzBfG) geltend machen. Der Arbeitgeber kann den Verringerungs- und/oder Verteilungswunsch des Arbeitnehmers ablehnen, wenn diesem Wunsch betriebliche Gründe entgegenstehen (§ 8 Abs. 4 Satz 1 TzBfG). Dabei werden alle rational nachvollziehbaren Erwägungen des Arbeitgebers als ausreichende Ablehnungsgründe des Arbeitgebers angesehen. Sie müssen nach der ständigen Rechtsprechung des BAG jedoch hinreichend gewichtig sein83. Das ist dann der Fall, wenn der Arbeitgeber rational nachvollziehbare Gründe anführen kann84. In § 8 Abs. 4 Satz 2 TzBfG sind gesetzliche Regelbeispiele, die nicht abschließend sind85, für entgegenstehende betriebliche Gründe aufgeführt. So liegt ein entgegenstehender betrieblicher Grund vor, wenn die Verringerung der Arbeitszeit zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der Organisation oder des Arbeitsablaufs führt. Ein Beispiel hierfür ist etwa im schulischen Bereich ein spezielles pädagogisches Konzept, das eine Betreuung durch wenige vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer vorsieht86. Weitere entgegenstehende Gründe sind die wesentliche Beeinträchtigung der Sicherheit, wenn also durch Teilzeitbeschäftigte die notwendigen Sicherheitsstandards nicht 81 BAG v. 23.11.2004 – 9 AZR 644/03, BAGE 113, 11 = ArbRB 2005, 230 = NZA 2005, 769; LAG Düsseldorf v. 13.1.2006 – 9 Sa 1222/05; ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 13; Hanau, NZA 2001, 1168 (1169); Mues, ArbRB 2002, 15 (16); Rolfs, RdA 2001, 129 (134); differenzierend hinsichtlich der Verteilung Annuß/Thüsing/Mengel, § 8 TzBfG Rz. 68 ff. 82 BAG v. 18.2.2003 – 9 AZR 356/02, BAGE 105, 133 = ArbRB 2003, 260 = NJW 2003, 2771 = NZA 2003, 911; v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/03, BAGE 105, 107 = NZA 2003, 1392; aA ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 14; Preis/Gotthardt, DB 2001, 145 (147). 83 Vgl. BT-Drucks. 14/4374, S. 17; BAG v. 20.1.2015 – 9 AZR 735/13, NZA 2015, 816 (817) Rz. 17; v. 14.10.2003 – 9 AZR 636/02, BAGE 108, 103 = ArbRB 2004, 168 = NZA 2004, 975; v. 16.3.2003 – 9 AZR 323/03, BAGE 110, 45 = ArbRB 2004, 302 = NZA 2004, 1047; v. 27.4.2004 – 9 AZR 522/03, BAGE 110, 232 = ArbRB 2005, 5 = NZA 2004, 1225; v. 15.8.2006 – 9 AZR 30/06, ArbRB 2007, 69 = NZA 2007, 259; v. 13.10.2009 – 9 AZR 910/08, ArbRB 2010, 137; Rolfs, § 8 TzBfG Rz. 29; Sievers, § 8 TzBfG Rz. 74; aA Annuß/Thüsing/Mengel, § 8 TzBfG Rz. 137. 84 Sievers, § 8 TzBfG Rz. 74. 85 BAG v. 27.4.2004 – 9 AZR 522/03, BAGE 110, 232 = ArbRB 2005, 5 = NZA 2004, 1225; ErfK/ Preis, § 8 TzBfG Rz. 33. 86 BAG v. 19.8.2003 – 9 AZR 542/92, EzA § 8 TzBfG Nr. 4.

Laber

601

20.42

§ 20 Rz. 20.42

Teilzeit

mehr gewährleistet werden können87, sowie die Verursachung unverhältnismäßiger Kosten88, zB durch die Einrichtung von zusätzlichen kostenintensiven Arbeitsplätzen oder die Anschaffung von zusätzlichen Dienstfahrzeugen. Als weitere betriebliche Gründe können etwa das Fehlen einer geeigneten Ersatzkraft89, die Unzumutbarkeit langer Einarbeitungszeiten der Ersatzkraft90 oder auch künstlerische Belange91 einem Verlangen auf Teilzeitarbeit entgegenstehen. Kein entgegenstehender betrieblicher Grund ist das Überschreiten von arbeitsrechtlich relevanten Schwellenwerten (zB § 16 BPersVG, § 38 BetrVG) aufgrund erforderlicher Neueinstellungen92. Es handelt sich hierbei um eine gesetzliche Folge, die nicht allein auf die Einstellung eines Arbeitnehmers, sondern auf die Beschäftigung aller Arbeitnehmer zurückgeht.

20.43 Pauschale Hinweise auf die wirtschaftliche Lage und zu erwartende Kosten reichen allerdings ebenso wenig aus93 wie die Behauptung, der Arbeitsplatz sei als Vollzeitarbeitsplatz ausgestaltet94, es gebe eine abweichende unternehmerische Vorstellung von der „richtigen“ Arbeitszeitverteilung95 oder der Verwaltungsaufwand erhöhe sich. Die Gründe für die Ablehnung des Teilzeitverlangens müssen über die typischen mit einer Teilzeittätigkeit verbundenen Folgen hinausgehen.

20.44 In der Praxis spielt überwiegend die Ablehnung des Teilzeitverlangens wegen eines angeblich entgegenstehenden, unternehmerischen Konzepts eine Rolle. Das BAG nimmt in ständiger Rechtsprechung die Überprüfung der Ablehnungsentscheidung anhand eines dreistufigen Schemas vor96. Dieses Schema gilt gleichermaßen für die Ablehnung des Teilzeitverlangens als auch für die Ablehnung des konkreten Verteilungswunsches97.

20.45 Auf der ersten Stufe ist danach zu fragen, welches betriebliche Organisationskonzept der vom Arbeitgeber als erforderlich angesehenen Arbeitszeitregelung zugrunde liegt. Unter Organisationskonzept wird das Konzept verstanden, mit dem die unternehmerische Aufgabenstellung im Betrieb verwirklicht werden soll. Es muss die Arbeitszeitregelung bedingen, dh., es setzt einen bestimmten zeitlichen Arbeitsumfang oder eine bestimmte Arbeitszeitverteilung voraus. Ob ein solches Konzept besteht, auch tatsächlich durchgeführt wird und 87 Dieser Fall ist in der Praxis kaum denkbar, allenfalls soweit die Verringerung der Arbeitszeit dazu führte, dass bestimmte betriebliche Sicherheitsstandards nicht mehr eingehalten werden können, vgl. insoweit Annuß/Thüsing/Mengel, § 8 TzBfG Rz. 154. 88 BAG v. 23.11.2004 – 9 AZR 644/03, BAGE 113, 11 = ArbRB 2005, 230 = NZA 2005, 679. 89 Vgl. Meinel/Heyn/Herms, § 8 TzBfG Rz. 73 ff.; Straub, FS AG Arbeitsrecht, S. 184 (198 ff.). 90 BAG v. 23.11.2004 – 9 AZR 644/03, BAGE 113, 11 = ArbRB 2005, 230 = NZA 2005, 769. 91 Für eine Orchestermusikerin: BAG v. 27.4.2004 – 9 AZR 522/03, BAGE 110, 232 = ArbRB 2005, 5 = NZA 2004, 1225. 92 ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 38; Meinel/Heyn/Herms, § 8 TzBfG Rz. 72; aA Annuß/Thüsing/Mengel, § 8 TzBfG Rz. 156. 93 LAG Köln v. 23.12.2005 – 9 Ta 397/05, LAGE § 8 TzBfG Nr. 16; ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 26. 94 LAG Rheinland-Pfalz v. 12.4.2002 – 3 Sa 161/02, NZA 2002, 856; Meinel/Heyn/Herms, § 8 TzBfG Rz. 52. 95 BAG v. 9.12.2003 – 9 AZR 16/03, BAGE 109, 81 = NZA 2004, 921; v. 16.3.2004 – 9 AZR 323/03, BAGE 110, 45 = ArbRB 2004, 302 = NZA 2004, 1047. 96 St. Rspr. seit BAG v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/02, BAGE 105, 107 = NZA 2003, 1392; v. 19.8.2003 – 9 AZR 542/02, ArbRB 2004, 99 = ZTR 2004, 542; v. 13.10.2009 – 9 AZR 910/08, ArbRB 2010, 137; kritisch Hanau, RdA 2005, 301 (303 f.); Schunder, FS AG Arbeitsrecht, S. 171 (175 f.). 97 BAG v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/02, BAGE 105, 107 = NZA 2003, 1392; v. 16.3.2004 – 9 AZR 323/03, BAGE 110, 45 = ArbRB 2004, 302 = NZA 2004, 1047; Schunder, FS AG Arbeitsrecht, S. 171 (175).

602

Laber

Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst

Rz. 20.47 § 20

ob sich daraus das vorgetragene Arbeitszeitmodell ergibt, ist arbeitsgerichtlich voll zu überprüfen. Keiner gerichtlichen Kontrolle unterliegt aber die Frage, ob das vom Arbeitgeber gewählte Konzept sinnvoll und zweckmäßig ist, solange es nicht die Grenzen des Rechtsmissbrauchs überschreitet98. In der Praxis stellt sich die Darlegung eines schlüssigen Organisationskonzepts und seiner tatsächlichen Umsetzung am schwierigsten dar99. Wenn dies jedoch gelingt, sind die unternehmerische Entscheidung des Arbeitgebers, welche Aufgaben er betrieblich verfolgt, und die sich daraus ergebenden Folgeentscheidungen hinzunehmen, soweit sie nicht willkürlich sind100. Auf der zweiten Stufe ist zu untersuchen, inwieweit die als erforderlich angesehene Arbeitszeitregelung dem Arbeitszeitverlangen des Arbeitnehmers tatsächlich entgegensteht101.

20.46

Insoweit ist der Frage nachzugehen, ob durch eine dem Arbeitgeber zumutbare Änderung von betrieblichen Abläufen oder des Personaleinsatzes die betrieblich erforderliche Arbeitszeitregelung unter Wahrung des Organisationskonzeptes mit dem individuellen Arbeitszeitwunsch des Arbeitnehmers zur Deckung gebracht werden kann. Unzumutbar ist bspw. der Ausspruch von (Änderungs-) Kündigungen gegenüber anderen vergleichbaren Arbeitnehmern oder die Anordnung von Überstunden. Zumutbar ist hingegen die Einstellung einer geeigneten Ersatzkraft. Kann der Arbeitgeber jedoch beweisen, dass er sich hinreichend, indes erfolglos um eine geeignete Ersatzkraft bemüht hat, kann dies dem Teilzeitverlangen entgegenstehen102. Dies setzt im Regelfall zumindest die (belegbar) erfolglose Nachfrage bei der Agentur für Arbeit sowie eine inner- und außerbetriebliche Stellenausschreibung voraus103. Für den öffentlichen Dienst wird in aller Regel eine überregionale oder gar bundesweite Ausschreibung notwendig sein. Dabei dürfen die Anforderungen an die Qualifikation der Ersatzkraft nicht höher gestellt werden als an die Qualifikation des bisherigen Stelleninhabers104. Eine Ersatzkraft ist auch dann als geeignet anzusehen, wenn sie unter Einsatz verhältnismäßiger Kosten geschult werden muss105. Die Grenze zu nicht mehr hinzunehmenden unverhältnismäßig hohen Kosten lässt sich nicht anhand der Rechtsprechung des BAG zur Frage der zumutbaren Einarbeitungszeit zur Herstellung der sozialen Vergleichbarkeit gemäß § 1 Abs. 3 KSchG, die mit drei Monaten bemessen wird, ziehen. Andernfalls würden Arbeitnehmer mit höheren Qualifikationen bei einer auf drei oder vier Monate angelegten Höchstgrenze zwangsläufig benachteiligt106. Auf der dritten Stufe wird schließlich geprüft, ob durch die vom Arbeitnehmer gewünschte Abweichung die in § 8 Abs. 4 Satz 2 TzBfG genannten besonderen betrieblichen Belange oder das betriebliche Organisationskonzept wesentlich beeinträchtigt werden, dh. der „Kern“ des Konzepts berührt wird107.

98 99 100 101 102 103 104 105 106 107

Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Bayreuther, § 8 TzBfG Rz. 33. Straub, FS AG Arbeitsrecht, S. 184 (197). Vgl. LAG Baden-Württemberg v. 4.11.2002 – 15 Sa 53/02, ArbRB 2003, 265. BAG v. 20.1.2015 – 9 AZR 735/13, NZA 2015, 816 (817) Rz. 18. Vgl. ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 35; Lorenz, NZA-RR 2006, 281 (285). Vgl. BAG v. 27.4.2004 – 9 AZR 522/03, BAGE 110, 232 = ArbRB 2005, 5 = NZA 2004, 1225; Lorenz, NZA-RR 2006, 281 (285). Vgl. ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 36; Sievers, § 8 TzBfG Rz. 108. Vgl. Lorenz, NZA-RR 2006, 281 (285). BAG v. 23.11.2004 – 9 AZR 644/03, ArbRB 2005, 230 = EzA § 8 TzBfG Nr. 12. So BAG v. 19.8.2003 – 9 AZR 542/02, ArbRB 2004, 99 = ZTR 2004, 542; s. auch BAG v. 20.1.2015 – 9 AZR 735/13, NZA 2015, 816 (817) Rz. 18.

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603

20.47

§ 20 Rz. 20.47

Teilzeit

Auf dieser dritten Stufe erfolgt keine Abwägung zwischen den Interessen des Arbeitgebers und denen des Arbeitnehmers108, sondern es wird allein auf die Beeinträchtigung des Organisationskonzepts abgestellt. Liegt eine wesentliche Beeinträchtigung vor, besteht kein Teilzeitanspruch („Alles-oder-Nichts-Prinzip“). Es ist demzufolge für die Entscheidung ohne Belang, aus welchen Gründen der Arbeitnehmer die Arbeitszeitverkürzung begehrt.

20.48 Diese Grundsätze werden von der Rechtsprechung ohne Modifikationen auch im Bereich des öffentlichen Dienstes angewendet. Als mögliche entgegenstehende betriebliche Konzepte – deren tatsächliche Durchführung vorausgesetzt – wurden von der Rechtsprechung im Bereich des öffentlichen Dienstes bislang pädagogische Konzepte (sog. Mentorenprinzip)109 und spezielle Konzepte zur Betreuung kranker oder pflegebedürftiger Menschen (zB wegen des Aufbaus eines Nähe- und Vertrauensverhältnisses)110 anerkannt.

20.49 Eine Konkretisierung – nicht Einschränkung – der entgegenstehenden betrieblichen Gründe kann nur durch Tarifvertrag erfolgen (§ 8 Abs. 4 Satz 3 und Satz 4 TzBfG), nicht jedoch durch Arbeitsvertrag oder eine Betriebs- oder Dienstvereinbarung. Die Tarifverträge im öffentlichen Dienst sehen derartige Konkretisierungen nicht vor. Als Konkretisierung ist zB eine tarifvertragliche Überforderungsklausel anzusehen, wonach eine bestimmte Anzahl von Teilzeitkräften im Betrieb oder in der Dienststelle nicht überschritten werden darf111. Tarifvertraglich konkretisierte Ablehnungsgründe lösen indes nicht die Sperrfrist des § 8 Abs. 6 TzBfG aus, wenn sie faktisch zu einer Beeinträchtigung des Anspruchs führen112.

20.50 Eine Betriebs- oder Dienstvereinbarung über die Lage der Arbeitszeit kann den Arbeitgeber berechtigen, das Verlangen des Arbeitnehmers auf wunschgerechte Verteilung der nach § 8 TzBfG verringerten Arbeitszeit abzulehnen, wenn die begehrte Lage der Arbeitszeit mit der Betriebs- oder Dienstvereinbarung nicht zu vereinbaren ist113. Dagegen soll die fehlende Zustimmung des Betriebs- bzw. Personalrates zur Verkürzung der Arbeitszeit keinen betrieblichen Grund darstellen, da andernfalls der Betriebsrat über den Teilzeitanspruch entscheiden würde114.

20.51 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang § 22 Abs. 2 TzBfG: Danach gilt eine in einem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst enthaltene Konkretisierung der entgegenstehenden betrieblichen Gründe auch zwischen nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern außerhalb des öffentlichen Dienstes, wenn die Anwendung der für den öffentlichen Dienst geltenden tariflichen Bestimmungen – also zB der TVöD/TV-L nebst Zusatztarifverträgen –

108 BAG v. 9.12.2003 – 9 AZR 16/03, BAGE 109, 81 = NZA 2004, 921; v. 16.10.2007 – 9 AZR 239/07, NZA 2008, 289; Annuß/Thüsing/Mengel, § 8 TzBfG Rz. 147; ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 25; Sievers, § 8 TzBfG Rz. 86; aA Schunder, FS AG Arbeitsrecht, S. 171 (175). 109 BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, BAGE 105, 248 = ArbRB 2004, 7 = DB 2004, 319; v. 19.8.2003 – 9 AZR 542/02, ArbRB 2004, 99 = ZTR 2004, 542. 110 BAG v. 18.5.2004 – 9 AZR 319/03, BAGE 110, 356 = ArbRB 2004, 361 = NZA 2005, 118. 111 Vgl. BAG v. 27.4.2004 – 9 AZR 522/03, BAGE 110, 232 = ArbRB 2005, 5 = NZA 2004, 1225; v. 21.11.2006 – 9 AZR 138/06, BB 2007, 1001; Beckschulze, DB 2003, 2598 (2601). 112 BAG v. 21.11.2006 – 9 AZR 138/06, BB 2007, 1001; aA Haußmann, BB 2007, 1004 (1005). 113 BAG v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/02, BAGE 105, 107 = NZA 2003, 1392; v. 16.3.2004 – 9 AZR 323/03, BAGE 110, 45 = ArbRB 2004, 302 = NZA 2004, 1047; v. 16.12.2008 – 9 AZR 893/07, ArbRB 2009, 167 = NZA 2009, 565; Lorenz, NZA-RR 2006, 281 (287); Preis/Gotthardt, DB 2001, 145 (149); Rolfs, § 8 TzBfG Rz. 35. 114 LAG Schleswig-Holstein v. 1.3.2007 – 4 SaGa 1/07, BeckRS 2007, 44084.

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Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst

Rz. 20.52 § 20

zwischen ihnen einzelvertraglich vereinbart und der Arbeitgeber Zuwendungsempfänger im Sinne des Haushaltsrechts ist. e) Prozessuale Geltendmachung und Durchsetzung Der Arbeitnehmer kann sein Teilzeitzeitbegehren gerichtlich im Wege der Leistungsklage, die auf Abgabe der Zustimmungserklärung durch den Arbeitgeber gerichtet ist, durchsetzen. Mit Rechtskraft des Urteils gilt die Zustimmung als abgegeben (§ 894 ZPO). Bis zur Klärung muss der Arbeitnehmer die Arbeit aber im bisherigen Umfang leisten. Beispiel für einen (Leistungs-)Klageantrag: „Es wird beantragt, die Beklagte zu verurteilen, dem Antrag des Klägers auf Verringerung seiner vertraglichen Arbeitszeit von 40 Stunden auf 20 Stunden pro Woche bei einer Verteilung der Arbeitszeit von Montag bis Freitag von 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr zuzustimmen.“

Begehrt der Arbeitnehmer nur eine Arbeitszeitverringerung, ohne dass es ihm auf eine bestimmte Verteilung der Arbeitszeit ankommt, muss er im Klageantrag keine Angaben zur Arbeitszeitverteilung machen. Die Klage ist nicht unbestimmt, weil die Verteilung der Arbeitszeit damit in das Ermessen des Arbeitgebers gestellt wird und seinem Direktionsrecht unterliegt115. Beispiel für einen Klageantrag: „Es wird beantragt, die Beklagte zu verurteilen, dem Antrag des Klägers auf Verringerung seiner vertraglichen Arbeitszeit von 40 Stunden auf 20 Stunden pro Woche zuzustimmen.“

Nicht zulässig dürfte jedoch die folgende Kombination der beiden Anträge sein, da der Verteilungswunsch als bloßer Annex nicht von dem Verringerungswunsch getrennt werden kann, so dass eine Ablehnung des Verteilungswunsches zugleich eine Ablehnung des Verringerungswunsches beinhaltet116. „Es wird beantragt: 1. Die Beklagte wird verurteilt, dem Antrag des Klägers auf Verringerung seiner vertraglichen Arbeitszeit von 40 Stunden auf 20 Stunden pro Woche zuzustimmen. 2. Die Beklagte wird – hilfsweise für den Fall des Obsiegens – verurteilt, die Verteilung der Arbeitszeit von Montag bis Freitag von 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr festzulegen.“

Der 9. Senat des BAG führt dazu Folgendes an: Verlange ein Arbeitnehmer die Verringerung seiner Arbeitszeit und die Neufestlegung der zu verringernden Arbeitszeit, so stelle dies einen Antrag auf entsprechende Änderung des Arbeitsvertrages dar. Dieser könne vom Arbeitgeber gemäß § 150 Abs. 2 BGB nur unverändert angenommen werden. Verknüpfe der Arbeitnehmer beide Begehren miteinander, so könne der Arbeitgeber darüber nur einheitlich entscheiden. Die gerichtliche Aufspaltung eines einheitlichen Klageantrages auf Zustimmung zur Verringe-

115 BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, BAGE 105, 248 = ArbRB 2004, 7 = DB 2004, 319; v. 27.4.2004 – 9 AZR 522/03, BAGE 110, 232 = ArbRB 2005, 5 = NZA 2004, 1225; v. 21.6.2005 – 9 AZR 409/04, ArbRB 2006, 69 = NZA 2006, 316; ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 51. 116 BAG v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/02, BAGE 105, 107 = NZA 2003, 1392; Schunder, FS AG Arbeitsrecht, S. 171 (178); aA Sievers, § 8 TzBfG Rz. 152 f.

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20.52

§ 20 Rz. 20.52

Teilzeit

rung der Arbeitszeit und zur Festlegung der Arbeitszeit in einen Antrag auf Zustimmung und einen auf Festlegung, verstoße gegen § 308 ZPO117.

20.53 Ferner gebietet es das Bestimmtheitserfordernis des § 253 ZPO nicht, dass der Arbeitnehmer den Zeitpunkt benennt, zu dem die erstrebte Vertragsänderung wirksam werden soll118. Fehlt im Antrag das Datum, zu dem die Vertragsänderung in Kraft treten soll, ergibt sich der Zeitpunkt der Vertragsänderung aus § 894 ZPO: Der Vertrag ändert sich mit Eintritt der Rechtskraft des stattgebenden Urteils. Seit Inkrafttreten des § 311a Abs. 1 BGB ab 1.1.2002 ist auch ein Antrag auf Verurteilung zu einer rückwirkenden Verringerung der Arbeitszeit zulässig119. Sogar der bloße Verringerungsantrag, der die Verteilung der Arbeitszeit dem Arbeitsgericht überlässt, genügt dem Bestimmtheitsgebot120.

20.54 Der Arbeitnehmer soll nach der Rechtsprechung des BAG nicht an seinen ursprünglichen Arbeitszeitwunsch gebunden sein. So soll er nach Durchführung der Erörterung gemäß § 8 Abs. 3 TzBfG mit dem Arbeitgeber gerichtlich einen anderen Arbeitszeitwunsch geltend machen können, sofern er Erkenntnisse berücksichtigt, die sich aus der zuvor durchgeführten Erörterung ergeben haben121.

20.55 Die Darlegungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen trägt der Arbeitnehmer, die für das Vorliegen der entgegenstehenden betrieblichen Gründe der Arbeitgeber122. Dies gilt für alle drei Stufen. Der Arbeitgeber muss also nicht nur sein betriebliches Organisationskonzept und dessen tatsächliche Durchführung darlegen. Er muss auch darlegen und ggf. beweisen, dass er nicht durch zumutbare Änderungen des Personaleinsatzes oder betrieblicher Abläufe dem Teilzeitverlangen nachkommen konnte. Maßgeblich für diese Beurteilung ist jeweils der Zeitpunkt des Zugangs der Ablehnungsentscheidung123. Ändern sich die Umstände nach der Ablehnungsentscheidung, ist dies unerheblich, soweit es um Änderungen zugunsten des Arbeitnehmers geht (zB späterer Wegfall des betrieblichen Grundes). Änderungen zugunsten des Arbeitgebers (zB besteht nunmehr ein betrieblicher Grund) können dagegen – wie sich aus § 8 Abs. 5 Satz 4 TzBfG ergibt – in engen Grenzen berücksichtigt werden, soweit sie die Verteilung, nicht dagegen soweit sie die Verringerung der Arbeitszeit betreffen. Es ist dann zu prüfen, wie sich die Rechtslage darstellen würde, wenn der Arbeitgeber dem Wunsch des Arbeitnehmers ursprünglich entsprochen hätte. Könnte er in diesem Fall die Arbeitszeit ändern, so kann er diese Umstände auch in den Prozess einführen, in dem der Arbeitnehmer auf Erteilung seiner Zustimmung klagt124. Die Voraussetzungen des 117 BAG v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/02, BAGE 105, 107 = NZA 2003, 1392. 118 BAG v. 21.6.2005 – 9 AZR 409/04, ArbRB 2006, 69 = NZA 2006, 316; ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 51. 119 BAG v. 27.4.2004 – 9 AZR 522/03, BAGE 110, 232 = ArbRB 2005, 5 = NZA 2004, 1225; v. 12.9.2006 – 9 AZR 686/05, ArbRB 2007, 100 = NZA 2007, 253. 120 BAG v. 27.4.2004 – 9 AZR 522/03, BAGE 110, 332 = ArbRB 2005, 5 = NZA 2004, 1225. 121 BAG v. 18.2.2003 – 9 AZR 356/02, BAGE 105, 133 = ArbRB 2003, 260 = NZA 2003, 911; Sievers, § 8 TzBfG Rz. 165 f.; krit. Mengel, BB 2003, 1847 (1848). 122 BAG v. 20.7.2004 – 9 AZR 626/03, BAGE 111, 260 = ArbRB 2004, 328 = NZA 2004, 1090; ArbG Stuttgart v. 5.7.2001 21 – Ca 2762/01, NZA 2001, 968; ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 55; Rolfs, § 8 TzBfG Rz. 54. 123 BAG v. 18.2.2003 – 9 AZR 356/02, BAGE 105, 133 = ArbRB 2003, 260 = NZA 2003, 911; v. 14.10.2003 – 9 AZR 636/02, BAGE 108, 103 = ArbRB 2004, 168 = NZA 2004, 975; v. 9.12.2003 – 9 AZR 16/03, BAGE 109, 81 = NZA 2004, 921; v. 27.4.2004 – 9 AZR 522/03, BAGE 110, 232 = ArbRB 2005, 5 = NZA 2004, 1225; aA Diller, NZA 2001, 589 (590); Rolfs, § 8 TzBfG Rz. 55. 124 BAG v. 18.2.2003 – 9 AZR 356/02, BAGE 105, 133 = ArbRB 2003, 260 = NZA 2003, 911.

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Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst

Rz. 20.57 § 20

§ 8 Abs. 7 TzBfG müssen dagegen sowohl im Zeitpunkt der Antragstellung als auch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung vor Gericht gegeben sein125. Die Frage, ob und wann die Zustimmung des Arbeitgebers zur Verringerung der Arbeitszeit im Wege der einstweiligen Verfügung in Form einer Leistungsverfügung durchgesetzt werden kann, ist umstritten, da bei Erlass einer einstweiligen Verfügung die Hauptsache regelmäßig vorweggenommen wird. Teilweise wird daher die Möglichkeit der Durchsetzung des Teilzeitverlangens im Verfügungsverfahren abgelehnt126.

20.56

Die Rechtsprechung lässt jedoch inzwischen überwiegend die Durchsetzung des Teilzeitverlangens im Wege einer einstweiligen Verfügung zu, wenn die Verringerung der Arbeitszeit aus familiären Gründen dringend und unumgänglich ist127, zB weil ansonsten keine zuverlässige Betreuung für das Kind möglich ist, und ein Obsiegen des Arbeitnehmers in der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich ist. An den antragstellenden Arbeitnehmer werden indes hohe Anforderungen an die Darlegung und Glaubhaftmachung des Verfügungsgrundes gestellt128. Der Ausspruch, dem Teilzeitverlangen nachzukommen, erfolgt regelmäßig nur befristet bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache129. „Es wird beantragt: Dem Antragsgegner wird aufgegeben, die Arbeitszeit des Antragstellers bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens von 40 auf 20 Stunden zu verringern und die Verteilung der Arbeitszeit von Montag bis Freitag auf 8.00 bis 12.00 Uhr festzulegen.“

f) Erneute Verringerung nach § 8 Abs. 6 TzBfG Nach § 8 Abs. 6 TzBfG kann der Arbeitnehmer eine – weitere oder erneute – Verringerung sei- 20.57 ner Arbeitszeit frühestens nach einer Sperrfrist von zwei Jahren verlangen, nachdem der Arbeitgeber einer Verringerung zugestimmt oder sie berechtigt abgelehnt hat. Mit dieser Sperrfrist soll der Arbeitgeber Sicherheit für eine Personalplanung und die betriebliche Ordnung erhalten. Erfasst von § 8 Abs. 6 TzBfG wird daher nicht nur die Zustimmung durch Erklärung des Arbeitgebers, sondern auch die fingierte Zustimmung oder die durch rechtskräftiges Urteil ersetzte Zustimmung (§ 894 ZPO)130. Nach dem Wortlaut des § 8 Abs. 6 TzBfG schafft die Vorschrift dem Arbeitgeber keine Planungssicherheit im Hinblick auf Wünsche des Arbeitnehmers bezüglich der Lage der Arbeitszeit. Aus der Annexfunktion des Anspruchs auf Fest-

125 Laux/Schlachter/Laux, § 8 TzBfG Rz. 123; 347; Sievers, § 8 TzBfG Rz. 178. 126 Annuß/Thüsing/Mengel, § 8 TzBfG Rz. 263 ff.; Berger-Delhey, ZTR 2002, 371 (372); Mues, ArbRB 2002, 15; Rolfs, RdA 2001, 129 (136). 127 LAG Berlin v. 20.2.2002 – 4 Sa 2243/01, NZA 2002, 858; v. 31.8.2006 – 14 Ta 1560/06, ZTR 2006, 667 (Ls.); LAG Hamburg v. 4.9.2006 – 4 Sa 41/06, NZA-RR 2007, 122; LAG Köln v. 23.12.2005 – 9 Ta 397/05, LAGE § 8 TzBfG Nr. 16; LAG Rheinland-Pfalz v. 12.4.2002 – 3 Sa 161/02, NZA 2002, 856; LAG Schleswig-Holstein v. 15.12.2010 – 3 SaGa 14/10, BeckRS 2010, 75931; ebenso ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 52; Sievers, § 8 TzBfG Rz. 182; Ziemann, ArbRB 2002, 30 (32). 128 Vgl. LAG Berlin v. 31.8.2006 – 14 Ta 1560/06, ZTR 2006, 667 (Ls.); LAG Hamburg v. 4.9.2006 – 4 Sa 41/06; NZA-RR 2007, 122; LAG Rheinland-Pfalz v. 12.4.2002 – 3 Sa 161/02, NZA 2002, 856; v. 4.1.2006 – 9 Sa 998/05; zu Einzelheiten vgl. Tiedemann, ArbRB 2006, 284 (285). 129 LAG Rheinland-Pfalz v. 12.4.2002 – 3 Sa 161/02, NZA 2002, 856; Schunder, FS AG Arbeitsrecht, S. 171 (179). 130 ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 48; Meinel/Heyn/Herms, § 8 TzBfG Rz. 106; Sievers, § 8 TzBfG Rz. 168.

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§ 20 Rz. 20.57

Teilzeit

legung der Lage der Arbeitszeit folgt indes, dass die gesetzliche Zwei-Jahres-Frist auch die Geltendmachung des Anspruchs auf Änderung der Lage der Arbeitszeit ausschließt131.

20.58 Die Sperrfrist gilt nur für Teilzeitverlangen nach dem TzBfG. Macht also ein Arbeitnehmer nach einem erfolgreichen oder erfolglosen Teilzeitverlangen nach § 8 TzBfG einen tarifvertraglichen oder spezialgesetzlichen Teilzeitanspruch (zB nach dem BEEG) geltend, so muss die Zweijahresfrist nicht eingehalten werden132. Ebenso kann der Arbeitnehmer im umgekehrten Fall ohne Einhaltung der Zweijahresfrist einen Antrag nach § 8 Abs. 5 TzBfG stellen, nachdem seine Arbeitszeit zuvor bereits nach § 11 TVöD bzw. TV-L oder § 15b BAT/BAT-O verringert wurde133. g) Änderungsrecht des Arbeitgebers nach § 8 Abs. 5 Satz 4 TzBfG

20.59 Der Arbeitgeber kann die neu – kraft Fiktion nach § 8 Abs. 5 Satz 3 TzBfG oder einvernehmlich nach § 8 Abs. 3 Satz 2 TzBfG – festgelegte Verteilung der Arbeitszeit wieder einseitig unter Wahrung einer einmonatigen Ankündigungsfrist formfrei ändern, wenn das betriebliche Interesse daran das Interesse des Arbeitnehmers an der Beibehaltung der bisherigen Verteilung der Arbeitszeiten erheblich überwiegt. Das Änderungsrecht steht dem Arbeitgeber in entsprechender Anwendung des § 8 Abs. 5 Satz 3 TzBfG auch zu, wenn der Arbeitnehmer die Verteilung der Arbeitszeit gerichtlich durchgesetzt hat134. Es handelt sich bei dem Änderungsrecht um eine besondere, eingeschränkte Form des Direktionsrechts, das allerdings insoweit erweitert ist, als dass es auch in einvernehmlich festgelegte oder gerichtlich durchgesetzte Regelungen zur Arbeitszeitverteilung einseitig eingreifen kann135. Die Dauer der Arbeitszeit kann durch den Arbeitgeber nicht gemäß § 8 Abs. 5 Satz 4 TzBfG verändert werden. Nach Ablauf der Monatsfrist wird die Änderung der Arbeitszeitverteilung wirksam. Das Änderungsrecht findet nur auf Teilzeitbeschäftigte Anwendung, die ihre Arbeitszeit zuvor nach § 8 TzBfG reduziert haben; auf andere Teilzeitarbeitsverhältnisse ist es nicht übertragbar, so dass es dort bei den allgemeinen Grundsätzen zum Direktionsrecht bei der Arbeitszeitverteilung verbleibt136. h) Verlängerungsanspruch nach § 9 TzBfG

20.60 Der Verringerungsanspruch nach § 8 TzBfG kann vom Arbeitnehmer nur für unbefristete Zeit geltend gemacht werden. Möchte der teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer, also auch der leitende Angestellte und der geringfügig Beschäftigte, seine Arbeitszeit (wieder) verlängern137, kann er dies dem Arbeitgeber formfrei anzeigen. Die Anzeige muss sich nicht auf einen bestimmten

131 HWK/Schmalenberg, § 8 TzBfG Rz. 42; Sievers, § 8 TzBfG Rz. 212; ErfK/Preis, § 8 TzBfG Rz. 49. 132 Rolfs, RdA 2001, 129 (139). 133 Meinel/Heyn/Herms, § 8 TzBfG Rz. 106; Sievers, § 8 TzBfG Rz. 209. 134 Meinel/Heyn/Herms, § 8 TzBfG Rz. 99; Preis/Gottwald, DB 2001, 145 (148); Sievers, § 8 TzBfG Rz. 210; Laux/Schlachter/Laux, § 8 TzBfG Rz. 125. 135 Annuß/Thüsing/Mengel, § 8 TzBfG Rz. 185; Rolfs, RdA 2001, 129 (137). 136 Meinel/Heyn/Herms, § 8 TzBfG Rz. 97; Rolfs, § 8 TzBfG Rz. 38; Sievers, § 8 TzBfG Rz. 209; aA Straub, NZA 2001, 919 (920). 137 Der Anspruch steht auch dem von Beginn an nur in Teilzeit eingestellten Beschäftigten zu, vgl. ErfK/Preis, § 9 TzBfG Rz. 3; HWK/Schmalenberg, § 9 TzBfG Rz. 1; Rolfs, RdA 2001, 129 (139); Sievers, § 9 TzBfG Rz. 5.

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Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst

Rz. 20.62 § 20

Arbeitsplatz und einen bestimmten Zeitpunkt beziehen138. Auch muss der Arbeitnehmer nicht den gewünschten Umfang der Änderung der Arbeitszeit angeben139. Der Arbeitgeber ist dann verpflichtet, den Arbeitnehmer gemäß § 7 Abs. 2 TzBfG über einen entsprechenden freien Arbeitsplatz zu informieren und ihn bei der Besetzung eines Arbeitsplatzes bei gleicher Eignung bevorzugt zu berücksichtigen (§ 9 TzBfG), es sei denn, es stehen dem Verlängerungsverlangen dringende betriebliche Gründe oder Arbeitszeitwünsche anderer teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer entgegen (Vorzugsrecht). Es bleibt allerdings der Entscheidung des Arbeitnehmers überlassen, ob er seine vertraglich vereinbarte Arbeitszeit zu dem vom Arbeitgeber vorgesehenen Termin und im entsprechenden Umfang erhöhen will. Wenn dies der Fall ist, so muss er dem Arbeitgeber ein hierauf bezogenes Vertragsangebot unterbreiten. Dessen Zugang kann der Arbeitgeber abwarten140. Unterlässt der Arbeitgeber die gesetzlich gebotene Information, so ist es gleichwohl weiter Sache des Arbeitnehmers, ein Vertragsangebot zu unterbreiten. Kommt darüber keine Einigung zustande, so muss er seinen Anspruch gerichtlich geltend machen141. Es muss ein Arbeitsplatz tatsächlich vorhanden sein, der der arbeitsvertraglich gestellten Arbeitsaufgabe sowie den Vorstellungen des Arbeitnehmers in Bezug auf die Verlängerung der Arbeitszeit entspricht142. Der Arbeitsplatz muss der Wertigkeit des derzeitigen oder früheren143 Arbeitsplatzes entsprechen. Ein wegen der Arbeitsanforderungen und -inhalte sowie vorausgesetzten Fähigkeiten des Arbeitnehmers nach TVöD/TV-L höher bewerteter Arbeitsplatz ist nicht vergleichbar. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Anforderungsprofil der ursprünglich ausgeübten Tätigkeit entspricht. Die bloße Abweichung in der Vergütung hat keinen Einfluss auf die Vergleichbarkeit144. Im öffentlichen Dienst ist gleiche Eignung zu bejahen, wenn der Teilzeitbeschäftigte im Vergleich zu dem besten Mitbewerber über insgesamt dieselben persönlichen und fachlichen Fähigkeiten, theoretischen und praktischen Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten verfügt und im bisherigen Berufsleben dieselben Leistungen erbracht hat. Insoweit kann zB auf die Bundeslaufbahnverordnung145 und die Rechtsprechung des BAG146 zur Konkurrentenklage (Art. 33 Abs. 2 GG, Prinzip der Bestenauslese) zurückgegriffen werden147. Das Anforderungsprofil für den freien Arbeitsplatz bestimmt allein der Arbeitgeber. Bei der Feststellung der Eignung hat er einen Beurteilungsspielraum148.

20.61

Es handelt sich bei § 9 TzBfG um einen durchsetzbaren Anspruch auf Zustimmung zur Ver- 20.62 längerung der Arbeitszeit und nicht lediglich um einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie

138 LAG Düsseldorf v. 23.3.2006 – 5 (3) Sa 13/06, FA 2006, 285 (Ls.); Meinel/Heyn/Herms, § 9 TzBfG Rz. 15. 139 LAG Berlin v. 2.12.2003 – 3 Sa 1041/03, LAGReport 2004, 161; ErfK/Preis, § 9 TzBfG Rz. 4. 140 BAG v. 1.6.2011 – 7 ABR 117/09, NZA 2011, 1435; v. 16.9.2008 – 9 AZR 781/07, ArbRB 2008, 361 = EzA § 9 TzBfG Nr. 4. 141 BAG v. 15.8.2006 – 9 AZR 8/06, ArbRB 2007, 96 = EzA § 9 TzBfG Nr. 1. 142 BAG v. 8.5.2007 – 9 AZR 874/06, ArbRB 2007, 322 = NZA 2007, 1349. 143 BAG v. 16.9.2008 – 9 AZR 781/07, ArbRB 2008, 361 = NZA 2008, 1285. 144 BAG v. 8.5.2007 – 9 AZR 874/06, ArbRB 2007, 322 = NZA 2007, 1349. 145 Rolfs, RdA 2001, 129 (140). 146 Vgl. BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 668/96, BAGE 87, 171 = NZA 1998, 882; Laber, ArbRB 2006, 221. 147 Dessau, ZTR 2001, 64 (67). 148 LAG Düsseldorf v. 3.8.2007 – 10 Sa 112/07, LAGE § 9 TzBfG Nr. 2; ErfK/Preis, § 9 TzBfG Rz. 6; Laux/Schlachter/Laux, § 9 TzBfG Rz. 43.

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§ 20 Rz. 20.62

Teilzeit

Entscheidung149. Der Arbeitgeber ist aber nicht verpflichtet, einen entsprechenden Arbeitsplatz überhaupt erst einzurichten oder vorhandene Arbeitsplätze entsprechend neu zuzuschneiden150. Zudem muss der freie Arbeitsplatz mit der gewünschten Verlängerung der Arbeitszeit übereinstimmen. Der Antragsteller muss also ohne weiteres Zutun des Arbeitgebers auf den neuen Arbeitsplatz wechseln können151. Daher ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, einen freien Arbeitsplatz den Arbeitszeitwünschen des Arbeitnehmers anzupassen oder Stunden vom ihm abzuziehen, die er dann anderweitig ausschreiben oder anderen Mitarbeitern zuweisen müsste152. Er kann auch bei erhöhtem Personalbedarf grundsätzlich frei entscheiden, welche Maßnahmen er zu dessen Deckung ergreift153. Auch ist er durch § 9 TzBfG nicht gehindert, einen frei werdenden Arbeitsplatz gar nicht neu zu besetzen154. Der Wunsch auf Verlängerung der Arbeitszeit muss mithin nicht bereits bei der Personalplanung, sondern grundsätzlich erst „bei“ der Besetzungsentscheidung berücksichtigt werden155. Das Organisationsermessen des Arbeitgebers besteht indes nicht uneingeschränkt, sondern ist auf arbeitsplatzbezogene Gründe beschränkt und darf nicht zur Umgehung des § 9 TzBfG genutzt werden156. Nicht ohne weiteres zulässig ist es daher, neue Teilzeitarbeitsplätze einzurichten, anstatt die Arbeitszeiten aufstockungswilliger Arbeitnehmer zu verlängern157.

20.63 Begehren mehrere Teilzeitbeschäftigte die Aufstockung ihrer Arbeitszeit, ist dagegen der Arbeitgeber in seiner Entscheidung frei, wessen Arbeitszeit er verlängert. Eine Sozialauswahl muss er nicht vornehmen158. Seine Auswahlentscheidung muss freilich billigem Ermessen genügen159. Eine Verpflichtung zur gleichmäßigen Verteilung des gestiegenen Arbeitszeitvolumens besteht ebenfalls nicht160. Nicht erforderlich ist es, dass die Vergütung des Vollzeitarbeitsverhältnisses nach den bisherigen für das Teilzeitarbeitsverhältnis geltenden Grundsätzen gewährt wird161.

20.64 Dringende betriebliche Gründe stehen einer Verlängerung entgegen. Sie müssen – anders als bei § 8 Abs. 4 Satz 1 TzBfG – von erheblichem Gewicht sein162. Derartige Gründe können zB anzunehmen sein, wenn die Verlängerung den Arbeitsablauf oder die Sicherheit wesentlich beeinträchtigen oder unverhältnismäßige Kosten verursachen würde. In Betracht kommen auch vorrangige Ansprüche Dritter, wie ein Reduzierungsverlangen eines anderen Arbeitneh149 BAG v. 15.8.2006 – 9 AZR 8/06, ArbRB 2007, 96 = NZA 2007, 255; v. 13.2.2007 – 9 AZR 575/05, DB 2007, 1140; v. 8.5.2007 – 9 AZR 874/06, ArbRB 2007, 322; ErfK/Preis, § 9 TzBfG Rz. 2; Kliemt, NZA 2001, 63 (68). 150 BAG v. 15.8.2006 – 9 AZR 8/06, ArbRB 2007, 96 = NZA 2007, 255; LAG Berlin v. 9.6.2006 – 6 Sa 445/06, NZA-RR 2007, 12; ErfK/Preis, § 9 TzBfG Rz. 6. 151 BAG v. 17.10.2017 – 9 AZR 192/17, NZA 2018, 174 (176) Rz. 27. 152 BAG v. 23.3.2016 – 7 AZR 828/13, NZA 2016, 881 (884) Rz. 24. 153 BAG v. 13.2.2007 – 9 AZR 575/05, DB 2007, 1140; ErfK/Preis, § 9 Rz. 6; aA Buschmann/Dieball/ Stevens-Bartol, § 9 TzBfG Rz. 2, 22. 154 BAG v. 2.9.2009 – 7 AZR 233/08, ArbRB 2009, 359 = EzA § 14 TzBfG Nr. 61; Annuß/Thüsing/ Jacobs, § 9 TzBfG Rz. 14. 155 BAG v. 15.8.2006 – 9 AZR 8/06, ArbRB 2007, 96 = NZA 2007, 255. 156 BAG v. 15.8.2006 – 9 AZR 8/06, ArbRB 2007, 96 = NZA 2007, 255; v. 13.2.2007 – 9 AZR 575/05, DB 2007, 1140. 157 BAG v. 13.2.2007 – 9 AZR 575/05, DB 2007, 1140; aA ErfK/Preis, § 9 TzBfG Rz. 6. 158 ErfK/Preis, § 9 TzBfG Rz. 8. 159 BT-Drucks. 14/4625, S. 24; ErfK/Preis, § 9 TzBfG Rz. 8; aA Sievers, § 9 TzBfG Rz. 38. 160 BAG v. 13.2.2007 – 9 AZR 575/05, DB 2007, 1140. 161 BAG v. 8.5.2007 – 9 AZR 874/06, NZA 2007, 1349. 162 ErfK/Preis, § 9 TzBfG Rz. 7; HWK/Schmalenberg, § 9 TzBfG Rz. 9; Sievers, § 9 TzBfG Rz. 32.

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Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst

Rz. 20.66 § 20

mers163, ein bestehender Personalüberhang164 oder die Unentbehrlichkeit des Arbeitnehmers auf seinem bisherigen Arbeitsplatz165. Wurde das Verlängerungsverlangen zu Unrecht abgelehnt, kann der Arbeitnehmer Leistungsklage gerichtet auf Zustimmung des Arbeitgebers zur vom Arbeitnehmer angebotenen Vertragsänderung erheben, die Besetzung der Stelle im einstweiligen Verfügungsverfahren verhindern166 und im Wege einer arbeitsrechtlichen Konkurrentenklage die Auswahlentscheidung des Arbeitgebers kontrollieren lassen167. Der Anspruch erlischt, sobald der Arbeitgeber die freie Stelle mit einem anderen Arbeitnehmer – sei es zu Recht, sei es zu Unrecht – endgültig besetzt hat168. Hat der Arbeitgeber den Arbeitsplatz unter Verletzung des § 9 TzBfG anderweitig besetzt, kann dem Arbeitnehmer aber ein Schadensersatzanspruch gemäß § 280 Abs. 1, 3, § 283 BGB wegen Unmöglichkeit der Stellenbesetzung zustehen169. Der Anspruch ist gerichtet auf die Differenz zwischen der bisherigen Vergütung und derjenigen Vergütung, die der Teilzeit-Arbeitnehmer auf der von ihm begehrten Vollzeitstelle erhalten hätte170. Allerdings muss der Arbeitnehmer schlüssig darlegen und beweisen, dass er einen Anspruch auf Übertragung der freien Stelle hatte171. Dies setzt voraus, dass jede andere Auswahlentscheidung des Arbeitgebers rechtswidrig gewesen wäre. Aufgrund des weiten Beurteilungs- und Ermessensspielraums des öffentlichen Arbeitgebers wird man dies nur in Ausnahmefällen annehmen können172.

20.65

2. Befristete Verringerung der Arbeitszeit, „Brückenteilzeit“ nach § 9a TzBfG a) Anspruchsvoraussetzungen Der zum 1.1.2019 in Kraft getretene § 9a TzBfG basiert auf dem in 2018 verabschiedeten Gesetz zur Weiterentwicklung des Teilzeitrechts – Einführung einer Brückenteilzeit173. Anders als das bei § 8 TzBfG der Fall ist, erlangt der Arbeitnehmer mit § 9a TzBfG einen Anspruch auf eine befristete Verringerung der Arbeitszeit für einen Zeitraum von einem Jahr bis maximal fünf Jahren. Nach diesem Zeitraum kann der Arbeitnehmer also sicher sein, automatisch wieder zu den bisherigen Arbeitszeiten zurückzukehren. Den Weg etwa über § 9 TzBfG muss er also nicht gehen.

163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173

Rolfs, RdA 2001, 129 (140). LAG München v. 4.5.2006 – 2 Sa 1164/05, AuA 2006, 489. BAG v. 15.8.2006 – 9 AZR 8/06, ArbRB 2007, 96 = NZA 2007, 255. ErfK/Preis, § 9 TzBfG Rz. 13; Sievers, § 9 TzBfG Rz. 57; Laux/Schlachter/Laux, § 9 TzBfG Rz. 103. ErfK/Preis, § 9 TzBfG Rz. 13; Rolfs, RdA 2001, 129 (140); Annuß/Thüsing/Jacobs, § 9 TzBfG Rz. 39; Arnold/Gräfl/Imping/Vossen, § 9 TzBfG Rz. 38. Laber, ArbRB 2006, 221 (223); ErfK/Preis, § 9 TzBfG Rz. 13; HWK/Schmalenberg, § 9 TzBfG Rz. 14. BAG v. 1.6.2011 – 7 ABR 117/09, NZA 2011, 1435; LAG Berlin v. 2.12.2003 – 3 Sa 1041/03, ArbuR 2004, 468; LAG Düsseldorf v. 23.3.2006 – 5 (3) Sa 13/06, FA 2006, 285 (Ls.); Sievers, § 9 TzBfG Rz. 42. BAG v. 16.9.2008 – 9 AZR 781/07, ArbRB 2008, 361 = NZA 2008, 1285. LAG Brandenburg v. 3.11.2005 – 9 Sa 379/05, BeckRS 2006, 41123; LAG Hamm v. 11.10.2005 – 12 Sa 769/05, BeckRS 2005, 44008; Laber, ArbRB 2006, 221 (223). Laber, ArbRB 2006, 221 (224). S. BT-Drucks. 19/5097 und BT-Drucks. 19/3452.

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20.66

§ 20 Rz. 20.67

Teilzeit

20.67 Genau wie bei § 8 TzBfG hat jeder Arbeitnehmer Anspruch auf Brückenteilzeit, dessen Arbeitsverhältnis ununterbrochen länger als sechs Monate bestanden hat, § 9a Abs. 1 Satz 1 TzBfG. Der Anwendungsbereich ist jedoch durch § 9a Abs. 1 Satz 3 TzBfG insofern eingeschränkt, als das ein Anspruch nur besteht, wenn der Arbeitgeber in der Regel mehr als 45 Arbeitnehmer beschäftigt („Kleinunternehmerklausel“).

20.68 Der Arbeitnehmer kann seinen Teilzeitanspruch für einen Zeitraum von mindestens einem Jahr bis zu maximal fünf Jahren befristen. Die Befristungsdauer kann der Arbeitnehmer frei wählen174. Genauso frei ist der Arbeitnehmer in den Angaben zu seiner Motivationslage. Insofern stellt § 9a TzBfG keine Voraussetzungen auf. Der Arbeitnehmer muss also nicht etwa nachweisen, dass die Brückenteilzeit zur Pflege oder Betreuung von Angehörigen genutzt werden soll175.

20.69 Ähnlich wie § 8 TzBfG gibt auch § 9a TzBfG weder eine Mindest- noch eine Maximalreduzierung vor, so dass auch hier minimale Arbeitszeitreduzierungen denkbar sind. Erforderlich ist nur, dass aus dem Antrag hinreichend klar hervorgeht, dass der Arbeitnehmer eine befristete Herabsetzung seiner Arbeitszeit wünscht. Wird aus dem Antrag nicht ersichtlich, dass die Herabsetzung der Arbeitszeit nur befristet erfolgen soll, liegt ein unbefristeter Antrag nach § 8 TzBfG vor176. b) Antrag und Zustimmungsfiktion

20.70 Was das Verfahren angeht, so verweist § 9a Abs. 3 TzBfG auf § 8 Abs. 2-5 TzBfG. Damit gilt auch hier, dass die Zustimmung des Arbeitgebers fingiert wird, wenn er den Antrag nicht spätestens einen Monat vor dem geplanten Beginn der Brückenteilzeit abgelehnt hat. Im Falle von § 9a TzBfG bezieht sich die Fiktion aber nicht nur auf die Herabsetzung der Arbeitszeit bzw. die Neuverteilung der verbleibenden Arbeitszeit, sondern darüber hinaus auf die gewünschte Befristung der Teilzeit177. Daraus ergibt sich folgendes: Lehnt der Arbeitgeber die Verringerung ab, tritt überhaupt keine Fiktion ein. Lehnt der Arbeitgeber nur die Befristung ab, beinhaltet dies regelmäßig die Ablehnung des gesamten Antrags, verbunden mit dem Angebot auf Abschluss einer unbefristeten Teilzeit nach § 8 TzBfG (§ 150 Abs. 2 BGB). Akzeptiert der Arbeitgeber zwar den befristeten Teilzeitwunsch oder äußert er sich hierzu nicht, sperrt er sich aber gegen die gewünschte Verteilung, kommt es darauf an, ob diese ein so wesentlicher Bestandteil des Teilzeitwunsches ist, dass dieser mit der Neuverteilung der Lage der Arbeitszeit stehen und fallen soll178. c) Ablehnung der Brückenteilzeit durch den Arbeitgeber

20.71 Wie im Falle des § 8 TzBfG kann der Arbeitgeber auch die Brückenteilzeit mit dem Argument ablehnen, betriebliche Gründe würden der befristeten Herabsetzung der Arbeitszeit entgegenstehen. Aufgrund der Regelung des § 9a Abs. 3 TzBfG kann daher auf die zu § 8 TzBfG gemachten Ausführungen verwiesen werden. Im Rahmen der Brückenteilzeit kommt 174 175 176 177 178

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Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Bayreuther, § 9a TzBfG Rz. 5. Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Bayreuther, § 9a TzBfG Rz. 6. Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Bayreuther, § 9a TzBfG Rz. 7. Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Bayreuther, § 9a TzBfG Rz. 8. BAG v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/02, NZA 2003, 1392 (1394); ausf. zu § 9a TzBfG s. Bayreuther, NZA 2018, 1577.

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Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst

Rz. 20.74 § 20

jedoch hinzu, dass der Arbeitgeber auch geltend machen kann, dass gerade die nur befristete Herabsetzung der Arbeitszeit ein Problem darstellt, weil etwa der kurzzeitige Ausgleich des Arbeitsvolumens nicht möglich oder nur mit unverhältnismäßigen Kosten zu realisieren ist179. Wie bei § 8 TzBfG muss der Arbeitgeber nach billigem Ermessen entscheiden, wenn mehrere Arbeitnehmer einen Anspruch auf Brückenteilzeit geltend machen. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, alle Ansprüche zu erfüllen, muss aber die besonderen Interessen seiner Arbeitnehmer berücksichtigen180. d) Die Zumutbarkeitsregelung des § 9a Abs. 2 Satz 2 TzBfG Arbeitgeber, die mehr als 45, aber weniger als 201 Arbeitnehmer beschäftigen, können gegen den Teilzeitwunsch neben betrieblichen Gründen auch einwenden, dass bereits eine bestimmte Anzahl an Mitarbeitern auf der Grundlage von § 9a TzBfG in Teilzeit beschäftigt wird, § 9a Abs. 2 Satz 2 TzBfG.

20.72

Wird die in § 9a Abs. 2 Satz 2 Nr. 1-11 TzBfG genannte Quote überschritten, muss der Arbeitgeber weiteren Teilzeitwünschen, die auf § 9a TzBfG gestützt werden, nicht mehr entsprechen. Bei der Berechnung der Quote zählen auch die „ersten“ 45 Mitarbeiter. Damit kann ein Arbeitgeber mit 46 bis 60 Beschäftigten erst dann auf die Teilzeitquote verweisen, wenn er bereits vier Arbeitnehmern die befristete Teilzeit gewährt hat181. e) Erneuter Antrag und Sperrzeiten Will der Arbeitnehmer erneut eine befristete Verkürzung seiner Arbeitszeit beantragen, nachdem er von der ersten Teilzeitbefristung zurückgekehrt ist, so kann ein entsprechender Antrag gemäß § 9a Abs. 5 Satz 1 TzBfG erst nach einem Jahr nach der Rückkehr zur ursprünglichen Arbeitszeit gestellt werden. In Bezug auf die Sperrzeiten ist – anders als in § 8 TzBfG – bei dem Anspruch auf befristete Teilzeit gemäß § 9a Abs. 5 Satz 2, 3 TzBfG zu unterscheiden: Lehnt der Arbeitgeber den Anspruch auf befristete Teilzeit aus betrieblichen Gründen berechtigt ab, so kann der Arbeitnehmer einen erneuten Antrag erst nach zwei Jahren stellen, § 9a Abs. 5 Satz 2 TzBfG. Eine Sperrfrist von nur einem Jahr gilt hingegen, wenn der Arbeitgeber den Antrag mit Verweis auf die Zumutbarkeitsregelung ablehnt, § 9a Abs. 5 Satz 3 TzBfG.

20.73

3. Teilzeitanspruch nach § 15 Abs. 4–7 BEEG Der Teilzeitanspruch nach § 15 Abs. 4–7 BEEG dient dem Zweck, erwerbstätigen Eltern die Betreuung und Erziehung ihres Kindes zu ermöglichen. Er kann nur im Rahmen der Elternzeit geltend gemacht werden. Die Elternzeit führt zu einer Freistellung von der Arbeitspflicht und kraft Gesetzes zu einem Ruhen der arbeitsvertraglichen Hauptpflichten. Das Arbeitsverhältnis und damit auch die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit bleiben jedoch bestehen182.

179 180 181 182

Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Bayreuther, § 9a TzBfG Rz. 9. RegE BT-Drucks. 19/3452, S. 18. Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Bayreuther, § 9a TzBfG Rz. 13. BAG v. 19.4.2005 – 9 AZR 233/04, ArbRB 2006, 4 = NJW 2006, 1832 = NZA 2005, 1354; v. 9.5.2006 – 9 AZR 278/05, ArbRB 2007, 5 = NJW 2006, 3595; Joussen, NZA 2005, 336 (337); Küttner/Reinecke, Elternzeit Rz. 5.

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20.74

§ 20 Rz. 20.75

Teilzeit

20.75 Es ist zu differenzieren zwischen dem „Anspruch“ auf Elternzeit, der durch einseitiges Verlangen des Arbeitnehmers durchgesetzt wird183, und dem Anspruch auf Teilzeitarbeit während der Elternzeit (Elternteilzeit). Es kann daher (1) nur der Anspruch auf Elternzeit oder (2) ein Anspruch auf Elternzeit unter der Bedingung der Gewährung der gewünschten Teilzeitarbeit oder (3) ein Anspruch auf Elternzeit und auf Teilzeitarbeit während der Elternzeit geltend gemacht werden. Im letztgenannten Fall wird bei einer berechtigten Ablehnung der Teilzeitarbeit die Elternzeit mit einer vollständigen Freistellung begründet184. Nicht möglich ist es dagegen, zunächst einen Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit gemäß § 15 Abs. 4–7 BEEG vor dem Antrag auf Elternzeit zu stellen185. a) Anspruchsvoraussetzungen

20.76 Der Teilzeitanspruch nach § 15 Abs. 4–7 BEEG setzt voraus, dass sich der Arbeitnehmer in Elternzeit befindet. Die Voraussetzungen der Elternzeit gemäß § 15 Abs. 1-3 BEEG müssen also vorliegen186. Ferner muss – wie für den allgemeinen Teilzeitanspruch nach § 8 TzBfG – der Arbeitgeber in der Regel mehr als 15 Arbeitnehmer187 beschäftigen und das Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen länger als sechs Monate bestanden haben (§ 15 Abs. 7 BEEG)188.

20.77 Der Arbeitnehmer kann die Dauer der Elternteilzeit selbst bestimmen. Sie muss gemäß § 15 Abs. 7 Nr. 3 BEEG aber mindestens zwei Monate dauern189. Die Höchstdauer wird durch die Dauer der Elternzeit bestimmt. Die Wochenarbeitszeit muss zwischen 15–30 Wochenstunden betragen (§ 15 Abs. 7 Nr. 3 BEEG). Bereits im Antrag auf Arbeitszeitverringerung hat der Arbeitnehmer die Dauer der gewünschten Elternteilzeit und deren Umfang anzugeben. An die Erklärungen in diesem Antrag ist er gebunden190.

20.78 Nach der Rechtsprechung des BAG beinhaltet der Anspruch auf Elternteilzeit sowohl den Anspruch auf die Verringerung der Arbeitszeit als auch auf Verteilung der restlichen Arbeitszeit191, obwohl dies dem Wortlaut des § 15 Abs. 7 BEEG nicht eindeutig zu entnehmen ist. Das BAG begründet dies jedoch zu Recht damit, dass das Ziel der Elternteilzeit, nämlich die Verbesserung der Vereinbarung von Beruf und Familie während der Elternzeit, weitestgehend 183 Er stellt daher eigentlich keinen Anspruch, sondern ein Gestaltungsrecht dar (vgl. BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 380/07, ArbRB 2008, 263 = NZA 2008, 998; v. 9.5.2006 – 9 AZR 278/05, ArbRB 2007, 5 = NJW 2006, 3595; Joussen, NZA 2005, 336 (337)); vgl. auch Küttner/Reinecke, Elternzeit Rz. 4: „Selbstbeurlaubungsrecht“. 184 Oberthür, ArbRB 2005, 189. 185 BAG v. 5.6.2007 – 9 AZR 82/07, NZA 2007, 1352. 186 Vgl. zu den Voraussetzungen Lindemann/Simon, NJW 2001, 258 f. 187 Maßgeblich ist die Kopfzahl, so dass auch Teilzeit- und Aushilfskräfte mitzählen, vgl. LAG Hamm v. 15.8.2006 – 9 Sa 1553/05, BeckRS 2006, 44801. 188 Zur Frage der Berechnung der „Wartezeit“ s. Feldhoff, ZTR 2006, 58 (61). 189 Nach § 15 Abs. 7 Nr. 3 BErzGG drei Monate. 190 BAG v. 9.5.2006 – 9 AZR 278/05, ArbRB 2007, 5 = NZA 2006, 1413 = NJW 2006, 3595. 191 BAG v. 19.2.2013 – 9 AZR 461/11, NZA 2013, 907 (910) Rz. 32.

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Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst

Rz. 20.83 § 20

leerliefe, wenn der Anspruch auf Elternteilzeit nicht auch die Verteilung der Wochenarbeitszeit beinhalten würde192. Äußert sich der Arbeitnehmer in seinem Antrag nicht zu der Verteilung der Arbeitszeit, darf der Arbeitgeber nach § 106 GewO darüber bestimmen, wie die Verteilung im Einzelnen auszugestalten ist193. Das Antragsverfahren für die Reduzierung der Arbeitszeit ist gesetzlich etwas ungewöhnlich ausgestaltet: Zunächst soll innerhalb von vier Wochen nach einem – formlosen – Antrag des Arbeitnehmers ein Einigungsversuch stattfinden (§ 15 Abs. 5 Satz 1, 2 BEEG). Wenn jedoch nach vier Wochen keine Einigung zustande kommt, kann der Arbeitnehmer über einen förmlichen Teilzeitantrag (§ 15 Abs. 7 BEEG) versuchen, die Zustimmung zu erzwingen („streitiges Anspruchsverfahren“). Dieses Verfahren ist indessen nicht zwingend. Es ist nach § 15 Abs. 5 Satz 3 BEEG auch möglich, die formlose Geltendmachung direkt mit dem Antrag nach § 15 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 BEEG zu verbinden.

20.79

Das streitige Anspruchsverfahren beginnt mit einem schriftlichen Antrag. Der Antrag muss sieben Wochen vor Beginn der Tätigkeit gestellt werden, wenn die Elternteilzeit für den Zeitraum bis zum vollendeten dritten Lebensjahr des Kindes gelten soll, § 15 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 lit. a BEEG. Eine Frist von 13 Wochen ist zu beachten, wenn die Elternteilzeit für den Zeitraum zwischen dem dritten Geburtstag und dem vollendeten achten Lebensjahr des Kindes beantragt wird, § 15 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 lit. b BEEG. Stellt der Arbeitnehmer den Antrag verspätet, ist dieser nicht unwirksam, sondern kann wie ein Antrag nach § 8 TzBfG so ausgelegt werden, dass er sich hilfsweise auf den Zeitpunkt bezieht, zu dem der Arbeitnehmer die Verringerung frühestens verlangen kann194.

20.80

Ebenfalls wie nach § 8 TzBfG muss das Teilzeitverlangen so konkret formuliert sein, dass es 20.81 mit einem bloßen „Ja“ des Arbeitgebers angenommen werden kann, oder es muss die Festlegung der Einzelheiten erkennbar dem Antragsempfänger übertragen werden (§ 145 BGB)195. Die spätere gerichtliche Geltendmachung des Verringerungsanspruchs kann aber ein möglicherweise nicht hinreichend bestimmtes schriftliches Verlangen nach § 15 Abs. 7 BEEG ersetzen196. Nach § 15 Abs. 6 BEEG kann der Arbeitnehmer während der Gesamtdauer der Elternzeit insgesamt zweimal eine Verringerung der Arbeitszeit beanspruchen, da die Eltern bei der Geburt des Kindes nicht abschließend absehen können, wann und in welchem Umfang eine Teilzeittätigkeit möglich ist. Die Sperrzeit des § 8 Abs. 6 TzBfG ist nicht anwendbar.

20.82

Nach Beendigung der Teilzeittätigkeit muss der Arbeitnehmer zu seiner Arbeitszeit zurückkehren, die vor Beginn der Elternzeit bestanden hat (§ 15 Abs. 5 BEEG). Es besteht also kein Recht auf Fortführung der Teilzeitarbeit nach Beendigung der Elternzeit197. Unbenommen bleibt dem Arbeitnehmer jedoch, entweder drei Monate vor dem Ende der Elternzeit den all-

20.83

192 BAG v. 19.2.2013 – 9 AZR 461/11, NZA 2013, 907 (910) Rz. 35. 193 Boecken/Joussen/Boecken, § 15 BEEG Rz. 21. 194 Oberthür, ArbRB 2005, 189 (190); ausdrücklich offen gelassen von BAG v. 20.7.2004 – 9 AZR 626/03, BAGE 111, 260 = ArbRB 2004, 328 = NZA 2004, 1090. 195 BAG v. 19.4.2005 – 9 AZR 233/04, NJW 2006, 1832 = NZA 2005, 1354; Oberthür, ArbRB 2005, 189. 196 BAG v. 19.4.2005 – 9 AZR 184/04, AP Nr. 43 zu § 15 BErzGG; beim Verringerungsanspruch nach § 8 TzBfG ist dies nicht möglich. 197 Gaul/Wisskirchen, BB 2000, 2466 (2468); Meinel/Heyn/Herms, § 23 TzBfG Rz. 12.

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§ 20 Rz. 20.83

Teilzeit

gemeinen Teilzeitanspruch nach § 8 Abs. 1 TzBfG198, den tarifvertraglichen Teilzeitanspruch oder den sich aus Gleichstellungs- bzw. landesrechtlichen Frauenfördergesetzen ergebenden Teilzeitanspruch geltend zu machen. b) Ablehnung des Teilzeitarbeitsverlangens

20.84 Die Ablehnung des Teilzeitarbeitsverlangens hat nach § 15 Abs. 7 Satz 4 BEEG schriftlich mit einer konkreten Begründung innerhalb von vier Wochen nach Antragstellung zu erfolgen, wenn die Elternteilzeit für den Zeitraum zwischen Geburt und dem vollendeten dritten Lebensjahr des Kindes beansprucht wurde, § 15 Abs. 7 Satz 5 Nr. 1 BEEG. Wird sie hingegen für die Zeit zwischen dem dritten Geburtstag und dem vollendeten achten Lebensjahr des Kindes beantragt, hat der Arbeitgeber acht Wochen Zeit, um den Antrag schriftlich und begründet abzulehnen, § 15 Abs. 7 Satz 5 Nr. 2 BEEG.

20.85 Sofern sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Verteilung der Arbeitszeit gemäß § 15 Abs. 5 Satz 2 BEEG nicht einigen konnten und der Arbeitgeber die arbeitnehmerseitig gewünschte Verteilung nicht innerhalb der in § 15 Abs. 7 Satz 5 BEEG genannten Fristen schriftlich abgelehnt hat, gilt nach § 15 Abs. 7 Satz 6 BEEG die Verteilung der Arbeitszeit entsprechend den Wünschen des Arbeitnehmers als festgelegt. Voraussetzung für das Eingreifen der jeweiligen Fiktion ist eine fehlende oder nicht ordnungsgemäße Ablehnung des Antrages und einer ggf. auch gewünschten Verteilung der restlichen Arbeitszeit. Fingiert werden dann die Zustimmung des Arbeitgebers, also die Annahmeerklärung, und der Inhalt der Zustimmung im Sinne einer den Wünschen des Arbeitnehmers entsprechenden Verringerung der Arbeitszeit, § 15 Abs. 7 Satz 5 BEEG199. Im Falle des § 15 Abs. 7 Satz 6 BEEG wird eine den Wünschen des Arbeitnehmers entsprechende Verteilung der Arbeitszeit als festgelegt fingiert. Der Arbeitgeber kann einen Antrag auf Elternteilzeit nur aus dringenden betrieblichen Gründen ablehnen. Diese sollen etwa dann vorliegen, wenn der Arbeitsplatz nicht teilbar ist oder der Arbeitnehmer mit der verringerten Arbeitszeit nicht mehr in die Organisation des Arbeitgebers eingegliedert werden kann200.

20.86 Bei der Frage, ob ein dringender betrieblicher Grund vorliegt, der dem Teilzeitbegehren entgegensteht, ist das dreistufige Prüfungsschema (Rz. 20.44 ff.) anzuwenden, welches das BAG für § 8 TzBfG entwickelt hat201. c) Prozessuale Geltendmachung und Durchsetzung

20.87 Der Arbeitnehmer kann zur Durchsetzung seines Teilzeitbegehrens Klage auf Zustimmung zum Teilzeitverlangen erheben (§ 894 ZPO)202. Möglich ist über § 311a Abs. 1, § 275 Abs. 1 BGB auch eine Klage auf rückwirkende Vertragsänderung mit der Folge, dass Annahmeverzugslohn geltend gemacht werden kann203. 198 199 200 201 202 203

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Meinel/Heyn/Herms, § 23 TzBfG Rz. 12. Boecken/Joussen/Boecken, § 15 BEEG Rz. 29. Vgl. BAG v. 5.6.2007 – 9 AZR 82/07, NZA 2007, 1352. BAG v. 15.12.2009 – 9 AZR 72/09, NZA 2010, 447 (450) Rz. 48. HWK/Gaul, § 15 BEEG Rz. 26. BAG v. 9.5.2006 – 9 AZR 278/05, ArbRB 2007, 5 = NZA 2006, 1413 = NJW 2006, 3595; v. 15.12.2009 – 9 AZR 72/09, NZA 2010, 447; Kolmhuber, FA 2006, 357 (358); Oberthür, ArbRB 2005, 189 (191); HWK/Gaul, § 15 BEEG Rz. 26.

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Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst

Rz. 20.92 § 20

Die Darlegungs- und Beweislast wird von der herrschenden Meinung wie beim allgemeinen Teilzeitanspruch nach § 8 TzBfG verteilt. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber darlegen und beweisen muss, dass dem Verlangen dringende betriebliche Gründe entgegenstehen, da es sich um eine rechtshindernde Einwendung gegenüber dem Anspruch handelt204. Maßgeblicher Zeitpunkt hierfür ist wie bei § 8 TzBfG der Zeitpunkt der ablehnenden Entscheidung des Arbeitgebers205.

20.88

Der Anspruch kann in besonderen Fällen auch im Wege der einstweiligen Verfügung durchgesetzt werden206. Allerdings ist zu beachten, dass kein Verfügungsgrund besteht, wenn Elternzeit beantragt wurde, ohne diese durch Teilzeitarbeit zu bedingen207.

20.89

d) Geltendmachung des Teilzeitanspruchs in der Elternzeit Nach der Rechtsprechung des BAG kann der Arbeitnehmer ein durch das vorangegangene 20.90 Verlangen von Elternzeit ruhendes Arbeitsverhältnis nicht ohne weiteres einseitig dadurch wieder aufleben lassen, dass er die Fortsetzung der vor dem Beginn der Elternzeit ausgeübten Teilzeitbeschäftigung verlangt208. Allerdings kommt ein Anspruch auf Wiederaufnahme der während der Elternzeit unterbrochenen Teilzeitbeschäftigung dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen für den gesetzlichen Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit vorliegen209. Der Arbeitnehmer kann auch dann, wenn er zunächst nur Elternzeit in Anspruch genommen hat, noch später den Anspruch auf Teilzeitarbeit nach § 15 Abs. 6 BEEG geltend machen210. Dies stellt keine unzulässige vorzeitige Beendigung der Elternzeit dar, sondern setzt das ruhende Arbeitsverhältnis wieder mit einer anderen Arbeitszeit in Vollzug. Wenn jedoch der Arbeitgeber für die Dauer der Elternzeit bereits eine Vollzeitvertretung eingestellt hat, die nicht bereit ist, ihre Arbeitszeit zu verringern, und keine anderen Beschäftigungsmöglichkeiten vorhanden sind, kann sich der Arbeitgeber auf dringende betriebliche Gründe berufen, die dem Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit entgegenstehen211.

20.91

4. Teilzeitanspruch Schwerbehinderter nach § 164 Abs. 5 Satz 3 SGB IX Schwerbehinderte Menschen iSv. § 2 SGB IX können im Arbeitsverhältnis einen Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit gemäß § 164 Abs. 5 Satz 3 SGB IX form- und fristlos geltend machen, ohne dass eine Zustimmung des Arbeitgebers zur Vertragsänderung erforderlich 204 BAG v. 5.6.2007 – 9 AZR 82/07, NZA 2007, 1352; BAG v. 9.5.2006 – 9 AZR 278/05, ArbRB 2007, 5 = NZA 2006, 1413 = NJW 2006, 3595; LAG München v. 3.3.2004 – 9 Sa 782/03, BeckRS 2009, 66916; ErfK/Dörner, § 15 BErzGG Rz. 23; HWK/Gaul, § 15 BEEG Rz. 27. 205 BAG v. 15.12.2009 – 9 AZR 72/09, NZA 2010, 447; Reinecke, FS Leinemann, S. 191 (199); aA HWK/Gaul, § 15 BEEG Rz. 28, der auf den Schluss der mündlichen Verhandlung abstellt. 206 Oberthür, ArbRB 2005, 189 (192); Küttner/Reinicke, Elternzeit Rz. 37; HWK/Gaul, § 15 BEEG Rz. 29; aA Annuß/Thüsing/Lambrich, § 23 TzBfG Rz. 36; Kolmhuber, FA 2006, 357 (359); PetersLange/Rolfs, NZA 2000, 682 (684). 207 Oberthür, ArbRB 2005, 189 (192). 208 BAG v. 27.4.2004 – 9 AZR 21/04, ArbRB 2004, 295 = NZA 2004, 1039. 209 BAG v. 27.4.2004 – 9 AZR 21/04, ArbRB 2004, 295 = NZA 2004, 1039. 210 BAG v. 19.4.2005 – 9 AZR 233/04, ArbRB 2006, 4 = NJW 2006, 1832 = NZA 2005, 1354; v. 9.5.2006 – 9 AZR 278/05, ArbRB 2007, 5 = NJW 2006, 3595; ebenso Meinel/Heyn/Herms, § 23 TzBfG Rz. 9; aA Sowka, SAE 2006, 125. 211 BAG v. 19.4.2005 – 9 AZR 233/04, ArbRB 2006, 4 = NJW 2006, 1832 = NZA 2005, 1354; LAG Baden-Württemberg v. 23.11.2006 – 7 Sa 95/06, AuA 2007, 177 (Kurzwiedergabe).

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20.92

§ 20 Rz. 20.92

Teilzeit

ist212. Er muss aber darlegen und beweisen, dass die Arbeitszeitverkürzung wegen der Art und Schwere der Behinderung notwendig ist213. Vom allgemeinen Teilzeitanspruch des § 8 TzBfG unterscheidet sich § 164 Abs. 5 Satz 3 SGB IX dadurch, dass er auch in Kleinunternehmen mit weniger als 15 Arbeitnehmern und bereits in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses besteht.

20.93 Auch § 164 Abs. 5 SGB IX steht unabhängig neben § 8 TzBfG214 sowie den übrigen gesetzlichen und tarifvertraglichen Teilzeitansprüchen. Der Schwerbehinderte kann also zwischen den verschiedenen Vorschriften wählen oder sich gleichzeitig oder nacheinander auf die verschiedenen Anspruchsgrundlagen berufen215. Wenn der Arbeitgeber einem Antrag auf Teilzeitarbeit nach § 8 TzBfG zustimmen muss, ist ihm erst recht die Einrichtung eines Teilzeitarbeitsplatzes nach § 164 Abs. 5 SGB IX zumutbar216. Umgekehrt scheidet ein Anspruch nach § 164 Abs. 5 SGB IX aus, wenn feststeht, dass der Arbeitgeber einem Teilzeitverlangen nach § 8 TzBfG wegen entgegenstehender betrieblicher Gründe nicht zustimmen muss217. Die Darlegungs- und Beweislast für die Frage der Zumutbarkeit trifft den Arbeitgeber218.

20.94 Zu beachten ist, dass nach § 164 Abs. 5 Satz 3 SGB IX kein Anspruch auf eine bestimmte Arbeitszeitverteilung besteht. Möglich ist jedoch – im Gegensatz zu § 8 TzBfG – eine befristete Herabsetzung der Arbeitszeit219. 5. Teilzeitansprüche aus Gleichstellungs- bzw. Frauenfördergesetzen

20.95 Die verschiedenen Frauenförder- bzw. Gleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder enthalten völlig unterschiedliche Regelungen über Teilzeitarbeit. Teilweise finden sich lediglich mehr oder weniger unverbindliche Programmsätze, teilweise sind aber auch selbständige Ansprüche normiert. a) Bundesgleichstellungsgesetz (BGleiG)

20.96 Für alle Beschäftigten in der mittelbaren und unmittelbaren Bundesverwaltung unabhängig von ihrer Rechtsform sowie den Bundesgerichten sieht das BGleiG in § 16 Abs. 1 vor, dass – soweit Familienpflichten bestehen – ein Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung besteht, soweit nicht zwingende dienstliche Belange entgegenstehen. Dieser Anspruch ist insoweit für den Arbeitnehmer günstig, weil er form- und fristlos gestellt werden kann. Familienpflichten lie-

212 BAG v. 14.10.2003 – 9 AZR 100/03, BAGE 108, 77 = NZA 2004, 614; LAG Köln v. 15.3.2006 – 3 Sa 1593/05, NZA-RR 2006, 515. 213 LAG Hamm v. 18.2.2002 – 8 Sa 620/01, NZA 2002, 793; ArbG Frankfurt am Main v. 27.3.2002 – 2 Ca 5484/01, NZA-RR 2002, 573. 214 Vgl. LAG Köln v. 15.3.2006 – 3 Sa 1593/05, NZA-RR 2006, 515; LAG Schleswig-Holstein v. 23.10.2001 – 3 Sa 393/01, BeckRS 2001, 30793581; Conze/Karb/Wölk, Rz. 2728; ErfK/Thies, § 81 SGB IX Rz. 15; Hanau, NZA 2001, 1168 (1173); Meinel/Heyn/Herms, § 23 TzBfG Rz. 17; Rolfs, RdA 2001, 129 (138 f.); Rolfs, § 23 TzBfG Rz. 6. 215 LAG Köln v. 15.3.2006 – 3 Sa 1593/05, NZA-RR 2006, 515; Meinel/Heyn/Herms, § 23 TzBfG Rz. 17; Rolfs, RdA 2001, 132 (139). 216 LAG Köln v. 15.3.2006 – 3 Sa 1593/05, NZA-RR 2006, 515. 217 LAG Schleswig-Holstein v. 23.10.2001 – 3 Sa 393/01, BeckRS 2001, 30793581; aA ArbG Frankfurt a.M. v. 27.3.2002 – 2 Ca 5484/01, NZA-RR 2002, 573. 218 ArbG Frankfurt a.M. v. 27.3.2002 – 2 Ca 5484/01, NZA-RR 2002, 573. 219 BAG v. 14.10.2003 – 9 AZR 100/03, BAGE 108, 77 = NZA 2004, 614.

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Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst

Rz. 20.101 § 20

gen gemäß § 4 Abs. 2 BGleiG vor, wenn mindestens ein minderjähriges Kind oder ein pflegebedürftiger Angehöriger tatsächlich gepflegt oder betreut wird. Nach Auffassung des Bundesministeriums des Innern geht der Anspruch über den allgemeinen Teilzeitanspruch des § 8 TzBfG sowie die tarifvertraglichen Ansprüche (§ 11 TVöD bzw. TV-L) hinaus220. Inwieweit dies für tarifvertragliche Ansprüche, die eine Ablehnung des Teilzeitverlangens nur bei „entgegenstehenden dringenden betrieblichen Gründen“ zulassen, zutreffend ist, erscheint fraglich, da das BAG nicht explizit zwischen „dringend“ und „zwingend“ differenziert.

20.97

In der Begründung zum BGleiG wird angeführt, dass entgegenstehende zwingende dienstliche Belange in erster Linie organisatorische, ggf. auch haushaltsmäßige Zwänge sein können221. Genannt werden explizit Arbeitsplätze im Auswärtigen Dienst oder Entwicklungsdienst, wo die Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen mit hohen Kosten verbunden sein kann. Es gilt somit für die Ablehnung eines Antrags auf Teilzeit nach § 16 BGleiG derselbe Maßstab wie für die Ablehnung eines Antrags auf Teilzeit nach § 15 BEEG. Der Arbeitgeber muss also zB alle Möglichkeiten der betrieblichen Umorganisation prüfen. Die Ablehnung muss zudem schriftlich begründet werden.

20.98

Darüber hinaus hat die Dienststelle nach § 16 Abs. 3 Nr. 1 BGleiG darauf zu achten, dass die Beschäftigten eine ihrer ermäßigten Arbeitszeit entsprechende Entlastung erhalten und sich für die anderen Beschäftigten keine Mehrbelastungen ergeben. Dieser allgemeine Grundsatz ist im Übrigen auch bei den Teilzeitansprüchen nach § 8 TzBfG, § 15 BEEG oder § 11 TVöD bzw. TV-L zu berücksichtigen222. Nach § 17 Abs. 1 Nr. 1 BGleiG haben Arbeitnehmer, die wegen Familienpflichten teilzeitbeschäftigt sind, einen Anspruch auf vorrangige Besetzung von Vollzeitarbeitsplätzen. Der Anspruch entspricht im Wesentlichen § 9 TzBfG.

20.99

b) Landesgesetzliche Regelungen Alle Bundesländer haben in sehr unterschiedlicher Weise in Landesgleichstellungs- oder Frauenfördergesetzen Regelungen über Teilzeitarbeit für die Beschäftigten der Landes- und Kommunalverwaltungen getroffen (s. Übersicht Rz. 20.110). Diese reichen von klaren und sehr weitgehenden Rechtsansprüchen auf Teilzeit für alle Beschäftigten über Rechtsansprüche unter bestimmten Voraussetzungen (vor allem Pflege und Betreuung von Kindern oder Angehörigen) bis hin zu unverbindlich klingenden Programmsätzen. Unterschiedlich geregelt sind auch Dauer und Umfang der Teilzeittätigkeit sowie die Ablehnungsgründe.

20.100

Zu beachten ist, dass nach der Rechtsprechung des BAG auch dann, wenn der Landesgesetzgeber keinen eigenständigen Anspruch auf Teilzeitarbeit explizit gesetzlich formuliert hat, dem Arbeitnehmer aus den landesgesetzlichen Regelungen jedenfalls immer ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zusteht. Je nach Formulierung (insbesondere bei Soll-Vorschriften) und Fallgestaltung kann der Ermessensspielraum des öffentlich-rechtlichen Arbeitgebers auch auf Null reduziert sein und sich dadurch durchaus auch zu einem

20.101

220 Schreiben des Bundesministeriums des Innern v. 28.2.2002 zum BGleiG – D I 2 – 215 127/80, D I 1 – M 126 000/1, D II 2 – 220 000/1. 221 BT-Drucks. 14/5679, S. 25; vgl. auch Schreiben des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend v. 6.10.2003 zu Zweifelsfragen des BGleiG – 402-8011-13/3. 222 Sponer/Steinherr/Martens, § 11 TVöD Rz. 67 ff.

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§ 20 Rz. 20.101

Teilzeit

Anspruch auf Teilzeitanspruch verdichten223. Insbesondere kann der Arbeitnehmer die Entscheidung des öffentlich-rechtlichen Arbeitgebers gerichtlich überprüfen lassen. In Anwendung des Rechtsgedankens aus § 315 Abs. 3 BGB kann eine ermessensfehlerhafte Entscheidung des Arbeitgebers durch gerichtliches Urteil ersetzt werden224.

20.102 Die landesgesetzlichen Teilzeitregelungen sind – wie die bundesgesetzliche Regelung in § 16 BGleiG – für die Arbeitnehmer insoweit günstig, weil sie keine Form- und Fristerfordernisse aufstellen. Darüber hinaus ist teilweise die Ablehnungsmöglichkeit des Arbeitgebers äußerst eingeschränkt. So sieht zB § 13 Abs. 1 Landesgleichstellungsgesetz NRW vor, dass der Antrag auf Teilzeitbeschäftigung wegen Pflege eines Kindes oder eines pflegebedürftigen Angehörigen nur abgelehnt werden kann, wenn zwingende dienstliche Gründe dem entgegenstehen. Dies wird in den Verwaltungsvorschriften zum Landesgleichstellungsgesetz NRW225 wie folgt konkretisiert: „Die Versagung von familiär bedingter Teilzeitbeschäftigung ist auf absolute Ausnahmefälle beschränkt. Erforderlich sind nachvollziehbare und schwerwiegende Nachteile für die Funktionsfähigkeit der Verwaltung, die auch durch organisatorische Maßnahmen nicht behoben werden können. Schwierigkeiten, den freien Stellenanteil zu nutzen, und der Wegfall von Stellenanteilen stellen für eine Versagung allein keine zwingenden dienstliche Belange dar.“

20.103 Da zwingende dienstliche Belange nach der Rechtsprechung des BAG mit „dringenden dienstlichen Belangen“ gleichzusetzen sind226, müssen derartige Konkretisierungen durch die Exekutive – soweit sie vorliegen – entsprechend für die tarifvertraglichen Teilzeitansprüche (§ 11 TVöD/TV-L) sowie den Anspruch aus § 15 BEEG gelten, dh., eine Ablehnung muss auf absolute Ausnahmefälle beschränkt bleiben. 6. Tarifvertragliche Regelungen (§ 11 TVöD/TV-L) a) Anspruchsvoraussetzungen

20.104 Der TVöD ist der Tarifvertrag für Beschäftigte des Bundes und der Kommunen. § 11 TVöD ist damit lediglich auf Beschäftigte des Bundes und der Kommunen anwendbar. In den Ländern ist der wortgleiche § 11 TV-L einschlägig. Vergleichbar mit § 8 TzBfG normiert § 11 TVöD/TV-L einen Anspruch des Beschäftigten auf Verringerung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit.

20.105 Bei § 11 TVöD/TV-L handelt es sich um die Nachfolgeregelung zu dem inhaltlich vergleichbaren § 15b BAT. Anders als § 15b BAT, der den Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit nur Vollzeitbeschäftigten gewährte, wird in § 11 TVöD/TV-L geregelt, dass dieser Anspruch allen Beschäftigten zusteht. Darüber hinaus wurde § 11 Abs. 1 Satz 4 TVöD/TV-L neu eingeführt, wonach der Arbeitgeber bei der Gestaltung der verringerten Arbeitszeit im Rahmen seiner dienstlichen bzw. betrieblichen Möglichkeiten auf die besondere persönliche Situation

223 BAG v. 29.11.1995 – 5 AZR 753/94, BAGE 81, 323 = NJW 1996, 2750 = NZA 1996, 533 zum GleichstellungsG Berlin; LAG Berlin v. 25.5.1994 – 15 Sa 24/94, ZTR 1994, 516. 224 BAG v. 29.11.1995 – 5 AZR 753/94, BAGE 81, 323 = NJW 1996, 2750 = NZA 1996, 533 zum GleichstellungsG Berlin. 225 RdErl. d. Ministeriums für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit – Verwaltungsvorschriften zur Ausführung des Landesgleichstellungsgesetzes, zu § 13 Ziff. 2.1, SMBl. NRW 2001, 806. 226 Vgl. BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, BAGE 105, 248 = ArbRB 2004, 7 = DB 2004, 319.

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Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst

Rz. 20.109 § 20

des Beschäftigten Rücksicht zu nehmen hat. Die Änderung des § 15b BAT war nach einem Urteil des BAG227 notwendig geworden. Danach war die Beschränkung des Geltungsbereichs auf vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer wegen Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des § 4 Abs. 1 TzBfG unwirksam. § 15b BAT wurde an beamtenrechtliche Vorschriften angelehnt. In § 11 Abs. 1 TVöD/TV-L werden die Voraussetzungen, die für eine Verringerung der Arbeitszeit vorliegen müssen, genannt. Mit § 11 Abs. 2 TVöD/TV-L wird den Beschäftigten in anderen als den in § 11 Abs. 1 TVöD/TV-L genannten Fällen ein Anspruch auf ernsthafte Verhandlung mit dem Arbeitgeber über eine Verkürzung der Arbeitszeit zugestanden. § 11 Abs. 3 TVöD/TV-L normiert schließlich für den Fall, dass ein früher Vollzeitbeschäftigter eine unbefristete Verringerung der Arbeitszeit in Anspruch genommen hat, einen Anspruch auf bevorzugte Berücksichtigung bei der Besetzung eines Vollzeitarbeitsplatzes. Nach dem Wortlaut der §§ 11 TVöD/TV-L „soll“ unter den dort jeweils aufgeführten Voraussetzungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber eine geringere als die regelmäßige Arbeitszeit vereinbart werden. Nach ständiger Rechtsprechung folgt hieraus ein Anspruch auf Abschluss eines Teilzeitarbeitsvertrages und nicht nur ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung228.

20.106

Die tarifvertraglichen Teilzeitansprüche stehen im Gegensatz zum allgemeinen Teilzeitanspruch nur denjenigen Arbeitnehmern zu, die mindestens ein Kind unter 18 Jahren oder einen pflegebedürftigen Angehörigen tatsächlich betreuen oder pflegen. Dies entspricht den Familienaufgaben gemäß § 3 Nr. 6 BGleiG. Teilweise wird vertreten, dass die in §§ 11 TVöD/ TV-L vorgesehenen besonderen Anforderungen in der Person des Arbeitnehmers § 22 TzBfG widersprechen229. Dies ist jedoch nicht zutreffend, da § 22 TzBfG nur die Beschränkung des allgemeinen Teilzeitanspruchs nach § 8 TzBfG verhindern soll; Teilzeitansprüche außerhalb des TzBfG bleiben von § 22 TzBfG unberührt230.

20.107

Ausreichend ist im Gegensatz zum allgemeinen Teilzeitanspruch sowie zum Anspruch nach 20.108 § 15 Abs. 7 BEEG ein formloser Antrag. An die Darlegung des Verlangens sind keine hohen Anforderungen zu stellen. Eine Untergrenze für die Herabsetzung der Arbeitszeit besteht nicht. Es kann auch eine mehrmalige Herabsetzung verlangt werden, eine Wartezeit entsprechend § 8 Abs. 6 TzBfG besteht nicht231. Daher kann auch der Arbeitnehmer, der seine Arbeitszeit bereits nach § 8 Abs. 6 TzBfG herabgesetzt hat, unter den Voraussetzungen der § 11 TVöD/TV-L eine weitere Herabsetzung bereits vor Ablauf der zweijährigen Wartezeit beantragen232. Im Gegensatz zum allgemeinen Anspruch auf Teilzeitarbeit nach § 8 TzBfG besteht nach den tarifvertraglichen Regelungen kein Anspruch auf eine bestimmte Verteilung der Arbeitszeit.

227 BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, BAGE 105, 248 = ArbRB 2004, 7 = DB 2004, 319. 228 BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, BAGE 105, 248 = ArbRB 2004, 7 = DB 2004, 319; v. 18.5.2004 – 9 AZR 319/03, BAGE 110, 356 = ArbRB 2004, 361 = NZA 2005, 118 (für die insoweit gleich lautenden AVR Caritas); LAG Düsseldorf v. 1.2.2006 – 12 Sa 1603/05, BeckRS 2006, 43464; Dessau, ZTR 2001, 64 (66); Dassau/Wiesend-Rothbrust, § 11 TVöD Rz. 11. 229 HWK/Schmalenberg, § 22 TzBfG Rz. 7. 230 Vgl. BAG v. 21.11.2006 – 9 AZR 138/06, BB 2007, 1001. 231 Boecken/Joussen/Boecken, § 11 TVöD Rz. 12. 232 Rolfs, RdA 2001, 129 (139).

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20.109

§ 20 Rz. 20.109

Teilzeit

Es verbleibt somit beim Direktionsrecht des Arbeitgebers, das dieser nach billigem Ermessen ausüben muss233. Allerdings enthält § 11 Abs. 1 Satz 4 TVöD/TV-L nunmehr eine Konkretisierung des Direktionsrechts: Der Arbeitgeber hat bei der Gestaltung der Arbeitszeit im Rahmen der dienstlichen bzw. betrieblichen Möglichkeiten der besonderen persönlichen Situation des Beschäftigten Rechnung zu tragen. Ein Anspruch auf eine bestimmte Arbeitszeitverteilung wird sich hieraus jedoch nur in Ausnahmefällen im Falle einer Ermessensreduzierung auf Null ableiten lassen.

20.110 Eine Einigung über das Teilzeitbegehren des Arbeitnehmers kann auch mündlich erfolgen. Das in § 2 Abs. 1 TVöD/TV-L normierte Schriftformerfordernis ist nur deklaratorisch, da die Vereinbarung einer geringeren als der bisherigen Arbeitszeit die Pflicht zur Arbeitsleistung und damit eine Hauptleistungspflicht betrifft234. Das tarifliche Schriftformerfordernis bezieht sich jedoch nur auf vertragliche Nebenpflichten. b) Antrag auf befristete Verringerung der Arbeitszeit

20.111 Im Gegensatz zum allgemeinen Teilzeitanspruch nach § 8 TzBfG kann der Arbeitnehmer im Rahmen der tarifvertraglichen Teilzeitbestimmungen beantragen, seine Teilzeitarbeit auf bis zu fünf Jahre zu befristen. Verzichtet der Arbeitnehmer auf eine Befristung des Teilzeitarbeitsverhältnisses, verzichtet er auch auf sein Rückkehrrecht in die Vollzeitbeschäftigung235. Befristung auf bis zu fünf Jahre bedeutet, dass die Verringerung einmal längstens bis zu fünf Jahren möglich ist, nicht jedoch eine mehrmalige Inanspruchnahme der Verringerungsmöglichkeit bis zu insgesamt fünf Jahren.

20.112 Ist die Teilzeitbeschäftigung antragsgemäß befristet worden, bleibt die Befristung auch dann bestehen, wenn der Anlass für die Teilzeitarbeit vorzeitig wegfällt (zB der pflegebedürftige Angehörige verstirbt)236. Allerdings gebietet es auch hier die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, auf die veränderten familiären Verhältnisse Rücksicht zu nehmen und § 11 Abs. 3 TVöD/TV-L entsprechend anzuwenden und den Arbeitnehmer auf dessen Wunsch bei der Besetzung von geeigneten Vollzeitarbeitsplätzen bevorzugt zu berücksichtigen237. Möglich ist allerdings die Vereinbarung einer Rückkehrklausel für den Fall, dass der Grund für die Teilzeitbeschäftigung wegfällt238. Aufgrund von § 620 Abs. 3 BGB iVm. § 14 Abs. 4 TzBfG ist auch das nach § 11 TVöD/TV-L befristete Teilzeitarbeitsverhältnis schriftlich abzuschließen.

20.113 Wurde auf Antrag des Arbeitnehmers das Teilzeitarbeitsverhältnis nur befristet abgeschlossen, kann der Arbeitnehmer spätestens sechs Monate vor Ablauf der vorherigen Befristung einen Antrag auf Verlängerung stellen (§ 11 Abs. 1 Satz 3 TVöD/TV-L). Über den Antrag auf Verlängerung der Teilzeitvereinbarung hat der Arbeitgeber nach billigem Ermessen (§ 315 Abs. 1

233 234 235 236

Kaiser, ZTR 1996, 107 (113); Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 575. Kaiser, ZTR 1996, 107 (114). Kaiser, ZTR 1996, 107 (115). Bredemeier/Neffke/Cerff, § 15b BAT Rz. 7; Dassau/Wiesend-Rothbrust, § 11 TVöD Rz. 17; Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 570; aA Riesenhuber, NZA 1995, 56 (63): Möglichkeit des Wegfalls der Geschäftsgrundlage. 237 Conze/Karb/Wölk, Rz. 2724. 238 Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 573.

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Teilzeitansprüche im öffentlichen Dienst

Rz. 20.114 § 20

BGB) zu entscheiden239. Falls die familiären Gründe weiterhin oder wieder bestehen, lebt der tarifvertragliche Anspruch wieder auf, und es kann erneut die Reduzierung nach § 11 TVöD/ TV-L verlangt werden240. Der Arbeitnehmer kann nunmehr auch einen anderen Umfang der Reduzierung beantragen241. Ferner stehen ihm selbstverständlich der allgemeine Teilzeitanspruch sowie eventuell die bundes- bzw. landesgesetzlichen Ansprüche auf Teilzeitarbeit zu. c) Ablehnung des Teilzeitarbeitsverlangens Der Arbeitgeber kann einen Antrag auf Reduzierung der Arbeitszeit, der auf eine der genannten tarifvertraglichen Normen gestützt werden kann, nur ablehnen, wenn dem Antrag dringende dienstliche oder betriebliche Belange entgegenstehen. Dies entspricht § 15 Abs. 6 BEEG, so dass insoweit auf die dortigen Ausführungen verwiesen werden kann (Rz. 20.76). Das BAG überträgt seine im Rahmen des § 8 Abs. 4 TzBfG entwickelte dreistufige Prüfungsreihenfolge (Rz. 20.44 ff.) auf den tarifvertraglichen Teilzeitanspruch, da sich – abgesehen von dem unterschiedlichen Gewicht der Ablehnungsgründe – keine Unterschiede ergeben242. Die zu prüfenden Merkmale und der Umfang der gerichtlichen Prüfkompetenz entsprechen sich, nur die Gewichtung im dritten Prüfungsschritt ändert sich: Es ist im Rahmen der § 11 TVöD/TV-L danach zu fragen, ob die vom Arbeitnehmer gewünschte Abweichung bezüglich der Arbeitszeit den dringenden betrieblichen bzw. dienstlichen Belangen oder dem betrieblichen Organisationskonzept als zwingendes Hindernis entgegensteht243. Der Arbeitgeber muss also etwa darlegen, dass auch nach Prüfung aller Möglichkeiten der Umorganisation die verringerte Arbeitszeit nicht mit seinem Organisationskonzept vereinbar ist. Dies ist zB in einer Schule oder einem Kindergarten Fall, wenn sich das erstrebte pädagogische Konzept nur mit Vollzeitkräften realisieren lässt. Ebenso wie bei § 8 TzBfG sind die Interessen des Arbeitgebers an der Beibehaltung der bisherigen Arbeitszeit und die Interessen des Arbeitnehmers an deren Veränderung auf dieser Stufe nicht gegeneinander abzuwägen244. Das hat zur Folge, dass der Arbeitnehmer keine vertragliche Verringerung seiner Arbeitszeit beanspruchen kann, so nachvollziehbar und wichtig seine Interessen an einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch sein mögen, wenn es entgegenstehende dringende dienstliche bzw. betriebliche Belange gibt („Alles-oder-NichtsPrinzip“).

239 Boecken/Joussen/Boecken, § 11 TVöD Rz. 14; Kaiser, ZTR 1996, 107 (115); Riesenhuber, NZA 1995, 56 (60). 240 Kaiser, ZTR 1996, 107 (115); so wohl auch BAG 18.5.2004 – 9 AZR 319/03, ArbRB 2004, 361 = NZA 2005, 108. 241 Kaiser, ZTR 1996, 107 (115). 242 St. Rspr. seit BAG v. 18.5.2004 – 9 AZR 319/03, BAGE 110, 356 = ArbRB 2004, 361 = NZA 2005, 118 (für die insoweit gleich lautenden AVR Caritas); Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 566; noch offen gelassen von BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, BAGE 105, 248 = ArbRB 2004, 7 = DB 2004, 319 sowie vom LAG Düsseldorf v. 1.2.2006 – 12 Sa 1603/05, BeckRS 2006, 43464; bestätigt in BAG v. 16.10.2007 – 9 AZR 321/06, ArbRB 2008, 38 = NZA-RR 2008, 210. 243 BAG v. 18.5.2004 – 9 AZR 319/03, BAGE 110, 356 = ArbRB 2004, 361 = NZA 2005, 118 (für die insoweit gleich lautenden AVR Caritas). 244 BAG v. 18.5.2004 – 9 AZR 319/03, BAGE 110, 356 = ArbRB 2004, 361 = NZA 2005, 118 (für die insoweit gleich lautenden AVR Caritas); Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 565.

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§ 20 Rz. 20.115

Teilzeit

20.115 § 11 TVöD/TV-L enthalten somit auch im Bereich der Ablehnungsgründe im Vergleich zu § 8 TzBfG für Arbeitnehmer günstigere Voraussetzungen. Scheidet der tarifvertragliche Verringerungsanspruch aufgrund entgegenstehender dringender betrieblicher Gründe aus, kommt folglich auch nicht der allgemeine Teilzeitanspruch zum Zuge245. d) Prozessuale Geltendmachung und Durchsetzung

20.116 Der tarifvertragliche Anspruch auf Herabsetzung der Arbeitszeit kann ebenfalls in Ausnahmefällen durch einstweilige Verfügung gemäß § 62 Abs. 2 ArbGG iVm. §§ 935, 940 ZPO durchgesetzt werden246. Die Ausführungen zum allgemeinen Teilzeitanspruch gelten entsprechend (Rz. 20.52).

20.117 Teilweise wird in Literatur und Rechtsprechung eine abgestufte Darlegungs- und Beweislastverteilung angenommen: Der Arbeitnehmer müsse nur behaupten, dass keine dringenden dienstlichen oder betrieblichen Gründe dem Teilzeitverlangen entgegenstehen. Dieser Behauptung müsse der Arbeitgeber substantiiert entgegentreten. Die konkreten Einwände des Arbeitgebers müsse dann wiederum der Arbeitnehmer widerlegen247. Das BAG hat sich dem nicht angeschlossen, sondern geht zutreffend davon aus, dass die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen dringender entgegenstehender dienstlicher oder betrieblicher Gründe in vollem Umfang dem Arbeitgeber obliegt248, da es hierbei um eine Ausnahme vom Verringerungsanspruch handelt, die die Partei darlegen und beweisen muss, die sich darauf beruft. e) Verlängerung

20.118 Nach § 11 Abs. 3 TVöD/TV-L sollen Teilzeitbeschäftigte bei gleicher Eignung bei der Besetzung eines geeigneten Vollzeitarbeitsplatzes bevorzugt zum Zuge kommen. Hieraus wird teilweise nur ein Anspruch auf wohlwollende Prüfung und angemessene Berücksichtigung abgeleitet249. Eine derartige Auslegung führt aber dazu, dass die tarifvertraglichen Normen aufgrund des weitergehenden allgemeinen Verlängerungsanspruchs nach § 9 TzBfG obsolet sind250. Aufgrund der Formulierung als Soll-Vorschrift, dem Vergleich zu § 11 TVöD/TV-L und der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers dürfte dem Beschäftigten daher ein Anspruch zustehen, wenn die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind.

245 BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, BAGE 105, 248 = ArbRB 2004, 7 = DB 2004, 319; Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 568. 246 Vgl. Kaiser, ZTR 1996, 107 (114). 247 LAG Bremen v. 23.11.2000 – 4 Sa 123/00, DB 2001, 1203; Kaiser, ZTR 1996, 107 (111 f.); noch weitergehend Riesenhuber, NZA 1995, 56 (59). 248 BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 126/02, BAGE 105, 248 = ArbRB 2004, 7 = DB 2004, 319; v. 18.5.2004 – 9 AZR 319/03, BAGE 110, 356 = ArbRB 2004, 361 = NZA 2005, 118 (für die insoweit gleich lautenden AVR Caritas); zustimmend Feldhoff, ZTR 2006, 58 (68); Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 564. 249 Dassau/Wiesend-Rothbrust, § 11 TVöD Rz. 20; Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 570. 250 Vgl. BAG v. 15.8.2006 – 9 AZR 8/06, ArbRB 2007, 96 = NZA 2007, 255, wonach § 11 Abs. 3 TVöD nur das Ermessen des öffentlichen Arbeitgebers bei der Besetzung von Dauerarbeitsplätzen einschränkt.

624

Laber

Übersichten

Rz. 20.119 § 20

III. Übersichten 1. Übersicht über die Voraussetzungen/Rechtsfolgen der einzelnen Ansprüche auf Teilzeitarbeit von Beschäftigten im öffentlichen Dienst (Bund): § 8 TzBfG

§ 9a TzBfG

§ 15 BEEG

Sachliche Voraussetzungen

idR mehr als 15 Arbeitnehmer im Unternehmen

idR mehr als 45 Arbeitnehmer im Unternehmen

Persönliche Voraussetzungen

Jeder Arbeitnehmer nach 6 Monaten Beschäftigung

Antragsfrist

§ 81 Abs. 5 SGB IX

§ 13 BGleiG

§§ 11 TVöD/ TV-L, 15b BAT/BAT-O

idR mehr als Keine 15 Arbeitnehmer im Unternehmen

Beschäftigte in der unmittelbaren u. mittelbaren Bundesverwaltung

Anwendbarkeit Tarifvertrag

Jeder Arbeitnehmer nach 6 Monaten Beschäftigung

6 Monate Beschäftigung; Anspruchsvoraussetzungen der Elternzeit nach § 15 Abs. 1–3 BEEG

Familienpflichten = Betreuung oder Pflege eines Kindes unter 18 Jahren oder eines pflegebedürftigen Angehörigen (§ 4 Abs. 2 BGleiG)

Betreuung oder Pflege eines Kindes unter 18 Jahren oder eines pflegebedürftigen Angehörigen

3 Monate vor Beginn

3 Monate vor Beginn

7 oder 13 Wo- Keine chen vor Beginn

Keine

Keine

Antragsform

Formlos

Formlos

Schriftlich

Schriftlich mit Begründung

Formlos

Formlos

Zustimmung des Arbeitgebers

Ausdrücklich oder durch Fiktion

Ausdrücklich oder durch Fiktion

Ausdrücklich oder durch Fiktion

Nicht erforderlich

Erforderlich

Erforderlich

Arbeitszeit

Keine Mindest- Keine Minoder Höchstdest- oder grenze Höchstgrenze

15–30 Stunden

Keine Mindest- oder Höchstgrenze

Keine Mindest- oder Höchstgrenze

Keine Mindest- oder Höchstgrenze

Anspruch auf bestimmte Arbeitszeitverteilung

Ja

Ja

Ja

Nein

Nein, aber Pflicht zum Angebot familiengerechter Arbeitszeiten

Nein, jedoch Pflicht zur Berücksichtigung der Situation des Arbeitnehmers (§ 11 Abs. 1 Satz 4 TVöD/TV-L)

Dauer

Unbefristet

Mindestens 1 bis max. 5 Jahre

Mindestens Befristet oder 2 Monate; unbefristet höchstens Elternzeit (36 Monate); vorzeitige Beendigung nur in Ausnahmefällen

Unbefristet

Unbefristet, aber auf Antrag befristet bis zu 5 Jahre mit Verlängerungsmöglichkeit

Schwerbehinderung (§ 2 SGB IX), Notwendigkeit einer Verkürzung der Arbeitszeit wegen Behinderung

Laber

625

20.119

§ 20 Rz. 20.119

Teilzeit

§ 8 TzBfG

§ 9a TzBfG

§ 15 BEEG

§ 81 Abs. 5 SGB IX

§ 13 BGleiG

§§ 11 TVöD/ TV-L, 15b BAT/BAT-O

Ablehnungsgründe

Betriebliche Gründe

Betriebliche Gründe

Dringende betriebliche Gründe

Unzumutbarkeit

Zwingende dienstliche Belange

Dringende dienstliche bzw. betriebliche Gründe

Ablehnungsfrist

Ein Monat vor Beginn der gewünschten Verringerung

Ein Monat vor Beginn der gewünschten Verringerung

4 oder 8 Wochen nach Antragstellung

Keine

Keine

Keine

Form der Ablehnung

Schriftlich

Schriftlich

Schriftlich

Formlos

Schriftlich

Formlos

Begründung

Nein

Nein

Ja

Nein

Ja

Nein

Weitere Reduzierung

Wartezeit von zwei Jahren

Wartezeit von einem Jahr nach Rückkehr in Vollzeit

Zweimalige Reduzierung möglich

Ja

Ja

Ja

2. Übersicht Frauenförder- bzw. Gleichstellungsgesetze in den Ländern

20.120

Gesetz

Anspruch

BadenWürttemberg

§ 30 Chancengleichheitsgesetz v. 23.2.2016 – GBl. 2016, 108

Nein, Verpflichtung Keine zur ausreichenden Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen, soweit zwingende dienstliche Belange nicht entgegenstehen

Bei Ablehnung eines Antrags eines Arbeitnehmers mit Familienpflichten Beteiligung der Beauftragten für Chancengleichheit und schriftliche Begründung

Bayern

Art. 11 Bayerisches Gleichstellungsgesetz v. 24.5.1996 – GVBl. 1996, 186, zuletzt geändert 23.5.2006 – GVBl. 2006, 292

Nein, Verpflichtung zur ausreichenden Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen

Keine

Keine

Berlin

§ 10 Landesgleichstellungsgesetz v. 31.12.1990 – GVBl. 1991, 8 idF v. 6.9.2002

Nein, Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung

Keine

Keine

Brandenburg

§ 18 Landesgleichstellungsgesetz v. 4.7.1994 – GVBl. I 1994, 254

Ja

Keine

Besondere dienstliche Belange

Bremen

§ 8 Landesgleichstellungsgesetz v. 29.11.1990 – Brem. GBl. 1990, 433

Ja (entsprechende Anwendung des § 62 Bremisches Beamtengesetz)

Familienpolitische Gründe

Dienstliche Belange

626

Laber

Besondere Voraussetzungen

Ablehnungsgründe

Übersichten

Rz. 20.120 § 20

Gesetz

Anspruch

Besondere Voraussetzungen

Ablehnungsgründe

Hamburg

§ 12 Gleichstellungsgesetz v. 19.3.1991 – HmbGVBl. 1991, 75

Ja

Wahrnehmung von Familienaufgaben

Zwingende dienstliche Belange

Hessen

§ 12 Hessisches Ja Gleichberechtigungsgesetz v. 21.12.1993 – GVBl. 1993, 728

Wahrnehmung von Familienaufgaben

Zwingende dienstliche Belange

MecklenburgVorpommern

§ 7 Gleichstellungsgesetz v. 27.7.1998 – GVoBl. M-V 1988, 697

Nein, Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung

Keine

Dienstliche Belange

Niedersachsen

§ 6 Niedersächsisches Gleichbehandlungsgesetz v. 15.7.1994 idF v. 11.12.1997, GVBl. 1997, 503

Nein, Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung

Keine

Keine

NordrheinWestfalen

§ 13 LandesgleichJa stellungsgesetz v. 9.11.1999 – GV.NRW 1999, 590

Rheinland-Pfalz

§ 11 Landesgleichstellungsgesetz v. 11.7.1995 – GVBl. 1995, 209

Saarland

§ 17 LandesgleichJa stellungsgesetz v. 24.4.1996 – ABl. 1996, 161, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 15.2.2006, ABl. 2006, 474, 530

Familienpflichten

Zwingende dienstliche Belange

Sachsen

§ 11 Sächsisches Frauenförderungsgesetz v. 31.3.1994 – SächsGVBl. 1994, 684

Nein, Verpflichtung zur ausreichenden Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen

Keine

Keine

Sachsen-Anhalt

§ 8 Frauenförderungsgesetz v. 27.5.1997 – GVBl. LSA 1997, 516

Ja

Familienpflichten

Zwingende dienstliche Interessen; schriftliche Begründung

Schleswig-Holstein

§ 12 Gleichstellungsgesetz v. 13.12.1994 – GVOBl. 1994, 562

Ja

Mindestens die Hälf- Zwingende dienstte der regelmäßigen liche Belange Arbeitszeit

Thüringen

§ 10 Thüringer Ja Gleichstellungsgesetz v. 3.11.1998 – GVBl. 1998, 309

Betreuung oder Pfle- Zwingende dienstge eines minderjähri- liche Belange gen Kindes oder eines pflegebedürftigen sonstigen Angehörigen

Ja („im Rahmen der Wahrnehmung von tarifvertraglichen Be- Familienarbeit stimmungen“)

Familienpflichten

Zwingende dienstliche Belange

Im Rahmen der gesetzlichen, tarifvertraglichen oder sonstigen Regelungen der Arbeitszeit

Laber

627

§ 21 Altersteilzeit I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21.1

1. Bedeutung und Rechtsgrundlagen

21.1

2. Arten der Altersteilzeit . . . . . . . . .

21.6

3. Zustandekommen eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses . . . . . . .

21.11

4. Beendigung der Altersteilzeit . . . .

21.19

II. Altersteilzeit im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21.22

1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21.22

2. Anspruch auf Altersteilzeit (§ 2 Abs. 1 und 2 TV ATZ) . . . . . . . a) Arbeitnehmer über 60 Jahre (§ 2 Abs. 2 TV ATZ) . . . . . . . . . . b) Arbeitnehmer über 55 Jahre (§ 2 Abs. 1 TV ATZ) . . . . . . . . . . c) Beschäftigungszeit und versicherungspflichtige Tätigkeit . . . . . . 3. Ausgestaltung (§ 3 TV ATZ) . . . . . . 4. Ablehnung des Arbeitgebers (§ 2 Abs. 3 TV ATZ) . . . . . . . . . . . . a) Arbeitnehmer über 60 Jahre . . . . aa) Wirtschaftliche Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Personalwirtschaftliche Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Überforderungsschutz . . . . b) Arbeitnehmer zwischen 55 und 59 Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ermessensentscheidung und Ausübungskontrolle . . bb) Einzelne Ablehnungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ablehnungsentscheidung . . . . . . 5. Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Entscheidung des Arbeitgebers . . .

21.26 21.27 21.30 21.32 21.36

6. Vergütung bei Altersteilzeit . . . . . . a) Höhe der Bezüge (§ 4 TV ATZ) . b) Aufstockungsleistungen (§ 5 TV ATZ) . . . . . . . . . . . . . . . aa) Aufstockung der Bezüge . . . bb) Aufstockung der Rentenversicherungsbeiträge . . . . . c) Steuerliche Behandlung der Aufstockungsleistungen . . . . . . . d) Sozialversicherungsrechtliche Behandlung der Aufstockungsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verlängerung und Ermäßigung der Arbeitszeit während der Altersteilzeit . . . . . . . . . . . . . . . . f) Aufstieg während der Altersteilzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Abfindung bei Rentenkürzung nach § 5 Abs. 7 TV ATZ . . . . . . .

21.72 21.72 21.82 21.85 21.95 21.103 21.105 21.106 21.109 21.112

7. Nebentätigkeit (§ 6 TV ATZ) . . . . . 21.114 8. Urlaubsansprüche und -abgeltung . 21.117

21.43 21.44

9. Krankheit und Entgeltfortzahlung (§ 8 Abs. 1 und Abs. 2 TV ATZ) . . . 21.120

21.47

10. Beendigung nach § 9 Abs. 1 und 2 TV ATZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.126

21.52 21.54 21.57 21.57 21.60 21.65 21.66

11. Vorzeitige Beendigung der Altersteilzeit im Blockmodell nach § 9 Abs. 3 TV ATZ . . . . . . . . . a) Arbeitsrechtliche Auswirkungen . b) Steuerliche Behandlung der Wertguthaben . . . . . . . . . . . . . . . c) Sozialversicherungsrechtliche Behandlung der Wertguthaben . .

21.127 21.129 21.132 21.133

12. Zusatzversorgung und Altersteilzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.134 13. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.135

Schrifttum: Monographien und Kommentare: Allary/Olschewski/Waldhorst, Die neue Altersteilzeit; Andresen, Frühpensionierung und Altersteilzeit, 3. Aufl. 2003; Drespa/Meyer/Slawik, Altersteilzeit, Loseblatt (Stand: 35. Lieferung November 2018); Doleczik/Oser/Schaefer, Altersteilzeit, 1998; Görgens; Altersteilzeit für Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst, 2. Aufl. 2006; Gussone/Voelzke, Altersteilzeitrecht, 2000; Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 8. Aufl. 2018; Karvani, Die Rechtsstellung des im verblockten Arbeitszeitmodell beschäftigten Altersteilzeitarbeitnehmers während der Freistellungsphase, 2006; Kerschbaumer/Rothländer, Praxiswissen Altersteilzeit im öffentlichen Dienst, 2. Aufl. 2006; Kovacs/Koch, Das neue Altersteilzeitgesetz, 2. Aufl. 2004; Langenbrinck/

Laber

629

§ 21 Rz. 21.1

Altersteilzeit

Litzka, Altersteilzeit im öffentlichen Dienst für Tarifbeschäftigte, 5. Aufl. 2008; Leisbrock, Altersteilzeitarbeit, 2001; Oppermann/Nimscholz/Ostrowicz, Altersteilzeit, 7. Aufl. 2011; Pieper/Rothländer, Altersteilzeit im öffentlichen Dienst, 2. Aufl. 2006; Rittweger/Petri/Schweikert, Altersteilzeit, 2. Aufl. 2002; Rolfs, Teilzeit- und Befristungsgesetz, 2002; Rothländer, Teilzeit/Altersteilzeit, 2005; Schmidtke/ Spissinger, Altersteilzeit für Arbeiter und Angestellte, 1999; Spieß, Altersteilzeit im öffentlichen Dienst, 2. Aufl. 1999; Stief, Altersteilzeit in der Praxis, 2. Aufl. 2005; Weber/Meyer-Renkes, Altersteilzeitverträge, 2001; Welslau, Altersteilzeit in der betrieblichen Praxis, 2000. Aufsätze: Ahlbrecht/Ickenroth, Altersteilzeit im Blockmodell – Rechtlicher Rahmen und Sonderprobleme, BB 2002, 2440; Birk, Die Befristung von Altersteilzeitverträgen auf einen vorgezogenen Renteneintritt, NZA 2007, 244; Debler, Altersteilzeit – „Störfälle“ und andere unvorhersehbare Ereignisse, NZA 2001, 1285; Hampel, Die Änderungen des Altersteilzeitgesetzes durch Hartz III und IV, DB 2004, 706; Hock/Klapproth, Ausgewählte Probleme bei der Anwendung des Tarifvertrags zur Regelung der Altersteilzeit (TV ATZ), ZTR 2000, 97; Hoß, Regelung von Störfällen in der Altersteilzeit, ArbRB 2002, 28; Hoß, Neue Spielregeln für die Altersteilzeit, ArbRB 2004, 146; Kerschbaumer, Neuregelungen zur Altersteilzeit ab dem 1. Juli 2004, AiB 2004, 325; Kerschbaumer/Tiefenbacher, Altersteilzeit in „Blockmodellen“, ArbuR 1998, 58; Kulok, Überleitung in den TVöD während eines laufenden Altersteilzeitarbeitsverhältnisses, ZTR 2006, 420; Langenbrinck, Gleitender Ruhestand im öffentlichen Dienst, AuA 1999, 72; Langenbrinck, Neuere Entwicklungen in der Altersteilzeit, ZTR 2004, 222; Lingemann, Altersteilzeit-Verträge – Vertragsmuster mit Erläuterungen, MDR 2002, 382; Melms/Schwarz, Die verpasste Rente nach Altersteilzeit, DB 2006, 2010; Obenaus, Altersteilzeit im öffentlichen Dienst: Zur Auslegung von § 2 TV ATZ, PersV 1999, 298; Pahde, Altersteilzeit – Probleme ihrer Umsetzung in der betrieblichen Praxis, AiB 2001, 136; Pieper, Anspruch auf Altersteilzeit für Teilzeitbeschäftigte im öffentlichen Dienst, PersR 2000, 483; Pieper, Tarifvertrag zur Altersteilzeit im öffentlichen Dienst geändert, PersR 1999, 467; Plagemann, Grundzüge der Altersteilzeit, ZAP Fach 17, 873; Schlegel, Schwerpunkte des Altersteilzeitgesetzes, FA 2000, 238; Schwarze, Ausgleich der Vorleistungen bei vorzeitigem Ende des ATZ-Arbeitsverhältnisses, SAE 2005, 93; Sieg/Maschmann, Altersteilzeit – Aktuelle Probleme in der betrieblichen Praxis, Gedenkschrift für Wolfgang Blomeyer 2003, 397; Thiel, Altersteilzeit – Gleitender Übergang in den Ruhestand oder Personalabbaumodell?, ZTR 1998, 337; Thiel, Altersteilzeit – Eine Bestandsaufnahme, ZTR 1999, 193; Weishaupt, Altersteilzeit: Weiterzahlung einer noch in der Arbeitsphase widerrufenen Zulage in der Freistellungsphase, ZTR 2003, 435; Wolf, Die beiden Gesetze zur Fortentwicklung der Altersteilzeit, NZA 2000, 637; Wurm, Altersteilzeit für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes, ZfPR 2001, 277; Zwanziger, Struktur, Probleme und Entwicklung des Altersteilzeitrechts – ein Überblick, RdA 2005, 226.

I. Grundlagen 1. Bedeutung und Rechtsgrundlagen

21.1 Das Recht der Altersteilzeit betrifft Fragen der Lebensarbeitszeit und hat daher einen engen Bezug zum Altersrentenrecht1. Änderungen bei der Altersrente haben folglich immer auch unmittelbare Auswirkungen auf das Altersteilzeitrecht, das den Übergang aus dem Erwerbsleben in die Altersrente sowohl arbeits- als auch sozialrechtlich regelt2. Seit mehr als zwei Jahrzehn-

1 Zwanziger, RdA 2005, 226; zu den Einzelheiten vgl. Kerschbaumer/Rothländer, S. 34 ff. 2 So ergeben sich durch die geplante schrittweise Erhöhung des Eintrittsalters für die Regelarbeitsrente durch das Rentenversicherung-Altersgrenzenanpassungsgesetz (BGBl. I 2007, 554) von 2012 an bis 2029 beginnend mit dem Jahrgang 1947 auch Auswirkungen für die Dauer der Altersteilzeit, wenn der Arbeitnehmer nach dem 1.1.2012 in Rente geht. Für Arbeitnehmer, die vor dem 1.1.2007 eine Altersteilzeitvereinbarung geschlossen haben, gilt jedoch die Vertrauensschutzregelung des § 236 Abs. 2 SGB VI nF.

630

Laber

Grundlagen

Rz. 21.4 § 21

ten versucht der Gesetzgeber, diesen Übergang zu gestalten3. Zunächst trat am 1.5.1984 das Vorruhestandsgesetz in Kraft, das bereits fünf Jahre später durch das erste Altersteilzeitgesetz abgelöst wurde. Dieses Gesetz kam in der betrieblichen Praxis jedoch kaum zur Anwendung. Stattdessen wurde unter Ausnutzung verschiedener sozialrechtlicher Vorschriften eine Frühverrentung erreicht. Dieses Instrumentarium war äußerst beliebt und verursachte bei den Sozialversicherungsträgern beträchtliche Kosten4. Der Gesetzgeber sah hierin einen Missbrauch von Sozialleistungen und suchte nach Möglichkeiten, die Frühverrentung einzuschränken und Arbeitnehmern einen gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in die Altersrente zu ermöglichen. Das Ergebnis war schließlich das derzeit geltende Altersteilzeitgesetz (ATZG), das als Art. 1 des Gesetzes zur Förderung eines gleitenden Ruhestands vom 23.7.1996 am 1.8.1996 in Kraft getreten ist5. Mit dem ATZG wurden auch weitere gesetzgeberische Ziele angestrebt, wie die Eröffnung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Auszubildende und Arbeitslose durch spezielle Förderleistungen6, die allgemeine Förderung der Teilzeitarbeit, der Zugang zur Altersrente durch Arbeitsverzicht, der Beitrag zur Altersrente durch Arbeitszeitverzicht, ein Beitrag zum qualitativen Personalaustausch, die Förderung individueller und flexibler Vertragsgestaltungen sowie eine allgemeine Arbeitsmarktentlastung7. Im öffentlichen Dienst erfreute sich die Altersteilzeit über Jahre hinweg hoher Beliebtheit. 2010 etwa befanden sich 290.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in Altersteilzeit. 2015 sank der Wert jedoch auf 109.000 und Mitte 2017 entschieden sich nur noch 62.400 Beschäftigte für die Altersteilzeit8.

21.2

Jedoch wird nur ein Bruchteil dieser Altersteilzeitverhältnisse nach dem ATZG gefördert. So bestehen nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit nur 7978 nach dem ATZG geförderte Altersteilzeitfälle aus dem Bereich öffentliche Verwaltung, Verteidigung und Sozialversicherung9. Das bedeutet, dass nur in diesen Fällen die Fördervoraussetzung der Neueinstellung eines Arbeitslosen aus Anlass des Übergangs eines Arbeitnehmers in die Altersteilzeitarbeit vorliegt. Altersteilzeit ist somit – auch für die öffentlichen Arbeitgeber – vor allem auch eine Möglichkeit zum sozialverträglichen Abbau von Beschäftigten.

21.3

Das ATZG war bis zum 31.12.2009 befristet. Altersteilzeitarbeitsverhältnisse werden nur noch gefördert, wenn die Arbeitszeit spätestens ab dem 31.12.2009 verringert wird (§ 1 Abs. 1 ATZG) und die Voraussetzungen der Förderung vor dem 1.1.2010 vorlagen (§ 16 ATZG). Eine Verlängerung ist aufgrund der finanziellen Belastungen gerade für die öffentlichen Arbeitgeber und damit der öffentlichen Haushalte derzeit nicht geplant, so dass der Geburtsjahrgang 1954 im Jahre 2009 mit Vollendung des 55. Lebensjahres letztmals geförderte Altersteilzeit in Anspruch nehmen konnte10.

21.4

3 Ausführlich zur Gesetzesentwicklung Drespa/Meyer/Slawik, Einführung Rz. 1 ff.; HWK/Stindt/ Nimscholz, 7. Aufl., Vorbem. ATZG Rz. 2 ff.; Kerschbaumer/Rothländer, S. 27 ff. 4 Vgl. zu Einzelheiten Zwanziger, RdA 2005, 226 (227). 5 BGBl. I 1996, 1098. 6 Präambel TV ATZ; BAG v. 14.10.2003 – 9 AZR 146/03, BAGE 108, 95 = NZA 2004, 860. 7 BAG v. 20.8.2002 – 9 AZR 710/00, BAGE 102, 225 = NZA 2003, 510; v. 16.8.2005 – 9 AZR 580/04, ZTR 2006, 256; v. 13.12.2005 – 9 AZR 220/05, AP Nr. 27 zu § 1 TVG Altersteilzeit. 8 Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2018, S. 369. 9 Statistik der Bundesagentur für Arbeit – Arbeitsmarkt in Zahlen, Altersteilzeit (AtG), Stand Dezember 2015. 10 Im Jahr 2006 gab die Bundesagentur für Arbeit (BA) rund 1,3 Milliarden Euro für die Förderung der Altersteilzeit aus; ein über sechs Jahre gefördertes Altersteilzeitarbeitsverhältnis kostet die BA rund 80 000 Euro. (FAZ v. 15.2.2007).

Laber

631

§ 21 Rz. 21.4

Altersteilzeit

Natürlich kann Altersteilzeit auch über den 1.1.2010 hinaus rechtswirksam vereinbart werden. Auf Arbeitgeberseite verbleibt sodann allerdings nur der Vorteil, dass Aufstockungsbeiträge nach wie vor steuerfrei geleistet werden, soweit nur die gesetzlichen Voraussetzungen der Altersteilzeit vorliegen.

21.5 Neben dem ATZG sind bei Zweifelsfragen, insbesondere zu Fördervoraussetzungen und sozialversicherungsrechtlichen Fragestellungen, auch die ausführlichen und umfangreichen Durchführungsanweisungen der Arbeitsagentur (DA) – Stand 1.1.2007 bzw. Durchführungsanweisungen der Arbeitsagentur (DA) – Stand Juni 2003 (für Altfälle) sowie die Gemeinsamen Verlautbarungen der Sozialversicherungsträger durch Schreiben vom 9.3.2004 sowie durch Schreiben vom 6.9.2001 (für Altfälle) zu beachten. 2. Arten der Altersteilzeit

21.6 Altersteilzeitarbeit wird heutzutage ganz überwiegend im sog. Blockmodell durchgeführt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes haben sich Mitte 2017 94 % der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die sich in Altersteilzeit befinden, für das Blockmodell entschieden11. Das Blockmodell ist durch eine Aufteilung in die sog. Arbeitsphase und die Freistellungsbzw. Freizeitphase gekennzeichnet. Während der gesamten Dauer des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses wird durchgehend nur die halbierte Arbeitszeit vergütet. Mitte 2017 befanden sich 28 % der Beschäftigten, die sich für das Blockmodell entschieden haben, in der Arbeitsphase12. Über die Jahre hat sich das Verhältnis zwischen Arbeits- und Freistellungsphase zugunsten der Freistellungsphase verschoben. Befanden sich Mitte 2004 noch knapp 30 % der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in der Freistellungsphase, waren es Mitte 2017 bereits 72 %. Der öffentliche Haushalt wird durch die Altersteilzeit daher stark belastet.

21.7 Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG tritt der Arbeitnehmer während der Arbeitsphase mit seinen vollen Arbeitsleistungen im Hinblick auf die anschließende Freistellungsphase in Vorleistung. Während der Arbeitsphase erbringt er Vorleistungen und erarbeitet Entgeltteile, die nicht im Monat der Arbeitsphase ausgezahlt, sondern für die spätere Freistellungsphase angespart werden13. Die Rechtsprechung des BAG sah bis ins Jahr 2012 die für die Freistellungsphase in der Arbeitsphase erbrachten Arbeitsleistungen als Wertguthaben an. Der Arbeitnehmer erarbeite sich mit anderen Worten im Umfang seiner Vorleistungen in der Arbeitsphase zum einen Ansprüche auf die spätere Zahlung der Bezüge und zum anderen einen entsprechenden Anspruch auf Freistellung von der Arbeitsleistungspflicht14. Damit besteht die Gefahr, dass der Arbeitnehmer im Falle einer Insolvenz des Arbeitgebers sein Wertguthaben verliert, falls dieses nicht gegen Insolvenz abgesichert ist. Nach dem für Altersteilzeitverträge ab dem 1.7.2004 geltenden § 8a ATZG ist der Arbeitgeber verpflichtet, das Wertguthaben für den Fall der Zahlungsunfähigkeit abzusichern und dies dem Arbeitnehmer in Textform nachzuweisen. Gemäß § 8a Abs. 6 ATZG sind der Bund, die Länder, die Gemeinden, die Kör11 Statistisches Bundesamt, Finanzen und Steuern, Personal des öffentlichen Dienstes 2017. 12 Statistisches Bundesamt, Finanzen und Steuern, Personal des öffentlichen Dienstes 2017. 13 BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 353/02, BAGE 106, 361 = DB 2004, 258; v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, ArbRB 2005, 133 = NZA 2005, 408; aA Weishaupt, ZTR 2003, 435 (439), wonach die Entgeltansprüche während der gesamten Laufzeit der Altersteilzeit neu entstehen. 14 BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 353/02, BAGE 106, 361 = DB 2004, 258; v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, ArbRB 2005, 133 = NZA 2005, 408; Instanzgerichte sehen mittlerweile teilweise im Blockmodell das erarbeitete Guthaben als Zeitguthaben an, so LAG Berlin-Brandenburg v. 12.9.2012 – 4 Sa 1380/12.

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Grundlagen

Rz. 21.10 § 21

perschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts, über deren Vermögen die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nicht zulässig ist, sowie juristische Personen des öffentlichen Rechts, bei denen der Bund, ein Land oder eine Gemeinde kraft Gesetzes die Zahlungsunfähigkeit sichert, von dieser Pflicht befreit. Im Bereich des öffentlichen Dienstes ist somit in aller Regel eine Insolvenzsicherung des Wertguthabens nicht erforderlich. Die Rechtsprechung des BAG sieht es mittlerweile etwas differenzierter. Das BAG führt aus, dass der Arbeitnehmer sich in dem Umfang seiner Vorleistungen zum einen Ansprüche auf die spätere Zahlung der Bezüge und zum anderen einen entsprechenden Anspruch auf Freistellung von der Arbeitsleistungspflicht und damit ein Zeitguthaben erarbeite15. Daraus folgt dann nach dieser Rechtsprechung, dass bei Lohnerhöhungen in der Freistellungsphase (mindestens) das auszuzahlen ist, was der Altersteilzeitarbeitnehmer erarbeitet hat16. Nach dieser Ansicht wären Tariflohnerhöhungen weiterzugeben, Absenkungen des Tarifentgelts hingegen nicht. Es läge demnach sowohl ein Wert- als auch ein Zeitguthaben vor. Denn wenn immer mindestens der Betrag in der Freistellungsphase zur Auszahlung kommen muss, der während der Arbeitsphase erarbeitet wurde, gleichzeitig aber Tariflohnerhöhungen weitergegeben werden sollen, spricht dies für beide Modelle17. Im sog. „Freistellungsmodell“ oder „Altersteilzeit-Null-Modell“ wird das Blockmodell dahingehend modifiziert, dass eine teilweise oder sogar komplette – bezahlte – Freistellung schon während der Arbeitsphase erfolgt. Dieses Modell führt jedoch dazu, dass kein Altersteilzeitarbeitsverhältnis iSd. ATZG vorliegt, weil es an der erforderlichen Halbierung der Arbeitszeit iSd. § 2 Abs. 2, § 6 Abs. 2 ATZG fehlt18. Liegt keine Altersteilzeit nach dem ATZG vor, entfallen auch alle damit verbundenen sozial- und steuerrechtlichen Vergünstigungen (s. Rz. 21.11) für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Von derartigen Gestaltungen ist somit abzuraten.

21.8

Das zunächst als gesetzlicher Grundfall konzipierte, aber in der Praxis nur selten vorkommende Teilzeitmodell (seltener auch Kontinuitäts- oder Halbschichtmodell genannt) entspricht in seiner Ausgestaltung einem normalen Teilzeitarbeitsverhältnis nach dem TzBfG, anderen Gesetzen oder Tarifverträgen: Die Arbeitszeit wird für jede Woche reduziert. Dieses Modell ist sowohl in arbeits- als auch sozialrechtlicher Hinsicht unproblematisch.

21.9

Zulässig sind ferner Zwischenmodelle, solange durch sie eine Halbierung der bisherigen Arbeitszeit erfolgt19. Beispiele sind etwa ein täglicher, wöchentlicher oder monatlicher Wechsel zwischen Freistellung und Arbeit. Denkbar ist auch eine degressive Verteilung der Arbeitszeit, so dass der Anteil der Arbeitsphase umso geringer wird, je näher der Renteneintritt rückt.

21.10

15 BAG v. 22.5.2012 – 9 AZR 423/10, ZVBR online 2012, Nr. 10, 18–22. 16 BAG v. 22.5.2012 – 9 AZR 423/10, ZVBR online 2012, Nr. 10, 18–22; v. 18.9.2018 – 9 AZR 199/18, NJOZ 2019, 552 (554) Rz. 23. 17 Auch für eine Absenkung der tariflichen Leistungen und somit wohl für ein „reines Zeitguthaben“: LAG Berlin-Brandenburg v. 12.9.2012 – 4 Sa 1380/12, ArbRAktuell 2013, 57. 18 Vgl. hierzu BAG v. 10.2.2004 – 9 AZR 401/02, NZA 2004, 606; Abeln/Gandernack, BB 2005, 43; Oberthür, NZA 2005, 377; Kock, ArbRB 2005, 275; Drespa/Meyer/Slawik, § 3 TV ATZ Rz. 9. 19 Drespa/Meyer/Slawik, § 3 TV ATZ Rz. 11; Kerschbaumer/Rothländer, S. 65; Zwanziger, RdA 2005, 226 (229).

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§ 21 Rz. 21.11

Altersteilzeit

3. Zustandekommen eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses

21.11 Das ATZG sieht keinen Rechtsanspruch20 auf Altersteilzeit vor. Es regelt im Wesentlichen das Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und der Bundesagentur für Arbeit, insbesondere bezüglich der Mindestvoraussetzungen für die finanzielle Förderung durch die Bundesagentur für Arbeit, und hat somit nur mittelbar Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber21. Das ATZG ist ein sozialrechtliches Subventionsgesetz22. Die Subventionierung erfolgt neben der im ATZG geregelten Erstattung der Aufstockungsleistungen bei ursächlicher Neueinstellung eines arbeitslos gemeldeten Arbeitnehmers23 durch die Steuerund Beitragsfreiheit von Aufstockungsleistungen sowie den günstigen Voraussetzungen der sog. Altersrente nach Altersteilzeit (vgl. § 237 und Anlage 19 SGB VI)24.

21.12 Ein Anspruch des Arbeitnehmers auf Vereinbarung von Altersteilzeit kann sich nur aus kollektivvertraglichen Vorschriften ergeben. Die kollektivvertraglichen Regelungen lehnen sich in aller Regel stark an die im ATZG aufgestellten Mindestvoraussetzungen für die finanzielle Förderung an, gehen aber auch oftmals zugunsten des Arbeitnehmers darüber hinaus. Für den öffentlichen Dienst sind diese vor allem im Tarifvertrag Altersteilzeit vom 5.5.1998 – TV ATZ in der Fassung des Änderungstarifvertrages vom 30.6.2000 enthalten (vgl. im Einzelnen zum Anwendungsbereich Rz. 21.22 ff. und zu den Voraussetzungen Rz. 21.26 ff.). Eine weitere kollektivrechtliche Vereinbarung stellt der Tarifvertrag zu flexiblen Arbeitszeitregelungen für ältere Beschäftigte in der Fassung des Änderungstarifvertrages vom 18.4.2018 dar (TV FlexAZ). Auch dieser ist an das ATZG angelehnt und gilt grundsätzlich für alle Altersteilzeitarbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes, die nach dem 31.12.2009 und bis zum 31.12.2018 abgeschlossen wurden. Für alle Altersteilzeitarbeitsverhältnisse, die vor dem 1.1.2010 abgeschlossen wurden, gilt der TV FlexAZ nicht. Diese werden weiterhin vom TV ATZ erfasst.

21.13 Das Altersteilzeitarbeitsverhältnis wird durch den Abschluss eines individuellen Vertrages zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer begründet. Dies kann sowohl durch den Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags oder durch die Fortsetzung des bisherigen Arbeitsvertrags, soweit dieser bereits Regelungen zur Altersteilzeit enthält, erfolgen. Das Altersteilzeitarbeitsverhältnis ist ein befristetes Teilzeitarbeitsverhältnis. Wegen § 7 Abs. 1a Nr. 1 SGB IV iVm. § 14 Abs. 4 TzBfG ist der Vertrag schriftlich abzuschließen25.

21.14 Ob eine rückwirkende Vereinbarung möglich ist, ist umstritten. Bislang wurde dies aus sozialversicherungs- und steuerrechtlichen Gründen sowie unter Hinweis auf Sinn und Zweck des ATZG, einen gleitenden Übergang in die Altersrente herbeizuführen, abgelehnt26. Das BAG hat nunmehr jedoch die rückwirkende Begründung von Altersteilzeitarbeitsverträgen 20 Für TV FlexAZ s. LAG Nürnberg v. 30.5.2018 – 2 Sa 55/18, BeckRS 2018, 22301. 21 BAG v. 14.10.2003 – 9 AZR 146/03, BAGE 108, 95 = NZA 2004, 860; Kerschbaumer/Rothländer, S. 46. 22 Zwanziger, RdA 2005, 226 (227). 23 Vgl. hierzu BSG v. 10.2.2004 – B 7 AL 54/03 R, AuB 2004, 215. Nach SG Lüneburg v. 28.6.2006 – S 18 AL 311/04 reicht bereits die Meldung als arbeitsuchend aus. 24 Vgl. Zwanziger, RdA 2005, 226 (232 ff.). 25 Küttner/Kreitner, Altersteilzeit Rz. 3; Preis/Rolfs, Arbeitsvertrag, II A 30, Rz. 5; Rolfs, § 23 TzBfG Rz. 8. 26 LAG Hamm v. 23.3.2001 – 5 Sa 1424/00, DB 2001, 1890; LAG Köln v. 20.11.2006 – 2 Sa 833/06; Plagemann, ZAP Fach 17, 873; Preis/Rolfs, Arbeitsvertrag, II A 30, Rz. 5; Zwanziger, RdA 2005, 226 (235 f.).

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Grundlagen

Rz. 21.19 § 21

zugelassen, wenn dies das Ergebnis einer gerichtlichen Auseinandersetzung ist (zu den Einzelheiten Rz. 21.69)27. Für das Altersteilzeitarbeitsverhältnis gelten die allgemeinen arbeitsrechtlichen Regelungen, soweit sich aus dem Altersteilzeitrecht keine Besonderheiten ergeben28. Folglich ist zB der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz29 und der Bestandsschutz bei einem Betriebsübergang gemäß § 613a BGB zu beachten30. Da es sich bei dem Altersteilzeitarbeitsverhältnis um eine Sonderform der Teilzeitarbeit handelt, darf auch nicht gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot des § 4 TzBfG verstoßen werden.

21.15

Im Übrigen ist jedoch § 23 TzBfG zu beachten. Danach finden die Regelungen über die Verringerung der Arbeitszeit im TzBfG für Altersteilzeitarbeitsverhältnisse keine Anwendung31. Möglich ist indes, dass auch mit Teilzeitbeschäftigten Altersteilzeitarbeitsverhältnisse abgeschlossen werden („gedoppelte Altersteilzeit“). Es muss allein gewährleistet sein, dass der Arbeitnehmer trotz der weiteren Reduzierung der Arbeitszeit und der damit verbundenen Gehaltseinbußen weiter sozialversicherungspflichtig beschäftigt bleibt, da ansonsten kein Altersteilzeitarbeitsverhältnis iSd. ATZG mehr vorliegt.

21.16

Die Besonderheit des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses gegenüber einem „normalen“ Teilzeitverhältnis liegt darin, dass der Arbeitgeber das Arbeitsentgelt während der Altersteilzeit auf einen bestimmten Prozentsatz aufstocken und zusätzliche Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichten muss (vgl. § 3 Abs. 1 ATZG). Dies führt zu einer erheblichen Verteuerung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses für den Arbeitgeber, die jedoch durch Förderung der Bundesagentur für Arbeit gemildert werden kann. Auf der anderen Seite kann der Arbeitgeber durch Altersteilzeit unter Vermeidung von Entlassungen Personal sozialverträglich abbauen und die Altersstruktur im Betrieb verbessern (s. Rz. 21.3).

21.17

Den Arbeitnehmer treffen im Rahmen des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses Mitwirkungspflichten gemäß § 11 ATZG sowie nach § 10 TV ATZ bezüglich aller Änderungen, die für den Anspruch auf Aufstockungsleistungen bedeutend sind (zB Wechsel der Steuerklasse). Verstöße gegen die Mitwirkungspflicht können gemäß § 14 ATZG als Ordnungswidrigkeit mit einem Bußgeld geahndet werden. Außerdem hat der Arbeitnehmer die dem Arbeitgeber zu Unrecht gezahlten Leistungen der Agentur für Arbeit zu erstatten, wenn er vorsätzlich oder grob fahrlässig falsche oder unvollständige Angaben gemacht hat oder seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen ist (§ 11 Abs. 2 ATZG).

21.18

4. Beendigung der Altersteilzeit Der Altersteilzeitarbeitsvertrag endet spätestens zum vertraglich festgelegten Zeitpunkt (vgl. § 9 Abs. 1 TV ATZ). Daneben sehen kollektivrechtliche Regelungen noch andere Beendi27 BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 393/06, ArbRB 2007, 200 = DB 2007, 1476; v. 23.1.2007 – 9 AZR 624/06, DB 2007, 1708. 28 BAG v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, ArbRB 2005, 133 = NZA 2005, 408. 29 Vgl. BAG v. 24.10.2006 – 9 AZR 681/05, ArbRB 2007, 137 = DB 2007, 695. 30 LAG Düsseldorf v. 22.10.2003 – 12 (15) Sa 1202/03, NZA-RR 2004, 288; LAG Hamm v. 13.10.2006 – 4 Sa 180/06; LAG Niedersachsen v. 19.12.2005 – 5 Sa 1326/04, LAGE § 55 InsO Nr. 10; Küttner/Kreitner, Betriebsübergang Rz. 3; aA Hanau, RdA 2003, 230. 31 LAG Baden-Württemberg v. 7.5.2004 – 5 Sa 39/03, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 33; Drespa/Meyer/ Slawik, § 2 TV ATZ Rz. 26; Meinel/Heyn/Herms, § 8 TzBfG Rz. 7, § 23 TzBfG Rz. 6; Rolfs, RdA 2001, 129 (139).

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21.19

§ 21 Rz. 21.19

Altersteilzeit

gungsmöglichkeiten vor (vgl. § 9 Abs. 2 TV ATZ, im Einzelnen Rz. 21.126). Die Beendigungstatbestände orientieren sich wiederum an § 5 ATZG, der festlegt, unter welchen Voraussetzungen der Anspruch auf Förderleistungen erlischt. So erlischt nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 ATZG (vgl. § 9 Abs. 2 Buchst. a TV ATZ) der Anspruch bereits mit dem Ablauf des Kalendermonats vor dem Kalendermonat, für den der Beschäftigte eine Altersrente in Anspruch nehmen kann oder mit Beginn des Monats, für den der Arbeitnehmer tatsächlich eine Altersrente bezieht, § 5 Abs. 1 Nr. 3 ATZG (vgl. § 9 Abs. 2 Buchst. b TVATZ).

21.20 Da das Altersteilzeitarbeitsverhältnis somit ein befristetes oder auflösend bedingtes Arbeitsverhältnis ist, ist eine vorzeitige ordentliche Kündigung nur im Falle einer ausdrücklichen Vereinbarung möglich (§ 15 Abs. 2, § 21 TzBfG)32. § 9 Abs. 2 TV ATZ verweist jedoch auf die allgemeinen manteltariflichen Beendigungstatbestände („unbeschadet der sonstigen tariflichen Beendigungstatbestände (zB §§ 53 bis 60 BAT/BAT-O)“), so dass im Geltungsbereich des TV ATZ eine arbeitgeberseitige Kündigung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses möglich ist33. Dass der TVöD/TV-L in § 34 nur noch die Kündigungsfristen und Fragen der Unkündbarkeit regelt und somit dem Wortlaut nach keine manteltariflichen Kündigungstatbestände mehr enthält, ändert an der Möglichkeit einer Kündigung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber nichts, da die Tarifparteien sich einig waren, dass die Kündigungsregeln des BGB Anwendung finden. Zu den Auswirkungen der Kündigung auf ein im Rahmen des Blockmodells erworbenes Wertguthaben vgl. Rz. 21.127 ff.

21.21 Zu beachten ist, dass in der Freistellungsphase eine verhaltens- oder personenbedingte Kündigung nicht möglich sein wird ist. Eine außerordentliche Kündigung (§ 626 BGB), zB wegen Verletzung der Verschwiegenheitspflicht, ist aber auch dann möglich, wenn sich der Arbeitnehmer bereits in der Freistellungsphase befindet34. Eine betriebsbedingte Kündigung, etwa im Fall der Betriebsstilllegung, ist ebenfalls unzulässig35. Dagegen sind Kündigungen in der Arbeitsphase nach den allgemeinen Grundsätzen möglich. So kann eine Betriebsstilllegung in der Arbeitsphase ein dringendes betriebliches Erfordernis iSd. § 1 Abs. 2 KSchG darstellen36. Allerdings dürfte im öffentlichen Dienst die ordentliche Kündbarkeit zumeist wegen der bereits erreichten tarifvertraglichen Unkündbarkeit des Arbeitnehmers nicht mehr möglich sein. Im Übrigen ist im Rahmen der Interessenabwägung auch die Dauer der Laufzeit der Altersteilzeit zu berücksichtigen.

II. Altersteilzeit im öffentlichen Dienst 1. Allgemeines

21.22 Für Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst sind – wie bereits erwähnt – der Tarifvertrag Altersteilzeit vom 5.5.1998 – TV ATZ in der Fassung des Änderungstarifvertrages vom 30.6.2000 und der Tarifvertrag zu flexiblen Arbeitszeitregelungen für ältere Beschäftigte in der Fassung des Änderungstarifvertrages vom 18.4.2018 maßgeblich37. Der Tarifvertrag Altersteil32 Zwanziger, RdA 2005, 226 (237). 33 Drespa/Meyer/Slawik, § 9 TV ATZ Rz. 10. 34 LAG Schleswig-Holstein v. 18.1.2005 – 2 Sa 413/04, NZA-RR 2005, 367; Küttner/Kreitner, Altersteilzeit Rz. 14; Zwanziger, RdA 2005, 226 (237). 35 BAG v. 5.12.2002 – 2 AZR 571/01, BAGE 104, 131 = ArbRB 2003, 196 = NJW 2003, 2258 = NZA 2003, 789; Drespa/Meyer/Slawik, § 9 TV ATZ Rz. 11. 36 BAG v. 16.6.2005 – 6 AZR 476/04, NZA 2006, 270. 37 Zur Entstehungsgeschichte Kerschbaumer/Rothländer, S. 53 ff.

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Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Rz. 21.26 § 21

zeit ist ein die Manteltarifverträge des öffentlichen Dienstes (vgl. § 1 TVATZ) ergänzender Tarifvertrag, so dass er auch von entsprechenden arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln erfasst ist38. Er ist weiterhin in Kraft und gilt auch unter der Geltung des TVöD39 bzw. TV-L40. Es gibt keine tarifvertraglichen Regelungen zur Überleitung von Beschäftigten, die beim Inkrafttreten des TVöD am 1.10.2005 bzw. des TV-L am 1.11.2006 in einem Altersteilzeitarbeitsverhältnis standen41. Neben dem TV ATZ existieren weitere Tarifverträge für den öffentlichen Dienst, die Alters- 21.23 teilzeitbestimmungen enthalten, wie zB der Tarifvertrag Altersteilzeit für die Beschäftigten bei der ehemaligen Bundesanstalt für Arbeit vom 5.5.1998 (TVBA ATZ), der ebenfalls weiterhin in Kraft ist, oder der Tarifvertrag über sozialverträgliche Begleitmaßnahmen im Zusammenhang mit der Umgestaltung der Bundeswehr (TV UmBw). Der TV ATZ gilt unmittelbar nur für Arbeitnehmer, die Mitglied einer der vertragsschließenden Gewerkschaften42 und bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber beschäftigt sind (§ 3 Abs. 1 TVG). Für die nicht gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten ergibt sich seine Anwendung regelmäßig durch die arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln in den Formulararbeitsverträgen der öffentlichen Arbeitgeber. Für sog. AT-Angestellte gilt der TV ATZ nicht. In Betracht kommt jedoch eine einzelvertragliche Vereinbarung43.

21.24

Der TV ATZ lehnt sich nicht nur an die im ATZG für die Förderung normierten Mindestvoraussetzungen an, sondern enthält gegenüber diesen folgende wichtige Verbesserungen für die Beschäftigten:

21.25

– Ab dem 60. Lebensjahr besteht ein Anspruch auf Altersteilzeit, sofern keine dringenden dienstlichen oder betrieblichen Belange entgegenstehen. – Es werden mindestens 83 % des Nettoarbeitsentgelts garantiert (Mindestnettobetrag). – Anspruch auf Abfindung im Falle von Renteneinbußen aufgrund vorzeitiger Renteninanspruchnahme. – Erweiterung der Entgeltaufstockung in den Fällen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. 2. Anspruch auf Altersteilzeit (§ 2 Abs. 1 und 2 TV ATZ) Der Tarifvertrag Altersteilzeit differenziert hinsichtlich des Anspruchs auf Abschluss eines Altersteilzeitvertrages zwischen Arbeitnehmern im Alter von 55 bis 59 Jahren sowie Arbeit-

38 39 40 41

Vgl. LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 22.8.2006 – 3 Sa 454/05 und 3 Sa 511/05, juris. Conze, Rz. 86. Die Fortgeltung des TV ATZ ist hier in der Anlage 1 TVÜ-Länder Teil C Nr. 4 vereinbart. Zur Überleitung von Beschäftigten in Altersteilzeitarbeit nach dem TV ATZ in die veränderte Arbeitszeit des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD) vgl. BMI-Rundschreiben vom 13.10.2006 – D II 2 – 220 770-1/18, abrufbar unter www.bmi.bund.de. 42 Dies waren die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, diese handelnd zugleich für die Gewerkschaft der Polizei, die Industriegewerkschaft Bauen – Agrar – Umwelt und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sowie die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft. 43 Vgl. hierzu Drespa/Meyer/Slawik, § 1 TV ATZ Rz. 4 f.

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21.26

§ 21 Rz. 21.26

Altersteilzeit

nehmern über 60 Jahren44. Seit der Änderung des TV ATZ zum 1.7.2000 steht auch Teilzeitbeschäftigten der Anspruch auf Altersteilzeit zu. Der vorherige Ausschluss der Teilzeitbeschäftigten war unzulässig. a) Arbeitnehmer über 60 Jahre (§ 2 Abs. 2 TV ATZ)

21.27 Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst über 60 Jahre haben einen Rechtsanspruch auf den Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung. Dieser Anspruch kann grundsätzlich vom Arbeitgeber nicht eingeschränkt werden, es sei denn, es stehen dringende dienstliche oder betriebliche Gründe dem Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung entgegen. Auch die Dauer des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses kann der Arbeitgeber nicht nach billigem Ermessen bestimmen, dh., der Anspruch nach § 9 TVATZ ist stets auf die ungekürzte Laufdauer bis zum Übergang in den Ruhestand (Rz. 21.126) gerichtet45.

21.28 Es besteht nach allgemeiner Meinung kein Rechtsanspruch auf eine bestimmte Verteilung der Altersteilzeit46, dh., der Arbeitnehmer hat zB keinen Anspruch darauf, dass die Altersteilzeit im Blockmodell durchgeführt wird. Die Arbeitszeitverteilung unterliegt vielmehr dem Direktionsrecht des Arbeitgebers, das er im Rahmen billigen Ermessens (§ 315 BGB) ausüben muss47. Zu berücksichtigen sind dabei alle sachlichen Gründe, die sich auf die Lage der Arbeitszeit als solche beziehen, also insbesondere Fragen des Betriebsablaufs48. Die Grenzen billigen Ermessens sind gewahrt, wenn der Arbeitgeber bei seiner Entscheidung die wesentlichen Umstände des Einzelfalls abgewogen und die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt hat49. Für die Ablehnung von Angeboten auf Altersteilzeit von Arbeitnehmern, die keinen Rechtsanspruch auf einen solchen Vertragsschluss haben, ist nach Ansicht des BAG ausreichend, dass mit der Altersteilzeitgewährung finanzielle Mehrbelastungen, etwa durch den Aufstockungsbetrag oder die Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge, verbunden wären, die der Arbeitgeber nicht zu tragen bereit ist50. Dem Arbeitnehmer wird gemäß § 3 Abs. 3 44 Entscheidend für die Altersgrenzen ist dabei der Zeitpunkt der Entscheidung des Arbeitgebers und nicht der der Antragstellung, vgl. LAG Rheinland-Pfalz v. 26.4.2006 – 9 Sa 761/05, BeckRS 2006, 43168. 45 BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 393/06, ArbRB 2007, 200 = DB 2007, 1476; vgl. auch LAG München v. 20.1.2006 – 8 Sa 1029/04, BeckRS 2009, 67844. 46 LAG Hamm v. 12.8.2009 – 4 Sa 268/09, BeckRS 2010, 65729; LAG Hessen v. 12.4.2001 – 3 Sa 1031/00, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 10; LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 22.7.2004 – 1 Sa 465/03, BeckRS 2004, 17688 (für den ähnlich lautenden TV Altersteilzeit beim Internationalen Bund e.V.); LAG Köln v. 6.11.2009 – 10 Sa 687/09, ZTR 2010, 475 f.; BAG v. 17.8.2010 – 9 AZR 414/09, ZTR 2010, 637 f.; v. 21.2.2012 – 9 AZR 479/10, ArbRB 2012, 236 = NZA-RR 2012, 444 f.; Drespa/Meyer/Slawik, § 3 TV ATZ Rz. 12 ff.; vgl. auch Durchführungshinweise zum TV ATZ – gem. Runderlass des Finanzministeriums und des Innenministeriums NRW vom 22.7.2004 unter 3.2 sowie Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern v. 28.2.2006 – D I 1 – 210 172/00, wonach für Beamte der Bundesverwaltung Altersteilzeit im Blockmodell nur noch in bestimmten Personalabbaubereichen bewilligt wird. In kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien ist jedoch teilweise auch ein Vorrang für das Blockmodell vorgesehen, vgl. BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 624/06, DB 2007, 1708. 47 BAG v. 21.2.2012 – 9 AZR 479/10, ArbRB 2012, 236 = NZA-RR 2012, 444 ff.; Drespa/Meyer/Slawik, § 3 TV ATZ Rz. 15. 48 BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 624/06, DB 2007, 1708. 49 BAG v. 21.2.2012 – 9 AZR 479/10, ArbRB 2012, 236 = NZA-RR 2012, 444 (446). 50 BAG v. 10.5.2005 – 9 AZR 294/04, NJOZ 2006, 691; LAG München v. 12.1.2010 – 6 Sa 488/09, juris.

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Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Rz. 21.32 § 21

TV ATZ ein Anspruch auf Erörterung bezüglich der Arbeitszeitverteilung eingeräumt. Ziel dieser Erörterung ist eine einvernehmliche Lösung. Eine fehlende oder unzureichende Erörterung wird jedoch wie im Rahmen von § 8 Abs. 3 TzBfG nicht sanktioniert. Aus § 8 Abs. 4 TzBfG lässt sich aufgrund von § 23 TzBfG kein Anspruch auf eine bestimmte Verteilung der Arbeitszeit herleiten51. § 22 TzBfG findet wegen der Besonderheiten des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses ebenfalls keine Anwendung. Nach § 2 Abs. 2 Satz 2 TV ATZ hat der Arbeitnehmer den Arbeitgeber drei Monate vor dem geplanten Beginn des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses über die Geltendmachung des Anspruchs zu informieren. Eine besondere Form ist nicht vorgeschrieben. Der Arbeitgeber ist gegenüber dem Arbeitnehmer zu keiner bestimmten Reaktion verpflichtet. Insbesondere besteht keine Erörterungsobliegenheit wie in § 8 TzBfG.

21.29

b) Arbeitnehmer über 55 Jahre (§ 2 Abs. 1 TV ATZ) Arbeitnehmer zwischen 55 und 59 Jahren haben keinen Anspruch gegenüber dem Arbeitgeber auf den Abschluss eines Altersteilzeitvertrages. Es besteht lediglich ein Anspruch darauf, dass der Arbeitgeber bei der Entscheidung über den Antrag auf Abschluss des Altersteilzeitvertrags in entsprechender Anwendung von § 315 Abs. 1 BGB billiges Ermessen wahrt52. Er muss also die wesentlichen Umstände des Einzelfalls und die beiderseitigen Interessen bei seiner Entscheidung angemessen berücksichtigen53. Die Ankündigungsfrist des § 2 Abs. 2 TV ATZ gilt nicht für Arbeitnehmer zwischen 55 und 59 Jahren. Einschränkungen bei der Ermessensentscheidung sind im Tarifgebiet West für 55- bis 59-jährige Angestellte und Arbeiter im Justizvollzugsdienst und für Angestellte im Einsatzdienst der kommunalen Feuerwehr zu beachten54. Diesen Arbeitnehmern soll in der Regel auf ihren Antrag hin Altersteilzeitgewährt werden.

21.30

Ein Anspruch auf Abschluss eines Altersteilzeitarbeitsvertrages kann sich auch nicht in Ver- 21.31 bindung mit anderen Gesetzen ergeben. So steht bspw. einem schwerbehinderten Arbeitnehmer, der einen Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit nach § 164 Abs. 5 SGB IX hat, kein Anspruch im Wege einer Ermessensreduzierung auf Null auf Abschluss eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses mit den Vorteilen des TVATZ zu55. c) Beschäftigungszeit und versicherungspflichtige Tätigkeit Gemäß § 2 Abs. 1 Buchst. a, b, Abs. 2 TV ATZ kann ein Altersteilzeitarbeitsverhältnis nur abgeschlossen werden, wenn der Arbeitnehmer eine Beschäftigungszeit von mindestens fünf Jahren zurückgelegt hat und innerhalb der letzten fünf Jahre vor Beginn der Altersteilzeit mindestens 1080 Kalendertage in einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nach dem SGB III gestanden hat (vgl. auch § 2 Abs. 1 Nr. 3 ATZG). Damit soll verhindert werden, dass 51 Drespa/Meyer/Slawik, § 3 TV ATZ Rz. 14. 52 BAG v. 26.6.2001 – 9 AZR 244/00, BAGE 98, 114 = ArbRB 2002, 7 = NZA 2002, 46; v. 14.10.2008 – 9 AZR 511/07, ArbRB 2009, 169 = AP Nr. 41 zu § 1 TVG Altersteilzeit; v. 15.9.2009 – 9 AZR 643/08, ArbRB 2010, 8 = DB 2009, 2668; LAG Baden-Württemberg v. 11.5.2011 – 13 Sa 151/10, juris; LAG Düsseldorf v. 9.2.2012 – 11 Sa 1150/11, ZTR 2012, 341 f. 53 BAG v. 26.6.2001 – 9 AZR 244/00, BAGE 98, 114 = ArbRB 2002, 7 = NZA 2002, 46; v. 15.9.2009 – 9 AZR 643/08, ArbRB 2010, 8 = DB 2009, 2668. 54 Vgl. hierzu Drespa/Meyer/Slawik, § 2 TV ATZ Rz. 24. 55 BAG v. 26.6.2001 – 9 AZR 244/00, BAGE 98, 114 = ArbRB 2002, 7 = NZA 2002, 46.

Laber

639

21.32

§ 21 Rz. 21.32

Altersteilzeit

ältere Arbeitnehmer, die erst sehr kurz im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, direkt in Altersteilzeit gehen können56.

21.33 Der Begriff der Beschäftigungszeit ist in den Tarifverträgen unterschiedlich definiert. Nach § 19 BAT/BAT-O, den § 2 Abs. 1 Buchst. b TV ATZ als Beispiel explizit aufführt, oder nach § 34 Abs. 3 Satz 1 TVöD bzw. TV-L ist unter Beschäftigungszeit die bei demselben Arbeitgeber nach Vollendung des 18. Lebensjahres in einem Arbeitsverhältnis zurückgelegte Zeit, auch wenn sie unterbrochen war, zu verstehen.

21.34 Die Beschäftigungszeit ist damit von der Dienstzeit gemäß § 20 BAT/BAT-O zu unterscheiden, die auch Arbeitszeiten bei anderen öffentlich-rechtlichen Arbeitgebern berücksichtigt und somit weitergehend ist. Ein Wechsel des öffentlich-rechtlichen Arbeitgebers innerhalb des Fünfjahreszeitraums vor Beginn der Altersteilzeit führt somit im Geltungsbereich des BAT/BAT-O dazu, dass kein Anspruch auf Altersteilzeit besteht. Der TVöD bzw. TV-L sieht diese Differenzierung zwischen Dienst- und Beschäftigungszeit allerdings nicht mehr vor. Gemäß § 34 Abs. 3 Satz 3, 4 TVöD bzw. TV-L werden nunmehr auch Arbeitszeiten, die aufgrund eines Wechsels bei einem anderen öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber geleistet worden sind, als Beschäftigungszeit anerkannt. Ein Wechsel des öffentlich-rechtlichen Arbeitgebers ist somit im Geltungsbereich von TVöD bzw. TV-L unschädlich. Unberücksichtigt bleibt die Zeit eines Sonderurlaubs gemäß § 28 TVöD bzw. TV-L, es sei denn, der Arbeitgeber hat vor Antritt des Sonderurlaubs schriftlich ein dienstliches oder betriebliches Interesse an dem Sonderurlaub anerkannt (§ 34 Abs. 3 Satz 2 TVöD bzw. TV-L).

21.35 Die zusätzlich erforderliche arbeitslosenversicherungspflichtige Beschäftigung von 1080 Kalendertagen muss nicht zusammenhängend und nicht zwingend im aktuellen Beschäftigungsverhältnis geleistet worden sein. Durch das 1080-Tage-Erfordernis werden geringfügig Beschäftigte gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV ausgeschlossen, da diese Arbeitsverhältnisse versicherungsfrei nach § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB III sind. 3. Ausgestaltung (§ 3 TV ATZ)

21.36 Die Dauer des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses darf höchstens zehn Jahre und soll mindestens zwei Jahre betragen (§ 2 Abs. 4 TV ATZ). Sie ist damit länger als die Förderhöchstdauer von sechs Jahren nach § 2 Abs. 2 ATZG. Ein Überschreiten der Förderhöchstdauer bedeutet nicht, dass für das Altersteilzeitarbeitsverhältnis jegliche Förderung entfällt, sondern nur, dass die Förderung – soweit die übrigen Voraussetzungen vorliegen – auf sechs Jahre beschränkt ist.

21.37 Überschreitet die Dauer der Altersteilzeit die Förderungshöchstdauer, ist zu beachten, dass auch innerhalb des förderungsfähigen Zeitraums von sechs Jahren eine Halbierung der bisherigen Arbeitszeit erfolgt. Der Förderzeitraum beginnt dann nicht mit Beginn der Altersteilzeit, sondern umfasst nur die drei Jahre vor und nach dem Übergang von der Arbeits- in die Freistellungsphase. 55 Jahre

57 Jahre

60 Jahre

63 Jahre

40 Stunden

40 Stunden

0 Stunden

0 Stunden

Arbeitsphase

Förderzeitraum

56 Drespa/Meyer/Slawik, § 2 TV ATZ Rz. 21.

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65 Jahre

Freistellungsphase

Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Rz. 21.41 § 21

Das Altersteilzeitarbeitsverhältnisses endet zu dem festgelegten Zeitpunkt oder sobald ein Anspruch des Arbeitnehmers auf Altersrente ohne Rentenabschlag besteht (§ 9 Abs. 2 Buchst. a TV ATZ). Aufgrund der Befristung des ATZG muss das Altersteilzeitarbeitsverhältnis spätestens vor dem 1.1.2010 begonnen haben.

21.38

Nach § 3 Abs. 1 TV ATZ ist es erforderlich, dass die bisherige wöchentliche Arbeitszeit halbiert wird. Gemäß § 3 Abs. 1 TV ATZ, § 6 Abs. 2 ATZG ist dies die Arbeitszeit, die mit dem Arbeitnehmer vor dem Übergang in die Altersteilzeitarbeit vereinbart war, höchstens jedoch der Durchschnitt der letzten 24 Monate vor dem Übergang. Dabei ist es unerheblich, wenn der Durchschnitt der letzten 24 Monate die zuletzt vereinbarte Arbeitszeit überschreitet57.

21.39

Die Berechnung ist zwingend, die Parteien können also nicht etwa immer die durchschnittliche Arbeitszeit der letzten 24 Monate zugrunde legen58. Vereinbart ist die tatsächlich geschuldete Arbeitszeit, so wie sie sich aus dem Arbeitsvertrag oder – wenn keine individuelle Absprache getroffen wurde – aus den anwendbaren kollektivrechtlichen oder gesetzlichen Regelungen ergibt59. Bei der Berechnung der durchschnittlichen Arbeitszeit der letzten 24 Monate sind die Zeiten unbezahlten Sonderurlaubs nicht zu berücksichtigen60.

21.40

Berechnungsbeispiel 1: Beginn der Altersteilzeit Vereinbarte Arbeitszeit am 30.6.2007 Vereinbarte Arbeitszeit vom 1.7.2005–31.12.2006 Vereinbarte Arbeitszeit vom 1.1.2007–30.6.2007 Vereinbarte Arbeitszeit im Durchschnitt der letzten 24 Monate

1.7.2007 35 Stunden pro Woche 30 Stunden pro Woche 35 Stunden pro Woche 31,25 Stunden

Maßgeblich ist die niedrigere vereinbarte durchschnittliche Arbeitszeit von 31,25 Stunden, die auf die nächste volle Stunde, also 31 oder 32 Stunden, auf- oder abgerundet werden kann (§ 3 Abs. 1 Satz 5 TV ATZ); es kann jedoch auch auf eine Rundung verzichtet werden. Mithin kann für das Altersteilzeitarbeitsverhältnis eine Arbeitszeit von 15,5 oder 15,625 oder 16 Wochenstunden vereinbart werden. Berechnungsbeispiel 2: Beginn der Altersteilzeit Vereinbarte Arbeitszeit am 30.6.2007 Vereinbarte Arbeitszeit vom 1.7.2005–31.12.2006 Vereinbarte Arbeitszeit vom 1.1.2007–30.6.2007 Vereinbarte Arbeitszeit im Durchschnitt der letzten24 Monate

1.7.2007 30 Stunden pro Woche 35 Stunden pro Woche 30 Stunden pro Woche 33,75 Stunden

Maßgeblich ist somit die vereinbarte Arbeitszeit zu Beginn der Altersteilzeit von 30 Wochenstunden. Somit kann für das Altersteilzeitarbeitsverhältnis nur eine Wochenarbeitszeit von 15 Stunden vereinbart werden.

Diese Halbierung ist zwingend und verbindlich für die Vereinbarung eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses; die durchschnittliche Arbeitszeit kann daher bei oder nach Abschluss des Altersteilzeitvertrags nicht mehr geändert werden61. Dies hat zur Folge, dass bei einer ta57 BAG v. 11.6.2013 – 9 AZR 758/11, NJOZ 2013, 1696. 58 AA LAG Sachsen-Anhalt v. 14.9.2006 – 9 Sa 784/05, BeckRS 2011, 66519. 59 BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 369/05, NZA 2006, 926; v. 23.1.2007 – 9 AZR 664/05, EzTVöD 700 TV ATZ Nr. 8; v. 18.8.2009 – 9 AZR 482/08, DB 2009, 2443. 60 BAG v. 1.10.2002 – 9 AZR 278/02, BAGE 103, 54 = ArbRB 2003, 166 = NZA 2003, 1341. 61 BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 369/05, NZA 2006, 926; Drespa/Meyer/Slawik, § 3 TV ATZ Rz. 16; Kerschbaumer/Rothländer, S. 64; vgl. auch § 28 Satz 2 TVÜ-L.

Laber

641

21.41

§ 21 Rz. 21.41

Altersteilzeit

rifvertraglichen62, gesetzlichen oder betrieblichen Erhöhung der Arbeitszeit, nicht etwa die Arbeitszeit entsprechend auch für in Altersteilzeit befindliche Arbeitnehmer erhöht werden kann63, sondern vielmehr das Altersteilzeitentgelt entsprechend einseitig durch den Arbeitgeber gekürzt werden muss64. Dies steht auch nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung des BAG zur (landes-) gesetzlichen Stundenermäßigung für angestellte ältere Lehrkräfte, wonach aufgrund Art. 3 GG einem in Altersteilzeit befindlichen Arbeitnehmer eine gesetzliche Pflichtstundenermäßigung ebenso zugutekommen muss wie anderen Lehrkräften65. Denn in diesem Fall wird nicht die Gesamtarbeitszeit verändert, sondern es verschiebt sich nur die zeitliche Relation vom Unterrichtsanteil zugunsten einer länger bemessenen Vor- und Nacharbeit66. Zu den Einzelheiten vgl. Rz. 21.106.

21.42 Wie bereits erwähnt besteht kein Anspruch auf eine bestimmte Arbeitszeitverteilung. Es ist daher grundsätzlich jede Form der Verteilung zulässig. Eine Ausnahme findet sich in der Protokollerklärung zu § 3 Abs. 2 TV ATZ für Arbeitnehmer mit verlängerter regelmäßiger Arbeitszeit und für Pauschallohnkraftfahrer. Für diese Beschäftigten ist Altersteilzeit nur im Blockmodell möglich. 4. Ablehnung des Arbeitgebers (§ 2 Abs. 3 TV ATZ)

21.43 Nach § 2 Abs. 3 TV ATZ kann der Arbeitgeber eine Vereinbarung über Altersteilzeit ablehnen, soweit dringende dienstliche bzw. betriebliche Gründe entgegenstehen. Angesichts der Differenzierung zwischen Arbeitnehmern zwischen 55 und 60 Jahren sowie über 60 Jahre stellt sich die Frage, ob nicht auch hinsichtlich der Ablehnungsgründe differenziert werden muss oder ob sich § 2 Abs. 3 TV ATZ nur auf Abs. 2, also die Altersgruppe der Beschäftigten über 60 Jahre, bezieht. Die Formulierung in § 2 Abs. 3 TV ATZ ist unklar und insoweit missglückt67. Es ist inzwischen aber einhellige Meinung, dass sich die Ablehnungsgründe des § 2 Abs. 3 TV ATZ nur auf Abs. 2 beziehen, da andernfalls der Anspruch auf Wahrung billigen Ermessens im Ergebnis zu einer Pflicht des Arbeitgebers zum Abschluss des Änderungsvertrages werden würde, wenn er ausschließlich dringende dienstliche oder betriebliche Gründe berücksichtigen dürfte und im Ergebnis somit die erkennbar gewollte Unterscheidung zwischen den Altersgruppen aufgehoben werden würde68.

62 Durch den TVöD wurde im Bereich des Bundes (West) zB die regelmäßige Arbeitszeit ab 1.10.2005 von 38,5 Stunden auf 39 Stunden heraufgesetzt. 63 So noch die Vorinstanz zu BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 369/05, NZA 2006, 926: LAG Köln v. 9.11.2005 – 7 (3) Sa 96/05, BeckRS 2006, 41171. Eine Heraufsetzung war auch von den Tarifvertragsparteien Bund und ver.di vor dem Urteil des BAG v. 11.4.2006 geplant. Nach den DA-Altersteilzeitgesetz der BA ist dagegen eine Kürzung der Arbeitszeit im Altersteilzeitverhältnis unschädlich (DA 2.2 zu § 2). 64 BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 369/05, NZA 2006, 926; v. 23.1.2007 – 9 AZR 664/05, EzTVöD 700 TV ATZ Nr. 8. 65 BAG v. 13.12.2005 – 9 AZR 220/05, AP Nr. 27 zu § 1 TVG Altersteilzeit; v. 13.6.2006 – 9 AZR 588/05, NZA-RR 2007, 41; vgl. auch BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 4/02, BAGE 104, 272 = ZTR 2003, 452, wo es jedoch nur um die Berücksichtigung der Pflichtstundenverkürzung bei der Vergütungsberechnung ging. 66 BAG v. 13.6.2006 – 9 AZR 588/05, NZA-RR 2007, 41. 67 LAG Hessen v. 12.4.2001 – 3 Sa 1031/00, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 10. 68 BAG v. 12.12.2000 – 9 AZR 706/99, BAGE 96, 363 = NZA 2001, 1209; LAG Berlin v. 1.10.1999 – 19 Sa 1271/99, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 1; LAG Hamburg v. 26.7.2000 – 8 Sa 48/00, ZTR 2000, 459; LAG Hessen v. 12.4.2001 – 3 Sa 1031/00, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 10; LAG Schleswig-Hol-

642

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Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Rz. 21.47 § 21

a) Arbeitnehmer über 60 Jahre Bei den in § 2 Abs. 3 TV ATZ erwähnten entgegenstehenden dienstlichen bzw. betrieblichen Gründen handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe und nicht um eine Frage des Ermessens; sie sind somit gerichtlich voll überprüfbar69. Ein entgegenstehender dienstlicher bzw. betrieblicher Grund liegt vor, wenn die Eingehung eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses die Organisation, den Arbeitsablauf70 oder die Sicherheit im Betrieb bzw. der Dienststelle wesentlich beeinträchtigen oder unverhältnismäßige Kosten verursachen würde. Im Gegensatz zu § 8 Abs. 4 TzBfG genügen für die Ablehnung eines Altersteilzeitverlangens jedoch nicht allein betriebliche Gründe jeder Art. Vielmehr müssen diese Gründe gemäß § 2 Abs. 3 TV ATZ „dringend“, dh. von besonderem Gewicht sein71. Es gilt somit derselbe Maßstab wie bei § 15 Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 BEEG oder § 11 TVöD/TV-L, wonach ebenfalls entgegenstehende dringende betriebliche bzw. dienstliche Gründe für eine Ablehnung eines Teilzeitarbeitsverlangens erforderlich sind.

21.44

Die betrieblichen Gründe müssen folglich erforderlich und sehr wichtig sein. Dies bedeutet gleichzeitig, dass ein Anspruch auf Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung nur dann nicht besteht, wenn objektiv gewichtige Gründe des Arbeitgebers entgegenstehen, die die Ablehnung des Antrags rechtfertigen können72.

21.45

Eine etwas andere, allerdings präzisere Definition hat das BVerwG für den vergleichbaren Begriff der „dringenden dienstlichen Belange“ im Beamtenrecht aufgestellt: Danach ist unter „dienstlichen Belangen“ das engere öffentliche, dh. dienstliche Interesse an sachgemäßer und reibungsloser Aufgabenerfüllung der Verwaltung zu verstehen. „Dringende“ dienstliche Belange sind dagegen solche aus dem Dienstbetrieb resultierenden Bedürfnisse, deren Bedeutung über das Normalmaß hinausgeht, die also mit erhöhter Prioritätsstufe ein bestimmtes Handeln oder Unterlassen erfordern, um einen effektiven dienstlichen Betrieb zu gewährleisten73.

21.46

aa) Wirtschaftliche Auswirkungen Schwerwiegende wirtschaftliche oder finanzielle Auswirkungen für den Arbeitgeber können die Ablehnung eines Teilzeitverlangens rechtfertigen. Als dringende dienstliche bzw. betriebliche Gründe kommen jedoch nicht solche wirtschaftlichen oder finanziellen Auswirkungen in Betracht, die regelmäßig und generell mit einem Altersteilzeitarbeitsverhältnis verbunden sind, wie bspw. die Tatsache, dass der ausscheidende Mitarbeiter nicht mehr zur Verfügung steht, dass ggf. eine Ersatzkraft eingestellt werden muss, dass die Kosten für den Arbeitgeber ansteigen oder dass eine gewisse Umstrukturierung erfolgen muss74.

69 70 71 72 73 74

stein v. 16.5.2002 – 1 Sa 582/01, ArbRB online; LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 13.7.2011 – 2 Sa 49/11, BeckRS 2011, 75946. LAG München v. 20.1.2006 – 8 Sa 1029/04, BeckRS 2009, 67844. LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 22.8.2006 – 3 Sa 454/05, juris. BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 393/06, ArbRB 2007, 200 = DB 2007, 1476; v. 23.1.2007 – 9 AZR 624/06, DB 2007, 1708; LAG Düsseldorf v. 29.11.2005 – 6 Sa 1066/05, BeckRS 2006, 41115; BAG v. 21.2.2012 – 9 AZR 479/10, ArbRB 2012, 236 = NZA-RR 2012, 444 f. LAG Düsseldorf v. 29.11.2005 – 6 Sa 1066/05, BeckRS 2006, 41115. BVerwG v. 29.4.2004 – 2 C 21/03, BVerwGE 120, 382 = DVBl. 2004, 1375; v. 29.4.2004 – 2 C 22/03, ZTR 2004, 662. BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 393/06, ArbRB 2007, 200 = DB 2007, 1476; v. 23.1.2007 – 9 AZR 624/06, DB 2007, 1708; LAG Düsseldorf v. 29.11.2005 – 6 Sa 1066/05, BeckRS 2006, 41115; LAG Köln v. 20.11.2006 – 2 Sa 833/06; ArbG Kiel v. 4.9.2003 – ö.D. 5 Ca 636a/03, NZA-RR 2004, 653; vgl. auch ArbG Frankfurt am Main v. 17.10.2005 – 1 Ca 5187/05, DB 2005, 2643; für einen beam-

Laber

643

21.47

§ 21 Rz. 21.48

Altersteilzeit

21.48 Fraglich ist, ob sich die öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber auf fehlende Haushaltsmittel als entgegenstehenden dringenden dienstlichen bzw. betrieblichen Grund berufen können. Teilweise wurde generell verneint, dass für öffentliche Arbeitgeber finanzielle Erwägungen dringende dienstliche bzw. betriebliche Gründe nach § 2 Abs. 3 TV ATZ darstellen können75, da finanzielle Belastungen dem Rechtsanspruch nach § 2 Abs. 3 TV ATZ immanent seien und davon ausgegangen werden könne, dass den Tarifparteien die möglichen finanziellen Belastungen für die Arbeitgeber bekannt waren76. Andernfalls könnten die Arbeitgeber den tarifvertraglichen Anspruch praktisch beseitigen und auf das bloße Niveau einer Entscheidung nach billigem Ermessen herabstufen77. Zudem habe der Arbeitgeber für seine Leistungsfähigkeit einzustehen78.

21.49 Demgegenüber hat das LAG Düsseldorf fehlende Haushaltsmittel als entgegenstehende dringende dienstliche Gründe akzeptiert79: Es sei möglich, dass die allgemeine Haushaltslage des Landes auf die sachgemäße und reibungslose Erfüllung der der Verwaltung übertragenen Aufgaben zurückwirke, etwa weil der ausscheidende Mitarbeiter aus Mangel an Haushaltsmitteln gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft nicht ersetzt werden könne, seine Stelle aber zur Erfüllung der vorgegebenen Aufgaben besetzt bleiben müsse. So müsse eine vom Landesparlament verhängte Stellenbesetzungssperre von den öffentlich-rechtlichen Arbeitgebern zwingend beachtet werden. Diese Rechtsprechung deckt sich mit der des BVerwG zum beamtenrechtlichen Altersteilzeitanspruch80.

21.50 Das BAG vertritt einen Mittelweg. Es schließt nicht aus, dass eine unverhältnismäßig hohe finanzielle Belastung durch Altersteilzeit auch öffentliche Arbeitgeber zu einer Ablehnung des Antrages berechtigten kann; diese muss aber deutlich über die mit der Altersteilzeit üblicherweise verbundenen höheren Kosten hinausgehen81. Fehlende Haushaltsmittel können nach Auffassung des BAG allenfalls dann ein Ablehnungsgrund sein, wenn – etwa aufgrund einer Zweckbestimmung bei Zuwendungsempfängern – für den konkret betroffenen Arbeitsplatz eine Neubesetzung nicht möglich ist, obwohl ein dringender Bedarf an der Tätigkeit besteht82.

21.51 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass in diversen Arbeitsvertragsrichtlinien kirchlicher Arbeitgeber als Ablehnungsgrund ausdrücklich die Leistungsminderungen von Sozialleistungsträgern erwähnt sind83. Teilweise sind in Arbeitsvertragsrichtlinien auch

75 76 77 78 79 80 81 82 83

tenrechtlichen Anspruch auf Altersteilzeit BVerwG v. 29.4.2004 – 2 C 21/03, BVerwGE 120, 382 = DVBl. 2004, 1375; BAG v. 21.2.2012 – 9 AZR 479/10, ArbRB 2012, 236 = NZA-RR 2012, 444 f. So etwa die Vorinstanz zu BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 393/06, ArbRB 2007, 200 = DB 2007, 1476; LAG München v. 13.1.2006 – 10 Sa 321/05, EzA-SD 2006, Nr. 10, 6 (Ls.). LAG München v. 13.1.2006 – 10 Sa 321/05, EzA-SD 2006, Nr. 10, 6 (Ls.); ArbG Frankfurt am Main v. 17.10.2005 – 1 Ca 5187/05, DB 2005, 2643. LAG München v. 13.1.2006 – 10 Sa 321/05, EzA-SD 2006, Nr. 10, 6 (Ls.). LAG München v. 13.1.2006 – 10 Sa 321/05, EzA-SD 2006, Nr. 10, 6 (Ls.). LAG Düsseldorf v. 29.11.2005 – 6 Sa 1066/05; ebenso für einen beamtenrechtlichen Anspruch auf Altersteilzeit BVerwG v. 29.4.2004 – 2 C 21/03, BVerwGE 120, 382 = DVBl. 2004, 1375. BVerwG v. 29.4.2004 – 2 C 21/03, BVerwGE 120, 382 = DVBl. 2004, 1375; v. 29.4.2004 – 2 C 22/03, ZTR 2004, 662. BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 393/06, ArbRB 2007, 200 = DB 2007, 1476; v. 21.2.2012 – 9 AZR 479/10, ArbRB 2012, 236 = NZA-RR 2012, 444 f. BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 393/06, ArbRB 2007, 200 = DB 2007, 1476. ZB Anlage 17 der AVR des Deutschen Caritasverbandes.

644

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Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Rz. 21.55 § 21

Höchstgrenzen für die durch Alterszeitvereinbarungen entstehenden zusätzlichen Kosten festgelegt. bb) Personalwirtschaftliche Gründe Gründe, die im personalwirtschaftlichen Bereich liegen, können nur in Ausnahmefällen entgegenstehende dringende dienstliche bzw. betriebliche Gründe darstellen84. Zu denken ist etwa an besondere, für die Aufgabenerfüllung des öffentlichen Dienstherrn notwendige Fachund Spezialkenntnisse des Arbeitnehmers. Die der Gewährung der Altersteilzeit immanenten Erschwernisse, wie zB die Notwendigkeit von Umsetzungen oder Versetzungen oder einer Umorganisation, kommen als entgegenstehende dringende Gründe dagegen nicht in Betracht85. Der Arbeitgeber kann sich auch nicht darauf berufen, dass er keine geeignete arbeitslose Ersatzkraft findet, so dass keine Förderung nach § 4 ATZG möglich ist86.

21.52

Unbeachtlich sind ferner (interne) Erlasse und Richtlinien oder vertragliche Bindungen der öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber gegenüber Dritten (zB im Rahmen eines Personalgestellungsvertrages), durch die der Abschluss von Altersteilzeitverträgen eingeschränkt wird87. Durch eine derartige Selbstbindung des öffentlich-rechtlichen Arbeitgebers können tarifvertraglich normierte Ansprüche des Arbeitnehmers nicht eingeschränkt oder erschwert werden.

21.53

cc) Überforderungsschutz Der Tarifvertrag Altersteilzeit enthält keine sog. Überforderungsklausel wie § 3 Abs. 1 Nr. 3 ATZG, wonach die Förderleistungen durch die Bundesagentur für Arbeit nach § 4 ATZG nicht gewährt werden, wenn die freie Entscheidung des Arbeitgebers bei einer über fünf Prozent der Arbeitnehmer des Betriebes hinausgehenden Inanspruchnahme nicht sichergestellt ist88. Fraglich ist daher, ob sich der öffentlich-rechtliche Arbeitgeber bei seiner Ablehnungsentscheidung auf eine entsprechende Überforderung als dringenden dienstlichen bzw. betrieblichen Grund berufen kann.

21.54

Teilweise wird dies bejaht89. Auch bei den öffentlichen Arbeitgebern wird intern von der An- 21.55 wendbarkeit des allgemeinen Überforderungsschutzes als Ablehnungsgrund ausgegangen90. Als Begründung wird angeführt, dass der Tarifvertrag in § 2 Abs. 1 allgemein auf das ATZG („auf der Grundlage des ATZG“) verweise, selbst jedoch keine eigenständige bzw. abweichen-

84 85 86 87 88

Drespa/Meyer/Slawik, § 2 TV ATZ Rz. 37. LAG Düsseldorf v. 29.11.2005 – 6 Sa 1066/05, BeckRS 2006, 41115. ArbG Kiel v. 4.9.2003 – 5 Ca 636a/03, NZA-RR 2004, 653. Vgl. LAG Köln v. 20.11.2006 – 2 Sa 833/06, ZTR 2007, 262. Bei der Berechnung der 5 %-Quote sind auch nicht tarifgebundene Beschäftigte zu berücksichtigen, vgl. BAG v. 18.9.2001 – 9 AZR 397/00, BAGE 99, 60 = NZA 2002, 1161; v. 30.9.2003 – 9 AZR 590/02, BAGE 108, 36 = DB 2004, 935. 89 LAG Rheinland-Pfalz v. 22.6.2006 – 11 Sa 624/05 für den Haustarifvertrag einer KAV; Drespa/ Meyer/Slawik, § 2 TV ATZ Rz. 38; Kerschbaumer/Rothländer, S. 61; Langenbrinck/Litzka, Rz. 23; ausdrücklich offen gelassen von BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 393/06, ArbRB 2007, 200 = DB 2007, 1476. 90 Vgl. etwa Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern v. 22.11.2005; Durchführungshinweise zum Tarifvertrag Altersteilzeit des Personalamts Hamburg (Stand 21.6.2005); Durchführungshinweise zum Tarifvertrag zur Regelung der Altersteilzeit (ATZ) v. 5. Mai 1998 – Gemeinsamer Runderlass des Finanzministeriums und des Innenministeriums NRW v. 22.7.2004.

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§ 21 Rz. 21.55

Altersteilzeit

de Regelung enthalte. Eine eigenständige Regelung sei auch verzichtbar, da § 3 Abs. 1 Nr. 3 ATZG unmittelbar gelte91.

21.56 Systematisch überzeugender als diese etwas konstruiert wirkende Argumentation erscheint indessen die Auffassung, die den Überforderungsschutz des § 3 Abs. 1 Nr. 3 ATZG allein als Fördervoraussetzung versteht und daraus kein eigenständiges Recht auf Verweigerung herleitet92. Das Fehlen einer tarifvertraglichen Regelung spricht zudem eher gegen die Anwendbarkeit der Überforderungsklausel, zumal in anderen Tarifverträgen zur Altersteilzeit durchaus eigenständige Überforderungsklauseln enthalten sind, die derartige Unklarheiten beseitigen93. Das bedeutet nicht, dass der öffentliche Arbeitgeber Altersteilzeitanträge nicht wegen Überforderung ablehnen kann. Denn eine hohe Anzahl von bereits abgeschlossenen und durchgeführten Altersteilzeitarbeitsverhältnissen kann uU zu gravierenden Betriebsablaufstörungen führen, zB wenn eine Vielzahl von Arbeitnehmern zur gleichen Zeit in die Freistellungsphase wechseln. Diese Störungen muss indes der Arbeitgeber dezidiert benennen und beweisen94. b) Arbeitnehmer zwischen 55 und 59 Jahren aa) Ermessensentscheidung und Ausübungskontrolle

21.57 Wie bereits erörtert, haben Arbeitnehmer der Altersgruppe von 55 bis 59 Jahren keinen Anspruch auf Abschluss eines Altersteilzeitarbeitsvertrages. Dem Arbeitgeber steht hier insoweit ein weiter Ermessensspielraum bei seiner Entscheidung über einen entsprechenden Antrag zu. Die Gründe für die Ablehnung müssen lediglich billigem Ermessen iSd. § 315 BGB entsprechen. Der Arbeitgeber ist somit verpflichtet, bei seiner Entscheidung die wesentlichen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und die beiderseitigen Interessen angemessen zu wahren95. Beruft sich der Arbeitgeber darauf, den Arbeitsplatz nicht wieder besetzen zu können, kann im Einzelfall genügen, wenn unter Berücksichtigung der vom Arbeitnehmer geschuldeten Arbeitsaufgabe und des Umfangs der durch den Wechsel in die Altersteilzeit frei werdenden Stelle die fehlende Wiederbesetzungsmöglichkeit nachvollziehbar dargelegt wird. Der Arbeitnehmer, der trotz einer in sich plausiblen Begründung des Arbeitgebers weiter eine fehlerhafte Ermessensausübung rügt, muss das näher konkretisieren96.

21.58 Die insofern gebotene Einzelfallbetrachtung schließt indessen generelle Vorentscheidungen des öffentlichen Arbeitgebers durch interne Richtlinien und Durchführungshinweise, wie er Tarifnormen in die Praxis umsetzt, nicht aus97. Vom öffentlichen Dienstherrn kann also festgelegt werden, unter welchen Voraussetzungen und zu welchen Bedingungen (zB nur Teilzeit-, nicht aber Blockmodell) Altersteilzeit für Arbeitnehmer zwischen 55 und 59 Jahren gewährt werden soll. Denn durch Richtlinien und Durchführungshinweise soll eine einheitliche Anwendung der Tarifvorschriften erreicht werden. Ferner dienen sie der Transparenz, da für den 91 Kerschbaumer/Rothländer, S. 61. 92 Leisbrock, S. 105 ff.; Rittweger/Petri/Schweikert, § 3 ATZG Rz. 134; Zwanziger, RdA 2005, 226 (234); vgl. auch LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 22.8.2006 – 3 Sa 454/05 und 3 Sa 511/05. 93 Vgl. LAG Köln v. 20.11.2006 – 2 Sa 833/06, ZTR 2007, 262 (Ls.). 94 LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 22.8.2006 – 3 Sa 454/05, juris. 95 BAG v. 12.12.2000 – 9 AZR 706/99, BAGE 96, 363 = NZA 2001, 1209; v. 26.6.2001 – 9 AZR 244/00, BAGE 98, 114 = ArbRB 2002, 7 = NZA 2002, 47; v. 15.9.2009 – 9 AZR 643/08, ArbRB 2010, 8 = DB 2009, 2668; LAG Köln v. 10.2.2011 – 7 Sa 1011/10, BeckRS 2011, 76810. 96 LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 13.7.2011 – 2 Sa 49/11, BeckRS 2011, 75946. 97 BAG v. 12.12.2000 – 9 AZR 706/99, BAGE 96, 363 = NZA 2001, 1209; LAG Schleswig-Holstein v. 16.5.2002 – 1 Sa 582/01, ArbRB online.

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Arbeitnehmer erkennbar ist, welche Kriterien für die Entscheidung des Arbeitgebers maßgeblich sind. Der Arbeitgeber muss daher in eine weitergehende Prüfung der bei seiner Ermessensentscheidung zu berücksichtigenden Belange des Arbeitnehmers erst dann eintreten, wenn der Arbeitnehmer über die im Tarifvertrag normierten Anspruchsvoraussetzungen hinaus auf seinen Fall bezogene Umstände darlegt98. Eine ablehnende Entscheidung unterliegt allerdings der vollen gerichtlichen Ausübungskontrolle nach § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB99, die – soweit die entscheidungserheblichen Tatsachen feststehen – auch noch vom Revisionsgericht vorgenommen werden kann100. Bei der gerichtlichen Überprüfung ist dabei auf den Zeitpunkt der ablehnenden Entscheidung durch den Arbeitgeber und nicht auf den Schluss der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz abzustellen101. Das Gericht hat immer eine eigene Sachentscheidung zu treffen, wenn es die Unbilligkeit der ablehnenden Entscheidung feststellt. Es spricht also keine Verpflichtung zur erneuten ermessensfehlerfreien Entscheidung aus102.

21.59

bb) Einzelne Ablehnungsgründe Obwohl die Vereinbarung eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses immer mit finanziellen Mehrbelastungen verbunden ist und dies den Tarifparteien auch bewusst war, kann der Arbeitgeber sich bei seiner Ablehnungsentscheidung auf die erhöhten wirtschaftlichen Belastungen durch Aufstockungsleistungen berufen. Soweit noch ein Fall der geförderten Altersteilzeit vorliegen sollte, dürfte dies insbesondere bei Altersteilzeitverhältnissen gelten, die länger als sechs Jahre dauern sollen und damit über der gesetzlichen Förderhöchstdauer liegen103. Wenn aufgrund einer Einstellungssperre keine Erstattung der Aufstockungsleistungen durch die Bundesagentur für Arbeit möglich ist104, soll dies ebenso ein sachgerechter Ablehnungsgrund sein wie Schwierigkeiten bei der Wiederbesetzung105. Bei Drittmittelabhängigkeit (Forschungseinrichtungen usw.) sind haushaltsrechtliche Vorgaben bei der Entscheidung über den Abschluss von Altersteilzeitverträgen zu berücksichtigen106.

21.60

Neben wirtschaftlichen Gründen können auch personalwirtschaftliche Gründe eine Ablehnung rechtfertigen: So ist es nicht ermessensfehlerhaft, wenn Altersteilzeitarbeitsverhältnisse nur mit Arbeitnehmern aus Bereichen abgeschlossen werden, in denen ein abzubauender Stellenüberhang besteht, selbst wenn dies bedeutet, dass keine Erstattung durch die Bundesagen-

21.61

98 Vgl. LAG Hamburg v. 26.7.2000 – 8 Sa 48/00, ZTR 2000, 459; LAG Schleswig-Holstein v. 16.5.2002 – 1 Sa 582/01, ArbRB online. 99 BAG v. 12.12.2000 – 9 AZR 706/99, BAGE 96, 363 = NZA 2001, 1209; v. 26.6.2001 – 9 AZR 244/00, BAGE 98, 114 = ArbRB 2002, 7 = NZA 2002, 47; v. 3.12.2002 – 9 AZR 457/01, BAGE 104, 55 = NZA-RR 2003, 613; v. 10.5.2005 – 9 AZR 294/04, AP Nr. 20 zu § 1 TVG Altersteilzeit; v. 15.9.2009 – 9 AZR 643/08, ArbRB 2010, 8 = DB 2009, 2668. 100 BAG v. 3.12.2002 – 9 AZR 457/01, BAGE 104, 55 = NZA-RR 2003, 613; v. 15.9.2009 – 9 AZR 643/08, ArbRB 2010, 8 = DB 2009, 2668; v. 23.1.2007 – 9 AZR 624/06, NZA-RR 2007, 397. 101 LAG Schleswig-Holstein v. 11.5.2004 – 5 Sa 549/03, AE 2006, 17 (Ls.); Drespa/Meyer/Slawik, § 2 TV ATZ Rz. 25. 102 BAG v. 3.12.2002 – 9 AZR 457/01, BAGE 104, 55 = NZA-RR 2003, 613. 103 BAG v. 10.5.2005 – 9 AZR 294/04, AP Nr. 20 zu § 1 TVG Altersteilzeit; LAG Baden-Württemberg v. 7.5.2004 – 5 Sa 39/03, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 33. 104 LAG Berlin v. 1.10.1999 – 19 Sa 1271/99, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 1. 105 BAG v. 26.6.2001 – 9 AZR 244/00, BAGE 98, 114 = ArbRB 2002, 7 = NZA 2002, 47. 106 LAG Baden-Württemberg v. 7.5.2004 – 5 Sa 39/03, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 33; LAG Hessen v. 12.4.2001 – 3 Sa 1031/00, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 10.

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Altersteilzeit

tur für Arbeit erfolgt107. Ebenfalls ermessensfehlerfrei ist es, wenn der Arbeitgeber auf die Mehrbelastung des übrigen Personals aufgrund einer Nachbesetzungssperre verweist108, auf die vorgesehene Neubesetzung mit Beamten109 oder auf ein mit der Altersteilzeit nicht zu vereinbarendes Arbeitszeitkonzept, das der Arbeitsplatzsicherung dient110. Auch die allgemeine Altersstruktur der Belegschaft kann einen zulässigen Ablehnungsgrund darstellen, insbesondere wenn abzusehen ist, dass in absehbarer Zukunft Altersteilzeitgesuche von Arbeitnehmern über 60 Jahre gestellt werden111.

21.62 Ebensowenig widerspricht es billigem Ermessen, wenn der Arbeitgeber schwerbehinderte Arbeitnehmer bei der Begründung von Altersteilzeitarbeitsverhältnissen bevorzugt, da etwaige Nachteile durch die Behinderung bereits durch den besonderen Teilzeitanspruch des § 164 Abs. 5 Satz 3 SGB IX ausgeglichen werden112.

21.63 Unbillig ist indes eine Entscheidung, sobald sie auf Gründe gestützt wird, die nicht in Zusammenhang mit der Altersteilzeit stehen, wie z.B. das allgemeine Interesse des Arbeitgebers an der Aufrechterhaltung des bisherigen Vertrages oder eine generelle Ablehnung von Teilzeitarbeitsverhältnissen.

21.64 Zusammenfassung anerkannter Ablehnungsgründe: – Einstellungs- oder Nachbesetzungssperre113 – Neubesetzung durch Beamten114 – keine oder eingeschränkte Förderung durch das Arbeitsamt115 – haushaltsrechtliche Vorgaben (zB Haushaltssperre)116 – wirtschaftliche Belastung durch Neueinstellungen117 – Schwierigkeit bei Wiederbesetzung118 107 BAG v. 12.12.2000 – 9 AZR 706/99, BAGE 96, 363 = NZA 2001, 1209; LAG Köln v. 6.10.1999 – 2 Sa 698/99, NZA-RR 2000, 312. 108 LAG Baden-Württemberg v. 7.5.2004 – 5 Sa 39/03, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 33. 109 LAG Hamburg v. 26.7.2000 – 8 Sa 48/00, ZTR 2000, 459. 110 BAG v. 3.12.2002 – 9 AZR 457/01, BAGE 104, 55 = NZA-RR 2003, 613. 111 LAG Baden-Württemberg v. 7.5.2004 – 5 Sa 39/03, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 33. 112 BAG v. 26.6.2001 – 9 AZR 244/00, BAGE 98, 114 = ArbRB 2002, 7 = NZA 2002, 47. 113 LAG Berlin v. 1.10.1999 – 19 Sa 1271/99, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 1; BAG v. 15.9.2009 – 9 AZR 643/08, ArbRB 2010, 8 = ZTR 2010, 75, geht davon aus, dass das Berufen des Arbeitgebers auf die Stellenbesetzungssperre nicht den Erfordernissen eines sachlichen Grundes genüge, der Arbeitgeber habe mittel- oder langfristige Haushaltsplanung vorzutragen, jedenfalls wenn zwischen der ablehnenden Entscheidung und dem gewünschten Eintritt in die Freistellungsphase ein Zeitraum von über sechs Jahren liegt. 114 LAG Hamburg v. 26.7.2000 – 8 Sa 48/00, ZTR 2000, 459. 115 LAG Baden-Württemberg v. 7.5.2004 – 5 Sa 39/03, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 33; LAG Hamburg v. 26.7.2000 – 8 Sa 48/00, ZTR 2000, 459. 116 LAG Baden-Württemberg v. 7.5.2004 – 5 Sa 39/03, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 33; LAG Hessen v. 12.4.2001 – 3 Sa 1031/00, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 10; LAG Schleswig-Holstein v. 16.5.2002 – 1 Sa 582/01, ArbRB online. 117 LAG Schleswig-Holstein v. 16.5.2002 – 1 Sa 582/01, ArbRB online. 118 BAG v. 26.6.2001 – 9 AZR 244/00, BAGE 98, 114 = ArbRB 2002, 7 = NZA 2002, 47; LAG Berlin v. 13.1.2005 – 16 Sa 1630/04, ZTR 2005, 254; LAG Rheinland-Pfalz v. 28.5.2010 – 9 Sa 753/09, BeckRS 2010, 71281.

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Rz. 21.69 § 21

– hoher Fortbildungsaufwand119 – kein Stellenüberhang120 – Altersstruktur der Belegschaft121 – ein mit Altersteilzeit nicht zu vereinbarendes Arbeitszeitkonzept122 – Zweck des Tarifvertrags, Auszubildenden und Arbeitslosen Beschäftigungsmöglichkeiten zu eröffnen, kann nicht erreicht werden123 c) Ablehnungsentscheidung Der TV ATZ sieht keine Frist- oder Formerfordernisse für die Ablehnungsentscheidung des Arbeitgebers vor. Ein Schweigen kann nicht als Zustimmung zum Abschluss eines Altersteilzeitarbeitsvertrags gewertet werden. Die Fiktion des § 8 Abs. 5 TzBfG findet keine Anwendung124.

21.65

5. Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Entscheidung des Arbeitgebers Lehnt der Arbeitgeber den Abschluss eines Altersteilzeitvertrages ab, kann der Arbeitnehmer Klage gegen ihn auf Annahme seines Angebots zum Abschluss eines Altersteilzeitarbeitsvertrages erheben. Dies gilt grundsätzlich sowohl für die Altersgruppe der über 60-jährigen als auch die der 55- bis 59-jährigen Arbeitnehmer, wobei Letztere neben der Ermessensfehlerhaftigkeit der Ablehnungsentscheidung noch darlegen und beweisen müssen, dass das Ermessen des Arbeitgebers hinsichtlich des Abschlusses eines Altersteilzeitvertrags auf null reduziert ist.

21.66

Mit Rechtskraft des Urteils gilt die Willenserklärung als abgegeben (§ 894 ZPO) und der Altersteilzeitvertrag ist zustande gekommen. Die Klage ist nicht fristgebunden.

21.67

Formulierungsvorschlag:

21.68

„Es wird beantragt: 1. Die Beklagte wird verurteilt, dem Antrag des Klägers auf Abschluss eines Altersteilzeitvertrags nach den Bedingungen des TV ATZ in seiner jeweiligen Fassung ab Rechtskraft bis zum … [konkretes Datum] zuzustimmen. 2. Die Beklagte wird (hilfsweise für den Fall des Obsiegens) verurteilt, die Verteilung der Arbeitszeit nach dem Blockmodell vorzunehmen.“

Fraglich ist, ob eine Verurteilung auf rückwirkende Zustimmung möglich ist. Dies wurde 21.69 in der Vergangenheit überwiegend verneint125. Eine rückwirkende Vereinbarung eines Altersteilzeitvertrags sei nicht möglich, weil dazu das vollständig erfüllte Regelarbeitsverhältnis 119 120 121 122 123 124

LAG Berlin v. 1.10.1999 – 19 Sa 1271/99, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 1. BAG v. 12.12.2000 – 9 AZR 706/99, BAGE 96, 363 = NZA 2001, 1209. LAG Baden-Württemberg v. 7.5.2004 – 5 Sa 39/03, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 33. BAG v. 3.12.2002 – 9 AZR 457/01, BAGE 104, 55 = NZA-RR 2003, 613. LAG Berlin v. 13.1.2005 – 16 Sa 1630/04, NZA-RR 2005, 329. LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 22.7.2004 – 1 Sa 465/03 (für den Tarifvertrag Altersteilzeit beim Internationalen Bund e.V.), BeckRS 2004, 17688. 125 LAG Hamm v. 23.3.2001 – 5 Sa 1424/00, DB 2001, 1890; LAG Köln v. 20.11.2006 – 2 Sa 833/06, ZTR 2007, 262; Plagemann, ZAP Fach 17, 873; Zwanziger, RdA 2005, 226 (235).

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§ 21 Rz. 21.69

Altersteilzeit

rückwirkend in ein Altersteilzeitverhältnis umgewidmet und rückabgewickelt werden müsse, was aus steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Gründen nicht möglich sei126. Zudem könne etwa der Fall eintreten, dass bei einer rückwirkenden Zustimmung der Arbeitnehmer bereits mehr als die Hälfte der vereinbarten Arbeitszeit gearbeitet habe, weil die Zustimmung erst mit Rechtskraft des Urteils als abgegeben gilt. Verlangt werden könne daher nur eine Verurteilung auf Zustimmung zum nächstmöglichen Zeitpunkt127. Dieser Argumentation ist das BAG entgegengetreten, so dass ein Arbeitgeber auch zu einer rückwirkenden Zustimmung verurteilt werden kann, wenn der Arbeitnehmer seinen Anspruch auf Abschluss eines Altersteilzeitarbeitsvertrags rechtzeitig vor dem gewünschten Beginn geltend gemacht hat128. Seien bereits Leistungen erbracht worden, die aufgrund der Altersteilzeit nicht oder nicht so geschuldet seien, erfolge eine Rückabwicklung129. Eine rückwirkende Umwandlung eines Arbeitsverhältnisses in einen Altersteilzeitarbeitsvertrag mit Wirkung gegenüber dem Sozialversicherungsträger sei zwar grundsätzlich nicht möglich, etwas anderes gelte jedoch im Falle einer rückwirkenden Begründung aufgrund einer arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzung, da in diesem Falle lediglich der Zustand hergestellt werde, der bestünde, wenn der Arbeitgeber den Antrag des Arbeitnehmers pflichtgemäß angenommen hätte130. Die Altersteilzeit beginnt dann zu dem vom Arbeitnehmer gewünschten Zeitpunkt. Die Möglichkeit einer rückwirkenden Zustimmung besteht sowohl für die Durchführung der Altersteilzeit im Block- als auch im Teilzeitmodell.

21.70 Eine Klage ist nicht zu unbestimmt, wenn sich weder aus dem Klageantrag noch aus der Klagebegründung ergibt, ob die begehrte Altersteilzeit im Block- oder im Teilzeitmodell durchgeführt werden soll131. In einem solchen Fall, in welchem dem Arbeitgeber im Rahmen seines Direktionsrechts die Wahl zwischen zwei Vertragsmodellen überlassen wird, kommt mit einem rechtskräftigen Urteil aber kein Altersteilzeitvertrag zustande, sondern es wird die Verurteilung zu einer nicht vertretbaren Handlung begehrt, die nach § 890 ZPO vollstreckt wird132.

21.71 Besteht nur noch Streit über die konkrete Ausgestaltung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses (zB über die Dauer der Arbeitszeit) kann der Arbeitnehmer Feststellungsklage nach § 256 ZPO erheben, die auch schon vor Begründung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses zulässig ist133. 6. Vergütung bei Altersteilzeit a) Höhe der Bezüge (§ 4 TV ATZ)

21.72 Die Höhe des Arbeitsentgelts während der Altersteilzeit ergibt sich aus § 4 TV ATZ. Aufgrund der Reduzierung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit auf die Hälfte be126 LAG Köln v. 20.11.2006 – 2 Sa 833/06, ZTR 2007, 262. 127 LAG Köln v. 20.11.2006 – 2 Sa 833/06, ZTR 2007, 262. 128 BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 393/06, ArbRB 2007, 200 = DB 2007, 1476; v. 23.1.2007 – 9 AZR 624/06, DB 2007, 1708. 129 BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 393/06, ArbRB 2007, 200 = DB 2007, 1476; v. 23.1.2007 – 9 AZR 624/06, DB 2007, 1708. 130 BAG v. 23.1.2007 – 9 AZR 393/06, ArbRB 2007, 200 = DB 2007, 1476; v. 23.1.2007 – 9 AZR 624/06, DB 2007, 1708. 131 BAG v. 12.12.2000 – 9 AZR 706/99, BAGE 96, 363 = NZA 2001, 1209. 132 BAG v. 12.12.2000 – 9 AZR 706/99, BAGE 96, 363 = NZA 2001, 1209. 133 BAG v. 1.10.2002 – 9 AZR 278/02, BAGE 103, 54 = ArbRB 2003, 166 = NZA 2003, 1341.

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Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Rz. 21.75 § 21

stimmt § 4 Abs. 1 TV ATZ, dass auch die Bezüge entsprechend reduziert werden. Die Bezüge werden nach den Beträgen bemessen, die sich nach den jeweiligen Tarifverträgen (zB § 24 Abs. 2 TVöD bzw. TV-L) für entsprechende Teilzeitkräfte ergeben. Dies gilt auch, wenn das Altersteilzeitarbeitsverhältnis im Blockmodell durchgeführt wird. Das Arbeitsentgelt nach § 4 TV ATZ ist streng vom Regelarbeitsentgelt nach § 6 Abs. 1 ATZG zu unterscheiden, das nur die Berechnungsgrundlage für den Mindestaufstockungsbetrag darstellt und oftmals geringer ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG wird im Blockmodell der Altersteilzeitarbeit die in der Freistellungsphase gezahlte Vergütung jeweils „spiegelbildlich“ für die entsprechenden Monate der Arbeitsphase gezahlt (Grundsatz der Spiegelbildlichkeit)134. Da der Arbeitnehmer in der Arbeitsphase mit seiner Arbeitsleistung für die Freistellungsphase in Vorleistung tritt und Entgeltteile anspart, darf also für die Höhe der Bezüge weder auf das Regelarbeitsentgelt nach § 6 ATZG noch auf die fiktive Weiterentwicklung des Arbeitsverhältnisses abgestellt werden, sondern es kommt allein auf die in der Arbeitsphase (hälftig) erhaltenen Bezüge an135.

21.73

Allerdings ist zwischen festen oder regelmäßigen auf der einen und unständigen Bezügebestandteilen auf der anderen Seite gem. § 4 Abs. 1 Alt. 2 TV ATZ zu differenzieren, da sich der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit nur auf die festen Bezügebestandteile bezieht136. Probleme ergeben sich hierbei durch die fehlende Anpassung des TVATZ an den TVöD/TV-L137.

21.74

Die festen Bezügebestandteile erhält der Arbeitnehmer während der gesamten Zeit des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses zur Hälfte (Halbierungsgrundsatz). Zu den festen Bezügebestandteilen gehören alle Bezüge, die zur monatlichen Regelvergütung zählen. Dies können sein138:

21.75

– Grundvergütung (Monatstabellenlohn bzw. Tabellenentgelte nach den §§ 15 ff. TVöD/ TV-L), – Einmalzahlungen139, – Ortszuschläge140, – Sozialzuschläge, – Persönliche Zulagen (etwa wegen Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit, § 24 BAT), 134 BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 353/02, BAGE 106, 353 = DB 2004, 258; v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, ArbRB 2005, 133 = NZA 2005, 408 = DB 2005, 779; v. 4.10.2005 – 9 AZR 449/04, NZA 2006, 506; v. 11.4.2006 – 9 AZR 369/05, NZA 2006, 926; LAG Sachsen-Anhalt v. 22.11.2005 – 8 Sa 113/05 E, AE 2006, 260-262 (Kurzwiedergabe); Hock/Klapproth, ZTR 2000, 97 (99). 135 BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 353/02, BAGE 106, 353 = DB 2004, 258; v. 4.10.2005 – 9 AZR 449/04, NZA 2006, 506; eine Übersicht über die Auswirkungen findet sich bei Kulok, ZTR 2006, 420 (421); aA Langenbrinck, ZTR 2004, 222 (226); Weishaupt, ZTR 2003, 435 (437). 136 Vgl. BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 353/02, BAGE 106, 353 = DB 2004, 258. 137 Vgl. Hock/Kramer/Schwerdle, ZTR 2006, 622 (632). 138 Vgl. für den TVöD die Übersicht bei Hock/Kramer/Schwerdle, ZTR 2006, 622 (633). 139 Ausnahme: Jubiläumszuwendungen (§ 23 Abs. 2 TVöD/TV-L), vgl. Drespa/Meyer/Slawik, § 4 TV ATZ Rz. 17 ff.; zum Sterbegeld (§ 23 Abs. 3 TVöD/TV-L) vgl. BAG v. 12.5.2005 – 6 AZR 311/04, NZA 2006, 50. 140 BAG v. 24.6.2004 – 6 AZR 389/03, ZTR 2005, 41 = AP Nr. 10 zu 34 BAT; v. 16.8.2005 – 9 AZR 580/04, ZTR 2006, 256 = EzBAT TV Nr. 37; v. 4.10.2005 – 9 AZR 449/04, NZA 2006, 506.

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651

§ 21 Rz. 21.75

Altersteilzeit

– Sicherheitszulage, – Funktionszulagen (zB Meisterzulage, Vorhandwerkerzulage nach § 3 Abs. 2 TV LohngrV141, Ministerialzulagen); – vermögenswirksame Leistungen (vgl. § 23 Abs. 1 TVöD bzw. TV-L).

21.76 Das bedeutet, dass zB eine Funktionszulage, die nur für einige Monate in der Arbeitsphase zur Hälfte gezahlt wurde, für dieselbe Zeitdauer in der Freistellungsphase in hälftiger Höhe gezahlt werden muss142. Auf der anderen Seite bleibt zB ein Ortszuschlag, der erst in der Freistellungsphase anfällt, bei der Vergütung außer Betracht. Es sind somit immer die Verhältnisse in der Arbeitsphase und nicht im konkreten Lohnabrechnungszeitraum entscheidend143. Bei der Bemessung der Grundvergütung wird demzufolge auch nur an die Vergütungsgruppe bzw. -stufe angeknüpft, nach der der Arbeitnehmer zur Zeit der Arbeitsphase vergütet worden ist144 (zum Aufstieg während der Altersteilzeit s. Rz. 21.109 ff.). Auch in der Freistellungsphase zu berücksichtigen sind jedoch allgemeine Erhöhungen der Bezüge, da andernfalls ein Verstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG vorliegen würde145. So müssen etwa Beschäftigte, die sich zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des TVöD/TV-L bereits in der Freistellungsphase befunden haben, ebenfalls in den Genuss einer mit der Umstellung des Tarifvertrags eventuell verbundenen Erhöhung des Entgelts kommen146. Dies entspricht auch der neueren Rechtsprechung des BAG. Danach ist bei Lohnerhöhungen in der Freistellungsphase (mindestens) das auszuzahlen, was der Altersteilzeitarbeitnehmer erarbeitet hat, Tariflohnerhöhungen sind weiter zu geben147 (vgl. Rz. 21.7).

21.77 Dagegen werden unständige Bezügebestandteile, die üblicherweise in die Berechnung des Aufschlags zur Urlaubsvergütung/Zuschlag zum Urlaubslohn einfließen, sowie Wechselschicht- und Schichtzulagen (vgl. § 4 Abs. 1 Alt. 2 TV ATZ) entsprechend dem Umfang der tatsächlich geleisteten Tätigkeit ungeteilt gezahlt148. Sie fallen im Blockmodell nur während der Arbeitsphase an und fließen daher auch nicht in das Wertguthaben für die Freistellungsphase ein. § 4 Abs. 1 Alt. 2 TV ATZ knüpft an den BAT/BAT-O an. Der TVöD/TV-L sieht keinen Aufschlag mehr zur Urlaubsvergütung vor. An die Stelle der Urlaubsvergütung soll insoweit der Durchschnittsbetrag nach § 21 TVöD/TV-L treten149.

141 BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 353/02, BAGE 106, 353 = DB 2004, 258. 142 BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 353/02, BAGE 106, 353 = DB 2004, 258; Hock/Klapproth, ZTR 2000, 97 (99); aA Langenbrinck, ZTR 2004, 222 (226); Weishaupt, ZTR 2003, 435 (437). 143 AA Weishaupt, ZTR 2003, 435 (438). 144 BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 353/02, BAGE 106, 353 = DB 2004, 258; v. 4.10.2005 – 9 AZR 449/04, NZA 2006, 506. 145 AA Kulok, ZTR 2006, 420 (421); wohl auch BAG v. 4.10.2005 – 9 AZR 449/04, NZA 2006, 506; wie hier wohl auch LAG Sachsen-Anhalt v. 22.11.2005 – 8 Sa 113/05 E, BeckRS 2005, 31052564. 146 AA Hock/Kramer/Schwerdle, ZTR 2006, 622 (631); Kulok, ZTR 2006, 420 (421), die davon ausgehen, dass bezüglich des Altersteilzeitentgelts nach § 4 TV ATZ keine Überleitung erfolgt. 147 BAG v. 22.5.2012 – 9 AZR 423/10, ZVBR online 2012, Nr. 10, 18–22. 148 BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 353/02, BAGE 106, 353 = DB 2004, 258. 149 Vgl. hierzu im Einzelnen Hock/Kramer/Schwerdle, ZTR 2006, 622 (632).

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Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Rz. 21.81 § 21

21.78

Zu den unständigen Bezügebestandteilen gehören: – Zeitzuschläge (für Nacht-, Samstags-, Sonntags- und Überstunden),

Feiertagsarbeit150,

für ausgeglichene

– Schmutz-, Gefahrenzulagen- und Erschwerniszuschläge (vgl. zB § 19 TVöD/TV-L)151, – Mehrarbeitsvergütung bei Teilzeitbeschäftigten, – Vergütung für Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft, – Wechselschicht- und Schichtzulagen, – Aufwandsentschädigungen, – Vollstreckungsdienstvergütung152. Nicht entscheidend für die Einstufung als ständiger oder unständiger Bezügebestandteil ist, ob der Zuschlag in einer Monatspauschale gezahlt wird153. Es muss vielmehr der jeweilige Sinn und Zweck der Zulage oder des Zuschlags ermittelt werden.

21.79

Das neu eingeführte Leistungsentgelt gehört ebenfalls zu den Bezügen iSd. § 4 TV ATZ154. Für seine Berechnung ist die in der jeweiligen Phase geschuldete Arbeitsleistung maßgeblich. Somit erfolgt nur in der Arbeitsphase, nicht jedoch in der Freistellungsphase eine Leistungsfeststellung und eine Auszahlung des Leistungsentgelts155. Es ist daher als unständiger Bestandteil anzusehen.

21.80

Problematisch bei der Berechnung der Vergütung nach § 4 ATZ ist die Behandlung von Sach- 21.81 bezügen (zB Dienstwagen, Dienstwohnungen), wenn diese nicht teilbar sind156. Im Teilzeitmodell ergeben sich keine Besonderheiten, da die Sachbezüge weiterhin zu gewähren sind. Im Blockmodell stehen Sachleistungen dem Arbeitnehmer mit Beginn der Freistellungsphase nicht mehr zu, es sei denn, sie sind ausdrücklich als Teil seiner Vergütung behandelt worden157. Im Altersteilzeitvertrag sollte daher eine Regelung hinsichtlich der Sachbezüge in der Freistellungsphase enthalten sein. Dabei ist jedoch immer das Benachteiligungsverbot des § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG zu beachten, wonach einem teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer Arbeitsentgelt oder eine andere teilbare geldwerte Leistung mindestens in dem Umfang zu gewähren ist, der dem Anteil seiner Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht. Erhält der Arbeitnehmer die Leistung nur in der Arbeitsphase, nicht aber in der Freistellungsphase, muss die Leistung beim Aufstockungsbetrag berücksichtigt werden.

150 BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 353/02, BAGE 106, 353 = DB 2004, 258. 151 BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 353/02, BAGE 106, 353 = DB 2004, 258; v. 4.10.2005 – 9 AZR 449/04, NZA 2006, 506. 152 Drespa/Meyer/Slawik, § 4 TV ATZ Rz. 10. 153 Hock/Klapproth, ZTR 2000, 97 (99); Hock/Kramer/Schwerdle, ZTR 2006, 622 (632). 154 Vgl. Niederschriftserklärung zu § 18 TVöD-VKA: „Die Tarifvertragsparteien gehen davon aus, dass Leistungsentgelte Bezüge iSd § 4 TV ATZ sind.“; vgl. auch Hock/Kramer/Schwerdle, ZTR 2006, 622 (632). 155 Vgl. Leist, ZTR 2007, 114 (116). 156 Vgl. Hock/Klapproth, ZTR 2000, 97 (99). 157 ArbG Frankfurt a.M. v. 8.8.2001 – 7 Ca 3269/01, EzA-SD 17/2001 (Ls.); Drespa/Meyer/Slawik, Tarifliche Zusatzfragen Rz. 4.

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§ 21 Rz. 21.82

Altersteilzeit

b) Aufstockungsleistungen (§ 5 TV ATZ)

21.82 § 5 TV ATZ regelt die zusätzlichen finanziellen Leistungen, die der Arbeitnehmer aufgrund des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber erhält (Aufstockungsleistungen). Sie dienen dazu, die Attraktivität der Altersteilzeit zu erhöhen und den Lebensstandard der Beschäftigten auch während der Altersteilzeit bis zum Übergang in die Rente zu sichern158. Diese Leistungen zählen zwar zum Entgelt iSd. § 611 BGB und sind daher auch wie Arbeitslohn pfändbar, stellen indes keine Gegenleistung für die geschuldete Arbeitsleistung dar159.

21.83 Die Aufstockungsleistungen müssen vom Arbeitgeber über die gesamte Dauer der Altersteilzeitvereinbarung gezahlt werden (§ 5 Abs. 6 TV ATZ), während die Erstattungsleistungen der Bundesagentur für Arbeit nach § 4 Abs. 1 ATZG auf sechs Jahre beschränkt sind.

21.84 Es ist zwischen Aufstockungsleistungen hinsichtlich der Bezüge (§ 5 Abs. 1–3 TV ATZ) und Aufstockungsleistungen hinsichtlich der Rentenversicherungsbeiträge (§ 5 Abs. 4 TV ATZ) zu differenzieren: aa) Aufstockung der Bezüge

21.85 Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TV ATZ sind die nach § 4 TV ATZ zu ermittelnden monatlichen tariflichen Bezüge inklusive Einmalzahlungen (individuelle Altersteilzeitbezüge) um 20 % der Bruttobeträge vom Arbeitgeber aufzustocken. Zu der nach § 4 TV ATZ zustehenden monatlichen Vergütung gehört auch der Ortszuschlag, auch soweit er familienbezogene Anteile enthält160. Ferner sind in die Berechnung des Aufstockungsbetrages einzubeziehen: – Erschwerniszuschläge, – Schicht- und Wechselschichtzuschläge, – steuerpflichtige Zeitzuschläge.

21.86 Sachleistungen sind nur insoweit für die Aufstockung zu berücksichtigen, soweit sie zum steuer- und sozialversicherungspflichtigen Entgelt gehören und nicht ungekürzt weitergewährt werden161. Dagegen sind für die Berechnung des Aufstockungsbetrags nicht zu berücksichtigen: – Steuerfreie Bezügebestandteile (Zuschläge für Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit); – Vergütung für Überstunden und Mehrarbeit; – Vergütung für tatsächlich geleistete Arbeit einschließlich Wegezeit in der Rufbereitschaft; – Vergütung für Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft; – Überstundenpauschalen; 158 BAG v. 16.3.2004 – 9 AZR 267/03, NZA 2005, 784 (Ls.); v. 4.10.2005 – 9 AZR 449/04, NZA 2006, 506; v. 11.4.2006 – 9 AZR 369/05, NZA 2006, 926; v. 13.6.2006 – 9 AZR 588/05, NZA-RR 2007, 41; BSG v. 10.2.2004 – B 7 AL 54/03 R, AuB 2004, 215. 159 BAG v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, ArbRB 2005, 133 = NZA 2005, 408; v. 16.8.2005 – 9 AZR 580/04, ZTR 2006, 256; v. 4.10.2005 – 9 AZR 449/04, NZA 2006, 506; v. 11.4.2006 – 9 AZR 369/05, NZA 2006, 926; v. 13.6.2006 – 9 AZR 588/05. 160 BAG v. 16.3.2004 – 9 AZR 267/03, NZA 2005, 784 (Ls.); v. 24.6.2004 – 6 AZR 389/03, ZTR 2005, 41; v. 16.8.2005 – 9 AZR 580/04, ZTR 2006, 256. 161 Vgl. Hock/Klapproth, ZTR 2000, 97 (99).

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Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Rz. 21.89 § 21

– Aufwandsentschädigungen162; – Leistungsentgelt163. Gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 TV ATZ muss der Aufstockungsbetrag allerdings so hoch sein, dass der Arbeitnehmer mit dem Nettobetrag aus den Bezügen gemäß § 4 Abs. 1 TV ATZ und dem Aufstockungsbetrag nach § 5 Abs. 1 TV ATZ mindestens 83 % des bisherigen Arbeitsentgelts erhält (sog. pauschalierter Mindestnettobetrag). Es darf für diese Berechnung aber nicht auf das bisherige Arbeitsentgelt vor Beginn des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses abgestellt werden. Vielmehr ist für den jeweiligen Monat der Altersteilzeit das „Hätte-Entgelt“ konkret zu ermitteln, wobei die steuerrechtlichen Verhältnisse dieses Monats zugrunde zu legen sind164. Der Begriff „Hätte-Entgelt“ bedeutet nicht, dass für die Berechnung des Aufstockungsbetrags nunmehr eine fiktive Entwicklung des Arbeitsverhältnisses inklusive möglicher Aufstiege nachzuzeichnen ist165. Denn eine fiktive Nachzeichnung einer beruflichen Entwicklung über viele Jahre ist nicht möglich. Es bedeutet nur, dass real während der Altersteilzeit eingetretene objektive Umstände, wie Veränderungen der steuerlichen Verhältnisse oder allgemeine Entgelterhöhungen bei der Berechnung zu berücksichtigen sind. Auch die Überleitung in den TVöD bzw. TV-L ist bei der Berechnung des „Hätte-Entgelts“ zu beachten, und zwar unabhängig davon, ob die Überleitung bereits in der Arbeitsphase oder erst in der Freistellungsphase erfolgte166.

21.87

Für die Berechnung des tariflich garantierten Mindestnettobetrags ist gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 TV ATZ die Rechtsverordnung nach § 15 Satz 1 Nr. 1 ATZG (MindestnettobetragsVerordnung sowie die darauf aufbauende „83 %-Tabelle“167) maßgeblich. Der tarifvertraglich garantierte Mindestnettobetrag errechnet sich deshalb nach denselben Merkmalen, Festlegungen und Pauschalierungen, wie sie der Rechtsverordnung zugrunde liegen. Daher sind bspw. Aufwendungen des Arbeitnehmers für eine tariflich vereinbarte Zusatzversorgung bei der Berechnung des Mindestnettobetrags nicht zu berücksichtigen, sondern auch während der Altersteilzeit allein vom Arbeitnehmer zu tragen168. Zu beachten ist, dass der pauschalierte Mindestnettobetrag somit in aller Regel nicht den 83 % des jeweiligen individuellen Nettoentgelts entspricht.

21.88

Durch die Nichtberücksichtigung bestimmter Vergütungsbestandteile bei der Berechnung der Aufstockungsbeträge ist es möglich, dass dem Arbeitnehmer geringere Aufstockungsbeträge gezahlt werden als einem Arbeitnehmer, dem diese Vergütungsbestandteile von vornherein

21.89

162 Soweit sie nicht der Steuerpflicht unterliegen, vgl. Hock/Klapproth, ZTR 2000, 97 (100). 163 Vgl. Protokollerklärung zu § 11 Abs. 6 Satz 2 LeistungsTV-Bund: „Leistungsentgelt wird neben den Aufstockungsleistungen nach § 5 TV ATZ gezahlt und bleibt bei der Berechnung von Aufstockungsleistungen nach § 5 TV ATZ unberücksichtigt.“ Mit dem Wortlaut des § 5 Abs. 1 TV ATZ ist diese Auffassung freilich nicht zu vereinbaren, zumal das Leistungsentgelt ein Vergütungsbestandteil sein soll. Es soll jedoch eine redaktionelle Anpassung des TV ATZ erfolgen, vgl. Leist, ZTR 2007, 114 (116). 164 BAG v. 9.9.2003 – 9 AZR 554/02, BAGE 107, 248 = DB 2004, 821; aA Zwanziger, RdA 2005, 226 (231). 165 AA Kulok, ZTR 2006, 420 (421); Drespa/Meyer/Slawik, § 5 TV ATZ Rz. 28. 166 Ebenso Hock/Kramer/Schwerdle, ZTR 2006, 622 (631); Kulok, ZTR 2006, 420 (422). 167 Diese Tabelle wird vom Bundesministerium des Innern in Zusammenarbeit mit der TdL und der VKA jährlich neu veröffentlicht und ist unter www.bi.bund.de abrufbar. Seit 1.1.2008 gilt die neue Mindestnettobetrags-VO v. 19.12.2007, die auch im Jahr 2009 Anwendung findet, vgl. BGBl. I 2007, 3040. 168 BAG v. 9.12.2003 – 9 AZR 671/02, ZTR 2004, 253.

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§ 21 Rz. 21.89

Altersteilzeit

nicht zustehen (zB weil er keine Nachtarbeit oder Überstunden geleistet hat). Diese unterschiedliche Behandlung ist nach der ratio der Aufstockungsleistungen zulässig und stellt insbesondere keinen Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz dar169.

21.90 Die Anknüpfung an das jeweilige Nettoeinkommen führt dazu, dass es für Arbeitnehmer günstiger sein kann, eine an sich hinsichtlich der monatlichen Lohnsteuerabzüge ungünstigere Lohnsteuerklasse zu wählen (missbräuchliche Lohnsteuerklassewahl). Denn je höher die monatlichen Abzüge sind, desto höher sind die Aufstockungsbeträge, während die erhöhten Lohnsteuerabzüge mit der Einkommensteuererklärung wieder rückgängig gemacht werden können. Das BAG hat diese Gestaltungsmöglichkeit als rechtsmissbräuchlich und für den Arbeitgeber unverbindlich erklärt, soweit kein sachlicher Grund für die Wahl der ungünstigen Lohnsteuerklasse besteht170. Das ist nach der Rechtsprechung des BAG dann der Fall, wenn über die finanzielle Mehrbelastung des Arbeitsgebers hinausgehende Umstände vorliegen, die die Wahl der Steuerklasse als Verfolgung eines rücksichtslosen Eigennutzes zum Nachteil des Arbeitgebers kennzeichnen171, wobei indes unklar bleibt, unter welchen Umständen ein derartiges, unredliches Verhalten angenommen werden kann. Die Darlegungs- und Beweislast für den Einwand des Rechtsmissbrauchs trägt der Arbeitgeber172.

21.91 Kein Rechtsmissbrauch liegt allerdings vor, wenn der Arbeitnehmer auf die Eintragung von Steuerfreibeträgen auf der Lohnsteuerkarte verzichtet173. Denn wenn sich der Arbeitnehmer Freibeträge gemäß § 39a EStG auf seiner Lohnsteuerkarte eintragen lässt, erhöht sich wegen der damit verbundenen steuerlichen Entlastung zwar das monatliche Teilzeitnettoentgelt, der Aufstockungsbeitrag ändert sich jedoch nicht. Freibeträge bleiben nämlich nach Auffassung des BAG für die Berechnung des (pauschalierten) Mindestnettobetrags unberücksichtigt; sie entlasten den Arbeitgeber also nicht174. Dies führt dazu, dass der Arbeitgeber nicht einfach für die Berechnung des Aufstockungsbeitrages die jeweiligen individuellen Nettoaltersteilzeitbezüge zugrunde legen darf, sondern ein sog. altersteilzeitspezifisches Nettoteilzeitentgelt errechnen muss. Dies ist ein um alle steuerlichen Freibeträge bereinigtes Nettoaltersteilzeitentgelt175. Dieses ist dann anhand der 83 %-Tabelle aufzustocken.

21.92 Berechnungsschritte Altersteilzeitentgelt (vereinfacht): 1. Berechnung der Bruttoaltersteilzeitbezüge (§ 4 TV ATZ) 2. Aufstockung der Altersteilzeitbezüge nach § 4 TV ATZ um 20 % der Bruttoaltersteilzeitbezüge (§ 5 Abs. 1 TV ATZ) 3. Berechnung der altersteilzeitspezifischen Nettoaltersteilzeitbezüge 4. Aufstockung der altersteilzeitspezifischen Nettoaltersteilzeitbezüge auf 83 % des pauschalierten Nettobetrags (§ 5 Abs. 2 TV ATZ) anhand der 83 %-Tabelle

169 LAG Köln v. 8.8.2006 – 9 Sa 403/06, AE 2007, 364. 170 BAG v. 9.9.2003 – 9 AZR 554/02, BAGE 107, 248 = DB 2004, 821; v. 13.6.2006 – 9 AZR 423/05, ArbRB 2006, 355 = NZA 2007, 275 = DB 2006, 2470; ArbG Koblenz v. 13.6.2000 – 8 Ca 117/00, BeckRS 2000, 30826635. 171 BAG v. 13.6.2006 – 9 AZR 423/05, ArbRB 2006, 355 = NZA 2007, 275 = DB 2006, 2470. 172 BAG v. 13.6.2006 – 9 AZR 423/05, ArbRB 2006, 355 = NZA 2007, 275 = DB 2006, 2470. 173 Langenbrinck, ZTR 2004, 222 (228). 174 BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 558/04, NZA 2006, 1001. 175 BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 558/04, NZA 2006, 1001.

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Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Rz. 21.98 § 21

Für Altersteilzeitarbeitsverhältnisse, die nach dem 30.6.2004 begonnen haben, sind Änderungen im ATZG zu beachten, die dazu führen, dass der TV ATZ und das ATZG hinsichtlich der Berechnung der Aufstockungsbeiträge nicht mehr deckungsgleich sind176. Gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a ATZG ist das jeweilige Arbeitsentgelt für die Altersteilzeit (Regelarbeitsentgelt iSd. § 6 Abs. 1 ATZG) um 20 % aufzustocken, ohne dass mindestens 70 % des Mindestnettobetrags erreicht werden müssen.

21.93

Es ist mithin stets eine Günstigkeitsprüfung mittels Vergleichsberechnung vorzunehmen. In aller Regel fällt die Prüfung aufgrund der tarifvertraglich vorgesehenen zusätzlichen Aufstockung auf 83 % des Mindestnettobetrags jedoch zugunsten der allgemeinen tariflichen Berechnung aus177.

21.94

bb) Aufstockung der Rentenversicherungsbeiträge Da der Beschäftigte, der sich in Altersteilzeit befindet, nur die Hälfte seines bisherigen – sozialversicherungspflichtigen – Gehalts bezieht, würden auch nur auf dieser Basis Rentenversicherungsbeiträge errechnet werden. Um diese Benachteiligung auszugleichen, muss – allein (§ 168 Abs. 1 Nr. 6 SGB VI) – der Arbeitgeber neben den Altersteilzeitbezügen nach § 4 TV ATZ und den Aufstockungsleistungen nach § 5 Abs. 1, 2 TV ATZ einen zusätzlichen Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 5 Abs. 4 TV ATZ leisten. Dieser zusätzliche Beitrag bemisst sich nach dem Unterschiedsbetrag zwischen 90 % des auf die Beitragsbemessungsgrenze begrenzten fiktiven bisherigen (Brutto-)Entgelts und dem nach § 4 TV ATZ tatsächlich zustehenden (Brutto-)Arbeitsentgelt für die Altersteilzeitarbeit.

21.95

Auch im Zusammenhang mit der Aufstockung der Rentenversicherungsbeiträge sind indes die nach Inkrafttreten des TV ATZ erfolgten Änderungen im ATZG zu den Aufstockungsleistungen zu beachten. Diese führen dazu, dass der TVATZ und das ATZG nicht mehr deckungsgleich sind. Da es für das Vorliegen von Altersteilzeitarbeit auf der Grundlage des ATZG (§ 2 Abs. 1 TV ATZ) erforderlich ist, dass die gesetzlich geforderten Mindestvoraussetzungen erfüllt sind, ist somit wie bei der Aufstockung der Bezüge für Altersteilzeitarbeitsverhältnisse, die nach dem 30.4.2004 begonnen haben, ein Günstigkeitsvergleich erforderlich.

21.96

Nach dem ATZG sind für Beschäftigte, deren Altersteilzeitarbeitsverhältnis nach dem 1.7.2004 begonnen hat, zusätzliche Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung mindestens in Höhe des Beitrags zu entrichten, der auf 80 % des Regelarbeitsentgelts – begrenzt auf den Unterschiedsbetrag zwischen 90 % der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze und dem Regelarbeitsentgelt – entfällt. Regelarbeitsentgelt ist gemäß § 6 Abs. 1 ATZG das auf einen Monat entfallende regelmäßig zu zahlende sozialversicherungspflichtige Arbeitsentgelt, soweit es die Beitragsbemessungsgrenze des SGB III nicht überschreitet, ohne Berücksichtigung der nicht laufend gezahlten Entgeltbestandteile.

21.97

Sobald das Regelarbeitsentgelt dem Arbeitsentgelt iSd. § 4 Abs. 1 TV ATZ entspricht, ergeben sich rechnerisch keine Unterschiede zwischen der gesetzlichen und der tariflichen Regelung.

21.98

176 Vgl. BAG v. 14.10.2008 – 9 AZR 466/07, EzA-SD 2009, Nr. 8, S. 22. 177 Vgl. Kerschbaumer/Rothländer, S. 95 f.; Hoß, ArbRB 2004, 146.

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§ 21 Rz. 21.99

Altersteilzeit

21.99 Berechnung des Aufstockungsbeitrags zur Rentenversicherung (Beispiel 1)178: Bisheriges Bruttoarbeitsentgelt: Bruttoarbeitsentgelt Altersteilzeit (50 %): Regelarbeitsentgelt gemäß § 6 Abs. 1 ATZG: 1. Nach § 5 Abs. 4 TV ATZ: 90 % des bisherigen Entgelts (jedoch höchstens 90 % der Beitragsbemessungsgrenze 2010/West179 = 4.950,00 Euro) ./. Arbeitsentgelt Altersteilzeit Differenz = Bemessungsgrundlage Beitragssatz 19,9 % 2. Mindeststandard nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ATZG: 80 % des Regelarbeitsentgelts (jedoch höchstens Differenz zwischen 90 % der Beitragsbemessungsgrenze 2010/West) Regelarbeitsentgelt fi es bleibt bei 1.480,00 Euro als Bemessungsgrundlage

3.700,00 Euro 1.850,00 Euro 1.850,00 Euro 3.330,00 Euro 1.850,00 Euro 1.480,00 Euro 294,52 Euro 1.480,00 Euro 4.950,00 Euro und 1.850,00 Euro 3.100,00 Euro

21.100 Das Regelarbeitsentgelt wird aufgrund der Nichteinbeziehung nicht laufend gezahlter Entgeltbestandteile jedoch anders als das Arbeitsentgelt iSd. § 4 Abs. 1 TV ATZ berechnet180, so dass sich hinter beiden Begriffen häufig unterschiedlich hohe Beiträge verbergen. Im Gegensatz zum Aufstockungsbetrag für die Altersteilzeitbezüge führt die gesetzliche Neuregelung dazu, dass die Aufstockungsbeiträge für die Rentenversicherung in vielen Fällen höher und damit für den Arbeitnehmer günstiger sind als im Falle der Berechnung nach dem TV ATZ.

21.101 Berechnung des Aufstockungsbeitrags zur Rentenversicherung (Beispiel 2)181: Bisheriges Bruttoarbeitsentgelt: Vergütung für Mehrarbeitsstunden während der Altersteilzeit: Bruttoarbeitsentgelt Altersteilzeit: Regelarbeitsentgelt gemäß § 6 Abs. 1 ATZG: 1. Nach § 5 Abs. 4 TV ATZ: 90 % des bisherigen Bruttoarbeitsentgelts (jedoch höchstens 90 % der Beitragsbemessungsgrenze 2010/West = 4950,00 Euro) ./. Arbeitsentgelt Altersteilzeit Differenz = Bemessungsgrundlage Beitragssatz 19,9 % 2. Mindeststandard nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ATZG: 80 % des Regelarbeitsentgelts (jedoch höchstens Differenz zwischen 90 % der Beitragsbemessungsgrenze 2010/West) Regelarbeitsentgelt

3.000,00 Euro 100,00 Euro 1.600,00 Euro 1.500,00 Euro 2.700,00 Euro 1.600,00 Euro 1.100,00 Euro 218,90 Euro 1.200,00 Euro 4.950,00 Euro und 1.500,00 Euro 3.450,00 Euro

178 Vereinfachte Darstellung; umfangreiche Berechnungsbeispiele bei Drespa/Meyer/Slawik, § 5 TV ATZ. 179 5.500,00 Euro monatlich. 180 Einzelheiten zum Begriff und der Berechnung des Regelarbeitsentgelts im gemeinsamen Rundschreiben der Sozialversicherungsträger vom 9.3.2004 unter Ziffer 2.1.1.2. 181 S. Durchführungshinweise zum Tarifvertrag zur Regelung der Altersteilzeit des Personalamts Hamburg – Stand 21.6.2005.

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Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Rz. 21.105 § 21

fi es bleibt bei 1.200,00 Euro als Bemessungsgrundlage fi Beitragssatz 19,9 % 238,80 Euro fi Der Mindeststandard nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ATZG ist in diesem Beispiel für den Arbeitnehmer günstiger, so dass der Arbeitgeber die Rentenbeiträge um 238,80 Euro aufstocken muss.

Äußerst kompliziert ist die Behandlung von Einmalzahlungen in Bezug auf die Aufstockung der Rentenversicherungsbeiträge. Hierzu ist auf das gemeinsame Rundschreiben der Spitzenorganisationen der Sozialversicherungsträger vom 9.3.2004 zu verweisen.

21.102

c) Steuerliche Behandlung der Aufstockungsleistungen Nach § 3 Nr. 28 EStG sind die Aufstockungsleistungen steuerfrei. Die Steuerfreiheit gilt für die gesamten Aufstockungsleistungen und nicht nur für den gesetzlichen Mindestbetrag nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 ATZG oder die Förderhöchstdauer. Die persönlichen Voraussetzungen nach § 2 ATZG für den Arbeitnehmer müssen jedoch erfüllt sein, dh. Vollendung des 55. Lebensjahres, Halbierung der bisherigen Arbeitszeit etc182. Unerheblich ist auch, ob eine Wiederbesetzung des Arbeitsplatzes und eine Förderung durch die Bundesagentur erfolgen. Ebenfalls unschädlich ist die vorzeitige Beendigung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses183. Um der Gefahr von versteckten Abfindungen zu begegnen, besteht die Steuerfreiheit aber nur, soweit die Aufstockungsbeträge zusammen mit dem während der Altersteilzeit bezogenen Nettoarbeitslohn monatlich 100 % des maßgebenden Arbeitslohns nicht übersteigen184.

21.103

Die tariflichen Aufstockungsleistungen des Arbeitgebers unterliegen mit Ausnahme der zusätzlichen Rentenbeiträge allerdings dem Progressionsvorbehalt gemäß § 32b EStG, erhöhen also den Steuersatz der steuerpflichtigen Einkünfte. Es besteht nach ständiger Rechtsprechung keine allgemeine Verpflichtung des Arbeitgebers zum Ausgleich des Progressionsvorbehalts185. Den Arbeitgeber trifft auch keine Pflicht, den Arbeitnehmer über die Auswirkungen des Progressionsvorbehalts aufzuklären186.

21.104

d) Sozialversicherungsrechtliche Behandlung der Aufstockungsleistungen Die Aufstockungsleistungen nach § 5 Abs. 1 bis 4 TV ATZ sind in voller Höhe sozialversicherungsfrei (§ 1 SvEV187 iVm. § 3 Nr. 28 EStG), auch soweit sie die im ATZG genannten Mindestbeträge oder Förderhöchstdauer überschreiten. Sie sind auch nicht zusatzversorgungspflichtig.

182 183 184 185

FG Niedersachsen v. 14.6.2007 – 11 K 541/06, DStRE 2008, 539. Vgl. LStR 18, LStH 18. LStR 18 Abs. 3 S. 2. BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 61/02, ZTR 2003, 451; v. 1.10.2002 – 9 AZR 298/01, BeckRS 2010, 71476; v. 25.6.2002 – 9 AZR 155/01, ArbRB 2002, 358 = DB 2002, 2491; ArbG Stuttgart v. 3.5.2001 – 15 Ca 6930/00, NZA-RR 2001, 501; BVerwG v. 28.2.2002 – 2 C 16/01, BVerwGE 116, 74; LAG Hessen v. 26.6.2007 – 13 Sa 1977/06, BeckRS 2011, 71328. 186 BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 61/02, ZTR 2003, 451. Die öffentlichen Arbeitgeber weisen jedoch regelmäßig in einem Merkblatt vor Abschluss des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses auf steuerliche und sozialversicherungsrechtliche Auswirkungen hin. 187 Verordnung über die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung von Zuwendungen des Arbeitgebers als Arbeitsentgelt (Sozialversicherungsentgeltverordnung – SvEV) v. 21.12.2006 (BGBl. I 2006, 3385). Die SvEV hat zum 1.1.2007 die Arbeitsentgeltverordnung (ArEV) abgelöst.

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21.105

§ 21 Rz. 21.106

Altersteilzeit

e) Verlängerung und Ermäßigung der Arbeitszeit während der Altersteilzeit

21.106 Fraglich ist, wie sich eine Verlängerung der tarifvertraglichen oder gesetzlichen Arbeitszeit auf die Höhe der Vergütung von Beschäftigten, die sich in der Arbeitsphase188 der Altersteilzeit befinden, auswirkt. In einem „normalen“ Teilzeitarbeitsverhältnis ergeben sich insoweit keine Probleme, weil ohne weiteres die Arbeitszeit entsprechend angepasst werden kann. In einem Altersteilzeitarbeitsverhältnis ist eine solche flexible Handhabung – unabhängig davon, ob es im Block- oder Teilzeitmodell durchgeführt wird – wegen der zwingenden Halbierung der bisherigen Arbeitszeit jedoch nicht möglich. Somit ist fraglich, ob im Falle einer Verlängerung der Arbeitszeit das Arbeitsentgelt entsprechend zu kürzen ist. Vor allem vor dem Hintergrund, dass der TVöD nunmehr eine einheitliche wöchentliche Arbeitszeit von 39 Stunden (§ 6 Abs. 1 Buchst. a TVöD) vorsieht, was für Vollzeitbeschäftigte im Tarifgebiet West eine Erhöhung um eine halbe Stunde und für Vollzeitbeschäftigte im Tarifgebiet Ost eine Verringerung um eine Stunde bedeutet, ist die Beantwortung dieser Frage von großer praktischer Bedeutung.

21.107 Beispiel: – Tarifvertragliche Arbeitszeit bei Abschluss des Altersteilzeitvertrags: 38,5 Stunden – Hälftige Altersteilzeitarbeitszeit: 19,25 Stunden – Gehalt als Vollzeitbeschäftigter: 3.000,00 Euro – Gehalt in Altersteilzeit: 1.500,00 Euro – Tarifvertragliche Arbeitszeit nach Erhöhung: 40 Stunden – Das Verhältnis beträgt somit nun 19,25 zu 40 Stunden, das Entgelt müsste auf 1.443,75 Euro gekürzt werden.

21.108 Eine derartige Entgeltkürzung stellt nach Auffassung des BAG keinen unzulässigen Eingriff in das Austauschverhältnis Arbeit gegen Lohn dar189. Die mit einer Verlängerung der Arbeitszeit verbundene Entgeltkürzung hat darüber hinaus nach Ansicht des BAG auch entsprechende Auswirkungen auf die Aufstockungsleistungen nach § 5 Abs. 2 TVATZ. Diese bemessen sich nach dem bisherigen Arbeitsentgelt, dh. dem Arbeitsentgelt, das der Arbeitnehmer bei bisheriger wöchentlicher Arbeitszeit zu beanspruchen hätte190. Wird das Entgelt aufgrund der Arbeitszeitverlängerung gekürzt, verringert sich somit auch der Mindestnettobetrag für die Aufstockung nach § 5 Abs. 2 TV ATZ entsprechend. Im Rahmen des Blockmodells ist des Weiteren insoweit der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit zu beachten: Die Arbeitszeitänderung muss im Hinblick auf die Änderung des Entgelts und der Aufstockungsleistungen spiegelbildlich in der Freistellungsphase abgebildet werden191. Bei ei-

188 Erfolgt die Verlängerung während der Freistellungsphase, ergeben sich keine Probleme, da das entsprechende Wertguthaben bereits erspart wurde. 189 BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 369/05, NZA 2006, 926; v. 23.1.2007 – 9 AZR 664/05, EzTVöD 700 TV ATZ Nr. 8; aA LAG Köln v. 12.10.2005 – 7 (6) Sa 99/05, BeckRS 2006, 41172; v. 9.11.2005 – 7 (3) Sa 96/05, BeckRS 2006, 41171. 190 BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 369/05, NZA 2006, 926; v. 23.1.2007 – 9 AZR 664/05, AP TVG § 1 Altersteilzeit Nr. 34; Hock/Kramer/Schwerdle, ZTR 2006, 622 (631) mit einem Berechnungsbeispiel. 191 BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 369/05, NZA 2006, 926, EzTVöD 700 TV ATZ Nr. 8; ein Berechnungsbeispiel findet sich bei Kulok, ZTR 2006, 420 (423).

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Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Rz. 21.111 § 21

ner nachträglichen Verkürzung der Arbeitszeit bemisst sich dagegen die Vergütung unverändert nach der ungeminderten Arbeitszeit192. f) Aufstieg während der Altersteilzeit Beschäftigte, die sich in Altersteilzeit befinden, werden nach denselben Grundsätzen wie andere Teilzeitbeschäftigte eingruppiert. Beim Teilzeitmodell ergeben sich bezüglich der Aufstiegsmöglichkeiten keine Abweichungen zu „normalen“ Teilzeitbeschäftigten. Ebenfalls unproblematisch ist der Aufstieg im Blockmodell während der Arbeitsphase. Im Falle eines Bewährungsaufstiegs in der Arbeitsphase kann Vergütung in der höheren Entgeltgruppe erst ab dem Bewährungsaufstieg angespart werden, nicht in der Zeit davor. Mehr kann dann später auch nicht ausgezahlt werden193. Besonderheiten ergeben sich jedoch während der Freistellungsphase194.

21.109

Durch den Eintritt in die Freistellungsphase konnten uU die für die im bzw. außerhalb des BAT/BAT-O vorgesehenen Bewährungs- und Zeitaufstiege erforderlichen Bewährungs- oder Tätigkeitszeiten nicht erreicht werden, so dass weder ein Tätigkeits- noch ein Bewährungsaufstieg möglich war195. Dennoch haben die öffentlichen Arbeitgeber vorgreiflich zu einer tarifvertraglichen Ergänzung die Möglichkeit einer Anrechnung der Freistellungsphase bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen in Aussicht gestellt oder sogar umgesetzt196.

21.110

Im Bereich des TVöD/TV-L gestaltet sich die Rechtslage anders. Laut BAG kann hier eine Höhergruppierung in der Freistellungsphase der Altersteilzeit in Betracht kommen197. Dies ergebe sichaus der Auslegung der Tarifnormen198. Demnach sei der Grundsatz, wonach im Falle der Lohnerhöhung, einem Einfrieren oder einer Kürzung von Zuwendungszahlungen während der Freistellungsphase dasjenige auszuzahlen ist, was der Altersteilzeitarbeitnehmer erarbeitet hat199, keine eigenständige, von tariflichen Regelungen unabhängige Grundlage zur Berechnung von Ansprüchen während der Altersteilzeit. Maßgeblich sei vielmehr die konkrete tarifliche Ausgestaltung der jeweiligen Ansprüche200. Entscheidend für das BAG waren der § 26 Abs. 1 Satz 3 TVÜ-TgDRV und der § 4 Abs. 1 TV ATZ-TgRV201. Denn gemäß § 4 Abs. 1 TV ATZ-TgRV kommt es nur auf die fingierte Arbeitsleistung „entsprechender Teilzeitkräfte“ an, nicht aber auf die tatsächlich erbrachte. Dem steht auch nicht der § 26 Abs. 1 Satz 3 TVÜ-TgDRV entgegen, da diese Vorschrift nicht auf das Blockmodell angewendet werden kann. Denn ein „Ruhen“ des Arbeitsverhältnisses, wie es die Norm fordert, liegt in der Freistellungsphase der Altersteilzeit gerade nicht vor. Dazu müssten beide Haupt-

21.111

192 BAG v. 13.6.2006 – 9 AZR 588/05, ZTR 2006, 664, NZA-RR 2007, 41; v. 23.1.2007 – 9 AZR 664/05, EzTVöD 700 TV ATZ Nr. 8. Nach den DA-Altersteilzeitgesetz der BA ist auch eine Kürzung der Arbeitszeit im Altersteilzeitverhältnis unschädlich (DA 2.2 zu § 2). 193 LAG Berlin-Brandenburg v. 24.2.2011 – 26 Sa 2422/10, BeckRS 2011, 75316. 194 Vgl. Kerschbaumer/Rothländer, S. 79 f. 195 AA Kerschbaumer/Rothländer, S. 79. 196 Vgl. zB Ziffer 3.4. der Durchführungshinweise zum Tarifvertrag zur Regelung der Altersteilzeit (TV ATZ) v. 5.5.1998 – Gem. Runderlass des Finanzministeriums und Innenministeriums NRW – B 4000 – 1.133-25 – 42.06.08 – 71.3. – v. 22.7.2004; Ziffer 4.4 der Durchführungshinweise zum Tarifvertrag Altersteilzeit des Personalamts Hamburg (Stand 21.6.2005). 197 BAG v. 18.9.2018 – 9 AZR 199/18, NJOZ 2019, 522. 198 BAG v. 18.9.2018 – 9 AZR 199/18, NJOZ 2019, 522 (554) Rz. 22. 199 St. Rspr.; zB BAG v. 17.11.2015 – 9 AZR 509/14, öAT 2016, 78. 200 BAG v. 18.9.2018 – 9 AZR 199/18, NJOZ 2019, 522 (554) Rz. 23 f. 201 Für den Bereich des TVöD vgl. den gleichlautenden § 26 TVÜ-Bund und § 4 TV ATZ.

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§ 21 Rz. 21.111

Altersteilzeit

leistungspflichten vollständig suspendiert sein. „Dies trifft auf ein Altersteilzeitarbeitsverhältnis im Blockmodell während der Freistellungsphase, in der weiterhin die Altersteilzeitvergütung zu leisten ist, nicht zu“202.

21.111a Anders gestaltet sich die Rechtslage bei den Bewährungsaufstiegen. Dort kommt es noch immer auf die tatsächlich geleistete Arbeit an203. Widersprüche zu der oben genannten BAGRechtsprechung ergeben sich daraus freilich nicht. Denn bei den Bewährungsaufstiegen geht es um die Bewertung einer tatsächlich erbrachten Arbeitsleistung, wohingegen es bei § 4 Abs. 1 TV ATZ (-TgRV) um die Arbeitsleistung als solche geht204. Inwieweit diese Rechtslage im Bereich des TVöD/TV-L noch gilt, ist zweifelhaft. Der TVöD/TV-L sieht nur noch die Möglichkeit des sog. Stufenaufstiegs vor, der die ununterbrochene Zeit der Tätigkeit voraussetzt (§ 16 Abs. 4 Satz 1 TVöD, § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD-VKA/TV-L). Die Freistellungsphase in der Altersteilzeit gehört nicht gemäß § 17 Abs. 3 Satz 1 TVöD/TV-L zu den für die Stufenlaufzeit anrechenbaren Zeiten. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 17 Abs. 3 Satz 4 TVöD/TV-L, wonach Zeiten, in denen Beschäftigte mit einer kürzeren als der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit eines entsprechenden Vollbeschäftigten beschäftigt waren, voll angerechnet werden, da in der Freistellungsphase keine Teilzeitbeschäftigung vorliegt205, sondern die gegenseitigen Hauptleistungspflichten vollständig suspendiert sind. Dh., dass kein Anspruch auf Stufenaufstieg in der Freistellungsphase besteht206.

21.111b Da inzwischen mit dem TVöD/TV-L neue Tarifverträge vorliegen, die wiederum auf eine explizite Regelung der Frage verzichten, dürften auch die früheren Aussagen von Bund, TdL und VKA obsolet sein. Außerdem widerspricht die Möglichkeit eines Stufenaufstiegs in der Freistellungsphase dem vom BAG in ständiger Rechtsprechung vertretenen Prinzip der Spiegelbildlichkeit207. Es bleibt den Tarifparteien unbenommen, künftig etwas anderes zu vereinbaren208. Solange dies nicht geschehen ist, sind bei der Berechnung des Altersteilzeitentgelts nach § 4 TVATZ sowie der Aufstockungsleistungen nach § 5 TVATZ daher auch keine – fiktiven – Stufenaufstiege zu berücksichtigen209. g) Abfindung bei Rentenkürzung nach § 5 Abs. 7 TV ATZ

21.112 § 5 Abs. 7 TV ATZ gewährt Beschäftigten, die aufgrund eines vorzeitigen Renteneintritts Abschläge bei der Rente in Kauf nehmen müssen, einen Abfindungsanspruch in Höhe von 5 % des Bruttomonatsgehalts, das ihnen zugestanden hätte, wenn sie mit der bisherigen wöchentlichen Arbeitszeit iSd. § 3 Abs. 1 Unterabs. 2 TV ATZ beschäftigt gewesen wären, pro 0,3 % Rentenminderung210. Dabei entschied das LAG Baden-Württemberg, dass § 5 Abs 7 TV ATZ dahingehend auszulegen sei, dass die Rentenminderung auch tatsächlich eingetreten sein

202 203 204 205 206 207 208 209 210

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BAG v. 18.9.2018 – 9 AZR 199/18, NJOZ 2019, 522 (555) Rz. 28. BAG v. 4.5.2010 – 9 AZR 184/09, NZA 2011, 644. BAG v. 18.9.2018 – 9 AZR 199/18, NJOZ 2019, 522 (555) Rz. 27. AA Kerschbaumer/Rothländer, S. 80. Anders jedoch die Auffassung des BMI, vgl. BMI-Rundschreiben v. 13.10.2006 – D II 2 – 220 770-1/18, abrufbar unter www.bmi.bund.de. Drespa/Meyer/Slawik, Tarifliche Zusatzfragen Rz. 7. Vgl. BAG v. 4.10.2005 – 9 AZR 449/04, NZA 2006, 506. AA für die Berechnung des Aufstockungsbetrags nach § 5 TV ATZ Kulok, ZTR 2006, 420 (421). Zu den Einzelheiten der Berechnung vgl. Drespa/Meyer/Slawik, § 5 TV ATZ Rz. 88.

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Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Rz. 21.116 § 21

muss211. Er wird zum Ende der Altersteilzeit gezahlt. Der Arbeitnehmer soll bereits bei Vertragsabschluss auf diesen Anspruch verzichten können. Die Verzichtserklärung soll aber als negatives Schuldanerkenntnis dem tariflichen Schriftformerfordernis (§ 2 Abs. 3 TVöD/ TV-L) unterliegen und daher sowohl vom Arbeitnehmer als auch vom Arbeitgeber unterschrieben werden müssen212. § 5 Abs. 7 TV ATZ ist nicht einschlägig, wenn eine Rückabwicklung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses aufgrund einer vorzeitigen Beendigung der Altersteilzeit nach § 9 Abs. 3 TV ATZ (vgl. Rz. 21.127) erfolgt213. Da die Steuerfreiheit von Abfindungen (§ 3 Nr. 9 EStG aF) zum 1.1.2006 abgeschafft wurde, sind auch Abfindungen nach § 5 Abs. 7 TV ATZ nicht mehr steuerfrei214, jedoch tarifbegünstigt gemäß §§ 24, 34, 39b EStG. Als Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes soll sie indes weiterhin noch sozialversicherungsfrei sein215. Dies erscheint allerdings nicht unproblematisch, da nicht der Verlust des Arbeitsplatzes, sondern die Rentenkürzung abgefunden werden soll.

21.113

7. Nebentätigkeit (§ 6 TV ATZ) Der Arbeitnehmer darf während des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses – unabhängig davon, ob es im Teilzeit- oder im Blockmodell ausgeübt wird – zu keiner Zeit, also auch nicht in der Freistellungsphase, eine Nebentätigkeit ausüben, die die Geringfügigkeitsgrenze des § 8 SGB IV (derzeit 450 Euro) überschreitet. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Nebentätigkeit bereits innerhalb der letzten fünf Jahre vor Beginn der Altersteilzeit ständig, dh. regelmäßig und gleich bleibend, ausgeübt worden ist. Die Regelung knüpft an § 5 Abs. 3 ATZG an und soll verhindern, dass Förderleistungen entfallen216. Hintergrund des Nebentätigkeitsverbotes ist, dass die durch die Altersteilzeit bezweckte Entlastung des Arbeitsmarktes nicht durch Nebentätigkeiten – insbesondere in der Freistellungsphase – unterlaufen werden soll. Ein Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG ist hierin nicht zu sehen.

21.114

Nach § 8 Abs. 3 TV ATZ führt eine unzulässige Nebentätigkeit zwingend dazu, dass der Anspruch auf Aufstockungsleistungen ruht. Folglich liegt für die Dauer des Ruhens keine Altersteilzeit iSd. ATZG vor, und es kann sogar der Rentenzugang nach Altersteilzeit in Gefahr sein217. Ferner ruht nach § 5 Abs. 3 und 4 ATZG auch der Anspruch des Arbeitgebers auf Erstattungsleistungen der Bundesagentur für Arbeit.

21.115

Unabhängig davon sind die tarifvertraglichen Regelungen über Nebentätigkeiten zu beachten. Nach § 3 Abs. 3 TVöD bzw. § 3 Abs. 4 TV-L besteht eine schriftliche Anzeigepflicht mit Verbotsvorbehalt durch den Arbeitgeber, wenn die Nebentätigkeit geeignet ist, die Erfüllung der arbeitsvertraglichen Pflichten oder die berechtigten Interessen des Arbeitgebers zu beeinträchtigen. Sobald daher eine Nebentätigkeit die Geringfügigkeitsgrenze überschreitet und somit ein Verstoß gegen den TV ATZ vorliegt, ist die Nebentätigkeit zu untersagen. Das gilt auch

21.116

211 212 213 214

LAG Baden-Württemberg v. 30.5.2016 – 1 Sa 1/16, BeckRS 2016, 70925. ArbG Cottbus v. 18.1.2006 – 7 Ca 2059/05, AE 2007, 39. LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 10.1.2007 – 3 Sa 210/06, BeckRS 2009, 66538. Für 2006 und 2007 ist allerdings noch die Übergangsregelung des § 52 Abs. 4a S. 1 EStG zu beachten. 215 Drespa/Meyer/Slawik, § 5 TV ATZ Rz. 90; Kerschbaumer/Rothländer, S. 108. 216 Drespa/Meyer/Slawik, § 6 TV ATZ Rz. 1. 217 Drespa/Meyer/Slawik, § 8 TV ATZ Rz. 17.

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§ 21 Rz. 21.116

Altersteilzeit

dann, wenn der öffentlich-rechtliche Arbeitgeber bereits aus anderen Gründen keine Erstattungsleistungen erhält218. 8. Urlaubsansprüche und -abgeltung

21.117 Fragen im Zusammenhang mit Urlaubsansprüchen von Arbeitnehmern im Altersteilzeitarbeitsverhältnis bestimmen sich nach den allgemeinen tariflichen Regelungen (§ 48 MTArb/ MTArb-O, § 41 BMT-G II/BMT-G-O, §§ 26 ff. TVöD/TV-L). Bei einem Altersteilzeitarbeitsverhältnis, das als „Teilzeitmodell“ ausgerichtet ist, ergeben sich keinerlei Besonderheiten gegenüber einem „normalen“ (Teilzeit-)Arbeitsverhältnis.

21.118 Beim Blockmodell besteht während der Arbeitsphase ebenfalls der tarifliche Urlaubsanspruch. In der Freistellungsphase besteht mangels Arbeitspflicht indes auch kein Urlaubsanspruch219. Dies wird in § 7 Satz 1 TV ATZ – deklaratorisch – festgelegt. Für das Übergangsjahr von der Arbeits- in die Freistellungsphase gilt § 7 Satz 2 TV ATZ, wonach dem Arbeitnehmer ein Anspruch auf 1/12 des Jahresurlaubs für jeden vollen Beschäftigungsmonat zusteht. Ergeben sich hierbei Bruchteile, sind sie entsprechend § 48 Abs. 5b BAT, § 48 Abs. 8 Unterabschn. 5 MTArb oder § 26 Abs. 1 Satz 5 TVöD/TV-L zu runden.

21.119 Nach ständiger Rechtsprechung erfolgt bei Eintritt in die Freistellungsphase zu Recht keine Urlaubsabgeltung, wenn ein Resturlaubsanspruch wegen Erkrankung oder anderen Gründen nicht während der Arbeitsphase in Anspruch genommen werden konnte, da das Arbeitsverhältnis in oder nach der Arbeitsphase nicht endet220. Eine analoge Anwendung des § 7 Abs. 4 BUrlG scheidet aus221. In Betracht kommt allenfalls eine Abgeltung als Schadensersatz, wenn der Arbeitgeber verhindert hat, dass der Arbeitnehmer den Urlaub noch in der Arbeitsphase in Anspruch nehmen konnte222. 9. Krankheit und Entgeltfortzahlung (§ 8 Abs. 1 und Abs. 2 TV ATZ)

21.120 § 8 Abs. 1 und Abs. 2 TV ATZ regeln den Anspruch des Arbeitnehmers im Altersteilzeitarbeitsverhältnis auf Aufstockungsleistungen im Falle von Krankheit während der Arbeitsphase. Während der Freistellungsphase besteht ohnehin keine Arbeitspflicht, so dass dort der Arbeitnehmer auch im Falle der Krankheit sein laufendes Altersteilzeitentgelt weiter bezieht und sein Wertguthaben verbraucht223.

21.121 Im Laufe des sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraums gemäß § 22 TVöD/TV-L, § 42 MTArb/MTArb-O werden neben den Altersteilzeitbezügen alle Aufstockungsleistungen wie bisher gezahlt. Nach Ablauf der Entgeltfortzahlung werden nach § 8 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1, 2. Halbs. TV ATZ für die Dauer des jeweiligen Krankengeldzuschusszeitraums, also gemäß 218 AA wohl Zwanziger, RdA 2005, 226 (235). 219 Hock/Klapproth, ZTR 2000, 97 (101); Zwanziger, RdA 2005, 226 (236). 220 BAG v. 15.3.2005 – 9 AZR 143/04, ArbRB 2005, 260 = NZA 2005, 994; v. 10.5.2005 – 9 AZR 196/04, NZA 2005, 1432 (Ls.) = ZTR 2006, 142; v. 16.10.2012 – 9 AZR 234/11, NZA 2013, 575; LAG Baden-Württemberg v. 11.12.2000 – 13 Sa 65/00, AiB 2002, 382; LAG Niedersachsen v. 26.7.2001 – 7 Sa 426/01, BeckRS 2001, 30792543; Hock/Klapproth, ZTR 2000, 97 (101). 221 BAG v. 16.10.2012 – 9 AZR 234/11, NZA 2013, 575; LAG Niedersachsen v. 26.7.2001 – 7 Sa 426/01, BeckRS 2001, 30792543; Zwanziger, RdA 2005, 226 (236). 222 Zwanziger, RdA 2005, 226 (236). 223 Drespa/Meyer/Slawik, § 8 TV ATZ Rz. 4; Zwanziger, RdA 2005, 226 (236 f.).

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Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Rz. 21.124 § 21

§ 22 Abs. 3 TVöD/TV-L von der 7. bis längstens zum Ende der 39. Woche seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit, Aufstockungsleistungen nach § 5 Abs. 1 und 2 TV ATZ, nicht aber solche nach § 5 Abs. 4 und 5 TV ATZ gezahlt224. In diesem Zeitraum fehlt es nämlich an Nettobezügen, so dass eine Berechnung des Mindestnettobetrags nach § 5 Abs. 2 TV ATZ nicht möglich ist. Daher ist in § 8 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 TV ATZ eine eigene Berechnungsgrundlage für Aufstockungsleistungen festgelegt: Die Aufstockungsleistung richtet sich nach dem kalendertäglichen Durchschnitt der in den letzten drei abgerechneten Kalendermonaten nach § 5 Abs. 1 und 2 TVATZ gezahlten Aufstockungsleistungen. Berechnungsbeispiel für einen unter den TVöD/TV-L fallenden Arbeitnehmer (Beschäftigungsdauer 5 Jahre):

21.122

Dauer der Erkrankung: 17.1.2010–30.10.2010 (38 Wochen) Anspruch auf Lohnfortzahlung: 17.1.2010–27.2.2010 (6 Wochen) Anspruch auf Krankengeldzuschuss: 28.2.2010–16.10.2010 (7.–39. Woche) 1. Schritt: Berechnung des täglichen Aufstockungsbetrags anhand der Aufstockungsbeträge in den letzten drei abgerechneten Monaten Oktober 2009 450,00 Euro November 2009 470,00 Euro Dezember 2009 450,00 Euro 1.370,00 Euro Geteilt durch 92 Kalendertage 14,89 Euro 2. Schritt: Berechnung des auszuzahlenden monatlichen Aufstockungsbetrags Februar 2010 14,89 Euro (1 × 14,89 Euro) März 2010 461,59 Euro (31 × 14,89 Euro) April 2010 446,70 Euro (30 × 14,89 Euro) … Oktober 2010 238,24 Euro (16 × 14,89 Euro)

Nach Ablauf des Krankengeldzuschusszeitraums sind keine Aufstockungsleistungen mehr zu zahlen225. Das bedeutet, dass der Arbeitnehmer dann nur noch Krankengeld nach den §§ 44 ff. SGB V erhält226. Eine lang anhaltende Krankheit hat für den Arbeitnehmer somit erhebliche finanzielle Nachteile.

21.123

Ist der Arbeitnehmer während der Arbeitsphase im Blockmodell über den Entgeltfortzahlungszeitraum, also länger als sechs Wochen, krank, so verlängert sich gemäß § 8 Abs. 2 TV ATZ die Arbeitsphase um die Hälfte des Zeitraums der Erkrankung nach Beendigung der Entgeltfortzahlung (Verpflichtung zur Nacharbeit)227. Die Regelung soll sicherstellen, dass während der gesamten Altersteilzeitarbeit im Blockmodell ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorliegt228. Sie kann daher für Zeiten unbezahlten Urlaubs entsprechend angewandt werden229.

21.124

224 Vgl. BAG v. 15.8.2006 – 9 AZR 639/05; LAG Baden-Württemberg v. 27.6.2001 – 3 Sa 13/01, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 8; Conze, Rz. 111; Drespa/Meyer/Slawik, § 8 TV ATZ Rz. 6. 225 LAG Baden-Württemberg v. 27.6.2001 – 3 Sa 13/01, EzBAT TV Altersteilzeit Nr. 8; Drespa/Meyer/Slawik, § 8 TV ATZ Rz. 6. 226 Vgl. Kerschbaumer/Rothländer, S. 102 f. 227 Vgl. auch LAG Rheinland-Pfalz v. 22.12.2005 – 6 Sa 317/05, BeckRS 2006, 43295. 228 Drespa/Meyer/Slawik, § 8 TV ATZ Rz. 14. 229 BAG v. 18.11.2003 – 9 AZR 122/03, BAGE 108, 333 = NZA 2004, 545; v. 27.4.2004 – 9 AZR 18/03, BAGE 110, 208 = ArbRB 2005, 12 = NZA 2005, 821.

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665

§ 21 Rz. 21.125

Altersteilzeit

21.125 Für den Fall, dass aufgrund einer Erkrankung ohne Entgeltfortzahlung kein nahtloser Übergang in die Rente möglich ist, räumt die Protokollerklärung der Tarifvertragsparteien zu § 8 TV ATZ dem Arbeitnehmer einen Anspruch auf Vertragsanpassung der Altersteilzeitvereinbarung ein. Dieser Fall kann etwa eintreten, wenn als Vertragsende nur die Altersrente wegen Altersteilzeitarbeit gemäß § 237 SGB VI in Betracht gekommen wäre. Denn diese Rentenart setzt voraus, dass über mindestens 24 Kalendermonate die bisherige Arbeitszeit auf der Grundlage der Altersteilzeit halbiert worden ist und Aufstockungsleistungen zum Arbeitsentgelt und zur Rentenversicherung gezahlt worden sind. Da dies nach Ablauf des Krankengeldzuschusszeitraums nicht mehr der Fall ist, wäre in diesen Fällen der Zugang zur Altersrente wegen Altersteilzeitarbeit ohne eine entsprechende Vertragsanpassung nicht möglich. 10. Beendigung nach § 9 Abs. 1 und 2 TV ATZ

21.126 Das Altersteilzeitarbeitsverhältnis endet nach § 9 Abs. 1 und Abs. 2 TV ATZ. In Betracht kommen demnach folgende Tatbestände: – Beendigung aufgrund Zeitablaufs (§ 9 Abs. 1 TV ATZ, vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1 ATZG): Entscheidend ist der in der Altersteilzeitvereinbarung festgelegte Zeitpunkt, also in der Regel ein Zeitpunkt zwischen Vollendung des 60. und 65. Lebensjahres230. – Beendigung durch Altersrentenbezug (§ 9 Abs. 2 Buchst. b TV ATZ, vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 3 ATZG), dh. Regelaltersrente (§ 35 SGB VI)231, Altersrente für langjährige Versicherte (§ 36 SGB VI), Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§ 37 SGB VI bzw. § 236a SGB VI)232, (vorzeitige) Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder Altersteilzeit (§ 237 SGB VI, früher § 38 SGB VI)233, Altersrente für Frauen (§ 237a SGB VI, früher § 39 SGB VI)234. – Beendigung durch Anspruch auf ungeminderten Altersrentenbezug (§ 9 Abs. 2 Buchst. a, Halbs. 1 TV ATZ, vgl. auch § 5 Abs. 1 Nr. 2 ATZG): Es reicht aus, dass der Anspruch auf ungeminderten Altersrentenbezug besteht. Hierbei handelt es sich um eine zulässige Zweckbefristung gemäß §§ 21, 15 Abs. 2 TzBfG235. Das bedeutet, dass Altersteilzeitarbeitsverhältnisse Schwerbehinderter aufgrund § 37 iVm. § 236a SGB VI früher als Altersteilzeitarbeitsverhältnisse anderer Arbeitnehmer enden. Die Rechtsprechung sieht hierin jedoch keine unzulässige mittelbare Diskriminierung nach

230 Vgl. auch § 5 Abs. 1 Nr. 1 ATZG. 231 Durch die schrittweise Erhöhung des Eintrittsalters für die Regelarbeitsrente von 2012 an bis 2029 durch das Rentenversicherungs-Altersgrenzenanpassungsgesetz (BGBl. I 2007, 554). beginnend mit dem Jahrgang 1947 ergeben sich auch Auswirkungen für die Dauer der Altersteilzeit, wenn der Arbeitnehmer nach dem 1.1.2012 in Rente geht. Für Arbeitnehmer, die vor dem 1.1.2007 eine Altersteilzeitvereinbarung geschlossen haben, gilt jedoch die Vertrauensschutzregelung des § 236 Abs. 2 SGB VI nF. 232 Vgl. BAG v. 18.11.2003 – 9 AZR 122/03, BAGE 108, 333 = NZA 2004, 545; v. 27.4.2004 – 9 AZR 18/03, BAGE 110, 208 = ArbRB 2005, 12 = NZA 2005, 821; LAG Baden-Württemberg v. 24.4.2006 – 9 Sa 46/05, BeckRS 2006, 30806106. 233 Gilt nur noch für Jahrgänge bis 1951. 234 Gilt nur noch für Jahrgänge bis 1951. 235 BAG v. 27.4.2004 – 9 AZR 18/03, BAGE 110, 208 = ArbRB 2005, 12 = NZA 2005, 821; aA (auflösende Bedingung) LAG Baden-Württemberg v. 24.4.2006 – 9 Sa 46/05, BeckRS 2006, 30806106; Zwanziger, RdA 2005, 226 (228).

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Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Rz. 21.129 § 21

§ 81 Abs. 2 SGB IX236. Eine Klausel im Altersteilzeitvertrag, die eine Beendigung durch die Möglichkeit des Altersrentenbezugs vorsieht, ist auch keine überraschende Klausel iSd. § 305c BGB237. Zu beachten ist indes § 41 Satz 2 SGB VI, wonach eine Vereinbarung, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, zu dem der Arbeitnehmer vor Vollendung des 65. Lebensjahres eine Rente beantragen kann, als dem Arbeitnehmer gegenüber als auf die Vollendung des 65. Lebensjahres abgeschlossen gilt, es sei denn, dass die Vereinbarung innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen oder von dem Arbeitnehmer bestätigt worden ist238. – Beendigung durch sonstige manteltarifliche Beendigungstatbestände (vgl. § 9 Abs. 2 TV ATZ, dh. Eintritt der Erwerbsminderung, Kündigung, Auflösungsvertrag). 11. Vorzeitige Beendigung der Altersteilzeit im Blockmodell nach § 9 Abs. 3 TV ATZ Bei einer vorzeitigen oder ungeplanten Beendigung der Altersteilzeit im Blockmodell entsteht das Problem, dass dem Arbeitnehmer ein Wertguthaben zusteht, das noch nicht abgebaut ist und auch nicht mehr wie ursprünglich vorgesehen abgebaut werden kann. Das BAG hat für diese Konstellation den Begriff des Störfalls geprägt. Die Tarifparteien haben in § 9 Abs. 3 TV ATZ eine mit dem Gleichheitsgrundsatz zu vereinbarende abschließende Regelung für derartige Störfälle getroffen239.

21.127

Störfälle in diesem Sinne können sein:

21.128

– Tod, – Langzeiterkrankungen, – Ausübung einer unzulässigen Nebenarbeit oder Mehrarbeit, – Irrtum bezüglich des Zeitpunkts des Renteneintritts240, – vorzeitige Rente wegen Erwerbsminderung (vgl. § 59 BAT/§ 33 Abs. 2 und 3 TVöD), – Kündigung. a) Arbeitsrechtliche Auswirkungen Nach § 9 Abs. 3 TV ATZ hat der Arbeitnehmer bei einem vorzeitigen Ende des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses Anspruch auf eine etwaige Differenz zwischen den nach §§ 4 und 5 TV ATZ erhaltenen Bezügen und Aufstockungsleistungen und den Bezügen für den Zeitraum seiner tatsächlichen Beschäftigung, die er ohne Eintritt in die Altersteilzeit erzielt hätte. Die Regelung soll den Arbeitnehmer im Falle der vorzeitigen Beendigung (Störfall) so stellen, als sei

236 BAG v. 18.11.2003 – 9 AZR 122/03, BAGE 108, 333 = NZA 2004, 545; v. 27.4.2004 – 9 AZR 18/03, BAGE 110, 208 = ArbRB 2005, 12 = NZA 2005, 821; LAG Baden-Württemberg v. 24.4.2006 – 9 Sa 46/05, BeckRS 2006, 30806106. 237 Vgl. LAG Baden-Württemberg v. 24.4.2006 – 9 Sa 46/05, BeckRS 2006, 30806106. 238 Vgl. ausführlich hierzu Birk, NZA 2007, 244 (247 f.). 239 BAG v. 12.5.2005 – 6 AZR 311/04, NZA 2006, 50. 240 BAG v. 14.10.2003 – 9 AZR 146/03, BAGE 108, 95 = NZA 2004, 860.

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21.129

§ 21 Rz. 21.129

Altersteilzeit

das Altersteilzeitarbeitsverhältnis nicht begründet worden241. Sie greift auch dann ein, wenn der Störfall der vorzeitigen Beendigung erst nach Beginn der Freistellungsphase eintritt. Gegen diese Auslegung spricht nicht etwa die tarifliche Formulierung, wonach der Arbeitnehmer im Rahmen des Blockmodells „beschäftigt wird“, da die Tarifvertragsparteien in § 9 Abs. 3 TV ATZ zwischen „Beschäftigung“ und „tatsächlicher Beschäftigung“ unterscheiden. Hierdurch kommt zum Ausdruck, dass mit „Beschäftigung“ das gewählte Altersteilzeitmodell gemeint ist242. Hiervon abzugrenzen ist die rückwirkende Aufhebung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses. Diese wird nicht in § 9 Abs. 3 TVATZ geregelt.

21.130 Nach der Rechtsprechung des BAG erfolgt die Berechnung eines Wertguthabens im Falle einer vorzeitigen Beendigung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses gemäß § 9 Abs. 3 TV ATZ in drei Schritten243: 1. Schritt: Berechnung der „Hätte-Vergütung“ = fiktive Bruttovergütung in der Arbeitsphase ohne Altersteilzeit 2. Schritt: Berechnung der erhaltenen Bruttovergütung nach §§ 4, 5 TV ATZ (Aufstockung des Arbeitsentgelts, jedoch nicht Aufstockungsleistungen auf die Rentenversicherungsbeiträge nach § 5 Abs. 4 TV ATZ244) 3. Schritt: Differenzberechnung Ergibt sich ein positiver Differenzbetrag, ist dieser an den Arbeitnehmer oder im Falle seines Todes an seine Erben unter Abzug eventuell anfallender Lohnsteuer sowie Sozialversicherungsbeiträge auszuzahlen. Einen negativen Differenzbetrag hat der Arbeitnehmer jedoch nicht an den Arbeitgeber zurückzuzahlen245.

21.131 Beispielsrechnung: Dauer des Altersteilzeitverhältnisses: 4 Jahre (48 Monate; 24 Monate Arbeitsphase; 24 Monate Freistellungsphase) Ursprüngliches Entgelt (brutto) 2.600,00 Euro; Teilzeitentgelt (brutto) 1.300,00 Euro; Aufstockungsbeitrag gemäß § 5 Abs. 1 und 2 TV ATZ 550,00 Euro Beispiel 1: Störfall tritt nach 16 Monaten ein 1. Schritt (Berechnung „Hätte-Vergütung“) 2. Schritt (Berechnung erhaltene Vergütung) + 3. Schritt (Differenz) ./. Guthaben

16 × 2.600,00 Euro 16 × 1.300,00 Euro 16 × 550,00 Euro

= 41.600,00 Euro = 20.800,00 Euro = 8.800,00 Euro 29.600,00 Euro

41.600,00 Euro 29.600,00 Euro 12.000,00 Euro

241 BAG v. 16.3.2004 – 9 AZR 267/03, NZA 2005, 784 (Ls.); v. 18.11.2003 – 9 AZR 270/03, BAGE 108, 345 = ArbRB 2004, 169 = NZA 2004, 1223; v. 12.5.2005 – 6 AZR 311/04, NZA 2006, 50. 242 BAG v. 14.10.2003 – 9 AZR 146/03, BAGE 108, 95 = NZA 2004, 860. 243 BAG v. 14.10.2003 – 9 AZR 146/03, BAGE 108, 95 = NZA 2004, 860; v. 18.11.2003 – 9 AZR 270/03, BAGE 108, 345 = ArbRB 2004, 169 = NZA 2004, 1223; v. 16.3.2004 – 9 AZR 267/03, NZA 2005, 784. 244 BAG v. 18.11.2003 – 9 AZR 270/03, BAGE 108, 345 = ArbRB 2004, 169 = NZA 2004, 1223. 245 BAG v. 14.10.2003 – 9 AZR 146/03, BAGE 108, 95 = NZA 2004, 860.

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Altersteilzeit im öffentlichen Dienst

Beispiel 2: Störfall tritt nach 40 Monaten ein 1. Schritt (Berechnung „Hätte-Vergütung“) 2. Schritt (Berechnung erhaltene Vergütung) + 3. Schritt (Differenz) ./.

Rz. 21.134 § 21

24 × 2.600,00 Euro

62.400,00 Euro

40 × 1.300,00 Euro 40 × 550,00 Euro

52.000,00 Euro 22.000,00 Euro 74.000,00 Euro

62.400,00 Euro 74.000,00 Euro 11.600,00 Euro

b) Steuerliche Behandlung der Wertguthaben Die bereits gezahlten Aufstockungsbeträge (§ 3 Nr. 28 EStG) bleiben weiterhin steuerfrei, dh., sie werden durch die vorzeitige Beendigung der Altersteilzeit rückwirkend steuerpflichtiger Arbeitslohn. Das an den Arbeitnehmer auszuzahlende restliche Wertguthaben ist indes steuerpflichtiger Arbeitslohn, wobei im Rahmen des Lohnsteuerabzugs die Fünftelungsregelung nach § 39b Abs. 3 Satz 9, § 34 EStG Anwendung findet. Die Beitragsanteile des Arbeitgebers an den nachzuzahlenden Beiträgen zur Sozialversicherung sind gemäß § 3 Nr. 62 EStG steuerfrei.

21.132

c) Sozialversicherungsrechtliche Behandlung der Wertguthaben Auch im Störfall bleiben die vom Arbeitgeber bereits gezahlten Aufstockungsbeiträge und zusätzlichen Beiträge zur Rentenversicherung sozialversicherungsfrei gemäß § 1 SvEV iVm. § 3 Nr. 28 EStG. Die Beitragsfreiheit gilt aber nicht für das auszuzahlende Wertguthaben. Vielmehr hat der Gesetzgeber in § 10 Abs. 5 ATZG eine besondere Regelung für die Berechnung der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung getroffen. Für die Beiträge zur Kranken-, Pflege- und gesetzlichen Arbeitslosenversicherung wird auf § 23b Abs. 2 und 3 SGB IV verwiesen. Die Sozialversicherungsbeiträge werden aus der Differenz zwischen dem Teilzeitbruttoentgelt und dem der tatsächlichen Arbeitsleistung entsprechenden Vollzeitbruttoentgelt ermittelt unter Berücksichtigung der für den jeweiligen Sozialversicherungszweig geltenden Beitragsbemessungsgrenze (sog. Summenfelder-Modell)246.

21.133

12. Zusatzversorgung und Altersteilzeit Sowohl im Tarifvertrag über die betriebliche Altersversorgung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (Tarifvertrag Altersversorgung – ATV) vom 1.3.2002, der ua. für die bei der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) versicherten Beschäftigten gilt, als auch in dem für die bei den Kommunalen Zusatzversorgungskassen versicherten Beschäftigten geltenden Altersvorsorge-TV-Kommunal (ATV-K) vom 1.3.2002, die beide rückwirkend zum 1.1.2001 in Kraft getreten sind, sind Sonderregelungen hinsichtlich der Zusatzversorgung im Falle von Altersteilzeit enthalten. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Inanspruchnahme von Altersteilzeit aufgrund der verringerten Bezüge nur geringe Auswirkungen auf die Höhe der Zusatzversorgung hat. Dies wird durch einen besonderen Altersteilzeitfaktor von 1,8 erreicht, durch den die sog. Versorgungspunkte erhöht werden (vgl. § 8 Abs. 2 und § 15 Abs. 2 ATV/ATV-K). Die Beschäftigten werden dadurch so gestellt, als ob sie mit 90 % ihrer bisherigen Arbeitszeit weitergearbeitet hätten. 246 Zu den Einzelheiten des komplizierten Verfahrens mit umfangreichen Berechnungsbeispielen ist auf das gemeinsame Rundschreiben der Sozialversicherungsträger v. 9.3.2004, S. 54 ff. zu verweisen.

Laber

669

21.134

§ 21 Rz. 21.134

Altersteilzeit

Zu den Einzelheiten der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst s. § 27. 13. Übersicht

21.135 Voraussetzungen für Altersteilzeit nach dem ATZG und dem TV ATZ Voraussetzungen Förderung ATZG

Voraussetzungen TV ATZ

Sozialversicherungspflichtige Tätigkeit innerhalb der letzten 5 Jahre vor Beginn der Altersteilzeit, mindestens 1080 Kalendertage Vollendung des 55. Lebensjahres Kein Anspruch

Anspruch ab Vollendung 60. Lebensjahres, sofern keine dringenden dienstlichen bzw. betrieblichen Belange entgegenstehen

Schriftlicher individualrechtlicher Vertrag Keine Mindestdauer explizit (2 Jahre sind jedoch Mindestdauer für Inanspruchnahme der Altersrente nach Altersteilzeit); Höchstdauer 6 Jahre

Mindestdauer 2 Jahre; Höchstdauer 10 Jahre

Beginn vor dem 1.1.2010 Verringerung der bisherigen durchschnittlichen Arbeitszeit auf die Hälfte Weiterhin sozialversicherungspflichtige Tätigkeit Zahlung Regelarbeitsentgelt iSd. § 6 ATZG

Zahlung der Bezüge iSd. § 4 Abs. 1 TV ATZ

Zahlung von Aufstockungsleistungen iSd. § 3 Abs. 1 ATZG

Zahlung von Aufstockungsleistungen iSd. § 5 ATZ

Aufstockung Regelarbeitsentgelt um mindestens 20 %

Aufstockung der Bezüge nach § 4 TV ATZ um 20 % (§ 5 Abs. 1 TV ATZ), jedoch mindestens 83 % des Nettoarbeitsentgelts

Aufstockung der Rentenversicherungsbeiträge mindestens in Höhe des Beitrages, der auf 80 % des Regelarbeitsentgelts, begrenzt auf den Unterschiedsbetrag zwischen 90 % der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze und dem Regelarbeitsentgelt, entfällt, höchstens bis zur Beitragsmessungsgrenze

Aufstockung der Rentenversicherungsbeiträge um den Beitrag der auf den Unterschiedsbetrag zwischen 90 % des auf die Beitragsbemessungsgrenze begrenzten fiktiven bisherigen (Brutto-)Entgelts und dem nach § 4 TV ATZ tatsächlich zustehenden (Brutto-)Arbeitsentgelt für die Altersteilzeitarbeit entfällt.

Neubeschäftigung eines als arbeitslos gemeldeten Arbeitnehmers oder eines zuvor Auszubildenden auf dem durch die Altersteilzeit frei gewordenen Arbeitsplatz Kein Eingreifen des Überforderungsklausel des § 3 Abs. 1 Nr. 3 ATZG

Str. (vgl. Rz. 21.54)

Beendigung durch Anspruch auf Altersrente oder tatsächlicher Rentenbezug Anspruch auf Abfindung bei Rentenabschlag (§ 5 Abs. 7 TV ATZ)

670

Laber

§ 22 Befristetes Arbeitsverhältnis I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . .

22.1

II. Die Befristung durch tarifvertragliche Altersgrenzen . . . . . . .

22.5

1. Sachliche Rechtfertigung der Altersgrenze . . . . . . . . . . . . . . .

22.6

2. Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre . . . . . . . . . .

22.9

3. Vereinbarkeit mit Unionsrecht .

22.11

4. Schriftform bei tarifvertraglicher Altersgrenze . . . . . . . . . . a) Vor dem 1.5.2000 vereinbarte Altersgrenze . . . . . . . . . . . . . b) Seit dem 1.5.2000 vereinbarte Altersgrenze . . . . . . . . . . . . .

22.13

5. Nachweis von Altersgrenzen . . .

22.20

22.12 22.12

III. Die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG . . . . . . . . . . .

22.22

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . .

22.22

2. Bisherige Rechtsprechung des BAG zu § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Wortlaut des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG . . . . . . . . b) Anforderungen an die Haushaltsmittel . . . . . . . . . . . c) Anforderungen an die Beschäftigung . . . . . . . . . . . . d) Bedeutung von § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 . . . . . . . . e) Einordnung der Rechtsprechung des BAG . . . . . . . . . . . f) Weiterführung der Rechtsprechung des BAG . . . . . . . . aa) Haushaltsrechtliche Bestimmung als arbeitsrechtlicher Verweis auf das Haushaltsrecht . . . . . (1) Relevanz des Haushaltsrechts . . . . . . . . . . . . . . . (2) Entnahme der Vergütung aus entsprechend „gewidmeten“ Haushaltsmitteln . . . . . . . . . .

(3) Anforderungen an die haushaltsrechtliche „Widmung“ . . . . . . . . . . bb) Einzelne haushaltsrechtliche Bestimmungen . . . (1) Befristung von Haushaltsstellen . . . . . . . . . . . (2) Befristete Inanspruchnahme „unbefristet“ zur Verfügung stehender Haushaltsmittel . . . . . . . (3) Stellen mit kw-Vermerk . (4) Haushaltsrechtlich „allgemein“ angeordnete Einsparung von Stellen . (5) Prognoseerfordernis . . . . (6) Befristung des Haushaltsgesetzes . . . . . . . . . .

22.50 22.60 22.60

22.65 22.69 22.74 22.77 22.81

IV. Die Vertretung als sachlicher Grund nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . .

22.92

1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . .

22.92

22.26

2. Besonderheiten der „Variante“ der gedanklichen Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22.95

22.27

3. Besonderheiten der „Gesamtvertretung“ im Schuldienst . . . .

22.101

22.28

4. Institutioneller Rechtsmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.105a

22.30

V. Besondere tarifvertragliche Regelungen, § 30 TVöD/TV-L . .

22.106

22.39

1. Verhältnis zum gesetzlichen Befristungsrecht . . . . . . . . . . . .

22.107

2. Kalendermäßig befristete Arbeitsverträge mit Sachgrund . . .

22.108

3. Befristete Arbeitsverträge ohne Sachgrund . . . . . . . . . . . .

22.111

22.25

22.44

22.45 22.46

22.49

4. Probezeit und Kündigung bei befristeten Arbeitsverträgen . . . a) Probezeit und Kündigung . . . b) Kündigung nach Ablauf der Probezeit . . . . . . . . . . . . . . . .

Groeger

22.115 22.115 22.118

671

§ 22

Befristetes Arbeitsverhältnis

VI. Besondere tarifvertragliche Regelungen, §§ 31, 32 TVöD/ TV-L . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22.120

1. Vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit .

22.121

2. Vorübergehende Übertragung einer Führungsposition . . . . . . a) Begriff der Führungsposition b) Besetzung mit externer Führungskraft . . . . . . . . . . . . aa) Führung auf Probe . . . . bb) Führung auf Zeit . . . . . . c) Besetzung mit internen Beschäftigten . . . . . . . . . . . . . VII. Befristung nach dem WissZeitVG . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Institutioneller Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Staatliche Hochschulen . . . . . b) Staatlich anerkannte Hochschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Staatliche Forschungseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . d) Überwiegend staatlich finanzierte Forschungseinrichtungen . . . . . . . . . . . . e) Privatdienstvertrag . . . . . . . .

22.122 22.123 22.124 22.125 22.129 22.133 22.138 22.139 22.140 22.141

5. Drittmittel . . . . . . . . . . . . . . . . .

22.157

6. Zitiergebot . . . . . . . . . . . . . . . . .

22.164

VIII. Befristung nach dem ÄArbVtrG . . . . . . . . . . . . . . . . .

22.165

1. Art der Befristung . . . . . . . . . . .

22.166

2. Befristungsgrund . . . . . . . . . . .

22.167

3. Dauer der Befristung . . . . . . . . a) Mindestdauer . . . . . . . . . . . . b) Höchstdauer . . . . . . . . . . . . . c) Verlängerungen . . . . . . . . . . . d) Mehrere befristete Arbeitsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . .

22.168 22.169 22.170 22.171 22.173

IX. Besondere tarifvertragliche Regelungen, § 30 TV-Ärzte/ § 41 TV-L . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22.174

X. Personalvertretungsrechtliche Besonderheiten . . . . . . . . . . . . .

22.176

1. LPersVG NW . . . . . . . . . . . . . . .

22.176

2. LPVG Brandenburg . . . . . . . . . .

22.180

3. Thür PersVG . . . . . . . . . . . . . . .

22.181

4. LPersVG Rheinland Pfalz . . . . .

22.182

5. LPVG Niedersachsen . . . . . . . . .

22.183

6. LPVG Mecklenburg Vorpommern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22.184

22.150

7. LPVG Baden Württemberg . . . .

22.185

3. Befristungsdauer . . . . . . . . . . . .

22.153

8. MBG Schleswig Holstein . . . . . .

22.186

4. Anrechnung von Beschäftigungszeiten . . . . . . . . . . . . . . . .

22.156

2. Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22.142 22.144 22.147

Schrifttum: Arnold/Gräfl (Hrsg.), TzBfG, 3. Aufl. 2012 (zit.: Arnold/Gräfl/Bearbeiter); Ascheid/Preis/ Schmidt, Kündigungsrecht, 5. Aufl. 2017 (zit.: APS/Bearbeiter); Boecken/Joussen, TzBfG, 6. Aufl. 2019; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, Kommentar zum Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD), Loseblatt, Stand 2019; Dittrich, Kommentar zur Bundeshaushaltsordnung, Loseblatt, Stand Januar 2019; Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag, 2. Aufl. 2011 (zit.: Dörner); Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften, Bader/Fischermeier/Gallner/Weigand (Hrsg.), 12. Aufl. 2019 (zit.: KR/Bearbeiter); Heuer/Scheller, Kommentar zum Haushaltsrecht und der Vorschriften zur Finanzkontrolle, Loseblatt Mai 2019; Laux/Schlachter, Teilzeit- und Befristungsgesetz, 2. Aufl. 2011; Meinel/Heyn/Herms, Teilzeit- und Befristungsgesetz, 5. Aufl. 2015 (zit.: MHH); Preis/Ulber, WissZeitVG, 2. Aufl. 2017; Sievers, Teilzeit- und Befristungsgesetz, 6. Aufl. 2018 (zit.: Sievers); Sponer/Steinherr, Kommentar zum Tarifvertrag für den öffentlicher Dienst (TVöD), Loseblatt, Stand 2019.

672

Groeger

Die Befristung durch tarifvertragliche Altersgrenzen

Rz. 22.5 § 22

I. Einleitung Sowohl § 620 Abs. 3 BGB, wonach für Arbeitsverträge, die auf bestimmte Zeit abgeschlossen werden, das Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) gilt, als auch das TzBfG selbst gelten auch für Arbeitsverträge im öffentlichen Dienst. § 22 Abs. 2 TzBfG setzt die Geltung des TzBfG im öffentlichen Dienst voraus. § 30 Abs. 1 Satz 1 TVöD/TV-L sowie § 30 Abs. 1 Satz 1 TV-Ärzte erkennen diese Geltung deklaratorisch an. Wegen des Inhalts des allgemeinen Befristungsrechts, das nicht Gegenstand dieser Darstellung ist, wird auf die Kommentierungen zum TzBfG verwiesen. Für den öffentlichen Dienst ergeben sich aber in rechtlicher und rechtstatsächlicher Hinsicht Besonderheiten1.

22.1

§ 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG findet ausschließlich im Bereich des öffentlichen Dienstes Anwendung. Der Sachgrund der Vertretung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG in der „Variante“ der gedanklichen Vertretung hat im öffentlichen Dienst erhebliche praktische Bedeutung. Besondere gesetzliche Regelungen über die Befristung von Arbeitsverträgen, die, wie das WissZeitVG und das ÄArbVtrG, vor allem für Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst von Bedeutung sind, bleiben nach § 23 TzBfG durch das TzBfG unberührt.

22.2

Über diese Gesetze hinaus bestehen tarifvertragliche Regelungen über die Befristung von 22.3 Arbeitsverträgen vor allem in den §§ 30, 34 und 35 TVöD/TV-L. Sie ergänzen bzw. modifizieren die Bestimmungen des TzBfG. Einer Anwendbarkeit dieser tarifvertraglichen Regelungen auf Arbeitsverhältnisse außerhalb des öffentlichen Dienstes kraft Vereinbarung im Arbeitsvertrag setzt § 22 Abs. 2 TzBfG Grenzen. Gemäß § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG kann durch Tarifvertrag namentlich die Anzahl der Verlängerungen oder die Höchstdauer der Befristung ohne Sachgrund abweichend von Satz 1 festgelegt werden. Enthält ein Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst Bestimmungen iSd. § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG, so gelten diese Bestimmungen gemäß § 22 Abs. 2 TzBfG zwischen nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern außerhalb des öffentlichen Dienstes bei arbeitsvertraglicher Vereinbarung nur unter der Voraussetzung, dass der Arbeitgeber die Kosten des Betriebes überwiegend mit Zuwendungen im Sinne des Haushaltsrechts deckt. Schließlich sind nach dem Personalvertretungsrecht einiger Länder bei befristeten Arbeitsverträgen besondere Mitbestimmungsrechte des Personalrats zu berücksichtigen.

22.4

II. Die Befristung durch tarifvertragliche Altersgrenzen Nach § 33 Abs. 1 TVöD endet das Arbeitsverhältnis, ohne dass es einer Kündigung bedarf, mit Ablauf des Monats, in dem die/der Beschäftigte das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen der Regelaltersrente vollendet hat. § 33 Abs. 1 TV-L stellt auf das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen einer abschlagsfreien Regelaltersrente ab. Bei Vereinbarungen, nach denen das Arbeitsverhältnis mit der Vollendung eines bestimmten Lebensalters enden soll, handelt es sich um eine kalendermäßige Befristung des Arbeitsverhältnisses2. § 33 Abs. 1 TV-L

1 Zur tatsächlichen Bedeutung befristeter Arbeitsverträge im öffentlichen Dienst s. KR/Lipke, § 620 BGB Rz. 58. 2 BAG v. 19.11.2003 – 7 AZR 296/03, ArbRB 2004, 101 = AP § 17 TzBfG Nr. 3; Arnold/Gräfl/Gräfl, § 14 TzBfG Rz. 193; MHH, § 3 TzBfG Rz. 7.

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22.5

§ 22 Rz. 22.5

Befristetes Arbeitsverhältnis

soll auch dann zur Beendigung eines befristeten Arbeitsverhältnisses führen, wenn dessen vereinbarte Dauer über das Erreichen der Regelaltersgrenze hinausreicht3. 1. Sachliche Rechtfertigung der Altersgrenze

22.6 Nicht nur eine arbeitsvertraglich vereinbarte Altersgrenze bedarf zu ihrer Wirksamkeit eines sachlichen Grundes4, sondern auch tarifvertragliche Altersgrenzen sind unwirksam, wenn es an einem sie rechtfertigenden Sachgrund fehlt5. Denn auch Tarifverträge sind Vereinbarungen iSv. § 22 Abs. 1 TzBfG, durch die ua. von § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG, der das Erfordernis eines Sachgrundes regelt, nicht zuungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden kann.

22.7 Ein sachlicher Grund ergab sich nicht bereits aus der Regelung in § 41 Abs. 4 Satz 2 SGB VI aF6. Da § 41 Satz 1 SGB VI nF bestimmt, dass der Anspruch des Versicherten auf eine Rente wegen Alters kein Grund ist, der die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber nach dem KSchG bedingen kann, kann Satz 2 nicht ohne Weiteres entnommen werden, dass damit die Vereinbarung einer Altersgrenze ermöglicht werden soll. Vielmehr bestimmt § 41 Satz 2 SGB VI nF nur, dass eine einzelvertragliche7 Vereinbarung, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers ohne Kündigung für einen Zeitpunkt vorsieht, zu dem der Arbeitnehmer vor Erreichen der Regelaltersgrenze eine Rente wegen Alters beantragen kann, dem Arbeitnehmer gegenüber als auf das Erreichen der Regelaltersgrenze abgeschlossen gilt, es sei denn, dass die Vereinbarung innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen oder von dem Arbeitnehmer bestätigt worden ist. Über die Wirksamkeit der Befristung ist damit nichts gesagt8. Wortlaut und Systematik sprechen dafür, dass es sich auch hierbei nicht um eine Vorschrift zur sachlichen Rechtfertigung von Befristungen, sondern um eine Norm zum Schutz des Arbeitnehmers handelt, die die Entscheidungsfreiheit des Arbeitnehmers sichern soll, entweder Altersruhegeld zu beziehen oder weiter zu arbeiten. Gleichzeitig soll dem Arbeitnehmer ermöglicht werden, über die Gültigkeit einer vereinbarten Altersgrenze erst in einem Lebensabschnitt zu befinden, in dem er deren Auswirkungen richtig beurteilen kann. Der Arbeitnehmer hat ein Wahlrecht, das er spätestens innerhalb der 3-Wochen-Frist des § 17 TzBfG durch Erhebung einer Klage ausüben muss9.

22.8 In seiner früheren Rechtsprechung hatte das BAG solche Regelungen nicht beanstandet, die eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses für den Fall vorsahen, dass der Arbeitnehmer ein bestimmtes Alter vollendet hat und sich dazu entschließt, das Altersruhegeld auch in Anspruch zu nehmen10. Im Vordergrund der neuen Rechtsprechung des BAG steht die Überlegung, dass Altersgrenzen durch das Bedürfnis des Arbeitgebers an der Sicherung einer ausgewogenen Altersstruktur und einer sachgerechten und berechenbaren Personal- und Nachwuchsplanung sachlich gerechtfertigt sein können, wenn der Arbeitnehmer bei Erreichen dieser Altersgrenze

3 4 5 6 7 8

Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, § 33 TV-L Rz. 5. Dazu Sievers, § 14 TzBfG Rz. 340 ff.; Plander, FS Otto, S. 381, 385 ff. BAG v. 27.7.2005 – 7 AZR 443/04, ArbRB 2006, 38 = AP § 620 BGB Altersgrenze Nr. 27. BAG v. 19.11.2003 – 7 AZR 296/03, ArbRB 2004, 101 = AP § 17 TzBfG Nr. 3. BAG v. 4.11.2015 – 7 AZR 851/13, AP § 15 TzBfG Nr. 8. Gleichwohl ist zu empfehlen, die Klagefrist des § 17 KSchG einzuhalten, s. APS/Backhaus, § 17 TzBfG Rz. 13. 9 ErfK/Rolfs, § 41 SGB VI Rz. 18. 10 BAG v. 1.12.1993 – 7 AZR 428/93, AP § 41 SGB VI Nr. 4; v. 22.6.1994 – 7 AZR 609/93, juris; zu den unterschiedlichen Argumenten des BAG s. zustimmend APS/Backhaus, § 14 TzBfG Rz. 113.

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Die Befristung durch tarifvertragliche Altersgrenzen

Rz. 22.10 § 22

durch den Bezug eines Altersruhegeldes wirtschaftlich abgesichert ist11. Damit ist zwar das Erreichen eines bestimmten Lebensalters für sich genommen kein sachlicher Grund für die Befristung des Arbeitsvertrages. Ist jedoch der Arbeitnehmer durch den Bezug einer gesetzlichen Altersrente wirtschaftlich abgesichert, was beim Erreichen der Regelaltersgrenze in der Regel der Fall ist, muss sein Interesse an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses dem Bedürfnis des Arbeitgebers an der Sicherung einer ausgewogenen Altersstruktur der Belegschaft und einer kalkulierbaren Personal- und Nachwuchsplanung weichen, zumal der ausscheidende Arbeitnehmer seinerseits während seines Arbeitslebens von Altersgrenzenregelungen hinsichtlich seiner Einstellungs- und Beförderungschancen profitiert hat12. Die Wirksamkeit der Altersgrenzenregelung ist nicht von der konkreten wirtschaftlichen Absicherung des Arbeitnehmers bei Erreichen der Regelaltersgrenze abhängig13. Es genügt, dass der Arbeitnehmer bei Vereinbarung der Altersgrenze nach dem Vertragsinhalt und der Vertragsdauer eine gesetzliche Altersrente erwerben kann oder bereits erworben hat14. Auf deren konkrete Höhe soll es ebenfalls nicht ankommen15. Auch dem Gesetzgeber sowie den Tarifvertragsparteien steht insoweit ein Beurteilungsspielraum zu, der sie zu Pauschalierungen und Typisierungen berechtigt, ähnlich wie den Betriebspartnern bei Vereinbarungen über Abfindungen für rentenberechtigte und rentennahe Arbeitnehmer in Sozialplänen16. Die Ärzteversorgung (Versorgungswerk) ist keine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, gewährt jedoch eine der gesetzlichen Rente gleichstehende Altersversorgung, da sie nach § 6 Abs. 1 SGB VI auf Antrag zur Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht führen kann17. 2. Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre Durch Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 20.4.200718 wird die in § 35 SGB VI enthaltene Regelaltersgrenze stufenweise angehoben19. Für Versicherte, die vor dem 1.1.1947 geboren sind, bleibt es gemäß § 235 Abs. 2 Satz 1 SGB VI bei der Regelaltersgrenze von 65 Jahren. Für Versicherte der Jahrgänge 1947 bis 1963 erfolgt gemäß § 235 Abs. 2 SGB VI in der ab 1.1.2008 geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 56 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz eine stufenweise Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre. Während § 35 SGB VI lediglich die Anspruchsvoraussetzungen für die Regelaltersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bestimmt, regelt § 41 SGB VI die Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis.

22.9

Vereinbaren die Arbeitsvertragsparteien die nachträgliche Befristung eines zuvor langjährig unbefristet bestehenden Arbeitsverhältnisses, nachdem der Arbeitnehmer die Regelaltersgrenze erreicht und Anspruch auf gesetzliche Altersrente hat, so soll die Befristung aus in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 6 TzBfG jedenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn die Parteien das Erreichen der Regelaltersgrenze zum Anlass für

22.10

11 BAG v. 19.11.2003 – 7 AZR 296/03, ArbRB 2004, 101 = AP § 17 TzBfG Nr. 3; zur Kritik an der Rspr. s. Nachweise bei APS/Backhaus, § 14 TzBfG Rz. 115. 12 Arnold/Gräfl/Gräfl, § 14 TzBfG Rz. 179. 13 Sievers, § 14 TzBfG Rz. 330; Arnold/Gräfl/Gräfl, § 14 TzBfG Rz. 196. 14 BAG v. 27.7.2005 – 7 AZR 443/04, ArbRB 2006, 38 = AP § 620 BGB Altersgrenze Nr. 27. 15 Arnold/Gräfl/Gräfl, § 14 TzBfG Rz. 196; Sievers, § 14 TzBfG Rz. 334. 16 BAG v. 11.11.2008 – 1 AZR 475/07, NZA 2009, 210. 17 BAG v. 25.10.2017 – 7 AZR 632/15, NZA 2018, 507. 18 BGBl. I, 554. 19 Schrader/Straube, NJW 2008, 1025; Thoms in Tschöpe, Teil 7 C Rz. 1 ff.

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§ 22 Rz. 22.10

Befristetes Arbeitsverhältnis

die Befristungsvereinbarung nehmen und die befristete Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses einer konkreten, im Zeitpunkt der Vereinbarung der Befristung bestehenden Personalplanung des Arbeitgebers dient20. 3. Vereinbarkeit mit Unionsrecht

22.11 Das in der Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf konkretisierte Verbot jeglicher Diskriminierung wegen des Alters steht einer tarifvertraglichen Regelung über die Zwangsversetzung in den Ruhestand nicht entgegen, die als Voraussetzung lediglich verlangt, dass der Arbeitnehmer die im nationalen Recht auf 65 Jahre festgesetzte Altersgrenze für den Eintritt in den Ruhestand erreicht hat und die übrigen sozialversicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bezug einer beitragsbezogenen Altersrente erfüllt, sofern diese Maßnahme objektiv und angemessen ist und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, das in Beziehung zur Beschäftigungspolitik und zum Arbeitsmarkt steht, gerechtfertigt ist und die Mittel, die zur Erreichung dieses im Allgemeininteresse liegenden Ziels eingesetzt werden, nicht als dafür unangemessen und nicht erforderlich erscheinen21. § 10 Satz 1–3 Nr. 5 AGG setzt diese Richtlinie um und steht der Wirksamkeit der in § 33 Abs. 1 TVöD/TV-L enthaltenen Altersgrenze nicht entgegen. 4. Schriftform bei tarifvertraglicher Altersgrenze a) Vor dem 1.5.2000 vereinbarte Altersgrenze

22.12 Da für die Wirksamkeit einer Vereinbarung die Rechtslage bei Vertragsschluss maßgebend ist und weder § 623 BGB in der ab 1.5.2000 geltenden Fassung noch das am 1.1.2001 in Kraft getretene TzBfG Übergangsvorschriften enthalten, sind ihre Bestimmungen nur auf Sachverhalte anzuwenden, die sich in ihren zeitlichen Geltungsbereichen verwirklichen, also nicht auf vor dem 1.5.2000 vereinbarte Altersgrenzen22. b) Seit dem 1.5.2000 vereinbarte Altersgrenze

22.13 Nur für seit dem 1.5.2000 vereinbarte Befristungen von Arbeitsverträgen galt bis 31.12.2000 nach § 623 BGB und gilt seit 1.1.2001 nach § 14 Abs. 4 TzBfG das Schriftformerfordernis. Es erfordert eine von beiden Parteien vor Vertragsbeginn unterzeichnete, einheitliche Vertragsurkunde, die dem Arbeitnehmer zugegangen sein muss23.

22.14 Bei entweder kraft beiderseitiger Tarifbindung oder aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung normativ geltendem Tarifvertrag ist § 14 Abs. 4 TzBfG hingegen nicht anwendbar24. 20 BAG v. 11.2.2015 – 7 AZR 17/13, ArbRB 2015, 65 = NJW 2015, 2682; allg. zur Befristung im Rentenalter Moderegger, ArbRB 2018, 109; Groeger, ZTR 2016, 115. 21 EuGH v. 16.10.2007 – C-411/05, ArbRB 2007, 350 (Palacios) = NJW 2007, 3339; Preis/Sagan/ Preis/Reuter, EuArbR, § 6 Rz. 6.114, 6.121. 22 BAG v. 27.7.2005 – 7 AZR 443/04, ArbRB 2006, 38 = AP § 620 BGB Altersgrenze Nr. 27; APS/ Greiner, § 14 TzBfG Rz. 454b, 458; Sievers, § 14 TzBfG Rz. 602. 23 BAG v. 25.10.2017 – 7 AZR 632/15, NZA 2018, 507; näher APS/Greiner, § 14 TzBfG Rz. 459 f.; s. auch unten Rz. 22.19 a.E. 24 APS/Greiner, § 14 TzBfG Rz. 452 mwN; Arnold/Gräfl/Gräfl, § 14 TzBfG Rz. 384; Sievers, § 14 TzBfG Rz. 599; BAG v. 23.7.2014 – 7 AZR 771/12, AP § 14 TzBfG Nr. 120.

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Die Befristung durch tarifvertragliche Altersgrenzen

Rz. 22.16 § 22

Bei einem nur aufgrund einer Bezugnahme im Arbeitsvertrag anwendbaren Tarifvertrag mit Altersgrenzenregelung differenziert das BAG wie folgt: § 14 Abs. 4 TzBfG ist nicht anwendbar, wenn das Arbeitsverhältnis durch die Bezugnahme insgesamt den Bedingungen eines einschlägigen, eine Altersgrenze enthaltenden Tarifvertrages unterstellt wird25. Werden hingegen im Arbeitsvertrag nur einzelne, den Arbeitnehmer belastende Regelungen in Bezug genommen, gilt § 14 Abs. 4 TzBfG. Erst Recht soll das Schriftformgebot anwendbar sein, wenn der Arbeitsvertrag bestimmte Fragen abweichend vom Tarifvertrag regelt oder bestimmte Regelungen des Tarifvertrages von der Bezugnahme ausnimmt, das Arbeitsverhältnis also nicht insgesamt dem einschlägigen Tarifvertrag unterstellt. Dies ist zumindest dann abzulehnen, wenn der Arbeitsvertrag zugunsten des Arbeitnehmers von tarifvertraglichen Inhalts- oder Beendigungsnormen abweicht. Problematisch könnten AT-Verträge im öffentlichen Dienst sein, die idR auch von den tarifvertraglichen Arbeitszeitregelungen zulasten der Beschäftigten abweichen. Unabhängig hiervon stellt sich die Frage, ob bei einem nur kraft Bezugnahme im Arbeitsvertrag anwendbaren Tarifvertrag bereits die schriftlich vereinbarte Bezugnahmeklausel für sich allein den Anforderungen des § 14 Abs. 4 TzBfG genügt26. Nach einer verbreiteten Ansicht soll dem Schriftformerfordernis nur dann Genüge getan sein, wenn entweder der schriftliche Arbeitsvertrag einen ausdrücklichen Hinweis auf die tarifvertragliche Befristungsbestimmung enthält oder die in Bezug genommene Befristungsregelung des Tarifvertrages mit dem Arbeitsvertrag körperlich fest verbunden oder die Zusammengehörigkeit dieser Schriftstücke in anderer geeigneter Weise zweifelsfrei kenntlich gemacht wird27. Nach Ansicht des BAG spricht viel dafür, dass die allgemeine Bezugnahmeklausel in einem schriftlichen Arbeitsvertrag dem Schriftformerfordernis des § 14 Abs. 4 TzBfG nicht genügt28.

22.15

Hinweis: Es ist zu empfehlen, die altersbedingte Beendigung des Arbeitsvertrages sowie andere, § 14 Abs. 4 TzBfG unterfallende Vereinbarungen (s. § 21 TzBfG iVm. § 33 Abs. 2 TVöD/TV-L) ausdrücklich in den Arbeitsvertrag aufzunehmen, wenn das Arbeitsverhältnis damit nicht insgesamt dem einschlägigen Tarifvertrag unterstellt wird29.

Die besseren Gründe sprechen jedoch für die Ansicht, dass die Bezugnahme in einem schriftlichen Arbeitsvertrag auf einen Tarifvertrag, der, wie der TVöD/TV-L, eine Altersgrenze enthält, für sich allein dem Schriftformerfordernis genügt. Zwar schützen § 623 BGB bzw. § 14 Abs. 4 TzBfG, anders als das Schriftformerfordernis des § 1 Abs. 2 TVG, den Arbeitnehmer auch vor Übereilung. Neben dieser Warnfunktion hat das Schriftformerfordernis aber auch Klarstellungs- und Beweisfunktion. Bereits anhand eines schriftlichen Arbeitsvertrages mit Bezugnahme auf den TVöD/TV-L lässt sich ohne Weiteres nachvollziehen, ob und mit welchem Inhalt eine Befristung vereinbart wurde. Allerdings ist einzuräumen, dass dem Arbeitnehmer hierdurch nicht unmittelbar vor Augen geführt wird, dass er lediglich ein befristetes Arbeitsverhältnis eingeht und er damit nicht den Bestandsschutz eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses genießt30. Abgesehen davon, dass die beteiligten Verkehrskreise einen Arbeitsvertrag, der (erst) mit dem Eintritt in das gesetzliche Rentenalter endet, abweichend von der Rechtsprechung des BAG eher als unbefristetes Arbeitsverhältnis ansehen, wird der Warnfunktion auch dann hinreichend Rechnung getragen, wenn die Altersgrenze nicht unmittelbar aus dem 25 26 27 28

BAG v. 23.7.2014 – 7 AZR 771/12, AP § 14 TzBfG Nr. 120. So Arnold/Gräfl/Gräfl, § 14 TzBfG Rz. 386 mwN; Dörner, Rz. 83. So APS/Greiner, § 14 TzBfG Rz. 458 mwN; Sievers, § 14 TzBfG Rz. 600. BAG v. 23.7.2014 – 7 AZR 771/12, AP § 14 TzBfG Nr. 120; anders BAG v. 21.9.2011 – 7 AZR 134/10, ArbRB 2012, 40 = NZA 2012, 271; offen BAG v. 1.12.2004 – 7 AZR 135/04, AP § 59 BAT Nr. 13. 29 So auch APS/Greiner, § 14 TzBfG Rz. 458b. 30 Zum unterschiedlichen Bestandsschutz s. BAG v. 20.2.2002 – 7 AZR 600/00, NJW 2002, 2660.

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22.16

§ 22 Rz. 22.16

Befristetes Arbeitsverhältnis

Arbeitsvertrag ersichtlich ist. Angesichts der Üblichkeit von Altersgrenzen im Arbeitsleben, gerade in Tarifverträgen, ist eine explizite Erwähnung im oder gar eine körperliche Verbindung mit dem Arbeitsvertrag mE nicht erforderlich.

22.17 Vor einer überraschenden Klausel, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses an die vorzeitige Erlangung einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung knüpft, schützt bereits das AGB-Recht31. Danach sind aber weder die Vereinbarung der Regelaltersgrenze als Beendigungszeitpunkt32 noch die Vereinbarung der für den öffentlichen Dienst maßgeblichen Tarifverträge als solche überraschende Klauseln33. Auch den Umstand, dass sich eine Altersgrenze in einer „Versorgungszusage“ befindet, hat das BAG nicht als überraschend angesehen34. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass mit dem typischen Arbeitsvertrag des öffentlichen Dienstes eine Vertragsurkunde vorliegt, die dem Arbeitnehmer deutlich vor Augen führt, dass sich die Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis im Wesentlichen gerade nicht aus dem Arbeitsvertrag ergeben, sondern dass das Arbeitsverhältnis weitgehend auf eine außerhalb der Urkunde tarifrechtlich geregelte Grundlage gestellt wird. Wenn der von § 623 BGB, § 14 Abs. 4 TzBfG bezweckten Warnung des Arbeitnehmers vor dem Abschluss eines – sogar auf die unmittelbare Beendigung seines Arbeitsvertrages abzielenden – Auflösungsvertrages durch Abschluss eines schriftlichen Geschäftsführerdienstvertrages auch ohne ausdrückliche dahingehende Regelung entsprochen wird35, können an die Vereinbarung einer Altersgrenze, die oft erst Jahrzehnte später zum Tragen kommt, auch unter Hinweis auf die Warnfunktion keine strengeren Anforderungen gestellt werden.

22.18 Probleme im Hinblick auf das Schriftformerfordernis könnten sich jedoch aus der – kritisch zu betrachtenden36 – Rechtsprechung des BAG zur nachträglichen schriftlichen Niederlegung einer zunächst mündlich, zB im Vorstellungsgespräch, vereinbarten Befristung eines Arbeitsvertrages37 ergeben. Beispiel: A bewirbt sich auf eine Stellenanzeige der Stadt B, in der für das Arbeitsverhältnis als Informatiker auf den TVöD (VKA) hingewiesen wird. Im Auswahlverfahren ist A der geeignetste Bewerber und erhält am Ende des abschließenden Vorstellungsgesprächs die mündliche Einstellungszusage für einen Arbeitsvertrag (also befristet) nach TVöD zuzüglich einer individuellen Leistungszulage, 5 Tagen mehr Urlaub pro Jahr und einem Verzicht der Stadt B auf das Direktionsrecht. A tritt die Stelle vereinbarungsgemäß am 1. Juni an, erhält aber den schriftlichen Arbeitsvertrag erst eine Woche später, den er am folgenden Tag unterschrieben zurückgibt.

Vereinbaren die Parteien vor Vertragsbeginn zunächst nur mündlich die Befristung des Arbeitsvertrages und halten sie diese mündliche Befristungsabrede in einem nach Vertragsbeginn unterzeichneten Arbeitsvertrag schriftlich fest, ist die mündlich vereinbarte Befristung nach § 14 Abs. 4 TzBfG, § 125 Satz 1 BGB nichtig und es entsteht nach Ansicht des BAG 31 BAG v. 8.8.2007 – 7 AZR 605/06, AP § 21 TzBfG Nr. 4. 32 BAG v. 6.8.2003 – 7 AZR 9/03, AP § 133 BGB Nr. 51. 33 BAG v. 17.10.2007 – 4 AZR 778/06, AP § 15 BAT-O Nr. 4; vgl. auch BAG v. 23.6.2004 – 7 AZR 440/03, ArbRB 2004, 362 = AP § 17 TzBfG Nr. 5 zur – nicht überraschenden – auflösenden Bedingung bei Bewilligung einer vom Arbeitnehmer nicht beantragten unbefristeten Rente wegen verminderter Erwerbsunfähigkeit. 34 BAG v. 6.8.2003 – 7 AZR 9/03, AP § 133 BGB Nr. 51. 35 BAG v. 19.7.2007 – 6 AZR 774/06, ArbRB 2007, 318 = NJW 2007, 3228. 36 APS/Greiner, § 14 TzBfG Rz. 477c ff.; Bahnsen, NZA 2005, 676; Sievers, § 14 TzBfG Rz. 583 ff. 37 BAG v. 1.12.2004 – 7 AZR 198/04, ArbRB 2005, 162 = NJW 2005, 2333; v. 16.3.2005 – 7 AZR 289/04, NJW 2005, 3595; v. 13.6.2007 – 7 AZR 700/06, ArbRB 2008, 36 = AP § 14 TzBfG Nr. 39.

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Die Befristung durch tarifvertragliche Altersgrenzen

Rz. 22.19 § 22

bei Vertragsbeginn ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Die spätere schriftliche Niederlegung der zunächst mündlich vereinbarten Befristung soll nicht dazu führen, dass die formnichtige Befristung rückwirkend wirksam wird. Dadurch könne allenfalls das bei Vertragsbeginn nach § 16 Satz 1 TzBfG entstandene unbefristete Arbeitsverhältnis nachträglich befristet werden. Hierzu seien allerdings auf die Herbeiführung genau dieser Rechtsfolge gerichtete Willenserklärungen der Parteien erforderlich. Daran fehle es in der Regel, wenn die Parteien nach Vertragsbeginn lediglich eine bereits zuvor mündlich vereinbarte Befristung in einem schriftlichen Arbeitsvertrag niederlegen, weil sie hierdurch im Allgemeinen nur das zuvor Vereinbarte schriftlich festhalten und keine eigenständige rechtsgestaltende Regelung treffen wollten38. Eine verständige Würdigung der im Zuge der Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses wechselseitig abgegebenen mündlichen Erklärungen muss zwischen Wissens- und Willenserklärungen unterscheiden. Informiert ein öffentlicher Arbeitgeber einen Arbeitnehmer in einem Einstellungsgespräch über Arbeitsbedingungen, gibt er in der Regel noch keine rechtsgeschäftlichen Erklärungen ab39. Wenn der Arbeitnehmer in der Anbahnung auf die vorgesehene Befristung des Arbeitsvertrages hingewiesen wird, handelt es sich dabei um eine sachgerechte Unterrichtung, die auch nicht dadurch den Charakter einer Willenserklärung erlangt, dass der Arbeitnehmer sich damit – oft nolens volens – einverstanden erklärt. Ferner ist zu berücksichtigen, dass, auch wenn lediglich die Befristungsvereinbarung und nicht der gesamte befristete Arbeitsvertrag der Schriftform bedarf, die Befristung eines Arbeitsvertrages in der Regel weder ohne diesen noch und erst recht nicht zeitlich vor diesem, sondern in derselben juristischen Sekunde wie dieser vereinbart wird. Auch der befristete Arbeitsvertrag kommt durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen zustande40. Erst der Arbeitsvertrag ist Verpflichtungstatbestand und Rechtsgrund für die Erbringung der Arbeit41. Ein Vertrag, der noch keine Verpflichtung zur Arbeitsleistung begründet, ist kein Arbeitsvertrag. Folglich ist eine Vereinbarung, die nur die Bedingungen des erst noch abzuschließenden Arbeitsvertrages wiedergibt, selbst aber noch keine Verpflichtung zur Arbeitsleistung begründet, kein Arbeitsvertrag42. Auch in der Übermittlung eines noch nicht unterzeichneten Vertrages liegt noch kein rechtsgeschäftliches Angebot auf Abschluss eines Arbeitsvertrages mit diesem Inhalt43. Auch ein Vorvertrag ist kein Arbeitsvertrag44. Jedenfalls der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes will mit Abschluss eines schriftlichen Arbeitsvertrages auch der entsprechenden ihm nach § 2 Abs. 1 TVöD/TV-L obliegenden Verpflichtung nachkommen, so dass die mündliche Vereinbarung der Befristung eines Arbeitsvertrages mangels Vorliegen eines (schriftlichen) Arbeitsvertrages im Stadium der Bewerberauswahlgespräche auf eine den tatsächlichen Verhältnissen nicht entsprechende juristische Fiktion hinausläuft. Im Beispiel hilft auch die Rechtsprechung des BAG nicht, wonach jedenfalls dann, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer vor Vertragsbeginn einen von ihm bereits unterzeichneten schriftlichen Arbeitsvertrag mit der Bitte um Rücksendung eines un38 39 40 41

Der Rechtsprechung zustimmend Dörner, Rz. 87 ff. BAG v. 23.5.2007 – 10 AZR 295/06, ArbRB 2007, 264 = NZA 2007, 940. BAG v. 11.4.2000 – 9 AZR 94/99, juris; ebenso v. 5.12.1957 – 1 AZR 594/56, BAGE 5, 161. BAG v. 11.4.2000 – 9 AZR 94/99, juris; v. 31.7.2002 – 7 AZR 181/01, ArbRB 2003, 5 = AP § 4 TzBfG Nr. 2; MüKo BGB/Müller-Glöge, § 611 BGB Rz. 158. 42 BAG v. 31.7.2002 – 7 AZR 181/01, ArbRB 2003, 5 = AP § 4 TzBfG Nr. 2; v. 27.7.2005 – 7 AZR 488/04, ArbRB 2006, 35 = AP § 308 BGB Nr. 2. 43 LAG Berlin v. 3.1.2004 – 6 Sa 2239/03, juris. 44 BAG v. 27.7.2005 – 7 AZR 488/04, ArbRB 2006, 35 = AP § 308 BGB Nr. 2; HWK/Thüsing, § 611 BGB Rz. 28; MüKo BGB/Müller-Glöge, § 611 BGB Rz. 629; LAG Hamm v. 29.7.2003 – 5 Sa 828/03, NZA 2004, 210.

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22.19

§ 22 Rz. 22.19

Befristetes Arbeitsverhältnis

terzeichneten Exemplars übersendet, ein dem Schriftformerfordernis des § 14 Abs. 4 TzBfG entsprechender befristeter Arbeitsvertrag nur dann vorliegt, wenn der Arbeitnehmer den Vertrag unterzeichnet. Durch die Arbeitsaufnahme wird ein Arbeitsverhältnis in diesem Fall nicht begründet, weil der Arbeitgeber in einem solchen Fall sein Angebot auf Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrags von der Rückgabe des unterzeichneten Arbeitsvertrags abhängig macht45. 5. Nachweis von Altersgrenzen

22.20 Der Arbeitgeber muss nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 NachwG bei befristeten Arbeitsverhältnissen46 auch die vorhersehbare Dauer des Arbeitsverhältnisses schriftlich nachweisen. Diese Angabe kann nach § 2 Abs. 3 NachwG nicht durch einen Hinweis auf einschlägige Tarifverträge ersetzt werden. Insoweit genügt die reine Bezugnahme auf einen Tarifvertrag mit einer Altersgrenze auch dann nicht den gesetzlichen Anforderungen, wenn dieser kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit oder Allgemeinverbindlicherklärung normativ gilt (s. Rz. 22.14 f.). Die Verpflichtung zur Erteilung eines schriftlichen Nachweises kann auch nachträglich, insbesondere nach Beginn des Arbeitsverhältnisses, erfüllt werden. Hatte das Arbeitsverhältnis bereits bei Inkrafttreten des Gesetzes am 28.6.1995 bestanden, so ist eine § 2 NachwG entsprechende Niederschrift nach § 4 NachwG nur auf Verlangen des Arbeitnehmers binnen zwei Monaten auszuhändigen.

22.21 Versäumt ein Arbeitnehmer die Klagefrist des § 17 TzBfG deswegen, weil der Arbeitgeber seine Verpflichtung aus § 2 NachwG verletzt hat, kommt eine nachträgliche Zulassung der Klage nur unter den strengen, in § 5 KSchG genannten Voraussetzungen in Betracht. Unter Umständen kann der Arbeitnehmer im Wege des Schadensersatzanspruches verlangen, so gestellt zu werden, wie er stünde, wenn der Arbeitgeber seiner Verpflichtung aus § 2 Abs. 1 Nr. 3 NachwG ordnungsgemäß nachgekommen wäre47. Diese Frage ist von erheblicher praktischer Relevanz, weil § 17 TzBfG iVm. § 7 KSchG auch einen etwaigen Verstoß gegen Formvorschriften erfasst48. Hinweis: Es empfiehlt sich, Beschäftigte rechtzeitig vor Eintritt in das gesetzliche Renteneintrittsalter auf das Ende des Arbeitsverhältnisses schriftlich hinzuweisen.

III. Die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG 1. Einleitung

22.22 Der Gesetzgeber wollte mit dem in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG geregelten Sachgrund an die bisherige Rechtsprechung anknüpfen49. Darüber besteht im Schrifttum Einverneh-

45 BAG v. 16.4.2008 – 7 AZR 1048/06, NZA 2008, 1184. 46 Zum Begriff des befristeten Arbeitsvertrages iSv. Art. 8 Abs. 2 der RL 91/533/EWG s. EuGH v. 18.12.2008 – C-306/07, NZA 2009, 95. 47 BAG v. 5.11.2003 – 5 AZR 469/02, ArbRB 2004, 42 = AP § 3 NachwG Nr. 3; v. 5.11.2003 – 5 AZR 676/02, AP § 2 NachwG Nr. 7. 48 BAG v. 4.5.2011 – 7 AZR 252/10, ArbRB 2011, 330 = MDR 2012, 291; APS/Backhaus, § 17 TzBfG Rz. 12; DFL/Schüren, § 17 TzBfG Rz. 13; Dörner, Rz. 813. 49 BT-Drucks. 14/4374, S. 19.

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Die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG

Rz. 22.24 § 22

men50. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG stimmt wörtlich mit § 57b Abs. 2 Nr. 2 HRG (aF) überein51. Diese inzwischen außer Kraft getretene Vorschrift mag daher für den Gesetzgeber gewissen „Modellcharakter“ gehabt haben52. Mit § 57b Abs. 2 Nr. 2 HRG (aF) wollte der Gesetzgeber seinerzeit die Befristung von Arbeitsverhältnissen aufgrund haushaltsrechtlicher Erwägungen erleichtern und erweitern53. Deswegen wurde nach Inkrafttreten des TzBfG überwiegend kritisch angemerkt, dass die Möglichkeiten zum Abschluss befristeter Arbeitsverträge nach dem Wortlaut des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG wesentlich weiter gehen als nach den von der früheren Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen54. Die Rechtspraxis hat jedoch inzwischen eine Reihe von Entscheidungen des BAG seit 2006 zu beachten, wonach der Anwendungsbereich der Norm dennoch eher gering ist. Ausgehend vom Wortlaut und der systematischen Stellung des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG gilt es, den telos der Norm zu ermitteln und dabei im Auge zu behalten, dass die daraus gewonnenen Auslegungsergebnisse auch mit höherrangigem Recht, also Verfassungs- und Unionsrecht, vereinbar sind.

22.23

Hinweis: Das BAG hat weiter Zweifel, ob § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG mit Unionsrecht vereinbar ist55 und hält es für möglich, dass eine Privilegierung des öffentlichen Dienstes gegenüber der Privatwirtschaft gegen Art. 3 GG verstößt56. Eine Entscheidung des EuGH liegt nicht vor und steht derzeit nicht an. In den Schlussanträgen im Verfahren Rs. C-313/10 kam der Generalanwalt zu dem Ergebnis, dass § 5 Nr. 1 der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung in Bezug auf die Beurteilung des Vorliegens eines „sachlichen Grundes“ einer Differenzierung zwischen dem öffentlichen Sektor und dem Privatsektor entgegenstehe und zu allgemein sei, um die Anforderungen zu erfüllen, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs an die sachlichen Gründe gestellt werden. Außerdem sei die Vereinbarkeit von § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG mit § 8 Nr. 3 EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung zweifelhaft, wenn damit im nationalen Recht eine für den gesamten öffentlichen Sektor geltende Regel eingeführt worden sei, obwohl das nationale Recht vor Erlass der RL 1999/70/EG diesen Grund allenfalls für einen Teil des öffentlichen Sektors vorgesehen hatte57.

Nach der bereits vor Inkrafttreten des TzBfG ergangenen Rechtsprechung des BAG konnten im Bereich des öffentlichen Dienstes haushaltsrechtliche Gründe die Befristung eines Arbeitsvertrags wegen eines nur vorübergehenden betrieblichen Bedarfs rechtfertigen, wenn der öffentliche Arbeitgeber zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses aufgrund konkreter Tatsachen die Prognose erstellen konnte, dass für die Beschäftigung des Arbeitnehmers Haushaltsmittel nur vorübergehend zur Verfügung stehen58. Ausreichend für die Prognose des öffentlichen Arbeitgebers war grundsätzlich, dass die Vergütung des befristet eingestellten Arbeitnehmers aus einer konkreten Haushaltsstelle erfolgte, die von vornherein nur für eine bestimmte Zeitdauer bewilligt worden war und anschließend fortfallen sollte. An dieser Rechtsprechung hat das 50 Unklar ist jedoch, ob an die Rechtsprechung zum HRG oder an die für Befristungen außerhalb des HRG angeknüpft werden sollte, vgl. Meinel, Anm. zu AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 1 und Greiner, Anm. zu EzA § 14 TzBfG Nr. 34. 51 Dazu Arnold/Gräfl/Gräfl, § 14 TzBfG Rz. 220 f.; Sievers, § 14 TzBfG Rz. 357. 52 Dörner, Rz. 198, 205; Arnold/Gräfl/Gräfl, § 14 TzBfG Rz. 201; APS/Backhaus, § 14 TzBfG Rz. 100. 53 BT-Drucks. 10/2283, S. 6; BAG v. 24.1.1996 – 7 AZR 342/95, NZA 1996, 1036. 54 Arnold/Gräfl/Gräfl, § 14 TzBfG Rz. 220; APS/Backhaus, § 14 TzBfG Rz. 99 mwN. 55 BAG v. 23.5.2018 – 7 AZR 16/17, ZTR 2019, 50; Sievers, § 14 TzBfG Rz. 360; Arnold/Gräfl/Gräfl, § 14 TzBfG Rz. 222. 56 BAG v. 9.3.2011 – 7 AZR 728/09, ArbRB 2011, 295 = MDR 2012, 104; s. aber § 1, Rz. 1.180. 57 S. BeckOK BGB/Fuchs/Plum, 49. Ed. 1.2.2019, § 620 BGB Rz. 31. 58 BAG v. 24.1.2001 – 7 AZR 208/99, EzA § 620 BGB Nr. 173.

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22.24

§ 22 Rz. 22.24

Befristetes Arbeitsverhältnis

BAG auch nach Inkrafttreten des TzBfG zu dem Sachgrund aus § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TzBfG ausdrücklich festgehalten59. Insoweit geht das BAG davon aus, dass haushaltsrechtliche Gründe für eine Befristung des Arbeitsvertrages nicht nur unter § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG, sondern auch unter Nr. 1 fallen können60. 2. Bisherige Rechtsprechung des BAG zu § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG

22.25 Nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG liegt ein sachlicher Grund für die Befristung eines Arbeitsverhältnisses vor, wenn der Arbeitnehmer – aus Haushaltsmitteln vergütet wird, die haushaltsrechtlich für eine befristete Beschäftigung bestimmt sind, und – entsprechend beschäftigt wird. a) Der Wortlaut des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG

22.26 Der Wortlaut könnte nach Ansicht des BAG eine Deutung zulassen, nach der es ausreichend wäre, dass die Haushaltsmittel nur allgemein für die Beschäftigung von Arbeitnehmern im Rahmen von befristeten Arbeitsverträgen vorgesehen sind. Ein Sachgrund für die Befristung eines Arbeitsverhältnisses läge dann bereits vor, wenn in allgemeiner Form für den Abschluss von befristeten Arbeitsverträgen Haushaltsmittel bereitgestellt würden und der befristet beschäftigte Arbeitnehmer aus diesen Haushaltsmitteln vergütet wird61. Die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG wären also bereits dann erfüllt, wenn die Rechtsvorschriften über die Ausbringung der Haushaltsmittel allgemein ihre Verwendung für die Vergütung von befristet beschäftigten Arbeitnehmern anordnen würden. Weitere Vorgaben hinsichtlich der im Rahmen der befristeten Arbeitsverhältnisse auszuübenden Tätigkeiten wären entbehrlich. Der befristet beschäftigte Arbeitnehmer könnte mit sämtlichen im Bereich der öffentlichen Verwaltung anfallenden Tätigkeiten betraut werden. Der Relativsatz „die haushaltsrechtlich für eine befristete Beschäftigung bestimmt sind“ kann aber auch dahingehend verstanden werden, dass mit dem Merkmal der befristeten Beschäftigung nicht die zeitbestimmte Vertragsform des Arbeitsverhältnisses, sondern die befristete Arbeitsaufgabe des Arbeitnehmers bezeichnet wird62. In diesem zuletzt genannten Sinne versteht das BAG den Relativsatz. b) Anforderungen an die Haushaltsmittel

22.27 Der Sachgrund des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG erfordert die Vergütung des Arbeitnehmers aus Haushaltsmitteln, die nach der Rechtsprechung des BAG mit einer konkreten Sachregelung auf der Grundlage einer nachvollziehbaren Zwecksetzung versehen worden sein müs59 BAG v. 16.10.2008 – 7 AZR 360/07, NZA 2009, 676; v. 2.9.2009 – 7 AZR 162/08, NZA 2009, 1257; nicht erwähnt in BAG v. 23.5.2018 – 7 AZR 16/17, NZA 2018, 1549. 60 So auch LAG Düsseldorf v. 23.9.2008 – 8 Sa 784/08, juris; ebenso Sievers, § 14 TzBfG Rz. 387 ff.; kritisch Schaub/Koch, Arbeitsrechts-Handbuch, § 40 Rz. 38. 61 So zB die Titelgruppen F 427 09 der Einzelpläne des Haushaltsplans des Bundeshaushalts 2008 („Entgelte für Arbeitskräfte mit befristeten Arbeitsverträgen …“) – im Einzelplan des Haushalts für das BAG waren hierfür im Jahre 2008 insgesamt 200.000 Euro veranschlagt, beim BSG waren es 268.000 Euro, beim BGH hingegen nur 98.000 Euro. 62 BAG v. 18.10.2006 – 7 AZR 419/05, ArbRB 2007, 73 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 1.

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Die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG

Rz. 22.29 § 22

sen. Die für die Vergütung verfügbaren Haushaltsmittel müssen für eine Aufgabe von nur vorübergehender Dauer vorgesehen sein63. Die Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG liegen danach nicht vor, wenn Haushaltsmittel lediglich allgemein für die Beschäftigung von Arbeitnehmern im Rahmen von befristeten Arbeitsverhältnissen bereitgestellt werden (s. Rz. 22.26). Dies folge aus der Auslegung des Gesetzes unter Berücksichtigung seiner Entstehungsgeschichte sowie unter der gebotenen Beachtung der verfassungsrechtlichen und gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben. Da § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG voraussetzt, dass die Haushaltsmittel im Haushaltsplan konkret für die Beschäftigung von Arbeitnehmern in befristeten Arbeitsverhältnissen bestimmt sind, ergibt sich nach Auffassung des BAG aus dem Vermerk im Haushaltsplan, dass eine bestimmte Anzahl von Stellen einer Entgeltgruppe zu einem späteren Zeitpunkt wegfallen soll (kw-Vermerk), keine tätigkeitsbezogene Zweckbestimmung für eine Aufgabe von vorübergehender Dauer64. Eine auf haushaltsrechtliche Gründe nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG gestützte Befristung setzt nicht voraus, dass bereits bei Abschluss des befristeten Arbeitsvertrags Haushaltsmittel in einem Haushaltsgesetz ausgebracht sind, aus denen die Vergütung des befristet beschäftigten Arbeitnehmers während der gesamten Laufzeit des befristeten Arbeitsvertrags bestritten werden kann. Es genügt vielmehr, wenn bei Vertragsschluss aufgrund konkreter Umstände eine dahingehende Prognose gerechtfertigt ist65. Eine Befristung, die sich über das Haushaltsjahr hinaus erstreckt, ist jedoch nicht nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG gerechtfertigt, wenn bei Vertragsschluss keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der künftige Haushaltsplan erneut ausreichende Haushaltsmittel für die befristete Beschäftigung des Arbeitnehmers bereitstellen wird66. c) Anforderungen an die Beschäftigung Der Sachgrund erfordert darüber hinaus den überwiegenden Einsatz des befristet beschäf- 22.28 tigten Arbeitnehmers entsprechend der Zwecksetzung der bereitstehenden Haushaltsmittel. Dabei sind die Umstände bei Vertragsschluss maßgeblich. Dies gilt auch für die Frage, ob der Arbeitnehmer aus den Haushaltsmitteln vergütet worden ist. Wird später festgestellt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich nicht aus den bei Vertragsschluss verfügbaren Haushaltsmitteln vergütet oder entsprechend der Zwecksetzung der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel beschäftigt wird, kann dies ein Indiz dafür sein, dass der Befristungsgrund in Wirklichkeit nicht gegeben, sondern nur vorgeschoben ist. Es obliegt in diesem Fall dem Arbeitgeber, die vom Vertrag abweichende Handhabung zu erklären67. Dass im Rahmen des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG der überwiegende Einsatz des befristet beschäftigten Arbeitnehmers entsprechend der Zwecksetzung der bereitstehenden Haushaltsmittel genügt, ist mit dem Wortlaut der Vorschrift nicht zu vereinbaren68. Das BAG knüpft insoweit an seine Rechtsprechung zur Drittmittelfinanzierung an69. Jedoch weicht der Wortlaut

63 64 65 66

BAG v. 18.10.2006 – 7 AZR 419/05, ArbRB 2007, 73 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 1. BAG v. 23.5.2018 – 7 AZR 16/17, NZA 2018, 1549. Zust. Sievers, § 14 TzBfG Rz. 366. BAG v. 22.4.2009 – 7 AZR 743/07, ArbRB 2009, 292 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 9 m. Anm. Groeger. 67 BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2. 68 Kritisch auch Greiner, Anm. zu EzA § 14 TzBfG Nr. 34. 69 BAG v. 15.2.2006 – 7 AZR 241/05, ZTR 2006, 509 Rz. 14.

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22.29

§ 22 Rz. 22.29

Befristetes Arbeitsverhältnis

von § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG von § 2 Abs. 2 WissZeitVG70 ab und deckt diese Auslegung gerade nicht. Richtig ist daher, dass eine Änderung der Aufgabe während der Befristung ein Indiz dafür sein kann, dass die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG nur vorgeschoben gewesen sein könnte. Entscheidend ist, dass der befristet Beschäftigte „entsprechend“ der haushaltsrechtlichen Bestimmung der Haushaltsmittel, aus denen die Vergütung erfolgt, beschäftigt wird. d) Bedeutung von § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005

22.30 Ein Großteil der Entscheidungen des BAG zu § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG betreffen Befristungen, die im Rahmen von § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 vereinbart worden waren71. Nach dieser Bestimmung des Haushaltsgesetzes 2004/2005 für das Land Nordrhein-Westfalen72 konnten Planstellen und Stellen für Zeiträume, in denen Stelleninhabern vorübergehend keine oder keine vollen Dienstbezüge zu gewähren waren, im Umfang der nicht in Anspruch genommenen Planstellen- oder Stellenanteile für die Beschäftigung von Aushilfskräften in Anspruch genommen werden73.

22.31 § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 stellte zwar selbst keine Haushaltsmittel für die Einstellung von befristet beschäftigten Arbeitnehmern bereit, sondern enthielt lediglich eine an die Verwaltung gerichtete Ermächtigung für die Beschäftigung von Aushilfskräften. Der Betrag der hierfür zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel ergab sich erst aus der Zuordnung zu dem/den im maßgeblichen Haushaltszeitraum vorübergehend abwesenden Planstellen- und Stelleninhaber(n), die von der Verwaltung vorgenommen wurde. Dennoch erkannte das BAG an, dass es sich dabei um eine haushaltsrechtliche Bestimmung iSd. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG handelt. Die betragsmäßige Ausweisung der für die befristete Beschäftigung zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel im Haushaltsplan ist nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG, anders als nach § 57b Abs. 2 Nr. 2 HRG (aF)74, nicht erforderlich. Es ist für das Merkmal der Haushaltsmittel vielmehr ausreichend, wenn die Planstellen und Stellen, bei denen die Voraussetzungen des § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 erfüllt waren, durch die Landesverwaltung vor dem Abschluss des befristeten Arbeitsvertrags in nachvollziehbarer Form – regelmäßig durch einen Aktenvermerk – festgestellt wurden. Hierdurch standen die nach § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 für die Verwendung durch die Landesverwaltung verfügbaren Haushaltsmittel fest75.

22.32 Das Merkmal der Aushilfskraft iSd. § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 orientiert sich zwar nach Ansicht des BAG an den Sachgründen des vorübergehenden Bedarfs an der Arbeitsleistung sowie der Vertretung eines anderen Arbeitnehmers. Beides sind Aufgaben von vorübergehender Dauer, die als Sachgründe für die befristete Beschäftigung in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3 TzBfG anerkannt sind. Die für die Aushilfskraft iSd. § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 geltenden Anforderungen müssen allerdings nicht den Anforderungen an die Sachgründe in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 oder 3 TzBfG genügen, da ansonsten der Sachgrund des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG keine eigenständige Bedeutung hätte. Deshalb können die nach § 7 Abs. 3 HG NW 70 71 72 73 74

Wissenschaftszeitvertragsgesetz v. 12.4.2007, BGBl. I, 506; dazu Löwisch, NZA 2007, 479. Vgl. Dörner, FS Otto, S. 55, 66 f. Vgl. auch § 6 Abs. 8 HG NW 2008. Vgl. Heuer/Scheller/Bolte, § 49 BHO Rz. 3. BAG v. 24.1.1996 – 7 AZR 342/95, NZA 1996, 1036, wonach es allerdings unerheblich war, ob die Mittel summenmäßig oder in Form befristeter Planstellen ausgewiesen waren. 75 BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 13.

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Die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG

Rz. 22.35 § 22

2004/2005 an den Begriff des Aushilfsangestellten zu stellenden Anforderungen hinter den Voraussetzungen der genannten Sachgründe zurückbleiben76. Sie müssten aber noch eine dem verfassungsrechtlichen Untermaßverbot und den unionsrechtlichen Anforderungen genügende Befristungskontrolle ermöglichen. Dies erfordere einen erkennbaren Zusammenhang zwischen der Abwesenheit des Planstellen- oder Stelleninhabers und der Beschäftigung des Aushilfsangestellten. Ansonsten ginge die Orientierung der von dem Begriff der Aushilfskraft iSd. § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 umfassten Tätigkeiten zu den Sachgründen des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3 TzBfG verloren77. Nach Ansicht des BAG liegt eine Beschäftigung als Aushilfskraft iSd. § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 vor, wenn die haushaltsmittelbewirtschaftende Dienststelle hierdurch entweder einen Mehrbedarf bei sich oder in einer Dienststelle ihres nachgeordneten Geschäftsbereichs abdeckt oder einen betrieblichen Bedarf in der Dienststelle ausgleicht, der der vorübergehend abwesende Planstellen- oder Stelleninhaber angehört. Mit diesem Inhalt genüge die Vorschrift den an eine ausreichende haushaltsrechtliche Zwecksetzung zu stellenden Anforderungen78. Der Arbeitskräftebedarf könne somit entweder auf einen Anstieg der Arbeitsmenge im Bereich der haushaltsmittelbewirtschaftenden Dienststelle oder bei einer ihr nachgeordneten Dienststelle zurückzuführen sein oder der Abdeckung eines auf der Abwesenheit eines Planstellen- oder Stelleninhabers beruhenden betrieblichen Bedarfs dienen.

22.33

Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 sollen hingegen nach Ansicht des BAG nicht vorliegen, wenn der befristet beschäftigte Arbeitnehmer nicht in der Dienststelle des vorübergehend abwesenden Planstelleninhabers, sondern in einer anderen Dienststelle im Bereich der haushaltsmittelbewirtschaftenden Dienststelle zur Abdeckung eines durch die Abwesenheit eines anderen Arbeitnehmers entstandenen Bedarfs eingesetzt wird. In diesem Fall soll es an dem für § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 erforderlichen Zusammenhang zwischen dem Fehlen des Planstellen- oder Stelleninhabers und der Beschäftigung des neu eingestellten Arbeitnehmers fehlen79.

22.34

Weder aus § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG noch aus § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 folgt, dass die Befristung auf den Zeitpunkt erfolgen muss, bis zu dem Haushaltsmittel für eine befristete Beschäftigung zur Verfügung stehen. Das als „finanzielle Kongruenz“ bezeichnete80 Merkmal ist in § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 nicht enthalten. Vielmehr steht es im Ermessen der haushaltsmittelbewirtschaftenden Dienststelle, ob sie von der Möglichkeit einer auf die vorübergehend zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel gestützten befristeten Einstellung überhaupt Gebrauch macht („können … in Anspruch genommen werden“). Dieser Freiraum umfasst auch die Dauer der Beschäftigung der Aushilfskraft. Das Erfordernis einer finanziellen Kongruenz folgt auch nicht aus einer verfassungsrechtlich oder unionsrechtlich gebotenen Auslegung der haushaltsrechtlichen Bestimmung81. Anders als bei dem Sachgrund des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TzBfG muss sich die Prognose des Arbeitgebers nicht darauf beziehen, dass die Arbeitsmenge nach Ablauf des befristeten Arbeitsvertrags wieder mit dem nach dem Stellenplan verfügbaren Stammpersonal bewältigt werden kann. Es genügt vielmehr, dass der

22.35

76 77 78 79 80 81

Sievers, § 14 TzBfG Rz. 375. BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 16. BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 14. BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 20. LAG Düsseldorf v. 21.12.2005 – 12 Sa 1303/05, LAGE § 14 TzBfG Nr. 25. BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 22.

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§ 22 Rz. 22.35

Befristetes Arbeitsverhältnis

Mehrbedarf voraussichtlich während der Dauer des befristeten Arbeitsvertrags bestehen wird82.

22.36 Jedoch können Haushaltsmittel, die durch das Ausscheiden des Planstellen- oder Stelleninhabers aus dem Dienst- oder Arbeitsverhältnis, zB durch Erreichen der Altersgrenze, frei werden, nach § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 nicht mehr für die Begründung eines befristeten Aushilfsarbeitsverhältnisses eingesetzt werden. Aushilfskräfte iSd. § 7 Abs. 3 HG NW 2004/ 2005 konnten demnach ungeachtet eines etwaigen unbefristeten oder zeitlich weitergehenden tatsächlichen Bedarfs an der Arbeitsleistung nur in dem Umfang eingestellt werden, in dem Mittel aus zeitweilig nicht in Anspruch genommenen Planstellen oder Planstellenanteilen vorhanden waren. § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 ermöglichte daher nur eine Beschäftigung bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Planstellen- oder Stelleninhaber unter Wiederaufnahme der Zahlung von Bezügen seine Tätigkeit fortsetzt83.

22.37 Einerseits soll eine rechtliche und fachliche Austauschbarkeit der Aushilfskraft mit dem vorübergehend abwesenden Planstellen- oder Stelleninhaber, anders als bei einer Variante der Befristung zur Vertretung84, nicht erforderlich sein. Wenn das BAG jedoch formuliert, dass es vielmehr ausreichend ist, wenn der Beschäftigte Aufgaben wahrnimmt, die ansonsten einem oder mehreren anderen Arbeitnehmern der Dienststelle übertragen worden wären, die dem Arbeitsbereich des vorübergehend abwesenden Planstellen- oder Stelleninhabers angehören85, wirft es damit allerdings mehr Fragen auf, als es sie beantwortet.

22.38 Schließlich soll nach Ansicht des BAG ein Mehrbedarf iSd. Rechtsprechung zu § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 dann nicht mehr vorliegen, wenn der öffentliche Arbeitgeber von einem dauerhaften Anstieg der Arbeitsmenge ausgeht und auf organisatorische Maßnahmen zur Anpassung der Stellenausstattung an den Bedarf, wie zB das Einwerben von neuen Stellen, die Verlagerung von Stellen von anderen Dienststellen oder der Umorganisation des Arbeitsablaufs verzichtet86. e) Einordnung der Rechtsprechung des BAG

22.39 Den ersten Entscheidungen des BAG war gemeinsam, dass die Erwägungen zu § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG im Kontext zur haushaltsrechtlichen Bestimmung des § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 standen. Grundlegende Bedeutung für das Verständnis von § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG hat daher die sorgfältige Unterscheidung, mit welchen Ausführungen das BAG zur Frage Stellung nimmt, welchen Anforderungen eine haushaltsrechtliche Bestimmung wie zB. § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 genügen muss, um iVm. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG eine Befristung rechtfertigen zu können und welche Ausführungen sich auf die Frage beziehen, welchen Anforderungen des höherrangigen Rechts der Begriff der haushaltsrechtlichen Bestimmung iSv. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG genügen muss.

22.40 Wenn die in § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 vorgesehene Einstellung von Aushilfskräften eine ausreichende haushaltsrechtliche Zwecksetzung iSv. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG darstellt, 82 BAG v. 7.5.2008 – 7 AZR 198/07, AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 8, Rz. 17; Sievers, § 14 TzBfG Rz. 369. 83 BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 23. 84 Vgl. BAG v. 15.2.2006 – 7 AZR 232/05, NJW 2006, 1238; dazu Groeger, ArbRB 2008, 65. 85 BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 19. 86 BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 18.

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Groeger

Die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG

Rz. 22.42 § 22

die eine nur vorübergehende Beschäftigung des aus den verfügbaren Haushaltsmitteln vergüteten Arbeitnehmers zulässt, heißt dies zwar, dass immer dann, wenn die Voraussetzungen dieser Vorschrift (oder zB des § 6 Abs. 8 HG NW 2013) vorliegen, eine Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG gerechtfertigt ist. Es bedeutet aber nicht, dass nur dann eine Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG gerechtfertigt sein kann. Vielmehr sind auch andere haushaltsrechtliche Bestimmungen denkbar, die sich nicht an einem der Sachgründe der Nrn. 1 oder 3 orientieren und eine Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG gleichwohl ermöglichen. Das folgt auch daraus, dass die nach den allgemeinen Wertungsmaßstäben des Befristungsrechts anerkannten Sachgründe zur Rechtfertigung von Befristungen durch die erleichterten Befristungsmöglichkeiten des HRG nicht etwa verdrängt, sondern lediglich ergänzt worden sind87. Das gilt folglich auch für die im Wortlaut an § 57b Abs. 2 Satz 2 HRG aF anknüpfende Bestimmung des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG. Wer dies anders sieht, nimmt den gesetzgeberischen Willen nicht ernst, der mit § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG an die bisherige Rechtsprechung anknüpfen und nicht lediglich einen Befristungstatbestand schaffen wollte, der sich an den Befristungsgründen der § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3 TzBfG „orientiert“ und lediglich die Prüfung dieser Voraussetzungen quasi „um einige Pegelstriche zurücknimmt“88. Dafür, dass mit § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG lediglich ein Sachgrund „light“ iSd. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3 TzBfG zur Verfügung gestellt werden sollte, geben weder Wortlaut und Systematik des Gesetzes noch die Gesetzgebungsgeschichte Anhaltspunkte her. Entgegen der Ansicht der 6. Kammer des LAG Berlin-Brandenburg stellt § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG daher keinen Unterfall zu Nr. 1, der einem Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes die Prognose durch den Hinweis auf haushaltsrechtliche Vorgaben erleichtern kann, dar89. Dem BAG ist daher zuzustimmen, dass § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG eigenständige Bedeutung hat. Daraus folgt zugleich, dass die oben (Rz. 22.31 ff.) wiedergegebenen Ausführungen sich auf § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 und nicht auf § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG beziehen. Wenn das BAG feststellt, dass § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 selbst keine Haushaltsmittel für die Einstellung von befristet beschäftigten Arbeitnehmern bereitstellt, sondern eine an die Verwaltung gerichtete Ermächtigung enthält, Aushilfskräfte befristet zu beschäftigen, und sich der Betrag der hierfür zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel erst aus der von der Verwaltung vorzunehmenden Zuordnung zu dem/den im maßgeblichen Haushaltszeitraum vorübergehend abwesenden Planstellen- und Stelleninhaber(n) ergibt90, ist danach zu fragen, ob dies eine über die Regelung des § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 hinausgehende allgemeine Bedeutung für die Auslegung des Begriffs der „haushaltsrechtlichen Bestimmung“ iSv. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG hat. Je weniger der Haushaltgeber selbst regelt und je mehr Entscheidungsspielräume dem Haushaltsvollzug überlassen bleiben sollen (s. auch § 1, Rz. 1.252 ff.), umso höhere Anforderungen sind an die Bestimmtheit der haushaltsrechtlichen Ermächtigungsnorm zu stellen.

22.41

Wenn das BAG verlangt, dass der Sachgrund des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG zwar die Vergütung des Arbeitnehmers aus Haushaltsmitteln erfordere, die mit einer konkreten Sachregelung auf der Grundlage einer nachvollziehbaren Zwecksetzung versehen sind, und die Befristung nach dieser Vorschrift als zulässig ansieht, wenn die Verwaltung eine Zuordnung zu einem im maßgeblichen Haushaltszeitraum vorübergehend abwesenden Planstellen- und Stelleninhaber vornimmt und die Vergütung aus einem Haushaltstitel entnimmt, der an sich

22.42

87 88 89 90

BAG v. 17.1.2007 – 7 AZR 81/06, juris. So (in anderem Zusammenhang) Thüsing, Kirchliches Arbeitsrecht, 2006, S. 20. LAG Berlin-Brandenburg v. 16.3.2007 – 6 Sa 2102/06, LAGE § 14 TzBfG Nr. 35. BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 13.

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§ 22 Rz. 22.42

Befristetes Arbeitsverhältnis

nicht für die Vergütung von Beschäftigten mit befristeten Arbeitsverträgen bestimmt ist, sofern sie dazu durch eine haushaltsrechtliche Bestimmung wie zB § 7 Abs. 3 HG NW 2004/ 2005 ermächtigt ist91, bestätigt dies, dass höhere Anforderungen an die Bestimmtheit der haushaltsrechtlichen Ermächtigungsnorm zu stellen sind, wenn die Verwaltung im Haushaltsvollzug zu einer „Umwidmung“ ermächtigt wird. Das BAG hält das gesetzgeberische Anliegen des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG nur für plausibel, wenn dem öffentlichen Arbeitgeber von einem Haushaltsgesetzgeber Vorgaben gemacht werden, die er selbst nicht oder nur in beschränktem Umfang beeinflussen kann92.

22.43 Wenn das BAG in der Subsumtion formuliert, dass das beklagte Land unstreitig gestellt hatte, „dass die Klägerin weder arbeitsvertraglich noch tatsächlich entsprechend der im Haushaltsplan ausgewiesenen Zwecksetzung beschäftigt worden ist“, ist es verfehlt, darin eine Durchbrechung des Grundsatzes zu sehen, dass der Befristungsgrund bei der Zeitbefristung im Arbeitsvertrag nicht benannt werden muss93. Auch der Sachgrund für die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG bedarf weder einer Vereinbarung noch unterliegt er dem Schriftformerfordernis des § 14 Abs. 4 TzBfG94. f) Weiterführung der Rechtsprechung des BAG

22.44 Sowohl die Ermächtigung in § 7 Abs. 3 HG NW 2004/200595 als auch § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG tragen zunächst dem von der Rechtsprechung des BAG jedenfalls seit 1999 anerkannten Umstand Rechnung, dass der öffentliche Arbeitgeber – anders als ein privater Arbeitgeber – keine Verpflichtung eingehen darf, die haushaltsrechtlich nicht gedeckt ist96. Die Bezugnahme ua. auf die grundlegende, eine „kopernikanische Wende“ darstellende Entscheidung vom 7.7.1999 im Urteil vom 14.2.2007 widerlegt die Annahme, dass das BAG vermeintliche „Ausuferungen“ seiner Rechtsprechung habe aufgeben wollen97. Im Bereich des öffentlichen Dienstes gilt damit ein grundsätzliches Verbot mit Erlaubnisvorbehalt: Es ist haushaltsrechtlich verboten, Verpflichtungen einzugehen, es sei denn, die Eingehung neuer Verpflichtungen ist durch haushaltsrechtliche Ermächtigungen gedeckt. Im Bereich des Bundes galt von Anfang der 90er Jahre bis vor wenigen Jahren das strikte haushaltsrechtliche Gebot, in einem bestimmten Prozentsatz Stellen einzusparen98. In einigen Ländern existieren eigens Gesetze, die den Personalüberhang in der öffentlichen Verwaltung regeln99. Die haushaltsrechtliche Bewilligung neuer (Plan-)Stellen war daher die seltene Ausnahme. Deshalb war in weiten Teilen des öffentlichen Dienstes nur noch die befristete Einstellung von Personal haushaltsrechtlich legitimiert, es sei denn, dass frei gewordene und nicht mit einem kw-Vermerk versehene (Plan-)Stellen zur Verfügung standen. In diesem Kontext ist der Inhalt von § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG zu würdigen.

91 92 93 94 95 96

BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 13. BAG v. 9.3.2011 – 7 AZR 728/09, ArbRB 2011, 295 = MDR 2012, 104. AA jedoch Greiner, Anm. zu EzA § 14 TzBfG Nr. 34. BAG v. 28.9.2016 – 7 AZR 549/14, ZTR 2017, 108. BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 17. BAG v. 7.7.1999 – 7 AZR 609/97, NZA 2000, 591; v. 24.1.2001 – 7 AZR 208/99, EzA § 620 BGB Nr. 173; v. 24.10.2001 – 7 AZR 542/00, ArbRB 2002, 99 = NZA 2002, 443. 97 So aber Greiner, Anm. EzA § 14 TzBfG Nr. 34 unter IV. 1. 98 ZB §§ 22 Abs. 1 HG 1993, 22 Abs. 1 HG 2013 (von der Benennung der Normen der Haushaltsgesetze des Bundes von 1994 bis 2013 wird aus Platzgründen abgesehen). 99 Gesetz über das Personaleinsatzmanagement – PEMG NW v. 19.6.2007, GV NW 2007, 242.

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Groeger

Die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG

Rz. 22.48 § 22

aa) Haushaltsrechtliche Bestimmung als arbeitsrechtlicher Verweis auf das Haushaltsrecht § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG verlangt, dass die Haushaltsmittel „haushaltsrechtlich“ für eine befristete Beschäftigung bestimmt sind.

22.45

(1) Relevanz des Haushaltsrechts Das Gesetz erkennt damit an, dass haushaltsrechtliche Bestimmungen für die Befristung von 22.46 Arbeitsverträgen überhaupt relevant sein können. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Denn wenn ein Haushaltsplan Haushaltsmittel in bestimmter Höhe für Entgelte für Arbeitskräfte (mit befristeten Arbeitsverträgen) bereitstellt, erschöpft sich – außer der Bereitstellung der Mittel – sein Regelungsgehalt zunächst regelmäßig darin, dass diese Mittel (nur für befristete Arbeitsverträge) nur bis zur Höhe des Haushaltsansatzes in Anspruch genommen werden dürfen. Zugleich liegt darin das haushaltsrechtliche Verbot, die Haushaltsmittel zweckwidrig zu verwenden, also zB. aus Haushaltsmitteln für Arbeitskräfte mit befristeten Arbeitsverträgen das Entgelt für eine Arbeitskraft mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag zu entnehmen. Folglich darf ein befristeter Arbeitsvertrag, für den ein Sachgrund zwar erforderlich, aber bei Abschluss des Arbeitsvertrages nicht erkennbar ist und bei dem die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2, 2a oder 3 TzBfG nicht vorliegen, nicht abgeschlossen werden, wenn keine Haushaltsmittel für eine unbefristete Beschäftigung zur Verfügung stehen. Dennoch wäre ein befristeter Arbeitsvertrag, dessen Befristung unwirksam ist und der nach § 16 Satz 1 TzBfG als auf unbestimmte Zeit geschlossen gilt, ebenso wie ein unbefristeter Arbeitsvertrag, der ohne haushaltsrechtliche Legitimation vereinbart wird, deswegen nicht unwirksam. Ferner liegt in der haushaltsrechtlich an die Verwaltung gerichteten eingeschränkten Ermächtigung, aus dem Haushaltstitel Mittel nur für die Beschäftigung von Arbeitskräften mit befristeten Arbeitsverträgen zu entnehmen, regelmäßig keine arbeitsrechtliche Berechtigung zum Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrages. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG schlägt – bildhaft gesprochen – eine „Brücke“ zwischen Ar- 22.47 beits- und Haushaltsrecht. Einerseits indem an die haushaltsrechtliche Bestimmung von Haushaltsmitteln angeknüpft wird, andererseits indem der haushaltsrechtlichen Zweckbestimmung der Haushaltsmittel arbeitsrechtliche Relevanz für die Befristung von Arbeitsverträgen verliehen wird. Das Haushaltsrecht wäre als solches in Bezug auf die Befristung von Arbeitsverträgen nicht „self executing“. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG gebietet nicht etwa, ähnlich § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB, lediglich eine angemessene Berücksichtigung der im Haushaltsrecht geltenden Besonderheiten, sondern eine strikte Beachtung und Anwendung haushaltsrechtlicher Bestimmungen. Die Frage, ob Haushaltsmittel für die befristete Beschäftigung von Arbeitnehmern (oder Beamten) bestimmt sind, beurteilt sich ausschließlich nach den einschlägigen haushaltsrechtlichen Bestimmungen. Insoweit enthält § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG nach hier vertretener Ansicht keine Vorgaben für den jeweiligen Haushaltgeber (s. jedoch die abweichende Rechtsprechung des BAG, Rz. 22.27). Auf der Ebene des einfachen Rechts können jedenfalls dem jeweiligen Haushaltgeber keine Vorgaben für die Inhalte haushaltsrechtlicher Regelungen gemacht werden. Insoweit ist in der ersten Stufe jede haushaltsrechtliche Bestimmung für § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG relevant. Weil durch § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG grundsätzlich jede haushaltsrechtliche Bestimmung die Befristung von Arbeitsverträgen rechtfertigen könnte, muss die haushaltsrechtliche Regelung selbst in der zweiten Stufe mit höherrangigem Recht vereinbar sein. Die Rechtsprechung des BAG und mit ihr das nahezu einhellige Schrifttum sind jedoch einen anderen Weg gegangen: sie stellt über eine verfassungs- und unionsGroeger

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22.48

§ 22 Rz. 22.48

Befristetes Arbeitsverhältnis

rechtskonforme Auslegung des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG Anforderungen an haushaltsrechtliche Bestimmungen, die darauf hinauslaufen, dass der Haushaltgeber die anderen Sachgründe zu berücksichtigen100 hat und die mit dem haushaltsrechtlichen Bepackungsverbot kaum in Einklang zu bringen sind101. (2) Entnahme der Vergütung aus entsprechend „gewidmeten“ Haushaltsmitteln

22.49 Nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG stellt die haushaltsrechtliche Bestimmung von Haushaltsmitteln für befristete Beschäftigungen nur unter der Voraussetzung einen Sachgrund für die Befristung eines Arbeitsvertrages dar, dass der Arbeitnehmer auch aus gerade diesen Haushaltsmitteln vergütet wird. Ob dies der Fall ist, kann nur aus den behördeninternen Aufzeichnungen des Beauftragten für den Haushalt (BfdH) der jeweiligen mittelbewirtschaftenden Stelle festgestellt werden (s. § 1, Rz. 1.254). Eine entsprechende Vereinbarung im Arbeitsvertrag ist insoweit weder erforderlich noch ausreichend. Entscheidend ist, ob die Vergütung tatsächlich aus einem Haushaltstitel entnommen wird, der für befristete Beschäftigungen bestimmt ist. Wird die Frage im gerichtlichen Verfahren streitig, kann die Entnahme der Mittel aus einem bestimmten (iSv. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG geeigneten) Haushaltstitel nur durch Zeugenbeweis und oftmals nicht mehr durch Vorlage von Urkunden bewiesen werden, da die sog. Haushaltsführungslisten in der Regel nur noch als elektronische Dateien geführt werden. Nach der Rechtsprechung des BAG102 genügt die von der Verwaltung vorgenommene nachvollziehbare Zuordnung zu einer vorübergehend nicht in Anspruch genommenen Planstelle bzw. Stelle, wobei die durch einen Aktenvermerk vorgenommene Zuordnung eine hinreichende Nachvollziehbarkeit begründet, um die Zuordnung einer Aushilfskraft zu einer konkreten Planstelle bzw. Stelle, aus der die Vergütung entnommen wird, zu bewirken. (3) Anforderungen an die haushaltsrechtliche „Widmung“

22.50 Das BAG hat das Erfordernis einer haushaltsrechtlichen Bestimmung der Haushaltsmittel für eine befristete Beschäftigung im Sinne einer konkreten Sachregelung auf der Grundlage einer nachvollziehbaren Zwecksetzung bereits dann als erfüllt angesehen, wenn eine haushaltsrechtliche Ermächtigungsgrundlage wie zB. § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005 sich an einem der anderen Sachgründe des § 17 Abs. 1 TzBfG „orientiert“ und die Verwaltung im Rahmen des Haushaltsvollzugs ermächtigt, Haushaltsmittel, die originär gerade nicht für eine befristete Beschäftigung bestimmt waren, aufgrund später im Haushaltsjahr eintretender Ereignisse insoweit „umzuwidmen“.

22.51 Demnach ist es für eine Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG nicht erforderlich, dass die haushaltsrechtliche Vorschrift selbst Haushaltsmittel für die Vergütung von befristet beschäftigten Arbeitnehmern bereitstellt, vielmehr genügt insoweit eine haushaltsrechtliche Bestimmung mit einer hinreichend konkreten Sachregelung auf der Grundlage einer nachvollziehbaren Zwecksetzung, aufgrund derer die Verwaltung im Rahmen des Haushaltsvollzugs ermächtigt ist, Haushaltsmittel für eine befristete Beschäftigung zu bestimmen. Beispiel: Bei einer mit kw gekennzeichneten Stelle sprach gegen die Befristung des Arbeitsvertrages nicht etwa der Umstand, dass der Studiengang, in dem der Kläger tätig war, durch einen von der zuständigen Senatsverwaltung bestätigten Kuratoriumsbeschluss der Universität für fünf Jahre weiter100 Zum Begriff „berücksichtigen“ in anderem Zusammenhang s. MüKo BGB/Spellenberg, Art. 12 Rom I-VO Rz. 184. 101 AA LAG Düsseldorf v. 12.10.2010 – 16 Sa 804/10, LAGE § 14 TzBfG Nr. 60. 102 BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 13.

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Die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG

Rz. 22.53 § 22

geführt werden sollte, sondern der Umstand, dass die Durchführung des Studiengangs gerade nicht nur für fünf Jahre, sondern für zunächst fünf Jahre beschlossen worden war und damit keine verbindliche Aussage über die Schließung des Studiengangs enthielt103.

Insoweit ist eine Abgrenzung der „haushaltsrechtlichen Bestimmung“ iSv. § 14 Abs. 1 Satz 2 22.52 Nr. 7 TzBfG in zwei Richtungen erforderlich: zum einen enthalten gesetzliche Regelungen wie zB. §§ 6a, 6b SGB II über die befristete Zulassung von Optionskommunen ungeachtet dessen, dass der Bund nach § 6b Abs. 2, 2b SGB II die Verwaltungskosten der Kommune trägt und insoweit die haushaltsrechtlichen Bestimmungen des Bundes gelten, keine „haushaltsrechtliche Bestimmung“ von Haushaltsmitteln für befristete Beschäftigungen104. Zum anderen kann § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG nicht dahin ausgelegt werden, dass die „haushaltsrechtliche Bestimmung“ die Befristung von Arbeitsverträgen zum Regelungsgehalt hat. Denn eine Rechtsnorm, welche die Befristung von Arbeitsverträgen regelt, ist von einer „haushaltsrechtlichen Bestimmung“, welche lediglich die Widmung von Haushaltsmitteln für eine befristete Beschäftigung zum Gegenstand hat, zu unterscheiden. Würden an die „haushaltsrechtliche Bestimmung“ Anforderungen gestellt wie an eine Norm, welche die Befristung von Arbeitsverträgen regelt, würde es sich nicht mehr (nur) um eine „haushaltsrechtliche Bestimmung“ von Haushaltsmitteln, sondern – unabhängig von ihrem systematischen Standort im Haushaltsrecht – inhaltlich um eine arbeitsrechtliche Regelung, nämlich um eine besondere Regelung über die Befristung von Arbeitsverträgen, handeln, die gemäß § 23 TzBfG vom TzBfG unberührt bleiben105. Diese besonderen Regelungen sind von sonstigen Sachgründen iSv. § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG abzugrenzen. Besondere Regelungen über die Befristung von Arbeitsverträgen unterliegen keiner Kontrolle anhand der Maßstäbe des § 14 Abs. 1 TzBfG. Will ein Arbeitnehmer geltend machen, dass die Befristung seines Arbeitsvertrages rechtsunwirksam ist, wird die Wirksamkeit anhand der Maßstäbe, die die besondere Regelung vorgibt, geprüft. Verstößt diese gegen höherrangiges Recht, ist dies in den dafür vorgesehenen Verfahren106 zu klären. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG wäre eine rein deklaratorische Vorschrift und keine notwendige Rechtsnorm, die die Befristung eines Arbeitsvertrages aufgrund einer haushaltsrechtlichen Bestimmung über die Zweckbindung von Haushaltsmitteln sachlich rechtfertigt, wenn sie dahin ausgelegt werden würde, dass die haushaltsrechtliche Bestimmung selbst ihrem Regelungsgehalt nach die Befristung von Arbeitsverträgen erlaubt107. Bezugspunkt einer haushaltsrechtlichen Bestimmung sind ihrem Regelungsgehalt nach lediglich die Haushaltsmittel, nicht die Beschäftigung oder gar der Arbeitsvertrag. Sie muss, um arbeitsrechtliche Relevanz zu haben, die Verwendung der Mittel nur für befristete Beschäftigungen erlauben. Damit erlaubt sie jedoch ihrem Regelungsgehalt nach nicht die Befristung von Arbeitsverträgen. Außenwirkung erlangt die haushaltsrechtliche Zwecksetzung erst durch § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG. Ob die Zwecksetzung, dass die Haushaltsmittel für befristete Beschäftigungen oder für befristete Arbeitsverträge bestimmt sind, für sich allein ausreicht, soll im Einzelnen weiter unten erörtert werden (s. Rz. 22.57). Einerseits ist der Gesetzgeber zwar auch bei der Aufstellung des Haushaltsgesetzes und -plans an höher103 104 105 106

BAG v. 16.10.2008 – 7 AZR 360/07, AP § 14 TzBfG Nr. 56, Rz. 16. BAG v. 11.9.2013 – 7 AZR 107/12, NJW 2014, 489. Beispiel BAG v. 25.5.2005 – 7 AZR 402/04, AP § 14 TzBfG Nr. 17. Vorlage an das BVerfG oder an den EuGH gem. Art. 100 Abs. 1 GG oder Art. 234 EGV; dazu Roth, NVwZ 1998, 563; Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633; zum Gebot der verfassungsorientierten Auslegung Linsenmaier, RdA 2012, 193 (196); zu den Grenzen BVerfG v. 6.6.2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774. 107 Dies wäre wohl auch nach Ansicht des LAG Düsseldorf v. 12.10.2010 – 16 Sa 804/10, LAGE § 14 TzBfG Nr. 60 nicht mehr vom haushaltsrechtlichen Bepackungsverbot gedeckt.

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22.53

§ 22 Rz. 22.53

Befristetes Arbeitsverhältnis

rangiges Recht gebunden und besteht bei fehlender Übereinstimmung für das angerufene Fachgericht die Möglichkeit bzw. Verpflichtung, das BVerfG oder den EuGH anzurufen108. Andererseits ist der Gesetzgeber bei der Aufstellung des Haushaltsgesetzes und -plans aber auch nur an höherrangiges Recht gebunden. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG bindet den Gesetzgeber somit nach hier vertretener Ansicht nicht, sich bei der Bereitstellung von Haushaltsmitteln auf Fälle zu beschränken, in denen die Tätigkeiten ihrer Art nach nicht dauerhaft, sondern nur vorübergehend anfallen109. Das BAG verlangt jedoch, dass die erforderliche Zweckbestimmung der für die befristete Beschäftigung ausgebrachten Haushaltsmittel nicht nur so beschaffen sein muss, dass sie eine Nachprüfung anhand objektiver Umstände ermöglicht, ob mit der Bereitstellung der Mittel einem berechtigten Interesse des öffentlichen Arbeitgebers an einer nur befristeten Beschäftigung Rechnung getragen wird. Die Zweckbestimmung muss danach erkennen lassen, für welche Aufgaben die Haushaltsmittel bereitgestellt werden und dass diese Aufgaben nicht zeitlich unbegrenzt, sondern nur vorübergehend anfallen. Hierbei müsse es sich zwar nicht um eine von den Daueraufgaben abgrenzbare Zusatzaufgabe des öffentlichen Arbeitgebers handeln, wie zB ein Sonderprogramm. Es könnten auch Mittel für die befristete Beschäftigung zur Bewältigung eines vorübergehend erhöhten Arbeitsanfalls im Bereich der Daueraufgaben des Arbeitgebers bereitgestellt werden. Auch in diesem Fall muss die haushaltsrechtliche Zweckbestimmung jedoch objektive und nachprüfbare Vorgaben enthalten, die gewährleisten, dass die Mittel zur Deckung eines nur vorübergehenden Beschäftigungsbedarfs genutzt werden110. Entscheidend ist jedoch die Frage, ob das BAG damit nur beispielhaft oder abschließend die Regelungsmöglichkeiten des Haushaltgebers näher eingegrenzt hat.

22.54 Wenn es, wie zB. bei § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005, darum geht, dass Haushaltsmittel, die nicht originär vom Haushaltgeber für eine befristete Beschäftigung bestimmt sind, durch eine nachfolgende Entscheidung der Verwaltung beim Haushaltsvollzug „umgewidmet“ werden können, müssen andere Maßstäbe an die Bestimmtheit der Norm angelegt werden, als wenn die Haushaltsmittel von vornherein im Haushaltsaufstellungsverfahren für eine befristete Beschäftigung bestimmt worden sind (s. Rz. 22.41 f.). Denn die innere Rechtfertigung für die durch § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG bewirkte Erleichterung der Befristung von Arbeitsverträgen liegt in der demokratischen Legitimation, die jeder Rechtsnorm, sowohl den besonderen Regelungen iSv. § 23 TzBfG als auch haushaltsrechtlichen Bestimmungen, innewohnt111. Auch eine haushaltsrechtliche Bestimmung setzt Recht und ist damit keine Rechtsanwendung. Wenn die Verwaltung jedoch Haushaltsmittel, die zwar auch für befristete Beschäftigungen verwendet werden können, jedoch haushaltsrechtlich originär nicht dafür bestimmt waren, oder Haushaltsmittel, die lediglich allgemein für befristete Beschäftigungen bestimmt sind, für die Vergütung befristeter Arbeitsverträge verwendet, bedarf es für die Befristung grundsätzlich eines außerhalb des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG liegenden Sachgrundes. Wenn die Verwaltung berechtigt wäre, derartige Haushaltsmittel nachträglich „umzuwidmen“, dh. für befristete Beschäftigungen iSv. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG zu „bestimmen“, würde einer solchen Bestimmung durch die vollziehende Gewalt die notwendige demokratische Legitima-

108 109 110 111

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Zuletzt EuGH v. 19.1.2010 – C-555/07, ArbRB 2010, 35 = NZA 2010, 85. Näher Groeger, NJW 2008, 465 (466). BAG v. 17.3.2010 – 7 AZR 843/08, AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 16, Rz. 11. Zur Bedeutung der unmittelbaren demokratischen Legitimation s. BAG v. 9.3.2011 – 7 AZR 728/09, ArbRB 2011, 295 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 18; zur demokratischen Legitimation der Entscheidung eines Kommunalparlaments im Kündigungsschutzrecht s. BAG v. 18.9.2008 – 2 AZR 560/07, NZA 2009, 142.

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Die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG

Rz. 22.55 § 22

tion fehlen, wenn der Haushaltgeber der Verwaltung nicht die Voraussetzungen im Sinne einer nachvollziehbaren Zwecksetzung (wie zB bei § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005) vorgeben würde. Hat aber der Haushaltgeber von vornherein Haushaltsmittel nicht lediglich allgemein, sondern mit einer nachvollziehbaren Zwecksetzung für bestimmte befristete Beschäftigungen betragsmäßig zur Verfügung gestellt, handelt es sich um eine demokratisch legitimierte Entscheidung, die darum keines anderen Sachgrundes iSv. § 14 Abs. 1 TzBfG bedarf. Diese unmittelbar vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung über den oder die Zwecke, denen entsprechend die Mittel nur verwendet werden dürfen, trägt ihre sachliche Rechtfertigung in sich, weil sie unmittelbar demokratisch legitimiert ist. Nach Ansicht des BAG lässt sich jedoch die Privilegierung einer Selbstverwaltungskörperschaft, sich in ihrer Doppelrolle als Haushaltsplangeber und als Arbeitgeber ohne unmittelbare demokratische Legitimation Sachgründe für die bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer selbst zu schaffen, sachlich nicht mit Art. 3 GG rechtfertigen112. Ob dies auch für Gebietskörperschaften (also Städte und Gemeinden) gilt, hat das BAG offen gelassen113. Nach der Rechtsprechung des BAG, an der es auch nach Inkrafttreten des TzBfG ausdrücklich festhält, können im Bereich des öffentlichen Dienstes haushaltsrechtliche Gründe die Befristung eines Arbeitsvertrags wegen eines nur vorübergehenden betrieblichen Bedarfs rechtfertigen, wenn der öffentliche Arbeitgeber zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses aufgrund konkreter Tatsachen die Prognose erstellen konnte, dass für die Beschäftigung des Arbeitnehmers Haushaltsmittel nur vorübergehend zur Verfügung stehen114. Ausreichend für die Prognose des öffentlichen Arbeitgebers ist nach dieser, allerdings zu § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TzBfG bestätigten Rechtsprechung grundsätzlich, dass die Vergütung des befristet eingestellten Arbeitnehmers aus einer konkreten Haushaltsstelle erfolgt, die von vornherein nur für eine bestimmte Zeitdauer bewilligt worden ist und anschließend fortfallen soll. In diesen Fällen kann nämlich zum einen regelmäßig davon ausgegangen werden, dass sich der Haushaltgeber mit den Verhältnissen gerade dieser Stelle befasst und festgestellt hat, dass für die Beschäftigung eines Arbeitnehmers auf dieser Stelle nur ein vorübergehender Bedarf besteht; zum andern ist der öffentliche Arbeitgeber gehalten, keine Verpflichtungen einzugehen, die haushaltsrechtlich nicht gedeckt sind. Beruht damit die Prognoseentscheidung des Arbeitgebers auf einer zuvor vom Haushaltgeber getroffenen haushaltsrechtlichen Entscheidung, die gerichtlich nur eingeschränkter Kontrolle unterliegen kann und die der Arbeitgeber jedenfalls zu beachten hat, so liegt letztlich die innere Rechtfertigung für die Anerkennung als sachlicher Grund in einer demokratisch legitimierten Entscheidung. Nicht wegen der demokratischen Legitimation, sondern wegen der gerichtlichen „Aufsicht“, unter der er zustande kommt, trägt der gerichtliche Vergleich nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 TzBfG den Sachgrund ebenfalls in sich115 und bedarf keines weiteren, außerhalb seiner selbst liegenden Sachgrundes. Das ändert nichts daran, dass hier116 wie auch im Rahmen von § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG die Befristung der gerichtlichen Kontrolle unterfällt. Der Ansatz für eine geringere Kontrolldichte ist jedoch vergleichbar: weil beim Zustandekommen des Tatbestandsmerkmals, das im Kern den sachlichen Grund iSv. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 und 8 TzBfG ausmacht, eine Kontrolle durch ein demokratisch 112 BAG v. 9.3.2011 – 7 AZR 728/09, ArbRB 2011, 295 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 18. 113 Geltung auch für Gebietskörperschaften bejahend Arnold/Gräfl/Gräfl, § 14 TzBfG Rz. 234; zweifelnd für den Beitragsservice der Rundfunkanstalten LAG Köln v. 4.3.2015 – 11 Sa 751/14, juris. 114 BAG v. 24.1.2001 – 7 AZR 208/99, EzA § 620 BGB Nr. 173. 115 BAG v. 26.4.2006 – 7 AZR 366/05, AP § 14 TzBfG Vergleich Nr. 1; v. 15.2.2012 – 7 AZR 734/10, ArbRB 2012, 329 = AP § 14 TzBfG Nr. 95. 116 BAG v. 13.6.2007 – 7 AZR 287/06, AP § 17 TzBfG Nr. 7.

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Befristetes Arbeitsverhältnis

legitimiertes, zumeist öffentliches bzw. ein gerichtliches Verfahren erfolgt ist, kann die Kontrolle des in einem solchen Verfahren geschaffenen sachlichen Grundes im späteren gerichtlichen Verfahren „um einige Pegelstriche zurückgenommen“ werden. Dass die gerichtliche Kontrolle einer haushaltsrechtlichen Bestimmung, die ein Gesetz ist, nur auf die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht beschränkt ist, gebietet überdies richterliche Zurückhaltung.

22.56 An die Nachvollziehbarkeit der haushaltsrechtlichen Zwecksetzung dürfen jedoch systemkonform nur solche Anforderungen gestellt werden, die der Bundeshaushaltgeber erfüllt. Jedenfalls muss gegenwärtig bleiben, dass das Haushaltsrecht weitgehend Binnenrecht ist. Der Haushaltsplan kann nach § 3 Abs. 2 HGrG, dem § 3 Abs. 2 BHO entspricht, weder Rechte noch Verpflichtungen begründen oder aufheben. Dieser gesetzliche Ausschluss von Außenwirkungen des festgestellten Haushaltsplans entspricht den seit langem geltenden Grundsätzen des Haushaltsrechts117. Trotz der haushaltsrechtlichen Anforderungen an die Budgetgenauigkeit sind die einzelnen Titel des Haushaltsplans dennoch zu unbestimmt, um für Dritte subjektive Rechtspositionen begründen zu können. Sie können so ungenau sein, weil sie Individualansprüche weder begründen noch aufheben können. Der haushaltsrechtliche Grundsatz der Budgetgenauigkeit stellt auf den verständigen Leser in Parlament und Verwaltung ab, der die Zweckbestimmungen und die Ansätze der einzelnen Titel nachvollziehen können soll. Aus den Zweckbestimmungen müssen ferner sowohl die zuständige mittelbewirtschaftende Stelle als auch die Finanzkontrolle ohne längere Nachforschungen entnehmen können, wozu und wie die veranschlagten Mittel einzusetzen sind118. Dieser Grundsatz fordert jedoch wegen der fehlenden Außenwirkung nicht eine so hinreichende Bestimmtheit, dass Dritte in der Lage sein müssten, in definitiver Weise eigene Rechtspositionen daraus zu entnehmen119. Auch die Bestimmungen über die Verwendung von Haushaltsmitteln, die für befristete Beschäftigungen zur Verfügung stehen, behalten ihren rein internen Charakter. Außenwirkung erlangen sie nur und erst durch § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG. Obwohl für die Nachvollziehbarkeit der Zuordnung eines Vertrages zu einer vorübergehend freien Planstelle oder Stelle ein Aktenvermerk ausreichend ist120, stellt das BAG an die Nachvollziehbarkeit der Zwecksetzung, mit der Haushaltsmittel für eine befristete Beschäftigung mit konkreter Zwecksetzung ausgebracht worden sind, strengere Anforderungen. Danach müssen die Rechtsvorschriften, mit denen die Haushaltsmittel ausgebracht werden, selbst die inhaltlichen Anforderungen für die im Rahmen der befristeten Arbeitsverträge auszuübenden Tätigkeiten oder die Bedingungen, unter denen sie auszuführen sind, enthalten121. Dem ist zuzustimmen, soweit es um eine Norm geht, die im Haushaltsvollzug eine Umwidmung von Haushaltsmitteln ermöglicht, nicht jedoch, wenn es um originär für befristete Beschäftigungen zur Verfügung gestellte Haushaltsmittel geht.

22.57 Nach hier vertretener Ansicht sind jedenfalls auch die im Haushaltsaufstellungsverfahren erstellten Unterlagen heranzuziehen. Ergeben diese allerdings, dass im Bereich der mittelbewirtschaftenden Stelle regelmäßig ein bestimmter Bedarf für befristet Beschäftigte vorhanden ist, für den ein bestimmter Betrag zur Verfügung gestellt wird, liegt darin keine hinreichend konkrete Zwecksetzung des Haushaltgebers. Diese Entscheidung liefe vielmehr auf eine „haushaltsrechtliche Personalreserve“ hinaus. Dann bedarf die Befristung jedes einzelnen Arbeitsvertrages eines anderen Sachgrundes, da § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG bei derart allgemeinen Erwägungen nicht erfüllt ist. Denn auch bei der Befristung eines Arbeitsvertrages zur Vertre117 118 119 120 121

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BVerfG v. 22.10.1974 – 1 BvL 3/72, BVerfGE 38, 121 (126). BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 117. BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 139 (Fn. 602). BAG v. 16.10.2008 – 7 AZR 360/07, NZA 2009, 676, Rz. 19. BAG v. 17.3.2010 – 7 AZR 640/08, ArbRB 2010, 171 = AP § 14 TzBfG Nr. 70.

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Die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG

Rz. 22.59 § 22

tung unterscheidet das BAG zwischen dem wiederholten Eintritt eines Vertretungsbedarfs und der sog. „Daueraushilfe“122. Anders wäre es jedoch zu beurteilen, wenn im Bereich der mittelbewirtschaftenden Stelle ein bestimmter Bedarf für eine haushaltsrechtlich hinreichend bestimmte Aufgabe (dazu Rz. 22.56), bezogen auf ein oder mehrere Haushaltsjahre, rechnerisch ermittelt wird und durch befristete Arbeitskräfte abgedeckt werden soll123. Eine darauf gestützte Befristung ist nach hier vertretener Ansicht nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG wirksam, wenn sich für ein oder mehrere Haushaltsjahre aufgrund des zu erwartenden Arbeitsanfalls ein Arbeitskräftebedarf ergibt, der mit den planmäßigen Arbeitskräften in diesem Zeitraum nicht abgedeckt werden kann124. In diesem Fall wäre, wenn der Arbeitskräftebedarf nicht für eine bestimmte Aufgabe, sondern durch den vorübergehenden Ausfall mehrerer Stammkräfte entstünde, nach den Grundsätzen zur „Gesamtvertretung“ eine Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG zulässig (dazu Rz. 22.101 ff.). Wenn der Arbeitskräftebedarf nicht durch den vorübergehenden Ausfall von Stammbediensteten, sondern durch einen vorübergehenden Anstieg der Arbeitsmenge entsteht, liegt der Sache nach ein Fall vor, in dem der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung mehrerer Beschäftigter nur vorübergehend besteht (§ 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TzBfG). Insoweit geht es lediglich um eine „spiegelbildliche“ Anwendung der Grundsätze zur Gesamtvertretung im Rahmen der haushaltsrechtlichen Bestimmung von Haushaltsmitteln für eine befristete Beschäftigung.

22.58

Die Prognose wird dabei nicht erst im gerichtlichen Verfahren, sondern bereits im Haushaltsaufstellungsverfahren durch den Haushaltgeber geprüft. Die Entscheidung des Haushaltgebers über den Umfang der zusätzlichen Mittel und die Dauer ihrer Bewilligung ersetzt die Prüfung durch die Gerichte für Arbeitssachen nicht vollständig, führen aber dazu, dass diese ihre Prüfung „um einige Pegelstriche“ zurücknehmen können und müssen125. Aus unions- und verfassungsrechtlichen Gründen voll überprüfbar ist jedoch, ob der Grund, weswegen zusätzliche Mittel nicht auf Dauer, sondern nur für befristete Beschäftigungen bewilligt werden, vor Art. 12 Abs. 1 GG standhält.

22.59

Beispiele: So sollte es zB zulässig sein, dass zur Erreichung eines gemeinschaftskonformen Zustandes und zur Abwendung eines von der Europäischen Kommission angekündigten Vertragsverletzungsverfahrens durch eine Behörde bis zum Ende eines bestimmten Jahres alle bei ihr in einem bestimmten Bereich anhängigen, bislang unerledigten Anträge im Verwaltungsverfahren zu erledigen sind und zu diesem Zweck sowohl bestimmte Fachgesetze durch Einführung verfahrensbeschleunigender Regelungen geändert als auch im Haushaltsplan des Bundes zusätzliche Stellen in einem Umfang von rund 25 % des bei dieser Behörde normalerweise beschäftigten Personals für befristete Beschäftigungen bewilligt werden. Wenn diese Haushaltsmittel im Haushaltsplan unter dem Titel 427 09 „Entgelte für Arbeitskräfte mit befristeten Verträgen, sonstige Beschäftigungsentgelte (auch für Auszubildende) sowie Aufwendungen für nebenberuflich und nebenamtlich Tätige“ enthalten und in der Erläuterung zu diesem Titel auf einzelne Vergütungsgruppen und eine bestimmte Anzahl von Stellen je Vergütungsgruppe aufgeteilt und mit einem sog. datierten kw-Vermerk versehen sind, ohne dass eine weitere Zweckbestimmung, zB durch Haushaltsvermerk, erfolgt, sollte dies den Anforderungen nicht nur

122 BAG v. 3.10.1984 – 7 AZR 192/83, AP § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 87. 123 Nach BAG v. 17.3.2010 – 7 AZR 640/08, ArbRB 2010, 171 = AP § 14 TzBfG Nr. 70 genügt dies jedoch nicht für § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG. 124 LAG Berlin-Brandenburg v. 20.8.2008 – 21 Sa 961/08, juris; v. 11.9.2008 – 13 Sa 1034/08, juris; aA LAG Düsseldorf v. 23.9.2008 – 8 Sa 784/08, juris. 125 BAG v. 16.10.2008 – 7 AZR 360/07, NZA 2009, 676; v. 18.9.2008 – 2 AZR 560/07, NZA 2009, 142.

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des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TzBfG126, sondern auch der Nr. 7 genügen, weil die Erwägungen des Gesetzgebers nachvollziehbar sind. Andererseits kann die Befristung nicht auf § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TzBfG und einen Haushaltstitel gestützt werden, der mit „Nicht aufteilbare Personalkosten“ bezeichnet ist und in den Erläuterungen lediglich den Hinweis enthält „Veranschlagt für befristete Beschäftigungen im Rahmen des Hochschulpakts 2020“127.

Insoweit ist zu beachten, dass das BAG eine nachvollziehbare, nicht eine transparente Zwecksetzung verlangt und dass bei keinem der anderen Sachgründe verlangt wird, dass sie vereinbart oder auf andere Weise nachvollziehbar gemacht werden müssen. Eine Nachvollziehbarkeit des nur vorübergehenden Arbeitskräftebedarfs im Sinne einer „einsehbaren Erklärung“ bzw. „Plausibilität“ genügt daher beim Haushaltsmittelbefristungsgrund128. Erst im gerichtlichen Verfahren nach § 17 TzBfG ist der Arbeitgeber gehalten, diese Gründe darzulegen und zu beweisen. Dass an die materiellen Gründe andere Anforderungen zu stellen sind, wenn sie entweder unter gerichtlicher Aufsicht oder in einem gesetzgeberischen Verfahren geschaffen werden, ist vom BAG anerkannt. In allen Fällen trägt der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast. Dass er seiner Darlegungs- und Beweislast im Fall des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG nicht mit sämtlichen zivilprozessual zulässigen Mitteln sollte genügen können, lässt sich weder dem Gesetz noch den Gesetzesmaterialien entnehmen129. bb) Einzelne haushaltsrechtliche Bestimmungen (1) Befristung von Haushaltsstellen

22.60 Das BAG hat einen sachlichen Grund bejaht, wenn die Vergütung eines befristet eingestellten Arbeitnehmers aus einer konkreten Haushaltsstelle erfolgt, die nur befristet bewilligt worden ist oder deren Streichung zum Ablauf der vereinbarten Befristung mit einiger Sicherheit zu erwarten ist, weil dann davon auszugehen ist, dass sich der Haushaltgeber mit den Verhältnissen dieser Stelle befasst und festgestellt hat, dass für die Beschäftigung des Arbeitnehmers nur ein vorübergehender Bedarf besteht130.

22.61 (a) Wenn die Vergütung eines befristet eingestellten Arbeitnehmers aus einer konkreten Haushaltsstelle erfolgt, die nur befristet bewilligt worden ist, liegt eine haushaltsrechtliche Entscheidung vor, die die mittelbewirtschaftende Stelle bindet. Sie darf keine zeitlich über die haushaltsrechtliche Bewilligung hinausgehenden Verpflichtungen eingehen. Aus der befristeten Bewilligung allein lässt sich jedoch nicht mit hinreichender Gewissheit ableiten, dass sich der Haushaltgeber mit den konkreten Verhältnissen der Stelle in einer Weise befasst hat, dass das Ergebnis, dass sie nur befristet zur Verfügung stehen soll, dem verfassungsrechtlich gebotenen Mindestbestandsschutz entspricht. Dass der Begriff der Stelle ein haushaltsrechtlicher Begriff ist und nicht mit dem des Arbeitsplatzes zu verwechseln ist131, führt zu keinem anderen Ergebnis, denn jeder Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst bedarf, um besetzt zu werden, entsprechender freier Haushaltsmittel, die entweder durch (Plan-)Stellen oder durch summari126 BAG v. 16.10.2008 – 7 AZR 360/07, NZA 2009, 676. 127 LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 30.5.2017 – 2 Sa 244/16, LAGE § 14 TzBfG Nr. 115. 128 LAG Berlin-Brandenburg v. 11.9.2008 – 13 Sa 1034/08, juris; aA LAG Schleswig-Holstein v. 15.10.2008 – 3 Sa 104/08, juris; LAG Düsseldorf v. 23.9.2008 – 8 Sa 784/08, juris. 129 Näher Groeger, NJW 2008, 465; s. auch LAG München v. 16.6.2016 – 2 Sa 1146/15, juris (aufgehoben durch BAG v. 23.5.2018 – 7 AZR 16/17, ZTR 2019, 50). 130 BAG v. 24.9.1997 – 7 AZR 654/96, RzK I 9a Nr. 121; v. 16.10.2008 – 7 AZR 360/07, juris Rz. 19; Sievers, § 14 TzBfG Rz. 389 f. 131 So zutreffend APS/Backhaus, § 14 TzBfG Rz. 237.

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Rz. 22.65 § 22

sche Haushaltstitel zur Verfügung gestellt werden. Zwar spricht eine starke Vermutung dafür, dass dann, wenn eine oder mehrere konkrete Stellen durch den Haushaltsplan nur befristet zur Verfügung gestellt werden, der Haushaltgeber sich nicht nur mit den Gründen, die für die Einstellung der Stelle in den Haushaltsplan, sondern auch mit den Gründen, die für eine lediglich befristete Ausbringung sprechen, befasst hat. Man wird insoweit aber nicht von einer Rechtsvermutung ausgehen können132, sondern nach den allgemeinen Grundsätzen der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast den Arbeitgeber für verpflichtet halten müssen, diese Befassung im Streitfall darzulegen, zumal die Verwaltung zu einem derartigen Vortrag in der Lage ist. Denn sie ist in das Verfahren zur Aufstellung des Haushalts gemäß §§ 27 bis 33 BHO von Anfang an maßgeblich eingebunden (siehe § 1, Rz. 1.236 ff.), indem sie entweder von vornherein nur einen befristeten Bedarf an Personalstellen angemeldet hat oder ihr im Verlaufe des Haushaltsaufstellungsverfahrens nur solche zugestanden worden sind133. Im einen wie im anderen Falle ist es der Verwaltung möglich und zumutbar, die Erwägungen, die zu der vom Haushaltgeber getroffenen Entscheidung geführt haben, darzulegen134.

22.62

(b) Wenn die Vergütung hingegen aus einer Haushaltsstelle erfolgt, die nicht befristet bewilligt worden ist, dürften im Regelfall keine hinreichende Gewissheit gebenden Umstände vorliegen, die die Prognose rechtfertigen, dass die Streichung der Stelle zum Ablauf der mit dem Arbeitnehmer vereinbarten Befristung mit „einiger Sicherheit“ zu erwarten ist; jedenfalls liegt insoweit im Regelfall gerade noch keine haushaltsrechtliche Entscheidung vor, so dass in diesem Fall eine Befristung nicht nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG gerechtfertigt sein kann.

22.63

(c) Wenn der Haushaltsplan Mittel nicht mit einer bestimmten Stelle verbunden, sondern Haushaltsmittel in einer bestimmten Höhe als Summe für die Beschäftigung von Arbeitnehmern befristet zur Verfügung stellt, liegt auch insoweit eine haushaltsrechtliche Entscheidung vor135. Wenn die Befristung der Haushaltsmittel auf einer Entscheidung des Haushaltgebers beruht, die sachlich mit Bezug auf die Beschäftigung begründet ist, also Erwägungen des Haushaltgebers zugrunde liegen, die den Mindestanforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG genügen, kann also auch darauf die Befristung des Arbeitsvertrages gestützt werden. In diesem Fall wird jedoch der Arbeitgeber im Einzelnen darzulegen haben, welche konkreten Arbeitsverhältnisse aus den summenmäßig zur Verfügung gestellten Haushaltsmitteln finanziert werden.

22.64

(2) Befristete Inanspruchnahme „unbefristet“ zur Verfügung stehender Haushaltsmittel Auch wenn eine befristete Beschäftigung von Arbeitnehmern nur aufgrund von Haushaltsmitteln möglich ist, die durch die zeitweise Beurlaubung von anderen Arbeitskräften vorübergehend frei sind, der Haushaltgeber für die Einstellung von (Vertretungs-)Kräften also keine zusätzlichen Stellen mit entsprechenden Mitteln bewilligt, sondern den öffentlichen Arbeitgeber auf die vorhandenen Stellen mit den hierfür ausgebrachten Mitteln verwiesen hat, liegt eine Entscheidung des Haushaltgebers vor, wonach die Einstellung von Arbeitnehmern nur insoweit ermöglicht werden soll, als Haushaltsmittel durch Sonderurlaub – oder durch Teilzeitbeschäftigung oder durch Elternzeit ganz oder teilweise – vorübergehend frei werden. Dies 132 133 134 135

Weitergehend wohl BAG v. 16.10.2008 – 7 AZR 360/07, NZA 2009, 676. Näher Dittrich, BHO, Kommentierung zu §§ 27–33; BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 69 ff. Ebenso BAG v. 16.1.1987 – 7 AZR 487/85, NZA 1988, 279 (280). BAG v. 24.1.1996 – 7 AZR 342/95, NZA 1996, 1036.

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steht nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG einer Entscheidung gleich, durch die eine bestimmte Personalstelle gestrichen oder nur für eine gewisse Zeit bewilligt wird und anschließend entfallen soll136.

22.66 Teilweise regelt das Gesetz, wie in § 7 Abs. 3 HG NRW 2004/2005, dass Planstellen und Stellen für Zeiträume, in denen Stelleninhabern vorübergehend keine oder keine vollen Dienstbezüge zu gewähren sind, im Umfang der nicht in Anspruch genommenen Planstellen- oder Stellenanteile für die Beschäftigung ua. von Aushilfskräften in Anspruch genommen werden können, teilweise entspricht dies ohne gesetzliche Regelung der Haushaltsbewirtschaftungspraxis. Grundsätzlich liegt darin ebenfalls eine haushaltsrechtliche Regelung und Zweckbestimmung für eine befristete Beschäftigung137. Zwar wird die Vergütung aus Haushaltsstellen entnommen, die für eine unbefristete Beschäftigung eine hinreichende haushaltsrechtliche Ermächtigung darstellen. Häufig werden in derartigen Fällen auch zusätzliche sog. Leerstellen gebildet, auf der der vorübergehend ausgeschiedene Bedienstete geführt wird, aus der aber keine Bezüge gezahlt werden138. Aus der Leerstelle dürfen nur bei Eintritt bestimmter Voraussetzungen vorübergehend Dienstbezüge gezahlt werden, nämlich bis zum Freiwerden einer Planstelle oder Stelle der entsprechenden Vergütungsgruppe.

22.67 In diesem Fall hat jedoch der Haushaltgeber für die Einstellung zusätzlicher Kräfte keine neuen Stellen mit entsprechenden zusätzlichen Mitteln bewilligt und den öffentlichen Arbeitgeber stillschweigend auf die vorhandenen Stellen mit den hierfür ausgebrachten Mitteln verwiesen. Das kann eine Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG rechtfertigen. Zwar wird in diesen Fällen oft auch der Befristungsgrund des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG (Vertretung eines anderen Arbeitnehmers) gegeben sein139. Anders als bei dem Sachgrund der Vertretung genügt jedoch bei § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG, wenn der Beschäftigte Aufgaben wahrnimmt, die ansonsten einem oder mehreren anderen Arbeitnehmern der Dienststelle übertragen worden wären, die dem Arbeitsbereich des vorübergehend abwesenden Planstellen- oder Stelleninhabers angehören140.

22.68 Die Auffassung einiger Kammern des LAG Düsseldorf, die für eine „entsprechende Beschäftigung“ iSv. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG eine „finanzielle Kongruenz“ verlangen, wonach die Befristung zu dem Zeitpunkt enden muss, zu dem nach der von dem öffentlichen Arbeitgeber anzustellenden Prognose den Stelleninhabern wieder die Bezüge zu gewähren sind, die sie vor ihrer Beurlaubung oder Teilzeitbeschäftigung erhalten haben141, lehnt das BAG ab142. (3) Stellen mit kw-Vermerk

22.69 Wird ein Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes aus einer Stelle vergütet, die im Haushaltsplan mit einem auf ein künftiges Haushaltsjahr datierten kw (künftig wegfallend)-Vermerk versehen ist, so rechtfertigt dies nach der Rechtsprechung des BAG nur dann die Befristung des Arbeitsvertrages, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte mit einiger Sicherheit davon 136 BAG v. 15.8.2001 – 7 AZR 263/00, ArbRB 2002, 5 = NZA 2002, 85 (86). 137 BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 13, 23. 138 Näher Dittrich, BHO, § 17 Rz. 14. 139 Dazu Sievers, RdA 2004, 291 (296). 140 BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 19. 141 LAG Düsseldorf v. 21.12.2005 – 12 Sa 1303/05, LAGE § 14 TzBfG Nr. 25. 142 BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 22 f.

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Rz. 22.72 § 22

ausgegangen werden kann, dass die Stelle zu dem im kw-Vermerk genannten Zeitpunkt tatsächlich wegfallen wird. Allein der kw-Vermerk als solcher soll zur sachlichen Rechtfertigung einer Befristung nicht ausreichen143. Der Umstand, dass eine bestimmte Anzahl von Stellen zu einem späteren Zeitpunkt wegfallen soll, besage nichts darüber, ob diese Stellen bis dahin mit befristet oder unbefristet beschäftigten Arbeitnehmern besetzt werden sollen. Ein Wegfall von Stellen könne auch durch Nichtbesetzung frei werdender Stellen, durch Ausspruch von Kündigungen oder durch einvernehmliche Beendigung von unbefristeten Arbeitsverhältnissen bewirkt werden144. Diese Rechtsprechung verdient, insbesondere nach Inkrafttreten von § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 22.70 TzBfG, Kritik. Sie verkennt die unterschiedliche Bedeutung von kw-Vermerken in der Aufstellung des Haushalts einerseits und dem Vollzug des Haushalts andererseits. Gemäß § 21 Abs. 1 BHO sind Planstellen bei der Aufstellung des Haushaltsplans als künftig wegfallend zu bezeichnen, soweit sie in den folgenden Haushaltsjahren voraussichtlich nicht mehr benötigt werden. Dies gilt für Stellen entsprechend145. Entweder werden Planstellen und Stellen von vornherein mit einem datierten kw-Vermerk ausgebracht oder sie werden erst in späteren Haushaltsjahren mit einem kw-Vermerk versehen, wenn sie nicht frei sind. Denn solche Planstellen oder Stellen, die im Zeitpunkt der Entscheidung des Haushaltgebers frei sind und nach seinem Willen ab Beginn des folgenden Haushaltsjahres wegfallen sollen, würden von vornherein nicht mehr in den neuen Stellenplan aufgenommen, sondern wegfallen – sie sind in dem vorangegangenen Haushaltsjahr als Einsparung „realisiert“ worden. Nachdem der Haushaltsplan gesetzlich festgestellt ist, wird er ausgeführt. Die Wirkung von 22.71 kw-Vermerken bei der Ausführung des Haushaltsplans ist in § 47 BHO geregelt. Insoweit wird unterschieden zwischen kw-Vermerken ohne nähere Angabe (sog. nackter kw-Vermerk) und kw-Vermerken mit Angabe des Zeitpunkts des Wegfalls der Stelle. Bei nackten kw-Vermerken darf die nächste frei werdende Stelle bzw. Planstelle derselben Besoldungs- bzw. Vergütungsgruppe nicht wieder besetzt werden146. Es kommt also nicht einmal darauf an, dass gerade die mit einem kw-Vermerk versehene Stelle frei wird. In diesen Fällen ist haushaltsrechtlich sogar der Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrages untersagt und es kommt daher im Regelfall auch nicht zum Abschluss eines Arbeitsvertrages147. Bei kw-Vermerken mit Angabe des Zeitpunkts des Wegfalls darf über die Stelle (erst) von 22.72 diesem Zeitpunkt an nicht mehr verfügt werden. Das bedeutet, dass sie ab diesem Zeitpunkt nicht wieder besetzt bzw. in Anspruch genommen werden darf. So bestimmt § 20 Abs. 1 HG 2019 explizit, dass das BMF ermächtigt wird, zuzulassen, dass von einem kw-Vermerk mit Datumsangabe abgewichen wird, wenn die Planstelle oder Stelle weiter benötigt wird, weil sie nicht rechtzeitig frei wird. Für die Zeit bis zu dem angegebenen Zeitpunkt bewirkt der kw-Vermerk keine haushaltsrechtliche Verfügungsbeschränkung. Es besteht jedoch eine rechtliche Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, dass die mit dem datierten kw-Vermerk belastete Stelle vom Wegfallzeitpunkt an unbesetzt ist. Das ist beim Abschluss eines befristeten Arbeitsver143 BAG v. 2.9.2009 – 7 AZR 162/08, AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 14; v. 16.1.1987 – 7 AZR 487/85, NZA 1988, 279 (280); ebenso Dörner, Rz. 197; Arnold/Gräfl/Gräfl, § 14 TzBfG Rz. 225; Sievers, § 14 TzBfG Rz. 391. 144 BAG v. 23.5.2018 – 7 AZR 16/17, ZTR 2019, 50. 145 Dittrich, BHO, § 21 Rz. 4.2. 146 Dittrich, BHO, § 47 Rz. 4.1. 147 Von dieser Regel stellt § 20 Abs. 2 HG 2019 eine Ausnahme dar, indem die obersten Dienstbehörden ermächtigt werden, Planstellen oder Stellen mit kw-Vermerk nach ihrem Freiwerden unter bestimmten Voraussetzungen mit schwerbehinderten Menschen wieder zu besetzen.

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§ 22 Rz. 22.72

Befristetes Arbeitsverhältnis

trages der Fall. Es wäre verkürzt, anzunehmen, dass die mittelbewirtschaftende Stelle vor dem im kw-Vermerk angegebenen Zeitpunkt über die Stelle durch Abschluss eines unbefristeten Arbeitsvertrages auch für Zeiten, die nach diesem Zeitpunkt liegen, disponieren dürfte. Vielmehr hat das BMF mit der Neufassung der VV-BHO bestimmt, dass der Beauftragte für den Haushalt (BfdH) durch geeignete Bewirtschaftungsmaßnahmen darauf hinzuwirken hat, dass die Planstellen bzw. Stellen mit der Erfüllung der im Haushaltsplan bezeichneten Voraussetzungen wegfallen. Dem hat die Arbeitsgruppe Haushaltsrecht der obersten Bundesbehörden nach den Nrn. 2 und 4.2 der VV zu § 47 BHO zugestimmt. Nach dem Haushaltsführungsschreiben des BMF sind die Ressorts seit dem Haushalt 2000 verpflichtet, die rechtzeitige Erwirtschaftung befristeter kw-Vermerke sicherzustellen. Vor einer Befristung frei werdende Stellen dürfen grundsätzlich nur wieder besetzt werden, wenn sichergestellt ist, dass zum Stichtag eine andere Planstelle bzw. Stelle dieser Besoldungs- oder Vergütungsgruppe frei ist148. Da die Einhaltung dieser haushaltsrechtlichen Vorgaben der Kontrolle durch den Bundesrechnungshof unterliegt, der die Haushalts- und Wirtschaftsführung in jeder Hinsicht prüft, bliebe der Verwaltung nur die Alternative, datierte kw-Vermerke wie nackte kw-Vermerke zu behandeln, also nach Freiwerden der nächsten Stelle diese überhaupt nicht wieder neu zu besetzen, es sei denn, dass man im datierten kw-Vermerk eine haushaltsrechtliche Vorgabe iSv. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG sieht, dass Mittel aus der Stelle nur für befristete Beschäftigungen längstens bis zu dem im kw-Vermerk genannten Zeitpunkt zur Verfügung stehen.

22.73 Diese unterschiedliche Bedeutung von kw-Vermerken im Gesetzgebungsverfahren einerseits und im Vollzug des Haushaltsgesetzes andererseits verkennt das BAG in seinem Urteil vom 7.9.2009. Es erwähnt nicht § 47 BHO, sondern führt lediglich unter Hinweis auf § 21 Abs. 1 BHO aus, dass, da die Festlegungen des Haushaltsplans nach den Grundsätzen der zeitlichen Bindung nur für das Haushaltsjahr gelten, für das der Haushaltsplan festgestellt ist, der Haushaltgeber in den künftigen Haushaltsjahren erneut über den Finanzbedarf beschließen müsse, ohne dabei an Wegfallvermerke des früheren Haushalts gebunden zu sein. Wegfallvermerke, die sich auf künftige Haushaltsjahre beziehen, hätten daher nur die Funktion eines Erinnerungspostens für die jeweils nächste Haushaltsaufstellung. Der Vermerk sei bei der nächsten Haushaltsaufstellung zu beachten, so dass über ihn nicht mehr ohne besondere Begründung hinweggegangen werden könne. So richtig diese Ausführungen sind, so wenig betreffen sie die hier allein wesentlichen Fragen: nämlich (1.) ob die Verwaltung, die einen befristeten Arbeitsvertrag unter der Geltung eines bestimmten Haushaltsgesetzes abschließt, an dieses gebunden ist und (2.) ob der Hinweis darauf, dass Gesetze in der Zukunft geändert werden können, die Bindung der Verwaltung an das geltende Gesetz relativiert. Die Verwaltung ist an das jeweils aktuell geltende (Haushalts)recht gebunden und darf nicht darauf „spekulieren“, dass der Haushaltgeber den kw-Vermerk bei der nächsten Haushaltsaufstellung lediglich in der Weise beachten muss, dass er über ihn nicht mehr ohne besondere Begründung hinweggehen darf. Würde die Verwaltung nach dieser Maxime handeln, würde sie den im aktuellen Haushaltsrecht verankerten kw-Vermerk „aushebeln“. Das Mittel, mit dem das Gesetz der Verwaltung aufgibt, bestimmte Stellen einzusparen, ist und bleibt der kw-Vermerk. Dass der Gesetzgeber von diesem Gebot Ausnahmen zulassen kann, wie zB in § 20 Abs. 1 HG 2019 (s. Rz. 22.72), bestätigt die Regel, wonach Stellen mit nacktem kw-Vermerk nach ihrem Freiwerden grundsätzlich überhaupt nicht wieder „besetzt“ bzw. in Anspruch genommen und bei datiertem kw-Vermerk keine über das Datum hinausreichenden Dispositionen getroffen werden dürfen. Dass der Gesetzgeber mit einfacher Mehrheit Gesetze ändern kann und über das Haushaltsgesetz periodisch neu zu entscheiden hat, ist eine juristische „Binsenweisheit“, vermag 148 Dittrich, BHO, § 47 Rz. 4.2; Heuer/Scheller/Bolte, § 47 BHO Rz. 3.

700

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Die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG

Rz. 22.76 § 22

jedoch die Bindung an das geltende Gesetz nicht zu relativieren. Nach § 20 Abs. 1 HG 2019 wird der Bundesfinanzminister ermächtigt zuzulassen, dass von einem kw-Vermerk mit Datumsangabe abgewichen wird, wenn die Planstelle oder Stelle weiter benötigt wird, weil sie nicht rechtzeitig frei wird; in diesem Fall fällt jedoch die nächste frei werdende Planstelle oder Stelle der betreffenden Besoldungs- oder Entgeltgruppe weg. (4) Haushaltsrechtlich „allgemein“ angeordnete Einsparung von Stellen Nach bisheriger Ansicht des BAG war eine haushaltsrechtliche Anordnung allgemeiner Einsparungen nicht geeignet, die Befristung von Arbeitsverträgen sachlich zu rechtfertigen149. Es ist zumindest fraglich, ob an dieser Rechtsprechung unter der Geltung von § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG für die Bestimmungen in den Haushaltsgesetzen des Bundes der letzten Jahre (zB § 22 Abs. 1 HG 2013), wonach im Haushaltsjahr bei der Bundesverwaltung ein bestimmter Vomhundertsatz der im Bundeshaushaltsplan ausgebrachten Planstellen und Stellen (2013: 0,4 %) kegelgerecht einzusparen ist, festgehalten werden kann.

22.74

Praxistipp: Angesichts der erkennbar strengen Rechtsprechung der Instanzgerichte sowie des BAG ist davon auszugehen, dass solche haushaltsrechtlichen Vorschriften keine Bedeutung im Rahmen von § 14 Abs. 1 TzBfG haben.

Das Haushaltsgesetz gibt insoweit unmittelbar vor, dass die entsprechende Anzahl von Stel- 22.75 len spätestens am Ende des Haushaltsjahres eingespart wird. Wenn im Verlauf eines Haushaltsjahres eine Stelle frei wird, die unter Beachtung dieses haushaltsrechtlichen Gebots zur kegelgerechten Einsparung am Jahresende entfallen muss, darf die Verwaltung – ebenso wie bei datierten kw-Vermerken – haushaltsrechtlich keine Dispositionen mehr treffen, die künftige Haushaltsjahre belasten könnten. Haushaltsrechtlich sind diese Haushaltsmittel dann längstens für eine befristete Beschäftigung bis zum Ende des Haushaltsjahres bestimmt. Zwar stellen solche allgemeinen Einsparvorschriften, wie zB § 20 Abs. 1 HG 2009, ebenso wie § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005, selbst keine Haushaltsmittel für die Einstellung von befristet beschäftigten Arbeitnehmern bereit. Eine Bestimmung wie zB § 22 Abs. 1 HG 2013 enthält nicht einmal, anders als § 7 Abs. 3 HG NW 2004/2005, eine ausdrückliche, an die Verwaltung gerichtete Ermächtigung für die Beschäftigung von bis zum Ende des Haushaltsjahres befristet beschäftigten Arbeitnehmern. Nur dann, wenn zB § 22 Abs. 1 HG 2013 konkludent die Bestimmung enthielte, dass im Verlauf des Haushaltsjahres frei werdende Stellen, die die Zahl der nach Erreichung der kegelgerechten Einsparungen verbleibenden Stellen überschreiten, nur noch für eine längstens bis zum Jahresende befristete Beschäftigung zur Verfügung stehen, könnten die Mittel für entsprechende befristete Beschäftigungen genutzt werden. Solange diese Frage nicht geklärt ist, kann dem (Bund als) öffentlichen Arbeitgeber nur geraten werden, die entsprechenden Haushaltsmittel nur für Arbeitsverträge oder Verlängerungen im Rahmen des § 14 Abs. 2 TzBfG zu nutzen, nicht aber für die Verlängerung von Verträgen, die eines sachlichen Grundes bedürfen, wenn kein anderer Sachgrund als § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG gegeben ist. Durch Vorlage der Stellenbesetzungslisten (s. § 1, Rz. 1.254) kann einem befürchteten Missbrauch dieser Befristungsmöglichkeit dahingehend, dass mehr als nur die kegelgerecht einzusparenden Stellen für den Abschluss befristeter Verträge genutzt werden könnten, entgegengetreten werden.

149 Zur fehlenden Relevanz für Kündigungen s. bereits BAG v. 28.11.1956 – GS 3/56, BAGE 3, 245.

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22.76

§ 22 Rz. 22.77

Befristetes Arbeitsverhältnis

(5) Prognoseerfordernis

22.77 Fraglich ist, ob der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes eine Prognose vortragen muss, aus der sich ergibt, dass in den oben genannten Fällen entweder mit einer Bewilligung von Haushaltsmitteln über die Dauer der Befristung hinaus oder mit einer Aufhebung des datierten kwVermerks nicht gerechnet werden kann.

22.78 (a) Sievers150 meint, dass der öffentliche Arbeitgeber dem Arbeitnehmer gegenüber als Einheit auftrete und nicht darauf verweisen könne, dass die linke Hand nicht wisse, was die Rechte mache. Dieses Argument berücksichtigt jedoch nicht den Gewaltenteilungsgrundsatz. Das Haushaltsgesetz wird vom Gesetzgeber verabschiedet. Seine Ausführung ist Aufgabe der Verwaltung. Sie allein tritt dem Arbeitnehmer als Vertreter des Arbeitgebers gegenüber. Nicht nur vordergründig betrachtet ist der Verwaltung eine derartige Prognose nicht möglich, obwohl sie eine ganz entscheidende Rolle im Haushaltsaufstellungsverfahren spielt (s. Rz. 1.237 ff.). Sie kann dennoch nicht wissen, was der Haushaltgeber künftig beschließt und muss grundsätzlich vom verabschiedeten Haushaltsgesetz ausgehen. Dass jedes Gesetz unter dem immanenten Vorbehalt seiner Änderung steht und das Haushaltsgesetz jeweils nur für ein Jahr gilt, ändert nichts daran, dass es sich bei der Entscheidung des Haushaltgebers um eine haushaltsrechtliche Bestimmung handelt, an die über § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG iVm. Art. 20 Abs. 3 GG auch die Arbeitsgerichte gebunden sind.

22.79 (b) Andererseits kann der 11. Kammer des LAG Hamm nicht gefolgt werden, wonach aus dem Grundsatz, dass für die Wirksamkeit der Befristung eines Arbeitsvertrages die Verhältnisse zum Zeitpunkt des Abschlusses maßgeblich sind, folge, dass die Befristung nicht auf eine Bestimmung in einem noch nicht verkündeten Haushaltsgesetz gestützt werden kann, selbst wenn vorangegangene Haushaltsgesetze und auch das zum Abschluss des Arbeitsvertrages geltende Haushaltsgesetz eine inhaltsgleiche Bestimmung enthalten151. Diese Ansicht verkennt zum einen die enge Einbindung der Exekutive im Gesetzgebungsverfahren für das Haushaltsgesetz, zum anderen die „Kräfteverteilung“ im Gesetzgebungsverfahren, wonach der Gesetzgeber typischerweise nicht über die im Gesetzgebungsverfahren von der Exekutive erhobenen Forderungen hinausgeht, sondern sich als Souverän das Recht nimmt, die Forderungen kritisch zu hinterfragen. Schließlich gilt die Rechtsprechung des BAG nicht uneingeschränkt: auch bei der Bewilligung von Fördermitteln kommt es nicht darauf an, dass diese zum Zeitpunkt des Abschlusses eines befristeten Arbeitsvertrages förmlich durch Bescheid zugesagt worden sind152. Das BAG hält es nicht für erforderlich, dass die Haushaltsmittel, aus denen die Vergütung bestritten werden soll, bereits zum Zeitpunkt der Vereinbarung der Befristung in einem Gesetz ausgebracht sind. Es ist vielmehr ausreichend, wenn der Arbeitgeber bei Vertragsschluss aufgrund nachprüfbarer Tatsachen davon ausgehen darf, dass die Vergütung aus Haushaltsmitteln wird bestritten werden können, die haushaltsrechtlich für eine befristete Beschäftigung bestimmt sind153. Die für die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG erforderliche Prognose ist ausreichend fundiert, wenn der öffentliche Arbeitgeber bei Abschluss des befristeten Arbeitsvertrags aufgrund nachprüfbarer Tatsachen davon ausgehen kann, dass für die gesamte Vertragslaufzeit ausreichende Haushaltsmittel für die Vergütung des befristet beschäftigten Arbeitnehmers bereitstehen werden. Eine solche Erwartung kann gerechtfertigt sein, wenn sich der Entwurf eines Haushaltsgesetzes, auf dessen Bestimmungen die Befris150 151 152 153

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Sievers, RdA 2004, 291 (296 f.). LAG Hamm v. 25.6.2008 – 11 Sa 281/08, juris. BAG v. 20.12.1995 – 7 AZR 194/95, NZA 1996, 642. BAG v. 22.4.2009 – 7 AZR 667/08, AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 12.

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Die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG

Rz. 22.83 § 22

tung gestützt werden könnte, bereits im Gesetzgebungsverfahren befindet oder der Inhalt des Entwurfs feststeht und seine Einbringung in das parlamentarische Verfahren zeitnah erfolgen soll. Die zuständigen Stellen der Landesverwaltung können in diesen Fällen jedenfalls dann von der zukünftigen Verfügbarkeit der erforderlichen Haushaltsmittel ausgehen, wenn der Gesetzentwurf die für die Befristung maßgebliche Bestimmung und ggf. die erforderlichen Haushaltsmittel des bisherigen Haushaltsgesetzes inhaltlich fortschreibt und keine Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, dass dieser Teil des Gesetzentwurfs nicht mit dem im Entwurf enthaltenen Inhalt als Gesetz verabschiedet werden könnte154. (c) Die Einbindung der Situation des Planstellen- oder Stelleninhabers stellt sicher, dass bei Abschluss des befristeten Arbeitsvertrags aufgrund der nur zeitlich begrenzt zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel keine dauerhafte, sondern nur eine vorübergehende Beschäftigungsmöglichkeit für den Arbeitnehmer besteht. Deswegen kann entgegen der Auffassung einiger Kammern des LAG Düsseldorf155 eine finanzielle Kongruenz nicht verlangt werden156. Anders als bei dem Sachgrund nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TzBfG157 muss sich die Prognose des öffentlichen Arbeitgebers im Rahmen von § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG auch nicht darauf beziehen, dass die Arbeitsmenge nach Ablauf des befristeten Arbeitsvertrags wieder mit dem nach dem Stellenplan verfügbaren Personal bewältigt werden kann. Es genügt vielmehr, wenn bei Vertragsschluss die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Mehrbedarf voraussichtlich während der Vertragsdauer des befristet beschäftigten Arbeitnehmers bestehen wird158. Das spricht gegen eine weitergehende Prognose des Arbeitgebers.

22.80

(6) Befristung des Haushaltsgesetzes Das Haushaltsrecht kann nicht als solches die Befristung von Arbeitsverträgen rechtferti- 22.81 gen159. Weder die zeitliche Begrenzung des Haushaltsplans auf das Haushaltsjahr noch die Ungewissheit, ob ein künftiger Haushaltsplan noch Mittel für eine bestimmte Stelle vorsieht, noch eine zu erwartende allgemeine Mittelkürzung allein können für den auf arbeitsrechtlichen Gesetzen beruhenden Arbeitnehmerschutz unmittelbar eine Rolle spielen160. (a) Der frühere Begründungsansatz des BAG, wonach das Haushaltsrecht nicht unmittelbar in die Rechte Dritter und damit auch nicht in das Arbeitsverhältnis unmittelbar eingreifen könne161, ist jedoch verfehlt, auch wenn vom unbefristeten Arbeitsverhältnis als dem sozialpolitisch erwünschten Normalfall ausgegangen wird.

22.82

Beim Abschluss des Arbeitsvertrages herrscht der Grundsatz der Vertragsfreiheit. Öffentliche Arbeitgeber dürfen davon – im Rahmen des Art. 33 Abs. 2 GG – nur und insoweit Gebrauch machen, als Mittel für die Erfüllung eines Vertrages haushaltsrechtlich zur Verfügung stehen. Wenn die begrenzten Mittel den Abschluss eines Vertrages auf Dauer nicht gestatten, darf der an das Haushaltsrecht gebundene Arbeitgeber keinen unbefristeten Arbeitsvertrag abschlie-

22.83

154 BAG v. 22.4.2009 – 7 AZR 743/07, ArbRB 2009, 292 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 9 m. Anm. Groeger. 155 LAG Düsseldorf v. 21.12.2005 – 12 Sa 1303/05, LAGE § 14 TzBfG Nr. 25. 156 BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 23. 157 BAG v. 9.3.2011 – 7 AZR 728/09, ArbRB 2011, 295 = MDR 2012, 104. 158 BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 18. 159 Dörner, Rz. 193 f. 160 So auch APS/Backhaus, § 14 TzBfG Rz. 239. 161 BAG v. 16.1.1987 – 7 AZR 487/85, NZA 1988, 279.

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§ 22 Rz. 22.83

Befristetes Arbeitsverhältnis

ßen162. Zwar ist der befristete Arbeitsvertrag ein „Minus“ gegenüber einem unbefristeten, jedoch kein „Eingriff“ in Rechte des Arbeitnehmers163. Er begründet vielmehr Rechte und Pflichten.

22.84 Beim Abschluss eines von vornherein befristeten Arbeitsvertrages wird somit, anders als bei der nachträglichen Befristung oder der Kündigung, kein vorhandener Besitzstand beseitigt164. Vor Abschluss eines Arbeitsvertrages besteht noch kein vertraglich erworbener Besitzstand, sondern lediglich ein gesetzliches Schuldverhältnis, § 311 Abs. 2 BGB.

22.85 Die arbeitsgerichtliche Befristungskontrolle dient der Prüfung, ob die Arbeitsvertragsparteien eine grundsätzlich statthafte Vertragsgestaltung objektiv funktionswidrig zulasten des Arbeitnehmers verwenden. Sie erfolgt nicht im Wege eines fiktiven Kündigungsschutzprozesses165. Tarifvertragliche Befristungsregelungen, die die Zulässigkeit befristeter Arbeitsverträge vom Vorliegen bestimmter Voraussetzungen, etwa dem Erfordernis eines sachlichen Grundes, bei Vertragsabschluss abhängig machen, sind Abschluss- und keine Beendigungsnormen166. Nichts anderes kann für § 14 Abs. 1 TzBfG gelten. Der entscheidende Zeitpunkt für die Vertragskontrolle ist der des Abschlusses des Vertrages167, also die „juristische Sekunde“, in der der noch unter „Haushaltsvorbehalt“ stehende Anspruch des Bewerbers aus Art. 33 Abs. 2 GG168 zu einem vertraglichen Besitzstand erstarkt, der jedoch hinter dem Besitzstand eines in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis stehenden Arbeitnehmers zurückbleibt.

22.86 Mit der Entscheidung vom 7.7.1999169 hatte das BAG einen Paradigmenwechsel vollzogen; seitdem lag der Rechtsprechung ein haushaltsrechtlicher Begründungsansatz zugrunde. Danach ist der vertragschließende öffentliche Arbeitgeber gehalten, keine Verpflichtungen einzugehen, die nicht vom Haushaltsgesetz (haushaltsrechtlich) gedeckt sind170. Zwar kann die Erfüllung einer bereits eingegangenen Verpflichtung nicht unter Berufung auf das Fehlen von Haushaltsmitteln verweigert werden, wenn ein Arbeitsvertrag unter Verletzung des Haushaltsgesetzes geschlossen wurde. Für die Entscheidung, sich statt zu einer unbefristeten nur zu einer befristeten Beschäftigung des Arbeitnehmers zu verpflichten, stellt jedoch die Bindung an das Haushaltsrecht einen ausreichenden sachlichen Grund dar. § 3 Abs. 2 BHO bestimmt lediglich, dass durch den Haushaltsplan Ansprüche oder Verbindlichkeiten nicht aufgehoben werden. Geht es um die Begründung von Ansprüchen durch Abschluss eines Arbeitsvertrages, kommt dem Haushaltsrecht jedoch eine entscheidende Bedeutung zu.

162 LAG Hamm v. 9.10.2008 – 17 Sa 927/08, juris; a.A. LAG Berlin v. 25.8.2006 – 6 Sa 592/06, LAGE Art. 33 GG Nr. 16; LAG Berlin-Brandenburg v. 27.2.2009 – 13 Sa 2170/08, LAGE § 14 TzBfG Nr. 50. 163 Dörner, Rz. 225. 164 BAG v. 20.2.2002 – 7 AZR 600/00, ArbRB 2002, 223 = AP § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung Nr. 11. 165 BAG v. 20.2.2002 – 7 AZR 600/00, ArbRB 2002, 223 = AP § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung Nr. 11. 166 BAG v. 14.2.1990 – 7 AZR 68/89, AP § 1 BeschFG 1985 Nr. 12; Sievers, § 22 TzBfG Rz. 7; kritisch jedoch Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 83; Kempen/Zachert, 4. Aufl., § 1 TVG Rz. 69; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Band I, 1997, S. 586 f. 167 BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 11. 168 BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, ArbRB 2003, 43 = AP Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 56. 169 BAG v. 7.7.1999 – 7 AZR 609/97, NZA 2000, 591 (592). 170 So auch BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2, Rz. 17.

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Die Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG

Rz. 22.90 § 22

(b) Gemäß Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG wird der Haushaltsplan lediglich für ein oder mehrere Rechnungsjahre nach Jahren getrennt durch das Haushaltsgesetz festgestellt. Dieses sog. „Jährlichkeitsprinzip“ greift § 1 Satz 1 BHO auf und beschränkt es dahin, dass der Haushaltsplan lediglich für höchstens zwei Rechnungsjahre durch das Haushaltsgesetz festgestellt wird. Dieser Haushaltsplan ist Grundlage für die Haushalts- und Wirtschaftsführung. Er begründet keine Ansprüche oder Verbindlichkeiten, sondern ermächtigt lediglich die Verwaltung, Verpflichtungen einzugehen und Ausgaben zu leisten (§ 3 Abs. 1 und 2 BHO). Grundsätzlich sind Maßnahmen, die den Bund verpflichten können, Ausgaben auch in künftigen Haushaltsjahren zu leisten (Haushaltsjahr ist nach § 4 Satz 1 BHO das Kalenderjahr), nach § 38 Abs. 1 Satz 1 BHO nur zulässig, wenn der Haushaltsplan dazu ermächtigt.

22.87

Diese grundsätzliche zeitliche Begrenzung der Ausgabenermächtigung war bislang nicht als 22.88 sachlicher Grund für die Befristung eines Arbeitsvertrages anerkannt171. Gemäß § 38 Abs. 4 Satz 1 BHO dürfen Verpflichtungen für laufende Geschäfte eingegangen werden, ohne dass die Voraussetzungen der Abs. 1 und 2 vorliegen. Zu den laufenden Geschäften zählen nach Nr. 5.1 der Vorläufigen Verwaltungsvorschrift zu § 38 BHO (VV-BHO) solche, die sich im Rahmen der üblichen Tätigkeit der Verwaltung auf Ausgaben ua. der Hauptgruppe 4 beziehen. Die Hauptgruppe 4 des Gruppierungsplans (vgl. § 14 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a BHO) umfasst Personalausgaben und schließt Personalausgaben für Arbeitnehmer ein. Die Einstellung von Dauerpersonal im Rahmen des Stellenplans zählt zur üblichen Tätigkeit der Verwaltung. Denn mit dem Stellenplan legt das Parlament den Handlungsspielraum der Verwaltung auf personellem Gebiet auch zur Vorbelastung künftiger Haushaltsjahre fest. Soweit sich die Verwaltung im Rahmen des Stellenplans bewegt, stellt daher der Abschluss eines unbefristeten Arbeitsvertrages ein laufendes Geschäft dar172. § 3 Abs. 2 BHO, wonach durch den Haushaltsplan Ansprüche oder Verbindlichkeiten nicht begründet werden, steht dem nicht entgegen. Denn die Verbindlichkeit wird nicht durch den Haushaltsplan begründet, sondern durch den unbefristeten Arbeitsvertrag, der im Rahmen der haushaltsrechtlichen Ermächtigung vereinbart wurde. Rechtsgrundlage der Verpflichtung ist nicht das Haushaltsgesetz, sondern der Vertrag. Nach § 3 Abs. 1 BHO ermächtigt der Haushaltsplan die Verwaltung, Verpflichtungen einzugehen. § 38 BHO bestimmt, wie weit die Ermächtigung im Hinblick auf Verpflichtungen, die künftige Haushaltsjahre belasten, reicht173. Ob und inwieweit die Verwaltung von dieser Ermächtigung Gebrauch macht, ist eine Frage der Mittelbewirtschaftung und des Organisationsermessens. Deswegen kann bspw. ein bereits eingeleitetes Bewerbungs- und Auswahlverfahren aus sachlichen Gründen jederzeit wieder beendet oder von einer ursprünglich geplanten Beförderung absehen werden. Als eine aus dem Organisationsrecht des Dienstherrn erwachsende verwaltungspolitische Entscheidung berührt der Abbruch des Auswahlverfahrens grundsätzlich nicht die Rechtsstellung von Bewerbern. Das für den Abbruch des Auswahlverfahrens maßgebliche organisations- und verwaltungspolitische Ermessen ist ein anderes als das bei einer Stellenbesetzung zu beachtende Auswahlermessen174.

22.89

Dass die Verwaltung durch das Jährlichkeitsprinzip nicht gehindert ist, unbefristete Rechtsverhältnisse mit Bediensteten einzugehen, die künftige Haushaltsjahre belasten, ergibt sich

22.90

171 172 173 174

Arnold/Gräfl/Gräfl, § 14 TzBfG Rz. 233. Dittrich, BHO, § 38 Rz. 3.2. Dittrich, BHO, § 38 Rz. 2.1. BVerwG v. 22.7.1999 – 2 C 14/98, NVwZ-RR 2000, 172; LAG Hamm v. 14.8.2003 – 11 Sa 1743/02, NZA-RR 2004, 335; BAG v. 24.1.2007 – 4 AZR 629/06, ZTR 2007, 566; v. 17.8.2010 – 9 AZR 347/09, ZTR 2011, 46.

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§ 22 Rz. 22.90

Befristetes Arbeitsverhältnis

auch daraus, dass das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums iSv. Art. 33 Abs. 5 GG gehört175 und Tarifverträge, deren Abschluss durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt ist, den Abschluss befristeter Arbeitsverträge ausschließen oder zumindest an bestimmte Voraussetzungen knüpfen können. Das im Demokratiegebot verankerte Budgetrecht des Parlaments, das durch das Jährlichkeitsprinzip verstärkt wird176, und die Bindung öffentlicher Arbeitgeber an auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 3 GG abgeschlossene Tarifverträge müssen daher unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung im Wege praktischer Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden. Die Bindung an Tarifverträge ist nicht nur in § 3 Abs. 1 TVG, sondern auch haushaltsrechtlich in § 51 BHO indirekt anerkannt. Folglich stellt das durch § 38 Abs. 4 Satz 1 BHO durchbrochene Jährlichkeitsprinzip keine haushaltsrechtliche Regelung iSv. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG dar.

22.91 Die Ungewissheit, ob ein künftiger Haushaltsplan noch ausreichend Mittel für eine unbefristete Beschäftigung zur Verfügung stellt, ist die Kehrseite des Jährlichkeitsprinzips und somit ebenfalls keine haushaltsrechtliche Bestimmung von Haushaltsmitteln für eine befristete Beschäftigung. Dasselbe gilt für eine zu erwartende allgemeine Mittelkürzung.

IV. Die Vertretung als sachlicher Grund nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG 1. Einführung

22.92 Fallen Arbeitnehmer vorübergehend aus, kann der Arbeitgeber grundsätzlich frei darüber entscheiden, ob er überhaupt und ggf. wie er den Arbeitsausfall überbrückt. Er kann insbesondere frei entscheiden, ob er die von dem zeitweilig verhinderten Arbeitnehmer zu erledigenden Aufgaben einem oder mehreren anderen bereits bei ihm tätigen Arbeitnehmern zuweist oder ob er sie ganz oder teilweise von einer einzustellenden Vertretungskraft erledigen lässt. Die Beschäftigung zur Vertretung eines anderen Arbeitnehmers ist allgemein in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG und speziell in § 21 BEEG als Grund für die Befristung des Arbeitsvertrages mit einem Vertreter anerkannt.

22.93 Entscheidet sich der Arbeitgeber anlässlich des vorübergehenden Ausfalls eines Arbeitnehmers für die Einstellung einer Ersatzkraft und schließt er einen nicht unter § 14 Abs. 2 TzBfG fallenden befristeten Arbeitsvertrag ab, setzt der Sachgrund der Vertretung iSd. §§ 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG, 21 Abs. 1 BEEG einen Kausalzusammenhang zwischen dem zeitweiligen Ausfall des Vertretenen und der Einstellung des Vertreters voraus. Fehlt dieser Kausalzusammenhang, ist die Befristung nicht durch den Sachgrund der Vertretung gerechtfertigt. Die Anforderungen an die Darlegung des Kausalzusammenhangs durch den Arbeitgeber richten sich dabei nach der Form der Vertretung177.

22.94 In den Fällen der unmittelbaren Vertretung ergibt sich der Kausalzusammenhang daraus, dass der Arbeitgeber darlegt, dass der Vertreter nach dem Arbeitsvertrag mit Aufgaben betraut worden ist, die zuvor dem vorübergehend abwesenden Arbeitnehmer übertragen waren. In den Fällen der mittelbaren Vertretung hat der Arbeitgeber grundsätzlich die Vertretungskette zwischen dem Vertretenen und dem Vertreter darzulegen178. Dabei steht es dem Arbeitgeber frei, den Arbeitsplan unverändert beizubehalten oder den zeitweiligen Ausfall 175 176 177 178

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BVerfG v. 10.12.1985 – 2 BvL 18/83, BVerfGE 71, 255 (268). BK/Gröpl, Art. 110 GG Rz. 122. BAG v. 15.2.2006 – 7 AZR 232/05, AP § 14 TzBfG Nr. 23. BAG v. 15.2.2006 – 7 AZR 232/05, AP § 14 TzBfG Nr. 23.

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Die Vertretung als sachlicher Grund nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG

Rz. 22.97 § 22

eines Mitarbeiters zum Anlass für eine Umorganisation zu nehmen und infolge dieser Umorganisation einen völlig neuen Arbeitsplan zu erstellen. Das schließt die Möglichkeit ein, dass ein nach seinen Inhalten neuer Arbeitsplatz entsteht, der nach der bisherigen Arbeitsorganisation noch nicht vorhanden war179. Die befristete Beschäftigung lässt die Versetzungs- und Umsetzungsbefugnisse des Arbeitgebers unberührt180. Der Arbeitgeber muss die Vertretungskraft auch nicht für die gesamte voraussichtliche Dauer der Verhinderung einstellen, sondern kann auch einen kürzeren Zeitraum wählen181. 2. Besonderheiten der „Variante“ der gedanklichen Stellvertretung Bereits im Urteil vom 14.8.2001 hat das BAG ausgeführt, dass sich der Kausalzusammen- 22.95 hang nicht nur aus einem bei Abschluss des befristeten Arbeitsvertrags vorhandenen Vertretungskonzepts, sondern auch aus anderen Umständen ergeben kann182. Im Urteil vom 15.2.2006183 hat das BAG neben den Formen der unmittelbaren und mittelbaren Vertretung ausdrücklich eine weitere, von diesen beiden abzugrenzende zulässige Form der Vertretung anerkannt184. Werden dem Vertreter die Aufgaben des zu vertretenden Arbeitnehmers weder unmittelbar noch mittelbar durch eine Vertretungskette übertragen, kann jedoch allein aus der befristeten Einstellung eines mit dem Vertretenen nach Ausbildung und Erfahrungswissen vergleichbaren Arbeitnehmers nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit geschlossen werden, dass der Vertragsschluss auf den Vertretungsfall zurückzuführen ist185. Der für den Sachgrund der Vertretung notwendige Kausalzusammenhang besteht jedoch unter zwei Voraussetzungen: erstens, wenn der Vertreter mit Aufgaben betraut wird, die von dem Vertretenen ausgeübt werden könnten. Das setzt voraus, dass der Arbeitgeber aufgrund des Arbeitsvertrages mit dem vorübergehend abwesenden Arbeitnehmer berechtigt wäre, diesem den Aufgabenbereich des Vertreters zuzuweisen. Zweitens muss der Arbeitgeber bei Abschluss des Arbeitsvertrages mit dem Vertreter dessen Aufgaben einem oder mehreren vorübergehend abwesenden Beschäftigten gedanklich zuordnen. Diese gedankliche Zuordnung muss nachprüfbar sein und kann zB durch eine entsprechende Angabe im Arbeitsvertrag oder im Rahmen der Beteiligung der Arbeitnehmervertretung bei der Einstellung erfolgen186.

22.96

Weil der Arbeitgeber frei ist zu entscheiden, ob er den zeitweiligen Ausfall eines Arbeitneh- 22.97 mers überhaupt durch eine Ersatzkraft überbrückt, und weil die befristete Beschäftigung zur Vertretung die Versetzungs- und Umsetzungsbefugnisse des Arbeitgebers unberührt lässt, muss der Arbeitgeber mit dem Vertreter nicht dieselbe wöchentliche Arbeitszeit vereinbaren wie mit dem vorübergehend ausgefallenen Arbeitnehmer187. Er kann auch einen vollbeschäftigten Angestellten zur Vertretung für zwei teilzeitbeschäftigte Angestellte einstel-

179 180 181 182 183 184 185 186 187

BAG v. 15.2.2006 – 7 AZR 232/05, AP § 14 TzBfG Nr. 23. BAG v. 10.3.2004 – 7 AZR 397/03, ArbRB 2004, 207. BAG v. 21.2.2001 – 7 AZR 200/00, AP § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 226. BAG v. 14.8.2001 – 7 AZR 263/00, BAGE 98, 337 = ArbRB 2002, 5 (343). BAG v. 15.2.2006 – 7 AZR 232/05, AP § 14 TzBfG Nr. 23. Ebenso BAG v. 24.5.2006 – 7 AZR 640/05 und 18.4.2007 – 7 AZR 255/06, juris. BAG v. 13.10.2004 – 7 AZR 654/03, AP § 14 TzBfG Nr. 13. BAG v. 15.2.2006 – 7 AZR 232/05, AP § 14 TzBfG Nr. 23. BAG v. 20.1.2010 – 7 AZR 542/08, EzA § 14 TzBfG Nr. 64.

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§ 22 Rz. 22.97

Befristetes Arbeitsverhältnis

len188 oder einen Teilzeitbeschäftigten für einen anderen Teilzeitbeschäftigten mit höherer Arbeitszeit189.

22.98 Der Arbeitgeber muss aber rechtlich und tatsächlich in der Lage sein, dem Vertretenen die Aufgaben des Vertreters zuzuweisen. Das hängt von der Reichweite des Direktionsrechts ab, das gemäß § 106 GewO durch den Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträge einschränkt werden kann. Außerdem muss der Vertretene aufgrund seiner Qualifikation fachlich in der Lage sein, die Aufgaben des Vertreters wahrzunehmen. Da es genügt, dass dem oder den zu vertretenden Beschäftigten ein neuer Aufgabenbereich gedanklich zugeordnet wird, bedarf es keines Umsetzungsentschlusses des Arbeitgebers, erst recht ist nicht erforderlich, dass ein Entschluss „greifbare Formen angenommen“ haben müsste oder der oder die zu vertretende Beschäftigte tatsächlich umgesetzt werden190.

22.98a Für eine gedankliche Vertretung ist nach Ansicht des BAG kein Raum, wenn der Arbeitgeber gegenüber dem zu vertretenden Beschäftigten von seinem Direktionsrecht, zB durch Abordnung, Gebrauch gemacht hat. Der Arbeitgeber kann von seinem Direktionsrecht – bei identischem Anlass – nur einmal Gebrauch machen. Der Fall der Abordnung unterscheidet sich von den Fällen der vollständigen Abwesenheit der Stammkraft – etwa wegen Urlaubs oder Krankheit – dadurch, dass der Arbeitgeber an der Ausübung des Direktionsrechts nicht vorübergehend gehindert ist, sondern es wahrgenommen hat. Anderenfalls würde dem Arbeitgeber die Möglichkeit eröffnet, sich ohne sachliche Rechtfertigung Befristungsmöglichkeiten selbst zu schaffen. Das wäre mit dem aus dem TzBfG folgenden Gebot einer wirksamen Befristungskontrolle unvereinbar191. Anders als bei dem aus Sicht des Arbeitgebers „fremdbestimmten“ Ausfall von Stammkräften hängt in Fällen der Abordnung die voraussichtliche Rückkehr der Stammkraft regelmäßig nicht nur von Umständen in deren Sphäre, sondern ganz maßgeblich auch von Umständen und Entscheidungen ab, die in der Sphäre des Arbeitgebers liegen. Die Rückkehr des abgeordneten Arbeitnehmers auf seinen Stammarbeitsplatz ist häufig durch den Arbeitgeber plan- und steuerbar. Dieser strukturelle Unterschied zu den Fällen der für den Arbeitgeber „fremdbestimmten“ Abwesenheit der Stammkraft ist bei der vom Arbeitgeber anzustellenden Rückkehrprognose in den Fällen der unmittelbaren oder mittelbaren Stellvertretung zu berücksichtigen. Diese kann sich nicht darauf beschränken, die Stammkraft werde, sofern sie nicht Gegenteiliges erklärt hat, auf ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Vielmehr muss der Arbeitgeber bei der Prognose über die voraussichtliche Rückkehr der abgeordneten Stammkraft sämtliche Umstände des Einzelfalls würdigen. Dazu gehören nicht nur etwaige Erklärungen der abgeordneten Stammkraft über ihre Rückkehrabsichten, sondern insbesondere auch die Planungs- und Organisationsentscheidungen des Arbeitgebers. Je nach Lage des Einzelfalls kann der Zweck der Abordnung es nahelegen, dass der Arbeitgeber den Arbeitsplatz des anderweitig eingesetzten Arbeitnehmers frei hält. Er kann aber auch gegen eine solche Annahme sprechen. Von Bedeutung können zudem ihre Dauer sowie etwaige wiederholte Verlängerungen der Abordnung sein. Zu berücksichtigen ist ggf. auch, ob die Abordnung dem Wunsch des Beschäftigten entsprach oder gegen seinen Willen erfolgte. Ebenfalls ist zu würdigen, ob die Rückkehr der Stammkraft auf ihren Arbeitsplatz nach Ablauf der Abordnung automatisch erfolgt oder ob es hierzu einer weiteren Entscheidung bedarf. Dabei kann auch eine Rolle spielen, ob eine solche Entscheidung allein vom

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BAG v 18.4.2007 – 7 AZR 293/06, ZTR 2007, 697. BAG v. 20.1.2010 – 7 AZR 542/08, EzA § 14 TzBfG Nr. 64. BAG v. 21.2.2001 – 7 AZR 107/00, AP § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 228. BAG v. 16.1.2013 – 7 AZR 662/11, ArbRB 2013, 138 = MDR 2013, 663.

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Die Vertretung als sachlicher Grund nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG

Rz. 22.102 § 22

Willen der Stammkraft, vom Willen des Arbeitgebers oder von einem beiderseitigen Einvernehmen abhängt192. Die Reichweite des Direktionsrechts bestimmt sich nach dem Arbeitsvertrag. Sie kann durch Tarifverträge eingeschränkt sein. Im öffentlichen Dienst wird das Direktionsrecht durch die tarifliche Eingruppierung eingeschränkt. Jedenfalls bei gleicher Eingruppierung und hinreichender fachlicher Eignung des Vertretenen ist eine gedankliche Zuordnung der Aufgaben des Vertretenen möglich. Allerdings schließen Unterschiede in der Eingruppierung eine gedankliche Zuordnung nicht von vornherein aus. Denn nach § 22 Abs. 2 Unterabs. 2 BAT genügt es, dass nur zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die der tariflichen Eingruppierung entsprechen.

22.99

Mit dieser dritten Variante der Stellvertretung dürfte somit vor allem prozessual im Hinblick auf die Darlegungslast des Arbeitgebers eine erhebliche Erleichterung für den Abschluss befristeter Arbeitsverträge zur Vertretung verbunden sein193.

22.100

3. Besonderheiten der „Gesamtvertretung“ im Schuldienst Von den Fällen einer unmittelbaren und mittelbaren Einzelvertretung unterscheidet sich eine Gesamtvertretung bei Lehrkräften im Schulbereich dadurch, dass innerhalb einer durch Organisationsentscheidung festgelegten Verwaltungseinheit der Vertretungsbedarf für das Lehrpersonal eines Schulbereichs bezogen auf ein Schuljahr rechnerisch ermittelt und durch befristet eingestellte Vertretungskräfte abgedeckt wird, die nicht unbedingt an den Schulen der zu vertretenden Lehrkräfte eingesetzt werden oder deren Fachkombinationen unterrichten. Eine darauf gestützte Befristung ist nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG wirksam, wenn sich für ein Schuljahr aufgrund der zu erwartenden Schülerzahlen und der unterrichtsorganisatorischen Vorgaben ein Unterrichtsbedarf ergibt, der für die Unterrichtsversorgung mit den planmäßigen Lehrkräften in diesem Zeitraum aufgrund feststehender Beurlaubung oder aus sonstigen Gründen vorübergehend nicht zur Verfügung steht194. Das BAG hat ausdrücklich dahingestellt sein lassen, ob an dieser Rechtsprechung festzuhalten ist, welche Modifikationen ggf. vorzunehmen sind und welche schulorganisatorischen Einheiten für die Anwendung dieses Rechtsinstituts ggf. in Betracht kämen195.

22.101

Grundsätzlich könnte der Arbeitgeber den Aushilfsbedarf auch im Wege einer Einzelvertretung abdecken. Dazu würde es genügen, im einzelnen Fall eine vorübergehend nicht zur Verfügung stehende planmäßige Lehrkraft für die Dauer ihrer Abwesenheit förmlich an diejenige Schule abzuordnen, an der die Vertretungskraft eingesetzt und mit Aufgaben beschäftigt wird, die auch die planmäßige Lehrkraft erbringen könnte. Will der Arbeitgeber diese – umständliche und letztlich sinnentleerte – Maßnahme nicht durchführen, bleibt er doch an die dem Sachgrund der Vertretung immanente Vorgabe gebunden, dass diese Umsetzungsoder Versetzungsmaßnahme tatsächlich möglich ist. Der Sachgrund der Gesamtvertretung im Schulbereich setzt demnach umfassende Versetzungs- und Umsetzungsbefugnisse des Arbeitgebers hinsichtlich der beamteten und angestellten planmäßigen Lehrkräfte sowie der befristet angestellten Vertretungskräfte voraus. Verzichtet wird lediglich auf die förmliche

22.102

192 193 194 195

BAG v. 16.1.2013 – 7 AZR 661/11, ArbRB 2013, 138 = MDR 2013, 604. Näher dazu Groeger, ArbRB 2008, 65; kritisch Eisenmann, NZA 2009, 1113. BAG v. 23.2.2000 – 7 AZR 555/98, RzK I 9c Nr. 35. BAG v. 10.10.2012 – 7 AZR 462/11, ArbRB 2013, 106 = ZTR 2013, 138; grds. ablehnend Boecken/Joussen/Boecken, § 14 TzBfG Rz. 60.

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§ 22 Rz. 22.102

Befristetes Arbeitsverhältnis

Durchführung von Versetzungs- und Umsetzungsmaßnahmen allein zum Nachweis des Aushilfsbedarfs196.

22.103 Der Sachgrund der Gesamtvertretung bei Lehrkräften setzt nicht voraus, dass der Arbeitgeber den in zulässiger Weise ermittelten Vertretungsbedarf durch die befristete Einstellung von Vertretungskräften völlig abdeckt. Nach den Wertungsmaßstäben des Sachgrunds der Vertretung ist es ausreichend, dass zwischen dem zeitweiligen Ausfall einer planmäßigen Lehrkraft und der befristeten Einstellung der Vertretungskraft ein Kausalzusammenhang besteht. Dieser bleibt gewahrt, wenn die Zahl der befristet eingestellten Vertretungskräfte einen zutreffend ermittelten Gesamtvertretungsbedarf für planmäßige Lehrkräfte nicht übersteigt197.

22.104 Schließt das Land mit Vertretungskräften im Rahmen eines Gesamtvertretungsbedarfs schuljahresbezogene Zeitverträge, muss dieser Vertretungsbedarf auf zeitlich entsprechenden Abwesenheitszeiten planmäßiger Lehrkräfte beruhen. Daraus folgt, dass der Arbeitgeber bei der Ermittlung des Gesamtvertretungsbedarfs im Schulbereich nicht jede Abwesenheit einer planmäßigen Lehrkraft ungeachtet ihrer voraussichtlichen Dauer zum Anlass für eine schuljahresbezogene Einstellung von Vertretungskräften nehmen darf. Denn ansonsten wäre der Sachgrund der Gesamtvertretung nur noch der äußere Anlass für den Abschluss von Zeitverträgen und damit vorgeschoben, weil ein auf das Schuljahr bezogener tatsächlicher Vertretungsbedarf in diesem Umfang nicht besteht198.

22.105 Der künftige Vertretungsbedarf wird jedoch nicht nur durch die Ungewissheit bestimmt, in welchem Umfang und für welche Zeitdauer bestehende Beschäftigungsverhältnisse suspendiert sein werden, sondern auch von der Entwicklung des tatsächlichen Arbeitsanfalls. Das erfordert eine zusätzliche Prognose zum tatsächlichen Arbeitskräftebedarf aufgrund der für das jeweilige Schuljahr zu erwartenden Schülerzahlen, der Klassenstärken und der Auswirkungen organisationsspezifischer Unterrichtsvorgaben. Denn ein Gesamtvertretungsbedarf setzt die Deckung eines tatsächlichen Lehrkräftebedarfs voraus, der ohne die Beurlaubung oder sonstige schuljahresbezogene Abwesenheit von planmäßigen Lehrkräften ansonsten nicht entstanden wäre und für den an sich planmäßig angestellte Lehrkräfte auf Dauerarbeitsplätzen vorhanden sind199. 4. Institutioneller Rechtsmissbrauch

22.105a Nach der Rechtsprechung des BAG steht selbst ein ständiger Vertretungsbedarf dem Vorliegen eines Sachgrunds iSv. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG nicht entgegen. Für die Annahme einer – zur Unwirksamkeit der Befristung führenden – sog. „Dauervertretung“ genügt es nicht, wenn bereits im Zeitpunkt des Abschlusses eines befristeten Arbeitsvertrags zu erwarten ist, dass über das Ende der Vertragslaufzeit hinaus ein weiterer, eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers ermöglichender Vertretungsbedarf vorhanden sein wird. Eine „Dauervertretung“ liegt nur dann vor, wenn der Arbeitnehmer von vornherein nicht lediglich zur Vertretung eines bestimmten, vorübergehend an der Arbeitsleistung verhinderten Arbeitnehmers eingestellt wird, sondern bereits bei Vertragsschluss beabsichtigt ist, ihn für eine zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht absehbare Vielzahl von Vertretungsfällen auf Dauer zu

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BAG v. 23.2.2000 – 7 AZR 555/98, RzK I 9c Nr. 35. BAG v. 23.2.2000 – 7 AZR 555/98, RzK I 9c Nr. 35. BAG v. 23.2.2000 – 7 AZR 555/98, RzK I 9c Nr. 35. BAG v. 23.2.2000 – 7 AZR 555/98, RzK I 9c Nr. 35.

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Die Vertretung als sachlicher Grund nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG

Rz. 22.105d § 22

beschäftigen. In diesem Fall ist der Sachgrund der Vertretung lediglich vorgeschoben und daher unbeachtlich200. Allein eine große Anzahl der mit einem Arbeitnehmer hintereinander abgeschlossenen befristeten Arbeitsverträge oder die Gesamtdauer einer „Befristungskette“ führen nach der Rechtsprechung des BAG nicht dazu, dass an den Sachgrund der Vertretung „strengere Anforderungen“ zu stellen sind201.

22.105b

Das BAG hält auch nach der Vorabentscheidung des EuGH202 an den zur Vertretungsbefristung entwickelten Grundsätzen fest. Die Entscheidung des EuGH veranlasst hinsichtlich des Sachgrunds der Vertretung keine Änderung der Prüfungsmaßstäbe. Das gilt sowohl für die Rechtsfigur der gedanklichen Zuordnung, als auch im Falle eines ständigen Vertretungsbedarfs. Auch müssen Vertretungsbefristungen mit zunehmender Anzahl und Dauer der befristeten Arbeitsverhältnisse weder „strenger“ kontrolliert werden noch sind an eine Rückkehrprognose mit der Zeit erhöhte Anforderungen zu stellen203. Jedoch dürfen sich die nationalen Gerichte bei der Befristungskontrolle nicht nur auf die Prüfung des geltend gemachten Sachgrunds der Vertretung beschränken, sondern haben sie „stets alle Umstände des Einzelfalls zu prüfen und dabei namentlich die Zahl der mit derselben Person oder zur Verrichtung der gleichen Arbeit geschlossenen aufeinanderfolgenden befristeten Verträge zu berücksichtigen, um auszuschließen, dass Arbeitgeber missbräuchlich auf befristete Arbeitsverträge oder -verhältnisse zurückgreifen, mögen diese auch augenscheinlich zur Deckung eines Vertretungsbedarfs geschlossen worden sein“204.

22.105c

Das Gebot einer umfassenden Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls birgt ohne 22.105d eine Konkretisierung dieser Umstände für Rechtsanwender eine nicht unerhebliche Rechtsunsicherheit. Kriterien, die bei einer Gesamtwürdigung auf einen Gestaltungsmissbrauch hindeuten können, müssen dem Schutzkonzept des § 14 TzBfG iVm. § 5 Nr. 1 Buchst. a der Rahmenvereinbarung Rechnung tragen. Erlaubt das TzBfG die Befristung von Arbeitsverträgen bei Vorliegen eines Sachgrunds, ergibt sich zwingend, dass die Schwelle zur missbräuchlichen Fortsetzung aneinandergereihter Verträge deutlich über derjenigen liegen muss, die für die Befristungskontrolle nach § 14 Abs. 1 TzBfG maßgeblich ist. Auch ist zu berücksichtigen, dass unionsrechtlich ein dauerhafter Vertretungsbedarf dem Abschluss von Vertretungsbefristungen nicht grundsätzlich entgegensteht. Von besonderer Bedeutung für die Beurteilung eines möglichen Rechtsmissbrauchs sind die Gesamtdauer der befristeten Verträge sowie die Anzahl der Verlängerungen. Bei einer Gesamtdauer von mehr als elf Jahren und 13 Befristungen ist eine missbräuchliche Gestaltung indiziert, während bei einer Gesamtdauer von sieben Jahren und neun Monaten und vier Befristungen Anhaltspunkte für einen Gestaltungsmissbrauch noch nicht vorliegen205. Genaue quantitative Vorgaben hinsichtlich Gesamtdauer und/oder Anzahl der befristeten Verträge, nach denen ein Missbrauch anzunehmen ist, würden dem Gebot, im Einzelfall alle Umstände in eine Gesamtwürdigung einzubeziehen, nicht gerecht. Als grobe Orientierungshilfe zur Bestimmung der Schwelle einer rechtsmissbräuch200 201 202 203 204

BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, ArbRB 2013, 4 = ZIP 2013, 687. BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, ArbRB 2013, 4 = ZIP 2013, 687. EuGH v. 26.1.2012 – C-586/10, ArbRB 2012, 35 = EzA § 14 TzBfG Nr. 80. BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, ArbRB 2013, 4 = ZIP 2013, 687. EuGH v. 26.1.2012 – C-586/10, ArbRB 2012, 35 = EzA § 14 TzBfG Nr. 80; BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, ArbRB 2013, 4 = ZIP 2013, 687. 205 BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, ArbRB 2013, 4 = ZIP 2013, 687; v. 18.7.2012 – 7 AZR 783/10, DB 2012, 2634.

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§ 22 Rz. 22.105d

Befristetes Arbeitsverhältnis

lichen Gestaltung von Sachgrundbefristungen, die im Laufe der weiteren Entwicklung der Rechtsprechung aus Gründen der Rechtssicherheit ggf. noch weiter zu konkretisieren sei, knüpft das BAG – wie vom Schrifttum angeregt – an die gesetzlichen Wertungen in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG an. Sie kennzeichnet den nach Auffassung des Gesetzgebers unter allen Umständen unproblematischen Bereich. Ist ein Sachgrund nach § 14 Abs. 1 TzBfG gegeben, lässt erst das erhebliche Überschreiten dieser Grenzwerte den Schluss auf eine missbräuchliche Gestaltung zu206.

22.105e Kein gesteigerter Anlass zur Missbrauchskontrolle besteht, wenn – nicht mindestens das Vierfache eines der in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG bestimmten Werte – oder das Dreifache beider Werte überschritten ist. Damit kann ein Arbeitsvertrag bei Vorliegen eines Sachgrundes befristet werden, solange das Arbeitsverhältnis nicht die Gesamtdauer von 6 Jahren überschreitet und zudem nicht mehr als 9 Vertragsverlängerungen vereinbart wurden, es sei denn, die Gesamtdauer übersteigt 8 Jahre oder es wurden mehr als 12 Vertragsverlängerungen vereinbart. Werden die in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG genannten Grenzen alternativ oder kumulativ mehrfach überschritten, ist eine umfassende Missbrauchskontrolle veranlasst. Davon ist idR auszugehen, wenn – einer der beiden Werte mehr als das Vierfache beträgt – oder beide Werte das Dreifache übersteigen. Das ist der Fall, wenn die Gesamtdauer des befristeten Arbeitsverhältnisses 8 Jahre überschreitet oder mehr 12 Vertragsverlängerungen vereinbart wurden oder wenn die Gesamtdauer des befristeten Arbeitsverhältnisses 6 Jahre überschreitet und mehr als 9 Vertragsverlängerungen vereinbart wurden. Ist eine Rechtsmissbrauchskontrolle danach geboten, muss zunächst der Arbeitnehmer weitere für einen Missbrauch sprechende Umstände vorzutragen.

22.105f Werden die in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG genannten Grenzen dagegen alternativ oder insbesondere kumulativ in gravierendem Ausmaß überschritten, kann eine rechtsmissbräuchliche Ausnutzung der an sich eröffneten Möglichkeit zur Sachgrundbefristung indiziert sein. Von einem indizierten Rechtsmissbrauch ist idR auszugehen, wenn – durch die befristeten Verträge einer der Werte um mehr als das Fünffache – oder beide Werte um mehr als das Vierfache überschritten werden. Das ist der Fall, wenn die Gesamtdauer des Arbeitsverhältnisses 10 Jahre übersteigt oder mehr als 15 Vertragsverlängerungen vereinbart wurden oder wenn mehr als 12 Vertragsverlängerungen bei einer Gesamtdauer von mehr als 8 Jahren vorliegen207. Bei der Prüfung, ob der Arbeitgeber nach diesen Grundsätzen gehindert ist, sich auf den Sachgrund der Vertretung zu berufen, sind auch Zeiten, in denen das Arbeitsverhältnis zwischen den befristeten Arbeitsverträgen unterbrochen war, zu berücksichtigen. Eine Unterbrechung von zwei Jahren schließt in der Regel aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge aus und führt dazu, dass nur die nach der Unterbrechung abgeschlossenen Arbeitsverträge in die Miss206 BAG v. 13.2.2013 – 7 AZR 225/11, NZA 2013, 777; v. 10.7.2013 – 7 AZR 761/11, NZA 2014, 26; Schwarze, RdA 2017, 302. 207 BAG v. 12.4.2017 – 7 AZR 436/15, NZA 2017, 1253; HWK/Rennpferdt, § 14 TzBfG Rz. 40 f.

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Besondere tarifvertragliche Regelungen, § 30 TVöD/TV-L

Rz. 22.106 § 22

brauchskontrolle einzubeziehen sind. Das BAG hat offengelassen, wie lange das Arbeitsverhältnis unterbrochen sein muss, um nicht mehr von aufeinanderfolgenden befristeten Arbeitsverträgen ausgehen zu können und ob dies bereits bei einer Unterbrechung von drei Monaten und drei Wochen anzunehmen ist. Dieser Zeitraum kann jedenfalls im Rahmen der Gesamtwürdigung aller Umstände gegen eine rechtsmissbräuchliche Ausnutzung der Befristungsmöglichkeit sprechen208. Mit der Rechtsfigur des institutionellen Rechtsmissbrauchs als weiterem Prüfungspunkt öffnet die Rechtsprechung – wie stets bei der Anwendung zivilrechtlicher Generalklauseln – ein weites Feld. Genau genommen kehrt die Rechtsprechung damit zum Ursprung der Befristungskontrolle zurück209. Da das Erfordernis eines sachlichen Grundes nach § 14 Abs. 1 TzBfG formal der Umsetzung der Rahmenvereinbarung zur Richtlinie 1999/70/EG und damit materiell der Vermeidung des Missbrauchs durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge dient, ist es an sich eine „contradictio in adjecto“, wenn bei Vorliegen eines sachlichen Grundes eine (weitere) Kontrolle darauf, ob ein institutioneller Rechtsmissbrauch vorliegt, noch möglich sein und zu dem Ergebnis führen können soll, dass die Befristung trotz Vorliegen eines sachlichen Grundes unwirksam ist. Dogmatisch überzeugender wäre eine unionsrechtskonforme Auslegung der Begrifflichkeiten und einzelnen Tatbestände des § 14 Abs. 1 TzBfG dahin, dass damit ein Missbrauch beim Abschluss aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge vermieden werden soll. Daraus folgt jedoch, dass es sich hier, nachdem der EuGH das Schutzkonzept der Rechtsprechung des BAG unbeanstandet gelassen hat, nur um extreme Ausnahmefälle handeln kann.

22.105g

V. Besondere tarifvertragliche Regelungen, § 30 TVöD/TV-L § 30 Abs. 1 Satz 1 TVöD/TV-L bestimmt deklaratorisch, dass befristete Arbeitsverträge nach Maßgabe des TzBfG sowie anderer gesetzlicher Vorschriften über die Befristung von Arbeitsverträgen zulässig sind. Die Absätze 2 bis 5 regeln Besonderheiten. Sie gelten nach § 30 Abs. 1 Satz 2 TVöD/TV-L nicht für sämtliche Beschäftigten, die in den persönlichen Geltungsbereich der Tarifverträge fallen, sondern lediglich für Beschäftigte, auf die die Regelungen des Tarifgebiets West (s. § 38 Abs. 1 TVöD/TV-L) Anwendung finden und deren Tätigkeit vor dem 1.1.2005 der Rentenversicherung der Angestellten unterlegen hätte; auch für diesen Personenkreis gelten die Absätze 2 bis 5 nicht, wenn für ihr Arbeitsverhältnis die §§ 57a ff. HRG unmittelbar oder entsprechend gelten. Diese Differenzierung ergibt sich daraus, dass für die Beschäftigten im Beitrittsgebiet keine besonderen tarifvertraglichen Regelungen über die Befristung von Arbeitsverhältnissen existierten. Insofern haben § 30 Abs. 2 bis 5 TVöD/TV-L den Charakter von Nachfolgeregelungen für die Sonderregelung zu § 2y BAT, die nur für die Angestellten aus den alten Bundesländern galt. Die Herausnahme der Arbeitsverhältnisse, für die die §§ 57a ff. HRG, das WissZeitVG oder gesetzliche Nachfolgeregelungen unmittelbar oder entsprechend gelten, beruht darauf, dass in deren Geltungsbereich tarifvertragliche Regelungen weitestgehend ausgeschlossen waren bzw. sind (s. § 1 Abs. 1 Satz 2 WissZeitVG). Das WissZeitVG ist zweiseitig zwingendes Recht210. Lediglich für bestimmte Fachrichtungen und Forschungsbereiche kann durch Tarifvertrag von den in § 2 Abs. 1 WissZeitVG vorgesehenen Fristen abgewichen und die Anzahl der zulässigen Verlängerungen befristeter Arbeits208 BAG v. 21.2.2018 – 7 AZR 765/16, NZA 2018, 858. 209 So auch Sievers, § 14 TzBfG Rz. 226; vgl. Chr. Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 2000, S. 200 ff. 210 Laux/Schlachter, § 1 WissZeitVG Rz. 9.

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22.106

§ 22 Rz. 22.106

Befristetes Arbeitsverhältnis

verträge festgelegt werden. § 1 Abs. 2 WissZeitVG lässt jedoch das Recht unberührt, wissenschaftliches Personal unbefristet oder nach Maßgabe des TzBfG befristet zu beschäftigen. 1. Verhältnis zum gesetzlichen Befristungsrecht

22.107 Soweit das gesetzliche Befristungsrecht tarifdispositiv ist, sind tarifvertragliche Regelungen möglich. Für das TzBfG ist in § 22 geregelt, welche seiner Vorschriften dispositiv sind. Nach § 1 Abs. 5 ÄArbVtrG sind die arbeitsrechtlichen Vorschriften und Grundsätze über befristete Arbeitsverträge nur insoweit anzuwenden, als sie den Vorschriften der Abs. 1 bis 4 nicht widersprechen. Auch das ÄArbVtrG ist damit zweiseitig zwingend211. Im Übrigen gehen die Abs. 2 bis 5 als besondere Regelungen iSv. § 30 Abs. 1 Satz 2 TVöD/TV-L den tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften nach der allgemeinen Regel „lex specialis derogat legi generali“ vor212. 2. Kalendermäßig befristete Arbeitsverträge mit Sachgrund

22.108 Das TzBfG enthält lediglich in § 14 Abs. 2, 2a und 3 für kalendermäßig befristete Arbeitsverträge ohne Sachgrund zeitliche Höchstgrenzen. Diese Höchstgrenzen gelten nicht für mit Sachgrund befristete Arbeitsverträge213. Davon weicht § 30 Abs. 2 Satz 1 TVöD/TV-L ab, wonach auch kalendermäßig befristete Arbeitsverträge mit sachlichem Grund nur zulässig sind, wenn die Dauer des einzelnen Vertrages fünf Jahre nicht übersteigt. Damit wird im Geltungsbereich des § 30 TVöD/TV-L die Vertragsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien weiter eingeschränkt. Nach dem eindeutigen Wortlaut gilt diese Begrenzung jedoch weder für zweckbefristete noch für auflösend bedingte Arbeitsverträge214. Dadurch, dass lediglich die Dauer des einzelnen Vertrages fünf Jahre nicht übersteigen darf, wird nicht ausgeschlossen, dass durch mehrere kalendermäßig befristete aufeinander folgende Arbeitsverträge die Dauer von fünf Jahren insgesamt überschritten wird215.

22.109 Nach § 40 Nr. 8, § 41 Nr. 19 TV-L können mit Beschäftigten der Hochschulen und Forschungseinrichtungen der Länder sowie mit Ärztinnen und Ärzten an Universitätskliniken befristete Arbeitsverträge mit Sachgrund mit einer Höchstdauer von sieben Jahren abgeschlossen werden.

22.110 Nach § 30 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 TVöD/TV-L bleiben weitergehende Regelungen iSv. § 23 TzBfG unberührt. Das bedeutet, dass gesetzliche Vorschriften, die den Abschluss eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrages mit Sachgrund für die Dauer von mehr als fünf Jahren ermöglichen, vorgehen. Das gilt zB für § 1 ÄArbVtrG216. 211 APS/Schmidt, § 1 ÄArbVtrG Rz. 9. 212 APS/Backhaus, vor § 14 TzBfG Rz. 10. 213 Auch unionsrechtlich ist eine Höchstbegrenzung nicht geboten, wenn die Befristung aus sachlichem Grund erfolgt, da die Schutzmechanismen der Richtlinie 1999/70/EG v. 28.6.1999 die in § 5 Abs. 1 der Rahmenvereinbarung erwähnten Maßnahmen zur Vermeidung des Missbrauchs von aufeinander folgenden befristeten Arbeitsverträgen nicht kumulativ in das nationale Recht übernommen werden müssen; zur Missbrauchskontrolle s. jedoch EuGH v. 26.1.2012 – C-586/10, ArbRB 2012, 35 = NJW 2012, 989; BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, ArbRB 2013, 4 = ZIP 2013, 687. 214 APS/Greiner, § 30 TVöD Rz. 7. 215 APS/Greiner, § 30 TVöD Rz. 6. 216 APS/Greiner, § 30 TVöD Rz. 9.

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Besondere tarifvertragliche Regelungen, § 30 TVöD/TV-L

Rz. 22.113 § 22

3. Befristete Arbeitsverträge ohne Sachgrund Das TzBfG enthält keine Regelung über die Mindestdauer eines befristeten Arbeitsvertrages ohne Sachgrund. Dagegen muss die Dauer eines befristeten Arbeitsvertrages ohne sachlichen Grund nach § 30 Abs. 3 Satz 1 TVöD/TV-L mindestens sechs Monate betragen und soll in der Regel zwölf Monate nicht unterschreiten. Die Höchstdauer und die Höchstanzahl der Verlängerungen richten sich hingegen ausschließlich nach § 14 Abs. 2, 2a und 3 TzBfG, da TVöD/TV-L insoweit nichts Abweichendes bestimmen. Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 TVöD/TV-L hat der Arbeitgeber vor Ablauf des Arbeitsvertrages zu prüfen, ob eine unbefristete oder befristete Weiterbeschäftigung möglich ist.

22.111

Bei den Rechtsfolgen eines nach § 30 Abs. 1 Satz 1 TVöD/TV-L unzulässigen befristeten Arbeitsvertrages ist zu unterscheiden, ob der Tarifvertrag normativ gilt oder lediglich kraft einzelvertraglich vereinbarter Anwendung. Die Unterschreitung der Mindestdauer von sechs Monaten führt jedenfalls bei beiderseitiger Tarifgebundenheit zur Unwirksamkeit der Befristung217. Nach einer Ansicht soll auch die Unterschreitung der zwölfmonatigen Dauer zur Unwirksamkeit der Befristung und damit zu einem unbefristeten Arbeitsverhältnis führen, wenn für die Unterschreitung keine nachvollziehbaren Gründe vorliegen218. Zum Teil werden rechtfertigende Gründe verlangt219. Welche Gründe dies sein können, ist jedoch völlig offen. Dabei ist zu beachten, dass ein Sachgrund iSv. § 14 Abs. 1 TzBfG zwar die Befristung als solche sachlich rechtfertigt, aber nicht unbedingt zur Unterschreitung der Zwölfmonatsfrist berechtigt. Nach anderer Ansicht soll die Unterschreitung folgenlos bleiben220.

22.112

Praxistipp: Die sachgrundlose Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG sollte im personellen Geltungsbereich des § 30 Abs. 3 TVöD/TV-L nur dann gewählt werden, wenn diese für mindestens zwölf Monate vereinbart werden kann221.

Eine geringere Dauer sollte jedenfalls dann zulässig sein, wenn sie auf ausdrücklichen Wunsch des Arbeitnehmers vereinbart wird, wobei insoweit nicht die strengen Voraussetzungen des unbenannten Sachgrundes des § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG angelegt werden können. Auch andere, triftige Gründe sollten eine Unterschreitung der „in der Regel“ einzuhaltenden „Soll“-Vorschrift rechtfertigen können. Wenn der Tarifvertrag nicht bereits bei Abschluss des Arbeitsvertrages normativ gilt, zB 22.113 weil der Arbeitnehmer erst danach Mitglied der tarifvertragschließenden Gewerkschaft wird, soll gleichwohl die gegen eine Tarifnorm verstoßende Befristungsabrede nachträglich unwirksam werden, weil es sich bei tarifvertraglichen Regelungen über die Befristung von Arbeitsverträgen idR um Beendigungs- und nicht um Abschlussnormen iSv. § 4 Abs. 1 TVG handelt222. Das BAG hat allerdings zur Protokollnotiz Nr. 1 zu Nr. 1 der SR 2a MTA, wonach Zeitangestellte nur eingestellt werden durften, wenn hierfür sachliche oder in der Person des Angestellten liegende Gründe vorliegen, entschieden, dass es sich dabei um eine Abschlussnorm handelt, die zwingend nur dann gilt, wenn bereits im Zeitpunkt des Abschlusses des Ar-

217 218 219 220 221 222

Sponer/Steinherr, TVöD, § 30 Rz. 22; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, § 30 Rz. 396. Sponer/Steinherr, TVöD, § 30 Rz. 23. Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, § 30 Rz. 396. KR/Bader, § 30 TVöD Rz. 8; APS/Greiner, SR 2y BAT Rz. 36, § 30 TVöD Rz. 13. So Sponer/Steinherr, TVöD, § 30 Rz. 23. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 648; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 11; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 294.

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§ 22 Rz. 22.113

Befristetes Arbeitsverhältnis

beitsvertrages beiderseitige Tarifgebundenheit vorliegt223. § 30 Abs. 3 Satz 1 TVöD/TV-L ist vor dem Hintergrund von § 16 Satz 1 TzBfG auszulegen, wonach bei einer rechtsunwirksamen Befristung der befristete Arbeitsvertrag als auf unbestimmte Zeit geschlossen gilt. Auch der Wortlaut der tarifvertraglichen Regelungen spricht dagegen, dass damit verhindert werden soll, dass Arbeitnehmer überhaupt aufgrund eines unzulässig befristeten Arbeitsvertrages in den Betrieb aufgenommen werden sollen, etwa um der Gefahr einer ständigen Fluktuation im Bereich der Randbelegschaft entgegenzuwirken224. Daher handelt es sich bei § 30 Abs. 3 Satz 1 TVöD/TV-L um eine Beendigungsnorm. Da es jedoch für die Wirksamkeit der Befristung eines Arbeitsvertrages auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Vereinbarung der Befristung ankommt, kann durch einen Beitritt einer der Arbeitsvertragsparteien erst nach Abschluss des Arbeitsvertrages nicht nachträglich die Unwirksamkeit nach diesen tarifvertraglichen Bestimmungen eintreten.

22.114 Findet der Tarifvertrag während des befristeten Arbeitsverhältnisses zu keiner Zeit normativ, sondern lediglich kraft Bezugnahme im Arbeitsvertrag Anwendung, ist das Ergebnis nicht eindeutig. Zwar soll nach der Rechtsprechung des BAG die in einem Arbeitsvertrag enthaltene Befristung auch deswegen unwirksam sein können, weil sie die in demselben Arbeitsvertrag kraft einzelvertraglicher Bezugnahme vereinbarten tarifvertraglichen Anforderungen nicht erfüllt225. Diese Rechtsprechung berücksichtigt jedoch zum einen nicht, dass tarifvertragliche Befristungsregelungen zwar Abschlussnormen iSv. § 4 Abs. 1 TVG sein können, sofern sie ihrem Regelungsgehalt nach die Zulässigkeit befristeter Arbeitsverträge vom Vorliegen bestimmter Voraussetzungen bei Vertragsabschluss abhängig machen und insoweit die Vertragsfreiheit nur der tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien im Interesse eines wirksamen Bestandsschutzes beschränken226. Zum anderen wird der wirkliche Wille der nicht tarifgebundenen Parteien im Zweifel nicht dahin gehen, dass mit Abschluss des Arbeitsvertrages zugleich ein zusätzlicher, über § 14 TzBfG hinausgehender Maßstab für die Überprüfung der Wirksamkeit einer Befristungsabrede vereinbart sein soll. Vielmehr wird eine Auslegung des Arbeitsvertrages ergeben, dass die tarifvertraglichen Bestimmungen, die der Wirksamkeit der Befristung entgegenstehen, nicht von der Bezugnahmeklausel erfasst werden227. Insoweit gilt – anders als bei der Vereinbarung der Vergütungsgruppe im Standardarbeitsvertrag für den öffentlichen Dienst –, dass die Befristungsvereinbarung unabhängig von der Bezugnahme auf Tarifverträge gelten soll228. 4. Probezeit und Kündigung bei befristeten Arbeitsverträgen a) Probezeit und Kündigung

22.115 Aus § 622 Abs. 3 BGB ergibt sich, dass eine Probezeit dem Arbeitsvertrag nicht immanent ist, sondern einer entsprechenden Vereinbarung bedarf. Ohne Vereinbarung, die ausdrücklich erfolgen oder sich durch Auslegung der vertraglichen Vereinbarungen aus dem Arbeitsvertrag

223 224 225 226 227

BAG v. 6.12.1989 – 7 AZR 441/89, NZA 1990, 741. Vgl. BAG v. 28.6.1994 – 1 ABR 59/93, AP § 99 BetrVG 1972 Einstellung Nr. 4. Nachweise bei APS/Backhaus, vor § 14 TzBfG Rz. 15. BAG v. 28.8.1996 – 7 AZR 849/95, NZA 1997, 550. So BAG v. 6.12.1989 – 7 AZR 441/89, NZA 1990, 741; APS/Backhaus, vor § 14 TzBfG Rz. 15; wohl auch Preis/Greiner, RdA 2010, 160. 228 Kritisch zur Rspr. des BAG auch APS/Backhaus, vor § 14 TzBfG Rz. 15 und § 22 TzBfG Rz. 28; aA KR/Bader, § 22 TzBfG Rz. 6; vgl. auch ErfK/Müller-Glöge, § 22 TzBfG Rz. 4.

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Besondere tarifvertragliche Regelungen, § 30 TVöD/TV-L

Rz. 22.119 § 22

ergeben kann229, findet § 622 Abs. 3 BGB keine Anwendung. Die Wirksamkeit einer Probezeitvereinbarung hängt grundsätzlich allein davon ab, dass die Dauer sechs Monate nicht übersteigt. Eine einzelfallbezogene Prüfung der vereinbarten Dauer auf ihre Angemessenheit findet nicht statt230. Abweichend davon gilt nach § 30 Abs. 4 TVöD/TV-L im Geltungsbereich dieser Vorschrift bei befristeten Arbeitsverträgen eine Probezeit als vereinbart. Bei befristeten Arbeitsverträgen mit sachlichem Grund gelten die ersten sechs Monate, bei befristeten Arbeitsverträgen ohne sachlichen Grund lediglich die ersten sechs Wochen als Probezeit.

22.116

Hinweis: Für Beschäftigte, die früher der Rentenversicherung der Arbeiter unterlagen, sowie für alle Beschäftigten im Tarifgebiet Ost (vgl. Rz. 22.106) müssen jedoch Probezeit und möglichst auch Fristen für eine Kündigung während der Probezeit vereinbart werden, wenn eine Möglichkeit zur ordentlichen Kündigung bestehen soll231.

Die Kündigungsfrist innerhalb dieser Probezeit beträgt nach § 30 Abs. 4 Satz 2 TVöD/TV-L einheitlich zwei Wochen zum Ende eines Kalendermonats und weicht damit hinsichtlich des Kündigungstermins von § 622 Abs. 3 BGB ab. Zugleich liegt darin eine tarifvertraglich vereinbarte ordentliche Kündigung iSv. § 15 Abs. 3 TzBfG. Die tarifvertragliche Regelung unterliegt keiner Inhaltskontrolle (§ 310 Abs. 4 Satz 1 BGB).

22.117

b) Kündigung nach Ablauf der Probezeit Eine ordentliche Kündigung nach Ablauf der Probezeit ist gemäß § 30 Abs. 5 Satz 1 TVöD/ TV-L nur zulässig, wenn die Vertragsdauer mindestens zwölf Monate beträgt.

22.118

Hinweis: Es wird die Ansicht vertreten, dass § 30 Abs. 5 Satz 1 TVöD/TV-L nur für Arbeitsverträge, die maximal fünf Jahre dauern, die ordentliche Kündbarkeit regeln und bei einem befristeten oder auflösend bedingten Arbeitsvertrag von mehr als fünf Jahren die Bezugnahme auf den TVöD/TV-L nicht ausreicht, um die ordentliche Kündbarkeit iSv. § 15 Abs. 3 TzBfG vorzubehalten232.

Zwar besteht insoweit ein gewisser Bezug zu der in § 30 Abs. 3 TVöD/TV-L geregelten Mindestsolldauer eines befristeten Arbeitsvertrages ohne Sachgrund (vgl. Rz. 22.111), jedoch gilt § 30 Abs. 5 TVöD/TV-L auch für befristete Arbeitsverträge mit Sachgrund. Die Regelung soll wohl befristete Arbeitsverträge von weniger als zwölf Monaten generell, insbesondere aber wenn sie ohne Sachgrund befristet werden, zurückdrängen. Praxistipp: Ein befristeter Arbeitsvertrag von weniger als zwölf Monaten Dauer kann nur innerhalb der Probezeit von entweder sechs Wochen oder sechs Monaten mit einer Frist von zwei Wochen zum Monatsschluss ordentlich gekündigt werden, danach nur noch aus wichtigem Grund gemäß § 626 BGB.

Die Kündigungsfrist für eine ordentliche Kündigung nach Ablauf der Probezeit ist in § 30 Abs. 5 Satz 2 TVöD/TV-L geregelt und richtet sich nach der ununterbrochenen Dauer eines oder mehrerer aneinander gereihter Arbeitsverhältnisse bei demselben Arbeitgeber. Nach Satz 3 ist eine Unterbrechung von bis zu drei Monaten unschädlich, es sei denn, dass der Be229 APS/Linck, § 622 BGB Rz. 84. 230 BAG v. 24.1.2008 – 6 AZR 519/07, NJW 2008, 2521. 231 Sponer/Steinherr, TVöD, § 30 Rz. 27; LAG Berlin-Brandenburg v. 28.9.2010 – 7 Sa 1275/10, ZTR 2011, 53. 232 APS/Greiner, § 30 TVöD Rz. 26 mwN; LAG Köln v. 10.5.2013 – 10 Sa 724/12, nv.

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22.119

§ 22 Rz. 22.119

Befristetes Arbeitsverhältnis

schäftigte das Ausscheiden verschuldet oder veranlasst hat. Die Unterbrechungszeit als solche bleibt jedoch bei der Berechnung der Gesamtdauer der aneinander gereihten Arbeitsverhältnisse unberücksichtigt.

VI. Besondere tarifvertragliche Regelungen, §§ 31, 32 TVöD/TV-L 22.120 Die §§ 31, 32 TVöD/TV-L bleiben gemäß § 30 Abs. 6 TVöD/TV-L von den Regelungen des § 30 Abs. 3 bis 5 TVöD/TV-L unberührt. Sie gehen als speziellere Regelung auch § 30 Abs. 2 Satz 1 TVöD/TV-L vor. Sie gelten für alle unter den Geltungsbereich des TVöD/TV-L fallenden Beschäftigten, nicht nur für die in § 30 Abs. 1 Satz 2 TVöD/TV-L genannten Personen. 1. Vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit

22.121 Überträgt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine höherwertige Tätigkeit nicht auf Dauer, sondern nur vorübergehend, kommt es in einem ersten Schritt darauf an, ob es billigem Ermessen entspricht, dass dem Arbeitnehmer die anders bewertete Tätigkeit überhaupt übertragen wird. Im zweiten Schritt ist zu prüfen, ob es billigem Ermessen entspricht, dass die Tätigkeit nur vorübergehend übertragen wird. Dabei ist unter Beachtung aller Umstände des Einzelfalls abzuwägen, ob das Interesse des Arbeitgebers daran, die Tätigkeit nur vorübergehend zu übertragen, oder das Interesse des Arbeitnehmers an der Beibehaltung der höherwertigen Tätigkeit und – falls damit verbunden – auch der besseren Bezahlung überwiegt. Insgesamt ist damit eine „doppelte“ Billigkeitsprüfung geboten. Die Billigkeitskontrolle bezieht sich bei vorübergehenden Übertragungen höherwertiger Tätigkeit auf zahlreiche Angestellte in einer Verwaltung sowohl auf das Gesamtkonzept als auch auf die einzelnen personenbezogenen Übertragungsverfügungen. Die Umstände für die einzelnen vorübergehenden Übertragungen höherwertiger Tätigkeit vor dem Hintergrund des Gesamtkonzepts müssen deutlich werden. Handelt es sich um eine Übertragung höherwertiger Tätigkeit außerhalb eines bestehenden zu vollziehenden und ausgeführten Gesamtkonzepts, so muss das deutlich werden233. 2. Vorübergehende Übertragung einer Führungsposition

22.122 Von der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit ist die in §§ 31, 32 TVöD/TV-L vorgesehene Übertragung einer Führungsposition abzugrenzen234. Einerseits genügt die Übertragung einer gegenüber der bisherigen Tätigkeit höherwertigen Tätigkeit nicht, wie sich jeweils aus dem Wortlaut des Abs. 2 der §§ 31, 32 TVöD/TV-L eindeutig ergibt; andererseits ist es aber auch nicht erforderlich, dass die Führungsposition eine gegenüber der bisherigen Tätigkeit bei demselben oder einem anderen Arbeitgeber höherwertige Tätigkeit ist235.

233 BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, ArbRB 2002, 363 = AP § 24 BAT Nr. 23; v. 14.1.2004 – 7 AZR 213/03, ArbRB 2004, 167 = ZTR 2004, 485. 234 S. auch § 41 Nr. 20 und 21 TV-L (Sonderregelungen für Ärztinnen und Ärzte an Universitätskliniken). 235 Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, § 31 Rz. 12.

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Besondere tarifvertragliche Regelungen, §§ 31, 32 TVöD/TV-L

Rz. 22.127 § 22

a) Begriff der Führungsposition Nach der übereinstimmenden Definition in § 31 Abs. 2 und § 32 Abs. 2 TVöD/TV-L sind 22.123 Führungspositionen die ab der Entgeltgruppe 10 auszuübenden Tätigkeiten mit Weisungsbefugnis. Die Weisungsbefugnis wird allgemein verstanden im Sinne der Berechtigung zur Ausübung des Direktionsrechts des Arbeitgebers gemäß § 106 GewO236. Damit scheiden rein fachliche Aufsichtsrechte und damit verbundene Weisungsbefugnisse aus. Hinzukommen müssen somit auch dienstlich organisatorische Weisungsbefugnisse gegenüber Bediensteten, die in derselben Organisationseinheit beschäftigt sind wie die Führungskraft237. b) Besetzung mit externer Führungskraft Besteht zwischen der Führungskraft und demselben Arbeitgeber noch kein Arbeitsverhältnis, ermöglichen §§ 31, 32 Abs. 1 TVöD/TV-L den Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrages. § 31 Abs. 1 TVöD/TV-L ermöglicht die Führung auf Probe, § 32 Abs. 1 TVöD/TV-L die Führung auf Zeit.

22.124

aa) Führung auf Probe Nach § 31 Abs. 1 TVöD/TV-L kann eine Führungsposition als befristetes Arbeitsverhältnis 22.125 bis zur Gesamtdauer von zwei Jahren vereinbart werden. Insoweit besteht hinsichtlich der maximalen Gesamtdauer Übereinstimmung mit § 14 Abs. 2 TzBfG. Allerdings ist § 31 Abs. 1 TVöD/TV-L, wie der Vergleich mit Abs. 3 zeigt, immer dann anwendbar, wenn gegenwärtig kein Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber besteht. Demgegenüber besteht die Möglichkeit, ein Arbeitsverhältnis nach § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG ohne Sachgrund bis zu zwei Jahre zu befristen, nur dann, wenn zuvor noch kein früheres Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers mit demselben Arbeitgeber bestanden hat. Innerhalb der Gesamtdauer von zwei Jahren ist nach § 31 Abs. 1 TVöD/TV-L jedoch eine höchstens zweimalige Verlängerung des Arbeitsverhältnisses zulässig. Die Erprobung eines Arbeitnehmers ist als sachlicher Grund für den Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrags allgemein anerkannt238. Der Sachgrund der Erprobung ist in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 TzBfG ausdrücklich genannt. Am sachlichen Grund der Erprobung fehlt es nur dann, wenn der Arbeitnehmer bereits ausreichende Zeit bei dem Arbeitgeber mit den nunmehr von ihm zu erfüllenden Aufgaben beschäftigt war und der Arbeitgeber die Fähigkeiten des Arbeitnehmers deshalb ausreichend beurteilen konnte239.

22.126

Die Dauer der Befristung bedarf für sich allein keiner sachlichen Rechtfertigung, sondern muss sich lediglich am Befristungsgrund orientieren und mit ihm derart in Einklang stehen, dass sie nicht gegen das Vorliegen eines sachlichen Grundes spricht. Die Tarifvertragsparteien gehen davon aus, dass der Zweck der Erprobung einer Führungskraft die Befristung eines Arbeitsverhältnisses bis zur Höchstdauer von insgesamt zwei Jahren ermöglicht. Fraglich ist, ob innerhalb dieses Rahmens eine einzelfallbezogene Prüfung der vereinbarten Dauer möglich ist. Der 6. Senat des BAG folgt nicht der zu § 622 Abs. 3 BGB vertretenen Auffassung, die Probezeit dürfe nur so lang sein, wie dies zur Erprobung für die betreffende Tätigkeit erforderlich

22.127

236 Sponer/Steinherr, TVöD, § 31 Rz. 12; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, § 31 Rz. 10; Bepler/Böhle/Pieper/Geyer/Kuner, § 32 TVöD Rz. 1. 237 BAG v. 22.3.2000 – 4 AZR 118/99, NZA 2001, 282. 238 BAG v. 31.8.1994 – 7 AZR 983/93, AP § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 163. 239 BAG v. 23.6.2004 – 7 AZR 636/03, ArbRB 2005, 3 = NZA 2004, 1333.

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§ 22 Rz. 22.127

Befristetes Arbeitsverhältnis

sei240. Die Erwägung, dass der Arbeitgeber während der Probezeit die Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers prüfen können soll und diese Prüfung nicht lediglich auf die in Aussicht genommene Tätigkeit bezogen, sondern umfassend zu verstehen ist241, trifft auch auf die Neueinstellung einer Führungskraft zu. Zwar ist im Rahmen des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 TzBfG einzelfallbezogen zu prüfen, ob die vereinbarte Dauer mit dem Zweck der Erprobung derart in Einklang steht, dass sie nicht gegen das Vorliegen eines sachlichen Grundes spricht. Hierbei spielen aber die „Branchenüblichkeit“ und die Person des Arbeitnehmers sowie die zu besetzende Position eine wesentliche Rolle. Diese Gesichtspunkte können auch längere Probezeiten als sechs Monate nicht nur rechtfertigen242, sondern uU sogar gebieten. Insgesamt wird man den Arbeitsvertragsparteien in dieser Hinsicht eine weitgehende Einschätzungsprärogative einräumen müssen, also die einzelfallbezogene Prüfung der Angemessenheit der vereinbarten Dauer des Arbeitsverhältnisses auf Ausnahmefälle zu beschränken haben. Insoweit sollten ähnliche Überlegungen wie bspw. zu § 4 des Manteltarifvertrages für die Orchester- und Chormitglieder des WDR gelten243.

22.128 Offen ist, ob bei der Verlängerung eines nach § 31 Abs. 1 TVöD/TV-L befristeten Arbeitsvertrages die strenge Rechtsprechung des BAG zur Verlängerung eines nach § 14 Abs. 2 TzBfG befristeten Arbeitsverhältnisses berücksichtigt werden muss. Das würde bedeuten, dass die Verlängerungsvereinbarung noch während der ursprünglich vereinbarten Laufzeit schriftlich zustande kommen müsste, sich grundsätzlich lediglich auf den Beendigungszeitpunkt erstrecken und keine anderen Gegenstände des Arbeitsvertrages ändern dürfte244. Solange diese Frage nicht geklärt ist, sollten diese Beschränkungen auch für Verlängerungsvereinbarungen für ein nach § 31 Abs. 1 TVöD/TV-L befristetes Arbeitsverhältnis beachtet werden245. bb) Führung auf Zeit

22.129 Gemäß § 32 Abs. 1 Satz 1 TVöD/TV-L können Führungspositionen als befristetes Arbeitsverhältnis bis zur Dauer von vier Jahren vereinbart werden. Nach Satz 2 ist in den Entgeltgruppen 10 bis 12 die höchstens zweimalige Verlängerung bis zu einer Gesamtdauer von acht Jahren und ab der Entgeltgruppe 13 die höchstens dreimalige Verlängerung bis zu einer Gesamtdauer von zwölf Jahren zulässig.

22.130 § 32 TVöD/TV-L schafft die Möglichkeit, Führungsebenen auf Zeit einzuführen246. Das Ziel eines befristeten Arbeitsvertrages nach § 32 TVöD/TV-L besteht nicht in der Übertragung der Führungsposition auf Dauer. Die Führung auf Zeit dient, anders als die Führung auf Probe, keinem besonderen Zweck. Sie ist einfach nur zeitlich befristet. Grund dafür kann zB ein zeitlich befristetes Projekt sein, bei dem Nachwuchsführungskräfte im Rahmen von Personalentwicklungs- und Personalfördermaßnahmen ihre Führungsqualitäten unter Beweis 240 Vgl. KR/Spilger, § 622 BGB Rz. 155b mwN. 241 BAG v. 24.1.2008 – 6 AZR 519/07, DB 2008, 1217. 242 BAG v. 24.1.2008 – 6 AZR 519/07, DB 2008, 1217; vgl. Kittner/Däubler/Zwanziger/Däubler, KSchR, § 14 TzBfG Rz. 89 f. 243 BAG v. 12.9.1996 – 7 AZR 31/96, NZA 1997, 841; ebenso Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, § 31 Rz. 3. 244 BAG v. 23.8.2006 – 7 AZR 12/06, ArbRB 2007, 66 = NZA 2007, 204. 245 Anders die Durchführungshinweise der TdL v. 12.12.2006 unter Ziff. 31.3.2, wonach inhaltliche Veränderungen oder ein Abschluss einer Verlängerungsvereinbarung nach Auslaufen des befristeten Arbeitsvertrages zulässig sein sollen. 246 Die Regelung wurde aus einem bezirklichen Tarifvertrag für die Beschäftigten der Landeshauptstadt Hannover entwickelt, abgedruckt bei Sponer/Steinherr, Vorbem. 2. zu § 32 TV-L.

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Besondere tarifvertragliche Regelungen, §§ 31, 32 TVöD/TV-L

Rz. 22.132 § 22

stellen, aber ein Bedarf an einer dauerhaften Besetzung nicht besteht. Es ist aber auch denkbar, dass Führungspositionen zwar dauerhaft zur Verfügung stehen, eine Besetzung auf Dauer aber nicht gewollt ist247. Gegen die Zulässigkeit sind bislang keine Bedenken erhoben worden248. § 32 Abs. 1 TVöD/ TV-L enthält eine nach § 22 Abs. 1 TzBfG grundsätzlich zulässige tarifvertragliche Abweichung von § 14 Abs. 2 TzBfG. Die den Tarifvertragsparteien mit § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG eröffnete Möglichkeit, die Anzahl der Verlängerungen und/oder die Höchstdauer der Befristung abweichend von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG festzulegen, ist zwar nach dem Gesetzeswortlaut weder hinsichtlich der Höchstdauer noch der Anzahl der Verlängerungen eingeschränkt. Dennoch ist sie nicht völlig unbegrenzt. Vor allem verfassungs- und unionsrechtliche Gründe gebieten vielmehr eine immanente Beschränkung der Dispositionsbefugnis der Tarifvertragsparteien249. Die Festlegung einer Höchstdauer von 42 Monaten und die in diesem Rahmen vorgegebene höchstens viermalige Vertragsverlängerung ist eine maßvolle Erweiterung der in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG geregelten Höchstdauer und Verlängerungsmöglichkeiten und entspricht noch dem gesetzlichen Leitbild, nach dem der unbefristete Vertrag das „Normalarbeitsverhältnis“ und der befristete Vertrag die Ausnahme darstellt250. Da § 32 Abs. 1 TVöD/ TV-L lediglich zwei bzw. drei Verlängerungsmöglichkeiten eröffnet und nur für Führungspositionen gilt, dürfte es sich trotz der Höchstdauer von acht bzw. zwölf Jahren dennoch um eine maßvolle Erweiterung der Befristungsmöglichkeiten handeln. Sofern mit demselben Arbeitgeber zuvor noch kein Arbeitsverhältnis bestanden hat, kann die Befristung einer Führungsposition auch über die Dauer von zwei Jahren hinaus auf § 32 Abs. 1 TVöD/TV-L gestützt werden. Das Verbot der sachgrundlosen Befristung des Arbeitsvertrages kann allenfalls unzumutbar sein, wenn eine Vorbeschäftigung entweder (1.) sehr lang zurückliegt oder (2.) ganz anders geartet war oder (3.) von sehr kurzer Dauer gewesen ist. So liegt es etwa bei geringfügigen Nebenbeschäftigungen während der Schul- und Studien- oder Familienzeit, bei Werkstudierenden und studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Rahmen ihrer Berufsqualifizierung oder bei einer erzwungenen oder freiwilligen Unterbrechung der Erwerbsbiographie, die mit einer beruflichen Neuorientierung oder einer Aus- und Weiterbildung einhergeht. Die Fachgerichte können und müssen in derartigen Fällen durch verfassungskonforme Auslegung den Anwendungsbereich von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG einschränken251. Jedenfalls 8 Jahre sind noch keine sehr lange Zeit252.

22.131

Bedenken im Hinblick auf die Richtlinie 1999/70/EG bestehen nicht, weil diese alternativ verlangt, dass für aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge entweder sachliche Gründe, die die Verlängerung rechtfertigen, gefordert werden müssen oder dass die insgesamt maximal zulässige Dauer aufeinander folgender Arbeitsverträge oder die zulässige Zahl der Verlängerungen solcher Verträge bestimmt wird. § 32 TVöD/TV-L genügt den beiden letzten Erfordernissen.

22.132

247 S. Ziff. 32.1 der Durchführungshinweise der TdL vom 12.12.2006, Sponer/Steinherr, Vorbem. 6. zu § 32 TV-L. 248 Sponer/Steinherr, § 32 TV-L Rz. 3; Bredendiek/Fritz/Tewes, ZTR 2005, 230 (243). 249 BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11, ArbRB 2012, 360 = MDR 2013, 162. 250 BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11, ArbRB 2012, 360 = MDR 2013, 162. 251 BVerfG v. 6.6.2018 – 1 BvL 7/14 ua., NZA 2018, 774. 252 BAG v. 23.1.2019 – 7 AZR 733/16, NZA 2019, 935.

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§ 22 Rz. 22.133

Befristetes Arbeitsverhältnis

c) Besetzung mit internen Beschäftigten

22.133 § 31 Abs. 3, § 32 Abs. 3 TVöD/TV-L eröffnen die Möglichkeit, einem Beschäftigten, mit dem bereits ein Arbeitsverhältnis besteht, eine Führungsposition innerhalb der in Abs. 1 jeweils geregelten Höchstfristen vorübergehend zu übertragen. § 31 Abs. 3 Satz 3 und 4 TVöD/TV-L bestimmt, dass die Erprobung nach Fristablauf endet und bei Bewährung die Führungsposition auf Dauer übertragen wird. Während § 31 Abs. 3 Satz 4 Halbs. 2 TVöD/TV-L lediglich für den Fall, dass sich der Beschäftigte nicht bewährt („ansonsten“), bestimmt, dass der Beschäftigte nach Fristablauf eine der bisherigen Eingruppierung entsprechende Tätigkeit erhält, gilt dies nach § 32 Abs. 3 Satz 3 TVöD/TV-L für den Fall der Führung auf Zeit in jedem Fall.

22.134 Die Übertragung einer Führungsposition aufgrund der §§ 31, 32 Abs. 3 TVöD/TV-L erfolgt nach zutreffender Ansicht im Rahmen des Direktionsrechts253. Es handelt sich nicht um eine befristete Änderung der Arbeitsbedingungen durch Änderung des Arbeitsvertrages254. Infolgedessen kommt eine Inhaltskontrolle, auch wenn die vorübergehende Übertragung zu Dokumentationszwecken in einer Vereinbarung festgehalten wird, nicht in Betracht. Vielmehr bleibt es bei der sog. „doppelten“ Billigkeitskontrolle (s. Rz. 22.121)255.

22.135 Bedenken gegen die grundsätzliche Zulässigkeit ergeben sich nicht aus einer Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs256. Danach verstößt die Regelung des Art. 32a BayBeamtenG, wonach Ämter mit leitender Funktion zunächst nur im Beamtenverhältnis auf Zeit übertragen werden, gegen das durch Art. 95 Abs. 1 Satz 2 BayVerf. gewährleistete Prinzip der Übertragung eines Amtes auf Lebenszeit. Da das Arbeitsverhältnis in der Regel nicht auf Lebenszeit vereinbart wird (§ 624 BGB) und selbst dann darauf angelegt ist, dass der Arbeitgeber, soweit nicht eine Festlegung durch Arbeitsvertrag, Kollektivvereinbarungen oder gesetzliche Vorschriften erfolgt ist, Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen kann (§ 106 GewO), hat die Entscheidung keine Auswirkungen auf die Frage der Vereinbarkeit der §§ 31, 32 Abs. 3 TVöD/TV-L mit höherrangigem Recht.

22.136 Fraglich ist auch hier, ob innerhalb des zeitlichen Rahmens der Abs. 1 der §§ 31, 32 TVöD/ TV-L eine einzelfallbezogene Prüfung der vereinbarten Dauer geboten bzw. möglich ist. Diese Frage ist zu bejahen. Ob die Dauer der Übertragung der Führungsposition billigem Ermessen entspricht, unterliegt somit der gerichtlichen Überprüfung. Bei dieser Prüfung ist aber zu berücksichtigen, dass die Tarifvertragsparteien zeitliche Grenzen vorgegeben und damit einen Rahmen gesteckt haben, innerhalb dessen im Regelfall eine Entscheidung zur vorübergehenden Übertragung der Führungsposition billigem Ermessen entspricht. Das BAG hat zu § 24 BAT entschieden, dass diese Norm keine zeitliche Grenze vorsieht257. Sie ermöglichte über mehrere Jahre hinweg die Übertragung einer höherwertigen Aufgabe. Da die §§ 31, 32 TVöD/TV-L zeitliche Höchstgrenzen vorsehen, wird die befristete Übertragung einer Füh253 Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, § 31 Rz. 11; § 32 Rz. 14–17; aA Bepler/Böhle/Pieper/ Geyer/Kuner, § 31 TVöD Rz. 10; § 32 Rz. 12; § 31 TV-L Rz. 11; § 32 Rz. 12 (Vertragsänderung); unklar Sponer/Steinherr, TVöD, § 31 Rz. 14; § 32 Rz. 15 (Änderung des Arbeitsvertrages nicht zwingend vorgesehen). 254 So zu § 24 BAT BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, ArbRB 2002, 363 = AP § 24 BAT Nr. 23; v. 14.1.2004 – 7 AZR 213/03, ArbRB 2004, 167 = ZTR 2004, 485; v. 11.9.2003 – 6 AZR 424/02, ZTR 2004, 259; v. 20.4.2005 – 10 AZR 512/04, ZTR 2005, 529. 255 BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, ArbRB 2002, 363 = AP § 24 BAT Nr. 23. 256 Bayerischer VGH v. 26.10.2004 – Vf. 15-VII-01, juris; vgl. Kugele, jurisPR-BVerwG 3/2008 Anm. 2; Sponer/Steinherr, TVöD, § 32 Rz. 2. 257 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 474/04, ZTR 2006, 497.

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Befristung nach dem WissZeitVG

Rz. 22.138 § 22

rungsposition allenfalls wegen zu kurzer Dauer billigem Ermessen widersprechen können. Dieser Gesichtspunkt wird am ehesten bei einer Übertragung zur Probe nach § 31 TVöD/ TV-L zum Tragen kommen können. Im Rahmen von § 32 TVöD/TV-L fehlen Kriterien, anhand derer die Rechtsprechung eine unbillige Entscheidung durch eine billigem Ermessen entsprechende Entscheidung ersetzen könnte. Der Arbeitgeber ist auch berechtigt, einseitig durch Ausübung des Direktionsrechts im Rahmen des § 315 Abs. 1 BGB die Funktion zu widerrufen. Einer vertraglichen Vereinbarung zwischen den Parteien bedarf es hierzu nicht258. Die Eingruppierung bei Neueinstellungen richtet sich bei §§ 31, 32 TVöD/TV-L nach der 22.137 Entgeltgruppe, der die Führungsposition entspricht. Interne Bewerber bleiben in beiden Fällen in ihrer bisherigen Entgeltgruppe und erhalten eine Zulage in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen den Tabellenentgelten nach der bisherigen Entgeltgruppe und dem sich bei Höhergruppierung nach § 17 Abs. 4 Satz 1 und 2 ergebenden Tabellenentgelt. Bei der Führung auf Zeit wird nach § 32 Abs. 3 Satz 2 TVöD/TV-L zusätzlich ein Zuschlag gezahlt in Höhe von 75 % des Unterschiedsbetrages zwischen den Tabellenentgelten der Entgeltgruppe, die der übertragenen Funktion entspricht, zur nächsthöheren Entgeltgruppe nach § 17 Abs. 4 Satz 1 und 2 TVöD/TV-L („Attraktivitätsprämie“). Darin liegt eine finanzielle Besserstellung interner Bewerber gegenüber externen und solchen Beschäftigten, die eine Führungsposition auf Dauer zugewiesen bekommen bzw. denen diese Tätigkeit nur vorübergehend nach allgemeinen Kriterien zugewiesen wurde. Diese Besserstellung schafft umgekehrt eine finanzielle Hürde für die Arbeitgeber. Zum anderen bietet sie internen Bewerbern einen finanziellen Anreiz, sich um eine Führungsposition auf Zeit überhaupt zu bewerben.

VII. Befristung nach dem WissZeitVG Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) enthält im Wesentlichen Regelungen über 22.138 die befristete Beschäftigung des wissenschaftlichen und künstlerischen Personals an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Die Regelungen gelten für die Qualifizierungsphase und für den Fall, dass eine Beschäftigung aus Drittmitteln finanziert wird. Es ist am 18.4.2007 in Kraft getreten und hat die bisherigen Sonderregelungen des Hochschulrahmengesetzes für die Qualifizierungsphase (§§ 57a ff. HRG) im Wesentlichen übernommen sowie eine neue Möglichkeit zur befristeten Beschäftigung über die Qualifizierungsphase hinaus eingeführt, wenn der Beschäftigte bei einem zeitlich begrenzten, überwiegend durch Drittmittel finanzierten Projekt mitarbeiten soll. Mit Wirkung zum 12.3.2016 wurde das WissZeitVG in wesentlichen Punkten novelliert259. Nach § 1 Abs. 2 WissZeitVG bleibt das Recht der Hochschulen unberührt, das in § 1 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG bezeichnete Personal in unbefristeten oder nach Maßgabe des TzBfG befristeten Arbeitsverhältnissen zu beschäftigen. Allerdings verdrängen die besonderen Befristungsmöglichkeiten nach § 2 Abs. 1 WissZeitVG als Spezialregelungen § 14 Abs. 1 TzBfG, soweit die befristete Beschäftigung ausschließlich der wissenschaftlichen Qualifizierung des Mitarbeiters dient. Wird die Befristung auf Gründe gestützt, die nicht abschließend von den im WissZeitVG vorgesehenen Befristungsregelungen erfasst werden, kann die Befristung nach § 14 Abs. 1 TzBfG gerechtfertigt sein. So verhält es sich z.B. bei einer auf haushaltsrechtliche Gründe gestützten Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG260. 258 LAG Rheinland-Pfalz v. 3.5.2012 – 2 Sa 747/11, ArbRB Online. 259 Hauck-Scholz, RdA 2016, 262; Kiel, JbArbR 54 (2017), 51; Kroll, ZTR 2016, 235; Maschmann/ Konertz, NZA 2016, 257. 260 BAG v. 28.9.2016 – 7 AZR 549/14, NZA 2017, 249.

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§ 22 Rz. 22.139

Befristetes Arbeitsverhältnis

1. Institutioneller Anwendungsbereich

22.139 Im Rahmen des persönlichen Geltungsbereichs gilt § 1 Abs. 1 WissZeitVG unmittelbar für Personal an Einrichtungen des Bildungswesens, die nach Landesrecht staatliche Hochschulen sind. Bestimmte Vorschriften gelten nach § 4 WissZeitVG entsprechend für Personal an nach Landesrecht staatlich anerkannten Hochschulen. Nach § 5 WissZeitVG gelten diese Vorschriften auch entsprechend für Personal an staatlichen Forschungseinrichtungen sowie an überwiegend staatlich, an institutionell überwiegend staatlich oder auf der Grundlage von Art. 91b GG finanzierten Forschungseinrichtungen. Schließlich erklärt § 3 WissZeitVG diese Bestimmungen für einen befristeten Arbeitsvertrag, den ein Mitglied einer Hochschule, das Aufgaben seiner Hochschule selbständig wahrnimmt, zur Unterstützung bei der Erfüllung dieser Aufgaben mit überwiegend aus Mitteln Dritter vergütetem Personal abschließt (Privatdienstvertrag), für entsprechend anwendbar. a) Staatliche Hochschulen

22.140 In erster Linie findet das Gesetz Anwendung an nach Landesrecht staatlichen Hochschulen. Staatliche Hochschulen sind alle Einrichtungen, die in den Hochschulgesetzen der Länder als solche bezeichnet und zumeist enumerativ aufgezählt sind261. Voraussetzung der Anwendbarkeit des § 2 Abs. 1 WissZeitVG auf einen befristeten Arbeitsvertrag ist nach § 1 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG nicht, dass die staatliche Hochschule der Arbeitgeber ist, sondern dass der betreffende Arbeitnehmer an einer Einrichtung tätig werden soll, die nach Landesrecht eine staatliche Hochschule ist262. In den Ländern, in denen die Universitätsklinika nicht mehr Einrichtungen der Hochschulen, sondern rechtlich verselbständigt sind, kommt es somit nicht darauf an, wer Vertragsarbeitgeber ist263. b) Staatlich anerkannte Hochschulen

22.141 Die nicht staatlichen Hochschulen bedürfen, um unter das WissZeitVG zu fallen, der staatlichen Anerkennung. Das erfordert § 4 WissZeitVG. Die Anerkennung selbst richtet sich ebenfalls nach Landesrecht und kann durch Gesetz oder durch Verwaltungsakt erfolgen264. Unter § 4 WissZeitVG fallen insbesondere die Hochschulen der Bundeswehr, die Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Hochschulen in kirchlicher Trägerschaft und staatlich anerkannte private Hochschulen265. c) Staatliche Forschungseinrichtungen

22.142 Was staatliche Forschungseinrichtungen sind, ist gesetzlich nicht definiert. Für die Frage, ob es sich um eine staatliche Einrichtung handelt, ist die Trägerschaft bzw. Eigentümerstellung maßgeblich266. Darunter können nur Einrichtungen fallen, deren Träger bzw. Eigentümer der Bund und/oder ein oder mehrere Länder oder andere, ausländische Staaten sind. 261 Preis, § 1 WissZeitVG Rz. 4 mwN auf das Landesrecht. 262 BAG v. 24.8.2011 – 7 AZR 228/10, ArbRB 2012, 43 = ZTR 2012, 106; v. 18.5.2016 – 7 AZR 533/14, NZA 2016, 1276. 263 Sievers, WissZeitVG Rz. 7. 264 Preis, § 4 WissZeitVG Rz. 2. 265 Preis, § 4 WissZeitVG Rz. 3. 266 NK-GA/Boemke, § 5 WissZeitVG Rz. 6.

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Befristung nach dem WissZeitVG

Rz. 22.147 § 22

Forschungseinrichtungen müssen, in Abgrenzung zu Hochschulen, keine Lehraufgaben wahrnehmen, sondern können sich ausschließlich Forschungsaufgaben widmen267. Nicht erforderlich ist, dass die Einrichtung neben der Wahrnehmung von Forschungsaufgaben keine anderen Aufgaben wahrnimmt. Eine derartige Ausschließlichkeit lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Der betriebliche Bereich ist vielmehr weit gefasst und erfordert nach dem Wortlaut nicht einmal, dass die Forschungseinrichtung überwiegend Forschungszwecken dient. Entscheidend dürfte insoweit sein, ob die Wahrnehmung von Forschungsaufgaben der Einrichtung das Gepräge gibt.

22.143

d) Überwiegend staatlich finanzierte Forschungseinrichtungen Überwiegend staatlich finanzierte Forschungseinrichtungen iSv. § 5 WissZeitVG (1. Alternative) sind Forschungseinrichtungen, bei denen mehr als die Hälfte ihrer Einnahmen staatlich finanziert wird268.

22.144

Institutionell überwiegend staatlich finanziert (2. Alternative) sind solche Forschungseinrichtungen, die zwar bezogen auf ihre Gesamteinnahmen nicht überwiegend staatliche Mittel erhalten, deren Grundfinanzierung jedoch überwiegend aus staatlichen Haushalten entstammt269.

22.145

Auf der Grundlage von Art. 91b GG geförderte Forschungseinrichtungen (3. Alternative) sind solche, die auf der Grundlage der Rahmenvereinbarung Forschungsförderung zwischen Bund und Ländern gefördert werden270. Zum Teil wird insoweit auf den Bundesbericht Forschung und die darin aufgeführten Forschungseinrichtungen hingewiesen271. Allgemein zählt man darunter die in der Hermann-von-Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren zusammengeschlossenen Forschungseinrichtungen, die Institute der Max-Planck-Gesellschaft, Einrichtungen der Fraunhofer-Gesellschaft sowie die in der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz zusammengeschlossenen Forschungsinstitute272.

22.146

e) Privatdienstvertrag Bei einem Privatdienstvertrag iSv. § 3 WissZeitVG ist Arbeitgeber nicht eine Hochschule oder 22.147 Forschungseinrichtung, sondern ein Mitglied einer Hochschule, das Aufgaben seiner Hochschule selbständig wahrnimmt. Wer Mitglied einer Hochschule ist und Aufgaben seiner Hochschule selbständig wahrnimmt, richtet sich nach dem jeweiligen Landesrecht. Zu diesem Personenkreis zählen nicht nur Professoren, sondern können auch andere wissenschaftlich tätige Personen gehören273. Allerdings besteht Einigkeit darüber, dass Professoren und Juniorprofessoren einer Hochschule die Aufgaben der Hochschule regelmäßig selbständig wahrnehmen274.

267 268 269 270 271 272 273 274

NK-GA/Boemke, § 5 WissZeitVG Rz. 5. Preis, § 5 WissZeitVG Rz. 5; NK-GA/Boemke, § 5 WissZeitVG Rz. 7. Preis, § 5 WissZeitVG Rz. 6; NK-GA/Boemke, § 5 WissZeitVG Rz. 8. Preis, § 5 WissZeitVG Rz. 7; NK-GA/Boemke, § 5 WissZeitVG Rz. 9. APS/Schmidt, § 5 WissZeitVG Rz. 3. Preis, § 5 WissZeitVG Rz. 7; APS/Schmidt, § 5 WissZeitVG Rz. 3. Preis, § 3 WissZeitVG Rz. 5-14. Preis, § 3 WissZeitVG Rz. 6; APS/Schmidt, § 3 WissZeitVG Rz. 3.

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§ 22 Rz. 22.148

Befristetes Arbeitsverhältnis

22.148 Der befristete Arbeitsvertrag muss zwischen dem Mitglied der Hochschule und einem wissenschaftlichen oder künstlerischen Mitarbeiter abgeschlossen werden zur Unterstützung bei der Erfüllung der Aufgaben der Hochschule durch das Mitglied dieser Hochschule. Die Vergütung muss überwiegend aus Mitteln Dritter erfolgen. Weder Mittel der Hochschule noch Mittel des Arbeitgebers sind Drittmittel275.

22.149 Auch wenn die Hochschule die Mittel im sog. Verwahrkontenverfahren verwaltet, entsteht hierdurch kein (mittelbares) Arbeitsverhältnis zu Hochschule276. 2. Persönlicher Anwendungsbereich

22.150 Die Möglichkeit der Befristung eines Arbeitsvertrages nach § 2 Abs. 1 WissZeitVG besteht nur mit dem in § 1 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG genannten Personal. Dabei handelt es sich um das wissenschaftliche und künstlerische Personal mit Ausnahme der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer. Die Befristung von Arbeitsverträgen mit Studierenden als wissenschaftliche oder künstlerische Hilfskräfte regelt § 6 WissZeitVG.

22.151 Das WissZeitVG bestimmt seinen persönlichen Geltungsbereich eigenständig277. Das Gesetz definiert den Begriff des wissenschaftlichen und künstlerischen Personals nicht. Es schließt lediglich negativ, dem Qualifizierungsgedanken des Sonderbefristungsrechts entsprechend, die Ebene der Hochschullehrer/innen vom Geltungsbereich aus. Entscheidend für die Zuordnung ist, ob Beschäftigte wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeiten zu verrichten haben. Auf die Bezeichnung der Personalkategorien kommt es hingegen nicht an278. Für die Bestimmung des Inhalts der zu verrichtenden Tätigkeiten ist auf den Arbeitsvertrag abzustellen. Maßgeblich ist, was vom Arbeitnehmer aufgrund des Arbeitsvertrags, einer Dienstaufgabenbeschreibung oder sonstiger Umstände bei Vertragsschluss erwartet wird. Die Parteien haben es nicht in der Hand, durch eine Modifizierung der vertraglichen Aufgaben die Wissenschaftlichkeit nachträglich herbeizuführen oder zu beseitigen. Andernfalls könnte der Arbeitnehmer selbst der Befristung die Grundlage entziehen, indem er entgegen der vertraglichen Vereinbarungen keine wissenschaftlichen Dienstleistungen erbringt. Ebensowenig kann der Arbeitgeber durch die Zuweisung wissenschaftlicher Tätigkeiten nach Vertragsschluss den personellen Anwendungsbereich des WissZeitVG nachträglich herbeiführen. Ausgehend vom Arbeitsvertrag ist der Begriff des „wissenschaftlichen und künstlerischen Personals“ inhaltlich-aufgabenbezogen zu bestimmen279. Für Einzelheiten, welche Personalkategorien typischerweise zum wissenschaftlichen und künstlerischen Personal gezählt werden können, wird auf die einschlägigen Kommentierungen hingewiesen280.

22.152 Die Befristung eines Arbeitsvertrages, der überwiegend aus Drittmitteln finanziert wird, ist unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Satz 1 WissZeitVG nicht mehr mit nichtwissenschaftlichen und nichtkünstlerischen Beschäftigten zulässig.

275 276 277 278 279 280

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Preis, § 3 WissZeitVG Rz. 20; APS/Schmidt, § 3 WissZeitVG Rz. 5. Preis, § 3 WissZeitVG Rz. 22; APS/Schmidt, § 3 WissZeitVG Rz. 6. BAG v. 1.6.2011 – 7 AZR 827/09, MDR 2012, 354; Sievers, WissZeitVG Rz. 10. APS/Schmidt, § 1 WissZeitVG Rz. 11. BAG v. 30.8.2017 – 7 AZR 524/15, NZA 2018, 305 = ArbRB 2018, 42. Ausführlich Preis, § 1 WissZeitVG Rz. 9-37; APS/Schmidt, § 1 WissZeitVG Rz. 11-25.

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Befristung nach dem WissZeitVG

Rz. 22.157 § 22

3. Befristungsdauer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne Promotion können nach § 2 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG für maximal sechs Jahre befristet beschäftigt werden, auch dann, wenn sie in dieser Zeit keine Promotion anstreben.

22.153

Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 WissZeitVG ist nach abgeschlossener Promotion eine Befristungshöchstgrenze von sechs Jahren, im Bereich der Medizin von neun Jahren zulässig. Wichtig ist, dass eine Promotionsphase von weniger als sechs Jahren honoriert wird, ungeachtet dessen, ob sie innerhalb oder ganz oder teilweise außerhalb eines befristeten Arbeitsverhältnisses nach Abs. 1 Satz 1 absolviert wurde. Die „eingesparte“ Zeit in der Promotionsphase führt zur entsprechenden Verlängerung der maximalen Befristungsdauer in der Postdoc-Phase, § 2 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 WissZeitVG. Jedoch verkürzt sich die zulässige Höchstbefristungsdauer von sechs (bzw. neun) Jahren in der Postdoc-Phase nicht um die Zeit, die der zum wissenschaftlichen und künstlerischen Personal iSd. § 1 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG zählende Arbeitnehmer vor der Promotion länger als sechs Jahre befristet tätig geworden ist. § 2 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 WissZeitVG legen keine „Gesamt“-Höchstbefristungsdauer in solch einem Verständnis fest. Die Anrechnungsbestimmung des § 2 Abs. 3 WissZeitVG ist bezogen auf die jeweilige Qualifikationsphase zu verstehen281.

22.154

Die nach § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 insgesamt zulässige Befristungsdauer verlängert sich bei der Betreuung eines oder mehrerer Kinder unter 18 Jahren um zwei Jahre je Kind, und zwar für jeden Elternteil. Nach § 2 Abs. 1 Satz 3 ist die vereinbarte Befristung jeweils so zu bemessen, dass sie der angestrebte Qualifizierung angemessen ist. Damit sollen unangemessene Kurzzeitbefristungen verhindert werden282.

22.155

4. Anrechnung von Beschäftigungszeiten Auf die Befristungsdauer werden gemäß § 2 Abs. 3 WissZeitVG alle befristeten Arbeitsverhältnisse angerechnet, die nach dem Abschluss des Studiums liegen und mit mehr als einem Viertel der regelmäßigen Arbeitszeit mit einer deutschen Hochschule, einer Forschungseinrichtung iSv. § 5 WissZeitVG oder als Privatdienstvertrag gemäß § 3 WissZeitVG abgeschlossen wurden, oder entsprechende Beamtenverhältnisse auf Zeit, unabhängig davon, ob die Arbeitsverhältnisse aufgrund des WissZeitVG oder anderer Rechtsvorschriften befristet abgeschlossen wurden.

22.156

5. Drittmittel Nach § 25 Abs. 1 HRG sind Hochschulmitglieder berechtigt, auch solche Forschungsvorhaben durchzuführen, die nicht aus Haushaltsmitteln der Hochschule finanziert werden283. Drittmittel sind daher solche, die der Hochschule oder der Forschungseinrichtung iSv. § 5 WissZeitVG außerhalb ihrer regulären Haushaltsmittel zufließen284.

281 BAG v. 24.8.2011 – 7 AZR 228/10, ArbRB 2012, 43 = ZTR 2012, 106. 282 KR/Treber, § 2 WissZeitVG Rz. 19 f. 283 Zu den strafrechtlichen Grenzen beim Einwerben von Drittmitteln s. BGH v. 25.2.2003 – 5 StR 563/02, NStZ-RR 2003, 171; v. 23.10.2002 – 1 StR 541/01, NJW 2003, 763. 284 Preis, § 2 WissZeitVG Rz. 62; APS/Schmidt, § 2 WissZeitVG Rz. 29.

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727

22.157

§ 22 Rz. 22.158

Befristetes Arbeitsverhältnis

22.158 Für die Rechtfertigung einer befristeten Beschäftigung bei Drittelmittelfinanzierung müssen nach § 2 Abs. 2 WissZeitVG drei Voraussetzungen erfüllt sein:

22.159 Die Beschäftigung muss überwiegend aus Mitteln Dritter finanziert werden. Die Finanzierung muss für eine bestimmte Aufgabe und Zeitdauer bewilligt sein. Der Mitarbeiter muss überwiegend der Zweckbestimmung der Drittmittel entsprechend beschäftigt werden. Nach § 2 Abs. 2 Halbs. 2 WissZeitVG soll die vereinbarte Befristungsdauer dem bewilligten Projektzeitraum entsprechen.

22.160 Nicht das Projekt als Ganzes, sondern die Beschäftigung muss überwiegend, dh. zu mehr als 50 %, aus Drittmitteln finanziert werden285. Auch insoweit wird nicht auf das Projekt bzw. die innerhalb des Projekts beschäftigten Arbeitnehmer, sondern allein auf die Personalkosten des befristet Beschäftigten abgestellt286. Nach der bisherigen Rechtsprechung kam eine Drittmittelbefristung auch dann in Betracht, wenn es sich um Mittel handelte, die der Hochschule nach Abschluss eines Drittmittelprojekts zur freien Verfügung verblieben waren. Die Zweckbestimmung von Drittmitteln konnte in solchen Fällen auch von der Hochschule vorgenommen werden287. Offen ist, ob daran festgehalten werden kann288.

22.161 Die Finanzierung aus Drittmitteln muss für eine bestimmte Aufgabe und Zeitdauer bewilligt sein. Damit wird an die Rechtsprechung des BAG angeknüpft, wonach eine pauschale Bestimmung von Mitteln ohne konkrete und nachvollziehbare Zweckbindung nicht ausreichte289. Allerdings verlangt der Wortlaut des Gesetzes nicht, dass die Finanzierung anschließend wegfallen soll. Eine hinreichend sichere Prognose ist vielmehr bereits aufgrund der vom Drittmittelgeber vorgenommenen inhaltlichen und zeitlichen Bestimmung möglich. Auch wenn für länger konzipierte Forschungsvorhaben eine Finanzierung durch Drittmittel nur abschnittsweise erfolgt und die Entscheidung des Drittmittelgebers über die Fortsetzung der Förderung nach jedem Teilabschnitt erneut erfolgt, liegt eine hinreichend sichere Prognose über den Wegfall des Beschäftigungsbedarfs vor290.

22.162 Der oder die Beschäftigte muss überwiegend der Zweckbestimmung der Drittmittel entsprechend beschäftigt werden. Die projektbezogene Tätigkeit muss zeitlich mehr als die Hälfte der Arbeitszeit umfassen.

22.163 Im Rahmen der Drittmittelbefristung kann nicht mehr das mit organisatorisch vorbereitenden, unterstützenden oder technischen Tätigkeiten betraute sonstige Personal befristet beschäftigt werden291.

285 286 287 288 289

Arnold/Gräfl/Rambach, WissZeitVG Rz. 46. APS/Schmidt, § 2 WissZeitVG Rz. 30. BAG v. 15.1.1997 – 7 AZR 158/96, NZA 1998, 29. Bejahend APS/Schmidt, § 2 WissZeitVG Rz. 29. Vgl. BAG v. 26.8.1988 – 7 AZR 101/88, ZTR 1988, 493; v. 15.1.1997 – 7 AZR 158/96, NZA 1998, 29. 290 In diesem Sinne APS/Schmidt, § 2 Rz. 32; kritischer Preis, § 2 WissZeitVG Rz. 72; offen ErfK/ Müller-Glöge, § 2 WissZeitVG Rz. 11. 291 KR/Treber, § 1 WissZeitVG Rz. 17.

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Befristung nach dem ÄArbVtrG

Rz. 22.168 § 22

6. Zitiergebot Nach § 2 Abs. 4 WissZeitVG ist im Arbeitsvertrag anzugeben, ob die Befristung auf den Vorschriften dieses Gesetzes beruht. Fehlt diese Angabe, kann die Befristung nicht auf Vorschriften des WissZeitVG gestützt werden.

22.164

VIII. Befristung nach dem ÄArbVtrG Das ÄArbVtrG regelt die Befristung von Arbeitsverträgen mit Ärzten in der Weiterbildung außerhalb von Hochschulen und Forschungseinrichtungen, § 1 Abs. 6 ÄArbVtrG. Seine Bestimmungen gehen den allgemeinen arbeitsrechtlichen Vorschriften und Grundsätzen über befristete Arbeitsverträge vor, die nach § 1 Abs. 5 ÄArbVtrG nur insoweit anzuwenden sind, als sie den Vorschriften der Abs. 1 bis 4 nicht widersprechen. Damit enthalten die Abs. 1 bis 4 zweiseitig zwingendes Recht, von dem auch zugunsten der Arbeitnehmer durch Tarifvertrag nicht abgewichen werden kann292. Die damit verbundene Einschränkung der Tarifautonomie ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, sondern durch das angestrebte Ziel der Sicherung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung durch qualifiziert ausgebildete Ärzte gerechtfertigt293.

22.165

1. Art der Befristung Nach § 1 Abs. 2 Halbs. 2 ÄArbVtrG muss die Befristung kalendermäßig bestimmt oder bestimmbar sein. Daraus folgt, dass zweckbefristete oder auflösend bedingte Arbeitsverträge nicht auf § 1 ÄArbVtrG gestützt werden können294. Das gilt auch für die in § 1 Abs. 3 Satz 6 ÄArbVtrG vorgesehene Möglichkeit der Befristung. Auch insoweit muss die Befristung kalendermäßig bestimmt oder bestimmbar sein.

22.166

2. Befristungsgrund Ein sachlicher Grund, der die Befristung eines Arbeitsvertrages mit einem Arzt rechtfertigt, liegt nach § 1 Abs. 1 ÄArbVtrG vor, wenn die Beschäftigung des Arztes seiner zeitlich und inhaltlich strukturierten Weiterbildung zum Facharzt oder dem Erwerb einer Anerkennung für einen Schwerpunkt oder dem Erwerb einer Zusatzbezeichnung, des Fachkundenachweises oder einer Bescheinigung über eine fakultative Weiterbildung dient. Im Rahmen einer derart zeitlich und inhaltlich strukturierten Weiterbildung kann der Arzt auch mit anderen Tätigkeiten betraut werden. Diese dürfen jedoch nicht die Weiterbildung beeinträchtigen295.

22.167

3. Dauer der Befristung

22.168

§ 1 Abs. 3 ÄArbVtrG regelt sowohl die Mindest- als auch die Höchstbefristungsdauer.

292 293 294 295

APS/Schmidt, ÄArbVtrG Rz. 9. APS/Schmidt, ÄArbVtrG Rz. 11. APS/Schmidt, ÄArbVtrG Rz. 26. APS/Schmidt, ÄArbVtrG Rz. 15.

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729

§ 22 Rz. 22.169

Befristetes Arbeitsverhältnis

a) Mindestdauer

22.169 Die Befristung darf nach § 1 Abs. 3 Satz 5 ÄArbVtrG den Zeitraum nicht unterschreiten, für den der sich weiterbildende Arzt die Weiterbildungsbefugnis besitzt. Auf einen früheren Zeitpunkt darf der Arbeitsvertrag nur dann befristet werden, wenn zu diesem früheren Zeitpunkt der weiterzubildende Arzt den von ihm nachgefragten Weiterbildungsabschnitt beendet oder die Voraussetzungen für die Anerkennung im Gebiet, Schwerpunkt, Bereich sowie für den Erwerb eines Fachkundenachweises oder einer Bescheinigung über eine fakultative Weiterbildung vorliegen. Die Befristung zu einem dieser früheren Zeitpunkte setzt jedoch voraus, dass das Erreichen der Voraussetzungen bei Vertragsabschluss konkret absehbar ist. Denn auch in diesem Fall muss die Befristung kalendermäßig bestimmt oder bestimmbar sein und ist eine Zweckbefristung nicht zulässig296. b) Höchstdauer

22.170 § 1 Abs. 2 ÄArbVtrG regelt, dass sich die Dauer der Befristung des Arbeitsvertrages im Rahmen der Abs. 3 und 4 ausschließlich nach der vertraglichen Vereinbarung bestimmt. Da nach § 1 Abs. 3 Satz 1 ÄArbVtrG der Arbeitsvertrag auf die notwendige Zeit für den Erwerb der Anerkennung als Facharzt oder den Erwerb einer Zusatzbezeichnung, höchstens bis zur Dauer von acht Jahren, befristet abgeschlossen werden kann, folgt daraus, dass für die Frage, welche Zeiten notwendig sind, ausschließlich die vertragliche Vereinbarung maßgeblich ist. Zwar bestimmt sich die idR erforderliche Zeit nach den Ausbildungsverordnungen der jeweiligen Landesärztekammern; gleichwohl können diese Zeiten im Hinblick auf die klare Aussage des Gesetzes in § 1 Abs. 2 ÄArbVtrG nur Anhaltspunkte dafür sein, ob die Arbeitsvertragsparteien missbräuchlich von den Möglichkeiten der Befristung nach § 1 ÄArbVtrG Gebrauch gemacht haben. c) Verlängerungen

22.171 Wird die Weiterbildung im Rahmen einer Teilzeitbeschäftigung abgeleistet und verlängert sich der Weiterbildungszeitraum hierdurch über die zeitlichen Grenzen der Sätze 1 und 2 des § 1 ÄArbVtrG hinaus, so können diese nach Satz 3 um die Zeit dieser Verlängerung überschritten werden.

22.172 Außerdem werden bestimmte, in § 1 Abs. 4 ÄArbVtrG aufgeführte Zeiten der Unterbrechung auf die jeweilige Dauer eines befristeten Arbeitsvertrages nicht angerechnet, sofern der zur Weiterbildung beschäftigte Arzt dies verlangt. In diesem Fall unterliegt der Arbeitgeber einem Kontrahierungszwang. Der Anspruch auf Verlängerung des befristeten Arbeitsvertrages muss durch eine Leistungsklage geltend gemacht werden297. d) Mehrere befristete Arbeitsverträge

22.173 Eine Weiterbildung iSv. § 1 Abs. 1 ÄArbVtrG muss nicht im Rahmen eines befristeten Arbeitsvertrages erfolgen. Sie kann auch auf mehrere befristete Arbeitsverträge verteilt werden. In diesem Fall dürfen die befristeten Arbeitsverträge insgesamt die zeitlichen Grenzen nach § 1 Abs. 3 Satz 1 bis 3 ÄArbVtrG nicht überschreiten, § 1 Abs. 3 Satz 4 ÄArbVtrG. 296 APS/Schmidt, ÄArbVtrG Rz. 19. 297 APS/Schmidt, ÄArbVtrG Rz. 22.

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Personalvertretungsrechtliche Besonderheiten

Rz. 22.176 § 22

IX. Besondere tarifvertragliche Regelungen, § 30 TV-Ärzte/§ 41 TV-L Ähnlich § 30 Abs. 1 Satz 1 TVöD/TV-L bestimmt § 30 Abs. 1 Satz 1 TV-Ärzte deklaratorisch, dass befristete Arbeitsverträge nach den gesetzlichen Vorschriften über die Befristung von Arbeitsverträgen zulässig sind. Ergänzend lautet Satz 2, dass dabei eine ausgewogene Abwägung zwischen den dienstlichen Notwendigkeiten einerseits und den berechtigten Interessen der betroffenen Ärzte andererseits erfolgen soll.

22.174

Gemäß § 30 Abs. 2 TV-Ärzte/§ 41 Nr. 19 Ziff. 2 TV-L ist beim Abschluss von befristeten Arbeitsverträgen mit besonders kurzen Vertragslaufzeiten auch das Interesse der Ärzte an einer notwendigen Planungssicherheit zu berücksichtigen. Bei befristeten Beschäftigungen nach dem HRG (WissZeitVG) bzw. einer gesetzlichen Nachfolgeregelung mit dem Zweck der Weiterbildung zur Fachärztin bzw. zum Facharzt (ÄArbVtrG) soll der erste Vertrag möglichst für eine Laufzeit von nicht weniger als zwei Jahren und der weitere Vertrag bis zum Ende der Mindestweiterbildungszeit geschlossen werden. Sachliche Gründe können eine kürzere Vertragslaufzeit erfordern.

22.175

Die befristete Besetzung von Führungspositionen ist nur sehr eingeschränkt möglich. Nach § 32 TV-Ärzte VKA können Führungspositionen als befristetes Arbeitsverhältnis bis zur Dauer von zwei Jahren vereinbart werden. Führungspositionen sind die ab Entgeltgruppe Ä 3 auszuübenden Tätigkeiten mit Weisungsbefugnis. Andere Regelungen, insbesondere über Verlängerungsmöglichkeiten oder die Möglichkeit der befristeten Übertragung einer Führungsposition, enthält der TV-Ärzte nicht. Nach § 41 Nr. 20 TV-L können Führungspositionen als befristetes Arbeitsverhältnis bis zur Gesamtdauer von zwei Jahren vereinbart werden. Innerhalb dieser Gesamtdauer ist eine höchstens zweimalige Verlängerung des Arbeitsvertrages zulässig. Besteht bereits ein Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber, kann der/dem Beschäftigten vorübergehend eine Führungsposition bis zu dieser Gesamtdauer übertragen werden (Führung auf Probe). Bei der Führung auf Zeit können nach § 41 Nr. 21 TV-L Führungspositionen als befristetes Arbeitsverhältnis bis zur Dauer von vier Jahren vereinbart werden. Dabei sind in der Entgeltgruppe Ä 3 eine höchstens zweimalige Verlängerung bis zu einer Gesamtdauer von acht Jahren sowie in der Entgeltgruppe Ä 4 eine höchstens dreimalige Verlängerung bis zu einer Gesamtdauer von zwölf Jahren zulässig. Besteht bereits ein Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber, kann der/dem Beschäftigten vorübergehend eine Führungsposition bis zu den genannten Fristen übertragen werden.

22.175a

X. Personalvertretungsrechtliche Besonderheiten 1. LPersVG NW Nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 LPVG NW hat der Personalrat bei der Befristung von Arbeitsverhältnissen mitzubestimmen. Dies galt nicht in der Zeit vom 18.10.2007 bis zum 15.7.2011. Eine Maßnahme, die der Mitbestimmung des Personalrats unterliegt, kann nach § 66 Abs. 1 LPVG NW nur mit seiner Zustimmung getroffen werden. Unterliegt eine Maßnahme der Mitbestimmung des Personalrats, hat der Leiter der Dienststelle den Personalrat von der beabsichtigten Maßnahme zu unterrichten und seine Zustimmung zu beantragen (§ 66 Abs. 2 Satz 1 LPVG NW). Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, gegenüber dem Personalrat unaufgefordert das Vorliegen des Sachgrunds für die Befristung im Einzelnen darzulegen. Vielmehr genügt er zunächst seiner Unterrichtungspflicht, wenn für den Personalrat der Sachgrund seiner Art

Groeger

731

22.176

§ 22 Rz. 22.176

Befristetes Arbeitsverhältnis

nach hinreichend deutlich wird298. Zu diesen Angaben, die zumindest die typisierende Bezeichnung des Befristungsgrunds umfassen müssen, ist der Arbeitgeber auch ohne besondere Aufforderung des Personalrats verpflichtet, da der Personalrat diese Informationen zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung seines Mitbestimmungsrechts nach § 72 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 LPVG NW (aF) benötigte. Dieses Mitbestimmungsrecht dient dem Schutz des Arbeitnehmers und soll dessen Interesse an dauerhaften arbeitsvertraglichen Bindungen Rechnung tragen299. Der Personalrat soll prüfen, ob die beabsichtigte Befristung nach den Grundsätzen der arbeitsgerichtlichen Befristungskontrolle wirksam ist. Außerdem soll er auch bei Vorliegen einer Rechtfertigung für die Befristung darauf Einfluss nehmen können, ob im Interesse des Arbeitnehmers von einer Befristung abgesehen oder wegen der dem Arbeitnehmer zugewiesenen Arbeitsaufgaben oder der in Aussicht genommenen Befristungsgründe eine längere Vertragslaufzeit vereinbart werden kann. Dazu ist zumindest eine typisierende Benennung des Befristungsgrunds gegenüber dem Personalrat erforderlich.

22.177 Hielt der Personalrat diese Mitteilung nicht für ausreichend, konnte er nach § 66 Abs. 2 Satz 2 LPVG NW verlangen, dass der Dienststellenleiter die beabsichtigte Maßnahme begründet. Sofern der Personalrat beabsichtigte, der Maßnahme nicht zuzustimmen, hatte er dies innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Aufforderung dem Leiter der Dienststelle mitzuteilen. In diesem Fall war die beabsichtigte Maßnahme mit dem Ziel der Verständigung zwischen dem Leiter der Dienststelle und dem Personalrat zu erörtern (§ 66 Abs. 2 Satz 3 LPVG NW). Der Beschluss des Personalrats über die beantragte Zustimmung war dem Leiter der Dienststelle – sofern eine Erörterung stattfindet – innerhalb von zwei Wochen nach dem Tag der Erörterung mitzuteilen (§ 66 Abs. 3 Satz 1 LPVG NW).

22.178 Eine Zustimmung des Personalrats zu den aus Sicht der Dienststelle die Befristung tragenden Gründen war personalvertretungsrechtlich nicht erforderlich. Zustimmungspflichtige Maßnahme iSd. § 72 Abs. 1 Nr. 1 LPVG NW war nur die beabsichtige Befristung des Arbeitsverhältnisses, nicht die hierfür gegebene Begründung300.

22.179 Nach dem Wortlaut des § 66 Abs. 2 Satz 5 LPVG NW gilt die Maßnahme (Befristung eines Arbeitsverhältnisses gemäß § 72 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 LPVG NW) erst nach Ablauf der gesetzlichen Äußerungsfrist als gebilligt und nicht schon mit Zugang einer Erklärung des Personalrats, er verzichte auf eine Stellungnahme. Eine Abkürzung der Äußerungsfrist durch den Personalrat und einen darauf beruhenden vorzeitigen Eintritt der Zustimmungsfiktion lässt das Gesetz nicht zu. Für dringende Fälle ist in § 66 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 2 LPVG NW vorgesehen, dass die Dienststelle die Äußerungsfrist auf eine Woche verkürzen kann301. 2. LPVG Brandenburg

22.180 Nach § 63 Abs. 1 Nr. 4 LPVG Brandenburg steht dem Personalrat bei der Vereinbarung befristeter Arbeitsverhältnisse ein Mitbestimmungsrecht zu. Die unzureichende Beteiligung des Personalrats im Rahmen des Mitbestimmungsrechts führt zur Unwirksamkeit der Befristung302. 298 299 300 301 302

732

BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2. BAG v. 8.7.1998 – 7 AZR 308/97, AP § 72 LPVG NW Nr. 18. BAG v. 14.2.2007 – 7 AZR 193/06, ArbRB 2007, 236 = AP § 14 TzBfG Haushalt Nr. 2. BAG v. 21.3.2018 – 7 AZR 408/16, ZTR 2018, 523. BAG v. 9.6.1999 – 7 AZR 170/98, NZA 2000, 109; LAG Berlin-Brandenburg v. 12.7.2013 – 10 Sa 196/13.

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Personalvertretungsrechtliche Besonderheiten

Rz. 22.184 § 22

3. Thür PersVG Nach § 75 Abs. 1 Nr. 3 ThürPersVG hat der Personalrat bei der Verlängerung eines befristeten 22.181 Arbeitsverhältnisses eingeschränkt mitzubestimmen. Die eingeschränkte Mitbestimmung bedeutet nach § 76 Abs. 3 ThürPersVG, dass der Personalrat die Zustimmung nur verweigern kann, wenn entweder die Maßnahme gegen ein Gesetz, eine Rechtsverordnung, eine Bestimmung in einem Tarifvertrag, eine gerichtliche Entscheidung, den Frauenförderplan oder eine Verwaltungsanordnung verstößt oder die durch Tatsachen begründete Besorgnis besteht, dass durch die Maßnahme der betroffene Beschäftigte oder andere Beschäftigte benachteiligt werden, ohne dass dies aus dienstlichen oder persönlichen Gründen gerechtfertigt ist, oder die durch Tatsachen begründete Besorgnis besteht, dass der Beschäftigte oder Bewerber den Frieden in der Dienststelle durch unsoziales oder gesetzwidriges Verhalten stören werde. Auf eine abweichende Qualifikationsbeurteilung kann der Personalrat die Verweigerung seiner Zustimmung nicht stützen. 4. LPersVG Rheinland Pfalz § 78 Abs. 2 Nr. 2 LPersVG Rh.-Pf. bestimmt, dass der Personalrat bei der Zeit- oder Zweckbefristung des Arbeitsverhältnisses, ausgenommen im Hochschulbereich, mitbestimmt. Soweit eine Maßnahme der Mitbestimmung des Personalrats unterliegt, kann sie gemäß § 74 Abs. 1 LPersVG Rh.-Pf. nur mit seiner Zustimmung getroffen werden. Ist das Mitbestimmungsverfahren nicht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden und stimmt der Personalrat bei nachgeholter Befassung nicht zu, ist die Maßnahme, soweit nicht zwingende gesetzliche Bestimmungen entgegenstehen, rückgängig zu machen. Die Zustimmung des Personalrats nach § 78 Abs. 2 Nr. 2 iVm. § 74 Abs. 1 Satz 1 LPersVG Rh.-Pf. ist Voraussetzung für die Wirksamkeit der Befristung des Arbeitsverhältnisses303. Die reine Benennung einer Elternzeit als Begründung für eine Befristung eines Arbeitsverhältnisses stellt keine ausreichende Begründung der beabsichtigten Maßnahme im Hinblick auf die Beteiligung des Personalrats iSd. § 74 Abs. 2 LPersVG Rh.-Pf. dar304.

22.182

5. LPVG Niedersachsen Gemäß § 65 Abs. 2 Nr. 4 LPVG Niedersachsen bestimmt der Personalrat bei der Befristung eines Arbeitsvertrages im Anschluss an ein zuvor befristetes Arbeitsverhältnis mit. Soweit eine Maßnahme der Mitbestimmung des Personalrats unterliegt, bedarf sie gemäß § 68 Abs. 1 LPVG Niedersachsen seiner Zustimmung.

22.183

6. LPVG Mecklenburg Vorpommern § 68 Abs. 1 Nr. 8 LPVG MV bestimmt, dass der Personalrat bei der Verlängerung eines befristeten Arbeitsvertrages mitbestimmt. Soweit eine Maßnahme der Mitbestimmung des Personalrats unterliegt, kann sie nach § 62 Abs. 1 LPVG MV nur mit seiner Zustimmung getroffen werden. Der Personalrat hat aber nicht grundsätzlich bei der Frage mitzubestimmen, ob ein Arbeitsvertrag befristet oder unbefristet abzuschließen ist305. 303 LAG Rheinland-Pfalz v. 30.6.2005 – 1 Sa 1020/04, NZA-RR 2006, 107; v. 28.2.2001 – 9 Sa 1451/00, NZA-RR 2002, 166. 304 LAG Rheinland-Pfalz v. 5.2.2015 – 3 Sa 393/14, juris. 305 LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 27.11.2003 – 1 Sa 205/03, juris.

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733

22.184

§ 22 Rz. 22.185

Befristetes Arbeitsverhältnis

7. LPVG Baden Württemberg

22.185 § 75 Abs. 1 Nr. 2 (früher: § 79 Abs. 3 Nr. 15) LPVG bestimmt, dass der Personalrat mitzubestimmen hat über Personalangelegenheiten der Arbeitnehmer bei der Zeit- oder Zweckbefristung des Arbeitsverhältnisses. Ein Verstoß gegen dieses Mitbestimmungsrecht führt zur Unwirksamkeit der Maßnahme, also der Befristung, § 69 Abs. 1 LPVG306. 8. MBG Schleswig Holstein

22.186 Trotz der sog. Allzuständigkeit des Personalrats nach dem Mitbestimmungsgesetz SchleswigHolstein (§ 2 Abs. 1 MBG Schl.-Holst.) bedarf die Befristungsabrede als solche (neben der Einstellung als personeller Maßnahme) keiner gesonderten Zustimmung des Personalrats307.

306 LAG Baden-Württemberg v. 15.2.2007 – 3 Sa 50/06, juris; v. 31.1.2018 – 9 Sa 22/17, juris, Revision anhängig unter 4 AZR 251/18. 307 LAG Schleswig-Holstein v. 25.7.2006 – 5 Sa 98/06, ZTR 2007, 156.

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Groeger

§ 23 Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ein Überblick über die „alte“ und „neue“ Rechtslage bis zum Inkrafttreten der Entgeltordnungen zum TVöD und TV-L . 1. Die Rechtslage unter Geltung des BAT/BAT-O/BAT-Ostdeutsche Sparkassen, des MTArb/ MTArb-O sowie des BMT-G-II/ BMT-G-O/TV Arbeiter-Ostdeutsche Sparkassen . . . . . . . . . a) Die Vergütung der Angestellten . . . . . . . . . . . . . b) Die Vergütung der Arbeiterinnen und Arbeiter des Bundes und der Länder . . . . c) Die Vergütung der Arbeiterinnen und Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe . . . . . . . . . . . . .

23.1

23.5

23.5 23.6 23.8

23.10

2. Die Rechtslage unter Geltung des TVöD iVm. dem TVÜBund und dem TVÜ-VKA sowie des TV-L iVm. dem TVÜLänder bis zum Inkrafttreten der Entgeltordnungen zum TVöD und TV-L . . . . . . . . . . . . a) Der TVöD . . . . . . . . . . . . . . . b) Der TV-L . . . . . . . . . . . . . . . c) Die neuen Entgelttabellen . . . d) Die Überleitungstarifverträge aa) Die Überleitung in den TVöD und TV-L . . . . . . bb) Die Überleitung in die neuen Entgeltordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die neue „alte“ Rechtslage . .

23.28 23.35

III. Die Grundsätze der Eingruppierung . . . . . . . . . . . . .

23.36

1. Der Grundsatz der Tarifautomatik . . . . . . . . . . . . . . . . .

23.36

2. Die „auszuübende Tätigkeit“ als Bestimmungsfaktor der tariflichen Eingruppierung . . . a) Die wirksam zugewiesene Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

23.12 23.12 23.15 23.18 23.24 23.25

23.42

b) Die Veränderung der Tätigkeit des Beschäftigten ohne Mitwirkung des Arbeitgebers 3. Die nicht nur vorübergehend zugewiesene Tätigkeit . . . . . . . . a) Die Übertragung einer Tätigkeit zur nicht nur vorübergehenden Ausübung . . . . . . . b) Die vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Überblick . . . . . . . . . . . . bb) Die höherwertige Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . cc) Die Voraussetzungen und die Zulässigkeit der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit . . . . . . . . (1) Die doppelte Billigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . (2) Die mehrmalige Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit . . . . . (3) Beginn und Ende der Übertragung . . . . . . . . . (4) Die Rechtsfolge der vorübergehenden Übertragung . . . . . . . . . (5) Beispiele aus der Rechtsprechung des BAG zur vorübergehenden Ausübung einer höherwertigen Tätigkeit nach § 24 BAT und § 14 TVöD/TV-L . . . . . . 4. Die Bewertung der gesamten Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die für die Eingruppierung unerheblichen Kriterien . . . . b) Der Arbeitsvorgang als maßgebliche Bewertungseinheit . . aa) Die Feststellung der Arbeitsvorgänge . . . . . . . bb) Die Bewertung der Arbeitsvorgänge . . . . . . .

23.46 23.50 23.51 23.54 23.54 23.56

23.57 23.58 23.62 23.63 23.65

23.67 23.75 23.78 23.79 23.83 23.87

23.43

Natter/Pfeiffer

735

§ 23

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

(1) Die Erfüllung der Tätigkeitsmerkmale der Entgeltordnung . . . . . . . . . . (2) Die zusammenfassende Beurteilung aller Arbeitsvorgänge im Rahmen der Bewertung . . . . (3) Das Aufspaltungsverbot . (4) Die Feststellung des zeitlichen Anteils . . . . . . cc) Die Bewertung der gesamten Tätigkeit . . . . . .

23.88

23.89 23.90 23.92 23.93

5. Die Lücke in der Vergütungsbzw. Entgeltordnung . . . . . . . .

23.94

IV. Die Höhergruppierung . . . . . . .

23.99

1. Die Ursachen der Höhergruppierung . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Zuweisung einer höherwertigen Tätigkeit durch den Arbeitgeber . . . . . . . . . . b) Das Hineinwachsen in eine höherwertige Tätigkeit ohne Zutun des Arbeitgebers . . . . . c) Die billigem Ermessen nach § 315 BGB nicht entsprechende vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit nach §§ 14 TVöD/TV-L . . . . . . . . . d) Die falsche Eingruppierung des Arbeitnehmers . . . . . . . . 2. Der „Anspruch auf Höhergruppierung“ außerhalb der Tarifautomatik . . . . . . . . . . . . . a) Der Anspruch auf ein höheres Entgelt aus dem Arbeitsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der „Anspruch auf Höhergruppierung“ aufgrund des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes . . . . c) Der Schadensersatzanspruch bei Nichthinweis des Arbeitgebers auf Herabgruppierung einer ausgeschriebenen Stelle d) Die Ansprüche des übergangenen Beförderungsbewerbers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Prinzip der Bestenauslese nach Art. 33 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . .

736

Natter/Pfeiffer

bb) Der Anspruch auf Höhergruppierung . . . . . cc) Der Anspruch des übergangenen Bewerbers auf Schadensersatz . . . . . . . . (1) Die Ausnahme vom Grundsatz der Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs . . . . . . . . . . . . (3) Die Nichterfüllung des Anforderungsprofils . . . . (4) Die mangelnde Besteignung . . . . . . . . . . . . . . . dd) Der Abbruch des Stellenbesetzungsverfahrens .

23.119 23.121 23.122 23.124 23.126 23.129 23.130

23.101

V. Die Herabgruppierung . . . . . . .

23.131

23.102

1. Die Herabgruppierung durch Zuweisung einer geringer zu bewertenden Tätigkeit . . . . . . .

23.132

2. Die Herabgruppierung infolge einer Veränderung der Wertigkeit der Tätigkeit ohne Übertragung einer anderen Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23.133

3. Die korrigierende Rückgruppierung . . . . . . . . . . . . . . .

23.135

VI. Die wichtigsten Tätigkeitsmerkmale und Begriffe der Entgeltordnungen . . . . . . . . . . .

23.140

23.106

1. Der Aufbau der Entgeltordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

23.141

23.107

2. Die Struktur/Art der wichtigsten Tätigkeitsmerkmale der Entgeltordnungen . . . . . . . . . . .

23.147

23.103

23.104 23.105

23.108

23.112 23.114 23.115

3. Die Rechtsprechung des BAG zu Definition und Auslegung der wichtigsten allgemeinen Tätigkeitsmerkmale . . . . . . . . . a) Gründliche Fachkenntnisse . . b) Gründliche und vielseitige Fachkenntnisse . . . . . . . . . . . c) Gründliche, umfassende Fachkenntnisse . . . . . . . . . . . d) Selbständige Leistungen . . . . e) Besonders verantwortungsvolle Tätigkeit . . . . . . . . . . . . f) Besondere Schwierigkeit und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . g) Das Maß der Verantwortung .

23.151 23.151 23.153 23.155 23.157 23.160 23.162 23.167

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

h) Die Erfüllung des besonderen zeitlichen Ausmaßes der Tätigkeitsmerkmale . . . . . . . . . i) Die sonstigen Beschäftigten .

23.169 23.174

VII. Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

23.179

1. Die Entgeltordnung zum TV-L . a) Die §§ 12 und 13 TV-L . . . . . b) Die Entgeltordnung im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Aufbau der Entgeltordnung zum TV-L . . . . bb) Zu Teil I der Entgeltordnung im Einzelnen . . c) Die Überleitung der Beschäftigten in die Entgeltordnung zum TV-L . . . . . . . . . . . . . . .

23.179 23.180 23.187 23.188 23.194 23.203

2. Die Entgeltordnung zum TVöD (Bund) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.208 a) Die §§ 12 und 13 TVöD (Bund) . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.208a b) Die Entgeltordnung im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . 23.208b c) Die Überleitung der Beschäftigten in die Entgeltordnung zum TVöD (Bund) . . . . . . . . 23.208g 3. Die Entgeltordnung zum TVöD (VKA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.208i a) Die §§ 12 und 13 TVöD (VKA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.208j b) Die Entgeltordnung im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . 23.208k c) Die Überleitung der Beschäftigten in die Entgeltordnung zum TVöD (VKA) . . . . . . . . 23.208o 4. Die Eingruppierung in die Entgeltgruppe 1 . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . b) Katalog der einfachsten Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . VIII. Die Beteiligung des Personalrats bei der Ein- und Umgruppierung und der korrigierenden Rückgruppierung . . . . . . . . 1. Die Mitbestimmungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Übertragung einer höher zu bewertenden Tätigkeit . . .

23.209 23.209 23.212

23.216 23.218 23.218

b) Die Übertragung einer niedriger zu bewertenden Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Höhergruppierung . . . . . d) Die Rückgruppierung . . . . . . e) Die Eingruppierung . . . . . . . 2. Die Folgen der Verletzung der Beteiligungsrechte des Personalrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Mitbestimmung bei der Höher- und Rückgruppierung und der Eingruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Mitbestimmung bei der Übertragung einer höher oder niedriger zu bewertenden Tätigkeit . . . . . . . . . . . . .

§ 23

23.220 23.221 23.223 23.225

23.226

23.227

23.229

3. Die Überleitung in die neuen Entgeltgruppen . . . . . . . . . . . . .

23.232

IX. Die Eingruppierung der Lehrerinnen und Lehrer im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . .

23.235

1. Die Eingruppierung von Lehrkräften nach der EntgO-L zum TV-L . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lehrkraft im Sinne der TV EntgO-L . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übersicht zum TV EntgO-L . c) EntgO-L . . . . . . . . . . . . . . . . d) Anwendungsfall Abschnitt 1, sog. Erfüller . . . . . . . . . . . . . . e) Überleitung der Lehrkräfte in die Entgeltordnung gemäß § 29 a TVÜ-L idF des § 11 TV EntgO-L . . . . . . 2. Die Eingruppierung der dem TVöD (VKA und Bund) unterfallenden Lehrkräfte . . . . . . . . . a) Eingruppierungsrichtlinien . . b) Rechtscharakter, Geltung und Auslegung der LehrerRichtlinien im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtscharakter . . . . . . . bb) Geltung . . . . . . . . . . . . . cc) Die Auslegung der Lehrer-Richtlinien . . . . . 3. Die Eingruppierung von Lehrkräften außerhalb des Geltungsbereichs des TV-L nach Maßgabe des BAT-O . . . . . . . . .

Natter/Pfeiffer

23.240 23.241 23.242 23.246 23.247

23.248

23.249 23.249

23.251 23.251 23.252 23.255

23.259

737

§ 23

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

a) Die tarifliche Verweisung auf die beamtenrechtlichen Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . b) Die tarifliche Verweisung „gegebenenfalls nach näherer Maßgabe von Richtlinien“ . . aa) Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht des Arbeitgebers nach § 315 Abs. 1 BGB . . . . . . bb) Die Vereinbarung von Arbeitgeber-Richtlinien .

23.268

4. Die Eingruppierung der Lehrkräfte im Bundesland Hessen . .

23.269

X. Die Eingruppierungsfeststellungsklage . . . . . . . . . . . . . .

23.271

1. Das besondere Feststellungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23.274

2. Die Bestimmtheit des Klageantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23.282

3. Der empfohlene Klageantrag . .

23.285

4. Die Eingruppierungsfeststellungsklage außerhalb des öffentlichen Dienstes . . . . . . . . 5. Rechtskraftprobleme im Eingruppierungsprozess . . . . . . . . a) Die Korrektur nach Rechtsbzw. Sachänderung . . . . . . . . b) Die Korrektur ohne Rechtsbzw. Sachänderung . . . . . . . . aa) Die Geltendmachung desselben Entgelts wie im rechtskräftig abgeschlossenen Vorprozess .

23.260 23.263

23.264

23.286 23.287 23.289 23.292

bb) Die Geltendmachung eines „noch höheren“ Entgelts nach stattgebender Entscheidung . . . . . . . . . cc) Die Geltendmachung einer höheren Vergütung nach einer die Klage abweisenden Entscheidung 6. Die Darlegungs- und Beweislast im Eingruppierungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Darlegungs- und Beweislast beim Höhergruppierungsverlangen . . . . . . . . . . . aa) Darlegungen zu den persönlichen Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . bb) Darlegungen zu den sachlichen Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . (1) Darlegungen zur Feststellung der Arbeitsvorgänge und ihres zeitlichen Ausmaßes . . . . . . . (2) Darlegungen zur Feststellung der tätigkeitsbezogenen tariflichen Merkmale . . . . . . . . . . . . b) Die Darlegungs- und Beweislast bei der korrigierenden Rückgruppierung . . . . . . . . .

23.295

23.297

23.299 23.301 23.302 23.304

23.305

23.309 23.312

7. Verfall und Verjährung . . . . . . .

23.318

8. Der Streitwert . . . . . . . . . . . . . .

23.322

23.293

Schrifttum: Anton, Oberarzt – Titel und Eingruppierung, ZTR 2008, 184; Bauer/Bockholt, Eingruppierung im öffentlichen Dienst, 11. Aufl. 2015; Behrendt/Gaumann/Liebermann, Der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst des Landes Hessen (TV-H), ZTR 2009, 614; Bergwitz, Zur Darlegungs- und Beweislast im Eingruppierungsprozess, ZTR 2001, 539; Böhle/Poschke, Das neue Tarifrecht für den öffentlichen Dienst – Teil 2 –, Eine erste Übersicht mit besonderem Schwerpunkt auf Arbeitszeit, Entgelt und Eingruppierung, Überleitung sowie dem kommunalen Bereich, ZTR 2005, 286; Bredendiek/Bernd/Tewes, Neues Tarifrecht für den öffentlichen Dienst, ZTR 2005, 230; Clemens, Auswirkungen von drei Grundsatzentscheidungen des BAG auf die Eingruppierungspraxis bei Angestellten des öffentlichen Dienstes; Creutzfeldt, Die neuen Tätigkeitsmerkmale der Entgeltgruppe 14 TVöD-V/ VKA, ZTR 2015, 630; Dahl, Die Eingruppierung von Beschäftigten in der Informations- und Kommunikationstechnik im Rahmen der Neuen Entgeltordnung VKA ab 1.1.2019, ZTR 2019, 499; Donath, Die Entgeltordnung der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) zum TVöD, ZTR 2016, 551 und 611; Donath, Vorübergehende Übertragung höherwertiger Tätigkeiten, ZTR 2018, 184; Effertz, Die neuen Entgeltgruppen 9a und 9b TVöD (Bund) – Chance genutzt?, ZTR 2014, 324; Eylert/Kreutzberg-Kowalczyk, Grundfragen und aktuelle Probleme des Eingruppierungs-

738

Natter/Pfeiffer

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

§ 23

prozesses, ZfA 2019, 320; Feiter, Die neue Entgeltordnung zum TVöD für Sparkassen im Überblick, ZTR 2016, 675; Fieg/Rothländer, Das ver.di-Modell einer Entgeltordnung zum TVöD und zum TV-L, ZTR 2008, 410; Freitag, Die Eingruppierung von Lehrkräften in den neuen Bundesländern, ZTR 1997, 257; Friedrich/Kloppenburg, Folgen rechtskräftiger Eingruppierungsentscheidungen, ZTR 2003, 314; Geyer/Baschnagel, Die Entgeltordnung zum TV-L, ZTR 2011, 331; Geyer, Entgeltordnung Lehrkräfte – Tarifvertragliche Regelung der Eingruppierung der Lehrkräfte an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen, ZTR 2015, 483; Hock/Klapproth, Eingruppierung, Höhergruppierung und Stufenzuordnung im TVöD, ZTR 2006, 118; Jesse, Der Arbeitsvorgang als Grundlage für die Eingruppierung nach dem BAT – eine kritische Betrachtung der Rechtsprechung des BAG, ZTR 1987, 193; Kiefer, Zur Darlegungs- und Beweislast im Eingruppierungsprozess – eine Erwiderung, ZTR 2002, 454; Knörr, Eingruppierung der Oberärzte nach dem TV-Ärzte/VKA und dem TV/Ärzte, ZTR 2009, 50; Krämer/Reinecke, Die Entgeltordnung des Bundes zum TVöD – Rückblick auf die Entwicklung des Eingruppierungsrechts und erster Überblick über die Neuregelungen, ZTR 2014, 3; Krämer/Reinecke, Die Entgeltordnung des Bundes zum TVöD – die wichtigsten Neuerungen, ZTR 2014, 195; Krasemann, Das Eingruppierungsrecht des BAT/BAT-O – Praxishandbuch zur Tätigkeitsbewertung, 8. Aufl. 2005; Kuner, Eingruppierung und Entgelt im kommunalen Sozial- und Erziehungsdienst, öAT 2010, 1; Kutzki, Der neue Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) – Zeitenwende oder „alter Wein in neuen Schläuchen“?, FA 2005, 194; Laber, Fallstricke der arbeitsrechtlichen Konkurrentenklage, ArbRB 2006, 221; Lansnicker/Schirtzek, Die Konkurrentenklage im Arbeitsrecht, NJW 2003, 2481; Litschen, Neues Tarifrecht für Ärzte – das doppelte Lottchen, ZTR 2007, 230; LorenzSchmidt, Hinweise zur tarifrechtlich sicheren Gestaltung von Arbeitsvorgängen, ZTR 2011, 72; Marzona, Eingruppierung der Lehrer und Lehrerinnen, PersR 1999, 393; Mayrhofer, Ständige Vertretung und Unterstellungsverhältnisse stellen komplexe tarifliche Eingruppierungsmerkmale dar, ZTR 2019, 73; Müller, Umsetzung der Entgeltordnung TV-L – wesentliche Punkte zu Überleitung der Beschäftigten und Antragsverfahren, öAT 2012, 147; Müller, Eingruppierungsfragen in der aktuellen Rechtsprechung, öAT 2013, 155; Müller, Der Arbeitsvorgang als wesentliche Eingruppierungsgrundlage – Was sagt die Rechtsprechung?, öAT 2019, 45; Müller-Uri, Typische Fehler bei der Eingruppierung nach TVöD/TV-L vermeiden, ZTR 2010, 391; Natter, Die Eingruppierung der Geschäftsstellenverwalter/-innen bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften, ZTR 2018, 623; Natter/Sänger, Die Verhandlungsklausel vom 2. März 2018 – oder: Wie löst man einen gordischen Knoten, ZTR 2019, 475; Neumann, Änderung der Rechtsprechung zum Arbeitsvorgang, ZTR 1987, 41; Pützer, Der Rechtsweg für arbeitsrechtliche Konkurrentenklagen im öffentlichen Dienst, RdA 2016, 287; Rambach/Feldmann, AiP-Zeiten als anrechnungsfähige ärztliche Tätigkeit oder berücksichtigungsfähige Berufserfahrung aus nichtärztlicher Tätigkeit? Eine Bestandsaufnahme der tariflichen Neuregelungen des TV-Ärzte/TdL, ZTR 2008, 82; Richter/Gamisch, Am Anfang steht der „Arbeitsvorgang“ – Systematisierung und aktuelle Rechtsprechung, RiA 2009, 97; Richter/Gamisch, Was ist neu im alten System? Die neue Entgeltordnung des TV-L, AuA 2012, 109; Rothländer, Neues Tarifrecht in Hessen, PersR 2009, 441; Steinherr, Auszuübende Tätigkeit, Eingruppierung und Direktionsrecht – eine Bestandsaufnahme anhand der Rechtsprechung des BAG, ZTR 2005, 303; Steuernagel, Der unbestimmte Rechtsbegriff der „selbständigen Leistungen“ in den Eingruppierungsordnungen des öffentlichen Dienstes, öAT 2014, 46; Wahlers, Die Eingruppierung der Oberärzte nach den neuen TV-Ärzte und TV-Ärzte/VKA, PersV 2008, 204; Wahlers, BAG klärt Eingruppierungsvoraussetzungen für Oberärzte nach dem TV-Ärzte/TdL und dem TV-Ärzte/VKA, PersV 2011, 244; Wurm, Neues und Altes von der Eingruppierung im TV-L, ZfPR 2012, 90; Zetl, Der neue Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder, ZMV 2006, 169; Zetl, Aktuelle Fragen der Eingruppierung in die „Niedriglohngruppe 1“, ZMV 2009, 68; Zetl, Die neuen Tarifregelungen im Sozial- und Erziehungsdienst und ihre Umsetzung in der Praxis, ZMV 2009, 295; Zetl, Eingruppierung und Bezahlung von Ärztinnen und Ärzten im TVöD- und TV-L-Bereich, ZMV 2010, 10; Zetl, Die neue Entgeltordnung zum TV-L, ZMV 2011, 260; Zetl, Einführung in die neue Entgeltordnung zum TV-L, ZMV 2012, 9; Zimmerling, Zur Darlegungs- und Beweislast im Eingruppierungsprozess, ZTR 2002, 354; Zimmerling, Arbeitsrechtliche Konkurrentenklage und Eingruppierungsfeststellungsklage im öffentlichen Dienst, 1999; Zimmerling, Die Eingruppierung der Oberärzte, ZTR 2012, 371; Zimmerling, Die Eingruppierungsklage im öffentlichen Dienst, öAT 2017, 180.

Natter/Pfeiffer

739

§ 23 Rz. 23.1

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

I. Einführung 23.1 Die Eingruppierung, die Umgruppierung und die Rückgruppierung behalten auch nach der Reform des Tarifrechts im öffentlichen Dienst ihre Bedeutung für die Entgeltfindung. Sowohl nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst vom 13.9.2005 (TVöD) als auch nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder vom 12.10.2006 (TV-L) bleibt es dabei, dass die Höhe des Entgelts grundsätzlich nicht ausgehandelt wird, sondern von der Zugehörigkeit des Beschäftigten zu einer Entgeltgruppe (vormals Vergütungs- bzw. Lohngruppe) abhängt.

23.2 Dabei wird unter Eingruppierung gerade diese Zugehörigkeit des Beschäftigten zu einer Entgeltgruppe (Vergütungs- bzw. Lohngruppe) verstanden. Bei der Eingruppierung handelt es sich nicht um einen rechtsgestaltenden Akt, insbesondere nicht um eine Willenserklärung des Arbeitgebers; sie ist vielmehr ein Akt der Rechtsanwendung und die Kundgabe des hierbei gefundenen Ergebnisses, nämlich die Zuordnung (der Tätigkeit) des Beschäftigten zu einem Tätigkeitsmerkmal bzw. zu Tätigkeitsmerkmalen einer bestimmten Entgelt-/Vergütungs- bzw. Lohngruppe1.

23.3 Demgegenüber ist die Umgruppierung die Feststellung des Arbeitgebers, dass die Tätigkeit des Arbeitnehmers nicht – oder nicht mehr – der Entgelt-/Vergütungs- bzw. Lohngruppe entspricht, in der er eingruppiert ist, sondern einer anderen – ggf. höheren oder niedrigeren – Gruppe zuzuordnen ist2. Anlass hierfür kann eine Änderung der Tätigkeit des Beschäftigten sein oder eine Änderung der Entgeltgruppenordnung. Auch die Überlegung des Arbeitgebers, die zu einer anderen Bewertung der Rechtslage geführt hat, kann Grund für die Umgruppierung sein3. Die Umgruppierung erfasst demnach im Wesentlichen die Herabgruppierung und die Höhergruppierung. Ein Sonderfall der Herabgruppierung ist die korrigierende Rückgruppierung. Ist die Tätigkeitsbewertung durch den Arbeitgeber nicht richtig vorgenommen worden und erhält der Beschäftigte infolgedessen eine zu hohe Vergütung, entspricht der tarifliche Ist-Zustand nicht dem tariflichen Soll-Zustand4. Der Arbeitgeber hat hier die Möglichkeit, den tarifwidrigen Zustand einseitig zu korrigieren, indem er dem Arbeitnehmer im Wege der korrigierenden Rückgruppierung mitteilt, dass er nunmehr tarifgerecht niedriger eingruppiert ist und demzufolge aus einer niedrigeren Gruppe eine geringere Vergütung erhält.

23.4 Obgleich es sich auch bei der Umgruppierung letztlich um eine Eingruppierung handelt, lässt sich für das Verhältnis von Eingruppierung und Umgruppierung dennoch grundsätzlich folgende Faustformel festhalten: Die Eingruppierung ist die (erstmalige) Zuordnung des Arbeitnehmers zu einer bestimmten Entgelt-, Vergütungs- bzw. Lohngruppe bei der Einstellung. Die Umgruppierung ist demgegenüber ein Wechsel der Gruppe während des Laufs des Arbeitsverhältnisses und in diesem Sinn eine Neu-Eingruppierung.

1 BAG v. 20.3.1990 – 1 ABR 20/89, NZA 1990, 699; v. 16.2.2000 – 4 AZR 62/99, DB 2001, 596; v. 27.6.2000 – 1 ABR 36/99, NZA 2001, 626; v. 22.4.2009 – 4 ABR 14/08, NZA 2009, 1286; vgl. auch BAG v. 17.11.2010 – 7 ABR 123/09, NZA 2011, 531. 2 BAG v. 22.4.2009 – 4 ABR 14/08, NZA 2009, 1286. 3 BAG v. 20.3.1990 – 1 ABR 20/89, NZA 1990, 699. 4 Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 760.

740

Natter

Ein Überblick über die „alte“ und „neue“ Rechtslage

Rz. 23.7 § 23

II. Ein Überblick über die „alte“ und „neue“ Rechtslage bis zum Inkrafttreten der Entgeltordnungen zum TVöD und TV-L 1. Die Rechtslage unter Geltung des BAT/BAT-O/BAT-Ostdeutsche Sparkassen, des MTArb/MTArb-O sowie des BMT-G-II/BMT-G-O/TV Arbeiter-Ostdeutsche Sparkassen Bis zum 30.9.2005 bzw. 31.10.2006 richteten sich die Rechtsverhältnisse der Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Dienst – sofern beide Parteien tarifgebunden waren oder die Geltung der Tarifverträge durch arbeitsvertragliche Bezugnahme- oder Verweisungsklausel vereinbart war – für die Angestellten nach dem BAT5/BAT-O6/BAT-Ostdeutsche Sparkassen7, für die Arbeiterinnen und Arbeiter des Bundes und der Länder nach dem MTArb8/MTArb-O9 sowie für die Arbeiterinnen und Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe nach dem BMT-G II10/BMT-G-O11/TVArbeiter-Ostdeutsche Sparkassen12.

23.5

a) Die Vergütung der Angestellten Dabei setzte sich die Vergütung der Angestellten aus einer Grundvergütung und dem Ortszuschlag zusammen; die Beträge der Grundvergütung und des Ortszuschlags waren in einem besonderen Tarifvertrag (Vergütungstarifvertrag) vereinbart (§ 26 Abs. 1 und 3 BAT/BAT-O/ BAT-O-Sparkassen). Zuzüglich der Zulagen und Zuschläge ergaben sich die Bezüge (§ 36 BAT/BAT-O/BAT-O-Sparkassen).

23.6

Im Hinblick auf die Grundvergütung (§ 27 BAT/BAT-O/BAT-O-Sparkassen) war die Zugehörigkeit des Angestellten zu einer Vergütungsgruppe entscheidend. Nach § 22 Abs. 1 Satz 2 BAT/BAT-O erhielt der Angestellte Vergütung nach der Vergütungsgruppe, in der er eingruppiert war, wobei die Eingruppierung sich nach den Tätigkeitsmerkmalen der Vergütungsordnung (Anlage 1a und 1b) zu richten hatte (§ 22 Abs. 1 Satz 1 BAT/BAT-O). Der Angestellte war dabei in der Vergütungsgruppe eingruppiert, deren Tätigkeitsmerkmalen die gesamte, von ihm nicht nur vorübergehend auszuübende Tätigkeit entsprach (§ 22 Abs. 2 Unterabs. 1 BAT/BAT-O). Da nach § 22 Abs. 2 Unterabs. 2 BAT die gesamte auszuübende Tätigkeit den Tätigkeitsmerkmalen einer Vergütungsgruppeentsprach, wenn zeitlich mindestens zur Hälfte

23.7

5 Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) vom 23.2.1961, zuletzt geändert durch den 78. Tarifvertrag zur Änderung des Bundesangestelltentarifvertrages vom 31.1.2003. 6 Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts – Manteltarifliche Vorschriften – (BAT/O) vom 10.12.1990, zuletzt geändert durch den Änderungstarifvertrag Nr. 13 vom 31.1.2003 zum Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts – Manteltarifliche Vorschriften – (BAT/O). 7 Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts – Manteltarifliche Vorschriften – (BAT-Ostdeutsche Sparkassen) vom 21.1.1991. 8 Manteltarifvertrag für Arbeiterinnen und Arbeiter des Bundes und der Länder (MTArb) vom 6.12.1995, zuletzt geändert durch den Änderungstarifvertrag Nr. 4 vom 31.1.2003 zum Manteltarifvertrag für Arbeiterinnen und Arbeiter des Bundes und der Länder (MTArb). 9 Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts für Arbeiter an den MTArb – (MTArb-O) vom 10.12.1990, zuletzt geändert durch den Änderungstarifvertrag Nr. 11 vom 31.1.2003 zum Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts für Arbeiter an den MTArb – (MTArb-O). 10 Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe – BMT-G II – vom 31.1.1962. 11 Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts – Manteltarifliche Vorschriften für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe – (BMT-G-O) – vom 10.12.1990. 12 Tarifvertrag über die Anwendung von Tarifverträgen auf Arbeiter (TV Arbeiter-Ostdeutsche Sparkassen) vom 25.10.1990.

Natter

741

§ 23 Rz. 23.7

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

Arbeitsvorgänge anfallen, die für sich genommen die Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmals oder mehrerer Tätigkeitsmerkmale dieser Vergütungsgruppe erfüllen, war zentraler Begriff der Tätigkeitsbewertung nach dem BAT nicht die Tätigkeit als solche, sondern der „Arbeitsvorgang“ als „grundlegende und universale Bezugsgröße“ für die Eingruppierung13. Der Begriff des „Arbeitsvorgangs“ kann in seiner Bedeutung für die Eingruppierung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes kaum überschätzt werden. Erstmals eingeführt wurde der Begriff durch den 37. Tarifvertrag zur Änderung und Ergänzung des BAT vom 17.3.1975. Die Einführung dieser neuen „Messeinheit“ sollte eine klarere Grundlage für die Eingruppierung der Angestellten des öffentlichen Dienstes bieten14. Bis heute wirft der Begriff des „Arbeitsvorgangs“ aber schwierige Abgrenzungsfragen auf. Die neuere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts15 hat erneut die Frage aufkommen lassen, ob der Begriff des „Arbeitsvorgangs“ einer grundlegenden Neuausrichtung bedarf16. Wegen der Einzelheiten wird auf die Ausführungen unter Rz. 23.79 ff., verwiesen. b) Die Vergütung der Arbeiterinnen und Arbeiter des Bundes und der Länder

23.8 Im Hinblick auf die Vergütung der Arbeiterinnen und Arbeiter des Bundes und der Länder bestimmte § 21 Abs. 3 MTArb/MTArb-O, dass ein Monatstabellenlohn zu zahlen war, der zuzüglich der ständigen Lohnzulagen zum Monatsregellohn (§ 21 Abs. 4 MTArb/MTArb-O) und zuzüglich der übrigen Zulagen und Zuschläge zum Monatslohn wurde (§ 21 Abs. 5 MTArb/MTArb-O).

23.9 § 22 MTArb sah vor, dass die Lohngruppen besonders vereinbart werden. Dies geschah durch besondere Tarifverträge über das Lohngruppenverzeichnis, in deren § 2 Abs. 1 bestimmt war, dass für die Einreihung in die Lohngruppe die mit mindestens der Hälfte der vereinbarten regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit auszuübende Tätigkeit maßgebend ist, soweit sich aus den Tätigkeitsmerkmalen nichts Anderes ergibt. Das Tarifvertragsrecht der Arbeiterinnen und Arbeiter des Bundes und der Länder kannte mithin nicht den Begriff des „Arbeitsvorgangs“. Die Zuordnung zu einer Lohngruppe erfolgte vielmehr stets in Abhängigkeit von der zeitlich mindestens zur Hälfte auszuübenden Tätigkeit. Dies stand der Zusammenfassung von Einzeltätigkeiten zu einer einheitlich zu bewertenden Gesamttätigkeit oder mehreren jeweils eine Einheit bildenden Teiltätigkeiten für deren jeweils einheitliche tarifliche Bewertung aber nicht entgegen. Hierfür galten vergleichbare Regeln und Kriterien wie bei der Bestimmung des Arbeitsvorgangs, lediglich die anzuwenden Maßstäbe waren weniger streng17. c) Die Vergütung der Arbeiterinnen und Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe

23.10 Die Vergütung der Arbeiterinnen und Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe bestand nach § 20 BMT-G II/BMT-G-O iVm. Nr. 26a–26c der Anlage zu § 67 ebenso aus einem Monatstabellenlohn (Nr. 26a), der zuzüglich der für alle Arbeitsstunden des Kalendermonats zustehenden Lohnzulagen zum Monatsgrundlohn (Nr. 26b) und zuzüglich der übri13 14 15 16 17

BAG v. 21.3.2012 – 4 AZR 266/10, ZTR 2012, 440. Jesse, ZTR 1987, 193; Neumann, ZTR 1987, 41. Insbesondere BAG v. 28.2.2018 – 4 AZR 816/16, ZTR 2018, 386. Geyer, ZTR 2017, 287; Natter/Sänger, ZTR 2019, 675. BAG v. 27.8.2008 – 4 AZR 484/07, ZTR 2009, 211; v. 20.5.2009 – 4 AZR 315/08, AP Nr. 1 zu § 17 TVÜ.

742

Natter

Ein Überblick über die „alte“ und „neue“ Rechtslage

Rz. 23.14 § 23

gen Zulagen und Zuschläge zum Monatslohn (Nr. 26c) wurde. Nach § 20 Abs. 1 BMT-G wurde der Lohn nach der Arbeitsleistung, der Art und den besonderen Umständen der Arbeit, dem Dienstalter und dem Lebensalter gebildet. Im Rahmentarifvertrag zu § 20 Abs. 1 BMT-G II (Lohngruppen, Oberbegriffe der Lohn- 23.11 gruppen) war für das Tarifgebiet West der Grundsatz der Eingruppierung nach der zeitlich mindestens zur Hälfte auszuübenden Tätigkeit festgelegt (§ 2 Abs. 2). Dasselbe wurde durch § 2 Abs. 3 des Tarifvertrages zu § 20 Abs. 1 BMT-G-O für das Tarifgebiet Ost angeordnet. Damit war auch für die Arbeiterinnen und Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe nicht der „Arbeitsvorgang“, sondern – wie bei den Arbeiterinnen und Arbeitern des Bundes und der Länder – die „Tätigkeit“ der für die tarifliche Bewertung maßgebliche Anknüpfungspunkt. 2. Die Rechtslage unter Geltung des TVöD iVm. dem TVÜ-Bund und dem TVÜ-VKA sowie des TV-L iVm. dem TVÜ-Länder bis zum Inkrafttreten der Entgeltordnungen zum TVöD und TV-L a) Der TVöD Mit dem 1.10.2005 sind für den Bereich des Bundes und der kommunalen Arbeitgeberverbände der TVöD vom 13.9.2005 und die Tarifverträge zur Überleitung der Beschäftigten des Bundes in den TVöD sowie der Beschäftigten der kommunalen Arbeitgeberverbände in den TVöD und zur Regelung des Übergangsrechts, ebenfalls vom 13.9.2005 (TVÜ-Bund und TVÜ-VKA) in Kraft getreten, wonach die bisherigen Tarifverträge durch den TVöD ersetzt (§ 2 TVÜ-Bund) bzw. abgelöst (§ 2 TVÜ-VKA) werden.

23.12

Der TVöD ist ein völlig neu gestalteter Tarifvertrag. Er gilt einheitlich für Arbeiterinnen und Arbeiter und Angestellte. Die Arbeiterinnen, Arbeiter und Angestellten werden in dem neuen Tarifrecht zu Beschäftigten. Ihre monatliche Vergütung setzt sich zusammen aus einem Tabellenentgelt, dessen Höhe sich nach der Entgeltgruppe bestimmt, in die sie/er eingruppiert ist, und nach der für sie/ihn geltenden Stufe (§ 15 TVöD) und einem Leistungsentgelt (§ 18 TVöD). Darüber hinaus sieht § 19 TVöD auch die Zahlung von Erschwerniszuschlägen vor.

23.13

Die §§ 12 und 13 TVöD (Eingruppierung und Eingruppierung in besonderen Fällen) waren 23.14 bis zum 1.1.2014 (Bund) bzw. 1.1.2017 (VKA) nicht belegt; die neuen Eingruppierungsvorschriften wurden erst im Zusammenhang mit den beiden neuen Entgeltordnungen geregelt18. Die Entgeltordnung Bund wurde durch den Tarifvertrag über die Entgeltordnung des Bundes (TV EntgO Bund) zum 1.1.2014 in Kraft gesetzt; aufgrund des Änderungstarifvertrags Nr. 12 vom 29.4.2016 trat schließlich die Entgeltordnung VKA in Kraft. Bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der beiden Entgeltordnungen sah § 17 Abs. 1 TVÜ (Bund) bzw. TVÜ (VKA) vor, dass die §§ 22, 23 BAT/BAT-O einschließlich der Vergütungsordnung sowie die für die Arbeiter geltenden Regelung einschließlich der (landesbezirklichen) Lohngruppenverzeichnisse, von gewissen Ausnahmen abgesehen, über den 30.9.2005 hinaus fortgelten. Für Eingruppierungen zwischen dem 1.10.2005 und dem Inkrafttreten der neuen Entgeltordnungen wurden die Vergütungsgruppen und Lohngruppen nach der Anlage 3 zum TVÜ den Entgeltgruppen zugeordnet (§ 17 Abs. 7 TVÜ Bund und VKA). Dieses zweistufige Verfahren führte zu einer erheblichen Komplexität des Eingruppierungsverfahrens. Zu §§ 12 und 13 18 Hierzu Krämer/Reinecke, ZTR 2014, 3 (Entgeltordnung Bund) und Donath, ZTR 2016, 551 und 611 (Entgeltordnung VKA).

Natter

743

§ 23 Rz. 23.14

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

TVöD (Bund und VKA), den neuen Entgeltordnungen und dem Überleitungsrecht im Einzelnen wird auf die Ausführungen unter Rz. 23.208 ff., verwiesen. b) Der TV-L

23.15 Für den Bereich der Tarifgemeinschaft Deutscher Länder19 sind zum 1.11.2006 der TV-L vom 12.10.2006 sowie der Tarifvertrag zur Überleitung der Beschäftigten der Länder in den TV-L und zur Regelung des Übergangsrechts, ebenfalls vom 12.10.2006 (TVÜ-Länder), in Kraft getreten, wonach der TV-L in Verbindung mit dem TVÜ-Länder für den Bereich der Tarifgemeinschaft deutscher Länder die bisherigen Tarifverträge ersetzt (§ 2 Abs. 1 TVÜ-Länder).

23.16 Auch der TV-L kennt die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten nicht mehr, sondern spricht einheitlich von den Beschäftigten. Auch der TV-L unterschied zunächst – wie der TVöD – zwischen einem Tabellenentgelt und einem Leistungsentgelt. Nach § 15 Abs. 1 TV-L bestimmt sich die Höhe des Tabellenentgelts der Beschäftigten nach der Entgeltgruppe, in der sie/er eingruppiert ist, und nach der für sie/ihn geltenden Stufe. Ab dem 1.1.2007 sollte gemäß § 18 Abs. 1 TV-L zusätzlich zum Tabellenentgelt ein Leistungsentgelt eingeführt werden. Diese Bestimmung wurde durch § 2 Nr. 7 des Änderungs-TV Nr. 2 vom 1.3.2009 mit Wirkung zum 1.1.2009 gestrichen. Damit entfiel eines der wenigen Instrumente zu einer leistungsbezogenen Bezahlung der Beschäftigten. Lediglich durch die Verkürzung der Stufenlaufzeit gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 TV-L kann eine überdurchschnittliche Leistung honoriert werden.

23.17 Auch die Tarifpartner des TV-L hatten die Kernbereiche des neuen Eingruppierungsrechts im Verlauf der Verhandlungen zum TV-L (bis zum Jahr 2006) zurückgestellt und den TV-L ohne Neuregelung dieser Bereiche vereinbart20. Im Rahmen der Tarifrunde 2011 zum TV-L haben sich die Gewerkschaften und die Tarifgemeinschaft deutscher Länder sodann auf eine neue Entgeltordnung verständigt. Die §§ 12 und 13 TV-L sowie die (neue) Entgeltordnung zum TV-L (als Anlage 1) wurden durch den Änderungstarifvertrag Nr. 4 zum TV-L vom 2.1.2012 in den TV-L aufgenommen und sind zum 1.1.2012 in Kraft getreten. Zu §§ 12 und 13 TV-L, der neuen Entgeltordnung und dem Überleitungsrecht im Einzelnen wird auf die Ausführungen unter VII verwiesen, Rz. 23.179 ff. c) Die neuen Entgelttabellen

23.18 Das Herzstück der Tarifreform zum 1.10.2005 und zum 1.11.2006 sind die neuen Entgelttabellen und das völlig neu gestaltete, auf Qualifikation und Leistung ausgerichtete Entgeltsystem. Sämtliche Entgelttabellen des TVöD und des TV-L sehen je 15 Entgeltgruppen vor. Eine Entgeltgruppe verfügt regelmäßig über sechs Stufen (je zwei Grundentgeltstufen und drei bis vier Entwicklungsstufen). Diese Stufen sind nicht mit den Stufen und Lebensaltersstufen 19 Der TV-L gilt nicht im Bundesland Hessen, da dieses aus der TdL ausgeschieden ist. Zum 1.1.2010 sind in Hessen der Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst des Landes Hessen (TV-H) vom 1.9.2009 sowie der Tarifvertrag zur Überleitung der Beschäftigten des Landes Hessen in den TV-H und zur Regelung des Übergangsrechts (TVÜ-H), ebenfalls vom 1.9.2009 in Kraft getreten; vgl. hierzu Behrendt/Gaumann/Liebermann, ZTR 2009, 614 ff.; Rothländer, PersR 2009, 441 ff.; zur am 1.7.2014 in Kraft getretenen Entgeltordnung für das Land Hessen s. Conze, öAT 2015, 1. 20 Vgl. Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L, § 12 Rz. 2.

744

Natter

Ein Überblick über die „alte“ und „neue“ Rechtslage

Rz. 23.21 § 23

nach altem Recht vergleichbar. Die bisherige Bemessung der Grundvergütungen nach dem BAT nach Lebensaltersstufen verstieß gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters21. Die Zuordnung des Arbeitnehmers zu den Stufen erfolgt vielmehr bei der Einstellung grundsätzlich nach der Dauer der einschlägigen Berufserfahrung (§ 16 Abs. 2 und 3 TVöD-AT – Bund –, § 16 Abs. 2 TVöD – VKA – und § 16 Abs. 2 TV-L); im weiteren Verlauf des Arbeitsverhältnisses sind die Stufenlaufzeit und die erbrachten Leistungen maßgeblich (§ 16 Abs. 4 TVöD – Bund –, § 16 Abs. 3 TVöD – VKA – und § 16 Abs. 3 TV-L), so dass ein leistungsorientierter Stufenaufstieg ermöglicht wird. Eine Ausnahme bildet insoweit die Entgeltgruppe 1, die mit Stufe 2 beginnt und deshalb nur fünf Stufen hat22. Zulagen sowie Orts- und Sozialzuschläge gibt es nach dem neuen System nicht mehr. Die künftigen Entgeltordnungen sind tätigkeitsbezogen und gliedern sich in vier ausbildungsbezogene Qualifikationsebenen23. Dabei stellt sich der Aufbau der Entgeltgruppen im Hinblick auf die Wertigkeit der den Entgeltgruppen zugrunde liegenden Tätigkeiten grundsätzlich wie folgt dar24:

23.19

– Entgeltgruppen 1–4 für un- und angelernte Tätigkeiten: Hierunter fallen Beschäftigte mit Tätigkeiten, die keine oder eine unter dreijährige Ausbildung in einem nach dem BBiG anerkannten Ausbildungsberuf voraussetzen. – Entgeltgruppen 5–8 für Tätigkeiten auf dem Niveau einer abgeschlossenen anerkannten Berufsausbildung von mindestens drei Jahren. – Entgeltgruppen 9–12 für Tätigkeiten auf dem Niveau einer abgeschlossenen Fachhochschulausbildung. – Entgeltgruppen 13–15 für Tätigkeiten auf dem Niveau einer abgeschlossenen wissenschaftlichen Hochschulausbildung. Diese vier Qualifikationsebenen beginnen jeweils mit einer „Einstiegsentgeltgruppe“. Innerhalb der jeweiligen Qualifikationsebenen gibt es Heraushebungsentgeltgruppen, die höhere inhaltliche Anforderungen aufweisen. Als Anforderungskriterien kommen in Betracht:

23.20

– Vielseitigkeit – Schwierigkeit – Verantwortung (Führung/Sach- und Finanzmittel) – Selbständigkeit, Belastungen und Kundenkontakt25. Der „sonstige Angestellte“ nach bisherigem Recht wurde mit den neuen Entgeltordnungen in allen Qualifikationsebenen und für alle Beschäftigtengruppen als „sonstiger Beschäftigter“ eingeführt26. Bislang ist nichts dafür ersichtlich, dass das BAG diesen Begriff anders auslegen 21 BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 14/09, NZA 2012, 161; EuGH v. 8.9.2011 – C-298/10, NZA 2011, 1100. 22 Tamm, PersV 2006, 44 (47). 23 Bredendiek/Bernd/Tewes, ZTR 2005, 230 (236); Hock/Klapproth, ZTR 2006, 118 (118); Kutzki, FA 2005, 194 (195). 24 Thivessen/Kulok, TV-L – Schnelleinstieg, S. 85; Kuner, TVöD – Allgemeiner Teil und TVÜ –, Rz. 305; Tamm, PersV 2006, 44 (47). 25 Hock/Klapproth, ZTR 2006, 118 (120). 26 Hock/Klapproth, ZTR 2006, 118 (119).

Natter

745

23.21

§ 23 Rz. 23.21

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

wird als den Begriff des „sonstigen Angestellten“. Auch künftig wird zu verlangen sein, dass der „sonstige Beschäftigte“ subjektiv über gleichwertige Kenntnisse und Erfahrungen verfügt und objektiv eine „entsprechende“ Tätigkeit ausüben muss27.

23.22 Die Zuordnung zu den Stufen der jeweiligen Entgeltgruppe ist in §§ 16 TVöD bzw. TV-L geregelt. Bei der Einstellung erfolgt die Zuordnung des Arbeitnehmers zu den Stufen grundsätzlich nach der Dauer der einschlägigen Berufserfahrung (§ 16 Abs. 2 und 3 TVöD-AT – Bund –, § 16 Abs. 2 TVöD – VKA – und § 16 Abs. 2 TV-L)28. Regelungen über die Stufenlaufzeit, dh. die Zeit, nach der ein Beschäftigter in die nächsthöhere Stufe aufrückt, enthalten § 16 Abs. 3 (VKA) TVöD, § 16 Abs. 4 (Bund) TVöD sowie § 16 Abs. 3 TV-L. Diese Vorschriften werden durch §§ 17 Abs. 2 (VKA) und (Bund) TVöD sowie § 17 Abs. 2 TV-L (leistungsabhängige Stufenaufstiege) ergänzt.

23.23 Für die Einstellung in die Entgeltgruppe 1 enthalten die tariflichen Bestimmungen eine Sonderregelung sowohl für die Stufenzuordnung, als auch für die Stufenlaufzeit. Nach §§ 16 Abs. 5 (Bund) TVöD, § 16 Abs. 4 (VKA) TVöD sowie § 16 Abs. 4 TV-L umfasst die Entgeltgruppe 1 fünf Stufen. Einstellungen erfolgen (zwingend) in der Stufe 2 (Eingangsstufe). Die jeweils nächste Stufe wird nach vier Jahren in der vorangegangenen Stufe erreicht; § 17 Abs. 2 bleibt auch hier unberührt. d) Die Überleitungstarifverträge

23.24 Die §§ 12 und 13 TV-L bzw. TVöD (Bund und VKA) (Eingruppierung und Eingruppierung in besonderen Fällen) waren bis zum Inkrafttreten der neuen Entgeltordnungen am 1.1.2012, 1.1.2014 und 1.1.2017 nicht belegt. Die Tarifvertragsparteien regelten die Überleitung der Beschäftigten in die neuen Tarifwerke durch die Tarifverträge zur Überleitung der Beschäftigten vom 13.9.2005 (TVöD Bund und VKA) und vom 12.10.2006 (TV-L). aa) Die Überleitung in den TVöD und TV-L

23.25 Aus diesem Grund bestimmten die jeweiligen Überleitungstarifverträge in ihrem § 17 Abs. 1 insoweit den Grundsatz der Fortgeltung des alten Tarifrechts29, nämlich, dass bis zum Inkrafttreten der neuen Entgeltordnungen die §§ 22, 23 BAT/BAT-O einschließlich der Vergütungsordnung sowie die für die Arbeiter geltenden Regelungen einschließlich der (landesbezirklichen) Lohngruppenverzeichnisse fortgelten. Gewisse Ausnahmen von diesem Grundsatz sahen § 17 Abs. 2 TVÜ Bund und VKA bzw. TVÜ-Länder vor. Nach § 17 Abs. 3 TVÜ Bund/ VKA bzw. TVÜ-Länder waren alle Eingruppierungsvorgänge vorläufig und begründeten keinen Vertrauensschutz und Besitzstand. Die endgültigen Eingruppierungen wurden somit den jeweils neuen Entgeltordnungen vorbehalten.

23.26 Im Übrigen differenzierten die Überleitungstarifverträge zwischen den überzuleitenden/ übergeleiteten Beschäftigten, dh. denjenigen, deren Arbeitsverhältnis über den 30.9.2005 bzw. 31.10.2006 hinaus fortbesteht und den ab dem 1.10.2005 bzw. 1.11.2006 neu eingestellten Beschäftigten. Für die Zuordnung der überzuleitenden/übergeleiteten Beschäftigten zu einer Entgeltgruppe bestimmte § 4 TVÜ-Bund/VKA bzw. TVÜ-Länder, dass für ihre Überleitung ihre Vergütungs- bzw. Lohngruppe (§ 22 BAT/BAT-O bzw. entsprechende Regelungen 27 BAG v. 25.1.2017 – 4 AZR 379/15, NZA 2017, 1009. 28 Hierzu im Einzelnen § 24, Rz. 24.1 ff. 29 Vgl. BAG v. 28.1.2009 – 4 ABR 92/07, ZTR 2009, 474; v. 1.7.2009 – 4 AZR 249/08, ZTR 2010, 28.

746

Natter

Ein Überblick über die „alte“ und „neue“ Rechtslage

Rz. 23.31 § 23

für Arbeiterinnen und Arbeiter bzw. besondere tarifvertragliche Vorschriften für bestimmte Berufsgruppen) nach der Anlage 2/1 TVÜ-Bund/VKA bzw. Anlage 2 TVÜ-Länder den Entgeltgruppen des TVöD/TV-L zugeordnet wird. Für Eingruppierungen zwischen dem 1.10.2005 und dem Inkrafttreten der neuen Entgeltordnungen wurden die Vergütungsgruppen und Lohngruppen nach der Anlage 3 bzw. 4 den Entgeltgruppen zugeordnet (§ 17 Abs. 7 TVÜ Bund und VKA bzw. TVÜ-Länder). Aufgrund des Inkrafttretens der neuen Entgeltordnungen sind die Regelungen des Überleitungsrechts für die Praxis weitgehend irrelevant geworden; daher wird hierzu auf die Ausführungen in der 2. Auflage (Teil 7) verwiesen.

23.27

bb) Die Überleitung in die neuen Entgeltordnungen Die Überleitung in die neuen Entgeltordnungen regeln ebenfalls die Überleitungstarifverträge, und zwar in § 29a TVÜ-Länder, in den §§ 24 und 25 TVÜ Bund und in den §§ 29 und 29a TVÜ VKA.

23.28

Für den Bereich der Länder bestimmt § 29a Abs. 1 TVÜ-Länder, dass für die in den TV-L übergeleiteten und für die zwischen dem 1.11.2006 und dem 31.12.2011 neu eingestellten Beschäftigten für Eingruppierungen ab dem 1.1.2012 die §§ 12, 13 TV-L sowie die Entgeltordnung zum TV-L gilt. Nach § 29a Abs. 2 TVÜ-Länder sind die in den TV-L übergeleiteten und ab dem 1.11.2006 neu eingestellten Beschäftigten unter Beibehaltung der bisherigen Entgeltgruppe für die Dauer der unverändert auszuübenden Tätigkeit zum 1.1.2012 in die Entgeltordnung zum TV-L übergeleitet. Nach der Protokollerklärung zu Absatz 2 gilt die vorläufige Zuordnung zu der Entgeltgruppe des TV-L nach der Anlage 2 und 4, dh. die Zuordnung im Rahmen der Überleitung in den TV-L (§ 17 Abs. 3 TVÜ-Länder), als Eingruppierung. Eine Überprüfung und Neufeststellung der Eingruppierungen findet aufgrund der Überleitung in die Entgeltordnung zum TV-L nicht statt.

23.29

Für den Bereich des Bundes bestimmt § 24 TVÜ Bund, dass für die in den TVöD übergeleiteten und für die zwischen dem Inkrafttreten des TVöD und dem 31.12.2013 beim Bund neu eingestellten Beschäftigten, deren Arbeitsverhältnis beim Bund über den 31.12.2013 hinaus fortbesteht und die am 1.1.2014 unter den Geltungsbereich des TVöD fallen, ab dem 1.1.2014 für Eingruppierungen § 12 und § 13 (Bund) TVöD in Verbindung mit dem Tarifvertrag über die Entgeltordnung des Bundes (TV EntgO Bund) gelten. Nach § 25 Abs. 1 TVÜ Bund erfolgt die Überleitung unter Beibehaltung der bisherigen Entgeltgruppe für die Dauer der unverändert auszuübenden Tätigkeit. Nach der Protokollerklärung zu Absatz 1 gilt die vorläufige Zuordnung zu der Entgeltgruppe des TVöD nach der Anlage 2 und 4, dh. die Zuordnung im Rahmen der Überleitung in den TVöD (§ 17 Abs. 3 TVÜ Bund), als Eingruppierung. Eine Überprüfung und Neufeststellung der Eingruppierungen findet aufgrund der Überleitung in den TV EntgO Bund nicht statt.

23.30

Für den Bereich der VKA bestimmt § 29 TVÜ VKA, dass für die in den TVöD übergeleiteten und für die zwischen dem Inkrafttreten des TVöD und dem 31.12.2016 neu eingestellten Beschäftigten, deren Arbeitsverhältnis über den 31.12.2016 hinaus fortbesteht, ab dem 1.1.2017 für Eingruppierungen § 12 und § 13 (VKA) TVöD in Verbindung mit der Anlage 1 – Entgeltordnung (VKA) zum TVöD gelten. Nach § 29a Abs. 1 TVÜ VKA erfolgt die Überleitung unter Beibehaltung der bisherigen Entgeltgruppe für die Dauer der unverändert auszuübenden Tätigkeit. Eine Überprüfung und Neufeststellung der Eingruppierungen findet aufgrund der Überleitung in die Entgeltordnung für den Bereich der VKA nicht statt. Nach

23.31

Natter

747

§ 23 Rz. 23.31

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

der Protokollerklärung zu Absatz 1 gilt die Zuordnung zu der Entgeltgruppe des TVöD nach der Anlage 1 oder 3, d.h. die Zuordnung im Rahmen der Überleitung in den TVöD (§ 17 Abs. 3 TVÜ VKA), als Eingruppierung.

23.32 Insgesamt wurde mit den genannten Regelungen ein in allen wesentlichen Punkten übereinstimmendes Überleitungsrecht bei der Überleitung in die jeweils neue Entgeltordnung geschaffen. Durch den Verzicht auf die Überprüfung der vorläufigen Eingruppierungen nach § 17 Abs. 3 der jeweiligen Überleitungstarifverträge sollten eine „Eingruppierungswelle“ vermieden und die öffentlichen Arbeitgeber entlastet werden30.

23.33–23.34

Einstweilen frei.

e) Die neue „alte“ Rechtslage

23.35 Die Eingruppierungsregelungen im TVöD und TV-L folgen den gleichen Grundsätzen wie das bisherige Tarifrecht. Neben einer allgemeinen Grundregelung zur Eingruppierung und einer Eingruppierungsregelung für besondere Fälle (§§ 12, 13 TVöD/TV-L) gibt es in § 14 TVöD/TV-L eine Regelung für die vorübergehende Ausübung einer höherwertigen Tätigkeit. Diese Bestimmungen haben entsprechende Vorläuferregelungen im BAT/BAT-O, MTArb/ MTArb-O und BMT-G/BMT-G-O31. In Verbindung mit den von den Tarifpartnern in den Überleitungstarifverträgen getroffenen Regelungen ist für die Eingruppierung und Umgruppierung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst demnach von Folgendem auszugehen: – Bewährungs-, Fallgruppen- und Tätigkeitsaufstiege gibt es ab dem 1.10.2005 (§ 17 Abs. 5 Satz 1 TVÜ-Bund/TVÜ-VKA) bzw. ab dem 1.11.2006 (§ 17 Abs. 5 Satz 1 TVÜ-Länder) nicht mehr. – Die Vergütungsgruppe I BAT ist im Anwendungsbereich des TVöD und des TV-L nicht mehr vorgesehen. Entsprechende Arbeitsverhältnisse müssen außertariflich ausgestaltet werden. – Die Vergütungs- und Lohngruppenverzeichnisse nach altem Recht galten nicht für Beschäftigte, die ab dem 1.10.2005 bzw. 1.11.2006 in die Entgeltgruppe 1 eingestellt wurden. Hier war zunächst der im Rahmen der Überleitungstarifverträge vereinbarte Katalog für die Eingruppierung heranzuziehen32; nach dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen ist der Katalog in die Entgeltordnungen integriert. Dieser Katalog umfasst Beschäftigte mit einfachsten Tätigkeiten. Hierzu gehören zB: Essens- und Getränkeausgeber/innen, Garderobenpersonal, Spülen und Gemüseputzen und sonstige Tätigkeiten im Haus und Küchenbereich, Reiniger/innen im Außenbereich wie Höfe, Wege, Grünanlagen, Parks, Wärter/innen von Bedürfnisanstalten, Servierer/innen, Hausarbeiter/innen und Hausgehilfe/innen. – In den neuen Eingruppierungsvorschriften nebst Entgeltordnung finden sich bestimmte Eckpunkte des heutigen Tarifsystems wieder33. Dies gilt sowohl für den Grundsatz der 30 BAG v. 28.2.2018 – 4 AZR 816/16, ZTR 2018, 81. 31 Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg, S. 102; Thivessen/Kulok, TV-L – Schnelleinstieg, S. 114. 32 Vgl. BAG v. 28.1.2209 – 4 ABR 92/07, ZTR 2009, 474; v. 20.5.2009 – 4 AZR 315/08, AP Nr. 1 zu § 17 TVÜ. 33 Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg, S. 115; Tamm, PersV 2006, 44 (48); Thivessen/Kulok, TV-L – Schnelleinstieg, S. 114 f.

748

Natter

Die Grundsätze der Eingruppierung

Rz. 23.37 § 23

Tarifautomatik34, den Begriff des Arbeitsvorgangs35 als auch für die Anknüpfung an die überwiegend auszuübende Tätigkeit36. – Auch nach Inkrafttreten der neuen Eingruppierungsvorschriften nebst Entgeltordnung kommt es für die Eingruppierung nach den §§ 12, 13 TVöD/TV-L – wie bereits nach altem Recht – auf die gesamte, nicht nur vorübergehend auszuübende Tätigkeit an37. – Der schon im bisherigen Tarifrecht bekannte Begriff des „sonstigen Angestellten“ findet sich auch in den neuen Eingruppierungsordnungen wieder. Er ist in allen Qualifikationsebenen vorgesehen38. Dafür, dass sich deren Fähigkeiten nicht mehr – wie bisher – auf die gesamten Fähigkeiten beziehen müssen, die in der jeweiligen Ausbildung erworben werden, sondern nur auf den Teil, der für die konkrete Tätigkeit erforderlich ist39, gibt es derzeit keine Anhaltspunkte40.

III. Die Grundsätze der Eingruppierung 1. Der Grundsatz der Tarifautomatik Auch nach dem Inkrafttreten der neuen Eingruppierungsvorschriften nebst der Entgeltord- 23.36 nungen gilt der Grundsatz der Tarifautomatik. Der Beschäftigte wird nicht (durch den Arbeitgeber) eingruppiert, sondern ist eingruppiert. Dies folgt aus § 15 Abs. 1 TVöD bzw. § 15 Abs. 1 TV-L, wonach die/der Beschäftigte monatlich ein Tabellenentgelt erhält, dessen Höhe sich nach der Entgeltgruppe, in der sie/er eingruppiert ist, und nach der für sie/ihn geltenden Stufe bestimmt. Die Eingruppierung ist kein rechtsgestaltender konstitutiver Akt, sondern ein Akt der Rechtsanwendung41. Das bedeutet, dass sich die Eingruppierung der Beschäftigten als Rechtsfolge automatisch aus dem Tarifvertrag ergibt und alle Erklärungen der Arbeitsvertragsparteien zur Eingruppierung rein deklaratorischer Natur sind. Bei beiderseitiger Tarifgebundenheit ergibt sich die tarifliche Eingruppierung unmittelbar und zwingend aus dem Tarifvertrag. Bei nur vertraglicher Vereinbarung des Tarifvertrages gelten zwar die tariflichen Regelungen nicht unmittelbar und zwingend. Hier soll allerdings die einzelvertragliche Inbezugnahme des Tarifwerks das widerspiegeln, was ansonsten tarifrechtlich gilt. Die Nennung der Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe im Arbeitsvertrag mit einem öffentlichen Arbeitgeber ist im Regelfall als Wissenserklärung und nicht als Willenserklärung anzusehen. Die Angabe bezeichnet regelmäßig lediglich diejenige Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe, die nach Auffassung des Arbeitgebers nach den verein34 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, BeckOK TVöD, TVöD-AT § 14 Rz. 1; Böhle/Poschke, ZTR 2005, 286 (292); Kutzki, FA 2005, 194 (195). 35 Böhle/Poschke, ZTR 2005, 286 (292); Bredendiek/Bernd/Tewes, ZTR 2005, 230 (236); Kutzki, FA 2005, 194 (195); Steinherr, ZTR 2005, 303 (304). 36 Kutzki, FA 2005, 194 (195). 37 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, BeckOK TVöD, TVöD-AT § 14 Rz. 1; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, § 12 Rz. 5. 38 Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg, S. 103; Thivessen/Kulok, TV-L – Schnelleinstieg, S. 115. 39 So für den Bereich des TVöD Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, BeckOK TVöD, TVöD-AT § 15 Rz. 4f; Bredendiek/Bernd/Tewes, ZTR 2005, 230 (236); Hock/Klapproth, ZTR 2006, 118 (119). 40 BAG v. 25.1.2017 – 4 AZR 379/15, NZA 2017, 1009. 41 BAG v. 5.6.2014 – 6 AZR 1008/12, ZTR 2014, 530; v. 22.4.2009 – 4 ABR 14/08, NZA 2009, 1286.

Natter

749

23.37

§ 23 Rz. 23.37

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

barten tariflichen Eingruppierungsregelungen zutreffend ist42. Auch in diesen Fällen ergibt sich die Eingruppierung deshalb automatisch aus den für die auszuübende Tätigkeit maßgeblichen Tätigkeitsmerkmalen der Vergütungs- bzw. Entgeltordnung.

23.38 Davon zu unterscheiden sind allerdings die Fälle, in denen sich die Eingruppierung (Vergütung) aus einzelvertraglichen Regelungen ergibt. Im Arbeitsvertrag mit den Beschäftigten kann vereinbart werden, dass für ihre Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis eine höhere als die sich aus der tariflichen Eingruppierung ergebende Vergütungsgruppe maßgebend sein soll. In der Praxis werden solche Maßnahmen häufig als „übertarifliche Eingruppierung“ bezeichnet43. Da vertragliche Ansprüche nur durch übereinstimmende Willenserklärungen der Vertragsparteien begründet werden können, ist hier stets zu prüfen, ob eine bestimmte Äußerung des Arbeitgebers tatsächlich als rechtsgeschäftliches Angebot einer bestimmten Vergütung oder lediglich als tatsächliche Mitteilung über das Ergebnis der von ihm vorgenommenen tariflichen Bewertung zu verstehen ist. Dies richtet sich nach den Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB44.

23.39 Die bloße Angabe der Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe und ggf. der Fallgruppe im Arbeitsvertrag oder in einer Eingruppierungsmitteilung kann nach der ständigen Rechtsprechung des BAG grundsätzlich nicht dahin ausgelegt werden, dass dem Beschäftigten ein eigenständiger, von den tariflichen Bestimmungen unabhängiger arbeitsvertraglicher Anspruch auf eine bestimmte Vergütung zustehen soll. Vielmehr wird damit nur wiedergegeben, welche Vergütungsgruppe der Arbeitgeber bei Anwendung der maßgeblichen Eingruppierungsbestimmungen als zutreffend ansieht, ohne dass hieraus eine eigenständige Vergütungsvereinbarung mit dem Inhalt zu entnehmen wäre, die angegebene Vergütung solle unabhängig von den tariflichen Bestimmungen, ggf. als übertarifliche Vergütung gezahlt werden45. Insoweit hat das BAG mehrfach betont, dass ohne Hinzutreten weiterer Umstände ein Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes eine solche Bedeutung der Angabe der Vergütungsgruppe schon deshalb nicht entnehmen könne, weil der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes grundsätzlich keine übertarifliche Vergütung, sondern nur das gewähren wolle, was dem Arbeitnehmer tarifrechtlich zusteht46. Bei der Angabe einer Vergütungsgruppe im Arbeitsvertrag handelt es sich demnach in der Regel nur um das Ergebnis der eingruppierungsrechtlichen Prüfung durch den Arbeitgeber, nicht dagegen um eine eigenständige Zusage47.

23.40 Voraussetzung für diese Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz, dass die Nennung einer Entgeltgruppe im Arbeitsvertrag konstitutiv ist, ist jedoch: Es muss sich aus dem Inhalt des Arbeitsvertrags unmissverständlich ergeben, dass allein die angegebenen tariflichen Eingruppierungsbestimmungen für die Ermittlung der Entgelthöhe maßgebend sein sollen. Der Arbeitgeber als Verwender von Allgemeinen Geschäftsbedingungen muss wegen § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB (Transparenzgebot) nicht nur im Vertragswortlaut zum Ausdruck bringen, allein die tariflichen Regelungswerke sollten zur Ermittlung der zutreffenden Entgeltgruppe maß42 Vgl. etwa BAG v. 23.11.1983 – 4 AZR 432/81, AP Nr. 81 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 15.6.2012 – 4 AZR 737/09, ZTR 2012, 26; v. 20.6.2012 – 4 AZR 304/10, ZTR 2013, 26. 43 Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr, BAT, § 22 Rz. 82, 83. 44 BAG v. 16.2.2000 – 4 AZR 62/99, DB 2001, 596; v. 17.7.2003 – 8 AZR 376/02, ZTR 2004, 28. 45 BAG v. 16.2.2000 – 4 AZR 62/99, DB 2001, 596; v. 17.7.2003 – 8 AZR 376/02, ZTR 2004, 28; v. 20.6.2012 – 4 AZR 304/10, ZTR 2013, 26; v. 21.8.2013 – 4 AZR 656/11, NZA 2014, 561; v. 18.10.2018 – 6 AZR 246/17, ZTR 2019, 165. 46 BAG v. 9.7.1997 – 4 AZR 635/95, NZA 1998, 494; v. 18.2.1998 – 4 AZR 581/96, NZA 1998, 950; v. 24.1.2007 – 4 AZR 28/06, ZTR 2007, 495; v. 21.2.2007 – 4 AZR 187/06, ZTR 2007, 677. 47 Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 658.

750

Natter

Die Grundsätze der Eingruppierung

Rz. 23.44 § 23

gebend sein. Er muss zugleich dafür sorgen, dass sich diese auch ohne Weiteres ermitteln lassen48. Das gilt auch für den Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes49. Aus der Tarifautomatik folgt, dass der Arbeitgeber keine individualrechtlich auf Eingruppierung gerichtete Handlung vornimmt und der Beschäftigte demnach vom Arbeitgeber auch keine Eingruppierung verlangen kann, also keinen Anspruch auf Eingruppierung, sondern vielmehr nur auf Feststellung der Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung von Entgelt aus einer bestimmten Entgeltgruppe bzw. einen Anspruch auf Zahlung von Entgelt aus einer bestimmten Entgeltgruppe hat.

23.41

2. Die „auszuübende Tätigkeit“ als Bestimmungsfaktor der tariflichen Eingruppierung Nach § 12 Abs. 2 Satz 1 TVöD/§ 12 Abs. 1 Satz 3 TV-L ist der Beschäftigte in der Entgeltgruppe eingruppiert, deren Tätigkeitsmerkmalen die gesamte von ihm nicht nur vorübergehend auszuübende Tätigkeit entspricht. Damit ist die auszuübende, und nicht die ausgeübte Tätigkeit der maßgebliche Bestimmungsfaktor der tariflichen Eingruppierung. In dieser Bestimmung spiegelt sich wider, dass der Arbeitgeber eben nicht eingruppiert, sondern dem Arbeitnehmer kraft seines Direktionsrechts Tätigkeiten zuweist, wonach der Arbeitnehmer aufgrund der Tarifautomatik eingruppiert ist.

23.42

a) Die wirksam zugewiesene Tätigkeit Die auszuübende Tätigkeit ist allein die dem Arbeitnehmer wirksam zugewiesene Tätigkeit. Dabei muss die Tätigkeit dem Beschäftigten von der für Organisationsfragen/Personalangelegenheiten zuständigen Stelle – schriftlich, mündlich oder konkludent – zugewiesen worden sein50. Andere Tätigkeiten sind für die Eingruppierung hingegen grundsätzlich irrelevant. Das bedeutet, dass solche Tätigkeiten, die der Arbeitnehmer zwar wahrnimmt, die ihm jedoch nicht wirksam übertragen wurden, nicht berücksichtigt werden dürfen51.

23.43

Probleme in der Praxis entstehen häufig in den Fällen, in denen dem Arbeitnehmer von seinem unmittelbaren Vorgesetzten (der nicht die für Organisationsfragen/Personalangelegenheiten zuständige Stelle ist) – idR in Unkenntnis der möglichen tarifrechtlichen Folgen – Aufgaben übertragen werden, die zu einer veränderten Eingruppierung führen würden. In diesem Zusammenhang ist nämlich zu berücksichtigen, dass der Arbeitnehmer zunächst einmal verpflichtet ist, dienstlichen Anordnungen nachzukommen und er wohl grundsätzlich darauf vertraut, dass die Anordnungen auch von der zuständigen Stelle veranlasst oder mit ihr abgestimmt wurden. Reklamiert der Arbeitnehmer nun die Zahlung einer höheren Vergütung mit der Begründung, er übe eine höherwertige Tätigkeit aus, kommt es häufig vor, dass der Arbeitgeber diesem Begehren mit dem Argument begegnet, die Tätigkeiten seien dem Arbeitnehmer nicht wirksam von der zuständigen Stelle übertragen worden. Während es nach einer älteren Rechtsprechung des BAG für die konkludente Übertragung höherwertiger Tätigkeiten ausreichen konnte, dass der Arbeitnehmer die Tätigkeiten mit Wissen und Billigung seiner

23.44

48 BAG v. 21.8.2013 – 4 AZR 656/11, NZA 2014, 561; v. 18.10.2018 – 6 AZR 246/17, ZTR 2019, 165. 49 Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg, S. 106. 50 BAG v. 18.5.1994 – 4 AZR 449/93, DB 1994, 2506; v. 26.3.1997 – 4 AZR 489/95, AP Nr. 223 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 11.3.1998 – 10 AZR 313/97, ZTR 1998, 370; v. 5.5.1999 – 4 AZR 360/99, ZTR 1999, 554. 51 BAG v. 31.10.1990 – 4 AZR 260/90, AP Nr. 152 zu §§ 22, 23 BAT 1975.

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§ 23 Rz. 23.44

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

Vorgesetzten ausübte, wobei es irrelevant war, ob die Vorgesetzten nach den einschlägigen Verwaltungsvorschriften für die Übertragung höherwertiger Tätigkeiten zuständig waren52, kommt es nach der neueren Rechtsprechung des BAG entscheidend darauf an, ob die tatsächlich vertretungsberechtigte Stelle Kenntnis hatte und die Wahrnehmung der entsprechenden Tätigkeiten gebilligt hat.

23.45 Dies hat das BAG in seinem Urteil vom 26.3.199753 ausdrücklich klargestellt, indem es ausgeführt hat, dass die mit den im Arbeitsumfeld tätigen Kollegen und ggf. auch mit dem unmittelbaren Fachvorgesetzten abgestimmte Ausübung einer höherwertigen Tätigkeit durch den Arbeitnehmer ohne – auch nur stillschweigende – diesbezügliche Zustimmung der für Personalangelegenheiten zuständigen Stelle des öffentlichen Arbeitgebers einen Anspruch des Arbeitnehmers auf Höhergruppierung nicht zu begründen vermag. Dass es allein auf die übertragene Tätigkeit ankommt, hat das BAG im Übrigen durch sein Urteil vom 31.7.200254 nochmals bestätigt. Diese, der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit dienende Rechtsprechung des BAG ist in der Literatur mit dem Argument kritisiert worden, dass dem Arbeitnehmer nicht zugemutet werden könne, jeweils zu prüfen, ob sein Vorgesetzter sich im Rahmen seiner Zuständigkeit gehalten habe und wie die ihm zugewiesene Tätigkeit tarifgerecht zu bewerten sei bzw., dass der Arbeitnehmer darauf vertrauen könne, dass die Anordnungen auch von der zuständigen Stelle ausgesprochen worden seien bzw. auf diese zurückgingen55. Einig ist man sich allerdings insoweit, als der Arbeitnehmer sich dann nicht auf Vertrauensschutz berufen kann, wenn er genau weiß, dass die Anordnung von einem Vorgesetzten ausgesprochen wurde, der nicht zuständig ist, oder wenn der Arbeitnehmer sich die höherwertige Tätigkeit „selbst an Land gezogen“ hat56. b) Die Veränderung der Tätigkeit des Beschäftigten ohne Mitwirkung des Arbeitgebers

23.46 Von der zuvor beschriebenen Zuweisung einer Tätigkeit durch den Arbeitgeber zu unterscheiden sind die Fälle, in denen sich die Tätigkeit des Beschäftigten ohne Mitwirkung des Arbeitgebers so ändert, dass sie den Tätigkeitsmerkmalen einer höheren Entgeltgruppe entspricht. Diese Fallgestaltung wird durch §§ 13 TVöD/TV-L unter der Überschrift „Eingruppierung in besonderen Fällen“ erfasst. Die Vorschrift soll die Höhergruppierung und ihre Modalitäten in den Fällen regeln, die weder der Regeleingruppierung nach § 12 noch der „vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit“ nach § 14 zugeordnet werden können. Die §§ 12 und 14 betreffen Fälle, in denen dem Beschäftigten unter Mitwirkung des Arbeitgebers eine Tätigkeit übertragen wurde. Die Besonderheit des § 13 ist, dass sich die höherwertige Tätigkeit in anderer Weise als durch Übertragung ergeben hat57.

23.47 Die Fallgestaltung, dass sich die dem Beschäftigten übertragene Tätigkeit ohne die Ausübung des Direktionsrechts durch den Arbeitgeber ändert, tritt in der Praxis relativ selten auf. Voraussetzung ist, dass sich die übertragende Tätigkeit durch eine tatsächliche Entwicklung so geändert hat, dass sie den Tätigkeitsmerkmalen einer höheren als der bisherigen 52 BAG v. 28.10.1970 – 4 AZR 481/69, AP Nr. 34 zu §§ 22, 23 BAT; v. 10.3.1982 – 4 AZR 541/79, DB 1982, 2712; v. 2.12.1981 – 4 AZR 301/79, AP Nr. 52 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 53 BAG v. 26.3.1997 – 4 AZR 489/95, AP Nr. 223 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 54 BAG v. 31.7.2002 – 4 AZR 203/01, AP Nr. 293 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 55 Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 666. 56 S. hierzu auch LAG Hamm v. 14.5.1991 – 18 Sa 656/90, ZTR 1992, 107. 57 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, § 13 Rz. 1.

752

Natter

Die Grundsätze der Eingruppierung

Rz. 23.50 § 23

Entgeltgruppe entspricht. Dies kann etwa der Fall sein, wenn sich der Schwierigkeitsgrad der auszuübenden Tätigkeit durch eine Gesetzesänderung deutlich erhöht58. Die Abgrenzung zum üblichen Wandel von Tätigkeiten durch normative Änderungen und technische Entwicklungen ist aber außerordentlich schwierig. Die ständige Weiterentwicklung von einmal erworbenen Fachkenntnissen ist bei nahezu allen Tätigkeiten erforderlich und kann für sich allein eine Höhergruppierung nach § 13 TVöD/TV-L nicht begründen. Es nimmt daher nicht Wunder, dass § 13 TVöD/TV-L bisher in der Rechtsprechung kaum Bedeutung erlangt hat. Eine Höhergruppierung nach § 13 Satz 1 TVöD/TV-L setzt voraus, dass der Beschäftigte seit dem Eintritt der Änderung seiner Tätigkeit die höherwertige Tätigkeit ununterbrochen sechs Monate lang nicht nur vorübergehend ausgeübt hat; zwischenzeitlich erhält der Beschäftigte eine Zulage nach § 14 TVöD/TV-L. Bis zum Ablauf der Sechs-Monats-Frist kann der Arbeitgeber dem Beschäftigten kraft seines Direktionsrechts Tätigkeiten zuweisen, die den Tätigkeitsmerkmalen der bisherigen Entgeltgruppe entsprechen59. Die Feststellung des Beginns der Sechs-Monats-Frist ist ebenso schwierig wie die Feststellung der Änderung als solcher. Die Frist beginnt nach § 187 BGB mit dem Tag, von dem an der Beschäftigte die höherwertig gewordene Tätigkeit ausübt. Die Eingruppierung in die höhere Entgeltgruppe beginnt nicht bereits mit dem Ablauf der Sechs-Monats-Frist, sondern erst mit dem Beginn des darauffolgenden Kalendermonats.

23.48

Nach § 13 Satz 3 TVöD/TV-L wirken sich Unterbrechungen von nicht mehr als sechs Wochen aus den enumerativ aufgezählten Gründen (Urlaub, Arbeitsbefreiung, Arbeitsunfähigkeit oder Vorbereitung auf eine Fachprüfung) nicht schädlich auf den Fristablauf aus. Bei längeren Unterbrechungen oder Unterbrechungen aus anderen Gründen beginnt die SechsMonats-Frist von neuem an zu laufen.

23.49

3. Die nicht nur vorübergehend zugewiesene Tätigkeit Nach § 12 Abs. 2 Satz 1 TVöD/§ 12 Abs. 1 Satz 3 TV-L ist der Beschäftigte in der Entgeltgruppe eingruppiert, deren Tätigkeitsmerkmalen die gesamte von ihm nicht nur vorübergehend auszuübende Tätigkeit entspricht. Damit sind nach § 12 TVöD/TV-L nur dauerhaft übertragene Tätigkeiten eingruppierungsrelevant; lediglich vorübergehend auszuübende Tätigkeiten beeinflussen die Eingruppierung demgegenüber nicht. Wurde dem Beschäftigten nur vorübergehend eine andere Tätigkeit übertragen, die den Tätigkeitsmerkmalen einer höheren als seiner Vergütungsgruppe entspricht, konnte er unter den Voraussetzungen des § 24 BAT eine persönliche Zulage beanspruchen. Der Begriff „nicht nur vorübergehend“ diente mithin in erster Linie als Abgrenzungsmerkmal zur nur „vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit“ iSd. des § 24 BAT. Nachdem mit der Einführung der neuen Entgeltordnungen mit § 14 eine § 24 BAT nachgebildete Vorschrift im TVöD und TV-L geschaffen wurde, verbleibt es dabei, dass auch unter Geltung des neuen Tarifrechts nur dauerhaft übertragene Tätigkeiten eingruppierungsrelevant sind60.

58 Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L, § 13 Rz. 4. 59 Arg. ex § 13 Satz 5 TVöD/TV-L, wonach dem Beschäftigten in diesem Fall eine Zulage nach § 14 TVöD/TV-L zu zahlen ist. 60 Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg, S. 112; Thivessen/Kulok, TV-L – Schnelleinstieg, S. 118.

Natter

753

23.50

§ 23 Rz. 23.51

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

a) Die Übertragung einer Tätigkeit zur nicht nur vorübergehenden Ausübung

23.51 Da vorübergehend eine Tätigkeitsübertragung nur dann ist, wenn ihre zeitliche Begrenzung von vornherein feststeht (zB bei Vertretung oder Erprobung)61, sie also zeitlich befristet ist62, ist eine Tätigkeit nur dann zur nicht nur vorübergehenden Ausübung übertragen, wenn sie auf Dauer angelegt ist. Maßgebliches Kriterium für die Eingruppierung bleibt also die nach dem Arbeitsvertrag auf Dauer auszuübende Tätigkeit.

23.52 Damit ist auch dem sog. „ständigen Abwesenheitsvertreter“ die Tätigkeit auf Dauer übertragen; hier gehört die Vertretung zu der Arbeitsleistung, die der Beschäftigte dem Arbeitgeber schuldet63. Das Gleiche gilt für sog. „Springer“. Auf Dauer auszuübende, also ständige Vertretungstätigkeiten sind mithin in die tarifliche Bewertung einzubeziehen. Auf den zeitlichen Umfang kommt es nicht an. Der zeitliche Umfang der Vertretungstätigkeit ist vielmehr nur für die Frage maßgebend, welchen zeitlichen Anteil an der Gesamttätigkeit der entsprechende Arbeitsvorgang hat64.

23.53 Ob eine Tätigkeit von einem Beschäftigten (nicht) nur vorübergehend auszuüben ist, bestimmt sich nach dem bei der Übertragung der Tätigkeit zum Ausdruck gekommenen Willen des Arbeitgebers65. Dabei kann die Zuweisung der Tätigkeit zur dauerhaften Wahrnehmung sowohl schriftlich wie mündlich oder auch durch konkludentes Verhalten erfolgen66. Aus Gründen der Rechtssicherheit empfiehlt es sich jedoch, die Tätigkeitsübertragung unter genauer Bezeichnung der Tätigkeit sowie der Übertragungsart schriftlich vorzunehmen. Ist nämlich streitig, ob einem Beschäftigten ein Aufgabenbereich nur vorübergehend oder auf Dauer übertragen wurde, so gehen nach der Rechtsprechung des BAG diesbezügliche Zweifel zu Lasten des öffentlichen Arbeitgebers67. b) Die vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit aa) Überblick

23.54 Wird dem Beschäftigten vorübergehend eine andere Tätigkeit übertragen, die den Tätigkeitsmerkmalen einer höheren Entgeltgruppe als seiner Eingruppierung entspricht, und hat er diese mindestens einen Monat ausgeübt, erhält er für die Dauer der Ausübung eine persönliche Zulage rückwirkend ab dem ersten Tag der Übertragung der Tätigkeit (§ 14 Abs. 1 TVöD/ TV-L). Die Zulage stellt den Ausgleich für die mit der höherwertigen Tätigkeit verbundene Schwierigkeit der Arbeit dar. Sie ist zugleich der Ausgleich dafür, dass der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes berechtigt ist, dem Arbeitnehmer kraft seines Direktionsrechts eine höherwertige Tätigkeit zuzuweisen68. Die Höhe der Zulage ergibt sich aus § 14 Abs. 3 TVöD/TV-L. § 14 Abs. 2 TVöD/TV-L eröffnet als Rahmenvorschrift zudem die Möglichkeit, durch landesbezirkliche Tarifverträge sowie für den Bund durch besonderen Tarifvertrag auf Bundesebene von dem Erfordernis der 61 Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 668; Bauer/Bockholt, Rz. 41; Donath, ZTR 2018, 184. 62 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, BeckOK TVöD, TVöD-AT § 14 Rz. 1. 63 BAG v. 24.3.1993 – 10 AZR 416/91, ZTR 1993, 334; v. 21.10.1998 – 10 AZR 224/98, NZA 1999, 492; v. 16.4.2015 – 6 AZR 242/14, ZTR 2015, 439. 64 Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr, BAT, § 22 Rz. 13. 65 BAG v. 25.2.1987 – 4 AZR 217/86, AP Nr. 14 zu § 24 BAT. 66 BAG v. 24.1.1973 – 4 AZR 104/72, AP Nr. 63 zu §§ 22, 23 BAT. 67 BAG v. 19.3.1986 – 4 AZR 642/84, AP Nr. 116 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 68 BAG v. 16.4.2015 – 6 AZR 242/14, ZTR 2015, 439.

754

Natter

Die Grundsätze der Eingruppierung

Rz. 23.56 § 23

mindestens einmonatigen höherwertigen Tätigkeit des Abs. 1 in der Weise bei noch zu bestimmenden Tätigkeiten abzuweichen, dass die persönliche Zulage bereits nach dreitägiger höherwertiger Tätigkeit gezahlt wird69. Diese Bestimmung ist eine typische Ausprägung der Aufgabe der Statustrennung von Arbeiterinnen und Arbeitern auf der einen Seite sowie der Angestellten auf der anderen Seite. Der Abs. 2 des § 14 TVöD/TV-L betrifft ausschließlich die „bisherigen“ Arbeiterinnen und Arbeiter, die nach dem BMT-G II und dem MTArb früher in den Genuss von Ausgleichsansprüchen kamen als die Angestellten70. § 14 TVöD/TV-L entsprechen im Kern § 24 BAT/BAT-O, weisen jedoch im Vergleich zu den jeweiligen Vorgängerregelungen deutliche Unterschiede auf:

23.55

– Im bisherigen Angestelltenrecht war es (bei der vertretungsweisen Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit) erforderlich, dass der Angestellte die höherwertige Tätigkeit für einen Zeitraum von drei Monaten ausgeübt hatte (§ 24 BAT/BAT-O). – Im bisherigen Arbeiterrecht wurde hingegen eine Zulage für vorübergehend übertragene höherwertige Tätigkeiten bereits dann (rückwirkend ab dem ersten Tag) gezahlt, wenn die höher zu bewertende Tätigkeit für mindestens drei Arbeitstage ausgeübt worden war (vgl. beispielhaft § 9 MTArb/MTArb-O). – Die Neuregelungen enthalten keine Unterscheidung mehr zwischen einer vorübergehenden und einer vertretungsweisen Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit. Die Tarifvertragsparteien haben sich diesbezüglich jedoch darauf verständigt, dass die vertretungsweise Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit ein Unterfall der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit ist (für den Bereich des Bundes und der VKA in der Niederschriftserklärung Nr. 2 zu § 14 Abs. 1 TVöD)71. Die Besitzstands- und Übergangsregelungen zu § 24 BAT sind mittlerweile weitgehend irrelevant geworden. Insoweit wird auf die Ausführungen in der 2. Auflage (Teil 7) verwiesen. bb) Die höherwertige Tätigkeit Ob die vorübergehend übertragene Tätigkeit gegenüber der bisherigen Tätigkeit als höherwertig anzusehen ist, richtet sich ausschließlich nach der Bewertungsskala des TVöD bzw. des TV-L, mithin nach den neuen Entgeltgruppen72. § 14 TVöD/TV-L kommt nur dann zur Anwendung, wenn sich die Eingruppierung des Beschäftigten nach den Eingruppierungsvorschriften des TVöD/TV-L richtet. Sie ist daher nicht einschlägig, wenn sich die Vergütung des Beschäftigten nach beamtenrechtlichen Grundsätzen bemisst73.

69 70 71 72

Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, § 14 Rz. 49. Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, BeckOK TVöD, TVöD-AT § 14 Rz. 11. Thivessen/Kulok, TV-L – Schnelleinstieg, S. 118. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, § 14 Rz. 18; zu beachten ist, dass bspw. § 5 Abs. 3 des Tarifvertrages zur Regelung der Arbeitsbedingungen bei den Nahverkehrsbetrieben im Land Berlin vom 31.8.2005 (TV-N Berlin) den Anspruch auf die Zulage – abweichend von § 24 BAT – bei vorübergehender Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit nicht daran bindet, dass der Arbeitnehmer, dem die höherwertige Tätigkeit durch Anordnung vorübergehend übertragen wird, sämtliche, dh. auch die persönlichen Merkmale der höheren Entgeltgruppe erfüllt (vgl. BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 389/08, ZTR 2009, 424). 73 BAG v. 11.7.2012 – 10 AZR 203/11, ZTR 2012, 569.

Natter

755

23.56

§ 23 Rz. 23.57

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

cc) Die Voraussetzungen und die Zulässigkeit der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit

23.57 Die Frage nach den Voraussetzungen und der Zulässigkeit der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit stellt sich bei der Anwendung des § 14 TVöD/TV-L genauso wie unter Geltung des § 24 BAT. Da § 14 TVöD/TV-L dem § 24 BAT nachgebildet sind, kann die bisherige Rechtsprechung des BAG ohne Einschränkung für die Anwendung und Auslegung des § 14 TVöD/TV-L herangezogen werden74. (1) Die doppelte Billigkeitsprüfung

23.58 Bis zu seiner grundlegenden Entscheidung vom 17.4.200275 stellte das BAG in ständiger Rechtsprechung für die Rechtfertigung einer vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit darauf ab, ob für die vorübergehende bzw. vertretungsweise Übertragung der höherwertigen Tätigkeit ein sachlicher Grund vorlag. Eine vorübergehend übertragene höherwertige Tätigkeit galt danach als auf Dauer übertragen mit der Folge eines Anspruchs auf eine Vergütung nach der höheren Vergütungsgruppe (Höhergruppierung), wenn die Gestaltungsmöglichkeit des § 24 BAT rechtsmissbräuchlich verwendet worden war. War die vorübergehende Übertragung der höherwertigen Tätigkeit nicht durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt, wurde ein solcher Rechtsmissbrauch angenommen76. Danach war der Angestellte von Beginn der Übertragung der höherwertigen Tätigkeit an so zu behandeln, als sei ihm diese auf Dauer übertragen worden. Insoweit ging das BAG zwar davon aus, dass die vorübergehende Übertragung in Ausübung des Direktionsrechts des Arbeitgebers erfolgte; in der Sache selbst stellte es die vorübergehende Übertragung der höherwertigen Tätigkeit indes der befristeten Übertragung einer Tätigkeit gleich.

23.59 Diese Rechtsprechung hat das BAG mit der o.g. grundlegenden Entscheidung vom 17.4.200277 aufgegeben. Nunmehr beantwortet sich die Frage, ob eine höherwertige Tätigkeit nach § 24 BAT bzw. heute nach § 14 TVöD/TV-L als auf Dauer übertragen anzusehen ist, nicht mehr danach, ob die Gestaltungsmöglichkeit des § 24 BAT bzw. § 14 TVöD/TV-L rechtsmissbräuchlich verwendet wurde, weil die vorübergehende Übertragung nicht durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt war. Vielmehr ist die Rechtmäßigkeit der vorübergehenden oder vertretungsweisen Übertragung einer höher bewerteten Tätigkeit an den Regeln zu messen, die der Arbeitgeber bei der Ausübung seines arbeitsvertraglichen Leistungsbestimmungsrechts (Direktionsrechts) entsprechend § 315 Abs. 1 BGB (nunmehr § 106 GewO) grundsätzlich einzuhalten hat. Die Ausübung des Direktionsrechts des Arbeitgebers hat demnach billigem Ermessen zu entsprechen. Das BAG hat insoweit darauf abgestellt, dass es bei der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit – anders als bei der Befristung einzelner Arbeitsbedingungen bzw. des Arbeitsverhältnisses – gerade nicht um Fragen des Bestands oder Inhalts des Arbeitsverhältnisses sowie des gesetzlichen Schutzes gegenüber Beendigungs- oder auch Änderungskündigungen gehe. Inhalt und Bestand des Arbeitsverhältnisses würden durch Maßnahmen, die sich im Rahmen des arbeitsvertraglichen Direktionsrechts halten, gerade nicht berührt. 74 BAG v. 4.7.2012 – 4 AZR 759/10, ZTR 2013, 24; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, § 14 Rz. 6. 75 BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, NZA 2003, 159. 76 BAG v. 26.3.1997 – 4 AZR 604/95, ZTR 1997, 413; v. 16.9.1998 – 5 AZR 183/97, NZA 1999, 384. 77 BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, NZA 2003, 159; bestätigt bspw. mit BAG v. 18.4.2012 – 10 AZR 134/11, ZTR 2012, 444; v. 4.7.2012 – 4 AZR 759/10, ZTR 2013, 24.

756

Natter

Die Grundsätze der Eingruppierung

Rz. 23.63 § 23

23.60

Das BAG führt nunmehr eine doppelte Billigkeitskontrolle durch: – In einem ersten Schritt – allerdings nur soweit sich der Beschäftigte gegen die Tätigkeitsübertragung an sich wendet – kommt es darauf an, ob es billigem Ermessen entspricht, dem Arbeitnehmer die anders bewertete Tätigkeit überhaupt, wenn auch nur vorübergehend zu übertragen (Billigkeit der Tätigkeitsübertragung an sich). – In einem zweiten Schritt ist, wenn die Übertragung von Anfang an oder erst nach einer bestimmten Zeit mit einer höheren Vergütung oder einer interimistischen Zulage verbunden ist, zu prüfen, ob es billigem Ermessen entspricht, diese Tätigkeit nur vorübergehend zu übertragen, sowie – da § 14 TVöD/TV-L für die vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit eine zeitliche Begrenzung nicht vorsehen – ob die Dauer der Übertragung billigem Ermessen entspricht. Dabei ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls abzuwägen, ob das Interesse des Arbeitgebers daran, die Tätigkeit nur vorübergehend zu übertragen, oder das Interesse des Arbeitnehmers an der Beibehaltung der höherwertigen Tätigkeit und – falls damit verbunden – auch der besseren Bezahlung überwiegt (Billigkeit der „Nicht-Dauerhaftigkeit“ der Übertragung). Entspricht die vorübergehende Übertragung der Tätigkeit nicht billigem Ermessen, so erfolgt die Bestimmung der Leistung entsprechend § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB durch eine richterliche Entscheidung. Diese Entscheidung kann bei der interimistischen Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit – je nachdem, worin die Unbilligkeit liegt – darin bestehen, dass die Übertragung der Tätigkeit nicht nur als vorübergehend, sondern als auf Dauer vorgenommen erklärt wird, oder die zeitliche Dauer anders bestimmt wird. Die Beweislast dafür, dass die Ausübung des Direktionsrechts billigem Ermessen entspricht, trägt derjenige, der das Leistungsbestimmungsrecht ausübt, mithin der Arbeitgeber78.

23.61

(2) Die mehrmalige Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit Zwar ist auch in § 14 TVöD/TV-L für die Dauer der vorübergehenden Übertragung eine Zeitgrenze nicht bestimmt; wird dem Arbeitnehmer jedoch dieselbe oder eine gleichermaßen höherwertige Tätigkeit mehrmals nacheinander übertragen, ist nicht nur die letzte Übertragung auf ihre Billigkeit hin zu überprüfen, vielmehr unterliegt jeder dieser Übertragungsakte der gerichtlichen Billigkeitskontrolle entsprechend § 315 BGB. Der Beschäftigte ist hier auch nicht gehalten, einen Vorbehalt hinsichtlich jeder einzelnen vorübergehenden Übertragung höherwertiger Tätigkeit zu erklären. Ist bei auch nur einer der mehreren interimistischen Übertragungen billiges Ermessen im Hinblick darauf, dass die Übertragung nicht auf Dauer erfolgte, nicht gewahrt, kann dies zur Folge haben, dass diese Übertragung kraft richterlicher Entscheidung entsprechend § 615 Abs. 3 Satz 2 BGB als auf Dauer anzusehen ist. Deshalb kommt es nicht darauf an, ob die zeitlich nachfolgenden interimistischen Übertragungen derselben oder einer höherwertigeren Tätigkeit ihrerseits billigem Ermessen entsprechen, wenn bereits die vorherige Übertragung als auf Dauer erfolgt anzusehen ist79.

23.62

(3) Beginn und Ende der Übertragung Da auch § 14 TVöD/TV-L nicht näher bestimmt, in welcher Weise und unter Beachtung welcher rechtlichen Formalien die vorübergehende Übertragung der Tätigkeit zu erfolgen 78 BAG v. 15.5.2002 – 4 AZR 433/01, ZTR 2003, 80; v. 18.4.2012 – 10 AZR 134/11, ZTR 2012, 444; v. 4.7.2012 – 4 AZR 759/10, ZTR 2013, 24. 79 BAG v. 22.1.2003 – 4 AZR 553/01, ZTR 2003, 514; v. 18.4.2012 – 10 AZR 134/11, ZTR 2012, 444.

Natter

757

23.63

§ 23 Rz. 23.63

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

hat, kann sich die nur vorübergehende Übertragung der Tätigkeit aus einer entsprechenden ausdrücklichen oder konkludenten Erklärung des Arbeitgebers und damit je nach Fallgestaltung auch aus den jeweiligen Umständen ergeben. Der Arbeitgeber hat in Ausübung seines Direktionsrechts eine Gestaltungserklärung als einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung abzugeben. Die Erklärung hat durch den zuständigen weisungsbefugten Vorgesetzten zu erfolgen80. Die Rechtssicherheit fordert, dass dem Beschäftigten hinreichend deutlich erkennbar wird, dass er nur vorübergehend eine höherwertige Tätigkeit ausüben soll. Diesbezügliche Zweifel gehen zu Lasten des öffentlichen Arbeitgebers81. Deshalb kann eine konkludente Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit auf Dauer auch vorliegen, wenn eine dem Beschäftigten zunächst nur befristet vorübergehend übertragene Tätigkeit nach Ablauf der Befristung mit Wissen und Billigung des Arbeitgebers fortgesetzt wird. Demgegenüber ist von einer konkludenten nur vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit auszugehen, wenn sich dies erkennbar aus den näheren Umständen ergibt. Besteht zB die höherwertige Tätigkeit in der Aufsicht über eine Fachkraft, die an einer ABM-Maßnahme teilnimmt und für die die Einrichtung einer Planstelle weder erfolgt noch beabsichtigt ist, so erfolgt die Übertragung der höherwertigen Tätigkeit idR nur vorübergehend82.

23.64 Um Auslegungsfragen und ggf. Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden, empfiehlt es sich für die Praxis, die vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit stets schriftlich mit einem ausdrücklichen Hinweis auf den nur vorübergehenden Charakter der Maßnahme vorzunehmen. Ein ausdrückliches Schriftformgebot, wie in § 14 Abs. 4 TzBfG, sieht § 14 TVöD/ TV-L nicht vor. Die vorübergehende Übertragung endet mit dem Eintritt des Ereignisses, an das die Zeitweiligkeit der Übertragung angeknüpft hat. Erfolgte etwa die vorübergehende Übertragung zur Krankheitsvertretung, so endet die Übertragung mit der Wiederaufnahme des Dienstes durch die Stammkraft. Einer Willenserklärung des Arbeitgebers bedarf es nicht. Ebensowenig ist, wie in § 15 Abs. 2 TzBfG im Rahmen der Zweckbefristung, eine Mitteilung des Arbeitgebers über den Zeitpunkt der Beendigung erforderlich. (4) Die Rechtsfolge der vorübergehenden Übertragung

23.65 Die Rechtsfolge der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit ergibt sich aus § 14 Abs. 3 TVöD/TV-L. Hat der Beschäftigte die Tätigkeit mindestens einen Monat ausgeübt, so erhält er eine persönliche Zulage. Die Zulage bemisst sich abhängig von der bisherigen Eingruppierung des Beschäftigten unterschiedlich: – § 14 Abs. 3 Satz 1: Ist der Beschäftigte in den Entgeltgruppen 9 bis 14 eingruppiert, so bemisst sich die Zulage aus dem Unterschiedsbetrag zu dem Betrag, der sich für den Beschäftigten bei dauerhafter Übertragung nach § 17 Abs. 4 Satz 1 und 2 TVöD/TV-L, also im Falle einer Höhergruppierung, ergeben hätte. – § 14 Abs. 3 Satz 2: Ist der Beschäftigte in den Entgeltgruppen 1 bis 8 eingruppiert, so beträgt die Zulage 4,5 % des individuellen Tabellenentgelts des Beschäftigten; bei vorüber-

80 BAG v. 16.4.2015 – 6 AZR 242/14, ZTR 2015, 439. 81 BAG v. 15.5.2002 – 4 AZR 433/01, ZTR 2003, 80; v. 19.3.1986 – 4 AZR 642/84, AP Nr. 116 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 82 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, § 14 Rz. 38.

758

Natter

Die Grundsätze der Eingruppierung

Rz. 23.69 § 23

gehender Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit über mehr als eine Entgeltgruppe, so bemisst sich die Zulage nach Satz 1 der Vorschrift. Insgesamt bietet die Vorschrift jedenfalls im Bereich der Länder nur einen eingeschränkten Anreiz zur Übernahme höherwertiger Tätigkeiten. Da § 17 Abs. 4 TV-L bisher eine stufengleiche Höhergruppierung nicht vorsieht, kann es dazu kommen, dass dem Beschäftigten nur der sog. Garantiebetrag verbleibt. Angesichts dessen geringer Höhe wird es den Arbeitgebern schwerfallen, bei den Beschäftigten Verständnis für eine vorübergehende Übertragung zu wecken.

23.66

(5) Beispiele aus der Rechtsprechung des BAG zur vorübergehenden Ausübung einer höherwertigen Tätigkeit nach § 24 BAT und § 14 TVöD/TV-L Zwar beurteilt sich nach der grundlegenden Entscheidung des BAG vom 17.4.200283 die Zu- 23.67 lässigkeit einer nur vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit danach, ob die Übertragung billigem Ermessen entspricht; dennoch können auch Beispiele aus der Rechtsprechung aus der Zeit vor dem 17.4.2002 herangezogen werden, da jedenfalls dann, wenn ein sachlicher Grund bejaht wurde, die nur vorübergehende Übertragung in der Regel auch billigem Ermessen entspricht84: – Vertretung: Bei der vorübergehenden Ausübung einer höherwertigen Tätigkeit nach § 24 BAT war zu unterscheiden zwischen der vorübergehenden Übertragung nach § 24 Abs. 1 BAT und der vertretungsweisen Übertragung der Tätigkeit nach § 24 Abs. 2 BAT. § 24 Abs. 2 BAT regelte einen Sonderfall der vorübergehenden (interimistischen) Ausübung einer höherwertigen Tätigkeit. Um eine Vertretung handelt es sich nur dann, wenn der eigentliche Arbeitsplatzinhaber vorübergehend die ihm dauernd übertragene Tätigkeit nicht wahrnimmt. Die Billigkeit einer vertretungsweisen Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit folgt schon aus dem Übertragungsgrund: Nach Rückkehr des vertretenen Arbeitnehmers auf seinen Arbeitsplatz besteht kein Bedürfnis für die Beschäftigung des Vertreters auf diesem Arbeitsplatz. Die vertretungsweise Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit für die Zeit der Verhinderung des Vertretenen entspricht daher regelmäßig billigem Ermessen85. Ist die Stelle, auf der der Arbeitnehmer beschäftigt wird, allerdings noch nicht besetzt, liegt kein Vertretungsfall vor. In einem solchen Fall handelt es sich vielmehr um eine vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit.

23.68

– Wegfall der Aufgabe: Die vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit kommt in Betracht, wenn die wahrzunehmende Tätigkeit keine Daueraufgabe darstellt, sondern in absehbarer Zukunft wegfällt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitsplatz für einen besser qualifizierten Arbeitnehmer, der in absehbarer Zeit zur Verfügung steht, freihalten will oder wenn er aufgrund sonstiger berechtigter Interessen den Arbeitsplatz noch nicht endgültig besetzen will, zB, weil der Arbeitnehmer noch nicht ausreichend qualifiziert ist oder weil zunächst eine Ausschreibung vorgenommen werden soll86. Damit liegt es bspw. im berechtigten Interesse eines Arbeitgebers, der sich in einer Umorganisationsphase befindet, zunächst einmal abzuwarten, wie viele Stellen nach Abschluss der Umorganisation

23.69

83 BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, NZA 2003, 159. 84 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, § 14 Rz. 14. 85 BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, NZA 2003, 159; v. 15.5.2002 – 4 AZR 433/01, ZTR 2003, 80; v. 12.6.2002 – 4 AZR 453/01, nv. 86 BAG v. 19.6.1985 – 4 AZR 540/83, AP Nr. 9 zu § 24 BAT; v. 21.6.2000 – 5 AZR 805/98, ZTR 2001, 25.

Natter

759

§ 23 Rz. 23.69

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

überhaupt zur dauerhaften Besetzung zur Verfügung stehen. Auch kann der Arbeitgeber sich ausreichend Zeit zur Prüfung nehmen, um im Wege der Ausschreibung den aus seiner Sicht qualifiziertesten Bewerber für die freigewordene Stelle zu finden. Ebenso kann ein vorübergehend erhöhter Arbeitsbedarf, der durch besondere zusätzliche Aufgaben von begrenzter Dauer oder durch den Bedarf an der Aufarbeitung von Rückständen aufgetreten ist, eine nur vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit rechtfertigen. Allein die Unsicherheit über die Dauer der Beschäftigungsmöglichkeit mit den übertragenen höherwertigen Aufgaben kann hingegen eine vorübergehende Übertragung nicht rechtfertigen87.

23.70 – Freihalten einer Stelle: Ferner ist in der Rechtsprechung des BAG anerkannt, dass die generelle Entscheidung des öffentlichen Arbeitgebers, bestimmte Stellen nur mit Beamten zu besetzen und sie daher bis zum Zugang von Beamtenanwärtern freizuhalten, grundsätzlich hinzunehmen ist88. Für eine solche Organisationsentscheidung kann es nach Auffassung des BAG plausible Gründe geben wie zB die leichtere Versetzbarkeit von Beamten, deren breitere Ausbildung oder gar die Verfügbarkeit von Beamten im Falle eines Streiks. Dann muss der Arbeitgeber nachvollziehbar darlegen, dass er eine solche generelle Organisationsentscheidung tatsächlich getroffen hat. Will der Arbeitnehmer hiergegen einwenden, dass die Organisationsentscheidung im Einzelfall rechtsmissbräuchlich ist, muss nun er die Gründe für den von ihm behaupteten Rechtsmissbrauch vortragen. Wird hingegen der vorübergehende Einsatz des Arbeitnehmers auf einer für einen zugehenden Beamtenanwärter freizuhaltenden Stelle vom Arbeitgeber nicht mit einer generellen Organisationsentscheidung begründet, ist zu prüfen, ob die Einzelentscheidung, die Stelle nur mit einem Beamten zu besetzen, billigem Ermessen entspricht. Damit muss der Arbeitgeber seine Interessen offenlegen, die Stelle für einen Beamten freihalten zu wollen. Gegen dieses Interesse ist das Interesse des Arbeitnehmers abzuwägen, die ihm nur vorübergehend zugewiesene Tätigkeit dauerhaft auszuüben. Da es sich in dem Fall, dass der Arbeitgeber die Stelle für einen zugehenden Beamtenanwärter freihalten will, nicht um einen Vertretungsfall handelt, ist vom Arbeitgeber kein Kausalzusammenhang zwischen der Tätigkeit des Arbeitnehmers, der vorübergehend eingesetzt worden ist, und der nach dem Zugang vom Beamtenanwärter zu erbringenden Tätigkeit darzulegen. Zu prüfen ist allerdings die Zuordnung des vorübergehenden Einsatzes des Arbeitnehmers zu der freizuhaltenden Stelle im Zeitpunkt der Übertragung. Hierzu hat der Arbeitgeber vorzutragen. An der Zuordnung des vorübergehenden Einsatzes des Angestellten zur freizuhaltenden Stelle zum Zeitpunkt der Übertragungsverfügung können insbesondere dann Zweifel bestehen, wenn der Arbeitgeber die vorübergehenden Übertragungen an mehrere vollbeschäftigte Arbeitnehmer für dieselbe Zeit mit dem Freihalten der Stelle für denselben zugehenden Beamtenanwärter begründet89. Wird allerdings dieselbe höherwertige Tätigkeit mehrmals nur vorübergehend auf denselben Arbeitnehmer wegen Freihaltens der Stelle für einen anderen Beamten übertragen, so steigen die Anforderungen an die Gründe dafür, dass auch die weitere(n) Übertragung(en) wirksam nur vorübergehend vorgenommen wurde(n). Die tatsächliche Beschäftigung des Arbeitnehmers mit der höherwertigen Tätigkeit auf der freigehaltenen Beamtenstelle kann nämlich erweisen, dass die Interessen des Arbeitgebers auch bei Ausübung der Tätigkeit durch den Arbeitnehmer gewahrt sind. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn 87 BAG v. 27.1.2016 – 4 AZR 468/14, NZA 2016, 903. 88 BAG v. 15.5.2002 – 4 AZR 433/01, ZTR 2003, 80. 89 BAG v. 15.5.2002 – 4 AZR 184/01, nv.

760

Natter

Die Grundsätze der Eingruppierung

Rz. 23.72 § 23

der Arbeitnehmer die Tätigkeit über einen langen Zeitraum, möglicherweise sogar über die gesamte Dauer der Ausbildung des zugehenden Beamten ausgeübt hat. Bei einer solchen Sachlage bedarf die erneute nur vorübergehende Übertragung derselben höherwertigen Tätigkeit der näheren Begründung durch den Arbeitgeber90. – Erprobung: Es entspricht zudem grundsätzlich billigem Ermessen nach § 315 BGB, wenn 23.71 der öffentliche Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zum Zwecke seiner Erprobung nach § 24 Abs. 1 BAT eine höherwertige Tätigkeit nur für einen vorübergehenden Zeitraum überträgt91. Die Prüfung der Eignung des Arbeitnehmers für ein neues Aufgabengebiet ist ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers, die höherwertige Tätigkeit nur für einen begrenzten Zeitraum zu übertragen, welches das Interesse des Arbeitnehmers, diese auf Dauer zu behalten, überwiegt92. Zwar lässt sich die zulässige Dauer einer Erprobung nicht schematisch festlegen; sie muss vielmehr die Anforderungen des höherwertigen Arbeitsplatzes und die gegebenen Kenntnisse und Leistungen des Arbeitnehmers angemessen berücksichtigen93. Allerdings bedürfen nach ständiger Rechtsprechung des BAG Erprobungszeiten von mehr als sechs Monaten in jedem Fall einer besonderen Begründung94. Dabei kann sich der besondere Grund für eine diesen Zeitraum überschreitende Erprobungszeit durchaus aus einer besonderen Aufgabenstellung ergeben. Hierzu hat der Arbeitgeber vorzutragen. Ist der Arbeitnehmer vor der Übertragung der höherwertigen Tätigkeit zu Erprobungszwecken bereits für einige Monate in eben diese Tätigkeit eingearbeitet worden, lässt dies das Interesse des Arbeitgebers an der Erprobung des Arbeitnehmers jedoch nicht ohne Weiteres unbillig erscheinen. Eine Einarbeitungszeit ist in aller Regel durch eine Tätigkeit unter Anleitung und Aufsicht geprägt; eine anschließende Erprobungsphase gibt indes Aufschluss darüber, ob der Arbeitnehmer befähigt ist, die ihm übertragenen Aufgaben eigenverantwortlich auszuüben95. Hat der Arbeitnehmer allerdings die ihm nunmehr zur Erprobung übertragenen Aufgaben bereits zuvor ausreichende Zeit wahrgenommen und kann der Arbeitgeber deshalb seine Fähigkeiten für den neuen Arbeitsplatz voll beurteilen, entspricht die nur vorübergehende Übertragung der höherwertigen Tätigkeit nicht billigem Ermessen iSd. § 315 BGB96. – Haushalt: Eine vorübergehende Übertragung höherwertiger Tätigkeiten kann schließlich auch aus Haushaltsgründen gerechtfertigt sein. Nach der Rechtsprechung des BAG97 ist es grundsätzlich hinzunehmen, wenn der öffentliche Arbeitgeber die nur vorübergehende Übertragung höherwertiger Tätigkeiten mit haushaltsrechtlichen Überlegungen, insbesondere mit fehlenden Haushaltsstellen und mit in der haushaltsrechtlichen Situation liegenden Tatsachen begründet. Stehen dem Arbeitgeber nämlich auf Dauer keine Stellen zur Verfügung, muss ihm die Möglichkeit bleiben, vorhandene Stellen, die zeitweise ganz oder teilweise nicht besetzt sind, vorübergehend zu besetzen, zB durch Beschäftigung von Ar90 BAG v. 15.5.2002 – 4 AZR 433/01, ZTR 2003, 80; zu den Anforderungen an die darzulegenden Gründe bei einer mehrfachen Übertragung und der Übertragung auf mehrere Beschäftigte vgl. auch BAG v. 4.7.2012 – 4 AZR 759/10, ZTR 2013, 24. 91 BAG v. 12.6.2002 – 4 AZR 431/01, ZTR 2003, 82. 92 BAG v. 15.5.2002 – 4 AZR 433/01, ZTR 2003, 80. 93 BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 142/01, nv. 94 BAG v. 18.6.1997 – 4 AZR 728/95, AP Nr. 1 zu § 24 BAT-O; v. 15.5.2002 – 4 AZR 184/01, nv.; v. 12.6.2002 – 4 AZR 431/01, ZTR 2003, 82. 95 BAG v. 15.5.2002 – 4 AZR 433/01, ZTR 2003, 80. 96 BAG v. 18.6.1997 – 4 AZR 728/95, AP Nr. 1 zu § 24 BAT-O. 97 BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, NZA 2003, 159; zur Befristung s. jedoch BAG v. 9.3.2011 – 7 AZR 728/09, ZTR 2011, 911.

Natter

761

23.72

§ 23 Rz. 23.72

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

beitnehmern anstelle von Beamten, oder außerplanmäßig bereitstehende Mittel entsprechend zu verwenden. Hat der öffentliche Arbeitgeber zeitweise Stellen zur Verfügung, die höherwertig ausgewiesen sind, kann er diese zur vorübergehenden Übertragung höherwertiger Tätigkeiten nutzen. Dies ist dann der Fall, wenn die Vergütung des vorübergehend mit höherwertigen Tätigkeiten beschäftigten Arbeitnehmers aus einer konkreten Haushaltsstelle erfolgt, die nur befristet bewilligt wurde. In einem solchen Fall ist nämlich anzunehmen, dass sich der Haushaltsgesetzgeber mit den Verhältnissen dieser Stelle befasst und festgestellt hat, dass für die Beschäftigung des Arbeitnehmers auf dem höherwertigen Arbeitsplatz nur ein vorübergehender Bedarf besteht. Dabei wird die Zuordnung des Arbeitnehmers zu einer konkreten, vorübergehend freien Planstelle indes nicht gefordert, solange nur sichergestellt ist, dass die Vergütung des vorübergehend mit höherwertigen Tätigkeiten befassten Arbeitnehmers aus den Mitteln einer nur vorübergehend zur Verfügung stehenden Planstelle erfolgt98.

23.73 – Mitbestimmung des Personalrats: Eine etwaige Verletzung des Mitbestimmungsrechts des Personalrats nach den personalvertretungsrechtlichen Vorschriften bei der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit führt nicht dazu, dass von einer Übertragung der Tätigkeit auf Dauer auszugehen ist mit der Folge, dass der Arbeitgeber zur Zahlung der Vergütung aus der höheren Vergütungsgruppe verpflichtet wäre99. Selbst wenn die Übertragung der höherwertigen Tätigkeit wegen unterlassener oder fehlerhafter Beteiligung des Personalrats unwirksam wäre, so bedeutet dies gerade nicht, dass dem Arbeitnehmer die Tätigkeit auf Dauer übertragen worden ist; im Gegenteil, hieraus würde nur folgen, dass die Übertragung der Tätigkeit unwirksam und deshalb vom Arbeitgeber wieder zu beseitigen wäre.

23.74 – Rückkehr zur früheren Tätigkeit: Entsprach eine vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit nach § 24 BAT nicht billigem Ermessen iSd. § 315 BGB und galt diese Tätigkeit dem Angestellten deshalb als auf Dauer übertragen, so kann dennoch im Einzelfall die Klage des Arbeitnehmers auf Zahlung der Vergütung aus der höheren Vergütungsgruppe unbegründet sein. Dies kann der Fall sein, wenn der Arbeitnehmer im Anschluss an eine vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit längere Zeit mit seinem Einverständnis wieder eine Tätigkeit ausgeübt hat, die für ihn erkennbar seiner vormaligen niedrigeren Eingruppierung entspricht und er auch danach vergütet wurde. Sofern die Übertragung dieser Tätigkeit nicht zeitlich begrenzt war, rechtfertigt dies regelmäßig die Wertung einer konkludenten Änderung seines Arbeitsvertrages dahin, dass die seiner Eingruppierung entsprechende Tätigkeit nunmehr wieder die von ihm auf Dauer auszuübende ist100. In dem vom BAG entschiedenen Fall hatte die Klägerin die niedriger zu bewertende Tätigkeit über einen Zeitraum von sechseinhalb Monaten vorbehaltlos ausgeübt. Demgegenüber dürfte nach dem Urteil des BAG vom 17.4.2002101 die Wahrnehmung der niedriger zu bewertenden Tätigkeit über einen Zeitraum von lediglich etwa einem Monat nicht ausreichen. In dieser Entscheidung hat das BAG ausgeführt, dass eine Unterbrechung zwischen interimistischen Übertragungen jedenfalls dann nichts ändere, wenn die Unterbrechung lediglich etwas mehr als einen Monat gedauert habe.

98 99 100 101

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BAG v. 27.6.2001 – 7 AZR 157/00, ZTR 2002, 187. BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 142/01, nv.; v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, NZA 2003, 159. BAG v. 12.6.2002 – 4 AZR 432/01, nv. BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 142/01, nv.

Natter

Die Grundsätze der Eingruppierung

Rz. 23.78 § 23

4. Die Bewertung der gesamten Tätigkeit Auch nach § 12 Abs. 2 Satz 1 TVöD/§ 12 Abs. 1 Satz 3 TV-L wird – entsprechend der Vorgängerregelung in § 22 Abs. 2 BAT – zur tarifgerechten Eingruppierung die gesamte nicht nur vorübergehend auszuübende Tätigkeit zu bewerten sein.

23.75

Demnach ist der Beschäftigte in der Entgeltgruppe eingruppiert, deren Tätigkeitsmerkmalen die gesamte von ihm nicht nur vorübergehend auszuübende Tätigkeit entspricht.

23.76

Da eine auszuübende Tätigkeit häufig aus mehreren Teiltätigkeiten von unterschiedlichen 23.77 Zeitanteilen besteht, bedeutet dies auf der einen Seite, dass jeder Teil berücksichtigt werden muss. Tätigkeiten mit einem kleineren Zeitanteil müssen demnach ebenso berücksichtigt werden wie Tätigkeiten mit einem größeren Zeitanteil102. Es kommt auch nicht darauf an, welche Tätigkeit überwiegt oder der Gesamttätigkeit das Gepräge gibt103. a) Die für die Eingruppierung unerheblichen Kriterien Auf der anderen Seite steht damit zugleich fest, dass ua. folgende Kriterien für die tarifgerechte Eingruppierung unerheblich sind104: – die Entgeltgruppe, aus der der Beschäftigte tatsächlich sein Entgelt erhält, – die Eingruppierung des Vorgängers auf der Stelle, – die Eingruppierung vergleichbarer Beschäftigter, – die Besoldung vergleichbarer Beamter auf dem gleichen Dienstposten, – die Einschätzung des Vorgesetzten, – Stellenausschreibungen, – Stellenbeschreibungen, – die Qualität der geleisteten Arbeit, – die Ausweisung der Stelle im Haushalts- oder Stellenplan.

102 Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 670. 103 Bauer/Bockholt, Rz. 38. 104 Krasemann, S. 97 ff.; Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 671; Bauer/Bockholt, Rz. 53 ff. Das BAG hat in seinem Urteil vom 27.8.2008 (4 AZR 484/07, ZTR 2009, 211) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Eingruppierung der subjektiven Bewertung des Arbeitgebers entzogen und allein aufgrund objektiver Merkmale nach tariflichen Bestimmungen vorzunehmen ist. Der Inhalt eines Stellenplans sei eingruppierungsrechtlich bedeutungslos. Gleiches gelte für die Einschätzung eines Vorgesetzten des Beschäftigten. Teile ein Arbeitgeber dem Arbeitnehmer das Ergebnis einer Kommission zur Bewertung der Stellenbeschreibung mit, so äußere er damit nur eine Rechtsauffassung. Etwas Anderes ergebe sich auch nicht aus der Bezahlung vergleichbarer Mitarbeiter. Diese Umstände könnten allenfalls für die Begründung eines Anspruchs auf der Grundlage des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes herangezogen werden.

Natter

763

23.78

§ 23 Rz. 23.79

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

b) Der Arbeitsvorgang als maßgebliche Bewertungseinheit

23.79 Unter Geltung des TVöD und des TV-L wird auch an dem Begriff des Arbeitsvorgangs und dem Hälftelungsprinzip105 festgehalten.

23.80 Damit entspricht die gesamte auszuübende Tätigkeit den Tätigkeitsmerkmalen einer Entgeltgruppe, wenn zeitlich mindestens zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die für sich genommen die Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmals oder mehrerer Tätigkeitsmerkmale dieser Entgeltgruppe erfüllen.

23.81 Nach der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 12 Abs. 2 TVöD/§ 12 Abs. 1 TV-L sind Arbeitsvorgänge Arbeitsleistungen (einschließlich Zusammenhangsarbeiten), die bezogen auf den Aufgabenkreis des Beschäftigten zu einem bei natürlicher Betrachtung abgrenzbaren Arbeitsergebnis führen (zB unterschriftsreife Bearbeitung eines Aktenvorgangs, eines Widerspruchs oder Antrags, Betreuung bzw. Pflege einer Person oder Personengruppe, Fertigung einer Bauzeichnung, Erstellung eines EKG, Durchführung einer Unterhaltungs- bzw. Instandsetzungsarbeit). Jeder einzelne Arbeitsvorgang ist als solcher zu bewerten und darf dabei hinsichtlich der Anforderungen zeitlich nicht aufgespalten werden.

23.82 Das bedeutet, dass ein komplexer Bewertungsvorgang vorgenommen werden muss, der sich in den folgenden drei Stufen vollzieht106: – Da die tarifliche Bewertungseinheit der Arbeitsvorgang ist, ist die gesamte auszuübende Tätigkeit des Beschäftigten (Bewertungsgegenstand) zunächst in Arbeitsvorgänge zu zerlegen, dh. es sind die Arbeitsvorgänge festzustellen. – Jeder Arbeitsvorgang ist sodann einzeln zu bewerten. Für jeden Arbeitsvorgang ist mithin der zeitliche Anteil an der Gesamtarbeitszeit zu ermitteln und es ist zu prüfen, welche tariflichen Anforderungen der jeweilige Arbeitsvorgang erfüllt. – Schließlich erfolgt eine Bewertung der gesamten Tätigkeit. Es ist zu prüfen, ob mindestens zur Hälfte (oder in dem jeweils tariflich geforderten zeitlichen Maß) Arbeitsvorgänge anfallen, die einem bzw. mehreren Tätigkeitsmerkmalen entsprechen. aa) Die Feststellung der Arbeitsvorgänge

23.83 Der Begriff des Arbeitsvorgangs wurde durch den 37. Tarifvertrag zur Änderung und Ergänzung des BAT vom 17.3.1975 als einheitliches und allgemein verwertbares rechtliches Kriterium für die tarifliche Bewertung der Tätigkeit von Angestellten eingeführt. Das BAG ging seit dem Jahr 1977 in ständiger Rechtsprechung von folgendem Begriff des Arbeitsvorgangs aus107: Ein Arbeitsvorgang ist eine unter Hinzurechnung von Zusammenhangstätigkeiten und bei Berücksichtigung einer sinnvollen, vernünftigen Verwaltungsübung nach tatsächlichen 105 Zetl, ZMV 2005, 169. 106 Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 373 ff. 107 Grundlegend BAG v. 22.11.1977 – 4 AZR 395/76, AP Nr. 2 zu §§ 22, 23 BAT 1975; hierzu Jesse, ZTR 1987, 193; BAG v. 24.9.1997 – 4 AZR 431/96, AP Nr. 226 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 24.9.1997 – 4 AZR 452/96, AP Nr. 10 zu § 12 AVR Caritasverband; v. 10.12.1997 – 4 AZR 221/96, AP Nr. 237 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 30.9.1998 – 4 AZR 539/97, AP Nr. 257 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 8.9.1999 – 4 AZR 688/98, NZA 2000, 378; v. 29.11.2001 – 4 AZR 736/00, BAGE 100, 35; v. 31.7.2002 – 4 AZR 129/01, BAGE 102, 89; v. 23.9.2009 – 4 AZR 20/08, ZTR 2010, 298; v. 19.5.2010 – 4 AZR 912/08, ZTR 2010, 577; v. 25.8.2010 – 4 AZR 5/09, ZTR 2011, 165; v. 21.3.2012 – 4 AZR 292/10, ZTR 2012, 628.

764

Natter

Die Grundsätze der Eingruppierung

Rz. 23.84b § 23

Gesichtspunkten abgrenzbare und rechtlich selbständig zu bewertende Arbeitseinheit der zu einem bestimmten Arbeitsergebnis führenden Tätigkeit eines Angestellten. Dabei ist es nach dem BAG zwar rechtlich möglich, dass die gesamte Tätigkeit des Angestellten nur einen Arbeitsvorgang bildet, wenn der Aufgabenkreis nicht weiter aufteilbar und nur einer einheitlichen rechtlichen Bewertung zugänglich ist. Tatsächlich trennbare Tätigkeiten mit unterschiedlicher Wertigkeit können jedoch nicht zu einem Arbeitsvorgang zusammengefasst werden. Etwa seit dem Jahr 2012108 definiert das BAG den Begriff des Arbeitsvorgangs in einer sprachlich besser verständlichen Formulierung, zugleich aber auch inhaltlich mit einer neuen Akzentsetzung: Danach ist (für den Arbeitsvorgang) nach wie vor das Arbeitsergebnis das entscheidende Bestimmungskriterium. Dabei kann die gesamte vertraglich geschuldete Tätigkeit einen einzigen Arbeitsvorgang ausmachen. Nur wenn es tatsächlich möglich ist, Tätigkeiten von unterschiedlicher Wertigkeit abzutrennen, werden diese nicht zu einem Arbeitsvorgang zusammengefasst. Wiederkehrende, gleichartige und gleichwertige Bearbeitungen können zusammengefasst werden, nicht aber solche, die tariflich unterschiedlich zu bewerten sind. Dies gilt jedoch nur, wenn die unterschiedlich wertigen Arbeitsleistungen von vornherein auseinandergehalten werden können. Hierfür reicht die theoretische Möglichkeit, einzelne Arbeitsschritte oder Einzelaufgaben verwaltungstechnisch isoliert auf andere Angestellte übertragen zu können, nicht aus. Tatsächlich trennbar sind Arbeitsschritte dann nicht, wenn sich erst im Laufe der Bearbeitung herausstellt, welchen tariflich erheblichen Schwierigkeitsgrad der einzelne Fall aufweist.

23.84

Zudem gibt das BAG der tariflichen Praxis in seiner neueren Rechtsprechung eine klare Prüfungsreihenfolge vor109: Bei der Bestimmung der Arbeitsvorgänge bleibt die tarifliche Wertigkeit der verschiedenen Einzeltätigkeiten oder Arbeitsschritte zunächst außer Betracht. Erst nachdem die Bestimmung des Arbeitsvorgangs erfolgt ist, ist dieser anhand des in Anspruch genommenen Tätigkeitsmerkmals zu bewerten. Im Schrifttum wurde hierzu der Ausdruck geprägt: „Am Anfang steht der Arbeitsvorgang …“110. Dies bedeutet, dass der oben zitierte Grundsatz, tatsächlich trennbare Tätigkeiten mit unterschiedlicher Wertigkeit könnten nicht zu einem Arbeitsvorgang zusammengefasst werden, nur noch mit Einschränkungen gilt. Er gilt nur dann, wenn die unterschiedlich wertigen Arbeitsleistungen von vornherein auseinandergehalten werden können. Eine bloße Trennbarkeit genügt nicht. Es kommt für die tarifliche Bewertung nicht darauf an, ob und inwieweit Einzelaufgaben verwaltungstechnisch verschiedenen Beschäftigten zugewiesen werden könnten, solange sie im Zusammenhang als eine einheitliche Arbeitsaufgabe tatsächlich einer Person übertragen sind111.

23.84a

Bei der Würdigung von sog. Zusammenhangstätigkeiten ist ebenfalls eine gewisse Akzentverschiebung in der Rechtsprechung zu verzeichnen: Zusammenhangstätigkeiten sind solche, die aufgrund ihres engen Zusammenhanges mit bestimmten, insbesondere höherwertigen Aufgaben eines Beschäftigten bei der tariflichen Bewertung zur Vermeidung einer tarifwidri-

23.84b

108 BAG v. 21.3.2012 – 4 AZR 266/10, ZTR 2012, 440; v. 13.11.2013 – 4 AZR 53/12, ZTR 2014, 477; v. 10.12.2014 – 4 AZR 49/13, ZTR 2015, 500; v. 13.5.2015 – 4 AZR 355/13, ZTR 2015, 697; v. 28.2.2018 – 4 AZR 816/16, ZTR 2018, 386. 109 BAG v. 13.5.2015 – 4 AZR 355/13, ZTR 2015, 697; v. 18.5.2015 – 4 AZR 59/13, ZTR 2015, 503; v. 22.2.2017 – 4 AZR 514/16, ZTR 2017, 352; v. 28.2.2018 – 4 AZR 816/16, ZTR 2018, 386; Creutzfeldt, ZTR 2015, 630 (631); Eylert/Kreutzberg-Kowalczyk, ZfA 2019, 320 (339). 110 Richter/Gamisch, RiA 2008, 145. 111 BAG v. 21.8.2013 – 4 AZR 933/11, ZTR 2014, 2011; v. 22.2.2017 – 4 AZR 514/16, ZTR 2017, 352; v. 28.2.2018 – 4 AZR 816/16, ZTR 2018, 386.

Natter

765

§ 23 Rz. 23.84b

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

gen „Atomisierung“ der Arbeitseinheiten nicht abgetrennt werden dürfen, sondern diesen zuzurechnen sind112. Die unter Berücksichtigung der Zusammenhangstätigkeiten zu einem Arbeitsergebnis führende Tätigkeit muss tatsächlich von der übrigen Tätigkeit des Angestellten abgrenzbar und rechtlich selbständig bewertbar sein113.

23.85 Insgesamt betrachtet verstetigen alle diese Akzentverschiebungen den schon seit 1977 zu verzeichnenden Trend, wonach die Rechtsprechung des BAG zur Bildung von großen oder zumindest größeren Arbeitsvorgängen neigt. Diese Entwicklung stößt bei der Arbeitgeberseite auf entschiedene Ablehnung, weil sie im Zusammenhang mit dem sog. Aufspaltungsverbot (s. Rz. 23.90) erhebliche Auswirkungen auf die Eingruppierung der Beschäftigten hat114. Bei sog. Funktionsmerkmalen (zB Arzt, Kassenleiter) ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG die gesamte Tätigkeit des Angestellten in dieser Funktion als einheitlicher Arbeitsvorgang zu bewerten115. Die Tarifvertragsparteien – so das BAG – hätten durch die Vereinbarung des Funktionsmerkmals als Tätigkeitsmerkmal mit für die Gerichte bindender Wirkung bestimmt, dass bei diesen tariflichen Tätigkeitsmerkmalen alle Tätigkeiten tarifrechtlich einheitlich bewertet werden sollen und deshalb auch als ein Arbeitsvorgang anzusehen seien. Derartige tarifliche Regelungen seien rechtlich unbedenklich möglich. Dasselbe gilt, wenn die Tarifvertragsparteien zwar keine Funktionsbezeichnung vereinbart haben, die auszuübende Tätigkeit aber Funktionscharakter hat116. Dann sind alle zu diesem Aufgabenbereich gehörenden Einzeltätigkeiten zu einem Arbeitsvorgang zusammenzufassen117. Die vorstehenden Ausführungen gelten ferner in den Fällen, in denen die Tarifvertragsparteien einer Eingruppierungsnorm Bewertungsbeispiele beigefügt haben. In diesem Fall bildet das Bewertungsbeispiel die Klammer für alle Arbeitsleistungen des Angestellten, die der Beispielstätigkeit dienen118. Abwesenheitsvertretungstätigkeiten, die einem Beschäftigten, zB durch den Geschäftsverteilungsplan auf Dauer übertragen wurden, gehören zur auszuübenden Tätigkeit und sind deshalb in die tarifrechtliche Bewertung einzubeziehen. Diese Vertretungstätigkeiten bilden zumindest einen eigenen Arbeitsvorgang119.

23.86 Ferner geht das BAG davon aus, dass bei Tätigkeiten mit Führungs- und Leitungsaufgaben regelmäßig ein einziger großer Arbeitsvorgang anzunehmen ist. Hier ist entscheidend, dass 112 BAG v. 10.12.2014 – 4 AZR 773/12, ZTR 2015, 646; v. 22.9.2010 – 4 AZR 149/09, AP Nr. 39 zu § 1 TVG Tarifverträge: Arzt. 113 BAG v. 21.3.2012 – 4 AZR 266/10, ZTR 2012, 440; v. 10.12.2014 – 4 AZR 773/12, ZTR 2015, 646; v. 28.2.2018 – 4 AZR 816/16, ZTR 2018, 386. 114 Geyer, ZTR 2017, 287; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, § 12 Rz. 407 ff. 115 BAG v. 7.12.1983 – 4 AZR 405/81, AP Nr. 83 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 15.2.1984 – 4 AZR 264/82, AP Nr. 86 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 27.11.1985 – 4 AZR 436/84, AP Nr. 111 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 25.9.1996 – 4 AZR 200/95, DB 1997, 432; v. 10.12.1997 – 4 AZR 39/96, DB 1998, 1521; v. 29.11.2001 – 4 AZR 736/00, NZA 2002, 1288; v. 21.2.2007 – 4 AZR 242/06, ZTR 2007, 616. 116 Vgl. BAG v. 11.2.2004 – 4 AZR 42/03, BAGE 109, 308; v. 7.5.2008 – 4 AZR 303/07, ZTR 2008, 668; zu Erzieherinnen und Erziehern vgl. etwa BAG v. 24.3.2010 – 4 AZR 721/08, ZTR 2010, 412; zur Gleichstellungsbeauftragten, zum Sicherheitsmeister und zum Tierschutzbeauftragten s. BAG v. 25.8.2010 – 4 AZR 5/09, ZTR 2011, 165 mwN. 117 BAG v. 16.10.1985 – 4 AZR 149/84, AP Nr. 108 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 1.4.1987 – 4 AZR 397/86, AP Nr. 136 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 29.1.1992 – 4 AZR 217/91, ZTR 1992, 200; v. 1.3.1995 – 4 AZR 8/95, AP Nr. 19 zu §§ 22, 23 BAT Sozialarbeiter. 118 BAG v. 15.6.1994 – 4 AZR 327/93, AP Nr. 9 zu §§ 22, 23 BAT Krankenkassen; v. 26.7.1995 – 4 AZR 280/94, DB 1996, 1188. 119 BAG v. 15.10.1986 – 4 AZR 548/85, ZTR 1987, 93.

766

Natter

Die Grundsätze der Eingruppierung

Rz. 23.88 § 23

alle Aufgaben der Leitungstätigkeit einem Arbeitsergebnis dienen und deshalb einen einzigen großen Arbeitsvorgang bilden120. Andere Arbeitsvorgänge, zB zusätzliche Sachbearbeitertätigkeiten, sind demgegenüber von der Leitungsaufgabe zu trennen. Aber auch bei Tätigkeiten ohne Leitungsfunktion und bei Sachbearbeitertätigkeiten gelangt das BAG in der letzten Zeit häufiger zu größeren Arbeitsvorgängen. So machen in der Tätigkeit eines Sozialarbeiters nicht jeder einzelne Fall, sondern regelmäßig alle Fälle den Arbeitsvorgang im Tarifsinn aus, es sei denn, dem Sozialarbeiter sind voneinander abgrenzbare Personenkreise zur Betreuung zugewiesen121. Auch in der Tätigkeit einer gerichtlichen Geschäftsstellenverwalterin macht der Vorgang der Aktenverwaltung nach Auffassung des BAG mit allen Zusammenhangstätigkeiten einen (großen) Arbeitsvorgang von 78 % aus122. bb) Die Bewertung der Arbeitsvorgänge Nach der Ermittlung der Arbeitsvorgänge ist jeder einzelne Arbeitsvorgang daraufhin zu überprüfen, welche der in den Tätigkeitsmerkmalen der Vergütungs-/Entgeltordnung festgelegten Anforderungen er erfüllt und welchen zeitlichen Umfang seine Erledigung in Anspruch nimmt.

23.87

(1) Die Erfüllung der Tätigkeitsmerkmale der Entgeltordnung Auch unter der Geltung der neuen Entgeltordnungen ist bei der Überprüfung, welche der in den Tätigkeitsmerkmalen der Vergütungsordnung festgelegten Anforderungen der Arbeitsvorgang erfüllt, zu unterscheiden zwischen: – Den Anforderungen, die sich aus der auszuübenden Tätigkeit ergeben, wie zB schwierige Tätigkeiten, gründliche Fachkenntnisse, selbständige Leistungen (hierzu gehört auch die Heraushebung der Tätigkeit aus einer niedrigeren Vergütungsgruppe, bspw. das Herausheben durch besondere Schwierigkeit und Bedeutung). Bei der Bewertung ist stets der Aufbau der in Frage kommenden Tätigkeitsmerkmale zu beachten. Dabei ist nach der ständigen Rechtsprechung des BAG bei Aufbaufallgruppen, dh. Fallgruppen, die in der Weise aufeinander aufbauen, dass eine Anforderung des niedriger bewerteten Tätigkeitsmerkmals in einem quantitativ höheren Maße gegeben sein muss oder dass allein eine zusätzliche Anforderung gestellt wird, zunächst zu prüfen, ob die allgemeinen Anforderungen der niedrigeren Vergütungsgruppe erfüllt sind und anschließend, ob die Merkmale der darauf aufbauenden höheren Vergütungsgruppe vorliegen123.

120 BAG v. 22.10.1986 – 4 AZR 568/85, AP Nr. 126 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 19.4.1989 – 4 AZR 39/89, AP Nr. 146 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 14.8.1991 – 4 AZR 25/91, NZA 1992, 285; v. 29.4.1992 – 4 AZR 485/91, AP Nr. 162 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 24.3.1993 – 4 AZR 298/92, NZA 1993, 706; v. 23.10.1996 – 4 AZR 270/95, AP Nr. 220 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 22.4.1998 – 4 AZR 20/97, AP Nr. 240 zu §§ §§ 22, 23 BAT 1975; v. 4.7.2012 – 4 AZR 673/10, ZTR 2013, 83; v. 12.12.2012 – 4 AZR 199/11, ZTR 2013, 385. 121 BAG v. 13.5.2015 – 4 AZR 355/13, ZTR 2015, 697; v. 17.5.2017 – 4 AZR 798/14, ZTR 2017, 593; Creutzfeldt, ZTR 2015, 630, 632. 122 BAG v. 28.2.2018 – 4 AZR 816/16, ZTR 2018, 386; hierzu Natter, ZTR 2018, 623; anders noch die Vorinstanz Sächsisches LAG v. 2.11.2016 – 3 Sa 216/16. 123 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 221/96, AP Nr. 237 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 6.6.2007 – 4 AZR 505/06, ZTR 2008, 156; v. 7.5.2008 – 4 AZR 303/07, ZTR 2008, 668; v. 23.2.2011 – 4 AZR 313/09, AP BGB § 611 Kirchendienst Nr. 62; v. 21.3.2012 – 4 AZR 292/10, ZTR 2012, 628; v. 18.4.2012 – 4 AZR 441/10, ZTR 2012, 703.

Natter

767

23.88

§ 23 Rz. 23.88

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

– Und den Voraussetzungen in der Person des Beschäftigten; hierunter sind ua. der Nachweis einer bestimmten Ausbildung oder die Erfüllung von Zeiten einer bestimmten Tätigkeit zu verstehen. Die in den Tätigkeitsmerkmalen geforderten personenbezogenen Anforderungen müssen unabhängig von der auszuübenden Tätigkeit erfüllt sein124. – Im Übrigen haben die Tarifvertragsparteien in den Entgeltordnungen teilweise gleichzeitig eine Alternative zu der geforderten Ausbildung vereinbart. Gleichgestellt werden nämlich zum Teil „sonstige Beschäftigte, die aufgrund gleichwertiger Fähigkeiten und ihrer Erfahrungen entsprechende Tätigkeiten ausüben“. (2) Die zusammenfassende Beurteilung aller Arbeitsvorgänge im Rahmen der Bewertung

23.89 § 12 Abs. 2 Satz 3 TVöD/§ 12 Abs. 1 Satz 5 TV-L bestimmt für den Fall, dass die Erfüllung einer Anforderung in der Regel erst bei Betrachtung mehrerer Arbeitsvorgänge festgestellt werden kann (zB vielseitige Fachkenntnisse), dass diese Arbeitsvorgänge für die Feststellung, ob diese Anforderung erfüllt ist, insoweit zusammen zu beurteilen sind. Diese Bestimmung trägt der Tatsache Rechnung, dass die Vergütungsordnung einige Tätigkeitsmerkmale mit Anforderungen enthält (zB gründliche Fachkenntnisse, gründliche und vielseitige Fachkenntnisse, gründliche umfassende Fachkenntnisse, besondere Leistungen, erhebliche Heraushebung durch das Maß der Verantwortung, besonders verantwortungsvolle Tätigkeiten), die nach der Natur der Sache bzw. nach ihrem Wesen bei der Erledigung nur eines Arbeitsvorgangs oder mehrerer gleichartiger Arbeitsvorgänge nicht erfüllt werden können. Im Gegenteil: Diese Anforderungen werden häufig erst bei der Betrachtung mehrerer verschiedener Arbeitsvorgänge, insbesondere aus unterschiedlichen Rechts- bzw. Fachgebieten, erfüllt. (3) Das Aufspaltungsverbot

23.90 Bei der Prüfung der Frage, ob in dem betreffenden Arbeitsvorgang die Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmals oder mehrerer Tätigkeitsmerkmale erfüllt sind, ist das sog. Aufspaltungsverbot zu beachten. Nach der Protokollerklärung Nr. 1 Satz 2 zu § 12 Abs. 2 TVöD/§ 12 Abs. 1 TV-L ist jeder einzelne Arbeitsvorgang als solcher zu bewerten und darf hinsichtlich der Anforderungen zeitlich nicht aufgespalten werden. Diese Tarifnorm kann in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Sie ist letztlich die Ursache für den seit dem Jahr 1975 anhaltenden Meinungsstreit über den Begriff des Arbeitsvorgangs125.

23.90a Bis zum Jahr 1986 nahm das BAG an, dass in dem jeweiligen Arbeitsvorgang im jeweils tariflich geforderten Maß (zB mindestens zu einem Fünftel, mindestens zu einem Drittel bzw. mindestens zur Hälfte) heraushebende (qualifizierende) Tätigkeiten vorliegen müssten126. Diese Rechtsprechung gab das BAG in Anbetracht des tariflichen Aufspaltungsverbots in der Grundsatzentscheidung vom 19.3.1986 auf127. Das BAG nimmt seitdem in ständiger Rechtsprechung an, es sei gerade nicht erforderlich, dass die für die Höherwertigkeit maßgebenden Einzeltätigkeiten innerhalb des Arbeitsvorgangs in dem zeitlich geforderten Maß vorliegen. Es ist auch nicht notwendig, dass die qualifizierenden Tätigkeiten den jeweiligen Arbeitsvorgang 124 Bauer/Bockholt, Rz. 177. 125 Krasemann, S. 476. 126 BAG v. 28.3.1979 – 4 AZR 446/77, AP Nr. 19 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 1.9.1982 – 4 AZR 1134/79, AP Nr. 68 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 21.3.1984 – 4 AZR 76/82, AP Nr. 89 zu §§ 22, 23 BAT 1975; kritisch hierzu Jesse, ZTR 1987, 193 ff., 198 ff. 127 BAG v. 19.3.1986 – 4 AZR 642/84, AP Nr. 116 zu §§ 22, 23 BAT 1975; hierzu Neumann, ZTR 1987, 41 ff. und Clemens, ZTR 1987, 74 ff.

768

Natter

Die Grundsätze der Eingruppierung

Rz. 23.91 § 23

prägen. Vielmehr genügt es, wenn in dem betreffenden Arbeitsvorgang qualifizierende Tätigkeiten in einem rechtserheblichen Ausmaß bzw. – so die Formulierung zuletzt – in einem rechtlich nicht ganz unerheblichen Ausmaß vorliegen128. Bislang hat es das BAG nicht für geboten erachtet, den unbestimmten Rechtsbegriff des rechtserheblichen Ausmaßes quantitativ (zeitlich) im Sinne eines bestimmten Prozentsatzes zu konkretisieren. Vielmehr wird eine qualitative Komponente benannt, nach der ein rechtserhebliches Ausmaß an qualifizierenden Tätigkeiten jedenfalls dann bejaht wird, wenn ohne sie ein sinnvoll verwertbares Arbeitsergebnis nicht erzielt werden kann129. Dies kann und wird in vielen Fällen auch bereits bei einem sehr geringen zeitlichen Anteil der Fall sein, so dass die quantitative Komponente schon deshalb kaum noch eine Rolle spielt. Bloße „Spurenelemente“ von heraushebenden Tätigkeiten genügen aber nicht130.

23.90b

Zu berücksichtigen ist ferner, dass das BAG das Vorliegen eines rechtserheblichen Ausmaßes 23.90c an qualifizierenden Tätigkeiten innerhalb des Arbeitsvorgangs nicht zwingend an deren tatsächliche Erbringung knüpft, sondern ein allgemeines „Bereithaltenmüssen“ im Falle der Eingruppierung eines Außendienstmitarbeiters im Bezirklichen Ordnungsdienst Hamburg in die Entgeltgruppen für die allgemeinen Tätigkeitsmerkmale für den Verwaltungsdienst (Teil I der Entgeltordnung zum TV-L) bei dem Tarifmerkmal „selbständige Leistungen“ hat ausreichen lassen. So hat es in der Entscheidung vom 21.3.2012 ausgeführt, dass das Vorliegen eines rechtserheblichen Ausmaßes nicht davon abhänge, ob nach dem Ende der Arbeitseinheit festgestellt werde, dass bei dem Erzielen des Arbeitsergebnisses die höchste qualitative Anforderung – „selbständige Leistungen“ – auch tatsächlich abgerufen worden sei. Entscheidend sei, dass zu Beginn der Tätigkeit die Fähigkeit, dieser qualitativen Anforderung gerecht zu werden, allgemein bereitgehalten werden müsse, weil sie nach der arbeitsvertraglichen Aufgabenstellung jederzeit, wenn auch nicht in vorhersehbarem Umfang, eingesetzt werden müsse131. Inwieweit sich diese Rechtsprechung auf andere Fallkonstellationen, insbesondere auf andere Tarifmerkmale, übertragen lässt, ist bislang nicht abschließend geklärt. Eine Übertragbarkeit dieser Rechtsprechung über die entschiedene Fallkonstellation hinaus liegt indes nahe. Die Auswirkungen der Rechtsprechung des BAG zum Begriff des Arbeitsvorgangs und zum Verständnis des tariflichen Aufspaltungsverbots auf die Eingruppierung der Beschäftigten sind beträchtlich. Liegt ein großer Arbeitsvorgang vor, der mindestens die Hälfte der Gesamtarbeitszeit der/des Beschäftigten ausmacht, und sieht die Entgeltordnung für die Tätigkeit bezüglich eines qualifizierenden Merkmals nach zeitlich gestaffelten Anteilen (etwa mindestens zu einem Fünftel, mindestens zu einem Drittel bzw. mindestens zur Hälfte) Aufbauentgeltgruppen vor, dann führt der Umstand, dass das BAG innerhalb des Arbeitsvorgangs qualifizierende Tätigkeiten in einem rechtlich nicht ganz unerheblichem Ausmaß zur Erfüllung des qualifizierenden Merkmals ausreichen lässt, zu dem Ergebnis, dass bereits sehr geringe zeitliche Anteile an qualifizierenden Tätigkeiten132 zum Erreichen der höchsten Aufbauentgelt128 BAG v. 28.6.1989 – 4 AZR 287/89, ZTR 1989, 479; v. 20.10.1993 – 4 AZR 45/93, NZA 1994, 560; v. 17.5.2017 – 4 AZR 798/14, ZTR 2017, 593; v. 28.2.2018 – 4 AZR 816/16, ZTR 2918, 386; Creutzfeldt, ZTR 2015, 630 (634); Eylert/Kreutzberg-Kowalczyk, ZfA 2019, 320 (355); ablehnend Krasemann, S. 484 f. 129 BAG v. 21.3.2012 – 4 AZR 266/10, ZTR 2012, 440; v. 24.2.2016 – 4 AZR 485/13, ZTR 2016, 488; v. 28.2.2018 – 4 AZR 816/16, ZTR 2018, 386. 130 Creutzfeldt, ZTR 2015, 630, 634. 131 BAG v. 21.3.2012 – 4 AZR 266/10, ZTR 2012, 440. 132 Und darüber hinaus möglicherweise allein schon das allgemeine „Bereithaltenmüssen“ der Fähigkeit, solche zu erbringen.

Natter

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23.91

§ 23 Rz. 23.91

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

gruppe führen. Die Entgeltgruppen, die bspw. ein „mindestens ein Fünftel“ oder „mindestens ein Drittel“ an qualifizierenden Tätigkeiten vorsehen, „laufen leer“ bzw. werden „übersprungen“133. (4) Die Feststellung des zeitlichen Anteils

23.92 Steht die tarifliche Bewertung der von dem Beschäftigten auszuübenden Arbeitsvorgänge fest, ist der zeitliche Anteil eines jeden Arbeitsvorgangs in Bezug auf die Gesamtarbeitszeit festzustellen. Der zeitliche Anteil wird für jeden einzelnen Arbeitsvorgang regelmäßig in einem Prozentsatz der Gesamtarbeitszeit angegeben. Üblicherweise müssen die Zeitanteile über einen längeren Zeitraum hinweg (meist sechs Monate) festgestellt werden. Zu beachten ist, dass es sich – anders als bei der Feststellung der Arbeitsvorgänge134 – bei der Festlegung der zeitlichen Anteile nicht um eine Rechtsfrage, sondern um feststellbare Tatsachen handelt, die von den Parteien im Streitfall unstreitig gestellt werden können135. cc) Die Bewertung der gesamten Tätigkeit

23.93 Abschließend wird die gesamte Tätigkeit auf der Grundlage der Ergebnisse zu aa) und bb) bewertet. Es ist also per Addition zu prüfen, ob insgesamt mindestens zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die einem Tätigkeitsmerkmal hinsichtlich der Anforderungen entsprechen und deshalb diesem Tätigkeitsmerkmal endgültig zugeordnet werden können. Zu beachten ist jedoch, dass der tariflich geforderte Anteil nach § 12 Abs. 2 Satz 2 TVöD/§ 12 Abs. 1 Satz 4 TV-L nur in der Regel 50 % beträgt. Ist in einem Tätigkeitsmerkmal ein hiervon abweichendes zeitliches Maß bestimmt, so gilt nach § 12 Abs. 2 Satz 5 TVöD/§ 12 Abs. 1 Satz 7 TV-L dieses. Ein abweichendes zeitliches Maß ist in zahlreichen Entgeltgruppen der Entgeltordnungen bestimmt (zB Entgeltgruppen 8 und 10 des Teils I der Entgeltordnung zum TV-L, Entgeltgruppen 6 und 8 des Teils II Abschnitt 12.1 der Entgeltordnung zum TV-L). 5. Die Lücke in der Vergütungs- bzw. Entgeltordnung

23.94 Zwar verfolgen die Tarifvertragsparteien mit der Schaffung einer Entgeltordnung die Absicht, grundsätzlich alle Tätigkeiten des öffentlichen Dienstes zu erfassen und damit erschöpfend zu regeln. Wegen der großen Zahl und der Vielfalt der Arbeitsplätze ist es den Tarifvertragsparteien jedoch tatsächlich nicht möglich, für jede Tätigkeit eines Arbeitnehmers ein passendes Tätigkeitsmerkmal oder eine entsprechende Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe zu tarifieren. Damit sind Regelungslücken unvermeidlich; allerdings ist Folgendes zu beachten:

23.95 Was das Verhältnis zu den verschiedenen Teilen der Entgeltordnungen angeht, so enthalten die Vorbemerkungen zu den Entgeltordnungen die maßgeblichen Abgrenzungsregeln: So bestimmt Ziff. 1 Abs. 2 Satz 1 der Vorbemerkungen zu allen Teilen der Entgeltordnung zum TV-L, dass für Beschäftigte, deren Tätigkeiten in besonderen Tätigkeitsmerkmalen des Teils II aufgeführt sind, nur die Tätigkeitsmerkmale dieses Teils gelten. Abs. 3 Satz 1 legt zudem fest, dass für Beschäftigte, deren Tätigkeit nicht in Teil II aufgeführt ist, die Tätigkeitsmerkmale des Teils I gelten. Dies gilt für die Tätigkeitsmerkmale der Entgeltgruppen 2 bis 12 des Teils I allerdings nur dann, sofern die auszuübende Tätigkeit einen unmittelbaren Bezug zu den eigentlichen Aufgaben der betreffenden Verwaltungsdienststelle hat. Kann somit ein Arbeitsvorgang 133 Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, § 12 Rz. 409; Geyer, ZTR 2017, 287; Natter/Sänger, ZTR 2019, 675. 134 BAG v. 19.2.2003 – 4 AZR 158/02, ZTR 2003, 511. 135 Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 684.

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Natter

Die Grundsätze der Eingruppierung

Rz. 23.98 § 23

keinem speziellen Tätigkeitsmerkmal zugeordnet werden, ist zu prüfen, ob er den Anforderungen eines allgemeinen Merkmals entspricht. Die allgemeinen Tätigkeitsmerkmale haben nach dem Willen der Tarifvertragsparteien eine Auffangfunktion und können daher auch für solche Tätigkeiten herangezogen werden, die nicht zu den eigentlich behördlichen oder herkömmlichen Verwaltungsaufgaben gehören136. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien die Tätigkeit eines jeden Beschäftigten in ihren Regelungswerken erfassen wollten. Deshalb kann im Bereich des TVöD/TV-L eine Tariflücke nur dann angenommen werden, wenn die zu beurteilende Tätigkeit keinen unmittelbaren Bezug zu den eigentlichen Aufgaben der betreffenden Dienststellen, Behörden und Institutionen hat. Erfüllt die Tätigkeit eines Arbeitnehmers im Geltungsbereich eines Tarifvertrages keines der in der tariflichen Vergütungsordnung geregelten Tätigkeitsmerkmale, fehlt ein solches also, handelt es sich um eine Tariflücke. Eine solche Tariflücke kann nur unter bestimmten Voraussetzungen durch die Arbeitsgerichte geschlossen werden. Die Befugnis zur Schließung einer Regelungslücke hängt zunächst davon ab, ob es sich um eine bewusste oder unbewusste Tariflücke handelt.

23.96

Haben die Tarifpartner bewusst eine Regelungslücke in Kauf genommen, liegt eine bewusste Tariflücke vor. Dann ist es den Gerichten aufgrund der Tarifautonomie der Tarifpartner nicht gestattet, diese Lücke durch Auslegung zu füllen. Denn die Gerichte sind nicht befugt, gegen den Willen der Tarifvertragsparteien ergänzende tarifliche Regelungen zu „schaffen“ oder eine schlechte Verhandlungsführung einer Tarifvertragspartei dadurch zu prämieren, dass ihr Vertragshilfe geleistet wird137. Eine bewusste Tariflücke liegt bspw. vor, wenn die Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Frage bewusst ungeregelt gelassen haben und diese Absicht in einer entsprechenden Auslassung ihren Ausdruck gefunden hat138 oder wenn die Tarifvertragsparteien für eine Beschäftigtengruppe zwar spezielle Eingruppierungsnormen vereinbart, diese aber nur auf eine bestimmte Anzahl von Vergütungsgruppen beschränkt haben139. Der umfassende Charakter der Entgeltordnungen spricht indes im Regelfall gegen die Annahme einer bewussten Tariflücke140.

23.97

Bei der unbewussten Tariflücke handelt es sich um eine Regelungslücke in der Entgeltordnung, die nicht aufgrund einer bewussten Entscheidung der Tarifvertragsparteien zustande gekommen ist141. Der Grund hierfür kann entweder in einem unbewussten Unterlassen der Tarifpartner liegen oder darin, dass eine neue Beschäftigtengruppe entstanden ist, für die noch keine speziellen Eingruppierungsnormen vereinbart wurden. Nach alledem ist eine unbewusste Tariflücke eine Regelungslücke, die entgegen dem von den Tarifpartnern angestrebten universalen Charakter und dem Vollständigkeitsprinzip entstanden ist und bei der erkennbar ist,

23.98

136 BAG v. 6.3.1996 – 4 AZR 771/94, AP Nr. 210 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 18.3.2015 – 4 AZR 702/12, ZTR 2015, 393; v. 18.11.2015 – 4 ABR 24/14, AP Nr. 27 zu § 1 TVG Tarifverträge: DRK. 137 BAG v. 24.9.2008 – 4 AZR 642/07, ZTR 2009, 81; v. 23.2.2011 – 4 AZR 214/09, ZTR 2011, 489. 138 BAG v. 29.8.1984 – 4 AZR 309/82, AP Nr. 93 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 10.10.1984 – 4 AZR 411/82, AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 23.1.1985 – 4 AZR 14/84, AP Nr. 99 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 11.9.1985 – 4 AZR 141/84, AP Nr. 106 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 28.1.1987 – 4 AZR 147/86, AP Nr. 130 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 22.4.2009 – 4 AZR 163/08, nv. 139 Krasemann, S. 189. 140 BAG v. 11.9.1985 – 4 AZR 141/84, AP Nr. 106 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 21.10.1992 – 4 AZR 88/92, NZA 1993, 379; v. 5.5.1999 – 4 AZR 313/98, NZA 2000, 53. 141 Krasemann, S. 192.

Natter

771

§ 23 Rz. 23.98

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

dass sie nicht gewollt war. Unbewusste Tariflücken können nach ständiger Rechtsprechung des BAG von den Arbeitsgerichten unter Beachtung der Auffassung der Tarifpartner ausgelegt und damit ausgefüllt werden142. Voraussetzung ist allerdings, dass sich aus dem Tarifvertrag selbst hinreichende Anhaltspunkte zum einen dafür ergeben, dass die Tarifvertragsparteien beabsichtigt hatten, eine vollständige Regelung für alle im Geltungsbereich des Tarifvertrages ausgeübten Tätigkeiten zu schaffen. Zum anderen müssen die Tätigkeitsmerkmale der geltenden Entgeltordnung in ihrer Bewertung eindeutige Hinweise darauf ergeben, wie die Tarifvertragsparteien die nicht berücksichtigte Tätigkeit bewertet hätten143. Da darauf abzustellen ist, wie in der Entgeltordnung artverwandte und vergleichbare Tätigkeiten bewertet werden, ist eine unbewusste Tariflücke stets durch die analoge Anwendung von anderen speziellen Eingruppierungsnormen zu schließen. Zu beachten ist, dass zur Lückenschließung keine Eingruppierungsnormen herangezogen werden dürfen, die zwischen anderen Tarifvertragsparteien vereinbart wurden144.

IV. Die Höhergruppierung 23.99 Grundlage der Eingruppierung ist die vom Beschäftigten auf Dauer auszuübende Tätigkeit, mithin die Tätigkeit, die ihm vom Arbeitgeber wirksam kraft Direktionsrechts übertragen wurde. Dabei erstreckt sich das Direktionsrecht des Arbeitgebers grundsätzlich auf alle Tätigkeiten, die die Merkmale der Entgeltgruppe erfüllen, in die der Beschäftigte eingestuft wurde. Der Beschäftigte hat dann einen Anspruch auf Zahlung einer Vergütung aus der Entgeltgruppe, in die er eingruppiert ist.

23.100 Höhergruppierung bedeutet demgegenüber die Zuordnung des Beschäftigten zu einer höheren Entgeltgruppe. Sie begründet einen entsprechenden Anspruch des Beschäftigten auf Bezahlung aus dieser höheren Entgeltgruppe145. Kennzeichnend für die Höhergruppierung ist, dass der Ist-Zustand der Vergütung nicht dem tariflichen Soll-Zustand entspricht, sondern hinter ihm zurückbleibt. 1. Die Ursachen der Höhergruppierung

23.101 Für die Abweichung des Ist-Zustandes vom Soll-Zustand kann es unterschiedliche Ursachen geben: a) Die Zuweisung einer höherwertigen Tätigkeit durch den Arbeitgeber

23.102 So kann der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer bspw. auf Dauer Tätigkeiten zugewiesen haben, die den Merkmalen einer höheren Entgeltgruppe entsprechen. Mit dieser Zuweisung der höherwertigen Tätigkeiten ändert sich naturgemäß der Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers. Da die Zuweisung einer tariflich höher zu bewertenden Tätigkeit nicht mehr vom Direktionsrecht des Arbeitgebers gedeckt ist, ist hierfür eine Vertragsänderung erforderlich. 142 BAG v. 24.9.1986 – 4 AZR 482/85, AP Nr. 123 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 26.8.1987 – 4 AZR 146/87, AP Nr. 138 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 18.5.1988 – 4 AZR 775/87, AP Nr. 145 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 143 BAG v. 24.9.2008 – 4 AZR 642/07, ZTR 2009, 81; v. 23.2.2011 – 4 AZR 214/09, ZTR 2011, 489; 18.11.2015 – 4 ABR 24/14, AP Nr. 27 zu § 1 TVG Tarifverträge: DRK. 144 BAG v. 23.1.1985 – 4 AZR 14/84, AP Nr. 99 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 145 Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 749.

772

Natter

Die Höhergruppierung

Rz. 23.106 § 23

Diese Vertragsänderung kommt in der Regel dadurch zustande, dass sich die Parteien des Arbeitsverhältnisses auf die dauerhafte Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit verständigen oder der Arbeitnehmer die neue, auf Dauer zugewiesene, höherwertige Tätigkeit vorbehaltlos ausübt. Die dauerhafte Übertragung der höherwertigen Tätigkeit führt zu einer Vertragsänderung; die Eingruppierung in die höhere Entgeltgruppe erfolgt dann automatisch kraft Tarifrechts146. Die Auswirkungen auf die Stufenzuordnung des Beschäftigten richten sich nach § 17 Abs. 4 Sätze 1 bis 3 TVöD/TV-L. b) Das Hineinwachsen in eine höherwertige Tätigkeit ohne Zutun des Arbeitgebers Eine Höhergruppierung kann auch ohne Zutun des Arbeitgebers automatisch eintreten, und 23.103 zwar dadurch, dass sich die auszuübende Tätigkeit „aus sich heraus“ so ändert, dass sie den Tätigkeitsmerkmalen einer höheren Entgeltgruppe entspricht147. Diese Fallgestaltung wird durch § 13 TVöD/TV-L unter der Überschrift „Eingruppierung in besonderen Fällen“ erfasst. Auf die Ausführungen unter Rz. 23.46 ff., wird insoweit verwiesen. c) Die billigem Ermessen nach § 315 BGB nicht entsprechende vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit nach §§ 14 TVöD/TV-L Zu einer Abweichung des Ist-Zustandes vom tariflichen Soll-Zustand kann es auch dadurch 23.104 kommen, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer nach § 14 TVöD/TV-L nur vorübergehend eine höherwertige Tätigkeit übertragen hat und diese Übertragung billigem Ermessen nach § 315 BGB nicht entspricht. In diesem Fall gilt die Übertragung der Tätigkeit – sofern nicht nur die zeitliche Dauer anders bestimmt wird – nicht nur als vorübergehend, sondern als auf Dauer vorgenommen148. d) Die falsche Eingruppierung des Arbeitnehmers Letztlich kann es vorkommen, dass die vom Arbeitnehmer nach dem Inhalt des Arbeitsvertrages auszuübende Tätigkeit nicht seiner Eingruppierung entspricht, dass er also falsch – weil zu niedrig – eingruppiert wurde. In diesem Fall hat der Arbeitgeber die vom Arbeitnehmer zu verrichtende Tätigkeit irrtümlich zu niedrig bewertet. Da der Arbeitgeber durch die Angabe der Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe im Arbeitsvertrag jedoch nur zum Ausdruck bringt, dass er das Entgelt gewähren will, das sich bei Anwendung der tariflichen Bestimmungen ergibt149, hat der Arbeitnehmer aufgrund der Tarifautomatik einen Anspruch auf Bezahlung der Vergütung aus der zutreffenden höheren Entgeltgruppe.

23.105

2. Der „Anspruch auf Höhergruppierung“ außerhalb der Tarifautomatik Von den zuvor beschriebenen Fällen der Abweichung des Ist-Zustandes vom tariflichen SollZustand zu unterscheiden sind die Fälle, in denen sich ein Anspruch des Arbeitnehmers auf Vergütung/Entgelt aus einer höheren Entgeltgruppe nicht aufgrund der Tarifautomatik nach §§ 12, 13 TVöD/TV-L, sondern aus anderen Rechtsgrundlagen ergibt. 146 Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr, BAT, § 22 Rz. 58; Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 749. 147 Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 749. 148 BAG v. 15.5.2002 – 4 AZR 433/01, ZTR 2003, 80. 149 BAG v. 9.12.1999 – 4 AZR 291/98, ZTR 2000, 460.

Natter

773

23.106

§ 23 Rz. 23.107

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

a) Der Anspruch auf ein höheres Entgelt aus dem Arbeitsvertrag

23.107 Die Parteien können ohne Weiteres im Arbeitsvertrag vereinbaren, dass für die Entgeltansprüche des Arbeitnehmers eine höhere als die sich aus der Tarifautomatik ergebende Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe maßgebend sein soll. Da derartige vertragliche Ansprüche nur durch übereinstimmende Willenserklärungen der Vertragsparteien begründet werden können, ist hier stets genau zu prüfen, ob eine bestimmte Äußerung des öffentlichen Arbeitgebers tatsächlich als rechtsgeschäftliches Angebot einer bestimmten Vergütung/eines bestimmten Entgelts oder lediglich als tatsächliche Mitteilung über das Ergebnis der von ihm vorgenommenen tariflichen Bewertung zu verstehen ist. Bei der hierbei erforderlichen Auslegung der Willenserklärungen des Arbeitgebers nach den §§ 133, 157 BGB ist zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes grundsätzlich alle Beschäftigten tarifgerecht behandeln und deshalb grundsätzlich keine übertarifliche Bezahlung, sondern nur das gewähren will, was dem Arbeitnehmer tariflich zusteht150. Wegen der Einzelheiten wird auf die Ausführungen unter Rz. 23.36 ff., verwiesen. b) Der „Anspruch auf Höhergruppierung“ aufgrund des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes

23.108 Ein Höhergruppierungsanspruch kann auch auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gestützt werden. Allerdings ist dies nur unter besonderen Voraussetzungen erfolgversprechend. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG schützt der Gleichbehandlungsgrundsatz den Arbeitnehmer allein gegenüber der Gestaltungsmacht des Vertragsarbeitgebers, bindet demnach jeden Träger allein in seinem Zuständigkeitsbereich151. Aus diesem Grund kann sich ein Beschäftigter nicht mit Erfolg auf die Eingruppierung vergleichbarer Beschäftigter bei einem anderen Arbeitgeber berufen.

23.109 Im Übrigen greift der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz nach ständiger Rechtsprechung des BAG wegen seines Schutzcharakters gegenüber der Gestaltungsmacht des Arbeitgebers nur dort ein, wo dieser durch eigenes gestaltendes Verhalten ein eigenes Regelwerk bzw. eine eigene Ordnung schafft. Nicht anwendbar ist der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz hingegen in den Fällen des bloßen Normenvollzugs. Deshalb wird ein Anspruch auf „Gleichbehandlung im Irrtum“ verneint152. Ist der Beschäftigte aufgrund der für ihn geltenden Tarifautomatik mithin richtig eingruppiert, entspricht also der Ist-Zustand seiner Eingruppierung dem tariflichen Soll-Zustand, so kann er sich in der Regel nicht darauf berufen, dass vergleichbare Arbeitnehmer ggf. irrtümlich eine höhere Vergütung erhalten.

23.110 Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet sowohl die sachfremde Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer gegenüber anderen Arbeitnehmern in vergleichbarer Lage als auch die sachfremde Differenzierung zwischen Arbeitnehmern einer bestimmten Ordnung. Zwar gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz im Bereich der Vergütung nur eingeschränkt, weil der Grundsatz der Vertragsfreiheit Vorrang hat. Gewährt der Arbeitgeber aller150 BAG v. 9.7.1997 – 4 AZR 635/95, NZA 1998, 494; v. 18.2.1998 – 4 AZR 581/96, NZA 1998, 950; v. 16.2.2000 – 4 AZR 62/99, DB 2001, 596; v. 17.7.2003 – 8 AZR 376/02, ZTR 2004, 28. 151 BAG v. 7.3.1995 – 3 AZR 282/94, NZA 1996, 48; v. 3.12.1997 – 10 AZR 563/96, NZA 1998, 438; v. 5.10.1999 – 3 AZR 230/98, NZA 2000, 839; v. 26.9.2012 – 4 AZR 688/10, ZTR 2013, 242. 152 BAG v. 24.2.2000 – 6 AZR 504/98, nv.; v. 27.8.2008 – 4 AZR 484/07, ZTR 2009, 211; v. 18.11.2009 – 4 AZR 498/08, ZTR 2010, 301; v. 16.5.2012 – 4 AZR 372/10, ZTR 2012, 575; v. 23.10.2012 – 4 AZR 48/11.

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Natter

Die Höhergruppierung

Rz. 23.113 § 23

dings Leistungen nach einem bestimmten erkennbaren und generalisierenden Prinzip aufgrund einer abstrakten Regelung, so findet der Gleichbehandlungsgrundsatz Anwendung mit der Folge, dass der Arbeitgeber Arbeitnehmer von einer solchen Regelung nur aus sachlichen Gründen ausschließen darf153. Eine solche – eine Gleichbehandlungspflicht auslösende – nicht gerechtfertigte unterschiedliche Behandlung liegt nur dann vor, wenn der Arbeitgeber an andere vergleichbare Arbeitnehmer bewusst zusätzliche freiwillige Leistungen zahlt154. Aber auch dann, wenn der Arbeitgeber an andere vergleichbare Arbeitnehmer eine höhere Vergütung zahlt, weil er sich tariflich für verpflichtet hält, kann ein Anspruch auf Gleichbehandlung bestehen. Der Arbeitgeber kann diese Praxis nämlich jederzeit beenden und sich von der rechtsirrtümlich gewährten Vergütung lossagen155. Tut er dies nicht und gewährt er nach Kenntnis von seinem Irrtum die bis dahin ohne Rechtsgrund erbrachten Leistungen weiter und macht rechtlich mögliche Rückforderungsansprüche nicht geltend, erbringt er ab diesem Zeitpunkt bewusst zusätzliche freiwillige Leistungen und muss deshalb die bislang von der Leistung ausgeschlossenen vergleichbaren Arbeitnehmer gleichbehandeln156. Wenn der Arbeitgeber erst künftig die Leistungen an die bisher begünstigten Arbeitnehmer einstellt, hat der übergangene Arbeitnehmer zumindest einen Anspruch auf Gleichbehandlung für die Vergangenheit, dh. für den Zeitraum bis zur Einstellung der Leistungen gegenüber den vergleichbaren Mitarbeitern157. Stellt der Arbeitgeber hingegen die rechtsgrundlosen Zahlungen alsbald nach Kenntniserlangung von seinem Irrtum ein und ergreift er alle rechtlich möglichen Maßnahmen zur nachträglichen Korrektur seines Irrtums, ist für die Anwendung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes kein Raum158.

23.111

c) Der Schadensersatzanspruch bei Nichthinweis des Arbeitgebers auf Herabgruppierung einer ausgeschriebenen Stelle Ein Anspruch auf Höhergruppierung, dh. darauf, aus einer höheren Entgeltgruppe vergütet zu werden, kann in Einzelfällen auch als Schadensersatzanspruch in Betracht kommen.

23.112

Schreibt der öffentliche Arbeitgeber eine Stelle unter Angabe einer bestimmten Entgeltgruppe aus und ist ihm zum Zeitpunkt des Bewerbungsgesprächs bzw. zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses eine mögliche künftige tarifliche Verschlechterung bekannt, ist er aufgrund seiner Fürsorgepflicht gehalten, den sich bewerbenden Arbeitnehmer auf eben diese mögliche Verschlechterung der tariflichen Eingruppierung nach den §§ 12, 13 TVöD/TV-L hinzuweisen. Unterlässt er diesen Hinweis bei dem Bewerbungsgespräch oder dem späteren Vertragsschluss, kann er dem Arbeitnehmer gegenüber zum Schadensersatz verpflichtet sein,

23.113

153 BAG v. 26.10.1995 – 6 AZR 125/95, DB 1996, 1191; v. 26.11.1998 – 6 AZR 335/97, NZA 1999, 1108; v. 24.2.2000 – 6 AZR 504/98, nv.; v. 7.5.2008 – 4 AZR 299/07, ZTR 2008, 670; v. 7.5.2008 – 4 AZR 223/07, ZTR 2009, 25; v. 16.5.2012 – 4 AZR 372/10, ZTR 2012, 575; v. 23.10.2012 – 4 AZR 48/11. 154 BAG v. 24.2.2000 – 6 AZR 504/98, nv.; v. 19.11.2014 – 4 AZR 76/13, ZTR 2015, 272. 155 BAG v. 26.10.1995 – 6 AZR 125/95, DB 1996, 1191; v. 26.11.1998 – 6 AZR 335/97, NZA 1999, 1108; v. 24.2.2000 – 6 AZR 504/98, nv.; v. 18.10.2018 – 6 AZR 300/17, AP Nr. 2 zu § 29a TVÜ. 156 BAG v. 26.11.1998 – 6 AZR 335/97, NZA 1999, 1108; v. 24.2.2000 – 6 AZR 504/98, nv.; v. 27.8.2008 – 4 AZR 484/07, ZTR 2009, 211. 157 BAG v. 26.10.1995 – 6 AZR 125/95, DB 1996, 1191. 158 BAG v. 26.11.1998 – 6 AZR 335/97, NZA 1999, 1108.

Natter

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§ 23 Rz. 23.113

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

wenn tatsächlich zu einem späteren Zeitpunkt eine Rückgruppierung des Arbeitnehmers erfolgt159. d) Die Ansprüche des übergangenen Beförderungsbewerbers

23.114 Allgemein zum Bewerbungsverfahrensanspruch sowie auch zur Konkurrentenklage s. Kapitel § 2, insb. Rz. 2.16 ff., 2.54 ff., 2.130 ff. Ein Anspruch auf Höhergruppierung kann sich auch aufgrund des sog. Bewerbungsverfahrensanspruchs ergeben. Ferner kann der Arbeitnehmer einen Anspruch darauf haben, im Wege des Schadensersatzes so gestellt zu werden, als sei ihm eine höherwertige Tätigkeit übertragen worden. Da es einen allgemeinen vertraglichen, tariflichen oder gesetzlichen Anspruch eines Arbeitnehmers auf Übertragung einer Beförderungsstelle nicht gibt160, kann sich wegen Verletzung des Prinzips der Bestenauslese aus Art. 33 Abs. 2 GG ergeben, dass der erfolglose Beförderungsbewerber einen Anspruch auf Übertragung der begehrten höherwertigen Stelle hat oder zumindest im Wege des Schadenersatzes so zu stellen ist, als sei ihm die höherwertige Stelle übertragen worden. aa) Das Prinzip der Bestenauslese nach Art. 33 Abs. 2 GG

23.115 Nach Art. 33 Abs. 2 GG hat jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt. Jede Bewerbung muss nach den genannten Kriterien beurteilt werden. Dies gilt nicht nur für Einstellungen, sondern auch für Beförderungen innerhalb des öffentlichen Dienstes. Dabei sind öffentliche Ämter in diesem Sinne nicht nur Beamtenstellen, sondern auch solche Stellen, die von Arbeitnehmern besetzt werden können161. Die Festlegung auf die in Art. 33 Abs. 2 GG genannten Kriterien von Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung gibt jedem Bewerber ein subjektives Recht auf chancengleiche Teilhabe am Bewerbungsverfahren. Art. 33 Abs. 2 GG dient nicht nur dem Interesse des einzelnen Bewerbers an seinem beruflichen Fortkommen, sondern als Prinzip der sog. „Bestenauslese“ auch dem öffentlichen Interesse an der bestmöglichen Besetzung der Stellen des öffentlichen Dienstes, dessen fachliches Niveau und rechtliche Integrität gewährleistet werden sollen162.

23.116 Auch dem Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes steht ein sog. Bewerbungsverfahrensanspruch zu. Art. 33 Abs. 2 GG umfasst grundsätzlich sämtliche vom Staat (Bund, Länder, Gemeinden; unmittelbare und mittelbare Staatsverwaltung) bereitgestellten Positionen. Dabei ist gleichgültig, ob diese mit Beamten oder Arbeitnehmern zu besetzen sind. Erforderlich ist aber, dass die Stelle der öffentlichen Gewalt und damit der Staatsorganisation zuzuordnen ist. Das ist der Fall, wenn sie der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dient. Auf die Organisationsform, in der der Staat tätig wird, kommt es nicht an. Unter den Begriff des öffentlichen Amtes iSd. Art. 33 Abs. 2 GG können daher auch Stellen bei öffentlichen Betrieben in 159 BAG v. 13.6.1996 – 8 AZR 415/94, nv. 160 Vgl. BAG v. 13.6.1991 – 8 AZR 347/89, nv. 161 BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 445/96, NZA 1998, 884; v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, NZA 2003, 324; v. 19.2.2003 – 7 AZR 67/02, NZA 2003, 1271; v. 16.2.2012 – 8 AZR 697/10, NZA 2012, 667; BVerwG v. 7.12.1994 – 6 P 35/92, AP Nr. 13 zu § 2 BAT SR 2y; v. 26.10.2000 – 2 C 31/99, ZTR 2001, 191. 162 BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, NZA 2003, 324; v. 19.2.2008 – 9 AZR 70/07, NZA 2008, 1016; v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, NZA 2009, 901; v. 6.5.2014 – 9 AZR 724/12, NZA 2015, 446; v. 10.2.2015 – 9 AZR 554/13, ZTR 2015, 448.

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Natter

Die Höhergruppierung

Rz. 23.120 § 23

privater Rechtsform fallen. Die Wahl der privaten Rechtsform für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben geschieht regelmäßig aus organisatorischen oder ökonomischen Gründen. Sie verändert nicht den öffentlich-rechtlichen Aufgabenbereich und ist damit gleichfalls der Sphäre des Staates zuzuordnen163. Die aus Art. 33 Abs. 2 GG folgenden Grundsätze sind auch dann anzuwenden, wenn ein Beförderungsbewerber mit einem Versetzungsbewerber konkurriert, sofern der öffentliche Arbeitgeber sich dafür entscheidet, die Stelle allein nach Leistungskriterien zu vergeben, ohne davon im Laufe des Bewerbungsverfahrens abzuweichen164.

23.117

Bei der Feststellung der Qualifikation eines Bewerbers nach den Kriterien des Art. 33 Abs. 2 GG steht dem öffentlichen Arbeitgeber ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Die gerichtliche Überprüfung einer Befähigungsbeurteilung ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG eingeschränkt. Nur der öffentliche Arbeitgeber soll durch die für ihn handelnden Organe über die Auslese nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung ein persönlichkeitsbezogenes Werturteil darüber abgeben, ob und inwieweit der Bewerber den fachlichen und persönlichen Anforderungen des konkreten Amtes entspricht. Daher hat sich die gerichtliche Kontrolle darauf zu beschränken, ob der Arbeitgeber bei seiner Entscheidung den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem er sich frei bewegen kann, verkannt hat, ob er von einem richtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemein gültige Wertmaßstäbe nicht beachtet oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat165. Ist dies nicht der Fall, können die Gerichte die getroffene Entscheidung nicht durch ihre eigene Beurteilung ersetzen166.

23.118

bb) Der Anspruch auf Höhergruppierung Vor diesem Hintergrund ist in der Rechtsprechung des BAG anerkannt, dass der benachteiligte Bewerber in der Regel nur das Recht hat, dass seine Bewerbung neu zu beurteilen ist. Ein weitergehender Anspruch auf Höhergruppierung setzt voraus, dass sich jede andere Auswahlentscheidung als rechtswidrig oder ermessensfehlerhaft erweist, weil die Auswahl zugunsten des übergangenen Bewerbers die einzig rechtmäßige Entscheidung gewesen wäre167.

23.119

Der Anspruch des übergangenen Bewerbers auf Höhergruppierung oder auf erneute Durchführung des Auswahlverfahrens nach Art. 33 Abs. 2 GG kommt jedoch nur so lange in Betracht, wie es ein öffentliches Amt gibt, das noch nicht besetzt ist. Ist eine mit dem Amt verbundene Stelle rechtlich verbindlich anderweitig vergeben, kann das Amt nicht mehr besetzt werden. Dann ist der subjektive Anspruch des Bewerbers auf Beförderung aus Art. 33 Abs. 2 erschöpft168. Dabei wird in der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine rechtlich verbindliche anderweitige Vergabe der Stelle erst angenommen, wenn der verbeamtete Bewerber auch im statusrechtlichen Sinne befördert wurde. Eine Betrauung des ausgewählten verbeamteten Bewerbers mit der Ausübung eines höher bewerteten Amtes im funktionalen Sinne reicht danach nicht

23.120

163 BAG v. 12.4.2016 – 9 AZR 673/14, NZA 2016, 528. 164 BAG v. 7.9.2004 – 9 AZR 537/03, NZA 2005, 879. 165 BAG v. 29.10.1998 – 7 AZR 676/96, NZA 1999, 717; v. 7.9.2004 – 9 AZR 537/03, NZA 2005, 879; zur Kontrolle dienstlicher Beurteilungen vgl. BAG v. 24.1.2007 – 4 AZR 629/06, ZTR 2007, 566. 166 BAG v. 5.3.1996 – 1 AZR 590/92 (A), 1 AZR 590/92, NZA 1996, 751. 167 BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 445/96, NZA 1998, 884; v. 19.2.2003 – 7 AZR 67/02, NZA 2003, 1271; v. 8.9.2007 – 9 AZR 672/06, ZTR 2008, 339. 168 BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, NZA 2003, 324; v. 19.2.2008 – 9 AZR 70/07, NZA 2008, 1016; v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, NZA 2009, 901.

Natter

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§ 23 Rz. 23.120

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

aus169. Diese Auffassung folgt jedoch allein aus der im Beamtenrecht herrschenden Unterscheidung zwischen Amt im funktionalen Sinne und Amt im statusrechtlichen Sinne. Darauf, dass diese Unterscheidung auf das Arbeitsrecht nicht übertragbar ist, hat das BAG bereits hingewiesen170. Nach der Rechtsprechung des BAG ist eine Besetzung des öffentlichen Amtes dann erfolgt, wenn dem ausgewählten Bewerber eine gesicherte Rechtsposition eingeräumt ist, die der so vorgenommenen Ausgestaltung des Amtes entspricht171. cc) Der Anspruch des übergangenen Bewerbers auf Schadensersatz

23.121 Hat sich der subjektive Anspruch des Bewerbers aus Art. 33 Abs. 2 GG auf Beförderung dadurch erschöpft, dass die Stelle bereits rechtlich verbindlich anderweitig vergeben wurde, so führt dies jedoch nicht dazu, dass eine Verletzung der in Art. 33 Abs. 2 GG bestimmten Auswahlkriterien folgenlos bliebe. Bei schuldhaftem Verstoß durch den öffentlichen Arbeitgeber können dem zu Unrecht übergangenen Bewerber Schadensersatzansprüche zustehen, die auf Geldersatz gerichtet sind. Dies gilt auch im Arbeitsrecht172. (1) Die Ausnahme vom Grundsatz der Entschädigung

23.122 Von dem Grundsatz, dass nach Besetzung des Amtes nur noch eine Entschädigung in Geld in Betracht kommt, ist unter bestimmten Voraussetzungen eine Ausnahme zu machen.

23.123 Ein zu Unrecht übergangener Bewerber kann ausnahmsweise dann einen Anspruch auf Wiederherstellung, dh. auf Übertragung des Dienstpostens haben, wenn durch das Verhalten der Verwaltung ein effektiver Rechtsschutz verhindert worden ist, sei es, dass sich der öffentliche Arbeitgeber über eine den Bewerbungsverfahrensanspruch sichernde einstweilige Verfügung nach § 62 Abs. 2 ArbGG hinweggesetzt hat bzw. eine erfolgreiche Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes dadurch vereitelt oder unzumutbar erschwert hat, dass er den unterlegenen Bewerber nicht rechtzeitig über den Ausgang des Auswahlverfahrens unterrichtet hat, oder wenn der öffentliche Arbeitgeber und ein eingestellter Bewerber kollusiv zusammenwirken173. (2) Die Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs

23.124 Der Anspruch des Bewerbers, im Wege des Schadensersatzes so gestellt zu werden, als sei ihm die ausgeschriebene Stelle übertragen worden, hat folgende Voraussetzungen174:

169 Hessischer VGH v. 27.11.1990 – 1 TG 2527/90, DÖV 1991, 698. 170 BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, NZA 2003, 324. 171 BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, NZA 2003, 324; v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, ZTR 2008, 339; v. 12.10.2010 – 9 AZR 554/09, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 73. 172 BAG v. 13.6.1991 – 8 AZR 347/89, nv.; v. 2.12.1997 – 9 AZR 445/96, NZA 1998, 884; v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, NZA 2003, 324; v. 19.2.2008 – 9 AZR 70/07, NZA 2008, 1016; v. 12.10.2010 – 9 AZR 554/09, AP Nr. 73 zu Art. 33 Abs. 2 GG; v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, NZA 2018, 289. 173 BAG v. 28.5.2002 – 9 AZR 751/00, NZA 2003, 324; v. 18.9.2007 – 9 AZR 672/06, ZTR 2008, 339; v. 19.2.2008 – 9 AZR 70/07, NZA 2008, 1016; v. 24.3.2009 – 9 AZR 277/08, NZA 2009, 901; v. 12.10.2010 – 9 AZR 554/09, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 72; BVerwG v. 4.11.2010 – 2 C 16/09, NJW 2011, 695. 174 BAG v. 13.6.1991 – 8 AZR 347/89, nv.; v. 7.12.1997 – 9 AZR 445/96, NZA 1998, 884; v. 2.12.1997 – 9 AZR 668/96, NZA 1998, 882; v. 19.2.2008 – 9 AZR 70/07, NZA 2008, 1016; v. 12.10.2010 – 4 AZR 554/09, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 73; v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, NZA 2018, 289.

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Natter

Die Höhergruppierung

Rz. 23.127 § 23

– Der öffentliche Arbeitgeber muss seine Pflicht zur Vornahme der Auswahl nach den Grundsätzen der Bestenauslese sowie zur Erfüllung des Anspruchs des Bewerbers auf ermessens- und beurteilungsfehlerfreie Entscheidung über seine Bewerbung verletzt haben. – Diese Pflichtverletzung muss auf einem Verschulden des öffentlichen Arbeitgebers beruhen. – Das Unterbleiben der Beförderung (als Schaden) muss durch die Pflichtverletzung adäquat kausal verursacht worden sein, was nur dann der Fall ist, wenn der öffentliche Arbeitgeber verpflichtet war, den übergangenen Bewerber zu befördern. Dies ist nur dann der Fall, wenn der unterlegene Bewerber der bestqualifizierte Bewerber war. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit zieht bei der Prüfung eines Schadensersatzanspruchs eines Beamten wegen unterlassener Beförderung zudem den Rechtsgedanken des § 839 Abs. 3 BGB mit der Folge heran, dass eine Ersatzpflicht für rechtswidriges schuldhaftes Handeln nicht eintritt, wenn der Verletzte es vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch den Gebrauch eines Rechtsmittels gegen das nunmehr als rechtswidrig beanstandete staatliche Verhalten abzuwenden175.

23.125

(3) Die Nichterfüllung des Anforderungsprofils Ein Schadensersatzanspruch des übergangenen Bewerbers muss von vornherein ausscheiden, wenn dieser bereits nicht den Anforderungen des vom öffentlichen Arbeitgeber rechtsgültig festgelegten Anforderungsprofils entspricht.

23.126

Da die Bewerber verlangen können, dass die Auswahlentscheidung nach den in Art. 33 Abs. 2 GG genannten Kriterien erfolgt, hat der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes vor der Besetzung jeder Stelle zwingend ein Anforderungsprofil festzulegen176. Dies kann auch in einer Stellenausschreibung geschehen. Allerdings ist ein bloßer Hinweis in der Stellenausschreibung auf die vorgesehene Vergütungsgruppe unzureichend, soweit sich die konkreten Anforderungen der zu besetzenden Stelle aus ihr nicht feststellen lassen177. In der Regel muss die Ausschreibung deshalb eine konkrete Aufgabenbeschreibung enthalten, aus der sich das Anforderungsprofil erschließt. Die Entscheidung des Dienstherrn darüber, welcher Bewerber der Bestgeeignete für einen Beförderungsposten ist, kann als wertende Erkenntnis des für die Beurteilung zuständigen Organs gerichtlich nur eingeschränkt überprüft werden. Die Auswahl beruht nämlich auf der Bewertung der durch Art. 33 Abs. 2 GG vorgegebenen persönlichen Merkmale, die in Bezug zu dem „Anforderungsprofil“ des jeweiligen Dienstpostens gesetzt werden. Erst dieser Vergleich ermöglicht die Prognose, dass der in Betracht kommende Bewerber den nach der Dienstpostenbeschreibung anfallenden Aufgaben besser als andere Interessenten gerecht werden und damit auch für ein höherwertiges Amt geeignet sein wird178. Durch die Bestimmung des Anforderungsprofils eines Dienstpostens legt der Dienstherr die Kriterien für die Auswahl der Bewerber fest. Die Funktionsbeschreibung des Dienstpostens bestimmt objektiv die Krite-

175 BVerwG v. 5.10.1998 – 2 B 56/98, Buchholz 237.5 § 8 HeLBG Nr. 6; OVG Nordrhein-Westfalen v. 7.7.2004 – 1 A 512/02, IÖD 2005, 87. 176 BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, AP Nr. 59 zu Art. 33 Abs. 2 GG; v. 19.2.2008 – 9 AZR 70/07, NZA 2008, 1016. 177 BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 72/02, AP Nr. 59 zu Art. 33 Abs. 2 GG. 178 BVerwG v. 16.8.2001 – 2 A 3/00, AP Nr. 8 zu § 83 BetrVG 1972.

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23.127

§ 23 Rz. 23.127

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

rien, die der Inhaber erfüllen muss. An ihnen werden die Eigenschaften und Fähigkeiten der Bewerber um den Dienstposten gemessen, um eine optimale Besetzung zu gewährleisten179. Ob der Dienstherr diese Auswahlkriterien selbst beachtet hat, unterliegt in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle. Fehler im Anforderungsprofil führen grundsätzlich zur Fehlerhaftigkeit des Auswahlverfahrens, weil die Auswahlerwägungen dann auf nicht am Leistungsgrundsatz orientierten Gesichtspunkten beruhen. Erst wenn mehrere Bewerber allen Anforderungskriterien gerecht werden, haben – in der Regel durch dienstliche Beurteilungen ausgewiesene – Abstufungen der Qualifikation Bedeutung. Unter dieser Voraussetzung bleibt es der Entscheidung des Dienstherrn überlassen, welchen der zur Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung zuzurechnenden Umständen er das größere Gewicht beimisst180.

23.128 Der Dienstherr ist hierbei verpflichtet, die Leistungsbewertungen und die wesentlichen Auswahlerwägungen schriftlich niederzulegen. Denn ein dem späteren Konkurrentenklageverfahren vorgelagertes Auswahlverfahren darf nicht so ausgestaltet sein, dass es den gerichtlichen Rechtsschutz vereitelt oder unzumutbar erschwert181. Das wäre dann der Fall, wenn der unterlegene Bewerber keine oder nur eine lückenhafte Kenntnis über die Auswahlgründe hätte. Er könnte nicht sachgerecht darüber entscheiden, ob er die Auswahlentscheidung hinnehmen oder gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen soll. Das Dokumentationsgebot ist für die Transparenz der Auswahlentscheidung unverzichtbar. Nur die schriftliche Dokumentation gewährleistet eine gleiche und zuverlässige Information. Sie stellt sicher, dass die Bewertungsgrundlagen der entscheidenden Stelle vollständig zur Kenntnis gelangt sind. Sie ermöglicht zudem eine Selbstkontrolle des Auswählenden. Aus Art. 33 Abs. 2 iVm. Art. 19 Abs. 4 GG folgt deshalb die Verpflichtung, die wesentlichen Auswahlerwägungen schriftlich niederzulegen.

23.128a Aus dem Grundsatz des effektiven Rechtschutzes folgt zudem, dass der Arbeitgeber vor der endgültigen Besetzung mit einem Bewerber die unterlegenen Konkurrenten hierüber rechtzeitig zu informieren hat. Das dem gerichtlichen Rechtsschutzverfahren vorgelagerte Verfahren darf nicht so ausgestaltet sein, dass es den gerichtlichen Rechtsschutz vereitelt oder unzumutbar erschwert. Dies wäre aber etwa der Fall, wenn die unterlegenen Mitbewerber erst nach der Ernennung des Konkurrenten vom Ausgang des Stellenbesetzungsverfahrens erführen. Aus Art. 33 Abs. 2 iVm. Art. 19 Abs. 4 GG folgt deshalb eine Verpflichtung des Arbeitgebers, den unterlegenen Bewerbern rechtzeitig vor der Ernennung des erfolgreichen Konkurrenten durch eine Mitteilung Kenntnis vom Ausgang des Auswahlverfahrens zu geben. Aus denselben Erwägungen folgt aber auch eine Verpflichtung, vor rechtsverbindlicher Einstellung einen ausreichenden Zeitraum abzuwarten, um dem unterlegenen Mitbewerber die Möglichkeit zu geben, Eilantrag, Beschwerde oder Verfassungsbeschwerde zu erheben, weil nur so die Möglichkeit der Gewährung effektiven Rechtsschutzes besteht. Durch die umgehende Einstellung/Ernennung des Konkurrenten wird dem unterlegenen Bewerber faktisch die Möglichkeit genommen, die Besetzung der ausgeschriebenen Stelle durch eine verfassungsgerichtliche Eilentscheidung zu verhindern. Eine Frist von zwei Tagen genügt den Anforderungen nicht182; eine Frist von zwei Wochen wird überwiegend als ausreichend erachtet183. 179 BAG v. 6.5.2014 – 9 AZR 724/12, NZA 2015, 446; v. 10.2.2015 – 9 AZR 554/13, ZTR 2015, 448. 180 BVerwG v. 16.8.2001 – 2 A 3/00, AP Nr. 8 zu § 83 BetrVG 1972. 181 BVerfG v. 19.9.1989 – 2 BvR 1576/88, NJW 1990, 501. 182 BVerfG v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07, ZTR 2007, 707. 183 BVerwG v. 4.11.2010 – 2 C 16/09, NJW 2011, 695; das BAG hat sich bisher noch nicht entsprechend festgelegt.

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Die Höhergruppierung

Rz. 23.130a § 23

(4) Die mangelnde Besteignung Erfüllt der übergangene Bewerber die Kriterien des Anforderungsprofils, so hat er einen Anspruch auf Schadensersatz allerdings nur, wenn das Unterbleiben der Beförderung (als Schaden) durch eine Pflichtverletzung des öffentlichen Arbeitgebers adäquat verursacht wurde. Damit reicht nicht jede Pflichtverletzung des Arbeitgebers im Rahmen seiner Auswahlentscheidung aus. Adäquat verursacht ist der Schaden des übergangenen Bewerbers nämlich nur dann, wenn sich jede andere Auswahlentscheidung als rechtswidrig oder ermessensfehlerhaft erweist, weil die Auswahl zugunsten des übergangenen Bewerbers die einzig rechtmäßige Entscheidung gewesen wäre184. Dies ist nur dann der Fall, wenn der übergangene Bewerber der „Bestgeeignete“ war. War hingegen ein anderer Bewerber aufgrund seiner – in der Regel durch dienstliche Beurteilungen nachgewiesenen – Qualifikation nach den Grundsätzen der Art. 33 Abs. 2 GG entsprechenden Beurteilung vorzugswürdig, scheidet ein Schadensersatzanspruch aus.

23.129

dd) Der Abbruch des Stellenbesetzungsverfahrens Der Bewerbungsverfahrensanspruch kann auch dadurch erlöschen, dass das Stellenbesetzungsverfahren ohne Ergebnis, das heißt ohne Besetzung der Stelle, abgebrochen wird. Wie eine Übertragung der Stelle an einen Konkurrenten zieht auch ein Abbruch diese Rechtsfolge nur dann nach sich, wenn er rechtsbeständig ist. Der Abbruch kann aus der Art. 33 Abs. 2 GG vorgelagerten Organisationsgewalt des öffentlichen Arbeitgebers gerechtfertigt sein. Danach hat der öffentliche Arbeitgeber darüber zu entscheiden, ob und wann er welche Statusämter zur Besetzung bereithält. Deshalb kann er das Verfahren abbrechen, weil er die Stelle, die dem erfolgreichen Bewerber übertragen werden sollte, nicht mehr besetzen will. Ebenso stellt es einen sachlichen, dem Organisationsermessen zugehörigen Grund für einen Abbruch dar, wenn der öffentliche Arbeitgeber sich entschlossen hat, die Stelle neu zuzuschneiden185. Auch die maßgeblichen Abbrucherwägungen sind schriftlich zu dokumentieren; die Bewerber sind in gleicher Weise wie bei einer Absage zu unterrichten.

23.130

Effektiver Rechtsschutz gegen den unberechtigten Abbruch eines Auswahlverfahrens kann 23.130a nur im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes erlangt werden. Der Bewerber begehrt die zeitnahe Fortführung des begonnenen Auswahlverfahrens mit dem bestehenden Bewerberkreis. Dies kann selbst im Erfolgsfall durch eine Hauptsacheklage nicht erreicht werden. Stellt ein Bewerber nicht innerhalb eines Monats nach Zugang der Abbruchmitteilung einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, darf der Dienstherr nach der Rechtsprechung des BVerwG186 darauf vertrauen, dass der Bewerber den Abbruch des Auswahlverfahrens nicht angreift, sondern sein Begehren im Rahmen einer neuen Ausschreibung weiterverfolgt. Nach Ablauf der Monatsfrist ist die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit des Abbruchs des Auswahlverfahrens mit einer Hauptsacheklage überprüfen zu lassen, verwirkt. Im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit wendet das BAG diese Monatsfrist in der Regel auch im Bereich des Arbeitsrechts an187.

184 BAG v. 2.12.1997 – 9 AZR 445/96, NZA 1998, 884; v. 19.2.2003 – 7 AZR 67/02, NZA 2003, 1271; v. 12.10.2010 – 9 AZR 554/09, AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 73; v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, NZA 2018, 289. 185 BAG v. 17.8.2010 – 9 AZR 347/09, AP Nr. 73 zu Art. 33 Abs. 2 GG; v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, NZA 2018, 515; v. 20.3.2018 – 9 AZR 249/17, AP Nr. 80 zu Art. 33 Abs. 2 GG. 186 BVerwG v. 3.12.2014 – 2 A 3.13, NVwZ 2015, 1066. 187 BAG v. 12.12.2017 – 9 AZR 152/17, NZA 2018, 515.

Natter

781

§ 23 Rz. 23.131

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

V. Die Herabgruppierung 23.131 Von einer Herabgruppierung wird gesprochen, wenn der Beschäftigte eine Tätigkeit ausübt, die tariflich geringer bewertet ist als diejenige, für die er sein Entgelt erhält. Auch in diesem Fall entspricht der Ist-Zustand nicht dem tariflichen Soll-Zustand, hier geht er allerdings über den Soll-Zustand hinaus. Der Beschäftigte erhält eine höhere Vergütung als ihm nach dem Tarifrecht zusteht. 1. Die Herabgruppierung durch Zuweisung einer geringer zu bewertenden Tätigkeit

23.132 Ursache für eine Herabgruppierung kann einmal die Zuweisung einer im Vergleich zu seiner Eingruppierung geringer zu bewertenden Tätigkeit an den Arbeitnehmer sein. Diese Zuweisung bedarf in jedem Fall entweder einer vertraglichen Vereinbarung mit dem Arbeitnehmer oder einer wirksamen Änderungskündigung188. Das Direktionsrecht des Arbeitgebers erstreckt sich nämlich nur auf Tätigkeiten innerhalb der Entgeltgruppe. Es berechtigt den Arbeitgeber nicht, dem Arbeitnehmer Tätigkeiten einer niedrigeren Entgeltgruppe zuzuweisen189. Deshalb kann der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einseitig kraft seines Direktionsrechts nur Tätigkeiten zuweisen, welche die Merkmale der Entgeltgruppe erfüllen, in die der Arbeitnehmer ursprünglich eingruppiert wurde. 2. Die Herabgruppierung infolge einer Veränderung der Wertigkeit der Tätigkeit ohne Übertragung einer anderen Tätigkeit

23.133 Die Wertigkeit der dem Beschäftigten übertragenen Tätigkeiten kann sich verringern, ohne dass der Arbeitgeber dies durch eine Übertragung anderer Tätigkeiten herbeigeführt hätte. Dies kann bspw. der Fall sein, wenn ein bestimmter hochwertiger Teilaufgabenbereich aufgrund einer Gesetzesänderung aus dem „Zuständigkeitsbereich“ des öffentlichen Arbeitgebers und damit aus dem Tätigkeitsbereich des Beschäftigten herausfällt und infolgedessen die gesamte dem Beschäftigten verbliebene Tätigkeit eine geringere Wertigkeit aufweist190. Obwohl Eingruppierung und Höhergruppierung letztlich keine konstitutiven Akte sind, sondern sich lediglich als Interpretation der Rechtslage darstellen, bedarf es in derartigen Fällen für eine Herabgruppierung, also für die Anpassung der Vergütung/des Entgelts, einer Vertragsänderung, sei es durch einvernehmliche Änderung der Arbeitsbedingungen, sei es durch Änderungskündigung191. Solange dies nicht geschehen ist, hat der Beschäftigte nämlich gegen den öffentlichen Arbeitgeber einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf Zuweisung einer Tätigkeit, die in ihrer Wertigkeit derjenigen entspricht, die er zuvor ausgeübt hat.

23.134 Darüber hinaus sind Fälle denkbar, in denen das Tarifrecht selbst variable Eingruppierungsvoraussetzungen enthält, die aufgrund einer Änderung des zugrunde liegenden Sachverhalts nun nicht mehr erfüllt sind, die Tätigkeiten also nicht mehr die hohe Wertigkeit haben wie zuvor192. Hierunter fallen hauptsächlich die Fälle, in denen die Eingruppierung von der Zahl der

188 189 190 191 192

782

Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 735. Burger/Weinmann, TVöD/TV-L, § 12 Rz. 28. Vgl. Krasemann, S. 167 f. BVerwG v. 31.8.1988 – 6 P 35/85, NJW 1989, 848. Zu diesem Beispielsfall vgl. Krasemann, S. 161 f.

Natter

Die Herabgruppierung

Rz. 23.137 § 23

unterstellten Arbeitnehmer abhängt und die tariflichen Grenzzahlen unterschritten werden, ohne dass dies durch eine (sachfremde) Einflussnahme des Arbeitgebers verursacht ist. Ebenso gilt dies für Tätigkeitsmerkmale, die zB auf Durchschnittsbelegungen (bei einer Kindertagesstätte) oder Schülerzahlen abstellen. Diese Fallgestaltungen hat das BAG in seinen Entscheidungen vom 7.11.2002193, 5.9.2002194 und 19.3.2003195 dahin entschieden, dass hier – auch bei einer nachträglichen Änderung von Tatsachen – die sog. Tarifautomatik greife und dass es keine gesetzliche Bestimmung gebe, die für eine tarifvertraglich vorgesehene Änderung der Arbeitsbedingungen aufgrund tatsächlicher Umstände zwingend den Ausspruch einer Änderungskündigung nach § 2 KSchG vorschreibe. Die Änderung der tatsächlichen Umstände betreffe lediglich einen nach der einschlägigen tariflichen Regelung vergütungsrelevanten Umstand, lasse indes die arbeitsvertragliche Position des Arbeitnehmers unberührt. 3. Die korrigierende Rückgruppierung Von den zuvor aufgeführten Fällen der Herabgruppierung aufgrund wirksamer Zuweisung einer niedriger zu bewertenden Tätigkeit und der Herabgruppierung aufgrund einer Verringerung der Wertigkeit der auszuübenden Tätigkeiten streng zu unterscheiden sind die Fälle der korrigierenden Rückgruppierung.

23.135

Nicht selten kommt es vor, dass dem Arbeitgeber bei der Tätigkeitsbewertung ein Irrtum un- 23.136 terläuft und er infolgedessen an den Arbeitnehmer eine höhere Vergütung bzw. ein höheres Entgelt zahlt, als diesem bei tarifgerechter Eingruppierung zustehen würde. Auch hier entspricht der individuelle arbeitsrechtliche Ist-Zustand nicht dem tariflichen Soll-Zustand. In einem solchen Fall ist es dem öffentlichen Arbeitgeber unbenommen, diesen Irrtum im Wege der korrigierenden Rückgruppierung zu korrigieren. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG bedarf die Korrektur der irrtümlich fehlerhaften Eingruppierung keiner Vertragsänderung und damit keiner Änderungskündigung, der Arbeitgeber kann diese Korrektur vielmehr einseitig vornehmen196. Auch hier kommt wieder zum Tragen, dass nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des BAG die Bezeichnung der Vergütungs-/Entgeltgruppe im Arbeitsvertrag oder einer Eingruppierungsmitteilung im Regelfall als Wissenserklärung und nicht als Willenserklärung angesehen wird und deshalb grundsätzlich nicht dahin auszulegen ist, dass dem Beschäftigten ein eigenständiger, von den tariflichen Bestimmungen unabhängiger arbeitsvertraglicher Anspruch auf eine bestimmte Vergütung, ein bestimmtes Entgelt zustehen soll. Vielmehr wird nach Auffassung des BAG nur wiedergegeben, welche Vergütungs-/Entgeltgruppe der Arbeitgeber bei Anwendung der maßgeblichen Eingruppierungsbestimmungen als zutreffend ansieht, ohne dass daraus eine eigenständige Vergütungsvereinbarung des Inhalts zu entnehmen wäre, die Vergütung solle unabhängig vom tariflichen Anspruch, ggf. als übertarifliche gezahlt werden. Ohne Hinzutreten weiterer Umstände könne ein Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes der Angabe der Gruppe eine solche Bedeutung schon deshalb nicht beimessen, weil der Arbeitgeber

193 194 195 196

BAG v. 7.11.2002 – 4 AZR 724/00, NZA 2002, 860. BAG v. 5.9.2002 – 8 AZR 620/01, AP Nr. 93 zu §§ 22, 23 BAT Lehrer. BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 391/02, DB 2005, 342. BAG v. 23.8.1995 – 4 AZR 352/94, ZTR 1996, 169; v. 15.2.2006 – 4 AZR 66/05, ZTR 2006, 538; v. 15.6.2011 – 4 AZR 737/09, ZTR 2012, 26; v. 4.7.2012 – 4 AZR 637/10, ZTR 2013, 83.

Natter

783

23.137

§ 23 Rz. 23.137

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

des öffentlichen Dienstes grundsätzlich keine übertarifliche Vergütung, sondern nur das gewähren wolle, was dem Arbeitnehmer tariflich zusteht197.

23.138 Die Grundsätze der korrigierenden Rückgruppierung finden demgemäß nur im Rahmen der Tarifautomatik Anwendung. Nur wenn die Angabe der Gruppe im Arbeitsvertrag lediglich deklaratorische Wirkung hat und damit nur das Ergebnis der eingruppierungsrechtlichen Prüfung durch den Arbeitgeber wiedergibt, kann eine einseitige korrigierende Rückgruppierung durch den Arbeitgeber erfolgen. Ergibt eine Auslegung der Erklärungen des Arbeitgebers nach dem Empfängerhorizont nach den §§ 133, 157 BGB hingegen, dass die Parteien eine übertarifliche Vergütung vereinbart haben, so folgt der Vergütungsanspruch unmittelbar aus dem Arbeitsvertrag mit der Folge, dass sich der Arbeitgeber von dieser Vereinbarung nur im Wege der einvernehmlichen Vertragsänderung oder durch Änderungskündigung lösen kann. Dasselbe gilt, wenn im Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch keine Eingruppierungsbestimmungen für die vereinbarte Tätigkeit vorhanden waren198.

23.139 Liegen die Voraussetzungen der korrigierenden Rückgruppierung vor, weil die vom Arbeitnehmer auszuübende Tätigkeit niedriger zu bewerten und dem Arbeitgeber bei der ursprünglichen Bewertung ein Irrtum unterlaufen ist, so kann es dem Arbeitgeber im Einzelfall allerdings nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt sein, sich auf die Fehlerhaftigkeit der Eingruppierung zu berufen und die korrigierende Rückgruppierung zu vollziehen. Nach dem Verbot des widersprüchlichen Verhaltens („venire contra factum proprium“) ist ein Verhalten dann als rechtsmissbräuchlich anzusehen, wenn besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen199. Dies ist dann der Fall, wenn durch das Verhalten der einen Seite für die andere Seite ein schützenswertes Vertrauen auf den Fortbestand des „status quo“ entstanden ist200. Dabei kann ein solches Vertrauen insbesondere durch Umstände begründet werden, die nach der Eingruppierung eingetreten sind, zB wenn der Arbeitgeber sein Recht zur Rückgruppierung verwirkt hat201. Anhaltspunkt kann auch sein, dass der Arbeitgeber zu erkennen gegeben hat, er werde die Lohn-/Vergütungs-/Entgeltgruppe weiter gewähren, auch wenn deren tariflichen Voraussetzungen nicht vorliegen oder er wiederholt eine korrigierende Rückgruppierung des Arbeitnehmers bei unveränderter Tätigkeit und Tarifrechtslage durchführt202. Ebenso kann sich ein solches Vertrauen aus der Gesamtschau einzelner Umstände ergeben, von denen jeder für sich allein noch keinen hinreichenden Vertrauenstatbestand begründen kann203. Einen solchen Vertrauenstatbestand hat das BAG bspw. in Fällen angenommen, in denen der Arbeitnehmer über viele Jahre hinweg (zwischen 10 und 20) die strittige Vergütung erhalten hatte und ihm die Eingruppierung mehrfach als korrekt bestätigt wurde204. Auch ein langer Zeitraum (etwa: 14 Jahre) reicht aber für sich allein nicht 197 BAG v. 16.2.2000 – 4 AZR 62/99, DB 2001, 596; v. 14.9.2005 – 4 AZR 348/04, AP Nr. 3 zu § 2 BAT-O; v. 20.4.2011 – 4 AZR 368/09, ZTR 2011, 672; v. 15.6.2011 – 4 AZR 737/09, ZTR 2012, 26. 198 BAG v. 18.10.2018 – 6 AZR 246/17, ZTR 2019, 164. 199 BAG v. 4.12.1997 – 2 AZR 799/96, NZA 1998, 420. 200 BAG v. 17.7.2003 – 8 AZR 376/02, ZTR 2004, 28; v. 10.3.2004 – 4 AZR 212/03, ZTR 2004, 635; v. 23.9.2009 – 4 AZR 220/08, ZTR 2010, 298; v. 20.4.2011 – 4 AZR 368/09, ZTR 2011, 672. 201 BAG v. 10.3.2004 – 4 AZR 212/03, ZTR 2004, 635; v. 15.6.2011 – 4 AZR 737/09, ZTR 2012, 26. 202 BAG v. 24.1.2007 – 4 AZR 28/06, ZTR 2007, 502; v. 23.9.2009 – 4 AZR 220/08, ZTR 2010, 298. 203 BAG v. 14.9.2005 – 4 AZR 348/04, AP Nr. 3 zu § 2 BAT-O. 204 BAG v. 8.10.1997 – 4 AZR 167/96, AP Nr. 2 zu § 23b BAT; v. 14.9.2005 – 4 AZR 348/04, AP Nr. 3 zu § 2 BAT-O; v. 13.12.2017 – 4 AZR 576/16, NZA 2018, 601.

784

Natter

Die wichtigsten Tätigkeitsmerkmale und Begriffe der Entgeltordnungen

Rz. 23.144 § 23

aus, in einer Art Wechselwirkung des Zeit- auf das Umstandsmoment das Erfordernis eines eigenständigen Umstandsmoments gänzlich entfallen zu lassen205.

VI. Die wichtigsten Tätigkeitsmerkmale und Begriffe der Entgeltordnungen Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die wichtigsten Tätigkeitsmerkmale der Entgeltordnungen gegeben werden.

23.140

1. Der Aufbau der Entgeltordnungen Die Entgeltordnungen enthalten alle tarifvertraglich vereinbarten Tätigkeitsmerkmale für alle Tätigkeiten einschließlich der Beschäftigten im Pflegedienst. Sie gelten in drei verschiedenen Fassungen: Im Rahmen des TVöD einerseits für den Bereich des Bundes und andererseits im Bereich der VKA sowie im Rahmen des TV-L im Bereich der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL). Diese drei Fassungen unterscheiden sich sowohl inhaltlich als auch im Aufbau.

23.141

Die Fassung für den Bereich des Bundes hat folgenden Aufbau:

23.142

– Teil I enthält die allgemeinen Tätigkeitsmerkmale für den Verwaltungsdienst. – Teil II enthält die allgemeinen Tätigkeitsmerkmale für körperlich/handwerklich geprägte Tätigkeiten. – Teil III beinhaltet – aufgeteilt in 48 Abschnitte – Tätigkeitsmerkmale für besondere Beschäftigtengruppen. Dieser Teil beinhaltet eine Vielzahl von Tätigkeitsmerkmalen zu einzelnen Beschäftigtengruppen. – Teil IV umfasst besondere Tätigkeitsmerkmale im Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung.

23.143

Die Fassung für den Bereich der VKA hat demgegenüber folgenden Aufbau: – Teil A umfasst den allgemeinen Teil der Entgeltordnung. Hierbei enthält der Teil A I. die allgemeinen Tätigkeitsmerkmale, aufgeteilt in vier Unterabschnitte, betreffend die Beschäftigten im Verwaltungsdienst, und Teil A II. die speziellen Tätigkeitsmerkmale, aufgeteilt in sechs Abschnitte, vor allem betreffend die Beschäftigten in der Informationsund Kommunikationstechnik und die Beschäftigten in technischen Berufen. – Teil B umfasst von Abschnitt I bis Abschnitt XXXII den besonderen Teil mit einer Vielzahl von Tätigkeitsmerkmalen zu einzelnen Beschäftigtengruppen. Hierbei beinhaltet der umfangreiche Abschnitt XI. insgesamt 21 Unterabschnitte zu den Beschäftigten in Gesundheitsberufen. Die Fassung für den Bereich der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) hat folgenden Aufbau:

205 BAG v. 15.6.2011 – 4 AZR 737/09, ZTR 2012, 26.

Natter

785

23.144

§ 23 Rz. 23.144

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

– Teil I beinhaltet die allgemeinen Tätigkeitsmerkmale für den Verwaltungsdienst. – Teil II umfasst die Tätigkeitsmerkmale für bestimmte Beschäftigtengruppen. Dieser Teil enthält in 25 Abschnitten eine Fülle von Tätigkeitsmerkmalen zu einer Vielzahl von Beschäftigten. – Teil III beinhaltet die Tätigkeitsmerkmale für Beschäftigte mit körperlich/handwerklich geprägten Tätigkeiten. – Teil IV regelt schließlich die Tätigkeitsmerkmale für die Beschäftigten im Pflegedienst.

23.145 In den Entgeltordnungen finden sich somit neben den allgemeinen Tätigkeitsmerkmalen auch eine Vielzahl von speziellen Tätigkeitsmerkmalen. Dabei kann unter Umständen eine Tätigkeit grundsätzlich die Merkmale sowohl der speziellen als auch der allgemeinen Entgelt-/Fallgruppe erfüllen. Damit stellt sich die Frage des Verhältnisses der speziellen zu den allgemeinen Tätigkeitsmerkmalen.

23.145a In solchen Fallkonstellationen sind nach dem Spezialitätsprinzip, nach dem bei einer Konkurrenz zwischen einer allgemeinen und einer speziellen Norm desselben Normgebers die Spezialregelung vorgeht, allein die speziellen Tätigkeitsmerkmale maßgeblich. Dies bedeutet, dass der allgemeine Teil bzw. die allgemeinen Tätigkeitsmerkmale nicht heranzuziehen sind, wenn es für die betreffenden Tätigkeiten des Arbeitsvorgangs spezielle tarifliche Anforderungen gibt206. Diesen Rechtsgrundsatz haben die Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes für das Verhältnis zwischen allgemeinen und besonderen Tätigkeitsmerkmalen der Entgeltgruppen für den Bereich des Bundes in § 3 Abs. 4 des Tarifvertrages über die Entgeltordnung des Bundes vom 5.9.2013, für den Bereich der VKA in der Ziffer 1 der grundsätzlichen Eingruppierungsregelungen (Vorbemerkungen) zur Entgeltordnung und für den Bereich der Länder in Ziffer 1 Abs. 2 und 3 der Vorbemerkungen zu allen Teilen der Entgeltordnung ausdrücklich normiert.

23.145b Der Spezialitätsgrundsatz gilt nicht nur dann, wenn die gesamte Tätigkeit eines Angestellten als solche einheitlich als Arbeitsvorgang gewertet wird und somit als Ganze dem (speziellen) Tätigkeitsmerkmal zugewiesen wird, sondern auch dann, wenn sich die Tätigkeit aus mehreren Arbeitsvorgängen zusammensetzt. Deshalb ist bei Tätigkeiten, die sich aus mehreren Arbeitsvorgängen zusammensetzen, jeder Arbeitsvorgang für sich genommen einer Bewertung zu unterziehen. Es ist somit keine vorherige Zuordnung der Gesamttätigkeit des Beschäftigten zu bestimmten Tätigkeitsmerkmalen vorzunehmen; vielmehr ist bei Mischtätigkeiten jeder einzelne Arbeitsvorgang dem jeweils speziellen Tätigkeitsmerkmal innerhalb des tariflichen Entgeltsystems zuzuordnen207. Hierbei ist zu fragen, ob die Teiltätigkeiten, die speziellen Tätigkeitsmerkmalen unterliegen, den betreffenden Arbeitsvorgang prägen208. Dies ist dann der Fall, wenn diese Teiltätigkeiten mehr als die Hälfte der für den gesamten Arbeitsvorgang anfallenden Arbeitszeit ausmachen.

23.146 Darüber hinaus enthalten die Vorbemerkungen zu den Entgeltordnungen grundsätzliche Bestimmungen und Definitionen zu allen Teilen der jeweiligen Entgeltordnung.

206 BAG v. 28.1.2009 – 4 AZR 13/08, ZTR 2009, 481. 207 BAG v. 28.1.2009 – 4 AZR 13/08, ZTR 2009, 481; v. 4.7.2012 – 4 AZR 673/10, ZTR 2013, 83. 208 BAG v. 4.7.2012 – 4 AZR 673/10, ZTR 2013, 83.

786

Natter

Die wichtigsten Tätigkeitsmerkmale und Begriffe der Entgeltordnungen

Rz. 23.150 § 23

2. Die Struktur/Art der wichtigsten Tätigkeitsmerkmale der Entgeltordnungen Die Tätigkeitsmerkmale der Entgeltordnungen knüpfen zunächst an eine Beschäftigtengruppe an, so zB Beschäftigte im Büro-, Buchhalterei-, sonstigen Innendienst und Außendienst (Teil I der Entgeltordnung zum TV-L) oder Ärzte, Apotheker, Tierärzte und Zahnärzte (Teil II Abschnitt 2 der Entgeltordnung zum TV-L) an. Sodann unterscheiden die Tätigkeitsmerkmale zwischen personenbezogenen und tätigkeitsbezogenen Anforderungen.

23.147

Bei den personenbezogenen Anforderungen handelt es sich um Anforderungen, die der Beschäftigte in seiner Person zu erfüllen hat. In der Regel ist die personenbezogene Anforderung eine geforderte Ausbildung, so zum Beispiel „Angestellte mit abgeschlossener wissenschaftlicher Hochschulbildung“ (EG 13 1. Alt. des Teils I der EntgO TV-L)209. Wird in einer Eingruppierungsnorm eine Ausbildung gefordert, so haben die Tarifvertragsparteien in den meisten Fällen die Geltung der Tätigkeitsmerkmale auch für die Gruppe der sog. sonstigen Beschäftigten vereinbart (siehe nur EG 13 2. Alt. der EntgO TV-L). Neben einer geforderten Ausbildung gehören auch die Begriffe „langjährige Tätigkeit“ und „mehrjährige Tätigkeit“ (EG 9 und 7 des Teils II Abschnitt 15.5 der EntgO TV-L) zu den Anforderungen, die der Beschäftigte in seiner Person zu erfüllen hat. Die in den Tätigkeitsmerkmalen angeführten personenbezogenen Anforderungen müssen unabhängig von der auszuübenden Tätigkeit erfüllt sein.

23.148

Im Übrigen enthalten die Entgeltordnungen die unterschiedlichsten tätigkeitsbezogenen Anforderungen. Diese Anforderungen müssen nicht die jeweiligen Arbeitsplatzinhaber erfüllen, sondern die diesen zugewiesene Tätigkeit muss diese Anforderungen fordern. Hierzu gehört ua. die Anforderung

23.149

– der gründlichen Fachkenntnisse, – der gründlichen und vielseitigen Fachkenntnisse, – der gründlichen, umfassenden Fachkenntnisse, – der selbständigen Leistungen, – der besonders verantwortungsvollen Tätigkeiten, – der besonderen Leistungen, – der besonderen Schwierigkeit und Bedeutung, – des Maßes der Verantwortung. Die Tätigkeitsmerkmale sind in ihrer Mehrzahl sehr allgemein gehalten und enthalten sog. unbestimmte Rechtsbegriffe, deren Anwendung der uneingeschränkten Nachprüfung durch die Arbeitsgerichte unterliegt. Trotz ihrer Unbestimmtheit sind die Tätigkeitsmerkmale verfassungskonform und justiziabel210. Den jeweiligen Tätigkeitsmerkmalen sind vielfach Protokollerklärungen angefügt, die für die Merkmale gelten, die einen entsprechenden Hinweis enthalten. Die Protokollerklärungen sind selbst Tarifbestandteil und entfalten mithin Tarifcharakter, dh. haben die gleiche Bindungswirkung wie Tarifnormen211. Für ihre Auslegung 209 Zum Begriff der „abgeschlossenen wissenschaftlichen Hochschulausbildung“ vgl. etwa die Protokollerklärung Nr. 1 zu Teil I der Entgeltordnung TV-L. 210 BAG v. 29.1.1986 – 4 AZR 465/84, AP Nr. 115 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 211 BAG v. 7.12.1977 – 4 AZR 399/76, AP Nr. 3 zu §§ 22, 23 BAT 1975.

Natter

787

23.150

§ 23 Rz. 23.150

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

gelten daher die von der Rechtsprechung für die Auslegung von Tarifverträgen entwickelten Grundsätze212. 3. Die Rechtsprechung des BAG zu Definition und Auslegung der wichtigsten allgemeinen Tätigkeitsmerkmale a) Gründliche Fachkenntnisse

23.151 Zu den Fachkenntnissen sind all diejenigen Kenntnisse eines Beschäftigten zu rechnen, die unerlässlich sind, um die übertragenen Aufgaben ordnungsgemäß erfüllen zu können. Gründliche Fachkenntnisse liegen vor, wenn der Beschäftigte über nähere Kenntnisse von Gesetzen, Verwaltungsvorschriften und Tarifbestimmungen usw. seines Aufgabengebiets verfügen muss (zB Protokollerklärung Nr. 7 zu Teil I der EntgO TV-L).

23.152 Nach der Rechtsprechung des BAG hat dieses Tatbestandsmerkmal sowohl ein qualitatives als auch ein quantitatives Element, wonach Fachkenntnisse von nicht ganz unerheblichem Ausmaß und nicht nur oberflächlicher Art erforderlich sind213. Dabei ist es nicht notwendig, dass sich die Fachkenntnisse auf Rechtsvorschriften beziehen. So hat das BAG bspw. historische, architekturhistorische und fremdsprachliche Kenntnisse, aber auch bautechnische Kenntnisse sowie Kenntnisse unterschiedlicher Regelwerke für die Flächenberechnung, die Ermittlung der Nutzer sowie der Nutzung und für die Feststellung der Kapazitätswirksamkeit vorhandener Flächen als ausreichend angesehen214. Auch ist es hinlänglich, wenn die gründlichen Fachkenntnisse auf dem abgegrenzten Teilgebiet, in dem der Angestellte beschäftigt ist, benötigt werden. Allseitige Fachkenntnisse auf dem gesamten Gebiet der Verwaltung sind nicht erforderlich215. b) Gründliche und vielseitige Fachkenntnisse

23.153 Nach der Protokollerklärung Nr. 6 zum Teil I der EntgO TV-L brauchen sich die gründlichen und vielseitigen Fachkenntnisse nicht auf das Gesamtgebiet der Verwaltung (des Betriebs), bei dem der Arbeitnehmer beschäftigt ist, zu beziehen. Der Aufgabenkreis des Beschäftigten muss aber so gestaltet sein, dass er nur bei Vorhandensein gründlicher und vielseitiger Fachkenntnisse ordnungsgemäß bearbeitet werden kann.

23.154 Gefordert wird damit eine Erweiterung der Fachkenntnisse dem Umfang nach216. Dabei kann sich die Vielseitigkeit insbesondere aus der Menge der anzuwenden Vorschriften und Bestimmungen ergeben. Die Vielseitigkeit kann aber ebenso gut erfüllt sein, wenn der Beschäftigte nur auf einem speziellen, abgegrenzten Sachgebiet tätig wird217. Dazu kann auch Erfahrungs-

212 BAG v. 18.5.1994 – 4 AZR 412/93, AP Nr. 175 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 213 BAG v. 28.9.1994 – 4 AZR 542/93, AP Nr. 185 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 21.3.2012 – 4 AZR 266/10, ZTR 2012, 440; v. 5.7.2007 – 4 AZR 866/15, ZTR 2018, 78; v. 27.2.2019 – 4 AZR 562/17, AP Nr. 340 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 214 BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 512/92, NZA 1994, 39; v. 20.10.1993 – 4 AZR 45/93, NZA 1994, 560; v. 21.3.2012 – 4 AZR 266/10, ZTR 2012, 440. 215 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 221/96, AP Nr. 237 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 216 BAG v. 28.9.1994 – 4 AZR 542/93, AP Nr. 185 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 21.3.2012 – 4 AZR 266/10, ZTR 2012, 440. 217 BAG v. 29.8.1984 – 4 AZR 338/82, AP Nr. 94 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 23.9.2009 – 4 AZR 308/08, ZTR 2010, 243.

788

Natter

Die wichtigsten Tätigkeitsmerkmale und Begriffe der Entgeltordnungen

Rz. 23.158 § 23

wissen gehören, das er für die ihm übertragene Tätigkeit benötigt218. Vielfach lässt sich das Vorliegen von „vielseitigen“ Fachkenntnissen erst im Rahmen einer Gesamtschau von mehreren Arbeitsvorgängen feststellen (vgl. § 12 Abs. 2 Satz 3 TVöD bzw. § 12 Abs. 1 Satz 5 TV-L). c) Gründliche, umfassende Fachkenntnisse Das Merkmal der gründlichen, umfassenden Fachkenntnisse wird erstmals in der Entgeltgruppe 9 (b) verwendet. Nach der Protokollerklärung zu Teil I der EntgO TV-L bedeuten gründliche, umfassende Fachkenntnisse gegenüber den gründlichen und vielseitigen Fachkenntnissen eine Steigerung der Tiefe und der Breite nach.

23.155

Die gründlichen, umfassenden Fachkenntnisse müssen allerdings nicht für sich, sondern insgesamt gegenüber den Merkmalen „gründlich“ und „vielseitig“ eine Steigerung aufweisen, dh. auch hinsichtlich der Gründlichkeit. Der Begriff „gründliche, umfassende Fachkenntnisse“ ist daher den gründlichen und vielseitigen Fachkenntnissen zusammenfassend gegenüberzustellen und einheitlich zu bewerten219. Damit reicht eine größere Breite allein nicht aus. Daneben muss auch eine Steigerung in der Tiefe vorhanden sein; die Tätigkeit muss vertiefte Kenntnisse der Materie erfordern. Nur wenn eine entsprechende Steigerung nach Tiefe und Breite, nach Qualität und Quantität, gegenüber dem Tätigkeitsmerkmal „gründliche und vielseitige Fachkenntnisse“ festgestellt werden kann, ist das Tätigkeitsmerkmal „gründliche, umfassende Fachkenntnisse“ erfüllt. Umfassende Fachkenntnisse werden danach für einen Aufgabenkreis jedenfalls dann nicht benötigt, wenn dieser im Verhältnis zu dem Gesamtgebiet oder den Gebieten der beschäftigenden Verwaltung nur einen relativ geringen Ausschnitt darstellt220.

23.156

d) Selbständige Leistungen Dieses Merkmal wird erstmals in der Entgeltgruppe 8 (Bund, Länder) bzw. Entgeltgruppe 7 (VKA) verwendet. Nach der Protokollerklärung Nr. 5 zum Teil I der EntgO TV-L erfordern selbständige Leistungen ein den vorausgesetzten Fachkenntnissen entsprechendes selbständiges Erarbeiten eines Ergebnisses unter Entwicklung einer eigenen geistigen Initiative; eine leichte geistige Tätigkeit kann diese Anforderung nicht erfüllen.

23.157

Nach der Rechtsprechung des BAG221 darf das Tatbestandsmerkmal „selbständige Leistungen“ nicht mit dem Begriff „selbständig arbeiten“, dh. ohne direkte Aufsicht oder Lenkung durch Weisungen tätig zu sein, verwechselt werden. Unter selbständiger Leistung ist vielmehr eine Gedankenarbeit zu verstehen, die im Rahmen der für die Vergütungsgruppe vorausgesetzten Fachkenntnisse hinsichtlich der einzuschlagenden Wege, wie insbesondere hinsichtlich des zu findenden Ergebnisses eine eigene Beurteilung und eine eigene Entschließung erfordert. Kennzeichnend für selbständige Leistungen im tariflichen Sinne können nach der Rechtsprechung des BAG – ohne Bindung an verwaltungsrechtliche Fachbegriffe – ein wie auch immer gearteter Ermessens-, Entscheidungs-, Gestaltungs- oder Beurteilungsspiel-

23.158

218 BAG v. 29.8.1984 – 4 AZR 338/82, AP Nr. 94 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 219 BAG v. 8.11.1967 – 4 AZR 9/67, AP Nr. 12 zu §§ 22, 23 BAT; v. 18.2.1998 – 4 AZR 552/96, ZTR 1998, 321; v. 5.7.2017 – 4 AZR 866/15, AP Nr. 338 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 220 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 221/96, AP Nr. 237 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 221 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 221/96, AP Nr. 237 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 6.6.2007 – 4 AZR 456/06, ZTR 2008, 156; v. 6.6.2007 – 4 AZR 505/06, ZTR 2008, 156; v. 22.4.2009 – 4 AZR 166/08, ZTR 2009, 581; v. 21.3.2012 – 4 AZR 266/10, ZTR 2012, 440.

Natter

789

§ 23 Rz. 23.158

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

raum bei der Erarbeitung eines Arbeitsergebnisses sein222. Vom Beschäftigten werden Abwägungsprozesse verlangt, es werden Anforderungen an das Überlegungsvermögen gestellt; der Beschäftigte muss demnach unterschiedliche Informationen verknüpfen und untereinander abwägen und zu einer Entscheidung kommen. Auch wenn dieser Prozess geistiger Arbeit bei einer entsprechenden Routine durchaus schnell ablaufen kann, bleibt dennoch das Faktum der geistigen Arbeit bestehen.

23.159 Geistige Arbeit wird also immer dann geleistet, wenn der Beschäftigte sich bei der Arbeit fragen muss: Wie geht es nun weiter? Worauf kommt es nun an? Was muss als Nächstes geschehen223? Ist der „richtige Weg“ des Beschäftigten hingegen bis in alle Einzelheiten durch bindende Vorschriften vorgezeichnet, ist für die Annahme eines irgendwie gearteten Gestaltungsspielraums, also für die Annahme selbständiger Leistungen demgegenüber kein Raum224. Ob eine Tätigkeit selbständige Leistungen im tariflichen Sinne erfordert, kann der Natur der Anforderung nach nicht im Wege einer Gesamtbetrachtung, sondern nur bezogen auf den jeweiligen Arbeitsvorgang beurteilt werden. Allein die allgemein gehaltene Fassung des Tätigkeitsmerkmals rechtfertigt die zusammenfassende Betrachtung nicht225. e) Besonders verantwortungsvolle Tätigkeit

23.160 Seit seiner grundlegenden Entscheidung vom 29.1.1986226 vertritt das BAG zur Auslegung des Heraushebungsmerkmals „besonders verantwortungsvolle Tätigkeit“ iS etwa der Entgeltgruppe 9 Fallgruppe 1 der EntgO TV-L in ständiger Rechtsprechung die folgende Auffassung: – Die Tarifvertragsparteien hätten mit dem Rechtsbegriff der „Verantwortung“ bzw. der „besonders verantwortlichen Tätigkeit“, womit inhaltlich dasselbe gemeint sei, nicht auf die jeweilige zivilrechtliche oder strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angestellten abgestellt, auch nicht auf die sog. „politische Verantwortung“. – Nach dem erkennbaren Sinn und Zweck der Tarifnormen sei vielmehr auf die Bedeutung des Wortes „Verantwortung“ im allgemeinen Sprachgebrauch zurückzugreifen. Dieser verstehe darunter die mit einer bestimmten Stellung oder Aufgabe verbundene Verantwortung, dh. die Verpflichtung, der jeweiligen Stellung oder Aufgabe entsprechend dafür zu sorgen, dass innerhalb eines bestimmten Rahmens oder Lebensbereiches alles einen guten Verlauf nehme. In diesem Sinne verstünden die Tarifvertragsparteien unter „Verantwortung“ auch im Rahmen des Tarifmerkmals die Verpflichtung des Beschäftigten, dafür einstehen zu müssen, dass in dem ihm übertragenen Dienst- oder Aufgabenbereich die dort – auch von anderen Bediensteten – zu erledigenden Aufgaben sachgerecht, pünktlich und vorschriftgemäß ausgeführt würden. – Dabei könne sich – je nach Lage des Einzelfalls – die tariflich geforderte Verantwortung, da sie sich ausdrücklich auf den konkreten Dienst- oder Aufgabenbereich beziehe, auf andere Mitarbeiter oder dritte Personen, Sachen, Arbeitsabläufe, zu gewinnende wissenschaftliche Resultate oder – wie etwa beim Einsatz von Computern – auf technische Zusammenhänge beziehen. Für das Vorliegen der tariflich geforderten Verantwortung könne auch der Um-

222 223 224 225 226

790

BAG v. 14.8.1985 – 4 AZR 21/84, AP Nr. 109 zu §§ 22, 23 BAT 1975. BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 221/96, AP Nr. 237 zu §§ 22, 23 BAT 1975. BAG v. 14.8.1985 – 4 AZR 21/84, AP Nr. 109 zu §§ 22, 23 BAT 1975. BAG v. 22.2.2017 – 4 AZR 514/16, ZTR 2017, 352. BAG v. 29.1.1986 – 4 AZR 465/84, AP Nr. 115 zu §§ 22, 23 BAT 1975.

Natter

Die wichtigsten Tätigkeitsmerkmale und Begriffe der Entgeltordnungen

Rz. 23.163 § 23

stand sprechen, dass die Tätigkeit des betreffenden Angestellten keiner weiteren oder nur einer lockeren Kontrolle oder Überprüfung unterliegt. – Da die Tarifvertragsparteien darauf verzichteten, konkrete Gründe für die Verantwortung des Beschäftigten zu normieren, sei daran festzuhalten, dass Mitverantwortung ausreichend und die Unterstellung eines Beschäftigten unter Vorgesetzte unschädlich sein könne und damit der Annahme der herausgehobenen Verantwortung nicht schlechthin entgegenstehe227. – Von einer „besonderen Verantwortung“ könne nur dort gesprochen werden, wo sich die Tätigkeit des Beschäftigten, gemessen an und ausgehend von der Summe der Erfordernisse der Vergütungsgruppe, aus welcher sich die Tätigkeit durch eine besondere Verantwortlichkeit herausheben müsse, durch das Maß der geforderten Verantwortung in gewichtiger, beträchtlicher Weise heraushebe228. Gefordert ist ein wertender Vergleich mit dem unausgesprochen in dem letztgenannten Tätigkeitsmerkmal vorausgesetzten Maß der Verantwortung229.

23.161

Einstweilen frei. f) Besondere Schwierigkeit und Bedeutung Das Heraushebungsmerkmal der „besonderen Schwierigkeit und Bedeutung“ wird erstmals etwa in der Entgeltgruppe 10 der EntgO TV-L erwähnt.

23.162

Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG230 bezieht sich die tarifliche Anforderung der 23.163 besonderen Schwierigkeit der Tätigkeit auf die fachliche Qualifikation des Beschäftigten, also auf sein fachliches Können und seine fachliche Erfahrung. In der Entgeltgruppe 10 werde mithin ein Wissen und Können verlangt, das die Anforderungen der Entgeltgruppe 9 Fallgruppe 1 in gewichtiger Weise, dh. beträchtlich übersteige. Diese erhöhte Qualifikation könne sich im Einzelfall aus der Breite und Tiefe des geforderten fachlichen Wissens und Könnens ergeben, aber auch aus außergewöhnlichen Erfahrungen oder einer sonstigen gleichwertigen Qualifikation, etwa besonderen Spezialkenntnissen. Dabei sei allerdings zu beachten, dass die Tarifvertragsparteien die Anforderungen der besonderen Schwierigkeit und Bedeutung gegenständlich nicht beschränkt hätten. Sie forderten lediglich, dass die Tätigkeit des Beschäftigten selbst die erforderliche Qualifikation verlange. Deshalb müsse sich die Schwierigkeit unmittelbar aus der Tätigkeit ergeben, so dass eine Tätigkeit nicht deshalb als besonders schwierig im tariflichen Sinne angesehen werden könne, weil sie etwa unter belastenden oder in sonstiger Weise unangenehmen Bedingungen geleistet werden müsse231.

227 BAG v. 19.3.1986 – 4 AZR 642/84, AP Nr. 116 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 228 BAG v. 19.3.1986 – 4 AZR 642/84, AP Nr. 116 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 9.5.2007 – 4 AZR 351/06, nv. 229 BAG v. 27.8.2008 – 4 AZR 470/07, ZTR 2009, 143; v. 21.1.2015 – 4 AZR 253/13, ZTR 2015, 642. 230 BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 298/00, ZTR 2002, 178; v. 25.2.2009 – 4 AZR 20/08, ZTR 2009, 479; v. 19.5.2010 – 4 AZR 912/08, ZTR 2010, 577; v. 21.3.2012 – 4 AZR 292/10, ZTR 2012, 628; v. 9.12.2015 – 4 AZR 11/13, öAT 2016, 168. 231 BAG v. 4.9.1995 – 4 AZR 174/95, AP Nr. 217 zu §§ 22, 23 BAT 1975.

Natter

791

§ 23 Rz. 23.164

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

23.164 Eine Heraushebung durch eine „besondere Schwierigkeit“ ist dann anzunehmen, wenn die Schwierigkeit der Tätigkeit in herausgehobener, erhöhter Weise gesteigert ist232. Verlangt wird hier eine beträchtliche, gewichtige Heraushebung in den fachlichen Anforderungen gegenüber der Entgeltgruppe 9 Fallgruppe 1233.

23.165 Mit dem Merkmal der „Bedeutung“ der Tätigkeit sind nach der Rechtsprechung des BAG die Auswirkungen der Tätigkeit angesprochen234. Die Bedeutung kann, da die Tarifvertragsparteien davon abgesehen haben, den Begriff der Bedeutung gegenständlich oder inhaltlich zu begrenzen, grundsätzlich durch jede Art der Auswirkung der Tätigkeit des Beschäftigten begründet werden. Dabei kommen Auswirkungen aus der Art oder der Größe des Aufgabengebietes sowie aus der Tragweite für den innerdienstlichen Bereich oder für die Allgemeinheit in Betracht235.

23.166 Während bei der Heraushebung durch „besondere Schwierigkeit“ eine beträchtliche, gewichtige Heraushebung bei den fachlichen Anforderungen gegenüber der Entgeltgruppe 9 Fallgruppe 1 verlangt wird, genügt bei der „gesteigerten Bedeutung“ eine deutlich wahrnehmbare Heraushebung236. g) Das Maß der Verantwortung

23.167 Die erstmals etwa in der Entgeltgruppe 12 der EntgO zum TV-L erwähnte erhebliche Heraushebung durch das „Maß der damit verbundenen Verantwortung“ knüpft wiederum an den Begriff der Verantwortung an. Dabei ist nach der Rechtsprechung des BAG unter „Verantwortung“ die Verpflichtung des Beschäftigten zu verstehen, dafür einstehen zu müssen, dass in dem ihm übertragenen Dienst- oder Arbeitsbereich die dort – auch von anderen Bediensteten – zu erledigenden Arbeiten sachgerecht, pünktlich und vorschriftsmäßig ausgeführt werden. Je nach Lage des Einzelfalles kann sich die geforderte Verantwortung auf andere Mitarbeiter, Sachen, Arbeitsabläufe, zu gewinnende wissenschaftliche Ergebnisse oder auf technische Zusammenhänge beziehen237.

23.168 In der Entgeltgruppe 12 fordern die Tarifvertragsparteien eine erhebliche Heraushebung durch das Maß der Verantwortung. Damit ist eine beträchtliche, gewichtige Heraushebung und damit eine besonders weit reichende hohe Verantwortung zu fordern238. Dieses angesprochene Maß der Verantwortung kann nur in einer Spitzenposition des gehobenen Dienstes erreicht werden. So erfüllen bspw. Beschäftigte dieses Tätigkeitsmerkmal, die entweder große Arbeitsbereiche bei Verantwortung für mehrere Arbeitsgruppen mit qualifizierten Gruppen-

232 BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 389/99, ZTR 2001, 125. 233 BAG v. 9.7.1997 – 4 AZR 780/95, AP Nr. 39 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 234 BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 191/04, ZTR 2005, 643; v. 19.5.2010 – 4 AZR 912/08, ZTR 2010, 577; v. 21.3.2012 – 4 AZR 292/10, ZTR 2012, 628. 235 BAG v. 29.9.1993 – 4 AZR 690/92, AP Nr. 7 zu §§ 22, 23 BAT Sozialarbeiter; v. 20.5.2009 – 4 AZR 184/08, ZTR 2009, 636. 236 BAG v. 24.9.1997 – 4 AZR 431/96, AP Nr. 226 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 21.6.2000 – 4 AZR 389/99, ZTR 2001, 125; v. 20.6.2001 – 4 AZR 288/00, ZTR 2002, 178; v. 20.5.2009 – 4 AZR 184/08, ZTR 2009, 636. 237 BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 389/99, ZTR 2001, 125. 238 BAG v. 9.7.1997 – 4 AZR 780/95, AP Nr. 39 zu §§ 22, 23 BAT Sozialarbeiter; v. 21.6.2000 – 4 AZR 389/99, ZTR 2001, 125.

792

Natter

Die wichtigsten Tätigkeitsmerkmale und Begriffe der Entgeltordnungen

Rz. 23.171 § 23

leitern leiten oder besonders schwierige Grundsatzfragen bei der Lösung von Fragen richtungweisender Bedeutung für nachgeordnete Bereiche oder die Allgemeinheit bearbeiten239. h) Die Erfüllung des besonderen zeitlichen Ausmaßes der Tätigkeitsmerkmale § 12 Abs. 2 Satz 2 TVöD/§ 12 Abs. 1 Satz 4 TV-L bestimmt, in welchem zeitlichen Umfang die tätigkeitsbezogenen Anforderungen einer Eingruppierungsnorm erfüllt sein müssen. Danach entspricht die gesamte auszuübende Tätigkeit den Tätigkeitsmerkmalen einer Entgeltgruppe, wenn zeitlich mindestens zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die für sich genommen die Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmals oder mehrerer Tätigkeitsmerkmale dieser Entgeltgruppe erfüllen. Damit haben die Tarifvertragsparteien sich grundsätzlich auf das „Hälftelungsprinzip“, dh. auf das zeitliche Maß zur Hälfte geeinigt240. Dieser Grundsatz wird durch die Ausnahmeregelung in § 12 Abs. 2 Satz 5 TVöD/§ 12 Abs. 1 Satz 7 TV-L ergänzt. In den Fällen, in denen in einer Eingruppierungsnorm ein hiervon abweichendes zeitliches Maß bestimmt ist, gilt dieses. Dies bedeutet:

23.169

– Sofern eine Eingruppierungsnorm kein zeitliches Maß enthält, gilt das zeitliche Maß „mindestens zur Hälfte“. – Haben die Tarifvertragsparteien in einer Eingruppierungsnorm ein hiervon abweichendes zeitliches Maß vereinbart, so gilt dieses. Verschiedene Entgelt- bzw. Fallgruppen sehen im Hinblick auf bestimmte Tätigkeitsmerkmale ein abweichendes zeitliches Maß und damit eine quantitativ beschränkte Heraushebung auf mindestens 1/3, 1/4 bzw. mindestens 1/5 vor.

23.170

– So ist für eine Eingruppierung in Entgeltgruppe 10 der EntgO Tv-L erforderlich, dass sich die Tätigkeit des Beschäftigten mindestens zu 1/3 durch besondere Schwierigkeit und Bedeutung aus der Vergütungsgruppe IVb Fallgruppe 1a heraushebt. – Eine Eingruppierung in Entgeltgruppe 8 der EntgO TV-L kommt bspw. nur dann in Betracht, wenn die Tätigkeit des Beschäftigten mindestens zu 1/3 selbständige Leistungen erfordert. – Für eine Eingruppierung in Entgeltgruppe 4 Fallgruppe 2 ist es notwendig, dass sich die Tätigkeit des Beschäftigten dadurch aus der Entgeltgruppe 3 heraushebt, dass sie mindestens zu 1/4 gründliche Fachkenntnisse erfordert. Wird in einer Entgelt- bzw. Fallgruppe die geforderte Heraushebung in zuvor bezeichnetem 23.171 Sinne quantitativ beschränkt, so stellt sich, da die Tarifvertragsparteien dies nicht ausdrücklich näher bestimmt haben, die Frage nach der rechtlichen Realisierung dieser quantitativen Beschränkung. Das BAG hat hierzu in seiner grundlegenden Entscheidung vom 19.3.1986241, mit der es seine bisherige Rechtsprechung242 aufgegeben hat, zunächst auf drei denkbare Lösungsmöglichkeiten hingewiesen: 239 BAG v. 9.7.1997 – 4 AZR 780/95, AP Nr. 39 zu §§ 22, 23 BAT Sozialarbeiter; v. 20.6.2001 – 4 AZR 288/00, ZTR 2002, 178; v. 7.5.2008 – 4 AZR 303/07, ZTR 2008, 668. 240 Krasemann, S. 241. 241 BAG v. 19.3.1986 – 4 AZR 642/84, AP Nr. 116 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 242 BAG v. 28.3.1979 – 4 AZR 446/77, AP Nr. 19 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 2.12.1981 – 4 AZR 347/79, AP Nr. 53 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 1.9.1982 – 4 AZR 1134/79, AP Nr. 68 zu §§ 22, 23 BAT 1975.

Natter

793

§ 23 Rz. 23.171

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

– Lösungsmöglichkeit Nr. 1 Hier wird unter Verzicht auf die Bildung von Arbeitsvorgängen auf die gesamte auszuübende Tätigkeit des Angestellten abgestellt und demzufolge rein quantitativ geprüft, ob die die Gesamtarbeitszeit des Angestellten ausmachenden Aufgaben die tariflichen Anforderungen in dem geforderten zeitlichen Maß erfüllen. – Lösungsmöglichkeit Nr. 2 Hier wird die Gesamttätigkeit des Angestellten in Arbeitsvorgänge aufgespalten und sodann geprüft, innerhalb welcher Arbeitsvorgänge das tariflich geforderte zeitliche Maß erfüllt ist. – Lösungsmöglichkeit Nr. 3 Auch hier wird die Gesamttätigkeit des Angestellten wiederum in Arbeitsvorgänge aufgespalten. Sodann wird festgestellt, welche Arbeitsvorgänge die Anforderungen der Tätigkeitsmerkmale erfüllen. Dabei ist es zur Erfüllung der tariflichen Anforderungen ausreichend, wenn die Tätigkeitsmerkmale innerhalb des Arbeitsvorgangs in rechtlich erheblichem Ausmaß vorliegen; nicht erforderlich ist es, dass die Tätigkeitsmerkmale innerhalb eines Arbeitsvorgangs ihrerseits in dem von § 22 Abs. 2 Unterabs. 2 und 4 BAT bestimmten Maß anfallen.

23.172 Das BAG hat sich in der zuvor erwähnten Entscheidung243 für die 3. Lösungsmöglichkeit entschieden. Zur Begründung hat es darauf hingewiesen, dass die Tarifvertragsparteien mit § 22 BAT die Arbeitsvorgänge zur grundlegenden und universalen Bezugsgröße für die tarifliche Mindestvergütung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst gemacht hätten. Im Übrigen sei nach Nr. 1 Satz 2 der Protokollnotizen zu § 22 Abs. 2 BAT jeder einzelne Arbeitsvorgang zu bewerten und dürfe hinsichtlich der Anforderungen zeitlich nicht aufgespalten werden. Diese Rechtsprechung hat das BAG in zahlreichen weiteren Entscheidungen fortgeführt244. Dabei hat es zudem ausgeführt, dass der jeweilige Arbeitsvorgang dann in rechtserheblichem Ausmaß die Anforderungen der Qualifizierungsmerkmale erfülle, wenn ohne sie ein sinnvoll verwertbares Arbeitsergebnis nicht erzielt würde245. Zu den Auswirkungen dieser Rechtsprechung auf die „Hierarchie“ der Tätigkeitsmerkmale wird auf die Ausführungen unter Rz. 23.90 ff. verwiesen. Die Tarifvertragsparteien des TV-L haben anlässlich der Tarifeinigung vom 2.3.2019 eine Verhandlungsklausel zum Begriff des Arbeitsvorgangs und des Aufspaltungsverbots vereinbart246.

23.173 Nach alledem sind in der Praxis folgende Schritte vorzunehmen: 1. Schritt – Die Gesamttätigkeit des Beschäftigten ist in Arbeitsvorgänge zu zerlegen.

243 BAG v. 19.3.1986 – 4 AZR 642/84, AP Nr. 116 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 244 Vgl. nur BAG v. 18.7.1990 – 4 AZR 25/90, AP Nr. 151 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 18.5.1994 – 4 AZR 461/93, AP Nr. 178 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 22.3.1995 – 4 AZN 1105/94, NZA 1996, 42; v. 6.6.2007 – 4 AZR 456/06, ZTR 2008, 156; v. 6.6.2007 – 4 AZR 505/06, ZTR 2008, 156; v. 22.4.2009 – 4 AZR 166/08, ZTR 2009, 581; v. 23.9.2009 – 4 AZR 308/08, ZTR 2010, 243; v. 21.3.2012 – 4 AZR 266/10, ZTR 2012, 440. 245 BAG v. 18.5.1994 – 4 AZR 461/93, AP Nr. 178 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 246 Hierzu Natter/Sänger, ZTR 2019, 675.

794

Natter

Die wichtigsten Tätigkeitsmerkmale und Begriffe der Entgeltordnungen

Rz. 23.176 § 23

2. Schritt – Sodann ist die Zeit zur Erledigung eines jeden Arbeitsvorgangs zu bestimmen. 3. Schritt – Danach ist festzustellen, welcher Arbeitsvorgang den Anforderungen des Tätigkeitsmerkmals/der Tätigkeitsmerkmale entspricht. Dabei reicht es aus, wenn die Tätigkeitsmerkmale innerhalb des Arbeitsvorgangs in rechtlich erheblichem Ausmaß vorliegen. 4. Schritt – Letztlich ist festzustellen, ob die Zeit für die Erledigung der Arbeitsvorgänge, die den Anforderungen des Tätigkeitsmerkmals bzw. der Tätigkeitsmerkmale entsprechen, mindestens den tariflich geforderten zeitlichen Anteil an der Gesamtarbeitszeit des Beschäftigten ausmacht. i) Die sonstigen Beschäftigten Eine Reihe von Tätigkeitsmerkmalen sieht als personenbezogene Anforderung eine bestimmte Ausbildung vor. Um zu gewährleisten, dass Arbeitnehmer, die zwar nicht über die formale Vor- bzw. Ausbildung verfügen, aber entsprechende Fähigkeiten – wie auch immer erworben – besitzen, in gleicher Weise vergütet werden wie diejenigen mit dem formalen Abschluss, haben die Tarifvertragsparteien in den meisten Fällen die Geltung der Tätigkeitsmerkmale auch für die sonstigen Beschäftigten vereinbart.

23.174

Um sonstiger Beschäftigter im Sinne der Eingruppierungsnormen des TVöD/TV-L zu sein, müssen nach der Rechtsprechung des BAG kumulativ zwei Voraussetzungen erfüllt sein:

23.175

1. Subjektiv muss der Beschäftigte über Fähigkeiten und Erfahrungen verfügen, die denen entsprechen, die ein Absolvent der geforderten Ausbildung hat. Dabei wird zwar nicht ein Wissen und Können verlangt, wie es durch die geforderte Ausbildung vermittelt wird, wohl aber eine ähnlich gründliche Beherrschung eines entsprechenden umfangreichen Wissensgebietes. Fähigkeiten und Erfahrungen auf einem eng begrenzten Teilgebiet sind hingegen nicht ausreichend247. 2. Objektiv muss der Beschäftigte zudem eine entsprechende Tätigkeit, dh. mit dem der geforderten Ausbildung entsprechenden Zuschnitt, auszuüben haben248. Im Hinblick auf die subjektiven Voraussetzungen hat das BAG seine Rechtsprechung weiter dahin konkretisiert, dass es zwar rechtlich möglich sei, aus der ausgeübten Tätigkeit des Beschäftigten Rückschlüsse auf seine Fähigkeiten und Erfahrungen zu ziehen249. Hieraus könne jedoch weder ein Rechtssatz noch der allgemeine Erfahrungssatz hergeleitet werden, dass ein „sonstiger Beschäftigter“ immer dann, wenn er eine „entsprechende Tätigkeit“ ausübe, auch über „gleichwertige Fähigkeiten und Erfahrungen“ im tariflichen Sinne verfüge. Auch wenn 247 BAG v. 18.12.1996 – 4 AZR 319/95, AP Nr. 221 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 8.10.1997 – 4 AZR 151/96, AP Nr. 232 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 25.3.1998 – 4 AZR 670/96, AP Nr. 251 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 22.3.2000 – 4 AZR 116/99, AP Nr. 275 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 248 BAG v. 22.7.1998 – 4 AZR 399/97, AP Nr. 252 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 249 Vgl. nur BAG v. 8.10.1997 – 4 AZR 151/96, AP Nr. 232 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 25.1.2017 – 4 AZR 379/15, NZA 2017, 1009.

Natter

795

23.176

§ 23 Rz. 23.176

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

der Beschäftigte eine „entsprechende Tätigkeit“ ausübe, müsse geprüft werden, ob er das Wissensgebiet eines Beschäftigten mit der in der 1. Alternative vorausgesetzten Ausbildung mit ähnlicher Gründlichkeit beherrsche250.

23.177 Ist in einem Tätigkeitsmerkmal eine Vorbildung oder Ausbildung als Anforderung bestimmt, ohne dass sonstige Beschäftigte, die aufgrund gleichwertiger Fähigkeiten und ihrer Erfahrungen entsprechende Tätigkeiten ausüben, von ihm erfasst werden, sind Beschäftigte, die die geforderte Aus- bzw. Vorbildung nicht besitzen, bei Erfüllung der sonstigen Anforderungen des Tätigkeitsmerkmals nach der Vorbemerkung Nr. 1 Abs. 3 zu allen Teilen der Entgeltordnung TV-L, § 12 Abs. 1 des Tarifvertrags über die Entgeltordnung des Bundes und Nr. 2 der grundsätzlichen Eingruppierungsregelungen (VKA) in die nächst niedrigere Vergütungsgruppe eingruppiert.

23.178 Einstweilen frei.

VII. Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen 1. Die Entgeltordnung zum TV-L

23.179 Im Verlauf der Verhandlungen zum TV-L bis zum Jahr 2006 hatten die Tarifpartner des TV-L die Kernbereiche des neuen Eingruppierungsrechts zurückgestellt und den TV-L ohne Neuregelung dieser Bereiche vereinbart251. Die §§ 12 und 13 TV-L waren bis auf die Überschriften inhaltlich nicht belegt. In Klammerzusätzen war jeweils vermerkt: „(Derzeit nicht belegt, wird im Zusammenhang mit einer Entgeltordnung geregelt)“. Im Rahmen der Tarifrunde 2011 zum TV-L haben sich die Gewerkschaften und die Tarifgemeinschaft deutscher Länder sodann auf eine inhaltliche Ausgestaltung der §§ 12, 13 TV-L und eine neue Entgeltordnung verständigt. Die §§ 12 und 13 TV-L sowie die (neue) Entgeltordnung zum TV-L (als Anlage A) wurden durch den Änderungstarifvertrag Nr. 4 zum TV-L vom 2.1.2012 in den TV-L aufgenommen und sind zum 1.1.2012 in Kraft getreten. a) Die §§ 12 und 13 TV-L

23.180 Die §§ 12 und 13 TV-L haben im Wesentlichen den Inhalt der §§ 22 und 23 BAT übernommen.

23.181 § 12 TV-L hat für die Grundeingruppierung und die Höhergruppierung sämtlicher Beschäftigten, dh. sowohl der Angestellten als auch der Arbeiter, die in § 22 BAT normierten Eingruppierungsgrundsätze übernommen252, so dass die hierzu ergangene Rechtsprechung des BAG weiter von Bedeutung bleibt.

23.182 Danach gilt insbesondere der Grundsatz der Tarifautomatik (vgl. hierzu Ausführungen unter Rz. 23.36 ff.) fort, wonach sich die Eingruppierung als zwingende Rechtsfolge ergibt, wenn die Voraussetzungen des Tätigkeitsmerkmals erfüllt sind. Dem steht nicht § 12 Abs. 2 TV-L entgegen, wonach die Entgeltgruppe im Arbeitsvertrag anzugeben ist. Die Angabe der Entgeltgruppe im Arbeitsvertrag hat lediglich deklaratorische und keine konstitutive Bedeutung253. 250 251 252 253

796

BAG v. 18.12.1996 – 4 AZR 319/95, AP Nr. 221 zu §§ 22, 23 BAT 1975. Vgl. Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L, § 12 Rz. 2. Zetl, ZMV 2011, 260. Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, BeckOK TVöD, TV-L, § 12 Rz. 9; Zetl, ZMV 2012, 10.

Natter

Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen

Rz. 23.188 § 23

Maßgeblich ist ferner weiterhin die gesamte, nicht nur vorübergehend auszuübende Tätigkeit (vgl. hierzu Ausführungen unter Rz. 23.42 ff.). Es kommt deshalb auch unter Geltung des § 12 TV-L nicht auf die vom Beschäftigten tatsächlich ausgeübte, sondern auf die Tätigkeit an, die ihm vom Arbeitgeber ausdrücklich übertragen wurde oder mit dessen Wissen und Duldung ausgeübt wird. Entscheidend ist auch nach § 12 TV-L, dass die auszuübende Tätigkeit auf Dauer und nicht nur zur vorübergehenden Ausübung übertragen wurde.

23.183

Maßgebliche Bewertungseinheit ist – nunmehr auch für die Arbeiter – der Arbeitsvorgang 23.184 (vgl. hierzu Ausführungen unter Rz. 23.79 ff.). Die von den Tarifvertragsparteien in der Protokollerklärung zu § 12 TV-L gegebene Definition des Arbeitsvorgangs stimmt – von redaktionellen Änderungen abgesehen – mit der in den Protokollnotizen zu § 22 Abs. 2 BAT überein. Danach setzt sich die Tätigkeit (wie bisher nach § 22 BAT) eines jeden Beschäftigten – auch der Arbeiter – aus Arbeitsvorgängen zusammen. Die Arbeitsvorgänge sind Grundlage der tariflichen Bewertung. Wie nach § 22 BAT sind auch unter Geltung von § 12 TV-L Zusammenhangstätigkeiten Teil des jeweiligen Arbeitsvorgangs. Auch nach § 12 TV-L gilt weiterhin das sog. Hälfteprinzip (vgl. hierzu Ausführungen unter Rz. 23.79 ff.). Nach § 12 Abs. 1 Satz 4 TV-L entspricht die gesamte auszuübende Tätigkeit den Tätigkeitsmerkmalen einer Entgeltgruppe, wenn zeitlich mindestens zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die für sich genommen die Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmals oder mehrerer Tätigkeitsmerkmale dieser Entgeltgruppe erfüllen. Hierdurch wird eine „Mischbezahlung“ (Zahlung nach unterschiedlichen Entgeltgruppen), wie sie zB beim Tarifvertrag für die Arbeiter möglich war, vermieden254.

23.185

In § 13 TV-L sind die bereits in § 23 BAT normierten Eingruppierungsgrundsätze für eine Höhergruppierung nach sechsmonatiger Ausübung einer höherwertigen Tätigkeit ohne Übertragung durch den Arbeitgeber geregelt. § 13 TV-L regelt – ebenso wie § 23 BAT – die sog. „schleichende Tätigkeitsänderung“255.

23.186

b) Die Entgeltordnung im Einzelnen Für alle Eingruppierungsvorgänge ab 1.1.2012 gilt nunmehr die Entgeltordnung zum TV-L.

23.187

aa) Der Aufbau der Entgeltordnung zum TV-L

23.188

Die neue Entgeltordnung zum TV-L gliedert sich wie folgt: Vorbemerkungen zu allen Teilen der Entgeltordnung Teil I: Allgemeine Tätigkeitsmerkmale für den Verwaltungsdienst Teil II: Tätigkeitsmerkmale für bestimmte Beschäftigtengruppen 1. Archive, Bibliotheken, Büchereien und Museen 2. Ärzte, Apotheker, Tierärzte und Zahnärzte 3. Beschäftigte in Bäderbetrieben

254 Zetl, ZMV 2012, 10. 255 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, BeckOK TVöD, TV-L, § 13 Vor Inhaltsübersicht; vgl. hierzu auch Ausführungen unter Rz. 23.46 ff.

Natter

797

§ 23 Rz. 23.188

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

4. Berechner von Dienst- und Versorgungsbezügen sowie von Entgelten, Beschäftigte in Landesversorgungsämtern 5. Beschäftigte im fernmeldetechnischen Dienst und im Fernmeldebetriebsdienst 6. Beschäftigte in der Forschung 7. Beschäftigte in der Forstverwaltung 8. Beschäftigte im Fremdsprachendienst 9. Beschäftigte im Gartenbau, in der Landwirtschaft und im Weinbau 10. Beschäftigte in Gesundheitsberufen 11. Beschäftigte in der Informationstechnik 12. Beschäftigte im Justizdienst 13. Beschäftigte im Kanzleidienst 14. Beschäftigte im Kassendienst 15. Meister, technische Beschäftigte mit besonderen Aufgaben, Grubenkontrolleure 16. Beschäftigte in Registraturen 17. Beschäftigte mit Restaurierungs-, Präparierungs- und Konservierungsarbeiten 18. Beschäftigte im Rettungsdienst 19. Beschäftigte in der Schifffahrt 20. Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst 21. Beschäftigte in der Steuerverwaltung 22. Ingenieure, Beschäftigte in technischen Berufen 23. Technische Beschäftigte im Eichdienst 24. Beschäftigte an Theatern und Bühnen 25. Wirtschaftspersonal Teil III: Beschäftigte mit körperlich/handwerklich geprägten Tätigkeiten Teil IV: Beschäftigte im Pflegedienst.

23.189 Teil I der Entgeltordnung geht auf die früheren ersten Fallgruppen aus dem Allgemeinen Teil der Anlage 1a zum BAT/BAT-O zurück256. In den Entgeltgruppen 1–12 wird dabei nur auf die Tätigkeit, nicht jedoch auf ein Ausbildungserfordernis abgestellt. Ab Entgeltgruppe 13 ist hingegen eine abgeschlossene wissenschaftliche Hochschulbildung erforderlich. Hierzu zählen – wie aus der Protokollerklärung Nr. 1 Abs. 2 zu Entgeltgruppe 13 ersichtlich – auch akkreditierte Masterabschlüsse, wenn der jeweilige Abschluss den Zugang zur Laufbahn des höheren Dienstes bzw. zur entsprechenden Qualifikationsebene eröffnet257. Die Eingruppierungsmerkmale des Teils I der Entgeltordnung wurden weitgehend aus dem alten 256 Geyer/Baschnagel, ZTR 211, 332. 257 Vgl. auch Wurm, ZfPR 2012, 92.

798

Natter

Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen

Rz. 23.193a § 23

Recht übernommen, so dass zur Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe auf die bisherige Rechtsprechung des BAG zurückgegriffen werden kann. Im Übrigen wurden Systemfehler des alten Rechts korrigiert. Eingruppierungsmerkmale, die im Allgemeinen Teil (Teil I) der Anlage 1a zum BAT an Berufsgruppen anknüpften, finden sich nun nicht mehr in Teil I der Entgeltordnung, sondern sind systemgerecht in Teil II der Entgeltordnung aufgeführt. In Teil II der Entgeltordnung sind in gesonderten Abschnitten Tätigkeitsmerkmale – sog. Funktionsmerkmale – für bestimmte Beschäftigtengruppen vereinbart. Dies gilt auch insoweit, als diese Tätigkeitsmerkmale zuvor in Teil I der Anlage 1a zum BAT aufgeführt waren, wie zB für Beschäftigte im Archiv- und Bibliotheksdienst, Berechner von Dienst- und Versorgungsbezügen, Beschäftigte in der Forschung sowie technische Berufe und Ingenieure. Besondere Tätigkeitsmerkmale für Beschäftigte im Schreibdienst sind in Teil II der Entgeltordnung demgegenüber nicht vereinbart. Hierdurch ist jedoch keine Tariflücke entstanden258, so dass sich deren Eingruppierung nach Teil I der Entgeltordnung richtet.

23.190

Teil III der Entgeltordnung gilt für Beschäftigte mit körperlich/handwerklich geprägten Tätigkeiten. In diesen Teil wurden die – redaktionell überarbeiteten – bisherigen allgemeinen und besonderen Tätigkeitsmerkmale für Arbeiter aus dem Lohngruppenverzeichnis übernommen.

23.191

Teil IV der Entgeltordnung gilt für die Beschäftigten im Pflegedienst. Deren Eingruppierung war zuvor in der Anlage 1b zum BAT/BAT-O geregelt.

23.192

Das Verhältnis der einzelnen Teile der Entgeltordnung zueinander ist in den Vorbemerkungen zu allen Teilen der Entgeltordnung bestimmt. Danach gilt im Verhältnis der Teile I und II zueinander zunächst das Spezialitätsprinzip: Für Beschäftigte, deren Tätigkeit in besonderen Tätigkeitsmerkmalen des Teils II aufgeführt ist, gelten nur die Tätigkeitsmerkmale dieses Teils. Die Tätigkeitsmerkmale des Teils I gelten für diese Beschäftigten weder in der Entgeltgruppe, in der ihre Tätigkeit in Teil II aufgeführt ist, noch in einer höheren Entgeltgruppe (Nr. 1 Abs. 2 Satz 1 und 2 der Vorbemerkungen). Die Tätigkeitsmerkmale der Entgeltgruppen 2 bis 12 des Teils I der Entgeltordnung haben jedoch – wie bislang die ersten Fallgruppen des Teils I der Anlage 1a – nur in begrenztem Umfang eine Auffangfunktion für Tätigkeiten, für die kein spezielles Tätigkeitsmerkmal in Teil II vereinbart ist. Nr. 3 der Vorbemerkungen zu allen Teilen der Entgeltordnung sieht zwar vor, dass für Beschäftigte, deren Tätigkeit nicht in Teil II aufgeführt ist, die Tätigkeitsmerkmale des Teils I gelten, schränkt diese Anordnung dann aber insoweit ein, als in Satz 2 nichts Anderes geregelt sein darf. Danach gelten die Tätigkeitsmerkmale der Entgeltgruppen 2 bis 12 des Teils I nur, sofern die auszuübende Tätigkeit einen unmittelbaren Bezug zu den eigentlichen Aufgaben der betreffenden Verwaltungsdienststellen, -behörden oder -institutionen hat.

23.193

Mit dieser Vereinbarung haben die Tarifvertragsparteien ihre bisherige Auffassung, die vom 23.193a BAG in ständiger Rechtsprechung bestätigt worden war259, tariflich festgeschrieben. Nach Nr. 2 der Vorbemerkungen zu allen Teilen der Entgeltordnung gelten für Beschäftigte mit körperlich/handwerklich geprägten Tätigkeiten ausschließlich die Tätigkeitsmerkmale des Teils III und nach Nr. 3 der Vorbemerkungen für Beschäftigte im Pflegedienst nur die Tätigkeitsmerkmale des Teils IV. Lehrer an allgemein bildenden und berufsbildenden Schulen sind – wie nach bisherigem Recht – von der Entgeltordnung ausgenommen. Nach Nr. 4 der Vor258 Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L, § 12 Rz. 35. 259 Vgl. etwa BAG v. 14.8.1985 – 4 AZR 322/84, AP BAT 1975 §§ 22, 23 Nr. 105.

Natter

799

§ 23 Rz. 23.193a

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

bemerkungen werden aus dem Lehrkräftebereich nur diejenigen Lehrkräfte von der Entgeltordnung erfasst, für die ein besonderes Tätigkeitsmerkmal in Teil II vereinbart wurden. Dabei handelt es sich ausschließlich um Lehrkräfte in den Gesundheits-, Pflege- und technischen Berufen. bb) Zu Teil I der Entgeltordnung im Einzelnen

23.194 Die Tätigkeitsmerkmale der Entgeltgruppen 1 bis 12 knüpfen – wie bislang – ausschließlich an die auszuübende Tätigkeit an und haben keinen Bezug zu einer speziellen Ausbildung.

23.195 In der Entgeltgruppe 1 sind eingruppiert Beschäftigte mit einfachsten Tätigkeiten. Dieses Tätigkeitsmerkmal wurde nahezu unverändert aus der Anlage 4 zum TVÜ-Länder übernommen. Zur Eingruppierung in der Entgeltgruppe 1 im Einzelnen s. die Ausführungen unter 4., Rz. 23.209.

23.196 In die Entgeltgruppen 2 bis 4 wurden zum Teil neue Tätigkeitsmerkmale aufgenommen, bei denen für die Auslegung insoweit nicht auf die Begriffsbestimmungen des Teils I der Anlage 1a zum BAT und damit auch nicht auf die hierzu ergangene Rechtsprechung des BAG zurückgegriffen werden kann. In die Entgeltgruppe 2 eingruppiert sind Beschäftigte im Büro-, Buchhalterei-, sonstigen Innendienst und Außendienst mit einfachen Tätigkeiten. Das Tätigkeitsmerkmal der „einfachen Tätigkeiten“ ist an die Stelle der bisherigen Merkmale „mit einfacheren Arbeiten“ und „mit vorwiegend mechanischer Tätigkeit“ nach der Vergütungsgruppe IXb Fallgruppe 1 und der Vergütungsgruppe X Fallgruppe 1 getreten. Die einfachen Tätigkeiten sind von den Tarifvertragsparteien in der Protokollerklärung Nr. 9 dahin definiert, dass es sich um Tätigkeiten handelt, die weder eine Vor- noch eine Ausbildung, aber eine Einarbeitung erfordern, die über eine sehr kurze Einweisung oder Anlernphase hinausgeht. Die Einarbeitung dient dem Erwerb derjenigen Kenntnisse und Fertigkeiten, die für die Beherrschung der Arbeitsabläufe als solche erforderlich sind. In Entgeltgruppe 3 sind demgegenüber Beschäftigte im Büro-, Buchhalterei-, sonstigen Innendienst und Außendienst mit Tätigkeiten eingruppiert, für die eine eingehende Einarbeitung bzw. eine fachliche Anlernung erforderlich ist, die über eine Einarbeitung iSd. Entgeltgruppe 2 hinausgeht. In die Entgeltgruppe 4 sind schließlich eingruppiert Beschäftigte im Büro-, Buchhalterei-, sonstigen Innendienst und Außendienst mit schwierigen Tätigkeiten (Fallgruppe 1). Nach Nr. 8 der Protokollerklärungen sind schwierige Tätigkeiten solche, die mehr als eine eingehende Einarbeitung bzw. mehr als eine fachliche Anlernung iSd. Entgeltgruppe 3 erfordern, zB durch einen höheren Aufwand an gedanklicher Arbeit. In die Entgeltgruppe 4 sind allerdings auch eingruppiert Beschäftigte im Büro-, Buchhalterei-, sonstigen Innendienst und Außendienst, deren Tätigkeit sich dadurch aus der Entgeltgruppe 3 heraushebt, dass sie mindestens zu einem Viertel gründliche Fachkenntnisse erfordert (Fallgruppe 2). Dieses Tätigkeitsmerkmal geht zurück auf das bisherige Merkmal in Vergütungsgruppe VIII Fallgruppe 1b. Erforderlich sind nach Nr. 7 der Protokollerklärungen – wie nach altem Recht – nähere Kenntnisse von Gesetzen, Verwaltungsvorschriften und Tarifbestimmungen usw. des Aufgabenkreises. Die hierzu ergangene Rechtsprechung kann demnach ohne Weiteres herangezogen werden; zu den „gründlichen Fachkenntnissen“ im Einzelnen vgl. die Ausführungen unter Rz. 23.151 f.

23.197 Die Tätigkeitsmerkmale der Entgeltgruppen 5 bis 8 haben demgegenüber uneingeschränkt Vorläufer im „alten Recht“. Die Eingruppierung in der Entgeltgruppe 5 setzt voraus, dass der Beschäftigte Tätigkeiten auszuüben hat, die gründliche Fachkenntnisse erfordern. Dieses Tätigkeitsmerkmal geht zurück auf das bisherige Merkmal in Vergütungsgruppe VII Fallgruppe 1b und war bereits nach der Anlage 4 zum TVÜ-Länder der Entgeltgruppe 5 zu800

Natter

Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen

Rz. 23.199 § 23

geordnet. Für eine Eingruppierung in die Entgeltgruppe 6 müssen Tätigkeiten auszuüben sein, die gründliche und vielseitige Fachkenntnisse erfordern. Dieses Tätigkeitsmerkmal geht zurück auf das bisherige Merkmal in Vergütungsgruppe VII Fallgruppe 1a, das nach der Anlage 4 zum TVÜ-Länder allerdings der Entgeltgruppe 5 zugeordnet war. Ausweislich Nr. 6 der Protokollerklärungen brauchen sich die gründlichen und vielseitigen Fachkenntnisse – wie nach altem Recht – nicht auf das gesamte Gebiet der Verwaltung/des Betriebes, in der/dem der Beschäftigte tätig ist, zu beziehen. Der Aufgabenkreis des Beschäftigten muss aber so gestaltet sein, dass er nur beim Vorhandensein gründlicher und vielseitiger Fachkenntnisse ordnungsgemäß bearbeitet werden kann260. Die Eingruppierung in der Entgeltgruppe 8 setzt schließlich voraus, dass der Beschäftigte Tätigkeiten auszuüben hat, die gründliche und vielseitige Fachkenntnisse und mindestens zu einem Drittel selbständige Leistungen erfordern. Dieses Tätigkeitsmerkmal geht zurück auf das bisherige Merkmal in Vergütungsgruppe Vc Fallgruppe 1b, das bereits nach der Anlage 4 zum TVÜ-Länder zur Eingruppierung in die Entgeltgruppe 8 führte. Den Begriff der selbständigen Leistungen261 haben die Tarifvertragsparteien in Nr. 5 der Protokollerklärungen definiert. Die Definition stimmt mit der Klammerdefinition zu Vergütungsgruppe VIb Fallgruppe 1a des Teils I der Anlage 1a zum BAT/BAT-O wörtlich überein. Mit der Entgeltgruppe 9 haben die Tarifvertragsparteien eine Reihe von Neuerungen aus der Überleitung in dauerhaftes Eingruppierungsrecht übernommen262. In Entgeltgruppe 9 eingruppiert sind nicht nur Beschäftigte, deren Tätigkeit gründliche, umfassende Fachkenntnisse263 und selbständige Leistungen erfordert (Fallgruppe 2), sondern auch Beschäftigte, deren Tätigkeit sich dadurch aus der Entgeltgruppe 9 Fallgruppe 2 heraushebt, dass sie besonders verantwortungsvoll264 ist (Fallgruppe 1). Damit werden innerhalb einer Entgeltgruppe – mithin auf einer Wertebene – ein Grundmerkmal (Fallgruppe 2) und ein Heraushebungsmerkmal (Fallgruppe 1) zusammengefasst265. Ebenso in die Entgeltgruppe 9 eingruppiert sind Beschäftigte, deren Tätigkeit gründliche und vielseitige Fachkenntnisse und selbständige Leistungen erfordert (Fallgruppe 3). Dieses Tätigkeitsmerkmal geht zurück auf das bisherige Merkmal in Vergütungsgruppe Vc Fallgruppe 1a, das nach der Anlage 4 TVÜLänder der Entgeltgruppe 8 zugeordnet war. Es ist nunmehr der „kleinen“ Entgeltgruppe 9, allerdings mit der Maßgabe einer bestimmten Stufenzuordnung, zugeordnet266. Mit den Fallgruppen 2 und 3 sind nunmehr innerhalb ein- und derselben Entgeltgruppe unterschiedliche Anforderungen an die fachliche Schwierigkeit von Tätigkeiten erfasst. Anlässlich der Tarifeinigung vom 2.3.2019267 haben die Tarifvertragsparteien vereinbart, die bisherige Entgeltgruppe 9 in die Entgeltgruppen 9a und 9b aufzuteilen.

23.198

In Entgeltgruppe 10 eingruppiert sind Beschäftigte im Büro-, Buchhalterei-, sonstigen Innendienst und Außendienst, deren Tätigkeit sich mindestens zu einem Drittel durch besondere Schwierigkeit und Bedeutung268 aus der Entgeltgruppe 9 Fallgruppe 1 heraushebt. Dieses

23.199

260 Zu den „gründlichen und vielseitigen Fachkenntnissen“ im Einzelnen vgl. die Ausführungen unter Rz. 23.153 ff. 261 Zu den „selbständigen Leistungen“ im Einzelnen vgl. Ausführungen unter Rz. 23.157 f. 262 Vgl. Richter/Gamisch, AuA 2012, 111. 263 Zu den „gründlichen, umfassenden Fachkenntnissen“ vgl. Ausführungen unter Rz. 23.155 f. 264 Zu dem Merkmal „besonders verantwortungsvoll“ vgl. Ausführungen unter Rz. 23.159. 265 Richter/Gamisch, AuA 2012, 111. 266 Geyer/Baschnagel, ZTR 2011, 334. 267 Dort unter IV. 2. 268 Zur „besonderen Schwierigkeit und Bedeutung“ vgl. Ausführungen unter Rz. 23.162 ff.

Natter

801

§ 23 Rz. 23.199

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

Heraushebungsmerkmal wurde erstmals in Vergütungsgruppe IVa Fallgruppe 1b des Allgemeinen Teils der Anlage 1a zum BAT/BAT-O erwähnt.

23.200 In Entgeltgruppe 11 eingruppiert sind demgegenüber Beschäftigte, deren Tätigkeit sich durch besondere Schwierigkeit und Bedeutung aus der Entgeltgruppe 9 Fallgruppe 1 heraushebt. Dieses Tätigkeitsmerkmal hat seine Vorgängerregelung im Tätigkeitsmerkmal der Vergütungsgruppe IVa Fallgruppe 1a des Allgemeinen Teils der Anlage 1a zum BAT/BAT-O.

23.201 Die Entgeltgruppe 12 knüpft erstmalig an das Maß der mit der Tätigkeit verbundenen Verantwortung an. Beschäftigte, deren Tätigkeit sich durch das Maß der damit verbundenen Verantwortung erheblich aus der Entgeltgruppe 11 heraushebt, sind nach Teil I der Entgeltordnung zum TV-L in die Entgeltgruppe 12 eingruppiert. Dieses Tätigkeitsmerkmal geht zurück auf das bisherige Merkmal in Vergütungsgruppe III Fallgruppe 1a des Teils I der Anlage 1a zum BAT/BAT-O. Zur Auslegung des Merkmals „Maß der damit verbundenen Verantwortung“ kann auf die bisherige Rechtsprechung des BAG zurückgegriffen werden; vgl. hierzu die Ausführungen unter Rz. 23.167 f.

23.202 Die Tätigkeitsmerkmale ab der Entgeltgruppe 13 knüpfen – ebenso wie die bisherigen Merkmale ab der Vergütungsgruppe IIa BAT/BAT-O – nicht nur an die auszuübende Tätigkeit, sondern zudem an eine abgeschlossene wissenschaftliche Hochschulausbildung an. Was unter einer abgeschlossenen wissenschaftlichen Hochschulausbildung zu verstehen ist, wird durch die Tarifvertragsparteien in der Protokollerklärung Nr. 1 definiert. Danach eröffnen auch akkreditierte Masterabschlüsse an Fachhochschulen den Zugang zur Eingruppierung in die Entgeltgruppen 13 und höher269. In den Entgeltgruppen 13 und höher finden sich zudem als sonstige Beschäftigte“ die „sonstigen Angestellten“ iSd. Eingruppierungstatbestände des BAT270 wieder, die aufgrund gleichwertiger Fähigkeiten und ihrer Erfahrungen entsprechende Tätigkeiten ausüben. Schließlich knüpfen die Tätigkeitsmerkmale der Entgeltgruppen 14 und 15 auch an Unterstellungsverhältnisse an. In Anlehnung an die bisherige Nr. 6 der Vorbemerkungen zu allen Vergütungsgruppen der Anlage 1a zum BAT/BAT-O bestimmt Nr. 6 der Vorbemerkungen zu allen Teilen der Entgeltordnung hierzu: „Soweit die Eingruppierung von der Zahl der unterstellten Beschäftigten abhängig ist, rechnen hierzu auch Angehörige der vergleichbaren Besoldungsgruppen. Bei der Zahl der unterstellten bzw. beaufsichtigten oder der in dem betreffenden Bereich beschäftigten Personen zählen Teilzeitbeschäftigte entsprechend dem Verhältnis der mit ihnen im Arbeitsvertrag vereinbarten Arbeitszeit zur regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten. Für die Eingruppierung ist es unschädlich, wenn im Organisations- und Stellenplan zur Besetzung ausgewiesene Stellen nicht besetzt sind.“ Mit der Protokollerklärung Nr. 2 Abs. 1 haben die Tarifvertragsparteien klargestellt, dass iSd. Nr. 6 der Vorbemerkungen zu allen Teilen der Entgeltordnung die Entgeltgruppe 13 vergleichbar ist mit der Besoldungsgruppe A 13.

269 Geyer/Baschnagel, ZTR 2011, 335. 270 Zu den Anforderungen an den „sonstigen Beschäftigten“ iS der Eingruppierungsnormen des TVöD/TV-L vgl. Ausführungen unter Rz. 23.174.

802

Natter

Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen

Rz. 23.205 § 23

c) Die Überleitung der Beschäftigten in die Entgeltordnung zum TV-L Die Eingruppierungsregelungen – §§ 12 und 13 TV-L – und auch die Entgeltordnung zum TV-L sind am 1.1.2012 in Kraft getreten. Ab diesem Zeitpunkt sind drei Beschäftigtengruppen zu unterscheiden:

23.203

– Die noch unter Geltung des BAT/BAT-O bzw. MTArb/MTArb-O eingestellten und am 1.11.2006 in den TV-L übergeleiteten Beschäftigten, deren Vergütungsgruppe/Lohngruppe nach der Anlage 2 zum TVÜ-Länder einer Entgeltgruppe des neuen Systems zugeordnet wurde (§ 4 Abs. 1 TVÜ-Länder). – Die ab dem 1.11.2006 eingestellten Beschäftigten. Für diese Beschäftigten bestimmte § 17 Abs. 7 TVÜ-Länder, dass für Eingruppierungen bis zum Inkrafttreten der neuen Entgeltordnung die Vergütungsgruppen der Allgemeinen Vergütungsordnung (Anlage 1a zum BAT) und die Lohngruppen des Lohngruppenverzeichnisses gemäß Anlage 4 den Entgeltgruppen des TV-L zugeordnet werden. – Die ab dem 1.1.2012 neu eingestellten Beschäftigten. Während auf die ab dem 1.1.2012 neu eingestellten Beschäftigten die zum 1.1.2012 in Kraft getretene Entgeltordnung unmittelbar Anwendung findet, gilt für die vor dem 1.1.2012 eingestellten – unabhängig davon, ob sie noch unter Geltung des BAT/BAT-O bzw. MTArb/ MTArb-O oder ab dem 1.11.2006 eingestellt wurden – die Überleitungsvorschrift des § 29a TVÜ-Länder. Nach dessen Abs. 1 Satz 1 gelten für die in den TV-L übergeleiteten und für die zwischen dem 1.11.2006 und dem 31.12.2011 neu eingestellten Beschäftigten für Eingruppierungen ab dem 1.1.2012 zwar auch die §§ 12, 13 TV-L sowie die Entgeltordnung zum TV-L. Allerdings enthält § 29a Abs. 2 für diese Beschäftigten eine Sonderregelung, die sicherstellen soll, dass durch die Überleitung in die neue Entgeltordnung keine Nachteile entstehen. Danach sind in den TV-L übergeleitete und ab dem 1.11.2006 neu eingestellte Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnis zu einem Arbeitgeber, der Mitglied der TdL oder eines Mitgliedsverbandes der TdL ist, über den 31.12.2011 hinaus fortbesteht, und die am 1.1.2012 unter den Geltungsbereich des TV-L fallen, – unter Beibehaltung der bisherigen Entgeltgruppe für die Dauer der unverändert auszuübenden Tätigkeit – zum 1.1.2012 in die Entgeltordnung zum TV-L übergeleitet. Die Protokollerklärung zu § 29a Abs. 2 TVÜ-Länder bestimmt hierzu, dass die vorläufige Zuordnung zu der Entgeltgruppe des TV-L nach der Anlage 2 oder 4 als Eingruppierung gilt und dass eine Überprüfung und Neufeststellung der Eingruppierungen aufgrund der Überleitung in die Entgeltordnung zum TV-L nicht stattfindet. Damit wurde zum 1.1.2012 die Überleitung in die Entgeltordnung tarifautomatisch ohne besonderen Akt vollzogen271.

23.204

§ 29a TVÜ-Länder sichert den in die Entgeltordnung zum TV-L übergeleiteten Beschäftigten ihre bisherige Entgeltgruppe allerdings nur so lange, wie sich die auszuübende Tätigkeit nicht ändert. Die Tarifvertragsparteien haben die Tarifautomatik des § 12 TV-L nur für die Dauer der Ausübung der bisherigen Tätigkeit außer Kraft gesetzt272. Ändert sich hingegen die auszuübende Tätigkeit, so greift wieder die Tarifautomatik ein. Der Begriff der „auszuübenden Tätigkeit“ iSd. § 29a Abs. 2 TVÜ-Länder ist in demselben Sinne zu verstehen wie der in § 22 BAT/BAT-O und § 12 TV-L verwendete. Es kommt demnach auf die Tätigkeiten an, die dem Arbeitnehmer vom Arbeitgeber zur nicht nur vorübergehenden Ausübung übertragen wurden.

23.205

271 Vgl. Müller, öAT 2012, 147 (149). 272 Vgl. Müller, öAT 2012, 150.

Natter

803

§ 23 Rz. 23.206

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

23.206 Satz 2 der Protokollerklärung zu § 29a Abs. 2 TVÜ-Länder verbietet eine Überprüfung und Neufeststellung der Eingruppierung aufgrund der Überleitung in die Entgeltordnung zum TV-L. Hierdurch soll insbesondere verhindert werden, dass die Arbeitgeber die Überleitung zum Anlass nehmen, die Tätigkeiten mit dem Ziel einer Herabgruppierung neu zu bewerten. Vor dem Hintergrund, dass – sofern sich die auszuübende Tätigkeit nicht verändert – die Tarifautomatik außer Kraft gesetzt wurde, spricht viel dafür, dass auch eine Korrektur bisher unzutreffender Bewertungen durch korrigierende Rückgruppierungen ausscheidet273.

23.207 Mit § 29a Abs. 3 TVÜ-Länder haben die Tarifvertragsparteien den Beschäftigten schließlich ein Mittel an die Hand gegeben, um die Tarifautomatik wieder in Kraft zu setzen. Nach dieser Bestimmung sind die Beschäftigten auf Antrag in die Entgeltgruppe eingruppiert, die sich nach § 12 TV-L ergibt, wenn sich in den Fällen des Abs. 2 Satz 1 des § 29a TVÜ-Länder nach der Entgeltordnung zum TV-L eine höhere Entgeltgruppe ergibt. Die Anträge konnten/können grundsätzlich nur bis zum 31.12.2012 bzw. beim Ruhen des Arbeitsverhältnisses am 1.1.2012 innerhalb eines Jahres nach Wiederaufnahme der Arbeit gestellt werden (§ 29a Abs. 4 TVÜ-Länder). 2. Die Entgeltordnung zum TVöD (Bund)

23.208 Auch im Verlauf der Verhandlungen zum TVöD bis zum Jahr 2005 hatten die Tarifpartner des TVöD die Kernbereiche des neuen Eingruppierungsrechts zurückgestellt und den TVöD ohne Neuregelung dieser Bereiche vereinbart. Am 1.1.2014 sind § 12 (Bund) und § 13 (Bund) TVöD sowie der Tarifvertrag über die Entgeltordnung des Bundes vom 5.9.2013 (TV EntgO Bund) rückwirkend in Kraft getreten. Damit wurde – nach dem Landesdienst – auch für den Bundesdienst die größte bisherige „Lücke“ der Tarifreform 2005/2006 geschlossen. Die Tätigkeitsmerkmale der Entgeltordnung sind z. T. umfassend modernisiert worden274. a) Die §§ 12 und 13 TVöD (Bund)

23.208a Die §§ 12 und 13 TVöD (Bund) haben im Wesentlichen den Inhalt der §§ 22 und 23 BAT übernommen. Im Aufbau weicht § 12 TVöD (Bund) geringfügig von § 12 TV-L ab. Der Sache nach ergeben sich aber keine Abweichungen. Auch § 12 TVöD (Bund) geht vom Grundsatz der Tarifautomatik, von der auszuübenden Tätigkeit, vom Begriff des Arbeitsvorgangs und vom Hälfteprinzip aus. b) Die Entgeltordnung im Einzelnen

23.208b Für alle Eingruppierungsvorgänge ab 1.1.2014 gilt nunmehr die Entgeltordnung zum TVöD (Bund). Anders als die Entgeltordnung zum TV-L und die Entgeltordnung TVöD (VKA) wurde die Entgeltordnung TVöD (Bund) im Rahmen eines eigenständigen Tarifvertrags, dem Tarifvertrag über die Entgeltordnung des Bundes (TV EntgO Bund) vom 5.9.2013, vereinbart. Die Entgeltordnung gliedert sich in die im Tarifvertrag selbst enthaltenen grundsätzlichen Eingruppierungsregelungen sowie in die in den Teilen I bis VI enthaltenen Tätigkeitsmerkmale. Im Einzelnen ist die Entgeltordnung zum TVöD (Bund) wie folgt aufgebaut:

273 AA Müller, öAT 2012, 151. 274 Krämer/Reinecke, ZTR 2014, 3 und ZTR 2014, 195.

804

Natter

Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen

Teil I

Rz. 23.208b § 23

Allgemeine Tätigkeitsmerkmale für den Verwaltungsdienst

Teil II Allgemeine Tätigkeitsmerkmale für körperlich/handwerklich geprägte Tätigkeiten Teil III Tätigkeitsmerkmale für besondere Beschäftigtengruppen 1. Apothekerinnen und Apotheker 2. Beschäftigte in Archiven, Bibliotheken, Büchereien, Museen und anderen wissenschaftlichen Anstalten 3. Ärztinnen und Ärzte sowie Zahnärztinnen und Zahnärzte 4. Ausbilderinnen und Ausbilder in Betrieben und Werkstätten 5. Fachangestellte für Bäderbetriebe sowie geprüfte Meisterinnen und Meister für Bäderbetriebe 6. Baustellenaufseherinnen und -aufseher sowie Bauaufseherinnen und -aufseher 7. Bauzeichnerinnen und -zeichner sowie technische Systemplanerinnen und -planer 8. Berechnerinnen und Berechner von Amts-, Dienst- und Versorgungsbezügen sowie von Entgelten 9. Botinnen und Boten sowie Pförtnerinnen und Pförtner 10. Fahrerinnen und Fahrer 11. Systemtechnikerinnen und -techniker in der Fernmeldetechnik 12. Beschäftigte in der Forschung 13. Beschäftigte im Forstdienst 14. Fotografinnen und Fotografen 15. Fotolaborantinnen und -laboranten 16. Beschäftigte im Fremdsprachendienst 16.1 Fremdsprachenassistentinnen und -assistenten (Fremdsprachensekretärinnen und -sekretäre) 16.2 Fremdsprachliche Internet- und Rundfunkauswerterinnen und -auswerter im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 16.3 Konferenzdolmetscherinnen und -dolmetscher 16.4 Überprüferinnen und Überprüfer, Übersetzerinnen und Übersetzer, Terminologinnen und Terminologen sowie Lexikografinnen und Lexikografen 16.5 Sprachlehrerinnen und Sprachlehrer 17. Gartenbau-, landwirtschafts- und weinbautechnische Beschäftigte 18. Geprüfte Gärtnermeisterinnen und -meister 19. Beschäftigte in der Instandhaltung und Bedienung von Gebäude- und Betriebstechnik Natter

805

§ 23 Rz. 23.208b

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

20. Geschäftsstellenverwalterinnen und -verwalter, Beschäftigte in Serviceeinheiten sowie Justizhelferinnen und -helfer bei Gerichten und Staatsanwaltschaften 21. Beschäftigte in Gesundheitsberufen 21.1 Audiologie-Assistentinnen und -Assistenten 21.2 Desinfektorinnen und Desinfektoren sowie Gesundheitsaufseherinnen und -aufseher 21.3 Diätassistentinnen und -assistenten 21.4 Ergotherapeutinnen und -therapeuten 21.5 Lehrkräfte in Gesundheitsberufen 21.6 Logopädinnen und Logopäden 21.7 Masseurinnen und medizinische Bademeisterinnen und Masseure und medizinische Bademeister 21.8 Medizinische Fachangestellte und zahnmedizinische Fachangestellte 21.9 Medizinisch-technische Assistentinnen und Assistenten sowie medizinisch-technische Gehilfinnen und Gehilfen 21.10 Orthoptistinnen und Orthoptisten 21.11 Pharmazeutisch-kaufmännische Angestellte 21.12 Pharmazeutisch-technische Assistentinnen und Assistenten 21.13 Physiotherapeutinnen und -therapeuten 21.14 Präparationstechnische Assistentinnen und Assistenten sowie Sektionsgehilfinnen und -gehilfen 21.15 Psychologisch-technische Assistentinnen und Assistenten 21.16 Zahntechnikerinnen und -techniker 22. Haus- und Hofarbeiterinnen und -arbeiter 23. Hausmeisterinnen und Hausmeister 24. Beschäftigte in der Informationstechnik 25. Ingenieurinnen und Ingenieure 26. Internet- und Rundfunkauswerterinnen und -auswerter im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 27. Beschäftigte im Kassendienst 28. Beschäftigte in der Konservierung, Restaurierung und Grabungstechnik 28.1 Beschäftigte in der Konservierung und Restaurierung 28.2 Beschäftigte in der Grabungstechnik 29. Küchenhilfskräfte und Buffethilfskräfte 806

Natter

Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen

Rz. 23.208b § 23

30. Laborantinnen und Laboranten sowie Werkstoffprüferinnen und -prüfer 31. Fachkräfte für Lagerlogistik, Fachlageristinnen und -lageristen sowie Magazinwärterinnen und -wärter 32. Geprüfte Meisterinnen und Meister 33. Modellbauerinnen und -bauer sowie Modelltischlerinnen und -tischler 34. Operateurinnen und Operateure, Strahlenschutztechnikerinnen und -techniker sowie Strahlenschutzlaborantinnen und -laboranten in Kernforschungseinrichtungen 35. Redakteurinnen und Redakteure 36. Beschäftigte in Registraturen 37. Reinigerinnen und Reiniger 38. Reproduktionstechnische Beschäftigte 39. Schweißerinnen und Schweißer 40. Beschäftigte in der Steuerverwaltung 41. Technikerinnen und Techniker 42. Technische Assistentinnen und Assistenten 43. Tierärztinnen und -ärzte 44. Tierpflegerinnen und -pfleger 45. Vermessungstechnikerinnen und -techniker, Geomatikerinnen und Geomatiker sowie Messgehilfinnen und -gehilfen 46. Vorlesekräfte für Blinde und besondere Hilfskräfte für sonstige schwerbehinderte Menschen 47. Wächterinnen und Wächter 48. Weitere Beschäftigte Teil IV Besondere Tätigkeitsmerkmale im Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung 1. Besondere Tätigkeitsmerkmale 2. Beschäftigte in der Arbeitsvorbereitung oder in der Betriebsorganisation 3. Beschäftigte im Bereich des Bundesamtes für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr 3.1 Beschäftigte im Beschaffungs- oder Vertragswesen sowie in der Vertragsund Instandsetzungsabrechnung 3.2 Beschäftigte in der Preisverhandlung und in der Preisprüfung 4. Brückenwärterinnen und -wärter 5. Diesellokführerinnen und -lokführer sowie Rangiererinnen und Rangierer

Natter

807

§ 23 Rz. 23.208b

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

6. Fahrerinnen und Fahrer sowie Wagenpflegerinnen und -pfleger 7. Fernsprecherrinnen und -sprecher 8. Beschäftigte im feuerwehrtechnischen Dienst der Bundes-wehrfeuerwehr 9. Beschäftigte im Bereich Film-Bild-Ton 10. Beraterinnen und Berater im Flugsicherheitsdienst 11. Geprüfte Meisterinnen und Meister sowie staatlich geprüfte Technikerinnen und Techniker in der Flugsicherungstechnik 12. Beschäftigte in der Forschung und Materialprüfung 13. Festmacherinnen und Festmacher, Taklerinnen und Takler, Bootswartinnen und -warte, Maschinistinnen und Maschinisten sowie Elektrotechnikerinnen und -techniker in Landanschlusszentralen 14. Helferinnen und Helfer in Bundeswehrkrankenhäusern oder anderen kurativen Einrichtungen der Bundeswehr 15. Beschäftigte mit speziellen Instandsetzungs- oder Wartungstätigkeiten an Luftfahrzeugen 16. Kasernenwärterinnen und -wärter, Gebirgshüttenwartinnen und -warte sowie Helferinnen und Helfer in Unterkünften und Liegenschaften 17. Köchinnen und Köche, Kochsmaaten, Stewardessen und Stewards sowie Bedienungskräfte 18. Konserviererinnen und Konservierer, Verpackerinnen und Verpacker, Packerinnen und Packer, Präserviererinnen und Präservierer sowie Warenauszeichnerinnen und -auszeichner 19. Kranführerinnen und Kranführer sowie Anschlägerinnen und Anschläger 20. Küchenbuchhalterinnen und -buchhalter 21. Maschinistinnen und Maschinisten an besonderen Anlagen 22. Beschäftigte im Munitionsfachdienst 23. Nautische Beschäftigte und Beschäftigte im Schiffs- und Seedienst 24. Pfarrhelferinnen und -helfer 25. Beschäftigte im Pflegedienst 25.1 Leitende Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und -pfleger 25.2 Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und -pfleger als Bereichs- oder Stationsleiterinnen oder -leiter 25.3 Lehrkräfte für Gesundheits- und Krankenpflege 25.4 Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und -pfleger, die dem Operationsoder Anästhesiedienst, Dialyseeinheiten, Einheiten für Intensivmedizin, der Notaufnahme (IAS) oder zentralen Sterilisationsdiensten vorstehen

808

Natter

Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen

Rz. 23.208b § 23

25.5 Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und -pfleger, denen Beschäftigte unterstellt sind 25.6 Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und -pfleger, Gesundheits- und Krankenpflegehelferinnen und -helfer so-wie Pflegehelferinnen und -helfer 26. Prüferinnen und Prüfer von Luftfahrtgerät 27. Rechnungsführerinnen und Rechnungsführer 28. Beschäftigte im Schieß- und Erprobungsberuf 29. Sportlehrerinnen und -lehrer 30. Strahlgerätebedienerinnen und -bediener 31. Taucherinnen und Taucher sowie Taucherarztgehilfinnen und -gehilfen 32. Beschäftigte im Wachdienst Teil V Besondere Tätigkeitsmerkmale im Bereich des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur 1. Beschäftigte bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung – Küstenbereich 1.1 Besatzungen von Schiffen und schwimmenden Geräten 1.2 Beschäftigte an Seeschleusen 1.3 Beschäftigte an Land im nautischen Bereich 2. Beschäftigte bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung – Binnenbereich 2.1 Besatzungen von Schiffen und schwimmenden Geräten 2.2 Beschäftigte an Schleusen an Binnenschifffahrtsstraßen 2.3 Beschäftigte an Land im nautischen Bereich 3. Beschäftigte mit WSV-spezifischen Tätigkeiten an Land 4. Beschäftigte beim Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie 4.1 Besatzungen der Schiffe 4.2 Beschäftigte an Land im nautischen Bereich 5. Beschäftigte im Kontrolldienst beim Bundesamt für Güterverkehr 6 Beschäftigte im Wetter-fachdienst beim Deutschen Wetterdienst Teil VI Besondere Tätigkeitsmerkmale im Bereich des Bundesministeriums des Innern 1. Besondere Tätigkeitsmerkmale im Bereich der Bundespolizei 2. Köchinnen und Köche sowie Bedienungskräfte bei der Bundespolizei 3. Beschäftigte im Schießbetrieb der Bundespolizei 4. Unterkunftswärterinnen und -wärter, Gebirgshüttenwartinnen und -warte sowie Helferin-nen und Helfer in Unterkünften und Liegenschaften im Bereich der Bundespolizei Natter

809

§ 23 Rz. 23.208c

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

23.208c Die § 1 bis 14 EntgO Bund beinhalten die grundsätzlichen Eingruppierungsregelungen. Sie befassen sich – wie die Vorbemerkungen zu den Entgeltordnungen zum TV-L und TVöD (VKA) – insbesondere mit dem Vorrang spezieller Eingruppierungsmerkmale (§ 3), der (wissenschaftlichen) Hochschulausbildung (§§ 6 bis 1), den Meistern und Technikern (§ 10), den anerkannten Ausbildungsberufen (§ 11) und den verwaltungseigenen Prüfungen (§ 13). Eine Ausbildungs- und Prüfungspflicht ab der Entgeltgruppe 5 ist – anders als im Tarifbereich VKA – nicht zwingend vorgesehen. Erst ab der Entgeltgruppe 9b wird eine abgeschlossene Hochschulausbildung und ab der Entgeltgruppe 13 eine abgeschlossene wissenschaftliche Hochschulausbildung verlangt.

23.208d Teil I Allgemeine Tätigkeitsmerkmale für den Verwaltungsdienst enthalten im Wesentlichen die früheren ersten Fallgruppen aus dem Allgemeinen Teil der Anlage 1a zum BAT/ BAT-O275. Die Entgeltgruppen 1 bis 4 stellen ausschließlich auf tätigkeitsbezogene Anforderungen ab. In den Entgeltgruppen 5 bis 9a wird zur Stärkung des Ausbildungsbezugs die Eingruppierung von Beschäftigten mit abgeschlossener Berufsausbildung ermöglicht (Entgeltgruppe 5 Fallgruppe 1). Daneben steht weiterhin gleichrangig die bisherige tätigkeitsbezogene Eingruppierung (Entgeltgruppe 5 Fallgruppe 2). Diese „Zweigleisigkeit“ setzt sich durch Verweisungen bis zur Entgeltgruppe 9a fort. Wie im Tarifbereich VKA ist die Unterteilung der Entgeltgruppe 9 in eine „kleine“ Entgeltgruppe 9 (mit besonderer Stufenlaufzeit) und eine „große“ Entgeltgruppe 9 (mit regulärer Stufenlaufzeit) entfallen. An ihre Stelle traten zunächst die Entgeltgruppen 9a und 9b und mittlerweile auch die Entgeltgruppe 9c. Von der Entgeltgruppe 9b bis zur Entgeltgruppe 12 wird die Eingruppierung von Beschäftigten mit abgeschlossener Hochschulausbildung ermöglicht. Daneben tritt als Alternative die Eingruppierung als „sonstiger Beschäftigter“. In den Entgeltgruppen 13 bis 15 haben sich keine inhaltlichen Änderungen zu den Vorgängerregelungen in der Anlage 1a zum BATergeben.

23.208e Der Teil II der Entgeltordnung enthält mit den allgemeinen Tätigkeitsmerkmalen für körperlich/handwerklich geprägte Tätigkeiten die nahezu unveränderten Begriffe und Definitionen aus dem allgemeinen Teil des Lohngruppenverzeichnisses. In Teil III sind die aktualisierten und zum Teil neu vereinbarten Tätigkeitsmerkmale für besondere Beschäftigtengruppen geregelt. Der Teil ist in insgesamt 48 Abschnitte unterteilt. Aufgrund des zunehmenden Fachkräftemangels wurden bestimmte Tätigkeiten von besonders gesuchten Berufsgruppen höher bewertet276.

23.208f Die Teile IV bis VI beinhalten schließlich besondere Tätigkeitsmerkmale in den Bereichen des Bundesministeriums der Verteidigung, des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur sowie des Bundesministeriums des Inneren. c) Die Überleitung der Beschäftigten in die Entgeltordnung zum TVöD (Bund)

23.208g Die Eingruppierungsregelungen – §§ 12 und 13 TV-L – und auch die Entgeltordnung zum TVöD (Bund) sind am 1.1.2014 in Kraft getreten. Ab diesem Zeitpunkt sind ebenfalls drei Beschäftigtengruppen zu unterscheiden: – Die noch unter Geltung des BAT/BAT-O bzw. MTArb/MTArb-O eingestellten und am 1.10.2005 in den TVöD übergeleiteten Beschäftigten 275 Krämer/Reinecke, ZTR 2014, 195. 276 Krämer/Reinecke, ZTR 2014, 3 und ZTR 2014, 195.

810

Natter

Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen

Rz. 23.208k § 23

– Die ab dem 1.10.2005 eingestellten Beschäftigten. Für diese Beschäftigten bestimmte § 17 Abs. 7 TVÜ-Bund, dass für Eingruppierungen bis zum Inkrafttreten der neuen Entgeltordnung die Vergütungsgruppen der Allgemeinen Vergütungsordnung (Anlage 1a zum BAT) und die Lohngruppen des Lohngruppenverzeichnisses gemäß Anlage 4 den Entgeltgruppen des TVöD zugeordnet werden. – Die ab dem 1.1.2014 neu eingestellten Beschäftigten. Während auf die ab dem 1.1.2014 neu eingestellten Beschäftigten die zum 1.1.2014 in Kraft getretene Entgeltordnung unmittelbar Anwendung findet, gelten für die vor dem 1.1.2014 eingestellten Beschäftigten – unabhängig davon, ob sie noch unter Geltung des BAT/BAT-O bzw. MTArb/MTArb-O oder ab dem 1.11.2006 eingestellt wurden – die Überleitungsvorschriften der §§ 25 und 26 TVÜ-Bund. Sie enthalten insbesondere Regelungen zum Bestandsschutz und zur Höhergruppierung. Sie sind – unter Berücksichtigung der bundesspezifischen Besonderheiten – weitestgehend den Überleitungsvorschriften des § 29a TVÜ-Länder nachgebildet.

23.208h

3. Die Entgeltordnung zum TVöD (VKA) Aufgrund der knappen zeitlichen Vorgaben war der TVöD (VKA) ebenfalls ohne Regelun- 23.208i gen zur Eingruppierung in Kraft getreten. In der Zeit vom 1.10.2005 bis 31.12.2016 richteten sich die Eingruppierungen nach dem Überleitungstarifvertrag, dem TVÜ-VKA. Anlässlich der Tarifrunde 2016 haben sich die Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) und die Gewerkschaften ver.di und dbb beamtenbund und tarifunion auf eine Entgeltordnung zum TVöD für die Beschäftigten der kommunalen Arbeitgeber verständigt. Mit dem Inkrafttreten der Entgeltordnung wird eine große Lücke im Reformprozess zur Modernisierung des Tarifrechts im öffentlichen Dienst geschlossen277. Die Entgeltordnung stellt jeweils die Anlage 1 zu den durchgeschriebenen Fassungen für die sechs Dienstleistungsbereiche dar, die die Tarifvertragsparteien zur besseren Übersicht und Lesbarkeit gebildet haben. a) Die §§ 12 und 13 TVöD (VKA) Die §§ 12 und 13 TVöD (VKA) haben im Wesentlichen den Inhalt der §§ 22 und 23 BAT übernommen. Im Aufbau und im Inhalt weicht § 12 TVöD (VKA) nur geringfügig von § 12 TV-L ab. Der Sache nach ergeben sich aber keine Abweichungen. Auch § 12 TVöD (VKA) geht vom Grundsatz der Tarifautomatik, von der auszuübenden Tätigkeit, vom Begriff des Arbeitsvorgangs und vom Hälfteprinzip aus.

23.208j

b) Die Entgeltordnung im Einzelnen Für alle Eingruppierungsvorgänge ab dem 1.1.2017 gilt nunmehr die Entgeltordnung zum TVöD (VKA). Anders im TVöD (Bund) haben die Tarifvertragsparteien die Entgeltordnung nicht als eigenständigen Tarifvertrag, sondern als Anlage 1 zu den jeweils durchgeschriebenen Fassungen für die sechs Dienstleistungsbereiche278 vereinbart. Die Entgeltordnung gliedert sich in die grundsätzlichen Eingruppierungsregelungen (Vorbemerkungen), einen Teil A (All-

277 Donath, ZTR 2016, 551 und 611. 278 Zur Entgeltordnung des Dienstleistungsbereichs „Sparkassen“ ausführlich Feiter, ZTR 2018, 675.

Natter

811

23.208k

§ 23 Rz. 23.208k

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

gemeiner Teil) und einen Teil B (Besonderer Teil). Im Einzelnen ist die Entgeltordnung zum TVöD (VKA) wie folgt gegliedert: Grundsätzliche Eingruppierungsregelungen (Vorbemerkungen) 1. Vorrang spezieller Tätigkeitsmerkmale 2. Tätigkeitsmerkmale mit Anforderungen in der Person 3. Wissenschaftliche Hochschulbildung 4. Hochschulbildung 5. Anerkannte Ausbildungsberufe 6. Übergangsregelungen zu in der DDR erworbenen Abschlüssen 7. Ausbildungs- und Prüfungspflicht 8. Geltungsausschluss für Lehrkräfte 9. Unterstellungsverhältnisse 10. Ständige Vertreterinnen und Vertreter Teil A Allgemeiner Teil I. Allgemeine Tätigkeitsmerkmale 1. Entgeltgruppe 1 (einfachste Tätigkeiten) 2. Entgeltgruppen 2 bis 9a (handwerkliche Tätigkeiten) 3. Entgeltgruppen 2 bis 12 (Büro-, Buchhalterei-, sonstiger Innendienst und Außendienst) 4. Entgeltgruppen 13 bis 15 II. Spezielle Tätigkeitsmerkmale 1. Bezügerechnerinnen und Bezügerechner 2. Beschäftigte in der Informations- und Kommunikationstechnik 3. Ingenieurinnen und Ingenieure 4. Meisterinnen und Meister 5. Technikerinnen und Techniker 6. Vorlesekräfte für Blinde Teil B Besonderer Teil I.

Apothekerinnen und Apotheker

II. Ärztinnen und Ärzte sowie Zahnärztinnen und Zahnärzte 1. Ärztinnen und Ärzte sowie Zahnärztinnen und Zahnärzte 2. Ärztinnen und Ärzte sowie Zahnärztinnen und Zahnärzte im Geltungsbereich des Besonderen Teils Krankenhäuser (BT-K) 812

Natter

Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen

Rz. 23.208k § 23

III.

Beschäftigte in Bäderbetrieben

IV.

Baustellenaufseherinnen und Baustellenaufseher

V.

Beschäftigte in Bibliotheken, Büchereien, Archiven, Museen und anderen wissenschaftlichen Anstalten

VI.

Beschäftigte im Fernmeldebetriebsdienst

VII. Beschäftigte in der Fleischuntersuchung VIII. Fotografinnen und Fotografen IX.

Beschäftigte im Fremdsprachendienst

X.

Gartenbau-, landwirtschafts- und weinbautechnische Beschäftigte

XI.

Beschäftigte in Gesundheitsberufen 1. Beschäftigte in der Pflege 2. Leitende Beschäftigte in der Pflege 3. Lehrkräfte in der Pflege 4. Kardiotechnikerinnen und Kardiotechniker 5. Diätassistentinnen und Diätassistenten 6. Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten 7. HNO-Audiologie-Assistentinnen und -Assistenten 8. Logopädinnen und Logopäden 9. Masseurinnen und medizinische Bademeisterinnen sowie Masseure und medizinische Bademeister 10. Medizinisch-technische Assistentinnen und Assistenten 11. Medizinische Dokumentarinnen und Dokumentare 12. Medizinische und Zahnmedizinische Fachangestellte 13. Orthoptistinnen und Orthoptisten 14. Pharmazeutisch-kaufmännische Angestellte 15. Pharmazeutisch-technische Assistentinnen und Assistenten 16. Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten 17. Präparationstechnische Assistentinnen und Assistenten 18. Psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten 19. Zahntechnikerinnen und Zahntechniker 20. Leitende Beschäftigte

Natter

813

§ 23 Rz. 23.208k

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

21. Lehrkräfte an staatlich anerkannten Lehranstalten für medizinische Berufe (Schulen) XII.

Beschäftigte in Häfen und Fährbetrieben

XIII.

Beschäftigte im Kassen- und Rechnungswesen

XIV.

Beschäftigte im kommunalen feuerwehrtechnischen Dienst 1. Beschäftigte im kommunalen feuerwehrtechnischen Dienst 2. Feuerwehrgerätewartinnen und Feuerwehrgerätewarte 3. Beschäftigte in Feuerwehrtechnischen Zentralen (Feuerwehrtechnischen Zentren)

XV.

Beschäftigte in der Konservierung, Restaurierung, Präparierung und Grabungstechnik

XVI.

Laborantinnen und Laboranten

XVII.

Leiterinnen und Leiter von Registraturen

XVIII.

Beschäftigte in Leitstellen

XIX.

Beschäftigte in Magazinen und Lagern

XX.

Musikschullehrerinnen und -lehrer

XXI.

Reproduktionstechnische Beschäftigte

XXII.

Beschäftigte im Rettungsdienst 1. Beschäftigte im Rettungsdienst 2. Beschäftigte an Rettungsdienstschulen

XXIII.

Schulhausmeisterinnen und Schulhausmeister

XXIV.

Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst

XXV.

Beschäftigte in Sparkassen

XXVI.

Technische Assistentinnen und Assistenten sowie Chemotechnikerinnen und -techniker

XXVII. Beschäftigte an Theatern und Bühnen XXVIII. Tierärztinnen und Tierärzte XXIX.

Vermessungsingenieurinnen und Vermessungsingenieure

XXX.

Vermessungstechnikerinnen und -techniker sowie Geomatikerinnen und Geomatiker

XXXI.

Vorsteherinnen und Vorsteher von Kanzleien

XXXII. Zeichnerinnen und Zeichner

23.208l Die Vorbemerkungen beinhalten in zehn Ziffern die grundsätzlichen Eingruppierungsregelungen. Sie befassen sich wie im TV-L und TVöD (Bund) insbesondere mit dem Vorrang spe814

Natter

Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen

Rz. 23.208n § 23

zieller Eingruppierungsmerkmale (Ziffer 1) mit den Tätigkeitsmerkmalen mit Anforderungen in der Person (Ziffer 2), der (wissenschaftlichen) Hochschulausbildung (Ziffern 3 und 4), den anerkannten Ausbildungsberufen (Ziffer 5) und Ausbildungs- und Prüfungspflicht (Ziffer 7). Letztere erfasst allerdings nur die abschließend aufgeführten kommunalen Arbeitgeberverbände. Die Ausbildungs- und Prüfungspflicht ist im Zusammenhang mit den Tätigkeitsmerkmalen zu sehen, die ab Entgeltgruppe 5 eine erfolgreich abgeschlossene Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf oder eine Erste Prüfung und ab Entgeltgruppe 9b einen Hochschulabschluss oder eine Zweite Prüfung vorsehen. Teil A Abschnitt II der Entgeltordnung geht auf die früheren ersten Fallgruppen aus dem 23.208m Allgemeinen Teil der Anlage 1a zurück279. In den Entgeltgruppen 1 bis 4 wird dabei nur auf die Tätigkeit, nicht jedoch auf ein Ausbildungserfordernis abgestellt. Ab der Entgeltgruppe 5 wird die Eingruppierung vom Vorliegen einer anerkannten Berufsausbildung, ab der Entgeltgruppe 9b einer abgeschlossenen Hochschulausbildung und ab Entgeltgruppe 13 von einer abgeschlossenen wissenschaftlichen Hochschulbildung abhängig gemacht. Die erforderlichen Begriffsbestimmungen hierzu finden sich in den Vorbemerkungen. Die früheren Tätigkeitsmerkmale der Vergütungsordnung blieben – in redaktionell angepasster Form – weitgehend erhalten. An den bekannten unbestimmten Rechtsbegriffen (zB gründliche und vielseitige Fachkenntnisse) wurde festgehalten. Was die einzelnen Entgeltgruppen betrifft, so wurden die Entgeltgruppen 4 und 7 mit Tätigkeitsmerkmalen für frühere Angestelltentätigkeiten belegt. Die bisherige Entgeltgruppe 9 wurde durch die Entgeltgruppe 9 a bis c ersetzt. Die bisherige Differenzierung zwischen der „kleinen“ Entgeltgruppe 9 (mit besonderer Stufenlaufzeit) und der „großen“ Entgeltgruppe 9 (mit regulärer Stufenlaufzeit) reichte nicht aus, um einen Anreiz zur Übernahme höherwertigen Tätigkeiten zu schaffen280. Die speziellen Tätigkeitsmerkmale des Teils A Abschnitt II gelten für alle Sparten des TVöD (VKA). Der Abschnitt II enthält im Unterabschnitt 2 insbesondere neue Tätigkeitsmerkmale für die Beschäftigten in der Informations- und Kommunikationstechnik281. Die bisherigen Tätigkeitsmerkmale für Beschäftigte in der Datenverarbeitung waren für die Praxis nicht mehr geeignet. Die neuen Tätigkeitsmerkmale orientieren sich an den Merkmalen für die Beschäftigten in der Informationstechnik des Bundes282. Außerdem sind im Abschnitt II die Tätigkeitsmerkmale für Ingenieure, Meister und Techniker geregelt (Unterabschnitte 3 bis 5). Der Teil B enthält in insgesamt 32 Abschnitten Tätigkeitsmerkmale, die nach Berufs- und Beschäftigtengruppen gegliedert sind. Einzelne Abschnitte sind in Unterabschnitte gegliedert. Im Abschnitt XI wurden in 21 Unterabschnitten die Tätigkeitsmerkmale für Beschäftigte in Gesundheitsberufen neu geregelt283. Hierbei wurden im Unterabschnitt 20 neue Tätigkeitsmerkmale für leitende Beschäftigte im Gesundheitswesen geschaffen; ab der Entgeltgruppe 9 wurde eine deutliche Aufwertung vorgenommen. Mit der Neuregelung der Tätigkeitsmerkmale wurde gleichzeitig anstelle der bisherigen KR-Tabelle eine neue Entgelttabelle (P-Tabelle) vereinbart284.

279 280 281 282 283 284

Donath, ZTR 2016, 611. Donath, ZTR 2016, 551. Hierzu Dahl, ZTR 2018, 59; ZTR 2019, 488. Dort Teil III Abschnitt 24. Ausführlich hierzu Langenbrinck, ZTR 2017, 3. Hierzu Zetl, ZMV 2016, 253.

Natter

815

23.208n

§ 23 Rz. 23.208n

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

Im Teil B finden sich auch die in der Praxis wichtigen Tätigkeitsmerkmale für Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst (Abschnitt XXIV). Die Tätigkeitsmerkmale waren – im Vorgriff auf die Schaffung der neuen Entgeltordnung – mit dem Änderungstarifvertrag Nr. 6 zum TVöD-BT-V geschaffen worden. Sie enthielten insbesondere eine neue eigenständige tarifliche Bewertung von Sozialarbeitern/innen285. Nunmehr sind die Tätigkeitsmerkmale in die Entgeltordnung integriert. Ab dem Jahr 2013 hat sich das BAG in zahlreichen Entscheidungen mit den neuen Tätigkeitmerkmalen befasst, hierbei insbesondere mit den Tätigkeitsmerkmalen der neuen Entgeltgruppe S 14286. Die Rechtsprechung kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. c) Die Überleitung der Beschäftigten in die Entgeltordnung zum TVöD (VKA)

23.208o Die Eingruppierungsregelungen – §§ 12 und 13 TVöD (VKA) – und auch die Entgeltordnung zum TVöD (VKA) sind am 1.1.2017 in Kraft getreten. Ab diesem Zeitpunkt sind ebenfalls drei Beschäftigtengruppen zu unterscheiden: – Die noch unter Geltung des BAT/BAT-O bzw. MTArb/MTArb-O eingestellten und am 1.10.2005 in den TVöD übergeleiteten Beschäftigten – Die ab dem 1.10.2005 eingestellten Beschäftigten. Für diese Beschäftigten bestimmte § 17 Abs. 7 TVÜ-VKA, dass für Eingruppierungen bis zum Inkrafttreten der neuen Entgeltordnung die Vergütungsgruppen der Allgemeinen Vergütungsordnung (Anlage 1a zum BAT) und die Lohngruppen des Lohngruppenverzeichnisses gemäß Anlage 4 den Entgeltgruppen des TVöD zugeordnet werden. – Die ab dem 1.1.2017 neu eingestellten Beschäftigten. Während auf die ab dem 1.1.2017 neu eingestellten Beschäftigten die zum 1.1.2017 in Kraft getretene Entgeltordnung unmittelbar Anwendung findet, gelten für die vor dem 1.1.2017 eingestellten Beschäftigten – unabhängig davon, ob sie noch unter Geltung des BAT/BAT-O bzw. MTArb/MTArb-O oder ab dem 1.11.2006 eingestellt wurden – die Überleitungsvorschriften der §§ 29a bis d TVÜ-VKA. Sie enthalten insbesondere Regelungen zum Bestandsschutz und zur Höhergruppierung. Sie sind – unter Berücksichtigung des Tarifbereichs VKA287 – weitestgehend den Überleitungsvorschriften des § 29a TVÜ-Länder nachgebildet. 4. Die Eingruppierung in die Entgeltgruppe 1 a) Allgemeines

23.209 Nach §§ 17 Abs. 2 TVÜ-Bund, TVÜ-VKA und TVÜ-Länder galten die bisherigen Vergütungsordnungen und Lohngruppenverzeichnisse nicht für die ab dem 1.10.2005 in Entgeltgruppe 1 TVöD bzw. ab dem 1.11.2006 in Entgeltgruppe 1 TV-L neu eingestellten Beschäftigten. Diese wurden bei Erfüllung der beschriebenen Merkmale verbindlich nach den 285 Creutzfeldt, ZTR 2015, 630. 286 BAG v. 21.8.2013 – 4 AZR 968,/11 nv.; v. 21.8.2013 – 4 AZR 933/11, ZTR 2014, 211; v. 13.11.2013 – 4 AZR 53/12, ZTR 2014, 477; v. 10.12.2014 – 4 AZR 773/12, ZTR 2015, 646; v. 10.12.2014 – 4 AZR 49/13, ZTR 2015, 500; v. 18.3.2015 – 4 AZR 59/13, ZTR 2015, 503; v. 13.5.2015 – 4 AZR 355/13, ZTR 2015, 697; v. 17.6.2015 – 4 AZR 371/13, AP Nr. 5 zu § 56 TVöD; v. 19.10.2016 – 4 AZR 727/14, AP Nr. 7 zu § 56 TVöD; v. 17.5.2017 – 4 AZR 798/14, ZTR 2017, 593. 287 Im Einzelnen Donath, ZTR 2016, 611.

816

Natter

Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen

Rz. 23.214 § 23

Regelungen des TVöD bzw. TV-L in die Entgeltgruppe 1 eingruppiert. Dabei handelte es sich um einen vorweggeregelten Teilbereich der neuen Entgeltordnungen. Dieser Teilbereich ist mittlerweile in die Entgeltordnungen integriert worden. Zu beachten ist, dass die neue Entgeltgruppe 1 keine Stufe 1 hat; der Einstieg erfolgt vielmehr zwingend sofort in Stufe 2 (§ 16 Abs. 5 TVöD (Bund), § 16 Abs. 4 TV-L/TVöD (VKA)). Die jeweils nächste Stufe wird nach jeweils vier Jahren in der vorangegangenen Stufe erreicht; § 17 Abs. 2 bleibt unberührt. Die Stufenlaufzeit beträgt bei der Entgeltgruppe 1 demnach abweichend von allen anderen Entgeltgruppen in jeder Stufe je vier Jahre Beschäftigungszeit288. Damit wird nicht der zeitliche Abstand zwischen den einzelnen Stufen gezählt, sondern die Dauer der Tätigkeit bei demselben Arbeitgeber289.

23.210

Die Tarifpartner haben mit der Entgeltgruppe 1 TVöD/TV-L eine völlig neue Entgeltgruppe geschaffen, die die Besonderheit aufweist, dass sie unter dem sonstigen Tarifniveau des öffentlichen Dienstes liegt. Hierdurch sollen die öffentlichen Arbeitgeber erkennbar in die Lage versetzt werden, Arbeitsplätze in solchen Bereichen zu erhalten, in denen private Anbieter die Dienstleistungen infolge eines niedrigeren tarifvertraglichen Lohnniveaus bislang günstiger anbieten können. Mit der Einführung der neuen Entgeltgruppe 1 waren die Tarifvertragsparteien aber zugleich auch in der Pflicht, die für die Eingruppierung in die Entgeltgruppe 1 maßgeblichen Kriterien insoweit festzulegen, dass eine Eingruppierung in diese Entgeltgruppe möglich ist. Dieser Verpflichtung sind sie mit der Ausformulierung der Merkmale der Entgeltgruppe 1 in den Entgeltordnungen nachgekommen.

23.211

b) Katalog der einfachsten Tätigkeiten In die Entgeltgruppe 1 sind Beschäftigte mit einfachsten Tätigkeiten eingruppiert, zum Beispiel

23.212

– Essens- und Getränkeausgeber – Garderobenpersonal – Beschäftigte, die spülen, Gemüse putzen und sonstige Tätigkeiten im Haus- und Küchenbereich ausüben – Reiniger in Außenbereichen wie Höfen, Wegen, Grünanlagen, Parks – Wärter von Bedürfnisanstalten – Servierer, – Hausarbeiter und – Hausgehilfen. Für den Bereich der Länder und der VKA ergibt sich aus den Entgeltordnungen, dass Ergänzungen durch landesbezirklichen Tarifvertrag geregelt werden können.

23.213

Das BAG hatte im Jahr 2009 bereits mehrfach die Gelegenheit, sich zur Eingruppierung in die Entgeltgruppe 1 und damit auch zur Konkretisierung des Begriffs der „einfachsten Tä-

23.214

288 Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, BeckOK TVöD, § 16 (VKA) TVöD-AT Rz. 180. 289 Böhle/Poschke, ZTR 2005, 286 (292).

Natter

817

§ 23 Rz. 23.214

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

tigkeiten“ zu äußern290. Danach ist für die Eingruppierung der Beschäftigten ab dem 1.10.2005 bzw. 1.11.2006 in die Entgeltgruppe 1 von Folgendem auszugehen: 1. Zunächst ist festzustellen, ob der Beschäftigte eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit, eine überwiegend auszuübende Teiltätigkeit oder mehrere selbständige Teiltätigkeiten zu erbringen hat. 2. Für ermittelte Teiltätigkeiten ist jeweils einzeln tariflich zu bewerten, ob sie die Tätigkeitsmerkmale der begehrten Entgeltgruppe erfüllen. Danach sind die Teiltätigkeiten, die die Merkmale der betreffenden Entgeltgruppe erfüllen, mit ihren Anteilen zusammenzurechnen. Ergeben sie mindestens die Hälfte der auszuübenden Gesamttätigkeit, ist der Beschäftigte in die entsprechende Entgeltgruppe eingruppiert. Die übrigen Teiltätigkeiten bleiben dann unberücksichtigt, sofern diejenigen unter ihnen, die höheren Entgeltgruppen zuzuordnen sind, nicht ihrerseits zusammengerechnet einen zeitlichen Umfang von der Hälfte der Arbeitszeit erreichen und damit rechtserheblich werden. 3. Die neue Entgeltgruppe 1 enthält als Oberbegriff das Merkmal der „einfachsten Tätigkeiten“291. Sodann ist der Oberbegriff der „einfachsten Tätigkeiten“ durch einen nicht abschließenden Katalog von Tätigkeitsbeispielen näher erläutert292. Der Beispielskatalog der Entgeltgruppe 1 zeigt den Schwierigkeitsgrad auf, den die Tarifvertragsparteien mit „einfachsten Tätigkeiten“ belegt haben293. 4. Übt der Beschäftigte eine Tätigkeit aus, die als Beispiel zur Entgeltgruppe 1 genannt ist, so verrichtet er „einfachste Tätigkeiten“. Wird die vom Arbeitnehmer ausgeübte Tätigkeit von einem Tätigkeitsbeispiel nicht oder nicht voll erfasst, muss grundsätzlich auf den Oberbegriff zurückgegriffen werden. Dieser Rückgriff ist auch dann geboten, wenn die Tätigkeitsbeispiele ihrerseits unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten. Diese unbestimmten Rechtsbegriffe sind dann ihrerseits im Lichte des Oberbegriffs auszulegen. 5. Bei der Entgeltgruppe 1 TVöD handelt es sich um eine eigenständige Neuregelung ohne Bezug zu bestehenden Vergütungsordnungen und Lohngruppenverzeichnissen. Nach § 17 Abs. 2 TVÜ-Bund/TVÜ-Länder und TVÜ-VKA sind Beschäftigte auch dann nicht in eine höhere Entgeltgruppe einzugruppieren, wenn ihre Tätigkeit in den bisherigen und weiter anwendbaren Vergütungsordnungen oder Lohngruppenverzeichnissen aufgeführt ist. Zur Auslegung des Begriffs der „einfachsten Tätigkeiten“ kann nicht auf die bisherigen Vergütungsordnungen und Lohngruppenverzeichnisse zurückgegriffen werden. 6. Die Bestimmung des Oberbegriffs der „einfachsten Tätigkeiten“ hat von den Maßstäben der Beispieltatbestände der Entgeltgruppe aus zu erfolgen. 7. „Einfachste Tätigkeiten“ sind solche, die an Einfachheit nicht zu überbieten sind. Da bereits „einfache Tätigkeiten“ regelmäßig keine Vor- oder Ausbildung erfordern, gilt dies umso mehr für „einfachste Tätigkeiten“. Hierunter sind deshalb insbesondere un- und angelernte Tätigkeiten zu verstehen. Es darf keine eingehende fachliche Einarbeitung erfor290 BAG v. 28.1.2009 – 4 ABR 92/07, ZTR 2009, 474; v. 20.5.2009 – 4 ABR 99/08, ZTR 2010, 22; v. 20.5.2009 – 4 AZR 315/08, AP Nr. 1 zu § 17 TVÜ; v. 1.7.2009 – 4 ABR 16/08, nv.; v. 1.7.2009 – 4 ABR 17/08, nv.; v. 1.7.2009 – 4 ABR 18/08, ZTR 2010, 25; vgl. Zetl, ZMV 2009, 68 ff. 291 Vgl. auch Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, TVÜ-Länder, Rz. 512; Thivessen/Kulok, TV-L – Schnelleinstieg, S. 89. 292 Vgl. auch Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, TVÜ-Länder, Rz. 512; Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg, S. 78; Thivessen/Kulok, TV-L – Schnelleinstieg, S. 89. 293 Vgl. auch Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, TVÜ-Länder, Rz. 512.

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Natter

Die Rechtslage seit dem Inkrafttreten der Entgeltordnungen

Rz. 23.215 § 23

derlich sein. Vielmehr muss eine sehr kurze Einweisung oder Anlernphase in die übernommenen Aufgaben für eine ordnungsgemäße Erfüllung der arbeitsvertraglich übertragenen Aufgabe ausreichend sein. Allerdings hat eine Einarbeitungszeit von einem, in besonders gelagerten Einzelfällen auch bis zu maximal zwei Tagen nicht zwingend zur Folge, dass nicht mehr von einer „einfachsten Tätigkeit“ ausgegangen werden kann. Selbst eine „einfachste Tätigkeit“ bedarf zumindest einer kurzen Anlernphase im Sinne einer Einweisung und einer ebensolchen Einarbeitungszeit. Bei der Einarbeitungszeit ist allerdings zu unterscheiden, ob diese erforderlich ist, um ein gewisses Maß an Arbeitsgeschwindigkeit zu erreichen (Erwerb von Routine bei feststehenden Arbeitsabläufen) oder um die Arbeitsabläufe als solche zu beherrschen (etwa wenn verschiedenartige Details der Tätigkeit zu erfassen sind). Im letzteren Fall spricht der Umstand einer mehrtägigen Einarbeitungszeit regelmäßig gegen die Einordnung als „einfachste Tätigkeit“. Bei „einfachsten Tätigkeiten“ muss es sich im Wesentlichen um gleichförmige und gleichartige – gleichsam „mechanisch“ durchzuführende – Tätigkeiten handeln, deren Verrichtung keine nennenswerten eigenen Überlegungen erfordert. Eine „einfachste Tätigkeit“ kann aber auch dann vorliegen, wenn sie ohne Weiteres aufgrund von Einzelanweisungen durchgeführt werden kann. Etwas Anderes gilt jedoch, wenn dem Beschäftigten im Rahmen der Aufgaben ein eigenständiger, nicht gänzlich unbedeutender Entscheidungs- oder Verantwortungsbereich übertragen wurde. Ebenso kann von Belang sein, dass es im Einzelfall zur Durchführung der Tätigkeit regelmäßig einer Abstimmung mit anderen Personen wie anderen Beschäftigten oder Kunden bedarf. 8. Ob eine Tätigkeit eine „einfachste Tätigkeit“ iSd. Entgeltgruppe 1 ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, die im Rahmen einer Gesamtbewertung zu würdigen sind. 9. Maßgebende Kriterien für die Beurteilung, ob eine einfachste Tätigkeit im Sinne der Entgeltgruppe 1 vorliegt, sind demnach neben einer nicht erforderlichen Vor- oder Ausbildung regelmäßig eine sehr kurze Einweisung oder Anlernphase in die übernommene Tätigkeit, eine im Wesentlichen gleichförmige und gleichartige – gleichsam „mechanisch“ durchzuführende – Tätigkeit, deren Verrichtung keine nennenswerten eigenen Überlegungen erfordert und das Fehlen eines eigenständigen, nicht gänzlich unbedeutenden Entscheidungs- und Verantwortungsbereichs. Erfordert eine Teiltätigkeit eine zweiwöchige Einarbeitungszeit, um die Arbeitsabläufe an den zu bedienenden Maschinen zu beherrschen und die Abläufe zu verinnerlichen, steht dies bereits regelmäßig einer Einordnung der Teiltätigkeit als einfachste Tätigkeit iSd. Entgeltgruppe 1 entgegen. 10. Eine Eingruppierung in eine höhere als die Entgeltgruppe 1 kommt nur in Betracht, wenn der Beschäftigte mehr als nur „einfachste Tätigkeiten“ iSd. Entgeltgruppe 1 im tariflich maßgebenden Umfang ausübt. Die Entscheidungen des BAG zur Eingruppierung in die Entgeltgruppe 1 fußen – wie die vor- 23.215 stehenden Ausführungen belegen – auf seiner ständigen Rechtsprechung zum Verhältnis von Oberbegriff zu Beispielsfällen. Danach ist immer dann, wenn eines der Beispiele erfüllt ist, auch das Merkmal des Oberbegriffs erfüllt294. Wird indes kein Tätigkeitsbeispiel erfüllt, so ist auf den allgemeinen Begriff zurückzugreifen, wobei dessen Bestimmung allerdings von den Maßstäben der Beispielstatbestände aus zu erfolgen hat; die Tarifvertragsparteien haben mit 294 BAG v. 5.7.1978 – 4 AZR 795/76, AP Nr. 7 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 29.4.1981 – 4 AZR 1007/78, AP Nr. 11 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; v. 12.12.1990 – 4 AZR 306/90, AP Nr. 1 zu § 12 AVR Diakonisches Werk; v. 10.7.1996 – 4 AZR 139/95, NZA 1997, 558; v. 4.7.2012 – 4 AZR 694/10, AP AVR Diakonisches Werk § 12 Nr. 11.

Natter

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§ 23 Rz. 23.215

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

den Beispielen nämlich Maß und Richtung für die Auslegung des allgemeinen Begriffs vorgegeben295. Dies wird auch für die Ausbringung weiterer Beispiele durch landesbezirklichen Tarifvertrag zu gelten haben296.

VIII. Die Beteiligung des Personalrats bei der Ein- und Umgruppierung und der korrigierenden Rückgruppierung 23.216 Nach § 75 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG hat der Personalrat mitzubestimmen in Personalangelegenheiten der Angestellten und Arbeiter bei der Übertragung einer höher oder niedriger zu bewertenden Tätigkeit, Höher- oder Rückgruppierung, Eingruppierung.

23.217 Die Landespersonalvertretungsgesetze enthalten entsprechende Vorschriften; diese weichen allerdings teilweise in Einzelheiten von der in § 75 BPersVG bestimmten Regelung ab. ZB hat der Personalrat nach § 75 Abs. 1 Nr. 3 LPVG Baden-Württemberg im Rahmen der so genannten eingeschränkten Mitbestimmung (vgl. § 78 Abs. 4 LPVG BW, wonach die Einigungsstelle, wenn sie sich nicht der Auffassung der obersten Dienststelle anschließt, nicht zu entscheiden, sondern nur eine Empfehlung an die oberste Dienststelle zu beschließen) bei Beschäftigten, die voraussichtlich länger als zwei Monate Beschäftigte sein werden, mitzubestimmen bei Ein-, Höher-, Um- oder Rückgruppierung einschließlich Stufenzuordnung sowie Verkürzung und Verlängerung der Stufenlaufzeit nach Entgeltgrundsätzen, Bestimmung der Fallgruppe innerhalb einer Entgeltgruppe und, soweit jeweils tarifvertraglich nichts anderes bestimmt ist, bei übertariflicher Eingruppierung. 1. Die Mitbestimmungstatbestände a) Die Übertragung einer höher zu bewertenden Tätigkeit

23.218 Eine höher zu bewertende Tätigkeit (Zuweisung eines anderen Arbeitsplatzes oder Erweiterung des Aufgabengebietes) liegt nur dann vor, wenn die Tätigkeit nach einer höheren Entgeltgruppe bewertet ist als die bisherige, die Tätigkeit ihrer Art und ihrem Inhalt nach mithin einer höheren Entgeltgruppe des Tarifvertrags zuzuordnen ist297. Die Übertragung einer höher zu bewertenden Tätigkeit ist demnach nur gegeben, wenn es zu einem Wechsel der Entgeltgruppe, mithin zu einer Höhergruppierung kommt298.

23.219 Einigkeit bestand von jeher, dass die Übertragung einer höher zu bewertenden Tätigkeit auf Dauer stets mitbestimmungspflichtig war. Das Mitbestimmungsrecht dient in diesem Fall dem Schutz der Mitbewerber299. Demgegenüber steht erst seit der Entscheidung des BAG vom 28.1.1992300 fest, dass auch die nur vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit der Mitbestimmung des Personalrats unterliegt. Das BAG hat seine Auffassung damit begründet, dass § 75 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG nicht zwischen einer nur vorübergehenden 295 BAG v. 8.2.1984 – 4 AZR 158/83, AP Nr. 134 zu § 1 TVG Auslegung; v. 29.1.1986 – 4 AZR 465/84, AP Nr. 115 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 10.7.1996 – 4 AZR 139/95, NZA 1997, 558. 296 BAG v. 8.10.1997 – 4 AZR 274/96, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Medizinischer Dienst. 297 Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, BAT, § 22 Erl. 14.4.1; Uttlinger/Breier/Kiefer/Dassau/Faber, BAT, § 22 Erl. 26. 298 BAG v. 6.2.1985 – 4 AZR 127/83, DB 1985, 2208; v. 27.4.1988 – 4 AZR 691/87, AP Nr. 4 zu § 10 TV Arbeiter Bundespost; v. 27.11.1991 – 4 AZR 29/91, NZA 1992, 462. 299 VGH Baden-Württemberg v. 30.6.1987 – 4 S 280/86, ZBR 1988, 106. 300 BAG v. 28.1.1992 – 1 ABR 56/90 (B), NZA 1992, 805.

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Natter/Pfeiffer

Die Beteiligung des Personalrats

Rz. 23.222 § 23

und einer dauernden Übertragung unterscheide. Zwar führe die nur vorübergehende Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit nicht zu einer Höhergruppierung301; allerdings habe die Mitbestimmung bei der Ein-, Höher- oder Rückgruppierung einen anderen Inhalt als bei Übertragung einer höher oder niedriger zu bewertenden Tätigkeit. Im Übrigen folgt die Mitbestimmungspflichtigkeit auch aus seinem Schutzgedanken gegenüber dem Betroffenen und gegenüber anderen Beschäftigten der Dienststelle. Sowohl die Rechtsstellung des betroffenen Arbeitnehmers als auch die Interessen der anderen in der Dienststelle beschäftigten Arbeitnehmer können von einer auch nur vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit im Hinblick auf den künftigen beruflichen Aufstieg berührt sein, auch wenn einzuräumen ist, dass die vorübergehende Übertragung nur einen Anspruch auf die nach § 31 Abs. 3 und § 14 TVöD/TV-L zu zahlenden Zulagen auslöst302. Auch die im Rahmen der neuen tarifrechtlichen Regelungen über die Führung auf Probe oder die Führung auf Zeit erfolgende vorübergehende Übertragung einer Führungsposition (§ 31 Abs. 3 Satz 1 und § 32 Abs. 3 Satz 1 TVöD) ist mitbestimmungspflichtig303. b) Die Übertragung einer niedriger zu bewertenden Tätigkeit Für das Mitbestimmungsrecht des Personalrats bei der Übertragung einer niedriger zu bewertenden Tätigkeit gelten die für die Übertragung einer höher zu bewertenden Tätigkeit aufgeführten Grundsätze – naturgemäß mit umgekehrtem Vorzeichen – entsprechend.

23.220

c) Die Höhergruppierung Mit der Übertragung einer höher zu bewertenden Tätigkeit auf Dauer ist aufgrund der Tarifautomatik als Rechtsfolge eine Höhergruppierung „automatisch“ verbunden, gleichsam als Akt der förmlichen Bestätigung dieser Maßnahme304. Der Begriff der „Höhergruppierung“ in § 75 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG erfasst darüber hinaus auch all diejenigen Fälle der Höhergruppierung, die nicht durch die Übertragung einer höher zu bewertenden Tätigkeit bedingt sind. Dabei handelte es sich im Wesentlichen um folgende Tatbestände:

23.221

– Zum Zeitpunkt der Übertragung der höherwertigen Tätigkeit erfüllt der Beschäftigte noch nicht alle persönlichen Voraussetzungen für eine Höhergruppierung (zB Ablegung einer Prüfung)305. – Bei gleichbleibender Tätigkeit als korrigierende Höhergruppierung, weil eine bislang gezahlte Vergütung als zu niedrig erkannt wird306. – Der Beschäftigte ist in die höhere Entgeltgruppe hineingewachsen, ohne dass ihm die Tätigkeit durch den Arbeitgeber übertragen worden wäre307. Die bei gleichbleibender Tätigkeit im Wege des Bewährungs- oder Fallgruppenaufstiegs erfolgende Höhergruppierung308 gibt es im Geltungsbereich des TVöD und des TV-L nicht 301 302 303 304 305 306 307 308

BAG v. 16.4.2015 – 6 AZR 242/14, AP Nr. 2 zu § 14 TVöD; Rasche, öAT 2017, 5. Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 10. Altvater, § 75 BPersVG Rz. 47. VGH Baden-Württemberg v. 21.1.1997 – PL 15 S 1951/95, PersR 1998, 66. BVerwG v. 3.7.1977 – VII P 8.75, PersV 1978, 245. BVerwG v. 6.10.1992 – 6 P 22.90, PersR 1993, 74. BAG v. 30.5.1990 – 4 AZR 74/90, NZA 1990, 899; Laber, öAT 2015, 113. BVerwG v. 17.4.1970 – VII P 8.69, PersV 1970, 277.

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23.222

§ 23 Rz. 23.222

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

mehr (zB § 17 Abs. 5 Satz 1 iVm. § 8 TVÜ-Bund)309. Soweit ein solcher Aufstieg aufgrund von Besitzstandsregelungen ausnahmsweise noch erfolgt, hat der Personalrat jedoch weiterhin mitzubestimmen310. Mitbestimmungsfrei ist hingegen die Höhergruppierung, die sich aus einer tarifvertraglichen Änderung der Entgeltordnung ergibt, wenn ein Tätigkeitsmerkmal ohne Inhaltsänderung in eine höhere Vergütungsgruppe übertragen wird. Der betroffene Beschäftigte hat hier einen Rechtsanspruch auf die höhere Vergütung, ohne dass es einer Beteiligung des Personalrats bedürfte311. Ist jedoch nach einer strukturellen Änderung der Entgeltordnung darüber zu entscheiden, welcher neuen Entgeltgruppe der Beschäftigte zuzuordnen ist, liegt eine mitbestimmungspflichtige Maßnahme vor312. d) Die Rückgruppierung

23.223 Unter Rückgruppierung ist die Einreihung eines Beschäftigten in eine niedrigere als die bisherige (Vergütungs-, Lohn- bzw.) Entgeltgruppe zu verstehen. Die Rückgruppierung kann auf unterschiedlichen Ursachen beruhen: – Dem Beschäftigten wird eine im Vergleich zu seiner Eingruppierung geringer zu bewertende Tätigkeit zugewiesen. – Zudem sind Fälle denkbar, in denen sich die Wertigkeit der dem Beschäftigten übertragenen Tätigkeiten verringert, ohne dass der Arbeitgeber dies durch Übertragung anderer Tätigkeiten herbeigeführt hätte. – Daneben sind die Fälle der korrigierenden Rückgruppierung, also die Fälle zu nennen, bei denen sich bei unveränderter Tätigkeit die bisherige Eingruppierung als zu hoch erweist.

23.224 Bis zum Jahr 1990 hatte das BAG die Auffassung vertreten, dass der Begriff der Rückgruppierung iSv. § 75 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG dahin auszulegen sei, dass darunter nur die Zuweisung einer Tätigkeit zu verstehen sei, für die die Tätigkeitsmerkmale einer niedrigeren Lohn- bzw. Vergütungsgruppe gelten als für die bisher verrichteten Aufgaben. Demzufolge hatte das Gericht eine mitbestimmungspflichtige Rückgruppierung verneint, wenn ein Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes ohne Änderung der Tätigkeit des Arbeitnehmers lediglich die Weiterzahlung des ohne arbeitsvertragliche Vereinbarung und in Verkennung der tariflichen Merkmale geleisteten Arbeitsentgelts einstellte. Durch diese Korrektur einer ungerechtfertigten Bereicherung werde – so das BAG – die tarifliche oder vertragliche Position des Arbeitnehmers nicht berührt313. Mit seinem Urteil vom 30.5.1990314 hat das Gericht diese Rechtsprechung aufgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Mitbestimmungstatbestand der Übertragung einer höher oder niedriger zu bewertenden Tätigkeit nach der Systematik der Eingruppierungsregelungen von denjenigen der Höher- oder Rückgruppierung zu unterscheiden sei. Aus der Zuweisung einer Tätigkeit durch den Arbeitgeber folge nach der Tarifautomatik ein tariflicher Mindestvergütungsanspruch. Werde dem Arbeitnehmer eine höher oder niedriger zu bewertende Tätigkeit übertragen, führe dies zu einer inhaltlichen Änderung des Arbeitsvertrages, die auf dem Direktionsrecht des Arbeitgebers, einer Änderungskündigung oder einem 309 310 311 312 313

BVerwG v. 16.5.2012 – 6 PB 4.12, PersR 2012, 423; Altvater, § 75 BPersVG Rz. 42. Altvater, § 75 BPersVG Rz. 42. BAG v. 23.2.1966 – 4 AZR 447/64, AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: BAVAV. BAG v. 12.1.1993 – 1 ABR 42/92, DB 1993, 1094; v. 9.3.1993 – 1 ABR 48/92, NZA 1993, 1045. BAG v. 2.12.1981 – 4 AZR 383/79, AP Nr. 6 zu § 75 BPersVG; v. 21.4.1982 – 4 AZR 671/79, DB 1982, 2521; v. 18.5.1988 – 4 AZR 751/87, AP Nr. 2 zu §§ 22, 23 BAT Datenverarbeitung. 314 BAG v. 30.5.1990 – 4 AZR 74/90, NZA 1990, 899.

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Die Beteiligung des Personalrats

Rz. 23.226 § 23

Änderungsvertrag beruhen könne. Insoweit sei stets ein Mitbestimmungsrecht bejaht worden. Dieses Mitbestimmungsrecht des Personalrats bei der inhaltlichen Änderung des Arbeitsvertrages sei jedoch von demjenigen bei der Zuordnung einer zugewiesenen Tätigkeit zu einer bestimmten Lohn- oder Vergütungsgruppe (dh. bei der Höher- oder Rückgruppierung) zu unterscheiden. Dem habe der Gesetzgeber dadurch Rechnung getragen, dass er die Höher- und Rückgruppierung ausdrücklich neben den Tatbeständen der Übertragung einer höher oder niedriger zu bewertenden Tätigkeit normiert habe. Diese eigenständige Gewährleistung eines Mitbestimmungsrechts bei der Höher- und Rückgruppierung gebiete es, ein Mitbestimmungsrecht des Personalrats auch dort zu bejahen, wo der Arbeitgeber bei unveränderter Tätigkeit deren Zuordnung zu einer bestimmten Lohn- oder Vergütungsgruppe ändern wolle. e) Die Eingruppierung Als letzten Mitbestimmungstatbestand enthält § 75 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG die „Eingruppierung“. Da die Mehrzahl der Eingruppierungsfälle – verstanden als die Zuordnung der von einem Arbeitnehmer vertragsgemäß auszuübenden Tätigkeit zu einer Entgeltgruppe der maßgeblichen Entgeltordnung315 – bereits durch die Mitbestimmungstatbestände der Höher- und Rückgruppierung abgedeckt sind, verbleiben im Anwendungsbereich des Merkmals der „Eingruppierung“ nach § 75 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG neben der „Ersteingruppierung“ nur die Fälle, in denen eine generelle Überprüfung von Eingruppierungen aufgrund einer strukturellen Änderung der maßgebenden Entgeltordnung erfolgt, also die Zuordnung der Mitarbeiter überprüft werden muss. Hier weist der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine Tätigkeit in einer arbeitsorganisatorisch neu geschaffenen Position zu, „für die eine vergleichbare Eingruppierung noch nicht vorgenommen werden konnte“, auch wenn sich durch diese Zuweisung die Entgeltgruppe nicht ändern sollte316. Bei der erstmaligen Eingruppierung umfasst die Mitbestimmung auch die Stufenzuordnung innerhalb der Entgeltgruppe317. Bei der Stufenzuordnung handelt es sich um eine der Eingruppierung inhaltlich vergleichbare personelle Maßnahme. Diese hat unmittelbare Auswirkungen auf das dem einzelnen Beschäftigten zu zahlende Entgelt. Das Mitbestimmungsrecht hat eine Richtigkeitskontrolle insofern zum Ziel, als die Personalvertretung mitbeurteilen soll, ob eine einschlägige Berufserfahrung vorliegt318. § 75 Abs. 1 Nr. 3 LPVG BW benennt ausdrücklich die Stufenzuordnung als Gegenstand der Mitbestimmung. Weitergehend erfasst diese Norm auch die Stufenlaufzeit sowie die Fallgruppe als mitbestimmungspflichtig.

23.225

2. Die Folgen der Verletzung der Beteiligungsrechte des Personalrats Im Hinblick auf die Rechtsfolgen fehlerhafter bzw. unterlassener Beteiligung des Personalrats (zum Mitbestimmungsverfahrens s. die Ausführungen in Rz. 26.1 ff.) ist danach zu differenzieren, ob dem Personalrat ein Mitbestimmungsrecht in Form eines Mitgestaltungsoder in Form eines Mitbeurteilungsrechts zusteht. Zudem ist zwischen den personalvertretungsrechtlichen und individualarbeitsrechtlichen Rechtsfolgen zu unterscheiden.

315 BAG v. 31.10.1995 – 1 ABR 5/95, NZA 1996, 890. 316 Beispiele nach Uttlinger/Breier/Kiefer/Dassau/Faber, BAT, § 22 Erl. 31; vgl. im Übrigen BAG v. 21.3.1995 – 1 ABR 46/94, DB 1996, 480. 317 BVerwG v. 27.8.2008 – 6 P 5/08, PersV 2009, 24. 318 Vgl. auch BVerwG v. 7.3.2011 – 6 P 15/10, PersV 2011, 309; Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 8 f.

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23.226

§ 23 Rz. 23.227

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

a) Die Mitbestimmung bei der Höher- und Rückgruppierung und der Eingruppierung

23.227 Bei der Ein-, Höher- und Rückgruppierung als Zuordnung einer Tätigkeit zu den Entgeltgruppen handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung des BAG319 nicht um eine konstitutive Maßnahme des Arbeitgebers, sondern um einen Akt der Rechtsanwendung. Ein-, Höher- und Rückgruppierungen begründen keine Ansprüche der Arbeitnehmer und lassen solche auch nicht entfallen, sondern haben rein deklaratorische Wirkung, weil sie die Auffassung des Arbeitgebers wiedergeben, welcher Entgeltgruppe die Tätigkeit zutreffender Weise zuzuordnen ist. Die Mitbestimmung des Personalrats ist hierbei demzufolge kein Mitgestaltungsrecht, sondern lediglich ein die tarifliche Bewertung kontrollierendes Mitbeurteilungsrecht. Dieses Mitbeurteilungsrecht dient der Richtigkeitskontrolle; es soll gewährleisten, dass die angesichts der allgemein und weit gehaltenen Fassung der Tätigkeitsmerkmale oft schwierige Prüfung, welcher Entgeltgruppe die Tätigkeit des Arbeitnehmers entspricht, möglichst zutreffend erfolgt, der Arbeitgeber die Tätigkeit mithin der richtigen Entgeltgruppe zuordnet. Das Mitbestimmungsrecht dient nach alledem der einheitlichen und gleichmäßigen Anwendung der Entgeltordnung in gleichen bzw. vergleichbaren Fällen und damit auch der innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit sowie der Durchschaubarkeit der vorgenommenen Eingruppierungen320.

23.228 Verletzt der Arbeitgeber dieses Mitbeurteilungsrecht, so zeitigt diese Verletzung des Mitbestimmungsrechts keine individualarbeitsrechtlichen Folgen. Bei einer Ein-, Höher- oder Rückgruppierung als Akt der Rechtsanwendung wird – anders als bei der Übertragung einer höher oder niedriger zu bewertenden Tätigkeit, durch die der Inhalt des Arbeitsvertrages gestaltet wird – der aus der Tarifautomatik folgende Entgeltanspruch von vornherein nicht berührt. Bereits deshalb ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG die Ausübung des Mitbestimmungsrechts des Personalrats in Form der Mitbeurteilung keine Wirksamkeitsvoraussetzung für einen höheren oder niedrigeren individuellen Entgeltanspruch des Arbeitnehmers321. b) Die Mitbestimmung bei der Übertragung einer höher oder niedriger zu bewertenden Tätigkeit

23.229 Demgegenüber stellt sich die Übertragung einer höher oder niedriger zu bewertenden Tätigkeit als konstitutive Maßnahme dar. Durch die Übertragung einer höher oder niedriger zu bewertenden Tätigkeit wird der Inhalt des Arbeitsvertrages gestaltet. Es kommt zu einer inhaltlichen Änderung des Arbeitsvertrages, die auf dem Direktionsrecht, einer Änderungskündigung oder einem Änderungsvertrag beruhen kann322. Hier ist dem Personalrat das Mitbestimmungsrecht in Form eines Mitgestaltungsrechts eingeräumt.

23.230 Während das BAG bis zum Jahr 1990 in ständiger Rechtsprechung für die zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber vereinbarte Zuweisung einer höherwertigen Tätigkeit und damit einhergehend die Zahlung einer höheren Vergütung die Auffassung vertreten hatte, dass die Ausübung des Mitbestimmungsrechts Wirksamkeitsvoraussetzung der vertraglichen Verein-

319 BAG v. 14.1.2004 – 4 AZR 10/03, ZTR 2004, 643 mwN. 320 BAG v. 30.5.1990 – 4 AZR 74/90, NZA 1990, 899; v. 16.2.2000 – 4 AZR 62/99, DB 2001, 596; v. 14.1.2004 – 4 AZR 10/03, ZTR 2004, 643. 321 BAG v. 30.5.1990 – 4 AZR 74/90, NZA 1990, 899; v. 16.2.2000 – 4 AZR 62/99, DB 2001, 596; v. 14.1.2004 – 4 AZR 10/03, ZTR 2004, 643. 322 BAG v. 30.5.1990 – 4 AZR 74/90, NZA 1990, 899.

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Pfeiffer

Die Beteiligung des Personalrats

Rz. 23.232 § 23

barung sei323, führt die ohne Zustimmung des Personalrats getroffene Vereinbarung einer höherwertigen Tätigkeit nach neuerer Rechtsprechung des Gerichts324 indes nicht mehr zur Unwirksamkeit der arbeitsvertraglichen Absprache. Der Arbeitgeber könne sich – so das BAG – vielmehr durch Arbeitsvertrag oder Änderung des Arbeitsvertrages verpflichten, dem Arbeitnehmer eine höherwertige Tätigkeit zuzuweisen und ihn entsprechend höher zu vergüten. Eine solche vertragliche Gestaltung werde durch das Personalvertretungsgesetz nicht verboten. Während bei einer Kündigung § 79 Abs. 4 BPersVG bestimme, dass diese unwirksam sei, wenn der Personalrat nicht beteiligt worden sei, gebe es demgegenüber keine entsprechende Vorschrift, die die Vereinbarung einer höherwertigen Tätigkeit ohne Zustimmung des Personalrats verbiete oder für unwirksam erkläre. Allerdings sei der Arbeitgeber am Vollzug der Vereinbarung einer höherwertigen Tätigkeit durch Zuweisung eines entsprechenden Arbeitsplatzes solange gehindert, wie die Zustimmung des Personalrats nicht vorliege. Die Zuweisung eines entsprechenden Arbeitsplatzes bedürfe nämlich der Mitbestimmung des Personalrats nach § 75 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG und könne ohne sie nicht durchgeführt werden. Insoweit sei die Mitbestimmung des Personalrats Wirksamkeitsvoraussetzung für den Vollzug der Maßnahme. Der Personalrat könne jederzeit die Rückgängigmachung einer ohne seine Zustimmung durchgeführten Zuweisung einer höherwertigen Tätigkeit verlangen. Die vom Arbeitgeber versprochene Leistung könne bei einer endgültigen und wirksamen Zustimmungsverweigerung des Personalrats nachträglich unmöglich werden und uU Schadensersatzansprüche auslösen. Der Arbeitgeber bleibe bis zu einer entsprechenden Änderung des Arbeitsvertrages mithin im Ergebnis verpflichtet, die höhere Vergütung zu zahlen. Hat der Arbeitgeber sich mit dem Arbeitnehmer einvernehmlich auf die Zuweisung einer geringerwertigen Tätigkeit verständigt, wozu auch eine vergleichsweise gerichtliche Vereinbarung gehört325, so führt die Verletzung des Mitbestimmungsrechts des Personalrats dazu, dass die Übertragung der geringerwertigen Tätigkeit unwirksam ist326. Der Arbeitgeber bleibt hier verpflichtet, den Arbeitnehmer mit seiner bisherigen – höherwertigen – Tätigkeit weiterzubeschäftigen. Bietet der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber seine frühere Tätigkeit an und beschäftigt der Arbeitgeber ihn nicht, gerät der Arbeitgeber in Annahmeverzug nach § 615 BGB327.

23.231

3. Die Überleitung in die neuen Entgeltgruppen Ob es sich bei der Überleitung in die neue Entgeltordnung um eine mitbestimmungspflichtige Eingruppierung oder Umgruppierung nach den Personalvertretungsgesetzen des Bundes und der Länder handelt, ist bislang höchstrichterlich noch nicht entschieden. Hiergegen ließe sich einwenden, dass die Überleitung in die neuen Entgeltgruppen keine wertende Entscheidung des Arbeitgebers darüber erfordert, welche Entgeltgruppe er für die Tätigkeit des Beschäftigten für zutreffend hält; die Überleitungstarifverträge mit ihren jeweiligen Anlagen ordnen die bisherigen Vergütungs- bzw. Lohngruppen zwingend rein schematisch den neuen Entgeltgruppen zu, ohne dass die Frage der tariflich „richtigen“ Eingruppierung in Rede stünde328. 323 324 325 326 327 328

So noch BAG v. 30.5.1990 – 4 AZR 74/90, NZA 1990, 899. BAG v. 16.1.1991 – 4 AZR 301/90, NZA 1991, 490. Altvater, § 75 BPersVG Rz. 52; Fischer/Goeres/Gronimus, Band V, § 75 BPersVG Rz. 28. BAG v. 12.5.2004 – 4 AZR 338/03, AP Nr. 300 zu §§ 22, 23 BAT 1975. BAG v. 12.5.2004 – 4 AZR 338/03, AP Nr. 300 zu §§ 22, 23 BAT 1975. Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L, § 3 TVÜ-Länder Rz. 11; vgl. Clemens/Scheuring/Steingen/ Wiese, TV-L, TVÜ-Länder Erl. 84 f.; Dassau/Langenbrinck, TVöD – Schnelleinstieg, S. 15; Thi-

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23.232

§ 23 Rz. 23.233

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

23.233 Allerdings hat sich auf der einen Seite das BVerwG in seinen Beschlüssen vom 27.8.2008329 bereits für ein weites Verständnis des Begriffs der „Eingruppierung“ nach § 78 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2 RhPPersVG, § 65 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 NdsPersVG ausgesprochen und auch die Stufenzuordnung nach § 16 Abs. 2 TV-L, die bei einem einzustellenden Arbeitnehmer zugleich mit seiner Einordnung in die Entgeltgruppe vorzunehmen ist, als von der Eingruppierung mitumfasst angesehen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen darauf abgestellt, die Mitbestimmung des Personalrats bei Eingruppierungen müsse sich auf alle bedeutsamen Parameter erstrecken, die für den Kernbestandteil des tariflichen Entgelts maßgeblich seien; die Richtigkeitskontrolle bleibe unvollständig, wenn sie sich auf die Einreihung in die Entgeltgruppe beschränke, andere für die Bemessung des Grundgehalts wesentlichen Merkmale, bei denen ebenfalls ein Kontrollbedürfnis bestehe, aber nicht erfasse. Auf der anderen Seite hat das BAG mit Beschluss vom 22.4.2009330 bereits entschieden, dass es sich bei der Überleitung in die neue Entgeltordnung des TVöD-VKA nach den Vorschriften der §§ 3 bis 7 TVÜ-VKA um eine mitbestimmungspflichtige Umgruppierung iSd. § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG handelt. Es hat diese Entscheidung wie folgt begründet: Eine Umgruppierung finde nicht nur statt, wenn dem Arbeitnehmer eine neue Tätigkeit zugewiesen wird, die den Tätigkeitsmerkmalen einer anderen Vergütungsgruppe entspricht, sondern auch, wenn sich bei gleich bleibender Tätigkeit des Arbeitnehmers die Vergütungsordnung ändere. Dabei sei das Mitbestimmungsverfahren bei einer Umgruppierung nach § 99 Abs. 1 BetrVG ein einheitliches Verfahren, das diesen Vorgang in allen Teilen erfasse und nicht auf einzelne Teile beschränkt werden könne. Nach §§ 3 bis 7 TVÜ-VKA fehle es bei der Überleitung der vormals nach den Vergütungsordnungen des BAT-VKA und des BMT-G II eingruppierten Arbeitnehmern nicht an einer Rechtsanwendung durch den Arbeitgeber. Erforderlich seien in Bezug auf jeden Arbeitnehmer die Ermittlung der für die Überleitung maßgebenden Tatsachen und ihre Subsumtion anhand von Rechtsvorschriften des TVÜ-VKA. Damit einher gehe eine Richtigkeitskontrolle des gefundenen Ergebnisses. Dies begründe das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 99 Abs. 1 BetrVG. Dass der Arbeitgeber anlässlich der Überleitung in die Entgeltgruppen nicht verpflichtet sei, sämtliche zum Stichtag bestehenden Eingruppierungen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, stehe dem nicht entgegen.

23.234 Vor diesem Hintergrund spricht viel dafür, dass sich die Überleitung in die neuen Entgeltgruppen auch nach den Personalvertretungsgesetzen des Bundes und der Länder als mitbestimmungspflichtige Umgruppierung darstellt.

IX. Die Eingruppierung der Lehrerinnen und Lehrer im öffentlichen Dienst 23.235 Die im Arbeitnehmerverhältnis beschäftigten Lehrerinnen und Lehrer an allgemein bildenden und berufsbildenden Schulen haben im Hinblick auf ihre Vergütung bzw. Eingruppierung stets eine Sonderstellung eingenommen. Der Grundsatz, dass sich die Eingruppierung der Angestellten/Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (auch für die Zeit bis zur Schaffung neuer Entgeltordnungen) unter der abgelösten Geltung des BAT/BAT-O gemäß § 22 Abs. 1 BAT/BAT-O nach den Tätigkeitsmerkmalen der Vergütungsordnung (Anlagen 1a und b) richtete, galt für die Lehrkräfte nicht. Die Anwendung des § 22 BAT/BAT-O setzte nämlich vessen/Kulok, TV-L – Schnelleinstieg, S. 15; aA Gronimus, PersV 2006, 210; Ilbertz/Widmaier/ Sommer, § 75 BPersVG Rz. 8e; Lorenzen ua., § 75 BPersVG Rz. 22. 329 BVerwG v. 27.8.2008 – 6 P 11/07, BVerwGE 131, 383 und – 6 P 3/08, PersR 2008, 500. 330 BAG v. 22.4.2009 – 4 ABR 14/08, ArbRB 2010, 14 = NZA 2009, 1286 mit zahlreichen weiteren Nachweisen auch zur Gegenmeinung.

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Die Eingruppierung der Lehrerinnen und Lehrer im öffentlichen Dienst

Rz. 23.237 § 23

voraus, dass die Tätigkeit des Angestellten überhaupt von der Vergütungsordnung zum BAT/ BAT-O erfasst war. Dies war bei den angestellten Lehrkräften indes nicht der Fall. Im Geltungsbereich des BAT (West) bestand für die Eingruppierung von Lehrkräften von jeher eine bewusste Tariflücke331. Nach der Vorbemerkung Nr. 5 zu allen Vergütungsgruppen der Allgemeinen Vergütungsordnung (Bund/Land) und der Bemerkung Nr. 5 zu allen Vergütungsgruppen der Allgemeinen Vergütungsordnung (VKA) galt die Anlage 1a nicht für Angestellte, die als Lehrkräfte – auch wenn sie nicht unter die SR 2l I fallen – beschäftigt sind, soweit nicht ein besonderes Tätigkeitsmerkmal vereinbart ist. Dieser Ausschluss bezog sich ausnahmslos auf alle Lehrkräfte des allgemeinbildenden und berufsbildenden Schuldienstes332. In den neuen Bundesländern hatten die Tarifvertragsparteien bei der Regelung der Eingruppierung von Lehrkräften an dem Prinzip festgehalten, keine tariflichen Tätigkeitsmerkmale zu vereinbaren. Hier bestimmte § 2 Nr. 3 Satz 1 des Änderungstarifvertrages Nr. 1 zum BAT-O vom 8.5.1991, dass die Anlage 1a, soweit sie keine besonderen Tätigkeitsmerkmale enthält, nicht auf Angestellte anzuwenden ist, die als Lehrkräfte333 – auch wenn sie nicht unter SR 2l I BAT-O fallen – beschäftigt sind. Insbesondere anlässlich der Verhandlungen zur allgemeinen Entgeltordnung zum TV-L wurde die Forderung erhoben, auch über die tarifliche Entgeltordnung der Lehrkräfte zu verhandeln. Diese mit der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) 2014 aufgenommenen Verhandlungen führten im Rahmen der TV-L-Tarifrunde 2015/2016 zur Vereinbarung des Tarifvertrages über die Eingruppierung und die Entgeltordnung für die Lehrkräfte der Länder (TV EntgO-L) mit der dbb Beamtenbund, der am 1.8.2015 in Kraft getreten ist. Seit 2017 gilt der Tarifvertrag Entgeltordnung für Lehrkräfte (TV EntgO-L) im Sinne seiner tarifrechtlichen Wirkungsweise nunmehr auch für GEW-Mitglieder. Bereits zuvor hatte die Mitgliederversammlung der TdL hat in der Sitzung vom 19. bis 21.5.2015 beschlossen, den TV auch auf die Arbeitsverhältnisse der Mitglieder der GEW anzuwenden.

23.236

Im Geltungsbereich des TVöD sowohl auf VKA- als auch auf Bundesebene finden die zwi- 23.237 schenzeitlich vereinbarten Entgeltordnungen (Bund seit 1.1.2014; VKA seit 1.1.2017) auf Lehrkräfte keine Anwendung (vgl. TV EntgO Bund vom 5.9.2013, in Kraft seit 1.1.2014, § 1 Abs. 2 a: „Dieser Tarifvertrag gilt nicht für Beschäftigte, die als Lehrkräfte – auch wenn sie nicht unter § 49 (Bund) TVöD BT-V fallen – beschäftigt sind, soweit nicht ein besonderes Tätigkeitsmerkmal vereinbar ist; Vorbemerkung Nr. 8 zur am 1.1.2017 in Kraft getretenen EntgO VKA vom 29.4.2016: „Die Entgeltordnung gilt nicht für Beschäftigte, die als Lehrkräfte – auch wenn sie nicht unter Abschnitt VII Sonderreglungen (VKA) § 51 BT-V fallen – beschäftigt sind, soweit nicht ein besonderes Tätigkeitsmerkmal vereinbar ist.“). Mithin sind diese Beschäftigten in Bezug auf ihre Eingruppierung gerade nicht in die Entgeltordnung des VKA bzw. des Bundes übergeleitet (vgl. § 29 Abs. 1 Satz 2 TVÜ-VKA, § 24 Satz 2 TVÜ-Bund) mit der Folge, dass lediglich ihre bisherige Vergütungsgruppe der neuen Entgeltgruppe nach dem TVöD zugeordnet ist und es im Übrigen bei den bisherigen Eingruppierungsregelungen verbleibt.

331 Freitag, ZTR 1997, 257 (257). 332 Marzona, PersR 1999, 393 (393); der Begriff der Lehrkraft im tariflichen Sinne wird in der Protokollnotiz zu Nr. 1 SR 2l I näher bestimmt (vgl. BAG v. 24.3.2010 – 4 AZR 721/08, ZTR 2010, 412). 333 Zur Bestimmung des Begriffs der „Lehrkraft“ kann die Protokollnotiz zu Nr. 1 der SR 2l I BAT-O herangezogen werden (vgl. BAG v. 25.1.2012 – 4 AZR 264/10, ZTR 2012, 504).

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§ 23 Rz. 23.238

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

23.238 Nach alledem muss in Bezug auf die Eingruppierung von Lehrkräften nach dem jeweiligen Tarifbereich unterschieden werden. Neben der in der Praxis zahlenmäßig umfangreichsten Gruppe von Lehrkräften, die bei einem Bundesland beschäftigt werden und für die somit der TV EntgO-L entweder kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit oder kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme Anwendung findet, gibt es die Gruppen von Lehrkräften, die auf der Grundlage des TVöD entweder auf der Ebene des VKA oder des Bundes beschäftigt werden, deren Eingruppierung sich nach so genannten Lehrer-Richtlinien bestimmt. Einen Sonderfall bildet das Bundesland Hessen, das mit Wirkung zum 31.3.2004 aus der TdL austrat und über ein eigenständiges Tarifregime verfügt, ohne dass aktuell eine tarifliche Entgeltordnung für Lehrkräfte besteht.

23.239 Im Folgenden soll zunächst ein Überblick über die Rechtsprobleme im Zusammenhang mit der Lehrereingruppierung im praktisch relevanten Bereich der TdL gegeben werden. Danach werden die Eingruppierungsregelungen der Lehrkräfte, die dem TVöD unterfallen, und die der Lehrkräfte des Bundeslandes Hessen dargestellt. 1. Die Eingruppierung von Lehrkräften nach der EntgO-L zum TV-L

23.240 Am 1.8.2015 trat der Tarifvertrag über die Eingruppierung und die Entgeltordnung für die Lehrkräfte der Länder (TV EntgO-L) vom 28.3.2015 in Kraft, derzeit idF des Änderungstarifvertrags Nr. 2 vom 17.2.2017. Eine eigenständige Entgeltordnung war von Rechts wegen notwendig, da nach Nr. 4 der Vorbemerkungen zu allen Teilen der nach der Tarifeinigung am 10.3.2011 am 1.1.2012 in Kraft getretenen Entgeltordnung diese Entgeltordnung nicht für Beschäftigte gilt, die als Lehrkräfte – auch wenn sie nicht unter § 44 TV-L fallen – beschäftigt sind, soweit nicht ein besonderes Tätigkeitsmerkmal vereinbart ist. a) Lehrkraft im Sinne der TV EntgO-L

23.241 Nach § 1 TV EntgO-L gilt der Tarifvertrag für Lehrkräfte an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen, die unter den Geltungsbereich des § 44 Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) fallen. Danach muss die Lehrkraft bei einem Bundesland beschäftigt sein, das Mitglied im Arbeitgeberverband der Tarifgemeinschaft deutscher Länder ist (Hessen ist 2004 ausgetreten; dort gilt der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst des Landes Hessen vom 1.9.2009 in der jeweiligen Fassung; Berlin ist seit dem 1.1.2013 wieder Mitglied der TdL). § 44 TV-L enthält Sonderregelungen neben der Geltung des Allgemeinen Teils des TV-L (§§ 1 bis 39) für Lehrkräfte, § 1 Abs. 4 e TV-L. Wer Lehrkraft im Sinne der Sonderregelung ist, bestimmt die Protokollerklärung. Danach handelt es sich um Beschäftigte, bei denen die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten im Rahmen eines Schulbetriebes der Tätigkeit das Gepräge gibt. Die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten gibt einer Tätigkeit das Gepräge, wenn sie für die Tätigkeit maßgebend ist und die unmittelbare Unterrichtstätigkeit mehr als die Hälfte der Gesamtarbeitszeit des Beschäftigten einnimmt334. Außerdem muss die Lehrkraft noch an einer allgemeinbildenden Schule oder einer berufsbildenden Schule (Berufs-, Berufsfach- und Fachschulen) lehrend tätig sein. Keine Schulen im Sinne der Tarifvorschrift sind Schulen und Einrichtungen der Verwaltung, Krankenpflegeschulen oder ähnliche Einrichtungen. Hierzu gehören auch Volkshochschulen und Einrichtungen der Erwach-

334 BAG v. 18.5.1983 – 4 AZR 539/80, AP BAT 1975 §§ 22, 23 Nr. 74; Bredemeier/Neffke, TVöD/ TV-L, § 44 TV-L Rz. 3.

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Die Eingruppierung der Lehrerinnen und Lehrer im öffentlichen Dienst

Rz. 23.244 § 23

senenbildung335. Mithin gilt für alle nicht an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen beschäftigten Lehrkräfte zwar der TV-L, jedoch ohne die Sonderregelungen und somit auch nicht der TV EntgO-L. b) Übersicht zum TV EntgO-L Die Eingruppierung von Lehrkräften richtete sich bis zum 31.7.2015 nach spezifischen, nicht innerhalb der Anlagen 1a und 1b bestimmten Tätigkeitsmerkmalen der Vergütungsordnung zum BAT/BAT-O. Wie schon während der Geltung des BAT galt die für die Eingruppierung maßgebliche Entgeltordnung nach der Vorbemerkung Nr. 4 zur Anlage A TV-L nicht für Tarifbeschäftigte, die als Lehrkräfte tätig waren. Dies hatte zur Folge, dass für Lehrkräfte die zentrale Eingruppierungsvorschrift des § 12 TV-L nicht zur Anwendung kam. Vielmehr richtete sich die Eingruppierung nach den von der TdL jeweils beschlossenen Eingruppierungsrichtlinien, auf die in den Arbeitsverträgen Bezug genommen wurde und die auf diese Weise zum Vertragsinhalt wurden. In der Praxis standen also die Eingruppierungsrichtlinien der TdL bindend im Vordergrund, die allerdings durch die Bundesländer meist in Form von Eingruppierungserlassen umgesetzt wurden.

23.242

Die bisherigen Eingruppierungsregelungen sind mit Wirkung vom 1.8.2015 durch den Tarifvertrag über die Eingruppierung und die Entgeltordnung für die Lehrkräfte der Länder (TV EntgO-L) abgelöst worden. Der TV EntgO-L gilt ab dem 1.8.2015 für alle am 31.7.2015 beschäftigten Lehrkräfte iSd. § 44 TV-L und für Neueinstellungen ab dem Inkrafttreten. Der TV EntgO-L besteht aus fünf Teilen. Der Tarifvertrag selbst enthält vier Teile, nämlich

23.243

– Abschnitt I mit Hinweis darauf, dass sich der Begriff der Lehrkraft nach der Definition in § 44 TV-L richtet und mit dem Hinweis auf die Maßgaben zum TV-L und zum TVÜ-Länder, wie sie in Abschnitt II und III normiert sind, – Abschnitt II mit Regelungen zur Eingruppierung der Lehrkräfte in Form von Maßgaben zum TV-L, – Abschnitt III mit Regelungen zur Überleitung der Lehrkräfte in die Entgeltordnung in Form von Maßgaben zum TVÜ-Länder, – Abschnitt IV mit den Schlussvorschriften betreffend Inkrafttreten und Laufzeit. – Der fünfte und wohl der zentrale Teil ist die Entgeltordnung Lehrkräfte als Anlage des Tarifvertrags336. Maßgebende Bestimmung ist nunmehr § 12 TV-L idF des § 3 TV EntgO-L vom 28.3.2015 idF des Änderungstarifvertrags Nr. 2 vom 17.2.2017, wonach sich die Eingruppierung der Lehrkraft nach den Eingruppierungsregelungen der Entgeltordnung Lehrkräfte richtet und die Lehrkraft Entgelt nach der Entgeltgruppe erhält, in der sie eingruppiert ist. Die Lehrkraft ist in der Entgeltgruppe eingruppiert, die sich für die gesamte von ihr nicht nur vorübergehend auszuübende Tätigkeit aus den Eingruppierungsregelungen ergibt.

335 Bredemeier/Neffke, TVöD/TV-L, § 44 TV-L Rz. 5. 336 Vgl. dazu Conze, öAT 2016, 1.

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23.244

§ 23 Rz. 23.245

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

23.245 Daraus folgt, dass insbesondere der Grundsatz der Tarifautomatik Anwendung findet. Für die Bewertung der gesamten von der Lehrkraft nicht nur vorübergehend auszuübenden Tätigkeit kommt es jedoch abweichend von den allgemeinen Eingruppierungsregelungen nicht auf die Arbeitsvorgänge und deren zeitlichen Anteile an. Es gilt das Prinzip der zusammenfassenden Betrachtungsweise. Die Eingruppierung, zB eines einzustellenden Lehrers an einem Gymnasium für die Fächer Englisch und Latein, ergibt sich aus der auszuübenden Gesamttätigkeit und der erforderlichen Qualifikation. c) EntgO-L

23.246 Die Entgeltordnung ist als Anlage Bestandteil des TV EntgO-L vom 28.3.2015. Darin sind getrennt nach den jeweiligen ausbildungs- und sonstigen stellenbezogenen Anforderungen an die Tätigkeit der Lehrkraft sechs Abschnitte aufgeführt. Den Abschnitten sind jeweils Vorbemerkungen vorangestellt. Sie beinhalten die Geltung für die dem jeweiligen Abschnitt unterfallenden Lehrkräften und grenzen damit zugleich auch das Verhältnis der Abschnitte der Entgeltordnung zueinander ab. Im Anhang 1 ist die Angleichungszulage und im Anhang 2 sind die besonderen Merkmale für den Freistaat Sachsen geregelt. Daraus ergibt sich folgender Aufbau: Vorbemerkungen zu allen Abschnitten der Entgeltordnung Lehrkräfte: – Abschnitt 1 Lehrkräfte, bei denen die fachlichen und pädagogischen Voraussetzungen für die Übernahme in das Beamtenverhältnis erfüllt sind – Abschnitt 2 Lehrkräfte, bei denen die fachlichen und pädagogischen Voraussetzungen für die Übernahme in das Beamtenverhältnis nicht erfüllt sind, in der Tätigkeit von Lehrkräften mit abgeschlossenem Lehramtsstudium an einer wissenschaftlichen Hochschule und mit abgeschlossenem Referendariat oder Vorbereitungsdienst – Abschnitt 3 Lehrkräfte, bei denen die fachlichen und pädagogischen Voraussetzungen für die Übernahme in das Beamtenverhältnis nicht erfüllt sind, in der Tätigkeit von Fachlehrern Unterabschnitt 3.1 Lehrkräfte in der Tätigkeit von beamteten Fachlehrern mit abgeschlossener Hochschulbildung Unterabschnitt 3.2 Lehrkräfte in der Tätigkeit von beamteten Fachlehrern mit abgeschlossener fachspezifischer, mindestens dreijähriger Berufsausbildung und abgeschlossener Aufstiegsfortbildung Unterabschnitt 3.3 Lehrkräfte in der Tätigkeit von sonstigen beamteten Fachlehrern Unterabschnitt 3.4 Lehrkräfte in der Tätigkeit von Fachlehrern an allgemeinbildenden Schulen, für die in dem beim Arbeitgeber geltenden Besoldungsrecht kein Amt ausgebracht ist Unterabschnitt 3.5 Lehrkräfte in der Tätigkeit von Fachlehrern an berufsbildenden Schulen, für die in dem beim Arbeitgeber geltenden Besoldungsrecht kein Amt ausgebracht ist – Abschnitt 4 Lehrkräfte, die herkunftssprachlichen Ergänzungsunterricht erteilen; pädagogische Unterrichtshilfen, die nach landesrechtlichen Vorschriften Lehrkräfte sind oder nach landesrechtlichen Vorschriften Lehrkräften gleichgestellt sind; Lehrkräfte in Schulkindergärten oder in Vorschulklassen für schulpflichtige Kinder

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Die Eingruppierung der Lehrerinnen und Lehrer im öffentlichen Dienst

Rz. 23.247 § 23

Unterabschnitt 4.1 Lehrkräfte, die herkunftssprachlichen Ergänzungsunterricht erteilen Unterabschnitt 4.2 Pädagogische und heilpädagogische Unterrichtshilfen und sonderpädagogische Fachkräfte Unterabschnitt 4.3 Lehrkräfte in Schulkindergärten oder in Vorschulklassen für schulpflichtige Kinder – Abschnitt 5 Regelungen für Lehrkräfte mit einer Ausbildung als Lehrer, als Freundschaftspionierleiter oder als Erzieher jeweils nach dem Recht der ehemaligen DDR, bei denen die fachlichen und pädagogischen Voraussetzungen für die Übernahme in das Beamtenverhältnis nicht erfüllt sind – Abschnitt 6 Regelungen für Lehrkräfte mit einer Ausbildung nach dem Recht der ehemaligen DDR, die im Arbeitsverhältnis zum Freistaat Sachsen stehen Anhang 1 Angleichungszulage Anhang 2 Regelungen zu Abschnitt 6 (Sachsen) d) Anwendungsfall Abschnitt 1, sog. Erfüller Abschnitt 1 betrifft die so genannten Erfüller. Dabei handelt es sich um Lehrkräfte, bei denen die fachlichen und pädagogischen Voraussetzungen für die Übernahme in das Beamtenverhältnis erfüllt sind. Der Regelungsabschnitt 1 ist in sechs Absätze gegliedert. In den Absätzen 1 bis 3 ist die Zuordnung einer Entgeltgruppe zu den Besoldungsgruppen bestimmt. In den Absätzen 4 bis 6 ist ein Anspruch auf eine Entgeltgruppenzulage festgelegt, soweit vergleichbare Beamte Anspruch auf eine Amts- oder Stellenzulage haben. Absätze 1 und 4 erfassen die klassischen Fälle, in denen die Lehrkraft an einer Schulform bzw. Schulart gemäß ihrer Lehramtsausbildung eingesetzt wird. In den Absätzen 2 und 5 ist der Einsatz der Lehrkraft an einer Schulform mit niedriger bewerteter Lehramtsausbildung normiert337. Nach Abschnitt 1 Abs. 1 Satz 1 ist die Lehrkraft in der Entgeltgruppe ersteingruppiert, die gemäß der Zuordnungstabelle in Satz 3 der beim Arbeitgeber geltenden Besoldungsgruppe entspricht, wenn sie unter Zugrundelegung ihrer fachlichen und pädagogischen Voraussetzungen im Beamtenverhältnis stünde. Besoldungsgruppe

Entgeltgruppe

A9

9

A 10

10

A 11

11

A 12, A 12a

12

A 13

13

A 14

14

A 15

15

337 Vgl. Conze, öÄT 2016, 1 (2).

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23.247

§ 23 Rz. 23.247

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

Beispiel: Eine Lehrkraft absolvierte ein Studium für das Lehramt an Gymnasien in den Fächern Englisch und Latein und hat das laufbahnrechtlich vorgeschriebene Referendariat abgeleistet. Im Fall der Verbeamtung führt dies zur Ernennung zum Studienrat nach BesGr. A 13; dieser Besoldungsgruppe entspricht laut Zuordnungstabelle Entgeltgruppe 13. Die Lehrkraft wäre also in Entgeltgruppe 13 eingruppiert.

Abschnitt 1 Abs. 1 Satz 2 regelt die Frage einer Beförderung. Sind in dem beim Arbeitgeber geltenden Besoldungsgesetz Beförderungsämter in einer höheren Besoldungsgruppe als dem Eingangsamt ausgebracht, erfolgt eine Höhergruppierung unter denselben Voraussetzungen wie eine Beförderung bei einer vergleichbaren beamteten Lehrkraft. e) Überleitung der Lehrkräfte in die Entgeltordnung gemäß § 29 a TVÜ-L idF des § 11 TV EntgO-L

23.248 Das neue Eingruppierungsrecht trat am 1.8.2015 in Kraft. Das bisherige Eingruppierungsrecht auf der Grundlage der so genannten Lehrer-Richtlinien West/Ost galt grundsätzlich nur bis zum 31.7.2015. Die Überleitung der bisherigen Lehrkräfte zum 1.8.2015 in die Entgeltordnung erfolgte unter grundsätzlicher Beibehaltung der bisherigen Entgeltgruppe (vgl. § 29 a Abs. 2 TVÜ-L idF des § 11 TV EntgO-L und die dazugehörige Protokollerklärung, wonach die vorläufige Zuordnung zu der jeweiligen Entgeltgruppe des TV-L nach der Anlage 2 oder 4 des TVÜ-L als Eingruppierung gilt). Die Protokollerklärung stellt klar, dass eine Überprüfung und Neufeststellung der Eingruppierungen aufgrund der Überleitung in die Entgeltordnung Lehrkräfte nicht stattfinden. § 29 a Abs. 3 TVÜ-L idF des § 11 TV EntgO-L sieht Ausnahmen von der Beibehaltung der bisherigen Entgeltgruppe auf Antrag einer am 31.7.2015 beschäftigten Lehrkraft nach Maßgabe einer bis grundsätzlich zum 31.5.2017 bestehenden Frist vor. 2. Die Eingruppierung der dem TVöD (VKA und Bund) unterfallenden Lehrkräfte a) Eingruppierungsrichtlinien

23.249 Da im Geltungsbereich des TVöD sowohl auf VKA- als auch auf Bundesebene die zwischenzeitlich vereinbarten Entgeltordnungen (Bund seit 1.1.2014; VKA seit 1.1.2017) auf Lehrkräfte keine Anwendung finden (s. unter Rz. 23.235), führt dieser Ausschluss nicht dazu, dass die Lehrkräfte keine Vergütung nach dem TVöD erhielten oder dass ihre Vergütung frei ausgehandelt würde. Die Eingruppierung von angestellten Lehrkräften erfolgt bis zur Einführung einer Entgeltordnung im TVöD anhand der Anlage 3 zum TVÜ-VKA iVm. der jeweiligen Vergütungsgruppe, in die der Lehrer nach dem alten Recht eingruppiert worden wäre. Für den Bereich der VKA ist aufgrund der Vorbemerkung Nr. 5 zur Anlage 1a zum BAT nicht die Allgemeine Vergütungsordnung anzuwenden. Hieraus folgend hat zB die Vereinigung kommunaler Arbeitgeberverbände (VKA) zum Zwecke der einheitlichen Eingruppierung der angestellten Lehrkräfte einseitig, dh. ohne Beteiligung der Gewerkschaften, Eingruppierungsrichtlinien für Lehrkräfte erlassen (Lehrer-Richtlinien)338. Die Neufassung der Lehrer-Richtlinien der VKA vom 15.5.1981 hat die mehrfach geänderten Richtlinien idF vom 26.11.1974 ersetzt. Die 6./83 Mitgliederversammlung hat die Geschäftsstelle ermächtigt, die LehrerRichtlinien der VKA jeweils ebenso zu ändern wie die Lehrer-Richtlinien der TdL jeweils geän338 Richtlinien der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) über die Eingruppierung der im Angestelltenverhältnis beschäftigten Lehrkräfte an allgemeinbildenden und an berufsbildenden Schulen v. 15.5.1981 idF v. 25.2.1999, abgedruckt zB bei Breier/Dassau/Faber, TVöD, Eingruppierung in der Praxis, VKA, Teil D 3.

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Die Eingruppierung der Lehrerinnen und Lehrer im öffentlichen Dienst

Rz. 23.251 § 23

dert worden sind (nunmehr ersetzt durch den TV EntgO-L mit Wirkung vom 1.8.2015). Demnach sind die Richtlinien der VKA seit 1985 vielfach, zuletzt am 14.10.1997 mit Wirkung vom 1.7.1997 und am 25.2.1999 mit Wirkung vom 1.2.1999 geändert worden339. Hintergrund der Eingruppierungsregelungen war der Ansatz, die Eingruppierung und damit die Bezahlung der im Tarifbereich beschäftigten Lehrkräfte an der Eingruppierung der beamteten Lehrkräfte so zu bemessen, dass die ursprünglich in der Regel geringeren Qualifikationen der im Tarifbereich beschäftigten Lehrkräfte durch einen vertretbaren Abstand gegenüber der besoldungsmäßigen Zuordnung der beamteten Lehrer berücksichtigt wurde. Der zunehmende Bestand an voll ausgebildeten Lehrkräften führte dann dazu, dass auch Lehrkräfte, welche die Voraussetzungen für die Übernahme in ein Beamtenverhältnis vollständig erfüllen, im Tarifbereich beschäftigt wurden und werden. Dieser Personenkreis unterfällt dem Abschnitt A der Lehrer-Richtlinien (sog. Erfüller).

23.250

Dementsprechend unterscheiden die Richtlinien der VKA zwischen – den Lehrkräften an allgemein bildenden und an berufsbildenden Schulen, bei denen die fachlichen und pädagogischen Voraussetzungen für die Übernahme in das Beamtenverhältnis erfüllt sind, sog. Erfüller (Abschnitt A), – den sonstigen Lehrkräften an allgemein bildenden und berufsbildenden Schulen, sog. Nichterfüller (Abschnitt B). Abschnitt A der Lehrer-Richtlinien der die sog. Erfüller, mithin diejenigen Lehrkräfte erfasst, die über eine förmliche Lehrbefähigung verfügen, enthält im Wesentlichen eine Verweisung auf das Besoldungsrecht der Beamten. Die Lehrkräfte können in die Entgeltgruppen des TVöD (zuvor: Vergütungsgruppen des BAT) eingruppiert werden, die nach Maßgabe der nachstehenden Übersicht den Besoldungsgruppen entsprechen, denen vergleichbare beamtete Lehrkräfte angehören. Abschnitt B der Lehrer-Richtlinien der VKA ist hingegen wesentlich differenzierter ausgestaltet. Zunächst unterscheiden die Eingruppierungsrichtlinien nach den einzelnen Schulformen, nämlich Lehrkräften an Grund- und Hauptschulen (I.), Lehrkräften an Realschulen (II.), Lehrkräften an Sonderschulen oder an vergleichbaren Schulformen (III.), Lehrkräften an Gymnasien (IV.), Lehrkräften an berufsbildenden Schulen (V.), Lehrkräften an integrierten Gesamtschulen oder vergleichbaren Schulformen sowie an verselbständigten Orientierungsstufen (VI.) und Lehrkräften an Schulkindergärten oder an Vorschulklassen für schulpflichtige Kinder (VII.). Innerhalb der Unterabschnitte der einzelnen Schulformen erfolgt sodann eine entgelt- bzw. vergütungsmäßige Abstufung nach der Ausbildungsqualifikation. Darüber hinaus wird in Abschnitt B die Vergütung für spezielle Tätigkeiten bzw. Ausbildungsqualifikationen, wie bspw. für Religionslehrer, Musikerzieher, Turn-, Sport- und Gymnastiklehrer geregelt. b) Rechtscharakter, Geltung und Auslegung der Lehrer-Richtlinien im Arbeitsverhältnis aa) Rechtscharakter Die Lehrer-Richtlinien sind kein Tarifrecht, sondern sie sind einseitige Empfehlungen einer Tarifvertragspartei an ihre Mitglieder oder eine Anweisung eines Mitglieds an die personal339 Breier/Dassau/Faber, TVöD, Eingruppierung in der Praxis, VKA, Teil D 3, S. 1.

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23.251

§ 23 Rz. 23.251

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

bearbeitenden Stellen des Arbeitgebers340. Die quasi Verbandsrichtlinien gelten, anders als Tarifverträge, nicht unmittelbar und zwingend für die Arbeitnehmer der Mitglieder. Sie sind lediglich verbandsinterne Anweisungen, denen jeder normative Charakter fehlt. Dabei kommt ihnen keine arbeitsrechtliche Bedeutung zu, solange ihre Anwendung auf das einzelne Arbeitsverhältnis nicht vereinbart ist341. bb) Geltung

23.252 Nach ständiger Rechtsprechung des BAG muss die Geltung der Lehrer-Richtlinien, da sie kein Tarifrecht sind, mithin also für tarifgebundene Arbeitnehmer nicht unmittelbar und zwingend gelten, arbeitsvertraglich vereinbart werden342. Dies kann auch erst im Laufe des Arbeitsverhältnisses und durch schlüssiges Verhalten geschehen. Allerdings muss das Verhalten der Parteien darauf schließen lassen, dass die Lehrer-Richtlinien insgesamt und nicht nur eine in den Arbeitsvertrag aufgenommene Entgelt- bzw. Vergütungsgruppe für den Entgeltanspruch des Arbeitnehmers maßgebend sein soll343.

23.253 Haben die Parteien die Anwendung der Lehrer-Richtlinie arbeitsvertraglich vereinbart, so ist diese Vereinbarung dahin anzulegen, dass die Lehrkraft nicht nur einen Anspruch auf die im Arbeitsvertrag vorgesehene Vergütung nach einer bestimmten Entgelt-/Vergütungsgruppe haben soll, sondern auch ein höheres Entgelt beanspruchen kann, wenn sie die im Erlass hierfür aufgeführten Voraussetzungen erfüllt344.

23.254 Hatten die Parteien vereinbart, dass für die Vergütung des Arbeitnehmers bestimmte jeweils gültige Richtlinien maßgebend sein sollen, wurde dem Arbeitgeber hierdurch ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht iSv. § 315 Abs. 1 BGB eröffnet. Die Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts durch Änderung oder Ergänzung der arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Erlasse unterlag nach bisheriger Rechtsprechung des BAG einer gerichtlichen Angemessenheits- und Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB345. Auch hier wird zu beachten sein, dass sich die dynamische Verweisung auf die jeweils gültige Richtlinie üblicherweise nicht in Individualvereinbarungen, sondern in sog. Formulararbeitsverträgen findet. Damit unterliegen nicht nur die Verweisungsklausel, sondern auch das Bezugsobjekt grundsätzlich einer Kontrolle am Maßstab des AGB-Kontrollrechts (§§ 305 ff. BGB). Ob an der zuvor geschilderten Rechtsprechung des BAG, wonach ausschließlich eine Angemessenheits- und Billigkeitskontrolle stattfindet, unter Geltung des AGB-Kontrollrechts festgehalten werden kann, ist deshalb äußerst zweifelhaft. cc) Die Auslegung der Lehrer-Richtlinien

23.255 In Rechtsstreitigkeiten über die zutreffende Eingruppierung von Lehrkräften stellt sich häufig die Frage, wie die in Bezug genommenen Richtlinien auszulegen sind.

340 Breier/Dassau/Faber, TVöD Eingruppierung in der Praxis, VKA, Teil D 3, S. 29 Rz. 4. 341 BAG v. 25.11.1970 – 4 AZR 69/69, AP Nr. 6 zu 33 22, 23 BAT Lehrer; v. 13.1.1987 – 4 AZN 370/86, AP Nr. 30 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz. 342 BAG v. 18.5.1988 – 4 AZR 765/87, AP Nr. 24 zu §§ 22, 23 BAT Lehrer; v. 21.7.1993 – 4 AZR 489/92, AP Nr. 64 zu §§ 22, 23 BAT Lehrer; v. 18.10.2000 – 10 AZR 568/99, ZTR 2001, 226; v. 15.3.2000 – 10 AZR 119/99, AP Nr. 81 zu §§ 22, 23 BAT Lehrer. 343 BAG v. 21.7.1993 – 4 AZR 489/92, AP Nr. 64 zu §§ 22, 23 BAT Lehrer. 344 BAG v. 23.7.1997 – 10 AZR 646/95, AP Nr. 63 zu §§ 22, 23 BAT Lehrer; v. 11.3.1998 – 10 AZR 313/97, AP Nr. 68 zu §§ 22, 23 BAT Lehrer. 345 BAG v. 28.3.1990 – 4 AZR 619/89, AP Nr. 26 zu §§ 22, 23 BAT Lehrer.

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Die Eingruppierung der Lehrerinnen und Lehrer im öffentlichen Dienst

Rz. 23.258 § 23

Nach bislang ständiger Rechtsprechung des BAG sind Eingruppierungsrichtlinien- bzw. 23.256 Eingruppierungserlasse nach den Regeln des Verwaltungsrechts auszulegen. Sie verlören ihren öffentlich-rechtlichen Charakter – so das BAG – nicht dadurch, dass sie kraft Vereinbarung als Vertragsrecht im Rahmen des Arbeitsverhältnisses Anwendung finden. Sie blieben vielmehr Bestandteil des öffentlichen Rechts. Ihre Auslegung richte sich deshalb nach verwaltungsrechtlichen Grundsätzen. Danach sei der wirkliche Wille des Hoheitsträgers zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks der Willenserklärung zu haften, wobei aber nur der Wille berücksichtigt werden könne, der in dem Erlass oder mit ihm im Zusammenhang stehenden Schriftstücken seinen Niederschlag gefunden habe. Hier sei insbesondere die systematische und teleologische Interpretation von Bedeutung. Demgemäß sei auch der Gesamtzusammenhang der Regelungen eines einzelnen Erlasses ein wichtiges Auslegungskriterium346. So könne sich bspw. aus den in einem Erlass für eine bestimmte Gruppe von Lehrern getroffenen Spezialregelungen ergeben, dass der Rückgriff auf eine allgemeine Auffangregelung gesperrt sei347. In jüngeren Entscheidungen hat das BAG Zweifel geäußert, ob es bei der Auslegung der Ein- 23.257 gruppierungsrichtlinien nach den Regeln des Verwaltungsrechts bleiben könne, oder ob, ua. auch vor dem Hintergrund des Inkrafttretens der Schuldrechtsreform im Jahr 2002, bei der Auslegung nach den Regeln des Vertragsrechts auf die Sicht des Einzugruppierenden abzustellen sei348. Das BAG hat diese Frage jeweils offen lassen können, da es für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht darauf ankam. Unter Geltung des mit dem Inkrafttreten der Schuldrechtsreform ab dem Jahr 2002 auch auf arbeitsvertragliche Abreden anwendbaren AGB-Kontrollrechts (§§ 305 ff. BGB) dürfte viel dafür sprechen, dass Eingruppierungs- bzw. Vergütungserlasse nach den für Allgemeine Geschäftsbedingungen geltenden Auslegungsregeln auszulegen sind. Im Übrigen ist nach der Rechtsprechung des BAG davon auszugehen, dass es Grundlage der Lehrer-Richtlinien ist, im Beamten- und Angestelltenverhältnis jeweils gleichwertige Lehrkräfte zu beschäftigen349. Daraus folgt nach der Rechtsprechung des BAG zugleich, dass die nach ihren fachlichen Qualifikations- und Tätigkeitsmerkmalen als gleichwertig anzusehenden Lehrkräfte möglichst auch die gleiche Vergütung für ihre Tätigkeit erhalten sollen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie Beamte oder Angestellte sind350. Das Ziel der vergütungsrechtlichen Gleichbehandlung hat dann aber zwangsläufig zur Folge, dass angestellte Lehrkräfte zwar nicht schlechter, aber auch nicht besser gestellt werden dürfen als vergleichbare Beamte und damit denselben beamten- und haushaltsrechtlichen Einschränkungen unterliegen müssen wie diese (fiktiver Beamtenlebenslauf)351. Allerdings ersetzen – soweit ein bestimmtes 346 BAG v. 6.9.1989 – 4 AZR 302/89, ZTR 1990, 26; v. 18.5.1994 – 4 AZR 524/93, AP Nr. 34 zu §§ 22, 23 BAT Lehrer. 347 Vgl. hierzu nur BAG v. 10.9.1980 – 4 AZR 692/78, AP Nr. 40 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 4.4.1984 – 4 AZR 81/82, AP Nr. 88 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 6.9.1989 – 4 AZR 302/89, ZTR 1990, 26; v. 18.5.1994 – 4 AZR 524/93, AP Nr. 34 zu §§ 22, 23 BAT Lehrer. 348 BAG v. 24.9.2008 – 4 AZR 685/07, ZTR 2009, 210; v. 18.3.2009 – 4 AZR 79/08, ZTR 2009, 421. 349 BAG v. 13.2.1985 – 4 AZR 304/83, AP Nr. 13 zu §§ 22, 23 BAT Lehrer; v. 30.9.2004 – 8 AZR 551/03, ZTR 2005, 149. 350 BAG v. 28.3.1990 – 4 AZR 619/89, AP Nr. 26 zu §§ 22, 23 BAT Lehrer; v. 21.7.1993 – 4 AZR 394/92, NZA 1994, 703; v. 23.7.1997 – 10 AZR 646/95, AP Nr. 63 zu §§ 22, 23 BAT Lehrer; v. 30.9.2004 – 8 AZR 551/03, ZTR 2005, 149. 351 S. hierzu auch BAG v. 30.9.2004 – 8 AZR 551/03, ZTR 2005, 149; v. 20.6.2012 – 4 AZR 304/10, ZTR 2013, 26.

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23.258

§ 23 Rz. 23.258

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

Funktionsamt unter Einweisung in die entsprechende Planstelle gleichzeitig mit der Einstellung als Lehrkraft im Arbeitsverhältnis übertragen wird – die bei der Einstellung vereinbarten Arbeitsbedingungen die Erfüllung der beamten- und laufbahnrechtlichen Voraussetzungen, weshalb bspw. die Stellung einer Lehrkraft, die arbeitsvertraglich als Sonderschulrektorin eingestellt wurde und der entsprechende Aufgaben vorbehaltlos und endgültig übertragen wurden, grundsätzlich der Stellung einer Beamtin entspricht, der rechtmäßig, dh. unter Wahrung aller für die Besetzung des Dienstpostens geltenden Regelungen und unter Einweisung in die Planstelle, das entsprechende Amt übertragen wurde352. 3. Die Eingruppierung von Lehrkräften außerhalb des Geltungsbereichs des TV-L nach Maßgabe des BAT-O

23.259 Da im Geltungsbereich des TVöD sowohl auf VKA- als auch auf Bundesebene die zwischenzeitlich vereinbarten Entgeltordnungen (Bund seit 1.1.2014; VKA seit 1.1.2017) auf Lehrkräfte keine Anwendung finden (siehe unter Rz. 23.235), mithin also diese Lehrkräfte in Bezug auf ihre Eingruppierung gerade nicht in die Entgeltordnung des VKA bzw. des Bundes übergeleitet sind (vgl. § 29 Abs. 1 Satz 2 TVÜ-VKA, § 24 Satz 2 TVÜ-Bund) mit der Folge, dass lediglich ihre bisherige Vergütungsgruppe der neuen Entgeltgruppe nach dem TVöD zugeordnet ist, verbleibt es im Übrigen bei den bisherigen Eingruppierungsregelungen. Dementsprechend ist insoweit im Folgenden die Rechtslage nach Maßgabe des BAT-O dazustellen. In den neuen Bundesländern haben die Tarifvertragsparteien im Geltungsbereich des BAT-O bei der Regelung der Eingruppierung von Lehrkräften an dem Prinzip festgehalten, keine tariflichen Tätigkeitsmerkmale zu vereinbaren. Hier bestimmt § 2 Nr. 3 Satz 1 des Änderungstarifvertrages Nr. 1 zum BAT-O vom 8.5.1991, dass die Anlage 1a, soweit sie keine besonderen Tätigkeitsmerkmale enthält, nicht auf Angestellte anzuwenden ist, die als Lehrkräfte353 – auch wenn sie nicht unter SR 2l I BAT-O fallen – beschäftigt sind. a) Die tarifliche Verweisung auf die beamtenrechtlichen Bestimmungen

23.260 Allerdings enthält § 2 Nr. 3 Satz 2 des Änderungstarifvertrages Nr. 1 zum BAT-O vom 8.5.1991 einen für die Eingruppierung der angestellten Lehrkräfte maßgeblichen Grundsatz: „Diese Angestellten sind – gegebenenfalls nach näherer Maßgabe von Richtlinien – in der Vergütungsgruppe eingruppiert, die nach § 11 Satz 2 BAT-O der Besoldungsgruppe entspricht, in welcher der Angestellte eingruppiert wäre, wenn er im Beamtenverhältnis stünde.“

23.261 Damit hat die Eingruppierung der Lehrkräfte im Geltungsbereich des BAT-O kraft tariflicher Verweisung nach den Bestimmungen zu erfolgen, die für beamtete Lehrer gelten.

23.262 Die in § 2 Nr. 3 des Änderungstarifvertrages Nr. 1 zum BAT-O enthaltene tarifliche Verweisung auf die beamtenrechtlichen Vorschriften wurde vom BAG von jeher für rechtlich zulässig erachtet354. Durch die Verweisung werde erreicht, dass Lehrkräfte, die nach ihren fachlichen Qualifikations- und Tätigkeitsmerkmalen als gleichwertig anzusehen seien, eine annähernd gleiche Vergütung für ihre Tätigkeit ohne Rücksicht darauf erhielten, ob sie Beamte oder An352 Vgl. BAG v. 20.6.2012 – 4 AZR 304/10, ZTR 2013, 26. 353 Zur Bestimmung des Begriffs der „Lehrkraft“ kann die Protokollnotiz zu Nr. 1 der SR 2l I BAT-O herangezogen werden; vgl. BAG v. 25.1.2012 – 4 AZR 264/10, ZTR 2012, 504. 354 BAG v. 24.11.1993 – 4 AZR 16/93, AP Nr. 1 zu § 2 BAT-O; v. 13.6.1996 – 6 AZR 858/94, AP Nr. 45 zu §§ 22, 23 BAT Lehrer; v. 25.1.2012 – 4 AZR 264/10, ZTR 2012, 504.

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Die Eingruppierung der Lehrerinnen und Lehrer im öffentlichen Dienst

Rz. 23.266 § 23

gestellte seien. Dies sei vor dem Hintergrund, dass angestellte und beamtete Lehrer oft nebeneinander an derselben Schule und außerdem unter weitgehend gleichen äußeren Arbeitsbedingungen tätig seien, sachgerecht. b) Die tarifliche Verweisung „gegebenenfalls nach näherer Maßgabe von Richtlinien“ Fehlt eine beamtenbesoldungsrechtliche Regelung bzw. geht die Verweisung auf das Beamtenrecht ins Leere, so sind nach der Rechtsprechung des BAG für die Eingruppierung aufgrund der in § 2 Nr. 3 des Änderungstarifvertrages Nr. 1 zum BAT-O enthaltenen tariflichen Verweisung „gegebenenfalls nach näherer Maßgabe von Richtlinien“ das Beamtenrecht ergänzende Eingruppierungsrichtlinien heranzuziehen, und zwar – anders als bei der Eingruppierung der Lehrkräfte im Geltungsbereich des BAT (West), nunmehr TVöD, für den Geltungsbereich des TV-L gilt die Entgeltordnung für die Lehrkräfte der Länder (TV EntgO-L) vom 28.3.2015 –, ohne dass es einer weiteren Legitimation, zB einer vertraglichen Regelung, bedarf355.

23.263

aa) Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht des Arbeitgebers nach § 315 Abs. 1 BGB Die Regelung in § 2 Ziff. 3 Satz 2 des Änderungstarifvertrages Nr. 1 zum BAT-O zur Eingruppierung „gegebenenfalls nach näherer Maßgabe von Richtlinien“ sei – so das BAG356 – dahin zu verstehen, dass die Tarifvertragsparteien eine Geltung von das Beamtenrecht ergänzenden Eingruppierungsrichtlinien hätten regeln wollen, ohne dass es einer weiteren Legitimation bedürfe. Die Tarifpartner seien davon ausgegangen, dass für eine Reihe von Fällen die Eingruppierung nicht unmittelbar durch Rückgriff auf Vorschriften des Beamtenbesoldungsrechts möglich sei, sondern – im Rahmen der im Besoldungsrecht zum Ausdruck gekommenen Wertungen – noch ergänzende und präzisierende Vorgaben durch Richtlinien voraussetzen werde. Insoweit sei dem Arbeitgeber tarifrechtlich ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht nach § 315 Abs. 1 BGB eingeräumt worden.

23.264

Gegen die Wirksamkeit der Verweisung auf das Beamtenrecht und die diese ergänzenden Eingruppierungsrichtlinien bestehen keinerlei rechtliche Bedenken. Die Verweisung stellt insbesondere keine unzulässige Delegation von Normsetzungsbefugnissen dar. Die Tarifvertragsparteien können die Verweisung nämlich jederzeit aufheben und damit auch die Rechtsgeltung der vom Arbeitgeber einseitig geschaffenen Verwaltungsvorschriften beenden357.

23.265

Zu beachten ist zudem, dass die Tarifpartner dem Arbeitgeber nicht die Möglichkeit eröffnet haben, im Wege der Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts nach § 315 Abs. 1 BGB die in § 2 Abs. 3 des Änderungstarifvertrages Nr. 1 zum BAT-O enthaltenen „Mindestbedingungen“ für die Eingruppierung der Lehrkräfte durch Richtlinien zu verschlechtern oder zu modifizieren. Die Tarifbestimmung lässt vielmehr nur eine spezifizierende Regelung durch Richtlinien im Rahmen der durch die Heranziehung beamtenrechtlicher Besoldungsvorschriften gewonnenen Regelung zu, wodurch der zulässige Inhalt der Richtlinien begrenzt ist. Ist die beamten-

23.266

355 BAG v. 8.8.2002 – 8 AZR 647/00, AP Nr. 23 zu §§ 22, 23 BAT-O; v. 22.7.2004 – 8 AZR 203/03, ZTR 2005, 198. 356 BAG v. 8.8.2002 – 8 AZR 647/00, AP Nr. 23 zu §§ 22, 23 BAT-O; v. 22.7.2004 – 8 AZR 203/03, ZTR 2005, 198; v. 24.1.2007 – 4 AZR 629/06, ZTR 2007, 566. 357 BAG v. 8.8.2002 – 8 AZR 647/00, AP Nr. 23 zu §§ 22, 23 BAT-O; v. 22.7.2004 – 8 AZR 203/03, ZTR 2005, 198.

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§ 23 Rz. 23.266

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

rechtliche Regelung indes abschließend, ist für eine Spezifizierung durch Richtlinien kein Raum358.

23.267 Als einseitige Leistungsbestimmungen des Arbeitgebers unterliegen die Eingruppierungsrichtlinien nach der Rechtsprechung des BAG einer gerichtlichen Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB, die umfassend ist und sich – anders als bei der Eingruppierung der Lehrkräfte nach dem BAT (West) – nicht auf die Änderung oder Ergänzung der Richtlinien beschränkt359. Diese Billigkeitskontrolle erstreckt sich auch auf die Prüfung, ob die Richtlinien dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz widersprechen, da dieser sicherstellen soll, dass alle Arbeitnehmer vom Arbeitgeber gleichermaßen nach Recht und Billigkeit behandelt werden360. bb) Die Vereinbarung von Arbeitgeber-Richtlinien

23.268 Die Parteien sind aufgrund von § 2 Abs. 3 des Änderungstarifvertrages Nr. 1 zum BAT-O nicht gehindert, die Geltung von Arbeitgeber-Richtlinien vertraglich zu vereinbaren. Das dem Arbeitgeber durch die vertragliche Vereinbarung eingeräumte Leistungsbestimmungsrecht nach § 315 Abs. 1 BGB wird wiederum durch § 2 Abs. 3 des Änderungstarifvertrages Nr. 1 zum BAT-O bestimmt bzw. begrenzt. Da die Verweisung auf Arbeitgeber-Richtlinien regelmäßig im Wege von so genannten Formularverträgen erfolgt, ist nicht nur die Verweisungsklausel selbst, sondern auch das Bezugsobjekt grundsätzlich einer AGB-Kontrolle (§§ 305 ff. BGB) zu unterziehen. 4. Die Eingruppierung der Lehrkräfte im Bundesland Hessen

23.269 Nachdem das Bundesland Hessen mit Wirkung zum 31.3.2004 aus der TdL ausgetreten ist, generierte Hessen mit den zuständigen Gewerkschaften ein eigenes Tarifregime. Derzeit gilt der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst des Landes Hessen vom 1.9.2009 (TV-H) idF des Änderungstarifvertrags Nr. 15 vom 23.5.2018, der nach seinem § 1 Abs. 1 auch für angestellte Lehrkräfte einschlägig ist und entsprechend der Regelungssystematik des TV-L in § 44 iVm. § 1 Abs. 4 e Sonderregelungen für Beschäftigte als Lehrkräfte vorsieht, die sich ua. in Nr. 2a zur Stufenlaufzeit verhalten. Daneben besteht gleichsam strukturgleich zum TVÜ-Länder ein Tarifvertrag zur Überleitung der Beschäftigten des Landes Hessen in den TV-H und zur Regelung des Übergangsrechts (TVÜ-H) vom 1.9.2009 idF des Änderungstarifvertrags Nr. 9 vom 3.3.2017, der ua. die Zuordnung der Vergütungsgruppen auch der Lehrkräfte entsprechend der Anlagen 2 und 4 Teil B für Lehrkräfte, für die nach Nr. 5 der Vorbemerkungen zu allen Vergütungsgruppen die Anlage 1a zum BAT nicht gilt, bestimmt. Mit dem Änderungstarifvertrag Nr. 9 zum Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst des Landes Hessen (TV-H) vom 10.10.2014 wurde die noch ausstehende Entgeltordnung als Anlage A zum TV-H eingeführt und zuletzt mit dem Änderungstarifvertrag Nr. 15 zum TV-H vom 23.5.2018 geändert. In Nr. 4 ihrer Vorbemerkungen zu allen Teilen der Entgeltordnung ist bestimmt, dass die Entgeltordnung nicht für Beschäftigte gilt, die als Lehrkräfte – auch wenn sie nicht unter § 44 TV-H fallen – beschäftigt sind, soweit nicht ein besonderes Tätigkeitsmerkmal vereinbart ist. Auch Letzteres entspricht der Struktur des TV-L nebst seiner allgemeinen Entgeltordnung. Im Gegensatz zur Rechtslage im Tarifbereich des TV-L besteht jedoch derzeit keine spezielle 358 BAG v. 8.8.2002 – 8 AZR 647/00, AP Nr. 23 zu §§ 22, 23 BAT-O; v. 22.7.2004 – 8 AZR 203/03, ZTR 2005, 198. 359 BAG v. 27.9.2000 – 10 AZR 146/00, AP Nr. 15 zu §§ 22, 23 BAT-O. 360 BAG v. 27.9.2000 – 10 AZR 146/00, AP Nr. 15 zu §§ 22, 23 BAT-O.

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Die Eingruppierungsfeststellungsklage

Rz. 23.274 § 23

Entgeltordnung für Lehrkräfte. Von daher bestimmt sich die Eingruppierung nach dem Erlass (Eingruppierungsrichtlinie) des hessischen Kultusministeriums vom 10.10.2008 (- I.1 PE-050.001 000 – 49-)361. Danach wird nach so genannten Erfüllern und Nichterfüllern unterschieden. Hinsichtlich der Begriffsinhalte wird auf Rz. 23.250 verwiesen. Außerdem wird wegen der Einzelheiten zur Anwendung der Eingruppierungsrichtlinie auf die Rz. 23.249 ff. verwiesen. Dem entspricht im Übrigen auch der Erlass des hessischen Kultusministeriums über das Einstellungsverfahren in den hessischen Schuldienst vom 8.1.2016362. Auch nach dessen Ziff. 1.8 wird gleichfalls in so genannte Erfüller und Nichterfüller unterschieden.

23.270

Einstweilen frei.

X. Die Eingruppierungsfeststellungsklage Ist der Beschäftigte der Ansicht, dass ihm ein Entgelt nach einer höheren Entgeltgruppe zusteht als nach derjenigen, aus der er sein Entgelt erhält, so kann er seine Ansprüche auf ein höheres Entgelt mit einer Klage vor dem Arbeitsgericht gerichtlich geltend machen.

23.271

Mit einer Eingruppierungsfeststellungsklage begehrt der Beschäftigte, der nach einer niedrigeren tariflichen Entgeltgruppe (vormals: Vergütungsgruppe/Lohngruppe) vergütet und auch sonst rechtlich behandelt wird, die Feststellung der Verpflichtung seines beklagten Arbeitgebers, an ihn ein Entgelt (vormals: eine Vergütung/einen Lohn) nach einer anderen, höheren Entgeltgruppe (vormals: Vergütungsgruppe/Lohngruppe) zu zahlen, worin zugleich das weitere rechtliche Begehren enthalten ist, nicht nur an die betreffende klägerische Partei ein Entgelt (vormals: eine Vergütung/einen Lohn) nach der begehrten höheren Entgeltgruppe (vormals: Vergütungsgruppe/Lohngruppe) zu zahlen, sondern sie auch in sonstiger rechtserheblicher Beziehung entsprechend zu behandeln363. Dabei ist es unerheblich, auf welche Anspruchsgrundlage (vertragliche Zusage, Tarifautomatik, Gleichbehandlungsgrundsatz bzw. Schadensersatzanspruch364) das Begehren gestützt wird.

23.272

Von vornherein unzulässig ist allerdings ein Antrag, mit dem die Feststellung begehrt wird, dass die klagende Partei in eine bestimmte Entgeltgruppe (vormals: Vergütungsgruppe/Lohngruppe) eingruppiert ist. Dieser Antrag ist schon nicht auf das Bestehen eines Rechtsverhältnisses, sondern auf das Bestehen einer (Rechts-)Tatsache gerichtet365.

23.273

1. Das besondere Feststellungsinteresse Soweit der Beschäftigte mit seiner Klage die Feststellung begehrt, dass der beklagte Arbeitgeber verpflichtet ist, an ihn Entgelt nach einer bestimmten Entgeltgruppe (vormals: Vergütung nach einer bestimmten Vergütungsgruppe/Lohn nach einer bestimmten Lohngruppe) zu zahlen, ist das erforderliche Feststellungsinteresse nach § 256 Abs. 1 ZPO regelmäßig zu bejahen. Es handelt sich dann nämlich um eine im öffentlichen Dienst allgemein übliche Ein-

361 S. ABl. S. 519. 362 Abgedruckt unter https://www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/VVHE-VVHE000012339; ABl. 2016, 18. 363 BAG v. 22.1.2003 – 4 AZR 700/01, AP Nr. 24 zu § 24 BAT. 364 BAG v. 31.10.1985 – 6 AZR 129/83, AP Nr. 5 zu § 46 BPersVG. 365 BAG v. 15.6.1994 – 4 AZR 327/93, AP Nr. 9 zu §§ 22, 23 BAT Krankenkassen.

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23.274

§ 23 Rz. 23.274

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

gruppierungsfeststellungsklage, gegen deren Zulässigkeit nach ständiger Rechtsprechung des BAG keine Bedenken bestehen366.

23.275 Dies gilt auch dann, wenn der Feststellungsantrag auf einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum beschränkt ist, wenn hieraus noch Ansprüche abgeleitet werden. Nach § 256 Abs. 1 ZPO ist eine Klage auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses nur zulässig, wenn der Kläger ein rechtliches Interesse daran hat, das Rechtsverhältnis durch richterliche Entscheidung alsbald feststellen zu lassen. Wird die Klage auf Feststellung eines vergangenen Rechtsverhältnisses gerichtet, ist sie nur dann zulässig, wenn sich aus der Feststellung noch Rechtsfolgen für die Gegenwart oder Zukunft ergeben367. Da das besondere Feststellungsinteresse des § 256 Abs. 1 ZPO in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen ist, gilt für eine Feststellungsklage, die ursprünglich auf ein gegenwärtiges Rechtsverhältnis gerichtet war, nichts anderes. Wird diese infolge Zeitablaufs und Änderung tatsächlicher Umstände nur für einen vergangenen Zeitraum fortgeführt, bedarf es auch hier der Ableitung konkreter gegenwärtiger oder zukünftiger Rechtsfolgen aus der erstrebten Feststellung368.

23.276 Ist das Arbeitsverhältnis im Laufe des Rechtsstreits beendet worden, so besteht für die Frage, in welche Entgeltgruppe der Beschäftigte eingruppiert ist, demzufolge nur dann ein rechtliches Interesse an der alsbaldigen Feststellung iSd. § 256 Abs. 1 ZPO, wenn aus der begehrten Feststellung die Zahlung eines höheren Entgelts folgt oder wenn die Feststellung geboten ist, um künftige Ansprüche zu sichern. Dagegen besteht in aller Regel kein Feststellungsinteresse, wenn es lediglich um eine andere Zusammensetzung oder um eine andere Rechtsgrundlage des bereits gezahlten Entgelts geht369.

23.277 Im Verhältnis der Eingruppierungsfeststellungsklage zur Leistungsklage besteht demzufolge kein Vorrang der Leistungsklage. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG werden Klagen auf Zahlung eines höheren tarifvertraglichen Entgelts im öffentlichen Dienst grundsätzlich als Feststellungsklagen für zulässig erachtet, weil sich die Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes der gerichtlichen Entscheidung hierüber in aller Regel beugen und auf diese Weise der Rechtsfrieden wiederhergestellt wird. Im Hinblick auf diese Befriedungswirkung braucht der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes daher keine Leistungsklage oder Stufenklage auf Abrechnung oder Leistung zu erheben370.

23.278 Selbstverständlich kann der Arbeitnehmer auch eine Leistungsklage, dh. eine Klage auf Zahlung der Entgeltdifferenz erheben. Allerdings ist er mit dieser Klage mangels Anwendbarkeit des § 258 ZPO auf die Zahlung der bereits fälligen Entgeltdifferenz beschränkt371. Der Kläger muss dann den Streitgegenstand hinreichend bestimmen. Er muss einen bezifferten Antrag

366 BAG v. 14.6.1995 – 4 AZR 250/94, DB 1995, 2613; v. 10.12.1997 – 4 AZR 221/96, AP Nr. 237 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 29.11.2001 – 4 AZR 736/00, NZA 2002, 1288; v. 31.7.2002 – 4 AZR 163/01, NZA 2003, 445. 367 St. Rspr., vgl. BAG v. 19.6.2001 – 1 AZR 463/00, NZA 2002, 394; v. 19.2.2003 – 4 AZR 708/01, nv.; v. 20.5.2009 – 4 AZR 315/08, EzTöD 320 TVÜ-VKA Anlage 3 Entgeltgruppe 1 Nr. 10. 368 BAG v. 21.9.1993 – 9 AZR 580/90, NZA 1994, 859; v. 26.1.2011 – 4 AZR 274/09, ZTR 2011, 416. 369 BAG v. 5.11.2003 – 4 AZR 632/02, AP Nr. 83 zu § 256 ZPO 1977; v. 26.1.2011 – 4 AZR 274/09, ZTR 2011, 416. 370 BAG v. 5.11.2003 – 4 AZR 632/02, AP Nr. 83 zu § 256 ZPO 1977. 371 Zimmerling, Rz. 204.

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Die Eingruppierungsfeststellungsklage

Rz. 23.280 § 23

stellen und angeben, für welchen Zeitraum die Zahlung des Entgelts begehrt wird372. In der Praxis ist es üblich und rechtlich zulässig, die Eingruppierungsfeststellungsklage mit einer Zahlungsklage zu kombinieren373. Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des BAG ist der Feststellungsantrag auch insoweit zulässig, als er Zinsforderungen zum Gegenstand hat374. In Eingruppierungsstreitigkeiten ist ein Feststellungsantrag nach § 256 ZPO nämlich nicht nur für die Hauptsache, sondern ebenso für die Zinsforderung zulässig. Dies folgt daraus, dass die im Verhältnis zur Hauptschuld akzessorische Zinsforderung das rechtliche Schicksal der Hauptforderung auch in prozessualer Beziehung teilen soll375. Dabei kann der Arbeitnehmer seit der Entscheidung des Großen Senats vom 7.3.2000376 Zinsen aus der Bruttovergütungsdifferenz verlangen.

23.279

Hinsichtlich der Zinsforderungen entspricht es gefestigter Rechtsprechung des BAG, dass der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Zahlung von Prozesszinsen hat (§ 291, § 288 Abs. 1 BGB)377. Der Zinsanspruch ist in entsprechender Anwendung des § 187 Abs. 1 BGB ab dem auf die Rechtshängigkeit des Zahlungsanspruchs folgenden Tag begründet378. Für die nach Eintritt der Rechtshängigkeit fällig werdenden Differenzbeträge fallen Zinsen jeweils ab Fälligkeit an, § 291 Satz 1 Halbs. 2 BGB379. Demgegenüber konnte der Arbeitnehmer nach der Rechtsprechung des BAG bei unzutreffender Eingruppierung in der Regel nicht mit Erfolg vom Arbeitgeber die Zahlung von Verzugszinsen verlangen380. Verzug, so das Gericht, setze neben der Fälligkeit der Forderung und einer entsprechenden Mahnung Verschulden auf Seiten des Schuldners voraus. Zwar werde sich das den Verzug begründende Verschulden des Schuldners im allgemeinen bürgerlichen Rechtsverkehr häufig schon daraus ergeben, dass dieser trotz Mahnung und Fälligkeit nicht leiste. Deswegen treffe in derartigen Fällen den Schuldner die Beweislast, dieser müsse sich entlasten. Diese allgemeinen Grundsätze könnten indes im Bereich der Eingruppierungsfeststellungsklagen des öffentlichen Dienstes in der Regel nicht gelten. Es sei zu berücksichtigen, dass ein Schuldner bei schwieriger und zweifelhafter Rechtslage auf die für ihn günstigere Rechtsauffassung vertrauen dürfe; ein unentschuldbarer Rechtsirrtum liege dann auf Seiten des Schuldners nicht vor. Diese Voraussetzungen seien auch im Falle einer Eingruppierungsklage im öffentlichen Dienst erfüllt. Die Lohn- und Vergütungsordnungen der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes seien außerordentlich vielfältig geworden, starken inhaltlichen Änderungen unterworfen und wegen der zahlreichen darin verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe und des für deren Anwendung bestehenden tatrichterlichen Beurteilungsspielraums nicht nur schwer praktisch anwendbar, sondern auch nur mit erheblichen Schwierigkeiten tatsächlicher und rechtlicher Art judizierbar. Damit könne grundsätzlich in den Fällen der Eingruppierungsfeststellungsklage des öffentlichen Dienstes ohne besonderen Vortrag des Klägers ein die Zahlung von Verzugszinsen oder den Aus-

23.280

372 Vgl. BAG v. 6.3.1996 – 4 AZR 755/94, AP Nr. 23 zu §§ 22, 23 BAT Sozialarbeiter; v. 9.12.2009 – 4 AZR 495/08, ZTR 2010, 519. 373 Vgl. nur BAG v. 19.2.2003 – 4 AZR 265/02, ZTR 2003, 508. 374 Vgl. nur BAG v. 6.6.2007 – 4 AZR 456/06, ZTR 2008, 156; v. 22.4.2009 – 4 AZR 166/08, ZTR 2009, 581. 375 BAG v. 18.5.1994 – 4 AZR 464/93, nv.; v. 18.5.1994 – 4 AZR 513/93, nv. 376 BAG (GS) v. 7.3.2000 – GS 1/00, NZA 2001, 1195. 377 BAG v. 4.10.1981 – 4 AZR 225/79, AP Nr. 49 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 11.6.1997 – 10 AZR 613/96, DB 1998, 87; v. 26.1.2011 – 4 AZR 167/09, ZTR 2011, 488. 378 BAG v. 8.10.1997 – 4 AZR 167/96, AP Nr. 2 zu § 23b BAT. 379 BAG v. 12.3.2008 – 4 AZR 93/07, ZTR 2008, 602. 380 BAG v. 7.10.1981 – 4 AZR 225/79, AP Nr. 49 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 12.3.2008 – 4 AZR 93/07, ZTR 2008, 602.

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§ 23 Rz. 23.280

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

gleich weiteren Verzugsschadens begründendes Verschulden des beklagten Dienstherrn nicht angenommen werden. Aus diesen Gründen sei der Kläger einer Eingruppierungsfeststellungsklage – entgegen der allgemeinen Regelung der Beweislast in § 285 BGB (aF) – für das Verschulden des Arbeitgebers darlegungs- und beweispflichtig. Diese Rechtsprechung, die das BAG mit seinem Urteil vom 11.6.1997381 fortgeführt hatte, war in der Literatur auf Kritik gestoßen382. Kritisiert wurde insbesondere, dass es dem Schuldner nicht gestattet werden dürfe, das Risiko einer zweifelhaften Rechtslage auf den Gläubiger abzuwälzen. Mit seinem Urteil vom 26.1.2011383 hat der für Eingruppierungsstreitigkeiten im öffentlichen Dienst nach der Geschäftsverteilung des BAG allein zuständige Vierte Senat des BAG seine vormalige Rechtsprechung ausdrücklich aufgegeben. Zur Begründung hat er darauf verwiesen, dass die gesetzliche Regelung des § 286 Abs. 4 BGB eindeutig sei. Auch komme der Schuldner einer Leistung nur solange nicht in Verzug, wie die Leistung infolge eines Umstands unterbleibe, den er nicht zu vertreten habe. Zwar komme grundsätzlich auch ein Rechtsirrtum als verschuldensausschließend in Betracht; hieran seien jedoch strenge Anforderungen zu stellen. Zudem treffe den Arbeitgeber nach § 286 Abs. 4 BGB die Darlegungs- und Beweislast für das fehlende Verschulden. Für eine Nichtbeachtung dieser gesetzlichen Beweislastverteilungsanordnung gebe es keinen Grund.

23.281 Letztlich ist zu beachten, dass das BAG in ständiger Rechtsprechung ein rechtliches Interesse an der alsbaldigen Feststellung einer bestimmten Fallgruppe innerhalb einer Vergütungsgruppe abgelehnt hat384. Dies hat das Gericht damit begründet, dass sich die tarifliche Mindestvergütung der unter den BAT fallenden Angestellten und die sich daraus ergebenden rechtlichen Folgerungen nach der jeweils in Betracht kommenden Vergütungsgruppe und nicht nach Fallgruppen bestimmen. Demzufolge liege eine verfahrensrechtlich zulässige Eingruppierungsfeststellungsklage nur dann vor, wenn der Arbeitnehmer die Feststellung der Verpflichtung des Arbeitgebers begehrt, an ihn Vergütung nach einer anderen, höheren Vergütungsgruppe zu zahlen385. 2. Die Bestimmtheit des Klageantrags

23.282 Zur Bestimmtheit eines Eingruppierungsfeststellungsantrags gehört die genaue Angabe der Zeit, ab welcher die Zahlung des höheren Entgelts begehrt wird. Ggf. ist dies durch Auslegung zu ermitteln386. Im Übrigen ist zu beachten, dass die Arbeitsgerichte nach § 139 ZPO verpflichtet sind, darauf hinzuwirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen, die Beweismittel bezeichnen und sachdienliche Anträge stellen.

23.283 Das Gleiche gilt, wenn die klagende Partei den Antrag ankündigt festzustellen, dass die beklagte Partei verpflichtet ist, die klagende Partei in eine bestimmte Entgeltgruppe einzugruppieren und diese Eingruppierung ggf. im Arbeitsvertrag festzuschreiben. Da es eine Ver381 BAG v. 11.6.1997 – 10 AZR 613/96, DB 1998, 87. 382 Breier/Dassau/Kiefer u.a., TV-L, 12.1.3 Klageantrag; vgl. damals auch Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, BAT, § 22 Erl. 19; Zimmerling, Rz. 194. 383 BAG v. 26.1.2011 – 4 AZR 167/09, ZTR 2011, 488. 384 BAG v. 9.7.1980 – 4 AZR 579/78, AP Nr. 14 zu § 23a BAT; v. 23.10.1985 – 4 AZR 216/84, AP Nr. 10 zu § 24 BAT; v. 22.1.2003 – 4 AZR 700/01, AP Nr. 24 zu § 24 BAT. 385 Zur Kritik an der Rechtsprechung des BAG s. Zimmerling, Rz. 120 ff.; dagegen: Bredemeier/Neffke, Rz. 212. 386 Vgl. BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 495/08, ZTR 2010, 519.

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Die Eingruppierungsfeststellungsklage

Rz. 23.287 § 23

pflichtung des öffentlichen Arbeitgebers zur „Eingruppierung“ nicht gibt – die Eingruppierung ist keine vom Arbeitgeber vorzunehmende Handlung –, wird ein solcher Klageantrag in der Regel dahin auszulegen sein, dass die Feststellung der Verpflichtung der beklagten Partei begehrt wird, die klagende Partei aus einer bestimmten Entgeltgruppe zu vergüten. Dem Antrag auf „Festschreibung der Eingruppierung im Arbeitsvertrag“ kommt daneben keine gesonderte Bedeutung zu. Ggf. ist seitens des Gerichts auf eine entsprechende Klarstellung hinzuwirken387. Wird ein Zahlungsantrag gestellt, so muss dieser, um hinreichend bestimmt zu sein, grundsätzlich die geforderte Summe angeben. Die Berechnung darf nur offen bleiben, wenn sie anhand allgemein kundiger Daten ohne Weiteres möglich ist388.

23.284

3. Der empfohlene Klageantrag Nach alledem wird bei Eingruppierungsfeststellungsklagen unter Geltung des TVöD und des TV-L der folgende Klageantrag empfohlen:

23.285

… festzustellen, dass die beklagte Partei verpflichtet ist, der klagenden Partei ab dem … Entgelt aus der Entgeltgruppe … zu zahlen und die monatlichen Bruttodifferenzbeträge zwischen dem Entgelt aus der Entgeltgruppe … und dem Entgelt aus der Entgeltgruppe … ab Rechtshängigkeit bezüglich der bis dahin fällig gewordenen Differenzbeträge und dann ab jeweiliger Fälligkeit mit 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen.

4. Die Eingruppierungsfeststellungsklage außerhalb des öffentlichen Dienstes Nachdem das BAG die Eingruppierungsfeststellungsklage zunächst nur auf den Bereich des öffentlichen Dienstes beschränkt für zulässig gehalten hat, bestehen nunmehr nach der Rechtsprechung des Gerichts keinerlei Bedenken gegen die Zulässigkeit von Eingruppierungsfeststellungsklagen auch im Bereich der Privatwirtschaft389. Entsprechendes gilt selbstverständlich auch für Eingruppierungsklagen eines Mitarbeiters einer christlichen Kirche390.

23.286

5. Rechtskraftprobleme im Eingruppierungsprozess Während die formelle Rechtskraft die Frage betrifft, ab wann eine Entscheidung nicht mehr mit einem ordentlichen Rechtsmittel angegriffen werden kann, bedeutet die von dieser äußeren Rechtskraft abhängige materielle (innere) Rechtskraft, dass die in der Entscheidung behandelten Fragen durch die am Prozess Beteiligten bei unverändertem Sachverhalt nicht erneut einer Entscheidung der Gerichte für Arbeitssachen unterbreitet werden können391. Dabei liegt die Wirkung der materiellen Rechtskraft von Entscheidungen nicht nur in der Bindungswirkung für das Gericht und die Parteien in einem späteren Prozess und damit in dem Verbot einer abweichenden Entscheidung; vielmehr ist jede neue Verhandlung und Entschei-

387 BAG v. 16.1.1991 – 4 AZR 301/90, NZA 1991, 490; v. 17.4.2002 – 4 AZR 134/01, nv. 388 BAG v. 12.3.2008 – 4 AZR 67/07, ZTR 2008, 604. 389 BAG v. 14.6.1995 – 4 AZR 250/94, DB 1995, 1613; v. 10.7.1996 – 4 AZR 759/94, NZA 1997, 229; v. 23.10.1996 – 4 AZR 254/95, nv.; v. 28.5.1997 – 10 AZR 580/96, AP Nr. 1 zu § 3 TV Ang Bundespost; v. 8.6.2005 – 4 AZR 416/04, nv. 390 BAG v. 21.5.2003 – 4 AZR 420/02, AP Nr. 37 zu § 611 BGB Kirchendienst; v. 14.1.2004 – 4 AZR 10/03, ZTR 2004, 643. 391 BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 21/99, NZA 2001, 156.

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23.287

§ 23 Rz. 23.287

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

dung über die rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge ausgeschlossen392. Das Fehlen entgegenstehender innerer Rechtskraft einer vorangegangenen Entscheidung ist nach der herrschend vertretenen prozessualen Rechtskrafttheorie nämlich negative Prozessvoraussetzung für die Folgeentscheidung393.

23.288 Damit sind auch arbeitsgerichtliche Eingruppierungsfeststellungsurteile, die ebenso wie die Urteile der Zivilgerichte nach § 322 ZPO der Rechtskraft insoweit fähig sind, als über den durch die Klage erhobenen Anspruch entschieden ist, einer Korrektur in einem späteren Prozess nur unter engen Voraussetzungen zugänglich. a) Die Korrektur nach Rechts- bzw. Sachänderung

23.289 Da die Rechtskraftwirkung nach § 322 Abs. 1 ZPO verhindern soll, dass durch ein rechtskräftiges Urteil Zugesprochenes mit der Begründung zurückgefordert wird, der Rechtsstreit sei unrichtig entschieden worden, stehen bei einer Änderung der entscheidungserheblichen Rechtslage (insbesondere bei Änderung der tariflichen Eingruppierungsregelungen) bisherige gerichtliche Entscheidungen einer erneuten gerichtlichen Geltendmachung durch den Arbeitnehmer grundsätzlich nicht entgegen394.

23.290 Ebenso wenig hindert die materielle Rechtskraft die Parteien demnach daran, sich auf Tatsachen zu berufen, die erst nach dem Schluss derjenigen mündlichen Verhandlung entstanden sind, in der diese Tatsachen spätestens hätten geltend gemacht werden müssen395. Erforderlich ist allerdings eine wesentliche Änderung des entscheidungserheblichen Sachverhalts. Dazu müssen sich diejenigen Tatsachen geändert haben, die für die in der früheren Entscheidung ausgesprochene Rechtsfolge als maßgeblich angesehen wurden396; die neu vorgebrachten Tatsachen müssen möglicherweise eine abweichende Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen, Einwendungen oder Einreden rechtfertigen397. Hauptanwendungsfall ist die einvernehmliche Änderung der Tätigkeit des Beschäftigten nach der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung, die dazu führt, dass die Voraussetzungen einer höheren oder niedrigeren Entgeltgruppe vorliegen398.

23.291 Nach der Rechtsprechung des BAG und der überwiegenden Auffassung in der Literatur reicht indes für eine Änderung der rechtlichen Verhältnisse eine Rechtsprechungsänderung nicht aus399.

392 Vgl. Friedrich/Kloppenburg, ZTR 2003, 314 (315); Zöller/Vollkommer, ZPO, Vor § 322 Rz. 21 mwN. 393 Vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, Vor § 322 Rz. 19 mwN; vgl. BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 21/99, NZA 2001, 156 mwN. 394 Friedrich/Kloppenburg, ZTR 2003, 314 (320). 395 BGH v. 2.3.2000 – IX ZR 285/99, NJW 2000, 2022. 396 BAG v. 7.5.2008 – 4 AZR 223/07, ZTR 2009, 25. 397 BGH v. 2.3.2000 – IX ZR 285/99, NJW 2000, 2022. 398 Zu den hiermit verbundenen speziellen Fragen der Rechtskraft vgl. Friedrich/Kloppenburg, ZTR 2003, 314 (321). 399 BAG v. 12.6.1990 – 3 AZR 524/88, NZA 1991, 20; v. 20.3.1996 – 7 ABR 41/95, NZA 1996, 1058; zu den Literaturnachweisen vgl. BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 21/99, NZA 2001, 156 – hier wurde die Entscheidung offen gelassen.

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Die Eingruppierungsfeststellungsklage

Rz. 23.296 § 23

b) Die Korrektur ohne Rechts- bzw. Sachänderung Wesentlich schwieriger zu beantworten ist die Frage nach der Rechtskraft, wenn eine Rechtsoder Sachänderung nicht eingetreten ist.

23.292

aa) Die Geltendmachung desselben Entgelts wie im rechtskräftig abgeschlossenen Vorprozess Liegt ein rechtskräftiges Urteil vor, in dem festgestellt wurde, dass dem Beschäftigten das Entgelt nach einer bestimmten Entgeltgruppe nicht zusteht, ist der Beschäftigte mit einem entsprechenden Begehren in einem weiteren Prozess aufgrund der Rechtskraftwirkung in der Regel ausgeschlossen. Seine neuerliche Klage wäre als unzulässig abzuweisen.

23.293

Da die arbeitsgerichtlichen Urteile nach § 322 ZPO der Rechtskraft allerdings nur insoweit fähig sind, als über den durch die Klage erhobenen Anspruch entschieden wurde, gilt dieser Grundsatz nur, wenn es sich auch um denselben Streitgegenstand handelt. Hierzu hat das BAG in seiner Entscheidung vom 4.9.1996400 ausgeführt, dass eine Eingruppierungsfeststellungsklage einen anderen Streitgegenstand habe als eine Klage auf Feststellung des Anspruchs auf Vergütung nach einer bestimmten Vergütungsgruppe wegen Geschlechtsdiskriminierung. Ebenso hat nach Ansicht des BAG eine Eingruppierungsfeststellungsklage, die auf die Erfüllung der Eingruppierungsvoraussetzungen gestützt wird, einen anderen Streitgegenstand als eine auf das Verbot der unterschiedlichen Behandlung wegen der Teilzeit und eine auf den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz gestützte Eingruppierungsklage401. Dasselbe muss gelten, wenn der Arbeitnehmer die Zahlung des begehrten Entgelts als Schadensersatz wegen unterlassener Beförderung im Wege der Eingruppierungsfeststellungsklage verfolgt.

23.294

bb) Die Geltendmachung eines „noch höheren“ Entgelts nach stattgebender Entscheidung Bis zum Jahr 1971 hat das BAG die Auffassung vertreten, dass das Urteil, mit dem der Arbeitgeber rechtskräftig verurteilt werde, an den Arbeitnehmer eine der im Urteilstenor genannten tariflichen Vergütungsgruppe entsprechende Vergütung zu zahlen, eine Bindungswirkung für spätere Eingruppierungsfeststellungsklagen entfalte, solange keine Änderung der Sach- oder Rechtslage eingetreten sei402. Diese Rechtsprechung hat es mit Urteil vom 12.5.1971403 ausdrücklich aufgegeben mit der Begründung, Streitgegenstand des Vorprozesses sei nur die Verpflichtung zur Zahlung der Vergütung aus der damals begehrten Vergütungsgruppe gewesen. Wegen der Bindung an die Parteianträge habe im Vorprozess nicht geprüft werden dürfen, ob und inwieweit die Tätigkeitsmerkmale einer höheren als der begehrten Vergütungsgruppe erfüllt gewesen seien404.

23.295

Einschränkend ist hier allerdings zu erwähnen, dass in dem neuen Prozess nicht vom Vorliegen der Voraussetzungen der niedrigeren Vergütungsgruppe ausgegangen werden kann. Die Feststellungen im Vorprozess zu der niedrigeren Vergütungsgruppe haben keine Bindungs-

23.296

400 BAG v. 4.9.1996 – 4 AZN 104/96, NZA 1997, 282. 401 BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 400/00, DB 2003, 341; v. 24.2.2010 – 4 AZR 657/08, ZTR 2010, 304. 402 BAG v. 14.6.1966 – 1 AZR 267/65, DB 1966, 612. 403 BAG v. 12.5.1971 – 4 AZR 247/70, AP Nr. 13 zu § 322 ZPO. 404 Zur Bindung des Gerichts nach § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO an die vom Kläger angeführten Eingruppierungstatbestände vgl. auch BAG v. 25.8.2010 – 4 AZR 165/09, AP BAT 1975 §§ 22, 23 Nr. 316.

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§ 23 Rz. 23.296

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

wirkung. In Rechtskraft ist die Entscheidung nur hinsichtlich der festgestellten Rechtsfolge erwachsen. Demgegenüber sind die Entscheidungsgründe des Urteils im Vorprozess, wonach die Voraussetzungen eines oder mehrerer Tätigkeitsmerkmale vorlagen, der materiellen Rechtskraft nicht fähig405. Demnach kann der beklagte Arbeitgeber im Folgeprozess die höhere Eingruppierung mit der Begründung ablehnen, ein Tätigkeitsmerkmal liege nicht vor, von dessen Vorliegen das Gericht im Vorprozess ausgegangen ist406. cc) Die Geltendmachung einer höheren Vergütung nach einer die Klage abweisenden Entscheidung

23.297 Wurde die Klage auf Entgelt nach einer bestimmten Vergütungsgruppe abgewiesen, so steht die Rechtskraft dieser Entscheidung einer erneuten Klage auf Feststellung der Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung eines Entgelts nach einer höheren Entgeltgruppe grundsätzlich nicht entgegen. Streitgegenstand im Vorprozess war in einem solchen Fall nämlich das Entgelt nach der niedrigeren Entgeltgruppe; demgegenüber ist Streitgegenstand des Folgeprozesses regelmäßig lediglich die Entgeltdifferenz zwischen der Entgeltgruppe, deren Voraussetzungen zuvor abgelehnt worden waren und der im späteren Verfahren angestrebten Vergütung407.

23.298 Von dem zuvor bezeichneten Grundsatz hat das BAG allerdings auch Ausnahmen gemacht. Danach kann ausnahmsweise ein rechtskräftig abgewiesener Feststellungsantrag Bindungswirkung bei späterer Geltendmachung eines höheren Entgelts entfalten, wenn in einem Prozess ausnahmsweise rechtskräftig festgestellt worden ist, dass die Voraussetzungen einer konkreten Fallgruppe einer bestimmten Vergütungsgruppe nicht vorliegen. Diese Feststellung führt dazu, dass in einem Folgeprozess ein Bewährungsaufstieg aus dieser konkreten Fallgruppe nicht geltend gemacht werden kann408. Dasselbe gilt, wenn es überhaupt nur eine Fallgruppe gibt, aus der der Bewährungsaufstieg möglich ist409. 6. Die Darlegungs- und Beweislast im Eingruppierungsprozess

23.299 Im Zivilprozess hat nach der allgemeinen Grundregel der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast jede Partei die Voraussetzungen der ihr günstigen Norm, dh. derjenigen Norm, deren Rechtswirkungen ihr zugute kommen sollen, darzulegen und im Bestreitensfalle zu beweisen. Diese Grundregel wird durch das von der herrschenden Meinung angewandte Regel-Ausnahme-Prinzip ergänzt, wonach derjenige, der sich auf das Vorliegen von Ausnahmetatbeständen beruft, deren tatsächliche Voraussetzungen in vollem Umfang darzulegen und zu beweisen hat.

23.300 Bei der Eingruppierungsfeststellungsklage hat der Kläger mithin diejenigen Tatsachen vorzutragen und im Bestreitensfall zu beweisen, aus denen sich der von ihm behauptete Anspruch auf Zahlung eines Entgelts (einer Vergütung bzw. eines Lohns) aus der in Anspruch genommenen Entgeltgruppe (Vergütungs- bzw. Lohngruppe) ergibt. Ist Streitgegenstand einer Eingruppierungsfeststellungsklage das Entgelt nach einer bestimmten Entgeltgruppe aufgrund vertraglicher Zusage bzw. aufgrund des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes, 405 Friedrich/Kloppenburg, ZTR 2003, 314 (318) unter Hinweis auf BAG v. 18.7.1990 – 4 AZR 25/90, AP Nr. 151 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 406 Zur Frage der Rechtskraft beim Bewährungsaufstieg vgl. BAG v. 16.4.1997 – 4 AZR 270/96, AP Nr. 1 zu § 22 MTAng-LV. 407 Vgl. hierzu auch ausführlich Friedrich/Kloppenburg, ZTR 2003, 314 (318). 408 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 221/96, AP Nr. 237 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 409 BAG v. 16.4.1997 – 4 AZR 270/96, AP Nr. 1 zu § 22 MTAng-LV.

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Die Eingruppierungsfeststellungsklage

Rz. 23.303 § 23

hat der Kläger die Darlegungs- und Beweislast für das wirksame Zustandekommen der vertraglichen Absprache bzw. das Vorliegen der Voraussetzungen einer Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes. a) Die Darlegungs- und Beweislast beim Höhergruppierungsverlangen Ist hingegen Streitgegenstand einer Eingruppierungsfeststellungsklage allein die Zuordnung 23.301 des Beschäftigten zu einer bestimmten höheren Entgelt-, Vergütungs- bzw. Lohngruppe (aufgrund der Tarifautomatik), so hat der Kläger der Eingruppierungsklage diejenigen Tatsachen vorzutragen, aus denen der rechtliche Schluss möglich ist, dass er die von ihm beanspruchten Tätigkeitsmerkmale der Entgeltgruppe einschließlich der Qualifizierungsmerkmale erfüllt410. Sein Klagevortrag ist nur dann schlüssig, wenn das tatsächliche Vorbringen bei Unterstellung seiner Richtigkeit den Klageantrag begründet erscheinen lässt, so dass im Falle der Säumnis der beklagten Partei ein Versäumnisurteil nach § 331 ZPO ergehen könnte411. Die Eingruppierung anderer Beschäftigter kann zwar für die Begründung eines Anspruchs auf der Grundlage des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes herangezogen werden, führt aber nicht zu einer Beweislastumkehr oder zu Beweiserleichterungen bei der durch die Tarifautomatik bestimmten Eingruppierung und einem Rechtsstreit hierüber412. aa) Darlegungen zu den persönlichen Anspruchsvoraussetzungen Enthält eine Entgelt-, Vergütungs- oder Lohngruppe subjektive, dh. personenbezogene Anforderungen (zB eine bestimmte Berufsausbildung, schulische Ausbildung, Zeit der Berufsausübung nach Ablegung der Prüfung etc.), so hat der Kläger zunächst vorzutragen, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind. Setzt die Eingruppierungsnorm zudem eine seiner Ausbildung entsprechende Tätigkeit des Beschäftigten voraus, so ist vom Kläger im Einzelnen darzulegen, welche Kenntnisse und Fähigkeiten ihm die Ausbildung vermittelt hat und aus welchen Gründen er seine Aufgaben ohne diese Kenntnisse und Fertigkeiten nicht ordnungsgemäß erledigen könnte. Dabei muss erkennbar sein, dass die Ausbildung nicht nur nützlich, sondern für die Tätigkeit erforderlich ist413.

23.302

Nimmt der Beschäftigte für sich in Anspruch, er verfüge als „sonstiger Angestellter“ (Be- 23.303 schäftigter) über die gleichwertigen Fähigkeiten und Erfahrungen eines Angestellten, für den in einer Eingruppierungsnorm als personenbezogene Anforderung eine bestimmte Ausbildung gefordert wird, so ist er auch hierfür darlegungs- und im Bestreitensfalle beweispflichtig. Der Beschäftigte hat demnach seine gleichwertigen Fähigkeiten und Erfahrungen anhand von Tatsachen darzulegen und konkret darzutun, in welcher Weise er diese erlangt hat. Hierbei muss er nach derzeitiger Rechtslage zudem darlegen, warum und weshalb die außerhalb der Ausbildung erworbenen Fähigkeiten und Erfahrungen ihn in den Stand versetzen, auch ande-

410 BAG v. 24.9.1997 – 4 AZR 431/96, AP Nr. 226 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 18.2.1998 – 4 AZR 581/96, NZA 1998, 950; zur Kritik an der Rechtsprechung des BAG vgl. nur Bergwitz, ZTR 2001, 539; Zimmerling, ZTR 2002, 354; Kiefer, ZTR 2002, 454. 411 BAG v. 4.5.1994 – 4 AZR 447/93, ZTR 1994, 507; v. 18.2.1998 – 4 AZR 581/96, NZA 1998, 950. 412 BAG v. 18.11.2009 – 4 AZR 498/08, ZTR 2010, 301. 413 BAG v. 28.9.1994 – 4 AZR 619/93, AP Nr. 38 zu § 2 BeschFG 1985; v. 20.9.1995 – 4 AZR 413/94, AP Nr. 205 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 28.8.2007 – 4 AZR 571/06, ZTR 2008, 210; v. 18.4.2012 – 4 AZR 441/10, ZTR 2012, 703.

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§ 23 Rz. 23.303

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

re Aufgabenbereiche aus dem Aufgabenkreis eines über die Ausbildung verfügenden Beschäftigten auszuüben414. bb) Darlegungen zu den sachlichen Anspruchsvoraussetzungen

23.304 Sodann hat der Kläger der Eingruppierungsfeststellungsklage schlüssig zu den sachlichen Anspruchsvoraussetzungen vorzutragen. (1) Darlegungen zur Feststellung der Arbeitsvorgänge und ihres zeitlichen Ausmaßes

23.305 Maßgebliche tarifliche Bewertungseinheit ist der Arbeitsvorgang. Dabei entspricht nach § 12 Abs. 2 Satz 1 und 2 TVöD, § 12 Abs. 1 Satz 3 und 4 TV-L die gesamte auszuübende Tätigkeit eines Beschäftigten den Tätigkeitsmerkmalen einer Entgeltgruppe, wenn zeitlich mindestens zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die für sich genommen die Anforderungen eines oder mehrerer Tätigkeitsmerkmale dieser Entgelt- bzw. Vergütungsgruppe erfüllen. Ist in einem Tätigkeitsmerkmal ein hiervon abweichendes Maß bestimmt, so gilt dieses, § 12 Abs. 2 Satz 5 TVöD, § 12 Abs. 1 Satz 7 TV-L.

23.306 Da es sich bei der Feststellung der Arbeitsvorgänge um eine Rechtsfrage und nicht um feststellbare Tatsachen handelt415, ist es nicht Aufgabe des Beschäftigten, seine Tätigkeit nach Arbeitsvorgängen gegliedert darzustellen. Insbesondere ist der Kläger nicht verpflichtet, dem Arbeitsgericht tagebuchartige oder sonstige Aufzeichnungen über die Einzelheiten seiner Tätigkeiten und die Zeiträume vorzulegen, innerhalb derer er mit den einzelnen Aufgaben befasst ist416.

23.307 Allerdings ist er aufgrund der ihn treffenden Darlegungslast verpflichtet, diejenigen Tatsachen vorzutragen, die das Gericht kennen muss, um daraus rechtlich folgern zu können, welche Arbeitsvorgänge von dem Beschäftigten zu erbringen sind417. Das bedeutet, dass der Beschäftigte zu den Einzelheiten seiner Tätigkeiten vorzutragen hat. Dabei hat er zunächst im Einzelnen die Arbeitsinhalte darzustellen. Darüber hinaus muss er Angaben dazu machen, welche Arbeitsergebnisse zu erarbeiten sind, welche Zusammenhangstätigkeiten anfallen und ob und wie die Einzelaufgaben voneinander abgrenzbar sind418. Die Einreichung umfangreicher Unterlagen (zB Tagebuchaufzeichnungen) genügt allerdings insoweit nicht: Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, solche Unterlagen daraufhin zu überprüfen, ob sich aus ihnen Tatsachen ergeben, die zur Schlüssigkeit des Vorbringens führen können419.

23.308 Im Hinblick auf das Erfordernis der überwiegend auszuübenden Tätigkeit gehört auch die Angabe der jeweiligen Anteile der Tätigkeiten an der Gesamtarbeitszeit zur Schlüssigkeit des klägerischen Vorbringens. Da es sich hierbei nicht um eine Rechtsfrage, sondern um eine Tatsachenfeststellung handelt, können die Parteien diese Frage im Prozess unstreitig stellen. Hat der Beschäftigte dem Arbeitsgericht lediglich geschätzte zeitliche Anteile vorgetragen und widerspricht der Arbeitgeber diesen Angaben nicht, so gelten diese zeitlichen Anteile als zu414 Krasemann, S. 605; so bereits Uttlinger/Breier/Kiefer/Dassau/Faber zum BAT, § 22 Erl. 36.4.2010. 415 BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 745/00, nv.; v. 19.2.2003 – 4 AZR 158/02, ZTR 2003, 511. 416 BAG v. 28.2.1979 – 4 AZR 427/77, AP Nr. 16 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 28.3.1979 – 4 AZR 446/77, AP Nr. 19 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 18.5.1994 – 4 AZR 449/93, DB 1994, 2506. 417 BAG v. 25.8.2010 – 4 AZR 5/09, ZTR 2011, 165. 418 BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 745/00, nv. 419 So bereits Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese zum BAT, § 22 Erl. 18.1; Burger/Weinmann, TVöD/ TV-L, §§ 12, 13 TVöD/TV-L Rz. 30.

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Die Eingruppierungsfeststellungsklage

Rz. 23.311 § 23

gestanden420. Werden die geschätzten Angaben des Klägers hingegen vom Arbeitgeber bestritten, so muss der Kläger mitteilen, aufgrund welcher Unterlagen oder Erhebungen er zu seiner Schätzung gekommen ist. So kann bspw. der Durchschnittsbearbeitungszeit für einen Sozialhilfeantrag multipliziert mit der festgestellten Fallzahl und insoweit insbesondere tagebuchartigen Arbeitsaufzeichnungen über einen repräsentativen Zeitraum unter Angabe der jeweiligen Zeitanteile die Qualität einer hinreichenden Schätzungsgrundlage zukommen421. (2) Darlegungen zur Feststellung der tätigkeitsbezogenen tariflichen Merkmale Da sich die Darlegungspflicht immer an den rechtlichen Erfordernissen der einzelnen Tätigkeitsmerkmale zu orientieren hat, muss der Sachvortrag des Klägers erkennen lassen, dass die auszuübenden Tätigkeiten den tariflichen Rechtsbegriff erfüllen. Was hier im Einzelnen vorzutragen ist, hängt entscheidend davon ab, auf welche Tätigkeitsmerkmale bzw. deren Erfüllung der Kläger seine Klage stützt. Es bedarf somit eines substantiierten Sachvortrags im Hinblick auf die jeweils in Betracht kommenden unbestimmten Rechtsbegriffe wie zB gründliche und vielseitige Fachkenntnisse, selbständige Leistungen etc. Die diesbezüglichen Ausführungen sind zudem den einzelnen Arbeitsinhalten (Arbeitsvorgängen) zuzuordnen. Für einen schlüssigen Tatsachenvortrag reicht indes weder eine formelhafte Wiederholung der tariflichen Tätigkeitsmerkmale noch eine in tatsächlicher Beziehung lückenlose und genaue Darstellung der Tätigkeiten und Einzelaufgaben aus, wenn sich hieraus nicht zugleich entnehmen lässt, aufgrund welcher konkreter Tatsachen die jeweils in Betracht kommenden Tätigkeitsmerkmale erfüllt sind422.

23.309

Beruft sich der Kläger auf ein Heraushebungsmerkmal, genügt allein die genaue Darstellung der eigenen Tätigkeit nicht für einen schlüssigen Vortrag, da allein hieraus noch keine Rückschlüsse darauf möglich sind, ob sich die Tätigkeit aus der Ausgangsfallgruppe entsprechend dem Qualifizierungsmerkmal hervorhebt. Der Vortrag muss vielmehr erkennen lassen, warum sich eine bestimmte Tätigkeit aus der in der Ausgangsfallgruppe erfassten Grundtätigkeit hervorhebt. Deshalb muss der Arbeitnehmer auch Tatsachen darlegen, die einen wertenden Vergleich mit den nicht herausgehobenen Tätigkeiten ermöglichen423.

23.310

Bauen die Tätigkeitsmerkmale von Entgelt- oder Vergütungsgruppen aufeinander auf, so ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG zunächst zu prüfen, ob der Kläger die allgemeinen Anforderungen der niedrigeren Entgelt- bzw. Vergütungsgruppe erfüllt und anschließend, ob die Merkmale der darauf aufbauenden höheren Entgelt- bzw. Vergütungsgruppe vorliegen424. Das bedeutet, dass der Kläger umfassend zu allen in Betracht kommenden Entgelt- bzw. Auf-

23.311

420 Krasemann, S. 604. 421 Vgl. Krasemann, S. 604; vgl. BAG v. 18.5.1994 – 4 AZR 449/93, DB 1994, 2506. 422 BAG v. 19.3.1980 – 4 AZR 300/78, AP Nr. 32 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 15.6.1994 – 4 AZR 327/93, AP Nr. 9 zu §§ 22, 23 BAT Krankenkassen. 423 BAG v. 1.3.1995 – 4 AZR 8/94, AP Nr. 19 zu §§ 22, 23 BAT Sozialarbeiter; v. 24.9.1997 – 4 AZR 431/96, AP Nr. 226 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 27.8.2008 – 4 AZR 470/07, ZTR 2009, 143; v. 25.2.2009 – 4 AZR 20/08, ZTR 2009, 479; v. 23.2.2011 – 4 AZR 313/09, AP BGB § 611 Kirchendienst Nr. 62; v. 21.3.2012 – 4 AZR 292/10, ZTR 2012, 628; v. 23.10.2012 – 4 AZR 48/11. 424 BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 579/01, AP Nr. 294 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 19.2.2003 – 4 AZR 265/02, ZTR 2003, 508; v. 12.5.2004 – 4 AZR 371/03, AP Nr. 301 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 23.2.2005 – 4 AZR 191/04, ZTR 2005, 643; v. 6.6.2007 – 4 AZR 505/06, ZTR 2008, 156; v. 7.5.2008 – 4 AZR 303/07, ZTR 2008, 668; v. 19.5.2010 – 4 AZR 912/08, ZTR 2010, 577; v. 23.2.2011 – 4 AZR 313/09, AP BGB § 611 Kirchendienst Nr. 62; v. 21.3.2012 – 4 AZR 292/10, ZTR 2012, 628.

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§ 23 Rz. 23.311

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

baufallgruppen vorzutragen hat und sich in seinem Vortrag nicht von vornherein auf die höhere Entgelt- bzw. Vergütungsgruppe beschränken darf. Vielmehr muss sein Vortrag den Aufbau der Entgelt- bzw. Vergütungsgruppen widerspiegeln. Der Kläger hat demnach zunächst konkret vorzutragen, dass er die allgemeinen Anforderungen der niedrigeren Entgelt- bzw. Vergütungsgruppe erfüllt und anschließend, dass auch die Merkmale der darauf aufbauenden höheren Vergütungsgruppe vorliegen425. Zu beachten ist, dass zur Belegung eines Heraushebungsmerkmals einer höheren Entgeltgruppe grundsätzlich nicht Umstände herangezogen werden können, die bereits zur Begründung des Vorliegens der Tätigkeitsmerkmale der niedrigeren Entgeltgruppe herangezogen wurden; diese Umstände sind grundsätzlich „verbraucht“426. Etwas anderes kann allerdings dann gelten, wenn die Tätigkeit des Beschäftigten ausschließlich oder im Wesentlichen aus einer oder mehreren hochwertigen Tätigkeiten besteht, so dass für die Erfüllung der Merkmale der niedrigeren Aufbaufallgruppen keine geringwertigen Tätigkeiten herangezogen werden können. In diesem Fall kann für die Erfüllung der Merkmale der niedrigeren Aufbaufallgruppen auf Teilaufgaben oder Teilfunktionen der auszuübenden hochwertigen Tätigkeit abgestellt werden; diese Tätigkeiten sind dann nicht vollständig „verbraucht“427. Wenn die Parteien die Tätigkeit des Arbeitnehmers als unstreitig ansehen und der Arbeitgeber selbst für die Tätigkeit die Tätigkeitsmerkmale als erfüllt betrachtet, so ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG zwar eine pauschale Prüfung durch das Gericht ausreichend428. Da aber auch eine pauschale Überprüfung erkennen lassen muss, aufgrund welcher konkreten Tatsachen die Merkmale einer bestimmten Entgelt- oder Vergütungsgruppen bzw. Fallgruppe als erfüllt anzusehen sind und welche Tatumstände damit für die Erfüllung der Tätigkeitsmerkmale der niedrigeren Entgelt- bzw. Vergütungsgruppe herangezogen werden, ist der Kläger einer Eingruppierungsfeststellungsklage aufgrund der Rechtsprechung des BAG zur pauschalen Prüfung nicht von jeglichem Vortrag entbunden. Er muss zumindest soviel vortragen, dass dem Gericht eine pauschale Prüfung möglich ist. b) Die Darlegungs- und Beweislast bei der korrigierenden Rückgruppierung

23.312 Wendet sich der Beschäftigte gegen eine korrigierende Rückgruppierung, hätte er – als Kläger des Eingruppierungsrechtsstreits – an sich nach den allgemeinen Regeln der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast die Tatsachen vorzutragen, aus denen der rechtliche Schluss möglich ist, dass er die von ihm beanspruchten Tätigkeitsmerkmale der Entgeltgruppe einschließlich der Qualifizierungs- und Heraushebungsmerkmale erfüllt, aus der er bislang vergütet wurde.

23.313 Nach inzwischen ständiger Rechtsprechung des BAG wird ihm dies allerdings nicht abverlangt. Vielmehr kann sich der gegen die korrigierende Rückgruppierung klagende Arbeitnehmer zunächst auf die im Arbeitsvertrag angegebene bzw. ihm mitgeteilte Vergütungsgruppe berufen, aus der er auch bezahlt wurde429. Sodann geht die Darlegungs- und Beweislast auf

425 426 427 428

Vgl. Kuner, Arbeitsrecht und TVöD/TV-L, Rz. 686. BAG v. 19.2.2003 – 4 AZR 265/02, ZTR 2003, 508. BAG v. 7.5.2008 – 4 AZR 303/07, ZTR 2008, 668. BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 579/01, AP Nr. 294 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 19.2.2003 – 4 AZR 265/02, ZTR 2003, 508; v. 12.5.2004 – 4 AZR 371/03, AP Nr. 301 zu §§ 22, 23 BAT 1975; v. 23.2.2005 – 4 AZR 191/04, ZTR 2005, 643; v. 7.5.2008 – 4 AZR 303/07, ZTR 2008, 668; v. 22.4.2009 – 4 AZR 166/08, ZTR 2009, 581. 429 BAG v. 16.2.2000 – 4 AZR 62/99, DB 2001, 596; v. 17.5.2000 – 4 AZR 232/99, NZA 2001, 1395; vgl. auch BAG v. 4.7.2012 – 4 AZR 673/10, ZTR 2013, 83.

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Die Eingruppierungsfeststellungsklage

Rz. 23.316 § 23

den Arbeitgeber über430. Dieser muss zur Begründung der korrigierenden Rückgruppierung die objektive Fehlerhaftigkeit der mitgeteilten Vergütungsgruppe, dh. die fehlerhafte Bewertung der Tätigkeit im tarifvertraglichen Vergütungsgefüge, und die dieser korrigierten Bewertung zugrunde liegenden Tatsachen darlegen und, sofern sie hinreichend bestritten werden, beweisen431. Dabei beinhaltet die objektive Fehlerhaftigkeit, dass sich der Arbeitgeber insoweit bei der Rechtsanwendung „geirrt“ hat, als er unzutreffende Tatsachen zugrunde gelegt und/oder eine objektiv unzutreffende rechtliche Bewertung vorgenommen hat. Die vom Arbeitgeber darzulegende Fehlerhaftigkeit ist nach der Rechtsprechung des BAG bereits dann gegeben, wenn auch nur eine der tariflichen Voraussetzungen für die bisherige Eingruppierung fehlt. Die Darlegung eines Tarifirrtums ist nicht erforderlich432. Allerdings ist zu beachten, dass es für eine korrigierende Rückgruppierung nicht ausreicht, überhaupt einen Fehler aufzuzeigen; vielmehr muss die Vermeidung des aufgezeigten Fehlers dazu führen, dass die zuvor mitgeteilte Entgelt- bzw. Vergütungsgruppe nicht diejenige ist, in der der Beschäftigte tarifgerecht eingruppiert ist. Mit anderen Worten muss sich der darzulegende Fehler so auswirken, dass die Bezahlung nach der zuvor mitgeteilten Entgelt- bzw. Vergütungsgruppe nicht tarifgerecht ist433. Das BAG hat zur Begründung dieser Verlagerung der Darlegungs- und Beweislast auf den Arbeitgeber darauf abgestellt, dass dieser die tarifliche Bewertung nach § 22 Abs. 2 BAT (nunmehr § 12 Abs. 2 Satz 1 und 2 TVöD, § 12 Abs. 1 Satz 3 und 4 TV-L) vorzunehmen habe. Dies habe er sorgfältig und korrekt zu tun. Damit wäre es nicht vereinbar, wenn der Arbeitgeber bei einem Streit um die Berechtigung einer Rückgruppierung keine Begründung für die behauptete Fehlerhaftigkeit der bisherigen Vergütung geben müsste und er den Arbeitnehmer darauf verweisen könne, seinerseits im Einzelnen alle Voraussetzungen für die ursprünglich vom Arbeitgeber als zutreffend angesehene Eingruppierung darzulegen. Im Sinne eines begrenzten Vertrauensschutzes könne sich der Arbeitnehmer demnach zunächst auf die vom Arbeitgeber mitgeteilte Eingruppierung berufen434.

23.314

Davon zu unterscheiden sind selbstverständlich die Fälle, in denen es dem Arbeitgeber nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt ist435, sich auf die fehlerhafte Eingruppierung zu berufen. Für das Vorliegen der Voraussetzungen der Treuwidrigkeit bzw. des Rechtsmissbrauchs nach § 242 BGB trägt wiederum der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast.

23.315

Hat nach alledem der Arbeitgeber schlüssig zu den Voraussetzungen der korrigierenden Rückgruppierung vorgetragen, ist es nunmehr Sache des Arbeitnehmers, seinerseits substantiiert zu bestreiten, dass bei seiner Eingruppierung Tatsachen unzutreffend angenommen oder bewertet wurden oder dass die rechtliche Bewertung seiner Tätigkeit unzutreffend gewesen sei. Der Arbeitnehmer kann dies allerdings auch dadurch erreichen, dass er – wie bei einer normalen Eingruppierungsfeststellungsklage – darlegt, dass die von ihm auszuübende Tätigkeit mit mindestens der Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit ein oder mehrere Tätigkeitsmerkmale seiner Vergütungsgruppe erfüllt, mithin keine fehlerhafte Zuordnung zu der bisherigen Ver-

23.316

430 Zimmerling, öAT 2017, 180 (183). 431 BAG v. 16.2.2000 – 4 AZR 62/99, DB 2001, 596; v. 15.6.2011 – 4 AZR 737/09, ZTR 2012, 26; v. 4.7.2012 – 4 AZR 673/10, ZTR 2013, 83. 432 BAG v. 16.2.2000 – 4 AZR 62/99, DB 2001, 596; v. 17.5.2000 – 4 AZR 232/99, NZA 2001, 1395; v. 22.1.2003 – 4 ABR 12/02, ZTR 2003, 454; v. 5.11.2003 – 4 AZR 689/02, DB 2004, 1105; v. 7.5.2008 – 4 AZR 206/07, ZTR 2008, 553; v. 24.9.2008 – 4 AZR 685/07, ZTR 2009, 210. 433 BAG v. 5.11.2003 – 4 AZR 689/02, DB 2004, 1105. 434 Vgl. nur BAG v. 16.2.2000 – 4 AZR 62/99, DB 2001, 596. 435 BAG v. 20.4.2011 – 4 AZR 368/09, ZTR 2011, 672; Zimmerling, öAT 2017, 180 (182).

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§ 23 Rz. 23.316

Eingruppierung/Umgruppierung/Rückgruppierung

gütungsgruppe vorliegt. Da die Beweislast beim Arbeitgeber verblieben ist, muss dieser dann die Richtigkeit seines eigenen Sachvortrags beweisen.

23.317 Nach der Rechtsprechung des BAG ergeben sich weder aus dem NachwG noch aus der Nachweisrichtlinie (RL 91/533/EWG des Rates vom 14.10.1991) eine weitergehende Darlegungsund Beweislast für den Arbeitgeber bzw. weitergehende Erleichterungen der Darlegungs- und Beweislast für den Arbeitnehmer436. Die Richtlinie vom 20.6.2019 über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union (RL 2019/1152; ABl. L 186/105), die mit Wirkung vom 1.8.2022 die Richtlinie 91/533/EWG aufhebt (vgl. Art. 24), ändert daran jedenfalls einstweilen nichts. Sie beinhaltet eine Umsetzungsfrist von drei Jahren nach Inkrafttreten, so dass die neuen Regelungen spätestens ab 1.8.2022 gelten werden (Art. 22). 7. Verfall und Verjährung

23.318 §§ 37 TVöD bzw. TV-L enthalten eine den Bestimmungen der §§ 70 BAT/BAT-O nachgebildete Ausschlussfrist. Nach dem Absatz 1 der §§ 37 TVöD/TV-L verfallen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von sechs Monaten nach Fälligkeit von den Beschäftigten oder vom Arbeitgeber schriftlich geltend gemacht werden. Dabei reicht für denselben Sachverhalt die einmalige Geltendmachung des Anspruchs auch für später fällige Leistungen aus437. Eine Geltendmachung iS tariflicher Ausschlussfristen setzt voraus, dass der Anspruch seinem Grunde nach hinreichend deutlich bezeichnet und dessen Höhe, also der Zeitraum, für den er verfolgt wird, mit der für den Schuldner notwendigen Klarheit ersichtlich gemacht wird. Für den Arbeitgeber müssen die Art des Anspruchs und die Tatsachen, auf die er gestützt wird, erkennbar sein438.

23.319 Der Beschäftigte muss seinen Anspruch auf jeden Fall schriftlich geltend machen. Dies kann er durch einfaches Schreiben an den Arbeitgeber oder durch Klageerhebung beim Arbeitsgericht tun. Zum schlüssigen Vortrag eines Anspruchs, der tariflichen Verfallsfristen unterliegt, gehört auch die Darlegung der Einhaltung dieser Fristen und damit der fristgerechten Geltendmachung. Die Fristeinhaltung ist materiell-rechtliche Voraussetzung für das Bestehen des behaupteten Anspruchs; ihre Nichteinhaltung ist eine Einwendung, die „von Amts wegen“ zu beachten ist. Deshalb ist es nicht erforderlich, dass der Anspruchsgegner sich auf die Nichteinhaltung der Verfallsfrist beruft. Aus diesem Grund kann eine hinreichende Geltendmachung nicht im prozessualen Sinne unstreitig werden439. Letztlich muss der Beschäftigte darlegen, dass er den Anspruch „geltend“ gemacht hat. Das ist nur dann der Fall, wenn dem Arbeitgeber durch das Anspruchsschreiben hinreichend verdeutlicht wurde, dass er seitens des Beschäftigten wegen einer konkreten und identifizierbaren Forderung in Anspruch genommen wird. Dabei ist es ausreichend, wenn der Arbeitgeber bei vernünftiger Würdigung des Verhaltens des Arbeitnehmers erkennen kann, diese wolle eine ihm zustehende Leistung fordern. Der Anspruch muss demnach als solcher bezeichnet werden; allerdings muss dies nicht ausdrücklich geschehen; es genügt, wenn der Arbeitnehmer seine Forderung dergestalt bezeichnet, dass der Arbeitgeber erkennen kann, aus welchem Sachverhalt und in welcher un-

436 Vgl. grundlegend BAG v. 16.2.2000 – 4 AZR 62/99, DB 2001, 596; v. 17.5.2000 – 4 AZR 232/99, NZA 2001, 1395. 437 Vgl. etwa BAG v. 20.4.2011 – 4 AZR 368/09, ZTR 2011, 672. 438 BAG v. 21.3.2012 – 4 AZR 266/10, ZTR 2012, 440. 439 BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 308/08, nv.

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Die Eingruppierungsfeststellungsklage

Rz. 23.323 § 23

gefähren Höhe er in Anspruch genommen werden soll440. Deshalb erfüllt die an den Arbeitgeber gerichtete schriftliche Bitte des Arbeitnehmers „um Prüfung“, ob die Voraussetzungen einer höheren Eingruppierung vorliegen, nicht das Tatbestandsmerkmal der Geltendmachung des Anspruchs441. Zu beachten ist stets, dass nur Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verfallen können. Da der Beschäftigte nach der Tarifautomatik immer richtig eingruppiert ist, hat er gegenüber dem Arbeitgeber auch keinen Anspruch auf Eingruppierung, so dass ein Eingruppierungsanspruch auch nicht verfallen kann. Verfallen können indes die Ansprüche des Beschäftigten auf Vergütung bzw. Entgelt nach einer bestimmten Vergütungs- oder Entgeltgruppe für einen bestimmten Zeitraum442.

23.320

Der Höhergruppierungsanspruch kann auch verwirken443. Allerdings ist hier zu beachten, dass nach § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG die Verwirkung tariflicher Rechte ausgeschlossen ist. Eine Verwirkung von Zahlungsansprüchen aus einer höheren Entgeltgruppe kommt daher nur bei arbeitsvertraglicher Vereinbarung des TVöD bzw. TV-L in Betracht. Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis unterliegen zudem nicht nur der tariflichen Ausschlussfrist, sondern fallen auch unter die Verjährungsregeln der §§ 194 ff. BGB.

23.321

8. Der Streitwert Für die Streitwertfestsetzung bei der Eingruppierungsfeststellungsklage ist § 42 Abs. 2 Satz 2 GKG maßgebend. Danach ist bei Rechtsstreitigkeiten über Eingruppierungen der Wert des dreijährigen Unterschiedsbetrages zur begehrten Vergütung maßgebend, sofern nicht der Gesamtbetrag der geforderten Leistungen geringer ist.

23.322

Nach der Rechtsprechung des BAG bleiben bei der Ermittlung des Differenzbetrages Sonderleistungen wie Treueprämien, zusätzliche Urlaubsgelder, Gratifikationen sowie Zuwendungen nach einem Zuwendungstarifvertrag außer Betracht. Der Streitwert entspricht demnach stets der 36fachen (und nicht der 39fachen) monatlichen Entgeltdifferenz zwischen der Entgeltgruppe, aus der die Zahlung des Entgelts begehrt wird und der Entgeltgruppe, aus der der Beschäftigte tatsächlich vergütet wird444. Angesichts der klaren gesetzgeberischen Regelung ist für den bei einer Feststellungsklage üblichen Abschlag von 20 % nach diesseitiger Auffassung kein Raum445.

23.323

440 BAG v. 5.4.1995 – 5 AZR 961/93, NZA 1995, 1068; v. 18.3.1999 – 6 AZR 523/97, ZTR 1999, 420; v. 12.3.2008 – 4 AZR 93/07, ZTR 2008, 602; v. 21.3.2012 – 4 AZR 266/10, ZTR 2012, 440. 441 Vgl. BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 228/96, BB 1998, 1063; v. 23.9.2009 – 4 AZR 308/08, nv. 442 Vgl. BAG v. 28.6.1994 – 3 AZR 988/93, NZA 1995, 433; Zimmerling, öAT 2017, 180 (181). 443 Vgl. hierzu BAG v. 17.2.1974 – 4 AZR 192/73, AP Nr. 4 zu § 70 BAT; v. 9.9.1981 – 4 AZR 59/79, AP Nr. 48 zu §§ 22, 23 BAT 1975. 444 BAG v. 24.3.1981 – 4 AZR 395/78, AP Nr. 3 zu § 12 ArbGG 1979; v. 4.9.1996 – 4 AZN 151/96, NZA 1997, 283. 445 BAG v. 4.9.1996 – 4 AZN 151/96, AP Nr. 19 zu § 12 ArbGG 1979; LAG Baden-Württemberg v. 5.7.2018 – 5 Ta 77/18, JurBüro 2018, 525–526.

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§ 24 Stufenzuordnung I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . .

24.1

II. Stufenzuordnung anlässlich der Überleitung in das neue Tarifrecht – Altersdiskriminierung im BAT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24.4

III. Stufenzuordnung bei der Einstellung . . . . . . . . . . . . . . . . .

24.7

1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24.7

2. Begriff der Einstellung . . . . . . . .

24.8

3. Kriterien der Zuordnung zu den Stufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Stufenstruktur . . . . . . . . . . . . aa) Grundsätze . . . . . . . . . . . bb) Besondere Beschäftigtengruppen . . . . . . . . . . . . . . b) Vorliegen einschlägiger Berufserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zwingende Berücksichtigung einschlägiger Berufserfahrung . . . . . . . . bb) Grundregel und Zweck . . cc) Sonderfall: Wiederholte Einstellung befristet Beschäftigter . . . . . . . . . . (1) Rechtslage bei „horizontalen“ Wiedereinstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Folgerungen für den Bereich des Bundes . . . . . (b) Folgerungen für den Bereich der VKA . . . . . . . (c) Folgerungen für den Bereich der TdL . . . . . . . . (2) Rechtslage bei „vertikalen“ Wiedereinstellungen . (a) Tarifbereiche mit betragsbezogener Höhergruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Tarifbereiche mit stufengleicher Höhergruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Herabgruppierungen . . . . (d) Rechtsmissbrauch . . . . . . (3) Rechtslage bei Befristungen bei anderem Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . .

24.11 24.11 24.11 24.13 24.15 24.15 24.16 24.21 24.23 24.26 24.27 24.28 24.29 24.30 24.32 24.34 24.36

dd) Weitere Sonderkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . (1) Erwerb der Berufserfahrung in mehreren (kurzen) Arbeitsverhältnissen, bei mehreren Arbeitgebern oder in Teilzeitarbeitsverhältnissen . . . . . (2) Kumulative Anwendung der Stufenzuordnungsvorschriften in § 16 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 TV-L bzw. § 16 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 und Satz 4 TVöD (Bund) . . . . . . . . . . . . . . . (3) Erwerb der einschlägigen Berufserfahrung in höherwertigen Tätigkeiten . . . . (4) Erwerb der einschlägigen Berufserfahrung in anderen Rechtsverhältnissen als einem Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . ee) Schädliche und unschädliche Unterbrechungen . . . (1) Rechtslage bei der TdL . . . (2) Rechtslage bei der VKA . . (a) Erneute Einstellung befristet Beschäftigter durch denselben Arbeitgeber . . . (b) Arbeitgeberwechsel . . . . . (3) Rechtslage beim Bund . . . (a) Erneute Einstellung befristet Beschäftigter durch den Bund . . . . . . . . (b) Arbeitgeberwechsel . . . . . (4) Unterbrechungen zwischen früheren Arbeitsverhältnissen mit anderen Arbeitgebern bzw. der Tätigkeit bei anderen Arbeitgebern . . . . . . . . . . (5) Keine Berücksichtigung der Zeiten der Unterbrechung selbst . . . . . . . . ff) Angebrochene Stufenlaufzeit/Restlaufzeiten . . . . . .

24.39

24.39

24.42 24.44

24.45 24.48 24.48 24.51 24.52 24.53 24.54 24.54 24.56

24.57 24.58 24.59

24.37

Spelge

855

§ 24

Stufenzuordnung

c) d)

e)

f)

g)

(1) Erneute Einstellung befristet Beschäftigter durch denselben Arbeitgeber . . . (2) Arbeitgeberwechsel . . . . . Keine Fiktion von einschlägiger Berufserfahrung nach § 8 SVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen des unionsrechtlichen Gebots der Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . aa) Fälle ohne Auslandsbezug bb) Fälle mit Auslandsbezug . cc) Keine „Inländerdiskriminierung“ . . . . . . . . . . . . . Einstellung zur Deckung des Personalbedarfs . . . . . . . . . . . . aa) Freies Ermessen . . . . . . . . bb) Deckung des Personalbedarfs . . . . . . . . . . . . . . . cc) Förderliche Zeiten . . . . . . dd) Angebrochene Stufenlaufzeiten . . . . . . . . . . . . . Vorweggewährung von Stufen aa) Freies Ermessen . . . . . . . . bb) Entgeltrechtliche Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Widerruflichkeit . . . . . . . Privilegierung des Wechsels von einem anderen öffentlichen Arbeitgeber (§ 16 Abs. 3 TVöD (Bund), § 16 Abs. 2a TVöD (VKA) und TV-L) . . . . aa) Anwendungsbereich . . . . bb) Regelungsinhalt . . . . . . . .

IV. Stufenzuordnung nach Höhergruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff und Zweifelsfälle der Höhergruppierung . . . . . . . . . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendbarkeit der Höhergruppierungsregelungen bei fehlerhaften Eingruppierungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Falsche Eingruppierung seit der Einstellung . . . . . bb) Hineinwachsen in eine höhere Entgeltgruppe während des laufenden Arbeitsverhältnisses . . . . . c) Sonderfall: Höhergruppierung nach der Überleitung in die neuen Entgeltordnungen des öffentlichen Dienstes . . . . . . .

856

Spelge

24.59 24.60 24.61 24.63 24.63 24.64 24.65 24.66 24.67 24.71 24.72 24.74 24.75 24.76 24.77 24.79

24.81 24.82 24.86 24.88 24.89 24.89

24.90 24.90

24.91

24.94

aa) Grundsätze . . . . . . . . . . . . bb) Fehlerhafte Eingruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Unveränderte Tätigkeit . . (1) Regelfall . . . . . . . . . . . . . . (2) Sonderfall: Befristetes Arbeitsverhältnis . . . . . . . dd) Rechtswirksamkeit der Überleitungsregelung . . . . ee) Ausschlussfrist . . . . . . . . . (1) Antragsfrist als Ausschlussfrist . . . . . . . . . . . . (2) Beginn der Ausschlussfrist bei Rückzahlungsansprüchen des Arbeitgebers . . . 2. Rechtslage im Bereich der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundprinzip . . . . . . . . . . . . . b) Garantiebetrag . . . . . . . . . . . . c) Höhergruppierung aus der Stufe 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtslage bei Bund und VKA . . a) Einheitliches Grundprinzip . . . b) Unterschiedliche Detailregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Stufenzuordnung bei der VKA . . . . . . . . . . . . . . (1) Sonderregelungen . . . . . . (2) Offene Fragen . . . . . . . . . (a) Schicksal der am 1.3.2017 gezahlten Garantiebeträge . . . . . . . . . . . . . . . (b) Stufenzuordnung nach Tabellenwechsel . . . . . . . . (c) Stufenzuordnung im TV-V . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Stufenzuordnung beim Bund . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konsequenzen und Risiken der Neuregelung der Stufenzuordnung in den Bereichen des Bundes und der VKA . . . . aa) Praktische Probleme . . . . bb) Rechtliche Risiken . . . . . . (1) Keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung der vor und nach dem Stichtag beförderten Beschäftigten . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verstoß gegen das Verbot der Altersdiskriminierung? . . . . . . . . . . . . . . . .

24.94 24.98 24.101 24.101 24.103 24.104 24.107 24.108 24.110 24.111 24.111 24.113 24.117 24.118 24.118 24.121 24.121 24.121 24.123 24.123 24.125 24.126 24.127

24.128 24.128 24.129

24.130 24.131

Stufenzuordnung

(3) Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG? . . . . 24.133 4. Angebrochene Stufenlaufzeit/ Restlaufzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.134 V. Stufenzuordnung nach Rückgruppierung . . . . . . . . . . . . 24.136 1. Begriff der Rückgruppierung . . . 24.136 2. Mitnahme der Stufe . . . . . . . . . . 24.137 3. Mitnahme der Stufenlaufzeit . . . 24.138 a) Rechtslage im Bund . . . . . . . . 24.138 b) Rechtslage bei VKA und TdL . 24.139 VI. Verkürzung, Verlängerung und Hemmung der Stufenlaufzeit nach § 17 TVöD/TV-L . . . . . . . . 24.140 VII. Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . 24.143 1. Mitbestimmungsrechte des Personalrats . . . . . . . . . . . . . . . . 24.144 a) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . 24.144 b) Bejahung eines Mitbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . . 24.146

§ 24

c) Ablehnung eines Mitbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . . 24.147 2. Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.148 3. Folgen einer Verletzung von Mitbestimmungsrechten . . . . . . . 24.150 VIII. Prozessuale Probleme bei Rechtsstreitigkeiten über die zutreffende Stufenzuordnung . . . 24.151 1. Verbindung von Leistungs- und Feststellungsklage . . . . . . . . . . . . 24.151 2. Auswirkungen des Aufstiegs in den Stufen während des Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.154 3. Gerichtliche Überprüfung der Entscheidung des Arbeitgebers zur Stufenzuordnung . . . . . . . . . 24.155 a) Vorliegen einschlägiger Berufserfahrung . . . . . . . . . . . 24.155 b) Ermessenskontrolle . . . . . . . . . 24.156

Schrifttum: Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, Beck’scher Onlinekommentar TV-L, §§ 16, 17 (zit.: BeckOK TV-L/Bearbeiter); Bepler/Böhle/Pieper/Geyer, Beck’scher Online-Kommentar TVöD, §§ 16, 17 (zit.: BeckOK TVöD/Bearbeiter); Dannenberg, Stufenzuordnung bei Überleitung in die Entgelt-O zum TV-L, PersR 2018, 46; Fieberg in Fürst (Hrsg.), Gesamtkommentar Öffentliches Dienstrecht (GKÖD) Bd. IV, § 16, Loseblatt; Fieberg, Protokoll und Niederschrift oder: Von den Mühen der Tarifauslegung, ZTR 2014, 75; Fieberg, Anm. zu BAG Anmerkung zur Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 5.6.2014 – 6 AZR 1008/12 (korrigierende Rückstufung), AP § 16 TV-L Nr. 7; Geyer, Stufenzuordnung im Hochschulbereich nach TV-L, ZTR 2018, 205; Günther, § 16 TVöD/TV-L: Stufenzuordnung bei Wiedereinstellung, ZTR 2013, 652; Günther, Stufenzuordnung bei Weiterbeschäftigung – Einstellung oder Entfristung?, ZTR 2016, 302; Henssler/Kaiser, Altersdiskriminierung durch die im BAT festgelegte Vergütung nach Lebensaltersstufen und die Besitzstandswahrung bei der Überleitung in den TVöD, RdA 2012, 248; Kahl, Neue Stufenzuordnung nach § 16 TVöD bei nahtloser Weiterbeschäftigung im Anschlussarbeitsverhältnis? – Anmerkungen zum Urteil des BAG vom 27.1.2011 – 6 AZR 382/09, ZTR 2012, 611; Krebber, Anmerkung zu dem Urteil des BAG vom 10.11.2011 (6 AZR 148/09) – Zur Grundvergütung nach Lebensaltersstufen im früheren Bundesangestelltentarifvertrag und zum Verhältnis von Diskriminierungsschutz und Tarifvertragsrecht, JZ 2012, 1078; Mair, Diskriminierung durch die im BAT festgelegte Vergütung nach Altersstufen und der Besitzstandswahrung bei der Überleitung in den TVöD, ZESAR 2012, 243; C. Müller/Steuernagel, Systematik der Stufenzuordnung nach § 17 IV TVöD/TV-L/TV-H, öAT 2011, 27; V. Reinecke, Stufenzuordnung bei Höhergruppierung, Höhergruppierung auf Antrag und jeweilige aktuelle tarifliche Änderungen im Bundesdienst, ZTR 2015, 3; V. Reinecke/K. Meyer/Spree, Die neue TVöD-Entgelttabelle (Bund) – Maßnahmen und Effekte der Tarifreform, ZTR 2018, 435; Spelge, Die Rechtsprechung des Sechsten Senats des Bundesarbeitsgerichts zur Entgeltgruppen- und Stufenzuordnung in den neuen Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes, ZTR 2011, 338; Spelge, Aktuelle Probleme des Rechts der Überleitung in den TVöD und TV-L sowie der Stufenzuordnung in der Rechtsprechung des Sechsten Senats des Bundesarbeitsgerichts, ZTR 2015, 175 und ZTR 2015, 243; Stach, Anrechnung einschlägiger Berufserfahrung ohne Auslandsbezug

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§ 24 Rz. 24.1

Stufenzuordnung

– Zur Vereinbarkeit von § 16 TVöD/TV-L mit der Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit, ZTR 2017, 516; Steuernagel, Anrechnung förderlicher Zeiten in TVöD/TV-L-basierten Arbeitsrechtsregelungen, ZMV 2013, 25; Vogelgesang, Die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Personalvertretungsrecht (und auch Betriebsverfassungsrecht) im Jahr 2011, ZTR 2012, 616; Wahlers, Die Mitbestimmung des Personalrats bei der Stufenzuordnung, PersV 2012, 14; Wurm, Vorsicht Stolperfallen – die Stufenzuordnung in den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes, ZfPR 2017, 20.

I. Einführung 24.1 Das Entgelt in den neuen Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes setzt sich gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 TVöD/TV-L aus zwei Komponenten zusammen: Der Entgeltgruppe, die nach § 12 TVöD/TV-L und den für die verschiedenen Tarifbereiche jeweils einschlägigen Entgeltordnungen bestimmt wird, und der (Erfahrungs-) Stufe, der die Beschäftigten bei ihrer Einstellung nach § 16 Abs. 2 TVöD/TV-L zugeordnet werden. Dabei sind die Tarifvertragsparteien davon ausgegangen, dass Beschäftigte durch die Ausübung der ihnen übertragenen Tätigkeit laufend Kenntnisse und Erfahrungen sammeln, die die Arbeitsqualität und -quantität verbessern. Der Stufenaufstieg in diesem neuen Entgeltsystem soll also die gewonnene Berufserfahrung honorieren1. Das wird dadurch deutlich, dass nach § 17 Abs. 2 Satz 1 und 2 TVöD/TV-L der Stufenaufstieg ab den Stufen 4 leistungsabhängig ausgestaltet ist2. Auf das Lebensalter kommt es nach diesem neuen System nicht mehr an. Die Entgeltstufe ist damit neben der Entgeltgruppe die „zweite Säule“ des Einkommens der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Die Regeln, nach denen sich die Stufenzuordnung richtet, haben darum erhebliche praktische Bedeutung, was die Vielzahl der dazu ergangenen Entscheidungen des BAG – inzwischen sind es deutlich mehr als 50 – erklärt.

24.2 Die Regeln zur Stufenzuordnung finden sich im TVöD, TV-L sowie im TV-H jeweils in § 16 und § 17. Dabei ist zu beachten, dass für die Tarifbereiche des Bundes (künftig: Bund) und der Vereinigung kommunaler Arbeitgeberverbände (künftig: VKA) jeweils unterschiedliche Fassungen des § 16 TVöD gelten und sich auch die Regelungen zur Stufenzuordnung nach Höhergruppierung in § 17 Abs. 4 und 4a für die VKA bzw. in Abs. 5 TVöD für den Bund deutlich unterscheiden. Die Abweichungen zwischen den tariflichen Bestimmungen zur Stufenzuordnung im TVöD für Bund bzw. VKA sowie zu dem für den Bereich der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (künftig: TdL) geltenden TV-L betreffen nicht mehr nur Details. Die Tarifnormen unterscheiden sich vielmehr inzwischen in wesentlichen Teilen grundlegend. Bei der Anwendung der Rechtsprechung zu einer bestimmten Tarifregelung auf die Regelungen in anderen Tarifverträgen ist deshalb größte Vorsicht geboten.

24.3 Im Folgenden werden die Probleme, die sich bei der Stufenzuordnung in den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes stellen, im Wesentlichen anhand der Rechtsprechung des BAG dargestellt. Dabei werden die Regelungen zur Stufenzuordnung, soweit sie sich für die einzelnen Tarifbereiche unterscheiden, getrennt kommentiert. Ausgespart wird die Stufenzuordnung

1 Vgl. BAG v. 18.10.2018 – 6 AZR 232/17 (A) Rz. 13, ZTR 2019, 18. 2 Dementsprechend sollen die leistungsbezogenen Stufenaufstiege nach der Protokollerklärung zu § 17 Abs. 2 Satz 2 TVöD bzw. der Protokollerklärung zu § 17 Abs. 2 TV-L vor allem die Anliegen der Personalentwicklung unterstützen. In der Praxis wird von dieser Möglichkeit zu wenig Gebrauch gemacht.

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Spelge

Stufenzuordnung anlässlich der Überleitung in das neue Tarifrecht

Rz. 24.4 § 24

nach den verschiedenen Tarifverträgen für die Ärzte3, ebenso die Frage der Berücksichtigung der Zeit als Arzt im Praktikum4.

II. Stufenzuordnung anlässlich der Überleitung in das neue Tarifrecht – Altersdiskriminierung im BAT § 27 BAT sah für den Tarifbereich Bund/Länder eine Grundvergütung nach Lebensaltersstufen vor. Im Tarifbereich der VKA erhielten Angestellte eine Grundvergütung, die sich im Ausgangspunkt ebenfalls am Lebensalter orientierte. Diese Vergütung verstieß gegen das Verbot der Altersdiskriminierung5, dagegen war die Überleitung in den TVöD/TV-L, die an die im BAT erreichte Lebensaltersstufe anknüpfte, mit diesem Verbot vereinbar6. Das hat nur noch rechtshistorische Bedeutung (s. dazu ausführlich die Vorauflage, Teil 8 Rz. 5–11). Soweit vereinzelt geltend gemacht wird, die Altersdiskriminierung im BAT werde in den neuen Tarifverträgen in rechtswidriger Weise perpetuiert7, ist diese Ansicht unzutreffend. Sie beruht auf der Annahme, der EuGH habe nur für eine Übergangszeit die mittelbare Fortschreibung der Vergütung aus dem BAT in den neuen Tarifverträgen hingenommen und die Altersdiskriminierung müsse in den neuen Tarifverträgen weiter abgebaut werden, zB durch Einfrieren der Gehälter älterer Beschäftigter oder eine überproportionale Anhebung der Entgelte jüngerer Beschäftigter. Der EuGH hat jedoch die Überleitungsregelungen in den TVöD als angemessen und erforderlich angesehen, weil es sich dabei um Übergangsregelungen handelt und das Entgelt nur noch bei den übergeleiteten, nicht aber mehr bei den neu eingestellten Beschäftigten im Ausgangspunkt an das Alter anknüpft. Maßgeblich für ihn war allein die langfristige Umstellung8 auf die neuen Entgeltsysteme, die als solche bereits diskriminierungsfrei sind9. Auch bei den übergeleiteten Beschäftigten entwickelt sich das Entgelt seit der Überleitung allein nach den Kriterien des neuen Tarifrechts. Die aufgrund des Überleitungsrechts zunächst noch fortbestehende Altersdiskriminierung wird deshalb durch die Einkommensentwicklung der Beschäftigten in der neuen Entgeltstruktur, insbesondere durch den Aufstieg in den Stufen 3 Vgl. zur Eingruppierung und Stufenzuordnung nach dem TV-Ärzte Hessen BAG v. 21.12.2017 – 6 AZR 863/16, ZTR 2018, 265; zur für die Stufenzuordnung nach § 19 TV-Ärzte-SMD/DRV KBS erforderlichen Zeit der fachärztlichen Tätigkeit BAG v. 27.4.2017 – 6 AZR 367/16, AP § 1 TVG Tarifverträge: Arzt Nr. 74; zur Überleitung in den TV-Ärzte VBGK BAG v. 17.3.2016 – 6 AZR 133/15, ZTR 2018, 382; zum Stufenaufstieg von Oberärzten im TV-Ärzte (VKA) BAG 12.3.2015 – 6 AZR 879/13, ZTR 2015, 320, dazu auch Spelge, ZTR 2015, 243 (252); zur Anerkennung von Vorzeiten ärztlicher Tätigkeit als „einschlägige“ Berufserfahrung im TV-Ärzte/TdL Rambach/Feldmann, ZTR 2011, 283; zur Eingruppierung von Oberärzten allgemein vgl. Zimmerling, ZTR 2012, 371; vgl. auch Spelge, ZTR 2011, 338 (343 f.). 4 S. dazu BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 382/08, NZA 2010, 588; v. 22.4.2010 – 6 AZR 484/08, ZTR 2010, 414. 5 EuGH v. 8.9.2011 – C-298/10 und C-297/10 – Hennigs, ZTR 2011, 664. 6 EuGH v. 8.9.2011 – C-297/10 und C-298/10 – Hennigs, ZTR 2011, 664; BAG v. 8.12.2011 – 6 AZR 319/09 Rz. 24, NZA 2012, 275. 7 So im Verfahren LAG Berlin-Brandenburg v. 20.6.2013 – 18 Sa 118/13, die dagegen eingelegte Revision – 6 AZR 766/13 – ist zurückgenommen worden; ferner in den Verfahren LAG Sachsen v. 30.8.2012 – 6 Sa 328/12 und LAG Berlin-Brandenburg v. 5.9.2012 – 15 Sa 815/1, die dagegen erhobenen Nichtzulassungsbeschwerden hatten keinen Erfolg: BAG v. 19.2.2013 – 6 AZN 2338/12 und v. 20.2.2013 – 6 AZN 2358/12. 8 Henssler/Kaiser, RdA 2012, 248 (251). 9 Einzelheiten s. EuGH v. 8.9.2011 – C-297/10 und C-298/10 – Hennigs, ZTR 2011, 664; BAG v. 8.12.2011 – 6 AZR 319/09 Rz. 24, NZA 2012, 275.

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24.4

§ 24 Rz. 24.4

Stufenzuordnung

und durch Höher- oder Rückgruppierungen, schrittweise abgebaut. Bei dieser Entwicklung der Beschäftigten im neuen Entgeltsystem spielt das Alter keine Rolle mehr. Darum ist es inzwischen unmöglich, beim aktuellen Entgelt eines aus dem BAT übergeleiteten Beschäftigten zu ermitteln, welcher Anteil noch auf das im BAT erreichte Alter zurückzuführen ist und welcher erst im neuen Entgeltsystem erworben worden ist. Weitere Schritte zum Abbau der Altersdiskriminierung aus dem BAT sind für die Schaffung eines diskriminierungsfreien Entgeltsystems nicht erforderlich10.

24.5 Das gilt auch, soweit Beschäftigte schon bei ihrer Überleitung einer individuellen Endstufe zugeordnet worden sind. Darin liegt nur auf den ersten Blick eine mit dem Verbot der Altersdiskriminierung nicht zu vereinbarende dauerhafte Begünstigung älterer Arbeitnehmer. Ob Beschäftigte einer individuellen Endstufe zugeordnet wurden, hing nicht zwingend von einem hohen Lebensalter ab. In diesen Stufen befanden sich nicht ausnahmslos nur die Angestellten, die bereits die höchste Lebensaltersstufe ihrer Vergütungsgruppe im BAT erreicht hatten und damit nicht typischerweise nur ältere Beschäftigte. Von der Regelung in § 6 Abs. 4 Satz 1 der Überleitungstarifverträge konnten auch deutlich jüngere Beschäftigte profitieren. Dabei kam es auch auf den individuellen Familienstand und darauf an, ob das Vergleichsentgelt wegen der Konkurrenzregelung in § 5 Abs. 2 Satz 2 der Überleitungstarifverträge unter Einbeziehung des Ortszuschlags der Stufe 1 gebildet wurde11. Vor allem aber hatten die einer individuellen Endstufe Zugeordneten bereits im BAT ein höheres Entgeltniveau erreicht, als es im neuen Entgeltsystem möglich war. Die Tarifvertragsparteien haben mit den individuellen Endstufen nur diesen tatsächlich erreichten Besitzstand gesichert. Auch wenn dieser Besitzstand nicht abgeschmolzen, sondern dynamisiert wird, richtet sich die weitere Entgeltentwicklung der begünstigten Beschäftigten allein nach den Kriterien des neuen Entgeltsystems. So werden Beschäftigte bei einer Herabgruppierung in der niedrigeren Entgeltgruppe nicht wieder einer individuellen Endstufe, sondern nur der regulären Endstufe der neuen Entgeltgruppe zugeordnet12, was erhebliche Entgeltverluste zur Folge haben kann13 (Einzelheiten s. Rz. 24.137). Desgleichen nivelliert sich der Entgeltvorteil bei Höhergruppierungen, sofern sie – wie es nach wie vor im TV-L der Fall ist – betragsbezogen erfolgen14.

24.6 Soweit die Regelung in § 8 Abs. 3 der Überleitungstarifverträge dazu geführt hat, dass Beschäftigte nach ihrer Überleitung erstmals einer individuellen Endstufe zugeordnet worden sind, beruht dies auf dem nachgeholten Bewährungsaufstieg. Dies hat mit der abgelösten Vergütung nach Lebensaltersstufen schon wegen der höchst unterschiedlichen Zeiten der geforderten Bewährung, die zwischen zwei und 15 Jahren lagen, nichts zu tun. Eine Altersdiskriminierung war damit auch sonst nicht verbunden15.

10 BAG v. 8.12.2011 – 6 AZR 319/09 Rz. 25 unter Bezug auf EuGH v. 8.9.2011 – C-297/10 und C-298/10 – Hennigs, ZTR 2011, 664, dort Rz. 96 f. 11 Vgl. das Beispiel bei Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, Stand Dezember 2007, TVÜ-Länder Rz. 185 für 39-jährige Beschäftigte der Vergütungsgruppe Vc nach Aufstieg aus VIb bzw. VIb BAT. 12 BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 753/12, ZTR 2014, 597. 13 Dieser Verlust betrug im Fall – 6 AZR 753/12 – über 600,00 t brutto monatlich. 14 Einzelheiten – auch zur Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG – Spelge, ZTR 2015, 175 (184 f.). 15 BAG 16.10.2014 – 6 AZR 661/12 Rz. 40 ff., ZTR 2015, 82.

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.8 § 24

III. Stufenzuordnung bei der Einstellung 1. Übersicht Die Stufenzuordnung bei Neueinstellungen ist in § 16 TVöD (VKA) bzw. (Bund) und § 16 24.7 TV-L, dem § 16 TV-H weitgehend entspricht (allerdings gilt dort seit dem ÄnderungsTV Nr. 13 zum TV-H vom 3.3.2017 auch die stufengleiche Höhergruppierung), äußerst differenziert geregelt. Eine Abhängigkeit der Stufenzuordnungsregeln von der Entgeltgruppe besteht allerdings auch beim Bund seit dem 1.3.2016 nicht mehr16. In allen Tarifverträgen wird nur einschlägige Berufserfahrung berücksichtigt. Beim Bund (§ 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) in der seit dem 1.3.2016 geltenden Fassung des Änderungstarifvertrags Nr. 11 v. 29.4.2016) und der TdL (§ 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L) werden dabei Beschäftigte, die schon zuvor bei demselben Arbeitgeber, d.h. beim Bund bzw. demselben Land, beschäftigt waren, bevorzugt. Ihre Berufserfahrung wird uneingeschränkt angerechnet. Ist die Berufserfahrung bei einem anderen Arbeitgeber erworben, ist dagegen auch in diesen Tarifbereichen17 ebenso wie generell im Bereich der VKA (§ 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD (VKA)) die Berücksichtigung der Berufserfahrung auf drei Jahre gedeckelt, so dass hier höchstens eine Zuordnung zur Stufe 3 erfolgen kann (zur Rechtswidrigkeit dieser Deckelung im Tarifbereich der VKA bei der Stufenzuordnung befristet Beschäftigter s. Rz. 24.21 ff., 24.27; zur Vereinbarkeit der Begünstigung von Beschäftigten, die ein neues Arbeitsverhältnis zum selben Arbeitgeber nach einer unschädlichen Unterbrechung (wieder) begründen, mit Art. 45 FreizügigkeitsVO s. Rz. 24.63 ff.). Privilegiert ist nach § 16 Abs. 3 TVöD (Bund), § 16 Abs. 2a TVöD (VKA)/TV-L ferner der unmittelbare Wechsel innerhalb des öffentlichen Dienstes. Bei einem solchen Wechsel „kann“ die erworbene Erfahrung voll berücksichtigt werden. In allen Tarifverträgen ist die Möglichkeit vorgesehen, bei Einstellungen zur Deckung des Personalbedarfs förderliche Zeiten bei der Stufenzuordnung zu berücksichtigen (§ 16 Abs. 2 Satz 3 TVöD (Bund)/(VKA); § 16 Abs. 2 Satz 4 TV-L). Schließlich kann beim Bund (§ 16 Abs. 6 TVöD (Bund) in der seit dem 1.3.2016 geltenden Fassung des Änderungstarifvertrags Nr. 11 v. 29.4.2016) und der TdL (§ 16 Abs. 5 TV-L) eine Vorweggewährung von Stufen erfolgen. Bei der VKA ist eine solche Vorweggewährung nur in der Sparte der Krankenhäuser (§ 17 Abs. 4.1 TVöD-K, entspricht § 53 BT-K) möglich. 2. Begriff der Einstellung Die Stufenzuordnung nach § 16 Abs. 2 TVöD (Bund)/TVöD (VKA) und TV-L erfolgt bei der „Einstellung“. Darunter ist jede, auch die wiederholte, Begründung eines rechtlich neuen Arbeitsverhältnisses zu verstehen18. Nach st. Rspr. des BAG liegt eine Einstellung im Tarifsinn darum auch dann vor, wenn nach Ablauf einer Befristung ein neues Arbeitsverhältnis beim selben Arbeitgeber begründet wird. Das gilt auch dann, wenn sich das neue Arbeitsverhältnis unmittelbar an das beendete Arbeitsverhältnis anschließt oder wenn ein bestehendes, befristetes Arbeitsverhältnis vor Beginn des neuen Arbeitsverhältnisses aufgehoben und ein neues 16 Seit dem Änderungstarifvertrag Nr. 11 v. 29.4.2016. 17 § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD (Bund) bzw. § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L – hiervon macht § 40 Nr. 5 TV-L eine Ausnahme für Beschäftigte an Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Bei Einstellungen in den Entgeltgruppen 13 bis 15 wird hier die Berufserfahrung grds. uneingeschränkt anerkannt, bei Einstellungen in den Entgeltgruppen 9 bis 12 unter den dort genannten Voraussetzungen. Insoweit ist die Deckelung der Stufenzuordnung aufgehoben: BAG v. 23.11.2017 – 6 AZR 33/17 Rz. 16 ff., ZTR 2018, 201. 18 BAG v. 16.4.2015 – 6 AZR 142/14 Rz. 35, ZTR 2015, 506.

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befristetes Arbeitsverhältnis mit einem anderen Befristungsgrund geschlossen wird19. Der Begriff „Einstellung“ enthält kein erstmaliges Moment. Auch aus der Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L folgt für den Bereich der TdL nichts anderes. Diese Protokollerklärung regelt lediglich die für die Stufenzuordnung unschädliche Höchstdauer einer rechtlichen Unterbrechung zwischen zwei Arbeitsverhältnissen, verlangt aber nicht, dass eine zeitliche Unterbrechung vorgelegen haben muss20. Die Tarifvertragsparteien hätten deshalb, etwa durch die Verwendung des Begriffs „Ersteinstellung“ oder „Neueinstellung“, deutlich machen müssen, wenn sie zwischen erstmaliger Einstellung und Wiedereinstellungen hätten differenzieren wollen und nur die Stufenzuordnung bei der ersten Einstellung nach den Regelungen in § 16 Abs. 2 bzw. 3 TVöD und TV-L erfolgen sollte21. Dagegen wird eingewandt, der Begriff der „Einstellung“ müsse im funktionalen Zusammenhang gedeutet werden und deshalb sei jedenfalls bei ununterbrochenem Anschluss eines erneuten Arbeitsverhältnisses keine erneute Stufenzuordnung vorzunehmen, sondern das Arbeitsverhältnis als einheitliches, fortgesetztes Arbeitsverhältnis zu behandeln22. Dies wird jedoch dem Bedeutungsgehalt des Begriffs im tariflichen Regelungszusammenhang nicht gerecht. Die Tarifvertragsparteien des TV-L haben durch § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie eine Stufenzuordnung bei jeder erneuten Einstellung auch dann für erforderlich ansehen, wenn zuvor bereits ein befristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat. Anders ist die Anordnung, die einschlägige Berufserfahrung „aus einem vorherigen befristeten oder unbefristeten Arbeitsverhältnis“ anzurechnen, nicht zu verstehen. Eine Ausnahme für nahtlos an eine Befristung anschließende Arbeitsverhältnisse haben die Tarifvertragsparteien gerade nicht vorgesehen. Anhaltspunkte dafür, dass die Tarifvertragsparteien des TVöD (VKA und Bund) den Begriff der Einstellung anders als die TdL verstehen wollten, gibt es nicht. Im Gegenteil spricht der Umstand, dass in § 16 Abs. 2 Satz 3 TVöD die Möglichkeit vorgesehen ist, bei „Neueinstellungen“ förderliche Zeiten zu berücksichtigen, während in § 16 Abs. 2 Satz 1 und 2 TVöD der umfassendere Begriff der „Einstellung“ verwendet wird, dafür, dass auch im Bereich der VKA mit § 16 Abs. 2 Satz 1 und 2 ebenfalls der Fall der wiederholten Einstellung nach einer Befristung geregelt werden sollte. Zudem würde die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen bei kurzen Unterbrechungen zwischen den Arbeitsverhältnissen noch ein „ununterbrochener Anschluss“ vorliegen kann, zu Auseinandersetzungen und damit zu Rechtsunsicherheit führen23.

24.9 Keine Einstellung liegt vor, wenn das Arbeitsverhältnis im Wege des Betriebsübergangs auf einen Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes übergeht24. Der Betriebsübergang führt nur zu einem gesetzlich angeordneten Schuldnerwechsel. Das bereits mit dem bisherigen Arbeitgeber bestehende Arbeitsverhältnis bleibt unverändert. Es fehlt damit an der für eine Einstellung im tariflichen Sinn erforderlichen Begründung eines Arbeitsverhältnisses. Insoweit besteht in den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes eine Regelungslücke. Diese kann im Normalfall eines Betriebsübergangs auf einen öffentlichen Arbeitgeber nicht geschlossen werden. Zur Wahrung der Tarifautonomie25 ist es den Gerichten untersagt, Lücken, die die Tarifvertragsparteien be19 BAG v. 21.12.2017 – 6 AZR 245/16 Rz. 29, AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 8. 20 BAG v. 17.12.2015 – 6 AZR 432/14 Rz. 20, ZTR 2016, 193. 21 BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 9 ff., ZTR 2013, 308; zuletzt BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 836/16 Rz. 14, ZTR 2019, 90. 22 Fieberg in Fürst, GKÖD, Teil E § 16 TVöD/TV-L Rz. 16a, Rz. 16d. 23 BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11 Rz. 17, ZTR 2014, 80; Einzelheiten s. auch Spelge, ZTR 2015, 243 (244). 24 BAG v. 16.4.2015 – 6 AZR 142/14 Rz. 34 ff., ZTR 2015, 506. 25 Zur Bedeutung der Tarifautonomie bei der Auslegung und Inhaltskontrolle von Tarifnormen ausführlich Spelge, ZTR 2011, 338 (339 f.); Spelge, ZTR 2017, 267 (267 f.).

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wusst gelassen haben, zu schließen. Aus demselben Grund dürfen Gerichte unbewusste Regelungslücken nur schließen, wenn es lediglich eine einzige Möglichkeit gibt, die Lücke zu beseitigen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn nur eine einzige rechtskonforme Möglichkeit zur Regelung der Konstellation besteht. Bleibt den Tarifvertragsparteien ein Regelungsspielraum, liegt es allein an ihnen, ob und wie sie die Lücke schließen wollen26. Die Tarifvertragsparteien haben verschiedene Möglichkeiten, ob und wie sie die Beschäftigungszeiten bei einem privaten Arbeitgeber, von dem das Arbeitsverhältnis auf einen öffentlichen Arbeitgeber übergeht, bei der Stufenzuordnung berücksichtigen. Sie dürfen grds. die Berufserfahrung, die außerhalb des öffentlichen Dienstes erworben worden ist, geringer gewichten27. Allerdings müssen sie dabei die durch höherrangiges Recht gezogenen Grenzen, insbesondere Diskriminierungsverbote, beachten28. Dabei steht § 613a BGB einer Regelung, die die bei dem anderen Arbeitgeber erworbene Berufserfahrung nicht uneingeschränkt berücksichtigt, nicht entgegen29. Dieser Vorschrift bzw. der Betriebsübergangsrichtlinie, die durch § 613a BGB umgesetzt wird, ist kein grundsätzliches Verschlechterungsverbot zu entnehmen30. Auch Art. 3 GG schreibt die uneingeschränkte Berücksichtigung der beim Veräußerer erworbenen Berufserfahrung nicht vor31. Angesichts des damit bestehenden Regelungsspielraums der Tarifvertragsparteien kann die Regelungslücke im Normalfall von den Arbeitsgerichten nicht geschlossen werden32. Eine Ausnahme gilt allerdings dann, wenn das Arbeitsverhältnis gemäß § 6c Abs. 1 Satz 1 24.10 SGB II von der Bundesagentur für Arbeit gesetzlich auf die Optionskommune übergegangen ist. Dieser Übergang ist verfassungskonform33. Die insoweit unbewusste Regelungslücke kann nur dadurch geschlossen werden, dass die in der Tätigkeit in der Grundsicherung bei der Bundesagentur erworbene Berufserfahrung im Rahmen der von der Kommune vorzunehmenden Stufenzuordnung uneingeschränkt anerkannt wird. Darum sind auch angebrochene Stufenlaufzeiten voll zu berücksichtigen34. Insoweit ist allerdings keine fiktive Überleitung der früheren Beschäftigten der Bundesagentur in den TVöD vorzunehmen. Diese Beschäftigten sind vielmehr ausschließlich bei der Stufenzuordnung so zu stellen, als seien sie schon während der gesamten Zeit ihrer Tätigkeit in der Grundsicherung bei der Kommune beschäftigt worden. Zu berücksichtigen sind dabei grds. nur die Zeiten, in denen die Tätigkeiten in der Grundsicherung tatsächlich ausgeübt worden sind. Unschädlich sind allerdings die von § 17 Abs. 3 TVöD erfassten Unterbrechungen35. Der neue Arbeitgeber muss also zunächst die übernommenen Beschäftigten nach den Eingruppierungskriterien des BAT – bzw. seit Inkrafttreten der Entgeltordnung (EGO) nach deren Kriterien – eingruppieren. Bei der dann erforderlichen Stufenzuordnung in der gefundenen Entgeltgruppe muss er die Berufserfahrung berücksichtigen, die die übernommenen Beschäftigten – unter Berücksichtigung von Unterbrechungen, die nach § 17 Abs. 3 TVöD auf die Stufenlaufzeit anzurechnen sind – in 26 27 28 29 30 31 32 33

BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 512/12 Rz. 59, ZTR 2014, 85. BAG v. 16.4.2015 – 6 AZR 142/14 Rz. 39, ZTR 2015, 506. BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 512/12 Rz. 60, ZTR 2014, 85. BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 512/12 Rz. 41 ff., ZTR 2014, 85. BAG v. 12.6.2019 – 1 AZR 154/17 Rz. 91 ff.; v. 23.1.2019 – 4 AZR 445/17 Rz. 44. BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 512/12 Rz. 40, ZTR 2014, 85. BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 512/12 Rz. 60, ZTR 2014, 85. BAG v. 31.1.2019 – 8 AZR 410/13 Rz. 72 ff.; die eine andere Ansicht vertretende Vorlage nach Art. 100 GG – BAG v. 26.9.2013 – 8 AZR 775/12 (A) – ist vom BVerfG als unzulässig verworfen worden: BVerfG v. 21.3.2018 – 1 BvL 1/14, ZTR 2018, 287. 34 BAG v. 16.4.2015 – 6 AZR 142/14 Rz. 38 ff., ZTR 2015, 506. 35 BAG v. 17.3.2016 – 6 AZR 96/15 Rz. 31, ZTR 2016, 377.

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der Grundsicherung erworben haben. Er muss sie anhand dieser Erfahrung in die Skala des § 16 Abs. 3 TVöD einordnen, wobei er „angebrochene“ Stufenlaufzeiten ebenfalls berücksichtigen muss. Eine Zuordnung des Beschäftigten zu einer individuellen Endstufe scheidet damit aus. Auch individuelle Zwischenstufen sind nicht zu bilden. Etwaige verbleibende Differenzen gegenüber dem von der BA gezahlten Entgelt sind allein durch die Ausgleichszulage abzudecken36. 3. Kriterien der Zuordnung zu den Stufen a) Stufenstruktur aa) Grundsätze

24.11 Die Entgeltgruppe 1 umfasst in allen Tarifbereichen fünf Stufen. Die Einstellung erfolgt zwingend in der Stufe 2. Die Stufenlaufzeit beträgt in allen Stufen einheitlich 4 Jahre, kann aber ab der Stufe 4 gemäß § 17 Abs. 2 leistungsabhängig verlängert bzw. verkürzt werden37.

24.12 Die Entgeltgruppen 2 bis 15 umfassen inzwischen in allen Tarifbereichen sechs Stufen. Als letzter Tarifbereich hat auch die TdL in den Entgeltgruppen 9 bis 15 mit Wirkung zum 1.1.2018 eine sechste Stufe eingeführt38. Eine Systematik der diesen Stufen zugeordneten Beträge besteht nicht39. Insbesondere gibt es keine einheitlichen „Stufengewinne“, weil die Entgelttabellen nicht mathematisch aufgebaut sind40. Vielmehr waren diese Beträge bei Einführung des neuen Tarifrechts „gegriffen“41. Lediglich die Stufe 1 war durch einen systematischen Abschlag von 10 % gebildet. Durch die weitere Tarifentwicklung42 entstanden endgültig systematische Verwerfungen in der Tabellenstruktur, die immer häufiger jedenfalls vorläufige Entgeltnachteile bei Beförderungen zur Folge hatten, wenn diese kurz vor Vollendung der für einen Stufenaufstieg in der bisherigen Entgeltgruppe erforderlichen Stufenlaufzeit erfolgten. Höhergruppierungen wurden dadurch oft unattraktiv43. Die Tarifvertragsparteien des TVöD versuchen dem durch eine in der Tarifrunde 2018 vereinbarte Tabellenreform entgegenzuwirken. Durch die Anhebung des Eingangsentgelts der Stufe 1 um rund 10 % in allen Entgeltgruppen sollen Berufsanfänger leichter angeworben werden können; durch eine überdurchschnittliche Erhöhung des Entgelts bis zur Stufe 4 in den Entgeltgruppen 9b bis 15 wird der Nivellierung der Vergütung im öffentlichen Dienst, die in den Jahren seit 2005 durch die überproportionalen Entgeltsteigerungen in den für die Gewerkschaften interessanten Entgeltgruppen 1 bis 9a erfolgt ist, entgegengewirkt, um so die Gewinnung von Fachkräften aus der 36 BAG v. 17.3.2016 – 6 AZR 96/15 Rz. 28, ZTR 2016, 377. 37 § 16 Abs. 4 TVöD (VKA)/TV-L bzw. § 16 Abs. 5 TVöD (Bund). 38 Durch den Änderungstarifvertrag Nr. 10 zum TV-L v. 7.11.2017. Beim Bund gab es bereits auf der Grundlage des Änderungstarifvertrags Nr. 11 v. 29.4.2016 sechs Stufen auch in den Entgeltgruppen 9-15. 39 Vgl. BAG v. 8.12.2011 – 6 AZR 319/09 Rz. 31, ZTR 2012, 153. 40 Einzelheiten zu den in 2015 bestehenden Spannenverhältnissen zwischen den einzelnen Stufen der Tabellen Fieberg in Fürst, GKÖD Band IV, Stand Mai 2014, E § 16 Rz. 10; vgl. auch Reinecke/ Meyer/Spree, ZTR 2018, 435. 41 Einzelheiten zur Findung der Tabellenbeträge im TVöD s. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD Stand November 2018, § 15 TVöD Rz. 96 ff.; im TV-L s. Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L Stand April 2016, § 15 TV-L Rz. 79 ff. 42 Zur Entwicklung im TVöD s. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD Stand November 2018, § 15 TVöD Rz. 60 ff.; im TV-L s. Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L Stand April 2016, § 15 TVöD Rz. 44 ff. 43 Vgl. das Beispiel bei Reinecke/Meyer/Spree, ZTR 2018, 435.

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Rz. 24.14 § 24

Privatwirtschaft zu erleichtern. Schließlich sollen die strukturellen Nachteile der Entgelttabelle durch Systematisierung und Annäherung der horizontalen Abstände innerhalb der einzelnen Entgeltgruppen und der vertikalen Abstände zwischen den Entgeltgruppen abgemildert werden, was jedoch zwischen den Entgeltgruppen 9b bis 12 erst teilweise erreicht ist44. Die Tabellenbeträge von Bund und VKA stimmen seit dem Änderungstarifvertrag Nr. 16 vom 18.4.2018 bis auf die Entgeltgruppen 9 a–c, die bei der VKA höher vergütet sind, überein. Im Tarifbereich der Länder sind mit der Tarifrunde 2019 ebenfalls strukturelle Verbesserungen, insbesondere für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst sowie der Pflege, vereinbart worden. bb) Besondere Beschäftigtengruppen Im Bereich der VKA gilt für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst eine eigene 24.13 Stufenzuordnungsregelung, die sich in § 1 Abs. 2 der Anlage zu § 56 (VKA) BT-V bzw. in § 15 Abs. 2, § 16 Abs. 2.1., Abs. 3.1 und Abs. 4.1 der Durchgeschriebenen Fassung des TVöD für den Bereich Verwaltung im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (TVöD-V), die den TVöD-AT und den für die Sparte Verwaltung vereinbarten Besonderen Teil des TVöD zusammenfasst, findet. Danach sind die Laufzeiten in den Stufen 3 und 4 generell sowie für bestimmte Beschäftige der Entgeltgruppe S 8b die Laufzeiten der Stufen 4 und 6 verlängert. Zudem ist für bestimmte Beschäftigte der Entgeltgruppen S 4 und S 8 die Stufe 4 die Endstufe. Für Pflegekräfte ist gemäß § 16 Abs. 2.1 TVöD-K = § 52 Abs. 2 BT-K für die Beschäftigten der Entgeltgruppen P 7 bis 16 Eingangsstufe die Stufe 2. Die Stufenlaufzeit für die Entgeltgruppe P 7 und 8 beträgt in der Stufe 2 gemäß § 16 Abs. 3.3 TVöD-K = § 52 Abs. 3 BT-K drei Jahre.Sonderregelungen für die Beschäftigten in Pflege- und Betreuungseinrichtungen finden sich in § 16 Abs. 2.1, Abs. 2.2., Abs. 3.1, Abs. 3.2 und Abs. 4.1 TVöD-B = § 52 Abs. 2 BT-B. Dagegen sind mit der Tarifeinigung vom 18.4.2018 die Stufenbegrenzungen in den Entgeltgruppen 2 und 9a auf die Stufe 5 bzw. 4 für bestimmte handwerkliche Tätigkeiten mit Wirkung zum 1.3.2018 ebenso entfallen wie die verlängerte Stufenlaufzeit von sieben Jahren in der Stufe 3 der Entgeltgruppe 9a. Insoweit gilt durchgehend die Stufenlaufzeit gemäß § 16 Abs. 3 TVöD (VKA). Eine gesonderte Überleitungsregelung ist nicht getroffen. Das hat zur Folge, dass alle Beschäftigten, die in der Stufe 5 der Entgeltgruppe 2 mindestens fünf Jahre bzw. in der Stufe 4 der Entgeltgruppen 2 und 9a mindestens vier Jahre zurückgelegt haben und bei denen keine Gründe für eine leistungsabhängige Verlängerung der Stufenlaufzeit vorliegen, am 1.3.2018 in die Stufe 6 (EG 2) bzw. 5 (EG 9a) aufstiegen. Mit dem 1.3.2018 begann in der Stufe 6 bzw. 5 dann die reguläre Stufenlaufzeit. Mangels abweichender Regelung der Tarifvertragsparteien muss diese für den Aufstieg in die Stufe 6 der Entgeltgruppe 9a auch dann voll durchlaufen werden, wenn sich der Beschäftigte wegen der Stufenbegrenzung bereits länger als vier Jahre in der Stufe 4 befand. Dementsprechend stiegen Beschäftigte, die in der Entgeltgruppe 9a in der Stufe 3 mindestens drei Jahre zurückgelegt hatten, am 1.3.2018 in die Stufe 4 auf. Dort begann die Stufenlaufzeit neu. Im Bereich der TdL finden sich besondere Stufenregelungen für die Beschäftigten an Hochschulen und Forschungseinrichtungen der Entgeltgruppen 9-15 in § 40 Nr. 5 Ziffer 1 TV-L (s. dazu Rz. 24.7 in Fn. 17), für Lehrer in § 44 Nr. 2a TV-L sowie im Bereich des Bundes in § 46 Nr. 22 TVöD-BT-V (Bund) für Beschäftigte in Krankenhäusern des Bundes. Nach der

44 Einzelheiten bei Reinecke/Meyer/Spree, ZTR 2018, 435; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD Stand 11/2018, § 15 TVöD Rz. 78.3 ff.

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24.14

§ 24 Rz. 24.14

Stufenzuordnung

Protokollerklärung Nr. 4 zu § 16 Abs. 2 TV-L45 ist mit Wirkung seit dem 1.3.2017 bei Einstellungen in die sog. „kleine“ Entgeltgruppe 9 eine einschlägige Berufserfahrung von mindestens sechs Jahren für eine Zuordnung zur Stufe 3 erforderlich, um den Gleichlauf mit den Bestandsbeschäftigten zu sichern46. b) Vorliegen einschlägiger Berufserfahrung aa) Zwingende Berücksichtigung einschlägiger Berufserfahrung

24.15 Besitzt ein Beschäftigter bei seiner Einstellung einschlägige Berufserfahrung, dann muss diese vom Arbeitgeber zwingend berücksichtigt werden. Diesem kommt dabei kein Ermessen zu. Das folgt aus der Formulierung „Verfügen Beschäftigte über eine einschlägige Berufserfahrung, … erfolgt die Stufenzuordnung …“. Es handelt sich um einen Akt der Rechtsanwendung, der einer uneingeschränkten Rechtskontrolle durch die Arbeitsgerichte unterliegt (Einzelheiten in Rz. 24.155). Hat sich der Arbeitgeber über das Vorliegen einschlägiger Berufserfahrung geirrt, weil er unzutreffende Tatsachen und/oder eine objektiv unzutreffende rechtliche Bewertung zugrunde gelegt hat, kann er die Stufenzuordnung durch einseitige Rückstufung korrigieren47 (Einzelheiten in Rz. 24.67, 24.136). Der zwingende Charakter gilt grds. auch für die Zuordnung zur Stufe 3 nach § 16 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 TVöD (VKA) und (Bund), obwohl dort – im Unterschied zu § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L – die Einschränkung „in der Regel“ enthalten ist. Auch insoweit ist dem Arbeitgeber kein Ermessen eingeräumt, ob er den Beschäftigten einer niedrigeren Stufe zuordnen will. Er darf vielmehr nur prüfen, ob ein atypischer Fall vorliegt, der eine Abweichung von der Regelzuordnung zur Stufe 3 rechtfertigt. Typischerweise muss – und wird – er die Zuordnung zur Stufe 3 vorzunehmen48. Eine Abweichung kommt dabei nur nach unten, also zur Stufe 1 oder 2, in Betracht. § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD „deckelt“ die Zuordnung auf die Stufe 349. Hätten die Tarifvertragsparteien die Zuordnung zu höheren Stufen als der Stufe 3 schon nach § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD eröffnen wollen, hätten sie formulieren müssen: „Verfügen Beschäftigte über eine einschlägige Berufserfahrung von mindestens drei Jahren, erfolgt bei Einstellung eine Zuordnung nach der Staffel des § 16 Abs. 350“. Dadurch, dass sie nur auf die Stufe 3 Bezug genommen haben, haben sie deutlich gemacht, dass sie auch bei Berufserfahrung von mehr als drei Jahren höchstens die Zuordnung zur Stufe 3 eröffnen wollen. Die gewollte Begrenzung folgt zudem aus der Tarifgeschichte: In der 2005 vereinbarten Fassung des TVöD war § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD noch wie folgt gefasst: „Verfügt die/der Beschäftigte über eine einschlägige Berufserfahrung von mindestens einem Jahr, erfolgt die Einstellung in die Stufe 2; verfügt sie/er über eine einschlägige Berufserfahrung von mindestens drei Jahren, erfolgt bei Einstellung nach dem 31.12.2008 in der Regel eine Zuordnung zur Stufe 3“. Durch die Begrenzung auf die Stufe 2 sollten stichtagsbezogene Verwerfungen zwischen übergeleiteten Beschäftigten und Neueinstellungen weitestgehend ausgeschlossen werden51. Neueingestellte sollten nicht höher eingestuft werden als übergeleitete Altbeschäftigte. Zu den von den Tarifvertragsparteien befürchteten Verwerfungen kommt es aber auch nach dem 31. Dezember 2008 noch, wenn „Externe“ gleich bei ihrer 45 46 47 48

Eingefügt durch Änderungstarifvertrag Nr. 9 zum TV-L vom 17.2.2017. Zur Verfassungsmäßigkeit der Altregelung BAG v. 21.12.2017 – 6 AZR 790/16, ZTR 2018, 261. BAG v. 5.6.2014 – 6 AZR 1008/12 Rz. 15, ZTR 2014, 530. Vgl. BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1067/12 Rz. 33, ZTR 2014, 594; BVerwG v. 7.3.2012 – 6 P 15.10 Rz. 41, ZTR 2011, 385. 49 Vgl. BAG v. 16.4.2015 – 6 AZR 142/14 Rz. 47, ZTR 2015, 506. 50 Im TVöD (VKA); im TVöD (Bund) hätte auf § 16 Abs. 4 verwiesen werden müssen. 51 BeckOK TVöD/Felix, Stand 1.3.2019, § 16 TVöD (VKA) Rz. 73.

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.17 § 24

Einstellung aufgrund ihrer bei anderen Arbeitgebern erworbenen Erfahrung an der Mehrzahl der bereits Beschäftigten vorbeiziehen. Endgültige Klarheit über den Willen der Tarifvertragsparteien hat die Einfügung des § 16 Abs. 2a TVöD (VKA) bzw. § 16 Abs. 3 TVöD (Bund) im Jahr 2008 gebracht. Höhere Zuordnungen als zur Stufe 3 eröffnen diese Vorschriften nur als „Kann“-Bestimmung (Einzelheiten in Rz. 24.81 ff.). Das machte keinen Sinn, wenn bereits § 16 Abs. 2 TVöD eine Zuordnung zu höheren Stufen zuließe. Zuordnungen zu höheren Stufen als der Stufe 3 sind in den Tarifbereichen des Bundes und der VKA tariflich also nur im Rahmen der „Kann“-Bestimmungen des § 16 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 2a TVöD (VKA) bzw. § 16 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 TVöD (Bund) sowie bei vorherigen Arbeitsverhältnissen zum Bund nach § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) – in diesem Fall wieder zwingend! – möglich52. Höhere Stufenzuordnungen kommen insoweit nur aufgrund der Vorgaben höherrangigen Rechts in Betracht. Das ist insbesondere bei der „horizontalen“ Wiedereinstellung von zuvor befristet Beschäftigten der Fall53 (Einzelheiten in Rz. 24.23 ff.). bb) Grundregel und Zweck Was die Tarifvertragsparteien unter „einschlägiger Berufserfahrung“ verstehen, ist nur für die Tarifbereiche des Bundes und der Länder in den Protokollerklärungen Nr. 1 zu § 16 Abs. 2 TVöD (Bund) bzw. zu § 16 Abs. 2 TV-L definiert. Danach ist einschlägige Berufserfahrung die berufliche Erfahrung in der übertragenen oder einer auf die Aufgabe bezogenen entsprechenden Tätigkeit. Das BAG hatte bisher keine Gelegenheit, durch eine Grundsatzentscheidung zu klären, wann einschlägige Berufserfahrung vorliegt. Es hat stets nur punktuell einzelne Aspekte ansprechen können. In der Summe ergeben sich daraus folgende Voraussetzungen, die auch für den Tarifbereich der VKA gelten, weil sich diese Voraussetzungen aus dem Begriff der „einschlägigen Berufserfahrung“ und dem damit verfolgten Zweck und nicht den Protokollerklärungen ergeben:

24.16

Die höhere Stufenzuordnung bei vorhandener einschlägiger Berufserfahrung soll bereits erworbene Berufserfahrung bei der Einstellung finanziell honorieren, weil sie Einarbeitungszeit erspart und ein höheres Leistungsvermögen des Beschäftigten erwarten lässt (zum Zweck des Stufensystems generell s. Rz. 24.1). Diese Ziele können nur erreicht werden, wenn die in der Vorbeschäftigung erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten den Beschäftigten in die Lage versetzen, die von ihm nach der Einstellung auszuübende Tätigkeit nur nach einer Einweisung, also ohne nennenswerte Einarbeitungszeit, auszufüllen54. Der Beschäftigte muss in der früheren Tätigkeit einen Kenntnis- und Fähigkeitszuwachs erlangt haben, der für die nach der Einstellung konkret auszuübende Tätigkeit erforderlich und prägend ist und damit sowohl ihm als auch dem Arbeitgeber in der neuen Tätigkeit weiterhin zugute kommt. Maßgebend ist die mit der neuen Tätigkeit konkret verbundene Aufgabe. Das setzt voraus, dass die Vorbeschäftigung qualitativ im Wesentlichen die inhaltliche Breite der aktuellen Beschäftigung abdeckte55, die frühere Tätigkeit also im Wesentlichen unverändert fortgesetzt wird oder zumindest gleichartig war. Der Beschäftigte muss die Berufserfahrung grds. in einer Tätigkeit erlangt haben, die in ihrer eingruppierungsrechtlichen Wertigkeit der Tätigkeit ent-

24.17

52 Offengelassen von BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1067/12 Rz. 33, ZTR 2014, 594; v. 12.9.2013 – 6 AZR 512/12 Rz. 49, ZTR 2014, 85; für die Möglichkeit zur Zuordnung zu höheren Stufen VG Frankfurt/Main v. 1.3.2010 – 23 K 4011/09 F-PV Rz. 29, ZTR 2010, 271; BeckOK TVöD/Felix, Stand 1.3.2019, § 16 TVöD (VKA) Rz. 74. 53 BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 836/16 Rz. 25 ff., ZTR 2019, 90. 54 BAG in st.Rspr., zuletzt zum mit § 16 Abs. 2 TVöD (Bund) inhaltsgleichen § 16 Abs. 2 TVTgDRV BAG v. 17.1.2019 – 6 AZR 585/17 Rz. 11, ZTR 2019, 283. 55 BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1088/12 Rz. 22, ZTR 2014, 600.

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§ 24 Rz. 24.17

Stufenzuordnung

spricht, auf die die Bewerbung erfolgt56. Dabei kommt es allerdings nicht auf die formale Bewertung der Tätigkeit durch den früheren Arbeitgeber, sondern allein auf die entgeltrechtlich zutreffende Bewertung an57. Jedem mit Eingruppierungsklagen Befassten ist bekannt, dass sich die Eingruppierung auch bei gleichwertigen Tätigkeiten bei den verschiedenen öffentlichen Arbeitgebern, aber auch beim selben Arbeitgeber, oft erheblich unterscheidet58.

24.18 Diese Anforderungen implizieren, dass Zeiten in niedriger bewerteten Tätigkeiten keine einschlägige Berufserfahrung vermitteln können59. Zum Erwerb einschlägiger Berufserfahrung in höher bewerteten Tätigkeiten Rz. 24.44. Zeiten des Ausbildungsverhältnisses können nur in den durch die Protokollerklärungen zu § 16 TVöD/TV-L60 geregelten Fällen berücksichtigt werden. Eine Sonderregelung haben die Tarifvertragsparteien des TV-L in § 44 Nr. 2a Ziff. 2 TV-L für die ab dem 1.3.2009 neu eingestellten Lehrkräfte getroffen. Bei diesen werden sechs Monate des Referendariats auf die Stufenlaufzeit der Stufe 1 angerechnet. Alle übrigen Zeiten der Ausbildung sind von den Tarifvertragsparteien nicht als geeignet für den Erwerb einschlägiger Berufserfahrung angesehen worden. Das gilt auch dann, wenn die Ausbildung im Einstellungsbetrieb absolviert worden ist61 oder es sich um einen berufspraktischen Studienteil62 handelt. Das ist konsequent: Der Erwerb von Berufserfahrung setzt voraus, dass die Tätigkeit in einem Beruf ausgeübt wird. Ausbildungszeiten bereiten auf den Beruf aber erst vor, sind diesem also zeitlich vorgelagert und können deshalb nicht gleichzeitig Erfahrung im Beruf vermitteln63. Zur fehlenden Berücksichtigungsmöglichkeit als „förderliche“ Zeit s. Rz. 24.72.

24.19 Ungeklärt ist noch, ob einschlägige Berufserfahrung vorliegt, wenn sich nur Teilbereiche der alten und neuen Tätigkeit entsprechen. Das ist in entsprechender Anwendung der Regelung in § 12 Abs. 2 Satz 2 TVöD (Bund)/VKA bzw. § 12 Abs. 1 Satz 4 TV-L zu bejahen, wenn der für die aktuelle Eingruppierung weiterhin maßgebliche Tätigkeitsanteil der bisherigen Tätigkeit dem Beschäftigten die erforderliche einschlägige Berufserfahrung vermittelt hat64, der Beschäftigte diesen Teil der Tätigkeit also weiterhin ausübt.

24.20 Bei Beschäftigten, die aus der Privatwirtschaft mit deren von den Entgeltordnungen des öffentlichen Dienstes teils erheblich abweichenden Entgeltsystemen in den öffentlichen Dienst wechseln, ist entscheidend, ob sich das Anforderungsprofil der bisherigen und der neuen

56 BAG v. 8.5.2014 – 6 AZR 578/12 Rz. 19 f., NZA-RR 2014, 478 (für den TV-BA v. 28.3.2006 idF des 8. Änderungstarifvertrags); v. 20.9.2012 – 6 AZR 211/11 Rz. 23, ZTR 2013, 35. 57 BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11 Rz. 20, ZTR 2014, 80. 58 Auf Gleichbehandlung mit anders eingruppierten Beschäftigten gestützte Eingruppierungsbegehren werden stets unter Hinweis auf den nicht bestehenden Anspruch auf eine Gleichbehandlung im Unrecht abgewiesen, vgl. nur BAG v. 26.8.1998 – 4 AZR 305/97. 59 BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11 Rz. 20, ZTR 2014, 80. 60 Protokollerklärung Nr. 2 zu § 16 Abs. 2 TVöD (Bund); Protokollerklärung zu § 16 Abs. 2 TVöD (VKA); Protokollerklärung Nr. 2 zu § 16 Abs. 2 TV-L. 61 AA BeckOK TV-L/Felix, § 16 TV-L Rz. 128 f. 62 Zum mit § 16 Abs. 2 TVöD (Bund) inhaltsgleichen § 16 Abs. 2 TV-TgDRV BAG v. 17.1.2019 – 6 AZR 585/17 Rz. 13, ZTR 2019, 283. 63 Vgl. BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 382/08 Rz. 20, ZTR 2010, 142. 64 Boemke/Sachadae, PersV 2008, 324 (330); Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L Stand November 2017, § 16 TV-L Rz. 46; Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L Stand Juli 2016, § 16 TV-L Rz. 43; aA Sponer/Steinherr/Günther, TVöD Stand Mai 2015, § 16 TVöD (Bund) Rz. 12: Mindestens die Hälfte der prägenden Tätigkeitsmerkmale müssen sich gleichen.

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.23 § 24

Tätigkeit entsprechen65. Aufgabenzuschnitt und Wertigkeitsniveau müssen vergleichbar sein. cc) Sonderfall: Wiederholte Einstellung befristet Beschäftigter Im öffentlichen Dienst ist eine erhebliche Anzahl Beschäftigter befristet beschäftigt. Im Jahr 24.21 2017 standen rund 15 % aller Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in befristeten Arbeitsverhältnissen, wobei der Anteil in den verschiedenen Tarifbereichen sehr unterschiedlich ist: während beim Bund rund 16 % und bei den Kommunen rund 7,5 % aller Arbeitnehmer befristet tätig waren, lag dieser Anteil bei den Ländern bei rund 27 %, wovon ein erheblicher Anteil auf den Hochschulbereich entfällt66. Im Vergleich zu den Jahren 2010 und 201167 ist damit der Anteil der befristet Beschäftigten nicht gesunken und im Bereich des Bundes sogar gestiegen. Ein nicht unerheblicher Anteil dieser Beschäftigten ist langjährig immer wieder befristet für denselben Arbeitgeber tätig. Das zeigen die Fälle, in denen die Beschäftigten den Missbrauch des Befristungsrechts rügen: so war im Fall Kücük68 die Klägerin mehr als elf Jahre mit insgesamt 13 befristeten Arbeitsverträgen auf demselben Arbeitsplatz tätig. In dem der Entscheidung des BAG v. 13.2.201369 zugrunde liegenden Fall war eine Lehrerin sechseinhalb Jahre mit ebenfalls 13 befristeten Verträgen beschäftigt, in dem der Entscheidung des BAG v. 6.9.201870 zugrundeliegenden Fall war die Klägerin über 12 Jahre hinweg in vier befristeten Arbeitsverhältnissen beschäftigt worden. Die Stufenzuordnung befristet Beschäftigter bei ihrer wiederholten Einstellung durch ihren bisherigen Arbeitgeber hat also besondere Relevanz. § 4 Abs. 2 TzBfG verbietet es, befristet Beschäftigte wegen der Befristung zu benachteiligen. Insbesondere schreibt § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG vor, dass für befristet Beschäftigte dieselben Zeiten wie für unbefristet Tätige zu berücksichtigen sind, wenn einzelne Beschäftigungsbedingungen von der Dauer des Bestehens in demselben Betrieb abhängen. Bei Entgeltansprüchen, die von zurückzulegenden Beschäftigungszeiten abhängen, müssen deshalb für befristet und unbefristet Beschäftigte dieselben Zeiten berücksichtigt werden71. Das bedingt die uneingeschränkte Berücksichtigung der bei demselben Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrung, sofern es sich um eine sog. „horizontale“ Wiedereinstellung handelt72. Dagegen bleibt bei „vertikalen“ Wiedereinstellungen jedenfalls bei Höhergruppierungsregelungen, die betragsbezogen ausgestaltet sind, die in befristeten Arbeitsverhältnissen erworbene einschlägige Berufserfahrung außer Betracht.

24.22

(1) Rechtslage bei „horizontalen“ Wiedereinstellungen Eine „horizontale“ Wiedereinstellung liegt vor, wenn zuvor befristet Beschäftigte von ihrem 24.23 bisherigen Arbeitgeber für dieselbe oder eine gleichwertige Tätigkeit wieder eingestellt werden73. Wird bei einer solchen Wiedereinstellung die in den befristeten Arbeitsverhältnissen erworbene einschlägige Berufserfahrung nicht uneingeschränkt berücksichtigt, hätte das zur 65 Boemke/Sawadae, PersV 2008, 324 (329). 66 Zahlen für 2017, Statistisches Bundesamt Fachserie 14 Reihe 6 Finanzen und Steuern, Personal des öffentlichen Dienstes, v. 13.8.2011, S. 25, 77. 67 S. dazu die Vorauflage, Teil 8 Rz. 47. 68 BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, ArbRB 2013, 4 = ZTR 2013, 41. 69 BAG v. 13.2.2013 – 7 AZR 225/11, ZTR 2013, 455. 70 BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 836/16, ZTR 2019, 90. 71 BT-Drucks. 14/4374, S. 16. 72 BAG in st. Rspr. seit Urteil v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 21 ff., ZTR 2013, 308. 73 BAG v. 18.10.2018 – 6 AZR 232/17 (A) Rz. 40, ZTR 2019, 18.

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§ 24 Rz. 24.23

Stufenzuordnung

Folge, dass die in unbefristeten Arbeitsverhältnissen erworbene Berufserfahrung stärker honoriert würde als die in (mehreren aufeinanderfolgenden) befristeten Arbeitsverhältnissen erworbene74. Befristet und unbefristet Beschäftigte erhielten bei identischer Berufserfahrung und Tätigkeit ein unterschiedlich hohes Entgelt. Eine solche Benachteiligung untersagt § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG. Diese Bestimmung entfaltet Wirkung nicht nur während der Dauer der jeweiligen Befristung, sondern darüber hinaus. Befristet Beschäftigte sind hinsichtlich der Folgen, die das beendete befristete Arbeitsverhältnis in einem neuen Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber entfaltet, nicht etwa mit anderen Beschäftigten zu vergleichen, deren Arbeitsverhältnis – zB durch Kündigung oder Aufhebungsvertrag – geendet hat. Vergleichsgruppe sind vielmehr die ohne rechtliche Unterbrechung tätigen Dauerbeschäftigten. Das hat der Gesetzgeber klargestellt: Er verlangt für befristet Beschäftigte die Anerkennung derselben Beschäftigungszeiten wie für unbefristet Beschäftigte75. Der 6. Senat des BAG hat deshalb seine insoweit entgegenstehende frühere Rspr.76 – insbesondere die in der Entscheidung v. 27.11.2011 – 6 AZR 382/0977 – ausdrücklich aufgegeben78 und dies jüngst noch einmal bestätigt79. Er hat weiter ausdrücklich klargestellt, dass es nicht darauf ankommt, ob das neue Arbeitsverhältnis wieder befristet oder unbefristet ist80. Soweit in Erlassen einzelner öffentlicher Arbeitgeber die Auffassung vertreten wird, nur bei erneuten befristeten Einstellungen komme die geänderte Rspr. des BAG nicht zum Tragen, ist das deshalb nicht nur falsch, sondern rechtswidrig.

24.24 Wegen § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG ist der zuvor befristet Beschäftigte genauso zu behandeln wie ein am selben Tag unbefristet eingestellter Beschäftigter mit identischer einschlägiger Berufserfahrung. Beide Beschäftigten erreichen alle höheren Stufen am selben Tag, nur Zeiten der Unterbrechung sind abzuziehen (Rz. 24.58). Letztlich laufen Stufe und Stufenlaufzeit „durch“. Das gilt auch, wenn der Beschäftigte bereits während der Geltung des alten Tarifrechts, insbesondere des BAT, erstmals befristet eingestellt worden ist. Dann hat nicht etwa seine (fiktive) Überleitung in das neue Tarifrecht zu erfolgen. Die Einstellung im BAT und die Überleitung aus diesem in den TVöD/TV-L erfolgte aus Lebensaltersstufen, die mit der Berufserfahrung nichts zu tun hatten (Rz. 24.4). Zudem wurden bei der Überleitung auch weitere Faktoren berücksichtigt, nämlich der Ortszuschlag als familiäre Komponente, und die allgemeine Zulage. Diese Besitzstände schützt § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG nicht. Der befristet Beschäftigte ist deshalb nur bezüglich seiner einschlägigen Berufserfahrung so zu stellen wie ein zur selben Zeit wie er eingestellter Dauerbeschäftigter. Insoweit ist für die Stufenzuordnung allein maßgeblich, in welcher Stufe sich ein Dauerbeschäftigter gem. § 16 Abs. 3 TVöD/ TV-L befände, für den genauso viele Jahre und Monate und Tage im Geltungsbereich des

74 S. das Berechnungsbeispiel zu den Folgen des Abschneidens angebrochener Stufenlaufzeiten in BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 21, ZTR 2013, 308; s. auch die Bsp. in der Vorauflage unter Teil 8 Rz. 50. 75 BT-Drucks. 14/4374, S. 16. 76 Beginnend mit BAG v. 11.12.2003 – 6 AZR 64/03 Rz. 49 ff., NZA 2004, 723; zuletzt BAG v. 18.1.2012 – 6 AZR 496/10 Rz. 24 ff., ZTR 2012, 338; v. 27.11.2008 – 6 AZR 632/08 Rz. 20 ff., ZTR 2009, 192. 77 ZTR 2011, 214. 78 BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 25, 29, ZTR 2013, 308; s. auch die ausführlichen Darstellungen zu dieser Entscheidung in der Vorauflage unter Teil 8 Rz. 51 ff. sowie bei Spelge, ZTR 2015, 243 (248 f.). 79 BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 836/16 Rz. 19, ZTR 2019, 90. 80 BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 18, ZTR 2013, 308.

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.28 § 24

TVöD/TV-L ein Arbeitsverhältnis besteht, wie die einschlägige Berufserfahrung des befristet Tätigen umfasst. Das ist letztlich eine fiktive Betrachtung81. Allerdings kann der Arbeitgeber nach § 17 Abs. 2 TVöD/TV-L die Stufenlaufzeiten leistungsabhängig verlängern und verkürzen (Einzelheiten in Rz. 24.141 f.). Diese Möglichkeit steht ihm auch bei der Wiedereinstellung von befristet Beschäftigten offen. Hat er die erforderliche Dokumentation82 bereits im befristeten Arbeitsverhältnis vorgenommen, kann er dem wiedereingestellten Beschäftigten entgegenhalten, dass ein Dauerbeschäftigter, der vergleichbare Leistungen gezeigt hätte, ebenfalls noch nicht der seiner Berufserfahrung eigentlich entsprechenden Stufe des § 16 Abs. 3 TVöD/TV-L zugeordnet wäre. Das ist die notwendige Konsequenz aus der Gleichstellung von befristet und unbefristet Beschäftigten83.

24.25

(a) Folgerungen für den Bereich des Bundes Der Bund hat mit § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) der Rechtslage Rechnung getragen. Zur 24.26 Entstehungsgeschichte dieser Norm s. Rz. 24.46, zur Frage der Unschädlichkeit von Unterbrechungen s. Rz. 24.54 ff. (b) Folgerungen für den Bereich der VKA § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD ist wegen Verstoßes gegen § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG teilnichtig, so- 24.27 weit er einschlägige Berufserfahrung nur bis zu drei Jahren berücksichtigt. Zeiten einschlägiger Berufserfahrung von mehr als drei Jahren sind nach Maßgabe des § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD zu berücksichtigen, wenn zuvor befristet Beschäftigte von derselben Kommune wiedereingestellt werden, sofern eine „horizontale“ Wiedereinstellung vorliegt. Insoweit sind die Zeiten einschlägiger Berufserfahrung uneingeschränkt zu berücksichtigen. Beschäftigte sind sofort der Stufe zuzuordnen, die ihre einschlägige Berufserfahrung ausdrückt. Angebrochene Laufzeiten sind zu berücksichtigen84. Zur Dauer der Unschädlichkeit von Unterbrechungen s. Rz. 24.51 ff. (c) Folgerungen für den Bereich der TdL § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L ist auf die Wiedereinstellung von zuvor bei demselben Land befristet Beschäftigten zugeschnitten und privilegiert diese bei der Stufenzuordnung gegenüber Beschäftigten, die von anderen Arbeitgebern kommend eingestellt werden und gemäß § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L höchstens der Stufe 3 zugeordnet werden können. Damit wollen die Tarifvertragsparteien des TV-L befristet Beschäftigten die Möglichkeit zum Stufenaufstieg eröffnen und tragen damit bewusst dem Gebot des § 4 Abs. 3 Satz 2 TzBfG Rechnung85. Einstellungen müssen damit bei Vorliegen entsprechender Erfahrung auch in den Stufen 4 und höher erfolgen. Bei gesetzeskonformer Auslegung haben die Tarifvertragsparteien des TV-L in § 16 Abs. 3 Satz 1 TV-L das Gebot des § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG auch hinsichtlich der angebrochenen Stufenlaufzeit berücksichtigt. Diese beginnt darum nach der Zuordnung des Beschäftigten zu einer Stufe seiner Entgeltgruppe nicht neu zu laufen, wenn er bereits zuvor befristet bei demselben Land beschäftigt war, „horizontal“ wiedereingestellt wird und keine

81 Vgl. BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 836/16 Rz. 31, ZTR 2019, 90. 82 Dazu Fieberg in Fürst, GKÖD Band IV, Stand März 2008 E, § 17 Rz. 10 bis 12, 17; Breier/Dassau/ Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD Stand Dezember 2017, Teil B 1, § 17 TVöD Rz. 20 ff. 83 BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 836/16 Rz. 24, ZTR 2019, 90. 84 BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 836/16 Rz. 24, 31, ZTR 2019, 90. 85 BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 836/16 Rz. 40, ZTR 2019, 90.

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24.28

§ 24 Rz. 24.28

Stufenzuordnung

schädliche Unterbrechung (dazu Rz. 24.48 ff.) vorliegt86. Für Lehrkräfte haben die Tarifvertragsparteien in § 44 Abs. 2a Nr. 1 TV-L die Zusammenrechnung aller Zeiten befristeter Arbeitsverhältnisse bei ein und demselben Arbeitgeber auch ausdrücklich vorgeschrieben87. (2) Rechtslage bei „vertikalen“ Wiedereinstellungen

24.29 Eine „vertikale“ Wiedereinstellung liegt vor, wenn der zuvor befristet Beschäftigte nach Ablauf der Befristung für eine höher88 oder einer niedriger89 bewertete Stelle wieder eingestellt wird. In dieser Situation profitiert er von den Regelungen zur Stufenzuordnung in der höheren Entgeltgruppe in § 17 Abs. 4 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 TVöD bzw. § 17 Abs. 4 Satz 1 und 2 TV-L nicht. Gleiches gilt für die stufengleiche Herabgruppierung nach § 17 Abs. 4 Satz 3 und Abs. 5 Satz 3 TVöD bzw. § 17 Abs. 4 Satz 4 TV-L. Diese Bestimmungen setzen die dauerhafte Übertragung von Tätigkeiten in einer höheren bzw. niedrigeren Entgeltgruppe während eines bestehenden Arbeitsverhältnisses voraus90. § 16 Abs. 2 TVöD/TV-L kommt nur zum Zuge, wenn der Beschäftigte zuvor höher eingruppiert war und in der höheren Entgeltgruppe ausnahmsweise einschlägige Berufserfahrung erworben hat (s. dazu Rz. 24.44). Ist das nicht der Fall oder wird der Beschäftigte für eine höherwertige Tätigkeit neu eingestellt (dann kann keine einschlägige Berufserfahrung vorliegen, s. Rz. 24.18), ist er der Stufe 1 der neuen Entgeltgruppe zuzuordnen. Damit fällt er in eine tarifliche Regelungslücke, was regelmäßig erhebliche Entgeltnachteile für ihn hat und häufig dazu führt, dass er in der neuen Tätigkeit auch dann weniger als zuvor verdient, wenn er höherwertige Tätigkeiten verrichtet91. Das ist für den Fall einer betragsbezogenen Höhergruppierung, wie sie jetzt nur noch nach § 17 Abs. 4 Satz 1 und 2 TV-L sowie für die Entgeltgruppe 1 in § 17 Abs. 4a Satz 1 und 2 TVöD vorgesehen ist, sowie für Herabgruppierungen mit höherrangigem Recht vereinbar. Für die mit § 17 Abs. 5 Satz 1 TVöD92 seit dem 1.3.2014 im Bereich des Bundes bzw. mit § 17 Abs. 4 Satz 1 TVöD93 seit dem 1.3.2017 im Bereich der VKA eingeführte stufengleiche Höhergruppierung ist die Rechtslage noch ungeklärt. (a) Tarifbereiche mit betragsbezogener Höhergruppierung

24.30 In diesen Tarifbereichen kommt § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG bei vertikalen Höhergruppierungen nicht zur Anwendung. Diese Bestimmung untersagt es, die im unbefristeten Arbeitsverhältnis erworbene einschlägige Berufserfahrung tariflich stärker zu honorieren als die in mehreren aufeinanderfolgenden befristeten Arbeitsverhältnissen erlangte. Befristet Beschäftigte dürfen bei der Berücksichtigung der in früheren befristeten Arbeitsverhältnissen erworbenen einschlägigen Berufserfahrung nicht gegenüber unbefristet Beschäftigten benachteiligt werden (Rz. 24.22 f.). Erfolgt nach der Höhergruppierung eine betragsbezogene Stufenzuordnung, dann hat die Stufenzuordnung keinen Bezug zur in der alten Entgeltgruppe erworbenen Berufserfahrung. Eine entgeltgruppenübergreifende Berufserfahrung (s. dazu Rz. 24.112) wird insoweit gerade nicht anerkannt. Vielmehr wird die bisher erworbene Berufserfahrung „auf 86 BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 18 ff., ZTR 2013, 308. 87 BAG 23.11.2017 – 6 AZR 33/17, ZTR 2018, 201; vgl. auch die Niederschriftserklärung zu dieser Tarifregelung. 88 BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11 Rz. 29, ZTR 2014, 80. 89 BAG v. 17.12.2015 – 6 AZR 432/14 Rz. 25, ZTR 2016, 193. 90 Für Höhergruppierungen: BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11 Rz. 12, ZTR 2014, 80; für Herabgruppierungen: BAG v. 17.12.2015 – 6 AZR 432/14 Rz. 12 ff., ZTR 2016, 193. 91 s. das Berechnungsbeispiel in BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11 Rz. 24, ZTR 2014, 80. 92 IdF des Änderungstarifvertrags Nr. 9 zum TVöD v. 5.9.2013. 93 IdF des Änderungstarifvertrags Nr. 12 zum TVöD v. 29.4.2016.

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.32 § 24

Null“ gesetzt94. Dadurch, dass nach § 17 Abs. 4 Satz 1 TV-L und § 17 Abs. 4a TVöD mindestens die Stufe 2 bzw. nach § 17 Abs. 4 Satz 2 TV-L ein Mindestentgeltgewinn garantiert wird, wird lediglich der im bestehenden Arbeitsverhältnis erreichte Besitzstand teilweise gesichert. Auch das Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 2 Satz 1 TzBfG als Grundtatbestand ist nicht verletzt. Insoweit fehlt es schon an der Grundvoraussetzung jeder Diskriminierung, dass gleiche Sachverhalte ungleich behandelt werden. Die Regelungen zur Stufenzuordnung nach § 16 Abs. 2 TVöD/TV-L einerseits und nach § 17 Abs. 4a Satz 1 TVöD/§ 17 Abs. 4 Satz 1 TV-L andererseits betreffen Personengruppen, die nicht miteinander vergleichbar sind. Die Stufenzuordnung nach einer Höhergruppierung, bei der es nicht auf einschlägige Berufserfahrung ankommt, und die Stufenzuordnung nach einer Einstellung, die nur einschlägige Berufserfahrung honoriert, unterscheiden sich grundlegend. Diese Unterschiede bedingen die unterschiedlichen Regelungen und schließen es nach dem Regelungskonzept der Tarifvertragsparteien aus, auch nach einer rechtlichen Unterbrechung noch eine Besitzstandswahrung für ehemals befristet Beschäftigte vorzusehen95. Dieses Konzept ist von der Tarifautonomie noch gedeckt96. Daraus folgt zugleich, dass die unterschiedliche Behandlung beider Personengruppen – der im bestehenden (uU auch befristeten) Arbeitsverhältnis Beförderten und der aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschiedenen, früher befristet Beschäftigten, die auf einem höher bewerteten Arbeitsplatz wieder eingestellt werden – auch gerechtfertigt ist. Ohnehin unterscheidet sich die Situation eines (früher) befristet Beschäftigten, der sich auf einer höher bewertete Stelle bewirbt, von der eines typischen befristeten Beschäftigten, der bei den Verhandlungen über die Verlängerung des Arbeitsverhältnisses eine besonders schwache Verhandlungsposition hat und deshalb für ein Diktat der Arbeitsbedingungen durch den Arbeitgeber besonders anfällig ist, um die Verlängerung des Arbeitsverhältnisses zu erreichen. Bewirbt sich ein befristet Beschäftigter auf eine höherwertige Stelle, konkurriert er mit anderen – internen und externen – Bewerbern um diese Stelle wie jeder andere bereits Beschäftigte einschließlich der Dauerbeschäftigten97. Zum möglichen Rechtsmissbrauch des Arbeitgebers s. Rz. 24.36.

24.31

(b) Tarifbereiche mit stufengleicher Höhergruppierung Nach Auffassung des Bundes erfasst § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) nur horizontale Wiedereinstellungen98. Im Wortlaut hat diese Auffassung keinen Niederschlag gefunden. Dieser erfasst alle Wiedereinstellungen, also auch vertikale. Nach dem Wortlaut können sich daher befristet Beschäftigte, die in einem Arbeitsverhältnis zum Bund in einer höheren Entgeltgruppe einschlägige Berufserfahrung erworben haben (dazu Rz. 24.44) und ohne schädliche Unterbrechung (dazu Rz. 24.54 ff.) vertikal wieder eingestellt werden, auf eine in einer höheren Entgeltgruppe erworbene einschlägige Berufserfahrung uneingeschränkt berufen, ohne dass diese Erfahrung gemäß § 16 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 TVöD (Bund) auf die Stufe 3 gedeckelt wird. Insoweit geht die Regelung in § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD denen in § 16 Abs. 2 Satz 2 und § 17 Abs. 5 TVöD (Bund) vor. Ob aus der Tarifgeschichte (s. dazu Rz. 24.46) mit der für den

94 95 96 97 98

BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11 Rz. 21, ZTR 2014, 80. BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11 Rz. 30 ff., ZTR 2014, 80. BAG v. 17.12.2015 – 6 AZR 432/14 Rz. 32, ZTR 2016, 193; aA Günther, ZTR 2014, 315 (317). BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11 Rz. 38 f., ZTR 2014, 80. Rundschreiben des BMI v. 7.5.2019 – D-531002/55#7, 2.5, S. 12.

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24.32

§ 24 Rz. 24.32

Stufenzuordnung

durchschnittlichen Normanwender erforderlichen Klarheit99 etwas anderes folgt, erscheint zweifelhaft.

24.33 Liegt keine einschlägige Berufserfahrung vor, stellt sich auch im Tarifbereich des Bundes ebenso wie in dem der VKA die Frage, ob durch den teilweisen Wechsel des tariflichen Regelungskonzepts, das in § 17 Abs. 4 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 nunmehr den entgeltgruppenübersteigenden Gewinn an Berufserfahrung anerkennt, zugleich aber diese Berufserfahrung immer noch dadurch „kappt“, dass nach § 17 Abs. 4 Satz 2 und § 17 Abs. 5 Satz 2 TVöD die Stufenlaufzeit neu zu laufen beginnt, bei vertikalen Wiedereinstellungen eine Diskriminierung von befristet Beschäftigten vorliegt. Nach diesem neuen Konzept hat auch die Höhergruppierung Bezug zu der in der niedrigeren Entgeltgruppe erworbenen Berufserfahrung. Das könnte für eine Anwendbarkeit von § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG sprechen. Andererseits bleibt es dabei, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Zäsur ist, die Besitzstandsregelungen unnötig macht und sich die zu regelnden Sachverhalte nach wie vor unterscheiden. Die Rechtslage kann nur durch eine Entscheidung des BAG geklärt werden. (c) Herabgruppierungen

24.34 Die Herabgruppierung erfolgt in allen Tarifbereichen stufengleich100. Die Stufenlaufzeit beginnt in den Tarifbereichen der TdL und der VKA in der niedrigeren Entgeltgruppe neu zu laufen101. Im Tarifbereich des Bundes nimmt der Beschäftigte aufgrund der ausdrücklichen Regelung in § 17 Abs. 5 Satz 3 Halbs. 2 TVöD102 die Stufenlaufzeit mit. Auch insoweit greift § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG nicht ein103. Das allgemeine Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 2 Satz 1 TzBfG ist ebenfalls nicht verletzt. Wie bei der betragsbezogenen Höhergruppierung (Rz. 24.31) liegen keine vergleichbaren Sachverhalte vor104.

24.35 Darum scheidet auch eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG aus. Soweit dies im Schrifttum anders gesehen wird105, wird übersehen, dass die Tarifregelungen unabhängig von einer vorhergehenden Befristung gelten. Eine etwaige Ungleichbehandlung entsteht erst dadurch, dass der Arbeitgeber den einen Beschäftigten während des laufenden befristeten Arbeitsverhältnisses herabgruppiert und mit dem anderen erst für die Zeit nach deren Ablauf eine Wiedereinstellung in einer niedrigeren Entgeltgruppe vereinbart. Darum kommt nur eine im Einzelfall vorliegende Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung im Arbeitsrecht (s. Rz. 24.50) in Betracht, wenn der Arbeitgeber nach einer selbstgesetzten Regel vergleichbare Beschäftigte unterschiedlich behandelt. Das muss vom Beschäftigten behauptet und im Bestreitensfall nachgewiesen werden. (d) Rechtsmissbrauch

24.36 Schließlich kann im Einzelfall auch ein Rechtsmissbrauch durch den Arbeitgeber vorliegen. Zu prüfen ist, ob eine unzulässige Umgehung von § 17 Abs. 4/Abs. 5 TVöD/TV-L als 99 Zum Gebot der Normenklarheit s. BAG v. 25.4.2013 – 6 AZR 800/11 Rz. 18, ZTR 2013, 437. 100 § 17 Abs. 5 Satz 3 TVöD in der seit dem 1.3.2014 geltenden Fassung des Änderungstarifvertrags Nr. 9 zum TVöD v. 5.9.2013 für den Tarifbereich des Bundes; § 17 Abs. 4 Satz 3 TVöD in der seit dem 1.3.2017 geltenden Fassung des Änderungstarifvertrags Nr. 12 zum TVöD v. 29.4.2016 für den Tarifbereich der VKA; § 17 Abs. 4 Satz 4 TV-L für den Bereich der TdL. 101 BAG v. 1.6.2017 – 6 AZR 741/15, ZTR 2017, 529. 102 IdF des Änderungstarifvertrags Nr. 9 zum TVöD v. 5.9.2013. 103 BAG v. 17.12.2015 – 6 AZR 432/14 Rz. 22 ff., ZTR 2016, 193. 104 BAG v. 17.12.2015 – 6 AZR 432/14 Rz. 28 ff., ZTR 2016, 193. 105 Günther, ZTR 2016, 302.

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.37 § 24

Schutznorm vorliegt. Das ist dann der Fall, wenn der Zweck dieser Bestimmung dadurch vereitelt wird, dass rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten ohne einen im Gefüge der einschlägigen Rechtsnorm sachlich rechtfertigenden Grund verwendet werden. Dabei kommt es nicht auf eine Umgehungsabsicht oder eine bewusste Missachtung der zwingenden Rechtsnorm, sondern nur auf die objektive Funktionswidrigkeit des Rechtsgeschäfts an. Unwirksam ist deshalb auch ein Geschäft, das einen verbotenen Erfolg durch Verwendung von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten zu erreichen sucht, die scheinbar nicht von einer Verbotsnorm erfasst werden106. Zulässig ist es dagegen, wenn der Arbeitgeber Gestaltungsmöglichkeiten nutzt, die ihm die Tarifvertragsparteien rechtlich eröffnet haben107. Nach diesen Grundsätzen liegt eine unzulässige Umgehung des in § 17 Abs. 4 und Abs. 5 TVöD/TV-L vorgesehenen Schutzes des Beschäftigten vor, wenn der Arbeitgeber im bestehenden, befristeten Arbeitsverhältnis ohne nachvollziehbaren (stellen-)rechtlichen Hintergrund darauf drängt, den befristeten Arbeitsvertrag aufzuheben und ein neues (befristetes oder unbefristetes) Arbeitsverhältnis auf einem höher oder niedriger bewerteten Arbeitsplatz zu begründen. Im vom BAG entschiedenen Fall bestanden aber keine Anhaltspunkte108 für eine solche Konstellation109. Ist ein Rechtsmissbrauch zu bejahen, ist es dem Arbeitgeber verwehrt, sich darauf zu berufen, dass § 17 Abs. 4 bzw. Abs. 5 TVöD/TV-L wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses an sich nicht eingreift. Die Höher-/Herabgruppierung richtet sich dann nach den im jeweiligen Tarifbereich einschlägigen Regelungen. (3) Rechtslage bei Befristungen bei anderem Arbeitgeber § 4 Abs. 2 TzBfG ist dagegen nicht berührt, wenn der Beschäftigte in seinem vorherigen Arbeitsverhältnis bei einem anderen Arbeitgeber befristet beschäftigt war. § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG knüpft ausdrücklich an die Dauer des Bestands des Arbeitsverhältnisses in demselben Betrieb an. Auch § 4 Abs. 2 Satz 1 TzBfG ist nicht einschlägig. § 16 Abs. 2 Sätze 2 und 3 TVöD/TV-L differenzieren nicht danach, ob die einschlägige Berufserfahrung bei dem früheren Arbeitgeber in befristeten oder unbefristeten Arbeitsverhältnissen erworben worden ist. Ist die Berücksichtigung dieser Erfahrung „gedeckelt“, so trifft das die neu eingestellten Beschäftigten unabhängig davon, ob sie bei dem anderen Arbeitgeber zuvor befristet oder unbefristet tätig waren. Die Anrechnung von Erfahrungszeiten aus dem Arbeitsverhältnis zu einem anderen Arbeitgeber erfolgt also unabhängig von der Befristung immer einheitlich und ist damit diskriminierungsfrei110. Insoweit liegt auch keine mittelbare Diskriminierung befristet Beschäftigter vor111. Zwar ist bei lebensnaher Betrachtung anzunehmen, dass Beschäftigte, die befristet beschäftigt sind, weitaus häufiger das Arbeitsverhältnis wechseln (müssen) als Dauerbeschäftigte und in den für den öffentlichen Dienst typischen langjährigen, wiederholt befristeten Arbeitsverhältnissen (Rz. 24.21) einschlägige Berufserfahrung erwerben. Diese Beschäftigten dürften also überproportional häufig von der „Deckelung“ der Berücksichtigung einschlägiger Berufserfahrung auf die Stufe 3 betroffen sein. Tarifvertragsparteien sind jedoch nicht verpflichtet, Erfahrungen aus Arbeitsverhältnissen mit anderen Arbeitgebern überhaupt zu berücksichtigen. Deshalb dürfen sie auch nur eine eingeschränkte Berücksichti106 BAG v. 15.11.2018 – 6 AZR 522/17 Rz. 27, NZA 2019, 928. 107 BAG v. 27.11.2008 – 6 AZR 632/08 Rz. 28 f., ZTR 2009, 192. 108 Die von der Klägerin hätten dargelegt werden müssen, der dabei die Beweiserleichterung des § 22 AGG nicht zugute kommt: Spelge, ZTR 2017, 335 (340). 109 Vgl. BAG v. 17.12.2015 – 6 AZR 432/14 Rz. 38, ZTR 2016, 193. 110 Geyer, ZTR 2018, 205 spricht zutreffend von „diskriminierungsneutralen“ Regelungen. 111 Das BAG hat die Frage, ob das TzBfG auch mittelbare Diskriminierungen bezüglich der Befristung untersagt, offen gelassen: BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11 Rz. 30, ZTR 2014, 80.

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24.37

§ 24 Rz. 24.37

Stufenzuordnung

gung dieser Erfahrung vorschreiben. Insoweit bewegen sie sich im Kernbereich der Tarifautonomie, in die weder der Gesetzgeber noch die Gerichte eingreifen können112. Zuvor bei anderen Arbeitgebern befristet Beschäftigte können also nicht unter Berufung auf § 4 TzBfG und die Rspr. des BAG zur „horizontalen“ Wiedereinstellung verlangen, dass ihre einschlägige Berufserfahrung uneingeschränkt berücksichtigt wird.

24.38 Auch Art. 3 Abs. 1 GG ist insoweit nicht verletzt. Zwar verbietet auch diese Bestimmung mittelbare Diskriminierungen113. Bei der Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes gilt jedoch ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reicht er vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Die Anforderungen verschärfen sich umso mehr, je weniger die Merkmale für Einzelne verfügbar sind oder je mehr sie sich den in Art. 3 Abs. 3 GG benannten Merkmalen annähern114. Können die Betroffenen durch ihr Verhalten die Verwirklichung der nicht an Persönlichkeitsmerkmale anknüpfenden Differenzierungsmerkmale beeinflussen, gilt lediglich der Willkürmaßstab115. Danach ist bei der Prüfung, ob die Tarifvertragsparteien mit der Deckelung der Berufserfahrung auf die Stufe 3 auch bezüglich von Beschäftigten, die als befristet Beschäftigte häufiger den Arbeitsplatz wechseln müssen, ihren Gestaltungsspielraum überschritten haben, nur ein Willkürmaßstab anzulegen. Ob und welche Teile ihres Berufslebens Beschäftigte in einem befristeten Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst verbringen, unterliegt im Ausgangspunkt ihrer freien Entscheidung und knüpft insbesondere nicht an Persönlichkeitsmerkmale. Auch einer strengeren Prüfung hielte die sich im Kernbereich der Tarifautonomie bewegende Tarifregelung im Übrigen stand. Dem Interesse der Beschäftigten, für ihre einschlägige Berufserfahrung entlohnt zu werden, trägt die Möglichkeit des § 17 Abs. 2 TVöD/TV-L, die Stufenlaufzeit leistungsabhängig zu verkürzen, angemessen Rechnung. Bei einem unmittelbaren Wechsel von einem Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes zu einem anderen haben die Tarifvertragsparteien durch § 16 Abs. 2a TVöD-VKA/TV-L bzw. § 16 Abs. 3 TVöD (Bund) die Möglichkeit eröffnet, neu eingestellte Beschäftigte tarifgerecht der im vorherigen Arbeitsverhältnis erworbenen Stufe zuzuordnen, sofern die dafür erforderliche einschlägige Berufserfahrung vorliegt (Einzelheiten in Rz. 24.81 ff.). dd) Weitere Sonderkonstellationen (1) Erwerb der Berufserfahrung in mehreren (kurzen) Arbeitsverhältnissen, bei mehreren Arbeitgebern oder in Teilzeitarbeitsverhältnissen

24.39 Die Berufserfahrung kann bei verschiedenen Arbeitgebern und in mehreren früheren Arbeitsverhältnissen erworben worden sein. Soweit § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) und § 16 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 TV-L nur die in „einem“ Arbeitsverhältnis erworbene Erfahrung anerkennen, soll damit nur zum Ausdruck gebracht werden, dass die in anderen Rechtsverhältnissen erworbene Erfahrung unbeachtlich ist. Die Betonung liegt also nicht auf „ein“, sondern auf „Arbeitsverhältnis“116. Darum ist auch die Erfahrung, die in mehreren Arbeitsverhältnissen erworben worden ist, zu berücksichtigen. Darauf, ob die Erfahrung bei einem oder mehreren früheren Arbeitgebern erworben worden ist, kommt es grds. ebenfalls nicht an. Soweit 112 Vgl. BAG v. 25.1.2012 – 4 AZR 147/10 Rz. 32, ZTR 2012, 500; v. 17.12.2009 – 6 AZR 665/08 Rz. 19, ZTR 2010, 190. 113 BAG v. 15.11.2012 – 6 AZR 359/11 Rz. 18, ZTR 2013, 196. 114 BAG v. 29.6.2017 – 6 AZR 364/16 Rz. 21 mwN, ZTR 2017, 542. 115 BVerfG v. 19.12.2012 – 1 BvL 18/11 Rz. 66, NJW 2013, 1418. 116 BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 14, ZTR 2013, 308.

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.42 § 24

§ 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L Berufserfahrung verlangt, die bei „einem anderen Arbeitgeber“ erworben worden ist, soll diese Formulierung nur der Abgrenzung zum „selben“ Arbeitgeber in § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L dienen117. Allerdings privilegiert der Bund in § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) nur die bei ihm selbst erworbene Erfahrung (Einzelheiten s. Rz. 24.54 f.). Nur insoweit kommt es darauf an, bei welchem Arbeitgeber die Erfahrung erworben worden ist. Grds. kann einschlägige Berufserfahrung auch in Arbeitsverhältnissen erworben werden, die 24.40 kürzer als ein Jahr gedauert haben (unterjährige Arbeitsverhältnisse), wie es bei Befristungen im Hochschulbereich nicht unüblich ist118. Auch eine solche Berufserfahrung lässt ein höheres Leistungsvermögen des Beschäftigten erwarten und ist deshalb nach dem Zweck der Honorierung einschlägiger Berufserfahrung (Rz. 24.17) idR zu berücksichtigen. Etwas anderes gilt nur, wenn das Arbeitsverhältnis so kurz und die darin zu verrichtende Tätigkeit so zugeschnitten ist, dass die Vorbeschäftigung nicht die gesamte Breite der aktuellen Tätigkeit abdeckt119. Gegen eine verbreitete Ansicht im Schrifttum hat das BAG angenommen, dass der Erwerb einschlägiger Berufserfahrung keinen Mindestbeschäftigungsumfang in Höhe einer bestimmten Teilzeitquote erfordere (verlangt worden waren 50 %120 bzw. 25 %121). Die Tarifvertragsparteien haben sich – im Unterschied zu § 23a Satz 2 Nr. 6 BAT, wonach die vor dem 1.1.1988 mit der Hälfte der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit zurückgelegten Bewährungszeiten nur zur Hälfte anzurechnen waren – bewusst gegen eine Teilzeitquote und damit für eine volle Anrechnung von Teilzeitbeschäftigungen mit einschlägiger Berufserfahrung entschieden122. Die Tarifvertragsparteien wollten offenkundig den Aufwand und die Verwerfungen vermeiden, die mit der von § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG geforderten Einzelfallprüfung, ob nach der Art der ausgeübten Tätigkeit eine Relation zwischen Erfahrung und zeitlichem Umfang der Tätigkeit auszumachen ist123, verbunden wären. Allerdings kann bei Teilzeitbeschäftigungen mit sehr geringem Beschäftigungsumfang – wie bei sehr kurzen Arbeitsverhältnissen, Rz. 24.40 – eine einschlägige Berufserfahrung ausscheiden, weil die Tätigkeit nicht die gesamte Breite der nunmehrigen Beschäftigung abdeckt124.

24.41

(2) Kumulative Anwendung der Stufenzuordnungsvorschriften in § 16 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 TV-L bzw. § 16 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 und Satz 4 TVöD (Bund) Das BAG hat die Frage offengelassen, ob die für eine Zuordnung zu einer höheren Stufe als 24.42 der Stufe 1 erforderliche einschlägige Berufserfahrung in den Tarifwerken, die zwischen der Berufserfahrung, die beim selben Arbeitgeber und einem anderen Arbeitgeber erworben worden ist, differenzieren, kumulativ bei einem anderen Arbeitgeber und in früheren, typischerweise befristeten Arbeitsverhältnissen bei demselben Arbeitgeber erworben werden kann. Der Sache nach geht es darum, ob Zeiten einer unterjährigen Berufserfahrung beim aktuellen Arbeitgeber bei einer Wiedereinstellung durch diesen Arbeitgeber durch Zeiten „aufgefüllt“ werden können, die bei einem anderen Arbeitgeber zurückgelegt worden sind125. Diese Frage ist zu bejahen. Auch in solchen Konstellationen profitiert der neue Arbeitgeber uneinge117 118 119 120 121 122 123 124 125

BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1088/12 Rz. 16, ZTR 2014, 600. S. die Konstellation in BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 2, ZTR 2013, 308. BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1088/12 Rz. 17, ZTR 2014, 600. Ua. Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L, Stand Oktober 2009, § 40 TV-L Nr. 5 Rz. 9. Ua. Sponer/Steinherr/Braun, TV-L, Stand Mai 2013, Teil 1140-L § 40 TV-L Nr. 5 Rz. 7. BAG v. 27.3.2014 – 6 AZR 571/12 Rz. 29, ZTR 2014, 475. Nachweise zur Rspr. bei BAG v. 27.3.2014 – 6 AZR 571/12 Rz. 34, ZTR 2014, 475. BAG v. 27.3.2014 – 6 AZR 571/12 Rz. 30, ZTR 2014, 475. BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1088/12 Rz. 9, 18, ZTR 2014, 600.

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§ 24 Rz. 24.42

Stufenzuordnung

schränkt von der Berufserfahrung. Darauf, in welchen Arbeitsverhältnissen mit welchem Arbeitgeber sie erworben worden ist, kommt es nicht an. Salopp ausgedrückt: Berufserfahrung ist Berufserfahrung. Hat der Beschäftigte also bei einem anderen Arbeitgeber zB in einem auf neun Monate befristeten Arbeitsverhältnis einschlägige Berufserfahrung erworben, dann rückt er nach drei Monaten im aktuellen Arbeitsverhältnis in die Stufe 2 auf, sofern keine schädliche Unterbrechung (dazu Rz. 24.48 ff.) vorliegt.

24.43 Auch folgende trickreiche Argumentation verfängt nicht: Die Einstellung erfolgt befristet für 9 Monate. Dabei werden drei Jahre einschlägige Berufserfahrung anerkannt, so dass nach § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L/§ 16 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 TVöD (Bund) sofort die Zuordnung zur Stufe 3 erfolgt. Nach Auslaufen der Befristung wird nahtlos ein neues Arbeitsverhältnis vereinbart. Der Arbeitgeber kann nun nicht unter Berufung auf § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L/§ 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) den Beschäftigten im zweiten Arbeitsverhältnis der Stufe 1 zuordnen. Diese Zuordnungsregeln sind nicht etwa als speziellere, auf das Arbeitsverhältnis zu demselben Arbeitgeber zugeschnittene bei der erneuten Einstellung ausschließlich anzuwenden. Es kann nicht ausgeblendet werden, dass der Beschäftigte bei seiner ersten Einstellung bereits einschlägige Berufserfahrung hatte, der Arbeitgeber davon profitierte und der Beschäftigte deshalb einer höheren Stufe zuzuordnen war. Der Umstand, dass zunächst eine befristete Einstellung erfolgte und darum bei der erneuten Einstellung eine abermalige Stufenzuordnung erforderlich wurde, darf nicht dadurch zu einem Nachteil bei dieser Zuordnung führen, dass die zunächst anerkannte Berufserfahrung wieder „untergeht“. Dies verbietet § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG. Befristete Arbeitsverhältnisse dürfen nicht dazu benutzt werden, den Beschäftigten Rechte vorzuenthalten, die Dauerbeschäftigten zuerkannt werden126 (Einzelheiten in Rz. 24.22 f.). Ein Dauerbeschäftigter wäre aber wegen seiner Vorerfahrung drei Jahre nach Begründung des Arbeitsverhältnisses in die Stufe 4 aufgestiegen. Genauso ist auch der zunächst befristet Eingestellte zu behandeln127. (3) Erwerb der einschlägigen Berufserfahrung in höherwertigen Tätigkeiten

24.44 Ungeklärt ist noch, ob auch eine höherwertige Tätigkeit dem Beschäftigten einschlägige Berufserfahrung vermitteln kann. Angesichts der Vielgestaltigkeit der Berufsbilder im öffentlichen Dienst verbietet sich die generelle Annahme, die Tätigkeit in einer höheren Entgeltgruppe vermittle dem Beschäftigten stets auch einschlägige Berufserfahrung in der niedrigeren Entgeltgruppe. UU kann sich die erworbene Erfahrung in der neuen Tätigkeit als unzureichend oder sogar nutzlos erweisen128. Das BAG hat jedoch ausdrücklich betont, dass es im Einzelfall nicht ausgeschlossen ist, dass der Beschäftigte in der höheren Entgeltgruppe Erfahrungen erworben hat, die ihm in der neuen, niedrigeren Entgeltgruppe weiter in der von § 16 Abs. 2 TVöD/TV-L geforderten Weise zugute kommen. Das kann insbesondere bei den sog. Aufbaufallgruppen der Fall sein129 und dürfte dort sogar der Regelfall sein130. Bei solchen Entgeltgruppen entwickeln sich – wie schon im BAT – die Tätigkeitsmerkmale aus der niedrigeren Entgeltgruppe. Erforderlich ist, dass das Tätigkeitsmerkmal ein „Herausheben“ aus dem 126 BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11, ZTR 2013, 308. 127 Vgl. Sächsisches LAG v. 23.6.2016 – 9 Sa 724/15; die dagegen eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde ist durch Beschluss v. 28.12.2016 – 6 AZN 736/16 als unzulässig verworfen worden. 128 BAG v. 17.12.2015 – 6 AZR 432/14 Rz. 41, ZTR 2016, 193. 129 BAG v. 1.6.2017 – 6 AZR 741/15 Rz. 22, ZTR 2017, 529; vgl. bereits BAG v. 17.12.2015 – 6 AZR 432/14, Rz. 44, ZTR 2016, 193. 130 Instruktiv der Fall des LAG Berlin-Brandenburg v. 8.10.2015 – 5 Sa 660/15, ZTR 2016, 199 (die dagegen eingelegte Revision – 6 AZR 59/16 – ist zurückgenommen worden).

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.46 § 24

in Bezug genommenen Tätigkeitsmerkmal der niedrigeren Gehaltsgruppe durch eine zusätzliche Anforderung ausdrücklich vorsieht. Dagegen reicht es nicht aus, dass ein Tätigkeitsmerkmal im Vergleich zu einem anderen lediglich höhere Anforderungen stellt131. Die Ausgangsfallgruppe erfasst die Grundtätigkeit als „Normaltätigkeit“ dieser Fallgruppe132. Deshalb ist grds. davon auszugehen, dass der Beschäftigte, der in dem von § 12 TVöD/TV-L geforderten Umfang die qualifizierenden Merkmale der höheren Entgeltgruppe erfüllt, zugleich für die Grundtätigkeit, die auch der Tätigkeit in der höheren Entgeltgruppe zugrunde liegt und diese Tätigkeit sozusagen „unterfüttert“, (weiterhin) einschlägige Berufserfahrung erwirbt. Angesichts dieser Regel muss der neue Arbeitgeber die Ausnahme, dass bei Aufbaufallgruppen im Einzelfall die höherwertige Tätigkeit dem Beschäftigten für die neue, niedriger bewertete Tätigkeit keine einschlägige Berufserfahrung vermittelt hat, beweisen. (4) Erwerb der einschlägigen Berufserfahrung in anderen Rechtsverhältnissen als einem Arbeitsverhältnis Im Tarifbereich der VKA verlangt § 16 Abs. 2 TVöD (VKA) nur, dass einschlägige Berufserfahrung vorliegt. In welchem Rechtsverhältnis das geschehen ist, ist unerheblich. Darum können auch Tätigkeiten in einem Dienst- oder Werkverhältnis sowie im Beamten- und Soldatenverhältnis in diesem Tarifbereich einschlägige Berufserfahrung vermitteln. Erforderlich ist lediglich, dass die Tätigkeit „beruflich“, d.h. nachhaltig und tatsächlich, ausgeübt worden ist133.

24.45

Gleiches gilt für die Berücksichtigung von einschlägiger Berufserfahrung nach § 16 Abs. 2 24.46 Satz 2 TVöD (Bund). Für die Privilegierung nach § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund), die die uneingeschränkte Berücksichtigung der beim Bund erworbenen Erfahrung vorsieht, ist allerdings das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses Voraussetzung. Zeiten der Tätigkeit als Beamter oder Soldat können danach nicht angerechnet werden. Das erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte dieser Tarifregelung: Sie ist als Reaktion auf die Rspr. des BAG zu der von § 4 TzBfG verlangten uneingeschränkten Berücksichtigung der in befristeten Arbeitsverhältnissen nach einer horizontalen Wiedereinstellung (Einzelheiten in Rz. 24.21 ff.) tarifiert worden134. Ausgehend von dieser tariflichen Zwecksetzung können Beamte und Soldaten, die nicht befristet iSd. TzBfG beschäftigt werden können, von § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) nicht profitieren. Das TzBfG schützt – in wirksamer Umsetzung von § 2 des Anhangs EGBUNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge zur RL 1999/70/EG, der jedenfalls die Definition des Arbeitnehmerbegriffs den Mitgliedstaaten überlässt135 – nur Arbeitnehmer iSd. deutschen Arbeitnehmerverständnisses. Auch Beamte und Soldaten auf Zeit werden von § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) darum nicht erfasst136. Zur Fiktion einer im Soldatenverhältnis erworbenen einschlägigen Berufserfahrung Rz. 24.61 f.

131 BAG v. 28.2.2018 – 4 AZR 678/16 Rz. 37, ZTR 2018, 463. 132 BAG v. 9.12.2015 – 4 AZR 11/13 Rz. 19. 133 Vgl. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand April 2018, § 16 TVöD (VKA) Rz. 31; Fieberg in Fürst, GKÖD Band IV, Stand Januar 2015, E § 16 Rz. 19. 134 Rundschreiben BMI v. 7.5.2019 – D-531002/55#7, 2.5, S. 12. 135 EuArbR/Krebber, § 2 RL 1999/70/EG, Rz. 4, 7. 136 Vgl. BAG v. 15.2.2017 – 7 AZR 143/15 Rz. 25 ff., NZA 2017, 1258: Beamte auf Zeit nach § 40 Abs. 1 Satz 4 Brandenburgisches Hochschulgesetz sind keine Arbeitnehmer iSd. Rahmenvereinbarung; zweifelnd Preis/Sagan/Brose, EuArbR Rz. 13.22 ff.

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§ 24 Rz. 24.47

Stufenzuordnung

24.47 § 16 Abs. 2 Satz 2 und 3 TV-L berücksichtigen ausdrücklich nur die in Arbeitsverhältnissen erworbene einschlägige Berufserfahrung. Das ist mit Art. 3 GG vereinbar137. War das vorherige Rechtsverhältnis ein Dienst- oder Werkvertragsverhältnis, ist allerdings zu prüfen, ob es sich nach der tatsächlichen Durchführung dieser Rechtsbeziehungen tatsächlich nicht doch um Arbeitsverhältnisse gehandelt hat138. ee) Schädliche und unschädliche Unterbrechungen (1) Rechtslage bei der TdL

24.48 Nach der Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L wird einschlägige Berufserfahrung nur berücksichtigt, wenn zwischen den beiden Arbeitsverhältnissen zum selben Land nicht mehr als sechs Monate139 lagen. Mit dieser Begrenzung haben die Tarifvertragsparteien ihren Gestaltungsspielraum nicht überschritten140. Derart kurze Zeiträume zwischen zwei Arbeitsverhältnissen mit demselben Arbeitgeber treten typischerweise nur bei Befristungen auf. § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L ist damit auf den Fall der Wiedereinstellung von befristet Beschäftigten zugeschnitten (Rz. 24.28)141. Typischerweise werden zuvor befristet Beschäftigte im öffentlichen Dienst nach nur kurzen Unterbrechungen wieder eingestellt142 oder sie scheiden endgültig aus. An diese Situation haben die Tarifvertragsparteien mit der von ihnen festgesetzten Dauer einer unschädlichen Unterbrechung typisierend angeknüpft. Die Beschränkung ist darum wirksam.

24.49 Sie bezieht sich nach ihrem Wortlaut unmissverständlich jedoch nur auf die in Arbeitsverhältnissen zu demselben Arbeitgeber erworbene Berufserfahrung. Darum ist angenommen worden, die in Arbeitsverhältnissen zu anderen Arbeitgebern erworbene Berufserfahrung müsse bei Einstellungen nach § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L immer143 bzw. – unter Heranziehung des Gedankens des § 17 Abs. 3 Satz 2 TV-L – jedenfalls dann berücksichtigt werden, wenn die Unterbrechung zwischen dem letzten Arbeitsverhältnis, das einschlägige Berufserfahrung vermittelt hat, und dem aktuellen Arbeitsverhältnis kürzer als 3 Jahre sei144. Diese Auffassung hat jedoch eine gleichheitswidrige Bevorzugung von Beschäftigten zur Folge, die von einem anderen Arbeitgeber kommend eingestellt werden145. Es ist nicht nachvollziehbar, warum Beschäftigte, die ihre Berufserfahrung bei anderen Arbeitgebern erworben haben, besser behandelt werden, als Beschäftigte, die diese Erfahrung beim aktuellen Arbeitgeber erworben haben146. Zudem ist nicht nachvollziehbar, warum gerade eine Unterbrechung von drei Jahren – und nicht mehr oder weniger – unschädlich sein soll. § 17 Abs. 3 Satz 2 TV-L regelt einen gänzlich anderen Sachverhalt und hat einen gänzlich anderen Regelungszweck. § 16 Abs. 2

137 138 139 140 141 142 143 144 145 146

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BAG v. 21.11.2013 – 6 AZR 23/12 Rz. 58 ff., ZTR 2014, 148. BAG v. 21.11.2013 – 6 AZR 23/12 Rz. 20 ff., ZTR 2014, 148. In bestimmten Arbeitsverhältnissen von Wissenschaftlern nicht mehr als 12 Monate. BAG v. 27.4.2017 – 6 AZR 459/16 Rz. 30, ZTR 2017, 478; v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 35, ZTR 2013, 308. BAG v. 18.10.2018 – 6 AZR 232/17 (A) Rz. 39, ZTR 2019, 18. Vgl. die Konstellation in BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 836/16 Rz. 2, ZTR 2019, 90. LAG Hamm v. 11.8.2009 – 12 Sa 1918/08; VG Berlin v. 3.4.2013 – 62 K 2.13 PVL. Beschluss der Mitgliederversammlung der TdL v. 25./26.9.2007 unter TOP 4.1; s. auch die Nachweise zum Meinungsstand vor der Entscheidung des BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1088/12, ZTR 2014, 600 s. dort in Rz. 20. Der umgekehrte Fall – Bevorzugung der beim selben Arbeitgeber erworbenen Berufserfahrung – ist grds. zulässig: Rz. 24.9. BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1088/12 Rz. 21 f., ZTR 2014, 600.

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.51 § 24

Satz 3 TV-L ist in dieser Auslegung, an der die TdL gleichwohl festhält147, darum wegen Unvereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG nichtig. Das BAG hat zur Aufrechterhaltung der Norm einen anderen Lösungsweg gewählt: Es hat angenommen, dass § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L planwidrig nicht regele, welche Unterbrechungen schädlich sei. Es hat diese Lücke dadurch geschlossen, dass ebenso wie bei Einstellungen nach § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L Unterbrechungen von sechs bzw. bei Wissenschaftlern von 12 Monaten schädlich sind, die Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L also analog auch auf § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L anzuwenden ist148. Arbeitgeber, die so verfahren, wie es die Mitgliederversammlung der TdL in ihrem Beschluss 24.50 vom 15./16.12.2014 billigt, gehen ein erhebliches Risiko ein. Sie müssen dann auch bei der Wiedereinstellung von Beschäftigten, die zuvor schon bei ihnen beschäftigt waren, Unterbrechungen bis zu drei Jahren als unschädlich ansehen. Dies folgt aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung im Arbeitsrecht. Dieser gewohnheitsrechtlich anerkannte Grundsatz findet Anwendung, wenn der Arbeitgeber Leistungen nach einem bestimmten erkennbaren und generalisierenden Prinzip aufgrund einer abstrakten Regelung gewährt. Er greift dagegen nicht ein, wenn der Arbeitgeber nur aufgrund bloßen – auch vermeintlichen – Normenvollzugs leistet. Es fehlt dann an einer subjektiv freiwillig gesetzten Regelung und damit an der für die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes erforderlichen eigenständigen Begründung einer Anspruchsgrundlage149. Arbeitgeber, die auf der Grundlage des Beschlusses der Mitgliederversammlung der TdL vom 15./16.12.2014 bei Einstellungen externer Bewerber nach § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L Unterbrechungen zwischen den vorherigen Arbeitsverhältnissen von bis zu drei Jahren als unschädlich ansehen, setzen angesichts der entgegenstehenden Rspr. des BAG eine eigenständige, übertarifliche Regelung, die sie auch bei Einstellungen nach § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L anwenden müssen. Auf vermeintlichen Normenvollzug können sie sich nicht berufen. Die Tarifvertragsparteien wären gut beraten, diese Risiken zu beseitigen und eine Tarifregelung zu schaffen, nach der sowohl für § 16 Abs. 2 Satz 2 als auch für § 16 Abs. 2 Satz 3 einheitlich Unterbrechungen von 3 Jahren unschädlich sind. Das dürfte auch die Personalgewinnung aus der Privatwirtschaft erleichtern. (2) Rechtslage bei der VKA Im Unterschied zur TdL gibt es im Tarifbereich der VKA keine Protokollerklärung, aus der sich eine Vorstellung der Tarifvertragsparteien darüber entnehmen ließe, ob und welche Unterbrechungen zwischen früheren Arbeitsverhältnissen, die dem Beschäftigten einschlägige Berufserfahrung vermittelt haben, und dem aktuellen Arbeitsverhältnis unschädlich sein sollen. Eine ununterbrochene Tätigkeit verlangt § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD (VKA) – im Unterschied zu § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD (VKA) und § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) – jedenfalls nicht. Die Tarifvertragsparteien wollen also offenkundig nicht jede rechtliche Unterbrechung als schädlich ansehen. Hinsichtlich der Frage, welche Folgerungen aus dieser tariflichen Ausgangssituation für die Berücksichtigung länger zurückliegender einschlägiger Berufserfahrung bei der Stufenzuordnung zu ziehen sind, ist zu differenzieren:

147 Beschluss der Mitgliederversammlung der TdL v. 15./16.12.2014, zitiert nach Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, Stand Februar 2015, § 16 TV-L Rz. 36. 148 BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1088/12 Rz. 23 f., ZTR 2014, 600. 149 BAG v. 14.3.2019 – 6 AZR 171/18 Rz. 45, NZA-RR 2019, 367; v. 18.10.2018 – 6 AZR 300/17 Rz. 19, 21, ZTR 2019, 214.

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24.51

§ 24 Rz. 24.52

Stufenzuordnung

(a) Erneute Einstellung befristet Beschäftigter durch denselben Arbeitgeber

24.52 Im Fall der wiederholten Einstellung von Beschäftigten, die schon zuvor bei demselben Arbeitgeber befristet beschäftigt waren, liegt hinsichtlich der Dauer der unschädlichen Unterbrechung eine unbewusste Regelungslücke vor. Diese ist vom BAG teilweise geschlossen worden. Ein Verlust von Erfahrungswissen tritt unabhängig vom Berufsbild typischerweise bei kurzen Unterbrechungen nicht ein150. Es ist nicht anzunehmen, dass sich die Tarifvertragsparteien diesem Grundsatz der allgemeinen Lebenserfahrung verschlossen haben. Unterbrechungen von sechs Monaten sind noch so kurz, dass auch angesichts der Vielfalt der Tätigkeiten im öffentlichen Dienst nicht anzunehmen ist, dass es Berufsbilder gibt, bei denen das Erfahrungswissen schon nach dieser kurzen Zeit entwertet ist. Ein Verlust von Erfahrungswissen ist deshalb jedenfalls bei höchstens sechsmonatigen rechtlichen Unterbrechungen auch aus Sicht der Tarifvertragsparteien des TVöD offenkundig nicht zu erwarten. Hinzu kommt, dass auch im Tarifbereich der VKA § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG die Berücksichtigung der einschlägigen Berufserfahrung gebietet, die befristet Beschäftigte bei ihrem Arbeitgeber erworben haben151 (Einzelheiten in Rz. 24.21 ff., 24.27). Typischerweise werden zuvor befristet Beschäftigte entweder nahtlos oder mit kurzen Unterbrechungen von weniger als sechs Monaten wieder eingestellt (vgl. Rz. 24.48). Jedenfalls solche Unterbrechungen sind deshalb bei der wiederholten Einstellung von zuvor befristet Beschäftigten durch ihren bisherigen Arbeitgeber unschädlich152. Dagegen kann die Regelungslücke nicht durch Rückgriff auf § 17 Abs. 3 Satz 1 Buchst. e TVöD, wonach Unterbrechungen von weniger als einem Monat für die Stufenlaufzeit unschädlich sind, geschlossen werden153. § 17 Abs. 3 TVöD bestimmt in einem geschlossenen System, inwieweit im laufenden Arbeitsverhältnis der Grundsatz des § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD, wonach der Stufenaufstieg voraussetzt, dass der Beschäftigte ununterbrochen tätig ist und dadurch Berufserfahrung erwirbt, durchbrochen wird. Mit der Frage, bis zu welcher Dauer rechtlicher Unterbrechungen die Tarifvertragsparteien davon ausgehen, dass noch kein Verlust einschlägiger Berufserfahrung eintritt, hat das nichts zu tun154. Mit der Formulierung „jedenfalls höchstens sechsmonatige Unterbrechungen“ seien unschädlich, hat das BAG deutlich gemacht, dass es auch denkbar ist, dass längere Unterbrechungen als sechs Monate unschädlich sein könnten. Ob insoweit eine bewusste oder unbewusste Regelungslücke vorliegt und ob diese Lücke durch die Rspr. geschlossen werden kann, ist offen. (b) Arbeitgeberwechsel

24.53 Höchstrichterlich ungeklärt ist noch, welche Unterbrechungen zwischen früheren Arbeitsverhältnissen und der Einstellung durch den aktuellen Arbeitgeber unschädlich sind, wenn der Beschäftigte zuvorbei einem anderen Arbeitgeber beschäftigt war, also ein Arbeitgeberwechsel vorliegt. Insoweit soll es jedem öffentlichen Arbeitgeber freistehen, in jedem Einzelfall festzustellen, ob noch berücksichtigungsfähiges Erfahrungswissen aus der früheren Tätigkeit vorliegt. Dabei soll es auf das jeweilige Berufsbild ankommen. Bei einfacheren Tätigkeiten soll auch noch jahrelang zurückliegende Erfahrung berücksichtigt werden können155, wobei eine Grenze von fünf Jahren bestehen soll. Bei qualifizierteren Tätigkeiten sollen dagegen drei Jahre

150 Vgl. BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 35, ZTR 2013, 208. 151 BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 836/16 Rz. 20 ff., ZTR 2019, 90. 152 Für § 16 Abs. 2 TVöD-B: BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 836/16 Rz. 25 ff., ZTR 2019, 90; für § 16 Abs. 2 TVöD-V: BAG v. 27.4.2017 – 6 AZR 459/16 Rz. 29 ff., ZTR 2017, 478. 153 So aber LAG Hamm v. 7.7.2016 – 8 Sa 334/16. 154 BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 836/16 Rz. 26, ZTR 2019, 90. 155 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand April 2018, § 16 TVöD (VKA) Rz. 36.

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.55 § 24

Unterbrechung schädlich sein156. Aus den in Rz. 24.52 genannten Gründen sind jedenfalls Unterbrechungen von bis zu sechs Monaten idR unschädlich. Bei längeren Unterbrechungen ist auf den Erfahrungsgrundsatz zurückzugreifen, dass einmal erworbene Erfahrung auch wieder verloren geht, wenn sie nicht abgerufen wird157. Dabei erscheint zweifelhaft, ob zwingend Erfahrungswissen in höher qualifizierten Tätigkeiten schneller verloren geht als in einfacheren Tätigkeiten. Die Tarifvertragsparteien des TdL nehmen in der Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L an, dass für Wissenschaftler längere Zeiten der Unterbrechung als im Regelfall unschädlich sind. Wann ein Erfahrungsverlust eintritt, können nur die Tarifvertragsparteien typisierend für alle oder einzelne Gruppen von Berufsbildern oder Entgeltgruppen festlegen. Solange das nicht geschieht, bleibt in der Tat dem Arbeitgeber nichts anderes übrig, als selbst die Unschädlichkeit von Unterbrechungen, die länger als sechs Monaten waren, im Einzelfall anhand der jeweils konkreten, früher ausgeübten und künftig zu verrichtenden Tätigkeit zu ermitteln. Das Ergebnis dieser Prüfung unterliegt einer uneingeschränkten Kontrolle durch die Arbeitsgerichte (Einzelheiten in Rz. 24.155). Legt der Arbeitgeber dabei eigene Regeln fest158, muss er diese in allen vergleichbaren Fällen einhalten, um nicht den Grundsatz der Gleichbehandlung im Arbeitsrecht (Rz. 24.50) zu verletzen. (3) Rechtslage beim Bund (a) Erneute Einstellung befristet Beschäftigter durch den Bund Seit dem 1.3.2016 sieht § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund)159 die uneingeschränkte Berücksichtigung der beim „Bund“ erworbenen einschlägigen Berufserfahrung vor, sofern sich das neue Arbeitsverhältnis unmittelbar an das vorherige Arbeitsverhältnis zum Bund anschließt. Ein „Arbeitsverhältnis zum Bund“ liegt nur vor, wenn das Arbeitsverhältnis mit der Bundesrepublik Deutschland geschlossen ist, also im Bereich der bundesunmittelbaren Verwaltung. Übertariflich berücksichtigt der Bund jedoch auch Arbeitsverhältnisse der mittelbaren Bundesverwaltung, also mit juristisch verselbständigten Personen des öffentlichen Rechts. Das sind vor allem Anstalten und Körperschaften des Bundes wie zB die Bundesagentur für Arbeit, die Rentenversicherung Bund oder die BImmA. Er lässt auch die Berücksichtigung von Arbeitsverhältnissen zu, die mit institutionell geförderten Zuwendungsempfängern des Bundes160 bestanden, sofern diese Arbeitgeber den TVöD anwandten und mit mindestens 50 % vom Bund finanziert wurden161. Arbeitsverhältnisse zu anderen öffentlichen Arbeitgebern, insbesondere zu Mitgliedern der TdL oder der VKA, erfüllen die Voraussetzungen des § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) nicht.

24.54

Nach dem Wortlaut des § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) ist ein „unmittelbarer Anschluss“ des neuen an das alte Arbeitsverhältnis zum Bund erforderlich. Danach sind allenfalls allgemein arbeitsfreie Tage (Wochenende und gesetzliche Feiertage) unschädlich162. Diese tarifliche Beschränkung ist jedoch mit dem allgemeinen Grundsatz der Lebenserfahrung, dass

24.55

156 Sponer/Steinherr/Günther, Stand November 2014, § 16 TVöD (VKA) Rz. 20. 157 BAG v. 12.4.2016 – 6 AZR 731/13 Rz. 30, ZTR 2016, 442. 158 ZB: in der EG 8 sind Unterbrechungen von bis zu zwei Jahren unschädlich, in der EG 2 bei einfachen Tätigkeiten dagegen von bis zu fünf Jahren und bei Tätigkeiten, bei denen es auf Routine in körperlichen Handhabungen ankommt, von sechs Monaten. 159 IdF des Änderungstarifvertrags Nr. 11 zum TVöD v. 29.4.2016. 160 S. dazu die Liste auf der Homepage des BMWi https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Textsamm lungen/Ministerium/zuwendungsempfaenger-des-bmwi.html. 161 Rundschreiben des BMI v. 7.5.2019 – D-531002/55#7, 2.5.1, S. 12 f. 162 Rundschreiben des BMI v. 7.5.2019 – D-531002/55#7, 3.1.1 unter Ziffer 1, S. 14.

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§ 24 Rz. 24.55

Stufenzuordnung

einmal erworbene Berufserfahrung nicht sofort nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verloren geht163 (Einzelheiten in Rz. 24.52), nicht zu vereinbaren und ist daher unwirksam. Das BAG hat deutlich gemacht, dass einschlägige Berufserfahrung, die befristet Beschäftigte bei ihrem Arbeitgeber erworben haben, jedenfalls dann nicht untergehen darf, wenn diese Beschäftigten spätestens sechs Monate nach der rechtlichen Beendigung des letzten Arbeitsverhältnisses wieder eingestellt werden (Rz. 24.52). Bleibt eine tarifliche Regelung hinter diesem Mindestzeitraum zurück, ist § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG verletzt164. In Erkenntnis dieser rechtlichen Lage sieht der Bund übertariflich Unterbrechungen von höchstens sechs Monaten als unschädlich an165. Zur einheitlichen rechtskonformen Anwendung der Tarifregelung wäre es angezeigt, dass die Tarifvertragsparteien die offensichtlich rechtswidrige Regelung in § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) korrigieren. (b) Arbeitgeberwechsel

24.56 Mangels tariflicher Regelung muss der Arbeitgeber, d.h. die einzelne Dienststelle, in jedem Einzelfall prüfen, ob ein neu eingestellter Beschäftigter bei seinem vorherigen Arbeitgeber einschlägige Berufserfahrung erworben hat166. Insoweit gilt nichts anderes als im Tarifbereich der VKA (Rz. 24.53). (4) Unterbrechungen zwischen früheren Arbeitsverhältnissen mit anderen Arbeitgebern bzw. der Tätigkeit bei anderen Arbeitgebern

24.57 Keine tarifliche Regelung gibt es dazu, wie zu verfahren ist, wenn der neu eingestellte Beschäftigte zuvor mehrere Arbeitsverhältnisse mit anderen Arbeitgebern geschlossen hatte, zwischen denen Unterbrechungen lagen. Insoweit dürften dieselben Grundsätze gelten wie bei der Unterbrechung zwischen dem letzten und dem vorletzten Arbeitsverhältnis (Rz. 24.53 ff.). Auch ist in keinem Tarifbereich ausdrücklich tariflich geregelt, wie lang tatsächliche Unterbrechungen in der Tätigkeit in früheren Arbeitsverhältnissen sein dürfen, bis der Erwerb einschlägiger Berufserfahrung in diesen Arbeitsverhältnissen in Frage gestellt ist. Berücksichtigungsfähig sind jedenfalls kurze Unterbrechungen durch Erholungsurlaub und Arbeitsunfähigkeit mit Anspruch auf Entgeltfortzahlung167. Solche entgeltfortzahlungspflichtigen „unproduktiven“ Ausfallzeiten stehen im arbeitsrechtlichen Synallagma168. Darüber hinaus sind nach dem Rechtsgedanken des § 17 Abs. 3 Satz 1 TVöD/TV-L all die Zeiten anzurechnen, die nach diesen Tarifregelungen einer ununterbrochenen Tätigkeit gleichstehen. § 17 Abs. 3 TVöD/TV-L fingiert insoweit aus Praktikabilitätsgründen den weiteren Gewinn an Berufserfahrung. Das gilt auch bei einem Wechsel des Arbeitgebers und auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis bisher zu einem Arbeitgeber bestand, der keine mit § 17 Abs. 3 Satz 1 TVöD/ TV-L vergleichbare Regelung angewandt hat. Maßgeblich ist insoweit allein die Sichtweise des nunmehr geltenden Tarifwerks und damit des TVöD/TV-L. Die Ermittlung und Herausrechnung der von § 17 Abs. 3 Satz 1 TVöD/TV-L erfassten Zeiten würde für den neuen Arbeitgeber auch zu einem unverhältnismäßigen Aufwand führen. Die nach § 17 Abs. 3 Satz 2 TVöD/TV-L für die Stufenlaufzeit lediglich unschädlichen Zeiten, insbesondere die Zeiten des Ruhens des Arbeitsverhältnisses wegen Elternzeit, sind dagegen nicht berücksichtigungs-

163 164 165 166 167 168

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Vgl. BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 35, ZTR 2013, 208. BAG v. 27.4.2017 – 6 AZR 459/16 Rz. 19, ZTR 2017, 478. Rundschreiben des BMI v. 7.5.2019 – D-531002/55#7, 3.1.1 unter Ziffer 2, S. 14. Zutreffend Rundschreiben des BMI v. 7.5.2019 – D-531002/55#7, 2.3.2, S. 7. Fieberg in Fürst, GKÖD, Teil E § 16 TVöD/TV-L Rz. 22. BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 367/17 Rz. 21, NZA 2019, 172.

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.61 § 24

fähig. In diesen Zeiten wird gerade keine Berufserfahrung erworben169. Diese Zeiten sollen nach dem Willen der Tarifvertragsparteien selbst beim ununterbrochenen Verbleib im Arbeitsverhältnis die Stufenlaufzeit anhalten und nicht als Erwerb von Berufserfahrung gewertet werden. Es ist kein Grund ersichtlich, diese Zeiten bei einem Arbeitgeberwechsel anders zu behandeln als im ununterbrochen bestehenden Arbeitsverhältnis. (5) Keine Berücksichtigung der Zeiten der Unterbrechung selbst Die Zeiten der Unterbrechung zwischen zwei Arbeitsverhältnissen sind nicht als einschlägige Berufserfahrung zu berücksichtigen170.

24.58

ff) Angebrochene Stufenlaufzeit/Restlaufzeiten (1) Erneute Einstellung befristet Beschäftigter durch denselben Arbeitgeber Soweit befristet Beschäftigte von ihrem bisherigen Arbeitgeber wieder eingestellt werden, gebietet § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG bei „horizontalen Wiedereinstellungen“ die uneingeschränkte Berücksichtigung der in befristeten Arbeitsverhältnissen erworbenen einschlägigen Berufserfahrung. § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD (VKA) und TV-L sind daher dahin auszulegen, dass auch die Restlaufzeiten, d.h. die bei der Stufenzuordnung nicht verbrauchten Zeiten einschlägiger Berufserfahrung aus früheren Arbeitsverhältnissen171, berücksichtigt werden172. § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) sieht eine solche Anrechnung ausdrücklich vor. Bei vertikalen Wiedereinstellungen ist die erworbene einschlägige Berufserfahrung nicht zwingend anzurechnen173; Einzelheiten s. Rz. 24.29 ff.

24.59

(2) Arbeitgeberwechsel Die tariflichen Bestimmungen sehen keine Berücksichtigung der Restlaufzeitenvor, soweit diese Zeiten aus der Tätigkeit für andere Arbeitgeber stammen. Der Bund lässt insoweit keine übertarifliche Anrechnung von Restlaufzeiten mehr zu174, ebensowenig die TdL175. Höherrangiges Recht steht dieser Praxis nicht entgegen.

24.60

c) Keine Fiktion von einschlägiger Berufserfahrung nach § 8 SVG Gemäß § 9 Abs. 2 Soldatenversorgungsgesetz (SVG) erhalten Zeitsoldaten, die bei der Bun- 24.61 deswehr ausgeschieden sind, auf Antrag einen Zulassungsschein. Sie sind dann auf die nach § 10 Abs. 1 und 2 SVG vorbehaltenen Stellen als Tarifbeschäftigte in das Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit zu übernehmen, wenn sie die tarifvertraglichen Voraussetzungen erfüllen. § 8 SVG fingiert die Anrechnung bestimmter Zeiten der Wehrdienstzeit, des Soldatenverhältnisses und einer anschließenden Ausbildung auf die Berufs- und Betriebszugehörigkeit sowie die Beschäftigungszeit. Solchen Beschäftigten steht damit aufgrund der tariflichen Regelungen spätestens sechs Monate nach der Einstellung eine sehr lange Kündigungsfrist (§ 34 Abs. 1 Satz 2 TVöD/TV-L), uU sogar die ordentliche Unkündbarkeit (§ 34 Abs. 1 Satz 1 169 170 171 172

Vgl. BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 526/09 Rz. 36, ArbRB 2011, 133 = NZA 2011, 1361. BAG v. 27.4.2017 – 6 AZR 459/16 Rz. 12, ZTR 2017, 478. Zu dieser Begrifflichkeit vgl. BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 17, ZTR 2013, 308. Für § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD-B BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 836/16 Rz. 30, ZTR 2019, 90; für den TV-L: BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 18 ff., ZTR 2013, 308. 173 BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11, ZTR 2014, 80. 174 Rundschreiben des BMI v. 7.5.2019 – D-531002/55#7, 2.3.3, S. 7 f. 175 Einzelheiten bei Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, § 16 TV-L Rz. 51.

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§ 24 Rz. 24.61

Stufenzuordnung

TVöD/TV-L), ferner der Krankengeldzuschuss (§ 22 Abs. 3 Satz 1 TVöD/TV-L) und schließlich das Jubiläumsgeld (§ 23 Abs. 2 Satz 1 TVöD/TV-L) zu. Dagegen sind die nach § 8 SVG fingierten Zeiten nicht als einschlägige Berufserfahrung anzuerkennen. § 8 SVG ist keine eigenständige Anspruchsgrundlage. Er knüpft mit seinen Fiktionen nur an das von den Tarifvertragsparteien vorgegebene Entgeltsystem an. Er verlangt kein extra auf seine Fiktionen zugeschnittenes Entgeltsystem, sondern fingiert allein den zeitlichen Bestand des Arbeitsverhältnisses. Darauf stellt aber § 16 Abs. 2 TVöD/TV-L nicht ab, sondern auf den Erwerb einschlägiger Berufserfahrung. Diese wiederum wird von § 8 SVG nicht fingiert. § 8 SVG verlangt darum nicht, den ehemaligen Soldaten so zu behandeln, als sei er schon während seiner Dienstzeit bei dem aktuellen Arbeitgeber beschäftigt worden und habe dort einschlägige Berufserfahrung erworben. Im Ergebnis geht § 8 SVG bei den Entgeltsystemen des öffentlichen Dienstes, die auf die einschlägige Berufserfahrung abstellen, ins Leere176.

24.62 Ob die Tätigkeit als Zeitsoldat dem Beschäftigten die erforderliche einschlägige Berufserfahrung vermittelt hat, hängt zum einen davon ab, ob der konkret anzuwendende Tarifvertrag überhaupt Zeiten des Soldatenverhältnisses als einschlägige Berufserfahrung zulässt (Rz. 24.45 ff.). Zum anderen kommt es insoweit auf den Einzelfall an177. d) Auswirkungen des unionsrechtlichen Gebots der Freizügigkeit aa) Fälle ohne Auslandsbezug

24.63 Art. 45 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und Art. 7 Abs. 1 der Freizügigkeits-VO untersagen jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Beschäftigten der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. Nach der Entscheidung des EuGH v. 5.12.2013178 haben Beschäftigte vielfach reklamiert, die Differenzierung in § 16 Abs. 2 Sätzen 2 und 3 TV-L zwischen „internen“ und „externen“ Beschäftigten verletze das unionsrechtliche Gebot der Freizügigkeit. Mit den gleichen Erwägungen wäre auch die Differenzierung in § 16 Abs. 2 Satz 2 und 4 TVöD (Bund) unwirksam. Nach nunmehr ständiger Rspr. des BAG ist der Anwendungsbereich der Freizügigkeitsvorschriften nicht eröffnet, wenn kein Bezug zum EU-Ausland vorliegt. Weder die rein hypothetische Aussicht, das Recht auf Freizügigkeit auszuüben noch die rein hypothetische Aussicht einer Beeinträchtigung dieses Rechts stellen den erforderlichen Bezug zum Unionsrecht her. Das ergibt sich aus der Rspr. des EuGH179. Hat ein Beschäftigter von seiner Freizügigkeit nie Gebrauch gemacht, kann er sich nicht auf Art. 45 AEUV berufen. Ebensowenig kann er sich darauf berufen, wenn er für einen deutschen Arbeitgeber in einem nicht zur EU gehörenden Staat tätig war180. Im Verfahren „SALK“ war dieser Auslandsbezug erfüllt. In diesem Verfahren begehrte der Zentralbetriebsrat der SALK für die von ihm vertretenen Beschäftigten die Anrechnung aller innerhalb der EU zurückgelegten Vordienstzeiten und nicht nur der Zeiten, die beim Land Salzburg erworben 176 BAG v. 17.1.2019 – 6 AZR 585/17 Rz. 21 ff., ZTR 2019, 283 zum mit § 16 Abs. 2 TVöD (Bund) inhaltsgleichen § 16 Abs. 2 Tv-TgDRV. 177 Vgl. LAG Köln v. 13.7.2018 – 10 Sa 986/17, Revision anhängig unter 6 AZR 10/19, Termin 21.11.2019. 178 EuGH v. 5.12.2013 – C-514/12 (SALK), NZA 2014, 204. 179 BAG v. 25.1.2018 – 6 AZR 791/16 Rz. 20 f., ZTR 2018, 270; v. 21.12.2017 – 6 AZR 245/16 Rz. 44 ff., AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 88; v. 23.2.2017 – 6 AZR 843/15 Rz. 31 ff., ZTR 2017, 404. 180 Vgl. BAG v. 21.12.2017 – 6 AZR 245/16 Rz. 49, AP § 611 BGB Kirchendienst Nr. 88: Tätigkeit in Afrika und Indien für einen kirchlichen Entwicklungsdienst.

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.65 § 24

worden waren, auf die Zeit, die zum Vorrücken in eine höhere Stufe erforderlich war. 16 % der Ärzte und 12 % des nichtärztlichen Personals stammten aus anderen Mitgliedstaaten der EU181. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Einstellungen im öffentlichen Dienst kommt damit das Gebot der Freizügigkeit nicht zum Tragen. bb) Fälle mit Auslandsbezug Welche Auswirkungen das Gebot der Freizügigkeit bei der Einstellung von Beschäftigten hat, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, ist Gegenstand der Vorlage des BAG v. 18.10.2018182. Die Vorlage zielt auf die Klärung der Frage, ob die Bevorzugung der „internen“ Beschäftigten bei der Stufenzuordnung, von der in der Praxis nur solche Beschäftigten profitieren, die zuvor befristet beschäftigt waren (Rz. 24.48), gerechtfertigt ist. § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG und die Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge gebieten nämlich gerade die uneingeschränkte Anrechnung der einschlägigen Berufserfahrung von befristet Beschäftigten bei ihrer Wiedereinstellung (Rz. 24.21 ff.). Das BAG will geklärt wissen, wie die Kollision zweier auf unterschiedliche Schutzziele gerichteter Normanwendungsbefehle des Unionsrechts – Verbot der Benachteiligung im Zusammenhang mit der Freizügigkeit auf der einen Seite, Schutz wegen der befristeten Beschäftigung auf der anderen Seite – aufzulösen ist183. Der Ausgang dieses Verfahrens bleibt abzuwarten. Wenn der EuGH auch hier so schlicht argumentiert wie in seiner Entscheidung v. 13.3.2019184, mit der er eine besondere Beeinträchtigung der Beschäftigten, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, verneint hat185, kommt es auf die Vorlagefrage nicht an.

24.64

cc) Keine „Inländerdiskriminierung“ Sollte der EuGH durch § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L186 die Freizügigkeit mittelbar als verletzt 24.65 ansehen und darum die Anwendung des § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L auch auf Beschäftigte, die den erforderlichen EU-Auslandsbezug aufweisen, erstrecken, hat das auf all die Arbeitsverhältnisse, in denen kein Auslandsbezug vorliegt, keine Auswirkung. Die EU und damit der EuGH haben keine Regelungskompetenz, soweit kein Bezug zum EU-Ausland besteht. Die Benachteiligung rein inländischer Berufswege gegenüber Berufswegen mit EU-Auslandsbezug ist unionsrechtlich ohne Belang. Insoweit ist allein das nationale Recht maßgeblich187. Die nur eingeschränkte Berücksichtigung der bei anderen Arbeitgebern erworbenen einschlägigen Berufserfahrung der „externen“ Bewerber verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Zwar privilegiert § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L bzw. § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) solche Beschäftigten, die nach unschädlichen Unterbrechungen von ihrem Arbeitgeber wiedereingestellt werden. Diese Privilegierung ist jedoch durch § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG bedingt und damit gerechtfertigt188. Sollten auch Beschäftigte, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, – zweckwidrig – von der Privilegierung erfasst werden, so beruhte das allein auf den unions181 Spelge, ZTR 2017, 335 (341). 182 BAG v. 18.10.2018 – 6 AZR 232/17 (A), ZTR 2019, 18, Az. beim EuGH: C-710/18 (WN ./. Land Niedersachsen). 183 S. auch Spelge, ZTR 2017, 335 (341 ff.). 184 EuGH v. 13.3.2019 – C-437/17 (Eurothermen Bad Schallerbach) Rz. 32, NZA 2019, 608. 185 S. zu einer vergleichbaren Argumentation LAG Baden-Württemberg v. 18.1.2016 – 1 Sa 17/15 Rz. 60 ff., ZTR 2016, 374; Spelge, ZTR 2017, 335 (341 f.). 186 Was dann auch für § 16 Abs. 2 Satz 4 TVöD (Bund) gelten würde. 187 BAG v. 25.1.2018 – 6 AZR 791/16 Rz. 22 ff., ZTR 2018, 270. 188 BAG v. 18.10.2018 – 6 AZR 232/17 (A) Rz. 25, 40, 49, ZTR 2019, 18; v. 25.1.2018 – 6 AZR 791/16 Rz. 31, ZTR 2018, 270; Spelge, ZTR 2017, 335 (341).

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§ 24 Rz. 24.65

Stufenzuordnung

rechtlichen Vorschriften, die die Freizügigkeit schützen. Darauf können sich die „Inländer“ nicht berufen. Es besteht hinsichtlich des Berufswegs und der Rechtslage keine vergleichbare Situation, die die Gleichbehandlung beider Personengruppen erzwänge189. e) Einstellung zur Deckung des Personalbedarfs

24.66 Erfolgt die Neueinstellung zur Deckung des Personalbedarfs, „kann“ der Arbeitgeber Zeiten einer vorherigen beruflichen Tätigkeit ganz oder teilweise bei der Stufenzuordnung berücksichtigen, wenn diese zwar nicht einschlägig, aber doch zumindest für die vorgesehene Tätigkeit förderlich sind190. Damit soll Personalgewinnungsschwierigkeiten flexibel begegnet werden können191. aa) Freies Ermessen

24.67 § 16 Abs. 2 TVöD bzw. TV-L gewährt dem Arbeitgeber ein Ermessen. Dies greift jedoch erst auf der Rechtsfolgenebene und nicht bereits auf der Tatbestandsebene ein192. Das Ermessen wird daher nur und erst eröffnet, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm objektiv erfüllt sind. Liegen sie tatsächlich nicht vor, kann in Extremfällen sogar der Straftatbestand der Untreue erfüllt sein193. Hat sich der Arbeitgeber hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen geirrt, kommt eine korrigierende Rückstufung in Betracht, die sich an den Grundsätzen der korrigierenden Rückgruppierung orientiert194.

24.68 Die Frage, ob die tariflichen Bestimmungen auf der Rechtsfolgenseite dem Arbeitgeber ein billiges Ermessen nach § 315 BGB eröffnen195 oder ob der Arbeitgeber bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der Norm in der Entscheidung frei ist, bei Neueinstellungen von § 16 Abs. 2 Satz 1 bis 3 TV-L abweichende Stufenzuordnungen vorzunehmen196, hat das BAG ausdrücklich offengelassen197. Für die Forschungszulage nach Nr. 6 Abs. 3 SR 2o BAT198 und für den Tarifvertrag zur Regelung der Altersteilzeit vom 5.5.1998199 hat das BAG zwar entschieden, dass mit einer tariflichen „Kann-Bestimmung“ dem Arbeitgeber grds. kein freies, sondern ein billiges Ermessen eingeräumt ist. Dies dürfte jedoch dem Regelungszweck der tariflich eröffneten und damit an justiziable Tatbestandsvoraussetzungen geknüpften Möglich189 BAG v. 25.1.2018 – 6 AZR 791/16 Rz. 27, ZTR 2018, 270; Spelge, ZTR 2017, 335 (343); die Revision im Verfahren – 6 AZR 68/19 – gegen das Urteil des LAG Berlin-Brandenburg v. 4.1.2019 – 6 Sa 705/18 ist aufgrund der neueren Rspr. des 6. Senats zurückgenommen worden. 190 § 16 Abs. 2 Satz 3 TVöD (Bund); § 16 Abs. 2 Satz 3 TVöD (VKA); § 16 Abs. 2 Satz 4 TV-L. 191 BAG v. 21.11.2013 – 6 AZR 23/12 Rz. 47, ZTR 2014, 148. 192 BAG v. 5.6.2014 – 6 AZR 1008/12 Rz. 19, ZTR 2014, 530. 193 BGH v. 24.5.2016 – 4 StR 440/15, ZTR 2016, 636; im konkreten Fall ist der Oberbürgermeister freigesprochen worden: LG Magdeburg v. 6.10.2017 – 24 KLs 901 Js 14285/13 (5/16), 24 KLs 5/16. 194 BAG v. 5.6.2014 – 6 AZR 1008/12 Rz. 17, ZTR 2014, 530. 195 So für die Vorweggewährung von Lebensaltersstufen zur Deckung des Personalbedarfs in § 27 Abschnitt C BAT BAG v. 31.1.2002 – 6 AZR 508/01, ZTR 2002, 435; v. 26.5.1994 – 6 AZR 955/93, ZTR 1995, 72. 196 In diesem Sinne Steuernagel, ZMV 2013, 25; Fieberg in Fürst, GKÖD, § 16 TVöD/TV-L Rz. 30; Bredemeier/Neffke/Neffke, TVöD/TV-L § 16 Rz. 22; zum Inhalt des „freien Ermessens“ instruktiv Schreiber, NJ 2011, 130 (131). 197 BAG v. 5.6.2014 – 6 AZR 1008/12 Rz. 21, ZTR 2014, 530; v. 23.9.2010 – 6 AZR 174/09, Rz. 17, ZTR 2011, 23. 198 BAG v. 2.12.1992 – 10 AZR 303/91, ZTR 1993, 245. 199 BAG v. 3.12.2002 – 9 AZR 457/01, ZTR 2003, 504.

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.72 § 24

keit des § 16 Abs. 2 TVöD/TV-L, förderliche Zeiten zu berücksichtigen, nicht gerecht werden. Der Arbeitgeber soll frei entscheiden können, ob er einen dringenden Personalbedarf sieht oder einen bestimmten Bewerber wegen seiner Kenntnisse und Fähigkeiten unbedingt gewinnen will, und ob er dafür bereit ist, durch die Anrechnung förderlicher Zeiten ein höheres Entgelt zu zahlen. Es steht ihm aber auch frei, sich mit einem schlechteren Bewerber, der sich mit dem tariflich geschuldeten Entgelt begnügt, zufrieden zu geben oder seine Einstellungsentscheidung zu verschieben. Letztlich entscheidet allein der Arbeitgeber, ob und wie er einen von ihm angenommenen Personalbedarf zu welchem Zeitpunkt deckt. Das bedingt die Einräumung ungebundenen Ermessens. Allerdings ist der Arbeitgeber auch bei der Ausübung freien Ermessens gehalten, die allgemeinen Schranken der Rechtsausübung, insbesondere den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, die Willkür- und Maßregelungsverbote sowie den Grundsatz von Treu und Glauben, zu beachten200. Dieses freie Ermessen kann sich allerdings in Einzelfällen auf Null reduzieren, so dass der Arbeitgeber die Zuordnung zu einer bestimmten Stufe als einzig ermessensfehlerfreie Entscheidung vorzunehmen hat201. Ein verwaltungsinterner Vorbehalt, wonach von der tariflichen Regelung nur mit Zustimmung des Finanzministers Gebrauch gemacht werden dürfte, führt zu keiner anderen Beurteilung. Ein solcher verwaltungsinterner öffentlich-rechtlicher Zustimmungsvorbehalt entfaltet im Arbeitsverhältnis keine unmittelbare Wirkung, kann also den Tarifvertrag nicht aushebeln202.

24.69

Will der Arbeitgeber die durch Ausübung seines Ermessens erfolgte Stufenzuordnung nachträglich verändern, so kann dies nicht durch eine korrigierende Rückstufung geschehen, sondern bedarf der Änderungskündigung203.

24.70

bb) Deckung des Personalbedarfs Eine Einstellung erfolgt zur Deckung des Personalbedarfs, wenn der Personalbedarf andernfalls quantitativ oder qualitativ nicht hinreichend abgedeckt werden kann. Das ist der Fall, wenn sich ohne die Zusage einer höheren Stufenzuordnung entweder überhaupt keine oder jedenfalls nicht genügend ausreichend qualifizierte Bewerber finden lassen204. Dagegen reicht es nicht aus, dass freie, im Haushaltsplan ausgewiesene Stellen besetzt werden sollen205. Ebensowenig liegt eine Deckung des Personalbedarfs im Fall eines gesetzlichen Übergangs des Arbeitsverhältnisses, etwa nach § 613a BGB, vor206.

24.71

cc) Förderliche Zeiten Die Tarifvorschriften zur Anrechnung förderlicher Zeiten sollen es dem Arbeitgeber ermög- 24.72 lichen, auch solche Zeiten der Berufserfahrung zu berücksichtigen, die nicht „einschlägig“ iSv. § 16 Abs. 2 TVöD/TV-L sind. Erforderlich ist lediglich, dass diese Zeiten dem Beschäftigten und damit auch seinem Arbeitgeber in der Tätigkeit, für die er neu eingestellt wurde, 200 BAG v. 14.1.2009 – 5 AZR 75/08 Rz. 17, ArbRB 2009, 164 = AP BGB § 315 Nr. 88. 201 Zu einer derartigen Konstellation vgl. BAG v. 23.9.2010 – 6 AZR 174/09, ZTR 2011, 23. 202 BAG v. 23.9.2010 – 6 AZR 174/09 Rz. 20, ZTR 2011, 23; zur Frage des Regresses des Arbeitgebers gegen die Auskunft erteilenden Personen Schreiber, NJ 2011, 130 (131). 203 BAG v. 5.6.2014 – 6 AZR 1008/12 Rz. 22 ff., ZTR 2014, 530; Einzelheiten s. Spelge ZTR 2015, 243 (251 f.). 204 BAG v. 23.9.2010 – 6 AZR 174/09, ZTR 2011, 23 unter Verweis auf BAG v. 26.6.2008 – 6 AZR 498/07, ZTR 2008, 547. 205 BAG v. 21.11.2013 – 6 AZR 23/12 Rz. 47, ZTR 2014, 148. 206 BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 551/12 Rz. 53, ZTR 2014, 85.

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§ 24 Rz. 24.72

Stufenzuordnung

zugutekommen. Es reicht aus, wenn die frühere Tätigkeit mit der aktuellen in einem sachlichen Zusammenhang steht und die dabei erworbenen Kenntnisse für die aktuelle Tätigkeit offenkundig von Nutzen sind207. Dieses Verständnis greift auf § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BeamtVG zurück. Danach ist eine Tätigkeit „förderlich“, wenn sie für die Dienstausübung des Beamten nützlich ist. Das ist der Fall, wenn sie entweder erst aufgrund der früher gewonnenen Fähigkeiten und Erfahrungen ermöglicht oder wenn sie dadurch jedenfalls erleichtert und verbessert wird208. Auch eine selbstständige Tätigkeit kann danach eine förderliche berufliche Tätigkeit sein209. Ausbildungs- und Studienzeiten können dagegen nicht als „förderlich“ anerkannt werden210. Sie sind Voraussetzung für die Erfüllung des Stellenprofils und damit nicht förderlich im Tarifsinn, sondern Bedingung für die von Art. 33 Abs. 2 GG verlangte Eignung des Bewerbers. Die tariflichen Vorschriften lassen nur die Anerkennung von „Zeiten einer vorherigen beruflichen Tätigkeit“ zu. Das schließt es aus, Zeiten der Ausbildung, die eben noch keine berufliche Tätigkeit sind, als förderlich anzuerkennen.

24.73 Als förderliche Zeiten können auch Zeiten anerkannt werden, die bereits (teilweise) als Zeiten einschlägiger Berufserfahrung berücksichtigt worden sind bzw. werden könnten. Diese Zeiten können also letztlich doppelt berücksichtigt werden. § 16 Abs. 2 Satz 4 TV-L und die inhaltsgleichen Vorschriften im TVöD gelten ausdrücklich unabhängig von Satz 3. Der Arbeitgeber kann also, wenn er zur Deckung des Personalbedarfs höhere Stufen zubilligen will, auch die Berufserfahrung ein weiteres Mal berücksichtigen, die bereits zur tarifgerechten „Grundzuordnung“ in die Stufe 2 oder 3 der Entgeltgruppe geführt hätte211. dd) Angebrochene Stufenlaufzeiten

24.74 Restlaufzeiten sind – ebenso wie bei der Stufenzuordnung aufgrund einschlägiger Berufserfahrung (s. dazu Rz. 24.59) und nach Höhergruppierungen (s. dazu Rz. 24.134) – auch bei der Anerkennung förderlicher Zeiten grds. nicht zu berücksichtigen. Ordnet der Arbeitgeber den Neueingestellten unter Anerkennung förderlicher Zeiten einer bestimmten Stufe zu, beginnt in dieser Stufe grds. die Laufzeit bei Null. Erst nach Durchlaufen der vollen Stufenlaufzeit steigt der Beschäftigte in die nächsthöhere Stufe auf, wenn der Arbeitgeber nicht die Laufzeit wegen besonderer Leistungen nach § 17 Abs. 2 Satz 1 TVöD bzw. TV-L verkürzt oder auch die angebrochene Stufenlaufzeit ausdrücklich als förderlich anerkennt212. Andererseits ist die Stufenlaufzeit auch nicht etwa um die Zeit zu verlängern, die der Dauer der „übersprungenen“ Stufen entspricht213. Der Arbeitgeber hat mit seiner Ermessensentscheidung anerkannt, dass der Neueingestellte von Beginn an die erforderlichen Kenntnisse hat, um die Tätigkeit seiner Entgeltgruppe in der zuerkannten Stufe von Beginn an uneingeschränkt und vollwertig verrichten zu können. Hat der Beschäftigte die Stufenlaufzeit dieser Stufe durchmessen, hat er nach der Vorstellung der Tarifvertragsparteien auch dann, wenn er in den darunter liegenden Stufen nie tätig gewesen ist, das erforderliche Maß an Berufserfahrung gewonnen, um in die nächsthöhere Stufe aufzusteigen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn seine

207 208 209 210 211

BAG v. 5.6.2014 – 6 AZR 1008/12 Rz. 30, ZTR 2014, 530. BVerwG v. 14.3.2002 – 2 C 4.01, ZTR 2002, 400. BAG v. 5.6.2014 – 6 AZR 1008/12 Rz. 30, ZTR 2014, 530. AA BeckOK TV-L/Felix, § 16 TV-L Rz. 23i, 19g. BAG v. 23.9.2010 – 6 AZR 174/09 Rz. 16, ZTR 2011, 23; zustimmend Schreiber, NJ 2011, 130 (131). 212 LAG Rheinland-Pfalz v. 20.10.2010 – 8 Sa 416/10 (rkr.); Fieberg in Fürst, GKÖD, Teil E § 16 TVöD/TV-L Rz. 32; Steuernagel, ZMV 2013, 25 (26). 213 Steuernagel, ZMV 2013, 25 (26).

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.77 § 24

Leistungen in der zuerkannten Stufe so schlecht sind, dass die Voraussetzungen einer Verlängerung der Stufenlaufzeit gemäß § 17 Abs. 2 Satz 2 TVöD bzw. TV-L vorliegen. f) Vorweggewährung von Stufen Im abgelösten Tarifrecht bestand die Möglichkeit, zur Deckung des Personalbedarfs Stufen vorweg zu gewähren214. § 16 Abs. 5 TV-L sieht diese Möglichkeit weiter vor. Darüber hinaus kann die Vorweggewährung auch zur regionalen Differenzierung, zur Bindung qualifizierten Personals oder zum Ausgleich höherer Lebenshaltungskosten erfolgen. Für den TVöD ist im Tarifbereich des Bundes in § 16 Abs. 6 TVöD (Bund) nunmehr eine entsprechende Regelung, allerdings ohne das Tatbestandsmerkmal des Ausgleichs höherer Lebenshaltungskosten, vorgesehen. Im Bereich der VKA besteht diese Möglichkeit nur nach § 17 Abs. 4.1 TVöD-K215. Erfolgt die Vorweggewährung nicht nur einzelfallbezogen, sondern nach vom Arbeitgeber festgelegten, auf eine Vielzahl von Fällen anwendbaren Kriterien, ist sie mitbestimmungspflichtig. Einzelheiten dazu s. Rz. 24.144 ff.

24.75

aa) Freies Ermessen Das LAG Düsseldorf hat die Entscheidung des Arbeitgebers, ob er von der Möglichkeit der 24.76 Vorweggewährung Gebrauch macht, am Maßstab des billigen Ermessens nach § 315 BGB gemessen. Es hat die generelle Entscheidung des Landes, generell von § 16 Abs. 5 TV-L anlässlich des Schul(form)wechsels von Bestandslehrkräften keinen Gebrauch zu machen, nicht als ermessensfehlerhaft angesehen216. Das LAG Baden-Württemberg ist dagegen von einem freien Ermessen des Arbeitgebers ausgegangen, hat es aber auch mit billigem Ermessen iSv. § 315 BGB für vereinbar gehalten, dass das beklagte Land der klagenden Justizangestellten eine Zulage zum Ausgleich der höheren Lebenshaltungskosten in der Landeshauptstadt versagt hatte217. Das BAG hat in der darauf ergangenen Revisionsentscheidung offen gelassen, ob § 16 Abs. 5 TV-L dem Arbeitgeber in allen Anwendungsfällen billiges Ermessen gewährt. Jedenfalls soweit diese Bestimmung ihm die Möglichkeit gibt, eine Ballungsraumzulage zu gewähren, kommt diesem billiges Ermessen iSv. § 315 BGB zu. Das BAG hat dies aus Sinn und Zweck dieser Zulage gefordert. Bei der Entscheidung, ob sie zu zahlen ist, stehen sich die gegenläufigen finanziellen Interessen der Arbeitsvertragsparteien gegenüber. In die Abwägung sind darum zwingend die Arbeitnehmerinteressen einzustellen. Es fehlen die erforderlichen Anhaltspunkte dafür, dass die Tarifvertragsparteien trotzdem dem Arbeitgeber ein völlig freies Ermessen gewähren wollten. Bei der Abwägung der wechselseitigen Interessen darf der Arbeitgeber eine angespannte Haushaltslage berücksichtigen218. bb) Entgeltrechtliche Behandlung Nach den tariflichen Regelungen kann höchstens ein um bis zu zwei Stufen höheres Entgelt, bei den Beschäftigten, die bereits in der Endstufe sind, höchstens 20 % des Entgelts der Stufe 2 der Entgeltgruppe des Beschäftigten, bei Wissenschaftlern unter den Voraussetzungen des § 16 Abs. 4 TV-L idF des § 41 Nr. 11 TV-L 25 %, des Entgelts der Stufe 2 ihrer Entgeltgruppe, gewährt werden. § 17 Abs. 4.1 TVöD-K sieht eine prozentuale Erhöhung des Entgelts

214 215 216 217 218

§ 27 Abschn. C BAT, § 24 Abs. 2 MTArb, § 21a Abs. 4 BMT-G. Entsprechend § 53 BT-K. LAG Düsseldorf v. 16.6.2010 – 12 Sa 475/10 (rkr.). LAG Baden-Württemberg v. 9.7.2012 – 1 Sa 9/12, ZTR 2012, 580. BAG v. 31.7.2014 – 6 AZR 822/12 Rz. 20, 34 ff., ZTR 2015, 16.

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24.77

§ 24 Rz. 24.77

Stufenzuordnung

um bis zu 20 % der Stufe 2 nur in der Endstufe vor und eröffnet dem Arbeitgeber in den anderen Fällen die Möglichkeit, bis zu zwei Stufen ganz oder teilweise vorwegzugewähren. Die Tarifvertragsparteien haben mit den Regelungen in § 17 Abs. 5 Satz 3 und 4 TV-L über die Befristung und Widerruflichkeit der „Zulage“ deutlich gemacht, dass die Vorweggewährung durch Anhebung des monatlichen Entgelts in Form einer monatlichen Zulage zu erfolgen hat. Eine echte Vorstufung ist nicht möglich219. Für § 17 Abs. 4.1 TVöD-K gilt nichts anderes, obwohl dort die Bezeichnung als Zulage fehlt.

24.78 Die Zulage ist als monatlicher Entgeltbestandteil bei der Jahressonderzahlung und in allen Fällen der Entgeltfortzahlung zu berücksichtigen, bleibt aber bei der Berechnung des Überstundenentgelts nach § 8 Abs. 1 Satz 2 TVöD/TV-L, des Sterbegelds gemäß § 23 Abs. 3 TVöD/TV-L, der Zulage bei Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit für Beschäftigte der Entgeltgruppen 1 bis 8 gemäß § 14 Abs. 3 Satz 2 TVöD/TV-L sowie bei Übertragung von Führungsfunktionen auf Probe und auf Zeit nach § 31 und § 32 TVöD/TV-L unberücksichtigt, weil sie nicht Bestandteil des Tabellenentgelts ist220. Es bleibt der arbeitsvertraglichen Vereinbarung vorbehalten, ob die Zulage durch Stufenaufstiege und/oder Höhergruppierungen aufgezehrt und ob sie befristet werden soll. cc) Widerruflichkeit

24.79 Die Zulagen sind nach § 16 Abs. 5 Satz 4 TV-L bzw. § 16 Abs. 6 Abs. 4 TVöD (Bund) widerruflich. Das gilt auch dann, wenn sie befristet worden ist. § 17 Abs. 4.1 TVöD-K sieht dagegen keine Widerrufsmöglichkeit vor.

24.80 Mit der Vereinbarung eines Widerrufsrechts dürften die Tarifvertragsparteien die Grenzen ihrer autonomen Regelungsbefugnis noch nicht überschritten haben. Die Vereinbarung eines Widerrufsrechts für den Arbeitgeber in einem Formulararbeitsvertrag ist grds. zulässig, wenn der widerrufliche Anteil am Gesamtverdienst unter 25 bis 30 % liegt und der Tariflohn nicht unterschritten wird221. Erst recht ist dann die tarifliche Vereinbarung eines Widerrufsrechts des Arbeitgebers zulässig, das weniger als 25 % der bisherigen Gesamtvergütung des Arbeitnehmers erfasst222. Bei typisierender Betrachtung unterschreitet die durch § 16 Abs. 5 TV-L ermöglichte Zulage diese Grenze. Ob der Widerruf an Sachgründe oder zumindest billiges Ermessen gebunden ist, ist bisher nicht entschieden. Die zeitliche Ungebundenheit des Widerrufs ist ein Indiz dafür, dass eine inhaltliche Bindung für den Widerruf nicht getroffen werden sollte223. Die Tarifvertragsparteien sind grds. rechtlich nicht gehindert, dem Arbeitgeber ein freies, nicht an billiges Ermessen iSv. § 315 Abs. 1 BGB gebundenes Widerrufs- oder sonstiges Gestaltungsrecht einzuräumen224. Allerdings schreibt § 315 Abs. 1 BGB, der vor unbilligen Benachteiligungen durch Ausüben eines einseitigen Bestimmungsrechts schützen will, im Zweifel ein Bestimmungsrecht nach billigem Ermessen vor. Das BAG hat bei einem tarifvertraglich zulässigen freien Widerruf einer Leistungszulage offen gelassen, ob ein solches freies

219 Fieberg in Fürst, GKÖD, Teil E § 16 TVöD/TV-L Rz. 32c; aA BeckOK TV-L/Felix, § 16 TV-L Rz. 32c, d und k. 220 Fieberg in Fürst, GKÖD, Teil E § 16 TVöD/TV-L Rz. 32c; BeckOK TV-L/Felix, § 16 TV-L Rz. 32i. 221 BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 557/05, ArbRB 2006, 323 = ZTR 2007, 91. 222 BAG v. 7.7.2011 – 6 AZR 151/10 Rz. 20 ff., ZTR 2011, 678. 223 BAG v. 9.2.2005 – 5 AZR 209/04, ZTR 2005, 421. 224 BAG v. 7.7.2011 – 6 AZR 151/10 Rz. 27, ZTR 2011, 678.

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Stufenzuordnung bei der Einstellung

Rz. 24.82 § 24

Widerrufsrecht mit der Funktion des § 315 BGB im Einklang stünde225. Ist für den Widerruf billiges Ermessen erforderlich, nimmt der Arbeitgeber aber an, er könne die Zulage frei widerrufen, macht dies den Widerruf noch nicht unwirksam. Maßgeblich ist allein, ob der Widerruf objektiv billigem Ermessen entspricht226. Selbst wenn die Zulage frei widerruflich wäre, wäre die Ausübung des tariflich eröffneten Widerrufsrechts nicht jeglicher Rechtskontrolle entzogen. Einzelheiten s. Rz. 24.68. In einer Vielzahl von Fällen wird es daher bei einer Überprüfung des Widerrufs auf den Prüfungsmaßstab nicht ankommen. g) Privilegierung des Wechsels von einem anderen öffentlichen Arbeitgeber (§ 16 Abs. 3 TVöD (Bund), § 16 Abs. 2a TVöD (VKA) und TV-L) Die Stufenregelungen in § 16 TVöD und TV-L, wie sie in diesen Tarifverträgen ursprünglich vereinbart waren, haben die Mobilität zwischen den verschiedenen Arbeitgebern des öffentlichen Dienstes erheblich beeinträchtigt. Die Beschäftigten konnten bei einem solchen Wechsel unabhängig von der Dauer der erworbenen, einschlägigen Berufserfahrung höchstens der Stufe 3 zugeordnet werden. Diese „Deckelung“, die in einer Vielzahl von Fällen zu erheblichen Entgeltverlusten führte, haben die Tarifvertragsparteien mit den Änderungstarifverträgen Nr. 2 zum TVöD und TV-L vom 13.3.2008 bzw. 1.3.2009 beseitigt. Seitdem eröffnen § 16 Abs. 3a TVöD (Bund) (nunmehr § 16 Abs. 3) sowie § 16 Abs. 2a TVöD (VKA) und TV-L die Möglichkeit, die bei anderen öffentlichen Arbeitgebern erworbene Stufe ganz oder teilweise zu berücksichtigen. Dabei unterscheiden sich diese Regelungen im Detail: Der TVöD berücksichtigt Arbeitsverhältnisse zu Arbeitgebern, die einen mit dem TVöD vergleichbaren Tarifvertrag anwenden, auch dann, wenn sie nicht zum öffentlichen Dienst iSv. § 34 Abs. 3 Satz 3 und 4 TVöD gehören, der TV-L nur die Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes iSd. Vorschrift.

24.81

aa) Anwendungsbereich Erfasst sind nur Arbeitsverhältnisse, die bei öffentlich-rechtlichen Arbeitgebern iSv. § 34 Abs. 3 Satz 3 und Satz 4 TVöD/TV-L bestanden haben. Die Arbeitgeber müssen öffentlichrechtlich konstituiert sein227. Erfasst wird damit nicht nur der Wechsel von einem TVöD-Arbeitgeber zu einem anderen bzw. von einem TV-L-Arbeitgeber zu einem anderen, sondern über § 34 Abs. 3 Satz 4 TVöD/TV-L auch der Wechsel vom TV-L in den TVöD und umgekehrt. Über § 34 Abs. 3 Satz 4 TVöD/TV-L wird auch bei einem Wechsel aus dem oder in den Geltungsbereich des TV-H und des TV-L Berlin eine höhere Einstufung über § 16 Abs. 2a bzw. Abs. 3a TVöD/TV-L ermöglicht. Ob der berücksichtigungsfähige Tarifvertrag aufgrund beiderseitiger Tarifbindung oder arbeitsvertraglicher Inbezugnahme Anwendung gefunden hat, ist unerheblich228. Eine Berücksichtigung der erworbenen Stufe ist auch möglich, wenn die Anwendung des TVöD oder TV-L nach einer Ausgründung aus dem öffentlichen Dienst gesetzlich angeordnet ist und der Beschäftigte zu einem anderen öffentlichen Arbeitgeber wechselt. Eine solche Anordnung ist regelmäßig im Errichtungsgesetz getroffen, wenn Behörden der unmittelbaren Staatsverwaltung in rechtlich selbständige Körperschaften oder Anstal-

225 BAG v. 7.7.2011 – 6 AZR 151/10 Rz. 27 f., ZTR 2011, 678; zweifelnd, ob ein völlig unbeschränkter Widerrufsvorbehalt rechtswirksam wäre: Fieberg in Fürst, GKÖD, Teil E § 16 TVöD/TV-L Rz. 32d. 226 BAG v. 7.7.2011 – 6 AZR 151/10 Rz. 36, ZTR 2011, 678. 227 BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 551/12 Rz. 55, ZTR 2014, 85. 228 Fieberg in Fürst, GKÖD, Stand Februar 2010, Teil E § 16 TVöD/TV-L Rz. 24d.

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24.82

§ 24 Rz. 24.82

Stufenzuordnung

ten des öffentlichen Rechts umgewandelt werden, zB in § 12 des Gesetzes zur Gründung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA-Errichtungsgesetz) vom 9.12.2004229.

24.83 Nur im TVöD können Stufen, die bei Arbeitgebern außerhalb des öffentlichen Dienstes erworben worden sind, berücksichtigt werden, wenn dieser einen dem TVöD vergleichbaren Tarifvertrag angewendet hat, § 16 Abs. 3 TVöD (Bund) und Abs. 2a (VKA). Für die Berücksichtigung der in einem früheren Arbeitsverhältnis erworbenen Stufe reicht es insoweit nicht aus, dass der vorherige Arbeitgeber dem öffentlichen Dienst zuzuordnen ist. Erforderlich ist zusätzlich, dass er auf den wechselnden Beschäftigten den TVöD, TV-L, TV-H oder ein strukturell vergleichbares Regelungswerk angewendet hat, das insbesondere eine nach Berufserfahrung erfolgende Stufenzuordnung iSd. neuen Tarifverträge des öffentlichen Dienstes vorsieht230. Das ist in § 16 Abs. 2a TV-L mit der Formulierung „die beim vorherigen Arbeitgeber nach den Regelungen des TV-L … oder eines vergleichbaren Tarifvertrages erworbene Stufe“ ausdrücklich geregelt. Zugleich ist damit der Rechtscharakter des angewandten Regelungswerks festgelegt: Es muss sich grds. um einen Tarifvertrag gehandelt haben. Für § 16 Abs. 3 TVöD (Bund) und § 16 Abs. 2a TVöD (VKA) gilt grds. nichts anderes. Soll die bei einem anderen öffentlichen Arbeitgeber „erworbene Stufe“ berücksichtigt werden können, setzt dies zwingend voraus, dass das von diesem Arbeitgeber angewandte Regelungswerk Stufen vorgesehen hat, die zumindest in ihrer Struktur den Erfahrungsstufen in §§ 16 und 17 TVöD entsprechen. Mangels ausdrücklicher Regelung dürfte es allerdings an der Beschränkung auf Stufen, die nach einem Tarifvertrag erworben sind, fehlen.

24.84 Die im TV-V erworbenen Stufen dürften nach diesen Grundsätzen nicht berücksichtigt werden können. Die in § 5 Abs. 2 TV-V vorgesehenen Stufen sollen zwar ebenfalls die Berufserfahrung honorieren231. Die Stufenstruktur, insbesondere die jeweilige Laufzeit, unterscheidet sich aber erheblich von der des TVöD und TV-L. Ein Arbeitsverhältnis, auf das der BAT oder der MTArb/BMT-G oder ein an diesen Tarifverträgen orientiertes kirchliches Regelungswerk angewendet worden ist, kann wegen der anderen Stufenstruktur dieser Werke ebenfalls nicht berücksichtigt werden232. Sieht ein kirchliches Regelungswerk dagegen – wie zB § 13 BAT-KF nF, § 4 der Anlage 21a oder § 11 Abs. 2 der Anlage 33 der AVR Caritas – Stufen vor, die mit den Erfahrungsstufen im TVöD vergleichbar sind, dürfte die Berücksichtigung der erworbenen Stufe nach § 16 Abs. 3/2a TVöD möglich sein, wenn der kirchliche Arbeitgeber eine öffentlich-rechtliche Körperschaft und damit ein öffentlicher Arbeitgeber iSd. § 34 Abs. 3 Satz 4 TVöD ist. § 16 Abs. 2a TV-L verlangt dagegen, dass die Stufe nach den Regelungen eines vergleichbaren „Tarifvertrages“ erworben ist. Auf dem Dritten Weg geschlossene Regelungen, zu denen ungeachtet seiner Bezeichnung auch der BAT-KF gehört, sind damit im Geltungsbereich des TV-L nicht berücksichtigungsfähig233. Es ist nicht anzunehmen, dass den Tarifvertragsparteien nicht bekannt war, dass diese Regelungen gerade keine Tarifverträge sein wollen und sollen234. Dagegen dürften die auf dem Zweiten Weg zustande gekommenen Tarifverträge ungeachtet des Umstands, dass sich darin die Gewerkschaft einer Schlichtung unterwirft und auf Arbeitskampfmaßnahmen verzichtet, Tarifverträge iSd. § 16 Abs. 3 bzw. Abs. 2a

229 230 231 232

BGBl. I, S. 3235; weitere Beispiele bei Fieberg in Fürst, GKÖD, Teil E § 1 TVöD/TV-L Rz. 9. Vgl. BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 551/12 Rz. 57, ZTR 2014, 85. BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 578/09 Rz. 26, ZTR 2011, 365. Fieberg in Fürst, GKÖD, Teil E § 16 TVöD/TV-L Rz. 24d; BeckOK TV-LFelix, § 16 TV-L Rz. 27d. 233 Fieberg in Fürst, GKÖD, Teil E § 16 TVöD/TV-L Rz. 24d. 234 Vgl. zum Dritten Weg BAG v. 20.11.2012 – 1 AZR 179/11, ArbRB 2013, 110 = ZTR 2013, 372.

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Stufenzuordnung nach Höhergruppierung

Rz. 24.88 § 24

TVöD/TV-L sein235. Die gemäß § 16 des auf dem Zweiten Weg mit der GEW geschlossenen TV-EKBO236 erworbene Stufe dürfte berücksichtigungsfähig sein. Diese Regelung entspricht weitgehend der in den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes normierten Stufenzuordnung. Auf befristete Arbeitsverhältnisse, die sich unmittelbar an ein beim selben Arbeitgeber bestehendes Arbeitsverhältnis anschließen, findet § 16 Abs. 2a bzw. Abs. 3 TVöD/TV-L nach dem Regelungszweck dieser Vorschriften keine Anwendung237. Sie soll die Mobilität und Arbeitskräfteaustausch zwischen verschiedenen Arbeitgebern des öffentlichen Dienstes erleichtern und gilt daher nur beim Wechsel von einem anderen Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes. Zur Stufenzuordnung dieser Beschäftigten s. Rz. 24.21 ff. Wird dagegen ein Arbeitsverhältnis nach dem Wechsel von einem anderen Arbeitgeber zunächst befristet, kann die erworbene Stufe berücksichtigt werden.

24.85

bb) Regelungsinhalt Die Berücksichtigung der erworbenen Stufe kommt nur in Betracht, wenn das neue Arbeitsverhältnis „im unmittelbaren Anschluss“ an das vorherige begründet wird. Nach Auffassung des Bundes und der TdL sind nur Unterbrechungen unschädlich, die durch allgemein arbeitsfreie Tage an Wochenenden oder gesetzliche Feiertage entstehen238. Im Unterschied zu den Regelungen zur Stufenzuordnung in § 16 Abs. 2 TVöD/TV-L (s. Rz. 24.15) hat der Beschäftigte im Anwendungsbereich der §§ 16 Abs. 3 und Abs. 2a TVöD/TV-L keinen Anspruch auf eine Stufenzuordnung unter Mitnahme der erworbenen Stufe. Diese Vorschriften eröffnen dem Arbeitgeber nur ein Ermessen. Ebenso wie bei der Berücksichtigung förderlicher Zeiten (dazu s. Rz. 24.67) handelt es sich um freies Ermessen239. Zur verbleibenden Rechtskontrolle s. Rz. 24.68.

24.86

Erkennt der Arbeitgeber die erworbene Stufe voll an, folgt aus dem Regelungszweck, dass damit auch die beim bisherigen Arbeitgeber absolvierten Restlaufzeiten anerkannt werden. Die Stufenlaufzeit läuft dann beim neuen Arbeitgeber nahtlos weiter240. Der Arbeitgeber ist allerdings nicht gehindert, die erworbene Stufe nur teilweise anzuerkennen. Dazu gehört auch die Möglichkeit, dass er die in der erworbenen Stufe zurückgelegte Laufzeit nicht anerkennt, sondern die Stufenlaufzeit in dem bei ihm bestehenden Arbeitsverhältnis neu zu laufen beginnen lässt.

24.87

IV. Stufenzuordnung nach Höhergruppierung Die Regeln, nach denen eine Stufenzuordnung erfolgt, wenn der Beschäftigte höher gruppiert worden ist, sind ein Musterbeispiel dafür, wie sehr sich in den Jahren seit der Einführung des neuen Tarifrechts die Tarifsituation in den verschiedenen Tarifbereichen auseinander entwickelt hat. Die Stufenzuordnung bei Bund und VKA sowie im Land Hessen erfolgt inzwi235 Vgl. BAG v. 20.11.2012 – 1 AZR 611/11 Rz. 53 f., ArbRB 2013, 111 = NZA 2013, 437. 236 Tarifvertrag der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (TV-EKBO) vom 9.7.2008, nachzulesen auf der Homepage www.kirchenrecht-ekbo.de. 237 BAG v. 27.4.2017 – 6 AZR 459/16 Rz. 17, ZTR 2017, 478. 238 Runddschreiben des BMI D 5-220.210 -2/16 v. 27.5.2009 unter 2.1.1; Rundschreiben TdL v. 13.7.2009 – 2-06/856/09 – D/6 unter 2.2.1; ebenso BeckOK TV-L/Felix, § 16 TV-L Rz. 27b; die Quote im Hochschulbereich gibt Chipkovenska, Anm. ZBVR online 6/2013, 27 an. 239 Fieberg in Fürst, GKÖD, Teil E § 16 TVöD/TV-L Rz. 24i. 240 Fieberg in Fürst, GKÖD, Teil E § 16 TVöD/TV-L Rz. 24 f.

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24.88

§ 24 Rz. 24.88

Stufenzuordnung

schen – seit dem 1.3.2017 wieder einheitlich – stufengleich, während sie im Bereich der TdL – wie ursprünglich in allen Tarifbereichen – weiterhin betragsbezogen durchgeführt wird. Mit dieser Auseinanderentwicklung, die mit der stufengleichen Höhergruppierung das neue Entgeltsystem zT durchbricht, ist der Gedanke der Einheit des öffentlichen Dienstes241 endgültig aufgegeben. Niederschlag findet dieser Gedanke nur noch rudimentär, vor allem bei der Berechnung der Beschäftigungszeit in § 34 Abs. 3 Satz 3 TVöD/TV-L242. Auch bei einem unmittelbaren Wechsel zwischen Arbeitgebern des öffentlichen Dienstes muss die bei dem bisherigen Arbeitgeber erreichte Stufe nicht anerkannt werden. Insoweit gilt nur die ermessensabhängige Anrechnung nach § 16 Abs. 2a TVöD (VKA) und TV-L bzw. § 16 Abs. 3 TVöD (Bund) (Rz. 24.81 ff.). Angesichts der Unterschiede zwischen den Stufenfindungsregeln der einzelnen Tarifbereiche würde die zwingende Weiterführung der erreichten Stufe auch zu Verwerfungen führen. 1. Begriff und Zweifelsfälle der Höhergruppierung a) Grundsatz

24.89 Eine Eingruppierung in eine höhere Entgeltgruppe iSv. § 17 Abs. 4 Satz 1 TVöD/TV-L bzw. § 17 Abs. 5 Satz 1 TVöD liegt vor, wenn dem Beschäftigten während des bestehenden Arbeitsverhältnisses dauerhaft Tätigkeiten einer höheren Entgeltgruppe übertragen werden und er eine Vergütung aus dieser Entgeltgruppe erhält243. Darum kommen § 17 Abs. 4 bzw. Abs. 5 TVöD oder § 17 Abs. 4 TV-L auch dann nicht zum Tragen, wenn ein zuvor befristet Beschäftigter nach einer rechtlichen Unterbrechung auf einem höherwertigen Arbeitsplatz wieder eingestellt wird (sog. „vertikale“ Wiedereinstellung“). Insoweit gilt ausschließlich § 16 Abs. 2 TVöD/TV-L. Das in § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG verankerte Verbot der Diskriminierung befristet Beschäftigter steht dem nicht entgegen. Einzelheiten in Rz. 24.29 ff. b) Anwendbarkeit der Höhergruppierungsregelungen bei fehlerhaften Eingruppierungen? aa) Falsche Eingruppierung seit der Einstellung

24.90 Keine Höhergruppierung iSd. § 17 Abs. 4 TVöD/TV-L bzw. § 17 Abs. 5 TVöD liegt vor, wenn der Beschäftigte seit seiner Einstellung fehlerhaft zu niedrig eingruppiert war, die Tätigkeit also falsch bewertet worden ist, und dies vom Arbeitgeber korrigiert wird. Dann war er aufgrund der Tarifautomatik der Eingruppierung, die sich aus § 12 Abs. 2 Satz 1 TVöD (VKA) bzw. Bund sowie § 12 Abs. 1 Satz 3 TV-L ergibt244, von Beginn seiner Tätigkeit in der richtigen Entgeltgruppe eingruppiert und hat in dieser Entgeltgruppe darum durchgehend Berufserfahrung erworben. § 17 Abs. 4, 5 TVöD/TV-L kommen nicht zum Tragen. Der Beschäftigte ist vielmehr rückwirkend nach § 16 Abs. 2 TVöD/TV-L der Stufe der richtigen, höheren Entgeltgruppe zuzuordnen, für die er bei seiner Einstellung die erforderliche einschlägige Berufserfahrung besaß245. Dabei ist die „Deckelung“ auf die Stufe 3 zu berücksichtigen, sofern 241 Dazu BAG v. 16.11.2005 – 10 AZR 235/05, ZTR 2006, 262; v. 19.10.2000 – 6 AZR 244/99, ZTR 2001, 362; v. 23.1.1985 – 5 AZR 552/83, AP BGB § 611 – Gratifikation Nr. 122. 242 BAG v. 29.6.2017 – 6 AZR 364/16 Rz. 16, ZTR 2017, 542. 243 BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1067/12 Rz. 18, ZTR 2014, 594; vgl. zum Begriff der „Höhergruppierung“ in § 12 Abs. 5 TVÜ-Bund bzw. § 12 Abs. 5 TVÜ-Länder BAG v. 26.7.2012 – 6 AZR 701/10 Rz. 18, ZTR 2012, 640; v. 21.5.2015 – 6 AZR 254/14 Rz. 24, ZTR 2015, 567. 244 Dazu zuletzt BAG v. 18.10.2018 – 6 AZR 246/17 Rz. 15, ZTR 2019, 164. 245 Fieberg in Fürst, GKÖD Band IV Stand Januar 2015, Teil E § 17 Rz. 43.

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Stufenzuordnung nach Höhergruppierung

Rz. 24.92 § 24

keine „horizontale“ Wiedereinstellung nach Befristung durch den bisherigen Arbeitgeber vorlag. In letzterem Fall ist die einschlägige Berufserfahrung uneingeschränkt zu berücksichtigen (Rz. 24.23 ff.). Die Stufenlaufzeit in dieser Stufe begann mit dem Zeitpunkt der Einstellung. Stufenaufstiege aus dieser Stufe sind nachzuvollziehen. Entgeltdifferenzen sind unter Beachtung der Ausschlussfrist des § 37 TVöD/TV-L nachzuzahlen. Dieser Nachzeichnung des Stufenaufstiegs, der sich bei richtiger Eingruppierung ergeben hätte, steht die Ausschlussfrist nicht entgegen. Sie lässt nur die laufenden Zahlungsansprüche untergehen. Das dem laufend neu entstehenden Anspruch zugrunde liegende Recht unterliegt als „Grundanspruch“ bzw. „Stammrecht“ dagegen nicht der Ausschlussfrist. Darum verfällt das Recht, sich auf eine höhere als die vom Arbeitgeber zunächst anerkannte Eingruppierung oder Stufenzuordnung zu berufen, nicht246. bb) Hineinwachsen in eine höhere Entgeltgruppe während des laufenden Arbeitsverhältnisses Die Regeln zur Stufenzuordnung nach Höhergruppierung greifen dagegen ein, wenn sich der Tätigkeitszuschnitt während des laufenden Arbeitsverhältnisses ändert. Ein solcher Fall liegt beispielsweise vor, wenn der Aufgabenzuschnitt sich so verändert, dass nunmehr die Voraussetzungen eines Heraushebungsmerkmals erfüllt werden. Dann „wächst“ die Tätigkeit in eine höhere Entgeltgruppe hinein. Der Beschäftigte war dann zunächst richtig eingruppiert. Aufgrund der Tarifautomatik ist er ab dem Zeitpunkt der Änderung des Tätigkeitszuschnitts höhergruppiert. Er ist in der höheren Entgeltgruppe nach den Regeln der §§ 17 Abs. 4 bzw. Abs. 5 TVöD/TV-L einer Stufe zuzuordnen. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, in dem die Höhergruppierung tatsächlich eintrat247. Die praktischen Auswirkungen zeigt folgendes Beispiel: Der Beschäftigte ist bei einem Land tätig und am 31.5.2015 in die EG 9 Stufe 3 mit einer angefangenen Laufzeit von 2 Jahren eingruppiert. Zum 1.6.2015 ändert sich der Tätigkeitszuschnitt. Die Tätigkeit ist nunmehr nach EG 10 bewertet. Der Arbeitgeber reagiert darauf nicht, sondern stuft den Beschäftigten am 1.6.2016 in die Stufe 4 der Entgeltgruppe 9 höher. Der Beschäftigte stellt am 15.6.2018 einen Höhergruppierungsantrag. Er ist mit Wirkung zum 1.6.2015 nach § 17 Abs. 4 Satz 1 TV-L betragsbezogen höherzustufen. Zugrundezulegen ist die Stufe 3 der Entgeltgruppe 9, der er bis zum 31.5.2015 noch tarifgerecht zugeordnet war. Er ist darum in der Entgeltgruppe 10 betragsbezogen der Stufe 2 zuzuordnen248. Die Stufenlaufzeit hat am 1.6.2015 begonnen. Der Beschäftigte ist der Stufe 3 der Entgeltgruppe 10 daher am 1.6.2017 und der Stufe 4 am 1.6.2020 zuzuordnen. Auf seinen Antrag vom 15.6.2018 ist ihm unter Beachtung der Ausschlussfrist das Entgelt der Entgeltgruppe 10 Stufe 3 mit Wirkung ab Dezember 2017 und damit249 eine Entgeltdifferenz von 89,25 t brutto zu zahlen. Auch insoweit gilt, dass die Ausschlussfrist nur den laufenden Zahlungsanspruch, nicht aber den Grundanspruch („Stammanspruch“) untergehen lässt (Rz. 24.90).

24.91

Abhängig von den Umständen des Einzelfalls kann eine solche „schleichende“ Höhergruppierung auch einen Rückforderungsanspruch des Arbeitgebers nach § 812 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 BGB und erst zukunftsbezogen einen Anspruch des Beschäftigten auf mehr Entgelt

24.92

246 Vgl. BAG v. 25.6.2009 – 6 AZR 384/08 Rz. 20, ZTR 2009, 578. 247 Fieberg in Fürst, GKÖD Band IV Stand Januar 2015, Teil E § 17 Rz. 43. 248 Nach der Entgelttabelle in Anlage B. zum TV-L betrug das Entgelt in der Entgeltgruppe 9, Stufe 3, für die Zeit vom 1.3.2015 bis zum 29.2.2016 2.949,71 t. Das Entgelt der Stufe 2 der Entgeltgruppe 10 lag mit 3.182,35 t höher, so dass die Zuordnung zu dieser Stufe erfolgen musste. Wäre die inzwischen in der Entgeltgruppe 9 erreichte Stufe 4 maßgeblich, würde der Beschäftigte in der Entgeltgruppe 10 dagegen der Stufe 3 zugeordnet. 249 Unter Zugrundelegung der ab 1.3.2016 gültigen Entgelttabelle in Anlage B. zum TV-L.

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§ 24 Rz. 24.92

Stufenzuordnung

zur Folge haben. Das gilt insbesondere dann, wenn der Beschäftigte im Zeitpunkt des „Anwachsens“ seiner Tätigkeit noch in der Stufe 2 oder 3 seiner Entgeltgruppe ist, also die Stufenlaufzeiten noch kurz sind und der Arbeitgeber die Berechtigung des Höhergruppierungsantrags ausdauernd prüft, so dass ein in der niedrigeren Entgeltgruppe während der Prüfung vollzogener Stufenaufstieg wahrscheinlich ist. In folgender Konstellation kam es zu einem nach Ansicht des beklagten Landes bestehenden Rückforderungsanspruch von mehr als 15.000 t250: Der Beschäftigte war in die EG 11 TV-L übergeleitet worden. Er erhielt bis Dezember 2012 ein Entgelt aus der Stufe 4, seit dem 1.1.2013 dann aus der Stufe 5 dieser Entgeltgruppe. Auf seinen Antrag vom 15.6.2012 gruppierte ihn das beklagte Land Ende 2014 rückwirkend zum 1.1.2012 in die Entgeltgruppe 12 ein. Ausgehend von der Stufe 4 der Entgeltgruppe 11 wurde er deshalb gemäß § 17 Abs. 4 Satz 1 TV-L tarifgerecht der Stufe 3 der Entgeltgruppe 12 zugeordnet251. Er hatte darum in der Zeit vom 1.1.2012 bis 31.12.2012 ein Entgelt der Entgeltgruppe 11 Stufe 4 statt aus der Entgeltgruppe 12 Stufe 3, in der Zeit vom 1.1.2013 bis 28.2.2015 aus der Entgeltgruppe 11 Stufe 5 statt aus der Entgeltgruppe 12 Stufe 3 und schließlich vom 1.3.2015 bis 30.4.2015 ein Entgelt aus der Entgeltgruppe 11 Stufe 5 statt aus der Entgeltgruppe 12 Stufe 4 erhalten. Das führte zu erheblichen Überzahlungen, weil das Entgelt der Stufe 3 der Entgeltgruppe 12 etwa 500,00 t brutto monatlich unter dem Entgelt der Stufe 5 der Entgeltgruppe 11 lag. Zudem hatte sich durch den Aufstieg in die Entgeltgruppe 12 gemäß § 20 Abs. 2 TV-L der Bemessungssatz der Jahressonderzahlung von 80 % auf 50 % gemindert.

24.93 Wann in einer solchen Konstellation die Ausschlussfrist des § 37 TVöD/TV-L für den Arbeitgeber zu laufen beginnt, insbesondere wann die Fälligkeit der Rückforderung eintritt, konnte das BAG aufgrund der konkreten Umstände des von ihm zu entscheidenden Falls nicht klären. In der Mehrzahl der dem vorliegend geschilderten Fall vergleichbaren Fälle wird der Anspruch bereits mit dem nach der Tarifautomatik eintretenden Zeitpunkt der Höhergruppierung fällig und daher bei der idR erst Jahre später erfolgenden Geltendmachung verfallen sein. Fälligkeit iS einer tariflichen Ausschlussfrist tritt ein, wenn der Berechtigte den Anspruch rechtlich und tatsächlich geltend machen kann. Die Unkenntnis der Rechtslage hat dabei grds. ebensowenig wie eine rechtliche Fehleinschätzung Einfluss auf den Zeitpunkt der Fälligkeit und damit den Beginn der Ausschlussfrist. Dem Berechtigten sind auch dann die Tatsachen, die seinen Anspruch begründen, uneingeschränkt bekannt. Er erkennt lediglich die sich daraus ergebenden rechtlichen Konsequenzen nicht und macht darum den Anspruch nicht geltend. Diese Untätigkeit fällt allein in seine Risikosphäre252. Nach der für Eingruppierungen des öffentlichen Dienstes geltenden Tarifautomatik tritt die Höhergruppierung automatisch ein, sobald die tariflichen Tätigkeitsmerkmale erfüllt sind. Dabei handelt es sich um objektive Tatsachen, die dem öffentlichen Arbeitgeber bekannt sind oder bekannt sein müssen. Ob und wie lange er für die Erkenntnis, dass diese Tatsachen eine höhere Eingruppierung rechtfertigen, und deren Umsetzung benötigt, ist für die Fälligkeit iSd. § 37 TVöD/TV-L unerheblich. Der öffentliche Arbeitgeber kann darum die Fälligkeit durch die Dauer seiner Prüfung weder verhindern noch hinauszögern. Er kann sich auch nicht darauf berufen, dass er erst noch anhand der persönlichen Verhältnisse des Beschäftigten habe ermitteln müssen, ob und in welcher Höhe eine Überzahlung eingetreten sei. Auch diese Verhältnisse liegen objektiv vor und sind dem öffentlichen Arbeitgeber aus der Personalakte bekannt und zu-

250 BAG v. 18.10.2018 – 6 AZR 300/17, ZTR 2019, 214. 251 Gemäß der Entgelttabelle in Anlage B. zum TV-L betrug am 1.1.2012 das Entgelt der Stufe 4 der Entgeltgruppe 11 3.476,27 t, das der Stufe 3 der Entgeltgruppe 12 ebenfalls 3.476,27 t. 252 BAG v. 18.2.2016 – 6 AZR 628/14 Rz. 17, ZTR 2016, 314.

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Stufenzuordnung nach Höhergruppierung

Rz. 24.95 § 24

gänglich. Die Ausschlussfrist beginnt daher im Regelfall mit der jeweiligen Überzahlung. Zu den Fällen, in denen für die Höhergruppierung ein Antrag erforderlich ist, Rz. 24.110 ff. c) Sonderfall: Höhergruppierung nach der Überleitung in die neuen Entgeltordnungen des öffentlichen Dienstes aa) Grundsätze In allen Tarifbereichen sind die Beschäftigten in die neuen Entgeltordnungen grds. unter Beibehaltung ihrer bisherigen Entgeltgruppe übergeleitet worden. Eine Sonderregelung findet sich in § 29c Abs. 2 und Abs. 3 TVÜ-VKA, die an die Stufenbegrenzung in der alten Entgeltgruppe 9 anknüpft. War die Stufe begrenzt, der Beschäftigte also in der „kleinen“ Entgeltgruppe 9, wird er gemäß § 29c Abs. 3 TVÜ-VKA betragsbezogen, aber unter Mitnahme der Stufenlaufzeit in die neue Entgeltgruppe 9a übergeleitet. War er in der „großen“ Entgeltgruppe 9, wird er gemäß § 29c Abs. 2 TVÜ-VKA stufengleich und unter Mitnahme der Stufenlaufzeit in die Entgeltgruppe 9b übergeleitet. Eine inhaltsgleiche Regelung trifft § 27 Abs. 2 und Abs. 3 TVÜ-Bund. Bei der Anwendung dieser Vorschriften kommt es nach den Grundsätzen der im Entgeltsystem des öffentlichen Dienstes grds. geltenden Tarifautomatik (Rz. 24.90) nicht darauf an, ob der Arbeitgeber die Stufenbegrenzung in der „kleinen“ Entgeltgruppe 9 beachtet hat, sondern nur darauf, ob der Beschäftigte objektiv in die kleine Entgeltgruppe 9 eingruppiert war. Ist das der Fall, findet § 29c Abs. 3 TVÜ-VKA bzw. § 27 Abs. 3 TVÜ-Bund Anwendung. Hat der Arbeitgeber die Überleitung insoweit fehlerhaft, nämlich aus einer Stufe, in die der Beschäftigte wegen der Stufenbegrenzung gar nicht hätte aufsteigen dürfen, vorgenommen, kann das korrigiert werden. Auch § 29a Abs. 1 TVÜ-VKA bzw. § 25 Abs. 1 TVÜBund stehen dem nicht entgegen. Sie erfassen nur die Eingruppierung und nicht fehlerhafte Stufenzuordnungen unter Missachtung der in einzelnen Entgeltgruppen geltenden Stufenbegrenzungen253.

24.94

Die Beibehaltung der bisherigen Entgeltgruppe gilt für die „Dauer der unverändert auszuübenden Tätigkeit“. Insoweit haben die Tarifvertragsparteien die Tarifautomatik (dazu Rz. 24.90) außer Kraft gesetzt254. Die neuen Entgeltordnungen kommen grds. erst bei Änderungen der Tätigkeit zur Anwendung. In allen Tarifbereichen werden Beschäftigte auch dann (nur!) auf ihren Antrag höhergruppiert, wenn sich nach dem neuen Recht eine höhere Eingruppierung ergibt255. Mit dem Antragserfordernis ist sichergestellt, dass die Beschäftigten eine bewusste Entscheidung zwischen den Vorteilen der „neuen Welt“ und der Aufgabe etwaiger aus der „alten Welt“ des BAT/MTArb/MT-G mitgeschleppten Vorteile treffen256. Ein solcher Antrag kommt insbesondere in Betracht, wenn die unveränderte Tätigkeit in der neuen Entgeltordnung höher bewertet worden ist, weil Tätigkeitsmerkmale, die im BAT einen Bewährungsaufstieg ermöglichten, nunmehr der höheren Entgeltgruppe zugeordnet worden sind257.

24.95

253 BAG v. 21.12.2017 – 6 AZR 790/16 Rz. 27, ZTR 2018, 261; vgl. auch LAG Düsseldorf v. 23.10.2018 – 3 Sa 327/18, ZTR 2019, 225, Revision anhängig unter 6 AZR 74/19. 254 Vgl. BAG v. 18.10.2018 – 6 AZR 300/17, ZTR 2019, 214; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Juli 2017, § 29a TVÜ-VKA Rz. 5; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, Stand Mai 2012, TVÜ-Länder Rz. 759. 255 § 25 Abs. 1 und § 26 Abs. 1 Satz 1 TVÜ-Bund; § 29a Abs. 1 Satz 1 und § 29b Abs. 1 Satz 1 TVÜVKA; § 29a Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 TVÜ-Länder. 256 Malottke, AnwZert ArbR 14/2017, Anm. 2. 257 Malottke, AnwZert ArbR 14/2017, Anm. 2; zu den in Betracht kommenden Anwendungsfällen s. die Übersicht bei Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L, Stand Juni 2013, § 29a TVÜ-Länder, Rz. 44 ff.

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§ 24 Rz. 24.95

Stufenzuordnung

Vergleichbare Möglichkeiten zur Höhergruppierung auf Antrag bestehen für Lehrer258 und für bestimmte Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst259. Bei dem Antrag handelt es sich um eine einseitige rechtsgestaltende Willenserklärung mit konstituierender Bedeutung. Eine Annahmeerklärung des Arbeitgebers ist nicht erforderlich. Die geänderte Eingruppierung ist vielmehr unmittelbare Rechtsfolge des Antrags. Der Arbeitgeber muss nur noch prüfen, ob sich nach der Entgeltordnung tatsächlich eine höhere Eingruppierung ergibt260.

24.96 Hintergrund dieses Antragserfordernisses und der Aufhebung der Tarifautomatik ist, dass auch eine höhere Eingruppierung zumindest vorübergehend Entgeltnachteile mit sich bringen kann (vgl. das Beispiel in Rz. 24.92). Das gilt insbesondere bei einer betragsbezogen erfolgenden Stufenzuordnung in der höheren Entgeltgruppe261. Zudem kann die höhere Eingruppierung zum Verlust von Besitzstandsansprüchen führen. In jedem Fall geht die angebrochene Stufenlaufzeit verloren, was ebenfalls zu Entgeltnachteilen führen kann. Dem kann der Angestellte auch nicht dadurch entgegenwirken, dass er „passgenau“ erst nach einem Stufenaufstieg den Antrag auf Höhergruppierung stellt und so aus der höheren Stufe höhergruppiert wird262. Die Tarifvertragsparteien haben den Antrag nur für eine befristete Zeit nach Inkrafttreten der Entgeltordnung für ihren jeweiligen Tarifbereich zugelassen263. Zudem wirkt der Antrag kraft Fiktion und unter Außerkraftsetzen der tariflichen Ausschlussfristen jeweils auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Entgeltordnung zurück. Das gilt auch in den Fällen, in denen die Tarifvertragsparteien die Fristen, zB. für den Fall des Ruhens des Arbeitsverhältnisses am Stichtag, verlängert haben264. Für die Rechtsfolgen eines solchen Antrags sind darum immer die Verhältnisse am Stichtag maßgeblich265. Dass die in der Zeit zwischen dem Inkrafttreten der Entgeltordnung und dem Antrag erfolgten Änderungen der Stufenzuordnung bei der Ermittlung der richtigen Stufe nach der Höhergruppierung unberücksichtigt bleiben, ist tariflich noch einmal klargestellt266. Im Bereich des Bundes erfolgt die Stufenzuordnung allerdings übertariflich aus der nach dem Stichtag 1.1.2014 erreichten Stufe267. Fallen der Stufenaufstieg und die Höhergruppierung beide auf den Stichtag, ist erst der Stufenaufstieg und dann die Höhergruppierung vorzunehmen, so dass die Höhergruppierung aus der höheren Stufe heraus erfolgt. Das ist im Tarifbereich der VKA ausdrücklich geregelt268. Nach den Hinweisen der TdL ist ebenso zu verfahren. Zudem sind übertariflich auch Stufenaufstiege, die im Lauf des Monats Januar 2012 erfolgt sind, noch zu berücksichtigen269. Im Tarifbereich des Bundes 258 § 29a Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 TVÜ-Länder idF des § 11 TV EntgO-L. 259 § 28b Abs. 2 TVÜ-VKA. 260 BAG v. 18.10.2018 – 6 AZR 300/17 Rz. 35, ZTR 2019, 214; v. 19.10.2016 – 4 AZR 457/15 Rz. 40, ZTR 2017, 288. 261 Vgl. die Konstellationen in BAG v. 8.12.2011 – 6 AZR 319/09, NZA 2012, 275; v. 27.1.2011 – 6 AZR 578/09, ZTR 2011, 365; s. auch die Vorauflage in Teil 8 Rz. 65 ff. 262 Vgl. BAG v. 21.12.2017 – 6 AZR 790/16 Rz. 17, ZTR 2018, 261. 263 § 26 Abs. 1 Satz 2 TVÜ-Bund: Antrag bis 30.6.2015; § 29b Abs. 1 Satz 2 TVÜ-VKA: Antrag bis 31.12.2017; § 29a Abs. 4 Satz 1 TVÜ-Länder: Antrag bis 31.12.2012. Fristverlängerungen sind jeweils bei Ruhen des Arbeitsverhältnisses vorgesehen. 264 Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, Stand Dezember 2012, TVÜ-Länder Rz. 832. 265 BAG v. 18.10.2018 – 6 AZR 300/17 Rz. 35, ZTR 2019, 214. 266 § 26 Abs. 1 Satz 2 TVÜ-Bund: Rückwirkung auf den 1.1.2014; § 29b Abs. 1 Satz 2 TVÜ-VKA: Rückwirkung auf den 1.1.2017; § 29a Abs. 4 Satz 1 TVÜ-Länder: Rückwirkung auf den 1.1.2012. 267 BMI, Rundschreiben v. 24.3.2014, zitiert nach Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Mai 2014, § 26 TVÜ-Bund Rz. 10. 268 § 29c Abs. 5 TVÜ-VKA. 269 Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L, Stand Juni 2013, § 29a TVÜ-Länder Rz. 66.

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Stufenzuordnung nach Höhergruppierung

Rz. 24.99 § 24

stellt sich das Problem wegen der übertariflichen Höhergruppierung aus der während der Antragsfrist erreichten Stufe nicht. Ist der Höhergruppierungsantrag nach dem Überleitungsrecht in die neuen Entgeltordnungen gestellt, wird die Zeit der Berufsausübung vor dem Inkrafttreten der jeweiligen Entgeltordnung uneingeschränkt berücksichtigt, wenn die Eingruppierung davon abhängt270. Diese Regelung gilt jedoch unmissverständlich nur für die Eingruppierung und nicht auch für die Stufenzuordnung271. Darum ist eine neue Stufenzuordnung nach den für Höhergruppierungen geltenden Regeln erforderlich. Dabei erfolgt die Stufenzuordnung in der höheren Entgeltgruppe in allen Tarifbereichen betragsbezogen (Einzelheiten zu dieser Art der Stufenzuordnung Rz. 24.111 ff.). Im Tarifbereich der TdL ist das selbstverständlich, dort erfolgt jede Stufenzuordnung in der höheren Entgeltgruppe nach § 17 Abs. 4 Satz 1 TV-L in dieser Weise. Im Tarifbereich der VKA ist diese von § 29b Abs. 2 Satz 1 TVÜ-VKA angeordnete Art der Stufenzuordnung konsequent: Der Antrag wirkt auf den 1.1.2017 zurück. Zu diesem Zeitpunkt erfolgte nach § 17 Abs. 4 TVöD aF in diesem Tarifbereich ebenfalls noch eine betragsbezogene Stufenzuordnung in der höheren Entgeltgruppe. Die Tarifvertragsparteien haben in § 26 Abs. 2 Satz 1 TVÜ-Bund die Anwendung des § 17 Abs. 4 TVöD in der bis zum 28.2.2014 geltenden Fassung und damit auch im Tarifbereich des Bundes noch die betragsbezogene Höherstufung angeordnet. Die stufengleiche Höhergruppierung ist in diesem Tarifbereich erst zum 1.3.2014 tariflich festgelegt worden (Rz. 24.118). Nach § 17 Abs. 4 Satz 4 TVöD aF sowie § 17 Abs. 4 Satz 3 TV-L beginnt die Stufenlaufzeit in der höheren Entgeltgruppe neu.

24.97

bb) Fehlerhafte Eingruppierung Die Regeln der §§ 25 f. bzw. § 29a f. des Überleitungsrechts kommen dagegen nicht zum Tragen, wenn der Beschäftigte (erfolgreich) geltend macht, er sei schon im Zeitpunkt seiner Überleitung in die neue Entgeltordnung zu niedrig eingruppiert gewesen. Soweit darin angeordnet ist, dass die Eingruppierung anlässlich der Überleitung weder überprüft noch neu festgestellt wird, handelt es sich dabei ausdrücklich um Besitzstandsregelungen. Begriffsnotwendig entfalten diese Wirkung lediglich zugunsten des Beschäftigten. War die Eingruppierung fehlerhaft, greift insoweit (noch) die Tarifautomatik. Auf die Antragsfrist im Überleitungsrecht kommt es deshalb nicht an272. Die Überleitung vollzieht sich aus der Entgeltgruppe und -stufe, in die der Beschäftigte im Zeitpunkt seiner Überleitung in die neue Entgeltordnung bei richtiger Anwendung des bis dahin geltenden Eingruppierungsrechts eingruppiert war273. Der Beschäftigte kann daher noch Jahre nach der Überleitung geltend machen, er sei zu niedrig eingruppiert gewesen. Im Extremfall kann er sich sogar darauf berufen, er sei bereits aus einer unzutreffenden Vergütungs- oder Lohngruppe in den TVöD bzw. TV-L übergeleitet worden. Trifft dies zu, sind die Überleitungen unter Zugrundelegung der richtigen Eingruppierung nachzuzeichnen und ein etwaiges höheres Entgelt ist unter Beachtung der Ausschlussfrist des § 37 TVöD/TV-L (dazu Rz. 24.108 ff.) nachzuzahlen. Der „Stammanspruch“ verfällt nicht (Rz. 24.90).

24.98

War der Beschäftigte dagegen zu hoch eingruppiert, schützen ihn die Besitzstandsregelungen vor einer Korrektur der Eingruppierung. Das ist in § 29a Abs. 1 Satz 2 TVÜ-VKA bzw. in Satz 2 der Protokollerklärung zu § 25 TVÜ-Bund sowie in Satz 2 der Protokollerklärung

24.99

270 § 25 Abs. 2 TVÜ-Bund; § 29a Abs. 2 TVÜ-VKA; § 29a Abs 1 Satz 2 TVÜ-Länder. 271 BAG v. 21.12.2017 – 6 AZR 790/16 Rz. 27, ZTR 2018, 261. 272 BAG v. 5.8.2019 – 6 AZN 555/19, n.v.; vgl. auch BAG v. 18.10.2018 – 6 AZR 550/17 Rz. 27, AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 93 für eine vergleichbare Regelung in den AVR Caritas. 273 BAG v. 26.1.2017 – 6 AZR 671/15 Rz. 59, NZA-RR 2017, 325.

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§ 24 Rz. 24.99

Stufenzuordnung

zu § 29a Abs. 2 TVÜ-Länder ausdrücklich angeordnet. Dagegen kann eine falsche Stufenzuordnung korrigiert werden274. Zur Möglichkeit der Korrektur der Stufenzuordnung bei Überleitung unter Missachtung der Stufenbegrenzung in der früheren „kleinen“ Entgeltgruppe 9 Rz. 24.94.

24.100 Zum Verhältnis der Anträge nach dem Überleitungsrecht in die neuen Entgeltordnungen und § 8 Abs. 3 der Überleitungstarifverträge s. BAG v. 18.10.2018275. cc) Unveränderte Tätigkeit (1) Regelfall

24.101 Ob das neue Eingruppierungsrecht zum Tragen kommt, hängt nach der tariflichen Regelung davon ab, ob der Beschäftigte die am Stichtag verrichtete Tätigkeit weiterhin „unverändert“ ausübt. Hat er innerhalb der tariflichen Antragsfrist keinen Höhergruppierungsantrag gestellt, verbleibt er bis zur Änderung der Tätigkeit in der alten Entgeltgruppe, die Tarifautomatik bleibt dauerhaft aufgehoben (Rz. 24.95). Die Frage, wann eine Tätigkeit „unverändert“ bleibt bzw. wann sie sich im Sinne des Überleitungsrechts in die neuen Entgeltordnungen so sehr ändert, dass die Tarifautomatik wieder greift, ist darum von größter praktischer Bedeutung. Es erscheint unverständlich, dass die Tarifvertragsparteien diesen Kernbegriff des Überleitungsrechts nicht definiert haben. Dies führt zu erheblicher Rechtsunsicherheit und unterschiedlichen Handhabungen des Überleitungsrechts bei verschiedenen Arbeitgebern. Mit zunehmendem Abstand von der Überleitung gewinnt der Bedeutungsgehalt des Begriffs der „unveränderten Tätigkeit“ zudem immer mehr Gewicht. Beschäftigte, die keinen Antrag gestellt haben, werden umso weniger akzeptieren, dass sie dauerhaft niedriger eingruppiert sind als Beschäftigte, die den Antrag gestellt haben oder nach dem Stichtag neu eingestellt worden sind, je länger die Überleitung zurückliegt. Tarifpolitisch dürfte sich die Zweispaltung der Belegschaften des öffentlichen Dienstes nur aufrechterhalten lassen, wenn der Begriff der „unveränderten“ Tätigkeit nicht zu eng ausgelegt wird oder die Tarifvertragsparteien jetzt eine großzügige Definition finden. Rechtsprechung zu dieser Frage ist bisher nicht bekannt geworden.

24.102 Nach dem Wortlaut der Tarifvorschrift würde jede, auch marginale Änderung der Tätigkeit den Beschäftigten aus den Besitzstandsregelungen herausfallen lassen. Das würde auch Änderungen erfassen, die mit der Tätigkeit selbst nichts zu tun haben, etwa räumliche Verlagerungen der Behörde oder der Tätigkeit, Änderungen der Arbeitszeit oder rechtliche Unterbrechungen (zur Behandlung von befristet Beschäftigten s. Rz. 24.103). Das kann nicht gemeint sein. Andererseits erstreckt sich das Direktionsrecht des Arbeitgebers im öffentlichen Dienst auf alle Tätigkeiten, die die Merkmale der Entgeltgruppe erfüllen, in die der Beschäftigte eingruppiert ist. Diesem können also grds. auch neue Tätigkeiten zugewiesen werden, soweit sie den Merkmalen seiner Entgeltgruppe entsprechen276. Eine solche Ausübung des Direktionsrechts unterfällt unzweifelhaft dem Begriff der „Veränderung“. Das war den Tarifvertragsparteien bekannt. Hätten sie gleichwohl derartige, tariflich eröffnete Veränderungen der Tätigkeit noch den Besitzstandsregelungen unterstellen wollen, hätten sie das ausdrücklich anordnen müssen. Macht der Arbeitgeber von seinem Direktionsrecht, etwa durch eine Umsetzung,

274 LAG Düsseldorf v. 23.10.2018 – 3 Sa 327/18, ZTR 2019, 225; Revision anhängig unter 6 AZR 74/19, Termin 21.11.2019. 275 BAG v. 18.10.2018 – 6 AZR 300/17, ZTR 2019, 214. 276 Vgl. BAG v. 13.6.1996 – 8 AZR 415/94 Rz. 31.

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Stufenzuordnung nach Höhergruppierung

Rz. 24.103 § 24

Gebrauch, liegt darum eine tariflich beachtliche Änderung der Tätigkeit vor277. Tariflich relevante Änderungen der Tätigkeit liegen ferner vor, wenn sich die Tätigkeit zumindest hinsichtlich eines Arbeitsvorgangs qualitativ so sehr ändert, dass dies die Überprüfung der Eingruppierung auslöst. Ob das Ergebnis der Überprüfung tatsächlich eine andere Eingruppierung zur Folge hat, ist dann nicht maßgeblich. Es reicht aus, dass die Änderung der Tätigkeit eingruppierungsrechtlich relevant sein kann, auch wenn das (noch) nicht der Fall ist278. Ob diese Voraussetzung bereits erfüllt ist, wenn einem Beschäftigten bisher Tätigkeiten der Reisekostenbearbeitung übertragen waren und er nunmehr Anträge auf Trennungsgeld zu bearbeiten hat279, erscheint zweifelhaft. (2) Sonderfall: Befristetes Arbeitsverhältnis Bei befristet Beschäftigten soll das Überleitungsrecht (nur) weiter anwendbar sein, wenn 24.103 das Arbeitsverhältnis – sei es befristet oder unbefristet – „nahtlos“ verlängert wird, wobei auch Unterbrechungen, die nur arbeitsfreie Tage umfassen, unschädlich sein sollen280. Das trifft nicht zu. Allerdings kommt diesen Beschäftigten in aller Regel die Fiktion in der Protokollerklärung zu § 1 Abs. 1 TVÜ-VKA/TVÜ-Bund bzw. in der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 1 Abs. 1 Satz 1 TVÜ-Länder, nach der Unterbrechungen des Arbeitsverhältnis von bis zu einem Monat281 unschädlich sind, nicht mehr zugute. Diese Fiktion begünstigt nur die von § 1 Abs. 1 der Überleitungstarifverträge erfassten Beschäftigten und damit nur diejenigen, die 2005 bzw. 2006 in den TVöD und TV-L übergeleitet worden sind. Die Mehrzahl der am Stichtag der Überleitung in die neuen Entgeltordnungen noch befristet Beschäftigten dürfte nach diesen Zeitpunkten eingestellt worden sein oder es dürften inzwischen schädliche Unterbrechungen vorgelegen haben. Diese Annahme ist jedoch aus einem anderen Grund unzutreffend: Wird ein zuvor befristet Beschäftigter nach dem Stichtag seiner Überleitung in die neuen Entgeltgruppen282 wieder eingestellt, gilt ausschließlich § 16 Abs. 2 TVöD/TV-L. Das gilt auch bei einer nahtlosen Wiedereinstellung (Rz. 24.8). Eine Fiktion der Weitergeltung des Überleitungsrechts nach einer (kurzen) rechtlichen Unterbrechung, die nach dem Überleitungsstichtag eintritt, ist – anders als für die 2005/2006 erfolgte Überleitung in die TVöD/ TV-L selbst – nicht mehr geregelt. Bei einer wiederholten Einstellung von zuvor befristet Beschäftigten nach dem Stichtag liegt daher kein Fall der Anwendung des Überleitungsrechts mehr, sondern ein Neueinstellungsfall vor. Ist die Tätigkeit, die der Beschäftigte im neuen Arbeitsverhältnis unverändert auszuüben hat, nach der neuen Entgeltordnung höher bewertet, ist er deshalb bei seiner erneuten Einstellung in diese höhere Entgeltgruppe eingruppiert. Es liegt trotz der nominal höheren Eingruppierung ein Fall der „horizontalen“ und nicht der „vertikalen“ Wiedereinstellung vor, weil die Tätigkeit selbst unverändert geblieben ist und sich nur ihre tarifliche Wertigkeit verändert hat. Deshalb ist seine einschlägige Berufserfahrung, die er bei dem Arbeitgeber erworben hat, bei der Stufenzuordnung in der nunmehr höheren Entgeltgruppe uneingeschränkt anzurechnen (Rz. 24.23 ff.). Der Beschäftigte profitiert 277 Ebenso Rundschreiben des BMI v. 24.3.2014, zitiert nach Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, Stand April 2014, TVÜ-Bund/TVÜ-VKA, Rz. 360. 278 Im Ergebnis ähnlich Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, Stand April 2014, TVÜ-Bund/ TVÜ-VKA, Rz. 359; Rundschreiben des BMI v. 24.3.2014. 279 Bejahend Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, Stand April 2014, TVÜ-Bund/TVÜ-VKA, Rz. 359; Rundschreiben des BMI v. 24.3.2014, Beispiel 3. 280 Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TVöD, Stand März 2018, TVÜ-Bund/TVÜ-VKA, Rz. 323b; Rundschreiben des BMI v. 24.3.2014, Beispiel 4. 281 Bei Lehrkräften im Geltungsbereich des TV-L sind Unterbrechungen für die Dauer der Sommerferien unschädlich. 282 D.h. nach dem 1.1.2012 (TdL), 1.1.2014 (Bund) und 1.1.2017 (VKA).

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§ 24 Rz. 24.103

Stufenzuordnung

sofort von der besseren Bewertung der Tätigkeit in der neuen Entgeltordnung, ohne dass es darauf ankommt, ob er nach seiner Überleitung in die neue Entgeltordnung fristgerecht den für eine Höhergruppierung erforderlichen Antrag (dazu Rz. 24.94 ff.) gestellt hat. Hat sich die Bewertung der unverändert auszuübenden Tätigkeit verschlechtert, liegt aus demselben Grund keine „vertikale“ Wiedereinstellung vor. Der Beschäftigte ist grds. der niedrigeren Entgeltgruppe und darin der Stufe zuzuordnen, die die Zeitdauer seiner bisherigen Tätigkeit in der höheren Entgeltgruppe abbildet. Insoweit liegt einschlägige Berufserfahrung vor. Angebrochene Stufenlaufzeiten sind mitzunehmen. Ungeklärt ist, wie zu verfahren ist, wenn ausnahmsweise ein befristet Beschäftigter noch aus dem BAT übergeleitet worden ist und seitdem ohne schädliche Unterbrechungen von mehr als einem Monat immer wieder befristet eingestellt worden ist. Sollte ein solcher Beschäftigter nach dem Stichtag seiner Überleitung in die neuen Entgeltordnungen nochmals neu eingestellt werden, kollidierten das Überleitungsund das Einstellungsrecht. Wie diese Kollision aufzulösen ist, bleibt im Streitfall den Gerichten überlassen. dd) Rechtswirksamkeit der Überleitungsregelung

24.104 Die Rechtsfolgenverweisung283 auf die betragsbezogene Höherstufung ist in den Tarifbereichen der VKA und des Bundes von der Tarifautonomie gedeckt, obwohl damit von der für diese Tarifbereiche für den „Normalfall“ der Höhergruppierung bei Eingreifen der Tarifautomatik geltenden stufengleichen Höhergruppierung (Rz. 24.118 ff.) abgewichen wird. Nach welchen Regeln eine Höhergruppierung erfolgt, bestimmen allein die Tarifvertragsparteien. Zudem ist, wie ausgeführt, jedenfalls im Tarifbereich der VKA die betragsbezogene Stufenzuordnung angesichts des Stichtags 1.1.2017 auch folgerichtig. Schließlich ist die betragsbezogene Stufenzuordnung nach Höhergruppierung Konsequenz des erfahrungsbezogenen Stufensystems (Rz. 24.112).

24.105 Art. 3 Abs. 1 GG wird dadurch nicht verletzt. Allerdings kommt dem Arbeitgeber die vom Beschäftigten in der niedrigeren Entgeltgruppe erworbene Berufserfahrung uneingeschränkt weiter zugute, wenn die Höhergruppierung allein darauf beruht, dass die unveränderte Tätigkeit nunmehr tariflich höher bewertet wird284. Das ist insbesondere in den Fällen erfolgt, in denen der Effekt der im alten System vorgesehenen kurzen Bewährungsaufstiege wiederhergestellt worden ist und in denen die Anforderungen an Heraushebungsmerkmale gesenkt worden sind (Rz. 24.95)285. Bei dieser Fallgruppe dürfte es sich um den Hauptanwendungsfall der Höhergruppierung auf Antrag nach der Überleitung in die neue Entgeltordnung gehandelt haben. Die Höhergruppierung resultiert damit aus einer Verbesserung der Entgeltstruktur. Es ist legitim, dass die Tarifvertragsparteien dann im Kosteninteresse die Stufenzuordnung in der höheren Entgeltgruppe beschnitten haben. Sie dürfen die Kosten einer uneingeschränkten Rückwirkung einer Tarifverbesserung berücksichtigen und diese Kosten im Rahmen halten286. Letztlich handelt es sich um eine Stichtagsregelung mit Kompromisscharakter. Dabei durften die Tarifvertragsparteien auch berücksichtigen, dass sich es sich bei den neu Eingestellten, bei denen die tarifliche Verbesserung uneingeschränkt zum Tragen kommt, und den „Altbeschäftigten“ um unterschiedliche Personengruppen handelt. Bei ersteren gibt es 283 Zu diesem Rechtscharakter BAG v. 15.11.2018 – 6 AZR 240/17 Rz. 21, AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 94. 284 Vgl. BAG v. 15.11.2018 – 6 AZR 240/17 Rz. 22, AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 94. 285 S. die Übersicht bei Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L, Stand Juni 2013, § 29a TVÜ-Länder, Rz. 44 ff. 286 BAG v. 15.11.2018 – 6 AZR 240/17 Rz. 35, AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 94; Dannenberg, Der Personalrat 10/2018, 45 (46).

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Stufenzuordnung nach Höhergruppierung

Rz. 24.108 § 24

keine zu wahrenden Besitzstände. Die Tarifvertragsparteien haben es den „Altbeschäftigten“ überlassen zu entscheiden, ob sie auf diese Besitzstände verzichten und an den Verbesserungen des neuen Tarifrechts teilhaben wollen (Rz. 24.95). Zudem werden bei Beschäftigten, die von anderen Arbeitgebern wechseln, grds. nur maximal drei Jahre einschlägiger Berufserfahrung anerkannt (Rz. 24.15). In allen Fällen, in denen „Altbeschäftigte“ bei ihrer Höhergruppierung mindestens der Stufe 3 zugeordnet worden sind, kommt es deshalb schon zu keiner Ungleichbehandlung mit den neu Eingestellten. Diese Erwägungen rechtfertigen in ihrer Gesamtschau das „Abschneiden“ der von den „Altbeschäftigten“ erworbenen Berufserfahrung in der höheren Entgeltgruppe. Die Tarifvertragsparteien hätten die Verbesserung der Entgeltstruktur auch ausschließlich neu Eingestellten vorbehalten können, um so die Attraktivität des öffentlichen Dienstes zu verbessern, ohne die Kosten explodieren zu lassen, also dauerhaft zwei unterschiedliche Tarifsysteme „fahren“ können287. Sie haben sich dagegen entschieden und insoweit eine sachgerechte Abgrenzung zwischen den beiden Beschäftigtengruppen gefunden. Auch eine mittelbare Altersdiskriminierung älterer Bestandsbeschäftigter liegt nicht vor. Es fehlen Anhaltspunkte dafür, dass neu eingestellte Beschäftigte, die vom neuen Eingruppierungsrecht profitieren, signifikant häufiger jünger als Altbeschäftigte sind, wenn sie die Stufe erreichen, der Altbeschäftigte zugeordnet werden, wenn sie den Höhergruppierungsantrag stellen und in der höheren Entgeltgruppe noch betragsbezogen einer Stufe zugeordnet werden288. Soweit befristet Beschäftigte, die zum Stichtag oder kurz danach neu eingestellt worden sind, überproportional vom neuen Tarifrecht profitieren, weil bei ihnen ihre erworbene einschlägige Berufserfahrung uneingeschränkt anerkannt werden muss (Rz. 24.103), beruht das zum einen auf der gesetzlichen Verpflichtung des § 4 TzBfG. Zum anderen handelt es sich insoweit um eine Randunschärfe des neuen Tarifrechts, die sich bei derart komplexen Regelungssystemen, wie es die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes sind, nicht vermeiden lässt289.

24.106

ee) Ausschlussfrist Probleme rund um die Wahrung der Ausschlussfrist stellen sich im Zusammenhang mit dem 24.107 Recht der Überleitung in die neuen Entgeltordnungen unter zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten. Zum einen ist die Frage zu beantworten, ob ein Antrag auch noch nach Ablauf der tariflichen Ausschlussfrist gestellt werden kann. Zum anderen geht es um die Behandlung von Rückzahlungsansprüchen des Arbeitgebers, die durch eine tatsächlich auf Antrag erfolgte Höhergruppierung entstehen können. (1) Antragsfrist als Ausschlussfrist Die Tarifvertragsparteien haben die Frist für das Stellen des Höhergruppierungsantrags als 24.108 Ausschlussfrist ausgestaltet, die als speziellere Regelung die normale Ausschlussfrist des § 37 TVöD/TV-L verdrängt. In der Konsequenz dieses Regelungswillens liegt es, dass ein Antrag, der erst nach Ablauf der Frist gestellt wird, unbeachtlich ist. Das Antragsrecht ist mit Fristablauf erloschen. Der Beschäftigte bleibt bis zu einer Änderung seiner Tätigkeit (Rz. 24.101 f.) oder

287 BAG v. 15.11.2018 – 6 AZR 240/17 Rz. 33, 35, AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 94; v. 21.12.2017 – 6 AZR 790/16 Rz. 28, ZTR 2018, 261. 288 LAG Berlin-Brandenburg v. 13.2.2019 – 15 Sa 1062/18, die Nichtzulassungsbeschwerde – 6 AZN 399/19 – blieb erfolglos. 289 BAG v. 20.9.2017 – 6 AZR 143/16 Rz. 43, ZTR 2018, 75.

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§ 24 Rz. 24.108

Stufenzuordnung

einer abermaligen Änderung des Tarifrechts in seiner (niedrigeren) Entgeltgruppe290. Rechtsprechung dazu, ob diese Ausgestaltung wirksam ist, ist nicht ersichtlich. Es dürfte viel dafür sprechen, dass diese Regelung noch von der Tarifautonomie gedeckt ist. Welches Eingruppierungsrecht gilt, bestimmen die Tarifvertragsparteien selbst. Ihre Normsetzungsbefugnis umfasst auch das Recht, die zeitliche Geltung der von ihnen geschaffenen Normen zu bestimmen. Ein neuer Tarifvertrag löst den alten nur in dem von den Tarifvertragsparteien bestimmten Umfang ab291. Sie können dabei stichtagsbezogen auch unterschiedliche Entgeltregelungen anwenden (Rz. 24.105). Eine rückwirkende Herabsetzung bereits entstandener Ansprüche, die nur in den Grenzen des Vertrauensschutzes zulässig ist292, ist mit dem Erfordernis, die Frist für einen Antrag auf Höhergruppierung nach einer zukunftsbezogenen Verbesserung bzw. Änderung des Eingruppierungsrechts zu wahren, offenkundig nicht verbunden.

24.109 Die Ausschlussfrist kommt dagegen nicht zum Tragen, wenn der Beschäftigte geltend macht, er sei schon im Zeitpunkt seiner Überleitung in die neue Entgeltordnung zu niedrig eingruppiert gewesen (Rz. 24.98 f.). Beschäftigte können also die Eingruppierung, aus der die Überleitung vollzogen wurde, auch noch nach Ablauf der Ausschlussfrist in Frage stellen und ihre Überleitung aus der richtigen Entgeltgruppe mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen verlangen293. (2) Beginn der Ausschlussfrist bei Rückzahlungsansprüchen des Arbeitgebers

24.110 Prüft der Arbeitgeber den Antrag auf Höhergruppierung über einen längeren Zeitraum hinweg, kann es aufgrund der betragsbezogenen Stufenzuordnung in der höheren Entgeltgruppe zu Entgeltüberzahlungen kommen, wenn der Beschäftigte im Prüfungszeitraum in seiner alten Entgeltgruppe einen oder gar mehrere Stufenaufstiege vorgenommen hat. Das kann zu erheblichen Entgeltüberzahlungen führen. Insoweit liegt dieselbe Konstellation vor wie beim „Hineinwachsen“ in eine höhere Entgeltgruppe (Rz. 24.92 ff.). Auch insoweit stellt sich die Frage, wann der nach § 812 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 BGB gegebene Rückzahlungsanspruch des Arbeitgebers294 fällig wird und damit die Ausschlussfrist zu laufen beginnt. Im Unterschied zu den Fällen des „Hineinwachsens“ greift hier die Tarifautomatik zwar nicht. Im Ergebnis führt das aber zu keinem Unterschied: Stellt der Beschäftigte den Antrag, ist er ab diesem Zeitpunkt in die höhere Entgeltgruppe eingruppiert. Mit dem Antrag greift wieder die Tarifautomatik. Einer Annahme des Antrags bedarf es nicht. Die geänderte Eingruppierung tritt unmittelbar durch den Antrag ein, wenn die tariflichen Voraussetzungen der höheren Entgeltgruppe erfüllt sind295 (Rz. 24.95). Ob der Beschäftigte die Voraussetzungen der höheren Entgeltgruppe erfüllt, hängt deshalb nicht davon ab, ob und wann der Arbeitgeber diese Erkenntnis gewinnt, sondern allein davon, ob diese Voraussetzungen objektiv vorliegen. Ob nach diesen objektiven Voraussetzungen dann eine Überzahlung eintritt, lässt sich ebenfalls objektiv feststellen. Darum beginnt – wie in den Fällen des „Hineinwachsens“ (Rz. 24.93) – die Ausschlussfrist im Re-

290 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Juli 2017, § 29b TVÜ-VKA, Rz. 8; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, Stand Dezember 2012, TVÜ-Länder, Rz. 826; Clemens/ Scheuring/Steingen/Wiese, TVöD, Stand März 2017, TVÜ-VKA und Bund, Rz. 323b. 291 BAG v. 21.9.2010 – 9 AZR 515/09 Rz. 45, AP TVG § 1 – Altersteilzeit Nr. 49. 292 BAG v. 23.11.1994 – 4 AZR 879/93 Rz. 67 ff., NZA 1995, 844. 293 BAG v. 18.10.2018 – 6 AZR 550/17 Rz. 27, AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 93 für eine vergleichbare Regelung in den AVR Caritas. 294 Dieser Anspruch wird von Malottke, AnwZert ArbR 14/2017, Anm. 2 ohne nähere Begründung in Zweifel gezogen. 295 BAG v. 19.10.2016 – 4 AZR 457/15 Rz. 40, ZTR 2017, 288.

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Stufenzuordnung nach Höhergruppierung

Rz. 24.113 § 24

gelfall auch in den Antragsfällen mit der objektiv erfolgten Überzahlung, d.h. am jeweiligen Monatsende, in dem eine Überzahlung erfolgt ist. 2. Rechtslage im Bereich der Länder a) Grundprinzip Im TV-L erfolgt die Stufenzuordnung bei Höhergruppierungen nach § 17 Abs. 4 Satz 1 TV-L nach wie vor nicht stufengleich, sondern betragsbezogen. Der Beschäftigte wird der Stufe zugeordnet, in der er mindestens das bisherige Tabellenentgelt erhält. Das kann im Einzelfall die bisherige Stufe sein296. Im Regelfall erfolgt eine Zuordnung zu einer niedrigeren Stufe als bisher. Bei Eingruppierungen über mehrere Entgeltgruppen erfolgt für jede Zwischen-Entgeltgruppe eine fiktive Stufenzuordnung297. Etwas anderes gilt nach der Protokollerklärung zu § 17 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 2 TV-L nur für Lehrkräfte als sog. „Erfüller“298. Besonderheiten gelten für die Höhergruppierung aus der sog. „kleinen“ Entgeltgruppe 9, d.h. Fallgruppen der Entgeltgruppe 9, in denen die Stufenlaufzeit verlängert ist und die im Tarifbereich der TdL bisher nicht von der Entgeltgruppe 9a abgelöst worden ist299.

24.111

Diese Art der betragsbezogenen Stufenfindung ist konsequent: Die Stufen sind auf die jeweilige Entgeltgruppe bezogen, nur die in einer bestimmten Entgeltgruppe gewonnene Berufserfahrung wird durch den Aufstieg in den Stufen dieser Gruppe honoriert. Das impliziert, dass es keine entgeltgruppenübergreifende Berufserfahrung gibt300. Die in der unteren Entgeltgruppe erworbene, in der Stufenzuordnung dokumentierte Berufserfahrung kann darum grds. nicht berücksichtigt werden, sie wird „auf Null“ gesetzt301. In der Mehrzahl der Fälle müsste der höhergruppierte Beschäftigte deshalb ohne eine tarifliche Ausnahmebestimmung der Stufe 1 der neuen Entgeltgruppe zugeordnet werden, weil er noch keine einschlägige Erfahrung in der höheren Entgeltgruppe besitzt. Dies würde im Regelfall zu Entgeltverlusten führen.

24.112

b) Garantiebetrag Das verhindert die Besitzstandsregelung302 des § 17 Abs. 4 Satz 1 TVöD/TV-L mit zwei unterschiedlichen Ansätzen: Zum einen ist der Beschäftigte mindestens der Stufe 2 zuzuordnen. Darüber hinaus ist er der Stufe zuzuordnen, in der er mindestens sein bisheriges Tabellenentgelt erhält. Zulagen gleich welcher Art finden bei diesem Vergleich grds. keine Berücksich296 ZB in der Stufe 3 der Entgeltgruppen 6 und 7 (gemäß Anlage B zum TV-L, Tabelle gültig ab 1.10.2018). 297 S. das Berechnungsbeispiel bei Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L, Stand April 2016, § 17 TV-L Rz. 32.1. 298 Zu der Rechtslage bis zum 31.12.2011 s. Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, Stand November 2017, § 17 TV-L Rz. 48. 299 Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, Stand September 2017, § 17 TV-L Rz. 48; Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L, Stand August 2012, § 17 TV-L Rz. 45. 300 Vgl. zum TV-V BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 578/09 Rz. 26 f., ZTR 2011, 365; allg. BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 211/11 Rz. 18, ZTR 2013, 35; Litschen, ZTR 2013, 38; Litschen, ZTR 2011, 368. 301 BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1067/12 Rz. 15, ZTR 2014, 594; v. 20.9.2012 – 6 AZR 211/11 Rz. 18, ZTR 2013, 35. 302 Zu diesem Rechtscharakter s. BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11 Rz. 22, ZTR 2014, 80; BVerwG v. 7.3.2011 – 6 P 15.10 Rz. 29, ZTR 2011, 385.

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24.113

§ 24 Rz. 24.113

Stufenzuordnung

tigung303. In § 17 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2 TV-L ist jedoch ausdrücklich geregelt, dass Entgeltgruppenzulagen bzw. die Besitzstandszulage nach § 9 TVÜ-Länder, die als Ersatz für die frühere Vergütungsgruppenzulage gewährt wird, hinzugerechnet werden. Auch das ist konsequent, weil diese Zulagen faktisch „Zwischeneingruppierungen“ darstellen304. § 17 Abs. 4 Satz 2 TV-L gewährleistet außerdem einen Mindestmehrverdienst305 in Form eines Garantiebetrags. Aufgrund der Struktur der Entgelttabelle bei Höhergruppierungen käme es ohne diese Regelung vielfach zu keinen oder nur sehr geringen Höhergruppierungsgewinnen. Die Entgelttabellen des TVöD und TV-L sind das Ergebnis von Einzelberechnungen der Tarifvertragsparteien für jede Entgeltgruppe, ohne dass sich ihnen eine systematische Struktur entnehmen ließe306. Zwischen den Stufen liegen inkonsistente vertikale und horizontale Spannen307 (Rz. 24.12). Zum Teil entsprechen sich verschiedene Stufen in unterschiedlichen Entgeltgruppen betragsmäßig. So sind zB ungeachtet der Tabellenreform (Rz. 24.12) auch in der ab Oktober 2018 geltenden Entgelttabelle der Stufe 4 der Entgeltgruppe 11 und der Stufe 3 der Entgeltgruppe 12 sowie der Stufe 4 der Entgeltgruppe 4 und der Stufe 3 der Entgeltgruppe 5 jeweils identische Beträge zugewiesen. ZT sind die Differenzen minimal. So beträgt zB die Differenz zwischen der Stufe 3 der Entgeltgruppe 7 und der Stufe 2 der Entgeltgruppe 8 weniger als 12 t. Mit dem Garantiebetrag wird diese Differenz aufgestockt.

24.114 Der Garantiebetrag ist zu zahlen, wenn die Differenz zwischen dem neuen Tabellenentgelt (+ ggf. die hinzuzurechnende Entgelt- bzw. Besitzstandszulage, s. Rz. 24.113) und der alten Entgeltsumme geringer als der jeweilige Garantiebetrag ist. Dann ist der Garantiebetrag in voller Höhe zu zahlen308. Anders ausgedrückt: Der Entgeltgewinn muss mindestens den Garantiebetrag ausmachen309. Diese Berechnungsweise gilt auch, wenn der Beschäftigte über mehrere Entgeltgruppen höhergruppiert wird und darum gemäß § 17 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 2 TV-L fiktive Stufenzuordnungsvorgänge erfolgen. Dieser Zwischenschritt ist bei der Ermittlung des Garantiebetrags nicht zu berücksichtigen. Zu vergleichen sind nur die Tabellenwerte (zzgl. der nach § 17 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2 TV-L zu berücksichtigenden Zulagen) der Ausgangs- und der Endgruppe. Nur das entspricht dem Zweck des Garantiebetrags, der einen Mindestentgeltgewinn lediglich bezogen auf das Ergebnis der neuen Stufenzuordnung gewähren will310. Wird ein Beschäftigter, der bereits einen Garantiebetrag erhält, höhergruppiert, ist nach dem eindeutigen Wortlaut des § 17 Abs. 4 Satz 2 TV-L nur auf den Vergleich der Tabellenwerte abzustellen. Der Garantiebetrag selbst findet keine Berücksichtigung311. Die TdL lässt jedoch insoweit eine übertarifliche Auslegung zu. Auch solche Beschäftigte sollen grds. mindestens den Garantiebetrag als Höhergruppierungsgewinn erhalten. Darum ist in einer Vergleichsrechnung der Garantiebetrag wie die Zulagen nach § 17 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2 TV-L zu berücksichtigen312. 303 Vgl. BAG v. 20.9.2017 – 6 AZR 345/16 Rz. 22, AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 85; zur Zulage nach § 14 TV-L vgl. für die damals noch inhaltsgleiche Regelung des § 17 Abs. 4 Satz 1 TVöD BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1067/12 Rz. 22 f., ZTR 2014, 594. 304 BAG v. 13.11.2002 – 4 AZR 64/02 Rz. 34, NZA-RR 2003, 329. 305 Vgl. BAG v. 15.11.2018 – 6 AZR 240/17 Rz. 38, AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 94. 306 BAG v. 8.12.2011 – 6 AZR 319/09 Rz. 31, ZTR 2012, 153. 307 Fieberg in Fürst, GKÖD, Teil E § 17 TVöD/TV-L Rz. 44. 308 Vgl. das Berechnungsbeispiel Nr. 5 bei Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand August 2012, § 17 TVöD Rz. 42.1. 309 Fieberg in Fürst, GKÖD, Band IV Stand Januar 2015, Teil E § 17 Rz. 46a. 310 Vgl. BAG v. 15.11.2018 – 6 AZR 240/17 Rz. 41, AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 94. 311 Vgl. BAG v. 15.11.2018 – 6 AZR 240/17 Rz. 42, AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 94. 312 Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L Stand September 2017, § 17 TV-L Rz. 50a mit einem Berechnungsbeispiel.

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Stufenzuordnung nach Höhergruppierung

Rz. 24.117 § 24

Der Garantiebetrag wird nach der Protokollerklärung zu § 17 Abs. 4 Satz 2 TV-L dynamisiert. Dabei ist der volle Garantiebetrag zu dynamisieren. Nach der Protokollerklärung nehmen „die Garantiebeträge“, die dann im Folgenden betragsmäßig aufgeführt sind, an allgemeinen Entgeltanpassungen teil. Dieser Tarifwortlaut verbietet die zwar für Arbeitgeber finanziell attraktive, aber tarifwidrige Aufspaltung in den Teil, der nötig ist, um die tatsächliche Differenz zwischen den Tabellenentgelten der alten und neuen Entgeltgruppe aufzufüllen, und den überschießenden Betrag als „echtem“ Garantiebetrag, und damit eine Dynamisierung nur des überschießenden Teils313. Der Garantiebetrag entfällt mit dem Erreichen der nächsten Stufe314.

24.115

Bei einer Höhergruppierung aus einer individuellen Endstufe erhält der Beschäftigte gemäß § 6 Abs. 4 Satz 3 TVÜ-Länder mindestens sein bisheriges Entgelt weiter. Darüber hinaus ist nach dem Zweck des Garantiebetrags, dem Beschäftigten einen Mindestbeschäftigungsgewinn zukommen zu lassen, der Garantiebetrag zu zahlen, wenn die Differenz zwischen dem Entgelt aus der Endstufe der höheren Entgeltgruppe und dem bisherigen Entgelt aus der individuellen Endstufe nicht den Garantiebetrag erreicht. Die TdL erhebt gegen ein solches Vorgehen keine Bedenken315. Allerdings soll danach nur eine Aufstockung bis zum bisherigen Entgelt erfolgen316. Das macht im Hinblick auf die Regelung in § 6 Abs. 4 Satz 3 TVÜ-Länder, die genau das bereits garantiert, keinen Sinn. Es ist daher der uneingeschränkte Garantiebetrag zu zahlen.

24.116

c) Höhergruppierung aus der Stufe 1 Nach § 17 Abs. 4 Satz 1 TV-L ist der Beschäftigte nach einer Höhergruppierung mindestens der Stufe 2 zuzuordnen. Das gilt dem Wortlaut dieser Bestimmung nach auch dann, wenn eine Höhergruppierung aus der Stufe 1 der bisherigen Entgeltgruppe erfolgt. Eine solche Höhergruppierung ist etwa dann denkbar, wenn der Beschäftigte eine bestimmte Qualifikation erst im Lauf des ersten Beschäftigungsjahres erlangt317. Die Tarifvertragsparteien sind ersichtlich davon ausgegangen, dass schon eine Höhergruppierung aus der Stufe 2 die Ausnahme ist. Nach einer Auffassung im Schrifttum sollen solche Höhergruppierungen von den Tarifvertragsparteien nicht beabsichtigt gewesen sein. Intention des § 17 Abs. 4 Satz 1 TVöD/TV-L sei es, eine Rückfallgrenze für die Beschäftigten zu schaffen, die in der alten Entgeltgruppe bereits höheren Stufen als der Stufe 1 zugeordnet gewesen seien. Eine andere Auslegung führe auch zu einer unterschiedlichen Behandlung von neueingestellten Beschäftigten ohne Berufserfahrung, die ein Jahr bis zu ihrem Aufstieg in die Stufe 2 tätig sein müssten, und Beförderten, die bei der Zuordnung zur Stufe 2 in der neuen Gruppe diese Zeit nicht absolvieren müssten318. 313 So aber Sponer/Steinherr/Günther, TV-L Stand August 2016, § 17 TV-L Rz. 51; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, Stand September 2017, Teil II, § 17 TV-L Rz. 53a halten eine solche Verfahrensweise für vertretbar; offengelassen in BAG v. 15.11.2018 – 6 AZR 240/17 Rz. 38, AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 94. 314 Vgl. BAG v. 15.11.2018 – 6 AZR 240/17 Rz. 44, AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 94. 315 Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L Stand September 2017, § 17 TV-L Rz. 56 unter Bezug auf das Rundschreiben der TdL v. 20.11.2006 – 2-06/1202/06 – D/2. 316 S. das Berechnungsbeispiel bei Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L Stand September 2017, § 17 TV-L Rz. 56. 317 Müller/Steuernagel, öAT 2011, 27 (29). 318 Müller/Steuernagel, öAT 2011, 27 (29) unter Hinweis auf die Formulierung in § 17 Abs. 4 Satz 1 des Tarifvertrags für die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (TVEKBO).

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24.117

§ 24 Rz. 24.117

Stufenzuordnung

Mit dem Wortlaut der Norm ist diese Auffassung nicht vereinbar. Angesichts der Annahme der Tarifvertragsparteien, dass Höhergruppierungen aus der Stufe 1 eine absolute Ausnahme seien und ihrem Ziel, durch die Zuordnung mindestens zur Stufe 2 den Besitzstand zu sichern (Rz. 24.113), dürfte es sich um eine zulässige „Randunschärfe“319 handeln. Veröffentlichte Rechtsprechung zu diesem Problem ist nicht ersichtlich. 3. Rechtslage bei Bund und VKA a) Einheitliches Grundprinzip

24.118 Im Bereich des Bundes ist durch § 17 Abs. 5 Satz 1 TVöD320 mit Wirkung zum 1.3.2014 die stufengleiche Höhergruppierung eingeführt worden. Die VKA hat mit § 17 Abs. 4 Satz 1 TVöD321 seit dem 1.3.2017 für die Entgeltgruppen 2-14 „nachgezogen“322 (zur Höhergruppierung aus der Entgeltgruppe 1 s. Rz. 24.122). Das gilt jedoch nur für „normale“ Höhergruppierungen und nicht für Höhergruppierungen auf Antrag nach der Überleitung in die neuen Entgeltordnungen, bei denen in allen Tarifbereichen noch eine betragsbezogene Höhergruppierung erfolgte (dazu Rz. 24.94 ff.). Beschäftigte aus diesen Tarifbereichen behalten bei diesen Normalfällen nunmehr ihre Stufe (Stufenmitnahme). Das gilt auch bei einer Höhergruppierung über mehr als eine Entgeltgruppe323. Für eine Abweichung vom Grundprinzip der stufengleichen Zuordnung für diese Fälle wäre eine ausdrückliche Ausnahmeregelung erforderlich gewesen, die die Tarifvertragsparteien nicht getroffen haben. Werden Beschäftigte ausnahmsweise aus der Stufe 1 höhergruppiert, erfolgt abweichend eine Zuordnung zur Stufe 2. Das ist in § 17 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 2 bzw. § 17 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 TVöD ausdrücklich angeordnet („mindestens jedoch der Stufe 2“). Diese Regelung, die im System der betragsbezogenen Stufenzuordnung nach Höhergruppierung den Besitzstand der Beschäftigten schützen sollte (Rz. 24.113), ist nach der Einführung der stufengleichen Zuordnung eigentlich überflüssig geworden. Gleichwohl haben die Tarifvertragsparteien an ihr festgehalten. Das führt zu überproportionalen Entgeltgewinnen von Beschäftigten, die aus der Stufe 1 höhergruppiert werden324. Solche Höhergruppierungen sind zwar die Ausnahme (s. dazu Rz. 24.117). Anders als im Tarifbereich der TdL (dazu Rz. 24.117) ist die Garantie einer Mindeststufe nach der Einführung der stufengleichen Höhergruppierung in den Tarifbereichen von Bund und VKA jedoch systemwidrig. Zwar begründet das allein noch keinen Gleichheitsverstoß. Es bedarf aber eines plausiblen Grundes für die Ausnahme325. Ein solcher ist nicht ersichtlich. Die Bevorzugung der aus der Stufe 1 höhergruppierten Beschäftigten verstößt daher in den Tarifbereichen von Bund und VKA gegen Art. 3 Abs. 1 GG.

24.119 Für Beschäftigte, die aus einer individuellen Endstufe höhergruppiert werden, findet sich in § 6 Abs. 4 Satz 3 bis 6 TVÜ-VKA bzw. § 6 Abs. 3 Satz 3 bis 6 TVÜ-Bund eine komplexe Sonderregelung. Diese werden der Endstufe der höheren Entgeltgruppe zugeordnet. Erzielen sie dadurch keinen oder nur einen Entgeltgewinn, der weniger als die Summe aus dem bisherigen Entgelt zuzüglich 2 % des Entgelts der Endstufe der höheren Entgeltgruppe ausmacht, werden 319 320 321 322 323

Dazu zuletzt BAG v. 20.9.2017 – 6 AZR 143/16 Rz. 43, ZTR 2018, 75. IdF des Änderungstarifvertrags Nr. 9 zum TVöD v. 5.9.2013. IdF des Änderungstarifvertrags Nr. 12 zum TVöD v. 29.4.2016. So Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Dezember 2017, § 17 TVöD Rz. 53. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Januar 2019, § 17 TVöD Rz. 62; Clemens/ Scheuring/Steingen/Wiese, TVöD, Stand Februar 2017, § 17 TVöD Rz. 95. 324 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Januar 2019, § 17 TVöD Rz. 62. 325 BVerfG v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07 Rz. 94, ZTR 2009, 642.

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Stufenzuordnung nach Höhergruppierung

Rz. 24.123 § 24

sie erneut einer individuellen Endstufe zugeordnet. Das Entgelt aus dieser Stufe wird entsprechend festgesetzt und dynamisiert326. Ungeachtet des identischen Grundprinzips unterscheiden sich die Tarifregelungen in den Tarifbereichen von VKA und Bund jedoch im Detail.

24.120

b) Unterschiedliche Detailregelungen aa) Stufenzuordnung bei der VKA (1) Sonderregelungen In den Spartentarifverträgen sind zT Sonderregelungen zur Stufenzuordnung getroffen. Für Beschäftigte in der Pflege findet sich die mit § 17 Abs. 4 TVöD-AT inhaltsgleiche Regelung in § 17 Abs. 4a.2 TVöD-B327 und für Beschäftigte in Krankenhäusern in § 17 Abs. 4a.1 TVöD-K328. Für Beschäftigte des Sozial- und Erziehungsdienstes, die nach der Anlage C zur Anlage zu § 56 (VKA) BT-V („S-Tabelle“) vergütet werden, ist eine stufengleiche Höhergruppierung in § 1 Abs. 4 Satz 1 der Anlage (= § 17 Abs. 4a.1 TVöD-V) vereinbart, sofern sie innerhalb der S-Tabelle höhergruppiert werden. Zusätzlich ist in § 1 Abs. 4 Satz 2 (= § 17 Abs. 4a.1 Satz 2 TVöD-V) eine Garantiebetragsregelung getroffen, die in Satz 3 auch den Fall der Höhergruppierung über mehrere Entgeltgruppen regelt. Die Garantiebeträge sollen sicherstellen, dass kein Beschäftigter schlechter steht als nach § 17 Abs. 4 Satz 2 TVöD aF329.

24.121

Für Höhergruppierungen aus der Entgeltgruppe 1 ist es gemäß § 17 Abs. 4a TVöD bei 24.122 der alten betragsbezogenen Stufenfindung geblieben. Insoweit gelten dieselben Grundsätze wie nach § 17 Abs. 4 Satz 1 und 2 TV-L (Rz. 24.111 ff.). Angesichts der hohen Entgeltdifferenz zwischen der Entgeltgruppe 1 und 2 erfolgt in der Entgeltgruppe 2 darum stets eine Zuordnung in die Stufe 2, wenn nicht aus Gründen des Bestandsschutzes ein diesen Betrag übersteigendes Entgelt aus einer individuellen Endstufe der Entgeltgruppe 1 gezahlt worden ist. (2) Offene Fragen (a) Schicksal der am 1.3.2017 gezahlten Garantiebeträge Nicht tariflich geregelt ist, wie mit Garantiebeträgen zu verfahren ist, die am Stichtag 1.3.2017 an Beschäftigte gezahlt wurden, die noch nach § 17 Abs. 4 Satz 1 TVöD aF betragsbezogen höhergruppiert worden sind. Diese Beträge sollten den Beschäftigten einen Mindestentgeltgewinn bezogen auf das Ergebnis der neuen Stufenzuordnung gewähren330 (Einzelheiten in Rz. 24.113) und hatten damit grundgehaltsergänzenden Charakter331. Dieser Zweck blieb ungeachtet der stichtagsbezogenen Umstellung auf die stufengleiche Höhergruppierung bestehen. Der Garantiebetrag ist damit nicht gegenstandslos geworden und ist über den

326 S. die Berechnungsbeispiele bei Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Januar 2019, § 17 TVöD Rz. 78 f. sowie das Beispiel Nr. 2 aus dem Rundschreiben des BMI v. 24.3.2014 – D5 -31003/2#4 idF v. 21.11.2014 auf S. 20 ff. 327 Entspricht § 52 Abs. 4 BT-B. 328 Entspricht § 53 Abs. 1 BT-K. 329 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Januar 2019, § 17 TVöD Rz. 68. 330 Vgl. BAG v. 15.11.2018 – 6 AZR 240/17 Rz. 41, AP BGB § 611 – Kirchendienst Nr. 94 für § 47a Abs. 3 Satz 2 KDVO. 331 Fieberg in Fürst, GKÖD, Band IV Stand Januar 2015, Teil E § 17 Rz. 46a.

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24.123

§ 24 Rz. 24.123

Stufenzuordnung

1.3.2017 weiter zu zahlen332. Allerdings ist mit der Aufhebung der Protokollerklärung zu § 17 Abs. 4 Satz 2 TVöD die Grundlage für seine Dynamisierung entfallen. Er ist seit dem 1.3.2017 daher nur noch statisch zu zahlen, bis der Beschäftigte durch einen Stufenaufstieg in seiner Entgeltgruppe oder eine erneute – diesmal stufengleiche – Höhergruppierung ein höheres Entgelt erhält333.

24.124 Unklar ist dabei, auf welcher Ausgangsbasis die allgemeine Entgeltanpassung vorzunehmen ist. Die VKA vertritt insoweit die Auffassung, Grundlage sei das Entgelt der Entgeltgruppe und -stufe, aus der der Beschäftigte höhergruppiert worden ist, zum Stichtag 1.3.2018. Dieses Entgelt werde um die allgemeine Entgeltanpassung erhöht und zzgl. des statischen Garantiebetrags, der bei der Höhergruppierung gegolten habe, gezahlt334. Diese Auffassung kann aus mehreren Gründen nicht richtig sein. Zum einen regelt sie nicht, wie mit am Stichtag bereits mehrfach dynamisierten Garantiebeträgen zu verfahren ist. Zum anderen ergibt sich daraus nicht, wie bei Entgelterhöhungen nach dem 1.3.2018 zu verfahren ist335. Vor allem blendet sie den Zweck des Garantiebetrags aus, dem Beschäftigten einen Mindesthöhergruppierungsgewinn in Höhe des vollen Garantiebetrags dauerhaft zukommen zu lassen (Rz. 24.113). Dieser Zweck kann nicht dadurch ausgehebelt werden, dass für die Dynamisierung auf das Ausgangsentgelt zurückgegriffen wird. Sie blendet weiter aus, dass der Höhergruppierte einer Stufe in der höheren Entgeltgruppe zugeordnet worden ist und die allgemeine Entgeltanpassung sich darauf bezieht. Richtig ist daher folgende Berechnung: Das am 1.3.2018 und zum Zeitpunkt jeder folgenden allgemeinen Entgeltanpassung gezahlte Entgelt aus der Stufe in der höheren Entgeltgruppe, der der Beschäftigte bei seiner vor dem 1.3.2017 erfolgten Höhergruppierung zugeordnet worden ist, wird mit dem für die konkrete Entgeltanpassung maßgeblichen Prozentsatz dynamisiert. Darüber hinaus wird der Garantiebetrag mit dem am 1.2.2017 letztmals dynamisierten Stand336, d.h. mit 58,98 v brutto (für die Entgeltgruppen 1 bis 8) bzw. 94,39 v brutto (für die Entgeltgruppen 9 bis 15), statisch weitergezahlt. Er erlischt mit dem nächsten Stufenaufstieg oder einer weiteren Höhergruppierung. (b) Stufenzuordnung nach Tabellenwechsel

24.125 Ebensowenig ist tariflich geregelt, wie bei einem Tabellenwechsel zu verfahren ist. Zu einem solchen Wechsel kommt es zB bei Beschäftigten, die aus dem Bereich der Pflege oder des Sozial- und Erziehungsdienstes und damit aus den P- bzw. S-Tabellen (Anlage E und C) in eine Tätigkeit wechseln, für die die normale Tabelle in Anlage A zum TVöD gilt. § 17 Abs. 4 Satz 1 TVöD normiert die stufengleiche Höhergruppierung ausdrücklich nur für Zuordnungsvorgänge innerhalb der Anlage A. Die Sonderregelungen zur Stufenzuordnung in den Spartentarifverträgen regeln ebenfalls nur die Stufenzuordnung bei Höhergruppierungen innerhalb der in diesen Bereichen geltenden Tabellen. Diese Regelungslücke dürfte von den Gerichten nicht geschlossen werden können, weil die Tarifvertragsparteien insoweit mehrere verfas332 Ebenso Rundschreiben VKA R 82/2017 v. 19.4.2017, wiedergegeben bei Breier/Dassau/Kiefer/ Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Januar 2019, § 17 TVöD Rz. 122. 333 Für die Zeit ab der Entgelterhöhung zum 1.3.2018 ebenso Rundschreiben VKA R 114/2018 v. 18.9.2018, wiedergegeben bei Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Januar 2019, § 17 TVöD Rz. 122.1. 334 Rundschreiben VKA R 114/2018 v. 18.9.2018, wiedergegeben bei Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Januar 2019, § 17 TVöD Rz. 122.1. 335 Dazu Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Januar 2019, § 17 TVöD Rz. 122.3: Dynamisierung des „Auffüllbetrags“. 336 S. die Tabelle bei Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Januar 2019, § 17 TVöD Rz. 121.

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Stufenzuordnung nach Höhergruppierung

Rz. 24.127 § 24

sungskonforme Regelungsmöglichkeiten haben. Unabhängig davon, wie häufig solche Wechsel vorkommen337, erscheint es tarifpolitisch verfehlt, Eingruppierungsregelungen für bestimmte Beschäftigtengruppen zu schaffen, mit denen verdeckte Höhergruppierungen bzw. überproportionale Entgeltanstiege für bestimmte, besonders nachgefragte Beschäftigtengruppen kaschiert werden sollen338, ohne Regelungen dafür vorzusehen, wie ein Wechsel in diese und aus diesen Tabellen erfolgen soll. Nach dem Rundschreiben der VKA R 106/2018 vom 28.8.2018339 sowie dem Rundschreiben A 12/2018 des KAV Bayern340 soll der Wechsel grds. stufengleich in entsprechender Anwendung des § 17 Abs. 4 TVöD erfolgen. (c) Stufenzuordnung im TV-V Der TV-V bestimmt nicht ausdrücklich, welcher Stufe Beschäftigte unmittelbar nach der Höhergruppierung zuzuordnen sind341. Das BAG hat diese Frage offengelassen342.

24.126

bb) Stufenzuordnung beim Bund Mit Wirkung zum 31.12.2013 sind die besonderen Stufenregelungen im Anhang zu § 16 24.127 TVöD (Bund) aufgehoben worden. Die stufengleiche Höhergruppierung erfolgt daher ausnahmslos343. Auf Rz. 24.118 ff. wird verwiesen. Altbeschäftigten mit Anspruch auf einen Garantiebetrag zahlt der Bund – nach seiner Auffassung übertariflich – eine Besitzstandszulage in Höhe der Differenz zwischen dem Tabellenentgelt in der höheren Entgeltgruppe in der bis zum 28.2.2014 geltenden Fassung und dem Entgelt, das der Beschäftigte im Februar 2014 (Summe aus Tabellenentgelt in der höheren Entgeltgruppe und -stufe Stand 1.1.2014 zzgl. Garantiebetrag) zu erhalten hatte344. Das ist aus den in Rz. 24.124 genannten Gründen unzutreffend, dürfte angesichts der seit Inkrafttreten des neuen Tarifrechts verstrichenen Zeit von mehr als fünf Jahren aber keine große praktische Bedeutung mehr haben. Die weit überwiegende Anzahl der Beschäftigten, die am 1.3.2014 Anspruch auf einen Garantiebetrag hatten, ist inzwischen einer höheren Stufe zugeordnet und haben diesen Anspruch deshalb verloren. Auswirkungen hat die Auffassung des Bundes nur noch für Beschäftigte in einer (individuellen) Endstufe.

337 Der KAV Bayern weist darauf hin, dass es sich insoweit um „Sondersituationen“ handele: Rundschreiben A 12/2018, S. 21. 338 S. die Beispiele für die Entgeltentwicklung bestimmter Beschäftigter aus dem Bereich des Erziehungsdienstes bei Wollensak, BWGZ 2017, 260 (261) sowie das Beispiel im Rundschreiben des KAV Bayern A 12/2018, S. 20: Das Tabellenentgelt der Entgeltgruppe S 8b der Anlage C zum TVöD-V bzw. TVöD-B liegt höher als das Entgelt der Entgeltgruppe 9a der Anlage A (TVöD). 339 Wiedergegeben bei Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Januar 2019, § 17 TVöD Rz. 84.2. 340 Dort S. 20 f. 341 Für die Mitnahme der Stufe ohne Begründung Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Januar 2011, § 5 TV-V Rz. 26; für eine Zuordnung zu einer höheren Stufe als der Stufe 1 nur über § 5 Abs. 2 Satz 3 TV-V Herzberg/Schlusen, TV-V, Stand Dezember 2010, Kap. B Rz. 18. 342 BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 578/09 Rz. 21, ZTR 2011, 365. 343 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Stand Januar 2019, § 17 TVöD Rz. 99. 344 Rundschreiben des BMI v. 24.3.2014, zitiert nach Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TVöD, Stand Februar 2017, § 17 TVöD Rz. 99.

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§ 24 Rz. 24.128

Stufenzuordnung

c) Konsequenzen und Risiken der Neuregelung der Stufenzuordnung in den Bereichen des Bundes und der VKA aa) Praktische Probleme

24.128 Die Einführung der stufengleichen Höhergruppierung hat eine Fülle praktischer Probleme zur Folge. Zum einen sind die Unterschiede zwischen einer am oder nach dem Einführungsstichtag (Rz. 24.118) erfolgenden „normalen“ Höhergruppierung und der nach wie vor betragsbezogen erfolgenden Höhergruppierung auf Antrag nach dem Überleitungsrecht in die neuen Entgeltordnungen (Einzelheiten Rz. 24.94 ff.) den Beschäftigten schwer zu vermitteln345. Die Behandlung des am Stichtag gezahlten Garantiebetrags ist rechtlich und rechnerisch kompliziert und wird in den beiden Tarifbereichen unterschiedlich gehandhabt (Rz. 24.124, 24.127). Die Beschäftigten, die noch kurz vor dem Stichtag befördert worden sind, fühlen sich gegenüber den später beförderten, von der stufengleichen Höhergruppierung profitierenden Beschäftigten zurückgesetzt346. Die Gefahr, dass eine Höhergruppierung zunächst Nachteile beim Entgelt für den konkreten Beschäftigten zur Folge hat (vgl. das Beispiel in Rz. 24.94, sog. „Höhergruppierungsparadoxon“) ist damit zwar weitgehend beseitigt. Die Stufenlaufzeit beginnt jedoch in der höheren Entgeltgruppe gemäß § 17 Abs. 4 Satz 2 bzw. Abs. 5 Satz 2 TVöD neu. Die in der alten Entgeltgruppe zurückgelegte Stufenlaufzeit beeinflusst damit immer noch den Zeitpunkt des Stufenaufstiegs in der höheren Entgeltgruppe. Das gibt immer noch Anreiz, den Zeitpunkt der Höhergruppierung „punktgenau“ auf den Zeitpunkt des Aufstiegs in eine höhere Stufe der niedrigeren Entgeltgruppe zu legen. Leistungsstarke Beschäftigte, bei denen die Stufenlaufzeit verkürzt wird und dann eine Höhergruppierung erfolgt, haben uU Entgeltnachteile gegenüber „normalleistenden“ Beschäftigten, die später befördert werden347. Beschäftigte ohne echte Berufserfahrung in der neuen Entgeltgruppe müssen von solchen Beschäftigten, die diese Erfahrung tatsächlich aufweisen, eingearbeitet werden, obwohl letztere uU einer niedrigeren Stufe zugeordnet sind und darum weniger Entgelt verdienen. Die Umstellung der Stufenzuordnung nach Höhergruppierungen trägt damit dem ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl vieler Beschäftigten des öffentlichen Dienstes nicht in vollem Umfang Rechnung und sorgt für neue Unzufriedenheit. Zudem hat sie Auswirkungen auf die Behandlung befristet Beschäftigter nach einer „vertikalen“ Wiedereinstellung (Rz. 24.33). bb) Rechtliche Risiken

24.129 Darüber hinaus wirft die Umstellung der Stufenzuordnung nach einer Höhergruppierung auch zahlreiche rechtliche Fragestellungen auf. (1) Keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung der vor und nach dem Stichtag beförderten Beschäftigten

24.130 Die stichtagsbezogene Ungleichbehandlung der vor und nach dem Stichtag beförderten Beschäftigten ist wirksam348. Sie rechtfertigt sich daraus, dass jede Umstellung eines Entgeltsystems eines Stichtags zu seiner Einführung bedarf. Die Tarifvertragsparteien mussten 345 Vgl. die Argumentation der Klägerin im Verfahren des LAG Berlin-Brandenburg v. 13.2.2019 – 15 Sa 1062/18, die Nichtzulassungsbeschwerde 6 AZN 399/19 blieb erfolglos. 346 Vgl. die Argumentation der Klägerin im Verfahren des LAG Niedersachsen v. 9.1.2019 – 17 Sa 625/18 E, ZTR 2019, 328, Revision anhängig unter 6 AZR 59/19, Termin 19.12.2019. 347 Vgl. das Beispiel bei Spelge, ZTR 2015, 243 (250). 348 LAG Niedersachsen v. 9.1.2019 – 17 Sa 625/18 E, ZTR 2019, 328, Revision anhängig unter 6 AZR 59/19, Termin 19.12.2019.

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Stufenzuordnung nach Höhergruppierung

Rz. 24.132 § 24

das neue System nicht rückwirkend einführen, sondern durften aus Kosten- und Praktikabilitätsgründen für die Vergangenheit am abgelösten System der betragsbezogenen Höhergruppierung festhalten. Insoweit gilt nichts anderes als für das Festhalten an diesem System bei der Überleitung in die neuen Entgeltordnungen (Rz. 24.105 f.). Unmittelbare Entgeltnachteile waren mit der Umstellung für die noch nach altem Recht Beförderten nicht verbunden. Ein schützenswertes Vertrauen ist nicht enttäuscht worden (vgl. dazu auch Rz. 24.108). (2) Verstoß gegen das Verbot der Altersdiskriminierung? Die Umstellung des Systems der Stufenzuordnung nach Höhergruppierung hat keine mittelbare Altersdiskriminierung zur Folge. Belastbare Anhaltspunkte oder Indizien dafür, dass neu eingestellte Beschäftigte, die von der stufengleichen Höhergruppierung profitieren, signifikant häufiger jünger sind, wenn sie in der höheren Entgeltgruppe derselben Stufe zugeordnet werden, als noch nach dem alten Recht beförderte Beschäftigte, obwohl sie kürzer beschäftigt sind, gibt es nicht. Eine Benachteiligung älterer Beschäftigter liegt deshalb nicht vor. Ebensowenig gibt es belastbare Anhaltspunkte dafür, dass jüngere Beschäftigte dadurch benachteiligt werden, dass ältere Arbeitnehmer signifikant häufiger früher höhergruppiert werden als jüngere. Eine Korrelation zwischen der Höhergruppierung und der dabei erreichten Entgeltstufe auf der einen und dem Lebensalter auf der anderen Seite besteht nicht349. Auch unter dem Gesichtspunkt einer „Perpetuierung“ der Altersdiskriminierung, die im BAT durch die Vergütung nach Lebensaltersstufen bestand350, bestehen keine rechtlichen Bedenken gegen die Umstellung auf eine stufengleiche Höhergruppierung. Im Zeitpunkt dieser Umstellung in den Jahren 2014 bzw. 2017 war auch bei Beschäftigten, die noch aus dem BAT in den TVöD übergeleitet worden waren, keine Zuordnung von altersbezogenen Entgeltbestandteilen auf das aktuelle Entgelt mehr möglich (Einzelheiten in Rz. 24.4).

24.131

Es stellt sich jedoch die Frage, welche Auswirkungen der Bruch mit dem dem TVöD bisher zu- 24.132 grundeliegenden Grundsatz, dass es keine entgeltgruppenübergreifende Berufserfahrung gibt351 (s. dazu auch Rz. 24.112), hat. Es erscheint fraglich, ob mit den Stufen nach der Einführung der stufengleichen Höhergruppierung wirklich noch das Anwachsen der Berufserfahrung oder doch wieder nur (mittelbar) das zunehmende Alter oder jedenfalls Betriebstreue honoriert wird. Diese Zweifel werden durch die Tabellenstruktur verstärkt, die ab der Entgeltgruppe 2 über alle Entgeltgruppen hinweg stets dieselben Stufenlaufzeiten vorsieht. Diese Frage stellt sich verschärft, wenn es zu einer Höhergruppierung über mehrere Entgeltgruppen hinweg kommt. Das ist etwa dann möglich, wenn sich der Beschäftigte berufsbegleitend weiter qualifiziert. Das ist auch möglich, wenn ein Beschäftigter bis zum Freiwerden einer Stelle, die seiner Qualifikation entspricht, „unterwertig“ eingesetzt ist. Auch bei einer solchen Höhergruppierung erfolgt eine stufengleiche Höhergruppierung, weil die Tarifvertragsparteien insoweit keine Ausnahmeregelung getroffen haben (Rz. 24.118). Jedenfalls in diesen Fällen ist die stufengleiche Höhergruppierung eine bloße Fiktion von Berufserfahrung. Mit Besitzstandswahrungserwägungen hat diese Art der Stufenfindung ebenfalls nichts zu tun. Einzig das Festhalten am Grundsatz, dass in der höheren Entgeltgruppe die Stufenlaufzeit neu beginnt, in § 17 Abs. 4 Satz 2 und Abs. 5 Satz 2, sowie – im Tarifbereich der VKA – der Neubeginn der Stufenlaufzeit nach Rückgruppierung (dazu Rz. 24.139) erhält den in § 16 Abs. 3 349 Vgl. BAG v. 13.10.2010 – 5 AZR 378/09 Rz. 22, ZTR 2011, 94; LAG Niedersachsen v. 9.1.2019 – 17 Sa 625/18 E, ZTR 2019, 328, Revision anhängig unter 6 AZR 59/19, Termin 19.12.2019. 350 EuGH v. 8.9.2011 – C-298/10 und C-297/10 – Hennigs, ZTR 2011, 664. 351 Vgl. BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 211/11 Rz. 18, ZTR 2013, 35; Litschen, ZTR 2013, 38; Litschen, ZTR 2011, 368.

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§ 24 Rz. 24.132

Stufenzuordnung

TVöD (VKA) bzw. (Bund) an sich festgelegten Grundsatz, dass die Berufserfahrung nur innerhalb derselben Entgeltgruppe erworben werden kann, wenigstens noch rudimentär aufrecht. Weder in der Rechtsprechung noch im Schrifttum sind bisher Stellungnahmen erfolgt, ob dies für eine Wirksamkeit der Regelung ausreicht. Die Tarifvertragsparteien des TV-H haben wegen dieser rechtlichen Risiken in einer Protokollerklärung zu § 17 Abs. 4 TV-H vereinbart, dass ab Verkündung einer Entscheidung eines Landesarbeitsgerichts oder des BAG, die dieses System für unwirksam erachtet, ohne Beachtung der Ausschlussfristen nach § 37 TV-H rückwirkend zum 1.3.2017 wieder die betragsbezogene Höhergruppierung gilt. Die Tarifvertragsparteien haben sich weiter verpflichtet, dann unverzüglich Verhandlungen über eine Neuregelung des § 17 Abs. 4 TV-H aufzunehmen. Etwaige Rückforderungen seitens des Landes bei Betroffenen erfolgen bis zum Abschluss der Verhandlungen nicht. (3) Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG?

24.133 Zu erwarten ist auch, dass Beschäftigte, die in der höheren Entgeltgruppe „echte“ Berufserfahrung erworben haben, eine vermeintliche Ungleichbehandlung gegenüber den beförderten Beschäftigten mit „fiktiver“ Berufserfahrung einwenden werden, die trotz nicht real vorhandener Erfahrung im Widerspruch zu dem in § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD (VKA) und (Bund) verankerten Prinzip einer höheren Stufe zugeordnet sind. Die Systemwidrigkeit dieser Art der Stufenfindung birgt in der Tat ein erhöhtes Risiko der Unwirksamkeit der stufengleichen Höhergruppierung (vgl. Rz. 24.118). Auch Beschäftigte, denen die Tätigkeit der Entgeltgruppe, in die sie später höhergruppiert werden, zunächst nach § 14 TVöD vorübergehend übertragen worden ist und denen diese tatsächlich erworbene Erfahrung nicht angerechnet wird352 (Rz. 24.135), werden sich zurückgesetzt fühlen. Äußerungen im Schrifttum oder in der Rechtsprechung zu diesen Fragestellungen sind nicht ersichtlich. 4. Angebrochene Stufenlaufzeit/Restlaufzeit

24.134 In allen Tarifbereichen wird die angebrochene Stufenlaufzeit weder bei normalen Höhergruppierungen noch bei Höhergruppierungen auf Antrag nach der Überleitung in die neuen Entgeltordnungen mitgenommen. Die Laufzeit beginnt vielmehr neu353. Ausnahmen gelten – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – bei normalen Höhergruppierungen für bestimmte Höhergruppierungen aus der Entgeltgruppe 9a in die Entgeltgruppe 9b354 Bei Höhergruppierungen auf Antrag nach der Überleitung in die neuen Entgeltordnungen bestehen – wieder ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Ausnahmen bei Höhergruppierungen aus der Stufe 1355 (Zuordnung zur Stufe 1 unter Mitnahme der angebrochenen Laufzeit); für Beschäftigte, die für den Wegfall der Techniker-, Meister- oder Programmierzulage eine Besitzstandszulage erhielten356 (Wegfall der Zulage, dafür Mitnahme der Stufenlaufzeit, sofern ein Stufenverlust

352 BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1067/12, ZTR 2014, 594. 353 Für die VKA: § 17 Abs. 4 Satz 2 TVöD; für den Bund: § 17 Abs. 5 Satz 2 TVöD; für die TdL: § 17 Abs. 4 Satz 3 TV-L; bei Höhergruppierungen auf Antrag für die VKA: § 29b Abs. 2 Satz 1 TVÜVKA iVm. § 17 Abs. 4 Satz 2 TVöD aF; für den Bund § 26 Abs. 2 Satz 1 TVÜ-Bund iVm. § 17 Abs. 4 Satz 2 aF TVöD; für die TdL: § 29a Abs. 3 Satz 2 TVÜ-Länder iVm. § 17 Abs. 4 Satz 3 TV-L. 354 § 17 Abs. 4 Stufenzuordnung 3 TVöD für die VKA. 355 § 26 Abs. 2 Satz 2 TVÜ-Bund; § 29b Abs. 2 Satz 2 TVÜ-VKA; § 17 Abs. 3 Satz 3 TVÜ-Länder. 356 § 26 Abs. 4 TVÜ-Bund; § 29b Abs. 4 TVÜ-VKA; § 26 Abs. 5 TVÜ-Bund und § 29b Abs. 5 TVÜVKA regeln die Fälle, in denen die og. Zulage kumulativ mit einer Vergütungsgruppenzulage nach § 5 TVÜ bezogen worden ist.

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Stufenzuordnung nach Rückgruppierung

Rz. 24.136 § 24

eintritt); für Überleitungen aus der „großen“ Entgeltgruppe 9357 (stufengleiche Überleitung in die Entgeltgruppe 9b unter Mitnahme der Stufenlaufzeit). Das gilt grds. auch für die Überleitung aus der „kleinen“ Entgeltgruppe 9 in die Entgeltgruppe 9a358. Zeiten der vorübergehenden Ausübung einer höherwertigen Tätigkeit, für die die Zulage nach § 14 TVöD bzw. TV-L gezahlt wird, sind auch dann nicht auf die Stufenlaufzeit in der höheren Entgeltgruppe anzurechnen, wenn es später zu einer dauerhaften Aufgabenübertragung kommt. Der Beschäftigte hat dann zwar schon Erfahrung in der höheren Entgeltgruppe gesammelt. Die Tarifvertragsparteien haben aber nach wie vor insoweit keine Sonderregelung getroffen, sondern es bei der Regelung des § 17 Abs. 4 TVöD/TV-L bzw. Abs. 5 TVöD belassen359 und trotz der Änderung des § 14 TVöD/TV-H auch darin keine Regelung zur Anrechnung der vorübergehend übertragenen Tätigkeit auf die Stufenlaufzeit getroffen. Das BAG hat angenommen, dass diese Regelung mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist360. Diese Entscheidung ist jedoch noch zur betragsbezogenen Höhergruppierung ergangen. Wie das BAG die Rechtmäßigkeit der Regelung für die Tarifbereiche der VKA, des Landes Hessen und des Bundes beurteilen wird, in denen seit 2017 bzw. 2014 die stufengleiche Höhergruppierung eingeführt ist (Rz. 24.118 ff.), bei der letztlich fiktive Berufserfahrung honoriert wird, ist offen. Es erscheint schwer nachvollziehbar, dass der Beschäftigte, dem die höherwertige Tätigkeit vorläufig übertragen ist, für die Zeit dieser Tätigkeit zwar durch die Zulage nach § 14 Abs. 3 TVöD nunmehr in allen Entgeltgruppen so gestellt wird, als sei er bereits dauerhaft stufengleich höhergruppiert worden, aber trotzdem bei einer tatsächlichen Höhergruppierung die Stufenlaufzeit der Stufe, aus der er höhergruppiert ist, verliert und seine tatsächlich in der höheren Entgeltgruppe erworbenen Erfahrung nicht honoriert wird.

24.135

V. Stufenzuordnung nach Rückgruppierung 1. Begriff der Rückgruppierung Eine Herabgruppierung iSd. § 17 Abs. 4 Satz 3 bzw. Abs. 5 Satz 3 TVöD sowie § 17 Abs. 4 Satz 4 TV-L liegt nur vor, wenn dem Beschäftigten eine geringer bewertete Tätigkeit dauerhaft übertragen wird oder sich ein oder mehrere Arbeitsvorgänge so verändern, dass dies Einfluss auf die eingruppierungsrechtliche Wertigkeit der Tätigkeit hat. War der Arbeitnehmer dagegen von Beginn an falsch eingruppiert und nimmt der Arbeitgeber deshalb eine korrigierende Rückgruppierung vor361, löst das keinen neuen Stufenzuordnungsvorgang aus. Die Eingruppierung ergibt sich aufgrund der Tarifautomatik (dazu Rz. 24.90) vielmehr aus der übertragenen Tätigkeit und deren tatsächlich zutreffender eingruppierungsrechtlicher Wertigkeit. Tatsächlich war der Beschäftigte immer schon in der richtigen Entgeltgruppe tätig. Er hat dadurch seit Beginn seiner Tätigkeit in dieser Entgeltgruppe iSv. § 16 Abs. 3 TVöD/

357 § 27 Abs. 2 TVÜ-Bund; § 29c Abs. 2 TVÜ-VKA. 358 § 27 Abs. 3 TVÜ-Bund; § 29c Abs. 3 TVÜ-VKA. 359 BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1067/12 Rz. 16 ff., ZTR 2014, 594; v. 26.7.2012 – 6 AZR 701/10 Rz. 27, ZTR 2012, 640. 360 BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1067/12 Rz. 24 ff., ZTR 2014, 594. 361 Vgl. die Konstellation bei LAG Sachsen-Anhalt v. 3.5.2016 – 6 Sa 49/15, die Revision 6 AZR 439/16 ist im Hinblick auf die Entscheidung des BAG v. 1.6.2017 – 6 AZR 741/15, ZTR 2017, 529 zurückgenommen worden.

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24.136

§ 24 Rz. 24.136

Stufenzuordnung

TV-L „innerhalb derselben Entgeltgruppe“ Berufserfahrung erworben. Diese Zeit ist nach Vornahme der korrigierenden Rückgruppierung in der neuen Entgeltgruppe uneingeschränkt zu berücksichtigen362. Im Regelfall nimmt deshalb der rückgruppierte Beschäftige Stufe und Laufzeit mit. Galten in der alten, zu hohen Entgeltgruppe Stufenbegrenzungen, die in der richtigen, niedrigeren Entgeltgruppe nicht greifen, befindet sich der Beschäftigte in dieser Gruppe in der Stufe, in der er stünde, wenn er von Beginn seiner Tätigkeit richtig eingruppiert worden wäre. 2. Mitnahme der Stufe

24.137 Bei einer Rückgruppierung erfolgt die Stufenzuordnung in allen Tarifbereichen gemäߧ 17 Abs. 4 Satz 3 bzw. Abs. 5 Satz 3 TVöD sowie § 17 Abs. 4 Satz 4 TV-L stufengleich. Das gilt auch, wenn sich der Beschäftigte im Zeitpunkt der Rückgruppierung in der höheren Entgeltgruppe bereits in einer „individuellen Endstufe“ befand und die Rückgruppierung nach dem Stichtag für den Aufstieg der Beschäftigten in die regulären Stufen ihrer Entgeltgruppe363 erfolgt ist. Einer individuellen Endstufe wurden gemäß § 6 Abs. 3 TVÜ-Bund bzw. § 6 Abs. 4 TVÜ-Länder und TVÜ-VKA die Angestellten sowie gemäß § 7 Abs. 2 der Überleitungstarifverträge die Arbeiter zugeordnet, deren Vergleichsentgelt bei ihrer Überleitung in das neue Tarifsystem über der höchsten Stufe der Entgeltgruppe lag, in die sie eingruppiert worden waren (Rz. 24.5). Das Entgelt aus der individuellen Endstufe ist gemäß § 6 Abs. 3 Satz 4 TVÜ-Bund, § 6 Abs. 4 Satz 4 TVÜ-VKA sowie § 6 Abs. 4 Satz 5 TVÜ-Länder dynamisiert. Die Zuordnung zur regulären Endstufe der niedrigeren Entgeltgruppe hat regelmäßig erhebliche Einkommensverluste zur Folge. In dem der Entscheidung des BAG vom 3.7.2014364 zugrundeliegenden Fall war dadurch eine Entgeltdifferenz von rund 600,00 Euro brutto eingetreten. Die Tarifvertragsparteien haben für eine solche Konstellation aber keine Sonderregelung getroffen. Die Regelung in § 6 Abs. 2 Satz 3 der Überleitungstarifverträge, die eine Zuordnung zu einer individuellen Zwischenstufe zur Folge gehabt hätte, war auf die ersten zwei Jahre nach Inkrafttreten des TVöD bzw. TV-L befristet. Ihre analoge Anwendung bzw. eine ergänzende Auslegung der tariflichen Stufenzuordnungsregelung ist im Hinblick auf die Tarifautonomie nicht möglich. Die Tariflücke – so sie besteht – kann nur von den Tarifvertragsparteien selbst geschlossen werden. Bis dahin führt die Herabgruppierung aus einer individuellen Endstufe zur Zuordnung zur regulären Endstufe der neuen Entgeltgruppe. Das steht mit Art. 3 Abs. 1 GG im Einklang. Das folgt bereits daraus, dass bei einer Herabgruppierung der Verlust der individuellen Endstufe, die den Besitzstand bei Inkrafttreten des neuen Tarifrechts sicherte, in der Logik des Abbaus der Altersprivilegierung des BAT angelegt ist365. Einzelheiten in Rz. 24.5. Der Bund zahlt außertariflich Beschäftigten, die aus einer individuellen Endstufe herabgruppiert werden, eine persönliche, abbaubare Besitzstandszulage in Höhe der Differenz zwischen dem bisherigen Entgelt und dem neuen Tabellenentgelt aus der höchsten Stufe der neuen Entgeltgruppe366.

362 363 364 365 366

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BAG v. 1.6.2017 – 6 AZR 741/15 Rz. 20, ZTR 2017, 529. TVöD: 1.10.2007; TV-L: 1.11.2008. BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 753/12, ZTR 2014, 597. BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 753/12, Rz. 45, ZTR 2014, 597. Einzelheiten s. Rundschreiben des BMI v. 22.7.2010 D-5-220 210 – 2/17.

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Verkürzung, Verlängerung u. Hemmung der Stufenlaufzeit nach § 17 TVöD/TV-L

Rz. 24.140 § 24

3. Mitnahme der Stufenlaufzeit a) Rechtslage im Bund § 17 Abs. 5 Satz 5 Halbs. 2 TVöD367 ordnet ausdrücklich an, dass nicht nur die Stufe, sondern auch die Stufenlaufzeit aus der höheren Entgeltgruppe mitgenommen wird.

24.138

b) Rechtslage bei VKA und TdL In § 17 Abs. 4 Satz 4 TV-L fehlt eine derartige Anordnung. § 17 Abs. 4 TVöD wurde für den 24.139 Bereich der VKA zwar durch den Änderungstarifvertrag Nr. 12 zum TVöD vom 29.4.2016 und durch die Einführung der stufengleichen Höhergruppierung grundlegend geändert. Eine Anrechnung der Stufenlaufzeit in der niedrigen Entgeltgruppe ist aber auch hier nach wie vor nicht vorgesehen. Daraus, dass die Tarifvertragsparteien für den Fall der Höhergruppierung ausdrücklich angeordnet haben, dass die Stufenlaufzeit in der höheren Entgeltgruppe neu beginnt, lässt sich nicht im Wege des Umkehrschlusses ihr Wille folgern, bei der Herabgruppierung beginne die Stufenlaufzeit nicht neu368. Vielmehr gilt auch im Tarifbereich der VKA nach wie vor die Grundregel des § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD/TV-L, wonach für den Stufenaufstieg nur die Zeit „innerhalb derselben Entgeltgruppe“ zu berücksichtigen ist. Nach dieser Systematik bedarf es einer ausdrücklichen Anordnung der Tarifvertragsparteien, wenn die in anderen Entgeltgruppen erworbene Berufserfahrung bei einer Höher- oder Herabgruppierung berücksichtigt werden soll. Eine solche Anordnung haben die Tarifvertragsparteien für den Bereich des Bundes und der VKA für die erreichte Stufe selbst (Rz. 24.137) und im Bereich des Bundes auch für die Mitnahme der Stufenlaufzeit nach einer Herabgruppierung getroffen. Für die Tarifbereiche der VKA und der TdL fehlt bei der Herabgruppierung eine solche Anordnung. Darum verbleibt es insoweit bei der Grundregel des § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD/TV-L: Die Stufenlaufzeit beginnt in der neuen, niedrigeren Entgeltgruppe neu zu laufen369.

VI. Verkürzung, Verlängerung und Hemmung der Stufenlaufzeit nach § 17 TVöD/TV-L Die Hemmung der Stufenlaufzeit gemäß § 17 Abs. 3 Satz 2 TVöD bzw. § 17 Abs. 3 Satz 2 TV-L durch die Inanspruchnahme von Elternzeit führt weder zu einer Geschlechtsdiskriminierung noch zu einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG370. In der Zeit, in der das Arbeitsverhältnis während der Elternzeit ruht, wird keine Berufserfahrung gewonnen. Gerade dieser Erfahrungsgewinn ist jedoch Voraussetzung für den Stufenaufstieg. Die aktiv Beschäftigten und die Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis während der Elternzeit ruht, sind deshalb nicht vergleichbar371. Dagegen ist die Rückstufung, die § 17 Abs. 3 Satz 3 TVöD bei einer Elternzeit von mehr als fünf Jahren vorsieht, mit Paragraf 2 Nr. 6 der Rahmenvereinbarung über den El-

367 IdF des Änderungstarifvertrags Nr. 9 zum TVöD vom 5.9.2013. 368 Nachweise zur entgegenstehenden Meinung im Schrifttum bei BAG v. 1.6.2017 – 6 AZR 741/15 Rz. 23, ZTR 2017, 529. 369 BAG v. 1.6.2017 – 6 AZR 741/15 Rz. 17, 19, 27, ZTR 2017, 529. 370 BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 526/09, ArbRB 2011, 133 = NZA 2011, 1361; diese Entscheidung ist ausführlich dargestellt von Spelge, ZTR 2011, 338 (347 f.). 371 Kritisch zur Vereinbarkeit der Hemmung der Stufenlaufzeit mit dem BGleiG v. Roetteken, AGG, Stand November 2010, § 3 Rz. 161.

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24.140

§ 24 Rz. 24.140

Stufenzuordnung

ternurlaub372 nicht zu vereinbaren373. Diese Bestimmung verlangt, dass die Rechte oder Anwartschaften, die der Arbeitnehmer vor Antritt des Elternurlaubs bereits erworben hat, erhalten bleiben. Der Bund sieht – allerdings unter Berufung auf das BGleiG – von Rückstufungen ab374. Im TV-L ist keine Rückgruppierung bei langdauernder Inanspruchnahme von Elternzeit vorgesehen.

24.141 § 17 Abs. 2 Satz 1 TVöD/TV-L sehen die Möglichkeit vor, die Stufenlaufzeit ab der Stufe 4 leistungsabhängig zu verlängern oder zu verkürzen. Diese Bestimmungen gewähren dem Beschäftigten, der erheblich über dem Durchschnitt liegende Leistungen erbracht hat, jedoch keinen Anspruch auf einen vorgezogenen Stufenaufstieg. Die Bestimmung steckt nur den Rahmen ab, innerhalb dessen der Arbeitgeber sein ihm tariflich eröffnetes Ermessen und das damit verbundene Leistungsbestimmungsrecht wahrnehmen kann. Zu den dadurch eröffneten Entscheidungsmöglichkeiten gehört auch die Entscheidung des Arbeitgebers, gänzlich von Laufzeitverkürzungen abzusehen375. Ob überdurchschnittliche Leistungen vorliegen, lässt sich nur anhand einer Gesamtbetrachtung feststellen376. Will der Beschäftigte geltend machen, die tariflichen Voraussetzungen für die Eröffnung des Ermessens lägen vor, muss er seine Heraushebung aus dem Leistungsdurchschnitt darlegen. Das setzt Vortrag dazu voraus, auf welchem Niveau sich dieser Durchschnitt befindet und inwieweit sich die Leistungen des Beschäftigten davon erheblich abheben. Erforderlich ist also ein Tatsachenvortrag, der dem Tatsachengericht den Vergleich der Leistung eines „Normalleisters“ und der des Arbeitnehmers, der überdurchschnittliche Leistungen geltend macht, ermöglicht. Dafür ist auch die Leistung vergleichbarer Arbeitnehmer darzulegen. Ferner ist Vortrag dazu erforderlich, dass die überdurchschnittlichen Leistungen auf Dauer erbracht worden sind und auch eine positive Zukunftsprognose vorliegt377.

24.142 Will der Arbeitgeber von der Möglichkeit zur leistungsabhängigen Verlängerung der Stufenlaufzeit Gebrauch machen, setzt dies eine Dokumentation und ein aussagefähiges Beurteilungssystem voraus378.

VII. Mitbestimmung 24.143 Die Frage, ob und in welchen Fällen bei der Stufenzuordnung Mitbestimmungsrechte bestehen, wird durch BVerwG und BAG differenziert beurteilt379.

372 Rahmenvereinbarung über Elternurlaub im Anhang zur Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3.6.1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub. 373 Offengelassen von BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 526/09 Rz. 42, ArbRB 2011, 133 = NZA 2011, 1361. 374 Rundschreiben v. 8.12.2005 – D II 2-220-210-2/0, S. 44. 375 BAG v. 9.6.2016 – 6 AZR 321/15 Rz. 10, ZTR 2016, 504. 376 LAG Baden-Württemberg v. 5.8.2013 – 1 Sa 33/12 Rz. 38; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TVöD Stand Februar 2017, § 17 TVöD Rz. 5; Richter/Gamisch, DöD 2011, 152 (154). 377 Richter/Gamisch, DöD 2011, DöD 2011, 152 (154). 378 BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 836/16 Rz. 24, ZTR 2019, 90; Einzelheiten bei Fieberg in Fürst, GKÖD Band IV Stand Februar 2008, Teil E § 17 Rz. 10-12. 379 Ausführlich und zusammenfassend BeckOK TV-L/Felix, § 17 TV-L Rz. 94 ff.

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Spelge

Mitbestimmung

Rz. 24.145 § 24

1. Mitbestimmungsrechte des Personalrats a) Grundsätze Mit seinen Entscheidungen vom 13.10.2009380, 7.3.2011381 und 22.9.2011382 hat das BVerwG 24.144 die Grundsätze, nach denen eine Mitbestimmung bei Stufenzuordnungen erfolgt, entwickelt. Sieht das einschlägige Mitbestimmungsgesetz eine Mitbestimmung in Personalangelegenheiten der Arbeitnehmer bei Eingruppierung vor, soweit tarifvertraglich nichts anderes bestimmt ist, so ist die Mitbestimmung auch in Fällen der Tarifautomatik, in denen sich also die Einordnung zu einer bestimmten Entgeltgruppe und/oder Stufe durch Subsumtion unter abstrakte Merkmale im Tarifvertrag ergibt, nicht ausgeschlossen. Ist die Stufenzuordnung als zwingende Regelung ausgestaltet, unterliegt sie zum Zwecke der Richtigkeitskontrolle der Mitbeurteilung des Personalrats383. Liegt die Stufenzuordnung dagegen im Ermessen des Arbeitgebers, kommt eine Mitbestimmung nur in Betracht, wenn der Arbeitgeber abstrakt-generelle Regelungen zur Ausfüllung des ihm tariflich eröffneten Ermessensspielraums erlässt. Soweit der Dienststellenleiter lediglich im Einzelfall von dem ihm tariflich eingeräumten Ermessensspielräumen Gebrauch macht, besteht kein Bedarf für eine kontrollierende Nachvollziehung dieser Entscheidung. Die Ermessensausübung ist nicht Bestandteil der bei der Eingruppierung und/oder Stufenzuordnung vorzunehmenden Rechtsanwendung. Das BVerwG hat allerdings dem Personalrat uU ein Initiativrecht nach § 70 Abs. 1 Satz 1 BPersVG zur Wahrung seines Mitbestimmungsrechts nach § 75 Abs. 3 Nr. 4 BPersVG eingeräumt384. Mit dem Beschluss vom 22.9.2011385 hat das BVerwG seine auch von Verwaltungsgerichten386 24.145 missverstandenen Ausführungen zum Gegenstand des Mitbestimmungsrechts klargestellt: Das Mitbestimmungsrecht ist nicht davon abhängig, dass der Dienststellenleiter bei der Aufstellung ermessensausfüllender Grundsätze den Personalrat ordnungsgemäß beteiligt hat. Entscheidend ist allein, ob der Dienststellenleiter solche Grundsätze – uU auch konkludent – aufgestellt hat und diese Grundsätze auf die Arbeitnehmer der Dienststelle anwendet. Ist dies der Fall, kann der Personalrat die Zustimmung wegen eines Gesetzesverstoßes verweigern. Entgeltgrundsätze, die der Arbeitgeber unter Missachtung von Mitbestimmungsrechten aufgestellt hat, sind unwirksam387. Das BVerwG hat zugleich klargestellt, welche Anforderungen an das Aufstellen ermessensausfüllender Grundsätze zu stellen sind. Dafür genügt es nicht, dass der Dienststellenleiter zu Tatbestandsmerkmalen einer Tarifnorm, die aus unbestimmten Rechtsbegriffen bestehen (zB „förderliche Zeiten“, „Deckung des Personalbedarfs“), konkretisierende Hinweise gibt und/oder festlegt, in welchem Umfang förderliche Zeiten für die Zuerkennung einer höheren Stufe mindestens vorliegen müssen. Erforderlich ist vielmehr, dass erkennbar eine verbindliche Ausfüllung des nach den Tarifbestimmungen bestehenden Ermessensspielraums beabsichtigt ist. Es müssen Grundsätze aufgestellt werden, aus denen folgt, dass und in welchen Fällen sich ein Anspruch des Beschäftigten auf die Zuordnung zu einer bestimmten Stufe zwingend ergibt388. 380 381 382 383 384 385 386 387 388

BVerwG v. 13.10.2009 – 6 P 15.08, ZTR 2010, 41. BVerwG v. 7.3.2011 – 6 P 15.10, ZTR 2011, 385. BVerwG v. 22.9.2011 – 6 PB 15.11, ZTR 2012, 57. BVerwG v. 22.9.2011 – 6 PB 15.11 Rz. 6, ZTR 2012, 57. BVerwG v. 7.3.2011 – 6 P 15.10, Rz. 47, 51, ZTR 2011, 385; v. 22.9.2011 – 6 PB 15.11 Rz. 7, ZTR 2012, 57. BVerwG v. 22.9.2011 – 6 PB 15.11 Rz. 5, 10, ZTR 2012, 57. Hessischer VGH v. 7.4.2011 – 22 A 819/10.PV, EzTöD 100 § 16 TVöD-AT VKA Nr. 4. BVerwG v. 22.9.2011 – 6 PB 15.11 Rz. 7, ZTR 2012, 57. BVerwG v. 22.9.2011 – 6 PB 15.11 Rz. 9, ZTR 2012, 57.

Spelge

921

§ 24 Rz. 24.146

Stufenzuordnung

b) Bejahung eines Mitbestimmungsrechts

24.146 Nach diesen Grundsätzen besteht zB in folgenden Fällen ein Mitbestimmungsrecht des Personalrats389: – bei der Stufenzuordnung nach § 16 Abs. 2 Satz 1 TVöD (VKA), § 16 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 und 3 TVöD (Bund) bzw. § 16 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 TV-L390; – bei der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Aufgabe nach § 14 Abs. 1 TVöD/TV-L391. c) Ablehnung eines Mitbestimmungsrechts

24.147 Kein Mitbestimmungsrecht besteht dagegen, wenn der Arbeitgeber im Einzelfall, also ohne abstrakt-generelle Grundsätze aufzustellen, – über die Berücksichtigung der erworbenen Stufe nach § 16 Abs. 3 TVöD (Bund), § 16 Abs. 2a TVöD (VKA) und TV-L entscheidet392; – davon absieht, förderliche Zeiten gemäß § 16 Abs. 2 Satz 3 TVöD (Bund), § 16 Abs. 2 Satz 3 TVöD (VKA) oder § 16 Abs. 2 Satz 4 TV-L zu berücksichtigen393; – Stufen gemäß § 16 Abs. 6 TVöD (Bund), § 16 Abs. 5 TV-L oder § 17 Abs. 4.1 TVöD-K vorweggewährt394; – Stufenlaufzeiten gemäß § 17 Abs. 2 TVöD/TV-L verlängert oder verkürzt395; – den Beschäftigten nach Ablauf der regelmäßigen Stufenlaufzeit der nächsten Stufe zuordnet, weil es sich insoweit zwar um einen Akt strikter Rechtsanwendung handele, der jedoch ein in großer Zahl zu bewältigender Routinevorgang sei. Darauf sei die Mitbestimmung als das aufwendigste und qualifizierteste Beteiligungsmodell nicht zugeschnitten396. 2. Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats

24.148 Das BAG räumt dem Betriebsrat dagegen in deutlich weitergehendem Umfang Mitbestimmungsrechte ein397. Dabei folgt aus § 17 Abs. 2 Satz 4–6 TVöD/TV-L, wonach eine betriebliche Kommission die schriftlich begründeten Beschwerden gegen eine Entscheidung des Arbeitgebers über die Verkürzung oder Verlängerung der Stufenlaufzeit berät, nicht, dass die Tarifvertragsparteien das Mitbeurteilungsrecht auf die Kommission übertragen haben. Das wäre rechtswidrig. Die Tarifvertragsparteien haben vielmehr insoweit nur ein neben der gesetzlichen Mitbestimmung bestehendes Beschwerdeverfahren geregelt. Das BAG sieht schon die Änderung der Einstufung des Beschäftigten innerhalb einer Entgeltgruppe als mit389 390 391 392 393 394 395 396 397

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Weitere Beispiele s. bei BeckOK TV-L/Felix, § 17 TV-L Rz. 139 ff. Vgl. BVerwG v. 13.10.2009 – 6 P 15.08 Rz. 27 ff., ZTR 2010, 41. Vgl. BVerwG v. 27.5.2009 – 6 P 9.08 Rz. 31, NZA-RR 2009, 563. BVerwG v. 13.10.2009 – 6 P 15.08 Rz. 40, ZTR 2010, 41. BVerwG v. 13.10.2009 – 6 P 15.08 Rz. 39, ZTR 2010, 41 unter Aufgabe seiner Rspr. v. 27.8.2008 – 6 P 11.07, ZTR 2008, 689. BVerwG v. 13.10.2009 – 6 P 15.08 Rz. 40, ZTR 2010, 41. BVerwG v. 13.10.2009 – 6 P 15.08 Rz. 40, ZTR 2010, 41. BVerwG 13.10.2009 – 6 P 15.08 Rz. 41 ff., ZTR 2010, 41. BAG v. 6.4.2011 – 7 ABR 136/09, ArbRB 2011, 336 = ZTR 2011, 632.

Spelge

Mitbestimmung

Rz. 24.150 § 24

bestimmungspflichtige Umgruppierung nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG an. Dieses Mitbeurteilungsrecht greift bei der Höherstufung nach den regelmäßigen Stufenlaufzeiten sowie unter Verkürzung oder Verlängerung der Stufenlaufzeiten. In all diesen Fällen beurteilt der Arbeitgeber, ob der Beschäftigte eine durchschnittliche oder eine erheblich über- oder unterdurchschnittliche Leistung erbracht hat. Diese Wertung hat kollektivrechtlichen Bezug. Im Unterschied zum BVerwG billigt das BAG dem Betriebsrat also schon in den Fällen des „normalen“ Stufenaufstiegs ein Mitbeurteilungsrecht zu. Der Arbeitgeber muss jeweils nach Ablauf der regelmäßigen Stufenlaufzeit entscheiden, ob die Voraussetzungen für den Stufenaufstieg tatsächlich erfüllt sind. Das ist eine gedankliche Subsumtion eines Lebenssachverhalts unter eine abstrakte Norm und damit eine Rechtsanwendung. Jede „Umstufung“ ist deshalb eine rechtsanwendende Änderung der Einreihung des Beschäftigten in die tarifliche Entgeltordnung und damit eine Umgruppierung. Soweit sich der Arbeitgeber entscheidet, die Stufenlaufzeit zu verlängern oder zu verkürzen, trifft der Arbeitgeber sogar eine gestaltende Ermessensentscheidung. Der erforderliche kollektive Bezug ergibt sich aus der Subsumtion der konkreten Umstände des Einzelfalls unter die generellen Merkmale einer Vergütungsordnung. Nicht mitbestimmungspflichtig ist dagegen die Entscheidung des Arbeitgebers, ob er eine 24.149 erheblich über- oder unterdurchschnittliche Arbeitsleistung des Beschäftigten zum Anlass nimmt, die Stufenlaufzeit zu verkürzen oder zu verlängern. Insoweit liegt eine reine Rechtsgestaltung vor398. 3. Folgen einer Verletzung von Mitbestimmungsrechten Nach der Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung sind bei der Verletzung von Mitbestimmungsrechten durch einseitige Maßnahmen des Arbeitgebers diese Maßnahmen auch im Verhältnis zum Arbeitnehmer unwirksam399. Diese Theorie ist auch auf Verstöße gegen Mitbestimmungsrechte aus dem Personalvertretungsrecht übertragbar400. Allerdings kann die Verletzung von Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmervertretung nicht zu individualrechtlichen, zuvor noch nicht bestehenden Ansprüchen der betroffenen Arbeitnehmer führen401. Die tatsächlich durchgeführte Mitbestimmung ist Wirksamkeitsvoraussetzung für Maßnahmen zum Nachteil des Arbeitnehmers. Benachteiligend sind jedoch nur solche Maßnahmen, die bereits bestehende Rechtspositionen des Arbeitnehmers schmälern402. Auch bei Nichtbeachtung des Mitbestimmungsrechts erhält der Arbeitnehmer also keinen Erfüllungsanspruch auf Leistungen, die der Arbeitgeber nach dem Arbeitsvertrag nicht schuldet403.

398 BAG v. 6.4.2011 – 7 ABR 136/09 Rz. 33, ArbRB 2011, 336 = ZTR 2011, 632. 399 BAG in st. Rspr. seit Urteil des Großen Senats v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749. Vgl. die diesbezügliche Argumentation der Klägerin im Urteil des LAG Niedersachsen v. 9.1.2019 – 17 Sa 625/18 E, ZTR 2019, 328, Revision anhängig unter 6 AZR 59/19, Termin 19.12.2019. 400 BAG v. 25.4.2013 – 6 AZR 800/11, ZTR 2013, 437 unter Bezug auf BAG v. 22.5.2012 – 1 AZR 94/11 Rz. 29 und v. 15.4.2008 – 1 AZR 65/07 Rz. 36 ff., ArbRB 2008, 332 = ArbRB 2008, 268. 401 BAG v. 21.11.2013 – 6 AZR 23/12 Rz. 84, ZTR 2014, 148. 402 BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, ZTR 2004, 575. 403 BAG v. 25.4.2013 – 6 AZR 800/11 Rz. 43, ZTR 2013, 437.

Spelge

923

24.150

§ 24 Rz. 24.151

Stufenzuordnung

VIII. Prozessuale Probleme bei Rechtsstreitigkeiten über die zutreffende Stufenzuordnung 1. Verbindung von Leistungs- und Feststellungsklage

24.151 Im Regelfall werden in den Prozessen, die über die korrekte Stufenzuordnung geführt werden, Leistungs- und Feststellungsklage verbunden. Mit der Leistungsklage werden die bis zur Klagerhebung fälligen, bei der begehrten Stufenzuordnung nachzuzahlenden Beträge verfolgt. Nur gelegentlich erfolgen während des Rechtsstreits insoweit noch Klageerweiterungen. Mit der Feststellungsklage sollen die künftigen Ansprüche geklärt und gesichert werden. Diese prozessuale Vorgehensweise erfordert zum einen eine saubere zeitliche Abgrenzung von Leistungs- und Feststellungsklage, die häufig unterbleibt. Zum anderen muss bei der zukunftsbezogenen Feststellungsklage berücksichtigt werden, dass sich der Beschäftigte allein durch den Zeitablauf seinem Klageziel unabhängig vom Ausgang des Prozesses nähert, weil er zwischenzeitlich regelmäßig einen oder sogar mehrere Stufenaufstiege vollzogen hat und die begehrte Stufe häufig schon in der Berufungsinstanz, jedenfalls aber in der Revisionsinstanz erreicht hat. Wird einem oder beiden dieser Aspekte nicht hinreichend Augenmerk geschenkt, hat dies regelmäßig nachteilige kostenrechtliche Konsequenzen.

24.152 Eine Verbindung von Leistungsklage (für die bei Klagerhebung bereits entstandenen Ansprüche) und Feststellungsklage (für die zukünftig entstehenden Ansprüche) ist zulässig. Der bloße Umstand, dass der Kläger regelmäßig im Verlauf des Verfahrens weitere Beträge beziffern könnte, lässt das Feststellungsinteresse nicht entfallen. Das gilt selbst dann, wenn zwischenzeitlich der Zahlungsantrag abschließend beziffert werden könnte, etwa weil der Arbeitnehmer inzwischen aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden oder höhergruppiert worden ist. Das Feststellungsinteresse liegt zwar gemäß § 256 Abs. 1 ZPO nur vor, wenn sich aus der begehrten Feststellung noch konkrete Folgen für die Gegenwart oder Zukunft ergeben. Dieser erforderliche Gegenwartsbezug wird in derartigen Fällen nach ständiger Rechtsprechung des Sechsten Senats des BAG dadurch hergestellt, dass der Kläger die Erfüllung konkreter Vergütungsansprüche aus einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum und damit einen gegenwärtigen rechtlichen Vorteil anstrebt404. Zudem ist der Rechtsgedanke des Vorrangs der Leistungsklage kein Selbstzweck, sondern dient dazu, Rechtstreitigkeiten prozesswirtschaftlich sinnvoll zu erledigen. Die Möglichkeit, den Streit der Parteien durch eine Feststellungsklage ohne überflüssiges Rechenwerk einer sachgerechten Erledigung zuzuführen, steht dem Zwang zur Leistungsklage entgegen405.

24.153 Überschneiden sich Leistungs- und Feststellungsklage zeitlich, muss der Kläger vortragen, welches über die mit der Leistungsklage verfolgten Zahlungen hinausgehende Interesse für den Zeitraum der Überschneidung an der begehrten Feststellung besteht. In aller Regel fehlt es an solchen Darlegungen. Dies hat für den Prozesserfolg keine Konsequenzen, wenn die Klage jedenfalls als Zwischenfeststellungsklage nach § 256 Abs. 2 ZPO zulässig ist. Für eine solche Klage ist kein Feststellungsinteresse erforderlich406. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer auf die Vergütung aus einer bestimmten Stufe gerichteten Zwischenfeststellungsklage ist je404 Seit BAG v. 13.8.2009 – 6 AZR 330/08, ArbRB 2010, 7 = ZTR 2010, 87; vgl. auch BAG v. 9.11.2010 – 1 AZR 147/09, ZTR 2011, 323. 405 Vgl. BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 1088/12 Rz. 12, ZTR 2014, 600. 406 Einzelheiten zu diesem Prozessinstitut s. BAG v. 7.2.2019 – 6 AZR 84/18 Rz. 12 ff., NZA 2019, 726; v. 27.1.2011 – 6 AZR 578/09, Rz. 15 ff. ZTR 2011, 365; vgl. auch Spelge, ZTR 2011, 338 (351).

924

Spelge

Prozessuale Probleme bei Rechtsstreitigkeiten

Rz. 24.154 § 24

doch, dass die Frage, seit wann dem Beschäftigten die begehrte Vergütung aus einer höheren Stufe ihrer Entgeltgruppe zusteht, noch Auswirkungen für die Zukunft hat. Der Sechste Senat hat nach diesen Grundsätzen die Zulässigkeit einer Zwischenfeststellungsklage bejaht, wenn sich die Feststellung des Zeitpunks der Vergütung aus einer bestimmten Stufe auf den weiteren Aufstieg in den Stufen der Entgeltgruppe auswirkt407. Im Fall einer zwischenzeitlich ausgeschiedenen Arbeitnehmerin hat er die Zulässigkeit dagegen verneint. Hier hatte der Zeitpunkt des Beginns zur Zuordnung zu der begehrten Stufe keine Folgen mehr für den Aufstieg in die höheren Stufen der Entgeltgruppe408. Das hatte nur deshalb keine zusätzlichen Kosten für die Klägerin zur Folge, weil die Klage ohnehin unbegründet war. 2. Auswirkungen des Aufstiegs in den Stufen während des Prozesses In der Mehrzahl der vom Sechsten Senat des BAG entschiedenen Streitigkeiten über die Stu- 24.154 fenzuordnung berücksichtigten die Anträge nicht, dass die klagenden Beschäftigten während des Prozesses weiter in den Stufen aufgestiegen waren. Dies wurde regelmäßig erst auf Nachfrage des Senats mitgeteilt und führte zu Teilerledigungserklärungen oder zur teilweisen Rücknahme der Klage bzw. Revision409. Sogar dann, wenn der Arbeitgeber bereits im Lauf des Verfahrens mitgeteilt hatte, dass und zu welchem Zeitpunkt er den Beschäftigten aus der begehrten Stufe vergüten werde, ist die Anpassung des Antrags unterblieben410. War der Stufenaufstieg vorhersehbar, wie es in den Stufen des TVöD und des TV-L jedenfalls bis zur Stufe 3 und insbesondere in den Tarifverträgen der Ärzte der Fall ist, kann diese Teilerledigung auch erhebliche kostenrechtliche Konsequenzen für die Kläger haben, die an sich mit ihrem Begehren Erfolg haben. Der Sechste Senat des BAG hat klargestellt, dass in derartigen Fällen bei anwaltlicher Vertretung der Kläger keine Auslegung des Feststellungsantrags möglich ist, wonach die Zahlung nur bis zum Zeitpunkt des vorhersehbaren Stufenaufstiegs begehrt werden soll. Es ist ein Gebot der Rechtssicherheit, Rechtskundige bei Prozesserklärungen, die derart eindeutig abgegeben werden, beim Wort zu nehmen411. Dabei wird oft unterschätzt, welche Konsequenzen es haben kann, wenn dem eigentlich obsiegenden Kläger die Kosten auferlegt werden, soweit sie durch die uneingeschränkte Antragstellung entstanden sind. In dem der Entscheidung vom 21.2.2013 zugrunde liegenden Fall412 hatte der Kläger 76 % der Kosten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens, 83 % der Kosten des Berufungsverfahrens und sogar 87 % der Revisionskosten zu tragen, obwohl das BAG seine Rechtsposition in vollem Umfang bestätigt hat413. Dieses erhebliche Kostenrisiko lässt sich nur durch eine Antragstellung vermeiden, die die begehrte Vergütung zeitlich begrenzt414.

407 BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 578/09 Rz. 17, ZTR 2011, 365. 408 BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 526/09 Rz. 13, ArbRB 2011, 133 = ZTR 2011, 357. 409 Vgl. nur BAG v. 23.9.2011 – 6 AZR 174/09, ZTR 2011, 23; v. 23.9.2011 – 6 AZR 180/09, ArbRB 2011, 41 = ZTR 2011, 21; v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11, ZTR 2013, 308. 410 Vgl. BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 36, ZTR 2013, 308. 411 BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11 Rz. 36, ZTR 2013, 308. 412 BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11, ZTR 2013, 308. 413 Vgl. auch die Kostenentscheidung in BAG v. 24.3.2011 – 6 AZR 851/09 Rz. 33: der Kläger musste mehr als 1/3 der Kosten tragen, weil sein Antrag nicht berücksichtigte, dass er während des Prozesses die Stufen 2 bis 4 der Entgeltgruppe Ä 1 erreicht hatte. 414 Vgl. etwa den Antrag im Verfahren BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 526/09 Rz. 7, ZTR 2011, 357.

Spelge

925

§ 24 Rz. 24.155

Stufenzuordnung

3. Gerichtliche Überprüfung der Entscheidung des Arbeitgebers zur Stufenzuordnung a) Vorliegen einschlägiger Berufserfahrung

24.155 Die nach der Einstellung erforderliche Stufenzuordnung nach § 16 Abs. 2 Satz 1 und 2 TVöD sowie § 16 Abs. 2 Satz 1 bis 3 TV-L ist ebenso wie die dieser vorausgehende Eingruppierung des Beschäftigten ein Akt der Rechtsanwendung. Es handelt sich um ein bloßes Subsumtionsergebnis415. Als solches unterliegt es der vollen gerichtlichen Kontrolle416. Ist einschlägige Berufserfahrung gegeben, hat der Arbeitgeber diese Erfahrung zwingend bei der Stufenzuordnung nach § 16 Abs. 2 Sätze 2 und 3 TV-L zu berücksichtigen417 (Rz. 24.15). Ob eine einschlägige Berufserfahrung vorliegt, ist vorrangig von den Tatsacheninstanzen festzustellen, denen bei der Anwendung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs418 ein Beurteilungsspielraum zukommt. Die revisionsrechtliche Überprüfung ist deshalb darauf beschränkt, ob das angefochtene Urteil vom zutreffenden Rechtsbegriff ausgegangen ist, ob es diesen bei der Subsumtion beibehalten hat, ob ihm bei seiner Anwendung Verstöße gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze unterlaufen sind und ob es alle entscheidungserheblichen Umstände in sich widerspruchsfrei berücksichtigt hat419. b) Ermessenskontrolle

24.156 Die Ermessensentscheidung über die Anerkennung förderlicher Zeiten unterliegt aufgrund des in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verankerten Grundsatzes der Gewaltenteilung nur einer gerichtlichen Ermessenskontrolle, ohne dass jedoch die zur Überprüfung der getroffenen Entscheidung berufenen Gerichte ihr eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Behörde setzen könnten420. Ein Rechtsanspruch auf die Ausübung des Ermessens in einer bestimmten Weise kommt nur im Fall einer sog. „Ermessensreduzierung auf Null“ in Betracht, dh. in den Fällen, in denen aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls nur eine einzige Entscheidung ermessensfehlerfrei ist421. In allen übrigen Fällen, in denen der Arbeitgeber sein Ermessen nicht oder fehlerhaft ausgeübt hat, kommt regelmäßig nur ein Verbescheidungsurteil in Betracht, mit dem das Gericht den Arbeitgeber verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts abermals zu bescheiden (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO)422.

415 416 417 418 419 420 421 422

926

BAG v. 5.6.2014 – 6 AZR 1088/12 Rz. 15, ZTR 2014, 600. Boemke/Sachadae, PersV 2008, 324 (328). Boemke/Sachadae, PersV 2008, 324 (325). Boemke/Sachadae, PersV 2008, 324 (328). St. Rspr, vgl. nur BAG v. 22.2.2017 – 4 AZR 514/16 Rz. 17, ZTR 2017, 352. BAG v. 1.6.2017 – 6 AZR 433/15 Rz. 27, NZA 2018, 719. BAG v. 23.9.2010 – 6 AZR 174/09 Rz. 19, ZTR 2011, 23. BAG v. 1.6.2017 – 6 AZR 433/15 Rz. 27, NZA 2018, 719.

Spelge

§ 25 Überleitungstarifverträge Wegen der Überleitungstarifverträge wird auf die Ausführungen im Teil 9 der Vorauflage (2. Aufl. 2014, dort Seite 957–982) hingewiesen.

Groeger

927

25.1

§ 26 Grundlagen des Personalvertretungsrechts I. Verfassungsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26.1

1. Ableitung aus dem Grundgesetz . .

26.1

2. Verfassungsrechtliche Grenzen . . . a) Legitimationsstufe 1 . . . . . . . . . b) Legitimationsstufe 2 . . . . . . . . . c) Legitimationsstufe 3 . . . . . . . . .

26.2 26.4 26.5 26.6

II. Beteiligte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26.10

1. Dienststelle/Dienstbehörde . . . . . . a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . .

26.10 26.10 26.14 26.22

2. Personalvertretung . . . . . . . . . . . . 26.27 a) Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.27 b) Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.32 aa) Wahlberechtigung . . . . . . . 26.33 bb) Wählbarkeit . . . . . . . . . . . . 26.37 cc) Größe der Personalvertretung . . . . . . . . . . . . . . 26.39 dd) Wahlverfahren . . . . . . . . . . 26.40 ee) Wahlanfechtung . . . . . . . . . 26.45 c) Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.50 d) Geschäftsführung . . . . . . . . . . . 26.51 e) Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.53 f) Rechtsstellung der Personalratsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.63 aa) Rechtsstellung/Ehrenamt . . 26.63 bb) Versäumnis der Arbeitszeit/ Fortzahlung der Vergütung 26.64 cc) Freistellung . . . . . . . . . . . . . 26.66 dd) Berufliche Entwicklung freigestellter Personalratsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . 26.68 ee) Kündigungs- und Versetzungsschutz . . . . . . . . . . . . 26.72 ff) Übernahme von Auszubildenden . . . . . . . . . . . . . . 26.76 gg) Verbot der Behinderung der Personalratsarbeit . . . . . 26.80a hh) Benachteiligungs- und Begünstigungsverbot . . . . . 26.80b ii) Ausschluss aus dem Personalrat bzw. Auflösung des Personalrates . . . . . . . . . . . 26.80c III. Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . .

26.81

IV. Art der Beteiligung . . . . . . . . . . . .

26.93

1. Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . a) Volles Mitbestimmungsrecht . . . b) Zustimmungsverweigerungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Initiativrecht (§ 70 Abs. 1 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . e) Letztentscheidung . . . . . . . . . . . f) Dienstvereinbarungen . . . . . . . .

26.94 26.95

2. Mitwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einleitung des Verfahrens . . . . . b) Einwendungen . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . .

26.107 26.111 26.115 26.118 26.120 26.123 26.124 26.125 26.126

3. Anhörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.128 a) Information . . . . . . . . . . . . . . . . 26.129 b) Verletzung der Anhörungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.132 V. Katalog der Beteiligungsrechte . . . 26.133 1. Mitbestimmungsrechte . . . . . . . . . a) Einstellung (§§ 75 Abs. 1 Nr. 1, 76 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG) . . . . . . b) Übertragung einer höher oder niedriger zu bewertenden Tätigkeit, Höher- und Rückgruppierung, Eingruppierung (§§ 75 Abs. 1 Nr. 2 und 76 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG), Beförderung, Übertragung eines anderen Amtes mit höherem Grundgehalt ohne Änderung der Amtsbezeichnung, Verleihung eines anderen Amtes mit anderer Amtsbezeichnung beim Wechsel der Laufbahngruppe, Laufbahnwechsel (§ 76 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Versetzungen und Umsetzungen innerhalb der Dienststelle (§ 75 Abs. 1 Nr. 3 und § 76 Abs. 1 Nr. 4 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . d) Abordnung und Zuweisung nach § 29 BBG für eine Dauer von mehr als drei Monaten (§ 75 Abs. 1 Nr. 4, 4a und § 76 Abs. 1 Nr. 5, 5a BPersVG) . . . . .

Sasse

26.134 26.136

26.138

26.142

26.144

929

§ 26

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

e) Weiterbeschäftigung über die Altersgrenzen hinaus (§ 75 Abs. 1 Nr. 5 BPersVG) und Hinausschieben des Ruhestandes (§ 76 Abs. 1 Nr. 9 BPersVG) . . . f) Anordnungen, welche die Freiheit in der Wahl der Wohnung beschränken (§ 75 Abs. 1 Nr. 6 und § 76 Abs. 1 Nr. 6 BPersVG) g) Versagung einer beantragten Nebentätigkeitsgenehmigung und Widerruf einer solchen (§ 75 Abs. 1 Nr. 7 und § 76 Abs. 1 Nr. 7 BPersVG) . . . . . . . . h) Ablehnung eines Antrages gemäß §§ 91, 92, 95 BBG auf Teilzeitbeschäftigung, Ermäßigung der regelmäßigen Arbeitszeit oder Urlaub (§ 76 Abs. 1 Nr. 8 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten (§ 75 Abs. 2 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Mitbestimmung in Angelegenheiten des Dienstbetriebes (§ 75 Abs. 3 und § 76 Abs. 2 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit und der Pausen sowie die Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage (§ 75 Abs. 3 Nr. 1 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . bb) Zeit, Ort und Art der Auszahlung der Dienstbezüge und Arbeitsentgelte (§ 75 Abs. 3 Nr. 2 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . cc) Urlaubsplan und Lage des Urlaubs (§ 75 Abs. 3 Nr. 3 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . dd) Fragen der Lohngestaltung innerhalb der Dienststelle (§ 75 Abs. 3 Nr. 4 BPersVG) . . . . . . . . ee) Sozialeinrichtungen (§ 75 Abs. 3 Nr. 5 BPersVG) . . . ff) Durchführung der Berufsausbildung bei Arbeitnehmern (§ 75 Abs. 3 Nr. 6 BPersVG) . . . . . . . . . . . . .

930

Sasse

gg)

26.145

26.147

26.148

26.149 26.150

26.151

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26.153 26.154

26.156 26.158

26.159

Auswahl der Teilnehmer an Fortbildungsveranstaltungen für Arbeitnehmer (§ 75 Abs. 3 Nr. 7 und § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . hh) Inhalte von Personalfragebögen (§ 75 Abs. 3 Nr. 8 und § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BPersVG) . . . . . . . . . ii) Beurteilungsrichtlinien (§ 75 Abs. 3 Nr. 9 und § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . jj) Bestellung von Vertrauens- oder Betriebsärzten als Arbeitnehmer (§ 75 Abs. 3 Nr. 10 BPersVG) . . kk) Maßnahmen zur Verhütung von Dienst- und Arbeitsunfällen und sonstigen Gesundheitsschädigungen (§ 75 Abs. 3 Nr. 11 BPersVG) . . . . . . . . ll) Grundsätze über die Bewertung von anerkannten Vorschlägen im Rahmen des betrieblichen Vorschlagswesens (§ 75 Abs. 3 Nr. 12 BPersVG) . . . . . . . . mm) Aufstellung von Sozialplänen einschließlich Umschulungsplänen bei Rationalisierungsmaßnahmen (§ 75 Abs. 3 Nr. 13 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . nn) Absehen von der Ausschreibung von Dienstposten, die besetzt werden sollen (§ 75 Abs. 3 Nr. 14 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . oo) Regelung der Ordnung in der Dienststelle und des Verhaltens der Beschäftigten (§ 75 Abs. 3 Nr. 15 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . pp) Gestaltung der Arbeitsplätze (§ 75 Abs. 3 Nr. 16 BPersVG) . . . . . . . . . . . . .

26.160

26.161

26.162

26.163

26.164

26.165

26.166

26.167

26.168 26.171

Verfassungsrechtliche Grundlagen

qq)

Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Beschäftigten zu überwachen (§ 75 Abs. 3 Nr. 17 BPersVG) . . . . . . . rr) Maßnahmen zur Hebung der Arbeitsleistung und Erleichterung des Arbeitsablaufes (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 BPersVG) . . . ss) Fortbildung der Beschäftigten (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 BPersVG) . . . . . . . . tt) Einführung grundlegender neuer Arbeitsmethoden (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 BPersVG) . . . . . . . . uu) Erlass von Richtlinien über die personelle Auswahl bei Einstellung, Versetzung, Umgruppierung und Kündigung (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . vv) Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen einen Beschäftigten (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 BPersVG) . . . . . . . . ww) Maßnahmen, die der Durchsetzung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen und Männern dienen (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 10 BPersVG) . . . . . . .

26.173

26.175 26.177

26.178

26.179

Rz. 26.1 § 26

2. Mitwirkungsrechte . . . . . . . . . . . . a) Mitwirkung des Personalrates bei Kündigungen (§ 79 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mitwirkung bei der Vorbereitung von Verwaltungsanordnungen (§ 78 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Mitwirkung bei der Auflösung von Dienststellen (§ 78 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . d) Erhebung von Disziplinarklagen (§ 78 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG) . . . e) Entlassung von Beamten auf Probe (§ 78 Abs. 1 Nr. 4 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Vorzeitige Versetzung in den Ruhestand (§ 78 Abs. 1 Nr. 5 BPersVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anhörungsrechte . . . . . . . . . . . . . . a) Personalanforderungen zum Haushaltsvoranschlag (§ 78 Abs. 3 BPersVG) . . . . . . . . . . . . b) Neu-, Um- und Erweiterungsbau von Diensträumen (§ 78 Abs. 4 BPersVG) . . . . . . . . . . . . c) Änderung von Arbeitsverfahren und Arbeitsabläufen (§ 78 Abs. 5 BPersVG) . . . . . . . . . . . .

26.182 26.182

26.183 26.184 26.186 26.188 26.189 26.190 26.191 26.192 26.193

4. Sonstige Rechte . . . . . . . . . . . . . . . 26.194 26.180

26.181

Schrifttum: Bieler/Vogelgesang/Plaßmann/Kleffner, Landespersonalvertretungsgesetz Sachsen-Anhalt, Loseblatt, 51. EL, 2018(zit.: Bieler u.a./Bearbeiter); Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, Kommentar zum TV-L, Loseblatt; Edenfeld, Arbeitnehmerbeteiligung im Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrecht, 2000.

I. Verfassungsrechtliche Grundlagen 1. Ableitung aus dem Grundgesetz Eine ausdrückliche Gewährleistung der Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen fehlt im Grundgesetz. Das BVerfG hat mehrfach ausdrücklich offen gelassen, ob die Grundrechte oder das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG den Gesetzgeber verpflichten, für den Bereich des öffentlichen Dienstes in gewissem Umfang Beteiligungsrechte eines gewählten ReSasse

931

26.1

§ 26 Rz. 26.1

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

präsentationsorgans der Beschäftigten zu schaffen1. Geschützt durch das Grundgesetz ist gemäß Art. 9 Abs. 3 GG die gewerkschaftliche Betätigung in Personalvertretungen2. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Personalvertretungsrecht folgt aus Art. 73 Nr. 8 GG. Danach steht dem Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die Rechtsverhältnisse der im Dienst des Bundes und der bundesunmittelbaren Körperschaften des öffentlichen Rechts stehenden Personen zu3. Für die Gesetzgebung der Länder sind die §§ 95 bis 106 BPersVG Rahmenvorschriften (§ 94 BPersVG). Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Landespersonalvertretungsrecht ergab sich bis zur Föderalismusreform im Jahr 2006 aus Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 GG aF. Damit fehlt es nunmehr an einer Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die §§ 94 bis 106 BPersVG, welche die Rahmenvorschriften für die Länder enthalten. Hier greift nunmehr die Übergangsregelung des Art. 125a Abs. 1 GG ein. Danach gelten diese Vorschriften als Bundesrecht fort. Jedoch besteht eine Ersetzungsbefugnis des Landesgesetzgebers4. 2. Verfassungsrechtliche Grenzen

26.2 Das BVerfG hat sich nach vorangegangener erheblicher Diskussion mit Beschluss vom 24.5.19955 mit den Fragen der verfassungsrechtlichen Grenzen der Personalvertretung auseinander gesetzt. Anlass für diese Auseinandersetzung war das Mitbestimmungsgesetz des Landes Schleswig-Holstein. Dieses sah die Mitbestimmung des Personalrates bei allen personellen, sozialen, organisatorischen und sonstigen innerdienstlichen Maßnahmen, die die Beschäftigten der Dienststelle oder denen gleichgestellte Personen betreffen, vor. Die Beteiligung konnte bis zum Entscheidungsrecht einer unabhängigen Einigungsstelle reichen. Das BVerfG stellte fest, dass einerseits die Mitbestimmung sich nur auf innerdienstliche Maßnahmen erstrecken und nur so weit gehen dürfe, als die spezifischen, in dem Beschäftigungsverhältnis angelegten Interessen der Angehörigen der Dienststelle sie rechtfertigten (Schutzzweckgrenze)6. Andererseits verlangte das Demokratieprinzip für die Ausübung von Staatsgewalt bei Entscheidungen von Bedeutung für die Erfüllung des Amtsauftrages jedenfalls, dass die Letztentscheidung eines dem Parlament verantwortlichen Verwaltungsträgers gesichert ist (Verantwortungsgrenze)7.

26.3 Je weniger die zu treffende Entscheidung typischerweise die verantwortliche Wahrnehmung des Amtsauftrages und je nachhaltiger sie die Interessen der Beschäftigten berührt, desto

1 BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, NVwZ 1996, 574 (576); unter Verweis auf BVerfG v. 27.3.1979 – 2 BvL 2/77, NJW 1979, 1877 (1878); Lecheler, PersV 2007, 218 (219); RDW/Richardi, Einl. Rz. 42; aA Altvater, § 1 BPersVG Rz. 14, die davon ausgehen, dass die gesetzlichen Regelungen über die Bildung der Personalvertretung auf dem Sozialstaatsprinzip und auf den Grundrechten beruhen; ebenso Rinken, PersR 1999, 523 (525); ähnlich zum BetrVG, DKK/Trümner, § 1 BetrVG Rz. 6 f.; krit. dazu, dass sich das BVerfG nicht mit dieser Frage befasst hat, v. Roetteken, NVwZ 1996, 552 (553). Instruktiv zur Frage der Machtbegrenzung durch das BPersVG Steiner, DÖD 2008, 241 ff. 2 BVerfG v. 30.11.1965 – 2 BvR 54/62, NJW 1966, 491; v. 1.3.1979 – 1 BvR 532, 533/77, 419/78, 1 BvL 21/78, NJW 1979, 699 (710). 3 Jarass/Pieroth, Art. 73 GG Rz. 229. 4 Krit. zu möglichen Konsequenzen Biermann/Kammradt, PersR 2006, 444 (446). 5 BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, NVwZ 1996, 574 ff. 6 BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, NVwZ 1996, 574 (576). 7 BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, NVwZ 1996, 574 (576).

932

Sasse

Verfassungsrechtliche Grundlagen

Rz. 26.5 § 26

weiter kann die Beteiligung der Personalvertretung reichen8. Dies konkretisiert das Gericht in drei Fallgruppen, die ein aufsteigendes demokratisches Legitimationsniveau beschreiben9. a) Legitimationsstufe 1 Sofern Angelegenheiten in ihrem Schwerpunkt die Beschäftigten in ihrem Beschäftigungsverhältnis betreffen und typischerweise nicht oder nur unerheblich die Wahrnehmung von Amtsaufgaben gegenüber dem Bürger berühren, zB soziale Angelegenheiten gemäß § 75 Abs. 2 oder Abs. 3 (mit Ausnahme der Nr. 10, 14 und 17) BPersVG, gestattet das Demokratieprinzip eine weit reichende Mitwirkung der Beschäftigten. Hier kann der Gesetzgeber vorsehen, dass solche Maßnahmen an die Mitbestimmung der Personalvertretung gebunden sind und im Falle einer Nichteinigung die Entscheidung einer weisungsunabhängigen Einigungsstelle überlassen werden kann. Es bedarf aber auch hier einer – abgeschwächten – demokratischen Legitimation. Diese wird dadurch sichergestellt, dass Personalrat und Einigungsstelle bei ihrer Tätigkeit an Recht und Gesetz gebunden sind und zumindest die Mehrheit der Mitglieder der im Nichteinigungsfalle entscheidenden Einigungsstelle jedenfalls in gewissem Maße personell demokratisch legitimiert ist und zusätzlich Entscheidungen, die im Einzelfall wegen ihrer Auswirkungen auf das Gemeinwohl wesentlicher Bestandteil der Regierungsgewalt sind, einem parlamentarisch verantwortlichen Amtsträger vorbehalten bleiben (§ 104 Satz 3 BPersVG). Letzteres kann zB in Form eines Evokationsrechtes vorgesehen werden10.

26.4

b) Legitimationsstufe 2 Maßnahmen, die den Binnenbereich des Beschäftigungsverhältnisses betreffen, die Wahrnehmung des Amtsauftrages jedoch typischerweise nicht nur unerheblich berühren, bedürfen eines höheren Maßes an demokratischer Legitimation, diese kann aber auf unterschiedliche Weise bewirkt werden. Hierzu rechnen zB Maßnahmen gemäß §§ 75 Abs. 3 Nr. 14 und 17, 78 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG. Diese Maßnahmen werden in der Regel nicht so weit vorstrukturiert, dass sie sich auf eine messbare richtige Planungs- oder Gesetzesdurchführung beschränken. Deshalb muss jedenfalls die Möglichkeit der verbindlichen Letztentscheidung durch einen parlamentarisch verantwortlichen Amtsträger vorbehalten bleiben. Die Kompetenz einer Einigungsstelle könne hier nur unter der Voraussetzung hingenommen werden, dass die Mehrheit ihrer Mitglieder uneingeschränkt personell demokratisch legitimiert sei und die Entscheidung darüber hinaus von einer Mehrheit der so legitimierten Mitglieder getragen werde11. Das BVerfG verweist hier auf Ausführungen von Bockenförde12. Der Gesetzgeber könne den der Einigungsstelle anhaftenden Makel demokratischer Legitimation durch das Letztentscheidungsrecht einer in parlamentarischer Verantwortung stehenden oder dem Weisungsrecht eines parlamentarisch verantwortlichen Amtsträgers unterliegenden Stelle ausgleichen13.

8 9 10 11

BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, NVwZ 1996, 574 (576). Kersten, RdA 2001, 23 (24); krit. gegenüber dieser Zuordnung Rinken, PersR 1999, 523 (524 f.). BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, NVwZ 1996, 574 (576). BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, NVwZ 1996, 574 (576) (doppelte Mehrheit); vgl. hierzu Battis/ Kersten, DÖV 1996, 584 (590); BVerfG v. 5.12.2002 – 2 BvL 5/98, NVwZ 2003, 974 (975). 12 Isensee/Kirchhoff/Bockenförde, Handbuch des Staatsrechts I, 1. Aufl. 1987, §§ 22, 25. 13 BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, NVWZ 1996, 574 (596).

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933

26.5

§ 26 Rz. 26.6

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

c) Legitimationsstufe 3

26.6 Innerdienstliche Maßnahmen, insbesondere organisatorische, personelle und in Einzelfällen soziale Maßnahmen, die schwerpunktmäßig die Erledigung von Amtsaufgaben betreffen, unvermeidlich aber auch die Interessen der Beschäftigten berühren, sind stets von so großer Bedeutung für die Erfüllung des Amtsauftrages, dass die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung für sie keine substantiellen Einschränkungen erfahren darf. Beispielhaft ist hier die Privatisierung von Aufgaben und Dienststellen zu nennen14. Sofern in diesen Fällen Personalvertretung und Einigungsstelle in die Willensbildung und Entscheidungsfindung einbezogen werden, kann dies – jedenfalls auf der letzten Stufe – allenfalls in Form der sog. eingeschränkten Mitbestimmung geschehen. Die Entscheidung der Einigungsstelle darf nur den Charakter einer Empfehlung an die zuständige Dienstbehörde haben15.

26.7 Auch wenn sich der Beschluss des BVerfG unmittelbar nur auf das Land Schleswig-Holstein bezog, so hat das Gericht in den tragenden Entscheidungsgründen festgestellt, inwieweit Art. 28 Abs. 1 Satz 1 iVm. Art. 20 Abs. 2 GG einer Beteiligung der Personalvertretung an Maßnahmen im Bereich von Regierung und Verwaltung verfassungsrechtliche Grenzen setzt16. Die Entscheidung bindet gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Dies bedeutet, dass nicht nur der Tenor, sondern auch die tragenden Gründe eine über den Einzelfall hinausgehende Bindungswirkung entfalten.

26.8 Nach der Entscheidung des BVerfG vom 24.5.1995 ist der Gesetzgeber untätig geblieben17. Das BVerwG ging in ersten Entscheidungen davon aus, dass in Fällen, in denen die fragliche Maßnahme bei der Aufgabenerfüllung gegenüber dem Bürger wesentliche Auswirkungen hat, ein Mitbestimmungsrecht nicht besteht18. Das BVerfG hat dann im Jahre 2001 einen Sachverhalt betreffend das Personalvertretungsgesetz des Landes Brandenburg zu entscheiden gehabt. Hier verwies es auf die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung. Auch wenn das Personalvertretungsgesetz des Landes Brandenburg vorsehe, dass eine ordentliche Änderungskündigung von der vorherigen Zustimmung des Personalrates abhängig sei, hätte das vorlegende Gericht erwägen müssen, die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung über die Heranziehung des § 73 BbgPersVG zu vermeiden. Nach dieser Vorschrift hätte der Hauptverwaltungsbeamte von seinem Letztentscheidungsrecht Gebrauch machen können19. In der Folge dieser Entscheidung hat das BVerwG dann seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben. Es nahm nunmehr das Vorliegen einer vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Lücke an, welche durch Analogie geschlossen werden kann. Die Entscheidung der Einigungsstelle wird nunmehr als Empfehlung angesehen20. Gegen diese Rechtsprechung wird eingewandt, dass sie schon im Ansatz problematisch sei, weil sie dem klaren Wortlaut der gesetzlichen Vorschriften widerspreche und eindeutige gesetzgeberische Entscheidungen über die Ausgestaltung des je-

14 15 16 17 18

Gutzeit, ZIP 2009, 354 (360 f.). BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, NVwZ 1996, 574 (576). Flintrop/Leuze, PersV 2005, 298. Flintrop/Leuze, PersV 2005, 298 (302); Vogelgesang, ZTR 2003, 366 (367). BVerwG v. 28.3.2000 – 6 P 4.00, ZTR 2001, 376 (378); v. 3.12.2001 – 6 P 12.00, NZA-RR 2002, 666 (668 f.); s. auch v. Roetteken, NZA-RR 2001, 505 (506). 19 BVerfG v. 20.7.2001 – 2 BvL 8/00, NZA-RR 2002, 334 (336). 20 BVerwG v. 24.4.2002 – 6 P 3.01, NVwZ-RR 2003, 32 (34 f.); v. 18.6.2002 – 6 P 12.01, NZA-RR 2003, 223 (224); v. 30.6.2005 – 6 P 9/04, NZA-RR 2005, 665 (667 f.); ausführlich zur Entwicklung der Rspr. Büge, PersR 2011, 13 ff.

934

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Beteiligte

Rz. 26.10 § 26

weiligen Mitbestimmungssystems korrigiere21. Gleichzeitig wird aber auch festgestellt, dass das BVerwG so zu pragmatischen Lösungen kommt22. Es wurden Landesgesetze modifiziert, um den durch das BVerfG aufgestellten Anforderungen23 gerecht zu werden24. Die Neuregelung in Nordrhein-Westfalen, die als Tiefpunkt der Entwicklung im Personalvertretungsrecht bezeichnet wurde25, wurde dann wieder geändert26. Bei nachfolgenden Rechtsstreitigkeiten stellte sich dann die Frage, ob die Einschränkung der Mitbestimmungen mit den jeweiligen Landesverfassungen vereinbar war27.

26.9

II. Beteiligte 1. Dienststelle/Dienstbehörde a) Begriff Während im Betriebsverfassungsrecht der Betrieb die grundlegende organisatorische Einheit ist, stellt im Personalvertretungsrecht die Dienststelle diese grundlegende organisatorische Einheit dar. Dabei legt die Exekutive kraft ihrer Organisationsgewalt fest, in welcher Verwaltungsorganisation sie ihre Aufgaben am zweckmäßigsten erfüllt, und bestimmt damit auch die verwaltungsorganisatorische Einheit, an die das Personalvertretungsrecht anknüpft28. Dienststellen iSd. Personalvertretungsrechts sind organisatorische Einheiten, die einen selbständigen Aufgabenbereich haben und innerhalb der Verwaltungsorganisation verselbständigt sind. Dabei ist nicht die Aufgabe der entsprechenden Einheit dafür maßgebend, ob sie eine selbständige Dienststelle ist. Dies hängt vielmehr davon ab, ob sie in dem für die öffentliche Verwaltung möglichen Umfang organisatorisch verselbständigt ist29. Für die entsprechende Verselbständigung kommt es darauf an, dass der Leiter der Einrichtung in den Grenzen der für die öffentliche Verwaltung allgemein bestehenden Weisungsgebundenheit – bei den für eine Beteiligung der Personalvertretung in Betracht kommenden personellen, sozialen, organisatorischen und sonstigen innerdienstlichen Angelegenheiten – einen eigenen Entscheidungsspielraum hat30. Die entsprechende Verselbständigung kann bei organisatorischen Än-

21 Altvater, § 104 BPersVG Rz. 33; Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 69 BPersVG Rz. 33 c f.; Wahlers, PersV 2003, 18 (20 f.) „nichtvertretbare Analogie“. 22 Battis, PersV 2005, 286 (287); ähnlich Vogelgesang, ZTR 2003, 366 (367); RDW/Kersten, § 104 Rz. 31 nachvollziehbares Anliegen, das methodisch und verfassungsrechtlich nicht überzeugt. 23 Ein Erfordernis der Anpassung der landesgesetzlichen Regelungen verneint Daniels, PersR 2009, 13 (14 ff.). 24 Vgl. zum hessischen Personalvertretungsgesetz StGH Hessen v. 8.11.2006 – P.St. 1981, NVwZ-RR 2007, 217; für Nordrhein-Westfalen Oberthür, ArbRB 2007, 324 ff.; krit. zur Berliner Neuregelung Daniels, PersR 2009, 13 ff.; einen allgemeinen Überblick gibt Altvater, PersV 2008, 290 ff. 25 Altvater, BPersVG, Einl. Rz. 30; Welkoborsky, PersR 2011, 17. 26 Ausführlich Pröpper, PersV 2011, 412 ff. 27 Ausführlich Braun, PersV 2010, 252. 28 RDW/Benecke, § 6 Rz. 4; Fischer/Goeres/Gronimus, § 6 BPersVG Rz. 3. 29 BVerwG v. 13.8.1986 – 6 P 7.85, NVwZ 1987, 807 (808); v. 29.3.2001 – 6 P 7.00, PersV 2001, 298 (299). 30 BVerwG v. 29.3.2001 – 6 P 7.00, PersR 2001, 298 (299); vgl. auch § 6 Abs. 1 Satz 2 PersVG LSA, welches normiert, dass Einrichtungen keine Dienststelle sind, soweit die Leitung keine Befugnisse hat, die der Beteiligung des Personalrates bedürfen.

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935

26.10

§ 26 Rz. 26.10

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

derungen entfallen. Die Dienststelle hört zu dem Zeitpunkt auf zu bestehen, zu dem offensichtlich die Selbständigkeit der Dienststelle entfällt31.

26.11 Nach der Definition in § 6 Abs. 1 BPersVG, welche in einigen Punkten vom sonstigen Dienststellenbegriff abweicht32, sind Dienststellen die einzelnen Behörden, Verwaltungsstellen und Betriebe der in § 1 BPersVG genannten Verwaltungen sowie Gerichte. Behörden nehmen staatliche Verwaltungsaufgaben wahr33. Verwaltungsstellen nehmen sonstige Verwaltungsaufgaben wahr34. Betriebe übernehmen im Rahmen der öffentlichen Versorgung die Befriedigung von Bedürfnissen der Allgemeinheit, zB die öffentliche Versorgung35. Dienststellen iSd. Personalvertretungsrechtes sind gemäß § 6 Abs. 1 BPersVG auch die Gerichte des Bundes. Dabei gehören nach § 4 Abs. 1 BPersVG die dort beschäftigten Richter nicht zum persönlichen Geltungsbereich des Gesetzes. Die bei den Gerichten gebildeten Personalvertretungen vertreten deshalb grundsätzlich nur die dort beschäftigten Beamten und Arbeitnehmer36. Die Aufzählung in § 6 Abs. 1 BPersVG hat keine praktischen Auswirkungen im Bereich des Personalvertretungsrechts. Sie dient lediglich der näheren Konkretisierung des Dienststellenbegriffes37.

26.12 Die Dienststelleneigenschaft und die Anwendung des Personalvertretungsrechts knüpft an die Rechtsform an, in welcher die entsprechenden Tätigkeiten erbracht werden. Dies ergibt sich aus § 1 BPersVG, wonach in den Verwaltungen des Bundes und der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts Personalvertretungen gebildet werden. Vergleichbare Regelungen gibt es in den Landespersonalvertretungsgesetzen. Soweit eine juristische Person des öffentlichen Rechts mit einer solchen des Privatrechts einen gemeinschaftlichen Betrieb bildet, findet das BetrVG für diesen Betrieb Anwendung38. Im Anwendungsbereich des hessischen Landespersonalvertretungsgesetzes hat die Stadt Hanau einen Tarifvertrag zur Beteiligung von Betriebsräten und Personalräten bei dem „Konzern Stadt“ abgeschlossen. Es handelt sich um ein Novum39. Strittig ist, ob auf Fraktionen des Bundestages das BPersVG oder das BetrVG Anwendung findet. Die Mitarbeiter einiger Fraktionen haben einen Betriebsrat und die anderer Fraktionen einen Personalrat gewählt40.

26.13 Ua. auch folgende Einrichtungen unterfallen dem Personalvertretungsrecht: Sozialversicherungsträger, dh. Rentenversicherungsträger, Unfallversicherungsträger, gesetzliche Krankenversicherungen41, die Bundesagentur für Arbeit (§ 83 BPersVG), die Deutsche Bundesbank 31 32 33 34 35 36 37 38

BVerwG v. 18.1.1990 – 6 P 8.88, PersV 1990, 348 (349). Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 6 BPersVG Rz. 4. BVerwG v. 12.9.2002 – 6 P 11.01, AP Nr. 2 zu § 86 LPVG Berlin. BVerwG v. 13.8.1986 – 6 P 7.85, NVwZ 1987, 807 (808). BVerwG v. 13.8.1986 – 6 P 7.85, NVwZ 1987, 807 (808). Altvater, § 6 BPersVG Rz. 5. Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 6 BPersVG Rz. 10. BAG v. 24.1.1996 – 7 ABR 10/95, NZA 1996, 1110 (1112 f.); BVerwG v. 13.6.2001 – 6 P 8.00, NZA 2003, 115 (116 ff.); zur Frage des nicht bestehenden Wahlrechts der Beamten zu dem Betriebsrat eines solchen Gemeinschaftsbetriebes BAG v. 28.3.2001 – 7 ABR 21/00, NZA 2002, 1294 ff. 39 S. die Darstellung von Löwisch/Schuster, ZTR 2009, 58 ff. 40 ArbG Berlin v. 17.1.2003 – 96 Ca 30440/02, NZA-RR 2003, 656 f.: BPersVG findet keine Anwendung; VG Berlin v. 30.9.2008 – VG 72 A. 5.08, insb. Rz. 16 ff. – keine offensichtliche Verkennung der Personalratsfähigkeit; zum Streitstand Singer, NZA 2008, 789 ff.; zur Frage der Anwendung des BPersVG auf die Büromitarbeiter von Bundestagsabgeordneten Pieroth/Meßmann, PersV 2009, 444 ff. 41 Auch die Betriebskrankenkassen privater Arbeitgeber unterfallen dem Personalvertretungsrecht vgl. BVerwG v. 12.1.2006 – 6 P 6.05, NJOZ 2006, 4041 (4043), Rz. 9.

936

Sasse

Beteiligte

Rz. 26.19 § 26

(§ 89 BPersVG), die Deutsche Welle (§ 90 BPersVG), Sparkassen, Landesbanken, öffentlichrechtliche Versicherungen. b) Aufbau Das BPersVG geht von einem dreistufigen Behördenaufbau aus. Der Begriff der Obersten Dienstbehörde ist im BPersVG nicht erwähnt. Nach der Definition des § 3 BBG ist dies die oberste Behörde des Dienstherren, in deren Dienstbereich der Beamte sein Amt bekleidet. Dies gilt für Arbeitnehmer entsprechend42. Sonderregelungen gibt es für die Sozialversicherungsträger, die Bundesagentur für Arbeit und die Bundesbank (§§ 88, 89 BPersVG).

26.14

Behörden der Mittelstufe sind der obersten Dienstbehörde unmittelbar nachgeordnet. Ihnen müssen wiederum Unterbehörden oder sonstige Stellen nachgeordnet sein (§ 6 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 BPersVG). Fehlen diese, so handelt es sich um die unterste Stufe, selbst wenn es sich um eine Bundesoberbehörde handelt, zB Statistisches Bundesamt, Bundeskriminalamt43. Wenn einer Bundesoberbehörde unselbständige Stellen nachgeordnet sind, bilden diese eine Dienststelle mit der Oberbehörde (§ 6 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 BPersVG).

26.15

Die einer Behörde der Mittelstufe nachgeordnete Behörde bildet mit den ihr nachgeordneten Dienststellen eine Dienststelle der untersten Stufe. Auch wenn weitere Untergliederungen bestehen, werden diese regelmäßig nicht als besondere Einheiten angesehen. Dies gilt aber gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 BPersVG dann nicht, wenn die weiter nachgeordnete Stelle nach Aufgabenbereich und Organisation selbständig ist, dh., wenn sie eine selbständige Dienststelle darstellt. Hierdurch wird den Besonderheiten einer mehr als dreistufig aufgebauten Verwaltung zB bei der Bundeswehr44 Rechnung getragen. Es müssen alle Voraussetzungen der Vorschrift vorliegen, insbesondere muss der Leiter der Dienststelle in den Angelegenheiten frei entscheiden können, bei denen Beteiligungsrechte der Personalvertretung bestehen45.

26.16

Das BPersVG sieht in § 6 Abs. 3 BPersVG die Möglichkeit der Verselbständigung von Nebenstellen oder Dienststellenteilen vor. Während § 4 Abs. 1 Satz 2 BetrVG vorsieht, dass die Arbeitnehmer räumlich weit entfernter Betriebsteile an der Wahl des Betriebsrates des Hauptbetriebes teilnehmen, sofern sie dies beschließen, führt gemäß § 6 Abs. 3 BPersVG ein Beschluss der Beschäftigten zur Wahl einer eigenen Personalvertretung. Hierfür müssen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Abs. 3 BPersVG vorliegen.

26.17

Nebenstellen sind Verwaltungsstellen, die in ihrem Aufgabenbereich in Abhängigkeit zur Hauptstelle einer Dienststelle stehen46. Teile einer Dienststelle sind Untergliederungen, die aus technischen, organisatorischen oder räumlichen Gründen von den übrigen Untergliederungen abgegrenzt sind. Eine genaue Abgrenzung ist für die Anwendung des § 6 Abs. 3 BPersVG nicht erforderlich47.

26.18

Die Nebenstelle oder der Dienststellenteil muss räumlich weit entfernt sein. Hierbei handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Entscheidend ist, dass die Personalvertretung

26.19

42 43 44 45 46 47

Altvater, § 6 BPersVG Rz. 7. Lorenzen/Etzel/Gerhold/Schlatmann/Rehack/Faber/Griebeling/Hebeler/Ramm, § 6 Rz. 23 f. Vgl. hierzu Altvater, § 92 BPersVG Rz. 7. RDW/Benecke, § 6 Rz. 23. RDW/Benecke § 6 Rz. 25. Altvater, § 6 BPersVG Rz. 10b.

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937

§ 26 Rz. 26.19

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

sich genügend mit den personellen Angelegenheiten der Beschäftigten befassen kann48. Hierbei sind die bestehenden Verkehrsverbindungen, die Verkehrsdichte und der benötigte Zeitaufwand zu berücksichtigen49. Das BVerwG geht sogar davon aus, dass bei zwei mehr als 20 Kilometer voneinander entfernten Dienstorten eine tatsächliche Vermutung für eine räumlich weite Entfernung spricht, sofern nicht besondere Umstände eine Ausnahme von dieser Regel rechtfertigen50. Insoweit liegt eine Abweichung zur Rechtsprechung des BAG zum BetrVG vor, das auch bei deutlich größeren Entfernungen unter Berücksichtigung aller Umstände eine räumlich weite Entfernung verneint51. Teildienststellen innerhalb einer Stadt sind regelmäßig nicht weit voneinander entfernt52.

26.20 Die Beschäftigten müssen einen Verselbständigungsbeschluss fassen. Die weite räumliche Entfernung ist nicht Gegenstand der Abstimmung, sondern dessen Voraussetzung53. Der Beschluss muss durch die Mehrheit der wahlberechtigten Beschäftigten in geheimer Abstimmung getroffen werden. Die Abstimmung erfolgt nicht in Gruppen (Arbeitnehmer, Beamte). Es müssen nicht die Anforderungen der Wahlordnung54 erfüllt sein. Das Verfahren muss aber gewissen Mindestanforderungen genügen55. Die Grundsätze zur Durchführung einer Personalratswahl gelten sinngemäß56. Gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 BPersVG gilt der Verselbständigungsbeschluss für die folgende Wahl und die hieraus hervorgehende Personalvertretung. Hierbei wird an die Amtsperiode des Personalrates der Hauptstelle angeknüpft. Sofern dieser vor Ablauf der regelmäßigen Amtszeit zurücktritt, endet die Amtszeit mit der Neuwahl. Der Verselbständigungsbeschluss verliert seine Wirkung57. Tritt hingegen der Personalrat der Nebenstelle zurück, behält der Verselbständigungsbeschluss seine Wirkung und es können Neuwahlen durchgeführt werden58. Eine gemeinsame Verselbständigung mehrerer Dienststellenteile ist nur ausnahmsweise möglich59. Es bedarf eines gemeinsamen Leiters der Dienststellenteile.

26.21 Sofern ein Verselbständigungsbeschluss gefasst wird, gilt die entsprechende Einheit personalvertretungsrechtlich als selbständige Dienststelle. Die Behördenorganisation wird hierdurch aber nicht verändert. So muss kein Leiter der Nebenstelle vorhanden sein60. Es werden getrennte Personalräte gebildet. Sofern auf den Beschluss hin keine Wahl erfolgt, werden die Beschäftigten nicht vom Personalrat der Hauptdienststelle repräsentiert61. Der Verselbständigungsbeschluss führt zur Bildung eines Gesamtpersonalrates gemäß § 55 BPersVG.

48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61

BVerwG v. 14.7.1987 – 6 P 9.86, NVwZ-RR 1989, 312 f. BVerwG v. 29.5.1991 – 6 P 12.89, NVwZ-RR 1992, 199 (201). BVerwG v. 29.5.1991 – 6 P 12.89, NVwZ-RR 1992, 199 (201). BAG v. 24.2.1976 – 1 ABR 62/75, AP Nr. 2 zu § 4 BetrVG 1972; s. auch die Übersicht bei GKBetrVG/Franzen, § 4 BetrVG Rz. 13 ff. BVerwG v. 14.7.1987 – 6 P 9.86, NVwZ-RR 1989, 312 (313). BVerwG v. 17.12.1957 – VII P 3.57, BVerwGE 6, 60 (61 f.). Zu Vorabstimmungen vgl. § 4 WO. Altvater, BPersVG, § 4 WO Rz. 8. Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 6 BPersVG Rz. 24. BVerwG v. 26.1.2001 – 6 P 3.99, NZA-RR 2000, 669 (671); v. 26.1.2001 – 6 P 10.99. BVerwG v. 26.1.2001 – 6 P 3.99, NZA-RR 2000, 669 (671); v. 26.1.2001 – 6 P 10.99. OVG Koblenz v. 8.2.2000 – 4 B 10148/00, PersV 2000, 278 (280). BVerwG v. 13.9.2010 – 6 P 14.09 Rz. 12 ff., PersV 2011, 103 (104 ff.) zum LPersVG Sachsen-Anhalt, welches als zweite Alternative für die Bildung einer Nebenstelle ausdrücklich das Vorhandensein eines Nebenstellenleiters vorsieht, zu dieser Entscheidung Howald, öAT 2012, 97 ff. RDW/Benecke, § 6 Rz. 33.

938

Sasse

Beteiligte

Rz. 26.24 § 26

c) Vertretung Die Dienststelle wird gemäß § 7 Satz 1 BPersVG durch den Dienststellenleiter vertreten. Dies ist der Repräsentant des Dienstherren im Bereich der Personalvertretung. Das PersVG legt nicht fest, wer Dienststellenleiter ist. Dies ist den Regeln über die Organisationsstruktur der Verwaltung zu entnehmen62. Der Dienststellenleiter muss nicht berechtigt sein, den Dienstherren rechtsgeschäftlich oder vor Gericht zu vertreten63. Entscheidend kommt es darauf an, dass der Dienststellenleiter den Dienstbetrieb regelt und beaufsichtigt und die Maßnahmen verantwortet, die der Beteiligung der Personalvertretung unterliegen64. Unerheblich ist, dass der Dienststellenleiter dabei internen Weisungen der übergeordneten Behörde ganz oder teilweise unterliegt65.

26.22

Im Falle der Verselbständigung einer Dienststelle gemäß § 6 Abs. 3 BPersVG (s. Rz. 26.17 ff.) gilt der Leiter dieser Einheit als Dienststellenleiter, auch wenn er keine Entscheidungsbefugnis in Angelegenheiten hat, die der Beteiligung des Personalrates unterliegen66. Im Falle der Zuteilung einer Kleindienststelle gemäß § 12 Abs. 2 BPersVG behält der Dienststellenleiter seine Stellung und handelt in seinem Aufgabenbereich für die Dienststelle gegenüber dem Personalrat.

26.23

Der Dienststellenleiter kann sich im Falle der Verhinderung67 durch den ständigen Vertreter 26.24 vertreten lassen (§ 7 Satz 2 BPersVG). Dies ist der nach dem Organisationsplan der Dienststelle Zuständige68. Ob ein Vertretungsfall vorliegt, entscheidet der Dienststellenleiter nach pflichtgemäßem Ermessen69. Insbesondere ist der Dienststellenleiter nicht gehalten, unter Außerachtlassung anderer wichtiger dienstlicher Verpflichtungen zunächst mit der Personalvertretung Terminabsprachen zu treffen. Auch eine Verpflichtung zur Begründung besteht nur in Ausnahmefällen70. Sofern ein Vertretungsfall nicht vorliegt, muss dies durch die Personalvertretung unverzüglich gerügt werden. Ansonsten verliert die Personalvertretung ihr Rügerecht und der Mangel ist im Innen- wie im Außenverhältnis unbeachtlich, zB führt er nicht zur Unwirksamkeit einer Kündigung wegen einer mangelhaften Anhörung71. Bei obersten Dienstbehörden kann der Dienststellenleiter auch den Leiter der Abteilung für Personal- und Verwaltungsangelegenheiten zu seinem Vertreter bestellen (§ 7 Satz 3 BPersVG). Bei getrennten Abteilungen erfolgt eine Bestellung jeweils für den Zuständigkeitsbereich72. Bei Bundesoberbehörden ohne nachgeordnete Dienststelle und Behörden der Mittelstufe können auch die jeweiligen Abteilungsleiter zu Vertretern bestellt werden. 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72

BVerwG v. 26.8.1987 – 6 P 11.86, NVwZ-RR 1989, 259. BVerwG v. 26.8.1987 – 6 P 11.86, PersV 1988, 488 (489). BVerwG v. 13.8.1986 – 6 P 7.85, NVwZ 1987, 807 (808); v. 29.3.2001 – 6 P 7.00. St. Rspr.; BVerwG v. 16.6.1989 – 6 P 10.86, NVwZ 1990, 74 (75); v. 22.6.2005 – 6 P 2.05, PersR 2005, 464 (465). BVerwG v. 29.5.1991 – 6 P 12.89, NVwZ-RR 1992, 199 (200). Eine Vielzahl der Landespersonalvertretungsgesetze sehen diese Einschränkung nicht vor, vgl. RDW/Benecke, § 7 Rz. 19. BAG v. 27.2.1997 – 2 AZR 513/96, NZA 1998, 193 f. BAG v. 31.3.1983 – 2 AZR 384/81, AP Nr. 1 zu § 8 LPVG Hessen; v. 26.10.1995 – 2 AZR 743/94, AP Nr. 8 zu § 79 BPersVG; krit. hierzu Altvater, § 7 BPersVG Rz. 3. BAG v. 31.3.1983 – 2 AZR 384/81, AP Nr. 1 zu § 8 LPVG Hessen; aA Altvater, § 7 BPersVG Rz. 3. BVerwG v. 26.8.1987 – 6 P 11.86, NVwZ-RR 1989, 259 (260); BAG v. 26.10.1995 – 2 AZR 743/94, AP Nr. 8 zu § 79 BPersVG. RDW/Benecke, § 7 Rz. 13.

Sasse

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§ 26 Rz. 26.25

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

26.25 Sofern der Personalrat einverstanden ist, können gemäß § 7 Satz 4 BPersVG auch sonstige Beauftragte bestellt werden. Diese Vorschrift gilt für die in § 7 Satz 3 BPersVG genannten Behörden73. Neben der Zustimmung muss auch hier ein Vertretungsfall vorliegen.

26.26 Für die Durchführung von Vorbesprechungen oÄ, zB auch zur Unterrichtung über eine beabsichtigte mitbestimmungspflichtige Maßnahme, kann der Dienststellenleiter andere Mitarbeiter, zB einen Personalreferenten, beauftragen. Dies gilt aber nicht für die Vornahme von Handlungen im Vertretungsverfahren74. 2. Personalvertretung a) Art

26.27 Das BPersVG kennt mehrere Arten der Personalvertretung. Zunächst gibt es auf der Ebene der Dienststelle die Personalräte (§ 12 BPersVG). Daneben werden als Stufenvertretung bei Behörden der Mittelstufe (s. Rz. 26.15) Bezirkspersonalräte gebildet (§ 53 Abs. 1 BPersVG). Bei den obersten Dienstbehörden (s. Rz. 26.14) werden Hauptpersonalräte gebildet (§ 53 Abs. 1 BPersVG). Dabei wird bei den jeweiligen Dienststellen neben der Stufenvertretung auch ein örtlicher Personalrat gebildet.

26.28 Sofern gemäß § 6 Abs. 3 BPersVG ein Verselbständigungsbeschluss für räumlich weit entfernt liegende Nebenstellen und Teile einer Dienststelle gefasst wird, wird neben den einzelnen Personalräten ein Gesamtpersonalrat gebildet (§ 55 BPersVG). Der Gesamtpersonalrat fasst die Personalräte gleicher Ebene in horizontaler Organisation zusammen75. Sofern ein Gesamtpersonalrat nicht gebildet wurde, fehlt es an einer beteiligungsfähigen Personalvertretung. Der Leiter der Hauptstelle kann diese Lücke nicht durch eine Beteiligung der einzelnen Personalräte der verselbständigten Dienststelle schließen76.

26.29 Da im Personalvertretungsrecht eine vom Gesetz abweichende Regelung durch Tarifvertrag oder Dienstvereinbarung nicht möglich ist (§ 3 BPersVG)77, kommt anders als gemäß § 3 BetrVG die Schaffung von Personalratsstrukturen zB regional oder nach Sparten durch entsprechende Regelungen nicht in Betracht78.

26.30 Ferner sieht das BPersVG noch die Bildung von Jugend- und Auszubildendenvertretungen (JAV) in solchen Dienststellen vor, bei denen Personalvertretungen gebildet sind und denen in der Regel mindestens fünf Beschäftigte angehören, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder die sich in einer beruflichen Ausbildung befinden und das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (§ 57 BPersVG). Anders als im BetrVG ist im BPersVG ausdrücklich geregelt, dass eine JAV nur in solchen Dienststellen gewählt wird, in denen auch ein Personalrat besteht, wenngleich auch im BetrVG nur in Betrieben mit einem Betriebsrat die Wahl einer JAV als zulässig angesehen wird79. Die JAV ist kein von der Personalvertretung unabhängiges

73 74 75 76 77

BAG v. 26.1.1995 – 2 AZR 743/94, AP Nr. 8 zu § 79 BPersVG; aA Altvater, § 7 BPersVG Rz. 6. Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 7 BPersVG Rz. 15a. Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 55 BPersVG Rz. 2; Fischer/Goeres/Gronimus, § 55 BPersVG Rz. 5. BVerwG v. 14.4.1961 – VII P 4.60, BVerwGE 12, 194 (197 f.). OVG Nordrhein-Westfalen v. 25.5.2005 – 1 B 453/05.PVL, ZTR 2005, 496; aA Altvater, § 3 BPersVG Rz. 3 ff. 78 RDW/Richardi, § 3 Rz. 2 f. 79 H.M. HWK/Sittard, § 60 BetrVG Rz. 3.

940

Sasse

Beteiligte

Rz. 26.34 § 26

Mitbestimmungsorgan. Die ihr zugewiesenen Aufgaben sind vorwiegend überwachender oder beratender Art80. Daneben wird noch nach den Vorschriften der §§ 93 ff. SGB IX die Schwerbehindertenvertretung gebildet. Bei dieser handelt es sich um ein selbständiges Organ, welches nicht Teil des Personalrates ist81. Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte werden aber auch betreffend die schwerbehinderten Beschäftigten allein vom Personalrat ausgeübt82.

26.31

b) Bildung Die Bildung der Personalvertretung erfolgt durch Wahlen. Im Personalvertretungsrecht besteht eine Errichtungspflicht. Jedoch kann die Wahl nicht gegen den Willen der Beschäftigten erzwungen werden83. Personalräte werden in personalratsfähigen Dienststellen gebildet. Diese müssen in der Regel fünf Wahlberechtigte beschäftigen, von denen drei wählbar sind (§ 12 BPersVG).

26.32

aa) Wahlberechtigung Wahlberechtigt sind gemäß § 13 Abs. 1 BPersVG alle Beschäftigten, die am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet haben, es sei denn, sie haben durch Richterspruch ihr Wahlrecht verloren. Ebenfalls nicht wahlberechtigt sind Beschäftigte, die am Wahltag unter Wegfall der Bezüge mehr als sechs Monate beurlaubt sind.

26.33

Die Wahlberechtigung besteht in der Dienststelle, welcher der Beschäftigte angehört. Die 26.34 Dauer der täglichen Arbeitszeit ist unerheblich, sofern die Beschäftigung nicht so nebensächlich ist, dass sie ohne Bedeutung für die Dienststelle ist84. Weiterhin ist eine Eingliederung in die Dienststelle erforderlich. Diese liegt bei einer bloß vorübergehenden und nur auf geringfügige Dauer angelegten Tätigkeit nicht vor. Hier geht die Rechtsprechung von einer Dauer von zwei Monaten zB im Zusammenhang mit einer Aushilfe aus85. Strittig ist, ob auch Leiharbeitnehmer ein aktives Wahlrecht haben. Dies ist abzulehnen. Denn anders als in § 7 Satz 2 BetrVG sieht das BPersVG kein Wahlrecht der Leiharbeitnehmer vor86. Im Bereich der Landespersonalvertretungsgesetze ist diese Frage umstritten. In § 115 NPersVG ist ausdrücklich geregelt, dass 14 Abs. 2 Satz 1 und 2 AÜG entsprechend Anwendung finden. Der VGH Kassel87 sowie das OVG Mecklenburg-Vorpommern88 gehen davon aus, dass in den jeweiligen Ländern Leiharbeitnehmern im Geltungsbereich der Personalvertretungsgesetze ein aktives und ein passives Wahlrecht zusteht. Bis zur Klärung durch das BVerwG muss durch Auslegung

80 81 82 83 84 85 86

BVerwG v. 8.7.1977 – VII P 22.75, PersV 1978, 309 (310 f.). BAG v. 21.9.1988 – 1 AZR 465/88, NZA 1990, 362 (363 f.). RDW/Jacobs, § 40 Rz. 36. Altvater, § 12 BPersVG Rz. 1; Fischer/Goeres/Gronimus, § 12 BPersVG Rz. 5. BVerwG v. 8.12.1967, BVerwGE 28, 282 (283 ff.). BVerwG v. 25.9.1995 – 6 P 44.93, NZA-RR 1996, 318 (319). VG Gelsenkirchen v. 22.9.2009 – 12c K 3354/08.PVL, insb. Rz. 33, PersR 2010, 82 ff.; RDW/Dörner, § 13 Rz. 8; Fischer/Goeres/Gronimus, § 13 BPersVG Rz. 7 f.; aA Hessischer VGH v. 18.11.2010 – 22 A 959/10.PV, PersV 2011, 260 (261 f.); Klimpe-Auerbach, PersR 2010, 437 (441); Schüren/ Hamann/Hamann, § 14 AÜG Rz. 708 f.; Altvater, § 13 BPersVG Rz. 10. 87 Hessischer VGH v. 28.11.2010 – 22 A 959/10.PV, PersV 2011, 260 (261 f.) m. abl. Anm. Sasse/ Freihube, ArbRB 2011, 48 f.; VG Frankfurt v. 3.11.2008 – 23 K 1568.08, PersR 2009, 84 ff. 88 OVG Mecklenburg-Vorpommern v. 10.11.2010 – 8 L 102/10, ZTR 2011, 126.

Sasse

941

§ 26 Rz. 26.34

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

ermittelt werden, ob ein Wahlrecht besteht89. Arbeitnehmer sind auch während des Laufs der Kündigungsfrist wahlberechtigt90. Beschäftigte sind auch während eines Erholungs- oder Krankheitsurlaubes wahlberechtigt. Hingegen führt die Inanspruchnahme von Elternzeit ohne gleichzeitige Teilzeitarbeit gemäß § 15 BEEG zu einem Verlust der Wahlberechtigung91. Ebenso führt der Eintritt in die Freistellungsphase der Altersteilzeit dazu, dass die Wahlberechtigung verloren geht92. Eine Eingliederung in die Dienststelle liegt nicht vor, solange eine Personalgestellung gem. § 4 Abs. 3 TVöD erfolgt. Während dieser Zeit sind die Beschäftigten nicht berechtigt, an der Wahl der gestellenden Dienststelle teilzunehmen93.

26.35 Werden Beschäftigte zu einer anderen Dienststelle abgeordnet, werden sie in der aufnehmenden Dienststelle wahlberechtigt, sobald die Abordnung länger als drei Monate gedauert hat. Gleichzeitig verliert der Beschäftigte sein Wahlrecht in der Stammdienststelle (§ 13 Abs. 2 Satz 1 BPersVG). Ausschlaggebend ist dabei der Tag der Wahl. Maßgebend für die Feststellung der Wahlberechtigung bzw. des Verlustes des Wahlrechtes ist der Tag des Dienstantritts in der neuen Dienststelle94. Eine Abordnung liegt vor, wenn der Beschäftigte vorübergehend bei einer anderen Dienststelle beschäftigt wird als bei derjenigen, welcher er kraft seines Amtes angehört. Die Regelung des § 13 Abs. 2 Satz 1 BPersVG ist auf freigestellte Mitglieder einer Stufenvertretung oder des Gesamtpersonalrates nicht anwendbar. Ferner gilt sie nicht, wenn feststeht, dass der Beschäftigte binnen weiterer sechs Monate in die alte Dienststelle zurückkehren wird. Dies ist nur dann der Fall, wenn die für die Anordnung der Abordnung zuständige Dienststelle dies in der Abordnungsverfügung festgelegt oder auf andere Weise eindeutig erklärt hat95. Sofern der Beschäftigte nacheinander zu mehreren Dienststellen abgeordnet wird, ohne zwischendurch zu seiner Ursprungsdienststelle zurückzukehren, bleibt er bei seiner alten Dienststelle wahlberechtigt, wenn der Aufenthalt bei keiner dieser Dienststellen länger als drei Monate dauert96. Diese Regelungen gelten entsprechend in Fällen einer Zuweisung gemäß § 123a BRRG bzw. im Landesdienst gemäß § 20 BeamtStG oder aufgrund einer entsprechenden arbeitsvertraglichen Vereinbarung, dh., wenn Beamten im dienstlichen oder öffentlichen Interesse mit ihrer Zustimmung vorübergehend eine ihrem Amt entsprechende Tätigkeit bei einer öffentlichen Einrichtung außerhalb der Bundesrepublik Deutschland zugewiesen wird.

26.36 Gemäß § 13 Abs. 3 BPersVG sind Beamte im Vorbereitungsdienst und Beschäftigte in entsprechender Berufsausbildung nur bei ihrer Stammbehörde wahlberechtigt. Dies ist die Dienststelle, welche die Gesamtausbildung leitet. Diese Vorschrift ist deshalb von Bedeutung, weil der Vorbereitungsdienst für Beamte und für sich in einer entsprechenden Berufsausbildung befindliche Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst einen häufigen Wechsel der Dienststellen erfordert. Der Gesetzgeber wollte durch diese Regelung von vornherein etwaigen Zweifeln 89 Düwell/Dahl, NZA-RR 2011, 1 f. 90 Strittig ist, ob im Falle der Erhebung einer Kündigungsschutzklage auch über die Kündigungsfrist hinaus ein Wahlrecht besteht, vgl. RDW/Dörner, § 13 Rz. 14 mit Nachweisen des Streitstandes. 91 BVerwG v. 15.5.2002 – 6 P 8.01, NVwZ 2003, 101 (103); v. 15.5.2002 – 6 P 18.01, AP NW LPVG § 10 Nr. 1; aA noch VGH Baden-Württemberg v. 26.9.1995 – PB 15 S 1138/95, NZA-RR 1996, 158 f. 92 BVerwG v. 15.5.2002 – 6 P 8.01, NVwZ 2003, 101 (103); v. 19.12.2006 – 6 PB 12.06, NVwZ 2007, 714 (716). 93 BVerwG v. 22.9.2015 – 5 P 12.14, NZA-RR 2016, 106 ff. 94 Bieler u.a./Vogelgesang, LPersVG SA, § 13 Rz. 38. 95 OVG Koblenz v. 15.5.1981 – 5 A 4/81, DÖV 1983, 125. 96 Bieler u.a./Vogelgesang, LPersVG SA, § 13 Rz. 42.

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Sasse

Beteiligte

Rz. 26.38 § 26

darüber begegnen, ob und inwieweit in den verschiedenen Ausbildungsdienststellen eine Eingliederung stattfindet97. Dabei gilt, dass die entsprechende Regelung nicht auf dem BBiG unterfallende Ausbildungen, zB zum Fachangestellten für Bürokommunikation, zugeschnitten ist98. bb) Wählbarkeit Das passive Wahlrecht bestimmt sich nach § 14 BPersVG. Danach sind wählbar alle Wahl- 26.37 berechtigten, die am Wahltag seit sechs Monaten dem Geschäftsbereich ihrer obersten Dienstbehörde angehören und seit einem Jahr in öffentlichen Verwaltungen oder von diesen geführten Betrieben beschäftigt sind. Die Zugehörigkeit zum Geschäftsbereich muss ununterbrochen bestanden haben. Nicht notwendig ist es indes, dass die Tätigkeit in diesem Zeitraum ununterbrochen ausgeübt wurde99. Die einjährige Beschäftigungsdauer soll sicherstellen, dass nur Personen in die Personalvertretung gewählt werden, die durch längere Erfahrung eine gewisse Urteilsfähigkeit in Fragen der öffentlichen Verwaltung erworben haben. Die Zeit muss nicht bei derselben Verwaltung absolviert worden sein. Nicht ausreichend ist es indes, wenn es sich um Betriebe mit eigener Rechtspersönlichkeit handelt, die dem Privatrecht zuzuordnen sind100. Dies gilt selbst dann, wenn alleiniger Gesellschafter eine Körperschaft des öffentlichen Rechtes ist. Zeiten der Zuweisung zu einer ARGE SGB II, die länger als drei Monate andauern und bei denen die Bediensteten in die Arbeitsorganisation der ARGE völlig integriert waren, dürfen nicht mitgerechnet werden. Denn die Wahlberechtigung in der vorherigen Dienststelle erlischt101. Nicht wählbar ist, wer infolge Richterspruchs nicht die Fähigkeit besitzt, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen. § 14 Abs. 2 BPersVG regelt, dass Beamte im Vorbereitungsdienst und Beschäftigte in entsprechender Berufsausbildung nicht in eine Stufenvertretung wählbar sind. Nicht wählbar sind die zur Vertretung der Dienststelle gemäß § 7 BPersVG berechtigten Personen sowie Beschäftigte, die zur selbständigen Entscheidung in Personalangelegenheiten der Dienststelle befugt sind (§ 14 Abs. 3 BPersVG). Denn eine Dienstkraft, die personalrechtliche Entscheidungen trifft, soll nicht gleichzeitig als Mitglied der Personalvertretung mit Personalangelegenheiten befasst sein102. Personalangelegenheiten sind solche gemäß § 75 Abs. 1, § 76 Abs. 1 BPersVG, nicht aber allgemeine personelle Kompetenzen103. Personen, die Entscheidungen lediglich vorbereiten oder bei ihrer Entscheidung an das Einverständnis von Vorgesetzten gebunden sind, sind nicht zu diesem Personenkreis zu rechnen. Sofern ein Beschäftigter allerdings maßgeblichen Einfluss auf die Auswahl von Bewerbern hat, die eingestellt werden sollen, und sofern ihm die Befugnis zusteht, diejenigen Bewerber auszusondern, die nach seiner Auffassung nicht die Voraussetzungen erfüllen, liegen die Voraussetzungen des § 14 Abs. 3 BPersVG vor104. Dabei kommt es nicht auf die Anzahl der Beschäftigten an, für welche diese Entscheidungsbefugnis vorliegt105. Auch kommt es nicht darauf an, dass der Be97 98 99 100 101 102

BVerwG v. 11.9.2007 – 6 PB 9.07, NZA-RR 2008, 110 (111), Rz. 11. BVerwG v. 11.9.2007 – 6 PB 9.07, NZA-RR 2008, 110 ff. RDW/Dörner, § 14 Rz. 6. Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 14 BPersVG Rz. 12. BVerwG v. 4.2.2010 – 6 PB 38.09, PersR 2010, 260 ff. BVerwG v. 25.6.1974 – 7 P 6.73, BVerwGE 45, 221 (222); v. 22.6.2005 – 6 P 2.05, PersV 2006, 18 (19). 103 BVerwG v. 22.6.2005 – 6 P 2.05, PersV 2006, 18. 104 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 14 BPersVG Rz. 22. 105 BVerwG v. 17.5.2010 – 6 P 7.09 Rz. 16, PersV 2010, 379 (381).

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943

26.38

§ 26 Rz. 26.38

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

dienstete eine herausgehobene Stellung innerhalb der Hierarchie der Dienststelle hat. Ein Rückgriff auf die Rechtsgedanken des § 5 Abs. 3 BetrVG ist nicht erforderlich und zulässig106. cc) Größe der Personalvertretung

26.39 Die Größe der Personalvertretung bestimmt sich nach § 16 BPersVG. Die Höchstzahl der Mitglieder beträgt 31 (§ 16 Abs. 2 BPersVG). Sofern in der Dienststelle Angehörige verschiedener Gruppen beschäftigt sind, muss jede Gruppe entsprechend ihrer Stärke im Personalrat vertreten sein, wenn dieser aus mindestens drei Mitgliedern besteht. Sofern die Gruppen (Arbeitnehmer und Beamte) gleich stark sind, entscheidet gemäß § 17 Abs. 1 Satz 2 BPersVG das Los. Gemäß § 5 Abs. 4 WOBPersVG ist es Aufgabe des Wahlvorstandes, den erforderlichen Losentscheid durchzuführen. Voraussetzung ist, dass ein Verfahren gewählt wird, das geeignet ist, ein nicht zu beeinflussendes Zufallsergebnis herbeizuführen, und den Teilnehmern gleiche Chancen einräumt107. Die Größe der Gruppen in Abhängigkeit von den Gruppenangehörigen ergibt sich aus § 17 Abs. 3 BPersVG. Wenn in § 17 Abs. 4 BPersVG die Rede von drei Gruppen, die im Personalrat vertreten werden sollen, ist, so geht dies auf das bis zum 30.9.2005 geltende Tarifrecht zurück. Seinerzeit gab es die Gruppen der Arbeiter, der Angestellten und der Beamten. Diese Vorschrift hat nunmehr mit Geltung des TVöD seine Bedeutung verloren, da nur noch von zwei Beschäftigtengruppen auszugehen ist108. § 17 Abs. 5 BPersVG sieht vor, dass Mitglieder einer Kleinstgruppe sich einer anderen Gruppe anschließen können. Diese Vorschrift ist aufgrund der Neuregelung des Tarifrechtes gegenstandslos geworden, weil im Falle des Bestehens einer Kleinstgruppe eine gemeinsame Wahl der Beamten und Arbeitnehmer durchzuführen ist. Die Vorschrift hat allerdings aufgrund der Verweisung in § 51 Abs. 2 SBG weiterhin Bedeutung, falls in einer Dienststelle gemäß § 49 Abs. 1 SBG die Gruppe der Soldaten ausnahmsweise keine Vertretung erhält109. Weiterhin ist geregelt, dass der Personalrat sich aus Vertretern verschiedener Beschäftigungsarten zusammensetzen soll. Dies ist nicht mit dem Begriff Gruppe zu verwechseln. Vielmehr geht es darum, zB technische und nicht technische Beschäftigte in dem Personalrat repräsentiert zu sehen. Gemäß § 17 Abs. 7 BPersVG sollen die Geschlechter im Personalrat entsprechend den Zahlenverhältnissen vertreten sein. Hierbei handelt es sich nur um eine Soll-Vorschrift. Diese kann eine Wahlanfechtung nicht begründen110. dd) Wahlverfahren

26.40 Der Personalrat wird gemäß § 19 Abs. 1 BPersVG in geheimer und unmittelbarer Wahl gewählt111. Dies verlangt eine schriftliche Stimmabgabe (vgl. §§ 15 ff. WO). Diese kann auch mittels Briefwahl erfolgen. Die Auszählung erfolgt erst nach Beendigung der Wahlhandlung (§ 20 WO). Sie ist dienststellenöffentlich112. Die Wahl erfolgt durch jeden Bediensteten selber, der eine Stimme hat. Grundsätzlich erfolgt die Wahl in einer Gruppenwahl. Diese findet dann nicht statt, wenn vor der Neuwahl die vorhandenen Gruppen in getrennten, geheimen Abstimmungen die gemeinsame Wahl beschließen. Die entsprechende Abstimmung kann für die 106 BVerwG v. 17.5.2010 – 6 P 7.09 Rz. 22 f., PersV 2010, 379 (382). 107 Unzulässig: Ziehen von Streichhölzern, BVerwG v. 15.5.1991 – 6 P 15.89, NJW 1991, 3231 f.; Entscheidung durch Münzwurf Bayerischer VGH v. 13.2.1991 – 17 P 903560, NJW 1991, 2306 f. 108 Lorenzen/Etzel/Gerhold/Schlatmann/Rehack/Faber/Griebeling/Hebeler/Ramm, § 17 BPersVG Rz. 3a. 109 Altvater, § 17 BPersVG Rz. 12. 110 Altvater, § 17 BPersVG Rz. 14. 111 Ausführlich zu Wahlen und möglichen Fehlern im Wahlverfahren Burkholz, PersR 2012, 52 ff. 112 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 20 WO Rz. 3.

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Beteiligte

Rz. 26.44 § 26

anstehende Personalratswahl nicht wiederholt werden, wenn sie in einer Gruppe nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hat113. Die Wahl findet als Verhältniswahl statt, es sei denn, es wird nur ein Wahlvorschlag eingereicht. Die Wahlvorschläge können durch die wahlberechtigten Beschäftigten oder die in der Dienststelle vertretenen Beschäftigten gemacht werden. Hinsichtlich der Einzelheiten ist auf § 19 Abs. 4–9 BPersVG zu verweisen. Nach Durchführung der Wahl kann der Gewählte die Wahl ablehnen, obwohl er zuvor sein Einverständnis mit der Aufnahme in den Wahlvorschlag erklärt hat. Die Ablehnung muss gemäß § 22 WO binnen drei Tagen nach Mitteilung des Wahlergebnisses gegenüber dem Wahlvorstand erfolgen. Der für die Wahl benötigte Wahlvorstand wird gemäß § 20 Abs. 1 BPersVG spätestens acht 26.41 Wochen vor Ablauf der Amtszeit durch den Personalrat bestellt. In dem Wahlvorstand sollen die Gruppen vertreten sein. Sofern nicht sechs Wochen vor Ablauf der Amtszeit ein Wahlvorstand besteht, beruft der Dienststellenleiter auf Antrag von drei Wahlberechtigten oder einer in der Dienststelle vertretenen Gewerkschaft eine Personalversammlung zur Wahl eines Wahlvorstandes ein (§ 20 Abs. 2 BPersVG). Sofern es in der Dienststelle keinen Personalrat gibt, gilt das zur Einberufung einer Personalversammlung durch den Dienststellenleiter Gesagte entsprechend (§ 21 BPersVG). Sollte dies ohne Erfolg bleiben, so kommt nicht wie in § 17 Abs. 4 BetrVG eine Bestellung durch das Arbeitsgericht in Betracht. Vielmehr bestellt auf Antrag von mindestens drei Wahlberechtigten oder einer in der Dienststelle vertretenen Gewerkschaft der Dienststellenleiter den Wahlvorstand. Die Kosten der Wahl trägt die Dienststelle (§ 24 Abs. 2 BPersVG). Diese umfassen alle zur Vorbereitung und Durchführung der Wahl erforderlichen Kosten. Hierunter fallen nach ganz allgemeiner Meinung auch die Kosten für Schulungen der Wahlvorstandsmitglieder, sofern die Schulung erforderlich ist. Umstritten ist, ob der Wahlvorstand sich auf die bei anderen Wahlvorstandsmitgliedern oder Dritten vorhandenen Kenntnisse verweisen lassen muss114. Zu den Kosten gehört weiterhin das Entgelt für die Wahlvorstände, da die Tätigkeit keine Minderung der Dienstbezüge nach sich ziehen darf (§ 24 Abs. 2 Satz 2 BPersVG). Auch die Kosten einer Wahlanfechtung sind Kosten der Wahl115.

26.42

Die Wahl darf nicht behindert oder in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise beeinflusst werden (§ 24 Abs. 1 BPersVG). Dieses Verbot richtet sich gegen jedermann. Der wichtigste Fall ist die Einflussnahme auf die Wahl durch Zufügung oder Androhung von Nachteilen oder Gewährung oder Versprechen von Vorteilen116. Umstritten ist, ob eine Gewerkschaft Mitgliedern mit dem Ausschluss drohen darf, für den Fall, dass diese auf einer Konkurrenzliste antreten. Dies wird als zulässig anzusehen sein117. Anders als § 119 Abs. 1 BetrVG kennt das Personalvertretungsrecht eine Strafvorschrift für den Fall der Wahlbeeinflussung nicht.

26.43

Die Mitglieder des Wahlvorstandes genießen gemäß § 24 Abs. 1 Satz 2 iVm. § 47 BPersVG Versetzungsschutz, allerdings nur bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses. Die Landespersonalvertretungsgesetze sehen einen unterschiedlich stark ausgeprägten Versetzungsschutz vor, zB nicht ersetzbare Zustimmung des Personalrates oder auch einen nachwirkenden Ver-

26.44

113 114 115 116 117

RDW/Dörner, § 19 Rz. 34. Str. vgl. RDW/Dörner, § 24 Rz. 35; Altvater, § 24 BPersVG Rz. 15. Unter Aufgabe der bisherigen Rspr. BVerwG v. 29.8.2000 – 6 P 7.99, NZA-RR 2001, 110 ff. RDW/Dörner, § 24 Rz. 12. BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, NJW 1999, 2657 f.; Altvater, § 24 BPersVG Rz. 7; aA RDW/ Dörner, § 24 Rz. 16 unter Bezugnahme auf die ältere Rspr. des BGH.

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§ 26 Rz. 26.44

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

setzungsschutz in unterschiedlicher Intensität118. Daneben genießen die Wahlvorstandsmitglieder Kündigungsschutz gemäß § 15 Abs. 3 KSchG. ee) Wahlanfechtung

26.45 Die Wahlen können gemäß § 25 BPersVG binnen einer Frist von zwölf Arbeitstagen durch drei Wahlberechtigte119, jede in der Dienststelle vertretene Gewerkschaft120 oder den Dienststellenleiter angefochten werden. In Bezug auf die Anfechtungsfrist von zwölf Arbeitstagen gemäß § 25 Satz 1 BPersVG geht die Rechtsprechung von einer Fünf-Tage-Woche aus121. In den Landespersonalvertretungsgesetzen sind diese Fristen teilweise abweichend geregelt122.

26.46 Voraussetzung einer Wahlanfechtung ist, dass ein Verstoß gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren vorliegt und die Möglichkeit besteht, dass diese das Wahlergebnis beeinflusst haben. Die Anfechtungsmöglichkeit entfällt, wenn der Fehler durch den Wahlvorstand berichtigt werden kann und wird. Dies kann noch im Laufe des gerichtlichen Verfahrens geschehen123.

26.47 Die Wahlanfechtung kann nur auf den Verstoß gegen zwingende Vorschriften, nicht aber auf einen Verstoß gegen Soll-Vorschriften gestützt werden124. Zu den fraglichen Vorschriften gehören zB die Bestellung des Wahlvorstandes, Behandlung von Wahlvorschlägen125. Auch eine Behinderung oder Beeinflussung der Wahl sowohl durch die Dienststelle, zB durch das Vorenthalten von notwendigen Informationen126, als auch durch die Gewerkschaften, zB Einsatz von Wahlboten einer Gewerkschaft verknüpft mit einer Tombola127, stellen einen wesentlichen Verstoß dar. Zwischen dem Verstoß und dem Ergebnis muss eine Kausalität bestehen. Diese wird vermutet; der die Wahl verteidigende Beteiligte muss sie widerlegen128. Eine denkbare Möglichkeit reicht dann nicht, wenn sie nach der Lebenserfahrung vernünftigerweise nicht in Betracht zu ziehen ist129. Der Ausnahmetatbestand des § 25 Halbs. 2 BPersVG wird daher durch die Rechtsprechung regelmäßig verneint130.

118 Vgl. die Übersicht bei RDW/Dörner, § 24 Rz. 44 ff. 119 Mindestens drei bei der angefochtenen Wahl Wahlberechtigte müssen das Anfechtungsverfahren einleiten und fortdauernd betreiben. Jedoch muss die Wahlberechtigung nicht während des gesamten Verfahrens bestehen bleiben, ein Verlust dieser Berechtigung nach der Anfechtung ist für das Verfahren ohne Bedeutung, BVerwG v. 24.2.2015 – 5 P 7.14, NZA-RR 2015, 333 Rz. 11. 120 Gem. § 86 Nr. 12 BPersVG nicht bei dem Bundesnachrichtendienst, vgl. BVerwG v. 26.11.2008 – 6 P 7.08, NVwZ 2009, 337. 121 BVerwG v. 23.10.2003 – 6 P 10.03, NVwZ 2004, 495 (497). 122 Zehn Arbeitstage: § 25 PersVG Bbg.; 12 Arbeitstage: § 25 LPVG BW, § 25 SächsPersVG, § 25 ThürPersVG; 12 Werktage: § 19 PersVG RPf; 14 Tage: § Art. 25 BayPVG, § 21 BremPersVG, § 22 HPVG, § 21 NPersVG; zwei Wochen: § 22 PersVG Berlin, § 26 HmbPersVG, § 18 PersVG MV, § 22 LPVG NW, § 25 SPersVG, § 27 PersVG LSA, § 18 MBG SchlH. 123 BVerwG v. 8.5.1992 – 6 P 9.91, AP Nr. 3 zu § 25 BPersVG. 124 BVerwG v. 18.4.1978 – 6 P 34.78, PersV 1979, 194 (195). 125 Vgl. die Nachweise der Rspr. bei RDW/Dörner, § 25 Rz. 16 ff. 126 OVG Nordrhein-Westfalen v. 14.4.2004 – 1 A 4408/02, PersR 2004, 442 (443 f.). 127 VG Düsseldorf v. 18.12.2008 – 34 K 4425/08, ZfPR 2009, 102. 128 RDW/Dörner, § 25 Rz. 21. 129 BVerwG v. 7.5.2003 – 6 P 17.02, AP Nr. 1 zu § 28 LPVG Baden-Württemberg. 130 RDW/Dörner, § 25 Rz. 22 ff. mwN der Rspr.

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Beteiligte

Rz. 26.51 § 26

Neben der Anfechtung der Wahl kann auch die Feststellung der Nichtigkeit begehrt werden. 26.48 Diese liegt dann vor, wenn der Anschein einer dem BPersVG entsprechenden Wahl nicht mehr vorliegt131, zB Wahl in einer Dienststelle ohne Verselbständigungsbeschluss132. Eine erfolgreiche Wahlanfechtung hat zur Folge, dass der fehlerhafte Personalrat ex-nunc sein Amt verliert. Die Wahl ist erneut durchzuführen. Auch ist der Wahlvorstand erneut zu bestellen. Sofern bei einer Gruppenwahl nur die Wahl der einen Gruppe erfolgreich angefochten wurde, hat dies auf die Wahl der Vertreter der anderen Gruppe keinen Einfluss. Diese bleiben im Amt und bilden die Personalvertretung133.

26.49

c) Vertretung Der Personalrat wird gemäß § 32 Abs. 3 BPersVG durch den Vorsitzenden im Rahmen der vom Personalrat gefassten Beschlüsse vertreten. Der Vorsitzende ist Vertreter in der Erklärung. Seine Vertretungsmacht ist auf den Inhalt des zugrunde liegenden Beschlusses des Personalrates begrenzt134. Sofern Angelegenheiten eine Gruppe betreffen, vertritt der Vorsitzende den Personalrat gemeinsam mit einem der Gruppe angehörenden Vorstandsmitglied des Personalrates, wenn er nicht selber der Gruppe angehört (§ 32 Abs. 3 Satz 2 BPersVG). Diese Regelung soll dem Schutz der Gruppeninteressen dienen135. Sofern sich der Vorsitzende bei seinen Erklärungen nicht an den vom Personalrat oder vom Vorstand gefassten Beschluss gehalten hat, sind diese für den Personalrat nicht bindend. Dieser kann aber die entsprechenden Erklärungen genehmigen. Wenn die Genehmigung nicht erfolgt, kann der Personalrat trotzdem nach den Grundsätzen der Rechtsscheinhaftung an die Erklärung des Vorsitzenden gebunden sein136. Auch wenn eine mit § 26 Abs. 2 Satz 2 BetrVG vergleichbare Regelung fehlt, umfasst die Vertretungsmacht des Vorsitzenden auch die Befugnis zur Entgegennahme von Erklärungen. Dies gilt auch dann, wenn sie lediglich eine Gruppe betreffen und der Vorsitzende dieser Gruppe nicht angehört137.

26.50

d) Geschäftsführung Die laufenden Geschäfte werden durch den Vorstand des Personalrates geführt (§ 32 Abs. 1 Satz 3 BPersVG). Der Vorstand des Personalrates wird aus der Mitte des Personalrates gebildet. Diesem muss ein Mitglied jeder im Personalrat vertretenen Gruppe angehören. Die Vertreter jeder Gruppe wählen das auf sie entfallende Vorstandsmitglied. Die Wahl des Vorstandes ist eine Rechtspflicht jedes mehrgliedrigen Personalrates. Der Vorstand besteht aus mindestens so vielen Mitgliedern, wie Gruppen im Personalrat vertreten sind. Damit sind, seit dem Wegfall der Unterscheidung zwischen Arbeitnehmern und Angestellten, Personalräte in der Regel zweiköpfig. Ausnahmen gelten in Personalräten, in denen auch Soldatenvertreter in den Personalrat zu wählen sind. In Personalräten mit mindestens elf Mitgliedern werden mit einfacher Stimmenmehrheit zwei weitere Mitglieder in den Vorstand gewählt (§ 33 Abs. 1 Satz 1 BPersVG). Soweit die zweitstärkste Liste mindestens ein Drittel aller Stimmen erhalten hat 131 BVerwG v. 5.2.1971 – VII P 10.70, AP Nr. 2 zu § 53 BPersVG; a.A.: das Institut der Nichtigkeit der Wahl ist entbehrlich, v. Roetteken, NZA 2018, 343 ff. 132 BAG v. 11.7.1991 – 2 AZR 633/98, AP Nr. 1 zu Art. 6 LPVG Bayern. 133 BVerwG v. 13.6.1969 – VII P 10.63, BVerwGE 32, 182 (183 f.). 134 RDW/Jacobs, § 32 Rz. 77. 135 BVerwG v. 21.4.1992 – 6 P 8.90, PersV 1992, 434 f. 136 Altvater, § 32 BPersVG Rz. 33a (str.). 137 RDW/Jacobs, § 32 Rz. 81.

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26.51

§ 26 Rz. 26.51

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

und noch nicht im Vorstand vertreten ist, so hat sie einen Anspruch darauf, dass eines ihrer Mitglieder als Ergänzungsmitglied in den Vorstand gewählt wird138. Einzelne Landespersonalvertretungsgesetze sehen vor, dass im Vorstand Frauen und Männer entsprechend ihrem Anteil an den gewählten Personalratsmitgliedern zu berücksichtigen sind. Dabei sind aber begründete Ausnahmen möglich139. Gemäß § 32 Abs. 2 Satz 1 BPersVG bestimmt der Personalrat, welches Vorstandsmitglied den Vorsitz übernimmt. Weiterhin bestimmt er zugleich den Stellvertreter des Vorsitzenden. Bei der Wahl des Vorsitzenden hat die Personalvertretung zu berücksichtigen, dass die von den Gruppenvertretern gemäß § 32 Abs. 1 Satz 3 BPersVG gewählten Vorstandsmitglieder die geborene Anwartschaft auf den Vorsitz oder die Stellvertretung des Vorsitzenden besitzen140. Soweit in den Vorstand auch Ergänzungsmitglieder gemäß § 33 BPersVG gewählt sind, kommen die Ergänzungsmitglieder als Personalratsvorsitzende bzw. Stellvertreter nur dann in Betracht, wenn die gemäß § 32 BPersVG gewählten Vorstandsmitglieder zur Übernahme des Vorsitzes oder der Stellvertretung nicht bereit sind141. Die Verpflichtung zur Übernahme der Wahl besteht nicht. Die Wahl gilt grundsätzlich für die ganze Amtsperiode des Personalrates.

26.52 Der Vorstand ist Organ des Personalrates und führt die laufenden Geschäfte. Anders als § 27 Abs. 2 BetrVG ist die Möglichkeit der Übertragung von Aufgaben zur selbständigen Erledigung auf den Vorstand des Personalrates nicht vorgesehen. Vielmehr sind ihm nur die laufenden Geschäfte übertragen. Hierbei handelt es sich um einen eng auszulegenden Begriff142. Zu den laufenden Geschäften des Personalrates gehört das, was an technischen, organisatorischen und büromäßigen Arbeiten regelmäßig zur Vorbereitung und Durchführung der vom Personalrat zu fassenden und gefassten Beschlüsse notwendig ist, dh. Maßnahmen, denen keine größere Bedeutung zukommt. Es handelt sich um solche, bei denen ein förmlicher oder offizieller Schritt des Personalrates nicht erforderlich ist. Vielmehr ist ausschließlich der Personalrat als Ganzes zur Erfüllung der ihm im Gesetz übertragenen Aufgaben berechtigt und verpflichtet143. e) Kosten

26.53 Der Ersatz der Kosten der Personalvertretung stellt einen Dauerkonflikt dar, der so alt ist wie die Tätigkeit der Personalvertretung selbst144. Die Kostentragungspflicht der Dienststelle ist in § 44 BPersVG geregelt. Diese Vorschrift wird durch § 46 BPersVG ergänzt. Die Vorschrift des § 44 BPersVG soll den Mitgliedern des Personalrates ermöglichen, ihr Amt ungehindert, dh. ohne finanzielle Belastungen wahrzunehmen. Andererseits soll sichergestellt werden, dass dem Personalrat die zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen145. Die gesetzmäßige Tätigkeit der Personalvertretung darf nicht beschränkt oder behindert werden. Dies auch nicht durch haushaltsrechtliche Einwendungen146. 138 BVerwG v. 17.3.2014 – 6 P 8.13, NZA-RR 2014, 333 ff. 139 BVerwG v. 4.10.2005 – 6 P 12.04, NVwZ-RR 2006, 335 ff.; eine Übersicht über die Regelungen in den Landespersonalvertretungsgesetzen zur Bildung des Vorstandes des Personalrates findet sich bei Altvater, § 32 BPersVG Rz. 47 ff. 140 BVerwG v. 26.10.1977 – 7 P 19.76, BVerwGE 55, 17 (19 ff.). 141 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 33 BPersVG Rz. 6. 142 BVerfG v. 19.12.1994 – 2 BvL 8/88, NVwZ 1996, 157 (158). 143 BVerfG v. 19.12.1994 – 2 BvL 8/88, NVwZ 1996, 157 (158) mwN. 144 Vogelgesang, PersV 2008, 444. 145 RDW/Jacobs, § 44 Rz. 3. 146 BVerwG v. 24.11.1986 – 6 P 3.85, DVBl. 1987, 420 f.

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Beteiligte

Rz. 26.55 § 26

Gleichzeitig aber hat der Personalrat als nicht rechtlich verselbständigter Bestandteil einer Dienststelle den bei der Verwendung öffentlicher Mittel geltenden Grundsatz der Sparsamkeit bei der Verursachung von Kosten der Tätigkeit zu berücksichtigen147. Die Dienststelle hat nur solche Kosten zu ersetzen, die durch die Tätigkeit des Personalrates entstanden sind. Die Tätigkeit muss zum gesetzlichen Aufgabenbereich des Personalrates gehören148. Ob es sich um eine gesetzliche Aufgabe des Personalrates handelt, ist allein nach objektiven Gesichtspunkten festzustellen. Es kommt hier weder auf die Einschätzung des Personalratsmitgliedes noch auf diejenige der Dienststelle an. Vielmehr ist dies aus Sicht eines vernünftigen Dritten zu beurteilen, der die Interessen der Dienststelle und der Personalvertretung gegeneinander abzuwägen hat149. Der Personalrat hat bei beabsichtigten Schulungsmaßnahmen zusammen mit dem Beschluss auch diejenigen Tatsachen mitzuteilen, die es der Dienststelle ermöglichen, die Erforderlichkeit der Schulungsveranstaltung zu überprüfen. Unterbleibt dies, so führt dies nicht zum Verlust des Anspruchs auf Freistellung und Kostenübernahme, da insoweit keine Präklusionsvorschrift existiert150. Tätigkeiten außerhalb des Aufgabenbereiches des Personalrates bzw. der Personalratsmitglieder führen nicht zu einem Erstattungsanspruch, zB Krankenbesuch bei einem Kollegen, Kosten eines Kranzes anlässlich einer Beerdigung151. Bei den notwendigen Ausgaben des Personalrates handelt es sich um Ausgaben aufgrund gesetzlicher Verpflichtungen. Deshalb muss die Verwaltung dem Personalrat diejenigen Haushaltsmittel zur Verfügung stellen, die eine angemessene Aufgabenwahrnehmung ermöglichen152. Dabei ist jeweils auf die Ebene der einzelnen Dienststelle und der dieser Dienststelle zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel abzustellen153. Sobald die der Dienststelle für Zwecke der Personalvertretung zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel erschöpft sind, hat sich der Personalrat grundsätzlich weiterer kostenwirksamer Beschlüsse zu enthalten. Dies gilt dann nicht, wenn Tätigkeitsbereiche betroffen sind, die die Funktions- und Arbeitsfähigkeit der Personalvertretung sicherstellen und keinen zeitlichen Aufschub dulden, zB die regelmäßig durchzuführenden Personalratswahlen154. Kann allerdings zB die Teilnahme eines Personalratsmitgliedes an einer bestimmten Schulungsveranstaltung zunächst zurückgestellt werden, weil der Besuch einer vergleichbaren Veranstaltung zu einem späteren Zeitpunkt seinen Zweck ebenfalls noch erfüllt, muss der Personalrat diesen Weg mangels vorhandener Haushaltsmittel einschlagen. Den entsprechenden Einwand des Dienststellenleiters darf der Personalrat nur dann übergehen, wenn die Schulungsteilnahme zu einem späteren Zeitpunkt ihren Zweck nicht mehr erfüllen kann155. Deshalb ist der Personalrat gehalten, seinen vorhersehbaren Finanzbedarf rechtzeitig vor Aufstellung des Haushaltsplanes mitzuteilen156.

26.54

Die Dienststelle hat die Kosten von Schulungen zu tragen, die dem Personalratsmitglied Kenntnisse vermittelt, die für die Personalratsarbeit erforderlich sind iSv. § 46 Abs. 6

26.55

147 148 149 150 151 152 153 154 155 156

BVerwG v. 27.8.1990 – 6 P 26.87, AP Nr. 5 zu § 44 BPersVG. BVerwG v. 18.6.1991 – 6 P 3.90, PersV 1992, 45 f. Vogelgesang, PersV 2008, 444 (445) mwN. BVerwG v. 9.7.2007 – 6 P 9.06, NZA-RR 2007, 668 (670 f.), Rz. 21 ff. Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 44 BPersVG Rz. 4 mwN. Ruppert, PersV 2001, 98 (99). BVerwG v. 26.2.2003 – 6 P 10.02, PersV 2003, 351 f. BVerwG v. 26.2.2003 – 6 P 10.02, PersV 2003, 351 ff. BVerwG v. 26.2.2003 – 6 P 10.02, PersV 2003, 351 ff. BVerwG v. 26.2.2003 – 6 P 10.02, PersV 2003, 351 ff.; ablehnend zu der dargestellten Rspr. des BVerwG Altvater, § 44 BPersVG Rz. 12 ff.; RDW/Jacobs, § 44 Rz. 16.

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§ 26 Rz. 26.55

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

BPersVG157. Falls eine Schulung nur teilweise erforderliche Kenntnisse vermittelt, sind die Kosten nur anteilig zu übernehmen158. Sofern eine behördeninterne Schulungsveranstaltung kostengünstiger ist, ist der Personalrat gehalten, auf diese interne Schulung zurückzugreifen, wenn sich diese nicht von vornherein aufgrund aller in Betracht zu ziehenden Umstände als nicht gleichwertig erweist159. Auch kann die Dienststelle den Personalrat auf die Teilnahme an räumlich näheren (gleichwertigen) Seminaren mit täglicher An- und Abreise verweisen, um Übernachtungskosten zu sparen160. Die Kostentragungspflicht der Dienststelle setzt einen entsprechenden vorherigen161 Entsendungsbeschluss des Gremiums voraus. Der Personalrat hat die Dienststelle über den Umfang und den Inhalt der beabsichtigten Schulungsmaßnahme zu informieren. Nur so kann die Dienststelle ihr Prüfungsrecht ausüben. Allerdings führt die nicht vollständige Information nicht zum Erlöschen des Freistellungs- und Kostenübernahmeanspruchs. Dies kann sogar im gerichtlichen Verfahren noch nachgeholt werden162. Sofern ein entsprechender Anspruch besteht, hat die Dienststelle die Schulungskosten, aber auch Reise-, Übernachtungs- und Verpflegungskosten zu ersetzen.

26.56 Ein weiterer großer Themenbereich im Rahmen der Kostentragungspflicht gemäß § 44 BPersVG ist die Übernahme der Kosten für Rechts- und Regelungsstreitigkeiten. Die Dienststelle hat die Kosten zu tragen, wenn das Verfahren in Ausübung der Personalratstätigkeit geführt wird. Der Personalrat musste die Kosten nach pflichtgemäßem Ermessen für erforderlich erachten163. Hierzu zählen dann auch die Kosten der Einschaltung eines Rechtsanwalts. Mit diesem kann der Personalrat einen entsprechenden Vertrag auch ohne Einverständnis der Dienststelle abschließen. Voraussetzung ist, dass die Einleitung eines Beschlussverfahrens nicht mutwillig bzw. haltlos ist und ein Beschluss des Personalrates vorliegt164. Im Rahmen dieses Verfahrens muss der Personalrat keinen Antrag auf Kostenerstattung stellen. Er kann im Allgemeinen davon ausgehen, dass die Dienststelle ihn nach Abschluss des Verfahrens von den Anwaltskosten freistellt165. Hiergegen kann nicht eingewandt werden, dass die Vertretung durch einen Gewerkschaftsvertreter möglich gewesen wäre, so dass ein Anwalt nicht hätte hinzugezogen werden müssen166. Grundsätzlich hat der Personalrat dabei die gesetzliche Vergütung in Abhängigkeit von den Gegenstandswerten zu vereinbaren. Sofern der Personalrat 157 Umfassend zur Rspr. zur Schulung von Personalratsmitgliedern Lorse, PersV 2014, 171 ff.; Noll, PersR 2015, 27 ff.; zur Frage der Erforderlichkeit Wank/Maties, NZA 2005, 1033 (1036 ff.). 158 BVerwG v. 14.6.2006 – 6 P 13.05, NZA-RR 2007, 163 (167), Rz. 43 ff.; aA BAG v. 4.6.2003 – 7 ABR 42/02, NZA 2003, 1284 (1285), sofern ein zeitweiser Besuch praktisch nicht möglich, ist die Gesamtschulung erforderlich, wenn die erforderlichen Themen mit mehr als 50 % überwiegen. 159 BVerwG v. 16.6.2011 – 6 PB 5.11, NZA-RR 2011, 559; krit. hierzu Noll, PersR 2011, 469 ff.; zum Begriff der Gleichwertigkeit bei einer Grundlagenschulung instruktiv OVG des Saarlandes v. 6.3.2018 – 5 A 414/17, NZA-RR 2018, 500 (501 f.) Rz. 58 f. 160 OVG des Saarlandes v. 6.3.2018 – 5 A 414/17, NZA-RR 2018, 500, 501 f., Rz. 41 ff. 161 BVerwG v. 9.7.2007 – 6 P 9.06, NZA-RR 2007, 668 (671), Rz. 34. 162 BVerwG v. 9.7.2007 – 6 P 9.06, NZA-RR 2007, 668 (670 ff.), Rz. 20 ff. 163 RDW/Jacobs, § 44 Rz. 19; Fischer/Goeres/Gronimus, § 44 BPersVG Rz. 10. 164 BVerwG v. 9.3.1992 – 6 P 11.90, NVwZ-RR 1992, 572 (573 f.); insbesondere auch zur Frage der Haltlosigkeit OVG Nordrhein-Westfalen v. 29.11.2000 – 1 A 4383/98, NZA-RR 2001, 447 (448); Mutwilligkeit liegt vor, wenn von zwei gleichwertigen prozessualen Wegen der kostspieligere beschritten wird, vgl. Altvater, § 44 BPersVG Rz. 29. Diese liegt auch vor, wenn die Dienststelle das geltend gemachte Recht nicht bestreitet, vgl. BVerwG v. 19.9.2012 – 6 P 3/11, NVwZ-RR 2013, 50 (53) Rz. 38. 165 BVerwG v. 20.2.2014 – 6 PB 39.13, NZA-RR 2014, 273 Rz. 3. 166 RDW/Jacobs, § 44 Rz. 25.

950

Sasse

Beteiligte

Rz. 26.57 § 26

eine höhere Vergütung vereinbart, kann die Dienststelle, wenn sie auf Kostenerstattung in Anspruch genommen wird, sich unter Berufung auf den Grundsatz der sparsamen Verwendung öffentlicher Mittel weigern, eine über die gesetzliche Vergütung hinausgehende Zahlung zu leisten167. Außerhalb eines Beschlussverfahrens darf der Personalrat die Hinzuziehung eines Anwalts nur nach sorgfältiger Abwägung und im Ausnahmefall für geboten erachten168. Dem einzelnen Personalratsmitglied sind die Kosten der anwaltlichen Vertretung zu ersetzen, sofern es sich bei seiner Verfahrensbeteiligung um Personalratstätigkeit handelt169. Dies gilt dann nicht, wenn das Mitglied Beteiligter in einem Beschlussverfahren betreffend die Zustimmungsersetzung zu seiner Kündigung ist170. Vor der Einigungsstelle kann sich der Personalrat grundsätzlich allein vertreten171. Es sind aber Fälle denkbar, in denen auch dort eine anwaltliche Vertretung geboten ist, zB bei schwierigen Rechtsfragen172. Die Vergütung eines Rechtsanwalts als Beisitzer einer Einigungsstelle kommt auf Grundlage einer Vereinbarung zwischen der Dienststelle und dem Rechtsanwalt in Betracht. Eine Vereinbarung zwischen Personalrat und Beisitzer ist nicht ausreichend173. Wurde eine solche nicht geschlossen, kann ein Anspruch auf Aufwendungsersatz in Höhe des Anwaltshonorars nur bestehen, wenn der Personalrat bei der Bestellung eine Abwägungsentscheidung hinsichtlich der Notwendigkeit vorgenommen hat, die auch die Höhe der mit der Bestellung verbundenen Honorarforderung einbezieht. Fehlt es an einer solchen, so hat auch der Rechtsanwalt nur einen Anspruch auf die bei der Dienststelle üblicherweise gewährte Entschädigung174. Sofern ein Rechtsanwalt in der Einigungsstelle nicht als Beisitzer fungiert, ist genau zu prüfen, in welcher Eigenschaft er aufgetreten ist. Sollte er als Vertreter des Personalrates oder als Sachverständiger tätig geworden sein, so stellt sich auch hier die Frage der Notwendigkeit175.

26.56a

Reisekosten werden nach den Vorschriften des Bundesreisekostengesetzes ersetzt, wenn sie zur Erfüllung der Aufgaben notwendig waren (§ 44 Abs. 1 Satz 2 BPersVG). Nicht erstattet werden Kosten, die auch bei Bediensteten ohne Personalratsamt angefallen wären, zB die Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Dienststelle, an der sich der Sitz der örtlichen Personalvertretung befindet. Freigestellte Mitglieder der Stufenvertretung erhalten für Fahrten zum Sitz der Stufenvertretung, der vom Wohnort und dem bisherigen Dienstort abweicht, Trennungsgeld176.

26.57

167 VGH Baden-Württemberg v. 2.11.2010 – PB 15 S 127/10, Rz. 16 f., PersR 2011, 122 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen v. 25.3.1999 – 1 A 2973/97.PVL, JurBüro 1999, 637 (638); zum BetrVG Hessisches LAG v. 18.11.2009 – 9 TaBV 39/09; krit. im Bereich des BetrVG DKK/Wedde, § 40 Rz. 34. 168 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 44 BPersVG Rz. 22 mwN. 169 RDW/Jacobs, § 44 Rz. 20. 170 BVerwG v. 25.2.2004 – 6 P.12.03, NVwZ-RR 2004, 666 ff. 171 OVG Hamburg v. 15.1.1990 – OVG Bs PH 2/98, PersV 1992, 530 (532 f.). 172 Zum BetrVG BAG v. 14.2.1996 – 7 ABR 25/95, NZA 1996, 892 ff. 173 BVerwG v. 9.10.1991 – 6 P 1.90, NVwZ-RR 1992, 312 (315). 174 BVerwG v. 9.10.1991 – 6 P 1.90, NVwZ-RR 1992, 312 (315); v. 24.2.2016 – 5 P 2.15, NZA-RR 2016, 389, 390 f. 175 Ausführlich BVerwG v. 25.10.2016 – 5 P 7.15, NZA-RR 2017, 102 ff. m. Anm. Hitzelsberger-Kijima, öAT 2017, 38. 176 BVerwG v. 12.11.2009 – 6 PB 17.09, PersV 2010, 191 ff. auch mit Ausführungen zu sich ergebenden Anwendungsfragen.

Sasse

951

§ 26 Rz. 26.58

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

26.58 Gemäß § 44 Abs. 2 BPersVG hat die Dienststelle in erforderlichem Umfang Räume, Geschäftsbedarf und Büropersonal zur Verfügung zu stellen. Der Personalrat hat gegen die Dienststelle einen Überlassungsanspruch. Er darf die Sachmittel nicht selbst beschaffen. Vielmehr muss er den Anspruch im Beschlussverfahren – ggf. mittels einstweiliger Verfügung – durchsetzen177. Nur ausnahmsweise kommt die Beschaffung durch den Personalrat und die Kostenerstattung nach den Grundsätzen der Geschäftsführung ohne Auftrag in Betracht178. Die Erforderlichkeit ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls anhand der konkreten Umstände und der sich stellenden Personalratsaufgabe zu bestimmen. Der Personalrat hat die Interessen der Dienststelle und der Beschäftigten und ihrer Vertretung abzuwägen179. Dabei kommt es darauf an, ob ohne den Einsatz der Sachmittel die Wahrnehmung sonstiger Rechte und Pflichten seitens der Personalvertretung vernachlässigt werden müsste180. Erhebliche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang mittlerweile die Frage nach modernen Kommunikationsmitteln. Dem Personalrat ist die Nutzung einer dem Standard der Dienststelle entsprechenden Telefonanlage zu ermöglichen181. In Dienststellen, in denen es zahlreiche weit entfernte Dienststellenteile oÄ gibt, ist es erforderlich, eine Telefonanlage einzurichten, mit deren Hilfe die Personalratsmitglieder jederzeit erreichbar sind182. Die Frage nach einem Anspruch auf ein Smartphone wird noch kontrovers diskutiert183. Der Personalrat hat regelmäßig einen Anspruch auf die Überlassung eines Computers zur Erfüllung seiner Aufgaben. Die Rechtsprechung verlangt aber, dass die Notwendigkeit dargelegt wird184. Ein eigenständiges vom Netzwerk der Dienststelle unabhängiges EDV-System ist nicht erforderlich. Allein die theoretische Möglichkeit einer Überwachung rechtfertigt ein unabhängiges EDV-System nicht185. Der Schutz der Vertraulichkeit kann durch die Nutzung von Passwörtern auch im Netzwerk der Dienststelle gewährleistet werden186. Ob daneben auch ein Laptop oÄ erforderlich ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab187. Sofern in der Dienststelle ein EDV-gestütztes Kommunikationssystem besteht, darf unter Beachtung der allgemeinen Voraussetzungen auch der Personalrat dieses zur Information der Bediensteten nutzen188. Auch ein Anspruch auf Zugang zum Internet zum Zwecke der tagesaktuellen Informationsbeschaffung besteht, sofern im Betrieb ein Internetzugang vorhanden

177 178 179 180 181 182 183 184

185

186 187 188

952

BVerwG v. 29.6.2004 – 6 PB 3.04, NVwZ-RR 2004, 869 (Ls.). Altvater, § 44 BPersVG Rz. 43. VGH Baden-Württemberg v. 9.10.2001 – PL 15 S 2437.00, NZA-RR 2003, 335. BAG v. 20.4.2016 – 7 ABR 50/14, NZA 2016, 1033 Rz. 27 ff.; Kersten, PersV 2001, 307 f.; zum BetrVG BAG v. 16.5.2007 – 7 ABR 45/06, NZA 2007, 1117 (1120). BAG v. 20.4.2016 – 7 ABR50/14, NZA 2016, 1033 Rz. 27 ff.; Richter, PersV 2019, 9 (12 f.). BAG v. 27.11.2002 – 7 ABR 36/01, NZA 2003, 803 ff.; Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 44 BPersVG Rz. 36. Vgl. Richter, PersV 2019, 9 (12 f.). VGH Baden-Württemberg v. 9.10.2001 – PL 15 S 2437.00, NZA-RR 2003, 335 f.; zuletzt zum BetrVG BAG v. 16.5.2007 – 7 ABR 45/06, NZA 2007, 1117 (1119 f.); Besgen, NZA 2006, 959 (961), will in mittleren und größeren Betrieben regelmäßig von einer solchen Darlegung absehen; so im Hinblick auf eine Grundausstattung auch Tamm, PersV 2015, 324 (325). BAG v. 20.4.2016 – 7 ABR 50/14, NZA 2016, 1033 ff.; LAG Baden-Württemberg v. 23.1.2013 – 13 TaBV 8/12, MMR 2013, 336 ff. m. Anm. Schwede; LAG Niedersachsen v. 30.7.2014 – 16 TaBV 92/13, ArbRB 2015, 45 f. m. Anm. Windelen; kritisch Tamm, PersV 2015, 325, 334: „bloße Beteuerungen des Arbeitgebers dürften nicht ausreichen“. VGH Baden-Württemberg v. 9.10.2001 – PL 15 S 2437.00, NZA-RR 2003, 335 (336). Besgen, NZA 2006, 959 (961). BVerwG v. 27.10.2009 – 6 P 11.08 Rz. 10 ff., PersV 2010, 187 ff. m. Anm. Sasse, ArbRB 2010, 51.

Sasse

Beteiligte

Rz. 26.59 § 26

ist189. Dabei besteht der Anspruch auf Internetzugang und eine externe E-Mail-Adresse für jedes Mitglied am Arbeitsplatz, sofern dort ein Computer vorhanden ist. Der Personalrat muss sich nicht auf einen Zugang im Personalratsbüro verweisen lassen190. Auch hat der Personalrat einen Anspruch darauf, im Intranet eine Homepage einrichten zu können191. Zum Geschäftsbedarf iSv. § 44 Abs. 2 BPersVG gehört auch Fachliteratur. Zu der zur Verfügung zu stellenden Fachliteratur gehören nach hM die für die Personalratsarbeit erforderlichen Texte von Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften, insbesondere auf dem Gebiet des Beamten-, Arbeits- und Sozialrechts, sowie der für die Dienststelle maßgebenden Tarifverträge, Unfallverhütungsvorschriften und sonstigen Arbeitsschutzvorschriften192. Ein solcher Anspruch besteht aber nicht für jedes Personalratsmitglied. Dem einzelnen Mitglied kann der Zugriff auf die dem Gremium zur Verfügung stehenden Werke zugemutet werden193. Auch ein Kommentar zum Personalvertretungsrecht gehört zu dem Geschäftsbedarf194. Ggf. kann auch ein Kommentar zum TVöD hierzu gehören, sofern der Personalrat mit Fragen des Tarifrechts der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst befasst ist195. Auch eine Zeitschrift zum Personalvertretungsrecht gehört regelmäßig zum Geschäftsbedarf196. Dem Personalrat steht insoweit ein Auswahlrecht zu, sofern in der Dienststelle nicht bereits eine solche Zeitschrift vorhanden ist, die mitgenutzt werden kann197. Für die Frage der Erforderlichkeit stellt die Rechtsprechung darauf ab, ob der Zugriff auf die Publikation bei Bedarf sofort und ohne jeden Zeitverlust möglich ist. In diesen Fällen kann auch ein Zugriff auf bei der Dienststelle vorhandene Literatur und eine Teilnahme an einem Umlaufverfahren für aktuelle Zeitschriften ausreichen198. Ob an dieser hM auch zukünftig uneingeschränkt festzuhalten ist, erscheint zweifelhaft. Denn der Anspruch auf Überlassung von Gesetzestexten wurde damit begründet, dass der Personalrat sich so ohne erheblichen Zeitaufwand über die jeweils aktuellen Gesetze informieren kann199. Sofern man aber dem Personalrat einen Anspruch auf Zugang zum Internet zur taggenauen Informationsbeschaffung zubilligt (s. Rz. 26.58), wird auch unter Beachtung des haushaltsrechtlichen Grundsatzes der Sparsamkeit im Einzelfall zu überprüfen sein, ob die erforderlichen Gesetze nicht auch im Internet, zB auf der Homepage des Bundesjustizministeriums, verfügbar sind. Dann wird die Überlassung einer entsprechenden Textsammlung nicht erforderlich sein. Allerdings wird man mit dieser Begründung nicht auch den Anspruch auf eine Zeitschrift oder einen Kommentar verneinen 189 BAG v. 20.1.2010 – 7 ABR 79/08, NZA 2010, 709 (711); LAG Berlin-Brandenburg v. 9.7.2008 – 17 TaBV 607/08, DB 2008, 2143 (Ls.); LAG Düsseldorf v. 2.9.2008 – 9 TaBV 8/08, NZA-RR 2009, 198 ff.; aA, keine grundsätzliche Pflicht, die Informationsbeschaffung mittels des Internets zu ermöglichen, noch BAG v 23.8.2006 – 7 ABR 55/05, NZA 2007, 337 (339), ausdrücklich aufgegeben durch BAG v. 20.1.2010 – 7 ABR 79/08, NZA 2010, 709 Rz. 19. 190 BAG v. 14.7.2010 – 7 ABR 80/08, MMR 2011, 116 (117). 191 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 44 BPersVG Rz. 41; zum BetrVG Fitting, § 40 BetrVG Rz. 133. 192 Altvater, § 44 BPersVG Rz. 57. 193 Hessischer VGH v. 28.1.2014 – 22 A 1520/13.PV m. Anm. Bauschke, öAT 2014, 86; die Nichtzulassungsbeschwerde wurde zurückgewiesen, vgl. BVerwG v. 2.5.2014 – 6 PB 12.14, NZA-RR 2014, 454. 194 BVerwG v. 25.7.1979 – 6 P 29.78, AP Nr. 1 zu § 44 BPersVG. 195 BVerwG v. 21.1.1991 – 6 P 13.89, AP Nr. 9 zu § 44 BPersVG. 196 BVerwG v. 29.6.1988 – 6 P 18.86, NZA 1988, 1132 ff. 197 BVerwG v. 5.10.1989 – 6 P 10.88 AP Nr 4 zu § 44 BPersVG; v. 30.1.1991 – 6 P 7.89 AP Nr. 10 zu § 44 BPersVG. 198 BVerwG v. 25.7.1979 – 6 P 29.78, AP Nr. 1 zu § 44 BPersVG; v. 29.6.1988 – 6 P 18.86, NVwZ 1988, 1132 (1134); krit. hierzu Altvater, § 44 BPersVG Rz. 62. 199 VGH Baden-Württemberg v. 27.11.1984 – 15 S 2665/83, NZA 1986, 105 (106).

Sasse

953

26.59

§ 26 Rz. 26.59

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

können, weil zwischenzeitlich zB das BVerwG seine Entscheidungen im Internet einstellt. Denn die Kommentare vermitteln ein Bild darüber, wie Normen auszulegen sind. Zeitschriften vermitteln über die Veröffentlichung aktueller Entscheidungen hinaus auch ein Bild über die laufende juristische und rechtspolitische Diskussion, die für die Personalratsarbeit relevant ist200. Dies kann den Internetveröffentlichungen nicht entnommen werden201.

26.60 Dem Personalrat sind im erforderlichen Umfang Räume zur Verfügung zu stellen. Der Personalrat muss seine Tätigkeit angemessen wahrnehmen können202. Ob dies ständig oder nur stundenweise geschieht, richtet sich nach dem Umfang der Nutzung. Der Raum für Personalratssitzungen oder Sprechstunden kann auch stundenweise zur Verfügung gestellt werden203. Sofern dem Personalratsmitglied ein eigener Raum zur Verfügung steht, spricht in der Regel nichts dagegen, diesen auch für die Personalratstätigkeit zu nutzen204. Für freigestellte Personalratsmitglieder sind besondere Räume bereitzustellen205, dies jedoch nicht zur Alleinnutzung206. Auch für die Bürokraft des Personalrates ist ein eigenes Zimmer zur Verfügung zustellen, wenn die räumliche Situation der Dienststelle dies zulässt207. Die Räume müssen mit entsprechendem Mobiliar ausgestattet und beheizbar sein. Allgemein ist auf den üblichen Standard in der Dienststelle abzustellen. Auch ist die Vertraulichkeit der Personalratsarbeit zu gewährleisten208. Dies schließt ein, dass der Beschäftigte, der den Personalrat aufsucht, in den Räumen nicht beobachtet werden kann209. Der Personalrat hat das Hausrecht an den Räumlichkeiten. Trotzdem darf er die Räume nur in Erfüllung seiner Aufgaben nutzen, so dass er zB einen Journalisten nicht uneingeschränkt in seinem Büro empfangen darf210.

26.61 Daneben ist dem Personalrat der nötige Bürobedarf, zB Papier, Stempel etc. zur Verfügung zu stellen.

26.62 Sofern es zur Erledigung der bei dem Personalrat anfallenden Tätigkeiten erforderlich ist, ist auch Büropersonal zur Verfügung zu stellen. Dessen Tätigkeit umfasst Schreibarbeiten und andere Hilfstätigkeiten, zB Botengänge211. Der Personalrat kann nicht darauf verwiesen werden, ein Mitglied des Personalrats zur Erledigung dieser Arbeiten zusätzlich freizustellen, statt ihm Büropersonal zur Verfügung zu stellen212. Dies gilt auch dann, wenn sich unter den Mitgliedern Büropersonal befindet213. Er kann sich aber auch entschließen, diese Tätigkeit selber zu erbringen. Ein Zwang zur Beschäftigung von Büropersonal besteht nicht214. Nicht zu den

200 BVerwG v. 29.6.1988 – 6 P 18.86, NZA 1988, 1132 (1133). 201 AA LAG Düsseldorf v. 2.9.2008 – 9 TaBV 8/08, NZA-RR 2009, 198 (201), welches das Internet für eine adäquate Informationsquelle hält. 202 Bieler u.a./Bieler, LPersVG SA, § 42 Rz. 33. 203 Altvater, § 44 BPersVG Rz. 51. 204 OVG Greifswald v. 7.1.2004 – 8 L 219.02, NVwZ-RR 2004, 869 (870). 205 Altvater, § 44 BPersVG Rz. 47. 206 OVG Mecklenburg-Vorpommern v. 7.1.2004 – 8 L 219.02, NVwZ-RR 2004, 869 (870). 207 Hessischer VGH v. 17.2.1994 – HPV TL 2143.92, NVwZ 1994, 1231 (Ls.). 208 Hessischer VGH v. 17.2.1994 – HPV TL 2143.92, NVwZ 1994, 1231 (Ls.). 209 Bieler u.a./Bieler, LPersVG SA, § 42 Rz. 37. 210 BAG v. 18.9.1991 – 7 ABR 63/90, NZA 1992, 315 (316 f.). 211 Niedersächsisches OVG v. 21.11.1994 – 18 L 1863.94, NdsVBl. 1996, 21 f. 212 OVG Sachsen-Anhalt v. 20.8.2000 – A 5 S 4.99, PersV 2001, 370 (371 f.). 213 Hessischer VGH v. 20.2.1980 – HPV TL 23/79, PersV 1982, 161 (162); Niedersächsisches OVG v. 21.11.1994 – 18 L 1863.94, NdsVBl. 1996, 21 f. 214 Sieweke, PersV 2011, 250 (251).

954

Sasse

Beteiligte

Rz. 26.64 § 26

Aufgaben des Büropersonals gehört die Übernahme von Sachbearbeitungsaufgaben215. Die Auswahl der Bürokraft obliegt der Dienststelle. Der Personalrat kann aber mangels Vertrauen die Zusammenarbeit ablehnen216. f) Rechtsstellung der Personalratsmitglieder aa) Rechtsstellung/Ehrenamt Die Personalratsmitglieder führen ihr Amt gemäß § 46 Abs. 1 BPersVG unentgeltlich als Ehrenamt217. Sie dürfen wegen der Wahrnehmung ihrer Aufgaben weder benachteiligt noch begünstigt werden (§ 8 BPersVG). Dabei kommt es lediglich auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Personalratstätigkeit und Benachteiligung an. Einer Benachteiligungsabsicht bedarf es nicht218. Diese Prinzipien dienen der Wahrung der inneren wie der äußeren Unabhängigkeit der Personalratsmitglieder219. Eine Veränderung des Ehrenamtsprinzips würde die Akzeptanz in der Belegschaft angreifen. Denn nur wenn der Repräsentant keine Vergünstigungen wegen des Amtes erhält, bleibt er aus Sicht der Belegschaft einer der ihren220. Das Verbot der Vergütung der Personalratstätigkeit richtet sich nicht nur gegen den Dienstherren/ Arbeitgeber, sondern auch gegen Dritte, zB Gewerkschaften221. Auch Aufwandsentschädigungen dürfen nur gezahlt werden, wenn Aufwendungen angefallen sind und in diesem Umfang erforderlich waren222

26.63

bb) Versäumnis der Arbeitszeit/Fortzahlung der Vergütung Personalratsmitglieder sollen grundsätzlich ihre Aufgaben während der Arbeitszeit erfüllen. Wenn dies im Einzelfall nicht möglich ist, gibt es gemäß § 46 Abs. 2 Satz 2 BPersVG einen Anspruch auf Freizeitausgleich. Anders als in § 37 Abs. 3 BetrVG ist es dabei nicht erforderlich, dass die Personalratstätigkeit aus betriebsbedingten Gründen außerhalb der Arbeitszeit durchzuführen ist. Für Reisezeiten außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit, zB wegen des Aufsuchens auswärtiger Sitzungen, besteht kein Anspruch auf Freizeitausgleich223. Ebenso wenig besteht ein Anspruch auf Freizeitausgleich bei Teilnahme an Schulungen. Dies gilt auch für teilzeitbeschäftigte Personalratsmitglieder224. Sofern dies zur ordnungsgemäßen Durchführung der Aufgaben des Personalrats erforderlich ist, hat das einzelne Personalratsmitglied einen Anspruch auf Dienstbefreiung. Eine Minderung der Vergütung erfolgt gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 BPersVG nicht. Die Dienst- bzw. Arbeitsbefreiung erfolgt unmittelbar kraft Gesetzes, es

215 OVG Sachsen-Anhalt v. 30.7.2003 – 5 L 5/02, PersR 2003, 508 f. 216 RDW/Jacobs, § 44 Rz. 93; Altvater, § 44 BPersVG Rz. 65. 217 Zum Begriff der Ehrenamtlichkeit auch aus sozialwissenschaftlicher Sicht Steiner, PersV 2013, 244 ff. 218 BVerwG v. 1.2.2010 – 6 PB 36.09, NVwZ-RR 2010, 407 (408), anderslautende ältere Rspr. ist überholt (BVerwG, aaO., Rz. 5). 219 BAG v. 16.2.2005 – 7 AZR 95/04, NZA-RR 2005, 556 (557); v. 7.11.2007 – 7 AZR 820/06, NZA 2008, 597 (599). 220 Weinspach, FS Kreutz, 2010, S. 485 (496) zum BetrVG. 221 BVerwG v. 10.10.1990 – 6 P 22.88, PersV 1991, 272 (273); Altvater, § 46 BPersVG Rz. 9; Fischer/ Goeres/Gronimus, § 46 BPersVG Rz. 11a. 222 RDW/Treber, § 46 Rz. 10. 223 BAG v. 22.5.1986 – 6 AZR 526/83, AP Nr. 8 zu § 46 BPersVG; v. 17.10.1990 – 7 AZR 612/89, ZTR 1991, 344; aA Altvater, § 46 BPersVG Rz. 36. 224 RDW/Treber, § 46 Rz. 139; krit. hierzu Dierßen, PersR 2014, 108 ff.; Altvater, § 46 BPersVG Rz. 116.

Sasse

955

26.64

§ 26 Rz. 26.64

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

bedarf keiner Zustimmung des Dienststellenleiters225. Die Personalratsmitglieder haben sich allerdings zur Aufrechterhaltung des ordnungsgemäßen Dienstbetriebes bei der Dienststelle vor Wahrnehmung der Personalratstätigkeit rechtzeitig unter Angabe von Ort und voraussichtlicher Dauer der Personalratstätigkeit abzumelden226. Die Versäumung der Arbeitszeit muss zur ordnungsgemäßen Erledigung der Personalratsaufgaben erforderlich sein. Das Personalratsmitglied muss sie nach pflichtgemäßem Ermessen unter vernünftiger Würdigung der vorliegenden Tatsachen und der Belange der Dienststelle für notwendig halten dürfen227. Weiterhin muss es sich um eine Aufgabe des Personalrates handeln. Hierzu gehören zB Personalratssitzungen oder die Abhaltung von Sprechstunden. Nicht hierzu gehören zB die Teilnahme an Arbeitstagungen mit Personalvertretungen anderer Dienststellen228, der Besuch eines erkrankten Beschäftigten229 oder die gerichtliche Vertretung eines Beschäftigten230. Ob es sich um die Wahrnehmung einer Aufgabe des Personalrates handelt, ist dabei nach objektiven Kriterien zu entscheiden. Das pflichtgemäße Ermessen des Personalrates ist hier nicht maßgeblich231. Sofern die Dienststelle in der Vergangenheit ein bestimmtes Verhalten stets geduldet hat, kann auch hieraus von Seiten des Personalratsmitgliedes abgeleitet werden, dass es sich um eine Personalratstätigkeit handelt232. Als Folge der Freistellung haben die freigestellten Personalratsmitglieder Anspruch auf Weiterzahlung der Bezüge in dem Umfang, wie sie vor Beginn der Freistellung gezahlt wurden. Insoweit gilt das Lohnausfallprinzip. Davon erfasst sind u.a. auch Überstundenvergütungen, die das Personalratsmitglied erhalten hätte, wenn es keine Personalratstätigkeit verrichtet hätte233. Ebenso sind bisher gewährte Erschwerniszulagen für den Dienst zu ungünstigen Zeiten weiterzuzahlen234. Selbiges gilt auch für Amts- oder Stellenzulagen, zB sog. Funktionsstufen für zusätzlich übertragene Aufgaben235. Aus dem Grundsatz der Ehrenamtlichkeit und Unentgeltlichkeit der Personalratstätigkeit resultiert auch, dass eine Arbeitszeiterhöhung eines teilzeitbeschäftigten Personalratsmitglieds im Zusammenhang mit den wegen dieser Tätigkeiten anfallenden Arbeiten gegen das Begünstigungsverbot verstößt und deshalb nichtig ist236.

26.65 Nicht fortgezahlt werden indes solche Zulagen, die der Abgeltung der durch die Dienstleistung entstandenen Aufwendungen gelten, die also nicht Besoldung sind, sondern neben dieser und zusätzlich zu ihr gewährt werden237. Die Gewährung von Freizeitausgleich ist eine 225 Peiseler, PersR 2008, 239 (241 f.); RDW/Treber, § 46 Rz. 19 mwN. 226 BAG v. 15.3.1995 – 7 AZR 643/94; NZA 1995, 961 f. unter Aufgabe der bisherigen Rspr., die auch eine stichwortartige Angabe der Tätigkeit verlangte. Hierin sieht das BAG eine Beeinträchtigung der Amtsausführung. 227 RDW/Treber, § 46 Rz. 17. 228 BVerwG v. 27.4.1979 – 6 P 24.78, PersV 1981, 25 f. 229 BVerwG v. 24.10.1969 – VII P 14.68, BVerwGE 34, 143 (144 ff.). 230 BVerwG v. 13.2.1976 – VII P 9.74, BVerwGE 50, 176; ebenso für die Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung, wenn individualrechtliche Ansprüche eines Personalrechtsmitgliedes geltend gemacht werden Bieler u.a./Bieler, LPersVG Sachsen-Anhalt, § 44 Rz. 11. 231 BVerwG v. 27.4.1979 – 6 P 24.78; PersV 1981, 25 (26); Bieler u.a./Bieler, LPersVG Sachsen-Anhalt, § 44 Rz. 12; RDW/Treber, § 46 Rz. 14, der zunächst davon ausgeht, dass ein objektiver Maßstab gelte, dann jedoch einen Beurteilungsspielraum annimmt. 232 Altvater, § 46 BPersVG Rz. 16. 233 BAG v. 16.2.2005 – 7 AZR 95/04, AP Nr. 26 zu § 46 BPersVG. 234 BVerwG v. 13.9.2001 – 3 C 34.00, AP Nr. 1 zu § 39 LPVG Niedersachsen. 235 BAG v. 16.11.2011 – 7 AZR 458/10, NZA 2012, 626 (628) Rz. 16. 236 BAG v. 16.11.2011 – 7 AZR 458/10, NZA 2012, 626 (628); v. 16.2.2005, NZA-RR 2005, 556 (557 f.); ausführlich Laber, öAT 2010, 9 (10). 237 BVerwG v. 13.7.2000 – 2 C 30.99, DVBl. 2001, 131 ff.; Wahlers, PersV 2009, 204 (207 f.).

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Beteiligte

Rz. 26.68 § 26

individualrechtliche Streitigkeit und nicht im Rahmen eines Beschlussverfahrens geltend zu machen238. cc) Freistellung Neben der aus konkretem Anlass begründeten Freistellung sieht § 46 Abs. 3 BPersVG eine generelle Freistellung von der dienstlichen Tätigkeit vor. Die pauschale Freistellung hängt von zwei Voraussetzungen ab. Sie muss zur Durchführung von Personalratsaufgaben dienen und sie muss nach Umfang und Art der Dienststelle zur Durchführung erforderlich sein. Der Gesetzgeber unterstellt dabei ab einer bestimmten Dienststellengröße, dass die Freistellung einer oder mehrerer Personalratsmitglieder für die Erledigung der Personalratsaufgaben erforderlich ist. Trotz Freistellung bleiben die übrigen Pflichten aus dem Dienst- und Arbeitsverhältnis unberührt. Dies betrifft insbesondere auch Beginn und Ende der Arbeitszeit, die unverändert fortgelten239. Das freigestellte Personalratsmitglied hat auch einen Anspruch auf Zusatzurlaub für Wechselschichtarbeit, wenn er diesen ohne Freistellung erworben hätte240.

26.66

Durch die Freistellung soll sichergestellt werden, dass die außerhalb von Sitzungen anfallenden Geschäfte des Personalrates ordnungs- und sachgemäß wahrgenommen werden können. Der Umfang der Freistellung richtet sich grundsätzlich nach den Pauschalregelungen des § 46 Abs. 4 BPersVG. Ein Freistellungsanspruch steht als Rechtsanspruch der Personalvertretung, nicht aber dem freizustellenden Mitglied zu. Die Personalvertretung entscheidet durch Beschluss, welches Mitglied vom Dienst freigestellt werden soll241. Bei der Auswahl der freizustellenden Mitglieder hat der Personalrat zunächst die Vorstandsmitglieder und sodann die gewählten Ersatzmitglieder und schließlich weitere Mitglieder zu berücksichtigen. Bei seinen Freistellungsentscheidungen hat sich der Personalrat ausschließlich von sachlichen Erwägungen leiten zu lassen. Insbesondere kann er wegen des gesetzlich vorgesehenen Gruppenschutzes nicht auf eine Freistellung verzichten, wenn dies ausschließlich zu Lasten einer ansonsten gemäß § 46 Abs. 3 Satz 3 BPersVG begünstigten Minderheit gehen würde242. Die gesetzlich vorgeschriebene Reihenfolge gemäß § 46 Abs. 3 Satz 2 BPersVG räumt der Personalvertretung kein Ermessen bei der Entscheidung über die Reihenfolge der Freistellungen ein243. Abweichende Regelungen bis hin zum uneingeschränkten Ermessen244 finden sich in Landespersonalvertretungsgesetzen245.

26.67

dd) Berufliche Entwicklung freigestellter Personalratsmitglieder Die Freistellung darf nicht zur Beeinträchtigung des beruflichen Werdegangs führen (§ 46 Abs. 3 Satz 6 BPersVG). Hierbei handelt es sich um eine Konkretisierung des allgemeinen Behinderungs- und Begünstigungsverbotes, welches das Personalratsmitglied in seiner arbeits- und dienstrechtlichen Stellung schützt. Diese Vorschrift stellt nicht nur ein Verbot der 238 BVerwG v. 23.10.1980 – 2 C 43.78, ZBR 1981, 288 f.; OVG Rheinland-Pfalz v. 24.2.2011 – 10 A 11079/10.OVG, PersV 2011, 316 f. 239 BVerwG v. 14.6.1990 – 6 P 18.88, PersV 1990, 532 (533). 240 BAG v. 7.11.2007 – 7 AZR 820/06, ZTR 2008, 401 (409 f.). 241 BVerwG v. 17.1.1969 – VI P 6.67, AP Nr. 2 zu § 42 PersVG. 242 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 46 BPersVG Rz. 16. 243 BVerwG v. 12.1.2009 – 6 PB 24.08, NZA-RR 2009, 226 (227). 244 Vgl. § 49 Abs. 1 HmbPersVG, s. hierzu Hamburgisches OVG v. 30.5.2011 – 8 Bf 289/10.PVL, PersV 2012, 254 ff. 245 Zur Regelung in Nordrhein-Westfalen BVerwG v. 12.1.2009 – 6 PB 24.08, NZA-RR 2009, 226 ff.

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26.68

§ 26 Rz. 26.68

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

Schlechterstellung, sondern auch ein an den Dienstherrn bzw. Arbeitgeber gerichtetes Gebot der Gleichstellung, das darin besteht, ein freigestelltes Personalratsmitglied eine berufliche Entwicklung zukommen zu lassen, wie sie ohne Freistellung verlaufen wäre246. Diese Vorschrift ist eine unmittelbar anspruchsbegründende Norm, die den Dienstherrn entsprechend verpflichtet, ohne dass es auf sein Verschulden ankommt. Das Personalratsmitglied hat einen unmittelbaren Anspruch darauf, hinsichtlich seiner beruflichen Entwicklung so gestellt zu werden, wie sie ohne Personalratsamt verlaufen wäre. Hierzu bedarf es einer fiktiven Laufbahnnachzeichnung, wobei von der beruflichen Entwicklung vergleichbarer Kollegen auszugehen ist247. Der Behörde steht ein Einschätzungsspielraum hinsichtlich der Wahl der Methode und des Verfahrens zur Erstellung der Prognose zu248. Der Vergleichsgruppenbildung kommt besondere Bedeutung zu. Hierzu können Richtlinien erlassen werden249. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Festlegung der Vergleichsgruppe ist der der Freistellung250, allerdings kann die Vergleichsgruppe später korrigiert werden.251 Bei der Laufbahnnachzeichnung sind die Beurteilungen unter Berücksichtigung einer durchschnittlich zu erwartenden Leistungssteigerung fortzuschreiben252. Sofern die vergleichbaren Kollegen herausragende Leistungen gezeigt haben, kann das freigestellte Personalratsmitglied deren berufliche Entwicklung nicht als Vergleichsmaßstab heranziehen253. Im Falle eines teilweise freigestellten Personalratsmitgliedes ist dessen Werdegang ohne Freistellung fiktiv nachzuzeichnen und die Ergebnisse der Nachzeichnung sind neben der Bewertung der dienstlichen Leistung zu berücksichtigen254. Der Bedienstete nimmt auch am Zeit- und Bewährungsaufstieg teil. Dabei ist auch darauf zu achten, dass das freigestellte Personalratsmitglied im Verhältnis zu den übrigen Beschäftigten nicht entgegen dem Begünstigungsverbot gemäß § 8 BPersVG bevorzugt wird255.

26.69 Bei Vergabe von Beförderungsdienstposten ist das freigestellte Personalratsmitglied grundsätzlich nur zu berücksichtigen, wenn es sich beworben hat. Sofern der Arbeitnehmer sich um eine entsprechende Beförderungsstelle bewirbt, hat der Arbeitgeber bei seiner Entscheidung die Grundsätze des Art. 33 Abs. 2 GG zu beachten. Diese gelten auch dann, wenn sich ein freigestelltes Personalratsmitglied um einen freien, höher dotierten Arbeitsplatz bewirbt. Allerdings muss den besonderen Umständen im Arbeitsverhältnis eines von der Arbeitsleistung freigestellten Mitarbeiters bei der Entscheidung über die Besetzung der freien Stelle Rechnung getragen werden. Sofern die Bewerbung des freigestellten Personalratsmitgliedes daran scheitert, dass aktuelle Fachkenntnisse fehlen oder der Arbeitgeber sich zur Beurteilung der fachlichen und beruflichen Qualifikation infolge der Freistellung außerstande sieht, ist die Entscheidung gemäß Art. 33 Abs. 2 GG nicht zu beanstanden256. Es kann jedoch in diesen Fällen eine Zahlungspflicht gemäß §§ 8, 46 BPersVG entstehen, wenn das Fehlen von feststell-

246 Altvater, § 46 BPersVG Rz. 78; ausführlich zur Beförderung freigestellter Beamter Baden, PersR 2009, 107 ff. sowie Gronimus, PersV 2010, 444 ff. 247 BAG v. 26.9.1990 – 7 AZR 208/89, NZA 1991, 694 f. 248 BVerwG v. 11.12.2014 – 1 WB 6.13 Rz. 30; v. 26.4.2018 – 1 WB 41.17 Rz. 21. 249 Altvater, § 46 BPersVG Rz. 79 a mwN. 250 RDW/Treber, § 46 Rz. 94. 251 BVerwG v. 29.6.2017 – 1 WB 11.16 Rz. 38. 252 BVerwG v. 7.11.1990 – 1 WB 160.90, BVerwGE 93, 188 (192 ff.). 253 OVG Nordrhein-Westfalen v. 14.12.2007 – 6 B 1155/07, PersR 2008, 131 (132). 254 BAG v. 19.3.2003 – 7 AZR 334/02, NZA-RR 2004, 53 ff. 255 BAG v. 27.6.2001 – 7 ARZ 496/99, NZA 2002, 106 (108); zur Problematik der Begünstigung und der Frage der Vergütung der Betriebsratstätigkeit vgl. auch Löwisch/Rügenhagen, DB 2008, 466 f. 256 BVerwG v. 25.6.2014 – 2 B 1.13 Rz. 17.

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Beteiligte

Rz. 26.72 § 26

barem, aktuellem Fachwissen gerade aufgrund der Freistellung eingetreten ist257. Weiterhin kann ein Anspruch auf Höhergruppierung dann gegeben sein, wenn das Personalratsmitglied eine Bewerbung von vornherein wegen der Freistellung unterlassen hat und eine ohne die Freistellung erfolgte Bewerbung erfolgreich gewesen wäre258. Auch kann ein Anspruch auf Höhergruppierung bestehen, wenn öffentliche Arbeitgeber Angestellte mit bestimmten Laufbahnvoraussetzungen nach feststehenden Maßstäben und/oder Zeitabläufen auf frei werdende oder neu geschaffene Stellen einer höheren Vergütungsgruppe befördern und Personalratsmitglieder wegen der Freistellung hiervon ausnehmen259. In diesen Fällen kann der Arbeitnehmer auch direkt auf Zahlung einer entsprechenden Vergütung klagen. Diese für Arbeitnehmer geltende Rechtsprechung ist auf Beamte nicht zu übertragen. Diese müssen vielmehr ihren Dienstherrn auf Beförderung in Anspruch nehmen. Auch kommt eine Klage auf Schadensersatz in Frage. Dies erfordert aber als nicht nachholbare Klagevoraussetzung einen vor Klageerhebung an den Dienstherrn zu stellenden Antrag auf Beförderung260.

26.70

Im Zusammenhang mit der Beförderung von freigestellten Personalratsmitgliedern kann 26.71 sich das Problem ergeben, dass nach den entsprechenden laufbahnrechtlichen Vorschriften eine Erprobung erforderlich ist. Nur der erfolgreich Erprobte kann befördert werden. Dies würde aber für freigestellte Personalratsmitglieder zur Folge haben, dass sie ihre Freistellung aufgeben müssten. Hierin liegt aber eine verbotene Benachteiligung. Die Erprobungspflicht und das Benachteiligungsverbot stehen rechtlich auf gleicher Stufe. Das Erfordernis einer tatsächlichen Erprobung würde aber das Personalratsmitglied vor einen Konflikt stellen, der vermieden werden soll. Die widerstreitenden Rechtsgrundsätze sind auszugleichen. Dies kann dergestalt geschehen, dass aufgrund des bisherigen beruflichen Werdegangs des Personalratsmitgliedes und vergleichbarer Bediensteter eine Prognoseentscheidung angestellt wird. Sofern sich eine belastbare Prognose allerdings nicht treffen lässt, dass das freigestellte Personalratsmitglied den Anforderungen des Beförderungsdienstpostens gerecht werden würde, kann von einer tatsächlichen Erprobung nicht abgesehen werden. Das personalvertretungsrechtliche Benachteiligungsverbot findet hier seine Grenzen in den Auswahlkriterien des Art. 33 Abs. 2 GG261. Eine fiktive Nachzeichnung findet hingegen bei einem nicht-freigestellten Personalratsmitglied nicht statt, auch wenn die Erprobung auch eine Abordnung mit dem damit verbundenen Verlust der Wählbarkeit nach sich zieht. Hier würde ein Verzicht auf die Erprobung zur Verzerrung der Auswahlentscheidung führen262. ee) Kündigungs- und Versetzungsschutz Für die Mitglieder der Personalvertretung gilt der besondere Kündigungsschutz des § 15 KSchG. Mitglieder der Personalvertretung sind gemäß § 15 Abs. 2 KSchG nur außerordentlich kündbar. Die außerordentliche Kündigung bedarf der Zustimmung des Personalrates (§ 47 Abs. 1 Satz 1 BPersVG). Zuständig ist der Personalrat, dem das Mitglied angehört, zB der Hauptpersonalrat und nicht der Personalrat der Dienststelle, bei der es beschäftigt ist263. Ge257 BAG v. 27.6.2001 – 7 AZR 496/99, NZA 2002, 106 (108); v. 14.7.2010 – 7 AZR 359/09, AP LPVG Bremen § 39 Nr. 1, Rz. 20. 258 BAG v. 27.6.2001 – 7 AZR 496/99, NZA 2002, 106, (108). 259 BAG v. 27.6.2001 – 7 AZR 496/99, NZA 2002, 106, (108). 260 BVerwG v. 10.4.1997 – 2 C 38.95, DVBl. 1998, 191 f. mwN. 261 BVerwG v. 21.9.2006 – 2 C 13/05, NVwZ 2007, 344 f. 262 BVerwG v. 3.11.2011 – 6 P 14.10 Rz. 35, PersV 2012, 176 ff. 263 BVerwG v. 30.4.1996 – 6 P 5.97, NZA-RR 1998, 573 (576); HWK/Quecke, § 15 KSchG Rz. 49.

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26.72

§ 26 Rz. 26.72

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

hört das Mitglied mehreren Vertretungen an, so ist die Zustimmung aller Vertretungen einzuholen264. Bei Wahlvorstandsmitgliedern, Wahlbewerbern und JAV-Mitgliedern ist die Vertretung zuständig, für welche die Wahl durchgeführt wird bzw. bei welcher die Jugendvertretung besteht265. Die Zustimmung ist im Falle der Verweigerung oder nicht erfolgten Äußerung zu ersetzen (§ 47 Abs. 1 Satz 2 BPersVG). Sofern ein Personalrat nicht existiert, zB bei der beabsichtigten Kündigung von Wahlbewerbern, oder nicht funktionsfähig ist, ist unmittelbar das Zustimmungsersetzungsverfahren einzuleiten266. Während § 102 Abs. 2 BetrVG eine Äußerungsfrist von drei Tagen für den Betriebsrat vorsieht, beträgt diese Frist gemäß § 47 Abs. 1 BPersVG drei Arbeitstage. Zuständig für die Einleitung des Anhörungsverfahrens und die Zustimmungsersetzung ist der Dienststellenleiter, der für den Ausspruch der Kündigung zuständig ist267.

26.73 Auch ausgeschiedene Mitglieder der Personalvertretung genießen gemäß § 15 Abs. 2 Satz 2 KSchG für ein Jahr nachwirkenden Kündigungsschutz, dh., weiterhin ist die Kündigung nur aus wichtigem Grund möglich. Dieser Schutz besteht gemäß § 15 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 KSchG nicht, wenn der Verlust der Mitgliedschaft auf einer gerichtlichen Entscheidung beruht. In diesem Zeitraum besteht nicht mehr das Erfordernis der Zustimmung gemäß § 47 BPersVG268. Vielmehr gelten jetzt die allgemeinen Vorschriften betreffend die Personalratsbeteiligung (s. § 19, Rz. 19.25 ff.).

26.74 Ausnahmsweise ist gemäß § 15 Abs. 4 bzw. 5 KSchG auch eine ordentliche Kündigung des Personalratsmitgliedes möglich. In diesem Fall greift § 47 BPersVG nicht ein. Die Anhörung richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften269.

26.75 Weiterhin dürfen Personalratsmitglieder gegen ihren Willen gemäß § 47 Abs. 2 BPersVG nur versetzt oder abgeordnet werden, wenn dies auch unter Berücksichtigung der Mitgliedschaft im Personalrat aus wichtigen dienstlichen Gründen unvermeidbar ist270. Als Versetzung gilt dabei auch die mit einem Wechsel des Dienstortes verbundene Umsetzung in derselben Dienststelle. Die Versetzung oder Abordnung von Mitgliedern des Personalrates bedarf der Zustimmung des Personalrates. Sofern der Personalrat nicht zustimmt, kann dessen Zustimmung nicht ersetzt werden. Er hat insofern bei der Versetzung, anders als im Falle der Kündigung, ein absolutes Vetorecht271. Eine Ausnahme gilt für Beamte im Vorbereitungsdienst und Beschäftigte in entsprechender Ausbildung gemäß § 47 Abs. 3 BPersVG. Die Vorschriften des § 47 Abs. 1 und 2 BPersVG und die §§ 15 und 16 KSchG gelten für diese Personengruppen nicht.

264 BVerwG v. 8.12.1986 – 6 P 20.84, NJW 1987, 2601; BAG v. 30.3.1994 – 7 ABR 46/93, AP Nr. 1 zu § 47 BPersVG. 265 BVerwG v. 9.7.1980 – 6 P 43.79, PersV 1980, 370 (371); aA KR/Rinck, §§ 47, 108 Abs. 1 BPersVG Rz. 8; differenzierend RDW/Treber, § 47 Rz. 19, bei JAV-Mitglieder der Personalrat, bei welchem die JAV besteht, bei Wahlbewerbern der Personalrat der Dienststelle, welcher der Arbeitnehmer angehört. 266 RDW/Treber, § 47 Rz. 32 f.; Altvater, § 47 BPersVG Rz. 38. 267 BVerwG v. 3.5.1999 – 6 P 2.98, NZA-RR 1999, 556 (557). 268 LAG Köln v. 6.7.2005 – 3 (7) Sa 193/05, NZA-RR 2006, 52 (53). 269 BAG v. 30.3.1994 – 7 ABR 46/93, AP Nr. 1 zu § 47 BPersVG. 270 Zum Begriff der Unvermeidbarkeit OVG Mecklenburg-Vorpommern v. 25.6.2007 – 8 L 191/06, NJOZ 2008, 1803 ff. 271 BVerwG v. 15.7.2004 – 6 P 15.03, AP Nr. 5 zu § 47 BPersVG mwN.

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Beteiligte

Rz. 26.77 § 26

Teilweise enthalten die Personalvertretungsgesetze der Länder Kündigungs- und Versetzungsschutzvorschriften für Ersatzmitglieder272. ff) Übernahme von Auszubildenden Eine weitere wichtige Schutzvorschrift enthält § 9 BPersVG für Auszubildende, die Mitglieder der Personalvertretung oder der JAV sind. Diese haben einen Anspruch auf Übernahme in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung. Geschützt werden nur Personen, die in einer Ausbildung nach den in § 9 Abs. 1 BPersVG genannten Gesetzen stehen. Nicht erfasst werden hingegen Personen in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis273. Der Auszubildende muss bei Beendigung der Ausbildung Mitglied der Personalvertretung oder JAV sein. Eine Mindestdauer der Mitgliedschaft ist hierbei nicht erforderlich. Es ist auch ausreichend, wenn der Auszubildende innerhalb der letzten drei Monate Mitglied geworden ist274. Gemäß § 9 Abs. 3 BPersVG werden auch ausgeschiedene Mitglieder erfasst, sofern die Ausbildung innerhalb eines Jahres nach Beendigung der Amtszeit erfolgreich endet. Ersatzmitglieder fallen nur dann unter den Schutz des § 9 BPersVG, wenn sie ersatzweise endgültig in die Vertretung eingerückt sind oder wenn sie vorübergehend, aber in nicht unerheblichem Umfang in Einzelfällen Vertretungstätigkeiten ausgeübt haben275. Dies ist dann ausgeschlossen, wenn die Tätigkeit des Ersatzmitgliedes rechtsmissbräuchlich herbeigeführt wurde276.

26.76

Sofern der Arbeitgeber beabsichtigt, die gemäß § 9 Abs. 1 BPersVG geschützten Personen nicht in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu übernehmen, muss er dies spätestens drei Monate vor Beendigung des Ausbildungsverhältnisses schriftlich mitteilen. Die Mitteilungspflicht entfällt nicht deshalb, weil der Arbeitgeber ein befristetes Arbeitsverhältnis oder ein Teilzeitarbeitsverhältnis anbieten will277. Verletzt der Arbeitgeber die Mitteilungspflicht, so ist dies unbeachtlich, es sei denn, der Verstoß zielt darauf ab, den Auszubildenden von der Geltendmachung seiner Rechte abzuhalten, insbesondere führt dies nicht dazu, dass ein Arbeitsverhältnis zustande kommt278. Auch Schadensersatzansprüche bestehen entgegen der hM in der Regel nicht, da es der Auszubildende selber in der Hand hat, gemäß § 9 Abs. 2 BPersVG vorzugehen und dem Arbeitgeber mitzuteilen, dass er eine Weiterbeschäftigung verlangt279.

26.77

272 Vgl. Altvater, § 47 BPersVG Rz. 85, zum Versetzungsschutz für Ersatzmitglieder in Brandenburg BVerwG v. 17.5.2017 – 5 P 6.15, NZA-RR 2017, 507 ff. 273 BVerwG v. 4.9.1995 – 6 P 20.93, NZA-RR 1996, 198 (200); keine analoge Anwendung auf Beamte im Vorbereitungsdienst BVerwG v. 30.5.2012 – 6 PB 7.12, PersV 2012, 394 f. 274 VGH Baden-Württemberg v. 18.1.2005 – 15 S 1129.04, NJOZ 2005, 3264 (3269), insoweit nicht weiter erwähnt in BVerwG v. 31.5.2005 – 6 PB 1.05, NZA-RR 2005, 613 f.; RDW/Treber, § 9 Rz. 13; aA Feudner, NJW 2005, 1462 (1466); kritisch zur Rechtsprechung Rudolph, PersR 2013, 390 ff. 275 BVerwG v. 25.6.1986 – 6 P 27.84, NZA 1986, 839 (840); v. 9.10.1996 – 6 P 21.94, NZA-RR 1998, 190 (192); aA BAG v. 15.1.1980 – 6 AZR 726/79, AP Nr. 8 zu § 78a BetrVG 1972; Altvater, § 9 BPersVG Rz. 10a; RDW/Treber, § 9 Rz. 15; kritisch nunmehr auch Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 9 BPersVG Rz. 7 f. 276 Sächsisches OVG v. 8.5.2014 – PL 9 A 686/12, NZA-RR 2015, 111 f., ausführlich zur geringen Bedeutung dieser Erwägung Tamm, PersV 2014, 53 (57 ff.). 277 RDW/Treber, § 9 Rz. 24. 278 BVerwG v. 9.10.1996 – 6 P 20/94, NZA-RR 1997, 239 (240); v. 31.5.2005 – 6 PB 1.05, NZA-RR 2005, 613 (614); Altvater, § 9 BPersVG Rz. 7. 279 AA Altvater, § 9 BPersVG Rz. 7; DKK/Bachner, § 78a BetrVG Rz. 14; GK-BetrVG/Oetker, § 78a BetrVG Rz. 66 mwN.

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§ 26 Rz. 26.77

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

Die insoweit zur Begründung der hM herangezogenen Urteile des BAG280 erwähnen lediglich die Möglichkeit von Schadensersatzansprüchen, ohne hierüber abschließend zu entscheiden.

26.78 Das Mitglied muss gemäß § 9 Abs. 2 BPersVG seine Weiterbeschäftigung schriftlich innerhalb der letzten drei Monate vor Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses verlangen. Für das Verlangen gilt das Schriftformerfordernis des § 126 Abs. 1 BGB281. Eine vorherige Erklärung begründet kein Arbeitsverhältnis, aber die Erklärung kann wiederholt werden. Die Erklärung muss spätestens am Tag der Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse dem Arbeitgeber zugegangen sein. Durch diese Erklärung kommt nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung ein unbefristetes Vollzeitarbeitsverhältnis zustande. Die Erklärung ist frei widerruflich. Auf den Schutz des § 9 BPersVG kann vor Beginn der Dreimonatsfrist nicht verzichtet werden282. Während der Dreimonatsfrist kann der Auszubildende ausdrücklich, aber auch konkludent, zB durch den Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrages, auf den Schutz verzichten283. Das Mitglied kann auch im Falle des Fehlens einer ausbildungsadäquaten Weiterbeschäftigungsmöglichkeit seine Bereitschaft erklären, zu geänderten Bedingungen tätig zu werden. Diese muss er möglichst genau benennen. Der Arbeitgeber kann gehalten sein hierauf einzugehen284. Die Weiterbeschäftigung unterliegt nicht der Mitbestimmung des Personalrates, da es sich nicht um eine durch die Dienststelle verantwortete Einstellung handelt285.

26.79 Der Arbeitgeber kann gemäß § 9 Abs. 4 BPersVG spätestens bis zum Ablauf von zwei Wochen nach dem Ende des Berufsausbildungsverhältnisses beantragen, festzustellen, dass ein Arbeitsverhältnis gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BPersVG nicht begründet wird, oder ein bereits nach diesen Vorschriften begründetes Arbeitsverhältnis aufzulösen, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung unter Berücksichtigung aller Umstände nicht zugemutet werden kann. Dieser Antrag hat eine Doppelnatur. Er ist zum einen Prozesshandlung und zum anderen Ausübung eines materiellen Gestaltungsrechts286. Der Antrag kann schon dann gestellt werden, wenn der Auszubildende den Antrag gemäß § 9 Abs. 2 BPersVG noch nicht gestellt hat, zB weil dies aufgrund der Fristenregelung noch gar nicht möglich war; ihm fehlt lediglich zunächst das Rechtsschutzbedürfnis287. Der Antrag gemäß § 9 Abs. 4 Nr. 1 BPersVG, festzustellen, dass ein Arbeitsverhältnis nicht begründet wird, führt nicht dazu, dass ein Anstellungsverhältnis nicht begründet wird. Vielmehr hat auch in diesen Fällen das Bestehen der Abschlussprüfung zur Folge, dass aufgrund der Fiktion des § 9 Abs. 2 BPersVG ein unbefristetes Arbeitsverhältnis begründet wird288. Der Feststellungsantrag wandelt sich dann ohne förmliche Antragsänderung in einen Auflösungsantrag um289. Im 280 BAG v. 15.1.1980 – 6 AZR 621/78, AP Nr. 7 zu § 78a BetrVG 1972; v. 21.10.1985 – 6 AZR 557/84, AP Nr. 15 zu § 78a BetrVG 1972. 281 BVerwG v. 18.8.2010 – 6 P 15.09, Rz. 24 ff., PersV 2011, 114 ff.; s. auch Sasse, ArbRB 2012, 30 (31). 282 DKK/Bachner, § 78a BetrVG Rz. 19. 283 BVerwG v. 31.5.2005 – 6 PB 1.05, NZA-RR 2005, 613; v. 19.1.2009 – 6 P 1.08, NZA-RR 2009, 228 (229), das aufgrund der Gesamtumstände trotz Abschluss eines befristeten Anstellungsvertrages einen Verzicht verneint. 284 BVerwG v. 18.1.2012 – 6 PB 21.11, NZA-RR 2012, 336; hierzu Sasse, ArbRB 2012, 178 f. 285 BVerwG v. 26.5.2015 – 5 P 9.14, NZA-RR 2015, 499 ff. 286 BVerwG v. 21.2.2011 – 6 P 12.10, NZA-RR 2011, 332, Rz. 24 m. Anm. Sasse, ArbRB 2011, 176; v. 21.2.2011 – 6 P 13.10 Rz. 18. 287 BVerwG v. 2.11.1994 – 6 P 39.93, NVwZ-RR 1995, 333 f., der Antrag wird durch das spätere Übernahmeverlangen des Auszubildenden wirksam. 288 BVerwG v. 1.12.2003 – 6 P 11.03, NZA-RR 2004, 389 (390) mwN. 289 BVerwG v. 21.2.2011 – 6 P 12.10, Rz. 21; v. 28.7.2006 – 6 PB 9.06, NZA-RR 2006, 670 (671).

962

Sasse

Beteiligte

Rz. 26.80 § 26

Rahmen dieser Anträge ist als Vorfrage zu klären, ob ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen ist290. In diesem Verfahren wird der Arbeitgeber durch denjenigen vertreten, der zu seiner gerichtlichen Vertretung befugt ist291. Auch ein Dritter kann bevollmächtigt werden, einen Antrag gemäß § 9 Abs. 4 BPersVG zu stellen. Voraussetzung für einen wirksamen Antrag ist aber, dass die schriftliche Vollmacht innerhalb der Frist des § 9 Abs. 4 BPersVG dem Gericht vorliegt292. Im Falle der Vertretung durch einen Rechtsanwalt muss die durch eine vertretungsberechtigte Person unterzeichnete Vollmacht innerhalb der Frist bei Gericht im Original vorliegen293. Die Einreichung der Vollmacht per Telefax innerhalb der Frist und Einreichung im Original außerhalb der Frist, zB bei der Vorabübersendung, ist nicht ausreichend294. Bei Antragstellung durch einen Bevollmächtigten bedarf es eines kurzen Hinweises auf die Vertretungssituation und die Herleitung der Vertretungsbefugnis in der Antragsschrift295. Da ein Arbeitsverhältnis aufgrund der Fiktion zunächst besteht, kann der Arbeitnehmer seinen Beschäftigungsanspruch mittels einer einstweiligen Verfügung sichern296. Auch der Arbeitgeber hat die Möglichkeit, im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens die Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht zu beantragen. Allerdings ist hier das Interesse des Arbeitnehmers an der Amtsausübung zu beachten297. In dem Verfahren gemäß § 9 Abs. 4 BPersVG wird die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung geklärt. Diese kann sich aus Gründen ergeben, die in der Person des Auszubildenden oder in seinem Verhalten liegen, oder aus zwingenden betrieblichen Gründen. Gründe in der Person oder dem Verhalten begründen die Unzumutbarkeit zumindest unter den Voraussetzungen des wichtigen Grundes des § 626 BGB298. Eine Weiterbeschäftigung ist dann unzumutbar, wenn andere Auszubildende wesentlich fähiger und geeigneter sind299. Aus zwingenden betrieblichen Gründen ist die Weiterbeschäftigung unzumutbar, wenn der Arbeitgeber dem Auszubildenden keinen seiner Ausbildung adäquaten Arbeitsplatz zur Verfügung stellen kann. Sofern für den Arbeitsplatz eine Zusatzqualifikation erforderlich ist, die kurzfristig erworben werden kann, so spricht dieses Erfordernis nicht gegen eine Weiterbeschäftigung300. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, einen Arbeitsplatz zu schaffen301. Sofern ein freier Arbeitsplatz vorhanden ist, darf der Arbeitgeber sich entschließen, diesen mit Überhangpersonal, das aufgrund eines sozialverträglichen Personalabbaus vorhanden ist, statt mit dem Jugendvertreter zu besetzen302. Über die Frage, ob ein geeigneter und besetzbarer Ar290 BVerwG v. 9.10.1996 – 6 P 20.94, NZA-RR 1997, 239; zur älteren abweichenden Rspr. des BAG vgl. BAG v. 11.1.1995 – 7 AZR 574/94, NZA 1995, 647 (648). 291 BVerwG v. 8.7.2008 – 6 P 14.07, NZA-RR 2009, 52 (53). 292 BVerwG v. 1.12.2003 – 6 P 11.03, NZA-RR 2004, 389 (390 ff.); v. 19.1.2009 – 6 P 1.08, NZA-RR 2009, 228 (230); ausführlich Sasse/Vogel, ArbRB 2009, 339 ff. 293 BVerwG v. 18.8.2010 – 6 P 15.09, Rz. 35 f., PersV 2011, 114 ff. 294 BVerwG v. 3.6.2011 – 6 PB 1.11, Rz. 5 f., PersR 2011, 390 f. 295 BVerwG v. 8.7.2008 – 6 P 14.07, Rz. 19 f., PersV 2009, 105 ff. 296 KR/Weigand/Rinck, § 78a BetrVG Rz. 60 mwN. 297 Korinth, Einstweiliger Rechtsschutz im Arbeitsgerichtsverfahren, 4. Aufl. 2019, I Rz. 180 ff. 298 GK-BetrVG/Oetker, § 78a BetrVG Rz. 125 ff.; aA Richardi/Thüsing, § 78a BetrVG Rz. 48. 299 BVerwG v. 17.5.2000 – 6 P 9.99, AP Nr. 15 zu § 9 BPersVG, 1,33-fache der vollen Notenstufe; v. 26.11.2009 – 6 PB 32.09, Rz. 6; aA Leistungsvergleich ist mit der gesetzlichen Regelung nicht in Einklang zu bringen und verfassungsrechtlich nicht geboten Künzl/Schindler, ZTR 2010, 625 (628 f.). 300 BVerwG v. 24.5.2012 – 6 PB 5.12, PersV 2012, 422 f. 301 BVerwG v. 1.11.2005 – 6 P 3.05, NZA-RR 2006, 218 (219); zu weiteren Fallgestaltungen vgl. RDW/Treber, § 9 Rz. 66 f. 302 BVerwG v. 4.6.2009 – 6 PB 6.09, Rz. 12.

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963

26.80

§ 26 Rz. 26.80

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

beitsplatz zur Verfügung steht, entscheidet der Haushaltsgesetzgeber. In einer Gemeinde ist dies die kommunale Vertretungskörperschaft. Sofern der Arbeitgeber im Zeitpunkt des Ausbildungsendes lediglich über eine im Haushaltsplan als Beamtenstelle ausgewiesene Stelle verfügt und diese haushaltsrechtlich nur vorübergehend mit einem Arbeitnehmer besetzt werden darf, existiert kein Dauerarbeitsplatz für den Jugendvertreter303. Auch wenn im Haushaltsplan freie Stellen ausgewiesen sind, aber der Haushaltsgesetzgeber oder die Verwaltung aufgrund klarer Regelungen des Haushaltsgesetzgebers einen generellen Einstellungsstopp verfügt, begründet dies die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung304. Für die Frage der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit wird auf die Dienststelle abgestellt305. Das BVerwG weicht von dieser Rechtsprechung allerdings für Mitglieder der Stufenvertretung unter dem Gesichtspunkt der Ämterkontinuität ab. Denn das Amt wird dienststellenübergreifend ausgeübt. Es ist auf den Bereich abzustellen, für den die entsprechende Vertretung zuständig ist306. Der öffentliche Arbeitgeber ist gehalten, den Jugend- und Auszubildendenvertreter auch zu unterwertigen Bedingungen weiterzubeschäftigen, sofern dieser sich hiermit einverstanden erklärt. Der Jugend- und Auszubildendenvertreter muss diese Weiterbeschäftigung hinreichend konkret beschreiben307. gg) Verbot der Behinderung der Personalratsarbeit

26.80a § 8 BPersVG sieht vor, dass Personen, die Aufgaben oder Befugnisse nach dem Gesetz wahrnehmen, hierin nicht behindert werden dürfen. Diese Vorschrift soll die Funktionsfähigkeit der personalvertretungsrechtlichen Institutionen sichern308. Anders als bei § 78 BetrVG ist der Personenkreis im Gesetz nicht benannt. Die Norm ist zwingend und gilt gegenüber jedermann, dh. gegenüber auch der Personalvertretung selber oder Gewerkschaften309. Die Behinderung kann in einem positiven Tun oder einem Unterlassen bestehen. Geschützt ist die ordnungsgemäße Betätigung. Unzulässige Maßnahmen des Personalrates kann die Dienststelle ohne Verstoß unterbinden310. hh) Benachteiligungs- und Begünstigungsverbot

26.80b Daneben enthält § 8 BPersVG auch ein Benachteiligungs- und Begünstigungsverbot. Geschützt werden soll die innere und äußere Unabhängigkeit der geschützten Personen und damit die Funktionsfähigkeit der Personalvertretung311. Personalratsmitglieder dürfen nicht schlechter behandelt werden als vergleichbare Beschäftigte ohne Personalratsamt. Das objektive Vorliegen der Benachteiligung ist ausreichend. Eine Benachteiligungsabsicht ist nicht erforderlich312. Entsprechendes gilt auch bei Begünstigungen. Im Gegensatz zur Vorschrift des § 78 BetrVG ist ein Verstoß gegen § 8 BPersVG nicht strafbewehrt.

303 BVerwG v. 8.7.2013 – 6 PB 11.13, ZTR 2013, 696 (697); Sasse, ArbRB 2014, 79. 304 BVerwG v. 9.3.2017 – 5 P 5.15, PersV 2017, 298 (300 f.) Rz. 18 f. 305 BVerwG v. 1.11.2005 – 6 P 3.05, NZA-RR 2006, 218 (219 ff.); v. 9.3.2017 – 5 P 5.15, PersV 2017, 298 (300), Rz. 18. 306 BVerwG v. 19.1.2009 – 6 P 1.08, NZA-RR 2009, 228 (230 ff.); Sasse, ArbRB 2012, 30 (31 f.). 307 BVerwG v. 18.1.2012 – 6 PB 21.11, PersV 2012, 235 f. 308 Altvater, § 8 BPersVG Rz. 1. 309 Altvater, § 8 BPersVG Rz. 6; RDW/Treber, § 8 Rz. 11. 310 OVG Berlin-Brandenburg v. 9.2.2012 – OVG 60 PV 7.11. zum Falle einer unzulässigen Fragebogenaktion. 311 RDW/Treber, § 8 Rz. 18. 312 BVerwG v. 1.2.2010 – 6 PB 36.09, NVwZ-RR 407 (408 f.).

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Sasse

Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit

Rz. 26.82 § 26

ii) Ausschluss aus dem Personalrat bzw. Auflösung des Personalrates Personalratsmitglieder können gemäß § 28 Abs. 1 BPersVG wegen grober Vernachlässigung der gesetzlichen Befugnisse oder wegen grober Verletzung ihrer gesetzlichen Pflichten aus dem Personalrat durch gerichtliche Entscheidung ausgeschlossen werden. Der Verstoß gegen die gesetzlichen Pflichten muss von einem solchen Gewicht sein, dass er das Vertrauen in die künftige Amtsführung zerstört oder zumindest schwer erschüttert313. Die verletzten Pflichten müssen amtsbezogen sein, die Verletzung von Pflichten aus dem beamtenrechtlichen Dienstverhältnis oder aus dem Arbeitsverhältnis ist nicht ausreichend314. Nach hM muss ein Verschulden des Personalratsmitgliedes hinzukommen315. Streitig ist, ob die Pflichtverletzung in der laufenden Wahlperiode begangen sein muss316. Antragsbefugt sind ein Viertel der Wahlberechtigten, eine in der Dienststelle vertretene Gewerkschaft oder der Personalrat. Der Leiter der Dienststelle kann den Ausschluss eines Mitglieds nur wegen der groben Verletzung der gesetzlichen Pflichten, nicht aber wegen der Vernachlässigung der gesetzlichen Befugnisse beantragen.

26.80c

Daneben kommt auch die Auflösung des Personalrats aus den gleichen Gründen in Betracht. Die Pflichtverletzung muss in einem Verhalten des Personalrats und nicht nur einzelner Mitglieder bestehen317. Anders als im Fall des Ausschlusses eines einzelnen Mitgliedes bedarf es keines Verschuldens318. Ansonsten gilt das für den Ausschluss eines einzelnen Mitgliedes Gesagte.

26.80d

III. Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit Dienststelle und Personalvertretung arbeiten gemäß § 2 Abs. 1 BPersVG unter Beachtung der 26.81 Gesetze und Tarifverträge vertrauensvoll und im Zusammenwirken mit den in der Dienststelle vertretenen Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen zum Wohle der Beschäftigten und zur Erfüllung der der Dienststelle obliegenden Aufgaben zusammen. Dieser Grundsatz wird durch die Verpflichtung zur Monatsbesprechung (§ 66 Abs. 1 BPersVG), die personalvertretungsrechtliche Friedenspflicht (§ 66 Abs. 2 BPersVG) und das Verbot parteipolitischer Betätigung in der Dienststelle (§ 67 Abs. 1 Satz 3 BPersV) flankiert. Der Grundsatz vertrauensvoller Zusammenarbeit stellt die „magna charta“ des Personalvertretungsrechtes dar319. Bei diesem Grundsatz handelt es sich nicht um eine allgemeine Leitlinie, sondern um unmittelbar geltendes Recht. Der genaue Inhalt ist gesetzlich nicht definiert und wird auch in Schrifttum und Rechtsprechung nicht mehr detaillierter bestimmt320. 313 BVerwG v. 14.4.2004 – 6 PB 1.04, NZA-RR 2004, 448; Beispiele s. bei Altvater, § 28 BPersVG Rz. 10c ff. 314 RDW/Schwarze, § 28 Rz. 11. 315 Altvater, § 28 BPersVG Rz. 10. 316 Bejahend für das BetrVG BAG v. 27.7.2016 – 7 ABR 14/15, NZA 2017, 136 ff., diesem folgend Altvater, § 28 BPersVG Rz. 10b; a.A. und sehr kritisch zur Rechtsprechung des BAG Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 28 BPersVG Rz. 21. 317 RDW/Schwarze, § 28 Rz. 53. 318 Altvater, § 28 BPersVG Rz. 10a. 319 Hahn, PersV 1992, 559; Ruppert, PersV 1998, 89 (90); Edenfeld, PersV 2012, 204; Steiner, PersV 2012, 412 (413); kritisch zu dieser Formulierung Vogelgesang, PersV 2013, 44 (45) „überhöht“. 320 Vogelgesang, PersV 2013, 44 (45).

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965

26.82

§ 26 Rz. 26.82

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

Es handelt sich um eine Generalklausel, die das Verhältnis zwischen Dienststelle und Personalvertretung regelt321. Sie findet keine Anwendung auf das Verhältnis der Personalratsmitglieder oder der Beschäftigten untereinander322. Aus der Generalklausel können keine gesetzlich nicht vorgesehenen Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte abgeleitet werden323, vielmehr hat sie vor allem als Auslegungsregel Bedeutung324. Daraus folgt auch, dass eine isolierte Feststellung eines Verstoßes gegen den Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit nicht möglich ist. Eine derartige Feststellung kann nur im Rahmen eines Verfahrens betreffend eine dem Personalrat eingeräumte Befugnis getroffen werden325. Dienststellenleitung und Personalrat stehen sich dabei als gleichberechtigte Partner gegenüber. Das Gesetz will keine einseitige Interessenvertretung, sondern unterstreicht mit dem Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit die Gemeinsamkeit der Aufgaben326. Dies schließt aber nicht aus, dass es trotz einer auf Kooperation ausgelegten Konzeption zu prononcierten Auseinandersetzungen kommt, bei denen eine ansonsten zwischen Vorgesetzten und Untergebenen unübliche Sprachweise verwendet wird327. Eine kämpferische Interessenwahrnehmung ist aber ausgeschlossen328.

26.83 Die Personalvertretungen arbeiten mit der Dienststelle unter Beachtung der Gesetze und Tarifverträge vertrauensvoll zusammen. Gesetze im Sinne dieser Vorschrift sind alle geltenden Rechtsvorschriften, also Gesetze im materiellen Sinne. Hierzu gehören das Grundgesetz, Gesetze im formellen Sinne, Rechtsverordnungen, öffentlich-rechtliche Satzungen, das Verwaltungsgewohnheitsrecht, das arbeitsrechtliche Gewohnheitsrecht sowie das unmittelbar anzuwendende Recht der EU. Ferner fallen hierunter allgemeinverbindliche Entscheidungen des BVerfG329. Die Hervorhebung der Gesetze erfolgt, weil das Beamtenverhältnis nicht durch Tarifvertrag, sondern durch Gesetze und Rechtsverordnungen gestaltet wird330.

26.84 Ziele der Zusammenarbeit zwischen Dienststellenleiter und Personalvertretung sind das Wohl der Beschäftigten und die Erfüllung der der Dienststelle obliegenden Aufgaben. Die Ziele stehen gleichrangig nebeneinander331. Auch aus der Entscheidung des BVerfG vom 24.5.1995332 ergibt sich keine abweichende Bewertung333. Dienststellenleitung und Personal321 Flintrop/Leuze, PersV 2007, 269 (271); Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 2 BPersVG Rz. 2. 322 BVerwG v. 11.1.2006 – 6 PB 17.05, NZA-RR 2006, 390 Rz. 6. 323 BVerwG v. 18.8.2003 – 6 P 6.03, PersR 2003, 498 (499); Edenfeld, Arbeitnehmerbeteiligung, S. 204; Flintrop/Leuze, PersV 2007, 269 (271). 324 Edenfeld, PersV 2012, 204 (205); aA der Grundsatz kann unmittelbare Rechte und Pflichten begründen Steiner, PersV 2012, 412 (413). 325 OVG Nordrhein-Westfalen v. 29.11.2000 – 1 A 4383.98.PVL, NZA-RR 2001, 447 (448); Ilbertz/ Widmaier/Sommer, § 2 BPersVG Rz. 52; aA Altvater, § 2 BPersVG Rz. 54a. 326 BVerwG v. 8.9.2012 – 6 PB 8.12 Rz. 4, NZA-RR 2013, 53 f. 327 BVerwG v. 19.9.1984 – 1 D 38.84, NJW 1985, 1721; kritisch Leutze, PersV 1988, 55 (57), Vogelgesang, PersV 2013, 44, 45, die hinterfragen, warum die Partner des Personalvertretungsrechts sich einer anderen Umgangssprache bedienen dürfen als dies zwischen den Beschäftigten oder zwischen Vorgesetztem und Untergebenen üblich ist. 328 Steiner, PersV 2012, 412 (414). 329 Altvater, § 2 BPersVG Rz. 15. 330 RDW/Richardi, § 2 Rz. 24. 331 BVerwG v. 25.6.1984 – 6 P 2.83, NVwZ 1984, 796; aA RDW/Richardi, § 2 Rz. 14, das Eintreten für die Interessen der Belegschaft hat in Unterordnung unter die Erfüllung der der Dienststelle obliegenden Aufgaben zu erfolgen; wiederum aA Jordan, PersR 2004, 8, wegen der Reihenfolge der Nennung haben die Interessen der Beschäftigten Vorrang. 332 BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, NVwZ 1996, 574 ff. 333 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 2 BPersVG Rz. 13; möglicherweise aA Flintrop/Leuze, PersV 2007, 269, Anerkennung des absoluten Vorrangs der Erfüllung des Amtsauftrages vor Personalmit-

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Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit

Rz. 26.86 § 26

vertretung haben insoweit das geltende allgemeine Verhaltensgebot zu beachten und sollen sich einvernehmlich für die Lösung von Streitfragen einsetzen und gegenseitig ihre gesetzlichen Aufgabenbereiche respektieren. Der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit ist nicht nur bei der Auslegung der im Personalvertretungsrecht konkret normierten Verhaltensvorschriften und Beteiligungsbefugnisse zu beachten, sondern er enthält ein allgemeines Verhaltensgebot für den Dienststellenleiter und den Personalrat334. Insbesondere soll die Zusammenarbeit durch gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Offenheit gekennzeichnet sein335. Wesentliches Kriterium der vertrauensvollen Zusammenarbeit ist, dass Dienststellenleiter und Personalrat verpflichtet sind, die wechselseitigen Kompetenzen zu beachten. § 2 Abs. 1 BPersVG sieht ein Zusammenwirken mit den in der Dienststelle vertretenen Ge- 26.85 werkschaften und Arbeitgebervereinigungen vor. Gewerkschaften sind in der Dienststelle bereits dann vertreten, wenn sie einen Beschäftigten zu ihren Mitgliedern zählen. Unerheblich ist es, ob dieser wahlberechtigt ist oder nicht. Einzig muss er zu den Beschäftigten gehören, die durch den Personalrat repräsentiert werden336. Die Organisationen haben beratende Funktionen gegenüber beiden Partnern, dh. der Dienststelle und der Personalvertretung. § 2 Abs. 1 BPersVG sieht kein eigenständiges Recht der Organisationen vor, sich in die Zusammenarbeit einzuschalten. Deshalb ist die Initiative hierzu dem Dienststellenleiter oder der Personalvertretung überlassen337. Da die Organisationen keine Organe der Personalvertretung sind, steht den Gewerkschaften auch kein allgemeines Kontrollrecht über die Tätigkeit der Personalvertretung zu338. Für beide Organisationen gilt das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Folge, dass Personalvertretung und Dienststelle nicht in die verbandspolitischen Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen hereingezogen werden dürfen339. Eine Gewerkschaft iSd. Arbeitsrechts ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG eine auf 26.86 freiwilliger Basis errichtete privatrechtliche Vereinigung von Arbeitnehmern, die als satzungsmäßige Aufgabe den Zweck der Wahrnehmung und Förderung jedenfalls auch der wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder verfolgt. Sie ist gegnerfrei, in ihrer Willensbildung strukturell unabhängig von Einflüssen Dritter und auf überbetrieblicher Grundlage organisiert. Sie ist tariffähig, dh., sie besitzt die rechtliche Fähigkeit, die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder tarifvertraglich mit normativer Wirkung zu regeln340. Dieser Rechtsprechung folgt auch das BVerwG341. Jedoch gilt als Besonderheit im Personalvertretungsrecht, dass als Bedienstete nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Beamte beschäftigt werden. Somit sind aus Gründen der Gleichbehandlung der Vereinigung von Beamten dieselben Rechte zuzugestehen

334 335 336 337 338 339 340 341

bestimmung durch die Entscheidung des BVerfG. Diese weisen gleichzeitig aber auch darauf hin, dass durch den Beschluss der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit und insbesondere auch Informationsrechte an Bedeutung gewinnen (S. 270 und passim). BVerwG v. 9.3.1990 – 6 P 15.88, NJW 1990, 2483 (2484); StGH Hessen v. 8.11.2006 – P.St. 1981, NVwZ-RR 2007, 217 (220 f.); Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 2 BPersVG Rz. 6 mwN der Rspr. Zur Rspr. (zum BetrVG) s. auch Hunold, NZA-RR 2003, 169 ff. BVerwG v. 26.2.1960 – VII P 4.59, NJW 1960, 1219 (1220); v. 29.8.1990 – 6 P 30.87, PersV 1991, 78 f.; aus tatsächlicher Sicht – und auch zu den Problemen in der Zusammenarbeit – s. Hampe, DB 2010, 1996 f. RDW/Richardi, § 2 Rz. 30 f.; Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 2 BPersVG Rz. 10. Altvater, § 2 BPersVG Rz. 30. Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 2 BPersVG Rz. 11. Hahn, PersV 1992, 369 (370). St. Rspr. des BAG, vgl. BAG v. 19.9.2006 – 1 ABR 53/05, NZA 2007, 518 (520) Rz. 27 ff. BVerwG v. 25.7.2006 – 6 P 17.05, NZA 2006, 1371 (1373) Rz. 18.

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§ 26 Rz. 26.86

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

wie denjenigen von Arbeitnehmern. Deshalb kann es nicht auf die Tariffähigkeit ankommen, weil die Arbeitsbedingungen von Beamten durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden342. Bei einer Beamtengewerkschaft, die auch für Arbeitnehmer offen ist, scheitert die Einstufung als Gewerkschaft nicht daran, dass diese im Hinblick auf die Arbeitnehmer noch nicht tariffähig ist, also noch nicht die entsprechende Durchsetzungskraft besitzt343. Das BVerwG hat darüber hinaus erwogen, den personalvertretungsrechtlichen Gewerkschaftsbegriff dahingehend zu modifizieren, dass auch solche Vereinigungen von Arbeitnehmern und Beamten als Gewerkschaften anerkannt werden, denen nicht die „externe“ Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem öffentlichen Arbeitgeber bzw. Dienstherren zukommt, die aber immerhin in den Dienststellen über einen beachtlichen Rückhalt unter den Beschäftigten verfügen. Hier soll zB auf den Mitgliederbestand oder eine nennenswerte Anzahl von Dienststellen, in denen Personalratsmandate gewonnen wurden, abgestellt werden. Diese Frage wurde durch das BVerwG aber nicht endgültig entschieden344.

26.87 Arbeitgebervereinigungen sind Zusammenschlüsse auf freiwilliger Grundlage, welche unabhängig sein müssen, dh., es dürfen ihnen keine Beschäftigten angehören. Sie sind auf überbetrieblicher Grundlage zu errichten345.

26.88 Gemäß § 2 Abs. 2 BPersVG wird den Gewerkschaften ein Zugangsrecht zur Dienststelle eingeräumt. Dienststellenleiter oder Vertreter sind nach vorheriger Unterrichtung verpflichtet, Zugang zur Dienststelle zu gewähren, soweit dem nicht unumgängliche Notwendigkeiten des Dienstablaufes, zwingende Sicherheitsvorschriften oder der Schutz von Dienstgeheimnissen entgegenstehen. Dieses Zugangsrecht steht den Beauftragten der Gewerkschaften nur zur Wahrnehmung der in dem Gesetz genannten Aufgabe und Befugnisse zu. Dh., es besteht kein allgemeines, an keine weiteren Voraussetzungen geknüpftes Zugangsrecht zur Dienststelle oder zu den einzelnen Beschäftigten. Das Zugangsrecht umfasst auch den Zugang zum Arbeitsplatz des einzelnen Arbeitnehmers, sofern sich die Notwendigkeit hierzu aus der zugrunde liegenden Aufgabe ergibt, zB Ausübung von Überwachungsmaßnahmen346. Dagegen besteht kein Zugangsrecht, um mit Arbeitnehmern Fragen von geltenden Tarifverträgen zu besprechen oder Material für den Abschluss eines neuen Tarifvertrages zu sammeln347. Jedoch besteht grundsätzlich ein Zutrittsrecht während der Pausenzeiten zum Zwecke der Mitgliederwerbung348. Die Gewerkschaften sind darin frei, die Personen auszuwählen, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben in die Dienststelle senden wollen. Es braucht sich hierbei nicht um einen in der Dienststelle Beschäftigten zu handeln. Hierbei kann sich eine Gewerkschaft auch durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen349. Die vorherige Unterrichtung hat so rechtzeitig durch die Gewerkschaft zu erfolgen, dass der Dienststellenleiter oder sein Stellvertreter prüfen können, ob das behauptete Recht besteht350. 342 BVerwG v. 25.7.2006 – 6 P 17.05, NZA 2006, 1371 (1373) Rz. 20. 343 BVerwG v. 25.7.2006 – 6 P 17.05, NZA 2006, 1371 (1373) Rz. 21; aA Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 2 BPersVG Rz. 42. 344 BVerwG v. 25.7.2006 – 6 P 17.05, NZA 2006, 1371 (1373) Rz. 22; im zu entscheidenden Fall war aber selbst bei einer derartigen weiten Auslegung von einer Gewerkschaft nicht auszugehen (aaO, Rz. 31); ablehnend zu diesen Erwägungen Altvater, § 2 BPersVG Rz. 23a. 345 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 2 BPersVG Rz. 44. 346 BAG v. 17.1.1989 – 1 AZR 805/87, AP LPVG NW § 2 Nr. 1. 347 RDW/Richardi, § 2 Rz. 85. 348 BAG v. 28.2.2006 – 1 AZR 460/04, NZA 2006, 798 ff.; v. 22.6.2010 – 1 AZR 179/09 Rz. 28 ff., NZA 2010, 1365 ff. 349 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 2 BPersVG Rz. 24. 350 Kunze, PersV 2008, 284 (286 f.).

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Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit

Rz. 26.92 § 26

26.89

Folgende Aufgaben und Befugnisse der Gewerkschaften sind im BPersVG vorgesehen: – Zusammenwirken mit Dienststelle und Personalvertretung (§ 2 Abs. 1), – Einreichen von Wahlvorschlägen für die PR-Wahl (§ 19 Abs. 4 Satz 1, Abs. 8 und 9), – Antrag auf Einberufung einer Personalversammlung zur Wahl des Wahlvorstandes (§ 20 Abs. 2, § 21) und Antrag auf Bestellung des Wahlvorstandes durch den Dienststellenleiter (§ 22), – Teilnahme an Sitzungen des Wahlvorstandes (§ 20 Abs. 1 Satz 4), – Anfechtung der PR-Wahl (§ 25), – Antrag auf Ausschluss einzelner PR-Mitglieder oder auf Auflösung des PR (§ 28 Abs. 1), – Teilnahme an PR-Sitzungen (§ 36), – Hilfe bei der Verständigung nach Aussetzung eines PR-Beschlusses (§ 39 Abs. 1), – Antrag auf Einberufung einer Personalversammlung (§ 49 Abs. 3), – Teilnahme an einer Personalversammlung (§ 52 Abs. 1). Die Regelung der Befugnisse im Personalvertretungsrecht ist abschließend und kann auch nicht im Wege der Analogie erweitert werden351. Im Hinblick auf §§ 36 und 39 BPersVG gilt, dass die Gewerkschaften hier nicht nur in der Dienststelle, sondern auch im Personalrat vertreten sein müssen352.

26.90

Sofern die Aufgaben der Gewerkschaft auch durch Nutzung moderner Kommunikationsmittel erfüllt werden können, kommt auch die Nutzung anderweitiger Kommunikationsstrukturen in Betracht. Diese müssen geeignet, erforderlich und angemessen sein. Hierzu gehören zB die Nutzung des Internets oder dienstlicher E-Mail-Accounts353. Es wird hierbei zu berücksichtigen sein, ob das jeweilige Recht durch diese Form des „Betretens“ wahrgenommen werden kann, zB Informationsgewinnung bei Bediensteten mittels E-Mail. Auch wird die technische Fortentwicklung moderner Kommunikationsmittel zu berücksichtigen sein.

26.91

§ 2 Abs. 3 BPersVG sieht vor, dass Aufgaben der Gewerkschaften und der Vereinigung der Arbeitgeber, insbesondere die Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder, durch das Gesetz nicht berührt werden. Die koalitionspolitischen Aufgaben der Gewerkschaften und der Vereinigungen der Arbeitgeber sind bereits durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet. Dabei gilt, dass die koalitionsmäßige Betätigung nicht auf einen Kernbereich beschränkt ist, also nur auf das, was unerlässlich für den Koalitionszweck ist354. Diese Erwägungen haben insbesondere im Zusammenhang mit der Frage des sog. koalitionsrechtlichen Zugangsrechts zur Dienststelle zum

26.92

351 BVerwG v. 16.12.2010 – 6 PB 18.10 Rz. 4, PersV 2011, 136 f. 352 Altvater, § 36 BPersVG Rz. 3. 353 BAG v. 20.1.2009 – 1 AZR 515/08, NJW 2009, 1990 ff.; HWK/Gaul, § 2 BetrVG Rz. 14; DKK/ Berg, § 2 Rz. 125 ff.; Knorz, PersV 2013, 96 (100); aA Gola, MMR 2005, 17 (20); Maschmann, NZA 2008, 613 (615). 354 BVerwG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, NJW 1996, 1201 (1202); ErfK/Linsenmeier, Art. 9 GG Rz. 31.

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969

§ 26 Rz. 26.92

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

Zwecke der Mitgliederwerbung Relevanz355. Grundsätzlich erfolgt der Zugang durch Betreten des Betriebes. Jedoch kommt auch die Nutzung elektronischer Medien in Betracht. Hier sind die Grundsätze, zB über die Plakatwerbung, wonach ein wildes Plakatieren unzulässig ist, entsprechend anzuwenden356. Zu beachten ist auch, dass Beschäftigte, welche Aufgaben nach dem Personalvertretungsrecht wahrnehmen, hierdurch in ihrem Recht zur Betätigung für ihre Gewerkschaft auch in der Dienststelle nicht beschränkt werden (§ 67 Absatz 2 BPersVG). Diese müssen sich bei der Wahrnehmung von Aufgaben für ihre Gewerkschaft allerdings so verhalten, dass das Vertrauen der Beschäftigten in die Objektivität und Neutralität ihrer Amtsführung nicht beeinträchtigt wird357.

IV. Art der Beteiligung 26.93 Die Vorschriften des BPersVG sind häufig verwirrend und teilweise im Aufbau unlogisch. Komplizierte Verfahrensregelungen und -abläufe zwingen die Behördenleitung, auf informelle Verfahren auszuweichen358. Diese Vorschriften werden noch komplizierter durch die Entscheidung des BVerfG vom 24.5.1995 (s. Rz. 26.8), denn der Gesetzgeber hat bisher zur verfassungskonformen Auslegung der vollen Mitbestimmung keine Konsequenzen gezogen. Dies löst das BVerwG mit einem Rückgriff auf den Begriff der „planwidrigen Lücke“ (s. Rz. 26.2 ff.)359. Insgesamt ist im Hinblick auf den Aufbau der Vorschriften festzustellen, dass das Augenmerk weniger den Sachfragen als dem verfahrenstechnischen Aufbau gilt360. Die Aufzählung der Mitbestimmungsfälle im BPersVG ist – anders als im BetrVG361 – erschöpfend und zwingend, eine Ausweitung aufgrund des Grundsatzes der vertrauensvollen Zusammenarbeit oder durch Dienstvereinbarung kommt nicht in Betracht362. 1. Mitbestimmung

26.94 Die Verfahrensregelungen zum Mitbestimmungsrecht finden sich in den §§ 69 bis 71 BPersVG. a) Volles Mitbestimmungsrecht

26.95 Im Falle des vollen Mitbestimmungsrechts ist die Dienststelle inhaltlich an die Zustimmung des Personalrates gebunden. Diese muss vorliegen, bevor eine mitbestimmungspflichtige Maßnahme vorgenommen wird363. Sofern sich eine Einigung nicht ergibt und auch auf der 355 BAG v. 28.2.2006 – 1 AZR 460/04, NZA 2006, 798 (801), Rz. 37 ff.; aA RDW/Richardi, § 2 Rz. 103. 356 RDW/Richardi, § 2 Rz. 108; Maschmann, NZA 2008, 613 (615 f.); krit. Lelley, BB 2002, 252 ff., der insbesondere darauf abstellen will, ob die Nutzung des Internets oder Intranets tatsächlich unerlässlich ist. 357 Ausführlich Knorz, PersV 2013, 96 ff. 358 Edenfeld, Arbeitnehmerbeteiligung, S. 108 f. 359 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 69 BPersVG Rz. 1. 360 Edenfeld, Arbeitnehmerbeteiligung, S. 105. 361 Ausweitung durch freiwillige Betriebsvereinbarung oder Regelungsabrede vgl. BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 744/00, NZA 2002, 342 (344 f.). 362 BVerwG v. 6.12.1978 – 6 P 2.78, BVerwGE 57, 151 (156). 363 BVerwG v. 15.11.1995 – 6 P 2.94, PersV 1996, 453 (456).

970

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Art der Beteiligung

Rz. 26.99 § 26

Ebene der übergeordneten Dienststelle und der Stufenvertretung scheitert, entscheidet die Einigungsstelle gemäß § 69 Abs. 4 Halbs. 1 BPersVG. Mitbestimmungspflichtig sind gemäß § 69 Abs. 1 BPersVG Maßnahmen der Dienststelle, dh. Handlungen oder Entscheidungen des Dienststellenleiters, die einen der gesetzlich vorgesehenen Mitbestimmungstatbestände betreffen und den Rechtsstand des oder der Beschäftigten berühren364. Handlungen, die lediglich der Vorbereitung einer Maßnahme dienen, zB Vorstellungsgespräche, sind nicht mitbestimmungspflichtig365. Auch negative Entscheidungen, die nicht auf eine Veränderung eines bestehenden Zustandes abzielen, sind – mit Ausnahme der gesetzlich benannten Beispiele (zB § 75 Abs. 1 Nr. 7 oder § 76 Abs. 1 Nr. 8 BPersVG) – nicht mitbestimmungspflichtig366. Auch ein Unterlassen stellt keine Maßnahme dar367. Ebenso sind lediglich normvollziehende Entscheidungen Maßnahmen in diesem Sinne, selbst wenn die Dienststelle keinen Entscheidungsspielraum besitzt368. Auch wenn das Handeln der Dienststelle ganz oder teilweise von internen Weisungen der übergeordneten weisungsbefugten Dienststelle bestimmt wird, liegt eine mitbestimmungspflichtige Maßnahme vor, sofern der Dienststellenleiter im vorgegebenen Rahmen zu einer eigenen Entscheidung in der Lage ist369. Dies gilt sogar dann, wenn die übergeordnete Dienststelle eine strikte Weisung erteilt, die keinen Handlungsspielraum lässt370.

26.96

Das Mitbestimmungsverfahren wird nach Abschluss des internen Willensbildungsprozesses der Dienststelle eingeleitet. Der Personalrat hat keinen Anspruch darauf, an vorbereitenden Handlungen und der internen Willensbildung beteiligt zu werden371. Allerdings kann es sinnvoll sein, den Personalrat schon im Rahmen der Vorbereitung der Maßnahme einzubeziehen372, da dies die Akzeptanz erhöhen kann.

26.97

Die Unterrichtung hat rechtzeitig und umfassend und unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen zu erfolgen (§ 68 Abs. 2 BPersVG). Rechtzeitig ist die Information, wenn die Personalvertretung die Möglichkeit hat, sich mit der Angelegenheit auseinander zu setzen. Sie muss in der Lage sein, die Angelegenheit rechtlich und tatsächlich zu überdenken. Auch darf sie nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden373. Bei Beteiligung einer anderen Behörde muss die Information des Personalrates vor Unterrichtung der anderen Behörde erfolgen374.

26.98

Umfassende Information bedeutet, dass die Personalvertretung so umfassend informiert wird, dass sie die ihr obliegenden Aufgaben erfüllen und ihre Beteiligungsrechte jederzeit und uneingeschränkt sachgerecht wahrnehmen kann375. Allerdings knüpft die entsprechen-

26.99

364 St. Rspr.; BVerwG v. 18.5.2004 – 6 P 13.03, NZA-RR 2005, 163 (164). 365 BVerwG v. 6.12.1978 – 6 P 2.78, BVerwGE 57, 151 (154 ff.); v. 8.10.2008 – 6 PB 21.08, NVwZ 2009, 252, Rz. 10 f. – auch klarstellend, dass die Vorbereitungshandlung einer anderen Dienststelle nur ausnahmsweise im Falle rechtlicher Verbindlichkeit eine Maßnahme im personalvertretungsrechtlichen Sinne darstellt. 366 BVerwG v. 1.7.1983 – 6 P 8.81, PersV 1985, 68 f. 367 BVerwG v. 9.9.2010 – 6 PB 12.10, Rz. 5, PersR 2010, 459 f. 368 BVerwG v. 12.8.2002 – 6 P 17.01, NZA-RR 2003, 276 (277). 369 BVerwG v. 10.3.1992 – 6 P 13.91, AP Nr. 4 zu § 76 BPersVG. 370 BVerwG v. 30.3.2009 – 6 PB 29.08 Rz. 10. 371 BVerwG v. 18.3.2008 – 6 PB 19.07, NZA-RR 2008, 447 Rz. 5 mwN. 372 Altvater, § 69 BPersVG Rz. 13. 373 RDW/Gräfl, § 68 Rz. 59. 374 BVerwG v. 26.1.1994 – 6 P 21.92, NVwZ 1995, 91 (93). 375 St. Rspr., BVerwG v. 24.2.2006 – 6 P 4.05 Rz. 17 mwN.

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§ 26 Rz. 26.99

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

de Pflicht zur Information und Vorlage von Unterlagen an das Bestehen einer gesetzlichen Aufgabe an. Die Unterrichtung hat mit Bezug zu dieser Aufgabe zu erfolgen376. Dies kann auch die allgemeine Überwachungsaufgabe des Personalrates sein (§ 68 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG)377. Hinsichtlich des Umfangs der Unterrichtung kommt es darauf an, was eine „objektive Personalvertretung“ für erforderlich erachten durfte. Es ist ein annähernd gleicher Informationsstand wie bei der Dienststelle herzustellen378.

26.100 Diese Erwägungen gelten auch für die Vorlage von Unterlagen379. Keinen Anspruch hat der Personalrat auf die Gewährung eines online-Zugangs zB zu den Arbeitszeitkonten der Beschäftigten380. Das BVerwG lehnt den lesenden Zugriff ab, weil hierdurch ein Zugriff auf die Datei mit den Namen der Beschäftigten ermöglicht wurde. Das Gericht ging davon aus, dass dem Personalrat im Rahmen seiner Aufgabenwahrnehmung zunächst nur ein Anspruch auf die Zurverfügungstellung anonymisierter Listen der Zeiterfassung zusteht. Daneben wird argumentiert, dass ein solcher Zugriff über die Zurverfügungstellung von Unterlagen hinausgehen würde. Es nimmt dem Dienstherren das Vorprüfungsrecht hinsichtlich der vorzulegenden Unterlagen381. Die Verpflichtung der Dienststelle bezieht sich auf vorhandene oder jederzeit erstellbare Unterlagen. Der Personalrat hat keinen Anspruch auf die Erstellung von Unterlagen nur für ihn382. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Personalrat Anspruch auf die Übermittlung der Unterlagen hat, welche der Dienststelle zur Verfügung standen. Denn diese hat durch die Beiziehung selber deutlich gemacht, dass sie die Unterlagen für bedeutsam hält383. § 68 Abs. 2 BPersVG spricht davon, dass die Unterlagen vorzulegen sind. Dies kann von der vorübergehenden Einsichtnahme bis hin zur dauerhaften Aushändigung abhängig von der in Rede stehenden Aufgabe reichen384. Personalakten dürfen gemäß § 68 Abs. 2 Satz 3 BPersVG nur mit Zustimmung der Beschäftigten und nur von den von ihnen bestimmten Personalratsmitgliedern eingesehen werden. Damit kommt eine Überlassung der Personalakten nicht in Betracht. Zu den Unterlagen, die nach der Rechtsprechung vorgelegt werden müssen, gehören zB: – Stellenplan und Personalbedarfsberechnung385 – Lohn- und Gehaltslisten386

376 BVerwG v. 21.9.1984 – 6 P 24.83, NJW 1985, 2485; v. 26.1.1994 – 6 P 21.92, NVwZ 1995, 91 (92); so hat zB das OVG Berlin-Brandenburg (v. 17.3.2011 – 60 PV 3.10, NZA-RR 2012, 55 f.) eine Auskunft über Anordnungen zur Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen gem. § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG mangels kollektivem Bezug abgelehnt. 377 BVerwG v. 19.12.2018 – 5 P 6.17 Rz. 21 ff., NZA-RR 2019, 332. 378 BVerwG v. 26.1.1994 – 6 P 21.92, NVwZ 1995, 91 (92); Altvater, § 68 BPersVG Rz. 31. 379 Altvater, § 68 BPersVG Rz. 33. 380 BVerwG v. 19.3.2014 – 6 P 1.13, NZA-RR 2014, 387 (391) Rz. 34. 381 OVG Lüneburg v. 21.12.2010 – 18 LP 14/06, NVwZ-RR 2011, 448 ff.; VG Frankfurt a.M. v. 31.5.2010 – 23 K 500/10.F.P.V.; VG Arnsberg v. 24.5.2012 – 21 K 2764/10.PVB, PersV 2012, 431 (432 f.); zum BetrVG BAG v. 16.8.2011 – 1 ABR 22/10, Rz. 34 ff.; LAG München v. 3.12.2008 – 10 TaBV 67/08; aA LAG Berlin-Brandenburg v. 19.3.2009 – 20 TaBV 1022/08, welches den Anspruch aber aus einer speziellen tarifvertraglichen Regelung ableitet. 382 BVerwG v. 29.9.2004 – 6 P 4.04, NVwZ 2005, 342 (344). 383 Ilbertz/Widmaier, 11. Aufl., § 68 Rz. 36b. 384 BVerwG v. 23.1.2002 – 6 P 5.01, AP Nr. 7 zu § 68 BPersVG. 385 BVerwG v. 23.1.2002 – 6 P 5.01, AP Nr. 7 zu § 68 BPersVG. 386 BVerwG v. 22.4.1998 – 6 P 4.97, NZA-RR 1999, 274 ff.

972

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Art der Beteiligung

Rz. 26.102 § 26

– Stellenbewertungsgutachten387 – Bewerbungsunterlagen aller externen und internen Bewerber388 – wertende Zusammenfassung der Erkenntnisse über Bewerber389 – überregionale Planungsunterlagen im Zusammenhang mit der beabsichtigten Schließung einer Schule390. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerwG bilden die einschlägigen personalvertretungsgesetzlichen Anspruchsnormen die insoweit maßgeblichen bereichsspezifischen Rechtsgrundlagen iSd. Datenschutzrechts. Die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen stehen der Einsichtnahme in Unterlagen, die personenbezogene Daten der Beschäftigten enthalten, nicht entgegen, wenn die Einsichtnahme unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf den zur Aufgabenerfüllung erforderlichen Umfang begrenzt ist und die handelnden Personalratsmitglieder der Schweigepflicht unterliegen391. Für die Unterrichtung ebenso wie für den Antrag auf Zustimmung zu einer beabsichtigten Maßnahme ist gesetzlich keine besondere Form vorgesehen. Zweckmäßigerweise erfolgt dies aber schriftlich392. Hinsichtlich des Antrages auf Zustimmung durch den Dienststellenleiter oder eine zur Vertretung berechtigte Person muss sich eindeutig ergeben, dass die Unterrichtung auch den Antrag auf Zustimmung enthält, da nur so eine Frist in Gang gesetzt wird393. Der Personalrat kann über die Unterrichtung hinaus von dem Leiter der Dienststelle verlangen, dass dieser die Maßnahme begründet. Außer in Personalangelegenheiten (§§ 75 Abs. 1, 76 Abs. 1 BPersVG) hat diese Begründung schriftlich zu erfolgen.

26.101

Der Personalrat muss gemäß § 69 Abs. 2 Satz 3 BPersVG binnen zehn Arbeitstagen seinen Beschluss über die beabsichtigte Maßnahme mitteilen. Voraussetzung für den Fristlauf ist ein Zustimmungsantrag und eine ordnungsgemäße Unterrichtung. Sofern der Personalrat den Antrag oder die Unterrichtung für nicht ordnungsgemäß erachtet, muss er sich innerhalb dieser Frist darauf berufen, da er ansonsten sein Rügerecht verliert (s. Rz. 26.24). Die Frist kann durch den Dienststellenleiter in dringenden Fällen auf drei Arbeitstage abgekürzt werden (§ 69 Abs. 2 Satz 4 BPersVG). Dies wird durch den Dienststellenleiter nach pflichtgemäßem Ermessen entschieden. Die Abkürzung der Frist ist dem Personalrat gleichzeitig mit dem Zustimmungsantrag mitzuteilen. Eine Abkürzung ist nur zulässig, wenn gewichtige Gründe dies rechtfertigen und die Einhaltung der Regelfrist nach Lage der Dinge in zumutbarer Weise nicht möglich ist oder jedenfalls zu einer erheblichen Beeinträchtigung öffentlicher Belange führt. Auch das vorangegangene Verhalten des Dienststellenleiters findet Berücksichtigung. Eine unnötige Verzögerung im Vorfeld kann dazu führen, dass kein dringender Fall mehr vorliegt. Der Personalrat muss innerhalb der abgekürzten Frist der Abkürzung widersprechen, sofern er sich darauf berufen will, dass ein dringlicher Fall nicht vor-

26.102

387 Niedersächsisches OVG v. 24.2.1993 – 18 L 8484/91; OVG Sachsen-Anhalt v. 28.5.2009 – 5 M 5/09 (nv.). 388 BVerwG v. 11.2.1981 – 6 P 44.79, DÖV 1981, 632. 389 BVerwG v. 26.1.1994 – 6 P 21.92, NVwZ 1995, 91 ff. 390 BVerwG v. 24.2.2006 – 6 P 4.05 Rz. 17 ff., SächsVBl. 2007, 10 ff. 391 St. Rspr.; BVerwG v. 16.5.2012 – 6 PB 2.12 Rz. 3 mwN, PersV 2012, 385 f.; v. 19.12.2018 – 5 P 6.17, NZA-RR 2019, 332 Rz. 51 ff. auch unter Erörterung der sich aus der DSGVO ergebenden Folgen. 392 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 69 BPersVG Rz. 5. 393 VGH Baden-Württemberg v. 4.6.1991 – 15 S 3176/90, PersV 1992, 352 (353).

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§ 26 Rz. 26.102

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

liegt394. Auf eine kürzere Frist als drei Tage kann die Äußerungsfrist nicht abgekürzt werden. Dem Dienststellenleiter bleibt in besonders dringenden Fällen nur die Möglichkeit einer vorläufigen Regelung gemäß § 69 Abs. 5 BPersVG. Umstritten ist, ob die Fristen einvernehmlich verlängert werden können. Das BVerwG hat diese Frage ausdrücklich offen gelassen, geht aber davon aus, dass Absprachen darüber getroffen werden können, wie und wann das Mitbestimmungsverfahren in Gang gesetzt wird395. Im Falle der Zuständigkeit der Stufenvertretung bzw. des Gesamtpersonalrates verdoppeln sich die Fristen (§ 82 Abs. 2 Satz 2 BPersVG).

26.103 Der Personalrat kann dem Antrag ausdrücklich zustimmen. Der Beschluss über die Zustimmung kann mündlich und ohne besondere Begründung ergehen. Sofern die Zustimmung vor Ablauf der Frist erteilt wird, kann der Dienststellenleiter von diesem Zeitpunkt an die Maßnahme durchführen. Sofern die Mitteilung des Personalratsvorsitzenden nicht durch einen entsprechenden Personalratsbeschluss gedeckt ist, fehlt es an einer wirksamen Zustimmungserklärung. Zulässig ist auch eine Vorabzustimmung, dh. ohne Einleitung eines Verfahrens, wenn es sich um formal und inhaltlich gleich liegende, immer wiederkehrende Fälle handelt396. Der Personalrat muss sich – mit Ausnahme rechtsmissbräuchlicher Anträge – auch mit solchen Anträgen befassen, die bereits gleichlautend einmal Gegenstand eines Mitbestimmungsverfahrens waren. Sofern er sich nicht befasst, besteht das Risiko der Fiktion gemäß § 69 Abs. 2 Satz 5 BPersVG397.

26.104 Eine Zustimmung unter Bedingungen oder mit Einschränkungen steht einer Ablehnung gleich, wenn der Dienststellenleiter die Bedingungen oder Einschränkungen nicht akzeptiert. Damit die Zustimmungsverweigerung beachtlich ist, muss sie allerdings schriftlich unter Angabe der Gründe erfolgen398. Ausreichend ist dabei auch die Übermittlung per Telefax oder per E-Mail399. § 126 BGB findet hier keine Anwendung. Eine dynamische Interpretation des Begriffes „schriftlich“ ist möglich. Das eingescannte Schreiben trägt der Identitätsfunktion ausreichend Rechnung400. Soweit die Erklärung ohne Angabe von Gründen erfolgt, ist sie unwirksam. Die Angabe der Gründe dient hier der Information des Dienststellenleiters401.

26.105 Nach der Fiktion des § 69 Abs. 2 Satz 5 BPersVG gilt das Schweigen der Personalvertretung als Zustimmung.

26.106 Soweit bei der Zustimmungsverweigerung des Personalrates Beschwerden oder Behauptungen tatsächlicher Art vorgetragen werden, die für einen Beschäftigten ungünstig sind oder für ihn nachteilig werden können, ist dem Beschäftigten Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Die Äußerungen sind aktenkundig zu machen (§ 69 Abs. 2 Satz 5 BPersVG). Diese Vor-

394 BVerwG v. 15.11.1995 – 6 P 4.94, NVwZ-RR 1996, 403 (404 f.). 395 BVerwG v. 9.12.1992 – 6 P 16.91, NVwZ-RR 1993, 644 (646 f.); s. auch RDW/Weber, § 69 Rz. 43. 396 RDW/Weber, § 69 Rz. 55; aA Lorenzen/Etzel/Gerhold/Schlatmann/Rehak/Faber/Griebeling/Hebeler/Ramm, § 69 BPersVG Rz. 27. 397 BVerwG v. 12.9.2011 – 6 PB 13.11 Rz. 6 f., PersV 2012, 29 ff.; OVG Lüneburg v. 17.4.2012 – 18 LP 1/11 m. Anm. Conze, öAT 2012, 146. 398 Altvater, § 69 BPersVG Rz. 30. 399 BVerwG v. 15.12.2016 – 5 P 9.15, NZA-RR 2017, 334 (335 f.) (unterschriebenes und eingescanntes PDF-Dokument); BAG v. 10.3.2009 – 1 ABR 93/07, NZA 2009, 622 ff.; Sasse, ArbRB 2009, 198 f. 400 BVerwG v. 15.12.2016 – 5 P 9.15, NZA-RR 2017, 334 (335 f.). 401 Altvater, § 69 BPersVG Rz. 30a.

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Art der Beteiligung

Rz. 26.110 § 26

schrift dient dem Persönlichkeitsschutz des betroffenen Beschäftigten402. Es kann sich dabei um Beschwerden oder Behauptungen tatsächlicher Art handeln403. b) Zustimmungsverweigerungsrecht Neben den Fällen der vollen Mitbestimmung sieht das BPersVG für die Fälle der Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten gemäß § 75 Abs. 1 und § 76 Abs. 1 BPersVG vor, dass der Personalrat seine Zustimmung nur aus den in § 77 Abs. 2 BPersVG genannten Gründen verweigern kann.

26.107

Hinsichtlich des Verfahrens der Mitbestimmung gelten die Ausführungen unter Rz. 26.97 ff. entsprechend. Abweichend von diesen Ausführungen ist zu berücksichtigen, dass gemäß § 69 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 BPersVG die Begründung in Personalangelegenheiten nicht schriftlich erteilt werden muss.

26.108

Bezüglich der Zustimmungsverweigerung muss der Personalrat im Rahmen seiner Begrün- 26.109 dung angeben, aus welchem in § 77 Abs. 2 BPersVG genannten Grund er die Zustimmung verweigert. Dies darf nicht formelhaft geschehen und muss sich auf den Einzelfall beziehen404. Die Begründung muss es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass ein Zustimmungsverweigerungsgrund vorliegt405. Der Dienststellenleiter ist berechtigt, zu prüfen, ob die vom Personalrat vorgebrachten Erwägungen es als möglich erscheinen lassen, dass ein Verweigerungsgrund vorliegt. Die Zustimmungsverweigerung ist dann unbeachtlich, wenn die von der Personalvertretung angegebenen Gründe offensichtlich außerhalb der Mitbestimmung liegen. Lassen sie sich dem Inhalt des Mitbestimmungstatbestandes sowie dem Sinn und Zweck des Mitbestimmungserfordernisses offensichtlich nicht zuzuordnen, so erweist sich das Verhalten des Personalrates als nicht vom Recht geschützt. Es kann nicht die Verpflichtung der Dienststelle auslösen, das Einigungsverfahren einzuleiten406. Diese Rechtsprechung wird teilweise kritisiert, weil sie es dem Dienststellenleiter ermögliche, als „Richter in eigener Sache“ zu entscheiden407. Der Personalrat darf damit die Zustimmung aus jedem nicht ganz offensichtlich außerhalb des Mitbestimmungstatbestandes liegenden Grund verweigern408. Gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 BPersVG kann der Personalrat die Zustimmung gegen eine Maßnahme verweigern, die gegen ein Gesetz, eine Verordnung, eine Bestimmung in einem Tarifvertrag, eine gerichtliche Entscheidung, den Frauenförderplan oder eine Verwaltungsanordnung oder gegen eine Richtlinie iSv. § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BPersVG verstößt. Gesetz iSd. Vorschrift sind alle geschriebenen und ungeschriebenen Rechtsnormen, welche bei der beabsichtigten Maßnahme beachtet werden müssen409. ZB kann die Zustimmung hinsichtlich der Einstellung von Beschäftigten unter Hinweis auf gesetzliche Beschäftigungsverbote verweigert werden410. 402 Altvater, § 69 BPersVG Rz. 34. 403 Fischer/Goeres/Gronimus, § 69 BPersVG Rz. 13; Altvater, § 69 BPersVG Rz. 34; aA RDW/Weber, § 69 Rz. 61: auch Werturteile. 404 BVerwG v. 18.4.1986 – 7 P 31.84, NVwZ 1987, 139 (140 f.). 405 BVerwG v. 20.6.1986 – 6 P 4.83, NVwZ 1987, 137 (138 f.). 406 BVerwG v. 30.4.2001 – 6 P 9.00, PersR 2001, 382 ff. 407 Altvater, § 77 BPersVG Rz. 23 unter Hinweis auf die Rspr. des BAG zu § 99 Abs. 2 BetrVG; vgl. zur Rspr. des BAG GK-BetrVG/Raab, § 99 BetrVG Rz. 169 f. 408 BVerwG v. 6.9.1995 – 6 P 41.93, AP Nr. 1 zu § 77 LPVG Hessen. 409 BVerwG v. 26.1.1994 – 6 P 21.92, NVwZ 1995, 91 (94). 410 RDW/Kaiser, § 77 Rz. 39.

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975

26.110

§ 26 Rz. 26.111

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

c) Initiativrecht (§ 70 Abs. 1 BPersVG)

26.111 Die Vorschrift beinhaltet ein echtes Initiativrecht des Personalrates, das jedoch kaum genutzt wird411. Aufgrund des Rechtes ergibt sich, dass bei einem Konflikt über eine vom Personalrat vorgeschlagene Maßnahme ggf. die Einigungsstelle eingeschaltet werden und diese entscheiden kann. Der Personalrat hat ein derartiges Initiativrecht nur in sozialen Angelegenheiten, in denen er gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 1 bis 6 und Nr. 11 bis 17 zu beteiligen ist. Für diese Fälle verweist § 70 Abs. 1 Satz 2 BPersVG auf die Vorschrift des § 69 Abs. 3 und 4 BPersVG. Durch das Initiativrecht wird dem Personalrat die Möglichkeit gegeben, Mitbestimmungsrechte aktiv auszuüben. Das Mitbestimmungsrecht dient dem Schutz der Beschäftigten. Daher kann der Personalrat keine Regelungen initiieren, welche die Beschäftigten belasten412.

26.112 Die Zubilligung des Initiativrechtes darf nicht dazu führen, dass die Wahrnehmung des Mitbestimmungsrechtes in aktiver Form dessen Inhalt erweitert. So hat der Personalrat zB kein Initiativrecht zur Beseitigung von Belastungen, sofern die Mehrbelastung nicht ihrerseits auf mitbestimmungspflichtigen Maßnahmen, sondern vielmehr auf allgemeinen Umständen beruht413. Daneben sind auch im Zusammenhang mit dem Initiativrecht des Personalrates die Erwägungen der Entscheidung des BVerfG vom 24.5.1995 (Rz. 26.2 ff.) zu berücksichtigen. Das Initiativrecht kann nicht dazu dienen, in einem laufenden Mitbestimmungsverfahren Gegenvorschläge zu machen oder einer bevorstehenden Initiative der Dienststelle zuvorzukommen414. Auch kann die Aufhebung einer mit Zustimmung des Personalrates getroffenen mitbestimmungspflichtigen Maßnahme nur dann verlangt werden, wenn eine wesentliche Änderung der Sachlage vorliegt415. Die Personalvertretung kann nur ein Handeln des Dienststellenleiters, nicht aber ein Unterlassen fordern. Dies kann auch nicht über ein Initiativrecht erfolgen416. Das Initiativrecht setzt voraus, dass der Dienststellenleiter zur Entscheidung über die entsprechende Maßnahme befugt ist. Der Personalrat hat ihm die entsprechende Maßnahme schriftlich vorzuschlagen. Denn auch wenn das Gesetz keine Begründung vorschreibt, so verlangt es das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit, dass der Personalrat seinen Antrag begründet und angeben muss, wie er sich eine Gestaltung vorstellt417.

26.113 Der Dienststellenleiter hat die entsprechende Maßnahme zu prüfen. Sofern er dem Antrag nicht entsprechen will, hat er diese Entscheidung dem Personalrat mitzuteilen. Er ist gehalten, sich mit dem Personalrat zunächst um eine Einigung zu bemühen418. Das weitere Verfahren richtet sich dann nach § 69 Abs. 3 und 4 BPersVG. Der Dienststellenleiter hat sich binnen angemessener Frist zu äußern. Er hat die Angelegenheit der übergeordneten Dienststelle vorzulegen, bei der eine Stufenvertretung besteht. Der vorlegende Personalrat hat dann einen Anspruch darauf, dass der Leiter der angerufenen übergeordneten Dienststelle die Vorlage entgegennimmt und die Stufenvertretung zur gemeinsamen Erörterung einschaltet. Können sich in einer mehr als zweistufigen Verwaltung die angerufene Mittelbehörde und der Bezirks411 Edenfeld, Arbeitnehmerbeteiligung, S. 154. 412 BVerwG v. 29.9.2004 – 6 P 4.04, NVwZ 2005, 342 (343), Antrag auf Einführung einer Zeiterfassung. 413 BVerwG v. 9.1.2008 – 6 PB 15.07, NZA-RR 2008, 279 (280); Lorenzen/Etzel/Gerhold/Schlatmann/ Rehack/Faber/Griebeling/Hebeler/Ramm, § 70 BPersVG Rz. 9. 414 RDW/Weber, § 70 Rz. 10. 415 RDW/Weber, § 70 Rz. 10. 416 VGH Baden-Württemberg v. 2.7.2002 – PL 15 S 2497/01, NZA-RR 2003, 447 f.; teilweise aA Altvater, § 70 BPersVG Rz. 4. 417 RDW/Weber, § 70 Rz. 13. 418 BVerwG v. 20.1.1993 – 6 P 21.90, AP Nr. 1 zu § 69 BPersVG.

976

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Art der Beteiligung

Rz. 26.116 § 26

personalrat im Stufenverfahren nicht einigen, so kann die Stufenvertretung die oberste Dienstbehörde anrufen. Kommt es zwischen der obersten Dienstbehörde und der bei ihr bestehenden Personalvertretung nicht zu einer Einigung, so entscheidet die Einigungsstelle endgültig419. Neben dem Initiativrecht gibt es noch das in § 70 Abs. 2 BPersVG geregelte Antragsrecht420. Dieses betrifft die in § 70 Abs. 1 BPersVG nicht benannten Mitbestimmungsrechte. Das Verfahren ist wie in den Fällen des § 70 Abs. 1 BPersVG geregelt, aber mit der Maßgabe, dass die oberste Dienstbehörde abschließend entscheidet, ohne dass hiergegen die Einigungsstelle angerufen werden kann.

26.114

d) Konfliktlösung Der formale Weg der Konfliktlösung über das Stufenverfahren wird in der Praxis selten gewählt. Vielmehr spielen formlose Verfahren eine große Rolle. Die gesetzlichen Regelungen werden dergestalt umgangen, dass die Behördenspitze häufig im Vorfeld der Maßnahme die Haltung der Personalräte klärt und etwaige Widerstände auszuräumen versucht421.

26.115

Die formelle Konfliktlösung sieht für den Fall der Zustimmungsverweigerung durch den Personalrat vor, dass der Leiter der Dienststelle oder der Personalrat die Angelegenheit binnen sechs Arbeitstagen auf dem Dienstweg der übergeordneten Dienststelle, bei der die Stufenvertretung besteht, vorlegen (§ 69 Abs. 3 Satz 1 BPersVG). Hier ist zu berücksichtigen, dass im Falle der selbständigen Teileinheit einer Dienststelle von dem dortigen Personalrat nicht die Gesamtdienststelle angerufen werden kann, da diese keine übergeordnete Dienststelle ist. Der bei ihr bestehende Gesamtpersonalrat ist keine Stufenvertretung. Bei der Vorlage ist der Dienstweg einzuhalten. Es ist die Vorlage – so sie durch den Personalrat erfolgt – an den Dienststellenleiter zu richten, der sie dann dem Leiter der übergeordneten Dienststelle, bei der eine Stufenvertretung besteht, weiterzuleiten hat422. Die Vorlage bedarf der Schriftform. Sofern dem Dienststellenleiter die Angelegenheit vorliegt, hat er dies gemäß § 69 Abs. 3 Satz 5 BPersVG dem Personalrat unter Angabe der Gründe mitzuteilen. Trotz der entsprechenden Vorlage können Dienststellenleiter und Personalrat, solange das förmliche Mitbestimmungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist, weiterhin versuchen, eine Einigung zu erzielen423. Die Vorlage hat innerhalb einer Frist von sechs Arbeitstagen zu erfolgen. Sofern eine Stufenvertretung oder der Gesamtpersonalrat als erstzuständige Personalvertretung beteiligt waren und gemäß § 82 Abs. 2 BPersVG einem Personalrat Gelegenheit zur Äußerung gegeben haben, führt dies zu einer Verlängerung der Frist auf zwölf Arbeitstage. Die Frist zur Vorlage an die übergeordnete Dienststelle beginnt am ersten Tag nach Zugang der Zustimmungsverweigerung zu laufen. Die Frist ist gewahrt, wenn die Vorlage fristgemäß abgesandt wurde424. Mit der Vorlage der entsprechenden Angelegenheit obliegt es nun der übergeordneten Dienststelle, die Zustimmung der Personalvertretung zu erreichen. Sie kann jedoch, ohne vorher die Stufenvertretung einschalten zu müssen, den Leiter der nachgeordneten Dienststelle an-

26.116

419 Fischer/Goeres/Gronimus, § 70 BPersVG Rz. 13. 420 Zur Abgrenzung der Rechte gem. § 70 Abs. 1 BPersVG und § 70 Abs. 2 BPersVG Knolle, PersR 2015, 13 ff. 421 Edenfeld, Arbeitnehmerbeteiligung, S. 153 ff. 422 BVerwG v. 20.1.1993 – 6 P 21.90, AP Nr. 1 zu § 69 BPersVG; aA Altvater, § 69 BPersVG Rz. 38. 423 Altvater, § 69 BPersVG Rz. 39. 424 RDW/Weber § 69 Rz. 68.

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977

§ 26 Rz. 26.116

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

weisen, die Zustimmungsverweigerung zu akzeptieren und das Verfahren zu beenden. Sofern sie sich zur Fortsetzung entschließt, hat sie die Angelegenheit der bei ihr gebildeten Stufenvertretung vorzulegen. Für dieses Verfahren sind gemäß § 69 Abs. 3 Satz 3 BPersVG die Vorschriften des Abs. 2 entsprechend anzuwenden. Das Stufenverfahren wird erst zu dem Zeitpunkt wirksam eingeleitet, zu dem die übergeordnete Dienststelle die Stufenvertretung über die ihr vorgelegte streitige Maßnahme vorlegt425. Sofern in einer mehr als zweistufigen Verwaltung zwischen der Mittelbehörde und dem bei ihr bestehenden Bezirkspersonalrat eine Einigung nicht zustande kommt, weil der Bezirkspersonalrat innerhalb der Äußerungsfrist die Zustimmung unter Angabe der Gründe schriftlich verweigert, kann ein zweites Stufenverfahren in Gang gesetzt werden durch den Leiter der Mittelbehörde oder dem Bezirkspersonalrat. Diese legen binnen 6 Arbeitstagen der obersten Dienstbehörde das Verfahren vor. Die soeben gemachten Ausführungen gelten entsprechend.

26.117 § 69 Abs. 3 Satz 2 BPersVG sieht vor, dass in Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen des öffentlichen Rechts als oberste Dienstbehörde das in ihrer Verfassung für die Geschäftsführung vorgesehene oberste Organ im Rahmen des Stufenverfahrens anzurufen ist. Da diese in vielen Fällen selten und unregelmäßig zusammentreten, ist es Aufgabe dieser Organe, Regelungen zu treffen, die eine zügige Bearbeitung der Mitbestimmungsangelegenheiten gewährleisten426. In Zweifelsfällen bestimmt die zuständige oberste Bundesbehörde die anzurufende Stelle (§ 69 Abs. 3 Satz 3 BPersVG). Besonderheiten ergeben sich gemäß §§ 88, 89, 90 BPersVG im Bereich der Sozialversicherung, der Bundesagentur für Arbeit und der Deutschen Welle. e) Letztentscheidung

26.118 Sofern das Stufenverfahren scheitert, erfolgt die Letztentscheidung durch die Einigungsstelle. Hier ist zu beachten, dass nur wenige Angelegenheiten zur personalvertretungsrechtlichen Einigungsstelle gelangen427. Die Regelungen betreffend die Einigungsstelle sind gesetzessystematisch verfehlt428. Sie finden sich in §§ 69 Abs. 4 und 71 BPersVG. Die allgemeinen Regelungen betreffend die Grundsätze des Verfahrens und die Errichtung sowie Zusammensetzung der Einigungsstelle finden sich in § 71 BPersVG. In § 69 Abs. 4 BPersVG sind die Regelungen über die Anrufung der Einigungsstelle sowie ihre Kompetenzen enthalten. Voraussetzung für die Anrufung der Einigungsstelle ist die Erschöpfung des Instanzenzuges im Mitbestimmungsverfahren. Dh., zwischen oberster Dienstbehörde und der bei ihr bestehenden zuständigen Personalvertretung ist keine Einigung zustande gekommen. Die Einigungsstelle wird auf Antrag des Leiters der obersten Dienstbehörde tätig. In Fällen des Initiativrechts gemäß § 70 Abs. 1 BPersVG kann auch die Personalvertretung die Einigungsstelle anrufen. Eine Frist, innerhalb derer die Anrufung erfolgen muss, ist nicht festgelegt. Allerdings kann das entsprechende Recht verwirkt werden429. Die Einigungsstelle soll gemäß § 69 Abs. 4 Satz 2 BPersVG binnen 2 Monaten nach Anrufung entscheiden. Hierbei handelt es sich um eine Soll-Vorschrift, deren Verletzung für die Fortsetzung des Einigungsverfahrens keine Bedeutung hat430.

425 426 427 428 429

BVerwG v. 2.11.1994 – 6 P 28.92, NVWZ-RR 1995, 407 (Ls.). Fischer/Goeres/Gronimus, § 69 BPersVG Rz. 33. Edenfeld, Arbeitnehmerbeteiligung, S. 155. RDW/Weber, § 69 Rz. 91. OVG Nordrhein-Westfalen v. 29.11.2000 – 1 A 2014/98.PVL, NZA-RR 2001, 615, das Gericht sah auch bei einer erst nach elf Monaten erfolgten Anrufung der Einigungsstelle das Zeitmoment der Verwirkung noch nicht als erfüllt an. 430 RDW/Weber, § 69 Rz. 95.

978

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Art der Beteiligung

Rz. 26.122 § 26

In den Fällen des § 77 Abs. 2 BPersVG stellt die Einigungsstelle fest, ob ein Grund zur Versagung der Zustimmung vorliegt. In den Fällen der §§ 76, 85 Abs. 1 Nr. 7 BPersVG beschließt die Einigungsstelle eine Empfehlung an die oberste Dienstbehörde, wenn sie sich der Auffassung der obersten Dienstbehörde nicht anschließt. Im Übrigen ergibt sich eine weitere Beschränkung der Kompetenz der Einigungsstelle aus der Entscheidung des BVerfG vom 24.5.1995 (s. Rz. 26.2 ff.). Abweichend vom Gesetzeswortlaut entscheidet die Einigungsstelle auch in den Fällen des § 75 Abs. 1 BPersVG nicht verbindlich, sondern kann nur eine Empfehlung aussprechen. Dies gilt auch in den in § 75 Abs. 3 Nr. 10, 14 und 17 BPersVG genannten Fällen. Diese sind vom BVerfG in seiner Entscheidung ausdrücklich genannt. Es hat in einem Letztentscheidungsrecht der Einigungsstelle einen Widerspruch zum Demokratiegebot gesehen, so dass auch hier die Einigungsstelle nur eine Empfehlung aussprechen kann431.

26.119

f) Dienstvereinbarungen Zwischen Dienststelle und Personalrat kann gemäß § 73 BPersVG eine Dienstvereinbarung 26.120 abgeschlossen werden. Dienstvereinbarungen sind gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 BPersVG nur dort zulässig, wo das Gesetz dies ausdrücklich vorsieht432. Dh., eine mit dem § 88 BetrVG vergleichbare Regelung hinsichtlich freiwilliger Betriebsvereinbarungen besteht nicht – anders hingegen in einzelnen Landespersonalvertretungsgesetzen433. Der Zweck von Dienstvereinbarungen ist es, die Beteiligung der Personalvertretung in einer Vielzahl von Einzelfällen mit gleichem Gegenstand zu erübrigen434. Gesetzlich zugelassen sind sie lediglich in §§ 75 Abs. 3 und 76 Abs. 2 BPersVG. Eine weitere Begrenzung der Zulässigkeit ist der Tarifvorbehalt gemäß § 75 Abs. 5 BPersVG435. Die Dienstvereinbarung ist eine vertragliche Vereinbarung zwischen dem Dienststellenleiter und dem Personalrat, die nach den allgemeinen Regeln der Rechtsgeschäftslehre zustande kommt. In den Fällen des § 75 Abs. 3 BPersVG kann der Spruch der Einigungsstelle auch die Bedeutung einer Dienstvereinbarung haben, da er hier die fehlende Einigung zwischen Hauptpersonalrat und oberster Dienstbehörde ersetzt436.

26.121

Die Dienstvereinbarung ist schriftlich niederzulegen und von beiden Seiten zu unterzeichnen. 26.122 Sofern die Dienstvereinbarung auf einem Spruch der Einigungsstelle beruht, ist der Spruch durch den Vorsitzenden der Einigungsstelle zu unterschreiben. Die Dienstvereinbarung ist in geeigneter Weise bekannt zu machen. Diese Bekanntmachung hat keine konstitutive Bedeutung437. Aufgrund des normativen Charakters der Dienstvereinbarung hat diese unmittelbare und zwingende Wirkung. Sie gilt räumlich für die Dienststelle, für die sie vom zuständigen Personalrat und Dienststellenleiter abgeschlossen wurde. Persönlich werden alle Beschäftigten in der oder den vom räumlichen Geltungsbereich erfassten Dienststellen erfasst. Soweit sich 431 Lorenzen/Etzel/Gerhold/Schlatmann/Rehak/Faber/Griebeling/Hebeler/Ramm, § 69 BPersVG Rz. 102; RDW/Weber, § 69 Rz. 104. 432 Ein Beispielsfall für eine unzulässige Dienstvereinbarung findet sich in der Entscheidung VG Arnsberg v. 24.5.2012 – 21 K 2764/10.PVB, PersV 2012, 431 ff. 433 So zum BlnPersVG BVerwG v. 6.10.2010 – 6 P 11.10 Rz. 8, PersV 2011, 269 (Ls.), wonach eine Dienstvereinbarung zulässig ist, sofern gesetzliche Regelungen nicht entgegenstehen; s. auch die Übersicht bei RDW/Weber, § 73 Rz. 58 ff. 434 BVerwG v. 17.12.2003 – 6 P 7.03, NVwZ 2004, 747 (750). 435 Baden, PersR 2009, 348 (350 f.). 436 BVerwG v. 17.12.2003 – 6 P 7.03, NVwZ 2004, 747 (749). 437 BVerwG v. 9.3.2012 – 6 P 27.10, NZA-RR 2012, 501, Rz. 11 f.

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979

§ 26 Rz. 26.122

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

Dienstvereinbarungen überschneiden, haben diejenigen für den größeren Bereich Vorrang vor denjenigen für den kleineren Bereich (§ 73 Abs. 2 BPersVG). Dienstvereinbarungen zwischen der obersten Führungsebene und dem Hauptpersonalrat sperren Mitbestimmungsrechte des örtlichen Personalrates nur, wenn und soweit die Dienstvereinbarung alle in Betracht kommenden mitbestimmungspflichtigen Tatbestände regelt438. Die Dienstvereinbarung kann durch Zeitablauf enden. Sie endet auch mit Untergang der Dienststelle. Sofern ein Gesetz oder ein Tarifvertrag zum gleichen Regelungsgegenstand in Kraft treten, endet die Dienstvereinbarung ebenfalls aufgrund des Vorrangs gesetzlicher oder tariflicher Regelungen. Auch endet die Dienstvereinbarung durch eine zulässige Kündigung. Keinen Einfluss hat der Wechsel des Rechtsträgers einer Dienststelle, sofern diese ihre Identität behält439. Das BPersVG enthält keine mit § 77 Abs. 6 BetrVG vergleichbare Bestimmung, wonach nach Ablauf einer Dienstvereinbarung deren normative Regelungen weitergelten, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Es ist strittig, ob Dienstvereinbarungen eine Nachwirkung entfalten können. Eine Analogie zu § 77 Abs. 6 BetrVG ist dort gegeben, wo im Personalvertretungsrecht die Einigung zwischen Personalvertretung und Dienststelle in der Einigungsstelle ersetzt wird440. Die Voraussetzung liegt allerdings nur bei § 75 Abs. 3 BPersVG vor441. 2. Mitwirkung

26.123 Neben den Mitbestimmungsrechten kennt das Personalvertretungsrecht auch Mitwirkungsrechte. Hierbei handelt es sich um einen feststehenden Begriff im BPersVG. Dort, wo das Gesetz das Beteiligungsrecht ausdrücklich als Mitwirkung bezeichnet, kommt das Verfahren gemäß § 72 BPersVG in Betracht442. a) Einleitung des Verfahrens

26.124 Das Verfahren wird ausschließlich auf Veranlassung des Dienststellenleiters eingeleitet. Ein Initiativrecht besteht nicht. Der Dienststellenleiter hat vor Durchführung einer Maßnahme, die der Mitwirkung unterliegt, diese rechtzeitig mit dem Ziele einer Verständigung mit dem Personalrat eingehend zu erörtern. Voraussetzung einer derartigen Erörterung ist zunächst die Unterrichtung der Personalvertretung. Sofern das Gesetz eine Verfahrensvorschrift hier nicht enthält, bestimmt sich dies nach den allgemeinen Regelungen des § 68 Abs. 2 BPersVG. Der Dienststellenleiter hat dem Personalrat rechtzeitig vor der geplanten Maßnahme zu unterrichten. Der Begriff der Rechtzeitigkeit ist im § 72 BPersVG nicht näher definiert. Aus dem Bestehen der Äußerungsfrist von zehn Arbeitstagen gemäß § 72 Abs. 2 BPersVG kann allerdings geschlossen werden, dass zumindest diese Frist dem Personalrat zur Verfügung stehen muss. Die Frist knüpft dabei nicht an die Erörterung an443. Die Erörterung kann auch über die Zehn-Tages-Frist des § 72 Abs. 2 BPersVG hinaus fortgesetzt werden, sofern die entsprechende Frist seitens der Personalvertretung durch eine begründete Äußerung gewahrt worden ist444. Die Angelegenheit ist mit dem Personalrat in seiner Gesamtheit zu erörtern445.

438 439 440 441 442 443 444 445

980

Bayerischer VGH v. 9.5.2011 – 18 P 09.2249, PersR 2012, 332 (334). BVerwG v. 5.6.2003 – 6 P 1.03, AP Nr. 84 zu § 75 BPersVG. BAG v. 5.5.1988 – 6 AZR 521/85, AP Nr. 1 zu § 70 LPVG NW. RDW/Weber, § 73 Rz. 51. RDW/Weber, § 72 Rz. 3. BVerwG v. 27.1.1995 – 6 P 22.92, NVWZ-RR 1995, 405 (406 f.). Altvater, § 72 BPersVG Rz. 8. Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 72 BPersVG Rz. 8.

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Art der Beteiligung

Rz. 26.127 § 26

b) Einwendungen Bei Abschluss der Erörterungen hat der Personalrat darüber zu entscheiden, ob er mit der entsprechenden Maßnahme einverstanden ist oder ob er Einwendungen erhebt. Auch kann er Gegenvorschläge unterbreiten. Dies hat gemäß § 72 Abs. 2 Satz 2 BPersVG unter Angabe der Gründe zu geschehen. Der Personalrat kann seine Einwendungen grundsätzlich auf jeden sachlichen Grund stützen446. Lediglich im Falle des § 78 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG kann er gemäß § 78 Abs. 2 Satz 3 BPersVG seine Einwendungen nur auf die in § 77 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BPersVG bezeichneten Gründe stützen. Eine schriftliche Begründung ist im Gesetz nicht vorgesehen. Allerdings ist dies aus Beweisgründen sinnvoll.

26.125

c) Rechtsfolgen Sofern die Dienststelle den Einwendungen des Personalrates nicht oder nicht in vollem Umfang entspricht, teilt sie dies gemäß § 72 Abs. 3 BPersVG dem Personalrat unter Angabe der Gründe schriftlich mit. Der Personalrat einer nachgeordneten Dienststelle kann die Angelegenheit dann binnen drei Arbeitstagen nach Zugang der Mitteilung im Dienstweg der übergeordneten Dienststelle, bei der eine Stufenvertretung besteht, mit dem Antrag auf Entscheidung gemäß § 72 Abs. 4 BPersVG vorlegen. Eine Abschrift des Antrages hat der Personalrat der Dienststelle zuzuleiten. Bis zur Entscheidung der übergeordneten Dienststelle ist die beabsichtigte Maßnahme gemäß § 72 Abs. 5 BPersVG auszusetzen. Sofern die Angelegenheit keinen Aufschub duldet, kann der Dienststellenleiter gemäß § 72 Abs. 6 iVm. § 69 Abs. 5 BPersVG eine vorläufige Regelung treffen. Mit der Anrufung der übergeordneten Dienststelle ist die Entscheidungsbefugnis auf diese übergegangen. Sofern sie den Einwendungen des Personalrates nicht oder nicht in vollem Umfang entspricht, entscheidet sie nach Verhandlung mit der bei ihr bestehenden Stufenvertretung. Sofern die übergeordnete Dienststelle den Einwendungen der bei ihr gebildeten Stufenvertretung nicht oder nicht in vollem Umfang entspricht und ihr noch eine oberste Dienstbehörde übergeordnet ist, kann die bei ihr bestehende Stufenvertretung die Angelegenheit binnen drei Arbeitstagen nach Zugang der Mitteilung auf dem Dienstwege wiederum der obersten Dienstbehörde mit dem Antrag auf Entscheidung vorlegen. Die oberste Dienstbehörde entscheidet nach Verhandlung mit der bei ihr bestehenden Stufenvertretung endgültig. In diesem Falle kommt eine Anrufung der Einigungsstelle nicht in Betracht. Die oberste Dienstbehörde hat die Entscheidung den nachgeordneten Dienststellen bekannt zu geben und diese anzuweisen, entsprechend zu verfahren.

26.126

Die nicht ordnungsgemäß durchgeführte Beteiligung des Personalrates in Mitwirkungstatbeständen kann unterschiedliche Auswirkungen haben. In den Fällen des § 78 Abs. 1 Nr. 1 (Vorbereitung von Verwaltungsanordnungen) und 2 (Auflösung ua. von Dienststellen) BPersVG sind ohne Beteiligung der Personalvertretung zustande gekommene Regelungen nicht unwirksam447. Sofern in Fällen des § 78 Abs. 1 Nr. 4 und 5 BPersVG die Beteiligung der Personalvertretung fehlt oder diese nicht den gesetzlichen Vorgaben entspricht, sind die Verwaltungsakte nicht nichtig, aber anfechtbar448. Sofern die Beteiligung der Personalvertretung in Fällen von Kündigungen nicht ordnungsgemäß war, hat dies gemäß § 79 Abs. 4 BPersVG die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge. Dabei steht die nicht ordnungsgemäße Beteiligung einer unterbliebenen Beteiligung gleich449.

26.127

446 447 448 449

Altvater, § 72 BPersVG Rz. 11. RDW/Weber, § 72 Rz. 57. Altvater, § 72 BPersVG Rz. 22. KR/Rinck, §§ 72, 79, 108 Abs. 2 BPersVG Rz. 55 mwN.

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981

§ 26 Rz. 26.128

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

3. Anhörung

26.128 Als weitere Form der Beteiligung kennt das BPersVG Anhörungsrechte. Diese finden sich zum einen in § 78 Abs. 3–5 BPersVG und zum anderen in § 79 Abs. 3 BPersVG betreffend fristlose Entlassungen und außerordentliche Kündigungen. a) Information

26.129 Die Mitteilung des Dienststellenleiters an die Personalvertretung im Rahmen der Anhörung muss inhaltlich so umfassend sein, dass diese sich eine ausgewogene Meinung bilden kann. Hierfür wird sie im Regelfall die Unterlagen zur Kenntnis geben müssen, über die sie verfügt450. Die Mitteilung über die beabsichtigte Maßnahme hat so rechtzeitig zu erfolgen, dass die Personalvertretung Gelegenheit hat, sich anhand der vorgelegten Unterlagen zu äußern. Die entsprechende Anhörung ist Angelegenheit des Plenums451. Im Falle der Anhörung zur außerordentlichen Kündigung hat der Personalrat binnen drei Arbeitstagen seine Bedenken dem Dienststellenleiter schriftlich mitzuteilen.

26.130 Anders als im Mitbestimmungs- und Mitwirkungsverfahren gibt es einen Instanzenzug hierbei nicht. Es wird vielmehr der Personalrat der Dienststelle beteiligt, die über die Maßnahme zu entscheiden hat452.

26.131 Sofern für die Anhörung die Stufenvertretung oder der Gesamtpersonalrat zuständig ist, haben diese in Angelegenheiten, die einzelne Beschäftigte oder Dienststellen betreffen, dem örtlichen Personalrat Gelegenheit zur Äußerung zu geben (§ 82 Abs. 2 Satz 1 BPersVG). Hierfür ist es ausreichend, wenn die Stufenvertretung entsprechende Informationen an die örtliche Personalvertretung innerhalb einer angemessenen Frist weiterleitet. Sie ist nicht verpflichtet, sämtliche im Laufe des Mitbestimmungsverfahrens beim Dienststellenleiter beschafften Informationen an die örtliche Personalvertretung weiterzugeben453. b) Verletzung der Anhörungspflicht

26.132 In den Fällen des § 78 BPersVG führt die nicht durchgeführte Anhörung nicht zur Unwirksamkeit der Maßnahme. Sie ist allerdings als Verstoß gegen das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit zu bewerten454. In den Fällen der außerordentlichen Kündigung hat die Verletzung der Anhörungspflicht gemäß § 79 Abs. 4 BPersVG die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge.

V. Katalog der Beteiligungsrechte 26.133 Nachfolgend sollen die Beteiligungsrechte des Personalrates kurz dargestellt werden. Sofern in anderen Abschnitten dieses Buches Beteiligungsrechte umfangreicher dargestellt sind, wird hierauf verwiesen. Die Darstellung beschränkt sich auf die Beteiligungsrechte nach dem Per450 Altvater, § 78 BPersVG Rz. 54. 451 BVerwG v. 1.12.1982 – 2 C 59.81, ZBR 1983, 189 (190 f.). 452 RDW/Benecke, § 78 Rz. 43. Zum Verfahren bei bestehendem Sonderkündigungsschutz gem. § 15 KSchG s. Rz. 26.72. 453 BVerwG v. 2.10.2000 – 6 P 11.99, NZA-RR 2001, 166 f. 454 Fischer/Goeres/Gronimus, § 78 BPersVG Rz. 29.

982

Sasse

Katalog der Beteiligungsrechte

Rz. 26.137 § 26

sonalvertretungsrecht. Daneben gibt es auch Beteiligungsrechte außerhalb des Personalvertretungsrechts455, zB im Zusammenhang mit dem Eingliederungsmanagement gemäß § 167 Abs. 2 SGB IX456 (s. § 3, Rz. 3.56) oder gemäß § 14 AÜG457. 1. Mitbestimmungsrechte Die Mitbestimmungsrechte sind teilweise eingeschränkt. So gilt für Personalangelegenheiten solcher Personen, die gemäß § 14 Abs. 3 BPersVG nicht in die Personalvertretung wählbar sind, weil sie zur selbständigen Entscheidung in Personalangelegenheiten der Dienststelle befugt sind, dass der Personalrat gemäß § 75 Abs. 1 und § 76 Abs. 1 BPersVG nur mitbestimmt, wenn diese Bediensteten dies beantragen. Diese Vorschrift will die Unabhängigkeit der leitenden Beschäftigten vor der Einflussnahme durch den Personalrat sichern. Sofern der Personalrat Einfluss auf Einstellung, Beförderung etc. dieser Beschäftigten nehmen könnte, bestünde die Gefahr, dass diese bei Entscheidungen in den ihnen übertragenen Personalangelegenheiten ungerechtfertigterweise Rücksicht auf die Zielsetzung des Personalrates nähmen, um Nachteile im eigenen beruflichen Fortkommen zu vermeiden458. Ebenso bestimmt der Personalrat bei Beamten auf Zeit und Beschäftigten mit überwiegend wissenschaftlicher oder künstlerischer Tätigkeit nur auf Antrag mit.

26.134

Weiterhin finden § 75 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 14 sowie § 76 Abs. 1 BPersVG für die in § 54 Abs. 1 BBG bezeichneten Beamten für die Beamtenstellung von der Besoldungsgruppe A 16 an aufwärts keine Anwendung.

26.135

a) Einstellung (§§ 75 Abs. 1 Nr. 1, 76 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG) Der Personalrat bestimmt gemäß § 75 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG bei der Einstellung von Arbeitnehmern und gemäß § 76 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG bei der Einstellung und Anstellung von Beamten mit. Zweck des Mitbestimmungsrechtes ist der kollektive Schutz der in der Dienststelle bereits tätigen Beschäftigten und ihrer hierbei zu berücksichtigenden Interessen459. Ein Instrument zur umfassenden Vertragsinhaltskontrolle hat der Personalrat mit dem Mitbestimmungsrecht nicht460.

26.136

Die Regelung des § 75 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG ist mit der Regelung des § 99 BetrVG vergleichbar. Im Falle der Einstellung eines Angestellten ist mit dem Begriff der Einstellung die tatsächliche Eingliederung in die Dienststelle, dh. die Zuweisung eines Arbeitsplatzes im Sinne einer konkreten Arbeitsaufgabe, nicht aber der Abschluss des Arbeitsvertrages gemeint461. Als Einstellung wird dabei auch die Umwandlung eines befristeten in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis angesehen462. Auch eine nicht nur vorübergehende und geringfügige Aufstockung einer

26.137

455 Einen Überblick gibt Pulte, NZA-RR 2008, 113 ff. 456 OVG Berlin-Brandenburg v. 20.11.2008 – 60 PV 9.07, ZTR 2009, 342 ff.; zu Informationsrechten in diesem Zusammenhang BVerwG v. 23.6.2010 – 6 P 8.09, PersV 2010, 454 ff. 457 BVerwG v. 7.4.2010 – 6 P 6.09, PersV 2010, 336 ff.; v. 25.4.2012 – 6 PB 24.11, NZA-RR 2012, 500 f., nur im Bereich BPersVG oder wenn Landesrecht dies anordnet. 458 BVerwG v. 20.3.2002 – 6 P 6.01, AP Nr. 1 zu § 14 BPersVG. 459 BVerwG v. 18.6.2002 – 6 P 12.01, AP Nr. 24 zu § 72 LPVG NW – insoweit nicht abgedruckt in NZA-RR 2003, 223 ff. 460 BVerwG v. 22.10.2007 – 6 P 1.07, NVwZ-RR 2008, 195 Rz. 24. 461 BVerwG v. 12.4.2006 – 6 PB 1.06, NZA-RR 2006, 550 mwN. 462 BVerwG v. 2.6.1993 – 6 P 3.92, NVwZ 1994, 1220 (1222).

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983

§ 26 Rz. 26.137

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

Teilzeitbeschäftigung ist als Einstellung mitbestimmungspflichtig463. Auf die Rechtsgrundlage für die Einstellung kommt es nicht an, Voraussetzung ist nicht der Abschluss eines Anstellungsvertrages464. Daher kann zB auch die Einstellung von sog. „1-Euro-Jobbern“ der Mitbestimmung des Personalrates unterliegen465. Die Einstellung iSv. § 76 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG ist die Ernennung unter Begründung eines Beamtenverhältnisses466. Anstellung im Sinne dieser Vorschrift war eine Ernennung unter erster Verleihung eines Amtes, das in einer Besoldungsordnung aufgeführt ist oder für das der Bundespräsident eine Amtsbezeichnung festgesetzt hat467. Dieser Tatbestand läuft nach Ende des Jahres 2010 aufgrund der Neuregelungen des Dienstrechtes leer468. Im Übrigen zu diesem Mitbestimmungsrecht vgl. § 2, Rz. 2.87 ff. b) Übertragung einer höher oder niedriger zu bewertenden Tätigkeit, Höher- und Rückgruppierung, Eingruppierung (§§ 75 Abs. 1 Nr. 2 und 76 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG), Beförderung, Übertragung eines anderen Amtes mit höherem Grundgehalt ohne Änderung der Amtsbezeichnung, Verleihung eines anderen Amtes mit anderer Amtsbezeichnung beim Wechsel der Laufbahngruppe, Laufbahnwechsel (§ 76 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG)

26.138 Dieses Mitbestimmungsrecht besitzt eine erhebliche Praxisrelevanz469. Unter einer Eingruppierung wird die Eingliederung des Arbeitnehmers in ein kollektives Entgeltschema verstanden470. Das Mitbestimmungsrecht soll sicherstellen, dass die Rechtsanwendung möglichst zutreffend erfolgt. Das Mitbestimmungsrecht erstreckt sich dabei nicht nur auf die Frage der Zuordnung einer Entgeltgruppe, sondern auch auf die Stufenzuordnung innerhalb der Entgeltgruppe471. Auch die unter dem neuen Recht bestehenden Funktionsstufen, sind anders als die Funktionszulagen des alten Tarifrechts, in die Mitbestimmung einbezogen472. Weiterhin hat der Personalrat bei Übertragung einer höher oder niedriger zu bewertenden Tätigkeit mitzubestimmen. Auch die Tatsache, dass der Arbeitnehmer mit der Übertragung dieser Tätigkeit einverstanden ist, hindert das Beteiligungsrecht des Personalrates nicht473.

26.139 Nicht ausreichend für die Übertragung einer höher oder niedriger zu bewertenden Tätigkeit ist die Zuweisung oder der Entzug von Aufgaben, welche lediglich zu einem Anspruch auf eine Tätigkeitszulage oder zu deren Wegfall führen474.

463 BVerwG v. 23.3.1999 – 6 P 10.97, NVWZ-RR 2000, 518 (519 f.). 464 BVerwG v. 18.6.2002 – 6 P 12.01, NZA-RR 2003, 223 (224) mwN (Gestellungsvertrag). 465 BVerwG v. 21.3.2007 – 6 P 4.06, NZA-RR 2007, 499 ff., aA OVG Koblenz v. 17.5.2006 – 5 A 11752/05; vgl auch Eichenhofer, RdA 2008, 32 ff. 466 BVerwG v. 13.9.2002 – 6 P 4.02; ausführlich zu diesem Tatbestand nach dem Dienstrechtsneuordnungsgesetz Goerres, PersV 2009, 324 (326 f.). 467 Altvater, § 76 BPersVG Rz. 20. 468 Goerres, PersV 2009, 324 (328). 469 RDW/Kaiser, § 75 Rz. 32. 470 St. Rspr., vgl. BVerwG v. 22.10.2007 – 6 P 1.07, NVwZ-RR 2008, 195 Rz. 25; v. 27.8.2008 – 6 P 11.07, NZA-RR 2009, 108 (109) Rz. 9. 471 BVerwG v. 27.8.2008 – 6 P 11.07, NZA-RR 2009, 108 (109). 472 BVerwG v. 27.5.2009 – 6 P 9.08 Rz. 34, 41; v. 27.5.2009 – 6 P 4.09 Rz. 25, 32, 34. 473 RDW/Kaiser, § 75 Rz. 45. 474 RDW/Kaiser, § 75 Rz. 47.

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Sasse

Katalog der Beteiligungsrechte

Rz. 26.143 § 26

Im Falle eines Beamten ist Bezugspunkt für die Beantwortung der Frage, ob eine höher zu bewertende Tätigkeit vorliegt, das Amt im statusrechtlichen Sinne. Dh., es ist zu überprüfen, ob der dem Beamten zu übertragende Dienstposten dem bisher verliehenen statusrechtlichen Amt entspricht oder höher oder niedriger bewertet ist475. Im Übrigen zu diesem Mitbestimmungsrecht vgl. § 23, Rz. 23.218 ff.

26.140

Gemäß § 76 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG ist die Beförderung, dh. die Ernennung eines Beamten, dem ein anderes statusrechtliches Amt mit höherem Endgrundgehalt und einer anderen Amtsbezeichnung verliehen wird, mitbestimmungspflichtig. Die weiteren in § 76 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG aufgeführten Personalmaßnahmen sind einer Beförderung gleichgestellt.

26.141

c) Versetzungen und Umsetzungen innerhalb der Dienststelle (§ 75 Abs. 1 Nr. 3 und § 76 Abs. 1 Nr. 4 BPersVG) Gemäß § 75 Abs. 1 Nr. 3 und § 76 Abs. 1 Nr. 4 BPersVG hat der Personalrat bei der Versetzung zu einer anderen Dienststelle oder bei der Umsetzung innerhalb der Dienststelle, wenn sie mit einem Wechsel des Dienstortes verbunden ist, mitzubestimmen. Dieses Mitbestimmungsrecht dient bei Versetzungen gegen den Willen des Angestellten dem Schutz des Bediensteten476. Weiterhin soll der Personalrat bei der abgebenden Dienststelle prüfen, ob die Versetzung für die Bediensteten mit unzumutbaren Mehrbelastungen verbunden ist477. Im Falle einer Versetzung wirkt diese in der aufnehmenden Dienststelle wie eine Einstellung. Die Personalvertretung dieser Dienststelle hat die kollektiven Belange der Beschäftigten im Rahmen des Mitbestimmungsverfahrens zu schützen478. Versetzung ist die Zuweisung einer auf Dauer bestimmten Beschäftigung bei einer andern Dienststelle oder einem anderen Betrieb desselben Arbeitgebers unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhältnisses. Mitbestimmungspflichtig ist hier die Ausgliederung des Beschäftigten aus der abgebenden Dienststelle und die Eingliederung in die neue Dienststelle479. Die Versetzung geht stets mit einem Dienststellenwechsel einher480. Die Versetzung muss dauerhaft sein (arg. aus § 75 Abs. 1 Nr. 4 BPersVG). Nicht erforderlich ist eine wesentliche Änderung im Arbeits- bzw. Dienstpostenbereich481.

26.142

Unter einer Umsetzung ist die Zuweisung eines anderen, gleich bewerteten Arbeitsplatzes innerhalb derselben Dienststelle zu verstehen482. Eine Mitbestimmungspflicht besteht hier allerdings lediglich bei einem Wechsel des Dienstortes. Dies ist nur möglich bei solchen Dienststellen, die auf verschiedene Dienstorte verteilt sind, zB wenn der Arbeitnehmer von einer Hauptdienststelle in eine Nebenstelle umgesetzt wird, die in einem anderen Dienstort als die Hauptdienststelle liegt483. Auch die Umsetzung ist nur mitbestimmungspflichtig, wenn sie auf Dauer geplant ist484.

26.143

475 476 477 478 479 480 481 482 483 484

BVerwG v. 12.3.1990 – 6 P 32.87, PersV 1990, 318 f. BVerwG v. 4.6.1993 – 6 P 33.91, NVwZ 1994, 1223 (1225). BVerwG v. 28.5.2002 – 6 P 9.01, PersR 2002, 340 (342). BVerwG v. 29.1.2003 – 6 P 19.01, NZA-RR 2003, 502 (504). RDW/Kaiser, § 75 Rz. 68. BVerwG v. 16.6.2000 – 6 P 6.99, NZA-RR 2001, 278 (279 f.). BVerwG v. 30.3.2009 – 6 PB 29.08, ZTR 2009, 339 (341), Rz. 25 ff. BVerwG v. 16.6.2000 – 6 P 6.99, NZA-RR 2001, 278 (279). Altvater, § 75 BPersVG Rz. 65. Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 22 mwN; aA RDW/Kaiser, § 75 Rz. 82.

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§ 26 Rz. 26.144

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

d) Abordnung und Zuweisung nach § 29 BBG für eine Dauer von mehr als drei Monaten (§ 75 Abs. 1 Nr. 4, 4a und § 76 Abs. 1 Nr. 5, 5a BPersVG)

26.144 Im Falle einer Abordnung für eine Dauer von mehr als drei Monaten (§ 75 Abs. 1 Nr. 4 und § 76 Abs. 1 Nr. 5 BPersVG) hat der Personalrat mitzubestimmen. Sofern der Beschäftigte gegen seinen Willen abgeordnet wird, dient die Mitbestimmung des Personalrates der abgebenden Dienststelle ebenso wie bei der Versetzung dem Schutz des zu versetzenden Beschäftigten. Weiterhin soll geprüft werden, ob die Abordnung für die Beschäftigten der abgebenden Dienststelle mit unzumutbaren Mehrbelastungen verbunden ist. Bei der aufnehmenden Dienststelle wirkt die Abordnung wie eine Einstellung. Die Interessen der Beschäftigten werden durch die lediglich vorübergehende Eingliederung aber nicht wie bei einer dauerhaften Eingliederung betroffen485. Unter einer Abordnung wird die Zuweisung einer vorübergehenden Beschäftigung bei einer anderen Dienststelle desselben oder eines anderen Arbeitgebers/ Dienstherrn unter Aufrechterhaltung des bestehenden Arbeitsverhältnisses bzw. Beibehaltung des statusrechtlichen und abstrakt funktionalen Amtes bei der bisherigen Dienststelle verstanden486. Die Abordnung muss für mehr als drei Monate vorgesehen sein. Jedoch unterliegen auch mehrfache Kurzabordnungen, die zusammen einen ununterbrochenen Zeitraum von mehr als drei Monaten erreichen, dem Mitbestimmungsrecht der Personalvertretung487. Daneben hat die Personalvertretung auch ein Mitbestimmungsrecht bei einer Zuweisung gemäß § 29 BBG, zB bei einem Einsatz bei einer internationalen Organisation. e) Weiterbeschäftigung über die Altersgrenzen hinaus (§ 75 Abs. 1 Nr. 5 BPersVG) und Hinausschieben des Ruhestandes (§ 76 Abs. 1 Nr. 9 BPersVG)

26.145 Der Personalrat hat bei einer Weiterbeschäftigung über die Altersgrenzen hinaus mitzubestimmen. Hierbei handelt es sich um einen Sonderfall der Einstellung. Der Mitbestimmungstatbestand liegt nur vor bei einer Weiterbeschäftigung als Arbeitnehmer488.

26.146 Weiterhin hat der Personalrat gemäß § 76 Abs. 1 Nr. 9 BPersVG bei dem Hinausschieben des Eintritts in den Ruhestand über die Altersgrenzen hinaus mitzubestimmen. Ein derartiger Antrag kann sowohl durch den Beamten als auch durch die oberste Dienstbehörde beantragt werden. f) Anordnungen, welche die Freiheit in der Wahl der Wohnung beschränken (§ 75 Abs. 1 Nr. 6 und § 76 Abs. 1 Nr. 6 BPersVG)

26.147 Der Personalrat hat ein Mitbestimmungsrecht bei Beschränkungen der Freiheit in der Wahl der Wohnung. Diese treten ein, wenn der Bedienstete eine Dienstwohnung beziehen muss, zB ein Hausmeister. Hierbei handelt es sich um solche Wohnungen, die dem Inhaber eines bestimmten Dienstpostens unter ausdrücklicher Bezeichnung als Dienstwohnung und ohne Abschluss eines Mietvertrages aus dienstlichen Gründen zugewiesen werden489. Es wird allgemein von einer geringen praktischen Bedeutung ausgegangen490.

485 486 487 488 489 490

986

RDW/Kaiser, § 75 Rz. 98. BVerwG v. 29.1.2003 – 6 P 19.01, NZA-RR 2003, 503. VGH Baden-Württemberg v. 7.12.1993 – PB15 S 203/93. Altvater, § 75 BPersVG Rz. 79 f. Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 27. Fischer/Goeres/Gronimus, § 75 BPersVG Rz. 52.

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Katalog der Beteiligungsrechte

Rz. 26.151 § 26

g) Versagung einer beantragten Nebentätigkeitsgenehmigung und Widerruf einer solchen (§ 75 Abs. 1 Nr. 7 und § 76 Abs. 1 Nr. 7 BPersVG) Für Angestellte bedarf die entgeltliche Nebentätigkeit aufgrund der Regelung in § 3 Abs. 3 26.148 Satz 1 TVöD-AT und § 3 Abs. 4 Satz 1 TV-L keiner Genehmigung mehr. Vielmehr sind sie dem Arbeitgeber lediglich rechtzeitig vor Aufnahme schriftlich anzuzeigen. Allerdings kann der Arbeitgeber die Nebentätigkeit untersagen oder mit Auflagen versehen, sofern diese geeignet ist, die Erfüllung der arbeitsvertraglichen Pflichten durch den Arbeitnehmer oder berechtigte Interessen des Arbeitgebers zu beeinträchtigen. Die Regelungen des Personalvertretungsrechts sind bisher nicht an die Systematik des TVöD bzw. TV-L angepasst worden. Jedoch ist davon auszugehen, dass sie bei der Erteilung von Auflagen oder Untersagungen entsprechend gelten491. Aufgrund der Neuregelung im TV-L wird die Praxisrelevanz weiter abnehmen492. h) Ablehnung eines Antrages gemäß §§ 91, 92, 95 BBG auf Teilzeitbeschäftigung, Ermäßigung der regelmäßigen Arbeitszeit oder Urlaub (§ 76 Abs. 1 Nr. 8 BPersVG) Der Personalrat bestimmt nur bei der Ablehnung von solchen Anträgen mit. Dies gilt auch für die Ablehnung von Erst-, Änderungs- und Verlängerungsanträgen des Beamten. Auch die teilweise Ablehnung ist mitbestimmungspflichtig. Strittig hingegen ist die Frage, ob auch der Widerruf oder die Rücknahme genehmigter Anträge der Mitbestimmung unterliegen493.

26.149

i) Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten (§ 75 Abs. 2 BPersVG) Die Vorschrift des § 75 Abs. 2 BPersVG bezieht sich auf alle Beschäftigten. Die Mitbestimmungstatbestände des § 75 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BPersVG (Gewährung von Unterstützungen, Vorschüssen, Darlehen und entsprechenden sozialen Zuwendungen) und § 75 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BPersVG (Zuweisung von Dienst- und Pachtland, Festsetzung der Nutzungsbedingungen) haben praktisch keine Bedeutung. Auch die Vorschrift des § 75 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BPersVG (Zuweisung und Kündigung von Wohnungen, über die die Dienststelle verfügt, sowie die allgemeine Festsetzung der Nutzungsbedingungen) hat erheblich an Praxisrelevanz verloren494.

26.150

j) Mitbestimmung in Angelegenheiten des Dienstbetriebes (§ 75 Abs. 3 und § 76 Abs. 2 BPersVG) Der Personalrat hat, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, ggf. durch 26.151 Abschluss einer Dienstvereinbarung in sozialen Angelegenheiten mitzubestimmen. Hierbei handelt es sich um die Zentralvorschrift des Personalrates für die Mitbestimmung in Angelegenheiten des Dienstbetriebes495. Die Vorschrift des § 75 Abs. 3 BPersVG bezieht sich – sofern es nicht abweichend geregelt ist – sowohl auf Arbeitnehmer als auch auf Beamte. Hinsichtlich der Beamten ist ergänzend auf die Regelung des § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 4 BPersVG zu verweisen. Daneben finden sich in § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 bis 10 BPersVG Regelungen, die für alle Beschäftigten einschließlich der Beamten gelten. Die Ausübung des Mitbestimmungsrechtes

491 492 493 494 495

Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, TV-L, § 3 Rz. 291. RDW/Kaiser, § 75 Rz. 148a. Altvater, § 76 BPersVG Rz. 74 mwN. Fischer/Goeres/Gronimus, § 75 BPersVG Rz. 58 f. RDW/Kaiser, § 75 Rz. 208.

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§ 26 Rz. 26.151

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

ist nicht an den Versagungskatalog des § 77 Abs. 2 BPersVG gebunden496. Das Mitbestimmungsrecht ist allerdings eingeschränkt. Es besteht nur, wenn eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Unter einem Gesetz im Sinne dieser Vorschrift ist jedes förmliche oder materielle Gesetz, dh. einschließlich der Rechtsverordnungen497, des gesetzesvertretenen Richterrechts und des autonomen Satzungsrechts öffentlich-rechtlicher Körperschaften zu verstehen498. Die gesetzliche oder tarifliche Regelung schließt dann ein Mitbestimmungsrecht aus, wenn der Sachverhalt unmittelbar geregelt ist, es also zum Vollzug keines Ausführungsaktes mehr bedarf. Sie muss vollständig, umfassend und erschöpfend sein499. Sofern aufgrund einer gesetzlichen oder tariflichen Regelung die Ausgestaltung der Einzelmaßnahmen dem Dienststellenleiter überlassen ist, unterliegt dessen Entscheidung – auch bei reinen normvollziehenden Maßnahmen ohne Ermessensspielraum – der Richtigkeitskontrolle des Personalrates im Wege der Mitbestimmung500. Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Dienstvereinbarung sein. Dies gilt dann nicht, wenn der Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Dienstvereinbarungen ausdrücklich zulässt (§ 75 Abs. 5 BPersVG). Auch Arbeitsbedingungen, welche lediglich üblicherweise durch Tarifvertrag geregelt werden, sperren den Abschluss von Dienstvereinbarungen gemäß § 75 Abs. 3 iVm. § 73 Abs. 1 BPersVG501. aa) Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit und der Pausen sowie die Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage (§ 75 Abs. 3 Nr. 1 BPersVG)

26.152 Die Personalvertretung hat gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 1 BPersVG hinsichtlich Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit und der Pausen sowie der Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage mitzubestimmen. Dem Mitbestimmungsrecht unterfällt jede Maßnahme, durch die eine generelle und unmittelbar verbindliche Verteilung der vorgeschriebenen Arbeitszeit und der Arbeitspausen auf die Wochenarbeitszeit oder auf die einzelnen Wochentage erfolgen soll502. Sinn und Zweck des Mitbestimmungsrechtes der Personalvertretung ist die Einschaltung eines zusätzlichen Überwachungsorgans. Es soll auf die Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Vorschriften bei der Festlegung der Arbeitszeit achten und sicherstellen, dass vor allem die zugunsten weiblicher und jugendlicher Beschäftigter geltenden Bestimmungen beachtet werden. Gleichzeitig soll die Personalvertretung dafür eintreten, dass berechtigte Wünsche von Beschäftigten, die sich bspw. aus besonderen Verkehrsverhältnissen ergeben, mit den dienstlichen Erfordernissen in Einklang gebracht werden503. Der Personalrat hat auch hinsichtlich der Frage der Einführung von Schichtarbeit mitzubestimmen. Dieses Mitbestimmungsrecht bezieht sich auf das Ob und das Wie der Schichtarbeit504. Unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung geht das BVerwG nunmehr davon aus, dass auch die Anordnung von Rufbereitschaft mitbestimmungspflichtig ist505. Auch hat der Personalrat hinsichtlich des Be496 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 73. 497 St. Rspr., BVerwG v. 7.4.2008 – 6 PB 1.08, NVwZ 2008, 801 Rz. 3 mwN. 498 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 74; RDW/Kaiser, § 75 Rz. 214; aA Altvater, § 75 BPersVG Rz. 114, jeweils mwN. 499 BVerwG v. 2.2.2009 – 6 P 2.08, NZA-RR 2009, 340 (341) Rz. 13. 500 BVerwG v. 1.6.2007 – 6 PB 4.07 Rz. 3, PersR 2007, 356. 501 RDW/Kaiser, § 75 Rz. 221. 502 BVerwG v. 23.8.2007 – 6 P 7.06, NVwZ-RR 2008, 119 (120) Rz. 31 mwN. 503 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 81. 504 BVerwG v. 15.2.1988 – 6 P 29.85, PersV 1988, 437 (438 f.). 505 BVerwG v. 4.9.2012 – 6 P 10.11, PersV 2013, 19 f.; zu dieser Entscheidung Sasse, ArbRB 2012, 340 f.; zur Entscheidung der Vorinstanz und der Entwicklung der Rspr. Wahlers, PersV 2012, 332 ff.

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Sasse

Katalog der Beteiligungsrechte

Rz. 26.155 § 26

ginns und Ende der Pausen mitzubestimmen. Weiter hat er auch bei der Anordnung von Mehrarbeit und Überstunden mitzubestimmen506. Abweichend von § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG räumt § 75 Abs. 3 Nr. 1 BPersVG dem Personalrat kein Mitbestimmungsrecht für die Anordnung von Kurzarbeit ein507. Der Mitbestimmungstatbestand des § 75 Abs. 3 Nr. 1 BPersVG wird durch § 75 Abs. 4 BPersVG eingeschränkt. Das Mitbestimmungsrecht ist auf die Grundsätze für die Aufstellung von Dienstplänen, insbesondere für die Anordnung von Dienstbereitschaft, Mehrarbeit und Überstunden beschränkt, sofern für Gruppen von Beschäftigten die tägliche Arbeitszeit nach Erfordernissen, welche die Dienststelle nicht voraussehen kann, unregelmäßig und kurzfristig festgesetzt werden muss. Beispiele hierfür sind die Polizei und die Feuerwehr oder die Krankheitsvertretung etwa an Schulen508. bb) Zeit, Ort und Art der Auszahlung der Dienstbezüge und Arbeitsentgelte (§ 75 Abs. 3 Nr. 2 BPersVG) Gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 2 BPersVG hat der Personalrat über Zeit, Ort und Art der Auszahlung der Dienstbezüge und des Arbeitsentgeltes mitzubestimmen. Aufgrund abschließender gesetzlicher und tariflicher Regelungen über die Entgeltauszahlung hat diese Vorschrift kaum praktische Bedeutung.

26.153

cc) Urlaubsplan und Lage des Urlaubs (§ 75 Abs. 3 Nr. 3 BPersVG) Die Personalvertretung hat gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 3 BPersVG mitzubestimmen bei der Auf- 26.154 stellung des Urlaubsplanes und der Festsetzung der zeitlichen Lage des Erholungsurlaubs für einzelne Beschäftigte, wenn zwischen dem Dienststellenleiter und dem beteiligten Beschäftigten kein Einverständnis erzielt wird. Dieses Mitbestimmungsrecht ist praktisch relevant. Es führt allerdings kaum zu Streitfällen509. Von dem Mitbestimmungsrecht ist jede Form des Urlaubs erfasst, soweit dieser planbar ist und soweit nicht speziellere Beteiligungstatbestände eingreifen510. Die Mitbestimmung bei der Aufstellung von Urlaubsplänen soll dazu beitragen, die individuelle Urlaubszeit der Beschäftigten so zu koordinieren, dass die Interessen aller Beteiligten möglichst gleichgewichtig berücksichtigt werden. Gleichzeitig soll sichergestellt werden, dass der Dienstablauf trotz urlaubsbedingter Ausfälle weitgehend aufrechterhalten und eine ordnungsgemäße Aufgabenerledigung selbst dort gewährleistet werden kann, wo sich Urlaubszeiten von Beschäftigten in gleichen Sachgebieten überschneiden511. Das Mitbestimmungsrecht bezieht sich weder auf den Urlaubsanspruch des Einzelnen noch auf die Dauer des Erholungsurlaubes512. Keine mitbestimmungspflichtige Maßnahme im Sinne dieser Vorschrift ist die Verhängung einer Urlaubssperre513. Neben der Aufstellung des Urlaubsplans hat der Personalrat mitzubestimmen, sofern hinsichtlich der zeitlichen Lage des Urlaubs für einzelne Beschäftigte zwischen Dienststellenleiter und dem Beschäftigten kein Einverständnis erzielt werden konnte. Sinn und Zweck der Mit-

506 507 508 509 510

BVerwG v. 30.6.2005 – 6 P 9.04, NZA-RR 2005, 665 (667) unter Aufgabe der bisherigen Rspr. BAG v. 10.10.2006 – 1 AZR 811/05, NZA 2007, 637 (639) Rz. 19. BVerwG v. 3.12.2001 – 6 P 12.01, NZA-RR 2002, 666 (669). RDW/Kaiser, § 75 Rz. 280. Altvater, § 75 BPersVG Rz. 137; aA Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 103 – kein Mitbestimmungsrecht bei Sonderurlaub. 511 BVerwG v. 23.8.2007 – 6 P 7.06, NVwZ-RR 2008, 119 (123) Rz. 40 mwN. 512 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 97a. 513 BVerwG v. 19.1.1993 – 6 P 19.90, NVwZ-RR 1993, 308; krit. Altvater, § 75 BPersVG Rz. 140.

Sasse

989

26.155

§ 26 Rz. 26.155

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

bestimmung ist eine gerechte Abwägung der Bedürfnisse und Wünsche des Betroffenen mit den Vorstellungen anderer Beschäftigter und mit den dienstlichen Erfordernissen514. dd) Fragen der Lohngestaltung innerhalb der Dienststelle (§ 75 Abs. 3 Nr. 4 BPersVG)

26.156 Gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 4 BPersVG hat der Personalrat über die Aufstellung und Änderung von Entlohnungsgrundsätzen und die Einführung und Anwendung neuer Entlohnungsmethoden mitzubestimmen. Weiterhin besteht ein Mitbestimmungsrecht hinsichtlich der Festsetzung von Akkord- und Prämiensätzen und vergleichbaren leistungsbezogenen Entgelten einschließlich der Geldfaktoren. Ziel des Mitbestimmungsrechtes ist die Gewährleistung der Verteilungsgerechtigkeit. Dabei stellt die Vorschrift eine Generalklausel dar, die ein umfassendes Mitbestimmungsrecht gewährleistet515. Mitbestimmungspflichtig sind lediglich die abstrakt generellen Regelungen. Die individuelle Lohnhöhe ist nicht mitbestimmungspflichtig516. Erfasst werden alle Formen der Vergütung aus Anlass des Arbeitsverhältnisses. Nicht mitzubestimmen hat der Personalrat lediglich über Zahlungen, mit denen Beschäftigten konkret entstehende oder entstandene Auslagen ersetzt werden517. Der Dienststellenleiter kann eine Mitbestimmung nicht dadurch vermeiden, dass er die übertariflichen Zulagen individuell gewährt, ohne ein abstraktes System aufzustellen. In diesem Fall kann der Personalrat sein Mitbestimmungsrecht durch sein Initiativrecht durchsetzen518. Auch wenn die Vorschrift von der Lohngestaltung innerhalb der Dienststelle spricht, besteht das Mitbestimmungsrecht ebenso bei dienststellenübergreifender Lohngestaltung519.

26.157 Die Anrechnung von Tariflohnerhöhungen auf über- und außertarifliche Zulagen sowie der Widerruf solcher Zulagen aus Anlass und bis zur Höhe einer Tariflohnerhöhung unterliegen der Mitbestimmung, wenn sich im Ergebnis hierdurch die Verteilungsgrundsätze ändern520. Im Falle der Anwendung des Akkordlohns oder des Prämienlohns hat der Personalrat bzgl. der Festsetzung aller Bezugsgrößen, dh. nicht nur hinsichtlich des Stück- und des Zeitfaktors, sondern auch hinsichtlich des Geldfaktors mitzubestimmen521. Im Falle des Prämienlohns hat der Personalrat hinsichtlich der den Geldfaktoren beim Akkord vergleichbaren Entgelteinheiten, dh. dem Prämienausgangslohn, den Leistungsstufen und dem Höchstarbeitslohn, mitzubestimmen522. Bei anderen Entgeltformen besteht nur dann eine Mitbestimmung, wenn sie wie Akkord- und Prämienlohn leistungsbezogen sind, wenn also eine vom Beschäftigten erbrachte Leistung gemessen und mit einer Normal- oder Bezugsleistung verglichen wird und die Entgelthöhe hiervon abhängig ist523. Bedeutung erlangt die Zustimmung in Bezug auf das Leistungsentgelt im Zusammenhang mit § 18 TVöD-AT (Bund) und dem hierzu abgeschlos-

514 Altvater, § 75 BPersVG Rz. 141. 515 BVerwG v. 9.12.1998 – 6 P 6.97, NZA 1999, 1003 (1005 f.); v. 20.11.2008 – 6 P 17.07, NZA-RR 2009, 283 (284), Rz. 11. 516 BVerwG v. 9.12.1998 – 6 P 6.97, NZA 1999, 1003 (1007). 517 RDW/Kaiser, § 75 Rz. 304. 518 BVerwG v. 28.5.2009 – 6 PB 5.09 Rz. 9. 519 BVerwG v. 20.11.2008 – 6 P 17.07, NZA-RR 2009, 283 (284) Rz. 12. 520 RDW/Kaiser, § 75 Rz. 310 mwN. 521 BVerwG v. 26.7.1979 – 6 P 44.78, AP Nr. 4 zu § 75 BPersVG. 522 BVerwG v. 26.7.1979 – 6 P 44.78, AP Nr. 4 zu § 75 BPersVG. 523 Altvater, § 75 BPersVG Rz. 152; Lorenzen/Etzel/Gerhold/Schlatmann/Rehak/Faber/Griebeling/Hebeler/Ramm, § 75 BPersVG Rz. 412.

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Rz. 26.159 § 26

senen Leistungs-TV (Bund). Korrespondierende Regelungen finden sich allerdings auch in § 18 TVöD-VKA bzw. im TV-L524. ee) Sozialeinrichtungen (§ 75 Abs. 3 Nr. 5 BPersVG) Gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 5 BPersVG bestimmt der Personalrat hinsichtlich der Errichtung, Verwaltung und Auflösung von Sozialeinrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform mit. Sozialeinrichtungen sind auf Dauer berechnete, von der Dienststelle geschaffene Einrichtungen, die dazu dienen, dem Beschäftigten soziale Vorteile zukommen zu lassen525. Das Mitbestimmungsrecht wird umfassend gewährt. Die Sozialeinrichtung ist rechtsformunabhängig526. Unter Errichtung ist nicht nur die erstmalige Schaffung einer Sozialeinrichtung zu verstehen, sondern auch für die Benutzer wesentliche Änderungen des Betriebs oder der Rechtsform und der Zuordnung einer solchen Einrichtung, die nicht Verwaltungsmaßnahmen oder Auflösung sind527. Daneben sind auch Verwaltungsmaßnahmen und Auflösung mitbestimmungspflichtig. Voraussetzung für das Vorliegen einer Sozialeinrichtung ist weiterhin, dass es sich um ein Sondervermögen handelt, welches von der Dienststelle abgegrenzt ist. Insoweit bedarf es einer gewissen Verselbständigung528. Zu den Sozialeinrichtungen zählen Unterstützungskassen, Kantinen, Bibliotheken, Kinderbetreuungseinrichtungen529. Strittig ist, ob Parkplätze eine Sozialeinrichtung darstellen530. Zutreffend wird man dies wegen der fehlenden Verselbständigung ablehnen müssen531.

26.158

ff) Durchführung der Berufsausbildung bei Arbeitnehmern (§ 75 Abs. 3 Nr. 6 BPersVG) Die Vorschrift des § 75 Abs. 3 Nr. 6 BPersVG, wonach der Personalrat bei der Durchführung der Berufsausbildung von Arbeitnehmern mitbestimmt, hat geringe praktische Bedeutung, da verschiedene relevante Fragen nicht der Mitbestimmung unterliegen532. Der Personalrat bestimmt mit bei der Aufstellung allgemeiner Grundsätze für die Durchführung der Berufsausbildung in der Dienststelle. Da aber durch das BBiG und die Ausbildungsverordnungen hier vielfache Regelungen geschaffen sind, beschränkt sich das Mitbestimmungsrecht im Wesentlichen auf die organisatorische Umsetzung533. Kein Mitbestimmungsrecht besteht bei der Auswahl der Auszubildenden für eine Erstausbildung, weil diese der Ausbildungsdienststelle noch nicht angehören. Insoweit kommt lediglich ein Mitbestimmungsrecht gemäß § 75 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG in Betracht.

524 Zur Beteiligung der Personalvertretung in diesem Zusammenhang Vesper/Feiter, ZTR 2008, 2 (7 f.). 525 St. Rspr., BVerwG v. 9.11.1998 – 6 P 1.98, PersR 1999, 125. 526 BVerwG v. 28.6.2000 – 6 P 1.00, NZA 2000, 1123 (1124); v. 20.12.2000 – 6 P 3.00, NZA-RR 2001, 391. 527 BVerwG v. 28.6.2000 – 6 P 1.00, NZA 2000, 1123 (1124). 528 Altvater, § 75 BPersVG Rz. 156. 529 Zur Übersicht vgl. Altvater, § 75 BPersVG Rz. 161 ff.; RDW/Kaiser, § 75 Rz. 331. 530 Bejahend Hessischer VGH v. 25.9.2003 – 22 TL 2300/02. 531 OVG Sachsen-Anhalt v. 5.10.2005 – 5 L 19/04, PersR 2006, 84; Beckmann, PersV 1994, 496 (498). 532 RDW/Kaiser, § 75 Rz. 346. 533 RDW/Kaiser, § 75 Rz. 353.

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26.159

§ 26 Rz. 26.160

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

gg) Auswahl der Teilnehmer an Fortbildungsveranstaltungen für Arbeitnehmer (§ 75 Abs. 3 Nr. 7 und § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BPersVG)

26.160 Gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 7 BPersVG sowie gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BPersVG bestimmt der Personalrat hinsichtlich der Auswahl der Teilnehmer an Fortbildungsveranstaltungen mit. Dem Personalrat obliegt die Aufgabe, darüber zu wachen, dass eine Auswahl der Beschäftigten für berufliche Fortbildungsveranstaltungen nach möglichst gleichmäßigen Kriterien erfolgt und alle Beschäftigten unter Berücksichtigung ihrer Eignung und Leistung die Chance zur Teilnahme daran erhalten534. Nach hM gibt die Vorschrift des § 75 Abs. 3 Nr. 7 BPersVG ein Mitbestimmungsrecht bei Einzelfallentscheidungen535. hh) Inhalte von Personalfragebögen (§ 75 Abs. 3 Nr. 8 und § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BPersVG)

26.161 Gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 8 und § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BPersVG bestimmt der Personalrat hinsichtlich des Inhalts von Personalfragebögen mit. Ein Mitbestimmungsrecht hinsichtlich der Frage der Einführung besteht nicht536. Sinn und Zweck der Mitbestimmung ist der Schutz der Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten einschließlich der Bewerber537. Der Personalfragebogen unterfällt nur dann dem Mitbestimmungsrecht, wenn der Arbeitgeber durch ihn neue, ihm noch nicht bekannte Erkenntnisse gewinnt538. Der Fragebogen muss sich an den Bediensteten selbst richten, so dass zB Patientenbefragungen ausscheiden, auch wenn sie Fragen mit personenbezogenen Elementen enthalten539. Inhaltlich dürfen im Personalfragebogen nur solche Fragen aufgenommen werden, an deren Beantwortung der Arbeitgeber im Hinblick auf die geplante Tätigkeit des Bewerbers oder Arbeitnehmers ein berechtigtes Informationsinteresse hat540. ii) Beurteilungsrichtlinien (§ 75 Abs. 3 Nr. 9 und § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BPersVG)

26.162 Der Personalrat bestimmt hinsichtlich der Beurteilungsrichtlinien gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 9 und § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BPersVG mit541. Beurteilungsrichtlinien sind allgemeine Regelungen, welche die Bewertung des Verhaltens oder der Leistung des Arbeitnehmers verobjektivieren und an einheitlichen Kriterien ausrichten, um zu erreichen, dass die Beurteilungsergebnisse miteinander vergleichbar sind542. jj) Bestellung von Vertrauens- oder Betriebsärzten als Arbeitnehmer (§ 75 Abs. 3 Nr. 10 BPersVG)

26.163 Gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 10 BPersVG hat der Personalrat bei der Bestellung von Vertrauensoder Betriebsärzten als Angestellten mitzubestimmen. Sofern der Betriebs- oder Vertrauens534 BVerwG v. 29.1.2003 – 6 P 16.01, AP Nr. 3 zu § 51 MitbestG Schleswig-Holstein. 535 BVerwG v. 7.3.1995 – 6 P 7.93, PersR 1995, 332 (333); Altvater, § 75 BPersVG Rz. 183; aA RDW/ Kaiser, § 75 Rz. 364. 536 Altvater, § 75 BPersVG Rz. 185. 537 BVerwG v. 22.12.1993 – 6 P 11.92, NVwZ-RR 1994, 271 (272). 538 BVerwG v. 22.12.1993 – 6 P 11.92, NVwZ-RR 1994, 271 (272). 539 VGH Baden-Württemberg v. 29.11.2007 – PL 15 S 5/06, ZTR 2008, 175 (176). 540 RDW/Kaiser, § 75 Rz. 388. 541 Ein derartiger Mitbestimmungstatbestand ist für die Landespersonalvertretungsgesetze gesetzlich nicht zwingend vorgeschrieben und kann insbesondere auch nicht aus § 104 Satz 1 BPersVG abgeleitet werden (vgl. BVerwG v. 28.7.2006 – 6 P 3.06, NVwZ 2007, 103 f. betreffend die Gesetzeslage in Sachsen-Anhalt, welches kein derartiges Mitbestimmungsrecht kennt). 542 BVerwG v. 11.12.1991 – 6 P 20.89, AP Nr. 4 zu § 79 LPVG Baden-Württemberg.

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Katalog der Beteiligungsrechte

Rz. 26.164 § 26

arzt als Beamter bestellt wird, hat der Personalrat gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BPersVG mitzubestimmen. Das Mitbestimmungsrecht greift nur dann ein, wenn die Dienststelle den Betriebsarzt hauptberuflich einstellt. Es besteht sowohl bei der Einstellung eines Externen als Betriebsarzt als auch bei Übertragung der Funktion des Betriebsarztes auf einen in der Dienststelle beschäftigten Arzt543. Anders als im Wortlaut des § 9 Abs. 3 ASiG ist in § 75 Abs. 3 Nr. 10 BPersVG nicht ausdrücklich bestimmt, dass der Personalrat auch über die Abberufung von Vertrauens- oder Betriebsärzten mitzubestimmen hat. Jedoch wird nach hM die Abberufung auch von dem Mitbestimmungstatbestand als actus contrarius mit umfasst544. Damit ist die Kündigung eines Betriebsarztes ohne Mitbestimmung der Personalvertretung dann unwirksam, wenn die Kündigung auf Gründe gestützt wird, die sachlich mit der Tätigkeit als Betriebsarzt in untrennbarem Zusammenhang stehen545. kk) Maßnahmen zur Verhütung von Dienst- und Arbeitsunfällen und sonstigen Gesundheitsschädigungen (§ 75 Abs. 3 Nr. 11 BPersVG) Der Personalrat bestimmt gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 11 BPersVG bei Maßnahmen zur Verhütung von Dienst- und Arbeitsunfällen und sonstigen Gesundheitsschädigungen mit. Dies schließt auch freiwillige Maßnahmen wie ein Betriebliches Gesundheitsmanagement ein546. Nach der Rechtsprechung des BVerwG soll dieses Mitbestimmungsrecht ausgeschlossen sein, wenn es um Maßnahmen geht, die wegen ihrer Folgewirkung zur nach außen gerichteten Aufgabenerfüllung der Dienststelle, zB Schule, gehören. Eine Mitbestimmung zB hinsichtlich der Asbestsanierung eines Gebäudes betrifft die Frage, ob und wie eine solche Sanierung durchgeführt wird und damit unmittelbar die Schüler und den Schulbetrieb. Die Entscheidungen hierüber sind dem Schulträger vorbehalten547. Der Personalrat bestimmt bei Maßnahmen mit, die zur Verhütung ergriffen werden sollen, dh. bei solchen Maßnahmen, die darauf abzielen, das Risiko von Gesundheitsschädigungen oder Unfällen innerhalb der Dienststelle zu mindern oder einen effektiven Arbeits- und Gesundheitsschutz zu gewährleisten548. Dabei ist eine objektiv-finale Betrachtungsweise zugrunde zu legen. Es kommt auf den objektiven Inhalt der Maßnahme und die in diesem Zusammenhang relevanten Umstände an549. Es reicht ein kausaler Bezug zur Arbeitswelt aus. Die Gesundheitsgefahren, denen vorgebeugt werden soll, müssen zwar einen Bezug zur Tätigkeit des Beschäftigten in der Dienststelle haben. Es ist aber nicht erforderlich, dass die Dienststelle diese unmittelbar verursacht oder die Verantwortung

543 RDW/Kaiser, § 75 Rz. 417. 544 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 151; aA Fischer/Goeres/Gronimus, § 75 BPersVG Rz. 100a. 545 BAG v. 24.3.1988 – 2 AZR 369/87, NZA 1989, 60 ff. zu § 9 Abs. 3 ASiG und der Beteiligung des Betriebsrates. 546 BVerwG v. 14.2.2013 – 6 PB 1.13, NZA-RR 2013, 390 ff.; ausführlich Faber/Nietsche, PersR 2014, 22 ff. 547 BVerwG v. 2.10.1995 – 6 P 27.93, NZA-RR 1996, 438; v. 23.8.2000 – 6 P 12.99, AP Nr. 22 zur § 72 LPVG NW; krit. hierzu RDW/Kaiser, § 75 Rz. 429 und der Hinweis darauf, dass die Rspr. des BVerfG zum Demokratieprinzip es nicht erfordere, das Mitbestimmungsrecht auszuschließen. Vielmehr sei es ausreichend, dass die Einigungsstelle analog § 69 Abs. 4 Satz 3 BPersVG auf eine Empfehlung beschränkt sei; die Rspr. des BVerwG ebenfalls ablehnend v. Roetteken, NZA-RR 2001, 505 (515 f.). 548 BVerwG v. 8.1.2001 – 6 P 6.00, NZA 2001, 570 f. 549 BVerwG v. 13.9.2012 – 6 PB 10.12, Rz. 7, PersV 2013, 20 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen v. 23.5.2012 – 20 A 875/11.PVB, PersR 2012, 376.

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26.164

§ 26 Rz. 26.164

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

über den beschriebenen allgemeinen Rahmen hinausgeht550. Die Aufhebung einer mitbestimmungspflichtigen Maßnahme unterliegt nur dann der Mitbestimmung, wenn sie selbst auf die Verhütung von Dienst- oder Arbeitsunfällen oder Gesundheitsschädigungen abzielt551. Nicht mitzubestimmen sind Maßnahmen, welche in erster Linie andere Zwecke verfolgen. Ebenfalls nicht mitzubestimmen sind Vorbereitungsmaßnahmen, zB Befragungen zum Zwecke der Bestandsaufnahme552. Anders als die Rechtsprechung zu § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG553 geht das BVerwG davon aus, dass Gefährdungsanalysen gemäß § 5 ArbSchG nicht mitbestimmungspflichtig sind554. Allerdings kann der Personalrat dadurch Einfluss nehmen, dass er entweder die Zustimmung zu Maßnahmen des Gesundheitsschutzes wegen einer unzureichenden Gefährdungsbeurteilung verweigert oder im Falle des Absehens von Maßnahmen sein Initiativrecht geltend macht555. Mitbestimmungspflichtig sind aber personelle Maßnahmen zur Verhütung von Dienst- und Arbeitsunfällen, so zB die Bestellung von Gesundheitsschutzbeauftragten im weiteren Sinne556. ll) Grundsätze über die Bewertung von anerkannten Vorschlägen im Rahmen des betrieblichen Vorschlagswesens (§ 75 Abs. 3 Nr. 12 BPersVG)

26.165 Ein Mitbestimmungsrecht besteht hinsichtlich der Grundsätze über die Bewertung von Vorschlägen im Rahmen des betrieblichen Vorschlagswesens. Dieses Mitbestimmungsrecht hat geringe praktische Bedeutung, weil der Personalrat weder über die Einführung des betrieblichen Vorschlagswesens noch über die Bewertung einzelner Verbesserungsvorschläge mitbestimmen kann557. Für den Bereich der Bundesverwaltung wurde eine Rahmenrichtlinie für das Ideenmanagement in der Bundesverwaltung558 beschlossen. Deren Umsetzung unterliegt der Mitbestimmung559. mm) Aufstellung von Sozialplänen einschließlich Umschulungsplänen bei Rationalisierungsmaßnahmen (§ 75 Abs. 3 Nr. 13 BPersVG)

26.166 Gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 13 BPersVG hat der Personalrat ein Mitbestimmungsrecht bei der Aufstellung von Sozialplänen zum Ausgleich oder zur Milderung von wirtschaftlichen Nachteilen, welche dem Beschäftigten infolge von Rationalisierungsmaßnahmen entstehen. Zweck dieses Mitbestimmungsrechtes ist es, den Arbeitnehmern bei rationalisierungsbedingten Veränderungen ihrer Tätigkeit oder ihres Arbeitsumfeldes verstärkten Schutz zu gewähren560. Dieses

550 551 552 553 554 555 556 557 558 559 560

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BVerwG v. 14.2.2013 – 6 PB 1.13 Rz. 5, NZA-RR 2013, 390. BVerwG v. 19.5.2003 – 6 P 16.02, PersR 2003, 314 (318). BVerwG v. 14.10.2002 – 6 P 7.01, NZA-RR 2003, 273 (274). BAG v. 8.6.2004 – 1 ABR 13/03, NZA 2004, 1175 (1176 f.). BVerwG v. 14.10.2002 – 6 P 7.01, NZA-RR 2003, 273 (274); v. 5.3.2012 – 6 PB 25.11, PersV 2012, 307 f.; kritisch Lorse, PersV 2013, 451 (453 f.); sehr krit. zur letztgenannten Entscheidung Hummel/Geißler in Schröder/Urban, Gute Arbeit Ausgabe 2013, S. 151 (152 ff.). BVerwG v. 5.3.2012 – 6 PB 25.11 Rz. 6, PersV 2012, 307 f.; ausführlich zu Fragen der Gefährdungsbeurteilung im Zusammenhang mit psychischen Belastungen Sasse, BB 2013, 1717 ff. sowie Sasse/Schönfeld, RdA 2016, 346 ff. RDW/Kaiser, § 75 Rz. 441 mwN; zum Beteiligungsrecht bei der Bestellung von Betriebsärzten und Fachkräften für Arbeitssicherheit nach dem ASiG Schleicher, PersV 2014, 444 ff. RDW/Kaiser, § 75 Rz. 447; aA Leuze, RdA 2011, 319. In der Fassung der Bekanntmachung v. 27.1.2010, GMBl. 2010, 61 ff. Altvater, § 75 BPersVG Rz. 217a. BVerwG v. 26.3.1986 – 6 P 38.82, PersV 1986, 510 (511).

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Katalog der Beteiligungsrechte

Rz. 26.167 § 26

Mitbestimmungsrecht hat wegen Begrenzung auf Rationalisierungsmaßnahmen und den Vorrang gesetzlicher und tariflicher Rationalisierungsschutzregeln nur eine geringe Bedeutung561. Deshalb wird de lege ferenda teilweise eine Ausweitung auf alle Maßnahmen, die wirtschaftliche Nachteile für die betroffenen Bediensteten haben können, gefordert562. Eine Rationalisierungsmaßnahme liegt vor, wenn durch sie die Leistungen der Dienststelle durch eine zweckmäßige Gestaltung von Arbeitsabläufen verbessert werden soll, indem der Aufwand an menschlicher Arbeit oder auch Zeit, Energie, Material und Kapital herabgesetzt wird563. Die Rationalisierungsentscheidung muss wegen des engen Zusammenhangs zwischen Sozialplan und Rationalisierungsmaßnahme von der Beschäftigungsstelle selbst oder der übergeordneten Dienststelle für ihren Geschäftsbereich getroffen sein564. Sofern der Personalbedarf an vorhandene Gegebenheiten angepasst werden soll, handelt es sich nicht um eine Rationalisierungsmaßnahme. Gleiches gilt auch bei Auflösung oder Änderung einzelner Arbeitsplätze, weil sie für Struktur und Arbeitsweise einer Dienststelle nicht von gravierender Bedeutung sind565. Gegenstand des Sozialplans ist nicht die Entscheidung über die Einleitung oder die Durchführung von Rationalisierungsmaßnahmen, sondern allein der Ausgleich oder die Milderung der dadurch entstehenden wirtschaftlichen Nachteile566. Daneben benennt § 75 Abs. 3 Nr. 13 BPersVG ausdrücklich auch die Möglichkeit von Umschulungen. Die entsprechenden Pläne für Umschulungen sollen vor allem Regelungen über die Frage der Kostentragung und Mindestzeiten vorsehen, zu denen spätestens die Maßnahmen für eine durch Rationalisierung notwendig werdende Umschulung einzusetzen haben567. nn) Absehen von der Ausschreibung von Dienstposten, die besetzt werden sollen (§ 75 Abs. 3 Nr. 14 BPersVG) Der Personalrat hat mitzubestimmen gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 14 BPersVG, sofern von der Aus- 26.167 schreibung von Dienstposten abgesehen werden soll, die besetzt werden sollen. Gegenstand der Mitbestimmung ist dabei nicht eine beabsichtigte Maßnahme, sondern ein Unterlassen568. Der Personalrat hat darüber mitzubestimmen, ob ein neu geschaffener oder frei gewordener, besetzbarer und zur Besetzung vorgesehener Dienstposten ausgeschrieben werden soll oder nicht. Dabei besteht eine grundsätzliche Verpflichtung der Dienststelle, frei werdende Stellen auszuschreiben. Der Personalrat hat dahingehend mitzubestimmen, ob dies erfolgt oder nicht569. Eine Verpflichtung zur Ausschreibung kann sich aus gesetzlichen Vorschriften zB § 8 Abs. 1 BBG oder § 6 Abs. 2 BGleiG, aus in der Dienststelle praktizierten Verwaltungsvorschriften oder aus ständiger Verwaltungspraxis ergeben570. An der bisherigen Rechtsprechung, wonach sich eine solche Verpflichtung aus § 75 Abs. 3 Nr. 14 BPersVG ergibt, wird nicht mehr

561 RDW/Kaiser, § 75 Rz. 458. 562 Welkoborsky, PersR 2011, 17 (18 f.). 563 BVerwG v. 17.6.1992 – 6 P 17.91, NVwZ-RR 1993, 563 (564), krit. Altvater, § 75 BPersVG Rz. 220. 564 BVerwG v. 28.11.2012 – 6 P 11.11, Rz. 18; hierzu Sasse, ArbRB 2013, 77. 565 BVerwG v. 17.6.1992 – 6 P 17.91, NVwZ-RR 1993, 563 (564). 566 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 167; Fischer/Goeres/Gronimus, § 75 BPersVG Rz. 103. 567 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 170. 568 BVerwG v. 29.1.1996 – 6 P 38.93, NVwZ 1997, 286 (287). 569 BVerwG v. 8.3.1988 – 6 P 32.85, NVwZ 1989, 563 (564); v. 4.5.2012 – 6 PB 1.12, PersV 2012, 308 f. 570 BVerwG v. 14.1.2010 – 6 P 10.09 Rz. 12 ff., PersV 2010, 340 ff.

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§ 26 Rz. 26.167

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

festgehalten571. Sofern nur ein Beschäftigter das durch den Dienststellenleiter im Rahmen seiner Organisations- und Personalhoheit festgelegte Anforderungsprofil erfüllt, ist auch eine dienststelleninterne Ausschreibung überflüssig und rechtlich nicht geboten. In diesem Fall kann auch nicht von einem Absehen von einer Ausschreibung gesprochen werden572. oo) Regelung der Ordnung in der Dienststelle und des Verhaltens der Beschäftigten (§ 75 Abs. 3 Nr. 15 BPersVG)

26.168 § 75 Abs. 3 Nr. 15 BPersVG gewährt dem Personalrat ein Mitbestimmungsrecht betreffend die Regelungen, die die Ordnung in der Dienststelle und das Verhalten der Beschäftigten betreffen. Das Mitbestimmungsrecht bezieht sich auf die Gesamtheit der allgemeinen Verhaltensregeln, die einen störungsfreien und reibungslosen Ablauf des Lebens in der Dienststelle gewährleisten sollen. Es erstreckt sich hingegen nicht auf dasjenige Verhalten, das im Hinblick auf die zu erfüllenden Aufgaben Gegenstand der jeweiligen individuellen Dienst- oder Vertragspflichten ist, also mit der zu erbringenden Arbeitsleistung in unmittelbarem Zusammenhang steht573. Auch rein diensttechnische Regelungen, welche den Ablauf des Dienstbetriebes gestalten, sind von diesem Mitbestimmungsrecht nicht erfasst574. Erforderlich und möglich ist die Beteiligung des Personalrates nur, soweit gesetzliche und tarifliche Regelungen dem Dienststellenleiter bei der Aufstellung von Ordnungs- und Verhaltensregeln einen Spielraum lassen575. Auch muss es sich um kollektive Maßnahmen handeln, welche das Verhalten der Beschäftigten abstrakt regeln. Die Rechtsprechung zu dem Mitbestimmungsrecht576 ist nahezu unüberschaubar. Beispielhaft sollen hier einige Fälle aufgezählt werden:

26.169 Ein Mitbestimmungsrecht wurde bejaht – bei dem Erlass eines allgemeinen Alkoholverbotes in der Dienststelle, wenn die Regelung des allgemeinen Verhaltens der Beschäftigten und der Ordnung in der Dienststelle im Vordergrund steht577. Dies gilt nicht, wenn die Anordnung zB aus Sicherheitsgründen gegenüber Waffen tragendem Personal erfolgt578. – bei der Anordnung zur Abnahme von Fingerabdrücken zum Zwecke der Sicherheitsüberprüfung579, – bei Verwaltungsvorschriften zur Förderung des Selbststeuerns von Dienstfahrzeugen580.

571 BVerwG v. 14.1.2010 – 6 P 10.09, PersV 2010, 340 ff.; anders noch die 1. Auflage unter Hinweis auf die Entscheidung des BVerwG v. 29.1.1996 – 6 P 38/93, NVwZ 1997, 386 (387). 572 Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 75 BPersVG Rz. 173a. 573 BVerwG v. 28.7.2006 – 6 P 3.06, NVwZ 2007, 103 (104) Rz. 12 mwN. 574 BVerwG v. 13.8.1992 – 6 P 20.91, NVwZ-RR 1993, 368 (369). 575 BVerwG v. 10.1.1983 – 6 P 11.80, PersV 1983, 507 (508); Fischer/Goeres/Gronimus, § 75 BPersVG Rz. 107b. 576 Eine Übersicht gibt Altvater, § 75 BPersVG Rz. 245 f. 577 BVerwG v. 5.10.1989 – 6 P 7.88, NJW 1990, 726 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen v. 4.5.1987 – CL 20/85, NJW 1988, 931 f. 578 BVerwG v. 11.3.1983 – 6 P 25.80, PersV 1984, 318 (319). 579 LAG Rheinland-Pfalz v. 8.3.1991 – 6 TaBV 48/90, BB 1991, 1119 (Ls.). 580 BVerwG v. 19.5.2003 – 6 P 16.02, NZA-RR 2003, 616 (Ls.).

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Katalog der Beteiligungsrechte

Rz. 26.173 § 26

26.170

Ein Mitbestimmungsrecht wurde verneint – bei der Benennung einer Beschwerdestelle gemäß § 13

AGG581;

– bei der Anordnung der amts- oder vertrauensärztlichen Untersuchung zur Klärung der Dienstfähigkeit582; – bei der Anordnung einer einheitlichen Standardschrift im dienstlichen Schriftverkehr583. pp) Gestaltung der Arbeitsplätze (§ 75 Abs. 3 Nr. 16 BPersVG) Gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 16 BPersVG kann der Personalrat bei der Gestaltung der Arbeitsplätze mitbestimmen. Ziel ist es, die Beschäftigten vor Überbeanspruchung oder Gefährdung ihrer körperlichen und seelischen Gesundheit durch die äußeren Bedingungen der Arbeitsleistung zu schützen584. Eine beabsichtigte Arbeitsplatzgestaltung kann außer § 75 Abs. 3 Nr. 16 BPersVG auch weitere Mitbestimmungstatbestände betreffen. Nach bisheriger Rechtsprechung des BVerwG tritt das Mitbestimmungsrecht gemäß § 75 Abs. 3 Nr. 16 BPersVG dann hinter das schwächere Beteiligungsrecht zurück585. Diese Rechtsprechung wird kritisiert. Es stellt sich die Frage, ob ein vollständiger Ausschluss des Mitbestimmungsrechtes des Personalrates geboten ist oder ob es nicht ausreicht, den Spruch der Einigungsstelle als Empfehlung analog § 69 Abs. 4 Satz 3 BPersVG zu werten586.

26.171

Maßnahmen zur Gestaltung des Arbeitsplatzes sind solche, welche sich auf die räumlichen und technischen Bedingungen beziehen, unter denen eine konkret an einer bestimmten Stelle des Betriebes zu erfüllende Arbeitsaufgabe geleistet werden muss, zB Belüftungsmöglichkeiten. Nicht hierunter fällt jedoch, in welchen zeitlichen Abständen zB ein Arbeitsplatz gereinigt wird587.

26.172

qq) Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Beschäftigten zu überwachen (§ 75 Abs. 3 Nr. 17 BPersVG) Einer der zentralen Mitbestimmungstatbestände ist § 75 Abs. 3 Nr. 17 BPersVG. Hiernach hat der Personalrat mitzubestimmen bei der Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Beschäftigten zu überwachen. Dieses Mitbestimmungsrecht hat aufgrund der DSGVO und der Neufassung des BDSG noch an Bedeutung gewonnen. Insbesondere haben Personalrat und Dienststelle bei neu abzuschließenden oder bereits existierenden Dienstvereinbarungen die sich hieraus ergebenden Folgen zu beachten588. Sinn und Zweck des Mitbestimmungstatbestandes ist es, dass die Beeinträchtigungen und Gefahren für den Schutz der Persönlichkeit der Beschäftigten am Arbeitsplatz, die von der Technisierung der Verhaltens- und Leistungskontrolle ausgehen, auf das erforderliche Maß eingeschränkt werden sollen. Ein Beschäftigter, der befürchten muss, während der Arbeit mithilfe technischer oder elektronischer Kontrolleinrichtungen jederzeit 581 Hessischer VGH v. 20.3.2008 – 22 TL 2257/07, NZA-RR 2008, 554 f.; zum BetrVG BAG v. 21.7.2009 – 1 ABR 42/08, NZA 2009, 1049 f., Rz. 17 ff. 582 BVerwG v. 23.1.1986 – 6 P 8.83, NJW 1986, 2388 (Ls.). 583 VGH Baden-Württemberg v. 17.9.2002 – PL 15 S 623/02. 584 St. Rspr., BVerwG v. 30.8.1985 – 6 P 20.83, NJW 1986, 1360 (1361). 585 BVerwG v. 17.7.1987 – 6 P 6.85, NVwZ 1988, 442 ff. 586 RDW/Kaiser, § 75 Rz. 519; ebenfalls krit. Altvater, § 75 BPersVG Rz. 254. 587 BVerwG v. 25.8.1986 – 6 P 16.84, NJW 1987, 1658 (1659). 588 Ausführlich Thannheiser, PersR 2018, 8 ff.

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997

26.173

§ 26 Rz. 26.173

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

beobachtet oder in anderer Weise fortlaufend kontrolliert zu werden, kann unter einen Überwachungsdruck geraten, der ihn in der freien Entfaltung der Persönlichkeit behindert, ihn insbesondere unter Anpassungsdruck setzt und ihn in eine erhöhte Abhängigkeit bringt589. Das Mitbestimmungsrecht bezieht sich auf technische Überwachungseinrichtungen, dh. solche, mit deren Hilfe Beschäftigtendaten technisch aufgenommen, übermittelt, verarbeitet oder ausgewertet werden590. Unter Überwachen iSd. Vorschrift ist sowohl das Sammeln und Aufzeichnen von Informationen als auch das Auswerten bereits vorliegender Informationen zu verstehen591. Die Rechtsprechung des BVerwG geht von einer Anwendbarkeit des Mitbestimmungstatbestandes aus, wenn die Einrichtungen zur Überwachung von Verhalten und Leistung der Beschäftigten objektiv geeignet sind. Auf eine Überwachungsabsicht kommt es nicht an592. Mit dieser Entscheidung setzt sich das Gericht ebenso wie zuvor das BAG593 über den Wortlaut des Gesetzes und den Willen des Gesetzgebers594 hinweg. Das BVerfG aber hat in seinen Entscheidungen vom 6.6.2018595 ausdrücklich darauf abgestellt, dass die Rechtsprechung den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers zu beachten hat. Angesichts dieser Erwägungen ist daher darauf abzustellen, ob die technische Einrichtung zur Überwachung bestimmt ist. Ansonsten führt diese Auffassung zu immer weiter ausufernden Mitbestimmungssachverhalten. Innovationsprozesse werden erschwert596. Bis zu einer Änderung der Rechtsprechung muss für die Praxis aber von der Rechtsprechung des BVerwG ausgegangen werden.597

26.174 Das Mitbestimmungsrecht wurde in der Rechtsprechung zB angenommen bei Datenverarbeitungssystemen mit möglicher Benutzeridentifikation598, der Einführung von Zeiterfassungssystemen599 oder Telefonanlagen, welche eine automatisierte Gesprächsdatenerfassung für einzelne Beschäftigte zulässt600. Bedeutsam werden die Fragen angesichts der Veränderung der Kommunikationsformen insbesondere auch bei der Nutzung von E-Mails. Dabei stellen sich sowohl die Fragen der dienstlichen als auch der privaten Nutzung601. Das Mitbestimmungsrecht bezieht sich auf die Einführung und Anwendung technischer Kontrolleinrichtungen. Einführung ist dabei außer der Neueinführung auch eine wesentliche Erweiterung einer bereits bestehenden Überwachungseinrichtung, etwa die Benutzung von PCs. Anwendung ist die Handhabung. Mitzubestimmen hat der Personalrat deshalb auch, wenn die Anwendung einer technischen Einrichtung geändert, etwa die Kontrolle gegenständlich erweitert oder auf andere Personen erstreckt wird602.

589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602

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St. Rspr., BVerwG v. 29.9.2004 – 6 P 4.04, NVwZ 2005, 342 (343) mwN. BVerwG v. 29.8.2001 – 6 P 10.00, NZA-RR 2002, 501 (502 f.). Altvater, § 75 BPersVG Rz. 261. BVerwG v. 16.12.1987 – 6 P 32.84, NZA 1988, 513. BAG v. 14.5.1974 – 1 ABR 45/73, AP BetrVG 1972 § 87 Überwachung Nr. 1. Zum BetrVG BT-Drucks. VI/1786, S. 48 f. BVerfG v. 6.6.2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14 Rz. 72 ff. Kritisch auch Hanau, NJW 2016, 2613 (2615); Laber, öAT 2018, 133 (135 f.). Der Gesetzgeber in Sachsen-Anhalt hat vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung im Landespersonalvertretungsgesetz vom Wortlaut bereits allein auf die objektive Eignung zur Überwachung abgestellt (vgl. Bieler u.a., PersVG LSA, § 69 Rz. 47 ff.). OVG Nordrhein-Westfalen v. 2.9.1994 – 1 A 3511/91.PVL, PersR 1995, 133. BVerwG v. 29.9.2004 – 6 P 4.04, NVwZ 2005, 342. OVG Nordrhein-Westfalen v. 17.12.2003 – 1 A 1088/01.PVL, PersR 2004, 309; Hessischer VGH v. 29.3.1989 – BPV TK 3992/87, NZA 1989, 651. Hierzu Müller, öAT 2019, 1 ff. RDW/Kaiser, § 75 Rz. 546 f.

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Katalog der Beteiligungsrechte

Rz. 26.177 § 26

Das Mitbestimmungsrecht wird regelmäßig durch den Abschluss von Dienstvereinbarungen ausgeübt. Diese können auch nach Inkrafttreten der DSGVO gem. § 26 Abs. 4 BDSG als Rechtsgrundlage der Datenverarbeitung dienen. Dabei müssen aber die Vorgaben der DSGVO603 und des BDSG beachtet werden604. Dabei bleiben auch vor Inkrafttreten der Neuregelungen abgeschlossene Dienstvereinbarungen wirksam, solange diese die Anforderungen von Art. 88 Abs. 2 DSGVO erfüllen. Da eine Vielzahl von alten Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen diesen Vorgaben nicht gerecht werden, wurde der Abschluss einer sogenannten „Rahmenbetriebsvereinbarung-DSGVO“ als Mittel zur Umsetzung der neuen Datenschutzvorgaben empfohlen605. rr) Maßnahmen zur Hebung der Arbeitsleistung und Erleichterung des Arbeitsablaufes (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 BPersVG) Der Personalrat hat gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 BPersVG bei Maßnahmen zur Hebung der Arbeitsleistung mitzubestimmen. Ziel des Mitbestimmungsrechtes ist es, bei Maßnahmen, die darauf abzielen, die Effektivität der Arbeit in der vorgegebenen Zeit qualitativ oder quantitativ zu fördern, also die Güte oder Menge der Arbeitsleistung zu steigern, die betroffenen Dienstkräfte vor einer unnötigen und unzumutbaren Belastung zu bewahren606. Die Zielrichtung zur Hebung der Arbeitsleistung kann sich aus den Umständen schließen lassen, wenn es für die Betroffenen zwangsläufig und unausweichlich erscheint, dass sie sich ohne Kompensationsmöglichkeit „mehr ins Zeug legen müssen“607. Dabei geht die Rechtsprechung davon aus, dass keine Maßnahmen zur Hebung der Arbeitsleistung vorliegen, wenn diese nicht darauf abzielen, die Güte und/oder Menge der zu leistenden Arbeit zu steigern. Deshalb wurde zB die Mitbestimmung bei der Anordnung von Überstunden608 oder bei der Reduzierung der Reinigungshäufigkeit von Diensträumen609 verneint. Als Maßnahme der Hebung der Arbeitsleistung wurde zB die Arbeitsumverteilung bei gleichzeitiger Zuweisung weiterer Aufgaben angesehen610. Weiterhin wird als mitbestimmungspflichtig angesehen die Einführung neuer Techniken611.

26.175

Daneben sind gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 BPersVG Maßnahmen zur Erleichterung des Arbeitsablaufes mitbestimmungspflichtig. Diese müssen darauf abzielen, Art und Maß der Beanspruchung eines oder mehrerer Beschäftigter zu mindern, um die gewonnene Arbeitszeit durch Übertragung zusätzlicher Aufgaben nutzen zu können612.

26.176

ss) Fortbildung der Beschäftigten (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 BPersVG) Der Personalrat bestimmt bei der Fortbildung von Beschäftigten mit. Fortbildung sind dabei alle Maßnahmen, die an einen vorhandenen Wissensgrundstock anknüpfen, fachliche und berufliche Kenntnisse vertiefen und aktualisieren und die ein Mehr an Kenntnissen vermit603 Vgl. hierzu Kühling/Buchner/Maschmann, DSGVO/BDSG, 2. Aufl. 2018, § 26 BDSG Rz. 65 ff. 604 Praxishinweise bei Schwartmann u.a./Thüsing/Traut, DSGVO/BDSG, 2018, Art. 88 DSGVO Rz. 53 ff.; sowie Schrey/Kielkowski, BB 2018, 629 (633 ff.). 605 Grimm, ArbRB 2018, 78 ff.; 122 ff. 606 BVerwG v. 9.1.2008 – 6 PB 15.07, NZA-RR 2008, 279 Rz. 6. 607 Baden, PersR 2011, 242 (246). 608 BVerwG v. 23.1.1996 – 6 P 54.93, NZA-RR 1996, 479 f. 609 Hessischer VGH v. 28.9.1995 – TL 2776/94, NZA-RR 1996, 239 (240). 610 VGH Baden-Württemberg v. 27.11.1984 – 15 S 3059/83, ZBR 1985, 175 f. 611 BVerwG v. 23.9.1992 – 6 P 26.90, NVwZ-RR 1993, 559 (560) – obiter dictum; RDW/Kersten, § 76 Rz. 143; aA Hessischer VGH v. 24.8.1988 – HPV TL 23/81, NJW 1999, 26 (41 f.). 612 BVerwG v. 19.6.1990 – 6 P 3.87, NJW 1990, 30 (33).

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999

26.177

§ 26 Rz. 26.177

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

teln613. Mitbestimmungspflichtig sind dabei allgemeine Fragen der Fortbildung, also die allgemeinen Grundsätze, die sich jenseits des Einzelfalls stellen und generell entschieden werden müssen614. Nicht mitbestimmungspflichtig ist die Durchführung einer Fortbildung im Einzelfall, zB die konkrete Programmgestaltung615. Ebenfalls nicht Gegenstand der Mitbestimmung ist die Frage der Fortbildungskosten oder ihrer Rückzahlung für den Fall eines vorzeitigen Ausscheidens616. tt) Einführung grundlegender neuer Arbeitsmethoden (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 BPersVG)

26.178 Der Personalrat bestimmt gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 BPersVG mit bei der Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden. Als Arbeitsmethode werden dabei die Grundlagen der personellen, räumlichen, technischen und sonstigen bedeutsamen Gegebenheiten und Möglichkeiten der Dienststelle des hieraus entwickelten Modells des Ablaufs derjenigen Arbeiten, welche zur Erfüllung der gestellten Aufgaben geleistet werden müssen, verstanden617. Grundlegend neue Arbeitsmethoden sind solche, die für die Beschäftigten ins Gewicht fallende körperliche und geistige Auswirkungen haben und sich nicht nur gelegentlich und kurzfristig bemerkbar machen618. Als neue Arbeitsmethode wurde dabei zB die Einführung von Telearbeit angesehen619. uu) Erlass von Richtlinien über die personelle Auswahl bei Einstellung, Versetzung, Umgruppierung und Kündigung (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BPersVG)

26.179 Der Personalrat hat bei der Aufstellung von Auswahlrichtlinien gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BPersVG mitzubestimmen. Auswahlrichtlinien legen die persönlichen, fachlichen und sozialen Kriterien und das Verfahren fest, nach denen positive sowie negative Personalentscheidungen in der Dienststelle getroffen werden sollen, um eine möglichst große Einheitlichkeit und Transparenz in der Personalwirtschaft herzustellen620. Nicht mitbestimmungspflichtig sind hingegen Anforderungsprofile und Eignungsprofile621. vv) Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen einen Beschäftigten (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 BPersVG)

26.180 Der Personalrat bestimmt gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 BPersVG mit bei der Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen einen Beschäftigten. Dies sind alle Haftungsansprüche, die vom Staat gegenüber dem Beamten oder Arbeitnehmer geltend gemacht werden können. Die Mitbestimmung besteht allerdings gemäß § 76 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 BPersVG lediglich auf Antrag des Bediensteten. Dieser ist gemäß § 76 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 BPersVG von der beabsichtigten Maßnahme rechtzeitig vor Beteiligung des Personalrats in Kenntnis zu setzen622.

613 614 615 616 617 618 619 620 621 622

BVerwG v. 17.10.2002 – 6 P 3.02, NVwZ 2003, 476 (477). Fischer/Goeres/Gronimus, § 76 BPersVG Rz. 47. RDW/Kersten, § 76 Rz. 154. BAG v. 5.6.2007 – 9 AZR 604/06, NZA-RR 2008, 107 (108 ff.); ArbG Stendal v. 16.1.2014 – 1 Ca 574/13 (n.v.); a.A. Altvater, § 76 BPersVG Rz. 114. BVerwG v. 30.8.1985 – 6 P 20.83, NJW 1986, 1360 (1364). Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 76 BPersVG Rz. 42. Altvater, § 76 BPersVG Rz. 123. BVerwG v. 21.3.2005 – 6 PB 8.04, NZA-RR 2005, 447 (448). RDW/Kersten, § 76 Rz. 197. Zur praktischen Vorgehensweise vgl. BVerwG v. 2.6.2010 – 6 P 9.09, PersR 2010, 354.

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Katalog der Beteiligungsrechte

Rz. 26.184 § 26

ww) Maßnahmen, die der Durchsetzung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen und Männern dienen (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 10 BPersVG) Gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 10 BPersVG bestimmt der Personalrat mit bei Maßnahmen, die der Durchsetzung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen und Männern, insbesondere bei der Einstellung, Beschäftigung, Aus-, Fort- und Weiterbildung und dem beruflichen Aufstieg dienen. Hierdurch soll die Gleichberechtigung von Frau und Mann gewährleistet werden. Die Aufzählung ist nicht abschließend, so dass alle Maßnahmen der Dienststelle mitbestimmungspflichtig sind, die der Gleichstellung dienen623.

26.181

2. Mitwirkungsrechte a) Mitwirkung des Personalrates bei Kündigungen (§ 79 BPersVG) Gemäß § 79 Abs. 1 BPersVG wirkt der Personalrat bei ordentlichen Kündigungen mit. § 77 Abs. 1 Satz 2 BPersVG gilt entsprechend. Weiter zu dieser Vorschrift s. § 19, Rz. 19.25 ff.

26.182

b) Mitwirkung bei der Vorbereitung von Verwaltungsanordnungen (§ 78 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG) Der Personalrat wirkt gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG mit bei der Vorbereitung von Verwaltungsanordnungen einer Dienststelle für die innerdienstlichen, sozialen und persönlichen Angelegenheiten der Beschäftigten ihres Geschäftsbereichs, wenn nicht nach § 94 BBG die Spitzenorganisationen der zuständigen Gewerkschaften bei der Vorbereitung mit zu beteiligen sind. Der Begriff der Verwaltungsanordnung ist weiter als im Verwaltungsrecht. Unter den Begriff der Verwaltungsanordnung fallen nicht nur hoheitliche Anordnungen, sondern auch allgemeine Weisungen, die für die Arbeitnehmer aufgrund des Direktionsrechts verbindlich sind. Die Regelungen müssen allgemein sein, also einen unbestimmten Teil der Beschäftigten betreffen, nicht einzelne oder abgrenzbare Gruppen624. Derartige Verwaltungsanordnungen müssen eine innerdienstliche Rechtswirkung haben. Sie müssen selber gestaltend in das Arbeitsverhältnis eingreifen, lediglich norminterpretierende Regelungen reichen nicht aus625. Soziale Angelegenheiten betreffen das Gesamtgebiet der Arbeitsbedingungen im weitesten Sinne, dh. sowohl materielle als auch formelle Arbeitsbedingungen. Persönliche Angelegenheiten sind alle diejenigen Maßnahmen, die mit der Einstellung, Eingruppierung, Versetzung, Abordnung und Entlassung im weitesten Sinne zusammenhängen. Neben den Mitbestimmungsrechten gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BPersVG und der Mitbestimmung hinsichtlich der Beurteilungsrichtlinie gemäß §§ 75 Abs. 3 Nr. 9 und 76 Abs. 2 Nr. 3 BPersVG hat dieses Mitwirkungsrecht geringe Bedeutung626.

26.183

c) Mitwirkung bei der Auflösung von Dienststellen (§ 78 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG) Ein Mitwirkungsrecht besteht gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 2 BPersVG bei der Auflösung von 26.184 Dienststellen oder wesentlichen Teilen von ihnen. Der Begriff der Auflösung entspricht dem der Betriebsstilllegung im BetrVG. Gleichgestellt ist der Auflösung die Auflösung eines we623 Schlatmann, PersV 1996, 1. 624 BVerwG v. 1.9.2004 – 6 P 3.04, AP Nr. 4 zu § 85 LPVG Berlin. 625 Zu tarifvertragsauslegenden Anweisungen BVerwG v. 7.2.2012 – 6 P 26.10, NZA-RR 2012, 389 (390 f.) Rz. 13 ff. 626 RDW/Benecke, § 78 Rz. 7.

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1001

§ 26 Rz. 26.184

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

sentlichen Teils der Dienststelle. Daneben sind auch die Einschränkung, Verlegung und Zusammenlegung der Dienststelle oder wesentlicher Teile beteiligungspflichtig. Keine Zusammenlegung liegt vor, wenn eine bisher nach § 6 Abs. 3 BPersVG verselbständigte Nebenstelle oder Dienststelle ihre personalvertretungsrechtliche Selbständigkeit verliert. Insbesondere wird diskutiert, ob die Privatisierung einer Dienststelle eine Auflösung darstellt. S. auch § 29, Rz. 29.20.

26.185 Einstweilen frei. d) Erhebung von Disziplinarklagen (§ 78 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG)

26.186 Der Personalrat wirkt bei der Erhebung von Disziplinarklagen gegen einen Beamten mit. Der Mitwirkung unterliegt dabei nur das Ob der Klageerhebung627. Hierbei wirkt der Personalrat aber nur auf Antrag des Beamten mit (§ 78 Abs. 2 iVm. § 77 Abs. 1 Satz 2 BPersVG).

26.187 Auf andere Disziplinarmaßnahmen bezieht sich der Mitbestimmungstatbestand nicht. Im Übrigen scheidet das Mitwirkungsverfahren gemäß § 78 Abs. 2 Satz 1 BPersVG aus, wenn die Disziplinarklage gegen einen Beamten erhoben wird, der unter § 54 Abs. 1 BBG fällt oder eine Beamtenstelle von der Besoldungsgruppe A 16 an aufwärts innehat. Sofern die Disziplinarklage ohne die vom Beamten beantragte Mitwirkung des Personalrates erhoben wird, ist sie nicht unzulässig. Sie leidet aber an einem wesentlichen Mangel des Disziplinarverfahrens. Gleiches gilt, wenn die Behörde den Beamten nicht auf die Möglichkeit hingewiesen hat, die Beteiligung des Personalrates zu verlangen628. e) Entlassung von Beamten auf Probe (§ 78 Abs. 1 Nr. 4 BPersVG)

26.188 Gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 4 BPersVG wirkt der Personalrat bei der Entlassung von Beamten auf Probe oder auf Widerruf mit, sofern diese die Entlassung nicht selbst beantragt haben. Auch hier ist ein Antrag des Beamten gemäß § 78 Abs. 2 Satz 2 BPersVG erforderlich. Eine Mitwirkung kommt nur bei einer fristgemäßen, nicht aber bei einer fristlosen Entlassung in Betracht. f) Vorzeitige Versetzung in den Ruhestand (§ 78 Abs. 1 Nr. 5 BPersVG)

26.189 Gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 5 BPersVG wirkt der Personalrat bei der vorzeitigen Versetzung in den Ruhestand mit. Auch hier erfolgt die Mitwirkung nur auf Antrag. Deshalb kommt das Mitwirkungsrecht regelmäßig nur in Betracht, wenn es sich um eine Zwangspensionierung handelt, der Beamte also nicht selbst die vorzeitige Pensionierung in den Ruhestand beantragt629. 3. Anhörungsrechte

26.190 § 78 Abs. 3 bis 5 BPersVG sehen Anhörungsrechte des Personalrates vor. Daneben finden sich Anhörungstatbestände hinsichtlich fristloser Entlassungen und außerordentlicher Kündigungen in § 79 Abs. 3 BPersVG (hierzu s. § 19, Rz. 19.17 ff.).

627 BVerwG v. 20.10.2005 – 2 C 12.04, NVwZ 2006, 469, Rz. 14 f.; ausführlich Baßlsperger, PersR 2012, 297 ff. 628 Altvater, § 78 BPersVG Rz. 35. 629 RDW/Benecke, § 78 Rz. 34.

1002

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Katalog der Beteiligungsrechte

Rz. 26.194 § 26

a) Personalanforderungen zum Haushaltsvoranschlag (§ 78 Abs. 3 BPersVG) Gemäß § 78 Abs. 3 BPersVG ist der Personalrat vor der Weiterleitung von Personalanforderungen zum Haushaltsvoranschlag anzuhören. Ihm soll Gelegenheit gegeben werden zur Einflussnahme auf allgemeine personelle Grundsatzentscheidungen. Unter Personalanforderungen ist jeder personelle Mehrbedarf zu verstehen, wobei es nicht allein auf die zahlenmäßige Verstärkung ankommt630. Da die Feststellungen des Haushalts auf die personelle Zusammensetzung der Dienststelle Einfluss hat, soll die Personalvertretung im Vorfeld der Planung Gelegenheit zur Stellungnahme haben, soweit sich aus der Personalplanung konkrete Personalanforderungen zum Haushaltsvoranschlag ergeben631. Sofern der Personalrat einer nachgeordneten Dienststelle zu den Personalanforderungen eine Stellungnahme abgibt, so ist diese mit den Personalanforderungen der übergeordneten Dienststelle vorzulegen. Dies gilt auch für Personalplanungen. Die Personalplanung umfasst neben der Bedarfsplanung auch die Beschaffungsplanung, die Entwicklungs- und die Einsatzplanung632.

26.191

b) Neu-, Um- und Erweiterungsbau von Diensträumen (§ 78 Abs. 4 BPersVG) Gemäß § 78 Abs. 4 BPersVG ist der Personalrat bei Neu-, Um- und Erweiterungsbauten von 26.192 Diensträumen anzuhören. Die Dienststelle hat die Personalvertretung spätestens zu dem Zeitpunkt zu beteiligen, zu dem konkret Entwürfe hinsichtlich baulicher Veränderungen vorliegen. Dabei sind der Personalvertretung in umfassender Weise alle Überlegungen mitzuteilen, die die Dienststelle zu den konkreten Planungsmaßnahmen veranlasst haben633. Unter Neu-, Um- und Erweitungsbauten iSd. Abs. 4 sind alle Maßnahmen zu verstehen, die nicht nur der Erhaltung der baulichen Substanz dienen, wobei es auf den Umfang der Veränderung nicht ankommt634. c) Änderung von Arbeitsverfahren und Arbeitsabläufen (§ 78 Abs. 5 BPersVG) Gemäß § 78 Abs. 5 BPersVG besteht ein Anhörungsrecht des Personalrates auch vor grundlegenden Änderungen von Arbeitsverfahren und Arbeitsabläufen. Diese Beteiligung wird in der Regel durch das Mitbestimmungsrecht des Personalrates bei der Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden oder bei Maßnahmen zur Hebung der Arbeitsleistung und zur Erleichterung des Arbeitsablaufes überlagert635.

26.193

4. Sonstige Rechte Daneben stehen dem Personalrat Informationsrechte zu. Diese ergeben sich aus § 68 Abs. 2 BPersVG. Nach dieser Vorschrift ist die Personalvertretung zur Durchführung ihrer Aufgaben rechtzeitig und umfassend zu unterrichten. Ihr sind die hierfür erforderlichen Unterlagen vorzulegen. Die entsprechenden Informationen beziehen sich auf alle Aufgaben, die dem Personalrat nach dem BPersVG oder nach anderen Vorschriften obliegen636. Der Infor630 631 632 633 634 635 636

BVerwG v. 2.3.1983 – 6 P 12.80, PersV 1984, 240 f. Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 78 BPersVG Rz. 28. BVerwG v. 23.1.2002 – 6 P 5.01, AP Nr. 7 zu § 68 BPersVG. Ilbertz/Widmaier/Sommer, § 78 BPersVG Rz. 33. Fischer/Goeres/Gronimus, § 78 BPersVG Rz. 37. Altvater, § 78 BPersVG Rz. 63. BVerwG v. 11.2.1981 – 6 P 3.79; v. 27.7.1983 – 6 P 42.80, PersV 1985, 86; v. 27.11.1991 – 6 P 24.90, PersR 1992, 153.

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1003

26.194

§ 26 Rz. 26.194

Grundlagen des Personalvertretungsrechts

mationsanspruch hat eine hohe Bedeutung für Wahrnehmung der Interessen der Beschäftigten637. Eines konkreten Anlasses für die Ausübung des Informationsrechtes bedarf es nicht638. Allerdings steht ein von der konkreten Aufgabe unabhängiges Informationsrecht dem Personalrat dagegen nicht zu, weil er zu einer allgemeinen Kontrolle der Dienststelle nicht befugt ist639. Zu den Aufgaben, die der Personalrat wahrzunehmen hat, gehören insbesondere die in § 68 Abs. 1 BPersVG festgehaltenen Aufgaben. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Aufgabe, darüber zu wachen, dass die zugunsten der Beschäftigten geltenden Gesetze, Verordnungen, Tarifverträge, Dienstvereinbarungen und Verwaltungsanordnungen durchgeführt werden. Der Begriff der Gesetze und Verordnungen ist dabei weit zu fassen. Hierunter fällt auch Richterrecht. Für die Durchführung der Überwachungsaufgaben sieht das Gesetz keine besonderen Verfahren vor. Allerdings obliegt es dem Personalrat nicht, die Aufgabenerfüllung und den inneren Betrieb der Dienststelle allgemein und unabhängig von ihm zugewiesenen Aufgaben zu überwachen640. Neben den allgemeinen Aufgaben und Informationsrechten steht dem Personalrat gemäß § 75 Abs. 2 Satz 3 bis 5 BPersVG ein Informationsrecht betreffend an Bedienstete geleistete Unterstützungen, Vorschüsse, Darlehen etc. zu.

26.195 Darüber hinaus bestehen auch Informationsrechte außerhalb des Personalvertretungsrechts, zB gemäß § 7 Abs. 3 TzBfG, § 81 Abs. 1 Satz 4 SGB IX641 oder § 167 Abs. 2 Satz 7 SGB IX642.

637 638 639 640

Altvater, PersR 2009, 253 (255). BVerwG v. 16.2.2010 – 6 P 5.09 Rz. 24, PersV 2010, 228 ff. BVerwG v. 29.8.1990 – 6 P 30.87, NJW 1991, 373 (374). BVerwG v. 22.12.1993 – 6 P 15.92, NVwZ 1995, 89; daher tendenziell zu weit VG Saarlouis v. 19.5.2008 – 9 L 362/08. 641 Vgl. hierzu Altvater, § 68 BPersVG Rz. 27. 642 BVerwG v. 4.9.2012 – 6 P 5.11, PersV 2013, 65 ff.; aA noch Bayerischer VGH v. 12.6.2012 – 17 P 11.1.1940, PersV 2012, 383 ff.

1004

Sasse

§ 27 Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten der Beschäftigung im öffentlichen Dienst I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Besonderheiten in der Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung (Gesetzliche Rentenversicherung) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Versicherungsfreiheit bei Gewährleistung beamtenähnlicher Versorgung, § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Personenbezogene Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Arbeitgeberbezogene Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Versorgungsstatus nach beamtenrechtlichen Grundsätzen . . . . d) Gewährleistung und Sicherung der Versorgung . . . . . . . . . . . . . e) Behördliche Feststellung der Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . f) Beginn und Ende der Versicherungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . g) Reichweite der Versicherungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Versicherungsfreiheit von Rentnern und Hinterbliebenen . . . . . 2. Nachversicherung bei Beendigung der Versicherungsfreiheit . . . . . . . a) Eintritt des Nachversicherungsfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausscheiden aus der versicherungsfreien Beschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) „Unversorgtes“ Ausscheiden aus der versicherungsfreien Beschäftigung . . . . . . . . . . . cc) Verlust der Versorgungsanwartschaft . . . . . . . . . . . . b) Nachzuversichernde Beschäftigungszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . c) Durchführung und Wirkung der Nachversicherung . . . . . . . . d) Aufschub der Beitragszahlung . . aa) Die Aufschubgründe im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . bb) Zeitpunkt der Beurteilung .

27.1

27.7

27.8 27.10 27.13 27.23 27.29 27.33 27.39 27.42 27.46 27.48 27.51 27.53 27.56 27.58 27.59 27.62 27.67 27.69 27.72

cc) Formelle Voraussetzungen des Beitragsaufschubs . . . . . dd) Rechtsfolgen des Beitragsaufschubs . . . . . . . . . . . . . . e) Berechnung der nachzuentrichtenden Beiträge . . . . . . . . . .

27.81

3. Freiwillige gesetzliche Versicherung, § 7 Abs. 2 SGB VI . . . . . . . . .

27.84

4. Erstattung früherer Rentenversicherungsbeiträge . . . . . . . . . . . . .

27.86

III. Besonderheiten in der Versorgung bei Krankheit und Arbeitsunfähigkeit (Gesetzliche Krankenversicherung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27.90

27.74 27.77

1. Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Krankenversicherung, § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V . . . . . . . . . . 27.92 a) Beschäftigte privilegierter Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . 27.93 b) Fürsorgestatus nach beamtenrechtlichen Grundsätzen . . . . . . 27.96 c) Beginn und Ende der Versicherungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . 27.100 d) Reichweite der Versicherungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.102 2. Erfordernis einer beihilfeergänzenden Zusatzversorgung . . . . . . . a) Beihilfekonforme private Krankenversicherung . . . . . . . . . aa) Kosten der privaten Ergänzungsversicherung . . . . . . . bb) Reduzierung des Beitragsanstiegs durch Basistarife bis 31.12.2008 . . . . . . . . . . . cc) Basistarife seit dem 1.1.2009 . . . . . . . . . . . . . . . b) Freiwillige Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorversicherungszeit in der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . bb) Auswirkungen der freiwilligen Versicherung auf den Beihilfeanspruch . . . . . . . . .

27.119

Oberthür

1005

27.103 27.107 27.109 27.110 27.115 27.117 27.118

§ 27

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

cc) Kosten der freiwilligen Versicherung . . . . . . . . . . . dd) Abwägung der Vor- und Nachteile der freiwilligen Versicherung . . . . . . . . . . . c) Spätere Rückkehr in die gesetzliche Krankenversicherung . . . . aa) Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Eintritt der Versicherungspflicht nach Vollendung des 55. Lebensjahres . . . . . . cc) Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Rentner . . . . . . . . . . . . . . . dd) Rückkehr in die gesetzliche Krankenversicherung mangels anderweitiger Absicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27.120

2. Versicherungsfreiheit von Rentnern, Hinterbliebenen und Familienangehörigen . . . . . . . . . . . . . . . 27.167

27.122

V. Besonderheiten in der Versorgung bei Pflegebedürftigkeit (Gesetzliche Pflegeversicherung) . . . . . . . . . 27.169

27.126 27.127

1. Versicherungspflicht in der gesetzlichen Pflegeversicherung, § 20 Abs. 1 und 3 SGB XI . . . . . . . 27.172

27.128

2. Versicherungspflicht in der privaten Pflegeversicherung, § 23 Abs. 1 SGB XI . . . . . . . . . . . . . 27.176

27.133

27.135

3. Versicherungsfreiheit von Rentnern, Hinterbliebenen und Familienangehörigen . . . . . . . . . . . 27.136 4. Ausschluss der Familienversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.142 5. Tarifliche Sozialleistungen im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . . . . . . 27.146 a) Entgeltfortzahlung und Zuschussleistungen im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . . . . 27.147 b) Freistellung bei Erkrankung eines Kindes oder der Betreuungsperson . . . . . . . . . . . . . . . . 27.153 IV. Besonderheiten in der Versorgung bei Arbeitslosigkeit (Gesetzliche Arbeitslosenversicherung) . . . . . . 27.157 1. Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung, § 27 Abs. 1 Nr. 1 SGB III . . . a) Beschäftigte privilegierter Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fürsorgestatus nach beamtenrechtlichen Grundsätzen . . . . . . c) Beginn und Ende der Versicherungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . d) Reichweite der Versicherungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27.158 27.159 27.160 27.163

3. Versicherungspflicht in der privaten Pflegeversicherung für Beihilfeberechtigte, § 23 Abs. 1 SGB XI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.181 a) Definition der beamtenähnlichen Beihilfeberechtigung im Pflegefall . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.183 b) Inhalt und Kosten der beihilfekonformen Pflegeversicherung . 27.185 4. Versicherungspflicht für Rentner, Hinterbliebene und Familienangehörige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.187 5. Durchführung der Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.189 VI. Besonderheiten der Unfallfürsorge (Gesetzliche Unfallversicherung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.192 1. Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Unfallversicherung, § 4 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII . . . . . . . . a) Arbeitgeberbezogene Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unfallfürsorge nach beamtenrechtlichen Grundsätzen . . . . . . c) Gewährleistung der Unfallfürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beginn und Ende der Versicherungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . e) Reichweite der Versicherungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27.193 27.194 27.195 27.199 27.202 27.204

2. Versorgungsleistungen bei außerdienstlichen Unfällen . . . . . . . . . . . 27.206

27.165

Schrifttum: Kommentare/Handbücher: Ambs/Feckler u.a., Gemeinschaftskommentar zum Arbeitsförderungsrecht, Loseblatt, zit.: Bearbeiter in GK-SGB III; Becker/Franke/Molkentin, Kommentar zur Unfallversicherung – Sozialgesetzbuch VII, 5. Aufl. 2018; Brackmann, Handbuch der Sozialversiche-

1006

Oberthür

Allgemeines

Rz. 27.2 § 27

rung, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch, Loseblatt; Brand, Kommentar zum SGB III, 8. Auflage 2018; Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr, Bundes-Angestelltentarifvertrag – BAT-Kommentar, Loseblatt; Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, Kommentar zur Unfallversicherung – Sozialgesetzbuch VII, 3. Aufl. 2018; Eicher/Schlegel, SGB III, Arbeitsförderungsrecht, Loseblatt; Gagel, Kommentar zum SGB II/SGB III, Loseblatt, 73 EL März 2019, zit.: Gagel/Bearbeiter; Hauck/Noftz, SGB III: Arbeitsförderung, SGB V: Gesetzliche Krankenversicherung, SGB VI: Gesetzliche Rentenversicherung, SGB XI: Soziale Pflegeversicherung, Loseblatt; Jahn/Klose, Sozialgesetzbuch für die Praxis, Loseblatt; Kasseler Kommentar Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Loseblatt; Kreikebohm, Sozialgesetzbuch – Kommentar zum SGB VI, 5. Aufl. 2017; Kommentar zum Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, Loseblatt, 1. Aufl. 2015, zit.: Bearbeiter in KomGRV; Lauterbach/Watermann/ Breuer, Unfallversicherung – Sozialgesetzbuch VII, Loseblatt; Plagemann, Münchener Anwaltshandbuch Sozialrecht, 5. Aufl. 2018; Schmitt, SGB VII, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl. 2009; Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, 1994 ff.; Wannagat/Eichenhofer, Sozialgesetzbuch (SGB), Kommentar zum gesamten Recht des Sozialgesetzbuchs, Loseblatt; Wimmer, Frankfurter Kommentar zur Insolvenzordnung, 9. Aufl. 2018; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, Teil II, Loseblatt, Stand Mai 2018. Aufsätze: Beckmann, Rentenreformgesetz 1992 – Versicherungsfreiheit, Befreiung von der Versicherungspflicht und Nachversicherung, Mitt. LVA OMFr 1990, 408; Benz, Dienstordnung und Dienstordnungsangestellte in der gesetzlichen Unfallversicherung, SGb 2000, 53; Clausing, Versicherungsfreiheit/Versicherungspflicht/Versicherungsberechtigung von Beamten und gleichgestellten Personen, DAngVers 1978, 503; Grintsch, Die Versicherungsfreiheit von Beamten und gleichgestellten Beschäftigten, ZTR 1994, 58; Heinz, Aspekte des DO-Rechts, BABl. 1985, 22; Hock, Der Anspruch auf Krankenentgelt im TVöD, ZTR 2005, 614; Lutter, Die private Pflege-Pflichtversicherung, BABl. 1994, 51; Kleinebrink, Der Freistellungs- und Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers bei Erkrankung eines Kindes nach dem SGB V, ArbRB 2006, 303; Schmidt, Krankengeldzuschuss in den Manteltarifverträgen des öffentlichen Dienstes, PersR 1999, 71; von Einem, Neuregelung der Nachversicherung im Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), ZTR 1993, 270; Zetl, Krankenbezüge nach dem neuen TVöD, ZMV 2006, 72.

I. Allgemeines Beamte, die im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses beschäftigt werden, 27.1 unterliegen als „Diener des Staates“ auch der besonderen Absicherung durch den Staat. Der Dienstherr hat gemäß § 45 BeamtStG1 für das Wohl der Beamten und ihrer Familien sowohl während des Beamtenverhältnisses als auch für die Zeit nach dessen Beendigung zu sorgen. Die Versorgung der Beamten und deren Familienangehörigen in allen Fällen wesentlicher Lebensrisiken ist dementsprechend durch das Beamtenrecht des Bundes und der Länder abgesichert; aufgrund des damit verbundenen Mangels an sozialer Schutzbedürftigkeit sind Beamte in das System der gesetzlichen Sozialversicherung nicht einbezogen. Für die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes gelten demgegenüber in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht zunächst keine Besonderheiten. Sie unterliegen beitrags- wie auch leistungsrechtlich denselben sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen wie die Arbeitnehmer der Privatwirtschaft. Auch soweit die Versicherungspflicht für besondere Beschäftigtengruppen, etwa für Rentner, Studenten, geringfügig Beschäftigte oder für Beschäftigte mit höheren Einkommen in einzelnen Versicherungszweigen entfällt, gelten für den öffentlichen Dienst keine Sonderregelungen. Das Sozialversicherungsrecht berücksichtigt allerdings, dass der öffentliche Dienst aufgrund der besonderen verfassungsrechtlichen Gewährleistung des 1 § 45 BeamtStG in der seit 1.4.2009 geltenden, zuletzt am 28.11.2018 geänderten Fassung, ehemals § 48 BRRG.

Oberthür

1007

27.2

§ 27 Rz. 27.2

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

Art. 33 Abs. 5 GG systembedingt eigene, außerhalb der gesetzlichen Sozialversicherungssysteme angesiedelte Sicherungssysteme nicht nur für seine Beamten, sondern auch für seine sonstigen Beschäftigten begründen kann und von diesem Recht auch Gebrauch gemacht hat. Wenn und soweit Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes in ein solches, der gesetzlichen Sozialversicherung als mindestens gleichwertig anerkanntes Versorgungssystem einbezogen sind, geht der Gesetzgeber aufgrund einer typisierenden Betrachtung davon aus, dass die soziale Absicherung anderweitig gewährleistet und die Einbeziehung in die gesetzliche Versicherungspflicht deshalb entbehrlich ist2.

27.3 Diese gesetzgeberischen Erwägungen werden durch die Bestimmungen zur Versicherungsfreiheit umgesetzt. Arbeitnehmer, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, unterliegen in den verschiedenen Versicherungszweigen grundsätzlich der Versicherungspflicht; ausnahmsweise sind jedoch Arbeitnehmer, die eine dem Grunde nach sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausüben, in der gesetzlichen Sozialversicherung versicherungsfrei, wenn die Versicherung aufgrund einer gesetzlichen Sonderregelung nicht oder jedenfalls nicht als Pflichtversicherung durchgeführt wird. Die Einbeziehung der versicherungsfreien Arbeitnehmer in die Versicherungspflicht ist in diesem Fall kraft Gesetzes ausgeschlossen; allenfalls kann in einzelnen Versicherungszweigen eine freiwillige Versicherung begründet werden.

27.4 Infolge der Versicherungsfreiheit entstehen in dem jeweiligen Versicherungszweig keine Leistungsansprüche, gleichzeitig aber auch keine Beitragsbelastungen. Ob dies für den Arbeitnehmer im Einzelfall Vor- oder Nachteile begründet, ist aus der Sicht des Sozialversicherungsrechts ohne Belang. Wird aufgrund der gesetzlichen Regelung Versicherungsfreiheit angenommen, kommt es auf die konkrete Schutzbedürftigkeit des im Einzelfall betroffenen Arbeitnehmers nicht an; der in der Sozialversicherung vorherrschende Grundsatz der Solidarität aller Arbeitnehmer schließt es aus, das Bestehen der Versicherungspflicht von einem individuellen Schutzbedürfnis abhängig zu machen3.

27.5 Ob eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst ausnahmsweise sozialversicherungsfrei ist, ist demnach anhand der gesetzlichen Vorgaben zu bestimmen. Dabei ist zu beachten, dass jeder Zweig der gesetzlichen Sozialversicherung eigenständige Regelungen zur Beurteilung der Sozialversicherungspflicht enthält, die neben den allgemeinen Regelungen zur Beschäftigung in den §§ 7 ff. SGB IV zu berücksichtigen sind. Insbesondere strahlt die Versicherungsfreiheit etwa in der gesetzlichen Rentenversicherung, die aufgrund ihres wirtschaftlichen und sozialpolitischen Gewichts für die Arbeitnehmer in der Regel die größte Bedeutung besitzt, nicht ohne weiteres auf die übrigen Versicherungszweige der gesetzlichen Sozialversicherung aus. Vielmehr ist das Bestehen der Versicherungspflicht gemäß § 2 Abs. 2 SGB IV für jeden Versicherungszweig gesondert zu prüfen4. Dabei sehen alle Versicherungszweige Sonderregelungen für die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes vor; doch obgleich sich deren Voraussetzungen inhaltlich ähneln, sind sie nicht in allen Bereichen identisch ausgestaltet. Gemeinsam ist jedoch allen Bereichen der gesetzlichen Sozialversicherung, dass der Ausschluss der Arbeitnehmer aus den Systemen der gesetzlichen Sozialversicherung von der Gewährleistung einer beamtenähnlichen Absicherung durch den Arbeitgeber abhängt. 2 BSG v. 9.11.1999 – B 4 RA 58/98, SozR 3-2600 § 8 Nr. 6; v. 10.9.1975 – 3/12 RK 6/74, SozR 2200 § 169 Nr. 1. 3 BSG v. 10.9.1975 – 3/12 RK 6/74, SozR 2200 § 169 Nr. 1; v. 17.6.1999 – B 12 KR 18/98 R, SozR 3-2600 § 5 Nr. 6; v. 25.3.2004 – B 12 KR 9/02 R, DAngVers 2004, 434. 4 BAG v. 7.12.2005 – 5 AZR 254/05, NZA 2006, 684; Zieglmeier in Kasseler Kommentar, § 2 SGB VI Rz. 6.

1008

Oberthür

Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung

Rz. 27.9 § 27

Für den einzelnen Arbeitnehmer ist die Einbeziehung in die außerhalb der gesetzlichen So- 27.6 zialversicherung ngesiedelten Sicherungssysteme regelmäßig vorteilhaft, da hierdurch bei gleichem oder sogar verbessertem Leistungsumfang die Beitragsbelastung reduziert wird. Der Arbeitnehmer hat jedoch keinen Rechtsanspruch darauf, eine zur Versicherungsfreiheit führende Versorgung durch den öffentlichen Arbeitgeber zu erhalten. Insbesondere besteht kein Anspruch auf Gleichbehandlung mit den Beamten des Arbeitgebers5. Soweit allerdings der Arbeitgeber nur einem Teil seiner privatvertraglich beschäftigten Arbeitnehmer besondere Versorgungsleistungen gewährt, kann sich bei sachwidriger Differenzierung aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz auch für die benachteiligte Arbeitnehmergruppe ein Anspruch auf die Gewährung der Versorgungsleistungen ergeben6. Auch aus betrieblicher Übung kann sich ein entsprechender Versorgungsanspruch ergeben7.

II. Besonderheiten in der Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung (Gesetzliche Rentenversicherung) Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes unterliegen als Beschäftigte iSd. § 7 Abs. 1 SGB IV iVm. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI ebenso wie die Arbeitnehmer der Privatwirtschaft grundsätzlich der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung.

27.7

1. Versicherungsfreiheit bei Gewährleistung beamtenähnlicher Versorgung, § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes sind jedoch unter bestimmten Voraussetzungen aus- 27.8 nahmsweise rentenversicherungsfrei, wenn ihnen eine beamtenähnliche Versorgung gewährleistet wird. Dies gilt gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI8 für „sonstige Beschäftigte von Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen des öffentlichen Rechts, deren Verbände einschließlich der Spitzenverbände oder ihrer Arbeitsgemeinschaften, wenn ihnen nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen oder entsprechenden kirchenrechtlichen Regelungen Anwartschaft auf Versorgung bei verminderter Erwerbsfähigkeit und im Alter sowie auf Hinterbliebenenversorgung gewährleistet und die Erfüllung der Gewährleistung gesichert ist.“ § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI begründet damit eine Ausnahme von dem Grundsatz der Versicherungspflicht für diejenigen Arbeitnehmer, die nicht in den Schutzbereich der Rentenversicherung einbezogen werden müssen, weil bereits eine anderweitige Absicherung vorliegt oder zu erwarten ist, und eine Doppelversicherung mit der Folge zusätzlichen Leistungsaufwands für die gesetzliche Rentenversicherung und unnötiger Beitragsbelastung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer vermieden werden soll9. Das Gesetz unterstellt in diesen Fällen der 5 BAG v. 28.6.1995 – 10 AZR 559/94, nv. 6 BAG v. 16.3.2010 – 3 AZR 356/08, ZTR 2010, 485; v. 11.4.2006 – 9 AZR 528/05, NZA 2006, 1217. 7 BAG v. 15.5.2012 – 3 AZR 610/11, ArbRB 2012, 327 = NZA 2012, 1279; v. 20.8.2013 – 3 AZR 374/11, AP Nr. 17 zu § 1b BetrAVG. 8 § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI ist mit dem SGB VI aufgrund des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992) vom 18.12.1989 (BGBl. I, 2261) mit Wirkung vom 1.1.1992 in Kraft getreten und ersetzt seitdem die zeitgleich aufgehobenen §§ 6 ff. RVO. Altfälle erfasst die Übergangsregelung des § 230 Abs. 2 SGB VI. 9 BSG v. 23.9.1980 – 12 RK 41/79, SozR 2200 § 1229 Nr. 12; v. 11.6.1986 – 1 RA 7/85, SozR 2200 § 1232 Nr. 21.

Oberthür

1009

27.9

§ 27 Rz. 27.9

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

anderweitigen Sicherung typisierend, dass die Versorgung des Arbeitnehmers in den von der Rentenversicherung abgedeckten Lebensrisiken Alter, Invalidität und Tod bei Eintritt des Versorgungsfalls auch ohne Rückgriff auf die gesetzliche Rentenversicherung gewährleistet ist10. a) Personenbezogene Voraussetzungen

27.10 Während Beamte ebenso wie Richter und Soldaten bereits gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI von der Versicherungspflicht ausgenommen sind, erfasst der Begriff der „sonstigen Beschäftigten“ in § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI alle anderen Beschäftigten außerhalb dieser Personengruppe. Dabei bestimmt sich die Abgrenzung zwischen einem öffentlich-rechtlichen Beamten- und einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis nicht nach der vertraglichen Bezeichnung, sondern ausschließlich nach der tatsächlichen rechtlichen Stellung des Beschäftigten11.

27.11 § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI erfasst demnach vor allem die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes, die auf der Basis eines privatrechtlichen Arbeitsvertrages beschäftigt werden. Zu ihnen gehören insbesondere auch die sog. Dienstordnungs-Angestellten der Sozialversicherungsträger und ihrer Verbände. Dienstordnungsverhältnisse stellen eine Sonderform des Arbeitsverhältnisses dar, indem sie zwar formell als privatrechtliches Arbeitsverhältnis begründet werden, materiell aber kraft einer entsprechenden Dienstordnung besoldungs- und versorgungsrechtlich den Dienstverhältnissen der Beamten gleichgestellt sind12. Aufgrund der mittlerweile weit verbreiteten Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst durch Tarifrecht ist der Anwendungsbereich der Dienstordnungsverhältnisse in den vergangenen Jahrzehnten allerdings erheblich zurückgegangen; die erforderliche gesetzliche Ermächtigung zur Ausgestaltung entsprechender Dienstordnungen existiert derzeit nur noch für die gesetzlichen Krankenkassen und deren Verbände (§§ 349–357 RVO, §§ 413, 414b RVO; gem. § 358 RVO begrenzt auf Vertragsabschlüsse bis zum 31.12.1992), die Berufsgenossenschaften (§§ 144 ff. SGB VII) sowie für die landwirtschaftlichen Alterskassen (§ 52 Abs. 2, § 56 Abs. 3 ALG, § 82 KVLG).

27.12 Neben den Arbeitnehmern können jedoch auch Beschäftigte in öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnissen dem Begriff der „sonstigen Beschäftigten“ unterfallen, solange sie nicht Beamte im staatsrechtlichen Sinne sind. Hierzu gehören vor allem Kirchenbeamte und Geistliche der Religionsgemeinschaften13, ebenso die Rechtspraktikanten innerhalb der einstufigen Juristenausbildung14, nicht aber Rechtsreferendare, wenn diese in der anwaltlichen Stationsausbildung gegen zusätzliche Vergütung eine von der Ausbildung abgrenzbare Be-

10 BSG v. 9.11.1999 – B 4 RA 58/98 R, SozR 3-2600 § 8 Nr. 6 mwN. 11 BSG v. 23.9.1980 – 12 RK 41/79, SozR 2200 § 1229 Nr. 12; v. 11.6.1986 – 1 RA 7/85, SozR 2200 § 1232 Nr. 21. 12 BAG v. 30.8.2005 – 3 AZR 391/04, AP Nr. 77 zu § 611 BGB Dienstordnungs-Angestellte; v. 26.9.1984 – 4 AZR 608/83, AP Nr. 59 zu § 611 BGB Dienstordnungs-Angestellte; v. 25.4.1979 – 4 AZR 791/77, AP Nr. 49 zu § 611 BGB Dienstordnungs-Angestellte; BSG v. 28.11.1955 – 3 RK 10/55, AP Nr. 15 zu § 2 ArbGG 1953. Weiterführend zum DO-Recht Heinz, BABl. 1985, 22; Benz, SGb 2000, 53. 13 Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, § 5 SGB VI Rz. 16; vgl. auch Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 7. Aufl., S. 5. 14 BSG v. 12.12.1995 – 5/4 RA 52/94, SozR 3-2200 § 1232 Nr. 6; v. 14.9.1995 – 4 RA 118/94, SozR 3-2200 § 1232 Nr. 5; SG München v. 12.9.2002 – S 17 RA 776/96, nv.; zweifelnd BSG v. 11.6.1986 – 1 RA 7/85, SozR 2200 § 1232 Nr. 21.

1010

Oberthür

Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung

Rz. 27.16 § 27

schäftigung oder selbstständige Tätigkeit erbringen15. Beamte auf Widerruf sind demgegenüber aufgrund ihres staatsrechtlichen Beamtenstatus auch dann nicht von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI erfasst, wenn sie außerhalb des Vorbereitungsdienstes tätig werden und deshalb nicht unter den Geltungsbereich des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI fallen16. b) Arbeitgeberbezogene Voraussetzungen Die Möglichkeit, Arbeitnehmer mit der Folge der Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Rentenversicherung eigenständig zu versorgen, ist nur für diejenigen Arbeitgeber eröffnet, die in § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI besonders genannt sind. Erfasst ist damit nur der öffentliche Dienst im engeren Sinne, bei dem der Gesetzgeber typisierend eine für die eigenständige Versorgung ausreichende Leistungsfähigkeit für gegeben hält. Die Aufzählung der insoweit privilegierten Arbeitgeber ist abschließend; sie kann als eng auszulegende Ausnahmevorschrift von dem Grundsatz der Versicherungspflicht nicht über den ausdrücklichen Gesetzeswortlaut hinaus erweitert werden17.

27.13

Versicherungsfreiheit kann demnach vor allem für die Arbeitnehmer der öffentlich-rechtlich organisierten Arbeitgeber begründet werden, also der Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts.

27.14

Körperschaften des öffentlichen Rechts sind insbesondere die Gebietskörperschaften von 27.15 Bund, Ländern und Kommunen, die Realkörperschaften (bspw. die Handwerkskammern) und die Personalkörperschaften (bspw. die Rechtsanwalts-, Notar- und Ärztekammern). Auch die Träger der gesetzlichen Sozialversicherung (bspw. die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen einschließlich des Medizinischen Dienstes, des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen gemäß § 217a SGB V und des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß § 91 SGB V, die Rentenversicherungsträger, die Bundesagentur für Arbeit und die Berufsgenossenschaften) sind öffentlich-rechtliche Körperschaften18. Religionsgemeinschaften zählen zu den Körperschaften des öffentlichen Rechts, wenn ihnen dieser Status und damit eine der Dienstherreneigenschaft gemäß § 121 BRRG vergleichbare Befugnis zur Begründung öffentlich-rechtlicher Dienstverhältnisse gemäß Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 5 WRV verliehen oder belassen worden ist19. Erfasst sind damit u.a. die Kirchengemeinden, Diözesen und Kirchenprovinzen der römisch-katholischen Kirche, die jüdischen Kulturgemeinden, die Evangelische Kirche in Deutschland, die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, die evangelischen Landeskirchen, und – mittlerweile – auch die Zeugen Jehova20. Die Vereinigungen der sog. Scientology-Kirche sind demgegen-

15 BSG v. 31.3.2015 – B 12 R 1/13 R, SozR 4-2400 § 14 Nr 19; LSG Baden-Württemberg v. 25.7.2017 – L 11 KR 3980/16, NZA 2018, 227; LSG Berlin-Brandenburg v. 22.6.2016 – L 1 KR 335/15; SG Duisburg v. 24.8.2016 – S 9 KR 274/14. 16 Guttenberger in Kasseler Kommentar, § 5 SGB VI Rz. 10; aA Hauck/Noftz/Fichte, § 5 SGB VI Rz. 45 und 50 (Fn. 76) unter Verweis auf die hergebrachte Praxis. 17 BSG v. 29.1.1981 – 11 RA 22/80, SozR 2200 § 1303 Nr. 17; LSG Niedersachsen-Bremen v. 3.6.2015 – L 2 R 56/15, NZS 2015, 669; Guttenberger in Kasseler Kommentar, § 5 SGB VI Rz. 3. 18 Vgl. § 29 Abs. 3 SGB IV iVm. § 367 Abs. 1 SGB III, §§ 4 Abs. 1, 278 SGB V, § 143 Abs. 1 SGB VI, § 114 SGB VII, § 46 Abs. 2 SGB XI. 19 BSG v. 28.8.1984 – 11 RA 74/83, SozR 2200 § 1260c Nr. 15; v. 17.3.1983 – 11 RA 76/82, SozR 2200 § 1260c Nr. 5; Grintsch, ZTR 1994, 58. 20 BVerwG v. 1.2.2006 – 7 B 80/05, NJW 2006, 3156.

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27.16

§ 27 Rz. 27.16

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

über in Deutschland bislang nicht als Religionsgemeinschaft oder öffentlich-rechtliche Körperschaft anerkannt21.

27.17 Anstalten des öffentlichen Rechts sind nicht-mitgliedschaftlich organisierte, (teil-)rechtsfähige Verwaltungsträger zur dauerhaften Verfolgung eines bestimmten Zwecks. Hierzu gehören etwa die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Sendeanstalten wie auch die Stadtund Kreissparkassen22.

27.18 Stiftungen des öffentlichen Rechts sind rechtsfähige Verwaltungsträger, die mit einem Kapital- oder Sachbestand ausschließlich öffentliche Zwecke verfolgen und zum Staat selbst oder zu einer anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaft in einer solchen organisatorischen Beziehung stehen, dass die Stiftung als eine öffentliche Einrichtung erscheint. Hierzu gehört etwa die „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“23.

27.19 Demgegenüber sind privatrechtlich organisierte Arbeitgeber grundsätzlich nicht von § 5 Abs. 1 Satz Nr. 2 SGB VI erfasst24, auch wenn sie gesellschaftsrechtlich von der öffentlichen Hand getragen oder maßgeblich beeinflusst werden und ihre Arbeitsverhältnisse inhaltlich an den beamtenrechtlichen Bestimmungen ausrichten. Dies zeigt sich vor allem bei der Privatisierung öffentlich-rechtlicher Betriebe. Während die Arbeitnehmer der von den Gebietskörperschaften betriebenen Regie- und Eigenbetriebe bei einem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber iSd. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI beschäftigt sind25, gilt dies ausweislich des eindeutigen Gesetzeswortlauts nicht mehr, wenn dieser Betrieb in eine privatrechtlich organisierte Gesellschaft überführt wird, auch wenn die Gebietskörperschaft mehrheitlich an der Gesellschaft beteiligt ist und die Gesellschaft eine besondere öffentliche Aufgabe wahrnimmt26. Auch politische Parteien gehören nicht zu dem Kreis der privilegierten Arbeitgeber27.

27.20 Der Gesetzgeber hat privatrechtlich organisierte Arbeitgeber in den Kreis der von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI privilegierten Arbeitgeber nur insoweit aufgenommen, als es sich um die Verbände, Spitzenverbände und Arbeitsgemeinschaften öffentlich-rechtlich organisierter Arbeitgeber handelt. Hierzu gehören zB die – Bundesverbände der Orts-, Betriebs- und Innungskrankenkassen (vgl. § 212 SGB V), der Verband der Angestellten-Krankenkassen und der Verband der Deutscher Rentenversicherungsträger, die Kommunalverbände28 sowie die häufig im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung und in der Sozialversicherung etwa bei der Abwicklung der Rehabilitation behinderter Menschen (§ 12 Abs. 2 SGB IX) und der Betreuung erwerbsfähiger Arbeitsloser29 gegründeten Arbeitsgemeinschaften oder die Arbeitsgemeinschaft für Aufgaben der Datentransparenz im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 303a SGB V). 21 22 23 24 25 26

BAG v. 22.3.1995 – 5 AZB 21/94, BAGE 79, 319. Hauck/Noftz/Fichte, § 5 SGB VI Rz. 61; Grintsch, ZTR 1994, 58. Hauck/Noftz/Fichte, § 5 SGB VI Rz. 61; Grintsch, ZTR 1994, 58. LSG Niedersachsen-Bremen v. 3.6.2015 – L 2 R 56/15, NZS 2015, 669. BGH v. 19.9.1984 – IVb ZB 30/84, NJW 1985, 2708, zu § 1 Abs. 3 VAHRG. BSG v. 9.11.1999 – B 4 RA 58/98 R, SozR 3-2600 § 8 Nr. 6, zur Privatisierung der Deutschen Bundespost; Schleswig-Holsteinisches LSG v. 18.1.2006 – L 8 R 95/05, nv.; vgl. auch Hauck/Noftz/ Fichte, § 5 SGB VI Rz. 61; Reinhardt in LPK-SGB VI, § 5 Rz. 5. 27 BSG v. 31.1.1973 – 12/3 RK 4/71, SozR Nr. 2 zu § 6 AVG. 28 ZB der Deutsche Städte- und Gemeindebund, der Deutsche Städtetag und der Deutsche Landkreistag. 29 § 44b SGB II; zur Verfassungswidrigkeit der insoweit gebildeten Arbeitsgemeinschaften BVerfG v. 20.12.2007 – 2 BvR 2433/04, BVerfGE 119, 331.

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Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung

Rz. 27.24 § 27

Die Einbeziehung der Verbände und Arbeitsgemeinschaften in den Kreis der privilegierten Arbeitgeber soll den Wechsel der Arbeitnehmer innerhalb der verbundenen Organisationen erleichtern und die Gleichbehandlung zwischen ihnen befördern30. Sie ist auch aus sachlichen Erwägungen gerechtfertigt, da die Verbände und Arbeitsgemeinschaften mit ihren Arbeitnehmern in aller Regel Aufgaben wahrnehmen, die anderenfalls ihre Mitglieder selbst zu besorgen hätten31. Um eine versicherungsrechtliche Gleichstellung der Arbeitnehmer zu erreichen ist allerdings Voraussetzung, dass den Verbänden und Arbeitsgemeinschaften wiederum ausschließlich32 juristische Personen des öffentlichen Rechts angehören.

27.21

Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI erfassten Körperschaften und Vereinigungen solche des innerstaatlichen Rechts sein müssen. Supranationale Arbeitgeber wie etwa die Institutionen der Europäischen Union sind mangels Dienstherreneigenschaft nicht privilegiert33. Gleiches gilt für ausländische Arbeitgeber; der sozialversicherungsrechtliche Status ihrer Arbeitnehmer ergibt sich aus dem jeweils anwendbaren internationalen Sozialrecht34.

27.22

c) Versorgungsstatus nach beamtenrechtlichen Grundsätzen Die Nichteinbeziehung von Arbeitnehmern in die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Rentenversicherung durch § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI rechtfertigt sich dadurch, dass diese in ein anderes, vergleichbar leistungsfähiges Versorgungssystem einbezogen sind. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers ist dabei die Bereitstellung eines Versorgungsstatus „nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen“ erforderlich35.

27.23

Das für Beamte aus Art. 33 Abs. 5 GG hergeleitete Alimentations- und Lebenszeitprinzip 27.24 sieht vor, dass der Dienstherr seinen Beamten und deren Familien während und nach der Beendigung des Dienstverhältnisses den standesgemäßen Unterhalt zu gewähren hat; dadurch sollen die Beamten wirtschaftlich und sozial befähigt werden, während des Arbeitslebens ihre gesamte Arbeitskraft für den Dienstherrn einzusetzen36. Eine beamtenähnliche Versorgung iSv. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI muss dementsprechend gleichermaßen auf dem Alimentationsprinzip beruhen. Dabei ist die Gewährung einer den beamtenrechtlichen Bestimmungen identischen Versorgung nicht erforderlich; gewisse Abweichungen im Rahmen eigener Versorgungsbestimmungen, die auch in den unterschiedlichen beamtenrechtlichen Bestimmungen der Länder und Kommunen festzustellen sind, sind durchaus zulässig. Der Versorgungsstatus

30 Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, § 5 SGB VI Rz. 22. 31 Hauck/Noftz/Fichte, § 5 SGB VI Rz. 63. 32 Für die Einbeziehung von Verbänden mit privatrechtlich organisierten Mitgliedern, wenn diese wiederum ausschließlich von juristischen Personen des öffentlichen Rechts getragen werden, vgl. Hauck/Noftz/Fichte, § 5 SGB VI Rz. 63, und ausführlich Boecken in GK-SGB VI, § 5 SGB VI Rz. 57 ff. 33 BSG v. 29.1.1981 – 11 RA 22/80, SozR 2200 § 1303 Nr. 17. 34 Hauck/Noftz/Fichte, § 5 SGB VI Rz. 54; Boecken in GK-SGB VI, § 5 SGB VI Rz. 51. 35 Ob gleichzeitig auch die Vergütung beamtenrechtlichen Grundsätzen folgen muss, hat die Rspr. bislang offen gelassen, vgl. BAG v. 15.5.2012 – 3 AZR 610/11, ArbRB 2012, 327 = NZA 2012, 1279. 36 BSG v. 23.9.1980 – 12 RK 41/79, SozR 2200 § 1229 Nr. 12; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, § 5 SGB VI Rz. 24.

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§ 27 Rz. 27.24

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

muss aber jedenfalls ungeachtet gewisser Abweichungen nach Voraussetzung, Art und Umfang dem Beamtenrecht entsprechen37.

27.25 Eine beamtenähnliche Versorgung muss daher eine lebenslange Versorgung für die Lebensrisiken der verminderten Erwerbsfähigkeit, des Alters und des Todes (Hinterbliebenenversorgung) in einem Umfang gewährleisten, die eine auskömmliche und angemessene Absicherung bieten38. Unabdingbar ist dabei die Zusicherung einer lebenslangen Versorgung und die Bemessung der Versorgungsleistung nach dem letzten Arbeitsentgelt und der Dauer der Beschäftigung; die Bemessung nach einer niedrigeren als der zuletzt gewährten Vergütung ist als Abkehr von den grundsätzlichen beamtenrechtlichen Vorgaben nicht hinnehmbar39. Die Begrenzung des Versorgungsniveaus auf 68 % des zuletzt bezogenen Grundgehalts und Ortszuschlages und die Nichtgewährung von Weihnachtsgeld wurden insoweit noch als zulässig angesehen40. Die Versorgungsleistungen müssen jedoch stets denselben wirtschaftlichen und sozialpolitischen Versorgungszweck erfüllen wie die beamtenrechtliche Versorgungsanwartschaft und dürfen nicht etwa nur eine finanzielle Anerkennung besonders langjähriger Dienste beinhalten41.

27.26 Die Gewährung einer kombinierten Gesamtversorgung dahingehend, dass der Arbeitnehmer freiwillig in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert und nur bezüglich des Differenzbetrages zwischen der gesetzlichen Rente und dem beamtenähnlichen Ruhegehalt eine Versorgungsgarantie des Arbeitgebers übernommen wird, ist grundsätzlich zulässig, sofern die Gesamtversorgung der Versorgung eines vergleichbaren Beamten entspricht; schließlich ist die Anrechnung anderweitiger Versorgungsbezüge auch dem Beamtenrecht nicht fremd42. Für den öffentlichen Arbeitgeber bietet sich das Modell der Gesamtversorgung vor allem dann an, wenn der Arbeitnehmer vor Aufnahme der versicherungsfreien Beschäftigung bereits in nennenswertem Umfang Versicherungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt hat. Voraussetzung ist allerdings, dass das Prinzip der arbeitgeberseitigen Finanzierung der Versorgungsleistungen dadurch gewahrt bleibt, dass der Arbeitgeber die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung allein trägt43; die Übernahme auch des Arbeitnehmeranteils durch den öffentlichen Arbeitgeber in Abweichung von § 171 SGB VI stellt dabei keinen steuerbaren geldwerten Vorteil des Arbeitnehmers dar, da die Einbeziehung der gesetzlichen Rentenversicherung nur den Arbeitgeber entlastet, ohne die Versorgungsposition des Arbeitnehmers zu verbessern44.

37 BSG v. 10.9.1975 – 3/12 RK 6/74, SozR 2200 § 169 Nr. 1; v. 20.6.1985 – 11a RA 28/84, SozR 2200 § 1260c Nr. 18; v. 15.11.1979 – 11 RZLw 1/79, SozR 5866 § 12 Nr. 5. 38 Brackmann, § 5 SGB VI Rz. 34; Boecken in GK-SGB VI, § 5 SGB VI Rz. 71. 39 BSG v. 20.6.1985 – 11a RK 28/84, SozR § 1260c Nr. 18; v. 13.8.1981 – 11 RZLw 1/80, SozR 5866 § 12 Nr. 6. 40 BSG v. 20.6.1985 – 11a RK 28/84, SozR § 1260c Nr. 18; v. 15.11.1979 – 11 RZLw 1/79, SozR 2200 5866 § 12 Nr. 5; Boecken in GK-SGB VI, § 5 SGB VI Rz. 80, hält dies jedoch angesichts des Gebots einer auskömmlichen Versorgung für die mindestens einzuhaltende Untergrenze. 41 BSG v. 23.9.1980 – 12 RV 41/79, SozR 2200 § 1229 Nr. 12: Ehrensold ehrenamtlicher Bürgermeister in Bayern. 42 BSG v. 28.8.1984 – 11 RA 74/83, SozR 2200 § 1260c Nr. 15; BAG v. 11.2.1966 – 3 AZR 381/65, AP Nr. 107 zu § 242 Ruhegehalt; v. 3.11.1964 – 3 AZR 355/63, AP Nr. 21 zu § 611 BGB Dienstordnungs-Angestellte; v. 23.9.1958 – 3 AZR 69/57, BAGE 6, 272. 43 Brackmann, § 5 SGB VI Rz. 35; Guttenberger in Kasseler Kommentar, § 5 SGB VI Rz. 21; Clausing, DAngVers 1978, 503; BSG v. 28.8.1984 – 11 RA 74/83, SozR 2200 § 1260c Nr. 15. 44 BFH v. 5.9.2006 – VI R 38/04, DB 2006, 2554.

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Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung

Rz. 27.30 § 27

Obgleich das Prinzip der Gesamtversorgung zumindest in der Vergangenheit überwiegend auch der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes (ausführlich zur Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes § 28, Rz. 28.1 ff.) zugrunde lag, handelt es sich bei dieser nicht um eine die Versicherungsfreiheit begründende beamtenähnliche Versorgung. Zu den wesentlichen Voraussetzungen einer beamtenähnlichen Versorgung gehört auch, dass der Arbeitgeber die Versorgung in Erfüllung seiner Fürsorge- und Alimentationspflicht selbst zusagt, unmittelbar selbst gewährt und auch das sich aus der Versorgungszusage ergebende wirtschaftliche Risiko selbst trägt, ohne sich hierbei einer gesonderten Versorgungseinrichtung mit eigener Rechtspersönlichkeit zu bedienen. Zusatzversorgungskassen mit Leistungen nach einem Versicherungsprinzip auf der Basis von Beitragsleistungen des Arbeitgebers erfüllen diese Voraussetzungen nicht, auch wenn sie dem Arbeitnehmer im Ergebnis eine der Beamtenversorgung vergleichbare Gesamtversorgung sichern. Denn der öffentliche Arbeitgeber leistet lediglich Zuschüsse oder Umlagen zu dieser Versorgungseinrichtung, solange der Arbeitnehmer aktiv in seinen Diensten steht, ohne jedoch die Versorgungsleistungen im Versorgungsfall selbst zu gewähren45.

27.27

Generell spricht die Einbeziehung des Arbeitnehmers in die Finanzierung des Versorgungssystems gegen eine beamtenähnliche Versorgung, soweit es sich um nicht nur unbedeutende Beiträge handelt oder das Arbeitsentgelt zum Ausgleich für die von dem Arbeitnehmer zu tragenden Beiträge erhöht wird46. Allerdings kann der Arbeitgeber innerhalb dieses Rahmens die Gewährung einer beamtenrechtlichen Versorgung davon abhängig machen, dass der Arbeitnehmer eine angemessene wirtschaftliche Gegenleistung erbringt47; dabei wird die zulässige Grenze der Arbeitnehmerbeteiligung bei etwa 25 % der Beitragsbelastung gezogen48.

27.28

d) Gewährleistung und Sicherung der Versorgung Die beamtenähnliche Versorgung muss einerseits rechtsverbindlich zugesagt („gewährleistet“) werden. Andererseits muss die Erfüllung dieser Zusage auch tatsächlich „gesichert“ sein, da nur bei einer entsprechenden Sicherung der Versorgungsanwartschaft dem Schutzbedürfnis des Arbeitnehmers Genüge getan ist.

27.29

Gewährleistet ist der beamtenähnliche Versorgungsstatus, wenn er durch die Einräumung einer Anwartschaft rechtsverbindlich zugesagt ist49; Anwartschaft in diesem Sinne ist die rechtlich begründete Aussicht auf einen später, ggf. nach Zurücklegung einer vorgeschriebenen Dienstzeit, wirksam werdenden Anspruch auf die Versorgungsbezüge50. Rechtsgrundlage

27.30

45 BGH v. 27.10.1993 – XII ZB 69/89, NJW-RR 1994, 194; Maier in MüKo BGB, § 1587a BGB Rz. 26 f. 46 BSG v. 20.6.1985 – 11a RA 28/84, SozR 2200 § 1260c Nr. 18: nahezu hälftige Beitragsleistung; v. 28.8.1984 – 11 RA 74/83, SozR 2200 § 1260c Nr. 15. 47 BAG v. 7.12.2005 – 5 AZR 254/05, NZA 2006, 684: monatlicher Gehaltsverzicht iHv. 270 DM; LAG Rheinland-Pfalz v. 20.12.2005 – 2 Sa 809/05, nv.; Niedersächsisches OVG v. 12.12.2006 – 5 LC 53/06; bestätigt durch BVerfG v. 6.5.2008 – 2 BvR 1926/07; aA (jedenfalls einen öffentlichrechtlichen Erstattungsanspruch bejahend) noch VG Lüneburg v. 18.1.2006 – 1 A 106/04, nv.; Niedersächsisches OVG v. 27.11.2001 – 5 LB 1309/01, EZBAT § 4 BAT Nebenabrede Nr. 16. 48 BVerwG v. 13.7.1977 – VI C 96.75, BVerwGE 54, 177, in Anlehnung an die VwV Nr. 2 zu § 160 BBG. 49 Boecken in GK-SGB VI, § 5 SGB VI Rz. 75. 50 Guttenberger in Kasseler Kommentar, § 8 SGB VI Rz. 17; BSG v. 9.11.1999 – B 4 RA 58/98 R, SozR 3-2600 § 8 Nr. 6.

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§ 27 Rz. 27.30

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

der Anwartschaft kann eine gesetzliche51 oder quasi-gesetzliche52 Versorgungsregelung sein, bspw. eine kirchen- oder satzungsrechtliche Dienstordnung oder ein ministerieller Runderlass, ebenso aber auch eine individual- oder kollektivrechtliche Zusage53.

27.31 Versicherungsfreiheit besteht dabei nicht nur für Arbeitnehmer, die einen Anspruch auf die Versorgungsleistung bereits erworben haben, sondern auch für diejenigen, die eine mit entsprechender Versorgung ausgestattete Position eingenommen haben, den gesicherten Anspruch auf die Versorgung jedoch erst nach Ablauf einer bestimmten Wartezeit erwerben54. Ebenso genügt es für die Begründung der Versicherungsfreiheit, wenn der Arbeitnehmer zwar rechtlich noch keine Anwartschaft auf Versorgung erworben hat, wenn aber die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse die Annahme rechtfertigen, dass er in eine Rechtsstellung hineinwachsen wird, die eine Anwartschaft auf Versorgung bietet. Dies ist etwa dann der Fall, wenn dem Arbeitnehmer eine Stelle übertragen wird, die nach bestehenden Verwaltungsgrundsätzen den allgemein üblichen Übergang zu einer Anstellung mit späterer Versorgungsanwartschaft bildet55.

27.32 Eine ausreichende Sicherung der gewährleisteten Versorgung ist nur dann gegeben, wenn unter Berücksichtigung aller Umstände mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass der Arbeitgeber aktuell und in Zukunft wirtschaftlich in der Lage sein wird, die in Aussicht gestellte Versorgung auch tatsächlich zu gewähren56. Dies wird nach der Gesetzesbegründung bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die mit Rücksicht auf ihren öffentlich-rechtlichen Aufgabenbereich und das Fehlen einer übergeordneten Zwangsgewalt weitgehend insolvenzunfähig sind57, grundsätzlich unterstellt, während bei den privatrechtlich organisierten Verbänden und Arbeitsgemeinschaften im Allgemeinen eine zusätzliche Absicherung durch deren Mitglieder gefordert wird58. Eine Präferenz zugunsten bestimmter Sicherungsmaßnahmen lässt sich dem Gesetz dabei nicht entnehmen; entscheidend ist daher allein, dass die Sicherung den Schutz der Anwartschaftsberechtigten ausreichend sicherstellt. Dies lässt sich ohne zusätzliche Kosten durch die rechtsverbindliche Einbeziehung der (nicht insolvenzfähigen) öffentlich-rechtlichen Mitglieder in die Versorgungszusage erreichen, durch die Bildung von Versorgungsrückstellungen, aber auch durch externe Sicherungsmaßnahmen wie etwa den Abschluss einer Rückversicherung bei einem privaten oder öffentlich-rechtlichen Versicherungsunternehmen.

51 BSG v. 5.11.1980 – 11 RA 118/79, SozR 2200 § 1232 Nr. 9. 52 Boecken in GK-SGB VI, § 5 SGB VI Rz. 77. 53 BSG v. 9.11.1999 – B 4 RA 58/98 R, SozR 3-2600 § 8 Nr. 6: Tarifvertrag für Postbetriebsärzte; zur Inhaltskontrolle einer individualvertraglichen Verweisung auf Beamtenrecht vgl. BAG v. 30.11.2010 – 3 AZR 798/08, ZTR 2011, 318. 54 BSG v. 10.2.1972 – 1 RA 143/71, SozR § 1250 RVO Nr. 19; Clausing, DAngVers 1978, 503. 55 BSG v. 10.2.1972 – 1 RA 143/71, SozR Nr. 19 zu § 1250 RVO; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, § 5 SGB VI Rz. 28. 56 Bergner in KomGRV § 5 SGB VI Rz. 2.2. 57 Detaillierte Darstellung bei Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 12 Rz. 1 ff. Zur Einführung der Insolvenzfähigkeit der gesetzlichen Krankenkassen vgl. § 171b SGB V. 58 Begründung zum Entwurf des Rentenreformgesetzes 1992, BT-Drucks. 11/4124, 150; Guttenberger in Kasseler Kommentar, § 5 SGB VI Rz. 22; Brackmann, § 5 SGB VI Rz. 36; krit. zu den öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften, deren Steueraufkommen staatlich vorgeschrieben werden kann, Boecken in GK-SGB VI, § 5 SGB VI Rz. 89 mwN.

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Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung

Rz. 27.37 § 27

e) Behördliche Feststellung der Gewährleistung Die Gewährleistung einer beamtenähnlichen Versorgung und deren Sicherung durch einen privilegierten Arbeitgeber allein genügt allerdings noch nicht, um die Versicherungsfreiheit der begünstigten Arbeitnehmer zu begründen. Erforderlich ist neben der Erfüllung der materiellen gesetzlichen Voraussetzungen zusätzlich der Erlass einer diesbezüglichen formellen behördlichen Feststellung, der sog. Gewährleistungsentscheidung. Inhalt der Gewährleistungsentscheidung ist die positive Feststellung, dass – und seit welchem Zeitpunkt – die gesetzlichen Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI erfüllt sind59, dass also eine die Versicherungsfreiheit begründende Versorgung rechtlich gewährt wird und deren tatsächliche Erfüllung gesichert ist. Auch die Begründung und Beibehaltung der Versorgungssicherung unterliegt insoweit der Kontrolle durch die zuständige Behörde60.

27.33

Die Gewährleistungsentscheidung ist damit ihrem Inhalt nach deklaratorisch, da die Versicherungsfreiheit nicht auf der Gewährleistungsentscheidung, sondern allein auf dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Versicherungsfreiheit beruht. Auch eine anwartschaftsbegründende Wirkung besitzt die Gewährleistungsentscheidung nicht61. Die Gewährleistungsentscheidung ist jedoch gleichwohl zwingende Voraussetzung der Versicherungsfreiheit; solange sie nicht getroffen ist, kann die Versicherungsfreiheit für eine Beschäftigung gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI nicht angenommen werden62. Damit ist die Gewährleistungsentscheidung ihrer Wirkung nach konstitutiv63.

27.34

Die Zuständigkeit für die Gewährleistungsentscheidung liegt gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 SGB VI für Arbeitnehmer des Bundes oder einer der Bundesaufsicht unterstehenden Körperschaft bei dem zuständigen Bundesminister, in allen übrigen Fällen bei der obersten Verwaltungsbehörde des Landes, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat. Durch diese Konzentration der Zuständigkeit soll eine möglichst sachgerechte und einheitliche Beurteilung sowohl im dienst- wie auch im versicherungsrechtlichen Sinn sichergestellt werden64.

27.35

Die behördliche Entscheidung ist in rechtstatsächlicher Hinsicht für die Träger der Sozialversicherung verbindlich. Diese sind an das Fehlen oder an die Feststellung der Gewährleistungsentscheidung gebunden; sie entscheiden lediglich über die hieraus resultierenden sozialversicherungsrechtlichen Auswirkungen65.

27.36

Die Gewährleistungsentscheidung kann individuell oder generell für eine Vielzahl gleichartiger Beschäftigungsverhältnisse durch Verwaltungsakt getroffen werden66; dabei gilt gemäß § 1 SGB X das Verfahrensrecht der Sozialverwaltung67. Sofern sich die Entscheidung jedoch

27.37

59 BSG v. 11.6.1986 – 1 RA 51/84, SozR 2200 § 1403 Nr. 6; v. 27.11.1984 – 12 RK 18/82, SozR 2200 § 169 Nr. 11. 60 BSG v. 15.12.1983 – 12 RK 48/81, SozR 2200 § 1229 Nr. 18. 61 BSG v. 11.6.1986 – 1 RA 51/84, SozR 2200 § 1404 Nr. 6; v. 5.11.1980 – 11 RA 118/79, SozR 2200 § 1232 Nr. 9. 62 BSG v. 28.8.1984 – 11 RA 74/83, SozR 2200 § 1260c Nr. 15; v. 26.10.1982 – 12 RK 29/81, SozR 2200 § 1229 Br. 16; v. 5.11.1980 – 11 RA 118/79, SozR 2200 § 1232 Nr. 9. 63 BSG v. 27.11.1984 – 12 RK 18/82, SozR 2200 § 169 Nr. 11; v. 5.11.1980 – 11 RA 118/79, SozR 2200 § 1232 Nr. 9. 64 BSG v. 11.9.1980 – 1 RA 81/79, SozR 2200 § 1403 Nr. 2. 65 BSG v. 17.12.1996 – 12 RK 2/96; v. 11.6.1986 – 1 RA 51/84, SozR 2200 § 1403 Nr. 6; v. 26.10.1982 – 12 RK 29/81, SozR 2200 § 1229 Nr. 16. 66 BSG v. 5.11.1980 – 11 RA 118/79, SozR 2200 § 1232 Nr. 9. 67 LSG Berlin v. 23.5.2003 – L 1 AR 1/02, nv.

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§ 27 Rz. 27.37

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

auf eine größere Gruppe von Arbeitnehmern bezieht, die nur nach generellen Merkmalen bestimmbar ist, kommt ein Verwaltungsakt nicht in Betracht; in diesem Fall kann die Gewährleistungsentscheidung durch ministeriellen Erlass, durch Rechtsverordnung oder Gesetz getroffen werden68.

27.38 Nach der Rechtsnatur der Gewährleistungsentscheidung bestimmt sich auch das für die gerichtliche Überprüfung richtige Verfahren. Rechtsverordnungen und Gesetze sind für den betroffenen Arbeitnehmer allenfalls im Wege der Verfassungsbeschwerde anfechtbar; erfolgt die Gewährleistungsentscheidung demgegenüber durch Verwaltungsakt, so steht den Beteiligten der Rechtsweg unmittelbar offen, wobei allerdings die Frage, welches Gericht für die Überprüfung der Gewährleistungsentscheidung zuständig ist, streitig beurteilt wird. Während zum Teil angenommen wird, dass aufgrund der unmittelbaren sozialversicherungsrechtlichen Auswirkung der Gewährleistungsentscheidung für deren Überprüfung gemäß § 51 SGG die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zuständig seien69, bestimmt sich nach hM die Zuständigkeit nach dem zwischen dem Beschäftigten und seinem Dienstherrn bestehenden Rechtsverhältnis70. Für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes ist damit die Arbeitsgerichtsbarkeit zuständig. f) Beginn und Ende der Versicherungsfreiheit

27.39 Die Versicherungsfreiheit tritt gemäß § 5 Abs. 1 Satz 3 SGB VI zu Beginn desjenigen Monates ein, in dem die beamtenähnliche Versorgung rechtlich zugesichert wird. Diese (erst mit Wirkung vom 17.4.2002 eingeführte71) Regelung verhindert entgegen der früheren Rechtslage72 die rückwirkende Gewährleistung von Versorgungsanwartschaften73. Damit sollen einerseits Auslegungsprobleme beseitigt werden, die im Zusammenhang mit der rückwirkenden Gewährleistung beamtenähnlicher Versorgung aufgetreten sind. Vor allem aber soll verhindert werden, dass durch die rückwirkende Gewährleistung der gesetzlichen Rentenversicherung für Zeiträume, in denen diese das Versorgungsrisiko bei Erwerbsminderung und Tod objektiv getragen hat, zu Lasten der Versichertengemeinschaft Beiträge nachträglich entzogen werden74. Die Erstreckung der Versorgungsanwartschaft auf in der Vergangenheit liegende Zeiträume ist daher zwar grundsätzlich möglich75; sie vermag die Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Rentenversicherung jedoch nicht rückwirkend zu beseitigen76.

68 BSG v. 11.6.1986 – 1 RA 51/84, SozR 2200 § 1403 Nr. 6; v. 15.12.1983 – 12 RK 48/81, SozR 2200 § 1229 Nr. 18. 69 Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, § 5 SGB VI Rz. 29. 70 BSG v. 5.11.1980 – 11 RA 118/79, SozR 2200 § 1232 Nr. 9; Guttenberger in Kasseler Kommentar, § 5 SGB VI Rz. 27; Bergner in KomGRV, § 5 SGB VI Rz. 2.1. 71 § 5 Abs. 1 Satz 3 SGB VI ist aufgrund des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes vom 11.4.2002 (BGBl. I, 1302) mit Wirkung vom 17.4.2002 in Kraft getreten. 72 BSG v. 15.12.1983 – 12 RK 48/81, SozR 2200 § 1229 Nr. 18; v. 2.11.1983 – 11 RA 64/82, SozR 2200 § 1232 Nr. 16; Übergangsregelung für Altfälle in § 230 Abs. 5 SGB VI. 73 SG München v. 22.11.2016 – S 28 KR 250/14, juris. 74 Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (Gesetzentwurf zur Änderung des BVG) v. 30.1.2002, BT-Drucks. 14/8133, 4; Jahn/Klose/Jansen, § 5 SGB VI Rz. 3. 75 BSG v. 2.11.1983 – 11 RA 64/82, SozR 2200 § 1232 Nr. 16; Guttenberger in Kasseler Kommentar, § 5 SGB VI Rz. 26. 76 VG Berlin v. 26.5.2004 – 5 A 141.02, nv.; v. 19.3.2003 – VG 7 A 30.03, nv.; aA noch Brackmann, § 5 SGB VI Rz. 44.

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Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung

Rz. 27.43 § 27

Davon zu unterscheiden ist eine etwaige Rückwirkung der behördlichen Gewährleistungs- 27.40 entscheidung auf den Zeitpunkt, zu dem die Anwartschaft tatsächlich zugesichert wurde. Denn von dem Zeitpunkt der tatsächlichen Verleihung der Anwartschaft war die Absicherung durch den Dienstherrn bereits gewährleistet, so dass für diesen Zeitraum ein durch die Sozialversicherung abzudeckendes Risiko objektiv nicht mehr bestanden hat77. Da mit der Gewährleistungsentscheidung auch der Zeitpunkt festgestellt werden muss, ab dem die gesetzlichen Voraussetzungen für die Versicherungsfreiheit erfüllt waren, kann diese im Zeitpunkt der Entscheidung auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Gewährleistung der Versorgung zurückwirken. Die Versicherungsfreiheit endet – mit Wirkung für die Zukunft – mit dem Wegfall der gesetzlichen Voraussetzungen oder mit der Aufhebung der Gewährleistungsentscheidung. Die rückwirkende Aufhebung der Gewährleistungsentscheidung ist zwar möglich, da eine § 5 Abs. 1 Satz 3 SGB VI entsprechende Regelung für die Beendigung der Versicherungsfreiheit nicht besteht78, beseitigt aber nicht die Versicherungsfreiheit für zurückliegende Zeiträume. Es bleibt daher für die Vergangenheit bei der Versicherungsfreiheit, der Beschäftigte ist jedoch aufgrund des Wegfalls der beamtenähnlichen Versorgung ggf. in der gesetzlichen Rentenversicherung nachzuversichern (Rz. 27.48 ff.)79.

27.41

g) Reichweite der Versicherungsfreiheit Ebenso wie die Frage der grundsätzlich bestehenden Versicherungspflicht sind die Voraussetzungen der Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Rentenversicherung für jedes Beschäftigungsverhältnis eigenständig zu prüfen80. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Beschäftigungsverhältnisse bei verschiedenen Arbeitgebern bestehen; übt demgegenüber der Arbeitnehmer bei einem Arbeitgeber gleichzeitig mehrere Beschäftigungen aus, so ist unabhängig von der individuellen arbeitsvertraglichen Ausgestaltung der sozialversicherungsrechtliche Status einheitlich festzustellen, wenn es sich um gleichartige Tätigkeiten handelt81. Die Versicherungsfreiheit gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI ist damit grundsätzlich beschränkt auf die diesen Status vermittelnde Beschäftigung. Die Anwartschaft einer beamtenähnlichen Versorgung begründet die Versicherungsfreiheit beschäftigungsbezogen nur für die Beschäftigung bei dem privilegierten Arbeitgeber, nicht aber für die gesamte berufliche Tätigkeit des Arbeitnehmers unter Einbeziehung weiterer Beschäftigungsverhältnisse82.

27.42

Übt der im öffentlichen Dienst beschäftigte Arbeitnehmer daher neben der versicherungsfreien eine weitere Beschäftigung oder eine Nebentätigkeit aus, so ist für diese das Vorliegen der Versicherungspflicht eigenständig zu beurteilen. Dies gilt auch bei der Abordnung zu einem nicht privilegierten Arbeitgeber unter Aufrechterhaltung des versicherungsfreien Arbeitsverhältnisses83. Handelt es sich ausweislich der geltenden gesetzlichen Bestimmungen

27.43

77 BSG v. 27.11.1984 – 12 RK 18/82, SozR 2200 § 169 Nr. 11 zu § 169 AFG. 78 Jahn/Klose/Jansen, § 5 SGB VI Rz. 3. 79 BSG v. 26.10.1965 – 11/1 RA 98/63, SozR Nr. 7 zu § 73 G 131; Guttenberger in Kasseler Kommentar, § 5 SGB VI Rz. 26; aA Jahn/Klose/Jansen, § 5 SGB VI Rz. 3: rückwirkender Eintritt der Versicherungspflicht. 80 Zieglmeier in Kasseler Kommentar, § 2 SGB IV Rz. 6 sowie § 7 SGB IV Rz. 83. 81 BSG v. 16.2.1983 – 12 RK 26/81, SozR 2200 § 168 Nr. 7; Jahn/Klose/Jansen, § 5 SGB VI Rz. 2. 82 Bayerisches LSG v. 11.11.2010 – L 6 R 220/09, FuL 2011, 226; Thüringer LSG v. 30.8.2005 – L 6 KR 718/03, nv.; BSG v. 10.9.1975 – 3/12 RK 6/74, SozR 2200 § 169 Nr. 1; v. 11.3.1970 – 3 RK 40/67, BSGE 31, 66; Plagemann in Münchener Anwaltshandbuch SozR, § 5 Rz. 84. 83 Brackmann, § 5 SGB VI Rz. 30.

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§ 27 Rz. 27.43

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

bei der Tätigkeit für den weiteren Arbeitgeber um eine versicherungspflichtige Beschäftigung, so unterliegt diese auch dann der Sozialversicherungspflicht, wenn der Arbeitnehmer aufgrund der bereits bestehenden Versorgungszusage aus der zusätzlichen Einbeziehung in die gesetzliche Rentenversicherung keine Vorteile ableiten kann. Dies gilt nicht nur im Hinblick darauf, dass die Versicherungspflicht unabhängig von einer etwaigen individuellen Schutzwürdigkeit anhand typisierender Merkmale begründet wird; durch die Einbeziehung in die Sozialversicherungspflicht soll auch verhindert werden, dass versicherungsfreie Arbeitnehmer wegen des versicherungsfreien Status gegenüber anderen Arbeitnehmern einen nicht zu rechtfertigenden Wettbewerbsvorteil auf dem Arbeitsmarkt haben84. Nur ausnahmsweise profitieren Nebenbeschäftigungen von der befreienden Gewährleistung, wenn sich diese von der die Versicherungsfreiheit begründenden Hauptbeschäftigung nicht abgrenzen lassen; in diesem Fall ist auch die Nebenbeschäftigung versicherungsfrei85. Dies ist jedoch bei einer Beschäftigung, die eine versicherungsfreie Person zur Schadensminderung nach einer unwirksamen Kündigung des versicherungsfreien Dienstverhältnisses aufgenommen hat, nicht der Fall86.

27.44 Ungeachtet dieser grundsätzlich beschäftigungsbezogenen Betrachtung ist allerdings die Erstreckung der Gewährleistung einer beamtenähnlichen Versorgung durch den privilegierten Arbeitgeber auf andere Beschäftigungen möglich und zulässig. Die Gewährleistungserstreckung erfolgt in der Regel durch die Ausdehnung einer bereits bestehenden Gewährleistung auf ein oder mehrere weitere Beschäftigungsverhältnisse, wobei es insoweit keine Rolle spielt, ob die weitere Beschäftigung bei einem öffentlichen oder privaten Arbeitgeber ausgeübt wird87. Die Gewährleistungserstreckung kann sich auch auf eine Nebenbeschäftigung, auf eine Abordnung zur Ausbildung oder Beschäftigung oder auf die während einer Beurlaubung ohne Dienstbezüge ausgeübte anderweitige Beschäftigung beziehen, solange nur das Arbeitsverhältnis mit dem privilegierten Arbeitgeber rechtlich weiter besteht88.

27.45 Ist der Arbeitnehmer in seiner weiteren Beschäftigung bei einem privilegierten Arbeitgeber tätig, so kann dieser selbstverständlich auch mittels einer auf die bei ihm ausgeübte Beschäftigung bezogenen eigenständigen Gewährleistung die Versicherungsfreiheit für diese Beschäftigung herstellen. h) Versicherungsfreiheit von Rentnern und Hinterbliebenen

27.46 Versicherungsfrei beschäftigte Arbeitnehmer behalten ihren Status auch nach dem Ausscheiden aus der versicherungsfreien Beschäftigung, soweit sie nach dem Erreichen einer Altersgrenze beamtenähnliche Versorgungsleistungen tatsächlich beziehen, § 5 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI. Diese Versicherungsfreiheit gilt absolut; Ruhestandsbeamte und vergleichbare Arbeitnehmer sind daher im Alter auch in einer anderweitig ausgeübten Beschäftigung versicherungsfrei. Voraussetzung ist allerdings, dass die Versorgungsleistungen altersabhängig gewährt werden, wobei es nicht auf das Erreichen der Altersgrenze der gesetzlichen Renten84 BSG v. 23.9.1980 – 12 RK 41/79, SozR 2200 § 1229 Nr. 12; v. 14.9.1978 – 12 RK 57/76, SozR 2200 § 169 Nr. 6. 85 BSG v. 31.5.1978, 12 RK 48/76, SozR 2200 § 1229 Nr. 7, zur Ausbildung eines Rechtsreferendars im Rahmen des Vorbereitungsdienstes. 86 Thüringer LSG v. 30.8.2005 – L 6 KR 718/03, nv. 87 Bergner in KomGRV § 5 SGB VI Rz. 2.5; Kreikebohm/Grintsch, § 5 SGB VI Rz. 13. 88 BSG v. 14.9.1978 – 12 RK 57/76, SozR 2200 § 169 Nr. 6; v. 23.11.1973 – 12 RK 22/72, DAngVers 1874, 139; Reinhardt in LPK-SGB VI, § 5 Rz. 7; Guttenberger in Kasseler Kommentar, § 5 SGB VI Rz. 18.

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Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung

Rz. 27.50 § 27

versicherung ankommt, sondern allein auf die nach dem geltenden Versorgungssystem jeweils maßgebliche Altersgrenze. Beruht der Bezug der Versorgungsleistungen demgegenüber auf anderen Gründen als dem Erreichen einer Altersgrenze, tritt die absolute Versicherungsfreiheit auch dann nicht ein, wenn die Höhe der Versorgungsleistungen der üblichen Altersversorgung entspricht89. Auf den rentenversicherungsrechtlichen Status von Familienangehörigen und Hinterbliebenen hat die Versicherungsfreiheit des beamtenähnlich versorgten Arbeitnehmers in der gesetzlichen Rentenversicherung keinen Einfluss. Dieser ist vielmehr ausschließlich nach dem eigenen sozialversicherungsrechtlichen Status des Angehörigen zu bestimmen.

27.47

2. Nachversicherung bei Beendigung der Versicherungsfreiheit Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes, die aufgrund der Gewährung einer beamtenähnlichen Versorgung in ihrer Beschäftigung versicherungsfrei gewesen sind, werden gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI in der gesetzlichen Rentenversicherung nachversichert, wenn sie ohne Anspruch auf Anwartschaft oder Versorgung („unversorgt“) aus der versicherungsfreien Beschäftigung ausgeschieden sind oder ihren Anspruch auf Versorgung verloren haben.

27.48

Die Nachversicherung soll sicherstellen, dass Arbeitnehmer, die im Hinblick auf eine frühere Versorgungszusage versicherungsfrei gewesen sind, vor einer mit dem Wegfall dieser Versorgung nicht mehr zu rechtfertigenden Benachteiligung gegenüber den Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung geschützt sind. Die Arbeitnehmer haben nämlich während der Zeit ihrer versicherungsfreien Beschäftigung eine kraft Gesetzes an sich rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt und hätten als Mitglieder eines Rentenversicherungsträgers den Schutz der gesetzlichen Rentenversicherung erworben, wenn sie nicht durch die Einbeziehung in ein anderes, dem Schutz der gesetzlichen Rentenversicherung im Wesentlichen gleichwertiges Versorgungssystem versicherungsfrei gestellt worden wären. Sie hätten, gäbe es das Institut der Nachversicherung nicht, ab dem Zeitpunkt des unversorgten Ausscheidens aus der versicherungsfreien Beschäftigung aus dieser jedoch keine Rechte, Ansprüche oder Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung erlangt. Als Ersatz für die weggefallene Versorgung sollen daher die Arbeitnehmer durch die Nachversicherung ihre soziale Sicherung durch die gesetzliche Rentenversicherung erhalten, indem sie nachträglich so gestellt werden, als wären sie die gesamte Zeit versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Durch die Nachversicherung wird damit der Zustand wiederhergestellt, der ohne die Ausnahmeregelung des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI von Anfang an bestanden hätte90.

27.49

Liegen die gesetzlichen Voraussetzungen einer Nachversicherung vor, ist diese zwingend durchzuführen; ein mit dem Arbeitnehmer vereinbarter vertraglicher Ausschluss der Nachversicherung für den Fall des unversorgten Ausscheidens verstößt gegen § 8 Abs. 2 SGB VI und ist damit gemäß § 134 BGB nichtig91. Umgekehrt muss § 8 Abs. 2 SGB VI unangewendet bleiben, sofern die Nachversicherung aufgrund eines grenzüberschreitenden Tätigkeitswech-

27.50

89 BSG v. 17.6.1999 – B 12 KR 18/98 R, SozR 3-2600 § 5 Nr. 6; v. 22.2.1996 – 12 RK 3/95, SozR 3-2600 § 5 Nr. 5. 90 BSG v. 27.6.2011 – B 5 R 88/11 R, SozR 4-2600 § 233 Nr. 2; v. 9.11.1999 – B 4 RA 58/98 R, SozR 3-2600 § 8 Nr. 6; zur Nachversicherung in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung gem. § 186 SGB VI vgl. BSG v. 1.9.1888 – 4 RA 18/88, SozR 2400 § 124 Nr. 6. 91 LSG Berlin v. 23.5.2003 – L 1 AR 1/02, nv.

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§ 27 Rz. 27.50

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

sels eintritt und damit zu einer Beeinträchtigung der gemäß Art. 45 AEUV gewährten Arbeitnehmerfreizügigkeit führt92. a) Eintritt des Nachversicherungsfalls

27.51 Der Nachversicherungsfall tritt gemäß § 8 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ein, wenn ein ehemals versicherungsfreier Arbeitnehmer – unversorgt aus dem versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnis ausscheidet oder – seinen Versorgungsanspruch verliert.

27.52 Arbeitnehmer, die vor dem 1.1.1992 aus einer versicherungsfreien Beschäftigung ausgeschieden sind oder ihren Anspruch auf Versorgung verloren haben, werden aufgrund der Übergangsregelung des § 233 Abs. 1 Satz 1 SGB VI weiterhin nach den bisherigen Vorschriften nachversichert. Die Frage, ob zum Zeitpunkt des Ausscheidens ein Nachversicherungsfall eingetreten ist, beurteilt sich mithin für diese Arbeitnehmer nicht nach den §§ 8, 181 ff. SGB VI, sondern nach dem Recht, das im Zeitpunkt des Ausscheidens aus der versicherungsfreien Tätigkeit galt93. aa) Ausscheiden aus der versicherungsfreien Beschäftigung

27.53 Nach seinem Wortsinn erfasst das Ausscheiden aus der Beschäftigung zunächst jede rechtliche Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses94. Dies gilt auch, wenn es sich um eine nur kurzfristige Unterbrechung handelt95. Der Nachversicherungsfall tritt selbst dann ein, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar im Anschluss an die rechtliche Beendigung einer versicherungsfreien Beschäftigung eine neue versicherungsfreie Beschäftigung aufnimmt; der erneute Eintritt in eine privilegierte Beschäftigung bewirkt lediglich einen Aufschub der Entrichtung der Nachversicherungsbeiträge (Rz. 27.67 ff.), lässt aber die Tatsache, dass der Arbeitnehmer aus seinem ersten versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnis ausgeschieden und bezüglich dieses Beschäftigungsverhältnisses der Nachversicherungsfall grundsätzlich eingetreten ist, unberührt96.

27.54 Da es für den Eintritt des Nachversicherungsfalls überdies nicht auf das Ausscheiden aus der Beschäftigung an sich, sondern auf das Ausscheiden aus der sozialversicherungsfreien Beschäftigung ankommt, kann der Nachversicherungsfall auch bei rechtlich fortbestehender Beschäftigung eintreten. Entscheidend ist, wann das Ende der Versicherungsfreiheit eintritt. Bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis endet die versicherungsfreie Beschäftigung in dem Zeitpunkt, in dem die rentenversicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Versicherungspflicht (wie92 VG Düsseldorf v. 26.2.2018 – 23 K 6871/13, nv. 93 BSG v. 23.3.1999 – B 4 RA 50/98 R, SozR 3-2940 § 9 Nr. 1; v. 14.9.1995 – 4 RA 118/94, SozR 3-2200 § 1232 Nr. 5; v. 30.9.1993 – 4 RA 41/92, nv.; v. 31.3.1992 – 4 RA 25/91, SozR 3-2200 § 1232 Nr. 3; v. 16.12.1987 – 11a RA 20/86, SozR 2200 § 1232 Nr. 25. 94 LAG Köln v. 1.12.2015 – 12 Sa 708/15, rv 2016, 118. 95 BSG v. 11.9.1980 – 1 RA 81/79, SozR 2200 § 1403 Nr. 2: Unterbrechung von weniger als einem Monat. 96 BSG v. 20.12.2001 – B 4 RA 38/01 R, SozR 3-2600 § 181 Nr. 1; v. 29.7.1997 – 4 RA 107/95, SozR 3-2600 § 8 Nr. 4; v. 21.6.1989 – 1 RA 75/87, SozR § 1402 Nr. 9; aA Guttenberger in Kasseler Kommentar, § 5 SGB VI Rz. 14, 18, der bei einer nur unerheblichen Unterbrechung unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung wegen des Vorliegens eines Aufschubgrundes bereits den Eintritt des Nachversicherungsfalls verneint.

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Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung

Rz. 27.57 § 27

der) vorliegen. Wandelt sich daher ein bislang versicherungsfreies Beschäftigungsverhältnis in ein versicherungspflichtiges um, so tritt auch bei ununterbrochener Fortdauer des Arbeitsverhältnisses der Nachversicherungsfall ein97. Dementsprechend beseitigt bspw. eine Änderung der Unternehmensstruktur, mit der ein (bislang privilegierter) öffentlicher Arbeitgeber zu einem von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI nicht erfassten privaten Arbeitgeber wird („Privatisierung“)98, einerseits die Voraussetzungen der Versicherungsfreiheit für die Zukunft; andererseits tritt ungeachtet des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses und der Aufrechterhaltung der bisherigen Versorgungszusage für die Vergangenheit der Nachversicherungsfall ein99. Gleiches gilt, wenn die Gewährleistungsentscheidung (Rz. 27.33 ff.) nachträglich aufgehoben wird oder sonst eine Voraussetzung der Versicherungsfreiheit nachträglich entfällt. Ein Ausscheiden aus der versicherungsfreien Beschäftigung liegt auch beim Tod des Arbeitnehmers vor, sofern dieser während der aktiven Beschäftigung und nicht erst im späteren Ruhestand eintritt100; in diesem Fall erfolgt die Nachversicherung gemäß § 8 Abs. 2 Satz 3 SGB VI jedoch nur dann, wenn ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente geltend gemacht werden kann. Voraussetzung hierfür ist, dass ein Hinterbliebener vorhanden ist und die gesetzlichen Anforderungen an eine Hinterbliebenenrente in der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß §§ 46 ff. SGB VI, insbesondere die jeweiligen Wartezeiten, erfüllt sind101.

27.55

bb) „Unversorgtes“ Ausscheiden aus der versicherungsfreien Beschäftigung Das Ausscheiden aus der versicherungsfreien Beschäftigung ist unversorgt im Sinne des Gesetzes, wenn der Arbeitnehmer im Zeitpunkt des Ausscheidens keine Versorgungsleistungen bezieht und auch keine Anwartschaft für den späteren Versorgungsfall besitzt, wobei der Begriff der Versorgung auch die Versorgung etwaiger Hinterbliebener erfasst102. Nach der Gesetzesbegründung ist es auch unerheblich, ob die mangelnde Versorgung auf dem Wegfall des rechtlichen Anspruchs beruht oder darauf, dass der rechtlich fortbestehende Anspruch tatsächlich nicht erfüllt wird103.

27.56

Entscheidend ist, dass die ursprünglich gewährte Versorgung nicht in dem Umfang verwirk- 27.57 licht wird, wie dies zur Aufrechterhaltung der Versicherungsfreiheit erforderlich wäre. Wird die ursprüngliche Anwartschaft bei einem Ausscheiden aus der versicherungsfreien Beschäftigung aufgrund berücksichtigungsfähiger „Nachdienstzeiten“ erhöht, liegt kein unversorgtes Ausscheiden vor, da die bisherige Versorgung durch den privilegierten Arbeitgeber aufrecht-

97 BGH v. 27.4.1988 – IVa ZR 10/87, VersR 1988, 702; BSG v. 18.1.1962 – 1 RA 12/60 – SozR Nr. 2 zu § 1402 RVO; v. 21.6.1989 – 1 RA 75/87, SozR 2200 § 1402 Nr. 9; v. 22.11.1974 – 1 RA 31/74, SozR 2200 § 1232 Nr. 1. 98 Die damit verbundenen sozialversicherungsrechtlichen Nachteile begründen keinen Schadensersatzanspruch der betroffenen Arbeitnehmer, BAG v. 15.7.2008 – 3 AZR 172/07, ZTR 2009, 220. 99 BSG v. 9.11.1999 – B 4 RA 58/98 R, SozR 3-2600 § 8 Nr. 6 zur Privatisierung der Deutschen Bundespost. 100 BSG v. 30.7.2008 – B 5a/5 R 30/07 R, nv.; LSG Berlin-Brandenburg. v. 30.3.2007 – L 1 R 188/05, nv. 101 Guttenberger in Kasseler Kommentar, § 5 SGB VI Rz. 17. 102 Begründung zum Entwurf des Rentenreformgesetzes 1992, BT-Drucks. 11/4124, 152. 103 Begründung zum Entwurf des Rentenreformgesetzes 1992, BT-Drucks. 11/4124, 152; Beckmann, Mitt. LVA OMFr 1990, 408.

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§ 27 Rz. 27.57

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

erhalten bleibt104. Ebenfalls nicht unversorgt ist ein Arbeitnehmer, dessen Versorgungsanwartschaft unverfallbar geworden ist; in diesem Fall darf allerdings gemäß § 18 Abs. 9 BetrAVG die Höhe der Anwartschaft nicht hinter dem Rentenanspruch zurückbleiben, der im Falle einer Nachversicherung entstanden wäre105. cc) Verlust der Versorgungsanwartschaft

27.58 Der Nachversicherungsfall tritt schließlich auch dann ein, wenn der Arbeitnehmer die bisherige Zusage lebenslanger Versorgung verliert. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Arbeitsverhältnis fortbesteht oder bereits beendet wurde. Auch der zunächst unter Beibehaltung der Versorgungsanwartschaft ausgeschiedene Arbeitnehmer, der die Anwartschaft erst zu einem späteren Zeitpunkt verliert, ist ab diesem Zeitpunkt nachzuversichern106. b) Nachzuversichernde Beschäftigungszeiten

27.59 Da durch die Nachversicherung lediglich die auf der beamtenähnlichen Versorgung beruhende Versicherungsfreiheit kompensiert werden soll, sind im Falle des unversorgten Ausscheidens lediglich diejenigen Zeiten nachzuversichern, die ohne die Versicherungsfreiheit gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht unterfallen wären (sog. „Nachversicherungszeitraum“)107. Dies umfasst auch Zeiten, die von einer Erstreckung der Gewährleistung der beamtenähnlichen Versorgung (Rz. 27.44) umfasst waren108.

27.60 Damit scheidet eine Nachversicherung für unentgeltlich geleistete Ausbildungszeiten aus, auch wenn in dieser Zeit eine Anwartschaft auf beamtenähnliche Versorgung bestanden hat109. Nur wenn eine innerbetriebliche Ausbildung gegen Entgelt erfolgt ist, innerhalb derer der Auszubildende wie ein Arbeitnehmer in den Betrieb eingegliedert war und die Ausbildung überwiegend durch praktische Unterweisung im Rahmen des betrieblichen Arbeitsablaufs sowie anhand der jeweils anfallenden praktischen Arbeitsaufgabe stattgefunden hat, liegt eine die spätere Nachversicherung rechtfertigende Beschäftigung iSd. § 7 Abs. 2 SGB IV iVm. § 1 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI vor110.

104 BSG v. 23.9.2003 – B 4 RA 9/03 R, SozR 4-2600 § 8 Nr. 1. Anders aber, wenn die unveränderte Versorgungszusage bei einem neuen Arbeitgeber die Versicherungsfreiheit nicht mehr begründen kann, BSG v. 9.11.1999 – B 4 RA 58/98 R, SozR 3-2600 § 8 Nr. 6. 105 BAG v. 13.10.2016 – 3 AZR 438/15, NZA 2017, 510; v. 19.6.2012 – 3 AZR 708/11, AP Nr. 32 zu § 18 BetrAVG; LAG Köln v. 1.12.2015 – 12 Sa 708/15, rv 2016, 118; zur früheren Rechtslage vgl. die Übergangsregelung in § 30d BetrAVG und BSG v. 20.12.2001 – B 4 RA 38/01 R, SozR 3-2600 § 181 Nr. 1; v. 11.9.1980 – 1 RA 81/79, SozR 2200 § 1403 Nr. 2; BGH v. 27.4.1988 – IVa ZR 10/87, VersR 1988, 702. 106 Guttenberger in Kasseler Kommentar, § 5 SGB VI Rz. 17. 107 BSG v. 30.9.1993 – 4 RA 41/92, nv.; v. 16.12.1987 – 11a RA 20, 86, SozR 2200 § 1232 Nr. 25; v. 30.6.1983 – 11 RA 57/82, SozR 2200 § 1232 Nr. 15; v. 5.11.1980 – 11 RA 118/79, SozR 2200 § 1232 Nr. 9. 108 BSG v. 14.12.2016 – B 13 R 34/15 R, SozR 4-2600 § 181 Nr. 3. 109 BSG v. 23.3.1999 – B 4 RA 50/98 R, SozR 3-2940 § 9 Nr. 1, zu § 9 AVG: Maschinenaspirant der Deutschen Bundespost. 110 BSG v. 10.3.1994 – 7 RAr 38/93 – SozR 3-4100 § 104 Nr. 11; v. 6.10.1988 – 1 RA 53/87, SozR 2200 § 1232 Nr. 26.

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Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung

Rz. 27.65 § 27

Beschäftigungszeiten, die das deutsche Rentenversicherungsrecht bereits dem Grunde nach nicht erfasst, bspw. Beschäftigungszeiten im Ausland, die nicht dem deutschen Sozialversicherungsrecht unterfallen111, werden von der Nachversicherung ebenfalls nicht umfasst112.

27.61

c) Durchführung und Wirkung der Nachversicherung Durch den Eintritt des Nachversicherungsfalls entsteht ein dreiseitiges Nachversicherungsverhältnis zwischen dem Arbeitgeber, dem Arbeitnehmer und dem Träger der Rentenversicherung.

27.62

Die Hauptpflicht des Rentenversicherungsträgers gegenüber dem nachversicherten Arbeit- 27.63 nehmer besteht darin, diesen unmittelbar nach dem unversorgten Ausscheiden zukunftsgerichtet so zu behandeln, als ob er während des Nachversicherungszeitraums versicherungspflichtig beschäftigt gewesen wäre, § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VI. Die Nachversicherung erfolgt von Amts wegen, ein Antrag des Arbeitnehmers ist nicht erforderlich113. Die gemäß § 149 Abs. 5 SGB VI verbindliche Vormerkung des Nachversicherungszeitraums als nachversicherte Beitragszeit hängt jedoch davon ab, dass die Beiträge vom Arbeitgeber auch tatsächlich entrichtet werden; bis zu diesem Zeitpunkt kann der Arbeitnehmer lediglich die Feststellung der Nachversicherung verlangen114. Hauptpflicht des Arbeitgebers, bei dem die versicherungsfreie Beschäftigung ausgeübt wurde, ist es deshalb, die Nachversicherungsbeiträge für die Dauer der versicherungsfreien Beschäftigung zu tragen und gemäß § 40 Abs. 1, § 41 SGB I unmittelbar an den Rentenversicherungsträger zu zahlen. Die Beiträge trägt der Arbeitgeber allein, § 181 Abs. 5 SGB VI. Es obliegt dem Rentenversicherungsträger, die Beitragsansprüche gegen den Arbeitgeber durchzusetzen115. Hat der Arbeitgeber den Rentenversicherungsträger durch pflichtwidriges Unterlassen von der Geltendmachung des Beitragsanspruchs abgehalten, handelt er grundsätzlich rechtsmissbräuchlich, wenn er sich gegenüber der späteren Beitragsforderung auf Verjährung beruft116; auf verspätet entrichtete Beiträge können zudem gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Säumniszuschläge entfallen117. Da der Arbeitgeber allerdings aus eigenem Recht handelt und keine Amtshandlung für den Rentenversicherungsträger vornimmt, kommt bei einer Pflichtverletzung ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nicht in Betracht118.

27.64

Demgegenüber treffen den unversorgt ausgeschiedenen Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber oder dem Rentenversicherungsträger keine Hauptpflichten, weil er bereits kraft Gesetzes nachversichert ist. Der Arbeitnehmer hat vielmehr gegen den Arbeitgeber Anspruch auf

27.65

111 Zur Ausstrahlung des deutschen Sozialversicherungsrechts auf eine Beschäftigung im Ausland vgl. § 4 Abs. 1 SGB IV. 112 BSG v. 5.11.1980 – 11 RA 118/79, SozR 2200 § 1232 Nr. 9. 113 LSG Sachsen-Anhalt v. 14.11.2007 – L 3 RJ 191/04, nv. 114 BSG v. 31.1.2008 – B 13 R 27/07 R, SozR 4-2600 § 281 Nr. 1; vgl. auch Gürtner in Kasseler Kommentar, § 8 SGB VI Rz. 4. 115 BSG v. 9.11.1999 – B 4 RA 3/99 R, RegNr. 24550; v. 29.7.1997 – 4 RA 107/95, SozR 3-2600 § 8 Nr. 4 mwN. 116 BSG v. 27.6.2012 – B 5 R 88/11 R; v. 27.6.2011 – B 5 R 88/11 R, SozR 4-2600 § 233 Nr. 2; aA LSG Sachsen-Anhalt v. 14.11.2007 – L 3 RJ 191/04: Rechtsmissbrauch nur bei vorsätzlicher Beitragsvorenthaltung. 117 BSG v. 1.7.2010 – B 13 R 67/09 R, SozR 4-2400 § 24 Nr. 5; LSG Berlin-Brandenburg v. 13.10.2011 – L 22 R 388/10, juris. 118 LSG Berlin-Brandenburg v. 20.12.2016 – L 12 R 801/13, juris.

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§ 27 Rz. 27.65

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

Erteilung einer Nachversicherungsbescheinigung gemäß § 185 Abs 3 SGB VI und gegen den Rentenversicherungsträger einen Anspruch auf Vormerkung der Zeit seiner nachversicherten Beschäftigung als nachversicherte Beitragszeit119. Kommt der Arbeitgeber seiner Verpflichtung zur Beitragszahlung nicht nach, kann der Arbeitnehmer diesen auf Entrichtung der Nachversicherungsbeiträge in Anspruch nehmen120.

27.66 Durch die Nachversicherung wird zwar die ursprünglich versicherungsfreie nicht nachträglich in eine versicherungspflichtige Beschäftigung umgewandelt121. Nachversicherte Arbeitnehmer stehen jedoch gemäß § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Arbeitnehmern gleich, die versicherungspflichtig sind, so dass es auf die Unterscheidung faktisch nicht ankommt. Dementsprechend gelten die Nachversicherungsbeiträge als rechtzeitig geleistete Pflichtbeiträge, § 185 Abs. 2 Satz 1 SGB VI. Der Arbeitnehmer wird daher so gestellt, als sei er während der privilegierten Beschäftigung in der gesetzlichen Rentenversicherung122 versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. d) Aufschub der Beitragszahlung

27.67 Der Grundsatz, dass bei Eintritt eines Nachversicherungsfalls die Nachversicherung des Arbeitnehmers mit sofortiger Wirkung durchzuführen ist, gilt nicht ausnahmslos. Er wird vielmehr in denjenigen Fällen modifiziert, in denen die tatsächlichen Umstände eine zeitliche Verzögerung der Beitragszahlung in die gesetzliche Rentenversicherung rechtfertigen.

27.68 Diese Umstände sind in den sog. Aufschubgründen des § 184 Abs 2 Satz 1 SGB VI näher definiert. Demnach ist die Nachentrichtung der Beiträge für den Nachversicherungszeitraum aufgeschoben, wenn – die versicherungsfreie Beschäftigung nach einer Unterbrechung, die infolge ihrer Eigenart oder aufgrund vertraglicher Vereinbarung im Voraus zeitlich begrenzt ist, voraussichtlich wieder aufgenommen wird (Nr. 1); – eine andere Beschäftigung sofort oder voraussichtlich innerhalb von zwei Jahren nach dem Ausscheiden aufgenommen wird, in der wegen Gewährung einer beamtenähnlichen Versorgung Versicherungsfreiheit besteht oder eine Befreiung von der Versicherungspflicht erfolgt, sofern der Nachversicherungszeitraum bei der Versorgungsanwartschaft aus der anderen Beschäftigung berücksichtigt wird (Nr. 2); oder – eine widerrufliche Versorgung gezahlt wird, die der aus einer Nachversicherung erwachsenden Rentenanwartschaft mindestens gleichwertig ist (Nr. 3). Ein weiterer Aufschubgrund ergibt sich aus § 186 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI, solange der Nachzuversichernde noch einen Antrag auf Zahlung der Beiträge an eine berufsständische Versorgungseinrichtung stellen kann123.

119 BSG v. 29.7.1997 – 4 RA 107/95, SozR 3-2600 § 8 Nr. 4 mwN. 120 BSG v. 31.1.2008 – B 13 R 27/07 R, SozR 4-2600 § 281 Nr. 1; Bayerischer VGH v. 13.2.2007 – 14 ZB 06.3282, juris. 121 BSG v. 14.5.1985 – 4a RJ 21/84, SozR 1300 § 104 Nr. 6; v. 27.9.1967 – 11 RA 22/66, SozR Nr. 2 zu § 1234 RVO; Gürtner in Kasseler Kommentar, § 8 SGB VI Rz. 4. 122 Dies gilt nicht für andere Zweige der Sozialversicherung: BSG v. 5.7.2006 – B 12 KR 15/05 R, SozR 4-2500 § 5 Nr. 4, zur gesetzlichen Krankenversicherung bei Nachversicherung. 123 BSG v. 29.11.2007 – B 13 R 48/06 R, SozR 4-2600 § 186 Nr. 1.

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Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung

Rz. 27.70 § 27

aa) Die Aufschubgründe im Einzelnen Die voraussichtliche Wiederaufnahme der bisherigen versicherungsfreien Beschäftigung 27.69 setzt voraus, dass die Unterbrechung der Beschäftigung entweder infolge ihrer Eigenart oder aufgrund einer entsprechenden vertraglichen Vereinbarung zeitlich begrenzt ist. Eine solche Erwartung liegt typischerweise bei einer Beurlaubung ohne Dienstbezüge vor124. Wird das der versicherungsfreien Beschäftigung zugrunde liegende Arbeitsverhältnis jedoch auch rechtlich beendet, so setzt eine nur vorübergehende Unterbrechung zumindest einen objektivierten Rückkehrwillen auf der Seite des Arbeitnehmers und auf der Seite des Arbeitgebers die gleichermaßen objektivierte Absicht voraus, das Arbeitsverhältnis später fortzusetzen. Dies kann nicht angenommen werden, wenn der Arbeitnehmer die Beschäftigung aufgibt, um ein Studium zu absolvieren, wenn die Absicht, danach wieder in die Dienste des Arbeitgebers zu treten, rein subjektiv begründet ist125. Nach Auffassung des BSG sollen bloße Absichtserklärungen generell nicht ausreichen; Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen sich vielmehr bereits im Zeitpunkt des Ausscheidens rechtsverbindlich über die Fortsetzung der versicherungsfreien Beschäftigung verständigt haben126. Darüber hinaus kann von einer zeitlichen Begrenzung, dh. einer nur vorübergehenden Unterbrechung, dann nicht mehr gesprochen werden, wenn diese voraussichtlich einen Zeitraum von zwei Jahren erheblich überschreitet127. Die (voraussichtliche) Aufnahme einer anderen versicherungsfreien Beschäftigung be- 27.70 gründet einen Aufschub, wenn der Wechsel in eine wiederum versicherungsfreie Beschäftigung entweder sofort oder doch zumindest innerhalb einer angemessenen Übergangszeit zu erwarten ist. Bei der sofortigen Aufnahme einer anderweitigen Beschäftigung muss der Übergang unmittelbar und nahtlos ohne zeitliche Unterbrechung erfolgen128. Liegt eine zeitliche Lücke zwischen den beiden Beschäftigungen, kommt ein Aufschub nur dann in Betracht, wenn im Zeitpunkt des unversorgten Ausscheidens eine hinreichend sichere Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Arbeitnehmer innerhalb von zwei Jahren129 erneut eine Beschäftigung aufnehmen wird, in der er – unter Einbeziehung der bisherigen Nachversicherungszeiträume – wiederum außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung abgesichert sein wird. Dabei müssen die Gründe, welche die Aufnahme der Beschäftigung innerhalb des Schwebezeitraumes nahe legen – die Absicht des Arbeitnehmers, eine entsprechende Beschäftigung aufzunehmen, und die begründete Annahme, dass dies gelingen wird –, auf objektiven Tatsachen beruhen und so stark überwiegen, dass keine erheblichen praktischen Zweifel daran verbleiben130. Lediglich vage Vermutungen über die Beschäftigungsentwicklung reichen zur Begründung eines Aufschubes daher nicht aus131; ebensowenig der Umstand, dass ein Nachzuversichernder einer Berufsgruppe angehört, bei welcher die bloße Möglichkeit besteht, eine

124 BSG v. 14.2.1973 – 1 RA 121/72, SozR Nr. 10 zu § 1402 RVO. 125 BSG v. 11.9.1980 – 1 RA 81/79, SozR 2200 § 1403 Nr. 2. 126 LSG Hamburg v. 20.4.2011 – L 2 R 33/10, juris; BSG v. 27.4.1982 – 1 RA 33/81, SozR 2200 § 1403 Nr. 4; v. 30.6.1983 – 11 RA 43/82, SozR 5750 Art. 2 § 3 Nr. 5. 127 BSG v. 11.9.1980 – 1 RA 81/79, SozR 2200 § 1403 Nr. 2. 128 BSG v. 11.6.1986 – 1 RA 51/84, SozR 2200 § 1403 Nr. 6. 129 Auch eine auch nur kurzfristige Überschreitung der Frist ist schädlich, vgl. BSG v. 27.4.1982 – 1 RA 25/81, SozR 2200 § 1403 Nr. 3, zur Jahresfrist des § 125 Abs. 1 AVG und zu deren Berechnung. 130 BSG v. 29.7.1997 – 4 RA 107/95, SozR 3-2600 § 8 Nr. 4; v. 20.4.1972 – 1 RA 233/70, BSGE 34, 136; LSG Berlin-Brandenburg v. 20.12.2016 – L 12 R 801/13, juris; Begründung zum Entwurf des Rentenreformgesetzes 1992, BT-Drucks. 11/4124, 187 f. 131 LSG Baden-Württemberg v. 21.11.2013 – L 10 R 1214/12, juris.

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§ 27 Rz. 27.70

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

Tätigkeit mit einer Pflichtmitgliedschaft in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung aufzunehmen132.

27.71 Schließlich wird die Beitragszahlung aufgeschoben, wenn dem ausgeschiedenen Arbeitnehmer eine anderweitige Versorgung gewährt wird, auch wenn diese widerruflich ist. Dabei ist erforderlich, dass die Versorgung der aus einer Nachversicherung erwachsenden Rentenanwartschaft zumindest gleichwertig ist133. bb) Zeitpunkt der Beurteilung

27.72 Die Aufschubgründe müssen im Zeitpunkt des Nachversicherungsfalls vorliegen. Insoweit ist in den Fällen des Wiedereintritts in eine versicherungsfreie Beschäftigung eine vorausschauende Prognoseentscheidung des Arbeitgebers alsbald nach dem Ausscheiden des Arbeitnehmers darüber erforderlich, ob tatsächliche Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Arbeitnehmer in absehbarer Zeit wieder in seiner bisherigen oder einer anderen versicherungsfreien Tätigkeit mit gewährleisteter Versorgung beschäftigt sein wird134.

27.73 Ob ein Aufschubgrund vorliegt, ist allein unter Berücksichtigung der Erkenntnisse bei Eintritt des Nachversicherungsfalls zu beurteilen. Nachträgliche Entwicklungen, die nicht prognostizierbar gewesen sind, werden bei der Entscheidung über den Aufschub nicht berücksichtigt135. Die in Ermangelung eines Aufschubgrundes in die gesetzliche Rentenversicherung nachzuentrichtenden Beiträge bleiben deshalb auch dann rechtmäßig, wenn der Arbeitnehmer zu einem späteren Zeitpunkt wider Erwarten erneut eine versicherungsfreie Beschäftigung aufnimmt. cc) Formelle Voraussetzungen des Beitragsaufschubs

27.74 Ein Aufschub der Beitragsentrichtung tritt nur dann ein, wenn ein Aufschubgrund tatsächlich vorliegt und der Arbeitgeber hierüber gemäß § 184 Abs. 3 SGB VI eine entsprechende Entscheidung, die sog. Aufschubentscheidung getroffen hat. Mit der Aufschubentscheidung entscheidet der Arbeitgeber in tatsächlicher Hinsicht darüber, ob mit dem Ausscheiden des Arbeitnehmers Nachversicherungsbeiträge gezahlt werden sollen136.

27.75 Die Bindungswirkung der Aufschubentscheidung beschränkt sich jedoch auf den arbeitsrechtlichen Bereich137. Inhalt der Aufschubentscheidung ist lediglich die Mitteilung, dass und weshalb der Arbeitgeber glaubt, Nachversicherungsbeiträge an den Rentenversicherungsträger (noch) nicht zahlen zu müssen. Über die sozialversicherungsrechtliche Frage, ob die materiellrechtlichen Voraussetzungen für einen Aufschub der Beitragsnachentrichtung tatsächlich gegeben sind, entscheidet allein der Rentenversicherungsträger mit verbindlicher Wirkung ge-

132 Thüringer LSG v. 14.5.2014 – L 12 R 1237/10, juris. 133 Gürtner in Kasseler Kommentar, § 184 SGB VI Rz. 13; Begründung zum Entwurf des Rentenreformgesetzes 1992, BT-Drucks. 11/4124, 188. 134 BSG v. 11.6.1986 – 1 RA 51/84, SozR 2200 § 1404 Nr. 6; v. 14.2.1973 – 1 RA 241/72, SozR 2200 § 1403 Nr. 4. 135 BSG v. 29.7.1997 – 4 RA 107/95, SozR 3-2600 § 8 Nr. 4; LSG Baden-Württemberg v. 21.11.2013 – L 10 R 1214/12, juris. 136 LSG Hamburg v. 20.4.2011 – L 2 R 33/10; LSG Nordrhein-Westfalen v. 16.12.2009 – L 3 R 106/09; BSG v. 29.7.1997 – 4 RA 107/95, SozR 3-2600 § 8 Nr. 4; Gürtner in Kasseler Kommentar, § 184 SGB VI Rz. 16. 137 Zur Anfechtbarkeit durch den Arbeitnehmer vgl. BSG v. 17.11.1970 – 1 RA 163/69, SozR Nr. 2 zu § 1403 RVO; v. 25.6.1971 – 1 RA 243/70, SozR Nr. 3 zu § 1403 RVO.

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Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung

Rz. 27.78 § 27

genüber dem Arbeitgeber wie auch dem Arbeitnehmer138. Allerdings hat die Aufschubentscheidung insoweit konstitutive Wirkung, als der Aufschub nicht bereits dann eintritt, wenn die gesetzlichen Tatbestände eines Aufschubgrundes erfüllt sind, sondern nur dann, wenn der Arbeitgeber eine Aufschubentscheidung auch objektiv getroffen hat139. Zur Dokumentation seiner Aufschubentscheidung hat der Arbeitgeber dem Träger der Ren- 27.76 tenversicherung ebenso wie dem Arbeitnehmer gemäß § 184 Abs. 4 SGB VI eine entsprechende Aufschubbescheinigung auszustellen, in der sowohl der Nachversicherungszeitraum als auch die Gründe für den Aufschub anzugeben sind. Die Aufschubbescheinigung ist unverzüglich140 nach dem Ausscheiden des Arbeitnehmers zu erteilen; sie ist notwendige Voraussetzung dafür, dass der Rentenversicherungsträger das Vorliegen von Aufschubgründen überhaupt prüfen kann und muss. Fehlt es an einer form- oder fristgerecht mitgeteilten Aufschubentscheidung des Arbeitgebers, kann und muss der Rentenversicherungsträger die Beitragsansprüche gegen den Arbeitgeber zeitnah geltend machen. dd) Rechtsfolgen des Beitragsaufschubs Durch das Vorliegen eines Aufschubgrundes wird der Eintritt des Nachversicherungsfalls nicht verhindert; der Aufschub ändert daher nichts an der grundsätzlichen Pflicht des Arbeitgebers zur Beitragsnachentrichtung und hat auch keine Auswirkung auf die Höhe der nachzuentrichtenden Beiträge. Jedoch ist das Schutzbedürfnis des Arbeitnehmers an einer Einbeziehung in die gesetzliche Rentenversicherung in den Aufschubfällen (noch) nicht akut, so dass der Arbeitgeber die Nachversicherungsbeiträge (noch) nicht entrichten muss. Dies wird erreicht, indem die Aufschubgründe die Verpflichtung zur Beitragszahlung gar nicht erst entstehen lassen (sog. anspruchshindernde Aufschubgründe) oder zumindest die Fälligkeit der Beitragszahlung hemmen (fälligkeitshemmende Aufschubgründe)141.

27.77

Anspruchshindernde Aufschubgründe sind in § 184 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 1. Alt. und Nr. 3 SGB VI enthalten. Demnach wird die Beitragszahlung aufgeschoben, wenn eine andere, die beamtenähnliche Versorgung gewährleistende versicherungsfreie Beschäftigung sofort nach dem unversorgten Ausscheiden aufgenommen wird. Gleiches gilt, wenn eine Versorgung gezahlt wird, die der aus einer Nachversicherung erwachsenen Rentenanwartschaft mindestens gleichwertig ist. In diesen Fällen kommt es bereits nicht zur Entstehung eines Beitragsanspruchs des Rentenversicherungsträgers, weil der Arbeitgeber den nachversicherten Arbeitnehmer wegen der Absicherung in einem beamtenähnlichen Sicherungssystem noch nicht so behandeln muss, als sei er versicherungspflichtig beschäftigt gewesen; denn solange sich versicherungsfreie oder von der Versicherungspflicht befreite Beschäftigungen aneinander reihen

27.78

138 BSG v. 11.6.1986 – 1 RA 51/84, SozR 2200 § 1403 Nr. 6; v. 11.9.1980 – 1 RA 81/79, SozR 2200 § 1403 Nr. 2; v. 17.11.1970 – 1 RA 163/69, SozR Nr. 2 zu § 1403 RVO. 139 BSG v. 29.7.1997 – 4 RA 107/95, SozR 3-2600 § 8 Nr. 4; v. 30.6.1983 – 11 RA 43/82, SozR 5750 Art. 2 § 3 Nr. 5; v. 11.6.1986 – 1 RA 51/84, SozR 2200 § 1403 Nr. 6; v. 11.9.1980 – 1 RA 81/79, SozR 2200 § 1403 Nr. 2; v. 29.1.1975 – 11 RA 92/73, SozR 2400 § 18 Nr. 18. 140 BSG v. 29.7.1997 – 4 RA 107/95, SozR 3-2600 § 8 Nr. 4; v. 14.2.1973 – 1 RA 241/72, SozR Nr. 4 zu 1403 RVO. 141 BAG v. 20.12.2001 – B 4 RA 38/01 R, SozR 3-2600 § 181 Nr. 1; BSG v. 29.7.1997 – 4 RA 107/95, SozR 3-2600 § 8 Nr. 4; v. 21.6.1989 – 1 RA 75/87, SozR § 1402 Nr. 9; aA Hauck/Noftz/Liebich, § 8 SGB VI Rz. 2; Hauck/Noftz/Liebich, § 184 SGB VI Rz. 3; Gürtner in Kasseler Kommentar, § 5 SGB VI Rz. 14, 18, § 184 SGB VI Rz. 3; von Einem, ZTR 1993, 270 ff.; Beckmann, Mitt. LVA OMFr 1990, 408, die bei Vorliegen eines Aufschubes bereits den Eintritt des Nachversicherungsfalls verneinen.

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§ 27 Rz. 27.78

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

und die hieraus begründeten Versorgungen in anderen Sicherungssystemen die früheren Nachversicherungszeiträume berücksichtigen oder solange eine anderweitige Versorgung tatsächlich gezahlt wird, fehlt es an einem Sicherungsbedürfnis des Arbeitnehmers. Solange die anderweitige Versorgung besteht, ist deshalb der Rentenversicherungsträger aufgrund der Vorrangigkeit dieser Sicherung rechtlich nicht verpflichtet, gegenüber dem nachversicherten Arbeitnehmer Leistungen zu erbringen142.

27.79 Demgegenüber steht bei den fälligkeitshemmenden Aufschubgründen noch nicht abschließend fest, ob der Arbeitnehmer die Sicherung durch die gesetzliche Rentenversicherung benötigt. Gemäß § 184 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI wird die Beitragszahlung aufgeschoben, wenn die Beschäftigung nach einer Unterbrechung, die infolge ihrer Eigenart oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt ist, voraussichtlich wieder aufgenommen wird. Dasselbe gilt ausweislich der Regelung in § 184 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 2. Alt. SGB VI, wenn eine andere versicherungsfreie Beschäftigung voraussichtlich innerhalb von zwei Jahren nach dem Ausscheiden aufgenommen wird, sofern die neue Versorgungsanwartschaft den Nachversicherungszeitraum mit erfasst. Bei diesen fälligkeitshemmenden Aufschubgründen handelt es sich damit letztlich um die Einrede der drohenden Zweckverfehlung der Nachversicherungsbeiträge: In beiden Fallgestaltungen ist der Arbeitnehmer – anders als bei den anspruchshindernden Aufschubgründen – für die Zeit bis zu der voraussichtlichen Wiederaufnahme einer versicherungsfreien Beschäftigung auf den sofortigen Schutz des Rentenversicherungsträgers angewiesen, weil er während dieses Schwebezustandes nicht durch ein anderes Versorgungssystem geschützt ist. Sofern es jedoch bis zum Ablauf des Schwebezustandes zu der anfänglich vorausgesehenen (Wieder-)Aufnahme einer versicherungsfreien Beschäftigung kommt und in der Zwischenzeit Leistungen des Rentenversicherungsträgers nicht zu erbringen waren, würde die Beitragszahlung im wirtschaftlichen Ergebnis nur den öffentlichen Arbeitgeber belasten, ohne dass dem entsprechende Vorteile für den Arbeitnehmer gegenüberstünden143. Dies rechtfertigt es, dem Arbeitgeber eine die Fälligkeit des Beitragsanspruchs des Rentenversicherungsträgers aufschiebende Einrede zu gewähren, die erst wegfällt, wenn feststeht, dass die prognostizierte Beschäftigung wider Erwarten nicht aufgenommen wird. Kommt es zu der prognostizierten (Wieder-)Aufnahme einer versicherungsfreien Beschäftigung, erstreckt sich der Aufschub auch auf diese Tätigkeit; Nachversicherungsbeiträge werden deshalb gemäß § 184 Abs. 2 Satz 2 SGB VI erst dann fällig, wenn der Arbeitnehmer auch aus der weiteren Beschäftigung unversorgt ausscheidet.

27.80 In allen Fallgestaltungen des Beitragsaufschubes besteht – jedenfalls zunächst – keine fällige Zahlungsverpflichtung des Arbeitgebers. Bereits entrichtete Nachversicherungsbeiträge können daher gemäß § 26 Abs. 2 SGB IV zurückgefordert werden144. e) Berechnung der nachzuentrichtenden Beiträge

27.81 Der Arbeitgeber hat die Beiträge für den Nachversicherungszeitraum nach den Vorschriften zu entrichten, die im Zeitpunkt des Ausscheidens aus der versicherungsfreien Beschäftigung für die Berechnung der Beiträge für versicherungspflichtig Beschäftigte maßgebend sind, § 181 Abs. 1 Satz 1 SGB VI145. Entscheidend ist dabei nicht der Zeitpunkt der tatsächlichen Beitragszahlung durch den Arbeitgeber, sondern allein der Zeitpunkt, in dem der Nachver142 143 144 145

BSG v. 29.7.1997 – 4 RA 107/95, SozR 3-2600 § 8 Nr. 4. BSG v. 29.7.1997 – 4 RA 107/95, SozR 3-2600 § 8 Nr. 4. BSG v. 14.2.1973 – 1 RA 241/72, SozR Nr. 4 zu § 1403 RVO. BSG v. 2.11.2015 – B 13 R 17/14 R, SozR 4-2600 § 181 Nr. 2.

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Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung

Rz. 27.85 § 27

sicherungsfall rechtlich eintritt; anderenfalls könnte der Arbeitgeber durch die Wahl des Zahlungszeitpunktes die Höhe seiner Beitragsschuld mitbestimmen146. Maßgeblich für die Bemessung der Beitragsschuld sind damit Beitragssatz und Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung im Zeitpunkt des Ausscheidens, auch wenn sich deren Höhe bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen Beitragszahlung verändern sollte. Bemessungsgrundlage für die nachzuentrichtenden Beiträge sind die beitragspflichtigen Einnahmen aus der versicherungsfreien Beschäftigung bis zur Beitragsbemessungsgrenze147; nach § 228a Abs. 1 Nr. 2 SGB VI ist die Beitragsbemessungsgrenze für das jeweilige Beitragsgebiet maßgebend148. Dabei sind auch Einnahmen aus anderer Beschäftigung zu berücksichtigen, soweit die Gewährleistung der Versorgung auf diese Beschäftigung erstreckt war, § 181 Abs. 2 SGB VI. Hat der Arbeitnehmer neben seiner versicherungsfreien eine weitere versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt, so bleiben die hierfür von dem Arbeitgeber entrichteten Rentenversicherungsbeiträge auch im Nachversicherungsfall rechtmäßig entrichtet; das für die versicherungsfreie Beschäftigung nachzuversichernde Entgelt ist jedoch diesem Fall gemäß § 182 Abs. 1 SGB VI nur insoweit zu berücksichtigen, als es zusammen mit dem Entgelt der Zweitbeschäftigung die Beitragsbemessungsgrenze nicht übersteigt; eine Rückzahlung der Beiträge aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung zu Lasten der Nachversicherung kommt demgegenüber nicht in Betracht149.

27.82

Soweit im Nachversicherungszeitraum freiwillige Beiträge des Arbeitnehmers entrichtet wurden, werden diese gemäß § 182 Abs. 2 SGB VI erstattet. Sofern freiwillige Beiträge des Arbeitgebers entrichtet worden sind, werden diese nicht erstattet, sondern (dynamisiert) auf die Beiträge für die Nachversicherung angerechnet150.

27.83

3. Freiwillige gesetzliche Versicherung, § 7 Abs. 2 SGB VI Arbeitnehmer, die aufgrund der beamtenähnlichen Versorgung versicherungsfrei sind, können in der gesetzlichen Rentenversicherung freiwillig versichert werden, wenn sie die allgemeine Wartezeit151 erfüllt haben. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Versorgung in Form einer Gesamtversorgung unter Einbeziehung der gesetzlichen Rente gewährt werden soll (Rz. 27.26).

27.84

Der Aufbau einer freiwilligen gesetzlichen Altersversorgung durch eigene Beitragsleistungen des Arbeitnehmers ist grundsätzlich ebenfalls möglich. In der Praxis ist dies allerdings wirtschaftlich nicht interessant, da die beamtenrechtlichen Vorschriften, auf denen die beamten-

27.85

146 BSG v. 20.12.2001 – B 4 RA 38/01 R, SozR 3-2600 § 181 Nr. 1: „normativer Zahlungsbegriff“. AA die herrschende Literaturmeinung, vgl. Gürtner in Kasseler Kommentar, § 181 SGB VI Rz. 3; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, § 181 SGB VI Rz. 5; Beckmann, Mitt. LVA OMFr 1990, 408, unter Verweis auf den Wortlaut des § 181 Abs. 2 SGB VI und die Begründung zum Entwurf des Rentenreformgesetzes 1992, BT-Drucks. 11/4124, 187; ebenso LSG Hamburg v. 16.3.2011 – L 2 R 146/10, juris. 147 Zur Berücksichtigung einer Mindestbemessungsgrundlage und zur Dynamisierung der Bemessungsgrundlage vgl. § 181 Abs. 3 und 4 SGB VI. 148 LSG Berlin-Brandenburg v. 23.3.2017 – L 27 R 328/16, juris. 149 BSG v. 16.6.1982 – 11 RA 49/81, SozR 2200 § 1232 Nr. 14; v. 11.3.1970 – 3 RK 40/67, SozR Nr. 10 zu § 1229 RVO. 150 Gürtner in Kasseler Kommentar, § 182 SGB VI Rz. 4 f. 151 Die allgemeine Wartezeit ist erfüllt, wenn mindestens fünf Jahre mit allgemeinen Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung vorliegen, §§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 SGB VI.

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§ 27 Rz. 27.85

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

ähnliche Versorgung typischerweise beruht, eine Anrechnung einer gesetzlichen Rente auf die Altersbezüge vorsehen152. Der Arbeitnehmer erwirbt daher aus einer gesetzlichen „Zusatzversicherung“ regelmäßig keine wirtschaftlichen Vorteile. 4. Erstattung früherer Rentenversicherungsbeiträge

27.86 Arbeitnehmer, die bei Aufnahme einer versicherungsfreien Beschäftigung bereits Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung entrichtet haben, können die Erstattung dieser Beiträge beantragen, wenn die aus der Beitragszahlung resultierenden Versorgungsanwartschaften für sie ohne Wert sind.

27.87 Voraussetzung der Beitragserstattung ist gemäß § 210 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 iVm. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB VI, dass – der Arbeitnehmer nicht das Recht zur freiwilligen Versicherung besitzt153, – seit dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht mindestens 24 Monate vergangen sind und – im Zeitpunkt der Antragstellung nicht erneut Versicherungspflicht eingetreten ist.

27.88 Erstattet werden die Beiträge, die der Arbeitnehmer selbst getragen hat; sofern allerdings von der gesetzlichen Rentenversicherung bereits Leistungen an den Arbeitnehmer erbracht worden sind, können nur die nach dem Leistungszeitpunkt gezahlten Beiträge erstattet werden. Beiträge des früheren Arbeitgebers werden demgegenüber nicht erstattet, so dass dieser durch einen Antrag auf Beitragserstattung nicht entlastet wird154.

27.89 Mit der Beitragserstattung ist das bisherige Versicherungsverhältnis zwischen dem Arbeitnehmer und der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 210 Abs. 6 Satz 2 SGB VI aufgelöst155. Ansprüche aus den Zeiten, für die eine Beitragserstattung erfolgt ist, können deshalb auch dann keine rentenrechtlichen Ansprüche mehr begründen, wenn zu einem späteren Zeitpunkt wieder Versicherungspflicht eintreten und der Arbeitnehmer hieraus Leistungsansprüche gegen die gesetzliche Rentenversicherung erwerben sollte.

III. Besonderheiten in der Versorgung bei Krankheit und Arbeitsunfähigkeit (Gesetzliche Krankenversicherung) 27.90 Die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) war in der Vergangenheit erheblich durchlässiger ausgestaltet als diejenige in der gesetzlichen Rentenversicherung und anderen Versicherungszweigen. So besteht zwar gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V eine Versicherungspflicht für Arbeitnehmer auch in der gesetzlichen Krankenversicherung. Allerdings führte bislang bereits das erstmalige Überschreiten der Jahresarbeitsentgeltgrenze gemäß 152 Vgl. § 55 des Beamtenversorgungsgesetzes (BeamtVG). 153 BSG v. 9.10.2012 – B 5 R 54/11 R, SGb 2012, 714; v. 14.8.2008 – B 5 R 39/07 R, SozR 4-2600 § 210 Nr. 2; Hessisches LSG v. 19.6.2007 – L 2 R 142/07, DB 2007, 1644; LSG Berlin-Brandenburg v. 29.5.2007 – L 16 R 239/07, nv.; LSG Baden-Württemberg v. 20.3.2007 – L 9 R 4964/06, nv. 154 LSG Berlin-Brandenburg v. 8.2.2007 – L 17 RA 60/03, nv.; v. 31.7.2006 – L 16 R 1623/05, nv. 155 LSG Nordrhein-Westfalen v. 29.5.2008 – L 2 KN 128/07, juris; v. 24.4.2012 – L 18 KN 82/10, juris.

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Krankheit und Arbeitsunfähigkeit

Rz. 27.92 § 27

§ 6 Abs. 6 bis 8 SGB V dazu, dass ein Arbeitnehmer nicht mehr der Versicherungspflicht unterlag. Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz156, das seit dem 1.4.2007 in mehreren Schritten 27.91 bis zum 1.1.2011 sukzessive in Kraft getreten ist, ist diese Durchlässigkeit erheblich begrenzt worden. Eine wesentliche Änderung lag in der Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht für Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben (§ 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V); damit wurde das politische Ziel verfolgt, dass in Deutschland niemand ohne Absicherung im Krankheitsfall sein soll157. Weiterhin wurde der Wegfall der Versicherungspflicht bei höheren Einkommen gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V auf diejenigen Arbeitnehmer begrenzt, deren Einkommen die Jahresarbeitsentgeltgrenze nicht nur einmalig, sondern drei Jahre in Folge überschritten hat. Damit sollte der Wechsel von der gesetzlichen in die private Krankenversicherung erschwert und so zur Stärkung des Solidarprinzips in der gesetzlichen Krankenversicherung beigetragen werden158. Ein Teil dieser Änderungen ist mit Wirkung vom 31.12.2010 wieder zurückgenommen worden159. Insbesondere wurde die dreijährige Wartezeit wieder abgeschafft, die Versicherungspflicht endet nun wieder unmittelbar am Ende des Jahres, in dem die Pflichtversicherungsgrenze überschritten wird, § 6 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 1, Abs. 4 SGB V. Wenn auch darüber hinaus eine besondere Regelung der Versicherungsfreiheit für die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes besteht, sind diese auch von diesen allgemeinen Regelungen betroffen. 1. Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Krankenversicherung, § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V Für Arbeitnehmer, die einem eigenständigen Versorgungssystem außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung angehören, gibt es Ausnahmen von der grundsätzlichen Versicherungspflicht. § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V160 enthält eine an das Rentenversicherungsrecht angelehnte Regelung, die – unabhängig von der Höhe des Arbeitsentgelts161 – Versicherungsfreiheit für anderweitig versorgte Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes begründet. Nach dieser Vorschrift besteht Versicherungsfreiheit für „Beamte, Richter, Soldaten auf Zeit sowie Berufssoldaten der Bundeswehr und sonstige Beschäftigte des Bundes, eines Landes, eines Gemeindeverbandes, einer Gemeinde, von öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Anstalten, Stiftungen oder Verbänden öffentlich-rechtlicher Körperschaften oder deren Spitzenverbänden, wenn sie nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen bei Krankheit Anspruch auf Fortzahlung der Bezüge und auf Beihilfe oder Heilfürsorge haben.“

156 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) v. 26.3.2007, BGBl. I, 378. 157 Begründung des Gesetzentwurfs zum GKV-WGS v. 24.10.2006, BT-Drucks. 16/3100, 94. 158 Begründung des Gesetzentwurfs zum GKV-WGS v. 24.10.2006, BT-Drucks. 16/3100, 95. 159 GKV-FinG v. 22.12.2010, BGBl. I, 2309. 160 § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V ist mit dem SGB V aufgrund des Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen (Gesundheits-Reformgesetz – GRG) vom 20.12.1988 (BGBl. I, 2477) mit Wirkung vom 1.1.1989 in Kraft getreten und ersetzt seitdem die zeitgleich aufgehobenen §§ 169 Abs. 1, 174 der Reichsversicherungsordnung (RVO). 161 BSG v. 29.6.1993 – 12 RK 91/92, SozR 3-2500 § 10 Nr. 3; Jahn/Klose/Klose, § 6 SGB V Rz. 22.

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27.92

§ 27 Rz. 27.93

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

a) Beschäftigte privilegierter Arbeitgeber

27.93 Der Kreis der privilegierten Arbeitgeber, die ihre Arbeitnehmer eigenen Sicherungssystemen zuweisen können, ist dem des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI nahezu identisch, so dass auf die dortigen Ausführungen verwiesen werden kann (Rz. 27.13 ff.). Entscheidend ist auch hier, dass der Arbeitnehmer bei dem privilegierten öffentlichen Arbeitgeber selbst und nicht nur bei einem mit diesem verbundenen privaten Arbeitgeber beschäftigt ist162.

27.94 Ergänzend bezieht das Gesetz in § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V neben den Gemeinden als kommunalen Gebietskörperschaften ausdrücklich auch die Gemeindeverbände in den Kreis der privilegierten Arbeitgeber mit ein. Zu diesen zählen die öffentlich-rechtlich organisierten kommunalen Zweckverbände, deren Mitglieder Gemeinden oder Gemeindeverbände sind und die in größerem Umfang kommunale Selbstverwaltungsaufgaben wahrnehmen163. Dabei hat die Rechtsprechung bislang offen gelassen, ob auch Zweckverbände, deren Mitglieder nicht nur Gebietskörperschaften sind, zu den Gemeindeverbänden zu zählen sind164. Da es jedoch nicht folgerichtig erscheint, einen aus sozialversicherungsrechtlich privilegierten Arbeitgebern zusammengesetzten Verbund, der allein Funktionen erfüllt, die sonst von den einzelnen Mitgliedern selbst wahrgenommen werden müssten, nicht als Gemeindeverband zu behandeln, sind auch die von öffentlich-rechtlichen Arbeitgebern gebildeten Arbeitsgemeinschaften, die in § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V anders als im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung nicht ausdrücklich genannt sind, unter den Begriff des Gemeindeverbandes zu subsumieren. Öffentlich-rechtlich organisierte Gemeinsame Einrichtungen, die zum Erlass von Verwaltungsakten berechtigt sind, wie regelmäßig etwa die Arbeitsgemeinschaften iSv. § 44b SGB II, sind als Anstalten des öffentlichen Rechts ohnehin privilegiert165.

27.95 Die Arbeitnehmer der Europäischen Union sind nicht bei einem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber iSd. Sozialversicherungsrechts beschäftigt (Rz. 27.22); dennoch unterfallen sie, anders als in der gesetzlichen Rentenversicherung, aufgrund der Sonderregelung in § 6 Abs. 1 Nr. 8 SGB V nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung. Für sie und ihre Familienangehörigen besteht ein unionsrechtliches Krankenfürsorgesystem; um eine Doppelbelastung zu vermeiden, wurde deshalb die Versicherungspflicht von EU-Bediensteten, ihren Familienangehörigen und Hinterbliebenen in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen166. b) Fürsorgestatus nach beamtenrechtlichen Grundsätzen

27.96 Die Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Krankenversicherung hängt seit dem 1.1.1989 davon ab, dass die Arbeitnehmer „nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen bei Krankheit Anspruch auf Fortzahlung der Bezüge und auf Beihilfe oder Heilfürsorge“ ha162 Peters in Kasseler Kommentar, § 6 SGB V Rz. 32; ebenso die Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger in ihrer Besprechung vom 19./20.11.1997. 163 BSG v. 15.12.1983 – 12 RK 48/81, SozR 2200 § 1229 Nr. 18; BGH v. 11.12.1980 – III ZR 130/79, MDR 1981, 568. 164 BSG v. 15.12.1983 – 12 RK 48/81, SozR 2200 § 1229 Nr. 18. 165 Zu § 44b SGB II: LSG Baden-Württemberg v. 17.11.2006 – L 8 AS 3298/06, nv.; LSG BadenWürttemberg v. 30.6.2005 – L 8 AS 2374/05 ER-B, FEVS 57, 40; Hauck/Noftz/Luthe, § 44b SGB II Rz. 4; zur Verfassungswidrigkeit der ursprünglich gebildeten Arbeitsgemeinschaften BVerfG v. 20.12.2007 – 2 BvR 2433/04, BVerfGE 119, 331. 166 Begründung des Gesetzentwurfs v. 10.11.1986, BT-Drucks. 10/6394, 12; BSG v. 21.9.1993 – 12 RK 39/91, SozR 3-2500 § 6 Nr. 6.

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Krankheit und Arbeitsunfähigkeit

Rz. 27.98 § 27

ben. Sie ist damit, anders als noch unter der Geltung der Vorgängerregelung des § 169 RVO, unabhängig von dem Umfang der rentenversicherungsrechtlichen Absicherung. Arbeitnehmer, denen etwa im Hinblick auf eine zukünftige Übernahme in ein Beamtenverhältnis eine beamtenähnliche Versorgung iSv. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI gewährleistet wird, sind deshalb nicht ohne weiteres auch in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungsfrei167. Wenn auch damit der frühere Gleichlauf des Gewährleistungsrechts unterbrochen worden ist, so beinhaltet dies doch eine Verbesserung der Absicherung der Arbeitnehmer, da die Absicherung in den Versorgungsfällen des Alters und der Invalidität nicht ohne weiteres auch eine befriedigende Versorgung im Krankheitsfall gewährleistet168. Demgegenüber ist für diejenigen Arbeitnehmer, die durch das beamtenrechtliche System der Krankenfürsorge geschützt sind, eine Einbeziehung in den Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung ohne weiteres entbehrlich, da sie insoweit vergleichbare Leistungen erhalten. Für den Eintritt der Versicherungsfreiheit erforderlich, aber auch ausreichend, ist daher die Gewährleistung einer den beamtenrechtlichen Grundsätzen entsprechende Krankenfürsorge. Das Gesetz stellt bei der Benennung der notwendigen Leistungen auf die Schwerpunktbereiche auch in der gesetzlichen Krankenversicherung ab: die Gewährung von Beihilfe oder Heilfürsorge und die Fortzahlung der Bezüge im Krankheitsfall. Dabei ist, da eine Versorgung nach „beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen“ genügen soll, auch im Krankenversicherungsrecht die völlige Identität der Versorgung mit dem Beamtenrecht nicht erforderlich. Die Versorgung darf jedoch hinter der beamtenrechtlichen Versorgung nicht wesentlich zurückbleiben. Anderenfalls tritt die Versicherungsfreiheit auch dann nicht ein, wenn die gewährten Versorgungsleistungen günstiger sind als die der gesetzlichen Krankenversicherung. Welche Abweichungen von der beamtenrechtlichen Krankenfürsorge noch zulässig sind, ohne die Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Krankenversicherung zu gefährden, ist von der Rechtsprechung bislang nur punktuell geklärt. Bei der Beurteilung ist deshalb auf die geltenden Prinzipien des Beamtenrechts abzustellen, wobei die Voraussetzungen für die Versicherungsfreiheit aufgrund des Schutzbedürfnisses der Arbeitnehmer eng auszulegen sind. Erforderlich ist deshalb eine Leistungsgewährung, die sowohl hinsichtlich der Art als auch des Zeitraums und der Dauer des Anspruchs dem beamtenrechtlichen Leistungsumfang entspricht169; eine Versorgung, die mehr als unwesentlich von dem beamtenrechtlichen Leistungsumfang abweicht, kann die Versicherungsfreiheit nicht begründen.

27.97

Von maßgeblicher Bedeutung ist auch insoweit das im beamtenrechtlichen Besoldungssystem geltende Alimentationsprinzip. Der beamtenrechtliche Anspruch auf Besoldung entsteht mit Eintritt in das Beamtenverhältnis und bleibt unbegrenzt auch für Zeiten bestehen, in denen der Beamte seinen Dienst wegen Krankheit unverschuldet nicht wahrnehmen kann (§ 3 Abs. 1, § 9 Satz 1 Bundesbesoldungsgesetz (BBesG)). Dementsprechend muss auch die beamtenähnliche Versorgung im Krankheitsfall ausgestaltet sein. Eine adäquat beamtenähnliche Versorgung liegt insbesondere dann nicht vor, wenn die Fortzahlung der Bezüge im Krankheitsfall zeitlich begrenzt ist170; auch muss sie bis zu einer etwaigen Beendigung des Arbeits-

27.98

167 Hauck/Noftz/Gerlach, § 6 SGB V Rz. 71. 168 Begründung des Gesetzentwurfs zum GRG v. 3.5.1988, BT-Drucks. 11/2237, 160; Peters in Kasseler Kommentar, § 6 SGB V Rz. 33. 169 Hauck/Noftz/Gerlach, § 6 SGB V Rz. 70. 170 BSG v. 11.10.2001 – B 12 KR 7/01 R, SozR 3-4100 § 169 Nr. 7: Notarassessor; Peters in Kasseler Kommentar, § 6 SGB V Rz. 33; Plagemann in Münchener Anwaltshandbuch SozR, § 5 Rz. 84.

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§ 27 Rz. 27.98

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

verhältnisses aufrechterhalten werden171. Unzureichend ist auch die Absicherung des Krankheitsfalles lediglich durch den Abschluss einer privaten Krankentagegeldversicherung, selbst wenn der Arbeitgeber hierzu einen Beitragszuschuss leistet172.

27.99 Im Beamtenrecht gilt weiterhin der Grundsatz, dass der Dienstherr neben der Besoldung und Versorgung auch Vorkehrungen dafür treffen muss, dass die angemessene Absicherung des Beamten bei Eintritt besonderer finanzieller Belastungen wie Krankheit, Geburt oder Tod nicht gefährdet wird. Frei in der Entscheidung, wie diese Absicherung ausgestaltet wird, haben sich Bund und Länder insoweit für ein System entschieden, in dem die zumutbare Eigenvorsorge des Beamten durch Beihilfeleistungen ergänzt wird173. Der Beihilfeanspruch gegenüber dem Dienstherrn deckt daher nur einen Teil der Krankheitskosten ab und bleibt insoweit hinter den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zurück. Dies wird jedoch hingenommen, da den beihilfeberechtigten Personen mit ihrer Vergütung ein Alimentationsanteil zur Verfügung gestellt wird, mit dem der von der Beihilfe nicht gedeckte Teil der im Krankheitsfall zu erwartenden Aufwendungen insbesondere durch den Abschluss einer geeigneten Ergänzungsversicherung abgedeckt werden kann174. Ausgehend von diesen Grundsätzen muss eine beamtenähnliche Krankenfürsorge deshalb eine Erstattung der Krankheitskosten in Höhe von zumindest 50 % vorsehen, wie sie in den beamtenrechtlichen Beihilferegelungen des Bundes und der Länder vorgesehen ist175. Darüber hinaus muss es sich um echte Beihilfeleistungen, mithin um eigene Leistungen des Arbeitsgebers handeln; Versicherungsleistungen sind auch dann keine beamtenähnlichen Beihilfen, wenn sie eine vergleichbare Absicherung bieten176. c) Beginn und Ende der Versicherungsfreiheit

27.100 Seit die Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr von der Gewährleistung einer beamtenähnlichen Altersversorgung abhängt, tritt die Versicherungsfreiheit mit Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen, also mit der Zusage einer beamtenähnlichen Krankenfürsorge, unmittelbar kraft Gesetzes ein und endet ebenso unmittelbar mit deren Wegfall. Eines behördlichen Aktes in Form einer Feststellung der Versicherungsfreiheit, wie dies im Rentenversicherungsrecht mit der Gewährleistungsentscheidung (Rz. 27.33) erforderlich ist, bedarf es im Krankenversicherungsrecht nicht.

27.101 Eine zeitliche Rückwirkung kann dem beamtenähnlichen Fürsorgestatus nicht verliehen werden. Die Versicherungsfreiheit kann daher im Zeitpunkt der Erteilung der Fürsorgezusage stets nur für die Zukunft eintreten; eine rückwirkende Gewährleistung der Krankenfürsorge führt nicht zu einem rückwirkenden Wegfall der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung177.

171 Jahn/Klose/Klose, § 6 SGB V Rz. 27. 172 BSG v. 11.10.2001 – B 12 KR 7/01 R, SozR 3-4100 § 169 Nr. 7; v. 29.7.2003 – B 12 KR 15/02 R, SozR 4-4100 § 169 Nr. 1. 173 Zu dem verfassungsrechtlichen Erfordernis der Ausgestaltung der Beihilfevorschriften nicht durch Verwaltungsvorschriften, sondern durch Gesetz vgl. BVerwG v. 17.6.2004 – 2 C 50/02, BVerwGE 121, 103. 174 BVerfG v. 13.11.1990 – 2 BvF 3/88, BVerfGE 83, 89. 175 Jahn/Klose/Klose, § 6 SGB V Rz. 27; vgl. § 14 der Beihilfevorschriften des Bundes (BhV). 176 BVerwG v. 17.6.2004 – 2 C 50/02, BVerwGE 121, 103. 177 Jahn/Klose/Klose, § 6 SGB V Rz. 28.

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Krankheit und Arbeitsunfähigkeit

Rz. 27.105 § 27

d) Reichweite der Versicherungsfreiheit Anders als in der gesetzlichen Rentenversicherung ist die Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht (mehr178) tätigkeitsbezogen. Die Gewährleistung beamtenähnlicher Krankenfürsorge befreit den Arbeitnehmer daher nicht nur in der zugrunde liegenden Beschäftigung von der Krankenversicherungspflicht, sondern begründet gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 SGB V dessen absolute Versicherungsfreiheit. Dadurch soll die Einbeziehung nicht schutzbedürftiger Personen in die gesetzliche Krankenversicherung vermieden werden179. Neben der Versicherungsfreiheit gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V kann daher eine Krankenversicherungspflicht aus den in § 5 Abs. 1 Nr. 1–12 SGB V genannten Gründen nicht entstehen, so dass versicherungsfreie Arbeitnehmer auch in einer anderen Beschäftigung nicht der Krankenversicherungspflicht unterliegen.

27.102

2. Erfordernis einer beihilfeergänzenden Zusatzversorgung Die Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Krankenversicherung hat dem beamtenähnlich versorgten Arbeitnehmer früher die Wahl gelassen, ob und in welcher Form er die durch die Begrenzung der Beihilfe auf einen Teil der krankheitsbedingten Aufwendungen entstehende Versorgungslücke abdecken will.

27.103

Dies galt seit dem Inkrafttreten des ersten Teils des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes zum 1.4.2007 nicht mehr uneingeschränkt. Seitdem waren gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig „Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und a) zuletzt gesetzlich krankenversichert waren oder b) bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren, es sei denn, dass sie zu den in Abs. 5 oder den in § 6 Abs. 1 oder 2 genannten Personen gehören oder bei Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit im Inland gehört hätten.“ Durch diese Erweiterung der Versicherungspflicht sollte verhindert werden, dass eine größere Anzahl von Menschen nicht über eine Absicherung im Krankheitsfall verfügt und deshalb die im Krankheitsfall entstehenden Aufwendungen aus ihrem Einkommen oder Vermögen – soweit vorhanden – selbst tragen muss180.

27.104

Ausweislich der Gesetzesbegründung181, die von den Sozialversicherungsträgern umgesetzt wurde182, sollen beihilfeberechtigte Arbeitnehmer zwar nicht generell zu den Personen „ohne Absicherung im Krankheitsfall“ zählen, wohl aber dann, wenn sie nicht über eine beihilfeergänzende Krankheitskostenvollversorgung verfügen. Beihilfeberechtigte Arbeitnehmer, die nicht über eine anderweitige Absicherung der verbleibenden Krankheitskosten verfügen, unterfielen daher seit dem 1.4.2007 der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung183. Dies galt allerdings nur dann, wenn sie zuletzt gesetzlich krankenversichert waren und damit grundsätzlich dem System der gesetzlichen Krankenversicherung zuzuordnen waren. Die insoweit eintretende Versicherungspflicht hatte Vorrang vor der Ver-

27.105

178 179 180 181 182

Zur früheren Rechtslage BSG v. 10.9.1975 – 3/12 RK 6/74, SozR 2200 § 169 Nr. 1 mwN. Begr. des Gesetzentwurfs zum GRG v. 3.5.1988, BT-Drucks. 11/2237, 160. Begr. des Gesetzentwurfs zum GKV-WGS v. 24.10.2006, BT-Drucks. 16/3100, 94. Begr. des Gesetzentwurfs zum GKV-WGS v. 24.10.2006, BT-Drucks. 16/3100, 94. Gemeinsames Rundschreiben der Spitzenverbände „Krankenversicherung und Pflegeversicherung der bisher Nichtversicherten nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V zum 1.4.2007“ v. 20.3.2007, S. 17. 183 Peters in Kasseler Kommentar, § 5 SGB V Rz. 163.

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§ 27 Rz. 27.105

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

sicherungsfreiheit, die an sich durch die Gewährung der beamtenähnlichen Krankenfürsorge begründet wird.

27.106 Mit Wirkung zum 1.1.2009184 wurden beihilfeberechtigte Personen gemäß § 6 Abs. 3 SGB V allerdings von der Versicherungspflicht gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V wieder vollständig ausgenommen. Sie wurden vielmehr mit Blick auf die in § 193 Abs. 3 VVG normierte Pflicht zur privaten Absicherung im Krankheitsfall der privaten Krankenversicherung zugewiesen185. Hieraus ergibt sich eine unterschiedliche Beurteilung der Versicherungspflicht beihilfeberechtigter Arbeitnehmer, abhängig einerseits von dem tatsächlich bestehenden Versorgungsstatus, andererseits von der Zuordnung zu dem gesetzlichen oder privaten System der Krankenversicherung: – Arbeitnehmer, die eine beihilfekonforme private Krankenversicherung abgeschlossen haben oder zusätzlich freiwillig gesetzlich krankenversichert sind, verbleiben in dieser Versicherung. Eine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung tritt nicht ein. – Arbeitnehmer, die nicht über eine beihilfeergänzende Krankenversicherung verfügen, unterliegen nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie hatten seit dem 1.7.2007 Anspruch auf die Begründung eines die Beihilfe ergänzenden privaten Krankenversicherungsvertrages im Standardtarif (Rz. 27.114); seit dem 1.1.2009 sind sie gemäß § 193 Abs. 3 VVG gesetzlich verpflichtet, eine private Zusatzversicherung abzuschließen und aufrechtzuerhalten. a) Beihilfekonforme private Krankenversicherung

27.107 Der Abschluss einer beihilfekonformen Krankenzusatzversicherung bei einem privaten Versicherungsunternehmen war bereits in der Vergangenheit weit verbreitet. Gemäß § 193 Abs. 3 VVG in der seit dem 1.1.2009 geltenden Fassung ist der Abschluss einer privaten Zusatzversicherung für beihilfeberechtigte Arbeitnehmer und die von ihnen gesetzlich vertretenen Personen Pflicht, sofern sie nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind.

27.108 Die Ergänzungsversicherung muss, sofern sie nicht bereits vor dem 1.4.2007 abgeschlossen worden ist, mindestens eine Kostenerstattung für ambulante und stationäre Heilbehandlung umfassen; sie darf einen Selbstbehalt vorsehen, die jedoch maximal 5000 Euro jährlich – bei beihilfeergänzender Versicherung maximal den entsprechend dem Leistungsumfang anteiligen Wert – betragen darf. Der Abschluss einer entsprechenden Versicherung muss spätestens einen Monat nach Eintritt der Versicherungspflicht beantragt werden. Bei späterem Abschluss des Versicherungsvertrages sind gemäß § 193 Abs. 4 VVG für die Zeiten der Nichtversicherung Prämienzuschläge zu entrichten, die sich auf bis zu 15 Monatsbeiträge summieren können. aa) Kosten der privaten Ergänzungsversicherung

27.109 Die Kosten für die beihilfeergänzende private Krankenversicherung trägt der Arbeitnehmer selbst. Er hat insbesondere weder gegen den öffentlichen noch gegen einen etwaigen weiteren Arbeitgeber einen Anspruch auf Zuschuss zu den Versicherungsbeiträgen gemäß § 257 184 Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung – GKV-OrgWG v. 15.12.2008, BGBl. I 2426. 185 Bayerisches LSG v. 9.8.2018 – L 4 KR 435/17, NZS 2019, 30.

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Krankheit und Arbeitsunfähigkeit

Rz. 27.114 § 27

SGB V, da er nicht, wie es der Anspruch auf einen Beitragszuschuss erfordert, (allein) wegen einer Überschreitung der Jahresarbeitsentgeltgrenze versicherungsfrei ist, sondern wegen der Zugehörigkeit zu einem anderweitigen Versorgungssystem186. bb) Reduzierung des Beitragsanstiegs durch Basistarife bis 31.12.2008 Das Versicherungsprinzip der privaten Krankenversicherung führt dazu, dass mit zunehmen- 27.110 dem Alter typischerweise ein erheblicher Beitragsanstieg zu verzeichnen ist. Dem wird teilweise durch die Bildung von Altersrückstellungen begegnet, die der Prämienkalkulation zugrunde gelegt werden und zu einem verringerten Anstieg der Versicherungsbeiträge führen. Durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz wurde die Portabilität dieser Altersrückstellungen gemäß § 204 VVG zusätzlich verbessert. Darüber hinaus haben die Unternehmen der privaten Krankenversicherung bislang auch für die die beamtenrechtliche Beihilfe ergänzende Krankenversicherung einen sog. brancheneinheitlichen Standardtarif angeboten, dessen Versicherungsleistungen gemäß § 257 Abs. 2a Satz 1 Nrn. 2 bis 2b SGB V aF187 denjenigen der gesetzlichen Krankenversicherung vergleichbar waren, und dessen Beitrag bei Einkünften, die unter der Jahresarbeitsentgeltgrenze lagen, den durchschnittlichen Höchstbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung für Einzelpersonen nicht bzw. für Ehepaare und Lebenspartnerschaften um nicht mehr als 50 % überschritten hat. Dieser Tarif musste den beihilfeberechtigten Arbeitnehmern selbst wie auch ihren berücksichtigungsfähigen Angehörigen zur Verfügung gestellt werden.

27.111

Die Versicherung zu den Bedingungen des Standardtarifs konnte jedoch nur unter besonderen Bedingungen verlangt werden:

27.112

– die versicherte Person hatte das 65. Lebensjahr vollendet und verfügte über eine Vorversicherungszeit von mindestens zehn Jahren; – die versicherte Person hatte das 55. Lebensjahr vollendet, verfügte über eine Vorversicherungszeit von mindestens zehn Jahren und hatte ein jährliches Gesamteinkommen nicht über der Jahresarbeitsentgeltgrenze; – die versicherte Person erfüllte die Voraussetzungen einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung und hatte diese Rente beantragt; dies erfasste auch Familienangehörige iSd. § 10 SGB V; oder – die versicherte Person bezog ein Ruhegehalt nach beamtenrechtlichen oder vergleichbaren Vorschriften; dies erfasste auch Familienangehörige iSd. § 10 SGB V. Unabhängig von diesen Voraussetzungen musste der Standard-Zusatztarif – ohne Risiko- 27.113 zuschläge – nur denjenigen Versicherten zur Verfügung gestellt werden, die aufgrund einer Erkrankung oder Behinderung in der privaten Krankenversicherung nicht oder nur gegen Risikozuschläge versichert werden konnten. In diesem Fall musste der Wechsel in den Standardtarif innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Feststellung der Behinderung oder nach Aufnahme der privilegierten Beschäftigung beantragt werden. Seit dem 1.7.2007 konnten darüber hinaus alle beihilfeberechtigten Personen, die bislang keinen zusätzlichen Versicherungsschutz besaßen, unabhängig von der Erfüllung der oben 186 VG Gelsenkirchen v. 17.1.2007 – 1 K 404/05, juris. 187 § 257 Abs. 2a SGB V in der bis zum 31.12.2008 geltenden Fassung.

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27.114

§ 27 Rz. 27.114

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

gemäß § 257 Abs. 2a Satz 1 Nr. 2 bis 2b SGB V genannten Bedingungen gemäß § 315 SGB V verlangen, ohne Risikozuschläge in dem beihilfeergänzenden Standardtarif versichert zu werden. cc) Basistarife seit dem 1.1.2009

27.115 Mit Wirkung vom 1.1.2009 wurde der brancheneinheitliche Standardtarif durch einen verpflichtenden branchenweit einheitlichen Basistarif gemäß § 152 Abs. 1 VAG ersetzt, dessen Leistungen ebenfalls denjenigen der gesetzlichen Krankenversicherung vergleichbar sind und dessen Beitrag den Höchstbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung nicht übersteigt. Für beihilfeberechtigte Arbeitnehmer müssen die Versicherungsunternehmen eine an die Leistungen der Beihilfe angepasste Variante dieses Basistarifs vorsehen.

27.116 Seit diesem Zeitpunkt können alle beihilfeberechtigten Arbeitnehmer die Versicherung in dem Basistarif verlangen, sofern sie zur Erfüllung der nunmehr allgemein bestehenden Versicherungspflicht entsprechenden Versicherungsschutz benötigen. Die am 1.1.2009 bereits privat Versicherten sowie die bislang in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig versicherten beihilfeberechtigten Arbeitnehmer konnten innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten in den Basistarif wechseln. b) Freiwillige Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung

27.117 Für Arbeitnehmer, die vor Aufnahme der privilegierten Beschäftigung in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert gewesen sind, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, diese Versicherung als freiwillige Versicherung beizubehalten. Der Beitritt zur freiwilligen Krankenversicherung ist der Krankenkasse innerhalb von drei Monaten nach Aufnahme der versicherungsfreien Beschäftigung bzw. nach Wegfall der Versicherungspflicht anzuzeigen, § 8 Abs. 2 SGB V. aa) Vorversicherungszeit in der gesetzlichen Krankenversicherung

27.118 Voraussetzung für eine freiwillige Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung ist gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V eine Vorversicherungszeit dahingehend, dass vor dem Eintritt der Versicherungsfreiheit entweder eine zwölfmonatige ununterbrochene Versicherung oder in den letzten fünf Jahren eine insgesamt mindestens vierundzwanzigmonatige Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung bestanden hat. Gleiches gilt gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB V für Angehörige, deren Familienversicherung durch die Aufnahme der versicherungsfreien Beschäftigung erlischt. bb) Auswirkungen der freiwilligen Versicherung auf den Beihilfeanspruch

27.119 Bei der Wahl der freiwilligen Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung ist zu berücksichtigen, dass nach den beamtenrechtlichen Bestimmungen der Anspruch auf Beihilfeleistungen entfällt, wenn und soweit Sachleistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung in Anspruch genommen werden können188. Lediglich Zusatzleistungen, die von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht abgedeckt sind, werden in diesem Fall von dem Beihilfeanspruch erfasst189.

188 Vgl. § 5 Abs. 3 der Beihilfevorschriften des Bundes. 189 OVG NW v. 6.7.2007 – 6 A 2438/06, nv.

1040

Oberthür

Krankheit und Arbeitsunfähigkeit

Rz. 27.123 § 27

cc) Kosten der freiwilligen Versicherung Die Beiträge für die freiwillige gesetzliche Krankenversicherung trägt der Arbeitnehmer in Ermangelung einer gesetzlichen Zuschussberechtigung allein190. Seit dem 1.1.2009 wird die Beitragsbemessung gemäß § 240 Abs. 1 SGB V für freiwillige Mitglieder einheitlich von dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen geregelt. Dabei wird die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers berücksichtigt, so dass der Beitragsbemessung nicht nur das Erwerbseinkommen des Arbeitnehmers, sondern alle Einnahmen und Geldmittel zugrunde gelegt werden, die für den Lebensunterhalt verbraucht werden können, einschließlich der Einkünfte des nicht gesetzlich versicherten Ehegatten oder Lebenspartners191. Der Beitrag eines freiwillig versicherten Arbeitnehmers kann dadurch spürbar höher ausfallen als der eines gesetzlich pflichtversicherten Arbeitnehmers.

27.120

Eine nur anteilige gesetzliche Versicherung zur Ergänzung der Beihilfeleistungen sieht das SGB V nicht vor, so dass der freiwillig versicherte Arbeitnehmer die volle Beitragslast zu tragen hat. Lediglich für Dienstordnungs-Angestellte der gesetzlichen Krankenkassen und ihrer Verbände besteht gemäß § 14 SGB V auf der Basis entsprechender satzungsmäßiger Regelungen die Möglichkeit, die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine Teilkostenerstattung zu ersetzen. Dadurch soll im Interesse der Krankenkassen und ihrer Verbände sichergestellt werden, dass ihre Beamten und Dienstordnungs-Angestellten zur Erhaltung der Betriebsverbundenheit und zur Vermeidung von Loyalitätskonflikten, die bei einer Versicherung in der privaten Krankenversicherung auftreten können, in der eigenen Krankenkasse versichert werden können192. § 14 SGB V ermöglicht damit zumindest den Dienstordnungs-Angestellten der Krankenkassen und ihrer Verbände eine beihilfekonforme und damit beitragsreduzierte193 freiwillige Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung; eine Erstreckung dieses Versicherungsmodells auf andere beihilfeberechtigte Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes ist jedoch nicht möglich194.

27.121

dd) Abwägung der Vor- und Nachteile der freiwilligen Versicherung Bei allein finanzieller Betrachtung ist eine freiwillige Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung für beihilfeberechtigte Arbeitnehmer stets nachteilig. Die Arbeitnehmer tragen die gesamte Beitragslast allein, weitgehend ohne die Beihilfeleistungen des Arbeitgebers in Anspruch nehmen zu können.

27.122

Allerdings ist der Wechsel in das System der privaten Krankenversicherung nicht selten endgültig; eine Rückkehr in die gesetzliche Krankenversicherung zu einem späteren Zeitpunkt ist nur unter erschwerten Bedingungen möglich (Rz. 27.126 ff.). Aus diesem Grund kann es auch für beihilfeberechtigte Arbeitnehmer vorteilhaft sein, eine freiwillige Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung zu begründen und aufrechtzuerhalten, insbesondere dann, wenn die beihilfeberechtigende Beschäftigung absehbar nicht auf Dauer angelegt ist. Auch

27.123

190 Zur Unzulässigkeit anderweitiger Dienstordnungsbestimmungen vgl. BSG v. 4.12.1985 – 1 RR 3/85, SozR 7223 Art. 8 § 4 Nr. 1; v. 14.4.1983 – 8 RK 28/81, SozR 2200 § 355 Nr. 3. 191 Einheitliche Grundsätze zur Beitragsbemessung freiwilliger Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung des GKV-Spitzenverbandes v. 27.10.2008. 192 Begründung des Gesetzentwurfs zum GRG v. 3.5.1988, BT-Drucks. 11/2237, 164; Schifferdecker in Kasseler Kommentar, § 14 SGB V Rz. 2. 193 Der Beitrag ist gem. § 243 Abs. 1 SGB V entsprechend dem reduzierten Leistungsumfang zu ermäßigen. 194 Zur Verfassungsmäßigkeit des § 14 SGB V vgl. LSG Berlin v. 15.10.2003 – L 15 KR 492/01, nv.

Oberthür

1041

§ 27 Rz. 27.123

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

kann aufgrund des in dem System der gesetzlichen Krankenversicherung geltenden Grundsatzes der Familienversicherung im Einzelfall insbesondere bei Arbeitnehmern mit mehreren Kindern ein Verbleib in der gesetzlichen Krankenversicherung günstig sein, da Familienangehörige in der privaten Versicherung jeweils eigenständig versichert werden müssen.

27.124–27.125 Einstweilen frei. c) Spätere Rückkehr in die gesetzliche Krankenversicherung

27.126 Um zu verhindern, dass vor allem junge, gesunde und gut verdienende Arbeitnehmer zunächst in die private Krankenversicherung wechseln, um zu einem späteren Zeitpunkt, etwa bei Familiengründung oder im Alter, in die wegen der solidarischen Beitragsgestaltung dann häufig vorteilhaftere gesetzliche Krankenversicherung zurückzukehren und das Versicherungssystem mit den im Alter erheblich steigenden Leistungsausgaben unzumutbar zu belasten195, ist die Durchlässigkeit beider Systeme in den vergangenen Jahren kontinuierlich begrenzt worden. Davon sind auch Arbeitnehmer betroffen, die aus einer privilegierten Beschäftigung ausscheiden und damit ihre Ansprüche auf die beamtenähnliche Krankenfürsorge verlieren. Sie können, wenn sie nicht auch während der privilegierten Beschäftigung in der gesetzlichen Krankenversicherung verblieben sind, nur unter bestimmten Voraussetzungen in das gesetzliche Versicherungssystem zurückkehren. aa) Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung

27.127 Nach dem Ende der Versicherungsfreiheit hängt der versicherungsrechtliche Status maßgeblich von der weiteren Entwicklung der Beschäftigungssituation ab. Insbesondere die Aufnahme einer neuen, nicht privilegierten Beschäftigung führt gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V in der Regel zu der (erneuten) Begründung der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung. bb) Eintritt der Versicherungspflicht nach Vollendung des 55. Lebensjahres

27.128 Tritt die (erneute) Versicherungspflicht erst nach Vollendung des 55. Lebensjahres des Arbeitnehmers ein, ist die Rückkehr in die gesetzliche Krankenversicherung begrenzt. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass versicherungsfreie Personen, die sich frühzeitig für eine Absicherung in der privaten Krankenversicherung entschieden haben, diesem System auch im Alter angehören sollen. Gemäß § 6 Abs. 3a SGB V in der seit dem 1.7.2000 geltenden Fassung196 sind deshalb Personen, die erst nach Vollendung des 55. Lebensjahres versicherungspflichtig würden, auch weiterhin versicherungsfrei, wenn sie keine ausreichenden Vorversicherungszeiten in der gesetzlichen Krankenversicherung aufweisen können.

27.129 Die Verdrängung der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 3a SGB V setzt dabei zunächst voraus, dass der Betroffene in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Versicherungspflicht nicht gesetzlich versichert war197. Bestand in diesem Zeitraum auch nur für eine kurze Zeit eine Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung, gleich ob als Pflichtversicherung, 195 Begründung des Gesetzentwurfs zum GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 v. 23.6.1999, BTDrucks. 14/1245, 59. 196 Eingeführt durch Art. 1 Nr. 3 des GKV-Gesundheitsreformgesetzes 2000 v. 22.12.1999, BGBl. I, 2626. 197 Zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung vgl. LSG Saarland v. 2.7.2014 – L 2 KR 24/14, juris.

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Krankheit und Arbeitsunfähigkeit

Rz. 27.133 § 27

als freiwillige Versicherung oder als Familienversicherung, so bleibt es bei der gesetzlichen Anordnung der Versicherungspflicht. § 6 Abs. 3a Satz 2 SGB V fordert für die Verdrängung der Versicherungspflicht zusätzlich ei- 27.130 nen qualifizierten Ausschluss des Arbeitnehmers aus der gesetzlichen Krankenversicherung dahingehend, dass der Arbeitnehmer innerhalb des fünfjährigen Vorversicherungszeitraums mindestens die Hälfte der Zeit zB gemäß § 6 SGB V versicherungsfrei gewesen ist. Dadurch sollen nur diejenigen Personen aus der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen bleiben, die nicht nur nicht versichert gewesen sind, wie dies etwa bei Sozialhilfeempfängern oder Entwicklungshelfern der Fall sein kann, sondern die ausdrücklich und nachhaltig von der gesetzlichen Krankenversicherung ausgenommen und damit praktisch einem anderen Versicherungssystem zugewiesen waren198. Dabei steht die eigene Versicherungsfreiheit gemäß § 6 Abs. 3a Satz 3 SGB V der Ehe bzw. Lebenspartnerschaft mit einem versicherungsfreien Arbeitnehmer gleich; nicht nur die versicherungsfrei beschäftigten Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes, auch die Ehegatten bzw. Lebenspartner, die längere Zeit von der Beihilfeberechtigung profitiert haben, können daher durch die spätere Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nicht ohne weiteres in die gesetzliche Krankenversicherung zurückkehren. Arbeitnehmer unterfallen daher im Ergebnis auch bei der späteren Aufnahme einer (an sich) versicherungspflichtigen Beschäftigung nicht mehr der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn sie

27.131

– bei Eintritt der Versicherungspflicht das 55. Lebensjahr vollendet haben, – in den vorangegangenen fünf Jahren nicht versicherungspflichtig waren und – innerhalb der vorangegangenen fünf Jahre mindestens 2,5 Jahre versicherungsfrei beschäftigt oder mit einem versicherungsfrei Beschäftigten verheiratet oder verpartnert waren. Die ursprünglich geltende Ausnahme199 für die bislang privat versicherten Bezieher von Alg II, bei denen der Gesetzgeber wegen der bestehenden Hilfebedürftigkeit im Interesse der Gleichbehandlung eine Einbeziehung auch Älterer in die gesetzliche Krankenversicherung für geboten gehalten hat200, ist zum 1.1.2009 weggefallen. Der Bezug von Alg II ermöglicht daher für Personen, die vor dem Bezug des Alg II privat krankenversichert gewesen sind, nicht mehr die Rückkehr in die gesetzliche Krankenversicherung; sie werden gemäß § 5 Abs. 5a SGB V dem System der privaten Krankenversicherung zugeordnet und müssen sich auf eigene Kosten privat versichern.

27.132

cc) Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Rentner Eine zusätzliche Begrenzung der Rückkehr in die gesetzliche Krankenversicherung enthält § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V für Rentner. Personen, die eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen oder beantragt haben, unterliegen grundsätzlich der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung, der sog. Krankenversicherung der Rentner (KVdR). 198 Begründung des Gesetzentwurfs zum GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 v. 23.6.1999, BTDrucks. 14/1245, 60. 199 Gem. § 6 Abs. 3a Satz 4 SGB V in der bis zum 31.12.2008 geltenden Fassung. 200 Begründung des Gesetzentwurfs eines 4. Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt v. 5.9.2003, BT-Drucks. 15/1516, 72; krit. dazu Peters in Kasseler Kommentar, § 6 SGB V Rz. 56.

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27.133

§ 27 Rz. 27.133

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

Dies gilt jedoch nur dann, wenn sie in der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens mindestens zu 9/10 Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung oder gemäß § 10 SGB V familienversichert waren201.

27.134 Arbeitnehmern des öffentlichen Dienstes, die während ihres Erwerbslebens von einer beamtenähnlichen Krankenfürsorge profitiert haben, ist damit als Rentner der Weg zurück in die gesetzliche Krankenversicherung praktisch verschlossen, auch wenn sie eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen. dd) Rückkehr in die gesetzliche Krankenversicherung mangels anderweitiger Absicherung

27.135 Eine Ausnahme von dieser Begrenzung des Rückkehrrechts gilt seit dem 1.4.2007 für alle Personen, die in Ermangelung einer anderweitigen Absicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V in die Versicherungspflicht einbezogen werden. Mit der sukzessiven Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz sollte der Zugang zu der gesetzlichen Versicherung auch für ältere Arbeitnehmer wieder eröffnet werden, wenn diese in der Vergangenheit zuletzt gesetzlich versichert gewesen sind. Beihilfeberechtigte Arbeitnehmer, die in der Vergangenheit dem System der gesetzlichen Krankenversicherung angehört haben, können daher gemäß § 6 Abs. 3a Satz 4 SGB V202 auch nach Vollendung des 55. Lebensjahres in die gesetzliche Krankenversicherung zurückkehren, wenn sie nicht zu einem früheren Zeitpunkt privat krankenversichert gewesen sind203. Hat der beihilfeberechtigte Arbeitnehmer in der Vergangenheit allerdings keine oder eine private Krankenzusatzversicherung unterhalten, besteht seit dem 1.1.2009 gemäß § 193 Abs. 3 VVG die Pflicht zum Abschluss einer privaten Krankenzusatzversicherung; damit endet für die Zukunft die Zuordnung zu dem System der gesetzlichen Krankenversicherung. 3. Versicherungsfreiheit von Rentnern, Hinterbliebenen und Familienangehörigen

27.136 Arbeitnehmer mit einer beamtenähnlichen Krankenfürsorge verlieren den Status der Versicherungsfreiheit auch dann nicht, wenn sie aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden und in den Ruhestand treten. Dies gilt gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB V jedenfalls dann, wenn ihnen ein Anspruch auf Ruhegehalt zuerkannt ist und sie weiterhin Anspruch auf Beihilfe im Krankheitsfall nach den beamtenrechtlichen Grundsätzen haben. Dadurch soll auch im Alter ein nicht gerechtfertigter Wechsel in die gesetzliche Krankenversicherung vermieden werden204.

27.137 Dabei begründet § 6 Abs. 3 SGB V auch für Rentner ein System der absoluten Versicherungsfreiheit205. Der Bezug einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, ob aus eigener oder abgeleiteter Versicherung, die neben den Ruhestandsbezügen geleistet wird, führt deshalb entgegen § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V nicht zur Einbeziehung in die gesetzliche Krankenversicherung der Rentner206; eine Versicherungspflicht gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V aufgrund mangelnder anderweitiger Versorgung bleibt allerdings möglich. 201 Zur Verfassungswidrigkeit der Einschränkung auf vorangegangene Pflichtmitgliedschaften vgl. BVerfG v. 15.3.2000 – 1 BvL 16/96, BVerfGE 102, 68. 202 § 6 Abs. 3a Satz 4 SGB V in der seit dem 1.1.2009 geltenden Fassung. 203 Zweifelnd Schleswig-Holsteinisches LSG v. 14.6.2018 – L 5 KR 148/15, juris. 204 Begründung des Gesetzentwurfs zum GRG v. 3.5.1988, BT-Drucks. 11/2237, 160. 205 Peters in Kasseler Kommentar, § 6 SGB V Rz. 34. 206 Zur abweichenden Rechtslage gem. §§ 173, 173a RVO aF vgl. BSG v. 24.9.1981 – 12 RK 24/80, SozR 2200 § 173a Nr. 7; v. 4.10.1973 – 3 RK 91/72, SozR Nr. 76 zu § 165 RVO.

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Krankheit und Arbeitsunfähigkeit

Rz. 27.141 § 27

Familienangehörige der versicherungsfreien Arbeitnehmer, insbesondere deren Ehegatten, profitieren demgegenüber nicht ohne weiteres von dem Status der Versicherungsfreiheit. Als Arbeitnehmer unterliegen sie mit ihrer eigenen beruflichen Tätigkeit auch dann der Versicherungspflicht gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, wenn sie von der Beihilfeberechtigung des versicherungsfreien Arbeitnehmers profitieren.

27.138

Auch als beihilfeberechtigte Hinterbliebene eines versicherungsfreien Arbeitnehmers sind Angehörige nicht ohne weiteres selbst versicherungsfrei. Für sie besteht nur als Hinterbliebenenrentner, wenn sie nach beamtenrechtlichen Grundsätzen Anspruch auf Beihilfe im Krankheitsfall haben, gemäß § 6 Abs. 2 SGB V bei dem Bezug einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung ausnahmsweise Versicherungsfreiheit, wenn der Rentenanspruch ausschließlich von dem versicherungsfreien Arbeitnehmer abgeleitet ist. Die Versicherungsfreiheit als Hinterbliebenenrentner greift jedoch gemäß § 6 Abs. 3 SGB V nicht auf andere, die Versicherungspflicht begründende Tatbestände über, sondern erfasst als Tatbestand der relativen Versicherungsfreiheit nur die abgeleitete Versorgung207. Die Versicherungspflicht aus anderen Gründen, etwa wegen einer Erwerbstätigkeit oder wegen des Fehlens anderweitiger Absicherung im Krankheitsfall, bleibt davon unberührt.

27.139

Diese begrenzte Versicherungsfreiheit des beihilfeberechtigten Hinterbliebenenrentners kann 27.140 aufgrund der zusätzlichen Beitragsbelastung zu einer Benachteiligung führen; dennoch ist die Regelung aufgrund der Berechtigung des Gesetzgebers, generalisierende und typisierende Regelungen zu schaffen, verfassungsgemäß. Es ist durch den sozialpolitischen Willen des Gesetzgebers gerechtfertigt, Personen vorrangig dem Sicherungssystem zuzuordnen, dem ihre eigene Erwerbstätigkeit entspricht, und eine daneben bestehende, von einer anderen Person abgeleitete Sicherung dahinter zurücktreten zu lassen. Dementsprechend sind Beamte und die beamtenähnlich versorgten Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes auch im Ruhestand ihrem Sicherungssystem zugeordnet. Für Arbeitnehmer steht demgegenüber, auch wenn sie Hinterbliebene versicherungsfrei beschäftigter Arbeitnehmer sind, ein eigenes Sicherungssystem in der Gestalt der gesetzlichen Krankenversicherung bereit, das auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist; dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Hinterbliebenenrentner im Rahmen des beamtenrechtlichen Sicherungssystems nicht gegen den krankheitsbedingten Ausfall des eigenen Arbeitsentgelts geschützt sind, während sie als Arbeitnehmer in der gesetzlichen Krankenversicherung über den Krankengeldanspruch gemäß §§ 44 und 45 SGB V abgesichert sind208. Folgerichtig sind Hinterbliebene von versicherungsfreien Arbeitnehmern nur dann nach § 6 Abs. 2 SGB V von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgenommen, wenn sie keiner eigenen Beschäftigung nachgehen und allein aus der Versicherung des verstorbenen Arbeitnehmers in der gesetzlichen Rentenversicherung eine Hinterbliebenenrente beziehen. Eine neben dem Rentenbezug ausgeübte Beschäftigung begründet demgegenüber gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung. Gleiches gilt gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V für den Bezug einer gesetzlichen Rente aus eigener Versicherung; allerdings kann sich der Hinterbliebene, der nur wegen des Rentenbezuges in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig wird, gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 4 SGB V auf Antrag von der Versicherungspflicht befreien lassen.

207 BSG v. 21.9.1993 – 12 RK 39/91, SozR 3-2500 § 6 Nr. 6; Peters in Kasseler Kommentar, § 6 SGB V Rz. 54. 208 BVerfG v. 25.2.2004 – 1 BvR 1564/94, SozR 4-2500 § 6 Nr. 5.

Oberthür

1045

27.141

§ 27 Rz. 27.142

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

4. Ausschluss der Familienversicherung

27.142 Die Familienmitglieder der in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversicherten Arbeitnehmer, also deren Ehegatten, Lebenspartner und Kinder, profitieren in den Fällen, in denen sie etwa wegen Arbeitslosigkeit, Elternzeit o.ä. keinen eigenen Krankenversicherungsschutz besitzen, grundsätzlich von der Familienversicherung gemäß § 10 SGB V, indem sie ohne eigene Beitragsbelastung in den Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen werden. Die Familienversicherung genießt gemäß § 5 Abs. 8a Satz 1 SGB V auch Vorrang vor der allgemeinen Versicherungspflicht mangels anderweitiger Versicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V.

27.143 Der Geltungsbereich der Familienversicherung ist gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V jedoch ausgeschlossen für Familienmitglieder, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungsfrei sind. Hiervon sind auch Familienmitglieder erfasst, die aufgrund der Zuordnung zu den Sicherungssystemen der Beamten gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V versicherungsfrei sind. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass Personen, die sich nachhaltig von der gesetzlichen Krankenversicherung gelöst haben, den Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung auch als Angehöriger nicht benötigen209.

27.144 Die Familienversicherung greift deshalb für versicherungsfreie Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes bspw. auch dann nicht ein, wenn diese während der Elternzeit nicht mehr über eigenes Einkommen verfügen. Auch in diesem Fall besteht eine beamtenähnliche Versorgung und damit die Versicherungsfreiheit gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V fort210. Der Gesetzgeber geht sowohl in der Krankenversicherung für versicherungspflichtige Arbeitnehmer als auch im Beihilferecht für Beamte grundsätzlich davon aus, dass während der Elternzeit dasselbe Sicherungssystem zuständig ist wie vorher während der Ausübung der entgeltlichen Beschäftigung. Maßgebend dafür ist, dass der beamtenrechtliche Sicherungsstatus in einer der Elternzeit entsprechenden Weise fortbesteht und mit dem eines krankenversicherungspflichtigen Arbeitnehmers in der Elternzeit gleichwertig ist; darauf, ob ein individueller Anspruch auf Beihilfe besteht, kommt es nicht entscheidend an. Die mit dem Wegfall des Einkommens verbundene finanzielle Belastung durch die Weiterführung der beihilfeergänzenden privaten Krankenversicherung, die überdies durch die Einführung eines Elterngeldes für ab dem 1.1.2007 geborene Kinder gemildert worden ist, müssen ggf. im Rahmen des dortigen Systems ausgeglichen werden211.

27.145 Endet demgegenüber die Beihilfeberechtigung und damit auch die Versicherungsfreiheit, so unterfällt der ehemals versicherungsfreie Angehörige bei fehlender eigener Versicherungspflicht grundsätzlich auch wieder der Familienversicherung. Dies gilt nicht nur, wenn der Arbeitnehmer nach der Elternzeit ohne Dienstbezüge beurlaubt wird212, sondern auch bei Arbeitsplatzverlust und nachfolgender Arbeitslosigkeit.

209 Begründung des Gesetzentwurfs zum GRG v. 3.5.1988, BT-Drucks. 11/2237, 161. 210 Zu den Beihilfeansprüchen der Beamten in der Elternzeit vgl. § 5 der Elternzeitverordnung. 211 BSG v. 28.3.2000 – B 8 KN 10/98 KR R, SozR 3-2500 § 10 Nr. 18; v. 18.3.1999 – B 12 KR 13/98 R, SozR 3-2500 § 10 Nr. 14; v. 29.6.1993 – 12 RK 91/92, SozR 3-2500 § 10 Nr. 3; Peters in Kasseler Kommentar, § 10 SGB V Rz. 12; seit der Einfügung von § 10 Abs. 1 Satz 3 SGB V zum 1.1.2000 gilt dieselbe Rechtsfolge auch für Arbeitnehmer, die nur wegen Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze versicherungsfrei sind. 212 BSG v. 28.3.2000 – B 8 KN 10/98 KR R, SozR 3-2500 § 10 Nr. 18; v. 23.10.1996 – 4 RK 1/96, SozR 3-2500 § 10 Nr. 8.

1046

Oberthür

Krankheit und Arbeitsunfähigkeit

Rz. 27.149 § 27

5. Tarifliche Sozialleistungen im Krankheitsfall Für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes, die keinen Anspruch auf beamtenähnliche Krankenfürsorge besitzen und auch nicht aufgrund der Höhe ihres Einkommens versicherungsfrei sind, bleibt es bei der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Leistungsansprüche dieser Arbeitnehmer richten sich grundsätzlich nach dem gesetzlichen Leistungsniveau. Die Manteltarifverträge des öffentlichen Dienstes sehen hierbei jedoch zum Teil ergänzende Regelungen vor.

27.146

a) Entgeltfortzahlung und Zuschussleistungen im Krankheitsfall Während beamtenähnlich versorgte Arbeitnehmer im Krankheitsfalle einen zeitlich unbegrenzten Anspruch auf Fortzahlung der Vergütung haben, ist dieser Anspruch für andere Arbeitnehmer gemäß § 3 EFZG auf sechs Wochen begrenzt. Danach besteht für gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer lediglich ein zeitlich begrenzter Anspruch auf Krankengeld gemäß § 47 SGB V. Für die Angestellten des öffentlichen Dienstes sehen die tariflichen Regelungen jedoch weitergehende Leistungen vor, die zumindest eine Annäherung an die beamtenähnliche Absicherung beinhalten sollen.

27.147

Im früheren Anwendungsbereich des BAT (Bundesangestellten-Tarifvertrag) sah § 71 Abs. 2 BAT für langjährig Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnis zu demselben Arbeitgeber ununterbrochen bereits am 30.6.1994 bestanden hat213, eine erhebliche Erweiterung des Entgeltfortzahlungszeitraumes über das gesetzliche Maß hinaus vor. Für diese Arbeitnehmer wurde nach einer Dienstzeit von mindestens zehn Jahren die Dauer der Entgeltfortzahlung bis zum Ende der 26. Woche der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit verlängert.

27.148

Für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nach dem 30.6.1994 begründet wurde, die zwischenzeitlich zu einem anderen Arbeitgeber innerhalb des öffentlichen Dienstes gewechselt sind oder die auf die Anwendung des § 71 BAT verzichtet haben, blieb es auch im Anwendungsbereich des BAT bei dem gesetzlichen Entgeltfortzahlungszeitraum von sechs Wochen. Diese Arbeitnehmer hatten jedoch anschließend gemäß § 37 Abs. 3 BAT für Zeiten, für die Krankengeld aus der gesetzlichen Krankenversicherung oder vergleichbare Leistungen aus der gesetzlichen Renten- oder Unfallversicherung oder nach dem Bundesversorgungsgesetz gezahlt werden, gegenüber dem Arbeitgeber Anspruch auf die Gewährung eines Krankengeldzuschusses. Der Krankengeldzuschuss wurde ebenfalls nur zeitlich begrenzt geleistet und setzte voraus, dass der Arbeitnehmer seit mehr als einem Jahr beschäftigt war; er wurde dann bis zum Ende der 13. Woche, bei einer Beschäftigungszeit von mehr als drei Jahren bis zum Ende der 26. Woche seit dem Beginn der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit geleistet. Dabei musste die maßgebliche Beschäftigungsdauer nicht bereits bei Beginn der Arbeitsunfähigkeit vollendet sein; es genügte gemäß § 37 Abs. 4 Unterabs. 2 BAT, dass diese im Laufe des Arbeitsunfähigkeitszeitraumes vollendet wird. Schließlich enthielt § 37 Abs. 5 BAT eine zeitliche Höchstbegrenzung der Krankenbezüge einschließlich des Krankengeldzuschusses für die Dauer von – je nach Beschäftigungszeit – 13 bzw. 26 Wochen je Kalenderjahr214.

27.149

213 Voraussetzung ist eine Beschäftigung im Tarifgebiet West, vgl. BAG v. 27.5.2004 – 6 AZR 6/03, NZA-RR 2005, 387. 214 Zu den Details der tariflichen Regelung vgl. etwa Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr, Kommentar zum BAT; Dassau/Wiesend-Rothbrust, Kompaktkommentar zum BAT; Schmidt, PersR 1999, 71.

Oberthür

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§ 27 Rz. 27.150

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

27.150 Vergleichbare Regelungen gelten für die Arbeitnehmer im Anwendungsbereich des TVöD (Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst), in den der BAT mittlerweile übergeleitet wurde. Allerdings wurde im TVöD die Differenzierung des BAT zwischen langjährig beschäftigten und anderen Arbeitnehmern aufgegeben. Dieser Tarifvertrag sieht gemäß § 22 Abs. 2 TVöD als zusätzliche Leistung zu der gesetzlich vorgesehenen Entgeltfortzahlung einheitlich nur die Leistung eines Krankengeldzuschusses vor. Auch hier setzt die Zahlung des Zuschusses eine Beschäftigungszeit von mehr als einem Jahr voraus; ab einer Beschäftigungsdauer von mehr als drei Jahren verlängert sich der Zuschusszeitraum jedoch sogar bis zum Ende der 39. Woche seit Beginn der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Eine jährliche Höchstbegrenzung der Leistungen im Krankheitsfall besteht nicht215.

27.151 Der Krankengeldzuschuss soll die Differenz zwischen dem Krankengeld und der bisherigen Nettovergütung ausgleichen. Tatsächlich wird ein vollständiger Ausgleich jedoch nicht erreicht, da zur Berechnung des Krankengeldzuschusses gemäß § 37 Abs. 8 BAT bzw. § 22 Abs. 2 Satz 1 TVöD auf das Bruttokrankengeld abgestellt wird; aus diesem müssen allerdings Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung entrichtet werden, so dass das verbleibende Nettokrankengeld gemeinsam mit dem Krankengeldzuschuss geringer ist als die bisherige volle Nettovergütung. Für Arbeitnehmer im Geltungsbereich des TVöD, deren Arbeitsverhältnis bereits am 30.6.1994 bestanden hat, enthält § 13 Abs. 1 der Überleitungstarifverträge TVÜBund und TVÜ-VKA jedoch Sonderregelungen, nach denen ein vollständiger Nettoausgleich vorgenommen wird.

27.152 Auch privat krankenversicherte Arbeitnehmer, die nicht beamtenähnlich versorgt sind, haben Anspruch auf den tariflichen Krankengeldzuschuss. Bei ihnen wird der Berechnung jeweils ein fiktiver Krankengeldanspruch entsprechend den Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse zugrunde gelegt. Ob und in welcher Höhe diese Arbeitnehmer eine private Krankentagegeldversicherung tatsächlich abgeschlossen haben, ist für den Anspruch auf den tariflichen Krankengeldzuschuss unerheblich. b) Freistellung bei Erkrankung eines Kindes oder der Betreuungsperson

27.153 Arbeitnehmer, die mangels anderweitiger Betreuung ein erkranktes, in der gesetzlichen Krankenversicherung versichertes216 Kind pflegen müssen, das entweder das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder behindert und auf Hilfe angewiesen ist, haben gemäß § 45 Abs. 5 SGB Veinen Anspruch auf unbezahlte Freistellung für die Dauer der Erkrankung; bei rechtswidriger Verweigerung der Freistellung erlaubt dies dem Arbeitnehmer, der Arbeit eigenmächtig fernzubleiben217. Der Anspruch ist für jedes Kind begrenzt auf jeweils 10 Arbeitstage bzw. 20 Arbeitstage für Alleinerziehende, die jährliche Höchstanspruchsdauer ist begrenzt auf 25 Arbeitstage bzw. 50 Arbeitstage für Alleinerziehende218. Diesen Freistellungsanspruch besitzen alle Arbeitnehmer, unabhängig davon, ob sie in der gesetzlichen oder in der privaten Krankenversicherung versichert sind. Gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer haben für die Dauer der Freistellung einen Anspruch auf Kinderpflegekrankengeld; bei privat versicher215 Zu den Details der tariflichen Regelung vgl. etwa Sponer/Steinherr, Kommentar zum TVöD; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrink, Kommentar zum TVöD; Zetl, ZMV 2006, 72; Hock, ZTR 2005, 614. 216 BSG v. 31.3.1998 – B 1 KR 9/96 R, SozR 3-2500 § 45 Nr. 2. 217 LAG Rheinland-Pfalz v. 8.11.2016 – 8 Sa 152/16, juris. 218 Ein weitergehender, zeitlich unbegrenzter Freistellungsanspruch besteht bei einer schweren, unheilbaren Erkrankung des Kindes im fortgeschrittenen Stadium, § 45 Abs. 4 SGB V.

1048

Oberthür

Arbeitslosigkeit

Rz. 27.158 § 27

ten Arbeitnehmern richtet sich ein etwaiger Anspruch auf Krankentagegeld nach den Bedingungen des privaten Versicherungsverhältnisses. Nur wenn ein Freistellungsanspruch aus § 45 SGB V nicht besteht und im laufenden Jahr auch noch nicht bestanden hat, besteht eine Pflicht des öffentlichen Arbeitgebers zur bezahlten Freistellung. In Konkretisierung der gesetzlichen Regelung in § 616 BGB, der einen Anspruch auf bezahlte Freistellung gewährt, wenn die Dauer der pflegebedingten Abwesenheit insgesamt nicht unverhältnismäßig lang ist219, haben Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes in diesem Fall gemäß § 29 TVöD bzw. § 52 BAT Anspruch auf bezahlte Freistellung zur Pflege eines erkrankten Kindes, das das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Voraussetzung ist, dass eine andere Pflegeperson nicht sofort zur Verfügung steht und die Pflegebedürftigkeit ärztlich bescheinigt wird. Dieser Anspruch ist begrenzt auf die Dauer von maximal vier Arbeitstagen im Kalenderjahr, nicht aber bei Erkrankung mehrerer Kinder220.

27.154

Zusätzlich beinhalten die tariflichen Regelungen einen Anspruch auf bezahlte Freistellung bei der schweren Erkrankung des Ehegatten oder einer anderen Betreuungsperson, wenn der Arbeitnehmer statt dieser die Betreuung seines Kindes, das das achte Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder aufgrund einer Behinderung dauerhaft pflegebedürftig ist, übernehmen muss. Auch dieser Anspruch ist begrenzt auf insgesamt vier Arbeitstage im Kalenderjahr.

27.155

Die tariflichen Ansprüche auf bezahlte Freistellung wegen der Betreuung von Angehörigen und Kindern sind auf insgesamt fünf Arbeitstage im Kalenderjahr begrenzt. Weitergehende Ansprüche können im Geltungsbereich der tariflichen Regelungen auch aus § 616 BGB nicht hergeleitet werden.

27.156

IV. Besonderheiten in der Versorgung bei Arbeitslosigkeit (Gesetzliche Arbeitslosenversicherung) Abhängig beschäftigte Arbeitnehmer unterliegen gemäß §§ 24, 25 SGB III für die Dauer der Beschäftigung grundsätzlich der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung.

27.157

1. Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung, § 27 Abs. 1 Nr. 1 SGB III Die Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung für beamtenähnlich abgesicherte Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes folgt derjenigen in der Krankenversicherung nach. Gemäß § 27 Abs. 1 Nr. 1 SGB III221, der in seinem Wortlaut mit der krankenversicherungsrechtlichen Bestimmung des § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V übereinstimmt, besteht Versicherungsfreiheit für „Beamte, Richter, Soldaten auf Zeit sowie Berufssoldaten der Bundeswehr und sonstige Beschäftigte des Bundes, eines Landes, eines Gemeindeverbandes, einer Gemeinde, von öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Anstalten, Stiftungen oder Ver219 Vgl. zum Meinungsstand Kleinebrink, ArbRB 2006, 303 mwN. 220 BAG v. 5.8.2014 – 9 AZR 878/12, NZA-RR 2014, 672. 221 § 27 SGB III wurde durch das Gesetz zur Reform der Arbeitsförderung vom 24.3.1997 (BGBl. I 1997, 594) mit Wirkung vom 1.1.1998 eingeführt; die Vorgängerregelung des § 169 AFG, die auf § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V verwiesen hatte, wurde dabei inhaltlich unverändert übernommen; zur Verfassungsmäßigkeit vgl. LSG Berlin-Brandenburg v. 7.5.2010 – L 8 AL 22/10, juris.

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27.158

§ 27 Rz. 27.158

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

bänden öffentlich-rechtlicher Körperschaften oder deren Spitzenverbänden, wenn sie nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen bei Krankheit Anspruch auf Fortzahlung der Bezüge und auf Beihilfe oder Heilfürsorge haben.“ a) Beschäftigte privilegierter Arbeitgeber

27.159 Der in der Arbeitslosenversicherung gemäß § 27 Abs. 1 Nr. 1 SGB III versicherungsfreie Personenkreis ist demjenigen des § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V identisch ausgestaltet222, so dass auf die dortigen Ausführungen verwiesen werden kann (Rz. 27.93 ff.). b) Fürsorgestatus nach beamtenrechtlichen Grundsätzen

27.160 Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes sind in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung versicherungsfrei, wenn sie aufgrund der Gewährung einer beamtenähnlichen Krankenfürsorge auch in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungsfrei sind.

27.161 Im Gegensatz zu § 169 AFG in der bis zum 31.12.1988 geltenden Fassung223 stellt § 27 Abs. 1 Nr. 1 SGB III für die Versicherungsfreiheit in der Arbeitslosenversicherung damit nicht mehr auf die rentenrechtliche Versorgungsanwartschaft ab, die durch Gewährleistungsentscheidung festgestellt werden muss (Rz. 27.33), sondern auf die Absicherung des Arbeitnehmers im Falle der Krankheit. Zwar weist auch das Merkmal der beamtenähnlichen Heilfürsorge keinen speziellen Bezug zu dem Risiko der Arbeitslosigkeit auf, geht es doch in der Arbeitslosenversicherung nicht darum, den Versicherten gegen den Erwerbsausfall wegen Krankheit zu schützen, sondern darum, den Wegfall des Erwerbseinkommens wegen Arbeitslosigkeit abzusichern. Allerdings geht der Gesetzgeber insoweit typisierend von der Erfahrung aus, dass derjenige, der einer beamtenähnlichen Krankenfürsorge unterfällt, vielfach auch wie ein Beamter gegen den Verlust des Arbeitsplatzes gesichert ist. Auch spricht im Interesse eines einheitlichen und rationellen Beitragseinzuges einiges dafür, für die Beurteilung der Versicherungspflicht in der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung möglichst einheitliche Maßstäbe zu verwenden. Es lag daher nahe, dem Recht der Krankenversicherung als dem beitragsintensiveren Versicherungsbereich eine einheitliche Vorgabe zu entnehmen und für das Recht der Arbeitslosenversicherung daran anzuknüpfen224.

27.162 Die Ausführungen zu den Anforderungen an eine beamtenähnliche Fürsorge im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung gelten daher für den Bereich der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung entsprechend (Rz. 27.96 ff.). Zu betonen ist, dass die Ansprüche auf Krankenfürsorge auch hier nicht auf öffentlich-rechtlichen Bestimmungen beruhen müssen; ausreichend ist eine arbeits- oder tarifvertragliche Gewährleistung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen225.

222 Brand, § 27 SGB III Rz. 4; aA Jahn/Klose/Sauer, § 27 SGB III Rz. 8, der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes von der Versicherungsfreiheit nicht erfasst sehen will. 223 Vgl. hierzu BSG v. 23.11.1973 – RK 22/72, DAngVers 1974, 139. 224 BSG v. 11.10.2001 – B 12 KR 7/01 R, SozR 3-4100 § 169 Nr. 7; ebenso v. 27.11.1984 – 12 RK 18/82, SozR 2200 § 169 Nr. 11 zu § 169 AFG, zu der Vorgängerregelung des § 169 AFG aF, der an die Gewährleistung einer beamtenähnlichen Altersversorgung anknüpfte. 225 Sächsisches LSG v. 8.2.2018 – L 3 AL 187/15, juris; Eicher/Schlegel, § 27 SGB III Rz. 36; Hauck/ Noftz/Timme, § 27 SGB III Rz. 9; aA Gagel/Fuchs, § 27 SGB III Rz. 10; Brand, § 27 SGB III Rz. 4.

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Arbeitslosigkeit

Rz. 27.167 § 27

c) Beginn und Ende der Versicherungsfreiheit Seit die Versicherungsfreiheit in der Arbeitslosenversicherung nicht mehr von der Gewährleistung einer beamtenähnlichen Altersversorgung abhängt, tritt die Versicherungsfreiheit mit Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen unmittelbar kraft Gesetzes ein und endet automatisch mit deren Wegfall. Eines behördlichen Aktes in Form einer Feststellung der Versicherungsfreiheit, wie dies im Rentenversicherungsrecht mit der Gewährleistungsentscheidung erforderlich ist (Rz. 27.33), bedarf es im Recht der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung nicht226.

27.163

Eine zeitliche Rückwirkung kann dem beamtenähnlichen Fürsorgestatus nicht verliehen 27.164 werden; eine rückwirkende Gewährleistung der Krankenfürsorge führt daher nicht zu einem rückwirkenden Wegfall der Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung227. Die Versicherungsfreiheit kann daher durch die Erteilung der Fürsorgezusage stets nur für die Zukunft eintreten. d) Reichweite der Versicherungsfreiheit Im Gegensatz zu der krankenversicherungsrechtlichen Beurteilung, bei der sich gemäß § 6 Abs. 3 SGB V die Versicherungsfreiheit auch auf andere Beschäftigungen erstreckt, ist die Versicherungsfreiheit in der Arbeitslosenversicherung streng tätigkeitsbezogen; die aus der privilegierten Beschäftigung erwachsende relative Versicherungsfreiheit kann nicht auf andere Beschäftigungen oder Nebenbeschäftigungen des Arbeitnehmers erstreckt werden228.

27.165

Auch Arbeitnehmer, die von einem öffentlichen Arbeitgeber unter Wegfall der Krankenfürsorge zur Beschäftigung in der Privatwirtschaft beurlaubt werden, unterfallen daher der Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung. Dies gilt auch dann, wenn die Beurlaubung mit der Folge des Wiederauflebens der beamtenähnlichen Krankenfürsorge jederzeit einseitig wieder beendet werden kann229 oder wenn eine Ausbildung unter Fortzahlung der vollen Dienstbezüge erfolgt230. Gleiches gilt für eine neben der privilegierten Beschäftigung ausgeübte Nebentätigkeit. Ob sich das Risiko der Arbeitslosigkeit für den Arbeitnehmer im Einzelfall tatsächlich verwirklichen kann, ist angesichts der typisierenden Beurteilung der versicherungsrechtlichen Schutzbedürftigkeit nicht entscheidend231.

27.166

2. Versicherungsfreiheit von Rentnern, Hinterbliebenen und Familienangehörigen Mit Vollendung des für den Bezug der gesetzlichen Regelaltersrente maßgeblichen Lebensalters232 besteht generell Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung, 226 Hauck/Noftz/Timme, § 27 SGB III Rz. 5; Eicher/Schlegel, § 27 SGB III Rz. 3. 227 SG München v. 22.11.2016 – S 28 KR 250/14, juris. 228 LSG Nordrhein-Westfalen v. 9.11.2017 – L 16 KR 448/16, juris; Eicher/Schlegel, § 27 SGB III Rz. 11, 34; Brand, § 27 SGB III Rz. 3; Wagner in GK-SGB III, § 27 SGB III Rz. 4; Gagel/Schneil, § 27 SGB III Rz. 19. 229 BSG v. 29.3.2003 – B 12 KR 15/02 R, SozR 4-4100 § 169 Nr. 1: Berufssoldaten; v. 7.11.1995 – 12 BK 91/94, DBlR 4265, AFG/§ 169: Postbeamte; v. 12.11.1975 – 3/12 RK 10/74, SozR 2200 § 172 Nr. 4. 230 BSG v. 14.9.1978 – 12 RK 57/76, SozR 2200 § 169 Nr. 6. 231 BVerfG v. 11.3.1980 – 1 BvL 20/76, 1 BvR 826/76, BVerfGE 53, 313. 232 Die Altersgrenze von bislang 65 Jahren wurde durch das Gesetz zur Anpassung der Regelaltersrente an die demographische Entwicklung (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) vom 9.3.2007

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27.167

§ 27 Rz. 27.167

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

§ 28 Abs. 1 Nr. 1 SGB III. Auch vor diesem Zeitpunkt führt der Bezug von Versorgungsleistungen in der Arbeitslosenversicherung – anders als in der gesetzlichen Rentenversicherung (Rz. 27.46) – nicht ohne weiteres zur Begründung der Versicherungspflicht. Die Arbeitslosenversicherung zieht die Bezieher von Versorgungsleistungen nur dann in den Kreis der Versicherungspflichtigen ein, wenn die Leistung den Charakter einer Entgeltersatzleistung besitzt. Der Bezug beamtenähnlicher Versorgungsleistungen führt dementsprechend nicht zur Versicherungspflicht in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung. Der Bezug anderer Versorgungsleistungen, etwa von Krankentagegeld aus einer privaten Krankenversicherung oder einer Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung, kann zwar gemäß § 26 Abs. 2 SGB III zur Versicherungspflicht führen und in Einzelfällen auch beamtenähnliche Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes erfassen, doch tritt auch in diesen Fällen Versicherungspflicht nur dann ein, wenn der Versorgungsbezieher vor Beginn des Leistungsbezuges in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung versicherungspflichtig gewesen ist. Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes, die in die beamtenähnlichen Sicherungssysteme einbezogen sind, unterfallen daher auch bei dem Bezug anderweitiger Entgeltersatzleistungen in aller Regel nicht der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung.

27.168 Auf den versicherungsrechtlichen Status von Familienangehörigen und Hinterbliebenen hat die Versicherungsfreiheit des beamtenähnlich versorgten Arbeitnehmers keinen Einfluss. Dieser ist vielmehr ausschließlich nach dem eigenen sozialversicherungsrechtlichen Status des Angehörigen zu bestimmen.

V. Besonderheiten in der Versorgung bei Pflegebedürftigkeit (Gesetzliche Pflegeversicherung) 27.169 Die gesetzliche Pflegeversicherung geht gemäß § 1 Abs. 2 SGB XI von dem systembezogenen Grundsatz „Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung“ aus. Wer in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert ist, unterliegt der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Pflegeversicherung, während derjenige, der privat krankenversichert ist, dem System der privaten Pflegeversicherung zugeordnet ist.

27.170 Dabei bestand der wesentliche Unterschied zu dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung bislang darin, dass auch für Arbeitnehmer, die dem gesetzlichen Krankenversicherungssystem nicht angehörten oder dort lediglich freiwillig versichert waren, nahezu ausnahmslos eine Pflicht zum Abschluss eines Pflegeversicherungsvertrages bestand233, während bei fehlender Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung die Entscheidung über Art und Umfang der eigenen Absicherung für den Krankheitsfall frei getroffen werden konnte. Dieser Unterschied ist nach der sukzessiven Einführung einer allgemeinen Krankenversicherungspflicht durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (Rz. 27.104) seit dem 1.1.2009 beseitigt. In beiden Systemen gilt nunmehr der im System der Pflegeversicherung von Anfang an bestehende Grundsatz, dass das Fehlen der Versicherungspflicht in dem gesetzlichen Versicherungssystem nicht zur Versicherungsfreiheit führt, sondern vielmehr zur Versicherungspflicht in dem privaten Versicherungssystem.

(BGBl. I, 554) mit Wirkung vom 1.1.2008 auf das individuelle Lebensjahr angehoben, in dem der Anspruch auf die Regelaltersrente in der gesetzlichen Rentenversicherung entsteht. 233 Zur Verfassungsmäßigkeit dieser umfassenden Versicherungspflicht BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvR 1681/94, SozR 3-3300 § 23 Nr. 3.

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Pflegebedürftigkeit

Rz. 27.176 § 27

Im Gegensatz zu den übrigen Systemen der gesetzlichen Sozialversicherung gibt es deshalb im Pflegeversicherungsrecht auch für beamtenähnlich abgesicherte Arbeitnehmer keine Versicherungsfreiheit. Von ihrem krankenversicherungsrechtlichen Status hängt lediglich ab, welchem Pflegeversicherungssystem sie zugeordnet sind.

27.171

1. Versicherungspflicht in der gesetzlichen Pflegeversicherung, § 20 Abs. 1 und 3 SGB XI Der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Pflegeversicherung unterliegen gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB XI zunächst diejenigen Arbeitnehmer, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig sind; dies gilt gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 SGB XI auch für diejenigen Personen, die mangels anderweitiger Absicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V in die gesetzliche Krankenversicherung einbezogen werden.

27.172

Die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Pflegeversicherung erfasst darüber hinaus auch Arbeitnehmer, die in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig versichert sind, § 20 Abs. 3 SGB XI. Arbeitnehmer, die etwa wegen der Überschreitung der Jahresarbeitsentgeltgrenze oder wegen der Gewährung einer beamtenähnlichen Krankenfürsorge zwar nicht versicherungspflichtig sind, aber dennoch weiterhin freiwillig dem System der gesetzlichen Krankenversicherung angehören, verbleiben daher auch im Hinblick auf die Pflegeversicherung in diesem System234.

27.173

Freiwillig gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer, die bei Eintritt der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Pflegeversicherung bereits bei einem privaten Versicherungsunternehmen gegen Pflegebedürftigkeit versichert sind, besitzen jedoch gemäß § 22 Abs. 1 SGB XI einen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Pflegeversicherung. Voraussetzung ist der Nachweis, dass der Arbeitnehmer für sich selbst und seine Angehörigen, die gemäß § 25 SGB XI der Familienversicherung in der gesetzlichen Pflegeversicherung unterliegen würden, private Pflegeleistungen beanspruchen kann, die nach Art und Umfang den Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung gleichwertig sind (Rz. 27.177 ff.). Für beihilfeberechtigte Arbeitnehmer genügt insoweit das Vorliegen eines anteiligen Versicherungsvertrages zur Ergänzung der Beihilfeleistungen. Der Befreiungsantrag muss binnen drei Monaten nach Beginn der Versicherungspflicht bei der zuständigen Pflegekasse gestellt und kann nicht widerrufen werden.

27.174

Die von der Versicherungspflicht befreiten Personen sind gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XI verpflichtet, den Pflegeversicherungsvertrag aufrechtzuerhalten, solange sie krankenversichert sind. Der Verstoß gegen diese Verpflichtung kann eine Ordnungswidrigkeit darstellen (Rz. 27.190).

27.175

2. Versicherungspflicht in der privaten Pflegeversicherung, § 23 Abs. 1 SGB XI § 23 Abs. 1 SGB XI verpflichtet jedermann, der bei einem privaten Versicherungsunternehmen gegen das Risiko der Krankheit versichert ist, auch einen privaten Pflegeversicherungsvertrag abzuschließen. Dementsprechend sind auch Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes,

234 Zur Verfassungsmäßigkeit der Pflegeversicherungspflicht freiwillig Krankenversicherter BSG v. 3.9.1998 – B 12 KR 23/97 R, SozR 3-3300 § 20 Nr. 5.

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27.176

§ 27 Rz. 27.176

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

die mit einem Anspruch auf allgemeine Krankenhausleistungen235 privat krankenversichert sind, verpflichtet, bei diesem oder einem anderen (§ 23 Abs. 2 SGB XI) Versicherungsunternehmen das Risiko der Pflegebedürftigkeit durch einen privaten Versicherungsvertrag abzusichern. Diese Zuweisung in das System der privaten Pflegeversicherung ist zwingend. Ein Wahlrecht dahingehend, stattdessen eine freiwillige Versicherung in der gesetzlichen Pflegeversicherung zu begründen, besteht nach dem – verfassungskonformen236 – Willen des Gesetzgebers nicht.

27.177 Die private Pflegeversicherung muss in sachlicher, persönlicher und zeitlicher Hinsicht einen bestimmten Umfang aufweisen, der in § 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB XI näher definiert ist. Demnach muss der Versicherungsvertrag „ab dem Zeitpunkt der Versicherungspflicht für den Arbeitnehmer selbst sowie für seine Angehörigen und Lebenspartner, die gemäß § 25 SGB XI in der gesetzlichen Pflegeversicherung der Familienversicherung unterliegen würden, Vertragsleistungen vorsehen, die nach Art und Umfang den Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung gleichwertig sind“.

27.178 In persönlicher Hinsicht muss der Leistungsumfang des privaten Versicherungsvertrages daher neben dem Arbeitnehmer selbst auch diejenigen seiner Angehörigen erfassen, die in der gesetzlichen Pflegeversicherung gemäß § 25 SGB XI familienversichert wären, also den Ehegatten bzw. Lebenspartner sowie die unterhaltsberechtigten Kinder.

27.179 In sachlicher Hinsicht muss der private Pflegeversicherungsvertrag den Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung gleichwertig sein. Dies gilt für die Leistungsvoraussetzungen, die Leistungsstufen und die Leistungshöhe, wobei an die Stelle der im gesetzlichen System gewährten Sachleistung jedoch das Prinzip der Kostenerstattung tritt, da die private Krankenund Pflegeversicherung das Prinzip der Sachleistung ihrem Wesen nach nicht kennt237. Nach der Begründung des Gesetzentwurfs zur Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung erfordert das Prinzip der Gleichwertigkeit auch, dass die Leistungen des Versicherungsunternehmens in dem Maße anzupassen sind, wie die Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung gemäß § 30 SGB XI dynamisiert werden. Weitere inhaltliche Anforderungen an den Versicherungsvertrag ergeben sich aus § 23 Abs. 6 SB XI und § 110 SGB XI. Damit sind insbesondere an die Feststellung der Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu der jeweiligen Pflegestufe dieselben Maßstäbe anzulegen wie in der gesetzlichen Pflegeversicherung.

27.180 In zeitlicher Hinsicht schließlich muss der Leistungsumfang von Beginn der Versicherungspflicht an gewährleistet sein und für die Dauer der Versicherungspflicht bestehen („aufrechterhalten“) bleiben. Der Verstoß gegen diese Verpflichtung kann eine Ordnungswidrigkeit darstellen (Rz. 27.190).

235 Gemeint ist das Bestehen einer Krankheitskostenvollversicherung; reine Kranken-Zusatzversicherung wie Krankentagegeld-, Sterbe- oder Auslandskrankenversicherungen, die die allgemeinen Krankheitsrisiken nicht absichern, fallen nicht unter diesen Begriff. 236 BVerfG v. 3.4.2002 – 1 BvR 1681/94, SozR 3-3300 § 23 Nr. 3; BSG v. 3.9.1998 – B 12 P 3/97 R, SozR 3-3300 § 20 Nr. 4; v. 6.11.1997 – 12 RP 2/96, SozR 3-3300 § 20 Nr. 3. 237 BSG v. 30.3.2000 – B 3 P 21/99 R, SozR 3-3300 § 77 Nr. 3.

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Rz. 27.186 § 27

Pflegebedürftigkeit

3. Versicherungspflicht in der privaten Pflegeversicherung für Beihilfeberechtigte, § 23 Abs. 1 SGB XI Auch beihilfeberechtigte Arbeitnehmer, die eine nur anteilige, beihilfekonforme private Krankenversicherung abgeschlossen haben, unterliegen aufgrund ihrer privaten Krankenversicherung gemäß § 23 Abs. 1 SGB XI der Pflicht zum Abschluss einer privaten Pflegeversicherung. Für sie enthält § 23 Abs. 3 SGB XI jedoch die Klarstellung, dass dieser Pflicht bereits mit dem Abschluss einer anteiligen, die Beihilfeleistungen ergänzenden Pflegeversicherung genügt ist.

27.181

Die Streitfrage, ob § 23 Abs. 3 SGB XI darüber hinausgehend eine eigenständige Versicherungspflicht auch für beihilfeberechtigte Arbeitnehmer begründet hat, die weder in der gesetzlichen noch in der privaten Krankenversicherung versichert waren und damit einer Pflegeversicherungspflicht nach den §§ 20, 23 Abs. 1 SGB XI nicht unterlagen238, ist seit dem 1.1.2009 obsolet, da mit der Einführung einer allgemeinen Krankenversicherungspflicht eine Zuweisung zu einem der beiden Krankenversicherungssysteme zwangsläufig vorliegt.

27.182

a) Definition der beamtenähnlichen Beihilfeberechtigung im Pflegefall § 23 Abs. 3 SGB XI modifiziert den Versicherungsbedarf für diejenigen Personen, die „nach beamtenrechtlichen Grundsätzen oder Vorschriften bei Pflegebedürftigkeit Anspruch auf Beihilfe haben“. Eine Beschränkung auf besonders privilegierte öffentliche Arbeitgeber, wie dies in der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung vorgesehen ist, enthält das Gesetz dabei nicht.

27.183

Der Beihilfeanspruch für Bundesbeamte ist in den Beihilfevorschriften des Bundes, derjenige für die Beamten des Landes in den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen enthalten. Dabei übernimmt die Beihilfe je nach Familienstand und Status des Beihilfeberechtigten einen prozentualen Anteil von 50 bis 80 % der beihilfefähigen Aufwendungen239. Dementsprechend müssen auch die Beihilfeleistungen des Arbeitgebers ausgestaltet sein.

27.184

b) Inhalt und Kosten der beihilfekonformen Pflegeversicherung Die private Pflegeversicherung muss auch für beihilfeberechtigte Arbeitnehmer grundsätzlich Vertragsleistungen vorsehen, die nach Art und Umfang den Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung gleichwertig sind (Rz. 27.177 ff.).

27.185

Allerdings genügt es bei der beihilfekonformen Pflegeversicherung gemäß § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XI, dass sich die Gleichwertigkeit mit dem gesetzlichen Leistungsumfang erst aus der Verbindung der privaten Versicherungsleistungen mit den Beihilfeleistungen ergibt; es reicht daher aus, einen nur anteiligen, beihilfekonformen Pflegeversicherungsvertrag abzuschließen240. Die Kosten hierfür trägt der Arbeitnehmer jedoch allein; ein Anspruch auf einen Beitragszuschuss gegen den Arbeitgeber besteht gemäß § 61 Abs. 8 SGB XI nicht.

27.186

238 So LSG Berlin-Brandenburg v. 19.6.2008 – L 27 P 6/08, nv.; BSG v. 12.2.2004 – B 12 P 3/02 R, SozR 4-3300 § 23 Nr. 1; BVerfG v. 25.9.2001 – 2 BvR 2442/94, NZS 2002, 87. 239 Vgl. §§ 9, 14 der Beihilfevorschriften des Bundes (BhV). 240 Bei der Bemessung der Vertragsleistungen werden dabei einheitlich die Beihilfebemessungssätze gem. § 14 Abs. 1 der Beihilfevorschriften des Bundes zugrunde gelegt, § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XI.

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§ 27 Rz. 27.187

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

4. Versicherungspflicht für Rentner, Hinterbliebene und Familienangehörige

27.187 Auch bei Rentnern knüpft die Pflegeversicherung an die Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung an. Beihilfeberechtigte Arbeitnehmer im Ruhestand unterliegen regelmäßig nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V (Rz. 27.136) und damit auch nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Pflegeversicherung gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 11 SGB XI. Entsprechendes gilt für Hinterbliebenenrentner, die ihre Versorgung nur von dem versicherungsfreien Beschäftigten ableiten (Rz. 27.137). Sie unterliegen bei entsprechender Zugehörigkeit zu dem System der privaten Krankenversicherung auch der privaten Pflegeversicherung.

27.188 Familienangehörige der beihilfeberechtigten Arbeitnehmer sind nach den näheren Bestimmungen des § 25 SGB XI in der gesetzlichen Pflegeversicherung mitversichert, wenn sie nicht von der Versicherungspflicht befreit oder in der privaten Pflegeversicherung versichert sind. 5. Durchführung der Pflegeversicherung

27.189 Die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Pflegeversicherung führt zu der für die gesetzliche Sozialversicherung typischen unmittelbaren Mitgliedschaft bei dem Träger der Sozialversicherung. Dies ist in der gesetzlichen Pflegeversicherung gemäß § 48 SGB XI die Pflegekasse der Krankenkasse, bei der der Arbeitnehmer krankenversichert ist. Der versicherungspflichtige Arbeitnehmer hat sich gemäß § 50 SGB XI unverzüglich bei der zuständigen Pflegekasse anzumelden.

27.190 Die Versicherungspflicht in der privaten Pflegeversicherung begründet demgegenüber keine unmittelbare Zugehörigkeit zu einem Versicherungsunternehmen, sondern lediglich – auf Seiten des Arbeitnehmers wie auch des Versicherungsunternehmens241 – einen gesetzlichen Kontrahierungszwang, dh. den Zwang zum Abschluss eines zivilrechtlichen Versicherungsvertrages. Der Vertragsschluss muss damit rechtsgeschäftlich durchgeführt werden, er wird vom Gesetz weder unmittelbar erzwungen noch fingiert. Kommt der Arbeitnehmer einer Verpflichtung zum Abschluss oder zur Aufrechterhaltung eines privaten Pflegeversicherungsvertrages nicht nach, so stellt dies bei vorsätzlichem oder leichtfertigem Handeln eine Ordnungswidrigkeit dar, die gemäß § 121 Abs. 1 SGB XI mit einem Bußgeld von bis zu 2500 Euro belegt werden kann. Gleiches gilt, wenn der Arbeitnehmer mit der Entrichtung von sechs Monatsprämien zur privaten Pflegeversicherung in Verzug gerät, § 121 Abs. 1 Nr. 6 SGB XI, da auch dies den Fortbestand des Versicherungsvertrages gefährdet. Eine Nachzahlung rückwirkender Versicherungsbeiträge ist demgegenüber vom Gesetz – anders als in der privaten Krankenversicherung (Rz. 27.108) – nicht vorgesehen242.

27.191 Beihilfeberechtigte Arbeitnehmer, die weder gesetzlich noch privat krankenversichert sind, werden gemäß § 51 SGB XI von ihrem Dienstherrn an das Bundesversicherungsamt gemeldet. Gleiches gilt, wenn private Pflegeversicherungsverträge ohne Neuabschluss gekündigt oder wenn der Versicherte mit der Entrichtung von sechs Monatsbeiträgen in Verzug geraten ist. Diese Meldepflichten sollen die Durchsetzung der umfassenden Versicherungspflicht in der Pflegeversicherung zusätzlich absichern.

241 Vgl. § 110 SGB XI, LSG Berlin-Brandenburg v. 19.6.2008 – L 27 P 6/08, nv. 242 LSG Schleswig-Holstein v. 14.11.2008 – L 10 P 1/08, nv.

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Unfallfürsorge

Rz. 27.195 § 27

VI. Besonderheiten der Unfallfürsorge (Gesetzliche Unfallversicherung) Arbeitnehmer sind als Beschäftigte gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII grundsätzlich in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Die gesetzliche Unfallversicherung dient neben der Absicherung etwa ehrenamtlicher oder sonst gemeinnütziger Tätigkeiten im Wesentlichen der Absicherung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Da es sich hierbei um Risiken handelt, die aus dem Verantwortungsbereich des Arbeitgebers stammen, ergeben sich für die Arbeitnehmer, anders als in den übrigen Zweigen der gesetzlichen Sozialversicherung, aus der Versicherung keine Beitragslasten. Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Unfallversicherung beinhaltet für Arbeitnehmer daher keine Beitragserleichterung, sondern lediglich den Ausschluss von Leistungsansprüchen.

27.192

1. Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Unfallversicherung, § 4 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII Die Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Unfallversicherung knüpft nicht an Versorgungsleistungen in anderen Risikofällen an, sondern konkret an die Absicherung des Arbeitnehmers bei unfallbedingten Nachteilen. Dementsprechend sind Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes in der gesetzlichen Unfallversicherung gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII243 versicherungsfrei, soweit für sie „beamtenrechtliche Unfallfürsorgevorschriften oder entsprechende Grundsätze gelten“. Auch hier besteht die Annahme des Gesetzgebers, dass der Schutz durch ein eigenständiges Versorgungssystem die Einbeziehung des Arbeitnehmers in das gesetzliche Sicherungssystem entbehrlich macht. Doppelleistungen aus beiden Versorgungssystemen sollen vermieden werden.

27.193

a) Arbeitgeberbezogene Voraussetzungen Im Unterschied zu den übrigen Versicherungszweigen der gesetzlichen Sozialversicherung stellt die gesetzliche Unfallversicherung nicht darauf ab, ob der Arbeitnehmer bei einem besonders privilegierten Arbeitgeber beschäftigt ist. Insoweit können nicht nur Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes im engeren Sinne, sondern auch die Arbeitnehmer jedes privatrechtlich organisierten Arbeitgebers in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherungsfrei sein, sofern nur der Schutz gegen Unfallrisiken den beamtenrechtlichen Regelungen angenähert ist244.

27.194

b) Unfallfürsorge nach beamtenrechtlichen Grundsätzen Auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung gilt der Grundsatz, dass der gewährte Leistungsumfang der besonderen Unfallfürsorgevorschriften in seiner Gesamtheit nach Art und Umfang der Leistungen den beamtenrechtlichen Unfallfürsorgeleistungen weitgehend entsprechen muss245.

243 In Kraft getreten zum 1.1.1997 aufgrund des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes v. 7.8.1996, BGBl. I, 1254, inhaltlich der Vorgängerregelung des § 541 Abs. 1 RVO entsprechend. 244 Schmitt, § 4 SGB VII Rz. 4; Lauterbach/Watermann/Breuer/Schwerdtfeger, § 4 SGB VII Rz. 5; aA (bzw. jedenfalls missverständlich hinsichtlich der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes) Brackmann/Wiester, § 4 SGB VII Rz. 29. 245 Lauterbach/Watermann/Breuer/Schwerdtfeger, § 4 SGB VII Rz. 10.

Oberthür

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27.195

§ 27 Rz. 27.196

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

27.196 Die beamtenrechtlichen Unfallfürsorgevorschriften sind in §§ 30 ff. des Beamtenversorgungsgesetzes (BeamtVG) geregelt. Dienstunfall ist gemäß § 31 BeamtVG ein „auf äußerer Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist“. Hierzu gehören nach den näheren Bestimmungen in § 31 Abs. 2 bis 5 BeamtVG u.a. auch Dienstwege, Dienstreisen, Dienstgänge und dienstliche Veranstaltungen, ebenso wie bestimmte Erkrankungen und Körperschäden bei Angriffen. Dem muss die beamtenähnliche Unfallfürsorge im Wesentlichen entsprechen.

27.197 Das BeamtVG sieht weiter vor, dass Unfallfürsorge nur dann nicht gewährt wird, wenn der Beamte den Unfall vorsätzlich herbeigeführt hat; insoweit würde eine Begrenzung der Versorgungsleistungen bereits in Fällen grober Fahrlässigkeit den beamtenrechtlichen Grundsätzen nicht mehr entsprechen.

27.198 Das Leistungssystem des BeamtVG umfasst neben dem Heilverfahren (§§ 33, 34 BeamtVG) auch einen Unterhaltsbeitrag für die Dauer der durch einen Dienstunfall eingetretenen Minderung der Erwerbsfähigkeit, § 38 BeamtVG; diese Leistungen muss eine beamtenähnliche Unfallfürsorge gleichermaßen beinhalten. Zudem darf entsprechend dem BeamtVG die Unfallfürsorge nur versagt werden, wenn der Beamte eine die Heilbehandlung betreffende Anordnung ohne gesetzlichen oder sonst wichtigen Grund nicht befolgt hat und dadurch seine Dienstfähigkeit ungünstig beeinflusst wird. c) Gewährleistung der Unfallfürsorge

27.199 Die beamtenrechtlichen Grundsätze müssen „gelten“, d.h., sie müssen rechtsverbindlich ausgestaltet sein. Dies ist etwa bei den Dienstordnungs-Angestellten der Unfallversicherungsträger der Fall, bei denen die Anwendung der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge satzungsrechtlich vorgegeben ist. Ausreichend ist jedoch auch, dass die beamtenähnliche Unfallfürsorge nach privatem Recht auf arbeits- oder tarifvertraglicher Basis zugesagt wurde246.

27.200 Um zu verhindern, dass die Schutzfunktion der gesetzlichen Unfallversicherung zu Lasten der Arbeitnehmer umgangen wird, ist es über den Wortlaut des § 4 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI hinaus zusätzlich erforderlich, dass die Erfüllung der Unfallfürsorge gewährleistet ist. Die Rechtsprechung verlangt hierfür zumindest die Begründung eines Rechtsanspruchs auf die Fürsorgeleistungen, die Begründung eines Anspruchs auf bloße Ermessensleistungen des Arbeitgebers genügt nicht247. Überwiegend wird weiterhin gefordert, dass der Fürsorgeanspruch auch mit normativer Wirkung geregelt ist, etwa in der Satzung einer öffentlich-rechtlichen Ruhegehalts- oder Versorgungskasse; der Abschluss einer privaten Unfallversicherung reicht demnach zum Ausschluss des gesetzlichen Unfallversicherungsschutzes nicht aus248.

27.201 Indes ist – anders als bei der Gewährung einer beamtenähnlichen Altersversorgung – eine behördliche Feststellung des beamtenähnlichen Unfallschutzes im Sinne einer förmlichen Gewährleistungsentscheidung (Rz. 27.33) nicht erforderlich. 246 Lilienfeld in Kasseler Kommentar, § 4 SGB VII Rz. 3; enger Lauterbach/Watermann/Breuer/ Schwerdtfeger, § 4 SGB VII Rz. 11, der nur eine tarifvertragliche Zusage genügen lassen will. 247 BSG v. 27.3.1990 – 2 RU 43/89, HV-Info 1990, 1215. 248 Eichenhofer/v. Koppenfels-Spies/Wenner/Dankelmann, § 4 SGB VII Rz. 6 f.; Becker/Franke/Molkentin/Ziegler, § 4 SGB VII Rz. 3; Lilienfeld in Kasseler Kommentar, § 4 SGB VII Rz. 3; Lauterbach/Watermann/Breuer/Schwerdtfeger, § 4 SGB VII Rz. 11 mwN.

1058

Oberthür

Unfallfürsorge

Rz. 27.207 § 27

d) Beginn und Ende der Versicherungsfreiheit Die Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Unfallversicherung tritt mit der Zusage der beamtenähnlichen Unfallfürsorge kraft Gesetzes ein. In gleicher Weise entfällt die Versicherungsfreiheit, wenn der Beschäftigte die Zusage beamtenähnlicher Unfallfürsorge verliert.

27.202

Die Zusage der Unfallfürsorge bzw. deren späterer Wegfall hat keine Auswirkungen auf die Vergangenheit. Insbesondere kann durch den Wegfall der beamtenähnlichen Fürsorge für einen bereits eingetretenen Leistungsfall nicht rückwirkend die Zuständigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung begründet werden249.

27.203

e) Reichweite der Versicherungsfreiheit Die Versicherungsfreiheit gilt nur, „soweit“ beamtenähnliche Unfallfürsorgevorschriften ein- 27.204 greifen, also ausschließlich für die von der Fürsorgezusage erfasste Tätigkeit. Die Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Unfallversicherung ist damit nicht personen-, sondern streng tätigkeitsbezogen. Unfälle, die als Dienstunfälle der versicherungsfreien Tätigkeit zuzurechnen sind, unterfallen daher grundsätzlich nicht der gesetzlichen Unfallversicherung; bei einem Dienstunfall geht die Unfallfürsorge dem Unfallversicherungsschutz vor250. Dies gilt auch dann, wenn die beamtenrechtlichen Grundsätze im Einzelfall keine Leistungen vorsehen251 oder wenn der Arbeitnehmer später aus der privilegierten Tätigkeit ausscheidet252. Anderweitige Tätigkeiten des Arbeitnehmers, etwa im Rahmen einer nicht dienstlich veranlassten Abordnung oder einer Nebentätigkeit, sind demgegenüber eigenständig danach zu beurteilen, ob sie gemäß § 2 SGB VII dem Anwendungsbereich der gesetzlichen Unfallversicherung unterfallen253. Unfälle, die außerhalb der versicherungsfreien Beschäftigung eintreten, können daher in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert sein254.

27.205

2. Versorgungsleistungen bei außerdienstlichen Unfällen Arbeitnehmer mit beamtenähnlicher Unfallfürsorge, die einen Versicherungsfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung erleiden, der keinen Dienstunfall darstellt, erhalten Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

27.206

Auch in diesen Fällen wird jedoch eine Angleichung an den beamtenrechtlichen Leistungsstandard angestrebt und insbesondere eine Doppelversorgung im Sinne einer Kumulation von Leistungen nach beamtenrechtlichen Vorschriften und Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ausgeschlossen. Zum einen werden in diesen Fällen gemäß § 82 Abs. 4

27.207

249 250 251 252 253

BSG v. 26.5.1966 – 2 RU 222/61, SozR Nr. 6 zu § 541 RVO aF. BVerwG v. 15.11.2007 – 2 C 24/06, ZTR 2008, 231. Becker/Franke/Molkentin/Ziegler, § 4 SGB VII Rz. 2. BSG v. 10.2.1972 – 1 RA 85/71, SozR Nr. 7 zu § 1252 RVO. BSG v. 13.12.1984 – 2 RU 83/83, HV-Info 1985, 40; v. 16.5.1984 – 9b RU 68/82, SozR 2200 § 636 Nr. 2; v. 26.7.1977 – 8 RU 94/76, SozR 2200 § 539 Nr. 38; v. 10.12.1975 – 8 RU 268/74, SozR 2200 § 539 Nr. 13; Lauterbach/Watermann/Breuer/Schwerdtfeger, § 4 SGB VII Rz. 8; Lilienfeld in Kasseler Kommentar, § 4 SGB VII Rz. 2. 254 Zur Haftungsprivilegierung gem. § 104 SGB VII bei gleichzeitigem Dienst- und Arbeitsunfall vgl. BSG v. 16.5.1984 – 9b RU 68/82, SozR 2200 § 636 Nr. 2; Becker/Franke/Molkentin/Ziegler, § 4 SGB VII Rz. 13; Lauterbach/Watermann/Breuer/Schwertfeger, § 4 SGB VII Rz. 9.

Oberthür

1059

§ 27 Rz. 27.207

Sozialversicherungsrechtliche Besonderheiten

SGB VII bei der Bemessung der Versorgungsleistungen lediglich die ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge, die auch der Berechnung eines Unfallruhegehalts zugrunde zu legen wären, berücksichtigt. Zum anderen wird die Leistungspflicht des Unfallversicherungsträgers gemäß § 61 Abs. 1 SGB VII dadurch begrenzt, dass eine Rente nur insoweit auszuzahlen ist, als sie im Einzelfall die Dienst- oder Versorgungsbezüge übersteigt; dabei bleibt der Rentenanspruch jedoch mindestens in der Höhe des Betrages erhalten, der im Falle eines Dienstunfalls nach beamtenrechtlichen Vorschriften als Unfallausgleich beansprucht werden könnte.

27.208 Arbeitnehmer, die dem Anwendungsbereich des § 4 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII unterfallen, sind demnach bei außerdienstlichen Unfällen schlechter gestellt als andere Versicherte. Dies ist zwar verfassungsgemäß255, führt allerdings dazu, dass die einschränkenden Regelungen der §§ 61 Abs. 1, 82 Abs. 4 SGB VII als Ausnahmevorschriften einem engen Anwendungsbereich unterliegen. Insbesondere kommt eine entsprechende Anwendung auf Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes in Tätigkeiten, in denen sie keinen Anspruch auf Heilfürsorge besitzen, nicht in Betracht256.

255 BSG v. 27.8.1981 – 2 RU 41/79, HVGBG RdSchr VB 241/81. 256 BSG v. 27.3.1990 – 2 RU 43/98, HV-Info 1990, 1215.

1060

Oberthür

§ 28 Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst I. Stellung der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes im System der betrieblichen Altersversorgung . . . . . . . . . . . . II. Versorgungsträger und historische Entwicklung . . . . . . . . . . . 1. Versorgungsträger . . . . . . . . . . . a) Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder . . . . . . . . b) Kommunale und kirchliche Zusatzversorgungskassen . . .

28.1 28.6 28.6 28.7 28.8

2. Historische Entwicklung . . . . . a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesamtversorgung . . . . . . . . c) Einführung der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes in den neuen Bundesländern . . . . . . . . . . . d) Entwicklung der Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Umstieg auf das Punktemodell . . . . . . . . . . . . . . . . .

28.25

III. Rechtliche Grundlagen . . . . . . .

28.31

1. Tarifliche Bestimmungen . . . . . a) TVöD . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Altersversorgungstarifvertrag (ATV/ATV-K) . . . . . . . . . . . . c) Unmittelbare Geltung der tarifvertraglichen Regelungen . d) Arbeitsvertragliche Inbezugnahme der Tarifnormen und betriebliche Übung . . . . . . . .

28.31 28.32

2. Satzungen der Versorgungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) VBL-Satzung . . . . . . . . . . . . . b) Zusatzversorgungskassen (AKA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Betriebsrentenrecht . . . . . . . . . a) Sonderregelungen für den öffentlichen Dienst (§ 18 BetrAVG) . . . . . . . . . . . aa) Anwendungsbereich von § 18 BetrAVG . . . . . . . . . bb) Grundsatz: Ausnahme zu den §§ 2, 2a, 5, 16, 27, 28 BetrAVG . . . . . . .

28.12 28.12 28.15

28.19 28.21

28.34 28.44 28.45 28.51 28.51 28.57 28.64 28.65 28.66 28.67

cc) Sonderregelung zur Portabilität . . . . . . . . . . . dd) Sonderregelung zur Höhe unverfallbarer Anwartschaften . . . . . . . ee) Sonderregelung zur Betriebsrentenanpassung . . ff) Sonderregelung zum Aufeinandertreffen mehrerer Versorgungsleistungen . . . . . . . . . . . . gg) Rechtsweg . . . . . . . . . . . hh) Sonderregelung für in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherungsfreie . . . . . . . . . . . . b) Insolvenzsicherung im Rahmen der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes (§ 17 Abs. 2 BetrAVG) . . . . . .

28.68 28.69 28.70

28.71 28.72

28.73

28.74

IV. Überblick über die Rechtsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . .

28.76

1. Arbeitgeber – Arbeitnehmer (das Grundverhältnis/Versorgungsverhältnis) . . . . . . . . . . . .

28.77

2. Arbeitgeber – Zusatzversorgungskasse (die Beteiligung/ Mitgliedschaft) . . . . . . . . . . . . .

28.84

3. Arbeitnehmer – Zusatzversorgungskasse (die Versicherung) .

28.88

V. Das Beteiligungsverhältnis . . . .

28.90

1. Voraussetzungen der Beteiligung/Mitgliedschaft . . . . . . . . a) Mögliche Beteiligte . . . . . . . . b) Anwendung des Tarifrechts für den öffentlichen Dienst oder eines Tarifrechts wesentlich gleichen Inhalts . . . . . . . c) Beteiligungsvereinbarung/ Aufnahme in die Zusatzversorgungskasse . . . . . . . . . . 2. Die Beendigung der Beteiligung/Ausstieg aus der Zusatzversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kündigung der Beteiligung durch den Arbeitgeber . . . . .

Betz-Rehm

28.90 28.90

28.96 28.98

28.100 28.102

1061

§ 28

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

b) Kündigung der Beteiligung/ Mitgliedschaft durch die Zusatzversorgungskasse . . . . aa) Ordentliche Kündigung bei Wegfall der Beteiligungsvoraussetzungen . bb) Außerordentliche Kündigung . . . . . . . . . . . . . . c) Beendigung der Beteiligung/ Mitgliedschaft aus sonstigen Gründen . . . . . . . . . . . . . . . .

28.103 28.104 28.106 28.113

3. Folgen des Ausscheidens eines Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.114 a) Ende der Pflichtversicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.114 b) Pflicht zur Zahlung des Gegenwerts/Ausgleichsbetrages . 28.116 aa) Hintergrund für die Verpflichtung zur Zahlung des Gegenwerts/Ausgleichsbetrages . . . . . . . . 28.117 bb) Berechnung des Gegenwerts/Ausgleichsbetrages . . . . . . . . . . . . . 28.118 cc) Berechnung bei Ausgliederung . . . . . . . . . . . . . . 28.121 dd) Entfallen/Minderung bei Fortsetzung der Pflichtversicherung . . . . . . . . . 28.122 ee) Keine Dispositionsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . 28.123 ff) Modalitäten der Berechnung/Zahlung . . . . . . . . 28.124 gg) Kritik an den Regelungen des Gegenwerts/des Ausgleichsbetrages und erste Neuregelung im Jahr 2012 . . . . . . . . . . . . 28.125 hh) Mängel der Neuregelung und weitere Neufassung 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . 28.125h ii) Lohnsteuerrechtliche und sozialversicherungsrechtliche Behandlung des Gegenwerts/Ausgleichsbetrages . . . . . . . . 28.126 c) Pflichten des Arbeitgebers gegenüber den Arbeitnehmern (Versorgungsverschaffungsanspruch) . . . . . . . . . . . . . . . 28.130 4. Die Fortsetzung der Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anwendungsfälle . . . . . . . . . .

1062

Betz-Rehm

28.133 28.133

b) Die besondere Beteiligungsvereinbarung und ihre Voraussetzungen („Verbleibemodell“) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das „Zäsurmodell“ . . . . . . . . d) Beteiligungsvereinbarung mit einem Arbeitgeber, der von einem Beteiligten Aufgaben und pflichtversicherte Beschäftigte übernommen hat („Ausgliederungsmodell“) . . .

28.134 28.136

28.141

5. Pflichten aus dem Beteiligungsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Pflicht zur Versicherung aller versicherungspflichtigen Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . b) Melde- und Informationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ordnungsgemäße Entrichtung der Umlagen und sonstiger Zahlungen zur Finanzierung der Zusatzversorgung . . . . . . . . . . . . . . d) Folge von Verstößen gegen die Pflichten . . . . . . . . . . . . .

28.155

VI. Die Pflichtversicherung . . . . . .

28.160

1. Versicherungspflicht . . . . . . . . . a) Personenkreis . . . . . . . . . . . . b) Beginn der Pflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ende der Pflichtversicherung d) Beitragsfreie Versicherung . . .

28.160 28.160

2. Betriebsrenten aus der Pflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . . . a) Leistungsarten und ihre Voraussetzungen . . . . . . . . . . b) Erfüllung der Wartezeit . . . . . c) Berechnung der Betriebsrenten nach dem Punktemodell . aa) Grundsatz . . . . . . . . . . . bb) Soziale Komponenten . . (1) Elternzeit gemäß § 15 BEEG sowie Mutterschutzzeiten gemäß §§ 3 Abs. 1, 2 MuSchG (§ 9 Abs. 1 ATV/ATV-K; § 37 Abs. 1 VBLS, § 35 Abs. 1 AKA-MS) . . . . . . (2) Zurechnungszeit bei Erwerbsminderung . . . . . . (3) Mindeststartgutschrift . .

28.145 28.147 28.148

28.154

28.167 28.168 28.169 28.171 28.172 28.178 28.182 28.182 28.186

28.187 28.188 28.189

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

d)

e) f)

g) h)

cc) Zusatzversorgungspflichtiges Entgelt . . . . . dd) Bonuspunkte . . . . . . . . . ee) Höhe der einzelnen Versorgungsleistungen . . . . Anpassung und Neuberechnung von Renten . . . . . . . . . aa) Anpassung der Betriebsrenten aus der Zusatzversorgung . . . . . . . . . . . bb) Neuberechnung . . . . . . . Ruhen und Nichtzahlung . . . Abfindung und Beitragserstattung . . . . . . . . . . . . . . . aa) Abfindung . . . . . . . . . . . bb) Beitragserstattung . . . . . Erlöschen des Anspruchs auf Betriebsrente . . . . . . . . . . Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . aa) Antrag/Entscheidung/ Zahlung . . . . . . . . . . . . . bb) Pflichten der Versicherten (Anzeigepflichten, Rückzahlungspflicht, Abtretungsverbot, Schadensersatz gegen Dritte) cc) Versicherungsnachweise . dd) Ausschlussfristen . . . . . .

3. Übergangsvorschriften im Zusammenhang mit der Umstellung auf das Punktemodell . . . . a) Überblick zur Systemumstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundsätzliche Rechtmäßigkeit der Systemumstellung . . c) Am 31.12.2001 bzw. 1.1.2002 Rentenberechtigte . . . . . . . . . d) Anwartschaftsberechtigte zum Stichtag 31.12.2001 (Startgutschriften) . . . . . . . . aa) Allgemeine Grundsätze der Anwartschaftsberechnung . . . . . . . . . . bb) Pflichtversicherte der rentennahen Jahrgänge . cc) Pflichtversicherte der rentenfernen Jahrgänge . dd) Beitragsfrei Versicherte . ee) Einwände gegen die Berechnung der Startgutschriften . . . . . . . . . . . . .

28.190 28.195 28.197 28.202 28.202 28.203 28.205 28.212 28.212 28.213 28.214 28.215 28.215

28.219 28.224 28.226

28.231

§ 28

ff) Rechtsprechung zu den Startgutschriften der rentenfernen Versicherten . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.253 gg) Rechtsprechung zu den Startgutschriften der rentennahen Versicherten . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.257 hh) Rechtsprechung zu den Startgutschriften der beitragsfrei Versicherten . 28.259b 4. Die Finanzierung der Pflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . . . a) Umlageverfahren . . . . . . . . . . b) Sanierungsgelder . . . . . . . . . . c) Beiträge im Kapitaldeckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . d) Besonderheiten im Abrechnungsverband Ost der VBL . . e) Beteiligung der Arbeitnehmer an der Finanzierung . . . . f) Schuldner der Aufwendungen für die Pflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Steuer- und sozialversicherungsrechtliche Behandlung der Aufwendungen für die Pflichtversicherung . . . . . . . . aa) Umlage . . . . . . . . . . . . . bb) Beiträge im Kapitaldeckungsverfahren . . . . . cc) Sanierungsgelder . . . . . .

28.260 28.262 28.263 28.266 28.269 28.272 28.277

28.278 28.278 28.281 28.284

28.231

VII. Die freiwillige Versicherung . . .

28.286

28.233

1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsgrundlagen und Arten der freiwilligen Versicherung . b) Finanzierung der freiwilligen Versicherung und Versicherungsnachweis . . . . . . . . . . . . c) Steuer- und sozialversicherungsrechtliche Behandlung der Aufwendungen für die freiwillige Versicherung . . . . . d) Unverfallbarkeit und Portabilität . . . . . . . . . . . . . . e) Beitragsfreistellung, Kündigung und Abfindung . . . . . . .

28.286

28.234 28.239 28.241 28.243 28.247 28.249 28.250

2. Freiwillige Versicherung in Anlehnung an das Punktemodell . a) Grundsätze zur Berechnung der Leistungen . . . . . . . . . . . .

Betz-Rehm

28.286 28.287

28.291 28.293 28.296 28.297 28.298

1063

§ 28

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

b) Versorgungsleistungen – Flexibilität der freiwilligen Versicherung . . . . . . . . . . . . .

28.299

3. Freiwillige fondsgebundene Rentenversicherung . . . . . . . . . a) Beitragszusage mit Mindestleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mindest-/Höchsteintrittsalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Versorgungsleistungen . . . . .

28.302

VIII. Rechtsweg . . . . . . . . . . . . . . . . .

28.305

28.302

28.303 28.304

1. Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28.306

2. Zuständigkeit der Arbeitsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28.308

3. Zuständigkeit der Schiedsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . a) Die Schiedsgerichtsbarkeit der VBL . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zuständigkeit der Schiedsgerichte der VBL . . . . . . . . . . c) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . .

28.309 28.310 28.311 28.312

Schrifttum: Ackermann, Rechtsprechung des OLG Karlsruhe zur Unverbindlichkeit der Startgutschriften für die sog. rentenfernen Beschäftigten im öffentlichen Dienst, BetrAV 2006, 247; Blomeyer/ Rolfs/Otto, Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, Kommentar, 7. Aufl. 2018; Fieberg, Neue Betriebsrente im öffentlichen Dienst, BetrAV 2002, 230; Fischer, 15 Jahre später: VBLStartgutschriften noch immer unwirksam, NZA 2016, 808; Freyer, Neuere Rechtsprechung zur Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes, BetrAV 2012, 481; Gilbert/Hesse, Die Versorgung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes unter besonderer Berücksichtigung der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder, Loseblatt-Kommentar; Höfer u.a., Betriebsrentenrecht Bd. I: Arbeitsrecht, Loseblatt-Kommentar; Höfer/Ververs, Mögliche Entwicklung der Umlagesätze der VBL, DB 2005, 2203; Hügelschäffer, Die Startgutschriften der Zusatzversorgungseinrichtungen des öffentlichen und kirchlichen Dienstes auf dem Prüfstand, BetrAV 2004, 354; Hügelschäffer, Die Neuregelung des Ausgleichsbetrags im kommunalen und kirchlichen Bereich, BetrAV 2013, 310; Hügelschäffer, Zweifel an der sozialversicherungsrechtlichen Behandlung von Umlagezahlungen, BetrAV 2008, 160; Hügelschäffer, Die Entscheidung des BGH zur Systemumstellung in der Zusatzversorgung des öffentlichen und kirchlichen Dienstes – eine Zwischenbilanz, BetrAV 2008, 254; Hügelschäffer, Die Tarifeinigung im öffentlichen Dienst zu den Startgutschriften, BetrAV 2011, 613; Hügelschäffer, Die Arbeitnehmerbeteiligung im öffentlichen und kirchlichen Dienst, BetrAV 2011, 696; Hügelschäffer, Zusatzversorgung des öffentlichen und kirchlichen Dienstes, in: Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Loseblatt; Kiefer/Langenbrinck/Kulok, Betriebliche Altersversorgung im öffentlichen Dienst, Loseblatt-Kommentar; Konrad, Reform der Zusatzversorgung – Ende des Streits um die Startgutschriften in Sicht, ZTR 2008, 296; Krusche, Die Neuregelung zu den Startgutschriften der rentenfernen Versicherten im öffentlichen Dienst, BetrAV 2012, 41; Künstle, Zum verunglückten Rechenverfahren der Nachbesserung (?) von Startgutschriften, BetrAV 2012, 438; Langenbrinck/Mühlstädt, Betriebsrente der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, 3. Aufl. 2007; Preis/Temming, Verfassungsrechtliche Probleme der neuen betrieblichen Altersversorgung im öffentlichen Dienst, ZTR 2003, 262; Recktenwald/ Stade, Ausstieg aus der öffentlich-rechtlichen Zusatzversorgung, BB 2005, 2126; Reschka, Die Gegenwertforderung der VBL – Rechtsprechung und Neuregelung, ZTR 2013, 171; Schipp, Ausstieg aus der Zusatzversorgung, RdA 2001, 150; Schipp, Arbeitsrechtliche Probleme bei der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, NZA 1994, 865; Schipp/Wortmann, Neue Regeln beim Ausstieg aus der Zusatzversorgung bei der VBL?, NZA 2010, 546; Stebel, Neuere Rechtsprechung zur Zusatzversorgung, BetrAV 2004, 333; Stürmer, Der Rechtsweg in Fragen der Zusatzversorgung, NJW 2004, 2480; VBL (Hrsg.), VBL – Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder, Zukunft durch Wandel, Festschrift 75 Jahre VBL, abrufbar über www.vbl.de (Die VBL/Daten, Fakten, Geschichte), zit.: FS 75 Jahre VBL; Wagner, Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst – Schaffung einer verfassungskonformen Neuregelung der Satzung der VBL?, BetrAV 2008, 153; Wegner-Wahnschaffe, Die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes im Kontext veränderter Rahmenbedingungen ihrer Mitglieder, ZTR 2004, 395; Wein, In Erwartung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Reform der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes, BetrAV 2006, 331; Wein, Aktuelle Rechtsprechung in der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes, BetrAV 2007, 537; Wein, Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den Startgutschriften, BetrAV 2008, 451.

1064

Betz-Rehm

Stellung der Zusatzversorgung im System der betriebl. Altersversorgung

Rz. 28.5 § 28

I. Stellung der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes im System der betrieblichen Altersversorgung Das Recht der betrieblichen Altersversorgung ist seit dem Jahr 1974 im Gesetz zur Verbes- 28.1 serung der betrieblichen Altersversorgung (Betriebsrentengesetz, BetrAVG) kodifiziert. Wesentliche Regelungsgegenstände des BetrAVG sind insbesondere die Unverfallbarkeit von Versorgungsanwartschaften im Falle vorzeitigen Ausscheidens vor Eintritt eines Versorgungsfalles und die Höhe solcher unverfallbarer Anwartschaften (§§ 1b, 2, 2a BetrAVG), das Verbot der Abfindung von unverfallbaren Versorgungsanwartschaften und laufenden Rentenzahlungen (§ 3 BetrAVG), die Regelungen zum Auszehrungsverbot und zur Anrechnung von anderen Versorgungsleistungen (§ 5 BetrAVG), die Insolvenzsicherung (§§ 7 bis 15 BetrAVG) sowie die Regelungen zur Anpassung laufender Rentenleistungen (§ 16 BetrAVG)1. Eine weitere wesentliche Grundlage des Rechts der betrieblichen Altersversorgung ist seit jeher die Rechtsprechung der Arbeitsgerichtsbarkeit, insbesondere des BAG. Bereits vor Inkrafttreten des BetrAVG hatte das BAG mit verschiedenen Grundsatzentscheidungen wesentlich zur Gestaltung der Grundlagen der betrieblichen Altersversorgung beigetragen. Nicht zuletzt als Reaktion hierauf und auf dieser Basis erfolgte die gesetzliche Kodifizierung der betrieblichen Altersversorgung im BetrAVG. Auch seit Inkrafttreten des BetrAVG trägt das BAG durch seine Rechtsprechung fortlaufend wesentlich zur Gestaltung des Rechts der betrieblichen Altersversorgung bei.

28.2

Die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes ist die betriebliche Altersversorgung der 28.3 Beschäftigten (Angestellte und Arbeiter) des öffentlichen Dienstes. Sie ist das mit Abstand größte System betrieblicher Altersversorgung in Deutschland (zum Bestand der beteiligten Arbeitgeber sowie der Versicherten s. Rz. 28.7 und Rz. 28.8). Wesentliche Grundlagen dieses Versorgungssystems sind die Versorgungstarifverträge des öffentlichen Dienstes (s. Rz. 28.31 ff.) und die Satzungen der jeweiligen Zusatzversorgungseinrichtungen (s. Rz. 28.51 ff.). Prägend für die Entwicklung der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes waren und sind darüber hinaus die Rechtsprechung der Zivilgerichtsbarkeit (zur Zuständigkeit der Zivilgerichtsbarkeit aufgrund der Einstufung der Versorgung über die Zusatzversorgungskassen des öffentlichen Dienstes als privatrechtlicher Versicherungsvertrag s. Rz. 28.84 ff.), insbesondere des OLG Karlsruhe2 und des BGH sowie nicht zuletzt auch einige Grundsatzentscheidungen des BVerfG.

28.4

Die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes steht dabei nicht grundsätzlich außerhalb des Anwendungsbereiches des im BetrAVG kodifizierten Betriebsrentenrechts. Gemäß § 17 Abs. 1 BetrAVG erstreckt sich der persönliche Geltungsbereich des BetrAVG auf alle Arbeitnehmer, also auch auf solche des öffentlichen Dienstes. Allerdings hatte der Gesetzgeber aufgrund der Besonderheiten der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des BetrAVG bereits his-

28.5

1 Grundlegend zum Recht der betrieblichen Altersversorgung die Kommentierung bei Höfer, Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung Bd. I; Blomeyer/Rolfs/Otto, Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, 7. Aufl. 2018. 2 Aufgrund des Sitzes der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL), der größten Zusatzversorgungseinrichtung des öffentlichen Dienstes, in Karlsruhe kommt der Rechtsprechung des insoweit regelmäßig in der Berufungsinstanz zuständigen OLG Karlsruhe eine erhebliche Bedeutung zu.

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§ 28 Rz. 28.5

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

torisch gewachsenen und tarifvertraglich geregelten Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes in § 18 BetrAVG Sonderregelungen für diesen Bereich geschaffen, die den Besonderheiten Rechnung tragen sollten (s. Rz. 28.65 ff.). § 17 Abs. 2 BetrAVG enthält schließlich eine Ausnahme von der Insolvenzsicherungspflicht (§§ 7 bis 15 BetrAVG) für bestimmte Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes, bei denen keine Insolvenzgefahr besteht (s. Rz. 28.74 ff.).

II. Versorgungsträger und historische Entwicklung 1. Versorgungsträger

28.6 Aufgrund der geschichtlichen Entwicklung der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst und entsprechend der föderalen Struktur existieren in der Bundesrepublik Deutschland verschiedene Einrichtungen zur Durchführung der Zusatzversorgung. Die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder („VBL“) führt die Zusatzversorgung für die Arbeiter und Angestellten des Bundes und der meisten Länder durch. Soweit in einzelnen Ländern keine kommunalen Zusatzversorgungskassen bestehen – vor allem im Nordwesten –, ist die VBL auch für den kommunalen Bereich zuständig (so zB in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Teilen Nordrhein-Westfalens). In den meisten Bundesländern existieren jedoch kraft Landesrecht kommunale Gebietskassen, in einigen Bundesländern auch Stadtkassen. Für den kirchlichen Bereich, der das Zusatzversorgungsrecht des öffentlichen Dienstes in weiten Teilen übernahm, bestehen kirchliche Zusatzversorgungskassen. Nach ihrem Regelungscharakter und der Gestaltung der Rechtsverhältnisse handelt es sich bei den Zusatzversorgungskassen zumindest im arbeits- und steuerrechtlichen Sinn um Pensionskassen3 iSv. § 1b Abs. 3 BetrAVG. a) Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder

28.7 Die größte der 25 bestehenden Zusatzversorgungseinrichtungen für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik Deutschland ist die VBL mit Sitz in Karlsruhe. An der VBL sind insgesamt ca. 5300 Arbeitgeber beteiligt (neben dem Bund und den Ländern rund 1600 kommunale Arbeitgeber, ca. 35 Träger der Sozialversicherung und etwa 3600 sonstige Arbeitgeber). Der Bestand der Versicherten der VBL umfasst ca. 1,95 Mio. Pflichtversicherte und ca. 2,65 Mio. beitragsfrei versicherte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ca. 1,4 Mio. Leistungsempfänger4. Die VBL ist eine rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts (vgl. § 1 der Satzung der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder, „VBLS“). Es handelt sich um eine von Bund und Ländern gemeinsam getragene Einrichtung5, die unter der Aufsicht des Bundesministeriums der Finanzen steht (vgl. § 3 Abs. 1 VBLS, für den Abrechnungsverband der freiwilligen Versicherung ist gemäß § 3 Abs. 3 VBLS die BaFin die zuständige Aufsichtsbehörde). Zweck der Anstalt ist es, den Beschäftigten der Beteiligten im Wege privatrechtlicher Versicherung eine

3 Blomeyer/Rolfs/Otto, § 18 BetrAVG Rz. 7. 4 Quelle: „Die VBL auf einen Blick“ unter www.vbl.de, Stand Dezember 2018. 5 Zu Gründung und Fortbestand der VBL als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts vgl. Gilbert/Hesse, Erläuterungen zu § 1 VBLS; Gründungsverfügung v. 26.2.1929; Ländervereinbarung v. 26.3.1949; Erlass des BMF betr. Aufsicht über die Zusatzversorgungsanstalt des Reichs und der Länder und Beteiligung des Bundes an der Anstalt vom 23.5.1950 (jeweils abgedruckt bei Gilbert/ Hesse).

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Versorgungsträger und historische Entwicklung

Rz. 28.11 § 28

zusätzliche Alters-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenversorgung zu gewähren (vgl. § 2 Abs. 1 VBLS)6. b) Kommunale und kirchliche Zusatzversorgungskassen Für den kommunalen und kirchlichen Bereich bestehen insgesamt 22 kommunale und kirchliche Zusatzversorgungseinrichtungen (13 Gebietskassen, drei Stadtkassen, zwei Sparkasseneinrichtungen, drei evangelische Kassen und eine bundesweit tätige katholische Kasse). Sie betreuen über 40 000 kommunale und kirchliche Arbeitgeber, versichert sind mehr als 7,6 Millionen Arbeitnehmer, davon über 3,6 Millionen Pflichtversicherte. Über 1,5 Millionen Rentner haben im Jahr 2017 Versorgungsleistungen erhalten7.

28.8

Diese Zusatzversorgungskassen sind üblicherweise entweder als unabhängige Einrichtungen 28.9 (zB Anstalten des öffentlichen Rechts) oder als Sondervermögen der Beamtenversorgungskassen oder der kommunalen Verwaltung großer Städte organisiert. Basierend auf den jeweiligen landesrechtlichen Rechtsgrundlagen unterstehen diese Zusatzversorgungseinrichtungen üblicherweise der Aufsicht durch das Innenministerium des jeweiligen Bundeslandes (vgl. zB § 1 Abs. 1 der Satzung der Zusatzversorgungskasse der bayerischen Gemeinden). Jede dieser Zusatzversorgungseinrichtungen hat kraft ihrer Satzungsautonomie eine Satzung erlassen, in der jeweils die Organisation der Einrichtung, Fragen der Mitgliedschaft, die Finanzierung, das Leistungsrecht sowie Verfahrensfragen geregelt sind. Diese Zusatzversorgungseinrichtungen sind in der Arbeitsgemeinschaft kommunale und kirchliche Altersversorgung (AKA) e.V. („AKA“) in deren „Fachvereinigung Zusatzversorgung“ zusammengeschlossen.

28.10

Aufgabe der AKA ist es, auf eine gleichmäßige Durchführung der Zusatzversorgung im kommunalen und kirchlichen Bereich hinzuwirken, insbesondere durch Vereinheitlichung des Satzungsrechts der Zusatzversorgungseinrichtungen. Zu diesem Zweck ist auf der Ebene des Verbandes AKA eine Mustersatzung („AKA-MS“) erlassen und durch mehrfache Änderungen aktualisiert worden. Diese Mustersatzung bzw. deren Änderungen werden von den jeweiligen Zusatzversorgungskassen regelmäßig für ihren Bereich übernommen. Die regionale Zuständigkeit der einzelnen kommunalen Zusatzversorgungseinrichtungen erstreckt sich teilweise auf das jeweilige Bundesland, teilweise aber auch auf bestimmte Regionen eines Bundeslandes sowie übergreifend auf bestimmte Gebiete mehrerer Bundesländer. Hinweise zu den einzelnen kommunalen Zusatzversorgungseinrichtungen (mit Anschrift und Kontaktdaten) und deren regionalen Zuständigkeitsbereichen können auf der Homepage der AKA abgerufen werden8. Für die Zuständigkeit entscheidend sind dabei die jeweiligen gesetz6 Wichtige weiterführende Hinweise zur VBL können auf deren Homepage unter www.vbl.de abgerufen werden, ua. zu den Rechtsgrundlagen (Satzung der VBL, Versorgungstarifverträge), aktuelle Informationen und Rundschreiben, Hinweise auf Rechtsprechung zur Zusatzversorgung sowie Verweise auf Fachliteratur zu aktuellen Themen der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst. Die Anschrift der VBL lautet: Hans-Thoma-Str. 19, 76133 Karlsruhe (Telefon: 0721/155-0, Telefax: 0721/155-666). 7 Quelle: „Fachvereinigung Zusatzversorgung“ unter www.aka.de (Zusatzversorgung). 8 Auflistung unter www.aka.de (Zusatzversorgung/Kommunale Zusatzversorgungskassen). Dort finden sich auch weitergehende informative Hinweise zu den in der AKA organisierten Zusatzversorgungseinrichtungen. Neben den bereits genannten Kontaktdaten der einzelnen Zusatzversorgungseinrichtungen sind hier die Mustersatzung der AKA sowie aktuelle Rechtsprechung zur

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28.11

§ 28 Rz. 28.11

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

lichen Grundlagen und die Satzungen der Zusatzversorgungseinrichtungen (die üblicherweise über die Homepage der jeweiligen Zusatzversorgungseinrichtung abgerufen werden können). 2. Historische Entwicklung a) Allgemein

28.12 Die Geschichte der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst ist eng verknüpft mit der Entwicklung der staatlichen und hoheitlichen Aufgaben und reicht dabei bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Bei Bahn und Post wurden damals erste Zusatzversorgungseinrichtungen zur Versorgung von deren nicht verbeamteten Arbeitern errichtet, während ansonsten die hoheitlichen Aufgaben im nichttechnischen Bereich überwiegend noch durch Beamte wahrgenommen wurden. Mit der Ausweitung der hoheitlichen und öffentlichen Aufgaben nahm jedoch auch die Zahl der nicht verbeamteten Beschäftigten der öffentlichen Hand zu. Ziel der Zusatzversorgung war es, für diese Personengruppe zusätzlich zur damals noch geringen gesetzlichen sozialen Absicherung eine Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversorgung zu gewähren, um den Abstand zur Versorgung der Beamten zu verringern und um die Beschäftigten dadurch stärker an den Staat zu binden9. Seit 1900 entstanden vor diesem Hintergrund in fast allen größeren Städten kommunale Versorgungseinrichtungen, die jedoch noch ganz unterschiedliche Leistungen erbrachten.

28.13 Nach vorangegangenen Verhandlungen zwischen dem Reichsminister der Finanzen und Berufsvertretungen bzw. Gewerkschaften über die Einführung einer zusätzlichen Versicherung der Arbeiter der staatlichen Verwaltungen wurde am 26.2.1929 die Rechtsvorgängerin der heutigen VBL, die Zusatzversorgungsanstalt des Reichs und der Länder („ZRL“) in Berlin gegründet10. Versichert waren zunächst nur die Arbeiter, seit 1933 bestand auch für angestelltenversicherungspflichtige Arbeitnehmer die Möglichkeit einer Versicherung bei der ZRL. Mit Wirkung ab 1.1.1944 waren alle Angestellten ausschließlich bei der ZRL zu versichern11. Im kommunalen Bereich wurden auf der Grundlage des seit April 1938 geltenden einheitlichen Reichstarifrechts und der „Allgemeinen Dienstordnung“ Ende der 30er/Anfang der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts eine Reihe von kommunalen Zusatzversorgungskassen gegründet, die teilweise auch heute noch bestehen12.

28.14 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war die ZRL von Berlin nach Amberg/Oberpfalz umgesiedelt. Von dort wurde der Geschäftsbetrieb der Zusatzversorgung – erschwert durch die Unterteilung Deutschlands in die Besatzungszonen – wieder aufgenommen. Dies erfolgte nach Untergang des Reichs als Hauptträger der ZRL zunächst nur für die neu gebildeten Länder,

9 10 11 12

Zusatzversorgung und weiterführende Veröffentlichungen zu aktuellen Themen der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst abrufbar. Die Anschrift der AKA lautet: Arbeitsgemeinschaft kommunale und kirchliche Altersversorgung e.V., Denninger Straße 37, 81925 München (Telefon: 089/9235-8500, Telefax 089/9235-8599). FS 75 Jahre VBL, S. 12. Zur Gründung der ZRL/VBL als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts vgl. die Erläuterungen bei Gilbert/Hesse zu § 1 VBLS; Gründungsverfügung v. 26.2.1929 (abgedruckt bei Gilbert/ Hesse). FS 75 Jahre VBL, S. 13–27; Gilbert/Hesse, Einl. Rz. 5–14. Gilbert/Hesse, Einl. Rz. 15; Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 6 f.

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Versorgungsträger und historische Entwicklung

Rz. 28.17 § 28

wobei eine Fortführung in der sowjetischen Besatzungszone nicht möglich war. Nachdem im Laufe des Jahres 1948 wieder der gesamte Aufgabenbereich in den drei westlichen Zonen von der Anstalt verwaltet wurde, schlossen die Länder der westlichen Besatzungszonen 1949 eine Vereinbarung, in der festgelegt wurde, die ZRL als Anstalt öffentlichen Rechts fortzuführen. Nach Inkrafttreten des GG übernahm im Mai 1950 der Bund durch das BMF die Aufsicht über die Anstalt und wurde „Mitträger“. In der ersten konstituierenden Sitzung des Verwaltungsrats am 11.1.1951 wurden die neue Satzung und die Namensänderung in „Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder“ beschlossen. 1952 verlegte die VBL ihren Sitz nach Karlsruhe13. b) Gesamtversorgung Das bis 1967 geltende Leistungsrecht der Zusatzversorgung beinhaltete eine statische Zu- 28.15 satzversorgungsrente bestehend aus einem Grundbetrag von 19,5 % des beitragspflichtigen Durchschnittsentgelts der letzten fünf Jahre und Steigerungsbeträgen von 0,38 % der gesamten beitragspflichtigen Arbeitsentgelte, was zu einer (nicht dynamischen) Zusatzversorgung von 21 % bis 26 % der letzten Bruttovergütung unabhängig und zusätzlich zur gesetzlichen Rentenversicherung führte14. Durch die Einführung der dynamischen Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung und aufgrund der Tatsache, dass die Angestellten vor 1944 regelmäßig in der Angestelltenrentenversicherung überversichert waren, kam es insbesondere bei Arbeitnehmern mit Einkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung häufig zu einer Überversorgung, während Arbeitnehmer mit einem Einkommen über der Beitragsbemessungsgrenze häufig eine Unterversorgung hinnehmen mussten. Nach mehreren Jahren Vorarbeit wurde am 4.11.1966 der Tarifvertrag über die Versorgung 28.16 der Arbeitnehmer des Bundes und der Länder sowie von Arbeitnehmern kommunaler Verwaltungen und Betriebe (Versorgungs-TV) für den Bereich der VBL und am 6.3.1967 der Tarifvertrag über die Versorgung der Arbeitnehmer kommunaler Verwaltungen und Betriebe (VersTV-G) für den Bereich der kommunalen Zusatzversorgungskassen mit Wirkung zum 1.1.1967 abgeschlossen. Darin einigten sich die Tarifparteien auf die Einführung einer Gesamtversorgung im Rahmen eines der Beamtenversorgung angenäherten Modells. Die Satzungen der VBL und der kommunalen Zusatzversorgungseinrichtungen wurden entsprechend angepasst. Auf dieser Basis bestand nunmehr für Bund, Länder und Gemeinden über die VBL und die jeweiligen kommunalen Zusatzversorgungseinrichtungen inhaltlich ein einheitliches Zusatzversorgungssystem. Für Arbeitnehmer, die bis zum Rentenbeginn im öffentlichen Dienst verblieben, wurde durch die sog. Versorgungsrente die Rente aus der Grundversorgung (üblicherweise der gesetzlichen Rentenversicherung) auf 35 % bis zu 75 % des letzten Bruttogehalts (Durchschnitt der letzten drei Kalenderjahre vor Eintritt des Versorgungsfalls) aufgestockt, ansteigend mit der Dauer der Dienstzeit. Als versorgungsfähige Zeit wurden dabei die mit Umlagen belegten Versicherungszeiten und zusätzlich die Hälfte der darüber hinausgehenden Rentenversicherungszeiten (sog. „Halbanrechnungsverfahren“15) berücksichtigt. Als Versorgungsrente wurde die 13 FS 75 Jahre VBL, S. 33–35; Gilbert/Hesse, Einl. Rz. 15–21. 14 Fieberg, BetrAV 2002, 230 (231) mwN; Gilbert/Hesse, Einl. Rz. 14. 15 Dieses Halbanrechnungsverfahren wurde vom BVerfG durch die sog. „Halbanrechnungsentscheidung“ v. 22.3.2000 – 1 BvR 1136/96, NJW 2000, 3341 = AP Nr. 27 zu § 18 BetrAVG, für die Zeit nach 2000 als verfassungswidrig eingestuft. Für Versorgungsrentner mit Rentenbeginn bis einschließlich 1.1.2002 ist das Halbanrechnungsverfahren nach der Rechtsprechung des BGH (BGH

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28.17

§ 28 Rz. 28.17

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Differenz zwischen der Gesamtversorgung und der gesetzlichen Rente geleistet. Die Versorgungsrente war dynamisiert entsprechend den Beamtenpensionen. Arbeitnehmer, die vor Eintritt eines Versorgungsfalles aus dem öffentlichen Dienst ausschieden oder deren Arbeitgeber das System der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes verließ, erhielten demgegenüber lediglich eine deutlich niedrigere sog. Versicherungsrente auf der Basis des versicherungsmathematischen Barwerts der eingezahlten Beiträge und Umlagen. Anders als die dynamische Versorgungsrente war die Versicherungsrente nur statisch.

28.18 In der Folgezeit wurden einige systembedingte Schwächen und Fehlentwicklungen der Zusatzversorgung deutlich, die zu Überversorgungen führten und daher korrigiert wurden: Während zunächst im Rahmen der Gesamtversorgung die gesetzliche Rente nur in Höhe des Betrages ihrer erstmaligen Rentenfestsetzung Berücksichtigung fand, erfolgte seit 1982 eine Anrechnung der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung in ihrer jeweils aktuellen Höhe (sog. „Spitzanrechnung“). Unstimmigkeiten entstanden auch durch die seit Mitte der 70er Jahre erfolgten stetigen Steigerungen der Steuern und Sozialabgaben, durch die sich das Verhältnis zwischen Brutto- und Nettoeinkommen deutlich verschob. Diese Entwicklung wurde bei der Berechnung der bruttolohnbezogenen Gesamtversorgung nicht berücksichtigt. Deshalb erfolgte im Jahr 1983 ein Systemwechsel von der Brutto- auf eine Nettogesamtversorgung. Die Gesamtversorgung von weiterhin maximal 75 % des Bruttoeinkommens wurde auf 91,75 % des fiktiv berechneten letzten Nettogehalts begrenzt16. Zur Wahrung von Besitzständen wurden Übergangsvorschriften vorgesehen, insbesondere wurde die Differenz zwischen der Bruttoversorgung und der Nettoversorgung festgestellt und zunächst als Ausgleichsbetrag fortgezahlt, der erst im Laufe von Erhöhungen der Nettoversorgung aufgezehrt wird17. Schließlich wurde zum Ende des Jahres 1991 in Anlehnung an die entsprechenden Änderungen bei der Beamtenversorgung eine lineare Staffelung der Versorgungssätze eingeführt. c) Einführung der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes in den neuen Bundesländern

28.19 Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 wurde nach längeren Vorbereitungsarbeiten die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes in den neuen Bundesländern zum 1.1.1997 flächendeckend eingeführt. Hierdurch erweiterte sich der Versichertenbestand allein der VBL um ca. 480.000 Pflichtversicherte18. Entsprechend der Zuständigkeitsverteilung im Westen erfolgte eine Versicherung der Arbeitnehmer der neuen Bundesländer (inkl. Ostberlin) bei der VBL. Die kommunalen Beschäftigten wurden bei den neu gegründeten Zusatzversorgungskassen Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen versichert. Zwar waren der Bund und die Länder auf der Basis des Einigungsvertrages in die bestehenden Arbeitsverhältnisse der Verwaltungen der DDR eingetreten. Die Anwartschaften aus den v. 26.11.2003 – IV ZR 186/02, BetrAV 2004, 188 ff.; v. 10.11.2004 – IV ZR 391/02, NVwZ-RR 2005, 365 f.) jedoch weiterhin zulässig. Diese Rechtsprechung des BGH wurde zwischenzeitlich durch das BVerfG (Beschl. v. 18.4.2008 – 1 BvR 759/05, NJOZ 2008, 3454) bestätigt, das eine dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hat. 16 Zu diesen systembedingten Unstimmigkeiten vgl. FS 75 Jahre VBL, S. 57; Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 13; Fieberg, BetrAV 2002, 230 (232). 17 Vgl. hierzu § 97d der VBL-Satzung in deren bis 31.12.2000 geltenden Fassung, abgedruckt bei Gilbert/Hesse. 18 FS 75 Jahre VBL, S. 63.

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Versorgungsträger und historische Entwicklung

Rz. 28.21 § 28

Zusatzversorgungssystemen der DDR waren in die gesetzliche Rentenversicherung überführt worden. Der Eintritt in die bestehenden Arbeitsverhältnisse bedeutete aber nicht, dass die Beschäftigten der DDR-Verwaltungen automatisch bei der VBL und den kommunalen Zusatzversorgungskassen versichert worden wären. Dies war vielmehr das Ergebnis langwieriger Tarifvertragsverhandlungen, die letztendlich im Februar 1996 in die Unterzeichnung der Tarifverträge zur Einführung der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes für die neuen Bundesländer mündeten (Tarifvertrag zur Einführung der Zusatzversorgung im Tarifgebiet Ost vom 1.2.1996). Bei der Leistungsberechnung der Zusatzversorgung für den öffentlichen Dienst wurden Vor- 28.20 dienstzeiten im öffentlichen Dienst der DDR nicht wie Umlagemonate leistungssteigernd berücksichtigt (§ 42 Abs. 2 iVm. § 105a der VBL-Satzung in deren bis 31.12.2000 geltenden Fassung19, „VBLS aF“). Vielmehr wurden für Versicherte, die erstmals mit Einführung der Zusatzversorgung in den neuen Bundesländern ab 1.1.1997 zur Pflichtversicherung angemeldet wurden, die Vordienstzeiten für die Berechnung der Versorgungsrenten nicht berücksichtigt20. Für Versicherte, die bereits vor dem Inkrafttreten der Ausschlussregelung in § 42 Abs. 2 VBLS aF zum 1.11.1995 bei der VBL zur Pflichtversicherung angemeldet worden waren, erfolgte aus Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes allerdings eine hälftige Berücksichtigung der Vordienstzeiten in der DDR als gesamtversorgungsfähige Zeit im Rahmen des Halbanrechnungsverfahrens, nicht jedoch eine volle Berücksichtigung als Umlagemonate21. Aufgrund der Jahre, die seit dem Beitritt der früheren DDR bis zur Einführung der Zusatzversorgung in den neuen Bundesländern zum 1.1.1997 vergangen waren, wurde für Pflichtversicherte aus dem Beitrittsgebiet allerdings in § 105b VBLS aF eine neue Leistungsart in Form einer Versicherungsrente unabhängig von der Erfüllung der ansonsten erforderlichen Wartezeit von 60 Umlagemonaten eingeführt22. d) Entwicklung der Finanzierung Das überwiegend in Reichs- und Staatsanleihen investierte Vermögen der VBL hatte nach der 28.21 Währungsreform 1948 dramatisch an Wert verloren. Von den Vermögenswerten in Höhe von ca. einer Milliarde Reichsmark blieben nur rund acht Millionen DM übrig. Demgegenüber wurden die Leistungen der VBL wie bei den Sozialversicherungsträgern 1:1 umgestellt. Im Jahr 1948 wies das Deckungsvermögen der Anstalt bereits einen Fehlbetrag von ca. 300 Millionen DM aus. Die Hoffnung der VBL auf Ausgleichszahlungen für die Kriegs- und Währungsverluste erfüllte sich nicht. In der ab 1.1.1952 geltenden neuen VBLS wurde daher die zunächst zwingende Vorschrift der Anwartschaftsdeckung (Kapitaldeckung) in eine reine Sollvorschrift umgewandelt. Auch im Allgemeinen Kriegsfolgengesetz vom 5.11.1957 waren die öffentlichen Zusatzversorgungseinrichtungen von Ausgleichszahlungen ausgeschlossen. Eine spätere Verfassungsbeschwerde der Zusatzversorgungskasse der bayerischen Gemeinden hiergegen scheiterte. Der Fehlbetrag des Deckungsvermögens stieg auf ca. acht Milliarden DM23. 19 Abgedruckt bei Gilbert/Hesse. 20 Bestätigt durch BGH v. 14.5.2003 – IV ZR 72/02, VersR 2003, 893 ff.; vgl. auch BVerfG v. 28.4.1999 – 1 BvL 32/95, NJW 1999, 2493 ff. 21 BGH v. 27.9.2000 – IV ZR 140/99, NJW 2001, 41 f.; v. 11.2.2004 – IV ZR 52/02, VersR 2004, 499 f. 22 FS 75 Jahre VBL, S. 63. 23 FS 75 Jahre VBL, S. 43.

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§ 28 Rz. 28.22

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

28.22 Vor diesem Hintergrund und im Zusammenhang mit der Umstellung auf das Gesamtversorgungssystem wurde zum 1.1.1967 das Finanzierungssystem der VBL geändert: Ein Mischsystem aus Beiträgen und Umlagen wurde eingeführt und das Anwartschaftsdeckungsverfahren nur noch für die Versicherungsrenten und die Mindestversorgungsrenten beibehalten. Für die darüber hinausgehenden Versorgungsrenten wurde mit der Umlage ein Abschnittsdeckungsverfahren eingeführt, dh., die Umlage wurde für mehrere Jahre festgesetzt (zunächst für zehn Jahre mit einer Überprüfung nach bestimmten Zeiträumen, sog. gleitender Deckungsabschnitt). Die Umlage ist so zu bemessen, dass die im Deckungsabschnitt voraussichtlich zu erbringenden Leistungen und Verwaltungskosten durch die Umlage, die Vermögenserträge und das vorhandene Vermögen finanziert werden können. Dabei soll am Ende des Deckungsabschnitts zusätzlich noch ein bestimmter Kapitalstock als Deckungs- und Liquiditätsreserve vorhanden sein24. Die Beiträge wurden von 6,9 % auf 2,5 % der Entgelte gesenkt, wovon 1,5 % durch die Arbeitgeber und 1 % durch die Arbeitnehmer zu tragen waren. Die allein von den Arbeitgebern zu tragende Umlage wurde zunächst auf 3 % der Entgelte festgesetzt, wobei bewusst in Kauf genommen wurde, dass dieser Umlagesatz zukünftig erheblich steigen würde. Seit 1972 wurden die Beiträge der Arbeitnehmer nach und nach durch die Arbeitgeber übernommen, bis diese die Beiträge ab 1.7.1973 vollständig übernahmen. Ab 1.1.1978 wurden die Beiträge abgeschafft, das Anwartschaftsdeckungsverfahren gänzlich beendet und eine alleine von den Arbeitgebern zu tragende reine Umlagefinanzierung (gleitendes Abschnittsdeckungsverfahren) eingeführt. Die Dauer des Deckungsabschnitts wurde 1983 von bisher zehn auf fünf Jahre reduziert, um die erforderliche Höhe des Umlagesatzes flexibler festsetzen zu können. Die Aufwendungen der Arbeitgeber für die Zusatzversorgung wurden dadurch bis Ende 1989 auf 4 % der Entgelte begrenzt25.

28.23 Im Laufe des Deckungsabschnitts 1994 bis 1998 stiegen allerdings die Ausgaben der VBL erstmals erheblich an, so dass noch im laufenden Deckungsabschnitt der Umlagesatz auf 5,2 % erhöht werden musste. Die Notwendigkeit einer weiteren Steigerung des Umlagesatzes für den nächsten Deckungsabschnitt war dabei bereits erkennbar. Im Rahmen der Lohnrunde 1998 einigten sich die Tarifparteien des öffentlichen Dienstes deshalb darauf, dass ein über 5,2 % der Entgelte hinausgehender Finanzierungsbedarf von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern je zur Hälfte getragen werden sollte. Ab Januar 1999 betrug der Umlagesatz bei der VBL 7,7 % mit einer Beteiligung der Arbeitnehmer an der Umlage in Höhe von 1,25 %26. Zum 1.1.2002 wurde der Umlagesatz bei der VBL auf 7,86 % mit einem Eigenanteil der Arbeitnehmer entsprechend tarifvertraglicher Regelung von 1,41 % erhöht27. Bei den meisten kommunalen Zusatzversorgungskassen, bei denen eine gewisse Spannweite der Umlagesätze zu verzeichnen ist, griff die Arbeitnehmerbeteiligung noch nicht28. Bei den kommunalen und kirchlichen Zusatzversorgungskassen wurde dabei häufig eine über dem satzungsrechtlichen Mindestbetrag liegende Umlage erhoben und insoweit Kapital angesammelt, das nicht der Finanzierung der Leistungen individueller Versicherter (wie beim Kapitaldeckungsverfahren) diente, sondern der solidarischen Finanzierung aller Lasten der jeweiligen Zusatzversorgungskasse29. Auf dieser Grundlage bestanden bereits früher und bestehen auch heute noch 24 Zur Erläuterung des Abschnittsdeckungsverfahrens vgl. Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 163; Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 372 ff.; vgl. auch § 61 VBLS. 25 FS 75 Jahre VBL, S. 52 f.; Gilbert/Hesse, Einl. Rz. 33. 26 FS 75 Jahre VBL, S. 66. 27 § 76 Abs. 4 und 5 VBLS aF (abgedruckt bei Gilbert/Hesse); § 64 Abs. 2 und Abs. 3 VBLS. 28 Fieberg, BetrAV 2002, 230 (234). 29 Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 163.

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Versorgungsträger und historische Entwicklung

Rz. 28.26 § 28

Unterschiede bei der Finanzierung zwischen den einzelnen Zusatzversorgungskassen, insbesondere Unterschiede hinsichtlich der Kapitaldecke der jeweiligen Kassen. Nach Einführung der Zusatzversorgung in den neuen Bundesländern zum 1.1.1997 hatten die dortigen kommunalen Zusatzversorgungskassen aufgrund der noch geringen Verpflichtungen Umlagesätze für ausreichend erachtet, die deutlich unter dem damaligen Umlagesatz der VBL von 4,5 % lagen. Auch für den Bereich der VBL wurde entschieden, dass die Beteiligten aus den neuen Bundesländern nicht demselben Umlagesatz unterliegen sollten, wie die Beteiligten aus den westlichen Bundesländern. Bei der VBL wurde deshalb ein eigener Abrechnungsverband Ost gegründet, für den zunächst eine Umlage von 1 % vorgesehen war30.

28.24

Zu Einzelheiten zur aktuellen Finanzierung der Pflichtversicherung s. Rz. 28.260 ff.; zur Finanzierung der freiwilligen Versicherung s. Rz. 28.287 ff. e) Umstieg auf das Punktemodell Ende der 90er Jahre zeigte sich zunehmend, dass die Entwicklung der Zusatzversorgungsleistungen in ihrer bisherigen Form nicht mehr kalkulierbar und die Finanzierung der Zusatzversorgung damit in Frage gestellt war. Dies hatte sich bereits im Zusammenhang mit der Steigerung der Umlagesätze Mitte der 90er Jahre angedeutet.

28.25

Aufgrund der Personalreduktion im öffentlichen Dienst und dem Ausscheiden von Arbeitgebern aus dem System der Zusatzversorgung war eine ungünstige Verschiebung des Verhältnisses zwischen pflichtversicherten Beschäftigten und Versorgungsempfängern eingetreten31. Hierzu trugen auch die längeren Rentenlaufzeiten bei, die ihre Ursache nicht zuletzt in der steigenden Lebenserwartung und der Praxis der Frühverrentung hatten. Weitere Belastungen entstanden durch die Entwicklung des Steuer- und Sozialversicherungsrechts, die aufgrund der nettolohnbezogenen Gesamtversorgung unmittelbare Auswirkungen auf die Zusatzversorgung hatten. Die Steuerentlastungen durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 und die Reduzierung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Rentenversicherung führten zu steigenden Nettolöhnen der aktiven Arbeitnehmer32 bei gleichzeitigem Stagnieren des Leistungsniveaus in der gesetzlichen Rentenversicherung. Steigende Versorgungsrenten aus der Zusatzversorgung wären die Folge gewesen. Ein weiterer Anstieg der zur Finanzierung erforderlichen Umlagen auf bis zu 15 % (bei der VBL) war vor der Systemumstellung insoweit konkret absehbar und hätte zu einer erheblichen wirtschaftlichen Belastung der Arbeitgeber sowie der Arbeitnehmer (die über die Eigenbeteiligung an dem Anstieg der Umlage zur Hälfte beteiligt gewesen wären) geführt33. Wesentliche Grundlage für die Systemumstellung waren schließlich einige Entscheidungen des BVerfG mit weitreichenden Auswirkungen auf die Zusatzversorgung, welche im bisherigen Gesamtversorgungssystem nicht mehr zu bewältigen gewesen wären:

30 FS 75 Jahre VBL, S. 63. 31 Hügelschäffer, BetrAV 2004, 354 ff. = ZTR 2004, 231 ff., 278 ff. 32 Allein hierdurch wäre es bei der VBL zu Mehrbelastungen von ca. 1,4 Mrd. Euro gekommen (FS 75 Jahre VBL, S. 67). 33 Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 164.

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28.26

§ 28 Rz. 28.26

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

– Mit seiner Entscheidung vom 15.7.199834 hatte das BVerfG die ursprüngliche gesetzliche Regelung in § 18 BetrAVG zur Berechnung der Betriebsrente mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt und den Gesetzgeber zu einer Neuregelung bis Ende 2000 verpflichtet. Nach der früheren Fassung von § 18 BetrAVG hatten vor Eintritt eines Versorgungsfalles aus dem öffentlichen Dienst ausscheidende Arbeitnehmer keinen Anspruch auf eine ratierliche Versorgung nach § 2 BetrAVG, sondern nur auf eine mit 0,4 % des Endgehalts pro Dienstjahr berechnete Zusatzrente. Mit Wirkung zum 1.1.2001 wurde § 18 BetrAVG daraufhin grundlegend geändert und eine ratierliche Vollversorgung geschaffen. Dies führte allein für die VBL zu einer jährlichen Mehrbelastung von ca. 10 Millionen Euro35. – Mit einem Beschluss vom 25.8.199936 hatte das BVerfG die bisherige Regelung der Zusatzversorgung zur Berechnung der Netto-Gesamtversorgung für Teilzeitbeschäftigte als gleichheitswidrig beanstandet. Anstatt der Zugrundelegung des bei fiktiver Vollbeschäftigung zustehenden Nettogehalts (unter Berücksichtigung der fiktiven Steuerlast und Sozialversicherung einer Vollzeitbeschäftigung) und der Kürzung der sich hieraus ergebenden Gesamtversorgung entsprechend der Teilzeit (anhand des Gesamtbeschäftigungsquotienten) verlangte das BVerfG, für die Berechnung des der Versorgung zugrunde zu legenden Nettogehalts von den niedrigeren Steuerabzügen des Teilzeitentgelts auszugehen. Die Umsetzung dieser Entscheidung kostete allein die VBL jährlich fast 50 Millionen Euro37. – Wesentlicher Auslöser für die Systemumstellung war letztendlich die sog. „Halbanrechnungsentscheidung“ des BVerfG vom 22.3.200038. Diese Entscheidung betraf einen der wesentlichen Punkte des bisherigen Gesamtversorgungssystems: Bei der Berechnung der Gesamtversorgung wurden Rentenversicherungszeiten (Vordienstzeiten) außerhalb der Zusatzversorgung nur zur Hälfte als gesamtversorgungsfähige Zeit anerkannt, während auf die Gesamtversorgung die Rente der gesetzlichen Rentenversicherung (auch aus solchen Zeiten) in voller Höhe anzurechnen war39. Dies hatte das BVerfG zwar als eine zulässige Typisierung und Generalisierung im Rahmen einer komplizierten Materie für die vorhandene Rentnergeneration noch akzeptiert40, aber deutlich gemacht, dass diese Regelungen nur noch bis Ende 2000 hinnehmbar seien. Das BVerfG beanstandete die Halbanrechnung als gleichheitswidrig, da sie die große Gruppe von Versorgungsberechtigten, die vor ihrer Beschäftigung im öffentlichen Dienst in der Privatwirtschaft gearbeitet haben, in sachlich nicht gerechtfertigter Weise gegenüber denjenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern benachteilige, die ihr gesamtes Berufsleben im öffentlichen Dienst verbracht haben. Ferner beanstandete das BVerfG, dass die Mindestversorgungsrente und die Versicherungs34 BVerfG v. 15.7.1998 – 1 BvR 1554/89, 1 BvR 963/94, 1 BvR 964/94, NZA 1999, 194 = AP Nr. 26 zu § 18 BetrAVG. 35 Gilbert/Hesse, Einl. Rz. 51; Fieberg, BetrAV 2002, 230 (233). 36 BVerfG v. 25.8.1999 – 1 BvR 1246/95, NJW 1999, 3549 = AP Nr. 12 zu § 1 BetrAVG Teilzeit; vgl. auch BGH v. 30.9.1998 – IV ZR 262/97, BGHZ 139, 333 = ZTR 1999, 34. 37 Gilbert/Hesse, Einl. Rz. 51; Fieberg, BetrAV 2002, 230 (233). 38 BVerfG v. 22.3.2000 – 1 BvR 1136/96, NJW 2000, 3341 = AP Nr. 27 zu § 18 BetrAVG. 39 Vgl. § 42 Abs. 2 Buchst. a aa VBLS aF (abgedruckt bei Gilbert/Hesse). 40 BVerfG v. 22.3.2000 – 1 BvR 1136/96, NJW 2000, 3341 = AP Nr. 27 zu § 18 BetrAVG; vgl. auch BGH v. 26.11.2003 – IV ZR 186/02, BetrAV 2004, 188 ff. = ZTR 2004, 86 f.: Für Versicherte, die bis zum 31.12.2000 versorgungsberechtigt geworden sind, ist die Anwendung des Halbanrechnungsverfahrens auch für die Zeit ab 1.1.2001 nicht zu beanstanden. Ebenso BGH v. 10.11.2004 – IV ZR 391/02, NVwZ-RR 2005, 365 f. für Versicherte, die im Laufe des Jahres 2001 oder am 1.1.2002 versorgungsberechtigt geworden sind.

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Versorgungsträger und historische Entwicklung

Rz. 28.29 § 28

rente aus der Zusatzversorgung anders als die Betriebsrenten in der Privatwirtschaft (vgl. § 16 BetrAVG) keiner Dynamisierung unterlagen. Bezeichnend war auch die Feststellung des BVerfG, dass das Satzungswerk der VBL inzwischen eine Komplexität erreicht habe, die es dem einzelnen Versicherten kaum mehr ermögliche, zu überschauen, welche Leistungen er zu erwarten habe und wie sich berufliche Veränderungen im Rahmen des Erwerbslebens auf die Höhe der Leistungen auswirkten. Eine weitere Zunahme dieser Komplexität könne an verfassungsrechtliche Grenzen stoßen41. Eine Umsetzung dieser Entscheidung innerhalb des Gesamtversorgungssystems hätte bei voller Anrechnung der Vordienstzeiten zu Mehrkosten allein bei der VBL von bis zu 700 Millionen Euro jährlich geführt, bei Wegfall der Halbanrechnung und gleichzeitig nur anteiliger Anrechnung der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wären sogar Mehrausgaben in Milliardenhöhe entstanden42. Hinzu kam weiterhin, dass der Gesetzgeber im Rahmen des Altersvermögensgesetzes (AVmG)43 durch § 10a Abs. 1 Satz 4 EStG die öffentliche Zusatzversorgung als umlagefinanziertes Gesamtversorgungssystem von den neuen steuerlichen Förderungsmöglichkeiten ausgenommen hatte.

28.27

Eine grundlegende Reform der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes war vor diesem Hintergrund unvermeidbar. Entsprechende Tarifverhandlungen begannen im Jahr 2000. Eine Einigung wurde im Herbst 2001 durch den Altersvorsorgeplan 200144 gefunden, mit dem die wesentlichen Grundzüge der neuen Zusatzversorgung (Schließung des bisherigen Gesamtversorgungssystems und Einführung des Punktemodells) festgelegt wurden.

28.28

Auf der Basis des Altersvorsorgeplans wurden die Einzelheiten der neuen Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes durch den Tarifvertrag über die Altersversorgung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (Tarifvertrag Altersversorgung – ATV) für den Bereich Bund/ Länder und den nahezu gleich lautenden Altersvorsorge-Tarifvertrag-Kommunal – ATV-K für den kommunalen Bereich redaktionell umgesetzt. Beide Tarifverträge datieren vom 1.3.2002 und lösen die bisherigen Versorgungstarifverträge (Versorgungs-TV und VersTV-G) von 1967 ab (vgl. § 40 ATV, § 39 ATV-K). Soweit im ATV bzw. ATV-K keine Regelung getroffen ist, findet der Altersvorsorgeplan 2001 als Tarifvertrag Anwendung. Wesentlicher Inhalt dieser grundlegendsten Reform seit Einführung der Gesamtversorgung im Jahr 1967 ist die (rückwirkende) Schließung des bisherigen Gesamtversorgungssystems zum 31.12.2000. Da aus verwaltungstechnischen Gründen das Jahr 2001 als Einführungsphase für das neue System vorgesehen war, entwickelten sich die Anwartschaften im Jahr 2001 technisch noch nach den Berechnungsmethoden des alten Systems fort, so dass im Ergebnis das Gesamtversorgungssystem faktisch erst zum 31.12.2001 geschlossen wurde45. Das bisherige Gesamtversorgungssystem wurde durch ein als Betriebsrentenmodell konzipiertes Punktemodell ersetzt. Im Punktemodell sind diejenigen Leistungen zugesagt, die 41 BVerfG v. 22.3.2000 – 1 BvR 1136/96, NJW 2000, 3341 = AP Nr. 27 zu § 18 BetrAVG. 42 Gilbert/Hesse, Einl. Rz. 51; Fieberg, BetrAV 2002, 230 (234); Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 42 ff. 43 V. 26.6.2001, BGBl. I, 1310. 44 V. 13.11.2001; als Anlage 5 zum ATV abrufbar unter www.vbl.de (Service/Downloadcenter/Veröffentlichungen/Tarifverträge). 45 Hügelschäffer, BetrAV 2004, 354 (356).

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28.29

§ 28 Rz. 28.29

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

sich ergeben würden, wenn ein Beitrag von 4 % (fiktiv) in ein kapitalgedecktes System eingezahlt würde. Das Punktemodell hat insoweit den Übergang in ein kapitalgedecktes System zum Ziel, der Beitrag ist dabei aber zunächst nur eine fiktive Rechengröße, da die Finanzierung der Zusatzversorgung bei der VBL und den meisten anderen Kassen weiterhin durch das Umlageverfahren erfolgen muss und erst schrittweise eine Umstellung auf eine kapitalgedeckte Finanzierung vorgenommen werden kann. Der (fiktive) Beitrag von 4 % des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts wird jährlich in vom Alter des Versicherten abhängige Versorgungspunkte umgewandelt. Im Versorgungsfall wird die Rentenleistung aus der Summe der während der gesamten Versicherungsdauer erworbenen Versorgungspunkte errechnet. Die Umrechnung der Versorgungspunkte in Euro geschieht mittels eines tarifvertraglich festgelegten Messbetrags von 4 Euro. Die bis zum 31.12.2001 von den Versicherten erworbenen Anwartschaften wurden als Startgutschriften in das neue System übertragen. Die am 1.1.2002 bereits laufenden Rentenzahlungen werden als Bestandsrenten weitergezahlt und beginnend ab dem Jahr 2002 jeweils zum 1. Juli eines jeden Jahres mit 1 % dynamisiert.

28.30 Schließlich erhielten die Arbeitnehmer durch den Systemwechsel die Möglichkeit, eine zusätzliche kapitalgedeckte Altersversorgung durch eigene Beiträge unter Inanspruchnahme der steuerlichen Förderung (Zulagen oder Sonderausgabenabzug gemäß den §§ 10a, 79 ff. EStG – sog. Riesterrente) aufzubauen. Diese Möglichkeit wurde in Form einer freiwilligen Höherversicherung (freiwillige Versicherung) eröffnet, die entweder in Anlehnung an das Punktemodell oder als fondsgebundene Rentenversicherung erfolgen kann (§ 26 ATV bzw. ATV-K). Diese freiwillige Versicherung kann von den Arbeitnehmern auch nach Beendigung der Pflichtversicherung fortgeführt werden.

III. Rechtliche Grundlagen 1. Tarifliche Bestimmungen

28.31 Die Zusatzversorgung der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes ist weitgehend durch die tarifvertraglichen Regelungen des öffentlichen Dienstes bestimmt. a) TVöD

28.32 Ausgangspunkt ist zunächst § 25 TVöD, der anstelle der früheren Vorschriften (§ 46 BAT/ BAT-O, § 12 BMT-G/BMT-G-O, § 44 MTArb/MTArb-O) die Grundlage der tarifvertraglichen Altersversorgung im öffentlichen Dienst bildet. Gemäß § 25 TVöD haben die Beschäftigten Anspruch auf Versicherung unter eigener Beteiligung zum Zwecke einer zusätzlichen Alters- und Hinterbliebenenversorgung nach Maßgabe des Tarifvertrags über die betriebliche Altersversorgung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (Tarifvertrag Altersversorgung – ATV) bzw. des Tarifvertrages über die zusätzliche Altersvorsorge der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes – Altersvorsorge-Tarifvertrag-Kommunal (ATV-K) in ihrer jeweils geltenden Fassung. § 25 TVöD ist keine reine Verweisungsnorm. Durch § 25 TVöD soll den Angestellten des öffentlichen Dienstes ein Versorgungsanspruch verschafft werden46. Allerdings ist die in § 25 TVöD enthaltene Verweisung auf die Versorgungstarifverträge (ATV bzw. ATV-K) 46 So das BAG zu dem im Wesentlichen inhaltsgleichen § 46 BAT, BAG v. 29.7.1986 – 3 AZR 71/85, NZA 1987, 668.

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Rechtliche Grundlagen

Rz. 28.37 § 28

ein wesentliches Element. Diese in Bezug genommenen Tarifverträge enthalten die nähere Regelung der Anspruchsvoraussetzungen und bestimmen die Ausgestaltung der Zusatzversorgung. Ohne sie ist die Versicherung nicht durchführbar47. Eine entsprechende Regelung ist in § 25 des am 12.10.2006 abgeschlossenen Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) sowie in § 26 des Tarifvertrages für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (TV-Ärzte/VKA) enthalten. § 26 TV-Ärzte/VKA verweist dabei auf speziell für den Bereich der Ärzte geltende Tarifverträge der Zusatzversorgung, nämlich den Tarifvertrag über die betriebliche Altersversorgung der Ärztinnen und Ärzte (Tarifvertrag Altersversorgung Ärzte – ATV-Ärzte/VKA) bzw. den Tarifvertrag über die zusätzliche Altersvorsorge der Ärztinnen und Ärzte (Altersvorsorge-TVKommunal Ärzte – ATV-K-Ärzte/VKA), die lediglich in einigen wenigen Punkten von den Regelungen des ATV bzw. ATV-K abweichen.

28.33

b) Altersversorgungstarifvertrag (ATV/ATV-K) ATV und ATV-K enthalten eine detaillierte Ausgestaltung des Leistungsrechts und einige Grundzüge der Finanzierung der Zusatzversorgung.

28.34

Gemäß § 1 ATV erstreckt sich dessen Geltungsbereich auf Arbeitnehmer und Auszubildende (Beschäftigte), die unter den Geltungsbereich der in Anlage 1 zum ATV aufgeführten Tarifverträge des öffentlichen Dienstes fallen, deren Arbeitgeber Beteiligter der VBL oder Mitglied der ZVK-Saar ist (§ 1 ATV). Demgegenüber gilt der ATV-K für Beschäftigte der Arbeitgeber aus dem kommunalen Bereich (Mitglieder eines der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) angehörenden Arbeitgeberverbandes), die nicht Beteiligte der VBL sind, sondern Mitglied einer anderen Zusatzversorgungskasse (§ 1 ATV-K). Die Regelungen des ATV bzw. ATV-K sind bis auf einige wenige Punkte inhaltsgleich.

28.35

§ 2 ATV/ATV-K (Pflichtversicherung) bestimmt die Voraussetzungen und den begünstigten Personenkreis der Pflichtversicherung. Ausnahmen von der Versicherungspflicht ergeben sich aus § 2 Abs. 2 und 3 iVm. Anlage 2 des ATV/ATV-K. Da § 2 ATV/ATV-K insoweit vorschreibt, dass versicherungspflichtige Beschäftigte nur bei öffentlichen Zusatzversorgungseinrichtungen zu versichern sind, ergibt sich hieraus, dass die satzungsrechtlichen Regelungen zum Leistungsrecht bei den einzelnen Zusatzversorgungseinrichtungen den im ATV/ATV-K geregelten Vorgaben entsprechen müssen. Die öffentlichen Zusatzversorgungseinrichtungen haben somit bei der Regelung des Leistungsrechts im Bereich der Pflichtversicherung keinen eigenen Gestaltungsspielraum48.

28.36

In § 5 (Versicherungsfall und Rentenbeginn), § 6 (Wartezeit) und § 10 (Betriebsrente für Hin- 28.37 terbliebene) ATV/ATV-K sind die Voraussetzungen und Einzelheiten der Versicherungsfälle (Alter, Erwerbsminderung sowie Hinterbliebenenrenten bei Tod des Versicherten) geregelt. § 7 (Höhe der Betriebsrente), § 8 (Versorgungspunkte), § 9 (Soziale Komponenten) und § 11 (Anpassung und Neuberechnung) ATV/ATV-K enthalten die Vorschriften zur Berechnung der Versorgungsleistungen. § 19 (Bonuspunkte) ATV/ATV-K regelt zusätzlich die Zuteilung

47 So ausdrücklich in BAG v. 29.7.1986 – 3 AZR 71/85, NZA 1987, 668. 48 Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 5; Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 31.

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§ 28 Rz. 28.37

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

von Bonuspunkten. § 12 (Nichtzahlung und Ruhen) und § 13 (Erlöschen) ATV/ATV-K enthalten ergänzende Bestimmungen zur zeitlichen Komponente der Leistungserbringung.

28.38 Anders als zum Leistungsrecht, das durch die tarifvertraglichen Regelungen bis ins Detail vorgegeben ist, wurde die Finanzierung der Pflichtversicherung durch die Tarifvertragsparteien in den §§ 15 bis 19 ATV/ATV-K nur in Grundzügen normiert. In diesem Rahmen wird die Finanzierung der Pflichtversicherung von den Zusatzversorgungseinrichtungen eigenständig geregelt (§ 15 Abs. 1 Satz 1 ATV/ATV-K), denen insoweit ein eigener Gestaltungsspielraum verbleibt. Durch die Tarifverträge selbst geregelt ist allerdings das zusatzversorgungspflichtige Entgelt (§ 15 Abs. 2 ATV/ATV-K iVm. Anlage 3) als entscheidender Parameter sowohl für die Berechnung der Leistungen als auch für die Finanzierung.

28.39 Wesentliche Grundlage der Finanzierung bleibt bei den meisten Zusatzversorgungskassen weiterhin die Umlage (vgl. § 16 ATV/ATV-K), die vom Arbeitgeber – ggf. einschließlich des von den Beschäftigten zu tragenden Umlage-Beitrags – an die Zusatzversorgungseinrichtung abführt wird. Wie bereits aus § 25 TVöD deutlich wird, besteht für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ein Anspruch auf Versicherung nur unter eigener Beteiligung. Bei Pflichtversicherten bleiben insoweit die am 1.11.2001 geltenden Vomhundertsätze für die Erhebung der Umlage-Beiträge der Beschäftigten maßgebend, soweit sich aus § 37 oder § 37a ATV/ ATV-K nicht etwas anderes ergibt (§ 16 Abs. 1 Satz 3 ATV/ATV-K). Bereits im Rahmen der früheren Gesamtversorgung war zuletzt vorgesehen gewesen, dass – soweit der Umlagesatz über 5,2 % lag – sich die Beschäftigten mit der Hälfte des übersteigenden Betrages an der Umlage beteiligen mussten (vgl. zB § 7 Abs. 1 Satz 2 VersTV-G). Dieser am 1.11.2001 bestehende Umlage-Beitrag der Beschäftigten wurde durch den ATV/ATV-K zunächst festgeschrieben. Da bei den meisten kommunalen und kirchlichen Zusatzversorgungskassen zum 1.11.2001 der Umlagesatz unter 5,2 % lag, war dort eine Beteiligung der Beschäftigten an der Finanzierung weiterhin zunächst nicht vorgesehen. Für den Bereich der VBL wurde die Beteiligung der Beschäftigten an der Umlage zunächst auf 1,41 % festgeschrieben (§ 37 ATV). Für das Tarifgebiet Ost enthält § 37a ATV/ATV-K Sonderregelungen zur Beteiligung der Beschäftigten an der Finanzierung. Im Hinblick auf veränderte Rahmenbedingungen, insbesondere die steigenden Lebenserwartung und die anhaltende Niedrigzinsphase, haben die Tarifpartner zwischenzeitlich Änderungen bezüglich der Finanzierung vorgesehen. Im Bereich des ATV (also für die VBL) wurde für Beschäftigte des Tarifgebiets West für die Zeit ab 1.7.2015 (TDL) bzw. 1.7.2016 (VKA und Bund) ein von 0,2 % stufenweise ansteigender zusätzlicher Arbeitnehmerbeitrag zur Umlage eingeführt, der ab 1.7.2017 (TdL) bzw. 1.7.2018 (Bund/VKA) nunmehr 0,4 % des zusatzversorgungspflichtigen Entgeltes beträgt (vgl. § 37 Abs. 1 ATV). Auch im Geltungsbereich verschiedener kommunaler Zusatzversorgungkassen wurden durch § 15a ATV-K zwischenzeitlich zusätzliche Arbeitnehmer- (und Arbeitgeber-) Beiträge eingeführt, wobei sich diese Regelung zunächst auf die dort genannten Kassen beschränkt und bei anderen Kassen die Regelungen entsprechend gelten, wenn es nach dem 29.02.2016 zu einer Beitragserhöhung kommt.

28.40 Neben der Umlagefinanzierung sehen die tarifvertraglichen Bestimmungen in § 15 Abs. 1 Satz 2 iVm. § 18 ATV/ATV-K auch die Möglichkeit einer schrittweisen Umstellung auf das Kapitaldeckungsverfahren vor, worüber die Kassen eigenständig entscheiden können. In § 17 ATV/ATV-K wurde die Erhebung von Sanierungsgeldern vorgesehen.

28.41 In den §§ 20 bis 24 ATV/ATV-K sind allgemeine Verfahrensregelungen vorgesehen, wie zB Pflichten der Versicherten und Rentenberechtigten (§ 20 ATV/ATV-K), Versicherungsnach-

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Rechtliche Grundlagen

Rz. 28.47 § 28

weise (§ 21 ATV/ATV-K), Zahlungsmodalitäten (§ 22 ATV/ATV-K), Regelungen zur Beitragserstattung (§ 24 ATV/ATV-K) und Ausschlussfristen (§ 23 ATV/ATV-K). Die neben der Pflichtversicherung neu geschaffene freiwillige Versicherung ist in den §§ 26, 27 ATV/ATV-K geregelt, wobei die Tarifvertragsparteien – anders als bei der Pflichtversicherung – hier nur einen gewissen Rahmen vorgegeben haben, dessen Ausgestaltung den einzelnen Zusatzversorgungseinrichtungen obliegt.

28.42

In den §§ 30 und 31 ATV/ATV-K sind schließlich die Übergangsregelungen zur Überführung der Ansprüche der Rentenberechtigten aus dem früheren Gesamtversorgungssystem in das neue Punktemodell geregelt; die §§ 32 bis 34 ATV/ATV-K enthalten die Vorschriften zur Überleitung der Anwartschaften in das neue Punktemodell.

28.43

c) Unmittelbare Geltung der tarifvertraglichen Regelungen Die Geltung der tarifvertraglichen Grundnorm des § 25 TVöD und auch der dort in Bezug genommenen Versorgungstarifverträge für das jeweilige Arbeitsverhältnis besteht entweder auf der Grundlage unmittelbarer Tarifbindung gemäß § 3 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 TVG, wenn der Arbeitnehmer Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft ver.di (oder der Gewerkschaft der Polizei, der IG Bauen-Agrar-Umwelt für den Bereich der Waldarbeiter, der Gewerkschaft Erziehung Wissenschaft oder des Marburger Bundes, die durch ver.di bezüglich des Tarifabschlusses vertreten wurden) und der Arbeitgeber über die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) oder Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) (bzw. der Bund als eigenständige Tarifvertragspartei) unmittelbar tarifgebunden sind.

28.44

d) Arbeitsvertragliche Inbezugnahme der Tarifnormen und betriebliche Übung Besteht keine unmittelbare Tarifbindung, folgt die Geltung der tarifvertraglichen Normen regelmäßig aus einer vertraglichen Inbezugnahme entweder der Versorgungstarifverträge selbst oder allgemein der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes. Eine solche arbeitsvertragliche Inbezugnahme ist üblicherweise in den Arbeitsverträgen der Arbeitgeber der öffentlichen Hand sowie auch in den Arbeitsverträgen privatrechtlich verfasster Arbeitgeber enthalten, die Aufgaben aus dem Bereich des öffentlichen Dienstes wahrnehmen oder sich aus sonstigen Gründen an die Beschäftigungsbedingungen des öffentlichen Dienstes anlehnen.

28.45

Eine ausdrückliche Inbezugnahme des ATV bzw. ATV-K oder deren Vorgängerregelungen (Versorgungs-TV und VersTV-G) oder eine ausdrückliche Bezugnahme auf § 25 TVöD oder dessen Vorgängerbestimmungen führt insoweit zu einer (vertraglichen) Anwendung der entsprechenden tarifvertraglichen Regelungen und damit zu einem Anspruch auf Zusatzversorgung nach deren Maßgabe.

28.46

Besteht keine ausdrückliche Inbezugnahme der Versorgungstarifverträge selbst oder des § 25 TVöD (bzw. seiner Vorgängernormen), sondern nur eine allgemeine Verweisung auf die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes, führt dies im Verhältnis zwischen einem unmittelbar tarifgebundenen Arbeitgeber, der Mitglied/Beteiligter einer der öffentlichen Zusatzversorgungseinrichtungen ist, und einem nicht unmittelbar tarifgebundenen Arbeitnehmer im Zweifel im Sinne einer Gleichstellungsabrede ebenfalls zu einer vertraglichen Anwendung der Versorgungstarifverträge über die Verweisungsnorm des § 25 TVöD. Für ein Unternehmen, das nicht Mitglied einer Zusatzversorgungskasse des öffentlichen Dienstes war, bei dem auf die Versorgungstarifverträge selbst im Arbeitsvertrag nicht verwiesen wurde und nach Art des

28.47

Betz-Rehm

1079

§ 28 Rz. 28.47

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Unternehmens auch nicht wirksam verwiesen werden konnte, hatte das BAG49 noch zum BAT entschieden, dass allein durch die pauschale Verweisung auf die Regelungen des BAT noch keine Versorgungszusage begründet wird. Für den Fall, dass nicht nur auf den BAT, sondern auch auf die diesen ergänzenden oder ändernden Tarifverträge verwiesen wurde und der Arbeitgeber zwar nicht Mitglied der Zusatzversorgungskasse war, nach deren Satzungsbestimmungen aber werden konnte, hatte das BAG50 allerdings einen Anspruch auf Zusatzversorgung bejaht. Auch für einen Arbeitgeber, der Mitglied einer Zusatzversorgungskasse war und im Arbeitsvertrag pauschal auf den BAT verwiesen hatte, obwohl dieser aufgrund seines persönlichen Geltungsbereiches nicht anwendbar war (Ausnahme für ABM-Kräfte), hat das BAG eine arbeitsvertragliche Inbezugnahme der Versorgungstarifverträge über ihren persönlichen Geltungsbereich hinaus und damit eine Versorgungszusage gesehen51.

28.48 Diese Grundsätze der Rechtsprechung zum BAT können auf den inhaltsgleichen § 25 TVöD zwar grundsätzlich übertragen werden. Dabei ist allerdings ergänzend zu beachten, dass nach der Schuldrechtsmodernisierung die Regelungen zur AGB-Kontrolle auch auf Arbeitsverträge anzuwenden sind. Dies betrifft insbesondere § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB zur Transparenz und § 305c Abs. 2 BGB, nach dem Zweifel bei der Auslegung zu Lasten des Verwenders (Arbeitgebers) gehen. Hieraus folgt, dass Verweisungsvereinbarungen im Zweifel weit auszulegen sind. Wird im Arbeitsvertrag umfassend und ohne Einschränkung, insbesondere ohne Ausklammerung der Regelungen zur Zusatzversorgung auf den TVöD (oder den BAT als dessen Vorgänger) verwiesen, entsteht hieraus ein Anspruch der Arbeitnehmer auf eine Zusatzversorgung gemäß § 25 TVöD52 nach Maßgabe der besonderen Regelungen der Versorgungstarifverträge (ATV, ATV-K).

28.49 Ein Anspruch auf Versorgung kann schließlich auch aufgrund betrieblicher Übung entstehen. Dies wird vom Grundsatz her bereits durch § 1b Abs. 1 Satz 4 BetrAVG bestätigt, dem gemäß der Verpflichtung aus einer Versorgungszusage Versorgungsverpflichtungen gleichstehen, die auf betrieblicher Übung beruhen. Eine betriebliche Übung liegt vor, wenn der Arbeitgeber bei den betroffenen Arbeitnehmern durch ein gleichförmiges, wiederholtes Verhalten Vertrauen erweckt hat, die Arbeitnehmer also aus dem Verhalten des Arbeitgebers einen konkreten Verpflichtungswillen ableiten können, dass ihnen eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer gewährt werden solle53. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass im öffentlichen Dienst nach der ständigen Rechtsprechung des BAG strenge Anforderungen an das Entstehen einer betrieblichen Übung zu stellen sind; ein Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes kann in der Regel nicht davon ausgehen, übertarifliche Leistungen zu erhalten, da ein an die Grundsätze des Haushaltsrechts gebundener öffentlicher Arbeitgeber regelmäßig nur Leistungen in

49 BAG v. 29.7.1986 – 3 AZR 71/85, NZA 1987, 668. 50 BAG v. 12.12.2006 – 3 AZR 388/05, AP Nr. 55 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 51 BAG v. 15.9.1992 – 3 AZR 438/91, AP Nr. 39 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen; ähnlich für Lektoren BAG v. 16.3.2010 – 3 AZR 744/08, NZA-RR 2010, 610. 52 Für eine weite Auslegung von Verweisungsvereinbarungen auch BAG v. 30.5.2006 – 3 AZR 273/05, AP Nr. 65 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen; ebenso, insbesondere unter Heranziehung der sog. Unklarheitenregelung (jetzt § 305c Abs. 2 BGB), die bereits vor Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes galt, BAG v. 12.12.2006 – 3 AZR 388/05, AP Nr. 55 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; vgl. auch LAG Rheinland-Pfalz v. 1.4.2009 – 8 Sa 670/08, BeckRS 2009, 72508. 53 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 220 ff.; Blomeyer/Rolfs/Otto, Anhang zu § 1 BetrAVG Rz. 17 ff.; BAG v. 15.5.2012 – 3 AZR 610/11, ArbRB 2012, 327 = NZA 2012, 1279.

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Rechtliche Grundlagen

Rz. 28.51 § 28

Vollzug gesetzlicher oder tariflicher Normen erbringt54. Für an die Grundsätze des Haushaltsrechts gebundene öffentliche Arbeitgeber wird daher über die tarifvertraglichen Regelungen hinaus ein Anspruch auf Zusatzversorgung aus betrieblicher Übung nur unter besonderen Umständen in Betracht kommen können. Allein aus dem Beitritt seines Arbeitgebers zu einer Zusatzversorgungskasse kann ein Arbeitnehmer jedenfalls noch kein Recht herleiten, an dem Versorgungswerk der Kasse beteiligt zu werden55. Für den Fall, dass der Arbeitgeber seinen Beitritt zur Zusatzversorgungskasse im Betrieb verlautbart und praktiziert hat, hat das BAG aber das Entstehen eines vertraglichen Anspruchs des einzelnen Arbeitnehmers darauf bejaht, dass der Arbeitgeber ihn zur Kasse anmeldet, sofern deren Satzung dies zulässt56.

28.50

2. Satzungen der Versorgungsträger a) VBL-Satzung Die Satzung der VBL (VBLS)57 enthält in ihren §§ 1 bis 18 Regelungen zur Verfassung der 28.51 Anstalt. Organe der VBL sind der Vorstand (§§ 5 bis 9 VBLS) und der Verwaltungsrat (§§ 10 bis 13 VBLS). Der Vorstand besteht aus dem Vorsitzenden (Präsidenten) und weiteren 16 Mitgliedern, davon sind der Vorsitzende und zwei weitere Mitglieder hauptamtlich tätig. Die drei hauptamtlichen sowie sechs weitere Vorstandsmitglieder werden von der Aufsichtsbehörde (BMF) im Einvernehmen mit der Mehrheit der an der VBL beteiligten Länder auf fünf Jahre bestellt. Die übrigen acht Vorstandsmitglieder werden vom Verwaltungsrat nach dem Vorschlag der Gewerkschaften aus dem Kreis der Versicherten für dieselbe Zeitdauer ernannt. Zum Zuständigkeitsbereich des Vorstandes gehören ua. der Abschluss von Beteiligungsvereinbarungen, die Vermögensanlage, Vorschläge für Satzungsänderungen und Ausführungsbestimmungen zur Satzung sowie Vorschläge für Erlass und Änderungen von Versicherungsbedingungen. Die Zuständigkeit des Gesamtvorstands ist insoweit in der Satzung abschließend geregelt, die laufende Geschäftsführung obliegt demgegenüber den hauptamtlichen Vorstandsmitgliedern. Der Verwaltungsrat besteht aus 38 Mitgliedern und ist paritätisch mit 19 nach Vorschlag der Trägerunternehmen und 19 nach Vorschlag der Gewerkschaften von der Aufsichtsbehörde berufenen Mitgliedern besetzt. In den Zuständigkeitsbereich des Verwaltungsrates fallen ua. die Beschlussfassung über Satzungsänderungen und Ausführungsbestimmungen, über die Höhe des Umlagesatzes und der Beiträge zum Kapitaldeckungsverfahren sowie über die Zuteilung von Bonuspunkten. 54 ErfK/Preis, § 611a BGB Rz. 226; Blomeyer/Rolfs/Otto, Anhang zu § 1 BetrAVG Rz. 25; jeweils mwN zur Rechtsprechung; bejaht wurde ein Anspruch aus betrieblicher Übung aber für einen öffentlichen Arbeitgeber (Anstalt öffentlichen Rechts), wenn dieser bei der Gewährung von Versorgungsrechten gerade nicht durch Gesetz, andere Rechtsgrundlagen oder Weisungen und Vorgaben Dritter gebunden ist, BAG v. 15.5.2012 – 3 AZR 610/11, ArbRB 2012, 327 = NZA 2012, 1279. 55 BAG v. 10.3.1992 – 3 AZR 81/91, NZA 1992, 263; vgl. auch BAG v. 30.5.2006 – 3 AZR 273/05, AP Nr. 65 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen, unter B IV der Gründe: Die Satzung der Zusatzversorgungseinrichtung regelt das Versicherungsverhältnis, nicht jedoch die sich aus dem Arbeitsverhältnis ergebenden Rechte und Pflichten der Arbeitsvertragsparteien; BAG v. 22.12.2009 – 3 AZR 136/08, NZA-RR 2010, 541. 56 BAG v. 10.3.1992 – 3 AZR 81/91, NZA 1992, 263; v. 22.12.2009 – 3 AZR 136/08, NZA-RR 2010, 541. 57 Die jeweils aktuell gültige Fassung der VBL-Satzung (VBLS) kann auf deren Homepage unter www.vbl.de (Service/Downloadcenter/Die VBL/Satzung) abgerufen werden.

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§ 28 Rz. 28.52

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

28.52 Die §§ 19 bis 23e VBLS und die hierzu erlassenen Ausführungsbestimmungen (Anhänge I bis VII zur Satzung) enthalten die maßgeblichen Bestimmungen zur Beteiligung von Arbeitgebern an der VBL, insbesondere die Voraussetzungen für eine Beteiligung, die aus der Beteiligung folgenden Pflichten, die verschiedenen Varianten einer Beendigung der Beteiligung und die hieraus resultierenden Folgen (insbesondere Zahlung des Gegenwerts).

28.53 Die §§ 24 bis 54 VBLS enthalten die Regelungen zur Versicherung und zum Leistungsrecht, wobei die §§ 26 bis 53 VBLS die weitgehend durch die Altersversorgungstarifverträge vorbestimmten Einzelheiten zur Pflichtversicherung festlegen, während die freiwillige Versicherung über § 54 VBLS durch gesonderte Versicherungsbedingungen58 (Allgemeine Versicherungsbedingungen für die freiwillige Versicherung in Anlehnung an das Punktemodell und Allgemeine Versicherungsbedingungen für die freiwillige fondsgebundene Rentenversicherung) geregelt ist.

28.54 In den §§ 55 bis 58 VBLS ist die Bildung einer Schiedsgerichtsbarkeit für Klagen gegen Entscheidungen der VBL über Rechte und Pflichten aus dem Versicherungs-, dem Beteiligungsverhältnis oder dem Leistungsverhältnis vorgesehen.

28.55 Die Finanzierung und das Rechnungswesen der VBL sind im Detail in den §§ 59 bis 72 VBLS geregelt. In der VBL erfolgt die Finanzierung der Pflichtversicherung weiterhin durch Umlagen (§ 64 VBLS), daneben werden derzeit im Tarifgebiet West Sanierungsgelder (§ 65 VBLS) und im Tarifgebiet Ost Beiträge im Kapitaldeckungsverfahren (§ 66a VBLS) erhoben.

28.56 In den §§ 73 bis 86 VBLS sind schließlich Übergangs- und Schlussvorschriften enthalten, insbesondere in den §§ 75 bis 81 VBLS die durch die Altersversorgungstarifverträge vorgegebenen Regelungen zur Überleitung vom früheren Gesamtversorgungssystem in das neue Punktemodell. b) Zusatzversorgungskassen (AKA)

28.57 Die Mustersatzung der AKA (AKA-MS) bildet die Grundlage der Satzungen der über die AKA organisierten Zusatzversorgungseinrichtungen, die die Bestimmungen der AKA-MS jeweils übernehmen59. Die AKA-MS ist hinsichtlich der Regelungsgegenstände und ihres Aufbaus vergleichbar der VBLS. Da es sich allerdings um eine Mustersatzung handelt, lässt sie in denjenigen Bereichen, die nicht zwingend durch die tarifvertraglichen Regelungen vorgegeben sind, Entscheidungsspielräume und Varianten für die einzelnen Zusatzversorgungseinrichtungen der AKA offen, insbesondere in den Bereichen der Organisation und der Finanzierung. In diesen Bereichen können die Regelungen der einzelnen Zusatzversorgungseinrichtungen also durchaus Unterschiede aufweisen. Häufig bestehen insoweit landesgesetzliche Grundlagen.

28.58 In den §§ 1 bis 10 AKA-MS ist zunächst das Grundmuster für die Organisation der Zusatzversorgungseinrichtungen geregelt, wobei hier naturgemäß Besonderheiten bei den einzelnen Kassen bestehen.

58 AVBextra 01, 02 03 oder 04 und AVBdynamik 01, 02 oder 03, diese sind auf der Homepage der VBL unter www.vbl.de (Service/Downloadcenter/Freiwillige Versicherung) abrufbar. 59 Die AKA-MS ist in ihrer jeweils aktuellen Fassung über die Homepage der AKA unter www.aka. de (Rechtsquellen) abrufbar.

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Betz-Rehm

Rechtliche Grundlagen

Rz. 28.65 § 28

In den §§ 11 bis 15b AKA-MS ist das Verhältnis der Arbeitgeber zu den Zusatzversorgungseinrichtungen geregelt, wobei dieses anders als bei der VBL bei den AKA-Zusatzversorgungskassen als Mitgliedschaft bezeichnet wird.

28.59

Die §§ 16 bis 23 AKA-MS enthalten die Regelungen zu Voraussetzung und Inhalt der Versicherungsverhältnisse (in den §§ 17 bis 22a zur Pflichtversicherung; die freiwillige Versicherung, § 23 AKA-MS, ist auch für den Bereich der AKA üblicherweise in gesonderten Versicherungsbedingungen geregelt).

28.60

Die §§ 30 bis 44 AKA-MS enthalten die Regelungen zu den Leistungen, deren Voraussetzungen und Berechnung. In den §§ 45 bis 52 AKA-MS sind Verfahrensvorschriften und einzelne Pflichten der Versicherten enthalten.

28.61

Zur Finanzierung der kommunalen Zusatzversorgungskassen enthalten die §§ 53 bis 68 AKA-MS die maßgebenden Vorschriften, wobei gerade auch im Bereich der Finanzierung Unterschiede zwischen den verschiedenen Zusatzversorgungskassen bestehen, da diese autonom über die Gestaltung ihrer Finanzierung entscheiden. Insbesondere der Grad der Umstellung der Finanzierung auf die Kapitaldeckung kann von Kasse zu Kasse deutlich abweichen. Die AKA-MS sieht zur Finanzierung der Pflichtversicherung insoweit Umlagen (§ 62 AKA-MS), daneben Sanierungsgelder (§ 63 AKA-MS) und Beiträge im Kapitaldeckungsverfahren (Pflichtbeiträge gemäß § 62 AKA-MS und Zusatzbeiträge gemäß § 64 AKA-MS) vor. Bei den kommunalen Zusatzversorgungskassen besteht dabei regelmäßig ein Abrechnungsverband II (vgl. § 55 AKA-MS), der im Kapitaldeckungsverfahren geführt wird. Zusatzbeiträge fließen in diesen Abrechnungsverband II im Rahmen der schrittweisen Umstellung auf die Kapitaldeckung, Pflichtbeiträge zum Abrechnungsverband II werden erhoben, wenn bereits eine vollständige Umstellung auf eine Kapitaldeckung erfolgt ist oder ein Arbeitgeber in den kapitalgedeckten Abrechnungsverband II gewechselt ist. Für die freiwillige (arbeitnehmerfinanzierte) Versicherung wird ein eigener Anrechnungsverband geführt. Ebenso wie im Bereich der VBL wird auch bei der Vielzahl der kommunalen Zusatzversorgungskassen eine vollständige Umstellung auf eine Kapitaldeckung noch erhebliche Zeit in Anspruch nehmen.

28.62

Die Vorschriften zur Überleitung des bisherigen Gesamtversorgungssystems auf das Punktemodell (welche aufgrund der tarifvertraglichen Vorgaben mit den Regelungen der VBL weitgehend identisch sind) finden sich schließlich in den §§ 69 bis 74 AKA-MS.

28.63

3. Betriebsrentenrecht § 18 BetrAVG enthält Sonderregelungen für die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes, § 17 Abs. 2 BetrAVG eine Ausnahme von der Insolvenzsicherungspflicht der §§ 7 bis 15 BetrAVG für bestimmte Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes (bei denen keine Insolvenzgefahr besteht).

28.64

a) Sonderregelungen für den öffentlichen Dienst (§ 18 BetrAVG) § 18 BetrAVG in der ursprünglichen, bis 31.12.2000 geltenden Fassung wurde durch eine Entscheidung des BVerfG vom 15.7.199860 als mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt. Vor diesem 60 BVerfG v. 15.7.1998 – 1 BvR 1554/89, 1 BvR 963/94, 1 BvR 964/94, NZA 1999, 194 = AP Nr. 26 zu § 18 BetrAVG.

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28.65

§ 28 Rz. 28.65

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Hintergrund wurde § 18 BetrAVG mit Wirkung zum 1.1.2001 neu gefasst61. Da die Systemumstellung der Zusatzversorgung von der Gesamtversorgung zum Punktemodell zu diesem Zeitpunkt noch nicht tarifvertraglich geregelt war, konnte dieser Umstand vom Gesetzgeber bei der Neufassung von § 18 BetrAVG zunächst nicht berücksichtigt werden. Durch das Betriebsrentenstärkungsgesetz62 (BRSG) wurde § 18 BetrAVG, der am Gesamtversorgungssystem ausgerichtet war, durch den Gesetzgeber nunmehr rückwirkend zum 1.1.2002 an die neuen tarifvertraglichen Regelungen angepasst und es wurde klargestellt, dass die Sonderregelungen für den öffentlichen Dienst in § 18 Abs. 2 BetrAVG nur für Versorgungsfälle vor dem 2.1.2002 gelten. Für Versorgungsfälle nach dem 1.1.2002 wird gemäß § 18 Abs. 2a BetrAVG die Höhe der gesetzlich unverfallbaren Anwartschaft auf der Grundlage der jeweils maßgebenden Versorgungsregelung ermittelt. aa) Anwendungsbereich von § 18 BetrAVG

28.66 § 18 BetrAVG knüpft nicht an die Beschäftigung bei einem Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes an, sondern bezieht sich auf die Versicherung über die Zusatzversorgungskassen des öffentlichen Dienstes, Zusatzversorgungseinrichtungen, die mit den Zusatzversorgungskassen des öffentlichen Dienstes ein Überleitungsabkommen abgeschlossen haben oder auf eine Versorgung nach dem Hamburgischen Zusatzversorgungsgesetz oder nach dem Bremischen Ruhelohngesetz63. Durch das BRSG wurde dabei klargestellt, dass die Sonderregelungen insgesamt für die Zusatzversorgungseinrichtungen Anwendung finden, sowohl für die Pflichtversicherung als auch für die freiwillige Versicherung. § 18 BetrAVG betrifft also auch Versorgungszusagen privatrechtlicher Arbeitgeber, wenn diese über die öffentlichen Zusatzversorgungskassen durchgeführt werden. Die Sonderregelungen für die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes gelten aber nicht mehr, wenn ein Arbeitgeber aus der Zusatzversorgungseinrichtung ausgeschieden ist und für seine Arbeitnehmer eine ablösende betriebliche Altersversorgung geschaffen hat (auch wenn diese Versorgung inhaltlich identisch sein mag, aber nicht mehr in Form einer Versicherung über eine Zusatzversorgungskasse des öffentlichen Dienstes durchgeführt wird). Es gelten dann die Regelungen des BetrAVG in ihrer allgemeinen Fassung. bb) Grundsatz: Ausnahme zu den §§ 2, 2a, 5, 16, 27, 28 BetrAVG

28.67 § 18 Abs. 1 BetrAVG legt zunächst grundsätzlich fest, dass für den so definierten Geltungsbereich die gesetzlichen Bestimmungen in den §§ 2 und 2a Abs. 1, 3 und 4 BetrAVG (Höhe 61 Allerdings wurde auch die Verfassungsmäßigkeit von § 18 BetrAVG nF im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in Zweifel gezogen. Vor dem BVerfG war unter dem Az. 1 BvR 1700/02 eine Verfassungsbeschwerde erhoben worden, die sich auch gegen die gesetzliche Neuregelung in § 18 BetrAVG gerichtet hatte. Das BVerfG hat in einem Beschluss v. 9.5.2007 (BetrAV 2007, 576 f.) diese Verfassungsbeschwerde allerdings nicht zur Entscheidung angenommen und damit nicht abschließend über die Verfassungsmäßigkeit von § 18 BetrAVG nF entschieden. Vgl. zu dieser Thematik auch Wein, BetrAV 2006, 331 (333); Wein, BetrAV 2007, 537 (538); für die Verfassungsmäßigkeit des § 18 BetrAVG auch Hügelschäffer, BetrAV 2004, 354 (359). Auch der BGH hat in seiner Entscheidung zur Systemumstellung für die rentenfernen Versicherten (BGH v. 14.11.2007 – IV ZR 74/06, NVwZ 2008, 455) zugrunde gelegt, dass der in § 18 Abs. 2 Nr. 1 BetrAVG enthaltene Faktor von 2,25 pro Pflichtversicherungsjahr nicht den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG standhalte und innerhalb der Gruppe der Versicherten der Zusatzversorgung zu einer sachwidrigen Ungleichbehandlung führe. 62 Gesetz zur Stärkung der betrieblichen Altersversorgung und zur Änderung anderer Gesetze (Betriebsrentenstärkungsgesetz) v. 17.8.2017, BGBl. I S. 3214 ff. 63 Zum Anwendungsbereich von § 18 BetrAVG Blomeyer/Rolfs/Otto, § 18 BetrAVG Rz. 21 f.

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Rechtliche Grundlagen

Rz. 28.69a § 28

der unverfallbaren Anwartschaft), § 5 BetrAVG (Auszehrung und Anrechnung), § 16 BetrAVG (Anpassungsprüfungspflicht) sowie die Übergangsregelungen in den §§ 27 und 28 BetrAVG nicht gelten, soweit sich aus § 18 BetrAVG nichts Abweichendes ergibt. cc) Sonderregelung zur Portabilität Gemäß § 18 Abs. 1 BetrAVG aE gelten die gesetzlichen Regelungen des § 4 BetrAVG zur Übertragung von Versorgungsanwartschaften und laufenden Leistungen nicht, wenn die Anwartschaft oder die laufende Leistung ganz oder teilweise umlage- oder haushaltsfinanziert ist. Es besteht dann also insbesondere kein Rechtsanspruch der Arbeitnehmer auf Übertragung gemäß § 4 Abs. 3 BetrAVG. Hintergrund dieser Ausnahme ist, dass bei umlage- oder haushaltsfinanzierten Versorgungsanwartschaften kein Kapital vorhanden ist, das übertragen werden könnte. Allerdings kann bei einem Arbeitgeberwechsel innerhalb des Systems der öffentlichen Zusatzversorgung nach den jeweiligen Satzungsregelungen eine Überleitung bestehender Versicherungen zwischen den verschiedenen Zusatzversorgungskassen nach Maßgabe der zwischen den Zusatzversorgungseinrichtungen bestehenden Überleitungsabkommen erfolgen. Wenn die Anwartschaft bei der Zusatzversorgungskasse jedoch vollständig (und nicht nur teilweise) kapitalgedeckt ist, gelten auch die gesetzlichen Vorschriften zur Portabilität in § 4 BetrAVG64.

28.68

dd) Sonderregelung zur Höhe unverfallbarer Anwartschaften § 18 Abs. 2 BetrAVG enthält für die Versorgung über die Zusatzversorgungskassen des öffentlichen Dienstes mit einem Eintritt des Versorgungsfalles vor dem 2.1.2002 eine von der Grundnorm der ratierlichen Berechnung gemäß § 2 Abs. 1 BetrAVG abweichende Vorschrift zur Höhe der unverfallbaren Anwartschaften. Da diese Regelung auf Altfälle beschränkt ist, gilt sie nur für die Pflichtversicherung, da die freiwillige Versicherung erst nach der Systemumstellung als weitere Möglichkeit der betrieblichen Altersversorgung hinzugekommen ist. § 18 Abs. 2 BetrAVG begründet dabei für die vorzeitig ausgeschiedenen Arbeitnehmer einen eigenständigen Anspruch auf eine Zusatzrente. § 18 Abs. 2 BetrAVG basiert für diese Altfälle weiterhin auf dem früheren Gesamtversorgungssystem. Für die Berechnung der unverfallbaren Anwartschaften bei Ausscheiden vor Eintritt eines Versorgungsfalles hat § 18 Abs. 2 BetrAVG daher seine Bedeutung weitgehend verloren.

28.69

Allerdings kommt der in § 18 Abs. 2 BetrAVG niedergelegten Berechnungsmethodik weiterhin eine nicht unerhebliche mittelbare Bedeutung zu, da die Tarifvertragsparteien für die sog. „rentenfernen Jahrgänge“ zur Ermittlung der erdienten Anwartschaften, die als Startgutschrift in das neue Punktemodell zu übertragen waren, auf die Berechnungssystematik des § 18 Abs. 2 BetrAVG verwiesen haben (s. hierzu und zur Rechtsprechung, die in dem in § 18 Abs. 2 BetrAVG zugrunde gelegten Faktor von 2,25 einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG sieht, Rz. 28.247 ff.). Für nach dem 1.1.2002 eingetretene Versorgungsfälle wurde durch das BRSG in § 18 Abs. 2a BetrAVG eine Neuregelung für die Berechnung der Höhe der unverfallbaren Anwartschaft geschaffen. Der neue § 18 Abs. 2a BetrAVG enthält, ebenso wie § 18 Abs. 2 BetrAVG für die Altfälle, einen Anspruch der Beschäftigten gegenüber der Zusatzversorgungseinrichtung. § 18 Abs. 2a BetrAVG gilt gleichermaßen für die Pflicht- wie auch für die freiwillige Versicherung. § 18 Abs. 2a BetrAVG enthält dabei keine eigenständige Regelung zur Berechnung der Höhe der unverfallbaren Anwartschaft, sondern verweist hierzu auf die jeweils maßgeblichen Ver64 Blomeyer/Rolfs/Otto, § 18 BetrAVG Rz. 49.

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28.69a

§ 28 Rz. 28.69a

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

sorgungsregelungen (also den ATV bzw. den ATV-K, s. hierzu Rz. 28.169 f.). Für Personen mit gesetzlich unverfallbarer Anwartschaft, deren Beschäftigungsverhältnis vor dem 1.1.2002 vor Eintritt des Versorgungsfalls geendet hat und bei denen der Versorgungsfall nach dem 1.1.2002 eintritt, haben die Zusatzversorgungseinrichtungen gemäß § 30d Abs. 2a BetrAVG die Anwartschaft für Zeiten bis zum 1.1.2002 nach § 18 Abs. 2 BetrAVG unter Berücksichtigung von § 18 Abs. 5 BetrAVG zu ermitteln. ee) Sonderregelung zur Betriebsrentenanpassung

28.70 Die allgemeinen Vorschriften des § 16 BetrAVG zur Anpassung laufender Renten gelten für die öffentlichen Zusatzversorgungskassen nicht. Stattdessen sieht § 18 Abs. 4 BetrAVG für die Pflichtversicherung eine jährliche 1 %ige Anpassung jeweils zum 1. Juli eines jeden Jahres vor. Eine solche jährliche Anpassung der laufenden Leistungen um 1 % ist auch im neuen Punktemodell durch die tarifvertraglichen Vorschriften (§ 11 Abs. 1 ATV/ATV-K) und die dementsprechenden Satzungsregelungen (§ 39 VBLS, § 37 AKA-MS) vorgesehen. Dies entspricht letztendlich § 16 Abs. 3 Nr. 1 BetrAVG, wobei es anders als dort (vgl. § 30c Abs. 1 BetrAVG) gemäß § 18 Abs. 4 BetrAVG allerdings unerheblich ist, ob die Zusage vor oder seit dem 1.1.1999 erteilt wurde. Für die freiwillige Versicherung verweist § 18 Abs. 4 BetrAVG bezüglich der Betriebsrentenanpassung auf die jeweils maßgeblichen Versorgungsregelungen. Laut der Gesetzesbegründung zum BRSG richtet sich die Dynamisierung der Betriebsrenten aus der freiwilligen Versicherung insoweit nach den jeweiligen Versicherungsbedingungen der Zusatzversorgungseinrichtungen, welche die Voraussetzungen der gesetzlichen Anpassungsprüfungspflicht des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG für Pensionskassen erfüllen. ff) Sonderregelung zum Aufeinandertreffen mehrerer Versorgungsleistungen

28.71 § 18 Abs. 5 BetrAVG enthält ein Kumulationsverbot: beim Aufeinandertreffen mehrerer Versorgungsleistungen (Versorgungs- oder Versicherungsrenten) mehrerer Zusatzversorgungseinrichtungen iSd. § 18 Abs. 2, 3 oder 7 BetrAVG soll nur die im Zahlbetrag höhere Rente zu leisten sein. Aufgrund der Neuregelung der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes und der Überführung in das Punktemodell ist auch diese Vorschrift allerdings überholt und hat letztlich keinen eigenständigen Regelungsgehalt mehr65. gg) Rechtsweg

28.72 In § 18 Abs. 8 BetrAVG ist eine Regelung zum Rechtsweg enthalten. Gegen Entscheidungen der Zusatzversorgungseinrichtung über Ansprüche nach dem BetrAVG ist der Rechtsweg gegeben, der für Versicherte der Einrichtung gilt. Gegen Entscheidungen der Zusatzversorgungseinrichtung selbst ist insoweit (soweit nicht bei der VBL uU ein Schiedsverfahren greift) der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet, da es sich bei der Versorgung über die VBL und die anderen Zusatzversorgungsanstalten letztendlich um ein privatrechtliches Versicherungsverhältnis handelt66 (Einzelheiten zum Rechtsweg und zu eventuellen Rechtsstreitigkeiten s. Rz. 28.305 ff.).

65 Vgl. hierzu noch die Kommentierung bei Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Bode/Pühler, 2. Aufl., § 18 BetrAVG Rz. 49. 66 Bei den Satzungen der Zusatzversorgungseinrichtungen handelt es sich um allgemeine Versicherungsbedingungen im Rahmen eines Gruppenversicherungsvertrages; BVerfG v. 22.3.2000 – 1 BvR 1136/96, NJW 2000, 3341 = AP Nr. 27 zu § 18 BetrAVG; st. Rspr. des BGH, vgl. zB BGH v. 14.5.2003 – IV ZR 72/02, MDR 2003, 1051 = VersR 2003, 893; vgl. hierzu auch § 2 VBLS.

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Rechtliche Grundlagen

Rz. 28.74 § 28

hh) Sonderregelung für in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherungsfreie Eine eigenständige Bedeutung kommt allerdings weiterhin § 18 Abs. 9 BetrAVG zu. Demgemäß dürfen bei Personen, die in der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI versicherungsfrei waren und aus dieser Beschäftigung ausscheiden, die aus der unverfallbaren Anwartschaft resultierenden Ansprüche auf Zusatzversorgung nicht geringer sein, als der Rentenanspruch, der sich ergibt, wenn der Arbeitnehmer für die Zeit seiner versicherungsfreien Beschäftigung in der gesetzlichen Rentenversicherung nachversichert worden wäre67. Eine solche Nachversicherung käme gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 SGB VI in Betracht, wenn ein Arbeitnehmer ohne Anspruch oder Anwartschaft auf Versorgung aus dem Beschäftigungsverhältnis ausscheidet. Die Regelung soll die ansonsten bestehende Notwendigkeit einer Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung verhindern68.

28.73

b) Insolvenzsicherung im Rahmen der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes (§ 17 Abs. 2 BetrAVG) Nach Maßgabe der §§ 7 ff. BetrAVG besteht grundsätzlich eine Verpflichtung des Arbeitgebers, laufende Leistungen und gesetzlich unverfallbare Anwartschaften der betrieblichen Altersversorgung gegen Insolvenz über den Pensions-Sicherungs-Verein auf Gegenseitigkeit (PSVaG) abzusichern. Dies gilt für Ansprüche und Anwartschaften der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes allerdings nicht bzw. nur in Ausnahmefällen. Eine grundsätzliche Bereichsausnahme von den gesetzlichen Regelungen über die Insolvenzsicherungspflicht ist in § 17 Abs. 2 BetrAVG enthalten. Von der Pflicht zur Insolvenzsicherung gemäß den §§ 7 bis 15 BetrAVG sind drei Gruppen öffentlicher Arbeitgeber ausgenommen69: Zur ersten Gruppe gehören der Bund, die Länder und die Gemeinden70. Zur zweiten Gruppe gehören sonstige Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechtes, die (gemäß den jeweiligen landesgesetzlichen Regelungen) nicht insolvenzfähig sind71. Zur dritten Gruppe gehören schließlich sonstige juristische Personen des öffentlichen Rechts, bei denen der Bund, ein Land oder eine Gemeinde kraft Gesetzes (im formellen oder materiellen Sinn72) die Zahlungsfähigkeit sichert. Hintergrund für die Ausnahme von der Insolvenzsicherungspflicht ist, dass für Arbeitgeber dieser Gruppen ein abzusicherndes Insolvenzrisiko bereits von vorneherein nicht besteht oder zumindest (für die dritte Gruppe) die Zahlungsfähigkeit durch eine Gewährträgerhaftung gesichert ist. Bereits aus diesem Grund besteht für solche Arbeitgeber grundsätzlich keine Insolvenzsicherungspflicht – unabhängig vom Durchführungsweg der jeweiligen Versorgungszusagen. 67 Bei der Berechnung der fiktiven gesetzlichen Rente ist nur die Zeit des Beschäftigungsverhältnisses zu berücksichtigen, in dem die unverfallbare Versorgungsanwartschaft erworben wurde; BAG v. 19.6.2012 – 3 AZR 798/11, NZA 2013, 433 = AP Nr. 32 zu § 18 BetrAVG. 68 Blomeyer/Rolfs/Otto, § 18 BetrAVG Rz. 65. 69 Ein guter Überblick über die bisher gerichtlich entschiedenen Einzelfälle findet sich bei Blomeyer/ Rolfs/Otto, § 17 BetrAVG Rz. 130 f. 70 Diese sind gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 1 InsO (für Bund und Länder) bzw. § 12 Abs. 1 Nr. 2 InsO in Verbindung mit landesgesetzlichen Vorschriften (für die Gemeinden) nicht insolvenzfähig. 71 Eine gute Übersicht über derartige landesgesetzliche Regelungen findet sich bei Blomeyer/Rolfs/ Otto, § 17 BetrAVG Rz. 137. 72 Vgl. hierzu Blomeyer/Rolfs/Otto, § 17 BetrAVG Rz. 143; ErfK/Steinmeyer, § 17 BetrAVG Rz. 15 jeweils mwN.

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28.74

§ 28 Rz. 28.74

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Nicht von dieser Ausnahmeregelung erfasst sind alle nicht genannten juristischen Personen des öffentlichen Rechts sowie juristische Personen des Privatrechts, auch wenn an ihnen der Bund, Länder oder Gemeinden ganz oder überwiegend beteiligt sind. Solche Arbeitgeber unterfallen grundsätzlich den gesetzlichen Bestimmungen zur Insolvenzsicherungspflicht in den §§ 7 bis 15 BetrAVG.

28.75 Soweit solche grundsätzlich insolvenzsicherungspflichtigen Arbeitgeber eine Versorgung über die öffentlichen Zusatzversorgungseinrichtungen gewähren, besteht allerdings ebenfalls keine Insolvenzsicherungspflicht: Bei den öffentlichen Zusatzversorgungseinrichtungen handelt es sich im Rahmen der Klassifizierung des BetrAVG um Pensionskassen73. Zusagen auf Pensionskassenleistungen sind nach § 7 BetrAVG nicht insolvenzgesichert74. Die Verpflichtung zur Insolvenzsicherung von Leistungen und Anwartschaften der betrieblichen Altersversorgung im öffentlichen Dienst beschränkt sich damit auf die seltenen Fälle öffentlicher Arbeitgeber außerhalb des § 17 Abs. 2 BetrAVG, die ihre betriebliche Altersversorgung über einen insolvenzsicherungspflichtigen Durchführungsweg erbringen75.

IV. Überblick über die Rechtsbeziehungen 28.76 Bei der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes über die Zusatzversorgungseinrichtungen besteht – wie auch bei anderen Formen der betrieblichen Altersversorgung über einen externen Versorgungsträger – ein Dreiecksverhältnis. Zu unterscheiden sind drei Rechtsverhältnisse: das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (das sog. Grundverhältnis oder Versorgungsverhältnis), das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und der jeweiligen Zusatzversorgungseinrichtung (Beteiligungs- oder Mitgliedschaftsverhältnis) und das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und der jeweiligen Zusatzversorgungseinrichtung (die Versicherung). 1. Arbeitgeber – Arbeitnehmer (das Grundverhältnis/Versorgungsverhältnis)

28.77 Üblicherweise aufgrund tarifvertraglicher Bestimmungen (§ 25 TVöD, § 25 TV-L, § 26 TVÄrzte/VKA iVm. dem ATV/ATV-K/ATV-Ärzte/VKA/ATV-K-Ärzte/VKA), die zwischen den Arbeitsvertragsparteien entweder kraft beidseitiger Tarifbindung oder durch arbeitsvertragliche Inbezugnahme gelten (s. Rz. 28.44 ff.), sind die Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes bei Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen verpflichtet, ihre Arbeitnehmer zum Zwecke einer zusätzlichen Alters- und Hinterbliebenenversorgung bei einer der Zusatzversorgungseinrichtungen des öffentlichen Dienstes (VBL oder Zusatzversorgungskassen der AKA) zu versichern und die Umlage/Beiträge (ggf. zuzüglich einer Beteiligung der Arbeitnehmer an der Finanzierung) an die Zusatzversorgungseinrichtung abzuführen.

28.78 Gemäß § 25 TVöD/TV-L, § 26 TV-Ärzte/VKA besteht insoweit also ein Versorgungsverschaffungsanspruch: Der Arbeitgeber hat die Arbeitnehmer bei Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen bei der Zusatzversorgungseinrichtung anzumelden. Ein Anspruch der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber unmittelbar auf die Erbringung von Versorgungsleistungen durch diesen selbst besteht grundsätzlich nicht. Kommt allerdings der Arbeit73 Blomeyer/Rolfs/Otto, § 18 BetrAVG Rz. 7. 74 Höfer, § 7 BetrAVG Rz. 144; Blomeyer/Rolfs/Otto, § 7 BetrAVG Rz. 66, speziell zu den öffentlichen Zusatzversorgungseinrichtungen § 17 BetrAVG Rz. 148, § 18 BetrAVG Rz. 55. 75 Blomeyer/Rolfs/Otto, § 18 BetrAVG Rz. 55.

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Überblick über die Rechtsbeziehungen

Rz. 28.80 § 28

geber seiner Verpflichtung zur Anmeldung/Versicherung der Arbeitnehmer bei der Zusatzversorgungseinrichtung nicht nach, hat er aus dem Grundverhältnis für die Erfüllung der Versorgungsleistungen einzustehen (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG76). Soweit eine (Nach-) Versicherung bei der zuständigen Versorgungskasse möglich ist, richtet sich der Verschaffungsanspruch hierauf77. Ist eine Nachversicherung allerdings nicht möglich, haftet der Arbeitgeber unmittelbar für die Erfüllung der Versorgungsleistungen so, als ob der Arbeitnehmer ordnungsgemäß bei der Zusatzversorgungseinrichtung versichert worden wäre, bzw. er hat in anderer Weise für eine nach Art und Umfang gleiche Versorgung zu sorgen78. Der Versorgungsverschaffungsanspruch ist Erfüllungsanspruch, nicht Schadensersatzanspruch79. Er wird erst mit Eintritt des Versorgungsfalles fällig (jedenfalls dann, wenn der Arbeitgeber nicht in der Lage ist, die ursprünglich geschuldete Zusatzversorgung zu verschaffen). Er kann deshalb vorher weder verfallen noch verjähren oder verwirken80. Der Versorgungsverschaffungsanspruch umfasst nicht den Ausgleich steuerlicher Nachteile; insoweit kommen ggf. nur ein verschuldensabhängiger Schadensersatzanspruch oder evtl. Bereicherungsansprüche in Betracht81. Der tarifvertragliche Verschaffungsanspruch ist insolvenzgeschützt82. Für Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus dem Grundverhältnis sind die Arbeitsgerichte zuständig83.

28.79

Aus den rechtlichen Beziehungen des Grundverhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer folgen keine unmittelbaren Rechte und Pflichten zwischen den Arbeitgebern und der jeweiligen Zusatzversorgungskasse bzw. zwischen der Zusatzversorgungskasse und den Arbeitnehmern. Diese Rechtsbeziehungen folgen vielmehr den Satzungsregelungen der jeweiligen Zusatzversorgungskasse. Tarifvertrag bzw. Arbeitsvertrag geben dem Arbeitnehmer einen ggf. einklagbaren Anspruch gegen den Arbeitgeber auf Versicherung bei der jeweiligen

28.80

76 Zum Grundverhältnis und den hieraus folgenden Pflichten grundlegend Blomeyer/Rolfs/Otto, § 1 BetrAVG Rz. 319 ff. mwN. 77 Zur Unterscheidung der Versorgungszusage, der Bestimmung des internen oder externen Durchführungsweges und dem Versorgungsverschaffungsanspruch vgl. auch BAG v. 12.6.2007 – 3 AZR 186/06, ArbRB 2007, 357 = NZA-RR 2008, 537; v. 12.11.2013 – 3 AZR 92/12, AP Nr. 69 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung; demgemäß hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Einhaltung des Durchführungsweges, wenn sich dies aus den für den Betriebsrentenanspruch maßgeblichen Regelungen ergibt. 78 Blomeyer/Rolfs/Otto, § 18 BetrAVG Rz. 16; BAG v. 23.2.1988 – 3 AZR 408/86, NZA 1989, 64; v. 14.12.1999 – 3 AZR 713/98, NZA 2000, 1348; v. 29.8.2000 – 3 AZR 201/00, NZA 2001, 163; zum Versorgungsverschaffungsanspruch bei Betriebsübergang BAG v. 18.9.2001 – 3 AZR 689/00, ArbRB 2002, 166 = NZA 2002, 1391; v. 16.3.2010 – 3 AZR 744/08, NZA-RR 2010, 610; v. 15.2.2011 – 3 AZR 54/09, NZA 2011, 928. 79 BAG v. 12.11.1991 – 3 AZR 489/90, BB 1992, 1216 = AP Nr. 17 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung; v. 20.3.2001 – 3 AZR 276/00, AP Nr. 16 zu § 1 BetrAVG Beamtenversorgung. 80 BAG v. 18.9.2001 – 3 AZR 689/00, ArbRB 2002, 166 = NZA 2002, 1391; vgl. auch BAG v. 12.6.2007 – 3 AZR 186/06, ArbRB 2007, 357 = NZA-RR 2008, 537. 81 BAG v. 14.12.1999 – 3 AZR 713/98, NZA 2000, 1348. 82 BAG v. 23.3.1999 – 3 AZR 631/97 (A), NZA 2000, 90; v. 29.8.2000 – 3 AZR 201/00, NZA 2001, 163; der Insolvenzschutz des Verschaffungsanspruchs ist allerdings strittig, vgl. Blomeyer/Rolfs/ Otto, § 1 BetrAVG Rz. 333 ff.; zur Frage des Insolvenzschutzes bzgl. der Einstandspflicht des Arbeitgebers bei Leistungskürzungen einer Pensionskasse vgl. den Vorlagebeschluss des BAG v. 20.2.2018 – 3 AZR 142/16 (A), NZA 2018, 1142, dort verneint das BAG einen Insolvenzschutz auf Basis des nationalen Rechts. 83 Stürmer, Der Rechtsweg in Fragen der Zusatzversorgung, NJW 2004, 2480 (2482) mwN.

Betz-Rehm

1089

§ 28 Rz. 28.80

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Zusatzversorgungskasse. Sie verpflichten jedoch nicht die Kasse, die Versicherung durchzuführen84.

28.81 Aus dem Grundverhältnis können Nebenpflichten des Arbeitgebers gegenüber den Arbeitnehmern, insbesondere Belehrungs- und Informationspflichten85, bestehen. Bei Begründung des Arbeitsverhältnisses besteht nach der ständigen Rechtsprechung des BAG insoweit die arbeitsvertragliche Nebenpflicht, die Bewerber oder angestellten Arbeitnehmer auf die Versorgungsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst hinzuweisen und über die hierfür erforderlichen Anträge und sonstigen Mitwirkungshandlungen zu unterrichten. Dem Arbeitgeber obliegt es darüber hinaus, richtig, eindeutig und vollständig über die Zweckmäßigkeit der verschiedenen Versorgungswege zu belehren, wenn er auf Verlangen eines Arbeitnehmers auch insoweit Auskunft gibt (wozu allerdings keine grundsätzliche Verpflichtung besteht)86. Solche Informationspflichten waren in der Vergangenheit insbesondere im Zusammenhang mit einem vorzeitigen Ausscheiden von Arbeitnehmern aus dem Arbeitsverhältnis unter der Geltung des Gesamtversorgungssystems streitig geworden. Da ein Anspruch auf dynamische Versorgungsrente nach den maßgeblichen Bestimmungen nur bestand, wenn der Arbeitnehmer bis zum Eintritt eines Versorgungsfalles in einem zusatzversorgungspflichtigen Arbeitsverhältnis stand, verloren solche Arbeitnehmer diesen Anspruch bei einem vorzeitigen Ausscheiden und behielten lediglich einen Anspruch auf die regelmäßig deutlich niedrigere Versicherungsrente. Die Rechtsprechung hatte in derartigen Fällen häufig erweiterte Aufklärungspflichten der öffentlichen Arbeitgeber angenommen (zB insbesondere dann, wenn eine einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber veranlasst wurde87, ggf. auch, wenn der Abschluss eines Aufhebungsvertrages in einem zeitlichen oder sachlichen Zusammenhang mit dem Eintritt in den Ruhestand stand88, nicht jedoch, wenn der Arbeitnehmer die Vertragsbeendigung selbst vorschlägt und so begründet, dass etwaige Ren84 Gilbert/Hesse, Einl. Rz. 36. 85 Grundlegend zu Hinweis-, Aufklärungs- und Beratungspflichten im Betriebsrentenrecht Reinecke, BetrAV 2005, 614 ff. = RdA 2005, 129 ff.; Reinecke, NZA 2015, 1153; Höfer, Betriebsrentenrecht Bd. 1, Kapitel 13; aus der Rechtsprechung BAG v. 14.1.2009 – 3 AZR 71/07, NZA 2010, 63: jedem Arbeitsverhältnis wohnt die Nebenpflicht des Arbeitgebers inne, die im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehenden Interessen des Arbeitnehmers so zu wahren, wie dies unter Berücksichtigung der Interessen und Belange beider Vertragspartner nach Treu und Glauben verlangt werden kann. Daraus können sich zum einen Hinweis- und Informationspflichten des Arbeitgebers ergeben. Zum anderen hat dieser, wenn er seinen Arbeitnehmern bei der Wahrnehmung ihrer Interessen behilflich ist, zweckentsprechend zu verfahren und sie vor drohenden Nachteilen zu bewahren. Im vorliegenden Fall musste der Arbeitgeber zwar keine detaillierten Auskünfte über die Berechnung der Zusatzversorgung erteilen, sondern durfte die Arbeitnehmer an die VBL verweisen. Er musste aber die Arbeitnehmer in die Lage versetzen, zweckentsprechende Anfragen an die VBL zu stellen. Er musste ihnen mitteilen, was sie zu beachten haben, wenn sie bei der VBL eine Rentenauskunft beantragen. Vgl. auch LAG Rheinland-Pfalz v. 4.9.2008 – 2 Sa 78/08, BeckRS 2009, 54447 = ZTR 2009, 274 zu Informationspflichten des Arbeitgebers im Zusammenhang mit dem Verfahren zur Bestimmung der Startgutschriften für rentennahe Versicherte (Beibringung einer aktuellen Rentenauskunft der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 33 Abs. 4 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 4 VBLS, § 73 AKA-MS). 86 BAG v. 23.5.1989 – 3 AZR 257/88, NVwZ 1990, 407; v. 13.12.1988 – 3 AZR 252/87, AP Nr. 22 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen; v. 13.11.1984 – 3 AZR 255/84, AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen; v. 18.9.1984 – 3 AZR 118/82, AP Nr. 6 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen. 87 BAG v. 17.10.2000 – 3 AZR 605/99, NZA 2001, 206. 88 BAG v. 13.11.1984 – 3 AZR 255/84, AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen.

1090

Betz-Rehm

Überblick über die Rechtsbeziehungen

Rz. 28.83 § 28

tennachteile erkennbar keine entscheidende Rolle spielen sollen89, oder im Fall einer krankheitsbedingten Arbeitgeberkündigung90). Da durch die Neuordnung der Zusatzversorgung die Unterscheidung zwischen Versorgungsund Versicherungsrente nicht mehr besteht, dürfte derartigen Belehrungs- und Aufklärungspflichten im Zusammenhang mit dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis zukünftig wohl eine geringere Bedeutung zukommen, gleichwohl kann das vorzeitige Ausscheiden auf die Versorgung weiterhin Auswirkungen haben (zB wenn ein Arbeitnehmer die für die Versorgung erforderliche Wartezeit von 60 Umlagemonaten gemäß § 34 VBLS noch nicht erfüllt hat). Auch unter der Geltung des neuen Punktemodells sollten deshalb die von der Rechtsprechung statuierten Aufklärungspflichten nicht unberücksichtigt bleiben. Auswirkungen können sich auch aus früheren Verletzungen von Auskunfts- und Informationspflichten ergeben, soweit diese über die Berechnung der Startgutschriften im neuen Punktemodell fortwirken91. Der Arbeitgeber ist dem Arbeitnehmer zu Schadensersatz verpflichtet, wenn er unvollständige oder unrichtige Auskünfte über die Zusatzversorgung erteilt und dem Arbeitnehmer dadurch ein Schaden entsteht92. Hieran hat sich durch die Systemumstellung auf das Punktemodell nichts geändert. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Zusatzversorgungskassen Merkblätter erstellt haben, die Hinweise zur Zusatzversorgung für die Arbeitnehmer enthalten. Für Arbeitgeber dürfte es empfehlenswert sein, auf diese Merkblätter zu verweisen bzw. diese den Arbeitnehmern zur Verfügung zu stellen93 und die Arbeitnehmer im Übrigen bei speziellen Anfragen an die jeweilige Zusatzversorgungskasse zu verweisen. Gemäß Abs. 2 Buchst. d der Ausführungsbestimmungen zu § 21 Abs. 2 VBLS sind die an der VBL beteiligten Arbeitgeber verpflichtet, ihren Beschäftigten die von der VBL zur Verfügung gestellten Informationsmaterialien (insbesondere auch die Satzung) auszuhändigen94 und für den Bereich der Pflichtversicherung ggf. zu erläutern.

28.82

Schließlich folgt aus dem Arbeitsvertrag und dem Versorgungsverschaffungsanspruch auch eine über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hinauswirkende Nebenpflicht des Arbeitgebers zugunsten der Arbeitnehmer, gegenüber der Zusatzversorgungskasse inhaltlich richtige Angaben zu machen, soweit sie für Grund und Höhe des Zusatzversorgungsanspruchs von Bedeutung sein können95, insbesondere über das zusatzversorgungspflichtige Entgelt96.

28.83

89 BAG v. 18.9.1984 – 3 AZR 118/82, AP Nr. 6 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen; v. 13.11.1984 – 3 AZR 255/84, AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen. Eine Belehrungspflicht kann nach BAG v. 23.5.1989 – 3 AZR 257/88, NVwZ 1990, 407 allerdings auch bei einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf Wunsch des Arbeitnehmers uU dann bestehen, wenn der Arbeitnehmer wegen besonderer Umstände darauf vertrauen durfte, der Arbeitgeber werde sich um die Altersversorgung kümmern. 90 BAG v. 23.9.2003 – 3 AZR 658/02, ArbRB 2004, 68 = AP Nr. 3 zu § 1 BetrAVG Auskunft. 91 Vgl. BAG v. 14.1.2009 – 3 AZR 71/07, NZA 2010, 63. 92 BAG v. 13.11.1984 – 3 AZR 255/84, AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen; v. 17.10.2000 – 3 AZR 605/99, NZA 2001, 206; v. 14.1.2009 – 3 AZR 71/07, NZA 2010, 63. 93 Vgl. BAG v. 23.9.2003 – 3 AZR 658/02, ArbRB 2004, 68 = AP Nr. 3 zu § 1 BetrAVG Auskunft; v. 13.11.1984 – 3 AZR 255/84, AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen. 94 BAG v. 15.10.1985 – 3 AZR 612/83, AP Nr. 12 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen: es besteht insoweit nicht nur eine Pflicht des Arbeitgebers gegenüber der VBL sondern auch gegenüber den Arbeitnehmern. 95 BAG v. 21.11.2000 – 3 AZR 415/99, NZA 2001, 661. 96 BAG v. 14.10.1998 – 3 AZR 377/97, NZA 1999, 876; vgl. hierzu nunmehr aber § 51 Abs. 2 VBLS, § 51 Abs. 2 AKA-MS, § 21 Abs. 2 ATV/ATV-K, demgemäß Beschäftigte nur innerhalb einer Ausschlussfrist von sechs Monaten nach Zugang des jährlichen Versicherungsnachweises gegenüber

Betz-Rehm

1091

§ 28 Rz. 28.83

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Hat ein Arbeitgeber durch unrichtige Angaben zunächst eine mit Tarifvertrag und Satzung der Zusatzversorgungskasse im Widerspruch stehende Versorgungslage geschaffen, muss er das ihm Mögliche dazu tun, dem Arbeitnehmer die diesem von Rechts wegen zustehende Versorgung zu verschaffen, indem er die unrichtigen Angaben richtig stellt. 2. Arbeitgeber – Zusatzversorgungskasse (die Beteiligung/Mitgliedschaft)

28.84 Die Rechtsbeziehungen zwischen dem Arbeitgeber und der jeweiligen Zusatzversorgungseinrichtung werden durch deren Satzung geregelt (vgl. für die VBL die §§ 19 ff. VBLS, für die Zusatzversorgungskassen der AKA die §§ 11 ff. AKA-MS) und ggf. durch die Ausführungsbestimmungen zur Satzung. Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und der VBL wird als Beteiligung bezeichnet, für Zusatzversorgungskassen der AKA wird üblicherweise der Begriff der Mitgliedschaft verwendet.

28.85 Die Beziehungen zwischen dem Arbeitgeber und der jeweiligen Zusatzversorgungskasse sind privatrechtlicher Natur97. Es handelt sich um ein privatrechtliches Versicherungsverhältnis zwischen dem Arbeitgeber und der Zusatzversorgungskasse (vgl. § 2 Abs. 1 VBLS, § 13 Abs. 1 AKA-MS), um einen Gruppenversicherungsvertrag. Versicherungsnehmer der Pflichtversicherung ist der Arbeitgeber (vgl. § 24 Abs. 2 VBLS, § 16 Abs. 2 AKA-MS), der alle seine versicherungspflichtigen Arbeitnehmer zu dieser Gruppenversicherung anmeldet98, Versicherungsnehmer der freiwilligen Versicherung ist jeweils der Arbeitnehmer selbst.

28.86 Die Zusatzversorgungskassen sind nicht Träger öffentlicher Gewalt. Bei den Satzungsregelungen der Zusatzversorgungskassen handelt es sich nicht um Normen des öffentlichen Rechts, sondern um allgemeine Geschäftsbedingungen in Form allgemeiner Versicherungsbedingungen99.

28.87 Aus der privatrechtlichen Natur der Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgeber und Zusatzversorgungseinrichtung folgt, dass für Streitigkeiten aus der Beteiligung/der Mitgliedschaft die ordentlichen Gerichte zuständig sind100.

97

98 99

100

dem Arbeitgeber schriftlich beanstanden können, dass die von diesem zu entrichtenden Umlagen/Beiträge oder die zu meldenden Entgelte nicht oder nicht vollständig an die Zusatzversorgungskasse abgeführt oder gemeldet worden sind. Lediglich bei der Zusatzversorgungskasse beim kommunalen Versorgungsverband Brandenburg ist die Mitgliedschaft öffentlich-rechtlich ausgestaltet (vgl. § 15 Abs. 1 des Gesetzes über den Kommunalen Versorgungsverband Brandenburg und § 13 Abs. 1 Satz 1 der Kassensatzung); vgl. hierzu Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 242. Blomeyer/Rolfs/Otto, § 18 BetrAVG Rz. 8 f.; Gilbert/Hesse, Einl. Rz. 40; BGH v. 11.2.2004 – IV ZR 52/02, VersR 2004, 499, st. Rspr; BVerfG v. 22.3.2000 – 1 BvR 1136/96, NJW 2000, 3341 = AP Nr. 27 zu § 18 BetrAVG. BVerfG v. 25.8.1999 – 1 BvR 1246/95, NJW 1999, 3549 = AP Nr. 12 zu § 1 BetrAVG Teilzeit; v. 22.3.2000 – 1 BvR 1136/96, NJW 2000, 3341 = AP Nr. 27 zu § 18 BetrAVG; BGH v. 16.3.1988 – IVa ZR 154/87, BGHZ 103, 370 = NVwZ-RR 1988, 104; v. 11.2.2004 – IV ZR 52/02, VersR 2004, 499; OLG Karlsruhe v. 22.9.2005 – 12 U 99/04, ZTR 2005, 588 (die Entscheidungen des OLG Karlsruhe sind auch auf dessen Homepage www.olgkarlsruhe.de veröffentlicht). Gilbert/Hesse, § 20 VBLS Rz. 1.

1092

Betz-Rehm

Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.91 § 28

3. Arbeitnehmer – Zusatzversorgungskasse (die Versicherung) Auch die Rechtsverhältnisse zwischen den Arbeitnehmern und den Zusatzversorgungskassen basieren auf den Satzungsbestimmungen der jeweiligen Zusatzversorgungskasse und den hierzu erlassenen Ausführungsbestimmungen. Entscheidend sind insoweit die in den Satzungen enthaltenen Bestimmungen zur Versicherung und zum Leistungsrecht (vgl. §§ 24 bis 54 VBLS, §§ 16 bis 52 AKA-MS). Auch insoweit handelt es sich um zivilrechtliche Rechtsbeziehungen im Rahmen des zwischen dem Arbeitgeber und der jeweiligen Zusatzversorgungskasse bestehenden Gruppenversicherungsvertrages. Der Arbeitnehmer ist versicherte Person und Bezugsberechtigter der Versicherung (§ 24 Abs. 2 VBLS, § 16 Abs. 2 AKA-MS). Unmittelbare Ansprüche der Arbeitnehmer gegenüber der Zusatzversorgungskasse entstehen erst mit Eintritt eines Versorgungsfalles101.

28.88

Auch für etwaige Streitigkeiten zwischen den versicherten Arbeitnehmern und der jeweiligen Zusatzversorgungseinrichtung sind daher nicht die Arbeitsgerichte, sondern die ordentlichen Gerichte zuständig102.

28.89

V. Das Beteiligungsverhältnis 1. Voraussetzungen der Beteiligung/Mitgliedschaft a) Mögliche Beteiligte Der Kreis der möglichen Beteiligten/Mitglieder ist für die VBL in § 19 VBLS und für die Zu- 28.90 satzversorgungskassen der AKA in § 11 Abs. 1 AKA-MS definiert103. Eine Beteiligung/Mitgliedschaft ist dabei zum einen für die Rechtsträger aus dem „klassischen Bereich“ der öffentlichen Verwaltung möglich. Für die VBL betrifft dies: – die Bundesrepublik Deutschland (§ 19 Abs. 2 Buchst. a VBLS); – die Länder oder Mitglieder einer Landesgruppe, die Mitglied der Tarifgemeinschaft deutscher Länder ist (§ 19 Abs. 2 Buchst. b VBLS); – Gemeinden, Gemeindeverbände und sonstige Mitglieder eines Mitgliedverbandes der VKA (§ 19 Abs. 2 Buchst. c VBLS). Bei den sonstigen Mitgliedern eines Mitgliedverbandes der VKA kann es sich sowohl um juristische Personen des öffentlichen Rechts als auch um juristische Personen des Privatrechts handeln104. Für kommunale Arbeitgeber besteht damit die Möglichkeit, entweder eine Beteiligung bei der VBL einzugehen oder Mitglied einer örtlich zuständigen Zusatzversorgungskasse der AKA zu werden;

101 Blomeyer/Rolfs/Otto, § 18 BetrAVG Rz. 11; Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 30. 102 Vgl. Stürmer, NJW 2004, 2480 ff. mwN. 103 Diese Regelungen über die Beteiligtenfähigkeit richten sich allerdings nicht an potentielle Beteiligte (sondern an die Organe der Zusatzversorgungseinrichtung) und bezwecken insbesondere nicht, eine Beteiligung zu verhindern; vgl. BGH v. 21.6.2017 – IV ZR 394/14, BeckRS 2017, 115831. Eine zustande gekommene Beteiligung ist also nicht wegen eines etwaigen Verstoßes gegen die satzungsmäßigen Anforderungen an die Beteiligtenfähigkeit per se unwirksam. 104 Gilbert/Hesse, § 19 VBLS Rz. 3.

Betz-Rehm

1093

28.91

§ 28 Rz. 28.91

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

– sonstige juristische Personen des öffentlichen Rechts und deren Verbände, wenn sie das für Bund, Länder oder Gemeinden geltende Tarifrecht oder ein Tarifrecht wesentlich gleichen Inhalts anwenden (§ 19 Abs. 2 Buchst. d VBLS). Hierunter können zB fallen: bestimmte Kreditinstitute wie die Bundesbank, öffentliche Sparkassen, die Träger der Sozialversicherung, die Universitäten, Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, berufsständische Kammern (zB für Rechtsanwälte, Ärzte, Apotheker), bestimmte Religionsgesellschaften (wie zB die evangelische Kirche Deutschlands, die katholische Kirche und deren Bistümer und die evangelischen und katholischen Kirchengemeinden, auch wenn für den kirchlichen Bereich häufig kirchliche Zusatzversorgungskassen bestehen) und sonstige Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts105. Für die kommunalen Zusatzversorgungskassen gilt Vergleichbares. Unter der Voraussetzung, dass ein für die Mitglieder der in der VKA zusammengeschlossenen Arbeitgeberverbände geltendes Versorgungstarifrecht oder in Bezug auf die Leistungen ein Tarifrecht wesentlich gleichen Inhalts tarifvertraglich oder allgemein einzelarbeitsvertraglich zur Anwendung kommt (§ 11 Abs. 2 AKA-MS), können dort aus dem „klassischen“ Bereich der öffentlichen Verwaltung Mitglied sein: – Gemeinden, Gemeindeverbände und die sonstigen Gebietskörperschaften im Bereich des Landes, in dem die Kasse ihren Sitz hat (§ 11 Abs. 1 Buchst. a AKA-MS); – Verbände dieser juristischen Personen (§ 11 Abs. 1 Buchst. b AKA-MS); – sonstige rechtsfähige Körperschaften, selbständige Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sowie ihre Verbände (§ 11 Abs. 1 Buchst. c AKA-MS);

28.92 Beteiligte der VBL können auch die Fraktionen der Parlamente auf der Ebene des Bundes, der Länder und der kommunalen Vertretungskörperschaften sein, wenn sie das für Bund, Länder oder Gemeinden geltende Tarifrecht oder ein Tarifrecht wesentlich gleichen Inhalts anwenden (§ 19 Abs. 2 Buchst. f VBLS). Die Fraktionen kommunaler Parlamente können auch Mitglied einer kommunalen Zusatzversorgungskasse werden, wenn sie das für die Mitglieder der in der VKA zusammengeschlossenen Arbeitgeberverbände geltende Versorgungstarifrecht oder in Bezug auf die Leistungen ein Tarifrecht wesentlich gleichen Inhalts tarifvertraglich oder allgemein einzelarbeitsvertraglich anwenden (§ 11 Abs. 1 Buchst. f AKA-MS).

28.93 Aufgrund der seit den 90er Jahren verstärkt einsetzenden Privatisierung von Bereichen der öffentlichen Verwaltung (eines der ersten und prominentesten Beispiele war die Privatisierung der Lufthansa) bestand die Notwendigkeit, auch für juristische Personen des Privatrechts die Möglichkeit einer Beteiligung bei der VBL bzw. einer Mitgliedschaft bei den kommunalen Zusatzversorgungskassen zu eröffnen, da ansonsten eine erhebliche Reduzierung der Beteiligten/Mitglieder und damit zwangsläufig eine Schmälerung der Finanzierungsbasis der Zusatzversorgungskassen gedroht hätte. Derartige Privatisierungsfälle sind häufiger im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs, der Energie- und Wasserversorgung (Stadtwerke) sowie zunehmend auch im Gesundheitswesen (kommunale Krankenhäuser) anzutreffen.

28.94 Bei der VBL besteht für juristische Personen des Privatrechts daher zum einen bereits nach § 19 Abs. 2 Buchst. c VBLS die Möglichkeit einer Beteiligung, wenn sie Mitglieder eines Mitgliedverbandes der VKA sind. Vergleichbares gilt für den Bereich der Zusatzversorgungskassen der AKA für Arbeitgeber, die juristische Personen des Privatrechts sind, wenn sie unter den Geltungsbereich des ATV-K fallen (§ 11 Abs. 1 Buchst. d AKA-MS). 105 Gilbert/Hesse, § 19 VBLS Rz. 4.

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Betz-Rehm

Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.95 § 28

Für sonstige juristische Personen des Privatrechts und sonstige Arbeitgeber besteht die Möglichkeit einer Beteiligung bei der VBL nach Maßgabe von besonderen Ausführungsbestimmungen106 (§ 19 Abs. 2 Buchst. e VBLS). Grundvoraussetzung einer Beteiligung ist auch für diese Gruppe die Anwendung des für Bund, Länder oder Gemeinden geltenden Tarifrechts oder eines Tarifrechts wesentlich gleichen Inhalts. Gemäß den Ausführungsbestimmungen zu § 19 Abs. 2 Buchst. e VBLS kann dabei eine Beteiligung nur vereinbart werden mit – Unternehmen und Einrichtungen, an denen juristische Personen des öffentlichen Rechts (kapitalmäßig) überwiegend beteiligt sind oder auf die juristische Personen des öffentlichen Rechts nach der Satzung oder dem Gesellschaftsvertrag maßgeblichen Einfluss ausüben (zB durch Vertretung in den Organen oder Einräumung besonderer satzungsmäßiger Entscheidungsbefugnisse). Diese überwiegende Beteiligung oder der maßgebliche Einfluss können dabei entweder zugunsten von einer oder auch mehreren juristischen Personen des öffentlichen Rechts bestehen. Voraussetzung für diese Gruppe ist weiterhin, dass das Unternehmen oder die Einrichtung überwiegend Aufgaben wahrnimmt, die sonst einer juristischen Person des öffentlichen Rechts obliegen würde. – Einrichtungen, deren langfristiges Fortbestehen hinreichend gesichert ist, die gemäß § 44 BHO oder einer entsprechenden landesrechtlichen Vorschrift Zuwendungen aus Bundesoder Landesmitteln erhalten und die überwiegend Aufgaben wahrnehmen, die sonst dem Zuwendungsgeber obliegen würden, wenn die Summe der von Bund oder Ländern gewährten Zuwendungen mehr als die Hälfte der Haushaltsmittel des Zuwendungsempfängers beträgt. In beiden Fällen besteht grundsätzlich die weitere Voraussetzung, dass mindestens 20 Beschäftigte bei der Anstalt zu versichern sind. Staatlich anerkannte Ersatzschulen (Privatschulen, die in Struktur und Aufgaben den öffentlichen Schulen entsprechen, die staatlich anerkannt sind) können Beteiligte der VBL werden, auch wenn weniger als 20 Beschäftigte zu versichern sind. Mit Zustimmung des Vorstandes der VBL kann gemäß Abs. 3 der Ausführungsbestimmungen zu § 19 Abs. 2 Buchst. e VBLS auch unter den dort genannten Voraussetzungen in Ausnahmefällen von der Mindestzahl der zu Versichernden abgewichen werden. Für den Bereich der Zusatzversorgungskassen der AKA besteht die Möglichkeit, dass sonstige juristische Personen des Privatrechts (dh. solche, die nicht bereits unter den Anwendungsbereich des ATV-K fallen) Mitglied der Kasse werden, wenn sie überwiegend öffentliche Aufgaben erfüllen oder wenn sie als gemeinnützig anerkannt sind und auf sie eine juristische Person des öffentlichen Rechts einen statutenmäßig gesicherten maßgeblichen Einfluss ausübt (§ 11 Abs. 1 Buchst. e AKA-MS). Da bei derartigen juristischen Personen des Privatrechts grundsätzlich das Risiko der Insolvenzfähigkeit gegeben ist, wodurch die Umlagefinanzierung der Zusatzversorgungskassen gefährdet würde, können die kommunalen Zusatzversorgungskassen weitere Bedingungen für den Erwerb der Mitgliedschaft durch solche juristische Personen des Privatrechts setzen. Regelmäßig sind in derartigen Fällen Sicherheiten (zB durch eine selbstschuldnerische Bürgschaft einer juristischen Person des öffentlichen Rechts) zu stellen, die für den Fall der Insolvenz die aufgelaufenen Anwartschaften und Ansprüche ab-

106 Die Ausführungsbestimmungen sind als Anhang 1 zusammen mit der VBLS auf der Homepage der VBL unter www.vbl.de (Service/Downloadcenter/Die VBL/Satzung) abrufbar.

Betz-Rehm

1095

28.95

§ 28 Rz. 28.95

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

decken (§ 11 Abs. 3 AKA-MS)107. Die Einzelheiten können dabei von Kasse zu Kasse variieren. b) Anwendung des Tarifrechts für den öffentlichen Dienst oder eines Tarifrechts wesentlich gleichen Inhalts

28.96 Einheitliche Voraussetzung aller aufgeführten Fälle einer Beteiligung bei der VBL ist, dass das Mitglied das für Bund, Länder oder Gemeinden geltende Tarifrecht oder ein Tarifrecht wesentlich gleichen Inhalts anwendet, entweder auf der Basis unmittelbarer Tarifbindung oder auf der Basis vertraglicher Regelungen. Zum Tarifrecht des Bundes, der Länder und der Gemeinden gehören insbesondere die in Anlage 1 zu § 1 ATV erwähnten Tarifverträge108, durch die der Anwendungsbereich des ATV konkretisiert wird. Ein Tarifrecht wesentlich gleichen Inhalts liegt vor, wenn die Arbeitsbedingungen im Wesentlichen entsprechend geregelt sind wie bei Bund, Ländern und Gemeinden109. Entscheidend wird es hierbei auf diejenigen tariflichen Regelungen ankommen, die Einfluss auf die Versorgungsleistungen und die Bestimmung von deren Höhe haben können. Dies betrifft insbesondere die Vergütungsregelungen unter Berücksichtigung der Struktur und Höhe der Vergütung110.

28.97 Für eine Beteiligung bei den Zusatzversorgungskassen der AKA besteht ebenfalls als einheitliche Grundvoraussetzung aller genannten Fälle das Erfordernis einer Anlehnung an das Tarifrecht des öffentlichen Dienstes. Anders als für eine Beteiligung bei der VBL kommt es dabei aber nicht auf eine generelle Anwendung des Tarifrechts des öffentlichen Dienstes oder eines Tarifrechts wesentlich gleichen Inhalts an, sondern darauf, dass der Arbeitgeber ein für die VKA geltendes Versorgungstarifrecht (also den ATV oder ATV-K) oder zumindest in Bezug auf die (Versorgungs-)Leistungen ein Tarifrecht wesentlich gleichen Inhalts tarifvertraglich oder allgemein einzelarbeitsvertraglich anwendet (vgl. § 11 Abs. 2 AKA-MS). Entscheidend sind dabei die Grundzüge des Leistungsrechts der Versorgung. c) Beteiligungsvereinbarung/Aufnahme in die Zusatzversorgungskasse

28.98 Die Beteiligung eines Arbeitgebers bei der VBL kommt auf der Basis einer schriftlichen Beteiligungsvereinbarung zustande (vgl. § 20 VBLS). Die Beteiligungsvereinbarung ist privatrechtlicher Natur. Sie darf nicht von der Satzung abweichen (§ 20 Abs. 1 VBLS). In der Beteiligungsvereinbarung ist festzulegen, dass alle Beschäftigten zu versichern sind, die nach 107 Vgl. Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 248 ff. 108 Gilbert/Hesse, § 19 VBLS Rz. 7; die entsprechende Auflistung wurde nach Abschluss des TVöD und des TV-L durch den 4. Änderungstarifvertrag v. 22.6.2007 zum ATV/ATV-K aktualisiert. 109 Zum Begriff des Tarifrechts wesentlich gleichen Inhalts vgl. Gilbert/Hesse, § 19 VBLS Rz. 7 unter Hinweis auf ein Rundschreiben des BMI v. 8.7.1964, GMBl. S. 334; dort wird ein Kriterienkatalog von 5 Punkten aufgestellt: 1) Entsprechung der allg. Dienstzeiten mit den Regelungen des BAT; 2) grundsätzliche Übereinstimmung von Aufbau und Inhalt des Vergütungssystems mit dem BAT; 3) grundsätzliche Übereinstimmung bzgl. Dauer der Zahlung von Krankenbezügen im Vergleich zum BAT; 4) Staffelung der Kündigungsfristen nach Beschäftigungszeiten und 5) Unkündbarkeit nach längerer Beschäftigungszeit. Nach Gilbert/Hesse, aaO, sind diese strengen Anforderungen für eine Beteiligung bei der VBL allerdings nicht allein maßgebend, sie könnten lediglich ein Anhaltspunkt für die Beurteilung des Tarifrechts sein. Vgl. auch Kiefer/Langenbrinck/Kulok, Betriebliche Altersversorgung im öffentlichen Dienst, Kommentar § 19 VBLS Erl. 10, 11. 110 So auch Gilbert/Hesse, § 19 VBLS Rz. 7.

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Betz-Rehm

Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.101 § 28

dem ATV zu versichern wären. Insoweit ist der zu versichernde Personenkreis durch die Satzung zwingend vorgegeben. Abweichungen würden die Umlagegemeinschaft belasten und sind nur in seltenen Ausnahmefällen mit Zustimmung des Gesamtvorstands der VBL zulässig111. Die VBL ist zum Abschluss einer Beteiligungsvereinbarung nicht verpflichtet. Sie kann in der Beteiligungsvereinbarung neben den in der Satzung und den Ausführungsbestimmungen hierzu vorgesehenen Voraussetzungen die Beteiligung an weitere Bedingungen knüpfen (§ 20 Abs. 2 VBLS), insbesondere daran, dass der Fortbestand des Arbeitgebers und die Einhaltung der für beteiligte juristische Personen des Privatrechts geltenden Voraussetzungen (Anwendung des Tarifrechts des öffentlichen Dienstes) gesichert und eine Mindestzahl von Versicherten gewährleistet ist. Die Mitgliedschaft bei einer Zusatzversorgungskasse der AKA wird üblicherweise durch Aufnahme in die Kasse (§ 13 Abs. 2 AKA-MS) begründet112. Hierfür stellt der Arbeitgeber einen Aufnahmeantrag, in dem der gewünschte Abrechnungsverband anzugeben ist (wenn die Kasse neben dem im Umlageverfahren finanzierten Abrechnungsverband auch über einen Abrechnungsverband im Kapitaldeckungsverfahren verfügt). Die Kasse entscheidet über den Aufnahmeantrag des Arbeitgebers schriftlich nach pflichtgemäßem Ermessen. In der Entscheidung ist der Zeitpunkt festzusetzen, in dem die Mitgliedschaft beginnt. Für eine Mitgliedschaft juristischer Personen des Privatrechts können die Kassen auch nach der AKA-MS weitere Bedingungen setzen (§ 11 Abs. 3 AKA-MS), wenn der dauernde Bestand des Arbeitgebers nicht als gesichert erscheint.

28.99

2. Die Beendigung der Beteiligung/Ausstieg aus der Zusatzversorgung Die Thematik „Ausstieg aus der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes“ und damit eine Beendigung der Beteiligung/Mitgliedschaft ist häufig eng mit einer Privatisierung öffentlicher oder mit der öffentlichen Hand verbundener Arbeitgeber verknüpft, sei es, dass im Rahmen einer Privatisierung die oben (Rz. 28.90 ff.) geschilderten Voraussetzungen der Beteiligung/ Mitgliedschaft entfallen, sei es, dass im Zusammenhang mit einer Ausgliederung oder einem Betriebsübergang Arbeitnehmer auf einen Arbeitgeber übergehen, der nicht am System der Zusatzversorgung teilnimmt, oder sei es, dass sich ein Arbeitgeber dazu entschließt, durch eine Kündigung seiner Beteiligung/Mitgliedschaft das System der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes zu verlassen.

28.100

Eine Beendigung der Beteiligung hat für den Arbeitgeber weitreichende Folgen (im Ein- 28.101 zelnen s. Rz. 28.114 ff.). Insbesondere führt sie dazu, dass ein Ausgleichsbetrag113 an die Zusatzversorgungskasse zu zahlen ist, der eine erhebliche finanzielle Belastung, je nach Versichertenbestand nicht selten im mehrstelligen Millionenbereich, bedeutet. Gegenüber den bisher versicherten Arbeitnehmern muss der Arbeitgeber aufgrund der regelmäßig fortbestehenden tarif- oder arbeitsvertraglichen Grundverpflichtung eine nach Art und Umfang gleiche/ gleichwertige Versorgung sicherstellen. Diesen Nachteilen stehen nicht zuletzt der Vorteil gegenüber, die Altersversorgung der vorhandenen bisher pflichtversicherten Arbeitnehmer von der umlagebasierten Finanzierung der öffentlichen Zusatzversorgung abkoppeln und einer sofortigen vollständigen Kapitaldeckung zuführen zu können, sowie der Vorteil, unter der Voraussetzung einer ggf. nicht (mehr) bestehenden Tarifbindung die Altersversorgung für neu

111 Gilbert/Hesse, § 20 VBLS Rz. 2. 112 Auch insoweit handelt es sich um einen privatrechtlichen Gruppenversicherungsvertrag. 113 Bei der VBL trägt dieser Ausgleichsbetrag die Bezeichnung „Gegenwert“, vgl. § 23a VBLS.

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§ 28 Rz. 28.101

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

eintretende Arbeitnehmer kostenorientiert vollständig neu und unabhängig regeln zu können. Einer Beendigung der Beteiligung/Mitgliedschaft durch den Arbeitgeber sollte vor dem Hintergrund dieser komplexen Thematik ein strukturierter Entscheidungsprozess vorangehen, in dessen Rahmen die Vor- und Nachteile eines Ausscheidens gegenübergestellt, die bestehenden Handlungsvarianten geprüft und die wirtschaftlichen Auswirkungen ausreichend bewertet werden. Hierzu ist sowohl eine qualifizierte rechtliche Beratung als auch eine sachverständige versicherungsmathematische Begleitung zu empfehlen. Häufig müssen bereits in diesem Stadium auch vergaberechtliche Fragestellungen berücksichtigt werden. Der tatsächliche Einfluss der Sozialpartner und die politische Dimension dieser Entscheidungsfindung sollten ebenfalls nicht unterschätzt werden. Pauschale Aussagen zum Für und Wider eines Ausstiegs aus der Zusatzversorgung können nicht getroffen werden. Es kommt auf die Interessenlage des Arbeitgebers und die Situation im Einzelfall an114. a) Kündigung der Beteiligung durch den Arbeitgeber

28.102 Die Beteiligung/Mitgliedschaft kann durch den beteiligten Arbeitgeber ohne weitere Voraussetzungen und ohne die Bindung an bestimmte Gründe mit einer Frist von sechs Monaten zum Schluss eines Kalenderjahres einseitig gekündigt werden (§ 22 Abs. 1 VBLS, § 14 Abs. 3 AKA-MS). Die Kündigung bedarf der Schriftform, der Zugang der Kündigung ist sicherzustellen und ggf. durch den Kündigenden nachzuweisen (§ 22 Abs. 4 VBLS, § 14 Abs. 5 AKA-MS). b) Kündigung der Beteiligung/Mitgliedschaft durch die Zusatzversorgungskasse

28.103 Anders als für die beteiligten Arbeitgeber ist eine Kündigung der Beteiligung/Mitgliedschaft durch die VBL bzw. sonstige Zusatzversorgungskassen gemäß den jeweiligen Satzungsbestimmungen nur bei Vorliegen bestimmter Kündigungsgründe zulässig. Eine Kündigung durch die jeweilige Zusatzversorgungskasse kommt dabei entweder als ordentliche Kündigung unter Einhaltung der auch für die Zusatzversorgungskassen zu beachtenden Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Ende eines Kalenderjahres in Betracht oder als außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund (§ 22 Abs. 2, 3 VBLS, § 14 Abs. 2, 4 AKA-MS). aa) Ordentliche Kündigung bei Wegfall der Beteiligungsvoraussetzungen

28.104 Eine ordentliche Kündigung der Beteiligung/Mitgliedschaft durch die jeweilige Zusatzversorgungskasse kommt in Betracht, wenn die in der Satzung, den Ausführungsbestimmungen hierzu (bei der VBL) oder in einer besonderen Beteiligungsvereinbarung vorgesehenen maßgeblichen Voraussetzungen für die Beteiligung/Mitgliedschaft entfallen sind (§ 22 Abs. 2 VBLS, § 14 Abs. 2 AKA-MS). Dies betrifft insbesondere die Fälle, dass – durch den beteiligten Arbeitgeber nicht mehr das Tarifrecht des öffentlichen Dienstes oder ein Tarifrecht wesentlich gleichen Inhalts zur Anwendung gebracht wird (§ 19 Abs. 2 Buchst. d–f, Abs. 3 VBLS, § 11 Abs. 2 AKA-MS);

114 Weiterführend zum Für und Wider eines Ausstiegs aus der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes Recktenwald/Stade, BB 2005, 2126 ff.; Höfer/Ververs, DB 2005, 2203 ff.; Wegner-Wahnschaffe, ZTR 2004, 395 ff.; Schipp, RdA 2001, 150 ff.; Schipp, NZA 1994, 865 ff.

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Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.108 § 28

– die bei einer Beteiligung von juristischen Personen des Privatrechts erforderliche überwiegende Beteiligung oder der statutenmäßige maßgebliche Einfluss einer juristischen Person des öffentlichen Rechts entfällt (Abs. 1 der Ausführungsbestimmungen zu § 19 Abs. 2 Buchst. e VBLS, § 11 Abs. 1 Buchst. e AKA-MS); – die beteiligte juristische Person des Privatrechts nicht mehr die vorgesehene Mindestanzahl von Versicherungspflichtigen beschäftigt (Abs. 1 der Ausführungsbestimmungen zu § 19 Abs. 2 Buchst. e VBLS); – ein im Hinblick auf seine Mitgliedschaft bei einem kommunalen Arbeitgeberverband beteiligter Arbeitgeber seine Mitgliedschaft im kommunalen Arbeitgeberverband aufgibt (§ 19 Abs. 2 Buchst. c VBLS, § 11 Abs. 1 Buchst. d AKA-MS) und die Voraussetzungen einer sonstigen Beteiligung nicht erfüllt; – das Mitglied im umlagefinanzierten Abrechnungsverband keine Pflichtversicherten mehr beschäftigt (§ 14 Abs. 2 AKA-MS)115. Beabsichtigt der Beteiligte, bei dem die Beteiligungsvoraussetzungen weggefallen sind, eine Fortsetzung seiner Beteiligung im Rahmen einer besonderen Beteiligungsvereinbarung (§ 20 Abs. 3 VBLS, § 12 Abs. 1 AKA-MS), kann/wird eine Kündigung durch die Zusatzversorgungskasse unterbleiben (zur Fortsetzung der Beteiligung s. Rz. 28.133 ff.). Bei der VBL muss für eine Fortsetzung der Beteiligung eine solche besondere Beteiligungsvereinbarung spätestens innerhalb von sechs Monaten nach dem Entfallen der Beteiligungsvoraussetzungen zustande kommen (§ 22 Abs. 2 Satz 2 VBLS).

28.105

bb) Außerordentliche Kündigung Nach den Kassensatzungen steht sowohl dem beteiligten Arbeitgeber als auch der Zusatzversorgungskasse unter bestimmten Voraussetzungen das Recht zur außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist offen (§ 22 Abs. 3 VBLS, § 14 Abs. 4 AKA-MS). Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen liegt ein wichtiger Grund dann vor, wenn dem Kündigenden das Festhalten an der Beteiligungsvereinbarung/der Mitgliedschaft nach Treu und Glauben nicht mehr zugemutet werden kann116.

28.106

Die VBLS/AKA-MS enthält insoweit eine exemplarische Aufzählung wichtiger Kündigungsgründe seitens der Zusatzversorgungskasse. Ein wichtiger Grund liegt demnach insbesondere vor, wenn ein Beteiligter mit der Erfüllung 28.107 von Zahlungsverpflichtungen (mehr als drei Monate) in Verzug ist. Dies betrifft die Zahlung von Umlagen, Sanierungsgeldern und etwaigen Beiträgen im Kapitaldeckungsverfahren (vgl. § 63 VBLS, § 61 AKA-MS) sowie auch von Zuschlägen zur Umlage im Zusammenhang mit einer Fortsetzung der Beteiligung (§ 20 Abs. 3 VBLS, § 12 Abs. 1 Satz 2 AKA-MS) oder auch die Zahlung von (anteiligen) Ausgleichsbeträgen bei Personalübergängen oder beim sog. Zäsurmodell (s. Rz. 28.136 ff.). Bis einschließlich der 20. Satzungsänderung der VBLS aus dem Jahr 2015 war in der VBLS (§ 22 Abs. 3 Satz 2 Buchst. e VBLS in der seinerzeitigen Fassung) als Grund für eine außerordentliche Kündigung seitens der Zusatzversorgungskasse der Fall genannt, dass ein Beteilig115 Bei der VBL ist dies seit der 10. Satzungsänderung sogar ein Grund für eine außerordentliche Kündigung durch die VBL (§ 22 Abs. 3 Satz 2 Buchst. c VBLS). 116 Gilbert/Hesse, § 22 VBLS Rz. 8; Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 22 VBLS Erl. 4.

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28.108

§ 28 Rz. 28.108

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

ter einen wesentlichen Teil der über ihn Pflichtversicherten auf einen oder mehrere Arbeitgeber übertragen hat, der/die an der Zusatzversorgungskasse nicht beteiligt ist/sind. Diese Satzungsbestimmung betraf die nicht seltene Fallgestaltung, dass durch einen beteiligten Arbeitgeber bestimmte Teilbereiche seiner Organisation zusammen mit den betroffenen Arbeitnehmern im Wege eines Betriebsüberganges gemäß § 613a BGB oder im Rahmen von umwandlungsrechtlichen Gestaltungen auf einen anderen (neuen) Arbeitgeber übertragen werden. Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang die Ausgliederung der Reinigungsaufgaben oder Küche eines in öffentlicher Trägerschaft betriebenen Krankenhauses auf eigenständige Service-Gesellschaften genannt werden. Die Frage, wann in derartigen Fällen von einer Übertragung eines wesentlichen Teils der Pflichtversicherten ausgegangen werden muss, war in der Satzung allerdings nicht eindeutig festgelegt, ebensowenig wie die Frage, auf welchen Zeitraum dabei abgestellt werden sollte. Nach der Verwaltungspraxis der Zusatzversorgungskassen (insbesondere bei der VBL) war von einem wesentlichen Teil der Pflichtversicherten üblicherweise jedenfalls ab 10 % der über den jeweiligen Arbeitgeber insgesamt pflichtversicherten Arbeitnehmer auszugehen und man ging davon aus, dass sich der Betrachtungszeitraum für die Übertragung eines solchen wesentlichen Teils der Pflichtversicherten auch über größere Zeitabschnitte erstrecken konnte117. Mit Urteil vom 21.6.2017118 stellte der BGH allerdings fest, dass diese Kündigungsregelung in § 22 Abs. 3 Satz 2 Buchst. e VBLS in der seinerzeitigen Fassung wegen Intransparenz (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) unwirksam ist. Die Klausel beschreibe nicht genau genug, unter welchen Voraussetzungen die VBL zu einer außerordentlichen Kündigung berechtigt sein solle. Soweit in der Regelung auf die Übertragung eines wesentlichen Teils der Pflichtversicherten abgestellt wird, könne der durchschnittliche beteiligte Arbeitgeber, auf dessen Verständnis bei der Auslegung der Satzungsbestimmungen abzustellen ist, nicht ersehen, wie der wesentliche Teil der Pflichtversicherten zu bestimmen ist, insbesondere ob es für die Ermittlung des wesentlichen Teils auf die Kopfzahl der von der Ausgliederung betroffenen Mitarbeiter oder auf die der Beitragsberechnung zugrunde liegende Lohnsumme ankommen solle. Die fehlende Angabe eines quantitativen Maßes für die Bestimmung des wesentlichen Teils könne auch nicht durch einen Beschluss des Verwaltungsrats der VBL ersetzt werden, der die bereits angesprochene 10 %-Grenze der Versicherten festlegte, da sich eine solche Auslegung durch den Verwaltungsrat nicht aus der Satzungsregelung selbst erschließen lasse. Weiterhin wurde beanstandet, dass die Klausel keine zeitliche Begrenzung enthalte. Auch ein Recht zur außerordentlichen Kündigung des Beteiligtenverhältnisses aus wichtigem Grund gemäß § 314 Abs. 1 BGB – auch iVm. § 313 Abs. 3 Satz 2 BGB – lehnte der BGH im Zusammenhang mit einer solchen Übertragung von Pflichtversicherten ab.

28.109 Die Satzungsregelung zum außerordentlichen Kündigungsrecht bei Personalübertragungen in § 22 Abs. 3 Satz 2 Buchst. e VBLS wurde daraufhin mit der 21. Satzungsänderung im Jahr 2016 aufgehoben und stattdessen eine Neuregelung zu den Rechtsfolgen von Personalübertragungen in § 23d VBLS eingeführt. Gemäß dieser neuen Satzungsregelung steht der VBL bei Übertragung eines wesentlichen Teils der Pflichtversicherten ein Anspruch auf Zahlung eines anteiligen Ausgleichsbetrags/Gegenwerts zu. Die Anspruchsvoraussetzungen wurden dabei konkretisiert. Ein wesentlicher Teil liegt vor, wenn in den vergangenen zehn Jahren 10 % der Pflichtversicherten oder 500 Pflichtversicherte auf einen nicht beteiligten Arbeitgeber 117 Wegner-Wahnschaffe, ZTR 2004, 395 (401); Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 22 VBLS Erl. 4; Gilbert/ Hesse, § 22 VBLS Rz. 11 ff. 118 BGH v. 21.6.2017 – IV ZR 394/14, BeckRS 2017, 115831.

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Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.111 § 28

übertragen wurden. Dabei werden Personalübernahmen von beteiligten Arbeitgebern zu Gunsten des Beteiligten berücksichtigt. Stichtag für die Betrachtung ist jeweils das Jahresende. In den Ausführungsbestimmungen zu § 23d VBLS sind weitere detaillierte Bestimmungen enthalten. Bei der Berechnung des anteiligen Gegenwerts kommen die gleichen Rechnungsgrundlagen wie beim Gegenwert bei einem Ausscheiden zur Anwendung (vgl. zum Ausgleichsbetrag/Gegenwert insgesamt Rz. 28.116 ff.). Die AKA-MS enthielt in der Vergangenheit vergleichbare Regelungen bezüglich eines Kündigungsrechts bei Übertragung eines wesentlichen Teils der Pflichtversicherten. Im Bereich der AKA fand allerdings bereits Endes des Jahres 2003 eine Änderung der Satzungsregelungen statt. Hintergrund war, dass die in den genannten Fällen als Sanktion vorgesehene Kündigung der Mitgliedschaft des übertragenden Arbeitgebers insgesamt eine relativ unflexible Regelung darstellt, die dem eigentlichen Ziel entgegensteht, bestehende Beteiligungen von Arbeitgebern im Sinne einer breiten Umlagegemeinschaft möglichst zu erhalten. Eine vollständige Beendigung der gesamten Beteiligung schießt insoweit auch über das Ziel hinaus, lediglich die durch die Übertragung von Arbeitnehmern für die Umlagegemeinschaft entstehenden finanziellen Nachteile auszugleichen. Auf der anderen Seite entstehen für die Umlagegemeinschaft nicht nur bei einer Übertragung eines wesentlichen Teils der Pflichtversicherten Nachteile, vielmehr führt jede Herausnahme von Pflichtversicherten aus dem Umlagesystem zu einer Schmälerung der Finanzierungsbasis.

28.110

In der AKA-MS wurde deshalb bereits Ende 2003 die Bestimmung zur außerordentlichen Kündigung bei Übertragung eines wesentlichen Teils der Arbeitnehmer auf einen nicht beteiligten Arbeitgeber gestrichen. Stattdessen sieht § 15 Abs. 6 AKA-MS vor, dass jede auf einer Vereinbarung zwischen den Arbeitgebern beruhende Übertragung von Arbeitnehmern von einem Mitglied des umlagefinanzierten Abrechnungsverbandes auf einen Arbeitgeber, der dort nicht Mitglied ist, eine anteilige Ausgleichszahlung des übertragenden Arbeitgebers für die ausgeschiedenen Pflichtversicherten und die dem übertragenen Bestand zuzuordnenden Ansprüche und Anwartschaften (von ausgeschiedenen Anwärtern und Rentnern) nach sich zieht119. Um Umgehungsversuche zu unterbinden, gilt dies ebenso, wenn der „neue“ Arbeitgeber (auf Basis einer Vereinbarung mit dem bisherigen Arbeitgeber) mit ausgeschiedenen Pflichtversicherten Arbeitsverhältnisse begründet. Durch diese Regelung kann einer schleichenden „Austrocknung“ des Versichertenbestandes wirksamer begegnet werden. Die Problematik einer (schleichenden) Austrocknung des Versichertenbestandes ist in den 28.111 Satzungen der Zusatzversorgungskassen allerdings nicht in allen denkbaren Varianten abschließend geregelt. Umgehungsversuche sind weiterhin denkbar und mögen in der Praxis auch immer wieder vorkommen. Zu denken ist zB an Fälle, dass bestimmte Aufgaben auf eine neue Gesellschaft ausgegliedert werden, die nicht Mitglied der Zusatzversorgungskasse ist. Die bisher mit diesen Aufgaben beschäftigten Mitarbeiter verbleiben unter Fortsetzung ihrer Pflichtversicherung bei der Zusatzversorgungskasse beim bisherigen Arbeitgeber und werden an die neue Gesellschaft „ausgeliehen/gestellt“, während Neueinstellungen außerhalb der Tarifkonditionen und außerhalb der Zusatzversorgung nur noch bei der neuen Gesellschaft erfolgen. Auch entgegengesetzte Fälle sind dergestalt denkbar, dass ein Mitglied der Zusatzversorgungskasse selbst keine Neueinstellungen mehr vornimmt und dazu übergeht, neues Per119 Dass dies selbstverständlich auch dann gilt, wenn Arbeitsverhältnisse infolge eines Betriebsüberganges gemäß § 613a BGB auf einen Arbeitgeber übergehen, der nicht Mitglied der Zusatzversorgungskasse (im umlagefinanzierten Abrechnungsverband) ist, wurde durch ein Urteil des LG Stuttgart v. 20.5.2008 – 15 O 8/08, BeckRS 2008, 09749 bestätigt.

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§ 28 Rz. 28.111

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

sonal nur noch im Rahmen einer Personalüberlassung von einem nicht beteiligten (Konzern-) Unternehmen einzusetzen. Ein prominentes Beispiel dieser in vielen Variationen denkbaren Vorgehensweise war die Privatisierung der Gebäudeversicherungsanstalt in Baden-Württemberg120.

28.112 Derartige Umgehungsversuche sind allerdings nicht ohne Risiken und können – obwohl die Satzungen der Zusatzversorgungskassen derartige Fälle nicht in jeder Ausprägung ausdrücklich regeln – eventuell als Grund für eine außerordentliche Kündigung seitens der Zusatzversorgungskasse herangezogen werden oder zumindest als ein Fall des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gesehen werden, der die Kasse unter Umständen auch zur Forderung eines Ausgleichsbetrages ermächtigen kann. In derartigen Fällen kommt es auch immer auf die Reichweite der Auswirkungen auf die Finanzierung der Zusatzversorgung an. In einer Entscheidung zum genannten Fall der baden-württembergischen Gebäudeversicherungsanstalt hatte der BGH121 festgehalten, dass Geschäftsgrundlage des nach privatrechtlichen Grundsätzen zu beurteilenden Beteiligungsvertrages das Finanzierungssystem sei, wie es sich aus der VBLS ergebe. Ein solches Finanzierungssystem, das sich nur aus Umlagen entsprechend der Anzahl der aktiven im öffentlichen Dienst tätigen Beschäftigten speise, habe für seine Funktionsfähigkeit zur Grundlage, dass für die Empfänger von Rentenleistungen eine im Wesentlichen ausreichende Zahl jüngerer Beschäftigter nachrücke. Werde in diese Grundlage eingegriffen, könnte es an der Geschäftsgrundlage für eine Weiterversicherung der bis zur Privatisierung beim bisherigen Arbeitgeber Beschäftigten fehlen. Hieraus könne sich das Erfordernis einer Anpassung des Vertragsverhältnisses zwischen der Zusatzversorgungskasse und dem betreffenden Arbeitgeber ergeben, wobei als Anpassung die Zahlung eines Ausgleichsbetrages durch den betreffenden Arbeitgeber in Betracht kommen könne. Abschließend musste der BGH über diese Frage allerdings nicht entscheiden. Aus dieser Entscheidung wird aber deutlich, dass gezielte Umgehungsversuche nicht in jedem Fall sanktionslos bleiben müssen.

28.112a In der Satzung der VBL wurde zwischenzeitlich mit der 18. Satzungsänderung in § 22 Abs. 3 Satz 2 Buchst. d VBLS eine Regelung ergänzt, dass ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung durch die VBL auch dann vorliegt, wenn der beteiligte Arbeitgeber seiner Verpflichtung nicht nachkommt, alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Pflichtversicherung zuzuführen, die nach dem ATV zu versichern wären122. Gleiches wurde in § 14 Abs. 4 Satz 3 AKA-MS ergänzt. In der Satzung der Zusatzversorgungskasse Westfalen-Lippe wurde in § 12a Abs. 2 der Kassensatzung zwischenzeitlich auch die angesprochene Thematik einer Gestellung von Personal durch einen Beteiligten an einen nicht beteiligten Arbeitgeber als Anlass für die Zahlung eines anteiligen Gegenwerts geregelt. Auch aus diesen neu eingeführten Bestimmungen wird deutlich, dass im Umlagesystem das Nachrücken einer ausreichenden Zahl versicherter Beschäftigter notwendig und letztendlich Geschäftsgrundlage der Zusatzversorgung ist. Verletzt der beteiligte Arbeitgeber seine Verpflichtung, versicherungspflichtige Be120 Vgl. hierzu Wegner-Wahnschaffe, ZTR 1998, 485 ff.; Wegner-Wahnschaffe, ZTR 2004, 395 (402); Escher, ZTR 1997, 394 ff. 121 BGH v. 7.5.1997 – IV ZR 179/96, NZA 1997, 827; hierzu und zur Problematik der schleichenden Austrocknung Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 319 ff., insbesondere auch zur „Personalgestellung“, die Hügelschäffer lediglich bei einem Umfang von bis zu 5 % der Beschäftigten auf Basis von Vollzeitäquivalenten über einen Zeitraum von fünf Jahren und anschließend von nur noch bis zu 1 % in einem weiteren 5-Jahreszeitraum für unschädlich hält; so zB auch in § 12a Abs. 2, 4 der Kassensatzung der ZVK Westfalen-Lippe geregelt. 122 Der BGH hat mit Urteil v. 8.4.2014 – KZR 53/12, VersR 2014, 1473, diese Kündigungsbefugnis im Hinblick auf die Bedeutung der Versicherungspflicht für das umlagefinanzierte Beitragssystem ausdrücklich gebilligt.

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Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.115 § 28

schäftigte zur Versicherung anzumelden, gefährdet er damit die Finanzierungsbasis der Zusatzversorgung und verstößt in gravierender Weise gegen seine satzungsmäßigen Pflichten, was zu einer außerordentlichen Kündigung der Beteiligung durch die Zusatzversorgungskasse führen kann. c) Beendigung der Beteiligung/Mitgliedschaft aus sonstigen Gründen Die Beteiligung/Mitgliedschaft endet nicht nur durch Kündigung. Sie endet vielmehr auch automatisch, ohne dass es einer Kündigung bedarf, wenn das Mitglied aufgelöst oder in eine andere juristische Person überführt wird. Erfasst sind hierdurch auch ein etwaiger Verlust der Rechtsfähigkeit sowie Fälle einer Umwandlung in eine andere juristische Person oder „der Zusammenschluss“ mehrerer juristischer Personen zu einer neuen juristischen Person. Während in der AKA-MS hierzu eine ausdrückliche Regelung enthalten ist (§ 14 Abs. 1 Buchst. a AKA-MS), sind diese Fälle in der VBLS nicht ausdrücklich angesprochen. Auch für den Bereich der VBL wird man in derartigen Fällen aber von einer automatischen Beendigung der Beteiligung ausgehen müssen123.

28.113

3. Folgen des Ausscheidens eines Beteiligten a) Ende der Pflichtversicherungen Scheidet der Arbeitgeber aus der Beteiligung/Mitgliedschaft bei der Zusatzversorgungskasse aus, enden die Pflichtversicherungen der bei ihm im Arbeitsverhältnis stehenden Beschäftigten (§ 23 Abs. 1 VBLS, § 20 Abs. 1 AKA-MS). Die Versicherungen der betroffenen Arbeitnehmer bleiben als beitragsfreie Versicherungen bestehen (§ 30 VBLS, § 21Abs. 1 Satz 2 Buchst. a AKA-MS).

28.114

Anders als nach dem früheren Gesamtversorgungssystem hat eine Beendigung der Beteiligung/Mitgliedschaft des Arbeitgebers im neuen Punktemodell damit keine so gravierenden Auswirkungen mehr. Im Rahmen des früheren Gesamtversorgungssystems entfiel in derartigen Fällen der Anspruch auf die dynamische Versorgungsrente und es verblieb lediglich der Anspruch auf die deutlich geringere statische Versicherungsrente. Der Arbeitgeber hatte jedoch weiterhin im Rahmen des Versorgungsverschaffungsanspruchs (vgl. hierzu Rz. 28.130 ff.) eine gleichwertige Versorgung zu gewährleisten und musste damit nicht nur für zukünftige Dienstzeiten gleichwertige Anwartschaften gewähren, sondern auch für die bereits abgeleisteten Dienstjahre die Differenz zur Versicherungsrente ausgleichen.

28.115

Unter dem neuen Punktemodell bleiben die erworbenen Anwartschaften in Form der erreichten Versorgungspunkte aufrechterhalten. Erfüllen die betroffenen Arbeitnehmer bei Eintritt eines Versorgungsfalles die Wartezeit von 60 Monaten124 (§ 34 VBLS, § 32 AKA-MS), resultieren aus den erworbenen Versorgungspunkten entsprechende Rentenansprüche. Lediglich wenn die Wartezeit (bis zur Vollendung des 69. Lebensjahres) nicht erfüllt ist, erlischt die beitragsfreie Versicherung, ohne dass aus ihr Leistungsansprüche erwachsen würden (§ 30 123 Vgl. hierzu Gilbert/Hesse, § 22 VBLS Rz. 3, § 23 VBLS Rz. 3. 124 Berücksichtigt wird jeder Kalendermonat, für den bis zum Beginn der Betriebsrente mindestens für einen Tag Aufwendungen für die Pflichtversicherung erbracht worden sind. Erfüllt ein Arbeitnehmer die Wartezeit zum Zeitpunkt der Beendigung der Mitgliedschaft des Arbeitgebers noch nicht, kann die Wartezeit gleichwohl noch erfüllt werden, wenn der Arbeitnehmer zu einem späteren Zeitpunkt wieder pflichtversichert wird, zB nach einem Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber, der an der Zusatzversorgung teilnimmt.

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§ 28 Rz. 28.115

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Abs. 3 Buchst. d VBLS, § 21 Abs. 2 AKA-MS). Nur in diesem Fall trifft den aus der Zusatzversorgung ausscheidenden Arbeitgeber dann ein Nachfinanzierungsrisiko zur Gewährung der Versorgung für die bis zum Ausscheiden aus der Zusatzversorgung bereits erdienten Anwartschaften. b) Pflicht zur Zahlung des Gegenwerts/Ausgleichsbetrages

28.116 Eine wesentliche Folge der Beendigung der Beteiligung/Mitgliedschaft ist die Pflicht des aus der umlagefinanzierten Zusatzversorgung ausscheidenden Arbeitgebers, an die Zusatzversorgungskasse den versicherungsmathematisch berechneten Ausgleichsbetrag (bzw. nach der Diktion der VBL den „Gegenwert“) zu bezahlen. aa) Hintergrund für die Verpflichtung zur Zahlung des Gegenwerts/ Ausgleichsbetrages

28.117 Die Ansprüche und Anwartschaften der über den (ausscheidenden) Arbeitgeber gegenwärtig und in der Vergangenheit pflichtversicherten Arbeitnehmer (aktive und ausgeschiedene Anwärter sowie Versorgungsempfänger) bleiben gegenüber der Zusatzversorgungskasse auch nach der Beendigung der Mitgliedschaft des Arbeitgebers bestehen und müssen durch die Zusatzversorgungskasse erfüllt werden. Im Umlageverfahren sind diese Ansprüche und Anwartschaften allerdings nicht ausfinanziert/kapitalgedeckt. Durch das Ausscheiden aus der umlagefinanzierten Zusatzversorgung trägt der ausscheidende Arbeitgeber zukünftig nicht mehr zur Finanzierung dieser durch ihn begründeten Versorgungsverpflichtungen bei. Die Finanzierungslast würde damit zu Lasten der verbleibenden Umlagegemeinschaft gehen. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, sehen die Satzungen der Zusatzversorgungskassen (vgl. §§ 23a–23c VBLS, §§ 15–15b AKA-MS) die Zahlung eines Ausgleichsbetrages/Gegenwertes zur Ausfinanzierung der Verpflichtungen aus der Versicherung der (früheren) Versicherungspflichtigen des ausscheidenden Arbeitgebers vor. Insoweit stellt die Verpflichtung zur Zahlung des Ausgleichsbetrages/Gegenwertes weder eine Verpflichtung zum Schadensersatz noch eine Vertragsstrafe dar. Durch den Änderungstarifvertrag Nr. 6 vom 24.11.2011 zum ATV wurde in § 16 Abs. 4, 5, § 37 Abs. 2a ATV eine erste ausdrückliche tarifvertragliche Verankerung der Verpflichtung zur Zahlung des Gegenwertes geschaffen, die rückwirkend zum 1.1.2001 in Kraft treten sollte. Zwischenzeitlich hatte allerdings der BGH mit Urteil vom 10.10.2012 (Az. IV ZR 10/11) festgehalten, dass diese tarifvertraglichen Regelungen zum Gegenwert für Beteiligungen, die vor Abschluss dieses Tarifvertrages beendet wurden, eine unzulässige echte Rückwirkung darstellen und hierauf keine Anwendung finden können. Der Verband der kommunalen Arbeitgeber hatte dem Änderungstarifvertrag vom 24.11.2011 nicht zugestimmt. Für den Bereich der kommunalen Zusatzversorgungskassen (ATV-K) wurde keine entsprechende Regelung eingeführt. Durch den Änderungstarifvertrag Nr. 8 vom 7.1.2016 zum ATV wurden die Rechtsfolgen des Ausscheidens aus der VBL durch die Tarifvertragsparteien schließlich nochmals vollständig überarbeitet und in den §§ 37b bis 37f ATV ausführlich tarifvertraglich verankert125. Die bisherigen tariflichen Regelungen des Gegenwerts in § 16 Abs. 4, 5, § 37 Abs. 2a ATV wurden dabei wieder gestrichen.

125 Ausgangspunkt war ein weiteres Urteil des BGH v. 7.9.2016 – IV ZR 172/15, NZA-RR 2017, 47, in dem der BGH die Regelungen der VBL zum Gegenwert in deren geänderter Fassung aus dem Jahr 2012 erneut für unwirksam erklärte.

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Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.120 § 28

bb) Berechnung des Gegenwerts/Ausgleichsbetrages Für die Berechnung des Ausgleichsbetrages/Gegenwertes wurden gemäß den früheren Regelungen der VBLS und der AKA-MS die Leistungsansprüche von Rentenberechtigten (also die bestehenden laufenden Rentenleistungen), die Versorgungspunkte aus (unverfallbaren sowie verfallbaren) Anwartschaften sowie die künftigen Leistungsansprüche potentieller Hinterbliebener berücksichtigt. Vor dem Hintergrund zunehmender Kritik an den Grundsätzen zur Gegenwertberechnung und der auf dieser Basis zur VBLS nunmehr ergangenen neueren Rechtsprechung (s. Rz. 28.125 ff.) hat die VBL mit der 18. Satzungsänderung in den §§ 23a – 23c VBLS und die AKA durch Satzungsänderung vom 28.2.2013 in den §§ 15–15b AKA-MS zwischenzeitlich weitreichende Neuerungen bezüglich der Gegenwertberechnung und nach einem Urteil des BGH vom 7.9.2016126 auf Basis des Änderungstarifvertrags Nr. 8 zum ATV im Jahr 2016 weitere Präzisierungen vorgenommen (s. Rz. 28.125d–28.125g).

28.118

Für die freiwillige Versicherung (s. Rz. 28.286 ff.) fällt kein Ausgleichsbetrag an, da diese bereits vollständig kapitalgedeckt finanziert wird. Dasselbe galt zunächst für Ansprüche und Anwartschaften, die bei kommunalen und kirchlichen Zusatzversorgungskassen bereits vollständig im Kapitaldeckungsverfahren ausfinanziert werden. Zwischenzeitlich ist aber regelmäßig auch bei diesen Zusatzversorgungskassen bei einem Ausscheiden aus dem kapitalgedeckten Abrechnungsverband II die Zahlung eines Ausgleichsbetrages vorgesehen (vgl. § 14 Abs. 7, §§ 59a bis 59c AKA-MS). Hintergrund hierfür ist die Tatsache, dass im Leistungsplan der Pflichtversicherung ein vergleichsweise hoher Rechnungszins enthalten ist, der angesichts der andauernden Niedrigzinsphase von den Zusatzversorgungskassen derzeit aus dem angesparten Kapital so nicht erwirtschaftet werden kann und zu einer Unterdeckung führt, wenn nicht bereits aktuell durch höhere Beiträge Sicherheitsreserven gebildet werden. Da bei einem Ausscheiden eines Arbeitgebers zukünftig die Möglichkeit entfällt, durch höhere Beiträge eine Schließung solcher Lücken vorzunehmen, besteht auch im kapitalgedeckten Abrechnungsverband II nunmehr das Erfordernis eines Ausgleichsbetrages127. Die Satzungen der Zusatzversorgungskassen enthalten weitere Parameter zur Berechnung, insbesondere den zugrunde zu legenden Rechnungszins, sowie ggf. die Berücksichtigung einer Rentendynamik und Verwaltungskosten (vgl. §§ 23a Abs. 1 VBLS iVm. den hierzu ergangenen Ausführungsbestimmungen, § 15a Abs. 2 AKA-MS)128.

28.119

Zu beachten ist, dass nach der AKA-MS (§ 15a Abs. 1 Satz 4 AKA-MS) ausdrückliche Geschäftsgrundlage der Berechnungen die derzeitigen Bestimmungen zur Überleitung der früheren Gesamtversorgung in das Punktemodell sind. Insoweit steht bei den Zusatzversorgungskassen der AKA die Berechnung der Ausgleichsbeträge ausdrücklich unter dem Vorbehalt einer Neuberechnung, wenn aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung und hierauf beruhender tarifvertraglicher Änderungen eine Neubewertung der bis zur Umstellung auf das Punktemodell erdienten Ansprüche und Anwartschaften erforderlich werden sollte.

28.120

126 BGH v. 7.9.2016 – IV ZR 172/15, NZA-RR 2017, 47. 127 Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 326. 128 Zu Einzelheiten der Berechnung vgl. Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 278 ff.; Gilbert/Hesse, § 23a VBLS Rz. 6 ff.; zur früheren Berechnung: Wegner-Wahnschaffe, ZTR 2004, 395 (397); kritisch Dierkes/Geyer, FS Kemper, 2005, S. 75 ff.; Niermann/Fuhrmann, BetrAV 2010, 528; Rhiel, BetrAV 2010, 534.

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§ 28 Rz. 28.120

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Bei der VBL gilt im Ergebnis Vergleichbares, da in § 23a Abs. 3 VBLS nunmehr eine regelmäßige Überprüfung der Berechnung des Gegenwerts vorgesehen ist, die zu einer Anpassung der Gegenwertforderung führen kann. cc) Berechnung bei Ausgliederung

28.121 Ein Sonderfall für die Berechnung des Gegenwertes liegt vor, wenn der aus der Zusatzversorgung ausscheidende Arbeitgeber ganz oder teilweise durch eine Ausgliederung aus einem anderen Mitglied/Beteiligten hervorgegangen ist (§§ 23a Abs. 1 Satz 2 Buchst. a, Abs. 2 Satz 6, 23e Abs. 1 VBLS, bei einem Ausscheiden aus der Beteiligung bei der VBL vor dem 31.12.2012 vgl. die Übergangsregelungen in § 84a Abs. 4 VBLS und den Satzungsergänzenden Beschlusses des Verwaltungsrats zu §§ 23 bis 23c VBL-Satzung vom 18.11.2016, § 15 Abs. 4 AKA-MS)129. In diesem Fall sind bei der Berechnung des Ausgleichsbetrages nicht nur die Verpflichtungen aus den gegenwärtigen oder früheren Pflichtversicherungen des ausscheidenden Arbeitgebers selbst zu berücksichtigen. Vielmehr werden dem ausscheidenden Arbeitgeber auch die Ansprüche und Anwartschaften aufgrund früherer Pflichtversicherungen über das ausgliedernde Mitglied anteilig zugerechnet. Hintergrund ist, dass in derartigen Fällen der ausscheidende Arbeitgeber der Umlagegemeinschaft nicht nur die Renten- und Anwartschaftslasten der im Rahmen der Ausgliederung auf ihn übergegangenen Arbeitnehmer hinterlässt, sondern auch die zum Zeitpunkt der Ausgliederung bereits bestehenden Rentenlasten und Anwartschaften Ausgeschiedener mit zu verantworten hat. Allerdings sehen die Satzungen der Zusatzversorgungskassen eine zeitabhängige lineare Absenkung dieses zuzurechnenden Barwerts vor. Bei der VBL gilt diese Regelung noch bei einem Ausscheiden aus der Beteiligung bei der VBL vor dem 31.12.2012, § 84a Abs. 4 VBLS iVm. § 23 Abs. 2 Satz 12 VBLS in der Fassung des Satzungsergänzenden Beschlusses des Verwaltungsrats zu §§ 23 bis 23c VBL-Satzung vom 18.11.2016. Die Zurechnung reduziert sich in Höhe von jeweils einem Zwanzigstel für je zwölf in der Zeit zwischen dem Beginn und dem Ende der Mitgliedschaft im umlagefinanzierten Abrechnungsverband zurückgelegte volle Monate, so dass nach 20 Jahren keine Zurechnung mehr erfolgt130. dd) Entfallen/Minderung bei Fortsetzung der Pflichtversicherung

28.122 Die Verpflichtung zur Zahlung eines Ausgleichsbetrages/Gegenwertes entfällt ganz oder mindert sich anteilig, wenn die Pflichtversicherungen der Beschäftigten des ausgeschiedenen Beteiligten, die in den 36 Monaten vor dem Ausscheiden bestanden haben, ganz oder teilweise über einen oder mehrere andere Beteiligte spätestens drei Monate nach deren Beendigung fortgesetzt werden oder worden sind (§ 23 Abs. 3 VBLS in der Fassung des Satzungsergänzenden Beschlusses des Verwaltungsrats zu §§ 23 bis 23c VBL-Satzung vom 18.11.2016 bei einem Ausscheiden aus der Beteiligung bei der VBL vor dem 31.12.2012, § 15 Abs. 5 AKA-MS)131. Voraussetzung ist dabei aber nicht nur, dass dieser Beteiligte die Arbeitnehmer übernommen und damit deren Pflichtversicherungen fortgesetzt hat, sondern dass auf ihn auch die Auf129 Beispiel: Eine Körperschaft des öffentlichen Rechts betreibt ein Krankenhaus sowie eine Altenpflegeeinrichtung. Der Betrieb der Altenpflegeeinrichtung wird mit allen aktiven Mitarbeitern auf einen selbständigen Rechtsträger (zB einen Verein) ausgelagert, der zunächst ebenfalls Mitglied der Zusatzversorgungskasse wird. Nach kurzer Zeit kündigt allerdings dieser Verein seine Mitgliedschaft bei der ZVK. 130 Vgl. hierzu Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 312 ff. 131 Bei der VBL ist Voraussetzung für eine anteilige Reduzierung, dass die Pflichtversicherungen der Pflichtversicherten, die am ersten des 36. Monats vor dem Ausscheiden über den Beteiligten versichert waren, mindestens zur Hälfte fortgesetzt werden.

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Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.124 § 28

gaben des früheren Beteiligten übergegangen sind. Durch diese Regelung (die nicht zuletzt als Reaktion auf den oben (Rz. 28.112) geschilderten Fall der Privatisierung der Gebäudeversicherungsanstalt Baden-Württemberg in die Satzungen der Zusatzversorgungskassen aufgenommen wurde) soll verhindert werden, dass durch Arbeitnehmerüberlassungsverträge oder Personalgestellungen die Zahlung des Gegenwertes gezielt umgangen wird. Für Fälle eines Ausscheidens aus der Beteiligung bei der VBL oder bei Personalübergängen ab dem 1.1.2013 gilt bei der VBL nunmehr Folgendes: bei einem vollständigen Ausscheiden aus der Beteiligung erfordert § 23a Abs. 2 VBLS neben der (vollständigen) Fortsetzung der Pflichtversicherung der Beschäftigten des ausgeschiedenen Beteiligten, die in den 36 Monaten vor dem Ausscheiden bestanden haben, eine unwiderrufliche Verpflichtungserklärung des jeweils neuen Arbeitgebers, nach der dieser mit der Fortführung der Pflichtversicherungen auch für alle bisherigen Anwartschaften und Leistungsansprüche der übernommenen Beschäftigten sowie für alle Anwartschaften von beitragsfreien Versicherungen und Leistungsansprüche einsteht, die über den ausgeschiedenen Arbeitgeber oder dessen Vorgänger erworben wurden. Liegt kein Fall des vollständigen Ausscheidens eines Beteiligten bei der VBL vor, sondern überträgt ein beteiligter Arbeitgeber eine Gruppe132 von Arbeitnehmern auf einen anderen bei der VBL beteiligten Arbeitgeber, der die Pflichtversicherung der auf ihn übergehenden Arbeitnehmer fortsetzt, gilt gemäß § 23e Abs. 1 VBLS Vergleichbares. Auch in diesem Fall ist eine entsprechende Verpflichtungserklärung des übernehmenden Arbeitgebers erforderlich. Diese Verpflichtungserklärung soll auch die Einstandspflicht für die Anwartschaften von beitragsfreien Versicherungen und Leistungsansprüche erfassen, die den übernommenen Beschäftigten anteilig zuzurechnen sind. ee) Keine Dispositionsmöglichkeiten Die Zahlung des Ausgleichsbetrages/Gegenwertes steht nicht zur Disposition des beteiligten Arbeitgebers und der versicherten Arbeitnehmer. Selbst wenn die versicherten Arbeitnehmer sich dazu bereit erklären würden, auf ihre Ansprüche gegenüber der jeweiligen Zusatzversorgungskasse zu verzichten, so dass damit die Berechnungsgrundlagen des Ausgleichsbetrages reduziert würden, sind die Zusatzversorgungskassen nicht verpflichtet, einen derartigen Erlassvertrag abzuschließen133.

28.123

ff) Modalitäten der Berechnung/Zahlung Der Ausgleichsbetrag/Gegenwert wird auf Kosten des ausscheidenden Arbeitgebers be- 28.124 rechnet (§ 23a Abs. 4 Satz 1 VBLS, § 15a Abs. 4 AKA-MS). Er ist innerhalb eines Monats (bei der VBL: innerhalb von drei Monaten) nach Zugang der Mitteilung seiner Höhe an die Zusatzversorgungskasse zu zahlen (§ 23a Abs. 4 VBLS, § 15a Abs. 3 AKA-MS). Eine Stundung der Zahlung unter Berechnung von Zinsen ist möglich. Der Ausgleichsbetrag/Gegenwert ist dem Versorgungskonto I/Umlage (VBL, § 64 VBLS) bzw. dem Abrechnungsverband I (Zusatzversorgungskassen der AKA; § 55 Abs. 1a Satz 3 AKA-MS) zuzuführen.

132 Eine Gruppe in diesem Sinne bilden mindestens drei versicherungspflichtige Beschäftigte, deren Aufgaben in Beziehung zueinander stehen. 133 Vgl. BGH v. 17.4.2002 – IV ZR 89/01, VersR 2002, 831 ff. = EzBAT § 4 Versorgungs-TV Beteiligungsvereinbarung Nr. 1.

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§ 28 Rz. 28.125

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

gg) Kritik an den Regelungen des Gegenwerts/des Ausgleichsbetrages und erste Neuregelung im Jahr 2012

28.125 Dass ein Ausgleichsbetrag zur Sicherstellung der Erfüllung der im Umlageverfahren finanzierten Ansprüche und Anwartschaften dem Grunde nach erforderlich und gerechtfertigt sein kann, ist als solches nachvollziehbar. Allerdings wurde auch zunehmend Kritik an der Gegenwertzahlung an sich geübt, in jüngster Zeit insbesondere auch unter dem wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkt, dass die Zusatzversorgungskassen, insbesondere die VBL, eine faktische Monopolstellung ausnutzen würden. Kritik wurde auch an den Berechnungsparametern des Ausgleichsbetrages geübt. Beanstandet wurden dabei insbesondere die Höhe der Verwaltungskostenzuschläge, die pauschalen Zuschläge zur Deckung etwaiger Fehlbeträge, dass die zur Finanzierung der Versorgung bereits geleisteten Umlagezahlungen keine Berücksichtigung finden sowie die Tatsache, dass ursprünglich bei der Gegenwertberechnung auch die Anwartschaften aus noch verfallbaren Versorgungspunkten berücksichtigt wurden (von Anwärtern, welche die 60-monatige Wartezeit noch nicht erfüllt haben), also Anwartschaften, bei denen noch gar nicht sicher ist, ob sie zu einem späteren Zeitpunkt überhaupt zu einer Zahlungspflicht der Zusatzversorgungskasse führen. Kritisiert wurde schließlich auch, dass der Arbeitgeber zum Zeitpunkt seines Ausscheidens den Gegenwert als nach versicherungsmathematischen Grundsätzen errechnete Einmalzahlung zu leisten hat (was zu sofortigen, weitreichenden finanziellen Belastungen führt), ohne dass alternativ die Möglichkeit eingeräumt wird, der Zusatzversorgungskasse die konkret entstehenden Aufwendungen zu erstatten134.

28.125a Mit zwei Urteilen vom 10.10.2012135 hatte der BGH zu diesen Themen erstmals Stellung bezogen und vorhergehenden Entscheidungen des OLG Karlsruhe, das in der seinerzeitigen Regelung zum Gegenwert eine unangemessene Benachteiligung des ausscheidenden Beteiligten gesehen hatte, sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung bestätigt. Ebenso wie bereits zuvor das OLG Karlsruhe stellte auch der BGH darauf ab, dass die Regelung in § 23 Abs. 2 VBLS uneingeschränkt der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle gemäß § 307 BGB unterliegt, da es sich um eine originäre Satzungsregelung ohne tarifrechtlichen Ursprung handle. Zwar hätten die Tarifvertragsparteien die erforderliche Tarifmacht zur Regelung des Gegenwertes. Allerdings fehle es – vom seinerzeitigen Änderungstarifvertrag Nr. 6 vom 24.11.2011 zum ATV abgesehen – an tarifvertraglichen Regelungen zum Gegenwert. Die Regelungen dieses Änderungsvertrages Nr. 6 zum ATV (Festschreibung des Gegenwerts in § 16 Abs. 4, 5, § 37 Abs. 2a ATV) könnten wegen einer unzulässigen echten Rückwirkung auf Fälle eines früheren Ausscheidens nicht zur Anwendung kommen. Auch beruhe § 23 Abs. 2 VBLS nicht auf einer maßgeblichen Grundentscheidung der Tarifvertragsparteien, so dass auch insoweit eine Einschränkung der Inhaltskontrolle nicht greife. § 23 Abs. 2 VBLS stelle schließlich auch keine Preisklausel (freie Vereinbarung von Leistung und Gegenleistung) dar, die als solche einer Inhaltskontrolle entzogen wäre.

28.125b Der BGH bestätigte die Einschätzung des OLG Karlsruhe, dass die Gleichstellung von Versicherten mit und ohne Erfüllung der Wartezeit und insoweit die Einbeziehung auch letzte134 Vgl. zu diesen sowie zu weiteren Kritikpunkten insbesondere Dierkes/Geyer, FS Kemper, S. 75 ff.; Schipp/Wortmann, NZA 2010, 546; Niemann/Fuhrmann, BetrAV 2010, 528; Rhiel, BetrAV 2010, 534; eine gute Übersicht bietet Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 278 ff. 135 BGH v. 10.10.2012 – IV ZR 10/11, VersR 2013, 46 = BetrAV 2013, 156; v. 10.10.2012 – IV ZR 12/11, BeckRS 2012, 23432.

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Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.125c § 28

rer bei der Berechnung des Gegenwerts eine unangemessene Benachteiligung iSv. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB bewirke, weil dem für das Ausscheiden geforderten finanziellen Ausgleich keine Belastung der VBL gleichen Umfangs zugrunde liege. Weiterhin sah der BGH wie die Vorinstanzen eine unangemessene Benachteiligung auch darin, dass der ausgeschiedene Beteiligte den zu leistenden Ausgleich als Einmalbetrag zu erbringen habe. Die Verpflichtung zur Leistung einer Einmalzahlung sei für den ausscheidenden Beteiligten dabei im Wesentlichen mit zwei Nachteilen verbunden: Zum einen müsse er auf einmal eine Kapitaldeckung schaffen und gleichzeitig wegen des Versorgungs-Verschaffungsanspruchs seiner Arbeitnehmer auch nach Beendigung der Beteiligung eine laufende Zusatzversorgung gewährleisten. Diese Situation treffe den ausscheidenden Beteiligten umso härter, als seine bisherigen Aufwendungen für die Zusatzversorgung in Gestalt der Umlage verloren und in der Regel auch keine Rücklagen für die Erfüllung der Gegenwertforderung gebildet worden seien. Zum anderen berge die Bewertung von Zahlungen der VBL, die erst in Jahrzehnten zu erbringen sind, erhebliche Prognoserisiken. Eine unangemessene Benachteiligung ergebe sich insoweit daraus, dass man den Beteiligten einem derart gravierenden Prognoserisiko aussetzt, obwohl dies nicht zwingend notwendig sei. Der BGH verweist hierzu als Alternative insbesondere auf die sog. Erstattungslösung, bei der der Ausscheidende die Renten für seine Arbeitnehmer zum jeweiligen Fälligkeitszeitpunkt erstattet136, dh. nicht heute künftige Renten mit einem prognostizierten Barwert zahlt, sondern künftig das ausgleicht, was die VBL jeweils bei Fälligkeit an seine (ehemaligen) Beschäftigten leistet. Die VBL sei dabei aber nicht gehindert, den ausscheidenden Beteiligten mit den Kosten des damit möglicherweise verbundenen erhöhten Verwaltungsaufwands angemessen zu belasten. Das von der VBL behauptete Insolvenzrisiko sei von untergeordneter Bedeutung, da es durch geeignete Vorkehrungen abgesichert werden könne. Weiterhin stellte der BGH darauf ab, dass 23 Abs. 2 VBLS gemäß § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB intransparent sei, weil nicht alle Berechnungsgrundlagen des Gegenwerts offen gelegt werden. Der ausscheidende Beteiligte müsse in der Lage sein, die gegen ihn erhobene Gegenwertforderung nachzuvollziehen und zu überprüfen. Berechnungsmethode und Rechnungsgrundlagen wie zB die zugrunde gelegten Sterbetafeln seien weder aus der Satzung noch aus veröffentlichten Ausführungsbestimmungen vollständig ersichtlich. Dies berge die Gefahr, dass der Ausscheidende wegen unklar abgefasster Bedingungen seine Rechte nicht wahrnimmt, weil ihm die Möglichkeit zu einer eigenständigen Überprüfung der gegen ihn erhobenen Forderung fehle. Abschließend teilte der BGH die Einschätzung der Vorinstanz, dass durch die unwirksame Gegenwertbestimmung eine Regelungslücke entstanden sei und dass insoweit eine ergänzende Vertragsauslegung zuzulassen ist, welche die Möglichkeit einer neuen Satzungsregelung einschließe. Der ersatzlose Wegfall der Gegenwertregelung wäre für die VBL eine unzumutbare Härte und eine gravierende Belastung der Solidargemeinschaft. Die Parteien hätten bei sachgerechter Abwägung der beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben vereinbart, dass eine Neuregelung des Gegenwerts im Satzungsänderungsverfahren auch für die bereits beendete Beteiligung möglich sein solle. Eine eigene Auswahl zwischen den verschiedenen denkbaren Lösungsmodellen habe das Berufungsgericht zu Recht nicht getroffen. In Anlehnung an die Rechtsprechung des OLG Karlsruhe hat das LG Dortmund mit einem Urteil vom 1.12.2011137 in gleicher Weise die Unwirksamkeit der Satzungsbestimmungen 136 Vgl. hierzu Niermann/Fuhrmann, BetrAV 2010, 528 (532). 137 LG Dortmund v. 1.12.2011 – 13 O 109/10 Kart., BeckRS 2012, 13758.

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28.125c

§ 28 Rz. 28.125c

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

zum Gegenwert einer kommunalen Zusatzversorgungskasse (der ZVK Westfalen-Lippe) festgestellt. Mit einem Urteil vom 27.9.2017138 stellte der BGH die Unwirksamkeit der Satzungsbestimmungen einer kommunalen Zusatzversorgungskasse (ZVK Darmstadt) zum Ausgleichsbetrag in deren Fassung aus dem Jahr 2013 fest und stellte dabei maßgeblich darauf ab, dass der beteiligte Arbeitgeber die Berechnungsmethode und alle Rechnungsgrundlagen aus der Satzung oder aus ihm zugänglichen Ausführungsbestimmungen entnehmen können müsse.

28.125d Bei der VBL hatte man im Anschluss zeitnah auf diese Rechtsprechung des BGH reagiert. Die Satzungsbestimmungen zum Gegenwert wurden mit der 18. Satzungsänderung vom 21.11.2012 in den §§ 23–23c VBLS einer ersten grundlegenden Überarbeitung unterzogen139. In § 23a Abs. 1 Buchst. a und b sowie in § 23b Abs. 1 Buchst. a und b wurde klargestellt, dass nur noch unverfallbare Versorgungspunkte und unverfallbare Bonuspunkte von Anwartschaftsberechtigten in die Berechnung des Gegenwerts bzw. anteiligen Gegenwerts einbezogen werden. Auch wurde der pauschale Aufschlag zur Deckung von Fehlbeträgen in Höhe von 10 % gestrichen. Der Verwaltungskostenaufschlag in Höhe von 2 % bestand allerdings weiterhin. Als Alternative zur Zahlung des Gegenwerts als Einmal-Betrag wurde in § 23c VBLS ein sog. „Erstattungsmodell“ eingeführt. Der ausscheidende Arbeitgeber konnte gemäß dieser Regelung innerhalb eines Monats nach Zugang der Mitteilung über die Höhe des Gegenwerts schriftlich beantragen, die Finanzierung der bei der VBL verbleibenden Anwartschaften und Leistungsansprüche über das Erstattungsmodell durchzuführen. Beim anteiligen Gegenwert (dh. auf die Zahlung eines Gegenwerts gemäß § 23b Abs. 1–3 iVm. § 22 Abs. 3 Satz 3 VBLS bei Ausgliederungen) fand das Erstattungsverfahren allerdings keine Anwendung. Das Erstattungsmodell sah vor, dass der Arbeitgeber über einen Zeitraum von maximal 20 vollen Kalenderjahren der VBL die Aufwendungen für die ihm gemäß § 23 Abs. 1 und § 23b Abs. 4 VBLS zuzurechnenden Betriebsrentenleistungen erstattet und daneben einen Deckungsstock aufbaut, der dazu dient, die hinterlassenen Anwartschaften und Leistungsansprüche auszufinanzieren. Zur Erstattung der laufenden Leistungen ist gemäß diesen Regelungen zum 31. März eines jeden Jahres ein Vorschuss an die VBL zu zahlen (unter Berücksichtigung eines Mindestbetrags, § 23c Abs. 4 VBLS) und zusätzlich zum Aufbau des Deckungskapitals jeweils ein Betrag in Höhe von mindestens 2 % der durchschnittlichen zusatzversorgungspflichtigen Jahresentgelte der letzten fünf Kalenderjahre vor dem Ausscheiden. Der Erstattungszeitraum konnte auf Antrag des ausscheidenden Arbeitgebers jederzeit verkürzt werden. Die VBL ermittelte zu Beginn des Erstattungszeitraums auf Kosten des ausgeschiedenen Arbeitgebers den Barwert der nach dem Ausscheiden zu erfüllenden Verpflichtungen gemäß § 23a VBLS. Am Ende des Erstattungszeitraums wurde auf Kosten des Arbeitgebers der Gegenwert nach den zu diesem Zeitpunkt maßgeblichen Rechnungsgrundlagen und für die zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Verpflichtungen gemäß § 23a VBLS berechnet. Die Differenz zwischen dem vorhandenen Deckungskapital und diesem Gegenwert war gemäß diesen Regelungen dann als Schlusszahlung zu leisten. Überschreitet das vorhandene Deckungskapital den Gegenwert, erstattet die VBL den überzahlten Betrag. Ist der ausgeschiedene Arbeitgeber insolvenzfähig, hat er für die Dauer der Erstattung bis zur Leistung der Schlusszahlung eine Insolvenzsicherung in 138 BGH v. 27.9.2017 – IV ZR 251/15, BeckRS 2017, 128284. 139 Vgl. hierzu Reschka, ZTR 2013, 171 ff.; Gilbert/Hesse, Vorb. §§ 23-23e VBLS Rz. 15 ff.; kritisch Niemann/Fuhrmann, BetrAV 2013, 105.

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Betz-Rehm

Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.125h § 28

Höhe der ausstehenden Gegenwertforderung beizubringen. Als Sicherungsmittel kamen dabei in Betracht: eine unwiderrufliche Verpflichtungserklärung einer oder mehrerer juristischer Personen des öffentlichen Rechts, deren Insolvenzfähigkeit durch Gesetz ausgeschlossen ist oder eine unwiderrufliche Deckungszusage eines im Inland zum Geschäftsbetrieb zugelassenen Versicherungsunternehmens oder eine selbstschuldnerische Bankbürgschaft von einem Kreditinstitut (mit einem Rating im A-Bereich) mit Sitz in einem Staat des EWR. Im Hinblick auf den vom BGH erhobenen Vorwurf der Intransparenz wurde schließlich in § 23a Abs. 2 Satz 4 VBLS vorgesehen, dass die Berechnungsmethode und die Rechnungsgrundlagen des Gegenwerts in versicherungstechnischen Ausführungsbestimmungen zu regeln sind, welche den beteiligten und ausgeschiedenen Arbeitgebern auf Anforderung zur Verfügung gestellt werden. Allerdings hatte sich die VBL nicht darauf beschränkt, ausschließlich solche Änderungen bei der Bestimmung des Gegenwerts umzusetzen, die sich unmittelbar aus den Anforderungen der erläuterten BGH-Rechtsprechung ergaben. Eine gravierende Änderung lag in der Umstellung des für die Gegenwertberechnung heranzuziehenden Rechnungszinses. Bisher betrug dieser bei der VBL in Anlehnung an die Leistungsberechnung im Punktemodell 3,25 % in der Anwartschaftsphase und 5,25 % während des Rentenbezugs. Nunmehr galt gemäß § 23a Abs. 2 Satz 2 VBLS als einheitlicher Rechnungszins der jeweilige Höchstrechnungszins der Deckungsrückstellungsverordnung (seinerzeit 1,75 %, derzeit 0,9 %)140. Diese Reduzierung des Rechnungszinses führte zu einer deutlichen Erhöhung der jeweiligen Gegenwerte bei der VBL. Auf der anderen Seite war in § 68 Abs. 5 VBLS in der seinerzeitigen Fassung vorgesehen, dass die ausgeschiedenen Arbeitgeber an Überschüssen des Abrechnungsverbandes Gegenwerte beteiligt werden, die nach Zuteilung der Bonuspunkte an die versicherten Arbeitnehmer verbleiben.

28.125e

Diese Neuregelungen der VBLS zum Gegenwert galten zur Gänze nur für neue Austrittsfälle ab dem 1.1.2013. Für Fälle eines Ausscheidens aus der Beteiligung oder für Ausgliederungen im Zeitraum zwischen 1.1.2002 und 31.12.2012 enthielt § 84a Abs. 4 VBLS iVm. § 23 Abs. 2 Satz 12 VBLS in der Fassung des Satzungsergänzenden Beschlusses des Verwaltungsrats zu §§ 23 bis 23c VBL-Satzung vom 21.11.2012 Übergangsregelungen zur Berechnung und zu den Zahlungsmodalitäten des Gegenwerts141.

28.125f

Im Bereich der AKA wurde mit einer Satzungsänderung vom 28.2.2013 in den §§ 15a, 15b und 79 AKA-MS eine vergleichbare Neuregelung der Gegenwertzahlung vorgesehen142.

28.125g

hh) Mängel der Neuregelung und weitere Neufassung 2016 Diese Neuregelung des Gegenwerts hielt einer Prüfung durch die Rechtsprechung jedoch erneut nicht stand. Nachdem bereits das OLG Karlsruhe mit zwei Urteilen vom 27.8.2014143 entschieden hatte, dass die Neuregelungen der §§ 23 ff. VBLS den ausscheidenden Arbeitgeber

140 Bei den kommunalen Zusatzversorgungskassen galt bereits bisher dieser Zinssatz, § 15a Abs. 2 AKA-MS. 141 Einzelheiten hierzu bei Niemann/Fuhrmann, BetrAV 2013, 105; Gilbert/Hesse, Vorb. §§ 23-23e VBLS Rz. 15 ff. 142 Einzelheiten hierzu bei Hügelschäffer, BetrAV 2013, 310 ff. 143 OLG Karlsruhe v. 27.8.2014 – 6 U 115/11 (Kart.) und 6 U116/11 (Kart.), konkret ging es dabei um den satzungsergänzenden Beschluss des Verwaltungsrats der VBL vom 21.11.2012.

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28.125h

§ 28 Rz. 28.125h

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

weiterhin unangemessen benachteiligen, hat auch der BGH mit Urteil vom 7.9.2016144 diese Feststellung bestätigt. Auch die §§ 23 und 23c VBLS in der Fassung des Jahres 2012 sind wegen Verstoßes gegen § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam. Die auch auf Basis der Neuregelung als Ausgangspunkt grundsätzlich vorgesehene Zahlung des Gegenwerts als Einmalbetrag belaste aufgrund der damit verbundenen finanziellen Belastung und dem mit der Bewertung des Barwerts verbundenen Prognoserisiko den ausscheidenden Beteiligten weiterhin unangemessen. Aber auch das Erstattungsmodell nach § 23c VBLS sei gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam. Der BGH bestätigte in dieser Entscheidung dabei erneut, dass die Satzungsregelungen zum Gegenwert der vollen gerichtlichen Inhaltskontrolle unterliegen, da hierfür keine tarifvertragliche Grundlage bestehe. Die tarifvertraglichen Regelungen in § 16 Abs. 4 und 5 ATV in der Fassung des Änderungstarifvertrags Nr. 6 vom 24.11.2011 zum ATV könnten nicht herangezogen werden, da sie für den konkreten Fall eine unzulässige Rückwirkung bedeuten würden.

28.125i Zwar begegne es für sich genommen keinen durchgreifenden Bedenken, dass § 23c Abs. 1 Satz 2 VBLS in der seinerzeitigen Fassung den Zeitraum begrenzt, in dem der ausscheidende Arbeitgeber die Aufwendungen für erbrachte Betriebsrentenleistungen zu erstatten hat und an dessen Ende der verbleibende, neu ermittelte Gegenwert als Schlusszahlung zu leisten ist. Anders als bei zeitnah nach Beendigung der Beteiligung zu leistenden Gegenwertzahlungen habe er Gelegenheit, während des Erstattungszeitraums Rücklagen für die Erfüllung der Schlusszahlung zu bilden. Es liege ebenfalls keine unangemessene Benachteiligung darin, dass der ausscheidende Beteiligte nach § 23c Abs. 5 Satz 1 und Abs. 7 Satz 3 VBLS in der seinerzeitigen Fassung seine Schlusszahlung vor Ablauf des Erstattungszeitraums erbringen muss, wenn er mit seinen jährlich zu erbringenden Aufwendungen mit mehr als drei Monaten in Verzug ist oder die Anforderungen an die Insolvenzsicherung nicht innerhalb von drei Monaten nach dem Zeitpunkt des Ausscheidens erfüllt. Es benachteilige den ausscheidenden Beteiligten aber unangemessen, dass gemäß dem satzungsergänzenden Beschluss vom 21.11.2012 auf den maximal zwanzigjährigen Erstattungszeitraum die Kalenderjahre vom Zeitpunkt des Ausscheidens bis zum vereinbarten Stichtag angerechnet werden, weil dies den Erstattungszeitraum in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Beendigung seiner Beteiligung um bis zu 13 Jahre verkürzen könne. Auch die Höhe der nach § 23c Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 und Abs. 4 VBLS in der Fassung des Jahres 2012 während des Erstattungszeitraums zu leistenden Zahlungen benachteilige den ausscheidenden Beteiligten unangemessen. Der BGH bemängelte insoweit, dass der Beteiligte gemäß § 23c Abs. 4 Satz 1 und 3 VBLS in der Fassung 2012 mindestens zu Zahlungen in Höhe der Aufwendungen verpflichtet bleibe, die bei fortbestehender Beteiligung als Arbeitgeberanteil an der Umlage seiner durchschnittlichen zusatzversorgungspflichtigen Jahresentgelte der letzten fünf Kalenderjahre vor dem Ausscheiden zu leisten wären, so dass die Zahlungen im Erstattungszeitraum sogar höher als bei Fortsetzung der Beteiligung ausfallen könnten. Die Regelung nehme dem ausgeschiedenen Beteiligten die Möglichkeit, auf andere Weise Rücklagen für die Schlusszahlung zu bilden. Die unangemessene Ausgestaltung der einzelnen Bestimmungen habe nach der gebotenen Gesamtbetrachtung die Unwirksamkeit der Regelungen über das Erstattungsmodell des § 23c VBLS in der seinerzeitigen Fassung insgesamt zur Folge. Auch in dieser Entscheidung betonte der BGH dabei aber erneut, eine ergänzende Vertragsauslegung der Satzung ergebe, dass bei sachgerechter Abwägung der beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben

144 BGH v. 7.9.2016 – IV ZR 172/15, NZA-RR 2017, 47.

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Betz-Rehm

Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.125l § 28

auch eine nochmalige Neuregelung des Gegenwerts im Satzungsänderungsverfahren für die bereits beendete Beteiligung möglich sei. Mit einem weiteren Urteil vom 24.1.2017145 hat der BGH diese Entscheidung bestätigt und zusätzlich auf wettbewerbsrechtliche Gesichtspunkte abgestellt. Die VBL sei jedenfalls im Zusammenhang mit der Berechnung von Gegenwertansprüchen gegen frühere Beteiligte der Zusatzversorgung Unternehmen im Sinne des deutschen Kartellrechts146. Die VBL habe mit der Erhebung der Gegenwertforderung eine marktbeherrschende Stellung missbraucht und sei dem ausgeschiedenen Arbeitgeber deshalb zum Schadensersatz (Ersatz des aus der Zahlung des Gegenwerts beim Arbeitgeber eingetretenen Zinsschadens) verpflichtet. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser weiteren Kritik haben die Tarifvertragsparteien des ATV mit dem Änderungstarifvertrag Nr. 8 vom 7.1.2016 zum ATV versucht, mit den §§ 37b bis 37f ATV tarifvertragliche Grundsatzregelungen bezüglich der Rechtsfolgen des Ausscheidens aus der VBL zu verankern. Die Regelungen zum Gegenwert wurden insoweit nochmals grundlegend neugefasst. In § 37b ATV wurden die grundsätzlichen Rechtsfolgen des Ausscheidens eines Beteiligten aus der VBL geregelt. In § 37c ATV wurden die Verpflichtung zur Zahlung des Gegenwerts dem Grunde nach und die dabei maßgeblichen Berechnungsgrundlagen (insbesondere der Rechnungszins) und eine regelmäßige Neuberechnung des Gegenwerts tarifvertragliche verankert. In § 37d ATV wurde erstmals eine Beteiligung des ausgeschiedenen Arbeitgebers an einem etwaigen überschüssigen Vermögen oder an einer Unterdeckung vorgesehen. In § 37e ATV wurde als Alternative zur Zahlung des Gegenwerts als Einmalbetrag das Erstattungsmodell tarifvertraglich verankert und dabei drei Varianten des Erstattungsmodells als Option vorgesehen (reine Erstattung, verkürzte Erstattung mit Deckungsstock oder verkürzte Erstattung mit Rest-Gegenwert). In § 37f ATV wurden die Rechtsfolgen von Personalübertragungen (Zahlung eines anteiligen Gegenwerts) tarifvertraglich festgeschrieben.

28.125j

Im ATV-K wurden für den Bereich der kommunalen Zusatzversorgungskassen keine solchen tarifvertraglichen Grundsatzregelungen eingeführt. In der Satzung der VBL wurde diese Neuregelung zum Gegenwert mit der 21. Satzungsänderung im September 2016 in den §§ 23a bis 23d VBLS nebst den hierzu ergangenen Ausführungsbestimmungen mit Wirkung zum 1.1.2016 umgesetzt. Gemäß § 23a Abs. 1 VBLS werden für die Berechnung des Gegenwerts dabei wie in der bisherigen Fassung Leistungsansprüche und unverfallbare Anwartschaften der früheren und aktiven Pflichtversicherten des ausscheidenden Beteiligten und deren Hinterbliebener herangezogen und zusätzlich Leistungsansprüche und Anwartschaften, die dem ausscheidenden Beteiligten aufgrund des bisherigen Satzungsrechts zugeordnet wurden (z.B. im Zusammenhang mit Personalübertragungen oder Verpflichtungserklärungen). Der Gegenwert wird dabei zunächst nach den zum Zeitpunkt der Beendigung der Beteiligung aktuellen Erkenntnissen ermittelt. Dabei wird als neuer Rechnungszins der jeweils gültige Höchstzinssatz nach § 2 Abs. 1 der Deckungsrückstellungsverordnung zu Grunde gelegt, mindestens jedoch 2 % und höchstens 4 %. Als biometrische Rechnungsgrundlagen sind die jeweils aktuellen Sterbetafeln der VBL zu verwenden. Verwaltungskosten werden weiterhin mit 2 % pauschal in Ansatz gebracht.

28.125k

Grundlegend neu ist, dass der so ermittelte Gegenwert gemäß § 23a Abs. 3 VBLS in regelmäßigen Abständen von zehn Jahren (auf Antrag auch nach fünf Jahren) überprüft wird.

28.125l

145 BGH v. 24.1.2017 – KZR 47/14, GWR 2017, 230. 146 So auch bereits BGH v. 6.11.2013 – KZR 58/11, NVwZ-RR 2014, 515.

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§ 28 Rz. 28.125l

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Auf diese Weise wird das Risiko minimiert, dass der Gegenwert aufgrund sich verändernder Rechnungsgrundlagen zu Lasten des Arbeitgebers zu hoch oder zu Lasten der VBL zu niedrig ist. Die Regelung soll ersichtlich die Problematik des vom BGH kritisierten Prognoserisikos lösen. Bei der Neuberechnung wird der Gegenwert für die zu diesem Zeitpunkt noch vorhandenen Versorgungslasten mit den dann maßgeblichen Rechnungsgrundlagen neu ermittelt. Übersteigen die aus dem bisherigen Gegenwert noch vorhandenen Mittel die noch bestehenden Verpflichtungen, erhält der Arbeitgeber eine Rückzahlung. Für jeweils fünf volle Jahre seit dem Ende Beteiligung erhält er dabei einen Anteil von 6,25 % des Überschusses; nach Ablauf von 80 Jahren, spätestens nach Versterben des letzten Leistungsempfängers, soll so ein Ausgleich von 100 % erfolgt sein. Decken die vorhandenen Mittel nicht alle bestehenden Verpflichtungen, besteht eine dementsprechende Nachschusspflicht des ausgeschiedenen Beteiligten. Die regelmäßige Überprüfung des Gegenwerts unterbleibt, wenn der ausgeschiedene Beteiligte einen Zuschlag von 10 % der Gegenwertsumme zahlt. Erstmals wird gemäß § 23b VBLS bei der Berechnung des Gegenwerts auch eine Beteiligung des ausgeschiedenen Beteiligten am überschüssigen Vermögen vorgesehen. In entsprechender Weise wird der ausgeschiedene Arbeitgeber auch an einer Unterdeckung beteiligt. Eine solche Anrechnung überschüssigen Vermögens oder der Ausgleich einer Unterdeckung erfolgt nur einmalig bei der Beendigung der Beteiligung, also nicht erneut im Rahmen der regelmäßigen Überprüfungen gemäß § 23a Abs. 3 VBLS.

28.125m Alternativ zur Gegenwertzahlung kann der Arbeitgeber künftig gemäß § 23c VBLS zwischen drei Varianten eines Erstattungsmodells (reine Erstattung, verkürzte Erstattung mit Deckungsstock oder verkürzte Erstattung mit verbleibendem Gegenwert) wählen. Im reinen Erstattungsmodell hat er die ihm zuzurechnenden Rentenzahlungen fortlaufend zu erstatten, bis der letzte ihm zuzurechnende Rentner verstorben ist (§ 23c lit. b VBLS).Bei der verkürzten Erstattung mit verbleibendem Gegenwert (§ 23c lit. d VBLS) legt der Arbeitgeber die Dauer des Erstattungszeitraums fest. Hierzu hat er allerdings am Ende des von ihm gewählten Erstattungszeitraums den verbleibenden Gegenwert für die dann noch vorhandenen Verpflichtungen zu zahlen. Bei der verkürzten Erstattung mit Deckungsstock (§ 23c lit. c VBLS) baut der Arbeitgeber während des Erstattungszeitraums durch Zahlung eines zusätzlichen Betrags einen Deckungsstock auf. Daraus wird der am Ende des Erstattungszeitraums fällige verbleibende Gegenwert finanziert. Ist der gebildete Deckungsstock am Ende des gewählten Erstattungszeitraums entweder zu hoch oder zu niedrig, erfolgt zu diesem Zeitpunkt in die eine oder andere Richtung ein entsprechender Ausgleich. Anders als nach den bisherigen Regelungen des Erstattungsmodells hat der ausgeschiedene Arbeitgeber für die Dauer der Erstattung keine Insolvenzsicherung beizubringen. Er muss allerdings – wie bei einer fortbestehenden Beteiligung – an den ungedeckten Mehrkosten infolge vorangegangener oder zukünftiger Beendigungen von Beteiligungen partizipieren.

28.125n Anstelle des früher in § 22 Abs. 3 Satz 2 Buchst. e VBLS enthaltenen Kündigungsrechts der VBL im Falle von Personalübertragungen (s. Rz. 28.108 f.) wurde schließlich in § 23d VBLS eine Neuregelung zu den Rechtsfolgen von Personalübertragungen vorgesehen. Künftig steht der VBL bei Übertragung eines wesentlichen Teils der Pflichtversicherten ein direkter Anspruch auf Zahlung eines anteiligen Gegenwerts gegenüber dem Beteiligten zu. Für die Berechnung des anteiligen Gegenwerts werden die unverfallbaren Anwartschaften der Versicherten zugrunde gelegt, deren Versicherung infolge der Personalübertragung endet. Zusätzlich sind Anwartschaften von beitragsfreien Versicherungen sowie Leistungsanspruche von Betriebsrentenberechtigten und Hinterbliebenen in dem Anteil zu finanzieren, der dem Verhältnis des übertragenen Pflichtversichertenbestandes zu dem Pflichtversichertenbestand des Be1114

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Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.128 § 28

teiligten vor der Personalübertragung entspricht. Bei der Berechnung des anteiligen Gegenwerts kommen die gleichen Rechnungsgrundlagen wie beim Gegenwert bei Ausscheiden zur Anwendung. Auch hier erfolgt im Übrigen eine regelmäßige Wiederholung der Gegenwertberechnung. Außerdem ist nunmehr auch bei einem solchen anteiligen Gegenwert die Möglichkeit des Erstattungsverfahrens eröffnet. ii) Lohnsteuerrechtliche und sozialversicherungsrechtliche Behandlung des Gegenwerts/Ausgleichsbetrages Die lohnsteuerliche Behandlung des Ausgleichsbetrages/Gegenwertes war zwischen der Finanzverwaltung und der hM des Schrifttums lange Zeit umstritten. Während die Finanzverwaltung in ständiger Verwaltungspraxis in der Zahlung des Gegenwertes einen lohnsteuerpflichtigen Zufluss bei den jeweiligen aktiven Arbeitnehmern sah, dabei aber ein Gebrauchmachen von der Pauschalierungsmöglichkeit des § 40b EStG (in der bis 31.12.2004 gültigen Fassung) in unbegrenzter Höhe zuließ147, wurde diese Sichtweise von der Literatur stark kritisiert und eine Steuerpflicht bezüglich des Ausgleichsbetrages/Gegenwertes vehement abgelehnt148.

28.126

Durch die Rechtsprechung wurde die Auffassung der Finanzverwaltung mit einer erstinstanzlichen Entscheidung des FG München vom 29.10.2004149 zunächst bestätigt. Mit Wirkung ab 1.1.2005 fügte der Gesetzgeber durch das AltEinkG mit § 40b Abs. 2 Satz 5 EStG eine „klarstellende“ Regelung ein, mit der die Auffassung der Finanzverwaltung zur Anwendung des § 40b EStG ebenfalls bestätigt und eine Pauschalversteuerung des Ausgleichsbetrages in voller Höhe mit dem Pauschalsteuersatz von 20 % vorgesehen wurde. Gleichwohl hatte der BFH150 die Kritik aus der Literatur aufgenommen, die Entscheidung des FG München aufgehoben und klargestellt, dass eine Lohnbesteuerung des Gegenwerts/Ausgleichsbetrages nicht in Betracht komme. Der BFH verneinte in dieser Entscheidung von vorneherein das Vorliegen der Voraussetzungen eines steuerpflichtigen Arbeitslohnes gemäß § 19 EStG. Die Gegenwertzahlung diene ausschließlich dem Ausgleich der durch das Ausscheiden des Arbeitgebers aus der Zusatzversorgungskasse verursachten Finanzierungslücke, die Arbeitnehmer erlangten durch die Zahlung des Gegenwertes weder einen geldwerten Vorteil noch könne die Zahlung als Gegenleistung für die Arbeitsleistung beurteilt werden. Auf die Regelung in § 40b Abs. 2 Satz 5 EStG in der Fassung des AltEinkG kam es aus zeitlichen Gründen nicht an (der Gegenwert war im Streitfall vor dem Inkrafttreten von § 40b Abs. 2 Satz 5 EStG gezahlt worden). Der BFH machte dabei aber deutlich, dass es sich bei § 40b Abs. 2 Satz 5 EStG auch nicht um eine Klarstellung eines auch für frühere Jahre maßgeblichen Rechtszustandes handle. Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Frage, ob eine steuerbare Einnahme der Arbeitnehmer vorliege, sei allein § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 iVm. § 8 Abs. 1 EStG.

28.127

Das BMF reagierte auf die Rechtsprechung des BFH umgehend durch ein Schreiben vom 28.128 30.5.2006151 und erkannte zwar deren Anwendbarkeit allgemein an. Alle offenen Fälle, in denen eine Gegenwert-/Ausgleichszahlung geleistet wurde, könnten für die Kalenderjahre 2005 und früher unter Beachtung der Rechtsprechung des BFH abgeschlossen werden. Gleichzeitig 147 Vgl. zur „Klarstellung“ durch § 40b Abs. 2 Satz 5 EStG idF des Alterseinkünftegesetzes, gültig ab 1.1.2005, BMF-Schreiben v. 17.11.2004, BStBl I 2004, 1065 Rz. 199, 200. 148 Vgl. Heger, BB 2006, 1598 ff.; Seeger, DB 2005, 1588 = BetrAV 2005, 648; Hügelschäffer, BetrAV 2005, 351 ff.; Heger, BB 2005, 749 = BetrAV 2005, 447. 149 FG München v. 29.10.2004 – 8 K 1587/03, BetrAV 2005, 500 ff. 150 BFH v. 15.2.2006 – VI R 92/04, BStBl. II 2006, 528 = NJW 2006, 1999 f. 151 BMF-Schreiben v. 30.5.2006, BStBl. I 2006, 415.

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§ 28 Rz. 28.128

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

kündigte das BMF allerdings für Lohnzahlungs- bzw. Veranlagungszeiträume, die nach dem 31.12.2005 enden, ua. für die steuerliche Behandlung von Sonderzahlungen des Arbeitgebers, die anlässlich seines Ausscheidens aus der VBL geleistet werden (= Gegenwert), eine ausdrückliche gesetzliche Neuregelung an, die zu einer Versteuerung solcher Sonderzahlungen führen werde. Diese gesetzliche Neuregelung erfolgte durch das Jahressteuergesetz 2007 insbesondere durch § 19 Abs. 1 Nr. 3 EStG, die Streichung von § 40b Abs. 2 Satz 5 EStG und die Einfügung eines neuen Abs. 4 in § 40b EStG. Es wurde damit ausdrücklich gesetzlich geregelt, dass Zahlungen des Arbeitgebers anlässlich seines Ausscheidens aus einer nicht im Wege der Kapitaldeckung finanzierten betrieblichen Altersversorgung an eine Pensionskasse (= Ausgleichs-/Gegenwertzahlung) zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit gehören. Solche Zahlungen sind nunmehr gemäß § 40b Abs. 4 EStG vom Arbeitgeber mit einem Pauschalsteuersatz von 15 % zu versteuern. Dies gilt für alle Ausgleichs-/Gegenwertzahlungen nach dem 23.8.2006 (Tag des Kabinettsbeschlusses) sowie ebenfalls für alle nach diesem Stichtag geleisteten Teil- oder Restzahlungen (vgl. § 52 Abs. 52b Satz 3 EStG in der bis zum VZ 2013 geltenden Fassung). Die steuerrechtliche Behandlung der Ausgleichs-/Gegenwertzahlung wurde damit eindeutig gesetzlich geregelt (wenngleich sie auch weiterhin umstritten ist). Mit zwei Beschlüssen vom 14.11.2013152 hat zwischenzeitlich der BFH dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob es mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar ist, dass der Arbeitgeber für bestimmte Lohneinkünfte seiner Arbeitnehmer zwangsweise pauschale Lohnsteuer zu zahlen hat, durch die er selbst definitiv belastet wird.

28.129 Hinsichtlich der sozialversicherungsrechtlichen Behandlung der Gegenwertzahlung hatten Gesetz- und Verordnungsgeber zunächst eine eindeutige Regelung der Frage, ob und inwieweit die Ausgleichs-/Gegenwertzahlung in der gesetzlichen Sozialversicherung zum beitragspflichtigen Arbeitsentgelt zählt und damit zu einer Verbeitragung führt, nicht eindeutig beantwortet. Gemäß § 14 Abs. 1 SGB IV sind Arbeitsentgelt im sozialversicherungsrechtlichen Sinne alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Grundsätzlich stellen insoweit Zahlungen des Arbeitgebers an Pensi152 BFH v. 14.11.2013 – VI R 49/12 und VI R 50/12, DStRE 2014, 385 = BFHE 243, 524. Das Verfahren ist beim BVerfG unter dem Aktenzeichen 2 BvL 7/14 anhängig. Nach Ansicht des BFH ist die Erweiterung des Umfangs der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit durch § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Satz 2 EStG und insoweit die Erstreckung auf die Gegenwertzahlung als solche allerdings verfassungsgemäß. Insbesondere genüge die Vorschrift dem allgemeinen Gleichheitssatz. Die Erweiterung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit bewege sich im Rahmen der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit zur Erschließung neuer Steuerquellen. Auch sei aus verfassungsrechtlicher Sicht die ungleiche Behandlung von Sanierungsgeldern (die nicht der Besteuerung unterliegen) und Gegenwertzahlungen nicht zu beanstanden. Nach Überzeugung des BFH verstößt allerdings die nach § 40b Abs. 4, Abs. 5 iVm. § 40 Abs. 3 Satz 1 EStG ausnahmslos geltende Pflicht des Arbeitgebers, die pauschale Lohnsteuer nicht nur zu erheben, sondern auch zu tragen, gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Einzigartig im Einkommensteuerrecht müsse er damit Einkommensteuer für Einkünfte eines anderen Rechtssubjekts entrichten. Während bei allen anderen Steuerpflichtigen Maßstab für die Besteuerung ihr eigenes verfügbares Einkommen sei, werde die Einkommensteuer in § 40b Abs. 4, Abs. 5 Satz 1 iVm. § 40 Abs. 3 Satz 1 EStG nach den Einkünften eines Dritten bemessen. Damit werde das im Einkommensteuerrecht geltende Gebot, die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auszurichten, in krasser Weise verfehlt.

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Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.129a § 28

onskassen (hierzu zählen auch die Zusatzversorgungskassen des öffentlichen Dienstes) sozialversicherungspflichtiges Arbeitsentgelt dar. Gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV besteht jedoch eine Ermächtigung für die Bundesregierung, durch Rechtsverordnung zu regeln, dass Zuwendungen an Pensionskassen ganz oder teilweise nicht als Arbeitsentgelt zählen. Seit dem 1.1.2007 gilt insoweit die Sozialversicherungsentgeltverordnung (SvEV153). Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4a SvEV sind Zuwendungen nach § 40b EStG, die zusätzlich zu Löhnen und Gehältern gewährt werden, nicht dem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsentgelt zuzurechnen, soweit nicht § 1 Abs. 1 Satz 3 und 4 SvEV etwas anderes bestimmen. Der nach § 40b Abs. 4 EStG pauschal zu versteuernde Ausgleichsbetrag/Gegenwert konnte also grundsätzlich hierunter gefasst werden. Fraglich war allerdings, ob sich aus § 1 Abs. 1 Satz 3 und 4 SvEV etwas anderes ergibt. Diese Sonderregelungen gelten für die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes154 und legen fest, dass pauschal versteuerte Zuwendungen an die Zusatzversorgungskassen bis zur Höhe von 100 Euro monatlich mit einem Hinzurechnungsbetrag von bis zu 2,5 % des für ihre Bemessung maßgebenden Entgelts abzüglich 13,30 Euro monatlich, mit dem Teil, der 100 Euro monatlich übersteigt, vollständig, dem Arbeitsentgelt zuzurechnen sind. Die Grenze von 100 Euro monatlich wäre bei Ausgleichs-/Gegenwertzahlung regelmäßig überschritten. Diese Bestimmungen zielen primär auf die Verbeitragung der Umlagezahlungen ab (s. Rz. 28.279). Zumindest dem Wortlaut nach konnten nach der seinerzeitigen Regelung jedoch auch Ausgleichs-/Gegenwertzahlungen unter § 1 Abs. 1 Satz 3 und 4 SvEV gefasst werden und insoweit der Beitragspflicht unterliegen. Die Sätze 3 und 4 des § 1 Abs. 1 SvEV passen allerdings sachlich nicht zur Ausgleichs-/Gegenwertzahlung; wollte man sie auch hierauf anwenden, würden sie eine Vielzahl ungeklärter Fragen155 aufwerfen (nicht zuletzt Fragen nach der Verteilung auf die Beschäftigten und nach dem maßgebenden Entgelt für die Bemessung), so dass es bei der Beitragsfreiheit der Gegenwertzahlung gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4a SvEV bleiben sollte. Die Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger hatten in einem gemeinsamen Rundschreiben om 25.9.2008 zur beitragsrechtlichen Beurteilung von Beiträgen und Zuwendungen zum Aufbau betrieblicher Altersversorgung zu dieser Thematik Stellung genommen156. Die Spitzenverbände wiesen in diesem gemeinsamen Rundschreiben darauf hin, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vor dem Hintergrund des unverhältnismäßigen Aufwandes für die individuelle Verbeitragung der Sonderzahlungen durch die Arbeitgeber und die damit verbundenen erheblichen Beitragsbelastungen für die Arbeitnehmer geplant habe, die Sonderzahlungen im Rahmen einer Anpassung der Sozialversicherungsentgeltverordnung 2008 von der Beitragspflicht freizustellen. Aufgrund der in der Zwischenzeit anhängigen Verfahren zur Besteuerung der Sonderzahlungen vor dem BFH sei eine entsprechende Regelung allerdings zurückgestellt worden. Bei einem Wegfall der Steuerpflicht der Sonderzahlungen würde sich eine Regelung zu deren beitragsfreier Behandlung erübrigen. Sofern die Steuerpflicht der Sonderzahlungen vom BFH bestätigt werden sollte, müsste über die sozialversicherungsrechtliche Behandlung der Sonderzahlungen abschließend entschieden werden. Damit bestehe in der Zwischenzeit die Beitragspflicht der Sonderzahlungen im Rahmen des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4a iVm. Satz 3 und 4 SvEV. Gemäß dem gemeinsamen Rundschreiben woll153 Sie hat die frühere Arbeitsentgeltverordnung sowie die Sachbezugsverordnung abgelöst. 154 Diese sah gerade bis zum 31.12.2000 eine Gesamtversorgung vor, vgl. den Wortlaut von § 1 Abs. 1 Satz 3 SvEV. 155 Vgl. hierzu Hügelschäffer, BetrAV 2008, 160 (167). 156 Dort unter Nr. 6.5.2 (S. 48 ff.). Die Rundschreiben der Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger können ua. über das Firmenkundenportal der Techniker Krankenkasse unter www.tk-on line.de (Firmenkundenportal/TK-lex online) abgerufen werden.

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28.129a

§ 28 Rz. 28.129a

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

ten es die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung bis zur abschließenden Entscheidung der Steuer- und Beitragspflicht der Sonderzahlungen durch den BFH bzw. den Gesetzgeber allerdings nicht beanstanden, wenn Arbeitgeber unter Verzicht auf die Einrede der Verjährung von der Beitragszahlung für Sonderzahlungen zunächst absehen. Sofern jedoch die Beitragspflicht nachträglich bestätigt werde, seien entsprechende Beiträge nachzuzahlen. Auf die Erhebung von Säumniszuschlägen würde in diesen Fällen verzichtet. Eine eindeutige Regelung wurde schließlich mit Wirkung vom 22.4.2015 in § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 SvEV geschaffen. Durch die Neufassung wurde klargestellt, dass grundsätzlich Sonderzahlungen gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 Nummer 3 Satz 2 bis 4 EStG, die der Arbeitgeber zur Deckung eines finanziellen Fehlbetrages an eine Zusatzversorgungskasse des öffentlichen Dienstes leistet, nicht dem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsentgelt zuzurechnen sind. Die Regelung erfasst nunmehr eindeutig nicht nur die Sanierungsgelder, sondern auch die Zahlung eines Gegenwerts. c) Pflichten des Arbeitgebers gegenüber den Arbeitnehmern (Versorgungsverschaffungsanspruch)

28.130 Das Ausscheiden des Arbeitgebers aus der jeweiligen Zusatzversorgungskasse betrifft unmittelbar nur die Beziehungen zwischen Arbeitgeber/Zusatzversorgungskasse (die Beteiligung/ Mitgliedschaft, s. Rz. 28.84 ff., Rz. 28.90 ff. und zwischen Zusatzversorgungskasse/Arbeitnehmer (die Versicherung, s. Rz. 28.88 f., Rz. 28.160 ff.). Das zwischen dem Arbeitgeber und den Arbeitnehmern bestehende Grundverhältnis/Versorgungsverhältnis bleibt unberührt. Auf der Basis zumeist tarifvertraglicher oder arbeitsvertraglicher Regelungen besteht für die Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber also weiterhin der sog. Versorgungsverschaffungsanspruch (s. Rz. 28.78 ff.). Auch nach Beendigung der Beteiligung/Mitgliedschaft bei der jeweiligen Zusatzversorgungskasse muss der Arbeitgeber aus diesem Grundverhältnis heraus deshalb in anderer Weise für eine nach Art und Umfang gleiche Versorgung sorgen157, solange er nicht in zulässiger Weise eine Änderung/Ablösung der anwendbaren Versorgungsbestimmungen erreicht hat158. Hinsichtlich der Modalitäten einer etwaigen Ablösung im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang nach § 613a BGB ist zu beachten, dass eine sog. „Überkreuzablösung“, dh. eine Ab-

157 Blomeyer/Rolfs/Otto, § 18 BetrAVG Rz. 16; BAG v. 23.2.1988 – 3 AZR 408/86, NZA 1989, 64; v. 14.12.1999 – 3 AZR 713/98, NZA 2000, 1348; v. 29.8.2000 – 3 AZR 201/00, NZA 2001, 162; zum Versorgungsverschaffungsanspruch bei Betriebsübergang BAG v. 18.9.2001 – 3 AZR 689/00, ArbRB 2002, 166 = NZA 2002, 1391; v. 15.2.2011 – 3 AZR 54/09, NZA 2011, 928. 158 Soweit die Regelungen der öffentlichen Zusatzversorgung nicht lediglich für Neueintritte abgelöst werden sollen (was jederzeit zulässig wäre), sind hierbei die strengen Anforderungen der Rechtsprechung zum Vertrauensschutz und zur Wahrung von Besitzständen, insbesondere die sog. Drei-Stufen-Theorie des BAG zu beachten, vgl. grundsätzlich zur Änderung von Versorgungszusagen weiterführend Höfer, Kapitel 5; insbesondere zur Verschlechterung kollektivrechtlicher Versorgungszusagen Kapitel 5 Rz. 75 ff.; zur Wahrung von Besitzständen Kapitel 5 Rz. 296 ff., wobei zu beachten ist, dass ändernde Versorgungs-Tarifverträge keiner Billigkeitskontrolle und auch nicht der strengen Drei-Stufen-Theorie unterliegen, sondern von den Gerichten nur einer Rechtmäßigkeitskontrolle unterworfen werden, insbesondere dahingehend, ob die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit hinreichend berücksichtigt wurden, vgl. hierzu Höfer, Kapitel 5 Rz. 298 ff. mit Hinweisen zur Rechtsprechung; zum Besitzstandsschutz vgl. auch Blomeyer/Rolfs/Otto, Anhang zu § 1 BetrAVG Rz. 615 ff.

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Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.131 § 28

lösung tariflich begründeter Versorgungsansprüche durch eine beim Erwerber geltende Betriebsvereinbarung, nicht in Betracht kommt159. Die Verpflichtung, für eine nach Art und Umfang gleiche Versorgung zu sorgen, ist neben der Zahlung des Gegenwertes damit ein weiterer erheblicher Aspekt, sowohl unter Kostengesichtspunkten als auch hinsichtlich der Administration der Versorgung nach dem Ausscheiden aus der jeweiligen Zusatzversorgungskasse. Die Änderungen des Systems der öffentlichen Zusatzversorgung, insbesondere der Wechsel von der Gesamtversorgung zum Punktemodell, haben hierbei aber für die Arbeitgeber spürbare Vereinfachungen bewirkt: Eine Erleichterung bildet bereits der Umstieg von der früheren Gesamtversorgung auf das Punktemodell an sich, da das Punktemodell in seiner Ausgestaltung deutlich einfacher zu handhaben und auch in anderen Durchführungswegen bzw. bei anderen externen Versorgungsträgern leichter abzubilden ist als die frühere Gesamtversorgung (wenngleich eine identische Abbildung über externe versicherungsförmige Versorgungsträger weiterhin nicht vollständig umsetzbar sein dürfte). Eine weitere Erleichterung ergibt sich daraus, dass sich die Verpflichtung, eine nach Art und Umfang gleichwertige Versorgung sicherzustellen, anders als früher nunmehr regelmäßig nur noch auf zukünftige Zeiträume nach dem Ausstieg aus der Zusatzversorgung bezieht. Die vor dem Ausscheiden erworbenen Versorgungspunkte bleiben den Arbeitnehmern (nach Erfüllung der 60-monatigen Wartezeit, § 34 VBLS, § 32 AKA-MS) erhalten, es besteht damit für den Arbeitgeber regelmäßig kein Nachfinanzierungsrisiko für die vergangenen Zeiträume mehr. Anders ist dies für Mitarbeiter, welche die 60-monatige Wartezeit in der Zusatzversorgung bis zur Vollendung des 69. Lebensjahres nicht erfüllt haben und deshalb ihre Anwartschaften gegenüber der Zusatzversorgungskasse verlieren (s. Rz. 28.115). Für diesen Personenkreis muss der Arbeitgeber eine gleichwertige Versorgung unter Einbeziehung auch der Anwartschaftszeiten aus der Zeit vor dem Ausstieg aus der Zusatzversorgung sicherstellen. Da bis zum Eintritt des Versorgungsfalles bei solchen Mitarbeitern nicht von vornherein feststeht, ob sie die Wartezeit eventuell noch erfüllen (zB durch einen späteren Wechsel zu einem Arbeitgeber, der weiterhin an der Zusatzversorgung über die Zusatzversorgungskassen des öffentlichen Dienstes teilnimmt), wird auch für diesen Personenkreis üblicherweise zunächst nur für die Dienstzeit nach dem Ausstieg aus der Zusatzversorgung eine gleichwertige Versorgung im Rahmen der Neuregelungen der Versorgung finanziert und erst bei Eintritt des Versorgungsfalles ggf. eine Nachfinanzierung vorgenommen160. Schwierigkeiten im Rahmen einer Ablösung bestehen aber weiterhin im Zusammenhang damit, die sozialen Komponenten des Punktemodells (§ 37 VBLS, § 35 AKA-MS), insbesondere die Zurechnungszeit bei Erwerbsminderung und die Mutterschutzzeit und Elternzeit, in versicherungsförmigen Modellen abzulösen. 159 Der Sinn und Zweck des § 613a BGB besteht darin, dem Arbeitnehmer bei einem Betriebsübergang die bisherigen Arbeitsbedingungen zu erhalten. Betriebsvereinbarungen zur betrieblichen Altersversorgung sind nur teilmitbestimmt; der Arbeitgeber bestimmt allein über die Dotierung. Schon aus diesem Grund kommt eine sog. „Überkreuzablösung“ nach Einschätzung des BAG nicht in Betracht, vgl. BAG v. 13.11.2007 – 3 AZR 191/06, NZA 2008, 600. 160 Eine solche Ausfinanzierung (zB durch einen Einmalbeitrag) ist auch im Durchführungsweg der kongruent rückgedeckten Unterstützungskasse möglich, da steuerrechtlich eine Ausfinanzierung der Zusage bei Eintritt des Versorgungsfalles zulässig ist (§ 4d Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c Satz 1 EStG).

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28.131

§ 28 Rz. 28.132

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

28.132 Wenn der „ausgestiegene“ Arbeitgeber die aus dem Grundverhältnis aufrechtzuerhaltende Versorgung nicht im Wege unmittelbarer Versorgungszusagen abbilden möchte161, wird häufig der Durchführungsweg einer (kongruent rückgedeckten) Unterstützungskasse gewählt. Zwischenzeitlich existieren in diesem Bereich auch einige externe Anbieter mit speziellen „Produkten“. Es sei aber auch an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass gerade im Zusammenhang mit einem Ausstieg aus der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes eine qualifizierte, auf die Besonderheiten des Einzelfalls eingehende Beratung dringend anzuraten ist. Die ablösende betriebliche Altersversorgung erfordert ein ausgereiftes Management, das sich ebenfalls in den Kosten niederschlägt. Ein am Punktemodell orientiertes ablösendes Versorgungssystem muss daher nach den derzeitigen Erfahrungen nicht selten Beitragssätze von 5 % aufwärts veranschlagen162. 4. Die Fortsetzung der Beteiligung a) Anwendungsfälle

28.133 Das Wegfallen einer der Voraussetzungen der Mitgliedschaft/Beteiligung bei der jeweiligen Zusatzversorgungskasse oder der Übergang von Arbeitnehmern auf einen zunächst an der Zusatzversorgung nicht beteiligten Arbeitgeber führen nicht in jedem Fall zwangsläufig zu einem Ausscheiden aus der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes. Die Satzungen der Zusatzversorgungskassen sehen unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeiten einer Fortsetzung der Beteiligung durch den bisherigen Beteiligten („Verbleibemodell“, s. nachfolgend Rz. 28.134 ff.) oder für den neuen Arbeitgeber, auf den Arbeitnehmer eines Beteiligten übergegangen sind („Ausgliederungsmodell“, s. nachfolgend Rz. 28.141 ff.), vor. Die Fortsetzung der Beteiligung/Mitgliedschaft erfolgt dabei jeweils auf der Basis einer besonderen Vereinbarung. Dabei ist in beiden Fällen nicht nur eine vollständige Fortsetzung der Zusatzversorgung möglich, dh. für bereits vorhandene sowie auch für alle zukünftigen Arbeitnehmer, sondern auch eine Beschränkung der Fortführung der Zusatzversorgung auf den bereits vorhandenen Mitarbeiterstamm („Zäsurmodell“, s. nachfolgend Rz. 28.136 ff.). Die Zusatzversorgungskassen sind nicht verpflichtet, eine Vereinbarung zur Fortsetzung der Beteiligung abzuschließen. Vor dem Hintergrund, dass ein erhebliches Interesse der Zusatzversorgungskassen daran besteht, die Umlagegemeinschaft zur Finanzierung der Zusatzversorgung auf eine möglichst breite Basis zu stellen, dürfte eine Fortsetzung der Beteiligung bei Erfüllen der hierfür bestehenden Anforderungen aber regelmäßig nicht auf Schwierigkeiten stoßen. b) Die besondere Beteiligungsvereinbarung und ihre Voraussetzungen („Verbleibemodell“)

28.134 Das Wegfallen einer der Beteiligungsvoraussetzungen bei einem an der Zusatzversorgung beteiligten Arbeitgeber hätte eine Beendigung der Beteiligung durch Kündigung seitens der Zusatzversorgungskasse zur Folge (s. Rz. 28.103 ff.). Dies betrifft insbesondere die Fälle, dass der Beteiligte nicht mehr ein dem Tarifrecht des öffentlichen Dienstes wesentlich gleiches Tarifrecht (bei den Zusatzversorgungskassen der AKA: das Versorgungstarifrecht oder ein 161 Dies wird wegen der bilanziellen Auswirkungen aufgrund der zu bildenden Rückstellungen häufig nicht gewollt sein. 162 Wegner-Wahnschaffe, ZTR 2004, 395 (401); bzgl. der Wirtschaftlichkeit eines Ausstiegs Recktenwald/Stade, BB 2005, 2126.

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Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.136 § 28

hinsichtlich der Leistungen wesentlich gleiches Tarifrecht) anwendet oder eine juristische Person des öffentlichen Rechts nicht mehr überwiegend an dem Arbeitgeber beteiligt ist bzw. keinen statutenmäßig gesicherten maßgeblichen Einfluss mehr ausübt. Gemäß § 20 Abs. 3 VBLS in Verbindung mit den hierzu ergangenen Ausführungsbestimmungen ist in diesen Fällen allerdings eine Fortsetzung der Beteiligung auf der Basis einer besonderen Beteiligungsvereinbarung möglich (für den Bereich der AKA vgl. § 12 Abs. 1 AKA-MS). Bei diesem sog. „Verbleibemodell“ wird die bestehende Beteiligung in vollem Umfang fortgesetzt, dh., sowohl die zu diesem Zeitpunkt bereits Pflichtversicherten als auch die neu einzustellenden Arbeitnehmer werden weiterhin bei der Zusatzversorgungskasse versichert. Da eine solche Fortsetzung der Beteiligung regelmäßig juristische Personen des Privatrechts betrifft, die als solche insolvenzfähig sind, so dass deren Fortbestand und damit die dauerhafte Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus der Beteiligung nicht garantiert ist, sehen die Satzungen vor, dass eine Fortsetzung der Beteiligung nur mit bestimmten Sicherheitsleistungen erfolgen kann.

28.135

Für eine Fortsetzung der Beteiligung bei der VBL ist deshalb durch den beteiligten Arbeitgeber eine Verpflichtungserklärung einer oder mehrerer juristischer Personen des öffentlichen Rechts, deren Insolvenzfähigkeit durch Gesetz ausgeschlossen ist, beizubringen (Abs. 1 Buchst. a der Ausführungsbestimmungen163 zu § 20 Abs. 3 VBLS). Bei dieser Verpflichtungserklärung handelt es sich um eine Bürgschaft, die sich auf die Erfüllung aller finanziellen Verpflichtungen des Beteiligten gegenüber der Anstalt bezieht, insbesondere also auf die Gegenwertforderung im Falle der späteren Beendigung der Beteiligung sowie auch auf etwa noch ausstehende Umlagezahlungen164. Es kann stattdessen auch die Beibringung einer entsprechenden unwiderruflichen Deckungszusage eines im Inland zugelassenen Versicherungsunternehmens oder einer Bankbürgschaft vorgesehen werden. Als Alternative zur Stellung derartiger Bürgschaften besteht auch die Möglichkeit, dass der Beteiligte zur jeweiligen Umlage einen Zuschlag in Höhe von 15 % zahlt (Abs. 1 Buchst. b der Ausführungsbestimmungen zu § 20 Abs. 3 VBLS). In der Mustersatzung der AKA ist in deren § 12 Abs. 1 über die dort enthaltene Verweisung auf § 11 Abs. 3 AKA-MS eine vergleichbare Systematik vorgesehen: Die Zusatzversorgungskasse kann für die Beteiligung weitere Bedingungen aufstellen, üblicherweise ist dies die Beibringung einer selbstschuldnerischen Bürgschaft einer juristischen Person des öffentlichen Rechts (vgl. zB § 11 Abs. 3 der Satzung der ZVK Bayern). Gemäß § 12 Abs. 1 AKA-MS ist auch bei den Zusatzversorgungskassen der AKA die Erhebung eines Zuschlags zur Umlage in Höhe von 15 % möglich. c) Das „Zäsurmodell“ Anders als beim „Verbleibemodell“ werden beim „Zäsurmodell“ Neueinstellungen nicht mehr bei der Zusatzversorgungskasse versichert. Die Fortsetzung der Beteiligung/Mitgliedschaft beschränkt sich hier auf die zu einem bestimmten Stichtag vorhandenen pflichtversicherten Arbeitnehmer (vgl. Abs. 2 der Ausführungsbestimmungen zu § 20 Abs. 3 VBLS, § 12 Abs. 2 AKA-MS).

163 Die Ausführungsbestimmungen sind als Anhang 1 zusammen mit der VBLS auf der Homepage der VBL unter www.vbl.de (Service/Downloadcenter/Die VBL/Satzung) abrufbar. 164 Vgl. Gilbert/Hesse, § 20 VBLS Rz. 7.

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1121

28.136

§ 28 Rz. 28.137

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

28.137 Für die Fortsetzung der Beteiligung im Rahmen des „Zäsurmodells“ gelten dieselben Voraussetzungen hinsichtlich der Stellung von Sicherheitsleistungen wie beim „Verbleibemodell“ (s. Rz. 28.135).

28.138 Neben dieser Sicherheitsleistung ist in den umlagefinanzierten Systemen der Zusatzversorgung allerdings zusätzlich die Zahlung eines Ausgleichs-/Abgeltungsbetrages erforderlich, da zukünftig keine Neueinstellungen der Umlagegemeinschaft mehr zugeführt werden und in diesem Maß das umlagebasierte Finanzierungssystem beeinträchtigt wird. Dieser Ausgleichs-/Abgeltungsbetrag dient dazu, sicherzustellen, dass zusammen mit den laufenden Aufwendungen für die Pflichtversicherung nach versicherungsmathematischen Grundsätzen die Verpflichtungen aus den zum Stichtag bestehenden Ansprüchen und Anwartschaften sowie die künftigen Verpflichtungen aufgrund der am Stichtag bestehenden Pflichtversicherungen dauerhaft erfüllt und die Verwaltungskosten abgedeckt werden können. Da die zukünftigen Verpflichtungen zum Stichtag nicht exakt feststehen, ist eine versicherungsmathematische Prognose vorzunehmen. Für die Berechnung der abzudeckenden Verpflichtungen gelten ergänzend die Grundsätze, die für die Berechnung des im Fall eines Ausscheidens zu zahlenden Gegenwerts/Ausgleichsbetrages festgelegt sind (Abs. 2 der Ausführungsbestimmungen zu § 20 Abs. 3 VBLS; § 12 Abs. 2 AKA-MS). Die zukünftig noch zu erbringenden Umlagezahlungen werden auf der Basis einer Prognose nach versicherungsmathematischen Grundsätzen bei der Berechnung berücksichtigt und angerechnet. Der verbleibende Betrag ist als Ausgleichs-/Abgeltungsbetrag zu zahlen165. Der Ausgleichs-/Abgeltungsbetrag wird durch die Zusatzversorgungskasse auf Kosten des Beteiligten berechnet. Durch die Zusatzversorgungskasse kann vorgesehen werden, dass der Ausgleichs-/Abgeltungsbetrag nach versicherungsmathematischen Grundsätzen ganz oder teilweise über einen bestimmten Zeitraum verteilt wird (Abs. 2 Satz 2 der Ausführungsbestimmungen zu § 20 Abs. 3 VBLS).

28.139 Da der zu zahlende Ausgleichs-/Abgeltungsbetrag hinsichtlich der zukünftigen Verpflichtungen aus den bestehenden Pflichtversicherungen sowie hinsichtlich der anzurechnenden Umlagen auf einer Prognose beruht, kann vorgesehen werden, dass die Berechnung jeweils nach Ablauf eines Deckungsabschnitts periodisch überprüft wird. Ergeben sich Überzahlungen, werden diese zugunsten des Mitglieds verrechnet, bei Fehlbeträgen ist das Mitglied verpflichtet, diese auszugleichen (Abs. 4 der Ausführungsbestimmungen zu § 20 Abs. 3 VBLS; § 12 Abs. 3 AKA-MS).

28.140 Scheidet ein beteiligter Arbeitgeber, bei dem das „Zäsurmodell“ zur Anwendung gekommen ist, zu einem späteren Zeitpunkt endgültig und vollständig aus der Zusatzversorgung aus, ist der nach den allgemeinen Grundsätzen für diesen Fall vorgesehene Gegenwert/Ausgleichsbetrag (§ 23 VBLS, § 15a AKA-MS) zu zahlen. Hierauf wird allerdings der zuvor im Rahmen des „Zäsurmodells“ bereits geleistete Ausgleichs-/Abgeltungsbetrag angerechnet (Abs. 4 Satz 4 der Ausführungsbestimmungen zu § 20 Abs. 3 VBLS; § 12 Abs. 3 Satz 3 AKA-MS).

165 Vgl. Gilbert/Hesse, § 20 VBLS Rz. 8.

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Betz-Rehm

Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.145 § 28

d) Beteiligungsvereinbarung mit einem Arbeitgeber, der von einem Beteiligten Aufgaben und pflichtversicherte Beschäftigte übernommen hat („Ausgliederungsmodell“) Das sog. „Ausgliederungsmodell“ betrifft die Fallgestaltung, dass ein an der Zusatzversorgung teilnehmender Arbeitgeber, der als solcher auch weiterhin Beteiligter/Mitglied bleibt, bestimmte Aufgaben zusammen mit den diese Aufgaben erfüllenden Arbeitnehmer auf einen anderen Arbeitgeber „ausgliedert“ bzw. überträgt (s. Rz. 28.108 ff.). Auch wenn der „übernehmende“ Arbeitgeber die Voraussetzungen einer Beteiligung/Mitgliedschaft bei der Zusatzversorgungskasse nicht erfüllt, kann der „übernehmende“ Arbeitgeber auf der Basis einer besonderen Vereinbarung mit der Zusatzversorgungskasse die Beteiligung/Mitgliedschaft fortsetzen (vgl. Abs. 3 der Ausführungsbestimmungen zu § 20 Abs. 3 VBLS; § 12 Abs. 5 AKAMS).

28.141

Auch für diese Fortsetzung der Beteiligung durch den neuen Arbeitgeber gelten dieselben Voraussetzungen hinsichtlich der Stellung von Sicherheitsleistungen wie beim „Verbleibemodell“ (s. Rz. 28.135).

28.142

Die Fortsetzung der Beteiligung durch den neuen Arbeitgeber ist dabei entweder für die über- 28.143 nommenen Pflichtversicherten und für zukünftige Neueinstellungen möglich, sie kann sich aber auch als „Zäsurmodell“ auf die übernommenen pflichtversicherten Arbeitnehmer beschränken, ohne dass zukünftige Neueinstellungen bei der Zusatzversorgungskasse versichert werden. In diesem Fall ist der neue Arbeitgeber verpflichtet, den Ausgleichs-/Abgeltungsbetrag zu zahlen; es gelten hierfür die Regelungen des Zäsurmodells. Da der„übernehmende“ Arbeitgeber in dieser Fallgestaltung regelmäßig nur einen Teil der Pflichtversicherten des bisherigen Arbeitgebers übernimmt, ist bei der Berechnung des Ausgleichs-/Abgeltungsbetrages eine konkrete Zuordnung der zum Stichtag bestehenden Verpflichtungen und Anwartschaften nicht möglich166; die bestehenden Verpflichtungen und Anwartschaften betreffen im Umlagesystem gerade nicht nur die übergehenden aktiven Anwärter, sondern auch bereits ausgeschiedene Anwärter und Rentner. Für die Berechnung des Ausgleichs-/Abgeltungsbetrages sind deshalb dem „übernehmenden“ Arbeitgeber Ansprüche und Anwartschaften aufgrund früherer Pflichtversicherungen des bisherigen Mitglieds in dem Verhältnis zuzurechnen, das dem Verhältnis der Zahl der übernommenen Beschäftigten zur Gesamtzahl der am Tag vor der Personalübernahme über das bisherige Mitglied pflichtversicherten Beschäftigten entspricht.

28.144

5. Pflichten aus dem Beteiligungsverhältnis Wie bereits dargelegt wurde (s. Rz. 28.84 ff.), stellt die Beteiligung/Mitgliedschaft des Arbeit- 28.145 gebers bei einer Zusatzversorgungskasse ein privatrechtliches Versicherungsverhältnis dar (vgl. § 2 Abs. 1 VBLS, § 13 Abs. 1 AKA-MS), es handelt sich um ein Dauerschuldverhältnis. Der Inhalt der Mitgliedschaft, also die Rechte und insbesondere auch die Pflichten der beteiligten Arbeitgeber richten sich nach der Satzung der jeweiligen Zusatzversorgungskasse sowie nach der Beteiligungsvereinbarung und den gesetzlichen Bestimmungen (§ 21 Abs. 1 VBLS, § 13 Abs. 1 AKA-MS). Dies betrifft im Wesentlichen die gesetzlichen Bestimmungen des Ver-

166 Gilbert/Hesse, § 20 VBLS Rz. 9.

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§ 28 Rz. 28.145

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

tragsrechts, insbesondere den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) und die Vorschriften des BGB über Pflichtverletzungen (§§ 280 ff. BGB)167.

28.146 Als Grundsatz legen die Kassensatzungen fest, dass der beteiligte Arbeitgeber verpflichtet ist, der Zusatzversorgungskasse über alle Umstände und Verhältnisse Auskunft zu erteilen, die für den Vollzug der Satzung und damit der Versicherung von Bedeutung sind (§ 21 Abs. 1 Satz 2 VBLS, § 13 Abs. 3 Satz 1 AKA-MS). Die Satzungen der Zusatzversorgungskassen der AKA enthalten sodann eine Reihe von Konkretisierungen, bei der VBL sind diese in den Ausführungsbestimmungen zu § 21 Abs. 2 VBLS enthalten. a) Pflicht zur Versicherung aller versicherungspflichtigen Arbeitnehmer

28.147 Wesentlich ist zunächst die Pflicht der beteiligten Arbeitgeber, sämtliche der Pflicht zur Versicherung unterliegenden Beschäftigten bei der Zusatzversorgungskasse anzumelden und bei Wegfall der Voraussetzungen wieder abzumelden (Abs. 1 der Ausführungsbestimmungen zu § 21 Abs. 2 VBLS; § 13 Abs. 3 Buchst. a AKA-MS). Eine Selektion der Mitarbeiter ist nicht zulässig. Das Umlagesystem der Zusatzversorgung ist darauf angewiesen, dass die versicherungspflichtigen Arbeitnehmer auch tatsächlich zur Zusatzversorgung angemeldet werden und dass den Zusatzversorgungseinrichtungen die hierfür erforderlichen Informationen zur Verfügung stehen. Die Meldungen haben unverzüglich zu erfolgen (§ 121 BGB). Wie in der VBLS und der AKA-MS zwischenzeitlich klargestellt wurde (vgl. § 22 Abs. 3 Satz 2 Buchst. d VBLS, § 14 Abs. 4 Satz 3 AKA-MS) kann eine Verletzung der Pflicht zur Anmeldung der Versicherungspflichtigen einen Grund für eine fristlose Kündigung darstellen (s. Rz. 28.112a). b) Melde- und Informationspflichten

28.148 Für die Zusatzversorgungskassen der AKA sind in § 13 Abs. 3, 4 AKA-MS, für die VBL in Abs. 2 der Ausführungsbestimmungen zu § 21 Abs. 2 VBLS beispielhaft Einzelheiten zu den Melde- und Informationspflichten enthalten:

28.149 Bei den Meldungen hat der beteiligte Arbeitgeber die Satzungsbestimmungen und die von den Zusatzversorgungskassen vorgegebenen Formalitäten zu berücksichtigen. Für Meldungen haben die Zusatzversorgungskassen zwischenzeitlich weitgehend den elektronischen Datenverkehr vorgesehen; hierbei sind die von der Kasse erlassenen Meldevorschriften anzuwenden. Soweit der Arbeitgeber nicht am elektronischen Datenaustausch teilnimmt, hat er die von der Zusatzversorgungskasse herausgegebenen Formblätter zu verwenden (§ 13 Abs. 3 Buchst. e AKA-MS, Abs. 2 Buchst. f der Ausführungsbestimmungen zu § 21 Abs. 2 VBLS). Die VBL hat zum Melde- und Abrechnungsverfahren gesonderte Richtlinien für das Meldeund Abrechnungsverfahren (RIMA)168 erlassen. Für die automatisierte Datenübermittlung sind darüber hinaus die Allgemeinen Richtlinien der Zusatzversorgungseinrichtungen des öffentlichen und kirchlichen Dienstes für ein einheitliches Verfahren der automatisierten Datenübermittlung (DATÜV-ZVE)169 zu beachten.

167 Gilbert/Hesse, § 21 VBLS Rz. 1. 168 Auf der Homepage der VBL unter www.vbl.de (Arbeitgeber/RIMA-Meldeverfahren) abzurufen. 169 Diese können ebenfalls unter www.vbl.de (Arbeitgeber/RIMA-Meldeverfahren) abgerufen werden.

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Betz-Rehm

Das Beteiligungsverhältnis

Rz. 28.154 § 28

Der Arbeitgeber hat insbesondere zu den von der jeweiligen Zusatzversorgungskasse vorgesehenen Terminen eine Jahresmeldung für die einzelnen Pflichtversicherten zu übersenden (§ 13 Abs. 6 AKA-MS, Abs. 2 Buchst. b der Ausführungsbestimmungen zu § 21 Abs. 2 VBLS). Der Arbeitgeber ist verpflichtet, der Kasse jederzeit Auskunft über bestehende und frühere Arbeitsverhältnisse zu erteilen und ihr eine örtliche Prüfung der Voraussetzungen für die Pflichtversicherung und die Entrichtung der Umlagen (bei der AKA ggf. auch Beiträge und Sanierungsgelder) zu gestatten (§ 13 Abs. 3 Buchst. d AKA-MS, Abs. 2 Buchst. e der Ausführungsbestimmungen zu § 21 Abs. 2 VBLS). Die Zusatzversorgungskassen haben also auch die Möglichkeit, die Einhaltung der Satzungsbestimmungen im Rahmen einer „Außenprüfung“ vor Ort zu überwachen.

28.150

Der Arbeitgeber ist verpflichtet, seinen Beschäftigten die von der jeweiligen Zusatzversorgungskasse zur Verfügung gestellten Druckschriften/Informationsmaterialien auszuhändigen und ggf. zu erläutern (§ 13 Abs. 3 Buchst. c AKA-MS, Abs. 2 Buchst. d der Ausführungsbestimmungen zu § 21 Abs. 2 VBLS). Dies betrifft insbesondere die Satzung der jeweiligen Zusatzversorgungskasse sowie die von dieser für die Versicherten herausgegebenen Merkblätter.

28.151

Gemäß § 13 Abs. 3 Buchst. b AKA-MS ist der Arbeitgeber verpflichtet, den Beschäftigten nach Ablauf jeden Kalenderjahres sowie ebenfalls beim Ende der Versicherung den Versicherungsnachweis (§ 51 AKA-MS) auszuhändigen.

28.152

Für die VBL sieht Abs. 1 der Ausführungsbestimmungen zu § 21 Abs. 2 VBLS ausdrücklich vor, dass eine Unterrichtungspflicht des Beteiligten gegenüber der VBL besteht, wenn er nicht mehr ein Tarifrecht wesentlich gleichen Inhalts anwendet oder wenn bei einer juristischen Person des Privatrechts die überwiegende Beteiligung oder der maßgebliche Einfluss einer juristischen Person des öffentlichen Rechts nicht mehr besteht. Vergleichbare Verpflichtungen enthält § 13 Abs. 4 AKA-MS. Für den Bereich der Zusatzversorgungskassen der AKA sieht § 13 Abs. 3 Buchst. f der AKA-MS eine Unterrichtungspflicht des beteiligten Arbeitgebers gegenüber der Zusatzversorgungskasse vor, wenn er als Mitglied des umlagefinanzierten Abrechnungsverbandes I Arbeitnehmer auf einen anderen Arbeitgeber überträgt, der nicht Mitglied des Umlageverbandes I ist.

28.153

Diese Unterrichtungspflichten korrespondieren insgesamt mit den Satzungsregelungen zu den Voraussetzungen der Beteiligung/Mitgliedschaft und den Regelungen zur Zahlung des Ausgleichsbetrages. Hieraus wird deutlich, dass auf der Basis von § 21 Abs. 1 Satz 2 VBLS, § 13 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 AKA-MS letztendlich eine Verpflichtung des beteiligten Arbeitgebers besteht, der Zusatzversorgungskasse alle relevanten Änderungen mitzuteilen, die auf die Beteiligung bzw. deren Voraussetzungen Einfluss haben. c) Ordnungsgemäße Entrichtung der Umlagen und sonstiger Zahlungen zur Finanzierung der Zusatzversorgung Der beteiligte Arbeitgeber ist verpflichtet, die für die Pflichtversicherung geschuldeten Beiträge, Umlagen und Sanierungsgelder fristgerecht zu entrichten (§ 13 Abs. 5 AKA-MS). Die Beiträge und Umlagen sind in dem Zeitpunkt fällig, in dem das zusatzversorgungspflichtige Entgelt den Versicherten zufließt (§ 65 AKA-MS, § 64 Abs. 6, § 66a VBLS iVm. Ziffer 5 der RIMA). Sanierungsgelder werden monatlich als Abschlagszahlungen gezahlt (§ 65 Abs. 6 VBLS, § 63 Abs. 5 AKA-MS). Betz-Rehm

1125

28.154

§ 28 Rz. 28.155

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

d) Folge von Verstößen gegen die Pflichten

28.155 Soweit die Kassensatzungen keine besonderen Regelungen zur Sanktionierung von Pflichtverstößen vorsehen, gelten die allgemeinen vertragsrechtlichen Regelungen, insbesondere zum Verzug und der damit verbundenen Pflicht zum Ersatz des Verzugsschadens (§ 280 Abs. 2, § 286 ff. BGB). Werden zB Umlagezahlungen nicht rechtzeitig bei Fälligkeit abgeführt, kommt der beteiligte Arbeitgeber unmittelbar und ohne das Erfordernis einer Mahnung in Verzug (§ 286 BGB)170.

28.156 Auch bei Verletzung vertraglicher Nebenpflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) kann der beteiligte Arbeitgeber gegenüber der jeweiligen Zusatzversorgungskasse zum Ersatz der hieraus entstandenen Schäden verpflichtet sein (§ 280 Abs. 1 BGB). Dies betrifft insbesondere Schäden, die der Zusatzversorgungskasse im Zusammenhang mit unterbliebenen oder falschen Meldungen entstehen können.

28.157 Gemäß § 22 Abs. 3 Satz 2 Buchst. a VBLS ist die VBL zur außerordentlichen Kündigung des Beteiligungsverhältnisses berechtigt, wenn der Arbeitgeber mit Zahlungen nach § 20 Abs. 3 oder § 63 VBLS mehr als drei Monate in Verzug ist. Gleiches gilt gemäß § 14 Abs. 4 Satz 2 AKA-MS bei den Zusatzversorgungskassen der AKA.

28.158 Werden im Übrigen Umlagen, Beiträge oder Sanierungsgelder nicht rechtzeitig bei Fälligkeit gezahlt, sind diese bei den Kassen der AKA bis zum Tage der Gutschrift mit jährlich fünf Prozentpunkten über dem am Ende des jeweiligen Zinsberechnungszeitraums gültigen Basiszinssatzes gemäß § 247 Abs. 1 BGB zu verzinsen. Bei der VBL besteht ein Pflicht zur Verzinsung verspäteter Zahlungen (unabhängig vom Verschulden des Beteiligten) vom ersten Tag des folgenden Kalenderjahres an mit 4 % über dem Basiszinssatz (§ 64 Abs. 6 VBLS).

28.159 In § 13 Abs. 7 der AKA-MS ist für die Zusatzversorgungskassen aus dem Bereich der AKA schließlich ein pauschalierter Schadensersatz für den Fall verspäteter Abgabe von Meldungen zur Abrechnung der Beiträge, Umlagen und Sanierungsgelder mit einem Betrag von 25 Euro pro Tag der Fristüberschreitung vorgesehen.

VI. Die Pflichtversicherung 1. Versicherungspflicht a) Personenkreis

28.160 Die Pflicht zur Versicherung beginnt regelmäßig mit dem Beginn des Beschäftigungsverhältnisses, jedoch nicht, bevor der Beschäftigte das 17. Lebensjahr vollendet hat (§ 2 Abs. 1 Buchst. a ATV/ATV-K, § 26 Abs. 1 Buchst. a VBLS, § 18 Abs. 1 Buchst. a AKA-MS). Der im Rahmen der Pflichtversicherung zu versichernde Personenkreis ist durch die tariflichen Regelungen des ATV/ATV-K (§§ 1, 2 ATV/ATV-K) vorgegeben. Für die Satzungen der Zusatzversorgungskassen besteht hier kein Spielraum, sie haben den Kreis der Versicherungspflichtigen aus den tariflichen Bestimmungen übernommen. Auf Basis der tariflichen Bestimmungen (ggf. in Verbindung mit individualrechtlichen Grundlagen) ist der Arbeitgeber gegenüber den begünstigten Arbeitnehmern zur Versicherung verpflichtet. Auf Basis der Sat-

170 Gilbert/Hesse, § 21 VBLS Rz. 1.

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Betz-Rehm

Die Pflichtversicherung

Rz. 28.162 § 28

zungsbestimmungen besteht eine Pflicht zur Versicherung gegenüber der jeweiligen Zusatzversorgungskasse. Grundsätzlich fallen unter die Pflicht zur Versicherung Beschäftigte, dh. nach den entsprechenden tariflichen Bestimmungen und den inhaltsgleichen Satzungsregelungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Auszubildende (§ 2 Abs. 1 iVm. § 1 ATV/ATV-K, § 26 Abs. 1 Satz 2 VBLS, § 18 Abs. 1 Satz 3 AKA-MS). Insoweit ist für die Frage der Versicherungspflicht zunächst zu prüfen, ob es sich um solche Beschäftigte handelt, für die entweder aufgrund unmittelbarer Tarifbindung oder kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme auf einen Tarifvertrag eine Pflicht zur Versicherung besteht (vgl. § 26 Abs. 1 Buchst. c VBLS). Entscheidend ist damit, ob die betreffenden Beschäftigten unter den Geltungsbereich des § 1 ATV/ ATV-K fallen (also vom Geltungsbereich der als Anlage 1 zu § 1 ATV/ATV-K aufgelisteten Tarifverträge erfasst sind bzw. die Geltung des ATV/ATV-K arbeitsvertraglich vereinbart wurde). Für vertretungsberechtigte Organmitglieder eines Mitglieds besteht dann eine Versicherungspflicht, wenn die Teilnahme an der Zusatzversorgung durch Dienstvertrag vereinbart wurde (vgl. § 26 Abs. 2 Satz 2 VBLS, § 18 Abs. 1 Satz 4 AKA-MS). Organmitglieder (zB Geschäftsführer, Vorstände) können dadurch ebenfalls im Rahmen der Pflichtversicherung der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes versorgt werden. Vergleichbares gilt für Chefärzte, leitende Angestellte bzw. Angestellte mit einer Vergütung, die über das Tabellenentgelt der Entgeltgruppe 15 hinausgeht sowie Hochschullehrer und bestimmte wissenschaftliche Kräfte an Hochschulen (welche gemäß § 1 Abs. 2 Buchst. a, b, s TVöD nicht unter diesen Tarifvertrag fallen). Auch für diese Gruppe von Beschäftigten kann arbeitsvertraglich eine Pflicht zur Versicherung vereinbart werden (§ 26 Abs. 2 Satz 1 VBLS, § 19 Abs. 1 Buchst. k AKA-MS).

28.161

Voraussetzung für die Pflichtversicherung ist in allen Fällen, dass der Beschäftigte vom Beginn der Pflichtversicherung an die 60-monatige Wartezeit (§ 6 ATV/ATV-K, § 34 VBLS, § 32 AKA-MS) erfüllen kann (§ 2 Abs. 1 Buchst. b ATV/ATV-K, § 26 Abs. 1 Buchst. b VBLS, § 18 Abs. 1 Buchst. b AKA-MS). Die Wartezeit muss bis zum Ablauf des Monats erfüllt werden können, in dem der Beschäftigte das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen einer abschlagsfreien Regelaltersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung vollendet171 (§ 2 Abs. 1 Satz 2 ATV/ATV-K, § 26 Abs. 1 Buchst. b VBLS, § 18 Abs. 1 Satz 2 AKA-MS). Frühere Versicherungszeiten, die auf die Wartezeit gemäß den einschlägigen Satzungsbestimmungen angerechnet werden, sind dabei zu berücksichtigen. Zu beachten ist, dass aufgrund der Verkürzung der gesetzlichen Unverfallbarkeitsfristen in § 1b Abs. 1, 3 BetrAVG (ggf. iVm. § 30f BetrAVG) ab 1.1.2018 Beschäftigte künftig bereits nach drei Jahren eine unverfallbare Anwartschaft in der Pflichtversicherung erwerben können. Dies kann nach einem Schreiben des BMI vom 10.10.2016 auch Auswirkungen auf die Versicherungspflicht von solchen Beschäftigten haben, die aufgrund ihres Alters die Wartezeit eigentlich nicht mehr erfüllen können. Die Frage der Erfüllung der Wartezeit ist insoweit künftig unter Beachtung der neuen Unverfallbarkeitsfrist von drei Jahren zu prüfen: wenn solche ältere Beschäftigte im jeweiligen Arbeitsverhältnis noch eine unverfallbare Anwartschaft erreichen können, sind sie gemäß der Einschätzung des BMI trotz § 2 Abs. 1 Satz 2 ATV/ATV-K zur Pflichtversicherung anzumelden.

28.162

171 Früher musste die Wartezeit bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres erfüllt werden können; die Änderung der Regelungen basiert auf der stufenweisen Anhebung der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung.

Betz-Rehm

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§ 28 Rz. 28.163

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

28.163 Für bestimmte Personengruppen ist die Versicherungspflicht durch eine Katalogbestimmung (§ 2 Abs. 3 iVm. Anlage 2 zum ATV/ATV-K172) ausdrücklich ausgeschlossen. Dies betrifft zB Beschäftigte mit Anwartschaften oder Ansprüchen auf lebenslängliche Versorgung nach beamten- oder soldatenrechtlichen Grundsätzen, Beschäftigte, die einer anderen Zusatzversorgungseinrichtung (Versorgungsanstalten der deutschen Bühnen, der Kultur oder der Bahn) angehören müssen, Bezieher von Altersrente (als Vollrente) sowie kurzfristig geringfügig Beschäftigte iSv. § 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV. Demgegenüber unterliegen entgeltgeringfügig Beschäftigte iSv. § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV grundsätzlich der Versicherungspflicht.

28.164 Eine Sonderregelung besteht für Beschäftigte mit einer wissenschaftlichen Tätigkeit an Hochschulen oder Forschungseinrichtungen, die für ein befristetes Arbeitsverhältnis eingestellt werden, in dem sie wegen der Dauer der Befristung die 60-monatige Wartezeit nicht erfüllen können (§ 2 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 28 Abs. 1 VBLS, § 19 Abs. 1 Buchst. l AKA-MS). Haben solche befristet Beschäftigte bisher noch keine Pflichtversicherungszeiten in der Zusatzversorgung, können sie auf ihren Antrag hin von der Versicherungspflicht befreit werden. Der Antrag muss durch den Beschäftigten spätestens innerhalb von zwei Monaten seit Beginn des Arbeitsverhältnisses gestellt werden und bedarf der Schriftform. Die Befreiung von der Versicherungspflicht erfolgt durch den Arbeitgeber (§ 2 Abs. 2 Satz 1 ATV/ATV-K). Diese Regelung dient dazu, diesem Personenkreis (trotz Nichterfüllen der Wartezeit) eine Zusatzversorgung zu verschaffen. Zugunsten dieser von der Pflichtversicherung Befreiten sind Anwartschaften auf eine freiwillige Versicherung (§ 26 Abs. 3 ATV/ATV-K, § 54 VBLS) zu begründen, mit Beiträgen in Höhe der auf den Arbeitgeber entfallenden Aufwendungen für die Pflichtversicherung einschließlich eines etwaigen Arbeitnehmerbeitrages (im Tarifgebiet Ost gemäß § 37a ATV/ATV-K) höchstens jedoch mit 4 % des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts. Durch die Verweisung auf § 26 Abs. 3 Satz 1 ATV/ATV-K ist klargestellt, dass diese freiwillige Versicherung nur im Punktemodell vollzogen wird und nicht im Rahmen der (bei der VBL für die freiwillige Versicherung sonst auch möglichen) fondsgebundenen Versicherung. Die Zahlung der Beiträge für die freiwillige Versicherung erfolgt im System der Kapitaldeckung; zusätzliche Umlagezahlungen des Arbeitgebers sowie Sanierungsgelder fallen für solche Beschäftigten daher nicht an. Die so im Rahmen der freiwilligen Versicherung begründeten Anwartschaften bleiben den Beschäftigten unabhängig von der Erfüllung der Wartezeit erhalten. Eine solche Befreiung von der Versicherungspflicht mit Begründung von Anwartschaften in der freiwilligen Versicherung sollte durch die betroffenen Arbeitnehmer allerdings gut überlegt sein, da sie sich im Falle einer Verlängerung der befristeten Beschäftigung auch als nachteilig erweisen kann: Wird das befristete Arbeitsverhältnis verlängert oder fortgesetzt, beginnt die Pflichtversicherung mit dem Ersten des Monats, in dem die Verlängerung oder Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über fünf Jahre hinaus vereinbart wurde; eine rückwirkende Behandlung als Pflichtversicherung wird nicht vorgenommen. Außerdem ist auch für diesen Personenkreis zu beachten, dass aufgrund der Verkürzung der gesetzlichen Unverfallbarkeitsfristen in § 1b Abs. 1, 3 BetrAVG (ggf. iVm. § 30f BetrAVG) ab 1.1.2018 bereits nach drei Jahren eine unverfallbare Anwartschaft in der Pflichtversicherung entsteht, so dass auch für diesen Personenkreis eine Pflichtversicherung sinnvoll sein kann, jedenfalls wenn die Befristung für einen längeren Zeitraum als drei Jahre erfolgt. Die Zeiten der freiwilligen Versicherung werden auch weder auf die Erfüllung der Wartezeit der Pflichtversicherung (§ 6 ATV/ATV-K, § 34 VBLS, § 32 AKA-MS) noch auf die für die Gewährung von Bonuspunkten von ausgeschiedenen (beitragsfrei) Versicherten erforderliche Zeit von 120 Umlage- oder Beitragsmonaten (§ 19 ATV/ATV-K, § 68 VBLS, § 66 AKA-MS) angerech172 Vgl. die entsprechenden Regelungen der Satzungen der Zusatzversorgungskassen, zB § 28 Abs. 2 VBLS iVm. Ziff. VIII der Ausführungsbestimmungen, § 19 Abs. 1 AKA-MS.

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Betz-Rehm

Die Pflichtversicherung

Rz. 28.168 § 28

net. In der freiwilligen Versicherung werden anders als in der Pflichtversicherung auch keine sozialen Komponenten gewährt (s. Rz. 28.298). Schließlich sind die Leistungen aus der freiwilligen Versicherung aufgrund des derzeitigen Niedrigzinsumfelds aktuell niedriger als die Leistungen aus der Pflichtversicherung. Sonderregelungen für die Höhe des zusatzversorgungsfähigen Entgelts bestehen schließlich für Beschäftigte des Bundes und von Arbeitgebern, die der Tarifgemeinschaft deutscher Länder angehören, wenn sie eine Vergütung erhalten, die das 1,181-fache des Betrages der Entgeltgruppe 15 Stufe 5 TVöD übersteigt (vgl. § 39 Abs. 1 ATV, § 82 Abs. 1 VBLS). Für diese Personengruppe sind (zusätzlich zur Umlage und zu etwaigen Sanierungsgeldern) Beiträge in die freiwillige Versicherung zu zahlen. Hierdurch soll ein Ausgleich dafür geschaffen werden, dass in der gesetzlichen Rentenversicherung Gehaltsbestandteile oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze nicht leistungserhöhend wirken. Ähnliches gilt für Beschäftigte, für die für Dezember 2001 schon und für Januar 2002 noch eine zusätzliche Umlage nach § 29 Abs. 4 VBLS aF/§ 62 Abs. 4 AKA-MS aF gezahlt wurde (vgl. § 39 Abs. 2 ATV/§ 38 ATV-K, § 82 Abs. 2 VBLS, § 76 AKA-MS, dies betrifft Mitarbeiter mit einer Vergütung oberhalb der Vergütungsgruppe I BAT).

28.165

Generell gilt für die Pflichtversicherung, dass in entgeltlosen Zeiten eines fortbestehenden Beschäftigungsverhältnisses kein Recht der Arbeitnehmer auf Fortführung mit eigenen Beiträgen besteht. Dieses an sich in § 1 Abs. 2 Nr. 4 iVm. § 1a Abs. 4 BetrAVG verankerte Recht wurde durch § 2 Abs. 4 ATV/ATV-K gemäß § 30e Abs. 2 BetrAVG ausgeschlossen.

28.166

b) Beginn der Pflichtversicherung Sowohl die Prüfung der Voraussetzungen für die Versicherungspflicht als auch die Anmeldung bei der Zusatzversorgungskasse sind Sache des Arbeitgebers. Der Beschäftigte erhält durch die Zusatzversorgungskasse einen Nachweis über die Anmeldung. Die Pflichtversicherung des einzelnen Arbeitnehmers entsteht mit dem Eingang der Anmeldung bei der VBL bzw. sonstigen Zusatzversorgungskasse, falls die Voraussetzungen der Versicherungspflicht gegeben sind (vgl. § 27 Abs. 1 VBLS, § 17 AKA-MS). Technischer Versicherungsbeginn ist der Zeitpunkt, der in der Anmeldung angegeben ist (§ 27 Abs. 1 Satz 2 VBLS, § 17 Satz 2 AKA-MS). Die Anmeldung ist für die jeweilige Zusatzversorgungskasse verbindlich, sie bedarf keiner gesonderten Annahme, weder die jeweilige Zusatzversorgungskasse noch der Arbeitgeber haben die Möglichkeit einer Risikoauslese173.

28.167

c) Ende der Pflichtversicherung Die Pflichtversicherung endet mit dem Zeitpunkt, zu dem ihre Voraussetzungen entfallen, 28.168 spätestens mit dem Zeitpunkt, der auf der Abmeldung von der Versicherung durch den Arbeitgeber als Versicherungsende angegeben ist. Die Pflichtversicherung endet insbesondere mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu einem an der Zusatzversorgung beteiligten Arbeitgeber bzw. wenn die Beteiligung/Mitgliedschaft des Arbeitgebers endet (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 4 ATV/ATV-K, § 27 Abs. 2 VBLS, § 20 Abs. 1 AKA-MS).

173 Gilbert/Hesse, Einl. Rz. 41 f.; Blomeyer/Rolfs/Otto, § 18 BetrAVG Rz. 11.

Betz-Rehm

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§ 28 Rz. 28.169

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

d) Beitragsfreie Versicherung

28.169 Endet die Pflichtversicherung vor Eintritt eines Versicherungsfalles, entsteht automatisch eine beitragsfreie Versicherung (§ 3 ATV/ATV-K, § 30 Abs. 1 VBLS, § 21 Abs. 1 AKA-MS). Die erworbenen Versorgungspunkte bleiben bestehen174. Hat der Beschäftigte die 60-monatige Wartezeit bereits erfüllt oder erfüllt er diese (durch eine spätere erneute Pflichtversicherung) noch bis zum Eintritt eines Versicherungsfalles oder hat er die gesetzlichen Voraussetzungen für eine unverfallbare Anwartschaft gemäß § 1b Abs. 1, 3 BetrAVG (ggf. iVm. § 30f BetrAVG) erfüllt, erhält er bei Eintritt eines Versicherungsfalles aus den erworbenen Versorgungspunkten die entsprechenden Versorgungsleistungen175. Beitragsfrei Versicherte nehmen auch an der Zuteilung etwaiger Bonuspunkte und damit an der hieraus resultierenden Erhöhung ihrer Versorgungsanwartschaften teil, jedoch nur, wenn sie bei Beendigung der Pflichtversicherung bereits 120 Umlage-/Beitragsmonate erfüllt haben (§ 19 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 68 Abs. 1 VBLS, § 66 Abs. 3 AKA-MS).

28.170 Die beitragsfreie Versicherung als solche endet bei Eintritt eines Versicherungsfalles, Tod des Beschäftigten, Erlöschen der Anwartschaft, Überleitung der Versicherung auf eine andere Zusatzversorgungskasse oder bei Eintritt einer erneuten Versicherungspflicht (§ 3 Abs. 2 ATV/ ATV-K, § 30 Abs. 3 VBLS, § 21 Abs. 2 AKA-MS). Das Erlöschen der Anwartschaft betrifft insbesondere den Fall, dass ein Beschäftigter bis zur Vollendung des 69. Lebensjahres die 60-monatige Wartezeit nicht erfüllt (vgl. § 30 Abs. 3 Buchst. d VBLS)176 oder dass ein Beschäftigter, der die 60-monatige Wartezeit nicht erfüllt hat, einen Antrag auf Erstattung der von ihm geleisteten Beiträge gestellt hat (§ 24 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 30 Abs. 3 Buchst. e, § 44 Abs. 1 VBLS, § 42 Abs. 2 AKA-MS). 2. Betriebsrenten aus der Pflichtversicherung

28.171 Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst basiert nach Ablösung des früheren Gesamtversorgungssystems durch den Altersvorsorgeplan und den ATV/ATV-K auf dem Versorgungspunktemodell. Die Leistungen der Zusatzversorgung werden unabhängig von der Gesamtschau der früher maßgeblichen Faktoren, insbesondere der Anlehnung an die Beamtenversorgung und der Einbeziehung der gesetzlichen Rentenversicherung, berechnet. Anders als beim früheren Gesamtversorgungssystem, in dessen Rahmen eine endgehaltsbezogene Berechnung auf Basis der Vergütung der letzten drei Kalenderjahre vor Eintritt eines Versorgungsfalles stattfand, werden beim Versorgungspunktemodell die während der gesamten versicherungspflichtigen Beschäftigungszeit erzielten versicherungspflichtigen Entgelte und die darauf beruhenden Umlagen/Beiträge berücksichtigt. Die Betriebsrenten aus der Zusatz174 Hierin liegt eine der wesentlichen Verbesserungen zugunsten der Beschäftigten gegenüber dem früheren Gesamtversorgungssystem: In dessen Rahmen hatte sich im Falle einer Beendigung der Pflichtversicherung vor Eintritt eines Versorgungsfalles die Anwartschaft auf dynamische Gesamtversorgung in eine wesentlich niedrigere Anwartschaft auf statische Versicherungsrente umgewandelt. 175 Für Versicherte des Abrechnungsverbandes Ost der VBL bleiben diejenigen Anwartschaften, die auf Arbeitnehmerbeiträgen und etwaigen Altersvorsorgezulagen (nach Abschnitt XI EStG) beruhen, auch erhalten, wenn die 60-monatige Wartezeit nicht erfüllt ist (§ 34 Abs. 4 VBLS). 176 Wenn – im Hinblick auf die verkürzten Unverfallbarkeitsfrist von lediglich noch drei Jahren – allerdings eine gesetzlich unverfallbare Anwartschaft gemäß § 1b Abs. 1, 3 BetrAVG (ggf. iVm. § 30f BetrAVG) besteht, bleibt diese aufrechterhalten und führt dann bei Eintritt eines Versorgungsfalles zu dementsprechenden Leistungen.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.174 § 28

versorgung werden neben der Rente aus der Grundversorgung (gesetzliche Rentenversicherung oder eine diese ersetzende, zB berufsständische Versorgung) gezahlt und berechnet177. Eine enge Verknüpfung mit dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung besteht allerdings weiterhin, soweit es um die Voraussetzungen für den Eintritt der jeweils versicherten Leistungsfälle geht. a) Leistungsarten und ihre Voraussetzungen Als Betriebsrenten der öffentlichen Zusatzversorgung werden von den Zusatzversorgungskas- 28.172 sen Altersrente und Erwerbsminderungsrente für Versicherte sowie Hinterbliebenenrenten für Witwen, Witwer und Waisen der Versicherten erbracht (§ 25 VBLS, § 30 AKA-MS). Die Zahlung eines Sterbegeldes war nur noch im Rahmen von Übergangsregelungen (§ 35 ATV/ ATV-K, § 85 VBLS, § 75 AKA-MS) vorgesehen. Sie entfällt ab dem Jahr 2008178. Für die Voraussetzungen der jeweiligen Versicherungsfälle besteht eine enge Anknüpfung an die Regelungen der gesetzlichen Rentenversicherung. Der Versicherungsfall tritt bei einem Beschäftigten, der in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert ist, mit dem Ersten des Monats ein, von dem an der Anspruch179 auf gesetzliche Rente wegen Alters als Vollrente bzw. wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung besteht, wenn der Beschäftigte die 60-monatige Wartezeit erfüllt hat. Der Bezug einer Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung als Teilrente (§ 42 SGB VI) löst keinen Anspruch auf Betriebsrente aus der Zusatzversorgung aus. Der Anspruch ist durch Bescheid des Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung nachzuweisen (§ 5 ATV/ATV-K, § 33 VBLS, § 31 AKA-MS) und bedarf eines schriftlichen Antrags des Beschäftigten. Die Betriebsrente beginnt – wenn kein Fall einer Nichtzahlung bzw. des Ruhens gemäß § 12 ATV/ATV-K vorliegt – mit dem Beginn der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung.

28.173

Eine Hinterbliebenenrente wird an die im Zeitpunkt des Todes in familienrechtlich wirksamer180 Ehe lebende Ehegattin/den Ehegatten eines verstorbenen Betriebsrentenberechtigten oder eines Versicherten gezahlt, der die Wartezeit erfüllt hat (§ 10 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 38 Abs. 1 VBLS, § 36 Abs. 1 AKA-MS). Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft waren nach den ursprünglichen tariflichen Bestimmungen und Satzungsbestimmungen nicht an-

28.174

177 Anschaulich insoweit die Zusammenfassung bei Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 57 ff.; vgl. auch die von der VBL herausgegebene Broschüre „Kundeninformation. Die Betriebsrente der VBL aus der Pflichtversicherung.“, abrufbar unter www.vbl.de (Service/Downloadcenter/Pflichtversicherung). 178 Dass die Regelung zum stufenweisen Wegfall des Sterbegeldes in § 85 VBLS vom Änderungsvorbehalt gemäß § 14 VBLS aF gedeckt und damit rechtswirksam ist, hatte der BGH bereits mit Urteil v. 14.9.2005 – IV ZR 198/04 bestätigt. Diese Entscheidung wurde zwischenzeitlich vom BVerfG bestätigt und die gegen das Urteil des BGH eingelegte Verfassungsbeschwerde durch Beschluss v. 20.7.2011 – 1 BvR 2624/05, NJW 2012, 143, nicht zur Entscheidung angenommen. 179 Es kommt insoweit auf den Zeitpunkt der Rentenberechtigung als solche an, dh. auf das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen für das Entstehen des Anspruchs auf gesetzliche Rente, und nicht auf den Beginn der Rentenzahlung, vgl. BGH v. 18.11.2009 – IV ZR 75/07, NVwZ-RR 2010, 326. 180 Vgl. LAG Düsseldorf v. 31.10.2012 – 12 Sa 1165/12, ZTR 2013, 147-149, insbesondere auch zur Problematik der ersatzlosen Abschaffung der früheren Witwenrente gemäß § 65e VersTV-G für nach altem Scheidungsrecht vor dem 1.7.1977 schuldlos oder überwiegend schuldlos geschiedene Ehefrauen durch den ATV-K.

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§ 28 Rz. 28.174

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

spruchsberechtigt181. Eine solche Benachteiligung eingetragener Lebenspartner wurde allerdings zusehends kritisch gesehen und zunächst durch den EuGH182, im Anschluss an dessen Rechtsprechung auch durch das BAG183 und schließlich auch durch das BVerfG184 jedenfalls für die Zeit ab 1.1.2005 als unzulässig eingestuft. Als Reaktion auf den Beschluss des BVerfG vom 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07 hatte der Verwaltungsrat der VBL am 14.12.2009 beschlossen, dass die für Ehegatten geltenden Regelungen mit Wirkung ab dem 1.1.2005 auf eingetragene Lebenspartner Anwendung finden sollen. Dies gelte sowohl für die VBLklassik (die Pflichtversicherung) als auch für die VBLextra (die freiwillige Versicherung in Anlehnung an das Punktemodell) und die VBLdynamik (die freiwillige fondsgebundene Rentenversicherung). Eine Anpassung der Satzung der VBL sollte aber erst dann erfolgen, wenn sich die Tarifvertragsparteien auf eine neue Regelung im Tarifvertrag Altersversorgung verständigt hätten. Zwischenzeitlich hat auch der BGH in Folge des Beschlusses des BVerfG seine frühere Rechtsprechung aufgegeben und festgestellt, dass dem Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft jedenfalls seit dem 1.1.2005 ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 38 Abs. 1 VBLS (sowie 181 In einer Entscheidung v. 14.2.2007 – IV ZR 267/04, NJW-RR 2007, 1441 hatte der BGH noch festgestellt, diese Differenzierung sei rechtmäßig und verstoße weder gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des GG, das eine Privilegierung der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG ausdrücklich zulasse, noch gegen europäisches Recht (insbesondere Art. 141 EG und die Richtlinie 2000/78/EG). Diese Entscheidung des BGH wurde zwischenzeitlich durch das BVerfG mit Beschluss v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, DB 2009, 2441 aufgehoben. 182 Zwischenzeitlich hatte der EuGH in einem Urteil v. 1.4.2008 – C-267/06, ArbRB 2008, 337 = NZA 2008, 459 – Maruko – für ein berufsständisches Versorgungssystem festgehalten, dass Art. 1 iVm. Art. 2 der Richtlinie 2000/78/EG einer Regelung entgegenstehe, wonach der überlebende Partner nach Versterben seines Lebenspartners keine Hinterbliebenenversorgung entsprechend einem überlebenden Ehegatten erhalte, obwohl die Lebenspartnerschaft nach nationalem Recht Personen gleichen Geschlechts in eine Situation versetze, die in Bezug auf diese Hinterbliebenenversorgung mit der Situation von Ehegatten vergleichbar sei. 183 Das BAG hatte sich der Entscheidung des EuGH v. 1.4.2008 zwischenzeitlich in einem Urteil v. 14.1.2009 – 3 AZR 20/07, NZA 2009, 489 ausdrücklich angeschlossen. Hinterbliebene Lebenspartner eines Arbeitnehmers befänden sich nach deutschem Recht in Bezug auf die Hinterbliebenenversorgung seit dem 1.1.2005 in einer Situation, die mit der Situation von hinterbliebenen Ehegatten eines Arbeitnehmers vergleichbar sei. Eine europarechtskonforme Auslegung des AGG ergebe, dass eingetragenen Lebenspartnern in der betrieblichen Altersversorgung im selben Umfange wie Ehegatten eine Hinterbliebenenversorgung zustehe. Da der vom BAG zu entscheidende Fall noch nicht unter den zeitlichen Anwendungsbereich des AGG fiel, stellte das BAG zur Begründung der Gleichbehandlung zusätzlich auf den allgemeinen Gleichheitssatz ab. 184 Das BVerfG hat durch Beschluss v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, DB 2009, 2441 das Urteil des BGH v. 14.2.2007 – IV ZR 267/04, NJW-RR 2007, 1441 aufgehoben und festgestellt, dass die Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich der betrieblichen Hinterbliebenenversorgung für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes, die bei der VBL zusatzversichert sind, mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Es sei verfassungsrechtlich nicht begründbar, aus dem besonderen Schutz der Ehe abzuleiten, dass andere Lebensgemeinschaften im Abstand zur Ehe auszugestalten und mit geringeren Rechten zu versehen seien. Hier bedürfe es jenseits der bloßen Berufung auf Art. 6 Abs. 1 GG eines hinreichend gewichtigen Sachgrundes, der gemessen am jeweiligen Regelungsgegenstand und -ziel die Benachteiligung anderer Lebensformen rechtfertige. Es bestünden allerdings keine solchen, die Ungleichbehandlung rechtfertigenden Unterschiede zwischen Versicherten der VBL, die verheiratet sind, und solchen, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben. Der mit der Hinterbliebenenversorgung nach § 38 VBLS verfolgte Regelungsplan lasse sich nur dadurch vervollständigen, dass die für Ehegatten geltende Regelung mit Wirkung ab dem 1.1.2005 auch auf eingetragene Lebenspartner Anwendung finde.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.177 § 28

für die Zeit bis ins Jahr 2007 auch ein Sterbegeld gemäß § 85 Satz 1 VBLS) zusteht185. Mit dem 5. Änderungstarifvertrag zum ATV/ATV-K vom 30.5.2011 haben die Tarifvertragsparteien schließlich in § 10 Abs. 4 ATV/ATV-K eine Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartner bei der Hinterbliebenenversorgung tarifvertraglich verankert186 (vgl. nunmehr auch § 38 Abs. 4 VBLS, § 36 Abs. 4 AKA-MS). Die Witwen-/Witwerrente wird als kleine oder große Betriebsrente für Witwen/Witwer gezahlt, wenn und solange ein Anspruch auf (kleine oder große) Witwen-/Witwerrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 46 SGB VI) besteht oder bestehen würde, wenn kein Rentensplitting unter den Ehegatten durchgeführt worden wäre. Der Anspruch auf Witwen-/ Witwerrente besteht damit für längstens 24 Kalendermonate nach Ablauf des Monats, in dem der Versicherte verstorben ist. Die Art der Rente (kleine oder große Witwen-/Witwerrente) richtet sich nach den Bestimmungen der gesetzlichen Rentenversicherung. Hat die Ehe weniger als zwölf Monate gedauert, besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Witwen-/Witwerrente (Problematik der „Versorgungsehe“). Der hinterbliebene Ehepartner kann allerdings den Nachweis antreten, dass es nach den besonderen Umständen des Falles nicht der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, der Witwe/dem Witwer eine Betriebsrente zu verschaffen. Gelingt diese Widerlegung der Vermutung einer reinen Versorgungsehe, besteht ein Anspruch auf Witwen-/Witwerrente unabhängig von der Ehedauer187. Anspruch auf Waisenrente für Voll- oder Halbwaisen (§ 10 Abs. 1 Satz 4 ATV/ATV-K, § 38 Abs. 1 Satz 4 VBLS, § 36 Abs. 1 Satz 4 AKA-MS) haben die Kinder eines verstorbenen Betriebsrentenberechtigten oder eines Versicherten, der die Wartezeit erfüllt hat, die eine entsprechende Waisenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 48 SGB VI) erhalten. Kinder sind die leiblichen und angenommene Kinder sowie Pflegekinder iSv. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG, soweit sie nach § 32 Abs. 3 und 4 Satz 1 Nr. 1 bis 3 und Abs. 5 EStG berücksichtigungsfähig sind.

28.175

Auch die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente sind durch Bescheid des Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung nachzuweisen.

28.176

Für Beschäftigte, die in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht versichert sind, gelten diese Regelungen der gesetzlichen Rentenversicherung zu den Versicherungsfällen und zum Beginn der Rente entsprechend (§ 14 ATV/ATV-K, § 45 VBLS, § 43 AKA-MS). Soweit auf Regelungen des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung Bezug genommen wird, ist die Regelung so anzuwenden, wie dies bei unterstellter Versicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung der Fall wäre. Hinsichtlich der erforderlichen rentenversicherungsrechtlichen Zeiten sind anstelle der Versicherungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung die Zeiten der Pflichtversicherung in der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes zugrunde zu legen188. Eine volle oder teilweise Erwerbsminderung ist durch einen von der Zusatzversorgungskasse zu bestimmenden Facharzt nachzuweisen. In jedem Fall ist auch bei nicht gesetz-

28.177

185 BGH v. 7.7.2010 – IV ZR 267/04, VersR 2010, 1207; v. 7.7.2010 – IV ZR 16/09, ArbRB 2010, 274 = VersR 2010, 1208. 186 Für den Bereich der kirchlichen Zusatzversorgungskassen wird allerdings vertreten, dass gemäß § 20 Abs. 1 Ziff. 4 AGG im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaft eine unterschiedliche Behandlung weiterhin gerechtfertigt sein kann, vgl. Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 68. 187 Vgl. OLG Karlsruhe v. 17.7.2008 – 12 U 207/07, BeckRS 2008, 17108 = VersR 2009, 56. 188 OLG Karlsruhe v. 3.7.2008 – 12 U 8/08, VersR 2009, 102; bestätigt durch BGH v. 18.7.2012 – IV ZR 62/11, NVwZ-RR 2013, 152.

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§ 28 Rz. 28.177

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

lich Rentenversicherten ein schriftlicher Antrag des Beschäftigten Voraussetzung für einen Anspruch auf Betriebsrente aus der Zusatzversorgung189. b) Erfüllung der Wartezeit

28.178 Voraussetzung für alle Leistungen aus der Zusatzversorgung ist die Erfüllung der Wartezeit von 60 Monaten (§ 6 ATV/ATV-K, § 34 VBLS, § 32 AKA-MS). Für die Erfüllung der Wartezeit wird jeder Kalendermonat berücksichtigt, für den bis zum Beginn der Betriebsrente für mindestens einen Tag Aufwendungen für die Pflichtversicherung (Umlagen oder Beiträge im Kapitaldeckungsverfahren) erbracht wurden. Die Wartezeit muss nicht ohne Unterbrechung erfüllt werden, ggf. erfolgt eine Zusammenrechnung von Zeiten verschiedener Pflichtversicherungsverhältnisse. Ebenso werden bei verschiedenen Zusatzversorgungskassen des öffentlichen Dienstes zurückgelegte Pflichtversicherungszeiten zusammengerechnet, wenn diese Zusatzversorgungskassen jeweils am Verfahren zur Überleitung von Versicherungen teilnehmen. Bis zur Systemumstellung (31.12.2000) nach dem alten Recht als Umlagemonate zu berücksichtigende Zeiten werden auf die Erfüllung der Wartezeit ebenfalls angerechnet. Bei der VBL gilt die Wartezeit auf jeden Fall für den Teil der Anwartschaft aus der Pflichtversicherung als erfüllt, der nach § 1b Abs. 3 iVm. Abs. 1 und § 30f BetrAVG unverfallbar ist (vgl. § 34 Abs. 4 Satz 2 VBLS). Auch wenn dies in der Mustersatzung der AKA nicht ausdrücklich geregelt ist, gilt dort nichts anderes, da es sich bei § 1b BetrAVG um zwingendes Recht handelt. Zu beachten ist, dass die gesetzliche Unverfallbarkeitsfrist ab dem 1.1.2018 von bisher fünf auf drei Jahre verkürzt wurde. Wenn eine Versorgungszusage mindestens drei Jahre bestanden hat, kann somit aus der Zusatzversorgung eine unverfallbare Anwartschaft bestehen, unabhängig davon, ob Umlagen oder Beiträge geleistet wurden.

28.179 Zeiten und Aufwendungen der freiwilligen Versicherung werden auf die Erfüllung der Wartezeit demgegenüber nicht angerechnet, auch wenn die Aufwendungen der freiwilligen Versicherung ausnahmsweise vom Arbeitgeber getragen wurden.

28.180 Die Wartezeit gilt auch schon vor Ablauf der 60 Monate als erfüllt, wenn der Versicherungsfall durch einen Arbeitsunfall eingetreten ist, der im Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis steht, das Grundlage für die Pflichtversicherung war (§ 6 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 34 Abs. 2 VBLS, § 32 Abs. 2 AKA-MS). Ob ein Arbeitsunfall vorgelegen hat, ist durch Bescheid des Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung nachzuweisen.

28.181 Schließlich werden Zeiten einer nach dem Beginn der Pflichtversicherung liegenden Mitgliedschaft im Europäischen Parlament, im Bundestag oder im Parlament eines Landes auf die Wartezeit angerechnet (§ 6 Abs. 3 ATV/ATV-K, § 34 Abs. 3 VBLS, § 32 Abs. 3 AKAMS).

189 In einem Urteil v. 12.12.2008 – 6 O 323/07, BeckRS 2009, 11741 bestätigt das LG Karlsruhe insoweit, dass für den Beginn der Betriebsrente in der Zusatzversorgung eines nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherten der Antrag des Versicherten bei der VBL maßgeblich sei (§ 45 Abs. 1, § 33 Satz 4 VBLS iVm. § 99 Abs. 1 SGB VI und nicht § 52 VBLS). Vgl. auch LG Köln v. 24.2.2010 – 20 O 398/09, BeckRS 2012, 21513.

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Betz-Rehm

Die Pflichtversicherung

Rz. 28.184 § 28

c) Berechnung der Betriebsrenten nach dem Punktemodell aa) Grundsatz Im Rahmen des Punktemodells sind Leistungen in der Höhe zugesagt, die sich ergeben würde, wenn ein Beitrag in Höhe von 4 % des Entgelts (fiktiv) in ein kapitalgedecktes System einbezahlt würde190.

28.182

Die Berechnung der Betriebsrente nach dem Punktemodell erfolgt dabei in ähnlicher Weise wie die Berechnung der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Es werden für jeden Pflichtversicherten jährlich Versorgungspunkte ermittelt, die auf zwei individuellen Komponenten (dem zusatzversorgungspflichtigen Entgelt des Mitarbeiters im jeweiligen Kalenderjahr sowie dem Altersfaktor) sowie einer statischen Komponente (dem von den Tarifvertragsparteien festgelegten Referenzentgelt) beruhen. Die Anzahl dieser sich für das zusatzversorgungspflichtige Entgelt ergebenden Versorgungspunkte eines Kalenderjahres wird ermittelt, indem ein Zwölftel des zusatzversorgungspflichtigen Jahresentgelts (s. Rz. 28.190 ff.) des Pflichtversicherten ins Verhältnis zu dem von den Tarifvertragsparteien festgelegten Referenzentgelt von 1000 Euro gesetzt und mit dem Altersfaktor multipliziert wird (§ 8 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 36 Abs. 2 VBLS, § 34 Abs. 2 AKA-MS). Im Versorgungsfall wird die monatliche Rente aus der Summe der während der gesamten Versicherungsdauer erworbenen Versorgungspunkte ermittelt. Die Summe der Versorgungspunkte wird dabei mit dem tarifvertraglich festgelegten Messbetrag von 4 Euro multipliziert, dh., jeder Versorgungspunkt entspricht einem Wert von 4 Euro monatlicher Rente (§ 7 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 35 Abs. 1 VBLS, § 33 Abs. 1 AKA-MS). Die Berechnung der Betriebsrenten nach dem Versorgungspunktemodell ergibt sich damit aus folgenden Berechnungsformeln:

28.183

Versorgungspunkte = 1/12 versorgungspfl. Jahresentgelt/Referenzentgelt × Altersfaktor Monatliche Betriebsrente = Summe Versorgungspunkte × Messbetrag Über die Altersfaktoren werden die im Punktemodell enthaltenen Zinseffekte berücksichtigt. Die Altersfaktoren beinhalten dabei eine Verzinsung von 3,25 % während der Anwartschaftsphase und 5,25 % während des Rentenbezugs (diese Zinssätze sind im Hinblick auf die aktuelle Niedrigzinsphase für Kassen mit einer Finanzierung im Kapitaldeckungsverfahren problematisch). Im Übrigen sind über die Altersfaktoren auch die sonstigen biometrischen Faktoren berücksichtigt (zB Lebenserwartung, Häufigkeit von Hinterbliebenenrenten oder Erwerbsminderungsrenten etc.). Die Altersfaktoren der Zusatzversorgung basieren dabei noch auf den (zwischenzeitlich veralteten) Richttafeln 1998 von Klaus Heubeck191. Der für den Versicherten im jeweiligen Jahr anzuwendende Altersfaktor ergibt sich aus der Tabelle gemäß § 8 Abs. 3 ATV/ATV-K (§ 36 Abs. 3 VBLS, § 34 Abs. 3 AKA-MS). Dabei gilt als Alter die Differenz zwischen dem jeweiligen Kalenderjahr und dem Geburtsjahr. Je jünger der Pflichtversicherte ist, desto höher sind dabei die Altersfaktoren, weil der Verzinsungszeitraum dementsprechend länger ist. 190 Vgl. bereits Ziff. 2.1 des Altersvorsorgeplans (Anlage 5 zum ATV/ATV-K) sowie die Präambel des ATV/ATV-K. 191 Aufgrund der steigenden Lebenserwartung bilden diese Richttafeln nicht mehr die Realität bei den Zusatzversorgungseinrichtungen des öffentlichen und kirchlichen Dienstes ab. Vgl. zur Problematik der Rechnungsgrundlagen und der hieraus resultierenden Folgen auf der Finanzierungsseite auch Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 79 ff.

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28.184

§ 28 Rz. 28.185

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

28.185 Folgendes Beispiel soll die Berechnungsmethode verdeutlichen: Ein Pflichtversicherter ist im Jahr 1972 geboren und erhält im Jahr 2008 ein zusatzversorgungspflichtiges Jahresentgelt von 36.000 Euro. 1/12 des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts entspricht damit 3.000 Euro. Der anzuwendende Altersfaktor im Jahr 2008 beträgt 1,7. Hieraus ergeben sich 5,1 Versorgungspunkte (3 × 1,7), dies entspricht einer monatlichen Rente von 20,40 Euro.

bb) Soziale Komponenten

28.186 Versorgungspunkte ergeben sich nicht nur aus dem zusatzversorgungspflichtigen Entgelt. Vielmehr werden zusätzlich soziale Komponenten berücksichtigt, aus denen sich Versorgungspunkte auch für bestimmte Zeiten ergeben, ohne dass dem der Bezug eines zusatzversorgungspflichtigen Entgelts gegenübersteht. Als solche sozialen Komponenten werden berücksichtigt: (1) Elternzeit gemäß § 15 BEEG sowie Mutterschutzzeiten gemäß §§ 3 Abs. 1, 2 MuSchG (§ 9 Abs. 1 ATV/ATV-K; § 37 Abs. 1 VBLS, § 35 Abs. 1 AKA-MS)

28.187 Für jeden vollen Kalendermonat, in dem das Arbeitsverhältnis wegen einer Elternzeit ruht, werden für jedes Kind, für das ein Anspruch auf Elternzeit besteht, Versorgungspunkte berücksichtigt, die sich bei einem zusatzversorgungspflichtigen Entgelt von 500 Euro in diesem Monat ergeben würden. Je Kind werden dabei höchstens 36 Kalendermonate berücksichtigt. Steht der Elternzeitberechtigte in mehreren zusatzversorgungspflichtigen Arbeitsverhältnissen, kann die soziale Komponente nur für eines dieser Arbeitsverhältnisse in Anspruch genommen werden. Entscheidend für die Anwendung dieser sozialen Komponente ist zunächst, dass das Arbeitsverhältnis wegen der Elternzeit tatsächlich ruht. Unerheblich ist, ob in der Zeit des ruhenden Arbeitsverhältnisses (zB aus einer Nachzahlung aus der vorangegangenen Beschäftigungszeit) noch Arbeitsentgelt zufließt. Entscheidet sich der Elternzeitberechtigte allerdings zu einer Teilzeittätigkeit während der Elternzeit, kommt die soziale Komponente nicht zum Tragen; vielmehr richten sich die Versorgungspunkte dann nach dem zusatzversorgungspflichtigen Entgelt der Teilzeittätigkeit. Der Betrag von 500 Euro wird für jedes Kind berücksichtigt, für das ein Anspruch auf Elternzeit besteht, bei mehreren Kindern also mehrfach (zB bei einer Mehrlingsgeburt oder bei sich überschneidenden Elternzeiten für mehrere Kinder). Unerheblich ist die Höhe des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts, das der Elternzeitberechtigte vor der Inanspruchnahme der Elternzeit bezogen hat, insbesondere erfolgt keine „Deckelung“ der sozialen Komponente durch die Höhe des bisherigen Entgelts. Zu berücksichtigen ist, dass die Elternzeit, während derer das Arbeitsverhältnis ruht und daher kein Entgeltanspruch besteht, nicht für die Erfüllung der Wartezeit gemäß § 6 ATV/ ATV-K, § 34 VBLS, § 32 AKA-MS (s. Rz. 28.178 ff.) zählt, da für diese entgeltfreien Zeiten keine Umlage zu entrichten ist192. Während der gesetzlichen Mutterschutzfristen des § 3 Abs. 1 und Abs. 2 MuSchG (bis 31.12.2017: § 3 Abs. 2 und § 6 Abs. 1 MuSchG) erhalten Arbeitnehmerinnen Mutterschafts192 Dies hält einer AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle stand und verstößt nicht gegen höherrangiges Recht, vgl. LG Karlsruhe v. 12.11.2010 – 6 O 167/10, BeckRS 2010, 31087; bestätigt durch OLG Karlsruhe v. 19.7.2011 – 12 U 44/11, NVwZ-RR 2011, 990. Demgegenüber werden Zeiten der Mutterschutzfristen nach § 3 Abs. 1, 2 MuSchG für die Erfüllung der Wartezeit berücksichtigt (§ 9 Abs. 1 Satz 5 ATV/ATV-K).

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Betz-Rehm

Die Pflichtversicherung

Rz. 28.188 § 28

geld (vgl. § 19 MuSchG) sowie einen (Arbeitgeber-) Zuschuss zum Mutterschaftsgeld (vgl. § 20 MuSchG). Beide Leistungen sind steuerfrei (§ 3 Nr. 1 Buchst. d EStG) und zählen daher eigentlich nicht zum zusatzversorgungspflichtigen Entgelt. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 ATV/ATV-K bis einschließlich der 4. Änderungsfassung wurden Mutterschutzzeiten gemäß § 6 Abs. 1 MuSchG vor diesem Hintergrund Zeiten einer Elternzeit gleichgestellt und ebenso wie diese als soziale Komponente berücksichtigt. Sowohl der EuGH193 als auch der BGH194 sahen hierin allerdings einen Verstoß gegen den europarechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen in den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherung (Art. 6 der Richtlinie 86/378/EWG in der Fassung der Richtlinie 96/97/EG des Rates vom 20.12.1996) und entschieden (noch zum alten Satzungsrecht vor Umstellung auf das Punktemodell), dass die Mutterschutzzeiten bei der Berechnung der Anwartschaft auf eine Versicherungsrente nach § 44 VBLS aF wie Umlagemonate zu werten sind. In der Folgezeit stellte auch das BVerfG195 fest, dass die Nichtanrechnung von Mutterschutzzeiten als Umlagemonate im Rahmen der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes Mütter wegen ihres Geschlechts diskriminiert und deshalb gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verstößt. Durch den Änderungstarifvertrag Nr. 5 vom 30.5.2011 zum ATV/ATV-K wurde daraufhin eine Änderung zur Berücksichtigung von Mutterschutzzeiten bei der Zusatzversorgung in § 9 Abs. 1 ATV/ATV-K (§ 35 Abs. 1 AKA-MS, § 37 Abs. 1 VBLS) eingeführt. Zeiten ab 1.1.2012, in denen das Arbeitsverhältnis wegen der gesetzlichen Mutterschutzfristen gemäß § 3 Abs. 2 und § 6 Abs. 1 MuSchG (aktuelle Gesetzesfassung ab 1.1.2018: § 3 Abs. 1 und Abs. 2 MuSchG)196 ruht, werden nunmehr automatisch wie Umlage-/Beitragsmonate behandelt. Für diese Zeiten werden Versorgungspunkte in Ansatz gebracht, die sich ergeben würden, wenn das fiktive Entgelt nach § 21 TVöD/§ 21 TV-L bzw. entsprechenden tarifvertraglichen Regelungen gezahlt worden wäre. Für Mutterschutzzeiten in der Zeit vom 1.1.2002 bis 31.12.2011 sowie für solche Zeiten vor dem 1.1.2002 wurden in § 36a Abs. 2 ATV/ATV-K (§ 78 Abs. 2 AKAMS, § 84a Abs. 3 VBLS) Übergangsregelungen eingeführt. Für diese Zeiten fehlen bei den Zusatzversorgungskassen regelmäßig die erforderlichen Informationen. Diese Zeiten werden daher nur auf schriftlichen Antrag des/der Versicherten berücksichtigt. Das für die Versorgungspunkte zugrunde zu legende fiktive Entgelt wird dann aus dem durchschnittlichen kalendertäglichen Entgelt des Kalenderjahres errechnet, das vor dem Beginn der Mutterschutzfrist liegt. Nur in den Fällen, in denen im vorangegangenen Jahr gar kein zusatzversorgungspflichtiges Entgelt erzielt wurde, wird beim Arbeitgeber abgefragt, welches Entgelt an sich erzielt worden wäre. Das nach der Neuregelung fiktiv ermittelte zusatzversorgungspflichtige Entgelt für die Mutterschutzzeit wird um das Entgelt vermindert, das schon für die bisherige soziale Komponente entsprechend der Elternzeit berücksichtigt wurde. (2) Zurechnungszeit bei Erwerbsminderung Als weitere soziale Komponente werden sog. Zurechnungszeiten bei Erwerbsminderung gewährt (§ 9 Abs. 2 ATV/ATV-K; § 37 Abs. 2 VBLS, § 35 Abs. 2 AKA-MS). Bei Eintritt eines Versicherungsfalles wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung vor Vollendung des 60. Lebensjahres werden Pflichtversicherten für jeweils zwölf volle, bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres fehlende Kalendermonate so viele Versorgungspunkte hinzugerechnet, wie 193 194 195 196

EuGH v. 13.1.2005 – C 356/03, NZA 2005, 347 = BetrAV 2005, 292. BGH v. 1.6.2005 – IV ZR 100/02, NJW-RR 2005, 1161. BVerfG v. 28.4.2011 – 1 BvR 1409/10, ArbRB 2011, 174 = NZA 2011, 857. Die Änderung der Paragraphen der ab 1.1.2018 geltenden Neufassung des MuSchG wurde im ATV/ATV-K und den Satzungen der Zusatzversorgungseinrichtungen noch nicht nachvollzogen.

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28.188

§ 28 Rz. 28.188

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

dies dem Verhältnis des durchschnittlichen monatlichen zusatzversorgungspflichtigen Entgelts der letzten drei Kalenderjahre vor Eintritt des Versicherungsfalles zum Referenzentgelt von 1000 Euro entspricht. Bei der Berechnung des durchschnittlichen Entgelts werden Monate ohne zusatzversorgungspflichtiges Entgelt nicht berücksichtigt. Ist in den letzten drei Kalenderjahren vor Eintritt des Versicherungsfalles überhaupt kein zusatzversorgungspflichtiges Entgelt angefallen, ist für die Berechnung das Entgelt zugrunde zu legen (und durch den Arbeitgeber zu ermitteln), das sich als durchschnittliches zusatzversorgungspflichtiges Entgelt im Kalenderjahr vor dem Rentenbeginn ergeben hätte. (3) Mindeststartgutschrift

28.189 Im Zusammenhang mit der Systemumstellung der Zusatzversorgung vom früheren Gesamtversorgungssystem zum Punktemodell steht schließlich die Regelung in § 9 Abs. 3 ATV/ ATV-K, § 37 Abs. 3 VBLS, § 35 Abs. 3 AKA-MS zur Gewährung einer Mindeststartgutschrift. Bei der Umstellung des früheren Gesamtversorgungssystems zum Punktemodell wurden die bis zur Umstellung erworbenen Besitzstände in Versorgungspunkte umgerechnet und in das Punktemodell als sog. Startgutschrift eingebracht (vgl. zur Systemumstellung im Einzelnen Rz. 28.231 ff.). Für langjährige Pflichtversicherte, die zum 1.1.2002 bereits 20 Jahre pflichtversichert197 waren, wurden dabei für jedes volle Kalenderjahr der Pflichtversicherung bis zum 31.12.2001 mindestens 1,84 Versorgungspunkte berücksichtigt. Für Teilzeitbeschäftigte mit einem Gesamtbeschäftigungsquotienten (vgl. § 43a VBLS aF) kleiner 1,0 gilt dies proportional. Hierdurch wird für diesen Personenkreis eine bestimmte Mindestversorgung garantiert. cc) Zusatzversorgungspflichtiges Entgelt

28.190 Die Definition des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts ist in § 15 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 64 Abs. 4 VBLS, § 62 Abs. 2 AKA-MS und den jeweiligen Ausführungsbestimmungen enthalten, also in Regelungen, die eigentlich die Finanzierung der Zusatzversorgung betreffen, gleichwohl aber auch für die Berechnung der Versorgungsleistungen von wesentlicher Bedeutung sind. Zusatzversorgungspflichtiges Entgelt ist demgemäß grundsätzlich der steuerpflichtige Arbeitslohn, begrenzt auf den 2,5-fachen Wert198 der jeweils anwendbaren (West oder Ost) monatlichen Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung. Steuerfreie Entgeltbestandteile gehören nicht zum zusatzversorgungspflichtigen Entgelt. Das tatsächlich zu versteuernde Einkommen ist demgegenüber nicht maßgeblich, da zB auf der Lohnsteuerkarte vermerkte oder in die Lohnsteuertabellen eingearbeitete Lohnsteuerfreibeträge das zusatzversorgungspflichtige Entgelt nicht mindern199. Es gilt insoweit das steuerrechtliche Zuflussprinzip gemäß § 11 EStG; entscheidend ist damit, zu welchem Zeitpunkt die jeweiligen Entgeltbestandteile dem Arbeitnehmer tatsächlich zugeflossen sind200. 197 Die Regelung verweist ausdrücklich auf Zeiten einer Pflichtversicherung – nicht wie zB bei der Wartezeit auf Pflichtversicherungszeiten, die mit einer Umlage oder Beiträgen belegt sind. Damit kommt es für die Erfüllung der Dauer der Pflichtversicherung bei der Mindeststartgutschrift nicht darauf an, ob diese Zeiten auch jeweils mit zusatzversorgungspflichtigem Entgelt belegt waren, vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 9 ATV Erl. 4. 198 Wird eine zusatzversorgungsfähige Jahressonderzahlung gewährt, ist dieser Wert einmal jährlich im Monat der Zahlung der Jahressonderzahlung zu verdoppeln. 199 Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 201. 200 Für Bestandteile des Arbeitsentgelts, die steuerfrei in ein Zeitwertkonto gemäß § 7b SGB IV eingebracht werden, enthält Abs. 10 der Ausführungsbestimmungen zu § 64 Abs. 4 VBLS eine Ausnahme vom Zuflussprinzip: insoweit können der Beschäftigte und der Arbeitgeber vereinbaren,

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.194 § 28

Die Regelungen zum zusatzversorgungspflichtigen Entgelt sehen vor, dass bestimmte Entgeltbestandteile, die nach dieser Definition an sich zum steuerpflichtigen Arbeitslohn zählen würden, nicht zusatzversorgungspflichtig sind. Einzelheiten hierzu enthalten Anlage 3 des ATV/ATV-K, § 62 Abs. 2 AKA-MS bzw. die Ausführungsbestimmungen zu § 64 Abs. 4 Satz 1 VBLS201.

28.191

Für Teilzeitbeschäftigte bestehen insoweit keine Besonderheiten. Die Teilzeittätigkeit wird 28.192 insoweit bereits über die niedrigere Teilzeitvergütung berücksichtigt202. Für Arbeitnehmer, die nach dem 31.12.2002 eine Altersteilzeit vereinbart haben, besteht in 28.193 § 15 Abs. 2 Satz 2 ATV/ATV-K, § 62 Abs. 3 AKA-MS bzw. Abs. 6 der Ausführungsbestimmungen zu § 64 Abs. 4 Satz 1 VBLS eine Sonderregelung203: Zusatzversorgungspflichtiges Entgelt während des Altersteilzeitverhältnisses ist – unter Berücksichtigung der allgemeinen Regelungen des zusatzversorgungspflichtigen Entgeltes – das 1,8-fache der zur Hälfte zustehenden Bezüge gemäß § 4 TV ATZ oder gemäß den Regelungen vergleichbarere Tarifverträge (das zusatzversorgungspflichtige Entgelt entspricht damit 90 % des bisherigen Entgelts). Vergütungsbestandteile, die dem Arbeitnehmer trotz der Altersteilzeit in voller Höhe zustehen, werden als solche – ohne zusätzliche Erhöhung um den Faktor 1,8 – berücksichtigt. Für vor dem 1.1.2003 vereinbarte Altersteilzeit gilt gemäß § 8 Abs. 2 Satz 2 ATV/ATV-K, § 36 Abs. 2 Satz 2 VBLS, § 34 Abs. 2 Satz 2 AKA-MS hinsichtlich der Berechnung der Höhe der Leistungen letztendlich dasselbe204. Für zusatzversorgungspflichtige Arbeitgeber in einer wirtschaftlichen Notlage sehen schließlich § 15 Abs. 3 ATV/ATV-K, § 64 Abs. 5 VBLS, § 62 Abs. 4 AKA-MS für einen begrenzten Zeitraum von drei Jahren (der durch landesbezirklichen Tarifvertrag allerdings verlängert werden kann) die Möglichkeit einer abgesenkten Zusatzversorgung vor. Durch landesbezirklichen Tarifvertrag kann insoweit von der Höhe der zugesagten Leistungen bis zu einer Mindesthöhe von 2 % (anstelle der in § 8 Abs. 2 ATV/ATV-K vorgesehenen 4 %) abgewichen werden205. Die wirtschaftliche Notlage ist dabei durch eine paritätische Kommission der betroffenen Tarifvertragsparteien festzustellen.

201 202

203 204

205

dass diese Entgeltbestandteile zusatzversorgungspflichtiges Entgelt sind. In diesem Fall ist das Guthaben, das der Arbeitgeber im Gegenzug aus diesem Zeitwertkonto an den Beschäftigten auszahlt oder für eine betriebliche Altersversorgung des Beschäftigten im Wege der Entgeltumwandlung verwendet, dann kein zusatzversorgungspflichtiges Entgelt. Zu den Einzelheiten des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts mit alphabetischer Auflistung verschiedener typischer Entgeltbestandteile und deren Behandlung vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 15 ATV Erl. 3–5. Anders als nach dem früheren Gesamtversorgungssystem bedarf es daher keiner Bildung eines Gesamtbeschäftigungsquotienten mehr, der Arbeitgeber muss gegenüber der Zusatzversorgungskasse auch nicht mehr den jeweiligen Beschäftigungsumfang melden (vgl. Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 59). Ausführlich hierzu Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 71 ff. Ein Unterschied besteht insoweit nur hinsichtlich der Finanzierung: Während für vor dem 1.1.2003 vereinbarte Altersteilzeit für die Umlage/Beiträge nur das (50 %ige) Altersteilzeitentgelt zugrunde zu legen ist, gilt auch für die Berechnung der Umlage/Beiträge für ab dem 31.12.2002 vereinbarte Altersteilzeit das um den Faktor 1,8 erhöhte Altersteilzeitentgelt; nach dem 31.12.2002 vereinbarte Altersteilzeit ist damit für den Arbeitgeber „teurer“. Vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 15 ATV-K Erl. 6.

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28.194

§ 28 Rz. 28.195

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

dd) Bonuspunkte

28.195 Versorgungspunkte können schließlich in Form von Bonuspunkten zugeteilt werden (§ 19 ATV/ATV-K, § 68 VBLS, § 66 AKA-MS). Bei den Bonuspunkten handelt es sich um eine (fiktive) Überschussbeteiligung an den Erträgen der Zusatzversorgungskasse und damit um eine versicherungsförmige Dynamisierung (Zinsdynamik) der Zusatzversorgung in der Anwartschaftsphase. Bonuspunkte kommen für die am Ende des laufenden Kalenderjahres Pflichtversicherten in Betracht sowie für die zum gleichen Zeitpunkt beitragsfrei Versicherte, die eine Wartezeit von mindestens 120 Umlage-/Beitragsmonaten erfüllt haben. Über die Vergabe von Bonuspunkten entscheidet das zuständige Gremium206 der Zusatzversorgungskasse in Abstimmung mit dem verantwortlichen Aktuar. Insoweit wird durch die Zusatzversorgungskasse jeweils zum Jahresende für das vorangegangene Geschäftsjahr festgestellt, in welchem Umfang aus verbleibenden Überschüssen Bonuspunkte zugeteilt werden können. Die Berechnung erfolgt (jeweils getrennt für den umlagefinanzierten sowie einen ggf. vorhandenen kapitalgedeckten Abrechnungsverband) auf Basis einer nach anerkannten versicherungsmathematischen Grundsätzen durch den verantwortlichen Aktuar erstellten fiktiven versicherungstechnischen Bilanz207. Soweit in der jeweiligen Zusatzversorgungskasse eine Kapitaldeckung vorhanden ist, werden die tatsächlichen Kapitalerträge zugrunde gelegt. Soweit keine Kapitaldeckung vorhanden ist (Umlagefinanzierung), wird die durchschnittliche Verzinsung der zehn nach der Bilanzsumme größten Pensionskassen gemäß dem jeweils aktuellen Geschäftsbericht der BaFin herangezogen. Ergibt diese fiktive versicherungstechnische Bilanz einen Überschuss208, wird dieser zunächst um den Aufwand für die sozialen Komponenten209 (s. Rz. 28.186 ff.) und um die Verwaltungskosten210 der Zusatzversorgungskasse vermindert. Der verbleibende Überschuss wird auf die genannten Berechtigten als Bonuspunkte verteilt. Ergibt die fiktive versicherungstechnische Bilanz eine Unterdeckung, wird diese in das nächste Jahr vorgetragen und mindert dort das (fiktive) Ergebnis.

28.196 Bei der VBL wurde in der Pflichtversicherung im Jahr 2006 erstmals für die Jahre 2004 und 2005 entschieden, Bonuspunkte in Höhe von insgesamt 0,25 % der bis 31.12.2005 insgesamt erworbenen Versorgungspunkte zu vergeben. Die VBL hatte in diesem Zusammenhang allerdings bereits eine Vielzahl von Beanstandungen der Versicherungsnachweise 2004 und 2005 erreicht, die bezüglich der Zuteilung der Bonuspunkte auch bereits Gegenstand anhängiger Klagen waren. Zur Vermeidung weiterer Verfahren hatte die VBL im Jahr 2006 schließlich auf die Einhaltung der sechsmonatigen Ausschlussfrist für die Beanstandung der Versicherungsnachweise 2004 und 2005 sowie auf die Einrede der Verjährung bis zu einer rechtskräftigen höchstrichterlichen Entscheidung dieser Thematik verzichtet. In einem Ur206 Bei der VBL ist dies der Verwaltungsrat (§§ 10 ff. VBLS), bei den Zusatzversorgungskassen der AKA üblicherweise der Verwaltungsausschuss (§§ 5 ff. AKA-MS), also jeweils das aus Vertretern der beteiligten Arbeitgeber und der versicherten Arbeitnehmer paritätisch besetzte Organ. 207 Vgl. für die VBL weitere Einzelheiten in den Ausführungsbestimmungen zu § 68 Abs. 3 VBLS. 208 Bei der Berechnung ist dabei die in das Punktemodell über die Altersfaktoren eingearbeitete Garantieverzinsung von 3,25 % während der Anwartschaftsphase und 5,25 % in der Rentenphase zu berücksichtigen, dh. nur eine darüber hinausgehende (fiktive) Verzinsung steht überhaupt zur Verteilung zur Verfügung (vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 19 ATV Erl. 2; Langenbrinck/ Mühlstädt, Rz. 61). 209 Elternzeit/Mutterschutz, Zurechnungszeit bei Erwerbsminderung und Mindeststartgutschrift (§ 9 ATV/ATV-K, § 37 VBLS, § 35 AKA-MS). 210 Soweit keine Kapitaldeckung vorhanden ist, werden als Verwaltungskosten der Zusatzversorgungskasse 2 % der fiktiven Zinserträge angesetzt.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.199 § 28

teil vom 24.3.2010211 hatte der BGH dann klargestellt, dass den Versicherten kein Anspruch auf Überschussbeteiligung durch Zuteilung und Gutschrift von Bonuspunkten in bestimmter Höhe zusteht. In einem Urteil vom selben Tag212 hat der BGH allerdings ebenfalls festgehalten, dass die Versicherten gleichwohl grundsätzlich einen Anspruch haben, entsprechend den satzungsgemäßen Vorgaben an (fiktiven) Überschüssen beteiligt zu werden. Fehlen den Versicherten die für die Überprüfung des satzungsgemäßen Vorgehens der VBL erforderlichen Informationen, sei die VBL insoweit grundsätzlich zur Auskunft verpflichtet. Aufgrund der anhaltenden Niedrigzinsphase wurden von der VBL für die Jahre seit 2012 keine Bonuspunkte mehr zugeteilt. ee) Höhe der einzelnen Versorgungsleistungen Die Höhe der monatlichen Altersrente bei Erreichen der Altersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung berechnet sich nach dem oben (Rz. 28.182 ff.) beschriebenen Grundsatz. Sie ergibt sich aus der Anzahl der Versorgungspunkte multipliziert mit dem Messbetrag von 4 Euro.

28.197

Wird die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung vor Erreichen der Regelaltersgrenze 28.198 in Anspruch genommen und erfolgt deshalb eine Kürzung dieser Rente, so wird auch die Rente aus der Zusatzversorgung gekürzt, und zwar um 0,3 % je Monat, für den der sog. Zugangsfaktor der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 77 SGB VI) herabgesetzt ist, maximal jedoch um insgesamt 10,8 % (vgl. § 7 Abs. 3 ATV/ATV-K, § 35 Abs. 3 VBLS, § 33 Abs. 3 AKA-MS). Die Erwerbsminderungsrenten werden nach demselben Prinzip (also nach den erreichten 28.199 Versorgungspunkten unter Berücksichtigung der Zurechnungszeit) gemäß § 9 Abs. 2 ATV/ ATV-K, § 37 Abs. 2 VBLS, § 35 Abs. 2 AKA-MS berechnet. Die Betriebsrente wegen teilweiser Erwerbsminderung beträgt dabei allerdings lediglich die Hälfte der Rente, die sich demgemäß bei voller Erwerbsminderung ergeben würde (§ 7 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 35 Abs. 2 VBLS, § 33 Abs. 2 AKA-MS). Auch für die Erwerbsminderungsrenten sind die Rentenabschläge von 0,3 % je Monat, für den der Zugangsfaktor der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 77 SGB VI) herabgesetzt ist, anzuwenden213. Bei der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung 211 BGH v. 24.3.2010 – IV ZR 69/08, VersR 2010, 801. 212 BGH v. 24.3.2010 – IV ZR 296/07, NVwZ 2010, 1315. Den Auskunftsanspruch leitet der BGH aus § 51 Abs. 2 VBLS ab, demgemäß die Versicherungsnachweise über die erworbenen Anwartschaften auch in Bezug auf die ausgewiesenen Bonuspunkte nur binnen einer Ausschlussfrist von sechs Monaten beanstandet werden können. Daraus folge eine Verpflichtung zur Auskunftserteilung, andernfalls liefe das Beanstandungsrecht der Versicherten leer. Der Auskunftsanspruch umfasse aber nicht die Verpflichtung zur Vorlage der fiktiven versicherungstechnischen Bilanzen oder anderer Geschäftsunterlagen und auch kein Einsichtsrecht. 213 Dies hatte das AG Karlsruhe (v. 9.1.2007 – 2 C 519/05) für Zeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres bei der Erwerbsminderungsrente allerdings in Anlehnung an ein (umstrittenes und gegen die Praxis der gesetzlichen Rentenversicherung stehendes) Urteil des BSG (v. 16.5.2006 – B 4 RA 22/05 R, NJW 2007, 2139) abgelehnt (aA aber der nunmehr zuständige 5. Senat des BSG v. 14.8.2008 – B 5 R 32/07 R, NZS 2009, 385). Das LG Karlsruhe hat durch Urteil v. 1.6.2007 – 6 O 127/03 die Anwendung der Rentenabschläge auf Erwerbsminderungsrenten der Zusatzversorgung zwischenzeitlich bestätigt, ebenso das OLG Karlsruhe in einem Urteil v. 6.5.2008 – 12 U 103/07. Vgl. zu dieser Thematik auch Wein, BetrAV 2007, 537 (541). Auch der BGH hat mit Urteil v. 12.1.2011 – IV ZR 118/10, NZA-RR 2011, 204 festgestellt, dass die Regelung in § 35 Abs. 3 VBLS iVm. § 77 SGB VI keinen rechtlichen Bedenken begegnet. Schließlich hat auch das BVerfG mit Beschluss v. 11.1.2011 – 1 BvR 3588/08, NJW 2011, 2035, bestätigt, dass die Kürzung des Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung gemäß § 77 Abs. 2

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§ 28 Rz. 28.199

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

ist dabei der Rentenabschlag gemäß § 7 Abs. 3 ATV/ATV-K, § 35 Abs. 3 VBLS, § 33 Abs. 3 AKA-MS erst nach Anwendung der Halbierungsregelung des § 7 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 35 Abs. 2 VBLS, § 33 Abs. 2 AKA-MS in Ansatz zu bringen214.

28.200 Die Höhe der (kleinen oder großen) Witwen-/Witwerrente aus der Zusatzversorgung richtet sich nach den entsprechenden Bestimmungen der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 10 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 38 Abs. 1 VBLS, § 36 Abs. 1 AKA-MS). Es gelten die nach Ablauf des Sterbevierteljahres maßgebenden Rentenartfaktoren aus der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 67 Nr. 5 und 6, § 255 Abs. 1 SGB VI, dh. für die kleine Witwen-/Witwerrente ein Faktor von 25 % und für die große Witwen-/Witwerrente ein Faktor von 55 % (60 %, wenn der Ehegatte vor dem 1.1.2002 verstorben ist oder die Ehe vor diesem Zeitpunkt geschlossen wurde und mindestens ein Ehegatte vor dem 2.1.1962 geboren ist). Bemessungsgrundlage der Hinterbliebenenrenten ist dabei die Betriebsrente, die der Verstorbene bezogen hat oder hätte beanspruchen können, wenn er zum Zeitpunkt seines Todes wegen voller Erwerbsminderung ausgeschieden wäre. Die in der gesetzlichen Rentenversicherung für das Sterbevierteljahr (bis zum Ablauf des dritten Kalendermonats nach dem Tod des Ehegatten) vorgesehene Weiterzahlung der vollen Rente des Verstorbenen an den überlebenden Ehegatten (vgl. § 67 Nr. 5 und 6 SGB VI) greift für die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes ausweislich des eindeutigen Wortlauts von § 10 Abs. 1 ATV/ATV-K nicht215.

28.201 Für die Höhe der Waisenrenten gilt Entsprechendes (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 4 ATV/ATV-K, § 38 Abs. 1 Satz 4 VBLS, § 36 Abs. 1 Satz 4 AKA-MS). Der Rentenartfaktor der Waisenrente für Vollwaisen beträgt 20 % (§ 67 Nr. 8 SGB VI), für Halbwaisen 10 % (§ 67 Nr. 7 SGB VI). Betriebsrenten für Witwen/Witwer und Waisen dürfen zusammen den Betrag der Betriebsrente des Verstorbenen nicht überschreiten, ansonsten werden sie anteilig gekürzt (§ 10 Abs. 3 ATV/ATV-K, § 38 Abs. 3 VBLS, § 36 Abs. 3 AKA-MS). d) Anpassung und Neuberechnung von Renten aa) Anpassung der Betriebsrenten aus der Zusatzversorgung

28.202 Laufende Renten aus der Zusatzversorgung werden (beginnend ab dem Jahr 2002) jeweils zum 1. Juli eines jeden Jahres216 um 1,0 % dynamisiert (§ 11 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 39 VBLS, § 37 AKA-MS). Diese Regelung entspricht inhaltlich § 16 Abs. 3 Nr. 1 BetrAVG. Im Vergleich zum früheren Gesamtversorgungssystem, das zum einen an die Entwicklung der Beamtenversorgung, zum anderen aber auch an die Entwicklung der anzurechnenden Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung gekoppelt war und deshalb zu schwankenden Renten führen konnte, ist insoweit eine deutliche Vereinfachung und eine auch für die Begünstigten leichter verständliche Regelung geschaffen worden217. Die einprozentige An-

214 215 216 217

Nr. 3 SGB VI mit dem GG vereinbar ist, auch wenn der Rentenbezug vor der Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt. Diese Streitfrage wurde damit durch das BVerfG mittelbar auch für die Erwerbsminderungsrenten aus der Zusatzversorgung abschließend geklärt. Vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 7 ATV Erl. 4. Vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 10 ATV Erl. 2. Eine Erhöhung der Betriebsrente zeitgleich mit einem Rentenbeginn zum 1. Juli eines Jahres ist nicht vorgesehen, vgl. LG Karlsruhe v. 28.11.2008 – 6 S 101/08, BeckRS 2009, 5966. Die Umstellung der Dynamisierung von der Anpassung des gesamtversorgungsfähigen Entgelts entsprechend der Entwicklung der Versorgungsbezüge der Versorgungsempfänger des Bundes auf eine jährliche Anpassung um 1 % ihres Betrages jeweils zum 1. Juli ist wirksam, vgl. BGH

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.204 § 28

passung des neuen Punktemodells gilt dabei für die Rentenanpassung von bis zum Versorgungsfall Pflichtversicherten wie von beitragsfrei Versicherten gleichermaßen; die im früheren Gesamtversorgungssystem enthaltene Unterscheidung zwischen der dynamischen Versorgungsrente und der statischen Versicherungsrente ist entfallen. Eine Dynamisierung des Rentenanspruchs erfolgt auch, wenn ein Fall der Nichtzahlung oder des Ruhens gemäß § 12 ATV/ATV-K, § 41 VBLS, § 39 AKA-MS (s. hierzu Rz. 28.205 ff.) vorliegt, da in diesen Fällen der Rentenanspruch als solcher weiter besteht und lediglich nicht geltend gemacht werden kann. Nach Wegfall des Ruhenstatbestandes ist die Rente dann in ihrer zwischenzeitlich dynamisierten Höhe weiterzuzahlen218. bb) Neuberechnung Gemäß § 11 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 40 VBLS, § 38 AKA-MS ist eine Neuberechnung der Rente vorzunehmen, wenn bei einem Betriebsrentenberechtigten ein neuer Versicherungsfall eintritt und seit der Festsetzung der Betriebsrente auf Basis des früheren Versicherungsfalles zusätzliche Versorgungspunkte zu berücksichtigen sind. Es kommt in solchen Fällen zu einer Erhöhung der bisherigen Rente um den Betrag, der sich aus den zusätzlich zu berücksichtigenden Versorgungspunkten ergibt. Ein etwaiger Rentenabschlag wegen vorzeitigen Rentenbeginns (Zugangsfaktor, § 7 Abs. 3 ATV/ATV-K, § 35 Abs. 3 VBLS, § 33 Abs. 3 AKAMS, s. Rz. 28.198 f.) wird für diesen Teil neu bestimmt (für die bei der bisherigen Betriebsrente bereits berücksichtigten Versorgungspunkte bleibt es bei dem ursprünglichen Zugangsfaktor219). Versorgungspunkte aus einer Zurechnungszeit bei Erwerbsminderung (s. Rz. 28.188) aus dem früheren Versicherungsfall werden nur noch insoweit berücksichtigt, als sie die zusätzlichen (neuen) Versorgungspunkte (ohne Bonuspunkte) aus einer Pflichtversicherung übersteigen oder soweit in dem für die Zurechnungszeit maßgebenden Zeitraum keine Pflichtversicherung mehr bestanden hat. Ansonsten würde eine doppelte Berücksichtigung vorliegen.

28.203

Eine solche Neuberechnung erfolgt insbesondere bei einem Wechsel von einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu einer Rente wegen voller Erwerbsminderung oder wegen Alters (§ 11 Abs. 2 Satz 3 ATV/ATV-K, § 40 Abs. 3 VBLS, § 38 Abs. 3 AKA-MS). In diesem Fall wird die bisher (gemäß § 7 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 35 Abs. 2 VBLS, § 33 Abs. 2 AKA-MS) wegen der nur teilweisen Erwerbsminderung nur zur Hälfte gezahlte Rente nunmehr voll gezahlt. Im umgekehrten Fall eines Wechsels von einer Rente wegen voller Erwerbsminderung zu einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung wird die bisherige Rente nur noch zur Hälfte gezahlt. Sind in der Zwischenzeit weitere Versorgungspunkte angefallen, sind diese nach den vorstehend beschriebenen Grundsätzen zu berücksichtigen.

28.204

Vergleichbare Neuberechnungsfälle bei Hinterbliebenenrenten sind der Wechsel von einer kleinen zu einer großen Witwen-/Witwerrente und umgekehrt sowie der Wechsel von einer Vollwaisen- zu einer Halbwaisenrente. Auch in diesen Fällen kommt es zu einer entsprechenden Neuberechnung.

v. 17.9.2008 – IV ZR 191/05, DB 2008, 2547; vgl. auch BAG v. 27.3.2007 – 3 AZR 299/06, NZARR 2008, 82 = AP Nr. 68 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen; bestätigt durch BAG v. 29.1.2008 – 3 AZR 214/06, NZA-RR 2008, 438 = AP Nr. 70 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen. 218 Vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 12 ATV Erl. 2; Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 80. 219 Vgl. hierzu BGH v. 12.1.2011 – IV ZR 118/10, NZA-RR 2011, 204.

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§ 28 Rz. 28.204

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Nach der Rechtsprechung des LG Karlsruhe220 ist die Zusatzversorgungskasse (VBL) im Übrigen grundsätzlich berechtigt, fehlerhafte Berechnungen unabhängig von den Voraussetzungen des § 40 VBLS jederzeit zu korrigieren. Ein solches Korrekturrecht sei auch in § 53 VBLS vorausgesetzt, denn die dort geregelte Rückforderung überzahlter Renten setze die vorherige Korrektur der Rentenmitteilungen voraus. Anerkannt ist dabei, dass § 53 VBLS auch auf andere als die dort ausdrücklich geregelten Überzahlungstatbestände anwendbar ist. Die Zusatzversorgungskasse hat jedoch nach der Rechtsprechung des LG Karlsruhe für eine Rückforderung überzahlter Leistungen im Rahmen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) in Anlehnung an die Grundsätze des § 48 VwVfG eine Gesamtabwägung aller zu berücksichtigender Umstände vorzunehmen. Das Vertrauen der Versicherten, eine bereits gewährte Rente behalten zu dürfen, sei dabei in der Regel schutzwürdig, wenn die gewährten Leistungen bereits verbraucht wurden. Bei der Gewährung von geringfügigen Leistungen könne insoweit auch grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass das Geld für eine Verbesserung der Lebensführung ausgegeben wurde und mithin ein Verbrauch vorliegt. e) Ruhen und Nichtzahlung

28.205 Die Rente aus der Zusatzversorgung kann unter bestimmten Voraussetzungen ganz oder teilweise ruhen. Diese Fälle sind in § 12 ATV/ATV-K, § 41 VBLS, § 39 AKA-MS geregelt. Der Anspruch auf Rente aus der Zusatzversorgung wird dem Grunde nach durch das Ruhen nicht tangiert, für die Zeit des Ruhens kann er aber nicht geltend gemacht werden. Nach Wegfall des Ruhenstatbestandes ist die Betriebsrente ab diesem Zeitpunkt wieder zu zahlen. Stirbt ein Berechtigter während des Ruhens, sind die Hinterbliebenenrenten so zu berechnen, als hätte die Rente des Verstorbenen nicht geruht221. Die einzelnen Ruhens- bzw. Nichtzahlungstatbestände sind am Recht der gesetzlichen Rentenversicherung orientiert. Sie verfolgen – ebenso wie die entsprechenden Regelungen der gesetzlichen Rentenversicherung – den Zweck, eine Kumulation von Leistungen zu verhindern.

28.206 Die Betriebsrente wird von dem Zeitpunkt an nicht gezahlt, von dem an die Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen Überschreitens der Hinzuverdienstgrenze nach § 100 Abs. 3 Satz 1 iVm. § 34 Abs. 2 SGB VI endet. Auf Antrag wird die Betriebsrente aus der Zusatzversorgung vom Ersten des Monats an wieder gezahlt, für den die Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wieder geleistet wird (§ 12 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 41 Abs. 1 VBLS, § 39 Abs. 1 AKA-MS). Zu beachten ist dabei, dass nach Erreichen der Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung keine Hinzuverdienstgrenze mehr gilt. Wird die Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung nach Eintritt eines Versicherungsfalles nur als Teilrente gezahlt (vgl. §§ 42, 34 Abs. 2 SGB VI), wird auch die Rente aus 220 Vgl. LG Karlsruhe v. 19.9.2008 – 6 S 48/07, BeckRS 2009, 12068 (die Entscheidungen des LG Karlsruhe sind auch auf dessen Homepage www.landgericht-karlsruhe.de veröffentlicht). Vgl. auch LG Karlsruhe v. 17.7.2009 – 6 O 186/08, BeckRS 2009, 23669. Zur fortgesetzten, zukünftigen Gewährung einer fehlerhaft berechneten Versorgungsrente vgl. LG Karlsruhe vom 25.9.2009 – 6 O 190/08, BeckRS 2009, 26175: Der Gedanke der Solidarität gebietet es, die Finanzierung der Zusatzversorgung des Öffentlichen Dienstes nicht mit der Gewährung von Renten zu belasten, auf die nach den Satzungsbestimmungen kein Anspruch besteht. Auf eine fehlerhaft gewährte Zusatzrente kann daher nur in außerordentlichen Ausnahmesituationen Anspruch auch in die Zukunft bestehen. Zur Rückforderung zuviel gezahlter Renten allgemein und zur Verjährung des Rückforderungsanspruchs vgl. auch LG Karlsruhe v. 17.12.2010 – 6 S 5/10. 221 Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 12 ATV Erl. 2.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.211 § 28

der Zusatzversorgung nur in Höhe eines entsprechenden Anteils (1/3, 1/2, 2/3) gezahlt. Wichtig ist, dass in diesen Fällen kein zusätzlicher Versicherungsfall einer Teilrente geschaffen wird – gemäß § 5 ATV/ATV-K bleibt es weiterhin Voraussetzung für den Eintritt eines Versicherungsfalles, dass zunächst ein Anspruch auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung als Vollrente bestand222. Ist der Versicherungsfall wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung eingetreten und wird die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen Hinzuverdienstes nicht oder nur zu einem Anteil gezahlt (§ 96a SGB VI), wird auch die Rente aus der Zusatzversorgung nicht oder nur zu einem entsprechenden Anteil gezahlt (§ 12 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 41 Abs. 2 VBLS, § 39 Abs. 2 AKA-MS).

28.207

Die Rente aus der Zusatzversorgung ruht, solange die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung ganz oder teilweise versagt wird (§ 12 Abs. 3 ATV/ATV-K, § 41 Abs. 3 Buchst. a VBLS, § 39 Abs. 3 AKA-MS), zB bei fehlender Mitwirkung des Berechtigten (§ 66 SGB I) oder in Fällen des § 104 SGB VI (Minderung der Erwerbsfähigkeit bei einer Straftat)223.

28.208

Die Betriebsrente ruht auch, wenn der Berechtigte seinen Wohnsitz oder seinen Aufenthalt dauerhaft außerhalb eines Mitgliedstaates der Europäischen Union hat und trotz Aufforderung der Zusatzversorgungskasse keinen Empfangsbevollmächtigten im Inland bestellt (§ 12 Abs. 4 ATV/ATV-K, § 41 Abs. 3 Buchst. b VBLS, § 39 Abs. 4 AKA-MS).

28.209

Ein Ruhenstatbestand besteht auch, soweit ein Zusammentreffen der Rente aus der Zusatzversorgung mit Krankengeld aus der gesetzlichen Krankenversicherung vorliegt und soweit das Krankengeld bei einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nicht bereits gemäß § 96a Abs. 3 SGB VI auf die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung anzurechnen oder bei einer Rente wegen voller Erwerbsminderung oder Altersrente als Vollrente dem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zu erstatten ist (§ 12 Abs. 5 ATV/ATV-K, § 41 Abs. 4 VBLS, § 39 Abs. 5 AKA-MS). Übersteigt das Krankengeld eines Monats die Rente aus der Zusatzversorgung, wird der nicht angerechnete Teil auf die Betriebsrente der Folgemonate angerechnet224.

28.210

Für Hinterbliebenenrenten gelten die Vorschriften der gesetzlichen Rentenversicherung über das Zusammentreffen zwischen Rente und Einkommen entsprechend mit der Maßgabe, dass eventuelle Freibeträge sowie das Einkommen, das auf die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung angerechnet wird, unberücksichtigt bleiben (§ 12 Abs. 6 ATV/ATV-K, § 41 Abs. 5 VBLS, § 39 Abs. 6 AKA-MS). Dies betrifft im Wesentlichen die gesetzlichen Anrechnungsregelungen in § 97 SGB VI iVm. §§ 18a bis 18e SGB IV. Demgemäß wird Einkommen iSd. § 18a SGB IV (dh. nicht nur Arbeitsentgelte, sondern auch andere dort aufgeführte Leistungen) nach Abzug bestimmter Pauschalbeträge (§ 18b SGB IV) auf die Rente aus der Zusatzversorgung zu 40 % angerechnet, soweit es die in § 97 Abs. 2 SGB VI vorgesehenen Freibeträge übersteigt. Eine Doppelanrechnung von Einkommen, das bereits auf die gesetzliche Rentenversicherung angerechnet wurde, erfolgt nicht. In jedem Fall müssen dem Hinter-

28.211

222 Vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 12 ATV Erl. 3. 223 Vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 12 ATV Erl. 5. 224 Vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 12 ATV Erl. 7. Die Regelung des § 41 Abs. 4 VBLS hält nach einem Urteil des LG Karlsruhe v. 4.3.2011 – 6 S 13/10, BeckRS 2011, 22538, einer Inhaltskontrolle stand.

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§ 28 Rz. 28.211

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

bliebenen mindestens 35 % der Hinterbliebenenrente verbleiben (§ 12 Abs. 6 Buchst. b ATV/ ATV-K, § 41 Abs. 5 Buchst. b VBLS, § 39 Abs. 6 Buchst. b AKA-MS)225. f) Abfindung und Beitragserstattung aa) Abfindung

28.212 In § 22 Abs. 2 ATV/ATV-K ist vorgesehen, dass sog. Kleinstrenten, die einen Monatsbetrag von 30 Euro nicht überschreiten, von der Zusatzversorgungskasse auf der Grundlage entsprechender Satzungsregelungen abgefunden werden können. Darüber hinaus kann eine Abfindung ermöglicht werden, wenn die Kosten der Übermittlung der Betriebsrente übermäßig hoch sind. Einzelheiten zur Abfindung sind in § 43 VBLS in Verbindung mit den hierzu ergangenen Ausführungsbestimmungen sowie in § 41 der AKA-MS enthalten. Die Abfindungsmöglichkeit betrifft dabei generell nur die Renten aus der Pflichtversicherung, nicht Renten aus der freiwilligen Versicherung (s. Rz. 28.286 ff.), da bei Nutzung der sog. „Riester-Förderung“ im Rahmen der freiwilligen Versicherung durch eine Abfindung eine schädliche Verwendung gemäß § 93 EStG vorliegen würde226. Sowohl bei der VBL als auch nach der AKA-MS ist eine automatische Abfindung (ohne Antragserfordernis) vorgesehen, wenn die monatliche Rente den Monatsbetrag nach § 3 Abs. 2 BetrAVG (1 % der monatlichen Bezugsgröße gemäß § 18 SGB IV) nicht übersteigt227. Ansonsten kann eine Abfindung (auf Antrag) gezahlt werden, wenn die Übermittlungskosten unverhältnismäßig hoch sind. Erwerbsminderungsrenten (im Bereich der AKA auch Waisenrenten) werden allerdings generell nur auf Antrag abgefunden. Ein Antrag auf Abfindung kann nur innerhalb einer Ausschlussfrist von drei (bei der VBL) bzw. sechs (AKA-MS) Monaten nach Zugang der Entscheidung der Zusatzversorgungskasse über den Antrag auf Rente gestellt werden. Die Höhe der Abfindung wird berechnet, indem die Rente, die dem Berechtigten zum Zeitpunkt ihres Entstehens zustand, mit einem dem Lebensalter entsprechenden Altersfaktor multipliziert wird (vgl. die entsprechenden Tabellen zu § 43 VBLS bzw. § 41 AKA-MS, die zwischen der Abfindung des Versicherten selbst, Witwen/Witwer und Waisen unterscheiden). Nach Entstehen des Anspruchs auf Betriebsrente bereits gezahlte Leistungen werden auf die Abfindung angerechnet. Mit der Abfindung erlöschen alle Ansprüche und Anwartschaften aus der Versicherung bei der Zusatzversorgungskasse. 225 Diese Anrechnungsgrenze wurde durch die Tarifvertragsparteien erst durch den Änderungstarifvertrag Nr. 4 v. 22.6.2007 geschaffen. Sie beruht auf einem Urteil des BGH v. 20.9.2006 (IV ZR 304/04, NJW 2006, 3774 = BetrAV 2007, 182, mit dem der BGH festgestellt hatte, dass die Ruhensbestimmung in ihrer bisherigen Fassung gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße, wenn die Anrechnung von Einkommen zu einem vollständigen Ruhen der Rente führe. Der allgemeine Gleichheitssatz gebiete es, dem überlebenden Ehegatten wenigstens einen Rest des vom verstorbenen Ehegatten erdienten Versorgungsanspruchs zu belassen. Vgl. hierzu Wein, BetrAV 2007, 537 (540). Die rückwirkend zum 1.1.2007 in Kraft getretene Neuregelung des § 41 Abs. 5 VBLS hält nach einem Urteil des LG Karlsruhe v. 28.11.2008 – 6 O 113/08, BeckRS 2009, 9326 nunmehr einer Inhaltskontrolle stand. Dies hat auch der BGH mit Urteil v. 24.2.2010 – IV ZR 7/09, NVwZRR 2010, 689 bestätigt. 226 Vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 22 ATV Erl. 3. In den allgemeinen Versicherungsbedingungen für die freiwillige Versicherung sind insoweit eigenständige, eingeschränkte Abfindungsregelungen enthalten. 227 Diese Abfindungsregelungen sind nicht zu beanstanden, vgl. BGH v. 25.11.2009 – IV ZR 340/07, NZA-RR 2010, 208.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.213 § 28

bb) Beitragserstattung Ein Anspruch auf Beitragserstattung besteht für beitragsfrei Versicherte (s. Rz. 28.169 f.), welche die Wartezeit von 60 Umlage-/Beitragsmonaten (s. Rz. 28.178 ff.) nicht erfüllt haben (§ 24 ATV/ATV-K, § 44 VBLS, § 42 Abs. 2–4 AKA-MS). Eine Beitragserstattung erfolgt nur auf Antrag228 des beitragsfrei Versicherten, der nur bis zur Vollendung des 69. Lebensjahres gegenüber der Zusatzversorgungskasse gestellt und nicht widerrufen werden kann. Wurde der Antrag nicht zu Lebzeiten durch den Versicherten gestellt, kann die Antragstellung nach dessen Tod nicht durch die Hinterbliebenen nachgeholt werden; es erfolgt in einem solchen Fall keine Beitragserstattung229. Stirbt demgegenüber der Versicherte nach Stellung des Antrags, aber vor tatsächlicher Durchführung der Beitragserstattung, geht der Anspruch nicht auf die Erben, sondern auf die Hinterbliebenen über, die betriebsrentenberechtigt sind (§ 24 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 44 Abs. 2 VBLS; § 42 Abs. 3 AKA-MS). Mit der Zahlung an einen der Hinterbliebenen erlischt der Anspruch der übrigen Berechtigten gegen die Zusatzversorgungskasse. Der Antrag auf Beitragserstattung erstreckt sich auf die vom Versicherten selbst getragenen Beiträge, dies sind die für die Zeit vor dem 1.1.1978 entrichteten Pflichtbeiträge einschließlich der Arbeitnehmeranteile an den Erhöhungsbeträgen, die für die Zeit nach dem 31.12.1977 entrichteten Arbeitnehmeranteile an den Erhöhungsbeträgen, die für die Zeit vor dem 1.1.2002 entrichteten Beiträge zur freiwilligen Weiterversicherung sowie die für die Zeit nach dem 31.12.1998 entrichteten Eigenanteile der Pflichtversicherten an der Umlage (§§ 16, 37, 37a ATV/ATV-K)230. Von der Erstattung nicht erfasst werden die vom Arbeitgeber getragenen Umlagezahlungen oder Beiträge im Kapitaldeckungsverfahren sowie Arbeitnehmerbeiträge zum Kapitaldeckungsverfahren der Pflichtversicherung231. Ist gemäß § 1b Abs. 3 iVm. Abs. 1 und § 30f BetrAVG eine unverfallbare Anwartschaft nach dem BetrAVG entstanden und gilt deshalb die Wartezeit gemäß § 34 Abs. 4 Satz 2 VBLS als erfüllt, kann eine Beitragserstattung gemäß § 44 VBLS nicht mehr verlangt werden. Es wird dann bei Eintritt eines Versicherungsfalles die entsprechende Rente gezahlt232. Da es sich bei § 1b BetrAVG um zwingendes Recht handelt, gilt dies auch für die Zusatzversorgungskassen der AKA. 228 Die VBL ist im Zusammenhang mit der Stellung eines Antrags auf Beitragserstattung nicht verpflichtet, von sich aus die einzelnen Versicherungsverhältnisse zu überwachen und die Versicherten jeweils auf die Möglichkeiten der Gestaltung der Versicherung hinzuweisen oder von nachteiligen Entscheidungen (auch im Hinblick auf die vom Arbeitgeber erteilte Versorgungszusage) abzuhalten, vgl. LG Karlsruhe v. 24.10.2008 – 6 O 148/08, BeckRS 2009, 4413. 229 Vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 24 ATV Erl. 2; Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 92; LG Karlsruhe v. 28.11.2008 – 6 S 37/08, BeckRS 2009, 11742, bestätigt durch BGH v. 14.4.2010 – IV ZR 90/09, NVwZ-RR 2010, 722. 230 In den neuen Bundesländern bestanden solche Eigenanteile an der Umlage nur in der Zeit vom 1.1.2003 bis zum 31.12.2003 (vgl. für die VBL § 64 Abs. 3 VBLS), ab dieser Zeit erfolgt die schrittweise Umstellung auf eine Kapitaldeckung, der Arbeitnehmeranteil an der Finanzierung wird seither als Beitrag zur Kapitaldeckung gezahlt (vgl. für die VBL § 66a VBLS). 231 Aus den Arbeitnehmerbeiträgen zum Kapitaldeckungsverfahren entstehen sofort unverfallbare Anwartschaften, für die keine Wartezeit erfüllt werden muss und die zu einer anteiligen Betriebsrente führen (vgl. § 34 Abs. 4 VBLS, § 32 Abs. 4 AKA-MS), so dass hierfür eine Beitragserstattung ausscheidet. Dies betrifft insbesondere die ab 1.1.2004 bei der VBL im Abrechnungsverband Ost anfallenden Arbeitnehmerbeiträge zum Kapitaldeckungsverfahren. 232 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die gesetzliche Unverfallbarkeitsfrist ab dem 1.1.2018 von bisher fünf auf drei Jahre verkürzt wurde.

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28.213

§ 28 Rz. 28.213

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Die Beiträge werden ohne Zinsen erstattet (§ 24 Abs. 1 Satz 4 ATV/ATV-K, § 44 Abs. 1 Satz 4 VBLS, § 42 Abs. 2 Satz 4 AKA-MS). Rechte aus der Versicherung für Zeiten, für die Beiträge erstattet werden, erlöschen mit der Antragstellung. g) Erlöschen des Anspruchs auf Betriebsrente

28.214 Die Tatbestände, die zu einem vollständigen Erlöschen des jeweiligen Anspruchs auf Betriebsrente aus der Zusatzversorgung führen, sind in § 13 ATV/ATV-K, § 42 VBLS, § 40 AKA-MS enthalten. Im Gegensatz zu den Fällen eines Ruhens oder der Nichtzahlung der Betriebsrente (s. Rz. 28.205 ff.), bei denen die Rente lediglich für eine bestimmte Zeit nicht geltend gemacht werden kann, führt das Erlöschen zum dauerhaften Wegfall des jeweiligen Betriebsrentenanspruchs dem Grunde nach. Eines rechtsgestaltenden Tätigwerdens der jeweiligen Zusatzversorgungskasse bedarf es insoweit bei Vorliegen der jeweiligen Merkmale nicht233. Das Erlöschen des Anspruchs aus der Zusatzversorgung tritt mit Ablauf des Monats ein, – in dem der jeweilige Betriebsrentenberechtigte gestorben ist, – für den bei Erwerbsminderung die Rente nach § 43 bzw. § 240 SGB VI letztmals gezahlt worden ist oder – der in den Fällen einer Überleitung der Versicherung auf eine andere Zusatzversorgungskasse dem Monat vorangeht, von dessen Beginn an die Zusatzversorgungskasse, auf welche die Versorgung übergeleitet wurde, zur Zahlung verpflichtet ist. Für Witwen/Witwer/Lebenspartner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft erlischt der Anspruch auf Rente im Übrigen mit Ablauf des Monats der Wiederverheiratung. Für das Wideraufleben der Witwen-/Witwerrente gilt § 46 Abs. 3 SGB VI entsprechend, dh., der Rentenanspruch kann bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen wieder aufleben, wenn die erneute Ehe/Lebenspartnerschaft aufgelöst oder für unwirksam erklärt wird. h) Verfahren aa) Antrag/Entscheidung/Zahlung

28.215 Alle Leistungen werden durch die jeweilige Zusatzversorgungskasse nur auf schriftlichen Antrag des jeweiligen Begünstigten gezahlt, dieser Antrag ist bei Pflichtversicherten über den Arbeitgeber einzureichen, bei dem der Pflichtversicherte zuletzt in dem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden hat (§ 5 Satz 3 ATV/ATV-K, § 46 Abs. 1 VBLS, § 45 Abs. 1 AKA-MS). Dem Antrag sind die von der Zusatzversorgungskasse geforderten Unterlagen und Nachweise beizufügen (insbesondere also zB der entsprechende Bescheid des Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung).

28.216 Die Zusatzversorgungskasse entscheidet schriftlich über den jeweiligen Antrag. Wird die Leistung erbracht, teilt sie deren Berechnung und Beginn mit, wird eine Leistung abgelehnt (oder eine Betriebsrente eingestellt), ist dies zu begründen (§ 46 Abs. 2 VBLS, § 46 Abs. 1 AKA-MS).

28.217 Die (laufende) Rente aus der Zusatzversorgung wird monatlich im Voraus auf ein Girokonto des Berechtigten innerhalb eines Mitgliedstaates der Europäischen Union überwiesen. Ei233 Vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 13 ATV Erl. 1; Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 83.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.221 § 28

ne Barzahlung ist ausgeschlossen. Hat der Berechtigte seinen Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt außerhalb eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, kann die Zahlung der Rente von der Bestellung eines Empfangsbevollmächtigten im Inland abhängig gemacht werden (§ 22 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 47 Abs. 1 VBLS, § 47 Abs. 1, 3 AKA-MS). Die Kosten der Überweisung auf ein Konto im Inland oder in einem Mitgliedstaat der EU mit Ausnahme der Kosten der Gutschrift trägt die Zusatzversorgungskasse. Grundsätzlich werden die Renten aus der Zusatzversorgung für volle Monate gezahlt. Besteht allerdings der Betriebsrentenanspruch nicht für einen vollen Kalendermonat (zB bei einem Fall des Ruhens oder der Nichtzahlung), wird der Teil gezahlt, der auf den Anspruchszeitraum entfällt (§ 22 Abs. 1 Satz 3 ATV/ATV-K, § 47 Abs. 2 VBLS, § 47 Abs. 1 Satz 3 AKA-MS). Von der Zusatzversorgungskasse sind von der Betriebsrente die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung und Pflegeversicherung der Rentner einzubehalten und an die Sozialversicherungsträger abzuführen (soweit eine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken-/ Pflegeversicherung besteht). Die Beiträge sind jeweils von den Rentnern alleine zu tragen (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 11, § 226 Abs. 1 Nr. 3, § 229 Abs. 1 Nr. 5, § 250 Abs. 1, § 256 SGB V; § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 11, § 57 Abs. 1, § 59 Abs. 1, § 60 Abs. 1 SGB XI).

28.218

bb) Pflichten der Versicherten (Anzeigepflichten, Rückzahlungspflicht, Abtretungsverbot, Schadensersatz gegen Dritte) Die Versicherten sind verpflichtet, der Zusatzversorgungskasse alle für die Prüfung des An- 28.219 spruchs auf Betriebsrente notwendigen Angaben zu machen und die erforderlichen Nachweise beizubringen (§ 20 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 48 VBLS, § 48 AKA-MS). Dies betrifft alle für den Anspruch auf Betriebsrente dem Grunde oder der Höhe nach relevanten Umstände. Die Satzungen der Zusatzversorgungskassen enthalten insoweit Einzelheiten zur Konkretisierung dieser Pflicht (vgl. § 48 VBLS, § 48 AKA-MS). Grundsätzlich sind zB unaufgefordert Angaben zu machen über jede Änderung der Anschrift sowie Umstände, die den Anspruch auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung betreffen und damit auch mittelbar den Anspruch auf Betriebsrente aus der Zusatzversorgung (wie zB Versagung oder Beendigung der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, Änderungen bezüglich einer Erwerbsminderung, den Bezug von Arbeitseinkommen oder Lohnersatzleistungen, die Wiederverheiratung bei Witwen/Witwern oder bei Waisen nach Vollendung des 18. Lebensjahres den Abschluss der Ausbildung etc.). Darüber hinaus sind Versicherte sowie Betriebsrentenberechtigte auf Anforderung der Zusatzversorgungskasse verpflichtet, innerhalb einer von der Zusatzversorgungskasse gesetzten Frist Auskünfte zu erteilen und Nachweise (zB Lebensbescheinigungen) vorzulegen. Solange ein Versicherter oder Betriebsrentenberechtigter diesen Anzeigepflichten nicht nach- 28.220 kommt, ist die Zusatzversorgungskasse berechtigt, die Betriebsrente zurückzubehalten (§ 20 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 48 Abs. 3 VBLS, § 48 Abs. 3 AKA-MS). Ohne Rechtsgrund bezogene Leistungen sind an die Zusatzversorgungskasse in Höhe ihres Brutto-Betrages zurückzuzahlen oder werden von der Kasse mit zukünftigen Leistungen verrechnet (§ 20 Abs. 5 ATV/ATV-K, § 53 VBLS, § 47 Abs. 4 AKA-MS). Auf den Wegfall der Bereicherung (§ 818 Abs. 3 BGB) kann sich ein Versicherter oder Betriebsrentenberechtigter dabei nicht stützen, wenn er seine Anzeige- und Nachweispflichten verletzt hat234. 234 Vgl. zur Korrektur von Rentenmitteilungen und allgemein zur Rückzahlungspflicht LG Karlsruhe v. 19.9.2008 – 6 S 48/07, BeckRS 2009, 12068: § 53 VBLS ist auch auf andere als die dort ausdrück-

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28.221

§ 28 Rz. 28.222

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

28.222 Eine Abtretung, Verpfändung oder Beleihung der Ansprüche auf Betriebsrente durch den Berechtigten ist ausgeschlossen (§ 20 Abs. 3 ATV/ATV-K, § 49 VBLS, § 50 AKA-MS). Nach den Kassensatzungen zulässig bleiben allerdings Abtretungen an den Arbeitgeber, über den der Berechtigte pflichtversichert ist, sowie Abtretungen an eine andere Zusatzversorgungskasse, die an der Überleitung von Versicherungen zwischen den Zusatzversorgungskassen teilnimmt. Von dem Abtretungsverbot ebenfalls unberührt bleibt die Pfändbarkeit der Rente aus der Zusatzversorgung wie Arbeitseinkommen gemäß den §§ 850 ff. ZPO.

28.223 Ist ein Versicherungsfall aus der Zusatzversorgung durch235 ein Verhalten Dritter verursacht worden, sind demgegenüber der Versicherte oder die versorgungsberechtigten Hinterbliebenen verpflichtet, die gegenüber dem Dritten bestehenden Schadensersatzansprüche bis zur Höhe des Bruttobetrages der Betriebsrente an die Zusatzversorgungskasse abzutreten. Dies gilt gleichermaßen für den Fall, dass durch ein schadensersatzpflichtiges Verhalten eine Erhöhung einer Leistung der Zusatzversorgung eingetreten ist (§ 20 Abs. 4 ATV/ATV-K, § 50 VBLS, § 49 AKA-MS). Der Übergang kann nicht zum Nachteil der anspruchsberechtigten Person geltend gemacht werden, dh., wenn die Schadensersatzansprüche nicht zur vollständigen Befriedigung der Zusatzversorgungskasse und etwaiger weitergehender Ansprüche des Berechtigten ausreichen, findet eine gleichmäßige Aufteilung des Schadensersatzes zwischen der Zusatzversorgungskasse und dem Berechtigten statt236. Verweigern die anspruchsberechtigten Personen die Abtretung oder die Beibringung von zur Geltendmachung des Schadensersatzanspruches erforderlichen Unterlagen, steht der Zusatzversorgungskasse ein Zurückbehaltungsrecht zu. cc) Versicherungsnachweise

28.224 Pflichtversicherte erhalten jeweils nach Ablauf eines Kalenderjahres sowie bei Beendigung der Pflichtversicherung von der Zusatzversorgungskasse einen schriftlichen Nachweis über ihre bisher insgesamt erworbene Anwartschaft auf Betriebsrente wegen Alters (§ 21 Abs. 1 ATV/ ATV-K, § 51 Abs. 1 VBLS, § 51 Abs. 1 AKA-MS). Dabei sind neben der Höhe der Anwartschaft auch die Anzahl der bisher erworbenen Versorgungspunkte (einschließlich der Versorgungspunkte aus den sozialen Komponenten sowie der jeweils zugeteilten Bonuspunkte) sowie der Messbetrag (von 4 Euro) anzugeben.

28.225 Unbedingt zu beachten ist, dass Beanstandungen gegen den Versicherungsnachweis (bzw. die darin enthaltenen Feststellungen) nur innerhalb einer Ausschlussfrist von sechs Monalich geregelten Überzahlungstatbestände anwendbar. Die Zusatzversorgungskasse hat jedoch für eine Rückforderung überzahlter Leistungen im Rahmen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) in Anlehnung an die Grundsätze des § 48 VwVfG eine Gesamtabwägung aller zu berücksichtigender Umstände vorzunehmen. Das Vertrauen der Versicherten, eine bereits gewährte Rente behalten zu dürfen, sei dabei in der Regel schutzwürdig, wenn die gewährten Leistungen bereits verbraucht wurden. Dies wird aber wohl in dem ausdrücklich geregelten Fall, dass der Versicherte/Betriebsrentenberechtigte seine Anzeige- und Nachweispflichten verletzt hat, nicht gelten können. Vgl. auch LG Karlsruhe v. 17.7.2009 – 6 O 186/08, BeckRS 2009, 23669; v. 25.9.2009 – 6 O 190/08, BeckRS 2009, 26175. Zur Rückforderung zu viel gezahlter Renten allgemein und zur Verjährung des Rückforderungsanspruchs vgl. auch LG Karlsruhe v. 17.12.2010 – 6 S 5/10. 235 Erforderlich ist ein ursächlicher Zusammenhang, dieser besteht nicht bzw. fällt wieder weg, wenn die Zusatzversorgungskasse auch ohne das schädigende Ereignis eine Leistungspflicht treffen würde, zB ab Erreichen der Regelaltersgrenze (vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 20 ATV Erl. 4). 236 Vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 20 ATV Erl. 4.

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Betz-Rehm

Die Pflichtversicherung

Rz. 28.228 § 28

ten nach Zugang des Versicherungsnachweises geltend gemacht werden können (§ 21 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 51 Abs. 2 VBLS, § 51 Abs. 2, 3 AKA-MS, s. hierzu nachfolgend Rz. 28.226 ff.). In die Versicherungsnachweise ist ein Hinweis auf diese Ausschlussfrist aufzunehmen. Erfolgt der Versicherungsnachweis im Zusammenhang mit einer Beendigung der Pflichtversicherung, ist weiterhin anzugeben, dass die aufgrund der Pflichtversicherung erworbene Anwartschaft bis zum Beginn einer erneuten Pflichtversicherung oder bis zum Eintritt eines Versicherungsfalles nicht dynamisiert wird, wenn die Wartezeit von 120 Beitrags-/Umlagemonaten (gemäß § 19 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 68 Abs. 1 VBLS, § 66 Abs. 3 AKA-MS) nicht erfüllt ist. dd) Ausschlussfristen Ausschlussfristen dienen dem Zweck, innerhalb angemessener Frist Klarheit darüber zu schaffen, ob und in welcher Höhe Ansprüche geltend gemacht werden können. Außerdem ist eine Aufklärung anspruchsrelevanter Tatsachen zeitnah zu ihrem Entstehen regelmäßig besser zu bewerkstelligen als nach Ablauf einer längeren Zeitspanne, wenn bestimmte Tatsachen eventuell nicht mehr eindeutig aufgeklärt werden können. Ausschlussfristen haben eine materiellrechtliche Wirkung. Sie bewirken, dass nach ihrem Verstreichen ein Anspruch nicht mehr geltend gemacht werden kann. Es handelt sich um eine Einwendung, die im Falle eines Prozesses (anders als die Einrede der Verjährung) von Amts wegen zu berücksichtigen ist.

28.226

Im Zusammenhang mit den Versicherungsnachweisen sind zwei wichtige Ausschlussfristen in § 21 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 51 Abs. 2 VBLS; § 51 Abs. 2, 3 AKA-MS enthalten:

28.227

– Will ein pflichtversicherter Beschäftigter geltend machen, dass die vom Arbeitgeber zu entrichtenden Beiträge oder die vom Arbeitgeber zu meldenden Entgelte nicht oder nicht vollständig an die Zusatzversorgungskasse abgeführt oder gemeldet wurden, muss er dies unter Einhaltung einer Ausschlussfrist von sechs Monaten nach Zugang des betreffenden Versicherungsnachweises gegenüber dem Arbeitgeber schriftlich beanstanden. – Beanstandungen hinsichtlich der im Versicherungsnachweis ausgewiesenen Bonuspunkte sind innerhalb von sechs Monaten nach Zugang des Versicherungsnachweises schriftlich unmittelbar gegenüber der Zusatzversorgungskasse geltend zu machen237. Zwei weitere materielle Ausschlussfristen sind in § 23 ATV/ATV-K, § 52 VBLS, § 52 AKAMS enthalten238. Beide Ausschlussfristen setzen allerdings voraus und beginnen nur zu laufen, 237 Nachdem die VBL bezüglich der Zuteilung von Bonuspunkten eine Vielzahl von Einsprüchen gegen die Versicherungsnachweise 2004 und 2005 erreichten und zu dieser Frage Gerichtsverfahren anhängig wurden, hatte sich die VBL auf Basis eines Verwaltungsratsbeschlusses v. 30.11.2006 bereit erklärt, hinsichtlich der Versicherungsnachweise für 2004 und 2005 in der Frage der Vergabe von Bonuspunkten auf die Einhaltung der sechsmonatigen Ausschlussfrist für die Beanstandung dieser Versicherungsnachweise sowie auf die Einrede der Verjährung zu verzichten (vgl. VBL Info Ausgabe 2/Dezember 2006, abrufbar unter www.vbl.de/Service/Downloadcenter/Veröffentlichun gen/VBLinfo). 238 Die Ausschlussfristregelung des § 52 VBLS ist (auch in Verbindung mit dem Antragserfordernis des § 33 VBLS) nicht zu beanstanden. Sie beruht auf einer maßgebenden Grundentscheidung der Tarifparteien und unterliegt insoweit nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle, vgl. LG Karlsruhe v. 25.8.2008 – 6 T 12/08, BeckRS 2008, 21316; ebenso LG Karlsruhe v. 11.6.2010 – 6 O 154/09; ebenso OLG Karlsruhe v. 20.9.2018 – 12 U 28/18, BeckRS 2018, 23331 = VersR 2019, 188: § 52 VBLS ist rechtswirksam.

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28.228

§ 28 Rz. 28.228

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

wenn in der jeweiligen Mitteilung über die Leistung auf die Ausschlussfrist hingewiesen wurde: – Gemäß § 23 Satz 1 ATV/ATV-K, § 52 Satz 1 VBLS, § 52 Abs. 1 AKA-MS kann der Anspruch auf Betriebsrente für einen Zeitraum, der mehr als zwei Jahre vor dem Ersten des Monats liegt, in dem der Antrag auf Betriebsrente bei der Zusatzversorgungskasse eingegangen ist, nicht mehr geltend gemacht werden239. Gleiches gilt bezüglich der Mitteilung eines Berechtigten, die zu einem höheren Anspruch führt (zB Mitteilung des Wechsels von einer teilweisen zu einer vollen Erwerbsminderung, Mitteilung von Tatsachen, die Auswirkungen auf Ruhenstatbestände haben). Der Antrag bzw. die Mitteilung ist jeweils unmittelbar an die Zusatzversorgungskasse zu richten. – Gemäß § 23 Satz 3 ATV/ATV-K, § 52 Satz 3 VBLS, § 52 Abs. 2 AKA-MS kann eine Beanstandung, dass die mitgeteilte laufende monatliche Betriebsrente, eine Rentennachzahlung, eine Abfindung, eine Beitragserstattung oder eine Rückzahlung nicht oder nicht in der mitgeteilten Höhe erfolgt sei, nur schriftlich innerhalb einer Ausschlussfrist von einem Jahr gegenüber der Zusatzversorgungskasse geltend gemacht werden. Diese Frist beginnt bei laufenden Renten mit dem Ersten des Monats, für den die Betriebsrente zu zahlen ist, ansonsten mit dem Zugang der Mitteilung über die entsprechende Leistung. Allerdings sind Ausschlussfristen in Versicherungsverträgen, die auf die Untätigkeit des Versicherungsnehmers binnen bestimmter Frist abstellen, nach ständiger Rechtsprechung des BGH unter Berücksichtigung der Grundsätze von Treu und Glauben im Interesse des sorgfältigen Versicherungsnehmers einschränkend auszulegen. Der Versicherer kann sich hiernach auf die Versäumung einer Ausschlussfrist nicht berufen, wenn den Versicherungsnehmer an der Fristversäumung, was Letzterer zu beweisen hat, kein Verschulden trifft. Dieser allgemeine Grundsatz des Versicherungsrechts ist auch hinsichtlich der Fristen des § 52 VBLS auf das Verhältnis zwischen der VBL und den bei ihr Versicherten übertragbar240.

28.229 Hinsichtlich der Überleitung der früheren Gesamtversorgung in das Punktemodell und der in diesem Zusammenhang erteilten Startgutschriften enthalten § 32 Abs. 5 ATV/ATV-K; § 78 Abs. 3 VBLS, § 72 Abs. 3 AKA-MS eine sechsmonatige Ausschlussfrist zur Geltendmachung von Beanstandungen gegen die mitgeteilte Startgutschrift (hierzu sowie zur Problematik der fehlenden Eindeutigkeit des Hinweises im Zusammenhang mit der Mitteilung der Startgutschriften durch die VBL s. Rz. 28.242).

28.230 Aus Arbeitgebersicht ist schließlich zu berücksichtigen, dass der Anspruch des Arbeitgebers auf Einbehaltung des Arbeitnehmerbeitrags zur Zusatzversorgung einen Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis darstellt, welcher der Ausschlussfrist von sechs Monaten nach Fälligkeit gemäß § 37 TVöD/TVL unterliegt241.

239 Dies kann insbesondere solche Fälle betreffen, in denen eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung (ggf. nach einem Rechtsstreit mit dem gesetzlichen Rentenversicherungsträger) rückwirkend gewährt wird. 240 OLG Karlsruhe v. 20.9.2018 – 12 U 28/18, BeckRS 2018, 23331 = VersR 2019, 188; BGH v. 20.7.2011 – IV ZR 180/10, VersR 2011, 1173; v. 16.6.2010 – IV ZR 226/07, VersR 2010, 1025; Gilbert/Hesse, § 52 VBLS Rz. 3. 241 Vgl. Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 23 ATV Erl. 1.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.232 § 28

3. Übergangsvorschriften im Zusammenhang mit der Umstellung auf das Punktemodell a) Überblick zur Systemumstellung Zwischen den Tarifvertragsparteien bestand im Rahmen der Verhandlungen zur Ablösung 28.231 des bisherigen Gesamtversorgungssystems von Anfang an Einigkeit darüber, eine komplette Umstellung des Systems vorzunehmen, also alle Rentner und aktiven Beschäftigten in das neue System zu überführen. Es sollte vermieden werden, dass über Jahrzehnte hinweg das bisherige System mit seinen unvermeidlichen Übergangs- und Verwaltungsproblemen neben dem neuen Punktemodell vorgehalten werden muss. Insbesondere bestand die Problematik, dass bei Beibehaltung des alten Rechts für den vorhandenen Bestand u.a. die genannte Halbanrechnungsentscheidung des BVerfG242 hätte umgesetzt werden müssen (s. Rz. 28.26). Der Aufwand hierfür wäre nicht vertretbar gewesen. Mit den Regelungen der §§ 30 bis 34 ATV/ATV-K setzten die Tarifvertragsparteien diese Zielsetzung konsequent um und sahen detaillierte Regelungen zur Überführung des bisherigen Gesamtversorgungssystems auf das neue Punktemodell vor. Diese Regelungen wurden in die Neufassungen der Satzungen der Zusatzversorgungseinrichtungen fast unverändert übernommen (vgl. §§ 75 bis 81 VBLS sowie §§ 69 bis 74 AKA-MS). Das neue Punktemodell wurde mit Wirkung zum 1.1.2001 eingeführt. Dabei wurde das Jahr 2001 aus verwaltungstechnischen Gründen als Übergangszeitraum berücksichtigt, während dessen sich die Anwartschaften und Renten noch nach dem alten System entwickelten. Faktisch wurde das bisherige Gesamtversorgungssystem daher erst zum 31.12.2001 geschlossen243 und in das neue Punktemodell überführt. Im Rahmen der Überleitung auf das Punktemodell sind dabei vier Personengruppen zu unterscheiden: die Bezieher laufender Versorgungsleistungen (Versorgungsrenten, Versicherungsrenten), die sog. rentennahen Jahrgänge, die rentenfernen Jahrgänge und schließlich die bisher beitragsfrei Versicherten. Die Gruppe der Bezieher von Versorgungsleistungen umfasste ca. 1,6 Millionen Versicherte. Deren laufende Bestandsrenten (mit Rentenbeginn vor oder am 1.1.2002) werden grundsätzlich als Besitzstandsrente weitergezahlt (§§ 30, 31 ATV/ATV-K, §§ 75 bis 77 VBLS, §§ 69 bis 71 AKA-MS). Die Gruppe der rentennahen Jahrgänge umfasste – AKA und VBL zusammengerechnet – ca. 600 000 Versicherte. Die Anwartschaften dieser Versicherten werden weitestgehend nach den Grundsätzen des ehemaligen Gesamtversorgungssystems ermittelt (vgl. § 33 Abs. 2 ATV/ ATV-K, § 79 Abs. 2 VBLS, § 73 Abs. 2 AKA-MS). Die Gruppe der rentenfernen Jahrgänge setzte sich demgegenüber aus den jüngeren Mitarbeitern zusammen und repräsentierte mit 4,8 Millionen Versicherten bei den AKA-Mitgliedskassen und der VBL den weitaus größeren Teil. Deren Startgutschriften wurden gemäß 242 BVerfG v. 22.3.2000 – 1 BvR 1136/96, NJW 2000, 3341 (= AP Nr. 27 zu § 18 BetrAVG). 243 Vgl. BGH v. 16.12.2009 – IV ZR 17/06, NVwZ-RR 2010, 325: Es liegt keine unzulässige Rückwirkung darin, dass die Systemumstellung bereits mit Wirkung zum Ablauf des 31.12.2001 vorgenommen wurde, auch wenn die entsprechenden Satzungsänderungen der Zusatzversorgungskassen erst zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht wurden. Denn die Tarifvertragsparteien hatten sich schon vor dem Umstellungsstichtag am 13.11.2001 im sog. Altersvorsorgeplan auf die Systemumstellung geeinigt und dies auch ausreichend öffentlich gemacht. Insofern war ein schutzwürdiges Vertrauen der Versicherten darauf, dass die Regeln der alten Satzung über den 31.12.2001 hinaus Bestand hätten, nicht mehr begründet.

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28.232

§ 28 Rz. 28.232

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

§ 33 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 1 VBLS, § 73 Abs. 1 AKA-MS auf der Grundlage des § 18 Abs. 2 BetrAVG berechnet244. Die am 1.1.2002 beitragsfrei Versicherten (ca. 3,8 Millionen Versicherte) hatten nach dem bisherigen Recht keine Anwartschaft auf Versorgungsrente (Gesamtversorgung), sondern nur eine Anwartschaft auf eine statische Versicherungsrente (§§ 34, 37 Abs. 1 Buchst. b, §§ 44, 44a VBLS aF245). Für diese Personengruppe wurde die Anwartschaft auf Versicherungsrente in eine Startgutschrift umgewandelt (vgl. § 34 ATV/ATV-K, § 80 VBLS, § 74 AKA-MS). b) Grundsätzliche Rechtmäßigkeit der Systemumstellung

28.233 Die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der Systemumstellung vom bisherigen Gesamtversorgungssystem zum neuen Punktemodell durch Tarifvertrag wird in der überwiegenden Literatur246 und der Rechtsprechung247 nicht in Zweifel gezogen. Das BVerfG selbst hatte in der Halbanrechnungsentscheidung248 einen Systemwechsel angemahnt. Einer gesetzlichen Grundlage bedurfte es für die Systemumstellung nicht249. Bei der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes handelt es sich um eine Versorgung im Wege einer privatrechtlichen Versicherung (vgl. § 2 VBLS) und nicht um eine vom Gesetzgeber delegierte Aufgabe; die Zusatzversorgungseinrichtungen treten nicht als Träger öffentlicher Gewalt auf250. Darüber hinaus beruht die Zusatzversorgung – insbesondere die detaillierten Regelungen zur Systemumstellung – auf Tarifrecht, das dem Schutz der Tarifautonomie des Art. 9 Abs. 3 GG untersteht251. Es ist insoweit in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, 244 Hügelschäffer, BetrAV 2004, 354 (355). 245 Abgedruckt bei Gilbert/Hesse. 246 Weitere Hinweise zB bei Hügelschäffer, BetrAV 2004, 354 (355); Hügelschäffer, BetrAV 2008, 254; Rengier, NZA 2004, 817 (818); Wein, BetrAV 2006, 331; Wein, BetrAV 2007, 537. 247 Nachdem bereits das LG Karlsruhe in erster Instanz sowie auch das OLG Karlsruhe in 2. Instanz die Systemumstellung an sich für zulässig erklärt hatten, vgl. LG Karlsruhe v. 30.1.2004 – 6 O 197/03, EzBAT § 33 Abs. 2 ATV Nr 1; v. 30.1.2004 – 6 O 125/03, EzBAT § 33 Abs. 2 ATV Nr. 2 (die Entscheidungen des LG Karlsruhe sind auch auf dessen Homepage www.landgericht-karls ruhe.de veröffentlicht); OLG Karlsruhe v. 22.9.2005 – 12 U 99/04, ZTR 2005, 588–593 = EzBAT § 3 Abs. 2 ATV Nr 3; v. 24.11.2005 – 12 U 102/04; v. 7.12.2006 – 12 U 91/05 (die Entscheidungen des OLG Karlsruhe sind auch auf dessen Homepage www.olgkarlsruhe.de veröffentlicht), hat zwischenzeitlich auch der BGH durch Urteil v. 14.11.2007 – IV ZR 74/06, NVwZ 2008, 455, die Systemumstellung als solche ausdrücklich gebilligt. Auch das BAG hatte bereits zuvor durch Urteil v. 27.3.2007 – 3 AZR 299/06, NZA-RR 2008, 82, die Systemumstellung nicht beanstandet. Ebenso zur grundsätzlichen Zulässigkeit der Systemumstellung bei einer kirchlichen Zusatzversorgungskasse BAG v. 19.8.2008 – 3 AZR 383/06 NZA 2009, 1275; zur Systemumstellung bei der kirchlichen Zusatzversorgungskasse ebenfalls OLG Hamm v. 25.2.2011 – 20 U 103/10; zur Systemumstellung bei der Zusatzversorgungskasse der Landesbank Baden-Württemberg BGH v. 11.5.2011 – IV ZR 105/09, NVwZ-RR 2011, 828. 248 BVerfG v. 22.3.2000 – 1 BvR 1136/96, NJW 2000, 3341 = AP Nr. 27 zu § 18 BetrAVG. 249 Hügelschäffer, Die Startgutschriften der Zusatzversorgungseinrichtungen des öffentlichen und kirchlichen Dienstes auf dem Prüfstand, BetrAV 2004, 354 (355); BAG v. 27.3.2007 – 3 AZR 299/06, NZA-RR 2008, 82 = AP Nr. 68 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen; OLG Karlsruhe v. 7.12.2006 – 12 U 91/05, ZTR 2007, 317; aA noch Kühn/Kontusch, BetrAV 2004, 283 (285). 250 BVerfG v. 22.3.2000 – 1 BvR 1136/96, NJW 2000, 3341 = AP Nr. 27 zu § 18 BetrAVG. 251 Sowohl der BGH als auch das BAG haben in den genannten Entscheidungen festgehalten, dass die Systemumstellung eine von den Tarifvertragsparteien getroffene Grundentscheidung sei, die von den Gerichten als solche grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden dürfe. Dies gebiete

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.235 § 28

dass eine auf Tarifvertrag beruhende Versorgung durch nachfolgenden Tarifvertrag auch zu Lasten der Versorgungsberechtigten wieder geändert werden kann252. Es gilt das Ablösungsprinzip253. Die bisher geltenden Tarifverträge (Versorgungs-TV und VersTV-G) sind zum 1.1.2001 außer Kraft getreten (§ 40 Abs. 3 ATV, § 39 Abs. 3 ATV-K). Der ATV bzw. ATV-K ist an deren Stelle getreten. Auch das Satzungsrecht der Zusatzversorgungseinrichtungen konnte insoweit nicht zuletzt aufgrund des in den Satzungen enthaltenen Änderungsvorbehalts (vgl. § 14 Abs. 1, 3 VBLS aF und nF; § 2 Abs. 3 AKA-MS) auch mit Wirkung für bestehende Versicherungen geändert werden254. Allerdings sind die Änderungen einer Rechtskontrolle durch die Gerichte nicht vollständig entzogen (s. Rz. 28.253 ff., 28.257 ff.). c) Am 31.12.2001 bzw. 1.1.2002 Rentenberechtigte Für am 31.12.2001 Versorgungsrentenberechtigte und für versorgungsrentenberechtigte 28.234 Hinterbliebene werden die sich ohne Berücksichtigung von Nichtzahlungs- und Ruhensregelungen ergebenden Versorgungsrenten nach dem bis zum 31.12.2000 geltenden Satzungsrecht zum 31.12.2001 festgestellt. Diese festgestellten Versorgungsrenten werden vorbehaltlich einiger nachfolgend beschriebener Sonderregelungen als Besitzstandsrenten in Höhe des bisherigen Zahlbetrages weitergewährt und – wie künftig alle Renten – jährlich zum 1. Juli eines jeden Jahres um 1 % dynamisiert (§ 30 ATV/ATV-K, § 75 VBLS; § 69 AKA-MS). Diese von der bisherigen Entwicklung der Beamtenversorgung und der gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. § 56 VBLS aF) abgekoppelte Anpassung der Renten ist nicht zu beanstanden255, nicht zuletzt da sich die Tarifvertragsparteien damit an dem gesetzlichen Regelungsmodell von § 16 Abs. 3 Nr. 1 und § 18 Abs. 4 BetrAVG orientiert haben. Abbaubare Ausgleichsbeträge (vgl. §§ 97c, 97d VBLS aF) werden in Höhe der Dynamisierung aufgezehrt, nicht abbaubare Ausgleichsbeträge nicht dynamisiert256 (§ 30 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 75 Abs. 2 VLS, § 69 Abs. 2 AKA-MS).

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die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie, vgl. BGH v. 14.11.2007 – IV ZR 74/06, NJW 2008, 1378 = BetrAV 2008, 203; BAG v. 27.3.2007 – 3 AZR 299/06, NZA-RR 2008, 82 = AP Nr. 68 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen. BAG v. 27.3.2007 – 3 AZR 299/06, NZA-RR 2008, 82 = AP Nr. 68 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen; v. 13.12.2005 – 3 AZR 478/04, NZA 2006, 456 = AP Nr. 48 zu § 1 BetrAVG Ablösung; v. 14.12.1982 – 3 AZR 251/80, BB 1983, 1034 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand; ebenso BGH v. 14.11.2007 – IV ZR 74/06, NJW 2008, 1378 = BetrAV 2008, 203; OLG Karlsruhe v. 22.9.2005 – 12 U 99/04, ZTR 2005, 588 (593) = EzBAT § 33 Abs. 2 ATV Nr 3. Rengier, NZA 2004, 817 (818); Höfer, Kapitel 5 Rz. 75, Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1569 ff. Gegen die Wirksamkeit des Änderungsvorbehalts sprechen nach ständiger Rechtsprechung des BGH keine Bedenken, vgl. BGH v. 14.11.2007 – IV ZR 74/06, NJW 2008, 1378 = BetrAV 2008, 203, mit weiteren Hinweisen zur Rechtsprechung. OLG Karlsruhe v. 26.7.2005 – 12 U 67/05, ZTR 2005, 533; BAG v. 27.3.2007 – 3 AZR 299/06, NZA-RR 2008, 82 = AP Nr. 68 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen; ebenso BGH v. 17.9.2008 – IV ZR 191/05, DB 2008, 2547 unter Bezugnahme auf die Gründe des vorgenannten Urteils des BAG v. 27.3.2008. Bei der Umwandlung von der Brutto- auf die Nettogesamtversorgung (vgl. § 41 Abs. 2b VBLS aF) zum 1.1.1985 waren seinerzeit aus Gründen des Besitzstandsschutzes bestimmten Personengruppen Ausgleichsbeträge gewährt worden, durch welche die Nachteile aus der Umstellung auf die Nettogesamtversorgung ausgeglichen werden sollten. Dabei wurde zwischen sog. abbau-

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28.235

§ 28 Rz. 28.235

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Im Hinblick auf die Feststellung der sich zum 31.12.2001 nach dem alten Satzungsrecht ergebenden Versorgungsrenten ist dabei weiterhin das sog. Halbanrechnungsverfahren zu beachten, dh., es werden auch für die Ermittlung der Besitzstandsrenten Vordienstzeiten außerhalb des öffentlichen Dienstes nur zur Hälfte berücksichtigt während die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung in voller Höhe angerechnet wird. Dies ist für die Versorgungsrentenberechtigten mit Rentenbeginn bis einschließlich 1.1.2002 nicht zu beanstanden257.

28.236 Im Übrigen sind ua. folgende Maßgaben zu beachten: – Für die Nichtzahlung und das Ruhen von Renten gelten die Regelungen des alten (Satzungs-) Rechts258 fort (§ 30 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 75 Abs. 3 Buchst. a VBLS, § 69 Abs. 2 AKA-MS). – Tritt ein neuer Versicherungsfall ein (zB volle Erwerbsminderung statt teilweiser Erwerbsminderung), bei dem seit Beginn der bisherigen Rente zusätzliche Versorgungspunkte zu berücksichtigen sind, gelten für die Neuberechnung die Regelungen des neuen (Satzungs-)Rechts (§ 40 VBLS, § 38 AKA-MS), dh. bei der Neuberechnung sind zusätzlich zu der bisherigen Rente die Versorgungspunkte zu berücksichtigen, die im neuen Punktemodell in der Zeit nach dem 1.1.2002 erworben wurden (dies ist zB denkbar in Fällen, bei denen der Bezieher einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung weiterhin eine zusatzversorgungspflichtige Teilzeitbeschäftigung ausübt). Ein Sonderfall besteht, wenn bei einer solchen Neuberechnung noch Zeiten vor dem 1.1.2002 zu berücksichtigen sind, also ein Rentenberechtigter nach dem Rentenbeginn bis zum 31.12.2001 neben dem Bezug seiner Rente eine zusatzversorgungspflichtige Tätigkeit ausgeübt hatte. Für diese Fälle wird eine (fiktive) Startgutschrift entsprechend den §§ 78 bis 81 VBLS (§§ 72 bis 74 AKA-MS) berechnet und mit der sich aus der Zusatzversorgung am 31.12.2001 ergebenden Rente verglichen. Ist die (fiktive) Startgutschrift höher, wird der Differenzbetrag dem Versorgungskonto gutgeschrieben und erhöht die Bestandsrente (§ 30 Abs. 3 Buchst. a ATV/ATV-K, § 75 Abs. 3 Buchst. b VBLS, § 69 Abs. 3 Buchst. a AKA-MS)259. – Versorgungsrenten, die vor dem 1.1.2002 geendet haben260, werden – wenn die Möglichkeit einer erneuten Rentengewährung besteht – in eine Startgutschrift umgerechnet. Insoweit erfolgt die Berechnung nicht nach den allgemeinen, für die Startgutschriften geltenden Regeln; stattdessen wird die Versorgungsrente, die sich unter Außerachtlassung von Nichtzahlungs- und Ruhensvorschriften und ohne Berücksichtigung eines Ausgleichsbetrags am 31.12.2001 ergeben hätte, durch den Messbetrag von 4 Euro geteilt. Die sich hieraus ergebenden Versorgungspunkte werden dem Versorgungskonto gutgeschrieben (§ 30 Abs. 3 Buchst. c ATV/ATV-K, § 75 Abs. 3 Buchst. d VBLS, § 69 Abs. 3 Buchst. c AKA-MS). Im Übrigen gelten in diesen Fällen die Vorschriften des Punktemodells, ua. sind daher an-

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baren Ausgleichsbeträgen (§ 97c Abs. 3; § 97d Abs. 2 VBLS aF) unterschieden, die schrittweise entsprechend der Anpassung der Gesamtversorgung reduziert werden, und nicht abbaubaren Ausgleichsbeträgen (§ 97c Abs. 4–6, § 97d Abs. 3 VBLS aF), die den Rentnern in unveränderter Höhe verblieben (vgl. Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 102; Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 30 ATV Erl. 4). BGH v. 26.11.2003 – IV ZR 186/02, BetrAV 2004, 188 = ZTR 2004, 86 f.; v. 10.11.2004 – IV ZR 391/02, NVwZ-RR 2005, 365; BVerfG v. 18.4.2008 – 1 BvR 759/05, NJOZ 2008, 3454. Beispiele hierzu bei Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 101, vgl. §§ 62a und 65 VBLS aF; Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 30 ATV Erl. 3. Vgl. Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 105; Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 30 ATV Erl. 6. Vgl. Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 106.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.239 § 28

stelle der bisherigen Nichtzahlungs- und Ruhensvorschriften nur die neuen Nichtzahlungsund Ruhensvorschriften des Punktemodells (§ 12 ATV/ATV-K, § 41 VBLS, § 39 AKA-MS) zu beachten. Denkbare Fälle sind Witwen-/Witwerrenten, die wegen Wiederverheiratung vor dem 1.1.2002 geendet haben, oder Waisenrenten, die vor dem 1.1.2002 zB wegen Aufnahme einer Beschäftigung geendet haben. Diese Grundsätze gelten entsprechend, wenn der Versicherungsfall vor dem 1.1.2002 eingetreten ist, die Versorgungsrente jedoch erst nach dem 1.1.2002 beginnen würde. Denkbare Fälle hierfür sind zB befristete Erwerbsminderungsrenten, für die noch vor dem 1.1.2002 die Voraussetzungen einer Erwerbsminderung erfüllt waren, die allerdings erst nach dem 1.1.2002 (zB aufgrund der Sperrfrist von sechs Monaten in der gesetzlichen Rentenversicherung für befristete Erwerbsminderungsrenten, § 101 SGB VI) zur Auszahlung kommen261. – Verstirbt ein Rentenberechtigter, der zum 31.12.2001 eine Versorgungsrente bezogen hat, gelten für die Hinterbliebenenrenten die Vorschriften des Punktemodells (§ 10 ATV/ ATV-K, § 38 VBLS, § 36 AKA-MS) entsprechend (§ 30 Abs. 4 ATV/ATV-K, § 75 Abs. 5 VBLS, § 69 Abs. 5 AKA-MS). Die Hinterbliebenen erhalten also den in Anlehnung an die gesetzliche Rentenversicherung vorgesehenen Prozentsatz der letzten Versorgungsrente des Verstorbenen. Für Versicherungsrentenberechtigte und versicherungsrentenberechtigte Hinterbliebene, deren Versicherungsrente spätestens am 31.12.2001 begonnen hat, wird die am 31.12.2001 maßgebende Versicherungsrente festgestellt. Auch diese zum 31.12.2001 festgestellten Versicherungsrenten werden als Besitzstandsrenten weitergezahlt. Eine wesentliche Neuerung zum bisherigen (Satzungs-) Recht, nach dem die Versicherungsrenten statisch waren (auch dies war vom BVerfG in der sog. Halbanrechnungsentscheidung262 bemängelt worden), ist, dass nunmehr auch diese Besitzstands-Versicherungsrenten jeweils zum 1. Juli eines jeden Jahres um 1 % dynamisiert werden (§ 31 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 76 Abs. 2 VBLS, § 70 Abs. 2 AKA-MS). Im Übrigen gelten die bei der Überleitung der Versorgungsrenten zu berücksichtigenden besonderen Maßgaben entsprechend.

28.237

Für Rentenberechtigte, deren Versorgungs- oder Versicherungsrente am 1.1.2002 begonnen hat, finden die vorstehenden Grundsätze für die Überleitung von Versorgungs- oder Versicherungsrenten, die bis spätestens 31.12.2001 begonnen haben, entsprechend Anwendung (§ 30 Abs. 5, § 31 Abs. 3 ATV/ATV-K, § 77 VBLS, § 71 AKA-MS).

28.238

d) Anwartschaftsberechtigte zum Stichtag 31.12.2001 (Startgutschriften) Für Anwartschaftsberechtigte enthalten die §§ 32 bis 34 ATV/ATV-K, §§ 78 bis 81 VBLS, §§ 72 bis 74 AKA-MS die maßgeblichen Überleitungsregelungen. Dabei werden zunächst allgemeine Grundsätze für die Anwartschaftsberechnung aufgestellt (§ 32 ATV/ATV-K, § 78 VBLS, § 72 AKA-MS). Für die konkrete Berechnung der Startgutschriften erfolgt so261 Vgl. Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 106; vgl. BGH vom 18.11.2009 – IV ZR 75/07, NVwZ-RR 2010, 326: Waren die Anspruchsvoraussetzungen für die gesetzliche Rente bereits vor dem Stichtag des 31.12.2001 erfüllt, ist damit der Versicherungsfall in der Zusatzversorgung gemäß § 33 Satz 1 VBLS eingetreten, und zwar unabhängig davon, ob die Pflichtversicherung über den Stichtag hinaus fortbestand und die gesetzliche Rente erst nach dem Stichtag ausgezahlt worden ist. Die Startgutschrift richtet sich in einem solchen Fall nach § 75 Abs. 3 Buchst. d Satz 2 VBLS. 262 BVerfG v. 22.3.2000 – 1 BvR 1136/96, NJW 2000, 3341 = AP Nr. 27 zu § 18 BetrAVG.

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28.239

§ 28 Rz. 28.239

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

dann eine Differenzierung anhand der Schutzwürdigkeit der Personengruppen zwischen den sog. rentennahen Jahrgängen (§ 33 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 2 VBLS, § 73 Abs. 2 AKAMS), den rentenfernen Jahrgängen (§ 33 Abs. 1, 1a ATV/ATV-K, § 79 Abs. 1, 1a VBLS, § 73 Abs. 1, 1a AKA-MS) und den beitragsfrei Versicherten (§ 34 ATV/ATV-K, § 80 VBLS, § 74 AKA-MS).

28.240 Voraussetzung einer Berechnung der Startgutschrift nach den für die Pflichtversicherten geltenden Regelungen (sowohl für die rentennahen als auch die rentenfernen Jahrgänge) ist, dass am 31.12.2001 schon und am 1.1.2002 noch eine Pflichtversicherung bestand (§ 33 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 1 VBLS, § 73 Abs. 1 AKA-MS). Nicht erforderlich ist dagegen, dass zum Umstellungszeitpunkt tatsächlich auch ein zusatzversorgungspflichtiges Entgelt bezogen wurde (zB bei Elternzeit, Beurlaubung ohne Bezüge etc.)263. Ist die Voraussetzung einer Pflichtversicherung nicht erfüllt, wird die Startgutschrift nach den für beitragsfrei Versicherten geltenden Regelungen berechnet. aa) Allgemeine Grundsätze der Anwartschaftsberechnung

28.241 Für die Berechnung der Anwartschaften sind die Rechengrößen (insbesondere Entgelt, Gesamtbeschäftigungsquotient (§ 43a VBLS aF), Steuertabelle, Sozialversicherungsbeiträge, Familienstand, aktueller Rentenwert der gesetzlichen Rentenversicherung, Mindestgesamtversorgung (§ 41 Abs. 4 VBLS aF)) vom 31.12.2001 maßgebend264 (§ 32 Abs. 4 ATV/ATV-K, § 78 Abs. 2 VBLS, § 72 Abs. 2 AKA-MS). Bezüglich der Berücksichtigung des gesamtversorgungsfähigen Entgelts ist auf die Kalenderjahre vor dem 1.1.2002 (ohne Berücksichtigung einer Erhöhung zum 1.1.2002) abzustellen265. Für die Rentenberechnung nach § 18 Abs. 2 BetrAVG ist das am 31.12.2001 geltende Rentenrecht maßgebend. Die Pflichtversicherten mussten insoweit ihrem Arbeitgeber bis 31.12.2002 ihren Familienstand mitteilen sowie ob sie Kindergeld erhalten (§ 33 Abs. 6 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 6 VBLS, § 73 Abs. 6 AKA-MS). Der ermittelte Anwartschaftsbetrag wird in Versorgungspunkte umgerechnet, indem der Anwartschaftsbetrag ohne Berücksichtigung der Altersfaktoren266 durch den Messbetrag von 4 Euro geteilt wird. Die Versorgungspunkte werden dem Versorgungskonto gutgeschrieben (sog. Startgutschrift, § 32 Abs. 1 ATV/ATV-K; § 78 Abs. 1 VBLS, § 72 Abs. 1 AKA-MS). Eine Verzinsung der Startgutschrift findet (vorbehaltlich einer Überschussbeteiligung durch 263 Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 119 ff. 264 Schon nach der Grundsatzentscheidung für die rentenfernen Versicherten, BGH v. 14.11.2007 – IV ZR 74/06, NVwZ 2008, 455, Rz. 78, 81 verstößt es nicht gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit, dass § 78 Abs. 2 Satz 1 VBLS die am 31.12.2001 maßgeblichen Rechengrößen, insbesondere die an diesem Stichtag geltende Steuerklasse, festschreibt; vgl. zu einer nach dem Umstellungsstichtag erfolgten Eheschließung auch BGH v. 27.12.2012 – IV ZR 176/10; zu einer unmittelbar nach dem Umstellungsstichtag erfolgenden erheblichen Gehaltserhöhung, deren Nichtberücksichtigung auch keine unbillige Härte bewirkt, vgl. BGH v. 2.12.2009 – IV ZR 279/07, NVwZ-RR 2010, 487. 265 Für das Regelentgelt (§ 43 Abs. 1 Satz 1 bis 3 VBLS aF) kommt es damit auf die Kalenderjahre 1999 bis 2001 an, für das Sonderentgelt (Entgelt für Arbeitsleistungen außerhalb der tarifvertraglich oder arbeitsvertraglich vereinbarten regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit (§ 43 Abs. 1 Satz 4, 5 VBLS aF) kommt es auf die Kalenderjahre 1991 bis 2001 an. Nach einem Urteil des LG Karlsruhe v. 13.1.2009 – 6 O 162/08, BeckRS 2009, 03638, kann dabei nicht verlangt werden, dass bei der Berechnung der Startgutschrift das gesamtversorgungsfähige Entgelt entsprechend § 43 Abs. 2 VBLS aF bzw. taggenau ermittelt wird, jedenfalls dann nicht, wenn in dem dreijährigen Referenzzeitraum ein Verdienstausfall von lediglich ca. zwei Monaten liege. 266 § 8 Abs. 3 ATV/ATV-K; § 36 Abs. 3 VBLS; § 34 Abs. 3 AKA-MS.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.242 § 28

die Zuteilung von Bonuspunkten267) nicht statt. Für die Erteilung der Startgutschrift ist es nicht erforderlich, dass die Pflichtversicherten zum Zeitpunkt der Umstellung die Wartezeit von 60 Umlagemonaten268 erfüllt hatten. Leistungen aus der Startgutschrift und der weiteren Pflichtversicherung werden später aber nur gezahlt, wenn der Versicherte bei Eintritt des Versicherungsfalls die Wartezeit von 60 Umlagemonaten insgesamt erfüllt hat269. Beanstandungen gegen die mitgeteilten Startgutschriften mussten innerhalb einer Aus- 28.242 schlussfrist von sechs Monaten nach Zugang der Mitteilung über die Startgutschrift schriftlich unmittelbar gegenüber der jeweiligen Zusatzversorgungseinrichtung erhoben werden (§ 32 Abs. 5 ATV/ATV-K; § 78 Abs. 3 VBLS, § 72 Abs. 3 AKA-MS). Hierauf war in der Mitteilung über die Höhe der Startgutschrift hinzuweisen. Allerdings hatte zwischenzeitlich das OLG Karlsruhe in einem Urteil vom 1.3.2007270 die Auffassung vertreten, dass die entsprechenden Mitteilungen der VBL nicht hinreichend klar und unmissverständlich gewesen seien, da sie insbesondere nicht auf die Rechtsfolge einer Versäumung der Ausschlussfrist hingewiesen hätten. Die Belehrung kläre nicht deutlich genug darüber auf, dass der Versicherte ggf. durch bloßen Zeitablauf seinen Leistungsanspruch im Versicherungsfall insoweit verliert, als die Startgutschrift zu niedrig festgesetzt worden ist. Die Belehrung sei insgesamt unwirksam und habe die Ausschlussfrist nicht wirksam in Gang setzen können mit der Folge, dass ein Beanstandungsausschluss nicht eingetreten sei. Ebenso unerheblich sei die Versäumung der sechsmonatigen Klagefrist des § 46 Abs. 3 VBLS (in der bis einschließlich der 10. Satzungsänderung geltenden Fassung271). Entscheidungen der VBL seien keine Verwaltungsakte mit entsprechender Bindungswirkung. Schon die gleich lautende Bestimmung des § 61 Abs. 3 VBLS aF sei deshalb dahin verstanden worden, dass sich die dortige Ausschlussfrist nur auf Rechtsbehelfe gegen die jeweilige Mitteilung beziehe und der Berechtigte gegen neue Mitteilungen, auch soweit diese auf denselben Berechnungen beruhten wie die frühere, erneut vorgehen könne. Dies gelte auch für § 46 Abs. 3 VBLS272. Im Rahmen einer späteren Mitteilung der VBL könne deshalb die Richtigkeit der Startgutschriftenmitteilung noch überprüft werden. Auf der anderen Seite soll die VBL nach der Rechtsprechung des LG Karlsruhe273 grundsätzlich berechtigt sein, fehlerhafte Startgutschrift-Berechnungen jederzeit (auch zu Ungunsten der Versicherten) zu korrigieren. Jedenfalls wenn die ursprüngliche Startgutschrift noch vor der ersten Rentenmitteilung nach unten korrigiert werde, würden auch Vertrauensschutzgesichtspunkte regelmäßig nicht eingreifen (demgegenüber hat es das LG Karlsruhe in dieser Entscheidung angedeutet, dass bei Rentenüberzahlungen, insbesondere hinsichtlich vergangener Zeiträume, insoweit Vertrauensschutz bestehen könne274). 267 268 269 270 271

§ 19 Abs. 1 ATV/ATV-K; § 68 Abs. 1 VBLS; § 66 AKA-MS. § 38 VBLS aF. § 6 ATV/ATV-K, § 34 VBLS, § 32 AKA-MS; Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 112. OLG Karlsruhe v. 1.3.2007 – 12 U 40/06, VersR 2007, 1503. Diese ursprünglich in § 46 Abs. 3 VBLS enthaltene sechsmonatige Klagefrist wurde mit Wirkung zum 1.1.2008 (11. Satzungsänderung) gestrichen. Diese Klagefrist fand aber, sofern sie im jeweiligen Fall noch vor dem 1.1.2008 zu laufen begonnen hatte, trotz ihrer Abschaffung auch nach dem 1.1.2008 noch Anwendung (so das LG Karlsruhe in einem Urteil v. 16.1.2009 – 6 O 92/06). 272 Vgl. auch LG Karlsruhe v. 19.9.2008 – 6 O 84/08, BeckRS 2009, 03639; v. 21.8.2009 – 6 O 130/04, BeckRS 2009, 23528. 273 LG Karlsruhe v. 15.5.2009 – 6 O 356/05 (die Entscheidungen des LG Karlsruhe sind auch auf dessen Homepage www.landgericht-karlsruhe.de veröffentlicht). 274 Vgl. zur Thematik des Vertrauensschutzes bei Rentenüberzahlungen LG Karlsruhe v. 19.9.2008 – 6 S 48/07, BeckRS 2009, 12068; vgl. v. 17.7.2009 – 6 O 186/08, BeckRS 2009, 23669; v. 25.9.2009 – 6 O 190/08, BeckRS 2009, 26175.

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§ 28 Rz. 28.243

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

bb) Pflichtversicherte der rentennahen Jahrgänge

28.243 Eines besonderen Vertrauensschutzes hinsichtlich der erworbenen Besitzstände bedurften solche Pflichtversicherte, die zum Zeitpunkt der Systemumstellung kurz vor dem Rentenbeginn standen (sog. rentennahe Jahrgänge). Diese Personengruppe konnte sich aufgrund der zeitlichen Nähe zum Rentenbeginn bereits darauf einrichten, dass sie die im bisherigen Gesamtversorgungssystem vorgesehenen Leistungen erhalten würden275. Zum Kreis der rentennahen Pflichtversicherten zählen: – die Beschäftigten im Tarifgebiet West bzw. Beschäftigte, für die der Umlagesatz des Abrechnungsverbandes West maßgeblich ist (vgl. § 64 Abs. 2 Satz 3 VBLS) oder die Pflichtversicherungszeiten vor dem 1.1.1997 haben276, und die am 1.1.2002 das 55. Lebensjahr vollendet hatten (§ 33 Abs. 2 Satz 1 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 2 Satz 1 VBLS, § 73 Abs. 2 Satz 1 AKA-MS); – Schwerbehinderte277, die am 31.12.2001 das 52. Lebensjahr vollendet haben und eine Rente für schwerbehinderte Menschen278 beanspruchen könnten, wenn sie zu diesem Zeitpunkt bereits das 60. Lebensjahr vollendet hätten (§ 33 Abs. 2 Satz 4 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 2 Satz 4 VBLS, § 73 Abs. 2 Satz 4 AKA-MS); – die Beschäftigten im Tarifgebiet West bzw. Beschäftigte, für die der Umlagesatz des Abrechnungsverbandes West maßgeblich ist (vgl. § 64 Abs. 2 Satz 3 VBLS) oder die Pflichtversicherungszeiten vor dem 1.1.1997 haben, die vor dem 14.11.2001279 eine Altersteilzeit oder Vorruhestand vereinbart hatten (§ 33 Abs. 3 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 3 VBLS, § 73 Abs. 3 AKA-MS; auf den Beginn der Altersteilzeit oder des Vorruhestandes kommt es dabei nicht an). Eine besondere Gruppe bilden Pflichtversicherte, die zunächst nicht zu den rentennahen Jahrgängen gehört und eine Startgutschrift für rentenferne Pflichtversicherte erhalten ha275 Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 95; Hügelschäffer, BetrAV 2004, 354 (357). 276 Also Versicherte mit Pflichtversicherungszeiten vor Einführung der Zusatzversorgung in den neuen Bundesländern. 277 Die Sonderregelungen für schwerbehinderte Versicherte in § 79 Abs. 2 Satz 4 und 5 VBLS sind wirksam, vgl. BGH v. 4.11.2009 – IV ZR 118/07, BeckRS 2009, 87664. 278 Zwischenzeitlich hat der BGH durch Urteil v. 3.12.2008 – IV ZR 104/06, NVwZ 2009, 800 entschieden, dass es zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 79 Abs. 2 Satz 4 VBLS ausreicht, wenn der mindestens 52-jährige, schwerbehinderte Versicherte die Voraussetzungen eines Anspruchs auf eine Rente für schwerbehinderte Menschen aus der gesetzlichen Sozialversicherung am Umstellungsstichtag (31.12.2001) einseitig hätte schaffen können. Diese Entscheidung betraf die Frage der für die gesetzliche Rente für schwerbehinderte Menschen erforderlichen Erfüllung einer Wartezeit von 35 Jahren (§ 236a Abs. 4 Nr. 3 SGB VI in der am 31.12.2001 geltenden Fassung). Hänge das Bestehen eines Anspruchs auf gesetzliche Rente nur noch von der Erfüllung einer Wartezeit ab, die am Umstellungsstichtag zwar noch nicht erreicht gewesen wäre, deren Erreichen der Versicherte jedoch durch eine ihm zustehende Nachzahlungsmöglichkeit am Umstellungsstichtag hätte herbeiführen können, reiche dies für die Erfüllung der Voraussetzungen des § 79 Abs. 2 Satz 4 VBLS aus. Ob der Versicherte von dieser Möglichkeit tatsächlich Gebrauch gemacht habe oder auch nur gemacht hätte, sei dagegen ohne Belang. 279 Dh. vor Abschluss des Altersvorsorgeplans 2001. Vgl. LG Karlsruhe v. 6.3.2009 – 6 O 114/08, BeckRS 2009, 23527: Nach dem Stichtag vom 13.11.2001 getroffene Altersteilzeitvereinbarungen eröffnen nicht den Anwendungsbereich des § 79 Abs. 3 VBLS. Damit geht einher, dass auch spätere Aufhebungen und Änderungen der Altersteilzeitverträge unbeachtlich sind. Vgl. bereits BGH v. 17.9.2008 – IV ZR 64/05, NVwZ 2009, 129 ff.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.244 § 28

ben, bei denen aber der Versicherungsfall der vollen Erwerbsminderung vor dem 1.1.2007 eingetreten ist. Sofern solche Pflichtversicherte am 31.12.2001 das 47. Lebensjahr vollendet und mindestens 120 Umlagemonate zurückgelegt haben, werden diese im Wege einer zusätzlichen Startgutschrift faktisch den rentennahen Versicherten gleichgestellt (§ 33 Abs. 3a ATV/ATV-K; § 79 Abs. 3a VBLS; § 73 Abs. 3a AKA-MS)280. Auch wenn die Regelungen zur Berechnung für die sog. rentennahen Pflichtversicherten ei- 28.243a nen besonderen Vertrauensschutz erreichen sollen, war/ist es nicht in allen Fällen zwingend so, dass sich hierdurch tatsächlich eine Besserstellung gegenüber einer Berechnung nach den Regelungen für rentenferne Pflichtversicherte ergibt. Dies betraf insbesondere rentennahe Pflichtversicherte, die nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern in einer berufsständischen Versorgung versichert waren. Das OLG Karlsruhe hatte insoweit bereits im Jahr 2011 entschieden, dass kein Anspruch eines rentennahen Pflichtversicherten auf Berechnung der Startgutschrift nach den Regelungen für rentenferne Pflichtversicherte besteht, selbst wenn eine solche Berechnung für ihn günstiger wäre281. Auch das BAG282 verneinte für den Fall der kirchlichen Zusatzversorgung einen solchen Anspruch eines Arztes mit berufsständischer Versorgung gegenüber seinem früheren Arbeitgeber mit dem Argument, ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liege nicht vor. Der BGH283 hob demgegenüber die Urteile des OLG Karlsruhe auf und bemängelte, der vom OLG erkannte Ausschluss eines Verstoßes gegen Art. 3 GG beruhe auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage. Nach der Zurückverweisung kam das OLG Karlsruhe284 auf der Basis von Auswertungen der VBL sodann erneut zu dem Ergebnis, dass keine wesentliche Ungleichbehandlung von rentennahen und rentenfernen Versicherten mit einer berufsständischen Versorgung vorliege. Auf Basis dieser erweiterten Sachverhaltsfeststellungen hat sich dann der BGH285 dieser Rechtsprechung angeschlossen und dabei erneut bestätigt286, dass auch gegen die Anrechnung einer nur fiktiv ermittelten berufsständischen Grundversorgung keine rechtlichen Bedenken bestehen. Die Anwartschaft der rentennahen Versicherten wird entsprechend den bisher geltenden 28.244 Bestimmungen des Gesamtversorgungssystems ermittelt. Ausgangswert für die Startgutschrift ist die Versorgungsrente, die sich für den Berechtigten unter Berücksichtigung etwaiger Mindestleistungen (einfache Versicherungsrente287, qualifizierte Versicherungsrente288 oder Mindestgesamtversorgung289) bei Vollendung des 63. Lebensjahres nach altem Recht ergeben würde. Hinsichtlich der gesamtversorgungsfähigen Zeit wird dabei eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres unterstellt290. Hatte der 280 Hügelschäffer, BetrAV 2004, 354 (358); Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 111, 145a. 281 Vgl. hierzu Freyer, BetrAV 2012, 481 ff. zu entsprechenden Klagen von (nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherten) Ärzten mit Hinweis auf OLG Karlsruhe v. 30.9.2011 – 12 U 75/11 und v. 7.2.2012 – 12 U 157/11. 282 BAG v. 20.8.2013 – 3 AZR 959/11, AP BetrAVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 68 = NZA 2014, 36. 283 BGH v. 25.9.2013 – IV ZR 207/11, NVwZ-RR 2014, 147. 284 OLG Karlsruhe v. 5.3.2015 – 12 U 75/1113, ZTR 2015, 389. 285 BGH v. 6.12.2017 – IV ZR 191/15, BeckRS 2017, 136387 = ZTR 2018, 207. 286 Vgl. bereits BGH v. 25.9.2013 – IV ZR 207/11, VersR 2014, 89. 287 § 40 Abs. 4 i.V.m. § 44 VBLS aF. 288 § 40 Abs. 4 i.V.m. § 44a VBLS aF. 289 § 41 Abs. 4 VBLS aF. 290 Für eine Berücksichtigung zusätzlicher Ausbildungszeiten gemäß § 207 SGB VI sowie von über drei Jahre hinausgehenden, unbewerteten Anrechnungszeiten der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI in der ab 1.1.2002 gültigen Fassung als gesamtversorgungsfähige Zeit im Rahmen der Berechnung der Startgutschriften vgl. LG Karlsruhe v. 27.6.2008 –

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§ 28 Rz. 28.244

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Pflichtversicherte am 31.12.2001 bereits das 63. Lebensjahr vollendet, wird die Gesamtversorgung zum Stichtag 31.12.2001 ermittelt. Für Schwerbehinderte aus der Gruppe der rentennahen Versicherten ist anstelle des 63. Lebensjahres das entsprechende, für sie frühestmögliche Eintrittsalter in die abschlagsfreie gesetzliche Rente für schwerbehinderte Menschen maßgeblich. Wenn der Schwerbehinderte zwischen diesem Hochrechnungszeitpunkt und dem 63. Lebensjahr die Voraussetzungen für die Mindestgesamtversorgung erfüllt, erfolgt die Hochrechnung bezogen auf diesen Zeitpunkt (§ 33 Abs. 2 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 2 VBLS, § 73 Abs. 2 AKA-MS). Für Altersteilzeitmitarbeiter oder Mitarbeiter mit Vorruhestandsvereinbarungen aus der Gruppe der rentennahen Jahrgänge tritt an die Stelle des 63. Lebensjahres das Ende des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses bzw. das Alter, zu dem nach der Vorruhestandsvereinbarung die Rente beginnen würde (§ 33 Abs. 3 ATV/ATV-K; § 79 Abs. 3 VBLS; § 73 Abs. 3 AKA-MS)291.

28.245 Zur Berechnung der Gesamtversorgung ist wie bisher die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung anzurechnen, wobei auf die Rente abzustellen ist, die der Pflichtversicherte bei Vollendung des 63. Lebensjahres erhalten würde. Die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wird dabei nicht nach dem Näherungsverfahren, sondern konkret und individuell aufgrund einer Rentenauskunft des zuständigen Rentenversicherungsträgers zum Stichtag 31.12.2001 nach Durchführung einer Kontenklärung ermittelt. Insoweit bestand für die Versicherten die Verpflichtung, bis spätestens 30.9.2002 eine entsprechende Rentenauskunft beim gesetzlichen Rentenversicherungsträger zu beantragen, sofern sie nicht bereits über eine entsprechende Rentenauskunft aus dem Jahr 2001 verfügten. Wenn bis 31.12.2002 bereits ein bestands- oder rechtskräftiger Rentenbescheid der gesetzlichen Rentenversicherung vorlag, war dieser der Berechnung zugrunde zu legen (§ 33 Abs. 4 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 4 VBLS, § 73 Abs. AKA-MS)292. Sofern die Rentenauskunft aus von dem Pflichtversicherten zu vertretenden Gründe nicht bis spätestens 31.12.2003 beigebracht wurde, erfolgte die Berechnung der Startgutschrift nach den für die rentenfernen Jahrgänge geltenden Grundsätzen293. Aus der Auskunft des gesetzlichen Rentenversicherungsträgers konnte die bis 31.12.2001 tatsächlich erworbene Anwartschaft aus der gesetzlichen Rentenversicherung zugrunde gelegt werden. Da die Startgutschrift allerdings so berechnet wird, als ob der Pflichtversicherte mit dem 63. Lebensjahr in Rente gehen würde, muss die anzurechnende gesetzliche Rente ebenfalls auf das 63. Lebensjahr hochgerechnet werden. Hierzu wird der jährliche Durchschnitt der im Zeitraum 1.1.1999 bis 31.12.2001 in der gesetzlichen Rentenversicherung erworbenen Ent6 O 161/07, BeckRS 2009, 12066; aA allerdings die 2. Instanz, OLG Karlsruhe v. 3.3.2009 – 12 U 187/08, BeckRS 2010, 8820, die einen Anspruch auf Berücksichtigung solcher Zeiten wegen der Stichtagsregelung in § 78 Abs. 2 VBLS abgelehnt hat. 291 Rengier, NZA 2004, 817 (818); zu Details der Berechnungen vgl. Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 123 ff.; Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 33 ATV Erl. 4 ff. 292 Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 115. 293 Nach einer Entscheidung des LAG Rheinland-Pfalz v. 4.9.2008 – 2 Sa 78/08, BeckRS 2009, 54447 = ZTR 2009, 274 soll allerdings ein Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber bestehen können, wenn ein Hinweis des Arbeitgebers unterblieben ist, dass die Rentenauskunft innerhalb der tariflichen Ausschlussfrist der Zusatzversorgungskasse vorgelegt werden muss und deshalb nach einer verspäteten Vorlage der Rentenauskunft eine Berechnung nach den für rentenferne statt für rentennahe Jahrgänge geltenden Grundsätzen erfolgt. In seiner Begründung stützt sich das LAG dabei ua. darauf, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmern entgegen den Satzungsvorschriften die Druckschriften der Zusatzversorgungskasse nicht zur Verfügung gestellt hatte. Außerdem hatte der Arbeitgeber die Arbeitnehmer im Rahmen der Auskunftseinholung zunächst unterstützt, einen eindeutigen Hinweis auf die Ausschlussfrist aber unterlassen.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.247 § 28

geltpunkte in Ansatz gebracht (§ 33 Abs. 5 Satz 1 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 5 Satz 1 VBLS, § 73 Abs. 5 Satz 1 AKA-MS)294. Bei Pflichtversicherten, die von ihrem Arbeitgeber Zuschüsse zu einer berufsständischen Versorgungseinrichtung oder einer Lebensversicherung erhalten haben, wird entsprechend dem bisherigen Recht295 1,25 % der doppelten Summe der bis zum 31.12.2001 geleisteten Arbeitgeberzuschüsse angerechnet. Für die Zeit ab dem 1.1.2002 bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres werden solche Zuschüsse auf der Basis des jährlichen Durchschnitts der Jahre 1999 bis 2001 hochgerechnet (§ 33 Abs. 5 Satz 2 ATV/ATV-K; § 79 Abs. 5 Satz 2 VBLS; § 73 Abs. 5 Satz 2 AKA-MS)296. Von der nach den Bestimmungen des alten Rechts derart berechneten Anwartschaft ist schließlich derjenige Betrag abzuziehen, den der Pflichtversicherte aus dem neuen Punktemodell bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres (vor Berücksichtigung des Abschlags wegen vorzeitiger Renteninanspruchnahme297) noch erwerben kann, wenn für ihn zusatzversorgungspflichtiges Entgelt in Höhe des gesamtversorgungsfähigen Entgelts (unter Berücksichtigung des Gesamtbeschäftigungsquotienten) gezahlt würde (§ 33 Abs. 2 Satz 2 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 2 Satz 2 VBLS, § 73 Abs. 2 Satz 2 AKA-MS). Ansonsten würde die Zeit zwischen dem Umrechnungsstichtag und der Vollendung des 63. Lebensjahres bei der Berechnung der Versorgung doppelt berücksichtigt (einmal über die Startgutschrift und einmal über die nach dem neuen Punktemodell tatsächlich noch erdienten Versorgungspunkte).

28.246

Wie oben (Rz. 28.241) bereits dargestellt wurde, sind bei der Berechnung die Verhältnisse zum 31.12.2001 zugrunde zu legen. Im Ergebnis sind die rentennahen Jahrgänge durch die Umstellung damit nur insoweit nachteilig betroffen, als sich spätere günstige Veränderungen in der Steuerklasse und künftige Gehaltssteigerungen nicht mehr anwartschaftssteigernd auswirken298. cc) Pflichtversicherte der rentenfernen Jahrgänge Bei den jüngeren Pflichtversicherten ist das zu schützende Vertrauen nicht zuletzt aufgrund der kürzeren „Betriebstreue“ geringer. Auch bei Fortbestand des Gesamtversorgungssystems hätte sich die Höhe der Leistungen (zB aufgrund beruflicher Veränderungen) noch ändern können. Für diese Gruppe besteht auch eher noch die Möglichkeit, etwaige durch die Neuregelung eintretende Einschnitte bei der Versorgung anderweitig auszugleichen299. Bei diesen Pflichtversicherten, die nicht zum Kreis der rentennahen Jahrgänge gehören, haben die Tarifvertragsparteien mit der Regelung in § 33 Abs. 1 ATV/ATV-K insoweit ein pauschaliertes Verfahren zur Ermittlung der Startgutschriften vorgesehen. Dies erfolgte gerade auch vor dem Hintergrund, dass das bisherige Gesamtversorgungssystem zeitnah geschlossen werde sollte,

294 295 296 297 298

Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 134. § 40 Abs. 2 Buchst. c, d VBLS aF. Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 135. § 7 Abs. 3 ATV/ATV-K, § 35 Abs. 3 VBLS § 33 Abs. 3 AKA-MS. Rengier, NZA 2004, 817 (818). Vgl. BGH v. 2.12.2009 – IV ZR 279/07, NVwZ-RR 2010, 487. Geschütztes Vertrauen kann nur hinsichtlich der Berechnungsgrößen entstanden sein, die bis zur Systemumstellung sicher feststanden. Dem trägt die Übergangsregelung für rentennahe Versicherte, nach der eine Festschreibung der Rechengrößen, wie etwa des Entgelts, des Familienstandes und der Steuerklasse zum 31.12.2001 zugrunde gelegt wird, ausreichend Rechnung. Dies ist rechtlich auch dann nicht zu beanstanden, wenn dadurch eine erst unmittelbar nach dem Umstellungsstichtag wirksame, erhebliche Gehaltserhöhung des Versicherten in der Startgutschrift unberücksichtigt bleibt. 299 Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 95.

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1163

28.247

§ 28 Rz. 28.247

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

was auf der Basis einer individuellen Berechnung für diesen Personenkreis aufgrund des damit verbundenen Verwaltungsaufwandes unmöglich gewesen wäre300.

28.248 Die Berechnung der Startgutschriften für die rentenfernen Jahrgänge richtet sich grundsätzlich nach § 18 Abs. 2 BetrAVG (§ 33 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 1 VBLS, § 73 Abs. 1 AKA-MS). Dies bedeutet, dass die rentenfernen Pflichtversicherten so behandelt werden, als seien sie zum 31.12.2001 aus dem öffentlichen Dienst ausgeschieden. Die Regelungen in § 33 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 1 VBLS, § 73 Abs. 1 AKA-MS zielen mit ihrem Verweis auf § 18 Abs. 2 BetrAVG im Grundsatz darauf ab, den rentenfernen Versicherten bei der Berechnung ihrer Startgutschrift die nach dem BetrAVG bis zum Umstellungsstichtag unverfallbar gewordenen Rentenanwartschaften in das neue Betriebsrentensystem zu übertragen. Zunächst ist das gesamtversorgungsfähige Entgelt zum Stichtag 31.12.2001 zu ermitteln (aus dem durchschnittlichen Regelentgelt301 der Jahre 1999 bis 2001 und dem durchschnittlichen Sonderentgelt302 der Jahre 1991 bis 2001). Hieraus ist nach dem bisherigen (Satzungs-) Recht das fiktive Nettoarbeitsentgelt zu ermitteln. In einem nächsten Schritt wird auf dieser Basis die vom Pflichtversicherten höchstmöglich erreichbare fiktive Gesamtversorgung berechnet, die er erhalten hätte, wenn er 40 Jahre im öffentlichen Dienst beschäftigt gewesen wäre (bei durchgängiger Vollzeitbeschäftigung entspricht dies dem maximalen Nettoversorgungssatz von 91,75 %). Hierauf ist die (fiktive) gesetzliche Rente anzurechnen. Die Berechnung der gesetzlichen Rente erfolgt jedoch nicht wie bei den rentennahen Jahrgängen unter Berücksichtigung der individuellen, konkreten Rentenanwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern nach dem pauschalen steuerrechtlichen Näherungsverfahren303. Der dabei einzusetzende Korrekturfaktor wird für alle rentenfernen Versicherten einheitlich mit 0,9086 festgelegt (Anlage 4 Nr. 5 Satz 2 zum ATV). Aus der Differenz zwischen der maximal erreichbaren Gesamtversorgung und der nach dem Näherungsverfahren ermittelten gesetzlichen Rente ergibt sich die sog. Voll-Leistung. Für die Berechnung der Anwartschaft waren schließlich in der ursprünglichen Überleitungsregelung für die Startgutschriftberechnung der rentenfernen Pflichtversicherten für jedes Jahr der Pflichtversicherung 2,25 % der Voll-Leistung zugrunde zu legen. Dies bedeutete, dass die höchstmögliche Versorgung (erst) nach einer Zeit von 44,44 Jahren erreicht werden konnte (während dies nach dem alten Recht gemäß § 41 Abs. 2 VBLS aF bereits nach 40 Jahren der Fall gewesen wäre). Beitragslose Zeiten werden nicht berücksichtigt. Ein (Mindest-) Anspruch auf die qualifizierte Versicherungsrente (§ 44a VBLS aF) besteht nicht304.

28.248a Der BGH hatte zwischenzeitlich in seiner Grundsatzentscheidung zur Berechnung der Startgutschriften für die rentenfernen Jahrgänge305 die Ablösung des bisherigen Gesamtversorgungssystems an sich sowie auch die grundsätzliche Systematik der Berechnung gemäß § 18 Abs. 2 BetrAVG zwar gebilligt, Einzelheiten der Berechnung aber beanstandet und insoweit festgestellt, dass die Berechnung der Startgutschriften für die rentenfernen Pflichtversicherten nicht verbindlich sei (Einzelheiten hierzu in Rz. 28.255). Dabei hat der BGH jedoch nicht

300 301 302 303

Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 143 ff. § 43 Abs. 1 Satz 1 bis 3 VBLS aF. § 43 Abs. 1 Satz 4, 5 VBLS aF. Zum Näherungsverfahren vgl. Blomeyer/Rolfs/Otto, § 2a BetrAVG Rz. 132 ff.; Höfer, § 2 BetrAVG Rz. 350 ff. 304 Zur Berechnungsmethodik insgesamt Rengier, NZA 2004, 817 (818); Hügelschäffer, BetrAV 2004, 354 (358); Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 143 ff.; Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 33 ATV Erl. 3. 305 BGH v. 14.11.2007 – IV ZR 74/06, NVwZ 2008, 455.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.248c § 28

selbst eine abweichende Berechnung der Startgutschriften für die rentenfernen Versicherten vorgegeben, sondern den Tarifvertragsparteien aufgegeben, eine verfassungskonforme Neuregelung vorzunehmen. Zwischenzeitlich hatten die Tarifvertragsparteien dieser Rechtsprechung des BGH Rechnung getragen und mit dem 5. Änderungstarifvertrag vom 30.5.2011 zum ATV/ATV-K rückwirkend zum 1.1.2001 ergänzende Regelungen in § 33 Abs. 1a ATV/ ATV-K vorgesehen, die von den Zusatzversorgungskassen in deren Satzungen entsprechend umgesetzt wurden (§ 79 Abs. 1a VBLS, § 73 Abs. 1a AKA-MS). Vor dem Hintergrund, dass der BGH die Höhe des Versorgungssatzes von 2,25 % für jedes Jahr der Pflichtversicherung gemäß § 18 Abs. 2 BetrAVG beanstandet hatte, da dies innerhalb der Gruppe der rentenfernen Pflichtversicherten zu einer sachwidrigen Ungleichbehandlung führe306, hatten sich die Tarifvertragsparteien darauf verständigt, eine Vergleichsberechnung entsprechend § 2 Abs. 1 BetrAVG mit einem individuellen Unverfallbarkeitsquotienten vorzunehmen307. Ein Antrag der Versicherten auf Überprüfung der Startgutschrift war in diesem Zusammenhang nicht erforderlich. Die Überprüfung wurde von den Zusatzversorgungskassen von sich aus vorgenommen. In einem ersten Schritt wurde dabei der bisherige Vomhundertsatz gemäß § 18 Abs. 2 Betr- 28.248b AVG (2,25 % je Pflichtversicherungsjahr) mit einem individuellen Unverfallbarkeitsquotienten entsprechend § 2 Abs. 1 BetrAVG abzüglich eines Abschlags von 7,5 % verglichen. Der Unverfallbarkeitsquotient wird aus dem Verhältnis der Pflichtversicherungszeiten vom Beginn der Pflichtversicherung bis zum 31.12.2001 im Verhältnis zu der Zeit vom Beginn der Pflichtversicherung bis zum Ablauf des Monats, in dem das 65. Lebensjahr vollendet wird, gebildet. Dieser Vomhundertsatz wird auf zwei Nachkommastellen gerundet und um 7,5 Prozentpunkte vermindert (§ 33 Abs. 1a Nr. 1 ATV/ATV-K). Ist der so ermittelte (um 7,5 % verminderte) Vomhundertsatz höher als der bisherige Vomhundertsatz gemäß § 18 Abs. 2 BetrAVG (und nur in diesem Fall, ansonsten blieb es bei der bisherigen Startgutschrift), erfolgte in einem zweiten Schritt auf Basis dieses neuen Vomhundertsatzes eine weitergehende Vergleichsberechnung gemäß § 33 Abs. 1a Nr. 2 ATV/ATV-K. Hierzu wird auf der Basis der Regelungen des alten Gesamtversorgungssystems (§ 41 Abs. 2, 2b VBLS aF, § 23 Abs. 2 und 2b VersTV-G) ein individueller Versorgungssatz berechnet. Als gesamtversorgungsfähige Zeit werden dabei alle bis zum 31.12.2001 erreichten Pflichtversicherungszeiten zuzüglich der Monate vom 1.1.2002 bis zum Ablauf des Monats, in dem das 65. Lebensjahr vollendet wird, sowie zusätzlich die Hälfte der Differenz308 der Monate ab Vollendung des 17. Lebensjahres bis zum 31.12.2001 berücksichtigt. Diese gesamtversorgungs-

306 Die Tatsache, dass eine 100 %-Leistung damit erst nach 44,44 Pflichtversicherungsjahren erreicht werden kann, benachteiligt solche Pflichtversicherte, die erst spät in den öffentlichen Dienst eingetreten sind (zB Akademiker), die insoweit die Vollversorgung regelmäßig nicht erreichen könnten. 307 Hierzu Hügelschäffer, BetrAV 2011, 613 ff.; mathematische Überlegungen zum Günstigkeitsvergleich bei Krusche, BetrAV 2012, 41 ff.; kritisch Künstle, BetrAV 2012, 438 ff.; Einzelheiten zur Berechnungsmethode mit Berechnungsbeispielen bei Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 33 ATV Erl. 3.3.4 und Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 227 ff. 308 Für Pflichtversicherte im Abrechnungsverband Ost der VBL, die nur Pflichtversicherungszeiten in der Zusatzversorgung nach dem 31.12.1996 haben, werden für die anzurechnende Zeit außerhalb der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst vor dem 1.1.1997 höchstens 75 Monate zur Hälfte berücksichtigt.

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28.248c

§ 28 Rz. 28.248c

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

fähige Zeit wird mit der Versorgungsstaffel des alten Gesamtversorgungssystems in Höhe von 2,294 %309 multipliziert und hieraus der individuelle Versorgungssatz ermittelt. Dieser individuelle Versorgungssatz wird mit dem Gesamtbeschäftigungsquotienten310 sowie dem bereits im Rahmen der Berechnung der bisherigen Startgutschrift gemäß § 18 Abs. 2 BetrAVG ermittelten durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelt multipliziert. Hieraus ergibt sich die Gesamtversorgung nach dem alten System. Von dieser Gesamtversorgung wird die nach dem Näherungsverfahren im Rahmen der bisherigen Startgutschriftberechnung bereits ermittelte Grundversorgung (Rente der gesetzlichen Rentenversicherung) abgezogen. Der sich hieraus ergebende Betrag wird mit dem individuellen (um 7,5 % gekürzten) Unverfallbarkeitsquotienten multipliziert. Dies ist im Ergebnis dann die gemäß § 33 Abs. 1a ATV/ATV-K ermittelte Vergleichsstartgutschrift. Ist diese Vergleichsstartgutschrift höher als die ursprünglich gemäß § 18 Abs. 2 BetrAVG ermittelte Startgutschrift, wird der Unterschiedsbetrag zwischen diesen beiden Anwartschaften als Zuschlag zur ursprünglichen Startgutschrift gemäß § 33 Abs. 1 ATV/ATV-K berücksichtigt. Die Summe aus der ursprünglichen Startgutschrift und dem Zuschlag bildet dann die neue Startgutschrift (§ 32 Abs. 6 ATV/ATV-K). Auf den Zuschlag zur Anwartschaft werden für die Jahre 2001 bis 2010 keine Bonuspunkte gewährt (§ 33 Abs. 7 ATV/ATV-K). Ergibt sich nach der Vergleichsberechnung kein Zuschlag, verbleibt es bei der bisherigen Startgutschrift. Wenn sich ein Zuschlag zur Startgutschrift ergab oder wenn eine Beanstandung der Startgutschrift vorlag, wurde das Ergebnis im Versicherungsnachweis 2011 durch die Zusatzversorgungskassen mitgeteilt (§ 32 Abs. 6 ATV/ATV-K).

28.248d In der Grundsatzentscheidung zur Berechnung der Startgutschriften der rentenfernen Pflichtversicherten hatte der BGH auch die ausschließliche Anwendung des Näherungsverfahrens zur Bestimmung der anzurechnenden Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung behandelt, ohne diese Frage abschließend entscheiden zu müssen. Der BGH hatte den Tarifvertragsparteien allerdings aufgegeben, im Rahmen der Verhandlungen zur erforderlichen Neuregelung auch diese Thematik nochmals zu prüfen. Im Rahmen der Tarifvertragsverhandlungen hatten die Tarifvertragsparteien daher die Auswirkungen des Näherungsverfahrens anhand konkreter Bestandsdaten untersuchen lassen und waren zu dem Ergebnis gekommen, dass beim ausgewerteten Versichertenbestand in über 92 % der Fälle das Näherungsverfahren zu einer günstigeren Startgutschrift führt, lediglich bei einer äußerst geringen Zahl von Versicherten wäre das Näherungsverfahren deutlich ungünstiger als die Berücksichtigung einer individuellen Rentenauskunft. Einen Nachbesserungsbedarf sahen die Tarifvertragsparteien in diesem Punkt daher nicht und behielten die Anwendung des Näherungsverfahrens ausdrücklich bei (vgl. hierzu die Protokollerklärung der Tarifvertragsparteien zu § 33 Abs. 1, 1a ATV/ATV-K)311.

28.248e Auch die ergänzende Neuregelung zur Berechnung der Startgutschriften für die rentenfernen Pflichtversicherten hielt allerdings einer Überprüfung durch die Rechtsprechung

309 War der Versicherte bei Beginn der erstmaligen Pflichtversicherung älter als 50 Jahre, gilt die gekürzte Versorgungsstaffel von 1,957 %. 310 Durch den Gesamtbeschäftigungsquotienten wurden im früheren Gesamtversorgungssystem Zeiten einer Teilzeit und Sonderurlaub mindernd berücksichtigt; bei einer durchgängigen Vollzeitbeschäftigung beträgt der Gesamtbeschäftigungsquotient 1. 311 Vgl. hierzu Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 33 ATV Erl. 3.3.2; Hügelschäffer, BetrAV 2011, 613 ff.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.248f § 28

nicht stand. Der BGH312 bemängelte, dass auch unter Berücksichtigung der ergänzten Bestimmung in § 33 Abs. 1a ATV/ATV-K (§ 79 Abs. 1a VBLS, § 73 Abs. 1a AKA-MS) und der darin vorgesehenen Vergleichsberechnung weiterhin eine sachwidrige, gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der rentenfernen Versicherten vorliege (Einzelheiten hierzu in Rz. 28.256b). Der BGH hielt aber erneut an seiner Einschätzung fest, dass es den Tarifvertragsparteien weiterhin offenstehe, andere (verfassungskonforme) Wege der Startgutschriftermittlung festzulegen. Die Tarifvertragsparteien reagierten auf diese neuerliche Kritik mit dem Änderungstarifvertrag Nr. 10 zum ATV/Änderungstarifvertrag Nr. 7 zum ATV-K (jeweils vom 8.6.2017), mit denen sich die Tarifvertragsparteien auf eine Neuregelung zur Berechnung der Startgutschriften für rentenferne Versicherte verständigten. Gemäß dieser Neuregelung der Startgutschrift in 2017 wurde der bisher in § 33 Abs. 1 ATV/ ATVK (§ 79 Abs. 1 VBLS, § 73 Abs. 1 AKA-MS) in Verbindung mit § 18 Abs. 2 BetrAVG vorgesehene (und vom BGH bereits in der Grundsatzentscheidung313 bemängelte) Faktor von 2,25 % (vgl. hierzu Rz. 28.248) verändert (§ 33 Abs. 1 Satz 3 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 1 Satz 3 VBLS, § 73 Abs. 1 Satz 3 AKA-MS). An Stelle des bisherigen Faktors von 2,25 % ist jetzt ein Faktor zu berücksichtigen, der sich ergibt, indem man 100 v.H. teilt durch die Zeit in Jahren314 vom erstmaligen Beginn der Pflichtversicherung bis zum Ende des Monats, in dem das 65. Lebensjahr vollendet wird; der Faktor beträgt jedoch mindestens 2,25 % und höchstens 2,5 %. Auf die Vollendung des 65. Lebensjahres wird deshalb abgestellt, da dies zum Stichtag der Systemumstellung (31.12.2001) noch die Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung war. Die Begrenzung des Faktors auf 2,5 % beruht darauf, dass der Höchstversorgungssatz der Zusatzversorgung im alten Gesamtversorgungssystem vor der Systemumstellung nach 40 Jahren versorgungsfähiger Zeit erreichbar war. Durch die Untergrenze des Faktors von 2,25 % wird sichergestellt, dass mindestens dieser bisherige Faktor erhalten bleibt. Mit diesem neu ermittelten Faktor ist im Rahmen der Neuregelung gemäß § 33 Abs. 1 ATV/ ATV-K (§ 79 Abs. 1 VBLS, § 73 Abs. 1 AKA-MS) die Berechnung der Startgutschrift auf der Basis von § 18 Abs. 2 BetrAVG vorzunehmen (vgl. zur Berechnung im Übrigen Rz. 28.248). Die Vergleichsberechnung gemäß § 33 Abs. 1 ATV-ATV-K (§ 79 Abs. 1a VBLS, § 73 Abs. 1a 28.248f AKA-MS) wird unverändert beibehalten (vgl. hierzu Rz. 28.248a ff.); für die Vergleichsberechnung wird dabei weiterhin auf den bisherigen Faktor von 2,25 % abgestellt315. Es erfolgt letztlich eine „Meistbegünstigung“: Soweit nach der Überprüfung die aufgrund der alten Regeln ermittelte Startgutschrift (bisherige Startgutschrift gemäß § 33 Abs. 1 ATV/ATV-K ohne Berücksichtigung des neuen Faktors zuzüglich eines etwaigen Zuschlages gemäß § 33 Abs. 1a ATV/ATV-K gemäß dem Vergleichsmodell) die „neue Startgutschrift“ erreicht oder übertrifft, verbleibt es bei der bisherigen, bereits mitgeteilten Startgutschrift (§ 32 Abs. 6 ATV/ATV-K, § 78 Abs. 4 VBLS, § 72 Abs. 4 AKA-MS). Eine Verminderung der Startgutschriften ist also ausgeschlossen. Nur wenn die „neue Startgutschrift“ unter Berücksichtigung des neuen Faktors gemäß § 33 Abs. 1 Satz 3 ATV/ATV-K höher ist, gilt diese. Die Vergabe von Bonuspunk312 BGH v. 9.3.2016 – IV ZR 9/15, NZA-RR 2016, 318; BGH v. 9.3.2016 – IV ZR 168/15, NZA-RR 2016, 315. 313 BGH v. 14.11.2007 – IV ZR 74/06, NVwZ 2008, 455. 314 Dabei werden Teilmonate ermittelt, indem die Pflichtversicherungszeit unabhängig von der tatsächlichen Anzahl der Tage des betreffenden Monats durch 30 dividiert wird. Aus der Summe der (Teil-) Monate werden die Jahre der Pflichtversicherung berechnet. Der sich durch die Division mit der Zeit in Jahren ergebende Faktor wird auf vier Nachkommastellen gemeinüblich gerundet. 315 Vgl. die Protokollnotiz zu § 33 Abs. 1a Satz 1 Nr. 2 ATV/ATV-K.

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§ 28 Rz. 28.248f

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

ten für die Zeit bis zum 31.12.2016 wird durch die Neuberechnung der Startgutschriften aufgrund der Änderungen nicht berührt (§ 33 Abs. 7 Satz 3 ATV/ATV-K). dd) Beitragsfrei Versicherte

28.249 Bei den beitragsfrei Versicherten handelt es sich um ehemalige Arbeitnehmer, die entweder am 31.12.2001 oder am 1.1.2002 oder an beiden Tagen nicht mehr pflichtversichert waren (mangels Arbeitsverhältnis zu einem bei der VBL oder einer anderen Zusatzversorgungseinrichtung beteiligten Arbeitgeber). Im früheren Gesamtversorgungssystem hatten diese Versicherten lediglich eine Anwartschaft auf eine statische Versicherungsrente in Höhe des versicherungsmathematischen Barwerts der eingezahlten Beiträge und Umlagen. Diese beitragsfrei Versicherten erhalten eine Startgutschrift nach den Berechnungen der sog. einfachen Versicherungsrente (§ 44 VBLS aF), ein Anspruch auf die qualifizierte Versicherungsrente (§ 44a VBLS aF) besteht für die Berechnung der Startgutschrift der beitragsfrei Versicherten nicht316. Wenn die Voraussetzungen der gesetzlichen Unverfallbarkeit iSd. BetrAVG erfüllt sind, besteht allerdings ein Anspruch der Versicherten auf eine Berechnung gemäß § 18 Abs. 2 BetrAVG317. Dies wurde bei der VBL bereits bei der Berechnung der Startgutschrift berücksichtigt, während dies bei vielen kommunalen Zusatzversorgungskassen bei der Berechnung der Startgutschriften außer Betracht blieb und eine Vergleichsrechnung dort erst bei Eintritt des Versorgungsfalles vorgenommen wird318.

28.249a Wie bereits bei der Berechnung der Startgutschriften für die rentenfernen Pflichtversicherten hat der BGH319 allerdings auch bezüglich der Berechnung der Startgutschriften der beitragsfrei Versicherten – soweit sich diese nach § 18 Abs. 2 BetrAVG richtet, betroffen war insoweit also im Wesentlichen nur die VBL – die dort vorgesehene Höhe des Versorgungssatzes von 2,25 % für jedes Jahr der Pflichtversicherung beanstandet und insoweit die Berechnung der Startgutschriften für unverbindlich erklärt.

28.249b Die Tarifvertragsparteien haben daraufhin mit dem 5. Änderungstarifvertrag vom 30.5.2011 zum ATV/ATV-K auch für die Berechnung der Startgutschriften der beitragsfrei Versicherten die oben (Rz. 28.248a ff.) bereits erläuterte Vergleichsberechnung vorgesehen, soweit ein gesetzlicher Anspruch nach § 18 Abs. 2 BetrAVG besteht (§ 34 Abs. 1 ATV/ATV-K). Im Zuge der Neuregelung der Startgutschrift (Rz. 28.248e) in 2017 wurde festgelegt, dass zur Berechnung des gesetzlichen Anspruchs nach § 18 Abs. 2 BetrAVG anstelle des dort vorgesehenen Faktors von 2,25 % der neue Faktor gemäß § 33 Abs. 1 Satz 3 ATV/ATV-K zur Anwendung kommt.

28.249c Anders als die bisherigen Versicherungsrenten werden nach dem neuen (Satzungs-) Recht ab Eintritt eines Versorgungsfalles auch die Leistungen aus diesen Startgutschriften jeweils 316 Vgl. hierzu BGH v. 29.9.2010 – IV ZR 99/09: Dies folgt aus dem in § 80 Abs. 1 VBLS enthaltenen Verweis auf die am 31.12.2001 geltende Versicherungsrentenberechnung. Die Berechnung soll nur auf solchen Regelungen beruhen, die zu diesem Zeitpunkt galten. Das war bezüglich § 44a VBLS aF nicht der Fall. Nachdem das BVerfG mit Beschluss v. 15.7.1998 – 1 BvR 1554/89, AuR 1999, 146-149, die dementsprechende Regelung in § 18 Abs. 2 BetrAVG aF für mit dem GG unvereinbar erklärt hatte, war nach der Rechtsprechung des BGH ab dem 31.12.2000 auch § 44a VBLS aF nicht mehr anzuwenden. § 80 Abs. 1 VBLS ist nach BGH v. 16.1.2013 – IV ZR 232/10, NVwZ-RR 2013, 419, auch nicht intransparent. 317 Einzelheiten zur Berechnung bei Kiefer/Langenbrinck/Kulok, § 34 ATV. 318 Vgl. Hügelschäffer, BetrAV 2011, 613 ff. 319 BGH v. 29.9.2010 – IV ZR 99/09, IV ZR 179/09, IV ZR 8/10 und IV ZR 11/10, VersR 2011, 63; v. 16.1.2013 – IV ZR 232/10.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.251 § 28

zum 1. Juli eines jeden Jahres um 1 % angepasst. Bis zum Eintritt eines Versorgungsfalles nehmen diese Startgutschriften ggf. an der Verteilung von Bonuspunkten teil (s. hierzu Rz. 28.195 f.), wobei auf einen etwaigen Zuschlag aus der Vergleichsberechnung für die Jahre 2001 bis 2010 keine Bonuspunkte gewährt werden (§ 34 Abs. 1 Satz 3 ATV/ATV-K). ee) Einwände gegen die Berechnung der Startgutschriften Angesichts der vollständigen Systemumstellung der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes, den damit verbundenen Einschnitten bei der Versorgung (insbesondere bei den rentenfernen Jahrgängen) und der Anzahl der Betroffenen war es nicht verwunderlich, dass die Systemumstellung an sich, vor allem aber die Berechnung der Startgutschriften in die Kritik geriet. Eine Vielzahl betroffener Versicherter beanstandete die von den Zusatzversorgungseinrichtungen ursprünglich mitgeteilten Startgutschriften. Insgesamt erreichten die Zusatzversorgungseinrichtungen (VBL und die in der AKA zusammengeschlossenen Kassen) bis 1.3.2004 insgesamt ca. 436.000 Beanstandungen (allein die VBL war bei mehr als 1,9 Mio. Pflichtversicherten mit über 223.000 Beanstandungen betroffen). In insgesamt 2000 Fällen wurde allein gegen die VBL vor den ordentlichen Gerichten, in 5000 Fällen vor deren Schiedsgericht Klage erhoben. Allerdings konnten wegen der Vielzahl von gleich gelagerten Rechtsfragen ca. 840 Verfahren vor den ordentlichen Gerichten und ungefähr 1500 Fälle vor dem Schiedsgericht zum Ruhen gebracht werden320.

28.250

Wesentliche Einwände gegen die ursprüngliche Berechnung der Startgutschriften der rentenfernen Jahrgänge waren dabei insbesondere321:

28.251

– Die Festschreibung der zum Stichtag 31.12.2001 für den jeweiligen Versicherten bestehenden Steuerklasse (I/0 oder III/0) zur Ermittlung des Nettoarbeitsentgelts bewirkt, dass etwaige für den Versicherten günstige, spätere Änderungen der persönlichen Verhältnisse unberücksichtigt bleiben. Zur Rechtfertigung dieser Berechnungsweise wurde vorgebracht, dass es sich hierbei um eine ausdrückliche Grundsatzentscheidung der Tarifvertragsparteien322 handle, die nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterworfen sei. Die stichtagsbezogene Festschreibung dieser Bemessungsgrundlagen entspricht im Übrigen dem im BetrAVG für die Berechnung unverfallbarer Anwartschaften festgelegten Prinzip (vgl. § 2a Abs. 1, § 18 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. c BetrAVG). – Weiterhin wurde eingewandt, dass die Regelungen zur Mindestversorgung gemäß der sog. qualifizierten Versicherungsrente323 (§ 44a VBLS aF) nicht zur Anwendung kommen, die für beitragsfrei Versicherte galten, welche nach Vollendung des 35. Lebensjahres aufgrund eines ununterbrochenen Arbeitsverhältnisses mindestens zehn Jahre in der Zusatzversorgung pflichtversichert oder bei zwölfjähriger Betriebszugehörigkeit zum selben Arbeitgeber wenigsten drei Jahre pflichtversichert waren. 320 Hügelschäffer, BetrAV 2004, 354 (355); Wein, BetrAV 2006, 331. 321 Zu den verschiedenen Streitfragen der Rechtmäßigkeit der Berechnung der Startgutschriften vgl. Hügelschäffer, BetrAV 2004, 354; Rengier, NZA 2004, 817; Stebel, BetrAV 2004, 333 (336); Kühn/ Kontusch, BetrAV 2004, 283; Preis/Temming, ZTR 2003, 262; Wein, BetrAV 2006, 331; Ackermann, BetrAV 2006, 247. 322 Siehe hierzu Nr. 6 der Niederschriftserklärung der Tarifvertragsparteien zum 2. Änderungstarifvertrag zum ATV/ATV-K. 323 Die Regelungen der qualifizierten Versicherungsrente basierten auf der vom BVerfG für verfassungswidrig erklärten, bis zum 31.12.2000 gültigen Fassung des § 18 BetrAVG.

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§ 28 Rz. 28.251

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Gegen diesen Einwand wurde angeführt, dass diese Nichtberücksichtigung der qualifizierten Versicherungsrente letztendlich aus der Grundsatzentscheidung folge, die Startgutschrift der rentenfernen Jahrgänge gemäß § 18 Abs. 2 BetrAVG zu berechnen. § 18 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. e BetrAVG sieht ausdrücklich vor, dass Mindestleistungen (hierzu gehört insbesondere auch die qualifizierte Versicherungsrente) bei der Ermittlung der Voll-Leistung keine Anwendung finden. – Bemängelt wurde außerdem, dass bei der Berechnung der Startgutschriften der rentenfernen Jahrgänge nur Pflichtversicherungszeiten Berücksichtigung finden, nicht dagegen sonstige Zeiten (insbesondere Vordienstzeiten, die nach dem bisherigen Halbanrechnungsverfahren zumindest zur Hälfte berücksichtigt wurden). Hiergegen wurde zur Rechtfertigung vorgebracht, dass das BVerfG in der sog. Halbanrechnungsentscheidung324 selbst deutlich gemacht habe, dass eine Berücksichtigung von Vordienstzeiten im Rahmen der Zusatzversorgung grundsätzlich nicht geboten sei. Die Nichtberücksichtigung solcher Zeiten im Rahmen der Neuregelung entspreche insoweit einer von den Tarifvertragsparteien getroffenen Grundsatzentscheidung, die nur eingeschränkt überprüfbar sei. Diese Entscheidung diene letztendlich der Beseitigung der vom BVerfG in seiner Halbanrechnungsentscheidung beanstandeten Ungleichbehandlung. – Kritisch wurde auch gesehen, dass die festgestellten und in Startgutschriften umgerechneten Anwartschaften nicht dynamisiert oder verzinst werden und insbesondere nicht einer Steigerung durch Berücksichtigung der Altersfaktoren unterliegen. Hierauf wurde von den Befürwortern der Systemumstellung erwidert, dass die Tarifvertragsparteien eine Weiterentwicklung der Anwartschaften über eine Zuteilung von Bonuspunkten vorgesehen und damit einen Wechsel von dem bisherigen Endgehaltsbezug (Lohndynamik) zu einer Zinsdynamik vorgesehen hätten. – Ein wesentlicher Kritikpunkt war die ausschließliche Anwendung des Näherungsverfahrens zur Bestimmung der anzurechnenden gesetzlichen Rente bei den Versicherten der rentenfernen Jahrgänge. Eingewandt wurde, dass insoweit in vielen Fällen eine zu hohe gesetzliche Rente angerechnet würde und auch eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber den rentennahen Jahrgängen vorliege, bei denen auf der Basis einer individuellen Rentenauskunft die konkreten Anwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung berücksichtigt werden. Hieraus wurde die Folgerung gezogen, dass auch bei den rentenfernen Jahrgängen zumindest auf Antrag des Versicherten eine konkrete Rentenauskunft des gesetzlichen Rentenversicherungsträgers zugrunde gelegt werden müsse. – Darüber hinaus wurde eingewandt, die Anwendung von § 18 Abs. 2 BetrAVG zur Berechnung der Startgutschriften der rentenfernen Jahrgänge sei nicht geeignet, die erworbenen Besitzstände zu wahren. § 18 Abs. 2 BetrAVG sei auf das vorzeitige Ausscheiden von Beschäftigten aus dem öffentlichen Dienst zugeschnitten, dies könne nicht auf die Systemumstellung übertragen werden. Es müssten vielmehr die Grundsätze von § 2 Abs. 1 BetrAVG herangezogen werden. Die Befürworter der Systemumstellung hielten diesem Einwand entgegen, dass § 18 Abs. 2 BetrAVG für die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes lex specialis sei. § 18 Abs. 2 BetrAVG lege zutreffend den vom Fortbestand des Dienstverhältnisses unabhängigen So-

324 BVerfG v. 22.3.2000 – 1 BvR 1136/96, NJW 2000, 3341 = AP Nr. 27 zu § 18 BetrAVG.

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Betz-Rehm

Die Pflichtversicherung

Rz. 28.251 § 28

ckelbetrag fest, den der Beschäftigte erdient habe325. Im Übrigen sei auf den weitgehenden Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien hinzuweisen: Gemäß § 19 Abs. 1 (früher § 17 Abs. 3 Satz 1) BetrAVG ist die allgemeine Vorschrift zur Berechnung unverfallbarer Anwartschaften in § 2 BetrAVG bereits selbst tarifdispositiv. Der Gesetzgeber habe den Tarifvertragsparteien insoweit die Befugnis eingeräumt, von Schutznormen des BetrAVG auch zuungunsten der Arbeitnehmer abzuweichen. Dies könne auch auf den Schutz von Besitzständen im Rahmen der Systemumstellung übertragen werden. Gegen eine Anwendung von § 18 Abs. 2 BetrAVG wurde darüber hinaus (zumindest implizit) geltend gemacht, auch die zum 1.1.2001 in Kraft getretene Neuregelung des § 18 Abs. 2 BetrAVG sei im Hinblick auf die allgemeine Unverfallbarkeitsregelung des § 2 BetrAVG verfassungswidrig326. – Gegen die Rechtmäßigkeit der Berechnung der Startgutschriften der rentenfernen Versicherten wurde schließlich eingewandt, dass das vom BAG zum Schutz von Versorgungsbesitzständen vor verschlechternden Eingriffen entwickelte sog. Drei-Stufen-Modell nicht ausreichend berücksichtigt worden sei. Nach diesem Drei-Stufen-Modell bedürfen Eingriffe in Versorgungsordnungen umso gewichtigerer Rechtfertigungsgründe, je schützenswerter das Vertrauen auf die bisher erreichte Rechtsposition ist. Eingriffe in die erdienten Anwartschaften sind nur ausnahmsweise zulässig bei Vorliegen zwingender Gründe, die einem Wegfall der Geschäftsgrundlage gleichkommen. Eingriffe in eine zeitanteilig erdiente Dynamik (zB bei Endgehaltsbezug einer Versorgung) sind nur aus triftigen Gründen möglich. In noch nicht erdiente zukünftige Zuwächse kann demgegenüber bereits bei Vorliegen sachlich-proportionaler Gründe eingegriffen werden327. Hierzu ist anzumerken, dass nach der Rechtsprechung des BAG diese Dreistufentheorie auf eine verschlechternde Neuordnung von Versorgungsanwartschaften durch Tarifvertrag nicht unbesehen zur Anwendung kommt328. Den Tarifvertragsparteien steht bei einer verschlechternden Abänderung tarifvertraglicher Versorgungsregelungen aufgrund der grundrechtlich geschützten Tarifautonomie ein erweiterter Beurteilungs- und Ermessensspielraum zur Verfügung329. Tarifverträge unterliegen deshalb keiner Billigkeitskontrolle.

325 Wein, BetrAV 2006, 331. 326 Die hiergegen beim BVerfG eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde von diesem allerdings nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG v. 9.5.2007 – 1 BvR 1700/02, BetrAV 2007, 576 f.); nähere Einzelheiten hierzu bei Wein, BetrAV 2006, 331 (333); Wein, BetrAV 2007, 537 (538); zur Verfassungsmäßigkeit von § 18 Abs. 2 BetrAVG vgl. auch Hügelschäffer, BetrAV 2004, 354 (359). In zwei weiteren Entscheidungen – BVerfG v. 8.5.2012 – 1 BvR 1065/03, 1 BvR 1082/03, NZA 2012, 905, bestätigte das BVerfG diese Linie. 327 St. Rspr. des BAG seit BAG v. 17.4.1985 – 3 AZR 72/83, NZA 1986, 57; v. 29.7.2003 – 3 AZR 630/02, AP Nr. 45 zu § 1 BetrAVG Ablösung; v. 18.2.2003 – 3 AZR 81/02, ArbRB 2003, 238 = NZA 2004, 98; v. 10.9.2002 – 3 AZR 635/01, BB 2003, 2749; v. 11.12.2001 – 3 AZR 128/01, ArbRB 2003, 6 = NZA 2003, 1407. 328 BAG v. 27.6.2006 – 3 AZR 255/05, NZA 2006, 1285; v. 28.7.2005 – 3 AZR 14/05, NZA 2006, 335; v. 25.4.2004 – 3 AZR 123/03, AP Nr. 11 zu § 1 BetrAVG Überversorgung. 329 BAG v. 27.3.2007 – 3 AZR 299/06, NZA-RR 2008, 82; v. 27.6.2006 – 3 AZR 255/05, NZA 2006, 1285; v. 28.7.2005 – 3 AZR 14/05, NZA 2006, 335; BGH v. 14.11.2007 – IV ZR 74/06, NVwZ 2008, 455; ErfK/Steinmeyer, § 1 BetrAVG Rz. 38; Höfer, Kapitel 5 Rz. 75 ff., 567 ff.; ebenso Blomeyer/ Rolfs/Otto, Anhang zu § 1 BetrAVG Rz. 607 ff., der allerdings für eine Anwendung des Drei-Stufen-Modells plädiert.

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§ 28 Rz. 28.251

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Die Gerichte haben sie nur daraufhin zu prüfen, ob sie gegen das GG oder anderes höherrangiges Recht verstoßen. – Allerdings sind die Tarifvertragsparteien – ebenso wie der Gesetzgeber – an die aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgenden Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit sowie an den Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden330. Umstritten war in diesem Zusammenhang insbesondere, was die erdiente und zu schützende Anwartschaft im Rahmen des früheren Gesamtversorgungssystems ist: Auf der einen Seite wurde vertreten, dass sich die erdiente Anwartschaft auf die dynamische Versorgungsrente der Gesamtversorgung bezieht. Dem wurde entgegengehalten, dass im Gesamtversorgungssystem die bisher erreichte „Anwartschaft“ auf Versorgungsrente bis zum Eintritt eines Versicherungsfalles noch verfallbar ist; nur wenn unmittelbar bis zum Eintritt eines Versicherungsfalles eine Pflichtversicherung bestand, erhielt der Versicherte die dynamische Versorgungsrente, ansonsten bestand nur Anspruch auf die statische Versicherungsrente. Deshalb könne nicht von einer bis zum Stichtag der Umstellung erdienten Anwartschaft auf Versorgungsrente ausgegangen werden. Erdient sei nur die Versicherungsrente. In diese Richtung ging auch bereits eine frühere Entscheidung des BGH zum Versorgungsausgleich331.

28.252 Gegen die Berechnung der Startgutschriften für die rentennahen Jahrgänge wurden vergleichbare Einwände erhoben332 (wobei es allerdings nicht auf die Streitfragen der Anwendung von § 18 Abs. 2 BetrAVG und des Näherungsverfahrens ankommt). ff) Rechtsprechung zu den Startgutschriften der rentenfernen Versicherten

28.253 Bezüglich der rentenfernen Pflichtversicherten wurde die Berechnung der Startgutschriften zunächst durch das LG Karlsruhe333 als unzulässiger Eingriff in die erdienten Rentenanwartschaften beanstandet und gefordert, dass die Betriebsrente bei Eintritt des Versicherungsfalls mindestens den geringeren Betrag erreichen müsse, der sich nach bisherigem Recht zum Umstellungsstichtag 31.12.2001 oder zum Eintritt des jeweiligen Versicherungsfalls ergäbe, wobei das LG Karlsruhe hierzu auf konkrete Vergleichsberechnungen abstellte. Weiterhin verlangte das LG Karlsruhe, dass auf Antrag des Versicherten die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung anstatt nach dem Näherungsverfahren auf der Grundlage einer konkreten Rentenauskunft berücksichtigt werden müsse. Im Übrigen müsste die errechnete Startgutschrift mit den Altersfaktoren (§ 36 Abs. 3 VBLS) multipliziert werden.

330 BAG v. 27.3.2007 – 3 AZR 299/06, NZA-RR 2008; v. 27.6.2006 – 3 AZR 255/05, NZA 2006, 1285; v. 28.7.2005 – 3 AZR 14/05, NZA 2006, 335; BGH v. 14.11.2007 – IV ZR 74/06, NVwZ 2008, 455. 331 BGH v. 26.5.1982 – IVb ZB 718/81, NJW 1982, 1989: In dieser Entscheidung hatte der BGH zum Umfang der unverfallbaren Anwartschaft aus der Zusatzversorgung festgestellt, dass als unverfallbar die Anwartschaften gelten, die nach den maßgeblichen Bestimmungen in ihrem Versorgungswert durch die künftige betriebliche oder berufliche Entwicklung des Versicherten nicht mehr beeinträchtigt werden, sondern ihm verbleiben, wenn er vor Eintritt des Versicherungsfalles aus dem Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst ausscheidet. 332 Vgl. die im Urteil des LG Karlsruhe v. 30.1.2004 – 6 O 125/03, EzBAT § 33 Abs. 2 ATV Nr 2 behandelten Problempunkte. 333 LG Karlsruhe v. 30.1.2004 – 6 O 197/03, EzBAT § 33 Abs. 2 ATV Nr. 1.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.255 § 28

Das OLG Karlsruhe334 hob diese Entscheidung in der 2. Instanz zwar auf, bewertete jedoch die Berechnung der Startgutschriften für die rentenfernen Pflichtversicherten ebenfalls als einen unzulässigen Eingriff in erdiente Besitzstände und stellte fest, dass die von der VBL gemäß ihrer Satzung erteilte Startgutschrift den Wert der bis zum 31.12.2001 erlangten Anwartschaft nicht verbindlich festlege. Das OLG Karlsruhe vertrat die Auffassung, die Rentenanwartschaften müssten in Anlehnung an das Drei-Stufen-Modell gemäß § 2 BetrAVG und nicht nach § 18 Abs. 2 BetrAVG berechnet werden und unterlägen als solche dem Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG. Auf dieser Basis kam das OLG Karlsruhe zu dem Ergebnis, dass aufgrund einer Verschlechterung mehrerer Berechnungsfaktoren ein nicht gerechtfertigter Eingriff in die erdienten Anwartschaften vorliege, der den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit nicht standhalte. Auch werde der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) sowohl bezüglich der alleinigen Anwendung des Näherungsverfahrens als auch hinsichtlich nicht nachvollziehbarer Unterschiede innerhalb der Gruppe der rentenfernen Pflichtversicherten verletzt. Die Übergangsregelung für rentenferne Versicherte sei unwirksam und den Tarifpartnern deshalb Gelegenheit zu einer Neuregelung zu geben. In der Literatur war diese Rechtsprechung des OLG Karlsruhe zu den Startgutschriften der rentenfernen Pflichtversicherten teilweise auf erhebliche Kritik gestoßen335.

28.254

Gegen diese Entscheidungen wurde durch die VBL (und großteils auch die jeweiligen Kläger) zum BGH Revision eingelegt. In einer Entscheidung vom 14.11.2007336 hat der BGH daraufhin ausführlich zur Berechnung der Startgutschriften für die rentenfernen Versicherten Stellung genommen und dabei sowohl die Systemumstellung an sich als auch die grundsätzliche Systematik der Berechnung der Startgutschriften für die rentenfernen Versicherten gebilligt. Allerdings sah der BGH in der Höhe des jährlichen Anteilssatzes von 2,25 % eine sachwidrige, gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der rentenfernen Versicherten, die im Ergebnis zu einer Unwirksamkeit der betreffenden Besitzstandsregelung führe.

28.255

Zunächst stellte der BGH in dieser Entscheidung fest, dass die Übergangsregelungen einer Inhaltskontrolle nach den AGB-rechtlichen Bestimmungen entzogen seien, da sie auf einer maßgeblichen Grundentscheidung der Tarifpartner beruhten. Weiterhin stellte der BGH (anders als das OLG Karlsruhe) darauf ab, dass die in der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes erworbenen Rentenanwartschaften, jedenfalls soweit sie die nach dem BetrAVG unverfallbaren Beträge übersteigen, nicht unter den Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG fielen. Anders als das OLG Karlsruhe (das bei der Berechnung des erdienten Besitzstandes auf Art. 2 Abs. 1 BetrAVG abgestellt hatte) beanstandete der BGH auch die Berechnung nach § 18 Abs. 2 BetrAVG grundsätzlich nicht. Ferner stellte der BGH fest, dass die Übergangsregelungen zwar teilweise zu Eingriffen in die sog. erdiente Dynamik (zweite Besitzstandsstufe im Sinne der Drei-Stufen-Theorie) führen könnten, die Tarifpartner dabei aber den ihnen eröffneten Handlungsspielraum nicht überschritten hätten. Die Aufrechterhaltung der früheren Dynamik hätte dem Ziel der Systemumstellung, die Zusatzversorgung zeitnah von den bisherigen externen Faktoren abzukoppeln, widersprochen. Ein Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit läge nicht vor, da insoweit triftige Gründe bestünden. Auch sei die Dynamisierung aufgrund der Erteilung von Bonuspunkten 334 OLG Karlsruhe v. 22.9.2005 – 12 U 99/04, ZTR 2005, 588. 335 Zu den wesentlichen Kritikpunkten: Wein, BetrAV 2006, 331; Ackermann, BetrAV 2006, 247. 336 BGH v. 14.11.2007 – IV ZR 74/06, NVwZ 2008, 455; diese Entscheidung wird ausführlich kommentiert von Hügelschäffer, BetrAV 2008, 254; Wein, BetrAV 2008, 451; Wagner, BetrAV 2008, 153; Konrad, ZTR 2008, 296.

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§ 28 Rz. 28.255

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

nicht vollständig entfallen. Einen Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit sah der BGH auch nicht im Entfallen der früheren Regelungen zu Mindestleistungen. Auch die Tatsache, dass die früher zu berücksichtigende hälftige Anrechnung von Vordienstzeiten (Halbanrechnungsverfahren) in die neue Berechnungsmethode nicht übernommen worden sei, verletzt nach Einschätzung des BGH keine verfassungsrechtlich geschützten Rechtspositionen, insbesondere nachdem das BVerfG bereits in der sog. Halbanrechnungsentscheidung337 deutlich gemacht hatte, dass die bisherige Regelung nicht mehr aufrechterhalten werden könne und dass die Anrechnung von Vordienstzeiten im Rahmen der Betriebsrente als solche nicht geboten wäre. Auch die Anwendung des sog. Näherungsverfahrens zur Berechnung der in Abzug zu bringenden voraussichtlichen gesetzlichen Rente begegnet nach Einschätzung des BGH keinen grundsätzlichen Bedenken. Vom BGH angesprochen, letztendlich aber offen gelassen, wurde allerdings die Frage, ob die ausschließliche Anwendung des Näherungsverfahrens ohne die Möglichkeit einer Berechnung aufgrund einer konkreten Rentenauskunft einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG darstelle.

28.255a Durchgreifenden Bedenken gegen die Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG begegnete nach der Entscheidung des BGH schließlich aber der nach § 33 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 79 Abs. 1 VBLS iVm. § 18 Abs. 2 BetrAVG der Startgutschriftenberechnung zugrunde zu legende Versorgungssatz von 2,25 % für jedes Jahr der Pflichtversicherung. Dieser Steigerungssatz geht davon aus, dass insgesamt 44,44 Pflichtversicherungsjahre notwendig sind, um den höchstmöglichen Versorgungssatz von 100 % zu erreichen. Dies führe zu einer sachwidrigen Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der rentenfernen Versicherten. Der Gesetzgeber habe den Prozentsatz von 2,25 % in § 18 Abs. 2 BetrAVG an statistischen Beobachtungen ausgelegt, die den früheren Höchstversorgungssatz und die nach der früheren Satzung von den Versicherten erreichten versorgungsfähigen Jahre betrafen. Nach dem früheren Satzungsrecht (§ 41 Abs. 2 Sätze 1 und 5, Abs. 2b Sätze 1 und 5 VBLS aF) richtete sich aber sowohl die Höhe des Bruttoversorgungssatzes als auch des Nettoversorgungssatzes nicht nach den Pflichtversicherungsjahren, sondern nach der gesamtversorgungsfähigen Zeit (zu der nicht nur die auf der Pflichtversicherung beruhenden Umlagemonate sondern auch die der gesetzlichen Rente zugrunde gelegten Beitragszeiten und beitragsfreien Zeiten gehörten). Gesamtversorgungsfähige Zeit und Pflichtversicherungsjahre könnten deutlich voneinander abweichen. Infolge der Inkompabilität der Faktoren (Steigerungssatz 2,25 und Zahl der Pflichtversicherungsjahre) würden viele Arbeitnehmer, insbesondere Arbeitnehmer mit längeren Ausbildungszeiten, wie etwa Akademiker, vom Erreichen des 100 %-Wertes ohne ausreichenden sachlichen Grund von vorneherein ausgeschlossen, da sie 44,44 Pflichtversicherungsjahre überhaupt nicht erreichen könnten und deshalb überproportionale Abschläge hinnehmen müssten.

28.255b Die in § 78 Abs. 1, 2, § 79 Abs. 1 Satz 1 VBLS iVm. § 18 Abs. 2 BetrAVG für die rentenfernen Versicherten getroffene Übergansregelung sei deshalb unwirksam, mit der Folge, dass die erteilten Startgutschriften einer ausreichenden rechtlichen Grundlage entbehrten. Der BGH sah sich allerdings mit Rücksicht auf die in Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie daran gehindert, diese Lücke durch eine gerichtliche Regelung oder bestimmte verbindliche Vorgaben für die Neuberechnung der Startgutschriften zu ersetzen und forderte vielmehr die Tarifparteien auf, eine verfassungskonforme Neuregelung vorzusehen. Als denkbare Lösungswege zeigte der BGH am Ende der Entscheidungsgründe schließlich auf, entweder im Rahmen der bisherigen Berechnungsformel einen anderen Prozentsatz als 2,25 vorzusehen oder aber den 337 BVerfG v. 22.3.2000 – 1 BvR 1136/96, NJW 2000, 3341 = AP Nr. 27 zu § 18 BetrAVG.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.256a § 28

anderen (Unverfallbarkeits-) Faktor der Formel zu verändern, um so im Ergebnis entweder auf das Verhältnis erreichter Pflichtversicherungsjahre zu erreichbaren Pflichtversicherungsjahren oder aber auf das Verhältnis der erreichten gesamtversorgungsfähigen Dienstzeit zur erreichbaren gesamtversorgungsfähigen Dienstzeit abzustellen. Auch eine Veränderung der gesamten Berechnungsformel (und nicht nur eine Korrektur ihrer Faktoren) stehe den Tarifvertragsparteien offen. Hinsichtlich der Anwendung des Näherungsverfahrens bestünden ebenfalls verschiedene Lösungswege. Zwischenzeitlich hatten die Tarifvertragsparteien als Reaktion auf die Rechtsprechung des BGH mit dem 5. Änderungstarifvertrag vom 30.5.2011 zum ATV/ATV-K für die Berechnung der Startgutschriften der rentenfernen Versicherten die oben (Rz. 28.248a ff.) bereits erläuterte Vergleichsberechnung vorgesehen. Gegen diese Entscheidung des BGH hatte schließlich der Kläger Verfassungsbeschwerde zum 28.256 BVerfG eingelegt, ua. mit der Begründung, sein Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt worden. Das BVerfG hat allerdings durch Beschluss vom 30.5.2008338 die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, da der Rechtsweg nicht erschöpft gewesen sei (der Kläger hatte versäumt eine Anhörungsrüge nach § 312a ZPO gegen das Urteil des BGH einzulegen). Zwischenzeitlich hat das BVerfG mit zwei Beschlüssen vom 29.3.2010339 die Verfassungsbeschwerden von zwei weiteren rentenfernen Pflichtversicherten gegen Urteile des BGH erneut nicht zur Entscheidung angenommen. Die Versicherten hatten die Feststellung angestrebt, dass die ihnen zu gewährenden Zusatzversorgungsrenten bestimmte Mindestwerte erreichen müssten, und wollten die VBL verpflichten, bei einer Neuberechnung bestimmte Berechnungselemente zugrunde zu legen. Das BVerfG hat hierzu festgestellt, dass die Verfassungsbeschwerden bereits mangels Beschwer unzulässig seien. Die Beschwer müsse sich unmittelbar aus dem Tenor der angegriffenen Entscheidung ergeben (was vorliegend nicht der Fall war, da der BGH die Unverbindlichkeit der Startgutschriften festgestellt hatte) und könne grundsätzlich nicht darauf beruhen, dass ein Gericht lediglich in den Entscheidungsgründen eine Rechtsauffassung vertreten habe, die die Beschwerdeführer für grundrechtswidrig erachten. Weiterhin hat das BVerfG darauf hingewiesen, dass die Verfassungsbeschwerden auch unbegründet seien. Es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der BGH den über die Feststellung der Unverbindlichkeit der Startgutschriften hinausreichenden Begehren der Beschwerdeführer unter Verweis auf die Tarifautonomie nicht entsprochen habe. Eine gerichtliche Festlegung der VBL auf bestimmte Anwartschaftswerte oder Berechnungswege komme angesichts der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie nicht in Betracht. Hinreichender Rechtsschutz der Versicherten sei dadurch gewährleistet, dass sie eine zu erwartende Neuregelung wiederum einer gerichtlichen Kontrolle unterziehen könnten. Das OLG Karlsruhe340 geht davon aus, dass auch die durch § 79 Abs. 3a VBLS besonders geschützten pflichtversicherten Angehörigen rentenferner Jahrgänge341, denen nachträglich eine zusätzliche Startgutschrift gewährt wurde und die damit im Ergebnis eine Startgutschrift wie 338 BVerfG v. 30.5.2008 – 1 BvR 27/08; diese Entscheidung kann ua. auf der Homepage der VBL unter www.vbl.de (Service/Downloadcenter/Veröffentlichungen/Gerichtsurteile und Gesetze) abgerufen werden. 339 BVerfG v. 29.3.2010 – 1 BvR 1373/08 und 1 BvR 1433/08, VersR 2010, 1166; ebenso BVerfG v. 26.4.2015 – 1 BvR 1420/13, NVwZ 2015, 1446. 340 OLG Karlsruhe v. 6.5.2008 – 12 U 103/07, BeckRS 2008, 15536. 341 Pflichtversicherte, die am 31.12.2001 das 47. Lebensjahr vollendet und mindestens 120 Umlagemonate zurückgelegt haben und bei denen der Versicherungsfall der vollen Erwerbsminderung vor dem 1.1.2007 eingetreten ist.

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28.256a

§ 28 Rz. 28.256a

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

pflichtversicherte Angehörige rentennaher Jahrgänge erhalten (vgl. Rz. 28.243), sich dennoch auf die Unwirksamkeit der ihnen nach den Regeln für die rentenfernen Jahrgänge erteilten Startgutschrift berufen können. § 79 Abs. 3a VBLS komme nicht zum Tragen, wenn eine (künftige) verfassungskonforme Neuregelung der Startgutschriften für die pflichtversicherten Angehörigen rentenferner Jahrgänge, auf die auch die Begünstigten von § 79 Abs. 3a VBLS einen Anspruch hätten, bei diesen zu einem Betrag führen sollte, der denjenigen der nach § 79 Abs. 2 VBLS berechneten Startgutschrift übersteige. In diesem Fall sei der zu zahlenden Betriebsrente dann allein die sich aus der (künftigen) verfassungskonformen Neuregelung ergebende Startgutschrift zugrunde zu legen.

28.256b Nachdem zwischenzeitlich bereits das OLG Karlsruhe342 die mit dem 5. Änderungstarifvertrag vom 30.5.2011 zum ATV/ATV-K eingeführte Vergleichsberechnung der Startgutschrift der rentenfernen Versicherten gemäß § 33 Abs. 1a ATV/ATV-K (Rz. 28.248a ff.) beanstandet hatte, hat auch der BGH343 mit zwei Entscheidungen vom 9.3.2016 zu dieser ergänzenden Neuregelung Stellung genommen. Der BGH bemängelte, dass auch unter Berücksichtigung der ergänzten Bestimmung in § 33 Abs. 1a ATV/ATV-K (§ 79 Abs. 1a VBLS, § 73 Abs. 1a AKA-MS) und der darin vorgesehenen Vergleichsberechnung weiterhin eine sachwidrige, gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der rentenfernen Versicherten vorliege. Zwar vermeide die in § 33 Abs. 1a ATV/ATV-K (§ 79 Abs. 1a VBLS) vorgesehene Vergleichsberechnung als solche die vom BGH beanstandeten Systembrüche und Ungereimtheiten, weil der Unverfallbarkeitsfaktor nunmehr aus kompatiblen Werten errechnet werde. Eine neu geschaffene Ungleichbehandlung sieht der BGH aber darin, dass die Ausgestaltung dieser Übergangsregelung bestimmte Versicherte von vorneherein von einem Zuschlag ausschließt, so dass diese weiterhin auf die gemäß § 79 Abs. 1 VBLS errechnete, mit der Neufassung der Übergangsregelung wieder für verbindlich erklärte Anwartschaft verwiesen bleiben. Denn gemäß § 79 Abs. 1a VBLS werde die Vergleichsanwartschaft nur ermittelt, wenn der nach der Vorschrift errechnete, um 7,5 Prozentpunkte geminderte Unverfallbarkeitsfaktor den nach § 18 Abs. 2 BetrAVG errechneten Wert übersteigt. Dies schließe alle Versicherten aus, die bei Eintritt in den öffentlichen Dienst – jeweils vereinfachend auf ganze Jahre gerechnet – nicht älter als 25 Jahre oder zum Umstellungsstichtag 41 Jahre und jünger gewesen seien, weil der für sie ermittelte Unverfallbarkeitsfaktor rechnerisch belegbar das 2,25-fache der Zahl ihrer Pflichtversicherungsjahre nicht übersteigen könne. Ebenfalls rechnerisch belegbar blieben darüber hinaus Versicherte der zum Umstellungsstichtag zwischen 42 und 49 Jahre alten Jahrgänge – in Abhängigkeit von ihrem Alter beim Eintritt in den öffentlichen Dienst – von einem Zuschlag ausgeschlossen: Je jünger der Versicherte zum Umstellungsstichtag sei, desto höher müsse sein Diensteintrittsalter liegen, damit der neue geminderte Unverfallbarkeitsfaktor gemäß § 79 Abs. 1a VBLS den nach § 18 Abs. 2 BetrAVG errechneten Wert überschreite. Bereits aufgrund des pauschalen Abzugs von 7,5 Prozentpunkten hält der BGH dabei den neuen, vergleichsweise heranzuziehenden, Unverfallbarkeitsfaktor nicht für sachlich vertretbar. Eine Verpflichtung der VBL, die Startgutschrift für einen rentenfernen Pflichtversicherten nach den Vorschriften für rentennahe Pflichtversicherte zu berechnen, besteht aber nicht344. Die neuerliche Beanstandung der Berechnung der Startgutschriften für die rentenfernen Versicherten haben die Tarifvertragsparteien dazu veranlasst, mit dem Änderungstarifvertrag Nr. 10 zum ATV/Änderungstarifvertrag Nr. 7 zum ATV-K (jeweils vom 8.6.2017) eine Neu342 OLG Karlsruhe v. 18.12.2014 – 12 U 124/14. 343 BGH v. 9.3.2016 – IV ZR 9/15, NZA-RR 2016, 318; v. 9.3.2016 – IV ZR 168/15, NZA-RR 2016, 315; diese Entscheidungen werden kommentiert von Fischer, NZA 2016, 808. 344 BGH v. 9.3.2016 – IV ZR 168/15, NZA-RR 2016, 315.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.259 § 28

regelung des Faktors in § 33 Abs. 1 Satz 3 ATV/ATV-K (§ 79 Abs. 1 Satz 3 VBLS, § 73 Abs. 1 Satz 3 AKA-MS) vorzusehen (vgl. Rz. 28.248e). gg) Rechtsprechung zu den Startgutschriften der rentennahen Versicherten Obwohl die Anwartschaften für die rentennahen Pflichtversicherten weitestgehend nach den Grundsätzen des ehemaligen Gesamtversorgungssystems ermittelt werden, wurde die Berechnung der Startgutschriften dieses Personenkreises vom LG Karlsruhe345 mit weitgehend inhaltsgleicher Begründung wie zu den rentenfernen Jahrgängen ebenfalls als unzulässiger Eingriff in die erdienten Rentenanwartschaften gewertet. Auch insoweit forderte das LG Karlsruhe, dass die Betriebsrente bei Eintritt des Versicherungsfalls mindestens den geringeren Betrag erreichen müsse, der sich nach bisherigem Recht zum Umstellungsstichtag 31.12.2001 oder zum Eintritt des jeweiligen Versicherungsfalls ergibt, und dass die errechnete Startgutschrift mit den Altersfaktoren (§ 36 Abs. 3 VBLS) multipliziert werden müsste.

28.257

Durch das OLG Karlsruhe346 wurde diese Entscheidung allerdings aufgehoben und die Berechnung der Startgutschriften für die rentennahen Jahrgänge insgesamt für rechtmäßig erklärt.

28.258

Das OLG Karlsruhe hatte auch in dieser Entscheidung eine Bewertung in Anlehnung an die Drei-Stufen-Theorie vorgenommen und zur Berechnung des erdienten Besitzstandes auf § 2 Abs. 1 BetrAVG abgestellt. Anders als in den Verfahren zu den rentenfernen Versicherten kam das OLG Karlsruhe auf der Basis von Vergleichsberechnungen bei den rentennahen Versicherten zu dem Ergebnis, dass ein Eingriff in den erdienten Teilbetrag (erste Besitzstandsstufe der Drei-Stufen-Theorie) nicht vorliege. Einen Eingriff in die erdiente Dynamik (zweite Besitzstandsstufe) sowie in spätere dienstzeitabhängige Zuwächse (dritte Besitzstandsstufe) bejahte das OLG Karlsruhe demgegenüber. Diese Eingriffe sind nach Auffassung des OLG Karlsruhe jedoch gerechtfertigt. Nach Einschätzung des OLG Karlsruhe verstießen die angegriffenen Besitzstandsregelungen für die rentennahen Jahrgänge damit weder gegen höherrangiges Recht noch verletzen sie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes und seien auch mit dem Gleichheitssatz vereinbar. Auch gegen die Rechtsprechung des OLG Karlsruhe zur Berechnung der Startgutschriften für die rentennahen Versicherten wurde durch den Kläger Revision zum BGH eingelegt. Am 24.9.2008 hat der BGH auch ein Grundsatzurteil347 bezüglich der Startgutschriften für die rentennahen Versicherten getroffen, die Revision des Klägers zurückgewiesen und damit im Ergebnis die Entscheidung des OLG Karlsruhe bestätigt. Der BGH stellte in dieser Entscheidung zunächst erneut348 fest, dass die Satzung der VBL auch ohne Zustimmung der Versicherten wirksam geändert werden konnte. Unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung prüfte der BGH sodann, ob durch die Satzungsänderung ein Verstoß gegen das GG erfolgt sei. Unter Bezugnahme auf das Urteil vom 14.11.2007 zu den rentenfernen Versicherten betonte der BGH erneut, dass ein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 GG nicht vorliege. Die Satzungsbestimmungen seien aber insbesondere an den aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgenden Grundsätzen des Vertrauensschutzes und 345 LG Karlsruhe v. 30.1.2004 – 6 O 125/03, EzBAT § 33 Abs. 2 ATV Nr 2. 346 OLG Karlsruhe v. 7.12.2006 – 12 U 91/05, ZTR 2007, 317; eine ausführliche Kommentierung dieser Entscheidung findet sich bei Wein, BetrAV 2007, 537 (538). 347 BGH v. 24.9.2008 – IV ZR 134/07, NVwZ 2009, 539. 348 Wie bereits im Urteil v. 14.11.2007 – IV ZR 74/06, NVwZ 2008, 455.

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28.259

§ 28 Rz. 28.259

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

der Verhältnismäßigkeit sowie ferner am allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zu messen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass den Tarifvertragsparteien bei der inhaltlichen Gestaltung tarifvertraglicher Regelungen besondere Beurteilungs- und Ermessensspielräume sowie eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen zustünden. Für den Systemwechsel habe ein ausreichender Anlass bestanden. Mit der Übergangsregelung hätten die Tarifvertragsparteien dem erhöhten Schutzbedürfnis der rentennahen Versicherten Rechnung getragen. Nach Einschätzung des BGH begegne es insbesondere keinen Bedenken, dass die Versorgungsrente, die der Startgutschriftenberechnung als Ausgangswert zugrunde liegt, auf den Zeitpunkt der Vollendung des 63. Lebensjahres hochzurechnen sei. Die Regelung stelle einen pauschalen, aber sachgerechten Interessenausgleich dar, mit dem die Tarifvertragsparteien den ihnen eingeräumten weiten Handlungsspielraum nicht überschritten hätten. Entsprechendes gelte, soweit zur Bestimmung der Startgutschriften auf die am Umstellungsstichtag geltenden Rechengrößen, insbesondere auf das gesamtversorgungsfähige Entgelt vor dem Umstellungsstichtag abzustellen sei. Ein Eingriff in die sog. erdiente Dynamik stehe nicht fest, da weiterhin eine Dynamisierung über die Bonuspunkte bestehe. Jedenfalls sei ein solcher Eingriff aber gerechtfertigt. Dieselben Erwägungen gelten nach Einschätzung des BGH auch, soweit andere Rechengrößen, insbesondere die Lohnsteuerklasse festgeschrieben werden. Auch nach dem alten Recht habe eine Differenzierung nach individuellen Besonderheiten oder weiteren Steuerklassen nicht stattgefunden. Ebenso begegne es keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn bei den rentennahen Versicherten im Rahmen der Berechnung der gesamtversorgungsfähigen Zeit sog. Vordienstzeiten weiterhin nur zur Hälfte berücksichtigt werden. Denn damit werde nicht das bisherige System als solches aufrechterhalten. Den rentennahen Versicherten würden lediglich die Vorteile der hälftigen Anrechnung von Vordienstzeiten zur Wahrung eines vor der Systemumstellung erworbenen Besitzstandes belassen. Ein schützenswertes Vertrauen der Versicherten auf eine Vollanrechnung sei zu keiner Zeit begründet worden. Schließlich stellte der BGH fest, dass kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gegeben sei, soweit der Kläger verlangte, zumindest eine Startgutschrift nach den für die rentenfernen Jahrgänge geltenden Berechnungsregelungen zu erhalten. Die unterschiedlichen Übergangsregelungen beruhten auf einer generalisierenden und pauschalierenden Betrachtung, die im Grundsatz das Ziel verfolge, den rentennahen Versicherten einen weitgehenden Schutz ihres Besitzstandes zu gewährleisten. Dennoch mit der Übergangsregelung verbundene Härten und Ungerechtigkeiten seien hinzunehmen, solange sie nur eine verhältnismäßig geringe Zahl von Versicherten beträfen und die jeweilige Ungleichbehandlung nicht sehr intensiv sei.

28.259a Gegen die Rechtsprechung des BGH349 zu den Startgutschriften der rentennahen Pflichtversicherten wurde durch zwei Versicherte ebenfalls Verfassungsbeschwerde beim BVerfG eingelegt. Auch diese beiden Verfassungsbeschwerden hat das BVerfG350 mit ausführlicher Begründung nicht zur Entscheidung angenommen. Art. 14 Abs. 1 GG sei nicht verletzt. Das Grundrecht auf Eigentum schütze zwar auch unverfallbare Anwartschaften, allerdings nicht in einer konkreten Höhe. Die unverfallbaren Anwartschaften auf eine dynamische Versorgungs349 Konkret gegen die Urteile des BGH v. 2.12.2009 – IV ZR 279/07, NVwZ-RR 2010, 487 und v. 17.2.2010 – IV ZR 312/07, FamRZ 2010, 727. 350 BVerfG v. 17.12.2012 – 1 BvR 488/10, ZTR 2013, 668 und 1 BvR 1047/10.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.259b § 28

rente konnten folglich im Wege der Systemumstellung geändert werden, auch wenn damit regelmäßig eine Verringerung einhergehen sollte. In der zum 31.12.2001 rückwirkenden Systemumstellung aufgrund der am 3.1.2003 veröffentlichten neuen Satzung der VBL sei auch keine Verletzung des Rückwirkungsverbots zu sehen. In materieller Hinsicht liege eine grundsätzlich zulässige unechte Rückwirkung vor. Das Vertrauen der Betroffenen sei nicht schutzwürdiger als das mit der Neuregelung verfolgte Anliegen, denn der Systemwechsel erscheine zur finanziellen Konsolidierung der VBL und zur Umsetzung der Vorgaben aus der Halbanrechnungsentscheidung geeignet und erforderlich. Auch die Hochrechnung einer Anwartschaft auf den Zeitpunkt der Vollendung des 63. Lebensjahrs sei vertretbar ebenso wie die Orientierung an einem Stichtag (§ 78 Abs. 2 VBLS). Dies gelte auch, soweit für die Berechnung von Anwartschaften das gesamtversorgungsfähige Entgelt aus den letzten drei Jahren vor dem Stichtag zugrunde gelegt werde. Denn das Entgelt aus den Jahren nach dem Stichtag schlage sich in den zukünftigen Versorgungspunkten nieder, es könne also nicht für die Startgutschrift doppelt, berücksichtigt werden. Die entfallende Dynamisierung der Anwartschaften werde durch die Möglichkeit der Gewährung von Bonuspunkten kompensiert. Die weggefallene Dynamisierung der Versorgungsrenten (§ 56 VBLS aF) sei durch eine Dynamisierung der Betriebsrenten mit 1 % jährlich zumutbar ersetzt. Auch der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG werde nicht verletzt. Die Systemumstellung betreffe etwa 600.000 rentennah Pflichtversicherte von insgesamt 8,8 Millionen Versicherten, darunter 4,8 Millionen Pflichtversicherte. Vor diesem Hintergrund sei die Festlegung eines Stichtags notwendig und durch den Altersvorsorgeplan und die Vorgaben aus der Halbanrechnungsentscheidung sachlich konkret begründbar. Extreme Härten seien nicht ersichtlich und damit einhergehende Ungleichbehandlungen daher hinzunehmen. Schließlich stehe auch das Gebot der Normenklarheit einer Anwendung der Übergangsregelungen in § 78 Abs. 2, § 79 Abs. 2 VBLS nicht entgegen. Sowohl die Stichtagsregelung als auch die Hochrechnung von Anwartschaften auf das 63. Lebensjahr seien für sich genommen verständlich. Komplex werde die Ermittlung der Anwartschaften erst durch den besitzstandswahrenden Verweis auf die alte Satzung, die wiederum komplex, aber nicht verfassungswidrig sei. hh) Rechtsprechung zu den Startgutschriften der beitragsfrei Versicherten Auch die Berechnung der Startgutschriften für die beitragsfrei Versicherten gemäß § 34 ATV/ATV-K, § 80 VBLS, § 74 AKA-MS wurde zwischenzeitlich höchstrichterlich geklärt351. Soweit die Übergangsregelung auf die Berechnung der früheren sog. einfachen Versicherungsrente nach § 44 VBLS aF Bezug nimmt, begegnet dies nach Ansicht des BGH keinen Bedenken. Die Übergangsregelung des § 80 VBLS ist nach der Rechtsprechung des BGH insoweit auch nicht intransparent352. In den Fällen, in denen die Startgutschrift ausschließlich anhand der früheren einfachen Versicherungsrente berechnet wurde, ist dies also insgesamt nicht zu beanstanden. Soweit die Startgutschrift für Pflichtversicherte mit einer gesetzlich unverfallbaren Anwartschaft allerdings nach § 18 Abs. 2 BetrAVG berechnet wurde, hielt die Übergangsregelung des § 80 Satz 1 VBLS einer Rechtsprüfung allerdings nicht in vollem Umfang stand. Im Rahmen der gebotenen Überprüfung anhand der Grundrechte und grundgesetzlichen Wertentscheidungen hatte der BGH in Anlehnung an seine Grundsatzentscheidung zu den Startgutschriften der rentenfernen Pflichtversicherten auch für die beitragsfrei Versicherten entschieden, dass die Übergangsregelung gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, soweit lediglich ein Versorgungssatz von 2,25 % für jedes volle Jahr der Pflicht351 BGH v. 29.9.2010 – IV ZR 99/09; IV ZR 179/09; IV ZR 8/10 und IV ZR 11/10, VersR 2011, 63; v. 16.1.2013 – IV ZR 232/10. 352 BGH v. 16.1.2013 – IV ZR 232/10.

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28.259b

§ 28 Rz. 28.259b

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

versicherung zugrunde gelegt wird. Insoweit sei die Festlegung der Startgutschriften – soweit sie nach § 18 Abs. 2 BetrAVG berechnet wurden – nicht verbindlich. Für die durch den unwirksamen Teil der Übergangsregelung in der Satzung entstandene Regelungslücke müssten die Tarifpartner eine verfassungskonforme Neuregelung treffen. Eine solche ergänzende Neuregelung wurde durch die Tarifvertragsparteien zwischenzeitlich mit dem 5. Änderungstarifvertrag vom 30.5.2011 zum ATV/ATV-K auch für die Berechnung der Startgutschriften der beitragsfrei Versicherten durch die oben (Rz. 28.248a ff. und 28.249 ff.) bereits erläuterte Vergleichsberechnung geschaffen. Da jedoch diese Vergleichsberechnung der Überprüfung durch die Rechtsprechung ebenfalls nicht standhielt (vgl. Rz. 28.256b), wurde im Zuge der daraufhin erfolgten Neuregelung 2017 der Startgutschrift festgelegt, dass auch bei den beitragsfrei Versicherten zur Berechnung des gesetzlichen Anspruchs nach § 18 Abs. 2 BetrAVG anstelle des dort vorgesehenen Faktors von 2,25 % der neue Faktor gemäß § 33 Abs. 1 Satz 3 ATV/ATV-K zur Anwendung kommt (vgl. Rz. 28.248e, 28.249b).

28.259c Gegen die Berechnung der Versicherungsrenten für vorzeitig ausgeschiedene Pflichtversicherte gemäß dem alten Satzungsrecht der VBL (§ 44 VBLS aF und §§ 18, 30d BetrAVG) hatten zwischenzeitlich zwei betroffene beitragsfrei Versicherte Verfassungsbeschwerde eingelegt. Die Berechnung der Startgutschriften war in diesen Verfahren nicht unmittelbar Gegenstand, jedoch ging es um die Frage der Berechnung gemäß § 18 Abs. 2 BetrAVG, die sowohl für die Startgutschriften der rentenfernen als auch der beitragsfrei Versicherten von Relevanz ist. Die Beschwerdeführer hatten verlangt, dass ihre Renten nach den Regelungen für eine Versorgungsrente berechnet werden sollten, hilfsweise forderten sie eine Berechnung nach § 2 BetrAVG. Dabei rügten sie insbesondere eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG und von Art. 14 Abs. 1 GG. Auch diese Verfassungsbeschwerden wurden vom BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen und als unzulässig zurückgewiesen353. Soweit sich die Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen die gesetzliche Regelung in § 18 BetrAVG richteten, waren sie nicht rechtzeitig innerhalb eines Jahres seit Inkrafttreten der Neuregelung des § 18 BetrAVG zum 1.1.2001 erhoben worden. Soweit sie sich mittelbar gegen die Satzungsbestimmungen der VBL richteten, hatten die Beschwerdeführer ihre Verfassungsbeschwerde insbesondere hinsichtlich ihrer Beschwer nicht ausreichend substantiiert begründet. 4. Die Finanzierung der Pflichtversicherung

28.260 Die Finanzierung der Pflichtversicherung wird von den Zusatzversorgungskassen grundsätzlich eigenständig geregelt (§ 15 Abs. 1 Satz 1 ATV/ATV-K; vgl. bereits Ziff. 4.1 des Altersvorsorgeplans 2001). Durch die Tarifvertragsparteien wurden allerdings eine Reihe von Eckpunkten zur Finanzierung festgelegt (vgl. §§ 15–18 ATV/ATV-K, §§ 37, 37a ATV, § 37a ATV-K; vgl. auch bereits Ziff. 1.4 und 4. des Altersvorsorgeplans 2001). Diese sind von den jeweiligen Zusatzversorgungskassen bei der Finanzierung zu beachten.

28.261 Als Grundformen des Finanzierungsverfahrens bestehen grundsätzlich auf der einen Seite das sog. Kapitaldeckungsverfahren, bei dem die gezahlten Beiträge zur (Aus-)Finanzierung der jeweils individuell zugesagten Leistungen verwendet werden (Bildung eines Kapitalstocks), und auf der anderen Seite das Umlageverfahren, bei dem die Umlagezahlungen nicht zum Aufbau eines Kapitalstocks für den einzelnen Versicherten verwendet werden, sondern zur solidarischen Finanzierung der jeweils laufenden Renten der Zusatzversorgungskasse354. Bei den 353 BVerfG v. 8.5.2012 – 1 BvR 1065/03 und 1 BvR 1082/03, NZA 2012, 905. 354 Eine anschauliche Gegenüberstellung des Umlageverfahrens gegenüber dem Kapitaldeckungsverfahren ist bei Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 159 ff. zu finden.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.262 § 28

Zusatzversorgungskassen des öffentlichen Dienstes bestand die Finanzierung bis zum Systemwechsel grundsätzlich im Wege eines modifizierten Umlageverfahrens, dem sog. Abschnittsdeckungsverfahren (vgl. zB § 61 VBLS; zur historischen Entwicklung der Finanzierung s. Rz. 28.21 ff.). Auch nach der Systemumstellung der Zusatzversorgung vom Gesamtversorgungssystem zum Punktemodell bleibt die Umlagefinanzierung zunächst weitgehend beibehalten. Ein wesentlicher Gesichtspunkt der Systemumstellung der Zusatzversorgung war es jedoch, auch eine Umstellung der Finanzierung auf eine Kapitaldeckung zu ermöglichen. Bereits in Ziff. 1.4 des Altersvorsorgeplans 2001 sowie nachfolgend in § 15 Abs. 1 Satz 2 ATV/ATV-K wurde deshalb vorgesehen, dass entsprechend den Möglichkeiten der jeweiligen Zusatzversorgungskassen die Umlagefinanzierung schrittweise durch eine Kapitaldeckung abgelöst werden kann (sog. Kombinationsmodell). Für die Zusatzversorgungskassen besteht dabei die Möglichkeit, neben den (oder auch anstelle der) Umlagen Beiträge im Kapitaldeckungsverfahren zu erheben, um so schrittweise eine Kapitaldeckung zu erreichen355. Die Einzelheiten können bei den verschiedenen Zusatzversorgungskassen unterschiedlich geregelt sein. Eine sofortige Umstellung auf eine vollständige Kapitaldeckung kam aufgrund des hierfür erforderlichen Finanzierungsaufwandes (für die im bisherigen Gesamtversorgungssystem entstandenen Rentenzahlungen, Anwartschaften und die nach dem neuen Punktemodell neu hinzu kommenden Anwartschaften) nicht in Betracht356. Auch in näherer Zukunft wird für die meisten Zusatzversorgungskassen des öffentlichen Dienstes ein vollständiger Umstieg auf das Kapitaldeckungsverfahren nicht möglich sein357. a) Umlageverfahren Von den Zusatzversorgungskassen wird jeweils eine monatliche Umlage in Höhe eines be- 28.262 stimmten Prozentsatzes des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts (s. Rz. 28.190 ff.) der pflichtversicherten Beschäftigten festgelegt (§ 16 Abs. 1 ATV/ATV-K, § 64 VBLS, § 62 Abs. 1 AKA-MS). Im Abschnittsdeckungsverfahren ist der Umlagesatz dabei jeweils so festgelegt, dass die für die Dauer des Deckungsabschnitts zu entrichtende Umlage zusammen mit den übrigen zu erwartenden Einnahmen und dem verfügbaren Vermögen ausreicht, die Ausgaben während des Deckungsabschnittes sowie einer bestimmten darüber hinausgehenden Zeit (VBL: sechs Monate, AKA: häufig ein Jahr) zu erfüllen (§ 61 Abs. 1 VBLS, § 60 AKA-MS). Durch Ziff. 4.1 des Altersvorsorgeplans 2001 (vgl. § 64 Abs. 2 Satz 2 VBLS, § 62 Abs. 1 AKAMS) wurde durch die Tarifvertragsparteien dabei (zunächst) festgelegt, dass in der Pflichtversicherung die am 1.11.2001 geltenden Prozentsätze für die Erhebung der Umlage bei der jeweiligen Zusatzversorgungskasse maßgeblich bleiben (die Höhe der Umlage also auf die bei der jeweiligen Zusatzversorgungskasse am 1.11.2001 geltenden Prozentsätze eingefroren wird), soweit nicht in § 37 ATV (Sonderregelungen für die VBL) oder § 37a ATV/ATV-K (Sonderregelung für das Tarifgebiet Ost, s. Rz. 28.269 ff.) etwas abweichendes vorgesehen ist. In der VBL (Abrechnungsverband West) betrug der Umlagesatz zum 1.11.2001 7,7 %. Seit 1.1.2002 beträgt der Umlagesatz 7,86 %, § 64 Abs. 2 VBLS (aufgrund einer Erhöhung der 355 Zu den Finanzierungsmodellen vgl. Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 166 ff.; Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 364 ff. 356 Mit Ausnahme der kirchlichen Zusatzversorgungskassen, die mit der Systemumstellung unmittelbar auf das Kapitaldeckungsverfahren übergewechselt sind; vgl. Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 379. 357 Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 172.

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§ 28 Rz. 28.262

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Eigenbeteiligung der Arbeitnehmer an der Umlage durch Ziff. 4.2 des Altersvorsorgeplans, § 37 Abs. 1 ATV). Bei den kommunalen und kirchlichen Zusatzversorgungskassen betrugen die Umlagesätze zum 1.11.2001 zwischen 4 % bis 7,3 % im Tarifgebiet West358.

28.262a Im Hinblick auf veränderte Rahmenbedingungen haben die Tarifpartner zwischenzeitlich allerdings Änderungen bezüglich der Finanzierung vorgesehen. Hintergrund ist, dass die Rechnungsgrundlagen für die Leistungen der Zusatzversorgung nicht mehr den aktuellen Gegebenheiten entsprechen. So sind bezüglich der biometrischen Rechnungsgrundlagen weiterhin die Heubeck-Sterbetafeln 1998 hinterlegt. Allerdings ist seit Einführung des Punktemodells im Jahr 2001 demgegenüber die durchschnittliche Lebenserwartung der Versicherten um mehr als vier Jahre gestiegen. Außerdem ist die im Jahr 2001 angenommene realistische durchschnittliche Zinserwartung aufgrund der anhaltenden Niedrigzinsphase nicht mehr zu erreichen, was sich insbesondere auf Zusatzversorgungskassen mit einer (teilweisen) Kapitaldeckung auswirkt. Die Tarifvertragsparteien hatten sich vor diesem Hintergrund im Zusammenhang mit den Tarifverhandlungen zur Neuregelung der Startgutschriften im Jahr 2011 darauf verständigt, auch Tarifverhandlungen zur Thematik Biometrie und Rechnungszins aufzunehmen. Während die Arbeitgeberseite dabei zunächst darauf drängte, die Rechnungsgrundlagen für die Berechnung der Leistungen für die Zukunft zu ändern, vertraten die Gewerkschaft die Position, dass eine daraus resultierende Leistungsabsenkung für sie nicht in Frage käme, sondern allenfalls eine erhöhte Beteiligung der Arbeitnehmer an der Finanzierung359.

28.262b Eine Tarifeinigung über einen solchen zusätzlichen Arbeitnehmerbeitrag an der Finanzierung erzielte zunächst die TdL am 28.3.2015, am 29.4.2016 konnte auch für den Bereich der VKA und den Bund eine entsprechende Tarifeinigung erzielt werden360. Diese Tarifeinigungen hatten jeweils zum Ergebnis, dass bei der VBL speziell zur Finanzierung der Mehrkosten aufgrund der Veränderung der biometrischen Risiken eine gestaffelt ansteigende zusätzliche Arbeitnehmerbeteiligung an der Umlage im Abrechnungsverband West (§ 37 Abs. 1 ATV) bzw. eingeführt wurden. Bezüglich der kommunalen Zusatzversorgungskassen wurde beschränkt auf bestimmte kommunale Zusatzversorgungskassen im Hinblick auf eine Anhebung der Umlagen/Beiträge eine gestaffelte hälftige zusätzliche Arbeitnehmerbeteiligung an der Finanzierung vorgesehen (§ 15a Abs. 1 ATV-K). Für die anderen kommunalen Zusatzversorgungskassen wurde in § 15a Abs. 2 ATV-K ein Automatismus vereinbart, wie zukünftige Umlage- oder Beitragserhöhungen auf die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite verteilt werden. Die Arbeitgeber beteiligen sich an den Mehrkosten entsprechend dem periodischen Bedarf. Im Abrechnungsverband West der VBL tragen die Arbeitgeber entsprechend dem periodischen Bedarf dabei eine Umlage von 6,45 % bis zu 6,85 % (§ 37 Abs. 1 Satz 4 ATV). Im Abrechnungsverband Ost der VBL tragen die Arbeitgeber entsprechend dem periodischen Bedarf eine Umlage von 1 % bis zu 3,25 % (§ 37a Abs. 1 Satz 4 ATV). Die Aufwendungen

358 Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 163. 359 Vgl. hierzu und zu den Hintergründen Gilbert/Hesse, Vorb. §§ 64 u. 66a VBLS Rz. 1 ff.; Kiefer/ Langenbrinck/Kulok, § 15a ATV-K. 360 Vgl. bei der VBL den Satzungsergänzenden Beschluss des Verwaltungsrats zur Umsetzung der Tarifeinigung in den Tarifverhandlungen der Länder vom 28.3.2015 sowie von Bund und VKA vom 29.4.2016 zu §§ 64 und 66a VBLS vom 20.5.2016, abgedruckt als Anlage zur VBLS.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.263 § 28

der Arbeitgeber für die Pflichtversicherung bei der VBL können also angehoben werden, wenn es der finanzielle Bedarf für den jeweiligen Deckungsabschnitt erfordert. Die Umlage ist vom Arbeitgeber – ggf. einschließlich des von den Beschäftigten zu tragenden Umlage-Beitrags (s. Rz. 28.272 ff.) – an die Zusatzversorgungskasse abzuführen. Die Umlage ist jeweils in dem Zeitpunkt fällig, in dem das maßgebliche zusatzversorgungspflichtige Entgelt dem Pflichtversicherten zufließt (§ 64 Abs. 6 VBLS, § 65 AKA-MS).

28.262c

b) Sanierungsgelder Zwar wurden im Zusammenhang mit der Systemumstellung der Zusatzversorgung vom früheren Gesamtversorgungssystem auf das Punktemodell die Umlagesätze als solche zunächst auf den Stand November 2001 eingefroren. Es war allerdings bereits bei der Systemumstellung absehbar, dass allein durch diese Umstellung die Schwierigkeiten der Finanzierung der Zusatzversorgung (welche der maßgebliche Auslöser für die Systemumstellung waren) nicht zu beheben und dass weitere Ausgabensteigerungen nicht auszuschließen sein würden. Die Tarifvertragsparteien hatten sich deshalb bereits durch Ziff. 4.1 des Altersvorsorgeplans 2001 darauf verständigt, dass ein zusätzlicher Finanzierungsbedarf über die Umlage 2001 hinaus durch steuerfreie, pauschale Sanierungsgelder gedeckt werden sollte. Eine entsprechende Konkretisierung ist in § 17 ATV/ATV-K, § 65 VBLS, § 63 AKA-MS erfolgt. Derartige Sanierungsgelder dienen der Deckung des infolge der Schließung des Gesamtversorgungssystems und des Wechsels vom Gesamtversorgungssystem zum Punktemodell entstehenden zusätzlichen Finanzbedarfs und betreffen insoweit die Finanzierung der Ansprüche und Anwartschaften, die vor dem 1.1.2002 begründet worden sind (ohne dass durch die Zahlung solcher Sanierungsgelder eine Erhöhung der Versorgungsleistungen erfolgen würde). Die Erhebung derartiger Sanierungsgelder ist allerdings nur zulässig, wenn der Umlagesatz der jeweiligen Zusatzversorgungskasse zum 1.11.2001 mehr als 4 % betragen hatte (§ 17 Abs. 2 ATV/ATV-K). Im Abrechnungsverband Ost der VBL sowie bei den Zusatzversorgungskassen der neuen Bundesländer, bei denen der Umlagesatz jeweils niedriger war, kommt damit die Erhebung von Sanierungsgeldern nicht in Betracht. Gemäß den einschlägigen Satzungsregelungen können Sanierungsgelder erhoben werden, solange das Kassenvermögen der jeweiligen Zusatzversorgungskasse am Ende des Deckungsabschnitts ohne Berücksichtigung des Sanierungsgeldes den versicherungsmathematischen Barwert der zu diesem Zeitpunkt bestehenden und vor dem 1.1.2002 begründeten Ansprüche und Anwartschaften (voraussichtlich) unterschreitet (§ 65 Abs. 1 Satz 2 VBLS, § 63 Abs. 3 AKA-MS). Voraussetzung für die Erhebung von Sanierungsgeldern ist also das Bestehen eines tatsächlichen Sanierungsbedarfs. Bei der VBL wurde die Gesamthöhe der Sanierungsgelder für die Zeit ab 1.1.2002 auf 2,0 % der zusatzversorgungspflichtigen Entgelte aller Pflichtversicherten im Jahr 2001 festgelegt und blieb auch für den folgenden Deckungsabschnitt ab 2008 zunächst unverändert. Dabei ist diese Summe der Entgelte jährlich entsprechend der Anpassung der Betriebsrenten gemäß § 39 VBLS (1 %-Anpassung) zu erhöhen, dementsprechend findet also eine Dynamisierung auch des Sanierungsgeldes statt (vgl. § 65 Abs. 2 VBLS). Mit der 20. Satzungsänderung der VBL im Jahr 2015 wurde die Höhe der Sanierungsgelder dann rückwirkend für die Zeit ab 1.1.2013 neu festgelegt. Die VBL hatte im Nachgang zur Tarifeinigung der TdL zur Finanzierung der Zusatzversorgung ein Gutachten über die Finanzierung des Abrechnungsverbands West in Auftrag gegeben. Da sich insbesondere der Versichertenbestand günstiger entwickelt hatte als ursprünglich angenommen, war das Kassenvermögen deutlich angestiegen. Aus Sicht des Jahres 2015 wäre daher für die Jahre 2013 bis Betz-Rehm

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28.263

§ 28 Rz. 28.263

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

2015 kein Sanierungsgeld erforderlich gewesen. Der Verwaltungsrat der VBL hat daraufhin im November 2015 entschieden, die für die Jahre 2013 bis 2015 geleisteten Sanierungsgelder zuzüglich der Reinverzinsung zurückzuzahlen. Die Gesamthöhe der Sanierungsgelder wurde für die Zeit 1.1.2013 bis 31.12.2015 also auf 0 % festgelegt. Für die Zeit ab 1.1.2016 wurde von der VBL die Gesamthöhe der Sanierungsgelder auf 0,14 % der zusatzversorgungspflichtigen Entgelte festgelegt.

28.264 Zur Verteilung dieses am tatsächlichen Finanzierungsbedarf ausgerichteten Gesamtumfangs der Sanierungsgelder auf die einzelnen Beteiligten/Mitglieder der jeweiligen Zusatzversorgungskasse enthielt bereits Ziff. 4.3 des Altersvorsorgeplans 2001 Vorgaben, die in die Satzungsregelungen der jeweiligen Zusatzversorgungskassen einbezogen wurden: Die Verteilung der Sanierungsgelder bestimmte sich demgemäß nach dem Verhältnis der Entgeltsumme aller Pflichtversicherten der jeweiligen Zusatzversorgungskasse zuzüglich der neunfachen (Kassen der AKA: fünffachen) Rentensumme aller Renten zu den entsprechenden Werten, die dem jeweiligen Arbeitgeber bzw. den jeweiligen Arbeitgeberverbänden zuzurechnen sind (§ 65 Abs. 3, 4 VBLS, § 63 Abs. 4 AKA-MS). Die Verteilung erfolgt dabei im Wesentlichen nach Arbeitgebergruppen (Bund, Mitglieder der TdL, Mitglieder der KAV sowie sonstige Arbeitgeber). Diese etwas gröbere Aufteilung wurde allerdings bei der VBL insbesondere durch kommunale und sonstige Arbeitgeber beanstandet. Dies hatte zur Folge, dass für die Zeit ab 2006 eine stärker verursachungsgerechte Differenzierung der Verteilung der Sanierungsgelder vorgenommen wird361.

28.265 Im Bereich der VBL hatte bis zum Ende des Jahres 2005 (noch vor der 7. Satzungsänderung) eine große Anzahl von Arbeitgebern (ca. 1700 Beteiligte) die Erhebung der Sanierungsgelder beanstandet und die Rückzahlung der seit 2002 (vermeintlich) zu viel gezahlten Sanierungsgelder gefordert. Gegen die VBL war insoweit vor dem LG Karlsruhe eine als Pilotverfahren konzipierte Klage auf Rückzahlung überzahlter Sanierungsgelder erhoben worden, auf die sich auch die anderen Beteiligten stützten. Nachdem die VBL zunächst zur Vermeidung einer Vielzahl von Einzelverfahren auf die Einrede der Verjährung bis 31.1.2007 verzichtet hatte, wurde mit einer großen Anzahl der betroffenen Arbeitgeber (allerdings nicht mit allen) eine Musterprozessvereinbarung geschlossen. Das LG Karlsruhe hatte in ersten Entscheidungen vom 31.3.2008362 die Rechtmäßigkeit der Erhebung der Sanierungsgelder bei der VBL in erster Instanz festgestellt. Diese Entscheidungen wurden auch durch das OLG Karlsruhe363 sowie auch durch den BGH364 bestätigt. Diese Verfahren betrafen die Frage der Rechtmäßigkeit der Sanierungsgelder dem Grunde nach und deren Verteilung noch vor der stärker verursachungsgerechten Differenzierung gemäß § 65 Abs. 5a VBLS. Der BGH hat die Einführung des Sanierungsgeldes als uneingeschränkt rechtmäßig beurteilt. Die Regelung beruhe auf einer Grundentscheidung der Tarifvertragsparteien, die sich auch die beteiligten Arbeitgeber – selbst wenn sie nicht tarifgebunden sind – entgegenhalten lassen müssten. Die hiergegen eingelegte Verfas361 Bei der VBL wurde dies zum 1.1.2006 durch die 7. bis 9. Satzungsänderung umgesetzt, zu den Einzelheiten vgl. § 65 Abs. 5a VBLS mit den hierzu bestehenden Ausführungsbestimmungen. Vgl. zu diesen generell stärker differenzierenden Regelungen bei den Kassen der AKA und der VBL Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung Rz. 389 ff.; Wein, BetrAV 2007, 537 (542). 362 LG Karlsruhe v. 31.3.2008 – 6 O 34/07, BeckRS 2011, 22321 sowie 6 O 38/07, BeckRS 2008, 16054. Vgl. hierzu auch Wein, BetrAV 2007, 537 (542). 363 OLG Karlsruhe v. 3.3.2009 – 12 U 81/08, BeckRS 2011, 22320. 364 BGH v. 20.7.2011 – IV ZR 46/09, 68/09 und 76/09, ArbRB 2011, 305 = NVwZ-RR 2011, 797; vgl. hierzu Freyer, BetrAV 2012, 481 ff.; Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung Rz. 398 ff.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.268 § 28

sungsbeschwerde wurde vom BVerfG365 nicht zur Entscheidung angenommen. Auch die in § 65 Abs. 5 und 5a VBLS vorgesehenen, ergänzenden Regelungen zur Verteilung der Sanierungsgelder wurden zwischenzeitlich durch den BGH366 bestätigt. Einen Anspruch auf rückwirkende Anwendung der Neuregelungen zur stärker verursachungsgerechten Verteilung der Sanierungsgelder gemäß § 65 Abs. 5a VBLS bereits für die Zeit ab Einführung der Sanierungsgelder hat das OLG Karlsruhe367 abgelehnt. Für den Bereich der kirchlichen Zusatzversorgungskassen hat der BGH die Einführung der Sanierungsgelder dem Grunde nach ebenfalls gebilligt, für deren Höhe aber darauf abgestellt, dass diese billigem Ermessen iSv. § 315 Abs. 1 BGB entsprechen müsse, da es hierzu an einer tarifvertraglichen Regelung fehle. Im konkreten Fall hatte der BGH368 die Höhe des Sanierungsgeldes der Kirchlichen Zusatzversorgungskasse des Verbandes der Diözesen Deutschlands gemäß deren Verwaltungsratsbeschluss vom 16.4.2002 im Hinblick auf verschiedene, in die Berechnung eingeflossenen Parameter, als unbillig eingestuft und darüber hinaus beanstandet, dass es für den von der Zusatzversorgungskasse erhobenen Beitragszuschuss Ost an einer hinreichenden Rechtsgrundlage fehle.

28.265a

c) Beiträge im Kapitaldeckungsverfahren Beim Kapitaldeckungsverfahren werden die Beiträge für die Finanzierung der individuellen Ansprüche/Anwartschaften des einzelnen Versicherten verwendet, sie sind also einschließlich der jeweiligen Erträge aus dem gebildeten Kapital (welche die versicherte Leistung über die Zuteilung von Bonuspunkten erhöhen) jeweils dem individuellen Versicherten zugeordnet369.

28.266

Die Erhebung von Beiträgen im Kapitaldeckungsverfahren ist in § 18 ATV/ATV-K sowie in § 66 VBLS bzw. den §§ 62 und 64 AKA-MS geregelt. § 18 Abs. 1 ATV/ATV-K sieht dabei vor, dass die Höhe der vom Arbeitgeber zu tragenden Beiträge im Kapitaldeckungsverfahren auf 4 % des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts (Zielgröße der Umstellung auf das Punktemodel) begrenzt ist. § 18 Abs. 2 und Abs. 3 ATV/ATV-K stellt klar, dass diese Beiträge im Kapitaldeckungsverfahren einschließlich der daraus erzielten Zinserträge auf einem gesonderten personenbezogenen Versorgungskonto (Versorgungskonto II) getrennt zu führen und zu verwalten sind. Bei der VBL ist in § 66 VBLS zwar vorgesehen, dass Beiträge für eine schrittweise Umstel- 28.267 lung des Finanzierungsverfahrens auf eine Kapitaldeckung erhoben oder zugelassen werden können. Tatsächlich ist dies bei der VBL im Abrechnungsverband West derzeit jedoch nicht der Fall (zu den Besonderheiten des Abrechnungsverbandes Ost der VBL s. Rz. 28.269 ff.). Bei den Zusatzversorgungskassen der AKA ist hinsichtlich der Erhebung von Beiträgen im Kapitaldeckungsverfahren noch zwischen sog. Pflichtbeiträgen und Zusatzbeiträgen zu unterscheiden.

365 BVerfG v. 1.10.2012 – 1 BvR 3046/11, BeckRS 2012, 59432. 366 BGH v. 15.5.2013 – IV ZR 33/11, NVwZ-RR 2013, 807. 367 OLG Karlsruhe v. 25.4.2012 – 6 U 74/10 Kart., rechtskräftig; vgl. hierzu Freyer, BetrAV 2012, 481 ff. 368 BGH v. 5.12.2012 – IV ZR 110/10. 369 Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 177; Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung Rz. 378 ff.

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28.268

§ 28 Rz. 28.268

Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Pflichtbeiträge (§ 62 Abs. 1 AKA-MS) werden im Rahmen einer vollständige Kapitaldeckung anstelle einer Umlage erhoben. Mehrere kommunale Zusatzversorgungskassen haben in diesem Zusammenhang neben der umlagefinanzierten Pflichtversicherung einen sog. Abrechnungsverband II geschaffen, in dem die Ansprüche/Anwartschaften aus der Pflichtversicherung vollständig kapitalgedeckt finanziert werden. Dieser Abrechnungsverband II ist zum einen für neu eintretende Mitglieder der Zusatzversorgungskasse interessant, welche die Pflichtversicherung ihrer Arbeitnehmer von Anfang an in diesem kapitalgedeckten System führen können. Zum anderen besteht bei solchen Zusatzversorgungskassen die Möglichkeit, dass auch bisher an der Umlagefinanzierung teilnehmende Arbeitgeber in den kapitalgedeckten Abrechnungsverband II wechseln (§ 55 Abs. 1a Satz 2 AKA-MS). In einem solchen Fall besteht allerdings eine Verpflichtung des Mitglieds, seine bestehenden Versorgungsverpflichtungen auszufinanzieren, also den sog. Ausgleichsbetrag (§§ 15–15b AKA-MS) an die Zusatzversorgungskasse zu leisten (s. Rz. 28.116 ff.). Zusatzbeiträge (§ 64 AKA-MS) werden von Zusatzversorgungskassen, die das sog. Kombinationsmodell anwenden, neben den Umlagen erhoben. Sie dienen der schrittweisen Umstellung auf das Kapitaldeckungsverfahren. Durch solche Zusatzbeiträge werden jeweils Teile der (neu entstehenden) Anwartschaften (Versorgungspunkte) kapitalgedeckt finanziert. Derartige Zusatzbeiträge werden (außer durch einige Zusatzversorgungskassen in Westdeutschland, zB der ZVK Bayern) insbesondere durch die kommunalen Zusatzversorgungskassen in den neuen Bundesländern erhoben370. d) Besonderheiten im Abrechnungsverband Ost der VBL

28.269 In den neuen Bundesländern wurde die Zusatzversorgung zum 1.1.1997 eingeführt. Vor dem Hintergrund, dass dort keine „Altlasten“ entsprechend der Entwicklung der Zusatzversorgung im Westen zu finanzieren waren, wurde bei der VBL für die Zusatzversorgung in den neuen Bundesländern ein eigener Abrechnungsverband Ost/Umlage (§ 59 Satz 3 Buchst. b VBLS) mit einem Umlagesatz ab dem 1.1.1997 in Höhe von lediglich 1,0 % des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts (§ 64 Abs. 2 Satz 3 VBLS) eingerichtet. Für die Zeit vom 1.1.2003 bis 31.12.2003 erhöhte sich dieser Umlagesatz (im Hinblick auf die zum 1.1.2003 durch § 37a ATV/ATV-K eingeführte Beteiligung der Arbeitnehmer an der Finanzierung der Pflichtversicherung im Tarifgebiet Ost) auf 1,2 %. Seit 1.1.2004 beträgt dieser Umlagesatz im Abrechnungsverband Ost wieder 1,0 % des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts.

28.270 Der Abrechnungsverband Ost der VBL umfasst grundsätzlich die Versicherungen aus dem Beitrittsgebiet371. Für Pflichtversicherungen von Beschäftigten, deren zusatzversorgungspflichtiges Entgelt sich nach Tarifvertragsregelungen für das Tarifgebiet West bemisst, bleibt allerdings der Umlagesatz West auch nach einem Wechsel auf einen Arbeitsplatz im Beitrittsgebiet bei demselben Arbeitgeber maßgeblich (§ 64 Abs. 2 Satz 4 VBLS).

28.271 Zum 1.1.2004 wurde durch § 66a VBLS im Abrechnungsverband Ost der VBL schließlich das Kombinationsmodell (Mischfinanzierung) eingeführt. Zusätzlich zu der ab diesem 370 Hügelschäffer in Handbuch der betrieblichen Altersversorgung, Rz. 383 f.; Langenbrinck/Mühlstädt, Rz. 179. 371 Nach Gilbert/Hesse, § 21 VBLS Rz. 13, ist für die Zuordnung zum jeweiligen Abrechnungsverband vorrangig die sozialversicherungsrechtliche Einordnung maßgebend, also die Frage, ob die Rechengrößen (insbesondere die Beitragsbemessungsgrenze) der gesetzlichen Rentenversicherung West oder Ost anzuwenden sind.

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Die Pflichtversicherung

Rz. 28.273 § 28

Zeitpunkt geltenden Umlage von 1 % des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts werden demgemäß Beiträge im Kapitaldeckungsverfahren erhoben. Zur Höhe dieser Beiträge sieht § 66a Abs. 2 VBLS vor, dass sie ab 1.1.2004 zunächst 1,0 % des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts (einschließlich eines Eigenanteils der Pflichtversicherten, s. Rz. 28.272 ff.) betragen. Für jeden Prozentpunkt, um den der allgemeine Bemessungssatz Ost von 92,5 % angehoben wird, sollten sich sodann auch die Beiträge zum Kapitaldeckungsverfahren im Abrechnungsverband Ost zeitgleich um 0,4 Prozentpunkte (bei einer nicht in vollen Prozentpunkten erfolgenden Anhebung des allgemeinen Bemessungssatzes Ost anteilig) erhöhen. Aufgrund der unterschiedlichen Tarifentwicklung im Tarifgebiet Ost und der insoweit seit 1.7.2005 für die Bereiche Bund, Länder und Kommunen geltenden unterschiedlichen Bemessungssätze hatte man bei der VBL allerdings zunächst entschieden, den Beitragssatz für alle Beteiligten des Abrechnungsverbandes Ost einheitlich bei 1,0 % zu belassen. Durch satzungsergänzenden Beschluss des Verwaltungsrates der VBL vom 23.11.2007372 wurde die Anhebung des Beitragssatzes zum 1.1.2008 sodann konkretisiert373. Von 2010 an gilt im Abrechnungsverband Ost für alle Beteiligten ein einheitlicher Beitragssatz von 4 % des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts, wovon 2 % vom Arbeitgeber und 2 % von den Versicherten getragen werden. Im Zuge der Tarifeinigung über einen zusätzlichen Arbeitnehmerbeitrag an der Finanzierung vom 28.3.2015 (TdL) und 29.4.2016 (Bund und VKA) (s. Rz. 28.262a) wurde ergänzend dazu allerdings ein gestaffelt ansteigender zusätzlicher Arbeitnehmerbeitrag im Kapitaldeckungsverfahren im Abrechnungsverband Ost der VBL eingeführt (§ 37a Abs. 1 ATV). e) Beteiligung der Arbeitnehmer an der Finanzierung Eine Eigenbeteiligung der Arbeitnehmer an der Finanzierung der Zusatzversorgung hatte bereits im Rahmen des früheren Gesamtversorgungssystems im Tarifgebiet West bestanden. Im Rahmen der Lohnrunde 1998 hatten sich die Tarifparteien des öffentlichen Dienstes darauf geeinigt, dass ein über 5,2 % der Entgelte hinausgehender Finanzierungsbedarf von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern je zur Hälfte getragen werden sollte. Bei der VBL betrug der Umlagesatz ab Januar 1999 7,7 % mit einer dementsprechenden Beteiligung der Arbeitnehmer an der Umlage in Höhe von 1,25 % (vgl. § 64 Abs. 3 Satz 1 VBLS). Bei vielen kommunalen und kirchlichen Zusatzversorgungskassen lag der Umlagesatz demgegenüber noch unter dieser Grenze (im Abrechnungsverband Ost der VBL sowie bei den Zusatzversorgungskassen der neuen Bundesländer war dies durchgängig der Fall), so dass eine Eigenbeteiligung der Arbeitnehmer an der Finanzierung dort nicht bestand.

28.272

Bereits durch Ziff. 4.1 Abs. 3 des Altersvorsorgeplans 2001 hatten die Tarifvertragsparteien deutlich gemacht, dass im Zusammenhang mit der Systemumstellung der Zusatzversorgung eine über den damaligen Status quo374 hinausgehende Eigenbeteiligung der Arbeitnehmer an der Finanzierung ursprünglich nicht beabsichtigt war. Dementsprechend wurde durch § 16 Abs. 1 Satz 3 ATV/ATV-K vorgesehen, dass für die Beteiligung der Pflichtversicherten an der Finanzierung die am 1.11.2001 geltenden Prozentsätze für die Erhebung der Eigenbetei-

28.273

372 Die satzungsergänzenden Beschlüsse sind in der A